OTTO AP ELT
I . A TON I S CHE AU F^S ATZE
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PLATONISCHE AUFSATZE
VON
OTTO APELT
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VERLAG VON B.G.TEUBNER IN LEIPZIG UND BERLIN 1912
ALLE RECHTE, EINSCHLIESSLICH DES CBERSETZUNGSRECHTS, VORBEHALTEN.
VORWORT.
Die Platonische Philosophie ist nicht fix und fertig aus dem Geiste ihres Schöpfers hervorgegangen, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters. Sie hat sich überhaupt niemals zu einem völlig in sich übereinstimmen- den Ganzen, zu einem eigentlichen festen System zusammengeschlossen und abgerundet. Zu dieser Einsicht mußte schon das eingehendere Stu- dium Piatons selbst führen und hat tatsächlich dazu geführt. Die ent- schlossene Wendung der neueren klassischen Philologie zu rein histo- rischer Auffassung hat dann das Ihrige dazu beigetragen, den Gesichts- punkt des „Werdens" mehr und mehr in den Vordergrund zu rücken. Die erhöhte Aufrherksamkeit, die man dem Beweglichen, Veränderlichen in den Offenbarungen des philosophischen Genius Piatons zuwandte, brachte es mit sich, daß Achtsamkeit und Interesse für das Bleibende und Feststehende in seiner Gedankenwelt merklich abnahmen. Man sah nur gleichsam das Spiel der wechselnden Schattenbilder, ohne des festen Hintergrundes zu achten, auf dem es sich vollzog. Als wahres und wür- diges Ziel aller Piatonforschung hob sich mehr und mehr die Ergründung seines Werdeganges heraus. Die „Entwicklung" Piatons und seiner Philo- sophie wurde das eigentliche Problem, an dessen Lösung die Beteiligten ihre Kräfte setzen zu müssen glaubten. Man kann dabei noch einen Unterschied machen zwischen solchen, die den Nachdruck mehr legen auf die Person, auf den Menschen, und denen, welchen dabei mehr die Sache, d. h. die Philosophie, vorschwebt. Bei ersteren gestaltet sich die Aufgabe überwiegend biographisch -persönlich mit entsprechender Be- tonung von Stimmungen und Situationen — nicht unähnlich dem Geiste unserer jetzigen Goetheforschung -, bei letzteren mehr nach den inneren Forderungen reifender philosophischer Erkenntnis. Für beide ist aber doch das eigentliche Stichwort „Veränderung". Das Aufsuchen, die Ent- deckung und Darstellung des Wechsels sei es von Stimmungen, sei es von Ansichten herrscht bis zu einem Grade vor, daß es fraglich erscheinen könnte, ob Piaton überhaupt eine das Einzelne, Mannigfaltige bis zu einem gewissen Grade zusammenhaltende, einheitliche Grundanschauung gehabt
IV Vorwort.
habe oder ob nicht vielmehr eben der Wechsel selbst den Grundzug seines Wesens darstelle.
Piaton selbst, der Priester der Wahrheit, deren Wahrzeichen gerade die Beharrlichkeit, Festigkeit, Unumstößlichkeit ist, würde sich nicht wenig gewundert haben über diese seine Bewunderer. „Lieben Freunde," — so etwa würde er sagen — „ihr erweist mir einen schlechten Dienst damit, daß ihr mich zu einem »Fließenden« machen wollt. Lernet die Schale von dem Kerne scheiden. Seitdem ich philosophisch mündig geworden bin, ist meine Grundüberzeugung immerdar dieselbe geblieben: es gibt ein Reich des Guten und Schönen, ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, dessen Forderungen wir aber schon für diese Welt als giltig aner- kennen und nach Kräften erfüllen sollen. Die Notwendigkeit dieser An- nahme ergibt sich uns durch anhaltendes Denken. Wohl können wir zeitweise fehlgreifen in den Mitteln der Begründung, aber die Überzeugung selbst steht unwandelbar fest. Allmähliches Fortschreiten in der Selbst- erkenntnis wird nicht verfehlen, mit der Zeit die Beseitigung aller Mängel der Begründung zu bringen."
Um Piaton richtig zu verstehen und zu würdigen, müssen wir unter- scheiden zwischen Weltansicht und Dialektik. Ist ihm die erstere über allen Zweifel erhaben, so stellt die wechselnde Mannigfaltigkeit der letz- teren ebenso viele Anläufe und Versuche dar, die erstere wissenschaft- lich zu stützen und zu schützen. Er ist der erste Verkündiger derjenigen Lehre, deren vollendete Ausbildung gleichbedeutend ist mit der Lösung des eigentlichen Rätsels der Philosophie, der Lehre des transzendentalen Idealismus. Daß die philosophischen Hilfsmittel Piatons nicht ausreichten, dieser Lehre mit der richtigen wissenschaftlichen Unterlage auch ihre volle Klarheit zu geben, hat seinen Grund in der Schwierigkeit der Aus- bildung philosophischer Abstraktionen. Piaton war sich des einheitlichen Grundzuges seiner Philosophie wohl bewußt. Er sagte, wie er sich selbst gelegentlich halb scherzend ausdrückt, immer dasselbe, während Rhetoren und Sophisten ihren Ehrgeiz darein setzten, immer wieder etwas anderes, etwas Neues zu sagen. Er ist der Vertreter des Bleibenden und Ewigen, dessen gültiger Zeuge hienieden niemand anderes als unsere richtig ver- standene Vernunft ist. Dies Ewige maßgebend zu machen für das Ver- gängliche ist das höchste Ziel seines Lebens. Im Dienste dieser Aufgabe tritt er in allen seinen Schriften ungeachtet allen Versteckenspielens im Grunde doch immer als Lehrender auf: als Verkünder des einen und gleichen Evangeliums, wenn auch mit wechselnder Kraft der Dialektik.
Diesen lehrenden Piaton wieder etwas zur Geltung zu bringen im Gegensatz zu dem lernenden und werdenden Piaton — welch letz-
Vorwort. ' Y
terem sein Anrecht auf Berücksichtigung von Seiten der Forschung keines- wegs bestritten, nur begrenzt werden soll — ist das Absehen dieser Ab- handlungen. Sie wollen den Leser einführen in den Ideenkreis des großen Denkers und ihm durch Einflechtung besonders bezeichnender Stellen aus seinen Werken selbst eine unmittelbare Vorstellung seiner Sprech- und Darstellungsweise geben, beides mit dem Wunsche, nicht nur Achtung vor dem Schöpfer einer großartigen Gedankenwelt, sondern auch Liebe zu wecken zu dem begeisterten Vertreter desjenigen Idealis- mus, in dem, wenn ich recht sehe, das Heil aller Philosophie liegt. Sie wollen für Piaton werben, wenn auch nicht in dem Sinn, als hätte er überall schon das letzte Wort gesprochen. Die philosophierende Vernunft hat seit Piaton nicht stillgestanden. Sie hat ihre Fortschritte gemacht und vor allem in Kant ihren großen Meister gefunden. Wir behaupten nicht, daß irgendein einzelner unserer Zeit denkkräftiger sei als Piaton. Wohl aber darf sich unsere Zeit eine tiefere Einsicht in das Wesen der Ab- straktionen und einen größeren Überblick über die philosophischen Pro- bleme und ihre Bedeutung zutrauen als sie ihm zu Gebote standen.
Daß auch dasjenige, was ich das Bleibende an Piaton nenne, mehr- facher Deutung fähig ist und sie erfahren hat, ist zur Genüge bekannt. Auf die daran sich knüpfende, in letzter Zeit lebhaft erörterte Streitfrage näher einzugehen, lag nicht in der Tendenz dieses Buches. Nur an einer Stelle habe ich Gelegenheit genommen, einen nicht unwichtigen Punkt dieser im übrigen von anderen genügend diskutierten Streitfrage etwas eingehender zu behandeln.
Von den zwölf hier vereinigten Aufsätzen sind vier bereits im Druck erschienen und zwar Nr. 4 und 1 1 in den neuen Jahrbüchern für das klass. Altertum 1907, Nr. 8 in den Abhandlungen der Friesschen Schule II, 1 (1907) und Nr. 12 im Rheinischen Museum Bd. L (1895) S. 394 ff.
Weimar.
OTTO APELT.
INHALT.
Seite
1. Der überhimralische Ort 1
2. Wahrheit 31
3. Disharmonien 51
4. Über Piatons Humor 72
5. Die Taktik des Platonischen Sokrates 96
6. Das Prinzip der Platonischen Ethik 109
7. Die Lehre von der Lust 121
8. Der Wert des Lebens 147
9. Die Aufgabe des Staatsmannes 168
10. Piatons Straftheorie 189
11. Die beiden Hippiasdialoge 203
12. Piatons Sophistes in g-eschichtlicher Beleuchtung 238
Sachregister 291
Stellenverzeichnis . . . • 294
I. DER ÜBERHIMMLISCHE ORT.
Den vernünftigen Teil der Seele in uns hat Gott einem Jeden als einen Schutz- g-eist beigegeben, der in dem obersten Teile unseres Körpers wohnend uns über die Erde zur Verwandtschaft mit den Ge- stirnen erhebt, als Geschöpfe, die nicht irdischen, sondern überirdischen Ur- sprungs sind. Piaton im Timäus.
Es gibt keine Lehre, die dem Ungebildeten so abenteuerlich, dem Sensualisten so unannehmbar scheint als die, daß, was wir hier mit unseren Augen sehen, mit unseren Händen betasten, nicht der Dinge wahres Wesen darstellt, sondern nur eine menschlich unvollkommene Ansicht derselben bietet, beschränkt durch Raum und Zeit, die den Schleier bil- den, hinter dem sich das wahre Sein, die Geisteswelt, unserer positiven Erkenntnis hier auf Erden unerreichbar, verbirgt. Und doch gibt es an- derseits keine Lehre, die dem denkenden Geist so unvermeidlich und die philosophisch so wohl begründet wäre wie diese.
Derjenige, der dieser Lehre ihre wissenschaftlich entwickelte Gestalt gegeben hat, ist Kant. Sein transzendentaler Idealismus — wie er sie nannte — wird als Lösung des Haupträtsels der Philosophie für alle Zeit stehen bleiben. Nicht unangefochten natürlich, denn welche philosophi- sche Lehre wäre das? Dem Empirismus sagt sie zu viel aus, dem logi- schen Dogmatismus zu wenig. Der geschichtlichen Betrachtungsweise aber, die sich jetzt vielfach an die Stelle der Philosophie gesetzt hat, er- scheint auch diese Lehre nur als geschichtliche Merkwürdigkeit, bedeut- samer vielleicht als manche andere, aber nicht erhaben über den Rang eines geschichtlichen Phänomens. Es gibt, so scheint es nach dieser Be- trachtungsweise, in der Philosophie überhaupt nur Gesetzentwürfe, keine wirkhchen Gesetze mit Gesetzeskraft. Und doch wage ich zu be- haupten, daß jener Lehre verbindliche Kraft innewohnt für jeden, der der Vernunft traut und sie der Wahrheit für fähig hält. Und ich wage weiter zu behaupten, daß der fernere Verlauf der Philosophie - ein-
Apelt: Platonische Aufsätze. 1
2 Der überhimmlische Ort
schließlich der jetzt vielfach als Retterin aus dem Labyrinth des philosophi- schen Irrtums gepriesenen experimentellen Psychologie — uns keine Ent- deckung bescheren wird, die uns über diese Lehre hinausführen oder sie uns entbehrlich machen wird. Vielmehr wird, wenn eine Prophezeihung hier am Platze ist, der künftige Gang der wirklich philosophischen An- gelegenheitenwesentlich bestehen in immer sich wiederholenden Perioden des Abfalls von der mißverstandenen Lehre - an welchem Mißverständnis Kant selbst durch einige Mängel in der Begründung derselben mitschuldig ist — und der allmählich wieder eintretenden Orientierung durch Rück- gewinnung ihres wahren Verständnisses.
Doch dies sei nur beiläufig bemerkt. Worauf es uns hier ankommt, ist vielmehr die Feststellung, daß der erste Verkündiger dieser Lehre, wenn auch in wissenschaftlich noch unvollkommener Gestalt, kein anderer ist als Piaton. Er ist es, der zuerst Kunde gegeben hat von einer jen- seitigen wahren Welt, dem töttoc uTrepoupdvioc, von der die unsere ein bloßes Abbild ist, er ist der antike Vorläufer von Kants transzendentalem Idealismus. Die Grundzüge desselben finden sich bei Piaton, dem Freunde der Bildersprache, am vollständigsten angedeutet in dem berühmten Höhlen- gleichnis zu Anfang des siebenten Buches der Republik. „Denke dir", heißt es dort, „Menschen in einer unterirdischen Höhle, die längs der ganzen Höhle einen gegen das Licht offenen Zugang hat. Von Kind auf seien diese in der Höhle an Schenkeln und Hals so gefesselt, daß sie immer an derselben Stelle, den Zugang hinter sich, nur vor sich hin an die Rückwand der Höhle sehen können. Licht haben sie von einem Feuer^ welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen den Gefangenen und dem Feuer gehe oben her ein Weg, und längs diesem eine Mauer, wie die Schranken, welche sich Gaukler vor den Zuschauern erbauen, um darüber hin ihre Kunststücke zu zeigen. Längs dieser Mauer tragen nun Menschen Gefäße, Bildsäulen und anderes vorüber, welches über die Mauer herüberragt. Einige von diesen Menschen reden dabei, andere schweigen. Diesem Gemälde vergleiche die menschliche Erkennt- nis. Zuerst werden ja doch diese Menschen von sich selbst, voneinander und von dem Vorübergetragenen nichts sehen, als die Schatten an der Rückwand der Höhle. Da werden sie also diese Schatten für die wahren Dinge selbst halten und wenn sie durch den Widerhall die Stimmen der Vorübergehenden hörten, meinen, nichts anderes rede, als die vorüber- gehenden Schatten."
„Ferner, wenn nun einer von diesen entfesselt und nun genötigt würde,, sich umzudrehen und gegen das Licht zu sehen, sodaß das Licht ihm Schmerzen machte und der Glanz ihn hinderte die Dinge recht zu er-
Höhlengleichnis 3
kennen, von denen er vorhin die Schatten sah, und nun jemand ihn ver- sicherte, früher habe er nur Nichtiges gesehen, jetzt dem Seienden näher und ihm mehr zugewendet sehe er richtiger, würde jener da nicht meinen, was er früher gesehen, sei doch wirklicher als was ihm nun gezeigt werde? Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, so würden ihm wohl die Augen schmerzen, er würde fliehen und zu dem zurück- kehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei weit ge- wisser als das zuletzt Gezeigte. Wenn ihn nun gar jemand den steilen Aufgang hinaufschleppte und nicht losließe, bis er in das Licht der Sonne blickte, wird er da nicht viel Schmerzen haben, sich ungern führen lassen und anfangs gar nichts sehen von dem, was ihm für das Wahre gegeben wird? Erst würde er sich gewöhnen müssen, um das Obere zu sehen. Da würde er zuerst am leichtesten Schatten erkennen, hernach die Bilder im Wasser, dann erst die Menschen und die anderen Dinge selbst. Auch ebenso würde er zuerst den Himmel lieber bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen, als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bil- der von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie selbst an ihrer eigenen Stelle zu betrachten imstande sein. Und dann wird er finden, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Räume, und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist. Nun wird er sich glücklich preisen über die neue Er- kenntnis, und Venn seine Mitgefangenen gleich Ehre und Belohnung für den bestimmt hätten, der die Schatten am schärfsten sah, sich ihre Reihenfolge am besten gemerkt hatte und am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde, so würde ihn doch nicht gelüsten wieder zurückzukehren, um an dieser Weisheit von neuem teilzunehmen. Stiege er aber wieder hinunter, so würden ihm, der so plötzlich von der Sonne käme, die Augen voll Dunkelheit sein, er würde sobald nicht wieder die Schatten zu erkennen vermögen, sodaß jene von ihm sagen würden, er sei mit verdorbenen Augen zurückgekommen und es lohne nicht, daß man versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, umbringen, so wie man nur könne. Dieses ganze Bild nun vergleiche der menschlichen Erkenntnis. Wir setzen das Gebiet des Sichtbaren (die Sinnenwelt) der Wohnung im Gefängnis gleich und den Schein des Feuers darin der Kraft der Sonne, dem Aufschwünge der Seele in das Gebiet des Denkbaren (d. i. die Ideenwelt) aber das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen^Dinge. Gott mag wissen, ob diese meine Meinung richtig ist; was ich indessen sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des
4 Der überhimmlische Ort
Guten (d. i. die Idee der Gottheit) erblickt wird; wenn man sie aber er- blickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ur- sache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und dessen Herren erzeugend, im Denkbaren aber sie allein als Herrscherin Wahr- heit und Vernunft hervorbringend, so daß diese sehen muß, wer ver- nünftig handeln will, es sei in eigenen oder in öffentlichen Angelegen- heiten."
Folgen wir Piatons eigener Deutung des Bildes, so sind es drei Punkte, auf die das Ganze hinausläuft: 1. Der Gegensatz von Sein an sich und Erscheinung, 2. die Selbständigkeit der Geisteswelt und 3. die Zurück- setzung der Raumwelt dagegen. Piaton erklärt also, wie es der transzen- dentale Idealismus tut, die selbständige Geisteswelt für das wahre Wesen der Dinge und die Raumwelt für die Erscheinung derselben. Und das ist das Wesentliche. Auf die erheblichen Unterschiede, die dem unge- achtet zwischen den beiden Lehren bestehen, sei nur in aller Kürze hin- gewiesen. Während es uns seit Galilei und Newton zur Gewohnheit geworden ist, in der beharrlichen Masse den festen Widerhalt (die Sub- stanz) für die Raumwelt zu erblicken, war für Piaton der Körper nur ein Raumgebilde ohne Materie und Wesenhaftigkeit. Der heraklitische Fluß aller Dinge hatte ihn unmittelbar von der Wesenlosigkeit der Raumwelt überzeugt. Wo es nichts Beharrliches gibt, da, meinte er, kann weder von Wesen noch von Wissen die Rede sein. Ohne diese kann sich aber die Vernunft nimmermehr zufrieden geben. Das einzig Feststehende und Unveränderliche in unserer Erkenntnis sind die Begriffe. An sie also, nicht an die erscheinenden Dinge muß sich der Geist halten, wenn er der Wahrheit teilhaftig werden will. Nur im Denken durch Begriffe können wir uns über den unaufhörlichen Wechsel erheben. So sieht er denn in dem Sinnlichen und Sichtbaren nur ein wandelbares, wesenloses Bild von dem unwandelbaren, nur denkbaren Wesen der Dinge. Feenartig schwebt die Sinnenwelt wie ein unfaßbares Luftgebilde vor uns, wandel- bar und ohne Bestimmungen gesetzmäßiger Notwendigkeit. Daher die große dichterische Freiheit in der Darstellung derselben bei Piaton. Aber das Blatt hat sich gewendet. Die induktiven Wissenschaften haben gegen Piaton entschieden und unser Wissen recht eigentlich an die Natur ge- bunden. Der Verstand greift, um zum Wissen zu gelangen, nicht über die Natur hinaus, sondern fragt, durch Beobachtungen und feste Maximen geleitet, der Natur ihre Gesetze ab. Für uns gestaltet sich also die Be- urteilung der ganzen Frage anders. Wir müssen auf der einen Seite die Wesenhaftigkeit der Sinnenwelt behaupten, anderseits doch ihre Unzu- länglichkeit gegenüber den Forderungen der Vernunft anerkennen. Ihre
Sinn des Gleichnisses 5
beharrliche Masse verbürgt ihr ihre Wesenhaftigkeit; ihre Stetigkeit und Unvollendbarkeit dagegen steht im Widerstreit mit der unabweisbaren Forderung der Vollendung. Wir begründen den transzendentalen Idea- lismus durch den Gegensatz der unvollendbaren rein-anschaulichen Vor- stellungsweisen der Erscheinung gegen die Ideen des Absoluten, denen gemäß das wahre Wesen der Dinge bestimmt sein muß. Piaton dagegen gründet seine Lehre an erster Stelle auf den Gegensatz der wandelbaren Sinnesanschauung gegen das unwandelbare Notwendige, welches nur im Denken durch Begriffe erkannt werden kann. Die Antinomie des Un- vollendbaren und des Vollendeten ist eine wahre Antinomie, die nur durch den transzendentalen Idealismus aufgelöst werden kann, die des Wandel- baren und Notwendigen (nur Denkbaren) dagegen ist eine bloß schein- bare, die durch die induktiven Wissenschaften aufgelöst worden ist. Denn durch diese wird die sinnliche Erscheinung dem Gesetze, dem Notwen- digen unterworfen. Für uns sind die Begriffe Hilfsmittel, die Herrschaft über die Natur zu gewinnen, indem sie in Verbindung mit der Beobach- tung der Erscheinungen uns allmählich zur Entdeckung der Naturgesetze führen. Für Piaton liegt die eigentliche Bedeutung der Begriffe nicht nach der Seite der Sinnlichkeit, sondern der Ewigkeit hin. Wir trennen Begriff und Ideen, indem uns die letzteren nur die schrankenverneinen- den Vorstellungen des Geistes sind, durch die wir allein den Gedanken der Vollendung zu fassen imstande sind: Unsterblichkeit, Freiheit, Gott- heit sind die wahren, über alles Sinnliche erhabenen Ideen. Piaton gibt der Sinnenwelt auf der einen Seite mehr als wir, indem er schon die aus ihr gewonnenen empirischen Begriffe zu Zeugen einer höheren Welt macht, anderseits weniger als wir, indem er die Erscheinungen dieser Raumwelt zu bloßen „Schatten", zu wesenlosen Bildern herabsetzt, während wir ihr Masse und damit Wesenhaftigkeit zusprechen.
Wir können also dem platonischen Höhlengleichnis ein anderes Gleich- nis mitsamt seiner Deutung entgegensetzen, ein Gleichnis nicht Kants selber, aber eines geistvollen Kantianers. Es lautet:
„Gesetzt, auf einer unbekannten Insel des Weltmeeres wohnte ein Volk, das von Natur blind wäre. Diesem Volke würde eine Menge Be- griffe und Kenntnisse fehlen, die wir besitzen. Sie würden das einen Körper nennen, was sich tasten, hören, riechen und schmecken läßt, aber davon würden sie keinen Begriff haben, daß man einen Körper auch sehen kann. Der Kreis ihrer Wahrnehmungen bliebe auf ihre Insel, höchstens auf die Erde beschränkt. Die Sternenwelt wäre ihnen ein ver- borgener Gegenstand. Wie nun aber, wenn diese Menschen auch das Bewußtsein ihrer Blindheit hätten? Wenn sie wüßten, daß ihnen ein
^ Der überhimmlische Ort
Sinn abginge, der die Dinge noch ganz anders zeigte, als alle die Sinne, welche sie besitzen? ein Sinn, der in ungemessene Fernen trägt, in eine Ferne, die über die Erde hinausliegt? Würden sie nicht glauben, daß es jenseits der Erde auch noch Dinge geben könnte, die ihnen nur des- halb unbekannt sind, weil sie dieselben nicht wahrnehmen? Und würden sie nicht glauben, daß auch die Gegenstände ihrer Umgebung sich ihnen ganz anders darstellen würden, wenn sie jene Wahrnehmung besäßen? Astronomie würden sie freilich nicht haben, aber sie könnten doch durch den Wechsel von Tag und Nacht, den sie, wenn auch nicht sehen, doch fühlen, sie könnten durch den Wechsel der Jahreszeiten, den sie durch das Reifen ihrer Früchte erfahren, allmählich dahinter kommen, daß es eine allbelebende Quelle der Wärme in der Natur geben müsse, die zwar selbst gänzlich außer dem Kreise ihrer Wahrnehmungen liegt, deren Wir- kungen sie aber spüren. Und wenn sie auch von dieser Wärmequelle sich keinen Begriff machen können, wenn sie auch nicht sagen können, was für ein Ding sie sei, so können sie doch nicht an ihrer Existenz zweifeln."
„In einer ähnlichen Lage befindet sich der Mensch. Der Mensch er- kennt die Dinge, aber er weiß auch, daß seine Erkenntnis einen Mangel an sich trägt. Es ist dieselbe nämlich von der Beschaffenheit, daß sie niemals vollendet ist und auch niemals vollendet werden kann. Diese Unvollendbarkeit kann wohl an unseren Vorstellungen von den Dingen haften, aber sie kann nicht dem Wesen der Dinge selbst anhängen. Wir müssen uns also das Wesen der Dinge selbst frei denken von den Mängeln, die unsere Erkenntnis trüben, wir müssen glauben, daß die Dinge an sich ganz anders sind, als sie uns erscheinen, daß sie uns sich auch ganz anders darstellen würden, wenn jener Mangel unserer Erkenntnis getilgt wäre. Wir müssen also glauben, daß ein übersinnliches Wesen der Dinge verborgen hinter dem liege, wie es uns sinnlich erscheint. Die unsicht- bare, übersinnliche Welt befindet sich nicht jenseits der Grenze dieser sichtbaren Raumwelt, denn eine solche Grenze gibt es nicht, kann es nicht geben, sondern jenseits der Schranken unserer Erkenntnis der Welt. Dies ist der Grundgedanke des transzendentalen Idealismus. Hier liegt der wahre Grund unserer^Unwissenheit über das unsichtbare Wesen der Dinge."
Auch dem Piaton schwebte dies wahre übersinnliche Reich, in dem alle Mängel und Beschränktheiten der unvollendbaren Sinnenwelt getilgt sind, vor, und niemandes Phantasie hat lebhaftere Ahnungen von dem Glänze dieses „überhimmlischen Ortes", wie er ihn bildlich nennt, zu er- wecken vermocht als die seine. Allein der noch unentwickelte Stand der
Gegengleichnis • Der ontologische Gesichtspunkt 7
philosophischen Abstraktionen brachte es mit sich, daß für die verstandes- mäßige Ausführung seines Gedankens seine Mittel nicht ausreichten. Er konnte seiner eigentlichen Intention nicht gerecht werden. Seine fehler- hafte Vorstellung von der Bedeutung der Begriffe wurde die Quelle der Verlegenheiten, die ihren Ausdruck finden in der Unsicherheit und dem Schwanken hinsichtlich der näheren Bestimmungen, die für die über- himmlische Welt gelten sollen. Dies näher zu erläutern wird es gut sein, zunächst eine genaue Übersicht zu gewinnen über die Wege, auf denen Piaton zu seiner übersinnlichen Welt gelangte. Wenn wir die Belehrungen des Aristoteles verbinden mit dem, was wir den eigenen Schriften des Piaton über die Frage entnehmen dürfen, so kommen vier Gesichtspunkte in Betracht: 1. der ontologische, 2. der logische, 3. der psychologische und 4. der ethische.
Der ontologische Gesichtspunkt führt auf den schon oben hervor- gehobenen heraklitischen Satz vom unablässigen Fluß aller Dinge. Er bildet nach der negativen Seite hin den Ausgangspunkt für die plato- nische Lehre. Wenn Piaton diesen Satz im heraklitischen Sinne, d. h. in seiner Beziehung auf die Sinnenwelt — eine andere kannte Heraklit nicht — als richtig anerkannte, so bedeutete das für ihn die Wesenlosigkeit der Sinnenwelt und damit zugleich den Tod aller Wissenschaft, sofern es nicht «ine andere, noch zu entdeckende höhere Welt von wahrhafter Wesen- haftigkeit gab. Er fand zwar bei den Pythagoreern und Eleaten den Hin- weis auf eine andere als bloß sinnliche oder empirische Erkenntnisweise: bei den ersteren auf die mathematische, bei den letzteren auf die noe- tische. Aber weder die pythagoreische Philosophie konnte seinen An- sprüchen an wahres Wissen genügen, denn sie sah ja eben in den Zahlen das Wesen der sinnlichen Dinge selbst, noch die eleatische Philosophie, denn sie erhob sich mit ihrer Bestimmung der Weltkugel als dem wirk- lich Seienden nicht wahrhaft über die Sinnenwelt, sondern blieb bei der leeren mathematischen oder, wie sie sagten, nur denkend erkannten Form des Ganzen stehen. Wollte und konnte also Piaton nicht auf ein wirk- liches Wissen verzichten, so mußte er sich nach anderer Hilfe umsehen. Er fand sie als Sokratiker bei den Begriffen und deren Definitionen.
Damit sind wir bei dem zweiten, dem logischen Gesichtspunkt an- gelangt, der sich bei Piaton alsbald mit einem metaphysischen verbindet. Begriffe sind allgemeine Merkmale, die vielen Dingen zugleich zukommen. Sie bilden sich uns zwar durch Abstraktion aus der Betrachtung des gleichartigen Einzelnen, haften aber nicht am Einzelnen, welches kommt und schwindet, sondern liefern maßgebende Formen für die denkende, also mit dem Geiste festzuhaltende Auffassung der veränderlichen Er-
g Der überhimmlische Ort
scheinungen. Sie gehen auf das Allgemeine und erheben sich eben da- durch über das Einzelne. Sie sind durch die Sprache mitteilbar, also Mittel dauernder Belehrung. Sie sind nicht wechselnd und vergänglich wie die Sinnendinge, sondern bleibend und unvergänglich. Eben darin mußte Piaton ihre Verwandtschaft mit dem wirklichen Sein erblicken im Gegensatz zu dem bloßen Werden. Sie schienen hinzuweisen auf ein Reich nicht der sinnlichen Wahrnehmung, sondern der reinen Verstandes- erkenntnis, nicht des Scheines, sondern des wirklichen Seins. Sie schienen also die Brücke zu bilden hinüber in ein wesenhaftes Jenseits. Nicht als ob sie unmittelbar selbst schon die ersehnte Wesenhaftigkeit besäßen. Piaton konnte die Begriffe als solche nicht ohne weiteres von unserem menschlichen Vorstellungsvermögen ablösen. Sie hatten ja auch für ihn ihre klare Beziehung auf die Welt der Erscheinungen. Aber diese letztere konnte zufolge ihrer Wesenlosigkeit und Veränderlichkeit wohl subjektiv für uns der Ausgangspunkt für die Bildung der Begriffe^), nicht aber das
1) Das Widersinnige der platonischen Konzeption, soweit sie nicht, wie mit den Ideen des Sittlichen, wirklich die freie Geisteswelt erreicht, gab bekannt- lich dem Scharfsinn des Aristoteles reichen Stoff zu scharfer und treffender Kritik. Darüber später. Wir können unserseits folgendes bemerken. Was die empirischen Begriffe anlangt, so ersieht man das Verfehlte des platonischen Gedankens schon daraus, daß sich die Gegenstände der Sinnenwelt als solche nicht absolut denken lassen. Eine absolute Sinnlichkeit gibt es nicht. Und weiter aus Folgendem. Die Ideen sind Korrelate der Begriffe. Die Begriffe als solche aber gründen sich auf ein bloßes Schema der Einbildungskraft, das Kant treffend Monogramm der Einbildungskraft nannte. Dies Schema ist immer ein zwar charakteristischer, aber dürftiger Auszug aus dem Reichtum der Wirklich- keit, ein stoffloser Umriß im Gegensatz zu der Fülle der Erscheinung, .andere Züge aber als diese im Schema liegenden kann auch die Idee nicht in sich tragen, abgesehen von der Wesenhaftigkeit, in der indes keine Bereicherung an Eigenschaften liegt. Anderseits birgt aber wieder die Idee die ganze Fülle des Seins in sich, insofern sie der Erscheinung zum Musterbild dient, Zielpunkt ihres Werdens ist und ihr ihre Schönheit verleiht. Die beste Erscheinung hie- nieden wäre aber doch offenbar die, welche nur die reinen Züge der Idee (also des Schemas) an sich trüge. Das wäre aber nicht die schönste, sondern die ausgeleerteste und ärmste. Was uns an der Erscheinung wirklich als schön entgegentritt, ist der aller Auffassung des Verstandes überlegene Reichtum des Objektes, die aller Regel sich entziehende Mannigfaltigkeit seiner Gestaltung. Gerade diese aber ist es, die für die platonische Idee verschwindet, denn die Idee will allein durch den Verstand (durch Denken) erfaßt sein. Die Tendenz für die Idee geht dahin, beides, die dürre Heide und die schöne grüne Weide in eins zu verschmelzen; aber das Unmögliche kann auch die Idee nicht leisten. - Einer bezeichnenden subjektiven Schwierigkeit, die sich für Piaton ergab, sei noch kurz gedacht. Wenn die Ideen als Musterbilder (TTapaöeiYMCf'^a) von Ewigkeit her bestehen, so müssen ihre schattenhaften Abbilder im Räume
Der logische Gesichtspunkt 9
eigentliche Objekt derselben sein. Der Charakter der Unveränderlichkeit und Beharrlichkeit, der ihnen inne wohnt, schien den Hinweis zu ent- halten auf beharrliche Wesen. Dem Sokrates war zuerst die Bedeutung der Begriffe für die wissenschaftliche Erkenntnis aufgegangen. Aber er stand unbeirrt auf dem Boden der Sinnenwelt, während dem Piaton zu- folge seiner eingehenden Beschäftigung mit Heraklit dieser Boden unter den Füßen wankte. So wurden ihm die Begriffe Anweisung auf ein wesenhaftes Sein. Jedem Begriff entspricht nach Piaton ein solches be- harrliches Wesen. Das ist die Idee. Sie ist also nicht schlechtweg der zum wirklichen Sein (övtujc öv) erhobene Begriff, sondern sie ist der Gegenstand, der durch den Begriff erkannt wird, auiri fi oucia, fic Xotov bibojuev Kai epuuiüjvTec xai dTiOKpivojuevoi (Phaed. 78 D). Aber, wie schon gesagt, im Begriff liegt noch nicht der Gedanke der Vollendung, d. i. der Negation der Schranken unserer Erkenntnis. In der Verkennung dieses Sachverhalts liegt Piatons großer dialektischer Fehler.
Daß sich nun in der Darstellung die Grenze zwischen Begriff und Idee vielfach verwischt und die Auffassungsweisen ineinander fließen, ist natürlich und läßt sich durch viele Stellen belegen. Allein es wäre un- recht, den Philosophen da überall beim Worte nehmen zu wollen. Denn wo er eingehender Rechenschaft gibt, zeigt es sich klar, daß sein Gedanke im Grunde immer auf die Selbständigkeit der Geisteswelt geht, welche allein unwandelbar ewig besteht. Wären die Ideen unmittelbar hyposta- sierte Begriffe, so wäre nicht abzusehen, wie es kommt, daß der mensch- liche Verstand die Ideenwelt nur stückweis und in unvollendbarer An- näherung zu fassen vermag; er müßte eine adäquate Erkenntnis besitzen. Doch diese ist nach den bestimmtesten Erklärungen Piatons nur der Gott- heit vergönnt. Die Begriffe geben uns keinen vollen Anblick des ewig
auch immer vorhanden gewesen sein. Daß dies für Piaton selbst stillschwei- gende Voraussetzung ist, gibt sich an gewissen Verlegenheiten kund, die er selbst als solche empfindet. An einer Stelle der Gesetze (721 C vgl. 676 B) spricht er dem Menschengeschlecht dieselbe Dauer zu wie der Zeit selbst. Allein besser beobachtende Landsleute von ihm hatten in dieser Beziehung schon vor ihm richtigere Vorstellungen. Und er selbst scheint ein Gefühl von der Unsicherheit seiner Behauptung gehabt zu haben. Im sechsten Buche der Gesetze nämlich (782 A) läßt er noch eine andere Möglichkeit offen: „Das Menschengeschlecht", heißt es da, „hat entweder überhaupt niemals einen Anfang genommen und wird nie ein Ende nehmen, sondern es ist immer ge- wesen und wird immer sein, oder aber es ist seit seiner Entstehung eine un- ermeßliche Zeit verstrichen." Und von den Weinstöcken, den Ölbäumen und den Gaben der Demeter und Kora sagt er an derselben Stelle, es habe Zeiten gegeben, wo diese noch nicht vorhanden gewesen seien.
10 Der überhimmlische Ort
Seienden in seiner Wesenheit, sondern gewähren uns in der Anwendung auf das anschaulich Erkannte nur die unvollkommene Beziehung der menschlichen Anschauung auf das Notwendige und Gute der jen- seitigen Welt. „Wenn es", heißt es im Parmenides (134 C), „eine rein an sich seiende Idee der Erkenntnis gibt, so muß diese viel genauer sein als unsere Erkenntnis, und jene Art von Schönheit wird weit vollkommener sein als die, welche sich unter uns findet, und ebenso wird es mit allem anderen stehen. Notwendigerweise muß also, wofern überhaupt irgend etwas der Erkenntnis an sich teilhaftig ist, niemandem sonst als Gott selber die allergenaueste und allervolikommenste Erkenntnis zukommen." In Übereinstimmung damit erklärt er im Phaidros (278 D) die Gottheit allein für weise, und die ganze Fiktion des „überhimmlischen Ortes" be- stätigt es. Wenn man nicht selten auf die Behauptung stößt, die philo- sophische Erkenntnis sei nach Piaton eine intuitive, so liegt darin eine starke Verkennung des wahren Charakters dieser Philosophie. Man be- ruft sich dabei namentlich auf die Stelle im Gastmahl (210 E), wo von dem plötzlichen Auftauchen des Urschönen vor dem Auge der Seele die Rede ist. Aber man vergißt einerseits, daß diese Darstellung ganz unter dem Einflüsse des Bildes von den Mysterien (von 210 A ab) steht, ander- seits, daß selbst in dieser halb bildlichen Darstellung das Mühevolle (210 E) und die stufenweise Annäherung (211 C ujcrrep erravaßaG^oic Xpuu)Lievoi) an das zu Erreichende betont und ausdrücklich auch die Be- zeichnung ,ud9r|ua (ein Erlernen) dafür gebraucht wird. Im übrigen ist ja im Sinne Piatons das ganze schwierige Werk der Dialektik, als die eigent- liche Aufgabe des Philosophen, wie sie sich in so vielen Dialogen dar- gestellt findet, der schlagendste Gegenbeweis gegen den angeblich intui- tiven Charakter des platonischen Philosophems.
Doch dies nebenbei. Die Hauptsache ist, daß die Ideen als selb- ständige, substantielle Urbilder gedacht werden, als TrapabeifiaaTa aiuuvia, wie sie die späteren Platoniker nannten.
Diese Auffassung findet ihre volle Bestätigung in der logisch wie metaphysisch gleich merkwürdigen Bedeutung, welche das Urteil bei Piaton hat. Dabei hat man von den wirklichen Urteilen zunächst abzu- sondern die bloßen Vergleichungsformeln, die in der platonischen Dialektik, z. B. im Parmenides und Sophistes, eine so große Rolle spielen. Diese Vergleichungsformeln sind keine eigentlichen Urteile; sie stellen vielmehr nur vergleichende Begriffsverhältnisse dar ohne Beziehung auf anschau- liche Gegenstände. Darum unterliegen sie auch nicht der logischen Dis- ziplin der Urteile; es gilt hier die negative Form ohne Widerspruch neben der positiven Form, z. B. Einheit ist nicht Vielheit, Bewegung ist
Bedeutung- des Urteils { {
nicht Verschiedenheit, und daneben auch wieder Einheit (Eines) ist Viel- heit (Vieles) usw. Ganz anders das eigentliche Urteil. Da stehen dem Piaton im Subjekt die Gegenstände der Sinnesanschauung, das löbe xi oder die Tauia, während im Prädikat der Begriff steht. Durchgehends nun tritt uns in seinen reiferen Schriften die Anschauung entgegen, daß die Taöia des Subjektes, d. i. die Sinnesgegenstände, in einem Verhältnis zum Prädikat stehen wie der Schatten zum Körper oder wie das Spiegel- bild zum wesenhaften Original. Der Begriff als Prädikat ist der Repräsen- tant des Wesenhaften, die Vielheit der möglichen Subjekte erhält durch eine mystische Anteilnahme ()ue6eHic, lueittcxecic u. ä.) erst ihre Seins- berechtigung. Das Subjekt ist ein schattenhaftes Abbild des Wesens, das durch den Prädikatsbegriff vorgestellt wird. Die immer wiederkehrenden Bezeichnungen durch Ausdrücke wie lueiexeiv, jueiaXa^ßdveiv, eoiKevai u.a., wie sie vom Standpunkt der Sinnendinge, TiapeTvai, TTpocTiTveceai u. ä., wie sie vom Standpunkt der Ideen aus üblich sind, lassen über diese Be- deutung des Urteils bei Piaton keinen Zweifel. Es findet hier also eine merkwürdige Umkehrung des wahren Verhältnisses statt. Tatsächlich liegt im einfachen kategorischen Urteil die Wesenhaftigkeit(oderin abstrakteren Urteilen wenigstens die unmittelbare Beziehung auf die Wirklichkeit) nicht im Prädikat, sondern im Subjekt, z. B. „diese Bäume sind hoch". Durch die Verbindung mit dem Prädikat ordnen wir es in die Sphäre eines all- gemeinen Merkmals ein, das dadurch ein Erkenntnisgrund für den Ver- stand wird. Das Prädikat ist, wenn man so sagen will, die Etikette, die wir der Vielheit der Gegenstände beigeben, um sie in Klassen zu ordnen. Dadurch wird die unüberschaubare Fülle der Sinnesgegenstände zwar nicht für das Auge, wohl aber für den Verstand allmählich überschaubar, die unzählbare Masse des Einzelnen allmählich zählbar (nach Klassen), und so die Natur mehr und mehr der Herrschaft des Verstandes unter- worfen. Kurz, das Urteil ist, nach der Definition der kantischen Schule, die Erkenntnis von Gegenständen durch Begriffe. Dem gegenüber nimmt sich die platonische Auffassung geradezu phantastisch aus. Näher zugesehen ist sie indeß doch sehr sinnvoll und originell und stellt sich, so irrtümlich sie auch ist, doch als eine notwendige Durchgangsstufe in der allmählichen Ausbildung der philosophischen Abstraktionen dar. In gewissen Erscheinungen der sophistischen Logik kann man eine Art Vor- bereitung für die platonische Auffassung erkennen. Einige Sophisten nämlich behaupteten, von einem Subjekte könne vermittels der Kopula „Ist" von rechtswegen nichts anderes im Prädikat ausgesagt werden, als der Subjektsbegriff selbst. Diese Ansicht geht augenscheinlich auf die Annahme zurück, daß in dem „Ist" der Kopula als Seins- und Wesens-
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ausdruck nur die Hinweisung auf ein Prädikat liegen könne, in dem un- mittelbar das volle Wesen des Subjekts zum Ausdruck komme; das aber könne nur in der Identität mit sich selbst liegen. Wenn demgegenüber Piaton die Mannigfaltigkeit der Urteilsmöglichkeiten sowie die Verschieden- heit von Subjekt und Prädikat anerkennt, so läßt doch im übrigen seine Auffassung des Urteils eine gewisse Anknüpfung an diese sophistische Ansicht insofern erkennen, als er im Prädikat den Träger oder genauer gesprochen den Repräsentanten der Wesenhaftigkeit sah.
In der bisher besprochenen Richtung seines Denkens wurde Piaton wesentlich bestärkt durch den dritten der oben angegebenen Gesichts- punkte, durch den psychologischen, wie wir ihn nennen dürfen. Es waren zwei Arten von Erwägungen, die von verschiedenen Ausgangs- punkten anhebend zu dem nämlichen Resultate gelangten. Der eine lag in den Begriffen, der andere in gewissen Arten von Urteilen.
Was den ersteren anlangt, so drängte sich Piaton bald die Bemerkung auf, daß die Begriffe nicht schlechtweg aus den Sinnesanschauungen ge- schöpft sein könnten. Denn die letzteren sind den ersteren nicht adäquat, sondern bleiben, wie er meint, hinter ihnen zurück. Wir müssen also, folgert er, die Begriffe, die wir auf die Erscheinungen anwenden, früher haben als den Anblick der letzteren. „Woher haben wir", heißt es im Phaidon (74 B), „das Wissen (von dem Gleichen an sich) bekommen? Etwa nicht von den Dingen aus, die wir eben vorhin anführten? Indem wir gleiche Hölzer oder Steine oder irgendwelche andere gleiche Gegen- stände erblickten, so haben wir ja wohl von diesen Gegenständen aus Jenes uns zum Bewußtsein gebracht, und zwar als etwas von diesen Verschiedenes." Und nachdem dies des weiteren ausgeführt ist, heißt es dann (75 A): „Notwendig also müssen wir das Gleiche zuvor gekannt haben, vor jener Zeit, als wir die gleichen Dinge das erste Mal gesehen haben und dessen uns bewußt geworden sind, daß sie alle zwar danach streben, wie das Gleiche zu sein, aber doch dahinter zurückbleiben." Wir müssen also die Vorstellung anders woher empfangen haben, als aus dieser Sinnenwelt. Wenn aber nicht aus ihr, so bleibt nichts anderes übrig, als daß sie Erinnerungen sind an ein vorweltliches Leben, an eine Präexistenz, in der wir die Urbilder, die Ideen selbst geschaut haben.
Der andere Ausgangspunkt bezieht sich auf die allgemeinen und not- wendigen Urteile. Aus dem Beispiel der Mathematik läßt sich, wie der Dialog Menon so treffend dartut, ersehen, daß der Geist diese Wahrheiten ganz aus sich selbst schöpft Sie liegen in ihm. Wie aber ist er in ihren ersten Besitz gelangt? Auch hier fand Piaton keine andere Antwort als im ersten Fall: nur die Erinnerung an ein früheres reines Erkenntnisleben
Psychologischer und ethischer Gesichtspunkt 13
der Seele kann der Grund dafür sein. So wurde die Wiedererinnerung, dvd)uvr|cic, das berühmte Stichwort der Ideenlehre. Für Piaton mag diese Lehre von der Wiedererinnerung buchstäbliche Geltung gehabt haben. Für uns wird sie zum treffenden Bilde für die wahre Natur der philo- sophischen Grundsätze und des philosophischen Forschens. Unsere Ver- nunft ist so organisiert, daß in ihrer beharrlichen Selbsttätigkeit der Grund liegt für die allgemeinen und notwendigen Wahrheiten (die synthetischen Urteile a priori). Ihre Anregung aber empfängt diese beharrliche Selbst- tätigkeit durch die Sinnlichkeit. Nur durch sie und an ihr tritt diese be- harrliche Selbsttätigkeit in Erscheinung und nur durch Denken kann sie uns in abstrakto zum Bewußtsein gebracht werden. Durch seine Lehre von der Wiedererinnerung und die Rolle, die dabei den Begriffen und dem Denken durch diese zufällt, hat Piaton einen tiefen und ahnungs- vollen Blick in den Bau unseres Geistes getan, der, der Bildlichkeit der Vorstellungsweise entkleidet, durch die Fortschritte nüchterner Selbst- beobachtung allmählich zur Einsicht in das Wesen unserer Vernunft führte. Als vierter Gesichtspunkt — zuletzt, doch nicht am letzten — folgt der ethische. Daß Piatons „überhimmlischer Ort" als ein Reich des Guten und Schönen, als eine Welt sittlicher Vollendung gedacht ist, ist bereits zu Anfang bemerkt worden und wird aus seinen Dialogen von den verschiedensten Seiten her bestätigt. Die „Idee des Guten" ist es, der die Herrschaft in diesem Reiche zufällt, und der Hinweis auf das Gute und Schöne ist der rote Faden, der sich durch seine Erörterungen über jene Welt hindurchzieht. Wenn in der Republik (500 C) der Gegensatz jener Welt zu dieser, der überhimmlischen zur irdischen, geschildert wird, ist es an erster Stelle der unbefleckte sittliche Glanz, der als bezeichnend für jene Welt hervorgehoben wird, „worin eine ewige Ordnung und Un- wandelbarkeit herrscht, worin die Wesen weder Unrecht tun noch voneinander leiden und worin alles nach einer himmlischen Ordnung und Vernunftmäßigkeit geht." Im Gastmahl läuft die ganze Betrachtung der Ideenwelt schließlich in den einen Gedanken von dem Anblick des Urschönen aus; und in dem Bild, das uns die Phantasie des Philosophen im Phaidros von dem überhimmlischen Orte entwirft, stehen die Ge- stalten der Gerechtigkeit und sittlichen Besonnenheit in vorderster Reihe (247 D), wie denn auch im Theaetet (176 A) das Schlechte und Böse auf die diesseitige Welt beschränkt wird. Unter der Führung des Sokrates hatte er vornehmlich der Tugendlehre seine Aufmerksamkeit zugewandt, denn die sittlichen Tugenden waren es, auf die sich, wie Aristoteles (Met. 1078 b 12 ff.) mit Beziehung auf das Verhältnis des Piaton zu So- krates sagt, die Untersuchungen des Sokrates vorwiegend richteten.
14 Der überhimmlische Ort
So sind es denn durchweg auch sittliche Begriffe, mit denen sich die früheren Dialoge des Piaton beschäftigen. Wenn also dem Piaton für die Annahme eines jenseitigen Reiches, wie im Obigen dargetan, die Be- griffe überhaupt von bestimmender Bedeutung waren, so ergab es sich für ihn von selbst, daß die sittlichen Begriffe dabei die führende Rolle spielten. In der Tat sind gerade sie es, die, weil ganz auf unserem Glau- ben an das Ewige und Vollendete ruhend und an sich der Natur und dem sinnlichen Dasein fremd, sich als die lebendigsten Zeugen einer höheren Ordnung der Dinge erweisen und auch geschichtlich an erster Stelle berufen scheinen, den Gedanken an eine jenseitige Welt als die allein wahrhaft seiende zu wecken. Wir haben allen Grund anzunehmen^ daß dies eben bei Piaton der Fall gewesen ist. Die sittlichen Forde- rungen klangen ihm wie Stimmen aus der höheren ewigen Heimat der Seele. Auf Schritt und Tritt fühlt man bei ihm die Ahnung jener Welt als einer Welt des Guten und Schönen durch. Aber da er in seiner Dialektik, wie dies nach dem Stande der philosophischen Angelegenheiten natürlich und begreiflich war, vom logischen Standpunkt ausgehend, die Begriffe als Begriffe für gleichartig ansah, mußte er sich auch den Kon- sequenzen dieser Gleichstellung anbequemen. Was für die sittlichen Vor- stellungen recht war, mußte für die Erfahrungsbegriffe billig sein. Daß es ihm nicht leicht wurde diese Konsequenzen zu ziehen, und daß er sich anfänglich sträubte auch den äußeren Erfahrungsbegriffen und den auf Böses und Nichtiges hinweisenden Begriffen den Zutritt in jene höhere Welt zu gestatten, dafür bietet den deutlichen Beleg eine sehr beachtenswerte Stelle des Dialogs Parmenides (130 Bff.). Hier wird erst von den Ideen der Ähnlichkeit, des Einen, des Vielen, der Gerechtigkeit^ der Schönheit, des Guten gesprochen und dann die Frage aufgeworfen^ ob es denn auch Ideen des Menschen, des Wassers, des Feuers usw., ja endlich sogar des Kotes und Schmutzes gebe. Der junge Sokrates will davon nichts wissen, allein Parmenides erklärt dies für eine durch die Jugend des Sokrates entschuldbare Inkonsequenz. „Du bist eben noch jung, Sokrates, und die Philosophie hat dich noch nicht so ergriffen, wie sie dich, glaube ich, einst noch ergreifen wird, wenn du keines dieser Dinge mehr gering schätzest." Die Stelle hat geradezu den Wert eines Aktenstückes zur Genesis der Ideenlehre. Wenn neben den sittlichen Begriffen und in gleicher Linie mit ihnen die Ideen der Ähnlichkeit, Ein- heit und Vielheit genannt werden, so sind das teils Vergleichungsbegriffe, teils rein vernünftige Verbindungsformen, die unmittelbar auch für eine höhere Geisteswelt gelten. Worum es sich im Gegensatz zu den sitt- lichen Begriffen handelt, das sind die Begriffe der äußeren Erfahrung
Weltansicht und Dialektik 15
und eben diese sind es, auf welche sich die Bedenken des jungen So- krates beziehen. Wenn Zell er die Priorität der sittlichen Begriffe für die Ideenwelt bestreitet, so liegt das daran, daß er sich überhaupt nie zur Anerkennung des ethischen Grundcharakters der platonischen Philo- sophie hat durchfinden können.
Piatons ewige Welt des Guten und Schönen ist, um nun wieder zu unserem Ausgangspunkte zurückzukehren, der Absicht nach dieselbe, die wir uns als das Jenseits denken. Indem er sich aber, in Konsequenz seiner Begriffsphilosophie, genötigt sah, neben den wahren Ideen der Vollendung als den Gegensätzen alles Zeitlichen und Räumlichen, auch die fälschlich absolut gedachten Erfahrungsbegriffe mit jenem Reiche in Verbindung zu bringen, trennen sich unsere Wege von den seinen. Es erging ihm nahezu umgekehrt, wie einem anderen großen Entdecker. Kolumbus entdeckte eine neue Welt ohne sich dessen bewußt zu sein; er verlegte die neue Welt in die alte. Piaton war sich bewußt, eine neue Welt entdeckt zu haben, sah sie aber nur aus der Ferne und übertrug unbesehen gewisse Bestimmungen der alten auf die neue.
Man hat, wie bei allen großen Philosophen, so besonders bei Piaton sorgfältig zu unterscheiden zwischen Weltansicht und Dialektik. Einmal zu der Überzeugung von dem Vorhandensein einer höheren Geisteswelt gelangt, ist er ihr auch immer treu geblieben. Aber wie diese jenseitige Welt dialektisch zu schützen und im einzelnen auszubauen sei, darüber kam es zu so lebhaften Zweifeln und Bedenken, daß in der Folge ein Versuch der Lösung den anderen ablöste. Hier hat man die Phasen in der Entwicklung Piatons zu suchen, nicht in der Weltansicht selbst, die man mißverständlicherweise vielfach mit in jenen Wechsel der dialekti- schen Behandlung hineingezogen hat. So oft auch in den letzten Jahr- zehnten das angebliche Verschwinden jener Geisteswelt oder wenigstens das Verblassen derselben in dem letzten großen Erzeugnis der platoni- schen Schriftstellerei, in dem Werke von den „Gesetzen", betont worden ist, so fehlt einer solchen Ansicht doch der innere Halt. Es ist ja hier die ausgesprochene Absicht Piatons, seine ganze Darstellung für einen tieferliegenden Standpunkt zu geben. Gleichwohl finden sich Stellen genug, an denen der Kundige die ungeschwächte Liebe des Verfassers für jene Geisteswelt erkennt. Was sich bei Piaton, und zwar längst schon vor den Gesetzen, ändert, ist nicht die Weltansicht, sondern das Verhält- nis der Begriffe zu jener Welt. Im Zusammenhang mit den sittlichen Begriffen, von denen er wie oben bemerkt ausging, hat er anfangs allen Begriffen ihre Korrelate in der jenseitigen Welt gegeben. Aber wesent- liche Irrtümer lassen in der Regel bald Spuren der Unstimmigkeit mit
15 Der überhimmlische Ort
anerkannten Wahrheiten oder Tatsachen in die Erscheinung treten. Man wird unruhig und sieht sich nach Abhilfe um. So lag es nahe, daß die bloßen Verhältnis- und Vergleichungsbegriffe, die anfangs nächst den sittlichen Begriffen sich besonderer idealer Ehrung erfreuten, weiterem Nachdenken allmählich verdächtig vorkommen mußten wegen des nicht wegzuleugnenden Mangels an eigenem Gehalt. Ihr Bürgerrecht im „über- himmlischen Ort** ward demgemäß schließlich gestrichen. Die erhabenen sittlichen Ideen aber flössen mit der Zeit vielleicht alle in der einen Idee des Guten zusammen, eine Verschmelzung, für welche eine ganze Reihe von Gründen sprechen mochten. So blieben neben der Idee des Guten nur noch die Ideen der Naturerzeugnisse als einzige Inhaber des jen- seitigen Reiches übrig nach dem Zeugnis wenigstens des Aristoteles. Sie hatten für das gemeine Bewußtsein, aus dem heraus der Ideenlehre ja die Hauptvorwürfe erwuchsen, doch etwas Substantielles, das sich in das Jenseits hinüber projizieren zu können schien. Aber gerade damit war Piaton bei der bedenklichsten Phase seines Schwankens angelangt; denn eben dies widerstrebte am entschiedensten der eigentlichen Tendenz seiner idealen Welt.
Aus all diesen Verlegenheiten suchte sich Piaton zu retten, indem er schließlich seine Zuflucht zu den Idealzahlen nahm. Weit entfernt, damit etwa sein Idealreich aufgegeben zu haben, hat er es dadurch nicht nur von lästigen Unstimmigkeiten befreit, sondern es in seinem Sinne sogar erhöht. Denn die neuen Repräsentanten dieses Reiches waren die Korre- late der Zahlen, d. h. desjenigen Faktors der Erkenntnis, dem Ordnung und Maß alles Irdischen verdankt wird. Was das Wesen dieser im Unter- schiede von den gemeinen Zahlen nicht gleichartigen, sondern spezifisch voneinander verschiedenen Idealzahlen anlangt, so liegt es uns fern, den Leser in die Mystik dieser vieldeutigen Lehre einweihen zu wollen. Wir würden schlechte Mystagogen sein. Aber was ihren Ursprung anlangt, so sei wenigstens soviel gesagt: da im Universum alles nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet ist, die Zahl aber dabei begrifflich die Herrschaft führt, weil sie auch für die beiden anderen den Index bildet, so mußte sie als Träger einer ganz besonderen Rolle im Triebwerk des Weltalls erscheinen. Hatten die Pythagoreer die Zahl in Erkenntnis ihrer maß- gebenden Bedeutung zum Wesen der Sinnendinge selbst gemacht, so meinte Piaton in ihnen die Zeugen für ein übersinnliches Substrat zu er- kennen. Hatte er doch schon vorher das Mathematische überhaupt, als sichtbar im Bilde, aber nur denkbar seinem Wesen nach, in die Mitte gestellt zwischen die Sinnesanschauung und die Idee. Wenn er die Zahlen jetzt in eigenartigerweise hypostasierte und zu den eigentlichen Inhabern
Idealzahlen • Deutung der Ideen 17
seiner jenseitigen Welt machte, so erhob er damit seine Idealwelt nur noch weiter über die gemeine Welt der Sinne. Denn wenn die Idealzahlen als Musterbilder sich auch mit auf die Sinnendinge beziehen, so tun sie dies doch nur durch Vermittelung der gewöhnlichen Zahlen, während vor- her Zahlen und Dinge in gleichem Range nebeneinander in der Ideenwelt vertreten waren. Die Ideenwelt war dadurch vor der unmittelbaren Be- rührung mit der Sinnenwelt bewahrt und damit zugleich von den Schi- kanen befreit, die ihm diese Berührung verursacht hatte.
Wir sind in allem, was bisher erörtert worden ist, einfach von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Ideen, mag sie sich Piaton in Be- ziehung auf die Begriffe oder die Zahlen denken, im Sinne ihres Urhebers selbständige, an und für sich seiende Wesenheiten sind, getrennt existie- rend von den Dingen, getrennt von dem sie erkennenden Menschenver- stand, getrennt auch von dem göttlichen Geist. Zwar hat es schon im Altertum nicht an Gegnern dieser Auffassung gefehlt, indem manche die Ideen für Gedanken Gottes erklärten; weit kräftiger noch ist in der neueren Zeit seit Tennemann an ihr gerüttelt worden, am entschieden- sten und durchgreifendsten in den letzten Jahren von mehreren Gelehrten, indem man an die Stelle der substantiellen eine logisch-methodische Be- deutung der Ideen setzte. Indes das kann uns an unserer Auffassung nicht irre machen. Es ist schon in unseren bisherigen Ausführungen auch ohne Rücksicht auf diese Streitfrage manches beigebracht worden, was diese Ansicht als dem Geiste der platonischen Lehre durchaus fremdartig erscheinen läßt. Ich füge hinzu, daß es, geschichtlich genommen, nicht nur natürlich, sondern nahezu notwendig erscheint, daß derjenige Philo- soph, welcher zuerst mit einer gewissen Freiheit das Allgemeine speku- lativ zu behandeln anfing, dem Allgemeinen die Wesenheit verlieh und diese Wesenheit als geistige Wesenheit auffaßte.
Man macht für die landläufige Auffassung der Ideen als selbständiger Substanzen den Aristoteles^) verantwortlich, indem man ihn eines un-
1) Den Aristoteles in dieser Beziehung schuldig und fast im Lichte eines Verdrehers der Tatsachen erscheinen zu lassen, ist keine Stelle geeigneter als Metaph. 1002 b 28. Diese Stelle ist es denn auch, die Natorp in seinem Werk über Piaton p. 404 mit begreiflicher Siegesgewißheit zur Charakteristik des wenig ritterlichen Verfahrens des Aristoteles ausnutzt. Es könnte danach scheinen, Aristoteles habe sich absichtlich selbst erst die platonischen Ideen in dem Sinne zurechtkonstruiert, wie er sie darstellt und wie sie durch seine Dar- stellung der Nachwelt geläufig geworden sind. Sehen wir uns das corpus de- licti etwas genauer an. Aristoteles will in diesem Abschnitt die Gründe unter- suchen, durch welche die Platoniker zu der Annahme ihrer Ideen (eibn) getrieben wurden. Er entwickelt nun in eigener Ausführung mit gewohnter Schärfe die Apelt: Platonische Aufsätze. 2
18 Der überhimmlische Ort
glaublichen Mißverständnisses zeiht. Er soll der Urheber der, wie man meint, grundverkehrten bisherigen Ansicht sein. Aber wir sind ja in der Lage, den Piaton selbst zu lesen und zu prüfen. Es gehört, wie mir
Schlußfolgerungen, die notwendig auf die Annahme von Ideen führen: ei ouv TOÖTO (d. i. die vorher entwickelte Schlußfolgerung) dvafKaiov, kqI tci eiör) dvoT- KQiov biet TOÖTO eivai TiSevai. Kai ycip (so fährt er dann fort 1002 b 28) ei ui] kq- Xiuc öiap6poüciv Ol XeYOVTCC, dXX' Icti y^ toö0' Ö ßoüXovTai, Kai dvä^Kri TaÖTa X6Y€iv auToTc, öti tüüv eibüjv oucia Tic €KacTÖv ^cti koi ouöev KaTO cu|Li߀ßriKÖc. Auf den ersten Blick könnte es allerdings scheinen, als wolle Aristoteles damit sagen, die Platoniker hätten, wenn sie streng und konsequent vorgegangen wären, zu derjenigen Auffassung kommen müssen, die er ihnen sonst ohne weiteres beilegt, nämlich zu der Annahme substantieller Ideen. Und so scheinen es Übersetzer wie Herausgeber auch tatsächlich zu nehmen. „Wenn nämlich", übersetzt Schwegler, „auch die Anhänger der Ideenlehre ihre An- sichten nicht genügend entwickeln, so ist doch, was sie eigentlich sagen wollen und sagen müssen, dies, eine jede Idee sei ein für sich Reelles, und i<eine habe ein akzidentelles Sein." Auch Bonitz im Kommentar scheint es so zu fassen. Seine Übersetzung ist mir nicht zur Hand. Beide sind dabei offenbar ganz harmlos im Sinne der gewöhnlichen Auffassung verfahren, ohne zu ahnen, was man daraus dem Aristoteles für einen Strick drehen könne. Hätten sie sich das genau überlegt, so hätten sie sich zweifellos die Stelle in ihrem ganzen Zusammenhange noch einmal schärfer angesehen. Gleich der Anfang des Ab- schnittes hätte sie stutzig machen müssen. „Überhaupt", heißt es da, „kann man die Frage aufwerfen, warum es nötig sei, außer dem Sinnlichen und dem Mitt- leren noch etwas anderes zu suchen, nämlich ein solches, was die Platoniker Ideen nennen." Hier werden doch die Ideen, wie immer bei Aristoteles, in dem bekannten Sinne einfach vorausgesetzt und es gilt nur, die Gründe zu ent- wickeln, die auf diese wohlbekannten Ideen geführt haben. Und sieht man, da- durch gewarnt und zur Vorsicht gemahnt, die für uns hier entscheidenden Worte sich noch einmal an, so kann es nicht fehlen, daß einem bei der hergebrachten Auffassung alsbald als störend das TaÜTa vor XeYciv entgegentritt. Wozu dies TauTa, wo es doch durchaus entbehrlich wäre? Und wenn man höchst über- flüssigerweise etwas derartiges setzen wollte, dann doch das klarere toOto statt des Plurals, da es sich doch nur um eine Behauptung handelt. Doch das bleibt nebensächlich. Denn unmöglich wäre es nach griechischem Sprachgebrauch immerhin nicht. Aber entscheidend ist folgendes. Muß man nicht nach allen Regeln gesunder Interpretation, wenn der ganze Zusamm.enhang eine Erklärung als unhaltbar erweist, diese Erklärung aufgeben, falls sie nicht grammatisch die einzig mögliche ist (so daß entweder der Verfasser ein Versehen begangen hätte oder eine Textesverderbnis vorläge), sondern sich mit gleichem grammatischen Recht eine andere Erklärung aufstellen läßt, die dem Zusammenhang völlig Genüge tut? Und diese andere Erklärung, welche wäre sie? Ich meine fol- gende: „Wenn nämlich auch die Anhänger der Ideenlehre ihre Ansichten nicht mit genügender Schärfe entwickeln, so ist es doch dies, was sie eigentlich sagen wollen, und sie müssen (sc. wenn sie scharf verfahren und sich ihrer Gründe selbst voll bewußt werden wollen) diese Gründe dafür angeben, daß
Die Ideen nach Aristoteles 19
scheinen will, schon einige Kunst dazu, ihn mißzuverstehen. Auch sind nicht nur die alten Platoniker, wie Xenokrates, Zeugen der Richtigkeit der aristotelischen Ansicht, sondern auch die bekanntesten Stoiker, indem sie ihre Ansicht zu der platonischen in Gegensatz stellen (vgl. v. Arnim, Frg. Stoic. I p. 19, 19 ff. II, 91, 25 ff.). Hätte Aristoteles diese Auffassung erst erfunden, so würde ihm das übrigens zu nicht geringer Ehre gereichen. Er wäre der Erfinder einer Lehre, die in der Überlieferung zweier Jahr- tausende den am meisten charakteristischen Zug der platonischen Philo- sophie ausmacht und ihr in den Augen so vieler ihren eigentlichen Glanz verleiht. Auf diese Ehre muß er aber verzichten. Hier gebührt dem Piaton die Priorität. Die offenbaren Fehlgriffe, die Piaton dabei machte, entgingen dem scharfen Auge des Aristoteles nicht. Wenn er sie aber nur von Seiten des Fehlerhaften kennzeichnete, ohne Hinweis auf das, was die Fehler erklärlich und dadurch verzeihlich macht, so liegt das an dem Mangel seines Verständnisses für ein jenseitiges Reich des Guten und Schönen. Die ganze Denkweise des Aristoteles hielt ihn am Diesseits fest. In den Gedanken an ein jenseitiges Geistesreich vermochte er sich nicht zu finden. Er gibt ja dem obersten Seelenteile, dem voöc, die Un- sterblichkeit, aber seine „getrennte Vernunft", sein voOc x^jpiCTÖc, führt
jede Idee ein für sich seiendes Einzelwesen sei und kein akzidentelles Sein habe." Es handelt sich um einen gar nicht so seltenen und im Griechischen fast selbstverständlichen Sprachgebrauch für öti oder uuc nach Xejeiv, dem ge- mäß diese Konjunktionen mit dem, was inhaltlich zu ihnen gehört, nicht un- mittelbar auf XeTeiv zu beziehen sind, sondern das Thema bezeichnen, von dem überhaupt die Rede ist und hinsichtlich dessen etwas behauptet worden ist oder behauptet werden soll. Das unmittelbare Objekt zu XeYeiv ist dann ein demonstratives Pronomen (touto, TaCxa) oder je nachdem auch ein Fragewort. Vgl. Xenoph. Memor. IV, 7, 1 öti |uev ouv ct-rrXojc ty\v eauToö Yvuüjuriv direcpaivexo ZujKpdTr)c, boK€i |uoi öfiXov ^K TUüv €lpri|Lievuüv eivai, öxi ö^ Kai aOxdpKeic ev tqTc TipocriKOÜcaic TrpdHeciv aurouc eivai eirejueXeiTO , vOv toüto X^Huj* irdvTUJv }iev Ydp üjv eYiI» oiöa e'jiieXev auTUJ eiöevai, ötou tic eTriCTr]juujv eir] tOüv cuvövtojv auTuj „hinsichtlich dessen aber, daß er ihnen möglichste Selbständigkeit in ihren Handlungen beibringen wollte, werde ich nun folgendes vorbringen: bei allem nämlich lag ihm vornehmlich daran usw." Ganz ebenso Xen. Mem. 1,3, 1. III, 1, 1. IV, 5, 1. IV, 6, 1. Und genau so steht die Sache auch Xen. Conviv. 4,56 cü he br], iL lojKpaTec, ti ^x^^c ei-rreiv, üjc ctEiov coi ^cti \JLeya qppoveiv eqp' r\ eiTuac oütuuc dööEtu oucr] Texvri; „Was hast du dafür (hinsichtlich dessen) an- zuführen, daß du Anspruch hast stolz zu sein auf eine so verachtete Kunst, wie die von dir genannte?" Die Frage bezieht sich nämlich auf eine betreffende frühere Äußerung des Sokrates (c. 3, 10). Genau so verhält es sich mit unserer Aristotelesstelle. Sie kommt durch diese unsere Erklärung nicht nur sachlich zu ihrem Recht, sondern wird auch der grammatischen Bedenken entledigt, die nach der bisherigen Deutung an ihr hafteten.
20 Der überhimmlische Ort
ein heimatloses Dasein, man weiß nicht wo und wie. Daß Piatons ganze Tendenz auf dieses Jenseits geht, und daß darin wie der Grund, so auch die Entschuldigung für seine Irrungen liegt, dafür hatte Aristoteles kein Auge. So ward er der schonungslose und entschieden einseitige Kritiker seines großen Lehrers. Mag er aber auch für Piatons eigentliche Ab- sicht, getäuscht eben durch dessen dialektische Fehler, wenig oder gar kein Verständnis gehabt haben, so hat er doch das, was Piaton unter „Idee" verstand, richtig aufgefaßt und wiedergegeben. Ja, man darf ruhig behaupten, daß, hätte es überhaupt keinen Aristoteles gegeben, die von ihm vertretene Ansicht gleichwohl die herrschende geworden wäre. Zwischen dieser durch Aristoteles gestützten und bis vor kurzem all- gemein gültigen Ansicht und der gegnerischen ist keine Vermittelung möglich. Eine Polemik wäre wenig am Platze. Die Sache muß sich durch ihre innere Wahrscheinlichkeit oder den Mangel derselben auf einer der beiden Seiten selbst entweder durchsetzen oder diskreditieren.
Wir lassen also den Streit darüber, ob die Ideen Substanzen sind, auf sich beruhen und wenden uns der uns fruchtbarer scheinenden Frage zu, ob, unter Voraussetzung ihrer Substantialität ihnen im Sinne ihres Ur- hebers nicht bloß die Bedeutung von Musterbildern, sondern eigene schöpferische Kraft, „weltschaffende Macht", wie es Christian Baur und nicht wenige nach ihm wollten, zukommt. Die Entscheidung dieser Frage ist für den Ruhm Piatons als Denker von nicht geringer Bedeutung. Hat er neben der Gottheit noch eine Vielheit weltschöpferischer Mächte, so ergibt sich daraus eine Konkurrenz, die verhängnisvoll wäre für die Ein- heit seines Systems. Hat sich Piaton wirklich eine solche Blöße gegeben? Lassen sich klare und unzweideutige Belege dafür anführen, so müssen wir uns selbstverständlich der Macht der Tatsachen beugen, so stark auch unsere Hochachtung vor dem philosophischen Genius Piatons darunter leiden würde. Ist das aber nicht der Fall, handelt es sich nur um Zwei- deutigkeiten und mögliche Mißverständnisse, so sind wir es dem Piaton geradezu schuldig, das Dunkel aufzuhellen.
Die innere Konsequenz der platonischen Lehre und nicht wenige un- zweideutige Erklärungen ihres Urhebers weisen klar auf die Gottheit hin als auf die eigentlich wirkende Kraft in Ansehung der Welt. Gott ist der Bildner der Welt (causa efficiens). Dem gegenüber beruft man sich nun aber auf solche Stellen, in denen die Unentbehrlichkeit der Ideen für die Gestaltung und Erscheinungsformen der Einzeldinge in mannigfachem Wechsel des Ausdrucks betont wird. Näher zugesehen lassen aber alle diese Stellen in den Ideen nicht die wirkende Ursache (apxn ^nc Kivriceujc), sondern die Endursache erkennen. Wenn Flaton, um eines seiner ge-
Gott als wirkende Kraft 21
läufigsten Beispiele zu wählen, einen Gegenstand schön nennt und sich von diesem Urteil Rechenschaft zu geben sucht, so tut er das durch die Erläuterung, der Gegenstand werde schön „durch die Anwesenheit der Schönheit" oder „durch die Teilnahme an der Schönheit" oder auch kurz „durch die Schönheit". Und zwar geschieht dies ganz gleichmäßig in den früheren der Ideenlehre noch fernstehenden wie in den späteren Dialogen. Schon die Mannigfaltigkeit dieser Formen, denen gemäß es ganz unent- schieden bleibt, ob die bewegende Kraft in den Ideen oder in den Gegen- ständen oder in keinem von beiden, sondern in einem Dritten zu suchen sei, läßt keinen Zweifel darüber, daß wir nicht berechtigt sind, die Idee als die Bildnerin oder gar als die Schöpferin des Gegenstandes auszu- geben. Wir sehen nur, daß es sich um ein mehr oder weniger geheimnis- volles Verhältnis zwischen Prädikat (allgemeinem Begriff) und Subjekt (Einzelding) handelt, das, weil begrifflich nicht scharf bestimmbar, nach Piatons eigenem Geständnis (Phaed. 100 D) auch auf keinen klaren und durchaus befriedigenden Ausdruck gebracht werden kann. Nach allen Regeln gesunder Auslegung müssen wir uns also danach umtun, was Piaton sonst in seinen Schriften uns über seine in Ansehung der Welt wirkende Ursache verrät, um danach unseren obigen Fall, der uns in dieser Beziehung völlig freie Hand läßt, zu deuten. Zuvor aber dürfte es angebracht sein, zur Vervollständigung des früher schon (p. 10 f.) Be- merkten noch ein Wort. zu sagen über die eigentümlich platonische Auf- fassung des Urteils hinsichtlich des Verhältnisses von Prädikat und Sub- jekt. Es fällt dadurch von der logischen Seite her einiges Licht auf die Ideenlehre.
Wenn ich einen Gegenstand rot oder rund oder schön nenne, so liegt darin die Behauptung, daß ihm das Merkmal des Roten, Runden oder Schönen zukomme; eben dies gibt den Grund ab, der mich berechtigt, im Urteil den Gegenstand in den Umfang jener Begriffe zu setzen. Das geht ganz mit rechten Dingen zu, ohne Mysterium. Wie bin ich denn zu diesen Begriffen gekommen? Nicht vermöge einer vorweltlichen, durch die Geburt verdunkelten Uranschauung wie Piaton will, sondern durch den psychologischen Mechanismus der Abstraktion und Assoziation, der unwillkürlich Begriffe bildend von früh auf in mir wirkt. Durch die An- schauung vieler Fälle infolge des Unbestimmtwerdens der Erinnerung ge- wonnen, bleiben sie in unserem Geiste liegen als problematische (keine Behauptung enthaltende) Vorstellungen, deren vorzüglichstes Merkmal das ihrer Wiederverknüpfbarkeit mit der Anschauung ist, aus der sie ja meist gewonnen sind. Tritt diese Wiederverknüpfung ein, so gewinnen sie alsbald assertorische (behauptende) Bedeutung. Dies aber geschieht
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eben im Urteil. Damit ist der Sache alles Geheimnisvolle genommen. Solange aber die Natur des Abstrakten noch unaufgeklärt ist — und ihre Aufklärung kann sich bei der Schwierigkeit der Sache nur sehr alimäh- lich vollziehen - gewinnt das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat im kategorischen Urteil leicht einen mystischen Anstrich. Der allgemeine Begriff, welcher im Prädikat auftritt, erscheint wie etwas Selbständiges, das wie von außen an die Dinge herantritt und durch seine Gegenwart ihnen zu ihren Bestimmungen verhilft. Ist damit in den früheren Dialogen, wie im größeren Hippias, zunächst auch nur der Begriff selbst gemeint, so liegt es doch auf der Hand, wie sehr diese Auffassung des Urteils die Tendenz begünstigen mußte, den Begriff allmählich zu hypostasieren d. h. als Korrelate der Begriffe geistige Substanzen zu setzen, m. a. W. Ideen anzuerkennen.
War dieser Schritt einmal vollzogen, so stellte sich das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil fast wie von selbst dar als ein Verhältnis von Abbild und Original, wie es ganz scharf hervortritt in einem Abschnitt der Republik (349 D bis 350 C). Dem Prädikat fällt die Rolle des Maß- gebenden, Bestimmenden zu. Aber darum auch die des Schöpferischen? Durchaus nicht! Alle die zahlreichen, aus der Betrachtung des Urteils entspringenden Deutungen des Prädikates als Inhabers einer Art Kausa- lität sind nur Verlegenheitsausdrücke, nur Zeugnisse des Unvermögens die wahre Natur des Urteils zu durchschauen. Es ist damit keineswegs ein Verhältnis der wirkenden Kraft gemeint, sondern eine finale Bezie- hung, indem das Prädikat das Ziel bezeichnet, dem die Einzeldinge ge- wissermaßen zustreben. Das geht deutlich hervor aus einer Stelle des Phaidon (75 AB), die ich ihrer Wichtigkeit wegen im Wortlaute mitteile: „Notwendig müssen wir das Gleiche zuvor gekannt haben, vor jener Zeit, als wir die gleichen Dinge das erstemal gesehen haben und uns dessen bewußt geworden sind, daß sie alle zwar danach streben, wie das Gleiche zu sein, aber doch mangelhafter sind. Durch die Tätig- keit der Sinne muß man sich denn das Bewußtsein darüber vermitteln, daß alles, was im Bereiche der Sinne liegt, sowohl nach Jenem strebt - nämlich nach der Idee des Gleichen — als auch, daß es mangelhafter ist als dieses." Die Idee steht in ewiger Ruhe, wie sie in dem nämlichen Phaidon (78 D) geschildert wird; „Die Wesenheit an sich bleibt sich immer gleich und gleichartig; das Gleiche an sich, das Schöne an sich, jegliches Ansich nimmt niemals eine Verwandlung, welcher Art sie auch sein mag, an." Der Trieb der Veränderung ist den werdenden Einzeldingen ein- gepflanzt in der Richtung auf die Ideen, aber nicht durch die Ideen, sofern man dies „durch" im Sinne der wirkenden Kraft nimmt. Wer ist
Idee und Prädikat 23
es aber, der den werdenden Einzeldingen diesen Trieb und die für dessen Betätigung erforderliche Bewegungsfähigkeit eingepflanzt hat? Das wird sich zeigen, nachdem wir zuvor die einzige Stelle, die, abgesehen von der besprochenen eigentümlichen Rolle des Prädikats im Urteil, mit einigem Schein für die schöpferische Kraft der Ideen ins Feld geführt werden kann, einer näheren Betrachtung unterworfen haben werden.
Es ist dies eine Stelle des Sophistes (247 E). Auf den ersten Blick, ohne nähere Prüfung des Zusammenhangs, könnte es allerdings scheinen, als ob sie in dem gewünschten Sinne der schöpferischen Macht der Ideen gedeutet werden könnte. Es handelt sich da nämlich um eine Definition des Seienden (öv), die so formuliert wird ^): „Was in irgendeiner Art die Möglichkeit in sich trägt, entweder an irgendeinem anderen Dinge eine Tätigkeit auszuüben oder von einem, wenn auch dem unbedeutendsten Dinge eine, wenn auch noch so geringe Einwirkung zu erfahren und wenn auch nur für ein einziges Mal, dem kommt in Wirklichkeit Sein zu. Das Seiende ist meiner Definition zufolge nichts anderes als Vermögen (Mög- lichkeit)."
Um diese Definition richtig zu würdigen, muß man auf den Zusammen- hang blicken, in welchem sie sich findet. Piaton hat sich die Aufgabe gestellt, den Vertretern zweier extremer Standpunkte, nämlich den Ma- terialisten einerseits und den Freunden der Begriffe (vielleicht sind da- mit die Megariker gemeint) anderseits das Einseitige und Verfehlte ihres Standpunktes nachzuweisen. Zuerst werden also die Materialisten ge- nötigt, neben dem Körperlichen auch Unkörperliches wie Verständigkeit, Gerechtigkeit und dergleichen als etwas Wirkliches, als övra, anzuerkennen. Sind sie aber einmal so weit gebracht, so sind sie damit genötigt, dem öv eine Definition zu geben, die auf beides paßt. Und da sie selbst nicht imstande sind eine solche anzugeben, so kommt ihnen Piaton mit unserer obigen Definition zu Hilfe, die sie annehmen, weil sie augenblicklich we- nigstens nicht imstande sind eine bessere zu finden. Damit sind denn die Materialisten abgefunden und zwar auf eine sehr diplomatische Weise. Sie sind, wenn sie diese Definition, wie es geschieht, annehmen, nicht mehr imstande, sich gegen die Annahme auch anderer als körperlicher Wesen genügend zu wehren; Piaton hat sie zuerst ein Weniges, aber doch gerade so viel als er braucht, über das von ihnen allein anerkannte Seinsreich, d. h. die Körperwelt, hinausgedrängt und bringt nun diesen
1) Soph. 247 E Xeyuj br\ tö Kai ÖTroiavoüv KeKT)"||uevov öüvajuiv eix' eic tö ttoi- eiv exepov öxioöv -rreqpUKÖc elV eic tö rraGeTv' Kai cfiiKpÖTaTov utiö toö qpauXoxd- xou, Kctv ei fiövov eic ärras, iräv xoöxo övxujc elvar xiGeuai "fäp öpov öpiZexv rä övxa ujc ecxi ouk äWo xi TrXriv buva,uic.
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Gewinn geschickt in Sicherheit durch eine Definition, die sich durch ihren sensualistischen Anstrich zunächst gerade den Materialisten besonders empfehlen muß und demgemäß auch arglos von ihnen angenommen wird. Bald soll es sich zeigen, daß sie, mit dialektischer Kunst ausgenutzt, auch auf eine alle Sinnlichkeit als Schein verwerfende Weltansicht ihre An- wendung findet.
Die Ideenfreunde nämlich, denen sich Piaton nunmehr zuwendet, er- kennen zwar die Giltigkeit der Definition zunächst nur für das Gebiet des Werdens an. Allein sie müssen einräumen, daß ihre Ideen (ei'bri) doch der Erkenntnis zugänglich sind. Dies setzt aber, wie von Seiten des Er- kennenden ein Tun, so auf Seiten des Erkannten ein Leiden (-rräcxeiv) voraus. Einer gewissen Bewegung müssen sie also fähig sein, wie alles, was dem Leiden (TTctcxeiv) unterworfen ist. Ihr eigenes „Tun" (iroieiv) aber besteht in ihrer Fähigkeit zu erkennen und zu denken. Denn es ist undenkbar, daß dem wahrhaft Seienden nicht Leben, Seele, Verständig- keit zukomme.
Wer die ganze Stelle mit Ruhe überblickt, wird sich der Einsicht nicht verschließen können, daß die obige Definition des „Seienden" im Ver- laufe der Verhandlung nur die Bedeutung eines dialektischen Kunstgriffes hat. Sie ist ein Hilfswert, der eingeführt wird, um zwei Größen, die auf den ersten Blick keine Vergleichung zulassen, in ein Verhältnis zueinander zu bringen. Körperwelt und geistige Welt müssen sich gleichmäßig dieser Bestimmung fügen. Den Materialisten bietet Piaton mit ihr eine Art Be- ruhigung für das Zugeständnis, das sie gemacht, denn die Definition klingt ja eminent materialistisch. Die Ideenfreunde aber werden durch die Kunst der Dialektik zur Anerkennung dieser Definition auch für ihr Reich ge- zwungen. Er bringt dadurch beide gewissermaßen unter einen Hut und nötigt jeden von dem anderen etwas anzunehmen: die Materialisten müssen sich eine Dosis Geistigkeit als Zusatz zu ihrer Körperlichkeit gefallen lassen^ die Ideenfreunde müssen ihrer starren Begriffswelt eine Dosis Beweglich- keit hinzusetzen.
Daß Piaton diese Definition nur hilfsweise einführt leuchtet schon dar- aus hervor, daß er sie, sobald er sie auf die Ideenwelt anzuwenden sich anschickt, auf das engste Maß beschränkt, dessen sie überhaupt noch fähig ist: nur die äußerste, dünnste Spitze derselben trifft eben noch die Ideen- welt. Vermögen (büvauic) ist zwar dem Piaton noch nicht technischer Ausdruck für bloße Möglichkeit im aristotelischen Sinne. Allein wenn in unserem Dialog (248 E) das Erkanntwerden (TifvujCKeceai) als ein „Leiden" (TT(kxeiv) hingestellt wird und das „Leiden" ein Vermögen (buvaiLiic) zur Voraussetzung hat, so ist die Bedeutung der Kraft so weit verdünnt oder
Definition des Seienden 25
verflüchtigt, daß das Wort tatsächlich kaum noch etwas anderes bedeutet als Möglichkeit. Und nicht etwa bloß an dieser uns unmittelbar angehen- den Stelle. In der Republik (509 B) ist die Rede von einem Vermögen gesehen zu werden (n toö opäcöai buvaiuic). Es ist offenbar nur das polemische Interesse, das den Piaton dazu führt, die Fähigkeit oder Mög- lichkeit „Erkanntzuwerden" für ein Tidcxeiv, für ein Leiden auszugeben. Piaton selbst, darüber befragt, wie sich denn eine derartige Äußerung mit den Worten des Gastmahls (211 B), „daß die Idee des Schönen nichts leide" (|uf] -rrdcxeiv jurjbev) und zahlreichen ähnlichen Stellen vertrage, würde vermutlich, wenn er bei Laune gewesen wäre, geantwortet haben: „du meinst mir einen Widerspruch schuld geben zu müssen und du be- merkst nicht, daß die Schuld nur an dir liegt"; und er würde wohl nicht ohne Lächeln hinzugefügt haben: „sieh nur genau zu, was ich im Sophistes gesagt habe, dann bedarfst du meiner nicht, du kannst selbst der Oedipus sein." Der humoristische Ton, der diese ganze Partie des Dialoges kenn- zeichnet, spricht deutlich für die entwickelte Auffassung.
Die Alten selbst sind weit entfernt gewesen, unserer Sophistesstelle eine maßgebende Bedeutung beizulegen. Sie dachten nicht entfernt daran, daß sich in ihr eine neue, wichtige Phase des platonischen Denkens an- kündige. Einen besonderen Kommentar zum Sophistes aus dem Alter- tum haben wir nicht. Aber es trifft sich gut, daß ein sehr kenntnisreicher und rühriger Erklärer des Piaton in seinen Erläuterungen zu einem an- deren Werke Piatons auf unsere Stelle Bezug nimmt. In seinem Kom- mentar zur Republik läßt sich Proclus (I p. 266 ed. Kroll) aus Anlaß einer Stelle der Republik (477 C), in welcher der Begriff der büvajuic eine Rolle spielt, über unsere Sophistesstelle folgendermaßen vernehmen:^) „Man kann hierdurch die im Sophistes gegebene Definition des Seienden, der gemäß das Seiende das Vermögen sein soll, als nicht-platonisch er- weisen, wie auch dort der eleatische Fremdling (d. i. der Gesprächs- führer im Dialog Sophistes) im weiteren Verlauf mit der Definition seinen Scherz trieb." Es ist dies meines Wissens die einzige direkte Bemer- kung, die über unsere Stelle aus dem Altertum vorliegt. Und es ist im- merhin keine schlechte Empfehlung für die von uns vertretene Auffassung dieser Stelle, daß dies Zeugnis genau mit ihr in Einklang steht. Proclus sah in ihr auch nur ein dialektisch-polemisches Spiel.
Nicht minder spricht für die Richtigkeit unserer Deutung der Umstand, daß weder Aristoteles noch seine Zeitgenossen (wie Xenokrates) und
1) Kai exoic äv öia toütou töv ev tuj ZoqpicTfj Y€Ypa|Li|uevov öpov toCi övtoc eXeyx^iv, öc cpriciv tö öv ty]v buva,uiv öpiZieiv, uuc ouk övTa TTXaTOiviKÖv, djcrrep Kai EKei biGCupev auTÖv TrpoiiJbv ö 'EXectnic Eevoc.
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Schüler (wie Theophrast), trotz voller Kenntnis des Dialogs unsere Defi- nition einer Erwähnung für würdig erachten, auch an solchen Stellen nicht, wo sie ein Urteil über die platonische Philosophie überhaupt fällen und zwar ein Urteil, das sich mit unserer Definition des Seienden, falls sie zu Recht bestände oder gar die Deutung forderte, welche ihr neuerdings beigelegt wird, schlechterdings nicht vertragen würde. Offenbar also haben jene Männer, denen wir doch bei aller Achtung vor den Leistungen unserer modernen Historiker der Philosophie den Beruf zum Verständnis des Piaton nicht absprechen werden, in unserer Stelle keine Kundgebung des Piaton in dem von jenen Neueren befürworteten Sinne gesehen. Für Aristoteles glaube ich diesen Nachweis im einzelnen in meinen Beiträgen zur Geschichte der griechischen Philosophie (p. 70f.) geliefert zu haben. Was die anderen obengenannten griechischen Denker anlangt, so wird gleich nachher in Kürze von ihnen die Rede sein als Zeugen für den echten Piaton. Hier bedürfen wir ihrer Hilfe nicht weiter.
Glücklicherweise nämlich können wir, was äußere Beweise anlangt, auf diese mittelbaren und unmittelbaren Zeugnisse anderer verzichten. Denn wir erhalten aus Piatons eigenem Munde das schlagendste Zeugnis dafür, daß die platonische Philosophie und jene Definition im Ernste nichts miteinander gemein haben. Unmittelbar nämlich im Anschluß an die Bil- ligung der berufenen Definition durch den Mitunterredner fährt der elea- tische Fremdling (d.i. Piaton) fort: „Gut. Denn vielleicht dürften wir eben- so wie sie in der Folge zu einer anderen Ansicht kommen." Konnte man deutlicher als durch diese Worte die eben gegebene Definition als einen bloßen interimistischen Notbehelf kennzeichnen? Es ist eine dem lau- nigen Charakter dieser ganzen Partie des Dialoges entsprechende einfache Kriegslist, deren sich Piaton bedient, um seine Gegner zu düpieren. Der Form nach bleibt die Definition stehen; der Sache nach wird sie tatsäch- lich zurückgenommen dadurch, daß „Tun" und „Leiden" eingeschränkt wer- den auf „Erkennen" und „Erkanntwerden", wodurch es zur nicht geringen Überraschung der Materialisten möglich wird, daß die von ihnen gebilligte Definition nun auch auf rein übersinnliche Wesen angewendet wird, eine Anwendung, die ihnen schwerlich gefallen wird, gegen die sie sich aber, nach dem Zugestandenen, nicht mehr zur Wehr setzen können. Es um- weht uns ein Hauch jenes erquickenden Humors, in dem ein nicht geringer Teil des Zaubers liegt, den der Genius Piatons auf den Empfänglichen ausübt. Je trockener der Gegenstand der Untersuchung war, um so mehr fühlte er sich getrieben, ihn durch eine reiche Dosis dieses seines köst- lichen Gutes zu würzen, freilich nur für Leser, die willig und geduldig genug sind, nicht an der Oberfläche hängen zu bleiben, oder deren Augen
Der Dialog- Sophistes 27
nicht durch eine falsche Grundansicht des Piatonismus zu sehr getrübt sind, um gewisse Stellen unbefangen aufzufassen^).
Wer ist es also, so fragen wir nunmehr, den oben fallengelassenen Faden wieder aufnehmend, wer oder was ist es, dem bei Piaton die schöpferische Kraft, die in Hinsicht auf das Weltganze wirkende Macht zukommt? Piaton selbst gibt darauf die unzweideutige Antwort und in Übereinstimmung mit ihm alle berufenen Richter des Altertums. Es ist die Gottheit, der die weltbildende Kraft innewohnt, und sie ist es allein. Was Piaton selbst anlangt, so ist der ganze Timäus dessen Zeugnis; be- stätigt wird es durch den Philebos (22 C, 26 E, 28Cff., 30 Äff.), wo die Wirksamkeit der weltbildenden Vernunft (voöc) so nachdrücklich hervor- tritt, so wie durch die Republik, wo namentlich der Vergleich mit der Sonne (509 B, 517 C) den Gedanken Piatons veranschaulicht. Ebenso auch durch die Gesetze (897 Bff.). Das alles ist so bekannt, daß es keiner wei- teren Ausführung bedarf. Auch diejenigen, die den Ideen überhaupt schöpferische Kraft zuschreiben, erkennen es an, nur daß, wie sie meinen, beides einander nicht ausschließe.
Besonders aber hervorgehoben zu werden verdient, weil weniger be- achtet, eine Stelle desjenigen Dialoges, den die Vertreter der Kausalität der Ideen dank jener vielberufenen Definition zu ihrer Hauptfestung zu machen suchen, eben des Sophistes. Hier heißt es gegen den Schluß (265 Cff.): „Sollen alle Wesen, die sterblich sind und alle Pflanzen, die aus Samen und Wurzeln emporwachsen und alle leblosen Körper, die in der Erde sich befinden, schmelzbare und unschmelzbare, sollen sie alle ihr Werden, wenn sie vorher nicht waren, einem anderen verdanken als der weltbildenden Gottheit? Sollen sie durch Vernunft und göttliche Erkennt- nis erzeugt sein, oder sollen wir der Meinung und Rede der Menge folgen, die Natur erzeuge sie nach einer Ursache, welche zufällig und ohne Be- wußtsein wirke?" Darauf antwortet der jugendliche Mitunterredner: „Viel- leicht liegt es an meiner Jugend, daß ich oft von der einen zur anderen Ansicht überspringe. Da ich aber jetzt auf dich hinblicke und vermute, daß du ihr Werden von Gott ableitest, so geht auch meine Überzeugung dahin." „Gut, lieber Theaetetos," erwidert der Gesprächsführer, „ja, wenn wir dächten, du gehörtest zu jenen, die in der Zukunft zu einer anderen Meinung umschlügen, so würden wir dich durch einen Beweis von zwin- gender Überzeugungskraft zum Zugeständnis zu bringen suchen. Da wir aber erkennen, daß deine Natur auch ohne Beweise unsererseits von
1) Dazu vgl. meine Aufsätze in Fleckeisens Jahrbüchern 1892, p. 529-540 und 1895, p. 257-272.
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selbst zu der Ansicht gelangen wird, von der du, wie du sagst, dich jetzt hingezogen fühlst, so will ich das lassen. Denn das wäre überflüssige Zeitverschwendung. Ich will vielmehr voraussetzen, alles, was der Natur zugeschrieben wird, werde durch göttliche Kunst hervorgebracht. Wir wissen doch, daß wir und alle anderen Wesen und die Stoffe, aus denen sie entstanden sind, Feuer, Wasser und ihre Verwandten, alle je nach ihrer Art, von Gott gebildete Erzeugnisse sind. An alle diese Dinge schließen sich Abbilder an, nicht selbst Dinge, die aber durch göttliche Einwirkung entstanden sind, nämlich die Erscheinungen im Schlafe, ferner alle von selbst entstehenden Erscheinungen am Tage, die Schatten, wenn in das Licht ein Dunkel einfällt, und Spiegelbilder, wenn ein dem Dinge eigenes und ein fremdes Licht auf der Oberfläche glänzender und glatter Gegenstände auf einen Punkt zusammentreffen und dadurch eine Gestalt erzeugen, welche eine dem vorher gewohnten Gesichtsbild gegenüber- tretende Wahrnehmung darbietet. So gehören denn beide Erzeugnisse, das Ding selbst und das jedesmal folgende natürliche Abbild der gött- lichen schaffenden Tätigkeit zu."
W^ollte man diese Äußerungen rücksichtlich ihrer Beweiskraft dadurch abschwächen, daß man sie für populäre Sprechweise ausgibt, so würde man sehr im Unrecht sein. Der Sophistes ist ein durch und durch von kühler Reflexion beherrschter und aller Popularität abholder Dialog, so daß hier von einer Anbequemung an volkstümliche Auffassungsweise nicht die Rede sein kann und dies um so weniger, als der Gesprächsführer ausdrücklich seine Ansicht in Gegensatz stellt zu „der Meinung und der Rede der großen Masse" (tüj tiuv ttoXXujv bÖTuaii küi pi^uaii). In dem nämlichen Dialog, in welchem Piaton, und zwar genau in Übereinstimmung mit der Republik, dem Timäus und Philebos, so bestimmt die schöpfe- rische Tätigkeit ausschließlich der Gottheit zuweist, kann er sie nicht auch allen übrigen Ideen haben zuschreiben wollen.
Und nun die namhaftesten Zeugen aus der Zahl der übrigen Philo- sophen, nur soweit sie noch Zeitgenossen des Piaton gewesen sind. Aristoteles weiß sehr wohl, wem nach Piaton die eigentlich bewegende und schöpferische Kraft zukommt: dem Demiurgos im Timäus, d. h. der Gottheit. Die Ideen, als bloße TrapabeiTiLiaTa, haben keine wirkende Kraft; das Wirkende (epfalöjaevov Met. 991 a 22) soll nach Piatons Ansicht der Demiurg sein. Aristoteles kennt dies weltbildende Prinzip, aber er er- kennt es nicht als befriedigend, als wissenschaftlich genügend an. „Was läßt sich anfangen," sagt er, „mit dem, was auf die Ideen hinblickend schafft (ti '{äp ecii t6 ep-faZ^öuevov rrpöc idc ibeac dTToßXeTTOv)?" So sind diese Worte, wie ich glaube, zu deuten (vgl. Jahrb. f. Phil. 1892 p. 590
Antike Zeugen 29
und 1895 p. 269). Denn daß Aristoteles hier die durch so viele Stellen bezeugte Bekanntschaft mit dem Timäus verleugnen wolle, wird doch nie- mand ernsthaft glauben wollen.
Ähnlich Theophrast. Er berichtet über Piaton (Diels, Doxogr. 484) mit folgenden Worten: „Nach ihnen trat Piaton auf, an Gewicht seiner Meinung den früheren vorangehend, der Zeit nach später. Er wandte die meiste Forschung der »ersten Philosophie« zu, beschäftigte sich aber auch mit den Erscheinungen, indem er auch die Natur in den Bereich seiner Forschungen zog; da sucht er zwei Prinzipien geltend zu machen, die Masse als Substrat, die er das allumfassende nennt, und das andere als Ur- sache und Bewegendes, was er der Macht Gottes und des Guten beilegt."
Als dritter möge der ehrwürdige Xenokrates, der unmittelbare Schüler Piatons zeugen. Proclus (in Plat. Parm. p. 136C) berichtet uns von ihm, er habe die Idee genannt „den musterbildlichen Grund der natürlich gewordenen Dinge" (aiiia rrapabeiTiucxTiKn tujv Kaid cpuciv dei cuvecTuuTuuv). Und zwar gab Xenokrates diese Definition als die des Piaton. Also nicht wirkende Ursache, sondern vorbildliche Ursache ist die Idee. Die Wirk- samkeit als schöpferische Tätigkeit bleibt allein der Gottheit vorbehalten.
So ergibt sich denn eine klar gedachte Grundlage der ganzen plato- nischen Philosophie. Die an sich formlose und zu formende Materie, d. i. der bloße Raum, darüber die Ideen als Musterbilder, nach denen geformt wird, und zuoberst die Gottheit als die das Ganze bildende und erhaltende Macht. Anders stellt sich das Bild dar in der noch immer die Geister zum großen Teile beherrschenden Darstellung Zellers. Bei ihm verschiebt sich aus sehr erklärlichem Grunde die Beurteilung der Sache vollständig. Seine ganze Auffassung der platonischen Ideenlehre hängt auf das innigste mit dem Gedanken der Kausalität der Ideen zusammen, von dessen Rich- tigkeit er so fest überzeugt ist, daß er danach auch diejenigen Stellen deuten oder umdeuten zu dürfen meint, in denen die göttliche Wirksam- keit als eigentliches Kausalitätsprinzip klar ausgesprochen vorliegt. Er ist geneigt, die schöpferische Kraft der Gottheit abzuleiten von ihrer Eigen- schaft als Idee, als ibea xou otTaeou (Phil, der Gr. II, 1^ p. 710. 712. 716), er überträgt eigentlich nur auf sie die für ihn schon feststehende allge- meine Eigenschaft aller Ideen als wirkender Kräfte. Man denke sich nun diese Lehre von der Kausalität der Ideen von Piaton zeitweise wieder aufgegeben, wie es nach Zeller scheint, so würde dann eigentlich der Gottheit selbst das Schicksal bereitet, ihrer schöpferischen Wirksamkeit beraubt zu werden.
Dieser Fehler verbreitet seine Schwingungen über Zellers ganze Dar- stellung der platonischen Ideen- und Gotteslehre. Die wirkende Kraft der
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Ideen wird aus Stellen erschlossen, in denen unbefangene Betrachtung nichts davon finden kann, und umgekehrt wird die eigentlich und einzig ursprünglich wirkende Ursache, die als \hia toO ctfaGou zwar als Idee erscheint, aber von Piaton in der Republik doch deutlich genug von den übrigen Ideen abgesondert und über sie erhoben wird, ihrer wahrhaft philosophischen Bedeutung entkleidet. Statt der Einheit der Weltursache bekommen wir eine Vielheit von Ursachen, eine Vielheit von urschöpfe- rischen Potenzen, mit denen die Gottheit ihre Macht teilen muß. Der gött- liche voOc des Philebos muß es sich darum gefallen lassen, zur Gesamt- heit der Ideen umgedeutet zu werden, und der Demiurg des Timäus wird, weil dieser Dialog in mythischer Form gehalten ist, statt ihn als Bild der Gottheit anzuerkennen, als rein mythisch bei Seite geschoben. Es han- delt sich hier um den innersten Kern, um das eigentliche Heiligtum der platonischen Philosophie, um sein ev, wie er es in späteren Jahren nannte. Darum kann nicht nachdrücklich genug betont werden, daß Piaton selbst von dieser urschöpferischen Macht der Ideen, abgesehen von der Idee des Guten, nichts weiß. Daß eine solche Ansicht, falls er sie gehabt hätte, seinem philosophischen Ansehen nicht sehr zum Vorteil gereichen würde, dürfte uns freilich zwar nicht abhalten, sie ihm zuzusprechen, wenn er uns in seinen Schriften genügenden Anhalt dazu böte; was nicht der Fall ist. Ihm aber ohne Not sie leihen und ihm damit den Stempel eines philo- sophischen Schwächlings aufdrücken, heißt nicht, ihm einen Liebesdienst erweisen. Es bleibt des wirklich Fehlerhaften bei Piaton ohnedies noch genug.
Aber ungeachtet aller Fehler bleibt die Weltansicht Piatons als solche tadellos, tadelloser als die seines großen Tadlers Aristoteles, dem bei aller Abhängigkeit von der platonischen Weltanschauung doch der eigent- lich belebende sittlich -religiöse Grundgedanke fehlt: die Erhebung einer freien Geisteswelt, einer Welt des Guten und Schönen über die Erschei- nung. Und eben dies macht den Ruhm des Piaton als eines der größten Denker aller Zeiten.
II. WAHRHEIT.
In der munteren Gesellschaft scherzhafter Etymologien, die uns Piaton in seinem Dialog Kratylos vorführt, nimmt sich besonders erheiternd die Etymologie der dXriGeia (Wahrheit) aus. Sie lautet (421 A): „Was dXrieeia anlangt, so ist auch dies Wort ein zusammengezogenes; denn die gött- liche Bewegung des Seienden scheint mit diesem Ausdruck benannt, weil sie eine ä\Y\ öeia, ein ,göttliches Umherschweifen*, sei." Sie also, die Wahrheit, die wenn irgend etwas die Züge der sich gleichbleibenden Ruhe und Beständigkeit trägt, wird hier durch die Verwandlungskunst der Ety- mologie in das gerade Gegenteil umgekehrt. Gewiß kein übler Scherz. Denn wer sprach ihr im Ernste mit größerer Entschiedenheit und tieferer Überzeugung den Charakter des Sichgleichbleibens und der unstörbaren Beharrlichkeit zu als gerade Piaton? Und doch könnte dem Scherz auch ein Körnchen von Ernst beigemischt sein. Nach dem unaufhörlichen Wechsel der Meinungen nämlich, den der Verlauf der philosophischen Bewegung bis zu den Tagen des Piaton gezeigt hatte, mochte es nicht ganz unangebracht erscheinen, das Charakteristische der Wahrheit, des ersehnten Zieles aller Philosophie, nicht in der Ruhe und Veränderungs- losigkeit, sondern in der Unruhe und dem beständigen Wechsel zu sehen Ja noch heute steht es mit der philosophischen Wahrheit, die doch darauf Anspruch macht, aller sonstigen Wahrheit oberste Gewähr zu sein, nicht viel besser. Noch heute dürften nicht wenige geneigt sein, einzustimmen in das verzweifelnde Bekenntnis Seumes:
Was ist Wahrheit? Sprecht von eurem Throne, Wo ihr metaphysisch dunkel schwebt. Von Confutsen bis zum Mendelssohne, Und im Nebel Hypothesen webt! Ha! Ihr tappt mit eurer Blendlaterne, Weisheitstrunken durch die trübe Nacht, Wähnet in dem Irrlicht Sonnensterne, Bis ihr spät zum Todesschlaf erwacht. Menschheit, arme Menschheit! Deine Lehrer, Alle deine Weisen wissen nichts, Flattern, ihrer Hirngeburt Verehrer, Gleich Insekten um den Strahl des Lichts.
32 Wahrheit
Jede besondere Fachwissenschaft hat ihren festen Bestand an Wahr- heit. In keiner Einzelwissenschaft treffen wir auf einen radikalen Skep- tizismus: in der Philosophie gibt es einen solchen. Allein näher zuge- sehen, ist er auch da immer nur eine vorübergehende Erscheinung. Die Vernunft ist eben schlechthin außerstande sich selbst aufzugeben. Das Selbstvertrauen auf ihre Empfänglichkeit für die Wahrheit und ihre Kraft dazu läßt sich wohl erschüttern, aber nicht vertilgen. Ja der Zweifel selbst ist ein Bürge dieses Selbstvertrauens. Denn wenn er überhaupt Sinn haben, d. h. sich nicht selbst aufheben soll, so liegt ihm der Glaube an die Wahrheit seiner skeptischen Behauptung zugrunde. Auch der Zweifler also kann im letzten Grunde gar nicht anders als seiner Ver- nunft vertrauen.
Übrigens ist es nicht zutreffend, daß der Zweifel, wie manche be- hauptet haben, der Anfang der Philosophie sei. Die Geschichte der Philo- sophie zeigt vielmehr, daß der erste Antrieb zur Philosophie der bewun- dernden Betrachtung des Weltalls entstammt. Schon Piaton erklärt in einer schönen Stelle des Theätet (155 D) die Bewunderung für den An- fang der Philosophie und vergleicht sie sinnig mit der Götterbotin Iris, der Tochter des Thaumas (des Wunderreichen). Die Macht, Pracht, Groß- artigkeit und natürliche Abfolge der irdischen (geologischen) und himm- lischen Erscheinungen war es, die den Blick des denkenden Beobachters fesselte und ihn aufforderte, diese Wunder menschlich begreiflich zu machen. iVlit frischem Wagemute, nicht angekränkelt von schwächlichem Mißtrauen in ihre Befugnis und Kraft, greift die philosophierende Vernunft zu und sucht uns eine dem Verstände annehmbare und faßbare Lösung des Rätsels zu geben. Ein Versuch löst den anderen ab und erst die bei schärferer Prüfung sich herausstellende Unzulänglichkeit all dieser Versuche öffnet dem grundsätzlichen Zweifel Tür und Tor: der Skepti- zismus folgt der jugendfrischen Vertrauensseligkeit wie die Reue der all- zukühnen Tat, wie die Ernüchterung der Schwärmerei.
In der Geschichte der Philosophie bezeichnet die Sophistik die erste Phase des Skeptizismus, und zwar vertritt sie ihn in doppelter Gestalt. Die einen behaupten, es ist alles wahr, jede menschliche Vorstellung und Behauptung hat das gleiche Anrecht auf Giltigkeit. Das war der Stand- punkt des Protagoras und seiner Anhänger. Die anderen behaupteten, es sei überhaupt nichts und wenn etwas sei, so sei es der menschlichen Erkenntnis sowohl wie der menschlichen Rede unerreichbar. Das war der Standpunkt des Gorgias. Beide also leugneten, wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten, die Möglichkeit einer objektiven Giltigkeit der menschlichen Erkenntnis. Wer alles für gleich wahr erklärt, für den
Skeptizismus • Begriffe 33
gibt es keine objektive Wahrheit, ja er dürfte nach unseren Begriffen von Wahrheit überhaupt gar nicht reden. Und wer nichts für seiend und alles für unerkennbar erklärt, für den ist die menschliche Erkenntnis überhaupt gegenstandslos.
Dies war der Stand der Dinge, den Sokrates vorfand. Ihn zu be- kämpfen machte er sich zur Lebensaufgabe, eine Aufgabe, die als Ver- mächtnis auf seinen größten Schüler, auf Piaton überging. In beiden lebte die unumstößliche Überzeugung, daß unser Geist einer objektiven Erkenntnis der Dinge fähig und imstande sei, aus sich selbst einen festen Gehalt an Wahrheit zu entwickeln. Nicht Meinung und Belieben des ein- zelnen sind die unumschränkten Herrscher im Gebiete des Geistes: es gibt auch eine innere Notwendigkeit der Behauptungen, deren Anerkennung sich kein vernünftiger Mensch entziehen kann. Unser Geist ist weder ein bloßer Spiegel, nur fähig, Augenblicksbilder aufzunehmen und zu ent- lassen, noch gar, wie man nach Gorgias annehmen müßte, eine Art Zauber- laterne, die uns nur Nichtigkeiten vorgaukelt; er hat in sich die Kraft, den ruhenden Pol in. der Erscheinungen Flucht zu erkennen. Den festen Ankergrund aber der menschlichen Erkenntnis fand Sokrates und mit ihm zunächst auch Piaton in den Begriffen. Schon Parmenides hatte die Sinnesanschauungen als täuschenden Schein verworfen und Wahrheit und Wesenheit allein dem rein Denkbaren (vor|TÖv) zuerkannt. Allein mit der Bestimmung dieses vorjTÖv als der Form der Weltkugel blieb er einerseits halb in der Anschauung stecken (nämlich in der mathematischen Anschauung), und brachte anderseits alle Bewegung des Gedankens ins Stocken durch die Leugnung jeglicher Vielheit. Beide Fehler vermied die sokratische Begriffsphilosophie. Die Begriffe sind reine Gegenstände des Verstandes und geben doch durch ihre Vielheit der Bewegung des Denkens den weitesten Spielraum. Sie zeigen nicht unablässigen Wechsel wie die sinnlichen Dinge, sondern unwandelbare Dauer in ihren gegen- seitigen Verhältnissen. Die Merkmale, die einen Begriff bestimmen, die Teilbegriffe, aus denen sich ein Begriff zusammensetzt, bleiben in ihren Beziehungen unverändert dieselben. Einem Kreise wird immerdar das Merkmal beiwohnen, daß die Punkte seiner Peripherie den gleichen Ab- stand von dem Mittelpunkte haben; den Begriff der Freundschaft kann man sich ohne das Merkmal der Treue nicht denken usw. In den Be- griffen also und ihrem Verhältnis zueinander liegt ein Zwang der Aner- kennung für jedermann. Damit war die Frage nach den notwendigen und allgemeinen Wahrheiten, diese Grund- und Hauptfrage aller Philosophie, zwar noch lange nicht in ihrer vollen Bedeutung und nach ihrem ganzen Umfange erkannt, wohl aber auf einem bestimmten Gebiete richtig erfaßt
Apelt: Piaionische Aufsätze. 3
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und im bejahenden Sinne beantwortet worden. Vor allem wenigstens war so viel klar: ohne Begriffe gibt es keine notwendigen und allge- meinen Wahrheiten.
Woher stammen aber diese Begriffe? Woher ihr unvergleichlicher Vorzug unverrückbarer Festigkeit und Beharrlichkeit? Die erste Frage könnte man im Sinne des Sokrates vielleicht dahin beantworten, es sei die Induktion aus der Erfahrung, die uns dazu verhelfe. In der Tat hielt sich Sokrates bei seinen Begriffsbestimmungen an diese Verfahrungsart. Aber damit war der ihnen eigene Charakter der Beständigkeit nicht er- klärt. Piaton, der nach dem Grunde dieser Beständigkeit forschte, kam zu der Überzeugung, daß sie nicht aus der Sinnesanschauung stammen könne. Denn diese ist ja das gerade Gegenteil zu dem, was uns die Be- griffe leisten. Die Sinnesanschauung kann wohl die Veranlassung sein, daß im Geiste die Begriffe lebendig werden, aber sie kann, wie Piaton fest überzeugt ist, nicht der Quell derselben sein. Dieser muß im Geiste selbst liegen. „Die Vernunft ist entweder dasselbe wie die Wahrheit oder doch das dieser ähnlichste und wahrste von allen", heißt es im Philebus (65 D) und so ähnlich öfter. Aber dieser Quell liegt nicht offen und un- mittelbar greifbar da. Nur denkend können wir uns des verborgenen Schatzes allmählich bemächtigen. Was wir also durch denkende Erkennt- nis in unsere Gewalt bekommen, liegt nicht außerhalb unser, sondern in uns. Alles reine Denken und in gewissem Umfange auch das Lernen bestehen darin, daß sie das schon unbewußt in uns Vorhandene an das Licht des Bewußtseins herausstellen. Es ist, wie Piaton es deutete, eine Wiedererinnerung.
Alle Wiedererinnerung aber weist auf eine ursprüngliche Erwerbung hin. Wann und wo hat diese stattgefunden? Die Beantwortung dieser Frage gab Piaton durch seine Ideenlehre. Jene ursprüngliche Erwerbung kann nur stattgefunden haben in einem früheren, reinen Leben des Geistes, wo er unmittelbar schaute, was er sich jetzt nur mühsam mit Hilfe der Begriffe wieder in Erinnerung bringen kann. Die Begriffe sind die Er- innerungszeichen, die jene einst geschauten Urbilder in der Seele zurück- gelassen haben. Keine Erinnerung gibt vollständig und in lebendiger Frische den ursprünglichen Eindruck wieder; daher können wir denkend zwar ein Analogon jener rein geistigen Welt mit ihrer sich immerdar gleichbleibenden Wesenheit in uns hervorbringen, können aber hienieden nicht wieder zum Schauen selbst gelangen. Die lebendigen Beziehungen der Ideen zueinander können uns nur in den mehr oder minder verblaßten Erinnerungen daran, welche die logischen Operationen bieten, zum Be- wußtsein kommen. In der inneren Notwendigkeit und Gewißheit dieser
Begriffserkenntnis 35
logischen Beziehungen erhalten wir ein Abbild des ewigen Wesens der Ideen. Es war kein willkürlicher Schritt, wenn Piaton die sokratische Begriffslehre zur Ideenlehre weiter bildete. Die Konsequenz des Ge- dankens schien selbst darauf zu führen. Für unser vorliegendes Thema genügt es, darauf hinzuweisen, daß bei Piaton immer hinter den Begriffs- verhältnissen die lebendige Welt der Ideen steht.
Von Sokrates auf den sicheren Boden der Begriffserkenntnis gestellt, konnte es Piaton nur als eine Herabziehung und Entstellung der Würde unserer Vernunft, als eine völlige Verkennung ihres innersten Wesens ansehen, wenn man sie als unzureichend für Erfassung der Wahrheit an- sah; vielmehr ist es gerade ihr eigentlicher Beruf, von dem Reiche der Wahrheit Besitz zu ergreifen und an die Erforschung derselben alle Kraft zu setzen. „Wenn man nur richtig sucht, so wird man auch finden", heißt es im Gorgias (503 D). Daher der Preis der Wahrheit als obersten Seelen- gutes, daher die Mahnung zu ihrer Erforschung als einer heiligen Pflicht. Es mag Gebiete menschlicher Geistesbetätigung geben, die vor der Welt weit mehr ausrichten, als das stille Forschen nach Wahrheit. Aber an innerem Wert reicht nichts an dieses Streben heran; allem anderen haftet etwas von niederziehender Erdenschwere an: der lautere Wahrheitstrieb führt uns in die völlig reine Höhenluft der Vernunft oder Einsicht. Die frühesten wie die spätesten Schriften Piatons legen gleichmäßig Zeugnis ab für diese begeisterte Verehrung der Wahrheit. Es hat mehr als bloß philologisches Interesse die bezeichnendsten Aussprüche zu hören, in denen der begeistertste Herold der Wahrheit sich zum Lobe derselben vernehmen läßt. „Sehen wir nicht auf den Nutzen oder die äußere Ehre, sondern darauf, ob unserer Seele eine Kraft angeboren ist, sich für die Wahrheit zu begeistern und um ihretwillen alles zu tun, so gebührt der- jenigen Kunst, die sich dieser Kraft bedient, der oberste Rang vor allen Künsten", heißt es im Philebos (58 D). „Kann die nämhche Natur", heißt es in der Republik (485 CD), „der Philosophie huldigen, und zugleich der Unwahrheit? Gewiß nicht. Also der wahre Wißbegierige muß von früh- auf das größte Verlangen tragen nach jeder Art von Wahrheit". Ferner: „Der Wahrheit zu zürnen ist nicht statthaft" (Rpl. 480 A). Und weiterhin in derselben Schrift (490 Äff.): „Der Wahrheit muß jeder tüchtige Jünger der Wissenschaft in jedem Falle und auf jede Weise folgen; widrigenfalls wäre er ein Windbeutel und hätte nichts gemein mit echter Wissenschaft. Er darf sich durch nichts blenden, noch in seiner Liebe zur Wissenschaft kalt machen lassen, bis er das ursprüngliche reine Wesen von jedem Dinge erfaßt hat, und zwar mit demjenigen Seelenvermögen, mit welchem es zu erfassen einem so Begabten zukommt, d. h. mit demjenigen, welches
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mit dem reinen Sein verwandt ist; und hat er mit diesem Seelenvermögen dem wahren Sein sich einmal genähert, sich mit ihm begattet und ob- jektive Vernunft und Wahrheit erzeugt, so wird er dann im Besitze der Erkenntnis sein, erst wahrhaft zu leben anfangen, in diesem wahren Leben immer mehr zunehmen, und so endlich von seinem Geburtsschmerze Ruhe bekommen, eher aber nicht. Im Gefolge aber seiner Lebensführerin, der Wahrheit, werden sich ihm bald beigesellen Männlichkeit, großartige Denk- art, Gelehrigkeit, gutes Gedächtnis". Als „Weisheitsfreunde" gelten dem Piaton nur die, „welche die Wahrheit zu schauen begierig sind" (Rpl. 475 E). Wie ernst er es mit der Mahnung der Erforschung der Wahrheit meint, zeigt sich besonders auch daran, daß er Unwissenheit in den für den Menschen wesentlichsten Dingen geradezu mit dem Namen i|jeuboc, „Lüge" belegt, ja sie sogar für die eigentliche und echte Lüge erklärt (Rpl. 382 BC) und das, was man gewöhnlich Lüge nennt, nur als eine Lüge zweiten Grades, als eine Lüge in Worten bezeichnet.
Ist also der Forschungseifer eine selbstverständliche Mitgabe jeder philosophisch angelegten Natur, so wird die auf diesem Wege errungene und zur Überzeugung gewordene Wahrheit auch ein unverlierbarer und nicht preiszugebender Besitz sein (Rpl. 607 C). Hat eine solche Wahr- heit Bedeutung für die schönere Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse, so wäre es unrecht, damit zurückzuhalten. „Wenn man", heißt es in den Gesetzen (821 A), „eine wissenschaftliche Errungenschaft für schön und wahr, dem Staate zuträglich und der Gottheit durchaus genehm hält, so gibt es keine andere Möglichkeit mehr: man muß sie unbedingt kund- geben." Und ganz ähnlich schon im Charmides (166 D): „Meinst du nicht, es sei ein, man darf wohl sagen allen Menschen gemeinsam zukommen- des Gut, daß von jedem Gegenstand offenbar werde, wie es sich damit verhält?"
