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WISSENSCHAFTLICHE

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der

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gesammten Heilkunde.

Herausgegeben

} X ,

von

Dr. 3uft«ö jfrtorrid) Carl ijcrhrr,

Professor der Heilkunde an der Friedrich -Wilhelms - Universität zu Berlin , Mitglied der raedicinischen Ober - Examinations •• Com¬ mission , der Hufelandschen medicinisch * chirurgischen Gesell¬ schaft, des Vereins für Heilkunde in Preulsen, der medic. Ge¬ sellschaften zu Kopenhagen, Leipzig» London, Lyon, Metz, New- Vork, Philadelphia u. Zürich, der Wetteraiiischcn Gesellsch. für die gesammte Naturkunde, der Gesellsch. für Natur- und Heilkunde zu Berlin, Bonn, Dresden und Erlangen, des Instituts in Albany, der schwedischen Gesellschaft der Aerzte in Stockholm, und der Accademia Pontaniana zu Neapel Mitglied und Correspondenten.

Achtundzw einzigster Band.

Berlin,

im Verlage

von T Ii e o d. Christ. I1' r i c d r. E n s 1 i n.

1834.

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Herr

Namcnvcrzcichnifs der Herren Mitarbeiter.

er a D Y.^D

Professor v. Ammon in Dresden.

Professor Halling in Wurzburg.

Privatdoecnt Dr. Hecker in Herlin.

I)r. Heb r in Bernburg.

Dr. Hebrc in Altona.

Professor Dr. Car ns in Dresden.

Hofrath Dr. Clarus in Leipzig.

Professor Dr. Dieffenbaeh in Herlin.

Professor Dr. Dierbacb in Heidelberg.

Medicinalrath Dr. D obihoff in Magdeburg.

Staatsrath Dr. Krdmann in Dorpat.

Kreisphysicus Dr. Eggert in Eisleben.

Medicinalrath Dr. Fried re ich in Wcilscn bürg.

Dr. H a c h m a n n in Hamburg.

Medicinalrath Dr. Hcyfelder in Sigmaringen.

Ober- Medicinalrath Dr. Hohn bäum in Hildburgbausen Apotheker Hornung in Aschersleben.

Medicinalrefercnt Dr. Jahn in Meiningen.

Professor Dr. Jäger in V\ drzburg.

Dr. Jäh ni eben in Moskau.

Director Dr. Ideler in Berlin.

Dr. K übler in W arschau.

Professor Dr. L ich ten stad t in St. Petersburg.

Dr. Lieber in Herlin.

Professor Dr. L o c h e r - B a I b e r in Zürich.

Dr. Monfalcon in Lyon.

Professor Dr. Naumann in Bonn.

Professor Dr. Otto in Kopenhagen.

Dr. Plagge in Burg- Steinfurth.

Begimentsarzt Dr. Richter in Düsseldorf.

Privatdoecnt Dr. Richter in Königsberg.

Dr. Rieken in Birkenfeld.

Dr. Rudoiphi in Berlin.

Geheimer Medicinalrath Dr. Sachse in Ludwigslust.

Dr. Schön in Hamburg.

Professor Dr. E. v. Sieb old in Göttingen.

Dr. Sielmann in Moskau.

Prof. Dr. Spitta in Rostock.

Dr. Stannius in Berlin.

Medicinalrath Dr. Steffen in Stettin.

Dr. Stein heim in Altona.

Dr. Stucke in Cola.

Hofnit'dicns Dr. Toel in Aurich.

Dr. Vezin in Osnabrück.

Geheimer Medicinalrath Dr. Vogel in Rostock, fessor Dr. M aünrr in Erlangen.

Dr. Wagner in Schliebcn.

Weber in Bonn.

Wuticr in Bonn.

nnox is NO towca

HE PROPERTY Of THE 1TY OF CHICAGO LIBRARY

Prpl K rcisphysicus Professor Dr.

•f >, *r Tk r

S r. Hoch wohlgeb ore u

dem Herrn

Dr. Ernst Ludwig Heim,

Kömgl. Preuis. Geheimen Rathe, Kitter des K. Pr. rothen Adler- Ordens zweiter Klasse und des K. Schw. Nordstern - Ordens

u. s. w. ,

widmet

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den achtundzwanzigsten Band dieser Annalen

hochachtungsvoll

\ .

* I

der Herausgeber.

I

I

Inhalt des 28s ten Bandes.

A\V-

Seite

I. Originalabhandlungen.

1. Das heilige Feuer des Mittelalters; von D. C. H. Fuchs. 1

2. Untersuchungen über Lymph- und Chyluskörnchen , und ihr Verhältnifs zu den Blutkörperchen ; von Dr.

R. Wagner . 129

2. Anatomische Bemerkungen; von Dr. Krause. . . . 141

4. Erfahrungen und Beobachtungen über Kopfvei’letzun-

gen ; von Dr. Dieffenbach . 145

5. Beiträge zur Geschichte der Epidemieen; von Dr. Ro¬

senbaum . . 177

6. Ueber die Gestalt und Gröfse der Durchmesser der

feinsten Blutgefälse in den kleinsten Netzen derselben.

Von Dr. Valentin . 257

7. Was sind actjve Congestionen , und wife entstehen sie?

Von Dr. Succow, . , 283

8. Ueber die Haschischa oder das Kraut der Fakire; nach

dem Arabischen des Makrizi; von Dr. v. Sonthei-

nicr. i , , 293

9. Kurze Notiz über das St. Ludwig’s - Hospital zu Paris;

von K. Martins . . 305

10. P aracelsus über psychische Krankheiten; von Dr.

D a m e r o w. , . . 389

11. Praktische Bemerkungen und Beobachtungen über die Anwendung des Decoctum Z i t trn a n n i ; von Dr. B e h r e. 428

12. Die Sterblichkeitsverhältnisse von St. Petersburg im

Jahre 1833; von Dr. Lichtenstädt. . . 462

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VI

Inhalt dos 28sten Bandes.

Seite

II. Kritische Anzeigen.

A. Pathologische Anatomie.

0

1. P. Phoebus, lieber den Leichenbefund bei der orien¬ talischen Cholera . . . . $1

B. Allgemeine Pathologie.

2. K. F. II. Marx, Allgemeine Krankheitslehre. ... 96

C. Arzneimittellehre.

3. L. W. Sachs, Das Quecksilber . 106

D. Praktische Heilkunde.

4. Prochor Tscharukowski, Versuch eines Systems

der praktischen Medicin. . . . . . 192

V. F. A. G. Bern dt, Klinische Mittheilungen. Heft 1. 376

E. Phrenologie.

6. G. Combe, System der Phrenologie. Aus dem Engl.

von S. E. Hirschfeld . . . . . 202.309

F. Augenheilkunde.

m

7. B. W . Seiler, Beobachtungen ursprünglicher Bil¬

dungsfehler und gänzlichen Mangels der Augen bei Menschen und Thicren . 210

5. F. A. v. Amnion, Das Symblepharon, und die Hei¬ lung dieser Krankheit durch eine neue Opcralionsme-

tkode . 230

9. A. Gesch eidt, Die Entozocn des Auges . 23b

G. Kinderkrankheiten.

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10. E. Martin, Memoire et observations pratiques sur la

diathese inllarninatoire des eufans nouveaux - m*e. 240

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II. O h r c n k r a n k h e i t c n.

11. W . Kramer, Erfahrungen über die Erkennlnils und

Heilung der langwierigen Schwerhörigkeit . 33r

J. Heilquellen.

12. Fenn er v. Fennenbcrg, Beminiacenzen über die

Heilquellen des Herzogthuius Nassau, mit besonderer Berücksichtigung Schlangenbads . 354

Inhalt des 28stcn Bandes.

VII

Seite

*

13. J. v. Vering, Eigenthümliche Heilkraft verschiedene!' Mineralwässer, aus ärztlichen Erfahrungen dargestellt. 356

14. M. F. Leipprand, Ueber die Mineralwässer in

dem Königreiche Würtemberg und in den angräMzenden Gegenden . 362

K. Schriften ärztlicher Gesellschaften.

v

15. Mittheilungen aus dem Gebiete der gesammten Heil¬ kunde; herausgegeben von einer medicinisch- chirurgi¬ schen Gesellschaft in Hamburg. Bd. II . 364

L. Geburtshülfe.

16. K. F. Nägele, Lehrbuch der Geburtshülfe für Heb¬ ammen. . . 464

V V . .

M. Chirurgie.

17. M. Jäger, De exstirpatione linguae,

468

N, Psychische Heilkunde.

18. H. A. M. J. L öwenhayn, Considerations sur le trai* tement des alienes .

470

l

\ j

» O. Historische Pathologie.

19. J. F. C. Hecker, Der englische Schweifs. . . » 480

P. Ucb ersieht der physiologischen Arbeiten, mit Einschlufs der zugehörigen Doctrinen.

Die Elementartheile des thierischen Körpers. . . . , . 123

Q. Neue Ausgabe.

Steph. Blancardi Lexicon medicum, etc. Ed. C. G.

Kühn. . . . . 243

VIII

Inhalt des 28sten Randes.

R. Dissertationen.

Seite

1. Der Universität Gent . 215

2. Erlangen . f 246

382

. . 128. 250. 386. 503

Rüge .

M c d i c i n i s c h c Bibliographie. . .

I

Das heilige Feuer des Mittelalters.

Ein Beitrag zur Geschichte der Epidemieen

t

von

Dr. C. H. F n c h s , J

Professor an der Hochschule zu YVurzburg *).

Einleitung.

Schon Lucrez lind Celsus gedenken des Ignis sacer des heiligen Feuers , und wir finden diese Benennung noch in den nosologischen Handbüchern des verflossenen

*) Wir freuen uns, den Lesern dieser Annalen mit¬ theilen zu können, dafs unsere vorjährige Aufforderung an die deutschen Aerzte (Januarheft 1833) bei nicht Wenigen Anklang gefunden hat. Die vorstehende Abhandlung eines um die historische Pathologie sehr verdienten Gelehr¬ ten giebt davon den ersten vollgültigen Beweis. Andere Arbeiten liegen bereit, und freundliche Zusagen sind uns von Vielen geworden. Die Bahn ist gebrochen, und wenn erst die Zahl der gediegenen Arbeiten mehr anwachsen wird, so kann die Ueberzeugung nicht ausbleiben, dafs die historische Pathologie eine Naturforschung im Grofsen ist, die auf den innersten Kern der Wirklichkeit führt, und sie wird, aller ungünstigen Verhältnisse ungeachtet, ihre Stelle einnehrnen, wie alle Lehren, die in der Natur der Dinge begründet sind. Die gegenwärtigen Krankheiten sind nur eine Phase des kranken Organismus. Wie will man den Ring des Saturn erkennen, wenn man nur den Streifen sieht?

n

Band 28. Heft 1. 1

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I

2

I. Das heilige Feuer.

Jahrhunderts; allein kaum ist ein anderer Krankheits- namc in verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Schriftstellern auf so mannigfache pathologische Zustände angewandt worden, als der fragliche.

Den Römern scheint Ignis sacer, wie den Griechen ’Ef vo-IttiXx^ , ein Collectivname gewesen zu sein, unter wel¬ chem sic alle Veränderungen auf der äufscrcn Fläche des Körpers, die heftiges Brennen verursachten, um sich grif¬ fen, und andere den Wirkungen des Feuers analoge Sym¬ ptome mit sich führten, begreifeu konnten.

Cclsus *) nimmt zwei Arten des heiligen Feuers an, von denen die erste eine Eruption zahlreicher, sehr klei¬ ner und später zerreil’sender Pusteln auf röthlichem oder geflecktem Grunde, <Jie bald mit Vernarbung, bald mit fortdauernder Eiterung der früher befallenen Hautstellcn um sich greift, eine zwischen Jauche und Eiler stehende Flüssigkeit seccruirt, und vorzüglich auf der Brust, in der Seite und an den Fufssolen vorkommt, dem Eczema im- petigeuodes Wilian’s nahe zu stehen; die andere aber, die sich vorzüglich au den Unterschenkeln alter Leute findet, dem Eczema chronicum der Neueren, den sogenaunten Salz- tliisscn, zu entsprechen scheint. Beide Formen bedin¬ gen unter den sich weiter verbreitenden Geschwüren am wenigsten Gefahr, sind aber fast am schwersten heilbar. Nur wenn sich zufällig Fieber erhebt, heilen sie oft sehr schnell.

Auch Lucrez a) scheint den Ignis sacer mehr im Sinne des Celsus für eine sich über dem Herzen verbrei¬ tende Hauteruption zu nehmen, und gedenkt seiner iu Ver¬ bindung mit Fieber, Gliederreifseu , Zahn- und Augcn- schmerz, als einer alltäglichen Erscheinung. An einer anderen Stelle 3) vergleicht er ihm die Ikiutvcränderung in der atheniensisclien Pest, bei der der ganze Körper, gleichsam von verbrannten Geschwüren, roth werde.

Virgil 4) hingegen gedenkt des heiligen Feuers uutcr Umständen, die an den Milzbrand -Carbunkel erinnern.

i

3

I. Das heilige Feuer.

ji

Nachdem er eine furchtbare Viehseuche beschrieben, führt er au, dafs auch die Felle der gefallenen Thiere unbrauch¬ bar gewesen seien. Nicht Messer, nicht Feuer konn¬ ten die Eingeweide reinigen*, niemand ungestraft die Wolle scheeren oder die Häute berühren. Wenn sich aber jemand aus Unvorsichtigkeit derselben zur Kleidung bediente, so waren brennende Knötchen und ein übelrie-, ehender Schweifs die Folge; und nicht lange nachher verzehrte das heilige Feuer die befallenen Glieder.

Wie Celsus, nimmt auch Plinius 5) mehre Arten des Ignis sacer an, von denen er aber nur des Gürtels Zoster speciell erwähnt. Auch er gedenkt, wohl vorzüglich io Beziehung auf die anderen Arten des heilige» Feuers, des Weiterkriechens der Affection auf der Haut.

Dieselbe Krankheit, sonst auch Zona genannt, ist der Ignis sacer des Scribonius Largus ß) und Marcellus Empiricus 7); Serenus Sammonicus 8) hingegen scheint eine, andere Krankheit vor Augen gehabt zu ha¬ ben, als pustulöse Eruptionen und nässende Geschwüre, wenn er vom Ignis sacer anführt, dafs die Glieder von grofser Hitze vertrockneten. Er gedenkt des Leidens mit so wenigen Worten, dafs eine genauere Bestimmung unmöglich ist.

Aufser diesen Autoren erwähnen noch der Tragödien¬ schreiber Seneca 9) und Columella 1 °) des heiligen Feuers. Jener macht es zu einem Symptome der Epi¬ demie, welche er unter Kreon’s Herrschaft Böotien ver¬ heeren läfst, und stellt es in seiner fingirteu, dem Thu- eydides und Euere z nachgebildeten Beschreibung dieser Seuche mit Mattigkeit und Abgeschlagenheit der Glieder, Rothe des Gesichtes, Eruption, leichter Flecken am Kopfe, später grofser innerlicher Hitze, Geschwulst der Wangen, starrem Auge, Rauschen im Ohre, colliquativen Blutungen und unlöschbarem Durste, als einen die Extremitäten be¬ fallenden Ausschlag zusammen , der die Glieder verzehrt - (paseitur artus).

1*

4

I. Das heilige Feuer.

Columella aber beschreibt als Ignis saccr der Schaafe eine Krankheit, welche die Ilirlcn Pusula nennen, und die wohl identisch mit dem Milzbrände, dem Karbunkel oder Feuer der Schaafe ist 1 1 ). Er nennt das Ucbel un¬ heilbar, und wenn es nicht im ersten Stücke vernichtet wird, so rafTt cs die ganze Jlcerdc hinweg; denn cs verträgt we¬ der eine Behandlung mit Medicameotcn, noch init dem Messer; fast jede Berührung verschlimmert das Uebcl. Nur Ucbcrschlägc von Ziegenmilch werden vertragen, ver¬ mögen aber nur die Bösartigkeit der Krankheit zu mil¬ dern, das Sterbeu der Heerde zu verzögern, nicht zu ver¬ hindern. Bolus Mcndcsius, ein Acgyptier, giebt daher den Rath, oft und genau den Rückcu der Schaafe zu un¬ tersuchen, und wenn man ein Stück mit der Krankeit be¬ haftet findet, dasselbe lebendig zu vergraben.

Aufserdcm vergleicht Columella auch die Mentigo, welche die Schäfer Ostigo nennen , wegen der bösartigen Geschwüre, die sie im Munde und an den Lippen veran- lafst, mit dem heiligen Feuer. Sic ist vorzüglich den Lämmern und jungen Ziegen gefährlich.

Die Araber kennen kein heiliges Feuer; allein sie beschreiben fast alle ein Nar-Farsi d. h. persi¬ sches Feuer, und Tiiele ihrer Ucbersctzcr im Mittelalter schreiben dafür ohne Anstand: Ignis sacer.

Wie das Heilige Feuer bei den Römern, ist aber auch das persische in den Schriften der Araber nicht immer die¬ selbe Krankheit, und Avicenna 12) sagt ausdrücklich, dafs die Benennungen Pruna und Ignis persicus auf jede Pustel (oder Geschwulst), die Symptome wie die der Ver¬ brennung oder des Glüheisens mit sich führe, anzuwen¬ den sei.

Am häufigsten wird zwar das persische Feuer als eine müdere Karbutikeiform, in der die Cholera die Melancho¬ lie überwiegt, und deren Farbe, wenigstens anfangs, mehr gelb uod roth, als schwarz und aschgrau ist, oder als eine unscheinbare brandige Rose geschildert, und wir finden cs

I. Das heilige Feuer. 5 «

mit dieser Bedeutung bei Rhazes l3), Avicenna 14). Albucasis 1 *) und Mesuc 16). Allein dieselben Schriftsteller vergleichen dem Ignis persicus auch andere, vom Karbunkel sehr verschiedene Uebel; so Rhazes 1 7) die Blactiae oder Masern, Avicenna 18) die über den gan- zeu Körper verbreiteten olvB-^eg Galen’s, und Mesue 19) nennt sowohl das Nar-Farsi und die Pruna, als die Pocken Apostemata parva sanguinea. Ha ly Abbas 20) aber giebt dem Ignis persicus nur eine Bedeutung; er ist bei ihm eine bösartige Abart der Variola.

Von den Salernitanern, den Wiederbelcbern der Me- dicin im Occidente, gedenken nur zwei des Ignis sacer. Constantinus Africanus 21), der sich nach den Ara¬ bern gebildet hatte und das Werk Haly Abbas über¬ setzte, schreibt an der entsprechenden Stelle Ignis sacer für das Nar-Farsi des Arabers; ihm ist das heilige Feuer bös¬ artige Variola. An einer andern Stelle 22) aber steht dasselbe, ohne beschrieben zu werden, unter den Haut¬ krankheiten, mit der Variola, getrennt vom Erysipelas. Gariopontus 23) hingegen, der mehr aus den Griechen, als aus den Arabern compilirte, nennt das Rothlauf heili¬ ges Feuer.

Während aber die Aerzte über die Bedeutung des Ignis sacer nicht recht einig waren, usurpirten die Laien in der Kunst diese Benennung für eine Krankheit, deren genauere Kenntnifs diese Blätter eigentlich beabsichtigen.

Vom 9teu bis zum 13ten Jahrhundert traf dies Lei¬ den in wiederholten Epidemieen verschiedene Länder Eu- ropa’s, vorzüglich aber Frankreich und Lothringen mit schwerer Hand, charakterisirte sich vorzüglich durch ein brandiges Absterben der Glieder, und wurde von den Chro¬ nisten, die es anfangs unter dem allgemeinen Namen der Pest aufführen, vom lOten bis zum l‘2ten Jahrhunderte unter den Namen Ignis sacer, Feu sacr(', Arsura, Mal des ardens, Clades s. pestis iguiaria häufig erwähnt, und zu¬ weilen selbst ziemlich ausführlich beschrieben. Spä-

6

I. Das heilige Feuer.

tcr vom 12ten Jahrhundert an findet man statt die- , 6er Benennungen häufig Ignis Sa ne t i Antonii oderSancti Marti alis in den Chroniken.

Merkwürdig, uud nur aus dem Geiste der damaligen Mcdicin erklärbar ist cs, dafs meines Wissens wenig¬ stens keiner der gleichzeitigen Aerzte, keiner der Saler- nitaner, der spanischen Araber oder der späteren Arabi¬ sten dieser Seuchen erwähnt. Allein der Begriff, den von diesen Epidcmiccn her die Chronisten und das Volk mit dem heiligen Feuer verbanden, konnte nicht ohne Eiuflufs auf die Leine der Aerzte vom Ignis saccr sein. In Italien, wo, dem Stillschweigen der Chroniken nach zu schliefscn, keine Seuche des heiligen Feuere vor¬ kam, erhält sich zwar die frühere Bedeutung arabischen Ursprunges, und die Italiener La n fra n eh i 2 4), Peter von Argclqta 25), Joannes de Vigo a6) imd Fabri- cius de Acquapcndcntc 37) beschreiben den Ignis sa- cer als gleichbedeutend mit Ignis pcrsicus, als Karbuu- kel: die Franzosen, die Holländer und die Deutschen aber, mit dem epidemischen Leiden wenigstens durch Tra¬ dition näher bekannt, geben auch jn ihren ärztlichen Schrif¬ ten dc3 14tcn und der folgenden Jahrhunderte eine Be¬ schreibung vom Ignis sacer oder Sanct i Anton ii, die ge¬ nauer zu den Erzählungen der Chronisten des lOtcn bis 1 3 1 e 11 Jahrhunderts pafst, als die der Pruna oder des Nar- Farsi der Araber. So hatte Gordon 28) gewifs die Feuerpesten des 13tcn Jahrhunderts vor Augen, wenn er das heilige Feuer aus entzündeter Galle entstehen läfst, die die Glieder wie ein Schwert abschneidet, und Guy de Chauliac *•) beschreibt doch, wenn er auch den Ignis saccr als synonym mit Karbunkel , Pruna und Ignis pcrsicus gebraucht, an derselben Stelle den Esthiomenos, welchen die Griechen Gangraena nennen, ganz als fcuch- tcu Brand und sagt, dafs diese Krankheit im Volke Ignis Sancti Antonii vcl Martialis genannt werde. Den Arabern getreuer blieb Valcsco von Tara nt a 30); ihm ist

7

I. Das heilige Feuer.

Ignis sacer gleichbedeutend mit Ignis Sancti Antonii beide der Karbunkel. Manardus 31 ) aber, Ta- gault 32), Musita nus 3 3), Forest34), Wierus35) und der deutsche Hauns von Gcrsdorf 36) führen bei ihrer Beschreibung der Gangrän und des Sphacelus Krankheiten, für welche sie auch die Benennung Esthio- menos iu den Schriften der Alten vindiciren , einstim¬ mig an, dafs der Brand im Volke Feuer des heiligen An¬ tonius heifse. Der Name Ignis sacer kommt bei den meisten von ihnen gar nicht vor; nur Gcrsdorf nimmt den Ignis sacer als gleichbedeutend mit dem St Anton’s, und andere suchen, wie Forest37), das heilige Feuer des Pliniüs und Celsus wieder hervor und erklären es für Gürtel, Rose und Herpes. Die deutschen Chirur¬ gen aber nannten den Sphacelus kaltes Feuer, die Hollän¬ der Kout Vier 38).

Im weiteren Verlaufe des löten und im 17ten Jahr¬ hunderte scheint sich allmählig die Volksbenennuug St. An¬ ton sfeuer wieder verloren, die Erinnerung au die Seuchen früherer Saecula verwischt zu haben, da keine neuen Feuer¬ pestilenzen sie auffrischten. Die Aerzte führen keine eigene Krankheit mehr unter diesem Namen auf, nur we¬ nige gedenken seiner noch als eines Synonyms des Ignis sacer. Dieser war jetzt aber nicht mehr der Ignis per- sicus der Araber, der Karbunkel Chauliac’s und Va- lesco’s, der Brand Gordon’s und Gersdorf’s. Die Medicin hatte sich von den Arabern und iVrabisten zu den Griechen und Römern gewandt; die Autorität des Ilip- pocrates und Plinius galt mehr als die Avicenna’s und Guido’s. Die Ueberselzer der Griechen aber schrieben für Ignis sacer39), und die Commen-

tatoren des Celsus und Plinius erkannten in dem hei¬ ligen Feuer der Römer das Rotblauf und den Gürtel, manche wohl auch fressende Flechten 40), Senn er t, Sy- denham und Lor ry beschreiben als heiliges Feuer die Rose; Lange, deHacu, Plenck und Borsieri den Zoster.

8

I. Das heilige Feuer.

Der epidemische Ignis sacer des Mittelalters aber wurde der medicinischen Alterthumskui.de übergeben, seine Deu¬ tung der Geschichte der Seuchen überlassen. Ver¬ schiedene Acrzlc der neueren Zeit würdigten denselben ih¬ rer Aufmerksamkeit; die mcdicinische Acadcmic zu Paris machte ihn zum Gegenstände historischer Forschung, und mannigfache Meinungen über seine Natur wurden ausge¬ sprochen, ohne dafs bis jetzt ein entscheidendes Resultat gewonneu worden wäre.

Schon ein Chronist des 15tcn Jahrhunderts 41 ) hält das heilige Feuer Für identisch mit der Pest des Thucy. dides, und neuere Schriftsteller fanden wenigstens Achn- Jichkeit zwischen beiden Krankheiten. Andere sehen eine bösartige brandige Rose 4a), andere eine Abart der Pest im Ignis sacer; für Schnurrer ist er ein Karbun- kclficber 43), für Jlcnslcr 44) Scharlach. ' Tissot, Tessier und die meisten Franzosen erklären ihn für Er- gotismus 45), Batcman Für Landscorbut, und Moore und Krause 40) wenigstens einzelne seiner Epidemicen für Variola.

Raymond 47) und Schnurrer 48) endlich glauben selbfct zwei verschiedene Krankheiten im Ignis sacer und Ignis Sancti Antonii zu erkennen. Jener hält das heilige Feuer für fressende Flechteu und den Ignis Sancti Antonii Für Evgotismus; Schnurrer hingegen sieht im Ignis sacer eine der athcnicnsischcn Pest analoge Krank¬ heit oder ein bösartiges Karbuukclficber, und im St. An- tonsfeuer eine Lepraform, in der das heilige Feuer un¬ tergegangen sein soll.

Bei so verschiedcnenen Meinungen und Ansichten über die Natur eines Ucbcls, das, wenn auch vor mehr als 6 Jahrhunderten, im Herzen von Europa hauste, kann cs nicht ohne Interesse sein, die bestaubten Annalen jener Zeit nochmals atyfznsch lagen, die geschichtliche Darstellung der Feuerpest aufs Neue zu versuchen, und mit dem auf diese Weise gewounenen Bilde der Krankheit die ver-

I. Das heilige Feuer. 9

schiedcnen Leiden zu vergleichen, welche man in ihr zu erkennen wähnte.

Dies ist die Aufgabe vorliegender Blätter. Treu nach den Chronisten gedenke ich zu erzählen, keine Folgerung zu ziehen, der nicht ihre Worte zur Seite ständen, und ohne Vorurtheil und Leidenschaft die Ansichten Anderer zu prüfen. Ueberzeugt von dem innigen Zusammen¬ hänge der Volkskrankheiten mit den Vorgängen in der physischen und moralischen Well werde ich dies stets be¬ rücksichtigen, bei jeder Epidemie der Witterungsconsti¬ tution der treffenden Jahre, der Ereignisse im Leben der Völker erwähnen.

Möchte meine Arbeit zu einem entscheidenden Resul¬ tate führen, möchte sie nur eines der vielen unbeschrie¬ benen Blätter in der Geschichte der Seuchen füllen. Ihre Unvollständigkeiten aber halte das ärztliche Publikum der Schwierigkeit des Quellenstudiums, dem kärglichen Materiale, welches nicht Aerzte, sondern Chronisten lie¬ fern, und der Periode zu gute, in der die Krankheit herrschte. Einer unserer ausgezeichnetsten Schriftstel¬ ler im Fache der Seuchengeschichte nannte sie noch kürz¬ lich das düster brennende heilige Feuer.

Erstes Kapitel.

* i .

Geschichte der Feuerpest des Mittelalters.

Erst gegen die Mitte des lOten Jahrhunderts gedenken die Chroniken einer epidemischen Krankheit, die sie un¬ ter dem Namen Ignis sacer, Arsura, Feu sacre, Mal des ardens, Clades oder Pestis igniaria, später wohl auch un¬ ter den Benennungen Ignis Sancti Antonii, Martialis oder Beatac Virginis, Ignis invisibilis oder infernalis von der Pest, unter der sie fast alle anderen Epidemieen begreifen, unterscheiden. Uebrigens erwähnt keiner von ihnen die-

*

10

I. Das heilige Feuer.

scr Seuchen als einer neuen und ungewöhnlichen Er¬ scheinung, und schon in den Annalen des 9ten Jahr¬ hunderts finden sich, wenn auch nicht die Namen der Krankheit, doch unzweideutige Spuren ihrer Exi¬ stenz. Ihr Aller aber genauer zu bestimmen, ist, bei den so sparsamen und mangelhaften Angaben jenes Zeitalters über Volkskrankheiten, unmöglich.

^857. Am, Rheine.} Die erste Seuche dieser Art, über welche wir Nachricht besitzen, herrschte 857 am Rheine. Sie wurde mit keinem der angeführten Namen belegt, allein die vom Chronisten 1 ) angeführten Zufälle des Ucbels lassen kaum einen Zweifel über seine Identität mit der Feuerpest zu. -

Der vorausgehende Winter war sehr kalt und trocken, und am Weihnachtstage bebte zu Mainz die Erde 2). Darauf aber herrschte eine grofsc Seuche mit schwellenden Blasen unter dem Volke und ver¬ zehrte es mit häfslicher Fäuluifs, so dafs die losge- treunten Glieder noch vor dem Tode abfielen.

