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PLATONISCHE AUFSÄTZE

VON

THEODOR GOMPERZ,

WIRKL. MITGLIEDS DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

ZUR ZEITFOLGE PLATONISCHER SCHRIFTEN.

LIBRARY ritt

WIEN, 1887.

IN COMMISSION BEI CARL GEROLD'« SOHN

BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

Aus dem Jahrgange 1887 der Sitzungsberichte der phil.-hist. Classe der kais. Akademie der Wissenschaften (CXIV. Bd., II. Hft. S. 741) besonders abgedruckt.

Druck von Adolf Holzhausen,

k k. Hof- und Uiiivcrsitüts-Huchdriicker in Wien.

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JJie zum Mindesten ein halbes Jahrhundert fruchtbaren Schaffens umspannenden, so vielgestaltigen und widerspruchs- vollen Werke Plato's nach der Folge ihrer Abfassungszeit an- ordnen zu wollen dies ist sicherlich mehr als ein blosses Verlangen wohlberechtigter Wissbegier. Die Lösung des heiss umstrittenen Problemes verheisst uns reichen Gewinn. Von ihr erwarten wir die schliessliche Beseitigung des auf diesem Boden noch immer üppig wuchernden 7 Discrepanzen verhüllenden, äusserlichen Einklang erzwingenden, harmonistischen Bemühens; die Sicherung und in anderen Fällen die Anbahnung eines völlig unbefangenen und eindringenden Verständnisses gar vieler dieser Schriften; desgleichen die Beschaffung eines unverächtlichen Hilfsmittels zur Entscheidung der Echtheitsfrage in Ansehung des angefochtenen Theils der Sammlung; ja schliesslich viel- leicht auch die Gewinnung neuer Einblicke in die Entwicklungs- und Bethätigungsweise schöpferischer Geister überhaupt.

Allein so lockend das Ziel, so gewaltig ist das Heer der Schwierigkeiten, welches sich seiner Erreichung hindernd in den Weg stellt. Sie entspringen insgesammt der schriftstelleri- schen Eigenart Plato's, und zwar zumeist an zwei Punkten derselben. Seine Scheu vor der Ueberlieferung fertiger, von ihrer Gedankenwurzel abgelöster oder ablösbarer und darum leicht zu leblosen Dogmen erstarrender Ergebnisse hat ihn die seiner künstlerischen Begabung so congeniale Gesprächsform zugleich endgiltig wählen und sie vielfach in einer Weise hand- le

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Laben lassen, bei welcher das Endziel einer verschlungenen und wechselvollen Erörterung unausgesprochen, ja selbst ein Zweifel darüber bestehen bleibt, ob ein solches in Wahrheit erreicht ist oder nicht. Daher der nicht enden wollende Streit über den Lehrgehalt so vieler Dialoge, über die zwischen ihnen obwaltenden Uebereinstimmungen und Widersprüche Be- ziehungen und Anspielungen, und somit auch über die Reihen- folge ihres Entstehens. Dieselben und verwandte Beweggründe (darunter gewiss auch das Widerstreben gegen die Identificirung seiner eigenen wandelbaren und in stetem Flusse begriffenen geistigen Persönlichkeit mit irgend einer ihrer Entwicklungs- phasen) haben ihn dazu vermocht, nicht sich selbst, sondern seinen verehrten Meister Sokrates zum Mittelpunkt und zur Hauptperson der meisten Gespräche zu machen. So lange nun die Sokrates-Maske sein Antlitz deckt, ist ihm jeder Ausblick auf Personen, Lehren, Ereignisse verwehrt, die jenseits der Lebensgrenzen seines Meisters gelegen sind, das heisst auf Alles oder nahezu Alles, was in die Zeitgrenzen seines eigenen schrift- stellerischen Wirkens fällt. Mitunter freilich lüftet er die Maske, ein paarmal offen, wie in übermüthiger Laune die selbstgezogenen Schranken durchbrechend; häufiger jedoch in verstohlener und versteckter Weise, durch Winke und Andeutungen, welche uns nicht seltener irrezuleiten als aufzuklären geeignet sind und die wir was das Schlimmste ist sicherlich ebenso oft dort, wo sie vorhanden sind, übersehen, als wir sie dort, wo sie nicht vorhanden sind, zu sehen vermeinen.

Nichts begreiflicher, als dass angesichts dieser Häufung von Schwierigkeiten die Zahl der allgemein anerkannten Er- gebnisse verschwindend klein, jene der Meinungsverschieden- heiten überaus gross und in beständigem Wachsen begriffen ist, nicht minder, dass Worte wie , Chaos' und ,Verzweiflung' sich den Beurtheilern dieser Versuche immer häufiger auf die Lippen drängen. Wenn ich es trotzdem wage, in die im Laufe der letzten Jahre mit so regem Eifer betriebenen Studien auch meinerseits durch einen Beitrag eingreifen zu wollen, so leitet mich hierbei vornehmlich die nachfolgende Erwägung. Es <;il)t das ist meine feststehende Ueberzeugung auf diesem Gebiete einen Grundstock zweifelloser Wahrheiten. Diesen aus der Masse des blos mehr oder minder Wahrschein

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liehen auszusondern, durch strenge Beweisführung gleichwie durch den Hinweis auf bereits vorgebrachte, aber nicht nach Gebühr gewürdigte Argumente zu sichern und in stetigem, behutsamem Vorschreiten zu mehren ein anderes Mittel kenne ich nicht, um aus dem Gewirr einander kreuzender Einzelpfade endlich in die breite und gefestigte Bahn continuirlicher For- schung zu gelangen. Der Arbeit des Wegebauers geht jene des Feldmessers voraus, der die Richtpunkte ermittelt und absteckt, welche die vollendete Strasse dereinst wird verbinden müssen. Solch einer bescheidenen Vorarbeit sind die nach- folgenden Blätter gewidmet.

1. Der Dialog Menon bildet einen Knotenpunkt platoni- scher Schriftstellerei. Zunächst verschlingen sich in ihm Fäden, die aus zwei verschiedenen Gesprächen stammen und daher auch diese selbst mit einander verknüpfen. Die Durchsichtigkeit des wenig umfangreichen Dialogs und sein vergleichsweiser Reichthuin an positivem Lehrgehalt machen diese Beziehungen zugleich deutlich erkennbar und fruchtbar an Folgerungen. Zwei dieser Fäden reichen aus dem Protagoras herüber. Es sind die hier und dort verhandelten Fragen: 1. wie kann Tugend Erkenntniss und somit lehrbar sein, da wir doch keine" Lehrer derselben aufzuweisen vermögen? 2. wie lässt es sich unter derselben Voraussetzung erklären, dass treffliche Staatsmänner ihre Söhne nicht zu gleicher Trefflichkeit heranbilden? Die zweite dieser Aporien erhält hier durch die Unterscheidung der allein zum Lehren befähigenden ^wissenschaftlichen Erkennt- niss* und der für die Praxis vielfach ausreichenden ,richtigen Meinung' ihre Lösung. Und eben hiedurch wird, da es ja baare Thorheit wäre, ein schon gelöstes Räthsel den Lesern von Neuem zur Lösung vorzulegen, das Zeitverhältniss der zwei Gespräche (wie schon Schleiermacher aufs Beste erkannt hat) unwidersprechlich festgestellt. Im engsten Anscbluss an diese fundamentale Unterscheidung tritt jene glimpfliche Beurtheilung athenischer Staatslenker auf, die zu dem giftigen Hohn, mit welchem der Gorgias sie überschüttet, einen so denkwürdigen Gegensatz bildet. Einen Gegensatz überdies, der allezeit be- merkt werden musste und mithin, da nicht die Werke eines Stümpers vor uns liegen, gewiss auch bemerkt werden sollte. Hier wie dort werden vier athenische Staatsmänner ersten

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Ranges genannt; zwei von ihnen sind an beiden Orten iden- tisch, zwei andere wechseln nach dem Bedarf des jeweiligen Zusammenhanges. Dort heisst es von ihnen, sie haben ,den Staat lediglich mit Häfen, Werften, Mauern, Tributen und der- gleichen Possen mehr angefüllt' (Gorg. 519 a), hier müssen sie sich zwar immer noch mit dem zweiten Platz hinter den Philosophen begnügen, allein den Gegenständen allgemeinster Verehrung und ihrem gesammten Wirken wird doch nicht mehr mit wegwerfender Verachtung begegnet. Was darf uns das Wahrscheinlichere dünken? Dass Plato sein etwaiges Empor- steigen von einer massigen Paradoxie zu einer masslosen und das Fallenlassen der wohlerwogenen, sorgsam begründeten Theorie, auf der jene beruhte, so geflissentlich hervorzuheben bemüht war? Oder dass er dem Leser vernehmlich genug andeuten wollte, er habe eine ausschweifende, die stärksten Empfindungen seiner Landsleute schwer verletzende Ansicht endlich zu massigen und einzuschränken gelernt? Sicherlich das letztere, und darum ist der Menon jünger nicht nur als der Protagoras, sondern auch als der Gorgias.

Und hier möchte ich falls mir ein Schritt vom Wege gestattet ist die Vermuthung aussprechen, dass diese ^Ehrenrettung' athenischer Staatsmänner geradezu den Kern- und Quellpunkt des Menon ausmacht. Sie bildet das Ende des Dialogs, und mit diesem Eindruck werden wir entlassen. Auch erklärt sich von hier aus der Aufbau des ganzen Gespräches. Für die Palinodie des Gorgias, um einen kräftigen, vielleicht überkräftigen Ausdruck zu gebrauchen, galt es eine angemessene, das Selbstgefühl des Autors nach Möglichkeit schonende Form zu gewinnen. Dazu empfahl sich in vorzüglicher Weise die Anknüpfung an jene zweite Aporie des Protagoras. Freilich war Plato's Meinung im zuletzt genannten Dialoge fast sicher- lich dahin gegangen, dass es den Staatsmännern an Weisheit gebreche und dass die vielfachen Misserfolge in der Erziehung ihrer Kinder dies mit beweisen helfen. Allein er hatte doch jene Meinung dort keineswegs in so schroffer und unumwundener Weise geäussert wie im Gorgias, vielmehr die Endentscheidung scheinbar in der Schwebe gelassen. So durfte sich denn der kunstreiche, niemals um eine Auskunft verlegene Schriftsteller sehr wohl den Anschein geben, auf jene als eine noch ungelöst

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gebliebene Frage zurückzugreifen darauf zurückzugreifen in einem Gespräche, dessen Personen als gleichsam hungernd nach positiven Lösungen, als müde des ewigen Vexirspiels und der unablässigen Mystificationen überdrüssig gewiss nicht ohne tiefen Grund erscheinen. Denn nicht blos an den historischen Sokrates möchte ich bei dem berühmten Zitteraal - Gleichniss (80a) denken, sondern Plato selbst lässt sich an der Schwelle des positiven Theiles jenes Dialogs von seinen Lesern zu den lange vermissten und heiss ersehnten Darlegungen drängen, welche den Rest des Werkes in so dichter Fülle einnehmen. Ihrer aller Zielpunkt aber ist jene den Staatsmännern dar- gebrachte ^Ehrenerklärung*, wenn sie gleich (und wann wäre dies bei Plato nicht der Fall?) selbstständiger Bedeutung keines- wegs entbehren. Das glimpflichere Urtheil über die Politiker ruht ja auf der Unterscheidung von e*U<jtiJ[/.7J und opS?) loqa, den artbildenden Unterschied beider Begriffe (ihre differentia) macht der alv.aq \o^[G\i5q aus und dieser selbst wird (98 a) auf die Lehre von der avaf/.VYjo'i? aufgebaut. Ist damit der dem Menon eigenthümliche Lehrgehalt nicht so gut als erschöpft?