Für Piaton steht, wie für jeden, der über die Sache etwas nachdenkt, der Begriff der Wahrheit in engster Beziehung zu dem Begriffe des Sei- enden, d. h. des objektiv wirklich Vorhandenen. Sofern wir die Wahr- heit entgegensetzen der Falschheit, bezieht sie sich offenbar nicht un- mittelbar auf die existierenden Dinge und Verhältnisse selbst, denn diese können niemals falsch sein, sondern auf unser Urteil über dieselben. Diese Erkenntnis ist dem Piaton (vgl. Krat. 385ff., Soph. 263 B, Phil. 37 C) schon ebenso klar und geläufig wie dem Aristoteles (de an. 430"* 27 ff., 432* 11, Met. 1027'' 18ff.). Aber begreiflicherweise überträgt sich das Wort ohne weiteres auch auf die Dinge selbst. Denn im wahren Urteil spiegeln sich ja eben nur die tatsächlichen Verhältnisse wieder. So erhalten wir einen doppelten Sprachgebrauch, den einen, der ein subjektives, den anderen,
Erkenntnisweisen 37
der ein objektives Verhältnis bezeichnet. Daß das letztere Verhältnis sprachlich auch häufig durch die Verbindung beider Worte zum Ausdruck kommt (dXriöeid le xai tö öv Rpl. 508D, 526 E, 527 D, 585 C, tujv övtujv f) dXriGeia Phaed. 99 E, Meno 86 B usw.), versteht sich von selbst.
Aus dem Gesagten folgt, daß soviel Arten oder Stufen des Seienden es gibt, so viele Abstufungen oder Grade der Wahrheit es auch geben muß. Auf Wahrheit im vollen und eigentlichen Sinne kann nur das An- spruch machen, dessen Erkenntnis den Charakter des Bleibenden und Unumstößlichen trägt. Die Sinnesanschauung mit ihrem unablässigen Wechsel der Erscheinungen gewährt keinen Halt zu fester Erkenntnis, gleichwohl ist sie nicht völlig nichtig, nicht jeglicher Wahrheit bar. Aber was sie von Wahrheit an sich hat, trägt sie nur zu Lehen von den anderen Erkenntnisweisen, mit denen sie in Verbindung tritt. Es sind dies erstens die mathematische oder wie Piaton sie gern nennt, die dianoetische, zwei- tens die noetische (rein vernünftige, philosophische) Erkenntnisweise. Jeder sinnlichen Anschauung (Farbe, Ton, Geschmack usw.) nämlich legen sich alsbald teils gewisse räumliche und figürliche Bestimmungen, teils ge- wisse reine Verstandesvorstellungen, wie vor allem der Begriff des Seins unwillkürlich unter, die es überhaupt erst möglich machen, von jenen sinnlichen Erscheinungen etwas auszusagen, ohne die es also zu einer gegenseitigen Verständigung der Menschen darüber gar nicht kommen könnte. Darüber hat sich Piaton in einem sehr bemerkenswerten Ab- schnitt des Theaetet (184 A bis 187 B), auf den ich aber hier nur eben hinweisen kann, des näheren geäußert. Erst diese höheren Erkenntnis- weisen sind es, die uns dem Schwankenden und Unsicheren in der Er- fassung der Dinge, das aller bloß sinnlichen Wahrnehmung anhaftet, bis zu einem gewissen Grade entheben; erst mit ihnen fühlen wir festen Boden unter den Füßen, erst sie gewähren begründete Aussicht auf etwas Sicheres und Bleibendes in unserer Erkenntnis. Aber doch noch mit einem be- deutsamen Unterschied zu Ungunsten der Mathematik. Denn die mathe- matische Methode bedarf zur Entwicklung ihrer Erkenntnisse noch sinn- licher Hilfsmittel, sie bedarf der Zeichnungen (Figuren), die zwar etwas Allgemeines und Unsinnliches bedeuten, aber doch nur mit sinnlichen Mitteln darstellbar sind. Durch diese ihre bildlichen Hilfsmittel verrät sie noch ihre Verwandtschaft mit der Materie. Sie schöpft zwar ihre Er- kenntnisse, wie der Menon (82Bff.) in klassischem Beispiele zeigt, aus dem Inneren des Geistes selbst, aber doch nur unter Beihilfe von Bildern (eiKÖvGC Rpl. 511 A), d. h. von sinnlichen Zeichen. Zu völliger Befreiung von allem sinnlichen Beiwerk führt uns erst der reine Verstand. Er ver- hilft uns zu einer Erkenntnis, die auf alle anschaulichen Beihilfen verzieh-
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tend sich in' ihren Aufstellungen und Folgerungen ausschließlich an die eigene Kraft des Geistes und die ihm allein zugehörigen Mittel hält. Das Material aber, an und mit dem sie zu ihren Erkenntnissen gelangt, sind, wie schon oben bemerkt, die Begriffe.
Die durch Begriffe im Urteil, d. h. durch Denken erlangte Erkenntnis gibt uns nicht wie die im Augenblick vorüberschwindenden Sinnesan- schauungen nur ein momentanes, sondern ein dauerndes Bewußtsein; sie ermöglicht es, daß unsere Erkenntnis nicht wie in wallendem Nebel zer- fließt, sondern die Fülle der Erscheinungen durch Zusammenordnen des Gleichartigen unter gewisse Regeln bringt. Allein die bloße Unterordnung der sinnlichen Anschauung unter Begriffe gibt zwar mehr oder weniger allgemeine Erfahrungsurteile, trägt aber nicht den Charakter innerer Not- wendigkeit. Sie gibt empirische Regeln, in denen aber, für unser Bewußt- sein wenigstens, keine zwingende Notwendigkeit und Allgemeinheit liegt. Wo stoßen wir nun auf diese? Da, wo es sich nicht um Anwendung der Begriffe auf Erscheinungen, sondern um das Verhältnis der Begriffe zu- einander selbst handelt. Daß viele Vögel im Herbst über das Meer nach dem Süden ziehen, ist eine Tatsache, die sich nur durch Beobachtung, nicht aber aus dem bloßen Begriffe des Vogels feststellen läßt. Daß aber alle Vögel Flügel haben, versteht sich von selbst, weil in dem Begriffe des Vogels der des Besitzes von Flügeln unmittelbar eingeschlossen liegt. Alle Merkmale, die schon an sich in einem Begriffe liegen, können auch ohne weiteres von ihm, oder genauer gesprochen von allen unter ihm stehenden Individuen ausgesagt werden. Denn wäre das nicht der Fall, so läge ein Widerspruch vor. Hier hätten wir also ein Prinzip der Not- wendigkeit und Allgemeinheit für unsere Behauptungen und zwar ist das kein anderes als der Satz der Identität und des Widerspruchs. Alle ana- lytischen Urteile also — denn sie sind es, die unmittelbar auf dem Satze des Widerspruches beruhen — erfüllen die ersehnte Forderung des Un- umstößlichen und für jedermann Giltigen.
Damit stehen wir auf dem eigentlichen Felde der Dialektik, d. i. der Kunst der Handhabung der Begriffe, der eigentlichen Kunst des Philo- sophen nach Piaton. Ihre Hauptaufgaben sind einerseits Definition, ander- seits Einteilung der Begriffe. Beide gehören eng zusammen. Die letztere ruht immer auf schon gewonnenen Definitionen. Der Werkmeister dieser höchsten aller Künste ist der Logos, der definierende, einteilende und schließende Verstand, der unbestochen durch irgendwelche Autoritäten lediglich den inneren Gesetzen der Denknotwendigkeit folgt. Diesem Logos gebührt unbedingt das letzte, entscheidende Wort in allen Fragen der Begriffsbestimmung und Begriffsverknüpfung. Er ist der Träger der
Dialektik • Log-os 39
ausführenden Gewalt in dem Bereiche des reinen Denkens. Er ist der Vollstrecker der Wahrheit selbst, deren Bestand und unüberwindliche Geltung er uns zum Bewußtsein bringt. Weder der eigene Wunsch, es möchte sich so oder so verhalten, der ja so oft der Vater des Gedankens ist, noch überragendes Ansehen anderer Menschen, und wäre es selbst ein Homer oder Hippokrates oder Sokrates, darf der Entscheidung des Logos vorgreifen oder sich irgendwie an die Stelle desselben setzen: das hieße der Subjektivität ein Recht einräumen vor der unbedingten Objek- tivität. „Ich fürchte fast" läßt Piaton den Sokrates im Phaidon (91 Äff.) sagen, „daß ich im Augenblick in dieser Frage mich nicht wie ein Philo- soph benehme, sondern rechthaberisch wie diejenigen, die der wahren Bildung ermangeln. Wenn sich solche Leute über etwas streiten, ist es ihnen ganz gleichgiltig, wie es sich in Wirklichkeit mit der fraglichen Sache verhält, ihr ganzes Streben geht vielmehr dahin, der von ihnen aufgestellten Ansicht bei den Anwesenden Geltung zu verschaffen. Mit mir verhält es sich anders. Kümmert euch, wenn ihr meinen Erörterungen folgt, wenig um den Sokrates, desto mehr aber um die Wahrheit, und wenn es euch dünkt, ich sage etwas Wahres, so stimmet bei, wo nicht, so widerstrebet mit jedem Beweismittel, auf daß ich nicht im Eifer mich und euch täusche und, gleich der Biene, einen schmerzenden Stachel zurücklasse." Und in der Republik (595 C): „Homer in Ehren; aber er darf nicht über die Wahrheit gestellt werden". Und im Phaidros (270C) sagt Sokrates: „Mit Recht, o Freund, führst du den Hippokrates an, doch muß man neben dem Hippokrates auch den Logos fragen und sehen, ob er damit übereinstimmt." „Amicus Plato, sed magis amica veritas", sagen wir noch in traditioneller Nachbildung der Worte des Sokrates.
Diese Kunst der Erforschung der Wahrheit vermittelst des Logos soll uns durch die Reihe der Begriffe aufwärts führen bis zur höchsten, alles beherrschenden Vorstellung der menschlichen Vernunft, bis zur Vorstel- lung der Gottheit, der Idee des Guten. Erst, wer sich dieser Vorstellung mit dialektischer Kunst bemächtigt hat, darf Anspruch machen auf Ein- sicht in das wahre Wesen der Dinge. Denn von ihr erhält alles erst Licht und Leben. „Wer nicht imstande ist", heißt es in der Republik (534 C), „die Idee des Guten durch den Logos von allem anderen abzusondern und nach ihren Merkmalen zu bestimmen, und wer nicht wie in einer Schlacht durch alle Angriffe sich durchschlagend, sie nicht nach dem Schein, sondern nach dem Sein mutig verficht und in alle dem mittelst des un- umstößlichen Logos zum Ziele gelangt, von dem wirst du sagen, daß er weder Wissenschaft vom höchsten Gute, noch von irgendeinem anderen Gute habe; und wenn er je einmal ein Schattenbild hiervon erfasse, so
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geschehe das bei ihm durch bloße Meinung, nicht durch wirkliches Wissen, und das jetzige Leben verträume und verschlafe er, und gelange, ohne hier in dieser Welt erwacht zu sein, in die Unterwelt und versinke da erst vollends in einen Todesschlaf."
Was haben wir nun an dieser Dialektik mit ihren Definitionen, Schlüssen und sonstigen logischen Operationen? Welchen Dienst leistet sie uns in bezug auf unser Wissen? Soviel ist sicher: wenn sie sich bloß mit den dem Verstände bereits gegebenen Begriffen und deren gegenseitigen Beziehungen beschäftigt, so kann sie uns materiell keine Erweiterung unserer Erkenntnis geben; wohl aber kann sie uns formell zu neuen Ein- sichten verhelfen, indem sie uns über diese Begriffe und ihre Verhält- nisse zueinander aufklärt. Darin besteht denn auch tatsächlich die Be- deutung, die ihr beiwohnt. Ihre Einsichten bilden einen wichtigen Teil unserer gedachten Erkenntnis. So sagen wir. Für Piaton allerdings stand die Sache wesentlich anders. Denn ihn wiesen ja die Begriffe auf eine jenseitige wahrhaft substantielle Welt hin. In allen logischen Operationen spiegelt sich ihm, nur menschlich beschränkt, d. h. bloß durch Denken und nicht unmittelbar durch Schauen, die lebendige Beziehung der jen- seitigen wahren Wesen zueinander ab. Er meinte durch die Begriffe ohne weiteres Dasein und Wesen zu erkennen und da ihm diese jenseitige Welt eine Welt des Schönen und Guten ist, so ist ihm diese Erkenntnis zugleich die sittliche Erhebung über die Unvollkommenheiten des irdi- schen Daseins.
Gegenüber dieser Erkenntnis hat die Erfahrungserkenntnis keinen eigentlichen Wahrheitswert. Das ganze Erfahrungsgebiet ist für Piaton überhaupt nur Sache der bloßen Meinung (böEa), nicht des Wissens. Es hat daher für ihn gar keinen Sinn, zu fragen, ob nicht auch der Erfah- rungserkenntnis ein Prinzip der Notwendigkeit zugrunde liege, wie den analytischen Regeln der Satz des Widerspruchs. Wir ordnen in den theo- retischen Wissenschaften die Tatsachen der Erfahrung durch Induktion und Mathematik den obersten philosophischen Grundsätzen, die aller Natur- erkenntnis notwendig zugrunde liegen, unter. Durch die so gewonnenen Naturgesetze wird der Proteus der Sinnenwelt allmählich gefesselt und mehr und mehr in unsere Gewalt geliefert. An die Stelle des Zufalles tritt die Notwendigkeit, an die Stelle der Wahrscheinlichkeit die Gewiß- heit. Aber von dieser Art von Notwendigkeit und Gewißheit hat Piaton noch so gut wie gar keine Vorstellung. Er kennt zwar das Kausalitäts- gesetz - eines jener obersten philosophischen Naturgesetze, von denen ich eben sprach. Jeder setzt unwillkürlich ihre Giltigkeit voraus. Aber es ist ein Unterschied, ob er unbewußt nach ihnen urteilt, oder sie sich
Die Erfahrung 41
in abstrakto zum Bewußtsein bringt. Piaton nun spricht das Kausalitäts- gesetz ausdrücklich aus im Philebus (26 E) mit den Worten: „Notwendiger- weise muß alles, was geschieht (wird), durch irgendwelche Ursache ge- schehen (werden), oder wie wir es ausdrücken: jede Veränderung der Erscheinungen ist die Wirkung einer Ursache. Ganz ähnlich im Timaeus (28 A). Er erkennt also die Notwendigkeit und Allgemeinheit dieses Satzes ohne weiteres an, fragt aber nicht nach dem Grunde dieser Notwendig- keit und Allgemeinheit. Entweder also setzt er ihn unbesehen als giltig voraus oder er sieht ihn als einen analytischen, d. h. durch das bloße Begriffsverhältnis bestimmten an. Das letztere wäre zwar ein Irrtum, denn in dem Begriffe der Veränderung liegt zwar die Vorstellung des Nacheinander verschiedener Zustände, aber keineswegs der Begriff der Ursache. Aber es wäre immerhin möglich, daß Piaton in diesen Irrtum verfallen wäre. Indes dürfte man Grund haben zu der Annahme, daß ihm der Satz überhaupt nicht in seine Dialektik gehöre, da er sich aus- drücklich auf Werden und Veränderung bezieht und nur in gewissem Sinne auf die unveränderliche Welt der Begriffe. Piaton hat ihn ohne weiteres als unbedingt giltig für die Erscheinungswelt vorausgesetzt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, daß damit eigentlich sein Prinzip der Notwendigkeit und Allgemeinheit auf ein Gebiet (die Sinnenwelt) übertragen sei, von dem es grundsätzlich ausgeschlossen sein sollte. Ähn- lich steht es für ihn mit dem Satze des Heraklit von dem ewigen Fluß aller Dinge. Plato erkannte bekanntlich die Giltigkeit dieses Satzes an, aber er bezieht sich eben nur auf die Sinnenwelt, für die er allerdings apodiktische Geltung hat.
In einer vielbeachteten Stelle der Republik (510 B ff.) gibt Piaton un- gemein bemerkenswerte Winke über den Unterschied der mathematischen und der philosophischen Forschungsmethode. Die erstere geht, wie er sagt, von gewissen durch die Anschauung des Raumes unmittelbar ge- gebenen Grundsätzen (Axiomen) aus, über die sie sich nicht weiter aus- zuweisen braucht. Von diesen Grundsätzen aus entwickelt sie, immer an der Hand von räumlichen Bildern d. h. mit Hilfe ihrer Konstruktionen in progressiver Folgerungsweise ihre ganzen weiteren Erkenntnisse. Die Philosophie dagegen nimmt ihren Gang rückwärts vom Bedingten zum Unbedingten, und zwar nicht mit Hilfe von Bildern, sondern lediglich ver- mittelst der Begriffe. Ihr Verfahren ist also ein regressives. Sie schreitet von untergeordneten Wahrheiten auf zu den höchsten Wahr- heiten. Damit zeigt Piaton einen überraschend richtigen Blick in das wahre Wesen beider Wissenschaften. Der Mangel ist nur der, daß er die regressive Methode der Philosophie, seinem Prinzipe gemäß, auf bloß
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analytische Begriffsverhältnisse beschränken muß. Die methodische Regel, die er angibt, ist an sich durchaus zutreffend. Aber ihren wahren Wert für die Philosophie erhält sie erst durch ihre Anwendung auf syntheti- sche Sätze d. h. solche Sätze, die nicht bloße Begriffsverhältnisse dar- stellen, sondern Beurteilungen der Dinge selbst geben gemäß den in unserer Vernunft liegenden ursprünglichen Verbindungsformen, d. h. ge- mäß den wahren metaphysischen Grundsätzen, die eben nicht analy- tischer, sondern synthetischer Natur sind. Wir gelangen zu diesen Grund- sätzen, wenn wir die allen Erfahrungsurteilen zugrunde liegenden allge- meinen und unumgänglich notwendigen Voraussetzungen durch kunstge- rechte Zergliederung und Absonderung (Abstraktion) herausschälen und sie für sich in abstrakto herausheben. Dadurch wird das, was allen jenen erfahrungsmäßigen Beurteilungen ihren letzten Halt gab, sich aber in dem für sich dunklen Untergrunde unseres Geistes verborgen hielt und darum unbewußt blieb, zu klarem Bewußtsein gebracht. Das ist der Sinn der wahrhaft fruchtbaren regressiven Methode, die uns in sicherem Rück- schritt zu den wahren metaphysischen Grundsätzen, also vor allem zu den Grundsätzen der Beharrlichkeit der Substanz, der Kausalität und der Wechselwirkung führt. In Piatons Geist lag eine richtige Ahnung des wahren Sachverhalts. Allein seine Dialektik hielt ihn ganz bei den ana- lytischen Urteilen fest und versperrte ihm den Weg zu den synthetischen philosophischen Urteilen und zu ihrem Verständnis, am letzten Ende des- halb, weil er die Erfahrungserkenntnis als etwas der Vernunft Incommen- surabeles der eigentlichen Gesetzgebung des reinen Verstandes ganz entzog, wenn er auch, wie oben gezeigt, die Anerkennung ihres bloßen Daseins auf den Verstand gründete. Kurz die eigentliche Erfüllung jener von Piaton ahnungsvoll angedeuteten regressiven Methode ist der richtig verstandene Kritizismus, auf dessen weitere Regeln der Deduktion jener Sätze hier einzugehen natürlich nicht der Ort ist.
Mit der platonischen Dialektik und ihren, grundsätzlich wenigstens, bloß analytischen Urteilen wird für das Dasein der Dinge und ihre reale, d. h. nicht bloß logische Verknüpfung, in Wirklichkeit gar nichts ausge- macht. Durch bloßes Denken werden uns keine wirklichen Gegenstände gegeben; Dasein läßt sich nicht erdenken. Aus gegebenem Dasein läßt sich wohl weiteres Dasein erschließen, aber aus bloßen Begriffen folgt kein Dasein. Bei Piaton aber bilden Begriff und Denken den Weg, der zur Erkenntnis des Daseins führt. Dem Begriff entspricht die Idee als das einzig wahrhaft Existierende, und rein logische Begriffsverhält- nisse erhalten eine Bedeutung, als handelte es sich um wirkliche Dinge. Wenn zwei Begriffe notwendig, also immer miteinander verbunden sind,
Regressive Methode • Urteil 43
so sieht er in dieser Notwendigkeit zugleich die beharrliche Andauer existierender Wesen. Damit hängt eng zusammen eine eigentümliche mystische Auffassung des Urteils, von der an anderem Orte des näheren gehandelt worden ist^). Hier nur so viel: das „Ist" der Kopula hat für ihn immer zugleich mit die Bedeutung des Daseins. Es bezeichnet nicht nur die Giltigkeit der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, sondern gibt beiden eine Beziehung auf wirkliches Sein. Tatsächlich wird im Urteil diese Beziehung auf das Dasein weder durch das Prädikat, noch durch die Kopula gegeben, sondern durch das Subjekt und zwar durch die im richtigen kategorischen Urteil beizugebende Bezeichnung^), die sich durch Worte wie „diese", „alle" und dgl. vollzieht. Die platonische Vorstellungsweise nun erhält einen besonders hohen Grad von Illusion, wenn der Prädikatsbegriff der des „Lebenden", „Lebendigen" ist. Denn dann handelt es sich nicht bloß um die Existenz wie etwa bei den Vor- stellungen Stein oder Stern, sondern um das sich selbst bestimmende Leben, als eine dem Subjekt vermöge seiner beständigen Verbindung mit dem Prädikat anhaftende Eigenschaft. Auf dieser mystischen Fiktion be- ruht unter anderem der bekannte platonische Beweis für die Unsterblich- keit der Seele im Phaidon. Nämlich: mit dem Begriffe der Seele ist der des Lebens immer verbunden. Ich kann mir keine Seele ohne Leben denken. Also: die Seele ist immer lebend, sie ist unsterblich. Man er- läutere sich dies etwa an folgendem Beispiel: Eine singende Nachtigall oder ein galoppierendes Pferd kann man sich nie anders als lebend vor- stellen. Der Begriff des Lebens ist in alle Ewigkeit mit ihnen notwendig verbunden. Aber daraus folgt weder, daß eine singende Nachtigall das ewige Leben habe, noch auch nur, daß sie überhaupt Dasein habe. Ge- täuscht durch das Mißverständnis der Bedeutung der Urteilsform ver- wechselt also Piaton die notwendigen Bestimmungen bloßer Begriffsver- hältnisse mit dem beharrlichen Dasein der Substanzen.
Alle auf bloß logische Prinzipien sich stützenden Philosopheme erliegen -dem Schicksal der Inkonsequenz. Mit bloß analytischen Sätzen entbehrt man eines fruchtbaren Gehaltes und kommt nicht recht aus der Stelle. Diesen Mangel fühlt der logische Dogmatiker sehr bald und ihm abzu- helfen nimmt er unbesehen seine Zuflucht zur Erfahrung, deren synthe- tische Erkenntnisse er einfach wie analytische behandelt. Auch Piaton zeigt diese Inkonsequenz. Seine Dialektik, deren Werk, der Absicht nach.
1) Vgl, meine Beiträge zur Gesch. d. gr. Phil. S. 198 ff.
2) Vgl. hierzu die letzte Abhandlung dieses Buches „Piatons Sophistes in geschichtl. Beleuchtung".
44 Wahrheit
bloß in der Feststellung streng analytischer Begriffsverhältnisse bestehen soll, kann, um die Lehre sachlich fruchtbar zu machen, der Erfahrung nicht entraten. In streng dialektisch gemeinte Entwicklungen mischen sich unvermerkt Sätze ein, die entweder unmittelbar aus der Erfahrung entlehnt, oder, wie wir oben rücksichtlich des Kausalitätsgesetzes sahen, aus der Erfahrung wenigstens abstrahiert sind, oder endlich auch solche, über die nur die Erfahrung entscheiden kann, und die unbefugterweise dialektisch verkleidet als analytische Sätze auftreten.
Für den letzten Fall diene eine Stelle des Gorgias (476 Äff.) als Bei- spiel. Piaton will den Satz beweisen, daß Straflosbleiben nach begange- nem Unrecht das größte Übel sei. Im Verlauf dieser Argumentation spielt eine Hauptrolle der ohne weiteres eingeräumte Satz (dessen unbedingte Geltung übrigens schon innerhalb des Dialoges selbst aufgegeben wird 525 B vgl. auch 512 C), daß die Strafe den Menschen bessere. Ohne diesen Satz fällt der ganze Beweis in sich zusammen. Wer hat nun über diesen Satz zu entscheiden? Die Logik oder die Erfahrung? Doch wohl die letztere und sie dürfte nicht unbedingt zugunsten Piatons ausfallen. Spricht man mit unseren praktischen Kriminalisten über diesen Punkt, so machen sie eine mehr als skeptische Miene. Wie kommt nun Piaton gleichwohl dazu, seinen Satz wie einen analytischen als selbstverständlich einzuführen? Offenbar, indem er die Erfahrung, statt sich von ihr be- lehren zu lassen und ihr zu folgen, durch seine Dialektik meistert. Er meint aus dem Begriff der Strafe folgern zu können, daß sie die Men- schen besser mache. Aber schon die Tatsache der Todesstrafe zeigt,, daß dies ein Irrtum ist. Jeder Gesetzgeber nicht nur, sondern jeder Men- schenfreund überhaupt wird wünschen, daß die Strafe die Besserung zur Folge habe und der Staat trifft demgemäß seine Einrichtungen, die unter nicht geringen finanziellen Opfern den Strafanstalten vielfach zugleich den Charakter als Besserungsanstalten zu verleihen suchen. Aber was wün- schens- und erstrebenswert ist, ist darum noch weit entfernt auch wirk- lich zu sein. Es gibt ethische Begriffe, wie den der Pflicht, die rein ana- lytisch die Vorstellung des Sollens, d. h. der moralischen Notwendigkeit mit sich führen; aber diese moralische Notwendigkeit besagt nicht, daß das Gebotene nun auch wirklich geschehe. In dem Begriffe der Strafe ist aber nicht einmal diese moralische Notwendigkeit der Besserung in- begriffen (die vielmehr bloß ein natürlicher, damit verknüpfter Wunsch isi), sondern höchstens die Vorstellung der rechtlichen Notwendigkeit ihres Vollzuges.
Ganz ähnlich wie in diesem Falle steht es mit dem Begriffe des Staats- mannes in dem nämlichen Gorgias (ebenso Menon 99 B). Piaton nimmt
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ohne weiteres an, im Begriffe des guten Staatsmanns liege es, daß er die seiner Obhut Anheimgestellten sittlich besser mache. Also: wem das nicht gelingt, kann kein guter Staatsmann sein. Man sieht: nicht bloß mit Worten, auch mit Begriffen läßt sich spielen.
Nicht also in der Methode liegt die Stärke Piatons, wie man wohl ge- meint hat, eine so richtige Ahnung er auch in dieser Beziehung gehabt haben mag; seine Dialektik ist gerade seine schwache Seite. Und wenn Avir von seiner eigentlich philosophischen Methode, die eben die Dialektik ist, den Blick wenden nach seinem Verfahren in Sachen der Naturphilo- sophie, die ja von vornherein in seinen Augen bloß zu schwankender Meinung, nicht zu sicherem Wissen führen kann, so bemerken wir auch da bei aller Genialität seiner Konzeptionen einen charakteristischen Fehler: die Natur soll sich in ihren Erscheinungen und Gestaltungen nach ge- wissen mathematischen Proportionen und Figurenverhältnissen ordnen und richten, weil diese Proportionen in sich etwas besonders Ansprechen- des und Sinnvolles haben und nach oberflächlichen Analogien auf die Natur anwendbar scheinen. Allein mathematische Formeln sind nicht da- zu da, die Erfahrung zu meistern und unter ihr Joch zu beugen, sondern sie müssen warten, bis die Erfahrung auf dem Punkte ist, selbst nach ihnen zu greifen, weil sie den Erscheinungen entsprechen. Für Piaton genügt ihre innere Bedeutsamkeit, sie auch bedeutsam zu machen für die Natur, ganz so wie gewisse an sich sehr interessante Zahlenverhältnisse (wie die Teilbarkeit der Zahl 5040 durch alle Zahlen von 1 bis 10) eben wegen dieser arithmetischen Bedeutsamkeit auch maßgebend sein soll für die Einrichtungen der Staaten. Was die Naturforschung anlangt, so hat Piatons Standpunkt, ungeachtet seines großen methodischen Irrtums, doch ungemein befruchtend gewirkt durch den Nachdruck, mit dem er die Mathematik zur Naturbetrachtung heranzog. Mochte sein Verfahren in gewissem Sinne auch noch das gerade Widerspiel sein zu der wahren Methode der Naturforschung, d. h. der induktiven, so war doch das durch seine Autorität empfohlene Bündnis zwischen Naturbetrachtung und Ma- thematik ein Punkt, der, wie schon auf die Arbeiten der großen alexan- drinischen Gelehrten, so vor allem auch für die Anfänge der induktiven Forschung der Neuzeit von beträchtlichem Einfluß war. Man sieht: bei allen Mängeln seines tatsächlichen Verfahrens, wie es sich uns im Timäus darstellt, gibt ihm doch auch hier sein philosophischer Genius eine Ahnung des Richtigen ein. Er hat das Gefühl für das Richtige, allein die Ausbil- dung der Abstraktionen namentlich rücksichtlich der Unterscheidung der logischen und der metaphysischen Abstraktionen war noch zu weit zurück, um seinen methodischen Ahnungen die Bedeutung wirklicher Wegweiser
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zu geben. Er hält die iMethode sehr hoch. Im Politikos (286 D E) wird die Methode noch über den eigentlichen Gegenstand der Forschung selbst an Wert erhoben. Aber die richtige Methode mußte erst noch gefunden werden. Er sieht das Ziel in der Ferne, hat aber noch keine zulängliche Vorstellung von der Beschaffenheit des wirklichen Weges, der dahin führt.
Ungeachtet aller seiner Mängel bleibt sein philosophischer Blick immer bewundernswert. Und darin eben zeigt sich seine Größe. Sie liegt in der Genialität, mit der er nicht nur ein Totalbild der Philosophie zu zeich- nen wußte, das in den Hauptumrissen stehen geblieben ist bis auf den heutigen Tag, sondern auch einige der bezeichnendsten Eigentümlich- keiten der philosophischen Erkenntnis anzugeben vermochte samt dem Fundort, aus dem sie durch den menschlichen Verstand an das Licht des Bewußtseins emporgehoben wird. Das erstere durch die Lehre des tran- szendentalen Idealismus, dessen erster begeisterter Verkünder er ist, das andere durch die Lehre von der Wiedererinnerung, als dem Wege, der uns zu den allgemeinen und notwendigen Wahrheiten führt. In seinem eigenen Inneren findet der Mensch die philosophische Wahrheit. Der Philosoph hat keine neuen Tatsachen zu suchen, wie der Historiker, son- dern er soll die Grundformen seiner eigenen Überzeugung in sich beob- achten, wie sie schon in ihm liegen, nur verborgen im Dunkel des Geistes. Dies erkannt zu haben, ist eines der größten Verdienste Piatons um die Philosophie. Man kann es ein methodisches nennen, denn es ist maß- gebend für die ganze Forschungsweise der Philosophie und bildet das psychologische Seitenstück zu jener regressiven Methode, von der oben die Rede war (vgl. Menon 98 A). Die rechte Ausbildung dieser Methode war aber erst eine Sache der Zukunft.
Wir haben gesehen, wo Piaton die Wahrheit suchte und wie er sie finden zu können meinte. Wenn er das wahre Sein in eine jenseitige Welt des vollendet Guten und Schönen verlegte, so ist eben damit schon der enge Zusammenhang angedeutet, in dem Ethik und Weltansicht bei ihm stehen. Auf diese ethisch-praktische Seite des Wahrheitsbegriffes gilt es also noch einen Blick zu werfen. Der Mensch soll nicht nur die Wahrheit suchen, d. h. in ihr nur das Objekt der Erkenntnis sehen, son- dern er soll selbst innerlich wahr, wahrhaftig sein, d. h. die Wahrheit zu einer Aufgabe seines Willens im Verkehr mit anderen machen. Wir haben dafür neben Wahrheit noch das Wort Wahrhaftigkeit. Den Griechen be- zeichnete ihre uX^iÖeia beides: die Wahrheit als Erkenntnisgegenstand und die Wahrheit als Tugend. Die letztere ist dem Piaton zwar keine für sich bestehende besondere Tugend; will man ihr ihre Stelle im Chorus der Tugenden anweisen, so dürfte sie wohl als Begleiterin der Gerechtigkeit
Bleibende Wirkungen • Wahrhaftigkeit 47
(biKttiocvjvri) aufzufassen sein, mit der sie die Griechen so oft in Poesie und Prosa zusammenstellen 0. „Eine jungfräuliche Tochter der Scham", heißt es in den Gesetzen (943 D), „wird die Gerechtigkeit genannt und mit Recht heißt sie so; Lüge aber ist der Scham und Gerechtigkeit von Natur zuwider und darum muß man sich vor allem vorsehen, daß man nicht durch lügenhafte Beschuldigungen wider die Gerechtigkeit sich ver- sündige", Wahrhaftigkeit ist Aufrichtigkeit, Offenheit, unbedingte Zuver- lässigkeit im Verkehr. Damit verknüpft sich aber von selbst der Trieb, den wirklichen Sachverhalt zu erkunden und aufzuklären. Hier wäre denn der Ort, jener übermütig phantastischen Etymologie, deren wir zu Anfang gedachten, die ernsthafte Etymologie des Wortes dXriGeia gegenüber zu stellen, die sich in unseren Wörterbüchern findet, nämlich Xr|6eiv, \a0eTv „verborgen sein" mit dem privativen Alpha. Das Wort bedeutet also sub- jektiv genommen die Aufrichtigkeit, objektiv genommen das „Nichtver- borgensein", also die Erkenntnis dessen, was ist.
In wie nahe Beziehungen Piaton Wahrhaftigkeit und Wahrheit zuein- ander setzt, zeigt sich an Stellen wie den folgenden. „Unter allen Gütern" heißt es in den Gesetzen (730 BC) „steht bei den Göttern, steht bei den Menschen die Wahrheit oben an, und ihrer muß daher gleich von vorn- herein teilhaftig sein, wer zufrieden und glücklich leben will, um so in ihr so lange als möglich zu wandeln. Denn nur wer wahrhaftig ist, ist auch treu und zuverlässig, das Gegenteil aber, welcher die vorsätzliche Unwahr- heit liebt; denn wer die unvorsätzliche liebt, der ist unvernünftig und weder das eine noch das andere ist zu beneiden. Denn wer unzuver- lässig und treulos, sowie wer unvernünftig und töricht ist, der ist auch freundlos, und wenn er im Laufe der Zeit als solcher erkannt wird, so bereitet er sich eine vollständige Vereinsamung für die schweren Tage seines Alters und das Ende seines Lebens, so daß das letztere beinahe gleich sehr verwaist ist, ob ihm Kinder und Bekannte noch am Leben sind oder nicht." Und weiter (738 E): „Es muß daher jeder Bürger in jedem Staate vor allen anderen Dingen sich dessen befleißigen, sich einer- seits selbst gegen jedermann stets einfach, wahr und ohne Falsch zu zeigen, anderseits auch sich nicht durch andere mit ihrer Falschheit täu- schen zu lassen." In dem Entwurf seines Gesetzesstaates ist er daher eifrig besorgt, daß im Verkehr die strengste Wahrhaftigkeit herrsche, namentlich im Marktverkehr. „Ein jeder", heißt es (917 BC), „welcher verfälschte Waren zu Markte bringt, lügt und betrügt, indem er die Götter anruft, und bei ihnen Eide schwört nach den Gesetzen und unter dem
1) Vgl. Hirzel, Themis p. HO f. Dazu Alkib. 1, 122 A.
48 Wahrheit
Schutze der Marktaufseher, ohne Scheu vor den Menschen und ohne Ehrfurcht vor den Göttern. Gewiß ist es aber doch ein rühmhches Be- streben, die Namen der Götter nicht leichtsinnig zu beflecken und ihnen nicht so gegenüber zu treten, wie es leider in den meisten Stücken die meisten von uns in Ansehung der Lauterkeit und Reinheit ihres Verhaltens gegen sie tun. Sollte indessen trotzdem jemand dieser Erwägung nicht Folge leisten, so soll gegen ihn folgendes Gesetz gelten. Wer irgend- welche Waren auf dem Markte feilbietet, soll dieselben niemals um einen geringeren Preis als den von ihm vorgeschlagenen verkaufen, und wenn er diesen nicht erhalten kann, so soll er seine Waren lieber mit nach Hause nehmen, und an demselben Tage soll er den einmal gesetzten Preis weder erhöhen noch erniedrigen. Kein Verkäufer soll ferner seine Waren anpreisen und noch weniger ihre Güte eidlich beteuern. Gehorcht jemand diesem Gesetze nicht, so soll jeder Bürger, welcher darüber zu- kommt, und nicht unter 30 Jahren ist, wer er auch immer sein mag, ver- pflichtet sein, ihn für seine eidlichen Beteuerungen körperlich zu züch- tigen, und nicht bloß soll dies ungeahndet bleiben, sondern er soll sogar, wenn er es unbeachtet läßt und dieser Verpflichtung nicht nachkommt, eine öffentliche Rüge darüber erfahren, daß er die Gesetze im Stich ge- lassen. Wenn aber jemand jener anderen Satzung Folge zu leisten sich nicht entschließen kann, und ihr zum Trotze verfälschte Waren zum Markte bringt, so soll jeder, welcher darüber zukommt und es bemerkt, ihn vor der Obrigkeit dessen zu überführen suchen, und gelingt ihm dies, so soll er, wenn er ein Sklave oder ein Beisasse ist, die verfälschte Ware dafür erhalten. Ist er aber ein Bürger, so soll er, wenn er die Sache nicht zur Anzeige bringt, der öffentlichen Rüge unterliegen, daß er die Götter be- raubt habe; zeigt er es aber an, und beweist es, so soll er die verfälschte Ware den Göttern des Marktes weihen. Derjenige aber, welcher dessen überführt worden ist, daß er dergleichen Waren feilgeboten hat, soll nicht bloß ihrer verlustig gehen, sondern auch für jede Drachme, die er für seine Ware forderte, je einen Geißelhieb vom Herolde auf öffentlichem Markte erhalten, nachdem letzterer den Grund dieser Bestrafung öffent- lich verkündigt hat. Die Marktaufseher und Gesetzverweser aber sollen sich bei erfahrenen Leuten über die Verfälschungen und sonstigen Un- redlichkeiten, welche die Verkäufer vorzunehmen pflegen, erkundigen und darnach eine Marktordnung entwerfen, welche den Verkäufern vorschreibt, was sie tun dürfen und was nicht, und diese sollen sie dann auf eine Säule vor dem Amtshause der Marktaufseher eingraben lassen und er- klären, daß dies die Gesetze seien, welche jedem, der auf dem Markte Geschäfte treiben will, das Nötige klar und deutlich vorschreiben."
Marktordnung • Staatslüge 49
Von demselben Geiste nachsichtsloser Härte zeugen die Verfügungen wider die Handwerker in bezug auf pünktlichste Einhaltung der Lieferungs- fristen und der Ansetzung wertentsprechender Preise.
Auch der strengste Puritaner würde es ablehnen, sich zum Verteidiger der platonischen Markt- und Handwerkerpolizei zu machen, so edel und achtunggebietend auch die Motive sein mögen, aus denen sie hervor- gegangen ist. Völlig beherrscht von dem Gedanken, daß keine Einrich- tung des Staates ihre Beziehung auf den obersten Zweck des Staates, der Verwirklichung der Tugend zu dienen, verleugnen dürfe, will er auch den Markt zu einer Art Übungsplatz der Tugend machen, unbekümmert um die Forderungen der Wirklichkeit. Daß sich die Preisbildung in der Regel erst auf dem Markte im Verlaufe des Geschäftes nach Maßgabe des Angebotes und der Nachfrage vollzieht, daß also der Verkäufer un- möglich immer bei dem zuerst angegebenen Preise verharren kann, über- sieht Piaton ebenso wie den Umstand, daß nicht wenige Marktwaren rascher Verderbnis ausgesetzt sind. Piaton meint es gewiß ernst mit der Wahrhaftigkeit. Aber als Tugendfanatiker verkennt er die Grenzen ihrer Geltung und Anwendbarkeit.
Diese unbegrenzte Hochachtung vor der Wahrhaftigkeit scheint jede Ausnahme auszuschließen. Gleichwohl ist es bekannt genug, daß Piaton Ausnahmen zuläßt. Ärzte, Erzieher, Staatsbehörden sind nicht nur be- rechtigt, sondern auch verpflichtet, im Interesse der ihrer Pflege und Behandlung Unterstellten in ihren Aussagen unter Umständen von der Wahrheit abzuweichen und sich zum Schutze ihrer heilsamen Anordnungen gewisser Erdichtungen zu bedienen. Als einem „Heilmittel" (Rpl. 389 B) darf man solchen Erdichtungen einen von allen Mitteln der Klugheit vor- sichtig umgrenzten Spielraum nicht vorenthalten. Vor allem sollen sitt- lich-politische Grundanschauungen der staatlichen Gesetzgebung als be- gründet in mythischen Begebenheiten und Zuständen, namentlich hin- sichtlich des Ursprunges des Volkes, hingestellt werden (Rpl. 414 Bff., Legg. 663 D ff.). Der Zauber der Dichtung soll das Menschliche überall an das Göttliche anknüpfen und eine Sage schaffen, deren Heiligkeit eine Bürgschaft gewährt für die Unantastbarkeit derjenigen Grundsätze und Einrichtungen, auf denen das sittliche Gedeihen des Staates ruht. Kein billig Urteilender wird ihm dies als Jesuitismus auslegen. Piaton war nicht der Mann, dem wahren Geiste der Ethik zu nahe zu treten; er hatte eher ein zu lebhaftes als ein zu schlaffes Gefühl für das sittlich Schöne und Erlaubte. Die wahre Ethik ist eine Ethik der Gesinnung, nicht der äußeren Gebote und ihrer wörtlichen Erfüllung. Wo es sich um ein reines Rechtsverhältnis zwischen Personen handelt, bin ich zu unverbrüchlicher
Apelt: Platonische Aufsätze. 4
50 Wahrheit
Wahrheit verpflichtet. Handelt es sich aber um ein Vertrauensverhältnis, etwa von Mündigen zu Unmündigen, von Eltern zu Kindern, wie es dem Piaton bei seinem eine große Familie bildenden Staate vorschwebt, so sind erzieherische Rücksichten, als hervorgegangen aus einer Gesinnung, die nur das Beste der Pfleglinge beabsichtigt, unter Umständen geeignet, eine Verschleierung gewisser Wahrheiten und ihre Ersetzung durch er- dichtete Erzählungen zu rechtfertigen. Es braucht uns also angesichts der platonischen „Staatslüge" nicht bange zu werden für die Grundlagen der Ethik.
III. DISHARMONIEN.
Manches Philosophen Ehrgeiz ist vornehmlich darauf gerichtet, der ihm eigentümlichen Gedankenwelt eine in sich geschlossene Gestalt zu geben. Die Übereinstimmung mit sich selbst, der folgerechte innere Zu- sammenhang seiner Lehre, die Unterordnung aller seiner Aufstellungen unter die Herrschaft seiner Grundsätze ist ihm so wichtig, daß ein Mangel in d ieser Beziehung ihm oft schmerzlicher ist und sein Gewissen schwerer bedrückt, als etwaige Inkongruenzen seiner Lehre mit dem Leben und der gemeinen Wirklichkeit der Dinge. Wenn Zenon der Eleate, pochend auf die Unüberwindlichkeit seiner Dialektik, die Möglichkeit der Bewegung leugnete, so fühlte er sich damit, gegenüber der Wirklichkeit, so wenig im Unrecht, daß er im Gegenteil die ganze Wirklichkeit als etwas Unbe- rechtigtes verwarf. In so triumphierender Laune sind nun freilich nur wenige der späteren Philosophen gegenüber der Natur, dem Leben, der Wirklichkeit. Sie haben vor diesen unverächtlichen Mächten doch einigen Respekt. So sehr sie im allgemeinen auch das reine Denken über die Sinneswahrnehmungen erheben und in ersterem die eigentliche Aufgabe der Philosophie erblicken, so suchen sie sich doch mit dem letzteren in einem weniger diktatorisch abweisenden Tone abzufinden als die Eleaten.
Das gilt schon von Piaton, dem Freunde der Eleaten. Läßt er die Sinneserkenntnis auch nur als die niedrigste Form der Erkenntnis gelten, so räumt er ihr doch eine abbildliche Bedeutung ein im Verhältnis zur Erkenntnis des wahren Seins. Seine Philosophie steigt auf von dem Be- sonderen zu dem Allgemeinen, und so weit er auch schließlich das Be- sondere hinter sich läßt, so spricht er ihm doch nicht jedes Recht ab. Und selbst wenn er gesonnen wäre dies zu tun, würde die dramatische, dem Leben und der Gegenwart zugewandte Form seiner Schriftstellerei ihn fortwährend zur gemeinen Wirklichkeit der Dinge zurückrufen. Ge- trieben von seiner Gestaltungskraft, die sich zugleich als ein nicht ge- ringes Anziehungsmittel für den Leser erweist, knüpft er unmittelbar an das gegenwärtige Leben an, dessen selbstverständliche, durch den Zwang der Dinge selbst begründete Forderungen er nicht unbeachtet lassen kann. Aber das ist ihm doch nur der Ausgangspunkt, von dem aus er
52 Disharmonien
den Leser in das eigentliche Heiligtum seiner Gedankenwelt überleitet, wo seine Ansichten mit der ihm eigentümlichen Begründungsweise herrschen.
Diese Begründungsweise wird naturgemäß bei jedem Philosophen ab- hängen von der Art und Weise seiner Dialektik (d. i. der Behandlung der Begriffe), und diese wiederum wird ihr Gepräge ganz und gar erhalten von dem größeren oder geringeren Maße der jeweiligen Ausbildung der allgemeinen (abstrakten) Vorstellungsweisen. Denn die Philosophie, tech- nisch betrachtet, besteht eigentlich in nichts anderem als in der richtigen Handhabung der Abstraktionen. Die Abstraktionen erstens allmählich überhaupt zu finden, und zweitens sie ihrem Wesen und ihrer Bedeutung nach richtig verstehen zu lernen, ist sozusagen die esoterische Aufgabe der Philosophie, während die Aufstellung der Weltansicht, nach der jeder Laie zuerst hinschaut, im Grunde mehr bloß die exoterische Seite der Philosophie ist. Die Abstraktionsweise bestimmt den Charakter der Dia- lektik, d. i. der ganzen Art und Weise, wie der Philosoph mit den Be- griffen umgeht. Bei einem noch wenig entwickelten Zustand dieser schwierigen Kunst der Abstraktionen werden sich, auch bei richtiger Weltansicht im ganzen, doch die mannigfachsten Kollisionen einstellen mit der Wirklichkeit der Dinge und mit dem Leben. Mit letzterem meine ich nicht das Leben seinen augenblicklichen Zuständen nach, die von dem Philosophen mit vollem Recht auf das Härteste bekämpft werden können, sondern seinen allgemeinen psychologischen Voraussetzungen nach, die immer dieselben bleiben. Unwillkürlich werden diese allgemeinen Vor- aussetzungen bei einem Philosophen, der von dem gegebenen Leben aus- geht, in den mehr unsystematischen Partien der Darstellung ihr Recht, das eben unüberwindlich ist, behaupten und demgemäß ihre Rolle spielen, während seine streng dialektischen Ausführungen nicht selten im Wider- streit damit stehen.
Das ist der Fall Piatons. Seine Dialoge führen uns mitten in die geistige Bewegung der damaligen athenischen Welt. Sein Blick umfaßt Leben und Welt mit regem Verständnis für die natürlichen und notwen- digen Voraussetzungen beider. Der tiefe philosophische Zug seines Geistes, angeregt durch den ganzen bisherigen, ihm wohlvertrauten Verlauf der griechischen Philosophie, ließ ihn schon frühzeitig zu der unerschütter- lichen Erkenntnis gelangen, daß dieser Welt des Sichtbaren und Ver- gänglichen die Bedingungen des wahren Seins fehlen, daß sie nur ein Abglanz des vollendeten Seins, ein Widerschein der Ewigkeit sei.
Aber diese Weltansicht, so richtig sie ihrer letzten und eigentlichen Absicht nach gedacht war, eilte der Ausbildung der dialektischen Hilfs-
System und Wirklichkeit 53
mittel der Philosophie voraus. Daher ihre wissenschaftlich ungenügende Fassung und Begründung, daher denn auch die mancherlei Unstimmig- keiten, die Piatons Gedankengänge teils in sich, teils mit der Wirklichkeit zeigen. Nicht etwa auf alle, sondern nur auf einige dieser Disharmonien hinzuweisen, sei die Aufgabe der folgenden Blätter. Sie sollen behandeln das Verhältnis erstens von Wissen (eTTicTr].Ln-i) und Meinen (böEa), zweitens von Fortschritt und Stillstand, drittens von Kunst und Wirklichkeit.
1. WISSEN UND MEINEN.
Eine der bezeichnendsten Eigentümlichkeiten der entwickelten plato- nischen Lehre ist bekanntlich die Unterscheidung der verschiedenen Ab- stufungen unserer Erkenntnis nicht bloß subjektiv, der Erkenntnisweise nach, sondern auch objektiv, dem Gegenstande nach (Rpl.476Eff., 509 Eff.). Vorbereitet durch Untersuchungen, wie sie der Theaetet bietet, liegen sie in ihrer reifen und weiterhin festgehaltenen Gestalt uns in der Republik vor. Das reine Denken vollzieht sich in bloßen Begriffen und hat seinen Gegenstand in den. Ideen, das mathematische Denken (bidvoia) bedient sich gewisser Bilder (Konstruktionen) und geht auf die reine Anschauung, die Meinung (ÖöHa) endlich ist die empirische Erkenntnis.
Mit dieser Unterscheidung der tatsächlich in unserem Geiste neben- einander stehenden drei Erkenntnisweisen, der empirischen, mathemati- schen und noetischen (philosophischen), hat sich Piaton ein ganz hervor- ragendes Verdienst erworben um Aufklärung des Baues unserer Erkennt- nis. Aber indem er die rein wissenschaftliche Erkenntnis nur den bloßen Begriffen für sich vorbehalten zu müssen glaubte, die Mathematik da- gegen wegen der Beihilfe von Bildern (Figuren) bei ihrem Verfahren um eine Stufe tiefer setzte, und endlich der sinnlichen Erkenntnis jeden An- spruch auf Sicherheit verweigerte, mußten ihm in konsequenter Durch- führung seiner gewonnenen Grundanschauung die drei Erkenntnisweisen auch ihren Objekten nach schroff auseinanderfallen. Dadurch wurden die natürlichen Verhältnisse stark verschoben. Für uns hat jede der drei Erkenntnisweisen ihren Anteil am Wissen: der Empirie gehört die Kennt- nis der Tatsachen, der Mathematik die der Größenverhältnisse und der Formen der Zusammensetzung, der Philosophie die der obersten Grund- sätze. Und wie sich jede eines Besitzstandes an Wissen rühmen darf, so gibt es in jeder neben dem Wissen auch Meinung, als Vorstufe (sub- jektiver Versuch) zum Wissen. Allein diese drei Erkenntnisweisen für sich geben nicht die vollständige, d. h. theoretische Erkenntnis. Diese liegt vielmehr in der Verbindung aller drei, d. h. in der Unterordnung der Tatsachen unter das teils mathematisch, teils philosophisch bestimmte
54 Disharmonien
Gesetz. Auf diesem Wege (durch Induktion) gelangen wir zu den Natur- gesetzen und damit zu einem Ganzen der Erkenntnis. Gerade auf dem Ineinandergreifen der drei Erkenntnisweisen beruht für unsere An- schauungsweise das volle Wissen, also der Tendenz nach die Möglichkeit dessen, was Piaton Wissenschaft (eTTicT]]uii) nennt. Erst dieser vollendeten Naturerkenntnis mit ihren notwendigen und allgemeinen Bestimmungen setzen wir das ewige Sein (unsere Ideenwelt) entgegen, als seinem Da- sein nach notwendig, aber seiner Beschaffenheit nach für uns unerkenn- bar. Piatons Ideenwelt — der Absicht nach dasselbe wie die unsere — liegt infolge seiner dialektischen Fehler um eine Stufe zu tief. Sie hat ihren Platz bei ihm schon da, wo bei uns die Naturgesetze liegen; das Notwendige und Allgemeine, aber für sich Wesenlose sieht er gerade als Gewähr der Wesenhaftigkeit an. Indem er alle Begriffe, auch die empi- rischen, hypostasiert und zu Ideen macht, bekommt er keine Welt des Absoluten, des von den Schranken der Endlichkeit Befreiten, sondern nur eine erhöhte oder ideelle Sinnlichkeit, eine Verdoppelung der Dinge, wie es Aristoteles ganz zutreffend nennt, eine Welt, die unserer positiven Er- kenntnis zugänglich ist und sogar allein das eigentliche Wissen ermög- licht, nicht eine Welt des Glaubens, zu der wir nur auf dem Wege der Negation gelangen, nämlich durch Verneinung der Schranken unserer Erkenntnis. Mit seiner eTTiciriiuri glaubt er die Verhältnisse der Ideenwelt zu erfassen und doch sind es nur leere Formeln des Verstandes, in denen er sich dabei bewegt, während der tatsächliche Gegenstand unseres Wissens, die Sinnenwelt, jeden Anspruches auf Wissen verlustig geht.
Aber die wahren Verhältnisse unserer Erkenntnis lassen sich durch keine Hypothese aus der Welt schaffen. Sie können verkannt und ver- leugnet, aber nicht vernichtet werden. Sie melden sich, wenn auch als ungebetene Gäste, immer wieder von selbst. Taucht man ein Stück Kork gewaltsam unter das Wasser, so kann man es durch künstlichen Druck wohl darunter halten. Mit dem Wegfall des Druckes schnellt es von selbst wieder empor. So macht sich die wirkliche Natur unserer Erkenntnis gegenüber allen willkürlichen Versuchen, ihr Wesen zu bestimmen, als- bald von selbst wieder geltend. Meinen und Wissen schließen einander nicht aus. Es sind verschiedene Stufen unseres Fürwahrhaltens und nichts hindert, daß sie sich auf den nämlichen Gegenstand beziehen. Und das war auch Piatons eigene ursprüngliche und von der Theorie noch nicht angekränkelte Ansicht, wie der Dialog Menon (97 A ff.) auf das Schlagendste zeigt. Das Beispiel, an dem er die Sache klar zu machen sucht, nämlich die mehr oder minder sichere Kenntnis des Weges von Athen nach Larissa, nach der sich eben der Unterschied von Wissen und Meinen rücksicht-
Wissen und Meinen 55
lieh dieses Weges bestimmt, läßt keinen Zweifel darüber, daß sich beide nicht nur auf den nämlichen Gegenstand beziehen können, sondern daß dieser Gegenstand auch ein rein empirischer sein kann. Erst die weitere Ausbildung seines Systems führte ihn von dieser ungekünstelten Auf- fassung zu der scharfen Scheidung beider Gebiete.
Aber, wie gesagt, das natürliche Verhältnis wird nicht ungestraft ver- letzt. Mitten zwischen beide Partien der Republik, in denen er diese künstliche Trennung vollzieht und begründet (476 E ff. 509 E ff.), schiebt sich eine kleine Betrachtung ein (506 C), in der er die Strenge dieser Unterscheidung völlig wieder aufgegeben zu haben scheint. „Man soll sich", heißt es da, „über Dinge, über die man kein eigentliches Wissen hat, nicht so äußern, als besäße man ein solches Wissen. Und was man als bloße Meinung vorträgt, taugt auch nichts. Denn alle Meinungen ohne genaues Wissen sind verachtenswert, da ja die besten von ihnen blind sind. Oder unterscheiden sich die, welche ohne vernünftige Einsicht durch bloßes Meinen einmal das Richtige treffen, von Blinden, die einmal den Weg richtig treffen?"
So schlecht hier auch die bloße „Meinung" wegkommen mag, so viel ist doch klar, daß das Objekt der Meinung und des Wissens hier als das nämliche gedacht wird. Es ist, als ob der Kobold Wirklichkeit sich den Spaß machen wolle, gerade da, wo der Philosoph ihn recht geflissentlich mißachtet, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Piaton scheint in der Theorie jener strengen Scheidung treu geblieben zu sein, denn noch in Timäus (51 D) kehrt sie wieder. Aber daneben macht sich auch der unwillkürliche Zug zur Wirklichkeit weiterhin noch ebenso geltend wie in der Republik. Im Politikos z. B. spricht er, und zwar deutlich im Sinne wirklich wissenschaftlicher Erkenntnis (309 C), von der gesicherten wahren Meinung über das Schöne, Gerechte und Gute, also über Gegen- stände, die dem Bereiche der höchsten eTTicxriiuri zufallen. Man wird sich also sehr vorsehen müssen, aus solchen Unstimmigkeiten Schlüsse auf die Chronologie der Dialoge zu ziehen, um so mehr, als sich dergleichen Discrepanzen nicht selten innerhalb desselben Dialoges finden. Man muß mindestens sehr scharf zwischen folgenden zwei Fällen scheiden. Wo es sich bloß um den Widerstreit von künstlicher Theorie und unbefangener Praxis handelt, haben wir kein Recht zu chronologischen Folgerungen: es ist der einfache Gegensatz zwischen feierlicher Amtsmiene und un- gezwungenem Gesichtsausdruck. Wohl aber sind dergleichen Schlüsse berechtigt, wo eine bewußt theoretische Ansicht einer anderen solchen über den nämlichen Gegenstand entgegensteht. Hinsichtlich unseres Falles, nämlich des Verhältnisses der Meinung zum Wissen, trifft dies auf
56 Disharmonien
den Menon (98 A) einerseits und den Theaetet, die Republik und den Timäus anderseits zu. Hier stehen theoretische Auffassungen als solche einander gegenüber und es unterliegt keinem Zweifel, daß der Menon früher abgefaßt ist, als die anderen genannten Dialoge.
2. STILLSTAND UND FORTSCHRITT.
Wir werfen nunmehr einen Blick auf die praktische Philosophie, und zwar im weitesten Sinne, nämlich mit Einschluß ihrer Bedeutung für Staat und Menschengeschichte. Hier galt es dem Piaton, die erkenntnismäßig erfaßte Idee dem Leben einzupflanzen, den Willen des Menschen ihr dienstbar zu machen. Das Gute und Schöne soll Besitz nehmen wie von dem Herzen des einzelnen, so von der Seele des ganzen Volkes, es soll beiden zur Glückseligkeit verhelfen; denn nur die Tugend kann die Be- gründerin dieser Glückseligkeit sein. Eine ernste Aufgabe, die ernsteste, die es für Platon überhaupt gab.
Hier steht auf der einen Seite das vielgestaltige, triebreiche Leben, auf der anderen der reine Verstand als Deuter der sich immer gleich- bleibenden Idee. Beide hatten begründete Ansprüche auf Beachtung, beide forderten ihre Rechte. Wie nahe lag hier die Gefahr, bei den Be- mühungen die Forderungen beider auszugleichen, in Widersprüche und Inkonsequenzen zu verfallen.
Für Platon gibt es keinen Zweifel darüber, daß dem Menschen die sittliche Aufgabe der Selbstveredelung gestellt ist und daß er ihre all- mähliche Erfüllung selbst in die Hand nehmen muß. Allerdings finden sich bei ihm gewisse Andeutungen, die der Unkundige leicht im gegen- teiligen Sinne auszulegen geneigt sein könnte. Nicht bloß einmal näm- lich hat nach Platon die Menschheit ihren Kulturgang zurückgelegt. Un- zähligemale hat sie sich von geringen Anfängen zur Höhe der Bildung und Vervielfältigung ihrer Machtmittel gegenüber der Natur emporge- arbeitet; aber immer wieder haben teils große Naturkatastrophen, teils sich einschleichende und um sich greifende innere Fäulnis diesen groß- artigen Bau wieder untergehen lassen bis auf ganz armselige Reste, die eben den Ausgangspunkt bilden zu erneutem Aufstieg: eine endlose Wiederholung des Geschehenen, eine wahre Sisyphusarbeit. Diese An- sicht, die Platon in ihren allgemeinen Umrissen von den Pythagoreern übernommen hat, würde, wenn er ihnen dabei auch in das Einzelne der Ausführung gefolgt wäre, sich dem großen Gedanken der selbständigen Entwickelung des Menschengeschlechtes nur schlecht anpassen. Für die Pythagoreer nämlich war jede folgende Weltperiode bis in das Einzelste hinein die strenge Kopie der vorhergehenden. Das würde auf die Selbst-
Kultur 57
bestimmung der Menschen immerhin ein bedenkhches Licht werfen. Allein nichts zwingt zu der Annahme, daß Piaton seine periodischen Kulturzyklen in dem pedantischen Sinne der Pythagoreer gemeint habe. Überwiegende Gründe sprechen vielmehr dafür, daß er bei diesen Wieder- holungen nur an den Gang der Dinge im Großen gedacht, die Abwechse- lung im einzelnen ihnen aber nicht versagt habe. Er kennt recht wohl die großen astronomischen Weltperioden (Tim. 39 D), mit denen die Pythagoreer ihre Wiederkehrlehre in Verbindung gebracht zu haben scheinen; aber er setzt sie nicht in Beziehung zu seinen Kulturumläufen. Wo er von den letzteren spricht, in den Gesetzen nämlich (676 Äff.; vgl. 782 A f.), weist er nur auf große Erdkatastrophen als auf die Zerstörer der menschlichen Kultur hin. Aber man darf weiter behaupten, daß diese ganze Vorstellungsweise dem Piaton keine tiefere philosophische Bedeu- tung hat. Sie ist ein Notbehelf, dazu dienend, die unendliche Leere der Zeit zu füllen; sie bleibt ganz im Hintergrund stehen wie eine deckende Kulisse. Die Hauptfrage bleibt für ihn wie für uns die nach den treiben- den Kräften für die Entwicklung unserer Kultur, gleichviel ob sie nur die Kopie von tausend gewesenen Vorbildern ist oder nicht. Und diese Kultur ist so gut wie die Tugend freies Menschenwerk, nicht ein Ver- hängnis, das sich unter allen Umständen vollziehen muß. Man braucht nicht tief in den Piaton hinein zu lesen, um zu erkennen, was in dieser Beziehung seine Meinung ist. Die eigene Schaffenskraft, die Ausbildung seiner Fähigkeiten, unter Leitung des gesunden Verstandes soll den Menschen vorwärts bringen, ihn zu einem gesitteten und bis zu einem gewissen Grade die Natur beherrschenden Wesen machen. Nicht wie ein Uhrwerk in blinder Notwendigkeit soll sein Lebenswerk ablaufen, sondern er selbst soll sich zum Schöpfer dessen machen, was er bedeutet und wert ist. In höherem Sinne aber kann er dieser Aufgabe nur genügen in dem Zusammenschluß mit anderen zu staatlicher Gemeinschaft. Der Staat ist der potenzierte Mensch. Er ist es, der dem einzelnen erst die volle Entfaltung seines besseren Ich, die Entwickelung der edleren Seiten seines Wesens möglich macht. Unter Führung der Berufensten, d. h. nach Piaton der Philosophen, kann hier auch der Schwächere durch rechte Eingliederung in das Ganze dem höchsten Zwecke dienstbar ge- macht werden. Der eigene Verstand, das selbsterkannte Bedürfnis soll und wird den Menschen auf diese Bahn der Selbstveredelung durch ge- meinsame staatliche Tätigkeit führen.
Diese Regsamkeit der eigenen Tatkraft nach Maßgabe dessen, was der klare Verstand als vernünftiges Ziel erkennt, ist die Bedingung alles wahren Fortschrittes. Der Mensch ist ein bildungsfähiges Wesen und
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Bewegung das Mittel, um den vorhandenen Keim zur Entfaltung zu bringen. „Durch Lernen und Übung", heißt es im Theaetet (143 C), „also durch Bewegungen, erwirbt die der Seele innewohnende Kraft Kenntnisse, er- hält sich gesund und wird besser, während sie durch Ruhe, d. h. durch Mangel an Übung und Bildung einmal nichts lernt, und sodann alles, was sie gelernt hat, wieder vergißt. Das eine also, die Bewegung, ist etwas Gutes für Seele und Leib, das andere das Gegenteil. Soll ich nun noch Windstille, Ruhe des Wassers und alles Ähnliche nennen und nachweisen, daß die Zustände der Ruhe Fäulnis und Verderben bringen, die entgegen- gesetzten aber Erhaltung? Und soll ich dem noch die Krone aufsetzen, und zeigen, daß Homer mit der goldenen Kette nichts anderes meint als die Sonne und erklärt, daß alles ist und sich erhält im Himmel und auf Erden so lange als der Weltkreis und die Sonne in Bewegung sei, so lange aber dies gleichsam gefesselt würde und still stünde, dann wären alle Dinge verloren und es würde, wie man sagt, drunter und drüber gehen?"
Nicht Stillstand, sondern Fortschritt ist also im allgemeinen die For- derung, die Piaton an die Menschen stellt. Seine ganze Philosophie ist ja im Grunde nichts anderes als eine Anweisung zur Veredelung der Menschheit. Wenn nun Piaton für das Gedeihen alles Irdischen Bewegung fordert, so ist das freilich auf unserem Gebiet, dem des staatlichen Lebens, nicht Bewegung um jeden Preis, sondern Bewegung zum Besseren. Ist das Gute z. B. in irgendeinem Zweige der Gesetzgebung erreicht, dann ist hier für weitere Bewegung nach Piaton so wenig Spielraum mehr, daß sogar jeder Versuch einer Änderung zum straffälligen Frevel wird. Aber gibt es denn für die Erfahrung ein absolut Gutes? Wer sagt mir, daß eine Gesetzesbestimmung wirklich die denkbar beste in ihrer Art für alle Ewigkeit sei? Der bloße Verstand, das reine Denken mag mich zwar überzeugt sein lassen, daß sie in Einklang stehe mit den Forderungen der Sittlichkeit, aber diese Übereinstimmung läßt für die Praxis verschiedene Fassungen zu. Je nach den Umständen wird hier diese, dort jene den Vorzug verdienen. Der Verstand für sich gibt nur Kriterien für die Gesetzgebung, zeigt das allgemeine Ziel derselben unter Hervorhebung dessen, was und wie sie nicht sein soll. Jedes positive Gesetz aber er- fordert Erfahrung. Besonnene Erfahrung, d. h. Erfahrung und Verstand, sind die Seele guter Gesetzgebung. Das weiß Piaton auch, aber ein rationalistischer Zug läßt ihn die wirklichen Rechte der ersteren zuweilen zurücksetzen hinter die vermeintlichen Rechte des letzteren. Dabei schwebt mir nicht seine Republik vor, die sich ja überhaupt in einer über die Er- fahrung hinausgehenden Höhe bewegt, sondern sein großes Werk über
Verstand und Erfahrung- 59
•die Gesetze. Es ist nicht ohne Interesse, den Kampf zu beobachten, in den der große Denker mit sich selbst gerät bei dem Versuche, die An- sprüche der Erfahrung mit denen des reinen Verstandes auszugleichen. Piatons reicher und vielseitiger Geist verkennt keineswegs die Rechte der Erfahrung mit der Mannigfaltigkeit ihrer Forderungen Er würdigt den Einfluß des Klimas und sonstiger natürlicher Verhältnisse auf den Cha- rakter und die Entwickelung der Völker (747 D f.), er fordert keineswegs alles von allen, ja er ist auch m Hinsicht seiner eigenen Staatsgründung, seines eigenen Gesetzesstaates keineswegs so kühn zu meinen, daß das Gesetzeswerk fix und fertig, in unübertrefflicher Gestalt wie Minerva aus Jupiters Haupt, aus seinem Geiste hervorgehen könne. „Du weißt doch", sagt er im sechsten Buch der Gesetze (769 Af.), „daß die Tätigkeit der Maler bei allen ihren Bildern immer gar kein Ende nehmen will, sondern im Übermalen und Nachschattieren, oder wie es sonst die Jünger dieser Kunst nennen mögen, gar nicht aufhören zu wollen scheint, um die Ge- mälde noch weiter zu verschönern und es dahin zu bringen, daß sie einen noch größeren Zuwachs an Schönheit und Ausdruck nicht mehr erhalten können? Gesetzt nun, es hätte ein Maler sich vorgenommen, nicht bloß ein so schönes Gemälde als ihm möglich zu schaffen, sondern es auch in der Folgezeit nicht nur nichts verlieren, sondern immer noch gewinnen zu lassen, so begreifst du doch, daß er, da er ein sterblicher Mensch ist, wenn er keinen Nachfolger hinterließe, welcher imstande ist, das wieder auszubessern, was etwa das Gemälde von der Zeit gelitten, und überdies noch den Fehlern, die er selbst wegen seiner Schwäche in der Kunst begangen, abzuhelfen und so dem Gemälde für die Zukunft durch seine Verschönerungen einen noch höheren Wert zu leihen, sehr große Mühe um ein Werk gehabt hätte, das doch nur kurze Zeit dauern würde? Wie nun? Scheint es dir nicht, daß der Gesetzgeber einen gleichen Wunsch hegen muß? Zuerst nämlich die Gesetze nach Kräften mit hinlänglicher Bestimmtheit hinzustellen? Und wenn er dann im Verlaufe der Zeit seine Pläne durch die Ausführung erprobt hat, meinst du da, daß irgendein Gesetzgeber so töricht sein werde, nicht einzusehen, daß notwendig noch gar vieles übrig bleibe, wo irgendein Nachfolger nachzuhelfen habe, wenn anders die Verfassung und Ordnung in dem von ihm ins Leben gerufenen Staate nicht schlimmer, sondern immer besser werden soll?" Ähnlichen Anschauungen begegnet man auch im Dialog Politikos (299 E ff.). Mit lebhaften Farben entwirft er hier ein Bild von den Folgen einer etwaigen gesetzlichen Festlegung technischer Methoden, einer Fesse- lung der Kulturentwickelung an eine bestimmte Stufe der Ausbildung. Er spart nicht mit beißendem Spott und schließt mit den Worten: „Offenbar
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würden alle Künste zugrunde gehen, ja sie könnten auch nicht einmal später wieder erstehen, wenn dergleichen Gesetze die Forschung und den Fortschritt hinderten. Daher würde das Leben, das ja jetzt schon müh- selig ist, in jener Zeit ganz unmöglich werden." Rastloses Weiterforschen auf allen Gebieten der Technik zur Milderung der Nöte dieses Lebens, zur Vervollkommnung unserer Herrschaft über die Natur ist eine unab- weisliche Forderung, auch rücksichtlich seiner eigenen Gesetzesvorschläge. Eine weitere bezeichnende Äußerung dieses Gefühles einer gewissen Unzulänglichkeit und Besserungsbedürftigkeit des eigenen Gesetzeswerkes ist es, wenn er in den Gesetzen die Bestimmung trifft, daß besonders befähigte Männer ins Ausland entsendet werden sollen, um Studien zu machen über Gesetzgebungsfragen. Selbst ein Mann, der sich in der Welt umgesehen und der von dem Bildungswert des Reisens nicht gering dachte (Ges. 639 D E), wünscht er auch den Bürgern seines geträumten Staates Erweiterung ihrer Erfahrung und Einsicht durch Umschau in der Welt. Was er darüber sagt, ist so bezeichnend, daß es am besten in wörtlicher Anführung mitgeteilt wird. „Es sollen", heißt es in den Ge- setzen (951 B f.), „Zuschauer und Beobachter ins Ausland entsendet werden, indem kein Gesetz einen Bürger daran hindern soll, mit Genehmigung der Gesetzesverweser seiner Neigung, die in anderen Staaten bestehenden Verhältnisse sich mit größerer Muße anzuschauen, nachzugehen. Denn wenn die Bürger eines Staates mit denen anderer Staaten gar nicht in Verkehr treten und so allerlei gute und schlechte Leute gar nicht kennen lernen, so werden sie es auch nicht zu dem erforderlichen Maße der Bildung und Vervollkommnung bringen und auch ihre eigenen Gesetze nicht aufrecht zu erhalten vermögen, wenn sie sie nicht mit wirklicher Einsicht, sondern als bloßes Herkommen aufgenommen haben. Gibt es doch unter der Masse der Menschen zwar nicht viele, aber doch immer einige Leute von göttlicher Art, deren Umgang von höchstem Werte ist, und es finden sich diese nicht bloß in gut, sondern auch in schlecht ver- walteten Staaten, und wer daher in einem wohleingerichteten Staate lebt, der tut wohl, sobald er nur selber vor Verführung gesichert ist, ihnen auf Reisen zu Wasser und zu Lande nachzuspüren, teils um die guten gesetz- lichen Einrichtungen, welche in seinem Vaterlande bestehen, noch mehr zu befestigen, teils um zu verbessern, woran es in der Heimat etwa noch fehlt. Denn ohne dieses Beobachten und Nachspüren bleibt nie ein Staat in vollkommenem Zustande, ebensowenig aber auch, wenn dasselbe schlecht ausgeführt wird." Nun kommt aber auch gleich die Kehrseite der Medaille. Wird nämlich ein solcher Rückkehrender von dem sehr vorsichtig ausgewählten Bürgerausschusse, dem er über seine Beob-
Auslandsreisen 51
achtungen Bericht zu erstatten hat, als einer erfunden, der sittlich ver- derbt zurückgekommen ist, so wird ihm jeder Umgang mit den Mitbürgern untersagt; im Falle der Zuwiderhandlung aber wird er mit dem Tode bestraft.
Hier zeigt sich, in einem Beispiel vereinigt, das Bedürfnis nach Fort- schritt und die fast krankhafte Sorge für Erhaltung dessen, was ihm als gut erscheint. Wer das Werk über die Gesetze durchliest, wird im ganzen den Eindruck erhalten, daß der konservative, retardierende Zug überwiegt. Mit einem nicht selten an das Fanatische grenzenden Eifer sucht er nicht wenige seiner Gesetze und Einrichtungen vor jeder Änderung zu be- wahren. Man stößt auf Stellen, die fast das Aussehen haben, als würde durch sie jenes Lob der Bewegung, das wir oben aus dem Theaetet mit- geteilt haben, wieder zurückgenommen. „Daß nichts so sehr", heißt es im sechsten Buch (797 Ef.), „alles Mögliche in Gefahr bringt, nur das Schlimme nicht, als die Veränderung, das zeigt sich an Wind und Wetter, an der körperlichen Lebensweise wie an der Gemütsart, kurz an allen Dingen, nur, wie gesagt, an den schlechten nicht. Ziehen wir den Körper in Betracht, wie er sich an jede Speise, an jeden Trank und an jede An- strengung gewöhnt, wie er anfangs zwar von ihnen angegriffen wird, mit der Zeit jedoch aus ihnen Fleisch in sich erzeugt, welches ihnen ent- sprechend ist, und wenn er dann, nachdem er so mit dieser ganzen Lebensweise vertraut und befreundet geworden ist, in bezug auf An- nehmlichkeit wie auf Gesundheit bei ihr am besten fährt, wie er dagegen, wenn er einmal gezwungen wird, eine solche ihm zusagende Lebensweise zu ändern, sofort von Krankheiten angegriffen wird, und nur mit Mühe hergestellt werden kann, indem er allmählich auch an die neue Lebens- weise sich wieder gewöhnt, so muß man annehmen, daß ebendasselbe auch von der Denkweise und Gemütsart gilt usw." Der allein gebilligte Fall der Veränderung, nämlich der der Veränderung des Schlimmen zum Besseren, nimmt sich hier fast wie die Ausnahme aus, während die Sta- bilität die Regel bildet. Das Schlimme allmählich zum Guten umzuwandeln ist ein Rat, den sich jeder Verständige gefallen lassen wird. Aber warum das Gute nicht auch noch der Bewegung zugänglich sein soll, ist nicht wohl einzusehen. Kann es sich nicht in mannigfachen Formen ausprägen, kann es sich nicht vielleicht zum noch Besseren entwickeln?
Den größten Wert legt Piaton auf die Gestaltung der Musik und des Gesanges im Staate. Ihrer zunehmenden Künstelei und nervenerregenden Tonmalerei, ihrer Verirrung ins Grelle, Schrille, Leidenschaftliche, ihrer sinnberückenden Effekthascherei, ihrer mit dem Bedürfnis nach mög- lichster Mannigfaltigkeit gesteigerten Verwilderung und Zügellosigkeit
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schreibt er zum großen Teile den raschen Verfall der staatlichen Zucht zu, den er in seinem Vaterlande sich vollziehen sah. In seinem Staate soll eine Sammlung heiliger Hymnen, ruhig, würdig, zu ernster Andacht stimmend, also etwa unseren Chorälen entsprechend, den eisernen Be- stand für alle festlichen Veranstaltungen bilden. Dabei beruft er sich auf Aegypten (799 A), wo solche geheiligten Gesänge von uralten Zeiten her gepflegt werden. Freilich unterläßt er es da, hinzuzufügen, daß diese Mustereinrichtungen durchaus nicht imstande gewesen sind, aus den Aegyptern ein edles, geistesfreies, hochstrebendes Volk zu machen. Sie blieben was sie waren: eine banausische Masse, und das weiß Piaton recht wohl, wie wir aus anderen Stellen bei ihm erfahren; hier paßte eine solche Mitteilung nicht in seine Tendenz (Ges. 747 CD; Rep. 436 A).
Daß ein geistig angeregtes, phantasievolles Volk, wie das der Griechen, sich auf die Dauer an so einförmiger Kost nicht genügen lassen kann, das mochte sich Piaton wohl sagen, aber sein idealistischer Rationalismus half ihm theoretisch über Bedenken hinweg, die sich ihm, die Sache praktisch genommen, notwendig sehr bald aufdrängen mußten. So glaubt er auch der Launenhaftigkeit der Mode in Spiel, Tanz, Geselligkeit mit endgültigem Vernunftspruch entgegentreten zu können. „Wenn die Spiele", sagt er (797 Af.), „ihre bestimmte Ordnung haben, und es festgesetzt ist, daß dieselben Leute auch allezeit und in stets gleicher Art dieselben Spiele spielen, und an denselben Lustbarkeiten sich ergötzen, so werden auch die gesetzlichen Verordnungen über ernsthafte Dinge unangetastet bleiben; werden sie dagegen beständig verändert und geneuert und ein steter Wechsel mit ihnen vorgenommen, so wird ja eben damit auch nie den jungen Leuten dasselbe gefallen in bezug auf die Haltung ihres Körpers und die gesamte Ausstattung ihrer Person, so daß hierin ein für allemal feststände, was anständig und was unanständig ist, sondern vielmehr der Jüngling, welcher etwas neues aufbringt, und von dem Gewöhnlichen Abweichendes in der Haltung des Körpers oder der Farbe der Kleider und allem dergleichen einführt, wird sich einer besonderen Auszeichnung zu erfreuen haben, und so dürfen wir wohl mit gutem Grunde behaupten, daß ein größeres Unheil einem Staate nicht widerfahren kann. Denn dies muß unvermerkt die Sitten der Jugend umwandeln, und ihr alles Be- stehende als wertlos und jede Neuerung als wünschenswert erscheinen lassen; und einen größeren Schaden, ich wiederhole es, kann es für keinen Staat geben, als wenn solche Sprechweise und Denkart zur Gel- tung käme."
Piaton hat sich durch die Vorliebe für die Dialektik dermaßen an die Diktatur des reinen Verstandes gewöhnt, daß er sie auch da geltend
Mode • Mathematik und Politik 53
macht, wo die Entscheidung ganz anderen Mächten zusteht. Daß man, wenn man tugendhaft sein will, sein Wort nicht brechen darf, ist ein Satz, dessen notwendige Gültigkeit er dialektisch nachweisen konnte; daß aber die Farbe der Kleider und wer weiß was sonst noch für alle Zeit fest- gelegt sein muß, wenn der Staat nicht ernstlich gefährdet sein soll, das ist ein Satz, dessen Gültigkeit sich durch keine Logik erzwingen läßt.
Fortschritt und Stillstand stehen also als zwei schwer versöhnbare Gegner wider einander. Wenn Piaton die Wagschale des letzteren mehr und mehr sinken zu machen sucht, so kommt das daher, daß er seinen Blick mit Vorliebe gerichtet hält auf das, was der Verstand als bleibend erkennt, und die Ansprüche des beweglichen Lebens zwar nicht un- beachtet läßt, aber doch zu gering anschlägt. Das Ewige in möglichst weitem Umfange dem Leben als unverbrüchliche Richtschnur beizugeben, ist sein vornehmstes Bemühen. Daß er dabei die Grenzen des Macht- bereiches der Vernunft über Gebühr erweitert, wird jeder verstehen, der die treibende Kraft einer einmal vorhandenen starken Tendenz kennt.
Am schärfsten tritt das dadurch hervorgerufene Mißverhältnis zwischen starrer Theorie und dem natürlichen Flusse des Lebens hervor in der Anwendung mathematischer Verhältnisse auf staatliche Einrichtungen bei Piaton. Die Mathematik ist rationale Erkenntnis, ihre Sätze tragen den Charakter der Notwendigkeit. Aber diese Notwendigkeit ist keine poli- tische Notwendigkeit, sondern betrifft notwendige Verhältnisse des Raumes und der Größen. Für Piaton gewinnt sie aber auch unter Umständen eine hervorragende politische Bedeutung. Das bekannteste und bezeichnendste Beispiel ist die Festlegung der Zahl der Besitzloose in seinem Staate auf 5040. Tatsächlich bietet diese Zahl, bei einer für die Größe einer Stadt- gemeinde, einer ttoXic, nach griechischen Begriffen angemessenen Menge der Bürgerfamilien, den Vorteil der Zerlegbarkeit in die größte Anzahl von Faktoren, ein Umstand, der z. B. für Einteilung der Bevölkerung in Phylen und Unterabteilungen u. dgl. von Wichtigkeit werden kann. Dies zufällige Zusammentreffen arithmetischer Verhältnisse mit praktischen Vorteilen konnte vielleicht auch für einen reinen Praktiker der Gesetz- gebung etwas Bestechendes haben. Dem Zahlenmystiker, der Piaton war, schien es geradezu wie ein Wink von oben. Es ruhte auf dieser Zahl etwas von der Weihe der Ewigkeit. Daher die fast an das Komische streifende Strenge, mit der er für Erhaltung dieser Zahl der Grundstück- lose zu sorgen bemüht ist (740 D f. 923 C ff.).
Jeder Gesetzgeber wird darauf bedacht sein. Formen und Normen zu schaffen, die nicht bloß den Bedürfnissen des Augenblickes dienen, son- dern die Gewähr längerer Dauer in sich tragen. Aber das Leben ist viel-
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gestaltig und reich an Möglichkeiten, und dies umsomehr, je begabter und entwickelungsfähiger das V^olk ist, in dem es sich abspielt. An den Grund- lagen des Rechtes soll niemals gerüttelt werden, wenn es in einem Staate wohlbestellt sein soll. Aber damit verträgt sich sehr wohl eine gewisse Beweglichkeit und Freiheit für die Gutsbesitzer in der Verfügung über ihren Besitz. So wenig man die Bevölkerungszahl ohne die unnatürlichsten Gewaltmittel immer auf demselben Stande erhalten kann, so wenig lassen sich die wirtschaftlichen und Verkehrsverhältnisse in eine ewige Formel einschnüren. Piaton, im Grunde ein Freund des Fortschrittes, wird zum Vertreter des starrsten Stillstandes auf Gebieten, die mit den ewigen Forderungen der Vernunft wenig oder nichts zu schaffen haben. Er glaubte an eine geheimnisvolle Macht der Zahlen. Er sah in ihnen wenn nicht die Vernunft selbst, so doch ihre Stellvertreter, und so wurden sie ihm lebendige Regenten des Lebens wie die Vernunft selbst. Zahlen be- herrschen allerdings die Natur und das Leben, aber nicht als lebendige Machthaber, sondern als Hilfsmittel unseres Verstandes, dem sie dazu dienen, beides, Natur und Leben, mehr und mehr in seine Gewalt zu bringen. Piaton verurteilt im Namen der Vernunft zu ewigem Stillstand, was an sich bestimmt ist, der natürlichen Bewegung des ebbenden und flutenden Lebens zu folgen. Die Theorie in Ehren. Aber ihre Übergriffe läßt sich das Leben für die Dauer nicht gefallen.
Wie sehr bei Piaton der durch eine unbeugsame Willenskraft plan- mäßig gepflegte, verstandesmäßige Zug auch gegen die stärksten Nei- gungen seines Herzens gewaltsam im Übergewicht gehalten ward, zeigt sich — und dies sei der dritte Punkt, den wir unter der Überschrift dieses Aufsatzes behandeln — in besonders auffälliger Weise in der Stellung und im Rangverhältnis, die der Philosoph Piaton der Kunst anweisen zu müssen glaubte.
3. KUNST UND WIRKLICHKEIT.
Piaton, der geborene Dichter, spürte auf das lebendigste in sich die Zauberkraft des künstlerischen Genius. Allein sein Lebensstern lenkte ihn frühzeitig auf andere Wege. Sokrates machte ihn zum Jünger der Philosophie. Als Philosoph aber hatte er auch über das Wesen der Kunst nachzudenken, und dies umsomehr, als das staatliche Leben, dieser eigent- liche Gegenstand aller seiner praktisch-philosophischen Bestrebungen, auf das engste mit den Betätigungen dichterischer Schaffenskraft verflochten war.
Es ist bekannt, wie hart Piaton in der Republik mit der Poesie ins Gericht geht. Aber man merkt es ihm doch an, daß es ihm nicht leicht
Der Dialog- Ion 55
wird, mit ihr abzurechnen, und selbst den geliebten Homer, den Erzieher Griechenlands, aus seinem Staate zu verweisen (Rep. 383 A. 595 E. 606 E. 607 D). Er muß alle Kraft zusammennehmen und seinen ganzen sittlichen Ernst aufbieten, um der Poesie ihr Sündenregister vorzuhalten und das Verweisungsurteil über sie auszusprechen. In anderen Dialogen, wo nicht unmittelbar der sittliche Reformeifer das Wort führt, wie z. B. im Gast- mahl (209 A) und im Phaidros (245 A), ist der Zug seines Herzens nach ihr, ist seine durch die Philosophie nicht ertötete Liebe zu ihr an der Wärme des Tones, mit dem er sich über die Dichter und ihre Schaffens- weise ausspricht, wohl zu erkennen. Aus keinem Gespräche vielleicht schlägt dieser Ton eindringlicher an unser Herz, als aus dem kleinen Dialog Ion (533 D ff.). Man hat diesem Gespräch wegen einiger, wie ich glaube, nur scheinbarer Mängel und Widersprüche, den Platz unter den echten Werken des Piaton versagen wollen. Aber was er hier „über die göttliche Kraft" der Poesie sagt, und vor allem die Art, wie er es sagt, scheint mir durchaus den Stempel platonischen Geistes zu tragen.^) Das
1) Man hat sich auf ziemlich nichtige Kleinigkeiten und angebliche Wider- sprüche berufen, um die Unechtheit des Dialoges zu erhärten. Das relativ stärkste Argument wird dem Schluß des Dialogs 541 Ef. entnommen. Da sagt Sokrates: „Du bist mir entschlüpft, damit du mir eben nur kein Probestück ab- zulegen brauchst, wie stark du bist in der Weisheit des Homeros. Wenn du also wirklich als Kunstverständiger das eben Gesagte tust, mir erst ein Probe- stück des Homeros versprichst, und hinterher mich täuschest, so handelst du unrecht; wenn du aber kein Kunstverständiger bist, sondern vermöge göttlicher Führung am Homer hangend, ohne wirkliche Erkenntnis viel Schönes über den Dichter zu sagen weißt, wie ich von dir behauptete, so tust du kein Unrecht." Das scheint in Widerspruch zu stehen mit 530 E, wo Ion bereitwilligst ein Probestück seiner Kunst in Aussicht stellt. Aber es scheint auch nur so. Denn Sokrates hat ja unmittelbar nach diesem Versprechen gesagt, ehe es er- füllt würde, müßte sich Ion über seine Kunstverständigkeit ausweisen, eine Be- dingung, der Ion nicht entsprochen hat. Anderseits sagt Sokrates in der zitierten Stelle am Schlüsse des Dialoges, Ion tue ganz recht, den Vortrag nicht zu halten, falls er kein Kunstverständiger (tcxviköc) sei. Das ist doch nur ein sanfter Ausdruck für: „Wenn du kein Kunstverständiger bist, so darfst du den Vortrag überhaupt nicht halten." Dies ganze Verfahren ist allerdings nichts anderes, als den Gegner in die Falle locken. Aber das ist durchaus kein Zeichen gegen den platonischen Ursprung des Dialogs. In den frühesten Dialogen ist es gerade sokratische Manier, den Gegner recht drastisch ins Unrecht zu setzen, nach Lustspielart. Mir klingt der kleine Dialog wie der Abschied, den Piaton von der Poesie nimmt. Inhaltlich läuft in dem Gespräch alles hinaus auf den Gegensatz zwischen der unbewußten Goübegeisterung einerseits und der nüch- ternen Verständigkeit und begriffsmäßigen Sachkenntnis anderseits. Das ist ja eben der wesentliche Unterschied zwischen dem Dichter und dem Philosophen, denn die ,uavia, „der Musenwahnsinn", ist das eigentlichste Kennzeichen des Apelt: Platonische Aufsätze. 5
56 Disharmonien
kleine Werk erhält dadurch selbst etwas von jener magnetischen Kraft, über die es, als über das besondere Merkmal der Poesie, sich in so an- mutiger Weise vernehmen läßt. Kein Zweifel: es bedurfte für ihn, den Liebling der Musen, eines wahrhaft heroischen Entschlusses, um sich von der Jugendgeliebten loszureißen und der höheren und strengeren Göttin zu folgen, in deren Dienst ihn die Stimme des Sokrates rief. Je schwerer seinem Herzen die Trennung wurde, um so gewichtiger waren in seinen Augen die Gründe, die der durch keine Leidenschaft verblendete Ver- stand geltend zu machen schien, um der Poesie das Urteil zu sprechen. Es war ihm mehr und mehr zur festesten Überzeugung geworden: dem ewigen Sein, den Ideen, gehört der erste Rang, den Dingen der Sinnen- welt, als den „Abbildern", die untergeordnete Stellung. Der Kunst, als der Nachahmerin der Sinnendinge, gehört also erst der dritte Rang von den Ideen abwärts (Rpl. 595 C ff.). Das Merkmal der Nachahmung, für alle Kunst bestimmend, wird ihr nach dieser Theorie verhängnisvoll: sie ist Kopie der Kopie, nicht Original, und ihr Original sind nicht die wahr- haft bestehenden, sondern die Sinnendinge. So wird auch im Phaidros (248 E) in dem Entwurf der bekannten Rangordnung der Geister dem Dichter erst die sechste Stelle eingeräumt, als einem, „der sich mit der Nachahmung beschäftigt".
Dies ist die festgefügte Theorie des gereiften Piaton. Sie scheint von einer idealen Stellung der Kunst nichts zu wissen. Und doch zeigt Piaton, wo er unbefangen urteilt, daß ihm die ideale Bedeutung der Kunst, also
Poeten. Die Erbarmungslosigkeit, mit welcher der Rhapsode ironisiert wird und die Goethe, übrigens ohne an der Echtheit des Gespräches zu zweifeln, richtig als das besonders charakteristische Merkmal des Gespräches hervorhebt, ist ganz im Stile des platonischen Sokrates der jüngeren Dialoge. Man stelle sich den jugendlichen Piaton, den musenbegeisterten, im Gespräche mit dem Lob- redner des reinen Verstandes, mit Sokrates, vor: Piaton wird durch ganz ähn- liche Gedankengänge beschämt und bekehrt worden sein, wie sie uns hier in übermütiger Übertreibung vorgeführt werden. Übrigens ist ein Rhapsode Ion uns sonst nicht bekannt, auch ist er mehr als ein Rhapsode gewöhnlichen Schlages: er steht zwischen dem Rhapsoden und dem Dichter. Einen Dichter selbst sozusagen auf die Bühne zu bringen und so die Dichtkunst selbst, die im Grunde so heiß geliebte, durch des Sokrates Ironie demütigen zu lassen, dazu mochte sich Piaton aus diesem und aus anderen Gründen damals wohl noch nicht entschließen. Der Rhapsode trat an die Stelle des Dichters. Ob Piaton dabei vielleicht mit an den Dichter Ion von Chios (Ephesos und Chios weisen auf Kleinasien) gedacht hat, bleibe dahingestellt. Es ließe sich einiges dafür geltend machen, vor allem gerade die vielseitige Beschäftigung des Ion mit Homer. Zunächst aber ist die Gottbegeisterung des Rhapsoden nichts anderes als das Bild des eigenen Geisteszustandes des jugendlichen Piaton.
Stellung- der Kunst 57
ihre Erhebung über die Natur, welcher nach dem System die zweite Stelle zusteht, durchaus kein Geheimnis ist. „Glaubst du**, sagt er ge- legentlich in der nämlichen Republik, in der er jene Theorie vorträgt, „daß derjenige ein minder guter Maler sei, der, nachdem er ein Muster- bild gemalt hat, wie etwa der schönste Mensch wäre, und alles gehörig in dem Gemälde angebracht, nicht zu beweisen vermöchte, daß es einen solchen Mann auch wirklich geben könne?" (Rep. 472 D).
Danach gebührt also der echten Kunst die Stellung nicht unter der Natur, sondern über der Natur. Ihr Reich ist das weite Gebiet zwischen Natur und dem ewigen Sein, dasselbe Reich, in welchem der herrliche Liebesgott, der Eros, als Herrscher waltet. Im tiefsten Grunde ist bei Piaton die Kunst eben auch ein Ausdrucksmittel der Sehnsucht nach der Idee. Es gibt eine leichtfertige Kunst, als Mittel genußreicher Unter- haltung; von dieser will der strenge Ernst des Piaton durchaus nichts wissen. Es gibt aber auch eine ernste Kunst und sie ist es, der er das Wort redet. Sie ist die Nachahmerin des Schönen im höchsten geistigen Sinne. Ihr wohnt die Kraft inne, auch die Herzen der großen Masse über das handwerksmäßige Treiben des Alltagslebens zu erheben. Durch der Schönheit Pforte läßt uns die Kunst Blicke tun in das Ewige. „Keines- wegs**, sagt er in den Gesetzen (668 A), „darf man es gelten lassen, wenn jemand die musische Kunst nach dem Genüsse abschätzen wollte, und man darf durchaus eine solche, die nur auf dieses Ziel ausgeht, nicht zum Gegenstande seines Strebens machen, weil sie dies nicht verdient, sondern diejenige, welche durch Nachahmung des Schönen die Ver- ähnlichung mit demselben wirklich erreicht hat** (vgl. 655 D ff.). In dem Staat, den die „Gesetze** entwerfen, soll womöglich an jedem Tag (828 A) ein feierliches Opfer stattfinden, in jedem Monat ein größeres Fest mit Chören und Wettkämpfen. In diesen feierlichen Spielen (803 E ff.), in diesen Gesängen und Tänzen besteht eigentlich der höhere Sinn und In- halt des Lebens, das ohne sie kahl und kalt verläuft.
Damit ist der Kunst ihre Stelle angewiesen an der Seite der Religion worauf ja auch ihr Ursprung in Griechenland deutlich genug hinwies. Es ist klar, daß der Rang, der ihr hiernach gebührt, ein ganz anderer ist als derjenige, zu dem die strengtheoretische Auffassung, wie sie uns die Re- publik vorführte, sie erniedrigte. Sie erhält unvermerkt etwas von der erhabenen Stellung, die wir ihr zu erteilen gewöhnt sind. In Piatons Seele lagen offenbar zwei Richtungen im Kampfe; doch ist er sich dieses Zwiespaltes, wie es scheint, nie bis zu völliger Klarheit bewußt geworden. Sein System als solches ist ein System des reinen Verstandes. Religion
und Kunst, als irrationelle Mächte, finden darin keine feste und sichere
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Unterkunft. Sie sind mehr bloß Gäste als Bürger dieses Verstandes- staates. Und doch ist er auf das lebendigste durchdrungen von dem Ge- fühl ihrer Herrlichkeit, Macht und Unentbehrlichkeit. Derjenige Begriff aber, der rücksichtlich der Schätzung der Kunst für Piaton dialektisch besonders wichtig und in gewissem Sinne verhängnisvoll ward, ist der der Nachahmung.
Durch diesen Begriff wird ein Verhältnis angedeutet von Abbild und Original, ein Verhältnis, das von dem Verstände alsbald umgesetzt wird in ein Verhältnis des Scheines zum Sein, also des mehr oder minder Wertlosen zum Wertvollen. Für Piaton hat bekanntlich dieser Gegensatz die größte Bedeutung. Auch auf rein künstlerischem Gebiete für sich spielt er bei ihm eine erhebliche Rolle. Durch seine Verurteilung des Scheines nämlich kommt er hier zu den wunderlichsten Konsequenzen. Er will z. B. nichts wissen von der perspektivischen Malerei, der Skia- graphie; sie gibt nicht die wahren Verhältnisse und Abmessungen, sondern täuscht und betrügt den Menschen: sie ist eine Art Gaukelei (roiiTeia) und Taschenspielerei (GaujuaToiroiia; Rpl. 602 C; vgl. Rpl. 365 C. 583 B. 586 B; Phaed. 69 B). Piaton will also nur die stereometrische Ansicht, als die der Wirklichkeit entsprechende gelten lassen, die perspektivische verwirft er. Der angebeteten Wahrheit zuliebe wird so aller Illusion der Garaus gemacht — im System wenigstens. Der Begriff des Scheines und der der Nachahmung stehen also bei Piaton in engster Beziehung zuein- ander. Bezieht man nun die Nachahmung, wie es nach gewöhnlicher An- schauungsweise das Nächstliegende und Natürliche ist, auf die Gegen- stände der Sinnenwelt, so werden die Erzeugnisse dieser Nachahmung ohne weiteres noch eine Stufe tiefer zu liegen kommen, als die schon an sich tief genug stehenden Sinnendinge. In dem bloßen Begriffe der Nachahmung scheint also schon die Hinweisung auf ein Mindermaß von Seinswert zu liegen. Und das war für Piaton um so mehr entscheidend bei Beurteilung des Wertes der Kunst, als die tatsächliche Übung der Kunst, namentlich der Musik, sich eben ganz überwiegend in der nachahmenden Darstellung des sinnlich Erregenden bewegte und gefiel.
Dies ist der Standpunkt, den die Republik vertritt, der Standpunkt systematischer Vergewaltigung der Kunst. Und doch war der Begriff der Nachahmung, der hier die Kunst zu erniedrigen schien, weit entfernt, ihr an sich einen Makel aufzudrücken. Denn es war eben dieser Begriff der Nachahmung, der den Piaton da, wo er unbefangen den Eingebungen seines Herzens folgte, zu einer weit richtigeren Einsicht in das Wesen und den Wert der Kunst führte. Wie schon bemerkt, wußte Piaton recht wohl, daß es auch eine Nachahmung des Schönen gibt, und daß eben
Nachahmung 59
diese es ist, welche der Kunst ihre hohe Bedeutung und Würde verleiht. Dies war der Weg, auf dem er zu einer wahren wissenschaftlichen Würdi- gung der Kunst, zu einer befriedigenden ästhetischen Theorie gelangen konnte. Allein die rechte Ausnutzung dieses richtig erkannten Weges scheiterte an seiner grundsätzlichen Verachtung alles Sinnlichen. Das Schöne an sich hat mit dem Sinnlichen nach ihm nichts gemein. Also möglichster Ausschluß des sinnlichen Elementes wird ihm die Bedingung wahrer Kunst. Er hatte eine richtige Ahnung von ihrer erhabenen Auf- gabe, beraubte sie aber der Mittel, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Soweit er die Kunst gelten ließ, war es nur das Unsinnliche, der Idee Zugewandte, dessen Ausdruck ihr zustand. Etwas anderes fand keine Gnade vor seinen Augen. Des Begriffes der Nachahmung konnte er auch hier nicht entraten; aber hier schlüpfte sein würdigendes Urteil über den Makel, der diesem Begriffe an sich anzuhängen schien, nachsichtig hin- weg. Waren es doch nicht mehr die an sich schon wenig würdigen Sinnendinge, die nachgeahmt wurden, sondern die Idee selbst. Die Kunst erhob sich hier über die Sinnlichkeit. Dadurch ward nun zwar der Be- griff der Nachahmung seinerseits wesentlich gehoben, ja geadelt, aber dafür glich auch die Kunst, die dieser Nachahmung ihren Ursprung ver- dankte, einem entlaubten Stamme. Sie war jeglicher Ausstattung beraubt, auf die sie ihrem ganzen von Piaton verkannten Wesen nach den be- gründetsten Anspruch hat. Denn sie will und soll uns ja gerade in dem Sinnlichen und durch das Sinnliche das Ewige ahnen lassen. Entbehren konnte sie Piaton nicht — er fühlte in tiefster Seele ihre unabweisbare Macht — aber er wollte sie nur wirken sehen unter strengster Leitung des obersten Seelenteiles, d. h. des reinen Verstandes. Alles, was nicht der reinsten und keuschesten Sinnesart entsprach, alles, was irgendwie der leidenschaftlichen Erregung der Gemüter, dem begehrlichen Teile der Seele und ihren Wünschen Vorschub leisten konnte, mußte fern gehalten werden. Die mehr als puritanische Strenge, mit der er diesen Gesichts- punkt durchführte, dem gemäß die Kunst zwar berechtigt und zur Er- füllung der höchsten Aufgaben berufen, aber auf ein engbegrenztes Ge- biet beschränkt ist, bringt es eben mit sich, daß er sie der Fülle an- schaulicher Bilder, alles Wechsels von Furcht und Hoffnung, von Spannung und Lösung, von Beklommenheit und Befreiung des Gemütes, von Mit- leid und Mitfreude, worin doch gerade ihre Kraft und Wirkung beruht, so gut wie ganz beraubt. Die Schönheit, die er gelten läßt, ermangelte gerade der wesentlichsten Bedingung des Schönen: der Mannigfaltigkeit der Erscheinung. Sie beschränkt sich auf die einfachsten und regelmäßig- sten, nicht sowohl der Einbildungskraft, als dem Verstände willkommenen
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Formen, ganz so wie im Gebiete der äußeren Anschauung des Schönen ihm nichts über Kreis und Kugel geht (Phil. 51 C). Daher die Verwerfung der ganzen dramatischen Poesie und auch eines großen Teiles der epi- schen. Nur ernste und gemessene lyrische Gesänge erfüllen die Aufgabe, wie Piaton sie sich denkt. Nur das den höchsten Anforderungen der Sitt- lichkeit Genügende soll zum Gegenstand ihrer Darstellung gemacht werden dürfen. Er mochte das Mißliche dieses Standpunktes fühlen. Es entgeht ihm nicht, daß es eigentlich eine Hungerkur ist, zu der er die Kunst ver- urteilt; aber das stört ihn nicht in seiner Sicherheit. „Der ungeduldig sich gebärdende Teil der Seele", heißt es in der Republik (604 E), „liefert bekanntlich Stoff zu vieler und mancherlei Nachahmung, dagegen ist die verständige und ruhige Sinnesart, weil sie sich immer gleich bleibt, weder leicht nachzuahmen, noch durch Nachahmung leicht begreiflich, besonders für einen Volkshaufen, und für eine bunte Menschenansammlung in Theatern; denn es wäre die Nachahmung eines ihr ganz fremden Zu- standes." Die Folgerung, die er daraus zieht, ist nicht die, daß man wenigstens durch Zulassung der Darstellung des Kampfes zwischen Gutem und Bösem, in der Tragödie durch Schilderung des moralischen Sieges einer großen Idee über den Widerstand und die Heimtücke der Welt, der Poesie den ihr unentbehrlichen Spielraum zur Entfaltung ihrer leben- sprühenden Kraft verschaffen müsse, sondern die, daß man die Dichter aus dem Staate entfernen und sich auf eine Anzahl „heiliger Weisen" beschränken müsse. Er würde vielleicht auch ein Drama zulassen, aber nur ein wahrhaftes Drama. Ein solches aber dürfte, wie er gelegentlich in den Gesetzen sagt (817 B), nichts anderes sein als die Nachahmung des schönsten und besten Lebens. Allein er sagte sich wohl, daß ein solches aller Leidenschaft bares Drama ein Ding der Unmöglichkeit sei. Das wahrhafte Drama war ihm eben deshalb nichts anderes als der Staat selbst in seiner Vollendung.
Man kann, um das Gesagte kurz zusammenzufassen, in der Stellung Piatons zur Kunst eine Oberströmung und eine Unterströmung unter- scheiden. Nachahmung ist das Schlagwort für beide, aber während es sich bei der ersteren um Nachahmung schlechthin in ihrem allgemeinen herabsetzenden Sinne handelt, kommt bei der zweiten wesentlich der Gegenstand in Betracht, mit dem sich die Nachahmung beschäftigt. Es ist die Nachahmung des Schönen, um die es sich hier handelt, und damit wies Piaton der Kunst zwar ihr wahres Reich zu, beraubte dieses Reich aber jeglichen Reizes der Mannigfaltigkeit und der Abwechselung. In der Republik verurteilt er die Kunst als bloß nachahmende Tätigkeit über- haupt. Das war der Standpunkt der Theorie. In der Tiefe seines Gemütes
Zwiespalt 71
aber lebte eine andere Überzeugung, die ihm sagte, es gibt auch eine Nachahmung des Schönen und diese steht höher als alle Gegenstände der Sinnenwelt.
Wie viel gerechter und unbefangener gegen die Dichtkunst erwies sich Piatons undichterischer Schüler Aristoteles. Ein merkwürdiger Gegensatz. Piaton, der Priester der Musen, dessen Herz von Begeisterung, dessen Busen von dichterischem Schwünge belebt war, raubt der Kunst allen Reichtum, auf den sie Anspruch hat. Aristoteles, der nüchterne Denker, weit entfernt ihr das Blut abzuzapfen und sie arm und dürftig zu machen, zeigt sich eifrig bemüht, ihr die ihr innewohnenden Gesetze abzufragen. Piaton war der Poesie gegenüber zum Renegaten geworden und er teilt mit allen Renegaten das Bedürfnis seinen früheren Glauben schonungs- los herabzusetzen und zu verleugnen. Er verschloß gewaltsam sein Auge gegen die natürlichen Anforderungen der Poesie. Kallimachos und Duris (Procl. in Plat. Tim. 28 C) hatten ganz recht, als sie sagten, Piaton sei nicht fähig zur ästhetischen Beurteilung von Dichtern.
Wir haben den Gegensatz zwischen Theorie und Wirklichkeit bei Piaton durch eine Reihe von Gebieten verfolgt. Theorie und Wirklichkeit können recht wohl Hand in Hand gehen, und sollen es: eine vollendete Philosophie kennt keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen ihnen. Dem Piaton aber ließ ein eigensinniger Rationalismus, eine einseitige Verstandes- herrschaft die Dinge der Wirklichkeit nicht selten in verzerrter Gestalt erscheinen. Wir könnten unsere Wahrnehmungen in dieser Beziehung noch auf weitere Gebiete ausdehnen. Aber das ist nicht unsere Absicht. Jeder aufmerksame Leser des Piaton wird imstande sein, selbst wichtige Nachträge zu diesem Kapitel zu liefern. Einem kleineren Geiste wären dergleichen Widersprüche und Mängel verhängnisvoll geworden. Piaton ist groß genug, sie tragen zu können. Ja, man kann sagen, auf dem Hintergrunde dieser Mängel tritt der großartige Zug seiner Lehre um so siegreicher hervor. Denn all diese Disharmonien sind weniger Zeichen der Schwäche als der inneren Kraft seiner Lehre, die in ihrem über- wältigenden Zuge nach oben der widerstrebenden Luftströmungen nicht weiter zu achten brauchte.
IV. ÜBER PLATONS HUMOR.
Der 'göttliche' Piaton geht glücklicherweise nicht ganz in der Gött- lichkeit auf. Seine Seele ist zwar mit heißer Glut dem Himmlischen zu- gewandt; aber dabei ist und bleibt er sich doch vollauf der Rechte be- wußt, die auch die Erde an ihn hat. Seine Philosophen, die dpxoviec in der Republik (VII 540 C) müssen immer von Zeit zu Zeit aus der seligen Höhe und beglückenden Stille der Spekulation herabsteigen in die Niede- rungen des Lebens und in das Geräusch des lärmenden Marktes: sie müssen dem Staate zuliebe Ämter annehmen, „nicht als ein Werk der Herrlichkeit, sondern als ein Werk der Notwendigkeit". Wenn er es im Theätet (174 BC) natürlich findet, daß ein solcher Philosoph bei zeitweiser Rückkehr in das Getriebe des Alltagslebens unsicher taumelt oder gar in den Brunnen fällt, so wäre er selbst gewiß der letzte, dies seinerseits nachzumachen. Aber sollte es ihm gleichwohl passieren, so wäre — das ist seine Meinung — kein hinreichender Grund vorhanden, sich allzusehr darüber zu wundern, wie es das liebe Publikum in solchem Falle unver- ständigerweise zu tun geneigt ist.
Piaton kennt recht wohl nicht nur die sinnlichen Mächte, die uns diesem irdischen Leben geneigt machen, sondern auch die Pflichten, die uns mit demselben verbinden, und niemand hat die Bedeutung dieser Pflichten schärfer und zugleich erhabener gekennzeichnet als er. Er hält seine Augen fest und ernst auf beide Welten gerichtet. Eben darum ist ihm der Kontrast dieser beiden Welten auch immer so lebhaft gegenwärtig. Dieser Kontrast aber ist die letzte Quelle jener Eigenschaft, die seiner Schriftstellerei zum nicht geringen Teil ihr besonderes und unnachahm- liches Gepräge verleiht: des Humors. Denn der Humor ist ja im Grunde nichts anderes als jene eigentümliche Mischung der Stimmung, in der uns der nämliche Gegenstand geringfügig, armselig, lächerlich und doch wie- der unserer vollen Teilnahme, ja herzlichen Freude würdig erscheint. Dies Bittersüß der Stimmung ist ein Ingrediens der platonischen Darstellungs- kunst, in dem wesentlich mit das Geheimnis ihres Reizes liegt, dabei so charakteristisch für Piaton, daß die völlige Abwesenheit desselben in einem Dialog geradezu als Kennzeichen der Unechtheit gelten muß.
Aber wie oft hat man diesen Humor des göttlichen Piaton verkannt;
Wesen des Humors • Dialog- 73
verkannt aus keinem anderen Grunde, als weil man ihm gar zu viel Gött- lichkeit und gar zu wenig Erdensinn zutraute. Gerade, wo er diesen Humor am verwegensten und großartigsten spielen läßt, konnten ihm seine Leser oft am wenigsten folgen. Wo solcher Mangel der Auffassung sich auf Steilen bezieht, die nicht den eigentlichen Kern der platonischen Lehre, sondern mehr ihre Außenseiten betreffen oder rein zufällige Beigaben bilden, hat es damit nicht allzuviel auf sich. Aber zu bedauern ist es, daß auch das Verständnis gewisser Punkte, die an das Herz der platonischen Philosophie rühren, unter diesem Mangel an Verständnis ganz erheblich gelitten hat.
Piaton mochte schon sehr bald die überlegene Kraft seines Geistes spüren. Ausgerüstet mit offenem Blick für alle bedeutsamen Erschei- nungen des umgebenden Lebens, dazu versehen mit einer reichen Dosis treffenden Witzes, mußte er sich unwiderstehlich getrieben fühlen, mit dieser seiner Kraft auf die Welt zu wirken und im Streite mit ihr sie ent- weder zu sich zu bekehren oder sie wenigstens seine Überlegenheit fühlen zu lassen. Er brauchte den Kampf nicht zu scheuen, ja er suchte ihn.
Seine ausgezeichnete dialektische Begabung, die gewiß im mündlichen Redekampf schon manchen Triumph gefeiert hatte, ehe er sich schrift- stellerisch versuchte, fand im Dialog die geeignete Form, sich literarisch geltend zu machen. Diese Form war für ihn wie geschaffen. Gleicht doch Piaton einem überlegenen Schachspieler, der die Niederlage des Gegners von langer Hand vorzubereiten weiß. Schon mit den ersten Zügen bringt er den ahnungslosen Gegner so weit in seine Gewalt, daß dieser sich unwillkürlich seinen Absichten fügt.^) Die Freude und Lust nicht sowohl am Siege selbst als an der Kunst des Siegens ist es, die den Piaton zu immer neuen Erfolgen auf dieser Bahn führt. Seine besondere Bean- lagung für den dialektischen Kampf, verbunden mit seiner dichterischen Begabung, der er die Leichtigkeit in der Erfindung interessanter und wahr- scheinlicher Situationen, vor allem aber den glücklichen Wurf in Zeich- nung der Charaktere verdankte, mußte ihn geradezu darauf hindrängen, die dialogische Form für seine Schriftstellerei zu wählen. Gleichviel, ob er darin literarische Vorgänger hatte oder nicht, gleichviel auch, ob für das Stilgefühl der Griechen dies die richtige Form für den zu gestalten-
1) Wenn Piaton selbst (Rpl. 487Bf.) des Sokrates Widerlegungskunst mit der Meisterschaft im Brettspiel (ireTxeuTiKii vgl. Gorg. 461 D, 462 A) vergleicht, so gibt er damit zugleich eine Art Selbstporträt. Piaton hat diese Kunst dem Sokrates nicht eigentlich abgelernt, denn so etwas läßt sich nicht lernen. Man kann höchstens sagen, des Sokrates Vorbild hat das besondere Talent Piatons zu rascher Entfaltung gebracht.
74 Piatons Humor
den Stoff war oder nicht: das Talent Piatons konnte sich in ihr weitaus am besten in seiner Eigenart entfalten, und darauf kam es im Grunde allein an. Sie wies unmittelbar auf den Kampf hin. Disputant und Oppo- nent sind in ihr die gegebenen Figuren; diese brauchte er, mit ihnen war er seines Erfolges sicher.
Auch Sokrates kannte und beherrschte diese Kunst mit einer Meister- schaft, die ihm neben reicher Bewunderung gewiß auch viel offenen und versteckten Haß eintrug. Denn sein Kampfplatz war ausschließlich das Leben selbst, seine Gegner und Mitunterredner seine Mitbürger und Zeit- genossen. Seine Kunst war darum in gewisser Beziehung die schwerere. Er konnte sich die Charaktere seiner Gegner nicht selbst schaffen, und auch die Position, in die er sie stellte, hatte er nicht mit derjenigen Sicher- heit in der Hand, die für den nachbildenden Dichter in der Natur seines Schaffens liegt. Des Sokrates Kunst war drastischer, aber auch gröber. Piaton schuf das literarische Abbild derselben, das, wie es das Wesen der Kunst überhaupt und die im Vergleich zu Sokrates aristokratischere Natur des Piaton insbesondere mit sich brachte, ein erheblich feineres Gepräge tragen mußte als das Original.
Die Art, wie Piaton seinen Gegner matt zu setzen weiß oder wenig- stens ein Remis erzielt, zeigt an vielen Stellen seine ausgezeichnete mathe- matische Schulung: auf das geschickteste weiß er den Gang des Beweises zu entwerfen, seine — nicht immer unbedenklichen — Gleichungen vom Gegner rechtzeitig sich zugeben zu lassen, als wären sie selbstverständ- lich, sie am gehörigen Orte einzustellen und das Zugestandene mit dem neu Hinzutretenden in eine so unauflösliche, zwingende Verbindung zu setzen, daß kein Entrinnen möglich ist.
Es hat wenig Bedeutung zu fragen, ob gerade die eigenartige Kunst des Sokrates es gewesen ist, die den Piaton zu seiner dialogischen Form der Schriftstellerei veranlaßt hat; ob also die Absicht, ein möglichst treues Bild seines Lehrers zu geben, für die Wahl maßgebend gewesen ist. Viel- leicht hätte Piaton, auch wenn sich Sokrates mehr des zusammenhängen- den Lehrvortrages als der Widerlegungskunst bedient hätte, zu der dia- logischen Form gegriffen, auf die ihn seine Eigenart nun einmal hinwies. Seine vielseitige Genialität hätte ihn gewiß Mittel und Wege, vielleicht sehr überraschende, finden lassen, auch ohne die stehende Figur des Sokrates als Gesprächsführer, der dialogischen Form das volle Leben zu geben. Aber es war nun einmal ein ganz besonders glückliches Zusammen- treffen von Umständen, welches die eigenartige Wirksamkeit des Sokrates und die besondere literarische Begabung seines Schülers einander in so einziger Art sich entsprechen ließ.
Bedeutung der dialogischen Form 75
Was aber weiter den Piaton zum Dialog greifen lassen mußte, das war der überwiegend ethische Charakter und die praktische Tendenz seiner Philosophie. Sie sollte erneuernd, kräftigend, reinigend auf das Leben wirken. Wer aber weiß, was für ein Unterschied es ist, ob ich gegen die Eitelkeit predige, oder ob ich den eiteln Mann selbst zum Eingeständ- nis seiner Nichtigkeit bringe, ob ich die Selbstsucht und Tyrannei in ihrer Niederträchtigkeit schildere, oder den selbstsüchtigen Tyrannen in Person mit der Stärke meiner Gründe treffe und demütige, der wird es ohne weiteres nicht bloß begreiflich, sondern beinahe notwendig finden, daß Piaton sich einer Kunstform bediente, die über das kühle Abwägen gegne- rischer Ansichten hinaus das persönliche Element, die Verhandlung von Mann zu Mann, mit allen Aufregungen eines vor unseren Augen sich ab- spielenden Zweikampfes als Hauptbedingung ihrer lebendigen Anwen- dung forderte.
Diese Kunstform ward in seiner Hand der Zauberstab, mit dem er wahre Wunder zu wirken sich getrauen durfte. Sie ward es aber wesent- lich deshalb, weil er die Vorteile, die sie ihm bot, niemals mißbrauchte. Denn niemand war sich der Grenzen klarer bewußt, von deren Einhaltung der wahre und dauernde Erfolg seiner schriftstellerischen Wirksamkeit abhing. Niemals tritt sein Sokrates der Würde der Person als solcher 7u nahe.') So leicht es ihm oft wäre, den Gegner mit Keulenschlägen einfach niederzustrecken, er bleibt immer der höfliche, ritterliche Gegner. Keine Aufgeblasenheit, kein unwirsches Poltern, kein noch so selbstherr- liches Auftreten seiner Widersacher vermag ihn aus seiner Ruhe, aus seinem Gleichgewicht zu bringen. Niemals übel gelaunt oder übelnehmend, niemals ungeduldig oder gar zornig, läßt er jedem Gegner das Wort so- lange er es haben will, ihn allein bändigend durch die unausweichliche Konsequenz der Beweisführung.
Diese Ritterlichkeit, in deren Wesen ja schon ein Zug ungetrübten Gleichmutes und überlegener Heiterkeit liegt, ist es denn nun, in der sich
1) „Alle zornigen Leute" heißt es in einer bezeichnenden Stelle der Gesetze •(935 B und Off.) „haben die Gewohnheit dazu überzugehen, ihren Gegner lächer- lich zu machen, und dies hat sich noch keiner angewöhnt, ohne sich dadurch einer ernsthaften Denkart entweder ganz und gar verlustig zu machen oder doch den Adel der Gesinnung zum größten Teil einzubüßen. Wer sich auf Schmä- liungen einläßt, scheut sich in der Regel auch nicht, seinen Gegner lächerlich 2U machen: wir erklären dies unserseits selber für schmählich, sofern es im Zorne geschieht". Aber auch ohne Zorn und im Scherz über andere sich lustig zu machen, wie es in der Komödie und in der lambendichtung geschieht, findet ■Platon gefährlich und läßt es nur unter den strengsten Einschränkungen zu. Vgl. auch Legg. 829 CD.
76 Piatons Humor
zum nicht geringen Teil der platonische Humor gewissermaßen versteckt^ um aus diesem Versteck die Leser ebenso wie die Gegner mit seinen neckischen Einfällen und glücklichen Kriegslisten zu überraschen. Jene Ritterlichkeit und diesen Humor zu heben und der überlegenen Rolle des Sokrates alles persönlich Verletzende fern zu halten, steht dem Piaton ein außerordentlich wirksames Mittel zur Verfügung. Es ist das die Tren- nung des Xöfoc, der Macht des reinen Verstandes, als eines gewisser- maßen objektiven Prinzipes, von der Person des Sokrates, als einer mensch- lich subjektiven Erscheinung. Dieser Xötoc nimmt bei Piaton fast die Ge- stalt eines wissenschaftlichen Fatums an. Wie das Schicksal mit eherner Notwendigkeit den Ablauf der natürlichen Begebenheiten bestimmt, so waltet der Xö^oc als oberste, unerbittliche Macht im Reiche der Gedanken. Der platonische Sokrates ist gewissermaßen nur der zufällige Vertreter dieses selbstherrlichen und unfehlbaren Xö-foc, der vorübergehende Träger eines ewigen Amtes. Man sieht leicht, wie diese Heraushebung des Xötoc aus' allen Schranken der Subjektivität auch den für die Gegner demü- tigendsten Ausführungen, sofern sie eben im Namen des Xötoc ^) er- folgen als einer obersten, objektiven Instanz, von vornherein alle persön- liche Schärfe nimmt und dabei zugleich zu einem Hauptstück des humo- ristischen Apparates werden kann. Denn das anscheinend völlige Zurück- treten der Person hinter die Sache eröffnet dem Humor den freiesten Spielraum. Insofern nun die dialogische Form die Voraussetzung zu alle- dem bildet, ist eben sie eine Hauptbedingung für die ungehemmte Ent- faltung dieser Seite des platonischen Geistes.