(922. Frankreich und Spanien.} 922 aber WÜtlielC nadl SdlUUr- rcr 3) das heilige Feuer im südwestlichen Frankreich und in Spanien. Der Infaut Don Froila starb unter unsäglichen Schmerzen. Auch hier gingen Erdbebcu, Meteore und ungewöhnliche Witterung der Seuche voraus 4).

f94b. Pari».) Schon genauere Kunde geben uns die Chro¬ nisten über die Epidemie des Jahres 915 zu Paris.

Im April 944 hatten Erdbeben Frankreich und die Rheingegenden erschüttert, Meteore durchzogen die Luft, und ein mächtiger Sturm stürzte zu Paris Häu¬ ser nieder. Der folgende Sommer war andauernd kühl und regnerisch, und der Winter kalt; noch in der Mitte des Märzmonds fiel tiefer Schnee *). Die Normannen waren in Frankreich eingefallen, und Paris rettete sich nur durch schwere Brandschatzung von der Plünderung. Da brach in diesen Zeiten

I. Das heilige Feuer. 11

der Notli in der Stadt und auf den benachbarten Dör¬ fern das heilige Feuer aus. Es verbreitete sich über verschiedene Glieder der Befallenen, die es lang¬ sam verbrannte und verzehrte, bis der Tod den Qua- leu ein Ziel setzte. Die Bewohner der Stadt flohen, um Schutz oder IleiluDg zu finden, aufs Land, die der Dörfer in die Stadt. Die meisten aber nahmen ihre Zuflucht zu den Heiligen, und fanden bei ihnen Hülfe. Vorzüglich wurden zu Paris in Nötre-Dame fast alle geheilt, die sich dort einstellen konnten, und der Herzog Hugo der Grofse speiste täglich die dort versammelten Kranken, obgleich ihrer zuweilen mehr als 600 waren. Auch ein kleines Oratorium der heiligen Genovefa erwarb sich durch seine Wunder¬ kraft grofsen Ruhm, und erhielt daher den Namen «des ardens J). Von den in Nötre-Dame Geheilten zogen mehre in die Heimäth zurück-, allein das er¬ stickte Feuer brach in ihnen aufs neue aus, und sie wurden erst, als sie wieder in die Kirche zurückkehr- ten, befreit 6).

Oertliche Vorgänge in der Natur, wie f994. Frankreich.) sie 944 statt gefunden, verkündigten auch die Feuer¬ pest, die im Jahre 994 Aquitanien, Angoumois, Pe- rigord und Limousin verheerte. Das Jahr 993 war reich an Meteoren, und durch einen ungewöhn¬ lich heftigen Ausbruch des Vesuvs bezeichnet; der Winter währte vom November bis zum Mai, und war »sehr strenge; danu kamen pestilenzialische kalte Winde, und noch im Juli gab es Reif in der Nacht und Eis in den Teichen. Die Fische starben ab, die Bäume verdorrten, die Wiesen schienen wie ver¬ brannt, und alle Flüsse Europa’s sollen durchwatbar gewesen sein 7). Theurung und Ilungersnoth wa- > ren deshalb auch allgemein, und an vielen Orten gab es epidemische Krankheiten unter Menschen und Thic- ren 9). In Aquitanien, Limousin und den beuach-

12

I. Das heilige Feuer.

barten Provinzen aber herrschte das heilige Feuer mit vordem nie gesehener Heftigkeit. Es starben mehr als 40,000 Personen beiderlei Geschlechts; ein unsicht- bares Feuer verzehrte die Körper und trennte die be¬ fallenen Glieder vom Rumpfe. Es war nicht nur fürchterlich, das Jammergeschrei der Unglücklichen zu hören und die verbrannten Theilc von den Körpern fallen zu sehen, sondern auch der Geruch des faulen Fleisches war unerträglich. Viele verzehrte das Feuer in einer Nacht. Wie in früheren Zeiten, nahm man auch hier wieder seine Zuflucht zu den Heiligen, haufenweise strömten die Kranken zu den , Kirchen, und stritten sich um den Einlafs; die Geistlichkeit erhielt reiche Dotationen, die Grofsen verbanden sich zu einer heiligen Ligue, und schwu¬ ren ihren Untcrthancn Gerechtigkeit zu. Viele der Kranken genasen, als inan sie mit gewcihetcin Wasser besprengte, und als die Bischöfe Aquitaniens die Gebeine des heiligen Martialis in feierlicher Prozession durch das Land trugen, verschwand die Seuche 9).

(9 99. Spanien .) Dieselbe Krankheit kam fast gleichzeitig ge¬ gen das Jahr 909 in Spanien, namentlich im König¬ reiche Leon vor ,0), und herrschte gegen das Ende des lOtcn Jahrhunderts vielleicht im Zusammenhänge mit dem fürchterlichen Mangel aller Lebensbedürfnisse

C Lothringen.) im Jahre 996 1 1) in Lothringen. Der Bi¬ schof von Metz, Aldabcrou II., verwandelte sein Haus in ein Hospital, das täglich 80 bis 100 Krauke aufuahm. Das Leiden begann mit brennender Hitze, die Glieder wurden brandig und fielen so schnell ab, dafs manche schon einen Fufs, und andere selbst beide Füfse verloren hatten, als 6ie ius Hospital kamen 1 a).

( 1039.^ Eine andere Seuche dieser Art herrschte 1039. Es starben viele aus allcti Ständen, manche aber blic-

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I. Das heilige Feuer.

bcn mit verstümmelten Gliedern den andern zum Bei¬ spiel am Leben. Ueberall war Mangel an Wein und Getreide 13), und ein grofscs Feuermeteor war der Epidemie vorausgegangen 1 4).

Der Sommer des Jahres 1042 war sehr fi042. Verdun. j regnerisch, Winde verursachten grofsen Schaden, und die Ernte mifsrieth. Theurung und Hunger, Seu¬ chen unter Menschen und Thieren, suchten Frankreich und Deutschland heim 1 5). Von den meisten die¬ ser epidemischen Krankheiten sind weder Namen noch Beschreibungen auf uns gekommen; in Verdun aber war es das heilige Feuer, welches die Stadt fast zur Wüste umschuf, und nur der Wunderkraft des heili* gen Vit onus wich 16).

Furchtbarer aber und für längere Zeit, als in einer der bis jetzt erwähnten Epidemieen, erhob der Ignis sacer in den letzten 15 Jahren des Ilten Jahrhunderts sein Haupt, und die jetzt zahlreicheren und aufmerk¬ sameren Chronisten gedachten seiner wiederholten Aus¬ brüche und seiner Erscheinungen ausführlicher, als

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vordem.

Die Zeiten waren schlecht. Erdbeben, Heuschrek- kenschwarme und ungewöhnliche Nässe bezeichneten die Jahre 1085 und 86: die Flüsse traten aus ihren Ufern, Berge wurden unterhöhlt und stürzten zusam¬ men. Im Jahre 1087 wurde das Federvieh wild und flog in die Wälder, die Fische starben in den Wäs¬ sern und Teichen; 1088 bebte in Thüringen und Hessen die Erde, und in Flandern sah man einen feu¬ rigen Drachen. Mit dem Jahre 1090 aber begann eine Theurung und Hungersnoth, die mit kurzen Un¬ terbrechungen 7 lange Jahre wüthete und erst ge¬ gen 1097 etwas nachliefs. Meteore, Ueberschwem- mungen und Mifswachs wiederholten sich fast in jedem dieser Jahre, und die bürgerlichen Kriege in Deutsch¬ land und Frankreich, die Plünderungen der Excom-

J4 I. Das heilige Feuer.

iminicirtcn io Italien und der Hungernden in allen Landern waren eben nicht sehr geeignet, die Gemii- ther zu beruhigen. Im Jahre 1092 erwartete man mit Bestimmtheit den jüngsten Tag, und ergriff, als 1096 das Kreuz gepredigt wurde, mit Fanatismus die Gelegenheit, sich durch die Eroberung von Jerusalem seinem Gotte zu versöhnen, und das arme Europa mit Asiens Reichthiimern zu vertauschen 1 7).

Dafs es bei solchen Vorgängen in der physischen, moralischen und politischen 'Welt auch nicht an epi¬ demischen Krankheiten mangelte, beweisen alle Chro¬ nisten jener Zeit; in Italien, Frankreich, Deutsch¬ land und England zehndeten mannigfache (meistens nicht genau beschriebene) Seuchen die Cevölkeruug *®).

Das heilige Feuer spielte unter ihnen nicht die letzte Rolle, und wenn wir auch nur über seine Ver¬ heerungen in Lothringen, Flandern, der Dauphine und Aquitanien bestimmte Kunde besitzen, so müs¬ sen wir doch annehmen; dafs cs uoch in grüfsercr Ausbreitung vorgekommen sei.

( 1085. Lothringen. j Es zeigte sicli schon 1085 nach dein

grol'sen Erdbeben im westlichen Tiieile Lothringens eine Pest, bei der viele durch Zusammenzieluing der Nerven verzerrt und von den heftigsten Schmerzen gequält wurden; andere hingegen, nachdem ihre Glie¬ der vom heiligen Feuer verzehrt und schwarz wie Kohlen geworden, elend dahin starben 1 #).

H089. Lothringen vnj Finnäem .) In gröfscrer Ausdehnung aber kam unsere Krankheit in Lothringen und Flandern iin Jahre 1089 vor, wo viele Menschen, denen das hei-

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lige Feuer das Innere verzehrte, verfaulend, mit au- gefressenen und wie Kohlen schwarzen Gliedern ent¬ weder elend dahin starben, oder, indem ihnen die in Fäulnifs übergegangenen Gliedmaafsen abfielcn, für ein noch elenderes Leben erhalten wurden. Viele aber quälten Krämpfe und Zuckungen. Auf alicu Wc-

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I. Das heilige Fener.

gen, in den Grüben und an den Thoren der Kirchen sah man Leidende, die wehklagten und vor Schmerz mit den Zähnen knirschten; überall Sterbende und Todte. Einer der Chronisten vergleicht die Krank¬ heit dem Erysipelas der Griechen; ein anderer, weit späterer hingegen, der atheniensischen Pest 20).

Auch in Frankreich, wo man aufser furn Dauphine .) feurigen Meteoren, Iusektensckwärmen und anderen Wundern von schlimmer Vorbedeutung, bedeutende Mengen Blutes aus neugebackenem Brote fliefsfcn sah 2 *), herrschte das heilige Feuer. In der Dauphine gab es Unglückliche, denen nach dem Verluste aller Ex¬ tremitäten nur noch der Kopf und Rumpf geblieben waren, und die noch mehre Tage lang in diesem fürch¬ terlichen Zustande lebten. Es scheint diese Pro¬ vinz überhaupt vorzugsweise von der Feuerpest heim- gesucht worden zu sein, da hier ein gewisser Gaston den Orden des heiligen Antonius stiftete, dessen Zweck die Pflege der vom heiligen Feuer Befallenen war. Der Hauptsitz des Ordens war mit Geneh¬ migung des Papstes Urban II. Vienne, wo die Reli¬ quien des genannten Heiligen ruhten und von den Kranken angerufen wurden; * die Häuser der Stadt dienten zu Hospitälern 22).

1092 zeigte sich die Krankheit wieder fl092. Flandern.) in Flandern, und der Bischof von Tournai veranstal¬ tete zu ihrer Abwendung einen feierlichen Bittgang.

Es fielen der Seuche zahlreiche Opfer; die einen waren schwarz wie Kohlen , die andern , denen die Krankheit die Eingeweide angegriffen, zehrten ab, die dritten waren an den Gliedern jämmerlich verstüm¬ melt 2 3).

Im Jahre 1094 aber, wo die Hungersnoth am drückendsten war, und ganz Deutschland, Frankreich, Burgund, Italien und England von schweren Seuchen getroffen wurden, ganze Marktflecken ausstarben und

J6 I. Das heilige Feuer.

die Kirchhöfe an vielen Orten die Todten nicht mehr f 1094. Aquitanien.) fafeten 24), war cs wenigstens in Aqui¬ tanien das heilige Feuer (vom Autor Feuer unter der Haut genannt), gegen welches die Bewohner die Hülfe ihres Schutzpatrone» anriefen25), und Sieg- bert von Gcmblours erzählt vom Jahre 1095, dafs das heilige Feuer viele befallen habe, und dafs ihre Glieder schwarz wie Kohlen geworden seien 28). ^1099. Dauphine.) Eine neue Epidemie des Ignis saccr brach im Jahre 10.99 in der Dauphine aus. Das ganze Jahr hindurch war wenigstens in den nördlichen Län¬ dern ein beständiger Winter, in Soissons sah man ein grofses Feuermeteor, und Ucbcrschwcmmungcn des Meeres thaten in England und Holland unberechenba¬ ren Schaden 27). Zu Vienne, in der Nachbar¬ schaft der Kirche der heiligen Gertrude, war die Krankheit so heftig, dafs wenn ein Theil des Körpers befallen wurde, ein Gefühl von Hitze und heftigem Schmerz eintrat, das nur mit dem Leben endete und den Verlust des ergriffenen Gliedes nach sich zog 2B).

Nicht seltener als im Ilten, war die Feuerpest im 12ten Jahrhundert. Sie zeigte sich schon 1105 6, in diesen feuchten, an Meteoren reichen Jahrea wic- f 1109. Frankreich.) der 29), und erschien in gröfserer Aus¬ breitung im Jahre 1109. Der Jahrgang war reg¬ nerisch, reich an Gewittern, Wolkenbrüchen und Ila- gelschlägcn. Die Ernte mifsrieth, und Theurung und Hungersnolh kamen über Frankreich 30); da brach auch noch das heilige Feuer, vorzüglich im Gebiete von Orleans, Chartres und in der Danphine au6. An manchen Orten schien es ziemlich gutartig, an anderen aber verstümmelte und tödtete es Viele der ärmeren Klassen. Die Glieder wurden schwarz wie Kohlen 51 ).

filio. England.) Im folgenden Jahre, 1110, erschien die Krankheit, nach einem ungewöhnlich strengen Winter,

auch

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I. Das heilige Feuer.

f jtoäjL > I V f

auch in England. Die Theile wurden schwarz, und fielen ab 3 a).

1115 herrschte das Uebel zu Dormans, ('ins. Dormana.j und 1125, nach einem kalten Winter und sehr feuch¬ ten Sommer, in der Dauphine 33). In viel fira. Dauphine.) gröfserer Ausbreitung aber trat es 1128 und 29 auf, nachdem in drei vorausgehenden Jahren der Winter auffallend kalt gewesen war, und hin und wieder Tbeurung und Hunger herrschten 3 4).

In Frankreich wurden die Städte fii28 29. Frankreich.) Chartres, Paris, Soissons, Cambray, Arras und viele andere Orte hart von der Seuche betroffen. < Sie befiel alle Alter und Geschlechter, und tödtetc in Pa¬ ris allein 14,000 Menschen; die Hände, die Füfse, die Brüste, und, was schlimmer war, das Gesicht wurden von ihr zerstört. Keine ärztliche Hülfe fruch¬ tete, die Krankheit war Gottes Finger. *— Die ein¬ mal befallenen Körper brannten mit unerträglicher Pein bis zum Tode, wenn nicht Gottes Barmherzigkeit ein Ziel setzte. Es war ein zehrendes Uebel, das unter der gespannten lividen Haut das Fleisch von den Kno¬ chen trennte und zerstörte, und mit immer wachsen¬ dem Schmerze und Brennen die Kranken in jedem Augenblicke die Qual des Todes empfinden liefs. Allein der ersehnte Tod erfolgte erst, wenn das Feuer die Extremitäten zerstört hatte und die Organe des Lebens erreichte. Das Wunderbare an der Sache aber war, dafs dieses Feuer ohne Hitze zu verzehren vermochte, und die armen Kranken mit so eisiger

Kälte übergofs, dafs sie auf keine Weise zu erwär-

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meu waren. Lenkte es aber die göttliche Gnade zum Besseren , so verschwand die tödtliche Kälte, und es durchdrang dieselben Theile eine so intensive Hitze, dafs sich häufig der Krebs bcigesellte, wenn nicht durch Arzneimittel Hülfe geschafft wurde. Der Anblick der- Kranken und der frisch Geheilten, die Baad 28. Heft 1. 2

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I. Das heilige Feuer.

Spuren der Krankheit an ihren Körpern und in den abgezehrten Gesichtern, erregten Schauder. Nur die Heiligen vermochten dein Ucbcl zu steuern, und sie heilten auch zahlreiche Kranke. In der Frauen¬ kirche zu Soissons genasen in 15 Tagen 103 vom hei¬ ligen Feuer befallene Personen und drei Mädchen, die an Verdrehungen der Glieder litten; und Sanct Ma¬ ria uud Genofeva zu Paris thaten nicht weniger Wunder. Gleichzeitig mit der Feuerpest herrschte eine Viehseuche 35).

( ii2 s 29. Lothringen und Flandern. ? ) In Lothringen und Flan¬ dern , wo das Leiden in denselben Jahren erschien, starben die Kranken unter langen und heftigen Schmer¬ zen. Wie in Frankreich, befiel das Uebel die Hände, die Füfse uud auch das Gesicht. Frost¬ schauder, auf welchen Hitze folgte, Delirien, grofse Kraftlosigkeit, Kopf- und Rückcnschmerzen , An¬ schwellungen und Vereiterungen der Achsel- und In- guinaldriisen sollen es begleitet haben, und die Extre¬ mitäten häufig in Brand übergegangen sein 3B).

( Deutschland. ) Auch in Deutschland trat um diese Zeit die Krankheit auf, und Vincent Gallus erzählt iu sei¬ ner Sammlung, dafs zur Zeit Kaiser Lothar’s II. viele Personen vom heiligen Feuer befallen worden *v- seien. Die Glieder wurden verzehrt und gingen in Fäulnifs über; viele starben, andere entgingen dem Tode mit Verlust einiger Glieder; noch an¬ dere empfanden heftige Zusammenziehungen der Ner¬ ven 3 7.)

f\m. England.) In England aber, wo der Winter 1128 vor¬ züglich kalt gewesen, finden wir ihrer unter dem Na¬ men Ignis Sancti Antouii gedacht 3*).

( 1 141. Paria.) Die nächste Seuche des heiligen Feuers, de¬ ren die Chronisten gedenken, brach nach einem kal¬ ten Winter in dem feuchten Jahre 1111 39) aus. Sie befiel vorzüglich Paris, kam jedoch auch in an-

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I. Das heilige Feuer.

deren Orten vor und wurde, wie die früheren Epide- micen, durch die Heiligen geheilt. Der Angabe des Martyrologiums zufolge, wurden zu Paris vor¬ züglich die Genitalien ergriffen, und man erbaute dort eine Kirche zur Ste Genevieve des ardens, von der gegenwärtig aber keine Spur mehr vorhanden ist40).

Zehn Jahre später folgte auf einen fiisi. Frankreich.) kalten Winter anhaltender Regen von Johannis bis Mitte August, und verdarb die Ernte, die reichlich zu werden versprach 41). Ilungersnoth und heiliges Feuer waren vorzüglich unter den armen Leuten/ in Frank¬ reich Folge dieses Fehljahres 42); unter den Thieren aber, namentlich den Pferden, herrschte Zungen¬ krebs 43).

Eine andere Epidemie des Ignis sa- fiiso. Lothringen .) cer brach 1180 in Lothringen aus. Wehklagend füllten die armen Kranken Strafsen und Kirchen.

Das fürchterliche Uebel verzehrte ihnen Glieder und Eingeweide, und liefs das Aeufsere oft dabei kalt.

Es setzte seine Zerstörungen fort, bis nur noch die harte und abgestorbene Haut über die Knochen gespannnt war. Die Kranken wurden von hefti¬ gen Schmerzen, und zuweilen von Convulsionen ge¬ quält; das Fleisch fiel ihnen brandig und schwarz wie Kohle ab. Die Unglücklichen verbreiteten durch die Zerstörung ihrer Glieder einen fürchterli¬ chen Geruch, und wünschten sich als Erleichterung ihrer Qual den Tod 44).

Gleichzeitig aber scheint das Leiden auch (Spanien.) in Spanien vorgekommen zu sein, da man dort Hospi¬ täler zur Aufnahme der Kranken errichtete, die am heiligen oder persischen Feuer litten 45).

Vielleicht gehörte selbst f!189. Portugal, Gebiet von Br aya.) die Seuche unserer Krenkheit an, die im Jahre 1189 Portugal entvölkerte; wenigstens beklagten sich im Gebiete von Braya die Kranken, dafs ihnen die

2*

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I. Das heilige Fener. *

Eingeweide verbrennten. Es gab, schreibt ein glaubwürdiger Chronist, einige Jahre lang so strenge Winter und so ungewöhnliche Regengüsse , dafs durch ihre lange Dauer und die Menge des Wassers das neue Getreide, der Wein, das Oel und die Früchte gänzlich verdarben. Das Wenige aber, was übrig blieb, verzehrte eine grofsc Menge Heuschrecken, die als Ilimmelsplagc entstanden. Darauf folgte im Herbst uud Winter eine solche Trockenheit und Wärme, dafs die Leute die Erde nicht bebauen konnten. Mit die¬ sem, der natürlichen Ordnung der Dinge widerspre¬ chenden Wechsel der Jahreszeiten kam eine grofsc Pest, vorzüglich im Gebiete von Sancla Maria im Bis- thumc Oporto, an der so viele Menschen starben, dafs cs grofse Ortschaften gab, in denen nicht drei Perso¬ nen am Leben blieben. Im Gebiete von Braya erkrankten Männer und Frauen an einem Uebcl mit so fürchterlicher Hitze und so tobenden Schmerzen, dafs es ihnen däuchte, als ob ihnen die Eingeweide verbrannten; sie afsen sich in der Wuth selbst auf, und starben ohne Hülfe. Einige Jahre nachher mangelte es so sehr an Lebensmitteln, dafs viel Volk Hungers starb, uud die Lebenden sicli von den Kräu¬ tern des Feldes nährten, wenn sie solche erhalten konnten 46),

fiiss. England.') Auch in England zeigte sich die Feuerpest nochmals im I2ten Jahrhundert Sie erschien in dem kalten und feuchten Sommer 1196 47). fiuo. Mayorcn.j Erst im Jahre 1230 kam die Krankheit hier Ignis Saucti Antonii genannt wieder vor. Der Sommer war kalt und feucht, und im Heere des Königs von Arragon, Don Jayme, zeigte sich, als er Mayorca erobert hatte, die Pest. Bald gesellte sich ihr noch ein anderes Uebcl, das Feuer des hei¬ ligen Antonius bei, und der König errichtete ein Hospital für solche Kranke. Die Verheerungen

I. Das heilige Feuer. Jil

beider Seuchen müssen bedeutend gewesen sein, da der König Galeeren nach Catalonien sandte, uni die Lücken in der Bevölkerung der eroberten Insel durch Einwanderer auszufülleu. Eine genauere Beschrei¬ bung der Epidemie hat uns der Historiograph nicht hinterlassen 48).

Auch von dem heiligen Feuer, das p236. Poitou. j 1236 in Poitou regierte, wissen wir nicht mehr, als dafs es gleichzeitig mit grolser Theurung und Hungers- noth vorkam 49).

Im Jahre 1254 aber, nach einem kal- fi254. Marseiile.) ten Winter, bei allgemeinem Mifswachs und Mangel 50), richtete unsere Krankheit in der Gegend von Marseille so furchtbare Niederlagen an, dafs man sie statt des heiligen, das höllische Feuer nannte 5I), und die Spa¬ nier gründeten um diese Zeit noch immer neue Hospi¬ täler, die dem heiligen Antonius und seiner Krank¬ heit gewidmet waren 52).

Von der Mitte des 13ten Jahrhunderts an aber werden die Berichte über Seuchen des Ignis sacer oder Sancti Antonii immer seltener und miuder aus¬ führlich, ob er gleich nicht ganz aus den Annalen der Zeit verschwindet.

In Frankreich gab es zwar noch im 14ten ( Frankreich.) [1347 in der Bretagne S3)J, im löten [un- ('1347. Bretagne.) ter Carl VII. 54)] und im löten Jahrhunderte [1530 zu Paris 55)] Epidemieen, die wenig- ^1530. Paris.) stens dem Namen nach hierher gehören, von welchen uns aber keine Beschreibung zu Gebote steht, und Petrus Paris us beschrieb eine Seuche, die im löten Jahrhundert zu Trepano und Palermo auf Sici- ( Sidlie» .) lien herrschte, und die manche Aehnlichkeit mit den früheren Epidemieen darbot. Die unteren Extremitä¬ ten waren bei ihr in krampfhafter Contraction, und wurden so hart und trocken, als wären sie am Feuer oder in der Sonne getrocknet. Sie blieben pelzig und

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I. Das heilige Feuer.

gefühllos 9fl). Allein keine dieser Seuchen war so heftig, so verbreitet und so bedeutsam, als die des lOten, Illen und 12ten Jahrhunderts.

Dafs aber auch iu ihnen das hervorstechendste Sym¬ ptom der Feuerpest das Absterhen der Extremitäten noch vorkam, scheint aus Fragoso’s *7) Angabe her¬ vorzugehen, der noch 1590 in Spanien, wo das Uehel seit 150 Jahren nicht mehr vorgekommen war, in vielen Ere¬ mitagen des heiligen Antonius Arme und Beine aufbe¬ wahrt fand, die in Folge des heiligen Feuers abgestorben waren; ja selbst noch 1702 sollen dergleichen Reliquien in der Abtei zu Vienne gezeigt worden sein s8).

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Zweites Kapitel.

Ignis sacer und Ignis Sancti Antonii Bild der Krankheit nach den Chronisten.

Vergleichen wir die einzelnen Feuerseuchen, wie wir ßie im vorigen Kapitel nach den Chronisten beschrieben haben, so ergeben sich zwar manche Differenzen , wir fin¬ den bei manchen Epidcmieen Erscheinungen aufgezeichnet, deren bei anderen nicht gedacht wird, wie z. B. Krampfe, Blasen auf der Haut (857.), Ficbersymptome (1128.) u. s. w., und sehen das heilige Feuer bald auf die Extremi¬ täten beschränkt, bald auch im Gesichte, an den Brüsten und den Genitalien Vorkommen; allein diese Abweichun¬ gen beruhen wohl Iheilwcise auf der ungleichen Ausführ¬ lichkeit und Genauigkeit der auf uns gekommenen Beschrei¬ bungen, thcihveisc auf der verschiedenen Heftigkeit und den zufälligen Modificationcn der einzelnen Epidcmieen, die unter sich wohl eben so wenig vollkommen gleich waren, als die irgend einer anderen Krankheit, berechti¬ gen uns aber fürs ^rstc noch keinesweges, in dem epide¬ mischen heiligen Feuer des Mittelalters mehr als eiuc Krank-

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I. Das heilige Feuer.

heit zu vermutheu und anzunehmen, dals auch die Chro¬ nisten jener Jahrhunderte, wie die Römer und Araber, verschiedene Leiden unter dein gemeinschaftlichen Namen Ignis sacer zusammenfafsten. Die wesentlichen Erschei¬ nungen heftige Schmerzen, ein Gefühl, als ob ein Feuer unter der Haut die Theile verzehre, brandige Zerstörung und selbst Abstofsung einzelner Parthien des Körpers sind überall, wo unsere Quellen mehr als die Jahreszahl und den Nameu der Epidemie überliefern, aufgeführt, und die Meinung, dafs wenigstens bei weitem die Mehrzahl der erwähnten Seuchen einer und derselben Krankheit ange¬ hören, wird durch die Einförmigkeit der Verhältnisse, un¬ ter welchen sie erscheinen und verlaufen, bestätigt.

Wären aber diese Epidemieen auch verschiedener Na¬ tur, so fänden wir in ihrer Geschichte doch durchaus nichts, was Raymond’s und Sch nurrer’s Ansicht, Ignis 6aeer und Ignis Sancti Anton ii seien zwei verschiedene, schon im Mittelalter durch die Benennung getrennte Uebel gewesen, bestätigte.

Raymond *) versteht unter Ignis S. Antonii (Feu infernal oder Mal des ardens) die epidemische verheerende Krankheit mit brandiger Zerstörung der Extremitäten, wie sie vorzüglich im Jahre 994 in Frankreich herrschte, und findet grofse Achnlichkeit zwischen ihr und dem Er- gotismus; der Ignis sacer aber ist ihm ein anderes Uebel, das in denselben Zeiten hauste, das persische Feuer, die fressende Flechte der Griechen, die sich unter der Form des Erysipelas, wie das heilige Feuer des Plinius, d. h. wie der Zoster zeigte, mit tausend anderen häfslichen Ilaut- affectionen verbunden war und einen chronischen Verlauf machte. Man erbaute nach ihm eine bedeutende An¬ zahl Hospitäler für beide Feuerkrankheiten , vorzüglich für die erste, und nannte im 12ten Jahrhundert das zu Mar¬ seille: Hospitale eorum qui igue infernali laborare di- cunlur.

Nach Schnurrer 2) hingegen hiefsen die gangränösen

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I. Das heilige Feaer.

Epidemiccn des Mittelalters, die er bald für Karbunkel Ge¬ ber, bald für atlicnicnsischc Pest hält, Igois saccr, und erst später, im Anfänge des 13tcn Jahrhunderts, wo die erloschene Feuerpest sich in Aussatzformen aufgelöst hatte, kommt die Benennung Ignis Sancti Antonii vor, wur¬ den die zahlreichen Hospitäler zum heiligen Antonius errichtet. Die grofse Zahl solcher Häuser in der er¬ sten Hälfte des 13tcn Jahrhunderts in Spanien, Frankreich und Deutschland, zu einer Zeit, wo nach Schnurrcr’s Voraussetzung das heilige Feuer schon erloschen war, sind der Hauptstützpunkt dieser Ansicht.