Doch um von dieser Abschweifung zurückzukehren ich habe des Einwandes noch nicht gedacht, dass jene Ehrenerklärung* nur ironisch gemeint sei. Bedarf dieser unglückliche Einfall Schleiermacher's einer weitläufigen Wider- legung? Ein ironisch gemeintes Lob muss doch vor Allem ein übertriebenes, ein überschwängliches sein. Welchem zeit- genössischen, zumal welchem athenischen Leser konnte die Stellung, die der Menon Athens leitenden Staatsmännern hinter den , Philosophen*, das heisst hinter Sokrates und seinen Jüngern, anweist, in diesem Licht erscheinen? ,Eine gar seltsame Rang- folge*, so mochten neunundneunzig unter hundert Lesern aus- rufen, ,die unseren grossen Männern nichts weniger als gerecht wird!* Dass sie diesen mehr als gerecht wird, dies konnte selbst der hundertste nicht wähnen. Wie sollte sich da ein Gedanke an Ironie einstellen? Oder ward ein solcher vielleicht durch die Persönlichkeit der Männer nahegelegt, welche Plato diesmal zu Vertretern der Gattung erkoren hat? Dieser Punkt ist einer kurzen Ueberlegung werth. Von den Viermännern, welche der platonische Gorgias so erbarmungslos verurtheilt hat, kehren zwei unverändert wieder: Themistokles und Perikles ;

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zwei andere, Miltiades und Kimon, rnussten weichen der erstere, weil der bedeutende Vater eines bedeutenden Sohnes nicht in einen Zusammenhang passte, welcher von der Frage ausgeht: wie kommt ess dass hervorragende Staatsmänner nicht gleich hervorragende Söhne zurücklassen? Der letztere, wenn aus keinem anderen Grunde, so doch jedenfalls darum, weil es der Gipfel schriftstellerischen Ungeschicks gewesen wäre, durch die Nennung auch nur des Sohnes an jene Ausnahme von der hier behaupteten Regel zu erinnern. Wer tritt nun in die freigewordenen Stellen? Thukydides, des Melesias Sohn, und Aristides! Dieser eine Name entscheidet endgiltig die Frage, die uns hier beschäftigt, wenn es anders jemals eine Frage sein konnte. Und er würde sie auch dann ent- scheiden, wenn nicht Plato selbst durch das überquellend warme Lob, welches er sogar im staatsmännerfeindlichen Gorgias dem Sohne des Lysimachos gespendet hat (526 b), man möchte fast sagen dafür Sorge getragen hätte, uns jeden Irrweg zu ver- sperren. Wer noch einen Scrupel hegt, der lese die gewundenen, den Stempel sichtlicher Verlegenheit tragenden Sätze, in welchen Schleiermacher den Schwierigkeiten auszubeugen versucht, die seiner Auffassung unserer Stelle aus dem Erscheinen des , Ge- rechten' im Kreise der hier beurtheilten athenischen Staats- männer erwachsen.

Wäre ich nicht ängstlich darauf bedacht, diese nur auf feste Grundlegung abzielenden Erörterungen von jeder dem Meinungsstreit neue Nahrung zuführenden Zuthat frei zu halten: nichts wäre leichter, als auf die verschiedenen Stufen in Plato's Lebens- und Entwicklungsgang hinzuweisen, welchen das ver- änderte Verhältniss zur praktischen Politik entspricht, wie es im Gorgias und wie es im Menon uns entgegentritt. Dort Welt- flucht, herausfordernde Abkehr von der Wirklichkeit; hier das Bestreben, der letzteren und ihren ruhmvollen Vertretern einiger* massen gerecht zu werden. Dort eine gähnende, abgrundtiefe Kluft zwischen dem Zukunftsideal und der realen Gegenwart: hier das Bemühen, jene Kluft zwar nicht auszufüllen, aber doeli auch nicht als völlig unüberbrückbar darzustellen. Dort ein hochfahrendes Verschmähen jeglichen Compromisses; hier die Suche nach Surrogaten ach ! sie wird sich noch oft er neuen! 7 nach Ersatzmitteln der so schwer und so selten zu

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erreichenden geistigen und sittlichen Vollkommenheit. Man kennt die Stimmung, aus welcher der Gorgias geflossen ist. Plato gründet seine Schule,1 die Brust geschwellt von stolzen und, da keinerlei Erfahrung sie einschränken konnte, wohl auch von masslosen Hoffnungen, vielfach verspottet ob seines uner- hörten, des Sprösslings edler Ahnen so wenig würdig scheinen- den Beginnens, verklagt darob, dass er, der Reichbegabte, die Arena des öffentlichen Lebens meide, um in engen Jüngercon- ventikeln Begriffe zu spalten und Worte zu klauben (Gorg. 485d): und gegen all' den Hohn und all' die Anklagen der Freunde und Angehörigen wohl noch mehr als der Gegner sich mit unbeugsamem Trotze wappnend.

Ein paar Jahre sind dahingegangen. Die junge Schule gedeiht, wenngleich unter Kämpfen. Zu des Meisters Füssen drängen sich hochstrebende Jünglinge, welche hier die Waffen für den politischen Parteistreit zu erwerben trachten. Die Inter- essen der neuen Lehranstalt, die Anforderungen, denen sie ge- nügen soll, die Fehden, die sie zu bestehen hat, knüpfen ihren Leiter mit engeren Banden an das Leben. Der Vorwurf der Weltentfremdung, des starren Doctrinarismus lässt ihn nicht so gleichgiltig wie ehedem. Sein Selbstgefühl ist zugleich sicherer und massvoller geworden und gewinnt daher minder heftigen Ausdruck. Auch die Behutsamkeit ist ihm nicht mehr gänzlich fremd. Denn Nebenbuhler erspähen emsig jede Blosse, die er ihnen bieton mag. Haben wir nicht in dieser Phase von Plato's Geistesverfassung, welcher wieder andere und sehr verschiedene Phasen folgen sollten, den Boden gefunden, welchem der Menon '2 entspriessen mochte ? Doch ich eile, wieder in die Bahn ge- sicherter Beweisführung zurückzulenken.

2. Mit den Fäden, welche von Protagoras und Gorgias her im Menon zusammenlaufen, verknüpft sich ein anderer,

\ Vgl. Schleiermacher I, 2, 15—16; Bonitz 34—35; Grote II, 143.

2 Unserer Auffassung dieses Dialogs kommt am nächsten jene K. Fr. Her- mann's, S. 484. Auch seine Abhandlung ,De Piatonis Menone' enthält manche zutreffende Bemerkung , namentlich p. 59 60. Wer übrigens Wesentliches von Unwesentlichem scheiden gelernt hat, der wird in dem Scherzwort von den , göttlichen Männern' (99 d) eine wenig bedeu- tende Rückzugsplänkelei, nicht aber einen für die gesammte Auffassung des Gespräches Mass und Richtung gebenden Wink erkennen.

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der vom Menon zum Phädon herabreicht. Ich meine jene Rück Verweisung auf die Lehre von der , Wiedererinnerung' und ihre Darlegung im Menon (81afF.), welche uns im Phädon (72 e ff.) begegnet eine Kückverweisung, welche zumal von Ueberweg (289 290) und neuerlich wieder von Siebeck (228) so trefflich beleuchtet worden ist, dass jedes weitere Wort darüber von Uebernuss wäre. Mit bestem Fug durfte schon Schleiermacher sagen, Plato berufe sich im Phädon auf den Menon , vielleicht bestimmter und ausdrücklicher als irgend sonstwo auf ein früheres Werk' (II, 3, 11). Darf uns somit die Folgeordnung : Protagoras. .Gorgias

Menon

Phädon als gegen jede Anfechtung gesichert gelten, so erscheint ein weiterer Fortschritt zunächst davon abhängig, ob wir irgend- welche andere Dialoge dem Schlussglied dieser Kette voran- zustellen berechtigt sind. Und da ist es denn freilich längst anerkannt, bereits von Schleiermacher angedeutet und von Bonitz mit gewohnter siegreicher Klarheit nachgewiesen, dass im Phädon ,kein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele von Piaton anders unternommen wird als auf Grund der Ideen- lehre' (307). Da aber eben diese Lehre im Phädon selbst erörtert wird , so musste die Frage , ob Plato seine eigen- thümlichste Doctrin bereits in anderen vor der Abfassung dieses Dialogs veröffentlichten Schriften dargelegt habe, darum noch nicht nothwendig eine ausnahmslos bejahende Beantwortung finden. Und sie hat sie in der That nicht gefunden. Viel- mehr haben treffliche Kenner unseres Philosophen wie Fritz Schultess l und nach ihm Wilhelm Dittenberger, desgleichen (mit einer geringen Einschränkung) Martin Schanz kein Bedenken

1 ,Kurz, man erkennt, dass die ganze Ideenlehre dem Verfasser des Phädon ein jüngst erst zu Stande gekommenes Lehrgebäude ist, dass er sie, ohne irgend eine Bekanntschaft vorauszusetzen, seinen Lesern zum ersten Male vorträgt' u. s. w. (65) ; Schanz (442 ff.) lässt dem Phädon von allen einschlägigen Schifften nur das Symposion, Dittenberger (386 und 342) selbst dieses nicht vorangehen.

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getragen, den Phädon an die Spitze sämmtlicher die Ideenlehre behandelnden Gespräche zu stellen. Sie hätten dies sicherlich unterlassen , wenn sie sich rechtzeitig zweier hochwichtiger Stellen dieses Dialogs erinnert hätten, nämlich der folgenden:

*Ap' oüv outü)£ iyj,'., s<j>yj? tjijuv, u> Ziy.y.ia- d \).kv Soriv ä Opu- XoSfAev disi, xaXov te y.al ayaöbv x,at rcaca yj ictauTYj oucri'a, x,as im raÖTYjv xa ex tg>v aiffOrjsswv roxvTa ava^spojASv /.ts. (Phaedo, 76 d).

'AXVj vj 8' 8?, ü>5e Xe^w, oüSev xaivov, dXX' owusp asi stal dXXors y.as h tw icapeXityXuQ&n Xö^w oüosv Trs-au^at Xe^cov. ep^öjxat *fdp oyj i-r/s'.pwv cot eicc3e(£äa6a( "rijg aiii'a«; to t$0£ o TCSiupa'YfJi'dTeufji.ai , xat et\)A TuaXiv eV exelv« TCoXuOpuXYjTa xal ap/o^a'. die* efceivwv, utcoÖs- jasvoi; elvat Tt xaXbv auTo xaö' auib y,at dyaOov y,ac jJL£va xal xaXXa «dtofc'wci (ib. 100b).

Wenn dies keine Rückbeziehungen sind, so weiss ich nicht, was man unter solchen zu verstehen hat. Es sind sonnen- klare Verweisungen auf früher erfolgte Darlegungen der Ideen- lehre; und nur so erklärt sich ja auch das rasche Verständniss und die bereitwillige Zustimmung, welche Sokrates mit seiner kurzen Recapitulation bei Simmias findet (76 d 77 a), das heisst doch, welche der Autor bei seinen Lesern zu rinden mit Zu- versicht erwarten durfte! Fragt man uns aber, worauf jener Hinweis ziele und welche Dialoge auf Grund desselben dem Phädon voranzustellen seien , so darf unsere Antwort vorerst also lauten.

Die Schriften, welche sich mit der Ideenlehre einlässlich genug beschäftigen, um hier überhaupt in Betracht zu kommen, sind Phädros, Symposion, Republik, Timäos, Parmenides und Sophistes. Es soll die Möglichkeit, dass die zwei zuletzt ge- nannten Gespräche gemeint seien, hier nicht erörtert und be- stritten werden. Wohl aber ist es unmöglich, dass sie ein- zeln oder vereinigt allein gemeint seien. Denn Werke, in welchen so tiefgreifende Einwürfe gegen die Ideenlehre er- scheinen und nicht minder tiefgreifende, auf die Hinwegräumung bereits wahrgenommener Schwierigkeiten abzielende Modifika- tionen derselben erfolgen, sind sicherlich nicht eben jene, mittelst welcher der Urheber dieser Doctrin sie zuerst bekannt gemacht hat.. Geht der Parmenides oder der Sophistes oder beide dem Phädon voraus, so geht dies wird niemand bezweifeln ihnen selbst wieder eine oder mehrere der obgenannten vier

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Schriften voraus. Ueber diese gilt es daher, gleichviel, welche die Stelle jener zwei dialektischen Dialoge sein möge, eine Entscheidung zu treffen, entweder in dem Sinne, dass sie ins- gesammt oder dass ein Theil von ihnen dem Phädon vor- angehen.