Schon so frühe Dialoge wie die beiden Hippias") zeigen seine Meister- schaft. Mit welcher Urbanität zugleich und Schalkhaftigkeit weiß er des
1) In zahlreichen, zum Teil sehr bekannten Wendungen spiegelt sich die Bedeutung des Xötoc als der gewissermaßen aus den einzelnen Menschen heraus- gehobenen und zu einem selbständigen Wesen gemachten Vernunft selbst wieder. So mit fast noch sinnlicher Kraft in der Wendung Rpl. 607 B: ö Xötoc )iuäc i'jpei „er faßte uns". Er ist ein personifiziertes Prinzip, das wie ein oberster Richter seine Jurisdiktion übt, die keine Revision mehr zuläßt. In der so häufigen ob- jektlosen Wendung ö Xötoc aip€l, ratio cvincit (z. B. Grit. 48 C, Parm. 141 D, Phil. 35 D, Rpl. 440 B, Legg. 663 D), tritt zwar die sinnliche Gewalt zurück, doch fühlt man die Personifikation noch deutlich genug. Ähnlich in den Wendungen 6 XÖTOC ouK iäcei Rpl. 611 A und 6 Xötoc dva^KÜl^i Rpl. 611 B, ö Xötoc onaaivei u. dgl. Besonders charakteristisch sind auch die Wendungen Rpl. 394 D: öuri äv 6 XÖTOC lucirep 7TveO,ua (pepi;i, tüOt);] ixeov und Legg. 667 A: ciXX' ö Xötoc öitt] q)^p6i, TaÜTri TTop6iJUj)Lie0a. Auch Legg. 835 C.: ouk e'xuuv ßorjOöv äyOpai-rrov ouö^va^ XöTqj ^TTÖuevoc uövuj )iiövoc verdient hervorgehoben zu werden.
2) An ihrer Echtheit halte ich nach wie vor fest. Man vergleiche dazu den vorletzten Aufsatz dieses Buches.
Der Logos • Einzelne Dialoge 77
Hippias Eitelkeit als etwas völlig Selbstverständliches erscheinen zu lassen, nicht nur für den Hippias selbst, sondern auch für die anderen, nicht am wenigsten für Sokrates. Denn alle scheinen diese Eitelkeit ohne weiteres als etwas durchaus Berechtigtes anzuerkennen. Wie grausam und dabei doch immer liebenswürdig weiß er den Sophisten sich selbst unbewußt ironisieren zu lassen 0 und dadurch die Folie zu schaffen, von der sich die tatsächliche Nichtigkeit des Mannes zu vollster Wirkung für die Leser abhebt.
Man vergegenwärtige sich weiter die noch feinere und gereiftere Kunst in den größeren Dialogen. Man denke an die sich fast unbemerkt vor- bereitende und allmählich mit der Sicherheit eines Verhängnisses voll- ziehende Niederlage des anfangs so selbstgewiß auftretenden großen Prota- goras, wie er, in die Enge getrieben, immer kleinlauter wird und, was die Streitfrage anlangt, schließlich verstummt, um, rasch gefaßt, die Gönner- miene anzunehmen und den Sokrates seiner Huld zu versichern. Man denke weiter an den Kallikles im Gorgias und vor allem an den Thrasymachos in der Republik, fst je einem polternden Rabulisten der Mund auf ergötz- lichere Weise geschlossen worden? Man denke ferner an die vernich- tenden und dabei doch niemals tragischen Niederlagen, die er den Ver- tretern der landläufigen Rhetorik mit ihren Anmaßungen und ihrem bru- talen Auftreten bereitet. Man vergesse auch nicht jene kleineren humo- ristischen Züge, die sich in den zahllosen drolligen Einfällen^), heiteren Anspielungen^) und Wortspielen bis hinab zu witzigen Beziehungen auf
1) Vgl. Hipp. Maj. 294 A: o rroiei qpaivecGai KaXct öiCTrep ye eTieiöav ijudrid Tic Xdßoi f] UTTobi'i.uaTa dp^ÖTTOvra, köv r\ ygXoToc, KaWiuuv qpaivexai. Die Worte gehören dem Hippias, wie ich gezeigt habe Zeitschr. f. Gymn. XXXII 772. Wie schalkhaft ist es gleich darauf 294 E, daß er den Sophisten trotz allem, was Sokrates gesagt hat, unablenkbar auf dem Schein bestehen läßt, im Gegensatz zu dem Sein.
2) Wie artig und anmutend weiß er oft, statt nüchtern und geradeaus die Sache selbst zu nennen, dem Leser neckisch ein kleines Rätsel aufzugeben. Statt zu sagen: „Welche Strafe soll den Selbstmörder treffen?" sagt er Legg. 873 C: „Was soll nun der erleiden, welcher den nächsten aller Verwandten und den, welcher für den liebsten und teuersten gilt (d. h. sich selbst), umgebracht hat?" Dies nur eines von zahlreichen Beispielen.
3) Die neuere Kritik gefällt sich bekanntlich darin, angebliche Glosseme auszuscheiden. Es ließe sich leicht ein ganzes Buch darüber schreiben, in dem man an vielfach ganz schlagenden Beispielen das meist Unzutreffende dieses Standpunktes nachweisen könnte. Hier sei nur so viel erwähnt, daß auch manche Blüte platonischen Humors dadurch einfach mit fortgeschwemmt wird. Ein Bei- spiel dafür bietet meine kritische Bemerkung zu Grat. 393 C in dem Progr. Jena 1905 S. 19.
78 Piatons Humor
den Namen dieser oder jener der auftretenden Personen^) ausgeprägt finden.
Doch ich will mich nicht aufhalten bei Dingen, die jedem auch nicht fachmännischen Liebhaber_,des Piaton wohlbekannt und so gegenwärtig sind, daß keine Erläuterung die lebendige Frische des Bildes erreichen kann, das sich durch die Lektüre selbst der Seele des Lesers eingeprägt hat. Vielmehr ist es meine Absicht, die Aufmerksamkeit auf gewisse Äußerungen des platonischen Humors zu lenken, deren Verständnis sich nicht so unmittelbar erschließt, wie es in dem bisher Berührten der Fall war, wo Person und Sache, in eins verwoben, durch die dramatische Form sich wie von selbst zu vollster Anschaulichkeit belebten. Jene ver- steckteren Fälle hängen nicht so unmittelbar und unlöslich mit der dra- matisch-dialogischen Form zusammen wie die angedeuteten; gleichwohl gibt auch ihnen diese Form ein gewisses frisches Kolorit, auf das wir ungern verzichten würden. Es kommt mir dabei vor allem darauf an, Piatons Stellung zu den geistigen Errungenschaften der Vorzeit, wie sie einerseits in den mythischen Überlieferungen, anderseits in den Lehren der älteren Philosophen ihren Ausdruck gefunden, vom Standpunkt unseres Themas aus zu erläutern, woran dann noch einige mehr zerstreute Be- merkungen angeknüpft werden sollen.
Piaton ist an sich durchaus kein Verächter der Vergangenheit, kein grundsätzlicher Ankläger der alten Zeit. „Gleichviel ob jemand", sagt er in den Gesetzen gelegentlich der Gründung seiner neuen Stadt (V 738 C), „einen neuen Staat von Grund aus einzurichten oder aber einen alten zu erneuern hat, so wird er, wenn er klug ist, hinsichtlich der Götter und hinsichtlich dessen, welchen Göttern und Dämonen man im Gebiete des Staates Heiligtümer zu errichten habe, nie etwas an demjenigen zu ändern versuchen, zu dessen Einführung Aussprüche aus Delphi oder Dodona oder von Ammon bewogen hatten. Von diesem allem darf der Gesetz- geber auch nicht das Geringste verändern" usw. Wie er seine eigenen geträumten Staatseinrichtungen mit so festen Klammern umgeben möchte, daß sie der Ewigkeit trotzen, so rühmt er an mehr als einer Stelle die seit Jahrtausenden feststehende Beharrlichkeit gewisser ägyptischer Bräuche. Und so ließe sich noch gar manches anführen (vgl. Legg. 843 E, 865 DE, 872 D, 913 D, 926 E).
Anderseits ist aber Piaton doch auch nichts weniger als ein unbe- dingter Verehrer und Anbeter des Altertums. Zu den laudatores tempohs
1) Ich finde nirgends angemerkt, daß der Arzt Eryximachos im Gastmahl durch seinen Namen schon die Rolle ankündigt, die ihm als „Schlucksenbe- kämpfer" zugeteilt wird.
Verhältnis zur Vorzeit 79
acti ohne Einschränkung ihn zu rechnen, würde er niemals sich haben ge- fallen lassen.^) Die Weite seines philosophischen Blickes ließ ihn an die Dinge ein ganz anderes Zeitmaß anlegen, als es der gewöhnlichen Schätzung zugrunde liegt. „Wenn man", sagt er - selbst ein Mann des Adels - in einer schönen Episode des Theätet (174E), „die Adelsgeschlechter heraus- streicht und wunder meint wie adlig jemand sei, weil er sieben reiche Ahnen aufzuweisen habe, so hält der Philosoph das nur für ein Lob in den Augen blöd- und kurzsichtiger Leute, die aus Mangel an Bildung nicht verstehen, den Blick immer auf das All zu richten und zu berechnen, daß jeder von uns unzählige Myriaden von Ahnen und Voreltern hat und darunter oft unzählig viele Reiche und Arme, Könige und Bettler, Bar- baren und Hellenen vorkamen". Sah doch Piaton in diesem Kosmos ein unvergängliches Ganze, in dessen Mitte von Ewigkeit her die ruhende Erde liegt mit dem gleichfalls anbeginnlosen und unvergänglichen Menschen- geschlecht. In großen Perioden, deren gegenseitige Begrenzung durch Sintfluten oder gewaltige Erdbeben bestimmt sind, muß das Menschen- geschlecht seine Geschichte von relativen Anfängen aus immer wieder von neuem beginnen, ohne je völlig zu verschwinden.^) Alles ist schon unendlich vielmal dagewesen und wird ebensooft wiederkehren in unab- lässigem Kreislauf. Was wollte solcher Rechnung gegenüber etwa das Alter des Troischen Krieges oder der Dorischen Wanderung oder gar eines Hesiod bedeuten? Die Vorstellung der Ehrwürdigkeit des historisch weit Zurückliegenden und des alt Überlieferten verliert dadurch fast von selbst ihre Bedeutung. Tausend Jahre, so konnte Piaton mit dem Psal- misten sagen, sind vor dem auf die Ewigkeit gerichteten Blick wie ein Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Was grau vor Alter ist, war ihm nicht heilig, weil es grau vor Alter ist, sondern wenn überhaupt, dann darum, weil es sich im Laufe der Jahrhunderte als nütz- lich und heilsam bewährt hat.
Nichts kann ihn mehr zum Spott reizen als die gedankenlose, keinen Unterschied machende Berufung auf die überlegene Weisheit der uralten Vorfahren, seien es Herrscher oder Gesetzgeber oder Dichter: „Da wir
1) Wie das Wort irdccocpoc von ihm stets mit ganz unverkennbarer Ironie gebraucht wird, so kann man sicher sein, daß steigernde Bezeichnungen von ■TTaXaiöc, wie irauTrdXaioc Theät. 1818 oder ttcxvu iraXaioi Grat. 411 B (von den Namengebern) oder copöbpa -rraXaiöc immer einen leisen ironischen Beigeschmack haben, selbst da, wo er im allgemeinen alten Einrichtungen das Wort redet, wie Legg. 927 A.
2) Vgl. Legg. 782 A f. und meinen Aufsatz im Progr. von Eisenach, Ostern 1901, „Die Ansichten der griech. Philosophen über den Anfang der Kultur" S. 11 f.
30 Piatons Humor
uns nicht", sagt er in den Gesetzen (S. 853 C) mit Hinblick auf die hart- näckige Sündhaftigkeit der Menschen, der gegenüber auch die besten Gesetze oft genug versagen, „in der Lage der alten Gesetzgeber be- finden, welche, wie die Sage berichtet, selbst von den Göttern ab- stammend, anderen Göttern und Heroen Gesetze gaben, sondern Menschen sind und für Menschenkinder Gesetze entwerfen, so kann man es uns nicht verargen, wenn wir fürchten, daß es unter unseren Bürgern auch manche unverbesserliche Leute geben könne". Dies nur eine Äuße- rung von vielen.
Man sieht, Piaton hat viel vom Rationalisten an sich. Vor dem Alter- tum bloß als solchem hat er keinen Respekt. Auch für die Beurteilung der Vergangenheit ist der Xötoc, der denkende Verstand, fürs erste wenig- stens, der zuständige Gerichtshof. Allein man würde Piaton unrecht tun, wenn man ihn für einen reinen Rationalisten ausgeben wollte. Er war ein viel zu reicher Geist und kannte die vielgestaltigen Kräfte der mensch- lichen Seele zu genau, um jener Einseitigkeit zu verfallen, die alles über den Leisten des dürren Verstandes spannt. Er hatte volles Verständnis für die Macht des Althergebrachten über das menschliche Gemüt und dichterischen Sinn genug, um dasjenige, was auch für die weitere Ein- wirkung auf die Phantasie der Menschen darin lag, gebührend zu wür- digen. Wenn er auch, was die alten Werkmeister gebaut, oft für archi- tektonisch im ganzen verfehlt hielt, so wußte er doch ihrem Baumaterial, ihren Werkstücken, ihren Säulen, Verzierungen und Gesimsen Geschmack abzugewinnen und sie für seinen Neubau zu verwerten.
Dies Fliehen und doch auch wieder Suchen, dies Abweisen und doch auch wieder Ergreifen, diese geteilte Stimmung, der beste Boden für das Gedeihen des Humors, tritt uns am lehrreichsten entgegen in seinem Ver- hältnis zu den alten religiösen Mythen seines Volkes, zu dessen Erörte- rung wir uns jetzt wenden.
Man braucht nur die Republik (z. B. 388 B, 391 E, 414 BC) zu lesen, um sich zu überzeugen, wie scharf Piaton den Geist der Leichtfertigkeit, der Nachsicht gegen die gröbsten Unsittlichkeiten verurteilt, der für die alten Göttererzählungen so bezeichnend ist. Dies gilt vor allem von der älteren Schicht der Mythen mit ihren widerwärtigen Scheußlichkeiten, wie sie in den Sagen von Kronos und Uranos usw. hervortraten. Aber auch die jüngere Götterwelt, wie sie sich in der Überlieferung darstellt, findet vor seinen Augen wenig Gnade. Mögen sich solche Sagen auch in noch so heitere Formen kleiden und durch die Anmut der Erzählung über das Anstößige hinwegtäuschen, sie untergraben die Achtung vor dem Gött- lichen und geben von dem Wesen desselben eine durchaus irreführende
Die Volksmythen 81
und im höchsten Maß unheilvoll wirkende Vorstellung. Der Olymp der Dichter ist im Grunde ein Sündenpfuhl, das Gegenteil von reiner Gött- lichkeit.
So steht es mit dem sittlichen Geist, der diese Mythen durchweht. Und wie mit ihrer Glaubwürdigkeit in historischer Beziehung? Knüpften nicht die Griechen mit kindlicher Gläubigkeit und mit mehr als kindlichem Stolze an diese Göttervorzeit durch Vermittlung der Dämonen und Heroen ihr eigenes geschichtliches Leben alles Ernstes in fester Verkettung an?
Man kann sich denken, in welchem Maße dies die kritische Ader Piatons reizen, seinen Humor, hier gemischt mit einer starken Beigabe von Ironie, sprudeln machen mußte. Man lese folgende Stelle aus dem Timäus(40D), eine von vielen, allerdings der beißendsten eine: „Über die sonstigen (er hat von den Sterngöttern gesprochen und wendet sich nun zu den olym- pischen Göttern) götterartigen Wesen zu sprechen und ihre Entstehung zu erkennen, übersteigt unsere Kräfte, und wir werden denjenigen glauben müssen, welche ehedem darüber gesprochen haben, da sie ja, wie sie sagten, Abkömmlinge der Götter waren und doch wohl genau ihre Vor- fahren gekannt haben werden. Unmöglich also ist es, den Sprößlingen der Götter den Glauben zu versagen, wenn sie auch ohne wahrschein- liche oder zwingende Beweisgründe sprechen, sondern als solchen, welche Familienverhältnisse mitzuteilen behaupten, müssen wir ihnen, dem Her- kommen folgend, Vertrauen schenken." Jedes Wort ist hier ein scharfer Pfeil. Es will einem schwer zu Sinn, daß die schneidende Ironie dieser Worte ^) vielfach verkannt und ihr Sinn geradezu in sein Gegenteil ver-
1) Nicht so leicht wie der allgemeine Standpunkt der obigen Äußerung Piatons ist die besondere Beziehung zu erkennen, welche ihr innewohnt. Sie bezieht sich nämlich auf Orpheus, als den angeblichen Göttersohn, und auf die ihm zugeschriebene Theogonie. Das hat klar erwiesen Fr. Weber, Platonische Notizen über Orpheus. Progr. München 1899 S, 12f. Daraus ersieht man zu- gleich, wie viel Ursache man hat, vorsichtig zu sein in der Annahme orphischer Tendenzen bei Piaton. Es mag hier noch hingewiesen werden auf die in vieler Beziehung ähnliche Stelle der Gesetze (886 CD). Da heißt es unter anderem: ,,Bei uns werden gewisse Schriften viel gelesen, die, teils in Versen, teils in Prosa abgefaßt, über die Götter berichten. Ob nun diese Erzählungen in anderer Rücksicht für ihre Leser von Nutzen sind oder nicht, darüber läßt sich ihres hohen Alters wegen nicht wohl ein absprechendes Urteil fällen, aber in Rück- sicht der Hochachtung und Ehrerbietung, die man Eltern schuldig ist, möchte ich für meinen Teil sie nicht loben, noch behaupten, daß sie in dieser Hinsicht nützliche und in jedem Betracht richtige Lehren gegeben hätten. Diese alten Werke setze ich daher ganz beiseite und lasse sie ruhen und jeden dar- über urteilen, wie es Gott gefällt." Wer Ohren hat zu hören, vernimmt hier aus jedem Wort den Skeptiker.
Apelt: Platonische Aufsätze. 6
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kehrt worden ist: man hat auf Grund dieser Stelle den Piaton zu einem still ergebenen Gläubigen machen wollen. Es ist dies eben nur möglich bei völliger Verständnislosigkeit für das humoristische Element in Piatons Darstellungsweise, das viel weiter und tiefer greift, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist.
Allein diese fast vernichtende Kritik hindert unseren Philosophen nichts unter Umständen selbst einem ziemlich massiven Volksaberglauben herz- haft das Wort zu reden, sofern er nämlich nichts sittlich Verletzendes hat, sondern geeignet erscheint, Antriebe für das sittlich Gute zu bieten. Wieder- holt z. B. bezieht er sich auf den volkstümlichen Glauben, daß „ein Mann (Legg. 865 D), der in freier Sinnesweise gelebt hat, wenn er gewaltsam ums Leben gekommen ist, die erste Zeit nach seinem Tode dem Täter zürne und zugleich wegen der erlittenen Gewalt auch noch selber mit Furcht und Schrecken erfüllt sei, und daß er daher, wenn er den, der ihn umgebracht, in denselben Kreisen verkehren sieht, mit denen er selber Umgang zu pflegen gewohnt war, noch mehr in Furcht und Verwirrung gerate und auch jenen mit aller Macht, wobei ihm dessen Gewissen zu Hilfe kommt, in allem seinem Denken und Handeln zu verwirren sucht". Im elften Buch der Gesetze (927 A) kommt Piaton auf den Gegenstand zurück und behandelt ihn ganz in der nämlichen Weise. Es ist eben ein Stück Staatsraison, das darin zum Ausdruck kommt: durch den - un- schuldigen — Aberglauben soll die verbrecherische Neigung eingedämmt werden.
Wer die Republik gelesen hat, weiß, welches Gewicht Piaton, der große Verehrer der Wahrheit, auf das legt, was man kurz die Staatslüge nennen kann. Nicht nur überlieferte Mythen, soweit sie frei sind von sittlichen Anstößigkeiten, sondern auch selbsterfundene sind als Element der Volks- erziehung zur Erreichung der höheren Zwecke des Staates nach seiner Meinung ganz unentbehrlich. Trotz der immer wiederkehrenden Betonung des XÖTOC, des kalten Verstandes, hatte er ein ungemein starkes Gefühl für die Bedeutung der poetischen Wahrheit nicht sowohl in ästhetischer^ als in sittlicher, und, was für ihn auf das engste damit zusammen hing, auch in religiöser Beziehung. Daher der hohe Platz, welchen er dem von allen unsauberen Elementen gereinigten Mythos in seiner Philosophie ein- räumt, daher der kühne Flug seiner Phantasie, der ihn seine erhabenen eschatologischen Mythen erfinden ließ, die, bestimmt, das religiöse Gefühl seiner Landsleute zu läutern und zu heben, durch die Pracht und den Zauber ihrer Bilder weit über die Griechenwelt hinaus gewirkt haben. Es lohnt sich, einen Augenblick bei diesem Gegenstand zu verweilen, wenn dies auch als eine Abschweifung von unserem eigentlichen Thema erscheinen mag»
Die platonischen Mythen 83
Philosophie und Dichtung, in so vieler Beziehung einander geradezu entgegengesetzt, finden doch im philosophischen Mythos, wie ihn Piaton geschaffen, ihre vollberechtigte und darum auch glücklichste Verbindung. Wo die Religion anfängt, hört die Dialektik auf. Wo es gilt, den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, den Ursprung des Bösen und die gött- liche Weltregierung im Gemüte der Menschen lebendig zu machen, müssen andere Seelenbewegungen angeregt werden als der logische Prozeß des Verstandes. Die Dialektik kann uns gerade bis an den Punkt führen, wo wir die Notwendigkeit eines Jenseits einsehen. Aber jede positive Vor- stellung dieses Jenseits in irgendwelcher wissenschaftlichen Gestalt bleibt uns ewig versagt. Hier kann als Positives nur die Ahnung eintreten, die uns auf den Schwingen der Andacht zur Betrachtung überirdischer Herrlichkeit erhebt. Natur und Kunst reichen sich einander die Hand, dem menschlichen Gemüte zu diesem Aufstiege zu verhelfen. Und kein Dichter hat es mehr als Piaton vermocht, durch die Magie seiner Mythen das Überirdische und Unsichtbare uns gewissermaßen als etwas Sicht- bares und Gegenwärtiges vorzuführen.
Man hat neuerdings mit Gründen, die nichts weniger als unanfechtbar sind^), dem Piaton die Originalität seiner bildnerischen Kraft nach dieser Seite hin wesentlich zu schmälern und ihn zum Schuldner der Orphiker zu machen gesucht. Das liegt ganz im Zuge der Zeit, die am liebsten Piaton zu einem orphischen Schwärmer stempeln möchte, der als begei- sterter Ordensbruder womöglich das Banner bei ihren Festaufzügen voran- trägt. Aber damit hat es eben keine Not. Piaton wird die Ehre, die man ihm damit erweist, gebührend zu würdigen wissen. Mag Piaton immerhin hier und da seinen Pinsel in den Farbentopf der Orphiker getaucht haben, das, was seinen mythischen Gemälden die magische Kraft verleiht, jener Hauch des Überirdischen, der sie umweht, jener Schleier, der sie umgibt, gewebt aus Morgenduft und Sonnenklarheit, das ist nun und nimmermehr ein Geschenk aus der Hand der Orphiker, sondern unmittelbar eine Gabe Gottes selber. Man denke sich die kosmischen Dekorationen aus den Mythen des Piaton hinweg, und ihr Reiz ist erstorben.
Ein Blick in das innere Gefüge seiner religiösen Mythen lehrt — in Übereinstimmung mit dem, was wir im Eingang dieser Betrachtung be- merkten — , daß er vielfältig den vorhandenen mythologischen Apparat benutzt, die gegebenen Gestalten verwendet hat. Aber das Höchste und eigentlich Charakteristische, was sie sowohl dem Ideengehalt wie der dichterischen Ausführung nach an sich tragen, hat er ihnen selbst als belebenden Odem eingehaucht.
1) Vgl. Weber a. a. 0. S. 20.
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Uns aber interessiert hier für unser Thema weniger diese höchste Be- tätigung platonischer Schöpferkraft, als vielmehr die Verwendung des Mythos in einem Gebiet, wo zwischen Scherz und Ernst eine heitere Mitte gehalten wird.
Piaton hat das Märchen vom goldenen Zeitalter, den Mythos von der Herrschaft des Kronos wiederholt zur Veranschaulichung gewisser An- sichten über Wesen und Aufgabe der Kunst des Staatsmannes und Gesetz- gebers in seiner Art, mit viel Eigenem, verwendet. Was will er damit? Dies aufzuklären ist von einiger Bedeutung, da Piaton hier meist gründ- h"ch mißverstanden worden ist. Wir suchen zuerst den Kronosmythos im Politikus (268D-274D) zu deuten.
Der Dialog „Politikos" will einerseits — und das ist nach der ausdrück- lichen Erklärung^) des Verfassers die Hauptsache — der dialektischen Schulung dienen, anderseits die Aufgabe des echten Staatsmannes be- stimmen. Das letztere ist die Unterlage, an welcher das erstere sich voll- ziehen soll. Indem nun nach der dialektischen Methode der Einteilung, wie sie zuvor schon im Sophistes in ausgiebiger Weise geübt worden war, der Begriff des Staatsmannes gesucht wird, ergibt sich vorläufig als eigentliche Provinz des Staatsmannes eine bestimmte Art der Hirtenkunst. Alles, was nun weiter folgt, läuft darauf hinaus zu zeigen, daß diese De- finition dem wirklichen Wesen der staatsmännischen Kunst nicht ent- spreche"), die vielmehr mit der Weberkunst eine gewisse Ähnlichkeit habe. Denn wie diese soll sie darauf ausgehen, die Gegensätze zu einer festen Einheit zu verflechten. Jene Hirtenkunst möge wohl für ein geträumtes Geschlecht glücklicher Erdensöhne am Platze sein, wie sie das goldene Zeitalter zeige, deren Hirten die Götter selber waren, nicht aber für wirk- liche Menschen, wie wir sind. Unsere Aufgabe ist es, selbst Hand an- zulegen, um uns durch vernünftige Ordnung unserer Angelegenheiten eine Form der Gemeinschaft (des Staates) zu schaffen, die uns wenigstens ein verhältnismäßig glückliches Dasein zu gewähren imstande ist.
Diese Selbsthilfe, dies Vertrauen der Menschen auf die eigene Ver- nunft im Gegensatz zu der kindlichen Vertrauensseligkeit, mit der das
1) Polit. 285 D: xi b' au vöv )^,uiv ^ iT€pi toü ttoXitikgö ^nTricic; eveKa auroO toOtou TrpoßeßXiiKa uötXXov f] toü nepi TrdvTa biaXeKTiKiux^poic yiT"^ccOüi;
2) Der Grund ist der, daß die Hirtenkunst immer den Gegensatz einer mehr oder minder gedankenlosen, unselbständigen Masse und des für sie denkenden und sie leitenden Hirten voraussetzt, während, wie die Gesetze an vielen Stellen (693 C ff., 738 DE, 739 CF, 961 DF u. ö.) zeigen, das Geheimnis der echten Staats- kunst darin besteht, zu bewirken, daß jeder Bürger selbstbewußt nach dem Maß seiner Kräfte an der Erhaltung und dem Gedeihen des Ganzen mitarbeitet.
Das goldene Zeitalter • Der Politikos 85
erwählte Geschlecht einer geträumten glücklichen Zeit alles aus der Hand eines Höheren erwartet und empfängt, ist der Grundgedanke, der uns aus des Mythos Unmöglichkeiten gegensätzlich entgegenleuchten soll und auch deutlich genug entgegenleuchtet, wenn man nur die Augen auftut. Wir dürfen nicht, das ist die Predigt, welche der Mythos an uns richtet, wie die glücklichen Insassen eines erdichteten Schlaraffenlandes unser Glück ohne unser Zutun von oben erwarten, sondern müssen uns selbst es schaffen, soweit es uns eben gelingen will.
Und diesem Grundgedanken dient zu großartiger Veranschaulichung das groteske astronomische Bild von dem zeitweiligen Wechsel im Um- lauf des Weltalls, ein Bild, das deshalb besonders interessant ist, weil hier das kosmische Gemälde selbst nichts anderes als Persiflage ist, wor- aus von selbst folgt, daß man dahinter nicht irgendwelches astronomische Geheimnis zu suchen hat, wie es bei den großen eschatologischen Mythen tatsächlich der Fall ist. Das Vernunftwidrige jenes Schlaraffenzeitalters und seines angeblichen Zusammenhangs mit dem folgenden Zeuszeitalter, welches letztere tatsächlich immer allein dagewesen ist und da sein wird, kann nicht eindringlicher und sinnlich wirksamer verdeutlicht werden als durch die ironische Zumutung an die menschliche Vernunft, sich mit einem Mal die ewige Ordnung im Laufe der Gestirne in das Gegenteil abge- wandelt zu denken. In der Riesenschrift des Himmels selbst wird uns verkündet: So wenig der Himmel jemals seinen Umschwung geändert hat, so wenig hat es je ein Geschlecht gegeben wie das, welches das goldene Zeitalter uns vorführt. Ebensogut müßte der Himmel selbst aus seiner ewig gleichen Bewegung gebracht werden können, wie wir glauben könn- ten, daß die Menschen jemals in einem anderen Verhältnis zu den Göttern gestanden haben als jetzt.
Wir mußten etwas ausführlich sein. Denn man traut seinen Augen kaum, wenn man sieht, wie stark diese Meinung des Piaton von den Aus- legern verkannt worden ist; von keinem mehr, als von Deuschle^), der in dem Mythos nichts Geringeres sieht als eine Schilderung der Ideal- welt und, einmal umfangen von dem Nebel dieses Wahnes, kein Bedenken trägt, in Zügen, wie dem, daß in jenem Schlaraffenland die Menschen meist nackt und im Freien, ohne schützende Decken leben und sich von den Früchten der Bäume nähren, den Hinweis darauf zu erkennen, daß im Leben der Transzendenz die Seele rein von der Materie, frei von der Leiblichkeit sei und sich von den Früchten jener Welt, von den Ideen nähre, welche sie anschaut^). Man braucht nur im einzelnen etwas auf
1) In der Stuttgarter Übersetzung der Platonischen Werke S. 425 ff.
2) Über die neueste, auch äußerst verwunderliche Behandlung des Mythos
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die ironischen Bemerkungen Piatons zu achten, um das Verfehlte dieser Auffassung zu erkennen. Schon der eine schelmische Zug, daß die Men- schen der damaligen Zeit sich nicht begatteten — womit witzig genug die völlige Unselbständigkeit des damaligen Geschlechtes, ihre Unfähig- keit auch nur für ihre Fortpflanzung selbst zu sorgen (also eine potenzierte Impotenz, wie man das Ding nennen möchte, insofern die Impotenz doch wenigstens das Gefühl des Mangels voraussetzt, das hier fehlt) angedeu- tet wird -, würde genügen, um die Tendenz des Ganzen klarzustellen. Piaton hat es aber auch an anderen eingestreuten Fingerzeigen^) nicht fehlen lassen. Und mehr als das. Er hat diesem ganzen Abschnitt eine Bemerkung vorausgeschickt, die wie eine große Inschrift über dem Ein- gang dieses Mythengebäudes jeden Eintretenden auf den wahren Charakter desselben deutlich hinweist (268 D). Ausdrücklich nämlich hebt er den scherzhaften Charakter der ganzen Episode hervor") und es ist wohl bloß die sonst von den platonischen Mythen ausgehende weihevolle Stim- mung, die es veranlaßt hat, daß man über diese von Piaton selbst ge- gebene Warnung hinwegsah.
Nicht viel anders verhält es sich mit der Verwertung des nämlichen Mythos in den Gesetzen, obschon da die Ironie nicht so handgreiflich hervortritt. Wer aber genauer zusieht, dem kann es nicht entgehen, daß der Schlüssel zum Ganzen in den Worten liegt (713 E)'^): „und so ver-
bei Stewart The Myths of Plato vgl. Berl. philol. Wochenschrift 1905 Sp. 1047 f., wo sich eine Besprechung von mir findet.
1) Polit. 2718: „Von unseren ältesten Vorfahren, welche der an das Ende der früheren Umlaufsperiode sich anschließenden Zeit zunächst standen und im Anfang der jetzigen geboren wurden, ward das Andenken daran erhalten. Sie wurden nämlich für uns die Herolde dieser Geschichten, die jetzt von vielen mit Unrecht nicht geglaubt werden." Die unverkennbare Ironie dieser Worte ist auch von anderen schon bemerkt worden. Auch 272 8 und noch deutlicher 275 8 C verraten Piatons eigentliche Meinung.
2) 268 D: cxeööv iraibiav ^YKepacau^vouc* cuxvlu ^äp ,u€pei bei |ueYdXou )u\J6ou TTpocxpricacGai.
3) Legg. 713 E: Xi^ei bt) Kai vöv outoc ö Xöyoc dXriGeia xpiJU|U6voc. uuc öcu)v dv TTÖXeuDv laV] Geöc dWd Tic äpxr\ Bvr|TÖc. ouk ecxi kokOüv auTOic ovbe ttöviuv dvdqpuSic. Schwierigkeiten macht im vorhergehenden nur der Übergang zu dem Kronosmythos. Nachdem nämlich Piaton gesagt hat, daß Demokratie, Oligarchie, Aristokratie, Königsherrschaft in voller Einseitigkeit wirkend eigentlich keine Staatsformen überhaupt, keine TroXireiai seien, da die wahre Politie eine Mischung aller dieser Elemente ist, behauptet er, es wären im Grunde Despotien. Das drückt er aber etwas sonderbar aus durch die Worte tö toö becirÖTou bk kK&cTY] irpocaYopeüecGai Kpdxoc. An sie knüpft er die Bemerkung: xP^v b' eirrep tö TOiöÜTOu Ti^v TTüXiv cbci e7rovo|ud^€C0ai , tö toü dXriGüüc tujv töv voöv ^xövtuuv becTTÖ^ovToc Geoö övojaa X^YccGai. Irre ich nicht, so kann das nur folgendes heißen:
Mythos in den Gesetzen und im Phaidros 87
kündet uns denn diese Sage die Wahrheit, daß es für alle Staaten, deren Herrscher nicht ein Gott, sondern ein Sterblicher ist, keine Mög- lichkeit gibt, Leiden und Mühen zu entfliehen". Mit anderen Worten: Die Menschen müssen sich selbst helfen, wenn sie zu einem leidlichen Zu- sammenleben gelangen wollen. Jene geträumten, glücklichen Zustände können uns, in Ansehung wenigstens des angeblichen G 1 ü c k e s (im übrigen durchaus nicht), wie eine Art Ziel vorschweben, dem wir uns mit mensch- lichen Mitteln durch eigene Kraft einigermaßen zu nähern bestrebt sein müssen, ohne sie je erreichen zu können.
Der leuchtende Gedanke von der vollen Zuständigkeit der eigenen Vernunft, der die platonischen Schriften, wenn auch oft genug mißver- standen, durchzieht, tritt uns auch entgegen in dem Mythos von Theuth, der eine wohlbekannte Partie des Phaidros ausmacht. „Was aber", sagt da Sokrates (274 B), „die Frage über Angemessenheit und Unangemessen- heit der Schrift betrifft, wiefern ihr Gebrauch etwas Schönes sein möchte, und inwiefern etwas Unangemessenes, das ist noch übrig. Weißt du nun, inwiefern du mit Reden teils selbsttätig teils davon redend einem Gott am meisten wohlgefällig sein kannst?" Als Phaidros, der Angeredete, dies verneint, fährt Sokrates, seinen Mythos vom Theuth einführend, fort (274 C): (XKOiiv Y ^X^ Xe^eiv tüjv Trpoiepujv, xö b' dXriGec auxoi icaciv. ei be toöto €upoi)uev auToi, apd f' ctv e'G' fijuiv jueXoi ti tül)v dvOpujTrivujv boHacjudiiJUV; Was heißt das? Hören wir den Verfasser der Engelmannschen Über- setzung (Wagner): „Eine Sage wenigstens kann ich anführen von den Alten, das Wahre aber wissen sie nur selbst. Sollten wir aber dieses selbst auffinden, würden wir uns dann noch etwas um die menschlichen Meinungen kümmern?" Widerstreitet hier nicht das „nur" ganz offensicht- lich dem, was unmittelbar folgt? Anders der Stuttgarter Übersetzer. Bei ihm heißt es: „Eine Erzählung wenigstens, die ich vernommen, habe ich mitzuteilen von den Alten; sie wissen ja selbst das Wahre! Fänden wir aber dieses selbst auf, würden wir uns da wohl noch etwas um mensch- liche Meinungen kümmern?" Damit ist der wahre Sinn mindestens ver- dunkelt. Was dasteht, ist folgendes: „Eine Kunde wenigstens kann ich mitteilen von den Alten, ob es aber wahr ist, wissen sie selbst" d. h. „die
„Despotie sollte unter Menschen überhaupt nicht vorkommen; statthaft ist sie allein für eine Traumwelt, wie die Kronoszeit, die es hienieden nie gegeben hat und nie geben wird, deren angebliches Glück wir uns aber doch als eine Art Anweisung zu nachahmendem Streben dienen lassen können." Die Worte tOüv töv voöv exovTUJv sind auffallend und erwecken einigen Verdacht. Doch erklären sie sich vielleicht im Hinblick auf 714A ti'iv toO voü biavouViv e-rrovo- iJiälovTac vö.uov.
88 Piatons Humor
Kunde bürgt noch nicht für die Wahrheit. Wir selbst müssen uns zutrauen, die Wahrheit zu erforschen". Das tö b' aX^iBec auioi i'caciv ist, wenn es überhaupt einen Sinn haben und mit dem folgenden zu- sammen bestehen soll, durchaus abweisend (ironisch) zu verstehen, etwa wie unser „das ist ihre Sache". ^) Die beste Erläuterung des Gedankens gibt die wenige Zeilen weiter folgende Zurechtweisung des Sokrates an den Phaidros (275 BC): „Den damals Lebenden, die eben keine Weisen waren, wie ihr Jüngeren, genügte es in Einfalt den Baum und den Fels anzuhören, wenn sie nur Wahres redeten. Dir aber ist es vielleicht ein Unterschied, wer der Redende und wo heimisch er ist? Denn nicht darauf allein siehst du, ob es sich so, ob anders verhält." Die Wahrheit selbst also, ergründbar allein durch den Xötoc, ist für die Forschung entschei- dend, nicht sonst irgendwelche Autorität, sei sie älteren oder jüngeren Datums, gründe sie sich auf das Urteil der großen Masse (Gorg. 474 A^ Kriton 44 C, 48 A, Lach. 184 E) oder auf das eines einzelnen. Ja, in letz- terer Beziehung nimmt sich Sokrates (Piaton) selbst keineswegs aus: „Der Wahrheit vermagst du nicht zu widersprechen, mit dem Sokrates dagegen würde dir dies ein leichtes sein" (Symp. 201 C). Und im Charmides (161 C): „Auf alle Fälle haben wir nicht zu untersuchen, wer es gesagt habe, sondern ob es mit Recht behauptet werde oder nicht" (vgl. auch Gorg. 472 A).
Dieselbe Freiheit des Urteils, dasselbe Vertrauen auf des eigenen Geistes Selbständigkeit, dieselbe Entschlossenheit, der Wahrheit zu hul- digen und nur der Wahrheit, zeigt sich nun auch — und das war der zweite Hauptpunkt, den wir zu besprechen uns vorgenommen — , wie zu erwarten, in seiner Stellung zu seinen besonderen Zunftgenossen, seinen philosophischen Vorläufern, mögen sie nun einer älteren oder ihm näher stehenden Generation angehören. Ja, die Berufung auf das Alter wirkt auch hier geradezu wie ein Reizmittel auf seine Spottlust, daß man fast glauben möchte, der lOcpoc, das hochfahrende Wesen, das man dem Piaton gern vorwarf, könnte sich aus dem Ton der hierher gehörigen Stellen wenigstens mit erklären. Nicht als ob Piaton dem Alter die Ehre versagte. Sein Sokrates spricht im Theätet (183 E) in Ausdrücken hoher
1) Diese abweisend ironische Bedeutung zeigt sich deutlich an der Formel anTÖc Y'^^cei und ähnlichen Wendungen z. B. Gorg. 505 C aüjöc Yviücei i. e. ipse videhs. Schol. dvTi toö, €i ti OtXeic, Troiei* ^uoi yäp oO |li^X€i. Ebenso Phil. 12 A, Lach. 187 C ei he ßouXoiu^voic ü|aiv ^cxi Trepi tüjv toioOtujv ^poiTäcGai xe Kai öi- bövai Xö"fov, auTouc bi] xpil TiT^uücKeiv. Vgl. auch Heindorf zu Gorg. 505 C, der aus Lucian Dial. Deor. IV, 5 anführt auröc dv eibenic (das überlasse ich dir)- i'fih be KOiurjcouai.
Kritik der älteren Philosophen 89
Achtung von dem Parmenides: „Ich scheue mich zwar schon den Melissos und die übrigen, welche das All als ein stillstehendes Wesen bezeichnen, zudringlicherweise zu prüfen: vor ihnen allen jedoch weniger als vor dem einen Parmenides. Parmenides kommt mir, mit Homer zu reden (11.111 172), <''ehrwürdig vor und gewaltig zugleich >. Denn ich verkehrte mit dem Manne, als ich noch jung war, er schon ein Greis, und da schien er mir eine wahrhaft adlige Tiefe zu besitzen." Aber diese Ehrfurcht ist, wie die letzten Worte zeigen, weniger ein Tribut an die grauen Haare als an den Adel des Geistes. Kommt es auf Prüfung der Wahrheit an, so entscheidet diese allein. Das Ältersein ist dann unter Umständen nur eine Handhabe zum Scherz. Als in dem nämlichen Gespräch (Theät. 171 CD) die Lehre des Protagoras durch die schonungslose Kritik des Sokrates völlig ver- nichtet zu werden droht und der Mitunterredner Theodoros, ein leises Mitleiden verspürend, in die Worte ausbricht: „Wir bestürmen doch unseren Freund Protagoras gar zu unsanft", da erwidert Sokrates: „Doch, mein Lieber, ist es ungewiß, ob wir auch gegen die Wahrheit selbst anrennen. Freilich ist aller Wahrscheinlichkeit nach jener auch weiser (ganz die nämliche Ironie wie Legg. 888 E) als wir, da er ja älter ist. Ja, wenn er plötzlich von da unten bis an den Nacken in die Höhe tauchte (An- spielung auf den Ertrinkungstod des Protagoras), würde er mir, wie sich denken läßt, vielen Unsinn nachweisen, den du gut geheißen hättest, und dann wieder in die Tiefe versinken, und auf und davon eilen. Wir aber müssen, denke ich, uns auf uns selber stellen, wie schwach auch unsere Kräfte sind, und immer unsere Überzeugung aussprechen."
Und welche Ironie liegt in folgenden Worten des nämlichen Dialoges, die sich auf die Kritik der Ansichten einerseits der Herakliteer, anderseits der Eleaten beziehen (Theät. 181 B): „Sollten sich aber beide Ansichten als ungebührlich erweisen, so würde es lächerlich sein, wollten wir un- bedeutenden Leute hierüber selbst etwas vorbringen zu können uns ge- trauen, nachdem wir uralte, hochweise Männer in der Prüfung hatten durchfallen lassen."
Piaton weiß das Gute an seinen philosophischen Altvordern nicht nur zu würdigen, sondern weist ihm auch seinen Platz in seinem eigenen System an. Aber über ihre Schwächen schonend hinwegzugehen, ver- trägt sich weder mit seinem Wahrheitssinn, noch mit seiner Lust am Kampfe. Derjenige Dialog, der uns am eingehendsten Auskunft gibt über seine Stellung zu den alten Philosophen, ist der Sophistes. Kann es nun etwas Anmutigeres und Reizenderes geben als die Art, wie Piaton (242 C ff.) die physikalischen Ansichten dieser Früheren zugleich kennzeichnet und belächelt? „Parmenides scheint es sich bei der Belehrung an uns bequem
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gemacht zu haben, und so jeder, der je sich daran machte, die Arten des Seienden nach Zahl und Qualität zu bestimmen. Jeder erzählt uns, so kommt es mir vor, eine Art Märchen, als wären wir Kinder; der eine, das Seiende sei dreifach, und manchmal führten einige Teile davon unter- einander Kriege, ein andermal aber machten sie Freundschaft und fingen an sich zu heiraten, Kinder zu zeugen und großzuziehen. Ein anderer sagt, es seien ihrer zwei: Nasses und Trockenes, oder Warmes und Kaltes, und die vermählt er und stattet er aus: der Eleatenschwarm aber bei uns zu Lande (der Gesprächsführer ist ein eleatischer Fremder), von Xeno- phanes an und noch früher, legt seine Märchen so an, als wäre nur Eines, was man so Alles heißt. Ionische und sikelische Musen ^) ferner haben sich später ausgedacht, man gehe am sichersten, wenn man beide ver- binde und sage, daß das Seiende Vieles und auch Eines sei und durch Feindschaft und Freundschaft zusammengehalten werde. Denn stets sich trennend geht es stets zusammen, sagen die gestrengeren Musen; die sanfteren aber lassen darin, daß das stets so sei, etwas nach. Sie meinen, abwechselnd sei das All bald einmal Eins und Freundschaft durch Aphro- dites Kunst, bald Vieles und sich selber Feind um eines großen Streites willen. Ob nun einer von ihnen in all diesen Dingen recht hat oder nicht, ist schwer zu entscheiden, und taktlos wäre es, in so wichtigen Dingen so hochgeehrten Männern des Altertums Vorwürfe machen zu wollen. Die offene Erklärung aber wird man uns nicht übel nehmen, daß sie über uns, die große Masse, allzuhoch hinweggesehen undunsnicht geachtet haben. Ohne sich darum zu kümmern, ob wir ihren Sätzen folgen oder ob wir zurückbleiben, bringt jeder von ihnen den seinen zu Ende."
Das hat auch dem Aristoteles gut gefallen. Wenigstens glaube ich, daß folgende Worte seiner Metaphysik (Met. 1000'* 9 ff.) nicht ohne Erin- nerung an diese letzten Worte unserer Sophistesstelle geschrieben sind: „Hesiod und die alten Theologen berücksichtigten bei den Fragen über die Anfänge des Vergänglichen und Unvergänglichen nur, was ihnen glaubhaft schien und berücksichtigten uns nicht. Indem sie die Anfänge zu Göttern machten und aus den Göttern entstehen ließen, ist das, was den Nektar und Ambrosia nicht genossen hat, das Sterbliche geworden, wobei sie offenbar diese Ausdrücke als ihnen geläufige be- nutzten. Indes geht das, was sie weiter über die Anwendung dieser
1) Damit sind Heraklit und Empedokles gemeint, von denen der erstere hier als der strengere bezeichnet wird, weil Heraklit die Gegensätze immer in der Einheit gebannt hält, während Empedokles abwechselnd das Viele aus dem Einen und dann wieder das Eine aus dem Vielen hervorgehen läßt.
Eine Sophistesstelle 91
Prinzipien sagen, über unsere Fassungskraft hinaus" usw. Die Ironie des Aristoteles ist nicht nur im allgemeinen auf den Ton des Piaton gestimmt, sondern bedient sich genau derselben Mittel: die hochbegabten Alten beurteilten die Intelligenz der Nachwelt nach ihrem eigenen Geist und glaubten uns späten Nachfahren eine Fassungskraft zutrauen zu dürfen, die wohl ihnen zukam, aber nicht uns.
Wer einige Auffassung hat für den launigen und neckischen Ton dieser ganzen geschichtlichen Betrachtung des Piaton, der wird mir, glaube ich, nun auch beistimmen in der Deutung einer Stelle, die den Erklärern das größte Kopfzerbrechen gemacht hat. Nachdem nämlich Heraklit, Empe- dokles und die Eleaten in munterem Zuge an uns vorübergeführt worden sind und manches heitere Scherzwort über sich haben ergehen lassen müssen, kommt nunmehr die Reihe an die Materialisten und Idealisten. Den Übergang bilden folgende Worte ^): „Diejenigen, welche über das Seiende und Nichtseiende ganz genaue Bestimmungen geben (bia- KpißoXoTou|Lievouc), haben wir zwar nicht alle durchgenommen, aber das Gesagte mag genügen; nun muß man diejenigen ins Auge fassen, die anders reden, um aus allem zu erkennen, daß das Wesen des Seienden nicht leichter zu bestimmen ist als das des Nichtseienden."
Es werden also hier Heraklit, Empedokles und die Eleaten als die- jenigen, „welche ganz genaue Bestimmungen geben", in Gegensatz gestellt zu den Materialisten und Idealisten als denjenigen, welche „anders reden", d. h. sich anders über den Gegenstand erklären. Wie ist das zu verstehen? Sind die ersteren nicht mit höflichem Spotte soeben mehr oder weniger als Fabeldichter abgefertigt worden? Und zeigen nicht anderseits die Philosopheme der Materialisten und Idealisten, mag man sonst über sie denken, wie man will, eine vergleichsweise viel strengere wissenschaftliche Haltung als jene? Verschmähen sie nicht das Dichte- rische in Inhalt und Form? Wem kommt also, ernst genommen, das Lob des biaKpißo\oTeicGai, des „ganz genau Bestimmens" zu? Gewiß den letzteren.
Dieser Schwierigkeit haben Bonitz^) und vor ihm schon Deuschle (und ähnlich schon viel früher Heindorf) dadurch zu entgehen gesucht, daß sie bmKpißoXoTou^evouc erklärten als „genaue Bestimmungen über die Zahl des Seienden geben", im Gegensatz zu den Materialisten und
1) Soph. 245E: xouc uev toivuv öiaKpißoXoY ou uevouc övtoc xe irepi Kai ILir] Trdvxac ,uev ou bie\r|\ü9a|uev, öjuuuc be iKavOüc exexuu* xouc 5' ä\\a»c Xeyovxac au Geaxeov, iv' Ik Trdvxuuv ibuü|uev, öxi xö öv xoü uV] övxoc oüöev euiropuux'epov elireiv ö xi Trox' e'cxiv.
2) Bonitz, Platonische Studien 2. Aufl. S. 153ff.
92 Piatons Humor
Idealisten, die keine bestimmten Zahlen für ihr Seiendes angeben, sondern nur eine unbestimmte Vielheit annehmen und ihr Seiendes vielmehr qua- litativ bestimmen. Allein abgesehen davon, daß der Begriff der Quantität (der Zahl) rein willkürlich in das Wort biaKpißoXo'feicGai hineingetragen wird, ist es durchaus verfehlt und wider die ausdrücklichen Erklärungen Piatons, zu behaupten, er habe jene Philosophen nur mit Rücksicht auf die Quantität des Seienden besprochen. Ist nicht deutlich genug von qualitativen Bestimmungen wie lö Oepjuöv und ijjuxpüv (243 D) die Rede gewesen? Und sagt nicht Piaton selbst (242 C) von jenen Philosophen, die hier als öiaKpißoXoToOuevoi gekennzeichnet werden, irdc öctic TTuuTTOTe eTTi Kpiciv Lupiurjce tou xd övia biopicacGai Tiöca le xai TTOid ecii? Denn die Ausflucht, dies Ttoia sei nicht auf die genannten Philosophen, sondern auf die dXXuuc XefovTec zu beziehen, ist für jeden, der die Stelle unbe- fangen ansieht, durchaus unzulässig.^)
Erwägt man nun dies alles, nämlich einerseits das heitere Gepräge, das dieser ganze Abschnitt an sich trägt, anderseits die Schwierigkeiten des biaKpißoXoT€Tc0ai, so drängt sich uns bei einigem Nachdenken als die einzig mögliche Lösung mit einem gewissen inneren Zwang die auf, daß dies biaKpißoXo-feicGai nur die Fortsetzung der Schelmerei ist, die im ganzen vorhergehenden Abschnitt ihr Wesen treibt. „Jene alten Philo- sophen geben ganz genau Bescheid über das Seiende." Man betone nur recht die hervorgehobenen Worte und es klärt sich sofort alles auf. Erstens die Wahl des Wortes selbst. Im ganzen Piaton kommt dies Wort» wie es denn überhaupt in der griechischen Literatur äußerst selten ist"), nur noch ein einziges Mal vor, nämlich Tim. 38 B. Schon das Außer- gewöhnliche dieser Wortwahl, verbunden mit der gewissermaßen gehäuften Bedeutung der „völligsten Genauigkeit", die ihm anhaftet, deutet darauf hin, daß Piaton hier einen ganz besonderen Zweck mit dem Ausdruck im Auge hatte. Zweitens wird mit einem Ruck dadurch der dicke Nebel verscheucht, der sich um diese Stelle herumlagerte. Man kann das humo- ristische Kolorit der Stelle noch mehr hervortreten lassen durch folgende Übersetzung der Worte biaKpißoXoTouiaevouc toO övtoc Tiepi: „diejenigen, die ganz genau Auskunft zu geben wissen über das Seiende". Nun er- kennt auch der Blinde, worauf Piaton hinaus will. Er will diese lonier.
1) Man vgl. die Bemerkung Campbells in seiner Ausgabe zu dieser Stelle, ebenso wie meine Bemerkung in meiner Ausgabe.
2) Bei Passow ist außer Piaton nur noch eine Stelle bei Cassius Dio an- geführt. Bei Aristoteles kommt es nie vor, während biaKpißoüv und bmKpißoü- cGai bei diesem sowohl, wie schon bei Früheren und dann bei Späteren öfters begegnet.
Deutung der Stelle 93
Sikelioten und Eleaten als solche bezeichnen, die sich anstellten, als ob sie bei der Schöpfung selbst mit zugesehen hätten und die genauesten Zeugenaussagen darüber geben könnten. „Sie belauschten der Dinge geheimste Saat", das hört man aus Piatons Ausdruck bei einiger Acht- samkeit deutlich herausklingen und meint ihn fast zu sehen, wie er lächelnd und vergnügt dabei dreinschaut.
Wir haben bei der viel umstrittenen Stelle etwas lange verweilt; aber sie verdiente es auch. Denn sie ist gründlich verkannt worden und, wenn richtig gedeutet, besonders charakteristisch für die ganze Darstellungs- weise Piatons.
Der Dialog Sophistes, dem die besprochene Stelle angehört, wirkt im ganzen mehr ermüdend und abstoßend als erfrischend und anziehend auf den Leser. Das bringt die eigentliche Bestimmung des Gespräches als eines dialektischen Übungsstückes (vgl. Polit. 285 D) so mit sich. Aber selbst die mühevolle Wanderung durch dieses dornenvolle Gefilde hat uns Piaton durch die Gaben seines Humors so weit wie irgend möglich zu erleichtern gesucht. Das eben Besprochene bot eine Probe davon. Aber auch der ganze erste Teil, wenngleich noch so abschreckend durch die geradezu erbarmungslose Hartnäckigkeit des Einteilungsverfahrens, wird doch wieder einigermaßen schmackhaft gemacht durch die Kunst, mit der von den verschiedensten Seiten her die Sophistik wie ein eifrig gesuchtes Wild - das bei Piaton so beliebte (vgl. Lach. 194 B, Lys. 206AB u. ö.) Bild der munteren Jagd spielt dabei eine große Rolle — aufgespürt wird und sich dabei immer wieder als das Gegenteil eines „edelen" Wildes erweist. Auf eine andere, verstecktere und darum von vielen verkannte, für die Auffassung der platonischen Philosophie ungemein bedeutungs- volle Äußerung seines Humors in diesem Dialog wird es passender sein an anderer Stelle^) einzugehen.
Ähnlich wie mit dem Sophistes steht es mit dem Parmenides. Ist hier der Hauptteil auch ein reines dialektisches Exerzitium, so ermangelt da- für doch der einleitende Teil nicht mancher Züge neckischer Schalkhaftig- keit. Hat man ein Auge für diese Art des Versteckenspielens, die Piaton so liebt, so wird man eine Vermutung nicht völlig abweisen wollen, die sich mir schon vor vielen Jahren bei eingehender Beschäftigung mit diesem Dialog bot. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Werkes, das neuer- dings wieder in seiner eigentlichen Bedeutung völlig verkannt worden ist und vermutlich nie aufhören wird, die Geister zu necken und irrezuführen, bieten meiner Ansicht nach die Worte des Zenon, die er S. 128 B-E spricht:
1) Vgl. p. 24ff. dieses Buches.
94 Piatons Humor
„Du magst wohl recht haben, Sokrates, nur aber hast du denn doch derr wahren Standpunkt meiner Schrift nicht durchweg richtig erkannt, so sehr du auch wie ein tüchtiger lakonischer Jagdhund die Fährten meiner Dar- stellung verfolgst und ihr bis in ihre Schlupfwinkel nachspürst. Denn zu- vörderst bist du darin im Irrtum: meine Schrift will gar nicht so ernst und großartig auftreten, als wollte sie, während sie wirklich in der von dir angegebenen Absicht geschrieben ist, den Leuten diesen Zweck ver- bergen und dieselben glauben machen, als führe sie noch etwas ganz Besonderes im Schilde. Vielmehr ist dies nur ein ganz zufälliger Schein von ihr, und in Wahrheit ist sie bestimmt, eben dem Satze des Parme- nides zu Hilfe zu kommen gegen diejenigen, welche ihn lächerlich machen zu können glauben, indem sie meinen, der Satz, es gebe nur Eines, ver- wickle sich notwendig in vielerlei Ungereimtheiten und Widersprüche mit sich selbst. Eben deshalb wendet sich also diese Schrift gegen diejenigen^ die da vielmehr behaupten, es gebe Vieles, und gibt ihnen jene ihre Vor- würfe in noch verstärktem Maße zurück, indem sie zu zeigen sucht, daß ihre Voraussetzung, es gebe Vieles, noch weit größere Ungereimtheiten nach sich zieht, wenn man derselben nur gehörig zuleibe geht, als die,, es gebe nur Eines. In solcher Art von Streitlust ward sie von mir, da ich noch Jüngling war, geschrieben, und da entwendete mir jemand das Manuskript, so daß mir nicht einmal erst zu überlegen vergönnt war, ob ich dasselbe überhaupt ans Licht ziehen solle oder nicht. In der Be- ziehung also, 0 Sokrates, bist du im Irrtum, daß du dies Buch nicht von der Streitlust eines Jünglings, sondern von dem Ehrgeiz eines gereiften Mannes geschrieben glaubst, obgleich du im übrigen, wie schon bemerkt^ dasselbe nicht übel abgeschildert hast."
Glaubt man in der Tat, daß damit die Schicksale der wirklichen Zeno- nischen Schrift geschildert sind? Dagegen ließe sich so viel sagen, daß es hier nicht ausgebreitet werden kann. Glaubt man überhaupt, Piaton habe von dergleichen Dingen Kenntnis, oder angenommen auch dies, ein Interesse daran gehabt, gerade hier so ausführlich davon zu berichten? Ist doch die ganze Zusammenkunft der Philosophen, wie man einigen Grund hat anzunehmen, eine bloße Fiktion. Doch damit verhalte es sich> wie man will. In unserem Dialog ist die Rolle, die Zenon spielt, eine ganz kurze. Man braucht keine besonders scharfe Brille aufzusetzen, um zu erkennen, daß er in den Dialog nur eingeführt ist, um uns in echt plato- nischer Weise (so wie sich z. B. im Symposion hinter der Diotima Piaton selbst verbirgt) Andeutungen über Bedeutung und Zweck des platonischen Dialogs selbst, vor allem des zweiten Teiles zu geben, der ja mutatis miitandis in der Tat nichts anderes ist als eine eigenartige Nachahmung
Der Dialog Parmenides 95
des Zenonischen Verfahrens. Piaton gibt uns unter der Maske des Zenon Winke über die Entstehung und Schicksale unseres Dialoges, dessen Hauptteil, ursprünglich bloß teils zu eigener Übung, teils zur Abwehr von Einwendungen befreundeter Gegner gegen seine Lehre geschrieben, durch irgendwelche Indiskretion an andere gekommen war. Wie sie war, konnte sie den mannigfachsten Mißdeutungen ausgesetzt sein. So hielt es Platon für geraten, später sie selber herauszugeben, aber etwas überarbeitet und erst jetzt durch den einleitenden Teil ergänzt^). Auf jeden Fall behaupte ich, daß diejenigen in einer großen Selbsttäuschung befangen sind, die in dem zweiten Teil des Parmenides tiefere metaphysische Geheimnisse suchen.
Haben wir verschiedenartige Gebiete durchwandert, um Spuren von Piatons neckender Kunst aufzuweisen, so werfen wir zum Schluß noch einen kurzen Blick auf die das Universum leitenden Mächte. Denn selbst diese sind nicht zu erhaben, um seine schalkhafte Ader ins Spiel zu setzen. Hat Platon eine böse Weltseele neben der guten angenommen? Wenn man blindlings zugreifend ihn beim Worte faßt (Legg. 896 E), dann „Ja"; gibt man sich die Mühe etwas schärfer zuzusehen, dann „Nein". Es ist nicht Piatons, sondern seiner Ausleger Schuld, wenn manche derselben ihn dahin mißverstehen konnten, daß sie ihn an den Teufelsspuk glauben ließen. Platon hat für den, der sehen will, hinreichend dafür gesorgt, diesem Irrtum vorzubeugen. Er macht nur ganz ironisch für den Augen- blick die Annahme, die er ja gar nicht im eigenen Namen vorbringt, sondern im Namen seiner Mitunterredner (uirep cqpujv), denen er sie seiner- seits in den Mund legt, um sie alsbald auf das kräftigste zu widerlegen. Platon war kein Pessimist, viel weniger noch ein Teufelsbekenner^). Ja, Anwandlungen von Weltschmerz mag er bisweilen gehabt haben — welches reicher angelegte Gemüt hätte sie nicht? — , aber was ihm darüber hin- weghalf, das war eben sein nie versiegender Humor.
1) Vgl. meine Beiträge zur griechischen Philosophie S. 47 und 58f. Die neuerdings durch Veröffentlichung des Theätetkommentars bekannt gewordene Notiz von einem zweiten, „unechten" Proömium. zum Theätet scheint mir, neben- bei bemerkt, die Möglichkeit keineswegs auszuschließen, daß Platon selbst beide Proömien verfaßt hat, das unsrige bei Gelegenheit einer neuen Ausgabe; das alte Proömium konnte dann recht wohl als unechtes bezeichnet werden.
2) Vgl. Jahrb. f. Philol. 1895 S. 269 f.
V. DIE TAKTIK DES PLATONISCHEN SOKRATES.
Nicht ein Bild des Sokrates überhaupt zu zeichnen soll die Aufgabe dieses Aufsatzes sein. Wir würden uns damit in einen Wettbewerb be- denklichster Art mit zahllosen Vorgängern einlassen. Es gibt kaum eine Gestalt der Weltgeschichte, die zu so vielen literarischen Abbildungen Anlaß gegeben hätte, wie Sokrates. Von der schlichten Silhouette bis zum farbenprächtigen Idealbild, von der flüchtigen Federzeichnung bis zum feierlichen Porträt — welche denkbare Abstufung der Wiedergabe fände sich nicht für Sokrates in der Weltliteratur vertreten? Unser Ziel ist ein ungleich bescheideneres. Wir haben es nur abgesehen auf den platonischen Sokrates, und auch von diesem sind wir weit entfernt, ein Vollbild geben zu wollen: wir wollen nur versuchen, die taktische Methode, d. h. gewisse Kunstgriffe zu veranschaulichen, deren sich der platonische Sokrates als Führer des Dialogs bedient.
Cicero hat uns in seiner Republik (I, 3) einen schönen Ausspruch des edlen Xenokrates aufbewahrt, der es verdiente als Motto über jedes Lehrbuch der Ethik gesetzt zu werden. Als man nämlich den Xenokrates fragte, was denn seine Schüler bei ihm erreichten, soll er geantwortet haben: „daß sie aus freien Stücken so handelten, wie es die Gesetze unter Androhung von Gewalt beföhlen (ut id sua sponte facerent, quod cogerentur facere legibus)."
Damit ist in der Tat das wahre Ziel aller Ethik bezeichnet. Sie soll die Menschen dahin bringen, daß sie aus eigener Überzeugung und aus eigenem freien Willen das Gute und Rechte tun. Zugleich aber liegt darin der Hinweis auf den geschichtlich und psychologisch ungemein wichtigen Gegensatz zwischen natürlicher und bewußter Sittlichkeit. Die zum recht- mäßigen Handeln zwingenden Gesetze, auf die der Spruch des Xenokrates Bezug nimmt, sind hier im Grunde nichts anderes als der Ausdruck für das, was sich einem der Roheit entwachsenen, bildungsfähigen Volke auf Grund des natürlichen Gefühles für das Rechte und Ziemende zu bindender sittlicher Norm in Herkommen und Gesetz ausgestaltet hat. Dies natürliche Sitten- und Rechtsgefühl wird bei fortschreitender geistiger Entwickelung, namentlich auch unter dem Einfluß mehr oder minder un- klarer oder unreifer philosophischer Regungen und Erörterungen, not-
Aufgabe der Ethik nach Xenokrates 97
wendig mit der Zeit aus seiner Ruhe und Selbstgewißheit aufgestört und ins Wanken gebracht werden. Der Mensch wird sich der freien Macht seines Verstandes mehr und mehr bewußt und damit schwindet die un- bedingte Achtung vor der Autorität des Herkommens und Gesetzes. Stolz auf die Kraft des erwachenden eigenen Urteils in Sachen der Sitt- lichkeit und des Rechtes, dabei aber noch unbekannt mit der Einrichtung des menschlichen Geistes, der neben der beweglichen Urteilsfähigkeit auch den festen Widerhalt für die Richtigkeit des Urteils in sich trägt, gibt er sich zuversichtlich und vermessen dem Genüsse der Freiheit hin. Die Willkür des Urteils wähnt sich erhaben über die bindende Regel der Vernunft.
So wird es bei jedem geistig geweckten Volke sein, so war es vor allem bei dem geistvollsten Volke der Erde, bei den Griechen. Erst einer erstarkenden, zu voller Gesundheit gelangten Philosophie kann es all-, mählich gelingen, die Menschen darüber aufzuklären, daß hinter aller Subjektivität des Urteils gewisse objektive Forderungen der Vernunft stehen als fester Hintergrund, von dem sich das Urteil, mag es noch so frei und willkürlich schalten und walten, doch nie ganz loslösen kann. Richtig geleitete Reflexion führt in Fragen der Sittlichkeit und des Rechtes am letzten Ende auf das zurück, was das unmittelbare Gefühl von vorn- herein als das Richtige anerkannt hatte. So erhält der suchende Mensch aus der Hand des völlig aufgeklärten Verstandes zurück, was ihm der bloß der Willkür des Urteils folgende Verstand geraubt hatte. Aber das bedeutet zugleich eine unschätzbare Erhöhung des Wertes: was früher gedankenlos, sei es als Überlieferung, sei es als selbstverständlicher innerer Trieb, hingenommen wurde, ist nunmehr zum bewußten und da- mit gegen den Angriff gewappneten Besitz geworden.
Wenn Xenokrates diesen überaus richtigen und wichtigen Blick in das Wesen der Sittlichkeit und der sittlichen Belehrung tat, so war er doch nicht der erste unter den Griechen, der diesen Standpunkt vertrat. Er sprach nur klar und treffend aus, was der Sache nach bereits S o k r a t e s gedacht und geübt hatte.
Des Sokrates Wirksamkeit fiel eben in die Zeit, in der sich in Griechen- land die große Bewegung der Geister in der Richtung auf völlige Un- gebundenheit des Urteils vollzog. Er war es, der allen begehrlichen An- sprüchen des Geistes auf unbedingte Gültigkeit des Urteils, wie sie durch den Einfluß der Sophisten so wirksam vertreten wurden, das unvertilg- bare Recht der objektiven Vernunft entgegenzusetzen den Mut, die Kraft und die Einsicht hatte. Nach seiner Überzeugung galt es nicht nur die Stimmführer des neuen Zeitgeistes zu bekämpfen und, wenn möglich, zu
Apelt: Platonische Aufsätze. 7
98 Die Taktik des platonischen Sokrates
überwinden, sondern vor allem auch die heranwachsende Jugend wider- standsfähig zu machen gegen die Gefahren dieses Zeitgeistes. Also auch noch unbefangene, von dem Gift der Zeit noch nicht berührte oder wenigstens noch nicht verdorbene Gemüter von edler sittlicher Anlage durfte er sich nicht scheuen zum Nachdenken über sich selbst anzuregen, auf die Gefahr hin, sie der Unruhe des Zweifels preiszugeben. Denn der Zeitgeist war zu stark, um sie nicht doch zu ergreifen und sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Besser, dies geschah von ihm, als von gegne- rischer Seite. Denn er war sich bewußt, sie auf den Weg hinweisen zu können, der zur Heilung führt: ö Tpuucac Kai idceiai.
Dies war die Lebensaufgabe des Sokrates. Wenn Piaton uns nun das Bild seines großen Lehrers durch die Kunstform des Dialogs lebendig erhalten wollte, so mußte seine künstlerische Gestaltungskraft darauf ge- richtet sein, dem Sokrates in der Gesprächsführung eine Taktik zu leihen, die sich der Erfüllung jener Lebensaufgabe wie ihr natürliches und eben darum auch wirksamstes Werkzeug anpaßt. Von dieser Taktik wollen wir versuchen eine Vorstellung zu gewinnen. Nicht also die Philo- sophie, sei es des Sokrates, sei es des Piaton, als solche kommt hier in Frage, sondern eine gewisse Technik des dialogischen Verfahrens, und dies auch nur insoweit, als es sich um jene Lebensaufgabe des Sokrates handelt.
Wir haben in obigem bereits die beiden Kategorien von Mitunter- rednern angedeutet, auf die es für unsere Frage wesentlich ankommt, nämlich L Jünglinge, die für den Standpunkt des Sokrates zu gewinnen sind, 2. Sophisten und Rhetoren, also prinzipielle Gegner des Sokrates. Man kann nun bei einiger Achtsamkeit das Verfahren des platonischen Sokrates beiden gegenüber auf einen gemeinsamen Gesichtspunkt bringen, der sich füglich in die Stichworte zusammenfassen läßt: Spaltung und Verdoppelung. Spaltung auf selten des oder der Mitunterredner, Ver- doppelung oder Vervielfältigung auf selten des Sokrates.
In die Seele eines edlen Jünglings weiß dieser Sokrates den Stachel zu senken, der das Nachdenken und damit die Verwunderung über die eigene bisherige Unklarheit weckt. Er macht aus dem Einen gewisser- maßen Zwei, läßt den neuen Menschen seinen (des Sokrates) Bundes- genossen werden und überwindet zusammen mit ihm den alten. „So mache ich denn", sagt Hippothales im Lysis (206 B) zu Sokrates, „mit dir nun gemeinschaftliche Sache, und wenn du etwas anderes weißt, so gehe mit mir zu Rate, welche Gespräche einer führen, und was er tun müsse, um dem Liebling befreundet zu werden." Solche Stimmung zu erwecken wird dem Sokrates nicht schwer. Durch eine meist auf eine
Spaltung und Verdoppelung- 99
Begriffsbestimmung abzielende Frage nötigt er dem jungen Gesprächs- partner eine Antwort ab, an die er seine in der Regel durch einleuchtende Beispiele induktorisch gewonnenen Einwände anknüpft. Durch Verglei- chung, Entgegensetzung, mannigfache Schlußfolgerungen wird die Ver- handlung in einen lebhaften Fluß gebracht und das Interesse nicht bloß des Partners, sondern auch der Zuhörer entsprechend gesteigert. Man denke z. B. an die reizende kleine Szene im Lysis (213 D), wo dem augen- blicklich zwar nicht unmittelbar als Gesprächsführer beteiligten, aber doch gespannt folgenden Lysis unwillkürlich ein Wort der Beistimmung zu des Sokrates Bemerkung über den bisherigen unbefriedigenden Verlauf der Untersuchung entschlüpft. Indem die Mitunterredner selbst alles mit zu finden scheinen, müssen sie die Ergebnisse auch als die ihrigen aner- kennen. Sie werden unwillkürlich zu Vertretern der Gedanken des Sokrates selbst. Und ist das Ergebnis der Untersuchung nach des Sokrates Urteil auch noch so unbefriedigend, so ist es für ihn doch schon reich- licher Gewinn, sich mit dem Partner identifizieren zu können. „Fast will es mir scheinen", sagt er im Dialog Menon (96 E), „mein Menon, daß wir, du und ich, nicht viel miteinander taugen, und daß dich Gorgias, wie mich Prodikos, noch nicht gehörig geschult hat." Der Partner muß für alles Bisherige auch selbst mit einstehen. Das ist eine der unverbrüch- lichsten Maximen seines Verfahrens (vgl. z. B. Gorg. 466 E. 468 C; Men. 85 B).^) Mag der Dialog „Alkibiades der Erste" auch unecht sein, so weiß der Verfasser desselben doch sehr gut Bescheid mit diesem Haupt- kunstgriff des platonischen Sokrates. Es ist ganz im Sinne desselben, wenn nach längerer Erörterung Sokrates (113B) erklärt, daß „der schöne Alkibiades, der Sohn des Kleinias", selbst von sich behauptet habe, daß er von Recht und Unrecht nichts verstehe — denn darauf zielte die vor- hergehende Erörterung ab. „Dein war das Wort, das du gehört, das meine nicht", fügt er, aus Euripides zitierend, mit überlegenem Humor hinzu. Alkibiades gehört bekanntlich nicht zu den Musterschülern des Sokrates. Und so ist denn auch hier seine Beistimmung zu des Sokrates siegesgewisser Behauptung keine besonders freudige; sie klingt noch etwas schwächer als unser „Ich kann es nicht leugnen". Aber er fühlt sich doch unter dem Bann der sokratischen Geistesmacht.
1) Diese Verschmelzung seiner Sache mit der des Gegners durch Wendungen wie „nicht bloß ich, sondern auch du bist dieser Meinung", oder „wie ich und du meinen", oder „wie wir beide meinen" sind dem platonischen Sokrates sehr geläufig z.B. Gorg. 472 C. 474 B. 495 E. 517 C; Rpl. 608 D, sie finden sich aber auch in Dialogen, wo er nicht Gesprächsleiter ist, z.B. Polit. 278 E. 286 C; Soph. 233 E.
l(^ Die Taktik des platonischen Sokrates
Der platonische Sokrates versteht es trefflich, das bessere Ich des Menschen gegen das sinnliche Ich zum Kampfe aufzurufen, bei Jünglingen aber von minder bedenklichem Temperament als Alkibiades (wie z. B. Lysis und Charmides) die „natürliche" (qpuciKr) oder unbewußte) Tugend, um mit Aristoteles zu reden, zur „eigentlichen** (Kupia, d. i. bewußten) zu erheben. Er macht sie mit sich uneins, um sie erst halb, dann, wenn es gut geht, ganz auf seine Seite zu bringen. „Divide et impera*' wäre also das Wort, das hier in gewisser Weise seine Anwendung findet.
In erhöhter Lebhaftigkeit, gewürzt mit entsprechend verstärkter Ironie, tritt uns diese Taktik entgegen, wenn es sich um Auseinandersetzung oder Kampf mit Rabulisten, Sophisten und Rhetoren handelt. Den Gegner mit sich in Widerspruch zu bringen, ist das erste, was er mit bekanntem Geschick unternimmt. Und ist er so weit, so hat er, ein guter Zauberer, ein sehr einfaches Mittel, um den Einen als zwei leibhaftige Wesen er- scheinen zu lassen. Es ist die bloße Kunst des Ausdruckes, durch die er dies zu erreichen weiß. Als Kallikles im Gorgias die Ausführungen des Sokrates nicht ernst nehmen will, sagt Sokrates mit großer Bestimmt- heit zu ihm (482 B): „Entweder überzeuge die Hörer, daß nicht das Un- rechttun und Straflosigkeit für das Unrechttun das allerschlimmste Übel ist, oder, wenn du das unwiderlegt lassen willst, beim Hunde, dem Gotte der Ägypter, so wird Kallikles nicht mit dir übereinstimmen, mein Kalli- kles, sondern für das ganze Leben mit dir in Zwiespalt sein." Indem er sich dieser Wendung bedient und nicht der herkömmlichen „Du wirst mit dir in Widerspruch bleiben**, nötigt er uns geradezu mit Gewalt die Vor- stellung zweier getrennter Wesen auf. Und daß der so gekennzeichnete Gegner selbst einigermaßen vor sich erschrecken muß wie vor dem „anderen Gesichte", versteht sich von selbst.
Auch die prahlerischsten Gegner werden durch dies Mittel der Spal- tung ihres eigenen Selbst in zwei miteinander unverträgliche Wesen, in zwei Seelen, deren eine Sokrates, wie ein umgekehrter Mephisto, alsbald für sich in Beschlag nimmt, zu Gefolgsmännern, wenn auch noch so widerwilligen, des Sokrates gemacht. Sein scharfer, nie versagender Ver- stand läßt ihn sofort die empfindlichste und verwundbarste Stelle am Leibe des Gegners erkennen; auf sie richtet er seinen Pfeil und die Wirkung ist um so drastischer, je dreister und selbstbewußter das Auf- treten desselben war. Er weiß es: die Korona der Zuhörer, an denen es bei solchen Disputationen nie fehlte, ist durch die überzeugende Kraft seiner Beweisführung schon auf seine Seite gebracht, und dieser Umstand verfehlt nicht, einen merklichen Druck auf die Stimmung des Gegners auszuüben. „Ich werde nicht mehr gegen dich auftreten, damit ich nicht
Herüberziehen des Gegners 101
diese (die Zuhörer) zu Feinden bekomme", sagt der kleinlaut gewordene Thrasymachos in der Republik (352 B). An ihm hat uns Piaton ein klas- sisches Beispiel gegeben für die Demütigung eines Maulhelden durch Sokrates. „Thrasymachos", so berichtet Sokrates (350 D), „gab das alles zu, aber nicht so leicht, wie ich es jetzt erzähle, sondern sich sperrend und mit Mühe, unter unsäglichem Schweiße, weil es ohnehin ein Sommer- tag war; damals sah ich auch zum erstenmal in meinem Leben den Thrasymachos rot werden." Da Thrasymachos schließlich zu allem, was Sokrates behauptet, hat Ja sagen müssen, so nimmt Sokrates keinen An- stand, ihn als einen Bundesgenossen zu betrachten, und er ist es auch tatsächlich wenigstens insoweit, als er nichts mehr gegen Sokrates vor- zubringen wagt. Einen späteren Versuch des Adeimantos, den Thrasyma- chos wieder gesprächig zu machen (498 CD), weist Sokrates mit der charakteristischen Bemerkung zurück: „Entzweie doch mich und den Thra- symachos nicht, nachdem wir eben Freunde geworden sind" — „und auch vorher keine Feinde waren", fügt er mit gewohnter Ritter- lichkeit hinzu.
Dies dramatische Moment nicht der bloßen Überwindung des Gegners, sondern der Herüberziehung desselben auf seine Seite und der dadurch erzielten nicht bloß negativen Abwehr desselben, sondern der positiven, sozusagen numerischen Verstärkung seiner Sache kann man durch alle lebendiger gehaltenen Dialoge verfolgen. Immer ist es sein Bestreben, den Gegner selbst zu seinem Verbündeten zu machen, ihn in gewissem Sinne für sich (für Sokrates) arbeiten zu lassen. Er verdoppelt sich geradezu durch ihn. Dadurch objektiviert er seinen Standpunkt, der, wie durch innere Notwendigkeit, zur Sache der Allgemeinheit wird, nicht im Sinne der Beistimmung der großen Masse — um die kümmert sich Sokrates nicht — , wohl aber aller Vernünftigen. „Ich will ja auch dich, lieber Freund", sagt Sokrates zum Polos im Gorgias (473 A), „zur Über- einstimmung mit mir zu bringen suchen. Denn ich halte dich für meinen Freund." Und gleich darauf (474 A): „Denn ich weiß für das, was ich sage, nur einen einzigen Zeugen aufzustellen, meinen Gegner selbst, mit dem ich die Unterredung führe, die große Masse aber lasse ich laufen, und Einen verstehe ich zur Abstimmung zu bringen, mit der großen Masse aber unterrede ich mich gar nicht." Er weiß, daß, wenn er diesen seinen Gegner durch die Überlegenheit seiner Logik auf seine Seite ge- zwungen hat, er auch die Stimme aller Vernünftigen für sich haben wird. Besonders dramatisch spielt Sokrates diesen seinen Haupttrumpf in dem nämlichen Dialog dem Kallikles gegenüber aus (495 E): „Wohlan denn, daß wir das ja im Gedächtnis behalten, daß Kallikles aus Acharnä gesagt
102 D'6 Taktik des platonischen Sokrates
hat: angenehm und gut seien identisch, Wissen aber und Tapferkeit seien untereinander und von dem Guten verschieden." Darauf KalHkles: „Sokrates aber aus Alopeke gibt uns das nicht zu. Oder doch?" „Nein", antwortet Sokrates. „Ich denke aber auch Kallikles nicht, wenn er sich selbst richtig ins Auge faßt." Und es dauert gar nicht lange, so muß sich Kallikles als Anhänger des Sokrates bekennen.
Diese Besitzergreifung von der Person des Gegners zum Zwecke der Hilfeleistung für die eigene Sache vollzieht sich von selten des Sokrates zuweilen mit der unschuldigsten Miene von der Welt. Hat der Gegner nolens volens ein bedeutsames Zugeständnis gemacht, so kann es vor- kommen, daß Sokrates ihn alsbald an seine Seite nimmt und Arm in Arm mit ihm gegen die ganze übrige Welt Front macht, als verstünde sich das ganz von selbst, zur nicht geringen Verwunderung des nichts weniger als kampfbereiten und kampfesfreudigen Bundesgenossen. Kaum hat Protagoras in dem gleichnamigen Dialog in ziemlich gewundenen Worten (352 DE) eingeräumt, daß Weisheit und Erkenntnis das mächtigste von allen menschlichen Dingen seien, so erklärt Sokrates: „Nun weißt du aber doch, daß die Mehrzahl der Menschen mir und dir nicht glaubt, sondern behauptet, daß viele, obschon sie das Bessere kennen, es doch nicht tun wollen, da sie es doch könnten, sondern dem zuwiderhandeln. Wohlan, so versuche denn mit mir, den Leuten eine richtigere Überzeugung bei- zubringen." Man begreift, daß es dem Protagoras bei dieser, wie es scheint, ganz selbstverständlichen Bundesgenossenschaft nicht recht wohl zumute ist. Er sucht, ohne das dem Sokrates Eingeräumte zurückzunehmen, der Sache eine andere Wendung zu geben, die es dem Sokrates übrigens auch gestattet, seinen Sieg vollends auszunutzen.
Höchst ergötzlich ist bei ähnlicher Sachlage das Verhalten des Sokrates gegenüber dem Frömmler Euthyphron. Nachdem er ihn Zug um Zug genötigt hat, sich zu seiner Meinung zu bekennen, stellt er ihm die Quittung darüber in folgender witziger Art aus (11 C): „Was du da sagst, Euthyphron, scheint ganz nach unserem (des Sokrates als Bildhauers) Ahnherrn Daidalos auszusehen. Und hätte ich es gesagt und behauptet, so würdest du wahrscheinlich deinen Witz an mir üben und sagen, wegen meiner Verwandtschaft mit jenem laufen auch mir meine Redebildwerke davon und wollen da, wo man sie aufstelle, nicht standhalten. So freilich - da es deine Gebilde sind — brauchst du irgendein anderes Witzwort. Denn sie wollen ja dir nicht standhalten, wie es dir sogar selber vorkommt." Zur Erläuterung sei nur kurz bemerkt, daß Daidalos als derjenige Künstler galt, der zuerst Statuen von freierer und lebens- vollerer Gestaltung schuf, so daß sie Bewegung zu haben schienen.
Protagoras • Euthyphron 103
Sokrates stellt also die Sache so dar, als sei Euthyphron selbst der Be- wegungskünstler, der aus seinem eigenen Geiste heraus seine Ansicht Schritt für Schritt geändert habe, daß sie nunmehr das Gegenteil darstelle von seiner ursprünglichen Ansicht, kurz als ob er aus eigenem Antrieb auf seine Seite getreten sei. Euthyphron hat aber bei aller Kurzsichtig- keit denn doch noch ein Gefühl dafür, daß er nur die Drahtpuppe ist, die von der Hand des Sokrates gelenkt und geleitet ward, und erlaubt sich daher zu antworten: „Nicht ich bin es, der dieses Herumgehen und Nicht- stehenbleiben an demselben Ort in die Bildwerke hineingelegt hat, son- dern du kommst mir vor wie der Daidalos. Denn was auf mich ankommt, so würden sie wohl stehenbleiben." Allein Sokrates läßt sich dadurch nicht irremachen. Er fährt fort, ihm in gewohnter Art Antworten zu ent- locken und macht ihn nach kurzer Zeit, auf das gebrauchte Bild zurück- greifend, triumphierend für alle seine Antworten verantwortlich (15 BC): „Wirst du mich noch bezichtigen, ich sei der Daidalos, der die Bildwerke wandeln mache, während du selbst noch weit geschickter als Daidalos bist und sie sogar im Kreise herumgehen läßt?"
Sokrates steckt gleichsam selbst in seinen Gegnern drin; sie müssen für ihn agieren, er ist der Regisseur. Er steht zu ihnen in einem Ver- hältnis ähnlich dem des Siegfried zu Günther bei der Werbung umBrun- hilde: „nu habe du die gebaerde: diu werc wil ich begän" (V. 429). Ja man könnte von diesem Gesichtspunkt aus die sogenannte Ironie des Sokrates, wie sie sich bei Piaton gibt, überhaupt als ein Stück Verdoppe- lung bezeichnen. Er weiß es von vornherein recht wohl, worauf die Sache hinausläuft, der Partner weiß es nicht. Für Sokrates ist die Rechnung eigentlich schon fertig. Aber die gemeinsame Erörterung und die im ein- zelnen ergänzende Wiederholung ihm schon geläufiger Gedankengänge gibt der Sache erst die gewünschte Objektivität. Das Resultat steht nun unter doppelter Kontrolle. Der Partner macht sich zum Dolmetsch der Oedanken des Sokrates.^)
Wir sehen also: so verächtlich Sokrates von der großen Masse, als «inem unbelehrbaren Haufen denkt, so eifrig ist er darauf bedacht, sich
1) Für den wirklichen Sokrates stellt K. F. Hermann (Gesch. u. Syst. der plat. Phil. p. 242 f.) die Sache so dar: „Sokrates ließ das eigene Urteil ganz in den Hintergrund treten und wartete ruhig, worauf die Sache selbst in ihrer natürlichen Entwicklung den Forschenden hinausführe. Dies vermochte er mit seiner bekannten Ironie, die jedoch eben deshalb ja nicht als bloße Verstellung, sondern als die natürliche Anwendung des Grundsatzes zu betrachten ist, auch dasjenige, wovon er subjektiv durchdrungen war, nicht eher mit Gewiß- heit auszusprechen, als bis es ihm selbst durch genaue und unbefangene, wo- möglich gemeinschaftliche Betrachtung objektiv geworden."
104 Die Taktik des platonischen Sokrates
aus den Reihen der Befähigteren Bundesgenossen zu gewinnen. Er, der ganz auf sich selbst Gestellte, seiner selbst Gewisse, der keine Todes- furcht kennt und, wo Ehre und Recht in Frage steht, lieber das Äußerste über sich ergehen läßt, als daß er von der angebotenen Rettung Ge- brauch machte, zeigt sich auf das angelegentlichste bemüht, im Streite der Geister um die Wahrheit die eigene Macht soviel als möglich durch Zuzug von anderer Seite zu verstärken. Kämpfend wirkt und wirbt er für die Wahrheit und in diesem Kampfe kann er nicht genug Bundesgenossen finden. Ist der unmittelbare Gegner im Gespräch scheinbar zu weit im Vorsprung, so scheut sich Sokrates nicht, einen der Zuhörer auf ge- schickte Weise als seinen Sekundanten mit ins Gefecht zu ziehen, wie im Dialog Protagoras (340 A) den Prodikos, der ihm zu Hilfe eilen soll, wie in der Ilias der Simoeis dem Skamander. Aber lieber noch schafft er sich in solcher Lage seine Bundesgenossen aus der Kraft der Phantasie. Er weiß den Geschöpfen der Einbildungskraft eine Art wirksamer Gegen- wärtigkeit zu verleihen. Z. B. nachdem Gorgias das Wesen der Rhetorik dahin bestimmt hat, daß es die Kunst sei, die das Wichtigste und Edelste ()U€TicTov Kai apicTov) zu ihrem Gegenstand habe, läßt er (492 A ff.) den Arzt, den Turnmeister, den Handelsmann nacheinander wie auf der Bühne aufmarschieren, einen jeden seine Kunst als die wichtigste herausstreichen und mit der gepriesenen Rhetorik in Wettbewerb treten. Und so tritt er nun nicht als einzelner für sich dem Gorgias mit der Forderung entgegen, das „Edelste und Größte", mit dem es seine Kunst zu tun habe, näher zu bestimmen, sondern ganz unmittelbar im Bunde mit jenen und durch ihre Reden bereits in die günstigste Position zur Widerlegung des Gorgias gebracht, darf er sich nun an ihn wenden mit den Worten (452 D): „Wohlan denn, lieber Gorgias, sieh dich nicht bloß von mir, sondern auch von jenen als gefragt an und beantworte, was nach deiner Meinung das größte Gut für die Menschen ist, dessen Meister du seist." Es ist klar, dieser Arzt, dieser Turnmeister, dieser Handelsmann sind hier nichts weiter als eine Vervielfältigung des Sokrates selbst zum Zwecke der Ver- stärkung seiner Position, ähnlich den redenden Gesetzen im Kriton: die personifizierten Gesetze reden statt seiner; sie sagen nichts anderes als seine Meinung, aber sie tun es eben mit der ganzen Autorität des Gesetzes. Diese fiktive Einführung von Personen, diese Verwendung von Schein- figuren, die in der Tat nichts ist als die Spaltung eines Wesens in mehrere, ist ein Kunstmittel, dessen sich der platonische Sokrates mit ebensoviel Humor wie Erfolg besonders auch da bedient, wo er den gröbsten An- würfen eines leidenschaftlich und rücksichtslos anstürmenden Gegners ausgesetzt ist. Er wird nie ausfällig und grob. Wir können bemerken.
Fingierte Bundesgenossen 105
daß er unvernünftige Zumutungen oder Grobheiten des Gegners zuweilen gerade durch die ausgesuchteste Höflichkeit pariert (wie z. B. Hipp. Mai. 304 B C; Gorg. 461 C. 462 E. 486 D). Aber wo sich das durch die Situation verbietet, hat er eben in dieser Personenspaltung ein treffliches Mittel, ohne seiner gewohnten Ritterlichkeit irgend etwas zu vergeben, den Gegner das Ungehörige seines Benehmens nachdrücklich fühlen zu lassen. Als Thrasymachos im ersten Buch der Republik hitzig drängend Auskunft von Sokrates fordert über das Wesen der Gerechtigkeit, dabei aber durch seine peremptorischen Erklärungen darüber, wie Sokrates nicht ant- worten dürfe, diesem jeden Weg vernünftiger Beantwortung von vorn- herein versperrt, sagt Sokrates zu ihm (377 A f.): „Wenn du jemanden fragtest, wieviel zwölf sei, und dabei im voraus erklärtest: daß du, Mensch, mir aber nicht sagst, zwölf sei zweimal sechs oder dreimal vier oder sechsmal zwei oder viermal drei, denn ich werde es nicht gelten lassen, wenn du mir mit solchem Zeuge kommst usw." Dieser „jemand" ist niemand anders als Sokrates, aber er ist es nicht unmittelbar, sondern nur stell- vertretenderweise. So kann Sokrates die Grobheit des Thrasymachos im Bilde sogar noch verstärken und ihm dadurch bei aller Höflichkeit eine sehr heilsame Lektion geben.
Ganz beherrscht von diesem Kunstgriff der Verdoppelung der Person des Sokrates ist der unter dem Namen des größeren Hippias bekannte Dialog. Die Scheinfigur des „jemand", die hier eingeführt wird (286 C), ist niemand anders als Sokrates, sein geisterhafter Doppelgänger. Sie gibt dem die Unterredung führenden leibhaftigen Sokrates die beste Gelegen- heit, nach obigem Rezept dem eitelen und plump ausfälligen Sophisten gründlich und derb heimzuleuchten. Daß sie daneben noch einem anderen Zwecke dient, glaube ich in der Abhandlung über die beiden Dialoge Hippias") dargetan zu haben. Auf sie sei also der Leser verwiesen.
Wie geläufig dem Piaton zu den verschiedensten Zwecken solche Spaltung und Verdoppelung der Personen ist, und zwar nicht etwa bloß aus Freude an Betätigung seines mimischen Talentes (die natürlich immer mit in Betracht kommt), sondern auch um der Sache selbst willen, zeigt bei ganz anderer Tendenz als in den vorhergehenden Fällen die Ein- führung der Diotima durch Sokrates im Gastmahl. Auch hier zerlegt sich der platonische Sokrates gewissermaßen in zwei Personen, aber hier nicht zum verstärkten Ausdruck der eigenen Meinung, sondern nur um dadurch anzudeuten, daß die höchste Erfüllung der philosophischen Auf- gabe nicht sein Werk sei. Ähnlich hält Sokrates im Menexenos die Leichenrede vorgeblich bloß als Mundstück der Aspasia, und wenn in
1) Siehe die elfte Abhandlung dieses Buches.
106 ^'^ Taktik des platonischen Sokrates
dieser Rede dann weiter (246 C D) die tapferen Vorfahren wieder als Redner eingeführt werden, um weitaus das Schönste und Bedeutendste zu sagen, was das ganze Stück bringt, so ist das eine weitere Zerlegung des Sokrates in eine Mehrheit von Personen.
Man kann noch weitergehen und sagen, daß fast die ganze Schrift- stellerei des Piaton ein großer Beleg ist für die Kunst der Verdoppelung. In seinem Sokrates, als dem Führer der dialogischen Untersuchung, steckt immer auch Piaton selbst, aber eben in der Verkappung des Sokrates und demgemäß immer mit einem starken, z. T. überwiegenden Beisatz sokratischer Züge.
Im Zusammenhang mit dem Gesagten darf nun wohl auch einer Ver- mutung Raum gegeben w^erden, die ich nicht etwa als erster vortrage, die aber im Lichte der geschilderten Verdoppelungskunst sich vielleicht etwas glaubhafter ausnimmt. Wer ist der vielgenannte Kallikles im Gorgias? Eine geschichtliche Persönlichkeit dieses Namens, die dem von Piaton so besonders lebendig geschilderten Kallikles entspräche, gibt es nicht. Man hat auf Charikles und andere geraten. Aber keiner von ihnen reicht an die großartigen Züge dieses Bildes heran. Man könnte an eine ganz freie Erfindung des Piaton denken, hervorgegangen aus dem schöpfe- rischen Bedürfnis, gewisse im Zeitgeist liegende Anschauungen und Ten- denzen in einer Gestalt wirksam zu verkörpern. Auch diese Auffassung hat ihre Vertreter gefunden. Es wäre dies aber das einzige Beispiel dieser Art bei Platon. Auch trägt die Schilderung ein so individuelles Gepräge, eine so stark persönliche Note vor allem rücksichtlich der be- sonderen Beziehungen zu der Person des Sokrates, daß man Bedenken tragen muß, sich dieser Auffassung anzuschließen. Es handelt sich offen- bar um eine hervorragende, hochbegabte, kraftvolle und ehrgeizige Per- sönlichkeit des damaligen Athen, und zwar nicht etwa um einen Sophisten (wie Thrasymachos), sondern um einen jugendlichen Staatsmann, der alles daran setzt, das Volk unter seine Leitung zu zwingen. Nicht auf die Theorie, sondern auf die Praxis ist sein Absehen gerichtet. Die erstere dient nur zur Rechtfertigung der letzteren. Er ist (nach 515 A) vor nicht langer Zeit in die praktische Laufbahn eingetreten. Die chronologischen Anspielungen des Dialogs lassen sich zu keinem einheitlichen Gesamtbild rücksichtlich der fiktiven Zeit des Gesprächs zusammenfassen. Platon ist darin mit bekannter dichterischer Freiheit verfahren. Immerhin hat ihm aber doch vorwiegend die Zeit um 427 v. Chr., die geschichtliche Zeit des ersten Aufenthaltes des Gorgias in Athen, vorgeschwebt. Diejenige geschichtliche Gestalt jener Zeit nun, die einem bei der Schilderung des Platon unwillkürlich vor die Seele tritt, ist Alkibiades. „Stand dem
Kallikles • Alkibiades 107
Platon etwa die in empfängliclister Jugend geschaute Heldenfigur des Alkibiades vor Augen?" fragt Gomperz (Gr. D. II, 270). Man wird kaum fehlgehen in der Vermutung, daß schon vor ihm mancher im stillen ebenso gefragt hat. Gomperz dürfte hier selbst unserem Kallikles gefolgt sein, von dem Sokrates (492 D) so bezeichnend sagt: „Er spricht unumwunden das aus, was die anderen zwar denken, aber zu äußern sich scheuen."
Die Sache nämlich hat allerdings ihren Haken und die Abwehr der Vermutung scheint außerordentlich leicht und plausibel. Es wird ja im Dialog ausdrücklich des Alkibiades Erwähnung getan, ja nach einer Stelle (482 A 6 KXeivieioc outoc) kann man sogar kaum anders als annehmen, daß er in Person dem Gespräche beiwohnt. Damit wäre unter gewöhn- lichen Verhältnissen die Sache allerdings abgetan. Allein hier liegen die Dinge doch anders. Kallikles ist eine durchaus rätselhafte Figur. Das Signalement aber, das Platon von ihm gibt, paßt nun merkwürdigerweise durchaus auf Alkibiades. Die nämliche rücksichtslose Geltendmachung •des eigenen lieben Ich, der nämliche Ehrgeiz, die nämliche brutale Genuß- sucht, der nämliche Übermut, dabei aber auch der nämliche, bei aller Rücksichtslosigkeit doch nicht unedle Freimut (wie er an Alkibiades iiamentlich im Gastmahl 222 C hervorgehoben wird), dieselbe Vorliebe für Dichterzitate (Symp. 214B), überhaupt dieselben Anzeichen einer seltenen, auf das Leben gerichteten Begabung, verbunden mit natürlicher ßeredtsamkeit. Sogar in ganz speziellen Zügen scheinen sie nicht ohne Absicht einander gleichgestellt zu werden, wie in ihrem Urteil über des Sokrates Eigenheit „immer dasselbe zu sagen" 0. Und, was ganz beson- ders betont werden muß, trotz alles Sarkasmus im Widerspruche fühlt sich Kallikles doch mit Sokrates eng befreundet. „0 Sokrates, ich bin dir von ganzem Herzen freundschaftlich gesinnt (eYuu, m ZuuKpaTec, rrpöc ce tTTieiKujc e'xuj cpiXiKUJc 485 E, vgl. 487 ABC, 500 B, 519 E u. ö.) sagt Kaili- Wes, ganz wie Alkibiades zu Sokrates reden würde.
Alkibiades wird zweimal in unserem Gespräche genannt (481 D, wozu 482 A gehört und 519 A), beide Male in engster Verbindung mit Kallikles, aber ohne in die Aktion einzugreifen. Es sieht ganz so aus, als hätte Platon mit Vorbedacht darauf hingewirkt, ihn nur wie den Schatten des Kallikles erscheinen zu lassen. „Wenn die Zeit kommt, werden die Athener dich (Kallikles) hassen, und meinen Freund Alkibiades, während ihr doch nicht Urheber, sondern vielleicht nur Miturheber des Übels seid" heißt es an der zweiten Stelle. Die erste spricht von dem Liebesverhältnis des
1) Diese Übereinstimmung ergibt sich aus der Vergleichung von 482 A mit 491 B.
108 Die Taktik des platonischen Sokrates
Sokrates zu Alkibiades sowie von dem des Kallikles zu dem „Demos'*^ (in zwiefacher Bedeutung). Damit vergleiche man im „ersten Alkibiades" (132 A) die Schilderung des Liebesverhältnisses des Alkibiades zu dem „Demos" ('AÖTivaiiuv bfiuoc), als dessen Liebhaber er bezeichnenderweise br|)LiepacTric genannt wird. Dabei ist es doch mindestens auffällig, daß ein Alkibiades, beiwohnend einem Gespräch, das, wenn irgendeinen, so ihn zur Teilnahme reizen mußte, es über sich gewinnt, sich völlig schwei- gend zu verhalten.
Plutarch (Alkib. c. 16) hat uns einen Ausspruch des Dichters Arche- stratus aufbewahrt: „Zwei Alkibiadesse hätte Griechenland schwerlich vertragen." So könnte man sagen: einen Kallikles und einen Alkibiades hätte Athen schwerlich ertragen.
Der Name Kallikles war in Attika kein ungewöhnlicher, nur findet sich, wie gesagt, kein Kallikles, der zu der Schilderung des Piaton paßte. Sieht man sich aber den Namen auf seine Bedeutung hin an und beachtet, daß gerade Alkibiades mit besonderer Vorliebe und wo er näher geschildert wird, immer an erster Stelle als „der Schöne" (vgl. Prot. 309 A, Alkib. I, 113B, 123 E) bezeichnet wurde, so würde, wenn Kallikles eine Maske für Alkibiades sein soll, gerade der „Schönheitsberühmte" keine schlechte Namenswahl für ihn sein. Man suche einen glücklicheren Namen vom Standpunkt desjenigen, der hier mit seinen Lesern ein kleines Rätselspiel treiben wollte. 0
Warum aber mag Piaton den Alkibiades nicht selbst eingeführt haben? Dafür ließen sich wohl verschiedene Gründe geltend machen. Nicht un- denkbar z. B. wäre es, daß Piaton in diesem, dem Andenken des Sokrates in ganz besonderem Sinne geweihten Dialoge Bedenken trug, gerade den „Liebling" des Sokrates selbst, auf dessen mimische Verwendung er zur wirksamen Durchführung seines Themas nicht verzichten zu können glaubte,. in so scharfer Opposition gegen seinen Lehrer auftreten zu lassen. Seine Meisterschaft in der Verdoppelungskunst hatte hier Gelegenheit sich auf das beste zu bewähren.
1) Handelt es sich hier um ein gut ausgeklügeltes Kunststück, so konnte es wohl auch vorkommen, daß der Zufall in gleichem oder ähnlichem Fall Namen und Sache wirklich zusammentreffen ließ. Herodot berichtet in seiner Schilderung der Schlacht von Platää (IX, 72): „Kallikrates, der schönste Mann, der damals ins Lager der Hellenen kam, nicht nur unter den Lakedä- moniern, sondern überhaupt unter den Hellenen, starb außerhalb der Schlacht. '*^ Oder gehört dieser Zufall unter die Rubrik der Histörchen?
VI. DAS PRINZIP DER PLATONISCHEN ETHIK.
Liest man die Urteile der christlichen Apologeten griechischer Zunge über Piatons Ethik, so erhält man durchaus den Eindruck, als kenne Platon kein anderes Prinzip der Ethik als das der erstrebten Ähnlichkeit mit Gott {ofuoiaicic TLu 0eLu). So heißt es bei dem Bischof Theodoret in seinem Buche über die Heilung der griechischen Seelenkrankheiten (IX, 9 p. 152): „Platon stellte durch die Erhabenheit seines Zweckgedankens auch den Anaxagoras in Schatten; denn er bestimmte die größtmögliche Ähnlich- keit mit Gott als das höchste Gut". Und dementsprechend scheint über- haupt die doxographische Literatur den Kern der platonischen Ethik mit den Schlagworten ö)uoiuucic tOu ÖeOu (Gottähnlichkeit) oder dKoXoü0r|cic Tuj Gern (Gottesgefolgschaft) bezeichnet zu haben (Stob. Ecl. II, 64, 66). Ebenso die Verfasser der Einführungen in das Studium des Platon Al- binus (c. 6) und Alkinous (c. 28).
Daß Platon selbst den Anlaß dazu geboten hat, ist unbestreitbar und wird weiterhin noch zur Sprache kommen. Aber hat er wirklich aus dieser Formel seine Ethik abgeleitet? Ist diese Formel tatsächlich das Prinzip seiner Ethik? Das dürfte von vornherein einigem Zweifel begegnen. Die Gottheit steht nicht nur für uns, sondern stand auch für Platon nicht am Anfang, sondern am Ende der wissenschaftlichen Erkenntnis (Rpl. 517 C). Wir können nicht die Gottähnlichkeit aus der Göttlichkeit, sondern nur umgekehrt, die Göttlichkeit aus der gegebenen Gottähnlich- keit begreifen. Der Mensch findet in sich eine Anlage zur Sittlichkeit, die ihm den Blick eröffnet in eine ganz andere Welt als die der blinden Naturnotwendigkeit. Eine höhere Ordnung der Dinge, ein Reich reiner Geistesgemeinschaft, eine Welt der Freiheit im Gegensatz zu aller sinn- lichen Gebundenheit breitet sich ahnungsvoll vor seinem geistigen Auge aus. So wird sich der Geist selbst Zeuge seiner höheren Abstammung. Er fühlt, daß er trotz seiner Gebundenheit an die Natur, trotz seiner „Ein- kerkerung" in den Leib doch etwas in sich hat, was er als gottverwandt, als Abbild göttlicher Vollkommenheit anerkennen muß. Also indem wir lesen und deuten, was uns selbst tief ins Herz geschrieben ist, erheben wir uns zu dem Gedanken an das Heilige. Nicht aus der Erkenntnis Gottes
110 D^s Prinzip der platonischen Ethik
lernen wir das Abbild kennen, sondern die Betrachtung des Abbildes führt uns hinauf zu dem Urbild. Von diesem aber können wir, abgesehen von seinem Dasein, nur sagen, was es nicht ist, indem wir alle Beschrän- kungen unserer menschlichen Auffassungs- und Willenskraft in ihm auf- gehoben denken. Alle positiven Bestimmungen scheitern an unserem Unvermögen, über unsere menschlichen Begriffe anders als negativ hinaus zu kommen. Wir können also nicht aus dem Göttlichen das menschlich Gute ableiten. Das Göttliche ist nur der metaphysische Widerschein der sittlichen Seite unseres Geistes, mit deren Betrachtung die Ethik es eben zu tun hat.
Hat es Piaton anders gehalten? Diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst in seinen Werken nach denjenigen Stellen umsehen, in denen bei ihm das Ähnlichwerden mit Gott als Ziel unseres sittlichen Strebens auftritt.
Quelle der Formel als vielgebrauchten Stichwortes ist der Theätet, wo es (176A) folgendermaßen heißt: „Das Böse kann weder verschwin- den, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch kann es etwa bei den Göttern seine Unterkunft finden, sondern mit Notwendigkeit umkreist es die sterbliche Natur und unsere irdische Stätte. Daher gilt es auch zu versuchen, von hier so schnell als möglich dorthin zu entfliehen. Die Flucht aber besteht in der möglichsten Verähnlichung mit Gott; ihm ähnlich werden heißt aber gerecht und fromm werden auf dem Grunde richtiger Einsicht". Die Weltflucht ist hiernach nicht unmittelbar gleichzusetzen mit dem leiblichen Tode; sie besteht vielmehr in der möglichsten Abwendung von aller Sinnlichkeit und der Versenkung in das philosophische Denken. Ganz ähnlich wird im Phaidon (64 Äff., 80Eff., 107 C) die Überwindung alles Leiblichen durch anhaltende philo- sophische Gedankenarbeit als erstrebenswertestes Ziel hingestellt. Wenn die Hingabe an dieses Ziel hier mit dem leiblichen Tode verglichen wird, so nötigt uns das nicht, ja gibt uns nicht einmal das Recht zu der An- nahme, daß damit die eigentliche Gleichstellung gemeint sei. Sieht man also in der Verähnlichung mit Gott das Prinzip der Ethik, so würde hier- nach das reine Denken, das reine Suchen nach Wahrheit die eigentliche und einzige Bedingung sittlicher Vollkommenheit sein. Gottes Wesen hat nichts gemein mit dem Irdischen, Körperlichen. Zu dieser negativen Bestimmung kann und muß der Mensch bei einiger Selbstbesinnung vordringen. Möglichste Hingabe also an die eigentliche, ausschließliche Geistestätigkeit, also an das Denken, unter Abtötung alles Sinnlichen, scheint der Weg, uns zur Gottähnlichkeit, d. i. der vollendeten Geistigkeit zu erheben.
Verähnlichung mit Gott \\l
Dies würde nach gewöhnlicher, nichtplatonischer Anschauungsweise eine Art passiver Moral ergeben. Die unausgesetzte Tätigkeit des Denkens, der sich der Philosoph hingibt, würde ihn allen Versuchungen des Lebens unzugänglich machen. Er würde nicht ohne Leidenschaft sein, aber diese Leidenschaft wäre einzig gerichtet auf die Ergründung der Wahrheit. Er hätte keine Zeit, unsittlich zu sein. Anders allerdings nach platonischer Denkweise. Für Piaton ist anhaltende Denkarbeit gleichbedeutend mit sittlicher Läuterung. Das reine Denken kann den Menschen auf nichts anderes führen als auf die Ideenwelt. Die innere Berührung aber mit den Ideen erhebt den Geist schon zu einer Art Gemeinschaft mit jener höheren Welt. Wenn man die Goethischen Worte: „Tief unter ihm im wesenlosen Scheine liegt, was uns alle bändigt, das Gemeine" zur Not auch auf den Standpunkt jener passiven Moral anwenden könnte, so ge- winnen sie, auf den platonischen Weisen bezogen, eine ungleich höhere und inhaltsvollere Bedeutung. Denn er fühlt sich schon berührt und be- lebt vom Hauche des Göttlichen. Aristoteles steht, nur in nüchternerer Form, dieser Denkweise nahe. Sein Ideal ist die der denkenden Betrach- tung der Dinge gewidmete Lebensweise (ßioc OeuupriTiKÖc) ; doch ist er sich bewußt, daß es nur ganz wenige Auserwählte sind, denen dies be- glückende Los zufallen kann, daß dies also kein tauglicher Grundgedanke für eine allgemeine Moral werden kann. Und wir haben einigen Grund anzunehmen, daß Piaton darüber nicht anders dachte. Denn nirgends hat er den Versuch einer wissenschaftlichen Ableitung der Ethik aus diesem angeblichen Prinzipe gemacht, das vielmehr nur wie ein Privat- ideal für den qpiXöcoqpoc sich ausnimmt, ein Ideal, das, wenn man so will, nicht ganz frei ist von Egoismus.
Würde also das philosophische Denken als allgemeines Moralprinzip sich geradezu selbst vernichten, indem dadurch der weit überwiegenden Masse der Menschen der Weg zur Sittlichkeit von vornherein versperrt würde, so ist es anderseits selbstverständlich, daß es ohne philosophisches Denken keine Klarheit geben kann über das Wesen der Sittlichkeit, also auch kein klar erkanntes Prinzip der Sittlichkeit. Die Frage gestaltet sich also so: Was kann uns die Philosophie für ein Prinzip einer allgemein anwendbaren Moral aufweisen? In dieser Richtung mag uns, was Piaton anbelangt, einen Schritt weiter führen eine schöne Stelle, die eine Art Mittelstimmung zeigt zwischen den beiden eben gekennzeichneten Stand- punkten. Im Timäus (89Eff.) heißt es: „Drei Seelenteile von dreifacher Art haben in uns ihren Wohnsitz erhalten und jeder von ihnen hat seine besonderen Bewegungen erhalten. Derjenige nun von ihnen, der in Un- tätigkeit verharrt, und die ihm eigentümlichen Bewegungen nicht durch-
112 Das Prinzip der platonischen Ethik
macht, wird notwendig der schwächste, der, welcher in Übung bleibt, aber der stärkste. Deshalb ist sehr darauf zu sehen, daß sich alle drei hinsichtlich ihrer Bewegung im Ebenmaß zueinander halten. In betreff der vollkommensten Art von Seele in uns muß man nun aber urteilen, daß Gott sie einem jeden als einen Schutzgeist verliehen hat, ich meine nämlich jene, von der wir angaben, daß sie in dem obersten Teile unseres Körpers wohne und uns über die Erde zur Verwandtschaft mit den Ge- stirnen erhebe, als Geschöpfe die nicht irdischen, sondern überirdischen Ursprungs sind, und wir hatten ein Recht, dies zu behaupten. Denn dort- hin, von wo der erste Ursprung der Seele ausging, richtete die Gottheit das Haupt und die Wurzel des Menschen und gab so unserem ganzen Körper seine aufrechte Stellung. Wer sich daher den Begierden oder dem Ehrgeize hingibt, und unablässig nur diese beiden Kräfte übt, wird notwendig lauter sterbliche Meinungen in sich erzeugen und, so weit es ihm überhaupt nur möglich ist sterblich zu werden, es hieran in keinem Stücke fehlen lassen, weil er eben den sterblichen Teil in sich groß ge- zogen hat. Wer dagegen der Lernbegierde und wahrhafter Kenntnisse sich beflissen hat, und die Kraft des Wissens vor allen anderen Kräften seiner Seele geübt hat, der wird doch wohl ebenso schlechterdings not- wendig, wenn er überhaupt die Wahrheit erreichte, unsterbliche und gött- liche Gedanken in sich tragen, und wiederum, so weit überhaupt die menschliche Natur der Unsterblichkeit fähig ist, in keinem Teile dahinter zurückbleiben und, weil er stets des Göttlichen wartet, und den göttlichen Schutzgeist, der in ihm selber wohnt, zur schönsten Vollendung hat ge- deihen lassen, vorzüglich glückselig sein. Nun gibt es aber für jedes Wesen nur eine Art Pflege und Wartung, nämlich daß man die ihm zu- kommende Nahrung und Bewegung ihm zuteil werden läßt, dem Gött- lichen aber in uns verwandt sind die Gedankenbewegungen und Kreis- läufe des All. Ihnen muß ein jeder folgen und die Kreisbewegungen, die in unserem Haupte, aber gestört durch die Art unserer Entstehung, statt- finden, durch Erforschung der Harmonie und der Kreisläufe des Alls in Ordnung bringen, und so das Denkende zur Ähnlichkeit mit dem Gedachten seiner ursprünglichen Natur gemäß erheben, um so dasjenige Ziel des Lebens zu erreichen, welches den Menschen von den Göttern als das vollendetste vorgesteckt ist für die gegenwärtige und für die folgende Zeit."
Hier zeigt sich uns zwar auch die wissenschaftliche Tätigkeit als Quelle des sittlichen Lebens, aber in dem angegebenen Gegenstande der wissen- schaftlichen Betrachtung ist doch zugleich eine Andeutung dessen enthalten, was sich als mögliche Grundlage einer allgemeinen Moral erweisen könnte.
Kosmische Betrachtung 113
Die Betrachtung der erhabenen himmlischen Erscheinungen in ihrer perio- dischen Wiederkehr und mit ihren regelmäßigen Abmessungen soll zum Antriebe werden für eine dementsprechende Gestaltung unseres Seelen- lebens. Ganz ähnlich hat Piaton schon in dem nämlichen Timäus (47 BC) das Auge des Menschen als Träger einer Art göttlichen Mission in gleicher Richtung gepriesen. „Gott" heißt es da, „hat die Sehkraft für uns erfunden und uns verliehen, damit wir die Umläufe der Vernunft im Weltgebäude betrachten und sie auf die Kreisbewegungen unseres eigenen Denkver- mögens anwenden könnten, welche jenen verwandt sind, soweit es das von Erschütterungen Heimgesuchte mit dem Unerschütterlichen sein kann, und damit wir nach ihrer genauen Durchforschung und nachdem uns die Berechnung ihres richtigen Ganges, wie er ihrem Wesen entspricht, ge- lungen, in Nachahmung der von allem Irrsal freien Umschwünge des Gottes die eigenen Irrgänge zur Ordnung überführten."
Die wunderbare Regelmäßigkeit der himmlischen Bewegungen gibt also das Bild einer von höherer Hand gelenkten Ordnung der Dinge. In Analogie mit dem erhabenen Makrokosmos soll unser von Irrtum und Leidenschaft heimgesuchter und darum derstätigen Ordnung entbehrender Geist zu einem Mikrokosmos, zu einer wohlgeordneten Welt im kleinen gestaltet >verden. Aber abgesehen davon, daß es hier nicht unmittelbar die Gottheit, sondern der Kosmos ist, der vorbildlich sein soll für unsere Lebensführung, ist Analogie doch noch nicht Ableitung aus einem Prinzip. Und selbst wenn man noch eine Stufe höher geht und das Vor- bild in die Idealwelt selbst verlegt, wie es die Republik (vgl. besonders 500C) tut, so geschieht das doch nur dadurch, daß man das menschlich schon Bekannte seiner hienieden unvermeidlichen Unvollkommenheiten ent- kleidet und es absolut denkt. Eine eigentliche Ableitung findet also auch da nicht statt. Aber es ist doch mit dieser Analogie derjenige Begriff herausgehoben, der für eine wirkliche ethische Theorie unentbehrlich ist. Das ist der Begriff des Maßes als der Bedingung alles Schönen und Guten.
Jeder sieht leicht, daß sich dieser Begriff schon aus einer rein dies- seitig gehaltenen Betrachtung unseres Seelenlebens ergibt. Der populären Moral der Griechen ist wohl kein Spruch geläufiger als der des furibev ctTctv „Halte Maß in allem". Und Piaton wird nicht müde, in seinen Schriften den Begriff des Schönen zu erläutern durch den des Maßes und des Angemessenen. Aus der Betrachtung des Himmels und des Jen- seits wird dieser tatsächlich auf dem Wege einfacher Selbstbeobachtung ge- wonnene Begriff uns nur geläutert und gesteigert wieder zurückgegeben, auf daß er um so lebhafter auf die Gestaltung unseres Seelenlebens ein- wirke. Der Begriff des Schönen mit seinem unmittelbaren Korrelat, dem
Apelt: Platonische Aufsätze. 8
114 Das Prinzip der platonischen Ethik
Begriffe des Maßes, ist es denn in der Tat, der das eigentliche Prinzip der platonischen Ethik bildet, wie es sich uns in seinem reifsten Werke, in der Republik, klar entwickelt darstellt. Und daß die Gottähnlichkeit oder die Nachfolge Gottes, für den gewöhnlichen Mann wenigstens (im Gegensatz zu dem Denker, dem Philosophen), eben in nichts anderem bestehe als in der Aneignung dieses rechten Maßes, zeigen folgende Worte der Gesetze (716 BC): „Welche Handlungsweise ist nun Gott wohlgefällig und Nachfolge Gottes? Nur die, welche das richtige Maß in sich hat, wo- gegen das Maßwidrige weder miteinander noch mit dem Maßvollen sich verträgt. Wer Gott wohlgefällig werden will, muß sich nach allen Kräften ihm möglichst gleich zu werden bemühen, und wer von uns mäßig und besonnen ist, der ist eben hiernach Gott wohlgefällig, denn er gleicht ihm" (vgl. Rpl. 613 Af.).
Wie aber spricht sich dies Prinzip in der Anwendung auf das mensch- liche Seelenleben aus? Die Antwort darauf lautet: in der Herrschaft des Verstandes über die niederen Seelenteile, die dadurch den Forderungen des Schönen und Guten d. h. dem rechten Maße unterworfen werden sollen. Die psychologische Grundlage dieses Gedankens ist die Lehre von den Teilen der Seele (Verstand, Mut, Begierde), die, wahrscheinlich schon durch die Pythagoreer vorbereitet, durch Piaton jedenfalls erheb- lich weiter gebildet und vertieft worden ist. Aus ihr wird das Wesen der einzelnen Tugenden, deren Viergestalt als wertvolles Erbstück der gang- baren griechischen Volksmoral auch für Piaton von vornherein feststand, auf sinnreiche Weise entwickelt mit dem Ergebnis, daß die sittliche Bil- dung der Seele in der Gerechtigkeit als der alle anderen Tugenden in sich befassenden Gesamttugend ihren Ausdruck findet. Sie ist es, die bewirkt, daß jeder Teil der Seele das Seinige tue. Man kann also, je nach der Bedeutung, die man dem Worte Prinzip gibt, auch sagen, das Prinzip der platonischen Ethik sei die Gerechtigkeit; denn in ihr als dem Ziele, laufen schließlich alle Fäden zusammen. Das nämliche Prinzip ist maßgebend auch für den Menschen im großen, dies ist für den Staat. Was im einzelnen Menschen der Verstand ist, das ist im Staate die Zunft der Philosophen, während der Tatkraft (6u)aöc, Mut) der Kriegerstand, der Begierde der Handwerker- und Bauernstand entspricht.
Daß diese Lehre nach Grundlage und Ausführung noch mit manchen Mängeln behaftet ist'), läßt sich unschwer einsehen. Aber ebenso klar
1) Eine Kritik der platonischen Seelenlehre ist nicht dieses Ortes. Was ihr Verhältnis zur Ethik anlangt, so sei nur bemerkt, daß eine Hauptschwierigkeit in dem Verhältnis der Gerechtigkeit zur Besonnenheit (cLuqppocOv)]) liegt. Denn auch die Besonnenheit beschränkt sich nicht auf einen Seelenteil, sondern
Begriff des Maßes • Gerechtigkeit 115
leuchtet ein, daß sie einen Grundgedanken jeder gesunden Ethik, nämlich die Forderung der verständigen Selbstbeherrschung, mit größtem Nach- druck und einem bei aller Unvollkommenheit doch höchst beachtens- werten psychologischen Apparat zur Geltung bringt. Mochten die psycho- logischen Voraussetzungen auch gewisser Berichtigungen bedürfen, so tut das doch der Hauptsache, der Forderung der Herrschaft des Ver- standes über die anderen Seelenteile, durchaus keinen Eintrag. Jene Berichtigungen konnten und mußten mit der Zeit erfolgen, wie sie denn auch erfolgt sind. Der leitende Gedanke selbst dagegen ist unerschüttert stehengeblieben. Aber wenn sich in der Durchführung dieses richtigen Gedankens die Lehre im Grunde erschöpft, so liegt eben darin auch die Andeutung ihres bedeutendsten Mangels. So tadelfrei nämlich das Prinzip an sich ist, so ist es doch eben nur ein formales Prinzip.