Schnurrer nennt demnach ltaymond’s Ignis St Antonii die Feuerpest «Ignis sacer”, und Ray¬ mond versteht so ziemlich dasselbe unter heiligem Feuer, was Schnurrer als St. Antonsfeuer betrachtet: bösar¬ tige Hautausschläge mit chronischem Verlaufe.

Schlagen wir aber die Chronisten auf, um diesen Wi¬ derspruch zu schlichten, so finden wir, dafs diese durch¬ aus nichts von einem Unterschiede wissen. Die ersten Epidemieen unserer Krankheit heifsen in ihnen durchgc- bends: Iguis sacer, Ignis invisibilis, Arsura; und die Kran¬ ken suchten und fanden Hülfe bei verschiedenen Heili¬ gen. In Aquitanien wurde -4er heilige Martial, in Paris und Soissons Nötre-Dame und Sancta Genofcva, in Verdun der heilige Vitonug verehrt. In der Dau¬ phine aber, wo die Krankheit häufig herrschte, erwarben sich die Reliquien des heiligen Antonius, die Jocelin, Graf von Albon, schon unter König Lothar nach Vienne von Constantinopcl aus gebracht hatte, den Ruhm einer wunderthätigen Heilkraft, und ein Edelmann Namens Ga¬ ston, der sich und seine Güter der Pilcge der vorn hei¬ ligen Feuer Befallenen, die bei den Heiligen zu Vienne Hülfe suchten, widmete, stiftete dort gegen das Ende des Ilten Jahrhunderts den Orden des heiligen Antonius. Anfangs waren er und seine Gefährten Laien, alleih bald nahmen sie mit Bestätigung Urban ’s II. die Regel des

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I. Das heilige Feuer.

heiligen Antonius an, und verbreiteten ihre Gesell¬ schaft in verschiedene Länder 3) Mit ihnen ging na¬ türlich der Ruhm ihres Heiligen in Heilung der Feuerpest von Provinz zu Provinz, und das Volk nannte wohl schon im 12ten Jahrhundert das heilige Feuer Blorbus Sti An- tonii, wie es die Lepra Morbus Sti Lazari, und später die Syphilis Morbus Sti Mae vii nannte. In den Chro¬ niken aber finden wir diese Benennung erst im 13ten und I4ten Jahrhundert, und überhaupt seltener, als Ignis sacer, überall aber wird sic als gleichbedeutend mit dieser, über¬ all , selbst noch im Jahre 1347, für ein epidemisches Lei¬ den, nirgends für einen chronischen Ausschlag, für eine Form der Lepra gebraucht, die einer der Chronisten deut¬ lich vom heiligen Feuer scheidet 4). Dafs aber in die¬ ser Periode auch im Volke die Benennung Ignis Sti An- tonii [zuweilen auch Ignis Sti Martialis oder Dominae nostrae *)] das brandige Absterben der Glieder, und keine Lepra bedeutete, geht aus Guy von Chauliac 6) unbe- zweifelbar hervor, ja der Brand die Gangrän der Grie¬ chen erhält sich diese Benennung, wie ich in der Ein¬ leitung dargethap, bis in das I6te Jahrhundert. Es hat wohl zu mancher Irrung Anlafs gegeben, dafs die Aerzte jener Zeit den Esthiomenus, mit welcher Be¬ nennung wir jetzt eine fressende Flechte bezeichnen, als synonym mit dem St. Antonsfeuer aufführen, allein wer Guy von Chauliac’s und seiner Nachfolger Beschrei¬ bung des Esthiomenus gelesen, kann über die Identität desselben mit dem Brande keinen Zweifel hegen.

Ignis sacer und Ignis Sti Anton ii waren also im Mittelalter wohl eine und dieselbe Krankheit, und wenn Raymond den ersten zu einer fressenden Flechte, Sch nur- rer den zweiten zu einer Form des Aussatzes macht, so hat jener sich mehr an Celsus und Plinius und an die Aerzte der späteren Zeit, als an die Chronisten gehalten, und dieser, mit den Feuerseuchen des 13ten und 14ten Jahrhunderts unbekannt, und vielleicht durch den Esthio-

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I. Das heilige Feuer.

menus der Arabisten verleitet, bat sich eine willkiihrlichc Annahme zu Schulden kommen lassen.

Es findet sich in den Quellenschriftstellcrn jenes Zeit¬ alters nicht eine Spur des Ueberganges der Feuerpest in die Lepra, und beide Krankheiten scheinen mir so radical verschieden, dafs ich selbst die Möglichkeit eines solchen Vorganges nicht zugestehen kann. Dafs aber die zahl¬ reichen Hospitäler des heiligen Antonius wenigstens in Spanien wirklich für Individuen, die am heiligeu Feuer litten, bestimmt waren, unterliegt wohl nach der auf Au¬ topsie gegründeten Mittheilung Fragoso's, deren im er¬ sten Kapitel gedacht ist, keinem Zweifel mehr.

Geben uns aber auch die gesammelten Originalstellen die Wahrscheinlichkeit, dafs nur eine Krankheit, ein Lei¬ den sui geucris die Feuerseuche des Mittelalters ausmachte, so ist es doch sehr schwer, aus den kurzen, unvollstän¬ digen und von Laien in der Arzneikunde mitgethcilten Nachrichten ein treues Bild dieses Leidens zu entwerfen, und wenn wir den Versuch machen, die einzelnen groben Pinselstriche der Chronisten zu einem Ganzen zusammen¬ zustellen, so können wir kein ausgeführtes Gemälde der Krankheit erwarten, wie es die specielle Nosologie unse¬ rer Tage liefern würde; wir müssen uns begnügen, weun wir durch diese Zusammenstellung nur die Umrisse eines Bildes ohne Colorit, ohne Schatten und Licht gewiunen. Das heilige Feuer war eiu zehrendes Uebel (Morbus tabificus: Hugo Farsit), eine schleichende Pest (Pestis quaedam flegmatica. Chronic. S. Stephani). Heftige unerträgliche Schmerzen (dolorum immanitas) peinigleu die Befallenen, dafs sie laut wehklagten, mit den Zähnen knirschten und schrieen, und nahmen im Verlaufe der Krankheit immer zu, den Unglücklichen in jedem Augen¬ blicke die Qual des Todes bereitend. Eiu unsichtba¬ res, unter der Haut verborgenes Feuer (Iguis sub cutc, iuvisibilis occultus) trennte das Fleisch von den Knochen und verzehrte cs (Hugo). Die Haut der ergriffeueu Glic-

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I. Das heilige Feuer.

der, und in einzelnen Epidemiccn (1128. 1141.) auch die des Gesichtes, der Brüste und der Genitalien wurde livid (livens), maulbeerfarben (cardena) und schwärzlich (ni- grescens); nur selten (857.) zeigten sich auf ihr schwel¬ lende Blasen (vesicac turgentes); in anderen Fällen war sie abgestorben und überzog nur noch die Knochen (amor- tada pegada ä los liuesos). Dabei blieb das Aeufsere kalt (el exterior frio) und die Kranken durchdrang so ei¬ sige Kälte, dafs sie durch kein Büttel zu erwärmen wa¬ ren (Hugo). Später wurden die ergriffenen Theile entweder schwarz wie Kohlen (instar carbonum nigrescen- tes) von Sphacelus ergriffen oder sie wurden ge- schwürig (exesi) und von häfslicher Fäuluifs Gangrän verzehrt (detestabili putredine consumpti). Das Fleisch fiel von den Knochen (exustae partes effluebant), der Ge¬ ruch (putrae carnis foetor) verpestete die Luft. Im einen, wie im anderen Falle erfolgte häufig die Absetzung des leidenden Gliedes (membra dissoluta deciderunt), vor¬ züglich der Hände und Füfse (manibus et pedibus trun- cati), und man sah Individuen, denen nur noch Rumpf und Kopf übrig waren (1089). Die Unglücklichen ver¬ langten nach dem Tode, als Linderung ihrer Qual, allein in der Regel erfolgte dieser erst, wenn die Krankheit die Extremitäten verzehrt hatte (prioribus depastis artubus) und jetzt die für das Leben wichtigeren Organe ergriff (membra vitalia invasit). Die Kranken glaubten dann, dafs ihnen ein innerliches Feuer die Eingeweide verzehre (que thes ardiano as entranhas), und starben unter den fürchterlichsten Schmerzen schnell, oder sie zehrten lang¬ sam ab. (Exesis visceribus tabescentes.) Zuweilen aber scheinen die inneren Organe sogleich primär befallen worden zu sein, und dann erlagen die Kranken ohne äufserliche Zeichen des Brandes (absque adustionis nota extincti). Ging es aber zum Guten, was häufig erst nach Absetzung der Glieder der Fall war, so stellte sich in den früher eiskalten Gliedern intensive Hitze ein, die

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I. Das heilige Feuer.

noch eine eigene Behandlung erheischte, wenn sich ihr der Krebs 7) nicht bcigcsellen sollte. (Hugo Farsit.) Das abgezehrte Antlitz (facies exterminata), die Narben, der Mangel einzelner Glicdmaalscu, gab den Neugenesenen ein schaudervollcs Aussehen.

In der Beschreibung einzelner Epidemieen 1085, 1089, 1128, 1180 wird auch der Krämpfe •) und Con- vulsioncn gedacht (nervorum contraclionc distorti crucia- bantur); allein es scheint nicht, als ob dieselben in denselben Individuen mit dem heiligen Feuer vorgekom- meii seien. Viele, sagt die Chronik von Tours, wur¬ den von Zusammenziehuog der Nerven gequält, andere tödtetc das heilige Feuer; und nur Villa Iba führt zum Jahre 1180 aus mir unbekannten Quellen die Convulsio- nen als ein Symptom der Feuerpest auf Wahrschein¬ lich kamen demnach Krämpfe und Ignis saccr wohl in ei¬ ner Epidemie, nicht aber in denselben Individuen vor. Bemcrkenswerlh ist cs übrigens, dafs drei der Scuchcr*, von denen dies bemerkt ist, in Lothringen, und die vierte in Deutschland herrschte. Bei den Epidemieen in Aquitanien, der Dauphine und jenseits der Pyrenäen, wird solcher Symptome nie gedacht.

Nur einer unserer Autoren Ozanam 1128 ge¬ denkt im Gebiete der Feuerpest febrilischer Symptome; Frostschauder, auf welchen Ilitze folgte, Delirien, grolse Kraftlosigkeit, Kopf- uud Rückenschmerzen, Anschwellun¬ gen und Vereiterungen der Achsel- und Inguinaldrfiscn, sollen die Seuche in Lothringen und Flandern begleitet haben. Allein Mezeray, auf dessen Zeugnifs sich der Franzose beruft, gedenkt der ganzen Epidemie mit keiner Sylbc, und die mir bekannten Chronisten schweigen über die angeführten Symptome. Ozanam 's Angabe wird aber um so verdächtiger, wenn wir fast bei allen Feuer- scuchen lesen, dafs sich zahlreiche Kraukc in die Kirchen und Klöster begaben (loca Sanctorum petebant), um dort Hülfe zu suchen; dafs sic sich um den Eingang stritten,

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I. Das heilige Fener.

Strafsen und öffentliche Plätze mit ihren Wehklagen füll¬ ten, und sich zu Hunderten in Nötre-Dame von Hugo Capet speisen liefsen; Thatsachen, die mit einem so schweren Allgemeinleiden, als Ozanam beschreibt, na¬ mentlich mit den Delirien und der grol’sen Kraftlosigkeit, nicht recht zusammenpassen wollen. (Vergl. Bemer¬ kungen zum ersten Kapitel No. 36.)

Ueberhaupt scheint der Verlauf der Krankheit nicht sehr acut gewesen zu sein. Glaber Rodulphus sagt zwar ausdrücklich, dafs das Feuer mehre (plerosque) über Nacht (in spacio unius noctis) verzehrt habe, allein es scheint sich dies nur auf jene Fälle zu beziehen, wo innere wichtige Organe befallen wurden, und in welchen auch Hugo Farsitus die Krankheit schnelles Feuer (ce- ler ignis) nennt. Im Allgemeinen wird der Ignis sacer als eine sehr schmerzhafte und langwierige Krankheit be¬ schrieben, bei der die Kranken sich den Tod wünschen und nicht sterben können; die sie allmählig (sensim petit ä petit) verzehrt, und durch welche zuweilen erst alle Extremitäten vom Leibe fallen, bevor der Tod der Qual eip Ende macht.

Auch Recidive der Krankheit kamen in dersel¬ ben Epidemie vor. Im Jahre 9 45 kehrten Manche als geheilt aus Nötre-Name in ihre Heimath zurück; allein das Feuer befiel sie von Neuem (extincto refervescunt in- cendio), und sie fanden nur durch die Rückkehr in die Kirche Heilung. -

Ueber die Aetiologie des heiligen Feuers geben uns die Chroniken wenig Aufschlufs. . Es war Gottes Fin¬ ger (digitus dei), eine Strafe des Himmels (plaga divina), ein Zeichen der göttlichen Ungnade (divinae animadver- sionis index), und traf die Menschen ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes. In manchen Seuchen wurden vorzugsweise die niederen Klassen (pauperiores) befallen; in anderen hingegen, wird uns ausdrücklich be¬ merkt, dals auch die Vornehmen und der Mittelstand

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I. Das heilige Fener.

(Magnates et mcdiocres) von dem Ucbcl schwer gelitten. Unter den äufseren Verhältnissen, die mit den einzelnen Feuerseuchen zusammentrafen und «auf ihre Erzeugung Eiu- flufs haben konnten, verdient vorzüglich die Beschaffen¬ heit der treffenden Jahrgänge unsere Berücksichtigung. Von 29 Jahren, in welchen eine Feuerpest herrschen solle, sind nur 3, über deren Witterung die Chronisten schwei¬ gen, und die wir als normal und fruchtbar betrachten dür¬ fen. Zwülfmal gingen der Feuerpest ungewöhnlich strenge Wrinter voraus, und sechzehnmal wird der Som¬ mer der treffenden Jahre als ungewöhnlich feucht, reich an Meteoren, WToIkenbriichen und Uebcrschwemmungen angeführt; nur das Jahr 994 soll auffallend trocken, alle Flüsse Europa's sollen durchwatbar gewesen seiu. Sechzehnmal herrschte das heilige Feuer gleichzeitig mit Mifswachs, Theurung und Ilungersuoth; es verband sich 1230 auf Mayorca mit der Pest, und ging 1347 in der Bretagne dem schwarzen Tode voraus. Ungewöhn¬ liche Witterung, strenge Winterkälte und ungewöhnliche Feuchtigkeit des Sommcls, Mifswachs, Theurung und Hun¬ ger, schciuen demnach nicht olme Bedeutung für die Gc- ncsis unseres Ucbels zu sein; ätiologische Momente, die es übrigens mit manchen anderen wesentlich verschie¬ denen Leiden tlieilt. Hieraus erklärt cs sich wohl auch, weshalb das heilige Feuer nicht selten neben an¬ deren Krankheiten, in ungesunden Jahren, als ein Glied einer ganzen Epidemieensippschaft, die sich gleichzeitig nach allen Hichtungcu über grofse Länderstrecken ausbrei- tet, vorkoramt und in einer Provinz, gesehen wird , wäh¬ rend in den benachbarten andere Uehel hausen.

Weitverbreitete Krankheitszüge aber,/ wie die Ge¬ schichte der Typhcn und anderer Epidemiecn , hat die des Ignis saccr nicht aufzuweisen; gewöhnlich beschränken sich die Seuchen unserer Krankheit auf eine oder zwei Provinzen wenn sic auch zu gleicher Zeit in verschie¬ denen Ländern auftreten doch überall nur einzelne Di-

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I. Das heilige Feuer,

strikte, die oft weit auseinander liegen; nicht wie die con- tagiösen Krankheiten und manche Epidemicen, ein grofses Continuum Landes. Es scheint demnach, als miifste die Entstehung des heiligen Feuers auch noch von Ein¬ flüssen abhängig sein, die nicht gleichinäfsig über grofse Landstriche vertheilt, sondern durch locale Verhältnisse einzelner Provinzen und Distrikte bedingt sind, dafs es vielleicht diese seien, die dem durch atmosphärische Ver¬ hältnisse bedingten Erkranken im Allgemeinen die specielle Richtung, als heiliges Feuer zu erscheinen, geben. Be¬ stätigend für diese Ansicht ist die schon von einem der Chronisten 9) aufgeführte Thatsache, dafs bestimmte Land¬ strecken häufiger, andere hingegen ungleich seltener oder gar nicht von dem Uebel heimgesucht wurden. Lothrin-

* f

gen und Flandern, Aquitanien, die Dauphine und Isle de France, haben die meisten Feuerseuchen aufzuweisen; Ita¬ lien aber, in welchem die Cultur zuerst wieder aus ihrer Lethargie erwachte, erzählt uns, trotz seiner zahlreichen Chronisten, auch nicht von einer einzigen hierhefgehöri* gen Epidemie.

Auch die Dauer der einzelnen Seuchen scheint nicht grofs gewesen zu sein. Keiner der Chronisten erwähnt, dafs sich die Krankheit über Jahresfrist hinaus erstreckt habe, nur einmal 1128 bis 29 finden wir ihrer in zwei aufeinander folgenden Jahrgängen gedacht; eine mehrjährige Dauer aber, wie z. B. die Pestepidemieen des 14 ten und 15ten Jahrhunderts, hatten die Feuerseuchen nirgends.

Die Jahreszeit, in welcher die Krankheit vorzüg¬ lich herrschte, läfst sich aus den Chronisten nicht genau ermitteln. Mayer 10) verlegt den Anfang der Epi¬ demie von 1089 unmittelbar (statim) nach der Erschei¬ nung eines feurigen Drachen am 29. August 1088; zu Tournai aber wurde im Jahre 1092 am Kreuzerhöhungs¬ feste (14. Sept.) ein feierlicher Bittgang wegen der Seuche gehalten.

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t

I. Das heilige Feuer.

Die Verheerungen, welche das heilige Feuer im Verhältnisse zur Bevölkerung und zur Zahl der Befallenen anrichtetc, waren, wie cs scheint, in verschiedenen Epi- dcmicen ungleich grofs; gröfscr im Allgemeinen in den früheren, als in den späteren Jahrhunderten.

Im südlichen Frankreich starben im Jahre 994 mehr als 40,000, in Paris 1148 abei 14,000 Personen, und von der Seuche, die 1099 die Dauphine heimsuchte, wird bemerkt, dafs das Uebel nur mit dem Leben endete. In anderen Epidemieen aber heilten die Heiligen Viele der Befallenen ; ja es scheint selbst Seuchen gegeben zu haben, in denen die Mortalität gering war, die Zahl der Wiedergenesenen überwog. Die Feuerpest ergriff und schwächte Viele, schreibt ein Chronist vom Jahre 1109, und tödtete EL nige (quosdam occidit).

Ueber die Be handlungs weise des Ignis sacer ent¬ halten unsere Quellen keine Nachricht. Vergebens boten die Acrzte ihre Kunst auf, und versuchten verschie¬ dene Methoden (Experimenta probaut); nur Gottes Gnade vermochte zu helfen, -r- Deshalb wandten sich auch die Kranken an die Heiligen, und strömten haufenweise in die Kirchen und Klöster zu den Reliquien ihrer Schutzpa¬ trone. Feierliche Bittgänge wurden gehalten, die Kir¬ chen, Klöster und Wohnungen einzelner Priester in Hospi¬ täler verwandelt, die Kranken dort täglich gespeist (sti- pendiis aluit quotidianis), mit Weihwasser besprengt, und die Verzeihung des Himmels für ihre Sünden erfleht. Nicht Wenige vcrlicfsen die gastfreie Schwelle der heili¬ gen Orte als wiedcrgcncscn, und trugen den Ruhm des heiligen Antonius und Martialis, der Mutter Gottes und Sancta Gcnofcva in ihre Ilciinath.

So weit die mir zugängigeu Quellen, deren einfache Darstellung ich nur zu ordnen, nicht durch Zusätze zu entstellen mir vorgenommen hatte. - %

Drit-

I. Das heilige Feuer.

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Drittes Kapitel.

Ignis sacer als Pestform. Pest von Athen. Bubonenpest. Carbunkelfieber.

Wenden wir uns jetzt zum Vergleiche des heiligen Feuers, wie ich es im vorigen Kapitel beschrieben, mit den verschiedenen Krankheiten, welche einer oder der an¬ dere Schriftsteller in ihm zu erkennen glaubt, so begin¬ nen wir billig mit jenen Formen, die ihrer ausgebreiteten Verheerungen, ihrer welthistorischen Bedeutung halber, den Namen der Pest führten.

Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs in verschie¬ denen Zeiten auch verschiedene Leiden diese Benennung trugen, in verschiedenen Perioden differente Krankheits¬ formen sich zum Repräsentanten, zum Prototypus der mias¬ matisch -contagiösen Volkskrankheiten aufwarfen und den Tod über die Völker brachten, dafs die eine die andere, die Bubonenseuche die äthiopische Pest, der Petechialtyphus die Pestis inguinaria ablöste und verdrängte, und dafs je¬ der dieser Usurpatoren im Reiche der Krankheiten mit ei¬ nem Gefolge minder entwickelter, verwandter Formen auf¬ trat und einherschritt, dafs manche epidemische Krankheit aus dem Conflicte der untergehenden mit der beginnenden Pestform ihren Ursprung nahm. Ob aber auch dem heili¬ gen Feuer unter dieser Sippschaft von Krankheiten eine Stelle anzuweisen sei, ist die hierzu entscheidende Frage; denn dafs sie die Chroniken nicht selten unter der Benen¬ nung Pestis igniaria aufführen, ist von keiner Beweis¬ kraft; jede verheerende Epidemie heifst ihnen Pest. Die neueren Schriftsteller, welche den Ignis sacer zu den Pestformen rechnen, sind nicht völlig einerlei Mei¬ nung. Carrio, und nach ihm manche andere, stel¬ len unsere Krankheit zu der Pest des Thucydides; Schnurrer hielt sie für ein bösartiges Carbunkelfieber, also für eine Varietät der Bubonenpest; Pfeufer aber *) sieht in ihr eine eigentümliche Pestform, die darin be- Band 26. Heft 1. 3

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I. Das hcilipo Feuer.

stand, düf* cm Symptom, welches die Bubonenpest au« Hem Epideuiiecnkreisc def äthiopischen Pest mit hinüber- genutnmen, nämljch das brandige Absterben der Glieder, sich als selbstständige Krankheit entwickelte.

Die äthiopische Pest, welche nicht nur im Jahre 430 vor Chr. Athen hcimsuchtc, sondern von jener Zeit an bis stuni 5lcn und Ctcn Jahrhundert herab in wiederholten Seuchen grofsc Landerstriche der bekannten Welt entvöl¬ kerte, bis sie endlich in der von Euagrius und Proco- pius beschriebenen Epidemie in die Bubonenseuche über¬ ging a); diese wahre Pest des Alterthums bietet in der von Thueydides hintcrlasseuen meisterhaften Schilde¬ rung mancherlei Aualogiccn mit dem heiligen Feuer des Mittelalters dar. Auch bei ihr wurde die Haut rütb- lich (virlfvSftr), livid (x-iAtln'r), und mit kleinen Pbly- cläncn und Geschwüren bedeckt, ohne sehr warm *y*r S-i ui sein; auch hei ihr starben die Extremi¬ täten (tä ctx.£vTfigtct) , die Genitalien und die äufsersten Theilc der Hände und Füfse ab. Allein diese livide Färbung der Haut scheiut sich mit dem blasigen Aus¬ schlage, der überdies nur ausnahmsweise in der Feuerpest erwähnt wird, über die ganze Körperoberfläche (r« rUp*)* nicht wie bei dem heiligen Feuer nur über eiu- xelue Theile, verbreitet zu haben; die nicht sehr groüsc Wärme (nicht Kälte) war nur dem Zufühlcndcn (tlmpbf) bcmcrklich, und im Innercu brannten die Kranken (r* Tt •»T4t iMMir«) so sclir, dals sic keine Bedeckuug ertrugen, und sich, wenn ihre Wärter sie vcrliefsen, in die Brun- nen stürzten. Im Ignis saccr hingegen finden wir auch eines suhjectiven Frostgefühles erwähnt, eisige Kälte durch¬ drang die Unglücklichen. Das Absterben der Extre¬ mitäten aber, welches im heiligen Feuer die hervorste¬ chendste Erscheinung ausmachte, oft alle Glieder vom Kumpfe trennte, und nicht seilen den Tod bedingte, war in der Pest des Thueydides nur ein subordinirtes, kri¬ tisches und nicht couslautcs Symptom, betraf nur die Gc*

I. Das heilige Feuer. 35

nitalien und die äufsersten Spitzen der Hände und Füfee (**£«5 %•*£*( '*■<>& Trofrocg), und war häufig Verkünder eines günstigen Ausganges, wie gangränöser Decubitus, Brand der Nase, Schwarzwerden und Abfallen einzelner Zehen auch in den typhösen Leiden unserer Tuge zuweilen eine kritische Bedeutung hat.

Aufserdem finden wir aber auch bei der atheniensi- schen Pest noch ein Heer anderweitiger Krankheitszufälle, die dem heiligen Feuer vollkommen fremd sind, und von denen wir nicht annehmen können, dafs sie von den Chro¬ nisten anzuführen vergessen worden wären. Heftige Hitze im Kopfe, Augenentzündung, ‘blutige Zunge und Rachenhöhle, stinkender Athem, Niesen, Heiserkeit und heftiger Husten; galliges Erbrechen und krampfhaftes Schluchzen; unlöschbarer Durst, anhaltende Unruhe und Schlaflosigkeit, Delirien und colliquative Diarrhöen finden wir beim heiligen Feuer weder als Symptome, noch Blind¬ heit und Verlust des Gedächtnisses als Nachkrankheiten aufgeführt. Der heftigen Schmerzen in den Extremi¬ täten hingegen, die eine constante Erscheinung des Ignis sacer waren, gedenkt weder Thucydidcs, noch Galen in der äthiopischen Pest. Bei dieser verbreitete sich das Leiden in einem regelmäfsigen Zuge vom Kopfe aus nach unten, und tödtete zwischen dem 7ten und 9ten Tage; bei der Feuerpest wurden zuerst die Extremitäten afficirt, und erst nach ihrer Zerstörung ging der Krank¬ heitszug von aufsen nach innen; ihr Verlauf scheint in der Mehrzahl der Fälle länger gewesen zu sein. Jene Krankheit war ansteckend und hatte sich nicht nur auf ihrem Wege aus Aethiopien in den Hafen von Athen, sondern auch in ihren späteren Epidemieen, über w'eit- zusamuienhängende Länderstrecken verbreitet; ein Conta- gium des heiligen Feuers hingegen läfst sich durch nichts darthun, und seine Seuchen blieben meistens auf einzelne Provinzen beschränkt, obgleich der Ausbreitung eines Con- tagiums niemals freieres Spiel gelassen war, als eben da-

3 *

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I. Das heilige Fencr.

mak Die Pest von Athen befiel nur einmal in der- selben Epidemie, vielleicht nur einmal im Leben; das bei* lipe Feuer machte iu derselben Seuche Recidive u. s. w. gewtts Differenzen genug, um die Identität beider formen in Abrede zu stellen.

Weit weniger Aclmlichkeit, als mit der äthiopischen Pest, hat der Ignis saccr mit dem CarbunkelGcbor, und Schnurrer hat wohl nur die Bedeutung des Ignis per- sicus bei den Arabern, des Ignis saccr bei den Arabisten, nicht aber die Beschreibungen der Chronisten berücksich¬ tigt, als er beide für eine Krankheit erklärte. Das maligne Carhuukclfiebcr, eine Modificatiou der orientali¬ schen Pest, die sich vorzüglich in der Decrepiditätsperiodc dieser Pest des Mittelalters, im löten und ITten Jahrhun¬ dert, im südlichen Europa zeigte, erzeugt wohl brandige Geschwülste an den Extremitäten, wie an audercu Thei- lcn des Körpers, allein keiner seiner Beobachter erzählt uns von Carbunkeln, die ganze Extremitäten vom Kumpfe getrenut hätten, keiner von heftigen Schmerzen; dafür sind Ohnmächten, Delirien, Sopor, eolliquative Blutungen und heftiges Fieber constante Erscheinungen der Carbun- kelpest, uud der Verlauf der Krankheit ist 60 rasch, das Coutagium so un bezweifelbar, dafs der nicht contagiösc, in der Regel ziemlich langsam tödteude Ignis saccr wohl kaum iu diese Categorie gchürcu möchte, dafs die Kran¬ ken wohl schwerlich zu den Kirchen gewallfahrtct wären, und die Chronisten sicher nicht von einer Pcstilentia fleg- matica, von einem Morbus tabißcus geredet hätten, wenn beide Krankheiten identisch wären.

Pfeufer endlich hnsirt seine Meinung, dafs das hei¬ lige Feuer des Mittelalters eine neue Krankheitsform sei, die im lOtcn Jahrhundert aus der Bubonenpest entsprun¬ gen und durch das isolirtc Auftreten eines Symptom es der äthiopischen Pest, das ihre orientalische Schwester mit kerübergenommen habe, gebildet worden sei, hauptsäch¬ lich auf Ozanam s Beschreibung der Feuerpest in Lotimu-

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I. Das heilige Feuer,

gen im Ialire 11‘28; die heftigen Ficbcrsyinptome mit Delirien, die Anschwellungen der Achsel- und Leisten¬ drüsen, deren Ozanam gedenkt, sind ihm Beweise für die typhöse Natur des Ignis sacer, für seine Verwandt¬ schaft mit der Bubonenpest. Er hätte noch das gleich¬ zeitige Vorkommen des heiligen Feuers und der Pest auf Mayorka 1230, die Epidemie von 1347 in der Bretagne, die unmittelbar vor dem schwarzen Tode herging, für sie anführen können. Die Bubonenpest . aber belegt er mit ihrer ersten Epidemie nach der Beschreibung des Euagrius.

