JÜDISCHER YERLÄCy BERLIN

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PROBLEME

DES

MODERNEN JUDENTUMS

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JUDISCHER VERLAG BERLIN 1918

Alle Rechte vorbehalten insbesondere die der Übersetzung.

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Zeichnung des Umschlages und der VigncUen von Josef Kaplan.

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41, Zeile 173, 173, Zeile 176, Zeile 182, 193. Z

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17 v.o. muss es heissen « unseres Wesens sein ». 1 o. muss es heissen Daat statt Daaht.

4 v.u. muss es heissen Philosophem statt « Phi- losophen ».

5 v.u. muss es heissen « modern stilisierten ». 12 v.o. ist (if ein Gefühl » zu streichen.

19, fehlt nach « Schuldbewusstsein » ein Komma.

11 v.u, muss es heissen « Uebergangsform ».

12 v.o. intellektuell statt « intellektvell ».

7 v.o. muss es heissen universalen statt « unias- tcralen ».

INHALTSANDEUTUNG

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Erstes Kapitel : Irrwege eines nationalen Instinkts . 5 Die Genesis der Losung : Geist des Judentums. Der un- bewusste Seinsgrund der westjüdischen Orthodoxie, Drei Kriterien des Judentums. Der geistige Nationalismus und der Evolutionsgedanke. Nationale Wertung und nationa- les Kriterium. Analyse des „Geistes des Judentums". Die Opposition gegen den Mythos. DieKabbalah. Das Juden- tum als Gesetzeslehre und als Ideologie. Individual- und Universalelemente. Der Gedanke der jüdischen Mission. Das antizipierte Kriterium. Inhalt und Form als natio- nales Differenzierungsmoment.

Zweites Kapitel : Die Existenzfrage des modernen Ju- dentums 28

Der Glaube an die Unmöglichkeit einer jüdischen Assi- milierung. Die Erfolge der Assimilation. Jüdisches Be- wusstsein und jüdisches Sein. Hermann Cohen. Der Zwangscharakter der Assimilation. Das Rätsel der Dauer des Judentums. Der tragbare Staat. Religiös- nationale Wirtschaftsformen. Halachah und Agadah. Das nationale Instrument der mündlichen Lehre. Die doppelte Funktion des Rabbinismus. Die Formkraft der jüdischen Religion. Ost- und Westjudentum. Das amerikanische Judentum. Steigerung des Nationalbewusstseins und Minderung des Nationalseins. Ein Inhalt als Daseinsgrund. Folgen der Entwertung der religiösen Formen. Wechselbeziehung zwischen Religion und nationalem Selbsterhaltungstrieb in positiver und negativer Richtung. Jüdische Lebensbe- jahung als Erhaltungsfaktor. Widerstand der Völker gegen die jüdische Assimilation. Die negativen Faktoren der Er- haltung. Ein kulturelles Hindernis der Assimilation. Schlussfolgerung.

Drittes Kapitel : Palästina als nationales Zentrum . 64 Die historischen Diasporazentra. Das Fehlen einer na- tionalen Norm als Beeinträchtigung der Assimilierbarkeit. Die Existenzform eines entjudeten Judentums. Die natio- nale Normierung in Palästina und ihre Folgen in der Dias- pora. Zentrum und Peripherie in der Periode des natio- nalen "Werdens und in der der nationalen Kristallisierung. Möglichkeit eines Zerfalles in zwei Judentümer. Das reli- giöse Einheits- und Gemeinschaftsbewusstsein. Grenzen des nationalen Übertritts. Bodenständiges und universales Judentum.

Viertes Kapitel : Die nationale Rechtslage des Galuth 85 Antisemitismus als Abwehr. Leon Pinsker. Der Kauf- preis der Judenemanzipation. Der Vorschuss auf antizi- pierte Assimilation. Juden in fremdnationaler Machtstel- lung. Gegenüberstellung der antisemitischen und der philosemitischen Bewertung des jüdischen Volkes. Stel- lungnahme des nationalen Judentums zu den Verteidigern jüdischerGleichberechtigung.DasBekenntniszum Fremd- sein und Fremdbleiben-Wollen. Inkonsequenzen im Na- tionaljudentums. DieAssimilanten. DieHalbassimilanten. „Wir sind Juden und Deutsche, Juden und Franzosen". Der Rechtsanspruch der jüdischen Nation auf Palästina, seine Geltung und Autliebung. Die Logik und Tragik des historischen Antagonismus zwischen Israel und den Völ- kern. Lösung der Judenfrage vor Erlösung des Juden- tums. Die nationale Entscheidung. Kulturfortschritt als Vertiefung des Antagonismus. Ein theoretisches Versehen der Judenemanzipation. Religiöse und nationale Tole- ranz. Die national-rechtliche Stellung des Galuth. Nach- teile des Nationalismus für das Diasporajudentum. Na- tionale Rechte als Lösung der Judenfrage. Historische und rechtliche Exterritorialität. Unlösbarkeit des tragischen Konfliktes, in der Diaspora.

Fünftes Kapitel : Aufgaben des Unterwegs .... 124

Der nationale Wert eines aussertcrritorialcn und aus- serreligiösen Judentums. Erhallung einer Formlosigkeit als Schein einer eigenartigen Form. Die begriflliche Ela-

stizität des modernen Judentums. Bilanz des Galuthna- tionalismus. Assimilation als Idee und als Wirklichkeit. Ein Judentum aus Pathos der Distanz. Der modernisierte Chassidismus. Das Sprachenexil. Übersetztes Judentum. Der nationale Gefühlswert der jüdischen Renaissance. Das Adelsbewusstsein und das Glücksgefühl des traditio- nellen Judentums. Nationale Gedächtniskontinuität. Das Verhältnis des Judentums zum Christentum. Das Stadium der nationalen Pose. Zwei Epochen des Galuth. Die Zeit- rechnung der inneren Zerstreuung. Bejahung aus Ver- neinung. Die Funktion einer Zwischenlage. Die Mühen des Unterwegs. „Gebote, die an chuz l'arez gebunden". Gegenwartsarbeit. Die Religiosität der jüdischen Moderne. Gemeinschaftsbildende Formen der Religion. Hebräisch und Jiddisch in der Diaspora. Galuth als permanenter Kriegszustand. Die leichten Heiligtümer.

Sechstes Kapitel : Die heroische Existenzform . . . 155 Kundgebung des nationalen Bekenntnisses. Jüdische Kriegshelden. Ein Ruhmestitel der Entjudung. Halbheiten des Galuthnationalismus. Nationale Voraussetzung einer Diasporamission. Die Galuthpolitik des alten Judentums, Jüdische Drückeberger. Desavouierung der Assimilanten. Das Erbe der Emanzipation. Der verlästerte Ostjude. Moralische Defensive und Offensive. Verschuldung der Christenheit. Unsere Anklagen. Sind wir Parasiten ? Die dreigliedrige Forderung. Erhaltung des Judentums als Erhaltung der Judenfrage. Der heroische Charakter der Galuthexistenz. Nationale Elite.

Siebentes Kapitel : Die zionistische Zuversicht . . . 178 Die "Wirklichkeitsdignität des zionistischen Ideals. Das alte und das moderne Galuth. Die Assimiliation in ihren ersten Stadien und ihre inneren Gebrechen. Die sittli- chen und ästhetischen Motive im Zionismus. Theodor Herzl. Das naive und gereifte Zeitalter der Aufklärung. Nationalismus und Universalismus im Judentum.

Anmerkung für nichtjüdische Leser: Galuth (hebräisch) bedeutet die Zerstreuung des jüdischen Volkes, das jüdische Exil.

ERSTES KAPITEL

IRRWEGE EINES NATIONALEN INSTINKTS

1.

Als die „Aufklärung" die Festen der jüdischen Religion erschütterte, tauchte zum erstenmal die folgen- schwere Judentumsfrage, die für unser Schicksal ent- scheidender als die Judenfrage ist, auf: Gibt es ein Judentum ausserhalb der jüdischen Gesetzestreue? Waren Judentum und jüdische Religion jahrtausendelang iden- tisch, musste nicht die Loslösung vom jüdischen Religions- gesetze die Loslösung vom Judentum schlechthin be- deuten? Der unbewusst-nationale Selbsterhaltungstrieb wehrte sich gegen dieses Todesurteil. Er suchte einen neuen Existenzgrund für das Jude-Sein, das seiner alten Grundlage verlustig gegangen war.

In dieser Verlegenheit fand er einen Ausweg in der Einsetzung eines Surrogats für die Religion. Einige abstrakte Ideen, die nach Abwerfen der sogenannten religiösen Schale zurückbleiben, sollen einen Ersatz für den entwerteten Inhalt bilden. Sie werden bald als der ewigliche Kern verkündet, der den Bestand des Judentums in aller Ewigkeit gewährleistet. So sind beide Forderungen, die der Aufklärung und die des unbewusst-nationalen

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Selbsterhaltungstriebes befriedigt : die Schranken der Religion aufgehoben, das Judentum jedoch nicht auf- gegeben. Eine Ideologie wird konstruiert, die dem Zeit- geist vollauf entspricht und zugleich das Judentum aus der Ruine der Religion errettet. Sie wird von dem aus seelischem Zwiespalt hervorgegangenen Bedürfnis geleitet, ein Judentum ohne jüdische Lebensformen zu ermöglichen. Sie kann es nur, indem sie die jüdischen Formen aus dem Wesen des Judentums ausschaltet ; indem sie das Judentum als Idee erklärt, und zwar als Idee, die gegen jede Sonderform gerichtet ist. An Stelle der früheren Identität von Judentum und jüdischer Religion tritt nun- mehr die Identität von Judentum und Menschlichkeit. An Stelle der religiösen und nationalen Enge tritt die kosmopolitische Weite. Judentum wird als Idee der Menschheit deklariert ; sie allein ist sein Wesen ; alles andere ist nur Beiwerk. Somit ist das gesuchte bequeme Judentum gefunden. Es gibt ein Judentum ausserhalb jüdischer Lebensformen, es gibt ein jüdisches Bewusstsein ohne jüdisches Sein. Man ist Jude, ohne jüdisch leben zu müssen ; man ist es erst recht, indem man nicht-jüdisch lebt. Es ist ein der Idee des Judentums innewohnendes Gebot, die nationalen Formen unserer Eigenart abzu- streifen.

Der erfinderische nationale Instinkt hat angesichts der ins Schwanken geratenen Religion und der daraus entstande- nen Krise diese Definition erfunden, die alle Zeichen des in- neren Konfliktes und des unbewussten Widerspruchs trägt, weil sie die zweideutige Aufgabe hat, ein Jude-Sein ohne Jüdisch-Sein zu ermöglichen. Diese Formel hat auch das Verdienst, das jüdische Bewusstsein ohne ein jüdisches Sein

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jahrzehntelang erhalten und diese Krise hinausgeschoben zu haben.

Die Folge konnte indes nicht ausbleiben. Das zur Geistigkeit verflüchtigte und auf einen Lehrinhalt redu- zierte Judentum führte zur Assimilation. Sein Ideen- komplex — die Ideen des Monotheismus, des Messianismus, des Optimismus, der absoluten Gerechtigkeit usw., die in die Idee der Einen Menschheit münden sollen hat keine nationale Bindung und Begrenzung; er fordert sie nicht, er fordert das Gegenteil. Eine Sittenlehre, eine Weltanschauung vermag nie ein nationales Differen- zierungsmoment zu ersetzen, geschweige denn vermag es die jüdische Sittenlehre, die jüdische Weltanschauung. So entstand das fiktive Judentum in Westeuropa.

Das ist die Genesis der Losung : Geist des Judentums. Der nationale Selbsterhaltungstrieb sträubte sich, das Todesurteil anzuerkennen und ersann eine raison d'^tre, die nur für kurze Dauer ein Scheindasein unterstützen konnte ; die aber ihrer ganzen Anlage nach dazu angetan war, unsere nationale Existenz zu untergraben. Das ist der Bankerott der Losung : Geist des Judentums.

Die ersten Impulse der Assimilationsbewegung kamen nicht aus einem materialistisch gerichteten Streben, das, wie man gemeiniglich sagt, die jüdische Seele um das Linsengericht der Gleichberechtigung verhandeln wollte ; sie kamen aus einer idealistisch bestimmten Gesin- nung, die das Judentum nach Erschütterung seines reli- giösen Grundes als eine Ideologie erhalten zu können glaubte.

Die Assimilationstendenz ist also in ihrem Ursprünge keineswegs Nachahmungssucht und „Knechtschaft in

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Freiheit", wie man sie zu verleumden pflegt. Sie ist viel- mehr eine Verirrung des nationalen Instinkts, der das Judentum als Lehrgehalt zu retten versuchte.

Die eingetretene Folge ist eine aufrichtige Folgerung aus dem Kriterium des Judentums als Ideenkomplex : da diese Ideen sittlicher, allgemeinmenschlicher Natur sind und in einen entnationalisierenden Universalismus und Kosmo- politismus auslaufen mussten.

So begreifen wir die tiefe Ironie, die als Ausdruck jenes Innern Konfliktes sich darin kundgibt, dass die Wortführer des Emanzipationszeitalters das Aufgeben der jüdischen Sonderart in einem Atemzuge mit der stolzen Verkündung unserer Auserlesenheit und der Missionsidee, die fast einen nationalen Chauvinismus enthält, als ein Postulat der Weltanschauung des Judentums aufstellten. So be- greifen wir die tiefe Ironie, dass die Assimilierung der Juden im Namen des Geistes des Judentums, im Namen unserer Propheten, gefordert werden durfte.

An einem ähnlichen Zwiespalt und an einer ähnlichen Ironie krankt auch die westjüdische Orthodoxie : sie wird nicht aus eigenen Lebenssäften gespeist. Der nationale Selbsterhaltungstrieb war es, an dem unsere Religion im Westen, aus der die Seele geschwunden war, sich auf- richten konnte. Er klammerte sich an die Tradition und führte ihr dadurch neue Lebenskraft zu ; es ist seine Kraft, die in ihr wirkt. Dieser ihrer nationalen Funktion verdankt die entseelte westjüdische Orthodoxie ihren Bestand.

Als nun die nationale Bewegung einsetzte, hätte man annehmen müssen, sie werde mit dem Kriterium des „geistigen Judentums" endgültig aufräumen. Dies trat je-

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doch nicht ein. Das verhängnisvolle Kriterium bHeb er- halten und wurde in die Gedankenwelt der nationalen Renaissance übernommen. Noch heute hören wir, dass Verfechter der nationalen Idee den „Geist des Judentums'* anrufen. Die oft wahrnehmbare historische Erscheinung, dass Surrogate, die zur Erfüllung einer Aufgabe bestimmt sind, kraft des Trägheitsgesetzes ihre Geltung nicht ein- büssen auch lange nachdem sie ihre Funktion erledigt hatten, bestätigt sich auch hier. Das Schema eines geisti- gen Judentums, das der nationale Instinkt in seiner Ab- wehr als Ersatz für die Religion gebrauchte, hat sich seinerseits der nationalen Erkenntnis bemächtigt, die doch als Erkenntnis diese Abwehr nicht mehr benötigt, und für die jener Schutz eine Gefahr bedeutet.

Soll aber unsere nationale Idee in Reinheit und Präg- nanz erkannt werden, so müssen wir auch diesem Erbteil des „Judentums des Geistes" entsagen. Wir müssen die Tragweite der nationalen Denkart ermessen und dürfen die Scheidelinie zwischen zwei grossen Epochen nicht verwischen lassen.

Bis zum Auftreten des nationalen Gedankens gab es zwei Kriterien des Judentums: das Kriterium der Reli- gion, wonach das Judentum eine Lehre von Geboten und Verboten ist; und das Kriterium des Geistes, das im Judentum eine Lehre von Ideen, wie die Idee des Mo- notheismus, des Messianismus, der absoluten Gerechtig- keit usw. ergründet. Die beiden Kriterien stimmen darin überein, dass sie das Judentum auf ein subjektives Mo- ment beziehen, auf ein Bekenntnis. Sie beide definieren

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das jüdische Volk als eine geistige Gemeinschaft: als Gemeinschaft auf Grundlage der Religion das erste Kri- terium; als Gemeinschaft auf Grundlage einer Weltan- schauung — das zweite Kriterium. Wer die jüdische Religion ablehnt, stellt sich ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft entscheidet die erste Definition ; wer die Ideen der jüdischen Sittenlehre ablehnt, stellt sich ausser- halb der jüdischen Gemeinschaft muss die logische Schlussfolgerung der zweiten Definition lauten. Das Kri- terium des Geistes teilt sich nun in zwei Unterarten : die der Assimilation und die eines unreifen Nationalismus.

Gegenüber diesen Kriterien tritt nun die dritte Defini- tion auf: das Kriterium des konsequenten Nationalismus. Sie bezieht das Judentum auf ein objektives Moment. Sie lehrt : Jude-Sein bedeutet nicht ein religiöses oder ethisches Bekenntnis. Wir sind keine Glaubensgemeinschaft und keine Weltanschauungsgemeinschaft, sondern Glieder einer Familie, Träger einer gemeinsamen Geschichte. So stellt die Leugnung der jüdischen Weltanschauung nicht ausserhalb des Judentums, wie das Bekenntnis zum Judaismus noch nicht zum Juden macht. Kurz, das na- tionale Bekenntnis bedingt nicht ein Bekenntnis zur jüdischen Religion oder zur jüdischen Weltanschauung.

Macht nun aber das historische Band den ganzen Inhalt unserer nationalen Zusammengehörigkeit aus ? Kommt es nur auf das Gemeinschaftserlebnis oder auf die aus Schick- salsgemeinschaft erwachsende Charaktergemeinschaft an, auf die Vergangenheit und Gegenwart einer historischen Familiengemeinschaft? Kann man aus dem Judentum nicht scheiden, wie man etwa sich nicht von seiner Familie lossagen kann? Dann hätten die ersten zwei

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Kriterien den Vorzug des Freiheitsprinzips; da sie das Judesein als ein religiöses oder sittliches Bekenntnis auf- fassen, während das nationale Kriterium dieses Sein als ein geschichtlich Gegebenes, das nicht durch ein Be- kenntnis aufgehoben werden kann, zu bestimmen scheint. Dem ist aber nicht so. Das nationale Kriterium fordert neben der historischen Familiengemeinschaft den Willen zur Gemeinschaft in Zukunft. Also zwei Momente, Sein und Bewusstsein, Zustand und Bekenntns, bestimmen unsere Nationalität : das Moment historischer Gebunden- heit und das Moment historischen Wollens, des Willens zur Gebundenheit und Gemeinschaftsbildung für alle Zukunft.

Der geistige Nationalismus, vornehmlich vertreten von Achad Haam, beruft sich auf den Entwicklungsgedanken. Der Geist des Judentums habe sich aus der Religion zu einer sittlichen Weltanschauung entwickelt und in einem bestimmten Ideengehalt seinen wesenhaften Ausdruck gefunden. Wollen wir unsere nationale Individualität wahren, so müssen wir diese historische Gestaltung uns- res Geistes schützen und fördern. Daher glaubt dieser Nationalismus die nationale Entwicklung des Judentums als die Entwicklung einer bestimmten Weltanschauung begreifen zu sollen. Er begeht aber einen methodischen Fehler : er unterscheidet nicht zwischen nationaler Wer- tung und nationalem Kriterium. Der nationale Wert einer Idee erhebt sie noch nicht zu einem nationalem Krite- rium. Wie diese achad-haamistische Theorie das Judesein an ein Bekenntnis zur jüdischen Religion, die wahrlich grosse nationale Werte in sich birgt, keineswegs bindet,

U

ebensowenig darf sie ein Bekenntnis zur jüdischen Ideen- lehre fordern.

Die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf ein nationales Kriterium des Judentums kann schon deshalb nur eine Wertung und keine Definition des jüdischen Geistes ergeben, weil wir doch nicht entscheiden kön- nen, welcher Fortschritt eine evolutionistische Fortsetz- ung und welcher eine revolutionäre Diskontinuität des geistigen Wesens zu bedeuten hätte. Kein Wunder, dass diese Theorie widerspruchsvoll ist. Sie pendelt zwischen den zwei an sich folgerichtigen Kriterien, zwischen dem religiösen und dem nationalen. Dem einen entnimmt sie das subjektiv religiöse Moment, die Forderung eines Be- kenntnisses ; dem andern entlehnt sie das objektiv na- tionale Moment, das der historischen Entwicklung.

Der Widerspruch erfährt eine Steigerung und wird durchsichtig, sobald die pseudonationale Theorie die Erhaltung und Pflege der von ihr als Geist des Juden- tums fixierten Ideen zu einer nationalen Pflicht erhebt. Einerseits stellt sie diese Forderung im Namen eines nationalen Werturteils, andererseits muss sie anerkennen, dass eine Sittenlehre ihre Wertung nicht ausserhalb ihrer selbst haben kann und sucht die Ideen des Judaismus von allgemein kulturellen Gesichtspunkten aus zu be- gründen. Es werden also zwei heterogene Massstäbe angelegt, die nur die Zweideutigkeit jener Theorie bloss- stellen. Ist das Judentum eine Sittenlehre, so entscheidet über sie ein ethisches und nicht ein nationales Kriterium, sie muss zuvörderst in ihrer Disziplin Rechenschaft able- gen ; sind ihre Ideen in der Ethik legitimiert, müssen sie allgemein menschliche Geltung behaupten ; sind sie

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es nicht, können sie auch keine nationale Geltung bean- spruchen. Die jüdische Sittenlehre kann nicht eine eigens für Juden reservierte Spezialiehre sein, d. h. sie kann nicht aus nationalen Gründen für uns bindend sein ; sie setzt ein Erkennen und ein Bekennen voraus, die sich nicht von einem auswärtigen Grund bestimmen lassen. Die Erhaltung und Pflege der als Geist des Judentums jeweilig auftretenden sittlichen Idee kann also nur eine Forderung der sittlichen Kultur sein ; als solche unter- steht sie der Kompetenz und dem Ermessen der Ethik, die allein zuständig ist, diese Idee auf ihren Wahrheits- gehalt zu prüfen, sie anzuerkennen oder abzulehnen.

Eine ähnliche Verquickung heterogener Werturteile finden wir in den oft wiederholten Versuchen orthodoxer Exegeten, gewisse jüdische Religionsgesetze, z. B. die S]|eisegesetze, als sanitäre Forderungen zu begründen imd zu bekräftigen. Sie merken nicht, dass sie damit der Religion nur einen schlechten Dienst erweisen, indem sie diese Gesetze vor ein ausserreligiöses Forum stellen und ihre Unbedingtheit preisgeben : sie machen ihre Geltung von einem wissenschaftlichen Gutachten abhängig.

So kommt es, dass dieses pseudonationale Kriterium des Judentums methodologisch schwächer fundiert ist als das religiöse. Die Definition des Judentums als Religion ist klar und einheitlich : sie ist in Normen festgelegt. Aber der „Geist des Judentums" lässl sich nicht in eine Formel fassen, er bleibt immer hypothetisch und kann daher kein Kriterium bilden. Gar viele verschiedene Definitio- nen hat dieser Geist des Judentums erdulden müssen. Die einen finden ihn im Monotheismus, die andern im Messianismus. Und noch ist die Frage nicht entschieden,

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ob unser Gott ein ,,Gott der Rache" oder ein ,,Gott der Barmherzigkeit" sei. Eine Definition ergründet den Geist des Judentums im Optimismus, eine andere in der Idee der Abstraktion : ,,Du sollst dir kein Bild und keine Gestalt machen"; eine dritte in der Idee der absoluten Gerechtigkeit; eine vierte im Rationalismus. Und Som- bart versteht sogar diesen Rationalismus als die kauf- männische Ratio, die den Geist des Judentums kenn- zeichne. Müsste man nicht, wenn diese Definitionen zu einem Kriterium erhoben werden, im Namen des Geistes des Judentums die Wahrung und Förderung des Mo- notheismus, des messianischen Gedankens, des Optimis- mus, der Idee der Abstraktion, des Rationalismus oder gar des Handelsgeistes als Wahrung und Förderung unseres nationalen Wesens verlangen? Und in der Tat, es geschieht gar zu oft. Aber hier zeigt sich wiederum die Haltlosigkeit jener Theorie vom Geiste des Judentums.

So konnte selbst in unserem nationalen Lager die Frage ernstlich aufgeworfen werden, ob nicht der Geist des Judentums durch das Christentum vertreten und verbrei- tet werde und ob das Judentum noch einen Existenz- grund und unser Martyrium noch einen Sinn hätte. Dieser Fragestellung entsprach auch jene günstige Aus- kunft, die das Judentum als Prinzip der Gerechtigkeit und das Christentum als das Prinzip der Liebe unter- scheidet und in diese subtile Unterscheidung unsern Seinsgrund verlegt. Über den Bestand des Judentums entscheidet nunmehr eine wissenschaftliche Instanz, die Forschung über das Wesen des Judentums und das Wesen des Christentums. Sollte das Forschungsergebnis un- günstig ausfallen und diese ideologische Unterscheidung

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nicht als wesenhaft anerkennen, so hätte unser Dasein keinen Halt, keinen Inhalt. Es ist das Kriterium des Geistes, das unser Lebensrecht von der Berechtigung des Judaismus als Lehre, von deren Eigenart und Güte ab- hängig macht; das somit die gespensterhaften Fragen nach dem Sinn unserer Existenz heraufbeschworen hat. Eine folgerichtige Theorie des Nationalismus muss dagegen sagen : All jene Ergründungen des Wesens des Judentums mögen wohl nationale Wertungen sein, natio- nale Qualifizierungen ; nationale Kriterien sind sie nicht. Wie etwa das Urteil : „Tout ce que n'est pas clair, n'est pas fran^ais" vielleicht eine nationale Wertschätzung be- sagt, aber kein nationales Kriterium. So auch der Aus- spruch unserer Weisen : , .Juden sind barmherzig, scham- haft und wohltätig" ; er mag, wenn er richtig ist, eine Wertung unseres Wesens sein, ein nationales Krite- rium enthält er nicht.

3.

Doch angenommen, wir wollten den Geist des Juden- tums als ein Kriterium für das Jude-Sein gelten lassen ; so müssten wir uns gegen den Nationalismus entschei- den. Die tiefste Eigenart dieses Geistes bedingt es, dass er nicht den Inhalt unseres nationalen Kriteriums bilden kann.

Die meisten antiken Religionen sind in den Elementen des Gefühls und der Phantasie verankert. Sie beide sind an der Schöpfung des Mythos beteiligt ; und aller Mythos ist ein Schauen der Gottheit in der Natur. Die jüdische Religion unterscheidet zwei Seinsarten und trennt Gottes- sein vom Natursein, sie bekämpft den Mythos. Ihre Stärke

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ist nicht Glaube, sondern Erkenntnis (Daat). Sie beginnt damit, die mythischen Götter, die Göttergebilde des Gefühls und der Phantasie zu entthronen, und es ist in ihrem rationalen Wesen die Tendenz begründet, aus einer Volksreligion eine Weltreligion zu werden.

Die Kraft der Erkenntnis ist die Urquelle des Juden- tums. Die Erkenntnis des einen Gottes hat zur Erkennt- nis der sittlichen Einheit, des Sittengesetzes geführt. Und der tiefste Grund der jüdischen Religion ist das Gesetz.

Die Opposition gegen den Mythos hatte das Gefühls- und Phantasieelement unterbunden, aber auch das me- taphysische Motiv des Mythos. Der Mythos hat ein theo- retisches Interesse am Kosmos, sucht die Natur der Welt und die Natur Gottes zu erschauen ; die jüdische Religion wehrt sich gegen dieses theoretische Interesse des Mythos an Welt und Gott, ihre Erkenntnis ist am Menschen orientiert ; ist auf ein praktisches Interesse gerichtet, auf die Handlung, auf Tun und Lassen. Die Attribute des jüdischen Gottes sind nicht Attribute des Seins, der Got- tesnatur, sondern der Handlung, der Gottesgebote lehrt Maimonides. Die jüdische Religion kennt keine Metaphysik ; sie hat, im Grunde genommen, keine Philo- sophie. Ihre sogenannte Religionsphilosophie ist sehr spät und unter fremden Einflüssen entstanden.

So verstehen wir die fast vereinzelte Erscheinung, dass die jüdische Religion keine Glaubensartikel, keine theo- retische Voraussetzung einer Lehre aufzuweisen hat. Jede Religion wird iii einem Philosophen!, in einer theoretischen Lehre begründet ; ihre praktischen Vorschriften ergeben sich aus der Ideologen Begründung. Unsere Bibel aber ist teils Chronik, teils Kodex. Wo ist die metaphysische Be-

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gründung ? „Ich bin Jehova dein Gott" usw. ist die einzige kurze Einleitung, auf die gleich die trocknen Vorschriften folgen : „Du sollst'*, „Du sollst nichf'.Wo die theoretische Grundlegung ? Das Gesetz ist der Primat. Unsere Religion hat es abgelehnt, nach dem Grund der Verordnungen zu fragen. Sie hat Gebote und Verbote, Normen, aber keine Lehrgrundsätze, keine Dogmen ; diese kamen recht spät und eigentlich nur als systematische Leitmotive.

Daher hat die Kabbalah keine Spaltung im Judentum her- vorrufen können, da sie nur eine theoretische Neuerung und keine praktische Reform sein wollte ; sie hat neue Ideen ein- geführt, hat aber am Gesetz nicht gerüttelt. In jeder anderen Religion führt eine neue Lehre, wie die Kabbalah sie darstellt, zur Sektenbildung; die jüdische Religion jedoch duldete von jeher die grössten Differenzen theoretischen Charakters, die grössten Meinungsverschiedenheiten der streitenden Schulen, solange die Gesetze der Handlung nicht angetastet wurden. Unsere Religion ist tolerant gegenüber ketzerischen Ideen, streng aber in ihrer For- derung der Gesetzesbefolgung, tolerant gegenüber der Gesinnung, streng aber in bezug auf die Handlung, auf das Werk. ,, Nicht die Lehre ist das Wesentliche, son- dern die Handlung", sagen unsere Weisen. Thora meint nicht Lehre schlechthin, sondern Gesetzeslehre.

Nur Differenzen, die eine Reform des Gesetzes erstrebten, haben der Einheitlichkeit des Judentums Abbruch getan. So entstanden die Sekten der Essäer und Saduzäer. Das Christentum hätte sich vielleicht vom Judentum nicht losgelöst, wäre nicht die paulinische Richtung, die gegen den ,, Fluch des Gesetzes" ankämpfte, zur Vorherrschaft gelangt.

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Das Gesetz ist Üreigenheit der jüdischen Religion. Auch viele mythische Religionen sind von sittlichen Motiven durchwirkt» aber keine von ihnen hat die Funk- tion einer Gesetzesverfassung; keine von ihnen ist ein Kodex von Riten-» Sitten- und Staatsgesetzen. Keine Religion kann sich mit der jüdischen an Kraft der Bin- dung und Geltung messen. Keine wie sie ist so reich an .»Zäunen'*, an „Zäunen um Zäune". Keine wie sie ist von Werken erfüllt. Keine wie sie ist von der Sorge beherrscht, die Lebensformen des Einzelnen und der Gemeinschaft durch Vorschriften und Verordnungen bis ins kleinste Detail mit peinlicher Genauigkeit festzusetzen. Es ist nicht Zufall, dass sie eine besondere Vorliebe für das Deuten und Tüfteln am Gesetze und Gesetzesbuchstaben immer bekundet hat. Das Deuten und Tüfteln gehören zur Pflege des Gesetzes ; sie sind gute Zeichen für die Lebenskraft, weil für die Rigorosität des Gesetzes.

Es ist Entstellung, wenn der jüdische Liberalismus in vermeintlicher Apologetik und zur Rechtfertigung einer Religion ohne Religionsgesetze, eines Inhaltes ohne For- men, einer abstrakten Idee als Judentum vermöge der Interpretationsmethode, die das hineinliest, was sie heraus- lesen will zu beweisen sucht, dass die Ritualgesetze in unserer Religion untergeordneter Natur sind. Nein, sie sind nicht umsonst so zahlreich ; sie haben mit den Sitten- und Staatsgesetzen die gleiche Rangordnung, den Rang einer göttlichen Anordnung. Die jüdische Religion wertet nicht ihre Gesetze, unterscheidet ursprünglich Ritual- und Sit- tengesetz nicht einmal durch einen äusseren Terminus, geschweige denn nach innerer Bedeutung und Stellung. Sie ist eben keine Ideenlehre, sondern Gesetzeslehre. Unsere

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I^ehre wird als Befehl, Satzung und Gesetz bezeichnet. Auch der späthebräische, einer fremden Sprache ent- lehnte Ausdruck für unsere Religion heisst : Gesetz (Dat); „das Gesetz Moses und Israels". Albu gebraucht den Aus- druck Dat auch im Sinne sozialer Ordnung.

Daher die einzigartige Bedeutung des Thorastudiums in der jüdischen Religion. Als Gesetzesverfassung von («weihundertachtundvierzig Geboten und dreihunderl- fünfundsechzig Verboten, die alles Tun und Lassen regeln, erfordert sie ein fleissiges Studium.

Freilich ist die sittliche ürkraft das schöpferische Motiv in unserem Gesetzeskodex ; sie ist aber keusch und impli- zite in ihm wirksam wie es sich auch mit dem ün- sterblichkeitsgedanken verhält, der in der Opposition gegen Mythos und Totemismus metaphysisch verdunkelt wurde und nicht in einer Ideologie blossgestellt

Solange nun der Geist des Judentums in den Gesetzes- formen lebte, hatten wir auch in der Diaspora eine natio- nale und sogar halbwegs politische Verfassung: einen eigenen Gesetzeskodex, der unser Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit umfasste und umgrenzte, will sagen, gestaltete. Sobald aber der Geist als Idee herausgeschält wurde, konnte und musste der Gedanke der Assimilation im Judentum selbst Sanktion finden. Der aller Formen entblösste Geist hat als Sittenlehre, als Weltanschauung gegen den nationalen Bestand des Judentums entschie- den. So gross erwies sich die Diskrepanz zwischen dem Geist im Gesetz und dem Geist als abstrakte Idee ; zwischen der religiösen Schale und dem ethischen Kern. Die Schale hat nationale Kraft, der Kern entnationalisierende Kraft. Die Schale hat nationale Sonderform, der von ihr

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losgelöste Kern wächst in die allgemein menschliche Uni-

formität der sittlichen Ideen hinaus.

*

Eine Analyse des „Geistes des Judentums" zeigt also : a) das lebendige Judentum ist nicht eine Ideologie und kann daher nicht in einem bestimmten Ideengehalt ein Kriterium haben; b) als Idee hat das Judentum seinen Grund nicht in den Individual-Elementen des Gefühls und der Phantasie, die die schöpferische Kraft des Mythos bilden, sondern in den Universalelementen einer ratio- nalen Sittlichkeit, die allgemein-menschliche Geltung be- anspruchen ; diese Idee kann daher kein nationales Krite- rium bedeuten, weil sie rational-universal gerichtet und kein nationales DifTerenzierungsmoment ist.

Wir pflegen uns oft zu trösten: das Judentum ist ein ewig sittliches Ideal, das nie aufhören kann und mer- ken nicht, dass wir damit den tiefsten Judenschmerz aus- drücken : Das Judentum kann nie aufhören, weil es sei- nem Wesen nach übernational, universal ist, d. h. ein allgemein menschliches Kulturideal. Wir verkünden es mit Stolz : die Ideen des Judentums dringen immer mehr in der sittlichen Kultur durch und erobern die Mensch- heit — und merken nicht, dass wir damit sagen : Die Ideen des Judentums treten immer mehr aus der Sphäre des Nationalen heraus und werden Gemeingut der sittlichen Menschheit. Jede dieser Eroberungen schmälert unsern nationalen Besitz.

Diese Ideen sind ihrer rational-universalen Anlage nach nicht bodenständig, sind „transportfähig", eignen sich daher für Mission ; sie sind gleichsam mobile Güter, im Gegensatz zu den Individualelementen des Mythos und

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der Kunst, die tief in der nationalen Persönlichkeit ver- ankert sind und gleichsam immobile Güter des Geistes darstellen. Durch diese universelle Übertragbarkeit und Expansionsfähigkeit der Ideen des Judentums erklärt sich der assimilatorische Gedanke der jüdischen Mission.

Es ist nicht von ungefähr, dass die westeuropäische Judenheit im Namen des ,, Geistes des Judentums", im Namen der universellen Ideen unserer Propheten das Aufgeben des jüdischen Partikularismus, will sagen des nationalen Sonderseins forderte. Aus dem Geiste des Judentums heraus gelangte sie also zur Assimilation. Ist die Erhaltung des Judentums mit der Erhaltung seines sittlichen Geistes identisch, so mögen vielleicht unsere modernen Assimilationsrabbiner recht haben, wenn sie predigen : Wir verrichten in der Diaspora eine hohe Mis- sion des Judentums, wir sind die Zuchtmeister der Welt geworden ; unser Geist verbreitet sich über die Menschheit in allen Erdteilen ; er wird erhalten, indem er seine natio- nale Besonderheit aufgibt; er wird gefördert, indem er Gemeingut aller Kultur wird.

So konnte David Neumark, auch ein Vertreter des gei- stigen Judenturas, das Kriterium des ,, Geistes" dahin fassen : Das Judentum ist ewig ; das Judentum ist eine Idee, die Idee des Guten. Auch Plato war also Jude... Wie die Mathematik nicht im Dasein der Mathematiker besteht, sondern in ihren ewigen Wahrheitsbegriffen so das Judentum... Und ein anderer hebräischer Schriftsteller hat aus der Definition des Geistes des Judentums den folge- richtigen Schluss ziehen dürfen : Nicht eine Konzentration der Juden gewährleistet den Bestand des Judentums; sondern nur die Zerstreuung kann diese Aufgabe erfüllen,

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indem durch sie in weiser Vorsehung die Weltanschau- ung des Judentums in allen Ländern und unter allen Völkern verbreitet wird...

Ist nicht die Behauptung statthaft, dass der Geist des Judentums durch den Verlust unseres Staatswesens an Lebenswirklichkeit, an Vertiefung und Festigung nur gewonnen hat? M«.t dem Schwinden unserer Macht konn- ten wir aufrichtiger die Nichtigkeit der Gewalt predigen und das prophetische Wort: „Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist" bewahr- heiten. Hermann Cohen durfte daher sagen, dass der Untergang des jüdischen Reiches eine segensvolle Schick- salsfügung war : der Untergang unseres Reiches habe erst den Fortbestand und die Fortentwicklung unserer Ideen in ihrer vollwertigen Wahrhaftigkeit ermöglicht. Und westeuropäische Rabbiner deuteten auch in diesem Sinne den Midrasch-Spruch : „Am neunten Ab ist der Messias geboren"...

Allenfalls: was dem Geiste des Judentums als einer Sil-' tenlehre fördernd ist, ist es noch nicht für die nationale Sonderart des Judentums. Wie viel vom Geiste des Juden- tums ist im Sozialismus erhalten und wie wenig doch vom nationalen Sein des Judentums. Und ist nicht der Sozialis- mus vielmehr eine Art von Expropriierung des Geistes des Judentums? Die Ideen des Judentums verbreiten sich immer mehr freilich, aber bedeutet es denn nicht, wie gesagt, dass sie immer mehr aufliörcn, unser natio- nales Eigentum zu sein, indem sie in den Besitz der Menschheit übergehen ?

Somit müssen wir den Satz prägen :

Wahrung und Förderung des Geistes des ludcntums,

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des Monotheismus, des Messianismus» des Optimismus, des Sozialismus und all der Ideen, die als Judaismus be- zeichnet werden, bedeuten noch nicht eine Wahrung und Förderung unseres nationalen Seins ; gar oft ist das Wohl dieses „Geistes** das Weh unseres Seins,

Will also der Nationalismus den „Geist des Judentums*' verneinen? Dieser Vorwurf wäre ungerechtfertigt. Er will ihn nicht verneinen, er will ihn nur nicht zu einem nationalen Kriterium erheben. Er will das Judesein nicht durch ein subjektives Moment, durch ein Bekenntnis bedingen, sondern durch ein objektives : Land und Sprache. Sie sind die Formen des nationalen Seins.

Aber unser Land ist nicht unser, unsere Sprache nicht Volkssprache. Freijich, sie sind Antizipationen einer na- tionalen Forderung; und nur in Vorwegnahme der er- strebten Zukunft und in Verneinung der Galuth-Gegenwart legitimieren wir uns als Nation. Ohne die Richtung auf eine nationale Zukunft unseres Landes und unserer Sprache, ohne diese Korrelation, ohne die Orientierung an diesem Seinsollen, das noch kein Sein darstellt, können wir für das Judentum in der Diaspora den Begriff einer Nation nicht beanspruchen.

In der Diaspora haben wir aufgehört, eine Nation zu sein, sagen die Assimilationsjuden. Und das National- judentum muss 9rwidern : Wir sind eine Nation auch in der Diaspora, insofern unser Wille auf die Erlösung aus der Diaspora gerichtet ist ; auf die Wiedergeburt unseres Landes und unserer Sprache.

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Auch in der Diaspora bilden wir eine nationale Einheit, auch im fremden Lande und in fremder Sprache, wenn wir nur im Geiste des Judentums leben und wirken, sagt der Galutii-Nationalismus. Und das echte National- judentum muss erwidern : In einem fremden Lande und in einer fremden Sprache ist unsere Existenz nie national, selbst wenn wir im Geiste des Judentums, d. h. der jü- dischen Sittenlehre leben und wirken. Ohne die Zukunft- Korrelation des nationalen Landes und der nationalen Sprache ist der Nationalismus in der Diaspora ohne Sinn, und die Assimilation eine mutige Konsequenz.

Wir kennen auch den besseren Stil des Afternationalis- mus, der die Verneinung des Galuth ausspricht und die Forderung von Land und Sprache aufstellt. Nur begrün- det er es auf seine Weise : Land und Sprache sind ihm ,, bloss** die nationalen Formen, der Geist des Judentums aber der nationale Inhalt. Welchen Wert hätten die Formen ohne Inhalt ? Welchen Sinn hätte ein Martyrium für Formen, wenn es nicht um des grossen Inhalts, des Bekenntnisses, der Ideen des Judentums willen geschieht ? Verlohnt es sich für „des Inhalts entleerte Formen** einen Kampf zu führen ? So fragt der geistige Nationalismus.

Wahrlich, mit dem Erstarken unseres umgewerteten Lebens in Palästina wird die neue Generation einen Kampf für die nationalen Formen, Land und Sprache, wie unsere Väter in der Diaspora für den Inhalt des Ju- dentums, tapfer und freudig führen und kein Opfer scheuen. Und sind nicht bereits die ersten Anzeichen dafür da, dass die neue Generation, die dem Inliallc des Judentums, seiner Religion und den Ideen des Judaismus fast entfremdet ist, einen Sinn für ein Martyrium der

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„blossen" Form wegen unserer nationalen Sprache wegen zu bekunden weiss ?