Schon der pseudoplatonische Dialog Kleitophon gibt eine gute Kritik dieses Prinzips (409 Äff.). Die Argumentation daselbst ist kurz folgende: Auf die Frage, welches diejenige Kunst sei, welche unsere Seele zur Tugend führe, erhält man zur Antwort, die Gerechtigkeit. Jede Kunst nun kann bestimmt das Werk angeben, das sie leistet, also den beson- deren Zweck bezeichnen, mit dem sie es zu tun hat. Nur bei der Gerech- tigkeit ist das anders. Denn da wird man mit ganz allgemeinen, nichts-
besteht in einer gewissen Harmonie aller Teile. Darüber hat Hirzel (Hermes VIII, 1874 p. 379ff.) eingehend und lehrreich gehandelt. Mir will es scheinen, als wiesen die platonischen Ausführungen darauf hin, daß die Besonnenheit sich mehr auf die Gesinnung, die Gerechtigkeit auf die eigentliche Handlung selbst beziehe. Doch dies zu begründen würde zu weit führen. Übrigens wird man bei einiger Achtsamkeit finden, daß die Besonnenheit (die besonnene Maßhaltung) doch wesentlich dem dritten Seelenteile zufällt. Denn da der Mut (Guuöc) an sich schon der natürliche Bundesgenosse des Verstandes ist, wie Piaton oft genug bemerkt, so bedarf es bei ihm keines besonderen Aktes der Unterordnung; die Besonnenheit ist also wesentlich Sache des begehrlichen Teiles der Seele. Je mehr dieser sich die vom Verstände geforderte Willensrichtung aneignet, um so sicherer stimmt das Ganze zur gewünschten Harmonie zusammen. Er spielt also dabei die entscheidende Rolle. Wenn es Piaton meidet, ihn zum eigentlichen Inhaber einer Tugend zu machen, in dem Sinne wie die Tapfer- keit die Tugend des mutvollen Seelenteiles ist, so wirkt dabei gewiß die viel- fach den Piaton mehr als billig bindende Analogie mit dem Staate mit. Piaton mußte sich nämlich sagen, daß der dritte Stand für sich überhaupt keiner eigent- lichen Tugend fähig ist, wie es überhaupt im Staate nicht darauf ankommt, daß alle Individuen tugendhaft sind, sondern daß das Ganze tugendhaft ist. Das deckt sich nach Piaton keineswegs. Der dritte Stand trägt nur durch seine Selbstbescheidung, durch seine willige Einordnung in die Gesamtheit zur Tugend des Ganzen bei, ohne selbst tugendhaft zu sein. Gleichwohl hat die Tugend der Besonnenheit ihre eigentliche Beziehung auf ihn.
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115 Das Prinzip der platonischen Ethik
sagenden Wendungen abgefunden, als da sind: das Zuträgliche, das Nütz- liche, das Nötige usw., lauter Vorstellungen, die ebenso auch für alle übrigen Künste gelten.
Diese Kritik hat ihre volle Berechtigung. Nur ist der Verfasser nicht imstande, den Grund des Mangels aufzuweisen oder das Mangelnde zu ergänzen. Es fehlt der platonischen Ethik wie der Ethik der Alten über- haupt der Gedanke des notwendigen Zweckes, der uns durch Kant in der Würde der Person gegeben ist. Wir erhalten durch Piaton wohl die schöne Lehre von dem inneren, selbständigen Werte der Tugend, aber von einem Gehalte, der eine unbedingt notwendige Forderung mit sich führt, hören wir nichts. Für uns liegt dieser Gehalt in der unbedingten Gleichheit jeder Person mit jeder anderen, aus der sich die obersten ethischen Forderungen mit voller Sicherheit entwickeln lassen.
Für Piaton steht also die Sache so: durch die sittliche Bildung unserer Seele soll die verständige Selbstbeherrschung gewonnen werden und diese besteht darin, daß das Leben den Forderungen des Schönen und Guten (d. h. des rechten Maßes) unterworfen werde. Worauf gehen nun diese Forderungen? Die Antwort lautet: auf die Gerechtigkeit. Und was verlangt die Gerechtigkeit? Daß jeder Seelenteil das Seinige tue. Aber was das sei, erfahren wir nicht. Wir dagegen sagen: man .soll un- bedingt die Würde der Person achten, sowohl in sich, wie in jedem an- deren, d.h. man soll die persönliche Gleichheit aller Menschen zur obersten einschränkenden Bedingung jeglichen Handelns machen. Was man auch sonst für Zwecke im Leben verfolgen mag, so sollen diese alle doch mit jenem notwendigen Zwecke stets in Zusammenstimmung bleiben. Die platonische Regel stellt eine bloße an sich leere Form der Verständigkeit unseres Handelns dar. Wir dagegen weisen einen bestimmten bindenden Gehalt für unser moralisches Verhalten auf: die Würde der Person ist der Gegenstand, der unter keinen Umständen außer acht gelassen werden darf; in ihm liegt die oberste Bedingung für die Sittlichkeit unseres Han- delns. Alles andere beurteilen wir nach seiner Tauglichkeit für beliebige Zwecke. Dem vernünftigen Geiste dagegen geben wir schlechthin einen unbedingten Wert. Er ist das Ebenbild Gottes im Menschen, von dem Goethe (Gespräche 2, 320) gelegentlich treffend sagt: „Gott im Menschen begegnet sich selbst wieder im Menschen. Daher keiner Ursache hat, sich gegen den Größten gering zu achten. Denn wenn der Größte ins Wasser fällt, und nicht schwimmen kann, so zieht ihn der ärmste Hallore heraus".
Der unbedingte Vorrang der Vernunft vor allem, dem wir sonst einen Wert beilegen, kündigt sich dem denkenden Geist bald durch den Blick
Formal- und Realprinzip 117
in das eigene Innere an. Und niemand hat eine lebhaftere Ahnung von der unbedingten Würde der Vernunft gehabt als Piaton. Er hat ihr als dem höchsten Gute den Preis erteilt in den Gesetzen (5, 727 Äff.). „Nichts der Erde Entsprossenes kann höher stehen als was vom Olympos stammt, und wer der Seele nicht diese Herkunft zuschreibt, der weiß nicht, wie sehr er dies wunderherrliche Gut herabsetzt." Und es fehlt ihm nicht an einem tiefen Gefühl dafür, daß auch der geringste Sklave sich dieses unvergleichlich wertvollen Besitzes rühmen darf. „Es ist klar", sagt er in den Gesetzen (VI, 777 C), „daß der Mensch, wie er überhaupt ein schwer zu behandelndes Geschöpf ist, sich am wenigsten die tatsächliche Unterscheidung zwischen einem Sklaven und einem Freien und Herrn, so notwendig dieselbe auch ist, in irgendeiner Weise gerne gefallen läßt und je gefallen lassen wird". Und vielleicht ist es auf dieses Gefühl zurückzuführen, daß er in seinem Idealstaate der Republik von Sklaven ganz abzusehen scheint; es macht den Eindruck, als habe er ihre Funk- tionen auf den Handwerker- und Bauernstand übertragen. Aber dem mag sein, wie ihm wolle. Der vollen Anerkennung der allgemeinen Menschen- würde stellte sich im Altertum erschwerend entgegen schon der allge- meine Zug der antiken Ethik, die wahre Hoheit der Menschenseele nicht in der Reinheit des Herzens, sondern in der Aufklärung des Verstandes zu suchen. Dadurch erhieh die Ethik ein entschieden aristokratisches Gepräge. Aber auch abgesehen davon war es von der Anerkennung der allgemeinen Menschenwürde bis zur Erkenntnis der unbedingt gebieten- den Macht dieser Idee noch ein weiter Weg. Dem gesamten Altertum, selbst den Stoikern, die in der Anerkennung der allgemeinen Menschen- würde am weitesten gingen, blieb eine derartige Wendung des Gedankens noch fremd, und wenn Piaton sich dazu nicht durchfand, so ist das um so weniger zu verwundern, als sein Begriff der Gerechtigkeit ein durch- aus einseitiger und mangelhafter war. Dieser Begriff ist uns kraft der Idee der persönlichen Würde und ihrer gebietenden Macht der Grund- begriff der ganzen Ethik. Auch für Piaton ist er, wie oben gezeigt, das eigentliche Stichwort der Lehre. Sein großes Werk der Republik, welches Ethik und Politik zu einem großartigen Ganzen verschmolzen darstellt, dreht sich ganz und gar um den Begriff der Gerechtigkeit. Aber eben diese Verschmelzung trägt mit die Schuld daran, daß dieser Begriff eine Bedeutung erhielt, die den spezifischen und für die weitere Entwicklung der Ethik in der bezeichneten Richtung besonders wichtigen Inhalt des- selben fast ganz verwischte. Für Piaton ist nämlich die Gerechtigkeit nicht diejenige Tugend, welche unmittelbar bestimmend ist für unseren Verkehr mit anderen, sondern sie sorgt dafür, daß unser eigenes Seelen-
J18 Das Prinzip der platonischen Ethik
leben in sich in der richtigen Verfassung ist, d. h. daß jeder Teil der Seele in rechter Berücksichtigung der Ansprüche der anderen seine Schuldigkeit tue, ganz ähnlich dem, wie im Staate die Gerechtigkeit nach ihm dadurch zustande kommt, daß jeder Stand tut, was ihm im Unter- schiede von den anderen zukommt. „Es war also", heißt es am vorläufigen Abschluß der Untersuchung in der Republik (443 D ff.) „ein Bild der Ge- rechtigkeit, daß der von Natur zum Schustern Geschickte zu schustern und nichts anderes zu verrichten, und der zum Zimmern Geschickte zu zimmern hat und die anderen ebenso. In Wahrheit aber war die Gerech- tigkeit zwar, wie es scheint, etwas dieser Art, jedoch nicht in bezug auf das äußere Tun der handelnden Seelenkräfte, sondern in bezug auf das wahrhaft Innerliche an sich selbst und dem Seinigen, indem man keinem Teile seines Inneren gestattet, Fremdes zu verrichten, noch die verschie- denen Kräfte der Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen läßt, sondern in der Tat sein Haus wohlbestellt und sich selbst beherrscht und in Ordnung hält, und sein eigener Freund wird und jene drei Seelen- teile in vollständigen Einklang bringt, gleichsam die drei Hauptsaiten eines Instrumentes, die unterste, höchste und mittlere, und die anderen, welche etwa dazwischen liegen, diese alle untereinander verknüpft und vollständig Einer geworden ist aus Vielen, besonnen und wohlgestimmt — und als- dann nunmehr demgemäß handelt, falls man handelt, entweder in bezug auf Erwerbung von Besitztümern oder Pflege des Leibes oder auch bürger- liche oder persönliche Geschäfte, indem man in allen diesen Verhältnissen als gerechte und schöne Handlung diejenige betrachtet und bezeichnet, welche diesen Zustand bewahrt und mitbewirkt, und als Weisheit die Wissenschaft, welche diesem Handeln vorsteht, und als ungerecht ein Handeln, welches die Herrschaft der Wissenschaft stört, und als Torheit die Meinung, welche ihrerseits dies Handeln leitet".
Die Gerechtigkeit ist also nicht, wie man erwarten sollte, von vorn- herein bedingt durch unsere Stellung und Verpflichtung gegenüber den anderen, sondern durch die Ordnung in unserem eigenen Inneren; erst mittelbar beeinflußt dies auch unser Verhalten gegen andere, welches dann nur als mit inbegriffen in dem weit größeren Reiche der Gerech- tigkeit erscheint.
Was den Platon zu dieser Auffassung des Gerechtigkeitsbegriffes führte, war einmal die der ganzen Ausführung zugrundeliegende Ana- logie zwischen dem Staate und dem einzelnen, wobei die staatliche Ge- rechtigkeit, bei aller Unzulänglichkeit der Bestimmungen auch für diese, doch insofern noch besser wegkommt, als es sich hier im Gegensatz zu der einzelnen Seele um ein gegenseitiges Verhältnis von Ständen, also
Doppelsinn der Gerechtigkeit {\g
aus Personen zusammengesetzten Gemeinsciiaften, handelt; sodann ein dem Griechen geläufiger Gebrauch des Wortes biKaiocuvr) (Gerechtig- keit), demgemäß dieser Ausdruck die Tugendhaftigkeit überhaupt, also die Gesamtheit der Tugenden bezeichnete. Wir müßten, um uns das sprachlich zu verdeutlichen, etwa den Ausdruck Rechtschaffenheit oder das von Goethe gelegentlich gebrauchte altertümlichere Wort Recht- fertigkeit an Stelle von Gerechtigkeit wählen. Auch in den Gesetzen (639 C) bekennt sich Piaton noch zu dieser Auffassung; er nennt die Gerechtigkeit in dieser Beziehung die „vollkommene" (leXea), worin schon liegt, daß er daneben doch auch noch eine andere kennt. Diese andere tritt klar hervor an einer Stelle der Gesetze (757 B ff.), wo als das be- stimmende Merkmal für die Gerechtigkeit die Gleichheit (icöxric, tö kov) genannt wird, und zwar ergeht sich Piaton dabei in einem Preise der geometrischen Gleichheit als eines wahren Göttergeschenkes an die Men- schen zur heilbringenden Gestaltung der staatlichen Verhältnisse. Je nach Bedeutung der Leistung nämlich für den Staat soll sich Lohn und Ehre für den, der die Leistung vollbringt, verschieden gestalten. Welchen Wert Piaton auf die Kenntnis dieser geometrischen Proportion legt, zeigt übrigens schon eine Stelle des Gorgias (508 AB). Wäre Piaton diesem Gedanken der Gleichheit nicht bloß nach dieser Richtung, sondern vielseitiger und umfassender nachgegangen, so wäre neben dieser verhältnismäßigen Gleichheit, die sich auf Können, Leistung, Berufstüchtigkeit gründet, viel- leicht auch die ursprüngliche absolute Gleichheit der Menschen als Menschen ihm zu noch hellerem und vollem Bewußtsein gekommen.
Der Scharfsinn des Aristoteles hat offenbar angeknüpft an die rich- tigen Unterscheidungen hinsichtlich des Gerechtigkeitsbegriffes, die Piaton in den Gesetzen mehr andeutet als ausführt; denn er spricht in der niko- machischen Ethik (5. Buch) zunächst über den Unterschied zwischen der „vollkommenen" (leXeia) Gerechtigkeit, d. i. der Gerechtigkeit im weiteren Sinne oder der Gerechtigkeit als Gesamttugend, und der Gerechtigkeit im engeren und eigentlichen Sinne. Die erstere stimmt sogar bis auf den Ausdruck „vollkommene Gerechtigkeit" mit der bei Piaton herrschenden Auffassung überein. Gleichwohl zeigt sich ein bemerkenswerter Unter- schied. Diese „vollkommene" Gerechtigkeit, meint er (1130 a 12), ist allerdings mit der Tugend identisch, aber die Beziehung in der sie auf- gefaßt wird, ist nicht dieselbe. Tugend, insofern sie in Beziehung auf andere geübt wird, ist Gerechtigkeit, sofern sie aber eine blei- bende Seelenverfassung von bestimmter Art ist, ist sie schlechtweg Tugend (ohne weiteren Zusatz). Darin liegt eine sehr richtige Kritik der plato- nischen Ansicht. Was aber die eigentliche Gerechtigkeit, das Gerechte-
120 DäS Prinzip der platonischen Ethik
als das Gleiche anlangt, so zeigt er sich auch hier als Piatons Schüler zugleich und Fortbildner. Und zwar als äußerst scharfsinnigen und frucht- baren Fortbildner. Denn die von Piaton gepriesene geometrische Gleich- heit hat er ausgestaltet zu seiner „verteilenden Gerechtigkeit" (biKaiocuvii biaveiuETiKr)), und dieser gegenüber gestellt die „vergeltende" (biopeuuiiKri) Gerechtigkeit, deren Prinzip die arithmetische Proportion (oder Gleich- heit) ist. Dazu gesellen sich noch eine ganze Reihe scharfer und feiner Unterscheidungen, die selbst für die Beurteilung unserer heutigen Rechts- theorien noch ungemein aufklärend wirken. Aristoteles hat sich zu der klaren Erkenntnis durchgefunden, daß der bestimmte Begriff der bürger- lichen Gerechtigkeit immer auf der Gleichheit beruht. Wo diese Gleichheit unter dem Gesetze nicht anerkannt wird, da bleibt kein eigentliches Recht, sondern höchstens etwas dem Ähnliches übrig. Aber diese Gleichheit zur unbedingten Forderung zu machen, dazu hat er, gehemmt durch das Vorurteil des Altertums für die Sklaverei, sich ebensowenig erheben können wie Piaton.
Piaton hat also auch auf diesem Gebiete dem Aristoteles keine geringe Vorarbeit geleistet. Bei Aristoteles gewinnt alles eine geschlossenere und nüchternere Haltung sowie systematische Vollständigkeit, unter starker Bereicherung im einzelnen durch ausgiebigere Heranziehung der Erfahrung. Aber in dem Grundgedanken bleibt er ganz bei Piaton stehen ohne seiner- seits über das bloß formale Prinzip seines Lehrers hinaus zu kommen. Diejenigen, welche dem Piaton den Gedanken der zu erreichenden Gott- ähnlichkeit als Prinzip der Ethik zusprechen, könnten vielleicht sogar be- haupten, Aristoteles sei hinter seinem Vorgänger zurückgeblieben. Denn in diesem Prinzip scheint ja ein bestimmter Gegenstand aufgewiesen, auf den sich unser sittliches Streben bezieht. Allein wir glauben gezeigt zu haben, daß dieser Gedanke wissenschaftlich für Piaton keine weitere Bedeutung erlangt hat und erlangen konnte. Er steht im Hintergrund der Lehre als metaphysischer Reflex derselben, während das eigentlich einheimische Prinzip seiner Ethik durchaus die verständige Selbstbeherr- schung ist, mit der dadurch zu erzielenden Gerechtigkeit.
VII. DIE LEHRE VON DER LUST.
Das Wort Hedonismus hat keinen guten Klang in der Geschichte der Philosophie. Wie sollte auch eine als philosophisch sich gebende Lebensansicht, der zufolge die sinnliche Lust, das Vergnügen, das letzte Ziel unseres Strebens und das Maß unseres Glückes ist, sich als vernunft- gemäß durchsetzen können, mag sie auch noch so viele Vorbehalte zu- gunsten der Tugend machen? Nur oberflächliche Geister konnten solche Ansichten in die Philosophie einführen und versuchen, ihnen einen Schein vernunftgemäßer Berechtigung zu geben. Alle tieferen Ergründer des menschlichen Geistes sind einig in ihrer Verurteilung. Was kann es Ver- ächtlicheres geben als ein Leben, das am Sinnengenuß hängt oder gar in ihm sich erschöpft? Was erhebt uns dann noch über die Tiere? Höchstens die Klugheit in Berechnung und Aufspürung der Mittel, mit denen wir diesem Zwecke dienen.
Die Niedrigkeit nicht nur, sondern auch Unhaltbarkeit solcher Lebens- ansicht hat niemand schärfer und treffender gekennzeichnet, als Piaton. „Jede Lust und jeder Schmerz", so sagt er (Phäd. 83 DE), „trägt gleich- sam einen Nagel mit sich, mit dem sie die Seele an den Leib nagelt, sie daran festhalten läßt und leibartig macht, so daß sie die Meinung faßt, nur das sei wahr, was auch der Leib dafür ausgibt. Denn durch die Ein- stimmung in das Begehren des Körpers und das Eingehen in seine Freu- den muß sie notwendig auch gleichartig und gleichwüchsig mit ihm werden, und so beschaffen, daß sie nimmermehr rein in den Hades gelangt, son- dern stets von dem Leibe angefüllt von ihm auszieht, so daß sie schnell wieder in einen anderen Leib fällt und wie ein Saatkorn in denselben wächst, und dadurch der Verbindung mit dem Göttlichen, Reinen und Einartigen unteilhaftig ist." Und in den Gesetzen (840 D) heißt es: „Unsere Bürger dürfen nicht schlechter sein als die Vögel und viele andere Tiere, welche, mitten unter großen Herden geboren, doch bis" in das Zeugungs- alter ehelos, keusch und ohne Begattung und in der Folgezeit, nachdem sie es erreicht haben, und Männchen mit Weibchen und Weibchen mit Männchen nach Neigung sich gepaart haben, treu und unentweiht mit- einander leben, indem sie fest in der Verbindung verharren, welche ein-
122 Lustlehre
mal ihre Zuneigung geschlossen hat." „Es ist wohl nicht zuviel verlangt", fügt er hinzu, „daß unsere Bürger besser als die Tiere sein sollten. Gegen die Verführungen der regellosen Wollust suche man die Kräfte derselben möglichst außer Übung zu setzen und allen Zufluß und alle Nahrung der- selben durch körperliche Anstrengungen in andere Teile des Leibes ab- zuleiten". Durch derbe und packende Bilder weiß er auch in anderen Dialogen, vor allem im Gorgias (494 Af.), das beständige Ab- und Zufließen, durch welches das Spiel des Sinnengenusses unterhalten wird, der Ver- achtung und Lächerlichkeit preiszugeben.
Und doch hat der nämliche Piaton der so gut gehaßten Lust (nbovi^) einen sehr wesentlichen Anteil eingeräumt an dem, was für den Menschen das wahre Gut (TaTaGov) und die durch dieses begründete Glückselig- keit (euöaiuovia) ausmache. Er legt, um zunächst von demjenigen Dia- loge, in dem diese Frage ausschließlich behandelt wird, dem Philebos, noch abzusehen, das allergrößte Gewicht darauf, den Menschen klarzu- machen, daß das tugendhafte Leben zugleich das angenehmste Leben (ßioc iibicToc) sei (z. B. Legg. 662 C ff., 732 E ff.). Ja, man darf unter Um- ständen, um dieser Ansicht zum Siege zu verhelfen, selbst vor einer Un- wahrheit nicht zurückschrecken (Legg. 663 D). Welches Gewicht die pla- tonische Philosophie der Lust beilegt, zeigt sich ferner vor allem in der Bedeutung, die ihr für die Erziehung zugeschrieben wird. Es dahin zu bringen, daß die Lust der Kinder sich auf das Rechte und Edle richte, ihre Unlust gegen das Unrechte und Unedle, das ist das wahre Geheimnis der Erziehung (Legg. 653B, Rpl. 401 E).
Wie konnte Piaton beide Standpunkte, die verächtliche Abweisung der Lust einerseits, ihre hohe Wertschätzung anderseits miteinander vereinigen ? Offenbar nur durch die Unterscheidung einer Mannigfaltigkeit von Lüsten, nicht nur in dem Sinne, daß die sinnliche Lust eine Schar von Unter- arten umfaßt, sondern vor allem in dem, daß es neben der sinnlichen Lust noch eine höhere und edlere Lust gibt, auf welche der Blick der großen Menge weniger leicht fällt als auf die erstere. In unserem see- lischen Haushalt spielt die Lust zwar als Schmarotzerin und Verschwen- derin eine nicht geringe Rolle; aber sie hat auch ihren Anteil am Schönen, Rechten und Guten und diesen Teil in das rechte Licht zu stellen war dem Piaton eine sehr wichtige Herzenssache. Lust und Unlust gesellen sich allen unseren Tätigkeiten bei, von den niedrigsten bis zu den höchsten, und wie sie durch die ersteren entartet und in den Schmutz gezogen wer- den können, so werden sie durch die letzteren gehoben und geadelt.
Das Wort fibovii, in seiner ursprünglichen Bedeutung genommen, legte der Verwendung nach der edleren Seite hin kein Hindernis in den Weg.
Vielseitigkeit des Lustbegriffs 123
Denn es bezeichnet an sich (von dvbdveiv, dbeiv „gefallen") jede Art des Wohlgefallens. Wenn es im gemeinen Sprachgebrauch gleichwohl ganz überwiegend zur Bezeichnung der sinnlichen Lust diente, so gibt schon Aristoteles den sehr einleuchtenden Grund dafür an. „Wenn die sinn- lichen Lüste", so sagt er in der Nikomachichen Ethik (1153 b, 33 ff.) „den Namen der Lust als ihr besonderes Erbteil erhalten haben, so ist der Grund der, daß die Menschen so häufig ihnen zusteuern und alle an ihm teilhaben. Weil sie mithin die einzigen sind, die die Menschen kennen, halten sie sie für die einzigen, die existieren". Das Wort selbst also war an dieser Einschränkung seines Gebrauches unschuldig. Sobald man über die Sache zu philosophieren anfing, mußte bei der verhältnismäßigen Dürftigkeit des Wortvorrates, welcher den Hellenen auf diesem Gebiete 2ur Verfügung stand, das weitaus gangbarste Wort „Lust" oder „Wohl- gefallen" ohne Bedenken in seinem ganzen möglichen Umfange zur Ver- wendung kommen. So hatte schon Demokrit kein Bedenken getragen, «s auf die edelsten Seelenregungen zu beziehen. „Nicht jede Lust soll man erstreben, sondern die mit Edlem verknüpfte", sagt er in einem seiner schönen Sprüche (Diels, Frgm. I, 423, 8) und in einem anderen (420, 3 ff.) „das Beste für den Menschen ist, sein Leben soviel wie möglich wohl- gemut und sowenig wie möglich mißmutig zu verbringen. Dies wird aber •dann der Fall sein, wenn er seine Lust nicht auf das Sterbliche richtet". Eine nicht auf das Sterbliche gerichtete Hedone mochte dem gemeinen Manne etwas sonderbar vorkommen. Der Denkende mußte sie der Sache nach anerkennen und das sich eigentlich allein dafür bietende Wort die Dienste leisten lassen, zu denen es seiner Natur nach jedenfalls nicht un- fähig war. Literarisch genommen haben, wie es scheint, erst die Stoiker sich die förmliche Degradierung des Wortes angelegen sein lassen, schwer- lich mit einem über ihre eigenen Kreise hinausgehenden Erfolg. Sie stellten die Hedone (Alex, zu Arist. Top. 1112b, 22 ff.) als „unvernünftige Erregung" der „Freude" (xo^pd) als „vernünftiger Gemütserregung" gegenüber, wäh- rend noch Prodikus die letztere als eine Unterart der ersteren ausgab; gewiß der richtigere Standpunkt. Jedenfalls tat Piaton nicht unrecht daran, sich durch den niederen Beigeschmack des Wortes in dem umfassenden Gebrauch desselben nicht stören zu lassen. Denn er bedurfte einer ge- meinsamen Bezeichnung zur Benennung aller der Seelenzustände, in denen sich eine Anteilnahme des Herzens an äußeren oder inneren Vorgängen kundgibt, und diesen Dienst konnte nur unser Wort als das allein geläufige leisten. Sein philosophischer, von Sokrates auf die Er- forschung der inneren Menschennatur hingewiesener Geist erkannte die große Macht der Lustgefühle in unserem Seelenleben nach beiden Seiten
124 Lustlehre
hin, der edelen und unedelen, und diese Erkenntnis weckte in ihm den Wunsch nach einer wissenschafthchen Orientierung auf diesem Gebiete. Aber das äußere Band der Zusammenfassung aller Lustgefühle, das ihm der Name bot, war noch kein inneres Band, das den natürlichen Zusammen- hang der Erscheinungen selbst zu erkennen gegeben hätte. Ja man darf vielleicht sogar sagen, der gemeinsame Name sei mit daran schuld, daß die Lust bei Piaton trotz aller Anerkennung auch ihrer guten Seiten sich doch eine Beurteilung und Rangstellung gefallen lassen muß, die ihrer Bedeutung nicht entspricht. Es lag auf dem Worte nun einmal ein ge- wisser Makel, dessen Einfluß sich ganz zu entziehen er noch nicht so im- stande war, wie der kühler urteilende Aristoteles. Auch liegen in der Sache selbst Momente, die eine Sonderung des Sinnlichen von dem rein Vernünftigen außerordentlich erschweren. Der sinnliche Reiz, das Gefühl des Angenehmen, gesellt sich auch den höchsten Vernunfttätigkeiten bei. Das Wohlgefallen am Schönen und an sich Guten wirkt zugleich fördernd auf unser ganzes Lebensgefühl ein. Das Angenehme hat also auch seinen Anteil an den höchsten und reinsten Lustgefühlen. Es bedarf einer großen Kunst der Selbstbeobachtung, um dies sinnlich belebende Element von dem rein vernünftigen Teil der Erscheinung zu scheiden. Unser Seelen- leben zeigt in jedem Augenblick das verwickeltste Spiel ineinander grei- fender Kräfte; niemals tritt eine Tätigkeit völlig rein und isoliert auf. Es ist die Aufgabe der Psychologie, die vielverschlungenen Fäden dieser in- neren Welt voneinander zu sondern, den lebendigen Komplex in seine Elemente zu zerlegen. Dies schwierige Werk konnte nicht auf einen Wurf gelingen.
Piaton hat tiefe und fruchtbare Blicke in das Wesen der Lust getan. Aber eine wirklich befriedigende Lehre darüber konnte er, wie wir sehen werden, nicht geben, da seiner Psychologie die Grundlage zu einer solchen noch fehlte: ein eigenes wertansetzendes Grundvermögen unseres Geistes.
Jeder Beifall, den wir spenden, jedes Wohlgefallen, das wir empfinden, hat zur Voraussetzung eine Vorstellung vom Werte und Zwecke der Dinge. In allem Gefühle von Lust und Unlust urteilen wir über diesen ihren Wert oder Unwert.
Der das Ganze beherrschende Begriff der Lustlehre ist also der des Wertes als der Quelle des Wohlgefallens. Soviel Arten von Werten es gibt, so viel Arten des Wohlgefallens. Derjenige Wert aber, der im Grunde allein gilt, und von dem die anderen den ihrigen nur zu Lehen tragen, zu dem sie nur Vorstufen, Anweisungen und Anregungen sind, ist der leben- dige Geist selbst in seiner durch sein inneres Wesen bestimmten Selb- ständigkeit und Würde. In der Äußerung der rein vernünftigen Kraft in
Die maßgebenden Begriffe 125
uns kommt das Göttliche, dem Vollendeten und Ewigen Verwandte unseres Geistes zum Ausdruck. Der Wert dessen, was den Sinnen schmeichelt, oder sich als zu beliebigen Zwecken brauchbar erweist, ist am letzten Ende nur danach zu bemessen, inwieweit es der reinen Geistestätigkeit, als dem alleinigen Endzweck dient. Die dabei maßgebenden Begriffe sind die des Angenehmen, Schönen, Nützlichen (d. i. wozu Guten) und des an sich Guten. Erst der kritischen Philosophie konnte die volle Auf- klärung über diese Begriffe sowohl in ihrem gegenseitigen Verhältnis wie in dem zum Ganzen unseres Geisteslebens gelingen. Es ist eines der großen und bleibenden Verdienste Kants und seiner strengeren Nach- folger, die hier erforderlichen Unterscheidungen in aller wünschenswerten wissenschaftlichen Schärfe gegeben und damit sowohl der Ästhetik wie der Ethik ihre eigentliche Grundlage geschaffen zu haben. Denn es ist wohl zu beachten, daß das Vermögen der Lust und Unlust in engster Berührung steht mit dem Begehrungsvermögen, also mit der praktischen Seite unseres Geistes. Die Gefühle der Lust und Unlust werden, soweit sie den Bereich menschlicher Wirksamkeit betreffen, alsbald zu Trieben für unser Handeln. Daß es aber ein eigenes Vermögen der Lust und Un- lust gibt, das theoretisch von dem des Begehrens und Handelns zu trennen ist, zeigt sich schon an der Tatsache, daß es ein rein kontemplatives Ge- biet gibt, das die höchste Erhebung des Lustgefühls, für sich genommen, darstellt: die völlig uninteressierte Lust am Schönen mit ihrer unvermeid- lichen Beziehung auf einen außerhalb des Gebietes der menschlichen Tat- kraft liegenden Inhalt. Denn es liegt ihr zugrunde nicht ein Wert für mich, sondern ein Wert rein für sich, ein Selbstzweck, den ich nicht anders deuten kann denn als einen der Welt an sich gehörenden Zweck, d. h. als einen Abglanz des ewigen Seins. Daher die enge Verbindung des Schönen und Erhabenen mit der Religion.
Aber auch das Trieb- und Tatleben hat Anspruch auf ästhetische Be- urteilung, wenn auch nicht ausschließlich auf diese. Der herrschende Begriff ist hier der des Guten an sich und des damit verbundenen Pflicht- gebotes, aber das Schöne liegt dabei nicht in kalter Pflichtmäßigkeit, die mich ja über ihren Ursprung nicht im unklaren läßt und in ihrer bloßen begriffsmäßigen Regelmäßigkeit der Schönheit bar ist, sondern auch in der ganzen dem Begriff überlegenen Erscheinungsform einer edelen Ge- sinnung, für welche die Pflichtmäßigkeit nur die notwendige Bedingung ist. Wir sprechen von einer schönen Seele in dem Sinne, wie sie uns Ooethe in Wilhelm Meisters Lehrjahren schildert als einen Spiegel des Ewigen, als einen irdischen Zeugen des Göttlichen. Das in sich Gute, wie es sich in Gebärde, Handlung, Wort, und dem Zusammenklang aller,
126 Lustlehre
auch der kleinsten Züge zu einem gleichmäßig erfreuenden Ganzen kund- gibt, wird hier unmittelbar zur Erscheinung des Schönen. Güte und Schön- heit fließen da in eins zusammen, lassen aber einen doppelten Standpunkt der Beurteilung zu: wir fühlen uns einmal unmittelbar aufgefordert auch unser Handeln demgemäß zu gestalten: das ist das Gebot an unseren Willen; und wir ahnen in der Herrlichkeit der Erscheinung einen ob- jektiven Weltzweck: das ist der geheime Sinn des Schönen.
Das in sich Gute gehört zu oberst dem sittlichen Triebe. Aber zwischen dem sinnlichen und dem sittlichen Trieb liegt noch ein durch die ver- standesmäßige Auffassung unseres ganzen Lebens bestimmter, also nicht ursprünglicher, sondern reflektierter Trieb, der auf die Ausbildung aller unserer Anlagen überhaupt geht: der Trieb der Vollkommenheit. Auch dieser läßt eine ästhetische Beurteilung zu. Der harmonischen Ausbil- dung des Geistes nicht bloß nach den sittlichen Anforderungen, sondern auch nach Kenntnissen, Fertigkeiten, Lebhaftigkeit und Vielseitigkeit des Interesses geben wir einen Wert in sich selbst, ganz abgesehen von dem Nutzen, den diese uns bringen.
Wie stellt sich nun dazu die Lehre des Piaton? Er machte sich von der Organisation unseres Geistes noch ein wesentlich anderes Bild als dasjenige, das wir, belehrt durch Kant, davon haben. Uns stehen Er- kenntnis, Gemüt und Tatkraft als die drei Grundvermögen des Geistes nebeneinander, deren jedes Anteil an der reinen Vernunft, deren jedes also auch seine eigene Selbstgesetzgebung hat. Nach Piaton dagegen gehört die Vernunft eigentlich allein der Erkenntniskraft. Seine beiden anderen Seelenteile, der Mut (öuiuöc) und die Begierde (e7Ti6u)aia), ver- danken, was sie an besseren Regungen haben, ausschließlich den Ein- wirkungen jener. Es kann also nicht ausbleiben, daß das Fehlen eines eigenen Lustvermögens mit seiner selbständigen Gesetzgebung sich in der Ausführung der Lehre fühlbar machen muß.
Durchmustert man die platonischen Dialoge, so wird man alle Stufen der Wertschätzung, die mit den obigen Stichworten bezeichnet sind, auch bei ihm finden. Aber sie erscheinen zum Teil in einer eigenartigen Be- leuchtung, eingekleidet in eine Dialektik, welche die Auffassung des Ganzen erschwert, und vor allem durch die mangelhafte psychologische Grund- lage aus ihrer wahren Stellung vielfach herausgehoben und darum wesent- lich verschoben.
Wohl leuchtet, in Übereinstimmung mit unserer Ansicht, bei Piaton als belebender Grundgedanke durch alle Ausführungen die begeisterte Anerkennung des unbedingten und, menschlich genommen, unvergleich- baren Wertes der Seele in ihrer reinen, von den Sinnen nicht getrübten
Grundvermögen • Preis der Seele 127
Tätigkeit hervor. Aber diese Tätigkeit gehört nach ihm für sich eben nur der Erkenntniskraft an. Das kann indes den Beifall nicht mindern, den er uns abgewinnt, sobald er dies Thema berührt. Wohl niemand hat in feierlicherem Tone die Erhabenheit der Seele gepriesen als er. Man höre aus dem hohen Lied, das er ihr in den Gesetzen (726 E ff.) singt, einige Sätze: „Alle Besitztümer jedermanns sind von zweifacher Art, höhere und edlere, und niedrigere und gemeinere, welche dienen, und von ihnen sind denn die herrschenden höher zu halten als die dienenden. Wenn ich also sage, daß ein jeder nächst den Göttern, unsern Gebietern, als Zweites seine Seele ehren müsse, so gebe ich damit eine richtige Vor- schrift. Nichts der Erde Entsprossenes kann höher stehen, als was vom Olympos stammt, und wer der Seele nicht diese Herkunft zuschreibt, der weiß nicht, wie sehr er dies wunderherrliche Gut herabsetzt. Alles Gold auf und unter der Erde wiegt die Tugend nicht auf. Sie ist von Natur dazu bestimmt, das Böse zu fliehen und dagegen dem wahrhaft Besten nachzuspüren und es zu ergreifen und für das ganze Leben festzuhalten".
Diesem Preise der Seele in ihrem erhabenen Werte entspricht die Schätzung der Lustgefühle. Je enger sie mit den höchsten Seelentätig- keiten zusammenhängen, um so reiner und wahrer sind sie; je mehr sie durch körperliche Empfindungen und die damit in Verbindung stehenden Erinnerungen verknüpft sind, um so trügerischer und unreiner sind sie.
Diese Grundgedanken leuchten uns schon aus dem Phaidon, dem Gastmahl, dem Gorgias, und anderen Dialogen entgegen. Die ergiebigste Fundgrube aber für Piatons Anschauungen über diesen Gegenstand ist der Phil eb OS, der, erst in späteren Jahren geschrieben, die Lehre von der Lust in Anlehnung an die damals darüber umgehenden Streitfragen systematisch behandelt. Der Dialog fordert von dem Leser einige Geduld, die aber nicht unbelohnt bleibt; denn die Untersuchung zeigt uns nicht nur den eifrigen und eindringenden Denker, den wir aus seinen übrigen Werken kennen, sondern auch den feinen Beobachter des gesamten menschlichen Seelenlebens, dessen verwickelten Erscheinungen er mit scharfem Blicke folgt. Für uns hat freilich gleich die Art der Problem- stellung etwas Befremdendes. Wenn nämlich von vornherein die Lust nicht für sich, sondern unter dem ethischen Gesichtspunkt betrachtet wird, ob in ihr oder in der Einsicht das höchste Gut für den Menschen be- schlossen liege, so können wir nicht umhin alsbald die Frage aufzuwerfen: sind denn Erkenntnis und Lust wirklich die einzigen Bewerberinnen um den Posten des wahren Gutes? Kommt das Wollen und Handeln dabei nicht auch in Betracht? Ja ist nicht im Grunde der gute Wille das einzig unbedingt Gute für den Menschen? So fragen wir. Aber für Piaton hatte
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diese Frage keine Bedeutung. Die platonische Psychologie und Ethik kennt zwar ein Vermögen der sinnlichen Begierden, aber sie kennt, wie schon oben angedeutet, noch kein reines Wollen als eigenen Trieb der Vernunft selbst. Wenn die Begierden nach Piaton sich auch auf Gutes und Edles richten können, so geschieht dies nicht vermöge eines eigenen sittlichen Grundtriebes, sondern lediglich durch Einwirkung des Verstandes auf das Begehrungsvermögen.
Schon daraus erklärt sich die Beschränkung auf Einsicht und Lust bei der Frage nach dem Wesen des Guten. Sie erklärt sich aber auch weiter geschichtlich aus dem Verhältnis zu den herrschenden Schulmei- nungen. Auch nach ihnen handelt es sich bei der Frage nach dem höchsten Gut nur um jene beiden Anwärterinnen. Die Megariker, die Verfechter der Einsicht als der einzig berechtigten Inhaberin des Reiches des Guten, gaben der Lust keinen Anteil daran, während gewisse Sophisten und die Kyrenaiker umgekehrt die Lust als das einzig wahrhaft Gute anerkannten. Piatons Frage geht nun dahin, ob wirklich nur eine der beiden Bewerbe- rinnen für das Gute in Betracht komme, oder ob nicht beide verbunden das Gute ausmachen. Indem er die Ansprüche beider gegeneinander ab- wägt, legt er das Unzulängliche jedes der beiden Standpunkte, für sich genommen, für eine befriedigende Bestimmung des Guten dar; beide haben Anteil daran, aber in verschiedenem Umfang und mit ungleichem Rang. Während nämlich alle Arten der Einsicht und Erkenntnis ohne weiteres dem Guten beigezählt werden (62 D), muß die Lust erst eine Art Fegefeuer durchmachen, um die Schlacken der Sinnlichkeit von sich abschmelzen zu lassen. Sie muß aller Üppigkeit und allem Sinnenkitzel entsagen, ehe sie in das Reich des Guten eingelassen wird, und selbst in diesem, gänzlich abgemagerten oder, wenn man lieber will, vergeistigten Zustand muß sie es sich gefallen lassen, noch ein ganzes Stück hinter der Einsicht zu rangieren. Nur den reinen und wahren Lüsten darf der Zutritt zur Mischung des Guten gestattet werden.
Welches sind aber diese reinen und wahren Lüste? Darauf mag uns Piaton die kürzeste Antwort selbst geben (66 C): „Es sind die Lustgefühle, welche von Unlust frei sind und die wir reine Gefühle der Seele nennen, wie sie den wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Wahrnehmungen folgen." Was aber die an Wahrnehmungen (aicBnceic) gebundenen reinen Lustgefühle anlangt, so hatte er schon vorher (51 Bf.) sich folgendermaßen darüber geäußert: „Es sind diejenigen, deren Gegenstand die sogenannten schönen Farben und Formen sind, auch zumeist die von den Gerüchen und von den Tönen herrührenden, die überhaupt in das Gebiet derjenigen Objekte fallen, deren Abwesenheit keine Empfindung, keine Unlust be-
Reine und g-emischte Lust 129
reitet, deren Besitz dagegen fühlbare Befriedigung und von Unlust ge- reinigte Lust gewährt." Dazu kommen noch (63 E) diejenigen, „welche mit der Gesundheit und mit dem besonnenen Leben zusammenhängen, überdies noch alle, welche mit der gesamten Tugend wie Folgerinnen einer Gottheit allerwärts Hand in Hand gehen".
Reine Lust ist also für Piaton diejenige, die nicht mit Unlustgefühlen zusammenhängt. Man kann den Standpunkt Piatons schließlich nicht besser schildern, als es Plutarch tut. „Was wirklich Freude und Wonne genannt zu werden verdient," sagt er (N. p. s. vivi sec. Epic. c. 9, 1092 E) mit Beziehung auf Piaton, „ist vom Gegenteile rein und enthält nichts, was Aufwallung, Gewissensbisse und Reue verursachen könnte; sondern das Gut, welches jene gewähren, ist der Seele eigen, wirklich geistig, echt und nicht anderswoher entlehnt, nicht der Vernunft zuwider, sondern durchaus entsprechend, weil es entweder aus der theoretischen und wissen- schaftlichen oder aus der praktischen Richtung des Geistes entspringt."
Alle körperliche Lust mit ihren beständigen notwendigen Wechsel- beziehungen zwischen Lust und Unlust, soweit sie über die Befriedigung der unabweisbaren natürlichen Bedürfnisse (dvaTKaiai fibovai 62 E) hinaus- geht, verfällt damit der Verdammnis. Und nicht nur die unmittelbar körper- liche Lust, sondern auch das ganze Spiel der durch Erinnerung und Ein- bildungskraft veranlaßten Um- und Weiterbildungen der sinnlichen Lust, wie es sich in dem Wechsel von Furcht und Hoffnung, Freude und Leid zeigt, wird dadurch mit einem Makel belegt, der wenigstens in dieser Ausdehnung nicht berechtigt ist. Piaton glaubt, die Sinnenlust von der Vernunfttätigkeit wie durch eine Kluft scheiden zu müssen. Dabei ver- kennt er, daß alle Vernunfttätigkeit der sinnlichen Anregung bedarf, um ihrerseits überhaupt ins Spiel gesetzt zu werden. Denn unsere Vernunft ist eine sinnliche (durch Sinnlichkeit erregbare) Vernunft und so gut sie erst durch die Sinne zur Erkenntnis angeregt wird, so gut wird ihre wert- ansetzende Grundtätigkeit (das Gefühl der Lust und Unlust) zunächst durch die sinnliche Lust angeregt. Piaton betrachtet diese letztere offenbar nicht als eine Bedingung, sondern bloß als ein Hemmnis unseres Geisteslebens. Die Tatsache, daß die Sinnenlust so leicht und so oft das natürliche Maß überschreitet und die Herrschaft über den Menschen gewinnt, macht ihn geneigt alle Sinnenlust zu verurteilen. Die Betrachtung ferner ihres in- neren Wesens, als eines beständigen Ab- und Zuflusses, einer sich immer wiederholenden Leere und Füllung, also einer unlöslichen Wechselbezie- hung zwischen Lust und Unlust, gibt ihm ein anscheinend sicheres Kri- terium ihrer Nichtigkeit oder wenigstens ihrer Minderwertigkeit. Alle Sinnenlust erscheint ihm nur als Aufhebung des Schmerzes und umge-
Apelt: Platonische Aufsätze. 9
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kehrt. Daß aber in dem beständigen Wechsel von Hebung und Senkung, von Bewegung und Ruhe, von Sättigung und Hunger, sofern er sich inner- halb der natürlichen Grenzen hält, an sich schon eine Annehmlichkeit, eine Lust und zugleich eine Bedingung der geistigen Tätigkeit überhaupt, selbst der höchsten liegt, darauf achtete er nicht. Er richtete sein Augen- merk nur auf die großen Veränderungen im Seelenzustande (uefdXai ueiu- ßoXai Phil. 43 C). Das Spiel der regelmäßigen Hebungen und Senkungen unserer Lebenstätigkeit unterschätzte er in seiner Bedeutung. Wir aber sagen: es ist schon Genuß, wenn die Hebungen und Senkungen sich richtig folgen; sie gehören zur Geistestätigkeit überhaupt, ganz ähnlich dem, wie der Rhythmus des Atmens und des Pulsschlages eine Bedingung unseres körperlichen Lebens bildet. Der Schmerz tritt erst ein, wenn die Hebungen überspannt werden oder die Senkungen zu tief sinken. Schmer- zenstilgung gibt nur den sich stärker ankündigenden Genuß. Hätte Piaton die oben angeführten Beobachtungen (S. 128 f.) über gewisse sinnliche Reize, deren Wirkung er wie bei Gerüchen und Farben als positive Lust an- erkannte, weiter ausgedehnt, z. B. auf Tatsachen wie die, daß ein Spazier- gang in frischer Frühlingsluft die Lebenskraft auch dem steigert, der vor- her weder von Beschwerden noch auch nur von Abspannung irgend etwas in sich verspürt hat, so würde er vielleicht zu einem gerechteren Urteil über die Bedeutung der sinnlichen Anregung gelangt sein.
Das Kriterium der Wechselbeziehung zwischen Lust und Unlust, der „gemischten Lust", wie er sie nennt, ist für Piaton so durchschlagend, daß es ihm genügt, um selbst über das Drama das Verwerfungsurteil aus- zusprechen (48 Äff.). Vor allem ist es die Komödie, bei der er im Philebos länger verweilt, während seine Kritik in der Republik mehr der Tragödie gilt. Daß unsere Freude an der Komödie gerade auf der Mischung der Gefühle, auf der kunstvollen Schaffung von Hemmnissen, auf der Span- nung unserer Erwartung durch Häufung von allerhand Unerwartetem und Unerwünschtem beruht, daß dabei aber die Unlust das nur Interimistische, Vorübergehende ist, während die siegende Lust das Fazit des Ganzen bildet, und daß diese endgültige Lust um so größer und wahrhafter ist, je größer die Hemmnisse waren, durch die sie erkämpft ward, das bringt er nicht in Rechnung.^) Ihm genügt die „Mischung von Lust und Unlust",
l) Gleichwohl hat Piaton bei dieser Gelegenheit einige für das Verständnis des Wesens der Komödie nicht unwichtige Bemerkungen gemacht, die Aristo- teles benutzt zu haben scheint. Vor allem zeigt er sehr treffend, daß es sich in der Komödie nur um unschädliche menschliche Torheiten handeln darf. Sobald der Dünkelhafte, der Geldgierige, der Ehrsüchtige die Macht und den Willen hat zu schaden, hört er auf, ein Gegenstand der Komödie zu sein (49 BC).
Vorurteil g'egen die gemischte Lust 13|
um den Stab darüber zu brechen. In Sachen der Einbildungskraft also, wo niemand die beigemischte Unlust missen mag, ist er alsbald mit seinem Verwerfungsurteil fertig. In Sachen des Denkens dagegen, wo es doch nicht fehlt an Irrtum und Fehlversuchen mit daraus entspringender Unlust, auf die jeder gern verzichten würde, leugnet er überhaupt jede Möglich- keit einer Unlust. Mag auch das Wissen, die eTTicirmri selbst „unfehlbar" sein (Rpl. 477 E), so ist es doch nicht das Suchen nach derselben.
Das Gegensätzliche im Wesen der sinnlichen Lust hatte Piaton schon im Phaidon (60 B) durch ein hübsches Bild veranschaulicht. „Eine selt- same Sache", sagt er da, „ist es doch mit der Lust. In wie sonderbarem Verhältnis steht sie zu dem, was man als ihr Gegenteil betrachten muß, zu der Unlust. Zusammen mögen sie nicht beide zum Menschen kommen; wenn man aber nach dem Einen hascht und es ergreift, so kann man kaum anders, als auch das andere mit zu ergreifen: es sind gleichsam zwei verschiedene Wesen, aber mit gemeinsamem Scheitel. Hätte Äsop sein Augenmerk darauf gerichtet, so hätte er vermutlich eine Fabel daraus gemacht: Gott wollte die beiden Feinde miteinander versöhnen, und als ihm das nicht glückte, band er ihre beiden Scheitel zusammen; darum muß, wenn man das eine bekommt, nachher auch das andere mit dabei sein." Aber während hier in halb scherzendem und heiterem Tone nur die Tatsache der Wechselbeziehung zwischen Lust und Schmerz fest- gestellt wird, wird im Philebos diese Tatsache zum Ausgangspunkt einer scharfen Verurteilung gemacht. Doch ist dies nicht das einzige Mittel, mit dem er ihr beizukommen weiß. Eigene wie geborgte Waffen dienen ihm daneben, ihre Niederlage vollständig zu machen. Die pythagoreische Dialektik mit ihren Gegensätzen der Grenze (rrepac), des Unbegrenzten (ctTreipov) und des Begrenzten (TieTrepacjLievov), gibt ihm eine vortreffliche Handhabe zur Degradierung der Lust, indem er sie, für sich genommen, dem wüsten Geschlechte des Unbegrenzten zuweisen kann. Von den Me- garikern — denn auf sie scheint diese Ansicht zurückzuführen — leiht er die ihm besonders willkommene Bestimmung der Lust als eines bloßen Werdens im Gegensatz zu dem Sein, und dieKyniker, die herben Leugner
Wenn Piaton aber weiterhin die tadelnswerte Mischung von Lust und Unlust darin findet, daß wir uns über die Fehler der vorgeführten Menschen freuten, also Freude am Häßlichen hätten, so ist es wieder der Rigorist, der hier das Wort führt, getreu dem uns aus der Republik bekannten griesgrämigen Satze (452 D), daß nur das Schlechte lächerhch sei. Wir freuen uns übrigens nicht immer bloß über die Fehler mit ihren ergötzlichen Übertreibungen, sondern oft genug auch über die erheiternden Züchtigungen und Unfälle, die im Gefolge dieser Fehler auftreten.
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der Lust überhaupt, sind ihm wenigstens gern gesehene Bundesgenossen in der Verächtlichmachung derselben. Ganz dem Arsenal der eigenen Dialektik aber entstammt das Merkmal des Lügnerischen, mit dem er die Lust im gewöhnlichen Sinne brandmarkt: sie ist nicht wahr sondern falsch.
Kurz er spart kein Mittel, die gemeinhin so genannte Lust ihres Flitter- staates zu entkleiden und sie in ihrer ganzen häßlichen Blöße zu zeigen, sodaß man, wenn sonst nichts entgegenstände, meinen möchte, es sei auch auf ihn mit gemünzt, was Aristoteles (Eth. Nie. 1172 a28ff.) sagt: „Die einen nennen die Lust das höchste Gut, die anderen, umgekehrt, sagen, sie sei etwas sehr Schlechtes; und zwar sind jene ersteren viel- leicht überzeugt, daß die Lust wirklich gut sei, während die letzteren nur meinen, es sei besser für das praktische Leben, die Lust als zu den schlechten Dingen gehörig darzustellen, auch wenn dies tatsächlich nicht zutrifft. Denn die Menschen hätten einen natürlichen Zug und Hang zu ihr und wären immer bereit, den Lüsten sklavisch zu fröhnen; deshalb müsse man die Triebe in die entgegengesetzte Richtung ablenken. So würden die Leute am ehesten dazu gelangen, den mittleren Weg einzu- schlagen."
Unter den Vorwürfen, die Piaton nach dem obigen gegen die Lust erhebt, berührt uns wohl am eigentümlichsten der, welcher auf der Unter- scheidung zwischen wahrer und unwahrer Lust beruht. Gibt es denn überhaupt unwahre Lust? Ist „unwahr" nicht eine spezifische Bezeich- nung für die Tätigkeit des Erkenntnisvermögens und die verstandesmäßige Auffassung der Dinge? Hat das Vermögen der Lust und Unlust nicht seine eigene Abschätzungsweise, die nicht durch den Begriff der Wahr- heit, sondern durch den des Wertes bestimmt wird? Fordert die Wahr- heit nicht immer objektive Geltung und Verbindlichkeit für jedermann, während Lust und Unlust auf weite Strecken hin nur subjektive Geltung beanspruchen? Gewiß. Allein wie nahe es liegt, die Vorstellung von Unwert und Unwahrheit ineinander überfließen zu lassen, mögen z. B. Shakespeares Verse aus „Venus und Adonis" zeigen:
Die Lieb' erquickt wie Sonnenstrahl nach Wettern; Die Wollust wirkt wie Sturm nach Sonnenschein; Der Liebe Lenz prangt stets in frischen Blättern, Der Wollust Winter bricht vor Herbst herein. Die Lieb' hält Maß, die Lust hat nie genug, Die Lieb' ist Wahrheit ganz, die Lust ganz Trug.
Shakespeare würde es vermutlich abgelehnt haben, diesen spielend hingeworfenen Gedanken zu theoretischer Geltung zu erheben. Aber dem Piaton war es auch wissenschaftlich voller Ernst damit. Gerade dies ist
Unwahre Lust 133
der Punkt, wo die platonische Denkweise ihrem ganzen Charakter nach einer Selbsttäuschung fast notwendig ausgesetzt war. Dem Piaton steht die Erkenntnis über allem. Er war noch Sokratiker genug, um auch die sittlichen Forderungen, das höchste Anliegen seines Herzens, als unmittel- bar mit in die Erkenntnis eingeschlossen zu betrachten. Als echter Ver- treter des Intellektualismus legt er alsbald überall den Maßstab des denken- den Verstandes an, auch an das, was seiner Natur nach diesen Maßstab nicht verträgt. Maß und Meßkunst, oder mit anderen Worten, Dialektik und Mathematik spielen in seinen Spekulationen als objektive Beurteilungs- methode aller Verhältnisse eine so große Rolle (vgl. Polit. 283 D ff., Phil. 66 A), daß alles bloß Subjektive in unserem Geistesleben in Gefahr ist für unwahr und nichtig erklärt zu werden. Piaton hat von Haus aus ein ganz richtiges Gefühl für den Wert der Lust. Aber wie in so manchem anderen Falle kann man auch hier bemerken, daß sobald die wissenschaft- liche Behandlung und Darstellung einsetzt, das richtige natürliche Gefühl von ihm entweder völlig beiseite geschoben oder wie in unserem Falle unter falsche Gesichtspunkte gestellt wird: eine Folge des noch unent- wickelten Standes der Abstraktionen. Man kann sich das Wesen der Lustgefühle wie aller anderen Geistestätigkeiten nicht anders deutlich machen als durch den Verstand, aber die Momente der Beurteilung darf der Verstand nicht aus sich in das Objekt hineintragen, sondern muß sie aus der Sache selbst schöpfen. Er darf also, was dem Erkenntnisgebiet gehört, nicht ohne weiteres übertragen auf die Verhältnisse der Lust und Unlust. An einer scharfen wissenschaftlichen Scheidung dieser Gebiete fehlt es dem Piaton eben noch.
Man könnte daran denken, eine Lust unwahr zu nennen, die nicht auf wirklich sinnlichem Reize, sondern auf bloßer Einbildung beruht, und mit der sinnlichen Empfindung geradezu in Widerspruch steht, wie bei dem Modenarren, der lieber im dünnen modischen Kleide friert, als im altmodischen dicken Flaus der Wärme pflegt. Aber auch dieses, dem natürlichen Bedürfnis widersprechende Lustgefühl ist in seiner Art ein wahres. „Die Empfindung", sagt Kant (Reflexionen, hrsg. von B. Erd- mann, 1. Bd., p. 87, Nr. 105), „ist jederzeit wahr als ein innerer Zustand, aber nicht als eine Vorstellung eines gegenwärtigen Gegenstandes; da- her ist sie als Lust und Unlust jederzeit wahr. Diese Empfindung des inneren Zustandes hat jederzeit, wenn man sie nicht als eine repraesen- tationem objecti praesentis ansieht, Wahrheit, aber objektiv erwogen ist nicht immer die Gegenwart des Gegenstandes Ursache davon, wie bei Einbildungen, oder wo das Gefühl nicht Empfindung des Gegenstandes, sondern der mit der Vorstellung desselben verbundenen Nebenideen ist.
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Also als Empfindungseindruck ist sie jederzeit wahr, aber nicht als Emp- findungsvorstellung."
Die ausgesprochene Neigung Piatons, unser ganzes Geistesleben unter die für das Erkenntnisgebiet maßgebenden Normen zu bringen, zeigt sich, was die Lustgefühle anlangt, bereits im Dialog Protagoras. Wenn nämlich hier (353 C ff.) der Nachweis geführt wird, daß das Angenehme (nbu) mit dem Guten (dfaGöv) auf das Nämliche hinaus komme, so liegt dem dieselbe Unterscheidung von wahrer und unwahrer Lust zugrunde, wie im Philebos, wenn auch unter verschiedener Beleuchtung des Gegenstandes: der Philebos gibt eine Kritik der Lüste ihrer inneren Beschaffenheit nach, der Protagoras nach Maßgabe der Berechnung ihrer jedesmaligen Folgen. Diese Berechnung kann richtig und unrichtig sein. Im ersteren Falle führt sie immer zum Einklänge zwischen dem Angenehmen und Guten, im letzteren Falle zum Widerstreit zwischen beiden. Die Rechnung ist also ganz auf den Intellekt gestellt. Im tiefsten Grunde seines Herzens strebt der Mensch nur nach dem für ihn wirklich Guten, und es ist nur Kurzsichtigkeit, nur Mangel an Aufklärung, der ihm als angenehm auch das erscheinen läßt, was mit dem Guten nicht übereinstimmt. So fällt also alles Angenehme, das die Probe der Übereinstimmung mit dem Guten nicht besteht, aus der Liste des wirklich Angenehmen aus: es ist eine Lust, die auf bloßer Selbst- täuschung beruht, es ist, in der Sprache des Philebos zu reden, un- wahre Lust.^) Zu solchen Paradoxien führt die Ausdehnung der Er- kenntnisnormen über ihre natürlichen Grenzen verbunden mit einem ge- wissen Hange zu künstlichen Konstruktionen. Einem gewünschten Be- weise zu Liebe müssen sich die Begriffe nicht selten ein Gewaltverfahren gefallen lassen. Denn wo Piaton seinem unbefangenen Gefühle folgt, ist er, wie z. B. im Gorgias (499 B ff.), weit entfernt, das Angenehme mit dem Guten gleichzustellen.
Diese und andere noch zu berührende Mängel seiner Auffassung dürfen uns aber nicht blind machen gegen die großen Verdienste, die sich Piaton um Aufhellung auch dieser Seite unseres Geisteslebens er- worben hat. Es ist nicht nur die eindringendste und umfassendste, son- dern auch die fruchtbarste Lehre über die Lust vor Aristoteles, die er
1) Auch die Sophisten behaupten die Gleichheit des Angenehmen mit dem Guten, aber vom entgegengesetzten Standpunkte aus. Piaton erweist die Gleich- heit dadurch, daß er das Angenehme zum Guten (im sittlichen Sinne) hinauf- zieht, die Sophisten dadurch, daß sie das Gute (im relativen Sinne) zum An- genehmen hinabziehen. Im Philebos setzt Piaton beide einander nicht gleich, öffnet aber doch eine Tür zur Annäherung, indem er alle nicht gute Lust als unwahre Lust kennzeichnet, ihr also nur eine Art Scheindasein einräumt.
Vorzüge und Mängel der Lehre 135
gegeben hat. Vor allem hat er die Natur der sinnlichen Begierde sehr klar dargestellt (Phil. 35 C) und gezeigt, wie die Begierde immer der Seele gehöre durch die Vorstellung von der Befriedigung, welche der Befriedigung vorausgeht. Er ist sich vollkommen klar darüber, daß die körperliche Lust zwar durch den Körper vermittelt, aber nicht durch den Körper empfunden wird, sondern durch die Seele, daß also die Sinne nur die Überbringer, die Boten sind, während Empfängerin und Inhaberin die Seele ist: eine Erkenntnis von grundlegender Bedeutung für die wissenschaftliche Orientierung auf diesem Gebiete. Er hat ferner sehr klar erkannt, daß die Sinnenlust keinen selbständigen Wert hat, daß vielmehr ihr Wert, so weit sie überhaupt einen hat, nur Befriedigung eines Be- dürfnisses ist. Wenn wir dies berichtigen durch den Zusatz, daß sie auch Anregung des Geistes überhaupt sein kann, so ist das kein Tadel für ihn. Er hat ferner mit einer Entschiedenheit wie niemand vor ihm und nach ihm die Erhabenheit der rein geistigen Lust im Vergleich mit der sinnlichen Lust anerkannt. Auch hat er von dem, was Kant uninteressierte Lust nennt, zwar noch keine zureichend klare Vorstellung, aber doch eine lebendige Ahnung. Indessen gerade die Entschiedenheit, mit der er die geistige Lust bevorzugt, läßt ihn die Rechte der sinnlichen Lust un- beschadet der feinen und treffenden Beobachtungen, die er über sie macht, zum Teil verkennen. Es ist als ob ein Riß durch die ganze Lehre ginge. Der schroffe Gegensatz zwischen sinnlicher und geistiger Lust läßt es zu keiner Einheitlichkeit der Auffassung und Darstellung kommen. Man begreift, wie Zeller (II, 2, 739, 3 der 3. Aufl.) zu dem Urteil gelangt, Piaton sei in Verlegenheit, auf wissenschaftlichem Wege für die Lust eine Stelle und einen Wert auszumitteln.
Piatons Lehre mußte hier notwendig etwas Unsicheres, Zerstreutes, Unbefriedigendes behalten, denn es fehlte ihr, was allein alledem ab- zuhelfen imstande war, ein Prinzip. Sofern nämlich ein Prinzip eine ein- heitliche positive Grundlage bedeutet, aus der sich alle Erscheinungen des betreffenden Gebietes herleiten, sehen wir uns bei Piaton vergeblich nach einem solchen um. Er konnte einfach keines haben. Denn seine Psychologie kennt, wie gesagt, kein eigenes Vermögen der Lust und Un- lust, d. h. keine besondere wertansetzende Grundtätigkeit der Seele, so wenig wie eine Autonomie des Triebes. Seine bekannte Einteilung der Seele in einen verständigen oder vernünftigen (Xotictiköv), einen eifer- artigen (Gufaoeibec, öujuiköv) und begehrlichen (eTn9u)uriTiKÖv) Teil, ist eben so sinnreich wie geschichtlich wichtig, aber doch sachlich so wenig einwandsfrei, daß schon Aristoteles den mittleren Teil, das 0ufaoeibec, sehr bald fallen ließ und sich auf den Verstand und die Begierde (von
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ihm 6p€KTiKÖv, auch aXoTov genannt) beschränkte.^) Die platonische Ein- teilung geht nicht sowohl, wie unsere Einteilung der Seele in Erkennen, Gemüt und Tatkraft, auf den Gehalt des Geisteslebens, als auf die Bil- dungsstufen desselben. Freilich ohne klare Scheidung beider Ge- sichtspunkte. Denn in der „Begierde" (emeuuia) ist etwas von dem zweiten Grundvermögen des menschlichen Geistes (Lustfühlen und Be- gehren), und im Verstand (Xötoc) das ganze erste Grundvermögen (Er- kenntnisvermögen) mit enthalten. Im „Mute" (6u)uöc) aber liegt etwas von der Tatkraft, aber ohne daß Piaton sich eines solchen Verhältnisses klar bewußt gewesen wäre. Was die praktische Seite des menschlichen Geistes anlangt, so liegt bei Piaton der Gehalt eigentlich ganz in dem begehr- lichen Teil als dem zu Bildenden, an welches der Verstand die regelnde und gestaltende Form bringt. Der begehrliche Teil für sich umfaßt nur die sinnlichen Begierden; den rein vernünftigen Trieb birgt er nicht un- mittelbar in sich, sondern empfängt ihn erst auf einem Umwege und zwar aus der Hand des Verstandes, der seinerseits eigentlich nur Re- präsentant des Erkenntnisvermögens ist. Wenn es also für Piaton einen Trieb nach dem Schönen und Guten, wenn es für ihn tTtiGuulai KaXai T6 Ktti dTaGai (Rpl. 561 B, Legg. 770 D) gibt, und diese bei ihm sogar eine entscheidende Bedeutung haben, so ist es nicht das Begehrungs- vermögen an sich, welches diesen zugrunde liegt, sondern die Erkennt- niskraft. Und ebenso geht das reine Wollen, ßouXecGai, von dem er im Gorgias (467 Äff.) spricht, und das dann Aristoteles durch seine Lehre von dem vernünftigen Wollen (ßouXricic de an. 433 a 23 ff.) mehr syste- matisch ausgestaltet hat, nicht auf den rein vernünftigen (sittlichen) Trieb, sondern auf den Verstand zurück. So steht es mit der wissenschaftlichen Darstellung der Sache bei Piaton. Aber er scheint selbst ein gewisses Gefühl dafür gehabt zu haben, daß diese Lehre nicht allen Ansprüchen genügt. Da er nun wissenschaftlich der Sache keine andere Wendung zu geben vermochte, so half er sich durch seine dichterische Anschau-
1) Der euuöc tritt bei Piaton zuerst im Phaidros als besonderer Seelenteil auf in der bekannten Darstellung der Seele unter dem Bilde des Rossegespan- nes mit seinem Lenker. Wissenschaftlich ausgeführt findet sich die Lehre in der Republik. Diese Lehre von der Seelenteilung ist nun, wie die Republik zeigt, wesentlich bestimmt durch das Verhältnis der Ethik zur Psychologie. Es galt eine psychologische Grundlage zu gewinnen für die vier Kardinaltugenden, die das feste und überlieferte Inventarstück der Ethik bildeten. Da fehlte es aber für die Tapferkeit (dvbpeia) an einem entsprechenden Seelenteile. Im Staate entsprach ihr der dort schon vorhandene Kriegerstand. Es hat mir immer den Eindruck gemacht, als ob dies für Piaton bestimmend gewesen wäre zur Auf- stellung seines Guinoeibec.
Trieb nach dem Schönen 137
ungskraft: in halb mythischer Form gab er eine Ergänzung der Lehre von den Trieben durch seine herrliche Deutung des Eros. Diese „plato- nische Liebe", auf die wir noch kurz zurückkommen werden, bildet zwar eine Art Entschädigung für die Mängel der platonischen Lust- und Trieb- lehre, hebt aber diese Mängel nicht auf. Sie zeigen sich vor allem auch darin, daß Piaton in Ermangelung eines besonderen Vermögens die Lüste an alle drei Vermögen verteilt. Die sinnliche Lust gehört dem begehr- lichen Teil, die Lust an Ruhm und Ehre dem mutvollen Teil, die Lust an der Wissenschaft dem Verstände, eine Lehre, die er in der Republik (580 D ff.) mit großer Ausführlichkeit vorträgt.
Es versteht sich für Piaton von selbst, daß die an letzter Stelle ge- nannte Lust, die Lust an der Wissenschaft, weitaus die reinste und höchste ist und das glücklichste Leben verbürgt. „Unter den drei möglichen Ver- gnügen also wäre", um Piatons eigene Worte zu brauchen (Rpl. 583 A), „das jenes Seelenteils, durch den wir nach Wissen streben, das aller- angenehmste, und das Leben dessen von uns, in welchem jener wiß- begierige Teil das Regiment führt, auch das allerangenehmste."
Dieses Übergewicht oder man kann fast sagen diese Alleinherrschaft des Intellekts erklärt nicht nur, wie schon oben (S. 129) bemerkt, die gewaltsame Losreißung der sinnlichen Lust von der Betätigung des Ver- standes und ihre tiefe Erniedrigung, sondern sie gibt auch den Schlüssel zum Verständnis der Stellung Piatons zum Begriffe des Schönen. Daß ein so reicher und vielseitiger, vor allem mit so lebhafter Einbildungs- kraft ausgerüsteter Geist wie Piaton allen Erscheinungen des Schönen eine besondere Empfänglichkeit entgegenbringen mußte und tatsächlich auch entgegenbrachte, wird jeder Leser des Phaidros und des Gast- mahls ohne weiteres einräumen. Wenn irgend jemandem, so war ihm die Liebe und Begeisterung für den Zauber schöner Formen ins Herz geschrieben. Auch hat er offenbar eine lebendige Vorstellung von der völligen Selbstlosigkeit dieser reinen Liebe, eine Ahnung also von der wahren Natur des ästhetischen Wohlgefallens als einer uninteressierten Lust im Sinne Kants. Wenn er im Phaidros (251 A, vgl. 250 B) die Seele erschauern läßt vor der Schönheit wie vor einem Gott, daß sie sich getrieben fühlt, ihr zu opfern „wie einem Götterbilde", so führt er uns die bezwingende göttliche Macht der Schönheit in ihrer reinen Wirkung anschaulich vor die Seele.
Aber er weiß sie eben nur im Bilde als Dichter zu schildern. Theo- retisch ist er weit entfernt, die Natur des ästhetischen Wohlgefallens aufklären zu können. Sobald er das Schöne, zunächst das anschaulich Schöne, theoretisch zu erfassen sucht, geht der Zauber desselben ver-
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loren. Jede richtige Theorie des Schönen muß als Hauptmerkmal des- selben anerkennen Reichtum der Anschauung und Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zur Form der Einheit. In seiner theoretischen Auf- fassung des Schönen übersieht aber Piaton das erstere völlig, er will das Schöne durchweg dem Begriff unterwerfen, will es unserem Ver- stände begreiflich machen. Der Verstand kann aber hier nur feststellen, daß das Schöne keine Vorstellung von logischer, sondern von ästheti- scher Bedeutung ist, daß ihm etwas Geheimnisvolles innewohnt, an das der deutende Begriff nicht heranreicht. Darauf kann sich der Intellek- tualismus Piatons nicht einlassen. Nicht die der begrifflichen Deutung sich entziehende Fülle der Erscheinungen macht ihm das Wesen des Schönen aus, sondern die Begreiflichkeit für den Verstand. Nicht des Eichbaums herrliche Pracht, nicht der Zauber der von der scheidenden Sonne vergoldeten Gebirgslandschaft, nicht das lebenatmende Kunstwerk des Malers sind ihm Vorstellung und Beispiel des Schönen, sondern Kreis und Kugel. „Als Schönheit von Formen suche ich", sagt er im Philebos (51 C), „nicht das zu bezeichnen, was die Menge dafür nehmen dürfte, also z. B. die von lebenden Wiesen oder gewissen Gemälden, sondern ich verstehe darunter nach dem Spruche des Verstandes ein gewisses Gerades und Kreisförmiges und die daraus zusammengesetzten Flächen und die Körper, wie sie durch Rundhobel entstehen und durch Lineal und Winkelmaß, wenn du mich verstehst. Denn von diesen sage ich, sie seien nicht relativ schön, wie andere Dinge, sondern sie seien immer an und für sich ihrer Natur nach schön, und führen gewisse nur ihnen eigene Lustgefühle mit sich." Also Würfel und Kugel sind die wahren Repräsentanten der Schönheit. Sie haben allerdings nichts Wun- derbares an sich; ihre Regelmäßigkeit ist vollständig begreiflich. Aber Maler und Bildhauer werden hier nicht dem Piaton, sondern der von ihm getadelten Menge beistimmen. Piaton spielt theoretisch das Schöne ganz in das Gebiet der Erkenntnis und des logischen Verstandes hin- über. Sehr begreiflich. Er fühlt, daß die Lust daran eine reine und edle ist und so kann sie auch nur dem Gebiete angehören, das allein dem Reinen und Edlen eine Stätte bietet. Das wissenschaftliche Verstehen und Begreifen ist ihm die höchste Betätigung des Menschen, ihr ge- hört also auch die höchste Lust, die Fülle der Schönheit. Die wahre Seelenschönheit liegt ihm geradezu im reinen Denken (Symp. 210Bff.). So kommt er wohl zu einer intellektuellen Lust, aber nicht zu einer un- interessierten, deren Wesen erst Jahrtausende später der vom Genius der Schönheit ungleich weniger begünstigte Kant aufzuklären vermochte. Das Wissen haftet immer an dem Dasein der Gegenstände, an ihrer
Schönheit 139
Wirklichkeit, und die Freude an der Erweiterung meines Wissens beruht immer mit auf einem gewissen egoistischen Interesse. Die ästhetische Lust dagegen findet ihre Befriedigung auch durch die bloße Einbildungs- kraft und ist frei von allem Egoismus. Das Schöne erhält für unser Ge- fühl eine von allen subjektiven Zwecken losgelöste Bedeutsamkeit; es weckt in uns eine Ahnung des Ewigen, also des objektiven Weltzweckes selbst, der, dem Verstände immerdar unfaßbar, sich unserer Seele im Bilde ankündigt.
Es wird immer eine höchst auffällige Erscheinung bleiben, daß einer der begeistertsten Propheten der Schönheit die Rechte derselben so zu verkennen, ihre wahre Gestalt so zu entstellen vermochte: ein merk- würdiges Beispiel des Gegensatzes zwischen dem, Zwange der Theorie und dem freien Zuge des Geistes und Herzens. Das Schwanken zwischen Herz und Verstand, das ihm bei seiner großen Lebensentscheidung zwischen Dichter- und Philosophenberuf wohl die tiefste Erschütterung brachte, hat in leichteren Schwingungen ihn durch sein ganzes Leben begleitet. In solch sanfterer Bewegung zeigt es sich auch hier. Es lohnt sich noch einen Augenblick dabei zu verweilen.
Sein tiefes Gefühl und Bedürfnis für gleichmäßig auf Seele und Körper sich erstreckende Schönheit tritt uns aus Stellen wie der folgen- den (Tim. 87 C f.) entgegen: „Alles Gute ist schön, Schönheit aber gibt es nicht ohne Maß; auch dem lebendigen Wesen also, welches schön sein soll, ist Ebenmaß zuzuschreiben. Von den Verhältnissen nun des Ebenmaßes pflegen wir die geringeren zwar wahrzunehmen und in Er- wägung zu ziehen, die einflußreichsten und größten aber unbeachtet zu lassen. Denn von größerem Einfluß auf Gesundheit und Krankheit und auf Tugend und Laster ist kein Ebenmaß und kein Mißverhältnis, als das zwischen der Seele und dem Körper selbst. Hiervon bemerken wir je- doch nichts und bedenken nicht, daß, wenn eine durchaus starke und große Seele von einem schwächeren und kleineren Fahrzeug getragen wird, und desgleichen wenn Seele und Körper nach dem umgekehrten Maßstab zusammengefügt sind, das ganze lebendige Wesen nicht schön ist, denn es fehlt ihm gerade das höchste von allem, Ebenmaß. Das- jenige dagegen, welches sich umgekehrt verhält, gewährt dem, der das Auge dafür hat, den allerschönsten und lieblichsten Anblick." Hier gibt sich Piaton zwanglos nach seiner natürlichen Empfindungsweise, und dies ist auch die Auffassung, welche die Folgezeit, vor allem die Renais- sance recht eigentlich mit dem Namen des Piaton verknüpft hat; sie be- geistert sich für die platonische Idee, „daß dem herrlichen Äußeren eine herrliche Seele entsprechen muß". Wenn er dagegen im Gastmahl (21 OB)
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von dem Liebhaber der Schönheit sagt, er müsse die geistige Schönheit für weit achtbarer schätzen lernen als die des Körpers, so daß, wenn jemand nur eine liebenswürdige Seele besitzt, mag auch dabei sein körperlicher Reiz nur gering sein, dies ihm genügt und er sie liebt, so steht er schon unter dem Bann einer gewissen Theorie, die er eben hier zu entwickeln ein besonderes Interesse hat. Fast ans Komische aber grenzt es, wenn er in der Republik, (452 B ff.), wo von dem Nutzen gymnastischer Übungen die Rede ist, sich dahin äußert, daß es für das Auge zwar kein eben erfreulicher Anblick sein würde, wenn ältere Frauen entkleidet in der Ringschule üben, aber da sich die Sache, nach Grün- den der Nützlichkeit betrachtet, als zweckmäßig darstellt, so sei sie eben auch schön; denn alles was gut ist, sei auch schön. Das nimmt sich gegenüber dem herrlichen Satze der griechischen und nicht am wenigsten der platonischen Ethik, daß gut und schön im höheren Sinn auf eines hinauslaufen, fast wie eine Karikatur aus. Das Nützliche, wenn auch ästhetisch anstößig, soll doch schon durch seinen bloßen Nutzen auch schön sein. Im Munde eines hellenischen Biedermanns, ja selbst in dem des Sokrates, läßt man sich das gefallen. Aber dem Piaton steht es um so weniger zu Gesicht, als es in sich falsch ist. Die Tendenz des ganzen Abschnittes brachte diese Profanierung des Schönen mit sich, die übrigens durch die Vieldeutigkeit dieses Wortes im Griechischen ihre Erklärung und entsprechende Entschuldigung findet.
Fehlt es der platonischen Lustlehre, wie wir oben zu zeigen ver- suchten, durchaus an innerer Einheitlichkeit, an einem positiven Prinzip, so hält es doch nicht schwer, einen Gesichtspunkt zu finden, der wenig- stens eine äußere Einheit herstellt. Dieser Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Grundgedanken der platonischen Philosophie überhaupt: der Ein- tritt in dies Erdenleben ist gleichbedeutend mit dem Verluste des höch- sten geistigen Vorzugs, des Schauens der Ideen, dessen wir im früheren Leben teilhaftig waren.
Unser Leben hienieden leidet an einem doppelten Mangel: an unserer körperlichen Bedürftigkeit und an unserer geistigen Erniedrigung oder, besser gesagt, Verdunkelung. Den ersteren Mangel spürt jeder an sich, und das Leben der Mehrzahl erhebt sich in der Regel nicht über die Bewegungen und Wechselzustände dieses Gebietes; der letztere macht sich nur den edleren und höher strebenden Naturen fühlbar und findet seinen Ausdruck in der Sehnsucht nach den Ideen, denen im reinen Denken sich wenigstens wieder zu nähern dem Menschen als höchster Vorzug gestattet ist.
Überblicken wir nun die mit diesen Mängeln und ihrer erstrebten
Ersatz für das fehlende Prinzip 141
Befriedigung zusammenhängenden Zustände der Seele, so ergibt sich eine Stufenfolge der Lust- und Unlustgefühle von unten nach oben. Sieht man dabei ab von der von Piaton kaum beachteten Tatsache, daß diese Lustgefühle mannigfach ineinandergreifen, indem die niedere Lust die höhere in einem gewissen Grade begleitet, also neben ihr besteht, so stellt sich das ganze als eine aufsteigende Linie mit verschiedenen Abschnitten dar. Und zwar ist der Haupteinschnitt da, wo die ungemischte Lust beginnt. Unter ihr liegen die beiden Abschnitte der sinnlichen Lust und der von Erinnerung und Einbildungskraft beherrschten gemischten geistigen Lustgefühle. Was darüber liegt, ist die reine der Erkenntnis gehörige Lust, die aber nach Maßgabe der Erkenntnisart auch wieder mehrere Steigerungen zeigt. Die reine Lust des Philebos hebt genau an der durch den Haupteinschnitt bezeichneten Grenze an. Für die meisten Menschen bildet diese Grenze schon die Grenze nach obenhin überhaupt, daher nach gewöhnlicher Anschauung hier die Bedürftigkeit aufzuhören scheint. Aber eben nur scheint. Denn für den edleren Geist ist dies gewissermaßen erst der Ausgangspunkt, von dem die Versuche und Be- mühungen beginnen, jene höhere Sehnsucht zu stillen, die erhaben über alles Leibliche und Sinnliche dem Suchen nach der ewigen, göttlichen Heimat, dem Geistesreich der Ideen gilt. Die verdunkelte Erinnerung daran wieder aufzuhellen und lebendig und wirksam zu machen, das ist das Ziel, dem sie nachtrachtet. Alles Lernen in Mathematik und Philo- sophie ist Wiedererinnerung, also Bemühung um Ersetzung eines Ver- lustes, eine Art Wiederanfüllung (dvarrXripuJCic), die um so mehr Freude macht, je besser sie gelingt.
Redet der ganze Geist der platonischen Philosophie dieser Auffassung das Wort, so fehlt es auch in den speziell die Lustlehre behandelnden Stellen der Dialoge nicht an teils versteckteren teils deutlicheren Spuren, die auf diesen Weg als den richtigen zur Deutung der platonischen Grundanschauung hinweisen. Da wo im Philebos die verschiedenen For- men der reinen Lust beschrieben und zunächst des Schönen in Natur und Kunst Erwähnung geschieht (51 B), spricht Piaton ausdrücklich von einem Mangel (evbeia), der sich zwar sinnlich nicht fühlbar macht (dvaicGrjTOc), der aber doch vorhanden ist und die eintretende Füllung als eine Lust empfinden läßt.^) Und was die höchste Form der Lust, die Lust an wissenschaftlicher Erkenntnis anlangt, so lassen schon gelegent-
1) Wenn es Phil. 52 A heißt ei apa öokoöciv r^iuiTv auxai (ai irepi xd fiaeiV fittTa r)5ova() ireivac |U6v ,uri e'xeiv tou |uav0dveiv \jif]be öid |ua0r||udTuuv Tieivriv a.\^Y]bövac ii dpxfic Tevo|u^vac, so soll eben damit nur gesagt sein, daß es kein sinnlich fühlbarer Mangel ist, der hier in Frage steht.
142 Lustlehre
liehe Bemerkungen wie in den Gesetzen (832 A), wo von einem immer- währenden geistigen Hunger (bid ßiou tt€ivüüci Tf\c ^)vxr\c) solcher die Rede ist, die, von Natur wohlbegabt, durch die Ungunst der Verhältnisse auf eine falsche Bahn geraten sind, die nämliche Grundvorstellung er- kennen. Ausführlich dargestellt findet sie sich in derjenigen Partie der Republik (583 B ff.), die von der Lust handelt, und bei sachlicher Über- einstimmung mit dem Philebos ein schärferes und klareres Bild von dem gibt, worauf Piaton eigentlich hinaus will. Und da heißt es (585 B) ge- radezu: „Sind nicht Hunger und Durst gewisse Leerheiten des körper- lichen Zustandes? Und sind nicht Unwissenheit und Unverstand gleich- falls auch eine Leerheit in bezug auf die Seele (Kevöinc irjc Tiepi ijjuxn^ eHeujc)? Angefüllt wird also sowohl wer Speise nimmt, als auch wer der Vernunfteinsicht teilhaftig wird." Nun wird weiter gezeigt, daß der reinen Vernunfteinsicht ein wesenhafteres Sein zukommt, als dem Brot und Fleisch, mit dem sich der Körper sättigt. Und so ergibt sich denn folgendes (585 E ff.): „Wenn das Angefülltwerden mit dem seiner Natur Zuträglichen Vergnügen heißt, so muß demnach auch das Wahr- hafte und mit wahrhaft Seiendem Angefüllte sich wirklicher und wahr- hafter Wohlbefinden in wahrhafter Lust; dagegen wird das an minder echtem Sein Teilnehmende auch minder wahr und dauernd angefüllt werden und daher auch an einem minder haltbaren und minder wahren Vergnügen teilhaben. Alle also, welche im Reiche des Gedankens und der geistigen Stärkung Fremdlinge, bei Schmausereien aber und der- gleichen Freuden des Fleisches immer zu Hause sind, bewegen sich nach unserer Sprache nach unten, von da wiederum nach der Mitte und fahren in dieser Region ihr ganzes Leben lang herum; über diese hinaus zu dem wahrhaft Oben haben sie weder je aufgesehen noch darauf einmal losgesteuert, haben niemals sich mit dem höheren wesenhaften Sein wirklich angefüllt, nie ein unvergängliches und reines Vergnügen ge- kostet: sondern nach Art der Rinder immer mit dem Blicke nach unten gerichtet, zur Erde und zur Krippe gebückt, liegen sie nur auf den Weideplätzen, indem sie sonst nichts tun als sich den Magen anfüllen, sich bespringen, wegen des gegenseitigen Wegschnappens dieser Ge- nüsse mit eisernen Hörnern und Hufen sich stoßen, treten und infolge der Unersättlichkeit ihrer Begierden sich den Tod antun, eben weil sie sich nicht mit den Dingen besseren Seins, nicht das bessere Sein ihres Selbstes, nicht den das wahrhafte Sein festhaltenden Teil ihrer Seele an- gefüllt haben."
Wir sehen also, daß es sich für Piaton auch bei der intellektuellen und nach ihm völlig reinen Lust um die Füllung eines Vakuum handelt^
Leere und Füllung- 143
nur daß die Unlust, welche dieses Vakuum mit sich führt, eine sozusagen latente ist. Eine Anschauung, an die der goethische Spruch anklingt:
Irrtum verläßt uns nie, doch zieht ein höher Bedürfnis Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.
Ist dem nun so, dann folgt von selbst, daß die Götter erhaben sind über dies ganze Spiel von Lust und Schmerz. Denn sie sind nicht be- haftet mit jener doppelten Mangelhaftigkeit, der körperlichen und der geistigen, zu der das Menschengeschlecht verurteilt ist. Dementsprechend heißt es denn im Philebos (33 B vgl 21 E, 55 A): „Es ist also nicht wahr- scheinlich, weder daß Götter sich freuen, noch das Gegenteil. Jedenfalls ist das eine wie das andere für sie, wenn es vorkommt, unziemlich."
Diese ganze Auffassung findet nun ihre Bestätigung in der begeister- ten und begeisternden Darstellung des Eros, wie sie uns der Phaidros und vor allem das Gastmahl geben. Es läßt sich leicht zeigen, daß die reine Lust in der Stufenfolge ihrer Formen, wie sie uns die Republik und der Philebos übereinstimmend darstellen, durchweg parallel läuft mit den sich stufenweise erhöhenden Äußerungen dieses Genius. Die erste Bekundung seiner Kraft zeigt sich in der Liebe zu schönen Ge- stalten. Dieser folgt die Liebe zu schönen Seelen, die sich in Werken der Sittlichkeit und Erziehung betätigt; die nächste Stufe ist die Liebe zu mancherlei Wissenschaften, den Gipfel aber bildet die Liebe zur ewigen unsichtbaren Schönheit der Idee. Genau da, wo der Eros ein- setzt, beginnt auch die reine Lust (Phil. 51 B), nämlich bei dem Wohl- gefallen an schönen Formen der Natur und der Kunst, und die Spitze erreichen beide in der beglückenden Hingabe an die reine Idee (58 A, 59 C). Die Götter sind über den epuuc erhaben (Symp. 202 Bff., 203 Ef.), ebenso wie sie es über Lust und Unlust sind (PhiL 55 A).
Kein Zweifel: Eros und reine Lust gehören zueinander. Die letztere bildet das Komplement oder Korrelat zu dem ersteren in allen seinen Betätigungen. Beide beziehen sich auf die nämliche Sache, auf das Ver- hältnis unseres Geistes zur Lichtwelt der Ideen; aber während der Eros die ungestillte Sehnsucht danach ausdrückt, ist die Lust der Ausdruck teilweiser Stillung.
Fragt man also nach einem Prinzip der platonischen Lustlehre, so wird die Antwort im Sinne des Vorgetragenen lauten: ein positives Prin- zip dafür gibt es nicht, aber als ein Ersatz dafür tritt der negative Begriff der Bedürftigkeit der menschlichen Natur ein. Der einzig positive Wert, der in diese Leere eingetragen wird, stammt aus dem Reiche des
144 Lustlehre
Verstandes. Eine Lust an sich'), eine uninteressierte Lust als solche gibt es für Piaton theoretisch wenigstens nicht; die sinnliche Lust anderseits bezieht sich im Grunde genommen nicht auf einen Wert, sondern auf einen Unwert. Aber es gibt doch eine Skala der Bedürftigkeit, die sich nach dem Mehr oder Minder des Anteils von Sinnlichkeit oder Geistig- keit an dem Ursprung derselben bestimmt, und diese gewinnt die Be- deutung eines Leitfadens durch das ganze Gebiet. Die Beziehung der Lust auf ein mehr oder weniger sich fühlbar machendes Bedürfnis macht es verständlich, daß unter allen Deutungen und Beurteilungen der Lust durch andere diejenige den besonderen Beifall Piatons finden mußte, derzufolge die Lust ein Werden, kein Sein ist (Phil. 53 Off.). Daß diese Auffassung mit der von ihm selbst gewonnenen richtigen Erkenntnis, daß Lustgefühl Geistestätigkeit sei, nicht in Einklang stand, mag er selbst nicht recht bedacht haben. Um so nachdrücklicher hat Aristoteles dar- auf hingewiesen.
Mit gewohnter Schärfe zeigt Aristoteles im siebenten und zehnten Buche der nikomachischen Ethik, daß die Lust selbst kein Werden sei, daß sie vielmehr eine Tätigkeit der Seele und In jedem Moment in sich fertig und vollkommen sei. Selbst eine Tätigkeit der Seele, begleitet sie jede andere Tätigkeit in genauem Verhältnis zu der Wertbeschaffenheit und dem Stärkegrad derselben und gibt ihr den naturgemäßen Abschluß. In der Stufenfolge der mit der Lust zusammenhängenden Tätigkeiten ihrem inneren Werte nach stimmt Aristoteles mit Piaton überein: dem Denken und nächstdem dem sittlichen Handeln gehört bei beiden die reinste Lust. Aber während für Piaton mit der Grenze des Werdens ge- mäß seinem Grundgedanken die Lust überhaupt aufhört, die Gottheit also über alle Lust erhaben ist, spricht Aristoteles, auch seinerseits getreu seinem Prinzip, der Gottheit die höchste und reinste Lust zu: aus der Tätigkeit Gottes als der vollkommensten entspringt seine Seligkeit.
Die Kritik des Aristoteles hat ihre volle Berechtigung. Aber sie be- trifft nicht den mit der unzureichenden psychologischen Grundlage zu-
1) Piaton kennt allerdings auch eine Lust an sich, die aber keine uninter- essierte ist, nämlich die Traibid (Legg. 667 E), die scherzende Unterhaltung. Sie ist ein bloßes Spiel der Einbildungskraft, lediglich zu dem Zwecke vergnüg- licher Geselligkeit. Es liegt ihr weder ein Wahrheitsinteresse noch ein Nutzen zugrunde. Eben darum aber schlägt Piaton ihren Wert auch nur sehr gering an und unterscheidet sie von den schönen Künsten, bei denen es nach ihm vor allem auf die Richtigkeit (öpGÖTric) der Nachahmung, also auf ihr Ver- hältnis zur Wirklichkeit, sowie auf den damit zusammenhängenden moralischen Nutzen ankommt.
Die Lust ein Werden • Aristoteles 145
sammenhängenden Hauptmangel der platonischen Lehre, die Verkennung der Natur des Schönen und Erhabenen. Auch Aristoteles kennt nur die interessierte Lust: sie ist ihm eine Seelentätigkeit, die den vollendenden Abschluß einer andern naturgemäßen Tätigkeit bildet, oder genauer ge- sprochen, die ungehemmte Tätigkeit eines naturgemäßen Zustandes (Eth. Nie. 1153 a 15, b 10, 11, 16). Sie ist die Begleiterin aller erwünschten Seelentätigkeit, hat also ihre Unterlage immer in einer anderen Tätigkeit. Je höher und edler diese ist, um so höher und edler auch die Lust (E. N. 1174 b33, 1175 a5, 16, 1176 a26 u. ö.).
Läßt man bei Piaton das unberechtigte Moment des Werdens fallen, so stellt sich wenigstens in der Abschätzung der höheren Lust eine sehr nahe Verwandtschaft des Aristoteles mit ihm heraus. Seine Auffassung der Lust als einer nattirlichen Folgeerscheinung der jeweiligen Tätigkeit tritt schon im Philebos (51 D, 63 E) deutlich hervor. Liest man vollends gewisse Stellen in den Gesetzen, so glaubt man schon im Grundriß vor sich zu haben, was dann Aristoteles mehr systematisch ausgeführt hat. Im zweiten Buche der Gesetze nämlich (667Bff.)^) spricht Piaton von dem Werte der musischen Künste und der durch sie erweckten Lust für die erzieherischen Zwecke des Staatsmannes. Da heißt es: „Gibt es eine Muse, welche schöner ist, als die der jetzigen Chöre und der öffentlichen Schauspiele, so müssen wir auch versuchen, sie denen zu eigen zu machen, welche dieser letzteren sich schämen und dagegen streben, mit der, welche die schönste ist, in Gemeinschaft zu treten. Muß nun nicht mit allen Dingen, die von einer Annehmlichkeit begleitet sind (öcoic cu|U7Tap6TT€Tai TIC x^pic), zuvörderst die Beschaffenheit verbunden sein, daß entweder diese selber das Wünschenswerteste an ihnen ist oder aber eine innere Richtigkeit oder drittens irgend ein Nutzen? Wie ich z. B. sage, daß dem Essen und Trinken und überhaupt aller Nahrung ein solches Wohlgefallen folge, welches wir Lust nennen (TrapeTrecGai Tr]v Xotpiv, fjv fiboviiv av TTpoceiTTOifaev)-); und wenn wir von ihrer Richtigkeit und ihrem Nutzen sprechen, so meinen wir damit, daß von dem, was vorgesetzt wird, dasjenige das richtigste sei, was der Gesundheit zuträg- lich ist. Und ebenso ist auch mit dem Lernen eine Annehmlichkeit ver-
1) Ebenso gleich darauf 667E dW auroO toütou laövou ev€Ka yitvoito Toö 2u|LiTrap67ro|Lievou toic äWoic, Tr\c xöpiToc. So auch Rpl. 587 DE. Selbst im Philebos findet sich 63 E u. 12 D ähnliches, beide Male aber außerhalb der Entwicklung der Hauptlehre.
2) Vgl. Eth. N. 1175*5 eireTai fäp (r) i^bovri) Tfj €V6pY€ia. 1176*26 u. ö. Da- neben finden sich die Ausdrücke ^TrifiTveTai 1174t>33, cuvaüHei 11 77b 21, xeXeioi 1175a 16 u. ö.
Apelt: Platonische Aufsätze. 10
146 Lustlehre
bunden (TiapaKoXouBeiv), nämlich die Lust, die man daraus schöpft; was aber die innere Richtigkeit und den Nutzen, die Güte und den Wert des- selben bewirkt, das ist die Wahrheit. Und ferner, wenn alle darstellen- den Künste ihren Zweck wirklich erreichen, würde man da nicht die mit ihnen als Folge verbundene (TrapeTTÖiiievov) Lust mit vollem Recht eine Annehmlichkeit an ihnen nennen?" Hier erscheint die Lust durch- weg, ganz im Sinne des Aristoteles, als eine Begleit- und Folgeerscheinung jeder Art von Tätigkeit. Das Merkmal des Werdens ist hier so gut wie vergessen. Die Lust scheint mehr dem Sein als dem Werden verwandt; sie bildet den natürlichen Abschluß, das Ergebnis der Tätigkeit, gleicht also mehr dem Ziele, als dem Wege zum Ziele. Sie krönt, um des Aristo- teles (E. N. 11 74 b 33) schönen Ausdruck zu gebrauchen, das Werk, wie die Jugendblüte das der Reife zustrebende Lebensalter.
VIII. DER WERT DES LEBENS.
Mit der platonischen Verachtung des Leibes hat es so viel eben auch nicht auf sich: denn niemand hat mehr als er die Gymnastik empfohlen; doch ist es ihm freilich nicht eingefallen, mit Fleisch und Blut, mit Haut und Haaren in den Himmel kommen zu wollen.
A. Boeckh, Antiqu. Briefe an F. V. Raumer (Kl. Sehr. VII, 612).
Es hat manche Philosophen gegeben, die, vor die Wahl gestellt, ob sie ehrenhaft sterben oder in Unehre leben sollten, ohne Bedenken sich für das erstere entschieden. Aber es hat meines Wissens keinen gegeben, der, wenn man gewissen Äußerungen, die sich bei ihm finden, ohne wei- teres Glauben beimessen darf, vom Leben so gering gedacht hat, wie
Piaton.
„Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist,
Das Sterben aber Leben?"
So fragt Piaton im Gorgias (493 A f.) mit dem Euripides, und er scheint ganz in der Stimmung ihm Recht zu geben. Denn er fährt, nachdem er diesen Spruch zitiert, folgendermaßen fort: „und vielleicht sind wir in Wirklichkeit tot. Das habe ich auch schon von einem weisen Manne ge- hört, daß wir jetzt tot seien und daß der Leib unser Leichenmal(cfi|Lia) sei."
Ist dies irdische Leben aber in Wahrheit nichts anderes als der Tod, was ist dann natürlicher, als daß der wahrhaft Verständige, der Philosoph, aus diesem trüben und dumpfen Tale sich hinaussehnt nach den seligen Höhen des wahren Lebens? Läuft nicht die ganze platonische Philoso- phie hinaus auf die Erhebung der Ideenwelt als der vollendeten, wahr- haften Geisteswelt über dieses Schattendasein, über diesen Erdentand? Ihm zu entrinnen und ein Bürger jener Welt zu werden, muß das nicht das wahre Ziel jedes Vernünftigen sein?
Das ist die Stimmung, die uns der Phaidon zeigt. Die Flucht aus dem Leben erscheint da als das eigentliche Ziel des vernünftigen Men- schen. „So lange wir den Körper haben," heißt es da (66 B), „und unsere
10*
148 ^^^ Wert des Lebens
Seele mit einem solchen Übel zusammengekettet ist, können wir niemals dasjenige in genügendem Maße erwerben, wonach wir Verlangen tragen. Dieses aber, sagen wir, sei das Wahre. Denn tausendfältigen Zeitver- brauch verursacht uns der Körper wegen der notwendigen Nahrung; ferner, wenn irgend Krankheiten uns befallen, hindern sie uns in der Er- kenntnis der Wahrheit. Aber auch mit Liebesschmerzen, mit Begierden, Besorgnissen, mit allerlei Bildern und vieler Tändelei füllt er uns an, so daß wir, wie man zu sagen pflegt, wahrhaftig und wirklich vor ihm nie- mals und in nichts zur Besinnung zu kommen vermögen. Denn auch Kriege und Aufstände und Schlachten haben keine andere Ursache als den Leib und seine Begierden." Reine Erkenntnis, so zeigt er weiter, ist, so lange wir den Störungen des Leibes ausgesetzt sind, nicht mög- lich. Erst wenn wir gestorben sind, wird die Seele für sich sein, ge- sondert vom Körper, vorher aber nicht. „So lange wir leben, werden wir, scheint es, dem Wissen noch am nächsten kommen, wenn wir so viel als möglich mit dem Leibe weder Verkehr noch Gemeinschaft pflegen, so weit es nicht durchaus notwendig ist, noch uns mit seiner Natur an- füllen, sondern uns rein von ihm halten, bis der Gott uns erlösen wird. Und also rein, und von des Leibes Unvernunft getrennt, werden wir dann, wie anzunehmen ist, mit eben solchen zusammen sein, und werden durch uns selbst alles lauter erkennen. Dieses ist aber wohl das Wahre" (vgl. auch Phaidr. 250 BC). Also Lösung und Sonderung der Seele vom Leibe ist das Streben der Philosophie. „In der Tat", fährt er fort, „üben sich die auf die rechte Weise Philosophierenden im Sterben, und das Dort- sein ist ihnen am wenigsten unter den Menschen furchtbar."
Und so empfiehlt er auch im Theätet (176 A) diese Flucht aus der trüben Atmosphäre der Leiblichkeit. „Man muß versuchen von hier so bald als möglich zu den Sitzen der Götter zu fliehen."
Mit dieser Geringschätzung des Lebens scheint in Einklang zu stehen, wenn er uns in dem berühmten Gleichnis der Republik mit gefesselten Höhlenbewohnern vergleicht. Nicht minder, wenn er in den Gesetzen (644 DE) uns Menschen und die lebendigen Wesen überhaupt zu Draht- puppen macht, welche die Götter, sei es bloß zu ihrem Spielzeug, sei es zu einem ernsteren Zweck, gebildet haben. Denn gleichsam wie von inneren Drähten oder Schnüren werden wir durch die Regungen unseres Herzens geleitet, und, wenn sie einander entgegengesetzt sind, auch zu- einander entgegengesetzten Handlungen hingezogen.
Liest man derartige Äußerungen losgelöst von ihren weiteren Zu- sammenhängen, so möchte man meinen, Piaton stimme ein in den Chorus der Pessimisten, der bei den Griechen größer war als man denken möchte
Pessimistischer Ton 149
und zu dessen Sprecher Sophokles den Chor in seinem ödipus auf Kolo-
nos macht (OC 1225ff.):
Nicht geboren zu sein, was gäb's Bess'res? Nächstdem folget sogleich, Bist du geboren, eilenden Laufs Heimzukehren, woher du kamst. Denn ist der Jugend Zeit vorbei, Die in törichtem Frohsinn schwelgt, Wem blieb Kummer und Gram erspart? Wer war nicht an das Leid gebannt? Aufruhr, Streit und blutiger Mord, Kampf und Neid und, als letztes, droht Freundlos, freudlos des Alters Last, Wo der Rest sich der Kraft verzehrt, Leiden auf Leiden sich häufen.
Allein trotz allem, was wir von Weltflucht soeben aus dem Munde Piatons vernommen, würde er doch schwerlich sein Siegel unter diese Worte des Sophokleischen Chores gesetzt haben. Er sagt wohl auch gelegentlich (Legg. 803 B), die Angelegenheiten der Menschen seien eines großen und ernsten Eifers nicht wert; aber er fährt doch fort: „gleich- wohl müssen wir Eifer auf dieselben verwenden, wenn dies auch nichts Beglückendes für uns hat" (vgL RpL 486 A f., 604 C). Ja, gleich darauf nimmt er, von seinem darüber betroffenen Mitunterredner gemahnt, seine Weltschmerz atmende Äußerung so gut wie zurück. Und liest man im Phaidon, wo, wie das Vorige zeigte, das Sterben alles, das Leben nichts zu sein scheint, den Abschnitt über das freiwillige Abscheiden aus dem Leben, so wird man, zunächst wenigstens, eine gewisse Verwunderung nicht unterdrücken können, daß er den Selbstmord als eine eigenmäch- tige Durchbrechung der göttlichen Ordnung nicht zulässig findet. In den Gesetzen (Legg. 873 C) wird dem Selbstmörder nur ein unehrliches Be- gräbnis zugestanden, an einsamer, öder Stätte nahe den Landesgrenzen, ohne Denkstein und Namen. Nur unerträgliches Leid oder unvertilgbare Schande, oder allgemeiner, eine von Gott gesandte Notwendigkeit (so Phaid. 62 C) kann als Entschuldigungs- oder Erlaubnisgrund für den Selbstmord anerkannt werden.
Ist es ferner nicht unverkennbarer Ausdruck einer Art starken Dank- gefühles für das Gut des Lebens, wenn er in den Gesetzen (Legg. 717BC) es für die heiligste Pflicht erklärt, nächst den Göttern, den Eltern als denen, die uns dies Leben geschenkt, die innigste Verehrung zu zollen? „Heilige Pflicht ist," so läßt er sich vernehmen, „den Eltern die ersten und größten und die ältesten Schulden abzutragen und dafür zu halten, daß alles, was man hat und besitzt, denen angehöre, die uns erzeugt und
150 Dß'' ^^^ des Lebens
aufgezogen haben, und daß man es nach allen Kräften zu ihrem Dienste bereithalten müsse, zuerst das Vermögen, dann die Kräfte des Körpers und zum Dritten die der Seele, und daß man so das alte Darlehen von Sorge und Schmerz, welches sie einst im Übermaße in unserer Jugend für uns aufgewandt, ihnen wiedererstatte." ^)
Und nicht minder spricht es für den hohen Wert, den er dem Leben beilegt, wenn nicht nur rückwärts, nach der Seite der Eltern und Vor- fahren hin, sondern auch nach vorwärts, zugunsten der Fortpflanzung, die ernstesten Mahnungen aus seinem Munde ergehen. „Man muß heiraten," sagt er in den nämlichen Gesetzen (Legg. 721 C), „sobald man sein fünf- unddreißigstes Jahr erreicht hat, in Erwägung dessen, daß das Menschen- geschlecht in gewisser Art einen natürlichen Anteil an der Unsterblich- keit hat und eben deshalb auch jeder Mensch so stark als möglich eine natürliche Sehnsucht nach derselben empfindet: denn berühmt zu werden und nicht namenlos nach seinem Tode unter der Erde zu liegen ist eine solche Sehnsucht. Das Menschengeschlecht nämlich ist etwas mit der Gesamtheit der Zeit derart Verwachsenes, daß es unaufhörlich mit ihr fortläuft und fortlaufen wird, und es ist, indem es immer neue Ankömm- linge von sich hinterläßt und so stets das eine und selbige Menschen- geschlecht bleibt, insoweit unsterblich, als das ewige Werden dessen teil- haftig genannt werden kann. Dessen nun freiwillig sich zu berauben kann nimmer für recht gelten, und mit Vorsatz beraubt sich dessen, wer nicht nach Weib und Kindern Verlangen trägt."
Dieser Preis einer irdischen dGavacia, wie sie auch in einem bekannten Abschnitt des Gastmahls (206 Äff.) als die niedere Seite des Eros geschil- dert wird, hätte keinen Sinn, wenn dieses irdische Dasein etwas Gleich- giltiges, oder gar etwas Verachtungswürdiges wäre. Wenn Piaton selbst gleichwohl auf die Ehe verzichtet hat, so wäre es sehr voreilig, dadurch den Ernst seiner darauf gerichteten Mahnungen in Frage gestellt zu glauben. Dieser Verzicht hat Gründe, die wir zwar nicht kennen, an deren recht- fertigender Kraft wir aber bei einem Piaton zu zweifeln keine Ursache haben").
So viel ist darnach klar, daß dem Piaton das Leben ein zwar mit mannigfachem Ungemach behaftetes, aber durchaus nicht verächtliches Gut ist. Wäre dem nicht so, dann müßte man sich in der Tat auch wun- dern, daß er es verstanden hat, seinen eigenen Körper so trefflich zu konservieren, daß er es an Jahren noch über das biblische Maß hinaus
1) Noch ausführlicher in demselben Sinn Legg. 930 Eff.
2) Man wird schwerlich fehlgehen in der Annahme, daß Symp. 209 CD der für Piaton bestimmende Grund genügend angedeutet sei.
Wahre Schätzung- 151
gebracht hat. In den Briefen des Seneca (ep. 58) findet sich eine wohl wenig beachtete Stelle, die folgendermaßen lautet: „Zwar hatte Piaton von der Natur einen starken und kräftigen Körper erhalten und seine breite Brust hatte ihm den Beinamen Piaton gegeben: doch hatten See- reisen und Gefahren ihm viel von seinen Körperkräften entzogen. Allein Genügsamkeit, ein bescheidenes Maß in allen den Dingen, welche die Begierden wecken und wachsame Aufmerksamkeit auf sich selbst hat ihm, trotz vieler hindernder Umstände, zum Greisenalter verholfen. Denn du wirst ohne Zweifel wissen — so sagt er zum Adressaten — daß Piaton infolge dieser sorgfältigen Lebensweise 81 Jahre, und zwar voll- ständig, erreichte, indem er gerade an seinem Geburtstage starb."
Die Angaben, welche Seneca hier macht, mögen z. T. wenigstens nicht auf bester Überlieferung beruhen. Was aber über Piatons Kunst der Makrobiotik, insbesondere über die Wachsamkeit auf sich selbst in körper- licher Beziehung gesagt wird, das hat, wenn wir Piatons eigene Schriften, darauf hin ansehen, alle Wahrscheinlichkeit für sich. Freilich nicht in dem Sinn, als hätte er jede Zugluft ängstlich gemieden und seinen Körper wie ein Heiligtum gegen jeden Angriff von außen sorglich verwahrt — das ganz und gar nicht. Wohl aber in dem Sinn, daß er durch Gymnastik und wohlberechnete Zumutungen an Kraft und Ausdauer des Körpers die Leistungsfähigkeit desselben immer auf einer gewissen Höhe zu halten wußte.
Welch hohen Wert nämlich Piaton der Gymnastik beilegt, ist bekannt; weniger bekannt aber vielleicht, daß er ihr diesen Wert nur insofern zu- schreibt, als sie dem Geiste dient. Sehr bezeichnend ist in dieser Be- ziehung eine Stelle in den Gesetzen (728 E), die folgendermaßen lautet: „Wertvoll ist ein Körper nicht, wenn er Schönheit, Stärke, Behendigkeit, oder Größe besitzt, selbst nicht, wenn Gesundheit, obwohl dies vielen so scheint, noch auch, wenn das Gegenteil von dem, sondern was mitten inne liegt und von allen diesen Eigenschaften etwas an sich hat, ist bei weitem für die Besonnenheit am vorteilhaftesten und verheißt die meiste Sicherheit. Denn besitzt man sie in allzuhohem Grade, so machen sie die Seele aufgeblasen und vermessen; entbehrt man sie anderseits ganz, so wird die Seele dadurch kriechend und knechtisch gesinnt." 0
Also um des Geistes willen, nicht um bloßer körperlicher Vorzüge willen wird die Gymnastik empfohlen. Denn der Geist hat schon hier
1) Ähnlich Tim. 88 C: „Das allein Heilsame ist, wenn man weder die Seele ohne den Körper noch den Körper ohne die Seele übt, damit beide so ihrer gegenseitig sich erwehren können und dadurch ins Gleichgewicht kommen und gesund werden. Es muß also der, welcher die Wissenschaften oder sonst eine
152 Der Wert des Lebens
im Leben die Aufgabe, eine hohe göttliche Sendung zu vollziehen; dazu muß ihm durch den Körper eine möglichst lange und ungehemmte Wir- kung gesichert werden. Die Empfehlung der Gymnastik geht also bei Piaton ganz hervor aus dem Interesse, welches er an der Verbindung des Leibes mit der Seele, also am Leben hat.
Eben daraus ersieht man zugleich, daß Piaton nichts weniger war, als ein Freund der Verzärtelung. Der Körper soll durch gewohnheits- mäßige Anspannung der Muskeln dafür sorgen, daß auch der Geist über ein hohes Maß von Spannkraft verfüge zur Vollziehung der erhabenen Aufgabe, die ihm obliegt. Ein weichlicher und schwelgerischer Tagedieb war dem Piaton ein Greuel, ein eTuuciov dxöoc dpoupr|c. Die Zeit war ihm ein kostbares Gut, das in fruchtbarer Weise auszunutzen ihm als ernsteste Pflicht erschien. Und der Körper sollte sich dieser Anforderung niemals versagen. Nichts ist in dieser Beziehung bezeichnender, als was er in .den Gesetzen (808 B) über den Schlaf sagt: „Viel Schlaf taugt seiner Natur nach weder für Leib noch Seele und ist für alle ihre Verrichtungen hin- derlich. Hat man doch von einem Schlafenden nicht mehr als von einem Toten. Wem daher sein Leben und der Gebrauch seiner Vernunft von Wert sind, der wacht so lange als möglich und genießt nur so viel des Schlafes als es zu seiner Gesundheit erforderlich ist; das ist aber nicht viel, wenn man seine Natur nur richtig gewöhnt."
Wir dürfen keinen Augenblick zweifeln, daß Piaton an sich selbst diese strengen Anforderungen auf das peinlichste durchführte. Darin liegt z. T. das Geheimnis seiner gewaltigen geistigen Fruchtbarkeit. Es war nicht bloß der glückliche Genius, der ihm den Reichtum seines Wissens und die Ergiebigkeit seiner schöpferischen Tätigkeit spendete. Gewiß, er verdankte ihm viel, und ohne ihn hätte der Flug seines Geistes nie diese Höhe genommen. Aber sein Genie fand den besten und wirksamsten Bundesgenossen in der eisernen Willenskraft, die jede nicht unumgäng- lich notwendige Ruhe, jeden unnützen Zeitvertreib, jede Tändelei und ge- schäftig scheinende Nichtstuerei als einen Abbruch an dem betrachtete, was ihm als heilige Pflicht erschien.
Seine Verachtung gegen alle Faulenzerei war so groß, daß sie nicht bloß den genußsüchtigen Müßiggänger mit der Schärfe ihres Hasses traf, sondern sich mit einer uns fast abstoßend erscheinenden Härte auch gegen diejenigen richtete, die durch ein vielleicht unverschuldetes Schicksal zur
Geistesübung mit Anstrengung betreibt, zugleich auch dem Körper die nötige Bewegung gewähren, indem er dem Turnen obliegt, und wiederum wer den Körper sorgfältig bildet, muß zugleich auf die Regsamkeit der Seele bedacht sein usw."
Gymnastik • Ärztliche Kunst 153
Untätigkeit verurteilt worden sind. Wer körperlich gelähmt, durch Leiden geschwächt in einen Zustand geraten ist, der ihn zum Arbeiten unfähig macht, dabei aber doch alles tut, um sein untätiges Leben durch ärztliche Kunst weiter zu fristen so lange als nur immer möglich, der findet vor Piatons Augen keine Gnade. „Ein Leben", sagt er im Gorgias (505 A), „bei elendem Leib frommt, denke ich, dem Menschen nicht. Denn das Leben, das er so führt, muß notwendigerweise auch ein elendes sein" (vgl. Krit. 47 DE).
Vor der ärztlichen Kunst hegte Piaton bekanntlich im allgemeinen hohe Achtung, und schon die große Zahl von Stellen in seinen Schriften, in denen er ihrer in den verschiedensten Beziehungen gedenkt, legt Zeugnis ab von der Bedeutung, welche er ihr beimaß. Ob er aber mit der heutigen Medizin, ungeachtet der gewaltigen Fortschritte, die sie gemacht, in allen Stücken einverstanden sein würde, darf billig bezweifelt werden. Unsere heutige Medizin betrachtet unter dem Einfluß teils eines gewissen Humani- tätsideals, teils gewisser juristischer Anforderungen, teils vielleicht auch des Stolzes auf das eigene Können, die möglichst lange Erhaltung des Lebens selbst unter den hoffnungslosesten Umständen als eine ihrer Aufgaben nicht nur, sondern geradezu als eine ihrer Pflichten. Einer solchen Auffassung würde Piaton den lebhaftesten Widerspruch entgegengesetzt haben. So hoch er den ärztlichen Beruf, wie gesagt, schätzte — war ihm doch der Arzt für den Körper dasselbe was der Philosoph für die Seele, und das will viel sagen — so wollte er doch diese Kunst durchaus nicht zur bloßen Verlänge- rung des Lebens angewendet sehen. Gerade zu seiner Zeit hatte die Medizin- eine Wendung genommen, die in der angedeuteten Richtung lag. Piaton mißbilligt diese Richtung nicht nur, sondern er spottet geradezu über sie als über eine vocoipocpia, wie er sie nennt, eine Krankheitsfütterung. Man höre, wie er sich darüber ausläßt (Rpl. 406 Äff.): „Der jetzigen, die Krank- heiten pflegenden und erziehenden Heilart haben sich die alten Askle- piaden nicht bedient. Erst Herodikus hat sie aufgebracht. Herodikus nämlich, welcher Meister in Leibesübungen war, hat, als er kränklich wurde, seine Gymnastik in die Heilkunde hineingemischt und dadurch zuerst und am meisten sich selbst abgequält, hernach aber auch viele andere. Da- durch machte er sich den Tod nur lang. Denn seiner Krankheit, welche tödlich war, immer nachgehend, konnte er, glaube ich, sich selbst nicht heilen und lebte so, ohne sich mit etwas anderem zu beschäftigen, immer an sich herumdokternd, fort, elend, sobald er nur im mindesten von der gewohnten Lebensart abwich; und so brachte ihn seine Kunst in einem schweren Sterben bis zu einem hohen Alter. So trug er den Lohn da- von, der sich gehörte für einen, der nicht bedachte, daß Asklepios keines-
154 Dß'" Wert des Lebens
wegs aus Unwissenheit oder Unerfahrenheit in dieser Gattung der Heil- kunst sie seinen Nachkommen nicht gezeigt hat; sondern weil er wußte, daß überall, wo man auf gute Ordnung hält, jedem ein Geschäft aufge- tragen ist im Staate, das er notwendig verrichten muß, mithin niemand Zeit hat, sein Leben lang krank zu sein und an sich heilen zu lassen, was wir, lächerlich genug, bei gemeinen Arbeitern zwar bemerken, bei den Reichen aber, und die für glücklich gepriesen werden, nicht bemerken. Denn wenn ein Zimmermann krank ist, so läßt er es sich wohl gefallen, ein Mittel vom Arzt hinunterzuschlucken, um die Krankheit wegzuspeien, oder sich ein Abführungsmittel geben zu lassen oder auch durch Brennen und Schneiden sie los zu werden. Wenn ihm aber einer eine kleinliche Lebensordnung vorschreiben wollte, ihm Umschläge um den Kopf legen und was dergleichen mehr ist, so sagt er gewiß bald genug, er habe keine Zeit krank zu sein und es helfe ihm auch nicht zu leben, wenn er immer auf die Krankheit achthaben und sein vorliegendes Geschäft ver- säumen solle. Und somit empfiehlt er sich gehorsamst einem solchen Arzt, begibt sich in seine gewohnte Lebensordnung zurück, und wenn er gesund wird, lebt er in seinem Geschäft weiter fort; wenn aber der Körper es nicht ertragen kann, so stirbt er eben und ist aller Händel ledig."
Man sieht, Piaton gehört nicht zu den Lauen, die weder warm sind noch kalt. Entschiedenheit, Energie ist ein Grundzug seines Wesens. Er fordert etwas vom Leben, er fordert viel von ihm. Und eben dadurch bezeugt er am besten, daß ihm das Leben nichts weniger als wertlos ist. Er ist durchdrungen von der Überzeugung, daß wir im Leben etwas Ernst- liches auszurichten berufen sind, und er fühlt die Kraft und den Mut in sich, diesem Rufe zu folgen. Wer von diesem Bewußtsein erfüllt ist, der ist kein Lebensverneiner, sondern ein Lebensbejaher; das Leben ist ihm kein gleichgiltiges Nichts, sondern eine hohe Aufgabe, die im engsten Zusammenhang steht mit seinem Idealismus. Denn dieser Idealismus war nicht die Frucht müßiger Träumerei, wofür er im Altertum schon vereinzelt, in der Folgezeit vielfach, nicht am wenigsten von den Vertretern materia- listischer Philosopheme ausgegeben worden ist. Am Leben selbst und mit ihm hatte sich sein Idealismus beglaubigt und bewährt. Mag dies Leben auch vom Ideal noch weit entfernt sein, es hat doch seine be- stimmte Beziehung zu ihm. Denn das Höchste und Beste, was das Leben bieten kann, verdankt es eben nichts anderem, als dem Glauben an das Ideal.