Was nun das Symposion anlangt, so steht es mit ihm in gewissem Masse ähnlich wie mit den zwei zuletzt besprochenen Dialogen. Es setzt zwar nicht gleich diesen eine vorgängige Darstellung der Ideenlehre voraus, aber es kann so wenig als diese allein gemeint sein, weil in ihm nicht von der Ideen- lehre in der hier erforderten Ausdehnung, sondern ausschliess- lich von einer Idee, jener des Schönen die Rede ist. Vom Timäos brauchen wir nicht zu sprechen, da ihm unbestrittener Massen die Republik voraufgeht oder (da in Betreff des zehnten Buches ein, wenngleich haltloser Zweifel geäussert worden ist) doch jedenfalls die Theile der Republik, nämlich die Bücher V VII, die uns hier allein zu kümmern haben. Somit steht der Schluss unabweisbar fest: Dem Phädon geht der Phädros oder die Republik oder beide voran. Welche der beiden hiernach allein ernstlich in Frage kommenden Folgeordnungen: a) Phädros, Phädon, Republik (Timäos) oder b) Phädros, Re- publik (Timäos), Phädon denn die noch übrig bleibenden: c) Republik (Timäos), Phädon, Phädros und d) Republik (Ti- mäos), Phädros, Phädon, dürfen wohl aus allgemein bekannten und anerkannten 'Gründen vorerst aus dem Spiele bleiben die richtige ist, soll hier nicht entschieden werden. Die Ent- scheidung wird in erster Reihe von dem Gewicht abhängen, welches man einerseits den Rückbeziehungen auf den Phädon, die Schleiermacher (III, 1, 395 396) und nach ihm viele Andere in der Republik X, 611 zu erkennen glaubten, und andererseits den Argumenten einräumt, welche August Krolm (266 und 273) und Paul Tannery (p. 152) gegen diese Anordnung ins Feld geführt haben.1 Auch andere Elemente, welche zum Theil noch gar nicht in die Discussion gezogen wurden, werden hiebei eine Rolle spielen.

1 Die Möglichkeit, dass Phädon nach Repuhlik Buch V VII, aber vor Buch X verfasst sei, braucht uns, da sie bisher sidlist nicht von- den Leugnern der Einheit der Republik ins Auge gefasst ward, so wenig als die oben erwähnten Möglichkeiten c) und d) ku beschäftigen.

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Die Wandlungen in Plato's psychologischen Lehren aber, welche diese ganze Streitfrage veranlasst haben, werden schwerlich den Stoff zu ihrer Schlichtung liefern. Denn Ein- wendungen von mindestens beträchtlicher Scheinbarkeit lassen sich gegen jede der zwei in Frage stehenden Folgeordnungen erheben. Das Stärkste was sich gegen die Schleierniacher'sche Anordnung (a) vorbringen Hess, war dies, dass sie zur An- nahme eines schwer begreiflichen Hin- und Herschwankens in Plato's Geiste nöthige durch die Folge: Dreitheilung der Seele, Einheitlichkeit derselben, wieder Dreitheilung der Seele. Es scheint aber noch nicht bemerkt zu sein, dass eine ganz gleichartige Schwierigkeit auch der anderen, von Ueberweg vorgeschlagenen, Folgeordnung (b) innewohnt, vermöge der Succession der Lehren: Unsterblichkeit der ganzen Seele, Un- sterblichkeit nur eines Seelentheils, wieder Unsterblichkeit der ganzen Seele. Wo sich uns ein Ausweg aus diesem Irrsal zu öffnen und welche die richtige Erklärung jener Oscillationen zu sein scheint dies bleibt vielleicht besser unausgesprochen, bis wir in Betreff der Reihenfolge dieser Dialoge einen festen Stamm von Beweisgründen gewonnen haben, an welchem die diesbezüglichen Wahrscheinlichkeits - Erwägungen sich empor- zuranken vermögen.

Mich mit den chronologischen Sprachkriterien, welche Dittenberger und nach ihm Schanz ermittelt haben, an dieser Stelle vollständig auseinanderzusetzen, daran hindert mich der Plan meiner Arbeit. Müsste ich hiebei doch der spä- teren Beweisführung vorgreifend Zeitbestimmungen aufstellen, welche vorerst nur den Werth beweisloser Behauptungen be- sässen. Allein wenn nichts Anderes, so muss mich doch der Widerspruch, in welchem ich mich betreffs des Zeitverhält- nisses zwischen Phädon und Phädros mit den Ergebnissen jener Forscher befinde, daran verhindern, an denselben stillschweigend vorüberzugehen. Und zwar ist meine Lage hiebei eine selt- same. Ich sehe mich genöthigt, einzelne Missbräuche und Fehl- anwendungen einer Methode abzuwehren, deren hohen Werth ich voll und freudig anerkenne, ja von deren Mithilfe ich

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die wesentlichste Förderung bei der endgiltigen Lösung der hier verhandelten Probleme erwarte.

Wilhelm Dittenberger hat in seinem epochemachenden Aufsatz eine Reihe von bedeutsamen Thatsachen festgestellt, deren Tragweite man nicht dadurch vermindert, dass man, wie dies bedauerlicher Weise kein Geringerer als Zeller (S. 216 219) gethan hat, ausschliesslich die schwächste Seite jener Erörterungen ins Auge fasst. Als solche muss uns nämlich der von Dittenberger selbst nur mit weitreichenden Vorbehalten (S. 335 336) unternommene Versuch er- scheinen, aus den Frequenz- Verschiedenheiten gewisser Partikeln und Partikel -Verbindungen entscheidende Schlüsse auf die Abfassungszeit platonischer Schriften zu ziehen. Auch hier freilich thut mehr als eine Unterscheidung Noth. Dass die Frequenz jedes beliebigen, in den Schriften eines Autors vorkommenden Wortes oder Wörtchens eine ihren Entstehungszeiten entsprechende auf- oder absteigende Reihe bilden sollte, dies von vornherein zu erwarten ist nicht der mindeste Grund vorhanden; und bedurfte es, um das Eitle solch einer Erwartung zu erweisen , nicht erst der zu diesem Behufe unternommenen weitläufigen Zusammenstellungen Höfer's. Etwas Aehnliches ist aber Dittenberger , gegen dessen Methode man diese Instanzen ins Feld führt, niemals in den Sinn gekommen. Sein Ausgangspunkt war ein völlig andersartiger. Es war die Wahrnehmung, dass das Wörtchen \xr^ der ältesten attischen Prosa ganz und gar fremd ist und nur allmälig reichere Verwendung findet. Da war denn der Gedanke, Plato's Schriften darauf anzusehen , ob die seinem Zeitalter gemeinsame Neuerung nicht auch in ihrem Bereiche Phasen des Wachsthums offen- bare, nicht mehr ein verkehrter, wohl aber verhiess er von vornherein (so lange die Häufigkeit des Gebrauches allein in Betracht kam) nichts weniger als durchweg befriedigende Ergebnisse. Denn den allgemeinen Ursachen -- einer stilistischen Neigung des Zeitalters oder auch der wachsenden Vorliebe des individuellen Autors standen allzu viele sie einschränkende oder verdeckende Sonderursaohen : Inhalt. Form, Ton der einzelnen Dialoge, auch Laune und Stimmung des Schriftstellers, gegenüber, als dass man die «Tsleivn zu

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reinem und sicherem Zahlenausdruck gelangen zn sehen mit Zuversicht erwarten konnte. Um Vieles günstiger gestaltete sich jedoch das Unternehmen auf Grund der weiteren Wahrnehmung, dass gewisse Gebrauchsweisen jener Partikel einem sehr beträchtlichen Theil der platoni- schen Gespräche durchaus abgehen. Hier konnte mit weit besserem Recht der Versuch gewagt werden, aus dem mehr oder weniger häufigen Auftreten dieser im Verlaufe der Schriftstellerei unseres Autors selbst neu gewonnenen Ausdrucks- mittel chronologische Schlüsse zu ziehen. Denn die Vermuthung spricht ja in der That dafür, dass eine Sprachneuerung sowohl im Geiste ihres Urhebers allmälig tiefere Wurzeln schlage, als auch mit Rücksicht auf den derselben ungewohnten Leserkreis nur stufenweise zu ausgedehnterer Verwendung gelange. Allein auch diese Präsumtion muss sich nicht jedesmal als durch die Thatsachen gerechtfertigt erweisen. Ist doch Stetigkeit im Wachsthum einer Sprachgewohnheit zwar die Regel, aber keineswegs eine ausnahmslose Regel. Bewusstes, ja planmässiges Wollen kann selbst dort, wo man es am wenigsten voraus- setzt, das blindwirkende Walten des Geschmacks und der An- gewöhnung durchkreuzen. Ranke erzählt irgendwo, er habe einmal seine übermässige Vorliebe für den Gebrauch einzelner Partikeln wahrgenommen und diese dann eine Zeit lang streng und ängstlich gemieden. Aehnliches konnte auch Plato be- gegnen, bei der Erweiterung seines Sprachschatzes noch leichter als bei der blossen Anwendung des Altgewohnten und Altver- trauten. Wie schwer freilich diese und verwandte Möglich- keiten in die Wagschale unseres Urtheils zu fallen haben und inwieweit sie im Verein mit den anderweitigen, oben er- wähnten Fehlerquellen die Triftigkeit auch dieser Schlussweise beeinträchtigen, lässt sich schwerlich von vornherein und im Allgemeinen in bestimmter Weise feststellen.

Ungleich bedeutsamer als alle Frequenz-Verschiedenheiten ist jedoch jene oben berührte fundamentale Thatsache selbst, durch deren Ermittlung Dittenberger sich ein hervorragendes Verdienst erworben hat. Ich meine das vollständige Fehlen dreier Gebrauchsweisen der Partikel jwjv in nahezu einem vollen Drittheil alles dessen, was Plato .geschrieben hat. Hierin ein blosses Spiel des Zufalls zu erblicken, davon

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kann gar Vieles abmahnen. Ausser alle dem was Dittenberger (insbesondere S. 327 334) ausgeführt hat, zunächst auch der Umstand, dass die aus der Beachtung jenes Unter- schiedes entspringende Haupt-Grupp en- Scheidung jene Untergruppen unangetastet lässt, welche Plato selbst als solche bezeichnet hat: Theätet , Sophistes und Politikos einer-, Re- publik (sammt Kleitophon), Timäos und Kritias andrerseits; kaum weniger die Thatsache, dass die rein-sokratischen Dialoge sich (mit der einen Ausnahme des an der Grenzscheide stehen- den Lysis) auf der einen Seite jener sprachlichen Unter- scheidungslinie befinden, desgleichen die sogenannten dialekti- schen Gespräche insgesammt auf der anderen. Den Versuch aber, dieses Argument dadurch zu Falle zu bringen, dass man einige offenkundigermassen auf blossen Coincidenzen beru- hende, vermeintliche Parallelerscheinungen nachwies (Freder- king, S. 538 und 540), hat meines Erachtens seine Kraft nicht erschüttert, sondern nicht unwesentlich erhöht. Vermochte doch selbst die eifrigste Suche nach derartigen Pseudo-Sprachkriterien nichts den Dittenberger'schen Nachweisen irgend annähernd quantitativ oder qualitativ Gleichwerthiges zu Tage zu fördern.

Weit tiefgehender sind andere Einwürfe , welche gegen die Dittenberger'schen Resultate theils erhoben worden sind, theils sich erheben lassen. Sie fassen auf der Kleinheit mancher hiebei ins Spiel kommender Zahlen, auf der ungleich- massigen Vertheilung der massgebenden sprachlichen That- sachen und auf der Abhängigkeit jener stilistischen Besonder- heiten von zum Theil klar erkennbaren Specialursachen. Diese Einwürfe sind bis zu einem gewissen Punkte wirklich triftig, aber sie berühren, wie ich meine, nicht das von jenem Forscher erzielte Hauptergebniss.

Die Zustimmungsformel ti (jlvjv; (,wie sonst? wie anders?'), die mit gutem Grunde in diesen sprachstatistischen Unter- suchungen die hervorragendste Rolle spielt (s. Dittenberger, S. 334), fehlt im ersten Buch der Republik gänzlich; die Formeln ys fjt^v und aXXa jji^v begegnen darin nur je einmal (332 c und 348 c). So ruht denn die Zuweisung dieses Buches an die zweite Sprachperiode Plato's nur auf zwei Sätzchen. Hätte er diese . nicht geschrieben und wer möchte wolil behaupten, dass er sie schreiben musste? so stünde dieses

[755] Platonische Aufsätze. 17

Buch, wie Frederking (S. 536) richtig bemerkt hat, so weit jene Kriterien in Betracht kommen, auf dem Sprachniveau der ersten Periode und würde, falls es eine selbständige Schrift wäre, mit demselben Rechte wie etwa der gleich umfangreiche Laches dieser zugewiesen. Dies kann als eine ernste Mahnung zur Vorsicht gelten eine Mahnung freilich, welcher derjenige nicht bedarf, der mit der erforderlichen logischen Schulung an derartige Untersuchungen herantritt. Denn ein solcher weiss, dass sprachstatistische gleich allen anderen statistischen, d. h. rein empirischen Ermittlungen nicht Gesetze oder Causal- verbindungen irgendwelcher Art beweisen können, sondern nur Präsumtionen einerseits und Verificationen andererseits schaffen helfen, und dass somit die aus ihnen hervorgehenden Ergebnisse niemals einen absoluten Werth zu beanspruchen berechtigt sind.1 Er weiss ferner, wie trüglich negative Kriterien jeder Art sind, und endlich, dass grosse Zahlen allein im Stande sind, auch nur jenen Grad von Gewissheit zu erzeugen, welchen aus statistischen Beobachtungen fliessende Folgerungen überhaupt zu gewähren vermögen.