Hier erkennen wir den Grundirrtum der nationalen Theorie vom Geiste des Judentums. Sie hat mit der Reli- gion eine gemeinsame Methode in der Anerkennung eines Inhalts als eines Kriteriums des Judentums. Nur ist diese Methode im Wesen des religiösen Kriteriums, das ein Bekenntnis zu einem bestimmten Inhalt fordert, tief be- gründet, bildet aber einen inneren Widerspruch in einem nationalen Kriterium. Der Inhalt einer Lehre, ein religiö- ses Bekenntnis, eine Weltanschauung, ein bestimmter Ideenkomplex, kann nie ein nationales Differenzierungs- moment bilden; nur die Form vermag es. Und der ab- strakte Inhalt des Judentums als Ethizismus kann erst recht nicht ein nationales Moment bilden. Wir sahen ja, dass er seiner Anlage nach in Universalismus münden musste, seiner Natur nach anational, ja antinational ist. Wir erkannten bereits : die Erhaltung des sittlichen Inhalts des Judentums ist keineswegs mit der nationalen Erhaltung des Judentums identisch zu setzen. Dieser Inhalt wird auch ausserhalb der nationalen Grenze unse- rer Existenz erhalten, und zwar in der Form der allge- mein-menschlichen sittlichen Ordnung, des Sozialismus und der vielen Kulturinstitute, die den Geist des Juden- tums verwirklichen. Kommt es auf die Erhaltung des jü- dischen Lehrinhaltes an, so wird z. B. die sozialethische Idee des Sabbats in der christlichen Sonntagsruhe erhal- ten ; die nationalhistorische Form dieser jüdischen Insti- tution wird aber dadurch vernichtet.

Inhalte sind ihren Wesen nach anational ; wenn ihr Ursprung auch national ist, tendieren sie doch nach Uni-

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▼ersalität, weil nach Allgemeingülügkeit. So die Inhalte der religiösen und sittlichen Lehren. Daher bilden Konfes* sion und Moral diejenigen Geschichtsfaktoren, die die nationalen Schranken durchbrechen und die verechie- densten Völker im Namen eines Lehrinhalts vereinigen ; eie sind die antinationalcn Tendenzen in der Geschichte der Menschheit,

Ein fremder Inhalt kann wohl durch jüdische Form- prägung ins Judentum eingebürgert werden und natio- nale Weihe erlangen. Eine fremde Form aber kann nie durch einen jüdischen Inhalt jüdisch werden und in unsem Nationalbesitz übergehen ; sie enteignet vielmehr den Inhalt und erwirbt ihn für ihre nationale Domäne. Das nationale Matrikel aller Werte ist die Form,

So müssen unsere Zeitschriften in nichtjüdischen Spra- chen sich ausschliesslich mit jüdischem Inhalt beschäf- tigen, hingegen sind unsere Zeitschriften in jüdischer Sprache immer jüdisch, auch wenn sie durchwegs nicht- jüdische Inhalte behandeln ; sie führen sie damit in den jüdischen Literaturschatz ein.

Im Glauben, den Geist des Judentums in einem frem- den Gewände wahren und sogar fördern zu können, hat Philo den jüdischen Inhalt in hellenistische Form kleiden wollen. Es war ihm um den Inhalt zu tun, für den er in Liebe und Verehrung seine mühevolle Arbeit einsetzte. Die Form aber hat über den Inhalt entschieden. Das Werk Philos konnte nur ausserhalb der Grenzen des Judentums eine dauernde Wirkungsstätte finden. Ein geschichtliches Beispiel für die Suprematie der Form ist ferner die arabisch-jüdische Literatur, die nur insofern das Judentum schöpferisch beeinflusste, als sie ins He- bräische übertragen wurde. Auch unsere neuzeitliche

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Literatur, die in fremden Sprachen niedergelegt ist, kann nicht als unser Nationaleigentum angesehen werden and muss erst aus dem Sprachenexil erlöst werden, um dem jüdischen Schrifttum einverleibt zu werden.

Vielleicht darf man in diesem Zusammenhange die Vermutung aussprechen, dass ein deutscher Dialekt nie hätte Jiddisch werden können» hätte er nicht den Cha- rakter der hebräischen Typen angenommen.

«

Nur Formen können ein nationales Kriterium bilden. Wir können die Distanz zwischen dem Kriterium des Inhalts und dem der Form an den zwei entgegengesetzten Strömungen im modernen Judentum ermessen : die Assi- milationsprediger, die nie müde werden, das „Wesen des Judentums*' und den „Geist des Judentums" zu ver- herrlichen — auf der einen Seite ; die Vorkämpfer unse- rer nationalen Renaissance, Schöpfer der neuhebräischen Literatur (z. B. Berdyczewski, Tschernichowski u. a.), die gegen die Grundlehren des Judaismus in Opposition treten auf der anderen Seite. Wer von beiden Gruppen schafft nationale Werte ? Die Antwort ist klar.

Es ist nur natürlich, wenn sich der Afternationalismus so sehr gegen den Territorialgedanken des modernen Zionismus gewehrt hat. Der Zionismus besagt in seinem tiefsten Grunde die Eliminierung des Inhaltes aus dem nationalen Kriterium, das sich nur von Formen, wie vornehmlich Land und Sprache, bestimmen lässt. Der Zionismus stellt daher die strengste Konsequenz der na- tionalen Erkenntnis dar. Er ist die Säkularisierung des Begriffes Israel. Er bedeutet eine neue Epoche als Grund- lage eines neuen Kriteriums des Judentums.

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ZWEITES KAPITEL

DIE EXISTENZFRAGE DES MODERNEN JUDENTUMS

1.

Ein Lehrsatz lautet: Eine vollständige Auflösung der Judenheit liegt nicht im Bereich der Möglichkeit. Die Assimilationsversuche sind als misslungen anzusehen ; sie vermochten nicht unser nationales Gepräge auszumerzen und die Judenfrage auch nur zu mildern, geschweige zu lösen. Wir sind nicht unter dem Gesichtspunkt der Quantität als eine den Gesetzen der Zahl und Menge unterworfene Minderheit, sondern als eine eigenartige nationale Qualität zu be- werten, die jene seltsame Eigenschaft besitzt: nie und nirgends aufgelöst werden zu können.

Dieser Glaube an die Unmöglichkeit einer völligen As- similation der Juden ist von der zionistischen Lehre zu einem unumstösslichen Dogma erhoben worden. Er suchte und fand bald einen Stützpunkt in der noch recht wackligen Rassenlheoric, die, obgleich selbst nur eine vage Hypoliiese, vom Zionismus als eine wissenschaft- liche Grundlegung mit naiver Begeisterung aufgenommen und verkündet wurde.

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Ein zweiter Lehrsatz lautet :

Palästina kann nicht die Frage der Judennot, sondern die der Judentumsnot lösen. Eine jüdische Siedlung im Lande der Väter bedeutet nicht die Aufhebung des Galuth, eine Sammlung der Zerstreuten, sondern die Schaffung einer Heimstätte für jüdische Kultur, die Ermöglichung einer normalen Entwicklung unserer nationalen Werte auf unserem historischen Nährboden: die Errichtung eines geistigen Zentrums. Von diesem Zentrum, das gleich- sam die Sonne der Nation und den Brennpunkt all ihrer schöpferischen Kräfte bilden soll, werden Strahlen zu der weit ausgedehnten Peripherie der gesamten Judenheit in den Diasporaländern ausgehen und, Licht und Wärme spendend, das Judentum allerorten befruchten und för- dern. Der kleine Tempel unseres nationalen Heiligtums in Palästina wird auch die grossen Massen in den Fremd- ländern vor Entjudung schützen. Die versprengten Volks- glieder werden sich um den geistigen Mittelpunkt sam- meln ; um das Herz der Nation, aus dem sie neues Leben empfangen werden, sobald sie seinen Pulsschlag in der Ferne vernehmen. Die geistige Sammlung wird die räum- liche Zerstreuung überwinden.

Mit dieser Problemstellung und Lösung des Kultur- zionismus verbindet sich eine besondere Vorliebe für Betonung eines geistigen Judentums sowie eine besondere Neigung für Definitionen, die das .Judentum als einen Lehrinhalt ergründen und durch Ideologien bestimmen. In solchem Zusammenhang erhält das geistige Zentrum eine ihm vorgezeichnete Funktion itiit zielbewusster, zwecksetzender Richtung: als Wahrung und Förderung des Judentums im Geiste seiner traditionellen Lehre,

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seiner sittlichen Ideen, oder, wie es heisst, seiner natio- nalen Ethik, der spezifisch-jüdischen Weltanschauung.

In ähnlichen Gedankengängen bewegt sich der moderne Glaube an eine wunderbare Lebenskraft des jüdischen Volkes. Ist das religiöse Judentum in tiefinnigem Glauben an die Ewigkeit der Thora von der Unsterblichkeit Israels überzeugt, so sind es die Verfechter des geistigen Juden- tums im Glauben an die Ewigkeit der jüdischen Sitten- lehre. Sowohl die assimilatorischen als die nationalen Wortführer des jüdischen Ethizismus bekennen sich zum Ausspruch unserer Weisen : , .Israel kann nie untergehen."

Diese Lehrsätze müssen von dem im Territorialgedanken gereiften Nationalismus, also vom Zionismus, abgelehnt werden ; der von ihnen vertretene Glaube muss von ihm als verhängnisvoll für unsere nationale Wiedergeburt er- kannt werden.

2.

Eine vollständige Assimilierung der Judenheit ist mög- lich.

Die Assimilation gewinnt immer mehr an Umfang und noch mehr an Tiefe. Noch ist sie dahin nicht gelangt, die jüdische Nationalität völlig auszulöschen und die Juden- frage aus der Welt zu schaffen, aber damit ist nicht be- wiesen, dass sie nie dahin gelangen wird. Noch steht sie in den Anfängen ihrer Entwicklung und kann sich schon ansehnlicher Erfolge rühmen. In der kurzen Zeitspanne ihres Wirkens ist unser Nalionalbcsilz licdcutend ge- schmälert worden; der erst vor einem Jahrhundert ein- getretene Entnalionalisierungsprozess hat bereits viele und wesentliche Glieder unseres Volkskörpers verun-

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staltet, entartet, und treibt nun Blüten der Verwesung. Mit welchem Recht dürfen wir die Assimilation als miss- lungen bezeichnen? Die Assimilation ist unterwegs. Es ist ja nur ihr Anfangsschritt und man muss sagen : sie hat in raschem Tempo ein grosses Stück des Weges vom Judentum ab zurückgelegt und die erste, allerdings leich- tere Hälfte ihrer Aufgabe die Entwurzelung mit er- staunlicher Fertigkeit gelöst. Und wer will es bestreiten, dass auch die zweite, schwierigere Hälfte die Ein- wurzelung verheissungsvolle Ansätze aufzuweisen hat?

Unser zweitausendjähriger Bestand im Exil kann gewiss nicht als Beweis dafür gelten, dass unsere Assimilierung .schlechterdings unmöglich sei. Die Kraft der religiösen Lebensformen, die unser Volkstum in strenger Abge- schlossenheit erhalten hatte, ist von uns gewichen, und es gibt keine feste Scheidewand mehr, um ein Ghetto auf- zurichten und ein nationales Sondersein im Galuth zu sichern.

Und der Geist des Judentums, der Geist unserer un- sterblichen Sittenlehre, jener ewigliche Kern, der nach Abwerfen der religiösen Schale an Festigkeit und Wirk- lichkeit nur gewinnt bietet er nicht Gewähr für den Bestand des jüdischen Volkes?

Nein. Die Schale ist national wertvoller als der Kern. Die Schale ist national widerstandsfähiger als der Kern. Es gibt einen nationalen Halt in unseren Religionsgesetzen; es gibt aber keinen nationalen Halt in einer Ideologie und gar in einer ethischen Lehre. Unsere Religionsverfassung ist reich an nationalen Scheidewänden, an „Schutz- mauern" und ,, Zäunen", die unser Eigenleben allseitig umgrenzen : der Geist des Judentums ist es nicht. Das in

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Normen gebannte Judentum hat nationale Enge, der von ihnen losgelöste Kern kosmopolitische Weite. Viel- leicht verbürgt die sittliche Kraft des Judentums seine Er- haltung im Weltbereich seiner Ideen, nicht jedoch als nationales Reich; in Expansion, nicht in Konzentration; im Bunde der Menschheit, nicht im Bunde Abrahams ; als Ethizismus, nicht als Ethos ; methodologisch gesprochen : als Inhalt, nicht als Form.

Hat die im ersten Kapitel unternommene Analyse des spirituellen Judentums ergeben, dass der sittliche Inhalt des Judentums kein Auskunftsmittel für ein nationales Kriterium besitzt, so besagt sie auch zugleich, dass er keine nationale Garantie in sich birgt. Wir wissen: Wahrung und Förderung des Judaismus meint nicht Wah- rung und Förderung unseres nationalen Daseins ; gar oft ist das Wohl der jüdischen Weltanschauung das Weh ihres nationalen Trägers. Wir wissen auch : der,, Geist des Judentums" hat die Assimilation sanktioniert. Das Mensch- heits-All ohne Teilung und ohne Saum tat sich ihm auf, die ganze Erde erschloss sich ihm als ein gelobtes Land, und er glaubte wahrlich auf seine innere Berufung sich besonnen zu haben und seinen weltgeschichtlichen Auf- trag treulich zu erfüllen, indem er im Namen des Pro- pheten den „Partikularismus" preisgab und als Weltgeist auf alle völkischen Attribute verzichtete. Er also kann unseren nationalen Bestand nicht gewährleisten. Er kann im besten Falle ein jüdisches Deiviisslsein erhalten ein subjektives Judentum, das sich in einem verbalen Be- kenntnis äussert und erschöpft; ein eingebildetes Juden- tum, das in unjüdische Wirklichkeit wohlig eingebettet ist und auch auf die Bequemlichkeit nicht verzichten mag,

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sein nationales Gewissen durch Fiktion eines Scheinda- seins zu beschwichtigen nicht aber ein jüdisches Sein. Israel kann nie untergehen nur der religiöse Jade und der assimilatorische Jiidaist dürfen diese Gewissheit aussprechen. Dem religiösen Juden ist sie ein Glaubens- satz. Dem assimilatorischen Judaisten bedeutet ja der Untergang der jüdischen Nation nicht den Untergang Israels, sondern eine Weiterentwicklung und vollends eine Stärkung Israels, weil Läuterung und Ausbreitung des Judaismus. Auch wenn der Judaist an die nationalen Losungen des Zeitgeistes ein Zugeständnis macht und den leibhaftigen Juden als anthropologische Voraussetzung für den Fortbestand der prophetischen Ideen anerkennt, wie es Hermann Cohen in der letzten Etappe seines langsamen aber regelrechten Rückzuges dem Zionismus zubilligte, so ist es nur eine Umsetzung des nationalen Untergangs als eines passiven Zustandes in die Aktivität einer natio- nalen Selbstüberwindung, Selbstaufgabe : der Jude ist die biologische Bedingung für die Bewährung des Judaismus in nationaler Entsagung, in Entnationalisierung, wenn anders die Idee nicht der Naturtatsache, der Zweck nicht dem Mittel geopfert werden soll. Geht man noch weiter, und schliesst von der Unsterblichkeit des judaistischen Menschheitsideals auf die Unsterblichkeit seines Trägers, so meint man höchstens das illusorische Individuum, die verstreuten Einzelnen als Bekenner, als „götthchen Tau inmitten der Völker" ; nicht aber das Kollektiv als Sammlung in Sonderung. Kurz, diese Zuversicht auf Er- haltung des Judentums ist im Glauben an die Zerbröcke- lung der jüdischen Volksgemeinschaft begründet; Israel kann nie untergehen, denn im Vergehen ist sein Bestehen.

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Der Nationaljude muss hingegen sagen: Vielleicht wird die Idee des Judentums in den Regionen der Abstrakta ewig bestehen, als elastischer und anpassungsfähiger Kautschukbegriff, als bodenloses und daher universales Luftjudentum; vielleicht auch ist unser Geist stark genug, um sich gegen allen Nationalgeist der Wirtsvölker zu wehren und zu behaupten ; vielleicht mächtig gar, um in Überflügelung der nationalen Grenzen die Welt zu erobern und als „nackte Seele" eines wunderlichen Weltvolkes unter den Menschen umherzuirren, überall gespensterhaft wirkend und nirgends sichtbar, überall beängstigend, weil nirgends heimisch; vielleicht ist er noch wurzelkräftig» um sich in neuen Schöpfungen zu entfalten und in modern- religiöser Neubelebung seinen Horizont zu weiten und zu erhellen Israel kann bei all dem untergehen.

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Und noch mehr muss gesagt werden. Eine Assimilierung der Diaspora-.Tudenheit ist nicht nur möglich, sondern unvermeidlich.

Ein unter vielen Nationen und in vielen Ländern zer- streutes und aufgeteiltes Volk muss früher oder später von ihnen aufgesaugt werden. Man kann den Werdegang der Assimilation hemmen und verlangsamen, nicht aber zum Stillstand bringen. Man kann das Endergebnis hinaus- schieben, nicht aber abwenden. Man kann auch ein nationales Leben durch künstliche Mittel, gleichsam durch künstliche Atmungsorgane erhalten. Doch erweist sich bald diese mühselige Erhaltung als eine unnütze Ver- geudung von Volkskräften, filin immerwährender Wider- stand gegen die fremde Umgebung, ein unablässiger Kampf

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gegen die fremde Wirklichkeit ist nicht möglich. Die An- strengung des Volkswillens, die fehlenden nationalen Ele- mente durch Surrogate zu ersetzen, ist nur als Übergangs- stadium in Hoffnung auf Wiederherstellung der nationalen Norm berechtigt ; als bleibende Lebensbedingung enthält sie eben in dieser Bedingung das Todesurteil. Das Gekün- stelte ist auf die Dauer ermüdend, das Gespannte muss endlich reissen. Das Gewollte, Allzubewusste, Allzukon- struierte mag das nationale Bewusstsein befriedigen, vermag aber nicht echte Werte eines nationalen Seins zu erzeugen; es ermangelt des Elementaren, des Unmittel- baren und Unbewussten. Es ist ein Sollen, das einem stetig wachsenden Sein zu trotzen hat und folglich an ihm zerschellen muss ; eine aufreibende Pflicht, die schliesslich als Joch empfunden und abgeschüttelt wird. Freilich ein Gebot des Lebens, des nationalen Selbsterhaltungstriebes ; doch muss es allmählich an Triebkraft abnehmen und zu einem frommen Wunsch erblassen, da es nur noch als Trägheit wirkt und im Konflikt mit dem wirklichkeits- vollen Lebensgebot des individuellen Selbsterhaltungs- triebes steht. Es kann hier und da einer grossen Persön- lichkeit gelingen, sich den Einflüssen des Milieus zu ent- ziehen und in hermetischer Abgeschlossenheit gegen die Aussenwelt aus den Quellen des entrückten Volksgenius zu schöpfen; auch darf eine idealgesinnte und willens- starke Elite sich die vornehme Aufgabe zutrauen, in zweck- bedachter Absonderung und in einer Art von Weltfremd- heit die Güter der Nation unter- oder überirdisch zu hüten und nationale Kultur treibhausartig zu pflegen. Das Volks- ganze jedoch unterliegt den Gesetzen der Zahl und Menge und kann nicht in beständiger Opposition gegen eine

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überwältigende Mehrheit und in beständiger Abwehr des Gegenwärtigen verharren. Es muss in solcher Absperrung verarmen und geht nunmehr erschöpft und verkümmert erst recht in der fremden Nation unter, der es früher, als es noch im Besitz seiner nationalen Kulturwerte war und mitbestimmend sein konnte, die Gemeinschaft und Gefolg- schaft verweigert hatte. In dieser oder in jener F'orm, als bereitwillige Teilnahme oder als verzehrende Verein- samung, ist die völlige Assimilation unausbleiblich.

Haben wir uns nicht nahezu zwei Jahrtausende in der Zerstreuung erhalten, warum soll es nicht weiter möglich sein ? Haben wir nicht auf fremder Scholle na- tionale Werte geschaffen, warum sollen wir es nicht mehr können? Ist doch die jüdische Wirklichkeit im Galuth und nicht in Palästina verwurzelt, warum sollen diese tiefen Wurzeln plötzlich verdorren müssen ? Im Exil hat Israel die furchtbarsten Prüfungen überstanden und die schwersten Krisen überdauert wie darf man sagen, dass die Exiljudenheit, die fast das Gesamtjudentum dar- stellt, dem Untergang geweiht ist? So wird allenthalben getröstet. So wird der Glaube an eine nationale Zukunft der Diaspora gepredigt.

Wir waren schon auf diese Beweisführung aufmerksam und haben, den Fragen zuvorkommend, die Antwort kurz angedeutet. An dieser Stelle müssen wir aber diesen Ge- sichtspunkt näher prüfen und beleuchten.

Die obige Beweisführung unterlässt es geflissentlich, neben den auf eine günstige Schlussfolgerung eingestellten Fragen auch die schlichte Frage aufzuwerfen und zu er-

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örtern : ob die Kräfte, denen wir unsere eigenartige Exi- stenz als Volk ohne Land zu verdanken haben, noch be- stehen und noch lange bestehen können.

Welche Kräfte sind es ?

Etwa der nationale Selbsterhaltungstrieb? Er hat noch nie die Leistung vollbracht, ein in allen Weltteilen zer- klüftetes Volk zwei Jahrtausende als Einheit zu erhalten. Hat er es denn vermocht, unsere nationale Sprache vor Verfall zu bewahren? Hat er nicht vielmehr von einer be- denklichen Unempfmdlichkeit gegen die Schmach, dass das jüdische Volk in den ,, Sprachen der Gojim** lebt, längst Zeugnis abgelegt? Der nationale Selbsterhaltungs- trieb stumpft im Widerstreit mit dem fremden Organis- mus ab und büsst alsbald seine primitive Natürlichkeit ein, verliert die Kraft des National-Unbewussten und hinterlässt bloss ein ideales Wollen, das der inzwischen unbewusst gewordenen Assimilation noch weniger stand- halten und höchstens ein „Sterben in Schönheit" er- reichen kann.

Unsere Religion ist es, in der das Rätsel unserer Dauer im Galuth zu suchen ist. Sie ist die Macht, die uns von allen Völkern sonderte und in aller Zerstreuung einte. Die äusseren Ghettomauern, die von unseren Feinden errichtet wurden, hätten es nie bewirken können. Die inneren Mauern aber, die in unserer Religion gegründet und die wir auf den Wanderweg mitgenommen und in den Siedlungen immer fester ausgebaut haben, diese be- weglichen „Zelte Jacobs" sind es, die uns überall ein eigenes Heim sicherten. Wir haben, einen Ausdruck Dantons gebrauchend, unser Vaterland an den Schuh- sohlen mitgenommen.

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Die jüdische Religion ist reich an Umzäunungen, die unser Gemeinwesen gegen die Umwelt abgrenzen und ihm jede Fremdart fernhalten. Die jüdische Religion ist reich an Formen, die uns im Sein und Schein als Einheit binden und kennzeichnen. Ist sie doch im Gegensatz zu anderen Religionen keine Ideenlehre, sondern Gesetzeslehre. In unsern Gesetzen haben wir das Recht der Selbstbestim- mung betätigt. Wir haben unsern Staat, nicht aber unsere Staatsverfassung verloren ; wir erretteten sie gleichsam als tragbaren Staat, der uns auch in der Diaspora eine Art nationaler Autonomie ermöglichte.

Wohl mussten viele Gesetze nach Verlust unseres Staates ausser Geltung kommen, im grossen und ganzen blieb jedoch unsere Gesetzesverfassung in Kraft; sie wurde noch erweitert, durch genauere Einzelbestimmungen er- gänzt und vervollkommnet. Nur der jüdische Kodex beherrschte und gestaltete unser Leben in all seinen Äusserungen. Nur die jüdische Gerichtsbarkeit war uns massgebend. Die Landesgerichtsbarkeit haben wir nicht angerufen und ihren Kodex nicht anerkannt. Wurden uns ihre Gesetze aufgezwungen, so haben wir sie als schlimme Verhängungen angesehen, die zu beseitigen oder zu um- gehen wir stets bemüht waren. Sie behielten diesen Cha- rakter — als „Gseroth einer frevlerischen Herrschaft" auch wenn wir genötigt waren, sie durch die Formel : „Das Gesetz des Reiches ist gültiges Gesetz", zu sank- tionieren. Deshalb wurde der Angeber („Mossar"), d. h. der einen Juden bei der fremden Obrigkeit denunzierte, als Verräter betrachtet, zu Schadenersatz und ander- weitiger Busse verurteilt und aus der Gemeinde ausge- stossen.

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Auch in einem anderen Sinne ist unsere Religion keine Ideologie. Sie ist Nationalreligion, gebunden an den Stamm und seine Geschichte. Daher kannte sie nicht die jeder Konfession innewohnende Mission des Bekehrens. Sie musste vielmehr die Proselyten als Fremdkörper em- pfinden und hat den in der Religionsgeschichte wohl ver- einzelt dastehenden Ausspruch getan: Proselyten sind Israel lästig wie ein Aussatz. Weil sie Volks- und nicht bloss Glaubensgemeinschaft war, konnte die Bekehrung keine immanente Aufgabe des Judentums sein so er- klärt sich die biblische, von der Politik anderer Religions- kämpfe grundsätzlich abweichende Vorschrift, die götzen- dienenden Völker zu vernichten und nicht dem Judentum anzugliedern und hatte als freiwilliger Akt nur den Sinn einer Aufnahme und Einbürgerung in den Volks- bund Israels.

Unsere Exilfürsten, Gaonim, Rabbanim, waren nicht Geistliche und Seelsorger wie die modernen westlichen Rabbiner, die das Judentum in eine Kirche verwandelten, sich in Anlehnung an die christliche Geistigkeit und Selig- keit gerne nennen; sie waren Vorsteher und Verwalter unseres Gemeinwesens; sie waren Richter, Dezisoren, Dajanim ; sie waren die obersten Behörden unseres exilar- chistischen Staates. Ihre Gerichtshöfe hatten die Befugnis, auch Strafurteile zu fällen und zu vollziehen. Ihre Anord- nungen hatten nicht nur religiöse Autorität, die Unge- horsam und Übertretungen mit Ausschluss aus der Kirche beantwortet ; sie waren mit Machtmitteln eines muster- haft organisierten und sehr strengen Regimes ausgestattet, das Zuwiderhandlungen recht empfindlich ahndete. Wir fügten uns ihnen in Liebe, aber auch in Furcht vor der

Gesetzesgewalt.

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Unsere Gesetzesverfassung erhielt uns in der Diaspora eigenartige religiös-nationale Wirtschaftsformen, die in ihren Funktionen und Institutionen viele Erwerbszweige umfassten; wenn auch gewisse „an das Land gebundene Gebote" im Galuth keine Anwendung finden konnten.

Die Fremdherrschaft hat uns daher die Selbstverwal- tung nicht entwinden können, solange wir unter der Bot- mässigkeit unserer eigenen Gesetze und Gesetzeslehrer standen. Wir bildeten eine in sich geschlossene Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Nicht ein Bekenntnis, son- dern vornehmlich eine Satzung war das Gefüge des einen Volkes. Nicht so sehr der religiöse und sittliche Lehrinhalt des Judentums als die konkreten Formen unserer Staats- verfassung trennten uns von allen Nationen, in deren Mitte wir unsere Zelte aufschlugen. Wir ruhten nicht an den Ruhetagen des Wirtsvolkes und feierten nicht seine Gedenktage, teilten nicht seine Freuden und seine Leiden, und waren nicht um die Wohlfahrt des fremden Reiches besorgt. Eine starke Mauer, von uns selbst errichtet, son- derte uns vom Landesvolke ab, und hinter der Mauer lebte ein jüdischer Staat in Miniatur.

So gaben wir unserem Landstrich in Babylon den Namen : Land Israels. Und Raw Huna durfte sagen : Wir betrachten uns in Babylon wie im Heiligen Lande. Auch in unseren späteren Siedlungen war das jüdische Ghetto das seinen Wesensgrund und seinen Bestand in unserer Gesetzesverfassung und nicht in den bösen Absichten unserer Feinde hatte ein Staat im Staate.

Selbst unsere sprachliclie Assimilation vermochte niciit eine kulturell-nationale Assimilation zu bewirken, solange unsere Volkseinheit und Volkssonderheit in der Religion

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verankert waren. Die sprachliche Assimilation führte bald zur Ausscheidung nationaler Gebilde, die, von jüdischer Eigenart durchwirkt, nicht mehr als Fremdgut empfunden werden konnten.

Mittelhochdeutsch entwickelte sich zu Jiddisch, Spanisch zu Spaniolisch, und sind jüdische Sprachen geworden.

Wir sollten es als ein nationales Glück schätzen, dass der Prophetismus vom Rabbinismus verdrängt wurde. Hätte die prophetische Richtung der Geistigkeit mit ihrer Opposition gegen die Suprematie des Gesetzes entschei- denden Einfluss auf das Judentum genommen, wir hätten in der Diaspora schon längst aufgehört, eine Nation zu sein ; die Kraft des Ideengehalts würde uns höchstens be- fähigt haben, nur noch als Glaubensgemeinde, als Kirche ein übernationales Dasein zu fristen. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten, die Hüter des Gesetzes, waren die Hüter des nationalen Judentums. Dies wusste Petrus, als er die Einheit des jüdischen Volkes bewunderte ; dies wussten die Eiferer des Christentums, die den Talmud verbrennen Hessen. Das Gesetz war die Verkörperung des Judentums, das die mythische Verkörperung verabscheute. Ausserhalb des Gesetzes bleibt also das Judentum ohne Veräusser- lichung, ohne Gestaltung ; es bleibt, in der Sprache der Kabbalah zu reden, eine nackte Seele. Alle Bestrebungen, die mit dem Ruf nach Vergeistigung und Verinnerlichung der jüdischen Religion ein Ruf, der heutzutage in einer modernen stilisierten Losung von ,, Neubelebung der jü- dischen Religiosität" wiederhallt auftraten und in Sehn- sucht nach religiöser Erschütterung gegen die Erstarrung der Gotteslehre in einer formalen Gesetzeslehre ankämpf- ten, führten immer zum Abfall vom Judentum ; weil von

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den'nationalen Lebensformen der jüdischen Staatsreligion, die der Unbedingtheit der Religiosität geopfert wurden. Beispiele : Essäer, Karäer.

Es ist ungerecht, den Rabbinismus als Verknöcherung oder gar als Entartung des jüdischen Geistes hinzustellen. Die grosse rabbinische Responsenliteratur zeugt wahrlich mehr von nationaler Lebensgemeinschaft, von Vitalität jüdischer Wirklichkeit, als die nach Aufleben schreiende neuhebräische Literatur. Wir sollten unsern Gesetzes- gebern Dank wissen, dass sie für den Ausbau der jüdischen Rechtsordnung ihren fruchtbaren Scharfsinn und ihren unermüdlichen Fleiss einsetzten ; dass sie Kompensation für den verlorenen Staat schufen. Wir sollten ihnen, und vollends den Rigorosen, den „Erschwerern" unter ihnen. Dank wissen, dass sie für minuziöse Befolgung der Vor- schriften wohlweise Sorge trugen. Zäune um die Gesetze und Zäune um Zäune anlegten und gegenüber aller Fremd- herrschaft ein strenges Regime einer jüdischen Verfassung aufrechterhielten. Nach Untergang unseres Reiches musste das fliessende Leben des Landes in starre Formen ge- zwängt werden, um konserviert zu dauern. Nur der blinde Eifer der Haskala konnte von Verstocktheit des Rabbinis- mus faseln. Nur das naive Freidenkertum konnte die Pedanterie, die Grausamkeit eines i-Tüpfelchens (J. L. Gor- don : „Das Tüttelchen eines Jud") und somit eigentlich den Gesetzescharakter unserer Religion verlachen.

Das Joch des Gesetzes hat freilich der Religiosität Ab- bruch getan. Um so vorteilhaßcr war es für die nationale Enge eines exterritorialen und mithin uniuersalen Volkes ; für die nationale Gebundenheit, die sich in Formzwang bewährte. Die Hallachah war daher für die nationale Er-

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haltung des Judentums von grösserer Bedeutung als die Agadah. Es ist so erklärlich, dass unsere Weisen in den erzwungenen Disputationen mit Christen nichts von der Halachah, wohl aber vieles von der Agadah als unwesent- lich im Judentum preisgaben.

Aber auch dieses starre System des Judentums im Ga- luth war nicht etwa Trägheit, war nicht Verstopfung der Quelle, eine Besiegelung des Schöpferischen, eine Fesse- lung des Geistes ; es gab Fliessendes und Schaffendes, es gab ein Entstehen und Vergehen innerhalb dieses Systems. Ja, die mündliche Lehre war es, die das Judentum im Fluss erhielt. In der Auslegung der Schrift hat sich unsere Gesetzesgebung stetig erneuert; als Akt des Gebens im religiösen Gewand des Empfangens, der Ableitung vom überlieferten Wort. Unter der Kruste formalistischer Deutung pulsierte das Leben unseres Gemeinwesens ; die Interpretation war ein vom Volksorganismus unbewusst erzeugtes Mittel, um Veränderungen und Neubildungen im Judentum zu ermöglichen oder nachträglich zu legi- timieren. Die Ablehnung der mündlichen Lehre durch die Parole der oft erwachten rehgiösen Inbrunst „Zurück zum Urquell I Zurück zur Schrift!" hatte nicht eine Verjüngung, sondern eine Erstarrung des Judentums be- wirkt ; da sie eine Ablehnung seiner nationalen Struktur, eine Unterbrechung seiner geschichtlichen Kontinuität war ; da sie ihm einen Abschluss aufnötigte.

Der Rabbinismus hatte also eine doppelte Funktion ; er war Erhalter und Fortbildner des Judentums. Er hat ein Riesenwerk der Vollendung nahegebracht: Die Ausge- staltung unserer Religion in einer Fülle von für alle Ver- hältnisse und Beziehungen klar umschriebenen Normen ;

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sie waren ein Bollwerk, das das Judentum vor Verschwom- menheit jenseiliger religiöser Geistig keit, die unsere nationale Bindung locker zu machen drohte, immer beschützt hat. Der Rabbinismus hat aber auch das Juden- tum in Bedingtheit gesetzt, in einer vom Leben durch- wirkten Entwicklung gefördert und vermöge der Aus- legung vor Stillstand bewahrt. Daher heisst es: „Die Aussprüche der überliefernden Schriftgelehrten sind ge- wichtiger als die Worte der Schrift".

Eine sinnreiche Midrasch-Allegorie erzählt : Moses gedachte die mündliche Lehre niederzuschreiben; aber vorausschauend, dass die Völker einst die Schrift in Über- setzung besitzen und behaupten werden : „wir sind Israel, wir sind die Kinder Gottes", hat Gott ein Kennzeichen gegeben: Wer mein Mysterium besitzt, der ist mein Sohn. Die mündliche Lehre ist das Kennzeichen, das unser Volk von allen Völkern unterscheidet. Sie kann nicht übersetzt werden; sie nmss gelebt werden. Sie ist das Mysterium, das nur uns eigen ist.

Wir können nunmehr die obige Frage nach dem Ge- heimnis unseres Bestandes in der Zerstreuung eindeutig beantworten. Die Formkraft der jüdischen Religion, die das Dasein in seiner ganzen Mannigfaltigkeit umspannt und alles Tun und Lassen regelt, das Leben des Einzel- nen und der Gemeinschaft vom Intimsten und Keusche- sten bis zum Äusserlichsten und Profansten in Gesetze bannt ; die uns durch Aufprägung manifestierender Zeichen im Getriebe der Völker kenntlich macht der gelbe Fleck wurde nicht erfunden, um uns zu zeichnen, sondern um uns zu demütigen, eben dadurch, dass er sonst keinen

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Sinn hatte und ungeachtet der grausamen Verfolgungen die stolze und rigorose Anordnung wagt, dass „ein Jude seine Tracht nicht ändern darf, um unerkannt nach einem Ort zu gehen, wo ihm als Juden der Aufenthalt verwehrt wird"; der politische Charakter der indischen Religion, der in unseren Rechtsinstitutionen stets wirksam blieb und in den trotz aller Anfeindungen nie gänzlich aufge- hobenen Sonderbestimmungen für NichtJuden die natio- nalen Grenzen unserer Rechtsordnung beglaubigte: die Formkraft und die politische Verfassung des jüdischen Ge- setzeskodex haben uns im Exil ein einzigartiges Reich als Staat im Staate zwei Jahrtausende erhalten.

Auch das Judentum der Gegenwart zehrt noch an dieser Kraft unserer Staatsreligion, in deren Formen noch ein beträchtlicher Teil unseres Volkes lebt. Dieser Teil ist der Nähr- und Wehrstand der jüdischen Nation. Unbewusst wird auch das moderne Judentum von ihm gespeist und beschützt.

Dieser Rest Israels wird aber immer kleiner und schwä- cher, die jüdische Religionsverfassung ächzt und stöhnt in ihren Fugen, ihre Formkraft ist in Zersetzung be- griffen — und das Judentum der Diaspora hat keinen Bestand mehr.

Unsere Weisen sagten : „Für die Völker der Welt ist eine Verbannung kein Galuth. Für Israel aber, das von ihrem Brot nicht isst und von ihrem Wein nicht trinkt, ist die Verbannung wahrlich Galuth". Hat der Schulchan- Aruch seine Geltung verloren, so haben wir inmitten der Nationen keine Scheidewände mehr und sind keine Aus- nahme mehr ; wir teilen das Schicksal aller anderen ver- bannten Völkerstämme : das Los der Vermischung. Unser

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Exil ist bald kein Galuth mehr: das fremde Land ist oder wird uns Vaterland.

Man sagt, der Westen beweise das Gegenteil. Im Westen ist die Sonne unserer Religion untergegangen und doch ist mit ihr das Judentum nicht erloschen und die Juden- frage nicht verschwunden. Freilich, aber es muss ein Nachsatz folgen : weil der Osten den Westen hält.

Unsere grossen Volksmassen im Osten, die noch in jüdischer Tradition und allenfalls in deren Atmosphäre wurzeln, bilden für die Auflösung der Westjudenheit ein Hemmnis. Die aufrechte Gestalt der Nation im Osten wirft ihren Schatten weit über ihre Landesgrenzen und breitet ihn über die erschlafflen Glieder im Westen aus, die daher in den fremden Organismus nicht ganz hinein- wachsen können, solange der jüdische Volkskörper jen- seits der Grenze sich regt. Von Osten gehen ebenso Schat- ten der Judenfrage nach allen Weltgegenden aus und spuken gespensterhaft beängstigend auch in Ländern, wo diese Frage bloss ein matter Widerschein der jüdischen Wirklichkeit aus der Ferne ist. Die Judenheit im Westen besteht aiso nur noch als Abglanz des Ostjudentums, das in seiner Auswirkung ihr Schutz gewährt und sie der Lei-' den des Volkes teilhaftig werden lässt. Die Assimilanten wissen es und fürchten daher den Ostjuden, der Juden- tum nacli dem Westen verschleppt und den Prozess der Verschmelzung stört.

Aber unsere letzte Mauer im Osten wird immer rissiger und ist ins Schwanken geraten mit ihrem F'all hat das Judentum keinen Halt mehr in der Stätte seiner natio-

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nalen Konzentration, geschweige denn in der Peripherie seiner langen Schatten, die es jenseits der Mauer wirft.

Man sagt, Amerika beweise die Existenzmöglichkeit eines modernen Judentums im Galuth. Indessen besteht auch da das Judentum nur dank der fortdauernden Ein- wanderung östlicher Juden. Bis es einer Wanderwelle gelingt, das Ghetto zu verlassen, hat der Ozean schon eine neue Wanderwelle ausgespült und mit ihr einen neuen Import von Judentum. Wenn die zerwürfelnden Fluten der Masseneinwanderung sich legen werden, wird die Assimilation ihren normalen Entwicklungsgang erhalten.

Auch befindet sich Amerika noch mitten im Stadium des nationalen Werdens, noch hat es keinen Amerikanis- mus. Wenn sein Völkergemisch aus dem Schmelztiegel als Einheit hervorgehen und eine nationale Gestalt an- nehmen wird, werden wir auch unsere überseeische Ko- lonie nicht behaupten können. Wir können nur unter den Völkern national leben, die ihre nationale Reife noch nicht erlangt haben.

•ö*

Man wird einwenden : Nun ist doch unser Nationalis- mus gerade in den letzten Jahrzehnten und gerade in der jüdischen Moderne gewachsen, am allerwenigsten jedoch innerhalb des traditionellen Judentums im Osten.

Man muss aber zwischen Nationalsein als Idee und Na- tionalsein als Wirklichkeit unterscheiden. Unser Natio- nalismus setzte ein, als und insofern die nationale Wirk- lichkeit des religiösen Judentums in die Brüche ging. Er entstand in den Reihen der Entzweiten, der Abgesplitter- ten und Versprengten, nicht im Volksinnern der Geein- ten und Wurzelstarken; er entkeimte nicht dem tiefen

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Volksempfinden der Gesetzestreuen und konnte in ihrer Mitte kein richtiges Verständnis finden, da sie im Besitze der jüdischen Lebensformen kein Bedürfnis nach natio- naler Wiedergeburt verspüren. Im Bewusstsein des in ihnen lebendigen Judentums sehen sie auch nicht recht die uns drohende Gefahr des Untergangs und sind um die Zukunft Israels nicht so sehr ängstlich : sie haben ein nationales Gefühl der Sicherheit und daher keinen echten Sinn für unsere Rettungsversuche. In der Tat, der jüdi- sche Nationalismus wächst mit dem Schwinden der jüdi- schen Wirklichkeit ; sein Aufstieg könnte als Gradmesser für den Abstieg dienen.