Damit stehen wir unmittelbar vor der Lösung der Frage, die uns be- schäftigt. Diese Lösung läßt sich am kürzesten und bestimmtesten geben durch die Worte des Sokrates im Kriton (p. 48 B): ou t6 lr\v irepi TiXei-
Lösung der Frage 155
CTOu TTOiriTeov, dXXd tö eu lr\v. lö he eu Kai KaXüjc kqi biKaiuuc rauTov €CTiv „nicht dem bloßen Leben kommt der höchste Wert zu, sondern dem gut Leben. Das ,gut* Leben aber ist dasselbe wie das schön und ge- recht Leben". Mit andern Worten: nicht das leibliche, vegetative Leben für sich hat den Wert; der Wert des Lebens liegt einzig und allein in dem Geiste und in der Erfüllung der Forderungen, die er mit seiner reinen, d. h. vom Körper nicht beeinflußten Stimme an uns stellt. Diese Forde- rungen aber gehen auf das sittlich Gute, das eins ist mit der Schönheit der Seele. „Wir sind keineswegs," heißt es in den Gesetzen (707 CD), „wie die meisten Menschen, der Meinung, daß das bloße Erhaltenwerden und Fortbestehen das Wertvollste für uns ist, sondern, daß wir so tugend- haft als möglich werden und es bleiben, so lange wir sind." Und an anderer Stelle (727 C): „Wenn man das Leben unter jeder Bedingung für ein Gut hält, ehrt man die Seele nicht, sondern schändet sie" (vgl. auch Legg. 874 D).
Piaton also, so können wir die Sache formulieren, achtet das Leben gering, wenn es nur dieser Leiblichkeit dient, und noch viel geringer, wenn es der Schande dient. Er achtet es hoch, wenn es Nützliches schafft, und vor allem, wenn es der Ehre und Gerechtigkeit, wenn es der Schön- heit des Geistes dient. Der Leib ist nur die Hülle des Geistes; aber eben insofern er dies ist, beansprucht er diejenige Fürsorge und Pflege, die ihn, nicht zum Hemmnis, sondern zu einem gefügigen und bereiten Diener des Geistes macht. Das Leben soll die verkörperte Vernunft werden (Legg. 853 E), der \6toc, oder, wie er, mit den Worten spielend, sagt, der vöoc soll v6|uoc werden (Legg. 713 E, 644 D, 957 C).
Keine Philosophie kann einen höheren und in dem Wesen der Ver- nunft besser gegründeten Standpunkt gewinnen. Und es hat ihn keine gewonnen. Auch die Kantische nicht. Ja Kant zielt mit seinen Forde- rungen nur auf das von der Vernunft unbedingt Geforderte, auf das Pflicht- gebot. Piatons eu lr\v dagegen fällt ganz zusammen mit dem KaXujc lr\v und geht auf die Schönheit der Seele. Die volle Schönheit der Seele setzt aber die Erfüllung des Pflichtgebotes eigentlich schon voraus. Die Notwendigkeit der letzteren hat uns Kant gelehrt. Daß damit aber nur die conditio sine qua non wahrer Sittlichkeit, aber noch nicht die Fülle der Seelenschönheit als der Blüte der Sittlichkeit gegeben ist, das ist ihm nicht klar geworden. Mit voller Schärfe hat uns dies, den von Schiller ein- geschlagenen Weg weiter verfolgend, erst Fries gezeigt, indem er neben die Notwendigkeit der Pflicht die reine Liebe als eine Sache der Wahl stellt. Sie ist der Quell des Edeln im Unterschied des streng Pflicht- mäßigen. In der platonischen Gleichstellung von eu lr\v und KaXüuc Z:f|v
156 Der Wert des Lebens
drückt sich, der Tendenz nach, diese Vereinigung von Pflicht und reiner Liebe aus. Aber zur wissenschaftlichen Erkenntnis der ersteren ist Piaton noch nicht durchgedrungen, so wenig wie die Alten (iberhaupt.
Die griechische Philosophie hat in ihrer edleren Entwicklung durch- aus an den Ansichten des Piaton festgehalten; vor allem sein größter Schüler Aristoteles. Die ganze Ethik des Aristoteles, wie sie uns in den Nikomachien vorliegt, gibt davon ein einziges großes Zeugnis. Aber wenn Aristoteles das Verdienst beanspruchen darf, dieser ganzen Lehre die sichere systematische Darstellung und feste Gliederung gegeben zu haben, so hat er es doch nicht in dem Maße wie Piaton vermocht, dem das Ganze belebenden Grundgedanken jene packende, ja man könnte sagen flammende Kraft zu verleihen, mit der ihn der Schwung des platonischen Geistes auszustatten verstand, daß er wie mit sinnlicher Gewalt auf uns wirkt.
Es lohnt sich, einige der bezeichnendsten Stellen aus Piaton mitzu- teilen.
„Nicht recht" — so läßt er seinen Sokrates in der Apologie (28 BC) sprechen zu denen, welche die Erhaltung des Lebens unter allen Um- ständen zu einem Hauptgebot machen — „nicht recht redet derjenige, der da meint, ein Mann, der auch nur irgendwie auf sich hält, dürfe Ge- fahr um Leben oder Sterben in Anschlag bringen, und müsse nicht viel- mehr einzig darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es gerecht oder unge- recht sei, was er tut, ob das Werk eines guten Mannes oder eines bösen. ^) Was sollten wir denn sonst von den Göttersöhnen halten, die bei Troja gefallen sind? Was vor allem von Achill? Als seine Mutter Thetis in zärtlicher Besorgnis ihn davon abzubringen sucht, den Tod des Patroklos an Hektor zu rächen, weil ihm selbst dabei der frühzeitige Tod drohe, da erwidert er voller Unmut:
»Lieber stürb ich sogleich*
als daß ich den Freund ungerächt ließe und selbst in Schande lebte, eine nutzlose Last der Erde." „Recht so!" ruft Sokrates dem Achill zu. „Denn wo einer", so fährt er fort, „sich selbst als auf seinen Posten hinstellt, weil er überzeugt ist, da sei es am besten für ihn, oder wo ihm derselbe von seinem Gebieter angewiesen wird, da muß er, wie mich dünkt, auf jede Gefahr hin bleiben, und weder Tod noch sonst irgend etwas für schlimmer achten als die Schande." Und ganz dementsprechend sagt
1) Ganz ähnlich auch im Gorgias (522 E): ,,Das Sterben an sich fürchtet niemand, wer nicht durchaus unvernünftig und unmännlich ist, aber das Unrecht- tun fürchtet man."
Belege • Aristoteles 157
dann weiterhin (Apol. 39 A) Sokrates von sich selbst: „Weder vor Gericht noch im Kriege darf ich, so wenig wie irgend ein anderer, darauf denken, alles zu tun, um dem Tode zu entgehen. Der Mittel gibt es ja viele, dem Tode zu entgehen, Flucht, Bitten an die Verfolgenden und was sonst. Aber nein! nicht dem Tode zu entgehen, sei unsere Aufgabe — sie ist oft leicht genug — sondern der Schlechtigkeit und das ist schwerer; denn die Schlechtigkeit läuft schneller als der Tod" (vgl. auch Gorg. 527 B).
Diese Worte, wie sie Piaton den Sokrates sprechen läßt, nicht um der Worte willen, sondern auf daß sie alsbald durch die Tat bewährt werden, kommen aus dem Munde eines Siebenzigjährigen. Aber jeder hat das Gefühl, daß Sokrates sie ebenso gesprochen haben würde, wenn er erst dreißig Jahre alt gewesen wäre. Nicht die Dauer des Lebens, sondern sein Inhalt macht seinen Wert aus. Das ist die herrliche Weis- heit, die uns mit so leuchtender Kraft daraus entgegentritt. „Der Edle", sagt Aristoteles (Eth. Nie. 1199a 23) so treffend wie schön, durchaus im platonischen Geiste, „wird es unzweifelhaft vorziehen, ein einziges Jahr schön und groß zu leben, als viele Jahre in gemeiner Alltäglichkeit, eine einzige schöne und erhabene Tat zu vollbringen, als viele unbedeutende."
Wie viele längere oder kürzere Stellen gibt es bei Piaton, über welche diese Worte des Aristoteles als Motto gesetzt werden könnten. Wie eifert er (z. B. Legg. 831 Äff.) in heiliger Entrüstung gegen die niedrige, nichts anderes als ihren elenden Zweck kennende Habgier, wie vernichtend trifft er mit seinem Spott die bestialische Sinnenlust, wie grollt und donnert er gegen alle Niederträchtigkeiten, Erbärmlichkeiten und kleinlichen Tor- heiten, mit denen die Menschen ihr Leben nicht füllen, sondern entehren.
Nirgends aber hat er wohl anschaulicher, weil im Bilde, und zugleich packender uns gezeigt, wie er über den Wert des Lebens denkt, als im Gorgias (511 Bf.) durch die Einführung des „philosophischen" Steuer- manns, wie ich ihn nennen möchte. „Meinst du," heißt es da, „das Streben der Menschen müsse sich darauf richten, daß man so lange als möglich lebe, und die Künste müsse man üben, welche uns aus jeder Art von Gefahren erretten, wie z. B. die Redekunst uns vor Gericht rettet? Oder die Kunst des Schwimmens? Oder, wenn diese zu geringfügig scheint, so will ich eine wichtigere nennen, die Steuermannskunst, die nicht bloß das Leben rettet, sondern auch Hab und Gut und zwar aus der äußersten Gefahr, so gut wie die Redekunst. Sie ist jedoch zurückhaltend und be- scheiden und tut nicht groß und gibt sich das Ansehen, als brächte sie etwas Wundergroßes fertig, sondern, wenn sie dasselbe geleistet hat wie die gerichtliche Rede, wenn sie aus Aegina hierher jemand gerettet hat, fordert sie, denk ich, zwei Obolen, und wenn aus Ägypten oder vom
158 Der Wert des Lebens
Pontos, fordert sie, wenn's hoch kommt, für diese große Wohltat, daß sie, wie ich eben sagte, einen selbst, seine Kinder, Vermögen und Frau gerettet hat, bei der Landung im Hafen zwei Drachmen, und der Mann selbst, der diese Kunst besitzt und das geleistet hat, steigt aus und geht am Meeresstrand und seinem Schiff entlang spazieren in bescheidenem Gewände. Denn er weiß, denk ich, in Rechnung zu ziehen, daß es un- gewiß ist, wem von den Mitreisenden er wirklichen Nutzen gebracht hat, daß er ihn nicht hat im Meere ertrinken lassen, und wem Schaden. Denn er sagt sich mit Recht, daß er sie um keinen Deut besser hat aussteigen lassen, weder an Leib noch Seele, als sie einstiegen. Er findet, daß wenn jemand mit großen, unheilbaren Krankheiten am Leibe behaftet, nicht er- trank, der Mann unglücklich ist, weil er nicht umkam, und daß er durch ihn keinen Nutzen erlangt hat. Wenn aber jemand an dem Teile seines Ich, das mehr wert ist als sein Leib, an der Seele nämlich, viele unheil- bare Krankheiten hat, dem soll das Leben wertvoll sein und dem soll es nützen, wenn man ihn aus der Gewalt des Meeres und des Gerichtes und wo immer sonst her rettet? Nein, er weiß, daß für den schlechten Men- schen das Leben nicht gut ist. Denn der muß notwendig schlecht leben." Dieser schlichte Steuermann stellt äußerlich weit weniger vor als jener prunkhafte Redner, jener gerichtliche Lebensretter, der sich wohl hüten würde als Mann aus „guter Familie" seine Tochter dem Steuermann zur Frau zu geben; und doch, wie viel besser weiß er, was dem Menschen wahrhaft frommt. „Denn er weiß, daß wer ein wirklicher Mann ist, das Streben aufgibt, so lange zu leben als nur irgend möglich, sondern dar- über die Entscheidung der Gottheit anheimstellt und seinerseits alle Sorge darauf richtet, auf welche Weise er die Zeit, die ihm beschieden ist, so gut wie möglich lebe" (vgl. Lach. 195 DE, Phaid. 62 A).
Ein glücklicheres Bild als diesen prunklosen Steuermann im Gegen- satz zu dem anspruchsvollen Redner hätte Piaton nicht wählen können, um seiner Einschätzung des Lebens einen volkstümlichen Hintergrund zu geben. Auf der einen Seite der eingebildete, hochnäsige Redner, der sich wer weiß was darauf zugute tut, wenn er einen Erzschurken vor Gericht rein gewaschen hat. Ihm gegenüber der bescheidene, biedere, wortkarge Mann aus dem Volke, der kein Aufhebens macht von seiner weit gefahrvolleren Rettungstat. Und warum nicht.^ Weil er, wie Piaton mit genialer Wendung des Gedankens bemerkt, ja nicht weiß, ob es nicht für manchen seiner Passagiere besser gewesen wäre, in den Wellen den Tod zu finden.
Das platonische Bild hat Nachahmer gefunden. Oder wäre unser Mörike ganz aus eigener Eingebung darauf verfallen, ohne Kenntnis Pia-
Der philosophische Steuermann 159
tons oder Erinnerung an ihn? Unmöglich wäre es nicht und für Mörikes Begabung sicherlich kein schlechtes Zeugnis. Man höre:
An meinen Arzt, Herrn Dr. Elsäßer.
Siehe, da stund ich wieder auf meinen Füßen und blicke
Froh erstaunt in die Welt, die mir im Rücken schon lag! Aber ich spreche von Dank dir nicht: du liesest ihn besser
Mir im Auge, du fühlst hier ihn im Drucke der Hand. Ich glückseliger Tor, der ich meine, du solltest verwundert
Über dich selber mit uns sein, ja gerührt so wie ich! Doch daran erkennen wir dich — den schwindelnden Nachen
Herrlich meisternd, fährt ruhig der Schiffer ans Land, Wirft in den Kahn das Ruder, das, ach! so viele gerettet,
Laut umjauchzen sie ihn, aber er achtet es kaum; Kettet das Schiff an den Pflock, und am Abend sitzt er beim Kruge,
Wie ein anderer Mann, füllet sein Pfeifchen und ruht.
Das nämliche Bild, und in dem einzigen „ach" auch die Tiefe der platonischen Anschauung für den Aufmerksamen hinreichend angedeutet! Die Schlechtigkeit macht unwürdig zum Leben und dem hartnäckig Un- gerechten ist es weit besser zu sterben als zu leben. Das ist Piatons un- umstößliche Überzeugung. Wenn unser großer Dichter sagt, „ein unntitz Leben ist ein früher Tod", so würde Piaton das viel zu milde finden. Er würde sagen, „einem unnützen Leben gebührt der Tod, der mög- lichst frühe Tod".
Zeigt sich also unser Philosoph unerbittlich gegen Niederträchtigkeit und Verworfenheit der Gesinnung, so bemüht er sich anderseits, gewisser- maßen zum lobenden Ansporn für den steilen Pfad der Tugend, durch die Schärfe seiner Dialektik dem Gerechten und sittlich Tüchtigen den Preis zuzusichern auch hinsichtlich der Annehmlichkeit, der Lust (f|bovr|) des Lebens. Das gerechteste Leben ist das angenehmste (nbicToc). Diese These verficht er, wie in andern Schriften, so besonders in den Gesetzen (662 Äff., 733 Äff.) mit dem ganzen Gewicht seiner dialektischen Kunst. Es kommt hierbei darauf an, den Begriff der fibovri in einer dieser An- schauung entsprechenden Weise zu deuten. Und das tut Piaton mit einer gewissen souveränen Verachtung gegen vulgäre Vorstellungsweisen. Wir werden seinem sittlichen Eifer gern die Überspannung der Begriffe ver- zeihen, ohne die es dabei nicht abgeht. Drückt sich darin doch der un- erschütterliche Glaube aus an die Macht und den Sieg des Guten, ein Glaube, dem sich das natürliche Bestreben zugesellt, seinem herrlichen Grundgedanken durch den Hinblick auf den lockenden Lohn eine wer- bende Kraft zu verschaffen und so das heilige Feuer, das in seinem Herzen glühte, auch in anderen zu entzünden.
150 ^^^ Wert des Lebens
Dies süßeste Leben, das eu Ifjv und der nbicioc ßioc in Eins zu- sammengefaßt, ist eine Frucht der sittlichen Arbeit, die wir an uns selbst verrichten. Denn der Wille des Menschen ist frei. Nur sein äußeres Schicksal steht unter dem Zwange der Naturnotwendigkeit. Das sagt uns, wie der ganze Geist der platonischen Philosophie, so der Mythus am Schlüsse der Republik. Das im Präexistenzzustand erwählte Lebenslos fesselt uns im übrigen an den Zwang, aber die Tugend ist herrenlos, dpeif-i dbecTTOTov. Über sie entscheiden wir selbst. Sie ist keinem von vornherein versagt. Du brauchst nur ernstlich zu wollen, und du kannst ein lobenswertes und damit zugleich glückliches Leben führen (vgl. Phaid. 99 B ti] toO ßeXTiCTOu aipecei). Wollten alle Menschen sich ernst- lich in diesem Streben zusammenfinden, so könnten wir so etwas wie ein Gottesreich schon hier auf Erden zustande bringen.
Darin liegt, wie man bemerken wird, zugleich der tiefere philosophi- sche Grund, der uns den Wert des Lebens nach Piaton verbürgt. Ist es auch eine untergeordnete und mangelhafte Daseinsform, in der wir hie- nieden wirken, so ist doch unser Geist der Fähigkeit nicht beraubt, trotz aller äußeren Hemmnisse und Beschränkungen, an die wir hier gebannt sind, sich der Gottähnlichkeit zu nähern. Das ist das Eine. Das Andere, das hier in Betracht kommt, ist dies, daß diese Daseinsform mit allen Mängeln, die ihr anhaften, ein Stück der göttlichen Weltordnung ist, der wir uns demütig beugen und deren, wenn auch uns oft unbegreifliche, höhere Bedeutung wir anerkennen müssen (Phaid. 62 BC).
Niemals hätte sich Piaton dazu verstanden, der Weltflucht eines christ- lichen Mönchs oder gar eines buddhistischen Büßers das Wort zu reden. Dazu gehört eine krankhafte Grundstimmung, ein ungesundes Tempe- rament, mit dem wir bei Piaton nicht rechnen dürfen. Er glaubt, wie nur je ein Christ, an ein besseres Jenseits; aber er hat für das Diesseits eine andere Stimmung übrig, als die der reinen Verachtung, wenn auch eine Anwandlung derselben ihn vorübergehend einmal überkommen mochte. Ein reiner Weltverächter wird wohl Entsagung, Resignation zeigen oder auch Verbitterung und Verdüsterung, aber er wird niemals über jenen göttlichen Humor gebieten, der uns bei Piaton auf Schritt und Tritt er- frischt und erfreut. In diesem Humor spiegelt sich der in Piatons Brust so stark gefühlte Kontrast zwischen Diesseits und Jenseits, aber doch immer so, daß die Teilnahme für das Diesseits und die Freude daran nichts weniger als unterdrückt ist. Denn das ist ja gerade das Wesen des Humors, daß er dasselbe zugleich als lächerlich und liebenswürdig, als trübselig und freudig darstellt.
Hier angelangt werfen wir noch einmal den Blick rückwärts zu jenen
Sinn der Weltflucht 161
Auslassungen Piatons, mit denen wir unsere Betrachtung begannen und die einen Standpunkt zu verraten schienen, der dem hier betonten nahe- zu entgegengesetzt ist.
Am bestimmtesten und schärfsten klang das Motiv der Todessehn- sucht, der Absage an das Leben uns aus dem Phaidon entgegen. Es ist, als ob es gälte, dem düstern Fährmann, dem Charon, einen Hymnus zu singen, als dem Erlöser und Heilbringer. In geheimnisvollem Tone läßt Piaton die Philosophen untereinander (-rrpöc dXXriXouc S. 66B, 67 B), wie Adepten, sich das Evangehum der Erlösung mitteilen.^)
Nimmt aber eben diese Geheimnistuerei, mit nüchternen Augen be- trachtet, sich nicht aus wie eine artige Mystifikation? Welchen Grund haben denn unsere Weltweisen, mit ihrer wahren Ansicht vom Leben sich so sorgsam zu verstecken? Wer die Sinnes- und Darstellungsweise Piatons kennt, wird bald erraten, worauf das hinaus will. Alle Geheim- niskrämerei, namentlich der Priester mit ihrer Sühneweisheit, ist ihm ein Gegenstand des Spottes (vgl. Polit. 290CD). So birgt sich auch hinter der erwähnten geheimen Weisheit unserer Philosophen, vom Standpunkte dessen, der sie erwähnt, wenn man schärfer zusieht, nichts anderes als ein Stückchen Schalkhaftigkeit.
Denn — so darf man fragen — ist wirklich dies Evangelium des Todes das wahre Credo Piatons auch nur für die Zeit, in der er den Phaidon geschrieben? Man bedenke doch, worauf es ihm im Phaidon zunächst ankommt: es gilt Trostgründe aufzusuchen für den Tod, es gilt für den Tod zu plädieren. Man bedenke ferner, über welche Darstellungs- mittel die Kunst eines Piaton gebietet. Alle Mittel dieser Kunst wendet er auf, um erstens den Sokrates als Vorbild hinzustellen dafür, wie ein echter Philosoph dem Tod ins Auge schauen soll, und zweitens durch die ergreifende und unmittelbar, wie sinnlich, wirkende Macht dieses Vorbildes den Beweisgründen für die Unsterblichkeit der Seele eine Überredungskraft mitzuteilen, wie sie die bloße Logik und Metaphysik nimmermehr erreichen kann. Sokrates soll, weit entfernt vor dem Tod zu zagen, durch seine Worte wie durch sein Verhalten die untröstlichen Freunde davon überzeugen, daß der Tod kein Übel ist, daß er im Grunde nur das ist, worauf die Arbeit des Philosophen beständig vorbereitet hat, die Trennung der Seele vom Leibe. Inwiefern dies? Weil die Sammlung der Seele in sich, als Bedingung alles wahren Denkens, die möglichste Abwesenheit und Abkehr jeder körperlichen Störung voraussetzt. Der
1) Nicht ohne einen leisen Anflug von Ironie kommt Aristoteles in der Psychologie I, 2 p. 407'' 2 auf diese Stelle des Phaidon zu sprechen und meint, das stimme nicht mit dem Timäus.
Apelt: Platonische Aufsätze. 11
152 ^^^ Wert des Lebens
Körper mit seinen Ansprüchen ebenso wie mit seinen Unzulänglichkeiten scheint der wahre Feind des Philosophen, als des Vertreters des Geistes- reiches. Es bedarf nur einer kleinen Anspannung der Begriffe, einer leb- hafteren Akzentuierung gewisser Worte, um aus dieser hochgesteigerten Bedeutung der rein geistigen Atmosphäre und aus jener Zurückdrängung alles Körperlichen dasjenige zu machen, worauf hier die ganze Situation, künstlerisch genommen, hindrängte: das Sterbenwollen. Es soll damit den weiterhin aufzusetzenden Farbentönen derjenige Grundton unter- gelegt werden, der dem ganzen Gemälde seine charakteristische einheit- liche Stimmung gibt.
Es findet sich in den „Gesetzen" eine, wie es scheint, kaum bemerkte Stelle, in der Piaton Leben und Tod gegeneinander abschätzt. Bei Ein- setzung nämlich der Götterfeste in seinem neuen Staat, zu Beginn des achten Buches, kommt er auch auf die unterirdischen Gottheiten zu sprechen, für deren Ehrung er besonders eintritt. Auch sie müssen ihre eigenen, von den übrigen getrennten Feste erhalten: es ist wichtig, daß sich vor allem die kriegerischen Männer mit dem Gedanken an den Tod versöhnen. „Denn", so fährt er fort (828 E), „die Vereinigung von Seele und Körper ist in keiner Weise besser als ihre Trennung; das ist mein aufrichtiger Ernst." In der Tat ist es ihm damit Ernst. Und zwar läßt die Situation selbst, die ja auf Anregung des Todesmutes hinaus- läuft, klar erkennen, daß mit dieser Wendung des Ausdrucks, die dem Leben seinen Wert nichts weniger als abspricht, sondern ihn nur nicht höher anschlägt, als den Zustand nach dem Tode, schon eigentlich das Äußerste dessen bezeichnet ist, was Piaton zugunsten des Todes ein- zuräumen gewillt ist. Es stellt sein wahres Glaubensbekenntnis dar, auch, wie ich behaupte, für die Zeit, da er den Phaidon schrieb.
Man braucht übrigens nur den Theätet (176 A) zu vergleichen, um zu erkennen, was es mit der Todessehnsucht, was es mit der Weltflucht im Phaidon auf sich hat. Denn auch der Theätet kennt diese Weltflucht sehr gut. Ich schloß mein zu Anfang dieses Aufsatzes gegebenes Zitat aus diesem letzteren Dialog mit den Worten: „man muß versuchen von hier so rasch als möglich zu den Sitzen der Götter zu fliehen." Jeder wird diese Flucht zu den Sitzen der Götter doch zunächst auf das Ster- ben, auf den Tod deuten. Aber nun höre man, was folgt: „Die Flucht aber ist die möglichste Verähnlichung mit Gott (öjLioiujcic tlu 9euj). Die Verähnlichung besteht aber darin, daß man mit klarem Bewußtsein ge- recht werde und fromm."') Es zeigt sich also durch Piatons eigene Aus-
1) Genau dieselbe Deutung der öiaoiuucic tuj Beuj findet sich auch in den Gesetzen p. 716 B C.
Der Phaidon 163
legung, daß nicht das Sterben gemeint sei, sondern die Erlangung wahrer Tugend. Nicht der Tod, sondern das rechte Leben, das eu Zlfjv, erscheint als das Ziel des Weisen. Gerade das Leben ist die Bühne, auf der wir diese ojuoiujcic tuj 06uj an uns zur Darstellung bringen sollen. Es handelt sich also nur um einen bildlichen Ausdruck, und das Kunst- stück im Phaidon besteht darin, daß Piaton das Bild unvermerkt zur Sache werden läßt.
Man kann den Standpunkt, den es Piaton gefallen hat im Phaidon einzunehmen, auch noch von einer anderen Seite illustrieren. Hat er hier nämlich ein Merkmal philosophischer Denkarbeit, das Absehen von allem Körperlichen, bis zur äußersten Grenze des Begriffes gesteigert, so daß unvermerkt eine Grenzüberschreitung erfolgen kann, so hat er es ander- seits wohlweislich unterlassen, ein anderes Merkmal derselben Tätigkeit und zwar ein solches, das stark für die Diesseitigkeit ins Gewicht fällt, irgendwie bestimmt zu erwähnen. Der Philebos, die Republik, die Ge- setze und andere Dialoge kennen es recht wohl und betonen es. Ich meine die innere Befriedigung, die Lust, die f|bovri, die dem reinen Denken hienieden im Leben in um so höherem Maße zur Begleiterin be- schieden ist, je höher und reiner der Gegenstand ist, mit dem es sich beschäftigt. Ist doch auch dem Aristoteles die denkende Lebensweise, der ßioc 6euüpr|TiK6c, die beglückendste, die es geben kann.
So fällt denn nun auch ein Licht auf die etwas sonderbar erschei- nende Beurteilung, welche der Selbstmord im Phaidon erfährt. Wenn die ganze Tendenz des Phaidon den Selbstmord eher zu begünstigen als abzuwehren schien, gleichwohl aber in dem Dialog der Selbstmord als unzulässig hingestellt ward, während die Gesetze ihm einen gewissen Spielraum einräumten, so ist aus dem, was wir vorgetragen, ersichtlich, daß sich dies sowohl miteinander, wie mit dem Geiste des Ganzen recht wohl verträgt. Piatons Lebensansicht ist eine durchaus einheitliche; das eu Z;fiv ist ihr unverrückbarer Mittelpunkt. Von diesem aus erklären sich alle scheinbaren Schwankungen. Das Leben, als die Tafel, auf die der rechte Lebenskünstler ein herrliches Gemälde aufzeichnen kann, ist im allgemeinen der Erhaltung und Schonung in hohem Maße wert. Soll die Tafel aber leer bleiben oder gar beschmutzt werden, so ist es besser, sie wird gewaltsam in Stücke gebrochen und vergraben. So dürfen, so müssen wir des Piaton Ansicht deuten, wenn auch nicht geleugnet wer- den soll, daß der Ausdruck hier bei ihm, vielleicht unter dem Bann einer gewissen religiösen Scheu, etwas Zurückhaltendes und Verschlei- erndes hat.
Diejenigen, welche dem Piaton sozusagen eine zwiefache Seele in
11*
J54 ^^^ Wert des Lebens
bezug auf seine Lebensauffassung geben, verfehlen selbstverständlich nicht, sich auch auf das berühmte Höhlengleichnis zu berufen, dessen auch wir oben in unseren einleitenden Bemerkungen gedacht haben. Allerdings eine starke Demütigung für den menschlichen Stolz, sich von seiner geträumten Höhe in diese Tiefe und Finsternis eines mehr als subalternen Daseins hinabgedrückt zu sehen. Aber eben nur im Gleich- nis, und zwar in einem Gleichnis, das für den Wert des Lebens unmittel- bar gar nichts besagt, da es ja nur dienen soll, die verhältnismäßige Minderwertigkeit unserer Erkenntnisweise, ihren Abstand von dem reinen Schauen des wahren Seins, uns zu veranschaulichen. Das Tertium comparationis ist die Beschränktheit unserer Erkenntnis bei gleich- zeitiger Selbsttäuschung über deren wahre Beschaffenheit; alles andere ist ausmalendes Beiwerk und tut nichts zur Sache. Man wird im Gegen- teil ohne weiteres einräumen müssen, daß eine derartige Selbsttäuschung die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben nichts weniger als ausschließt. Dem Weisen aber, der sich des Mangels bewußt wird, stehen auch die Mittel zur Verfügung, sich für ihn schadlos zu halten.
So bleiben denn nur noch die „Gesetze" mit ihren angeblich lebens- feindlichen Äußerungen, die allerdings manchen so grell erscheinen wollten, daß man auf einen tiefgehenden Wandel in der ganzen Welt- ansicht Piatons schließen zu müssen glaubte, dessen Ergebnis eben in den Gesetzen zutage trete. Selbst Zeller malt in bezug auf diese Schrift Piatons grau in grau (II, 1 p. 828, 3. Aufl.). Und doch läßt sich unschwer zeigen, daß es sich bei den angeblichen Anzeichen einer tief pessimisti- schen Lebensauffassung nur um gewisse Wendungen des Ausdruckes oder höchstens um vorübergehende Stimmungsanwandlungen handelt, nirgends und niemals aber um die wirkliche, tiefere Überzeugung. Diese Überzeugung war dem Piaton eine wissenschaftlich begründete und er hätte nicht der unermüdliche Lobredner des Xotoc und der efTiCTruuri sein müssen, wenn er sie jemals preisgegeben hätte. Die Menschen sind des 6u lf\v fähig, das steht dem Piaton fest, und er konnte höchstens darüber klagen, daß so wenige von dieser Fähigkeit Gebrauch machen. Für den Unwert des Lebens selbst entscheidet dies in keiner Weise. Wir haben schon oben (S. 149f.), bei Besprechung des Phaidon, auf den Stand- punkt der Gesetze hingewiesen. Man könnte sich versucht fühlen, den Spieß geradezu umzukehren und die Republik zum Zeugen der an- geblich pessimistischen Weltansicht des Piaton, die Gesetze dagegen zum Zeugen einer hoffnungsvollen Lebensstimmung zu machen. Denn in der Republik findet sich genau wie in den Gesetzen (803 Bf.) der Hin- weis auf die Nichtigkeit alles Menschlichen (604 C ouie ti tüuv dvöpuj-
Die Gesetze 155
TTivuuv dHiov öv |U€*fa\r|c cTTOubf|C und ähnlich 486 A), während man in ihr vergebens Stellen sucht wie die folgende der Gesetze (732 Cf.): „Der Mensch soll, wenn über die ihm von Gott geschenkten Güter Unfälle hereinbrechen, stets hoffen, Gott werde diese möglichst verringern und das vorhandene Leid zum Besseren wenden, alles Gute aber immer mehren und mit Glück segnen. Solchen Hoffnungen und der stolzen Mahnung an solche Lehren soll jedermann leben und keine Mühe sparen, sie in Ernst und Scherz sich selber und anderen beständig klar ins Ge- dächtnis zu rufen." Was in bezug auf Weltansicht die Gesetze von der Republik und den früheren Werken scheidet, ist viel weniger eine pessi- mistische Grundrichtung, als eine von starker praktisch-religiöser Tendenz zeugende Grundstimmung. Man könnte ja schon das Dasein dieser Schrift überhaupt mit ihrer Tendenz der Fürsorge für das Wohl des Menschen- geschlechts unter Eingehen auf alle Lebensinteressen dafür geltend machen, daß ihr Standpunkt kein dem Leben abgewandter, sondern das Gegenteil ist. Allein wir sehen davon ab und halten uns bloß an bestimmte, von den Vertretern jener Ansicht für ihre These ins Feld geführte Stellen.
Sieht man sie sich näher an, so wird man finden, daß es mit den meisten derselben überhaupt nichts weiter auf sich hat. Aber auch die angeblich schlimmsten derselben, nämlich diejenigen, die uns als Draht- puppen, als ein „Spielzeug" in der Hand Gottes bezeichnen, erscheinen, näher zugesehen, in einem ziemlich unschuldigen Lichte. Möchte mancher dabei auch vorerst an die düsteren Worte Glosters im König Lear (IV, 1) denken: „Was Fliegen sind den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern; sie töten uns zum Spaß," so hat Piaton selbst doch Sorge ge- tragen, uns leicht erkennen zu lassen, daß die Sache nicht zu tragisch zu nehmen ist. Denn er erwidert seinem Mitunterredner, der über diese das arme Menschengeschlecht so stark herabsetzende Äußerung nicht wenig erstaunt ist, entschuldigend folgendermaßen (804 B): „Wundere dich darüber nicht, sondern halte mir das zugute; denn indem ich das Menschengeschlecht gegen Gott hielt und von Sehnsucht nach ihm er- griffen ward^), sprach ich mich so aus, wie ich es getan habe. Mag denn unser Geschlecht, wenn du es meinst, nicht so ganz gering zu schätzen, sondern einiges Ernstes wert sein." Also nach eigenem Geständnis ist er nur einer ganz vorübergehenden Anwandlung von Weltschmerz ver- fallen.
Doch selbst dies ist vielleicht bloß dialogische Wendung. Denn man hat wohl zu beachten, daß auch hier wieder ein künstlerisches Moment
1) Ich meine, es muß ttoGOuv heißen für das mir unverständliche TTa0u)v.
156 ^^^ Wert des Lebens
der Darstellung mit in Frage steht. Wenn es dem Piaton gefällt, uns zu Drahtpuppen zu degradieren, so hat das seinen Grund gewiß zum Teil in dem richtigen Gefühl unserer Abhängigkeit von den überlegenen großen Naturmächten im Gegensatz zu der verhältnismäßig winzigen Sphäre, innerhalb deren wir unserem Willen Geltung zu verschaffen ver- mögen, ferner — und damit kommen wir auf das Eigenartige des Bildes selbst als solchen — in einer zutreffenden Vorstellung oder wenigstens Ahnung von dem psychologischen Mechanismus unseres Seelenlebens, demzufolge die Triebe in unberechenbarer, vom Zufall abhängiger Stärke gegeneinander wirken und der jeweilig stärkste Trieb, ganz analog den materiellen Kräften, den Ausschlag gibt. Zum andern Teil aber hat das viel bemerkte Bild seinen Grund, wenn ich recht sehe, in folgendem: Piaton will, wie der weitere Zusammenhang der Stelle klar zeigt, darauf hinaus, das Spiel, die Tiaibid — aber dies Wort eben in seinem, im platonischen Sinne genommen, nämlich als gehobene, religiöse Festes- freude (803 C ff), als weihevolle Feiertagsstimmung — er will darauf hinaus, diese iiaibid als den eigentlichen höheren Zweck des Menschen- lebens im Gegensatz zu der gemeinen Werktagsstimmung hinzustellen.^) Dieser Gedanke nun, an sich so richtig und wahr wie möglich, aber dem Leser vielleicht etwas überraschend und neu, wird eben deshalb nicht unvermittelt eingeführt, sondern mit Hilfe der paradoxen Behaup- tung, wir seien Drahtpuppen, Spielzeuge in der Hand Gottes. Sind wir dies nämlich, so sind wir ja (wie er übrigens selbst ziemlich ausdrück- lich sagt, nur daß man leicht darüber hinwegliest) recht eigentlich zur Tiaibid, zum Spiele da. So hat Piaton seinem Hauptgedanken in halb scherzender"), halb ernster Weise, wie er es liebt, die wünschenswerte Vorbereitung gegeben. Man hat also in dem viel berufenen Bilde, wie es scheint, nur ein Kunstmittel der Darstellung zu erkennen.
Mag dies vorbereitende Bild, weil es unsern Hochmut empfindlich
1) Zu dem Gedanken vgl. Legg. 835DE, wo die Arbeit gelobt wird als Beschwichtigerin der Begierden, aber doch nicht als das Ziel des Lebens, das vielmehr in einer gehobenen Festesstimmung liegt. Aristoteles hatte dafür weniger Sinn. Vgl. Eth. Nie. 1176'' 28 ff.
2) Wie artig neckend heißt es in dem obigen Sinn auch Legg. 828 .^B: „Wir wollen zunächst die Zahl der Feste bestimmen. Es sollen ihrer nicht weniger als 365 sein, damit tagtäglich wenigstens eine Behörde irgendeinem von den Göttern oder Dämonen für den Staat sowie für seine Bürger und ihre Habe opfere." Piaton ist übrigens nicht der einzige, dem dieser artige Einfall gekommen ist. Man vergleiche z. B. Wieland im „Goldenen Spiegel" (1, 8): „König Azor, dessen Hof in dieser Zeit den Glanz der prächtigsten in Asien auslöschte, gab jährlich dreihundert und fünfundsechzig Feste."
Feiertagsstimmung 157
demütigt, für manche vielleicht nicht bloß etwas Paradoxes, sondern etwas Abstoßendes haben, so wohnt jenem Hauptgedanken von der Traibid, dem Spiel, als feierlicher Festtagsstimmung, wie man sich bei einiger Überlegung sagen wird, eine durchaus siegreiche Kraft inne. Mit welchem Recht ich dies behaupte, mag man entnehmen aus einer Äußerung Bis- marcks in einem der schönen Briefe an seine Gemahlin. Da heißt es (p. 441, 25. Juni 1859): „Diesem Leben fehlt, was ich das sonntägliche Element nennen möchte, ein Tropfen Himmelsruhe in dieses fieberheiße Durcheinander, etwas Feiertag in diese Werkstatt, wo Lüge und Leiden- schaft rastlos auf den Amboß menschlichen Unverstandes hämmern." Bismarck hat sich gewiß in seinem Leben herzlich wenig mit Piaton be- faßt; um so mehr wird jeden Freund Piatons dies Zusammentreffen er- freuen.
Näher aber noch liegt es zu erinnern an die nahe Berührung von Fries' sittlich-religiösen Ansichten mit dem Geist dieser platonischen Aus- führungen. „Heraus mit dem Gedanken", heißt es im Julius und Evagoras (II, p. 367), „sollen wir aus der peinlichen Absichtlichkeit nach Habe oder Macht im Alltagsleben der Geschäfte zur freien Gedankenbewegung, und wälzte sie gleich nur vielgestaltigen Nebel in Träumen. Heraus soll auch einmal aus der Mühe, dem Schweiß, dem Staube der Arbeit das Leben des Volkes in Festschmuck und Festes Heiterkeit — daß einem jeden auch einmal in freier Schönheit das Leben erquickend anklinge. Möge dem ästhetischen öffentlichen Leben wieder geholfen werden zu reli- giösem Ernst in öffentlicher Andacht und Begeisterung." Und seine neue Kritik der Vernunft beschließt er, ganz im Sinne dieser Erhebung freier Geistigkeit über alle kleinlichen Sorgen des Alltagslebens, mit den schönen Worten, mit denen auch dieser Aufsatz beschlossen werden mag: „In dem beschränkten Spiel von eignem Freud' und Leid, in der beklommenen Enge des individuellen Bedürfnisses, in der Verwirrung einer wertlosen Geschäftigkeit und in der Zerstreuung des nächsten sinn- lichen Einflusses läuft das Leben des einzelnen ab ohne Idee, ohne Größe, ohne Sammlung, Ruhe und Haltung: da greifen zwei höhere göttliche Führer in dies enge Leben ein, die Genien der Wahrheit und Schönheit; zerreißen den Vorhang, der den Blick hinaus verwehrte; lassen uns schauen des Ganzen urkräftige Bewegung, wie des Lebens Fluten sich ineinander stürzen; und führen uns dem freien, großen Leben zu, das die Pulse des Enthusiasmus bewegt und die Kraft des Charakters, in dem allein der Geist seine eigne Göttlichkeit wieder fühlen lernt."
IX. DIE AUFGABE DES STAATSMANNES.
Als praktischer Staatsmann hat Piaton keine Lorbeeren gepflückt. An den unberechenbaren Launen des Dionys scheiterten seine redlichen Be- mühungen für politische Reformen schon im ersten Stadium ihrer Vor- bereitung. Und auch hinsichtlich dessen, was er theoretisch für die Staats- lehre geleistet hat, ist es zum mindesten fraglich, ob es auf den Gang der politischen Geschichte, also auf die tatsächliche Entwicklung der euro- päischen Staaten einen nennenswerten Einfluß ausgeübt hat. Seine „Ge- setze" mögen in seiner Vaterstadt nach Alexanders Tode vorübergehend für die Gestaltung staatlicher Praxis nicht ganz ohne Bedeutung gewesen sein. Aber sein politisches Hauptwerk, der Staat, blieb der Berührung mit den Vorgängen dieser Welt entrückt. Die Verachtung aller geschicht- lichen Bedingungen und Unterlagen, die uns dieses sein Hauptwerk zeigt, rächte sich: die Geschichte nahm ihren Lauf unbekümmert um Piatons Staatsideal.
In der Tat könnte der kühne und willkürliche Aufbau dieses Werkes mit dem verwegenen Radikalismus seiner Grundansicht es zweifelhaft er- scheinen lassen, ob sich Piaton überhaupt die Mühe genommen hat, sich geschichtlich etwas zu orientieren. Allein wir würden unrecht tun, wenn wir uns unser Urteil darüber lediglich nach der Republik bilden wollten. Diese stellt sich ja gerade in schärfsten Gegensatz zu allem Gegebenen. Zudem gibt sie. nicht, wie es der Philosophie eigentlich zusteht, philoso- phische Kriterien für die Politik von allgemein giltiger Bedeutung, sondern bindet das Philosophisch-Allgemeine an ein willkürlich ersonnenes kon- kretes Phantasiegebilde.
Die Klasse der Regierenden in diesem wunderlichen Staatsgebilde be- steht nicht aus Männern, die als befähigt oder berufen gedacht wären, in das Getriebe eines bestehenden Staates bestimmend einzugreifen; ge- schaffen und geformt nach den künstlichen Voraussetzungen des vor unserem geistigen Auge entstehenden Idealstaates sind sie so verwachsen
Rücksicht auf die Geschichte 169
mit dessen Eigentümlichkeiten, daß man sie sich losgelöst davon nicht denken kann. Kein Wunder, wenn uns diese Staatsmänner wenig taug- lich erscheinen als Vorbild zu dienen für gegebene Verhältnisse, für die geschichtliche Wirklichkeit, und wenn aus dem ganzen Bilde dieser poli- tischen Herrschaft der reinen Vernunft als praktisch bedeutsames Moment nur der allgemeine Gedanke zurückbleibt, daß den geistig Gebildetsten ein hervorragender Anteil an der Leitung des Staates einzuräumen sei.
Man braucht, wie gesagt, deshalb noch keineswegs anzunehmen, daß Piaton, als er seinen Staat schrieb, überhaupt noch keine geschichtlichen Studien gemacht habe. Ein umfassender, allem Wissenswürdigen mit heißem Verlangen zugewandter Geist, wie es Piaton war, wird nicht gleich- gültig oder gar mit absichtlich verschlossenen Augen an der Geschichte seines Volkes vorübergegangen sein, deren Spuren sich ihm auf Schritt und Tritt aufdrängten. Er wird schon frühzeitig sich seine Gedanken über sie gemacht und aus ihrer Betrachtung manche wertvolle Erkenntnis ge- wonnen haben. Aber das Ungestüm seines philosophischen Idealismus führte ihn im Ingrimm über die politischen Sünden seiner Landsleute und die daraus hervorgegangene hoffnungslose Lage seiner Vaterstadt zu- nächst über alles Gegebene weit hinaus. „Endlich kam ich zur Einsicht," so heißt es im siebenten Briefe zu Anfang (326 A), „daß alle jetzigen Staaten schlecht regiert sind und daß ihnen ihre Verfassungen in dem heillosen Zustande verbleiben ohne eine gewisse außerordentliche Kur- methode in Verbindung mit einem glücklichen Zufall." Darin liegt, daß er sich auch geschichtlich einigermaßen umgesehen hat; aber das Er- gebnis war völlige Entmutigung und Hoffnungslosigkeit und diese Stim- mung ließ ihn zunächst nicht bloß von politischer Tätigkeit absehen, son- dern auch in seiner politischen Schriftstellerei sich von dem historisch Gegebenen in das Reich des reinen Gedankens zurückziehen. Die Re- publik war die reife Frucht dieser Flucht in die spekulative Einsamkeit.
Da wir nun keineswegs die Absicht haben, die Staatslehre des Piaton überhaupt darzustellen, vielmehr nur seine Ansicht von der Aufgabe des Staatsmannes nach denjenigen Gesichtspunkten zu schildern, die uns heute noch als giltig oder wenigstens beachtenswert erscheinen mögen, so wird es angezeigt und erlaubt sein, die Republik zunächst zurückzustellen und uns an diejenigen Werke zu halten, die, einer späteren Zeit angehörend, eine versöhnlichere Stimmung dem geschichtlich Gegebenen gegenüber erkennen lassen. Es kommen hier vor allem und zunächst in Betracht die Bücher über die Gesetze. Wagen wir es also einmal, den Krebsgang einzuschlagen und vom Ende aus rückwärts zu gehen.
Es berührt von vornherein ungemein wohltuend in den Gesetzen, daß
170 Die Aufgabe des Staatsmannes
Piaton hier seine philosophischen Grundsätze aufstellt in enger Fühlung mit der Geschichte. Völlige innere Eintracht und Geschlossenheit bei ge- rechter Befriedigung der Ansprüche aller Bürger ist die oberste Maxime, von der hiernach die gesunde Gestaltung des Staates abhängt. Diese Maxime erscheint zwar gleich an der Spitze des ganzen Werkes (628 CD), wird aber weiterhin durch eine für Piaton ziemlich ausgedehnte geschicht- liche Betrachtung induktorisch gestützt. Im dritten Buche der Gesetze nämlich sucht er sich historisch zu orientieren über die Bedingungen halt- barer staatlicher Gemeinschaft. An mehr oder minder phantastische Mut- maßungen über den frühesten Zustand der jetzigen Menschheit schließen sich Betrachtungen über die ersten Ansätze zu festerer Gemeinschaft nach Familien- und Stammeszusammengehörigkeit bis zur patriarchalischen Aristokratie. Zunächst ist es natürlich immer sein griechisches Volk, dessen Vergangenheit und Entwicklung er vor Augen hat. Der große Wende- punkt des trojanischen Krieges führt ihn auf die Entstehung des dorisch- peloponnesischen Dreistaatenbundes, Messene, Argos, Sparta. Während die beiden ersten Staaten durch den Mangel an Gemeingeist und poli- tischem Verstand bald der Ohnmacht verfallen, gibt ein günstiges Ge- schick den Spartanern durch richtige Verteilung der Gewalten eine allen Bedingungen der Dauer entsprechende Gestaltung ihres Gemeinwesens. „Und weil nun", so heißt es (692 B), „das Königtum bei den Spartanern zu einer aus den geziemenden Bestandteilen gemischten Verfassung ward und dem richtigen Maße unterworfen wurde, so erhielt es sich selber und ward dadurch die Ursache, daß das ganze Staatswesen unverändert er- halten blieb." Der Fortbestand des Dreibundes unter Wahrung der vollen Kraft jedes einzelnen hätte einen wirksamen Damm gegen die Begehr- lichkeit des Barbaren gebildet und die Perserkriege unmöglich gemacht.
Die Perserkriege führen ungezwungen auf den Gegensatz zwischen athenischer Demokratie und persischer Monarchie. So grundverschieden diese beiden Verfassungsformen scheinen, so lebte in ihnen doch in den früheren Zeiten ein Geist, der, wenn dauernd erhalten, eine gesunde Ent- wicklung beider Staaten verbürgt hätte. Denn diese Verfassungsformen waren in den älteren Zeiten bei beiden nicht in einseitiger Schärfe aus- geprägt. Piaton ist so wenig ein Feind des Königtums, daß er das wahre Königtum eigentlich als beste Staatsform betrachtet, die Tyrannis (mit Ausnahme des gehofften philosophischen Reformtyrannen 709Eff., 711 Äff.) dagegen als die verruchteste und verabscheuungswürdigste, als die Ne- gation jeder eigentlichen Staatsidee.
„Als die Perser", so berichtet Piaton (694 A f.) „unter Kyros noch mehr die Mittelstraße zwischen Freiheit und Knechtschaft hielten, wurden sie
Griechen und Perser 171
zunächst selber frei und sodann Herren über viele andere. Denn da die Herrscher die Untertanen an der Freiheit teilnehmen ließen und sie auf gleichen Fuß mit sich stellten, so waren die Krieger mit ihren Führern enger befreundet, und zeigten sich willig in allen Gefahren; und wenn hinwiederum ein verständiger Mann unter ihnen war, der klugen Rat zu erteilen wußte, so machte derselbe seine geistige Kraft zum Gemeingut, indem der König ihn nicht darin beeinträchtigte, sondern ihm Redefrei- heit zugestand und alle diejenigen ehrte, welche ihm in irgendeinem Stücke Rat zu erteilen imstande waren. Und so gedieh denn damals alles bei ihnen durch diese Freiheit und Freundschaft und diesen gegenseitigen Geistesaustausch."
Und von dem alten Athen heißt es (698 Bff.): „Wir hatten damals, als der Angriff der Perser auf die Griechen und vielleicht auch beinahe alle Bewohner Europas stattfand, noch die alte Staatsverfassung, in welcher die Staatsgewalten nach den vier Schatzungsklassen bestimmt waren, und eine gewisse sittliche Scheu herrschte in uns, vermöge deren wir willig den damaligen Gesetzen gehorchten; und dazu erhöhte auch noch die Größe des zu Lande und zur See wider uns ausgesandten Heereszuges durch die ratlose Furcht, welche sie uns einflößte, diese unsere Unter- würfigkeit unter die Obrigkeiten und Gesetze und durch dies alles gedieh die innere Eintracht bei uns in hohem Maße."
Weiterhin aber geriet man sowohl in Persien wie in Athen auf die schiefe Ebene: „Uns widerfuhr (699 E) gewissermaßen dasselbe Unglück wie den Persern, und zwar diesen dadurch, daß sie das Volk in die tiefste Sklaverei erniedrigten, uns dagegen, indem wir gerade im Gegenteil die Menge zu schrankenloser Freiheit erhoben."
Das Resultat dieser geschichtlichen Betrachtung, die er nicht um ihrer selbst willen angestellt zu haben erklärt, sondern um Einsicht zu gewinnen in das Wesen der Gesetzgebung (699 E), ist gewissermaßen vorausge- nommen in der an die Spitze gestellten Bemerkung (693 D), die folgender- maßen lautet: „Es gibt unter den Verfassungen zwei, welche gleichsam die Mütter der übrigen sind, dergestalt, daß man mit Recht behaupten darf, daß diese aus ihnen entstanden seien. Die eine nennt man mit Recht Monarchie, die andere Demokratie, und jene, darf man behaupten, ist bei dem Perservolke, diese aber bei uns in ihrer Vollendung zu finden. Die übrigen Verfassungen sind wohl alle auf verschiedenartige Weise aus diesen beiden zusammengesetzt; und sie müssen denn auch notwendiger- weise an ihnen teilhaben, wenn anders wirklich Freiheit und Eintracht auf der einen Seite und weise Leitung (qppövrjcic) auf der anderen mit- einander bestehen sollen. Und dies ist es denn auch, was unsere Er-
172 D*6 Aufgabe des Staatsmannes
örterung festsetzen will, daß ein Staat ohne Anteil an jenen drei Dingen wohl niemals gut verwaltet werden dürfte."
Hier haben wir die drei Stichworte, die für jedes politische Gemein- wesen, sofern es Anspruch macht auf den Namen „Staat", maßgebend sind, in deren Verwirklichung und Bewährung also die Aufgabe des Staats- mannes nach Piaton beschlossen liegt: Freiheit, Eintracht, Einsicht. Wenn die französische Revolution Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit zu ihrem Wahlspruche machte, so leuchtet die Überlegenheit der platonischen Formel aus der Vergleichung des dritten Gliedes ein. Man mag in Frank- reich gemeint haben, die Formel der Revolution sei selbst schon Aus- druck der höchsten Einsicht, sodaß man dieser letzteren als einer be- sonderen Forderung entraten könne; Piaton dachte anders und vorsich- tiger darüber. Er wollte Freiheit und Brüderlichkeit, aber er wollte sie nur unter der beständigen wachsamen Leitung höherer politischer Ein- sicht, vertreten durch den verfassungsmäßig gesicherten Einfluß der geistig hervorragendsten Männer. Diese stellen gewissermaßen die verkörperte Vernunft dar und bilden somit dasjenige Element, das für jeden gesunden Kulturstaat das wichtigste und unentbehrlichste ist. Jeder wahre Staat muß das Gepräge der Geistesaristokratie tragen, mag die äußere Form die monarchische oder demokratische sein (757 AB).
Gleichheit will Piaton auch; aber Gleichheit in seinem Sinne, nicht in dem landläufigen Sinne einer mechanischen Nivellierung. Diese mag er um keinen Preis. Er will die geometrische, nicht die arithmetische Gleichheit. Nach Maßgabe der Leistungsfähigkeit, der Verdienste, der ganzen Bedeutung der Persönlichkeit soll der Einfluß des einzelnen auf das Ganze bemessen sein. Jeder freie Bürger — die Sklaven scheiden selbstverständlich bei dieser Betrachtung ganz aus — soll Anteil haben an der Staatsverwaltung, jeder soll seine Meinung geltend machen dürfen, aber alles nach Verhältnis. Ein Staat, der schlechtweg in Herrschende und Beherrschte, in Mündige und Unmündige zerfällt, ist kein echter Staat, ist nur ein Scheingebilde von Staat: es fehlt ihm die innere Einheit. „Denn (757 A) Sklaven und Herren werden schwerlich jemals Freunde werden und ebensowenig schlechte und tüchtige Männer in gleichen Ehren und Würden, weil die gleichen Dinge ungleich werden, wenn sie an ungleiche Leute kommen und somit das richtige Maßverhältnis auf- hört." Das allgemeine gleiche Stimmrecht, gleichviel ob offen oder ge- heim, hätte vor Piatons Augen keine Gnade gefunden.
Darum kommt für die Staatsleitung alles darauf an, es dahin zu bringen, daß jeder das regste Interesse am Ganzen hat, daß keiner sein Wohl von dem des Ganzen trenne. Die Eintracht oder innere Einheit bezeichnet
Gemeingeist 173
eigentlich unter den drei Stichworten, objektiv genommen, das Hauptziel, wie es denn Piaton auch gleich am Eingange der Gesetze als solches hingestellt hatte: Einsicht und Freiheit sind Mittel und Bedingung dazu. Der Staatsleiter muß also seinerseits bemüht sein, jeden begründeten An- spruch auf Einfluß im Staate zu berücksichtigen, jede berechtigte Empfind- lichkeit zu schonen, nichts zu verabsäumen, was den Eifer der einzelnen für das Ganze wecken, die Vaterlandsliebe heben, den Gegensatz der In- teressen ausgleichen, Eintracht und Freundschaft fördern kann (832 C f.).
Wie ernst er es damit nimmt, kann man aus den Zugeständnissen sehen, die er in den Gesetzen nach dieser Richtung hin macht. Dem Reichtum, den er eigentlich grundsätzlich bekämpft und dessen verderb- liche Folgen er nachdrücklich hervorhebt, schenkt er doch eine nicht unbedeutende Berücksichtigung bei Verteilung der Gewalten (744 Af.). Auch das Los, dies Zufallsspiel, muß mithelfen die Gegensätze auszu- gleichen, indem es die Sache „der Gunst der Götter" anheimstellt (690 D, 741BC, 757E).
Den Gemeingeist zu fördern mit möglichster Befriedigung des berech- tigten Ehrgeizes jedes einzelnen ist demnach eine Hauptaufgabe des Staats- mannes. „Wer keine Gemeinschaft mit anderen hat, der hat auch keine Freundschaft. Die Weisen aber sagen, den Himmel und die Erde, die Götter und die Menschen hielten Gemeinschaft, Freundschaft, Ordnungs- liebe, Besonnenheit und Gerechtigkeit zusammen und das All nennt man deshalb Kosmos", sagt er schon im Gorgias (507 E). Der Staatsmann muß bemüht sein in allen öffentlichen Angelegenheiten jeden Grund der Zwietracht, der Mißgunst, der Verstimmung über vermeintliche oder wirk- liche Zurücksetzung wegzuräumen. In jedem Bürger soll lebendig sein das Gefühl seiner Unentbehrlichkeit, aber auch seiner Verantwortlichkeit für das Gedeihen des Ganzen. Nicht sklavische Unterwürfigkeit, sondern lebendige Mitarbeit, freie Mitbestimmung an den entscheidenden Vor- gängen im Staate, abgestuft nach dem Werte der Persönlichkeit und den sonstigen Verhältnissen sind Bedingungen der Blüte des Staates. „Weder Demokratie, noch Oligarchie, noch Tyrannenherrschaft (832 C f.) verdient wirklich den Namen einer Verfassung, sondern alle würden am richtigsten bloße Parteiherrschaft heißen. Denn in keiner von ihnen findet freie Übereinstimmung zwischen Herrschenden und Gehorchenden statt, son- dern die ersteren allein üben frei und unbeschränkt ihren Willen über die letzteren, ohne deren freie Zustimmung und daher stets mit Anwen- dung von mehr oder weniger Gewalt, aus. Wenn aber so der Herrschende den Beherrschten fürchten muß, so wird er freiwillig ihn niemals schön, reich, stark, tapfer und überhaupt kriegstüchtig werden lassen."
174 Die Aufgabe des Staatsmannes
Dies etwa ist der Standpunkt, den Piaton aus der Betrachtung der Geschichte zur Beurteilung der Tüchtigkeit eines Staatswesens und der entsprechenden Pflichten des Staatsmannes gewonnen hat. Wäre dies das einzige, was wir von Piaton tiber die Aufgabe des Staatsmannes wüßten, so würde er in der Folgezeit zwar keinen Anspruch gehabt haben auf den Namen eines umfassenden Staatstheoretikers (denn Eintracht, Freiheit, Einsicht sind schließlich bloße Bedingungen des Gedeihens für den Staat, bezeichnen aber noch nicht das eigentlich zu erreichende Ziel^), würde aber doch auf diesem Gebiete keine übele Figur gespielt haben. Die ganze Richtung der neueren Zeit auf konstitutionelle Staats- gestaltung würde mit dem in diesen platonischen Grundsätzen sich be- kundenden Geist in bester Übereinstimmung stehen. Piaton würde bis zu einem gewissen Grade als antiker Verkündiger des politischen Evan- geliums der Neuzeit gelten können. Es weht in seinen Sätzen etwas von dem Geiste der Stein-Hardenbergischen Reformen mit ihren Folgeerschei- nungen.
Indes dies ist nicht das Bild, in dem er bei der Nachwelt fortlebt. Und zwar ist es nicht bloß der literarische Glanz seines früheren poli- tischen Werkes, der Republik, der ihn für alle Zeiten zum Prototyp des ausschweifenden politischen Idealismus gemacht hat, sondern auch die vergleichsweise nüchternen „Gesetze" sind nicht ganz ohne Anteil an dieser Einschätzung. Denn dem Gesetzesstaat liegt so gut wie der Re- publik als Hauptmotiv der Gedanke zugrunde, daß der Staat in sich ein Bild der Gesamttugend sein müsse, eine Auffassung, bei welcher der Unterschied zwischen äußerer und innerer praktisch philosophischer Lehre seine Bedeutung verliert. Um das Werk über die Gesetze von dieser Seite kennen zu lernen, dürfte es nicht ohne Gewinn sein, zuvor einen Blick auf denjenigen Dialog zu werfen, welcher zwischen der Republik und den Gesetzen die Mitte hält. Ich meine den Dialog „Politikos".
Überwiegend dialektisch gehalten, unter reichlicher Verwendung von Analogien und Bildern, wie Piaton sie liebt, läßt dieser Dialog das empi- risch-historische Element noch so gut wie ganz vermissen. Darin erinnert er an die Republik. Dagegen ist der Idealstaat — der bekanntlich ohne Gesetze bloß durch die Weisheit der Herrscher besteht — verschwunden \ und an seine Stelle tritt schon die Voraussetzungeines Gesetzesstaates, für
den zwar nur der allgemeinsten Tendenz nach, aber doch durchweg mit
1) Für uns besteht das Ziel in der Erfüllung dreier Aufgaben: der tech nischen (Wohlstand), der literarischen (Bildung), der im engeren Sinn pO' litischen (Recht).
Tugendideal • Der Politikos 175
gleicher Grundanschauung, wie sie in den „Gesetzen" herrscht, die Auf- gabe des Staatsmannes erörtert wird. Wir überblicken nur kurz im großen den Gedankengehalt des wunderlichen Gespräches. Sehen wir von allem dialektischen Beiwerk, mag dasselbe auch in diesem Dialoge für Piaton eigentlich die Hauptsache sein, ab, so läuft das Ganze im Grunde hinaus auf die Gegenüberstellung einer mythischen Form des staatlichen Lebens im Sinne des goldenen Zeitalters oder wenigstens mehr oder minder phantastischer patriarchalischer Staatsformen, und des einzig wahren Staates, der sämtliche Bürger zur Mitwirkung an dem Wohle des Ganzen heranzieht. Ersteres erscheint unter dem Bilde der Hirtenkunst, letzteres unter dem der Weberkunst. Das Bild der Hirtenkunst, schon von Homer angedeutet in bekannten Wendungen wie der Bezeichnung des Agamem- non als Hirten der Völker, war, wie es scheint, besonders durch Anti- sthenes in Kurs gebracht worden. Piaton wendet nun zwar in anderen Schriften auch mehrfach selbst das Bild der Hirtenkunst auf staatliche Verhältnisse an (Legg. 713Cff, 735B, Rpl. 345C, 416A, Gorg. 516A), aber unmittelbar das Wesen der Staatskunst als Hirtenkunst zu deuten, schien ihm eine völlige Verkennung des wahren Verhältnisses zu sein. Der Abstand zwischen Hirt und Herde ist vergleichbar dem zwischen Gott und Menschen. Wenn ein Gott die Menschen wie eine Herde leitete, dann ließe sich wohl von der Staatskunst als einer Hirtenkunst reden; die Menschen wären und blieben dann glückliche Kinder, die die Hand nur zu öffnen brauchten, um das Begehrte zu empfangen, ein Zustand, weder entsprechend den Bedingungen der Wirklichkeit, noch der Würde des Menschen. Wir Menschen haben selbst für unser Heil zu sorgen. Ein göttliches Regiment hat es niemals gegeben und wird es niemals geben. „Die Gestalt des göttlichen Hüters (Pol. 275 C) ist für einen König zu groß, und die hiesigen und jetzigen Staatsmänner sind ihren Unter- gebenen nicht bloß nach ihren natürlichen Eigenschaften viel ähnlicher, sondern haben auch eine ähnliche Bildung und Erziehung genossen." Die scharfe Ironie dieser Worte ist unverkennbar. Ein goldenes Zeit- alter war dem Piaton eine Ausgeburt der Phantasie. Läßt man aber den göttlichen Hüter beiseite, und beschränkt das Bild vom Hirten auf rein menschliche Verhältnisse, so läßt es eine ungefähre Anwendung nur zu auf patriarchalische Herrschaftsformen, die nur als eine Vorstufe des wahren Staates, der TToXixeia, zu gelten haben.
Das Bild von der Hirtenkunst erweist sich mithin als unzulänglich und irreführend gegenüber der Aufgabe der Staatskunst. Ihm setzt Piaton ein anderes Bild oder „Beispiel", wie er es nennt, entgegen: das Bild von der Weberkunst. Bei dieser Kunst gilt es nach wohlüberlegtem Plan
176 Die Aufgabe des Staatsmannes
und mit einem durch den Besitz der wahren Meßkunde ^) geschärften Blick die verschiedenartigen Fäden vermittelst Kette und Einschlag so innig miteinander zu verflechten, daß jeder einzelne Faden den anderen trägt, bindet, festhält, alle aber sich zu einem haltbaren und harmonischen Ganzen zusammenschließen.
Beherrscht das Gleichnis von der Weberkunst den ganzen zweiten Teil des Politikos, so klingt es auch in den Gesetzen noch vernehmlich genug nach. „Gleichwie bei einem Gewirke oder Gewebe", heißt es (734 E), „sich Einschlag und Zettel nicht aus gleichen Fäden bereiten läßt, sondern die zu dem letzteren genommenen notwendigerweise von vorzüglicherer Beschaffenheit sein müssen — er verlangt nämlich ja ein starkes und festgedrehtes, der Einschlag aber ein weicheres Garn von einer gewissen angemessenen Nachgiebigkeit — : ebenso muß man ver- nunftgemäß stets zwischen denen, welche hohe obrigkeitliche Würden im Staate bekleiden sollen, und denen, welche nur in geringem Maße die Probe ihrer Erziehung zu bestehen haben, einen Unterschied machen" (vgl. auch 960 C).
Spricht aus diesem Gleichnis zunächst die Forderung der inneren Ein- heit des Staates, so ist es doch klar, daß die Harmonie dieser Einheit nur der Verwirklichung des eigentlichen Staatsideales dient, das kein anderes ist als die Tugend. Wird im Politikos dieser Gedanke teils dialektisch, teils bildlich entwickelt, so hat er in den Gesetzen noch seine volle Geltung, wird aber da vorbereitet und gestützt durch jene geschichtlichen Betrach- tungen, von denen oben die Rede war. Über diese geschichtlichen Be- lehrungen erhebt sich nun die ethische Betrachtungsweise, die im Sinne des Politikos (und natürlich noch mehr der Republik) die Schönheit und Tugendhaftigkeit des Ganzen als das eigentliche Ziel erscheinen läßt. „Unsere ganze Staatsverfassung", so sagt er (817 B), „besteht nämlich in der Nachahmung des schönsten und besten Lebens und eine solche soll eben nach unseren Begriffen das wahrhafte Drama sein." Der Staat selbst also in seiner lebendigen Darstellung des Guten ist das einzig würdige Drama.
1) Pol. 283 0 wird der Unterschied der relativen Meßkunde von der abso- luten durch folgende Worte bezeichnet: tö ,uev Kaxd t^v irpöc äXXr|Xa jueY^öouc Kai C)aiKpÖTr|TOC Koivuuviav, tö he Kaxä ti^v Tf|C yev^ceujc dvayKaiav oOciav. Die Vergleichung von Phil. 26 D T^vecic €ic ouciav zeigt, was mit dem etwas dunkelen Ausdruck für das zweite Glied gemeint ist: das notwendige Sein des Werdens ist der notwendige d. i. der durch die Natur der (in Entstehung begriffenen) Sache gebotene Zweck des Werdens. Dieser durch die Sache selbst geforderte Zweck ist das (a^rpiov, die innere Vollkommenheit, also das ou evcKa, mithin am letzten Ende das kqXöv.
Hirtenkunst und Weberkunst 177
Damit werflen wir auf den eigentlich maßgebenden Standpunkt plato- nischer Staatsweisheit geführt. Denn was wir oben erörtert haben, nach den drei Stichworten Freiheit, Eintracht, Einsicht, ist nur der geschicht- lich-empirische Widerschein dessen, was die philosophische Spekulation als höchstes und eigentliches Ziel aller Staatskunst angibt, nämlich die sittliche Tüchtigkeit der Bürger. Tugendhaftigkeit des Ganzen ist der Zweck des Staates, ist die Bedingung seiner Glückseligkeit (Legg. 71 IE, 743 BC, 770 DE, 836 D, 963 A).
Tugend ist zunächst Aufgabe des einzelnen. Es müssen also die Mo- mente, welche für die Tugend des einzelnen maßgebend sind, auch für die Tugend des Ganzen von ausschlaggebender Bedeutung sein. Dies trifft auf jene drei Stichworte zu. Tugend ist das Werk der Freiheit: nur die eigene Kraft der guten Gesinnung ist imstande, sie zu erzeugen. Also ist Freiheit auch eine Grundbedingung des staatlichen Lebens. Die einzelnen Tugenden ferner sind miteinander aufs engste verbunden, in ihrer Vereinigung besteht die Harmonie der Seele, besteht die Tugend. Darum wird Eintracht eine so wesentliche Forderung. Der Harmonie der Seele entspricht politisch die volle Einmütigkeit aller Bürger. Alles sitt- liche Streben endlich wird geleitet von der Einsicht. Dadurch wird auch die niedere, unbewußte Tugend erst zur bewußten und vollendeten Tugend. Jeder gesunde Staat muß also der Weisheit, d. h. den Einsichtigsten den obersten Platz einräumen.
Zu einem Erziehungswerk gestaltet sich demgemäß die Aufgabe des Staatsmannes: die Tugend zum Lebensnerv des Ganzen zu machen, das ist das Ziel, im Hinblick auf welches er alle seine Veranstaltungen treffen muß. Und hier ist es wiederum das Gleichnis von der Weberkunst, das für Piaton eine so hohe Bedeutung hat. Diente die Weberei oben als Bild für die Kunst, die mannigfachen Individuen durch richtige Verwen- dung für den Dienst des Staates zum festen Ganzen zusammenzufügen, so ist sie nicht minder vorbildlich für die Erziehung des einzelnen Men- schen: die gegensätzlichen Eigenschaften der Gemütsanlage müssen durch die Erziehung zu harmonischer Ausgleichung gebracht und dadurch zu fester Einheit geführt werden. Der Staatsmann muß Seelenkunde genug besitzen, um in dem heranwachsenden Geschlechte die milderen und die wilderen Triebe in rechten Einklang zu bringen, die allzu sanft angelegten Naturen zu größerer Erregbarkeit und Tatkraft zu heben, die allzu ungestümen, wilden Naturen zu Maßhaltung und Besonnenheit herab- zustimmen, wozu auch schon physisch die ehelichen Verbindungen, nach diesem Gesichtspunkte bestimmt, mit beitragen sollen (Legg. 773 Äff., Pol. 310 Af.). Die oberste Leitung des Erziehungswesens ist darum der
Apelt: Platonische Aufsätze. 12
178 D'^ Aufgabe des Staatsmannes
wichtigste Posten im Staate der Gesetze. „Nie darf der Gesetzgeber", heißt es da (766 A f.), „d^s Erziehungswesen irgend etwas anderem nach- stellen oder zur Nebensache werden lassen, vielmehr um recht für das- selbe zu sorgen, muß es gerade sein Erstes sein, darauf hinzuarbeiten, daß unter allen Staatsangehörigen gerade der in allen Stücken Tüchtigste zu diesem Amte gewählt werde, und er muß dann, nachdem er für dessen Einsetzung nach Kräften gewirkt hat, ihn zum Aufseher bestimmen."
Den Einsichtsvollsten und Gebildetsten gebührt also im Staate der entscheidende Einfluß und dieser Einfluß soll wesentlich in der Leitung der Erziehung liegen. Die höchste Einsicht ist aber nicht ein Fachwissen, nicht besondere Vertrautheit mit einer der vielen dem verfeinerten Men- schenleben dienenden Künste, so unverächtlich derartige Kenntnisse auch sein mögen. Nur wer den obersten Zweck alles menschlichen Strebens und Tuns klar erkannt hat, ist imstande, auch allen Fachwissenschaften und Künsten ihre Stellung und Bedeutung im Gebiete des Ganzen anzu- weisen. Dieser oberste Zweck aber ist das sittlich Gute und Schöne. Spielt der Philosoph als solcher in den Gesetzen auch nicht mehr die Rolle, wie im Staate und wie auch noch im Politikos, so ist doch nicht zu verkennen, daß die maßgebenden Staatsleiter auch da die Philoso- phen sind.
Verwirklichung also des Schönen und Guten, Erziehung der Bürger zur freudigen Hingabe an dieses Ziel, Unterordnung aller besonderen Zwecke unter diesen obersten allgemeinen Zweck ist die Aufgabe des Staatsmannes. Der Staat soll der lebensvolle Ausdruck der sittlichen Idee sein.
Wem sollte die Hoheit einer Ansicht, die das ganze staatliche Leben zu einer Schule der Tugend macht, nicht Bewunderung und, soweit es auf Wunsch und Hoffnung ankommt, freudige Beistimmung abnötigen? Die ganze Politik eigentlich die nur in das Volksleben übertragene und es völlig durchdringende Ethik - was gäbe es Großartigeres und der Verwirklichung Würdigeres? Niemand hat nächst Piaton die Herrlichkeit dieses Gedankens tiefer empfunden, als Piatons größter Schüler, als Ari- stoteles.
Gleich im Eingang seiner nikomachischen Ethik entwickelt Aristoteles seine Lehre vom höchsten Zweck für die Menschen. Glückseligkeit ist das höchste Gut wie für den einzelnen, so für den Staat. Der Besitz dieses höchsten Gutes ist zu oberst gebunden an die Ausübung der Tugend (1098 a 16). Die Tugend zum Gemeingut des Volkes zu machen, das ist demnach die schöne und herrliche Aufgabe des Staatsmannes, den er denn in diesem Sinne den Schöpfer der Tugend und damit der Glück-
Erziehung- zur Tugend 179
Seligkeit nennt (1102a 7f., 1103b 3f). Bemüiit sich die Ethik den ein- zelnen durch Belehrung für die Sittlichkeit zu gewinnen, so ist die Politik berufen, die Tugend dem gesamten Volke einzupflanzen: eine Aufgabe, die in gewissem Sinne höher steht, als die der Ethik: „denn wenn das Gut auch dasselbe ist für den einzelnen, wie für den ganzen Staat, so ist doch offenbar das Gut des Staates das größere und voUkommnere, hinsichtlich des Erreichens wie des Bewahrens; und ist das Gut für den einzelnen an und für sich der Liebe würdig, so ist es doch herrlicher und göttlicher für ganze Völker und Staaten" (E. N. 1094 b 7 ff.). Dem- gemäß ist auch dem Aristoteles wie dem Piaton die Politik die Königin aller Wissenschaften. „Sie hat zu entscheiden, welcherlei Wissenschaften im Staate vorhanden sein müssen und welche der einzelne Bürger zu erlernen habe und bis zu welchem Grade. Auch sehen wir, daß die am höchsten geschätzten Vermögen, wie die Feldherrnkunst, die Haushaltungs- kunst und die Redekunst, der Staatskunst untergeordnet sind. Sie ist es, welche die übrigen dem praktischen Leben angehörenden Wissenschaften für ihre Zwecke benutzt und außerdem noch gesetzlich bestimmt, was man zu tun und was zu unterlassen habe" (E. N. 1094 a 26 ff.). Sie ist die Philosophie der menschlichen Dinge, n -rrepi xa dvGpuuTTiva cpiXocoqpia (1181b 15). Das stimmt genau mit dem, was Piaton darüber dachte.
Piaton und Aristoteles glauben an die Veredelung des einzelnen durch die Veranstaltungen des Staates, sie glauben an die Erzeugung eines sittlichen Gemeingefühls der Gesamtheit, dem sich auch der wenig Willige unterordnet. Sie machen die Tugend geradezu zum konstitutiven Prinzip des Staates in der Meinung, die Sittlichkeit durch Gesetzgebung er- zwingen zu können, indem sie der letzteren einen Umfang geben, der sich auf alle Seiten des Lebens erstreckt, bis zu dem, was uns als in- timste Privatangelegenheit erscheint. Nun kann und soll zwar jede ge- sunde Gesetzgebung der Sittlichkeit allenthalben die Wege ebnen und nichts verordnen, was ihr zuwider wäre. Ob sie aber wirkliche Sittlich- keit erzeugt, läßt sich nicht entscheiden, solange man nicht in die Herzen schauen kann; denn alle Sittlichkeit ist Sache der Gesinnung. Die Ge- sinnung aber läßt sich durch Gesetzgebung zwar beeinflussen, aber nicht erzwingen. So unbestreitbar es also sein dürfte, daß man die Tugend zum regulativen Prinzip für den Staat machen soll, so wenig tauglich erweist sie sich als konstitutives Prinzip. Was nicht den Charakter der Erzwingbarkeit durch äußere Gewalt hat, läßt sich auch nicht als kon- stitutives Prinzip staatlicher Gemeinschaft denken. Nicht also unmittelbar die Ethik, sondern die philosophische Rechtslehre ist es, von der dies konstitutive Prinzip entlehnt werden muß. Ethik und philosophische Poli-
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180 Die Aufgabe des Staatsmannes
tik ruhen beide auf dem nämlichen Grundsatz der Würde der Person und der dadurch bedingten Gleichheit eines jeden mit dem anderen als Person. Aber während die erstere diesen Grundsatz nur auf das Innere des Menschen, auf seine Gesinnung bezieht, läßt die philosophische Rechtslehre eine sehr bestimmte Anwendung desselben auf den äußeren Verkehr der Menschen nicht nur zu, sondern fordert ihn. Er regelt unsere äußeren Pflichten, deren Erfüllung genau sich kontrollieren und wenn nötig erzwingen läßt, wobei die Aufrichtigkeit der Gesinnung natürlich noch in Frage bleibt. Legalität ist noch nicht Moralität. Wenn Piaton und Aristoteles gleichwohl glaubten durch Gesetzgebung die letztere erreichen zu können, so erklärt sich dies einigermaßen daraus, daß sie die ganze Erziehung von früh auf durchaus in die Hände des Staates legten. Diese aber greift in ihren Einwirkungen weit hinaus über alles, was unmittel- bar durch Gesetze erreicht werden kann. Indes auch das Erziehungswerk findet seine natürlichen Grenzen an der ursprünglichen Eigenart der Menschen m.it ihren sehr verschiedenen Graden der Bildbarkeit und der Widerstandskraft. Die Erziehung vermag viel, aber sie vermag nicht alles, wie Piaton zu glauben geneigt war.
In dieser, das ganze Leben zum Zwecke der Verwirklichung der Tugend beherrschenden Machtfülle des Staates liegt das Eigentümliche des platonischen Staatsideals. Der Staat ist die große Bildungsanstalt des Volkes zur Sittlichkeit; durch seine Allgewalt soll er in der Lage sein, die Tugend gleichsam zu erzwingen. Dies ist der leitende Grundgedanke in den Gesetzen ebenso wie in der Republik. Aber zeigen die Gesetze doch, wie dargetan, eine gewisse Fühlung mit der Geschichte und dem- entsprechend das durchgängige Bestreben einer Annäherung an die Wirklichkeit, so gibt uns die Republik das Staatsideal Piatons so, wie es dem völlig freien, durch keinerlei Rücksichten gebundenen Geiste des Philosophen entstammt. Ein volles philosophisches Staatsideal als leben- diges Ganzes gedacht ist eigentlich ein innerer Widerspruch. Denn es ist kein Menschenstaat denkbar ohne geschichtliche, geographische, ethno- graphische und sonstige natürliche Vorbedingungen. Diese lassen sich aber nicht willkürlich ersinnen. Die philosophische Rechts- und Staats- lehre kann nur Kriterien und Richtpunkte aufstellen durch genaue Ex- position der Idee der persönlichen Gleichheit nach den verschiedenen Seiten ihrer Entfaltung. Psychologisch (also schon erfahrungsmäßig) kann sie nur die natürlichen Gesetze der Geistesentwicklung und des Lebens überhaupt geltend machen. Piatons Staat mag, mit den Augen eines Griechen angesehen, immer noch einige Verwandtschaft mit der Wirklich- keit haben: der Folgezeit mußte er sich als völlig bizarr und phantastisch
Der platonische Staat \g\
darstellen. Auch Aristoteles ging darauf aus, ein solches Ideal zu zeich- nen; an seiner Absicht kann nach seiner eigenen Äußerung nicht ge- zweifelt werden. Aber wenn er sein Gemälde nur begonnen, nicht aus- geführt hat, so sind es gewiß nicht zufällige Umstände gewesen, die sich hier der Vollendung entgegenstellten: sein nüchterner und scharfer Ver- stand fühlte im Verlaufe der Ausführung gewiß das Bedenkliche eines solchen Unternehmens heraus. Piaton, phantasiebegabter, kühner, stür- mischer, radikaler als sein vorsichtiger Schüler, wagte den Flug, nach seiner Meinung keinen Ikarusflug. Kein besonnener Beurteiler wird die tiefen und fruchtbaren Gedanken des Werkes verkennen: die Lenkung des Staates durch die wahrhaft Gebildeten, die Abstufung der Stände gemäß den drei großen Aufgaben aller Staatskunst, der technischen des Gewerbslebens unter dem Gesetz der Teilung der Arbeit, der politischen der Staatsordnung unter dem Hauptinteresse des Krieges, und der lite- rarischen der Geistesbildung. Aber sein Staat, der Absicht nach für die Ewigkeit konstruiert, trägt doch, menschlich betrachtet, alle Keime bal- digen Zerfalles in sich: die Philosophen, die Regenten dieses Staates, wollen am liebsten gar nicht regieren; der philosophischen Spekulation hingegeben, betrachten sie es als ein großes Opfer, sich hinabzubegeben auf den Markt des Lebens. Die Krieger haben in dem tugendhaften Staate nach innen wenig zu tun und auch von ihrer Verwendung nach außen ist bei Piaton kaum die Rede. Ihre Bestimmung zu höherer Bildung — denn aus ihnen erwächst eigentlich erst der philosophische Herrscher- stand — scheint wichtiger als das Waffenhandwerk; es ist eine Armee von Offizieren oder besser ein Offizierkorps ohne Gemeine; es fehlt das bäuerliche Element; es ist kein Volksheer, sondern ein Kriegerstand. Endlich der Gewerbe- und Bauernstand, was ist er dem Staate mehr als die melkende Kuh, die ihn mit Butter versorgt? Das Dasein, das er führt, ist ein so dunkles und rechtloses, daß er, wie schon Aristoteles zeigt, alle Ursache zur Unzufriedenheit, ja zur Meuterei hat.
Der Staat soll nach Piaton die Verwirklichung der Tugend sein im großen. Er selbst soll wie ein Individuum die Tugend in sich dar- stellen. Daher das außerordentliche Gewicht, das durchweg auf die Ein- heit des Staates gelegt wird. Piaton will den Staat zur Einheit eines wirklichen Individuums machen. Allein der Parallelismus zwischen Staat und Individuum, der in diesem Sinne die ganze Republik als ihr Leit- motiv durchzieht, leistet ebensowenig Gewähr für die gewünschte orga- nische Einheit wie die Überspannung des Einheitsgedankens durch Weiber-, Kinder- und Gütergemeinschaft. Äußerlich und willkürlich, wie er ist, gibt dieser Parallelismus keine innerliche Verbundenheit, keine lebendige
182 ^i® Aufgabe des Staatsmannes
Wechselwirkung der Teile, wie es bei den Teilen der Seele der Fall ist. Die Stände der Republik, die den Teilen der Seele entsprechen, sind so wenig fest verwachsen, daß sie mehr neben- als miteinander leben. Anderseits hat aber doch die Art, wie Piaton die Tugend durch den Staat dargestellt zeichnet, etwas außerordentlich Sinnvolles. Die Tugend des Staates nämlich besteht nicht etwa darin, daß jeder einzelne im Staate tugendhaft wird. Piaton sagte sich vielmehr, daß in einer größeren Ge- meinschaft von Menschen nicht jeder einzelne in sich die Tugend zu voller Gestaltung bringen könne. Dafür sollte sich jeder einzelne als Glied einreihen in eine Gestaltung der Tugend im großen: der Staat ver- wirklicht als Ganzes die Idee der Tugend, d. h. die Herrschaft des Ver- standes über die niederen Seelenteile (Rpl. 420 B, 519 E). Der dritte Stand ist für sich eigentlich gar nicht der Tugend fähig. Aber durch den Staat wird er in das Ganze der Tugend eingegliedert und gibt so seinen Bei- trag dazu, wie die Staffage zum Gesamteindruck eines großen Bildes.
Uns interessiert hier vom Standpunkte unseres Themas vor allem die Aufgabe des Staatsmannes, also die Tätigkeit der Herrscher. Wie oben schon angedeutet, schrumpft sie in der Republik als praktische Tätigkeit auf ein ziemlich geringes Maß zusammen; denn ihre eigentliche Tätigkeit ist philosophische Spekulation. Nach der praktischen Seite haben sie sich zu betätigen durch Unterricht und durch abwechselnde Überwachung des Staates, wobei ihr Hauptgeschäft die jährliche Verteilung der Männer und Weiber zur Gewinnung des Nachwuchses ist, ein Geschäft, das füglich besser in die Hände der Ärzte als der Philosophen gelegt würde. Die Formen, in denen das staatliche Leben — und das heißt soviel wie das ganze Leben — sich bewegt, sind ein für allemal festgestellt. Angriffe darauf stehen von keiner Seite zu erwarten, — so meint wenigstens ihr Erfinder —, alle materiellen Sorgen sind durch seine weisen Anordnungen von vornherein weggeräumt, auswärtige Politik spielt weiter keine Rolle; soweit sie in Frage kommt, ist durch das Heer jeder etwaigen Gefahr vorgebeugt; kurz alles was unsere Staatsmänner beschäftigt und in Atem hält, macht sich hier sozusagen von selbst. So können denn diese platonischen Herrscher den Hauptteil ihres Lebens in glücklicher Be- schaulichkeit zubringen, zwar nichts weniger als müßig — denn wer Piaton kennt, weiß, was er von den Gelehrten fordert — aber doch ent- hoben den niedrigen Sorgen und Aufregungen nicht bloß gewöhnlicher Sterblicher überhaupt, sondern auch gewöhnlicher Staatsmänner. Selbst in den Gesetzen, die sich der gemeinen Wirklichkeit der Dinge mehr annähern, sind alle etwaigen wirtschaftlichen Mißlichkeiten durch end- gültige souveräne Anordnungen aus der Welt geschafft; die nächtliche
Isolierung der Herrscher 183
Versammlung, dieser oberste Erhaltungsrat des Staates, kann sich auch hier ziemlich ungestört der denkenden Betrachtung der Dinge widmen. Cicero läßt in seiner Republik durch den berühmten Traum des Scipio uns den älteren Scipio nach Abschluß eines tatenreichen Lebens als Bürger des Jenseits erscheinen, wie er von himmlischer Warte aus seinem Adoptivenkel durch einen philosophischen Blick über Weltall, Erde und Menschenlos den Makrokosmos und Mikrokosmos deutet: die platonischen Herrscher sehen sich schon bei Lebzeiten gewissermaßen in die himmlischen Sphären entrückt. Wenn Kallikles im Gorgias (484 E) von den Philosophen sagt: „Sie bleiben unbekannt mit den Staatsverhält- nissen, mit den Mitteln der Rede, die man im öffentlichen und Privat- verkehr mit Menschen anwenden muß, mit den menschlichen Neigungen und Leidenschaften und überhaupt durchaus unbekannt mit der Denk- und Lebensweise der Menschen," so sind die platonischen Herrscher gewiß nicht völlig erhaben über derartige Vorwürfe, nur daß Piaton Menschen und Dinge in seinem Staate so für seine Herrscher zurecht- gerückt hat, daß Reibungen und Hemmungen bedenklicherer Art, wie sie unter gewöhnlichen Sterblichen unvermeidlich sind, nicht zu befürchten stehen.
Diese verhältnismäßige Isolierung der Herrscher hat übrigens ihren Grund zum Teil auch in dem künstlerischen Aufbau, den Piaton für die Darstellung seiner Gedanken gewählt hat. Piaton trug das Bild des ferti- gen Staates in sich, beschreibt es uns aber nicht in der Form des Neben- einander fertiger Teile, sondern läßt es, ganz ähnlich wie das Welt- gemälde des Timäus, vor unseren Augen entstehen. Was eigentlich nur begrifflich getrennt werden sollte, erscheint so als ein zeitliches Nach- einander. Die einzelnen Stadien aber dieses zeillichen Nacheinander — einfacher Naturstaät, Genußstaat, Kriegerstaat, Gelehrtenstaat — erhalten auf diese Weise jedes für sich eine gewisse Selbständigkeit, die der Ein- heit und Geschlossenheit des Ganzen Eintrag tut. Es ist, als ob auf ein schon bewohntes niedriges Haus noch ein Stock und dann wieder ein Stock aufgesetzt würde, immer mit einigen Veränderungen in den be- reits fertigen und benutzten Teilen. Unsere Herrscher thronen im obersten Stock, das für sie errichtet ist und aus dem sie sich nur schwer ent- schließen herabzusteigen in die unteren Räume. Uns ist die Anschauung geläufig, daß gerade das unmittelbare Ineinandergreifen von Handeln und Denken den Staatsmann charakterisiert. Nach Piaton dagegen könnte es scheinen, als ob die philosophisch-ethische Spekulation |an sich schon mit einer Art magischer Gewalt auf die Gestaltung der staatlichen Ver- hältnisse ausgerüstet wäre.
184 D^® Aufgabe des Staatsmannes
In diesen Herrschern stellt sich durchaus des Piaton eigenes Lebens- ideal dar: die betrachtende Lebensweise, die in der Hauptsache nur durch Belehrung auf die umgebende Welt einzuwirken sucht. Von solcher Höhe aus geschaut mußten sich die athenischen Staatsmänner nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit nicht eben vorteilhaft ausnehmen. Ohne Einsicht in das, was dem Menschen vor allem nottut, bestrebt der Begehrlichkeit und dem Geschmacke der Masse zu huldigen, im Grunde nur dem eigenen Ehrgeiz dienend, haben sie - so meint Piaton — die ihrer Führung anvertrauten Menschen nicht besser gemacht, sondern schlechter. Sophistik und Rhetorik, diese „Schmeichelkünste", tragen das Ihrige dazu bei, um die verblendete Masse mitsamt ihren Leitern ins Verderben zu führen. Wurde diese allgemeine Stimmung nun noch verstärkt durch persönlich schmerzliche Erfahrungen, wie sie ihm das Schicksal seines geliebten Lehrers bereitet hatte, so ist es bei einem Manne, der hohe Ideale in seinem Herzen trug und für ihre Verwirk- lichung glühte, wohl begreiflich, wenn er über die athenischen Staats- männer sich so bitter äußern konnte, wie es im Gorgias geschieht. „Richten sie sich", heißt es da (502 E), „etwa immer nach dem Besten und streben sie nur danach, daß die Bürger so gut wie möglich werden durch ihre Reden, oder gehen sie nur auf Erregung des Wohlgefallens bei ihren Mitbürgern aus, vernachlässigen um des eigenen Vorteiles willen das Interesse des Staates, gehen mit dem Volke um wie mit Kin- dern und suchen nur ihr Gefallen zu erregen, ohne sich darum zu küm- mern, ob sie dadurch auch besser oder schlechter werden müssen? Sind denn die Athener etwa (vgl. 515 D ff.) durch Perikles gebessert oder nicht im Gegenteil verdorben worden? Denn ich höre das behaupten, Perikles habe die Athener träge, feig, schwatzhaft und geldsüchtig gemacht, indem er sie zuerst auf Besoldung anwies. Soviel weiß ich ganz gewiß, daß Perikles zuerst sehr gerühmt wurde, und die Athener kein schimpfliches Urteil über ihn aussprachen, so lange sie noch schlechter waren; als sie aber brave Männer geworden waren durch ihn, sprachen sie ihn gegen das Ende seines Lebens der Unterschlagung schuldig, und hätten ihn fast zum Tode verurteilt, offenbar weil er schlecht sein sollte. Wenn ein Hüter von Eseln oder Pferden und Ochsen sich so zeigte, würde er für schlecht gelten, wenn er nämlich die Tiere empfangen hätte, ohne daß sie ausschlugen, stießen und bissen, und nachher zeigten sich alle diese Fehler an ihnen infolge von Verwilderung. Und zwar hat er sie wilder gemacht gegen sich selbst, was er gewiß am wenigsten wollte. Er war also kein guter Staatsmann. Und ebensowenig Kimon, Themistokles und Miltiades. Sie mögen besser befähigt gewesen sein als die heutigen Staats-
Urteil über die Staatsmänner 185
männer für die Neigungen und Bedürfnisse der Bürgerschaft Mittel herbei- zuschaffen, sie mögen mehr zu leisten verstanden haben in Beschaffung von Schiffen, Mauern, Schiffswerften und vielen anderen Dingen derart. Indes in bezug auf die Pflicht, die Begierden umzuwandeln und ihnen nicht nachzugeben, sondern durch Überredung und Gewalt ihnen die Richtung zu geben, daß die Bürger dadurch sittlich besser werden müßten, darin leisteten jene nichts mehr als die heutigen. Wenn man sie als Staats- männer lobt, so kommt mir das vor, als wenn man mir auf die Frage, welche Menschen in bezug auf die Gymnastik tüchtig oder richtige Pfleger des Leibes seien, ganz im Ernste antwortete, daß der Bäcker Thearion und Mithaikos, der das Buch über die sikelische Kochkunst verfaßt hat, und der Krämer Sarambos ausgezeichnete Pfleger des Leibes seien, weil der eine vortreffliche Brote bereite, der andere Speisen und der dritte Wein."
So dachte Piaton, als er den Gorgias schrieb, so hat er in der Haupt- sache gedacht bis an sein Ende, wenn auch sein Urteil nicht immer die vernichtende Schärfe verrät wie hier. Er stellt an die Staatsmänner höchst sonderbare Forderungen. Sie sollen selbst Muster der Tugend sein und sollen ihre Mitbürger zu tugendhaften Männern machen. Nun weiß jeder, daß es beim sittlichen Handeln anderen gegenüber nicht auf den Er- folg ankommt, sondern auf die Gesinnung, aus der die Handlung ent- springt und in der sie wurzelt. Anderseits beurteilt den Staatsmann aller- dings jeder nach dem Erfolg, und Piaton macht es eben nicht anders.^) Auch er läßt einen Staatsmann ohne Erfolg nicht gelten. Er will sittliche Hoheit des Charakters, unantastbare Lauterkeit der Antriebe für die Hand- lung, aber er will sie auch von Erfolg gekrönt sehen dergestalt, daß er da, wo dieser Erfolg ausbleibt, den Handelnden ohne weiteres dafür ver- antwortlich macht. Politik und Sittlichkeit fallen ihm in Eins zusammen, daher die gleiche Beurteilungsweise gegenüber beiden. Er will vom sitt-
1) Man kann fragen: Hat Piaton irgendwo bestimmt den Satz ausgesprochen, daß es nicht auf den Erfolg ankomme, sondern auf die Gesinnung, in und mit der die Handlung vollzogen ward? Der Satz, im gewöhnlichen Sinne ge- nommen, hat für Piaton überhaupt keine rechte Bedeutung; denn nach ihm trägt die wahrhaft tugendhafte Gesinnung ihren Erfolg immer in sich selber; sie gibt ohne weiteres die Gewähr des Glückes (Legg. 660 Eff., Men. 88 C, Charm. 164 BC, Alcib. 1, 116 8 u. ö.). Also rein subjektiv genommen fallen Ge- sinnung und Erfolg zusammen. Was aber die Wirkung nach außen anlangt, so hat der Spruch zwar für Piaton seine Geltung, soweit es sich um die Gestal- tung der rein äußeren Verhältnisse handelt; sobald aber die Einwirkung auf die Gesinnung anderer in Frage kommt, nimmt die Sache für ihn eine andere Wendung, wie das Obige zeigt.
186 Die Aufgabe des Staatsmannes
liehen Handeln Erfolge, wie man sie von der Politik zu fordern gewöhnt und berechtigt ist; seine Politik ist aber keine Politik der äußeren Vor- teile, sondern der inneren sittlichen Vervollkommnung. Die Erziehungs- kunst erscheint ihm, wenn nicht allmächtig, so doch nahezu mit der Sicher- heit einer Naturkraft wirkend. Der besondere Widerwille, den ihm die Zustände seiner Vaterstadt und ihrer Lenker einflößten, hat vielleicht mit seinen Grund in der Tatsache, daß in Athen die Erziehung nicht Staats- sache, sondern Privatsache war. Dadurch schien ihm wohl von vorn- herein dies Gemeinwesen dem Verderben anheim gegeben. Für das Große und Herrliche, das dieser athenische Freistaat trotz aller Sünden und Menschlichkeiten bot, hatte er kein Auge. Freilich sah er ihn nur in den Zeiten seines tatsächlichen Niederganges. Aber er übertrug seinen Groll von der Gegenwart auf die Vergangenheit. Es wäre doch zum mindesten billig gewesen, den sokratischen Satz, daß niemand freiwillig Unrecht tut, ein Satz, den sich bekanntlich Piaton angeeignet hatte, jenen alten Staatsmännern einigermaßen zugute kommen zu lassen. Sie hatten ja nicht das Glück gehabt, den Sokrates oder gar den Piaton selbst zum Lehrer zu haben. Also das „Verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun", wäre ihnen gegenüber immerhin am Platze gewesen. Waren diese Männer wirklich so schlimm wie Piaton sie schildert, so hatte ja das Volk ganz recht, grausam mit ihnen ins Gericht zu gehen. Also nicht schlechter wäre es durch sie geworden, sondern es wäre nur gerecht gegen sie gewesen.
Übrigens darf man füglich zweifeln, ob sich Piaton über das Un- vermögen jener Staatsmänner, die Athener besser zu machen, nicht etwas glimpflicher geäußert haben würde, wenn er damals bereits mit den Er- fahrungen gerechnet hätte, die er selbst weiterhin mit dem jüngeren Dionys machte. Ein wie mißliches Geschäft es ist, Menschen, zumal er- wachsene, durch Belehrung besser machen zu wollen, wurde ihm hier in empfindlichster Weise deutlich gemacht. Piaton sucht im sechsten Buche der Republik (490 Äff.) den Grund für den Mißerfolg echter Philosophie in dem Unverstände der Menge. Gewiß nicht mit Unrecht. Die Haupt- sache bleibt aber doch immer, daß kraft der Schwäche der menschlichen Natur trotz aller durch Nachdenken oder Belehrung gewonnenen Er- kenntnis des Besseren das Gebot der reinen Vernunft im Nachteil bleibt gegen die Macht der sinnlichen Triebe. So sehr Piaton den Gedanken seines großen Lehrers von der alleinseligmachenden Kraft des Wissens gemildert und ergänzt hat, ihn ganz zu berichtigen, blieb er doch zu sehr Sokratiker.
Mag es nun z. T. objektiv gerechtfertigt, z. T. wenigstens subjektiv
Gesetze und Republik 187
entschuldbar sein, wenn Piaton mit seinen Landsleuten so streng und er- barmungslos ins Gericht geht: eines hätte er aus ihrer Geschichte zur Berichtigung seiner eigenen Anschauung mit Sicherheit lernen können und sollen, nämlich daß ein geistvolles Volk sich nicht verurteilen läßt zu politischem Stillstand. Er meint, ein rein vernünftiges Musterbild ent- werfen zu können für ein allseitig entwickeltes Staatswesen, das irgend- einmal und irgendwo zur Wirklichkeit geworden, einer weiteren Entwick- lung nicht mehr fähig ist, sondern, wenn eine Veränderung, dann nur Veränderung zum Schlechteren zuläßt. Also Stillstand wäre da das Losungs- wort. Anderseits stellt er sich die etwaige Verwirklichung dieses Ver- nunftstaates als erreichbar vor nicht auf dem Wege allmählicher Ent- wicklung, sondern nur auf dem der Revolution. An die Stelle einer ge- schichtlichen Evolution tritt das radikale Gewaltverfahren eines starken, von philosophischer Begeisterung und staatsmännischer Tatkraft erfüllten jugendlichen Herrschers, der sozusagen mit einem Ruck dem ganzen Staatsgebilde den Stempel seines eigenen Geistes aufprägt (Legg. 709Eff., 735 D, 739 AB; vgl. 875 DE, Rpl. 502AB, 540 Df.). Also nach beiden Seiten hin ist einer gesunden geschichtlichen Entwicklung der Weg ver- sperrt. Mögen aber die Entwürfe Piatons als konkret gedachte Staats- gebilde noch so sehr in den Wolken schweben, sie tragen doch nicht wenige Züge von ewiger Giltigkeit an sich. Leitung des Staates durch die wahrhaft Gebildeten, Mitwirkung aller Bürger an den Aufgaben des Staates nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit, Einwirkung des Staates auf alle großen Interessengebiete des öffentlichen Lebens, vor allem aber auf Erziehung und Bildung, dies sind, um nur das Hervorstechendste anzuführen, Forderungen, deren Vernachlässigung auch im modernen Staatsleben sich unausbleiblich rächen muß.
Es sind dies im wesentlichen übrigens dieselben Ideen, die, nicht ver- dunkelt oder beeinträchtigt durch das Beiwerk konstruktiver Phantasie, sich in der geschichtlichen Partie der Gesetze als Resultat einfacher ge- schichtlicher Induktion ergaben. Allein in der Beachtung der Nachwelt sind sie zurückgetreten hinter dem Interesse an den Wunderlichkeiten des großartigen Phantasiebaues der Republik. Daß sie in diesem auch mitenthalten sind, ist zwar nicht schwer zu erkennen; doch haftet der Blick des weniger kundigen Lesers weit mehr an den phantastischen Extravaganzen als an diesen bleibenden Grundgedanken. Daß diese Grundgedanken nicht unbedingt verwachsen sind mit jenen Überspannt- heiten, sondern sich dem Piaton auch als Frucht unbefangener Geschichts- betrachtung ergaben, ist nicht unwichtig festzustellen. Die „Gesetze" tragen im Vergleich zur Republik nach Tendenz und Ton der Darstellung
188 ^'® Aufgabe des Staatsmannes
trotz einer gewissen poetischen Färbung des Ausdrucks das Gepräge größerer Nüchternheit. Das mag wenigstens mit dazu beigetragen haben, daß sie weniger gelesen wurden und werden als diese. Doch kann es auch für die richtige Schätzung der Republik nur von Vorteil sein, wenn man nicht vergißt sie sich auch im Lichte der „Gesetze" anzusehen. Was sie an politischen Gedanken Bedeutendes von bleibendem Wert enthält, wird sich so leichter absondern von den Übergriffen kühner Spekulation. Piatons politische Schriften sind für uns keine Kompendien der Staats- lehre; aber jedes Kompendium der Staatslehre wird gut tun, sich für die Richtlinien des Ganzen bei ihm einigen Rat zu erholen.
X. STRAFTHEORIE.
Die platonische Straftheorie darf sich zwar meines Wissens nicht rühmen, auf die Strafrechtslehren der folgenden Zeiten einen bestimmen- den Einfluß gehabt zu haben; angesichts der Tatsache aber, daß neuerdings die Besserungstheorie, deren namhaftester Vertreter im Altertum eben Platon ist, wieder an Boden gewinnt, scheint es nicht unangebracht, Pia- tons Gedanken über diesen Gegenstand in kurzer Übersicht vorzuführen.
Es gibt Philosophen, die sich damit begnügen, uns die Welt, wie sie ist, zu erklären; Platon hat sich sein Ziel höher gesteckt: er will die Welt, soweit sie aus Menschen besteht, besser machen. Ja man darf dies un- bedenklich für den eigentlichen Lebensnerv seiner ganzen Philosophie erklären. Ihr Grundcharakter ist ein durchaus ethischer. Das zeigt sich schon darin deutlich genug, daß Platon auch im Erkenntnistriebe im letzten Grunde nichts anderes sieht als einen sittlichen Trieb. Fortschreitende Erkenntnis auf dem Wege reinen Denkens ist ihm zugleich ein sittlicher Läuterungsprozeß. Frühzeitig zum Nachdenken getrieben über den Wider- streit der in rastlosem Wechsel begriffenen und eben darum alle Sicher- heit der Erkenntnis vereitelnden Sinnenwelt mit dem unabweislichen Be- dürfnis der Vernunft nach einem festen und wahren Sein und einem dar- auf gegründeten sicheren Wissen, war er allmählich zu der unerschütter- lichen Überzeugung von dem Dasein einer überirdischen Welt des Schönen und Guten gelangt, eines reinen Geisterreiches, das unberührt von dem Wandel des Werdens das ewig sich gleichbleibende wahre Sein in sich darstellt. Auch der Menschengeist hat dereinst diesem Reiche angehört und hat seine Herrlichkeit schauen dürfen, aber durch eigene Schuld dieses Vorzuges verlustig gegangen, muß er, an die Materie gebannt, ein seinem wahren Wesen fremdes Dasein führen. Und doch ist das Band zwischen ihm und seiner eigentlichen Heimat nicht völlig zerrissen. Ein Abglanz des einst geschauten Schönen und Guten ist in seiner Seele zurückgeblieben, der aber, überboten von dem Reize der frischen Farben der Gegenwart, sich den Blicken der meisten entzieht. Nur das Auge des Philosophen weilt unverwandt auf jenem Abglanz und erkennt in ihm den untrüglichen Zeugen unserer Abstammung aus einer höheren
190 Straflheorie
Heimat, die verklärt ist durch die dort unmittelbar sichtbare Herrlichkeit Gottes oder, platonisch zu reden, der Idee des Guten. Diese Idee des Guten ist es, die, wie sie die Ursache aller gedeihlichen Entwicklung im Weltall ist, so auch dem Geiste die Kraft der Erkenntnis verleiht, die den Blick des begnadeten Philosophen bis zu dem heiligen Urquell alles Seins zu erheben vermag. Versunken in die Betrachtung dieses erhabenen Wesens, „das noch über das Sein an Kraft und Würde hinausragt" (Rpl. 509 B), ist er allen Versuchungen dieser Welt weit entrückt und, selbst auf das höchste beglückt, fühlt er sich verpflichtet, das erkannte Heil auch den minderbegnadeten Geistern mitzuteilen. Denn nur wenige sind zu jener höchsten Leistung der Erkenntnis auserwählt. Sie sind berufen die Führer ihrer Mitmenschen zu werden. Durch Erziehung der Heranwachsen- den, durch Belehrung der Erwachsenen, durch eigenes Beispiel und den Einfluß auf die Gesetzgebung sollen sie ihre Weisheit fruchtbar machen für die Welt.
Aber nicht alle Menschen sind diesen Einwirkungen der Weisen zu- gänglich. Die Macht des Bösen ist unaustilgbar, ,,denn es muß", wie es im Theätet (176 A) heißt, „immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, und da dies bei den Göttern seine Unterkunft nicht finden kann, so umkreist es mit Notwendigkeit die sterbliche Natur und unsere irdische Stätte". Es wird immer Gesetzesverächter, Schurken, Verbrecher geben. Ist je ein Strahl des Bewußtseins von der göttlichen Abstammung unseres Geistes in ihre Seele gefallen, so hat er doch bald wieder der Finsternis Platz gemacht. Gleichwohl darf auch ihnen gegenüber nicht von vorn- herein die Hoffnung auf Bekehrung aufgegeben werden. Allein zu dieser Bekehrung genügt nicht die bloße Belehrung. Es bedarf eines gewalt- samen Eingriffes. Nur durch eine gründliche Erschütterung ihrer Seele von außen kann in ihnen die Stimmung erweckt werden, die sie der Besserung fähig macht. Eben darin nun besteht das Wesen der Strafe. Sie soll, unter dem verständigen Zuspruch berufener Berater, den Frevler zum Einblick in sich selbst führen, auf daß er erkenne, daß er selbst im tiefsten Grunde seiner Seele eigentlich das Gute will und durch das Un- recht nur seinem innersten Wesen entfremdet ist. Gelangen aber die zuständigen Richter zu der Überzeugung, daß der Frevler unheilbar ist, dann sollen sie durch das Todesurteil ihn der ewigen Gerechtigkeit zu Büßungen in neuen Lebensläufen überantworten.
Dies in gedrängtester Form der Grundgedanke der platonischen Straf- lehre. Besserung ist dem Piaton, wenn nicht der ausschließliche, so doch der durchweg herrschende Gesichtspunkt. Gehen wir dem ins einzelne nach.
Besserung • Freiwilligkeit 191
Schon der dem Piaton von Sokrates überkommene und von ihm fest- gehaltene Grundsatz, daß niemand freiwillig frevele (oubeic eKojv dbiKei), weist darauf hin, daß in seinen Augen die Strafe wesentlich auf Besse- rung berechnet sein müsse. Auf den ersten Blick allerdings scheint es, als ob diesem Satz gegenüber von Strafe überhaupt keine Rede sein könne. Schlechtweg wörtlich genommen schließt er ja doch jede Ver- antwortlichkeit und damit jede Berechtigung zur Strafe aus. Denn was ich wider meinen Willen tue, darf mir nicht als Schuld angerechnet werden.
Allein Platon belehrt uns in den Gesetzen (860 Off., 863 B ff.) in einer Darlegung, die zwar kein Muster von Klarheit ist, aber doch immerhin erkennen läßt, worauf er hinaus will, daß es so radikal nicht gemeint sei.^) Es ist die bekannte Lehre von den drei Seelenteilen (Verstand, Mut, Be- gierde), die ihm dazu verhilft, die Kluft zwischen der paradoxen Schul- ansicht und der gemeinhin geltenden Ansicht des praktischen Lebens zu überbrücken. Die Ausdrücke „freiwillig" und „unfreiwillig" sind nämlich in unserem Spruche relativ zu nehmen. Absolut freiwillig ist nur, was der Verstand (Xöfoc), der Mandatar der Vernunft (vouc), in seiner durch keine Einflüsse von anderer Seite getrübten Reinheit gutgeheißen und diktiert hat. Was also die zwei unteren Seelenteile, Begierde und leiden- schaftlicher Eifer, ohne Zustimmung des reinen Verstandes, vielmehr im Widerspruche mit ihm, tun, ist in gewisser Weise immer auch freiwillig, aber nur in beschränktem Sinne; es geschieht zwar durch uns, denn es sind ja Teile unserer Seele, die es bewirkt haben, aber es geschieht nicht durch denjenigen Teil unserer Seele, dem von Rechtswegen die Leitung zukommt. Hat aber der Verstand selbst die Leitung in der Hand, so liegen folgende Fälle vor. Entweder der reine Verstand gibt unter siegreicher Zurückweisung aller sich etwa eindrängenden Gelüste völlig aus sich heraus die Entscheidung; dann ist die Handlung tadellos und den An- forderungen der Tugend voll entsprechend. Dies ist der Fall der vollen Freiwilligkeit. Alles andere ist in höherem oder geringerem Grade un- freiwillig. Auch was der durch irgendwelche Seelenbeschaffenheit ge- trübte, also irrende oder unwissende Verstand tut, trägt demnach den Charakter der Unfreiwilligkeit. Der Abstufungen gibt es mannigfache vom unschuldigen Irrtume, der im ehrlichen Glauben (bona fides) das Beste zu wollen, fehlgeht — ein Fall, den Platon (864 A) fast mehr lobend als tadelnd beurteilt — bis zum verruchtesten Verbrechen, von kindischer Schwäche der Urteilskraft bis zur grundsätzlich frevelhaften Gesinnung.
1) Weit kürzer und einfacher, aber nur ganz beiläufig und darum wenig beachtet, belehrt uns über den Sinn des Satzes Menon 77 Ef. Wir müssen uns aber hier an die ausdrückliche, mehr esoterische Erläuterung Piatons halten.
192 Straftheorie
Die letztere ist als „die eigentlichste Ursache aller großen und groben Verbrechen anzusehen" (863 C). Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man in diesen Auseinandersetzungen zwar nicht die ausschließliche, aber doch eine der Quellen sieht, aus welcher die scharfen und trefflichen Unterscheidungen des Aristoteles in der nikomachischen Ethik hervor- gegangen sind. Derjenige dem die verbrecherische Gesinnung geradezu zur Maxime seines Handelns geworden ist, sodaß der Verstand keinen Widerspruch mehr erhebt, sondern selbst in diese irrige Richtung hinein- gezogen worden ist, ist der dKÖXacToc, zu dem der aKpaTi^c im Gegen- satz steht als derjenige, bei dem Verstand und Leidenschaft noch mit- einander kämpfen.
Man sieht: Piaton erkennt auch unsere sog. psychologische Freiwillig- keit an, nur unter veränderter Etiquette. Sie ist eine beschränkte Frei- willigkeit, also, wenn man so will, etwas Unfreiwilliges. Es besteht bei Piaton die an sich ganz richtige Voraussetzung, daß der Mensch seinem innersten Wesen nach nicht das Böse will, sondern das Gute. Diese ur- sprüngliche Willensrichtung mag noch so sehr von dem Unkraut der Sinn- lichkeit überwuchert sein, sie lebt doch in jedem als der innerste geistige Kern seines Wesens. Der Mangel an rechter geistiger Aufklärung trägt die Schuld, daß man sich ihrer nicht oder nur unvollkommen bewußt wird. Das Wort, dessen sich Piaton und ähnlich nach ihm auch Aristoteles für jene ursprüngliche vom reinen Verstände bestimmte Richtung unseres Willens bedienen, ist ßouXecGai. Es ist der Dialog Gorgias (467 Äff., vgl. Rpl. 577 DE, Charm. 167E), in welchem er, wenn auch mit nicht ganz tadelfreier Dialektik, dies reine Wollen in Gegensatz stellt zu dem auf Mißverstand und Unbildung beruhenden unreinen Begehren und Handeln. Dies reine Wollen ist der Zeuge unserer himmlischen Abkunft, der Zeuge einer ursprünglichen absoluten Freiheit. Piaton meint wohl, durch reines Denken und dadurch gewonnenes vollendetes Wissen könnten wir diese absolute Freiheit wiedererlangen. Tatsächlich aber liegt sie über aller Natur; sie ist die metaphysische Freiheit, an die wir zwar glauben und deren Vorhandensein sich uns im sittlichen Gefühle d. h. durch die Stimme des Gewissens in unserem Innern ankündigt, die aber in der Natur un- möglich ist. Wir können uns bei unseren Entschlüssen und Handlungen wohl unabhängig machen von äußerer Naturnotwendigkeit, nicht aber von den Gesetzen der inneren Natur. Wir haben die Wahl zwischen rein vernünftigen und sinnlichen Antrieben — und darin liegt unsere psycho- logische (juridische) Freiheit — sind aber nicht erhaben über die jeweilige Stärke dieser inneren Bestimmungsgründe. Selbst der Tugendhafteste kann hienieden nicht dafür einstehen, daß er nicht einmal von der Gewalt
Psychologische und metaphysische Freiheit 193
sinnlicher Leidenschaft überwältigt werde. Nur im Gedanken an Gott kann er hoffen, davor bewahrt zu werden. Kurz, es ist die religiöse Idee der Freiheit, um die es sich handelt, wenn man sich diesen Begriff ab- solut denkt.
Der von Piaton adoptierte sokratische Satz von der Unfreiwilligkeit alles Unrechts und aller Verbrechen stellt sich ersichtlich auf diesen religiös-metaphysischen Standpunkt und hat insofern ganz recht. Wenn aber Piaton und Sokrates — beide nicht ganz in der nämlichen Weise — diesen Standpunkt der Möglichkeit nach auch dem Leben und der Natur vindizieren (durch vollendetes Wissen), so gehen sie fehl. Praktisch hat dieser Irrtum für Piaton keine wesentliche Bedeutung. Denn seine psy- chologischen Unterscheidungen geben ihm die Mittel an die Hand, die tatsächlichen Abstufungen unseres Urteils über Unrecht und Verbrechen in bezug auf Vorsatz, Freiwilligkeit usw. mit aller Kunst subtiler Differen- zierung zu kennzeichnen. Liest man seine Bestimmungen über Mord und Totschlag (Legg. 865 Äff.), so findet man eine psychologische Klimax der Verantwortlichkeit, namentlich auch mit klarer Unterscheidung von dolus und culpa, in einer Vollständigkeit, daß wir kaum etwas hinzuzufügen, sondern höchstens abzuziehen Ursache hätten, nämlich die mannigfachen Bestimmungen über die Sklaven, die denen über die freien Bürger par- allel laufen. Alle Schattierungen von der völlig schuldfreien Tat (unglück- lichem Zufall) bis zur absichtlichen Tat des Mörders finden ihre gebüh- rende Berücksichtigung.
Wenn also der berühmte Spruch von der Unfreiwilligkeit des Un- rechtes auf den ersten Blick aller Bestrafung überhaupt den Weg zu ver- sperren scheint, so zeigt es sich bei näherer Betrachtung, daß er im Grunde mit den gewöhnlichen kriminalistischen Anschauungen sich recht wohl verträgt und nur insofern eine Besonderheit bedingt, als er, was den Zweck der Strafe anlangt, alle anderen Gesichtspunkte hinter den der Besserung und allmählichen Belehrung zurückstellt. Denn da gesetz- widriges Handeln nur eine Folge naturwidriger Unfreiheit des Verstandes, d. h. einer ungehörigen Beschränkung der ihm zukommenden Herrschaft ist, so kann dem Übel wahrhaft abgeholfen werden nur dadurch, daß man dem Verstand zu voller Freiheit und Herrschaft verhilft. Aufklärung und dadurch bewirkte Besserung ist also der eigentliche und vornehmste Zweck aller Strafe. Und mit ihr dient man zugleich der Hauptaufgabe des Staates, die darin besteht, die Bürger tugendhaft zu machen.
Wo nun, wie bei Missetätern und Verbrechern das Seelenleben ganz unter der Gewalt des untersten Seelenteiles steht, kann ruhige Belehrung offenbar zunächst nichts ausrichten; nur durch starke, schmerzhafte Er-
Apelt: Platonische Aufsätze. 13
194 Straftheorie
Schotterung und Aufrüttelung kann da ein Wandel zum Besseren ange- bahnt werden. Und das ist eben die Bedeutung der Strafe: sie öffnet den bisher aller Mahnung verschlossenen Zugang zur Seele und gibt wenigstens die Möglichkeit eines Anfanges zur Selbstbesinnung wie zu belehrendem Zuspruche. Man kann mit der Hoffnung rechnen auf all- mähliche Befreiung des Intellekts aus der Nacht der Unwissenheit. In dieser allmählichen Befreiung besteht eben die Besserung.
Wir begreifen also, wie der Gesichtspunkt der Besserung bei Beur- teilung der Strafe für Piaton der oberste sein mußte: der Verbrecher hat in gewissem Sinne unfreiwillig gehandelt; die Strafe soll dazu führen, ihm Aufklärung über sich selbst und sein wahres innerstes Wollen zu verschaffen. Sie ist also ein sittliches Erziehungsmittel und insofern recht eigentlich eine Wohltat für den, den sie trifft. Schließt dieser Gesichts- punkt, wie sich weiterhin zeigen wird, auch andere für die Strafe zu be- rücksichtigende Momente nicht völlig aus, so ist er doch für Piaton der eigentlich durchschlagende und maßgebende.