Wie wenig Authenticität aber Ozanam’s Beschrei¬ bung jener Epidemie besitze, habe ich schon im vorigen Kapitel dargethan; Mezeray, auf den ersieh beruft, und der selbst eine sehr trübe Quelle für Epidemieen ist, die fast ein halbes Jahrtausend vor seiner Zeit herrschten, er¬ wähnt der Seuche von 1128 gar nicht, und die gleichzei¬ tigen Chronisten führen nicht nur keines der fraglichen Symptome, sondern, wie ich oben gezeigt, selbst Thatsa- chen auf, die ihrer Gegenwart direct widersprechen. Wäre aber auch Ozanam’s Beschreibung jener Seuche treu nach der Natur, so gäbe sie uns zwar ein Beispiel von malignem Fieber mit Drüsenanschwellungen und bran¬ digem Absterben der Glieder, aber kein Bild der Feuer¬ pest, wie sie iin Mittelalter herrschte, und wofür sie Pfeu- fer genommen. Alle anderen Epidemieen wären we¬ sentlich von ihr verschieden. Vergl, Bemerkungen zum ersten Kapitel No 36.)

Dals aber Euagrius 3) in der Schilderung, die er von der Pest des 6ten Jahrhunderts entwirft, auch schnell eintretender Gangrän der befallenen Theile gedenkt, be¬ weist, wenn wir auch brandiges Abslerben der Extremi¬ täten hierunter verstehen wollen, weder dafs dieses ein Symptom der wahren Bubonenpest gewesen, noch eine Verwandtschaft des Ignis sacer zur Lues inguinaria. Es ist dies vielmehr eine der zahlreichen Erscheinungen in

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I. Das heilige Fener.

jener Pest, die die Meinung begründen, jene Epidemie be¬ zeichne den Ucbcrgang der äthiopischen in die orientali¬ sche Pest, sei kcjnc reine Bubonenscuche, sondern ein aus verschiedenen Krankheiten, namentlich aus der Pestform des Altcrthums und der des Mittelalters, zusammengesetz¬ tes Uebel; eine Meinung, die schon Euagrius 4) aus¬ gesprochen, und der auch Pfcufcr bcipllichtct. Wäre ober Gaugran und Abstofsung der Extremitäten auch eine alltägliche Erscheinung bei der Bubonenpest, so zeugten sic doch nicht mehr für ihre Verwandtschaft mit dem Ignis sacer, als dasselbe Symptom in der Pest des Thu- c v d t d e s und in manchen Epidcmiecn des Petechial¬ typhus.

Die von Pfeufcr selbst gegebenen Thatsachcn haben demnach die ihnen beigelegtc Beweiskraft nicht; dafs aber der Ursprung des Iguis sacer aus der Bubonenpest, nicht aus der Epidemie vou Mayorca, und noch weniger aus der in der Bretagne zu deducircn sei, bedarf kaum einer Erwähnung: die meisten, und was mehr ist, die ersten Feuerscychen kamen vollkommen unabhängig von der Pest, mit ihr weder an einem Orte, noch zu einer Zeit vor; und weun auch in den Jahren mancher Feuerscucheo in anderen mehr oder miuder entfernten Ge¬ genden Epidcmiecn herrschten, die man, da ihre Beschrei¬ bung nicht auf uns kam, als Bubonenpest ansprecheu könnte, so deutet doch nichts auf eine Verbindung zwi¬ schen ihnen und unserer Krankheit hin, und die VVitte- rungsvcrhältnissc waren meistens von der Art, dafs sie zur Annahme eines allgemeinen, für jedeu Ort aber selbst¬ ständigen und möglicher Weise verschiedenen Erkrankens berechtigen.

Ich kann mich demnach zu keiner der angegebenen Ansichten bekennen: das Bcschränktscin der ersten Epidc¬ miecn des Ignis sacer auf eine Provinz und den engen Zeit¬ raum eines Jahres im Gegensätze mit der grofsen Ausbrei¬ tung und oft Dccennicn langcu Dauer dei* einzelnen Pest-

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I. Das heilige Feuer« 39

seuchen; die Abhängigkeit, in der das heilige Feuer von ungewöhnlichen Witterungsverhältnissen zu stehen scheint, die häufige Wiederkehr der Krankheit an manchen Orten, während sie andere, selbst benachbarte Gegenden fast ste¬ tig verschont, und ihr gleichzeitiges Auftreten an verschie¬ denen, oft ziemlich entfernten Punkten, ohne Zwischen¬ glieder, ohne Spuren von Mittheilung und Ueberschrei- tung ihrer ursprünglichen Gränzen, im Vergleiche mit den von atmosphärischen und örtlichen Verhältnissen ziemlich unabhängigen, vorzüglich durch Ansteckung vermittelten Wanderungen der typhösen Formen; die im Verhältnisse zur Pest geringe Mortalität 5); der, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, ziemlich träge Verlauf; die der Be¬ schreibung nach so heftigen Schmerzen in den befallenen Theilen, welche weder bei den entwickelten Typhusfor- men, noch bei den aus ihnen entwachsenen Localübeln Vorkommen, da verminderte Perceptionsfähigkeit, und in höheren Formen selbst Störung des Sensoriums, Betäubung und Sopor, zu den wesentlichen Charakteren dieser Lei¬ den gehören, und die übrigen schon oben berührten Dif¬ ferenzen bestimmen mich vielmehr, das heilige Feuer we¬ der für irgend eine der höher entwickelten Typhusformen, noch Für ein subordinirtes Glied ihrer Sippschaft gelten zu lassen. Iguis sacer war keine Pestform.

Viertes Kapitel.

jfi \

Ignis sacer als acutes Exanthem. Schar¬ lach. Blattern. Brandige Rose.

Eine andere Meinung über die Natur des heiligen Feuers, der nicht minder achtbare Namen zur Seite stehen, als der vorigen, sieht in unserer Krankheit ein acutes Exanthem. Hensler erklärt den Ignis Sancti Antonii für ein bösartiges Sckarlachüebcr; Krause glaubt, wenigstens in

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40 I. Das heilige Feuer.

mehren Epidemicen coofluirende Variola zu erkennen, und Sauva,Y€.s *) und andere halten den Ignis saccr für bös¬ artige, brandige ltose.

Gründe für seine Behauptung, dafs das heilige oder Sh Antonsfeuer Scharlach gewesen, führt Hensler a) nicht an, und ich mufs bekennen, dals ich nicht ciusehe, woher der geistreiche Historiograph des Aussatzes und der Lustseuche in den auf uns gekommenen Notizen über Ignis sacer Analogieen mit den Symptomen des Scharlachs hätte nehmen wollen. In sämmtlichen Originalstellen, die ich zu sammeln im Stande war, finde ich nur drei \\ orte, die sich zur Noth auf Scharlach beziehen liefsen cx- teusa livens cutis bei Ilugo Farsitus; allein schon der Beisatz, dafs unter dieser gespannten, lividcn Haut das Fleisch von den Kuochen getrennt wurde, mufs jeden Ge¬ danken an Scarlatina verscheuchen. Das Befallen einzelner Theilc, namentlich der Extremitäten, die hefti¬ gen Schmerzen, das braudige Absterben im heiligen Feuer, das Gefühl intensiver Kälte, der Mangel aller anginösen und wie cs scheint, wenigstens im Beginn der Krank¬ heit, auch der fcbrilischen Symptome, die Uccidive in derselben Epidemie u. a. m., sind gewifs Punkte genug, um Hcnslcr’s Meinung für vollkommen unstatthaft zu er¬ klären und die Annahme zu rechtfertigen, dafs derselbe den Ignis sacer für Scharlach augesprochcn, ohne auch nur eine seiner Beschreibungen in den Chronisten gelesen za haben.

Mit weit genauerer Kcnntnifs der tyuellcnschriflstcllcr sucht Krause •) seine Ansicht, dafs das heilige Feuer in vielen Fällen Variola gewesen sei, auf historischem Felde zu vertheidigen. Die ganz allgemeine Verbreitung, die grofse Tödtlichkeit, die schmerzhaft brennenden Ge¬ fühle und die schwarze Farbe der Oberfläche woher daun die Vergleichung mit einem Feuer unter der Haut und mit Verbrennungen, die auch hei Pocken vorkommt; die l leeration und das Zerflicfscn der Weichtkcile mit uncr-

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I. Das heilige Feuer.

träglichcm Gestank; dafs unter den Ausbruchsstellen vorzugsweise das Gesicht, die Brust, die Hände und Füfse genannt werden, und mehre Nachrichten uns deutlich er¬ geben, das Feuer habe die ganze Oberfläche des Körpers verbrannt, zurückbleibende Blindheit und Contracturen lassen ihm keinen Zweifel, dafs wenn auch nicht alle, doch manche Feuerpesten Pockenseuchen gewesen seien. Namentlich scheint er die Epidemieen von 994, 1089 und 1128 Für die Variola vindiciren zu wollen; hätte er die Seuche des Jahres 857 gekannt, in welcher selbst der schwellenden Blasen gedacht wird , so würde er wohl auch auf sie neue Beweisgründe gebaut haben.

Vor allem gestehe ich nun Herrn Krause mit Ver¬ gnügen zu, dafs ich die Existenz der Pocken in Eurppa vom 5ten Jahrhundert an nicht bezweifle, dafs ich ihre Spuren auch im lOten bis 12ten Jahrhundert, gleichzeitig mit dem Ignis sacer, anerkenne, und dafs mir nicht nur Gregor’s Pusulae und Vesicae, und Marius Variola, sondern auch die Pestis pustularum späterer Zeiten iden¬ tisch mit jenem Exantheme zu sein scheinen. - Ich würde daher keinen Anstand nehmen, auch die berührten Feuerseuchen für Variola gelten zu lassen, wenn sich in den Chroniken alle jene Erscheinungen nachweisen liefsen, die Krause in ihnen gefunden zu haben glaubt, wenn mir die Deutung, welche er ihren Worten giebt , stets die richtige schiene. So verhält es sich übrigens nicht. Nirgends finde ich ausdrücklich angegeben, dafs das heilige Feuer die ganze Oberfläche des Körpers verbrannt habe, sondern immer wird es als ein Leiden geschildert, das zwar verschiedene Theile des Körpers befiel und von einem Theile auf den anderen überging (diversa membra ignis plagä pervaduntur), in der Mehrzahl der Fälle aber auf die Extremitäten beschränkt blieb.

Wenn Anselm von Gemblours von der Seuche des Jahres 1128 sagt, dafs Individuen jedes Alters und Ge¬ schlechtes er übergeht in seiner Aufzählung die Kin-

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I, Das heilige Feuer.

an den Füfsen, au den Händen, an den Brüsten, und was schlimmer war, im Gesichte verbrannt wurden, so bezeichnet er damit wohl nicht die Ausbruchsstcllc» eines Exanthemes, das sich später über den ganzen Kör¬ per verbreitete, sondern überhaupt die I heile, welche von der Krankheit afiieirt wurden, und spricht durch den Zu¬ satz: cjuod gravius cst, indirect aus, dals nicht immei alle diese Theile, namentlich nicht immer das Gesicht befallen wurde; ja selbst die Reihenfolge, in der er der ver¬ schiedenen Parthieen des Körpers gedenkt, zeugt vielleicht für die ungleiche Häufigkeit ihres Bcfullenwcrdens. Den Vergleich mit Verbrennungen wollte ich noch hier an¬ wendbar auf Variola gelten lassen, obgleich ein teuer unter der Haut (nach Hugo Farsitus: sub extensa li- venti cute), welches das Fleisch von den Knochen trenut, nicht recht auf Pocken passen will, weil ein anderer Beob¬ achter des heiligen Feuers *— von allen aber auch nur einer schwellender Blasen gedenkt; aber in der häis- lichen Fäulnifs (detestabilis putredo), io dein Abfallen der Weichtheile (exustae partes efiluebant), und namentlich in dem Absetzen der zerstörten Glieder (membra dissoluta decidcrunt), durch welches die Kranken ihrer Extremitä¬ ten beraubt (mauibus et pedibus truncati) wurden, nur die Symptome des Suppurationsstadiums der Pockcu erken¬ nen zu wollen, heilst denn doch, der vorgefafsten Meinung die Wahrheit opfern. Dals Variola so heftige Schmer¬ zen in ihrem Geleite führe, wie sie bei dem heiligen Feuer beschrieben werden, habe ich nie beobachtet. Es fragt sich noch, ob die von Anselm unter den Wundern der heiligen JuDgfrau erwähnteu Blinden auf Rechnung des Iguis saccr kommen, und sie beweisen nur, dafs auch au- dcie Krankheiten als Variola, wenn sic das Gesicht be¬ fallen, das Sehvermögen auflicben können. Was ich aber unter Sicghert's contractio nervorum verstehe, habe ich schon oben ausgesprochen.

Wcnu ich nun noch bedenke, dafs das Gefühl von

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I. Das heilige Feuer.

Kälte, dessen Farsitus beim heiligen Feuer gedenkt, dafs die Beobachtung, erst nach zerstörten Gliedern (prioribus depastis artubus) würden die wichtigeren Organe befal¬ len, mit den Erscheinungen der Variola in Widerspruch steht, dafs kein Chronist der intensiven Fiebersymptome, die bei den Pocken Vorkommen, bei dem Ignis sacer ge¬ denkt, dafs Individuen mit confluirenden Pocken an das Bette gefesselt sind, und weder in den Strafsen herumir¬ ren, noch zu den Kirchen pilgern werden, dafs in dersel¬ ben Epidemie des heiligen Feuers Rccidive beobachtet wor¬ den sind, dafs Variolaepidemieen kein Gebundensein an be¬ stimmte Witterangsverhältnisse, keine Vorliebe für ein¬ zelne Provinzen zeigen, und sich häufig, wie alle conta- giösen Krankheiten, über Jahresfrist hinaus erstrecken wenn ich dies alles berücksichtige, so mufs ich mich da¬ hin entscheiden, dafs Pocken und heiliges Feuer durchaus verschiedene Krankheiten sind.

Gröfsere Aehnlichkeit als mit den Blattern, hat Ignis sacer mit dem Rothlaufe. Wir finden das Befallen¬ werden der Extremitäten und des Gesichtes, in seltenen Fällen auch der Brüste und Genitalien, die bald flache (cutis extensa), bald blasige Veränderung der Haut; die Gangrän, welche alle Handbücher als einen Ausgang der Rose aufführen, auch als Erscheinungen der heiligen Feuers in den Chronisten angegeben; Rothlauf, wie Ignis sa¬ cer, befallt alle Geschlechter und Lebensalter, hat bald einen acuten, ba}d, als wandernde oder habituelle Rose, einen mehr chronischen Verlauf, macht gern Recidive, und tödtet vorzüglich nur dann, wenn es von den peripheri¬ schen Gebilden auf innere, wichtige Organe übergeht; ja es steht der Ansicht, beide Leiden seien identisch, selbst die Meinung der Zeitgenossen zur Seite. Einer der Chronisten 4) sagt ausdrücklich: Ignis sacer quem Graeci herisipelain dieuut. Lanfranchi 5) betrachtet Ignis Sti Antonii und Erysipelas manducans als Synonyme, und Gordon 6) handelt unter einer Rubrik von der Rose

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44 I. Das heilige Feuer.

uiul dem heiligen Feuer; von welchen er die erste durch einfache, letztes durch entzündete Galle entstehen Ififst.

Solche Autoritäten, so viele Analogieen verschafften der Ansicht, dafs das heilige Feuer des Mittelalters eine epidemische, brandige Hose gewesen sei, ein Ucbergcwicht über die bisher abgchandcltcn Meinungen, machten sic zur herrschenden, und cs haben sich Sydcnhain, Friedr. Hoff mann, Sauvages, Cullen, Short, Seile u. a. in. mehr oder minder bestimmt für sic erklärt.

Allein so grofs auch die Ärmlichkeit beider Krank¬ heiten für den ersten Anblick immer sein mag, so finden 6ich doch bei eiucr näheren Untersuchung manche nicht unwahrscheinliche Differenzen, die mich ihre Identität be¬ zweifeln lassen.

Vor allem erzählt uns die Geschichte der Seuchen auch nicht von ciuer einzigen Rothlaufepidemie früherer oder späterer Zeit, die wie das heilige Feuer Tausende getödtet, nicht von einer einzigen, in der, wie in der Feuerpest, Gangrän eine constante oder auch nur eine häufige Erscheinung gewesen wäre. Die Hose war ira Gegentheil zur Zeit des II i pp o erat es, wie in unseren Tagen, in der Mehrzahl der Falle eine gutartige Krank¬ heit; die malignen Symptome, namentlich auch der Uebergang in Brand, sind häufiger durch die Individualität des Kranken und durch verkehrte Behandlung, als durch die Natur der Krankheit bedingt. Gewöhnlich er¬ scheint sic uuter bestimmten WitterungsverhSltoisscn nur als Morbus intcrcurrens, als ein Glied der Constitutio an- nua, haufenweise, nicht als eigentliche Epidemie; uud wenn letztes der Fall ist, sind Hotblaufepidemiccn doch nur sel¬ ten, und dann nie durch Gangrän, sondern durch Com- plicalion mit Entzündung innerer Gebilde, oder durch Me¬ tastase des Ezanthems verderblich 7). Keine Epidemie des Erysipelas neuerer Zeit hat Achnlichkeit mit dcucn des heiligen Feuers.

Man könnte mir zwar cinwcnden, die Hose könne,

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I. Das heilige Feuer.

wie Syphilis und Lepra, mit der Zeit milder geworden sein; allein ich begreife zwar, dafs ein Contagium durch die Fortpflanzung von Generation zu Generation, dafs eine von örtlichen Verhältnissen abhängige Krankheit durch Cul- tur des Bodens und Civilisation der Völker gutartiger wer¬ den kann, weshalb aber die Rose, für deren Bildung at¬ mosphärische Verhältnisse, die von Zeit zu Zeit wieder¬ kehren, und im Mittelalter wohl auch dieselben waren als jetzt die Rose, welche Hippocrates mit denselben Symptomen auflreten sah als wir, im Mittelalter auf drei bis vier Jahrhunderte so bösartig, und dann wieder milde werden soll, begreife ich nicht.

Ueberdies hatten die am heiligen Feuer leidenden In¬ dividuen so heftige Schmerzen in den Extremitäten und anderen befallenen Theilen, dafs sie laut wehklagten, mit den Zähnen knirschten und die Strafsen mit ihrem Ge¬ schrei erfüllten; bei der Rose aber findet sich wohl ein Brennen der Haut, allein so penetrirender Schmerz, der immer mehr auf Affection der Nerven schliefsen läfst, kommt niemals vor. Das Gefühl von eisiger Kälte, das die Feuerkranken durcliflofs, ist dem Rothlauf gleich¬ falls fremd, und wenn bei diesem der Brand eintritt, so beginnt er immer in der Haut; die Epidermis erhebt sich zu Blasen, die, mit Jauche gefüllt, zerreifsen, und so die Anfangspunkte der fauligen Zersetzung werden; immer ist es feuchter Brand, Gangrän, und er geht mehr in die Fläche, als in die Tiefe, bewirkt meines Wissens niemals das Absetzen ganzer Extremitäten. Bei dem heiligen Feuer hingegen scheint die brandige Zerstörung mehr von innen nach aufsen gegangen zu sein; unter der lividen, gespannten Haut trennte das Feuer das Fleisch von den Knochen und verzehrte cs, und der Brand war häufig trocken Sphacelus. Ein fernerer Unterschied end¬ lich wird durch das Fieber begründet; auch die Rose erscheint, wie andere Exantheme, mit Fieber, und ver¬ läuft, wenn es zur Gangrän geht, mit febrilischen. Sym-

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L Das heilige Fener.

ptoraen der schlimmsten Art; dafs aber solche im hei¬ ligen Feuer nicht häufig gewesen sein können, habe ich schon wiederholt dargethan.

Diese Differenzen fclieinen mir hinreichend, um die Identität des Ignis saccr und des Rothlaufs in Abrede zu stellen, und ich glaube uicbt, dafs mich La nfranchi und Gordon durch die allegirtcn Stellen widerlegen; denn ihnen, wie den Griechen, und wie manchem der Neueren, hiefs alles Erysipclas, wobei die Haut roth war.

Die eigenthümliche Richtung des Brandes von innen nach aufsen, das Gefühl vou Kälte, die heftigen Schmer¬ zen und die geringe Theilnahme des Gesammtgefäfssyste- mes an der topischen Affection, welche sich beim heili¬ gen Feuer zeigen, mangeln aber nicht nur bei der Rose, sondern sic sind allen acuten Exanthemen gleich fremd. Bei diesen ist vom Beginnen der Krankheit an Fieber zu¬ gegen, die Temperatur ist stetig objectiv, wie subjectiv erhöht, und Gefühl von Hitze ist in der Regel der ein¬ zige Schmerz, welchen die Kranken in den von der Eru¬ ption eingenommenen Theilen empfinden. Stellt sich aber Zerstörung ein, was im Allgemeinen sehr selten der Fall ist, 60 ist diese eine oberflächliche Vereiterung oder Verjauchung; sie beginnt stets in der Haut, und be¬ schränkt sich gewöhnlich auf diese. Iguis sacer war kein acutes Exanthem.

Fünftes Kapitel.

Ignis sacer. Scorbut Ergotismus.

Es bleibt uns für dieses Kapitel noch die Prüfung zweier Meinungen übrig; von welchen die eine in dem heiligen Feuer einen heftigen Landscorbut, die andere Er- gotismus erkennen will.

Bateman1) ist der Vater der ersten, und obgleich ihm meines Wissens niemand beitrat, so hat die vou ihm

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I. Das höilige Feuer. 47

ausgesprochene Ansicht, der Ignis sacer des Mittelalters sei epidemischer Scharbock, durch schlechte Kost veranlafst, gewesen, so manche Analogieen zwischen beiden Krank¬ heiten für sich.

Wie das heilige Feuer im Ilten und 12ten Jahrhun¬ dert, trat der Scorbut vom 15ten bis zum 17ten Jahrhun¬ dert in wiederholten, oft sehr mörderischen Epidemieen auf 2); Jahre des Mangels, nafskalte Witterung, Kriege u. s. w. begünstigten seine Entwickelung, und er hat sich unter solchen Verhältnissen selbst 1749 bis 51 noch im ve- netianischen Gebiete, 1785 in einem grofsen Theile Rufs¬ lands, und 1808 in Dalmatien gezeigt 3). Wie das heilige Feuer, ist der Scorbut häufig mit heftigen Schmer¬ zen in den Extremitäten verbunden; es erscheinen in ihm, vorzüglich an den unteren Extremitäten, Ecchymosen, die sich nicht nur als einzelne umschriebene Flecke gestalten, sondern zuweilen die ganzen Unterschenkel mit einer livid rothen, blauen oder schwarzen Farbe überziehen, und so allerdings, mit der ödematösen Geschwulst, die ein con- stantes Symptom des weit vorgerückten Scharbocks ist, der Cutis livens extensa des Hugo Farsitus entsprechen konnten. Bösartige, häufig gangränescirende Geschwüre, entstehen aus diesen Flecken, uud greifen selbst die Kno¬ chen an; die Sehnen der befallenen Glieder contrahi- ren sich, die Beweglichkeit erlischt, ohne dafs die Schmer¬ zen nachliefsen (nervorum contractione distorti torqueban- tur), und in manchen Fällen sind die Unterschenkel ab¬ gemagert und so hart, wie Holz, was vielleicht als Vil¬ la Iba ’s « piel pigada ä los huesos zu deuten wäre. Allein nicht minder grofs als die Analogieen zwischen Scorbut und Ignis sacer, sind die Differenzen zwischen bei¬ den Krankheiten. Der Scorbut [die Differenz zwi¬ schen See- und Landscorbut ist keine wesentliche 4)] fin¬ det sich vorzüglich auf uud an der See, in niedrig gele¬ genen sumpfigen Gegenden, am liebsten in dem Bereiche miasmatischer Effluvien ; die Küstenstriche von Holland

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I. Das heilige Feuer.

uud England, das rassische Littoral der Ostsee und Dal¬ matien, waren daher der Schauplatz seiner gröfsten Epi¬ demien, und er ist endemisch an den Niederungen der Donau. Das heilige Feuer hingegen zeigte keine Vor¬ liebe für solche Linder. Ostflandcrn, Lothringen, die gebirgige Dauphine und der gröfsfe Theil von Aquitanien, Islc de France und Leon sind weder Küstenstriche, noch Sümpfländer, und doch ist in ihnen das heilige Feuer am häufigsten und mit den gröfsten Epidemieen erschienen. Die von allen Chronisten angeführte hauptsächlichste Er¬ scheinung des heiligen Feuers, das Absterben und Abfallen der Extremitäten vom Rumpfe kommt im Scorbute nur sel¬ ten und ausnahmsweise vor; der trockene Eraud, das hef¬ tige Gefühl innerlicher Kälte, sind ihm vollkommen fremd, und gewöhnlich siud nicht, wie im heiligen Feuer, die Extremitäten das zuerst Befallene. Und wenn auch der Verlauf des Ignis saccr nicht acut, wie der einer Pest¬ form oder eines Exanthems war, so scheint sich doch die¬ ses Leiden nicht wie der Scorhut, Monate und Jahre lang hioausgezogen zu haben. Dafür hat der Schar¬ bock eine Menge Erscheinungen in seinem Geleite, die in den auf uns gekommenen Beschreibungen des Jgnis saccr nicht aufgeführt wurden; Erscheinungen, die für den Scorbut wesentlicher, als die Veränderungen an den Ex¬ tremitäten, und allzu augenfällig sind, als dafs wir voraus/ setzen könnten, die Chronisten hätten sic aufzuzähleu ver¬ gessen. Es gehört dahin die Veränderung des Zahn¬ fleisches und der Zähne, der stinkende Athem, die grofse Mattigkeit und Kraftlosigkeit Symptome, mit dcueu der Scharhock gewöhnlich beginnt, uud die ihn in seinem gan¬ zen Verlaufe begleiten, es gehören hierher die Blutungen aus verschiedenen Theilcu des Körpers, namentlich auch aus den Geschwüren, die Kurzathmigkeit , die Suffocations- aniallc, die colliquativen Diarrhöen, die Ohnmahten, wel¬ che hei Scharbockkranken Vorkommen, wenn das Leiden schon größere Fortschritte gemacht hat; der gewöhnliche

Aus-

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I. Das heilige Feuer.

Ausgang des Scorbuts in Wassersucht. Sie alle fin- dea sich iu den Beschreibungen des heiligen Feuers auch mit keiner Sylbe angedeutet, und ich kann mich deshalb nicht überzeugen, dafs Ignis sacer « Landscor- but » gewesen sei.

Die letzte Meinung endlich, die sich über die Na¬ tur des heiligen Feuers des Mittelalters geltend ge¬ macht hat, fand fast ausschliefslich in Frankreich An¬ klang. Tissot s), Raymond 6), Read 7), Tes- sier 8), und in der letzten Zeit Ozanam und Fo- dere, erklären die Feuerseuchen für Epidemieen des Ergotismus. Bei den Deutschen und Engländern aber fand ihre Ansicht wenig Aufnahme ; die Mehr¬ zahl von ihnen hielt den Ergotismus für identisch mit der Kriebelkrankheit, und konnte nicht begreifen, welche Analogieen zwischen ihr und dem Ignis sacer bestehen sollten. Selbst Krause drückt seine Ver¬ wunderung noch durch Fragezeichen aus.

Bevor ich daher diese Meinung, die in Frankreich die herrschende geworden ist, einer genaueren Prü¬ fung unterwerfe, mufs ich erst eine Schilderung des in unseren Gegenden noch nie gesehenen Ergotismus geben. Eine kurze Beschreibung seiner einzelnen Epidemieen wird diese Aufgabe am zweckmäfsigsten lösen.

Die erste Nachricht über eine Seuche fi63o. Soiogne.j dieser Art verdanken wir Th ui li er, dem Arzte des Herzogs von Sully 9). Gangrän, in Folge des Genusses von Mutterkorn, war 1630 in der Sologne (gegenwärtig ein Theil des Departements de Loir- et Cher) allgemein.

Dieselbe Krankheit (1650 70 74. Guyenne , Sologne etc.J

wiederholte sich in den Jahren 1650 70 74, die alle als feucht und stürmisch angegeben werden, nicht nur in der Sologne, sondern auch in Guyenne, Gati¬ nais, und vorzüglich in Montargis. Ein Gefühl Band 28. Heft 1.