Noch dringendere Mahnungen zur Behutsamkeit ertheilt uns das Symposion. Denn hier erfahren wir nicht nur, wie nahe die Gefahr liegt auf dem in Rede stehenden Wege in die Irre zu gehen, sondern wir ersehen daraus auch, dass derselbe in der That bereits in die Irre geführt hat. Die Ver- bindung dtXXa pu{v begegnet in diesem Gespräch zweimal, und dieses zweimalige Vorkommen ist nebst dem einmaligen Auf- tauchen von <nf«v der alleinige Grund, weshalb dasselbe Plato's zweiter Sprachperiode zugetheilt wird. Nun stehen aber diese beiden Stellen (202 d—e und 206 e) ganz nahe bei einander, inmitten eines völlig eigenartigen Stückes dieser Schrift, nämlich in dem ungemein lebhaften Wechselgespräch zwischen Sokrates und Diotima, d. h. in der einzigen eigentlich dialogischen Partie des Werkes, welche Hug (S. LIII) sehr treffend einen platonischen Dialog innerhalb des Dialogs genannt hat. Man

1 Denn wie sollte das empirische Gesetz successiver Erscheinungsreihen, welche von vielen, an Zahl und Stärke wechselnden, Ursachen abhängen, etwas Anderes zum Ausdruck bringen als Tendenzen, von denen nur der Unverstand die Unverbrüchlichkeit ausnahmsloser Causa 1- verbin düngen erwarten oder heischen könnte?

2

18 Gomperz. [756]

sieht, Plato konnte längst im Besitze dieses Ausdrncksmittels sein, er konnte das ganze jGastmahl', genau so wie es vor uns liegt, geschrieben haben, es brauchte nur dieser Dialog im Dialoge zu fehlen und die Merkzeichen der zweiten Sprach- periode waren, bis auf das eine -ys jrr,v (197 a), geschwunden; das Symposion wäre dann (soweit dieses Kriterium in Betracht kommt) dem an Umfang gleichen Protagoras zeitlich gleich- gestellt worden. Freilich hätten sich in solchem Falle die be- treffenden Forscher, sobald sie über ein non liquet hinausgingen, eines logischen Fehlers schuldig gemacht; denn sie durften in einem wesentlich nicht-dialogischen Werke nicht Wendungen erwarten, die nur oder fast nur dem belebten Wechselgespräch eigen sind. Eben denselben Fehler haben aber Dittenberger und Schanz gerade in Betreff des Symposion wirklich begangen, indem sie aus dem Fehlen der dialogischen Formel xi jj/r^v; die Priorität dieses Werkes vor dem Phädros (mit Unrecht, wie schon Frederking sah, S. 535, A. 1) erschliessen zu dürfen glaubten.

Auch die nachfolgenden Erwägungen mögen nicht jeder Beachtung unwerth scheinen. Die Formel xt jjl^v ; dient zur Varii- rung des Ausdrucks der Zustimmung. Das Bedürfnis» solcher Variirung tritt dort am stärksten auf, wo lange Reihen bei- pflichtender Aeusserungen einander folgen. Dies findet in den lehrhaften Dialogen in weit höherem Masse statt als in jenen, welche das Alterthum agonistische genannt hat, also im Philebos, Sophistes, Politikos ungleich mehr als z. B. im Prota- goras. Auch fehlen in jenen die der sprachlichen Mannigfaltig- keit an sich förderlichen qualitativen Verschiedenheiten der Zu- stimmungsäusserung , wie sie durch ein erceveuo-e, [AOft? src&euoe, £gtoj goc tcuto u. s. w. im Protagoras und Gorgias zur Anwendung gelangen. Ferner besitzt diese Formel eine Lebhaftigkeit, welche den dramatischen Gesprächen oder Gesprächspartien um Vieles besser ansteht als den nacherzählten. Beweis dessen der Umstand, dass in der Republik 32 Fällen des blossen -;. pp; nur je einer von xi jJrtjv; ift\ (410a) und v. jrr,v; rt S'5$ (583a) gegenüberstehen. Auch ist die in Frage stehende Formel ein Ausdruck nicht nur lebhafter, sondern auch williger, freudiger, rückhaltloser Zustimmung, wie er in den Schülergesprächen der spätesten Epoche, aber auch in solchen wohl am Platze

T7571 Platonische Aufsätze. 19

ist, in welchen sie mögen nun welcher Zeit immer ange- hören — der Mitunterreder die unselbständige Fügsamkeit eines Phädros besitzt. Man könnte sich versucht fühlen, in diesen mehr als in chronologischen Unterschieden die Ursache des Gebrauchs und Nichtgebrauchs jener Formel zu finden.

Damit habe ich den Köcher meiner skeptischen Ein- wendungen geleert. Dieselben sind von sehr verschiedenem Gewicht; allein sie treffen, wie ich meine, im besten Falle nur die Aussenwerke der Dittenberger'schen Beweisführung, nicht ihren Mittelpunkt und Kern. Zumal die zuletzt angeregten Ge- sichtspunkte sind ergiebig genug, wo es gilt, einzelne Fehlan- wendungen (insonderheit in Betreff der aus der Partikel-Fre- quenz zu ziehenden Schlüsse) hintan zuhalten und uns davor zu bewahren, die Instanzen blos zu zählen anstatt sie auch zu wägen. Aber das grosse Gesammtergebniss , die Scheidung zweier Hauptgruppen wird von ihnen nicht berührt. Den zehn Fällen von ti [xy]v; welche die letzten 25 (Hermann'schen) Seiten des Phädros enthalten, steht z. B. das vollständige Fehlen dieser Verbindung in dem durch die gleich fügsame Willfährigkeit des Haupt-Mitunterredners ausgezeichneten, 29 Seiten zählenden Charmides gegenüber. Die Form der Nacherzählung wird in diesem Dialog gleichwie im Phädon, Euthydem u. s. w. häufig genug durchbrochen, um dem von uns erhobenen Einwurf einen grossen Theil seiner Kraft zu rauben. Und warum bietet der zugleich rein -dramatische und durchaus lehrhafte Menon mit seinen langen Reihen von copoSpoc y&, wdvu -/e, iaxi xauxa, s-fio-fc, 7Uöevu ptiv ouv, [j.aXtcia ye, vai, avocy^Y) u. s. w. kein einziges Beispiel jener Formel? Weshalb der Phädon in seinen grossen dramatisch-dialogischen Bestandtheilen ? Ja, selbst im Gorgias fehlt es nicht an umfangreichen Abschnitten, wo die gehäuften vai, avcrp% ^w? -yap ou; u. s. w. solch eine Abwechslang als sehr erwünscht erscheinen Hessen. Welcher neckische Zufall soll es endlich gefügt haben, dass der langen Reihe dieser Schriften auch jene zwei anderen ^v-Verbindungen durchaus ab- gehen, von welchen jeder Bestandtheil der zweiten Reihe, wenngleich oft nur vereinzelte Beispiele aufweist?

So mag denn das Urtheil immerhin in Ansehung eines oder des anderen Gruppenglieds schwanken, die Gruppen- scheidung selbst dürfte aus allen Anfechtungen unversehrt

20 Gomperz. [758]

hervorgehen. Denn die Bedenken, welche die kleinen Zahlen wachrufen, widerlegen die grossen. Ja, die ana- lytische Detailbetrachtung, welche wir durch die obigen Erör- terungen den Plato -Forschern empfehlen wollten, bietet Mittel dar, nicht nur um Zweifel zu erregen, sondern auch um schon geweckte Zweifel zu zerstreuen. So hilft z. B. der agonisti- sche Charakter eines grossen Theiles des ersten Buchs der Republik (dort, wo Thrasymachos der Haupt-Mitunterredner ist) das vollständige Fehlen von xi fj^vj erklären. Die Hauptsache aber ist und bleibt die grosse Zahl und Mannigfaltigkeit der auf beiden Seiten der Sprachgrenze befindlichen Schriften. Ich gehe nicht so weit zu sagen, dass der Zufall hiedurch voll- ständig und unbedingt eliminirt ist. Aber in sofern kann er sicherlich als ausgeschieden gelten, dass die Annahme zeit- licher Trennung der beiden sprachlich geschiedenen Gruppen den Werth einer in hohem Masse beachtenswerthen Präsum- tion für sich in Anspruch nehmen darf. Daraus erwächst uns die dringende Aufforderung, die Consequenzen jener Annahme zu ziehen und sie mit anderen gewichtigen Kriterien zusammen- zuhalten. Dass jene Präsumtion die hieraus entstehende Probe, wie wir schon gesehen haben und noch des Weiteren sehen werden, im Wesentlichen siegreich besteht, dieser Umstand lässt sie in der Scala der Wahrscheinlichkeiten zu einem so hohen Punkte emporsteigen, als dies bei derartigen Forschungen nur irgend zu erwarten ist.

Oder die Untersuchung mag auch man verzeihe die Breite dieser methodologischen Erörterung einen theilweise umgekehrten Weg einschlagen. Dass die rein - sokratischen Dialoge einander zeitlich benachbart sind , dass dasselbe von den dialektischen Gesprächen gilt, dass die ersteren den letzteren vorangehen: von diesen und ähnlichen an sich wahr- scheinlichen Voraussetzungen mag die Forschung ihren Aus- gang nehmen, während den sprachstatistischen Ermittlungen die Aufgabe zufällt, welcher die Methodcnlehrc den Namen der Verification ertheilt hat. Diesem schlagenden Oon- sensus von einander unabhängiger Forschungsweisen wird endlich durch zwei weitere Reihen von Thatsachen eine neue Beglaubigung zutheil. Einmal dadurch, dass die also erwachsene Gruppenbildung mit den von Plato selbsi aufgestellten unter-

[759] Platonische Aufsätze. 21

gruppen (wie schon einmal bemerkt) nirgendwo in Widerstreit gerätli, zweitens durch die Gewinnung einer Anzahl anderer, von den Gebrauchsweisen der Partikel \rr^ völlig unabhängiger, aber mit diesen im Grossen und Ganzen in erstaunlicher Weise parallel- gehender Sprachkriterien, welche in erster Reihe von Dittenberger selbst, in zweiter von Schanz ermittelt worden sind. Zumal der von Ersterem als II b bezeichnete Haupttheil der zweiten Gruppe (wozu nur von allem Anfang an auch Timäos und Kritias zu zählen waren) ist es, der hiedurch einen, meines Erachtens, jedem Angriff trotzenden Bestand gewonnen hat. Auf die verhält- nissmässig geringfügigen Differenzen zwischen den Ergeb- nissen dieser zwei Gelehrten hier einzugehen, ist nicht meine Absicht. Doch kann ich nicht umhin, mein Bedauern darüber auszusprechen, dass Schanz sich an mehreren Stellen seiner so schätzenswerthen Abhandlung in einer Weise ausgedrückt hat, welche einen Mangel an methodischer Strenge bekundet und sicherlich zu principiellen Anfechtungen dieser ganzen Unter- suchungsweise neuen und willkommenen Anlass bieten wird. Ich meine Folgendes. Dass ein Schriftsteller nicht alle oder viele seiner Stileigenthümlichkeiten an einem Tage oder mit einem Schlage wechseln wird, ist selbstverständlich, und nur die Thor- heit könnte etwas Anderes erwarten. Nichts natürlicher daher, als dass die verschiedenen, den Uebergang von einer Epoche zur anderen bezeichnenden Sprachwandlungen Plato's nicht durch- aus strenge Gleichzeitigkeit offenbaren. Es kann, ja es muss geschehen, dass dasselbe Werk an dem Massstab des einen Sprachkriteriums gemessen noch in die Periode A und nach dem Ausweis eines anderen bereits in die Periode B zu fallen scheint. Solch eine Schrift, die in sprachlicher Rücksicht gleich- sam mit einem Fusse in der vorangehenden und mit dem an- deren in der nachfolgenden Phase steht, muss selbstverständlich auch ihrer Abfassungszeit nach (falls nicht eine Ueberarbeitung angenommen werden soll) der Grenzscheide zweier Epochen an- gehören. Gelingt es, diese ihre Stellung als möglich zu er- weisen, so geschieht der Geltung jener Sprachkriterien, die in diesem einzelnen Falle mit einander in Conflict gerathen, keinerlei Abbruch. Tritt an die Stelle blosser Möglichkeit ein geringerer oder höherer Grad der Wahrscheinlichkeit, so erfährt die Autorität der bezüglichen Kriterien sogar eine dem

22 Gomperz. [760]

entsprechende Steigerung; und jene Grenzwerke erlangen da- durch , dass sie gewissermassen zu Knoten des Zeitfadens werden , eine hohe methodische Bedeutung. Schlagen aber alle derartigen Versuche fehl, so muss zwischen den einander widerstreitenden Prüfmitteln eine Wahl getroffen und das eine der beiden nicht nur für den einzelnen Fall , sondern überhaupt verworfen werden. Es scheint undenkbar, dass Schanz sich dieser Einsicht sollte versehliessen wollen. Allein er gibt ihr jedenfalls keinen Ausdruck; ja, manche seiner Aeusserungen klingen so, als ob er die besondere Artung dieses Problems sich noch nicht zu deutlichem Bewusstsein ge- bracht hätte und es für statthaft hielte, zwei Sprachkriterien, deren Ergebnisse sich an mehreren Punkten widersprechen, ohne weiteres neben einander zu gebrauchen und sich je nach Be- darf bald des einen bald des anderen zu bedienen (vgl. S. 448 bis 449 und 452).