„Die nach Gesetzen vollzogene Strafe", heißt es in den Gesetzen (854 DE), „soll dem Bestraften nicht ein Übel zufügen, sondern von zweierlei Dingen bewirkt sie in der Regel, wenn nicht das eine, so doch wenigstens das andere: entweder bessert sie den Bestraften, oder sie tut doch noch größerer Verschlimmerung bei ihm Eintrag." Die Strafe (biKTi) ist, so verkündet weiter eine in feierlichem Tone gehaltene Stelle der Gesetze (728 BC), wie alle Gerechtigkeit (biKaiov), nichts weniger als ein Unglück, sondern Rettung und Heil für den Gesetzesverächter. Wahres Unglück und zwar das schlimmste ist vielmehr das Unterbleiben der Strafe. Der triumphierende Missetäter, der sich der Strafe zu entziehen weiß, sinkt durch den unvermeidlichen Umgang mit Seinesgleichen immer tiefer bis zu völliger Unheilbarkeit, sich und in sich die Menschheit schändend. Wenn man also unter Strafe etwas Übles versteht, so wäre dies die wahre Strafe (iiiauupia). Besser, er erlitte den Tod, auf daß er wenigstens anderen noch zur Warnung diente (vgl. Rpl. 591 AB). Und daß Piaton schon in frühen Jahren nicht anders darüber dachte, zeigt der Gorgias. In einer bekannten Stelle dieses Dialoges (464 Bf.) ver- gleicht er die Mittel der Körperpflege mit den Bildungsmitteln des Geistes. Der Gymnastik stellt er als Gegenbild auf geistiger Seite die Gesetz- gebung (vo)Lio6eTiKri), der Heilkunst die Strafkunst, hier biKaiocOvr) (nicht biKr)) genannt, gegenüber. Ähnlich im Sophistes (229 A). Also: wie die Heilkunst zum Zweck hat die Gesundung des Körpers, so die Strafkunst die Gesundung des Geistes. Analogien - in denen Piaton bekanntlich stark ist — gelten nicht schlechtweg, sondern nur beziehungsweise. Kein
Gesichtspunkt der Besserung 195
Wunder also, wenn sich Piaton auf diese Analogie nicht unbedingt fest- legt. In der Republik (604 CD) übernimmt ihm die Philosophie die Rolle der Heilkunst (iaipiKri) und in den Gesetzen (862 C) wird ähnlich die Heilkunst der Geistespflege überhaupt gleichgestellt. Aber mit oder ohne Bild: die Strafkunst ist ihm an erster Stelle eine Besserungskunst. Ist sie ihm das aber, so wird man begreiflich finden, daß er in ihr gerade- zu eine Wohltat sieht, ein Glück für den Verbrecher, dem sich nach Mög- lichkeit zu entziehen die größte Torheit nicht nur, sondern auch der größte Schaden für ihn ist. Wer es gut mit sich meint, hat nach begangener Missetat sich nichts angelegener sein zu lassen als sich dem Richter zur Bestrafung zu stellen. In warmem Eifer verficht Piaton diesen Gedanken im Gorgias (472 E) — nicht als erster überhaupt, denn die Sprüche Salo- monis waren ihm darin vielleicht vorangegangen, z. B. „wer sich gern läßt strafen, der wird klug werden" (12, 1) - aber doch einigermaßen zur Verwunderung seiner Landsleute und Zeitgenossen, wie wir aus dem Gorgias ersehen. Daß die Strafe Besserung zum Zwecke habe, dieser Gedanke leuchtete seinen Landsleuten wohl ein, ja er scheint sogar in starkem Gegensatz zu früherer Anschauungsweise in der öffentlichen Meinung der damaligen Zeit der herrschende gewesen zu sein, wie die Ausführungen des Protagoras in dem gleichnamigen Dialoge Piatons wahrscheinlich machen. Aber daß der Verbrecher selbst seine Bestrafung herbeiführen solle, weil, wie die Gesetze sagen (859 E), „was wir mit Recht erleiden, schön und löblich ist", das wollte ihnen doch nicht recht in den Kopf und schien ihnen ebenso sonderbar, wie es vermutlich unserem Pufendorf, wenn er den Piaton gekannt hätte, erschienen wäre. Denn dieser behauptet (De jure nat. VII, 4, 3; VIII, 3, 4. Hirzel Themis p. 193) sehr bestimmt, es gehöre zum Wesen der Strafe, daß man sie wider Willen erleide. Demgegenüber gibt sich kurz und treffend der platonische Standpunkt kund im Eingange des Dialogs Kritias (106 AB): „wenn wir wider unseren Willen geirrt haben, so möge uns Gott dafür die gebührende Strafe auferlegen. Die rechte Strafe aber besteht darin, daß er aus Irrenden uns zu Kundigen mache".
Gefängnisstrafe als Strafe für sich scheint in Athen nicht üblich ge- wesen zu sein, sondern nur als Sicherungshaft u. dgl. In den platonischen Gesetzen indes spielt sie keine geringe Rolle und wir können aus ge- legentlichen Bemerkungen entnehmen, wie Piaton sie mit seiner Besse- rungstheorie in Verbindung setzte. In einer Stelle der Gesetze (907 D ff.) heißt es von den ehrlichen und offenen Gottesverächtern — im Gegen- satz zu den heuchlerischen Gottesverächtern, die weit schwerer bestraft
werden sollten — , daß sie mindestens fünf Jahre Gefängnis erhalten
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195 Straftheorie
müßten. Während dieser Zeit soll niemand zu ihnen Zutritt haben außer den Mitgliedern der nächtlichen Versammlung. Diese Versammlung war eine Auswahl der weisesten, erfahrensten und erprobtesten Bürger. Diese allein sollen mit den Verhafteten verkehren, „um sie möglichst besser zu machen und ihre Seele zu retten" (909 A). Also eine Aufgabe, vergleich- bar der unserer Geistlichen an den Gefängnisanstalten, nur daß an die Stelle der religiösen Besserungsmittel hier die philosophische Belehrung tritt.
Ist Besserung also das eigentlich herrschende Prinzip der Strafe, so gesellt sich dem doch alsbald ein zweiter Gesichtspunkt für Beurteilung der Strafe bei, nämlich der der Abschreckung, die im Grunde aber auch auf Besserung hinausläuft. Sie bezieht sich sowohl auf die Gesamtheit der Mitbürger wie auf den einzelnen Verbrecher selbst. Sie tritt aber nicht als eine der Besserung nebengeordnete, sondern ihr untergeord- nete Forderung auf; sie ist mehr politischer Natur als unmittelbar dem Wesen der Strafe entnommen. Sie soll den Mitbürgern die Lust be- nehmen, ihrerseits zu freveln, und dadurch darauf hinwirken, sie besser zu machen. „Jeder, welcher Strafe leidet", heißt es im Gorgias (525 B), „und von einem anderen mit Recht bestraft wird, soll entweder besser werden und Nutzen davon haben oder den anderen als Beispiel dienen, damit andere, die seine Leiden sehen, sich fürchten und besser werden." Und was den Verbrecher selbst anbelangt, so lesen wir in den Gesetzen (862 DE): „Mag ein Gesetzgeber durch Taten oder Worte unter Anwen- dung von Lust oder von Schmerz, von Ehre oder Schande, von Geld- bußen oder Geldbelohnungen, oder auf welche Weise immer zuwege bringen, daß er dem, welcher fehlte, das Verbrechen oder Unrecht ver- haßt macht und ihm Liebe zur Gerechtigkeit einflößt oder wenigstens seine Abneigung gegen dieselbe benimmt - immer wird ein gutes Straf- gesetz darin seine Aufgabe zu suchen haben, daß er so etwas durchaus nie weiter vorsätzlich zu unternehmen wage oder doch beträchtlich seltener."
Wenn die öffentliche Meinung des damaligen Athen überhaupt sich, wie wir schon oben bemerkten, der Besserungs- und Abschreckungstheorie vielleicht ziemlich geneigt zeigte, so gibt sich darin ein bemerkenswerter Umschwung der Anschauung kund gegen früher. Denn ehedem waren die Ideen der Rache, der Vergeltung - das dviiTreTTOveöc der Pytha- goreer — und der Sühne für Störungen des Rechtes und des gesetz- lichen Zustandes die Grundlagen des Strafrechts. Piaton kannte natürlich wie jeder Athener dieses Strafprinzip, aber es paßte wenig zu seiner philo- sophischen Gesamtansicht. Abgesehen von dem unmittelbaren Schaden- ersatz, von dessen Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit auch er
Abschreckung und Vergeltung 197
überzeugt war (Legg. 861 Ef., 864 DE usw.), gestattete er diesem Prin- zip keinen Zutritt zu seiner Theorie. „Man straft nicht", heißt es in den Gesetzen (934 AB), „um der begangenen Übel willen, denn das Ge- schehene läßt sich nun doch einmal nicht ungeschehen machen." Und genau so läßt Piaton den Protagoras sich äußern in seinem Dialoge dieses Namens (324 B): „Wer auf vernünftige Weise zu strafen gedenkt, der züchtigt nicht wegen des schon begangenen Unrechtes — denn das Geschehene kann er doch nicht ungeschehen machen — sondern um des Zukünftigen willen, damit hinfort weder der Täter selbst wieder Unrecht begehe, noch auch die anderen, welche sehen, wie er bestraft wird." Grundsätzlich also schloß er den Gesichtspunkt der Wiedervergeltung von seiner Theorie aus. Gleichwohl machte sich der natürliche Anspruch des- selben auf Beachtung im Strafrecht doch, wie sich alsbald zeigen wird, auch bei ihm ganz von selbst stillschweigend geltend.
Piaton kennt also alle für eine Theorie der Strafe überhaupt maß- gebenden Gesichtspunkte, würdigt sie aber nicht ihrer natürlichen Be- deutung gemäß. Es kommen nämlich, was den Zweck der Strafe anlangt, tatsächlich drei einander nebengeordnete Prinzipien in Frage: 1. das streng rechtliche der Wiedervergeltung, das unmittelbar aus der Idee des Rechtes fließt, 2. das nicht unmittelbar von der Gerechtigkeit geforderte, sondern politische Prinzip der Abschreckung, das durch Androhung der Strafe einerseits wie durch das Beispiel der vollzogenen Strafe ander- seits nach psychologischen Gesetzen (es wird dadurch innerlich auf die Willensbestimmung durch äußere Gewalt gewirkt) hemmend auf die ver- brecherischen Neigungen der übrigen wirkt, 3. das pädagogische Prinzip der Besserung, welches aber weniger Zweck der Strafe als der gesunden Volksbildung überhaupt ist. Von der Sicherungstheorie ist hier abzusehen, da sie nicht sowohl zur Straflehre, als zur Lehre von der Selbständig- keit und Selbsterhaltung (Autarkie) des Staates gehört.
Alle Theorien, welche einseitig nur einen Teil dieser Gesichtspunkte oder gar nur einen zum bestimmenden Moment für die Strafe machten, haben sich, bei zivilisierten und auf der Höhe der Kultur stehenden Völkern wenigstens, als unzulänglich erwiesen. Auch wird man bald er- kennen, daß ungeachtet der gewünschten Einheit des Prinzips doch un- gewollt und von den Urhebern unbemerkt auch Einflüsse der anderen Prinzipien nicht selten sich geltend machen. Die Strafe hat eben nicht nur ein Gesicht, sie trägt die Züge des eigentlichen Rechtes in engerem Sinne, hat aber auch politischen und pädagogischen Zwecken zu dienen. Wir haben die maßgebenden Gesichtspunkte, ohne uns auf gewisse Modi- fikationen eines oder des anderen derselben, die hier nicht in Betracht
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kommen, einzulassen, in derjenigen Folge aufgeführt, die sich durch die Natur der Sache ergibt.
Bei Piaton nun stellt sich die Reihenfolge gerade umgekehrt. Das pädagogische Prinzip steht an der Spitze, das politische Prinzip der Ab- schreckung erscheint an zweiter Stelle als dem pädagogischen untergeord- net, das eigentlich rechtliche Prinzip endlich verschwindet sozusagen aus der Rechnung; aber doch nur grundsätzlich, nicht tatsächlich. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß Schadenersatz auch dem Piaton unerläßlich erscheint. Aber mit dem einfachen Schadenersatz ist die Sache noch nicht abgetan. Er ist streng genommen noch gar nicht Strafe, sondern nur Genugtuung. Die Idee der Gerechtigkeit aber fordert außerdem Ver- geltung für den gewaltsamen Bruch des Rechtes und gibt damit zugleich die Möglichkeit einer Sühne oder Abbüßung, die den Bescholtenen wieder in den Stand des Unbescholtenen zurückbringt. Piaton will davon nichts wissen. Wenn er in den „Gesetzen" nicht selten den doppelten, drei- fachen und so weiter bis zehnfachen Schadenersatz anordnet, so soll sich das lediglich aus der Absicht der Abschreckung und Besserung er- klären, wie er ausdrücklich versichert (934 AB). Allein wie tief ihm, seinem eigenen Bewußtsein vielleicht nicht mehr klar, der Gedanke der Vergeltung in der Seele lag, zeigt sich an Äußerungen wie der in der Republik (613 A), derzufolge manche Übel, die den Gerechten treffen, als eine unvermeidliche Strafe früherer Sünden anzusehen seien. Hier wird also der schon vollkommen Gebesserte noch nachträglich gestraft wegen vergangener Missetaten, zwar nicht vom irdischen Richter, aber doch so, daß der Gedanke ebenso anwendbar auf diesen ist. Und daß er das auch für Piaton ist, zeigt seine gesetzliche Behandlung des Falles, daß ein geistig Unzurechnungsfähiger einen Totschlag begangen und seine Hände mit Blut befleckt hat. Grundsätzlich eigentlich straffrei, soll er doch (Legg. 864 E) „ein Jahr lang das Land meiden und in der Fremde wohnen und wenn er vor Ablauf dieser gesetzlichen Frist zurückkehren oder auch nur irgendwie sein Vaterland betreten sollte, so soll er von den Gesetzes- verwesern zwei Jahre lang ins Staatsgefängnis gesperrt und nicht eher wieder losgelassen werden". Der Gedanke der Sühnung hat für Piaton eine wesentlich religiöse Bedeutung (Legg. 872 D ff.). Aber er beruht doch im letzten Grunde auf dem wenn auch mehr oder weniger dunklen Gefühle von der Heiligkeit des Rechtes, als einer Idee, welche un- bedingt Vergeltung fordert.
Der Gesichtspunkt der erziehlichen Wirkung der Strafe, der dem Piaton oben ansteht, darf zwar von keiner vernünftigen Straftheorie bei- seite geschoben werden, aber zum eigentlich leitenden und bestimmen-
Rangfolge 199
den Grundgedanken gemacht, gibt er die Justiz der Willkür und dem subjektiven Belieben preis. Der Richter kann wohl feststellen, ob eine Handlung beabsichtigt war oder nicht, aber über die ethische Beschaffen- heit dieser Absicht kann er sich kein sicheres Urteil zutrauen. Das Innere der Gesinnung, dessen Bildung und Veredelung das Ziel der Erziehung ist, läßt sich nicht objektiv klarlegen, gibt also keinen sicheren Anhalt für Bestimmung der Strafe. Der Richter kann wohl durch die Strafe auf die Gesinnung wirken, und die besondere Art des Strafvollzugs kann diese Wirkung unterstützen, aber er kann diese Gesinnung nicht zum Ausgangspunkt seiner Beurteilung machen. Sittliche Zurechnung ist etwas anderes als rechtliche Zurechnung. Die Besserungstheorie hält diese beiden Beurteiiungsweisen nicht klar auseinander.
Wir sehen nun Piaton zwar ernstlich bestrebt, so etwas wie objektive Maßstäbe auch für seinen Standpunkt zu gewinnen Aber trotz mancher beachtenswerten Unterscheidungen, die dabei gemacht werden, bleibt es doch ein vergebliches Bemühen. Daß seine Bürger, welche die volle bürgerliche Erziehung genossen haben, in bezug auf gewisse gröbere Verbrechen härter angesehen werden als Sklaven und Fremde (z. B. Legg. 854DE, 941 E f.), wird jeder in Ordnung finden. Wenn aber mit dieser Erziehung angeblich ein endgültiges Resultat, die Grenze der Besserungsfähigkeit erreicht sein soll, dergestalt, daß wer dann noch gewisse schwere Verbrechen begeht, als unheilbar (dviaioc) gelten und mit dem Tode bestraft werden müsse, so ist das eine durchaus subjektive Annahme. Piaton aber traut sich tatsächlich zu, die Heilbarkeit oder Un- heilbarkeit der Verbrecher beurteilen zu können und danach das Ver- fahren gegen sie zu regeln. Die Unheilbaren müssen dem Tode verfallen. „Gegen die," heißt es in den Gesetzen (862 DE), „bei welchen nach der Ansicht des Gesetzgebers die Ungerechtigkeit und das Verbrechen be- reits zu einer unheilbaren Krankheit geworden sind, welche Strafe wird er in seinen Gesetzen gegen diese verhängen? Da er einsieht, daß es für alle dergleichen Leute selber nur schlimmer ist, noch länger zu leben, und daß den anderen ihre Entfernung aus dem Leben einen doppelten Nutzen gewähren dürfte, nämlich einmal, daß sie sich ein Beispiel daran nehmen, nicht gleichfalls verbrecherisch zu handeln, und sodann die Be- freiung des Staates von der Last solcher Übeltäter, so muß er notwendig auf Verbrechen von solcher unheilbaren Art die Todesstrafe setzen und kann gar nicht anders." Und so auch in der Republik (410 A, vgl. Polit. 308 E f., Gorg. 512A). Man kann sich denken, daß bei diesem Stand- punkt das Henkerschwert sehr locker in der Scheide sitzt. In der Tat ist es erstaunlich, wie rasch Piaton in seinen Gesetzen mit der Todesstrafe
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bei der Hand ist. Es steckt eben etwas vom Jakobiner in ihm. Am heilsamsten würde es sein, wie Piaton meint, wenn ein Gesetzgeber als Neubegrün- der eines Staates sich aller Unheilbaren durch Hinrichtung oder Ver- bannung entledigte (735 E), im Namen der Tugend, ähnlich dem Vor- schlag in der Republik (540 Eff.) alle Bewohner, die über 10 Jahre alt sind, auszutreiben und erst ihre Kinder wieder aufzunehmen. Allein er sagt sich wohl selbst, daß dies keine Radikalkur sei; denn das Ver- brechen wird sich immer wieder von selbst gebären. Eben darum aber muß ungeachtet allen Mitleides, das jeder Ungerechte verdient (731 DE), gegen die Unheilbaren mit unnachsichtlicher Strenge vorgegangen wer- den. Ein höchst bedenklicher Grundsatz. Denn bei Lichte besehen soll hiernach die Strafe nicht sowohl nach der Schwere des Verbrechens, als nach der mutmaßlichen Heilbarkeit des Verbrechers bemessen werden. Wie unsicher und willkürlich aber, ja, wie verhängnisvoll für die Kon- sequenz der Theorie selbst, dieser Begriff der Unheilbarkeit und der da- mit korrespondierenden Todeswürdigkeit ist, zeigt sich an der Anwen- dung, die er in seinem Gesetzesstaate von dieser grundsätzlichen Anschau- ung macht. Denn als angeblich Unheilbare — nur solche sollen ja mit dem Tode bestraft werden — figurieren hier mitunter Leute, hinsichtlich deren man sich billigerweise fragt, ob sie nicht, gehörig bestraft, sich eines Besseren besinnen würden. „Wer durch Gift", heißt es z. B. in den Gesetzen (933 CD) „zwar nicht einen anderen oder einen von dessen Leuten ums Leben bringt, aber doch seinen Herden oder Bienenstöcken einen tödlichen oder nicht tödlichen Schaden zufügt, soll, wenn er dieses Verbrechens überwiesen wird, falls er ein Arzt ist, mit dem Tode be- straft, falls er aber der Arzneikunst unkundig ist, soll es dem Ermessen des Gerichts anheimgegeben werden, was für eine Strafe er leiden oder welche Buße er zahlen soll. Und ebenso wenn jemand durch Bann — oder Beschwörungsformeln, durch Zaubersprüche oder irgend ein ähn- liches Mittel Schaden zu stiften versucht hat, so soll er, falls er ein Wahr- sager oder Zeichendeuter ist, am Leben gestraft werden, falls er aber ohne Kenntnis der Wahrsagekunst verfuhr, so soll auch mit ihm, ebenso wie mit dem, welcher einer Zauberei der ersteren Art überwiesen ist, nach dem freien Ermessen des Gerichts verfahren werden." Im attischen Rechte war die Todesstrafe in solchen Fällen nur dann angedroht, wenn die Tat den Tod oder Wahnsinn eines Menschen zur Folge gehabt hatte. Und diesen Standpunkt wird man nicht mißbilligen. Wenn Piatons Zorn gegen Zauberei und Hexerei zu einem ungleich härteren, ja grau- samen Verfahren führt, so erklärt sich das aus dem Grundtriebe seines Herzens, dem Wahrheitstriebe, dem aller Schwindel, alle vorsätzliche
Unheilbarkeit 201
Irreführung, alle Spekulation auf die Leichtgläubigkeit der Menschen ver- haßt waren und dies um so mehr, je mehr sie auf schnöden Geldgewinn berechnet waren. Um jeden Preis wollte er den Staat von diesem ihm unerträglich scheinenden Greuel befreit wissen. Die Rücksicht auf die Besserungsfähigkeit des einzelnen, d. h. des Täters, die doch in solchem Falle nicht ausgeschlossen ist, schwindet da gegenüber der Sorge für das Ganze. Sein Besserungsprinzip wird also mit sich selbst uneins. Es deckt nicht alle Ansprüche und Herzensbedürfnisse seines eigenen Ver- treters; es verrät eine bedenkliche Blöße. So noch in manchen anderen Fällen, die im einzelnen aufzuzählen sich nicht lohnen würde.
Wenn Piaton, wie oben bemerkt, seinem bürgerlichen Erziehungs- system einen Einfluß, eine Gewalt zuschreibt, die nur grundverdorbenen Naturen gegenüber zu versagen scheint, so muß es einigermaßen be- fremden, daß er in nicht wenigen Fällen Dinge, die wir der Sitte und dem Anstand überlassen, durch besondere Gesetze glaubt regeln zu müssen. So bestimmt er z. B- daß, wer dazu kommt, wie ein Alterer von einem Jüngeren oder auch ein Freier von einem Sklaven geschlagen wird, dem ersteren zu helfen hat, widrigenfalls Strafe bis zu hundert Drachmen erfolgt (880 B ff.). Piaton scheint also doch in sein eigentliches Erziehungssystem nicht durchweg das Vertrauen gesetzt zu haben, das wir nach dem Geiste des Ganzen bei ihm vorauszusetzen uns befugt glaubten. Eine leicht begreifliche Folge der Vermischung von ethischen und juristischen Gesichtspunkten, die für seine ganze Auffassung der Politik charakteristisch ist. Unterricht und rechtliche Strafe sollten dem einen großen Werke der Erziehung des Volkes dienen, so daß es ihm nichts verschlug, beide auch da ineinander greifen zu lassen, wo eine richtige Theorie sich für die Trennung beider entscheiden muß.
Wenn in dem heutzutage wieder stark wogenden Kampfe um die richtige Gestaltung des Strafverfahrens von gewisser Seite die Besserung als Hauptzweck der Strafe mit Geist und Kraft und nicht ohne Erfolg in den Vordergrund gerückt wird, so geschieht dies gewiß nicht unter dem unmittelbaren Einflüsse platonischer Gedanken oder in Anlehnung an sie. Motive und Anschauungsweise sind wesentlich andere. Allein wunder- nehmen wird es nicht, daß mit gewissen Stichworten gleichmäßig hier wie dort argumentiert wird: die innere Gebundenheit des Verbrechers und die dadurch bedingte Unfreiwilligkeit der Tat gibt das leitende Hauptmotiv. Aber während unsere heutigen Stimmführer der Besserungs- theorie das Verbrechen aus natürlichen Anlagen, aus Lebensgang, Um- gebung, Erziehung und Umgang zu erklären und psychologisch verständ- lich zu machen und dadurch die Verantwortlichkeit mitsamt der Strafe
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herabzudrücken und, wenn nicht ganz zu beseitigen, so doch jedenfalls möglichst human zu gestalten suchen, scheut Piaton vor einem robusten Strafverfahren keineswegs zurück. Gerade durch den starken Eindruck der Strafe auf das Gemüt des Frevlers will er es erreichen, den noch unfreien, noch nicht zur Selbstherrschaft und unbedingten Anerkennung des Verstandes (Xöroc) gelangten Geist zur Einkehr in sich selbst, zur Selbstbesinnung zu bringen und dadurch innerlich frei zu machen: wahrhafte Freiheit unxl wahrhafte innere Aufklärung fallen ihm zusammen. Er kennt natürlich und berücksichtigt den Fall, daß wirkliche Geistes- krankheit und Geistesschwäche vorliegt. „Es könnte der Fall eintreten," sagt er (Legg. 864 BE), „daß jemand ein Verbrechen im Wahnsinn oder weil seine Geisteskräfte durch Krankheit oder hohes Alter getrübt waren oder weil er noch wie ein Kind zu handeln pHegt, und seine Geistes- kräfte sich in nichts von denen eines Kindes unterscheiden, beginge. Wenn so etwas durch die Angaben des Täters selbst oder die Erklärung seines Verteidigers den jedesmaligen Richtern zur Überzeugung gelangt, und das Urteil derselben demgemäß dahin ausfällt, daß er in dem einen oder anderen dieser Zustände bei seiner Gesetzesübertretung sich be- funden habe, so soll er einfach den Schaden, welchen er angerichtet hat, ersetzen, von aller Strafe aber frei sein." Im übrigen läßt Piaton Milde nur da walten, wo das Vergehen zurückzuführen ist auf irrtümliche Vor- stellungen über das an sich gewollte Beste. Unsere heutigen Vertreter der Besserungstheorie würden gewiß entsetzt sein, wenn sie in die Lage gebracht würden, nach platonischen Kriterien über Unheilbarkeit des Verbrechers zu entscheiden. Piaton war kein mattherziger Beurteiler der Menschennatur, kein Anwalt gefühlsseliger Humanität. Seine Theorie war schief, wie es jede ausschließliche oder im Strafsystem auch nur an die erste Stelle gerückte Besserungstheorie sein muß, aber sie hat keine Verwandtschaft mit Weichlichkeit und weist es durchaus von sich, den Nervenarzt an die Stelle des Richters treten zu lassen.
XL DIE BEIDEN DIALOGE HIPPIAS.
Von den unter Piatons Namen überlieferten Dialogen wüßte ich keinen, der mit so berechneter Schlauheit geradezu darauf angelegt schiene, den Leser hinters Licht zu führen, wie der kleinere Hippias. Sokrates, der nichts Höheres kennt als die Tugend, macht sich hier, wie es scheint, zum Lobredner des abgefeimten Lügners. Sokrates, der sonst nicht müde wird zu versichern, daß niemand freiwillig unrecht tue, liefert hier den Beweis, daß derjenige, der freiwillig lüge oder überhaupt einen Fehler begehe, besser sei als derjenige, der es unfreiwillig tut.
Was bringt ihn darauf? Hippias hat vor einer größeren Versamm- lung einen Vortrag über Homer gehalten. Daran anknüpfend läßt sich Sokrates von ihm über den sittlichen Wert einiger homerischen Haupt- helden belehren. Indem nun Hippias dem Achill das Lob der Wahrhaftig- keit erteilt, während Odysseus in seinen Augen mit dem Makel der Lügen- haftigkeit behaftet erscheint, zeigt Sokrates, daß das Lügen Kenntnis der Sache, also Wissen, voraussetze, ebenso wie die Wahrhaftigkeit; es steht also in dieser Beziehung der Lügner mit dem Wahrhaftigen auf einer Stufe. Aber Sokrates geht noch weiter. Auch Achill, meint er, sei von Homer als Prahler und Lügner geschildert. Demgegenüber behauptet Hippias, daß Achill nur aus Einfalt und Unwissenheit lüge, im vollen Gegensatz zu Odysseus. Dieser Behauptung stellt nun Sokrates den durch einen Analogieschluß gestützten Satz entgegen, daß der absicht- lich Fehlende besser sei als der unfreiwillig Fehlende. Auf allen Gebieten nämlich sei derjenige, der auf Grund genauer Sachkenntnis absichtlich einen Fehler mache, besser als derjenige, welcher aus Unkenntnis unfrei- willig fehle. Auch auf das sittliche Gebiet also muß sich kraft der Analogie die Gültigkeit des Satzes erstrecken. Mithin ist auch der absichtlich Sün- digende besser als der unabsichtlich Fehlgehende.
Das Fehlerhafte dieses Räsonnements liegt klar zutage. Wir werden später darauf zurückkommen und sehen, wie der Fehler zu verbessern ist, und zwar nicht nur an sich, sondern auch im sokratisch-platonischen Sinn. Vor der Hand mag es genügen, die Beantwortung der Frage zu versuchen, was Piaton mit dieser dialektischen Schrulle (denn als solche stellt sich uns das Gespräch dar) eigentlich beabsichtigt habe. Daß es
204 ^'^ beiden Dialoge Hippias
nicht seine wahre Meinung wiedergibt, sieht man auf den ersten Blick, auch ohne auf gewisse verstecktere Andeutungen des wahren Sachver- halts zu achten; widerstreitet doch das Resultat allem, was wir als plato- nisch in diesen Regionen der Forschung kennen, indes Piaton hat, wie gesagt, Sorge getragen, auch durch einige eingestreute Winke dem Miß- verständnis einigermaßen vorzubeugen. Es ist nicht nur der Schluß des Gespräches, der durch die unzweideutige Kundgebung unbefriedigter Stimmung sowohl des Sophisten wie auch des Sokrates selbst über das gewonnene Ergebnis den rein interimistischen Charakter des Vorgetrage- nen bezeugt: auch inmitten des Dialoges sind, wie von anderen schon zur Genüge bemerkt worden ist, kleine, dem Auge des weniger Aufmerk- samen sich freilich leicht entziehende Warnungszeichen eingestreut, vor allem S. 376 B der Satz; 6 ekojv ctuapidvuüv Kai aicxpa Kai dbiKa ttoiüuv, eiTiep TIC ecTiv outoc, ouk av dXXoc ei'ri ri 6 d^aGöc. Dies „wenn es einen solchen gibt" wirft ein eigentümliches Licht auf das Ganze. Ferner sind wichtig in dieser Beziehung die Worte 372 E: vuvi be ev tiIj Tiapövii uoi uücTTep KairißoXri TrepieXriXu9e. Wie in einem Fieberanfall also hat So- krates, diesem Bekenntnisse zufolge, sich bei seinen sonderbaren Dar- legungen befunden. Damit ist das Ventil gegeben, welches, richtig be- nutzt, die verdorbene Luft entweichen lassen kann, die der Dialog atmet. Was mag nun also den Piaton zu diesem Vexierspiel geführt haben? Etwa bloß die Freude daran, dem eitlen Hippias oder in seiner Person der auf ihr Wissen so eingebildeten Sophistik eine Demütigung zu be- reiten? Gewiß muß dieser Rücksicht ein sehr starker Anteil an der Ent- stehung des Werkchens eingeräumt werden. Allein wie wir Piaton kennen, muß damit auch irgendein philosophisches Interesse verbunden gewesen sein. Bedenkt man nun, eine wie feste Stellung in dem entwickelten Piatonismus sowohl, wie weiterhin in der peripatetischen Philosophie die Lehre von der Beherrschung der Gegenteile durch das gleiche Wissen, auf allen Gebieten der Erkenntnis, einnimmt, eine Lehre, die sich aristo- telisch gefaßt in dem so häufig wiederkehrenden Satze ausspricht: tujv evavTiuuv )Liia (r\ auifi) eTTiciriuri^), so kann man kaum umhin anzunehmen,
1) Bei Piaton findet sich die Lehre deutlich formuliert im Phaidon 97 D: ^K Toü XÖYOu TOÜTOU ouöev dXXo CKOireiv irpocriKeiv dvöpuÜTTUj Kai Trepi auToO Kai Trepi äXXuuv, dXX' f| tö öpiCTov Kai tö ßeXricxov, üvaTKaiov be eivai töv auTÖv TOÜTOv Kai TÖ x^ipov eibevar xr^v auTi^v y«P eivai eiriCTiiiuriv irepi auTÜJv. Legg. 816 E: dveu tüüv dvavxiaiv xd ^vavxia juaSeiv ou buvaxöv. Vgl. Rpl. 409 D, 520 C, Charm. 166 E, Ion 531 DE. Auch Phaidr. 262 A gehört hierher. Für Ari- stoteles vgl. die zahlreichen Stellen bei Bonitz, Index Arist. S. 247* 13ff., zu denen ich noch hinzufüge Met. 1046^ 1-20, Eth. Nie. 1137'^ 17ff.
Beherrschung der Gegenteile 205
daß schon in den letzten Zeiten der sokratischen Schule, in der Zeit, da Piaton mit Sokrates verkehrte, diese Lehre eine Rolle spielte und als Probierstein dialektischer Kunst zunächst innerhalb der Schule, dann aber auch nach außen hin diente, wozu sie ja in der Tat stark verführen mochte ; war sie doch, nach der rein dialektischen Seite hin, d. h. abgesehen von dem Korrektiv, das, wie wir später sehen werden, Piaton in der Hand hatte, geeignet wie keine andere, etwaige Gegner im Disputieren zu dü- pieren^). Denn durch kleine Eskamotagen, wie in unserem Dialog durch die Einführung des Begriffes djueivuuv für den besser Wissenden, gleich- viel auf welchem Gebiete, konnte man dem Gegner die schlimmsten Fallen legen. Was Wunder also, wenn Piaton sich versucht fühlte, durch sie — im Bilde wenigstens — den eitelsten Vertreter der Sophistik recht dra- stisch ad absurdum zu führen. Der eingebildete Besserwisser (vgl. z. B. Hipp. Min. 364 A, 369 B) geht an die leicht zu durchschauenden Kunst- griffe der Dialektik des Besserwissens — denn in ihr beruht ja der Witz des Werkchens -^ verloren. Behauptungen aufzustellen und in wohl- tönender Rede sich des weiteren darüber auszulassen, dazu ist er wohl der Mann. Sobald er aber im einzelnen Rechenschaft geben soll, ver- sagt er. Selbst den paradoxesten Aufstellungen eines Sokrates steht er völlig ratlos gegenüber, wenn sie in einer Form verteidigt werden, die auch nur den Schein der Wissenschaftlichkeit für sich hat.
Ist es also nicht allzuschwer, einerseits den ironischen Zug der hier angewandten Dialektik zu erkennen, anderseits den Gesichtspunkt zu finden, von dem aus das Ganze einen erträglichen Sinn gewinnt, so schei- den wir doch von dem kleinen Dialog nicht ohne ein gewisses Gefühl
1) Daß es sich um eine Argumentationsweise handelt, die der sokratischen Schule nicht fremd war, ergibt sich deutlich aus Xenophons Memorabilien. Das zweite Kapitel des vierten Buches bietet das genaue Gegenbild zu unserer Unter- redung mit Hippias. Da ist es Euthydem, der die Rolle unseres Hippias spielt und ebenso wie dieser zur Verzweiflung gebracht wird. Man sehe den Wort- laut IV 2, 19 f.: TTÖT€poc dbiKoiTepöc ecxiv, ö exibv f] 6 ctKOJv; 'AW, oi ItuKpaTec, ouK^Ti }iiv e'faJYe iriCTeuuu, oic dTroKpivojuar Kai y^P TCt irpöcGev iravTa vOv äWuuc Ix^iv boKei luoi, f| uuc eY^ röre \h6\jLr\v öiaaic öe eiprjcGuj |aoi döiKuuTepov elvai töv eKOvxa niei)b6|uevov toO ÖKOvroc. AoKei b^ coi i^dGricic xai eTTicxriiLiri xoO biKaiou elvai, ÜJCTrep tüjv YPC^m^ö'Tuuv ; "Gjuoiyc. TTörepov 6e YPaMMO''ri'<ajTepov Kpiveic, oc av ^KÜüv ixY] öpGujc YP(i(p>] Kai dvaYiYviAJCKr) f] 8c dv dKuuv; "Oc dv ^kuüv, ?y^T€* bOvaiTO Yop <^v, ÖTTÖre ßoüXoiTO, Kai öpGOuc aurd -rroieTv. Oukoöv ö |nev ^Kibv }X'i] öpGOüc fpäcpvjv ypaiiu.axiKÖc dv eiri, 6 be ökojv dYpdmuaxoc; TTüjc yäp ou; Td bi- Kaia be Tröxepov ö ckujv v|ieuöö,uevoc Kai eEairaxujv oibev i) 6 dKOiv; AfjXov öxi 6 Ikuüv. Oukoöv YPO'I^MCi'^ixuüxGpov |U6v xöv ^Tricxd|U€vov YPOiM.uaxa xou pir] eiricxaiuevou q)r)C elvai; Nai. Aixaiöxepov bi xöv ^7Ticxd|U€vov xd öiKaia xoü \iy\ ^iricxaju^vou; <t>aivo|Liar öokuj be |uoi Kai xaöxa, oOk oTÖ' öttujc, \eY€iv.
206 ^'^ beiden Dialoge Hippias
des Mißbehagens und der Leere. Es ergeht uns ganz wie dem Hippias und dem Sokrates selbst: beide geben am Schluß ihrem Verdruß über den unfruchtbaren Verlauf des Gespräches unzweideutigen Ausdruck. Bringen uns andere Dialoge das Resultat auch nicht auf dem Präsentier- teller entgegen, so gehen sie doch in dem Versteckenspielen nicht an- nähernd so weit wie dieses Gespräch.
Weit positiver nach dem ganzen Gang der Erörterungen wie nach ihren Ergebnissen stellt sich uns der größere Hippias dar, über dessen Inhalt zunächst ein Überblick folgen mag, der zwar nicht als Ersatz für die etwaige Lektüre dienen, aber doch etwas über das bloß Schematische hinausgehen soll.
Einleitung (281 A bis 286 E). Der „schöne" und weise Hippias, im Prachtgewand und zierlichen Sandalen, kommt auf einer seiner Reisen nach Athen, das sich nicht eben häufig seines Besuches zu erfreuen hat. Aus gutem Grunde, wie er dem ihn begrüßenden Sokrates mitteilt: die häufigen diplomatischen Sendungen nämlich, zu denen ihn das Vertrauen seiner Mitbürger berufen, lassen ihm nicht viel Zeit zu Privatreisen übrig. Wie haben sich doch die Zeiten geändert, erwidert Sokrates. In früheren Zeiten haben sich die Weisen weder in Staatsgeschäften hervorgetan, noch durch ihre Weisheit große Reichtümer erworben. Wie ungeheuer fortgeschritten ist im Vergleich zu dieser beschränkten Zeit die Gegen- wart, die dem Grundsatz huldigt, der Weise müsse vor allem für sich selbst weise sein, d. h. durch seine Weisheit sich möglichst viel Geld zu- sammenscharren. Aber wo, fragt er den hohen Fremden, wo hast du denn das meiste Geld verdient? Doch wohl in Sparta, wohin du am häufigsten durch deine Staatsgeschäfte geführt wirst? Weit gefehlt, ant- wortet jener, in Sparta ist am allerwenigsten Geld zu verdienen. Wieso? sagt Sokrates. Wollen denn die Spartaner ihre Söhne nicht zu möglichst tüchtigen Bürgern ausgebildet sehen, und ragst du nicht gerade in dieser Kunst am meisten hervor? Das wohl, meint der Sophist, allein sie halten zähe an ihren alten Bräuchen und Gesetzen fest. Aber, erwidert Sokrates, deine Art der Erziehung ist doch wohl besser als die ihre? Sicherlich, antwortet der Sophist. Nun, wie meinst du? sagt Sokrates. Liegt es nicht im Geiste ihrer 'Gesetze, ihre Söhne auf die bessere und nicht auf die schlechtere Art zu erziehen? Gewiß! Also handeln die Lakedämonier, diese gesetzestreuen Männer, wider den Geist der Gesetze, wenn sie dir ihre Söhne nicht anvertrauen. Was ist es denn also, was dir den großen Beifall in Sparta verschafft? Das sind, entgegnet der Sophist, meine Vor- träge, namentlich die antiquarischen über die älteste Geschichte des Landes^ aber auch andere, Lehren für das Leben, alles von ausgesuchter Schön-
Der größere Hippias 207
heit. Meinen letzten Vortrag über schöne Beschäftigungen der Jugend sollt ihr auch hier zu hören bekommen. Vortrefflich, erwidert Sokrates, du bist mein Mann. Als ich nämlich jüngsthin den Sittenrichter machte und gewisse Verhaltungsweisen als schön, andere als häßlich bezeichnete, setzte mich ein zudringlicher Bekannter in nicht geringe Verlegenheit durch die Frage, woher ich denn meine Weisheit über das Schöne und Häßliche hätte; ich wtißte ja gar nicht, was das Schöne eigentlich wäre. Beschämt mußte ich abziehen, denn ich vermochte nicht Rede zu stehen. Du nun bist mein Retter in der Not; denn du bist Meisterin allem Schönen. Du also oder niemand vermagst mir Aufschluß über den Begriff des Schönen zu geben. Aber ehe wir die Sache erörtern, noch eine Bitte! Du mußt mir erlauben, daß ich mich selbst als jenen Fragenden einführe, so daß ich mit dir rede als wäre ich jener dritte selbst, der mich gefragt. Da- durch werde ich am besten auf den Kampf mit ihm eingeübt. Einver- standen, sagt der Sophist.
Die Definitionsversuche des Hippias (287A bis 293C). Also was ist das Schöne? Wohlverstanden das Schöne und nicht, was ist schön. Dieser Unterschied dünkt dem Sophisten so fremd wie böhmische Dörfer; ohne irgendwie darauf einzugehen, antwortet er in vollster Zu- versicht (wie die Kinder, wenn sie etwa gefragt werden, was ist ein Fluß? antworten: „die Elbe", oder wie Schädel, der Bauer, in Shakespeares Liebes Leid und Lust auf die Frage, was ist eine Remuneration? antwortet: „Ei je Herr, anderthalb Pfennig"): „ein schönes Mädchen". Nun, warum denn nicht ebensogut ein schönes Pferd? sagt Sokrates, oder eine schöne Lyra oder ein schöner Topf? Alles Dinge, auf die des alten Heraklit Ausspruch vom Affen Anwendung findet, der schönste Affe sei, gegen den Menschen gehalten, häßlich; und selbst das schönste Mädchen wird, neben eine Göttin gestellt, nicht mehr schön erscheinen. Deine Antwort hätte also ebensogut gepaßt, wenn ich gefragt hätte, was schön und häßlich zugleich sei. Meine Frage aber ging auf das Wesen der Schönheit, auf den Be- griff derselben (289 D).
Hier muß ich einen Augenblick inne halten, um das folgende ver- ständlich zu machen. Die platonische Philosophie bezeichnet das Ver- hältnis der Einzeldinge zu den allgemeinen Begriffen, wie es sich im Ur- teil ausspricht, wo im Subjekt das oder die Einzelwesen, im Prädikat der allgemeine Begriff steht, auf zweierlei Weise: L vom Standpunkt der Einzeldinge aus als ein Teilhaben an den Begriffen, 2. vom Standpunkte der Begriffe als ein Hinzutreten des Begriffes zu den Dingen, als ein Zu- gegensein oder Beiwohnen. Beides sagt ganz dasselbe, nur von ver- schiedenen Seiten aus betrachtet. Das Urteil „diese Handlung ist gerecht"
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kann also im platonischen Sinne ebensowohl erläutert werden durch den Satz: „diese Handlung hat Anteil an der Gerechtigkeit", wie durch den anderen: „die Gerechtigkeit wohnt dieser Handlung bei".
Kein Wunder also, um zu unserem Dialog zurückzukehren, wenn der Sophist, ein völliger Fremdling in der sokratischen Begriffsphilosophie, auf die Frage: „Was ist es, durch dessen Hinzutreten alle schönen Einzel- dinge ihre Schönheit erhalten?" mit anderen Worten: „Was ist der Be- griff der Schönheit?" die plumpe Antwort gibt: das Gold. Denn das Gold ist es, das durch sein Hinzukommen allen Dingen den schönsten Schmuck zu verleihen scheint. Dann würde vielleicht auch, wendet So- krates ein, ein goldener Rührlöffel für einen Topf mit Grütze schöner sein, als einer aus Feigenholz (291 C).
So auf den Sand gesetzt, versucht es der Sophist noch mit einer dritten Antwort ähnlichen Genres: „Schön ist es für einen Menschen, im Besitz von Reichtum, Gesundheit und Ehre, nachdem er seine Eltern schön bestattet hat, auch selbst von seinen Nachkommen schön und feierlich bestattet zu werden." Das scheint dem Sokrates so albern, daß er meint, es würde ihm von jenem dritten Stockschläge eintragen. Für Götter und Göttersöhne treffe diese Definition überhaupt von vornherein nicht zu (293 C).
Die drei ersten Definitionen des Sokrates (293D bis 297D). Nun nimmt sich Sokrates mit Hilfe seines Doppelgängers selbst der Sache an, indem er anknüpfend an den Begriff des irperrov, der in der Erörte- rung über den zweiten Definitionsversuch (290 CD) des Sophisten eine gewisse Rolle gespielt hatte, das Schöne erklärt als das Wohlanstehende (iTpeTTOv). Indes der Sophist, der sie begierig ergreift, sieht sich bald wieder enttäuscht, denn es wird ihm nun gezeigt, daß das Wohlanstehende auch das bedeuten kann, was bloß schön erscheint, ohne es wirklich zu sein; der Schönheit Vorrecht aber ist es, wirklich schön zu machen, nicht bloß den Schein zu verleihen (294 E).
Nun wird es dem Sophisten in des Sokrates Gesellschaft etwas schwül. Der Allerweltsmann wird auf einmal ein Freund der Einsamkeit. Wäre ich in der Stille für mich allein - so läßt er sich aus -, dann würde es mir ein Leichtes sein, die richtige Antwort zu finden. Aber ihn jetzt schon gehen zu lassen, diesen Gefallen tut ihm Sokrates nicht. Er macht viel- mehr einen neuen Vorschlag: „Das Schöne ist vielleicht das Brauchbare" (Xpnciiaov). Einverstanden, sagt der Sophist. Was ist nun, fragt Sokrates, das Brauchbare? Doch wohl dasjenige, was fähig ist, seinen Zweck zu erfüllen. Nun aber verfolgen doch so manche den Zweck Böses zu tun und haben auch die Fähigkeit dazu. Kann Bösestun aber schön genannt
Inhaltsübersicht 209
werden? Gewiß nicht. Bleibt also nur der Ausweg zu sagen, das Schöne sei dasjenige, was zu gutem Zwecke brauchbar ist (296 D).
Damit sind wir bei der dritten Definition angelangt. „Das Schöne ist das Nützliche" (ujqpeXi^ov). Denn das uucpeXi^ov ist eben dasjenige Xpr|ci|Liov, welches einen guten Zweck zu erfüllen tauglich ist. Aber da stoßen wir, meint Sokrates, auf eine neue Ungereimtheit. Denn dadurch wird das Schöne in ein ursächliches Verhältnis zum Guten gebracht (in- dem es der Definition zufolge das xpnci^ov im t6 otYaGöv ist). Es müßte also, da Ursache und Wirkung wohl voneinander zu scheiden sind, das KaXöv etwas anderes sein als das otTaGöv.
Abermals erwacht nun in dem immer kleinlauter werdenden Sophisten die Sehnsucht nach der Einsamkeit. Allein Sokrates hat kein Erbarmen. Er rückt mit einem neuen Vorschlag an (297 D).
Vierte Definition des Sokrates (297E bis 304A): „Schön ist, was durch Auge und Ohr unser Wohlgefallen erregt" (tö bid xfic oiKofic Te Kai öi|jeLuc fibu tö KaXöv). Zur Widerlegung dieser von dem Sophisten als richtig zugegebenen Begriffsbestimmung wird ein ziemlicher Aufwand von Scharfsinn aufgeboten. Sokrates unterscheidet nämlich zwischen solchen Begriffen, die, wenn sie von zwei Dingen zusammen ausgesagt werden, auch von jedem derselben einzeln gelten, und solchen, die, wenn sie von mehreren Dingen in ihrer Verbundenheit gelten, doch nicht von jedem einzelnen gelten, und wiederum, wenn sie von jedem einzelnen gelten, für die Dinge zusammen ihre Gültigkeit verlieren. Der Sophist erklärt diese Unterscheidung für baren Unsinn; was von zweien zusammen gelte, müsse doch unbedingt auch von jedem einzelnen gelten. Wenn wir beide zusammen gerecht sind, muß doch wohl jeder von uns auch für sich gerecht sein. Gut! entgegnet Sokrates, laß uns sehen. Antworte mir denn: Ich und du sind doch zusammen zwei; hättest du nun recht mit deiner Behauptung, so müßte, was wir beide zusammen sind, doch auch jeder von uns für sich sein: ich also wäre nicht mehr einer, sondern zwei, und ebenso würde es dir ergehen. Und wenn wir beide zusammen eine gerade Zahl darstellen, müßte dann nicht auch jeder für sich eine gerade Zahl darstellen? Kurz, es ist die Unterscheidung von Geschlechtsbegriffen und Zahlbegriffen, die uns hier in ergötzlicher Form und Anwendung vor- geführt wird.
Der Sophist ist wie aus den Wolken gefallen. Aber was hilft's? Er muß gute Miene zum bösen Spiel machen, die Richtigkeit der Unter- scheidung anerkennen und sich zur Beantwortung der weiteren Frage bequemen, zu welcher von beiden Klassen von Begriffen die Schönheit gehöre. Er kann nicht anders als antworten: „Zu denen, die von zweien
Apelt: Platonische Aufsätze. 14
210 ^*® beiden Dialoge Hippias
ausgesagt, auch von jedem von beiden für sich gelten." Ist dies aber der Fall, so kann die obige Definition nicht zu Recht bestehen. Wenn näm- lich das Schöne das durch Gesicht und Gehör vermittelte Wohlgefällige wäre, so fiele es unter die zweite (Zahlbegriffe) und nicht unter die erste Klasse von Begriffen. Denn dasjenige Wohlgefällige, das uns durchs Ge- hör vermittelt wird, wie die Musik, wird uns nicht auch durch das Auge vermittelt, wie umgekehrt der Eindruck des Gemäldes auf dem Auge und nicht auf dem Ohre beruht. Während also auf beide zusammen die De- finition paßt, erweist sie sich für jedes allein als unpassend. Mithin kann nicht das durch Auge und Ohr vermittelte Wohlgefällige (n^O) das Schöne sein, es muß ein anderes Wohlgefällige (n^u) sein, das den Vorzug hat, sich mit dem kqXöv zu decken. Und zwar kann es kein anderes sein, als dasjenige, welches wirklich nützlich (lucpeXiuov) ist. Das r\b\j uücpeXiuov wäre also das KaXöv. Aber damit finden wir uns auf die vorige Definition zurückgeworfen, scheitern also an der nämlichen angeblichen Unmöglich- keit, an der jene Definition scheiterte.
Damit ist die Untersuchung beendet. Der Sophist kann nicht umhin, dem Sokrates kleinliche Wortklauberei und unfruchtbare Zerstückelung des zu untersuchenden Gegenstandes vorzuwerfen, während seine Art des Verfahrens, die Dinge in großen zusammenhängenden Vorträgen zu behandeln, weit bessere Erfolge aufweise. Dem gegenüber kann Sokrates darauf hinweisen, daß der Sophist immer bei der Hand sei mit Lehren und langen Vorträgen über das Gute und Schöne, das er angeblich auch in seinen Handlungen betätige, während er doch weit entfernt sei zu wissen, worin dies Gute und Schöne an sich besteht.
Es ist nicht unsere Absicht diese Inhaltsübersicht in bezug auf die kenntlich gemachte Gliederung ausführlich zu rechtfertigen. Es bedarf einer solchen Rechtfertigung um so weniger, als, was etwa strittig sein könnte, schon von anderen erörtert und vielfach richtig beurteilt worden ist. Auch liegt es uns fern in eine allseitige und erschöpfende Erörterung des Inhalts einzutreten. Wir beschränken uns vielmehr auf die kurze Besprechung folgender drei Fragen: 1. Was ist das Thema des Dialogs? 2. Bietet der Dialog eine positive Lösung des gestellten Problems? 3. Welche Bedeu- tung hat die letzte der versuchten Definitionen?
Bei der Besprechung dieser Punkte sehen wir von dem Verhältnis der beiden Hippiasdialoge zueinander zunächst noch vollständig ab.
1. Was nun den ersten Punkt anlangt, so fehlt es nicht an solchen,, welche die drastische Schilderung des Hippias mit ihrer für den Mann so vernichtenden Wirkung als die eigentliche Aufgabe des Gespräches an-
Das Thema des Dialogs 211
sehen, so daß also die Wahl des Begriffes kqXöv mehr eine Sache des Zufalles wäre; auch ein anderer Begriff hätte, so meinen sie, den ge- wünschten Dienst geleistet. Aber man muß geradezu die Augen ver- schließen, um nicht zu erkennen, daß der Begriff des Schönen das recht- mäßige Thema des Dialogs bildet, während die Person und die Reden des Hippias zwar als Ausgangspunkt und Vehikel der Darstellung dem Gespräch sein besonderes Leben verleihen, aber doch eben nur der dra- matischen Gestaltung des Ganzen dienen. Den eigentlichen Beziehungs- und Zielpunkt bildet durchweg das xaXöv, wie es denn schon äußerlich vom ersten bis zum letzten Worte das Feld beherrscht: mit 'iTTTiiac ö KaXöc beginnt der Dialog, mit x^Xerrd id KaXd endigt er. Wie die Einleitung mit bester Berechnung auf dies Thema hinführt, so trägt jeder Abschnitt der Erörterung selbst seinen Teil zur Klärung des Problems bei, der- gestalt, daß dabei durchgehends ein wohlüberlegter Fortschritt in der Untersuchung wahrzunehmen ist. Von den lächerlichen Fehlversuchen des Hippias führt uns das Gespräch hinüber zu den ernsteren Vorschlägen des Sokrates, nicht ohne Benutzung gewisser brauchbarer Elemente auch der ersteren zum Aufbau der letzteren, und was diese letzteren anlangt, so liegt wenigstens beim zweiten (xpnci^ov) und dritten (uucpeXiiucv) Vor- schlag die innere Verkettung klar vor Augen. Hinzugefügt sei, daß es in den sokratischen Definitionen nicht sowohl das KaXöv in dem uns nächst- liegenden ästhetischen Sinne, sondern das KaXöv nach der ethischen Seite, d. h. das dYaGov ist, um das es sich handelt. Nur die letzte (vierte Definition) enthält Anklänge an die ästhetische Bedeutung, die indes durch die nähere Erörterung nicht bloß eingeschränkt, sondern so gut wie eli- miniert werden.
2. Schwieriger als die Erledigung dieses ersten Punktes scheint sich die des zweiten zu gestalten. Denn äußerlich genommen, d. h. dem bloßen Wortlaut nach, verläuft der Dialog durchaus skeptisch. Allein man müßte sein Auge nicht an der Betrachtung der übrigen kleinen Dialoge des Piaton wie z. B. des Euthyphron, des Laches, ja auch größerer wie des Protagoras, unter Führung kundiger Wegweiser, wie Schleiermacher und Bonitz, geschärft haben, wenn man alles Wort für Wort schlechtweg für bare Münze nehmen und nicht vielmehr sich angelegen lassen sein wollte, zwischen Hülle und Kern zu scheiden. Piaton hat nicht nur als Meister dramatischer Darstellung seine Freude daran, sondern hält es zur philosophischen Erziehung, zur Erweckung des selbständigen Denkens, auf das in Sachen der Philosophie nicht weniger als alles ankommt, für ersprießlich und geboten, seinen Hörern und Lesern seine Weisheit nicht fix und fertig entgegenzubringen, sondern sie selbst zu Mitsuchern der
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212 ^^^ beiden Dialoge Hippias
Wahrheit zu machen. Sie müssen, um den bekannten platonischen Ver- gleich auf seine eignen Dialoge anzuwenden, wohl lernen, das Silenen- gehäuse, in dem seine Weisheit oft eingeschlossen ist, zu öffnen, um zu dem Wesen der Sache selbst durchzudringen.
Daß nun, gleichviel zunächst noch, ob es sich um ein positives Er- gebnis oder um einen skeptischen Ausgang handelt, der tiefere Gehalt des Dialogs in den Definitionen des Sokrates, vor allem in den drei ersten (293 D bis 297 D), zu suchen ist, kann für den aufmerksamen Leser keinem Zweifel unterliegen. Schon die Tatsache, daß Sokrates selbst (oder zum Teil sein Doppelgänger) es ist, der diese Definitionen vorschlägt, stellt dieselben in einen deutlichen Gegensatz zu den Mißgriffen des Hippias und wendet dadurch diesen Abschnitten die erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers zu. Noch mehr aber tut dies der Inhalt. Man wird unschwer einen schrittweis erweiterten und geklärten Umblick in der Folge der De- finitionen anerkennen: das Wohlanständige (TTpeirov) wird nicht völlig a limine abgewiesen, es wird nur insofern als untauglich zur Begriffs- bestimmung des KaXöv befunden, als es etwa nicht auf Wirklichkeit, son- dern auf Schein beruhen sollte. Ob diese letztere Bestimmung überhaupt mit Recht als ein Merkmal des TTpeirov zu gelten habe, oder vielleicht bloß irrtümlich damit verbunden werde, darüber beobachtet Sokrates seinerseits ein sehr bezeichnendes Stillschweigen, es ganz dem Sophisten überlassend, immer wieder auf den Schein (qpaivecBai) in Hinsicht auf das TTpeTTOv zurückzukommen.^) Ebenso sondert sich aus dem Gebiete des Xpr|ci)aov ein Teil als unbrauchbar für die Definition des KaXöv aus. Der Begriff des Brauchbaren (xpnci^ov) nämlich führt (295 E f.) auf den Be- griff dessen, was vermögend ist etwas auszurichten. Nun beruht auch alles Unrechttun auf einem Vermögen und nicht etwa auf Unvermögen. Es kann also das Vermögen auch zum Unrechten, zum Bösen angewendet werden. Dann ist das Vermögen offenbar nicht mehr etwas Löbliches und Schönes, sondern das Gegenteil. Es muß also zu dem Vermögen noch eine wichtige Bestimmung hinzukommen, um in eine rechtmäßige Verbindung mit dem Begriff des kqXüv zu treten: nur das Vermögen zum Bewirken von etwas Gutem kann schön sein. Damit sondert sich von dem allgemeinen Begriff des xPHCijuov, als der für unseren Zweck brauch- bare Teil, aus das XP^ciuov em xö dYa9öv. So kommen wir auf die
1) Daß nach der Auffassung der Griechen die Begriffe kqXöv und TTpeirov einander tatsächlich sehr nahe stehen, zeigt z. B. Alkib. I, 135 BC: IQ. Tö hi KciXXiov TTpeTTuubecTepov; AA. TTuuc ö' oö; vor allem aber Arist. Top. 135^13, wo es geradezu heißt rauröv '^6.p icix tö naXöv Kai TTpeirov, und Eth. Nie. 1122'^ 8f. Vgl. auch Hirzel, Untersuchungen zu Cicero II 329 Anm.
Positive Lösung- 213
dritte Definition, dergemäß das Nützliche (ujqpeXijuov) mit dem KaXöv als wesensgleich zusammenfällt. Dies uücpeXiiuov ist eben nichts anderes als das XP^^^'MOV eiri tö dTctööv oder mit anderen Worten t6 ttoioöv tö dTaOöv.
Und dies führt uns auf die Hauptsache, auf die Frage nach einer po- sitiven Lösung des Problems. Jeder aufmerksame Leser hat das Gefühl, daß, wenn eine ernst zu nehmende Antwort in dem Dialog überhaupt ent- halten ist, sie nirgends anders als hier zu suchen ist. Denn nicht nur der methodische Charakter der hier durchaus besonnen fortschreitenden Unter- suchung, sondern auch die echt sokratische Färbung der Definition selbst, die wir im allgemeinen auch als wenigstens nicht unplatonisch anerkennen müssen, sichern dieser eine besondere Bedeutung im positiven Sinn. Um so mehr ist man überrascht, in den folgenden Bemerkungen über das Verhältnis des Schönen zum Guten sich wieder ins Ungewisse zurück- geworfen und die mühsam gewonnene Position preisgegeben zu sehen. Da nämlich nach diesem Vorschlag sich das Schöne als Ursache des Guten kundgibt, Ursache und Wirkung aber voneinander verschieden sind, würde das Schöne etwas anderes sein müssen als das Gute. Das aber ist eine reine Unmöglichkeit, wie 304 CD dargelegt wird und wie der gesamte platonische Gedankenkreis es bezeugt: mit der Trennung des KöXöv von dem otTotÖov würde der platonischen Philosophie (vgl. z.B. Lys. 216 D) das Herz ausgerissen. 0 Und man darf hinzufügen: jeder gute Grieche würde sich gegen diese Trennung gesträubt und den kräftig ab- weisenden Worten des Sokrates beigestimmt haben (297 C): Nai )ud töv Ai', uj 'JTTTria' ejuoi be ye irdvTuuv t^kict' dpecKCi ujv eipriKttjuev Xöyujv.
Allein hat man sich von dem ersten Schrecken erholt und sieht sich ruhigen Blutes den Sachverhalt an, so findet man bald einigen Grund, den Einwand nicht allzu tragisch zu nehmen: wie von selbst stellen sich Erwägungen ein, die uns geradezu nötigen, die angeblichen Konsequenzen jener Definition als ein bloßes dialektisches Manöver anzusehen, lediglich bestimmt mit dem Leser zu spielen. Man achte vor allem zunächst auf die krasse Übertreibung, mit der 297 D unsere Definition verurteilt wird: „Fast also", so heißt es da, „sieht es uns aus, als ob es sich mit jenem Satze, der uns eben noch als der schönste erschien^), daß näm- lich das Nützliche und das Brauchbare, und das etwas Gutes zu bewirken
1) Vgl. auch die Ausführung Alkib. I, 115 Äff., die, dem Geiste nach durchaus platonisch, eine gute Darstellung des hier maßgebenden Gedankenganges gibt.
2) Dieser Satz war nicht nur richtig, sondern bleibt es auch. Denn ge- rade die Ironie der vorliegenden Stelle sichert ihm das volle Recht auf Wahrheit.
214 Die beiden Dialoge Hippias
Vermögende das Schöne sei, - als ob es sich, sage ich, nicht also da- mit verhalte, sondern dieser Satz, wenn es möglich ist, noch lächer- icher sei als die früheren, in welchen wir das Mädchen und allerlei einzelnes, wie es vorher besprochen wurde, für das Schöne genommen haben." Die sokratische Definition auch nur auf eine Stufe zu stellen mit den kindischen Definitionen des Hippias, würde schon ein starker Scherz sein; sie aber vollends in so drastischer Weise unter dieselben herabzudrücken, ist das unverkennbarste Zeichen schärfster Ironie, die uns dringend auffordert, in eben dieser Definition etwas besonders An- nehmbares zu erblicken.
Wir fragen also: ist die angebliche Trennung des Schönen vom Guten wirklich eine rechtmäßige und notwendige Folge jener Definition? Wird diese Definition also wirklich dadurch zu Fall gebracht? Es gilt hier sich zu besinnen, wie es in der platonischen Begriffsdialektik mit dem Ver- hältnis von Ursache und Wirkung steht. Man kann fast jeden Dialog Piatons daraufhin vornehmen: immer wird sich das nämliche, feststehende Bild bieten (vgl. z. B. Phaid. 100 E, Theät. 145 D, Charm. 160 E., Men. 72 E). Wir wollen uns aber nur an unseren Dialog selbst halten. Er gewährt das vollständige Material, um zu einem richtigen Einblick in die Sache zu gelangen. Wenn es 294 B heißt: n^eic eIriToO)aev exeivo TÖ KaXöv, iL rrdvia id Ka\d TTpaTMaia KaXd eciiv ujCTiep iL irdvia id ^leTdXa ecTi laeTdXa, so ist das die allbekannte platonische Anschauungs- und Ausdrucksweise. Daß in ihr ein ursächliches Verhältnis angedeutet liegt, ist an sich klar, denn durch das kqXöv, durch das jJiVfa usw. wer- den alle Dinge KaXd, ueydXa usw. Aber zum Überfluß sagt es uns Piaton auch noch ausdrücklich 294 D: irpocnv dv (tö qpaivecöai), emep t6 TTpeirov kqXöv r\\ Kai jur] MÖvov KaXd erroiei eivai, dXXd Kai qpaivecGai. ujcie t6 TTp€7T0v, ei uev tö KaXd ttoiouv eciiv eivai, xö )nev KaXöv dv eir), ö fliaeic lr\TO\j}Jie\, ou fievioi t6 fe ttoiouv qpaivecOar ei b' au tö cpaivecGai ttoiouv ecTi TÖ TTpeTTOv, ouK dv eir| tö küXöv, ö TuaeTc 2!riT0U|uev. Bemerkt sei, daß es sich hier handelt um die Frage der Gleichstellung von TTperrov und KaXöv. Und ebenso sagt er schon 287 C: tiL d-fctOiL irdvTa TaxaGd d^aGd. Man analysiere sich diesen Satz: es ist genau so, wie in den vorhergehenden Fällen. Es ist, ihm zufolge, das Gute die Ursache des Guten. Wollte man nun darauf den obigen Einwand des Piaton anwenden, welcher entlehnt ist von dem Satze, daß Ursache und Wirkung verschie- den sind, was wäre hier die Konsequenz? Nichts anderes als dies, daß das Gute von dem Guten verschieden sei, ebenso das Schöne von dem Schönen und so schließlich alle Qualitäten von sich selber, da das Ver- hältnis für alle, nach Piaton, das nämliche ist. Es scheint also hier ein
Ursache und Wirkung 215
Widerspruch vorzuliegen; denn damit, daß Ursache und Wirkung von- einander verschieden seien, hat Piaton unweigerlich recht.
Wie ist das Rätsel zu lösen? Piaton gibt uns selbst den Schlüssel zur Lösung und zwar gleichfalls in unserem Dialog. Er liegt implicite in eben dem Abschnitte, der explicite bestimmt ist, uns Sand in die Augen zu streuen über das Verhältnis des Schönen zum Guten. Es wird näm- lich 297 A unterschieden zwischen tö ttoioöv als dem aiiiov und dem Trfv6)U€vov als demjenigen, ou av aiiiov r\ xö aiiiov, also zwischen dem Bewirkenden und dem Bewirkten.^) Das erstere ist kein Werdendes, wie das letztere, sondern etwas Höheres (297 C): oube ye tö aiiiov yiTvö- luevöv ecTiv, oube tö fiTvöiLievov aiTiov. Wir setzen zu größerer Deut- lichkeit die diesem Satze vorausgehenden Sätze hierher: XQ. Oukoöv uttö Tou TTOioOvTOC TTOieTiai ouK d\Xo Ti r) tö YiYvöjuevov, äW ou tö ttoioöv; ITT. "EcTi TttUTa. ZQ. Oukoöv aXXo ti tö fiTVÖiuevov, ctXXo be tö ttoioöv; OUK apa tö tc aiTiov aiTiov aiTiou ecTiv, dXXd toö TiTVO)aevou uqp' eau- toö. Aus alle dem geht klar hervor, daß Piaton in diesen und allen ähn- lichen Fällen, d. h. in seiner ganzen Begriffsdialektik, scheidet zwischen dem Werdenden und dem Ursächlichen. Wenn es heißt: tuj KaXuj TrdvTa ecTi KaXot, so ist mit tuj KaXuj das KaXöv in wesentlich anderer Beziehung gemeint als das KaXd des Prädikats. Das letztere bezieht sich auf das Werdende, auf die Einzeldinge der Erscheinung, das erstere bezeichnet den Begriff selbst für sich genommen.^) Wenn also in diesen Sätzen das Schöne vom Schönen, das Gute vom Guten usw. zufolge des Satzes von der Verschiedenheit der Ursache und Wir- kung verschieden sein muß, so ist das auch im platonischen Sinn tat- sächlich der Fall: es kommt eben alles auf das secundum quid an. Diesen letzteren Umstand verwischt hier Piaton geflissentlich; daher die Täuschung.
Wer übrigens in der platonischen Gedankenwelt einigermaßen hei- misch ist, wird kaum in Zweifel darüber sein, daß mit dem Ursächlichen (dem aiTiov oder ttoioöv) nicht sowohl die causa efficiens gemeint ist als die causa finalis: für Piaton fließt hier scheinbar beides in eines zu- sammen.
Machen wir nun von dem Dargelegten die Anwendung auf unseren Fall. Das Schöne wurde definiert als dicpeXiiuov und dies wiederum als XpTicijuov eTTi TÖ dTaGöv oder tö ttoioöv dYaGöv. Das dYaGöv, das hier als Wirkung, als das Bewirkte erscheint, gehört dem Gesagten zufolge ganz offenbar zu dem Werdenden (297 AB). Es ist also ganz klar
1) Vgl. Gorg. 467 C, Menon 77 C, Phil. 26 D.
2) Vgl. Krat. 416 D: Kai tö xaXöv ctpa KaXa epYotCeTai. Charm. 160 E f.
216 Die beiden Dialoge Hippias
damit nicht der Begriff des Guten, das Gute an sich, sondern die einzelne, erscheinende gute Handlung, das Werdende, gemeint (297 A). Über diesem einzelnen der Erscheinung steht der Begriff des Guten selbst, das Gute an sich, als das Bewirkende. Die Einsicht in ihn ist der Re- gulator unserer Handlungen nach der Seite des Guten hin. Dieses Gute an sich ist es, das mit dem kqXöv zusammenfällt. Die Verschiedenheit zwischen beiden ist nur eine anscheinende, bestimmt durch den Gegen- satz der Begriffs- und der Sinnenwelt. So löst sich das Rätsel.
Ist nun diese Gegeninstanz glücklich beseitigt, so steht der Aner- kennung unserer Definition als einer rechtmäßig platonischen in dem Dia- loge selbst nichts mehr entgegen. Es fehlt aber auch nicht an weiterer, positiver Bestätigung. Man könnte sich z. B. schon darauf berufen, daß die unmittelbare Zusammenstellung von KaXöv mit uj(peXi)uov, wie oben bereits angedeutet, durchaus sokratisch ist (vgl. Xen. Memor. 111 8, 4 ff. und andere Stellen), und daß Piaton bei der Abfassung der ganzen Gruppe von Dialogen, zu denen die beiden Hippias gehören, der sokratischen Denk- und Sprechweise noch nahe stand ^), wenngleich er auch schon damals in mancher Beziehung einen höheren Standpunkt gewonnen hatte. Wir haben aber eine solche Berufung auf den sokratischen Standpunkt gar nicht nötig. Die reifste Schrift Piatons, die Republik, bietet eine wohl- bekannte Stelle, die als volles Zeugnis für die Berechtigung der Gleich- stellung dieser beiden Begriffe angeführt werden darf. Es heißt da im 5. Buch 457 B: kcxXXictov Yotp bx] toüto Kai XeT^Tai Kai XeXeEeiai, öxi tö jaev ujqpeXiuov KaXöv, tö be ßXaßepöv aicxpöv (vgl. auch Prot. 333E, 358 B, Meno 88 Äff. und Gorg. 474 E, auf welche Stelle wir später noch zurückkommen werden). Mag für unser Gefühl dies etwas Befremdendes haben: für Piaton läuft das ujqpeXi)uov ganz parallel dem dYaööv, läßt die- selbe Höhe der Auffassung zu und wird so auch zum KaXöv. Bemerkens- wert dabei ist, daß Piaton doch das Bedürfnis gefühlt hat, das uuqpeXijLiov von dem bloßen xpnci)uov zu scheiden, während von Sokrates (vgl. Xen. Mem. III 8, 4 ff., IV 6, 8 f.) beide Begriffe noch ziemlich auf die nämliche Stufe gestellt werden. Indem Piaton das uucpeXiiuiov über das xP^l^^iMO"^ erhob, wollte er es vor der Gemeinschaft mit dem vulgären Utilitarismus bewahrt sehen.
Die weitere Entwicklung der strengeren Ethik in der griechischen Philosophie legt übrigens vollauf Zeugnis ab für die ebenso tiefgehende wie weithin sich erstreckende Wirkung, welche diese Ansicht von der
1) Vgl. z. B. 296 A, nach welcher Stelle auch die schönen Körper schön sind, weil sie nützlich sind.
Der Begriff des Nützlichen 217
wesentlichen Gleichheit des koXöv mit dem mqpeXijuov (in der man leicht ein Pendant zu der bekannten Lehre des Piaton von der völligen Über- einstimmung des ßioc fibicToc mit dem ßioc KdWicToc erkennt) auf die edleren Geister übte. Die Stoiker legten bekanntlich das allergrößte Ge- wicht auf die Übereinstimmung zwischen dem Sittlich-Guten und dem Nützlichen, d. i, zwischen dem Ka\6v und dem uuqpeXijuov. Dem KaXöv ent- spricht das lateinische honestum. Man weiß aus Ciceros Büchern De officiis, welche dialektischen Anstrengungen er es sich kosten läßt, der Unzertrennlichkeit des utile und des honestum im Sinne der Stoiker, und, wie wir hinzufügen können, im Sinne Piatons, zum Siege zu verhelfen. 3. Wenden wir uns nunmehr dem dritten der oben bezeichneten Punkte zu, nämlich der Frage nach der Bedeutung der letzten Definition (297 E ff.), der zufolge das Schöne dasjenige ist, das mittelst des Gehörs und Gesichtes Wohlgefallen erweckt (ö av xaipew fijuäc Troirj bid xfic otKofic Ktti ific övjieujc oder tö bid Tf|C dKof|c le Kai övyeujc f\b\} 298 D).^) Diese Definition nähert sich am meisten dem, woran wir bei dem Worte „schön" zunächst denken. Das Wohlgefällige der sinnlichen Erscheinung ist uns der Ausgangspunkt ästhetischer Auffassungsweise überhaupt. Offenbar liegt die Tendenz dazu auch in unserer Definition. „Wir er- götzen uns ja doch an schönen Menschen, o Hippias," sagt Sokrates 298 A,
1) Man hat gemeint, diese Definition, die auch Aristoteles annähernd in der gleichen Form in den Topica 146 a 22 als eine bekannte Definition zitiert (aber nicht bestimmt unter Piatons Namen), stamme von Hippias selbst her. Ganz un- möglich wäre das nicht. Nämlich 295 A, wo der Übergang zu der Hauptdefinition (koXov = uuqpeXi.uov) gemacht wird, macht sich Hippias anheischig, wenn er sich nur ein wenig in die Einsamkeit zurückziehen könne, werde er eine haarscharfe Definition ausfindig machen (dKpißecTepov Tfjc äKpißeiac). Nun folgt die sokra- tische Definition durch den Begriff des ujqp^XiiLiov. Nachdem auch diese abgetan und Sokrates seine Verzweiflung zu erkennen gegeben hat, sagt der Sophist 297 E mit Beziehung auf seine frühere Äußerung: ouk ^v tlu -napövTi, dXX' üjctt^p öpxi ^Xeyov, cKeipdiuevoc eij oib* öti eüpr^cuj. Darauf folgt nun der neue Vorschlag des Sokrates - eben unsere letzte Definition -, und diesem stimmt der Sophist 298 AB mit voller Seele bei. Also - könnte man meinen - hat Sokrates mit seinem Vorschlag just das getroffen, was der Sophist für sich in der Einsam- keit so sicher gefunden haben würde. - Das läßt sich als eine Vermutung allen- falls hören. Aber zur Evidenz fehlt ihr doch zuviel, um als ernsthafter Posten mit in die Rechnung aufgenommen zu werden. Für unsern Zweck kommt über- dies auf diesen Punkt wenig oder nichts an. Daß die Definition allerdings nicht dem sokratischen Kreise angehört, scheint mir aus dem, noch vor der näheren Prüfung in so scharfer Form (298 B) erhobenen Zweifel des Sokrates hervor- zugehen, ob sie denn auch auf die KoXd eTriTr|beu|LiaTa und die KaXoi vöuoi An- wendung finden könne. Gerade darauf kommt dem Sokrates offenbar am aller- meisten an.
218 Die beiden Dialoge Hippias
„an allen Arten von bunten Stickereien, Gemälden und Bildwerken, indem ^vi^ sie sehen, wenn sie schön sind." Aber es scheint, als ob dies für Sokrates doch nur eine untergeordnete Bedeutung hätte, wie denn jeden Leser diese Definition aus dem Munde des Sokrates, dem das KaX()v an erster Stelle durchaus in das sittliche Gebiet gehörte^), etwas fremd- artig anmuten wird. Und so fährt er denn, diesen seinen Standpunkt scharf hervorkehrend, unmittelbar nach den eben angezogenen Worten folgendermaßen fort: „Aber wie nun? Können wir wohl behaupten, daß schöne Beschäftigungen und Gesetze, o Hippias, deshalb schön seien, weil sie mittelst des Gehöres oder Gesichtes Vergnügen gewähren, oder wer- den wir diese einer anderen Gattung zuteilen?" Man sieht, das sinnlich- ästhetische Moment ist nicht recht nach des Sokrates Geschmack: er sehnt sich sofort nach dem „sittlich Schönen" zurück. Indes, von dieser Seite genommen, würde er sich immerhin noch zur Not mit besagter Definition abzufinden vermögen. Wie, das deutet er wenigstens soweit an, daß man sich seinen Gedanken ohne Willkür ergänzen und leidlich zurechtlegen kann.-) Aber die Definition läßt sich logisch nicht halten.
1) Vgl. z. B. Prot. 209 C: uüüc 5' ou jueWei, tu juaKÖpie, tö coqpujxepov kcxX- Xiov qpaivecGai;
2) Man muß sich dazu die Stelle 298 CD etwas genauer ansehen, nament- lich die Worte 298 D: TaOxa xd -rrepi xouc vöuouc xe Kai xct eiTixribeüiLiaxa xtix' äv qpaveüi ouk ckxöc övxa xf|c aicOi'iceuuc, i\ biet Tr\c äKof\c xe Kai övjjeuuc fiiaiv oOca xuYXotvei, ä\X' iuTTO,ueivuü)U€v xoöxov xöv Xöyov, x6 biet xoüxuuv t\b\) kqXöv elvai, !ur|bev xö xüüv vÖ|liuüv eic xö juecov -rrapdYovxec, also ,,wir wollen unsere Unter- suchung über die Definition nur ruhig durchführen, ohne auf diesen Einwand Rücksicht zu nehmen". Inwiefern nun ist es nicht nötig auf diesen Einwand näher einzugehen? Offenbar, weil sich durch die logische Abfertigung der ganzen Definition auch der Einwand von selbst erledigen wird. Ist die Defi- nition aus anderen durchschlagenden Gründen falsch, so hat es keine Bedeu- tung bei einem besonderen Einwand anderer Art gegen dieselbe zu verweilen; man ist in bezug auf einen solchen Einwand also in einer verhältnismäßig günstigen Lage, ^v eurropia xivi, wie es 298 C heißt. Gleichwohl liegt in den dabei mit hingeworfenen Worten (298 D) : xdx' dv qpaveüi ouk ^kxöc övxa xfic aicGriceujc der nicht zu verkennende Hinweis darauf, daß, wenn man die ^irixri- beü|uaxa und vöuoi mit in die Definition einbeziehen will, das 5id xr|c dKofic xe Kai öi|jeuuc sachlich keinen durchschlagenden Hinderungsgrund bildet. Warum nicht? Offenbar deshalb, weil auch die KaXol vö|lioi und KaXd ^Trixj-|ö6iJMaxa durch Vermittlung von Auge und Ohr in unsere Seele eintreten, die ersteren, indem wir sie lesen (also durch das Auge) oder indem wir sie uns vorsprechen lassen (also durch das Ohr), die letzteren, indem auch sie doch nur auf einem dieser Wege uns zur Erkenntnis gebracht werden können. Man war also sehr im Irr- tum, wenn man das für den Gedankengang gerade besonders wichtige ouk vor €KXüc streichen zu müssen glaubte. - Dies die einfache Lösung, die Sokrates
Bedeutung der letzten Definition 219
Der Nachweis darüber ist höchst bemerkenswert und wichtig für die Geschichte der Philosophie, denn er beruht auf dem bedeutsamen Unter- schied zwischen Geschlechtsbegriffen (Sachbegriffen) und Zahlbegriffen. Eine Definition soll identisch sein mit dem zu definierenden Begriff. Sie muß also auf alle Individuen, die im Umfange desselben stehen, sowohl in ihrer Gesamtheit wie für jeden einzeln genommen zutreffend sein. Bei allen generischen Begriffen, wie „schön", ist dies notwendig der Fall. Allein bei der hier versuchten Definition eben dieses Begriffes, welche lautet: „Das durch Auge und Ohr Wohlgefällige", geraten wir sofort in die Brüche. Ein Lied ist nicht darum schön, weil es durch Auge und Ohr wohlgefällig ist, sondern weil es durch das Ohr wohlgefällig ist, und ein Bild nicht darum schön, weil es durch Auge und Ohr, sondern weil es durch das Auge gefällt. Die Definition stellt also keinen Geschlechtsbegriff dar, was sie doch müßte, wenn sie sich mit dem KaXöv decken soll (303 B). Was also sonst für einen Begriff? Einen Begriff, der seinem inneren Werte nach auf die Seite der Zahlbegriffe fällt. So antwortet Piaton mit Recht. Denn die Bestimmung „vermittelst des Auges und des Ohres" stellt eine Addition diskreter Größen dar, deren jede ihren besonderen, von dem des andern verschiedenen Umfang hat.^) Es werden also, logisch ge- nommen, bei dieser Definition, sobald man sie als Prädikat setzt, im all- gemeinen ganz die nämlichen eigentümlichen Beziehungen zwischen Sub- jekt und Prädikat hervortreten, wie sie bei einer als Prädikat gesetzten
selbst schon 298 A vorbereitet hat durch die Worte: oi qpöÖYYoi KaXoi Kai r] fiouciKri EOfiTiaca Kai ol Xöyoi Kai ai luuOoXoYioti. Dabei ist indes zu bemerken, daß diese die Vermittlung durch Auge und Ohr betreffenden Bestimmungen, wenn auch in gewissem Zusammenhange mit dem naXöv stehend (vgl. Rpl. 401C), doch nimmermehr als wesentliche Merkmale desselben zu betrachten sind; von der Definition des KaXöv müssen sie also auf jeden Fall ausgeschlossen bleiben.
1) Es kommt logisch ziemlich auf dasselbe hinaus, ob ich sage tö biet Tfjc dKof|c Kai övjjeujc fibu, oder mit Aristoteles Top. 146a 22 tö öi' öv|;eujc f| öi' dKof|c Tt\bv. Des Aristoteles eigene kritische Bemerkung zeigt das am besten. Sie lautet: „Ferner wird gefehlt, wenn man in eine Definition zwei Begriffe einsetzt, davon immer im einzelnen Fall nur einer paßt. So wenn man definiert: Schön ist, was dem Gesicht oder Gehör angenehm ist. Danach könnte ein Gegenstand zugleich schön und nicht schön sein. Das dem Gehör Angenehme ist nämlich nach jener Definition soviel als das Schöne; daher das dem Gehör nicht Angenehme soviel als nicht schön; denn die entgegengesetzten Begriffe Schön und Nichtschön, dem Gehör angenehm und dem Gehör nicht angenehm, entsprechen einander, und das für das Gehör Nichtangenehme ist gleich dem Nichtschönen. Wenn nun etwas für das Gesicht angenehm und für das Gehör nicht angenehm ist, so wird es zugleich schön und nichtschön sein." Auch hier
220 Die beiden Dialoge Hippias
Zahl auftreten.^) Damit ist die Definition von Seiten der Logik völlig ab- getan und zwar mit bestem Recht.
Es darf aber gegenüber den vielfachen Mißverständnissen, denen diese Partie des größeren Hippias von seifen neuerer Erklärer ausgesetzt gewesen ist, sowie gegenüber der Geringschätzung, der sie vielfach be- gegnet ist, nicht verabsäumt werden, mit Nachdruck wiederholt darauf hinzuweisen, daß diese Ausführung, abgesehen von ihrer vollen Berech- tigung nicht nur, sondern geradezu Notwendigkeit für den Gang der Unter- suchung selbst, einen ganz bedeutenden Fortschritt in der Geschichte der Abstraktionen überhaupt darstellt. Wenn sie für unseren Geschmack etwas umständlich ist und sich in allerhand kleinen Neckereien, Überraschungen und entsprechenden Ausdrücken der Verwunderung ergeht, so bedenke man, daß sie für die damalige Zeit offenbar etwas Neues darstellt, und zwar, wie jeder Denkende zugeben muß, etwas sehr bedeutsames Neues. Das erstere, daß sie etwas Neues darstellt, erhellt ganz unzweideutig aus des Sophisten unbeschreiblichem Erstaunen, in dem sich das Überraschende der Sache mit drastischer Unmittelbarkeit abmalt; es muß sich also um
beruht der Fehler auf der Zweiheit des Prädikats, nur daß hier die beiden Be- stimmungen als einander ausschließend, dort (der Form nach) als zueinander addiert erscheinen. Wenn Piaton im Gorgias 474 D ff. sagt: KaXd kxi irävTa )] biä r)bov)'iv Tiva i] biä lijcpeXeiav )) 6i' djuqpÖTepa, so unterliegt dies im Grunde der nämlichen Kritik.
1) Man kann die ganze Reihe der Definitionsversuche unseres Dialogs als ein kleines logisches Vademecum auffassen. Zunächst nämlich zeigen sich an den drei Versuchen des Sophisten der Reihe nach folgende logische Fehler: 1. Verwechslung des Begriffes mit einem Gegenstand seines Umfanges; dazu die besondere Bemerkung, daß der letztere, als Gegenstand der Sinnen- welt, immer nur relativer Natur ist. 2. Bestimmung eines qualitativen Begriffes durch den Stoff statt durch die Form, also Nichtbeachtung des Unterschiedes von Materie und Form für die Definition. 3. Willkürliche Vermischung von Inhalts- und Umfangsbestimmungen, zugleich mit Hereinziehung des zu defi- nierenden Wortes in die Definition {petitio principii). Dagegen zeigen die vier Definitionen des Sokrates der Tendenz nach das richtige Verfahren für die De- finition: sie zielen ab auf Feststellung des genus proximum und der differentia specifica, wenn es auch zunächst den Anschein hat, als sollte mit bloßen Wechsel- begriffen für xaXöv operiert werden. Allein man bemerkt leicht, daß zu dem TTp^TTov noch eine spezifische Differenz wenigstens gesucht wird, sowie daß die zweite und dritte Definition die Bestandteile einer Definition bilden, indem die zweite das genus proximum (xpnci.uov), die dritte die differentia specifica (e-rri TÖ draeöv) angibt. Die Kritik der vierten Definition endlich belehrt uns über den so bedeutungsvollen Unterschied der Zahlbegriffe und der Geschlechts- begriffe, der numerischen und generischen, also der pythagoreischen und der eleatisch-platonischen Abstraktion. Vgl. dazu Kratyl. 432 A.
Gsschlechtsbegriff und Zahlbegriff 221
einen Unterschied handeln, der damals den gebildeten Kreisen noch völlig fremd war. Das andere, daß sie etwas bedeutsames Neues darstellt, erkennt man aus der wichtigen Rolle, die bei Aristoteles die Unter- scheidung zwischen ttoiöv und ttocöv spielt. Wer die sophistischen Elen- chen gelesen hat, weiß, welche Dienste diese Unterscheidung zur Auf- klärung und Widerlegung gewisser Sophismen leistet. Aber das ist nur ein Dienst neben vielen anderen, von denen die Schriften des Aristoteles Zeugnis ablegen. Für diese seine scharfe Unterscheidung zwischen Qua- litäts- und Quantitätsbegriffen, namentlich aber für die Kritik ihrer Ver- wertung in der Disputierkunst, dürfte die Kenntnis unseres größeren Hippias nicht ohne Einfluß gewesen sein.^)
Wenn nun also, um zu der Frage nach der Bedeutung unserer Definition für unseren Dialog selbst zurückzukehren, diese Definition logisch vernichtet und damit als überhaupt unstatthaft erwiesen ist, so hat Piaton gleichwohl dafür gesorgt, ihr eine gewisse Bedeutung für das Ganze zu sichern. Indem nämlich Sokrates zeigt, daß weder das fibu für sich den Rang des KaXöv beanspruchen dürfe (299 DE), noch auch der Zusatz des bid Tf|c dKofic xe Kai öijjeujc es dazu fähig mache, kommt er zu dem Schluß, daß das nbu zwar nicht ganz verwerflich sei für die Begriffsbestimmung, aber doch nur insoweit dafür in Betracht komme, als es sich als ibqpeXijuov erweise (303 E): toOt' dpa Xijeie bx] t6 küXov eivai, f|bovfiv ujqpeXijuov; eoiKajuev, cprjcm e'TUJTe. Es ist also klar: unsere Definition endet mit einem durch die eben angezogenen sowie durch die folgenden Worte ausdrücklich bezeugten Zurückwerfen der ganzen Sache auf diejenige Definition, die wir als die maßgebende er- kannt haben: t6 KaXöv xö ujqpeXi)uov. Nicht also als eine Ergänzung dieser, nach unserer Ansicht positiv platonischen, Definition ist die letzte De- finition aufzufassen, sondern als eine durch Ausscheidung und Einschrän- kung sich vollziehende Bestätigung derselben. Wenn also Steinhart (Einleitung zu Piatons sämtlichen Werken I, 48f.) den Gedankengehalt des Dialogs dahin zusammenfaßt, „daß das Schöne als das dem Auge und Ohr Wohlgefällige durch diese zwei edelsten Sinne ein geistigeres, uneigennützigeres, über die Befriedigung der Bedürfnisse der niederen Lust erhabenes Wohlgefallen hervorbringe", so hat er zwar mit an- erkennenswerter Hilfsbereitschaft und löblichem Wohlwollen alles zu retten versucht, was nach Hilfe rief; allein ich fürchte, Piaton selbst ist nicht so barmherzig gesinnt gewesen wie dieser sein Interpret. Piaton würde, wenn er genötigt gewesen wäre, ohne seine beliebten Ausbeu-
1) Vgl. meine Beitr. z. Gesch. d. griech. Phil. S. 181ff.
222 Die beiden Dialoge Hippias
gungen und neckenden Maskierungen kurz und unverblümt zu sagen, was er meinte, etwa folgendermaßen sich geäußert haben: „Das kqXöv ist das (juqpeXiuov, das uuqpeXiuov natürlich in meinem Sinne genommen, demzufolge es mit dem üTotOöv auf dasselbe hinauskommt. Man kann dies KaXöv auch «wohlanständig» nennen, sofern man bei diesem Wort nicht an den Schein denkt, sondern an die Wirklichkeit (S. 294 D). Und auch wohlgefällig oder angenehm (n^u) kann man es nennen, aber nur insoweit, als das nbu zugleich ujcpeXiuov ist."
Wir sind nun hinreichend gerüstet, um uns der Betrachtung des Verhältnisses zuzuwenden, in dem die beiden Hippiasdialoge zueinander stehen.
Was haben, so fragen wir zunächst, die beiden Dialoge außer dem Namen und außer der Figur des Hippias, sowie der durchgehenden Per- siflage gegen ihn miteinander gemein? Auf den ersten Blick vielleicht sehr wenig. Eine beachtenswerte Abhandlung über die beiden Hippias von Hermann Backs (Programm Burg 1891) läßt sich darüber folgen- dermaßen aus S. 18: „Im philosophischen Gedankengange beider Dia- loge findet sich, was bei dem völlig verschiedenen Gegenstand, den beide behandeln, nicht v/undernehmen kann, nur eine Beziehung. Hipp. Min. 365 D ff. wird angenommen, daß die Lüge und somit jede unsittliche Handlung auf einer Fähigkeit beruhe. Derselbe Gedanke kehrt wieder Hipp. Mai. 296 Bff., wo ausgeführt wird, daß auch das Hervorbringen einer schlechten Wirkung eine Fähigkeit voraussetze. Auch hier ist nicht zweifelhaft, wo das Original zu suchen ist. Im Hippias Min. ist dieser unplatonische Satz, wie oben nachgewiesen ist, von grundlegender Be- deutung und entspricht nicht der Ansicht des Verfassers, im Hipp. Maj. ist er augenscheinlich ernsthaft gemeint und kann ohne Schaden für den Zusammenhang vermißt werden."
Indem wir die Frage der von dem Verfasser des Programms, wie man sieht, befürworteten Unechtheit des größeren Hippias vor der Hand noch beiseite lassen, fragen wir nur: ist wirklich die genannte Stelle 296 Bff. die einzige, in der sich der größere Hippias dem Inhalt nach mit dem kleineren berührt? Und gesetzt, es wäre die einzige, müßte nicht gerade sie in höchstem Grade unsere Aufmerksamkeit erwecken, da sie jene dialektische Aporie, in der, wie jeder sieht, eigentlich der Hauptwitz des kleineren Hippias besteht, ebenso unzweideutig wie auffällig heraus- hebt? Sollte dieser Koinzidenzpunkt nicht gerade entscheidend genug sein, um uns aufzufordern, zunächst wenigstens die Möglichkeit einer an- deren als auf unlautere literarische Motive gegründeten Beziehung zwi-
Gegenseitig-e Beziehungen 223
sehen den beiden Dialogen ins Auge zu fassen? Ist die betreffende Partie in dem größeren Hippias im dortigen Zusammenhang etwa derartig albern oder störend, daß wir daran Anstoß nehmen würden, auch wenn der kleinere Hippias nicht vorhanden wäre? Gewiß nicht. Schon dies lehrt, daß sie nicht als eine blindlings und auf gut Glück aus dem kleineren Hippias entnommene Anleihe anzusehen ist, die lediglich den Zweck hat, als Füllsel zu dienen. Die an sich unleugbar bestehende Be- ziehung wird durch die Bemerkung, daß im größeren Hippias ernst ge- meint sei, was im kleineren nur ironische Bedeutung habe, sehr unzu- reichend und geradezu irreführend gekennzeichnet. Es wird sich bald zeigen, daß es damit eine ganz andere Bewandtnis hat.
Allein wir stellen diesen Punkt vor der Hand noch zurück und sehen uns nach weiteren Berührungspunkten um. Die Summe der ganzen dia- lektischen Weisheit im kleineren Hippias wird gegen den Schluß des Dialogs 375 E in folgenden Worten gezogen: oukoöv fi öuvamuiepa Kai coq)(juT6pa aüiri (sc. r\ ^)vx^) djueivoiv ouca ecpdvri Kai djuqpöiepa judWov buva|uevr| rroieTv, Kai id Ka\d Kai id aicxpd irepi irdcav epYaciav; „ist also nicht jene vermögendere und einsichtsvollere Seele sichtlich als diejenige erschienen, welche die bessere ist und welche mehr vermag beides zu tun, sowohl das Schöne als das Häßliche, in jeder Art von Tätigkeit?"
Um das schön und häßlich Handeln dreht sich in der Tat das eigent- liche und ursprüngliche Interesse des kleineren Dialoges. Um das sitt- liche Bessersein (ob Achill oder Odysseus djueivuuv) handelte es sich, nur daß freilich die Beantwortung dieser Frage durch die ironische Dialektik mehr verdunkelt und verschoben als gefördert oder gar zu klarem Ab- schluß gebracht wird.
Nun vergleiche man damit die Worte des größeren Hippias, mit denen Sokrates den Unbekannten, seinen Doppelgänger, und damit zugleich das Thema des Gesprächs einführt (286 C): evaYXoc ydp xic, iL dpicie, eic dTTOpiav )ue KaxeßaXev ev Xö^oic xici id |uev ijjeTOVTa ujc aicxpd, xd b* eiraivoOvxa ujc KaXd, oüxoi ttuüc dpdjuevoc Kai judXa ußpicxiKÜüC Trö0ev be juoi cu, eqpri, oi ZujKpaxec, oicGa, oiroTa KaXd Kai aicxpd; eirei cpe'pe, e'xoic dv eiTTeiv, xi ecxi xö KaXöv; „kürzlich nämlich, mein Bester, hat mich je- mand recht in Verlegenheit gebracht, wie ich da einiges im Gespräch als häßlich tadelte, anderes als schön lobte, indem er mich, und zwar recht höhnisch, ungefähr also fragte: «Aber woher hast du denn deine Weisheit darüber, was schön und was häßlich ist? Wie steht's? Bist du wohl imstande zu sagen, was das Schöne eigentlich ist?»" Man sieht, es müssen recht bedenkliche Reden gewesen sein, die Sokrates
224 ^'^ beiden Dialoge Hippias
über angeblich (ibc) schöne und angeblich häßliche Dinge geführt hat. Er muß mit diesen Begriffen recht wunderlich umgesprungen sein, wenn er sich von seinem Doppelgänger - denn das ist jener andere, wie der Dialog weiter zeigt — darüber auf eine so unzarte Weise zur Rede ge- setzt sieht. Und zwar läuft das Bedenkliche dieser Reden eben genau auf das hinaus, woran im kleineren Hippias jeder Leser Anstoß nehmen muß, auf die gewaltsame Verkehrung des Schönen und Häßlichen. Klingt also das alles nicht wie eine Anknüpfung des größeren Hippias (li ecii TÖ KüXöv) an das Thema des kleineren Hippias? In letzterem hatSokrates den Achill getadelt als den angeblich schlechteren (also auch häßlicheren), den Odysseus gelobt als den besser (also auch schöner) Handelnden, und indem er schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß die fähigere und kenntnisreichere Seele die bessere sei und in höherem Grade sowohl das Schöne als das Häßliche in jeglicher Kunst zu verrichten imstande sei, hat er die landläufigen Vorstellungen von „schön" und „häßlich" ge- radezu auf den Kopf gestellt, wie der Dialog selbst in der angegebenen Stelle 375 E am Schlüsse resümierend sagt.
Erwägt man nun, daß das im großen Hippias zur Verhandlung ge- stellte KttXov, wie wir gesehen haben, durchaus im ethischen Sinne zu nehmen ist, so wirft dies in Verbindung mit der zuerst erwähnten unverkennbaren Spur des Zusammenhanges (296 B) beider Dialoge, wie ich meinen möchte, ein bedeutsames Licht auf das gegenseitige Verhältnis der beiden Gespräche.
Was man dem kleineren Dialog bei einer nicht besonders achtsamen Lektüre — also vom Standpunkt des Durchschnittslesers aus — zum Vor- wurf machen muß, ist, wie gesagt, seine geradezu antimoralische Haltung, die Umkehrung aller sittlichen Begriffe. Wird nun, was uns beim ersten Lesen in einige Verwunderung setzt, nicht auch den Lesern der Schrift bei ihrem ersten Erscheinen stark genug aufgefallen sein? Vielleicht um so stärker, als ihnen die hohen sittlichen Ideale des Sokrates und Piaton aus unmittelbarer Beobachtung der Art und Weise ihres Lehrens und Lebens bekannt waren? Gewiß war der Eindruck für viele ein befrem- dender. Es konnte nicht ausbleiben, daß nähere und fernere Bekannte den Verfasser über das sonderbare Schriftchen interpellierten. „Wo bleibt denn", so mochten sie mit unserem Unbekannten (286 C) sagen, in wel- chem den Wortführer dieser Kopfschüttler zu vermuten, schon jetzt nicht allzukühn sein dürfte, „wo bleibt denn deines Sokrates vielgerühmtes KaXöv, das mit dem dTaOöv im höchsten Sinne eines und dasselbe ist? Hat nicht dein Dialog die Kunst des Lügens als Ausfluß einer Fähigkeit höher gestellt als die Unfähigkeit zu lügen? Wie kann man denn der
Der Grund der Täuschung- 225
buvttjuic Tou dbiKeiv den Preis geben vor der dbuvajuia xoO dbiKeiv? Ist das nicht die völlige Vernichtung des küXöv? Woher hast du denn diese neue Weisheit über Schönes und Häßliches (Hipp. Mai. 286 C)? Du weißt ja, wie es scheint, gar nicht mehr, was eigentlich xö kqXöv ist, wenigstens hast du dich um den Begriff desselben in deiner Unterredung nicht im mindesten gekümmert. Und den Satz des Sokrates oub€ic eKUüv dbiKei hast du ins Gegenteil verkehrt."
Wie ihnen der Verfasser geantwortet haben mag, bleibe natürlich dahingestellt. Jedenfalls aber mochte er zu der Einsicht gelangen, daß er es in seinem Schriftchen mit der Ironie doch etwas zu bunt und toll getrieben habe. Zur Beruhigung etwa geängsteter Gemüter schien es ihm also ratsam, durch eine zweite Hippiasschrift, deren Haupt- und Titel- figur schon genügend den Zusammenhang mit der vorhergehenden an- deutete, in seiner Weise, d. h. auch jetzt wieder mit einigen, den Zeit- genossen und unmittelbar Beteiligten wohl sehr leicht durchsichtigen Um- hüllungen und Scherzen, Versäumtes nachzuholen und dadurch weiteren falschen Deutungen und Mißverständnissen vorzubeugen.
Worin liegt nun, um der Sache auf den Grund zu sehen, das eigent- lich Irreführende im kleineren Hippias? Darüber gibt am besten Aristo- teles Auskunft. Im 5. Buche der Metaphysik 1025^ 6 ff. läßt er sich folgen- dermaßen darüber aus: „So ist die Behauptung im Hippias, ein und der- selbe Mensch sei wahr und falsch, ein täuschender Satz. Für falsch wird hier nämlich derjenige genommen, der Falsches reden kann: dies ist aber der Wissende und Einsichtige. Ebenso wird daselbst behauptet, der frei- willig Schlechte sei besser. Dieser falsche Satz wird hier durch Induktion gewonnen: wer nämlich mit Willen hinkt, ist besser, als wer es unfrei- willig tut; allein unter Hinken wird hier nur das nachgemachte Hinken verstanden; denn wäre der Hinkende freiwillig lahm, so wäre er wohl schlechter, wie es sich auch im Gebiet des Sittlichen verhält."^) Wenn Platon im kleinen Hippias 369 B sagt: „Und jetzt hat es sich klar herausgestellt, wie der Lügenhafte sowohl als der Wahrhaftige einer und derselbe ist, so daß, wenn Odysseus lügenhaft gewesen, er auch als wahr- haftig erscheint, und Achilles, wenn wahrhaftig, auch als lügenhaft, und die Männer also nicht verschieden und entgegengesetzt sind, sondern ähnlich", so hat er, wenn man dies mit der vorhergehenden Beweisführung vergleicht, genau den Fehler gemacht, den Aristoteles rügt. Denn der-
1) Vgl. besonders auch Rhet. 1355*30 xdvavxia bei bvvacQax -rreieeiv, oüx ÖTTUUC d,uqpÖT6pa irpdTTUJiuev (ou '(äp hei rä qpaöXa ireiGeiv) dW iva ur]T€ Xav9dvri ttOüc ex€i K. T. X. Ganz ähnlich Platon selbst Legg. 816 E.
Apell: Platonische Aufsätze. 15
226 ^'^ beiden Dialoge Hippias
jenige, der lügen kann, braucht darum noch nicht wirklich zu lügen, also noch kein Lügner zu sein. Nicht die buvauic für sich entscheidet, auch nicht im sokratischen Sinn, sondern — was Aristoteles hier hinzuzufügen keine Veranlassung hatte und sich außerdem für ihn von selbst verstand — die vorhandene oder mangelnde Einsicht in das d'faGöv und kqXöv und' die dadurch bestimmte Willensrichtung: nicht auf die bloß verhältnis- mäßig höhere Einsicht kommt es an, sondern auf den Besitz der höch- sten Einsicht, nicht auf die fachmännische eTTicirmii, sondern auf die coqpia; und das ist eben nichts anderes als die sichere Kenntnis des KaXöv. Wer mit dem Wesen des küXöv selbst genügend vertraut ist, der, und nur der allein wird das dbiKeiv richtig beurteilen und danach handeln, also der KpeiiTUüv und diaeiviuv sein, nicht der, welcher sich irgendwelcher besonderer Fachkenntnisse rühmen kann. Kurz, es handelt sich um jene ßaciXiKii emcTriuri oder eTTicniiaTi dTaGüJv, oder, was ganz dasselbe ist, um die eTncTrua?! toO kqXoO (oder auch eTricii'-iLUi xoO peXiicTou, wie sie im zweiten Alkibiades 144 D ff. genannt wird), mit anderen Worten um die coqpia, um jene höchste, über allen besonderen Fachkenntnissen stehende Einsicht in den obersten Zweck alles Tuns und Handelns, um jene emcTiiiuri tTTicTruuüüv, die im Charmides so ausführlich behandelt wird^ aber auch im Laches und Euthydem und sonst eine Rolle spielt. Sie ist dasjenige Moment, welches im kleinen Hippias anscheinend völlig über- gangen ist; und doch bietet gerade die Beachtung dieses Momentes die einzige Möglichkeit, uns aus dem dialektischen Labyrinth dieses Dialoges herauszufinden und uns auf jenen Standpunkt zu erheben, der, sei es mit beabsichtigtem oder zufälligem Anklang an den Hippias, in der Republik 525 E seinen Ausdruck in folgenden kräftigen Worten findet: „Nicht wahr, auch in bezug auf Wahrhaftigkeit werden wir gleichfalls für durchaus krüppelhaft eine Seele halten müssen, welche zwar die absichtliche Lüge an sich selbst haßt und unleidlich findet, sowie auch gar unwillig über Menschen wird, wenn sie lügen, dagegen aber die unfreiwillige Lüge ge- lassen erträgt, und, wenn sie auf einer Unwahrheit ertappt wird, sich gar nichts daraus macht, sondern wohlbehaglich wie eine Sau sich im Unrat ihrer Unvernunft herumwälzt?" Also die Unwahrheit in jeder Form, sei sie absichtlich oder unfreiwillig (aus geistiger Trägheit u. dgl.), ist etwas durchaus Häßliches und Verächtliches.
Was uns auf diesen Standpunkt erhebt, ist eben nichts anderes als die Einsicht in das kqXov, die 67tictiiut-| emcDiiaiJuv. Sie ist es, deren Er- wähnung im kleinen Hippias fehlt, oder die wenigstens nur so versteckt angedeutet wird, daß der gewöhnliche Leser es übersehen muß. Und genau dies ist, was der größere Hippias tatsächlich bringt. Der kleinere
Das Wissen des Schönen und Guten 227
Hippias war eine Art Apologie der Sünde. Im größeren Hippias läuft alles darauf hinaus, diesen Standpunkt zu bekämpfen und die Richtung des Handelns auf das Gute (6tti tö u^(adöv) und nur auf das Gute als das wahre KaXöv zu erweisen. Wir haben oben gezeigt, daß dieser Dialog zum Zwecke hat die Begriffsbestimmung des kqXov im Sinne der sokra- tisch-platonischen Ethik und daß den Kern des Ganzen jene Definition bildet^ der zufolge das KaXöv das uuqpe'Xijuov im Sinne des dTa96v ist (Hipp. Mai. 295 E ff.). Es kann nun nach allen Gesetzen der Wahrschein- lichkeit unmöglich ein bloßer Zufall sein, daß gerade, wo der Dialog auf diesem seinem Höhepunkt angelangt ist, ganz unverkennbar an den Aufstellungen des kleineren Hippias Kritik geübt wird. Ich sage Kritik geübt. Denn dies ist das wahre Verhältnis, das zwischen dieser schon oben (S. 222 f.) hervorgehobenen Stelle und dem kleinen Hippias besteht, nicht jenes, das ein Erklärer, wie ebenda erwähnt, darin finden wollte. Die Sache steht so: die Worte unseres größeren Hippias 295 E: buvttjuic juev apa KaXöv, dbuvajuia be aicxpöv geben zunächst deutlich den Standpunkt des kleineren Hippias wieder, dessen Unzulässigkeit sich indes aus der unmittelbar folgenden Betrachtung aufs klarste ergibt. Auf Grund dieses falschen Standpunktes hatte der kleinere Dialog gefolgert, daß der absichtlich Fehlende besser sei als der unfreiwillig Fehlende, da dem ersteren das Wissen und damit die büvajuic zu Gebote stehe, dem letzteren nicht. Demgegenüber wird nun in unserem größeren Dialog 286 B zu- nächst gezeigt, daß die büvafiic auch dem unfreiwillig Fehlenden immer zukomme (oi ouv eEaiaapTdvovxec dKovxec, dXXo ti outoi, ei )Liri ebuvavio TaOia TTOieTv, ouk dv iroxe e-rroiouv;). Dann aber heißt es weiter 296 E: „Wie nun? Dieses Vermögen und dieses Brauchbare (xprjci^ov), was da zum Verüben von etwas Bösem brauchbar ist, werden wir wohl davon sagen, es sei schön, oder wäre das nicht weit gefehlt? Nicht also das Ver- mögende und das Brauchbare ist das Schöne, sondern das Brauchbare und das Vermögende zum Bewirken von etwas Gutem, das ist das Schöne. Das aber ist das Nützliche (ujcpeXijuov), als das immer nur das Gute Bewirkende." Hieraus ersieht man zugleich, mit welchem Rechte von unserem obigen Erklärer (S. 222) behauptet wurde, das Lob der buva^ic, gleichviel ob sie sich nach der schlechten oder nach der guten Seite hin betätige, sei im größeren Hippias ernst gemeint. Dies Lob wird ja eben zerpflückt und an seine Stelle die richtige Ansicht gesetzt.
Hier haben wir also die klare Lösung des Rätsels, das der kleine Hippias uns aufgab. Nicht das bloße Können auf Grund irgendwelchen beliebigen Wissens bestimmt das Bessertun und Besserhandeln, sondern die Einsicht in das mit dem diqpeXijuov zusammenfallende KaXöv. Diese
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228 ^'^ beiden Dialoge Hippias
bildet das oberste Regulativ für unser Handeln, soweit dasselbe auf sitt- lichen Wert Anspruch macht. Man kann dies auch so formulieren: nicht die bloße büvauic, nicht die bloße eTricDiun auf irgendwelchen beliebigen Gebieten macht uns besser, sondern die coqpia d. i. die Einsicht in den obersten Zweck alles Handelns. Daraus erklärt sich auch die etwas auf- fallende Stelle 296 A: up' oüv Tipöc 9eüuv, tu 'iTTiria, bia Tauia Kai x] coqpia TrdvTuuv kccWictov, x] be duaGia TrdvTUJV aicxiciov; Das rrpöc 6eüuv bringt deutlich zum Ausdruck, daß Sokrates nichts davon wissen will, daß bloße politische Geriebenheit und darauf gegründete Macht mit der coqpia etwas zu tun habe. Es gehen nämlich voraus die Worte des Hippias: ev Tdp ToTc ttoXitikoic le Kai rrj auToO ttöXei tö juev buvaxov eivai Ttdviujv KdXXicTov, TÖ be dbOvaiov Txdviujv aicxiciov. Darauf erwidert nun So- krates: „Liegt darin etwa der Grund, daß man die Weisheit als das Schönste preist?", womit er sich den Weg bahnt zur Darstellung des wahren Sachverhalts, demgemäß die Einsicht in das, was wirklich das Gute bewirkt, d. h. die Einsicht in das KaXöv die wahre Weisheit ist. ^) Hat man sich diesen die beiden Dialoge in eine natürliche und un- lösliche Verbindung setzenden Hauptpunkt genügend klargemacht, so lösen sich die anderen anscheinenden Schwierigkeiten fast von selbst. Die auf den ersten Blick vielleicht befremdliche Tatsache, daß Piaton zwei Hippiasdialoge geschrieben haben soll, stellt sich nunmehr als ein Akt innerer Notwendigkeit dar. Sollte der größere Dialog die Ergänzung und sozusagen den Schlüssel zum kleineren bilden, so war es sachlich und künstlerisch geradezu geboten, dieselben Figuren wieder auf die Bühne zu bringen. Wenn man ferner nicht geringen Anstoß genommen hat an der fingierten Einführung des unbekannten Dritten, der sich ganz unzwei- deutig als das alter ego des Sokrates entpuppt — er ist, wie es scherz- haft heißt, sein nächster Verwandter und wohnt sogar in demselben Hause (Kai ^dp uoi TUTX^vei efT^Töfa y^vouc Ouv Kai ev tlu auTÜj oiküliv 304 D)—, so findet diese Verdoppelung des Sokrates, diese fingierte Zerlegung in einen weniger gewitzigten und einen gewitzigteren Sokrates ihre volle Erklärung und Rechtfertigung aus der Situation selbst. Der fingierte Dritte ist der von den Tadlern oder Verkennern des kleineren Hippias gemahnte und zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer Aufklärung über die Wunder- lichkeiten dieses kleineren Hippias gelangte Sokrates, der sich nun selbst
1) Dieselbe Lösung wird auch in der oben (S. 205) von uns angezogenen Stelle in den Memorabilien wenigstens angedeutet, indem da weiterhin (IV 2, 22) die bloßen Techniker als dvbpaTrobuübeic scharf unterschieden werden von den Tot KaXa Kai äyadä Kai öiKaia eiböxec. Sokrates hatte hierin dem Piaton schon deutlich die Wege gewiesen.
Verdoppelung des Sokrates 229
zum Sprecher der mit dem närrischen Machwerk Unzufriedenen macht und sich als ein melius informatus oder auch melius informandus dem, wie es wenigstens scheint, male informatus Sokrates des kleineren Hippias zugesellt. Er ist, wenn ich so sagen soll, das gute Gewissen des Sokrates, das ihn mahnt, den Scherz, wie er im kleinen Hippias getrieben war, nicht zu einer Quelle dauernd schädlichen Mißverständnisses, also zu einer Ge- fahr des Schicksals der sokratischen Lehre werden zu lassen.
Auch rein künstlerisch genommen war diese Verdoppelung des So- krates das rechte Mittel, um das Verhältnis der beiden Dialoge zueinander anzudeuten.^) Hat doch Piaton auch sonst sich dieses Kunstgriffes be- dient. So im Phaidros (cu ouv, uu Oaibpe, auioö beriörjn ÖTiep idxa Tidv- Tujc TT0ir|cei, vuv rj^r| ttoieTv 228 C), wo am Phaidros durch Sokrates eine solche Zerlegung in ein Doppelwesen vollzogen wird. Auch im Euthy- phron 4Ef. liegt ein Anklang daran vor. Jedermann weiß ferner, daß die Diotima im Symposion in gewissem Sinne niemand anders ist als
1) Befremden erweckt hat die Stelle 298 BC: ITT. Taöxa (sc. die Frage, ob Ta eTriTr|b€iJ,uaTa Tct küXcc Kai ol vöuoi öT dKof|C i) 6i' övjjeujc r\bea övxa Ka\d eiciv, f| äXXo Ti ei&oc e'xo^ci, also ob die schönen Gesetze usw. vielleicht nicht unter diese Begriffsbestimmung fallen) 5' icuuc, üj CujKparec, kcxv TrapaXdGoi töv ävOpuu- TTOv. Cß. Md TÖV KÜva, ili 'iTTTTia, oux öv t' dv k.'jd) ^dXicx' aicxuvoijuriv Xr]pujv Kai TrpocTroiou|U6vöc ti Xi'jew )ur|6^v Xefuuv. ITT. Tiva toOtov; Cß. CuuKpdTr) töv CaiqppoviCKOU, öc e|Lioi oubev dv ladXXov TaÜTa eiriTpeTroi dvep6uvr|Ta övTa ^abiuüc M'f€\v Y] die eibÖTa a juri o'iöa. Man meinte nämlich, damit werde eben der un- bekannte Dritte vorzeitig und plump als Sokrates enthüllt. Das wäre allerdings sehr unkünstlerisch und geschmacklos, da er weiterhin ganz wie zuvor wieder als Unbekannter auftritt. Indes meint damit Sokrates offenbar sich selbst, den wirklichen, anwesenden und die Unterredung führenden Sokrates. Es ist die bekannte Art der gerichtlichen Deposition zur Feststellung der Identität, wie sie auch in der Eingangsformel vor Volksbeschlüssen üblich ist. Vgl. Gorg. 495 D: KAA. CujKpdTr|c b^ ye ii|uiv ö 'AXujTTeKf|0ev oux ö|uoXoYeT, worauf Sokrates in der dritten Person einstimmend sagt: oux ö,uoXoYei. Ähnlich vorher KaXXiKXfic 'AxapveOc. Vgl. Menon 78 D, Phaidr. 244 A. Es ist nur eine Steigerung des scherzhaften Tones, wenn er hier auf Grund der Personenfeststellung, statt zu sagen, ich gestatte mir das nicht, sagt: Sokrates (gerade im Gegensatz zu dem Unbekannten) gestattet mir das nicht. Es ist eben der leibhaftige Mitunterredner des Hippias, der sich mit dieser spaßhaft feierlichen Bekundung meint. Was er also sagt, ist folgendes: mag auch jener Dritte, jener Unbekannte sich täuschen lassen, ich hier werde so etwas nicht unbemerkt und nötigenfalls nicht ungerügt vorübergehen lassen. Damit stimmt der Gang des Folgenden genau überein. Tatsächlich nämlich ist es der anwesende Sokrates selbst, der 298 CD den Einwand kurz beantwortet und beiseite schiebt, dann erst (dXX' ei v)|uäc ^'poiTo ouToc, öv Xi^u) 298 D) tritt wieder der Unbekannte mit der weite- ren Erörterung des eigentlichen Hauptthemas ein.
230 Die beiden Dialoge Hippias
Sokrates, allerdings der etwas idealisierte, schon gewisse Züge des Piaton selbst an sich tragende Sokrates. Und man könnte sich beinahe versucht fühlen zu glauben, daß auch unser Doppelgänger des Sokrates im größeren Hippias schon eine Wendung nach der spezifisch platonischen Seite hin verrät. Die Ausführungen über das Verhältnis des Schönen zum Guten 296 Ef. gehen über den sokratischen Gesichtskreis schon etwas hinaus. Auch könnte man in Ausdrücken wie 289 D: tö kqXöv, uj küi idWa Tidvia KocueiTai Kai KaXd qpaiveiai, eTieibctv TTpocYtvriiai €Keivo t6 eiboc und ähnlichen, wie sie sich in dieser Partie finden, eine Art Antizipation der Ideenlehre zu sehen geneigt sein. Ebenso in der 289 BC so scharf be- tonten, bloß relativen Geltung aller Sinnendinge mit ihren Qualitäten.
Man bemerkt übrigens leicht einen kleinen weiteren Vorteil, den diese Verdoppelung des Sokrates gewährt: sie bietet gute Gelegenheit, den Sokrates sich halb im Scherz, halb im Ernst charakterisieren zu lassen. „So ist er eben, o Hippias," heißt es 288 D, „nicht besonders fein gebildet, sondern ein gewöhnlicher Mann, der um nichts anderes sich kümmert, als um die Wahrheit." Und 287 BC: „Hätte er deine Rede über die KaXd eTTiTribeu|LiaTa vernommen, so würde er zunächst über nichts anderes fragen als über das Schöne, denn das ist so seine Gewohnheit." Ein Zug aus dem Wesen des Sokrates, der für unsere Auffassung des Verhältnisses der beiden Dialoge von besonderer Wichtigkeit ist.
Daß dies scherzhafte Maskenspiel dem Sokrates (Piaton) auch die Er- laubnis verschaffte, im Gegensatz zu der bekannten Ritterlichkeit, deren er sich sonst in der Polemik befleißigt, hier und da einen etwas kräf- tigeren Ton anzuschlagen, war ein Vorteil, der sich nebenher ergab, der aber allein schwerlich hingereicht haben würde, dem Piaton dieses Kunst- mittel als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Unter dem, übrigens immer wieder ausdrücklich hervorgehobenen, Schutze desselben kann er dem Hippias, ohne verletzend zu werden, Derbheiten zu kosten geben, wie die 292 D: „Nach der Schönheit an sich, o Mensch, frage ich dich und ich kann mich dir nicht mehr verständlich machen^), als wenn du vor mir
1) Das entsprechende griechische Wort ist Y^Tu^veiv, dessen Bedeutung schon von dem Scholiasten sowie weiterhin von den ihm folgenden neueren Erklärern und Übersetzern falsch gefaßt worden ist. Denn nicht la^Ta (p6^TTec0ai kann es hier heißen, das, wie ein näherer Blick auf die Stelle zeigt, einen völlig schiefen Sinn geben würde; vielmehr hat man sich zu erinnern an die bekannten home- rischen Wendungen öcov t€ Y^T^uve ßoricac und ou ttlüc ol ^iv ßuücavTi YeTuuveTv, in denen es, wie der Scholiast dort richtig erklärt, etwa gleich dKoucOnvai ist „sich durch Rufen vernehmlich, verständlich machen". Vgl. meine Bemerkung in der Zeitschr. f. d. Gymnasialw. XXXII 770.
Vorteile der Personenverdoppelung 231
säßest wie ein Stein und zwar wie ein Mühlstein, der weder Ohren noch Hirn hat." Wenn er sogar mit Prügeln droht, so ist das mehr drollig als grob oder gefährlich/) Zudem ist wohl zu beachten, daß es der Sophist auch seinerseits nicht an scharfen Wendungen fehlen läßt. „Aber wirk- lich, 0 Sokrates," so sagt er 301 B, „das Ganze der Dinge fassest du nicht ins Auge, weder du noch diejenigen, mit denen du dich zu unter- reden pflegst, sondern ihr klopft nur so daran herum, indem ihr das Schöne herausgreifet und dann den Gegenstand einzeln in euren Reden zerleget. Daher entgehen euch so große und naturgemäß stetig geord- nete Verhältnisse") des Seins. Auch jetzt ist dir ein so wichtiger Punkt entgangen, daß du meinst, es gebe eine Beschaffenheit oder eine Art zu sein, die zwar beiden zugleich zukomme, jedem von beiden für sich aber nicht, oder wieder jedem für sich zwar, nicht aber beiden; so unver- nünftig und unbedacht und einfältig und gedankenlos seid ihr." Sachlich kehrt dieser Vorwurf noch einmal wieder 304 ABC, aber in mil- derer Form. An unserer Stelle nun sind diese unhöflichen und von der
1) Im Gorgias 485 0 wird von kindischem Benehmen Erwachsener gesagt: KaraYeXacTov qpaivexai xal dvavbpov Kai TrXriYtuv ctEiov (vgl. Menex. 236BC kqI öXiYou 7rXr]Ydc eXaßov). Man sieht, dieser Ausdruck, der sich gleich darauf (485 D) wiederholt, darf nicht zu ernst genommen werden.