Allenfalls bedeutet die Steigerung unseres National- bewusstseins nicht eine Stärkung unseres nationalen Seins, eine Mehrung unseres Nationalbesitzes. Man ist noch kein nationaler Jude, wenn man jüdischer Nationa- list ist, Ist denn der westeuropäische jüdische Nationa- list mehr Jude als der jüdische Assimilant? Sie sind in gleichem Masse dem fremden Volksgebilde angeghedert, in die fremde Kulturgemeinschaft eingestellt; sie sind beide gleich assimiliert, leben national unjüdisch ; sie sind vom Gesichtspunkt der nationalen Attribute aus be- wertet — beide keine Juden mehr. Sie unterscheiden sich in ihrem nationalen Bekenntnis, in ihrer nationalen Wil- lensrichtung, nicht aber in ihrem Nationalsein, im Jüdisch- Sein. Wie soll ja die nationale Idee, so mächtig sie auch als Bekenntnis und als Wille sich kundgeben mag, den exilarchistischen Staat unserer Religion ersetzen und eine jüdische Wirklichkeit inmitten der Nationen schaf- fen? Sie kann vielleicht unser nationales Bewusstsein auf- richten, nicht aber unser nationales Sein. Eher kann sie

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den Aufbau unseres Volkstums in Palästina bewerkstel- ligen, als das Judentum im Galuth erhalten oder gar vermehren.

4.

Ist nicht die Religion bloss das Gewand, in das unser Nationalgeist gehüllt war? Der Verlust des Gewandes kann doch nicht als ein Versiegen unserer nationalen Kraft im Galuth eingeschätzt werden. So wird getröstet, so wird der Glaube an eine nationale Zukunft der Diaspora gepredigt.

Es ist indes ein Trugschluss und eitler Trost, wenn gesagt wird : der Verfall der Religion sei nur Wegfall einer Hülle, und die Kraft der Nation erleide hiermit keine Einbusse.

Erstens. Die Religion war uns im Galuth nicht Gewand, sondern tiefster Inhalt unseres Daseins. Hätte sich die Entwicklung des Judentums in den Normalgrenzen natio- naler Attribute vollzogen, so wäre unser Bestand in For- men gefestigt und gesichert und nicht durch einen Inhalt als Existenzgrund bedingt. Auch hätten gar viele religiöse Formen nach Entwertung ihres Inhalts nicht ihre Geltung verlieren müssen ; sie hätten sich in nationale und staat- liche Lebensformen verwandelt. Der Sabbat, die Feste, die Freuden- und Trauertage, gewisse Gebote und Ver- bote, Rechtsnormen und Bräuche würden in einem terri- torialen Gemeinwesen nationalpolitische Sanktion erhal- ten und auch nach Schwinden ihres religiösen Ursprungs fortgelebt haben.

Das der primären nationalen Formen entblösste Dias- porajudentum bleibt hingegen an einen Inhalt als seinen Existenzgrund immer gebunden und hat ohne ihn keine

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Widerstandskraft. Auch kann uns die absterbende Religion nach Erlöschen ihres Inhalts keine Formen hinterlassen, die, losgelöst von ihrem religiösen Kern, nationale Geltung in der Diaspora erlangen dürften. Wir haben im Exil keine ausserreligiöse Autorität, keine gemeinschaftsbil- dende Instanz, von der die Hinterlassenschaft der Reli- gion nationale Weihe und Bindung empfangen könnte. Die Lockerung der religiösen Bande bedeutet daher im Galuth auch Lockerung all der national polenzierten Formen, die in unserer Religionsverfassung gegeben sind.

Zweitens. Gesetzt, der Verfall der Religion sei nur Ab- werfen einer Hülle. Er würde freilich unsere Zukunft nicht in Frage stellen, wäre unser Dasein von normalen Nationalgrenzen bestimmt. Unsere Entwicklung hätte keine Diskontinuität erfahren, die religiösen Formen wären evolutionistisch durch andere Lebensformen ab- gelöst worden.

Im Galuth aber ist das Abstreifen der Religionsformen eine Vernichtung unserer Nationalformen schlechthin. Welche andere Formen gibt es, die den Verlust ersetzen könnten? Es ist ein Riss, eine Unterbrechung unserer geschichtlichen Kontinuität und nicht Verwandlung ; der Entformung folgt keine Formgebung, dem Ablegen kein Anlegen. Zugegeben, wir hätten vor uns, mit Achad Haam zu reden, bloss ein Zerbrechen des Gefässes; aber das exterritoriale Judentum besitzt kein anderes nationales Gefäss, das den ausgeschütteten Inhalt aufnehmen könnte. Wenn getröstet wird : „Nur der Körper ist zerstört, die Seele aber blieb bestehen", so wird hiermit eben das Todesurteil über das Judentum im Galuth ausgesprochen.

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Der Körper es ist die nationale Form, das nationale Konkretum.

Wohl wurde unsere Religion nicht ausschliesslich aus eigenen Kräften gespeist. Es bestand eine Wechselwirkung zwischen der Religion und dem nationalen Selbsterhal- tungstrieb. Unbewusst zog die Religion Nahrung aus dem nationalen Selbsterhaltungstrieb, da sie in der Diaspora nationale Aufgaben verrichtete. Viele ausserreligiöse Na- tionalwerte haben sich, in Ermangelung einer anderen nationalen Seinsart, in das Gefüge der Religion eingestellt. So wurden in unserer Religion Kräfte und Säfte aufbe- wahrt, die nicht ihr Eigentum sind. Dank dieser nationalen Dienstleistung als Behälter hat sie selbst an Lebensfähigkeit gewonnen ; sie hat sich gleichsam an den ihr anvertrauten Nationalgütern bereichert.

Daher konnte in Westeuropa eine sonderbare jüdische Orthodoxie aufkommen, die die religiöse Seele längst ausgehaucht hatte und nur noch eine Verzerrung der jüdischen Religion darstellt. Es ist der nationale Selbst- erhaltungstrieb, der die religiösen Formen in dieser Erstarrung, die Schale ohne Kern noch erhält; da das Judentum in der Diaspora keine andere Seinsform der Besonderheit besitzt. Das nationale Bewusstsein klam- merte sich, wie im ersten Kapitel ausgeführt, an die Tradition und gab ihr damit neue Impulse ; indem es in ihr einen Halt fand, verlieh es ihr einen nationalen Gehalt. Eine gegenseitige Hilfeleistung, die vom Volksorganismus in seinem Daseinskampf gefordert und bewirkt wurde. Dieser nationalen Funktion verdankt die verknöcherte Orthodoxie im Westen ihre zwiespältige Existenz. Auch im Osten wird unsere Religion, wenn ihre Seele aus ihr

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gewichen ist, noch eine Zeitlang ein vom nationalen Selbsterhaltungstrieb genährtes Dasein fristen : er wird ihr in der Stunde der Not beistehen, denn ihre Not ist im Galuth auch die seine.

Es will also scheinen, als sei der Selbsterhaltungstrieb das Primäre in der Erhaltung des Judentums. Es scheint so, solange wir jenes Verhältnis der Wechselwirkung in positiver und nicht auch in negativer Richtung beurteilen. Ist nun die Kraft der Religion gebrochen, so müssen schliesslich ihre verhärteten Formen abbröckeln und jenes positive Verhältnis der Gegenseitigkeit wird auf- gelöst. Der Selbsterhaltungstrieb verliert nunmehr seinen Halt in den religiösen Formen, sie wiederum verlieren hiermit ihren ausserreligiösen Gehalt, der sie unbewusst ausfüllte. Es ist die gleiche Wechselbeziehung in negativer Richtung. Der nationale Daseinstrieb wandert alsdann von Surrogat zu Surrogat, irrt Zuflucht suchend in allen Notbehelfen umher, bis er zum Schatten abgezehrt, er- mattet und erschlafft verfliegt. Wenn er also noch die hin- fällige Religion stützt und weil er ihr Stütze ist, selbst von ihr gestützt wird, so sind es eben die lezten Krämpfe des sterbenden Galuth, das Ringen der Agonie. Unsere Religionsverfassung kann nicht mehr lange ohne eigenen Nährboden ihre nationale Funktion im Exil ausüben, der nationale Selbsterhaltungstrieb wiederum kann sie nur für eine kurze Zeitspanne stärken und ihren Zusammen- bruch hinausschieben. Sie haben sich in der Diaspora gegen- seitig gestützt und müssen in ihr auch miteinander fallen.

Ist nicht unsere Orthodoxie im W^esten, die ja unbe- wusst vom nationalen Selbsterhaltungstrieb noch erhalten

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wird, bereits auf dem Wege der Assimilation? Ist sie weniger als das liberale Judentum bestrebt, die fremdna- tionale Kultur in sich aufzunehmen und die Verquickung mit dem fremden Volksorganismus zu ermöglichen?

Jedenfalls genügt der nationale Selbsterhaltungstrieb allein nicht. Es ist eine von ihm selbst in schwerem Daseinskampf erzeugte Illusion, wenn Wortführer des Nationaljudentums sich auf ihn berufen und Zuversicht für die Zukunft des Galuth aus ihm schöpfen. Ohne die ursprüngliche Kraft der Religion hätte er es nie vermocht, unser Volkstum in Zerstreuung vor Untergang zu be- wahren ; er hätte uns die Kraft nicht geben können, als Märtyrer zu leben und zu sterben. Was vermag noch jetzt das nationale Gefühl, das des Inhalts entleert und der Formen bar ist und ohne Zufluss neuer Säfte bleibt? Wie soll es uns vor der Macht der fremden Wirklichkeit, die uns zu verschlingen droht, schützen können?

Will man vielleicht die Hoffnung einer Dauerhaftigkeit des Galuthjudentums in das soziologisch wichtige Faktum der jüdischen Lebensfreude setzen?

Erstens, diese Lebensfreude war ein Hochgefühl des beglückenden Glaubens, nicht zuletzt des Glaubens an unsere Auserwähltheit und Unzerstörbarkeit ; war zugleich ein Ausfluss der inneren Machtstellung der jüdischen Gesetzesverfassung. Auch hat sie ihren geschichtlichen Grund in der lebensbejahenden Lehre der jüdischen Reli- gion. Sie ist daher mit der Erschütterung dieses Glaubens und dieser Lehre im Abnehmen begriffen : die Geistes- erzeugnisse des modernen Judentums sind bereits von pessimistischen Strömungen und Unterströmungen viel- fach durchsetzt.

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Zweitens, diese Lebensfreude ist zweideutig: sie ist na- tionaler und individueller Art. Gerade sie setzt uns oft über das Nationale hinweg und verleiht uns eine im Da- seinskampf den Einzelnen fördernde Elastizität zum Schaden des Kollektivs. Unsere lebensbejahende Ziel- strebigkeit treibt uns, der fremden Umwelt uns anzu- passen und eine starke Position in ihr zu erringen. Die hochpotenzierte Lebensbejahung führt zur Bejahung der fremdnationalen Wirklichkeit. Und der individuelle Le- benswille siegt oft über den nationalen.

5.

Zu den aufgezählten positiven Faktoren, die für die Lebensfähigkeit des jüdischen Volkes bestimmend sind, gesellt sich noch ein negatives Moment, das die Agonie des Galuth verlangsamt: nämlich, der Widerstand der Wirtsvölker gegen unsere Auflösung. Zur Assimilation gehören ja zwei Parteien, zwei Willensäusserungen, die übereinstimmen ; die Wirtsvölker sträuben sich aber, uns zu assimilieren. Sind wir auch ehrlich bereit, uns von ihnen verspeisen zu lassen, so verschmähen sie meistens dieses Gericht. Sie weisen unsere Annäherungsversuche zurück, stossen uns von sich, sperren uns in sichtbaren und unsichtbaren Ghettos ab, zwingen uns zur Einigung in Absonderung; kurz, sie nötigen uns, Juden zu bleiben. Es gibt gar viele moderne Juden, die durch Zwang der nichtjüdischen Gesellschaft und des Staates im Westen ist es vorwiegend die (iesellschaft, im Osten war es auch der Staat bewusst und unbewusst in unserer Gemein- schaft zurückgehalten oder in sie zurückgeführt wurden. Gross ist die Zahl dieser Not-Juden, der Noch-Juden und

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■der aus äusserer Nötigung Rückkehrenden; Juden, weil ihnen der Austritt und vollends der Eintritt unmöglich oder hindernisvoll oder moralisch unbequem gemacht wird. Man bedenke nur, wie viele Juden gegen ihren Willen in unserer Mitte leben; Juden, die ihr bischen Judentum als grosses Unglück empfinden, als ein Un- glück, an dem lediglich der unseren endgültigen Unter- gang hemmende Judenhass schuld sei ; Juden, die in ihrem Wünschen und Sehnen vom Ideal des baldigen Todes unseres Volkstums erfüllt sind und den Messias von einer fortgeschrittenen Menschheit erwarten, welche die Erlösung aus dem Judentum bringen, will sagen dessen Auflösung nicht mehr unterbinden wird.

Neben den Hemmungen, die der Wille zur x\ssimilation im Gegenwillen der Wirtsvölker findet, ist noch ein inne- res Motiv wirksam, das aber in einem äusseren Grunde seine Veranlassung hat : die Verfolgungen, die tausendfälti- gen Widerwärtigkeiten, die wir seitens der Wirtsvölker immerfort erdulden, schwächen allmählich den Willen zur Assimilation. Es entsteht der Trotzjude.

Gross ist die Zahl der Juden von Gnaden des Anti- semitismus. Wie stark also die potenzielle Assimilation , •die nur noch von äusserer Gewalt niedergehalten wird.

Eine Folge der Unterdrückungen sind auch unsere Wanderungen, die unsere Sesshaftigkeit in einem Land "und mithin den Assimilationsprozess unterbrechen.

Man darf es mindestens bezweifeln, ob ein jüdisches Volk ausserhalb der Grenzen unserer Religionsverfassung, d. h. ein modernes Judentum im Galuth noch heute exi-

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stiert hätte, wenn die Nationen gewillt wären, uns zu ab- sorbieren ; wenn sie uns, sagen wir, vor zweihundert Jahren überall Gleichberechtigung gewährt und den Weg zur Assimilation geebnet hätten. Gleichviel, eines steht fest : Die Judenverfolgungen, die Ausnahmegesetze haben die Erhaltung eines modernen Judentums in hohem Masse begünstigt.

Man vergegenwärtige sich, wie gross der Anteil unserer Feinde am Fortbestand des Judentums im Osten ist. Man ermesse den nationalen Dienst, den uns z. B. der Ansied- lungsrayon leistete. Wie mächtig wäre der Strom der Assi- milation angeschwollen und verbreitet worden, wenn unsere Unterdrücker diesen Damm ihm aus dem Wege räumen wollten ; wenn die Juden die Freizügigkeit er- halten und die Möghchkeit hätten, sich über das ganze Land zu zerstreuen. Wir müssten beinahe unseren Bedrän- gern dankbar sein, wenn sie die Tore der Assimilation vor uns schlössen und dafür Sorge trugen, dass unsere Volksmassen konzentriert und nicht zerstreut, abgeson- dert geeint und nicht zerklüftet vermischt werden ; dass auch unsere biblischen Namen gewahrt und nicht durch die von manchen qualvoll ersehnte Umsetzung in Iwan, Jefim, Vassilij und dergleichen geschändet werden , dass sogar die Taufe uns nicht allzu leicht werde...

Man untersuche es im Westen, welchen hohen Anteil der Antisemitismus am Fortbestand des Judentums und an all den Regungen und Bewegungen unserer nationa- len Wiedergeburt hat. Bezeichnend ist der Ausspruch Luigi Luzzattis : Ich fühle mich nicht als Jude, aber ich bin es, sooft die jüdische Abstammung mir zum Vorwurf gemacht wird und sooft Juden verfolgt werden. Viele der

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Besten unter uns kehrten aus einem Gefühl des gekränk- ten Stolzes zu ihrem Volke zurück ; viele wiederum aus einem Gefühl des Mitleids mit dem gequälten Stamm. Res Sacra miser. Es fällt einer sittlichen Natur nicht gerade leicht, aus dem Lager der ünrechtleidenden in das Lager der ünrechttuenden überzutreten. Schliesslich ist der Überläufer ja nicht sicher, dass seine Kinder oder Kin- deskinder nicht Antisemiten sein und nicht Judenpo- grome machen oder mitmachen werden. Die Erfahrung auf diesem Gebiete ist nicht ermutigend. „Abtrünniger du, dichtete Salomon Ludwig Steinheim verleug- nest die Sitte deines geschlagenen Volkes und trittst, du Tückischer, höhnischen Mundes zum Widersacher : dass deine ruchlosen Kinder, ein fremd Geschlecht, mit Steinen werfen nach deines Vaters Haupt und ihm den grauen Bart zerraufen.**

W^ahrlich, unsere Feinde haben viel zur Stärkung des Judentums in der Diaspora beigetragen.

Unsere Freunde, die Liberalen aller Schattierungen, haben diese negativen Momente unserer Lebenszähigkeit längst erkannt und verwerfen die Abschnürungen, die Begrenzungen, die uns vom Landesvolke trennen, unser Anderssein stählen und einen jüdischen Nationalismus hervorrufen. Sie fordern für uns Gleichstellung mit dem Landesvolke, die allein im Stande sei, jede Scheidewand zwischen uns und ihm zu beseitigen und unser Aufgehen in ihm zu ermöglichen. Und die Erfahrung lehrt, dass die Liberalen es besser als die Antisemiten verstandea haben, uns als Volk zu vernichten. Die Emanzipierung von den Sondergesetzen hat sich als Emanzipierung vom Judentum, vom nationalen Sondersein bewährt.

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Ich möchte es nicht sagen und darf es nicht ver- schweigen : ich hefürchte, dass die Aufhebung des jüdi- schen Ansiedhmgsrayons im Zentrum des Galuth auch die Aufhebung unserer letzten nationalen Konzentration, unseres letzten nationalen Bezirks bedeuten wird. Jch be- fürchte, dass die Stunde, da wir über diese Lösung der Judenfrage freudig aufjauchzen werden, die Stunde einer neuen Ära für das Wachstum der Assimilation sein würde. So will es unser Schicksal im Exil : was hier uns als Individuen unser Wohl ist, ist uns als Kollektiv gar oft unser Weh.

* «

Können nun diese negativen F'aktoren die Erhaltung des Judentums im Galuth gewährleisten? Können wir aus ihnen Vertrauen zu unserer Zukunft fassen? Zu einer Exi- stenz also, die vom Bestehen des Antisemitismus, des Widerstandes gegen unsere Verschmelzung, abhängig ist? Solange die jüdische Beligion stark war und unsere Ab- sonderung schützte, konnte es den Wirtsvölkern nicht gelingen, uns durch Taufe zur Vermischung zu zwingen und zu vernichten; sind die Scheidewände und Umzäu- nungen unserer Religion gefallen, so kann es den Wirts- völkern nicht glücken, uns zur Abgeschlossenheit zu zwingen und gewaltsam zu erhalten. All die Not-, Noch-, Pietäts- und Trotzjuden sind bedingte Juden, und diese Bedingung ist nicht von Dauer.

Die Weigerung der Nationen, uns zu assimilieren, wird mit dem Fortschreiten der Kultur immer schwächer. Mit der Gewährung von Gleichberechtigung wird auch das Hecht auf Assimilation gegeben ; nur machen die Gewäh- renden noch gewisse Vorbehalte und lassen uns nicht

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dieses Recht voll geniessen, wie sie auch mit den anderen uns zugestandenen Rechten verfahren. Aber je fortge- schrittener, desto geneigter werden sie, uns volle Gleich- heit der Rechte zuzubilligen und mit diesen Rechten auch das Recht zur Assimilierung, das vielmehr eine Vorbedingung für die Gleichberechtigung ist und mithin nicht ein Recht, sondern eine Verpflichtung darstellt. Werden wir im Zentrum der Galuth-.Judenheit, in Russ- land, die erstrebte Gleichstellung erlangen, so werden wir mit ihr auch dort das Recht auf Asssimilation er- halten ; und man darf die Hoffnung in den Kulturfort- schritt setzen, dass uns dieses Recht nicht mehr geschmä- lert werden wird und die Gebenden mit ihrer Gabe nicht mehr geizen werden. Die Empfänger werden sich sicher- lich beeilen, von diesem Recht ausgiebigen Gebrauch zu machen. Ist doch dieses Recht eine Verpflichtung.

Im Grunde genommen, sind die Judenverfolgungen und der Widerwille der Nationen gegen unsere Annäherung nur eine Rückwirkung unseres nationalen Bestandes. Die äusseren Ghettomauern sind Reagierungen auf die inne- ren Scheidewände unserer Andersheit ; der gelbe Fleck auf das Bekenntnis und Treue manifestierende Kennzei- chen des Judeseins. Je mehr sich unser nationales Gesicht verwischt, um so freundlicher wird man gegen uns ; je mehr wir an unseren nationalen Gütern einbüssen und verarmen, desto geneigter wird man, uns zu assimilieren. Die Judenverfolgungen und der Widerwille der Völker gegen unsere Angliederung sind immer gute Zeichen und fast ein Barometer für die lebendige Kraft des Juden- tums ; sie bezeugen ja, dass unser Organismus als Fremd- körper noch nicht hinreichend zerstört ist, um in seiner

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Umwelt keinen Widerstand mehr auszulösen. Sie sind Folgen unserer Sonderart ; Folgen aber, die auf ihre Ur- sache eine Rückwirkung ausüben. Mit dem Wegfall der primären Ursache, der inneren Kraft unserer Galuth- Existenz, werden auch diese Folgen beseitigt, die zu se- kundären Ursachen und zur Stütze ihres Ursprungs ge- worden sind.

Freilich haben unsere Feinde einen Anteil an der Erhaltung eines modernen Judentums in der Diaspora ; gross ist ihr Anteil an der Eindämmung der Assimilations- flut, Freilich werden wir, mit Herzl zu sprechen, von unserem gemeinsamen Feind als Nation zusammengehal- ten. Man darf jedoch die reaktive Ursache nicht mit der effektiven verwechseln. Woher stammt diese Feindschaft, die uns zusammenhält? Sie ist ja nur eine Begleiter- scheinung unseres völkischen Zusammenhalts. Der ge- meinsame Feind ist Beweis und nicht Grund für unsere nationale Gemeinsamkeit; ist deren Folge, die auf ihre Ursachen zurückwirkt und unser Gemeinschaftsgefühl steigert. Sobald aber die innere Bindung und Einheit unseres Sonderlebens locker werden, wird in gleichem Masse der nationalen Feindschaft der Boden entzogen und der äussere, verinnerlichend rückwirkende Zusam- menhalt durch den gemeinsamen Feind ist selbst haltlos.

Nun ist es die Religionsverfassung, in der die Exil-Ju- denheit ihre Bindung und Einheit hat. Und unsere Reli- gionsverfassung geht in die Brüche.

Wir müssen noch einen Faktor berücksichtigen, der den Zersetzungsprozess des modernen Judentums zuweilen

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verlangsamt. Unsere intellektuelle und sittliche Überlegen- heit gegenüber dem Kulturniveau des Wirtsvolkes war und ist noch in manchen Ländern ein Hindernis für unsere As- similierung, Diese Hemmung ist in der Natur des Menschen begründet, die die Tendenz des Aufstiegs und nicht des Abstiegs hat.

Aber gerade diese Erwägung lehrt uns, wie entschei- dend die Naturkraft der Assimilation ist, dass sie auch dieses natürliche Hindernis überwindet. Die jüdische As- similation in Russland beweist es zur Genüge. Wie viele Stufen muss der Jude kulturell hinabsteigen, um sich dem russischen Volke zu assimilieren. Und dennoch, er tut es; er steigt ziemlich rasch hinab und assimiliert sich. Schon hat der verhältnismässig noch sehr junge Assimilations- prozess in diesem kulturarmen Lande es fertiggebracht, das sittliche Kulturniveau eines ansehnlichen Teiles un- seres Volkes tief herabzudrücken und eine Generation grosszuziehen, die an Entartung unseren Assimilations- typus in allen anderen Ländern übertrifft und als Aus- geburt nationaler Verkommenheit eine ethisch und ästhe- tisch geradezu erschreckende Missgestalt darstellt.

Auch abgesehen von der Naturkraft der Assimilation, die von dem gleichfalls natürlichen Hindernis der Diffe- renz der Kulturstufen nur aufgehalten und nicht aufge- hoben werden kann, ist ja dieses Hindernis an und für sich am Verschwinden, insofern die Wirtsvölker in kul- turellem Aufstieg und unsere sittliche Kultur mit dem Zusammenbruch unserer Religionsverfassung im Rück- gang begrifTen ist.

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Wir gelangen nun zur Schlussfolgerung :

Das Geheimnis des zweitausendjährigen Bestehens einer exterritorialen jüdischen Wirklichkeit ist das Ge- heimnis der jüdischen Religion. Unsere zähflüssige Ge- setzesverfassung in ihrer Formenfülle und ihren Umzäu- nungen hat uns auch ausserhalb der normalen National- grenzen in Absonderung erhalten und in der Zerstreuung als Einheit gebunden : als Volk im Volke, als Staat im Staate. Sobald diese sondernde und einende Kraft ver- siegt, verlieren wir unser exilaristisches Staatswesen, un- sere Enklave, unser Heim auf fremder Scholle und damit jeden nationalen Halt im Völkergetriebe. Die Zerstörung unserer Religionsverfassung ist die Zerstörung unseres dritten Hauses, unseres Hauses im Galuth. Der zurück- bleibende, von Gesetzesschwere befreite und ins All- menschliche verfliegende Geist des Judentums ist nicht mehr national gemeinschaftsbildend ; er flattert in frem- den Gebilden umher und wirkt nur noch als Gespenst.

Noch schleppen wir mühsam unsere sonderliche Exi- stenz im Galuth, aber mit welchen Kräften ? Kraft der letzten Reserven unserer Religion im Ostjudentum, das für die Gesamtjudenheit der Neuzeit gleichsam das natio- nale Rückgrat bildet, und kraft des Beharrungsvermögens als Trägheit. Diese positiven Faktoren werden von nega- tiven Momenten unterstützt, die jedoch nur Annexe und Begleiterscheinungen des Noch-Positiven, Noch-Treiben- den sind und auch mit ihm verschwinden.

Ist es nicht der Anblick des Verfalls, den uns die von den jüdischen Religionsgesetzen und den nichtjüdischen Ausnahmegesetzen emanzipierte .ludenheit bietet ? Was ist noch heute das moderne Judentum ? Ein Zerrbild, ein

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Flickwerk, eine Farce. Bestenfalls ist es ein schmerz- volles Nachziltern des Gewesenen, wenn nicht bloss ein starres Symbol des Einst, ein Judentum der Pietät, ein Friedhofsjudentum ; oder es ist die Manifestierung eines Wollens, die Vorwegnahme einer Zukunft, wenn nicht bloss ein tatenloses Sehnen und Wünschen. Was aber be- deutet noch der Istbestand des modernen Judentums als Volksvermögen, als Kapital nationaler Kräfte bewertet ? Darf die dünne jüdische Überlünchung einer fremdnatio- nalen tiefen Kulturschicht als Judesein bezeichnet wer- den ? Ist es nicht vielmehr ein Unrecht, dass sie, Reli- quie oder Zutat, den Namen : Judentum führt ? Ist nicht der seines Inhalts entleerte Name eine Entweihung und eine Schmähung des Judentums ?

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DRITTES KAPITEL

PALÄSTINA ALS NATIONALES ZENTRUM

1.

Es ist begreiflich, dass in Würdigung der nationalen Bedeutung, die den jeweiligen Kulturzentren des Ju- dentums im Galuth zukommt, der Gedanke eines geistigen Zentrums in Palästina auftreten konnte. Dieser Analogie- schluss ist jedoch, so sehr er geschichtlich begründet zu sein scheint, irrig und irreführend.

Solange unsere religiöse Gesetzesverfassung die jüdi- sche Wirklichkeit gestaltete, war unser Volk in allen Ländern der Verbannung einheitlich bestimmt. Die Le- benskraft des Judentums war nicht in einem Zentrum lokalisiert, sie war über die ganze Peripherie ausgebreitet und verteilt ; sie hatte ihre Quelle in der Thora, die uns überall einte und absonderte. Wir führten auf unserem Wanderwege das Haus der Nation mit uns, trugen unser Hab und Gut in uns; wo nur Juden lebten, gab es ein jüdisches Gemeinwesen. Die Schechinah wanderte mit ihrem Volke und beschützte es in allen Orten seiner Zer- streuung. Das Zentrum war der exponierte, qualitativ oder quantitativ oder beides zugleich stärkere Punkt im Judentum; ein Höhepunkt, Sitz des Synhedrions, unserer

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Gesetzeslehrer, unserer Obrigkeit, nicht alleiniger Halt der Nation. Zwischen Zentrum und Peripherie bestand bloss ein Gradunterschied.

Ist aber unsere Gesetzesverfassung nicht mehr einend, so ist die nationale Bindekraft des exterritorialen Juden- tums versiegt und ein Zentrum in Palästina bedeutet mit- hin den alleinigen Halt der Nation ; nicht einen exponier- ten, sondern den einzigen Punkt, in dem unser nationales Sein verwurzelt ist. Zwischen Zentrum und Peripherie klafft also ein Wesensunterschied.

Wie soll Palästina ein Nährboden für die Diaspora] u- denheit werden, die ihren Wirklichkeit gestaltenden In- halt und mit ihm die Formenfülle ihrer völkischen Son- derheit verloren hat ? Wie soll ein Judentum erhalten werden, das seinen Existenzgrund nicht mehr in sich selbst hat und auf eine auswärtige Lebensquelle völlig an- gewiesen ist? Wird auch Palästina mit Achad Haam zu reden die eigenartige Funktion verrichten können, dem Exil in Überwindung aller Distanz ,, geistige Speise" dauernd zu liefern, so wird dieser Import nur eine Art Nachspeise sein, geistige Leckerbissen, etwa Labung für die Sabbatseele, die „Sonderseele" der Weihe ; die Haupt- speisen jedoch, ihre werktägige Nahrung werden die ver- streuten Juden in unmittelbarer Nähe suchen und vom Geist der Umwelt empfangen. W^ird nun unser Leben in seinem Alltag und im Profanen von der fremden Kultur gespeist, hat der Geist des Judentums nur noch im Heiligen und Feierlichen einen Zufluchtsort; so hat das Zentrum die Assimilation in der Peripherie nur getrübt und eine Unterernährung bewirkt. Und auch diese nationale Funk- tion einer Hemmung ist nicht von Dauer.

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Hat denn das mächtige Deutschland es vermocht, ein geistiges Zentrum für dieMilHonen seiner Söhne in Ame- rika zu werden und die Deutschen mit Bindestrich vor nationaler Loslösung zu schützen? Wie soll gar das kleine jungjüdische Palästina eine Fernwirkung auf die weit ausgedehnte Diaspora ausüben und einer unter starken Nationen zerstückelten Judenheit, deren traditionellen Bande gelockert sind, Kraft und Bestand verleihen ?

Eine reife Erkenntnis der nationalen Idee kann sich auf diese Fragestellung nicht beschränken. Sie führt vielmehr zur Einsicht, dass der achad-haamistische Ge- danke eines geistigen Zentrums mit den Postulaten des Nationaljudentums in Widerspruch steht.

Das Zentrum mag anfänglich Sonne und Brennpunkt der Nation sein, Strahlen nach den Exilländern aussenden und die versprengten Volksglieder beleben. Doch nur in der ersten Zeit wird es Licht und Wärme in die Ferne ausstrahlen ; seiner ganzen Anlage nach ist aber das Zen- trum dazu angetan, das Erlöschen und Erkalten der pe- ripherischen Volksreste zu begünstigen und eine voll- wertige Assimilierung der aufgeteilten Diasporajudenheit zu beschleunigen.

Das Fehlen eines wahrhaft nationalen Judentums, eines von den elementaren Attributen nationaler Wirklichkeit wie Territorium und Sprache bestimmten Judeseins, beein- trächtigt unsere Assimilierbarkeit . Die Wiedergeburt eines national geformten Judentums in Palästina wird die end- gültige Einordnung der assimilierten Exiljuden i n den natio- nalen Organismus der Wirtsvölker wesentlich erleichtern.

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Für alle weltlichen Völker gibt es einen nationalen Übertritt, will sagen, einen national bewerteten Austritt und Eintritt. Mit der Sesshaftigkeit von Generationen in einem Lande, mit der Einbürgerung in die fremde Sprach- und Kulturgemeinschaft ist der Übergang von einer nat tionalen Zugehörigkeit zu einer andei'en vollzogen. Es gib- national markierte Grenzen, die überschritten werden können.

Anders im Judentum. Unsere zweitausendjährige Exi- stenz ausserhalb der nationalen Normalgrenzen bedingt es, dass unser nationaler Übertritt nicht erkannt und an- erkannt wird. Auch die zutiefst und zuinnerst assimilierten Judenabkömmlinge gelten sich selbst und uns und den anderen noch immer als Juden. Sie sind es aber nicht. Vom Gesichtspunkt des nationalen Kriteriums aus be- trachtet, haben sie schon längst aufgehört, Juden zu sein ; haben sie schon längst das Recht verwirkt, den Namen Jude zu führen.

Sie sind demjüdischen Volke entwurzelt. Seine Sprache ist ihnen fremd, sein Nationalgut nicht teuer ; sie leben nicht seinen Geist, sein Ethos, sind seiner Gegenwart entrückt und wirken nicht für seine Zukunft. Warum heissen sie noch immer Juden '?

Sie sind in einer anderen Kultur verwurzelt, sind ihre Produkte, sind ihre Produzenten. Sie denken und em- pfinden in der Sprache des Landesvolkes, saugen alle Säfte seines Schrifttums ein, werden mit ihm in Haus und Schule von gleichen Kräften gespeist, schöpfen mit ihm aus einem Volksborn und schaffen mit an seinen heilig- sten Werken, sein Nationalgut ist auch ihnen höchstes Gut und gross ist ihr Anteil an der Mehrung seiner natio-

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nalen Werte. Warum werden sie noch als Juden ange- sehen ?

Sie leben im Geist nichtjüdischer Gesetze, Sitteur Bräuche, leben im Geist nichtjüdischer Traditionen, nicht- jüdischer Geschichte, feiern nichtjüdische Gedenktage Gestaltungen mythischer Vorstellungen, Sinnbilder heid- nischen und christlichen Gottesdienstes, Erinnerungen an nichtjüdische Kämpfe und Siege, an nichtjüdische Helden und Heldentaten und haben nichts mehr ge- mein mit den jüdischen Freuden- und Trauertagen, die kein echtes Gefühl in ihnen auslösen. Sie sind um die nationale Wohlfahrt des nichtjüdischen Gemeinwesens in Hingabe besorgt und opfern ihr Blut in Leidenschaft und Begeisterung für seine nationale Zukunft. Unjüdisch also ist ihr Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, in seinen Inhalten und Formen, in seinen Wirklichkeiten und in seinen Symbolen, unjüdisch in seinem Gedenken, Stre- ben und Hoffen, unjüdisch in seinem Alltag und Feiertag, in seinem Werk und in seiner Weihe. Warum zählen sie sich noch zu den Juden? Warum werden sie von uns und den anderen als Juden gezeichnet?

W^eil das jüdische Volk im Exil keine nationalen Nor- malgrenzen hat, die überschritten werden könnten. Weil wir ausserhalb dieser Grenzen leben, ist die nationale Grenzverschiebung unserer Lebensart unmerkbar und un- bestimmbar. Die Wirklichkeit unseres völkischen Seins ist keine weltlich nationale Wirklichkeitsgrössc, darum ist der nationale Massstab auf sie nicht anwendbar. Ihre nationale Verminderung tut daher ihrer Geltung keine Einbusse ; auch wenn sie den Nullpunkt erreicht hat, hebt sie den Schein des entleerten Judeseins nicht auf.

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Wir haben nirgends konkrete nationale Daseinsformen, an denen die nationale Entformung eines Volksteils er- sichtbar wäre. Wir haben nirgends eine vollwertige natio- nale Prägung, an der die Entwertung erkennbar wäre. Wir besitzen nirgends einen Volltypus eines nationalen Judentums, um die Entartung als nationale Fremdart zu beglaubigen und aus unserem Volksorganismus auszu- scheiden. W^ir selbst und erst recht die Anderen stellen fast gar keine nationalen Ansprüche an das Prädikat : Jude. Es genügt ein Jüdeln ; es genügt eine vermeintlich jüdische Nase, um noch Jude zu sein und zu heissen.

Unser Volkstum existierte im Exil ohne die normalen Merkmale nationaler Existenz : alle Verwischungen und Verzerrungen unserer nationalen Physiognomie vermögen daher nicht, uns den metaphysischen Charakter des Jude- seins zu nehmen. Sind doch diese Abtönungen und Ver- tuschungen geradezu Kennzeichen unseres nationalen Gesichts im Galuth.

Es ist die Ironie unserer nationalen Anomalie in der Diaspora. Da wir kraft der Religion in einer Abstraktion von den elementar nationalen Attributen zweitausend- jährigen Bestand hatten, gilt für uns das nationale Krite- rium nicht ; gibt es für uns keinen nationalen Austritt, keinen nationalen Übertritt, keine nationale Taufe. Das konfessionelle Kriterium aber ist auf das subjektive Mo- ment des Bekenntnisses bezogen und legitimiert den Aus- tritt und Übertritt erst nach Vollzug eines formell reli- giösen Aktes. So gelten als Juden auch die „Stammes- genossen", die objektiv gesehen schon längst nicht mehr Juden sind ; die national aus dem jüdischen Volkstum ausgetreten, national übergetreten sind ; sogenannte

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„Glaubensgenossen", die von der jüdischen Religion innerlich und äusserlich losgelöst sind und nur durch Unterlassung einer Formalität mit ihr verbunden erschei- nen. Ihr Judesein hat keinen positiven Inhalt, ihr Jude- sein hat nur einen negativen Sinn : nicht-getauft-sein. Und selbst getaufte Juden werden als Juden gewertet ; für sie wird das religiöse Kriterium durch das nationale aufge- hoben. Es gibt also keine Möglichkeit der Ausbürgerung aus dem Judentum.

So konnte jener sonderbare Begriff entstehen, der unsere nationale Anomalie in ihrer tragischen Komik aufdeckt ; der Begriff : assimilierte Juden. Ist er nicht ein Nonsens, eine contradictio in adjecto? Assimilierte Juden also Juden, die keine Juden sind. Nur unsere nationale Ano- malie konnte diesen ebenso sinnwidrigen wie schmach- vollen Terminus gebären.

Diese eigenartige Lage wird mit der Schaffung eines na- tionalen Zentrums in Palästina eine tiefgreifende Ände- rung, ja eine vollständige Umwälzung erfahren. Das Juden- tum wird rein nationale Attribute erhalten. Das weltlich nationale Kriterium wird auch das Judentum bestimmen und beglaubigen. Der Begriff: Jude wird eine national gleichwertige Bedeutung erlangen, wie die Begriffe : Deut- scher, Franzose, Engländer. Jude, richtiger Hebräer, wird dann heissen : der, dessen Vaterland Erez Israel, dessen Sprache Hebräisch ist. All die Stammes- und sogenannten Glaubensgenossen, die ein anderes Vaterland haben, in einer anderen Sprache und Literatur wurzeln, für ein an- deres Gemeinwesen leben und sterben, werden nicht mehr

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den Namen : Jude missbrauchen können ; er wird ihnen auch nicht aufgedrängt werden. Sie werden Deutsche, Franzosen, Engländer usw. heissen, ohne den sinnleeren Annex. Als Judenabkömmlinge werden sie nur noch archivalischer Forschungsgegenstand für fleissige Genea- logen sein ; die Reliquien ihres fahlen, geistig-gespenster- haften Judentums werden nur noch wissenschaftliches Interesse etwa für Vererbungstheoretiker bieten.

Man bedenke, welche nationale Entehrung schon allein die Tatsache ist, dass man Jude heisst, ohne Hebräisch auch nur zu verstehen. Welch anderes Volk ist so beschä- mend anspruchslos ? Welchem anderen Volke gegenüber sind die Weltnationen so beleidigend genügsam in der Beurteilung der nationalen Qualitäten, die über die natio- nale Zugehörigkeit eines Individuums entscheiden? Uns und ihnen genügt eine jüdische Nase...

Man bedenke ferner, welche nationale Würdelosigkeit sich darin kundgibt, dass wir die assimilierten Juden, die alles Jüdische fliehen, als Juden ansprechen ; dass wir ihnen nachlaufen und sie gleichsam verfolgen, indem wir immer an ihre Abstammung erinnern und ihr bischen Judentum blossstellen ; dass wir sie auf Grund ihres ent- deckten Stammbaumes, von dem sie ja abgefallen sind, auf Grund der erforschten Dosis ihres erbärmlichen Ju- dentums, das sie verleugnen oder als erbliche Belastung beklagen, in unser Volkstum einreihen.

Wird unser Volk seine nationale Prägung in Palästina erhalten, so wird das Judentum sowohl von uns selbst als von seiner Umwelt an klaren und deutlichen Zügen nationaler Echtheit erkannt werden ; und nicht mehr verfälscht werden können. Wer und was diese nationalen

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Züge nicht haben wird, wird nicht Jude, wird nicht jüdisch sein. Ein Judentum als Zutat, als Zugabe, als Firnis und Übertünchung fremdnationaler Kultur wird nicht bestehen können. Das palästinensische Judentum wird die Währung bilden für alles Judesein und Jüdisch- sein und das fiktive Judentum ausser Geltung setzen. Werden wir in Palästina nationale Vollwertigkeit erlan- gen, so gibt es nirgends mehr Platz für das schwindsüch- tige, färb- und saftlose Judentum, dessen Splitter in der ganzen Welt zerstieben und, überall beängstigend, auf Hass und Verachtung stossen ; für das verstümmelte und verunstaltete Judentum, das seine nationale Schande in der ganzen Welt herumschleppt und schamlos preisgibt. Ein jüdischer Volltypus wird entstehen, in nationalen Daseinsformen gegründet, der Typus eines Ganzjuden wird hervortreten und es gibt dann keine Existenz- möglichkeit für ein fragmentarisches Judentum, für ein gebrechliches, bruchartiges Judentum, für Halb- und Vierteljuden ; für Juden, die unjüdisch, in nichtjüdischer Sprach- und Kulturgemeinschaft leben. Das Judentum wird als bodenständig nationale Gleichberechtigung er- werben, und das meint : der auf Nichtanerkennung un- seres nationalen Charakters aufgebaute Begriff für das Konnubium von Judentum und Deutschtum, Judentum und Franzosentum usw. wird verschwinden. Deutscher Jude, französischer Jude dieser Begriff wird ebenso ein Unding sein, wie deutscher Franzose, französischer Deut- sche. Schon der Sprachenrenegat wird nicht mehr als Jude gelten. Diese nationale Missgestalt: Juden, die nicht hebräisch sprechen, wird nicht mehr jüdisch und mithin nicht Missgestalt sein.