Doch es dürfte angemessen und an der Zeit sein, die beiden Hauptreihen, wie sie sich nach den von mir ergänzten Untersuchungen Dittenberger's auf Grund der drei massgeben- den (Ji^v-Verbindungen darstellen, dem Leser vorzulegen. Und zwar wähle ich hiefür die alphabetische Anordnung.

[761]

Platonische Aufsätze.

23

Gesammt-

Umfang nach

it pfa

FW

aXXa

zahl der Beispiele

Seiten der Hermann'schen

von {ir;v

Ausgabe

I *,AtcoAoywc . . .

1

33

Top^iaq

24

116

Eü968yj[/.os . . .

12

45

Euöucppwv ....

2

23

Thmac sXaxxwv .

5

20

Kpav'jXoq ....

18

79

KpiTWV

17

Aay^;

7

32

*Mev£§evos . . .

1

19

Mevwv

10

46

Ilpwiayopa; . .

__

5

63

<I>a'3(i)v

20

79

XapixßYj? .... II 6eafor)Toq . . .

.

7

29

112

601

13

1

1

38

101

*KXeiTO<piov

1

2

6

*KptTia? . .

1

2

19

Auati;1 . .

1

4

12

24

Nofxct . .

48

24

2

166

417

Hap[j(,£Vi§Yj<;

6

5

2

81

50

Ho/aTSia .

34

2

11

158

318

[IoXtTtx6(; .

20

8

3

75

83

Lö^ionj? .

12

5

2

72

82

Sujjwuoariov

1

2

15

62

*Tt[j.c«o<; . .

6

9

88

<I>ai8po<; .

11

1

1

24

68

$i>vY]ßb<; .

26

7

2

78

87

171

61

31

732

1405

Gesamii

atzahl

263

Auf dao eine von Dittenberger übersehene xl fin^v; im Lysis (219 e) hat mich Otto Apelt in Weimar freundlichst aufmerksam gemacht.

24 Gomperz. [762]

Mit einem Sternchen habe ich diejenigen Schriften be- zeichnet , welche Dittenberger von der Untersuchung auszu- schliessen , ich in diese mit einzubeziehen als angemessen erachtet habe. Von , Apologie, Tiinäus und Kritias' hat nämlich jener Forscher darum ^abgesehen, weil in ihnen das dialogische Element so zurücktritt, dass das Vorkommen der in Rede stehenden Partikelverbindungen, welche theils ausschliesslich, theils vorwiegend in der Wechselrede ihre Stelle haben, der Natur der Sache nach ein ganz sporadisches sein muss und nach keiner Seite zu sicheren Schlüssen berechtigt'. (S. 326 327, Anm. 2). Dieses Verfahren mochte sich bei der Abfassung jenes grundlegenden Aufsatzes bis zu einem gewissen Masse empfehlen, wenn sich gleich der Doppeleinwand nicht völlig abweisen lässt, dass die eine der drei Verbindungen 76 |rr,v

mit dem dialogischen Elemente wenig zu thun hat, und dass die individualisirende Behandlung, sobald sie einmal überhaupt beliebt ward, auch auf andere Stücke, in welchen die zusammenhängende Darlegung über die Wechselrede über- wiegt (vor Allem auf das Symposion), hätte ausgedehnt werden können. Doch wie dem auch sei; jetzt, wo es die erzielten Ergebnisse zu überprüfen, gegen Einwendungen zu sichern und ins Feinere auszuarbeiten gilt, scheint jene Ausschliessung jedenfalls nicht mehr am Platze zu sein. Wenn die Apologie, deren Abfassungszeit unmöglich um viele Jahre von der Hin- richtung des Sokrates entfernt sein kann, auch nur ein Bei- spiel jener drei Verbindungen aufwiese, so stünde es schlimm um die These, dass Plato zur Zeit, da er die Schriftengruppe I verfasste, deren Glieder entweder insgesammt oder doch sicherlich zum allergrössten Theil der Apologie nachfolgten, die fraglichen Verbindungen seinem Sprachschatz noch nicht ein- verleibt hatte. In Wahrheit begegnet uns in der Apologie jjiyjv nur als Betheuerungsformel (yj ptvjv), und zwar blos einmal (22*)

nebenbei ein in quantitativer und qualitativer (s. Ditten- berger, S. 329) Rücksicht höchst beachtenswerthes Vorkomm- niss, welches im Verein mit der vollständigen Abwesenheit der Partikel im nächstverwandten Kriton gar viel zu denken gibt. Wenn andererseits die der Republik nachfolgenden und somit in die zweite Sprachschicht eingebetteten Werke Timäos und Kritias gar kein Beispiel einer jener drei Verbindungen

[763] Platonische Aufsätze. 25

enthielten, so wäre auch dies nicht wohl mit der Annahme zu vereinigen, dass die zweite Sprachphase im Wesentlichen mit einer zweiten Zeitperiode zusammenfällt. Der nicht-dialogische Charakter der beiden Schriften lässt freilich die Anwendung weder von t( fjwjv; noch von aXXa \j:rtv voraussehen; ja die zum grossen Theil nicht einmal argumentative, sondern expositorische und (namentlich im Kritias) beschreibende Darstellung stellt uns von vornherein eine nur geringe Häufigkeit der Partikel über- haupt in Aussicht; allein das sechsmalige Vorkommen von Ys jjl-^v (20d, 41 b, 53b, 63e, 72d, 77d), gleichwie das einmalige Auftreten von y.at jjlt^v (19 a) nebst dem zweimaligen 8oy,eT jxtqv und TCpoöujAYjTsov fjufiv (20 d, 87 b) im Timäos, denen im Kritias ein \ufjp (108 b) und ein xauxbv \j:r,v (ebendort) gegenübersteht, ist nach keiner Richtung hin geeignet, unser Befremden zu erregen. Dass die Gesammtfrequenz der Partikel in den beiden engverbundenen Schriften durch fast genau dieselbe Zahl be- zeichnet wird, nämlich 9'7 (Timäos) und 9'5 (Kritias), mag im Vorübergehen angemerkt werden. Aehnlich Laches (4-5) und Charmides (44). Vgl. S. 764, Anm. 1.

Den Menexenos und Kleitophon endlich habe ich in das Untersuchungsmaterial mit aufgenommen, weil mir ihre Echtheit ausser jedem Zweifel zu stehen scheint, und freue ich mich, nunmehr auch auf Diels' gewichtiges Votum und seine mit der Grote'schen (III, 10 11) durchaus übereinstimmende Auffassung des erstgenannten Gesprächs verweisen zu können (S. 21 22). Im Uebrigen gilt es hier nur zu constatiren, dass diese Schrift, die durch ihren überwiegend rhetorischen, nicht- dialogischen Charakter noch mehr als das Symposion eine Aus- nahmsstellung einnimmt, kein Merkmal der zweiten Periode auf- weist, sondern mit ihrem einmaligen xai jr^v (234 c) und wenn wir ausnahms- und aushilfsweise mit dem vorerst noch so noth- wendigen Vorbehalt auch die Schanz'schen Kriterien herbeiziehen dürfen ihrem sechsmaligen toi ovti (237 c, 239% 244 a, 247 d, 247 e [bis], welchem kein ovtwc; gegenüber, wohl aber ein aLkrßü<z [237 e] ohne ein uq &krß(oq zur Seite steht) bis auf Weiteres der ersten Sprachphase einzureihen ist. Das kleine Kleitophon- Fragment hingegen, welches der Republik so nahe steht, besitzt an aXV afoxpov l^v (407a, neben einem ^rjv, 410e), wenn nicht auch an övtoj: (409 e) in der That Merkzeichen der zweiten Phase,

26 Gomperz. [764]

Wer das Gesarnnitmaterial , wie unsere Tabelle es zur Darstellung bringt, überblickt, der dürfte finden, dass, was wir über die annähernde Eliminirung des Zufalls in Betreff der Gesammtgruppen (nicht jedes einzelnen ihrer Glieder) bemerkt haben, die Grenzen der Wahrheit jedenfalls nicht überschreitet, wahrscheinlich aber hinter denselben nicht unbeträchtlich zurück- bleibt. Schwerlich lässt sich, angesichts der grossen Zahl und Mannigfaltigkeit der in jeder der zwei Gruppen enthaltenen Schriften, für das vollständige Fehlen jener drei ^v- Verbin- dungen in I und dem fast durchgängig vereinigten Auftreten derselben in II ein anderer Grund ersichtlich machen als Nicht- vertrautheit mit ihnen im ersten, Vertrautheit mit ihnen im zweiten Falle. Aber auch die Frequenz- Steigerung der Partikel jj.vp überhaupt in II (mit I verglichen) ist allzu an- sehnlich und allzu gleichmässig wahrnehmbar, um sich dem Ein- fluss von Sonderursachen allein füglich zuschreiben zu lassen. Fassen wir die Total-Ziffern ins Auge, so steht dem Gesammt- Frequenz - Quotienten 5'3 in I die Zahl 1'9 in II gegenüber (d. h. in der Gruppe I als Ganzes genommen entfällt ein p.^v auf 5*3 Hermann'sche Seiten, in II schon auf 19). Und dieses Verhältniss wird nicht wesentlich verändert, wenn wir die exceptionellen, d. h. vom jeweiligen Mittel sich weit ent- fernenden Stücke (Kriton, Apologie, Euthyphron, Protagoras, Menexenos in I, Timäos, Kritias und Symposion in II) aus der Rechnung ausschliessen. Dann werden die Zahlen 5*3 und 1*9 durch 43 und 1*7 ersetzt. Ferner: das Frequenz- Maximum der zweiten Reihe beträgt mehr als das Sechs- fache des Frequenz - Maximums der ersten Reihe (nämlich 06 Parmenides l gegenüber von 3'7 Euthydemos). Ja dieses letztere erreicht sobald wir nur jene drei, vom Mittelmass, und zwar aus klar erkennbaren Gründen, am meisten ab- weichenden Stücke der zweiten Reihe ausschliessen nickt einmal die Höhe des Frequenz-Minimums derselben. Wird doch dieses Minimum durch 3*0 (Kleitophon) und dem zunächst durch

Oder es sei auch, da die meines Eraehtens freilich völlig grund- losen — Anfechtungen der Echtheit, dieses Dialogs noch immer nicht verstummt sind, statt seiner der Sophistes und Politikos oder der diesen genau gleichstehende Philebos mit 1*1 namhaft gemacht. Man sieht. d.-is< seihst dann das Multiplnm noch immer ein ansehnliches bleibt.

[765] Platonische Aufsätze. 27

2*8 (Phädros), jenes Maximum aber, wie wir soeben sahen, durch den Quotienten 3*7 bezeichnet. Endlich: die Frequenz -Zu- nahme in II erweist sich selbst dann als eine erhebliche, wenn wir den Zuwachs ganz und gar ausser Acht lassen, welcher aus der Anwendung der drei neuen Partikel- verbindungen entsprungen ist. Denn dann bleiben 469 Fälle auf 1405 Seiten übrig und der Gesammt-Frequenz-Quotient wird durch die Zahl 2*9 bezeichnet. Schliesslich und letztlich ist es vielleicht auch nicht nutzlos, daran zu erinnern, dass der Frequenz - Quotient in den acht Normalschriften der ersten Gruppe zwischen 3-7 und 4*8 (Gorgias), in den zehn Normal- schriften der zweiten Gruppe zwischen 06 (Parmenides und dem zunächst 11 Sophistes, Politikos, Philebos) und 3, be- ziehungsweise 2*8 schwankt. Hiebei scheint die Enge der jeweiligen Oscillationsgrenzen vielleicht mehr als alles Andere auf das Vorwalten allgemeiner Ursachen hinzuweisen, welche in diesem Falle kaum etwas Anderes sein können als die Sprachgewohnheiten verschiedener Epochen des schrift- stellerischen Schaffens.