2) Die griechischen Worte 301 B lauten: 6id xaöTa oütuü lueTotXa ujuäc Xav- ödvei Kttl biaveKfi cuüiaaTa Tfjc oüciac TT€(puKÖTa. Kein Wunder, daß das närrische cuü|LiaTa nicht etwa bloß Anstoß erregt, sondern zu den verwegensten Vermutungen über angebliche Beziehungen zu gewissen materialistischen Philosophemen An- stoß gegeben hat. Niemandes Phantasie war in dieser Beziehung fruchtbarer als die Dümmlers. Man nehme sich demgegenüber nur die Mühe, etwa 25 Zeilen weiter unten 301 E die handgreifliche Rückbeziehung des Sokrates auf unsere Stelle zu lesen. Sie lautet: ou y^P o\6v re öiavcKei Xöyuj Tr|c oüciac Kaxct UiTTriav dXXuuc ^X^iv, dXX' ö dv d)aqpÖT€pa r\, touto Kai eKdxepov, Kai ö ^Kdxepov djucpÖTepa eivai. Es liegt am Tage, daß, was hier mit öiaveKe! Xöyou Tfic ouciac (etwas ganz anderes als Xöyoc tou TrpdYnaxoc Euthyd. 286 B) bezeichnet wird, dem Sinne nach unserem öiav€Kf| cujinaTa Tf|c ouciac entspricht, eine Entspre- chung, die auch ohne das zum Ausschluß jeglichen Zweifels noch hinzugesetzte Kaxd 'iTTTTiav für jeden, der Augen hat zu sehen, klar sein würde. Daraus folgt mit Sicherheit einerseits, daß die Lesart cojjaaxa auf einem Schreibfehler beruhen muß, anderseits, daß ursprünglich ein Wort dagestanden haben muß, welches der hiesigen Bedeutung von Xöyoc (Verhältnis) entspricht. Dies Wort dürfte kein anderes sein als cxi'mcixa „Verhältnisse", das vortrefflich paßt und als seltener vorkommend mit dem häufigen ctjLj,uaxa graphisch leicht verwechselt werden konnte. Damit sind alle die Geschichte der Philosophie und nament- lich den jetzt so beliebten Antisthenes betreffenden Hypothesen, die sich an diese ominöse Stelle knüpfen, beseitigt. Zu der Verbindung jueYdXa cxn^axa vgl. Arist. Pol. 1322 »31: xexdxöai ev iiieiZ^ovi cxnuaxi.
232 Die beiden Dialoge Hippias
sonstigen urbanen Ausdrucksweise des Hippias etwas abstechenden Worte künstlerisch sehr wohl berechnet: Hippias muß ganz besonders gereizt erscheinen darüber, daß anscheinend völlig selbstverständliche Dinge auf einmal ihre Geltung verlieren sollen, um den widersinnigsten Behaup- tungen Platz zu machen; denn indem diese angeblich widersinnigen Be- hauptungen sich weiterhin zur größten Überraschung des Sophisten als unwiderlegliche Wahrheiten erweisen, gestaltet sich seine Niederlage um so drastischer. Gleichwohl wäre es nicht ganz undenkbar, daß die be- sondere Schärfe des Tones wenigstens nebenbei mit darauf zurückzu- führen wäre, daß sich darin vielleicht tatsächliche Vorgänge widerspiegeln sollen. Vielleicht nämlich hatte sich Hippias in der Tat gelegentlich ab- sprechend in dem bezeichneten Sinne über die Methode der sokratischen Gesprächsführung geäußert. Umgekehrt würde es dann auch ganz in der Ordnung sein, wenn ihm Sokrates unter der Maske seines Doppelgängers dafür mit einiger Schärfe entgegentritt.
Dem mag nun sein, wie ihm wolle; die Derbheit des Tones, wie sie ab und zu hervortritt, findet in der ganzen vorher geschilderten Situation ihre ausreichende Erklärung. Wenn man aus ihr also ein Argument für die Unechtheit des Dialogs entnehmen zu müssen glaubte, so hat man sich dabei mehr durch den augenblicklichen Eindruck vielleicht etwas eiliger Lektüre, als durch sorgfältige Erwägung aller in Betracht kommen- den Umstände leiten lassen. 0 Überhaupt enthält, um auf die Echtheits- fragen einzugehen, der Dialog nichts, was uns nötigte, ihn dem Piaton abzusprechen. Was in Szenerie und Darstellungsweise auffallen könnte, erklärt sich vollauf durch die oben erläuterten Beziehungen auf den kleine- ren Hippias. Wenn die Mitteilungen über die Person und das äußere Auf- treten des Hippias in beiden Dialogen einander in einer Reihe von Punkten
1) Man höre, was ein bekannter älterer Philosoph mit Bezugnahme auf unseren Hippiasdialog über Höflichkeit in der Polemik sagt: „Wer wird in dem Streite nicht einmal unhöflich oder ungeschickt! Wie ist es nicht dem Piaton gegangen. Hippias war doch ein berühmter Lehrer, ein angesehener, hoch- geehrter Mann in seiner Vaterstadt; diesem wirft nun Piaton vor, er wisse keinen allgemeinen Begriff zu erklären, sondern statt der Erklärung suche er immer nur durch Beispiele zu erläutern, und da vergißt sich Piaton so weit, daß er ihm zum Beispiel für das Schöne einen Topf mit schön gekochter Grütze vor- halten läßt. Das war doch unhöflich! Deswegen meint wohl jemand, Piaton habe das nicht geschrieben; ich aber meine dagegen, wenn ein gemeiner Mann sich einmal so stellt, als sei er der göttliche Piaton, so wird er nicht mit dem Grütztopf in der Hand auftreten." Fries, Gesch. d. PhiL II 634. Ich habe die Worte angeführt, weil der hier hervorgehobene Gesichts- punkt für die Echtheitsfrage überhaupt einige Bedeutung hat.
Echtheitsfrage 233
entsprechen, so gibt das, bei der nachgewiesenen Stellung der beiden Dialoge zueinander, nicht den mindesten Grund zu Verdächtigungen: das Bild des Sophisten im ganzen mußte naturgemäß in beiden das nämliche sein. Doch wird der aufmerksame Leser finden, daß der größere Hippias in dieser Beziehung keineswegs nur gibt, was auch der kleinere bietet. In letzterem z. B. sagt der Sophist nur ganz gelegentlich 364 D, daß er sich bezahlen lasse; daß er aber große Reichtümer verdient, sagt uns erst der größere Dialog 281 B, 282 DE, 300 D und zwar mit sehr ins ein- zelne gehenden Angaben, wie die ganze Vergleichung der jetzigen So- phisten mit den früheren Weisen und Philosophen 281 Cff. mit ihren ironischen Anspielungen dem größeren Hippias allein gehört. Jeder der beiden Dialoge hat in dieser Beziehung sein Besonderes; die poetischen Leistungen des Hippias werden allein im kleineren Hippias erwähnt, die archäologischen Forschungen und Darstellungen (z. B. Tiepi y^vOuv) nur im größeren 285 D. Während der kleinere Dialog sehr ausführlich 368 C über Kleidung und äußere Ausstattung handelt, findet sich im größeren darüber 291 A nur eine ganz kurze Andeutung. Von den diplomatischen Sendungen des Hippias und von seinem Verhältnis zu den Spartanern ist nur in dem größeren die Rede. Man beachte auch für den größeren Hippias die ganz spezielle Lokalkenntnis, die sich in der Angabe 286 B von dem Oeibocipdiou bibacKaXeiov kundgibt. Auch übersehe man nicht die kleinen bezeichnenden Züge, durch die bei gleicher Charakteristik im Großen sich der größere Dialog von dem kleineren der Situation und Szenerie entsprechend abhebt. Es ist hier der „schöne" Hippias, mit dem wir es zu tun haben. Hier wie dort hält er einen Vortrag, aber hier ist es ein irdTKaXoc \6toc; und was den Inhalt anlangt, so sind es hier KaXd eTTiTribeüjuaTa, über die er spricht. Es gehört in der Tat eine ge- wisse Kunst dazu, um aus diesen persönlichen Notizen zu erweisen, daß der kleinere Hippias das Original, der größere der Abklatsch sei.
Wenn man nun neuerdings angebliche Entlehnungen aus anderen platonischen Schriften, namentlich aus dem Gorgias, glaubt nachgewiesen zu haben, so habe ich selbst schon vor mehr als dreißig Jahren auf die Verwandtschaft der angeblich belastendsten Gorgiasstelle 474 D mit Hipp. Mai. 295 fL hingewiesen (Zeitschr. f. d. Gymn. XXXII 773), ohne freilich dabei irgend an Entlehnung eines Fälschers zu denken. Denn es handelt sich tatsächlich, bei übrigens gar nicht völlig gleichem Thema, um durch- aus unschuldige und unauffällige Übereinstimmungen, die nur der auf eine falsche Spur geleitete Scharfsinn zum üblen auslegen kann. Wo käme man hin, wenn man alle die durch die gleiche Gesamtanschauung be- dingten unzähligen Anklänge und Gedankenverwandtschaften in den pla-
234 ^'® beiden Dialoge Hippias
tonischen Gesprächen mit ähnlicher Detektivtendenz gegeneinander ab- wägen wollte?') Wenn es darauf ankäme, könnte man den Spieß auch umdrehen und gegen den Gorgias als den nachahmenden Dialog wenden.
Was endlich die Sprache des Dialogs anlangt, so wird man sich ver- geblich bemühen, Spuren der Unechtheit nachzuweisen (vgl. Ritter, Unters. über Piaton S. 97 f.).
Liegt also nichts vor, das gegen die Autorschaft Piatons spräche, so fehlt es anderseits nicht an Kennzeichen, die unmittelbar auf platonischen Ursprung hinweisen. Es finden sich gewisse Züge, die eine sprechende Ähnlichkeit mit dem uns aus seinen sonstigen Schriften bekannten Piaton bezeugen, ohne doch an der Stelle, wo sie erscheinen, irgendwie den Verdacht berechneter Nachahmung aufkommen zu lassen. Welcher Kenner Piatons wird nicht sofort die Echtheit platonischen Humors anerkennen in den Worten des Sokrates 285 Af.: „Nach deiner Behauptung also ist es für die Söhne der Lakedämonier gesetzmäßiger von dem Hippias, ge- setzwidriger aber, von ihren Vätern erzogen zu werden, wofern sie anders von dir den größeren Nutzen haben werden. Gesetzwidrig also handeln die Lakedämonier, wenn sie dir nicht Gold geben und ihre Söhne an- vertrauen. Als gesetzwidrige Leute also, o Freund, erfinden wir da die Lakedämonier, und zwar in den wichtigsten Dingen, sie, die doch dafür gelten, die gesetzmäßigsten zu sein." Ist es nicht überaus lustig und ganz im Stile des Piaton, wenn Hippias alles dies zugeben und die ehrsamen Spartaner um seinetwillen als Gesetzesverächter hinstellen muß?
Wie ausgesucht schalkhaft und dabei doch nichts weniger als bös- artig ist es, wenn er 294 A den schön geputzten Hippias selbst") sagen läßt, „wohlanstehend (TTpeTiov) sei das, welches macht, daß die Dinge als schön erscheinen, ungefähr wie jemand, wenn er Kleider und Schuhe anzöge, die ihm wohl ständen, auch wenn er sonst ein lächerlicher Mensch wäre, doch schön erscheint".
1) Man vergleiche z. B. Gorg. 541 C: r] Xoyictikii kqI -rrpöc aurä koi irpöc «XXriXa TTÜJC ex^^ ttXi'iGouc ^TiiCKOTrei tö -rrepiTTÖv Kai t6 öpxiov mit Charm. 166 A: r] XoYiCTiKr) ^cti ttou toü dpriou Kai toö TrepiTTOu ^Tricrriuri, ttXi'^Gouc öttuuc ^x^i Trpöc aÜTÜ Kai rrpöc äXXriXa. Hat dies der Verfasser des Charmides aus dem Gorgias gestohlen? Piaton war gewiß einer der originellsten Denker. Aber welcher originelle und dabei schriftstellerisch so produktive Denker wiederholte sich nicht, müßte sich nicht wiederholen, wenn er ein klarer und konsequenter Kopf ist?
2) Daß die Worte dem Hippias gehören und wie demgemäß abzuteilen ist, habe ich Zeitschr. f. d. Gymn. XXXII 771 gezeigt. Die Ausgabe von Schanz hat sich diesem Verfahren angeschlossen.
Echtheitsfrage 235
Und wer könnte es sonst gewesen sein als Piaton, der 301 D den Sokrates zu dem Sophisten sagen läßt: „Und doch schweben mir da viele Fälle der Art vor der Seele; aber ich baue kein Vertrauen darauf, weil sie dir nicht einleuchten wollen, dir, dem Manne, der unter den jetzt Lebenden sich am meisten Geld mit Weisheit gemacht hat, son- dern nur mir, der ich noch gar nie jemals etwas darin gemacht habe. Und fast gemahnt es mich, mein Freund, ob du nicht Scherz mit mir treibest und mich absichtlich täuschest; so sicher stellt sich mir da gar vieles vor die Augen."
Echt platonisch ferner und gerade wegen ihrer sachlichen Belang- losigkeit besonders ins Gewicht fallend sind kleine stilistische Züge, auf die man kaum geachtet hat, wie 286 C: Kai fap l^e eic KaXöv uTiejuvricac „eben zu schöner Stunde hast du mich daran erinnert", mit der Zwei- deutigkeit „an das Schöne (den Begriff des Schönen) hast du mich er- erinnert"; und gleich darauf 286 D wieder eic KaXov fiKCic. Das KaXöv, das Schöne, ist ja eben das Thema, das auf die Bahn gebracht werden soll. Wer, um noch eines in dieser Richtung anzuführen, erkennt nicht die Hand Piatons und nur die Piatons in Worten wie die folgenden 295 A: opac öca TTpaTfiaia fi,uTv r]br| -rrapecxilKe tö KaXöv iii] Kai opYicBev fi,uiv eil )uä\Xov diTobpa. „Was hat uns <^das Schöne '^ schon alles zu schaffen gemacht! Was Wunder, wenn es zornerfüllt uns nun erst recht davon- läuft." Diese Personifizierung des KaXöv hat eine so spezifisch platonische Färbung und gibt sich dabei hier so ungesucht, daß der angebliche Fäl- scher, um so etwas zu leisten, zu Piaton genau in demselben Verhältnis stehen muß, in welchem unser unbekannter Dritter zu Sokrates steht. Dergleichen die Hand Piatons verratende Spuren wird man, wenn man danach sucht, noch eine gute Anzahl finden. Sie bilden ebensoviele innere Zeugnisse für den platonischen Ursprung.^)
Ein direktes äußeres Zeugnis für den Dialog fehlt zwar; denn das ver- meintliche Zitat bei Arist. Top. 146^22 von Hipp. Mai. 298 Äff., das sich im Index bei Bonitz angeführt findet, hat keine beweisende Kraft. Allein als Ersatz dafür darf folgender Schluß gelten: der größere Hippias ist, wie oben dargetan, mit dem kleineren Hippias auf das engste dergestalt verkettet, daß beide auf denselben Verfasser zurückgeführt werden müssen.
1) Daß der Dialog zu der Gruppe der frühesten gehört, gibt sich durch viele Anzeichen i<und. Den schon von Stallbaum (Prolegg. S. 179) und Stein- hart entwickelten Gründen dürfte hinzuzufügen sein der Hinweis auf die leb- hafte Schilderung des äußeren Auftretens des Sophisten. Denn die Wirkung des Gesprächs beruhte doch mit darauf, daß man sich der Person des Hippias entweder noch deutlich erinnerte oder sie gar noch vor Augen haben konnte.
236 ^'® beiden Dialoge Hippias
Der kleinere Hippias aber ist durch das klare, oben (S. 225) mitgeteilte Zeugnis des Aristoteles Met. 1025'''6f. geschützt, zu dem noch unter- stützend, wenn auch ohne ausdrückliches Zitat, hinzukommt zunächst Eth. Nie. 1137'M7. Hier heißt es folgendermaßen: „Derselbe Irrtum (daß es leicht sei und in jedermanns Macht stehe, ungerecht zu handeln) liegt auch der Ansicht der Menschen zugrunde, daß der Gerechte ebensogut auch Unrecht tun könne, da er ja ebensogut, ja noch besser imstande sei, jede einzelne der oben angeführten Handlungen zu verüben; ein solcher könne ja ebensogut seines Nachbars Frau beschlafen, seinen Nächsten schlagen, so gut als der Tapfere seinen Schild im Stiche lassen, dem Feinde den Rücken kehren und das Weite suchen. Allein, feige sein und ungerecht sein, und feige oder ungerechte Handlungen begehen, ist nicht dasselbe, außer in zufälligen Fällen, sondern feige sein und ungerecht sein heißt, in solcher Seelenverfassung sich befinden, welche notwendig zu solchen Handlungen führt, wie ja auch das Arztsein und Kurieren nicht so viel ist, als Schneiden und Nichtschneiden, Mittelverordnen oder -nichtverordnen, sondern es auf eine bestimmte, den Umständen ange- messene Weise tun."
Außer dieser Stelle, die Bonitz in seinem Index anführt, hätte er noch folgende Stelle der Nikomachischen Ethik anführen können (1129^14): „Es verhält sich mit den Fertigkeiten nicht ebenso wie mit den Wissen- schaften und Vermögen; Vermögen (bvjvajuic) nämlich und Wissenschaft (eTTicTrjjuri) begreifen jedesmal die Gegensätze unter sich, die Fertigkeit (eEic) aber in einem Gegensatze begreift nicht auch die andere in sich; z. B. infolge der Gesundheit werden nicht auch die entgegengesetzten Verrichtungen getan, sondern nur die gesunden." Darin läßt sich eine ziemlich deutliche Beziehung auf Hipp. Min. 375 D f. erkennen, denn wenn da gefragt wird: ri biKaiocuvn ouxi il buvajuic Tic eciiv, r\ eTncTi],ur|, v] üjLicpÖTepa.; so gibt Aristoteles hier darauf die richtige Antwort, während im Hippias darauf eine schiefe Antwort erfolgt. Weder bOvauic nämlich noch eTTicTiif.u-1 machen das Wesen der biKaiocuvii aus, sondern eEic/) Und das oberste Regulativ der eEic ist nichts anderes als das xaXöv.
Hat also der kleinere Hippias als durch Aristoteles hinreichend be- zeugt zu gelten, so ist mittelbar auch der größere Hippias dieses Schutzes
1) Diesen wichtigen Terminus in seiner aristotelischen Bedeutung hat Piaton noch nicht. Aber sachlich meint er eigentlich dasselbe schon im größeren Hip- pias 287 C mit der Wendung: biKaiocOvr] öiKaioi oi biKaioi, koi coqpia oi coqpoi €ici coqpoi, Kai tuj dYaeLu irdvTa TdYaGd dyaöä, wie sie dann ähnlich so oft in den Dialogen wiederkehrt. Der Besitz der Gerechtigkeit macht uns gerecht usw., nicht das bloße Vermögen dazu.
Aristotelische Zeugnisse 237
teilhaftig. Denn er ist, richtig betrachtet, nichts weiter als eine Ergänzung des kleineren Dialogs, die notwendig auf denselben Verfasser zurückgeht. Es ist nicht ohne Interesse, zu fragen, wie sich die Ansichten über die beiden Gespräche wohl gestaltet haben würden, wenn uns das Zeugnis des Aristoteles für den kleineren Hippias fehlte. Das Gewicht eines aristo- telischen Zeugnisses wirkt unwillkürlich, auch bei dem aufrichtigen For- scher, einigermaßen mit ein auf den Grad der Achtung, die man vor dem bezeugten Gegenstand hegt. Ohne also den guten Glauben der Verur- teiler des größeren Hippias irgendwie bezweifeln zu wollen, wage ich doch zu behaupten, daß eine Vergleichung beider Dialoge als völlig unbezeugter Literaturwerke zum Vorteil des größeren Dialogs ausfallen würde, ja aus- fallen müßte. Denn eine unbefangene Prüfung kann nicht umhin, dem größeren Dialog einen ganz respektabeln Gedankengehalt einzuräumen, während die Dialektik des im ganzen doch dürftigen kleineren Hippias eines Stiches ins Läppische nicht entbehrt. Daß dem so ist, glaube ich auch schon äußerlich daraus entnehmen zu können, daß es tatsächlich kundige Gelehrte gibt, die eben angesichts der Dürftigkeit und Schiefheit des Inhalts, den der kleinere Hippias auftischt, Mut genug haben, diesen letzteren Dialog trotz der Autorität des Aristoteles für unecht zu erklären. Diesen fühle ich mich in dieser Beziehung weit näher verwandt als den Verächtern des größeren Hippias, auf dessen Kosten diese dem kleineren Hippias das Lob singen. Wenn ich gleichwohl auch den ersteren mich nicht anzuschließen vermag, so sind die Gründe, die mich davon abhalten, aus den obigen Erörterungen ersichtlich.
XII. PLATONS SOPHISTES IN GESCHICHTLICHER BELEUCHTUNG.
1. DIE SOPHISTISCHE LOGIK.
In der Geschichte der griechischen Philosophie folgt auf die Periode der physiologischen Spekulation das Zeitalter der Sophistik, der Ver- ächterin aller notwendigen und allgemeinen Wahrheiten. Ist das nächste Interesse der Sophisten eigentlich mehr der Überredungskunst als der Philosophie zugewandt, so sind sie doch auch Vertreter eines philosophi- schen Standpunktes: teils des Empirismus in seiner rohesten Gestalt, als Sensualismus, wie ihn des Protagoras Lehre zeigt, teils des Skeptizismus. Uns interessiert hier nur ihre Stellung zu den Fragen der Logik. Dem Sensualismus schien das Urteil nur Bedeutung zu haben als Ausdruck des steten, unablässigen Wandels der sinnlichen Erscheinung; als flüchtiges Augenblicksbild stellte es sich dar, wie diese.
Die Sophisten bemerkten ganz richtig die Willkürlichkeit des Urteils, als eines Erzeugnisses unserer (willkürlichen) Reflexion, achteten aber nicht auf die gleichzeitige Abhängigkeit desselben von der unmittelbaren Erkenntnis, als dem Objektiven, von dem uns das Urteil nur ein höheres, dauerndes Bewußtsein gibt im Gegensatz zu dem Momentanen der An- schauung. Sie sahen von dieser unmittelbaren Erkenntnis überhaupt nur den rein sinnlichen Teil, nicht die mitwirkende Tätigkeit der Vernunft. Der Wechsel der Sinneserkenntnis ist daher für sie das einzige Gesetz der Wahrheit. Alles hat den gleichen Anspruch auf Wahrheit, es ist alles wahr, insofern es einem wahrnehmenden Subjekt so erscheint. Zu diesem Ergebnis gelangte Protagoras auf erkenntnistheoretischem Wege. Mehr dialektisch behaupteten dann andere (Plat. Euthyd. 284 Bf., Soph. 241 A) folgendes: Nicht wahr kann nichts sein. Unwahr könnte nur das Nicht- seiende sein. Dies aber kann, wie schon Parmenides dargetan, niemand empfinden und wahrnehmen. Es gibt also überhaupt kein Nichtseiendes und somit keinen Trug, keine Täuschung.
Das war der Tod aller Logik. Denn damit war der Satz des Wider- spruchs geleugnet, der auch, ehe ihn Aristoteles als Grundgesetz der Logik
Die sophistische Logik 239
aufgestellt, immer stillschweigend als Kriterium der Wahrheit anerkannt worden war. Indem die Sophisten von der Richtung des Protagoras nur das Momentane des sinnlichen Eindrucks beachteten und gelten ließen, übersahen sie das Wesentliche, nämlich den Charakter des Urteils als Bewußtsein überhaupt. Sie isolierten die momentane Erkenntnis und waren dann leicht geneigt alles zu leugnen, was darüber hinausgeht. Dazu gehört denn auch das Urteil, d. h. die Verbindung eines Subjekts mit von ihm selbst verschiedenen Prädikaten. Denn die unmittelbar sinn- liche Erkenntnis zeigt uns jedes Ding nur in der Zusammengehörigkeit und Einheit des Ganzen so, wie es augenblicklich erscheint. Von ihm ablösbare Prädikatsbestimmungen gibt es dann nicht; denn der Gegen- satz von beharrlicher Substanz und wechselnden Akzidenzen, die meta- physische Grundlage für das logische Verhältnis des Subjekts zur Mannig- faltigkeit seiner Prädikate, war dadurch aufgehoben. Es galt nur das Momentane, nicht das Andauernde.
Die strenge Konsequenz des protagoreischen Heraklitismus wäre ge- wesen, daß man überhaupt kein Urteil, auch kein identisches, fällen, son- dern nur anschauen und empfinden könnte. „Wenn es sich uns also immer entzieht, ist es dann möglich, richtig von ihm auszusagen erstens, daß es jenes, und dann, daß es so beschaffen sei? Oder ist es notwendig, daß während wir sprechen, es alsbald zu einem andern werde, uns entweiche und nicht mehr so sich verhalte? Wie könnte nun das überhaupt ein be- stimmtes Sein haben, das niemals sich gleichmäßig verhält? . . . Doch es könnte ja wahrlich auch nicht einmal von jemand erkannt werden. Denn sowie der heraniritt, der es erkennen will, so würde es ein an- deres und Verändertes, daher könnte seine Qualität oder sein Zustand nicht mehr erkannt werden." So schildert uns Piaton die Sache sehr lebendig und gut im Kratylos (S. 439 D f. vgl. auch Tim. 49 D f. u. a.).
Diese Konsequenz haben freilich die Sophisten nicht in ihrer vollen Strenge gezogen. Wohl aber waren manche von ihnen der Ansicht, daß Subjekt und Prädikat im Urteil nicht voneinander verschieden sein könnten. Diese Voraussetzung liegt z. B. den Sophismen des zweiten Streitganges im Euthydem (283 B bis 288 D) zugrunde, wie Bonitz (Plat. Stud., 2. Aufl. S. 102 f.) gut gezeigt hat. Und so hat denn auch, nach dem Zeugnis des Aristoteles, der Sophist Lykophron die Zulässigkeit der Urteile von der Form A ist B bestritten und nur gelten lassen A ist A, eine Meinung, der bekanntlich auch Antisthenes und andere^) huldigten.
1) Nach Zeller Ph. d. Gr. P S. 1104 f. hat Gorgias die gleiche Behauptung aufgestellt. Das ist nicht unmöglich. Es ließe sich dafür folgendes geltend machen. Wenn A wirklich bloß A ist und jedes Urteil mit „ist" die Geltung
240 Der Dialog Sophistes
Es ist eigentlich nur ein anderer Ausdruck für die nämliche Sache, wenn man behauptete, ein Urteil von der Form A ist B bedeute nichts anderes als die Gleichstellung von A und B. Man konnte sich von der Bedeutung der Kopula noch keine zutreffende Vorstellung machen. Das „ist" stellte sich als eigentliche Wesensbestimmung des Subjekts durch das Prädikat dar, was auf die Gleichheit beider hinzuweisen schien.
Damit hängt eng zusammen die Ansicht gewisser Sophisten, daß Ver- schiedenheit immer schon Widerstreit, oder platonisch ausgedrückt, daß eiepov mit evaviiov identisch sei. Denn das logische Kriterium für den Widerstreit von Vorstellungen ist eben ihre Nichtverbindbarkeit im Urteil. War es nun jener Lehre zufolge verpönt, überhaupt verschiedene Vor- stellungen im Urteil durch die Kopula zu verbinden, so lag darin der Ge- danke eingeschlossen, daß Verschiedenheit und Widerstreit ein und das- selbe seien. Für widerstreitende Vorstellungen aber stellten sie weiter die Behauptung auf, daß nichts, was von der einen gelte, von der andern ausgesagt werden dürfe, eine Behauptung, die Piaton in der Republik (454 C) durch folgendes ergötzliche Beispiel erläutert: Die Begriffe kahl- köpfig und vollhaarig sind in Widerstreit miteinander; wenn also die Kahlköpfigen sich auf das Schusterhandwerk verstehen, so folgt notwendig, daß den Vollhaarigen diese Kunst des Schusterns versagt ist. Sehr richtig charakterisiert Platon dies Verfahren durch die Worte: Kai' auiö tö ovo- |aa biujKouci tou XexOevTOC Tiqv evaviiuuciv, epibi, ou biaXeKTUj irpoc dX- XrjXouc xßd)}xevoi.
Fassen wir das Gesagte zusammen, so sind es drei für das Schicksal der Logik wichtige Rätsel, welche die Sophistik der Wissenschaft zu lösen aufgegeben: 1. Welches ist das wahre Gesetz der Verbindbarkeit der Be- griffe im Urteil? 2. Wie verhalten sich Verschiedenheit, Widerspruch und Widerstreit zueinander? 3. Welche Bedeutung hat der Begriff des Nicht- seienden für unsere Erkenntnis?
Greifen die beiden ersten dieser Fragen unmittelbar in die Logik ein — ohne doch ausschließlich logischer Natur zu sein — , so nimmt sich die letzte Frage zunächst mehr metaphysisch aus. Doch hat schon das Obige gezeigt und wird das Folgende noch deutlicher zeigen, daß auch diese Frage ihre logische Seite hat und in dieser Beziehung auf das engste mit den beiden andern zusammenhängt, ja für Platon den eigentlichen Kern der Sache bildet.
der Identität hat, so folgt aus A ist B immer unmittelbar Non-A ist Non-B, eine Folgerungsweise, die sich tatsächlich bei Gorgias findet. Sext. Emp. adv. dogm. I 80 (S. 206, 23ff. Bekk.) und so schon vorher I 67 (S. 204, 13ff. Bekk.).
Bedeutung des Urteils • Das Nichtseiende 241
2. PLATONS SOPHISTES.
Auf diesem Punkte fand Piaton die Sache vor. Der umfassendste und systematischste Versuch, den er gemacht hat, eine Lösung der bezeich- neten Fragen mit seinen Mitteln zu geben, liegt uns im Dialog Sophistes vor. Dieser Versuch ist in hohem Maße originell und verdient in der Ge- schichte der Logik eine hervorragende Stelle, die ihm Prantl in seinem bekannten Werke nicht gewährt hat. Sokrates bot dem Piaton dabei un- mittelbar gar keine Hilfe und mittelbar nur insofern, als Begriffsverbin- dungen die unerläßliche Voraussetzung bilden für diejenige Methode phi- losophischer Forschung, der Sokrates vorzugsweise huldigte, nämlich für das Aufsuchen von Definitionen.
Der Dialog Sophistes hat es zwar zunächst mit der Begriffsbestimmung des „Sophisten" zu tun. Der wissenschaftliche Kern steckt aber nicht in diesen Definitionsversuchen, sondern in der von ihnen eingerahmten Unter- suchung über das" |ufi öv. Nicht als ob diese Untersuchung mit jenen Ver- suchen nichts zu schaffen hätte. Das hieße der anerkannten Meisterschaft Piatons in der Kunst des Dialogs zu nahe treten. Piaton hätte diesen Rahmen nicht gewählt, wenn nicht ein bestimmter Zusammenhang mit der Hauptsache vorhanden gewesen wäre. Dieser lag in der Tat vor. Denn dies „Nicht- seiende" bildete einen beliebten Tummelplatz rabulistischer Klopffechterei für die Sophistik, die ihre eigene Nichtigkeit und Verlogenheit, wenn man sie ihr vorrückte, mit der Behauptung zu schützen wußte, ein Nichtseien- des gäbe es nicht. Die Frage also, um die es sich handelte, die Frage nach dem Nichtseienden, hatte mit dem Auftreten der Sophisten eine er- höhte, aktuelle Bedeutung erhalten. Insofern bot gerade der Begriff des Sophisten einen sehr passenden Ausgangspunkt oder richtiger einen künstlerisch angemessenen Rahmen für die Erörterung dieses schwierigen Begriffes. Allein eingeführt ist dieser Begriff in die Philosophie bekannt- lich nicht erst von den Sophisten: schon seit Parmenides stand er in ihr als ein Rätsel da, das einer wissenschaftlichen Lösung harrte und der- selben würdig schien, auch ganz abgesehen von dem Mißbrauch, den die Sophisten damit trieben.
Wir können uns über beides, sowohl über die bloß nebensächliche Bedeutung der Definitionsversuche des Sophisten, wie über das eigent- lich Wesentliche des Inhalts aus Piatons eigenem Munde belehren lassen. Wenn er nämlich im Politikus^), dem literarischen Zwillingsbruder des
1) Polit. 285 D Ti 5' au vöv )^,uiv r| irepi toO ttoXitikoO ZY\Tr]c\c; €v6Ka auroö TOUTOU irpoßeßXrjTai iiiäWov f| tou irepi Trdvxa biaXeKTiKuuxepoic YiT^ecGai; Apelt: Platonische Aufsätze. 16
242 ^®'" Dialog Sophistes
Sophisies, sagt (285 D): „Ist die Untersuchung über den Staatsmann uns um seiner selbst willen vorgelegt worden, oder darum, daß wir überhaupt tüchtiger in der Dialektik werden?", so gilt dies offenbar auch mutatis mutandis von dem unter den gleichen Bedingungen entstandenen Dialog Sophistes. Und daß in diesem letzteren wiederum das uii öv den eigent- lichen Schwerpunkt bildet, zeigt uns Polit. 286 B Tiqv (luaKpoXoTicxv) toO cocpiCTOÖ irepi tou )uri övtoc ouciac und ähnlich 284 BC ev tuj coqpicir] 7Tpocr|vaYKdca,uev eivai tö juf] öv, eireibri Kaid touto bieqpuyev fmdc ö XoToc. Auch die Lehre von der „Gemeinschaft der Geschlechter", die zwar hier von einer besonderen Seite erfaßt, aber keineswegs als etwas durchaus Neues eingeführt wird, ist ersichtlich diesem höheren Zwecke untergeordnet. Dies wird ein kurzer Überblick über den Gang der Unter- suchung dartun.
Nach mannigfachen vergeblichen Anläufen, zu einer umfassenden und befriedigenden Bestimmung des Wesens des Sophisten zu gelangen, wird der Versuch gemacht, ein Hauptmerkmal des Sophisten zum Ausgangs- punkt einer neuen Untersuchung zu nehmen. Als ein allwissender Streit- redner stellt sich der Sophist dar. Alles zu wissen aber ist unmöglich. Es kann sich also tatsächlich hier nur um den Schein, um ein Schein- wissen handeln. Dies aber führt notwendig auf den Begriff des Nicht- seienden, dessen Realität und Zulässigkeit von Parmenides auf das ent- schiedenste geleugnet worden war. Mit dieser Leugnung kann sich der Sophist gegenüber dem ihm gemachten Vorwurf des Scheinwesens be- quem decken.^) Will man ihm also als einem Scheinkünstler beikommen, so ist es unerläßlich, dem Nichtseienden eine Seite abzugewinnen, die diesem Begriff in irgendwelcher Beziehung Anspruch auf Sein, die ihm irgendwelche Daseinsberechtigung verleiht.
Demgemäß wird denn der Begriff des Nichtseienden einer vorläufigen Erörterung unterzogen unter Aufweisung der Schwierigkeiten, die von ihm unzertrennlich sind (237 A bis 242 C).
Eine Lösung dieser Aporien kann nur erhofft werden durch eine vor- hergehende Erörterung des Seienden. Diese Untersuchung, bestehend in einer Kritik aller bisherigen Ansichten über das Wesen des Seienden, wird 242 D bis 249 D geführt. Das Ergebnis ist überraschend: die so klar scheinende (tci boKOÖvia evapTu^c e'xeiv 242 B) Natur des öv ist, wie sich
1) Äußerst anschaulich, fast malerisch sind die Wendungen, in denen Piaton dies Verhältnis schildert: eic öiropov ö coqpicxfjc töttov KaraöebuKev (239 C), d-rro- bibpdcKei €ic Tr^v toö }JiY] övtoc CKOTeivÖTrixa, rpißr) irpocaTTTÖiaevoc auTfjc, öia tö cKOTCivov TOÖ TÖTTOu KaTavoiTcai x"^£^öc (254 A, vgl. auch 260 D). Das ist Piatons und keines andern Hand.
Das Nichtseiende und das Seiende 243
herausstellt, mit nicht geringeren Schwierigkeiten und Widersprüchen be- haftet als die des luri öv. In bezug auf Zahl wie auf Beschaffenheit des Seienden finden sich bei der bisherigen Philosophie die widersprechend- sten Ansichten. Sogar das övtuüc öv des Piaton selbst scheint von einem Widerspruch nicht frei. Denn man kann es sich einerseits nicht ohne Ruhe, anderseits aber auch nicht ohne Bewegung vorstellen.
Das Seiende ist also weit entfernt ein zweifelsfreier Begriff zu sein. Die historische Kritik hat nur dazu geführt, die endlosen Schwierigkeiten aufzuweisen, von denen dieser Begriff umgeben ist, und diese Schwierig- keiten werden nur erhöht durch eine freie Betrachtung, die sich daran knüpft und die folgenden Gang nimmt: Bewegung und Ruhe stehen in Widerstreit miteinander (250 A). Beiden kommt aber das Merkmal des Seienden zu (Trepiexovxai uttö toO övtoc), ohne daß doch dies letztere sich mit einem von ihnen deckte. Das Seiende ist mithin ein zwar beide umfassender, aber doch von ihnen verschiedener Begriff. Wir geraten also in folgende Aporie (250 D): „Was nicht ruht, bewegt sich; was sich nicht bewegt, das ruht. Wenn nun das öv verschieden ist von beiden, so scheint es, kann es weder ruhen, noch sich bewegen (250 C). Wie ist dies aber denkbar?"
Aus dieser Verlegenheit bietet sich nur ein Ausweg: die Lehre von der Gemeinschaft der Geschlechter (Koivuuvia tüuv jevOuv). Denn von den drei Möglichkeiten des Verhältnisses der Begriffe untereinander, nämlich 1. des völligen Ausschlusses eines jeden von jedem andern; 2. der aus- nahmslosen Verbindung aller mit allen; 3. der teilweisen Gemeinschaft, bleibt die letztere als allein zulässig stehen (252 E). Die Wissenschaft aber, welche die Beziehungen der Begriffe zueinander feststellt, ist die Dialektik (253 D). Sie ist die bekannte (eXdGojuev eic Tf]v tujv eXeuöepuuv ejUTrecöviec eTriCTr|)ur|v 253 C) Kunst des echten Philosophen, die Kunst des Kaid jevr) biaipeicöai, d. h. die Kunst, die notwendigen Trennungs- und Verbindungs- verhältnisse der Begriffe untereinander zu untersuchen.^)
Mit dieser Kunst läßt sich nun auch die Bedeutung des |uri öv ergründen. Zu dem Ende sollen aber nicht alle Begriffe in ihren gegenseitigen Be- ziehungen erörtert werden, denn das würde mehr verwirren als aufklären, sondern nur einige der umfassendsten sollen als Probe dienen. Es sind dies zunächst öv, ciotcic, Kivricic. Jeder von diesen Begriffen ist verschie- den (eiepov) vom andern, aber doch identisch (lauiöv) mit sich selbst. So kommen zu den drei ursprünglichen Begriffen diese zwei, das lauiöv
1) Hierzu vgl. die Anmerkung in meiner Ausgabe des Sophistes (Leipzig, B. G. Teubner, 1897) zu 253 D sowie die Prolegg. S. 13, 1.
16*
244 ^®^ Dialoge Sophistes
und das Bdiepov, als von ihnen verschiedene Geschlechter hinzu (254 E bis 255 E). Auf Grund dessen wird dann in rekapitulierender Zusammen- fassung beispielsweise der Begriff der Bewegung als verschieden von den vier andern charakterisiert. Also die Bewegung ist nicht öv (weil nicht identisch damit), aber sie hat teil an ihm (ueiexei toO övtoc); sie ist also öv und ist es in anderer Beziehung auch wieder nicht (255 E bis 256 E).')
Ähnlich wie mit der Bewegung steht es mit allen andern Begriffen: jedes eiboc ist in vielen Beziehungen seiend, in unzähligen Beziehungen wieder nichtseiend. Auch das Seiende selbst ist so oft nichtseiend, als es davon verschiedenes gibt (257 A).
Das Nichtseiende ist demgemäß nicht in Widerstreit (evavTiov) mit dem Seienden, sondern bloß verschieden davon, wie auch das Nichtgroße, das Nichtschöne usw. dem Großen, dem Schönen nicht widerstreitend sind (während z. B. das c)uiKpöv dem iieja widerstreitend ist), sondern nur verschieden davon. Die Entgegensetzung des Nichtschönen und Schönen usw. bedeutet also nichts anderes als eine Entgegensetzung") von Seiendem gegen Seiendes. Kurz, die Negation ist nur das Verschie- densein, das andere (Odiepov). Das Nichtschöne hat also denselben An- spruch auf Dasein wie das Schöne und ebenso das Nichtseiende über- haupt: das Nichtseiende ist ja doch nichtseiend, also kommt ihm auch Sein zu (258 B).
Des Parmenides Verbot hinsichtlich des Nichtseienden ist also gründ- lich überschritten. Denn das Nichtseiende ist nicht nur als seiend aner- kannt, sondern auch sein Begriff als Gdiepov genau bestimmt worden unter Abwehr der Vorstellung, als wäre es dem Seienden widerstreitend (258 E). Das Ergebnis folglich ist dies, daß einerseits das Nichtseiende als Gdiepov seiend, andererseits das Seiende in unzähligen Beziehungen nichtseiend ist (259^ AB). Statt leerer eristischer Spiele mit anscheinend widerstreitenden Begriffen wie lauiöv und Gdiepov, öjuoiov und dvöfioiov, ILicTct und c)LiiKpöv, woran manche ihre Freude haben und ihre Stärke in der Widerlegungskunst zeigen, hat man vielmehr jedesmal genau die Be- ziehung zu untersuchen, in der etwas identisch und verschieden, ähnlich und unähnlich, klein und groß genannt wird.'^)
1) Vgl. die Anmerkung zu dieser Stelle in meiner Ausgabe des Sophistes.
2) Also eine Art Entgegensetzung bleibt es immer; daher die wiederholten Ausdrücke Piatons dvTiGecic, dvxiTiG^iuevov, dvxiKciiuevov z. B. 257 D, 257 E, 258 B.
3) Wenn der nämliche Gegenstand groß und auch wieder klein, ähnlich und unähnlich genannt ward, so war der Eristiker sofort bei der Hand einen Widerspruch festzustellen, ohne sich auf eine Untersuchung des secundum quid
Berechtigung des Nichtseienden 245
Das Nichtseiende zeigt sich gemäß dem Entwickelten in jedem ein- zelnen Falle als irgendein Geschlecht „des anderen" (z. B. das Nicht- schöne als anderes als das Schöne), ist also über alles Seiende ohne Ausnahme verbreitet (260 B).
Eines der seienden Geschlechter nun — und damit vollzieht sich der Übergang zum letzten Teil dieser Erörterung über das Seiende und Nicht- seiende — ist auch die Rede (Xötoc) d. h. die Äußerung des Urteils, der böHa/) Gesetzt nun, von diesem wäre das Nichtseiende ausgeschlossen, so könnte es nur Wahrheit, keinen Trug, keine Lüge und also auch keine Sophistik geben, in dem Sinne, wie sie vorher definiert ward, als eine Scheinkunst nämlich. Und gibt der Sophist angesichts der geführten Unter- suchung jetzt vielleicht auch im allgemeinen die Realität des Nichtseienden zu, so wird er doch vielleicht sich hinter die Behauptung zurückziehen, das Nichtseiende verbinde sich nicht mit allen Geschlechtern, also z. B. nicht mit Xötoc und böHoc. Es gilt also diese beiden darauf hin zu unter- suchen, ob sie sich mit dem Nichtseienden verbinden (261 C).
Urteil und Meinung bestehen aus övöiuaia (welches Wort hier 261 D noch in weiterem Sinne genommen wird und die pruuaia mit umfaßt). Wie vorher also gefragt ward nach der Verbindbarkeit der „Geschlechter", so handelt es sich hier um die Verbindbarkeit der Wörter. Auch hier ist, wie bei den Begriffen, die einzige Möglichkeit die, daß eine teilweise Ver- knüpfbarkeit stattfindet. Und zwar sind zwei Klassen von Wörtern zu unterscheiden: Substantiva (6v6|LiaTa) und Verba (pruuaia) 262 A. Dadurch bestimmt sich das oberste Gesetz der Verknüpfbarkeit: lauter Substantiva für sich geben kein Urteil, ebensowenig lauter Verba: nur aus der Ver- bindung von Substantivum und Verbum entsteht das Urteil (262 B bis D).
Jedem Urteil nun liegt erstens eine Person oder ein Gegenstand zu- grunde, über den es handelt, zweitens muß jedes Urteil eine (modalische) Beschaffenheit haben, der \6yoc muß ein ttoioc tic sein (262 E). An den
einzulassen. Und wenn Männer wie Antisthenes (auf den 259 DE wohl mit an- gespielt wird) jede Verbindung verschiedener Begriffe im Urteil verwarfen, so taten sie dies vermutlich mit auf Grund des eristischen Satzes, durch eine solche Verbindung werde Tauxöv zu nicht-xauTÖv, rauröv zu exepov gemacht.
1) Der Begriff des andern (edrepov), wie er im vorigen entwickelt wurde, war ja eben aus der Verbindung von Begriffen, d. h. aus Rede und Ur- teil gewonnen worden. Es wäre also ein Widerspruch, wenn er nicht seiner- seits auch seine Anwendung darauf finden sollte. Aber es wird sich bald zeigen, einmal, daß es sich im folgenden nicht um Vergleichungsformeln handelt wie bisher, sondern um wirkliche Urteile (ein Unterschied, der noch zu erläutern sein wird), und zweitens, daß mit der Bedeutung von Odrepov eine Wandlung vor sich geht.
246 Der Dialog Sophistes
Beispielen nun 1. „Theätet sitzt", 2. „Theätet fliegt" wird dies erläutert 263 AB. Beide Sätze handeln vom Theätet, aber mit dem Unterschied, daß der erstere wahr, der letztere falsch ist. Darin liegt ihre verschiedene Beschaffenheit (ttoiöc tic). Mithin besteht die falsche, lügnerische Be- hauptung (Xöfoc i|Jeubr|c) in einer Verbindung von Substantivum und Ver- bum, welche das Nichtseiende als seiend darstellt (263 D).
Es gilt nunmehr die Anwendung davon zu machen auf die zuletzt ver- suchte, aber (236 C) abgebrochene Definition des Sophisten, der gemäß er als irgendwie unter die eibaiXoTTOuKifi qpavTacTiKii unterzuordnen war, m. a. W. es gilt den Begriff der cpaviacia mit dem gewonnenen Resultat in Verbindung zu setzen. Zu dem Ende werden die drei Begriffe bidvoia, böHa, qpavTacia in ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander erörtert. Alle drei stehen in inniger Beziehung zum Xötoc. Und zwar ist bidvoia die Grundlage des Xoyoc: sie ist die innerliche Rede (Überlegung), bö£a die Vollendung, der Abschluß dieser Rede. Durch Bejahung oder Ver- neinung (qpdcic und ciTTÖcpacic, die hier eine, Qualität und Modalität zu- gleich, umfassende Bedeutung haben), Xöyoc die Mitteilung derselben nach außen, endlich cpaviacia eine Verbindung von b6£a und a\'c9r|cic.^) Denn q)avTacia ist eine durch Wahrnehmung erzeugte Vorstellung oder Meinung (246 A). Also auch die cpaviacia ist eng mit dem Xötoc verwandt. Da
1) Aristoteles de an. 428a 25ff. bekämpft die Ansicht, daß cpaviacia eine Verbindung von böEa und aic9r|cic sei. Er hat dabei vielleicht die obige Ansicht seines Lehrers im Auge. Auch sein Ausdruck cuuttXokiti böt)-\Q kgi aicBj'iceiuc klingt unverkennbar an den des Piaton an, der 264 8 die qpavTacia definiert als cO,uuiEic aicGj'iceuJc Kai b6lr]c. In der Tat ist die Definition des Piaton von frag- lichem Wert. Es mag zugegeben werden, daß (pavracia eine Verbindung von Wahrnehmung und Meinung sei, sofern man nämlich unter aicencic die innere Wahrnehmung, das Bewußtsein durch inneren Sinn versteht, denn im allge- meinen wird cpaviacia etwas sein, dessen ich mir unmittelbar durch Innern Sinn bewußt werde, ohne Reflexion. Eine böta nun kann sowohl auf Tätigkeit der Einbildungskraft beruhen (wie z. B. die Vorstellung, daß der Mond am Horizont größer sei als oben am Himmel) als auch auf Reflexion. Eine Fiktion der Ein- bildungskraft kann durch Reflexion korrigiert werden. Das wird von Piaton nicht beachtet. Seine (pavracia scheint, da sie unmittelbar mit der böta zu- sammengebracht wird, diese letztere aber als Abschluß der bidvoia (biavoiac dTToieXeüincic 264 A) geschildert wird, nicht klar von der Reflexion geschieden. Das hängt damit zusammen, daß Piaton qpaviacia, wie 264 8 zeigt (^cpaiveiai' ^e 6 Xe-fouev, cij|li|luEic aic0nc€ujc Kai b()E)-ic, ganz so wie Theät. 152 BC), ledig- lich als substantiviertes cpaiveiai nimmt. Dies cpaiveiai bezeichnet aber ebenso- wohl das Bewußtsein durch inneren Sinn, wie durch Reflexion. In beiden Fällen schwebt dabei zunächst eine Meinung (Urteil) und keine bloße Einzelvorslellung vor. Übrigens leidet die Widerlegung der Definition bei Aristoteles auch an manchen Unklarheiten.
Möglichkeit der falschen Meinung- 247
nun der Xötoc, wie bewiesen, auch falsch, ipeubric sein kann, so muß das- selbe auch von der cpaviacia gelten. Dadurch ist nun der Weg geebnet zur Wiederaufnahme der früheren Definition, mit deren Vervollständigung auf der Grundlage des gewonnenen Ergebnisses sich der Rest des Dia- logs beschäftigt.
Diese Übersicht wird trotz ihrer Kürze doch zur Genüge die eigent- liche Absicht Piatons erkennen lassen: es gilt ihm die Natur des lur] 6v zu ergründen. Alles übrige hat im Verhältnis dazu nur die Bedeutung entweder der künstlerischen Einfassung des Ganzen oder eines notwen- digen Gliedes in der Kette der Argumentation. Über das erstere ist be- reits oben gehandelt. Was aber das letztere anlangt, so bildet namentlich die Exposition des dem luri öv entsprechenden positiven Begriffes des öv nur die notwendige Voraussetzung^) zur Klärung des negativen Begriffes (vgl. Phaidon 97 D). Daß die Untersuchung des öv nur zur Aufhellung des |ur] öv angestellt werde, sagt uns Piaton ausdrücklich 243 C. Und 254 B ruft sich der Fremdling in nicht mißzuverstehender Weise zu seinem eigentlichen Thema, der Betrachtung des jun öv in Verbindung mit dem Begriff des Sophisten, zurück. Der alte Nebentitel des Dialogs Tiepl tou övTOc sollte also besser heißen Tiepi tou juri övtoc. Da indes das öv das notwendige Komplement zu dem |ufi öv bildet, so ist der Titel doch nicht geradezu verfehlt. Was ferner die Dialektik betrifft, so wird sie hier keines- wegs als etwas ganz Neues eingeführt. Vielmehr zeigt 253 D, daß sie als die schon bekannte Kunst des wirklichen und echten Philosophen auftritt, wie denn das Kaid T^vr) biaipeicBai des Sophistes (253 C) ganz auf das- selbe hinauskommt wie das Kai' eibri biivacGai lejuveiv, Kai' dpGpa, ri TreqpuKe des Phaidros (265 E). Die Lehre von der Koivuuvia tujv t^vojv er- örtert eine im allgemeinen schon bekannte Sache nur von einer neuen Seite. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern erscheint unter einem bestimmten Gesichtspunkt als Mittel zum Zweck.
3. VERGLEICHUNGSFORMEL UND URTEIL.
So sonderbar uns vieles in diesem Versuche über das Nichtseiende anmutet, so sinnreich und bedeutsam wird uns doch auch das tatsäch- lich Unhaltbarste darin erscheinen, sobald wir es im Lichte der geschicht- lichen Voraussetzungen betrachten, auf denen es ruht. Das Nichtseiende Avar das große Rätsel der Spekulation seit den Eleaten. Diese hatten es als das noli me tangere für die Vernunft bezeichnet und bei Leibes- und
1) Vgl. Arist. An. post. I 25, 86 t) 34 öia yap ty\v Kardqpaciv y\ dtröcpacic jvihpi- j^oc, Kai Trpoxepa i^ Kaxdqpacic üJCTrep Kai xö eivai xoü fir| eivai.
248 Der Dialog Sophistes
Lebensstrafe vor der Nachforschung danach gewarnt. Denn das Nicht- seiende ist eben nichts, also undenkbar. Die Megariker waren ihnen darin,, wie es scheint, gefolgt^) und die Sophisten hatten, wie oben gezeigt, Grund genug, sich dieser Ansicht zu bemächtigen, die ihnen als willkommene Wehr und Waffe diente gegen den unzarten Vorwurf der Scheinkünstelei.
War dies Nichtseiende wirklich so völlig undenkbar, so gänzlich un- zugänglich für die Vernunft, wie es die Eleaten schilderten? Und wenn nicht, welches war der Weg, auf dem man dem Proteus beikommen und ihm eine Antwort über sein Wesen entlocken konnte? Jedenfalls lag die Sache, wissenschaftlich genommen, noch in tiefes Dunkel gehüllt und es war kein geringes Wagnis, das Piaton unternahm, wenn er mit der Fackel des forschenden Verstandes in dies Dunkel einzudringen suchte.
Piaton greift die Sache zunächst nicht von der metaphysischen, son- dern von der logischen Seite an. in der Verbindung und Vergleichung von Begriffen tritt das „nicht** als gültige und allgemein anerkannte Ge- dankenform auf. Dieses „nicht" deutet doch darauf hin, daß das Nicht- seiende in unserem Denken eine gewisse Rolle spielt, daß irgendein Etwas dahinter stecken muß. Um dies Etwas, diese Verwandtschaft mit dem Positiven, nachzuweisen, geht Piaton von der Tatsache aus, daß wir im Urteil Begriffe bejahend miteinander verbinden, die wir, wenn wir, reflek- tierend, sie bloß vergleichen, durch Anwendung des „nicht" voneinander unterscheiden. Hier haben wir also den Fall, daß das Verhältnis der näm- lichen Begriffe zueinander bejahend und verneinend bestimmt wird, ohne daß sich die Behauptungen gegenseitig aufheben. Also das Negative ver- trägt sich mit etwas Positivem, deutet vielleicht sogar auf das Positive hin. Wir sagen z. B. „Reichtum ist nicht Schönheit", d. h. der Begriff ,, reich" ist verschieden von dem Begriff „schön" und doch gibt es manchen Reichen, der auch schön ist. Oder, um das platonische Beispiel selbst zu brauchen, wir sagen, „Bewegung ist nicht Sein'', d. h. der Begriff der Bewegung ist nicht gleichbedeutend mit dem des Seins, und doch müssen wir sagen, die Bewegung ist seiend (d. h. es gibt tatsächlich Bewegung).
Wie geht das zu? Wir antworten: es beruht auf dem Unterschied von Vergleichungsformel und Urteil. Dies zu verstehen, müssen wir einen kleinen Exkurs in die Logik machen. Die gesunde Logik lehrt folgendes: wirkliche Erkenntnis durch Denken gibt nur das Urteil mit bezeichnetem Subjekt, denn nur die Bezeichnung bringt die Beziehung des Subjekts auf
1) Euseb. praep. er. XIV 17(8.299, 2f. Dind.) öGev rjEiouv ouxoi fe (die Ele- aten und Ol irepi ZTiXirtuva koI oi McTapiKoi) tö öv ^v elvai Kai tö ^'repov }xr\ €ivai, mibe Y€vväc0ai ti uribe 96eipec0ai |ur|b^ KiveicBai tö TtapäTrav.
Begriffsvergleichung und Urteil 249
wirkliche Einzelwesen, die in seiner Sphäre stehen. Diese Bezeichnung^) vollzieht sich durch den Zusatz von „alle", „einige", „dieser" usw. zum Subjekt. Nur für bezeichnete Urteile findet der Unterschied der Bejahung und Verneinung statt und somit das Verhältnis des Widerspruchs.
Außer dem bezeichneten Urteil gibt es aber noch Vergleichungsformeln, d. i. bloße Begriffsvergleichungen, für welche die Verneinung ein bloßes Unterscheidungszeichen, nicht wirkliche Negation ist. Diese Vergleichungs- formeln liefern uns keine eigentliche Erkenntnis, sondern bereiten dieselbe bloß durch eine vorläufige Überlegung vor. Sie führen uns nicht an die Wirklichkeit der Dinge selbst heran, sondern bringen uns bloße Verhält- nisse der Begriffe untereinander zum Bewußtsein. Wir bewegen uns da- bei bloß in Vorstellungen von Vorstellungen, ohne unmittelbare Beziehung" auf die Dinge selbst. Die Negation hat in diesen Formeln nur die Be- deutung des Verschiedenseins, nicht der gegenseitigen Ausschließung der Vorstellungen. Es läßt sich jeder Begriff von jedem andern noch durch irgendwelche Merkmale unterscheiden und darum kann man jeden Begriff mit jedem andern in negativer Vergleichungsformel zusammenbringen. Anderseits lassen sich sehr viele zugleich auch in bejahender Vergleichungs- formel verknüpfen, sofern sie irgendwelche Verwandtschaft haben. Zwischen Bejahung und Verneinung ist hier also kein Widerspruch, auch kann ich unbeschadet der Richtigkeit der Sache Subjekt und Prädikat vertauschen.
So kann ich beliebig folgende vier Vergleichungsformeln nebeneinander behaupten: Stern ist Körper; Stern ist nicht Körper; Körper ist Stern; Körper ist nicht Stern. Die Formeln „Stern ist nicht Körper" oder „Körper ist nicht Stern" sagen nur: wir denken uns bei diesen Worten nicht die- selben Begriffe. Und die entsprechenden bejahenden Formeln sagen nur: diese Begriffe können in Verbindung miteinander vorkommen. Soll hin- gegen das Verhältnis derselben zur Erkenntnis des Gegenstandes be- stimmt werden, so müssen wir erst einen derselben durch Bezeichnung des Subjekts auf Einzelwesen, die in seiner Sphäre stehen, beziehen. Dann sind die Urteile unter bestimmter Form dem Gesetz des Widerspruchs unterworfen, also entweder wahr oder falsch. Nämlich: alle Sterne sind Körper; einige Körper sind Sterne; einige Körper sind nicht Sterne.
So hat Fries an verschiedenen Stellen seiner Schriften, vor allem
1) Konjunktive und disjunktive Urteile, wie z. B. Begriffserklärungen und Begriffseinteilungen, haben allerdings unmittelbar (tatsächlich gibt es doch auch eine eigentümliche divisive Bezeichnung) keine Bezeichnung, wie das richtige kategorische Urteil, doch erhalten sie ihre Bedeutung für die Erkenntnis auch immer erst durch ihre Anwendung auf Einzelwesen, die sich in bezeichneten Urteilen vollzieht.
250 D^'" Dialog Sophistes
Metaphysik S. 143 ff., die Sache klargestellt. Etwas anders, aber doch sachlich auf dasselbe hinauslaufend, ist die Darstellung, die Ernst Rein- hold in der Ztschr. für Theologie und Philosophie 1. Bd., 1828, S. 124 f. von diesen Verhältnissen gibt. Da dieser Aufsatz, betitelt „Über den Miß- brauch der Negation in der Hegeischen Logik", nur wenigen zugänglich sein dürfte, so gebe ich bei der Wichtigkeit der Sache überhaupt und ihrer besonderen Bedeutung für die vorliegende Untersuchung das hier- her Gehörige daraus ganz wieder. „Bei einer oberflächlichen Betrachtung der Sache", heißt es da, „hat es zwar den Anschein, als müßte Non-A in einem allgemeineren Sinne Alles bezeichnen können, was etwas anderes ist als A, mithin auch das von A bloß disparat Verschiedene, und über- haupt die Totalität aller Einzelvorstellungen, mit einziger Ausnahme des A selbst. Dieser Schein ist aber ein täuschender und entspringt lediglich aus einer Verkennung der Grenzen der gültigen Negationsweisen. Weil jedes A, das unter dem obersten logischen Gattungsbegriff steht, einen Gegensatz in unserm Vorstellen hat und unter einer Grundbestimmung gedacht werden muß als eine der zwei oder mehreren Weisen, wie diese Grundbestimmung an einem Objekte sich offenbaren kann und wie sie an einem Objekte, dem sie wirklich angehört, sich offenbaren muß, so wird auch jedes Non-A, welches, wie wir eben gesehen haben, nur in einer ungereimten und logisch ungültigen Formel die Grundbestimmung von A nicht voraus und nicht über sich setzt, durch diese Grundbestimmung beschränkt und bleibt notwendig in den Grenzen ihrer Sphäre einge- schlossen. Deshalb ist es durchaus erforderlich logisch zu unterscheiden zwischen dem B als Non-A und zwischen dem B als nicht identisch mit A. Überall, wo bloß eine Verschiedenheit zwischen je zwei Einzelvor- stellungen von uns anerkannt wird, ohne daß die angegebenen Bedin- gungen eintreten, nach welchen die eine von der andern verneint werden kann, denken wir uns zwar dies, die eine sei nicht die andere, d. h. die eine sei nicht dasselbe, was die andre ist, jedoch ein solches Denken ist keineswegs zu verwechseln mit dem negativen Prädizieren der einen von der andern, im grammatischen Ausdruck eines Urteils können wohl Formeln erscheinen wie die folgende: ,schön ist nicht tugendhaft, geldreich ist nicht kenntnisreich*. Aber die logische Bedeutung dieser Sätze ist: schön ist nicht dasselbe, was kenntnisreich ist. Hier zeigt sich die Kopula, wie in allen Sätzen, welche die sogenannte reine Umkehr verstatten, nicht als einfacher Ausdruck der bloßen Verknüpfung von Subjekt und Prädikat, sondern sie enthält nebst ihrer wesentlichen einfachen Bedeutung auch den Prädikatsbegriff, welcher in allen diesen Fällen in der Bestimmung , gleich oder identisch* besteht. Die in solchen Sätzen dem grammatischen
Vergfleichungsformel und Urteil 251
Ausdruck zufolge als Subjekt und Prädikat erscheinenden Einzelvorstel- lungen sind beide Subjekte, welche miteinander verglichen werden, und denen der Relationsbegriff der Gleichheit entweder zugesprochen oder abgesprochen wird. Im letzteren Falle wird ihnen, gemäß der Bedeutung der Negation, der Relationsbegriff der Verschiedenheit indirekt beigelegt."
In diesem Raisonnement bedarf einiges vielleicht der Richtigstellung — wie sich später zeigen wird — , in der Hauptsache aber hat Reinhold unstreitig recht, wenn er diese Formeln von dem eigentlichen Urteil ab- sondert und der Negation in der ersteren eine völlig andere Bedeutung zuspricht als in dem letzteren.
Diese Lehre von der Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Ver- gleichungsformel und Urteil ist ftir die gesamte Geschichte der Philosophie von entscheidender Bedeutung. Sie bildet geradezu die Hauptbedingung aller gesunden Logik, während umgekehrt ihre Verkennung und Abweisung immer die Brücke gewesen ist zu Mystizismus, All-Einslehre und angeb- licher Erkenntnis des Absoluten. Wer hat diese Unterscheidung zuerst in die Wissenschaft eingeführt? Kein anderer, als der Begründer der ge- sunden Logik überhaupt, als Aristoteles. Es lohnt sich, dabei etwas zu verweilen, da man dem Aristoteles diesen Ruhmestitel hat absprechen wollen — wenn anders bei der ziemlich allgemeinen Gleichgültigkeit oder Geringschätzung, mit der man die Sache behandelt hat, von einem Ruhmes- titel die Rede sein kann.
In der Hermeneutik und ersten Analytik hat Aristoteles die klare Unter- scheidung zwischen unbezeichneten (dbiöpicxoi) und bezeichneten Urteilen gegeben. Die Erklärer sind nicht alle einig in der Deutung des dbiöpicxoc. Manche, wie Waitz, nehmen dbiöpicioi TTpoidceic als gleichbedeutend mit „partikulären Urteilen". Ein schwerer Irrtum, wie sich zeigen wird. Ehe wir indes auf die Ausführungen der Hermeneutik und Analytik über diese Frage eingehen, dürfte es sich empfehlen, diejenige Stelle mitzuteilen, in der Aristoteles die umfassendste und lehrreichste Anwendung seiner Unterscheidung macht, in bezug nämlich auf die Frage, wie man der- gleichen „unbestimmte" Sätze widerlegen oder beweisen könne. Sie findet sich im dritten Buch der Topik^) und lautet: „Wenn der Satz, über welchen man streitet, ein unbestimmter (dbiopicToc) ist, so kann man ihn nur auf
1) Top. 120a 6ff. 'AbiopiCTOU iiiev ouv övxoc xoö irpoßXri.uaToc ,uovaxÜJC dva- CKeudZieiv evbexexai, olov €i e'qpr|C6v i^bovriv dYotööv eivai f| }iy] dyaeöv, Kai |Li)"|bev äWo irpocbiujpicev. f.i |uev ydp xiva eqpricev ribov^iv dYotOöv eivai, beiKxeov KaGöXou 6x1 ou5e,uia, ei jueWei dvaipeicGai xö irpoKei^evov. ö,uoiuuc he Kai ei xiva Eqpricev f)bovriv ij.r\ eivai dyciGöv, öeiKxeov Ka9ö\ou öt\ iräca" dWujc b' ouk evbexexai dvaipeiv.
252 Der Dialog Sophistes
eine Art widerlegen, wie z. B. in den Fällen, wo man sagt: ,Vergnügen ist gut* oder »Vergnügen ist nicht gut* ohne eine nähere Bezeichnung noch hinzuzusetzen. Wenn der Gegner nämlich damit meinte: , einiges Vergnügen ist gut*, so muß man, um den Satz zu widerlegen, zeigen, daß durchaus kein Vergnügen gut ist. Ebenso wenn er meinte, einiges Vergnügen sei nicht gut, so muß man zeigen, daß jedes Vergnügen gut ist: auf andere Weise läßt sich der Satz nicht widerlegen.'*
Schon diese Übersetzung für sich zeigt, wie verfehlt es ist, unter diesen dbiöpicioi TTpoidceic partikuläre Urteile zu verstehen. Es wird ja deutlich nur als ein möglicher Fall angenommen, daß man den an sich ganz unbestimmten Satz „Vergnügen ist gut** im Sinne eines partikulären Urteils nehmen könne; man kann ihn also auch anders deuten, man kann ihn z. B. ebensogut als allgemeines Urteil auslegen. (Vgl. An. pr. I 27^ 43*^ 14 f.) Der Satz selbst gibt zu beiden Auffassungen die gleiche Er- laubnis, denn er läßt eben das wahre Verhältnis unbestimmt. Daß nun in unserer Ausführung weiterhin bloß von Tic geredet wird, hat seinen guten Grund. Die Sache liegt nämlich so: der zu widerlegende Gegner hat sich völlig unbestimmt ausgedrückt. Hat er mit seinem Satz fjbovnv ocYttGov eivai gemeint, jedes Vergnügen sei gut, so würde es ausreichen zu zeigen, daß einige Vergnügungen nicht gut sind. Allein der Ausdruck des Gegners kann in seiner Unbestimmtheit auch bedeuten, daß einiges Vergnügen gut ist. Die Widerlegung muß sich natürlich gegen diese zweite, ungünstigere Möglichkeit richten, die mir eine schwerere Beweis- last auflegt. Denn widerlege ich bloß den leichteren der möglichen FäUe^ so wird der Gegner sicher erwidern, er habe die andere Möglichkeit ge- meint. Darum tut Aristoteles recht, sich auf den ersten Fall gar nicht erst einzulassen: mit dem zweiten ist auch der erste abgetan, während die Widerlegung des ersten eine unvollständige, also keine Widerlegung ge- wesen wäre. Daher die Behauptung des Aristoteles, solche unbestimmte Formeln ließen sich nur auf eine Art widerlegen. Beweisen dagegen lassen sie sich auf doppelte Art. Denn dazu reicht der partikuläre Beweis schon hin. Kann ich daneben auch den allgemeinen Beweis geben, dann um so besser; aber notwendig ist er nicht. Denn daß r]bovr\ dT«- 66v sei, habe ich schon bewiesen, wenn ich gezeigt habe, daß einiges Vergnügen gut sei. Damit beschäftigt sich die Fortsetzung der oben mit- geteilten Stelle. Ihre wörtliche Anführung können wir uns sparen.
Man kann in noch unmittelbarerer Weise aus unserer Topikstelle schon den Nachweis führen, daß diese unbestimmten Sätze von Aristoteles nicht mit den partikulären Urteilen gleichgestellt werden können. Die Sätze nämlich „Vergnügen ist gut**, „Vergnügen ist nicht gut** vertragen sich,.
Bedeutung- der unbestimmten Sätze bei Aristoteles 253
Avie alle nach diesem Muster gebildeten, d. h. unbezeichneten bejahenden und verneinenden Sätze aus den nämlichen Begriffen, unmittelbar mit- einander, ungeachtet des Umstandes, daß das Subjekt hier ganz dasselbe bleibt, d. h. in seiner Sphäre nicht geteilt wird. Der verneinende Satz nämlich bedeutet zunächst nichts weiter, als daß der Begriff „Vergnügen" verschieden ist von dem Begriff „gut", der bejahende besagt, daß die Begriffe in irgendwelcher bejahenden Urteilsform, gleichviel ob partikulärer oder allgemeiner, miteinander verknüpft werden können. Das Subjekt bleibt hier also in beiden Fällen das nämliche. Stelle ich dagegen parti- kuläre Urteile derselben Begriffe bejahend und verneinend einander gegen- über, z. B. „einige Vögel sind Adler" und „einige Vögel sind nicht Adler", so habe ich zwar in den beiden den Begriff Vogel als Subjekt, gleichwohl ist die Materie des Subjektes verschieden. Denn die einigen Vögel des ersten sind nicht die einigen Vögel des andern Urteils. Tatsächlich handelt es sich also um verschiedene Subjekte. Dem entsprechend ist denn auch das Gegenteil von „Einige A sind B" nicht „Einige A sind nicht B", son- dern „Kein A ist B".
Wir lernen aus der Topikstelle ganz klar, daß für Zwecke der Logik und speziell für den Zweck der Widerlegung solche dbiopicioi rrpoTdceic erst irgendwie — denn es kann auf verschiedene Art geschehen — in bezeichnete Urteile umgesetzt werden müssen, um der wissenschaftlichen Behandlung überhaupt zugänglich gemacht zu werden. Daraus zeigt sich auf das Schlagendste das Schillernde und für jede wirkliche Erkenntnis Unbrauchbare dieser bloßen Vergleichungsformeln. Weiter wird sich nun zeigen, wie klar Aristoteles Natur und Bedeutung dieser unbestimmten Sätze, wie er sie nennt, erkannt hat. Er weiß genau, daß der Mangel solcher Formeln, verglichen mit wirklichen Urteilen, darin besteht, daß ihnen die Bezeichnung fehlt, der TTpocbiopicinöc, wie man es später in der peripatetischen Schule nannte (Schol. Brandis 113'^ 44), d.h. der Zusatz von Träc (cKacToc), xic oder eic oder outoc zum Subjekt. Er weiß genau, daß nur durch diesen Zusatz sichere Erkenntnis und ein wirkliches Urteil zustande kommt, d. h. eine Behauptung, die ein bestimmtes Gegen- teil hat und dadurch dem Satze des Widerspruchs unterworfen ist, während ich nbovf) dYaeöv und nbovn ouKaTaOöv ohne Widerspruch nebeneinander behaupten kann. Das läßt sich klar nachweisen durch Betrachtung der- jenigen Stellen, in denen er sich direkt über den Begriff des dbiöpicxov ausläßt.
Im ersten Kapitel des ersten Buches der ersten Analytik^) heißt es:
1) An. pr. 1 1 S. 24a I6ff. TTpöxacic u^v ouv ecxi Xöyoc KaracpaTiKoc f] diro- «paxiKÖc Tivöc Kaxd xivoc. oüxoc 6e f\ KaGöXou y\ ev .uepei r\ döiöpicxoc. Xeyuj be
254 ^®'" Dialog Sophistes
„Behauptung ist ein Satz, der von irgendetwas etwas bejaht oder verneint. Er ist entweder allgemein oder partikulär oder unbestimmt. Allgemein nenne ich ihn, wenn etwas jedem oder keinem zukommt; partikulär, wenn es einigen oder nicht einigen zukommt; unbestimmt, wenn eine An- gabe fehlt, ob es allgemein oder nur einem Teile zukomme, z. B. wenn man sagt: die Lust ist nicht gut."
Es ist schwer zu begreifen, wie Waitz (Kommentar S. 369 u. ö.) dem gegenüber behaupten kann, die dbiöpicioi Trpoxdceic seien dasselbe wie die partikulären. Hätte er damit recht, so sttinde es schlimm um die vielgerühmte Präzision und Denkschärfe des Aristoteles, der hier in einem Atem erst ausdrücklich zwischen den allgemeinen, den partikulären und den unbestimmten Urteilen unterscheiden und dann die beiden letzteren wieder identifizieren soll. Das heißt nicht den Aristoteles nach dem Maß- stab des Aristoteles interpretieren.
Man nehme ferner Stellen wie die folgende im ersten Buche der ersten Analytik^): „Es erhellt also, daß, wenn die Vordersätze (in der zweiten Figur) bejahend sind, und der eine allgemein, der andere parti- kulär, in keiner Weise dann ein Schluß zustande kommt. Aber auch dann nicht, wenn beide Obersätze besonders bejahend oder verneinend sind, oder der eine besonders bejahend und der andere besonders verneinend, oder wenn keiner von beiden allgemein ist, oder wenn sie unbestimmt sind." Würde dieser letzte Fall von Aristoteles nicht als ein besonderer angesehen, so würde er hier, ebenso wie an anderen Stellen, nicht selb- ständig neben den übrigen aufgeführt werden.
Noch weitere Stellen lassen deutlich den Unterschied erkennen, den Aristoteles zwischen beiden macht. Im vierten Kapitel des ersten Buches der ersten Analytik lehrt er: ein allgemein verneinendes Urteil als Ober- satz und ein partikulär bejahender Untersatz in der ersten Figur geben einen regelrechten Schluß. Dann heißt es weiter S. 26^ 28: 6|uoiuuc be Ktti ei dbiöpiCTOV ei'ri t6 Bf, KairiYOpiKOV 6v 6 Y^p auröc eciai cuXXoyic- )uöc dbiöpiCTOu 16 Kai ev luepei \r|qp6evToc. Diese Worte haben doch nur dann einen Sinn, wenn das dbiöpiciov und das ev laepei XrjqpGev an sich nicht dasselbe sind. Gleichwohl ist richtig, daß in dem genannten Schluß- modus die bejahende Vergleichungsformel logisch ebenso verwertet werden
kqGöXou |Li^v TÖ TravTi i) |ur]öevi UTrdpx€iv, ^v uepei bk tö xivi f\ ilu^ tivi i) |ui*i iravTl UTTÜpxeiv, dbiöpiCTOv 6^ tö iJTTäpx€iv i) }JL)] uTTcipxeiv äv€u Toü Ka6öXou f| Karä iii- poc, oiov TÖ Tr]v i^öovr^v \iy\ eivai dyaeöv.
1) An. pr. 27b 34 9avepöv oöv, ötqv ö)Lioiocx>^Movec ojciv ai irpoTdceic xai n) M^v kqGöXou r^ b' ^v fi^pei, öti ouöaiuOüc yiveTai cuXXoyic)uöc, dXX' ouö' ei tivi ^kq- T^puj UTrdpxei r^ ixi\ ü-rrdpxei, f\ tuj }J.iv tlu b^ iir\j i) |ur]beT^pLu iravTi, f] döiopicTUUc.
Die unbestimmten Sätze 255
kann, wie ein partikuläres Urteil, dem der Natur der Sache nach das un- bezeichnete Urteil (die Vergleichungsformel) in seiner Geltung oft am nächsten kommen wird, aber durchaus nicht immer^). Denn es kann der Vergleichungsformel ebensogut auch ein allgemeines Urteil entsprechen. (Vgl. An. pr. 43^ 14 f.) An sich aber läßt dies die Vergleichungsformel völlig unbestimmt und eben darum konnte Aristoteles keinen treffenderen Namen dafür wählen als sein dbiöpiciov. Das partikuläre negative Urteil z.B. sagt mir bestimmt, daß einige A nicht B sind, das negative unbe- stimmte Urteil sagt mir darüber gar nichts. Denn sage ich in richtiger Vergleichungsformel: „Vogel ist nicht Tier" (d. i. der Begriff Vogel ist verschieden von dem des Tieres), so kann ich deshalb doch nicht sagen: „einige Vögel sind nicht Tiere."
Besondere Erwähnung verdient noch eine Stelle: das siebente Kapitel der Hermeneutik^). Da heißt es: „Wenn man einem Allgemeinen etwas allgemein beilegt oder allgemein abspricht, so sind dann diese beiden
1) So zeigen auch An. pr. 26b 14 f. (vgl. 28b 28) die Worte 6ti eirei döiöpicTov TÖ Tivi Tuj r TÖ B |ui^ urrdpxeiv, daß für die Verwendung im Schluß die parti- kulären Urteile mit den dbiopicToi manches gemein haben, nicht aber, daß sie diesen gleich sind. Vgl. auch 26^ 32 ouxe diroqpaTiKoO oute KaTacpaTiKoO xoö dbiopicTou Y\ Kaxd juepoc övxoc, wo \) nicht = sive, sondern = vel. Und 29^ 27 bfjXov b^ Kai öxi xö dbiöpicxov auxö xoö KaxriTopiKOÖ xoö ev luepei xi0e|U€vov xöv auxöv TTOir]cei cuWoyicjuöv dv ctTraci xoic cxrii^aciv. Sonstige Stellen, wo der dbiö- picxoi TTpoxdceic Erwähnung geschieht, sind An. pr. 26a 39, 26b 3. 23 ff. 27b 20. 28. 38, 29a 6. 8. 28, 43b 14 f. usw. Darunter finden sich noch verschiedene, die über den Unterschied des dbiöpicxov vom partikulären Urteil keinen Zweifel lassen. Auch Prantl, Gesch. d. Logik I 146 Anm. 198 sagt richtig, daß parti- kuläres und unbestimmtes Urteil verschieden seien, ohne sich freilich irgendwie näher auf die Sache einzulassen. Anders Herbart (ed. Hartenstein XII S. 507).
2) Herm. 17b 3 ff. edv ju^v oüv KaGöXou dTroqpaivr|x i ^irl xoö kqOöXou öxi ÖTrdpxei xi f\ jurj, ^covxai evavxiai ai diroqpdvceic. Xejuj öe eirl xoö KaööXou d-rro- qpaivecGai kqGöXou, oiov irdc dvGpujTroc Xguköc, ouöeic dvGpuuiroc XeuKÖc. öxav bä tm xüjv KaGöXou |uev, |ut*] KaGöXou b^. auxai (auxai?) ,u^v ouk eiciv evavxiai, xd ILi^vxoi 6r]Xou|ueva ^cxiv eivai evavxia irox^. X^y^ ^e 'rö |ur] KaGöXou dTroqpaivecGai eui xa)v KaGöXou, oTov ^cxi XeuKÖc dvGpujTioc, ouk ^cxi XeuKÖc dvGpuuTroc. Solche Vergleichungsformeln - im Unterschied von bezeichneten Urteilen -, sagt Ari- stoteles ganz richtig, widerstreiten einander, logisch genommen, nicht; materiell genommen aber (wenn man das durch sie sachlich Gemeinte, xd br|Xoij|u€va, in Betracht zieht) können sie einander zuweilen wohl widerstreiten. Sage ich z. B. „Mensch ist nicht allwissend" (als bloße Vergleichungsformel), so kann ich der allgemeinen logischen Form nach (abgesehen vom Inhalt) ohne Widerstreit da- neben setzen „Mensch ist allwissend"; materiell genommen aber erweist sich das letztere als falsch, mithin als dem ersteren widerstreitend. Das ist es, was Aristoteles meines Erachtens sagen will, während Waitz im Kommentar S. 337 wieder an den Unterschied allgemeiner und partikulärer Urteile denkt.
256 ^^^ Dialog Sophistes
Sätze widerstreitend. Ich verstehe aber das ,vom Allgemeinen etwas all- gemein aussagen* so: z. B. ,jeder Mensch ist weiß', ,kein Mensch ist weiß*. Wenn etwas von Allgemeinem, aber nicht allgemein ausgesagt wird, so sind die Sätze selbst nicht widerstreitend: was man jedoch damit anzeigt, kann zuweilen widerstreitend sein, ich meine das von einem nicht all- gemein etwas aussagen so: z. B. , Mensch ist weiß*, »Mensch ist nicht weiß*. Denn wenn auch Mensch etwas Allgemeines ist, so ist der Satz doch nicht allgemein ausgedrückt.**
Mit diesen Urteilen, in denen von Allgemeinem, aber nicht allgemein ausgesagt wird, sind, wie die Beispiele klar zeigen, dbiöpicioi irpoTotceic gemeint. Von dieser Art von Sätzen zeigt er nun weiterhin^), daß bei ihnen der Satz des Widerspruchs nicht gilt. „Die Entgegensetzungen sind hier nicht der Art, daß immer der eine Satz wahr, der andere falsch wäre. Denn die beiden Sätze können zusammen wahr sein: Mensch ist weiß und Mensch ist nicht weiß; Mensch ist schön und Mensch ist nicht schön; dann nämlich, wenn es einen Menschen gibt, welcher häßlich und also nicht schön ist oder wenn es einer noch nicht ist, sondern wird. Bei dem ersten Anblick scheint dies zwar sonderbar zu sein, weil es das An- sehen hat, als bedeutete der Satz: Mensch ist nicht weiß soviel wie kein Mensch ist weiß. Aber diese Sätze bedeuten nicht das nämliche und ihre Gültigkeit ist nicht notwendig dieselbe.** Also von entgegengesetzten un- bestimmten Sätzen ist nicht notwendig der eine wahr, der andere falsch. Ein unbestimmter Satz hat überhaupt an sich kein kontradiktorisches Gegenteil; er erhält dies nur dann, wenn, wie in der oben besprochenen Stelle der Topica (120^ 6 ff.), dem an sich völlig unbestimmten Satz eine Deutung gegeben wird, welche eine Bezeichnung in sich schließt. Jedes partikuläre Urteil dagegen hat notwendig seinen bestimmten kontra- diktorischen Gegensatz") („einige Vögel sind Adler" und „nicht einige Vögel sind Adler**, d. i. „kein Vogel ist Adler'*, wobei wohlverstanden das „einige" im Sinne des griechischen Tic steht).
1) Herrn. 17b 29 öcai be ^iri tüüv kqBöXou udv, iir\ KaGöXou bi, ouk 6ei t^ iuev äXr|6ric r] be vjjeubric. ä|ua yop aXr|9^c ecxiv eirreiv öti Ictiv ävöpujiTOC XeuKÖc xai
ÖTl OUK ^CTIV ävGpUUTTOC XeUKÖC KQI ICTIV ävBpUJTTOC KttXÖC Kai oOk ^CTIV ävBpUUTTOC
KaXöc, €1 'fäp aicxpöc, Kai ou KaXöc Kai ei Yiverai ti, Kai ouk ^ctiv. böteie b' äv ^tai(pvr|C ötottov eivai biet tö qpaivecGai cr)uaiveiv tö ouk ^ctiv ävGpuj-rroc XeuKÖc ci)Lia Kai ÖTl oubeic dvepuüTTOc XeuKÖc* tö be oute TauTÖv cr|uaiv6i oüb' ä|Lia it ävcxYKr^c. Auch dies it. av&fKY]c zeigt den wahren Sachverhalt, denn man braucht sich nur zu überlegen, für welchen Fall dies allein einen Sinn hat.
2) Die Entgegensetzung partikulärer Urteile von der Form „einige A sind B" und „einige A sind nicht B" hat Aristoteles unmittelbar vorher ausdrücklich erwähnt (17t> 25 oiov ou -rräc dvGpuüTTOC XeuKÖc Kai ^cti tic ävGpuurroc XeuKÖc).
Bezeichnung der Urteile 257
Man kann demzufolge sagen, daß diese unbestimmten Sätze auch im aristotelischen Sinne überhaupt keine eigentlichen Urteile sind. Denn das eigentliche Urteil, otTTÖqpavcic, wird von Aristoteles im zweiten Kapitel des ersten Buches der zweiten Analytik folgendermaßen erklärt: „Urteil ist der eine Teil eines widersprechenden Gegensatzes usw." Die hierdurch geforderte Bestimmtheit des Urteils beruht aber, wie die Hermeneutik zeigt, auf der Bezeichnung des Subjektes, dem TTpocbiopiciuöc.
Durch diese Lehre von der Bezeichnung des Urteils in Verbindung mit der später zu berührenden Aufhellung der Natur der Kopula hat Aristoteles aller vermeintlichen Geheimkunst und übernatürlichen Kraft der Logik ein Ende gemacht. Freilich nur in der Theorie, nicht durch- gehends in der Praxis. Denn noch Jahrtausende nach ihm hat man den Unterschied zwischen Vergleichungsformel und Urteil verkannt und ist mit Überspringung des Aristoteles zurückgekehrt zu Piaton, der, allerdings mit mehr Entschuldigung als die Neueren, noch tief in jenem logischen Mystizismus befangen ist und zu dem wir uns nunmehr zurückwenden.
So richtig Piaton bei unbefangener Gesprächsführung und Argumen- tation mit dem Urteil umzugehen weiß, so sicher er z. B. im Gorgias, im Protagoras, im Menon und Euthyphron die Umkehrung der Urteile hand- habt, so sonderbar sind doch seine Vorstellungen, sobald er anfängt über die Natur des Urteils zu philosophieren. Vor allem machte ihm die Be- deutung des ecTi viel zu schaffen: kein Wunder nach den Aufstellungen der Eleaten über das ecii und öv, sowie nach den Deutungen, zu welchen den Sophisten, dem Antisthenes und anderen das rätselhafte ecii des Ur- teils Anlaß gegeben. Hatte dies ecii für die sinnliche Erscheinung gar keine Geltung, wie die Eleaten glaubten? War es Ausdruck völliger Gleich- heit zwischen Subjekt und Prädikat, wie gewisse Sophisten meinten? Der Grundrichtung platonischen Denkens entsprach weder das eine noch das andere. Sie führte ihn zu einer Ansicht, welche die Mitte hält zwischen beiden. Das „ist", der Begriff des Seienden, ist von der Geltung in der Sinnenwelt, trotz des ununterbrochenen Flusses aller Dinge, nicht völlig
Wenn diese partikulären Urteile mit den unbestimmten Sätzen logisch das ge- mein haben, daß sie beide zusammen wahr sein können, so ist das kein hin- länglicher Grund, sie zu identifizieren. Aristoteles sagt an anderer Stelle (An. pr. II 15. 63t> 27 tö xivi tuj ou xivi Kaxct xriv \eEiv ävxiKeixai luövov) ganz richtig, daß jene vermeintliche Entgegensetzung partikulärer Urteile überhaupt keine Entgegensetzung ist. Man darf dasselbe von der Entgegensetzung unbestimmter Sätze sagen. Aber aus verschiedenem Grunde. Jenen partikulären Urteilen fehlt tiberhaupt das gemeinsame Subjekt; die unbestimmten Sätze haben gemeinsames Subjekt, aber es ist ohne Bestimmtheit, d. h. ohne Bezeichnung. Apelt: Platonische Aufsätze. 17
258 Der Dialog Sophistes
ausgeschlossen, wie die Eieaten verkündeten, sondern bildet das Band, welches die Erscheinung mit der Welt des wahrhaft Seienden verknüpft. Im Subjekt des Urteils stehen die TToXXd der Sinnenwelt, im Prädikat die Einheit des Begriffes, durch den sie teilhaben an der Idee. Zwischen Subjekt und Prädikat herrscht also auch anderseits nicht, wie Gorgias und andere wollten, ein Gleichheits-, wohl aber ein Ähnlichkeitsverhältnis, wie zwischen Kopie und Original. Die Sinne geben zum Urteil die Viel- heit der Subjekte. Die Seele selbst aber ist es, die rein für sich, auin bi' aüific, ohne Beihilfe der Sinne, das „Ist" denkt (t6 eiri Tiäci koivöv Kai TÖ em toutoic ötiXoT, iL t6 eciiv errovoiad^eic Kai tö ouk ecxiv), es auf die Sinnendinge anwendet und so die Brücke schlägt zur Erkennt- nis des Unvergänglichen.^) Das setzt mit dem unnachahmlichen Reiz pla- tonischer Darstellungsweise der Theätet auseinander S. 185 Äff.
Diese Anschauung überträgt sich dem Piaton ganz von selbst auch auf die reinen Begriffs- und Ideenverbindungen. Werden reine Begriffe
1) Die Urteile ohne ausdrückliches „Ist" scheinen in Plalons Augen nicht den vollen Rang zu haben, sondern, in allerdings nur dunkler Voraussetzung, bloß als Urteile zweiten Grades zu gelten, indem nicht bloß ihr Subjekt, sondern auch ihr Prädikat der Sinnenwelt angehört. Ich meine dabei Urteile, wie das weiterhin im Sophistes so wichtige Geairr^Toc KdOrixai, GeaiTrixoc iT€T€Tai, in denen das Prädikat ein Verbum bildet; in ihnen scheint keine Beziehung auf das Sein an sich, auf die Idee stattzufinden: im Prädikat steht kein y^voc oder €iöoc im eigentlichen Sinn und das bedeutsame ^cti fehlt. Piaton läßt zwar die Kopula erst durch das Prädikat ihre Bedeutung erhalten, wie das Eudemos bei Sim- plicius in Phys. p. 97, 25ff. ganz richtig hervorhebt, allein er scheint nicht zu der klaren Einsicht gekommen zu sein, welche Aristoteles Met. 1017" 22 ff. durch den Nachweis bekundet, daß ein Verbum als Prädikat nichts weiter ist als die sprach- liche Zusammenziehung der Kopula mit dem Verbalbegriff, also z. B.T^|Livei = T^|Livu)v kxiv usw. Ob er überhaupt Ideen der Verba ausdrücklich angenommen hat, ist mir nicht ganz zweifelsfrei trotz Rpl. 476 A. Die Stelle Kratylos 387 Äff. kann zwar so gedeutet werden, allein einzig möglich scheint mir diese Deutung nicht. Das Ziel der Erörterung ist da doch der Nachweis, daß dem Namengeben, dem X^Yciv und övo}däl€\v, eine gewisse feste cpüöic zugrunde liegt, durch die es vor Willkür und beliebiger Satzung geschützt wird. Piaton will sozusagen das natur- wüchsige Entstehen der Sprache feststellen. Zu dem Ende sagt er, alle Tätig- keit vollziehe sich schließlich nach einer feststehenden Naturordnung (Kaxa r-^v aOrOüv (püciv, ou Kaxä rr\v iT,u6Tepav böEav). Das xeinveiv z. B. geschehe nicht nach unserm reinen Belieben, sondern Kaxä cpOciv. Diese qpücic braucht nicht unmittelbar die Idee zu sein, sie kann sich auf die Diesseitigkeit beschränken, wie ja auch der Entwicklung des Menschen nach PI. eine feststehende Anlage, cpOcic, zugrunde liegt, welche mit der Idee unmittelbar nichts zu schaffen hat. Vgl. z. B. Phaidr. 269 D, Rpl. 455 E u. a. Im Sophistes selbst wird zwar 256 B ausdrücklich die avj^ Kivr|cic genannt, aber immerhin handelt es sich hier der
Die Bedeutung des Urteils bei Piaton 259
im Urteil miteinander verbunden (nicht die ttoW« der Sinnenwelt mit der Idee), so ist auch das für Piaton ganz richtig kein Verhältnis der Gleich- heit, wohl aber einer gewissen mystischen Zusammengehörigkeit. Sagt man also, das Seiende ist Dasselbe (lauTov), so werden diese Begriffe nicht einander gleich gesetzt, vielmehr stehen sie in einem Verhältnis be- sonderer Ähnlichkeit, in einer Art lebendiger Verwandtschaft miteinander. Es ergibt sich also die sonderbare Tatsache, daß z. B. r\ Kivricic öv ist (indem beide im bejahenden Urteil miteinander verbunden werden können) und doch wieder r\ Kivricic ouk öv ist (indem beide Begriffe verschieden sind). Dieses Widerspiel bejahender und verneinender Behauptungen von gleicher Materie, die sich einander nicht durch Widerspruch aufheben, sondern in Eintracht nebeneinander stehen, beherrscht jenen ganzen Ab- schnitt des Sophistes, der von der Gemeinschaft der Begriffe handelt. Es beruht diese Erscheinung, wie wir nun wissen, auf dem durchgehenden Gebrauch von dbiöpiCTOi irpoTotceic, d. i. von Vergleichungsformeln an der Stelle von wirklichen Urteilen: Kivricic ist nicht eiepov (255 AB), denn die beiden Begriffe sind nicht identisch, und doch ist sie wiederum exepov, insofern sie nämlich teilhat (jueiexei) am exepov. Sie ist also oux etepöv rrr] Kai exepov (256 C). Dabei ist zwar ersichtlich, daß Piaton mit seinen bejahenden Sätzen eigentlich wirkliche Urteile meint (und er kennzeichnet dies durch den Gebrauch seines technischen Ausdrucks ^exe'xeiv, der immer auf das „Ist" des Urteils zielt im Gegensatz zu dem „Ist" der Vergleichungsformel), während seine verneinenden Sätze durch- weg reine Vergleichungsformeln sind, aber offenbar fehlt es ihm an einem klaren Unterscheidungsprinzip beider, denn der Form nach kommt er über Begriffsvergleichungen nicht hinaus. Bejahung und Verneinung werden infolgedessen ihrer eigentlichen Bedeutung entkleidet, wodurch alle Be- stimmtheit der Erkenntnis verloren geht, trotz der Forderung strengster Genauigkeit in Angabe der Beziehungen, die er selbst 259 D mit den Worten aufstellt: oiöv x' eivai KaO' eKacxov IXi'ixoyTa eTraKoXouBeiv, öxav xe xic exepov öv nr) xauxov eivai qprj Kai öxav xauxov öv exepov, eKeivr] Kai Kax' eKeivo, ö qprici xouxoiv Treirovöevai -rröxepov. Nur bis zu einem gewissen Grade ist Piaton dieser Forderung nachgekommen. Denn für
Form nach um ein Substantivum, von dem man nicht sagen kann, ob PI. es unmittelbar mit dem Verbum identifiziert. Er könnte es wohl ebensogut als eine Art Resultat des Werdens (nicht als Werden selbst) oder auch als Eigenschaft betrachtet haben. In den Verbis spricht sich überwiegend das Werden, das Vorübergehende aus; darum trug wohl PI. einige Scheu, hier die volle Konse- quenz seiner Lehre ausdrücklich zu ziehen, die allerdings auch zu einem „Wer- den an sich", zur Idee des Werdens hätte führen müssen.
17*
260 ^®^ Dialog Sophistes
seine bejahenden Sätze bleibt es z.B. an sich ganz unentschieden, wel- cher der beiden Begriffe von Rechtswegen das Subjekt und welcher das Prädikat ist. Man kann in der Regel beide beliebig vertauschen.
Im Dialog Parmenides führt der nämliche Mangel bekanntlich zu einem wahrhaft orgiastischen Taumel der Gegensätze. Indes da spricht Piaton ■fUMvacTiKiJüc, nicht bofiuaTiKÜLjc. Aber wie ablenkend von aller strengen Erkenntnis diese Unbestimmtheit ist, das zeigt sich doch auch in unserem Sophistes.
Gleichwohl stellt die Untersuchung über die Gemeinschaft der Begriffe einen ganz erheblichen Fortschritt dar in der Entwicklung der Logik, namentlich in der Lehre vom Urteil insofern, als die Auffassung desselben als reinen Gleichheitsausdrucks zurückgewiesen ward, aber auch in der Klärung philosophischer Begriffe überhaupt. Denn trotz aller Fehler, mit denen sie behaftet ist, hat sie doch im Gegensatz zu der bis dahin noch nicht überwundenen sophistischen Ansicht erwiesen, daß Verschiedenheit (eiepov) und Widerstreit (evaviiov) sich nicht decken, sondern sorgfältig auseinander zu halten seien. Diesem Gegenstand mag ein besonderer Abschnitt gewidmet werden.
4. VERSCHIEDENHEIT, WIDERSPRUCH UND WIDERSTREIT.
Piaton versichert widerholt im Sophistes (257 B, 258 E), es sei falsch, bloße Verschiedenheit (eiepov) für Widerstreit (evaviiov) auszugeben. Vielleicht hat er damit auch eigene frühere Verstöße gegen diese nun- mehr ihm feststehende Erkenntnis im Auge; aber zunächst denkt er doch wohl an die Sophisten, die, wie wir im ersten Abschnitt schon vorläufig andeuteten, durch Vermengung dieser Begriffe nicht wenig Verwirrung stifteten.
Sehr bezeichnend sagt in dieser Beziehung Aristoteles im 13. Buch der Metaphysik^), da, wo er von dem Eingreifen des Sokrates in die phi- losophische Bewegung der Zeit und von seiner Bedeutung für die Ent- wicklung der Dialektik spricht: „Er versuchte Vernunftschlüsse zu bilden; das Prinzip der Vernunftschlüsse aber ist das Was. Dialektische Fertig- keit gab es nämlich damals noch nicht, so daß man auch ohne das Was die Gegensätze und ob eine und dieselbe Wissenschaft auf die Gegen- teile gehe, hätte untersuchen können."
1) Met. 1078*' 25 cuWo^iZiecGai Yctp ^JrjTei. 'Apxn bi rOüv cuXXoyicuOjv tö ti ^CTi. AiaXcKTiKfi 'fäp icxuc outtuj tot' f|v, ilucTe büvacGai Kai xtJJp'ic toü ti ^cti TQvavTia ^TTiCKOTreiv, Kai tüüv ^vavTiujv el r) auTV] ^TTiCTViiai" Vgl. Met. 1012b 7 f.
Wichtigkeit der Definitionen 261
Hier wird also, gegenüber der herrschenden Uni<larheit in diesen Dingen, als ein besonderes Verdienst des Sokrates hervorgehoben, nicht nur, daß er nach dem li ecii forschte, d. h. Definitionen zu geben suchte — was ja öfters erwähnt wird — sondern auch, daß er durch seine Definitionen eine Schutzwehr bot gegen den Unfug, der damals mit Entgegensetzungen getrieben wurde. Die Lehre von der Entgegen- setzung der Begriffe war noch nicht ausgebildet; bei vielen Schlüssen, z. B. auf das Gegenteil u. dgl. konnte man also leicht die gröbsten Täu- schungen erzielen, eine Handhabe zur Irreführung, deren sich die So- phisten, wie wir weiterhin noch sehen werden, nach Kräften bedienten. Nur durch genaue Bestimmung der Begriffe und, auf Grund dessen, ihres Verhältnisses zueinander, konnte man diesen Trugspielen einigermaßen vorbeugen. Dementsprechend sagt Piaton selbst im Phaidros (262 AB); „Um sich zu sichern gegen die Kunstfertigkeit gewandter Gegner, die sich darauf verstehen, in fast unmerklichen Übergängen unter Benutzung gewisser Ähnlichkeiten das, worum es sich tatsächlich handelt, in das Gegenteil überzuleiten, gibt es nur ein Mittel: die strenge Begriffsbe- stimmung." Gegenüber streitfertigen Widersachern konnte man noch nicht mit den Regeln der Umkehrung und Entgegensetzung operieren: man mußte sich also zunächst durch sorgfältige Definition feste Stütz- punkte schaffen. Erst Aristoteles lehrte die wahren Gesetze der Oppo- sition und Konversion, namentlich die Bedeutung des kontradiktorischen Gegensatzes A und Non-A, so daß man sich nicht erst durch langwierige Definitionen vor sophistischen Kunstgriffen zu schützen brauchte, wie es Sokrates nötig hatte, der die Gesetze der Opposition in abstracto noch nicht kannte.
Auch Piaton kannte sie noch nicht.^) Aber er hat ernstlich nach Klar- heit gerungen und wir sind vielleicht imstande, in seiner Entwicklung eine Reihe von Fortschritten nachzuweisen.
Im Protagoras nämlich herrscht noch ziemliche Verwirrung in die- ser Beziehung. Zugrunde liegt diesem Dialog die wichtige Anschauung, daß, der höheren Idee der Tugend gemäß, kein Teil der Tugend ohne den andern sein könne. In der Ausführung wird aber fälschlich behauptet, daß Frömmigkeit und Gerechtigkeit nicht verschiedene Tugenden seien,
1) Piaton vollzieht praktisch alle möglichen Operationen meist ganz richtig, wie er denn bei Umkehrung allgemeiner Urteile (z. B. im Protagoras und im Euthyphron) fehlerfrei verfährt. So versteht er sich auch ganz gut nicht bloß auf das kategorische Schlußverfahren, sondern auch auf das hypothetische (wie z. B. Charm. 164 8 ff.). Aber das alles ist praktische Logik, wie sie jeder scharf und richtig Denkende längst vor Erfindung der eigentlichen Logik trieb.
262 ^^^ Dialog^ Sophistes
weil sie nicht entgegengesetzt, weil biKaiov nicht dvöciov genannt werden könne, und auf ähnliche Art wird gezeigt, coqpia und cuuqppocuvri seien nicht verschieden, weil sie xdvavTia inc dqppocuviic seien. ^) Hier erschei- nen also eiepov und evaviiov noch in so unklarer Vermengung, daß der obige Tadel des Aristoteles von der Unfähigkeit xdvavTia emcKOTreiv auch auf Piaton zutreffen würde. Nach der Dialektik des Sophistes hätte Piaton schwerlich die Folgerung gemacht: die Frömmigkeit ist verschieden von der Gerechtigkeit, also ist sie ungerecht (Prot. 331 A). Man hat ge- mutmaßt, diese Dialektik im Protagoras sei ironisch gemeint. Mir dagegen will es scheinen, daß Piaton die Sache tatsächlich noch nicht in seiner Gewalt hatte. Ist dem so, so würde schon dadurch der Sophistes zeitlich um ein gut Stück vom Protagoras abgerückt.
Am Ende des Phaidon kommt Piaton, zum Zwecke der Vorbereitung seines letzten Beweises für die Unsterblichkeit der Seele auf den Wider- streit von Eigenschaften zu sprechen (S. 102 Bff.). Vom eiepov ist dabei nicht die Rede; doch entwickelt er so sichere und feste Vorstellungen von dem evaviiov, daß man durchzufühlen meint, er unterscheide es von dem letzteren. Er behauptet, und zwar nicht bloß in Beziehung auf die Ideen, sondern auch rücksichtlich der Beschaffenheiten der sinnlichen Dinge, dieselben könnten, solange sie überhaupt als das, was sie sind, bestehen, niemals zugleich das Entgegengesetzte werden oder sein.") Also eine Art Ausdruck für den Satz des Widerspruchs. Wenn Sokrates gleichwohl vorher') an Simmias entgegengesetzte Eigenschaften festgestellt hat, näm- lich daß er groß und klein zugleich sei, so liegt darin kein Widerspruch mit jenen Sätzen. Das Große als Großes und in der Beziehung, in der es genommen ward, bleibt groß und wird nicht etwa klein, aber der Gegenstand, von dem es ausgesagt wird, kann in einer Beziehung
1) Genaue Begriffsbestimmung hätte gezeigt, daß der dqppocüvri weder coqpia (Weisheit) noch öiucppoaüv)! (verständige Selbstbeherrschung) schlechtweg ent- gegengesetzt sind, sondern daß beide nur secundum quid mit ihr in Gegensatz stehen. Beide nämlich sind Artbegriffe unter dem allgemeinen Begriff der Be- sonnenheit (tö 9poveTv): dieser Begriff ist es, der unmittelbar der dq)pociJvri entgegengesetzt ist.
2) Phaid. 102D: ou laövov auxö tö |neY60oc oubeTTor' e6^\eiv ä^ia laeya kqI C|iiKpöv eivai, ä\Xa Kai tö ^v »luiv ,ueTe6oc oubeiroTe rrpoöbexecGai tö cjniKpöv oub' ^e^eiv \JTT6p6X6c0ai, dXXd öuoiv tö cTepov, f] qpeÜTeiv Kai uTieKxujpeiv - f) — diroXu)- Xevai. 102 E: ouk iQiX^x — oub€v tOüv ^vavTiujv eti öv öirep rjv ä)Lia touvovtiov YiTvecGai te koI eivai. Cf. 103 C und Parm. 138 B: oü yap öXov ye d.uqpiu, toOtöv dua TreiceToi Kai TTou'icei (so, d. h. mit Komma hinter djaqpuu, ist zu interpungieren).
3) Phaid. 102 B: dp' ou - X^yeic tot' eivai ev tuj Ii|hmW d)iqpÖTepa, Kai fiiyeQoc Kai CfaiKpÖTTiTa ; €YUJT€.
Verschiedenheit und Gegensatz 263
groß, in der andern klein sein. Es ist das secundum quid, das irpoc xi, das bei den Dingen der Sinnenwelt diesen anscheinenden Widerspruch möglich macht. Dies rrpoc ti betrifft entweder wirkliche Verhältnisbe- griffe, wie die genannten (groß und klein) oder bezieht sich auf die Viel- heit der räumlichen Teile ^), oder weist irgendwie sonst auf eine Verschie- denheit des Standpunktes der Betrachtung hin.-) Die sinnlichen Dinge sind den Gesetzen des Raumes unterworfen, dieser aber ist ausgedehnt und teilbar, wodurch er eine verschiedene Stellengebung zuläßt. Jeder Körper, obschon ein Ganzes und Eines, hat demnach verschiedene Teile, welche die Bedingung der Möglichkeit bilden, Entgegengesetztes zu ver- einigen. Dadurch lösen sich die anscheinenden Widersprüche für die Gegenstände der Erscheinungswelt.
In dieser Anschauung bleibt sich Piaton überall treu, soweit wir ihn kontrollieren können: im Parmenides, wo S. 129 C dieser Sache Erwäh- nung getan wird, im Philebus S. 14Cff. und in der Republik (S. 436 C, cf. 439 B), wo Bewegung und Stillstand in einem Gegenstand vereinigt einfach daraus erklärt werden, daß von der Vielheit der Teile des Ganzen die einen ruhen, die andern sich bewegen.
Die eben erwähnte Stelle der Republik verdient noch etwas näher be- trachtet zu werden, da sie geeignet ist, uns weiter zu führen. Das Ziel der Untersuchung ist hier der Nachweis, daß es mehrere, voneinander verschiedene Seelenvermögen gebe. Zu dem Ende wird gezeigt, daß die Seele in Beziehung auf die nämlichen Gegenstände entgegengesetzter Re- gungen fähig sei, so daß sie nach dem Satze des Widerspruches aus ver- schiedenen Teilen zusammengesetzt sein muß. Im Verlaufe dieser Erör- terung stellt Piaton als evavxia einander gegenüber tö eTiiveüeiv und tö avaveueiv, tö e9iec6ai tivoc XaßeTv und tö dirapveTcGai, tö rrpocdTecGai und TÖ dTTaj9eic9ai (437 A B). Dann wird weiter gesagt, zum eqpiecGai
1) Daß es sich in gewisser Weise auch auf die Ideenwelt übertragen kann, das zeigt die Stelle Soph. 256 B: oukoüv kciv el' Trr) luexeXdiLißavev auxr] Kivrioic cxdceuuc, oubev äv äxoTrov fjv cxdci^ov auTrjv irpocaYopeueiv. Über sie ist oben S. 243 Anm. 1 zu vergleichen.
2) Vgl. Rpl. 479 A B tüüv ttoXXOüv KaXüuv iuOljv ti ecxiv, ö ouk alcxpöv qpavr)- cexai; Kai tojv biKaiuuv, o ouk äöiKov, Kai tOüv öcioiv, ö ouk dvöciov; k. t. \. Hier ist das Trpöc xi in dem verschiedenen Standpunkt zu suchen, von dem aus die Sache betrachtet wird, teils räumlich (wie zuweilen beim KaXöv) teils geistig. Übrigens ist es auch für die äußere Anschauung nicht bloß der Raum (dessen Teilbarkeit bei räumlichen Verhältnissen den Gegenteilen nebeneinander Platz verschafft), der bei diesen Verhältnissen in Betracht kommt, sondern auch die Zeit: was jetzt schön ist, ist es zu anderer Zeit nicht mehr usw.
264 D^^ Dialog- Sophistes
gehöre das eTTiÖuiueiv, eGe'Xeiv, ßoOXecÖai, zum uTTiueeiv das dßouXeiv, ilah eÖeXeiv, jax] imQv^elv. Nur so weit brauchen wir für unsern Zweck dieser Argumentation zu folgen. Es geht deutlich daraus hervor, daß ihm hier der kontradiktorische Gegensatz im konträren (evaviiov) mit inbegriffen scheint, wie ihm auch im Phaidon und auch im Protagoras offenbar beide zusammenfließen. Indes bleibt er sich darin nicht gleich, und konnte es auch nicht, weil er der Sache nicht auf den Grund gesehen hatte. So finden wir, daß er an einer andern Stelle der Republik, in Widerspruch mit Obigem, zwischen Begriffen wie küköv und faf] otYcxOöv u. dgl. doch einen merklichen Unterschied anerkennt, wenn auch ohne nähere Bestim- mung der Grenzen. Denn 491 D heißt es: dYaeUj ^dp f^ou kokov evav- TiajT€pov f] TLu jjii] dYaBuj. Und dementsprechend zeigt er im Symposion (202 A B), daß nicht, was |uf] kqXöv sei, darum aicxpöv, und was Mn dya- 66v sei, KttKÖv sein müsse. Vielmehr gebe es dazwischen noch ein Mitt- leres. Noch einen Schritt weiter auf dieser Bahn geht er im Sophistes, indem er hier ausdrücklich erklärt (257 B), daß das Non-A, z. B. das nn jue'T«, nichts mit dem evcxviiov zu tun habe. Und warum? weil es mehr als das dvaviiov d. h. als das cjuiKpöv umfasse, nämlich außer diesem auch das icov. Jeder sieht übrigens daraus den Unterschied dessen, was Piaton unter evaviiov versteht, von dem, was wir mit konträrem Gegensatz meinen.
Die Natur dieses Mn dyaeöv, )uf] xaXov, kurz dieses Non-A, wie wir sagen würden, hat dem Piaton gewaltige Schwierigkeiten bereitet und ihm schließlich, sozusagen, das Konzept verdorben. Er fühlte das Ver- hältnis des ausschließenden Gegensatzes des Non-A zu dem A, wußte sich aber theoretisch nicht damit zurechtzufinden. Daß der konträre Gegen- satz unmittelbar auf dem realen Widerstreit beruht, der kontradiktorische dagegen rein logischer Natur ist und nur mittelbar auf den realen Wider- streit zurückgeht, hat er nicht gesehen und nach der ganzen Richtung seines Denkens nicht sehen können. Als er nun im Sophistes zu der klaren Einsicht gelangte, eiepov und dvaviiov seien voneinander scharf zu scheiden, mußte das Non-A, der schwächere Gegensatz, als welcher er dem Piaton schon in der Republik und auch im Symposion erschienen war, mit dem eiepov sich nicht bloß zusammenpaaren, sondern geradezu identifizieren lassen. Offenbar mit eine Folge seiner Vermengung von Vergleichungsformel und Urteil. Das wahre logische Verhältnis von A und Non-A ist nämlich dies, daß sie sich im eigentlichen Urteil nicht ver- binden lassen. Diese Nicht-Verknüpfbarkeit weist auf den ausschließenden Gegensatz hin. In dem ganzen Abschnitt nun von der „Gemeinschaft der Geschlechter" kommt kein einziges wirkliches negatives Urteil vor, son-
Das Non-A 265
dern nur negative Vergleichungsformeln, die den Schein des Urteils er- wecken. In ihnen werden Vorstellungen, die einander nicht widerstreiten, sondern bloß verschieden sind, durch die Negation, voneinander unter- schieden. Die Negation hat hier, wie man sich aus dem vorigen Abschnitt erinnert, nur die Bedeutung eines Unterscheidungszeichens, nicht der eigentlichen Negation, d. h. der gegenseitigen Ausschließung der Vorstel- lungen. Wenn man, wie Piaton, Vergleichungsformeln braucht ohne klare Unterscheidung vom Urteil, so ergibt sich wie von selbst eine Vermengung von Widerspruch und Verschiedenheit. Denn hier tritt anscheinend ein |Liri KttXov usw. auf, das tatsächlich nicht in ausschließendem Gegensatz zu dem Subjekt (oder genauer zu dessen Beschaffenheiten) steht. Allein damit wird eben der Negation eine andere Bedeutung gegeben als ihr von Rechts wegen zukommt.
Piaton wollte sich im Sophistes zu einer Theorie über das Verhältnis der Begriffe zueinander unter dem Gesichtspunkt der Ergründung des Nichtseienden erheben. Theoretische Versuche führen aber bekanntlich nicht selten viel leichter in die Irre als das unbefangene Gefühl. Der be- fangene Blick des Suchenden nimmt einen glücklich gefundenen Teil der Wahrheit, nimmt eine Seite derselben leicht für das Ganze und so ent- steht schließlich ein Zerrbild, nicht ein wirkliches Abbild der Sache. In dieser Lage sehen wir Piaton im Sophistes. Er hat richtig erkannt, daß die Gleichsetzung von eiepov und evaviiov verkehrt seiO» aber zugleich meint er irrig, das eiepov sei nichts anderes als das |ufi öv. Und gerade über diesen Fund ist er besonders glücklich. Gleichwohl mußte ihm sein gesundes Gefühl sagen, daß es damit nicht seine Richtigkeit haben könne. Und daß dem wirklich so war, daß sein Gefühl in gewissem Sinne der Theorie überlegen war, dafür liefert der Sophistes selbst den klaren Be- weis. Denn in dem nämlichen Dialog, in dem er so nachdrücklich für das |uri öv als gleichbedeutend mit dem eiepov, also als scharf zu trennen von dem evavTiov, eintritt, läuft ihm folgendes Menschliche unter: der Fremd- ling fragt 240 B lö juri dXrjGivov ap' evaviiov d\r|0ouc; und die Ant- wort lautet II |uriv; Das steht zwar nicht innerhalb des Abschnittes von der Gemeinschaft der Begriffe, ist aber nur durch eine kleine Strecke da- von getrennt und gehört doch zu demselben größeren Gedankenkomplex
1) Vgl. auch Phil. 12 E, wo ganz richtig das bidqpopov von dem Ivavjiov unterschieden wird. Richtig wird auch Phil. 55 A gesagt: Oukouv tuj Y^T^ecOai Ye ToOvavTiov äTravTec tö qpGeipecOai qpaijuev dv; vgl. auch Gorg. 495 E ff., ein Abschnitt, in dem ^vavxiov im ganzen richtig behandelt wird, während kurz vorher 495 D das erepov schon etwas mehr ist als das bloße „verschieden".
256 ^^^ Dialog Sophistes
wie jene Partie. Daran zeigt sich recht klar der Unterschied zwischen Theorie und Praxis.')
Das Nichtseiende war es, welches zu der ganzen Untersuchung den Anstoß gegeben; und eben dessen Erklärung ist ersichtlich der alier- schwächste und anfechtbarste Punkt in der ganzen Darstellung des Pia- ton. Sein Absehen ging darauf, dem Nichtseienden irgend eine positive Seite abzugewinnen. Durch die Gleichstellung mit dem eiepov, das der bloßen Form nach doch auf etwas Positives hinzuweisen schien, meinte er ihm einen wirklichen Inhalt gegeben zu haben. So wird ihm das mh ov zu einem selbständigen eiboc wie das öv. Daß das eiepov, welches dem lari öv zum Sein verhelfen sollte, an sich auch nur ein leerer Begriff sei, der unserem Verstände bloß dient, gegebene Vorstellungen unter- einander zu vergleichen, dies einzusehen hinderte ihn nicht etwa bloß, wie so viele andere nach ihm, die Amphibolie der Reflexionsbegriffe (zu denen dies eiepov gehört), sondern vor allem seine Ideendialektik über- haupt, die für jeden Begriff ohne Unterschied ein substantielles Korrelat fordert. Daher das Forcierte des ganzen Versuches.
Wie steht es nun mit diesem )ufi öv? Ist es in der platonischen Fas- sung überhaupt eine haltbare Konzeption? Hatten wir Recht, wenn wir es mit unserem Non-A erläuterten, oder ist es überhaupt nichts mit diesem Nichts, diesem )un öv? Darüber soll uns ein weiterer Abschnitt Aufschluß geben.
5. DAS NICHTSEIENDE.
„Piaton und seine Anhänger, so heißt es in des Aristoteles Metaphysik, meinten, alles Seiende würde eines, nämlich das An-und-für-sich-Seiende, sein, wenn man nicht den Satz des Parmenides: ,daß Nichtseiendes sei, nein, nimmer ist es zu glauben* zu lösen und zu widerlegen wisse: man müsse vielmehr zeigen, daß das Nichtseiende sei: denn alsdann lasse sicli
1) Es ist nicht uninteressant zu sehen, daß Piaton auch in bezug auf das Eiepov seiner Theorie weiterhin nicht ganz treu geblieben ist, sondern dal5 ihn hier die eingewurzelte Anschauungsweise, der zufolge ein Ähnlichkeitsverhältnis zwischen Subjekt und Prädikat herrscht, wieder etwas ablenkte von den Grund- sätzen des Sophistes. Im Politikus nämlich (263 B) wird das Verhältnis von laepoc und eiboc erörtert und gezeigt, öic eiöoc fiiv öxav )i tou, Kai jutpoc aOxö dvayKaiov €lvai Toö irpdYiuaToc ÖTOuirep äv eiboc X^yT^o^i' M^poc bi exboc oubeiuia dvdyKri, also dasselbe Verhältnis, wie etwa zwischen kivjicic und öv im Sophistes. Im Politikus will er den Ausdruck erepov für dies Verhältnis der Begriffe nicht mehr recht gelten lassen; indes weist er ihn doch nicht geradezu ab.
Das Sein des Nichtseins 267
■das Seiende, wenn dessen eine Vielheit sein soll, aus dem Seienden und einem andern ableiten."^)
Hier wird unverkennbar auf Piatons Sophistes hingewiesen und das Hauptthema desselben richtig bezeichnet. Piatons ganze Untersuchung läuft darauf hinaus, das Nichtseiende jener völligen Unerkennbarkeit und Undenkbarkeit zu entkleiden, zu der es die Eleaten verurteilt hatten. Es galt also, ihm irgendeinen Platz in unserer Erkenntnis zu sichern, d. h. zu zeigen, daß uns in irgendwelcher Beziehung das Nichtseiende unent- behrlich, m. a. W. daß es ein notwendiger und rechtmäßiger Bestandteil unseres Denkens sei. Hatte man ihm überhaupt nur erst Daseinsberechti- gung verschafft — gleichviel welcher Art — so waren die Eleaten ge- schlagen und mit ihm die Sophisten, bei denen der eleatische Verdam- mungsspruch über das Nichtsein so lauten Widerhall gefunden. Dieser Sieg gelang dem Piaton; in der Tat ein großer Erfolg, dessen Glanz die Augen so blendete, daß die vielen Unklarheiten und Unzulänglichkeiten unbemerkt blieben, welche gleichwohl der Sache noch anhafteten. Platon wies das „nicht" im allgemeinen als einen notwendigen Bestandteil in unserem Denken nach, doch blieb er bei dieser schwierigen Untersuchung, wie begreiflich, noch tief in mancherlei Vorurteilen stecken. Er hielt das Nichtseiende für einen einheitlichen, eindeutigen Begriff, der, einmal ge- bunden, alles das ans Licht ziehen und in seiner wahren Gestalt zeigen müsse, was sich bisher wie hinter einem Schleier verborgen und sich 'durch dessen anscheinende Undurchdringlichkeit geschützt hatte.
Bei den Worten eivai, öv, ecTi dachten die Eleaten, wie leicht erklär- lich, zunächst an das Dasein, die Existenz, also an die modale Bejahung. Diese Bedeutung, meinten sie, liege unmittelbar und immer in dem ecxi. Und diese Meinung vererbte sich auch, wenn auch nicht in ihrer vollen Prägnanz, auf Platon. Wenn er nämlich über die Kopula zu spekulieren beginnt, schimmert immer diese Vorstellung, bald klarer bald dunkler, durch. So im letzten Beweise für die Unsterblichkeit der Seele imPhaidon, so auch — vom Parmenides nicht zu reden — im Sophistes.^) „Das Nicht-
1) Met. 1089^1 ff.: eöoHe ycip aÖToic ttoivt' ececGai fe'v xd övxa, auTÖ tö öv, €1 jLiri TIC Xücei Kai öjliöc€ ßaöieixai tuj TTap|uevibou XöyuJ ^oO yctp |uri Tioxe toöto baf}c eivai \jiY] eövxa', dW dva^Kriv €ivai xö jjly] öv beiHai öxi ^öxiv* oüxuj fäp €k Tou övxoc Kai dWou xivöc xd övxa ececGai, ei iroWd ^cxiv.
2) Soph. 258Bf. (xö |Lii^ öv) ^cxiv oubevöc xujv dWuuv ouciac tWeiiröiuevov, Kai öei Gap^oOvxa f\b)'\ X^yeiv, öxi xö iiy\ öv ßeßaiuuc ^cxi xiqv aöxoO qpuciv ^xov, iJjCTr€p xö lueya fjv \ji^ja Kai xö KaXöv fjv KaXöv, oüxuu be Kai xö |uri öv Kaxd xau- TÖv fjv xe Kttl ^cxi fJiY] öv, evdpiGjuov xujv ttoWOüv eiöoc ^'v. Ebenso 254 D: edv läpa i^juiv Trr) irapeiKdGri xö iir\ öv XeYouciv übe ^cxiv övxuuc \Jir\ öv dGujoic diraX- Adxxeiv.