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I. Das heilige Feuer.

von Pclziggcio iu den Unterschenkeln, Schmerzen und eine leichte Gesell wulst ohne Entzündung, waren die ersten Symptome, bald aber folgte Frost, lividc Fär¬ bung, Sphacelus und Abfallen des afficirten Gliedes. J fände , Füfsc, ja ganze Arme und Schenkel fielen ab, und in einzelnen Fällen wurde auch die Nase durch Gangrän zerstört. Nach Dodart, den die Aea- demic an Ort und Stelle sandte, war das Mutterkorn die Veranlassung der Krankheit, und diese verlief ohne alle Entzündungssymptome, die Jlaut war im Gegen- theile kalt und livid, und der Brand begann in den inneren Muskclparthieen, erschien erst später äufscr- lich man inufstc, 11m die Fortschritte des Ucbels bcurtheilen zu können, Einschnitte machen. Nur die Armen wurden befallen 1 •). *

(noo. Orieannoi g und HUtofr.j Im Jahre 1709 folgte auf einen äufserst kalten Winter ein kühler und feuchter Som¬ mer. Der Ergotismus zeigte sich in der Umge¬ gend von Orleans und Blois, undNoel11) berichtet, dafs über 50 Kranke dieser Art im Hospitale von Or¬ leans behandelt wurden. Das hervorstechendste Symptom war ein trockener, schwarzer und li vieler Brand, der an den Zehen begann und zuweilen bis ans Hüftgelenk fortschritt, die Gelenke bald von selbst trennte, bald nur das Fleisch von den Knochen löste. Nur selten wurden die oberen Extremitä¬ ten befallen; die Krankheit herrschte nur unter den armen Volksklasscn, und verschonte die Frauen fast gänzlich. Amputation war fruchtlos, Scarifi- cationcn und topische Mittel leisteten zuweilen gute Dienste. Der Roggen dieses Jahres enthielt über ein Viertel Seeale cornutum.

fi:o9 i"io. Schweiz.) In demselben Jahre 1709, in gerin¬ gerer Ausbreitung aber nach dem kalten Winter 1716, zeigte sich dies Leiden in den Cantonen Bern, Zürich und Luccrn. Die Seuche begann 1709 Ende Juli,

51

I. Das heilige Feuer.

und setzte ihre Verheerungen zehn Wochen lang fort. Der mit vielem Mutterkorn verunreinigte neue Roggen wurde allgemein fiir die Ursache der Epidemie gehal¬ ten, und Lang 1 2) giebt von ihren Symptomen fol¬ gende Beschreibung: Müdigkeit und Abgeschlagenheit eröffnete die Scene 5 ohne Fieber wurden die Ex¬ tremitäten kalt, blafs und runzelig, als ob sie längere Zeit in kaltes Wasser getaucht gewesen wären; die Venen unter der Haut verschwanden, das Gefühl erlosch, die Beweglichkeit aber dauerte, wenn auch beschränkt, noch fort. Aeufserst heftige innerliche Schmerzen peinigten die Kranken, sie exacerbirten heftig durch die Wärme des Bettes oder der Luft, und remittirten etwas in der Kälte; hier aber trat ein fast unerträgliches Gefühl von Frost an ihre Stelle. Diese so lästige Empfindung begann an den Endpunkten derTheile, und verbreitete sich allmählig über die ganzen Extremitäten, bis endlich durch hin¬ zukommenden Brand (Sphacelus) das befallene Glied sich ausgezehrt hatte, und schwarz vom Rumpfe oderdem benachbarten Theile trennte. Mehre Kranke fanden Finger und Zehen in den Handschuhen und Stiefeln, die sich ohne Schmerz losgestofsen hatten. Die Function der übrigen Organe des Körpers war ziem¬ lich unversehrt, wenn man leichte Fieberbewegungen (levem aestum febrilem) bei den stets zunehmenden Schmerzen, Schweifs an Kopf und Brust bei dem Ge¬ nüsse warmer Speisen > und schlaflose Nächte oder un¬ ruhige Träume abrechnen will. Innerlich Emetica und Cordialia sudorifera, äufserlich vor dem Eintritte des Brandes Cataplasmata resolventia und Spiritus ca- Iefacientes, später Linimenta digestiva und Pulveres vel emplastra consolidantia, machten die Behandlung aus. Auch die Venäsection am befallenen Theile leistete als ein Mittel, welches die natürliche Wärme dahin zog, gute Dienste.

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52 I. Das heilig Feuer.

rni7. s»iofi*t.) Der Frühling und Sommer des Jahres 1747 waren wenigstens in Mittelfraukreich regnerisch und feucht. Ergotismus in der Sologne war die Folge, und es erlagen ihm in kurzer Zeit 8000 Men¬ schen ,3). A rnault de Nobleville 14), der die

Krankheit im Hospitale von Orleans sah, sagt, dafs sic mit schmerzhafter Müdigkeit (Lassitudes doulou- rcuscs) in den unteren Extremitäten und livider 1* ;ir- hung beginne, die aber bald in ein Geschwür über¬ ginge (qui abcedc Tulcerc), und eine mehr trockene, als feuchte Gangrän bilde, in der oft Würmer ent¬ stehen. Endlich fallen Zehen, Fülse, Unterschenkel

uud Oberschenkel ab; dasselbe begegnet den oberen Extremitäten, und man sah Individuen im Hospitale, die nur noch den Rumpf hatten, und so mehre Wo¬ chen lebten; denn die Trennung geschah ohne Blu¬ tung. Auf dem Lande heilte man durch gutes Brot und passende Nahrung, durch wiederholte Vcnfi- seciionen wegen der Schmerzen in dcu Gliedern, und durch Cordialia und Wuud wässcr, viele Krauke. Im Hospitale aber geoaseu von 120, theils Operirtcn, theils Nichlopcrirten, kaum 5, und auch diese star¬ ben nicht lange nachher. Salcrne15), der durch Verbuche an Thieren die Abhängigkeit der Krankheit vom Genüsse des Mutterkornes nach wies, gedenkt außerdem noch heftiger Schmerzen, einer blassen Ge¬ sichtsfarbe, der Abmagerung bei hartem Unterleibe und beschränkten Sccrctionen, und heftiger Kolik¬ schmerzen mit Diarrhöe; als Symptome der Krank¬ heit. Schon im Beginne waren die Befallenen et¬ was betrübt, und wurden es mit der Zunahme des Lcbels noch mehr. Appetit uud Schlaf waren gut

fi749 50. wie.} Die nächste hierhergehörige Epidemie beschreibt Boucher 1 ®). Sie herrschte 1749 auf 50 io der Umgegend von Lille, nach den Schrecknissen

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I. Das heilige Feuer.

des Krieges, gleichzeitig mit einer Viehseuche, und betiel nur die ärmeren Klassen der Landbewohner. Heftige Krämpfe der Muskeln der Extremitäten, und Schmerzen in Händen und Füfsen, als ob sie mit ei¬ nem glühenden Eisen durchbohrt würden, verkündig¬ ten den Eintritt der Krankheit. Sic traten in Pa- roxysmen auf, und waren zuweilen mit Brechneigung und wirklichem Erbrechen verbunden. Dies erste Stadium, das aber häufig auch mangelte, währte 12 bis 21 Tage. Im zweiten Stadium trat im be¬ fallenen Gliede ein Gefühl von Einseschlafensein und Kriebeln mit mehr oder minder intensivem Froste ( Sen¬ timent de froid plus ou moins glacial) ein, und Be¬ weglichkeit und Gefühl erlosch; stellte sich aber mit Schmerzen wieder ein, wenn man das Glied er¬ wärmte. Die Haut war blafs, kalt, gerunzelt; das Glied und der ganze Körper magerten ab. Dies Stadium währte beiläußg 10 Tage. Die dritte Periode endlich war durch livide oder dunkelrothe Färbung der Haut, die sich bald ins Schwarze zog, bezeichnet; in vielen Fällen war die Färbung so¬ gleich sehwarz. Ging Kälte voraus, so erhoben sich auf dem Fufse oder der Hand gelbliche Phlyctä- nen, deren Grund brandig war. Das Glied verlor jetzt alle Empfindung, der Puls wurde kaum fühlbar, die Kraftlosigkeit vollkommen, die Augen trübe, das Ge¬ sicht runzlich und entstellt, und der Tod erfolgte un¬ ter Ohnmächten; oder der Brand beschränkte sich am Fufse oder der Hand, und stiefs diese Theile ab; Die innerliche Anwendung der Cardiaca und Diapho- retica, laue Bäder und aromatische Einreibungen der afficirten Theile, machten die Behandlung aus; die Amputation, bevor sich der Brand umschrieben hatte, fand man schädlich.

Couvct 17), der dieselbe Epidemie in Bethune beobachtete, beschreibt ßie fast ganz so als Boucher,

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f. Das hellipo Feuer.

nur gedenkt er im ersten Stadium keiner eigentlichen Krampfe, sondern nur äufserst heftiger, in der Bett¬ wärme sehr vermehrter Schmerzen. Für das ätio¬ logische Moment der Seuche hält er die wechselnde Witterung des Jahres 1749; seine Behandlung war antiphlogistisch. fi7«. li'auinAatu.j Ein anderes Beispiel der uns beschäfti¬ genden Krankheit ereignete sich 1762 zu Wattisham an einer armen Familie. Vater, Mutter und sechs Kinder wurden von ihr ergriffen, und die meisten durch sie verstümmelt. Heftige Schmerzen, schwarze Färbuug, Taubheit, und cudlich brandige Zerstörung der Extremitäten bei sonstigem Wohlbefinden, mach¬ ten die Erscheinungen ihres Leidens aus. Ein Maun, der von dein Brote der Familie gegessen hatte, kan\ mit Taubheit der Hände davon. Die Finger waren kalt, die Fingerspitzen pelzig, und ein Dau¬ men ganz gefühllos 1 *).

fi7G4. *Jrro$ und Douoi.j Zwei Jahre später herrschte der Er- gotismtis wieder in der Gegend von Arras und Douai. Der vorausgegangene Winter war sehr kalt gewesen, das neue Getreide reich an Mutterkorn. Zuerst empfanden die Kranken heftige Schmerzen in den Ge¬ lenken, mit leichter Anschwellung und etwas Fieber, aber ohne sonstige Spuren der Entzündung. Nach 10 bis 12 Tagen gingen dieselben in ein Gefühl von Taubheit mit äufserst heftigem Froste über, und nach¬ dem auch dieses Stadium 8 bis 10 Tage gewährt hatte, begann der Brand an den Fingern und Zehen, und schritt alhnählig gegen den Kumpf weiter; Füfse und Beine, Hände und Arme, löstcu sich aus ihren Gelenken, und fielen ab. Read ,B) reichte im Beginne der Kraukhcit säuerliche und diaphoretische Getränke, gab dann gelinde Abführmittel, und zuletzt die China in groiaer Gabe. Auch äufscrlich wandte er die Kinde au, und gab den Rath, nur, wenn sich

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I. Das heilige Feuer.

der Brand begränzt, zwischen dem Lebenden und dem Todten zu amputiren.

Ganz dieselben Er- (mo. Maine. 1771 und 77. soiogne ) scheinungen beobachtete Read 1770 auch in der Maine, und Tessicr 20) 1774 und 77 in der Soiogne. Alle diese Jahre waren unfruchtbar, und es mifsrieth na¬ mentlich 1770 nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, wo statt des Ergotismus die Kriebel¬ krankheit herrschte, die Ernte durch deu stürmischen feuchten Sommer.

In unserem Jahrhundert erhob sich O813 16- Dauphine.) der Ergotismus in den durch Krieg, Mifswachs und Theurung, namentlich für Frankreich so unheilvollen Jahren 1813 bis 16. Die Departements de la Cote d’Or und de l’Isere, Theile der ehemaligen Dauphine, wurden am schwersten heimgesucht, und Francois, Janson, Bouchet u. a. 21), haben uns die Beschrei¬ bung dieser Seuchen überliefert. Im Hospitale zu Lyon, wo man 1818 gegen 40 solcher Kranken auf- nahrn, war nur bei einem einzigen die obere Extre¬ mität befallen; mehre verloren nur einige Zehen,

5 bis 6 den’ Fufs; 18 bis 20 den Unterschenkel, und drei den Oberschenkel. Die Epidemie begann im Departement de l’Jsere, unmittelbar nach der Ernte; das Getreide enthielt ein Drittel, ja die Hälfte Mutter¬ korn, und schon 5 bis 6 Tage nach dem Genüsse des aus ihm gebackenen Brotes traten die ersten Symptome der Krankheit auf. Ein Gefühl von Müdigkeit in den unteren Extremitäten, tiefe und lancinirende Schmerzen, die in der Nacht exacerbirten , machten den Anfang. Es dauerte oft 14 bis 21 Tage, be¬ vor Gangrän eintrat. Eisiger Frost und anhal¬ tende Schmerzen gingen ihr voraus lind begleiteten sie, bis sich die Entzüudungsgränze zwischen ihr und dem Gesunden gezogen hattö. Die afficirten Glie¬ der waren, obgleich ganz kalt, für die Berührung

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I. I)as heilige Fencr.

6chr empfindlich; bald bildeten sich Blasen, und die Haut wurde violett, livid und schwarz. Nur an der Pc- marcationslinic des Brandes gab es äufeerst übelriechende Verjauchung, am übrigen Gliede waren die Wcichthcile vertrocknet, hornartig und schwarz; sie fielen, wie ganze Glieder, ohne Blutung ab. Opium, zu 3 bis 4 Gran täglich, beschwichtigte die Schmerzen, hob dcu kleinen Puls, und beförderte die Bildung der Entzündungs- gränze. Amputirt wurde nur im Todten, wenn die Naturkraft nicht zur Absetzung hinreichte.

Etwas anders verlief die Krankheit im Departement de la Cötc d’Or. Sie begann hier meistens mit eiuera Gefühl von allgemeinem Taubsein, mit einer Art von Trun¬ kenheit und Sinnestäuschungen; der Bauch trieb sich auf und wurde schmerzhaft, die Haut trocken, blafs, gelb vorzüglich im Gesichte, und um die Augen; einige Kranke hatten Rothlauf dieser Theile; die Leidenden sahen betäubt ( hebetes ) aus , und fühltcu sich sehr schwach; der Puls war klein und häufig; Schläf¬ rigkeit, Unruhe, eine unerträgliche Hitze im Inneren des Körpers, Störungen aller Functionen waren zugegen. Ein anfangs dumpfer, dann aber zerreifsender Schmerz begann gewöhnlich nach 24 Stunden an den Endpunkten eines Gliedes; dieses schwoll an, jedoch ohne alle Temperatur¬ zunahme, in der Regel mit Kälte; die Haut wurde vio¬ lett und sprang auf; cs bildete sich Gangrän und all- mählig Sphacclus. Von den Zehen oder den Fingern ging der Brand auf Füfse und Hände, Beine und Arme über, und während manche Individuen nur einzelne Pha¬ langen verloren, die sic zuweilen in ihren Handschuhen oder Strümpfen fauden, sah Cour haut eiu Mädchen von 10 Jahren, dessen vier Extremitäten bis zum Rumpfe spha- cclös waren, ohne dafe das Sensorium im geringsten ge¬ stört gewesen wäre. Diese Gangrän verbreitete einen so fürchterlichen Geruch, dafs die Verwandten die Kran¬ ken verlielseu; sic ergriif gewöhnlich die tiefer liegen-

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1. Das heilige Feuer.

den Theile früher, als die Haut, und ein Lanzeltenstich schmerzte nicht mehr, wenn er die äufseren Bedeckungen durchbohrt hatte. Bei manchen Kranken kam es nicht zum Brande, obgleich sie Ameisenlaufen, dumpfe Schmer¬ zen, violette Färbung der Haut u. s. w. hatten; allein lange Zeit behielten sie noch ihr betrübtes Aussehen, und Schwäche in den unteren Extremitäten. Andere hat¬ ten nur Mattigkeit, Schwindel und brennende Schmerzen im Magen, die sich durch mehr oder minder hartnäckige Diarrhöen entschieden. Säugenden Frauen versiegte die Milch und schwanden die Brüste. Die Weiter¬ verbreitung der Gangrän währte zuweilen 30 bis 40 Tage. Sobald sie sich aber beschränkt hatte, waren die Kranken fieberlos, afsen, tranken und schliefen, wie Gesunde. Brechmittel aus Ipecacuanha, und dann innerlich und äufser- lich Campher, Spiritus camphorat., China und Vinum aro- maticum, und endlich das Opium, machten die in der Mehrzahl der Fälle von günstigem Erfolge gekrönte Be¬ handlung aus.

So weit die mir zugänglichen Beschreibungen des Er- gotismus. Es bedarf wohl nur eines flüchtigen Ueber- blickes dieser Epideinieen, um die Differenz des fragli¬ chen Leidens von der Kriebelkrankheit, wie sie Schenk, Lin ne, Taube u. a. beschrieben, in allen Erscheinungen zu erkennen, eine Differenz, die durch die Analogie der ätiologischen Momente beider Krankheiten schlechtes, durch fremdartige Beimischung verunreinigtes Getreide gewifs nicht annullirt wird. Beruhe nun die Verschie¬ denheit beider Leiden, wie die Franzosen meinen, auf einer wirklichen Differenz des Causalmomentes, entstehe Kriebelkrankheit durch Raphanus Raphanistrum , und Ergo- tismus durch Secale cornutum, oder seien beide die Pro-

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dukte einer und derselben schädlichen Potenz des Mut¬ terkornes unter verschiedenen Verhältnissen, z. B. in verschiedenen Ländern, Klimaten, bei verschiedenen Arten des Säens u. s. w. eine Untersuchung, die nicht in den

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I. Das heilige Feuer.

Bereich meiocr Aufgabe gehört beide haben nicht mehr mit einander gemein, als die allgemeinen Begriffe Krampf und Brand. Dafs in einer der von Boucher be¬ schriebenen Epidemie des Ergotismus, Krämpfe als Symptom des ersten Stadiums genannt werden, und dafs zuweilen in der Kriebelkrankheit Blasen auf der Haut auf- schiclscn, beweist nichts für die Identität beider Ucbel, sondern höchstens, dafs ein und derselbe Acker Mutter¬ korn und Raphanus Raphanistruin tragen, kann, oder dafs, wenn beide Krankheiten dem Mutterkorne ihr Entste¬ hen verdanken, Uebergangsformen zwischen ihnen Vor¬ kommen.

Wer daher die Identität des heiligen Feuers des Mit¬ telalters mit der Kriebelkrankheit als ungereimt zurück¬ weist, hat damit noch nicht die Meinung, Ergotismus und Iguis saccr seien eine und dieselbe Krankheit, wider¬ legt.

Stellen wir aber Symptome neben Symptome, so fin¬ den wir die auffallendste Analogie. Auch der Ergo¬ tismus ist ein Morbus tabilicus, die Kranken magern ab, und sehen blais und cachectisch aus; wir finden bei ihm, wie bei dem heiligen Feuer, die heftigen, unerträglichen Schmerzen, die lividc und schwarze Färbung der Haut, das subicctivc und objcctive Frostgefühl, das die Beobach¬ ter des Ignis sacer, wie die des Ergotismus, eine eisige Kälte (frigor glacialis froid glacial) neunen. Wie im heiligen Feuer, scheint sich die durch Mutterkorn ver- anlafstc Gangrän von innen nach aufsen zu bilden, die tiefer liegenden Theile früher als die Haut zu zerstören; wie dort, schieisen auch hier zuweilen Brandblasen auf, häufiger mangeln sic; wie dort, schrumpfen auch hier die Theile zusammen, und werden sphacclös, oder siezer¬ setzen sich in häfslicher Fäulnifs. Die Weichthcilc fallen vou den Knochen, der Geruch verpestet die Luft, einzelne Articulationen trennen sich, und ganze Extremi¬ täten fallen ab. Und bei allen diesen heftigen Symplo-

I. Das heilige Feuer. 59

men sind die vom Ergotismus Befallenen in der Regel fie¬ berlos, ihre Efslust ist gut, ihr Schlaf häufig ruhig, selbst die Beweglichkeit der ergriffenen Theile erhält sich oft ziemlich lange (Lang); nur wenn der Brand sich un¬ aufhaltsam gegen den Rumpf hin weiter verbreitete, er¬ folgte der Tod unter Ohnmächten u. s. w. # Doch sah man, wie bei der Feuerpest, Individuen, die, nachdem sie alle Extremitäten verloren, noch mehre Tage lebten. Wie bei dem Ignis sacer, bedurften daher die Kranken am Ergotismus eines Wohlthäters, der sie täglich speisete, konnten sie, wenigstens in den ersten Perioden der Krank¬ heit, die Strafsen und Kirchen mit ihren Wehklagen fül¬ len, und sich in den zu ihrer Aufnahme bestimmten, selbst ziemlich entfernten Hospitälern stellen. Wie die Zerstörungen des heiligen Feuers nicht immer auf die Ex¬ tremitäten beschränkt waren, so auch die des Ergotis¬ mus. Dodart sah 1674 in der Sologne den Brand zuweilen die Nase ergreifen, und in der Seuche des De¬ partements de la Cöte d’Or kam wenigstens Röthung des Gesichtes, wie von Rothlauf, wenn auch keiue Gangrän dieser Theile vor. Wie in manchen Feuerseuchen, sah man Convulsionen in der Epidemie von Lille, und wie

sich Recidive des Ignis sacer vorfinden, so erzählt auch

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Sa lerne von zweimaligem Befallen des Ergotismus. Der Verlauf beider Krankheiten ist nicht sonderlich rasch, und wie es Epidemieen des heiligen Feuers gab, die fast alle Befallenen tödteten, und andere, in denen verhältnifs- mäfsig Wenige starben, so hat man auch gutartige und bösartige Seuchen des Ergotismus gesehen.

Bei solcher Aehnlichkeit der Erscheinungen möchte cs fast überflüssig erscheinen, noch andere Beweise für die Identität beider Leiden anzuführen, doch möchten noch folgende Punkte einer Berücksichtigung werth sein:

1. Sind es fast dieselben Länderstriche, welche vom heiligen Feuer und Ergotismus vor anderen heimge¬ sucht worden sind, und wir begegnen dem letzten

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I. Das Iieilifrc Feuer.

fast nirgends, wo nicht mehre Jahrhunderte früher das erste gehaust hat. Flandern, die Dauphiuc, die Gegend von Arras und von Orleans, wurden von beiden Krankheiten schwer getroffen; und Deutsch¬ land, Italien, die nördlichen Reiche, von beiden verschout.

2. Zeigt sich der Ergotismus, wie das heilige Feuer, vorzüglich nach kalten Wiutern, in feuchten, un¬ fruchtbaren Jahren. Ilungcrsnoth und Theurung geht daher häuGg mit beiden Krankheiten Hand in Hand; beide waren zuweilen während verhee¬ render Kriege epidemisch, und kamen nie in geseg-

ncten, fruchtbaren Jahrgängeu vor.

3. Finden sich in der Geschichte der Feuerpest einige Thatsacheu erwähnt, die darauf hindcutcn, dafs diese Krankheit, wie der Ergotismus, durch Brot, welches aus verdorbenem Getreide gebacken, ent¬ standen sei. Sollte das blutende Brot 1089 in der Dauphine nicht dem Mutterkorne seine dunkele, blutartige Farbe verdankt haben; sind nicht vielleicht selbst viele der Heilungen in den Klöstern auf Rechnung der besseren Nahrung zu schreiben, die den Kranken dort gereicht wurde? Hugo Capet speiste in Nötre-Dame täglich au 600 Kranke, und die meisten genasen. Metire aber, die nach Hause gingen (und sich von ihren frühe¬ ren Alimenten nährten), wurden wieder vom hei¬ ligen Feuer befallen, und erst geheilt, als sie zur Kirche (zu der vom Herzog gereichten Kost) zurückkehrten.

4. Zeigen die wenigen Data, welche über die Jahres¬ zeit der Fcuercpidcmiccn auf uns gekommen sind, dafs auch der Ignis sacer, wie der Ergotismus, kurze Zeit nach der Ernte eintrat, und im August und September seine gröfsten Verheerungen au- richtete.

61

I. Das heilige Feuer.

5. Stimmen Ergotismus und heiliges Feuer auch in Be¬ zug auf die Ausbreitung und Dauer ihrer einzelnen Epidemieen mit einander überein. Die einzel¬ nen Seuchen waren fast immer auf einzelne Pro¬ vinzen und Jahrgänge beschränkt, und die Geschichte beider Krankheiten enthält kein Beispiel einer Aus¬ breitung über grofse Länderstrecken, kein Beispiel einer durch Contagium oder fortschreitende Umän¬ derung der atmosphärischen Verhältnisse vermittel¬ ten Wanderung der Epidemie von Ort zu Ort, von Land zu Land. Nur wenn zwei oder mehre auf einander folgende Jahre Mifswachs und Mangel brachten, herrschte auch Ignis sacer und Ergotis- mus mehre Jahre nach einander; in allen anderen Epidemieeu scheint der Frühling des folgenden Jah¬ res ihren Verheerungen ein Ziel gesetzt zu haben. Ich bin daher der Meinung, dafs das epide¬ mische heilige Feuer des Mittelalters, der Ignis sacer oder Sancti Autonii, eine und dieselbe Krankheit mit der durch Secale cornutum er¬ zeugten Gangrän, dem Ergotismus der Franzo¬ sen, sei.

Dafs die Nachrichten über das heilige Feuer die Zahl der Todten 994 in Aquitanien auf 40,000 angeben, und die gröfste Mortalität des Ergotismus in der freilich viel kleineren Sologne 1747 nur auf 8000 geschätzt wird, be¬ weist nichts gegen die Identität beider Uebel; denn abgesehen von der Unzuverlässigkeit der meisten Zahlen¬ angaben über die Epidemieen des Mittelalters, ist es wohl natürlich, dafs zu einer Zeit, in der der Ackerbau noch so weit hinter dem unserer Zeit zurück war, in der die ve¬ getabilischen Alimente noch bei weitem nicht so mannig¬ faltig waren, als jetzt, in welcher fast die ganze Popula- tiou auf die neue Ernte angewiesen war, und ein Mifs- jahr Hungersnoth herbeizuführen vermochte, Mutterkorn häufiger und in gröfserer Menge Vorkommen, namentlich

62

I. Das heilige Fcncr.

aber in weit gröfsercr Ausdehnung schfidlich auf die Be¬ völkerung cinwirken inufstc, als jetzt. Auch kannte inan damals die Veranlassung der furchtbaren Krankheit noch nicht, uud wufstc sich nicht vor ihr zu wahren. Hieraus erklärt es sich auch, weshalb vom heiligen Feuer nicht immer, wie vom Ergotismus, nur die Armen, son¬ dern in einzelnen Epidemieen selbst die Vornehmeren er¬ griffen wurden. In den Klöstern und Stiften aber speicherte man wohl auch schon damals das Getreide mehre Jahre auf, die Nahrung, welche man dort den ar¬ men Kranken reichte, war gesunder, und sic genasen. w isseu wir doch auch aus der Geschichte des Ergotismus, dafs zuweilen schon Aenderung des Alimentes zur Heilung der Kranken hinreichte.

Eben so wenig zeugt cs wohl gegen die Identität bei¬ der Ucbel, dafs in einzelnen Seuchen des Ergotismus einer schmerzhaften Auftreibung des Unterleibes, einer mehr icterischen Hautfarbe des ganzen Körpers, beunruhigender Träume, leichter febrilischcr Symptome ix. s. w. , iu meh¬ ren eines gewissen Stumpfsinnes und betrübten Aussehens gedacht wird, Erscheinungen,' die keiner der Chronisten vom heiligen Feuer auiTührt, und dafs sich verschiedene Heilmethoden eines günstigen Erfolges gegen den Ergotis- mus rühmen, während das heilige Feuer den Aerzten des Mittelalters unheilbar, ein Merkmal des göttlichen Zornes war. Denn abgesehen davon, dafs keine Epidemie der anderen vollkommen gleich ist, und dafs auch in mehren Epidemieen des Ergotismus die fraglichen Symptome nicht vorkameu, ist wohl die Medicin unserer Tage eine ge¬ nauere Beobachtern, als die jener finsteren Zeiten, in denen die Feuerpest herrschte, hat unsere Therapeutik wohl manchen Feind besiegt, der vordem für unüberwind¬ bar galt.

Die wesentlichen Symptome des heiligen Feuers und des Ergotismus sind vollkommen dieselben, der Verlauf, die Ausbreitung, das Vorkommen ihrer Epidemieen ist

I. Das heilige Feuer. 63

übereinstimmend, so^dafs es mir wenigstens durchaus nicht zweifelhaft ist:

Ignis saccr war Ergotismus.

So weit diese Untersuchungen über den Ignis saccr. Ich hatte sie leicht erweitern können, wenn ich auf die Differenzen des Getreidebaues im Mittelalter und in unse¬ rer Zeit, wenn ich auf die Topographie der vom heiligen Feuer und später vom Ergotismus befallenen Provinzen cingegangen wäre; allein ich wollte den Leser nicht er¬ müden. Die vielbesprochene Frage, oh das Mutter¬ korn wirklich den Ergotismus erzeuge, nochmals aufzu¬ greifen und zu erörtern, hielt ich nach Salernc’s, Read’s und Tessier’s Versuchen an Thieren für überflüssig. - Meine Aufgabe war historische Darstellung der Feuerpest nach den Quellen, und Prüfung der über ihre Natur aus¬ gesprochenen Meinungen; keine pathologisch- therapeutische Darstellung des Ergotismus. Von diesem Gesichts¬ punkte aus, bitte ich, diese Blätter zu beurtheilen.

Citate und Bern erklingen.

A.) Zur Einleitung.

1) Celsus, de re rnedica. L. V. S. 28. c. 4.

2) Lucretius, de rerum natura. L. VI. v. 656 62.

3) Ibidem vers. 1165 66.

4) Virgilii Maronis, Georgic. L. III. v. 559— 66.

« Verum ctiam invisos si quis tentarat amictus Ardentes papulae atque immundus olentia sudor Membra sequebalur. Nec longo deinde moranti Tempore coutactos artus sacer ignis edebat. »

Die Papulae ardentes machten demnach nur die Vorläufer des heiligen Feuers, nicht, wie Krause (Ueber das Alter der Menschenpocken, n. 130.) meint, den Ignis saccr selbst aus.

64

I. Das heilige Feuer.

5) Plinii Secundi, Natur, histor. L. XXVI. c. 74.

6) Scribonii Largi, de compos. mcdic. e. 106.