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Diese Wandlung ist auch psychologisch zu verstehen. Hat ein Volk seine nationale Norm verloren, so können vielleicht seine Glieder trotz ihrer gemeinsamen Abnor- mität, da sie ihnen ja gemeinsam ist, als Einheit fortbe- stehen und anerkannt werden; mitunter wird diese Fehlerhaftigkeit selbst eigentümliches Merkmal der Volksbe- schaffenheit. Hat das Volk seine nationale Norm wieder- gewonnen, so können die Glieder, die in der Abnormität zurückbleiben, nicht mehr in seine Einheit eingeordnet werden ; sie müssen abfallen.

Solange unser Volkstum unter der nationalen Norm wie Territorium, Sprache kraft der Religion Bestand hatte, konnte dieses Manko sogar als Charakteristikum des Judentums gelten. Wird nun unser Volkstum in Pa- lästina national normiert werden, so wird die Anomalie des Galuthjudentums nicht mehr fortwuchern können ; sie wird nicht, diese Entartung, mit dem in Palästina re- generierten Judentum eins sein, eine Volksgemeinschaft bilden. Das jüdische Volk wird, wie alle weltlichen Völ- ker, nationale Normalgrenzen haben; die ausserhalb dieser Grenzen leben und wirken werden, werden nicht Juden sein. Das zwitterhafte, flickwerkartige Jargon-Juden- tum wird aufhören. Nationale Reinheit wird uns zuteil werden und das Unreine und Vermischte aus unserem Volkskörper ausscheiden. Eine Kluft wird sich zwischen Palästina und der Diaspora auftun.

Das nationale Zentrum, die Konzentration in Erez Israel wird also das langsame Dahinwelken des Galuth be- schleunigen, der qualvollen Agonie ein Ende setzen; wird eine vollwertige Assimilierung in der Zerstreuung, im Getriebe der Völker, ermöglichen. Das hebräische

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Palästina wird gleichsam eine Proklamation erlassen : hier naiionale Wiedergeburt, dort nationaler Tod, Es wird nun ein Entweder Oder geben : entweder Ganz- jude, hebräischer Jude, oder alles andere als Jude. Es wird aber nicht mehr Halbjuden geben, deutsche, fran- zösische, englische usw. Juden. Kurz, Palästina wird die nationale Ganzheit der Juden ermöglichen: entweder ganzer Jude oder ganzer NichtJude zu sein,

2.

Das Zentrum, lehrt Achad Haam, wird Sonne der Nation sein und die Gesamtjudenheit erwärmen und befruchten. Wohl, doch wird diese nationale Sonne nur für kurze Dauer nach den Exilländern ausstrahlen, um dann im eigenen Lande um so intensiver zu leuchten und zu wär- men, während den anderen Ländern ihre eigenen natio- nalen Sonnen Licht und Wärme spenden werden. Zwei Sonnen, sagten schon unsere Weisen, können nicht im Durcheinander leuchten.

Das Zentrum, lehrt ferner Achad Haam, wird eine na- tionale Anziehungskraft besitzen. Gewiss, es wird der Diaspora viele Kräfte und Säfte entziehen, nicht jedoch abgeben. Es wird eine einseitige und keine wechselwir- kende Anziehungskraft sein.

Freilich, ,, sobald alle zerstreuten Glieder des Volkskör- pers den Schlag des nationalen Herzens fühlen werden, das auf seinem natürlichen Nährboden zu neuem Leben erwacht ist, werden sie rings um das Herz näher aneinan- derrücken und gerne in sich das lebendige Hlut aufneh- men, das aus ihm strömt". (Am Scheidewege, Wörter und Begriffe.) Ja, in diesem Zeichen wird die erste Periode

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stehen, die des nationalen Werdens und Wiederer- wachens; nicht aber die spätere Periode der nationalen Kristallisierung neuen Lebens. In der ersten Zeit des Pathos, der lauten Begeisterung, ist das Pulsieren des Volksherzens sehr stark und den verstreuten Volksglie- dern vernehmbar, die nun freudig bereit sind, den aus dem neubelebten Herzen in der Ferne ausgehenden Blut- strom in ihre Adern aufzunehmen. Doch empfangen sie nolens volens den warmen Blutstrom, der aus dem natio- nalen Herzen in ihrer unmittelbaren Nähe ihnen zufliesst, und mit der Zeit erlischt in ihnen auch die Sehnsucht nach dem fernen Quell, das Echo des wiedergeborenen Lebens Neujudas tönt immer schwächer an ihr Ohr, bis es gänzlich verhallt - und sie nähren sich nunmehr freudig, ungestört und ohne Gewissensbisse, vom nahen, fremdgewesenen und nun eigengewordenen Volksquell. Wird es doch nur ein gutes Zeichen für die Bewährung unseres Ideals sein, wenn das Stadium des Pathos und der lauten Begeisterung, das den Beginn des Werdens und den Anlauf einer Bewegung anzeigt, vom Stadium der auf sich zurückgezogenen, in sich ruhenden, national gereif- ten Wirklichkeit -des geformten und mithin auch örtUch begrenzten nationalen Stillebens als aufgespeicherten völkischen Seins - abgelöst werden wird. Ein weithin hörbares Herzklopfen ist ja gerade kein Zeichen der Gesundheit.

Ja, die Bindung des nationalen Herzens, im Bilde Achad Haams zu sprechen, an einen bestimmten Boden bedeutet eben die Bindung des ganzen Volksorganismus an bestimmte Grenzen und verurteilt alle fern verstreuten Volksteile zum raschen Absterben. Je kräftiger das nalio-

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nale Herz, je gefestigter und greifbarer seine Lebens- formen, desto leichter und besser werden die fernab zerstreuten Glieder dem fremden Volkskörper einverleibt.

Die Schaffung eines nationalen Zentrums für das Juden- tum heisst nichts anderes als die Verpflanzung des Ju- dentums nach einem Lande, seine Verwurzelung in einer Heimat , in einer und einheitlicher Form, in nationaler Präzision und Prägnanz. Und es meint nichts anderes als ein Todesurteil für das unbodenständige, vielartige, vielgestaltige Judentum der Galuthländer, das nicht mit dem Landesjudentum einheitlich ist.

Es ist also klar, dass der achad-haamistische Terminus : Zentrum sich mit seinem Begriffe nicht voll deckt, da Palästina nur im ersten Stadium seiner jüdischnationa- len Entwicklung als Zentrum für die Diasporajudenheit fungieren wird, jedoch seiner Anlage nach dazu bestimmt ist, mit dem Fortschreiten seiner Hebräisierung die Assi- milation in der Peripherie zu begünstigen.

Selbst wenn die Diaspora es fertigbringen könnte, den Gang der Assimilation aufzuhalten und sich zu einem nationalen Dasein mit Jiddisch als Volkssprache auf- zuschwingen, so wird es mit dem hebräischen Juden- tum in Palästina nicht eins sein, keine echte nationale Gemeinschaft mit ihm haben. Unser Volk wird in zwei Gruppen zerfallen, in zwei Judentümer : ein jiddisches Volk im Galuth und ein hebräischesVolk in Erez Israel. Im Laufe von Generationen werden diese Volksverbände eine grundverschiedene Entwicklung durchmachen und sich schliesslich zu zwei Nationalitäten auswachsen, die

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sich immer mehr im Ethos, in Kulturinhalten und Kultur- formen voneinander entfernen und abgrenzen werden. Dieses Phänomen einer Zweiteilung ist ja in der Völker- geschichte keine Seltenheit.

Es gibt keine stärkere Völkerscheidung als die Teilung in Länder und Sprachen. Es gibt keine nationale Einheit in einer Vielheit von Ländern und Sprachen. Nur die Religion vermag diese Trennung zu überbrücken und eine überterritoriale und übersprachliche Gemeinschaft zu bilden. Ist die Kraft der Religion von uns gewichen, so kann unsere Volkseinheit nur in einer weltlich nationa- len Bindung mit den Attributen einer Landes- und Sprach- gemeinschaft begründet sein.

In keinem anderen als im jüdischen Volke lebt das Bewusstsein einer ausserhalb aller räumlichen Grenzen des Nebeneinanders stehenden Volkseinheit ; das Be- wusstsein einer Einheit in Zerstreuung. In keinem ande- ren als im jüdischen Volke lebt auch das Bewusstsein einer zeitlich ungeschiedenen Volkseinheit, die von allen Wandlungen und Neuerungen unberührt bleibt; wir haben das Bewusstsein eines einheitlichen Volks- ganzen seit Erzvater Abraham bis auf unsere Tage, als ob das Judentum in den Jahrtausenden unverändert ge- blieben wäre, als ob die alten Ebräer Juden gewesen wären.

Es ist das religiöse Einheitsbewusstsein, das uns über die Grenzen von Raum und Zeit vereinigte. Wäre unsere volkliche Gebundenheit territorialer Natur, so wäre unser Volksbewusstsein auf die räumliche und zeitliche peteilt- heit unseres Werdens und auf ihre geschichtlichen Abschnitte eingestellt ; und würde mithin einen kleineren

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Umfang haben. Einst war unser Volk in Stämme einge- teilt; hätte es eine bodenständige Entwicklung genom- men, so hätte es sich vielleicht in mehrere und wohl sicherlich in zwei Volksstämme Israel und Juda gespalten. Mit der Vertreibung aus dem Lande erstarkte in ihm das religiöse Volksbewusstsein, das alle früheren Spaltungen und Ansätze nationaler Gliederungen und Neu- bildungen verwischte, vertilgte.

Noch bestehen und gelten wir als volkliche Geschlos- senheit auf Grund der alten religiösen Bindung, wenn auch diese längst gelockert ist. Es ist das Gesetz der Trägheit, das hier in Sein und Schein wirkt. Wird aber das jüdische Volk nationale Grenzen erhalten, so wird das religiöse Bewusstsein und Kriterium eines exterrito- rialen und universalen Volkes sein Beharrungsvermögen verlieren und von einem rein nationalen Bewusstsein und Kriterium abgelöst werden. Dann können die Juden- schaften, die territorial und sprachlich geschieden sind, oder die angenommenerweise zwei Volksverbände, der jiddische im Galuth und der hebräische in Erez Israel, nicht eine Volkseinheit sein und auch nicht als solche erscheinen.

Wir wissen aus dem zweiten Kapitel, dass die jüdi- sche Religion nicht ausschliesslich aus eigenen Kräften im Exil gespeist wurde. Es bestand eine Wechselwir- kung zwischen der Religion und dem nationalen Selbst- erhaltungstrieb. Unbewusst zog die Religion Nahrung aus dem nationalen Willen zum Leben, da sie im Exil nationale Aufgaben verrichtete. Viele ausserreligiöse Na- tionalwerte haben sich, in Ermangelung einer anderen nationalen Seinsart, in das Gefüge der Religion einge-

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stellt. So wurden in unserer Religion Kräfte und Säfte aufbewahrt, die nicht ihr Eigentum sind. Dank ihrer nationalen Dienstleistung als Behälter hat sie selbst an Lebensfähigkeit zugenommen ; sie hat sich gleichsam an dem ihr anvertrauten Nationalgut bereichert. Wie die Religion unser Galuth-Dascin beschützte, belebte anderer- seits das Galuth-Dasein unsere Religion. Ebenso hat das religiöse Gemeinschaftsbewusstsein das nationale ersetzt und dank dieser nationalen Funktion als Surrogat an Wirksamkeit gewonnen. Weil uns die territoriale und materielle Einheit fehlte, wurden unsere religiösen und geistigen Bande um so stärker und für unseren Zusam- menhalt um so bedeutsamer und entscheidender. Werden wir eine territoriale und materielle Volkseinheit erlangen, wird sowohl unsere Religion als die aus ihr heraus- geschälte Geistigkeit die Ideologie einer jüdischen Weltanschauung, des Monotheismus, des Messianismus, des Optimismus usw. viel von ihrer nationalen Eini- gungskraft einbüssen. Mit der Verwurzelung des Juden- tums im Lande der Väter wird das portative Vaterland des jüdischen Volkes, wie Heine es nannte, nicht mehr das Judesein bestimmen und entscheiden.

Der Abfall von unserer nationalen Sprache, der Über- tritt und die Einbürgerung in eine andere Sprachgemein- schaft, sozusagen die sprachliche Taufe, wird nicht minder Abtrünnig keil und Austritt aus unserem Volkstum bedeu- ten, als es bisher die religiöse Taufe zu bedeuten hatte. Und wird unser Volk in zwei Sprachen geteilt, in Jiddisch und Hebräisch, so werden aus ihm zwei Völker hervorgehen ; und ein unüberbrückbarer Abgrund wird zwischen ihnen klaffen.

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Es gibt schlechterdings keine nationale Brücke zwischen Palästina und Galuth, zwischen „Zentrum" und „Peri- pherie".

3.

Man könnte freilich gegen diese in ihren letzten Folge- rungen erkannte zionistische Idee scheinbar schwere Vorwürfe erheben : Sie tritt mit dem Postulat der natio- nalen Einheit auf, bewirkt aber eine Zweiteilung der Nation. Sie vereitelt den Diasporabegriff eines ,,Klal- Jisroel", steckt dem Judentum Grenzen ab und schneidet es entzwei : in Galuth und Palästina. Sie fällt ein Todes- urteil über das Galuthjudentumja sie bedingt dessen Un- tergang durch die nationale Formierung und Entfaltung des Palästinajudentums: je mehr Palästina national reift und erstarkt, desto schneller welkt und erstirbt das Galuth. Haben nicht unsere Missionsprediger schliesslich recht, wenn sie die Vorsehung darob rühmen, dass wir unter die Völker verstreut wurden und, an die weltlich nationalen Grenzen nicht mehr gebunden, auch in ver- schiedenen Ländern und verschiedenen Sprachen eine religiöse Weltgemeinschaft bilden?

Der Zionismus muss erwidern :

Gewiss, das hebräische Palästina wird das Judentum in Grenzen bannen und die Judenheit in und ausserhalb der altneuen Heimat teilen. Aber dies darf uns nicht schrecken. Lieber soll unser Volkstum an einem Orte verwurzelt ein Ganzes werden, als dass es bruchartig und verstümmeli in vielen Vaterländern herumschweife und in Unstetigkeit seine Universalität behaupte. Und wenn die Wiedergeburt unseres nationalen Volkstypus, des

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Ganzjuden, den nationalen Tod des Halb- und Vierteljuden bewirkt, so ist damit nicht nur die Judentumsfrage, son- dern auch die Judenfrage und auch für die Juden, die keine sein möchten radikal gelöst. Wir lebten als reli- giöse Gemeinschaft im Einen Gott und können nunmehr nur in einem Vaterlande und in einer Sprache wahrhafte und ganze Juden sein.

Gewiss, die nationale Erneuerung und Hebraisierung Palästinas wird eine vollwertige Assimilierung der Dias- porajuden begünstigen. Aber sie wird nur das Absterben eines Todgeweihten beschleunigen und die Qualen der Agonie verkürzen. Das Galuthjudentum ist seit der Er- schütterung seiner Religionsverfassung, wie wir schon wissen, nicht mehr lebensfähig.

Noch hat der Zionismus seinen revolutionären Sinn nicht hinreichend erkannt. Noch ist er in Galuth-Romantik eingebettet, die seine Erkenntnis umschleiert und seine Schaffenskraft lähmt. Er spielt noch ahnungslos mit seiner grossen Idee, ergötzt sich spielerisch an ihrer Schönheit, verschliesst sich aber ihren unerbittlichen Konsequenzen. Er ist sich seiner historischen Tragweite, seiner zukunfts- schwangeren Tat nicht bewusst.

Es ist jedoch Zeit, die zionistische Idee vollinhaltlich zu ergründen und ihre rigorosen Forderungen der Ver- neinung und Bejahung als Umwertung und Neubeginn ohne Scheu und Kompromissucht zu proklamieren. Es ist Zeit, dass wir nicht mehr am Scheideweg stehen bleiben und unsere Kraft zwischen Galuth und Palästina verzet- teln; dass der Lebenswille des jüdischen Volkes eine einzige Richtung erhält und nicht zwischen zwei Welten pendelt. Es ist Zeit, die grausame Wahrheit auszusprechen,

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dass das Galuthjudentum keine nationale Zukunft hat und unrettbar dem Untergang entgegengeht; dass es keine dauerhafte Brücke zwischen Palästina und Galuth geben kann.

Seit der Verbannung Israels aus seinem Lande, sagen unsere Weisen, wandert die Schechinah mit ihm im Galuth. Wird Israel in seine Heimat zurückkehren, wird auch die Schechinah vom Galuth erlöst werden und im Lande der Väter eine Heimstätte finden. Die Volksteile in den Adop- tivländern werden ohne die „Schechinah des Volkes" bleiben.

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VIERTES KAPITEL

DIE NATIONALE RECHTSLAGE DES GALUTH

1.

Das Zeitalter der Aufklärung wertete und behandelte den Antisemitismus als Ueberbleibsel der Barbarei: als religiösen Fanatismus, als eine Geistesbeschränktheit und Sittenverrohung und insgemeinhin als Ausgeburt niedriger Instinkte. Mithin sei unser Schicksal mit der Höherentwicklung der Menschheit aufs innigste ver- knüpft ; jeder Sieg der Kultur bedeute auch einen Sieg der Juden über die Judenfeinde.

Das Zeitalter des nationalen Gedankens suchte den Antisemitismus als sozialpsychologisches Phänomen zu erfassen, das in unserer Lage eines Volkes im Volke be- gründet ist. Der Antisemitismus wird als normale Gegen- wirkung erkannt, sobald unsere Galuthexistenz als natio- nale Abnorm verstanden wird. Pinsker hat dieser Er- kenntnis tiefsten Ausdruck gegeben. Er sagt: „Diese geisterhafte Erscheinung eines wandelnden Toten, eines Volkes ohne Einheit und ohne Gliederung, ohne Land und Band, das nicht mehr lebt und dennoch unter den Lebenden umhergeht ; diese sonderbare Gestalt, welche in der Geschichte ihresgleichen kaum wiederfindet, die

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ohne Vorbild und ohne Abbild ist, konnte nicht verfeh- len, in der Einbildung der Völker auch einen eigentüm- lichen, fremdartigen Eindruck hervorzubringen. Und wenn die Gespensterfurcht etwas Angeborenes ist und eine gewisse Berechtigung findet im psychischen Leben der Völker was Wunder, dass sie sich auch angesichts dieser toten und dennoch lebenden Nation in hohem Grade geltend macht?"

Hätte die nationale Beurteilung des Antisemitismus ihre letzten Konsequenzen nicht gescheut, so hätte sie nicht nur eine sozialpsychologische Erklärung, sondern auch eine gewisse Bechtfertigung dieses Anti ergeben. Wir können und müssen seine rohen Ausbrüche bekäm- pfen, dürfen ihm aber nicht jede Existenzberechtigung und jede Existenzform abstreiten. Der herkömmliche An- tisemitismus in seiner Wüstheit mit seiner teuflischen Gehässigkeit und seinen wahnwitzigen Verleumdungen, mit seiner höllischen Lust an Peinigung und Vergewalti- gung, ist gewiss ein Atavismus der Barbarei, der im Fort- schreiten der Gesittung allmählich erlahmt. Die Judo- phobie ist nicht, wie Pinsker meinte, eine hereditäre Psychose, die unheilbar sei. Insofern sie eine Krankheit ist, ist sie heilbar. Sie ist aber mehr als bloss Psychose. Sie ist auch die Abwehr eines fremdartigen Elements, die Selbstwehr der territorialen Stammesvölker gegen ein geisterhaftes Fremdvolk, das in der Landesnation nicht aufgehen will. Wir tun also diesem Antagonismus un- recht, wenn wir ihm jede Entwicklungsmöglichkeit ab- sprechen ; wenn wir nicht anerkennen, dass er in be- stimmten Grenzen seinen Daseinssinn hat und mit dem Fortschreiten der Gesittung nicht verschwinden, sondern

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kulturelle Formen eines nationalen Kampfes annehmen muss, insofern wir ein Volk im Volke bleiben. Wir kön- nen nur hoffen, die Bestie im Menschen zu töten, nicht jedoch das Allzumenschliche, das in bestialische Formen gehüllt ist ; das sich aus ihnen schwerringend entfaltet und langsam aber beharrlich ins Kulturell-Nationale hin- auswächst.

Pinsker selbst scheint die Judophobie nicht lediglich als Psychose erklären zu wollen. Neben der pathologi- schen Erklärung deutet er auch zuweilen den ethnologi- schen Grund dieser Gegnerschaft an, inwieweit sie in ihren nationalen Motiven eine normale Erscheinung ist. Er sagt : „Im grossen Kampfe ums Dasein unterwerfen die Kulturvölker sich gern den Gesetzen, welche diesen Kampf in eine friedliche Konkurrenz, in einen edlen Wetteifer verwandeln helfen. Hier machen die Völker gewöhnlich einen Unterschied zwischen dem In- und Aus- länder, wobei natürlicherweise dem ersteren immer der Vorzug gegeben wird. Wenn nun dieser Unterschied schon in Bezug auf den ebenbürtigen Ausländer geltend gemacht wird, wie grell muss er nun dem ewig fremden Juden gegenüber ausfallen ! Mit welchem Unwillen muss der Bettler angesehen werden, der es wagt, seine lüster- nen Augen auf die ihm fremde Heimat zu werfen wie auf ein geliebtes Weib, das misstrauische Verwandte beschützen ! Und hat er trotzdem Erfolge, und gelingt es ihm, manche Blume von ihrem Kranze zu pflücken, dann wehe dem Unglücklichen ! Er beklage sich nicht, wenn es ihm ergeht, wie es dem Juden in Spanien und Russ- land ergangen ist." Und weiter : „Wer aber unpartei- isch sein will, wer die Dinge der Welt nicht nach den

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Prinzipien eines utopistischen Arcadiens beurteilen und zurechtlegen, sondern einfach konstatieren und erklären will der wird für den geschilderten Antagonismus keine von beiden Parteien ernstlich verantwortlich ma- chen..." „Wir müssen uns ein für alle Mal mit der Idee befreunden, dass die anderen Nationen, vermöge eines ihnen innewohnenden, naturgemässen Antagonismus uns ewig ausstossen werden. Vor dieser Naturkraft, welche wie jede andere Elementarkraft wirkt, dürfen wir unsere Augen nicht verschliessen ; wir müssen von ihr Notiz nehmen. Beklagen dürfen wir uns über sie nicht."

Wir dürfen den Satz aufstellen : Leugnen wir jede Be- rechtigung dieses Antagonismus, so verleugnen wir unsere völkische Eigenart.

Die folgenden Erörterungen sollen diesen Satz nach mehreren Richtungen hin und in vollem Ausmass seiner Bedeutsamkeit erhellen.

2.

Ich habe oben in einem anderen Zusammenhang aus- geführt : Der Widerwille der Nationen gegen unsere An- gleichung kann als Gradmesser unserer nationalen Individualität gedacht werden und ist stets ein gutes Zeichen für die lebendige Kraft des Judentums. Er bezeugt, dass unser Volksorganismus als Fremdkörper noch nicht hinreichend zerstört ist, um in seiner Umwelt keinen Widerstand mehr auszulösen. Die Milderung und gar die Aufhebung dieses Widerstandes beweist ein Verblassen oder Erlöschen des .Judentums; zeigt jedenfalls an, dass das .Judentum assimilationsreif geworden ist. Wo ist der Gegensatz am schwächsten? Dort, wo das .ludentum am

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schwächsten ist. Wann werden die Juden dem Wirtsvolke gleichgestellt? Wenn sie sich ihm angleichen.

Was bedeutet die halbwegs erreichte Aussöhnung der modernen Völker mit Israel ? Wollten ihre Väter, die uns verfolgten und marterten, uns aller Rechte teilhaftig werden lassen unter der Bedingung unserer religiösen Bekehrung, so wollen die [aufgeklärten Söhne, die uns jetzt quasi beglücken und beschützen, uns alle Rechte zubilligen unter der selbstverständlichen Bedingung un- serer nationalen Bekehrung. Nur weil die nationale Taufe an keinen Zeremonialakt gebunden ist, wird diese Be- dingung der Aussöhnung weniger empfunden.

Es ist indes bezeichnend, dass führende Juden, die sich über Prämierung des Glaubenswechsels, über die Bevor- zugung der konfessionellen Konvertiten vor den Glau- benstreuen bei staatlichen Anstellungen so sehr entrüsten, die Bevorzugung der nationalen Konvertiten, der assimi- lierten Juden d. h., die sich als Nationaldeutsche, Nationalfranzosen usw. bekennen vor den standhaften nationaltreuen Juden dennoch in guter Ordnung finden. Sie merken nicht, dass das Prinzip in beiden Fällen das gleiche ist ; nur seine Anwendungsform ist, entsprechend dem historischen Wandel im Charakter des Staates, ver- schieden. Im religiösen Staat waren es die Andersgläu- bigen, in nationalen Staaten sind es die Andersnationalen, die, milde gesagt, zurückgesetzt werden.

Wir klagen die Völker an, die uns vor einem Jahr- hundert volle Gleichberechtigung gewährt hatten und sie uns noch immer vorenthalten. Wir beschuldigen sie,

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dass sie ihre öffentlich eingegangenen Verpflichtungen verletzen.

Diese Anklage ist ungerechtfertigt. Wir vergessen, dass auch wir leichtfertigerweise eine Verpflichtung übernom- men hatten : wir legten ein Bekenntnis ab, dass wir auf unser Volkssein gerne Verzicht leisten und freudig be- strebt sind, uns der Landesnation zu assimilieren. Nur unter dieser Voraussetzung und Bedingung ist unsere Gleichstellung erfolgt. „Den Juden als Menschen Alles, den Juden als Nation Nichts." Es war gleichsam ein sozialpolitischer Vertrag, der zwischen uns und den uns beherbergenden Nationen geschlossen wurde. Die Juden- emanzipation bedeutete die Emanzipierung der Juden von den Sondergesetzen auf Grund der Emanzipierung der Juden von ihrem volklichen Sondersein. In Anerkennung unseres Bekenntnisses wurde uns ein nationaler Kredit gewährt, wurde uns die Gleichstellung als Vorschuss auf die antizipierte Assimilation zugebilligt. Worüber klagen wir nun ? Unsere Assimilierung schreitet freilich vorwärts, verbreitet nnd vertieft sich, aber sie ist noch nicht voll- wertig. In dem Masse als der Gegenwert und Kaufpreis nicht voll entrichtet ist, ist auch die Gleihcberechtigung keine volle. In dem Masse, als unsere Verpflichtung zur Angleichung noch eine Schuld und einen Wechsel auf die Zukunft darstellt, bleibt auch die Gleichstellung teilweise eine Schuld und ein Wechsel auf die Zu- kunft, d. h. auf dem Papier; eine Vorwegnahme de jure. Mit der Steigerung unserer Entnationalisierung, mit der Abnahme unserer Fremdartigkeit, will sagen Eigenart, vollzieht sich auch das Defactowerden der Judeneman- zipation.

Wir führen Klage über Juden, die hohe Staatsämter innehaben und ihren Einfluss nicht für jüdische Volks- interessen einsetzen oder in bestimmten Lagen nicht gel- tend machen. Unsere Klage ist unberechtigt, weil unlo- gisch. Diese Juden hätten ihre bevorzugte Stellung nicht erreicht, wären sie nicht der Landesnation assimiliert oder von ihr als hinreichend assimiliert angesehen. Sie, die Landesnation, vertraut ihnen den Schutz und die Verwaltung ihrer nationalen Interessengemeinschaft, weil sie zu ihrer Entjudung berechtigtes Vertrauen hat; weil sie diese jüdischen Mitbürger nicht als Volksfremde, nicht als lebendige Glieder eines fremden, des jüdischen Volkes betrachtet, betrachten kann ; da diese Juden eben keine jüdischen Volksinteressen haben und nicht im Verdacht stehen, solche zu vertreten wiewohl wir als verkümmerte Nation keine Scham empfinden, diese national Abgefallenen zu uns zu zählen.

Wir haben also kein Recht, von unseren sogenannten Glaubensgenossen zu fordern, dass sie für die Wohlfahrt unseres Volkes eine Macht- und eine Vertrauensstellung ausnutzen, die sie nur durch Verrat an ihrem eigenen Volke erlangen konnten.

3.

Wie beurteilen uns unsere Feinde, unsere Ankläger? Sie werten uns als Volk und somit als Fremdkörper. Sie behaupten : Die Juden sind, obgleich zerstreut und aufge- teilt, eine volkliche Einheit, eine universal verzweigte Gemeinschaft. Die Juden können nicht oder wollen nicht in der Landesnation aufgehen ; auch wenn sie sich als echte Deutsche, Franzosen usw. gebärden, bleiben sie 6 99

doch Juden, Andere, Andersgeartete. Die Juden sind daher in unserer Mitte wie ein Pfahl im Fleische der Na- tion : sie erringen durch Tüchtigkeit oder Betriebsamkeit starke Positionen in den wichtigsten Domänen unserer Wirtschaft und unserer Kultur, drücken uns den Stempel ihres Andersseins auf, hemmen die Entfaltung unseres Eigenlebens, beeinträchtigen unsere nationale Eigenart. Folglich sind sie als Fremdvolk anzusehen und zu be- handeln.

Dies ist die innere Begründung des Antisemitismus, auch wenn er selbst sie nicht kennt oder nicht richtig zu formulieren weiss. Man täuscht sich nur über seine historische Triebkraft, wenn man ihn auf die elende Theorie, die Juden seien eine minderwertige Nation, ab- stellt und danach abwehrt. Man übersieht gerne, dass die Niedertracht dieser Theorie doch Folge und keineswegs Ursache, ein tückisches Kampfmittel und nicht der ehr- liche Beweggrund der Anfeindung ist; dass sie eine wi- derliche Grimasse, eine Fratze und nicht das wahre Gesicht des Antisemitismus darstellt. Nicht dass die Juden eine minderwertige, sondern dass sie eine andere Nation sei, besagt die antisemitische Forderung einer Ausnahme- stellung für Juden als heterogenes Element ; sie besagt es, auch wenn sie anderes sagt und anders argumentiert, auch wenn die pöbelhafte Abart des Antisemitismus des tieferen Wesens und des inneren Haltes dieses Anti sich nicht bewusst ist. Wir müssen ihn besser verstehen als er sich selbst versteht.

Wie beurteilen uns unsere Freunde, unsere Verteidi- ger ? Sie werten uns nicht als Volk und schätzen uns nicht als Fremdkörper ; behandeln uns daher als quan-

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tite negligeable. Sie beteuern : Es ist eine antisemitische Verleumdung, wenn von den Juden behauptet wird, sie bildeten ein Volk im Volke. Eine jüdische Volksgemein- schaft besteht nicht mehr, es gibt nur noch eine jüdische Religionsgemeinde. Die Juden sind oder werden uns assi- miliert. Sie leben und wirken in unserem Geiste, sind verwurzelt in unserer Sprache, in unserem Schrifttum, in unserer Kunst, schaffen fleissig mit an unserer Natio- nalkultur; unser Land ist ihnen geliebtes Vaterland, unser Volksgut ist auch ihnen geheiligter Besitz, und gross ist ihr Anteil an der Mehrung unserer nationalen Werte. Sind sie noch nicht restlos in uns aufgegangen, sind noch nicht alle Spuren ihrer Fremdart verschwunden, so ist es unsere und nicht ihre Schuld, da wir Scheidewände zwischen uns und ihnen aufrichten, durch Absperrung ihnen Zusammenhalt geben und den Werdegang ihrer Auflösung hemmen, verlangsamen : ihre Solidarität ist die allgemeine Anfeindung. Mit der Gleichstellung der Juden wird alsbald ihre Angleichung an uns vollständig und vollwertig werden. Gewähren wir ihnen Gleichbe- rechtigung, so gewähren wir ihnen das Recht auf Assimi- milation. Behandeln wir sie als Ebenbürtige, als Volks- genossen, als Eigene, so ermöglichen wir ihre endgültige Eingliederung in unseren Volksorganismus.

Was hat nun das jüdische Volk in diesem Streit zwischen Ankläger und Verteidiger zu sagen ?

Wenn der Verteidiger von uns sagt : ,,Der unmensch- liche Druck, unter dem sie schmachteten, zwang sie, sich näher aneinanderzuschliessen und sich gleichsam abge- sondert von der übrigen Welt, in sich selbst zu konzen- trieren, und ihre Gebräuche um so inniger festzuhalten,

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je mehr die Christenheit sie ihnen rauben wollte... Man fange nur einmal an, die Juden als Brüder zu behan- deln, so wird sich ihre Vorliebe zu ihrem Leben in eben dem Grade verlieren, als sie am eigentlichen Bürgerrecht gewinnen. (Rede des Ratsherrn Suter im Jahre 1799); oder : „Wie Chauvinismus die Folge der Unterdrückung ist, so ist ein gewisser jüdischer Ehrgeiz und Trotz, das Sich-abschliessen-woUen, das eigensinnige Nicht-aufgehen- woUen nur die Folge von schlechter Behandlung" (Curt Trützschler von Falkenstein im Jahre 1917) wie stellen wir uns zu dieser Verteidigung ?

Wenn der Verteidiger unsere Rechte in Schutz nimmt und unseren Widersachern pathetisch zuruft : „Es gibt nur eine Taufe, die zur Nationalität einweihte : das ist die Taufe des Blutes in dem gemeinsamen Kampf für Freiheit und Vaterland. Ihr Blut hat sich mit dem unsri- gen auf den Schlachtfeldern vermischt! das war das Machtwort, womit man in französischen Kammern die letzten ohnmächtigen Regungen von Unduldsamkeit und Abneigung zu Boden schlug. Auch die deutschen Juden haben sich diesen vollgültigen Anspruch auf Nationalität vollgültig erworben" (Gabriel Riesser) darf der Natio- naljude diese Verteidigung gutheissen?

Die Anwälte der jüdischen Gleichberechtigung sind oft bemüht, jene schwerwiegende Anklage zu entkräften, die gegen das Judentum ob seines messianischen Glau- bens erhoben wird, d. h., die uns der nationalen Sehn- sucht nach unserer historischen Heimat und der nie ver- siegenden Hoffnung auf Erlösung Israels aus den fremden Ländern beschuldigt. Sie verteidigen uns und sagen : ,,Ein weiterer Vorwurf lautet ; Die heihge

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Schrift verkündet den Juden die Rückkehr in ihr eigenes Land, und die ganze Nation schaut dieser Wiederher- stellung entgegen. Sie haben daher nicht das gleiche Inte- resse wie andere an Englands Wohlfahrt. England ist nicht ihre Heimat, sondern ihr vorübergehender Aufent- haltsort, das Haus ihrer Gefangenschaft... Die Verheis- sung Gottes, die Juden durch unbekannte Mittel und zu unbestimmter Zeit, vielleicht erst nach zehntausend Jah- ren nach Palästina zurückzuführen, gilt stets als Beweis, dass der Jude kein Interesse für die Wohlfahrt seines Landes hat, in dem er lebt... Ist die Einrichtung seines Hauses obenhin, weil er sich als Wanderer und zeitweili- ger Gast in diesem Lande betrachtet? Macht die Hoff- nung auf die Rückkehr in das Land seiner Väter ihn ge- gen die Börsenschwankungen gleichgültig" ? (Macaulay). „Kein Mensch und am wenigsten der so leutselige Baron Silvester de Saccy dieser Orientalist meinte nämlich, dass der Jude, für den die Lehre von einem künftigen Messias kein wesentlicher Glaubensartikel mehr, keine ihm teure Eigentümlichkeit ist, aufgehört habe, Jude zu sein verargen es daher dem Juden, wenn er seinen Messias darin findet, dass gute Fürsten ihn ihren übrigen Bürgern gleichgestellt und ihm die Hoffnung vergönnt haben, mit der völligen Erfüllung aller Bürgerpflichten auch alle Bürgerrechte zu erlangen" (Lazarus Bendavid). „Sollten unter Tausenden einige sein, die sich weigerten und es vorzögen, einem nicht existierenden Staat und einer nicht existierenden Nation anzugehören, so möchte es rätlich sein, dieselben unter polizeiliche Aufsicht zu stellen, nicht der Gefährlichkeit ihrer Ansicht wegen, sondern weil starke Vermutung für Verrücktheit vorhan-

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den wäre" (Riesser) dürfen wir eine solche Verteidi- gung des Judentums über uns ergehen lassen? Müssen wir nicht vielmehr den Vorwurf, dass wir eine nationale Sonderexistenz führen und in wurzelfester Hoffnung auf die Rückkehr in unsere nationale Heimat unser Wohn- land nicht als Vaterland betrachten müssen wir nicht diesen Vorwurf als ein Kompliment verdanken, das unser modernes Judentum kaum verdient und das uns nur kränkt, weil beschämt?

Oder wenn unsere Advokaten den Tatbestand der An- klage zugeben und es ablehnen, unseren Glauben an den Wiederaufbau unseres nationalen Vaterlandes als ein verschollenes Volksmärchen, das auf unsere Gesinnung und Handlung nicht den leisesten Einfluss hätte, zu ent- schuldigen oder als Verrücktheit einzelner Fanatiker, die vielleicht unter polizeiliche Aufsicht gestellt werden müssten, zur Entlastung der Gesamtheit abzutun ; wenn sie also den Ernst und die Gefährlichkeit dieses Glaubens anerkennen und es doch nicht verschmähen uns zu ver- teidigen, indem sie unsere Besserung für die Zukunft in Aussicht stellen und sagen : ,,Wenn wir die Juden durch Freiheit und Schenkung der bürgerlichen Rechte erlösen, so werden sie nach und nach von diesem Glauben abge- hen ; und sollte sich dann einer einmal für einen neuen Messias ausgeben, so sperre man ihn nur (wie Dohm rät) so lange ein, bis er sich über seine Ankunft von der Obrigkeit legitimiert hat" (Suter) müssen wir nicht diese Versicherung unserer Fürsprecher mit Entrüstung zurückweisen ? müssen wir nicht die von ihnen erzielte Beruhigung unserer Wirtsvölker vereiteln, die eingetre- tene Aussöhnung zuschanden machen ?

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Wenn unsere Gönner uns das Ruhmeszeugnis der Kriegstapferkeit ausstellen und für uns erfolgreich plä- dieren, indem sie den eindrucksvollen Satz verkünden : Der gemeinsame Schützengraben hat national und poli- tisch ebenso viel Wert, als die Taufe (Friedrich Nau- mann und Andere) müssen wir nicht gegen diese Deu- tung, die aus unserer grässlichsten Not eine Tugend macht, Verwahrung einlegen ?

Wahrlich, wir sollten neben den Vereinen zur Abwehr des Antisemitismus nicht mit weniger Grund Vereine zur Abwehr des Philosemitismus gründen : zur Abwehr des Freundschaftsdienstes, den uns die sogenannten Philo- semiten als Verfechter unserer Emanzipierung zu erweisen vorgeben.

Beide Parteien, unsere antisemitischen Ankläger und unsere liberalen Anwälte, wünschen die Vernichtung un- serer Volksexistenz. Sie streiten eigentlich nur über die Mittel und Wege, wie das Judentum am besten entkräftet und ertötet werde. Die Einen erhoffen diese Wirkung von Sondergesetzen, die Anderen von der Gleichberechtigung. Oder sie streiten, unsere Feinde und Freunde, über die Realität unserer Existenz. Die Einen sehen uns als einen lebendigen Volksorganismus von ausge- prägter, rassischer oder nationaler Eigenart, wähnen uns stark und mächtig, hassen und fürchten uns, be- zeichnen uns als eine nationale Gefahr und bekämpfen uns als Gesamtheit, als ethnisches Kollektiv, setzen bei uns Gemeinbürgschaftsgefühl voraus und machen uns

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einen für den anderen verantwortlich. Die Anderen hin- gegen leugnen die Existenz des corpus delicti, die Existenz des Judentums, glauben das jüdische Volk tot, erklären es als Schattenbild der Vergangenheit, als Gespenst, das nur noch in den Köpfen der Rückständigen und Abergläubigen spukt ; sie sehen in uns nur Einzelne, verstreute Splitter, unverbundene, auseinanderstrebende Glieder eines längst zersetzten Körpers, die dem Volksorganismus der Landes- nation bereits einverleibt, in deren Geistesgemeinschaft gehörig hineingewachsen sind. Wenn die Juden, meinen unsere Freunde, hier und da fremdartige Regungen zeigen und den Anschein erwecken, als ob es ein jüdisches Volk in unserer Mitte gäbe, so sind diese nationalen Zuckungen nur eine Folgeerscheinung des Verhaltens der Umwelt zu den Juden ; die durch Vorenthaltung der Rechtsgleichheit den Juden aufgezwungene Absonderung ist auch in ihren bewusst nationalen Gestaltungen nur eine verinnerlichte Rückwirkung der äusseren Abzäunung und Abschnürung, die das Judentum seine alte Seele nicht aushauchen lassen und sein Erlöschen unnütz verzögern. Geben wir den Juden volle Rechte und sie werden bald keine Juden mehr sein.

Mit dieser Wertung unseres nationalen Seins und Wil- lens hängt auch eine weitere Meinungsdifferenz zwischen Antisemiten und Philosemiten zusammen: im Ausblick auf die Zukunft. Unsere Freunde setzen unsere Bereit- willigkeit zur Selbstvernichtung voraus, vertrauen auf unsere Assimilierbarkeit, auf unsere Fähigkeit der An- passung und der Einfühlung und erklären sich ihrerseits bereit, uns geschmolzen zu verspeisen kurz, sie glauben an eine Auflösbarkeit des Judentums als radikale Lösung

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der Judenfrage. Unsere Feinde teilen diese Zuversicht nicht, bestreiten oder bezweifeln an uns den Willen zur nationalen Entselbung und auch die Fähigkeit der An- ähnelung, der Verquickbarkeit, sprechen erbost von jü- discher Hartnäckigkeit und Verstocktheit, wittern überall Judentrotz.

Es wird also über den Wert unserer Volkskraft gestrit- ten. Und unsere Freunde schätzen sie allenfalls höher ein, als unsere Feinde. Wäre der nationale Sinn in uns reif, die nationale Orientierung klar und weitschauend, wir würden uns eher gegen die Umarmung der Freunde als gegen die Zurückweisung der Feinde wehren.