Somit darf es uns als in hohem Masse wahrscheinlich gelten, dass die zwei von Dittenberger nachgewiesenen Sprach- phasen Plato's im Grossen und Ganzen in der That zwei Zeit- phasen entsprechen. Die Erhebung hochgradiger Wahrschein- lichkeit zur Gewissheit kann sich aber freilich nur aus der weiteren Erörterung und Feststellung der sachlichen Entschei- dungsgründe ergeben. Hier will ich vorläufig lediglich meine Ueberzeugung dahin aussprechen, dass die erforderliche Ueber- einstimmung in Wahrheit vorhanden ist bis auf eine ge- wichtige Ausnahme. Dem Phädros weisen die Sachkrite- rien eine andere Stellung an als die Sprachkriterien. Haben uns doch die ersteren bereits die volle Gewissheit gegeben, dass der Phädon diesem Dialoge nicht vorangeht, sondern nachfolgt. Desgleichen erscheint es aus mehr als einem Grunde gewiss, dass dasselbe mit dem Euthydemos der Fall ist. Denn an Spengel's (S. 36 ff..) diesbezüglichen Ermittlungen (an welche ich Dittenberger schon 1883 brieflich erinnert habe) zu rütteln scheint unmöglich, um so mehr, als die von Ueberweg (S. 278) hervorgehobene, in diesem Dialog erfolgende technische Anwen- dung des Wortes Dialektik, welches im Phädros noch der Er-

28 Gomperz. [766]

klärung bedürftig schien, unterstützend hinzutritt. Das letztere Argument gilt auch für den Kratylos, während die Grote'sche, bisher unwiderlegte, neuerlich auch von Diels vorgebrachte und mir als zweifellos richtig geltende Ansicht von den Beweggründen^ welche die Abfassung des Menexenos veranlasst haben, mit der Priorität auch dieses Gespräches vor dem Phädros unver- einbar ist. Das Symposion will ich lieber nicht herbeiziehen, da ich einerseits es zwar für höchst wahrscheinlich, aber nicht für streng bewiesen erachte, dass der Phädros ihm voranging, andererseits die von Dittenberger für das umgekehrte Ver- hältniss geltend gemachten sprachstatistischen Gründe sich nicht als zutreffend erwiesen, Schanzens in gleicher Richtung verwer- thete Kriterien aber uns, wie bemerkt, noch nicht als vorbehaltlos annehmbar erscheinen.1 Es genügt, dass man jenen Widerstreit zwischen Sach- und Sprachkriterien auch nur in Betreff der Stellung des Phädros zu den vier vorgenannten Schriften oder (falls man auch vom Menexenos lieber absieht) doch zu drei derselben als thatsächlich vorhanden anerkenne, um sich vor die entscheidungsschwere Frage gestellt zu sehen: sollen die Sprach- kriterien gar nichts gelten? Genauer gesprochen: darf man es für glaubhaft halten, dass Plato sich im Besitz jener drei vielbe- sprochenen Partikel- Verbindungen, zumal von xi jjuflvj befand, als er den Phädros schrieb, und dass er trotzdem von ihnen die in einer langen Reihe von zum grüssten Theil nachweislich späten Schriften eine so grosse Rolle spielen, bei der Abfassung des Euthydein, des Kratylos und des Phädon, die zu ihrer An- wendung reiche Gelegenheit boten, keinerlei Gebrauch gemacht hat? Oder vielmehr, um die Fragestellung noch schärfer und bestimmter zuzuspitzen, was darf uns als das minder Unwahr- scheinliche gelten: dass Plato dies gethan hat oder dass uns der einzige Ausweg, der sich sonst aus diesem Wirrsal auf- thut der Phädros in zweiter Bearbeitung vorliegt? Ich entscheide mich unbedenklich für die letztere Alternative, obgleich ich vielfachen und lebhaften Widerspruches gewärtig

Diese Suspension des Urtheils dürfte um so angemessener sein, als Schanz im Schlusssatz seiner Abhandlung auf , weiteres Material', welches ihm ,zur Verfügung steht', hingewiesen und dessen Verarbeitung in, hoffentlich nahe, Aussicht gestellt hat.

[767] Platonische Aufsätze. 29

bin. Doch mag man immerhin über das Wagniss dieser Muth- massung zetern. Mit Fug darf dies nur derjenige thun, dem es gelungen ist, der Gesammtheit der in Frage kommenden Thatsachen in allseitig befriedigenderer Weise gerecht zu wer- den, nicht Jene, die sich der Notwendigkeit einer vereinzelten kühneren Vermuthung blos dadurch zu entziehen vermögen, dass sie einen ansehnlichen Theil der Elemente des zu lösenden Problems willkürlich ignoriren sei es, dass sie vor unbe- quemen Facten und Folgerungen einfach das Auge verschliessen, sei es, dass sie dieselben mit polternden Kraftworten hinweg- zuschelten bemüht sind. Der Sieg wird auf diesem gleichwie auf jedem anderen Forschungsgebiete schliesslich der Ansicht verbleiben, welche mit einem Maximum von vollbewiesenen Sätzen ein Minimum an sich kaum erweisbarer, aber zur Ver- vollständigung des Causal-Netzes nicht zu entbehrender An- nahmen verbindet.

Literatur.

Boiiitz (Hermann), Platonische Studien, 3. Auflage. Berlin, 1886.

Diels (Hermann), Ueber das dritte Buch der aristotelischen Rhetorik. Aus den Abhandlungen der k. preuss. Akademie der Wissenschaften. Berlin, 1886.

Dittenberger (Wilhelm), Sprachliche Kriterien für die Chronologie der platonischen Dialoge. Hermes XVI, 321 ff. Berlin, 1881.

Frederking (Arthur), Sprachliche Kriterien für die Chronologie der pla- tonischen Dialoge. Fleckeisen's Jahrbücher. Leipzig, 1882, 534 ft.

Grote (George), Plato and the other companions of Socrates. London, 1865.

Hermann (Karl Friedrich), Geschichte und System der platonischen Philo- sophie. Erster (einziger) Band. Leipzig, 1839. De Piatonis Menone, Marburger Universitäts-Programm 1837; wieder abgedruckt im 6. Supplementband der Jahn'schen Jahrbücher für Philologie und Pädagogik. Leipzig, 1840, S. 51 ff.

Höfer (Hermann), De particulis Platonicis. Bonn, 1882.

Hug (Arnold), Platon's Symposion. Leipzig, 1876.

Krohn (August), Der platonische Staat. Halle, 1876.

Schanz (Martin), Zur Entwicklung des platonischen Stils. Hermes XXI, 439 ff. Berlin, 1886.

Schleiermacher (Friedrich), Platon's Werke. 3. Auflage. Berlin, 1855 bis 1861.

30 Gomperz. Platonische Aufsätze. [768]

Schultess (Fritz), Platonische Forschungen. Bonn, 1875.

Siebeck (Hermann), Zur Chronologie der platonischen Dialoge. Fleckeisen's

Jahrbücher. Leipzig, 1885, 226 ff. Spengel (Leonhard), Isokrates und Piaton. Aus den Abhandlungen der k.

bayer. Akademie der Wissenschaften. München, 1855. Tann er y (Paul), L'Education platonicienne, Revue philosophique. Paris,

1881 (August-Heft). Ueberweg (Friedrich), Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge

platonischer Schriften. Wien, 1861. Zell er (Eduard), Ueber die Unterscheidung einer doppelten Gestalt der

Ideenlehre in den platonischen Schriften. Sitzungsberichte der k.

preuss. Akademie der Wissenschaften. Berlin, 1887, 197 ff.

Ausgegeben am 31. October 1887.

* v. .-*?.•*.••

Ausgegeben am 31. October 1887.

SITZUNGSBERICHTE

DER

KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN

PHILOSOPHISCH - HISTORISCHE CLASSE.

BAND CXLI.

VII.

PLATONISCHE AUFSÄTZE.

II.

DIE ANGEBLICHE PLATONISCHE SCHULBIBLIOTHEK UND DIE TESTAMENTE DER PHILOSOPHEN.

VON

THEODOR GOMPERZ,

WIRKL. MITGLIEÜE DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

WIEN, 1899.

IN COMMISSION BEI CARL GEEOLD'S SOHN

BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

SITZUNGSBERICHTE

DER

KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN

PHILOSOPHISCH -HISTORISCHE CLASSE.

BAND CXLI.

VII.

PLATONISCHE AUFSÄTZE.

II.

DIE ANGEBLICHE PLATONISCHE SCHULBIBLIOTHEK UND DIE TESTAMENTE DER PHILOSOPHEN.

VON

THEODOR GOMPERZ,

WIRKL. MITGLIEDE DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

RARY TM ÜN1VEI NOIS.

WIEN, 1899.

IN COMMISSION BEI CARL GEROLD'S SOHN

BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.

Druck von Adolf Holzhausen, k. und k. Hot- und Univcisit-its-Hnclxhueki'r in Wien.

Der gegenwärtige Aufsatz bedeutet die Abtragung einer alten Schuld. Als der Verfasser im Sommer 1867 sich als Privatdocent habilitierte , wählte er zum Gegenstand seines Probevortrags eben das Thema , welches hier behandelt wird, die Frage nach dem Bestände einer platonischen Schulbibliothek. Da ich die damals erzielten Ergebnisse jüngst anderwärts kurz zu verzeichnen genöthigt war (Griechische Denker II 221 f.), so ziemt es sich, die Gründe , die mein Urtheil bestimmt haben, gleichzeitig den nachprüfenden Mitforschern vorzulegen.

Den Anlass zu jener Erörterung gab das 1865 veröffent- lichte Werk George Grote's ,Plato und die anderen Gefährten des Sokrates', beziehentlich das ,Der platonische Kanon' be- titelte Capitel, welches von dem Vorhandensein solch einer Bibliothek als von einer feststehenden Thatsache handelt (I I32ff.7 insbesondere 135, 144 f., 147, 152, 154). Grote hat bekanntlich an der Echtheit sämmtlicher uns aus dem Alter- thum als platonisch überlieferten Schriften festgehalten. Er glaubte der immer grössere Verhältnisse annehmenden Skepsis einen unangreifbaren Wall entgegensetzen zu sollen. Dass diese skeptische Bewegung ins Ungemessene wachsen würde, hat er mit Recht erwartet. Ist doch in dem Jahre, das der Veröffentlichung seines Werkes folgte, das Buch erschienen,

Sitzungsber. d. ptril.-hist. Cl. CXLI. Bd. 7. Abb. 1

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welches ihren Höhepunkt bezeichnet : Schaarschmidt's ,Die Sammlung der platonischen Schriften, zur Scheidung der echten von den unechten untersucht', worin nur mehr ein Vierttheil von Piaton' s Schriften als unzweifelhaft echt anerkannt wurde. Diesen und verwandten Abenteuerlichkeiten stand auch ich so fern wie Grote. Auch mir wäre es in hohem Mass erwünscht gewesen, dem Umsichgreifen der hyperkritischen Seuche endgiltig ein Ziel setzen zu können. Ich unterzog darum die Grote'sche Aufstellung sofort einer sorgsamen Prüfung und wurde, trotz des lebhaften Wunsches,, sie als haltbar zu erkennen, von ihrer Unnahbarkeit überzeugt. Nicht nur dass Grote es an jedem Versuch einer positiven Beweisführung fehlen Hess. Die innere Wahrscheinlichkeit, dass die platonische Lehranstalt Platon's Werke in authentischen Exemplaren oder vielmehr die Original- handschriften des Meisters besass, dass die Bibliothekare von Alexandrien und Pergamon zur Zeit der Gründung dieser grossen Büchersammlungen sich hier über das, was aus Platon's Feder geflossen war, den zuverlässigsten Bescheid holen konnten, und dass die Ausgabe, welche der alexandrinische Bibliothekar Aristophanes von Byzanz um 200 v. Chr. G. veranstaltete, auf eben dieser unantastbaren Grundlage ruhte die innere Wahrscheinlichkeit, sagen wir, all dieser Annahmen schien ihm so gross, dass er sie einer Bestätigung durch überlieferte That- sachen nicht bedürftig glaubte. Zu diesem Mangel an posi- tiven Indicien gesellten sich dem Nachprüfenden gar bald Gegen- indicien von unverächtlicher Beweiskraft.