268 ^^^ Dialog Sophistes
seiende, sagt er da u. a., steht hinter nichts anderem an Seinsgehalt zurück und man darf getrost sagen: das Nichtseiende ist, indem es seine ihm eigentümliche Natur hat; wie das Große groß war und das Schöne schön, ebenso ist und war auch das Nichtseiende in gleicherweise Nichtseiendes und ist ein unter die Vielheit des Seienden einzureihender Begriff". Und daraus folgert er unmittelbar (258 D) die Unrichtigkeit des oben ange- führten berühmten parmenideischen Verses über die Nichtexistenz des Nichtseienden (dTrebeiEauev die ecii id ^fi övia 258 D), zum klaren Be- weis, daß er in der mitgeteilten Stelle, wie überall sonst in unserem So- phistes, bei dem ecii zunächst an das Dasein denkt. Das nämliche er- gibt sich ganz augenscheinlich aus einer Stelle des Timäus^), in der er, nachdem er gezeigt hat, daß dem wahrhaften Sein von Rechts wegen nur das „Ist", nicht das „War" oder „Wird sein" zukomme, folgender- maßen fortfährt: „auch die Ausdrücke, das Entstandene sei entstanden, und das Entstehende sei ein Entstehendes und das Nichtseiende sei nicht seiend, sind alles ungenaue Bezeichnungen". Warum ungenau? weil das „Ist" (d. h. eben das Dasein) nicht von Vergangenem oder Werdendem und am wenigsten vom Nichtseienden ausgesagt werden zu können scheint. Also auch im bloßen Identitätsurteil wollte Piaton dem Ist eine höhere Bedeutung geben als die der bloßen Kopula.
Schon alte Kommentatoren hoben es hervor, daß Piaton im Unter- schied von Aristoteles bei dem eivai immer mit die uTtapHic, das Dasein meinte. So noch Leo Magentinos in den Scholien bei Brandis S. US*^ 44 dvaipouvTtc Touc TTXaTuuviKOuc Xe^oiuev öti 6tti ific XoTiKfjC irpaTiuaTeiac oux uirdpHeic Kai dvuTrapEiac IriTOÖjuev.
Auf den kürzesten wissenschaftlichen Ausdruck gebracht stellt sich demgemäß die Sache so dar: Piaton unterscheidet nicht zwischen quali- tativer und modaler Bejahung (und Verneinung), d. h. zwischen dem So- sein und dem Dasein. Kopula und Daseinsausdruck verschmelzen ihm
1) Tim. 388: XeyoM^v xö xe y^TOvöc eivai Ye^ovöc Kai xö yiyvÖ|U€vov eivai YiYvö)nevov, ^xi xö Y^vricöuevov eivai Y^vr|CÖ)Li€vov kqi x6 \ji^ öv |li>"i öv elvai. iLv ovbiv dKpißec \^you.£v. Vergleicht man diese Stelle mit der in der vorigen An- merkung zitierten Sophistessteile 258 B, so kann man sich schwerlich der Fol- gerung entziehen, daß der Timäus zeitlich vor dem Sophistes stehe. In beiden Stellen handelt es sich um den Satz x6 |li>i öv ecxi \ji-i} öv, in beiden wird für das €cxi Anspruch auf Daseinsbedeutung erhoben, aber im Timäus wird eben deshalb jener Satz für oObev ctKpißec erklärt, im Sophistes gerade umgekehrt daraus die Existenz des uii öv gefolgert. Welches die spätere Auffassung sei^ ist nicht zweifelhaft. Denn es hat wenig Wahrscheinlichkeit für sich, daß PI. die Errungenschaft des Sophistes in bezug auf das uri öv später aufgegeben habe.
Modales und qualitatives Sein 269
noch dunkel in eins. Dies ist die eigentliche Quelle aller Verirrungen und Verwirrungen. Von der qualitativen Bejahung kann man rein begrifflich nie auf die modalische Bejahung kommen. Ein Schluß von der ersteren auf die letztere ist unmöglich. Wir können uns im problematischen Urteil einen Gegenstand, z. B. den Helden einer Erzählung, noch so bestimmt, mit allen seinen Einzelheiten gedacht haben, so folgt doch daraus noch nicht sein Dasein. Ebenso mit der Verneinung. Von der qualitativen Verneinung führt keine Brücke zur modalischen. Indem nun Piaton die Bedeutung und Gültigkeit der Negation im Urteil, d. h. das qualitative ouK ecTi in seiner Weise nachwies, glaubte er damit nicht nur das Prin- zip der Vielheit, im Gegensatz zu der Einheitslehre der Eleaten gefunden zu haben (denn das Nichtseiende, als eiepov gefaßt, erwies sich als ebenso inhaltsvoll wie das Seiende und als dessen sehr positive Ergänzung: aus der Ehe beider ging die Vielheit der Prädikate, also die Mannigfaltigkeit des Seienden hervor), sondern des Nichtseienden überhaupt, also auch -das modalische Nichtsein, auf das es ihm vor allem ankommen mußte. Hören wir darüber den Aristoteles.
„Aus welchem Seienden und Nichtseienden nun, so fährt nämlich Aristoteles in seinem obigen Bericht fort^), geht die Vielheit des Seienden hervor? Piaton hat hier den Begriff des Falschen im Auge und identifi- ziert das Nichtseiende, aus welchem und dem Seienden die Vielheit des Seienden ist."
Unstreitig richtig. Piaton steuert eigentlich auf das HJeöboc zu: dessen Möglichkeit und Gültigkeit zu erweisen soll das jun öv als Unterlage die- nen. Wir wissen einerseits, wie wenig das von ihm gefundene |uri öv, d. h. das qualitative )Lifi öv, danach angetan ist, eine Brücke zu der mo- dalen Verneinung, dem modalen iniri öv, zu bilden. Wir wissen anderseits, was es war, das gleichwohl Piaton in dem Glauben bestärkte, sein Nicht- seiendes gebe ihm alles Nichtseiende in seine Gewalt. So stark er aber auch theoretisch in diesem Glauben befangen war, so wenig konnte er sich in der wirklichen Anwendung seines vermeintlich alles umfassenden Prinzips verhehlen, daß damit im Grunde nichts für seinen eigentlichen Zweck ausgerichtet sei. Sein eiepov oder )un ^^ läßt sich schlechthin auf jeden Begriff im Verhältnis zu jedem andern anwenden, denn jeder Be- griff ist von dem andern irgendwie verschieden. Über die positive Seite der Sache aber, d. h. darüber, in welcher bestimmten, der Wirklichkeit
1) Met. 1089* 18 ff. ck ttoiou ouv övtoc Kai }Jii\ övtoc iroWct xa övra; ßouXexai 1U6V bi] TÖ \|J€üöoc Kai TauTr|v rr]v qpuciv Xiy^ei tö ouk öv, eE oö Kai xoü övxoc iroXXd xd övxa.
270 ^^^ Dialog Sophistes
entsprechenden Verbindung gegebene Vorstellungen mit anderen stehen^ läßt sich, soweit es sich um nicht bloß analytische, sondern um synthe- tische Verknüpfung handelt, aus bloßen Begriffen nichts entscheiden. Über die Wirklichkeit der Dinge, über die Wahrheit oder Falschheit unserer Auffassung derselben, war mit seinem Funde also tatsächlich nichts ent- schieden.
Piaton mußte sich also, auf diesem kritischen Punkte angelangt, irgend- wie zu helfen suchen, ohne doch theoretisch sein Prinzip aufzugeben» Er mußte sich einen Weg bahnen, der ihn zur Nachweisung des tatsäch- lichen Vorhandenseins von Lug, Trug, Täuschung und Schein in der menschlichen Erkenntnis und im Urteil führte unter wenigstens dialek- tischer Wahrung seines gewonnenen )ur] 6v. Daher die überraschende Wendung, welche die Untersuchung von S. 260 A ab nimmt. Vermöge derselben wird der Begriff des Nichtseienden auf Rede und Meinung' übertragen, d. h. auf bestimmte Behauptungen innerhalb der Alltäglichkeit des Menschenlebens im Gegensatz zu den dialektischen Erörterungen über Begriffsverhältnisse, die das esoterische Werk der Schule bilden.^)
1) Das jdY] öv der böla bezieht sich auf das Urteil als Ganzes: es bedeutet die Ungültigkeit (Unwahrheit) der Behauptung. Wenn es gleichwohl noch als edTcpov charakterisiert wird, so bezieht sich das ^'xfpov hier nicht auf die Ver- schiedenheit zweier Begriffe voneinander, sondern auf die Verschiedenheit einer Behauptung (also einer Verbindung von Subjekt und Prädikat) von der Wahr- heit, dem öv, wie der Gesprächsführer jetzt das öv ohne weiteres zu nehniea beliebt. Wollte man nun diese offenbare luexdßaöic; eic ä}\o fivoc auch als zu- lässig einräumen, so kommt man mit dem bloßen Begriff der Verschiedenheit hier doch nicht aus. Denn dieselbe höta, welche gültig (wahr) ist, kann (als Ganzes) auch manches andere als wahr sein; sie kann z. B. richtig oder un- richtig, willkommen oder unwillkommen sein, also etwas von der Wahrheit (dem hier angenommenen öv) Verschiedenes, folglich jur] öv (nach der hiesigen Dia- lektik), und damit gleichwohl nicht etwas vjjcubk, wie es nach dieser Dialektik der Fall sein müßte, sondern etwas Wahres. Um zum Nichtwahren als ijjeijboc zu ge- langen, muß man eben das }ir\ öv als ^vavxiov des öv (d. i. des Wahren) und nicht als bloß €Tepov anerkennen. Also Piaton hat damit für die Erklärung und Be- rechtigung des v|j€üboc garnichts ausgerichtet. Faßt man, wie im ersten (dia- lektischen) Abschnitt, die bloße Negation im Satze schon als \iy\ öv auf, so kommt man nie auf Wahrheit und Falschheit des Urteils. Denn auch ein negatives Urteil macht bekanntlich Anspruch auf Wahrheit. Darum gibt Piaton der Sache eben die Wendung, daß er pd) öv nun nicht mehr als die Negation im Urteil,, sondern als das falsche Urteil selbst nimmt. Diese Falschheit beruht aber nicht auf der Verschiedenheit des Subjektsbegriffes von dem Prädikatsbegriff — denn dann müßte der Satz „Theätet sitzt" ebenso falsch sein wie der Satz „Theätet fliegt" — sondern auf der angeblichen Verschiedenheit des ganzen Satzes „Theä- tet fliegt" von dem richtigen Satz „Theätet sitzt". Aber mit dieser Verschieden«
Erfahrungsurteile 271
Die Rede (Ko^oq) und Meinung (böEa), obschon als Ganzes zu den seienden Geschlechtern gehörend (260 A), bestehen ihrerseits doch nicht aus eibri, sondern aus ovöjaaTa (261 D), oder bestimmter, wie sich weiter- hin zeigt, aus Nomen (övo)ua) und Verbum (pfijua). Die folgenden Bei- spiele lassen klar erkennen, daß Piaton hier im Gegensatz zu den vorher- gehenden Begriffsvergleichungen auf empirische (synthetische) Urteile^) zielt, daß also der Unterschied zwischen Vergleichungsformel und Urteil seinem Geiste dunkel vorschwebt. Was vorher von den Begriffen inner- halb des Urteils gesagt war, das wird jetzt dem Urteil als Ganzem zu- gesprochen: dort war ein Begriff im Verhältnis zu einem andern iix] öv, hier ist das ganze Urteil |uri öv. Aber dies Urteil ist auch keine Begriffs- vergleichung, sondern ein gewöhnliches Erfahrungsurteil. Beide werden in bezug auf ihre Gültigkeit mit sehr verschiedenem Maße gemessen. Für die Begriffsvergleichungen ließ den Piaton seine mystische Abstraktion in dem ecii, wie gezeigt, immer ohne weiteres schon den Anspruch an Dasein und Wirklichkeit erkennen. Sie schienen sich vermöge ihres „Ist" durch eine gewisse innere Notwendigkeit rein begrifflich und doch mit unmittelbarer Daseinskraft zu vollziehen. Von diesen höheren dialektischen Formeln sondert er also die Rede ab, d. h. den aus övojua und pfijua be- stehenden XoYOc. Beispiele eines solchen Xöfoc sind die beiden einander
heit wird die Sache nicht gefördert. Denn sage ich „Theätet spricht", so ver- trägt sich das vollkommen mit dem „Theätet sitzt" und ist doch davon ver- schieden. Eben nicht cTepov, sondern evavTiov müssen die Sätze sein. Man mag also die Sache wenden wie man will, sie bleibt verfehlt. Übrigens ergibt sich aus dem Doppelsinn des lur] öv und der dadurch herbeigeführten Unklarheit des ganzen Sachverhalts für den, wie es scheint, nun endlich glücklich gefangenen Sophisten die beste Gelegenheit, auch hier wieder den Händen des Häschers zu entschlüpfen. Denn der Sophist kann sich leicht aus der Schlinge ziehen durch die Erwiderung: „Wenn ich auf dem Boden des |uVi öv erwachsen bin, so brauche ich mich dessen nicht zu schämen. Denn du selbst hast ja diesen Boden als einen wohlberechtigten und notwendigen anerkannt, indem du das ixi\ öv als etwas Positives, der Vernunft Unvermeidliches und Wahres nachge- wiesen hast."
1) Daran zeigt sich, daß der ganze Abschnitt über die Koivuuvia tüjv y^vOjv zunächst logischen Charakters ist. Denn wenn so viel Mühe darauf verwandt wird, das ixi] öv an reine Wahrnehmungsurteile heranzubringen, wie „Theätet fliegt", so handelt es sich da zunächst nicht um die Idee. Der Xöyoc ist zwar auch, wie Piaton ausdrücklich sagt (260 A), tujv övtuljv ev ti yevüjv. Aber das gegebene Beispiel für den Xö^oc zeigt, daß hier y^voc nicht unmittelbar als Idee zu fassen ist. So wenig geleugnet werden soll, daß bei y^voc stillschweigend -mit an die Idee gedacht wird, so sicher ist es doch, daß es sich zunächst und unmittelbar nicht um die Idee selbst handelt.
272 ^^^ Dialog Sophistes
widerstreitenden Urteile „Theätet sitzt" und „Theätet fliegt". Was ent- scheidet nun hier über Wahrheit oder Falschheit der Aussage? Nicht Dialektik, wie bei jenen Vergleichungsformeln, sondern die Anschauung, d. h. die unmittelbare Erkenntnis. Diese lehrt sofort, daß das eine von beiden wahr, das andere falsch ist, sie lehrt sofort, welches von beiden der Wirklichkeit entspricht. Denn jeder der Anwesenden überzeugt sich ja mit einem. Blick seiner Augen, daß der als Mitunterredner anwesende Theätet dasitzt und nicht fliegt. Also Verweisung an die Anschauung. Dabei ist es, wie mir scheint, nicht bloße Sache des Zufalles, daß diese Urteile nicht mit dem bedeutungsvollen ecii, sondern mit eigentlichen piiuaia gebildet sind.^)
Aber wunderlich genug nimmt sich die Art aus, wie diese an sich un- dialektische, ziemlich einfache Sache gleichwohl in den dialektischen Rah- men eingespannt wird, d. h. wie Piaton dieselbe mit dem bis 260 A ge- wonnenen Ergebnis verknüpft. Das uii 6v, das er auf den Xö'foc anwendet, ist offenbar nicht mehr, wie oben, die qualitative Verneinung, sondern hat sich ganz in der Stille in die modalische Negation umgewandelt, in das öv ujc ijjeubec, wie es Aristoteles nennt. Sehr begreiflich. Denn nur dies modalische un öv entsprach dem eigentlichen Zweck, welchen Piaton ver- folgte: die Lüge als etwas Mögliches nicht nur, sondern als etwas wirk- lich Vorkommendes zu erweisen, also dasjenige als auch der mensch- lichen Rede unter Umständen eigen zu erweisen, was er früher (240 AB) als charakteristisches Merkmal des Bildes (eiKojv) hingestellt hatte, ouba- jLiOuc dXriBivöv '(e, dW eoiKÖc )uev.
Die Willkürlichkeit dieses Verfahrens ist so augenfällig, daß sich uns das Ergebnis leicht als reine Erschleichung darstellt. Das jun öv erscheint, sofern es sich als das vorherige ,un öv ausgibt, als rein äußerlich der Sache angeklebte Etikette. Demungeachtet finden wir doch anderseits wieder viel Sinnreiches, platonischen Geist Verratendes dabei. Piaton gibt dem Wortlaute nach keine einzige seiner vorher errungenen Bestim- mungen auf. Wir finden das öv und finden das ,uf^ öv wieder — wenn
1) Es tritt hier der Unterschied von ^TricTi'mri und böEa in einer eigenartigen Weise hervor. Jene dialektischen Operationen sind für Piaton eine Sache der ^Tricxriiiri, wie das biaX^Y^cÖai im spezifischen Sinn überhaupt. Die emcTniLiri aber kennt keinen Irrtum. Hier hat also der Unterschied von aXi-iGec und vjjeuö^c überhaupt keinen Platz. Anders bei den Erfahrungsurteilen: sie sind Sachen der boEa und hier tritt der Irrtum in sein Recht ein. Diese Auffassung der ^TTicTTiiari (nur freilich nicht im Sinne der platonischen Dialektik) findet sich ganz präzis auch bei Aristoteles Anal. post. 1,2. 71^25 &\r]Qf] bei eivai, öti ouk ecxi TÖ \j.r] öv e7TiCTac9ai, olov öti r\ biduexpoc cüuiueTpoc. Dazu vgl. An. post. II, ?• 92'^ 5 ff. 13 f. .
Kritik des platonischen Verfahrens 273
auch in der gekennzeichneten Verschiebung — wir finden drittens auch das exepov wieder und die Formel, der gemäß das juiq öv eben das eiepov Toö övToc war. Aber in welcher Bedeutung jetzt? Als das von der Wahr- heit und Wirklichkeit Verschiedene, d. i. als Lüge und Trug: ö )aev d\r|- ^ric XÖTOC Td övia djc ecii XeT€i, 6 be ijieubric erepa tüuv övtujv (263B). Aber vorher las man anders. Denn da bedeutete das Nichtschöne, das Nichtgerechte oder allgemein (nach platonischem Sprachgebrauch) das piX] öv den Unterschied eines Seienden gegen ein anderes Seiendes, hier bedeutet das nn öv nicht den Unterschied von einem andern Seienden, sondern den Gegensatz zum Seienden, d. i. dem Wirklichen überhaupt. In jenen Vergleichungsformeln trat die Negation offen und ausdrücklich hervor und durch dieselbe war das Urteil wahr, hier dagegen haben wir ein der Form nach bejahendes Urteil, das falsch ist. Wodurch aber falsch? Dadurch, sagt Piaton, daß sich das luri öv damit verbindet, also doch auch durch die Negation: offenbar aber eine ganz andere Negation als oben. Wir wissen bereits, welche. Also eine .ueiaßacic eic dXXo t^voc, die wir sofort als solche erkennen und zu rügen bereit sind.^) Allein für Piaton lag die Sache doch etwas anders, so daß ihn der obige Vorwurf nicht in seiner ganzen Härte trifft. Und dies aus folgendem Grunde.
Der Begriff des |ufi öv war in der Tat ein höchst schwieriger. So leicht €s uns wird, die Wurzel des Übels zu finden, an dem Piatons Darstellung des Mn öv krankt, so verzeihlich war es für ihn, daß er sich im Dunkel der Abstraktionen verirrte und die qualitative Negation mit der modalen als eins setzte: eine Täuschung, welche solange fast unvermeidlich war, als auch der entsprechende positive Begriff, das öv, noch der Aufklärung harrte.
Dies öv war. Kantisch zu reden, eine Art focus imaginarius, der das Bild eines Gegenstandes zu erzeugen schien, welcher tatsächlich nicht vorhanden war. Das Unvermögen, des diesem Begriffe anhaftenden, mit fast zwingender Gewalt wirkenden Scheines Herr zu werden, kennzeichnet die ganze voraristotelische Philosophie. Die dahin gehörigen Versuche bilden eine wahre Leidensgeschichte, aber doch mit allmählich sich meh- renden Anzeichen langsamer Besserung. Die Sprache selbst begünstigte
1) Übrigens darf auch hingewiesen werden auf eine gewisse Inkongruenz zwischen unserer Stelle (280 Äff.) und einer früheren (240 E f.), wo die Unter- suchung erst eingeleitet und der Xoyoc ijjeubric beschrieben wird. Dort heißt es, vp€uöi?ic Xöyoc sei nicht nur der, welcher von den övxa sagt, sie seien nicht, son- dern auch der, welcher von den jur] övra sagt, sie seien. Nun wird in unserem Abschnitt in bezug auf den v^jeubiqc Xo^oc wohl der letztere Fall geltend gemacht (vgl. oben S. 245f.), nicht aber der erstere.
Apelt: Platonische Aufsätze. 18
274 Der Dialog Sophistes
hier den Trug und verdichtete den Schleier, der die Sache verdeckte^ noch mehr. Denn es liegt im Zuge der griechischen Sprache, ein tö ecTi oder TÖ eivai alsbald umzusetzen in ein tö öv, und damit war für eine noch nicht völlig ernüchterte Abstraktionsweise die Quelle derTäuschungen^) eröffnet. Bei den Eleaten gehen tö ecTi, tö öv, ohne jeden Unterschied neben- und durcheinander: alles dies ist für sie der Ausdruck des allein wahrhaft Seienden, des Wirklichen, nur durch das Denken zu Erreichenden, im Gegensatz zur sinnlichen Erscheinung. Tö öv mußte sich, wie eben die Sprache schon anzukündigen schien, als der wirkliche^ wahrhafte Gegenstand unserer Erkenntnis darstellen. Die Kopula ward ihrer eigent- lichen Funktion als einer Verbindungsform zwischen Subjekt und Prädi- kat entkleidet und gewissermaßen verselbständigt, indem in ihr unmittel- bar TÖ öv, der daseiende Gegenstand zu stecken schien. Die qualitative Bejahung trat alle ihre Rechte an die modalische Bejahung ab. In dem modalischen Sein aber schien ganz unmittelbar ein Was, ein Gegenstand,, gegeben. Es war wie eine unvermeidliche optische Täuschung: man meinte einen Gegenstand, ja den einzig wahren Gegenstand zu haben durch eine bloße Form des Urteils. Man bemerkte nicht, daß man es mit einer bloßen Gedankenform zu tun halte, ohne Inhalt. Das Sein und das Seiende ist für sich nur eine formale Bestimmung des Verstandes, die immer erst von der Erfahrung einen Gegenstand erwartet, auf den sie angewendet werden kann. Die Kategorien der Modalität enthalten gar keine Subjekt- bestimmungen, sondern nur Bestimmungen der Arten gegebener Sub- jekte.
Wir sehen also, wie Logisches und Metaphysisches unmittelbar in- einander geworfen und wie innerhalb des Metaphysischen bloß formale Bestimmungen ohne weiteres mit einem vermeintlichen Gehalt ausgestattet gedacht werden. Die Kopula erhielt 1. unmittelbar metaphysische Be- deutung, 2. sofort auch einen anscheinenden metaphysischen Gehalt.
Ganz entsprechend und parallel dieser Auffassungsweise des öv mußte sich natürlich das ^n öv darstellen. Auch in ihm verschlang die modale Bedeutung die qualitative: wo es sich um Verneinung des Soseins handelt^ drängte sich auch eine dunkle Vorstellung von Verneinung der Existenz auf. Dies ist der Stand der Dinge, wie ihn Piaton vorfand. Er hat diesen Begriffen nicht geringe Sorge zugewendet, ja sie stehen im Mittelpunkt seines Denkens. Aber der mystische Zug, der, bei aller Genialität, doch
1) Die Sophisten verfehlten bekanntlich nicht, diese Quelle nach Kräften auszunutzen. Ihr entstammen die netten Sophismen mit dem öv und den övra im Euthydem (283f.), namentlich die ergiebige Wendung xa övtq Xiyew.
Eleaten • Piaton • Aristoteles 275
seiner Art zu philosophieren innewohnt und den abzustreifen geradezu wider seine Natur gewesen wäre, hinderte ihn, der Sache auf den Grund zu sehen: nur einen Teil der Wahrheit und auch diesen nur in einer ge- wissen Verunstaltung zu finden war ihm beschieden. Noch in der Re- publik ist ihm das )uri öv schlechtweg unerkennbar und unserem Verstände unzugänglich im Sinne der Eleaten. „Wie sollte etwas Nichtseiendes er- kannt werden? Steht uns nun dies hinreichend fest, auch wenn wir es von mehreren Seiten her betrachten, daß das vollständig Seiende voll- ständig erkennbar ist, das schlechterdings Nichtseiende aber schlechter- dings unerkennbar? — Ganz fest. — Gut." So heißt es in der Republik^) und dementsprechend wird anderseits das öv vielfach mit dXriöeia gleich- gestellt (Repl. 501D, 508 D, 525 C, 585 C, 598 B) oder zur Bedingung derselben gemacht wie Theät. 186 C. Erst der Sophistes bringt den oben geschilderten Fortschritt in der Behandlung dieser Begriffe, indem er in dem qualitativen |ufi öv sozusagen ein neues Land entdeckt, eine Ent- deckung freilich, deren wahre Bedeutung durch Verwechslung mit dem eigentlich gesuchten Lande des modalischen |ufi öv vollständig verkannt wird.
Es war dem alles durchbohrenden Scharfsinn des Aristoteles vor- behalten, hier Klarheit zu schaffen. Sehr richtig, und dabei mit einer nüchternen Knappheit und Trockenheit, welche die Sache beinahe als selbstverständlich erscheinen und nichts ahnen läßt von der langen Ge- schichte der Irrungen, die sie hinter sich hat (und von der uns die Meta- physik weit mehr berichtet), lehrt er im dritten Kapitel der Hermeneutik, daß das Sein oder Nichtsein und ebenso das Seiende kein Zeichen einer Sache sei (nichts SachUches bedeute), wenn man es kahl allein für sich sagt. „Denn für sich allein", fährt er fort, „ist es nichts: es bedeutet nur eine Verbindung, die man, ohne etwas anderes, noch dazu Gesetztes nicht denken kann."^) Und dementsprechend lehrt er an verschiedenen
1) Rpl. 477 A: -rrüjc y^P öv fii] öv ye ti Y^uLicGeiri; 'iKaviIic ouv toOto äxoiJLev, Koiv €1 uXeovaxr) CKorroi^ev öti tö ^€v -rravT€Xüüc öv TravTeXuJc y^iajctöv, |ui^ öv M iur|6a)uri iravTri äYvuucTov; 'JKavuÜTaxa. Diese Stelle allein würde genügen, die Priorität der Republik vor dem Sophistes zu erweisen. Im andern Fall müßte sich Fl. von dem Sieg über die Eleaten, als welchen sich der Sophistes dar- stellt, wieder losgesagt haben, ehe er die Republik schrieb, eine Annahme, welche ebensosehr aller inneren Wahrscheinlichkeit wie aller äußeren Zeugnisse und Bekräftigungen (wie z. B. der sprachlichen Indizien) entbehrt. Vgl. S. 267 Anm. L
2) Herm. 16b 22 ff. oub^ yäp tö elvai f| .u^^ €ivai criiueTöv ecri tou -rrpdYMaxoc, oöb' edv TÖ öv eiirrjc aCiTÖ KaG' ^auTÖ \\)\\6v. auTÖ |udv Yctp oubev ^cti, Trpoccr]|uaiv€i bk cuvOeciv Tiva, r\v ävev tOuv cuYKei|uevuuv oCjk ecTi vorjcai.
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276 ^^^ Dialog Sophistes
Stellen der Metaphysik^), man könne die Tatsache, daß der Begriff des Seins kein neues Merkmal zu der Sache hinzubringe, daraus entnehmen, daß man das ujv oder ov zu jedem beliebigen, welcher Kategorie auch immer angehörigen Worte hinzusetzen könne, ohne irgendetwas an der Bedeutung zu ändern: ujv av8puuTT0c und avOpujTTOv eivai besagen ganz das nämliche wie dvGpuuTroc. Gewiß. Denn das qualitative öv gibt nur die Hinweisung auf die folgende Prädikatsbestimmung, das modale öv aber fügt dem Begriff kein neues Merkmal hinzu.
Aristoteles hat also die Leerheit dieses Begriffes, der in seinen ver- schiedenen Bedeutungen nur ursprüngliche Formvorstellungen unseres Geistes, nicht Gegenstandsvorstellungen enthält, zuerst klar erkannt. Er erscheint da in der Tat, um einen Ausdruck, dessen er sich gelegentlich in bezug auf Anaxagoras bedient, auf ihn selbst anzuwenden, wie ein Nüchterner gegenüber Phantasten, und unsere Bewunderung wird dadurch nicht gemindert, daß er nur induktorisch, durch Beobachtung der Sprache und des Urteils zu seinem Ergebnis gelangte. Er unterscheidet zutreffend zwischen dem qualitativen öv (dem öv der Kategorien) und dem modali- schen (dem öv üuc dXriGec r) u/eube'c) und lehrt richtig, daß das erstere kein einheitlicher Gattungsbegriff sei, sondern sofort in die Kategorien
1) Z. B. Met. 1003b 26 raurö yap eic ävGpujTToc Kai Ouv äv6pujTroc Kai ävGpuj- TToc vgl. 1054a 13. Damit kann man sehr einleuchtend die Schiefheit des plato- nischen |nr| öv aufzeigen. Setze ich nämlich uVi öv ganz nach Analogie von luf) KaXöv, ijLY] dyaeöv, wie es Piaton Soph. 257 8 ff. tut, so ergibt sich aus der An- wendung der aristotelischen Regel folgendes: ,ufi KaXöv besagt nicht mehr und nicht weniger als m>1 KaXöv öv, \j.y] dyaOGv ist dasselbe wie ,uii dyaeöv öv usw. Also ist auch das diesen analoge lui^ öv nicht verschieden von einem }jii] 6v öv. Daraus ergibt sich die Nichtigkeit oder Unrichtigkeit dieses platonischen (quali- tativen) ,uy-| öv ganz augenscheinlich. Es ist eine falsche Abstraktion und ein verfehlter Ausdruck für Non-A. Denn in Non-A bedeutet A eben das Merkmal, die Beschaffenheit, die negiert wird, und zu der nach der aristotelischen Lehre das öv, ohne daß dadurch in der Bedeutung des A etwas geändert würde, hin- zugesetzt werden kann. Eben dies leere öv, das seine Bestimmung erst durch das hinzugesetzte A erhält, setzt Piaton an die Stelle von A selbst, als drückte dies öv eine positive Beschaffenheit aus. Das verallgemeinerte yii] koXöv usw. ist nicht ,u)i öv, sondern vielmehr ,Lni öv toioOto, d. h. nicht das Nichtseiende, sondern das Nicht-so-Seiende. Das bloße uri öv für sich hat einen wirklichen Sinn eigentlich nur in modalischer Bedeutung, in die es auch bei PI. zufolge der oben geschilderten Erschleichung alsbald übergeht. Nehme ich es in diesem Sinn, so kann ich dann auch nach obiger aristotelischer Regel ohne Unvernunft sagen }j.y] öv öv. Denn dann ist das zweite öv nicht eine sinnlose Verdoppelung des ersten; vielmehr sind sie dann verschiedene Vorstellungen, das eine quali- tativ, das andere modalisch: das Nicht-seiend-Seiende d. i. das Nicht-wirklich- Seiende.
Aristoteles und Kant 277
zerfalle, d.h. in diejenigen obersten Begriffe, unter welche der Gehalt der Anschauung, als Prädikat im Urteil gefaßt, fällt.
Die völlige Aufklärung über dies öv konnte uns freilich erst Kant geben durch die Untersuchung der Beschaffenheit unseres Erkenntnis- vermögens selbst. So verdanken wir ihm den unwiderleglich klaren Nach- weis, daß das modalische Sein, das Dasein, kein eigentliches Prädikat, keine Bestimmung von irgendeinem Ding sei, wenn auch logisch die Existenz einem Dinge wie ein Prädikat beigelegt werden kann. Reell ge- nommen ist es keines^). Soweit man ohne Kritik der Vernunft kommen kann, so weit ist Aristoteles in dieser Sache vorgedrungen. Und das ist kein geringer Ruhm. Aristoteles hat die Logik nicht geistlos gemacht, wie ihm manche Neuern und auch schon manche Akademiker und Neo- platoniker vorgeworfen haben, wohl aber hat er sie entgeistert. Er hat ihr alles Mystische, alle angebliche Kraft genommen, uns unmittelbar an den Quellpunkt aller Dinge, des Sinnlichen und des Übersinnlichen, zu erheben. Und das hat er erreicht einmal dadurch, daß er den täuschen- den Schein des öv zu bannen wußte, sodann dadurch, daß er mit seiner Lehre von der Bezeichnung des Urteils das klare Prinzip der Unter- scheidung des Urteils von bloßen Vergleichungsformeln gab, mit denen eine überfliegende Spekulation leicht das Höchste erreichen zu können hoffen darf.
6. MODERNER PLATONISMUS.
Wenn wir im folgenden von Piatonikern und Aristotelikern in Be- ziehung auch auf die neuere Geschichte der Philosophie reden, so meinen wir damit nicht den Gegensatz der beiderseitigen Weltansicht, sondern den verschiedenen Geist der Methode des Philosophierens. Es handelt sich also nicht um Platoniker und Aristoteliker im gewöhnlichen Schul- sinn, überhaupt nicht um fertige Resultate und deren Anerkennung, son- dern um die Art und Weise zu Resultaten überhaupt zu gelangen. Piaton und Aristoteles erscheinen dabei als typisch für gewisse, sich in mannig-
1) Das Kantische modalische Sein verteilt sich bei Aristoteles, näher zu- gesehen, auf zwei Gebiete. Es ist l. das öv übe dX^Gec f\ \\)evbic und 2. das öv buvd^ei Kai evTeXexeva. Bei letzterem ist aber wohl zu beachten, daß bei Ari- stoteles diese Begriffe eine unmittelbare physische Beziehung haben als an- gebliches Prinzip des Werdens, während die Kantischen Kategorien des Mög- lichen, Wirklichen und Notwendigen richtig bloß das Bewußtsein von den sub- jektiven Stufen unserer Erkenntnis bezeichnen (denn in der Natur selbst, ob- jektiv genommen, gibt es nur Dasein und notwendige Bestimmung desselben).
278 ^^^ Dialog^ Sophistes
fachen Variationen wiederholende Verfahrungsarten, für die sie nicht un- mittelbar und im einzelnen einzustehen haben.
Aristoteles ist und bleibt der Begründer der Logik, der wahren und gesunden Logik. Es ist ein grober Irrtum zu glauben, daß es neben seiner, der niederen Logik, wie man sie wohl geglaubt hat nennen zu können, eine höhere, geistvollere gäbe, die uns den Blick in das wahre Wesen der Dinge eröffne. Das ist nichts als Rückkehr zum logischen Mystizismus Piatons. Daß dieser Mystizismus durch Aristoteles zwar wissenschaftlich längst überwunden ist, nichts destoweniger aber ge- schichtlich noch ein jahrtausendelanges Dasein geführt hat, klingt sonder- bar, hat aber seinen guten Grund. Der platonischen Abstraktionsweise nämlich scheint eine Art geheimer Zaubermacht beizuwohnen. Sie hat etwas Verführerisches und Verheißungsvolles für alle diejenigen, die dem Versuche nicht widerstehen können, zu einer höchsten Einheit zu ge- langen, aus der alles und jedes abzuleiten sei. Die nüchterne Logik des Aristoteles mit ihrem unerbittlichen Satze des Widerspruchs, mit ihrer Forderung bestimmter Erkenntnis (durch Bezeichnung des Urteils) setzt allen solchen übergreifenden Versuchen einen unbequemen Widerstand entgegen und ruft die erdenflüchtige Spekulation von der Betrachtung des All-Eins in störender Weise zurück zu dem Mannigfaltigen dieser ganz gemeinen Sinnenwelt. Das Hauptgeschäft des Aristotelikers in seiner logischen Tätigkeit ist das Trennen und Unterscheiden; dem Platoniker liegt mehr daran zu verbinden und zu vergleichen. '0 cuvotttiköc bia- XeKTiKÖc, sagt kurzweg die Republik (537 C) und das eic )uiav ibeav cuv- opäv (Phaidr. 265 D) ist das Hauptgeschäft des Dialektikers^). Der Platoniker sucht in allem das Ähnliche und Gleiche und läßt die Ver- schiedenheiten fallen, um alsbald zur Einheit, zum Prinzip zu gelangen, wogegen der Aristoteliker gerade auf die Unterschiede im Differenten achten wird.
Wenn es nun die allgemeine Aufgabe aller Spekulation ist, Einheit in das zerstreute Mannigfaltige der Erfahrung zu bringen, so hat die plato-
1) Allerdings legt Piaton, wie bekannt, nicht minder großes Gewicht auf das ömipe'iceai, z. B. Phaidr. 265 Df., 266 B, 273 E; Soph. 253 D; Polit. 285 Äff. Aber es handelt sich immer nur um die Unterschiede innerhalb der Begriffs- welt irpiv äv TOtc biaqpopdc \br] -rrdcac, öiröcaiTrep ^v €iÖ€Ci Keivxai. Das Dif- ferente der Sinnenwelt, die uns doch unmittelbar die Subjekte für das Urteil liefert, wird gern übersprungen. Daher die durchgehende Vernachlässigung der Bezeichnung des Urteils bei Piaton. Durch diese Bezeichnung aber bekundet sich gerade die genaue Beachtung der sinnlichen Unterschiede. Piaton ist immer gleich bei der analytischen Einheit, dem Begriff. Die Synthesis der Anschauung kümmert ihn wenig.
Mannigffaltigkeit und Einheit 279
nische Art zu abstrahieren offenbar den Vorzug großer Bequemlichkeit und Behendigkeit. Das einzelne tritt rasch zurück hinter gewisse allge- meine Ähnlichkeiten und scheint oft schon erklärt, ehe es überhaupt ge- geben ist. Denn die erklärende Einheit ist rasch bei der Hand. Der Aristoteliker dagegen muß sich mühsam und weitläufig erst in der Er- fahrung zurecht finden und die Erklärung des Mannigfaltigen sorgfältig hinausschieben. Denn die Verschiedenheit des Mannigfaltigen ist unserer Vernunft ebenso wesentlich wie das Gesetz der Einheit und läßt sich <lurch dieses nicht vernichten. Nur in langsamem Aufstieg, Schritt für Schritt, kann sich der Aristoteliker dem Gesetze der Einheit nähern, nicht im Fluge, wie der Platoniker.
Dem ganzen Geiste des Verfahrens beider entsprechen auch ihre ■logischen Mittel. Die dem Platoniker so unliebsame Mannigfaltigkeit des Differenten findet im Urteil ihren Ausdruck in der Bezeichnung des Sub- jektes. Diese allein gibt, wie früher dargelegt, wirkliche Urteile. In solchen und ausschließlich in solchen bewegt sich die Logik der Aristo- teliker. Dem Platoniker dagegen ist mit dem präzisen Urteil nicht gedient. Er will ja das Mannigfaltige nicht sicher bestimmen, sondern vielmehr sich über dasselbe erheben zur alles in sich ausgleichenden Einheit. Für ihn sind also nicht die lästigen Urteile, sondern die elastischen Verglei- -chungsformeln das logische Handwerkszeug. Diese fordern keine genaue Beziehung des Subjektes auf die Fülle des Differenten, sondern heben den aufwärts Strebenden rasch und bequem über das Mannigfaltige dieser •Sinnenwelt hinweg, empor zur Höhe des einheitlichen Prinzips. Wer, nicht minder nach Wahrheit ringend als jener, durch das Bleigewicht der ari- stotelischen Logik gehindert wird, dem raschen Fluge jenes zu folgen, der erscheint in den Augen der Emporgehobenen unvermeidlich als ein Zurückgebliebener, als ein Uneingeweihter, als ein halber, der das eigent- liche Geheimnis der Philosophie gar nicht versteht. Denn ihm geht das wichtigste Organ für Erfassung der Wahrheit ab: die intellektuelle An- schauung, die ohne die Weitläufigkeiten der Reflexion, unbehelligt durch logische Spaltungen und sonstige Unbequemlichkeiten, unmittelbar das Höchste ergreift, das den Erklärungsgrund für alles abgibt.
Gerade diese leidige Reflexion ist es, an welcher der Aristoteliker mit Zähigkeit festhält und die zu überspringen ihm unverträglich mit den Ge- setzen des menschlichen Denkens scheint. Die Natur der menschlichen Vernunft läßt es nicht zu, aus der Erkenntnis eines obersten Prinzips all unser Wissen abzuleiten. Aus dem Allgemeinen kann nie das Besondere und Einzelne selbst, sondern nur dessen notwendige Bestimmungen ent- springen. Zu jedem Beweis, zu jedem Schluß brauchen wir wenigstens
280 ^^'" Dialog Sophistes
zwei Prämissen: mit einem Grundsatz allein kann eine Wissenschaft gar nichts anfangen.
Seit Reinhold (der ältere) die Forderung aufstellte, alles menschliche Erkeanen an einen einzigen Ring zu hängen, alles unser Wissen auf ein oberstes Prinzip zurückzuführen und den ganzen Inhalt unseres Wissens aus diesem obersten einen Punkte wieder zu entwickeln, haben Fichte,. Schelling und Hegel diese Aufgabe zu lösen versucht, jeder auf seine Art, aber alle in platonischer Abstraktionsweise, mit Hilfe von bloßen Vergleichungsformeln, unter Verachtung der aristotelischen Logik, unter Beseitigung der richtigen Urteilsform: Fichte mit seinem Ich bin Nicht- Ich, Schelling mit seiner totalen Indifferenz und Hegel mit seinem Sein ist Nichts. Bloß ihr logisches Verfahren gilt es hier hervorzuheben.
Fichte begeht logisch einen Fehler wie den, welchen wir oben an Piaton zu rügen hatten. Piaton nannte das luiq KaXöv nur verschieden von dem KttXöv und nicht ihm widersprechend. Fichte versichert ausdrück- lich, sein Nicht-Ich wäre kein diskursiver, dem Ich entgegengesetzter Be- griff. Also ist es nur etwas vom Ich Verschiedenes. Denn nur diskursive Vorstellungen können sich widersprechen, andere Vorstellungen sind nur verschieden. Fichtes Nicht-Ich kann also zu seinem Ich, seiner eigenen Erklärung zufolge, nicht in dem Verhältnis von Non-A zu A stehen. Gleichwohl kann man bei ihm lesen (und damit geht er über die plato- nische Logik noch hinaus, wenigstens die des Sophistes, nicht so die des Protagoras): „von allem, was dem Ich zukommt, muß kraft der bloßen Gegensetzung dem Nicht-Ich das gerade Gegenteil zukommen." Also Ver- wirrung von Verschiedenheit, Widerstreit und Widerspruch, wie bei Platon^ nur in anderer Anwendung und mit viel weiter greifenden Konsequenzen. Sagt der aristotelisch Abstrahierende „A ist nicht B", so meint er, daß B in A aufgehoben zu denken sei, während es dem andern nur bedeutet^ daß sich A von B unterscheide (wenn er sie auch im weiteren Verlauf gelegentlich als widersprechend behandelt). Sagt der erstere „Ich bin Ich,, so meint er die völlige Identität, während der letztere damit nur sagt, daß sie nicht durchaus verschieden seien. Und so können denn die beiden Sätze „Ich bin Ich" und „Ich bin Nicht-Ich", die dem Aristoteliker ein un- überwindlicher Widerspruch sind, hier sehr wohl zusammen bestehen, ganz wie in unserem Sophistes die beiden Sätze friedlich nebeneinander hergehen: „Bewegung ist seiend" und „Bewegung ist nicht seiend".
Schelling spricht die Identität des Ewigen und Endlichen gern in dem Satze aus: „Das Ewige ist das Endliche, das Freie ist das Natür- liche." Da es nun eine Wissenschaft des Natürlichen und Endlichen gibt, so müsse es auch eine Wissenschaft des Freien und Ewigen geben. Es
Reinhold • Fichte • Schellingf • Hegel 281
ist wieder ungenaue Behandlung der logischen Urteilsformen, die zu diesem Fehlschluß geführt hat, wieder platonische Abstraktion. Keiner von beiden obigen Sätzen enthält ein wirkliches Urteil. „Das Ewige ist das Endliche" ist kein eigentliches Urteil, sondern eine Vergleichungs- formel, und zwar eine Vergleichungsformel zweier Subjekte^), die sach- lich richtig ist, aber als Urteil behandelt zu Irrtum führt. Wie ich ohne Fehler sagen kann: „Das Blaue ist das Grüne" (in dem Sinne: „der blaue Gegenstand ist der nämliche wie der grüne"), wenn mir ein Gegenstand, der tatsächlich blau ist, in bestimmter Beleuchtung grün erscheint, so kann ich auch sagen: „das Ewige ist das Endliche." Denn da die Dinge, welche erscheinen, auch die Dinge an sich sind, so stehen dieselben Dinge unter zwei entgegengesetzten Gesetzgebungen. Als Erscheinungen stehen sie unter den Gesetzen der Naturnotwendigkeit und als Dinge an sich unter der Idee der Freiheit. Allein für Schelling gestaltet sich die Sache alsbald anders, indem er aus der richtigen Vergleichung zweier Subjekte die falsche Vergleichung zweier Prädikate macht und die Formel so auffaßt, als bedeute sie auch so viel als „die Ewigkeit ist die Endlich- keit", „die Naturnotwendigkeit ist die Freiheit". Nur so kann er zu seiner Behauptung gelangen, es gebe auch eine Wissenschaft des Absoluten. Es ist der nämliche Fehler, als wollte ich in obigem Beispiel aus der Tat- sache, daß ein Gegenstand, der blau ist, unter Umständen auch grün erscheinen kann, die Folgerung ziehen, daß Blau und Grün ein und das- selbe, daß sie identische Begriffe seien.
Auch Hegels berühmtes „Sein ist Nichts" ist lediglich Vergleichungs- formel, nicht Urteil. Es hat sein genaues logisches Gegenstück in dem platonischen Satz unseres Sophistes: das Nichtseiende ist seiend (258 D). Wäre es wirkliches Urteil, so würde es besagen müssen: „alles, was existiert, ist Nichts". Aber nicht dies ist die Bedeutung des großen Wortes, sondern vielmehr die, daß die beiden Begriffe, wenn auch an
1) Neben jener oben im dritten Kapitel besprochenen Vergleichungsformel, in der zwei Prädikate (d. i. zwei allgemeine Begriffe ihrem Inhalt nach) mit- einander verglichen werden, gibt es noch eine zweite Art, nämlich die Ver- gleichung zweier Subjekte, d. h, zweier Begriffe ihrem Umfange (den unter ihnen stehenden Gegenständen) nach. Nach dieser zweiten Art müßte ich z. B. sagen: „Alle Sterne sind einige Körper." Ist die erstere Art der Vergleichungs- formel für ein Urteil zu wenig, so geht die zweite eigentlich über das Urteil hinaus, indem sie ein solches schon voraussetzt. Ich muß schon wissen, in welchem wirklichen Verhältnis die einzelnen Sterne zum Begriffe Körper stehen, ehe ich diese zweite Vergleichungsformel aufstellen kann. Dies zugleich zur Richtigstellung der oben S. 250 f. mitgeteilten Ansicht des jüngeren Reinhold.
282 D^'' Dialog Sophistes
sich, wie Hegel selbst sagt, Gegenteile, doch miteinander gleich sind. Wie aber kann sich dies Wunder vollziehen? Genau wie bei Piaton da- durch, daß das „Sein" in verschiedenem Sinne genommen wird. Nach Hegels eigener Erklärung soll sein „Sein" das prädikat- und eigenschafts- lose Sein bedeuten, nämlich den reinen, leeren Existenzbegriff, d. h. das rein modalische Sein. Dies wäre nun in der Tat das qualitative Nichts. Dies qualitative Nichts ist aber nicht das Gegenteil vom modalischen Sein, d. h. von dem Begriffe der Existenz; diese hat vielmehr zum Gegenteil die Nichtexistenz, d. i. das modalische Nichts, welches dem modalischen Sein (dem Dasein) ewig entgegengesetzt bleiben wird.
Nur durch diese Verwirrung der Begriffe einerseits, sowie durch die Unbestimmtheit bloßer Vergleichungsformeln an Stelle bestimmter Urteile anderseits konnte Hegel zu seinem Satze kommen, mit dem er das Ge- heimnis der Welt deuten zu können meinte. Mit seinem leeren Sein als dem Urquell von allem und jedem geht Hegel noch weit über Piaton zu- rück zu den Eleaten; aber diese hielten doch trotz der Ausscheidung alles sinnlichen Inhalts aus ihrem Seinsbegriff den Begriff des Nichts sorgfältig davon fern; sie würden höchlich erstaunt gewesen sein über die Ehe zwischen dem Sein und dem Nichts und noch mehr über das angeblich legitime Kind dieser Ehe, über das Werden. Dieses hätten sie nicht einmal als einen Bastard gelten lassen, denn ihre Betrachtung des Werdens hatte mit dem Sein gar nichts zu tun. Das Hegeische Nichts in seiner Unbestimmtheit würde vor des Aristoteles Augen wenig Gnade gefunden haben. Denn dieser schied scharf zwischen dem mi öv der Kategorien (Kaia id cxriiuaia tüuv Kaiivfopiujv Met. 1089^ 15 ff.) d. i. dem qualitativen Nichts, und dem Mn öv ibc ijjeubec (oder auch ctTiXiLc )ufi 6v), d. i. dem modalischen Nichts, ein Unterschied, der bei Hegel ganz ver- wischt ist. Und noch weniger würde diese Lehre vor Kants Kritik be- stehen, der in der Kritik d. r. V. sehr richtig am Schlüsse des klassischen Kapitels über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe zeigt, daß nur im Gegensatz zu den klaren Bestimmungen eines Gegenstandes überhaupt der Begriff des Nichts von unserer Vernunft gedacht werden könne, also nur im Gegensatz zu denjenigen Bestimmungen, die durch die Kategorien gegeben sind. Ohne diese können wir überhaupt nichts denken, sie sind die Angelbänder unserer Denktätigkeit. Demgemäß bezeichnen wir im Gegensatz gegen jede wahre Erkenntnis die Bestimmung des Gegen- standes in einer abgerissen nur abstrakt gedachten Vorstellung, die le- diglich subjektive Geltung hat, als „Nichts". Nun wissen wir, daß jeder Gegenstand einer wahren Erkenntnis Einzelnheit, Realität, Wesenheit und Dasein hat; jede abstrakte Vorstellung also, der eine von diesen Bestim-
Bedeutung des Nichts 283
mungen fehlt, hat eine besondere Art von Nichts zum Gegenstande. Nichts ist daher im Gegensatz gegen das einzelne das nur Allgemeine, der bloße Begriff von einer Art von Dingen, die Regel allein, ohne die Fälle der Anwendung, der Begriff, dem kein Gegenstand der Anschau- ung entspricht. Ferner sind „Nichts" abstrakte Verneinungen im Gegen- satz gegen die Realität. Weiter im Gegensatz zu der Wesenheit ist „Nichts" die abstrakt leer gedachte Form der Zusammensetzung oder Verknüpfung, wie z. B. der leere Raum, die leere Zeit. Endlich ist „Nichts" das nur Eingebildete oder auch sich Widersprechende usw. Also immer nur in bestimmten Gegensätzen nach Maßgabe der Kategorien können wir das „Nichts" vor dem Bewußtsein festhalten, als subjektive Vorstel- lung. Eine objektive Bedeutung kommt dem Nichts überhaupt nicht zu, wie sie ihm Hegel gibt, indem er es dem Sein gleichstellt, zu dem er es anderseits wieder in einen rohen Gegensatz bringt als abstraktes, abso- lutes Nichts, das überhaupt keine Abstraktion ist, da wir uns das Nichts ohne jene notwendigen logischen Unterscheidungen überhaupt nicht denken können. Und nicht minder willkürlich ist die Art, wie dies Nichts zum Grunde des Anderssein, der Existenz des Besonderen, gemacht wird. Dergleichen war verzeihlich für Piaton, der in ähnlicher Weise in unse- rem Sophistes^) aus der Verbindung des |uf] öv mit dem öv die TroWct ovra hervorgehen läßt, und vielleicht noch verzeihlicher war es, trotz des Abstandes der Zeiten, für einen Thomas Campanella, der in seiner Meta- physik ganz hegelisch zeigt, wie aus dem Sein und Nichtsein etwas Drittes, das Besondere, einzelne der Wirklichkeit werde: compositio entis €t non-entis facit tertium, quod non est ens purum nee non-ens. Non •enim homo est nihil, sed nee prorsus ens, sed est hoc ens aut aliquod ens. Est autem aliquod, quia non est omnia entia. Ergo non esse facit, ut Sit aliquod non minus quam esse etc.
Dem Piaton also und Campanella sei das vergeben. Aber daß Ahn- liches in unserem Jahrhundert soviel Bewunderung und Nachfolge finden konnte, wird immer eine merkwürdige Tatsache bleiben. Der Grund da- von liegt in dem blendenden Schein platonischer Abstraktionsweise, deren im Sophistes vorliegende Grundzüge Hegel ins Große ausgestaltet hat.
Ein unverkennbarer Anklang an diese Hegeische Logik und zugleich ein bemerkenswertes Zeugnis für die berückende Kraft, die Piaton auch
1) Zu den im Texte angegebenen Analogien sei noch folgende gefügt: wie im Sophistes das Nichtseiende mit dem exepov identifiziert wird, so ist für Hegel die Negation das Anderssein (während doch das Anderssein erst an- schaulich gegeben sein muß, ehe der Verstand die Negation darauf anwenden ikann).
284 Der Dialog Sophistes
in seinen offenkundigen Fehlern nicht verleugnet, ist die Auffassung des Gegensatzes von A und Non-A, welche Zeller in der neuesten Auflage seines Piatonbandes im Anschluß an den Sophistes vertritt. In der Dar- stellung der Ideenlehre kommt er auf die Frage nach der Verbindung des Einen und Vielen zu sprechen und damit auch auf die Lehre des Sophistes von der Gemeinschaft der Geschlechter.
„Schon frühe", heißt es da (Phil. d. Gr. II 1^ p.678f.), „hatte sich ohne Zweifel dem Plato die (durch des Antisthenes und anderer Behauptungen veranlaßte) Frage aufgedrängt, wie einem Subjekt von ihm selbst ver- schiedene Eigenschaften und Merkmale zugeschrieben werden können, wie etwas zugleich ein anderes, eines zugleich vieles, A zugleich Non-A sein könne? Alles dieses, erklärt er, sei möglich, weil eben A und Non-A sich nicht notwendig ausschließen, Non-A nicht bloß das Gegenteil von A, sondern alles von ihm Verschiedene bezeichne."
Damit ist Piatons Meinung ganz richtig wiedergegeben. Aber man ist einigermaßen erstaunt, diese Ansicht in der Anmerkung S. 679, 1 als die wahre logische Weisheit uns Kindern des neunzehnten Jahrhunderts empfohlen zu sehen. Da heißt es nämlich:
„Und Piaton hat damit, beiläufig bemerkt, eine Wahrheit ausgespro- chen, deren sich (um von Herbarts parmenideischen Behauptungen nicht zu reden) auch die heutige Logik noch erinnern dürfte. Denn die her- gebrachte Annahme, daß zwischen A und Non-A ein kontradiktorischer Gegensatz stattfinde, und jedes Ding entweder A oder Non-A sei, wird sofort hinfällig, wenn man sich durch Piaton überzeugen läßt, daß das |Lin öv, das Non-A, nur das von einem bestimmten öv verschiedene be-. zeichnet, das aber nicht mit ihm unvereinbar zu sein braucht, und daher jedem A viele Non-A zukommen."
Also es sei A = rund, Non-A = nichtrund. Nehmen wir Zeller beim Wort, so kann demnach das Runde auch nicht rund sein. Das ist jedem Aristoteliker barer Unsinn. Nicht so dem Platoniker. Er kalkuliert so: in der Sphäre des Begriffes nichtrund kann vieles stehen, was auch dem Runden als Prädikat beigelegt werden kann, z. B. rot ist nicht rund; gleichwohl kann der Begriff „rot" Prädikat des Subjektes „das Runde" werden. Darauf wäre zu erwidern: Allerdings ist der Begriff rot nicht identisch mit dem Begriff rund, aber darum gehört rot doch nicht in die Sphäre des Begriffes „nichtrund", denn das Rote kann ja auch rund sein. Gehörte es wirklich (d. h. vollständig) in die Sphäre des Nicht- runden, dann könnte das Nichtrunde auch rund sein. Aber das ist nicht der Fall. Denn die Sphäre des Roten steht weder zu der des Nicht- runden, noch zu der des Runden im Verhältnis der Unterordnung. Sie
Zeller und der Sophistes 285
Tiat vielmehr Anteil an beiden. Rund und rot sind disparate Begriffe. Ein von A verschiedener Begriff kann an sich ebensowohl zu A gehören wie zu Non-A, sei es ausschließlich, sei es mit geteilter Sphäre. Nur wenn ein Begriff ganz in die Sphäre eines andern gehört, verträgt er sich logisch nicht mit dem kontradiktorischen Gegenteil dieses andern Begriffs. Also z. B. der Würfel gehört unter den Begriff des Nichtrunden. Mithin kann ein runder Gegenstand nicht Würfel sein. Denn wenn A = rund ist, so ist Würfel hier in der Tat ein Non-A. Nimmermehr aber ist unter der gleichen Voraussetzung „rot" ein Non-A. Vielmehr ist die Sphäre des Roten zwischen A und Non-A geteilt.
Wer das Non-A nur als das von A Verschiedene nimmt, braucht die Negation offenbar nicht als wirkliche Negation, sondern als bloßes Unter- scheidungszeichen, wie in der Vergleichungsformel. Und das ist ja nie- mandem verwehrt. Nur mit der Logik hat das nichts gemein. Denn die Logik hat es mit wirklichen Urteilen zu tun; für diese aber bedeutet Ne- gation nichts anderes als Ausschließung. Das logische Non-A hat seine Beziehung durchaus auf das Urteil, wie es auch aus dem Urteil stammt, nämlich aus dem Satz der Bestimmbarkeit.
Es kommt hier eben alles auf die genaue Unterscheidung von Ver- schiedenheit, Widerspruch und Widerstreit an und im engsten Zusammen- hang damit auf die Unterscheidung von Vergleichungsformel und Urteil. Wer diesen Unterschied nicht beachtet oder anerkennt, der entzieht aller Logik ihr Fundament. Zeller verwischt diesen Unterschied und führt uns wieder zu Piaton zurück, von dessen Mißgriffen auf diesem Gebiet uns befreit zu haben eben das leuchtende Verdienst der aristotelischen Logik war. Piaton folgert daraus, daß ein Seiendes nicht bloß seiend, sondern daneben z. B. auch ruhend sein kann, „ruhen" aber etwas anderes ist als „sein" (d. h. ein davon verschiedener Begriff), daß das Seiende auch nichtseiend sein könne. Diese verhängnisvolle Unbeholfenheit, die auf dem doppelten Irrtum 1. der Verwechslung von Vergleichungsformel und Urteil, 2. der Verwechslung von Modalität und Qualität beruht (ganz wie bei Hegel), war für Piaton verzeihlich. Weniger verzeihlich ist sie für uns, die wir bei Aristoteles und bei Kant in die Schule gegangen sind. Der Satz der Bestimmbarkeit wird sein Recht in alle Ewigkeit behaupten. Wer ihn leugnet, für den könnte auch nicht gelten: „jedes Urteil ist entweder wahr oder nicht wahr". Denn jedem A „kommen auch viele Non-A zu". Jedes Wahre ist also auch nicht wahr. Also wäre auch die Leugnung des Satzes der Bestimmbarkeit, wenn sie auf Wahrheit beruht, zugleich nicht wahr. Allerdings, jede Wahrheit ist z. B. neben ihrer Wahrheit auch ■entweder wichtig oder nicht wichtig, also kann sie auch noch etwas an-
286 ^^^ Dialog Sophistes
deres als wahr sein. Aber kann sie darum nicht wahr sein? dies nur bei jener völlig verwischten Bedeutung der Negation, auf die sich die ge- sunde Logik nicht einlassen kann.
Das Non-A rein logisch genommen, unabhängig von jedem Erfahrungs- begriff, den ich für A einsetzen könnte, besagt zunächst offenbar nichts anderes, als daß die Merkmale von A in Non-A aufgehoben zu denken sind. Es bedeutet dasjenige, was nicht als Bestimmung des Begriffes A gedacht wird oder gedacht werden kann. Beide zusammen umschließen das All der Realitäten. Daher eben der Satz der Bestimmbarkeit. Das Non-A umfaßt alle möglichen Bestimmungen, die aus A ausgeschlossen sind. Völlig allgemein genommen hat A keinen höheren Gattungsbegriff über sich; die Ausschließung macht sich also hier ganz unmittelbar. In der Anwendung auf die Erfahrung zeigt es sich dann, daß das Non-A seinen nächsten Gehalt (seine nächste Bestimmung) immer erhält durch die zufolge der Erfahrungserkenntnis dem A widerstreitenden Vorstel- lungen, d. h. durch die Nebenarten. Das Nichtrunde ist zunächst das Eckige usw. Das Nichtrote ist zunächst das Grüne, Blaue usw., und so bezieht sich die Teilung in A und Non-A in der Erfahrungserkenntnis eigentlich immer zuerst auf den zunächst aufwärts liegenden Gattungs- begriff, also Rot und Nichtrot auf den Begriff der Farbe. Im weiteren Sinn aber umfaßt das Non-A zugleich alles, was sonst aus A ausge- schlossen ist. Man kommt bei der Begriffsüberordnung auch in der Regel sehr bald auf das All der Dinge; z. B. die Vorstellung „Farbe" be- greift dem Umfang nach schon die ganze Körperwelt in sich und es bleibt dann nur noch dije höhere Teilung: jedes Ding hat entweder Farbe oder ist farblos, was im Grunde sich ziemlich deckt mit dem Satze: jedes Ding ist entweder körperlich oder nicht körperlich. Teile ich also das All der Realitäten nach rot und nichtrot, so umfaßt das letztere 1. alle grünen, blauen usw. Körper, 2. alles, was nicht Körper ist. Aus der Tat- sache, daß für die erfahrungsmäßige Ausfüllung des Non-A immer zu- nächst die Artunterschiede innerhalb einer Gattung in Frage kommen (oder besser: aus der Tatsache, daß sich auf Grund der erfahrungs- mäßigen Erkenntnis des Widerstreites der Arten die allgemeine Abstrak- tion des Non-A bilden konnte; denn nicht durch das Non-A kommen wir auf die Nebenarten, sondern umgekehrt) folgt von selbst, daß sich A und Non-A ausschließen. A mit seinen Pertinenzen und Non-A füllen das All des Möglichen aus, wenn sie auch erfahrungsmäßig sich zunächst auf die Sphäre des Gattungsbegriffes beziehen. Das erklärt sich einfach daraus, daß dasjenige, was von dem Gattungsbegriff, z. B. von der Farbe aus- geschlossen ist, auch von dem Artbegriff, z. B. von dem Roten ausge-
Bedeutung- des Non-A 287
schlössen sein muß. Also das Nichtrote umfaßt außer dem Grünen, Gelben usw., d. h. außer einem Teile der Sphäre des Begriffes Farbe noch alles, was (iberhaupt keine Farbe hat und da sind wir schon bei dem All der Dinge angelangt.^) So ist es bei jeder solchen Disjunktion. Wir erhalten also immer klare und bestimmte Ausschließung, nur nicht in dem Sinne, wie es manche der griechischen Sophisten wollten, daß bei entgegengesetzten Begriffen nichts, was dem einen beigelegt wird, dem andern beigelegt werden dürfe, nach dem Rezept „die Rose ist eine Blume", also „was nicht Rose ist, ist auch nicht Blume". Dies war, wie wir oben gesehen haben, die Folgerungsweise des Gorgias, die vielleicht durch die Vorstellung von der Gleichheit von Subjekt und Prädikat er- zeugt war. Genau ebenso folgerte auch schon Melissos: „Wenn das Ge- wordene einen Anfang hat, so hat das Nichtgewordene keinen Anfang.^)
1) Dagegen könnte man einwenden, es wäre dann Nichtrot sowohl Farbe wie Nichtfarbe, also sowohl A wie Non-A, gegen den Satz der Bestimmbar- keit. Das ist natürlich nicht der Fall. Denn es gilt genau nach dem Satz der Bestimmbarkeit auch hier: Alles was nicht rot ist, hat entweder Farbe oder keine Farbe. Die Bestimmungen Farbig und Nichtfarbig füllen jede nur einen Teil der Sphäre von Nichtrot, während umgekehrt, was nicht farbig ist, auch nicht rot sein kann, d. h. Nichtfarbig gehört seiner Sphäre nach ganz in die Vorstellung Nichtrot.
2) Dies berichtet Aristoteles im 5. und 28. Kapitel der sophistischen Elen- chen, wo diese Folgerungsweise als ein sophistisches Fechterstückchen über- haupt besprochen und 181^26 so formuliert wird: ei yotp TÖbe tujö€ dKoXouOei, Tüj dvTiK€i|ui^vuj TÖ ävTiK€i|Lievov. Aristotclcs gibt natürlich darauf richtig Be- scheid, hatte auch in den vorhergehenden Büchern der Topica schon wieder- holt diesen Fall erörtert, z. B. 1 5, II 6, II 8, 111 6, IV 3. 6, V 6. 8, VI 9, VII 3. Auch Rhet. 11,23. 1397a 7 ff.; aber schon Piaton hatte in der Republik (454 B) dies Verfahren in einem einzelnen Fall als eristisch und als dvTiXoyia bezeich- net, wenn er den Fehler auch nicht mit den sichern Mitteln aristotelischer Logik nachweisen konnte. So unsicher Piaton theoretisch noch war in der Auseinander- haltung von Verschiedenheit und Widerspruch, Vergleichungsformel und Urteil, so sicher im ganzen zeigt er sich, abgesehen vom Protagoras, in praxi, wo es sich um Folgerungen auf das Gegenteil und Urteilsumkehrungen handelt. Man vergleiche die zahlreichen Fälle im Dialog Gorgias, namentlich 459 B, 478f., 495—497, um sich zu überzeugen, daß sich PI. vor Fehlern auf diesem Gebiet im allgemeinen wohl zu hüten weiß. Man vergleiche auch die Erörterung Meno 89 DE und die Art, wie kurz vorher 88 E von gegenteiligen Begriffsverhält- nissen logisch durchaus tadellos gehandelt wird. Wenn aber PI. im Parmenides (148 AB) einen ähnlichen Schluß mit kontradiktorischen Gegenteilen macht, so handelt es sich da um ein bewußtes Sophisma. Im übrigen sind seine Schrif- ten von logischen Ungenauigkeiten und hier und da auch Sophismen nicht frei,, doch liegen die Fehler meist nicht gerade auf der Oberfläche, fordern viel- mehr zu ihrer Klarstellung schon ein tieferes Eindringen in den Gedanken, wie
288 Der Dialog Sophistes
Nach sophistischer Ansicht scheidet der Gegensatz, sowohl der konträre wie der kontradiktorische — denn beide fließen noch ineinander — sämt- liche Begriffe in zwei feindliche Heerlager dergestalt, daß was einem Begriff irgend als Merkmal oder Prädikat beigelegt werden kann, dies
z. B. im ersten Buche der Republik, Für die sophistische Dialektik war der Paralogismus mit Folgerungen aufs Gegenteil ein willkommenes Widerlegungs- mittel. Bekannte Sätze und Gegenüberstellungen der vorsokratischen Philo- sophie gaben einer solchen Folgerungsweise einen Schein von Berechtigung, wie z. B. des Heraklit Ttcivra x^^P^i ^ai oübev uevei und des Parmenides „das Seiende ist", das „Nichtseiende ist nicht". Wenn ferner bei Wechselbegriffen die Einführung der gegenteiligen Begriffe für Subjekt und Prädikat (ohne Um- kehrung) logisch zulässig ist, wie Aristoteles An. pr. 68a3ff. richtig lehrt (mit dem Beispiel el xö dYevrixov aqpGapxov Kai xö äqpGapxov dy^vrixov, dvdYKri xö y^- vd|aevov qpGapxöv Kai xö qpGapxöv Y^Yovevai), so waren dergleichen nicht seltene Fälle bei desultorischer und willkürlicher Behandlung und bei dem Mangel einer systematischen Darstellung des Gegenstandes, wie sie eben erst Aristo- teles zu geben imstande war, ebenfalls eine Art Anweisung zu mißbräuchlicher dialektischer Ausnutzung der Sache. Dazu kommen die zahlreichen Fälle, in denen wegen des besonderen materiellen Verhältnisses der Begriffe Folge- rungen auf dasselbe Verhältnis gegenteiliger Begriffe zulässig sind. Von zahl- losen Beispielen hier nur einige wenige: bei Demokrit (Frg. 27 Mull.) finden wir: euxuxiic ö erri uexpioici xP^l^a^^i 6u0u|lXoO|U€voc, bucxux>ic be 6 im ttoXXoici bucGu|uovj|uevoc, Erastae 136 B bouXoirpeiTec r) KaKia, ^XeuG€poTrp€7T^c r\ dpexr]. Alkib. II, 134A der dqppuuv wird KaKiiic -rrpdxxeiv, der cuüqppiuv das Gegenteil. Ferner die häufigen Fälle, in denen Grund und Folge richtig bleiben, wenn man (ohne ümkehrung) die gegenteiligen Begriffe einführt, ein Fall, auf den Aristoteles öfters zu sprechen kommt, z. B. An. post. 78 b 17 ei t\ diröcpacic aixia xoö UY] ÜTrdpxeiv, y\ Kaxdqpacic xoü ÜTidpxeiv, wobei er unter aixiov aber richtig die ausschließliche Ursache versteht, widrigenfalls die Behauptung falsch wäre. Er erläutert dies durch folgende Beispiele: 1. wenn das Mißverhältnis zwischen Warm und Kalt die Ursache des Nichtgesundseins ist, so muß das rechte Verhältnis zwischen Warm und Kalt als die Ursache des Gesundseins gelten. Das ist richtig. 2. Die Wand atmet nicht, weil sie kein Tier ist; also müßte sie atmen, wenn sie ein Tier wäre. Das ist falsch. Denn es gibt auch Tiere, welche nicht atmen. De gen. et int. 336a 30. 336 b 9 ff. xOüv ^vavxiuuv dvav- xia aixia ,,wenn die Sonne durch das Hinzugehen und Nahesein Entstehen be- wirkt, wird eben dieselbe durch das Hinweggehen und Sichentfernen Vergehen bewirken" usw. Offenbar meint Aristoteles auch hier die eigentliche und aus- schließliche Ursache. Vorsichtiger drückt er sich darüber aus Phys. 195a Uff. (Met. 1013 b 13 f.) 6x1 bi xö auxö xiJüv ^vavxiojv ^cxiv aixiov ö Y^p irapöv aixiov xoübe, xoöxo Kai diröv aixnju|LieGa ^vioxe xoö ^vavxiou, oiov xi^v dirouciav xoö Kußepvrjxou xr|c xoö uXoiou dvaxpoufic, oö rjv 1^ -rrapoucia aixia xfjc cvjuxripiac. Der nämliche Fall, wie der vorige mit der Sonne, nur in etwas anderer Darstellung. All diese häufigen unmittelbaren Folgerungen auf das Verhältnis der gegen- teiligen Begriffe gaben gewissen Sophisten, angesichts der allgemeinen Un- kunde dessen, worauf es dabei ankam, hinlängliche Deckung für die ganz
Kontraposition 289
dem gegenteiligen Begriff nicht zukommen könne; vielmehr muß diesem in jeder Beziehung die gegenteilige Bestimmung zukommen. Die es so hielten, verschlossen sich eigensinnig oder mutwillig der Einsicht, daß der kontradiktorische Gegensatz zahllose gleiche Prädikatsbestimmungen für A und Non-A zuläßt, indem sich die Sphären dieser gleichen Prädi- kate zwischen beide verteilen. Hinsichtlich der spezifischen Merkmale des A findet aber vollkommener Ausschluß statt. Was ihnen sonst mög- licherweise an Prädikaten zukommt, kann sich dem Umfang nach zwischen beide verteilen. Denn es bildet nicht den spezifischen Inhalt, auf den es für den Gegensatz ankommt.
Diese sophistische Ansicht ist das genaue Widerspiel der besproche- nen modernen Ansicht über den Gegensatz von A und Non-A. Errichtete die Sophistik unerlaubte Schranken zwischen gegenteiligen Begriffen, so suchen die Vertreter der Identitätsphilosophie die tatsächlich durch die Natur unseres Reflexionsvermögens gebotenen Schranken zu verwischen. Die Logik, mit der sie das zu erreichen trachten, ist keine völlig origi- nelle. Es sind alte Schläuche, in denen sie neuen Wein fassen. Sie können sich auf Piaton als ihren Vorläufer berufen. Auf dem Vehikel bloßer Vergleichungsformeln gelangen sie zu jenem ersehnten höchsten Standpunkt der Betrachtung, von dem aus der Schleier des Universums gelüftet und das gesamte Land der Erkenntnis in seiner eigentlichen und wahren Gestalt dem Auge erschlossen sein soll.
Unsere Abhandlung verweilte etwas lange bei trockenen logischen Fragen. Aber vielleicht trägt sie doch etwas bei zu der Erkenntnis, wie innig diese logischen Quisquilien — als welche sie manchen erscheinen dürften — mit den höchsten Problemen des Denkens zusammenhängen, wie wichtig und entscheidend also für den ganzen Verlauf der Geschichte der Philosophie sie sind. Aristoteles läßt sich nicht ungestraft umgehen: die Gesetze des Reflexionsvermögens haften unserer Erkenntnis als un-
willkürliche völlige Verallgemeinerung der Sache, der gemäß Subjekt und Prädikat jedes allgemeinen Urteils ohne weiteres und ohne Schaden für die Richtigkeit der Behauptung in ihr Gegenteil verwandelt werden können. Neben- her sei bemerkt, daß es nicht richtig ist, wenn Zeller Ph. d. Gr. II 2, 225, 3 sagt, Aristoteles kenne noch nicht die conversio per contrapositionem. Daß er sie recht wohl kennt, zeigen Stellen wie Top. 113b 20f. (vgl. 124b 8f.) tuj |u^v Yctp dv0pd)Triu xö Tiijov ^'Trexai, tuj be uri dvGpuÜTruj xö luf] Z!luov ou, äW dväiraXiv TUJ jufi z;ujuj TÖ ouK dvGpujTToc. Soph. el. c. 28 (vgl, c. 5). An. pr. 53 b 12. Nur systematisch hat er sie nicht behandelt. Noch sei bemerkt, daß mit besonderer Vorliebe die Stoiker von entgegengesetzten Begriffen auf entgegengesetzte Folgen folgerten. Vgl. Cic. Tusc. V, 17, 50 contrariorum enim contraria sunt consequentia.
Apelt: Platonische Aufsätze. 19
290 ^^^ Dialog Sophistes
bequeme Mitgaben an und lassen sich durch keine intellektuelle Anschau- ung oder vermeintliche höhere Logik bei Seite schieben. Ein angeb- liches absolutes Wissen ist nichts als ein Traum. Die gesunde Logik hat damit nichts zu schaffen. Unser Wissen wird immer Stückwerk bleiben. Die Rückkehr von aristotelischer zu platonischer Abstraktions- weise war ein Anachronismus. Wir halten fest an der selbständigen Geistes- welt Piatons in Gestalt des Kantischen transzendentalen Idealismus, d. h. wir erkennen mit Piaton das Dasein einer höheren geistigen Welt als eine notwendige Forderung unserer Vernunft an, behaupten aber gegen ihn, daß uns eine positive Erkenntnis der Beschaffenheit dieser Welt, und wäre sie auch, wie bei Piaton, keine völlig adäquate, hienieden ver- sagt ist. Piaton ahnte das Richtige, aber seine fehlerhafte Dialektik ver- darb ihm das Konzept. Er sah viel weiter als Aristoteles. Dafür sah dieser weit schärfer in der Nähe. Seinen Belehrungen in Sachen der Logik müssen wir treu bleiben, wenn wir die Grundlagen gesunden Denkens nicht aufgeben wollen.
SACHREGISTER.
Abschreckungstheorie 196 ff.
Abstraktionen, ihre Schwie- rigkeit 52.
dbiöpicToi irpoTdceic 251 ff.
dKo\oi)0r|Cic TUJ Geuj 109 ff.
Albinus 109.
Alkinous 109.
Angenehme, das 125
Antinomien 5 f.
Antisthenes 231. 245.
Archestratos 108.
Aristoteles 13. 17f.26.30.36. 71. 100. 119f. 123. 130f. 132. 134. 135. 136. 144ff. 156. 161. 178f. 217. 219. 221. 225f. 235. 237. 239. 246. 251 ff. 261 f. 266 f. 275 ff. 285. 289. 290.
Aristotelische Abstraktions- weise 278 ff.
Aspasia 105.
Athen 170f. 184f.
Auslandsreisen 60 f.
«uTÖc -fviljcei 88.
B
Backs, H. 222. Baur, Chr. 20. Begriffe 4. 21 f. 33 f. 207 ff. Begriffe und Idee 7 ff. 15 ff. Besserungstheorie 190ff. Bezeichnung des Urteils
43. 253 ff. Bismarck 167. Boeckh, A. 147. Bonitz, H. 18. 91 f. 239. Brauchbare, das (xpriciiuov)
212ff.
Cicero 96. 183. 217. Contraposition 288 f.
D
Demiurg 28, Demokratie 173. Demokrit 123. 288. Deuschle, Jul. 85f. 91. öiaKpißoXoYGicGai 91 ff. Dialektik 15 f. 38 ff. 52 ff. Dialog 73ff. Diotima 105. 229f. Disharmonien bei PI. 50ff. Drama, das wahrhafte 70. Dümmler, Ferd. 231. Duris 71.
E Ehe 150. 177. Einsicht (qppövricic) 127.
171 ff. Eintracht 171 ff. Eleaten 7. 51. 258. 266f.
275. 282. Eltern 149 f. Empedokles 90. evavTiov und ^'xepov 240. Erfahrung und Verstand 59. Erfahrungserkenntnis 40f. Erfolg der Handlung 185. Erkenntnisweisen 37 ff. 53 ff. Eros 137. 143 ff. 150. Eryximachos 78. Erziehung, staatliche 177. Ethik, ihr Prinzip nach PI.
109 ff. Ethik, ihre Aufgabe nach
Xenokrates 96 f. Euripides 147. Eusebius 248.
Fichte, J. G. 280.
Fortschritt und Stillstand 56 ff.
Freiheit 160.politischel71ff.
Freiwilligkeit des Handelns 191 ff.
Fries, J. F. 155 f. 167. 232. 249 f.
G
Galilei 4.
Gefängnisstrafe 195.
Gegenteile, Wissen der- selben 204 f.
jeYUJveTv 230.
Geisteskrankheit 202.
Gemeingeist 173.
Gemeinschaft der Ge- schlechter (voivujvia tOüv Ycvujv) 242 f. 271.
Gerechtigkeit 114ff.
Geschlechtsbegriffe und Zahlbegriffe 219ff.
Gesetze (Piatons Dialog) 164f. 169ff. 187f.
Gleichheit, arithm. und geo- metrische 172.
Glosseme bei PI. 77.
Goethe 66. 116. 119. 125. 143.
Goldenes Zeitalter 84ff.
Gorgias 32 f. 239 f.
Gottähnlichkeit 109 ff. 162 f.
Gottesverächter 195.
Gute, das 125f. 139. 213ff.
Gymnastik 151 f.
H
V. Hardenberg 174. Hedone 122f. 19=^
292
Sachregister
Hedonismus 121 f. Hegel 281 ff. Heilkunst 153f. Heindorf, L. F. 91. Heraklit 4. 41. 90. 239.288. Herbart, J. F. 255. Hermann, K. F. 103. Herodikus 153. Herodot 108. Hippiasdialoge 76f. 105.
203 ff. Hippias Maior 206ff. Hippias Minor 203 ff. Hirtenkunst 84ff. 175ff. Hirzel, R. 47. 115. 195. Höhlengleichnis 2ff. 148.
164. Humor Piatons 25. 72 ff.
I
Idealismus, transzenden- taler Iff. 46. 290.
Idealzahlen 16f.
Idee des Guten 3 f. 13. 29 f.
Ideenlehre 7 ff.
Ideen, Kausalität der 20 ff.
Ion, Dialog 65 f.
Ist (Kopula) 11 f. 43. 257 ff. 267 f.
K
Kallikles und Alkibiades
106 ff. Kallimachos 71. Kant, J. 1.5. 116. 125. 133 f.
135. 137. 273. 277. 285. Kausalitätsgesetz 41. Kleitophon, Dialog 115 f. Kolumbus 15. Komödie 130f. Kopula 11 f. 267 f. Kosmos und Ethik 112ff. Kultur, ihr Gang 56f. Kunst und Wirklichkeit
64 ff. Kyniker 131 f. Kyrenaiker 128.
Leben, sein Wert 147 ff.
Leo Magentinos 268.
Logik, gesunde, und My- stizismus 278 ff.
Logos 38 ff. 76. 80. 82. 271 ff.
Los, als Entscheidungs- mittel 173.
Lüge 36. 269 ff., s. Staats- lüge.
Lustlehre 121 ff reine und gemischte L. 128ff., un- interessierte L. 135. 137. unwahre L. 132 ff.
Lykophron 239.
M
Marktordnung 49 f.
Maß und Meßkunst 113 ff.
133. 176. Mathematik und Politik 63. Megariker 23. 128. 248. Meinen und Wissen 53 ff.
272. Meinung, falsche 270ff. Melissos 287. Menexenos, Dialog 105 f. Methode 41 f. 45 f. Mode 62. Mord 193. Mörike, E. 158f. Musik 61 f. 70. Mut (eupöc) 136. Mystizismus, logischer
278 ff. Mythen, platonische 82 ff.
Volksmythen 80 ff.
N Nachahmung 68 ff. Natorp, P. 17 ff. Negation 264 ff. Newton, J. 4. Nichtseiende, das 240 ff.
266 ff. Nichts, das 282 f. Non-A 264 ff. 276. 284 ff.
Nützliche, das (djqp^Xuiov)
125. 212ff.
• 0
Oligarchie 179.
öilIoiuucic tüj GeOü 109 ff. 162 f.
Orpheus 81.
Orphiker 83.
Ort, überhimmlischer 1 ff.
TTauTrdXaioc 79.
Parmenides 33. 266.
Parmenides, Dialog 93ff. 260.
Trdccoqpoc 79.
Perser 170ff.
Personenverdoppelung 98 ff.
Phaidon,Dialogl47ff. 163 f.
Philebos, Dialog 127 ff.
Piaton, Vorläufer des tran- szendent. Idealismus 2ff. philos. Entwicklung 15. ethisch. Grundcharakter seiner Philosophie 13ff. 56. 189. Verhältnis zur Vorzeit 78 ff. zu d. älteren Philos. 89 ff. zu d. großen Masse 88. 101. Vgl. Stel- lenverzeichnis.
Piatonismus, moderner 277 ff.
Plutarch 129.
Politikos, Dialog 174ff.
Prantl, K. 241.
TipeTTov 212 ff.
Prinzip der plat. Ethik 109 ff.
Prodikos 123.
Progressive u. regressive Methode 41 ff.
Proklus 25. 29.
iTpocbiopicMÖc (Bezeichnung des Urteils) 253 ff.
Protagoras 32 f. 238 f.
Protagoras, Dialog 134. 261 f.
Psychologisches 114f. 126 f. 135f. 193f.
Sachregister
293
Pufendorf, Sam. 195. Pythagoreer 7. 16. 56. 131. 196.
R
Reflexion 279 f. Reformtyrann 170. 187. Regressive Methode 41 ff. Reinhold, K. L. 280. Reinhold, E. 250f. 281.
S
Schelling 280f.
Schlaf 152.
Schöne, das 113f. 125. 137 ff. 207 ff.
Schönheit der Seele 155 f.
Schwegler, A. 18.
Seele, ihr Preis 127.
Seelenlehre 114f. 126f. 135 f.
Seiende, das 23 ff. 36 f. 242f.
Sein, qualitatives und mo- dales 268 ff.
Selbstmord 149. 163f.
Seneca 151.
Seume, J. G. 31.
Shakespeare 132. 165.
Sicherungstheorie 197.
Sinnesanschauung 34. 37.
Sokrates 9. 33. 35. 39. 73. 74. 97f. 191. 216.
Sokrates, der plat. 96 ff.
Sophistes, Dialog 89 ff. 238 ff.
Sophistik 32 f. 134. 238 ff. 274.
Sophokles 149.
Spaltung der Personen 98 f.
Staat 180ff.
Staatsideal 177 ff.
Staatslüge 49 f. 82.
Staatsmann, Aufgabe des- selben 168 ff.
V. Stein 174.
Steinhart, K. 221.
Steuermann, der philoso- phische 157ff.
Stillstand und Fortschritt 56 ff.
Stoiker 19. 123. 289.
Straftheorie 189ff.
Sühne 196f. 198.
System und Wirklichkeit 52 f.
Taktik des plat. Sokrates 96 ff.
Tennemann, W. G. 17.
Theätetkommentar 95.
Theodoretos 109.
Theophrast 29.
Theorie und Wirklichkeit 51 ff.
Thomas Campanella 283.
Todesstrafe 199 f.
Totschlag 193.
Transzendentaler Idealis- mus Iff. 46. 290.
Tugend als Staatszweck 177 ff.
Tyrannis 170. 173.
U
Überhimmlischer Ort Iff.
Unfreiwilligkeit des Un- rechtes 191 ff.
Unheilbare Verbrecher 199 ff.
Ursache, wirkende, u. End- ursache 2 13 ff.
Urteil, seine Bedeutung bei PI. 10 ff. 21 f. 38 f. 207 f. 239. analyt. und synthet. Urteil 40ff. dist. Verglei- chungsformel 245. 247 ff.
Verdoppelung der Perso- nen 98 ff. 228 f.
Vergeltungstheorie 196 f. 198.
Vergleichungsformel und Urteil 245. 247 ff.
Vernunft 13. 34.
Verschiedenheil u. Wider- streit 240. 260 ff.
Verstand 37 f. 62.
Volksmythen 80ff.
W
Wahrhaftigkeit 47 ff. Wahrheit 31 ff. 88. Waitz, F. Th. 251. 254. Weber, Fr. 81. Weberkunst 84 f. 175 ff. Weltansicht und Dialektik
15 f. 52 f. Weltflucht 110. 147ff. 160ff. Weltperioden 56 f. Weltseele, böse 95. Wert, Grundbegriff der
Ethik 124. Wert des Lebens 147 ff. Widerspruch 240. 260 ff. Widerstreit 240. 260 ff. Wiedererinnerung 13. 34.
46. Wieland 166.
Willensfreiheit 160. 191 ff. Wissen und Meinen 53ff.
272. Wissenschaft des Guten
226 ff. Würde, persönliche 117.
Xenokrates 19. 29. 96.
Zahlbegriffe 219 ff. Zeller, Ed. 15. 29 ff. 135.
164. 284 ff. 289. Zenon von Elea 51.
STELLENVERZEICHNIS.
Ein * bezeichnet Textänderung oder neue Erklärung-.
Aristoteles |
Metaph. |
Euthyd. 283 B ff. |
239 |
||
Anal. pr. |
1002" 28 ff. |
17 ff. |
Euthvph. |
||
24* 16 ff. |
253 f. |
1003^ 26 |
276 |
HC |
102 |
26^ 14 |
255 |
1017* 22ff. |
258 |
15 BC |
103 |
27^ 34 |
254 |
1025* 6 ff. |
225 f. |
Gorg. |
|
53" 12 |
289 |
1027" 18ff. |
36 |
451 C |
234 |
68^ 3 ff. |
288 |
1078»^ 12 ff. |
13 |
452 D |
104 |
Anal. post. |
1078" 25 |
260 |
461 D |
73 |
|
71" 25 |
272 |
1089* Iff. |
266 f. |
462 A |
73 |
78" 17 |
288 |
1089* 15 ff. 26C |
). 282 |
464 B |
194 |
86" 34 |
247 |
Meteor. 1013" 13f. |
288 |
466 E |
99 |
de anima |
Phys. 195* 11 f. |
288 |
467 A ff. |
136. 192f. |
|
407" 2 |
161 |
Rhet. 1397* 7 ff. |
287 |
468 C |
99 |
428» 25 ff. |
246 |
Soph. el. 181* 26 |
287 |
472 E |
195 |
430* 27 ff. |
36 |
Top. |
473 A |
101 |
|
432* 11 |
36 |
113" 20 f. |
289 |
474 A |
101 |
433* 23 |
136 |
120* 6 ff. |
251 |
474 E |
216. 233 |
de gen. et int. |
146* 22 217. 21C |
). 235 |
476 Äff. |
44 |
|
336* 30 |
288 |
Schol. ed. Brandis |
482 B |
100 |
|
336" 9 ff. |
288 |
113* 44 |
253 |
484 E |
183 |
Eth. Nie. |
113" 44 |
268 |
493 A |
147 |
|
1094* 26 ff. |
179 |
494 A |
122 |
||
1094" 7 ff. |
179 |
Piaton |
495 E ff. |
101. 265 |
|
1098* 16 |
178 |
Alkib. I 113B |
99 |
499 B ff. |
134 |
1129* 14 |
236 |
Alkib. II 134 A |
288 |
502 E |
184 f. |
1130* 12 |
119 |
Apoi. |
503 D |
35 |
|
1137* 17 |
236 |
28 BC |
156 |
505 A |
153 |
1153* 15 |
145 |
39 A |
157 |
507 E |
173 |
1153" 33 f. |
123 |
Charm. |
508 AB |
119 |
|
1172* 28ff. |
132 |
166 A |
233 |
511 Bff. |
157 ff. |
1174' 33 |
145. 146 |
166 D |
36 |
512 A |
199 |
1175* 5 |
145 |
Clitoph. 409 Äff. |
115 f. |
515 D |
184 |
1176" 28 ff. |
166 |
Cratyl. |
522 E |
156 |
|
1181" 15 |
179 |
385 Äff. |
36 |
525 B |
196 |
1199* 23 |
157 |
387 Äff. |
258 |
Hipp. Mai. |
|
Herrn. |
421 A |
31 |
285 A f. |
234 |
|
16" 22 ff. |
275 |
439 D f. |
239 |
286 C |
223 |
* 17" 3ff. |
255 f. |
Critias 106 AB |
195 |
=^ 294 A |
77. 234 |
17" 25 |
256 |
Crito |
295 E |
227 |
|
17" 29 |
256 |
47 DE |
153 |
296 E |
227 |
Metaph. |
48 B |
154 f. |
* 298 BC |
229 |
|
*991* 22 f. |
28 f. |
Epist. VII, 326 A |
169 |
=^ 298 CD |
218f. |
1000* 9 ff. |
90 f. |
Erast. 136 B |
288 |
*301B |
231 |
Stellenverzeichnis
295
Hipp. Min. |
|
369 B |
225 |
372 E |
204 |
375 D |
236 |
375 E |
223 |
376 B |
204 |
Io533Df. |
65 |
541 E f. |
65 |
Legg. |
|
639 DE |
60 |
644 DE |
148 |
655 D ff. |
67 |
662 A ff. |
159 |
662 C f. |
122 |
663 D |
122 |
668 A |
67 |
692 B |
170 |
694 A ff; |
170 |
707 CD |
155 |
711E |
177 |
713 E |
86 f. 155 |
716 BC |
114. 162 |
717 BC |
149 |
721 C |
9. 150 |
726 E ff. |
127 |
727 A f. |
117 |
727 C |
155 |
728 BC |
194 |
728 E |
151 |
730 BC |
47 |
731 DE |
200 |
732 C |
165 |
732 E ff. |
122 |
733 Äff. |
159 |
734 E |
176 |
737 E |
45. 63 |
738 C |
78 |
738 E |
47 |
740 D |
63 |
744 A f. |
173 |
747 D f. |
59. 62 |
757 A |
172 |
766 A |
178 |
769 A f. |
59 |
777 C |
117 |
782 A f. |
9. 57 |
797 A f. |
62 |
797 E f. |
61 |
799 A |
62 |
803 B |
164f. |
803 C ff. |
166 |
803 E ff. |
67 |
*804B |
165 |
Legg-. |
Parm. |
||
808 B |
152 |
134 C |
10 |
816E |
225 |
136 C |
29 |
817B |
70. 176 |
* 138 B |
262 |
821 A |
36 |
148 AB |
287 |
828 A f. |
67. 166 |
Phaedo |
|
828 E |
162 |
60 B |
131 |
829 CD |
75 |
62 C |
149. 160 |
831 A |
157 |
64 Äff. |
110 |
832 A |
142 |
66 B |
147f. 161 |
832 C |
173 |
67 B |
161 |
835 DE |
166 |
69 B |
68 |
840 D |
121 f. |
74 B |
12 |
853 C |
80 |
75 A f. |
12. 22 |
853 E |
155 |
78 D |
9. 22 |
854 DE |
194 |
80Eff. |
110 |
862 C |
195 |
83 DE |
121 |
862 DE |
196. 199 |
91 Äff. |
39 |
863 B ff. |
191 |
97 D |
204 |
864 DE |
202 |
99 B |
160 |
865 D |
82 |
99 E |
37 |
872 D f. |
198 |
100 D |
21 |
873 C |
77 |
102 Bf. |
262 |
886 CD |
81 |
103 D ff. |
43 |
888 E |
89 |
107 C |
110 |
897 B ff. |
27 |
Phaedr. |
|
907 D ff. |
195 f. |
245 A |
65 |
917 BC |
47 f. |
247 D |
13 |
923 C ff. |
63 |
248 E |
66 |
927 A |
82 |
251 A |
137 |
933 CD |
200 |
265 D f. |
278 |
934 AB |
197 f. |
266 B |
278 |
935 B ff. |
75 |
270 C |
39 |
943 D |
47 |
273 E |
278 |
951 B |
60 |
*274Bff. |
87 f. |
Lysis |
278 D |
10 |
|
206 B |
98 f. |
Phileb. |
|
213 D |
99 |
12 E |
265 |
Menex. 246 CD |
106 |
22 C |
27 |
Meno |
26 D |
176 |
|
77 E f. |
191 |
26 E |
27 |
82Bff. |
37 |
28Cff. |
27 |
85 B |
99 |
30 Äff. |
27 |
86 B |
37 |
33 B |
143 |
88 A |
216 |
35 C |
135 |
89 DE |
287 |
37 D |
36 |
96 E |
99 |
48 Äff. |
130 |
97 Äff. |
54 f. |
51 B |
128 |
98 A |
46 |
51 C |
70. 138 |
99 B |
44 |
52 A |
141 |
Parm. |
55 A |
265 |
|
*128Eff. |
93 f. |
58 D |
35 |
130 B ff. |
14 |
62 D |
128 |
296
Stellenverzeichnis
Phileb.
65 D
66 C Poiit.
263 8 * 268 Dff. *283D 285 Äff. 285 D 290 CD 299 E ff.
308 E f.
309 C Protag.
324 B 331 AB 333 E 340 A
352 DE
353 C ff. 358 B
Res publ.
349 Dff.
350 D 352 B 365 C 377 A
382 BC
383 A
388 B
389 B 391 E 401 E 406 A 410A 414 B ff. 436 A 436 C 443 Dff. 452 B ff. 454 B 454 C 457 B 472 D
475 E
476 A
476 E ff.
477 A
Res publ. |
Soph. |
||||
34 |
477 C |
25 |
260 Äff. |
270 ff. |
|
128 |
477 E |
131 |
263 B |
36 |
|
480 A |
35 |
264 B |
246 |
||
266 |
485 CD |
35 |
265 C ff. |
27 f. |
|
84 ff. |
486 A |
149 |
280 A ff. |
273 |
|
176 |
487 B |
73 |
Sympos. 202 AB |
||
278 |
490 A ff. |
35 f. |
186 f. |
264 |
|
241 f. |
498 CD |
101 |
206 A ff. |
150 |
|
161 |
500C |
13. |
113 |
209 A |
65 |
59 f. |
506 C |
55 |
210 B ff. |
138 |
|
199 |
508 D |
37 |
210E |
10 |
|
55 |
509 B |
25. 27 |
211B |
25 |
|
509 E ff. |
53 |
211C |
10 |
||
197 |
510 B ff. |
41 |
TheaeL |
||
261 f. 216 104 102 |
511 A 514 Dff. 517C 525 E |
27. |
37 2 ff. 109 226 |
143 C 155 D 171 CD 174 BC |
58 32 89 72 |
134 216 |
526 E 527 D 534 C |
37 37 39 |
174 E 176 A 13. |
79 110. 148. |
|
22 101 101 68 |
537 C 540 C 580 Dff. 583 B ff. |
68. |
278 72 137 142 |
162 181 B 183 E 184 Äff. 185 Äff. |
190 79 88f. 37 258 |
105 |
585 C |
37 |
|||
36 |
586 B |
68 |
Timaeus |
||
65 |
595 C ff. |
39. 66 |
28 A |
41 |
|
80 |
595 E |
65 |
38 B |
268 |
|
49 |
602 C |
68 |
39 D |
57 |
|
80 |
604 CD |
149. 164 f |
195 |
40 D |
81 |
122 |
604 E |
70 |
47 BC |
113 |
|
153 |
606 E |
65 |
51 D |
55 |
|
199 |
607 C |
36 |
87 C |
139 |
|
9. 80 |
607 D |
65 |
88 C |
151 |
|
62 |
613 A |
198 |
89 E |
Ulf. |
|
263 f. |
Soph. |
||||
118 |
229 A |
194 |
Xenophon |
||
140 |
240 B |
265 |
Memor. |
||
287 |
240 E f. |
273 |
I, 3, 1 |
19 |
|
240 |
242 C ff. |
89 ff. |
111, 1, 1 |
19 |
|
216 |
*245E |
91 ff. |
111, 8, 4ff. |
216 |
|
67 |
*247E |
23 ff. |
IV, 2, 19f. |
205. 228 |
|
36 |
248 E |
24 f. |
IV, 5, 1 |
19 |
|
258 |
253 D |
278 |
IV, 6, 1 |
19 |
|
53 |
257 B ff. |
264 |
276 |
IV, 6, 8 f. |
216 |
275 |
258 B ff. |
267 |
Sympos. 4, 56 |
19 |
Beiträge zur Geschichte der griechischen Philosophie. Von 0. Apelt. Geh. M. 10.—
Das Buch umfaßt eine Reihe von Aufwalzen über wichtige Streitfragen der nach- sokratischen Philosophie. Behandelt wird zunächst der piatonische Parmenides und So- phistes sowie die viel umstrittene aristotelische Kategorienlehre. Es folgen als Frucht längerer Beschäftigung mit des Aristoteles Metaphysik Beiträge zu deren Erklärung und Kritik, ferner ein Aufsalz über die Widersacher der Mathematik im Altertum nebst einer Übersetzung der bisher noch nicht übersetzten Schrift /rfoi ÜTÖiioir /nauiK'-n sowie eine Abhandlung über die stoischen Definitionen der Affekte und Posi'ionius und endlich zwei für weitere Kreise bestimmte Vorträge über die Idee der allgemeinen Menschenwürde und den KosmoDolitismus im Altertum und über den Sophist Hippias.
Piaton und die aristotelische Poetik. Von Georg Finsier. Geh. M. 6. —
Finsler untersucht das Verhältnis der aristotelischen Poetik zu Piatons Kunstlheorien- Dabei zeigt es sich, daß sich die Abhängigkeit von Piaton auf die ganze Definition der Tragödie, einschlieiilich der Katharsis erstreckt. So stellt die Poeiik den Versuch dar, mit dem Gedanken Piatons gegen dessen Verdammungsurteil die Poesie für den besten Staat zu retten. Im weiieren erörtert Finsler die Ansichten der beiden Philosophen über den Stoff der antiken Tragödie und die Entstehung der Poesie. Die Poetik darf nicht als Gesetzbuch der Poesie betrachtet werden. Bei Piaton dagegen, selbst einem großen Dichter, finden sich ewige Offenbarungen über das Wesen der Poesie. Wie er sich im Wandel der Jahre persönlich zu ihr gestellt hat, zeigt das letzte Kapitel.
Piatons philosophische Entwicklung. Von H. Raeder. Geh. M. 8.—, in
Leinwand g^eb. M. 10.—
,, Paeder gibt nicht nur eine ausgezeichnete, meist von gesundem Urteil zeugende Orientierung über den Stand der Platonischen Frage und die neuere Behandlung der ein- zelnen Probleme, sondern hat auch manche neuen oder wenig beachteten Gesichtspunkte mit Erfolg durchgeführt. . . . Meist ist das Wesentliche nnd Beweiskräftige mit Takt heraus- gehoben, und man darf das Buch als die beste Einführung in die Platonischen Fragen empfehlen, besonders dem Anfänger." (Berliner Philologische Wochenschrift.)
Charakterköpfe aus der antiken Literatur. Von Eduard Schwartz. 8. Geh.
je M. 2.20, in Leinwand geb. je M. 2.80.
I. Reihe: 1. Hesiod und Pindar; 2. Thukydides und Euripides; 3. Sokrates und Plato ; 4. Polybios und Poseidonios; 5. Cicero; 4. Aufl. 8. 1912. II. Reihe: 1. Diogenes der Hund und Krates der Kyniker; 2. Epikur; 3. Theokrit; 4. Eratosthenes ; 5. Paulus. 2. Aufl.
,, Schwartz beherrscht den Stoff in ganz ungewöhnlicher Weise: das Reinstoffliche aber (ritt allmählich ganz in den Hintergrund, dafür erglänzt jede einzelne der Erscheinungen um so klarer und mächtiger im Lichte ihrer Zeit. Der Verfasser ist in den Jahrhunderten der griechischen Poesie — sowohl in denen, wo sie sicii entwickelte, als auch in denen, da sie ihre Blüte erlebte — mit gleicher, sozusagen hellseherischer Sicherheit zu Hause; wir lernen jeden einzelnen der geistigen Heroen als ein mit innerer Notwendigkeit aus seiner Epoche hervorgehendes Phänomen betrachten und einschätzen, und Schwartz schildert ihn uns so lebendig, daß wir ihn wie mit Fleisch und Blut begabt vor uns zu sehen glauben. Dabei ist jedes der Charakterbilder einheitlich aus einem einzigen Gusse, nirgends hören wir ein Wort gelehrter Polemik oder selbstbewußter Besserwisserei." (Literarisches Echo.)
Griechische Weltanschauung. Von M. Wundt. In Leinwand geb. M. 1.25.
Das Buch sucht nicht die Philosophie in die Einzelheiten ihrer historischen Ent- wicklung zu begleiten, will vielmehr die griechische Weltanschauung in ihrer inneren Ein- heit erfassen. Nur die typischen Ideen der griechischen Weltanschauung sollen dargestellt werden. Es soll dabei deutlich werden, daß die Griechen die typischen Formen der Welt- anschauung überhaupt, die stets von neuem, nur in Einzelzügen abgewandelt, hervortreten, ausgebildet haben.
Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums. Von Gustav Billeter. Geh. M. 12.-, geb. M. 13.—
,,Der glückliche Finder des sog. .Urmeister' legt hier das Ergebnis jahrelangen un- ermüdlichen Suchens vor: ein unschätzbares Dokumentenbuch für die Auffassungen des Hellenentums. Das Namenregister allein schon beweist, m.it welchem Spüreifer der Ver- fasser den wechselnden und doch im Kern selten veränderten Eindrücken nachgegangen ist, die die genialste der Nationen bei ihren fleißigsten Kindern hinterließ ; denn die Deutschen stehen naturgemäß voran. Eine klare Disposition und ein ausgezeichnetes Schlagwort- register erhöhen die Brauchbarkeit dieser Geschichte vom Mantel Helenas. Da schließlich doch die Anschauungen am Wesen des Griechentums noch stärker auf die Entwicklung der Kultur eingewirkt haben als die Taten und Werke der Hellenen, so ist damit für eines der wichtigsten Kapitel der Weltgeschichte die feste Grundlage gegeben." (Deutsche Rundschau.)
Apelt, Platonische Aufsätze.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Allgemeine Geschichte der Philosophie. (Die Kultur der Gegenwart, llire
Entwicklung" und ihre Ziele. Herausgegeben von Professor Paul
Hinneberg. Teil I, Abt. 5.) Geh. M. 12.—, in Leinwand geb. M. 14.—
Inhalt: Einleitung. Die Anfange der Philosophie und die Philosophie der primitiven Völker: W. Wundt. I. Die indische Philosophie : H. Oldenberg. II. Die islamische und die jüdische Philosophie: 1. üoldziher. III. Die chinesische Philo<;ophie: W. Grube. IV. Die japanische Philosophie: T. Inouye. V. Die europäische Philosophie des Alter- tums: H.V.Arnim. VI. Die europäische Philosophie des Mititelaliers: C. Baeumker. \II. Die neuere Philosophie: W. Windelband.
,,.Man wird nicht leicht ein Buch finden, das wie die .Allgemeine Geschichte der Philosophie' von einem gleich hohen überblickenden und umfassenden Standpunkt aus, mit gleicher Klarheit und Tiefe und dabei in fesselnder, nirgendwo ermüdender Darstellung eine Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bei den ^irimitiven Völkern bis in die Gegenwart und damit eine Geschichte des geistigen Lebens überhaupt gibt. Und es wird nicht bloß die europäische Philosophie, ausgehend von ihren Anfängen bei den Griechen, hier dargestellt, sondern auch die orientalische Philo-^ophie in den Kreis der Betrachtung gezogen; genaue Li;eraiurnachweise am Schluß der einzelnen Kai)itel ermöglichen weitere Forschung, ein umfangreiches Namen- und Sachregister erleichtert den Gebrauch des Buches selbst." CZeitschrift für lateinlose höhere Schulen.)
Systematische Philosophie. 2. Aufl. (Die Kultur der Gegenwart. Ihre
Entwicklung und ihre Ziele. Herausgegeben von Professor Paul
Hinneberg. Teil I, Abt. 6.) Geh. M. 10.—, in Leinwand geb. M. 12.—
Inhalt: Allgemeines. Das Wesen der Philosophie: W. Dilthey. Die einzelnen Teil- gebiete. I. Logik und hrkenntnistheorie: A. Riehl. II. Metaphysik : W. Wund t. lil. Natur- philosophie : W. Ostwald. IV. Psvchologie: H. Ebbi nghau s. V. Philosophie der Ge- schichte: R. Eucken. VI. Ethik: Fr.'Paulsen. VII. Pädagogik: W. Mün eh. Vlll. Ästhetik: Th. Lipps. — Die Zukunftsaufgaben der Philosophie: Fr. Paulsen.
,,. . .Hinter dem Rücken jedes philosophischen Forschers steht Kant, wie er die Well in ihrer Totalität dachte und erlebte; der ,neukant;sche', rationalisierte Kant scheint in den Hintergrund treten zu wollen, und in manchen Köpfen geht bereits das Licht des gesamten Weltletjens auf. Erfreulicherweise ringt sich die .Ansicht durch, Philosophie sei und biete etwas anderes als die Einzelwissenschaften, und das sogenannte unmittelbare Leben und der positive Gehalt der Philosophie selbst müsse in der transzendenten Realität oder wenigstens in der transzendentalen, auf methodischem Wege gewonnenen Struktur der einzelnen Well- inhalte und Verlialtungsformen aufgesucht werden." (Archiv für systematische Philosophie.)
Die griechische und lateinische Literatur und Sprache. 3. Auflage. (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Heraus- gegeben von Professor Paul Hinneberg. Teil 1, Abt. 8.) Geh. M. 12. — , geb. M. 14.—
Inhalt: I. Die griechische Literatur und Sprache. Die griechi<;che Literatur des Alter- tums: U. V. Wilamo wi tz-.Moellendorf f. — Die griechische Literatur des Mittelalters: K. Krumbacher. — Die griechische Sprache: J. Wackernagel. — II. Die lateinische Literatur und Sprache. Die römische Literatur des Altertums: Fr. Leo. — Die lateinische Literatur im Übergang vom .-Mtertum zum .Mittelalter: E. Norden. — Die lateinische Sprache: F. S kutsch.
,,ln großen Zügen wird uns die griechisch-römische Kultur als eine kontinuierliche Entwicklung vorgeführt, die uns zu den Grundlagen der modernen Kultur führt. Helle- nistische und christliche, mittelgriechische und mittellateinische Literatur erscheinen als Glieder dieser großen Entwicklung, und die Sprachgeschichte eröffnet uns einen Blick in die ungeheuren Weiten, die rückwärts durch die vergleichende Sprachwissenschaft, vor- wärts durch die Betrachtung des Fonlebeiis der antiken Sprachen im .Ntiltel- und Neu- griechischen und in den romanischen Sprachen erschlossen sind."
(P. Wendland-Kiel in der Deutschen Literaturzeitung.)
Geschichte der Autobiographie. Von Georg Misch. I. Band: Das Altertum.
Geh. M. 8.-, geb. M. 10.—. |11. u. 111. Band: (iMittelalter- Neuzeit)
in Vorbereitung.] ,,Die vornehmsten Werke der wissenschaftlichen Literatur sind die, welche keiner Speziaiwissenschaft angehören, und von denen doch die verschiedensten Fachgelehrten urteilen müssen, daß sie ihnen neue Lichter auf>,tccken. Nicht jedes Jahr bringt ein solches Buch; hier ist eins. Damit ist hier Lobes genug gesagt. Der Piiilologe wird sich des I'orl- schritts freuen, den das Verständnis der Werke notwendig machen muß, wenn sie als Teil der Weltliteratur betrachtet werden. Und das ist hier nicht einmal die Haupt<?ache, sondern jene philosophische Betrachtung des Menschen und seiner Geistesgeschichte, die Misch aus der Schule Wilhelm Dilteys mitbringt, dem das Buch mit vollem Recht gewidmet ist." (Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik.)
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Poimandres. Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen
Literatur. Von Richard Reitzenstein. Geh. M. 12.—, geb. M. 15.—
Das Buch ist bestimmt, die religiösen Neubildungen, welche das Eindringen des Griechentums im Orient hervorrief, auf einem engem Gebiet zu verfolgen. Es nimmt zur Grundlage die von der Theologie wie Philologie gleichmäßig vernachlässigten Hermetischen Schriften und sucht zunächst deren Zusammenhänge mit den Zauberpapyri und Verhältnis zur altägyptischen Religion zu bestimmen. Die Wirkung dieser weit über Ägypten hinaus verl)reiteten hellenistischen Literatur von Visionserzählungen, Predigten und Lehrschriften zeitit sich einerseits in dem Judentum, und zwar von neutestamentlicher Zeit bis ins Mittel- aller hinein, andererseits in der frühchristlichen Literatur. Die Kenntnis dieser hellenistischen Propheten läßt uns ferner Persönlichkeiten wie Philo in schärferem Lichte erscheinen und verhilft vielleicht zu einer genaueren Kenntnis der Geschichte des Piatonismus im Orient.
Die hellenistischen Mysterienreligionen, ihre Grundgedanken und Wir- kungen. Von Richard Reitzenstein. Geh. M. 4.—, geb. M. 4.80.
,,. . . Mit einer Fülle von Wissen ausgestattet, führt der Verfasser in diese reiche Welt der griechischen Mysterien und zeigt die Berührungspunkte zwischen hellenistischer Religion und hellenistischem Christentum. Die Welt des paulinischen Denkens und Sprechens erscheint wieder neu beleuchtet. . . . Das Wertvollste dieses Buches liegt in den ausführ- lichen E.xkursen und Anmerkungen. . . . Die Schrift sei allen Religionslehrern und Theo- logen aufs wärmste empfohlen." (Christliche Freiheit.)
Eine Mithrasliturgie. Erläutert von Albrecht Dieterich. 2. Aufl., besorgt
von Richard Wünsch. Geh. M. 6.—, geb. M. 7.—
,,Der größte und unmittelbarste Gewinn, den auch der außerhalb der geheiligten Schranken der Mysterienkunde Stehende von dem Buche haben wird, ist die aus demselben gewonnene Möglichkeit, einen verständnisvollen Blick in diese ihm sonst verschlossene Welt hinein zu werfen. . . . Wir scheiden von dem hochinteressanten Buch mit dem auf- richtigsten Dank für die reiche Belehrung und vielfache Anregung, die es uns geboten hat, und empfehlen seine Lektüre allen, die sich mit religionsgeschichtlichen Studien befassen, aufs angelegentlichste." (Wochenschrift für klassische Philologie.)
Kleine Schriften. Von Hermann Usener. 3 Bände. I. Band, heraus- gegeben von K. Fuhr. Geh. M. 12. — , in Leinwand geb. M. 14.—
Diese von A. Dieterich geplante, nunmehr von Schülern und Freunden Useners be- sorgte Gesamtaus<jabe seiner Kleinen Schriften wird in vier vollständig in sich abge- schlossenen und mit selbständigen Registern versehenen Bänden alle Aufsätze enthalten, soweit sie nicht bereits von Dieterich in den , .Vorträgen und Aufsätzen" veröffentlicht sind, sowie mit Ausnahme der Abhandlung über die ,,Dreiheit", die gesondert erscheinen soll. Von den Rezensionen wurde nur das aufgenommen, was der Wissenschaft positiven Ertrag lieferte. Die Zusätze sind sorgfältig an der meist von Usener selbst bezeichneten Stelle eingefügt worden; eigene Zusätze haben die Herausgeber nur wenige gemacht, zumeist Verweise auf neuere Ausgaben oder ein paar notwendige Hinweise auf neu erschienene Schriften. Bearbeitet hat K. Fuhr die Abhandlungen zur griechischen Philosophie, Rhetorik, Grammatik und Kritik, P. Sonnenburg die Latina, L. Rademacher die literarhistorischen Ab- handlungen, R. Wünsch die religionsgeschichtlichen, F. Koepp die archäologischen und epi- graphischen, W. Kroll die zur Geschichte der Wissenschaften, A. Wilhelm die chronologischen.
Vorträge und Aufsätze. Von Hermann Usener. Mit einem Bilde Useners. Geh. M. 5.—, in Leinwand geb. M. 6. —
Aus den noch nicht veröffentlichten kleineren Schriften Useners ist hier eine Aus- wahl von Vorträgen und Aufsätzen zusammengesetzt, die für einen weiten Leserkreis bestimmt sind. Den Inhalt bilden die Abhandlungen: Philologie und Geschichtswissenschaft, Mytho- logie, Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, über vergleichende Sitten- und Rechts- geschichte, Geburt und Kindheit Christi; Pelagia, die Perle (aus der Geschichte eines Bildes). Als Anhang beigefügt ist die Novelle ,,Die Flucht vor dem Weibe", die als Bearbeitung einer altchrisllichen Legende sich ungezwungen anschließt.
Kleine Schriften. Von Albrecht Dieterich. Herausgegeben von Rieh. Wünsch.
Mit einem Bildnis und zwei Tafeln. Geh. M. 12.—, geb. M. 14. —
Entsprechend einem bald nach Dieterichs Tode vielfach geäußerten Wunsche, es möchten die nicht immer bequem zugänglichen ,, Kleinen Schriften" Dielerichs in einer Samn;elausgabe vereinigt werden, bietet der vorliegende Band sämtliche Aufsätze, soweit sie nicht selbständig in Buchform erschienen sind. Neu ist darin vor allem ,,Der Unter- gang der antiken Religion", den der Herausgeber aus Dieterichs Notizen zu seinen Vor- trägen und aus Nachschriften zusammengestellt hat. Aus dem Nachlaß wird ferner zum erstenmal ein Aufsatz über ,, Verhüllte Hände" gedruckt. Erst diese Sammlung vermag ein abgerundetes Bild von der wissenschaftlichen Bedeutung Dieterichs und von der Förderung, die die religionsgeschichtliche Erforschung des Altertums ihm verdankt, zu geben.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Einleitung in die Philosophie. Von Hans Cornelius. 2. Auflage. Geh. M. 5.20, in Leinwand geb. M. 6. —
,,Von der großen Zahl der üblichen Darstellungen dieser Art unterscheidet sich das vorliegende Werk ganz belrächilich; es gitt weder eine Sammlung von Sophismen noch eine populäre Darstellung der wichtigsten bischerigen philosophischen Lösungsversuche, sondern ist durchaus bestrebt, den Leser auf streng wissenschaftliche Weise in das weile Gebiet der Philo<:ophie einzuführen, indem es ihm von einer hohen Warte aus das ganze Feld der dahin zielenden Bestrebungen in kritischer Art zu überblicken gestattet und ihm zugleich mit sicherer Hand den Weg nach dem Wahren weist." iZeitschr. f. d. Realschulwesen.)
Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. Acht Vorträge. Von Alois Riehl. 3., verb. Aufl. Geh. M. 3.— , in Leinwand geb. S\. 3.60.
,,Kiehls Buch gehört zu denen, welche eine Empfehlung nicht mehr nötig haben. In meisterhafier Darslellunj führt er uns auf historischem Wege zu dem Punkte philosophischer Entwicklung, den er als Höhepunkt ansieht: Kant. Aber die Philosophie darf auch bei Kant nicht stehen bleiben, denn die besonderen Probleme werden ihr von der forschenden Wissenschaft geliefert. Und diese exakte Wissenschaft beherbergf heute den philosophischen üei<:t. Rob. .Vlayer, Helmho.tz, Hertz sind seine Vertreter, und das Energiegesetz ist .der größte Fortschritt der allgemeinen Wissenschaftslehre seit der Kritik der reinen \ernunfi'. Aui Grund solcher Anschauung rückt Riehl auch die Erörterung über naturwissen«;chafi- lichen und philosophischen .Monismus in den Mittelpunkt." (Stranburger Post.)
Die philosophischen Grundlagen der Wissenschaften. Vorlesungen ge- halten an der Universität Berlin von B. Weinstein. In Leinw. geb. M. 9.—
Das Buch enthält eine Auseinandersetzung über die Grundlagen der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften. Der .Ableitung eines Systems der Grundlagen geht die Untersuchung über ihren Inhalt voraus und folgt eine Darlegung der psychischen Tätig- keiten, welche für die Ermittlung der Grundlagen maßgebend sind. Hierauf werden die Hauptgrundlagen vom Standpunkte der Erfahrung und der .Metaphysik einer genaueren Zer- gliederung und Untersuchung unterzogen. Den Schluß bildet die Behandhing derjenigen Grundlagen, die der Welterhaltung und Weltentwicklung dienen, sowie der Grundlagen, aus denen Erklärungen der Natur- uud Lebenserscheinungen fließen.
Weltanschauung und Bildungsideal. Von G. F. Lipps. Geh. M. 4.—, in
Leinwand geb. .\L 5.—
,, . . . In vier Abschnitten legt der Verfasser diese Grundgedanken genauer dar, indem er zuerst die .Abhängigkeit des Bildungsideals von der Weltanschauung, dann den Vernunft- staat Piatos und das antike Bildungsideal, hieran anschließend den Goitesstaat des .Augustin und das christlich-mittelalterliche Bildungsideal und schließlich die moderne Welt- und Lebensauffassung und das moderne Bildungsideal behandelt. Das Buch offenbart eine Fülle des Wissens und vermittelt es mit ebenso tiefer wie durchsichtiger Klarheit. Es weist zugleich neue Wege und Ziele." (Der Tag.)
Mythenbildung und Erkenntnis. Eine Abhandlung über die Grundlagen der Philosophie. Von G. F. Lipps. Geb. M. 5.—
Der Verfasser zeigt, daß durch die Widersprüche, die mit dem naiven, zur iMythen- bildung führenden Verhalten unvermeidlich verknüpft sind, der .Mensch auf die Tatsache aufmerksam wird, daß sein Denken die Quelle der Erkenntnis ist — er wird kritisch und gelangt zu der kritisctien Weltbelrachtung. Die Entwicklung der kritischen Weltbeirachtung stellt die Geschichte der Philosophie dar.
Abhandlungen zur römischen Religion. Von Alfred von Domaszev\'ski. Geh. M. 6. — , in Halbfranz geb. M. 7. —
..Jedem, der sich irgend mit römischer Religion befaßt, muß diese Sammlung außer- ordentlich erwünscht kommen, und jedem, der sich ernstlich in sie vertieft, wird sie eine Quelle der Erbauung und Belehrung sein. Allerdings nur dem ernsthaften und intensiven Leser! Denn leic.il Itsen sich die .Abhandlungen, wie alles, was D. schreibt, nicht. Doch wird derjenige, der sich in diesen knappen, oft geradezu wortkargen Stil hineinliesl, gerade in seiner Knappheit, die sich aber an den Höhepunkten der einzelnen Erörterungen oft zu echtem, künstlerischem Pathos steigert, einen besonderen Reiz der Lektüre empfinden. Die größte Bedeutung der Sammlung hegt jedoch vielleicht in den Arbeiten, die der Erörterung der Natur des Neptuns, der Tempestates, des Silvanus, der römischen Eigenschaftsgötter, des Bonus Evenlus und der Dei certi et incerli gewidmet sind. Ja dieser letzte, gedanken- schwere Aufsatz, in dem der Kantianer D. dem tiefsten Wesen der Religion nachspürt, dürfte wohl zum Eigenartigsten und Vollendetsten gehören, was über diese Fragen seit langem geschrieben worden ist." (Literarisches Zentralbiatt für Deutschland.)
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