Wollen wir in den Ländern der Zerstreuung als natio- nal geschlossenes Gemeinwesen fortbestehen, wollen wir in der Vielheit der Reiche uns als Einheit erklären und nationale Rechte beanspruchen, so müssen wir gegen die Fürsprache dieser unserer Reschützer Einspruch erheben und ihnen ein Rekenntnis entgegensetzen, das lautet :

Wir sind allerorten der Landesnation gegenüber Volks- fremde und wollen unbeugsam in unserer Fremdartig- keit verharren, das heisst unsere Eigenart wahren. Wohl haben wir viel von unserer Sonderheit eingebüsst und verheissungsvoUen Anschluss an die Landesnation gefun- den. Wohl hat sich unser Rlut mit dem ihrigen auf den Schlachtfeldern vermischt. Wohl sind wir zu einem gu- ten Teil in der fremdnationalen Kulturgemeinschaft ein- gebürgert, in ihre Geschichte und Schicksale eingewoben, in ihrer Sprache, Literatur, Kunst verwurzelt, in das Ge-

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füge ihrer nationalen Interessen und Zwecke, Strebungen und Hoffnungen eingestellt. Wir sehen es aber als unse- ren Fluch an, nicht als eine Segnung. Wir beklagen die- sen Anschluss, diese Taufe des Blutes, diese Einbürge- rung, dieses Verwobensein, diese Verwurzelung und Verknüpfung. Diese Bande sind uns Fesseln, die uns entehren. Wir freuen uns nicht unseres gerühmten Anteils an fremdnationaler Geisteskultur. Er bedeutet uns viel- mehr eine Anklage gegen uns : dass wir unsere schöpfe- rischen Kräfte unserem Volkstum entzogen und einem fremden Geiste dienstbar machten. Er ist uns ein Denk- mal unserer nationalen Schmach, Zeuge unseres Verbre- chens : dass wir Raub am eigenen Volke begingen. Je grösser dieser Anteil am Fremdgut, je grösser der Gewinn der Nation an uns, an unseren Intelligenzen und Talen- ten, umso grösser unsere nationale Versündung, umso grösser unsere Verschuldung an unserem eigenen Volk. Und wir wollen diese Schmach von uns abwenden, die- sem Verbrechen Einhalt gebieten.

Wir wollen unsere Verschmelzung mit der Landesna- tion behindern, die Bande der Assimilation lösen, die F'esseln der Gleichberechtigung abschütteln, aus der fremdnationalen Gemeinschaft austreten, gleichsam aus- bürgern, unsere in fremde Sprachen und Literaturen verirrten Wurzeln ausgraben und ihrem nationalen Nähr- boden zuführen, die fremden Wirkungsstätten verlassen und unsere eigenen Felder bestellen ; wir wollen nicht mehr fremden Ländern als Dünger dienen, wir wollen nicht mehr unsere grossen Volkssöhne verschenken, unsere Kräfte und Säfte von anderen Nationen ausbeuten lassen. Wir wollen nicht mehr über die Brücken der

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Emanzipation gehen, die ihr und wir selbst für unseren nationalen Untergang gebaut: wir wollen nicht das Brückengeld erlegen. Wir wollten lieber den alten Leib- zoll der Ausnahmestellung, als den neuen Seelenzoll der Gleichmachung entrichten. Lieber Juden ohne Gleichbe- rechtigung, als Gleichberechtigung ohne Juden.

Wir erklären uns als ein Volk über alle Reichsgrenzen, als Einheit über alle Vielheit unserer Wohnländer, mithin als Volk im Volke. Wir sind unentwegt entschlossen, unser nationales Anderssein, also unser nationales Fremd- sein inmitten der Wirtsvölker, zu schützen und zu stärken. Wir Nationaljuden verkennen daher nicht die Tragik diesem eigenartigen Konfliktes, die Logik und die Recht- mässigkeit eines nationalen Antagonismus zwischen der Landesnation und uns, die wir Fremdkörper in ihr sind und bleiben wollen; wehren uns aber gegen die rohen, ungerechten Formen dieses Gegensatzes. Wir klagen nicht über das Bestehen des Kampfes, der im Unterschied von aller assimilatorischen Verbrüderung unser nationales Dasein und unseren nationalen Lebenswillen zur Voraus- setzung hat unsere Lage im Exil enthält implizite einen Konfliktzustand und wir können nur über unser zweitau- sendjähriges Schicksal klagen; anklagen aber die bar- barische Führung dieses Kampfes, die schmählichen Kampfmittel.

Wir fordern Rechtsgleicheit als elementares Gebot der Gerechtigkeit : gleiche Pflichten, gleiche Rechte. Wir for- dern diese Gleichheit nicht auf Grundlage nationaler An- gleichung, sondern auf Grundlage nationaler Scheidung. Bürgerliche Rechtsgleichheit, nicht nationale Gleichstel- lung.

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Als Fremdkörper beanspruchen wir eine Sonderstellung mit all ihren Vorteilen und Nachteilen. Wir achten das Recht der Landesnation auf Schutz ihrer völkischen In- dividualität gegen Volksfremde. Wir sind nicht befugt, die nationalen Lebensinteressen des uns wesensfremden Volkstums zu vertreten und die Heiligtümer seiner Na- tionalkultur zu verwalten; wie wir uns das Recht nicht nehmen lassen, unsere Volksinteressen in angemessener Sonderung und Geschlossenheit zu fördern und unsere Volkskultur in quellenhafter Reinheit zu erhalten, vor Vermischung zu bewahren.

So etwa müsste unser nationales Bekenntnis in seiner logischen Folgerichtigkeit und in mutiger Aufrichtigkeit lauten, und jene herkömmliche Verteidigung unserer Rechte Lügen strafen. Dieses nationale Kredo mag unsere bürgerliche Gleichstellung zeitweilig gefährden. Allein das Verschweigen oder gar das Leugnen dieser Konsequenzen gefährdet unsere nationale Geltung, unsere Geltung als Fremdvolk. Wir müssen zwischen den zwei Gefahren wählen. Der Volkswille muss sich dieser Tragweite seiner nationalen Entscheidung in der Diaspora voll bewusst sein.

Wir geben dem Antisemitismus gute Nahrung mag sein ; dieses darf uns aber nicht schrecken, nicht irri- tieren. Als Moses sein Volk aus ägyptischem Frohndienst befreien wollte, da murrten die versklavten Volksauf- seher : Moses hat unsere Lage nur verschlimmert, hat uns in den Augen Pharaos verdächtigt und den Ägyptern eine Waffe gegen uns in die Hand gedrückt. Moses aber hat keine Rücksicht geübt, denn es war ihm nicht um eine Linderung der materiellen Not zu tun, sondern um das grosse Erlösungswerk.

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4.

Selbst bewusste Nationaljuden haben noch nicht die Tragweite ihres nationalen Bekenntnisses ermessen und erkannt. Auch in unseren nationalen Reihen wird gar oft die Forderung nach Vollberechtigung mit der Er- klärung eingeleitet und begründet : Wir sind gute Juden und gute Deutsche, wir sind gute Juden und gute Fran- zosen usw. Bald dürfte wohl auch die Parole ausgegeben werden: Wir sind gute Juden und gute Russen, gute Juden und gute Polen; und gute Litauer, gute Letten, gute Ukrainer, gute Georgier und so fort.

Schon dieses Und, von der gleichlautenden Wertung der zwei Verbindungsglieder auch abgesehen, verletzt, verstümmelt entweder den Begriff: Jude, oder die Begriffe : Deutscher, Franzose, Russe, Pole usw. Für unsere Assi- milanten, die das Judentum nur als Konfession gelten lassen, mag diese Kopula oder der entsprechende Binde- strich noch einen Sinn haben. Uns Nationaljuden aber müssten all die Bastardbegriffe, die aus dem Konnubium von Jude und Deutscher, Jude und Franzose usw. geboren wurden, beleidigende Sinnwidrigkeiten sein; schamlose Bezeichnungen für die bunten Gebilde unserer vielfachen Zerklüftung, die Missgestalten nationaler Entartung.

Unsere Assimilanten sind einwandfrei konsequent. Sie sagen : Wir sind Deutsche usw. mosaischer Konfession. Wir sind Volldeutsche, wie Deutsche evangelischer und katholischer Kirche, und fordern Vollberechtigung. „Was würde man dazu sagen, wenn man in einem katholischen Staate den Ausschluss der Protestanten damit rechtferti- gen wollte, dass man verlange, sie sollen durch den Über- tritt zum Katholizismus sich der Natur des Staates, der

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aus Katholiken bestehe, anschliessend (Riesser). Wir fordern eine unbeschränkte Vertrauensstellung im Lande. „Die Unterschiedmerkmale zwischen Christentum und Judentum verdienen grosse Berücksichtigung bei der Beurteilung der Fähigkeit eines Mannes zum Bischöfe oder Rabbiner, aber sie haben wohl nicht mehr mit einer Fähigkeit zum Friedensrichter, Gesetzgeber und Finanz- minister zu tun, als mit seiner Fähigkeit zum Schuhflicker. Niemand hat je daran gedacht, die Schuhflicker zu zwin- gen, eine feierliche Erklärung über den wahren Glauben eines Christen abzulegen. Jedermann hätte eher seine Schuhe von einem ketzerischen Schuhflicker flicken lassen als von jemand, der alle neununddreissig Artikel unterschrieben, aber nie eine Ahle in die Hand gebracht hatte... Nun hat die Religion ebensoviel mit dem Schuh- flicker zu tun, als mit dem Budget oder mit dem militä- rischen Voranschlag" (Macaulay). Klipp und klar, r^s^

Auch unsere Halbassimilanten sind in ihrer Halbheit folgerichtig. Sie legen das Bekenntnis ab :

Wir sind Deutsche, Franzosen usw. jüdischer Abstam- mung und jüdischen Glaubens. Wir sind jedoch nicht Eingewanderte, Fremdlinge, Gäste, sondern Eingeborene, Eingewurzelte, Einheimische, legitime Kinder des Landes. Mit all unserem Sinnen und Trachten hängen wir an unserem Vaterlande, und längst erstorben ist in uns die Sehnsucht nach dem Land der Väter. Indessen sind wir vom Judentum nicht abgefallen, sind keine Abtrünnigen, Renegaten.Wir verleugnen nicht unsere Abstammung und unseren väterlichen Glauben, leugnen nicht den jüdischen Einschlag, die jüdische Nuance in unserem Deutschtum, Franzosentum. Wir haben echt deutsches,

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echt französisches Nationalbewusstsein, sind mit deutscher usw. Natur, Kultur, Art in unauslöschlicher Liebe innig verbunden; allein wir haben auch jüdisches Stam- mesbewusstsein. Es sind zwei Bewusstseinssphären, die sich nicht berühren. Das Deutschsein, Franzosesein beeinträchtigt nicht im mindesten das Judesein. Denn Judentum ist kein nationales Differenzierungsmoment, ist in seinem tiefsten Grunde anational, supernational; Ju- dentum ist eine Lehre, die nach Allgemeingültigkeit strebt und in einen Universalismus mündet ; ist eine Idee, die kein Vaterland besitzen darf. Ja, wir sind nicht nur in unserem Deutschtum, Franzosentum vollwertiger als die Nationaljuden wir sind auch bessere Juden als sie. Es ist die dem Judentum innewohnende Bestimmung, mit Herausschälung seines Kerns und Offenbarung seiner Ei- genart die ursprünglich nationalen Formen abzustreifen. Es ist seine weltgeschichtliche Sendung, die Schranken territorialer Einengung und ethnischer Leibhaftigkeit zu sprengen, aus dem Bereich des Nationalen herauszutreten und in Ueberflügelung aller Grenzen des Naturhaften, Angestammten zu den Regionen der überpersönlichen, un- sterblichen Ideen emporzusteigen. Mit dem Untergang des jüdischen Reiches hat das Judentum an Verinnerlichung und Ausbreitung, an Wahrhaftigkeit und wesenhafter Wirklichkeit nur gewonnen. Wie es unsere Weisen auch prophezeit hatten, indem sie sagten : ,,Erez Israel wird sich in allen Ländern ausbreiten"... In nationaler Un- gebundenheit vollzog sich die Bewährung des Monotheis- mus, die Läuterung seiner Gottesidee, die, mit mythi- schen Vorstellungen von einem Stammgott belastet, lange verdunkelt blieb ; die Zerstreuung vertiefte unser reli-

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giöses Innenleben und weitete den Horizont unserer Sit- tenlehre. In nationaler Selbstüberwindung und Entsa- gung betätigen und beglaubigen wir also das Judesein in reiner Prägnanz und in heroischer Standhaftigkeit ; wir festigen das Judentum und bauen seine historischen An- lagen aus, entfalten und steigern seine religiös-sittliche Quellkraft, erfüllen seine messianische Berufung und mehren seinen Ertrag, erschliessen ihm ein unermess- liches Wirkungsreich im All der Menschheit und sichern ihm ewige Dauer indem wir sein rudimentär natio- nales Gefüge auflösen, indem wir das Judentum ausser- national, weil geistig universal im Fiuss zeitlicher und räumlicher Veränderungen erhalten. Die Nationaljuden hingegen degradieren den Priesterberuf unseres Volkes und gefährden das Judentum, indem sie es verleiblichen, indem sie seinen Ideen einen Körper geben wollen, der räumlich-zeitlich lebt und stirbt, blüht und welkt. Wir, echtbürtige Nationaldeutsche usw. und Juden obendrein, wir sind die Hüter und Fortbildner des Judentums, wir sind die wahren Juden, stammestreu, glaubenstreu ; sind, wie gesagt, nicht nur bessere Deutsche usw., sondern auch bessere Juden als die Nationaljuden.

Will man das Falsche dieser Theorie unserer Halbassi- milanten biossiegen, so muss man es an ihren Grund- lagen tun ; an ihrer Deutung des Judentums. Man kann ihr aber nicht innere Folgerichtigkeit und Aufrichtigkeit absprechen.

Wie verhält es sich nun mit der Folgerichtigkeit und Aufrichtigkeit der Galuth-Zionisten ?

Heisst es nicht falsches Zeugnis ablegen, wenn sie unseren ,,Wirtsvülkern" ängstlich versichern : wir sind

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gute Juden und gute Deutsche, gute Juden und gute Franzosen und so weiter? Für uns kann es doch nur ein Entweder-Oder geben : entweder Jude oder Deutscher, entweder Jude oder Franzose. Das Und besagt uns Zwiespalt, nicht Identität. Wir sind niemals gute Juden und gute Deutsche, gute Juden und gute Franzosen : die eine Güte schliesst die andere aus ; es sei denn, wir be- gingen die Frivolität, die Begriffe Deutscher, Franzose ihres historisch nationalen Inhaltes zu entleeren und sie in einem formell staatsbürgerlichen Sinn zu gebrau- chen.

Heisst es nicht falsches Zeugnis ablegen, wenn sie den Wirtsvölkern ängstlich versichern : Wir sind gut deutsche, französische usw. Patrioten? Ist ihr unjüdischer Patriotismus nicht erheuchelt, so ist es ihr Zionismus.?

Können wir vollwertige deutsche, französische Patrio- ten sein, wenn wir jüdische Patrioten sind? wenn wir uns als Volkseinheit erklären, die alle Reichs- und Lan- desgrenzen unserer Wirtsvölker durchbricht und über sie hinweg eine ausserterritoriale nationale Gemein- schaft bildet?

Dürfen wir die Länder unserer Zerstreuung als Vater- länder ansprechen, wenn wir die Erlösung aus dem Exil aufrichtig wünschen und erhoffen ? Welch ein sonder- bares, sonderbar geliebtes Vaterland, das uns Galuth heisst und aus dem wir uns fortsehnen ! Wir bekennen : das Land der Väter ist uns das Land der Söhne, das Land unserer Vergangenheit ist das Land unserer Zu- kunft; was bleibt vom Vaterlandsbewusstsein für unser Vaterland der Gegenwart, das keine nationale Ver- gangenheit und keine nationale Zukunft hat und als

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ein qualvolles Uebergangsstadium von uns empfunden wird?

Wenigstens müssten wir Zionisten eingestehen, dass unser Vaterlandsgefühl zwischen unserem geschichtlich nationalen Vaterland und unserem fremdnationalen Wohnland verteilt ist ; warum empören wir uns, wenn man uns nachsagt, unser deutscher, französischer usw. Patriotismus besitze nicht die Kraft der Ganzheit und der Ausschliesslichkeit, nicht den Grad der Begeisterung, den der Patriotismus der Echtdeutschen, Echtfranzosen usw. besitzt? Diese Abschätzung mag in unseren Zeiten leider falsch sein, mag eine böswillige Verleumdung sein ; wir haben aber keinen Grund sie zu bestreiten : sie macht uns ja nur Ehre. Abwehren sollten wir vielmehr das vermeintliche Lob, das unseren unjüdischen Patrio- tismus hoch einschätzt.

Adam Mickiewicz sagt : Der Jude kann sich nicht an die Scholle des fremden Landes gebunden fühlen und Herr des Bodens werden, solange er die Verwirklichung seiner nationalen Sehnsucht, der messianischen Verheis- sung erwartet. Müssen wir nicht dieses Urteil in vollem Umfang bestätigen? Tragen wir inbrünstiges Verlangen nach Rückkehr zur eigenen Scholle, können wir nie auf fremder Scholle Wurzel fassen. Ist unsere Zionsliebe echt, so schwächt sie naturgemäss die Anhänglichkeit an un- ser Adoptivland. Bezeugen wir Gebundenheit an unser Adoptivland, so ist unsere Zionsliebe frevelhaftes Spiel, Koketterie und Buhlerei, die unsere Wirtsvölker nicht dulden dürfen. Ein Drittes gibt es nicht.

Gabriel Riesser sagt : „Wenn uns einer ungläubig nennt und von Gott Verstössen, so sagen wir ihm, dass

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wir an einen Gott glauben, der keines seiner Kinder ver- stösst; wenn aber der Deutsche uns Deutsche fremd nennen dürfte, so wären wir ohne Heimat und ohne Va- terland." Und ein anderes Mal : „Wir sind nicht einge- wandert, wir sind eingeboren und, weil wir es sind, ha- ben wir keinen Anspruch anderswo auf eine Heimat ; wir sind entweder Deutsche oder wir sind heimatlos. " Das ist konsequent gedacht. Entweder sind wir Deutsche, Franzosen usw., oder wir sind in Deutschland, Frank- reich usw. heimatlos. Erheben wir noch Anspruch auf eine Heimat anderswo, so können wir nicht, auch anti- zipativ nicht, unsere zeitweiligen Wohnländer als unsere Vaterländer erklären. Ein Drittes gibt es nicht.

Und ebenso umgekehrt. Erklären wir unsere Wohn- länder in der Diaspora als unsere Vaterländer, so bege- ben wir uns des national historischen Anspruchs auf un- sere alte Heimat.

Dieser Anspruch hat Geltung, nur wenn wir bekennen : Galuth heisst uns nicht Aechtung und Rechtlosigkeit, Marter und Folter, Gehasstsein und Verfolgtsein ; Galuth heisst uns Verbannung aus dem Lande der Väter, Zer- streuung in fremden Ländern, nationale Heimatlosigkeit und keine Gleichberechtigung, kein Wohlwollen und kein Wohlergehen hebt den Galuthcharakter unseres Da- seins auf; den Charakter der Fremde. Galuth heisst uns nicht der Zustand der Abgesondertheit, der Ghetto- sperre, heisst uns letzten Endes nicht Unrecht leiden, sondern Schaden an der Volksseele erleiden und nur der Wiederaufbau unseres Volkstums auf väterlichem Boden vermag dieses unverjährbare Unrecht zu tilgen.

Unser Anspruch behält seine Gültigkeit nur so lange,

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als wir bekennen : Unser Leben und Wirken unter frem- den Völkern ist uns ein Fluch, der durch keinen mate- riellen Segen entkräftet und durch unsere Errungen- schaften eher genährt wird, ist uns eine Schmach, die durch keine äusseren Ehrungen ausgemerzt und durch unsere Erfolge nur gestempelt wird, ist und bleibt uns in allen Lagen ein Martyrium ; die Exilländer sind uns weihelose Wohn- und keine geheiligten Vaterländer, sind uns Stätten des Unheils, der Pein und der Trauer, der Demütigung und Selbsterniederung, Stätten unserer na- tionalen Ausbeutung und Verspeisung ; Stätten bitterer Erinnerungen und öder Zukunftslosigkeit.

Unsere Anwartschaft währt nur so lange, als wir be- kennen : Unausrottbar und unwandelbar ist unsere Zions- liebe und wir können heimverlangend auf fremdem Bo- den unseres Lebens nie froh werden, keine Freude ist uns gegeben ohne das wehmütige Gedenken an unsere zerstörte Herrlichkeit secher l'churban ; wir bleiben eine ,, Gemeinde der Trauernden", bis uns Zion wieder- ersteht ; in all unseren Wanderungen und Siedelungen trugen wir mit uns unsere eigene Gesetzesverfassung, in all den vielen Vaterländern der Diaspora trugen wir auf dem Grunde der Seele verankert unser einziges, einigen- des nationales Vaterland, das wir ungeachtet jahrhun- dertelanger Sesshaftigkeit in der Fremde nicht aufgeben, ,,im Osten weilt mein Herz, ich selbst im Westen" unausrottbar und unwandelbar ist unsere Treue, unsere Sehnsucht nach Erlösung aus den „Ländern der Fremde", der Zwangsheimat.

Unser historisch-nationales Recht ist unverbrüchlich, so- lange unser Wille zur Heimkehr ungebrochen ist : diese

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Rechtskraft steht in einem geraden Verhältnis zur Stärke dieses Willens. Unsere historische Forderung ist unver- jährbar, solange sie in uns lebendig ist : als eine Unbe- dingtheit, als eine mächtige zwingende Forderung, die unser ganzes Dasein durchwirkt und die wir, wie unsere Väter, Tag um Tag unaufhörlich verkünden.

Diese Forderung kann sich ja nicht auf die jüdische Bevölkerungszahl in Palästina berufen. Sie ist morali- scher Art. Sie beruht darauf, dass unsere seelische Ver- bindung mit unserem Lande, mit der Mutter Zion nie- mals unterbrochen wurde, dass wir unser Vaterland nie- mals gegen ein anderes Land einzutauschen gewillt waren darin ist auch die geschichtliche Bedeutung und die national-rechtliche Auswirkung der zionistischen Ableh- nung des Uganda-Angebotes. Diese Forderung beruht also vornehmlich auf unserem Fremdsein und Fremdblei- ben im Exil. Je stärker diese Fremdheit, der Charakter unseres Exildaseins, desto rechtskräftiger unsere histo- rische Forderung.

Unser Anrecht auf Zion erlischt daher, sobald wir im Exil das Heimweh, das Gefühl des Verwaistseins, der „langen finsteren Nacht", der Schechinah-Verbannung, das Bewusstsein der Fremde, des verwünschten „Aus- lands *', des chuz l'arez, kurz das Galuthbewusstsein ver- lieren ; sobald wir uns im Exil heimisch fühlen. Wir ha- ben Zion verloren, haben wir anderswo eine Heimat gefunden ?

Wer von uns das fremde Land Vaterland nennt, hat damit auf unsere zweitausendjährige, zwei Jahrtausende gelebte Forderung schmählich Verzicht geleistet. Wer von uns das fremde Land Vaterland nennt, begeht den

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schlimmsten Verrat an unserem Volke : er schädigt das Volk am höchsten Nationalgut, er verdächtigt und schmä- lert unser historisches Recht, das in unserer Heimatlo- sigkeit und in der unserem verlorenen Vaterland bewahrten Treue seine beharrende Kraft besitzt.

Können wir vielleicht unseren Anspruch auf die alte Heimat mit dem Hinweis auf die noch entrechteten und daher heimatlosen Ostjuden begründen? Auch sie wer- den bald ihre Vaterländer haben.

Oder wollten wir gar den Sophismus wagen : das jü- dische Volk ist heimatlos, wenn wir auch als Individuen unsere geliebten Vaterländer haben ? Wer soll einen sol- chen Zionismus noch ernst nehmen?

Pascal sagte : ,,Die Wissenschaft hat kein Vaterland, wohl aber die Wissenschaftler. " Wollen wir etwa auch von uns sagen : Das Judentum hat kein Vaterland, wohl aber die Juden ? Nur die assimilatorischen Judaisten dür- fen so sprechen. Ihre wohlfundierte, jedoch umständliche und weitschweifige Theorie Hesse sich gut in die kurze Pascalsche Formel zwängen. Uns aber ist Judentum nicht Wissenschaft, nicht bloss Lehre, nicht körperlose Gei- stigkeit, sondern nationale Wirklichkeit, ethnische Gege- benheit, geformtes und formendes Volksleben. Judentum und Juden können in unserem Kriterium nicht als Idee und Ideenträger geschieden werden. Haben die Juden Vaterländer gewonnen, so hat das Judentum sein Vater- land für immer verloren.

Auch unsere Forderung nationaler Rechte im Galuth hängt davon ab. Haben wir mehrere Vaterländer, so sind wir keine Volkseinheit mehr.

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Assimilanten und Halbassimilanten sind in ihrem Be- kenntnis folgerecht und aufrichtig. Es gibt auch im Völ- kerleben eine zweite Ehe, und sie kann für einen Teil und zuweilen für beide Teile glücklich sein.

Zionisten aber, die ihre Wohnländer als Vaterländer ansprechen und eine Heimstätte für das jüdische Volk fordern ; die das Eigene nicht preisgeben, aber auch auf Fremdgut nicht verzichten mögen ; die ihre patriotische Gesinnung selbstlobend dem Landesvolke beteuern und gleichzeitig als Vertreter des nach Heimkehr schmachten- den Volkes feierlich auftreten ; die gleichsam als Bürger zweier Heimatländer Doppelrechte geltend machen wären der Unaufrichtigkeit zu zeihen, wenn nicht Mangel an logischer Klarheit und Entschiedenheit sie glimpflich entschuldigen würde. Gleichviel, es gibt im Völkerleben keine Bigamie.

Besässen wir den Mut der Väter, den Mut um des Ju- dentums willen zu leiden, wir hätten es als ein Gebot na- tionaler Selbsterhaltung und nationaler Würde erachtet, die aus einem schändlichen Abbröckelungsprozess her- vorgegangenen Bindebegriffe mannigfacher Landesjuden- tümer zu diskreditieren und den Wirtsvölkern in voller Eindeutigkeit kundzugeben.

Wir sind nicht Deutsche, Franzosen usw. und Juden, nicht Deutsche, Franzosen usw. und Juden obendrein^ unser Judesein ist nicht Ueberbau eines Deutschseins, eines Franzoseseins, wie es ihm nicht Unterbau ist, diese Seins schliessen sich gegenseitig aus; wir sind Juden ohne Beistrich weil ohne Abstrich, Juden ohne Verklau- selung und ohne Vorbehalt. Wir sind schlechthin We- sensfremde, sind wir müssen es immer wiederholen

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ein Fremdvolk in eurer Mitte und wollen es auch bleiben. Eine unüberbrückbare Kluft gähnt zwischen euch und uns : fremd ist uns euer Geist, euer Mythos und Sage, euer nationales Erbgut, fremd sind uns eure Ueber- lieferungen, Sitten und Bräuche, eure religiösen und na- tionalen Heiligtümer, eure Sonn- und Feiertage sie sind uns schreckvolle Erinnerungen an die mit Vor- liebe an diesen Weihetagen von euren Vätern an den unseren verübten Greuel ; fremd sind uns eure na- tionalen Gedenktage, die Freuden und Schmerzen eures Volkswerdens, die Geschichte eurer Siege und Nieder- lagen, eure Kriegshymnen und Schlachtlieder, eure Macht-Heroen, eure grausamen Heldentaten, fremd sind uns eure nationalen Gelüste und Eroberungen, eure nationalen Strebungen, Sehnsüchte und Hoffnungen. Eure Landesgrenzen grenzen nicht unser Volk ab und eure Grenzstreitigkeiten sind nicht die unsrigen ; über sie hinaus besteht unsere Einheit, über alle Bindungen und Scheidungen eures Landes-Patriotismus hinweg. Wir arbeiten an der Zerstörung der verhängnisvollen „gol- denen Brücken", die für unseren nationalen Uebergang gebaut werden, arbeiten an der Entwurzelung aus dem fremden Volkstum und fremden Lande, arbeiten an der Verwurzelung im Eigenen, an unserer Wiederverpflan- zung in die Heimat. Wir Zionisten sind uns erst recht der Tragik dieses Seins und dieses Wollens im Galuth bewusst, der Tragik eines aufgeteilten Fremdvolkes, das seine Fremdheit allen Verlockungen trotzend wahren will und den Anschluss an die Landesnation unbeugsam verweigert, sind darum bereit, alle gerechten Nachteile dieser Sonderlage eines Volkes in der Fremde mit Würde

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zu tragen, um die nationalen Grenzen unseres Anders- seins nicht verwischen zu lassen.

Aber auch Nationaljuden besitzen nicht mehr die Dulderkraft der Ahnen ; wir wollen den Weg der Leiden gewaltsam abkürzen und den zweitausendjährigen Ga- luthzustand vor der Erlösung aus dem Galuth aufheben, und in ängstlicher Hast nach Gleichberechtigung, Idolen äusserer Freiheit nachjagend, opfern wir, bewusst und unbewusst, die Strenge und die Aufrichtigkeit unseres nationalen Bekenntnisses.

Unsere Väter erfassten tief das furchtbare Schicksal des Volkes im Exil. Sie erkannten in heroischer Erge- bung, dass Galuth unzertrennlich mit Martyrium verbun- den ist ; dass wir unter fremden Völkern und auf fremdem Boden nur in Leiden bestehen, nur in Leiden Juden sein können ; dass keine Gerechtigkeit das Verhängnis eines qualvollen Kampfes ums Dasein von einem Volke in der Fremde abwenden kann. Sie träumten nie von einer Lösung der Judenfrage in der Zerstreuung, von einer Aufhebung des Galuthzustandes im Galuth. Sie kannten nur eine Lösung, nur eine Erlösung : den Auszug aus den Fremdländern, die Rückkehr, die Sammlung im Lande der Väter.

Wir aber möchten schon im Galuth uns von den Leiden des Judeseins befreien, möchten uns das Judesein im Galuth bequem machen. Wir wähnen unter fremden Völkern und in fremden Ländern unser Volkstum erhalten zu können, ohne Opfer für diese einzigartige Erhaltung zu bringen, ohne Zugeständnis an das Fremde und doch auch ohne Nachteile der Fremde, ohne jede Verzichtleistung, ohne

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Entbehrungen der Heimatlosigkeit, ohne selbstgewollte Entsagung.

Wir wollen Unmögliches. Es ist ein Wahn, es ist ein Selbstbetrug, wenn wir glauben, ein nationales Judentum in der Anomalie der Zerstreuung schmerzlos am Leben erhalten zu können.

Unsere Leiden im Galuth waren und sind nicht nur ein Gradmesser für die Verwilderung oder für den Kultur- stand unserer Umwelt, für die stufenweise Entwicklung sowie für die scheinbar sprunghaften Auf- und Abstiege der Gesittung unserer Wirtsvölker; sondern auch ein Gradmesser für die Intensität und Widerstandskraft un- seres Volkstums. Wo das Judentum geschwächt und anpassungsfähig, reif für die Assimilation geworden ist, da ist auch bald in unserer Lage eine günstige Wendung eingetreten.

Früher oder später werden wir die innere und äussere Nötigung gewahr werden, tiefere Einsicht in das Wesen des Galuths zu tun und uns in weitschauender Erkenntnis zu entscheiden : entweder für ein gefügiges Scheinjudentum, ein national getauftes Judentum mit allen Bequemlich- keiten der Gleichheit und Verbrüderung , oder für ein leben- diges volkliches Judentum mit dem Weh des Trotzes, mit dem Martyrium eines beständigen ungleichen Kampfes.

Ein Drittes gibt es nicht.

5.

Wir können nunmehr die Schlussfolgerungen fest- stellen.

Nur Assimilanten und Halbassimilanten, d. h. ethisie- rende Judaisten, dürfen die Aufhebung des historischen

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Antagonismus zwischen dem jüdischen Volke und den Landesvölkern fordern und erwarten : wollen sie doch diesem Antagonismus sein Objekt entziehen, indem sie sich um die Zersetzung oder um die Entnationalisie- rung des Judentums eifrig mühen. Wir hingegen, die wir dieses Objekt stärken und seine Trotzkraft stählen wollen, dürfen die Aufhebung des historischen Antagonismus weder fordern noch auch wünschen. Wir können nur eine Vermenschlichung seiner Formen anstreben und erreichen, nicht jedoch eine Tilgung, das völhge Auf- hören des zweitausendjährigen Gegensatzes. Wir können es nicht, insofern wir unentwegt entschlossen sind, in der Zerstreuung als Volkseinheit zu bestehen und unsere Volksfremdheit gegenüber den Nationen, unter denen wir aufgeteilt sind, zu wahren und zu pflegen.

Dieser Antagonismus ist ungerecht und beleidigend, weil er einseitig ist, weil wir in ihm bloss Objekt und nicht auch Subjekt sind. Wäre er gegenseitig, wären wir nicht wehrlos und hätten in ihm einen national politischen Faktor gebildet, so wäre dieser Antagonismus ein nor- maler Zustand eines Völkerkonfliktes, des tragischen Konfliktes eines Volkes im Volke, ein Zustand, in dem wir einen aktiven Kampf um unsere nationale Behauptung führen und auch Subjekt eines Anti- sein würden.

Wir Nationaljuden können vom Fortschritt der Mensch- lichkeit keine Beseitigung dieses Antagonismus im Galuth erhoffen, sondern eine Verfeinerung, die Versittlichung und mithin die Vertiefung des nationalen Gegensatzes. Erblicken wir doch den Kulturfortschritt nicht in der Ertötung, sondern in Kraftentfaltung und Lebenserhöhung des Völ- kischen, nicht in einer grenzverschiebenden Vereiner-

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leiung, sondern in Steigerung der nationalen Manigfaltig- keit und in Mehrung der nationalen Unterschiedlichkeiten.

Es wird, von unserem Standpunkt aus gesehen, ein Fortschritt sein, wenn Kultur und Gemeinschaft unter „völ- kischem Befehl" stehen werden. Es wird ein Fortschritt sein, wenn der kosmopoiitisierende Humanismus und der ursprünglich a- oder antinationalistische Sozialismus, die uns gegen den Nationalismus der Anderen und unsere Assimilanten gegen unseren eigenen Natio- nalismus in Schutz zu nehmen pflegten, zur nationa- len Denkart gelangen und für Rein- und Heilighal- tung der nationalen Scheidung auf beiden Seiten mit nicht minder weltbürgerlichem Sinn eintreten werden; wenn sie, national gereift, uns als Fremd- körper empfinden und den Grad sowie das Wider- standsvermögen unseres Andersseins nicht unterschätzen werden.

Wohl hat der Fortschritt diesen Antagonismus zeit- weilig eingestellt, aber doch nur, indem er uns nationale Entäusserung zugemutet hat. Ja, die Aussöhnung als Folge der Aufklärung war im Grunde genommen ein theoreti- sches Versehen. Da der Antagonismus lange in seiner re- ligiösen Hülle wirkte und sich äusserte, wurde er im Rausch des Kampfes gegen die Kirche z. B. in Frank- reich — in Mitleidenschaft gezogen und mit der Entwer- tung der Hülle gleichfalls als ungültig erklärt. Dieses Ver- sehen wurde indes durch vielfache Korrekturen teilweise gutgemacht. Schliesslich konnte nach Wegfall der Um- hüllung das Wesen des alten Konfliktes immer mehr in Loslösung vom religiösen Moment zum Durchbruch ge-

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langen und seine nationale Wurzel entblössen, konnte mithin in Erhellung der nationalen Idee sich fortschritt- lich legitimieren.

Wann begann man uns mit religiöser Toleranz zu be- handeln ? Als die Religion aufgehört hat, Inhalt und Form des sozialen Lebens zu sein ; als sie in ihren politischen Grundfesten erschüttert wurde. Diese Duldsamkeit, „die politische Neutralität in Religionsdingen", ist also eine Folge des religiösen Niedergangs, der religiösen Indif- ferenz. Können wir im Zeitalter des nationalen Bewusst- werdens, der nationalen Differenzierung, auf politische Neutralität in Nationaldingen rechnen? Muss nicht mit jedem Fortschritt der nationalen Einstellung die Reibungs- fläche zwischen Israel und den Landesnationen immer verhängnisvoller für es werden?

Weil wir als Religionsgemeinschaft galten, durften wir auf Grund der proklamierten religiösen Gewissensfreiheit ein hohes Mass nationaler Selbständigkeit, als National- gemeinschaft in religiösem Gewände, uns wohlweise er- halten. Die Wirtsvölker kannten nicht das Geheimnis, dass unsere Religionsverfassung ein national organisiertes Leben darstellt. Sie glaubten, sie sei eine Kirche wie die christlichen Konfessionen; sie glaubten, uns Glaubens- freiheit zu gewähren und gaben uns gegen ihr Vorhaben gewisse Privilegien nationaler Sonderung. Erklären wir uns als Nation, so können wir den Schutz der religiösen Gewissensfreiheit für unser Gemeinwesen nicht anrufen; das Nationale wird auch an unserer Religion ersichtlich, die nationale Spannung, aller Bemäntelung entkleidet, kommt zu ihrem rechtmässigen Ausdruck und der Fort-

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schritt nationaler Aufklärung, des nationalen Sichbesin- nens, bringt unseren exilaristischen Staat im Staate immer mehr ins Wanken.

Und auch hierin offenbart sich die Tragik unserer na- tional-rechtlichen Zwiestellung in der Diaspora : dass wir vom allgemein nationalen Gesichtspunkte aus die Ausson- derung und Einreihung der territorialen Völker eines Reiches in autonome Staatsgebilde oder in andere Formen nationaler Verselbständigung postulieren müssen ; wäh- rend wir vom Gesichtspunkt national-jüdischer Interes- sen als eine folgenschwere Schädigung unseres Volksor- ganismus beklagen müssen, dass das Judentum in noch weitere , .Judentümer" zerstückelt wird : in ein litauisches Judentum, lettisches Judentum, ukrainisches Judentum, Weissrussisches Judentum und so fort.

Gar manche zionistische Theoretiker und Praktiker, Schriftsteller und Voiksredner glaubten, die zionistische Idee durch den Hinweis auf die Mächte der Reaktion und den Hinkegang ethischer Vorwärtsentwicklung im Poli- tischen erhärten zu sollen; fühlten sich bemüssigt, die Zuversicht auf eine Politik der Gerechtigkeit und auf eine Versittlichung der Beziehungen zivilisierter Staaten und Nationen auch den Juden gegenüber zu bespötteln und zu untergraben. Sie ahnten wohl nicht, dass sie damit den unjüdischen Glauben an die Macht des Bösen predigten und den zionistischen Gedanken nur schmähten, wenn sie ihn auf solcher Gesinnung beruhen Hessen. Wir wissen bereits, dass vielmehr im Vertrauen auf eine zukünftige Politik nationaler Gerechtigkeit ein Verschwinden des historischen Antagonismus, der durch unsere nationale

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Anomalie im Galuth bedingt ist, nicht erwartet werden kann; wohl aber eine mildernde Regelung des alten Gegensatzes, die die Lebensmöglichkeit eines nationalen Judentums in der Zerstreuung erst recht in Frage stellt.

Unsere national rechtliche Lage in der Diapora ist also höchst ungünstig. Wir, die wir auf dem Boden des Nationalismus stehen, müssen stets für die Forderung nationaler Einheitlichkeit und Geschlossenheit mitstreiten und folglich für das Fiecht der Nationen, ihre Volksper- sönlichkeit und ihr Volksgut vor Heterogenität und Ueberfremdung zu schützen ; andererseits dürfen wir für uns als zerstreute Einheit ohne Anrecht auf eigene Staat- lichkeit nur ein bescheidenes Mass sekundärer National- rechte beanspruchen, das uns jenen Schutz nicht zu bieten vermag. Wir sind im Galuth als Nationalisten immer im Nachteil: wir sind es sowohl im National- als auch im Nationalitätenstaat. Das nationale Bekennt- nis legt uns mehr Pflichten auf, als es uns Rechte gibt; verpflichtet uns das Primat und Privileg der Landesnation oder der Mehrheitsnationalität zu respektieren, gewährt uns jedoch als Subnation nationale Minimalrechte, die im Verein, d. h. ohne Konflikt mit den Vollrechten des Territorialvolkes keine hinreichende Wirksamkeit be- sitzen, um uns auch nur ein nationales Existenzmini- mum, geschweige denn nationale Dauer zuverbürgen.

Unsere nationalen Rechte, die wir fordern und erlan- gen müssen, werden daher zu einem guten Teil papierne Rechte bleiben, nicht weil sie von den anderen Nationen böswillig verletzt und gebrochen würden, sondern weil wir de facto nicht in der Lage sein werden, von ihnen vollen Gebrauch zu machen.

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Wir müssen im Galuth als Nationalisten immer im Nachteil bleiben ; denn unser Galuthdasein, das Dasein einer internationalen Nation, durchkreuzt eben das Prin- zip nationaler Gliederung, nationaler Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Es gibt kein Schema nationaler Ord- nung, in das wir hineinpassen ; keine Einteilung, die der Zickzacklinie unserer Verteilung gerecht werden kann; kein Gefüge, in das unsere nationale Existenzform regel- recht eingestellt werden kann, d. h. in dem sie nicht eine Ausnahme und nachteilige Stellung annehmen müsste.

Selbst in den Orten, wo wir eine nationale Mehrheit bilden, müssen wir das souveräne Recht der territorialen Minderheitsnation anerkennen. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit ist für unsere nationale Rechtsstellung sehr bezeichnend. Das Organisationskomitee der Stockholmer Konferenz hat in seinem Manifest an die Internationale, das die Grundrisse der zukünftigen Neuordnung enthält, auch folgende Friedensbedingung aufgestellt : Das Terri- torium Saloniki soll von Bulgarien, Serbien und Grie- chenland gemeinschaftlich verwaltet werden. Den Vor- kämpfern der nationalen Gerechtigkeit ist es keinen Augenblick in den Sinn gekommen, die Juden als Natio- nalität, die eine überwiegende Mehrheit in der Bevöl- kerung Salonikis bilden, an der national verteilten Regie- rungsgewalt teilnehmen zu lassen, geschweige denn ihnen souveräne Rechte einer Mehrheitsnation zuzubilli- gen. Und auch wir selbst können es nicht als nationale Gerechtigkeit ansehen, Rechte einer Mehrheitsnation für die Juden auf dem ,, Territorium Saloniki" zu fordern : massgebend sind eben die national-historischen Rechte.

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Nun müssen wir beide Nachteile erleiden: wir sind überall eine nationale Minderheit die inselhaft ver- streuten jüdischen Mehrheiten verlieren sich in den staatlichen Verbänden, die doch nicht Zellenstaaten sein können und dürfen in den Diasporaländern auch nir- gends nationalhistorische Ansprüche erheben. Auch wenn unsere Sesshaftigkeit in einem Lande älter ist als die der anderen Nationen, bleiben wir in ihm exterritoriaU d. h. ohne national-historische Rechte und Rechtsaspiralionen, weil wir dieses Land niemals als unser nationales Land empfanden, niemals das Bewusstsein eines national- territorialen Eigentumsrechts auf diesen Boden hatten. Und dieses Bewusstsein eines Volkes ist für die natio- nale Rechtsfrage von höchster Bedeutung. Während an- dere Völker Irredenta-Ansprüche auf Länder machen, auch wo sie in Minoritäten leben, ist unsere nationale Rechtsforderung an die Person und nicht an den Boden gebunden wir lebten Jahrhunderte in den Ländern des Exils und haben in keinem von ihnen Iiredenta- ansprüche ; unsere Irredenta ist einzig Palästina. Dieses an die nationale Person gebundene und mit ihr wan- delnde Recht kann dem an dem nationalen Boden histo- risch haftenden Recht niemals das Gleichgewicht halten.