1. Die aristotelische Schule ward nach dem Vorbild der platonischen errichtet. Hätte es in dieser eine Schulbibliothek gegeben, wie unwahrscheinlich, dass in jener eine solche ge- fehlt hätte ! Sie hat aber gefehlt. Darüber besitzen wir authen- tische Kunde. Wir wissen, dass Theophrast seine Werke und zugleich mit ihnen die Werke seines Vorgängers, des Schulstifters Aristoteles, nicht einer Schulbibliothek, sondern seinem Mitschüler und Freunde Neleus, der zu Skepsis in der Landschaft Troas zuhause war, letztwillig hinterlassen hat. Das bei Laertius Diogenes erhaltene Testament lässt nicht dem Schatten eines Zweifels Raum. Strabon's bekannte Er- zählung (XIII G08f.) über das Schicksal dieser Büchcrsammlung und ihre Ergänzung durcli Plutarch (Sulla c. 20) soll uns hier

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nicht beschäftigen. Wie viel oder wie wenig von aristotelischen Schriften vor der Wiederauffindung jener Bücherei des Neleus und ihrer schliesslichen Bearbeitung durch den Grammatiker Tyrannion in anderen Abschriften vorhanden und im Umlauf war, soll uns hier ebenso wenig kümmern. Mag immerhin Strabon's Bericht an einiger Uebertreibung leiden: dass die Gesammtheit der aristotelischen Werke vor jenem Zeitpunkt kein Gemeinbesitz der griechisch-römischen Gelehrtenwelt war, steht ausser aller Frage, so wenig wir auch Derartiges von vornherein vermuthet hätten, so überraschend es auch wirkt, das Schicksal der Werke eines grundlegenden Denkers und Schulhauptes in so hohem Grade von äusseren Zufällen bedingt zu sehen. Grote hat sich mit der Schwierigkeit, welche dieser Parallelfall seiner Hypothese bereitet, nicht auseinandergesetzt. Allein, dass hier eine Schwierigkeit vorliegt, scheint er em- pfunden zu haben, und er begegnet ihr mit der beiläufig hin- geworfenen Bemerkung: Theophrast , glaubte sich berechtigt* (,thinking himself entitled* a. a. O. I 138), über die Werke des Aristoteles wie über einen Privatbesitz zu verfügen.

Es ist nach unserer Ansicht nicht der mindeste Zweifel daran gestattet, dass Theophrast sich nur zu dem berechtigt glaubte, wozu er thatsächlich berechtigt war. Dafür gibt es, abgesehen von der gewichtigen Präsumtion, die uns der ehren- werthe Charakter des Mannes liefert, zwei vollgiltige Beweise. Kaum zwei Besitzthümer stehen einander so nahe wie Bücher und Landkarten. Die letzteren, die in der Schule befindlich waren, belässt Theophrast in derselben und veranlasst ihre Aufbewahrung in einer bestimmten Oertlichkeit, in der ,unteren Halle*, in der sie wohl an den Wänden befestigt werden sollten (Laert. Diog. V 51). Diese Unterrichtsmittel gehörten zur Lehr- anstalt, und Theophrast hat sie ihr nicht entzogen, als er die Anstalt jenen Zehnmännern vermachte, die er beschwört, alle , Mitphilosophierenden* an der Nutzniessung derselben theil- nehmen zu lassen. Von den Büchern handelt er als von einem Bestandtheil seines durch keinerlei moralische Verpflichtungen eingeschränkten Privateigenthums, unmittelbar nachdem er über ein in Stagira befindliches, ihm gehöriges Grundstück verfügt und es gleichfalls einem Privatfreunde Kallinos vermacht hat. Das zweite Argument liefern die gleichartigen, auf Bücherbesitz

l*

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bezüglichen Bestimmungen, die wir in anderen Philosophen- Testamenten vorfinden, und von denen späterhin noch die Rede sein soll. Zu allem Uebernuss findet der gewissenhafte, das Sonderinteresse der Individuen und das Gesammtinteresse der Schule strenge scheidende Sinn desselben Testators in den nach- drücklichen Warnungen vor privater Aneignung dessen, was allen gehören soll, und in der dringenden Aufforderung, unter keinen Umständen und unter keinerlei Vorwand, wie etwa dem längerer Abwesenheit von der Bildungsstätte, diese der gemein- samen Benützung zu entziehen und zu einem Monopol Einzelner zu machen, den kräftigsten Ausdruck.

2. Laertius Diogenes berichtet uns (III 66) von einer kriti- schen Ausgabe der Werke Platon's, in der man mit höchster Wahr- scheinlichkeit eben die von dem Grammatiker und Bibliothekar Aristophanes von Byzanz veranstaltete Edition erkannt hat. Die Beschaffenheit dieser Ausgabe lässt sich nicht mit der An- nahme vereinigen, dass es damals zu Athen ein Exemplar der platonischen Schriften gab, welches im Besitz der Schule selbst war und daher einen Text von unbedingter Authenticität ent- hielt. Denn wir erfahren von mannigfachen kritischen Zeichen, die genau wie bei den homerischen Gedichten und den Werken anderer Autoren so auch bei diesem Texte in Verwendung kamen. Die wagrechte Linie (6ßsX6<;) diente zur Bezeichnung der Athetese, d. h. der Ausschaltung einer als interpoliert gel- tenden Stelle; der mit Punkten versehene Doppelstrich (Situayj 7i£pi£STtYyivYj) wurde verwendet, um conjecturale Aenderungen ersichtlich zu machen, und der mit Punkten versehene wage- rechte Strich (ofieXoq TOEptsGTrfptivoq) sollte vor ,willkürlichen Athe- tesen' warnen (ycpbq xac, eiy.aiouq aOexiqcsti;).

All das, zumal die zwei zuletzt angeführten Zeichen, deutet sonnenklar auf einen Text hin, der, wie so viele andere Texte des Alterthums, auf mannigfachen Handschriften von ungleichem Werthe beruhte, der die kritische Arbeit der Philologen wieder- holt und mit wechselndem Ergebnis in Anspruch genommen hatte. (Die ersten zwei Zeichen kehren in gleichartiger Ver- wendung mehrfach wieder, vgl. Suetonius de viris inlustribus ed. Reifferscheid p. 137 sqq.) Wäre Platon's Original -Exemplar oder auch nur eine unter der Aufsicht der Schulhäupter daraus ge- wonnene Copie am Sitz der Schule selbst vorhanden gewesen,

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dann hätte es all dieser Vorkehrungen, all dieser kritischen Anstalten nicht bedurft. Man hätte aus Alexandrien einfach eine Anzahl verlässlicher Schreiber nach Athen entsandt, und diese hätten in der Lehranstalt selbst eine Abschrift genommen, deren Vertrauenswürdigkeit keiner Anfechtung unterlag; man wäre, kurz gesagt, in nicht wesentlich anderer Art vorgegangen, als wie man von Alexandrien aus mit dem auf Veranlassung des Lykurgos verfertigten Staatsexemplar der drei grossen Tragiker verfahren ist. Der Warnung vor Verunstaltungen, welche der Text bis dahin in uncontrolierten Exemplaren er- fuhr, hätte es vielleicht immer noch bedürfen können; aber die Art dieser Warnungen hätte es wohl erkennen lassen müssen, dass der Text nunmehr auf dem festen Grunde einer unantast- baren Ueberlieferung stand, was der Ausgabe ein von ihrer hier geschilderten Gestalt sehr verschiedenes Ansehen gegeben hätte.

Ein Vorkommnis mag unerwartet, unwahrscheinlich oder auch von vornherein unglaubhaft sein; dennoch muss es sich, sobald seine Thatsächlichkeit über jeden Zweifel hinaus fest- gestellt ist, in den Zusammenhang der Dinge einfügen und, falls uns dieser ausreichend bekannt ist, aus ihm erklären lassen. Die letztere Voraussetzung trifft in unserem Falle zu.

Warum haben so fragt man sich nicht ohne berech- tigte Verwunderung die Häupter der Philosophenschulen ihre Werke nicht einfach auf diese vererbt? Die Antwort er- theilt uns ein Blick auf die Art, in welcher die Schulvorstände bestellt wurden. Es geschah dies, soweit unsere Nachrichten reichen, in vierfacher Weise:

1. durch Uebergabe der Lehranstalt bei Lebzeiten,

2. durch letztwillige Anordnung oder eine gleichwerthige nichttestamentarische Verfügung,

3. durch die Wahl aus letztwillig bestimmten Zehn- männern,

4. durch freie unmittelbare Wahl der Schulgenossen. Von jeder dieser Bestellungsarten kennen wir Beispiele,

und ebenso kennen wir Beispiele der Vererbung der Bücher des scheidenden Schulhauptes. Die Durchmusterung dieser Bei- spiele wird uns zeigen, in welchen Instanzen beides Hand in Hand ging, und in welchen das nicht der Fall war und, wie wir vorgreifend bemerken dürfen, nicht der Fall sein konnte.

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1. Die Uebergabe der Lehranstalt bei Lebzeiten des Vor- standes an einen andern ist ein völlig singuläres Vorkommnis. Der Akademiker Lakydes wird uns in diesem Betracht allein genannt (Laert. Diog. IV 60: xal \xövoq twv am ai&voc, '(wv Tuap- sOor/.s ty]v ayoXYjv TirjXexXet xai Euavöpw toiq <J>G>y.a£Üci). Da uns das Testament des Lakydes nicht erhalten ist, so fehlt uns über die Vererbung seiner Bücher jegliche Kunde.

2. Zwischen diesem und dem ersten Fall besteht die engste Verwandtschaft, und nicht in jeder Instanz lässt sich zwischen beiden eine scharfe Grenzlinie ziehen. Hat Aristoteles, als er ein Jahr vor seinem Tode, um dem gegen ihn anhängig gemachten Asebie-Processe zu entgehen, Athen verliess und sich nach Chalkis zurückzog, die Lehranstalt dem Theophrast übergeben? Ohne Zweifel. Allein es ist sehr wahrscheinlich, dass er schon vorher diesen seinen Lieblingsschüler zu seinem Nachfolger bestimmt hat, so dass dessen Schulvorstehung gleich sehr gesichert war, mochte nun Aristoteles seine Tage zu Athen oder anderwärts beschliessen. Piaton hat seinen Neffen Speusipp zum Nachfolger eingesetzt, wobei es wieder unentschieden bleibt, ob diese Verfügung erst nach seinem Tode in Wirk- samkeit treten sollte, oder ob er etwa im höchsten Greisenalter die Verwaltung der Anstalt bereits dem nahen Verwandten übergeben hat.

Nur in zwei Fällen kennen wir den Wortlaut einer der- artigen testamentarischen Verfügung: bei Epikur und bei dem Peripatetiker Straton. Epikur beruft sich im Eingang seines Testamentes auf eine im Staatsarchiv aufbewahrte Schenkungs- urkunde, vermöge deren er sein Gesammtvermögen dem Amy- nomachos und Timokrates zugedacht hat, , unter der Be- dingung, dass sie den Garten sammt allem Zubehör dein Hermarchos und denen, die mit ihm Philosophie treiben, und desgleichen jenen, welche Hermarchos als wissenschaftliche Nachfolger hinterlassen wird', zur Verfügung halten. Er be- stellt somit Hermarchos zum Schulhaupt und verewigt zugleich durch die hier angeführte und noch weitere nachfolgende ] Be- stimmungen diesen, man möchte sagen monarchischen Be- stellungsmodus des Schulhauptes (Laert. Diog. X 16ff.). Im besten Einklang damit steht es, dass Epikur auch seine ganze Bücherei (die selbstverfassten Werke offenbar ebensowohl wie

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jene fremder Verfasser) dein Hermarchos hinterlässt: Soüvat Ss (eine der vielen den Universalerben auferlegten Verpflichtungen) -ua ßißXi'a Ta u^ap/ovia ^jaw Tuavca 'Ep^apyto. Es kann keinem ernst- lichen Zweifel unterliegen, dass Hermarchos die Bücher, durch seine eigenen Schriften und Erwerbungen vermehrt, in gleicher Weise seinem Nachfolger und diese den ihrigen hinterlassen haben. In der epikureischen Schule dürfen wir demgemäss den Bestand einer wahrhaften Schulbibliothek mit Fug voraussetzen, zwar nicht als Eigenthum der Schule selbst wenigstens nicht in alter Zeit wohl aber als Eigenthum der in ununter- brochener Folge von den jedesmaligen Vorgängern ernannten Schulhäupter. Dazu stimmt es, dass wir innerhalb dieser Schule Veranstaltungen kennen, welche die sichere Bewahrung literarischen Materials , desgleichen eine sammelnde und ord- nende Thätigkeit kennen, die anderen Schulen abging. Ich denke hierbei an die nach Jahrgängen geordnete Briefsammlung der vornehmsten Schulmitglieder (vgl. ,Ein Brief Epikur's an ein Kind' Hermes V, 386), auch an die Vermerke in hercu- lanischen Exemplaren von Epikur's Hauptwerk, welche die Abfassungszeit der einzelnen Bücher von yiuepc <p6<jsü><;c bekunden. Ausnahmsweise begegnet eine Vererbung der Lehranstalt auch innerhalb der peripatetischen Schule, nämlich, wie schon be- merkt, bei Straton, und wieder ist mit ihr die Vererbung der Bücher verbunden, jedoch mit einem bedeutsamen Vorbehalt. In seinem Testamente nämlich lesen wir (bei Laert. Diog. V 62): Y.axa.'kd'Kby §£ tyjv pt.lv ScaTpißvjV Auxtovc . . . y.atGihd'Kii) S'auTG) y,a! toc ßißXi'a Tuavua, tuXyjv wv aöxot ^e^pd^a^ev . Auf diesen Vor- behalt werden wir alsbald zurückkommen.