7) Marcclli Empirici, de mcdicamcnt. c. 20.

8) Seren i Samonici. de mcdicina praecepta saluber-

rima c. 41. « Igni sacro demovendo. »

« Est ctiam morbi spccics, quac dicitur ignis Languida quo raulto torrentur membra calore.

9) Scnecae, Ocdip. Act. I. v. 180 196.

10) C oluuiclla de rc rustica. L. VII. c. 5.

11) Ich kann der Ansicht Krause’«, dafs die Pusula des Columella identisch mit den Schnafblattcrn sei, nicht beipfliebten. Wie könnte dieser Autor, wenn anch rnifsbilligend, von einer Anwendung des Messcrä in diesem über den ganzen Körper verbreiteten Exan¬ theme sprechen, wie Ucberschlägc (Fonienta) empfeh¬ len? Wozu wäre bei den Pocken, die vorzüglich an den mit wenig Wolle versehenen Theilen ausbre¬ chen, die Untersuchung des Rückens noth wendig? dafs dieser Theil aber vorzüglich den Silz des Kar¬ bunkels, des bösen Rausches u. s. w. bildet, ist ans

1‘edera Handbucbe der Vetcrinarmedicin zu ersehen. - Jeher wollte ich noch die Ostigo Tür Pocken gelten lassen.

12) Avicenna, Canon Lib. IV. Fen. III. Tr. 1. c. 9. « IJaec duo nomina (pruna et ignis pcrsicus) fortasse absoluta sunt super omnem pustulam corrosivam, ve- sicantem, adurentem, facicntein accidere escaram, qua- lcm facit aceiderc combustio et cauterium.”

13) Rhazcs, Lib. Division, c. 133.

14) Avicenna. Canon. Lib. IV. Fen. III. Tr. 1. c. 1. und c. 9.

15) Alsabara vii (Albucasis), Liber practic. Tr. 29. c. 6.

16) Mesue, Sect. II. P. II. Summa 1. cap. 6.

17) Rhazes, Continens L. XVIII. c. 8.

18) Avicenna, Canon. L. IV. Fen. 4, Tr. 3. c. 1.

19) Mesue, 1. c.

20) Ilaly filii Abbas, Theor. L. VIII. c. 14.

21) Constantin. Afric. de commun. loc. L. VIII. c. 14.

22) Ejusdcm, de rnorb. cogn. et cur. L. VII. c. 15.

23) Gariopontus, de worb, caus., accid. ct curat. L. V. c. 31.

24) Lau-

(

I. Das heilige Feuer. 65

24) Lanfranclii, Chirurgia. C. 11.

25) Petri de Largel ata, Chirurgia. L. I. c. 1. 3. 9.

26) Joannis de Vigo, Practica iu arte chirurgica. L. II. Tr. I. c. 10.

27) Fabricii de Acquapcndente, Opp. chirurg. L. I. c. 12.

/ H

28) Gordonii, Lilium mcdicinac. Lugdun. 8. 1550. p. 710. De prognosticis. Part. I.

«Modus autem generationis apostematis cholerici, quod appellatur herysipilla, est sicut de sanguine et

ila de aliis huinoribus. - Si autem inßammetur

cholera, generat pessima scandala, quia scindit mem- bra ut gladius, et tune causatur sacer ignis. »

29) Guidonis de Gauliaco, Chirurg, magua. Tr. I. Doctrina II. Cap. 2.

«Est ergo carbuuculus, sive pruna, sive ignis per- sicus vel sacer (quae quasi pro eodem accipit Avi- cenna) pustula phlegmouica, mala et cet. »

«Esthiomeuus, licet proprie non sit pustula, est tarnen effeclus pustularum et ipsius cura eis propor- tione respondet. Est autem mors et dissipatio

membri - cum putrefactione et mollificatione. -

Esthiomeuus vulgariter dicitur ignis Sti Antonii aut Sti Ma rti alis. Es t hi o men us vocatur gan- graena apud Graecos. »

30) Yales co a Taranta, Philonium L. VII. c. 4.

« Carbunculus est apostema ex grosso sanguine natum vocatur etiam ignis persicus a calore blanco qui ydiomate occilano vocatur peser. Alii vo- cant ignem sacrum vel ignem Scti Antonii, quia sanctis recomendantur tales.

31) Manardi, Epistol. medic. Basil. 1549. L. VII.

32) Tagault, Institution. Chirurgie. Venct. 1544. L. I. p. 50.

33) Musitani, Chirurgia. Colon. 1698. T. I. p. 45 und 63.

34) Foresti, Obscrv. Chirurgie. L, I. obs. 13.

35) Wier i, Observat. über. Arastelodami. 1657. p. 119.

36) Gersdorf, II. v., Feldarzneibucb. Strafsburg. 4. 1517. fol. 66. Cap. XXI il. Gersdorf hat sei¬ ner Abhandlung über den Brand oder das St. An-

5

Band 28. Heft 1.

66

I. Das heilige Fener.

thonienfewr auch zwei Holzschnitte beigegeben, von denen der erste mit der Uebei schrift:

« O heylger Herr Antony grofs Erwerb’ uns Gnad on underlofs Ablofs der sDnd, gots buld und gunst Behüt uns vor dein schwere Brunst. Ä den Heiligen und einen zu ihm betenden Mann olrtic rechten Fufs und mit angeschwollener, verunstalteter Hand, der zweite aber eiue Amputation vorstellt uud das Motto fuhrt:

«Arm, bein abschnciden hat sein kunst Vertrieben sanct Anthonien Brunst Gebürt auch nit eiin yeden zu Er schick sich dann wie ich im thu. »»

37 ) Forest, 1. c. L. II. obs. 5.

3*i ) Wicrus, 1. c.

39) Erysipelas latinis ignis sacer nominatur. Lconh. Fuchsius, de medendis morbis. L. V. c. 3.

40) Forest, 1. c. Sorbait, Med. pract. T. V. c. 5.

41) Carrionis Chronicon exposit. a Pbilippo Me* lanchthonc. Fcft. 8. 1594. p. 225.

42) Sau vages, Nosologia uiethodica. CI. III. O. I. G. VII. Sp. 5.

43) Schnurrer, 1. c. p. 198.

4t) Henslcr, Geschichte des abendländischen Aussatzes, p. 213.

45) Auch Fodere, Ozanam und Raymond. I. c.

46) Krause, Ueber das Alter der Menschenpocken, p. 159 etc.

47) Raymond, Ilistoire de TElephantiasis. p. 115.

48) Schnurrer, 1. c. p. 278.

B.J Zum ersten Kapitel.

1) Annal. Xantens, in Pertz, Monum. II. p. 230.

« Plaga magna vcsicarum turgentium grassatur in populo et detestabili cos putredine cousumpsit, ita ut inerubra dissoluta ante mortem deciderent. »

2) Annal. Bertinian. in Bouquet VII. 71 und 73. Chro¬ nic. Elnon. in Martenius III. Ancid, c. 1390.

I

I. Das heilige Fener. 67

3) Sclinurrcr I. c. p. 186. nach Hist. F. S. Ge n ul f. Ch ronic. Ac. Cab. Commera. Abbat. Lemov. S. Mart. etc. Nach Villalba T. 1. p. 3t). starb Don Fruela, der dritte Sohn Alonso’s des Grofsen, 923 an der Lepra.

4} Frodoardi Chronic. Bouquet VIII. p. 179.

5) Frodoardi, Chronic. Herrn. Contract. und Chron. Andegav. in Bouquet VIII. p. 198, 251 und 252. Annal. St. Gail, in Per tz I. p. 78. Chron. Heppidan. bei Du Chesne III. p. 475.

6) a. Frodoardi Chronic. 1. c. p. 199:

«In pago Parisiacensi , nec non etiam per divisos circumquaque pagos hominum diversa mernbra ignis plaga pervaduntur: quaeque sensim adusta consum- mebantur, donec mors tandem finiret supplicia: quo- rum quidam, uonnulla Sanctorum loca potentes, eva- sere tormenta. Plures tarnen Parisius in Ecclesia Sctae Dei Genetricis Mariae sanati sunt, adeo ut quotquot illo pervenire poverint, asserantur ab hac peste salvati: quos Hugo quoque Dux stipendiis aluit quotidianis. Ilorum dum quidam vellent ad propria redire, extincto referveseuut inceudio, regressique ad Ecclesiam liberantur. »

b. Fauchet, Hist, de Fr. in Schnurr. I. 189:

«Lors courrut an territoire de Paris une maladie de feu brullant les membres des hommes si doulou- reusement, que plusieurs moururent; et des autres penserent avoir ete gueris en visitant les Eglises et lieux saints principalement celle de la Vierge Marie qui est la cathedrale de la ditte ville et un petit oratoire de l’isle dedie ä Sainte Ge n efie ve prit le nom des ardens soit qu’il servit d’hopital, ou que des miracles y fussent ete faits. »

c. Henri Sauval, Hist, de Paris Vol. II. p. 557:

«En 945 et non point en 1130 cornme dit du Breul, quantile de monde taut ä Paris qu’aux en- virons perit d’une maladie appellee le feu sacre ou les ardents. Ce mal les bruioit petit a petit; et enfin les consummoit saus qu’on put y remedier. Pour s’en preserver ou en guerir, ceuz de Paris quittoient la ville pour se rendre aux champs, et ceux de la Campagne se refugioient dans Paris. Hugues le Grand en cette rencontre üt eclater sa charile, car il nourrit alors tous les pauvres rnala-

5 *

\

68

I. Dns heilige Feuer.

des, quoique par fois il s’cn trouvat des six Cents. ()r comme tous les remedes nc servaient de rien on eilt rccours ä la Vierte dans l’e^lisc de Nolrc Dame, qui servit long-tcmps d’hbpital dans ccttc occasion. »*

7) Chronic. Saxon. Glabri Rodolph. Ilistor. Lib.ll. Cbroo. Ditm. Episc. Ilcpidani Annal. in Bou¬ quet X. p. 228 u. 29. p. 19. p* 123. p. 193.

8) Chronic. Saxon. Chr. llildenshciin, in Bouq. X. 229. 318. Ilistor. Ouedliuburg.

9) a. Chronic. Adern ari Cabanens. in Bouquet X. 147:

«< 1 1 i 8 temporibus pcstilentiae igtiis super Limovi- cinios exarsit: Corpora enim virorum et mulicrum supra numerum invisibili igne depascebpntur et ubi- que planctus terram replcbat. »

b. Commemorat. Abbat. Leinovic. Sancti Martialis. Bouquet X. 318.

« liujus Josfredi primi principatu plaga ignis super corpora Aquitanorum desaeviit et mor¬ tui sunt plus 40 millia homiuum ab eadem pesti- lentia. »

c. Ex Msc. Sängerin, ibid.:

« Mi rum in modum ardenti igne cruciantur et perimuntur Aquitani. »»

d. Ilistorin translationis S. Gcnulfi iu Monasterio Stra- dens. ibid. p. 361:

«Contigit aliquando judicio Dei, quodam car- nis incendio multos periclitari mortalium ex gentc Chrislianorum: quorum multitudines ob sui remedia deposccnda Sanctorum cxpctcre ioca certantes. M,ulti etiam anno Dom. 994. ad ecclesiam S. Gcnulfi per- ▼enerunt. Erat autem non solum audirc Stri¬ dores eorum prac dolore, vel cxuslas a corporibus eflluerc partes videre miseria; verum etiam ex pu- trae caruis foelorc res iotoleranda, qua cladc multi eorum consumpti sunt: multi etiam aquis aspersi sacratis refrigerati sunt et ab illo mortis erepti periculo. Ex quibus iu pago Limoviccusi quidam adhuc babentur superstites. »

e. Glabri Rodolphi Ilistor. L. II. p. 20:

«Dcsaeviebat codem tempore cladcs pessima in hominibas, ignis scilicct occultus, qui quodeumque membrorum arripuisset, exurendo truncabat a cor-

I. Das heilige Feuer. 69

i

porc: plerosque etiam in spacio unius noctis hujus ignis cousumpsit adustio. n

f. Fragmenta Hist. Aquitan. Bouquet X. 147:

« Ilis diebus lues gravissima Limovicinos devora- vit incendiens corpora ct exardesccndo devorans, donec omnes Aquitaniae Episcopi Lemovicae con- gregati corpus B. Martialis ab imo sublatum se- j)ulchro mortaliuni visibus ostenderunt et mox pestis ipsa cessavit. »

g. Gesta Lcmovicicns. Episcopor. ibid.

«Et notandum sub ejus (Eldoini s. Alduini),

' Episcopatu corpus S. Martialis, anno scilicet 994, Iudictione VII. fuisse cum magna processione in Montem Gaudii Jovis (Montjoie) revereuter de- portatum propter gravissimam plagam ignis, quae iu populum grassabatur extinguendam.

li. Mezeray, Hist, de France. T. II. p. 5.

10) Villalba, Epidemiologia espannola. T. I. p. 40.

11) Richerii, Chronic, monast. Senonieus. inCalmet, Hist, de Lorraine T. II. Pr. p. XI:

«Secundo anno vero post haec tanta penuria blandi et aliorum alimentorum omnium invaluit, ut, quod auditu est horribile, bomo liomine vesci co- gebatur. »

12) Fodere, Le^ons sur les Epidemies II. p. 44.

13) Glabri Rodolphi Hist. Lib. V. p. 60.

« Consumpsit quidam mortifer ardor multos tarn de maguatibus, quam de mediocribus atque infimis populi; quosdam vero truncatis membrorum par- tibus reservavit ad futurorum exemplum. Tune eüam gens totius orbis sustinuit penuriam pro raritate vini et tritici. »

14) Chron. Camerac. et Atrebat. Siegbert. Gemblac. Bouqu. XI. 123. 163.

15) Chron. Lobiens. Heppidan. Annal. Excerpta Hist. Chronic. S. Stephani Cadom. Bouqu. XI. 415. 9. 157. 379. Augsburger Chronic II. p. 41.

IC) Chronic. Verdun, in Bouqu. XI. 145:

«Divino judicio coepit in eos desaevire ignis, qui eos torquebat, et co anno fere totus orbis pe- nuriain passus cst pro raritate vini et tritici.

70

I. Das heilige Fener.

Sequuta cst b vestigio mortalitas liominum prae- jnaxima aano ab iucarnationc Domini 1042. Alulli corum qui torqucbanlur ab igne venientcs ad virum I)ci curabantur .... Quando lucs illa, de qua mentionem feciinus, populum dilabcrelur ct ci- vitas Virduncnsis fere rcdigeretur in bcrcmum . . . comuoi voto deliberatuin est, S. Vitoni imploran- dum esse auxilium. w

17) Sicgbcrt. Gcmblac. Chronic. S. Maxen tii

Chron. S. Petr. viv. Senoniens. Berthold. Con- stan t. Chronic. Chronic. S. Stephan i Cadomens.— Chronolog. Roberti et cetera in Bouquet F. XI. ct XII. Spangenberg’s Chronik p. 327 etc. Auesburecr Chroniken II. 51. und Schnurrer I. p. 215 223. '

18) Schnurrer, 1. c.

19) Chronicon Turonensc in Bouquet XII. 465:

«Anno Ileorici Imperator. XXIX. factus cst terrae motus magnus ct in Occidcntali parte Lotha- ringiae pcstilentia magna, ita quod multi nervornm contractione distorti cruciebantur; alii sacro igne membris exesis, ad instar carbonum nigresceutibus miserabiliter moriebantur. »

20) a. Mayer, Annales Flandriae L. III. p. 36:

« A. 1088. terlio Calend. Septembr. visus est igneus draco, volare per medium coeli et ex ore suo quasi flammas evomere, statimque subsecutus est pestilens ille morbus, qui Ignis sacer vocatur, quam tarn arsuram appellabant quidem.

b. Siegbcrt Gemblac. Chronograph. Bouquet XIII. 259 :

«1089. Annus pestilens maxime in occidenlali parte Lolharingiac uhi multi sacro igne interiora con- summente computrcscentcs exesis membris inslar car¬ bonum nigrcscentibus aut miserabiliter inoriuntur, aut manibus aut pedibus pufrelactis truncati, misc- rabiliori vifae reservantur, multi verö nervorum con¬ tractione distorti tormentantur. u

c. Ex actis SS. ord. S. Ben cd ict. Bouqti. XIV. 141 :

« Ea tempestatc sacer ignis, quem Gracci hcri- sipelnm dieunt, divinae animndversionis iudex Flan¬ driae inrubuit partibus, christicolarum quam plurima inultitudiuc tarn horribilis cladis verbere grassantc,

71

I. Das heilige Feuer.

partim prostrata, partim gemente et prac doloris immanitate dentibus ßtrideute, partim morte jam multata. »

d. Chron. Jacob. Lcodiens. Bouqu. XIII. 600:

«Pestilentia terribilis et multiplex ardentium.

e. Carrionis Chronic, p. 225:

«Anno post natalem Christi 1089 talem pesti- lentiam (qualis attica) in Lotharingia grassatam esse, Siegebertis Darrat.”

f. Chronic. Lobiens. Bouqu. XIII. p. 581:

«(Ad ann. 1090.) IIoc anno orta est pestis in liominibus, quae Arsura dicitur, qua etiam multi perieruut.

g. Mezeray, Histoire de France T. II. p. 46, verlegt die Seuche gleichfalls auf 1090.

21) Mezeray, 1. c. II. p. 62:

« L’autre (fumine) arriva vers le milieu du Regne

de Philippe (1061 1108). - L’air parut

souvent tout en feu et pleine de divers Meteo-

res - II se voyoit de fois ä autre de nuecs de

papillions et de vermisseaux Du pain nou- vellement du four rendit grande abondance de saug.»

22) Fodere 1. c. II. p. 44. Ozanam, Hist, des epi- demies T. V. p. 168. Mezeray 1. c. II. p. 69.

23) Mayer, Annal. Flandriae L. III. p. 36:

«Fornaci religiosa instituta supplicatio ab Robo- done episcopo die exaltationis Sanctae crucis ob pestem quam vocabant igniariam, hoc est, sacrum ignem. Magna religione sacris ubique operatum ad procuranda, quae fiebant, prodigia, phcandam- que Dei iram. Nam alii instar carbonum ni- grescentes, alii exesis morbo visceribus tabescentes, pars truncati miserabiliter membris, incredibile est dictu quam multi mortales sacro illo igni sunt ab- sumpti. «

24) Bert hold. Constant. Chron. Bouqu. XI. p. 27. Chronic. Turonens. ib. XII. p. 466. Siegb. Gern- blae. ib. XIII. p. 260. Wurstisen, Baseler Chro¬ nik p. 108. Short, of the air, weather etc. I. p.103.

25) Chron. Gaufredi Vosiens. in B o uquet XII. p. 427:

« Anno Domini 1094 iterata lues subcutanei ignis plcbem Aquitanicam atrocissimc torrebat. Hi

72

I. Das heilige Feuer.

quantoclus ad patronum proprium confugicntes auxi- liuin de Sauclo aoeipere mcrucrunt. **

26) a. Sieg eher t. Gern bl. in Bouquet XIII. 260:

« Hoc anno sacro igni multi accenduntur, mem- bris instar carbonum nigrcsccnlibus.^ b. Mayer, Ann. Flandr. L. IVr. p. .‘16.

27) S. Petri vivi Senonens. Bouquet XII. 2S0.

Schnurr er 1. c. p. 228.

2S) Ozanam 1. c. p. 168.

29) Sebnurrer p. 230. Muratori V. 485:

,< Ignotis morbis igne, flamma, arflore in visibili ho- mines exsiccati et absque adustionis uota cxtincti.

Wolf, lect. mem. Cent. XII.

30) Chron. Seti Petri Vivi. Chron. Mauriniaccns.

in Bouquet XII. 282. 69.

31) a. Ordcrici Vitalis Ilistor. Ecclesiast. L. XI. Bou¬

quet XII. p. 708.

« Anno ab Incarnatione Domini 1109. Ine] ict. II. ultio divina homiDUin scclcra pluribus flngellis pu- niit et mortalcs insolito terrorc cum pietatc terruit, ut percatores ad poenitentiam invitaret, poenitenti- bus veniam et salutem dementer cxbiberet. In Gallia maximc in Aurclianensi et Carnotensi pro- viucia, cladcs igni fera rnullos invasit, debililavit et quosdam occidit. ISimictas pluviarum fructus terrae suffocavit, terracquc sterilitas inborruit et vindemia pene tota disperiit. Dcficientibus itaque Ccrerc et Baccbo valida fames terrigenas passim maceravit in mundo. »»

b. Epistola Joann. Carnot. Episc. 119. ad Pa scha¬ lem II, Papam. in Bouquet XV. p. 148:

«< In tanto enim apud nos in majoribus populi abundavit iniquita$, ut ucc paternis acclamationibus obediant, nee Deum terrentem timeant; cum et ex stcrilitate terrae famc pauperes eorum afficiat, et morbo, qui dicitur saccr ignis, multorum lucmbra ad praecisionem, multorum corpora ducat ad mortem."

c. Alberici Chronic. Bouquet XII. 690:

«<IIoc anno 1109 multi sacro igne accenduntur, membris instar carbonum nigrcscentibns. Tres pla- gae tribns regionibus appropriari solent; Anglormn fames, Gallorum ignis, Xormannorum lepra. In

I

73

I. Das heilige Feuer.

terrilorio tarnen Belvacensi rarissime solet acciderc ])laga ignis, quod bcato Geremaro speeiali douo a Deo datum asserunt”

32) Short, of the air, weather etc. p. 108:

« The people over all England were afflicted with 6orc diseases, especially an epidemic Erysipelas where of many died; the Parts heing hlack and shrivelled up. »

33) Fodere 1. c.

34) Waterlosii Chr. Camerac. in Bouquet XIII.

p. 498. Mayer, Annal. Fl. L. IV. p. 45. Schnurrer I. p. 236. Mezeray, Hist.- de

Fi •ance II. p. 81. « Deux aunees consecutives de famine causees par Tinondalion des pluyes. M

35) a. Chronic. Sti Petri Viv. Senon. Bouqu. XII. 283:

« Anno 1128 invisibilis ignis plurimos depastus est in regno Francorum: cui morbo misericorditer meritum B. Dei Genetricis Mariae obviavit, prae- cipue in urbe Suessionis. »

b. Chronic. S. Stephan. Cadomens. ib. 780:

« Eodem tempore magnam multitudinem virorum et mulierum mortalitas, sacer ignis, quaedam pesti- lentia flegmatica, maximc in pago Carnotensi pro- stravit. »

c. Anselm us Gemblac. ibid. XIII. p. 269:

« Uoc anno ( 1129) plaga ignis divini Carnotum, Parisios, Suessionein, Cameracum, Atrebatam et alia multa loca mirabiliter pervadit; sed mirabilius per sanctam Dei genetricem Mariam extinguitur. Juvenes etenim, senes cum junioribus, virgines ctiam tenerae in pedibus, in manibus, in mamillis et quod gravi us est in genis exuruntur et celeriter extin- guuntur. »

d. Chronique de Cambrai. ib. XIII. 495:

«En cet temps la maladie du fu, qui vient de Dieu, fu moult griefs a Chartres, a Paris, a Sois- sons, ä Cambray, a Arras et par moult d’aultres lieux. »

e. Robert, alter ib. XIII. 328:

« Hoc anno multi de pago Suessonico sacro ignp accensi ad Ecclcsiam B. Dei Genetricis Mariae in civitate Suessotfum sitam convenerunt ibique paucis

74

I. Das heilige Feuer.

dich us salutem conscculi sunt, ita ut intra 15 «lies 103 nominatim ab hoc igne rcstinguereutur ct tres puellac distortac sauitati redderentur.

f. Hugo Farsitus, Libeli. de miraculis B. Mariae Suessionensis in Bouquet XIV. p. 234:

«< De cura ardentium. » Anno ab incarnatione Domini 1128, quo judicio Dei et quibus de causis intelligat, qui valet, concessa est potestas adversac virtuti plaga invisibili pcrcuterc homines diversae aetatis ct sexus in pago Sucssonicnsi, ita ut semcl succensa Corpora corum cum intolerabili cruciatu arderent usque ad exelusionem animae, nisi sola Dei inisericordia occurreret. Est autem morbus hic tabificus sub extensa liventi cute carncm ab ossibus separans ct consummens et rnora temporis augmenta doloris ct ardoris capiens per singula momenta co- git miseros inori ct tarnen desiderantibus mortem tantum remedium denegatur: donec j)rioribns depa- stis artubus celer ignis invadat membra vitalia, et quod minim est, ignis hic sine calore validus ad consummeodum tanto frigorc velut glaciali perfundit miscrabilcs, ut nuliis remediis possint calefieri. Item quod non minus est mirabile, ex quo divina gra- tia rcstinctus fuerit, fugato mortali frigore tantus calor in eisdem partibus aegros pervadit, ut morbus cancri cidem fervori persaepe se societ, nisi inedi- camentis occurratur. Horror est et infirmantes et rccens sanatos intueri et vcsligia mortis cvasae in corppribus corum et faciebus exterminatis oculis pererrarc. /

g. Holland i Acta Sanctorum ad diem 3. Januar, p.151:

« Hegnante Eudovico fortissimo Franciae rege flagellavit Dominus regnum Francorum (inprimis Pa- risios), ct membra, quae miscri homines exhibue- rant servirc iujustitiae cocpit morbus igneus consummere, quem physici sacrutn ignern appel- lant. Occurrunt morbo medici, artes et ingenia excitant, experimenta probant; sed haec omnia re- probantur; quia Digitus Dei erat. Sancta Gc- novefa autem tribus exceptis omnes male habentes numero centum sanat atque B. Virginis Sanctac Ma¬ riae auxilio multi curati 6unt. »»

h. Anonymus Bland in. in appendic. ad Sicgebert. in Bouquet XIV. 18.

«< Plaga divina Francos affligit, ignis scilicct vc-

I. Das heilige Feuer. 75

hementer corpora crucians. Pestilentia magna faela est animalium. »

Chronic. Lobiense Bouquet XIII. 582:

Hoc anno (1129) pestis igniaria in homines fuit et morticinium pecorum. Ozanam, 1. c. p. 170, dem ich die weitere Beschreibung dieser Epidemie in Flandern entnommen, nennt Mczcray als sei¬ nen Gewährsmann, und verlegt die Seuche des Jah¬ res 1128 unter Ludwig VII. Mezeray (Aus¬ gabe von Thierry, Par. fol. 1685. III. Tom.) er¬ wähnt aber des heiligen Feuers in dieser Periode, unter Ludwig VI. und VII., mit keiner Silbe, und Louis VII. bestieg erst 1137 den Thron. Ozanam scheint diesen groben chronologischen Ver- stofs dem Sau vages (Nosol. methodica. Ed. Ve- net. 4. 1772. T. I. p. 238.) nachgeschrieben zu ha¬ ben, und dort findet sich wohl auch die Quelle der Ozanamschen Beschreibung sie ist wunderba¬ rer Weise eine getreue Uebcrsetzung einer in Sau- vages citirten Stelle Friedr. Hoffmann’s, de Febre erysipelacea Num. 2., die aber durchaus nichts mit der Epidemie in Flandern* nichts mit dem hei¬ ligen Feuer zu thun hat, sondern nur die Aehn- lichkeit zwischen Rothlauf, das Iloffmann Ignis sacer nennt, und der Pest deduciren soll. H off¬ mann beginnt: Utrumque (sc. malum) enim cum horrore, aestu, delirio, virium prostratione , vehe- menti dorsi capitisque dolore invadit etc. Oza- narn aber: Le mal etoit characterise par des hor- ripilations suivies de chaleurs, delire, prostration des forces, douleurs vehementes ä la tote et aux reins etc.

Oz,anam 1. c. p. 169. Lothar II. herrschte von 1125 - 27, und vielleicht von derselben Epidemie sagt Königshoven Chron. von Strasburg II. p. 114, und Supplern. p. 424:

uBy diesen ziten kam eine grosse türunge durch alle lant und was also lange onc regen, das die hürnen und die fliessende Wasser vil bi alle ver- signet und die fruchte uf dem velde verdurbent und kam darnach ein übergrosser sterbet der men- schen und der thier heimisch und wild an zal. »

Nur stimmen die Angaben anderer Chronisten, z. B. Mezeray' s II. p. 81, über die Witterung der treffenden Jahre nicht mit der nigshofen’s

76

I. Das heilige Feuer.

überein; 6ic schildern 1126 28 sehr feucht und kalt.

38) Short 1. c. p. 115.

39) Chronic, ßritannic. Bouquet XII. p. 558. Wi 1- liclmi [Malm es hur. Hist. nov. ibid. XIII. p. 27. Wat erlös Chron. ib. p. 5U1.

*10) a. Anonymi Blandiniens. append. ad Siegbert. Bouquet XI V. 20:

«Plaga ignis divini mullos adussit, qui meritis B. Virg. Mariae salvati sunt.”

b. Chronic. Lobiens. Bouquet XIII. 5S2:

« IIoc anno pestis horrida ignis et gravissimac debilitatis in homines fuit.

c. Wat erlös, Chron. Camerac. in Bouqu. XIII. 501:

«Hoc anno (irrig 1142) plaga iguis divini He¬ rum multos adussit.

d. Ozanam I. c. p. 171.

41) Auct. Aflligcmens. Robert, de Monte. Bouquet XIII. 275. 290.

42) Kober tus de Monte I. c.

« Farnes pene inaudita tempore practerito, mor- talitas, saccr ignis humanum geuus et maxiinc pau- periores admodum vexat.

^J3) Waterlos, Chron. Camerac. Bouquet XIII. 506:

«Pestis etiam auimalium gravissima iu linguis corurn extitit, maxiine caballorum.