Wird etwa im Nationalstaate eine innerstaatliche Gleichstellung der nationalen Minderheiten auf Grund des Matrikelsystems, des Nationalkatasters oder der nationalen Zuordnung auf Grund eines Personalitätprin- zips, wird die Umgestaltung des Nationalitätenstaates in Staatenstaat, in einen Bundesstaat der Völker auch dem historischen Unikum einer internationalen Nation nationalen Bestand gewährleisten ?

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Uns kann die Erfüllung der Hoffnung auf einen Ideal- staat nicht fruchten. Auch in einer civilitas dei, auch wenn der ».kräftigste Patriot der regsamste Weltbürger sein wird", muss der gerechte Ausgleich des Konfliktes zwischen einer Mehrheit eines territorial verfestigten, ungeteilten Volkes mit dem Bewusstsein national-histo- rischen Rechtes einerseits und einer Minderheit eines exterritorialen, durch viele Länder und Völker gespal- tenen und somit national gewissermassen disqualifizierten Volkes andererseits uns eher schwächen als stärken.

Wir können nicht unser Schicksal, unsere Seinsfrage im Galuth dem Schiedsspruch der nationalen Gerechtigkeit vertrauensselig überantworten. Das nationale Rechtsurteil entscheidet hier zu unseren Ungunsten. Das ist vielleicht der böseste Fluch, der auf dem Galuth lastet.

Schiedlich aber friedlich diese Lösung, diese Regu- lierung des zwischenvolklichen Lebens gilt für das Ne- beneinander, nicht für das Ineinander der Völker, gilt nicht für ein Volk im Volke. Wenn friedlich, kann es nicht recht schiedlich sein ; wenn schiedlich, kann es nicht friedlich sein. Wollen wir ohne geographische Grenze in nationaler Scheidung verharren, wollen wir alle Landesgrenzen durchbrechend als Einheit bestehen, wollen wir inmitten der Völker uns freimütig als Volks- fremde bekennen und unsere Fremdart, d. h. Eigen- art wahren, verweigern wir den nationalen Anschluss an die Territorialvölker, lehnen wir jede Angleichung ab ; so gibt es keinen Ausgleich, keinen Frieden, so muss der Kriegszustand, in dem wir uns seit beinahe zwei Jahr- tausenden befinden, in dieser oder jener Form fort- dauern. So müssen wir uns in Unlösbarkeit des Konfliktes.

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in einem beständigen Antagonismus behaupten, müssen einen ungleichen Kampf führen und in ungetrübter Er- kenntnis dieser Tragik, in vollem Bewusstsein der Folgen unseres nationalen Bekenntnisses, das Martyrium des Ga- luthdaseins gleich unseren Vätern heroisch und würdig tragen.

Kann eine solche Lage eines Volkes von Dauer sein ? Hat sie eine Zukunft?

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FÜNFTES KAPITEL

AUFGABEN DES UNTERWEGS

1.

Angenommen, die ^nationale Rechtslage des Galuth gestatte doch eine bestimmte Erhahung und Fort- entwicklung des Judentums in der Zerstreuung; ange- nommen auch, es würde uns gelingen, die Assimilation zu behindern und auf fremdem Boden und inmitten frem- der Kulturvölker ein ausserreligiöses Judentum, d. h. ausserhalb der Bindungen und Sonderungen unserer reli- giösen Gesetzesverfassung zu erhalten yvie wird dieses moderne Judentum, wie wird diese sonderliche Einheit in Ländervielheit aussehen? Würden nicht die unter verschiedenen Nationen aufgeteilten Judenheiten auch verschiedene Judentümer zeitigen ? Wird etwa Hebräisch oder Jiddisch die Sprachgemeinschaft der Gesamtjudenheit bilden ? Oder werden wir auch in einer Sprachenvielheit unsere Volkseinheit bewahren? Welche Form nun wird diese ausserreligiöse, ausserterritoriale und aussersprach- liche Einheit national bestimmen? Und wie Verhaltes sich mit der inneren nationalen Berechtigung dieser Exi- stenzform? All unsere nationalen Anstrengungen in der Diaspora

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können wohl im günstigsten Falle nur den Erfolg haben, dass unsere Assimilation unvollständig, unvollwertig bleiben wird ; dass ein sieches, blasses Judentum erhal- ten wird, das, der nationalen Attribute bar, ins Wesenlose entgleitet ; dass eine Gemeinschaft innerlich gebrochener Menschen, von unlösbaren Widersprüchen zerrissen, von qualvollen Konflikten verzehrt, in inselhafter Isoliertheit und in beständiger Abwehr der fremdnationalen Wirk- lichkeit ein kümmerliches Dasein fristet. All die Dämme, die wir der Naturgewalt der Assimilationsflut in den Diasporaländern entgegenzusetzen bemüht sind, können wohl höchstens die Wirkung erzielen, dass ein Zwitter- wesen gezüchtet werde, das vielleicht nicht unjüdisch genug sein wird, um nicht mehr jüdisch zu heissen, gewiss aber nicht jüdisch genug, um den Namen Jude zu ver- dienen. Freilich darf man annehmen, dass trotz äusserer Angleichung und innerer Verquickung eine Kategorie von Menschen bestehen wird, die als jüdisch gekennzeichnet und vom Landesvolke, wiewohl national und kulturell in ihm aufgesogen, immer unterschieden bleiben wird. Genügt doch ein unwesenhafter Zug, eine schale Reminiszenz, eine nicht gänzlich erloschene Spur jüdischer Abstammung, eine vermeintlich jüdische Nase, um als Jude zu gelten. Es genügt ein matt zurückgebliebenes Anderssein, das kein Eigensein mehr bedeutet. Die aus unserem Volkstum in Generationenfolge entwurzelten und in einem anderen Volkstum verwurzelten Individuen oder Gemeinschaften werden noch immer als Juden angesprochen, indes ihr bischen unverschuldetes Judentum sich darin erschöpft, dass sie bisweilen mauscheln, ja es genügt schon, wenn es ihre Urväter einst taten. Assimilierte Juden ein

11 125

Begriff, der in keiner anderen Nation eine analoge Vor- stellung aufweist sind uns und den anderen eben Juden, Juden rnit dem Prädikat des Nichtjudeseins, des Assimiliertseins. Sie werden als Juden verfolgt, sie wer- den von uns, wenn sie Rühmenswertes geleistet, als Juden gefeiert'; es gibt für Juden, wie wir schon wissen, keinen nationalen Austritt und Übertritt. Auch getaufte Juden werden als Juden angesehen, als eine der vielen Kategorien und Abstufungen innerhalb des Judentums, als Juden mit dem Vorzeichen : getauft. Dank ja dieser Biegsamkeit und Dehnbarkeit, dieser Verschwommenheit und Verweichlichung des Begriffes Jude konnte sich ein modernes Judentum erhalten, das keine jüdische Wirk- lichkeit mehr darstellt. Es ist die träge Erhaltung eines Scheins, einer Scheinexistenz nach Verflüchtigung unse- res rigorosen Lebensinhalts und nach Verwüstung un- serer organischen Lebensformen; es ist die Erhaltung abgefallener und auseinanderstrebender Glieder als Schein eines Ganzen und Geschlossenen, einer Entartung als Schein einer Art, einer Formlosigkeit als Schein einer eigentümlichen jüdischen Form, die Erhaltung einer Ver- zerrung als Schein unserer nationalen Physiognomie. Dieser Biegsamkeit und Verschwommenheit des Begriffes Jude verdanken wir auch die Dauer eines jüdischen Bewusstseins ohne jüdisches Sein.

Diese Linie der Erhaltung und Dauer kann der Ga- luthnationalismus sicherlich mit Erfolg fortsetzen. Er kann den Assimilationsprozess in dem Sinne hemmen und aufhalten, dass der Name : Jude und die Bezeich- nung: jüdisch ungeachtet der Entwertung und Entleerung ihrer Bedeutung nicht verschwinden. Er kann ein abge-

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färbtes Judentum als Symbol und Gleichnis, ein national sakramentales Judentum als Antiquität und Pietät erret- ten ; ein Judentum, das nur noch mikroskopisch unter- sucht und festgestellt werden kann, aber noch immer störend empfunden werden und Grund eines verfeinerten Antagonismus bleiben mag ; ein Judentum als Anhängsel und Zugabe, als subtile Nuance und Schattierung inner- halb der Nation, mit der es vermischt ist.

Lohnt ein Kampf um einer nationalen Finesse willen? für eine leise Abtönung eines nationalen Unterschieds- merkmales, dem keine nationalen Qualitäten und Attri- bute entsprechen ? um den Bestand eines Judentums des Scheins ?

2.

Was hat der Nationalismus des modernen, ausserreli- giösen Galuthjudentums mit all seinem Kampfesmut er- reicht ? Er hat das nationale Bewusstsein gestärkt, nicht jedoch das nationale Sein. Er hat die gewollte, bewusste, nicht jedoch die ungewollte, unbewusste Entnationali- sierung geschwächt. Er hat die Assimilation als Idee ver- eitelt, nicht aber als Wirklichkeit. Als vornehmes Ideal, das zwei Generationen beherrschte, ist sie überwunden, als brutale Tatsache breitet sie sich immer weiter aus und gewinnt immer mehr an Tiefe ; ja sie empfängt mit der Zeit historische Weihe, die Sanktion des Naturge- wordenen, und verliert als Gewordenes die ursprüng- lichen Zeichen ihres hässlichen Werdens. So paart sich die Assimilation als Erscheinung mit Nationalismus als Gesinnung. Das Streben nach Selbstentäusserung zer- schellte an der inneren Wahrhaftigkeit der Volkskraft,

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die nationale Denkart bahnte sich einen Weg durch alle Disziplinen wissenschaftlicher und künstlerischer Wer- tung, die Assimilation entblösste sich in ihren sittlichen und ästhetischen Gebrechen und wurde als ein Akt der Fälschung und der Heuchelei, der Feigheit und der Un- treue erkannt, als ein Akt der Zerstörung schöpferischer Kräfte, als Fall und Sünde doch gleichzeitig mit den theoretischen Erfolgen des jüdischen Nationalismus wühlte das Strombett der Assimilation sich weit und breit aus, und beinahe unser ganzer Volksorganismus ist von ihm umschlossen. Der nationale Wille ist erwacht, die Sehnsucht nach Selbst und Eigen, nach dem verlorenen oder verschütteten Urquell verzehrt uns, verschönert und veredelt noch einmal unser zwiespältiges Dasein durch Reize des Kampfes und des Schmerzes der stille Assimilationsprozess treibt indessen auch in den natio- nalen Reihen der jüdischen Moderne unaufhaltsam vor- wärts, durchdringt alle Seinsschichten unseres Lebens und Wirkens, untergräbt sogar das Unterbewusstsein, die tieferen Schichten des national ausklingenden Bewusst- seins, verwüstet fortschreitend, sichtbar und unsichtbar, Inhalte und Formen unserer Volksexistenz : trotz Steige- rung der nationalen Erkenntnis und Verinnerlichung des nationalen Bekenntnisses.

Kann die auch noch so reuevolle Beichte moderner Zwiespältigkeit und Zerrissenheit als wirkliche Abkehr vom Unjüdischen und als wahrhafte Rückkehr zum Jüdischen angesehen werden ? Darf etwa jenes schön- geistige Bekennen moderner Literaten, die, dem Judentum entrückt, sich in einem Pathos der Distanz zuweilen für das Judentum wie für etwas Exotisches begeistern, uns

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über die um sich greifende Verwüstung des lebendigen Volksgeistes hinwegtäuschen ?

Und darf der mit grossem Aufwand fremdsprachlicher Formkraft modernisierte Chassidismus als Neubelebung des verschütteten Judentums verherrlicht werden ? Er mag das Verdienst haben, ein geschmackvoll frisiertes, stilisiertes Judentum salonfähig gemacht zu haben, so wie etwa die Assimilanten des Aufklärungsalters ein frostiges metaphysisches Judentum für die Salonweisheit der Kos- mopolitie und Universalität herausschälten und zurich- teten. Die beiden Destillate des sogenannten Geistes des Judentums tragen auch die gleichen Zeichen des Stück für Stück künstlich Konstruierten, des Angepassten, des Ge- mischten, die Merkmale der Verzierungen und Beschöni- gungen eines mühseligen Flickwerks ; beiden ist auch die Funktion eines Surrogats gemeinsam, eines ideologischen Ersatzes für das entjudete Leben.

Vermochte denn der Galuthnationalismus uns aus dem Sprachenexil zu erlösen ? den Fluch und die Schmach sklavischer Anhänglichkeit an die sprachliche und litera- rische Fremdherrschaft von uns abzuwenden ? Hat in der Diaspora die Rückkehr zum Judentum eine Rückkehr zu seiner nationalen Sprache gezeitigt? Sind Nationaljuden weniger als Assimilationsjuden sprachlich-kulturell assi- miliert, assimiliert geblieben? Sind ihre Seelen weniger von fremden Bildern, fremden Liedern, Klängen, Farben erfüllt? Auch sie denken und fühlen, dichten und ge- stalten in fremdnationalen Sprachen, Auch sie empfangen und nähren ihre Bildung aus einem fremden Volksborn, aus einem fremden Schrifttum; auch sie geben ihre Schaifenskraft dem nichtjüdischen Werk, erbohren fremde

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Quellen, speisen fremde Nationalkiilturen mit Talenten und Virtuosen, Fortbildnern und Umwertern, kurz, sie befruchten und bereichern fremde Sprachen und Litera- turen. Und heissen nationale Juden.

Sie pflegen und fördern immer nur fremden National- besitz, auch wenn sie ihn durch jüdische Inhalte mehren und erhöhen. Die nationale Matrikel literarischer Erzeug- nisse ist die Sprachform, nicht der Stoff. Wir wissen be- reits : Ein fremder Inhalt kann durch jüdische Form- prägung ins Judentum einbezogen werden und nationale Weihe in ihm erlangen. Eine fremde Form aber kann nie durch einen jüdischen Inhalt jüdisch werden ; sie enteignet vielmehr den Inhalt, erwirbt ihn formend für ihre natio- nale Domäne. Sind Uriel Akosta, Judith, Der Rabbi von Bacharach und dergl. Schöpfungen des jüdischen oder des deutschen Schrifttums? Gehören David Alroy, The Chil- dern of the Ghetto der jüdischen oder englischen Literatur an? Zählt nicht mit gutem Recht das vom Geist des Juden- tums erfüllte Werk Hermann Cohens zur deutschen Phi- losophie ? So kann auch, wie schon erwähnt, die soge- nannte jüdischnationale Literatur der Neuzeit, insofern sie in fremden Sprachen niedergelegt ist, nicht als jüdi- sches Schrifttum bezeichnet, nicht als jüdische National- literatur angesehen werden ; sie zerfällt und verteilt sich in ihrer literarischen Zugehörigkeit auf ihre verschiedenen Sprachbezirke. Es ist bestenfalls übersetztes Judentum.

Vermochte also der Nationalismus in der Diaspora auf diesem wichtigsten Gebiete nationaler Gestaltung nennens- werten Wandel zu bringen? Wo sind auch nur Anzeichen einer Abkehr und Umkehr, einer befreienden Auswurze- lungaus fremdnationalen Sprachen und Literaturen, einer

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Verwurzelung im Hebräischen? Wir empfinden nicht ein- mal nationale Kränkung, wenn Vorkämpfer und Wortfüh- rer unserer Renaissance als Meister und Künstler fremder Sprachen und Literaturen gefeiert werden. Dieses Lob ist ja ein Befähigungsnachweis einer wertezeugenden Versen- kung in fremden Volksgeist, ein Zeugnis über die tiefinnige Assimilierung dieser Vertreter des jüdischen Nationalis- mus, die in nichtjüdischer Kultur wesenseigen und boden- ständigbis zur schöpferischen Fruchtbarkeit geworden sind. Im Zeitalter des nationalen Weckens und Erwachens hat der Ruf nach Hebung des Völkischen auch in uns einen Widerhall gefunden. Der Schritt der anderen Völker bestimmte auch diesen Gang unseres Werdens ; unser westlicher Nationalismus steht zu einem guten Teil im Zeichen der Assimilation, der Nachahmung. Daher lassen wir uns gerne vom Geflimmer eines äusserlichen Auf- flackerns blenden, vom Gesause eines pathetischen Wort- nationalismus und vom Getriebe schreiender Werbearbeit berauschen, ohne erkennen zu wollen, dass dieses Dekla- rieren und Agitieren nur das nationale Gewissen be- schwichtigen, das alte Judentum aber nicht ersetzen und an der bezwingenden Macht der Assimilation nichts ändern. Nur der nachgeahmte und von aussen gestossene Nationalismus kann sich über die Scheinwerke eines nationalen Verbalbekenntnisses freuen : er wird, weil selbst assimiliert, der fortschreitenden Entjudung unseres Seins gar nicht gewahr.

3.

Der Nationalismus der jüdischen Moderne bucht als seine grösste Tat die Wiederbelebung des jüdischen Em-

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pfindens. Als ob diese vom historischen Grund unserer Existenz losgelöste und in fremdnationale Wirklichkeit behaglich eingebettete Romantik eine Renaissance des Judentums hätte werden können. Renaissance ? Ist nicht die nationale Kontinuität durchbrochen? Gähnt nicht eine unermessliche Kluft zwischen der absterbenden Generation des traditionellen Juden und dem in neuzeit- lichem Nationalismus gezüchteten Judentypus ? Kann die blosse, der jüdischen Lebensformen entkleidete Empfin- dung einer Zusammengehörigkeit diesen Abgrund über- brücken, das Judentum in fremden Gebilden erhalten und erneuern ?

Und was ist noch dieses jüdische Empfinden, in das der Galuthnationalismus sein Vertrauen setzt, an und für sich? Was ist selbst der nationale Gefühlswert dieser so- genannten Renaissance ?

Bedeutet das moderne Trotzjudentum eine Aufrichtung des Adelsbewusstseins unserer Ahnen ? Wo ist jenes nationale Hochgefühl der Auserlesenheit, des weltge- schichtlichen Auftrages, der weltumspannenden Pflicht ? Wir sind schon übermütig, wenn wir Gleichstellung und Gleichachtung erlangt haben, wenn wir obgleich, nicht weil wir Juden sind geschätzt werden. Empfinden wir die Schmach, dass Israel, Schöpfer des Sittengesetzes, im Geiste fremder Gesetze lebt? Ist nicht das zweitausend- jährige Bewusstsein, dass wir Fürstenkinder sind, Prinzen in der Verbannung, in uns erloschen ? Wo ist noch jener Adelsstolz, der uns eine Art von Unverletzbarkeit verlieh, sodass Verlästerung und Verhöhnung des Judentums nur Mitleid mit unseren sündenbeladenen Bedrängern und keine Bitternis einer Beleidigung in uns auszulösen ver-

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mochten? Wie sind wir doch seelisch gebeugt und un- sicher geworden, daher auch leicht verletzbar, empfind- sam und mutprotzig.

Wo ist noch jene aus einer Kraftfülle quellende und kraftspendende Wonne, die immer vom Judentum aus- ging und unser Elend sonnig überstrahlte ? Wo jenes frohlockende Glücksgefühl des Jude-Seins, das jede Pein aufwog und jeden Unwillen im Keime erstickte ; das die vielen seit Zerstörung Jerusalems festgesetzten und in neuen Prüfungen vervielfachten Zeichen der Trauer fast in Vergessenheit geraten Hess? Kein Volk war so froh und heiter wie Israel, trotz aller schauerlichen Marter ; sodass strenge Vorschriften nötig wurden, um gewisse Tage auszu- nehmen, an denen wir uns nicht freuen sollen. Kein Volk wie Israel zählt so viele Freudentage, Feiertage, Feste der Freude. Die Klagelieder vermochten nicht unsere Geistes- art zu bestimmen, unsere Lebenslust zu vermindern, unser Gemüt zu umwölken und uns Trübsal einzuimpfen. Man untersuche unsere liturgische und weltliche Poesie. Welch ein Reichtum an Dank- und Lobeshymnen, an Liedern des Jubels und des Entzückens, an Gesängen, die Freude und Glückseligkeit ausströmen ; und wie selten und verblasst die Seelenverfassung des Klagens, des Wehrufs, der Niedergeschlagenheit und Verlassenheit, der Schwermut und Düsterkeit, als ob wir nicht den Leidenskelch bis zur Neige ausgekostet, als ob wir nicht die furchtbarsten Greuel der menschlichen Bestie erduldet hätten. Man untersuche die Galuthpoesie, das Volkslied, die Nigunim der Chassidim, den Singsang des Talmud- studiums — die echten und nicht die entlehnten oder die von einer fremdartigen, z. B. der kleinrussischen Melan-

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cholie geschwängerten Melodien man prüfe Wort und Weise auf ihren Stimmungsgehalt : wie wenig ist in ihnen von Gram und Gedrücktheit, von Bitternis und Betrüb- nis, vom Zustand des Unglücklichseins. Sie atmen Froh- sinn, Munterkeit, Heiterkeit ; sie sprudeln von Humor, Scherz, Witz ; überfliessen vor Verzückung und Lustig- keit. Kein Wunder. Waren wir doch Fürstenkinder auch im Ghetto, hatten wir doch unser königliches Reich auch in der Verbannung. Erst mit der Zerrüttung unseres trag- baren Exilstaates, dem Versiegen unserer inneren Kraft und dem Verfall unserer Innenherrschaft, mit der kultu- rellen Entzweiung, dem Riss im Geistigen, entstand der nörgelnde Judenschmerz mit seiner Selbstironie und Selbstgeisselung, seiner Grübelei über den Sinn unseres Daseins, seiner kitzelsüchtigen Kritelei und wollüstigen Zerfaserung; entstand der moderne Judenschmerz mit seiner Launigkeit, Weichlichkeit und Trübseligkeit. Wo ist nun die vielgepriesene Renaissance des jüdischen Em- pfindens, die Wiedergeburt des jüdischen Glücksgefühls und Frohsinns ?

Und was ist noch von jenem starken Volksempfinden zurückgeblieben, das „Gedenke des Amaleks" schwor und ,,Ergiesse Deinen Zorn" andächtig flehte? Ist eine Verjüngung dieser Gesinnung der Mannhaftigkeit und Strenge, die uns auf unserem Leidensweg nie verliess und in tiefempfundenen Gebeten und Volksliedern mar- kigen Ausdruck fand, auch nur zu verspüren ? ,,Wir haben nicht mehr die Kraft zu hassen und aus Hass zu dulden" (Heine). Wo finden wir in der Literatur der jüdischen Moderne den welterschütternden Entrüstungs- schrei der entrechteten Nation, die künstlerische Gestal-

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tung des übermächtigen Schmerzes und des heiligen Zorns eines achtzehn Jahrhunderte mit ruhigem Gewissen gefolterten Volkes? Wo die Kunstwerke der jüdischen Moderne, welche die an Israel verübten Schandtaten verewigen und somit sittlich rächen, indem sie Schuld- bewusstsein wachrufen, Schamgefühl und Reue entflam- men? Es hat sich das sinnreiche Wort eines chassidischen Rabbi bewahrheitet, der sagte : Es kommt eine Zeit, da auch der jüdische Seufzer uns enteignet und entjudet wird ; er wird allem fremden, nur nicht unserem eigenen Leid gelten. Wirkt noch in uns das geschichtliche Be- wusstseindes Martyriums unserer Väter ? Haben wir nicht das historische Unrecht wie plötzlich vergessen? Haben wir nicht mit der Christenheit, auf der die schwerste geschichtliche Verantwortung für dieses Unrecht lastet, in Erschlaffung des nationalen Gedächtnisses und in Schändung des Andenkens unserer Märtyrer, uns de- mütig — als erfolgreich verteidigte Angeklagte und nicht als Rechenschaft fordernde Ankläger versöhnt? Und haben nicht Nationaljuden den Schwur des Volkes, den Boden Torquemadas nicht zu betreten, leichten Herzens ohne Volksbeschluss gebrochen und den nationalen Bann eigenmächtig gelöst? Die geschichtliche Bewusstseinsein- heit ist im nationalen Judentum, im Gegensatz zum reli- giösen, recht locker. Die nationale Gedächtniskontinuität hat einen Bruch erhalten. Unsere glorreiche Leidens- und Heldengeschichte hat das Schaffen der jungjüdischeu Künstler nicht befruchtet. Man sucht vergebens in ihnen starke Motive aus unserer kampfbewegten Vergangenheit, die an künstlerischem Stoff wahrlich nicht arm ist ; unsere Geistesheroen sind fast der Vergessenheit anheimgefallen.

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Wo ist also die Renaissance des jüdischen Bewusst- seins ?

Und wo lebt noch in uns das schlichte Bewusstsein die Gewissheit einer Selbstverständlichkeit der sitt- lichen Überlegenheit des Judentums über das Christen- tum ? Wo noch regt sich in uns das kränkende Gefühl des Geistesaristokraten gegenüber dem Parvenü, des verkannten Originals gegenüber seiner schlechten Kopie, des Echten seinem Zerrbild gegenüber? Brennt noch in uns der Schmerz ob der Abirrung, die ihren Ausgangs- punkt im Judentum nahm und aus ihm Lebenssäfte zog, um es zu verstümmeln ? Wo der Brand der Seele ob der Verfälschung, die die Welt eroberte ? Wo vernehmen wir heute die Stimme des Judentums gegen die grösste Welt- lüge der menschlichen Geschichte ? Wagt das Judentum den Ruf an die Menschheit : Ecrasez l'infäme ! ? Wagt es, wie David in Aikios ,,Sohn des Hebräers", den Schrei der Wahrheit : ,,Du, Du da, die Millionen um Dich, die nennen Dich Gott der Liebe. Hörst Du. Jehova, den sie deinen Vater nennen, der Gott der Rache, Jehova nahm Isaak von Abraham als Opfer nicht an. Du Gott der Liebe, der milde Gott, Du aber nahmst mein Weib und ein Ungeborenes zum Opfer an. Du milder Gott, du Gott der Liebe...?" Wer wie wir Juden, die wir die christliche Nächstenliebe seit ihrer ersten Predigt bis auf den heuti- gen Tag so oft und so gründlich erproben mussten, hat das Recht und noch mehr die Pflicht, der Menschheit zu künden, dass die sittliche Kultur nie wahrhaftig werden kann und immer lebensfremd, eine Erziehung zur Zwie- spältigkeit, eine legitimierte Heuchelei in Forderung und Handlung bleiben muss, solange sie in einer Lehre befan-

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gen ist, die, aus quellenverstopfender Vermengung und Verflachung grosser Geistestendenzen hervorgegangen, an inneren Widersprüchen eines Stückwerks, an innerer Zweideutigkeit im Bekennen und Befolgen ungenesbar krankt. Wer wie wir Juden hat das Recht und noch mehr die Pflicht, der Menschheit zu künden, dass der Bankrott der Christenheit, wie er in diesem Weltkrieg blossgelegt wurde, nicht als plötzlicher Zusammenbruch einer über alle Erdteile siegreich ausgebreiteten und glanz- voll herrschenden Kirche zu werten ist, sondern bloss als ein Beweis und eine Illustration mehr für die so meisterhaft geschickt verschleierte Tatsache : dass das Christentum neunzehn Jahrhunderte ein gleissnerisches Scheindasein führte, das Heidentum bloss mit erborgten Flittern um- hängte, maskierte und somit sanktionierte ; dass die Chri- stenheit achtzehn Jahrhunderte von kriegerischem Mut und nicht von christlicher Demut, von Genussucht und nicht vom Entsagungswillen, von Angriff'slust und nicht von F'eindesliebe beseelt ist sie ist vor Blutvergiessen nie zurückgeschreckt, vielmehr hat sie die Entscheidung des Schwertes als göttliches Urteil angerufen, sie hat immer die Gewaltigen unter ihren Schutz genommen und die Helden der Macht verherrlicht, sie hat nie einen Backen- streich verziehen, wohl aber unerbittlich gerächt und tau- sendfach vergolten, ist meistens in Herausforderung und Überfall den zu liebenden Feinden zuvorgekommen ; dass die Christenheit achtzehn Jahrhunderte in bewusster Ent- zweiung, in einer ungeheueren Diskrepanz zwischen Predi- gen und Tun ihren Bestand hat, also keinen Bestand in der Wirklichkeit hat und ist nun die heidnische Sinnesart ihrer fünfhundert Millionen Bekenner wiederum zum

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furchtbaren Ausbruch gekommen, so ist es lediglich die Unterbrechung einer Hypokrisie, der zeitweilige Bankrott eines Scheins. Warum schweigt das Judentum, wo es gilt^ die Heuchelei einer eitlen Kultur, die sich über die Zerstö- rung von Millionen Menschenleben hinwegsetzt und die Zerstörung einiger Kunstwerke nicht verschmerzen kann, zu entlarven? Wo sein Eifer und Freimut in der Verfech- tung seiner Lehre gegen die Anmassung des Christen- tums? Warum erhebt das Judentum jetzt nicht seine Stimme, die in dieser Wirrnis so sehr nottut? Wo seine Ermahnung, wo seine Auflehnung gegen den Zeitgeist? Wagt es denn von der errungenen Religionsfreiheit wür- digen Gebrauch zu machen und angesichts des schamlos, bejubelten Völkermordens die Nichtigkeit der weltbeherr- schenden Kirche, von der es unsäglich grausam verfolgt wurde, zu verkünden und von seinem triumphierenden historischen Unterdrücker das Eingeständnis der inneren Ohnmacht, kurz die sittliche Kapitulation vor dem Ju- dentum zu fordern?

Und wenn Philosemiten das Judentum loben, weil es das Christentum zeugte, wagen wir das Lob zurück- zuweisen und die Verantwortung einer Vaterschaft abzulehnen, da wir diese Entstehung von Anfang an als Missgeburt bekanntgaben und da wir an ihrer Wandlung und Abwandlung, an der achtzehnhundert- jährigen Geschichte ihrer Nichtbewährung, keine Mit- schuld tragen?

Die jüdische Moderne kann diese Sprache nicht wagen. Sie steht nicht mehr in diesem geschichtlichen Verhält- nis zum Judentum und zum Christentum. Christelt es

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nicht selbst in den Reihen der Nationaljuden? Auch sie konnten nicht der Verfänglichkeit des christlichen Kul- turmilieus sich gänzlich entziehen, auch sie konnten weg- verloren nicht dem Zauber christlicher Mystik völlig ent- sagen. Ihr Bewusstsein ist schon zu einem guten Teil christlich gefärbt, christlich assimiliert. Ist ihr jüdischer Gott noch jüdisch, der Gott der strengen Gerechtigkeit ? Hat er nicht die Züge der christlichen Verweichlichung angenommen ? Bewegt sich ihre Gottesvorstellung noch in monotheistischer Reinheit oder in christlich-heidnischer Verschwommenheit ? Erleben sie nicht die Worte der heiligen Schrift im Geiste christlicher Deuter und Aus- leger ? Sehen sie nicht die jüdischen Propheten mit den Augen evangelischer Theologen, im Karrikaturbilde eines entjudeten Messianismus ? Wo ist die Renaissance des jüdischen Bewusstseins ? Ja, ihr Bewusstsein ist schon zu einem guten Teil heidnisch gefärbt, heidnisch assimiliert. Haben nicht Nationaljuden in den Chorus der Kriegsbe- geisterung eingestimmt ? Wo ist die vielgepriesene Renais- sance des jüdischen Bewusstseins ?

Es ist klar. Wo jüdisches Sein haltlos geworden, muss auch das jüdische Bewusstsein verarmen und gleichzeitig mit dem Leerwerden in seinem horror vacui von fremden Inhalten ausgefüllt werden ; alle Belebungsver- suche können höchstens einen aufblitzenden Augenblicks- erfolg haben. Wo es an nationaler Wirklichkeit gebricht, muss das organische Gedächtnis der Volksgemeinschaft allmählich schwinden und mit ihm der historische Em- pfmdungskomplex des nationalen Bewusstseins, das nun- mehr zu wehmütigem Wünschen und Sehnen sich ver- engt und endlich zum matten Sich-noch-Jude-fühlen in

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einem Schlupfwinkel der assimilierten Seele zusammen- schrumpft. Es ist das Stadium der nationalen Pose.

* * *

Was hat also der Nationalismus im Galuth geleistet ? Er hat ein neues Kriterium geschaffen und ein ausser- religiöses Judesein in der Projektion auf Palastina ermög- licht, nicht jedoch den nationalen Aufbau eines modernen Judentums in der Zerstreuung. Er hat das ausschliesslich religiöse Kriterium aufgehoben und damit ein nationales Judesein bejaht, aber diese Bejahung bleibt in der Dia- spora eine Theorie, die praktisch nicht ausreifen kann ; ein nichtreligiöses Judentum hat ausserhalb der weltlich nationalen Attribute eines lebendigen Volksorganismus keine Existenzmöglichkeit. Es hat nationales Wollen ge- weckt, nicht aber nationales Können erschlossen, hat eine Umwertung der Wünschbarkeit erwirkt, nicht aber eine entsprechende neue Möglichkeit geschaffen. Es hat ferner das Kriterium der Assimilationsideologie, das Kriterium eines allgemeinmenschlichen und anational tendierenden Lehrinhalts, ausser Geltung gesetzt ; hat die Assimilation als bewusstes Streben gebannt, als Idee und als Ideal, nicht jedoch die Assimilation als objektive Tendenz, als Wirklichkeit, als Gegebenheit : als Not.

Halten wir Umschau über die Ergebnisse der jüdisch- nationalen Bewegung, ziehen wir die Bilanz unserer nationalen Arbeit in allen ihren Phasen, so finden wir : Der Nationalismus der Galuthjudenheit hat sein Werk in Erez Israel und nicht im Galuth. Im Galuth selbst hat seine nationale Renaissance es nicht vermocht, auch nur das jüdische Bewusslsein aufzurichten, geschweige denn das jüdische Sein.

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Und auch an dieser Stelle müssen wir vor jenem Selbst- betrug warnen, der unsere zweitausendjährige Galuthge- schichte als Vergleich für unsere Galuthzukunft heran- zieht und tröstet : Hat nicht das Galuth grosse nationale Werte geschafTen? War nicht Palästina nur eine kurze Episode in unserem wechselvollen Leben? Eine Episode, die seit vielen Jahrhunderten aus unserem Werdegang ausgeschaltet ist und unser Volkssein nicht mehr be- stimmt ? Warum soll das Galuth, das auch in Zeiten der Bedrängnis von nationaler Fruchtbarkeit war, gerade mit der Erlangung von Freiheit und Gleichheit plötzlich ver- sagen ?

Diese Analogien konnten platzgreifen und irreführend wirken, weil wir gewohnt sind, unsere gesamte Geschichte seit der Zerstörung des Tempels mit dem einen Namen Galuth zu bezeichnen, ohne wesentliche Einschnitte oder graduelle Abstufungen im Terminus zu unterscheiden. Das Galuth aber im Sinne nationaler Entartung beginnt erst mit der inneren Zerstörung unserer Religionsverfass- ung, mit dem Zeitalter der Aufklärung. All die Merkmale der Dekadenz, die man zusammenfassend Galuthpsyche nennt, sind nur dem modernen Judentum eigen, sind nicht Charakteristika des Galuth überhaupt ; das alte Judentum des Galuth weist sie nicht auf. Zerissenheit, Vielspältigkeit, Vielfältigkeit ; Unsicherheit, Trübsinn, Tief- sinn, Verneinungssucht ; Distanzlosigkeit, Klebigkeit, Eil- fertigkeit und Behendigkeit des Parvenü, des Wurzello- sen — diese Erscheinungsformen, die als Produkte des Galuth schlechthin gelten, sind nur im neuzeitlichen Diasporajudentum, nicht im langen Galuthdasein des traditionellen Judentums anzutreffen. Die Wesenszüge

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unserer Väter, die in der lebensgestaltenden Religion inneren und äusseren Halt hatten, waren : Ganzheit, Geschlossenheit, Geeintheit ; Geistesfriede, Weltbejahung; Adelsstolz, Standhaftigkeit, Zucht der Persönlichkeit ; Abgeschiedenheit und Exklusivität des Vornehmen, die Haltung und die Gebärde der Distanz, des Geistesaristo- kraten, des Besitzenden.

Man sollte für das Gallith des modernen Judentums, für dieses doppelte Galuth, nicht den gleichen Namen gebrauchen, der den Exilzustand insgemeinhin besagt ; man sollte nicht die Scheidungslinie zwischen zwei grund- verschiedenen Arten der Galuthexistenz durch eine ge- meinsame Bezeichnung verwischen. Wir haben vielmehr Grund genug, mit der Zerstörung der jüdischen Religions- verfassung eine neue Zeitrechnung des Galuth zu begin- nen, die Zeitrechnung der inneren Zerstreuung, wie die Zerstörung des Tempels die Zeitrechnung der äusseren Zerstreuung eröffnet.

Vielleicht hätte sich eine solche neue Zeitrechnung dem Volksbewusstsein aufgedrängt und in der Volkssitte ein- gebürgert, wäre diese dritte Zerstörung auch von aussen gekommen, plötzlich, sichtbar, als ein an bestimmtes Datum gebundenes Geschehen, und nicht von innen, entwicklungsmässig, zeitlich unkontrollierbar. Vielleicht hätte sich eine solche neue Zeitrechnung dem Volksbe- wusstsein eingeprägt und in der Volkssitte eingebürgert wären eben Volksbewusstsein und Volkssitte nicht in der Zerstörung mit inbegriffen.

Gleichviel. Im modernen Galuth kann das Judentum keinen dauerhaften vollnationalen Bestand haben. Sein Nationalismus vermag bestenfalls ein Zwitterwesen zu

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züchten, ein Zweiseelenjudenlum, voll Widersprüche und Konflikte, voll Risse und Wunden.

Ist eine solche Lebensform der Erhaltung wert? Lohnt ein Kampf um die Fortdauer einer Lage, die eine Zwischenlage ist? eines Judentums, das national nicht ge- sunden, nicht vollwertig werden kann ? Lohnt ein Kampf um die Erhaltung eines Zwiespaltes, eines Konfliktes, einer Tragik ?

4.

Nein und Ja.

Nein, wenn die Erhaltung als Selbstzweck gewertet wird. Hätten wir nicht Vertrauen in den Befreiungswil- len des Volkes, glaubten wir nicht an die Verwirklichung unseres Palästinaideals, man wäre wahrlich versucht, angesichts der erschreckenden Entartungen des Galuth- judentums, die schmerzerfüllten, grausamstolzen Worte des Rabbi Jssmael auf unsere Zeit anzuwenden : Wir müssten uns verbieten, Ehen zu schliessen und Kinder zu zeugen... Nur in der Hoffnung auf eine Erlösung aus dem Galuth sagen wir zur Erhaltung des Galuth Ja ; ein tausendfaches Ja zum Kampf um die Erhaltung eines national noch so gebrechlichen Judentums. Die Bejah- ung des Galuth kann nur diesen Sinn haben : Bejahung aus Verneinung, aus Bejahung eines anderen, eines sein- sollenden Judentums. Nur im Hinblicken und Hinzielen auf eine Wiedergeburt im Lande der Väter erhält die na- tionale Arbeit in der Diaspora geschichtlichen Wert. Nur in dieser Bezogenheit hat der Galuthnationalismus seine Bestimmung: die Bestimmung einer Vorbereitung, die Vorbereitung des Volkes für das Land und des Landes für das Volk ; das Galuth als Vorhalle Palästinas.

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Im Galuth kann es eigentlich nur Gegenwartsarbeif ge- ben. Seine nationale Zukunft hat das Judentum nicht hier. Wer seine jüdische Seele retten will, wer als Ganz- jude lehen will, wer seine Kinder vor bewusster oder un- bewusster Entjudung schützen will, muss den Weg des Auszuges aus der Fremde wählen. Es ist die Wahl der Glücklichen. Aber auch die im Fluch des Galuth festge- bannte Judenheit kann ihre nationale Funktion in der Richtung auf unsere Volksgestaltung in Erez Israel erfül- len. Noch viele Generationen wird das verjüngte Palä- stina auf das nationale Reservoir in der Verbannung an- gewiesen sein. Das Galuth wird das Baumaterial liefern, das Palästina formen wird. Palästina wird dem Galuth die besten Kräfte und Säfte entziehen ; nicht, wie Achad Haam meint, ihm abgeben, abgebend es befruchten und stärken. Im Gegenteil : Das Exil wird gleichsam die Funk- tion des Düngers für unseren historischen Boden ver- richten.

Die nationale Werbe- und Kulturtätigkeit in der Zer- streuung muss dem Zukunftswerke im eigenen Lande dienstbar gemacht werden, muss von seinem Geiste ge- tragen und auf seine Forderungen eingestellt sein. Losge- löst von dieser Berufung ist das moderne Galuth das Darben eines entmannten Volkes, eine Schmähung unse- rer Volks- und Menschenwürde. Ohne die Zuversicht auf endgültige Gesundung im Lande der Väter, ohne die Andacht des Palästina-Ideals, der vorweggenommenen Zukunft, bleibt sein Nationalismus eine Sisyphusarbeit ; bedeutet er die gewaltsame Erhaltung einer Anomalie, die Erhaltung eines inneren und äusseren, eines kultu- rellen, sozialen und politischen Antagonismus, eines

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konfliktschweren Daseins voll Halbheiten und Verkehrt- heiten, die uns verkrüppeln, die Anderen ängstigen und anwidern.

Also gilt die Parole : Erhaltung des Galuths im Hin- steuern auf eine Erneuerung in Palästina ; Erhaltung um der Erneuerung willen. Wir täuschen uns nicht und wis- sen, dass wir gegen materielle und geistige Mächte unab- lässig werden Kampf führen müssen. Wir wissen, dass die Erhaltung eines modernen Galuthjudentums die Er- haltung einer nationalen Abnormität ist. Wir wissen, dass das Judentum im Galuth immer wird unterstützt werden müssen, immer Subvention benötigen wird. Aber wir gründen ja hier nicht die Zukunft des Volkes, grün- den sie nicht auf den Trümmern des alten Judentums, sondern behindern den Abbau im Exil um des Aufbaus in Erez Israel willen. Es ist die grosse und schwierige Aufgabe einer grossen Zeit der Prüfung, einer Zwischen- zeit, eines Uebergangsstadiums, einer Ueberleitung in neue nationale Seinsformen. Und alle Lösung der Juden- frage im Galuth Gleichberechtigung und nationale Rechte ist nur Zwischenlösung.