3. Die Wahl des Nachfolgers aus Zehnmännern, die der Vorgänger designirt, scheint innerhalb der peripatetischen Schule der, wie wir soeben sahen, nicht ausnahmslose, aber doch weit- aus überwiegende Besteilungsmodus gewesen zu sein. Wenig- stens erscheint er zweimal, im Testament des Theophrast und in jenem des Lykon, während, vom Schulstifter abgesehen, dessen Verfügungsrecht überall der Natur der Sache gemäss ein unumschränktes war, nur eine Ausnahme, eben bei Straton, begegnet. In beiden Fällen fehlt die Vererbung an den eventuellen Schulnachfolger. Theophrast vermacht seine Bücher, wie schon oben bemerkt ward, einem Privatfreunde (toc

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hh ßtßXfa TiccvTa Nvfiäi Laert. Diog. V 52), Lykon hinterlässt seine bereits publicierten Schriften seinem Freigelassenen Chares, die noch unveröffentlichten einem jener Zehnmänner, dem ihm augen- scheinlich hierfür als am meisten geeignet geltenden Kallinos, ,zum Behuf sorgfältiger Herausgabe' (Laert. Diog. V 73: ia& XapYjxa a<pfy|ju £A£ÖÖ£pov . . . xal Suo y^äq auxw Sicwfj.c y,al Tapia ßtßAi'a xa av£Yvwqj.£va ' toc §' avs^Soxa KaAAiva) 8tuo)<; £7UfJL£AÖ? auia £X§io). Also hier eine Scheidung innerhalb der eigenen Werke , wie wir bei Straton eine solche zwischen eigenen und fremden fanden.

4. Die Wahl des Schulhauptes durch die Jungen Leute' war innerhalb der platonischen Schule die Regel, und zwar fand diese Wahl mittelst geheimer Abstimmung statt; sie er- folgte bisweilen mit knapper Mehrheit; nicht immer gab die wissenschaftliche oder persönliche Bedeutung den Ausschlag, auch Höflichkeitsrücksichten gegen ein bejahrtes Schulmitglied haben gelegentlich mitgespielt. Ueber all das sind wir nunmehr durch die reichen Details, welche der herculanensische Papyrus 1021 anlässlich der Erwählung des Xenokrates und des Arke- silaos enthält, eingehend unterrichtet. In keinem dieser Fälle findet eine Vererbung der Bücher an den Schulnachfolger statt. Und wir dürfen sofort hinzufügen : sie konnte nicht stattfinden. Das Ergebnis der Wahl liess sich ganz und gar nicht voraus- sehen; es war durch zufällige Umstände, wie die zeitweilige Abwesenheit eines angesehenen Schulmitgliedes, bedingt; der Wahlkampf war ein heftiger; der schliessliche Sieger liess an- dere Mitbewerber nur um wenige Stimmen hinter sich; die geheime Abstimmung endlich liess das Wahlergebnis noch we- niger vorhersehen, als es sonst möglich gewesen wäre. Man erwäge die nachfolgende gar bedeutsame Schilderung der Wahl, aus welcher Xenokrates als Sieger hervorging: oi he vsavuntot d/Y5©o©op7]<javT£c öq-zic, auxwv ifjppfaeTat, EevoKpaT/jv sTXovto tov KaX- /vpoviov, 'Apt<7TOT£Aouc [X£v gctto 8 £§ Yj [/. y) x 6 x o <; £i? May.s8ov(av, Äfeve- oyj[j.ou §£ tou Iluppafou xal ,Hpay.Xe(Sou tou 'HpaxA^oTOu ^ap' iXfyjtc <brty ouq r^xr/Ö^vitov. 6 \xh ouv 'MpayXeßriq dw^pev de, tov IIovtov. 5 Mevior^xoq £T£pov rcepte&O *ai 8taTpißv)v fcOTeoxsufltearo (Col. 7. Vgl. ,Die Akademie und ihr vermeintlicher Philomacedonismus', Wiener Studien 1882). Nicht minder die Erwähnung des Vor- gangs, der sich vor der Erwählung des Arkesilaos abspielte:

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Ziov.zy-izzj i'A'/Locr^y.'r.oz xjto), cv oix tb icpeffßÖTöCTOV ovxa Tupo-

Thut es noth, aus diesen Darlegungen die Summe zu ziehen? Die Vererbung der Bücher an den Schulnach- folger geht mit der Vererbung der Schulvorstehung Hand in Hand. Aristoteles hat Theophrast zu seinem Nach- folger bestellt. Was Wunder, dass er ihm auch seinen ganzen Be- sitz an Büchern, an eigenen wie an fremden, hinterliess. Nicht anders steht es um Epikur und Hermarch und wohl auch um Piaton und Speusipp. Wenn gelegentlich einmal ein anderer als ein Schulstifter das Lehramt vererbt, da begleitet den ausnahms- weisen Vorgang auch die ausnahmsweise Büchervererbung, dann aber nicht ohne Vorbehalt, weil eben die Gewohnheit, die selbst- verfassten Werke theils um ihres pecuniären Werthes willen, theils im Hinblick auf die besonderen Eigenschaften, welche ihre Herausgabe erforderte, bestimmten Privatpersonen zu ver- machen, bereits die herrschende geworden war. Und da ergibt sich denn auch naturgemäss die Trennung der publicierten von den Nachlassschriften, indem es bei den ersteren mehr auf ein dem Erben zugedachtes Benefiz abgesehen war, bei den letzteren eine verantwortungsvolle kritische Aufgabe in Frage kam. Völlig beispiellos und, wie nunmehr jedermann begreift, geradezu unmöglich war eine letztwillige Verfügung, welche jenes Benefiz und diese Aufgabe demjenigen zuwies, der in einem bestrittenen und von mannigfachen Zufälligkeiten be- dingten Wahlkampf als Sieger aus der Urne hervorgehen würde. Diesem Unbekannten sein in jeder Rücksicht werth- vollstes und wichtigstes Besitzthum von vornherein zuzusprechen das lag jedem Schulhaupt des Alterthums ebenso ferne, wie es jedem Denker und Schriftsteller zu allen Zeiten ferngelegen ist. Und darum hat es in den Schulen, die nicht wie die epikureische eine gleichsam monarchische Verfassung besassen, keine Schulbibliotheken gegeben, am allerwenigsten solche, welche die Original-Handschriften der Werke der Schulhäupter enthielten.

Möge niemand einwenden, dass die Vererbung des be- deutungsvollsten Besitzes zwar nicht füglich an den unbe- kannten künftigen Schulvorstand, wohl aber an die Schule selbst erfolgen konnte. Das würde voraussetzen , dass die

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Philosophenschule ein Rechtssubject, eine juristische Person ge- wesen ist, dass sie Corporationsrechte besessen hat. Das trifft für eine späte Zeit zu, in welcher (etwa erst unter der Herrschaft des römischen Rechtes?) die Philosophenschulen, sei es in der Rechtsform der societas, sei es in jener der univer- sitas, Vermögen besassen, Schenkungen empfangen und Erb- schaften antreten konnten. In der Epoche, die uns hier be- schäftigt, war das erweislichermassen nicht der Fall. Das lehren die Philosophen-Testamente mit sonnenklarer Deutlich- keit und unwiderleglicher Sicherheit. Diesen Schluss haben aus ihnen auch die wenigen Juristen gezogen, die sich bisher mit dem Gegenstand beschäftigt haben. Vgl. C. Gr. Bruns, Kleinere Schriften (Weimar 1882) II, S. 218, 220, 225, 236.1 Desgleichen Dareste im Recueil des inscriptions juridiques grecques, 2. Serie, 1. Fascikel (Paris 1898): cependant, un College de philosophes ne pouvait etre assimile legalement a une corporation reli- gieuse, quoique groupe autour d'un temple ou d'un musee, und dazu Anmerkung 3: l'organisation du culte et des fetes etait bien analogue a celle des communautes religieuses, mais la personnalite juridique faisait defaut. Wenn schon im Alterthum Harpokration s. v. 'Op-fsöWcc; unter Verweisung auf Theophrast's Testament das Gegentheil behauptet, so wird ihm p. 115 vollkommen richtig erwidert: mais il n'y a pas un mot de cela dans le testament de Theophraste, dont le texte prouve precisement que le Lycee n'etait pas personne civile. Die äusserste Annäherung, aber doch nur eine Annäherung an den Begriff eines Zweckvermögens findet sich in den (von uns zum Theil angeführten) Bestimmungen des Testamentes Epi- kur's, welche das Eigenthum an Haus und Garten nicht mehr blos moralischen, sondern rechtlichen, auf die Nutzniessung be- züglichen Beschränkungen unterwerfen. Darum heisst jenes Eigenthum a. a. O. mit Recht: une propriete qui se trouve ainsi grevee d'un droit d'usage fideicommissaire.

1 Minder klar und consequent erscheinen Bruns1 Aeusserungen über die Vererbung der Bücher S. 217, 226 und 231. Diesen Punkt scheint jener Gelehrte nicht in ausreichendem Masse erwog-en zu baben.

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Hier mag dieser kleine Aufsatz ?chliessen, dem vielleicht ein andermal eine Erörterung des Testamentes Platon's nach- folgen soll. Würde ich diese hier unmittelbar anschliessend so möchte der falsche Schein entstehen, als ob die beiden Fragen mit einander in einem engeren Zusammenhang stehen, als es in Wirklichkeit der Fall ist; und die Unsicherheit, die einer Hypothese über die ursprüngliche Textgestalt jenes Schrift- stückes anhaftet, könnte leicht ihren Schatten auf Ergebnisse werfen, die mir von solcher Ungewissheit frei zu sein scheinen.

Ausgegeben am 25. Juli 1899.

Gitlbauer, Michael: Die drei Systeme der griechischen Tachy- graphie. Mit 4 Tafeln. 4°. 1894. 1 fl. 80 kr. = 3 M. 60 Pf.

Gomperz, Theodor: Neue Bemerkungen über den ältesten Entwurf einer griechischen Kurzschrift. 8°. 1895. 25 kr. = 50 Pf.

Beiträge zur Kritik und Erklärung griechischer Schrift- steller. V. 8°. 1895. 25 kr. = 50 Pf.

VI. 8°. 1898. 40 kr. = 80 Pf.

Zu Aristoteles' Poetik. II. 8°. 1896. 35 kr. = 70 Pf. III. 8°. 1896. 55 kr. = 1 M. 10 Pf.

Marx, Friedrich : Ein Stück unabhängiger Poesie des Plautus.

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Müller, Johann : Kritische Studien zu den Naturales Quaestiones

Senecas. 8°. 1894. 40 kr. = 80 Pf.

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45 kr. = 90 Pf. Reiter, Dr. Siegfried: Drei- und vierzeitige Längen bei Euripides. 8°. 1893. 80 kr. = 1 M. 60 Pf.

Usener, H. : Der Stoff des griechischen Epos. 8°. 1&97.

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2 fl. 50 kr. = 5 M.

Ein System altgriechischer Tachygraphie. 4°. 1895.

1 fl. 75 kf. = 3 M. 50 Pf.

Zu den beigefügten Preisen durch Carl Gerold's Sohn. Buchhand- lung der kais. Akademie der Wissenschaften (Wien, I., Barbar: zu beziehen.

DEMCO

PAMPHLET BINDER

Tan Pressb~ard

UNIVERSITY OF ILLINOIS-URBANA

II

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