44) Villa Iba, Epidemiologia espannola I. 47:

«El fuego sacro rorria a manera de peste, aso- lando cl ducado de Lorrena por los annos 1IS0 «1c tal modo, que andaban los pobres enfcrinos por las calles, plazas y puertas de los tempios dando ala- ridos, porque cstc mal abrasador devoraba los micm- bros y entrannas, dexando muchas veges el exterior frio. Iba consumiendo el cuerpo hast» dexar solo la piel cardena 6 amortada pegada ä los huc- sos. Los enfermos se veian atormentados de dolores atroccs y alguna vez de convulsiones: sc les caiau las carnes gangrenadas y negras como un car- bon. Lcs npestaban horribilmente los miembros y abrasados de un fuego voraz deseabau la inuerte para alivio de 6us penas. »

77

I. Das heilige Feuer.

45) Ibid. Gil, conscrvacion de las viruelas. p. 85.

46) a. Primeira parte das Chronicas dos Reis do Portugal,

reformatas pelo Linceciado Duarde Nunnez do Liano. Em Lisboa, fol. miu. 1600. p. §0:

<( Ilouve tarn grandes invernadas alguns annos ct tarn desacosturnadas chuvas, assi pola perscvcraneia dellas como pola multidanö das agoas, que perde- rano as uovidades de pan, vinho, azeitc e fruttos de todo. Porque o pouco que licaba o comeo a grande multidanö de bichos, que nasciano como praga do ceo. Apos isto succedeo tamanba secca \ e quentura em tempos de Autumno e Inverno que nano podrano os homenes cultivar as terras.

Com estas trocas de tempos contra o curso natural sobreveo graude peste, principalmente na terra de Sancta Maria do Eispado do Porto, de que morreo tanta gcnte, que povancones grandes houve, onde nnno ficarano trespessoas. Na terra de Braya adoeciano honmnes e molheres de doen^as de tarn terrivel ardor e raivosa quentura que lhes parecia que lhes ardiano as entranhas e com raiva se co- miano a si mismos e morriano sin remedio.

Alem desso houve muitos annos tanta falta de man- timientos, que muita gente morria e os que viviano se sostentavano de hervas do campo, quando as achavano. »

b. Faria ySousa, Europa Portugueza. Lisb. fol. 1678.

T. II. p. 80.

u Padecieron los hombre's una enfermedad hor- renda, porque abrasandoseles las entrannas morian rabiendo. »

47) Schnurrer 1. c. p. 260. The burning plague.

48) Vicente Mut, Hist, del regno de Mallorca p. 34S

und 561. Villalba 1. c. p. 57.

49) Guillaume de Nangis, Cbroniques de France.

(Mscpt. Bibi. r. Par. Nro. 9622.) fol. 38 verso:

« L’an de grace ensuivant apres 1236 une famine mult tres grant advint en france et mesmenent eil Aquitaine si que les gens menioient les herbes des chans aussi comme bestes et valoit lors le sextier de ble C. s. en poitou et illeuc mult de gens peri- rent de famine et furcnt ars du saint feu. »

50) Schnurrer I. c. p. 288.

78

I. Das heilige Feuer.

51) Foder6, I. c. p. 45.

6*4) Villa Iba, Le. T. I. p. 57.

53) Chronicon Briocense (Mscpt. Bibi. 2. Paris. Nro.6003.) f. 102 verso:

«< Anno Domini 1347 Infirmitas Sancti Antonii, qui dicebatur an chilpas Britbonice. Auno Do¬ mini 1348 vero fuit magna ct generalis wortalitas per totuin orbem.

54) Fodere, I. c.

55) Ozanam, 1. c. p. 172.

56) Ibid.

57) Fragoso, de las apostemas p. 158.

58) Ozanam, I. c. p. 170.

C.) Zum zweiten Kapitel.

1) Raymond, Ifisloire de rEIephantiasis, contenant aussi rOrigine du Scorbut , du reu St. Antoine, de la Veröle ctc. Lausanne. 8. 1767. p. 115 17. k

2) Schnurrcr, Chronik der Seuchen. T. I. 278 u. a. a.O.

3) Mezeray, T. II. p. 6.9.

4) Vergleiche die Bemerkungen zum ersten Kapitel 31c.

5) Jouberti, Annotation, in Guidonis Cauliacensis chirurgiam magnam. Edit. Lugdun. 4. 1585. p. 473.

6) Siche Einleitung. Nota 29.

7) Morbus cancri wurde nach Guy v. Chauliac’s Zcug- nifs (Tract. II. Doct. II. C. II.) von mehren Aerzten des Mittelalters (Theodoricu9, Lanfrancus und Henricus) als synonym mit Esthiomenus gebraucht, und Lanfrancus sagt ausdrücklich: Ilerpetem esthio- nicnuin quidam vocant Cancrum, quidam Lupum, qui- dam (ut in Francia) malum nostrae Dominae: qui¬ dam vero Lombardorum, vocant ignem Sancti Anto¬ nii: quidam erysipelam manducantem. Vielleicht, dafs auch Ilugo Farsitus in diesem Sinne Morbus eaneri für Gangraen setzte, und dafs die allegirte Stelle, die auf keinen Fall auf den Krebs unserer Tage zu beziehen sein möchte, sich dahin erklärt, dafs auch dann noch, wenn die Wärme der befallenen Theile wiederkehrte, Brand eiutrcteu konnte.

I

79

I. Das heilige Feuer.

8) Krause (S. 106) will in dem Ausdrucke « nervo- rum contractione distorti » keine Krämpfe, sondern die bei Variola vorkommenden Contracturen erken¬ nen; allein schon die Beisätze in den Chroniken zeigen an, dafs die Leidenden von schmerzhaften Zusammenziehungen der Nerven (Krämpfen) gequält wurden ( cruciahantur, torquehaniur ) , uud dafs also wohl nicht von den schmerzlosen, nur durch Unbe¬ weglichkeit ausgezeichneten Residuen der Blattern die Rede sei.

9) Tres plagae tribus regionibus appropriari solent; An- glorum farnes, Gallorum ignis, Normannorum lepra. In territorio tarnen Belvacensi (Beauvais) rarissime solet accidere plaga ignis. Alberici Chronic, in Bouquet XII. 690.

10) Mayer, Annal. Flandr. Vergl. die Bemerkun¬ gen zum ersten Kapitel 20 und 23.

D.) Zum dritten Kapitel.

1) Beiträge zur Geschichte des Petechialtyphus, tnaugu- raldissertation von C. Pfeufer. Bamberg. 8. 1831. p. 13.

2) Vergleiche Aug. Kraufs, Disquisitio historico-me- dica de natura morbi Atheniensium ä Thucydide de- scripti. Stuttgart. 8. 1831.

3) Euagrii, Scholast. histor. eccles. L. IV. C. 29.

4) Ihid. «To 7rctS-os £K (ri]fZ.OCTülU CTMlxetTO. -

* A ' V ~ t . / >1 " V >

T Avrto^ov 7rgo 5 Tls^truv (tÄov treertv vcmgov ovoy 7rct&o$ i7re^t)/U)}a-£ AotpJfog , tv Ttcri fx\v erv f.t(f)£^o pivov toi V7TO QoVKt^l^OV y^CttptVTl 7 tv Ttcri £g CToXXm ^ICCX&TTOV KCc\ AiS-tocrlccg. »

5) Was sind 40,000 Todte im südwestlichen Frankreich, was 14,000 in Paris, gegen die Sterblichkeit einer Krankheit, die nach Hecker’s Berechnung in der grofsen Epidemie des 14ten Jahrhunderts den vierten Theil der Bevölkerung von Europa, und nach 1598 in Portugal 1,500,000 Menschen hinwegralTte, durch deren Verheerungen die Population Würtembergs, die im Jahre 1634 noch 313,002 Seelen zählte, bis 1639 auf 61,527, uud bis zum Jahre 1641 seihst auf 48,000

80

I. Das heilige Feuer.

schwand; der 16*18 in Andalusien 200.000, 1708 zu Danzig 24,533, 1720 in der Provence über 100,000, und 1771 zu Moskau uoch über 70,000 Menschen er¬ lagen, u. 8. w.

E.J Zum vierten Kapitel,

1) Sau vages, Nosologia mclhodica. Ycnct. 4. 1772. Tom. I. p. 238.

2) Ilcnslcr, Geschichte des abendländischen Aussatzes, p. 213.

3) Krause, über das Alter der Menschenpocken, p. 160. n. s. f.

4) Vergl. Bemerkungen zum ersten Kapitel, No. 20. c.

5) Bemerkungen zum zweiten Kapitel, No. 7.

6) Bemerkungen zur Einleitung, No. 28.

7) Vergl. Tozzi Commenlar. in Aphorism. II i ppocra t. in ejusd. Oper. T. II. CI. III. Patav. 1711. 4. Lib. VII. Apbor. XX., und Andere.

F.J Zum fünften Kapitel.

1) Bäte mau, Th., Darstellung der Hautkrankheiten. Uebers. voa Sprengel, p. 215 et scq.

2) Cfr. Ozanam T. IV. 322.

3) Ibidem.

4) Vergleiche J. Lind, Abhandlung vom Scharbock. Th. I. Kap. 3.

5) Tissot, Traile des nerfs Tom. 3. part. II. p. 257.

6) Raymond, Ilistoire de TEIephantias. etc. p. 115.

7) Read, Traite du scigle ergote. 1771.

8) Tessicr, in Memoires de la Societc royale de uu> decine. T. I. CI. II. p. 687.

9) Journal des S^avants. T. IV. p. 69. Annee 1676.

10) Ibidem.

11) * Histoirc de l’Acad. r. de Sciences. Annee 1710. p. 61.

12) Ada

II. Leichenbefund bei der Cholera.

81

12) Acta Eruditorum aano 1718 publicata. p. 309.

13) Fodere, 1. c. p. 35. s

14) Memoires de l\Academie roy. de Sciences. Annee 1748. p. 528.

15) Memoires presentes ä l’Acadcmie royale de Sciences.

T. II. p. 155.

16) Journal de Medecine. 1762. p. 427. 396. 504.

17) Raulin, Observ. de Medecine. Par. 1754. p. 320.

18) Pbilosophical Trausactions. T. LII. p. 523 et 584.

19. Read, Traite du seigle ergote. 1771.

20) Tessier, Traite des maladies des grains, in Me¬ moires de la societe roy. de Medecine. T. I. et II. p. 687.

21) Vergleiche O zanam und Fodere, 1. c.$ auch Orfila, Toxicologie. Tom. U. 462.

II.

Ueber^den Leichenbefund bei der orienta¬ lischen Cholera. Von Dr. P. Phoebus, vor¬ maligem Prosector am Charite -Krankenhause, Pri- vatdocenten an der Friedrich- Wilhelms -Univer¬ sität und praktischem Arzte, Mitgliede des Vereins für Heilkunde in Preufsen und der medicinisch- chirurgischen Gesellschaft zu Berlin. Berlin, bei August Hirschwald. 8. VII u. 340 S. (lThlr. 18 Gr.)

Bei der grofsen, kaum übersehbaren Masse vorhande¬ ner Beobachtungen der Aerzte über den Leichenbefund der an der Cholera Verstorbenen, bei den höchst divergiren- den Angaben über diesen Punkt, die so oft Resultate theils flüchtigen Anschauens, theils kritiklosen Zusammenraffens alles ungewöhnlich Bemerkten, theils gänzlicher Unkunde der Anatomie sind: war es wol wünschenswcrth, dafs des Band 28. Heft 1. 6

II. Leichenbefund

82

vielfach gcmifshandcltcn und doch hochwichtigen Gegen¬ standes Einer sich annähmc, der durch gründliche Kennt- uifs der normalen und abnormen Verhältnisse des mensch¬ lichen Körpers zum Untersuchcr berufen, die ihm dazu gewordene Gelegenheit eifrig benutzt hatte, und mit den fremden Lcistuugen vertraut, diese den reichen Resulta¬ ten vielfacher eigener Beobachtung gegen Überzugtellen im Stande war. Keiner vereinigte wol diese Eigenschaften in dem Maafsc in sich, als der geschätzte Verfasser vor¬ liegender Schrift, die uns die Resultate von 81 sorgfältig aoccstellten Sectioneu bietet, mit denen die Sectionsbe- fundc fast aller bis einschliefslich des Jahres 1831 und mehrer später öffentlich aufgetretenen Choleraärzte ver¬ glichen sin<l. Da der Verfasser mit Recht es vorzog, seine Arbeit nicht länger dem ärztlichen Publikum vorzucnthal- ten, um jetzt, wo noch Zeit zur Untersuchung ist, den Gewinn wie den Ölangel zu zeigen, so konnte er die iu den letzten Jahren in grofser Menge erschienenen Cholera¬ schriften Audcrcr für seine Arbeit nicht mehr beuutzen, die daher, so überaus werthvoll sie ist, nach des Au¬ tors eigenen» Ausspruche, ihren Gegenstand nicht erschöpft, und auf Vollständigkeit keinen Anspruch macht. Das dem Verfasser Eigene bildet sehr zweckmäfsig den eigentli¬ chen Text des Buches, dem das Fremde cutweder refc- rirt oder kritisirt in Noten gegenübersteht. Uebcr dea Verlauf der Krankheit und ihre Dauer bei dem Subjccte, von welchem die Rede ist, und selbst über die ihm gewor¬ dene Behandlungsvveise, finden sich meist kurze, doch genügende Angaben; das die Nachstadieu betreffende ist zweckmäfsig gesondert.

Im cr8tca Kapitel schildert der Vcrf. das Verhalten des Gefafssyslemes in Choleraleichcn : Zunächst verweilt er bei dem Blute selbst, das überall, in den äufsercu, wie in den inneren Theilen, in den Arterien, wie iu den Ve¬ nen sehr reichlich gefunden ward. Am auffallendsten war zwar immer der Blutüber/lufs in den Cculralorgaucn, dcu

bei der Cholera.

83

Eingeweiden, aber auch in den peripherischen Organen und bis in die Spitzen der Extremitäten war im Ganzen einiger Blulüberflufs unverkennbar. Wo man auch an den Extremitäten einschnitt, ergofs sich, sowol in der Haut und dem Zellgewebe, als in den Muskeln und den Knochen, aus den kleineren, und mehr noch aus den gröfseren Gefäfsen, mehr Blut, als gewöhnlich. Viel stär¬ ker und gleichmäßiger, als bei den meisten anderen Lei¬ chen, zeigte sich immer das ganze Arteriensystem von den gröfsten Stämmen bis in die feinsten, fast capillaren Aest- chen angefüllt. Das Blut selbst war immer sehr dunkel, so dafs es da, wo es in gröfseren Massen angehäuft war, fast schwarz, wenn man es aber in sehr dünnen Schich- tnn betrachtete, z. B. wenn man etwas davon auf die Haut des Leichnams schmierte, ungefähr von der Farbe einer Heidelbecrsuppe erschien. Es war dickflüssiger, zäher, als gewöhnlich, so jedoch, dafs es sich einigermaafsen in zwei Theile sonderte, einen mehr flüssigen, und einen mehr halb geronnenen, grumösen, kleine, Senfkorn- bis Bohnen- grofse Klumpen bildenden. Die Farbe dieser beiden Theile war dieselbe; sie fanden sich auch immer neben - und durch¬ einander in demselben Gefäfs. Zugleich zeigte das Blut eine Neigung zum Absetzen von Gerinnseln, welche ent¬ weder blofs aus Fibrine, oder viel häufiger aus Fibrine an der oberen und einem sehr schwarzen Cruor an der un¬ teren Seite bestanden. Die Fibrine in diesen Gerinnseln pflegte etwas mehr gelblich und weniger hell gefärbt zu sein, als wol sonst. Diese Gerinnsel fanden sich vorzugs¬ weise in den gröfsten Gefäfsen und im Herzen. Diese Ei- genthümlichkeiten des Cholerablutes zeigten sich sowol in dem Blute der Arterien, als in dem der Venen, in dem Blute des grofsen, wie des kleinen Kreislaufes. Häufig fanden sich kleine Luftblasen im Blute, welches durch sie mehr oder weniger schaumig erschien, ohne dafs die Lei¬ chen in Fäuluifs übergegangen waren. Sie waren kleiner, zahlreicher, dichter, als die Luftblasen, welche man nicht

6 *

84

II. Leichenbefund

sollen bei Sectioneu, besondere in den Venen findet. Der Vcrf. vermut bet, dafs sieh die Luft schon im Lehen ge¬ bildet habe, und wirft die beachtenswerte Frage auf: ob diese im Blute enthaltene Luft vielleicht kohlcnsaurcs Las sei. Häufig fanden sich Kcchymosen im subscröscn Zell¬ gewebe, unter dem serösen Ucberzuge des Herzens, zwi¬ schen der Aorta und dem Herzbeutel, zwischen der ab¬ steigenden Brust -Aorta und den Pleuren, zwischen der Rippenpleura und den Brustwänden, an der Oberfläche der Lungen, mehrmals an verschiedenen Stellen in einer Leiche. Wie es scheint, bilden sich die Ecchymosen auf der llölie der Krankheit, und bestehen dann eine Zeitlang fort, ehe sie resorbirt werden. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen schildert der Verf. specicller die einzelnen Organe rüe.keichtlich ihres gröfseren oder geringeren, wirk¬ lichen oder scheinbaren Blutreickthums.

War die eigentliche Cholera schon in Nachkrankhei¬ ten übergegangen: so fand sich das Blut immer mehr oder weniger zu seiner gewöhnlichen Farbe und Consislcnz zu¬ rückgekehrt.

Wie alle Theile des Körpers, erschienen auch die Ge- fälswandungen injicirt, und ihre Arterien und Venen merk¬ lich ar »gefüllt Die inneren, und namentlich die innerste Haut der Gcfäise, boteu nie Veränderung dar. Mehrfach angestellte künstliche Injectionen der Gefalse bewirkten häufig Extravasate aus kleineren Gcfafsen, und scheinen durch ihre Ergebnisse überhaupt darauf hinzudeuten, da& nicht hlofs die gröfseren, sondern auch die feineren und feinsten Verzweigungen des Artericnsystcmes ungewöhn¬ lich mit Blut gefüllt sind. Der Ductus thoracicus wurde fast immer leer, und auch sonst unverändert gefunden, nur in drei l allen war er stark zusammengezogen. Leer waren auch die Saugadern des Gekröses, dessen Drüsen uur iodividuclie Verschiedenheiten darboten.

Das nächste Kapitel ist der Schilderung des Befundes am Nervensystem und an den Siuucsorgaueu gewidmet

bei der Cholera.

85

Weder im Gehirn, noch im Rückenmark, noch in den von ihnen ausgehenden Nerven, noch im Gangliennerven- systerne fand Phoebus aulscr der allgemeinen Injection, welche sich in diesen Theilen, wie iu alleu weifsen pa¬ renchymatösen Organen ausspricht und nur bisweilen in ihnen verkältnifsmäfsig stark auftritt, irgend eine constante, für d ie Cholera charakteristische Veränderung. Bemer¬ kens werth ist der Umstand, dafs in dem sogenannten ty¬ phösen Nachstadium, wo der Zustand der Kranken auf eine Blutstagnation schliefsen läfst, diese meist gänzlich vcrmilst ward, dals sich dagegen in diesen Fällen mehr Wasser in den Höhlen und zwischen den Membranen fand. Sehr genau ist der Verf. in der Schilderung der Eigen¬ tümlichkeiten, die unter den Sinneswerkzeugen nament¬ lich das Auge darbot.

Im dritten Kapitel wird das Muskelsystem betrachtet. Oie Muskeln des animalischen Lebens wurden gewöhnlich mäfsig dunkel gefunden; sie participiren an der allgemei¬ nen ßiutinjection, und haben in dieser Hinsicht auch durch¬ schnitten dasselbe Ansehen, w7ie andere dunkel gefärbte parenchymatöse Organe. Die Leichenstarre tritt bei den eigentlichen Choleraleichen ungemein früh ein, wol immer spätestens in den ersten Stunden nach dem Tode. Sie ist aufserordentlich stark, und dauert ungewöhnlich lange. Die Stellung der Leiche entsprach immer der Steilung im letzten Augenblicke des Lebens, ein Beweis, dafs die der Leichenstarre zum Grunde liegende Muskelcontraction in gleichem Maafse in allen locomotiven Muskeln statt hat. Diese Erscheinungen im animalischen Muskelsystem treten in den Leichen allmälich um so mehr zurück, je länger die Krankheit dauerte; doch sind namentlich die Eigen- thümlichkeiten der Leichenstarre in den ersten Tagen der Nachkrankheiten noch meistens deutlich ausgesprochen.

Im vierten Kapitel wird das Verhalten des Zellgewe¬ bes und der verschiedenen Membranensysteme erörtert, wo sich der Verf. zunächst gegen die angeblich vorhandene

86

II. Leichenbefund

Trockenheit der äufscren Haut und der Schleimhäute er¬ klärt. Dagegen bieten unter den serösen Häuten mehre, namentlich die Pleura, das Bauchfell und der Herzbeutel den gewöhnlichen Grad der Feuchtigkeit und die gewöhn¬ liche Menge des Secrclcs nicht dar. Durchgängig trocken war auch das Zellgewebe, sovvol das atmosphärisahe, als das organische selbst bis in die Nachstadien hinein. Charakteristisch ist auch die früh cintretcndc Austrock¬ nung der Coujunctiva und Sclerotica. Auffallend ist der Collapsus des Zellgewebes, welcher sich in den äufscren Theilen dadurch kund gibt, dafs die Haut für die unter ihr liegenden Weichtheile zu weit erscheint, an mehren Stellen Runzeln bildet, und dafs die Weich¬ theile scharf und eckig unter ihr hervortreten. Die nach dem Tode sich findende gewöhnliche violette Färbung der äufscren Haut tritt bei den eigentlichen Choleralcichcn früh, stark und 6ehr verbreitet ein. Bei den in den Nachsta¬ dien Gestorbenen tritt sie in demselben Maafse zurück, als die qualitative und quantitative Rückbildung des Blutes von der cholerischen Beschaffenheit zur gewöhnlichen er¬ folgt ist. Die von Mehren gemachte Bemerkung, dafs Hautreize bei Cholerakranken viel weniger, als bei ande¬ ren wirken, kann der Verf. in so fern bestätigen, als er an den Leichen in der Regel nur unbedeutende, oft gar keine Spuren derselben fand.

Der Gegenstand des fünften Kapitels ist das Verhalten des Herzens in Cbolcraleichen. Es wurde gewöhnlich in seinen beiden Hälften, mehr jedoch in der rechten, von Blut stark ausgedehut gefunden, das die oben angegebe¬ nen Eigenthümliclikcitcn zeigte. Bei den in den Nachsta¬ dien Gestorbenen war die Anfüllung im Ganzen weniger stark, bisweilen sogar die linke Herzhfilfte fast leer.

Der Schilderung der Respirationsorganc in den Cho- leraleichcn ist das sechste Kapitel gewidmet. Die Lungen zeigen die allgemeine Blutüberfüllung der parenchymatösen Organe. Am Acufsercu der Lungen, so wie in ihrem Luft-

bei der Cholera.

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gehalt, wurde keine bemerkbare Verschiedenheit wahrge¬ nommen. Die in anderen Leichen so häufige starke An- f ü Hang der Lungen mit einem schaumigen und mehr oder weniger blutigen Serum, einem Residuum kurz, vor dem Tode cingetrctener Congestion , in Folge welcher die stark ausgedehnten Lungen bei der Eröffnung der Brust nicht zu¬ sammenfallen, hatPhoebus bei den eigentlichen Cholera¬ leichen nie gefunden. Die Schleimhaut der Bronchialästc ist gewöhnlich mäfsig, capilliform injicirt; sie ist feucht, oder es lindet sich auch wol eine geringe Quantität schau¬ migen, bisweilen grünlichen Schleimes auf ihr. Der Verf. bestreitet die oft vorgetragene Ansicht, als ob mit Lun¬ gentuberkeln behaftete Individuen selten oder gar nicht von der Cholera befallen worden wären. Die Schleim¬ haut des Kehlkopfes und der Luftröhre verhielt sich wie die der Bronchialäste, nur dafs sie, wo die letztere be¬ sonders stark injicirt und dunkel gefärbt war, es weniger zu sein pflegte. Schilddrüse und Thymus zeigten die all¬ gemeine charakteristische Blutüberfüllung. Die geschilder¬ ten Erscheinungen in den Respirationsorganen und ihren

i . ^

Annexen erhielten sich auch in den iSachstadieu der Cho¬ lera so lange, als die übrigen charakteristischen Ergebnisse des Leichenbefundes.

Mit den Digestionsorganen beschäftigt sich das sie¬ bente Kapitel. Im Munde und Rachen fanden sich aufser der allgemeinen Injection, auch einigemal die gröfseren Schleimbälge an der Wurzel der Zunge ungewöhnlich grofs. Die Speiseröhre pflegte mehr oder weniger ange¬ füllt zu sein, oft sehr stark. Falls nicht Arzeneien dem Innern der Speiseröhre eine accidentelle Färbung gaben, pflegte dasselbe bei den eigentlichen Choleraleichen von einem charakteristischen, matt- weifsröthlichen Teint zu sein, welches wol von einer Veränderung des Epithelium herrührte; denn wo dieses sich stellenweise abgelöset hatte, erschien die Schleimhaut duukler und mehr roth gefärbt. Bei den in den Nachstadien der Cholera Sterbenden scheint

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IL Leichenbefund

jene blasse, wcifsrötblicbe Färbung allmälich aufzuhören und einer dunklereu Platz zu macken. l)ie Injection der Speiseröhre ist die allgemeine des ganzen Körpers. Die Schleimfollikeln fanden sich bisweilen stark entwickelt. Magen und Darmkanal sind unter allen Thcilcn des Kör¬ pers die einzigen, welche nicht nur die allgemeine passive Blutüberfüllung in höherem Grade, sondern auch aufscr- dem, wenigstens Stellenweise, eine unzweideutig active zeigten. Schon äufserlich war, namentlich ain Dünndarm und besonders am unteren Theile desselben, die allgemeine Injection der Venen und Arterien auffallend stark, weni¬ ger anj Magen und Dickdarm. Aufser den unterscheidba¬ ren gröberen und feineren Geiafsvcrzvvcigungcn, sah mau noch ain Dünndarm einen rotheu Farbenton, welcher bald heller, bald merklich dunkler rolh war, bald einen Stich ins Bläuliche, selleu io andere Farben zeigte. Magen und Dickdarm dagegen erschienen weit weniger verändert, bald mehr bläulichgrau, bald, in dcu intensiveren Fällen und hei etwas stärkerer Injection, mehr bräunlichgrau, rauch¬ grau. Namentlich zeigte der Dickdarm häufig kaum eine Abweichung in Injection und Farbenton. Hatten die Lei¬ chen etwas länger gelegen, so traten ähnliche Farbenän¬ derungen ein, wie sie auch in anderen Leichen als eines der ersten '/.eichen der stärker vorschrcitendcn Fäulnifs er¬ scheinen. Magen und Darmkanal waren im Ganzen ge¬ wöhnlich stark ausgedehnt, und zwar in solchen Fällen, wo die Kranken einer höchst iutensiven Cholera erlagen, ehe es noch recht zu den charakteristischen Ausleerungen durch Stuhlgang und Erbrechen kam, hauptsächlich von Flüssigkeit, sonst doch gewöhnlich von Flüssigkeit und Luft, selten waren sie mehr leer und zusamincugezogco. Nur der Dickdarm fand sich häufig in Fällen verschiede¬ ner Art grofsenlkeils leer und zusammengezogen; war er ausgedehnt, so pflegte dies mehr die Luft zu sein. Nicht selten war er Stellenweise ausgedehnt, und an anderen Stellen zusammengezogen. Besonders häufig fand sich eine

bei der Cholera.