Darum kann uns auch das Gekünstelte, das Allzube- wusste und Gewollte dieses Nationalseins im Galuth an unserer Aufgabe nicht irre machen : ihr Blickpunkt ist die nationale Norm der Zukunft. Wir wollen Schutzpfähle für das mit der Erschütterung seines religiösen Grundes baufällig gewordene Galuthjudentum errichten und ihm brauchbare Steine für einen neuen gewaltigen Volksbau entnehmen. Wir wissen, dass unser nationales Regene- rationswerk in den Diasporaländern nicht die Wurzel- festigkeit und nicht die Möglichkeiten und Aussichten

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haben kann wie die nationale Aufrichtung bodenständi- ger, territorial einheitlicher Völker, die sich in natürli- chen Bedingungen vollzieht. Wir sind aber unterwegs. Es sind eben die Mühen des Unterwegs.

In ungetrübter Erkenntnis der Anomalie unserer Ga- luthexistenz muss jedoch, ja destomehr, die Nationalisie- rung des Galuth mit allen Mitteln einsetzen. Nur in einem unermüdlichen Widerstand gegen die Gewalten der fremdnationalen Wirklichkeit, gegen ihre sichtbaren und unsichtbaren Einflüsse, in mutigem Trotz gegen Verlockun- gen der Gleichmachung, gegen allen Zauber des Herr- schenden und Erfolgreichen, können wir in der Zerstreu- ung unser Volkstum zu erhalten trachten. Unser Galutli- dasein ist in gewissem Betracht ein permanenter Kriegs- zustand. Wir sind uns dessen nicht immer bewusst, weil er seit achtzehn Jahrhunderten andauert. Es ist der Zu- stand eines unablässigen Kampfes gegen die uns umge- bende fremde Welt, die uns zu verschlingen droht.

Diese aussergewöhnliche Lage des Volkes erfordert aus- sergewöhnliche Mittel der Verteidigung und der Abwehr, Wie wir besondere Gebote für Erez Israel auszeichneten, „Gebote, die an das Land gebunden", so müssen beson- dere nationale Gebote für unser Leben im Galuth wirk- sam werden, etwa ,, Gebote, die an das Ausland (chuz l'arez) gebunden sind". Es gilt, mit dem ganzen Aufgebot unserer Kraft Schutzwälle um das Judentum im Galuth zu errichten, auf dass unsere nationale Einigung und Sonderung in der Fremde gewahrt werde. Das Judentum in der Zerstreuung muss sich zu seinem Schutz ausser-

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ordentliche Massregeln auferlegen, die das hebräische Volkstum im Lande entbehren kann. Nur ein Nachteil mehr des Exils!

Es gilt, allen Tendenzen der Assimilation auf der ganzen Linie ihrer Wirksamkeit und ihrer meistens unbewussten, aber weittragenden Auswirkung nationale Dämme entge- genzusetzen. Es gilt zu retten, was nur irgendwie gerettet werden kann ; zu beleben, was noch zu beleben ist. Frei- lich vermögen wir nicht den Verfall unserer Kulturgüter im modernen Galuth völlig aufzuhalten, müssen indes in muti- ger Erkenntnis des Palliativcharakters der Aufgabe dieses Aufhalten als unsere vornehmste Gegenwartsarbeit in den Diasporaländern ansehen. Dies sind die Grenzen, die aller Renaissance des Galuthjudentums gesteckt sind. Sie kann die Ruinen unseres Nationalbesitzes nicht wieder- aufrichten und aufbauen und muss sich zu der Aufgabe des Behinderns und des Errettens bescheiden. Die Erhal- tung bedeutet hier Aufhaltung.

Ruine der Religionsverfassung. Sie lässt sich freilich nicht unterbauen. Ihre disziplinierende Macht ist dahin. Der erschütterte oder verlorene Glaube kann nicht wieder- gewonnen oder ersetzt werden. Die Ideologie des ratio- nalistisch herausgeschälten Geistes des Judentums sowie ihr romantisch verziertes Gegenstück, das mit ihr den Boden der nationalen Dekadenz und der nationalen Surro- gate gemeinsam hat, nämlich der im Zeichen moderner nüchterner Mystik stilisierte Neuchassidismus: sie beide können sich wahrlich nicht anmassen, als Fortentwicklung

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des geschichtlichen Judentums und als Ersatz für die ver- siegte Kraft der Religion aufzutreten. Auch das neueste Bemühen moderner Reumütiger, die ihre Liebe zu dem in ihnen längst erloschenen Glauben gleichsam nötigen und durch Ansprechung ehrwürdiger Sinnigkeiten zu einer Dreieinigkeit des Heiligen Heiligkeit der Erkenntnis, Heiligkeit des Erbarmens, Heiligkeit der Pracht auf- steigen wollen, zeugt nur von der Zwangslage der inneren Gebrochenheit und Haltlosigkeit : es soll darum nicht be- spöttelt werden, es darf vielmehr Mitleid erwecken. Der Seelenriss und die ihm folgende Auflehnung gegen sich selbst haben einen so hohen Grad der Verzweiflung, des Bewusstseins der Verlorenheit, erreicht, dass man zer- knirscht sich an altväterliche Worte klammert und, sich an ihnen berauschend, stammelt : ,,Gott in seiner Gnade kann jeden Tag seinen Messias schicken ; doch wird er ihn zur Belohnung der Söhne Israels sicher an dem Tage schicken, da sie die höchste Stufe der Hingebung an die geschriebene und mündliche Lehre und die höchste Stufe menschlicher Heiligkeit erreicht haben werden" (Nathan Birnbaum). Die echten Frommen, die in Gott Gefestigten, wissen wohl, was sie von solchen religiösen Nachah- mungen innerhalb der jüdischen Moderne zu erwarten haben. Sie empfinden sie als eine Blasphemie.

All diese Versuche der Neubelebung, die in einem Raöinement des nationalen Instinktes ihren verborgenen Grund haben und meistens den Grad des Verfalls an- zeigen — der Eifer und die Unternehmungslust im Gott- Suchen stehen gewöhnlich in einem geraden Verhältnis zum Gott-Verlieren ; sie wachsen mit dem Gefühl der ein- getretenen Unsicherheit, mit der Grösse der Distanz von

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Gott führen nur zur Verschleierung einer Leere und ergeben eine Pose mit den Allüren falscher Gravität. Es gibt eben kein Surrogat für die Religion ; ist doch die Religion die Reinigung vom Surrogativen des Daseins. Ist der Glaube also erstorben, dann gibt es für die Reli- gion kein Nachleben, kein Weiterleben. Gott hat keine Erben.

Die Reispiele aus der Geschichte anderer Religionen, die ihre Reformationen als Verjüngung des religiösen Geistes beglaubigten, sind auf die jüdische Religion nicht anwendbar : da sie eine Gesetzesverfassung und nicht eine Ideologie ist. Ihre Belebung müsste eine Belebung der Handlung sein, der Gesetzeskraft. Losgelöst von der Handlung und dem Gesetz, kann der vielumstrittene Geist des Judentums die historische Kontinuität unseres alten nationalen Inhalts nicht herstellen ; der Riss bleibt, und die Reformation mag eine Neuschöpfung sein eine Renaissance ist sie nicht.

Dennoch können wir Grosses und Wertvolles aus den Trümmern der Religion für das Galuth erretten. Und zwar Grosses und Wertvolles aus der sogenannten Schale : Die nationalen Lebensformen unserer Gesetzesverfassung müssten auch für nichtreligiöse Juden nationale Sanktion erlangen, müssten national bindend werden.

Und auch viele der Gesetze, die uns national um- grenzen, die unsere Volkssonderung durch Erstellung von Scheidewänden in einem gewissen Masse schützen und die Möglichkeiten der Vermischung vermindern ; ja all die Vorrichtungen, die uns ein nationales Ghetto in der fremden Umwelt erhalten können, sollen uns willkommen sein. Wir sollen sie erretten.

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Wir müssen uns alle Wege der nationalen Einbürge- rung ins fremde Volkstum verbauen, müssen alle Tore der Angleichung und Ausgleichung achtsam meiden.

Unter diesem Gesichtswinkel gesehen, gewinnt unsere alte Institution der Jeschiboth eine gewisse nationale Be- deutung. Sie hat sich durch Erziehung zur Versenkung des ganzen Menschen im Judentum und zur Weltfremd- heit gegenüber der fremden Umwelt ein grosses Verdienst an der Erhaltung unseres Volkstums erworben. Auch dieses geschichtliche Institut muss in neuer Gestaltung errettet werden.

Ruine der Sprache. Wir verhehlen uns nicht, dass auch mit dem denkbar grössten Aufwand nationaler Anstren- gung die hebräische Sprache niemals zu einer Volkssprache im Galuth ausreifen wird ; sie kann der Macht der Landessprache nicht standhalten. Und doch müssen wir sie in den Mittelpunkt unserer nationalen Arbeit stellen. Wir müssen, soweit wir es nur können, die sprachliche Assimilation hemmen und vornehmlich auf diesem Gebiet eine Brücke zwischen Galuth und Erez Israel schlagen.

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, ist der Kampf gegen Jiddisch in den Diasporaländern oft unbedacht und ungerecht. Wohl birgt der Jargon eine nationale Gefahr in sich, insofern er zu einem Kultus erhoben wird. Der Jiddischismus als Idee, als Antihebraismus, nicht Jiddisch als Volkssprache, hat einen Zug, den wir auch in der Entstehungsgeschichte des Urchristentums vorfinden. Die ersten Judenchristen waren vom guten Willen geleitet, das Judentum zu erleichtern und durch Zugeständnisse und Anpassung den unteren Volksschichten, dem Am

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Haarez zu ermöglichen ; sie traten gegen die Strenge der Schriftgelehrten auf, welche umgekehrt das Judentum nicht zum Am-Haarez herabsteigen lassen, sondern ihn in Zucht des Gesetzes zum Judentum erheben wollten. Auch die Jiddischisten glauben das Judentum dadurch retten zu sollen, dass sie es, vom Joch der hebräischen Gelehrsam- keit und Tradition befreiend, den Volksmassen leichter und bequemer machen, dem Am-Haarez anpassen wollen ; daher ihr Erfolg der Popularität. Das Galuthjudentum wird aber durch diese Erleichterung, durch diese Absage an unsere historische Sprache, vom palästinensischen Juden- tum der Zukunft losgerissen und würde, wie das populäre demokratische Urchristentum, in eine neue Gestaltungs- art des Judentums ausscheiden, wenn es eine Zukunft hätte. Dennoch ist der Fortbestand des Jargons ein Gebot nationaler Klugheit : er erfüllt die Funktion einer natio- nalen Scheidung zwischen uns und den anderen Völkern. Es ist müssig, an seine Bastardabstammung, an seine fremdstammige Mutter zu erinnern. Uns muss es genügen, dass er im Galuth zu einem nationalen Differenzierungs- moment geworden ist.

Wir müssen um ihn besorgt sein. Er protzt noch zwar mit seiner Stellung in der Gegenwart ; er ahnt nicht, dass er mit dem Fall der letzten Ghettomauern im Osten höchst bedroht ist. Die Realität des Jiddischen ist brü- chiger als die des Hebräischen. Das Hebräische bewahrte sich einen Platz ausserhalb und neben der Alltags- Wirk- lichkeit, in der Sabbatseele des Juden, im Heiligen und Feierlichen, als Sprache des Gebetes, des Segens, der Weihe und vornehmlich als Sprache des Schrifttums, des Buches : sie rivalisierte nicht mit der Verkehrssprache

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und ist von der „jüdischen Gasse" unabhängig gebheben. Jargon hingegen ist wesentHch die Sprache des Alltags, sein Schicksal ist daher an die Ghettogasse gebunden ; verschwindet sie, muss auch er verschwinden. Er hat nicht Wirklichkeit genug, um mit der Sprache der Um- gebung wetteifern zu können, hat auch nicht die Kraft und Würde des Heiligen, Weihevollen, des Historisch- Nationalen, um sich ausserhalb und neben den fremden Sprachen einen Platz in der jüdischen Seele zu retten. Auch er bedarf mithin der bewussten, gewollten Erhal- lungsmittel, einer Art nationaler Subvention. Hebräisch und Jiddisch wollen beide im Galuth der Moderne künst- lich gepflegt werden ; d. h. im Widerstand gegen fremde Realität. Beiden ist hier ein Los beschieden : sie sind Werkzeuge der Nationalisierung in einer Uebergangszeit, haben aber keine nationale Zukunft.

Die Wahrung des Jiddisch ist, von seinem nationalen Eigenwert auch abgesehen, als die Wahrung eines volk- lichen Sonderungs- und Absonderungsmoments im Bereich der Unterwegs-Aufgaben von nicht zu unter- schätzender Bedeutung.

Hebräisch und Jiddisch sind also an der Opposition ge- gen die fremde Landessprache gemeinsam beteiligt. Unsere alten Volksführer, unsere Gesetzeslehrer haben in ihrer nationalen Weitsicht die grosse Gefahr richtig einge- schätzt, als sie über das Erlernen der Landessprache von Zeit zu Zeit Verbote verhängten. Durch die Hintansetzung der Landessprache werden uns natürlich viele Nachteile im Kampf ums Dasein erwachsen. Wir müssen aber diese materiellen Opfer bringen, um unserer nationalen Idee willen, müssen dem Anschluss an die fremde Sprachge-

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meinschafl alle Schwierigkeiten in den Weg legen, müssen dem Heimischwerden in der fremden Literatur entgegen- wirken. Wir dürfen nicht uns und unseren Kindern auf Kosten unseres Volkstums den Erfolg im Leben erleich- tern.

Im Galuth leben wir in einem nationalen Kriegszu- stand und müssen alle Mittel in unserem Kampf um unser nationales Dasein gebrauchen, auch vor Notbehelfen nicht zurückscheuen. Wir müssen alle nationalen Werte ergiebig machen. Auch nationale Bagatellen, auch, wie der Hebräer sagen würde, ,,die leichten Heiligtümer*' der Nation gewinnen in einer solchen Lage einen grossen Wert. Wie Jakob, von Esau verfolgt, selbst die kleinen Krüglein nicht preisgeben wollte, so müssen auch wir die kleinen nationalen Gefässe in weiser Vorsicht hüten : wir sind unterwegs.

Wir sind in der Fremde dazu verdammt, gleichsam kleinlich im Nationalen zu sein. Wir können hier nicht verschwenderisch sein, können in Wurzellosigkeit uns nicht den Luxus der Entwertung und Neuprägung ge- statten, die wir als bodenständig zu vollziehen haben werden. Wir können im Galuth nicht wahrhaft schöpfe- risch sein ; können nicht umbauen oder neubauen und sind gehalten, auch manch Altes und Veraltetes behutsam zu schonen. Wir müssen ein ausserinhaltliches Kriterium gelten lassen, das Kriterium nationaler Formkraft. Was uns national formen kann, soll uns teuer sein.

W^ir haben in der nationalen Anomalie des Exils viele Rücksichten zu üben, Rücksichten einer Situation be- ständiger Gefahr, Rücksichten der Schwäche, des Wan-

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kenden, des Fallsüchtigen. Doppelte und vielfache Rück- sichten : Rücksichten mit uns, den Wurzellosen, Rück- sichten mit den Anderen, den Verwurzelten, in deren Mitte wir leben und die wir national nicht stören sollen. Es sind eben die Gebote, die an chuz l'arez, an das Ausland, an die Fremde gebunden sind. Es sind eben die Lasten einer nationalen Ausnahmelage, die Beschwerlichkeiten des Diasporadaseins. Es ist töricht zu wollen, dass ein Volk im Zustande einer nationalen Abnormität nach der Norm der territorialen Nationen leben soll.

Wir bedürfen in unserer Kampfeslage ungewöhnlicher Schutzmassregeln ; wir müssen uns, wie gesagt, Gesetze eines Kriegszustandes auferlegen. Wir sind in der Fremde und müssen leiden. Wir sind unterwegs und können es nicht bequem haben. Dies ist auch unser Trost : Wir sind unterwegs.

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SECHSTES KAPITEL

DIE HEROISCHE EXISTENZFORM

Eines der wichtigen Erfordernisse unserer nationalen Gegenwartsarbeit ist die tatkräftige Kundgebung unseres nationalen Bekenntnisses und Willens. Im Bereich dieser Aufgaben ist ein zweites Erfordernis eingeschlossen, das man als das Desavouieren, das Lügenstrafen der Assi- milation bezeichnen kann.

Kundgebung unseres nationalen Bekenntnisses und Wil- lens. Einige dieser Momente wurden schon im vierten Kapitel gev/ürdigt, ihre volle Erhellung kann sie jedoch erst an dieser Stelle im Zusammenhang mit den anderen Momenten nationaler Manifestation erlangen.

Wir müssen vor allem unsere Anerkennung und Geltung als nationaler Fremdkörper erringen, als ein lebendiger Volksorganismus, der seine Fremdheit nicht aufgeben will und bereit ist, die gerechten Nachteile der Fremdheit um des Judentums willen zu tragen.

Moses Mendelsohn sagte : ,,Wenn die bürgerliche Ver- einigung unter keiner anderen Bedingung zu erhalten ist, als wenn wir vom Gesetze abweichen, das wir für uns

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noch verbindlich halten, so tut es uns herzHch leid, was wir zu erklären für nötig erachten : so müssen wir lieber auf bürgerliche Gleichberechtigung Verzicht tun. Es steht nicht bei uns, hierbei nachzugeben." Wir müssen eine ähnliche Erklärung inbezug auf die stillschweigende oder ausgesprochene Bedingung einer nationalen Konzession abgeben.

Wir müssen alle Folgerungen aus diesem nationalen Bezeugen ziehen. Unser Bekenntnis soll aufrichtig und vollwertig sein. Auch hier knüpfen wir zunächst an die Folgesätze des vierten Kapitels an.

Welchen hohen Grad muss die nationale Entartung er- reicht haben, dass auch Nationaljuden deutsche, franzö- sische, englische Patrioten sein oder sich als solche gebärden konnten? dass auch ihre Herzen vor Freude überströmten, wenn ein Kaiserwort oder ein Wort impe- rialistischer Demokratien uns mit der Versicherung be- glückte : Fortan gibt es nur noch Deutsche ! Fortan gibt es nur noch Franzosen I Müssten wir nicht gegen diese Parole mit Entrüstung Stellung nehmen und fragen : Und Juden ? Gibt es fortan keine Juden ?

Und was sollen uns die jüdischen Helden in fremden Kriegen? Was hat das Judentum mit ihren fremden Orden, mit ihren eisernen Kreuzen oder mit den Kreuzen des Heiligen Georg oder der Heiligen Anna zu schaffen ? Das jüdische Volk hat keinen Grund, sie durch jüdische Orden auszuzeichnen. Sie sind nicht unsere, sie sind nicht jüdische Helden.

Viele jüdische und nichtjüdische Vorkämpfer der Juden- emanzipation berichteten mit Genugtuung von unseren Helden, den Freiwilligen, und schrieben ungefähr in fol-

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gender Tonart : „Durch die Seelen der Juden geht ein starkes Wollen : Jetzt fechten wir uns heraus aus dem Viertelbürgertum, dem verhassten Metökentum, in die Vollbürgerschalt. Jetzt können und wollen wir zeigen, dass wir unser Vaterland nicht minder heiss lieben als alle an- deren. Wir wollen alle Kräfte spannen, der lieben Heimat zu leben und zu sterben, aber auch dem Namen der Väter, der viel verlästerten, neue Ehre zu gewinnen. Jetzt zeigen wirs ihnen, denen drüben und denen hüben"... Haben diese Streiter für unsere Gleichberechtigung nicht gemerkt, dass sie die jüdischen Helden nur ver- leumdeten? Welchen sittlichen Wert hat das Heldentum, das um des Heldentums willen geschieht? das zeigen will, dass man heldenmütig sein kann? das von einer klugen Berechnung des Effekts ausgeht, denen hüben zu imponieren und als Preis das Vollbürgertum zu er- wirken — ein Heldentum, das die Gleichberechtigung er- kaufen will?

Viele jüdische Blätter wussten von grossen Heldentaten jüdischer Soldaten zu berichten. Ein jüdischer Soldat, der in einem feindlichen Krieger einen Juden erkannte, wurde einen Augenblick unsicher und zögerte mit der Waffe, aber seine Pflicht kam ihm sofort zum Bewusstsein und er erschlug den „Feind" ; er wurde für diese Tat mit dem eisernen Kreuz zweiter Klasse belohnt. Ein anderer Bericht erzählt von den Heldentaten eines jüdi- schen Soldaten, der sich auf fünf Feinde, die er plötzlich gewahr wurde, mutig losstürzt, drei von ihnen erdolcht, die zwei Entkommenen verfolgt, bis er den vierten er- sticht und den fünften, da sein Dolch zerbricht, mit den Händen erwürgt... .Jüdische Helden?

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Wo war der alte jüdische Mut, der den Heldenmut dieser Art offen verschmähte? Wo die Gebärde des jüdi- schen Seelenadels, die das Lob unserer neuesten Helden- taten zurückwiese? Wird uns geschmeichelt : Die modernen Juden haben in diesem Kriege dem vielverlästerten Namen ihrer Väter neue Ehre gewonnen müssten wir nicht stolz und aufrecht erwidern : Nein, sie haben dem vielverlästerten Namen unserer Väter keine neue Ehre gewonnen. Unsere Väter haben diese Ehrenrettung nicht nötig. Sie waren tapferer als ihre modernen Söhne, die aus Angst, feige geschimpft zu werden, Heldentaten zeigen. Unsere Väter haben auf den Vorwurf der Feigheit gar nicht reagiert : ihr Ehrgefühl und ihr Ehrbegriff verbot es ihnen. Sie waren auch gegen all die Ehrabschnei- dungen gefeit : sie standen über ihrer Umwelt sittlich zu hoch, als dass sie diese Schmähungen hätten treffen, hätten beleidigen können. Und nicht nur Verachtung, sie hatten auch ein Gefühl des Mitleids für ihre erbärmlichen Lä- sterer. Jedenfalls waren sie nicht so schüchtern und so gefallsüchtig, innerlich unsicher und um die Meinung der Anderen zitternd, wie die Kriegshelden der jüdischen Moderne.

Müssten wir nicht, wir Nationaljuden, die neue Tugend, die man an uns entdeckt haben will, in Misskredit brin- gen und in aller Öffentlichkeit erklären : Das Judentum hat keinen Grund, auf seine Kriegshelden stolz zu sein. Erstens, sie kämpfen nicht für die Sache des Judentums, sie kämpfen für das Deutschtum, für das Franzosentum usw. Sie streiten nicht gegen die Feinde des Judentums, sie streiten gegen die Feinde Deutschlands, Frankreichs usw. Die Annahme ist auch zulässig, dass gar viele die-

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ser Helden Verräter am Judentum sind, die uns in un- serem schweren Kampf um unsere nationale Existenz feige im Stiche Hessen, Fahnenflüchtige, Ueberläufer, jü- dische Deserteure : Assimilanten. Können uns diese Hel- den der Fremden-Legionen zur Ehre gereichen ? Zweitens, das Kriegsheldentum ist dem Juden nicht eigen. Es mag sein, dass unsere Ahnen vor Jahrtausenden tüchtige Krieger waren. Aber wir haben sie nicht mit einer Glorie umwoben. Wie lautet doch der Raschi-Kommentar zum biblischen Vers: Und Jacob floh... „Er fürchtete zu töten und fürchtete, getötet zu werden". In unserem geschicht- lichen Bewusstsein lebt die Verherrlichung anderer Hel- dentaten unserer Väter, der Taten unserer Heiligen.

Wir, die Heimatlosen, können uns nur auf dem Boden des Pazifismus und der internationalen Menschheitsideale im Exil noch ein wenig heimisch fühlen. Es ist bedeutsam, dass unter den unzähligen Verleumdungen, die über uns ausgestreut wurden, die Beschuldigung fehlt : wir wären kriegslustig. Die Kriegsideologie ist uns völlig fremd ge- blieben. Wir sind soweit zurück, dass wir das Faktum der Kriege nicht zu begreifen vermögen. Echte Juden stehen vor diesem Phänomen wie vor etwas Unfassbarem und können in die fast ununterbrochene Wirklichkeit des Völkermordens, in deren Geschichte und Logik keine rechte Einsicht gewinnen. Wir könnten ofilen zugeben, dass wir die Kriegstapferkeit nicht besitzen. Ja wir sind blutscheu, wir schrecken vor Blutvergiessen bebend zu- rück. Wir können nichts dafür. Unsere Religion hat es uns angetan, hat uns zu solchen ,, Schwächlingen" er- zogen ; unsere Propheten verpflanzten in uns eine un- überwindbare Ehrfurcht vor dem Mitmenschen, dem

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Ebenbild Gottes ; unsere Gesetzeslehrer lehrten uns das Leben als heilig und schrieben uns grösste Schonung aller lebendigen Wesen vor. Wir können nichts dafür, dass der Degen in unserer Hand zittert ; dass wir „weich- herzig" sind und es uns auch vor Tierquälerei graut. Schliesslich haben wir seit zwei Jahrtausenden den Ge- brauch der Waffe verlernt. Wir sind im Handwerk des Mordens ungeübt. Der Spiess der Horden und das ritter- liche Schwert waren nicht unsere Waffen im Daseins- kampf, auch nicht unsere Zierde. Wir sind seit zwei Jahrtausenden die Passiven in der Kriegsgeschichte der Menschheit, die Verfolgten, die Bekriegten. Und wir sind seit zwei Jahrtausenden die Wehrlosen, die Waffenlosen. Wie sollten wir plötzHch kriegerischen Heldengeist offen- bart haben ?

Nein, sagen wir zu den Völkern haben sich die Juden in diesem Kriege als Helden bewährt und ist Kriegs- heldentum eine Tugend, so ist diese Tugend auf das Konto eurer Kultur, in der diese Juden aufgewachsen und der sie verhaftet sind, und nicht auf das Konto des Judentums, dem sie entfremdet sind, zu setzen ; so ist es die angeworbene Tugend der Assimilation, ein Ruhmes- titel der Entjudung. Das Judentum soll sich nicht mit fremden Federn schmücken. Und wenn man uns das Kompliment macht und sagt : Nun haben wir das Vor- urteil von der militärischen Minderwertigkeit der Juden abgelegt ; so wurde eigentlich das Vorurteil abgelegt, dass wir noch echte Juden wie unsere Väter wären. Das wahre Judentum hat andere Waffen des Kampfes. Das Juden- tum kennt ein anderes Feld der Ehre: den Scheiter- haufen, das Auto-da-f6. Das Judentum kennt ein anderes 160

Heldentum, das stille Heldentum : den Tod um der Treue des Bekenntnisses willen, um der Heiligung des Namens Gottes willen ; das Heldentum jener Juden, die die Zumu- tung, irgend einen aus ihrer Mitte als den rituellen Mörder eines christlichen Kindes zu bezeichnen und auszuliefern, mit Selbstentleibung im Bethause beantworteten, um nur nicht einen Unschuldigen zu verleumden ; das Heldentum der zehnjährigen ,,Nikolajewsky Soldaty" (Soldaten des Nikolaj I), die fünfundzwanzig Jahre lang mit den scheuss- lichsten Mitteln für das Seelenheil des Christentums ge- notzüchtigt wurden und standhielten diese jüdischen Kinder, die sowohl den Verlockungen verführerischer Näschereien als den Foltern der Ruten Widerstand leisteten, diese Kleinen, die grossen Dulder, mit denen das mächtige Zarenreich nicht fertig werden konnte, nur diese jüdischen Soldaten in fremden Heeren waren unsere Helden ; das Heldentum der Juden in Kowno, die (im Jahre 1915) vor die Wahl gestellt, einige Ge- meindevorsteher als Geiseln zu stellen oder sämtlich vertrieben zu werden, das letztere wählten. Wahrlich, das Judentum kennt eine andere Art des Heldentums : das Martyrium eines kleinen Volkes, das zwei Jahrtausende einer Welt von Feinden trotzt.

Und noch mehr müssten wir sagen : dass ein volks- treuer Jude nur ein jüdischer und kein anderer Patriot sein kann. Wir haben es bereits erkannt : Sind wir eine nationale Einheit in einer Vielheit von Wohn- ländern, so gibt es für das Diasporajudentum keine Lan- desgrenzen und mithin keine Grenzstreitigkeiten ; so sind die Kriege der Landesvölker nicht unsere Kriege, ihre Differenzen nicht unsere Differenzen, ihre Feinde nicht

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unsere Feinde. Ihre Eroberungsgelüste, ihre Ansprüche, ihre Kriegsziele sind nicht die unseren. Erringen sie einen Sieg, ist es kein Sieg des Judentums und kein Anlass für uns zujubeln ; erleiden sie eine Niederlage, so ist es keine Niederlage für das Judentum und kein Anlass für uns zu trauern. Ihre Interessen sind auch gar oft den Interessen unseres Volkes entgegengesetzt. Kurz, die jüdische Politik als die Wahrung der Interessen eines in vielen Ländern aufgeteilten Volkes durchbricht die Grenzen der Reichs- politik dieses oder jenes unserer Wohnländer.

Nur mit den Halbheiten der jüdischen Assimilation konnte, wie wir wissen, der Widersinn platzgreifen : wir sind Juden und deutsche, französische usw. Patrio- ten. Allein auch viele Nationaljuden hinken auf diesem gefährlichen Terrain den Assimilanten nach und klam- mern sich ebenfalls an jene kluge, wunderwirkende For- mel, die das peinliche Problem der doppelten Treue, der Treue zum angestammten Volke und der Treue zum adoptierten Vaterland so glatt und günstig lösen soll. Es ist im Grunde die gleiche Halbheit. Nur sind die einen halbe Assimilanten, die anderen halbe Nationalisten. Und sie treffen sich dort, wo charaktervolle Klarheit unbe- quem ist : ihr Durchschnittspunkt ist der wunde Punkt des Patriotismus.

Das Entweder-Oder des Problems kann doch nicht in ein Sowohl-Als verwandelt werden. Entweder bilden wir in unserer territorialen Aufteilung ein Volksganzes, das über die Landesmarken und Interessengemeinschaft der einheitlichen Völker hinaus seine eigene nationale Politik hat ; oder wir sind bloss eine Religionsgesell- schaft : Deutsche, Franzosen mosaischer Konfession und

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können gute Patrioten sein. Entweder haben die Anti- semiten mit ihrer „Verleumdung** recht, dass wir eine internationale Nation seien ; oder der Synagogenvor- stand in Hammerstein in Westpreussen war bald im Recht, als er die Bestattung eines jüdischen Soldaten aus Frankreich mit Empörung zurückwies : man könne ihm doch nicht zumuten, dass er auf dem jüdischen Friedhof in Hammerstein einen Feind beerdigen lasse...

Hatten selbst Nationaljuden es je auszusprechen gewagt, dass der Jude im Feindeslande uns nähersteht als unsere Waffenbrüder, als der Deutsche dem deutschen, der Franzose dem französischen Juden?

Es entspricht dem Doppelsinn und dem Doppelspiel der Assimilanten, dass sie die Mission der Zerstreuung anbeten und sie gleichzeitig zunichte machen. Wohl hätte das Judentum als international zerstreute Einheit grosse Aufgaben erfüllen können. So könnte es in diesem Kriege der Aufgabe dienen, als nationales Zwischenglied ein Bindeglied unter den verfeindeten Nationen zu sein. Voraussetzung für diese von der Assimilation glorifizierte Mission ist eben die Nichtassimilierung der Juden. Sonst hört ja die Volkseinheit und mit ihr die Zerstreuung auf; diese wird Trennung. Wo ist die geschichtliche Berufung der Zerstreuung, wenn Juden als Patrioten ihrer Wirts- völker sich gegenüberstehen?

Die Galuthpolitik unserer Väter kannte auch keinen anderen als den jüdischen Patriotismus. Sie trauerten über den Sieg ihres Wirtsvolkes, wenn er für die Juden- heit eines anderen Landes Unheil bedeutete ; und um-

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gekehrt. Ihre Sympathien für Volk und Land waren ausschliesslich am Interesse des Judentums orientiert. Sie galten oft nicht ihren eigenen Wohnländern, sondern den Wohnländern ihrer Volksgenossen, insofern in die- sen fremden Ländern die Lage der Juden eine bessere, würdigere war. Das Land, das seinen Juden Schutz gewährte, durfte der Liebe der gesamten Judenheit in allen Ländern sicher sein ; das Land, das uns unter- drückte, war auch seinen Juden verhasst. Jedenfalls kann- ten wir keine anderen „Feinde" als die Feinde Israels (Ssojnej Ijsrael). In einem gewissen Sinne : ubi bene, ibi patria, wo patria nicht Vaterland schlechthin ist, sondern die Anhänglichkeit an Volk und Land, die Anhänglichkeit in der Heimatlosigkeit. Daher musste die platte Ansicht von einer grossen Anpassungsfähigkeit der Juden auf- kommen. Diese Anpassungsfähigkeit ist aber nicht, wie allgemein geurteilt wird, auf ein dem Juden besonders eigenes Vermögen zurückzuführen. Uns war in der Dia- spora die Anpassung an eine neue Heimat leicht, da wir in unserer alten Heimat keine Wurzel fassten und nicht entwurzelt wurden, wenn wir unseren Wohnort wechsel- ten. Wir haben kein Land im Exil als Vaterland ange- sehen.

Die Westjudenheit hat wohl die Tragik der russischen Juden, die für die Ziele ihrer Peiniger ihr Blut hergeben mussten, mitempfunden ; auch die Tragik der rumänischen Juden, die für eine Entrechtung ihrer Brüder in Bessara- bien sich aufopfern mussten ; sie hat aber nicht ihre eigene Tragik erkannt, dass sie für fremde Kriegsziele und vielleicht auch wenn nur ein Vielleicht gegen die Interessen des jüdischen Volkes in der Diaspora und

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gegen die Lebensinteressen seiner nationalen Zukunft kämpfen musslen. Man denke an die Fronten der jü- dischen Massensiedlungen und, last not least, an Palä- stina...

Unser jüdisches Gefühl ist so sehr abgestumpft, dass wir es nicht mehr als Grausamkeit empfinden, wenn man uns zwingt ach, wir sind schon so weit, dass wir es freiwillig tun Bruder gegen Bruder zu kämpfen. Unser Sinn ist national so desorientiert, dass wir nicht mehr die Schmach empfinden, wenn man uns als kriegstüchtig preist und wenn man uns nicht als Volksfremde wertet und hohe militärische Amter anvertraut. Unsere Väter sahen den Zwang des Militärdienstes für Juden als eine Ungerechtigkeit an und hätten lieber auf manche Rechte verzichtet als diese Pflicht, die unsere Volkseinheit in der Zerstreuung untergräbt, in Kauf zu nehmen. Der Volks- mund klagte daher : „Durch Messias Schuld da er zu kommen zögert ist mein Sohn Soldat geworden".

Man warf und wirft uns mitunter Drückebergertum vor. Wir Nationaljuden haben keinen Anlass, auf diese Be- schuldigung zu erwidern. Wir können ein vermindertes Mass von Kriegsbegeisterung bei Juden nur natürlich finden und keinesfalls beklagenswert. Man darf von uns vorausgesetzt, dass man uns volle Gleichberechti- gung gewährt und sie ehrlich durchführt nur eine korrekte Pflichterfüllung, nicht aber Begeisterung ver- langen. Man muss uns schon eine gewisse Kühle, eine gewisse Zurückhaltung gestatten : man muss auf unseren inneren und äusseren Konflikt und seinen Schmerz etwas Rücksicht nehmen. Wir müssten die Feststellung einer

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Gleichartigkeit zwischen Juden und NichtJuden hinsicht- lich der Kriegslust und des Kriegseifers als eine Beschä- mung hinnehmen ; die Feststellung eines Unterschieds zu Ungunsten sowohl unserer Kriegstüchtigkeit als auch Kriegsfreudigkeit mit Genugtuung entgegennehmen. Es ist immerhin fraglich, ob nicht das jüdische Freiwilli- gentum uns mehr belastet als das angebliche oder tat- sächliche Drückebergertum.

Jedenfalls kränkt uns mehr, belastet uns mehr ein anderes Verbrechen in unserer Mitte : die Drückeberger unseres eigenen Volkes, die Assimilanten...

2.

Wir sehen, es ist eine Umwertung vieler Werte, die ein aufrechtes Nationaljudentum zu vollziehen hat. Von seinem Blickpunkt aus verwandelt sich gar manche Tu- gend in Untugend, Tadel in Lob. Es entsteht gleichsam eine neue Optik, in der Perspektive wie in der Retrospek- tive. Die freimütige Kundgebung unseres nationalen Bekenntnisses und Willens in voller Tragweite ist nicht nur ein Gebot der Aufrichtigkeit Folgerichtigkeit ist die logische Voraussetzung der moralischen Aufrichtig- keit — sondern auch der nationalen Politik. Wir müssen eine Umw^ertung der Werte der Assimilation auf der gan- zen Linie vornehmen.

So stellt uns unsere nationale Politik jene Aufgabe, die als Desavouieren des Assimüationsjudentums oben ge- kennzeichnet wurde.

Ein Jahrhundert lang wird das jüdische Volk von seinen eigenen Söhnen verleumdet : dass Israel nicht seine Er- lösung aus der Fremde, sondern seine Auflösung in der 166

Fremde ersehnt. Ein Jahrhundert lang wird am jüdi- schen Volke schnöder Verrat geübt. Kein Wunder, dass selbst Juden an diese Verleumdung glauben. Kein Wun- der, dass der Verrat schon historische Sanktion erlangt hat.

Junge, halbzivilisierte Völker, ,, Völkerabfälle", die gestern noch unbekannt waren und heute wie aus einem Versteck unvermittelt in die Erscheinung treten, ihre im Entstehen begriffene oder seit Jahrzehnten datierte Volks- werdung verkünden und nationale Ansprüche geltend machen, werden angehört, werden anerkannt. Nur das alte, das älteste, das datumlose Kulturvolk findet keinen Glauben, wenn es seinen nationalen Willen zum Leben bezeugt. Man hat kein rechtes Vertrauen zu unserem Na- tionalismus. Zu tief sitzt in der Anschauung unserer Wirtsvölker die Kunde von der Todesbereitschaft Israels. Die jungen Nationen finden Beachtung, weil sie Neuent- deckungen sind ; über uns aber herrscht längst eine fer- tige Meinung, welche von der Assimilation auf allen Ge- bieten wissenschaftlicher, publizistischer und künstleri- scher Beurteilung gründlich vorbereitet worden ist. Man ist misstrauisch, weil wir als Volk schon einmal gelebt und als gestorben angemeldet und vermerkt wurden. Vielleicht ist unbewusst auch jenes Angstgefühl hierin bestimmend, das das Erwachen eines Scheintoten hervorruft.

Die Assimilanten beruhigen sich und die Völker : Das Nationaljudentum sei eine Reaktion auf den Antisemitis- mus und würde mit ihm verschwinden. Wir, die wir diese Beruhigung zuschanden machen wollen, müssen erklären : Das national lebendige Judentum ist keine Re- aktion, ist Primäres, Unbedingtes. Vielmehr ist der Anti-

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semitismus eine Reaktion auf den nationalen Fremd- körper des Judentums, den wir in seiner Fremdheit er- halten wollen. Ist jedoch unser modernes Nationaljuden- tum eine Reaktion, so nur auf den inneren Antisemitis- mus : auf die Assimilation.

Wir müssen die Assimilanten vor dem Forum der gros- sen Oeffentlichkeit diskreditieren. Wir müssen es durch- setzen, dass der Wille des jüdischen Volkes von seinem Feinde im Innern nicht mehr verfälscht wird. Juden, die aus dem jüdischen Volkstum national ausgetreten sind, also die Assimilierten, oder die diesen nationalen Austritt erstreben, also die Assimilanten, haben ipso facto jedes Recht verwirkt, im Namen des Judentums zu reden und zu handeln. Es ist ein doppeltes Unrecht, wenn auch sie als Juden verfolgt werden...

Man soll Juden mit Assimilanten nicht verwechseln, weder im Guten noch im Schlechten. Man soll uns unter- scheiden, man soll wissen, dass unsere Assimilanten nicht zu uns gehören ; man soll sie wenigstens vom jüdischen Volke als einen Ausschuss scheiden lernen. Sie lehnen die heroische Verantwortung für das Judentum ab, warum soll das Judentum für sie verantwortlich sein ? Diese contradictio in adjecto entjudete Juden sollte auf- hören, als einer der vielen Judentypen zu gelten ; sollte auf- hören, als eine bestimmte Daseinsform des Judentums angesehen zu werden. Es ist eine Ungerechtigkeit, dass ,, Stammesgenossen", deren Judesein sich lediglich auf das Interesse beschränkt, das Judentum schleunigst aus der Welt zu schaffen, als Juden bezeichnet werden.

Wir müssen die Assimilanten auch moralisch bloss- slellen : ihre Unstandhaftigkeit, ihren Mangel an Distanz-

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sinn, ihre Klebigkeit, Schwammigkeit und Vermischbar- keit, ihre Zweideutigkeit und nicht zuletzt ihre Untreue gegen ihr Volk, die auch auf ihre allzu sehr betonte Treue zum adoptierten Volk einen Schatten wirft.

Wir müssen auch ihre Gönner diskreditieren : es sind die sogenannten Philosemiten. Wir haben sie schon kennen gelernt und wissen, dass Philosemiten nicht Freunde der Juden, sondern Freunde der jüdischen Assi- milanten sind. Wir wissen, dass ihre Komplimente für das Judentum beleidigend sind ; dass ihre Verteidigung unserer Gleichberechtigung einen Angriff auf unser Recht zur nationalen Sonderart darstellt und im besten Falle auf den Prämissen von unserer Verquickungsfähigkeit aufgebaut ist.

Wir müssen viele ,, Vorurteile" über das Judentum, die dank unserer Assimilation abgelegt worden sind, wieder herstellen. W^enn man auf den entjudeten Teil des Volkes wohlwollend hinweist und sagt: Sehet euch diese Juden an, sind sie nicht uns gleichwertig, gleichen sie nicht uns an Bildung und Gesinnung? haben nicht die emanzi- pierten Juden einen Marx, einen Lassalle hervorgebracht? so wollen wir unsere Verteidiger in Verlegenheit bringen und erklären : Wir Juden wünschen nicht nach den Tu- genden der Assimilation beurteilt zu werden und lehnen es ab, ihre Grössen als Aktivposten des Judentums zu buchen ; wir wünschen nach dem Volksteil beurteilt zu werden, gleichviel ob mit uns günstigem oder ungün- stigem Ergebnis der an Bildung und Gesittung den NichtJuden nicht gleich ist... Wir können für unseren Volksgenius nur die Grössen in Anspruch nehmen, die im Nährboden des Judentums verwurzelt sind. Wenn

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man den ,, polnischen Juden" d. h. den Ostjuden vertei- digen zu müssen glaubt und sagt : Mit seiner Emanzipa- tion werden seine Fehler bald verschwinden , jedes Land hat die Juden, die es verdient", lautet diese köst- liche Verteidigung der Ostjuden und er wird wie unser Westjude aussehen; so wollen wir diese Beruhigung ver- eiteln und sagen : Er wird hoffentlich anders aussehen als der entfärbte Westjude.

Und auch dies: Wir müssen endlich aus unserer lächer- lichen Verteidigungstellung heraustreten, müssen zur Offensive übergehen. Wir sollen freimütig werden, frei- mütig aussprechen, was auf der Seele brennt. Und auf unserer Seele brennt eine grosse historische Anklage, die Israel gegen die Christenheit erheben muss. Die Schuld der Christenheit an Israel ist alt, bald zwei Jahrtausende alt, aber unverjährbar. Sie wurde immer aufgefrischt, er- neuert, vermehrt und ist ins Ungeheuere gewachsen. Keine Gemeinschaft ist sittlich so verschuldet wie die christliche. Die christlichen Judenpeinigungen haben nie eine Unter- brechung erlitten, wenn anders Christenheit und Juden- heit in ihren verschiedenen Ländern als historische Ein- heit betrachtet werden dürfen. Und noch ist diese schwere Schuld nicht abgeschlossen, geschweige denn getilgt. Israel wartet noch immer auf das gerechte Urteil des sittlichen Weltgerichts.

Wir klagen an. Wir klagen erst recht an, wenn man uns gewisse Laster nachsagt und nachweist, wir machen unsere Bedränger für sie verantwortlich. Wir klagen an, wenn man uns das Recht nimmt, gleich allen anderen Völkern fehlerhaft und unvollkommen zu sein. Es istviel-

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leicht das grösste Unrecht, das an uns begangen wird : dass man uns vor die Wahl stellt, entweder Tugendaus- bund oder Sündenbock für die Menschheit zu sein.

Hat man überhaupt noch das Recht, uns Verfehlungen vorzuwerfen? Jedes andere Volk wäre unter den fort- währenden Misshandlungen und Demütigungen zu einem Volk von Verbrechern verkrüppelt worden. Israel aber ist noch immer ein Volk von Priestern und speist noch immer die Menschheit mit Ideen des Kulturfortschritts, mit opfer freudigen Vorkämpfern für Freiheit, Recht und Gerechtigkeit. Das ist vielleicht sein Racheakt.

Man wagt es, uns Ausbeuter und Parasiten zu schelten ? Wir könnten es ruhig hinnehmen. Haben nicht Bedrängte, Verfolgte, Entrechtete gewisse Privilegien ? Vorrechte der Rechtlosigkeit, der Notabwehr, Vorrechte des Unrecht- leidenden gegenüber dem Unrechttuenden und schliess- lich des vergeblich Mahnenden gegenüber einem alten Schuldner? Aber wir dürfen es nicht ruhig hinnehmen. Wie? Wir, das expropriierte Volk par exellence; wir, die man von einem Land ins andere schleppte, so oft man uns für die Erschliessung wirtschaftlicher Gebiete be- nötigte, und schonungslos vertrieb, sobald wir unsere Mission als Pioniere erfüllt und den Weg für andere geebnet hatten sind wir die Ausbeuter oder die An- deren ? Wir, die man durch Leibzoll, Kopfsteuer, Schutz- und Erlösgelder und allerlei Judensteuer z. B. für das Privileg, Handwerk zu treiben oder in einem Orte sitzen und Kinder ,, ansetzen" zu dürfen viele Genera- tionen hindurch aussaugte und obendrein noch betrog, indem man die teuererkaufte und feierlichst zugesicherte Erleichterung unserer Pein mit boshafter Freude am er-

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schwindelten jüdischen Geld nachträglich verweigerte ; wir, die man wie Sklaven von Volk zu Volk, von Provinz zu Provinz verhandelte, verschacherte, wir sind die Aus- beuter ? Wir, die wir die ersten und grundlegenden Tafeln des Sittengesetzes prägten ; die wir unsägliche Leiden um unserer Kultur willen ertragen, an der nun- mehr alle gesitteten Völker man möchte beinahe sagen : wie lachende Erben zehren ; wir, die Schöpfer und Märtyrer einer welterschütternden Idee, die andere mühe- los und daher auch nur äusserlich übernommen und als eigenes Geistesgut reklamieren sind wir die Schma- rotzer? Wir, die wir der Christenheit ihren Gott und ihre ältesten Apostel gaben, fremden Völkern Denker, Künstler, Volksführer, Vor-Läufer, Vor-Kämpfer, könig- lich schenkten wir sind die Parasiten? Wie wäre es, wenn wir die vielfachen Judenzölle, die uns erbeutet wurden, berechnen und die Forderung der Entschä- digung für die Ausplünderung des jüdischen Volkes im Laufe von Jahrhunderten im Schuldkonto aufzählen wollten? Und wollten wir noch das Hab und Gut mit- berechnen, das uns bei den anlässlich christlicher Feiertage und kirchlicher Prozessionen veranstalteten Kra Valien geraubt wurde? Wer ist wessen Schuldner? Wie wäre es, wenn wir die christliche Kultur auf Gehalt untersuchen und feststellen wollten, wieviel sie dem Ju- dentum entnommen und mit welcher Redlichkeit sie das Entnommene verkündete? Oder wenn man gar fragen wollte, wie sie es belohnte? Wer wäre dann der Aus- beuter, wer der Parasit ?

Nein, wir verteidigen uns nicht. Wir klagen an. Wir klagen an, dass man uns die schuldige Dankbarkeit ver- 172

sagt ; dass man die Achtung, ja die Ehrfurcht, die ein Kul- turmensch vor Israel empfinden sollte, nicht besitzt ; dass man uns, uns verfolgend, auch noch um die Martyrer- krone beneidet und wiederum verfolgt...

Und wir fordern von der christlichen Welt, dass sie uns endlich Genugtuung gibt. Wir fordern Sühne für die Greueltaten, die sie an uns jahrhundertelang verübt, für all die Widerwärtigkeiten der Rechtsknebelung, die wir zu erdulden hatten und für die Schäden, die sie unserem Volkstum zugefügt hat. Wir fordern Sühne als Ab- bitte, Reue, Entsündigung : dass ihre Seele vom Gewissen gebissen und gesühnt werde, dass sie von einem Gefühl, einem grossen Schamgefühl erfüllt und so gereinigt werde.

In diesem Kriege wurde eine dreigliedrige Forderung aufgestellt : Sühne, Wiedergutmachung, Garantie. Auch wir fordern Erkenntnis der Schuld als die sittliche Sühne, nationale Rechte als Wiedergutmachung. Die Garantie für unsere nationale Existenz kann nur Erez Israel sein.

Und wir erklären : Solange dieses Schuldbewusstsein das Gefühl der Reue und das Bedürfnis der Sühne noch nicht erwacht sind, solange das ahe Unrecht nicht gut- gemacht und solange keine Garantien für unsere Zukunft geleistet wird; solange bleibt die in diesem Kriege auf alle Fahnen geschriebene Losung von Recht und Gerech- tigkeit — Ideale für die das Judentum, das ihr Priester und Opfer ist, die historische Verantwortung trägt und allein über ihre Echtheit zu entscheiden hat, ob sie wahrhaft oder heuchlerisch im Munde geführt, ob sie nicht als heidnisch gefälschte Münzen in Weltumlauf gesetzt werden eine Heuchelei, eine Tücke, eine mo- derne KriegswafTe...

13 173

3.

In dieser Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit unseres nationalen Bekenntnisses ist der oben angedeutete Cha- rakter der Erhaltung eines nationalen Diasporajudentums klar bestimmt. Es ist der heroische Charakter.

Wir wissen schon : Es ist die Erhaltung einer Anomalie, einer Tragik, einer Konflikt- und Kampfstellung. Die Er- haltung der Judenfrage, nicht deren Lösung.

Nun wissen wir mehr. Diese Erhaltung verlangt eine Rigorosität der Gesinnung und der Handlung, Strenge des Bekenntnisses, Anstrengung des Willens, Zucht, Hart- näckigkeit. Jedes Nachgeben und Nachlassen muss sich in dieser anormalen Lage schwer rächen. Biegsamkeit und Fügsamkeit sind unsere bösesten Verführer; scheinbar geringfügige Konzessionen können hier die grössten Folgen haben, kleine Lockerungen können uns jähHngs in die Flut der Assimilanten hinabstürzen.

Unsere erste Parole muss sein : Das Galuth kann nie aufhören, uns Zwang und Übel, ein Martyrium zu sein. Und die zweite Parole muss heissen: Der alte Kampf des Judentums wird fortgesetzt.

Die Erhaltung eines nationalen Galuth erfordert also ein starkes Geschlecht. Ein Geschlecht, das der Umwelt zu trotzen vermag und willig ist, Leiden eines ungleichen Antagonismus auf sich zu nehmen ; das im Genuss der Gleichheit ein gewisses Mass der Selbstbescheidung, ja einer vielfachen Entsagung üben und den Verlockungen hoher Ämter in fremdem Volksdienste widerstehen kann.

Ein solches Geschlecht kann aber nicht heranreifen, solange unsere modernen Retter Israels das Volk in den W^ahn einlullen, dass Gleichberechtigung und nationale

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Minderheitsrechte uns erlösen und aufrichten würden. So wird die Schlaffheit der Sorglosigkeit vorbereitet, die Willensschlappheit. Wir müssen dagegen die grausame Erkenntnis immerfort künden, dass Gleichberechtigung und nationale Rechte, die wir fordern und erlangen müssen, die Erhaltung und nicht die Lösung der Juden- frage bedeuten, dass es für uns keine Erlösung im Galulh geben kann. Tötliche Wahrheit? Nein, sie wird fruchtbar werden. Nur in ihr kann uns eine nationale Elite ent- stehen, nur in ihr kann sie ihre Eignung erproben. Eine Elite, die die tausendfältigen Gefahren kennt, die auf uns im Galuth lauern, und die sittliche Kraft besitzt, die In- dividualitäten aus der Masse der von materiellen Kräften Gestossenen aussondert. Eine Volkselite der Geistes- Adeligen, der Tapferen, der Opferbereiten, der Eiferer, der wie sie zur Zeit des zweiten Tempels genannt wurden Kanajim, Fanatiker ; die nicht von einem be- quemen Judentum im Exil träumen ; die erkennen, dass Galuth niemals den Charakter der Fremde, der Heimat- losigkeit verlieren darf, verlieren soll ; die wissen, dass Judesein im Galuth heisst Märtyrer sein, heisst Kämpfer sein, heisst mit den Mächten der fremdnationalen Wirk- lichkeit unablässig streiten und das Los des Exils, alle Nachteile der Fremde um der Eigenart willen würdig tragen ; die entschlossen sind, in Treue zum Eigenen und in Distanz zum Fremden ein Leben eines selbstgewoUten Ghettos zu gestalten.

Der tragisch-heroische Charakter der Galutherhaltung birgt in sich schon eine Verneinung des Galuth als einer Dauerform. Als Übergangsform jedoch darf sich diese

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Funktion der Erhaltung auf den heroischen Charakter unserer Galuthvergangenheit gewissermassen berufen und aus ihm Vertrauen für die Zukunft schöpfen. War nicht das ganze Volk eine Elite von Helden? Selbst im Assimilanten, der den letzten Schritt des Übertritts, die Taufe, verweigert und es vorzieht, ein Entrechteter und Verfolgter zu sein, als durch Preisgabe des Namens Jude die Vollberechtigung zu erkaufen selbst in diesem Abfall des Volkes wirkt noch bewusst und unbewusst die geschichtliche Kraft des jüdischen Heldentums, die Tapfer- keit einer Verzichtleistung. Nur ist dieses Heldentum halb, in sich gegensätzlich, weil bloss ein Trägheitsver- mögen, das sich mit dem Heroischen nicht paart. Daher die Ironie, die jener Tapferkeit anhaftet, die Ironie des Widerspruchs. Wird ein heroisches Judentum für das Galuth gefordert, so wird damit eigentlich nur eine Potenzierung des heroischen Jude-Seins im bestehenden Judesein, die Ganzheit und die Konsequenz dieser na- tionalen Tapferkeit gefördert.

Ich sagte mit Bedacht : Die heroische Erhaltung des Galuthjudentums als Übergangsreform darf sich für ihre Funktion auf den Charakter unserer Galuthgeschichte gewissermassen berufen. Gewissermassen : wir haben bereits den Wesensunterschied zwischen den zwei Grund- abschnitten des Galuth zur Genüge kennen gelernt, als dass wir noch in den Fehler der üblichen Analogie ver- fallen könnten ; den Wesensunterschied zwischen dem alten Galuthy das aus einem tiefen Glaubensquell seinen Daseins- und Leidenssinn schöpfte und in den inneren Ghettomauern seiner religiösen Gesetzesverfassung einen starken Schutz für volkliche Bindung und Scheidung

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gewährleistete, und dem modernen Galuth, das mit der Sprengung der äusseren und inneren Ghettomauern selbst verwüstete, die Kraft des Zusammenhalts und der Isolie- rung einbüsste.

Das alte Galuthjudentum hat zwei Jahrtausende ein Dasein des Heldentums geführt. Dem modernen Galuth- judentum kann wahrlich nicht ein dauerndes Heldentum eines beständigen nationalen Kampfes ums Dasein zu- getraut werden.

Nur eine Elite, eine kleine Gemeinde von Idealisten und Fanatikern, kann diesen Kampf gegen die erdrücken- den Wirtschafts- und Kulturwirkungen der fremden, terri- torial verwurzelten Mehrheitsnationen aufnehmen, kann die Aufgabe der Zwischenzeit erfüllen : Träger und Hüter des Judentums in der tragischen Unlösbarkeit, in der zwiefachen Anomalie des modernen Galuth, zu sein.

In Erez Israel soll das Judentum seine Norm erlangen. In Erez Israel wird das Judentum den heroischen Cha- rakter verlieren. Erst in dieser Wiederverwurzelung wird es sich nicht als ein Elite-, sondern als ein Volksjuden- tum entfalten können.

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SIEBENTES KAPITEL

DIE ZIONISTISCHE ZUVERSICHT

1.

Worauf stützt sich der Zionismus in seiner Hoff- nung, in seinem Glauben an ein jüdisches Palä- stina? Auf welche Momente der Wirklichkeit und Not- wendigkeit vertraut er, wenn er die Einstellung des nationalen Regenerationswerkes auf eine Vorwegnahme fordert? Steht denn die Erfüllung des Palästina-Ideals so ganz ausser Zweifel, dass diese radikale Einseitig- keit in der Negierung unseres Galuthdaseins statthaft wäre ? Woher dieser hohe Grad der Gewissheit oder auch nur der Zuversicht?

Diese Fragen haben im Laufe unserer Erörterungen teilweise und stillschweigend eine Erledigung gefunden. Sie haben nämlich in unserer Problemstellung keinen Platz. Das Judentum hat, wie wir wissen, im Galuth keine nationale Dauerzukunft. Es hat nicht viele oder zwei Wege für seinen Fortbestand, es hat keine Wahl. All jene Fragen sind also müssig. Dem Volke droht der Un- tergang und es gibt nur eine Reltungsmöglichkeit. Muss sie Gewissheit sein, um nach ihr zu greifen? Welchen

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Sinn hätte es, nach ihren Aussichten zu forschen? Es geht um das Sein oder Nichtsein der jüdischen Nation. Da darf nicht gefragt werden.

Diese Einseitigkeit und AusschüessUclikeit der Ret- tungsmögHchkeit verleihen dieser Möghchkeit die Dignität einer bestimmten Notwendigkeit. Sie ist nicht eine Eventualität, insofern jede andere Erhaltungsform des Judentums ausgeschlossen ist. Sie besitzt einen hohen Grad von geschichtlicher Realität, insofern eben das Sein oder Nichtsein des Judentums von ihr bedingt ist.

Theodor Herzl hat diese Art der Möglichkeit-Notwen- digkeit treffend formuliert : ,,Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Und wenn ihr nicht wollt, ist und bleibt es ein Märchen."

Wenn ihr wollt ist der Wille entscheidend ? Ist nicht dieser Wille achtzehn Jahrhunderte alt geworden ?

Wiederum müssen wir an den Wesensunterschied zwischen dem alten und dem modernen Galuth erinnern. Im alten Galuth hatte das Judentum sichern Halt in der erretteten und immer weiter ausgebauten Gesetzesverfas- sung seines tragbaren Staates, und die territoriale Ver- festigung war ihm nicht Daseinsbedingung. Es hing in Liebe und Treue an dem Land der Väter, es verzehrte sich in Sehnsucht nach der geheiligten Scholle Liebe, Treue, Sehnsucht, aber nicht tatenschwangerer und tatenzeugender Wille. Israel war von einem festen Glau- ben an seine Unzerstörbarkeit im Exil erfüllt, Israel lebte im beruhigenden Glauben an die Rückkehr der Söhne in das Land der Verheissung es konnte warten, es konnte sich sogar den Ausspruch gestatten : man dürfe das Ende nicht eigenmächtig beschleunigen wollen ; im

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Bewusstsein seiner Kraftfülle hatte das Volk ein Gefühl der Sicherheit für seine Existenz in Gegenwart und in Zukunft. Der Wille musste solange schwach bleiben, als dieser Glaube und dieses Sicherheitsgefühl stark waren.

Anders das moderne Galuth. Es hat nicht mehr diesen Glauben und dieses Sicherheitsgefühl. Allein es steht noch am Scheidewege und ist schwankend. Wird die Gefahr ersichtlicher werden, wird die Erkenntnis, dass das Ju- dentum am Rande des Abgrundes steht und nur eine Rettungsmöglichkeit hat, Gemeingut des Volkes werden ; so wird der Wille zur Rückkehr nicht ein in Sehnsucht sich versenkendes und zugleich sich verflüchtigendes Wünschen, sondern ein nationaler Entschluss, eine ver- einigte Anstrengung aller lebendigen Kräfte des Volkes, die den gähnenden Abgrund gesehen und auf die Erlö- sung sich besonnen hat. So wird das Volk seine inneren Feinde, die ihm Steine auf den Weg nach Zion legen, nicht mehr mit wankelmütiger, unsere nationale Ehre beleidigender Schonung behandeln, sondern vom Ernst der Schicksalsfrage erfüllt, sie als Verräter brandmarken, die nur ungestraft bleiben, weil Israel machtlos ist. Erst dann wird jener Volkswille erwacht sein, von dem Herzl sagen durfte : Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.

Die falschen Propheten, die dem Volke eine nationale Zukunft im Exil vorgaukelten, sind für seinen nationa- len Willen verhängnisvoll. Sie desorientieren ihn, sprechen von zwei und mehreren Erhaltungsformen des •Judentums, bejahen das Galuth und schwärmen auch für Erez Israel : so wird der Volkswille zersplittert ; er tau- melt in vielfälligen Wallungen und kann sich nicht zur

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entscheidenden Tat aufrafTen. Je mehr Wege zur Wahl stehen, desto schlaffer und unschlüssiger der Wille.

Die tötliche Wahrheit, von der oben die Rede war, bewährt sich auch hier befruchtend und belebend. Die Einsicht in die Zukunftslosigkeit des Galuth verschärft die Krise und stärkt mithin die nationale Bereitschaft zur Entscheidung, steigert die Intensivität des Erlösungs- werkes. Die Einsicht in die Einzigkeit und Ausschliess- lichkeit der nationalen Erhaltungsform des Judentums, in das unabwendbare Entweder-Oder unserer Schicksals- frage, wird eine Erschütterung, aber auch die Samm- lung des zerstreuten Yolkswillens bewirken, seine Tat- werdung, seine Konzentration in einer Richtung, für einen Weg, für ein Ziel.

Wenn ihr wollt noch ist der Wille nicht gereift, nicht zum Tatwillen ausgereift. Und es ist nicht zum geringen Teil unsere Schuld, dass Erez Israel noch nicht unser ist. Wir haben nicht recht gewollt, nicht mit allem Einsatz der nationalen Impulse gewollt, nicht so gewollt, so ent- schlossen, geschlossen, wie ein Volk wollen muss, das sein Land wiedergewinnen soll. Mit Recht sagt der he- bräische Dichter Jacob Cahan : Galuth ist nicht nur Sühne, es ist auch eine schwere Schuld. Unsere nationale Versklavung ist eine Schmach nicht nur für unsere Be- dränger...

2.

Es sind auch negative Momente, auf die sich die Hoffnung des Zionismus beziehen darf.

Die Assimilation, wissen wir, ist möglich. Ja, sie ist seit der Zerrüttung unseres Gesetzesreiches, unseres

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Staates im Staate, zwingend geworden, will sagen, die Nötigung eines natürlichen Prozesses, der nur ein he- roischer Wille entgegenwirken kann. Indessen ist sie als Lösung, allenfalls in ihren ersten Stadien, noch recht pro- blematisch ; vielleicht mehr für die Assimilierenden als für die Assimilanten.

Die Assimilanten sind den Assimilierenden oft schwer verdaulich. Erst recht die jüdischen Assimilanten, da sie, einem Geistesadel entstammend, sich nicht knechtisch unterwerfen können und nicht restlos auflösbar sind ; da sie, intellekvell hoch entwickelt, reich an schaffenden und zerstörenden Fähigkeiten, erfüllt von Zielstrebigkeit eines kulturellen Herrscherwillens, von einem Taten- und Vor- wärtsdrang, bewusst und unbewusst die Völker zu assi- milieren suchen, indem sie von ihnen assimiliert werden wollen. Sie sind in der Assimilation zu aktiv und werden lästig.

Sie sind in den ersten Stadien der Assimilation ein Schaden nicht nur an ihrem angestammten Volkskörper, am Judentum, von dem sie sich nicht völlig loslösen; sie sind es auch an dem Volkskörper, in den sie sich beherrscht-herrschend einzugliedern bemüht sind. Sie trüben oft die Quellen der fremden Kultur, verflachen sie, auch wenn sie lief in ihnen zu bohren scheinen ; sie verletzen ihre Ursprünglichkeit, verkümmern ihre Ur- wüchsigkeit.

Sie spielen meistens an der Oberfläche, oder sie werden Zerstückler, Wühler, bissige Nörgler ; ihre Stärke das Spötteln und die Ironie. Ein selbstgefälliges Klügeln, ein zerebrales AUes-Verstehen. Über den Dingen, ein Daneben oder ein Darunter, nicht ein Darinnen, nicht ein Ver-

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wachsensein. Ihr Geist ist allzu bewusst und weiss nichts von der Trunkenheit des Wurzelhaft-Schöpferischen. Sie sind die Unbefangenen, weil Zuschauer. Das Spötteln und die Ironie ist auch die Waffe und die Rache der Ent- eigneten, der Enterbten.

Sie, die jüdischen Assimilanten, sind gerne Kosmopo- liten : Bodenlos, empfinden sie nicht die heimlichen Kräfte des nationalen Genius. Sie sind gerne Vermittler zwischen den vielgestaltigen Nationalkulturen; Vermi- scher, die die Macht der organischen Geschlossenheit missachten; Buhlerseelen, die die Weihe des Einzigar- tigen und Einmaligen nicht kennen. Sie sind Vielwisser, vielseitig, vieldeutig ; es fehlt ihnen die Begrenzung der Persönlichkeit, die Gebundenheit des Charakters, die Naivität der Unmittelbarkeit, die Enge des Nur-so-sein- könnens. Sie sind nirgends und überall zu Hause. Sie lieben daher die Weite und flüchten sich ins Erhabene. Draussen und Darüber es fehlt ihnen die Andacht zum Stilleben, zum Kleinen. Sie sind gerne Weltverbesserer.

Sie sind gerne die Radikalen und die Modernsten unter den Modernen, sind gerne Verneiner, Umwertler, Um- stürzler : nackte Seelen, Bankerotteure, die ihres natio- nalen Eigentums verlustig gegangen sind, intellektuelle Proletarier sie finden keine Ruhe, die von der geschicht- lichen Kette losgerissenen Ringe. Ihrem Idealismus haftet immer ein böser Verdacht an : Es ist den Wurzellosen leicht, gegenüber dem Bestehenden frei, Freiheitsapostel zu sein gegen etwas zu eifern. Auch ihre Tugenden tragen das Geburtsmal des Lasters.

Haben sie, die Assimilanten, im Judentum noch einen Nährboden, so können sie nichts anders als Verwirrungen

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anrichten; der Blick ist zweiteilig. Sie erfinden, die An- gleicher, Verwandtschaften zwischen Wesensungleich- heiten, paaren Unpaarbares, kuppeln Judentum mit Deutschtum, Judentum mit Franzosenlum und derglei- chen. Sie tuen beiden Teilen Gewalt an, verstümmeln sowohl das Judentum als das Deutschtum oder Fran- zosentum oder ein anderes -tum. So beschneiden sie z. B. das Deutschtum um seinen schauerlich tiefen Mythos, zu dem sie kein echtes Verhältnis zu gewinnen vermögen, heben es von seinen saftigen Schachten des Germanen- tums ab, entziehen ihm die markigen Elemente seiner Kraftvergottung, seiner Heldenverehrung, seines jugend- lichen Mutwillens und Übermuts, befreien es von allem, was ihm wuchtigen Ausdruck gibt und ihnen daher un- gelegen ist, reinigen es fortwährend und unermüdlich vom, wie sie sagen, den Kern verhüllenden Beiwerk, bis es im Schmelz tiegel ihres Geistes seine starke, sondernde Eigenheit genügend eingebüsst hat, um ihren Anschluss an das Fremde zu ermöglichen. So kommentieren und interpretieren sie das Deutschtum, bis sie es halbwegs ju- daisieren, entdecken in ihm bald die Moral der Demut und der Toleranz, preisen in ihm ohne zu ahnen, dass sie dadurch seine Ideenwelt schmähen die Ideen der Gleich- heit und der Gerechtigkeit, sogar des Messianismus. Für- wahr, sie tuen ihm Unrecht.

So verfuhr mit dem Deutschtum der würdigste Vertre- ter der idealistischen Assimilation, der Halbassimilation : Hermann Cohen. Es fiel diesem grossen Juden nicht leicht, in der germanischen Kultur unterzutauchen. Er wehrte sich, der Fremde, gegen ihr völkisches Gepräge und Gefüge, und er verfremdete sie ; er untergrub ihren

l.Sl

heidnischen Grund und unterschob ihr Ideen des Juden- tums — er rächte sich an ihr, wie ein Jude sich rächt.

Und wie gar sieht das Judentum aus, das sie in die fremden Kulturen einschmuggehi ? Sie entlkeiden es seines nationalen Gewandes, verleugnen seinen Stammes- gott, entstellen seinen Gott der Rache und seinen Gott der Heerscharen, verwandeln das von allem Leben abstrahierte, entblösste Judentum in einen metaphysischen Saugschwamm für alle der Assimilation bequemen Ideen. Sie stutzen und modeln das Judentum im Bilde seiner missratenen Kopie, des Christentums, wähnen es zu ver- schönern und verunstalten es. So gelangt es zu den Völkern in einer fratzenhaften Verzerrung, verwässert, verweichlicht, entartet ; ein matter Geist, der schamlos sich damit brüstet, dass er körperlos ist. Spukhaft arg- wohnerweckend ist dieses von den jüdischen Assimilan- ten christlich zugerichtete Judentum. Wahrlich, wenn es in der grossen Heidenwelt noch Christen gibt, so sind sie unter den jüdischen Assimilanten zu suchen. Umso- mehr werden sie von der sogenannten Christenheit als Fremde empfunden...

Vielleicht rächt an uns die Christenheit seit achtzehn Jahrhunderten nicht die angebliche oder tatsächliche Kreuzigung, sondern im Gegenteil die Geburt und das Leben Jesu, der den Völkern eine Lehre aufband, die ihnen wehtut, ihre Eigenart vergewaltigt und halbwegs dem Judentum assimiliert.

Die jüdischen Assimilanten werden zur Verantwortung gezogen werden nicht nur vom jüdischen Volke, sondern auch von den anderen Völkern. Sie sündigen an der nationalen Struktur der fremden Kulturgebilde, ver-

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fälschen deren historische Signatur, das nationale Sie- gel der Seele, durch ein verfälschtes, durch ein entju- detes Judentum ; sie fälschen zwiefach. Sie verwischen die Grenzen, weil in ihrer Seele alle Grenzen verwischt sind. Und es ist heilige Pflicht der Völker, über die Ab- grenzungen ihrer Individualität zu wachen.

Also ist die jüdische Assimilation ein Attentat, das zugleich auf das Judentum wie auf andere Nationalkul- turen verübt wird. Und es zeugt von einer Vertiefung und Verfeinerung des nationalen Bewusstseins, wenn die jü- dischen Assimilanten als Eindringlinge gewertet werden und nicht überall sich einer Prämierung ihrer Entartung erfreuen können, vielmehr in Kreisen sittlich und ästhe- tisch fortgeschrittener NichtJuden Gefühlen des Absehens begegnen ; wenn sich ein moderner Antisemitismus im Sinne einer Abwehr semitischer Assimilanten herausbildet.

Es heisst im Midrasch : Eine Not, die Israel allein be- trifft, ist noch keine Not. Eine Not, die Israel und den Weltvölkern gemeinsam ist, bedeutet eine wahre Not.

Das Galuth ist eine Notlage nicht für Israel allein, son- dern für alle Völker, unter denen es aufgeteilt ist. Für uns ist es eine nationale, für die Anderen eine internatio- nale Frage. Aber auch die Assimilation, die einzige gründ- liche Lösung dieses Problems im Galuth, ist in ihren ersten Stadien selbst eine Judenfrage und ein Übel nicht nur für Israel allein.

Diese gemeinsame Not kommt der anderen Lösung, der Erlösung aus dem Galuth, zugute.

So durfte Herzl sagen : Unser grösster Patriotismus ist es und wir nützen auch unserem Lande, wenn wir an der Lösung der Judenfrage mitarbeiten.

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3.

Mehr jedoch als diese negativen Momente der Assimi- lation ist das positive Moment, von dem sie letzten Endes bestimmt sind, ein Faktor des Vertrauens in das Ideal und in das Werk des Zionismus.

Wohl ist die Assimilation eine Tendenz der Wirklich- keit. Sie kann sich aber nur in Überwindung sittlicher und ästhetischer Widerstände vollziehen. Sie setzt als Unfreiheit ein und kann sich nur in Verstellung und Nachahmung durchsetzen. Ist es denkbar, dass diese Zwangslage des Galuth nicht eine geistige Elite ausschei- det, die das Opfer an innerer Wahrhaftigkeit und Selb- ständigkeit nicht bringen kann, nicht bringen will und den Weg des Auszuges aus dem Galuth, den Weg nach Zion wählt?

Jedes Volk hat seine Tugenden und Untugenden, doch seine Wurzel ist immer schöpferisch, fruchtbar ; die Tiefe kann nicht unsittlich sein, kann nicht hässlich sein. Die Entwurzelten aber, die Assimilanten, verlieren bald die guten Eigenschaften ihres Stammvolkes und eignen sich schnell die schlechten Eigenschaften ihrer Kopiemodelle, des Adoptivvolkes, an. Auch wenn sie durch die An- gleichung in eine höhere Nationalkultur aufsteigen, ist es zunächst ein Abstieg. Es fehlt die Wurzelhaftigkeit, die Überlieferung, das geschichtliche Erleben, ohne welche alle Kultur bloss Zivilisation ist. Muss nicht der Prozess der Assimilation auf moralische Hemmungen stossen, die in edlen Naturen den Ausschlag geben?

Auch wenn man annehmen wollte, dass die Assimilan- ten individuell keinen Schaden an ihrer Seele leiden, so muss doch der Akt der Assimilation als unsittlich erkannt

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werden: wie etwa der Kapitalist auch nach soziaHstischer Auffassung individuell ein braver Mensch sein kann, der Kapitalismus aber als Stand, als Kollektiv ein unsittliches Dasein der Ausbeutung und des Schmarotzertums bedeutet.

Aus diesen allgemein-menschlichen Motiven darf der zionistische Erlösungsgedanke stärkende Nahrung für seine idealistische Gesinnung empfangen.

Es ist nicht von ungefähr, dass Herzl uns im Westen entstanden ist, am Herde der Assimilation. Er kam zum Zionismus nicht als Jude : er war dem Judentum völlig entfremdet. Er kam zum Zionismus als Mensch. Es war eine sittliche und ästhetische Kraft, die ihn zu seinem Volke zurückführte. Diese Kraft ist es, von der der Zauber seiner schlichten Reden ausstrahlte. Sie ist es, von der die revolutionäre Wirkung seiner eigentlich nicht neuen Ideen ausging. Der einfache Satz seines Bekenntnisses : „Wir sind ein Volk, Ein Volk" klang wie eine Kunde aus der Ferne, wie eine Offenbarung. Die Erschütterung und die Wandlung einer grossen Seele zittern in all seinen Worten und Taten nach. Er erkannte die Assimi- lation als einen unsittlichen, unästhetischen Akt. Der Flügelschlag, den er bei der Abfassung des ,, Judenstaates" über seinem Haupte vernahm, war das Erbeben einer Seele in ihrer Läuterung. Nicht anders ist das Phänomen Herzl zu verstehen.

Es ist Zynismus zu sagen: Die Flutwelle des Antise- mitismus, die Dreyfus-Affäre war der Beweggrund seiner Lehre. Nein, sie war nur deren äusserer Anlass, wie der Fall des Apfels für Newtons Entdeckung des Gesetzes der Schwere. Es ist die Entrüstung über ein moralisches Manko, wenn Herzl den Manschet geisselt. Es ist die Auf-

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lehnung des Künstlers gegen das Unaufrichtige und Wür- delose, gegen das Sündhafte der Assimilation. Es ist das Verlangen nach Ganzheit und Ausgeglichenheit, wenn Herzl zur Umkehr mahnt und nach Zion weist. So sagte er : ,,Der Zionismus fegt als ein reinigender Sturm durch das ganze Judentum". Und ein anderes Mal : " Ich weiss es nicht, ob wir noch in dieser Generation die Befreiung aus Schimpf und Elend erleben werden. Möglich ist es, vorausgesetzt, dass wir klug und entschlossen sind. Aber das weiss ich, dass schon das Wandern auf diesem Wege uns zu anderen Menschen machen wird. Wir gewinnen unsere verlorene innere Einheit wieder und mit dieser ein bisschen Charakter, und zwar unseren eigenen. Und dann erst wollen wir mit allen anderen rechtschaffenen Menschen wetteifern in Gerechtigkeit, Nächstenliebe und hohem Freisein, wollen uns auf allen Feldern der Ehre betätigen, in Kunst und Wissenschaft es vorwärts zu bringen trachten, damit ein Glanz von unseren Taten auf die Ärmsten unseres Volkes zurückfalle. So verstehe ich das Judentum."

Diese allgemeinmenschlichen Motive finden wir vor- nehmlich im Zionismus des Westens. Die naive Aufklärung, die unsere Väter zu verschlingen drohte, gibt dem Volke viele seiner Söhne zurück und zwar als Ausreifung der po- sitiven Werte eben dieser Aufklärung : kraft vertiefter und verfeinerter Durchbildung des Menschen im Juden. So be- ginnt man im Westen nicht gleichermassen im kultur- ärmeren Osten die Assimilation als Laster, das moderne Galuthdasein als einen Zustand der Sündhaftigkeit, als Schuld und nicht nur als Strafe zu empfinden. Der west- liche Zionismus erhält seine Antriebe mehr aus der all-

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gemeinen Weltkultur als aus dem Born des Judentums und der jüdischen Volkswirklichkeit. Er ist getragen vom Gewissen eines erhöhten Menschentums, von einem Gefühl der Reue, von einer Aufrüttelung des Bewusstseins, der Freiheit und der Ehre. Es ist der Wille zu einem sitt- licheren und schöneren Dasein, der Wille zur Wieder- geburt des Menschen im Juden. Daher das Pathos einer ringenden, reinigenden Religiosität, die aus seinen künst- lerischen Regungen und Gestaltungen atmet.

Ungewollt verrichtete die Aufklärung zum Teil die Funktion eines Yorbereitungsstadiums für den Zionis- mus. Mit der Rückkehr der verlorenen Söhne zum Juden- tum bringen sie ihm manche Werte mit, die sie in der Fremde erworben haben.

Der Zionismus darf also sein Vertrauen in den Fort- schritt der Kultur setzen. Sein nationaler Glaube ist gleich- zeitig ein Glaube an die Macht des Guten und Schönen.

Freilich wäre es eine verhängnisvolle Unterschätzung der sozialen und wirtschaftlichen Geschichtsfaktoren, wenn man jenen sittlich-ästhetischen Momenten die Be- deutung einer Verhinderung und nicht lediglich einer Stö- rung der Assimilationstendenzen beimesssen würde. Wir wissen auch : im Gefolge von Generationen wird selbst Raubgut zum Eigentum, die Nachahmung wird Erworbe- nes, die Entstellung aufrichtig, das Gekünstcllte natürlich. Im Laufe der Zeit fasst die Assimilation Wurzel ; ihre Sünde wird ausgelöscht, wird vom (iewordenen und Geformten getilgt. Das zionistische Bekenntnis kann auch in diesem Sinne nicht meinen : Juden können uns wir nicht assimilieren ; sondern : wir wollen uns nicht assi- milieren. Ich spracli daher nur von Hcnuniimjen im Pro-

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zess der Assimilation und von einem Vertrauen in die Ausscheidung einer geistigen Elite für die Übergangs- epoche des Judentums.

Immerhin sind rein menschliche Ideale neben den nationalen im Zionismus bewusst und unbewusst tätig. Das Reinmenschliche und das Nationale sind auch im Judentum ineinander verflochten. Hier kehren wir zum Ausgangspunkte des ersten Kapitels zurück.

Das Judentum ist von zwei Grundmomenten bestimmt. Kein Volk war in einem so hohen Grad national wie das jüdische Volk. Kein Volk wie Israel hatte einen so hohen Sinn für nationale Sonderung und Absonderung. Man darf sagen : Israel hat mit dem Begriff der göttlichen Einzigkeit und Einheit auch den Begriff der nationalen Einigkeit und Einheit entdeckt, also den Grundbegriff der Nation zuerst erdacht. Aber auch kein Volk wie es hat von vornherein in die nationale Scheidung und Abzäunung den welt- geschichtlichen Auftrag als Ziel gesetzt ; die Sonderung als Aussonderung eines Volkes von Priestern mit der Bestimmung, den Völkern voranzuleuchten und am Altar des Rechts und der Gerechtigkeit den heiligen Dienst zu versehen. So war die nationale P'orm mit dem universa- len Inhalt, die Enge der partikularistischen Umgrenzung und die Weite des kosmopolitischen Auftrages, orga- nisch verbunden, funktionell auf einander bezogen. Im Zeitalter der Aufklärung hat sich der universale Inhalt von seiner nationalen Form, die zu einer Schale herab- gesetzt und w^eggeworfen wurde, abgelöst. Es trat bald die unvermeidliche Folge einer organischen und funk-

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tionellen Lähmung ein : Der Inhalt, an den sich die westliche Judenheit klammerte, musste verflachen, der Kern musste verderben. Statt Vorbild der Völker zu sein, wurden die Juden deren Nachbildner.

Der Zionismus will mit der Sicherung der nationalen Form auch den allgemein menschlich tendierenden Inhalt erretten. Er will aber nicht die Mission des Elends, des Schwachen Armut und Leiden haben stets im Kulturkampf der Menschheit Grosses geleistet und waren stets ein Stimulans fortschrittlicher Ideen, sollen sie des- halb bestehen? nicht die Mission des Vermittlertums, als internationaler Knäuel buntscheckiger Lagerungen, als Gewirre gegensätzlicher Bezüge, die Mission eines Aufsaugers und eines Trichters. Er will die Mission des Wurzelstarken, des Quellenhaften, des Schöpferischen.

Der Mission des Galuth haftet ein Verdacht an. Man hat Grund, sie mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten. Man wird versucht zu fragen : Ist nicht der jüdische Univer- salismus und Internationalismus nur ein Ausdruck un- serer nationalen Verlegenheit, der Libertinismus unserer Heimatlosigkeit? Ist nicht der kosmopolitische Humanis- mus vom Judentum erfunden worden, um seine natio- nale Anomalie zu rechtfertigen und zu beschönigen ? Ist es Heroismus oder Eigennutz, wenn wir, die Entrechte- ten, für Recht und Gerechtigkeit streiten ? Man wird ver- sucht zu fragen : Wie wäre es, wenn die Juden ein Land hätten? Würden sie nicht Hass und Feindschaft säen, wie alle anderen Völker, würden sie nicht eroberungs- und kriegslustig sein wie alle christlichheidnischen Völ- ker ? Wie wäre es, wenn sie zur Macht gelängen, würden sie nicht die Macht verherrlichen ? Würden sie nicht

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andere Völker verfolgen, unterdrücken? Kurz, machen sie nicht aus ihrer Not eine Tugend ?

Der Zionismus will, wenn man so sagen darf, die Tu- gend des Judentums auf die Probe stellen. Und er ist ge- wiss, dass die ungezwungene Mission des Judentums auf seinem historischen Boden besser fruchten und aus Zion zur wahrhaft uniasteralen Auswirkung reifen wird.

Im Galuth sind wir auch allgemein kulturell in einer Misslage. Die fremde Kultur in der Fremde wird uns zu einer nationalen Gefahr. Ist unsere Eigenkultur im Heimatboden verpflanzt, so wird all das Fremde, das wir mitbringen, uns zum Segen werden. Wir wer- den bereichert aus- und einziehen. Schliesslich ruht in diesem Fremden viel von unserem Eigenen, das uns enteignet wurde : Wir haben überall Pitons und Ramses gebaut. Haben nicht unsere Väter ihr Eigenes, Erwor- benes mitgenommen, als sie bereichert aus Ägypten aus- zogen ? Heute würde man es Expropriation der Expro- priateure nennen.

Der Zionismus will die Gefahren der Fremdkulturen beseitigen. Er wird eben dadurch den Juden für das Allge- meinmenschliche, auch für das Fremde, frei machen.

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Buchdruckerei Frifz Ruedi, Lausanne.

DS Klatzkin, Jakob

143 Probleme des modernen

K5 Juden turas

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