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starke Zusammenziehung beim Mastdarm. Der Dünndarm war sehr ausgedehnt, und erfüllte namentlich den Raum des kleinen Beckens oft zum gröfsten Theile. Im Innern des Magens und Darmkanales fanden sich sehr gewöhnlich ganz gleiche Massen, wie sie bei Lebzeiten durch Erbre¬ chen und Durchfall entleert wurden. Man überzeugte sich in solchen Fällen, wo die Kranken starben, ehe diese Mas¬ sen von der Stelle ihres Ursprunges entfernt wurden, leicht, dal's sie im Dünndarm vorzugsweise oder ausscldiefslich ihre Quelle haben. Im Magen fand man in solchen Fäl¬ len, wo die Kranken starben, ehe es zum Erbrechen kam, oft halb verdaute Ueberreste von Speisen und Getränk. Selten fanden sich im Dickdarm noch Ueberreste gewöhn¬ licher Fäces. Nicht selten dagegen fand man im Wurm¬ fortsatz, selbst wenn die Cholera schon einige Tage ge¬ dauert hatte, noch ein sehr geringes Residuum gewöhn¬ lichen Darmkothes. Würmer, die sich nicht selten fan¬ den, gaben kein Lebenszeichen, auch wenn die Leichen noch sehr frisch waren. Im Inneren des Magens und Darm¬ kanales bemerkte man zunächst dieselbe Injection, wie an der äufseren Fläche. Hierzu aber tritt im Magen fast im¬ mer, sehr oft auch im Darmkanale, Stellenweise noch eine Injection der Schleimhaut selbst. Während jene dem Unterschleimhautzellgewebe angehörende Injectien neben feineren und sehr feinen Zweigen auch gröbere in mehr baumförmiger Vertheilung zeigt, auch Venen und Arterien unterscheiden läfst, bietet diese, der Vascularität der Schleimhaut entsprechend, nur feinere und sehr feine Ver¬ zweigungen in mehr netzförmiger Vertheilung dar, und man kaun nicht mehr zweierlei Gefäfssysteme unterschei¬ den. Es wird aber diese eigentlich mucöse netzförmige Injection nicht selten stellenweise so reich und dicht, dafs man auf den ersten flüchtigen Blick, besonders wenn man den Darm nicht nahe ansieht, rothe Punkte, Streifen und Flecke zu bemerken glaubt; und die einzelnen feinen Ge- fafse, welche sie bilden, übersieht. Die Röthe an den

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II. Leichenbefund

nuf diese Weise injicirtcii Stellen ist nach weniger inten¬ siven, aber auch nach 7,11 rasch tödilieh gewordenen Krank¬ heitsfällen mehr blafsroÜ», nach intensiven und zugleich gehörig zur Entwickelung gekommenen Fällen bei reiche¬ rer Aufüllung der Gcfiifse mehr lebhaft und intensiv roth, nach höchst intensiven, so wie nach älteren Fällen mehr dunkelroth. Diese Injcction bekundet sich nicht bloi's durch ihren Sitz in der Schleimhaut selbst, sondern auch durch ihr mehr oder weniger partielles, oft auf sehr kleine Stellen beschränktes Vorkommen, an nicht abhängigen eben 8ovvol, als an abhängigen Stellen, dadurch dafs die ihr angchörigen capillifornien Verzweigungen weniger offen¬ bar mit den Verzweigungen der submucösen Injeetion Zu¬ sammenhängen oder doch in einem Grade entwickelt sind, welchem die der Stelle nach entsprechende submucöse In- jection nicht gleichkömmt, so wie dadurch, dafs fast im¬ mer gleichzeitig die Cousistcnz der Schleimhaut an diesen Stellen verändert ist, unzweideutig als eine activc, falls anders unsere Wissenshaft irgend so weit gediehen ist ^ eine active Injcction im Dannkanale vou einer passiven unterscheiden zu können. Diese Injcction findet sich im Magen sehr constunt und meistens sehr verbreitet, oft den bei weitem gröfsten Tbeil der inneren Oberfläche einneh¬ mend; wo sie partieller vorkömmt, sind die Stellen, an welchen sie erscheint, nicht immer dieselben. Nicht sel¬ ten setzt sie sich aus dem Magen noch auf eine Strecke des Duodenum fort, während sic im übrigen Darmkanalc nicht za finden ist. Im Darmkanale ist sie bei weitem nicht so coustant, als im Magen, und kömmt auch mei¬ stens nur an vcrhältnifsmäfsig geringen und wenig zahlrei- eben Stellen vor. Eine Ausnahme hiervon machen am häufigsten diejenigen Individuen, welche im Lehen blutige Stuhlgänge hatten; hei dieseu findet sie sich 6ehr gewöhn¬ lich in gröfserem Umfange, und zwar, sowol was die Häu¬ figkeit, als was die Ausdehuung betritft, vorzugsweise im Dünndarm; uicht selten erreicht sie hierbei einen uuge-

bei der Cholera.

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wohnlich hohen Grad, bisweilen färbt sich sogar die ganze Schleimhaut oder selbst alle Darmhäute durch uud durch blutroth. Die blutgefärbten Massen selbst, die sich im Darmkanalc finden, haben übrigens nichts Eigentümliches und Charakteristisches, sondern es sind, je nach dem Ver¬ laufe des Krankheitsfalles, bald die eigentümlichen cho¬ lerischen, bald mehr fäcale Massen, bald nur eine den Darm Wandungen adhärirende schleimig -viscide Schicht, und den einen, wie den andern, ist nur accidentell I31ut beigemischt, aber so wenig, dafs man es nicht mehr als solches, sondern nur durch die Farbe, die es den Massen gibt, erkennen kann.

Die blutige Färbung der Darmcontenta fand sich so- wol bei auf der Höhe der Krankheit, als auch bei im ty¬ phösen Nachstadium Gestorbenen, und zwar bei den letz¬ teren häufiger in beträchtlichem Grade. Phoebus fand sie schon nach einer 6*~stündigen, und noch nach einer fünftägigen Dauer der Krankheit. Die stärkere lujection auf der Innenfläche des Darmkanales und Magens und die damit zusammenhängende blutige Färbung der Häute kam zwar vorzugsweise, doch nicht ausschliefslich in Verbin¬ dung mit der blutigen Färbung der Contenta vor, war vielmehr häufiger als diese, Der Verf. fand nicht blofs bisweilen hier und da in der Schleimhaut des Magens und Darmkanales einzelne kleinere Stellen gleichmälsig dunkel- roth oder braun gefärbt, ohne unterscheidbare Gefäfse, bis¬ weilen eiuigermaafsen an Ecchymoscn erinnernd, sondern er fand auch jene Veränderungen in gröfserer Ausdehnung, ohne dafs im Leben etwas von blutiger Färbung der Ex¬ cremente angemerkt worden, oder bei der Section wahr¬ zunehmen gewesen wäre. Die blutige Färbung der Darm¬ contenta ist also die zwar gewöhnliche, aber nicht noth- wendige, und deshalb nicht ganz constante Folge der acti- ven Hyperämie, wenn diese einen höheren Grad erreicht hat. An den mucös injicirten Stellen ist die Schleimhaut gewöhnlich aufgelockert, verdickt, weniger durchscheinend:

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II. Leichenbefund

in manchen recht intensiven Fällen sogar durchgängig, ob- wol in geringerem Grade, häufiger blofs im Magen. In manchen intensiven Fällen erscheinen auch die Häute des Magens und Darmkanales im Allgemeinen etwas erweicht und leicht zcrrcifsbar. I)ic Scblcimfollikeln des Magens und Darmkanalcs erscheinen im Allgemeinen grols; weni¬ ger die des Magens, als die Brenner sehen Drüsen, die solitären Drüsen des Krumnidarms und Dickdarms, und die Pey ersehen Drüsen. Die Mündungen der Dickdorm- drüseu, unter welchen sich meistens die des Wurmfort¬ satzes durch ihre Entwickelung besonders auszcichncu, pfle gen stark zu klaffen, weniger deutlich die der andern. Bisweilen sind in einer Peyerscben Drüse nur einzelne Krypten stark entwickelt, die übrigen mehr oder weniger undeutlich. Von den solitären Drüsen linden sich nament¬ lich die des Dickdarmes an ihrem Umfange bisweilen mit einem aus haarförmigeu Getafsvcrzweigungcn gebildeten, schmalen Injectionsringc umgeben, seltener die im Krumm¬ darme. Auch die Peyerscben Drüsen zeigen bisweilen um ihren Gesammt umfang einen schmalen, nicht immer vollständigen Injectionskranz. Die Oberfläche der Pey er¬ sehen Drüsen participirt oft, nicht immer, in den Inter- stitien zwischen den einzelnen Krypten an der allgemei¬ nen submucösen oder mucösen Injection der Stelle des Dar¬ mes, welcher sie angeboren. Da die Peyerscben Drü¬ sen stark entwickelt sind, so werden selbst die kleineren unter ihnen, welche bis in die obere Hälfte des Dünndar¬ mes hinaiifgehen, deutlich.

Nachdem die Entwickelung der Darmdrüsen etwa am zweiten Tage ihr Maximum erreicht hat, bilden sie sich in den Nachstadien der Cholera allmälich zurück. Die Zotten sind im Allgemeinen stark entwickelt, besonders im Krummdarm. Sie sind meist mattvveifs gefärbt, und nehmen nur accidcntell durch die Couteula des Dünndarms bisweilen eine andere Farbe an, welche sich aber dann in der Kegel leicht abwascheu lälst. Sie zeigen sich auch

93

bei der (Cholera.

auf der Oberfläche de? Pey ersehen Drüsen, in den Inter- stifien der Krypten, stark entwickelt. Dreimal fand Plioe- hus bei Choleraleichen, von denen jedoch eine dem ty¬ phösen Nachstadiurn angehörte, Darminvaginationen. Was die Nachstadien betrifft: so erhält sich die äufsere und in¬ nere, suhmucöse und mucöse Injection lange; die mucöse scheint sogar nebst der von ihr hervorgerufenen blutigen Färbung des Darmkanals ihr Maximum gewöhnlich erst im typhösen Nachstudium zu erreichen. Die gesammte Inje¬ ction wird, wie auch der Grundton der äufseren und in¬ neren Färbung des Magens und Darfnkanalcs, bei ihrer Abnahme allmälich dunkler und schmutziger, bis endlich Beides, Injection und Grundton, wieder in das normale Ansehen übergeht. Die aufgetriebenen Schleimfollkeln tre¬ ten allmälich wieder zurück. Die Coutenta des Dünu- darms und Dickdarmes nähern sich, von der blutigen Fär¬ bung abgesehen, in Ansehen und Geruch wieder der ge¬ wöhnlichen Beschaffenheit- der Fäces, werden auch allmä¬ lich wieder consistenter.

Sowol auf der Höhe der Krankheit, als in den Nach Stadien, hat Phoebus nicht selten deutliche Zeichen von Gallenergiefsung im Zwölffingerdarm, und oft auch noch tiefer herunter, im Duodenum gesehen. In vier Fällen fand sich bei im typhösen Nachstadium Gestorbenen be¬ ginnende Geschwürbildung in der Schleimhaut des Dick¬ darms. Die Leber zeigte die allgemeine Blutüberfüllung, wie sie sich in allen parenchymatösen Organen ausspricht. Die Gallenblase findet sich bei den auf der Höhe der Krank¬ heit und bei den in den Nachstadien Gestorbenen biswei¬ len mäfsig, bisweilen auch stark angefüllt von einer in der Regel etwas dunkleren Galle. In den Gallengängen fand sich auch nicht die geringste Abnormität. In den Gallen¬ gängen im Innern der Leber findet sich in allen Stadien der Cholera gerade eben so viel Galle, als gewöhnlich in anderen Leichen, von derselben intensiv hellgelben Farbe. Galleustcine finden sich in Choleraleichen verhältnifsmäfsig

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11. Leichenbefund

eben so selten, als Lungentubcrkcln. In der normal so blutreichen Milz kann sich eine mäfsige Blutüberfüllung nicht bemerklich machen; unter allen Organen des Kör¬ pers bietet sic daher am wenigsten Charakteristisches dar. Phoebus fand sechsmal die von Malpighi beschriebenen weifsen Körnchen in grofscr Menge durch die Milz zer¬ streut, von der Gröfsc eines müfsigen Stecknadelknopfcs, und kleiner, so dafs sic beim Hcraushebcn mit der Mes¬ serspitze zerflossen. Das Pancreas zeigt die allgemeine Blutüberfüllung und das Ansehen deiumchr weifsen, paren¬ chymatösen Organe.

Gegenstand des achten Kapitels sind die Harnorgane. Die Nebennieren zeigen die allgemeine Injection der pa¬ renchymatösen Organe. Eben so die Nieren. Sehr schön sieht man gewöhnlich die Nieren an ihicr Oberfläche in Gestalt unregelmäfsiger Sterne blau injicirt. Ibr Inneres erscheint dunkel, und zwar, dem normalen Verhalten ent¬ sprechend, die Marksubstanz mehr als die Rindensubstanz. Das Iuncre der Niercnkelche und Nierenbecken erscheint wie das der Ureteren und der Harnblase matt röthlich- weifs gefärbt, und fein ramiform und capilliform injicirt. In allen diesen Theilen findet sich eine äufserst geringe, in der Harnblase nicht leicht über 1 bis 2 Theclöffel be¬ tragende, oft aber in einem oder dem anderen Theiic der Ilarnwegc kaum bemcrkliche Quantität einer mehr oder weniger trübeu, gräulich - oder gelblich- weifsen, nicht uri- nös riechenden, Lackmuspapicr röthenden Flüssigkeit. Die Harnblase ist sehr zusamraengezogen, bisweilen bis zur Gröfse einer Kastanie, meist etwas platt, so dafs sie we¬ nig hinter der Syrophysis pubis ins kleine Becken hincin- ragt, wenig ins Auge fällt. Oft, aber nicht immer, fühlt sie sich dabei etwas hart an.' Sie ist nach aufsen fein ra¬ miform und capilliform injicirt; ibr Inneres erscheint bei so starker Zusammcnziehuug stark gerunzelt; die Injection an ihrer Innenfläche ist, der normalen Vascularität ent- sprehend, um den BlaseuhaU herum bedeutend stärker, als

bei der Cholera.

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in den übrigen Theilen. In den Nachstadien der Cholera tritt die Injcction der Harnorgane in demselben Maafse, als die auderer Theile zurück, eben so wie die eigenthüm- liche Färbung ihrer Schleimhaut. Sehr lange erhält sich die Beschaffenheit des Contentum der Harn Wege; der Verf. hat sic wiederholt noch am vierten Tage, nachdem die Krankheit längst in den typhösen Zustand übergegangen war, ziemlich unverändert gefunden. Dann erst wird die Flüssigkeit copiöser, weniger trübe und geht allmälich in einen mehr normal aussehenden Harn über, der einigemal noch sehr spät das Lackmuspapier röthete. Die Zusam¬ menziehung und Runzelung der Blase verschwinden natür¬ lich. Die männlichen und weiblichen inneren Geschlechts- theile zeigten die allgemeine Blutüberfüllung. Die Saamen- gänge uud Saamenblaseu fand Pboebus mehr oder weni¬ ger angefüllt mit der gewöhnlichen, in den Gängen weifs- lichen, in den Blasen bräunlichen Flüssigkeit.

Der Schilderung des Aeufseren der Choleraleichen ist das zehnte Kapitel gewidmet.

Das elfte Kapitel enthält sehr interessante Bemerkun¬ gen über die angeblich lange Bewahrung der thierischen Wärme der Choleraleichen, über das angeblich späte Ein¬ treten der Fäulnifs, über Ansteckung durch Leichen, über die Zuckungen der Muskeln nach dem Tode, über den Einflufs der Individualität der Kranken und der verschie¬ denen Medicalien auf die Erscheinungen in der Leiche, über die Verschiedenheit des Leichenbefundes in den ver¬ schiedenen Epidemieen (und Städten), über die Aehnlich- keit die zwischen dem Leichenbefund der an Cholera und der an anderen Krankheiten Verstorbenen statt hat.

Das zwölfte Kapitel enthält die Beschreibung des Er¬ gebnisses zweier Sectionen von Individuen, an denen im Leben die Transfusion gemacht worden, und der Sectio¬ nen einiger Neugebornen. Den Schlufs bildet eine Paral¬ lele zwischen einem Obductionsbcricht des Herrn Professor Scoutetten und einem vom Verfasser.

m hi. Allgemeine Krankhoitslchre.

' Das ganze Werk ist mit so vieler Sorgfalt, Genauig¬ keit, vorurtheilsfrcicn Umsicht und Gelehrsamkeit abgc- fafst, dafs es gewifs nicht nur den treulichsten Schriften, die wir über die Cholera besitzen, sondern auch den vor¬ züglichsten Leistungen im Fache der Pathologie überhaupt an die Seile gestellt werden kann. Aufscr dem nur die Cholera Betreffenden^ enthält cs eine Menge wichtiger anatomischer und physiologischer Bemerkungen, und kann namentlich Jedem, der aus Leichenöffnungen überhaupt Be¬ lehrung zu schöpfen denkt, nicht genug als Muster und Vorbild vorgchaltcu >verden.

, ' * i% * St»

y in.

Allgemeine Krankheitslehrc; von Dr. K. F. H. Marx, ordentlichem Professor der Medicin in Göttingen, der König). Gesellschaft der Wissen¬ schaften daselbst nnd mehrer gelehrten Gesellschaf¬ ten Mitgliede. Göttingen, bei Vandcnhoek und Ruprecht. 1833. 8. XII u. 273 S. (iThlr. 6 Gr.)

Die grofsen Schwierigkeiten, mit denen die Darstel¬ lung eines Zweiges der Wissenschaft in seiner Gesanmt- heit verknüpft ist, erkennt derjenige, den eigene Erfah¬ rung sic nicht kennen lehrte, am besten aus deu vielen mifs- lungcnen Arbeiten solcher Art. Selten nur halten diese das richtige Maafs. Die Geistreichen unter den Bearbeitern pflegen häufig weniger deu Standpunkt der Wissenschaft zu bezeichnen, als den, welchen sic seihst behaupten: sie geben weniger das reine Resultat aller Erfahrungen, die ihnen nicht selten fremd sind, als sic vielmehr ihre eigene Anschauungsweise aller Gegenstände kennen lehren; sie sind weniger objectiv, als subjectiv: überall leuchtet

des

97

III. Allgemeine Krankheitslehrc.

des Verfassers Individualität durch. Diesen gegenüber stehen Andere, die sich selber gern als «nüchtern» be¬ zeichnen, dafs ihr Gegensatz gegen jene, die im Rausche gewissermaafsen Alles vollbrachten, klar werde. Aengst- lieh meiden sie Alles, was einer individuellen Anschauungs¬ weise ähnlich seben könnte; mit Zittern erheben sie sich zu allgemeinen Sätzen, lieber eine Masse von Thatsachen aufzähleud, als das allen Gemeinschaftliche daraus selber entnehmend. Es könne doch einmal eine Zeit kommen, meinen die Furchtsamsten unter ihnen, wo ein einziges neues Factum ein erkanntes Gesetz umstofse: darum sei es besser, keine Gesetze aufzustellen; als ob es ein Verbre¬ chen wäre, einmal einen Irrthum zu begehen; als ob es eine Schande wäre, ihn einzugestehen; als ob nie ein Versuch zur Erkenntnifs des Gesetzmäfsigen in den Er¬ scheinungen gemacht werden dürfte! Indefs läfst man dieser Leute Treiben gerne sich gefallen, wenn sie nur Material schaffen und sichteu und ordnen; dadurch haben ihrer Viele Grofses genützt und das Wichtigste vorberei¬ tet, und ihre Namen werden mit Recht gefeiert. Scha¬ den aber stiften unter den Nüchternen diejenigen, die zu wenig Lust haben, Beobachtungen anzustellen, zu wenig Fleifs, Vorhandenes zu sammeln, zu wenig Geist, es zu ordnen, zu viel Selbstgefälligkeit, um schweigen zu kön¬ nen, die das, was sie in dumpfer Beschränktheit von der Wissenschaft fassen, als deren Gesammtinhalt verkaufen wollen. -

Nachdem der Verf. in einer kurzen Vorrede sein Un¬ ternehmen gerechtfertigt, beginnt er den ersten Abschnitt: V on der Krankheit und dem Erkranken im Allgemeinen. Die Pathologie ist ihm die Lehre von der Bildung und Dauer der Krankheit; eine Natur- und Lebensgeschichte der Gesundheitsstörung. Ihre Aufgabe ist die Beantwor¬ tung der Frage: Wie entsteht Krankheit, und welche sind die Gesetze ihres Bestehens? Sie entwickelt die Bedingungen des Erkrankens überhaupt, die Gesammlheit Band 28. Heft I. 7

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III. Allgemeine Krankheitslehre.

der in Unordnung gerathenen Vorgänge im Inneren des Körners, und deren cigenthümlichcs, räumliches und zeit¬ liches Verhalten, ohne besondere Rücksicht auf das Her- vortreten einer bestimmten Form. Das genaue Eingehen in eine Krankheitsart, oder in eine besondere, in sich ab¬ geschlossene Form der Gesundheitsstörung, welche in einer gesetzlichen Folge ihre eigenthümlichen Zufälle entwickelt, bleibt ausgeschlossen. Die allgemeine Pathologie soll die Bedingung und Regel des Erkrankcns nach weisen, die Grenzen unseres W issens in dem Gebiete der Krankheits¬ entstehung bezeichnen, den Zusammenhang der einzelnen Thcilc der Mcdicin klar machen und auf jede Weise den ärztlichen Forschungsgeist wecken. Sie bildet den philo« sophischen Thcil der Arzneiwissenschaft. Die mit der all¬ gemeinen Pathologie zunächst verbundenen Lehren von den Zeichen, durch welche die Krankheit sich offenbart, und von den Mitteln und Wegen, wie die Heilung einzuleiten ist, stehen zwar in der innigsten Beziehung zu ihr und können kaum abgesondert von einander behandelt werden, allein ihr grofscr Umfang wird zum Bcstimmungsgrunde, sic einzeln für sich darzustellen. Mit der allgemeinen Pa¬ thologie und Therapie beginnt der Arzt, und er endigt damit, in so fern sein höchstes Ziel das deutliche Bewufst- werden der Gesetze ist; von welchen sein Handeln be¬ stimmt und regiert wird. Da die genannten Lehren die Grundlage des medicinischeu Wissens bilden, Uebersicht und allgemeine Resultate liefern, und zu Leitsternen in dem weiten Meere der Beobachtung und Erfahrung dieuen sollen, so darf ihre Entwickelung nicht in einem blofseu Aggregate trockener Begriffsbestimmungen bestehen. Die scholastische Form, welche von der ganzen Seelenkraft fast blofs das Gedächlnifs in Anspruch nimmt, beengt den Geist, der an der Schwelle der Wissenschaft mit der Ah¬ nung eines grofsen und reifen Ganzen befruchtet wer¬ den soll.

III. Allgemeine Krankheitslehre. 99

Dies ist das Ziel, nach dessen Erreichung der Ver¬ fasser strebt. Sehen wir, wie es ihm gelungen.

«Krankheit ist ihm” derjenige Zustand des Organis¬ mus, wodurch dieser in Folge einer inneren Ursache ver¬ hindert wird, seiner Bestimmung zu folgen. Jedem ist für die Dauer seines Daseins eine Gesetzlichkeit seines Ver¬ haltens vorgezeichnet; je mehr diese im Wechsel der Zeit ohne Störung in der Ausbildung des Körpers, wie des Gei¬ stes behauptet wird, desto mehr ist Gesundheit, oder das Zusammenstimmen aller organischen Thätigkeiten zugegen. Wo die Symmetrie in dem angewiesenen qualitativen und quantitativen Maafse unterbrochen oder gehemmt wird, wo die Verrichtungen nicht mehr mit Leichtigkeit und Kraft vor sich gehen, wo die einzelnen Theile einen andern, als den naturgemäfsen Zweck zu erreichen streben, da beginnt Krankheit. Stahl leitete sie von den Anstrengungen der denkenden Seele ab, um den Einflüssen, welche mittelbar oder unmittelbar der Zusammensetzung der Organe entge¬ genwirken, Widerstand zu leisten. An sich sei sie nichts Verderbliches, sie werde es dadurch, wenn die Seele in der Wahl, in dem Grade und in der Zeit der in Anspruch genommenen Bewegungen einen MifsgrilF thue. Allein, wie in seinen Ansichten überhaupt, so wies Stahl auch hier der psychischen Mitwirkung einen zu grofsen Spiel¬ raum an. »

« Bei der mannigfaltigen Zusammensetzung des Kör¬ pers, bei der Menge der äufseren, natürlichen und künst¬ lichen Einflüsse, bei der zeitweisen Entwickelung und dem verschiedenen eigenthümlichen Leben der einzelnen Organe kann die volle Harmonie nur selten statt finden; auch der anscheinend Gesundeste geniefst meistens blofs eiuer relativen Gesundheit. Unpäfslichkeit, Uebelbefinden gränzt schon an Krankheit.

Es folgen im §. 4. «Wortbestimmungen”, d. i. Defi¬ nitionen von M. lenis, gravis, benignus, malignus n. s. w.;

7 *

100

III. Allgemeine Krankheitslehrc.

im nächsten, <lcr die Uebcnchrift führt: «< örtliche und all¬ gemeine Krankheit,” wird hierin fortgefahren. ««Leidet der ganze Kürzer mehr oder weniger, so nennt man die Krankheit eine allgemeine, wie z. B. die ausgebildete Lust- scuehe. Gellt aber das Ucbcl nur von einer Stelle aus, oder bleibt es auf einen Thcil beschränkt, so heilst cs ein örtliches. Broussais und seine Anhänger nehmen selbst hei Fiebern blofs die örtliche Heizung als bestimmende Ursache an.

Ucber die Gesetzlichkeit der Krankheit erfahren wir im nächsten Paragraph Folgendes: ««Auch die Störung hat ihre Regel, und diese ist so einfach und constant, als es nur das Gesetz der vollkommensten Harmonie sein kann. In der Art, wie eine Pflanze wächst, blüht und vergeht, so kömmt und schwindet die Krankheit. Sind die Ursa¬ chen ihrer Bildung, ist ihr Saame gegeben, so entwickelt sic sich in bestimmter Regelmäfsigkcit, und offenbart ei¬ nen jeden ihrer Zeiträume und Zustände durch sichtbare und unsichtbare Zeichen und Vorgänge. Indem sie übri- geus besonderen constantcn Gesetzen folgt und ihr Verlauf eigcntkütnlich ist, kann sie nicht als blofser Gegensatz der Gesundheit angesehen werden.

Die Möglichkeit der Krankheitsentstehung wird so de- ducirt: «Schon in der Zusammensetzung, in der allmü- lichen Bildung und Rückbildung der Theile, liegt die wech¬ selseitig bedingte Abhängigkeit, und aus der Nothwendig- keit, in der Zeit und im Raume, wo so unendlich Vieles sich bewegt und durchkreuzt, seine Integrität zu behaup¬ ten, ergibt sich die Möglichkeit der Störung. Diese be¬ ginnt, wenn das Maafs der Lebcnsthätigkcit, welches dem Ganzen oder den einzelnen Gebilden, als Bedingung des Daseins zukömmt, überschritten oder verkürzt wird. Als¬ dann entsteht ein Mifsverhältnifs in den» Zusammentreffen der I hätigkeiten ; namentlich in der \N ccbselwirkung zwi¬ schen den Kräften und den .Stoffen, und der gesetzmäfsige Bau, die horin uud Mischung der Gebilde, erleidet eine

101

III. Allgemeine Kranklieitslehrc.

Veränderung durch einen abnormen inncrn Vorgang, oder durch einen äufsern Eingriff.

»Abweichung von der Regel,” ist die Ucberschrifl des nächsten Paragraphen. Wir erfahren hier, dals das erste Werden der Krankheit in ein Dunkel gehüllt ist, dafs die Alten den Organismus einen Microcosmus genannt haben, der mit dem Makrokosmus Zusammenhänge, in ihm lebe, dafs sowol der Körper als Ganzes, wie jedes Organ von Aufsen und von Innen in seinem Thun und Lassen bedingt wird. Der lebendige Leib befindet sich durch seine Beziehungen auf die Aufsenwelt in Wechselwirkung

t

mit dieser, und zwar um so mehr, je gröfser die Bedürf¬ nisse und Ansprüche von jeder Seite sind. So wie die Fäden dieses gegenseitigen Bezuges verschoben, verwdrrt, zerrissen werden, so erleidet das Einzelwesen eine Stö¬ rung in seinem Zustande.

Die « Ueberschreitung des Maafses soll im folgenden Paragraphen abgehandelt werden. Wirerfahren, dafs not h- wendig das richtige Maafs von Zeit zu Zeit überschritten werden müsse, und dafs jedes unrichtige Maafs in den wechselseitigen Verrichtungen, wie in dem Verhältnisse zwischen Bildung und Verzehrung, Absonderung und Ein¬ saugung, Störung bedingt.

«Fehler der Mischung und Form,» so lautet des §. 10. Ueberscbrift. « Abweichungen von der angewiesenen Mi¬ schung können in Folge erblicher Anlage, eines gestörten Ernährungsprozesses oder örtlicher Fehler, Abweichungen von der angewiesenen Form durch unordentliche eigene innere Thätigkeiten und mechanische Einwirkungen von Aufsen zu Stande kommen.

«Der Grund,» so heifst es im nächsten Paragraph, « warum der Körper bei seiner mannigfachen Zusammen¬ setzung und Blofsstellung, nicht öfter schwer erkrankt und erliegt, als es der Fall ist, rührt hauptsächlich daher, dafs nicht leicht viele Gebilde zugleich gestört werden, und so immer einige, welche von dem Eingriffe frei bleiben, die

102

III. Allgemeine Krankheltslehrc.

zum Fortbestehen des Daseins unentbehrlichen Thäligkci- ten zu erhalten suchen. Oft übernimmt ein Organ stell¬ vertretend die Stelle eines andern, das für die Ausübung seiner Functionen unbrauchbar geworden. »»

«c Der lebende Körper, welchem der Trieb zur Sclbst- crhaltung eingeboren ist, sucht auf jede Weise einwirkende Schädlichkeiten von sich fern zu halten, oder diese so auszugleichen, dafs für das Fortbestehen keine Gefahr entsteht. »»

Dies ist nun die Darstellung von der Krankheit und dem Erkranken im Allgemeinen, durch welche Schüler «Liebe zum Gegenstände, geordnete Fächer eines zuver¬ lässigen Materials, so wie Anregung zum Selbstdenkcn und Weiterforschen gewinnen sollen.

Der zweite Abschnitt handelt von den näheren Be¬ dingungen des Erkrankens. Die Möglichkeit krank zu werden liegt hauptsächlich in der Bestimmbarkeit des Or¬ ganismus durch Einflüsse. Die Einsicht in die innersten Berührungen und Beziehungen aller constituirenden Thcilc des Organismus unter sich und zur Aufsenwelt, die Kennt- nifs ihrer Entartung, so wie der verschiedenen Wirkungs¬ weise auf dynamische, chemische und mechanische Beize, liefern das Material für die Erkcnntnifs der Krankheitsent¬ stehung. Von der Anlage zur Krankheit erfahren wir, dafs die Möglichkeit krank zu werden auch so genannt werde, dafs sie entweder eine allgemeine, der menschli¬ chen Natur überhaupt zukommende, oder sine besondere ist. « Diese besondere Möglichkeit heilst auch Empfäng¬ lichkeit, oder Beccplivilüt, die gewissermaafsen das Er¬ gebnis der zufälligeu Körper- und Gcmüthsstimmung ist, iu der sich ein Individuum befindet. Da eine solche Stim¬ mung von Einflüssen bedingt wird, welche schwer nach¬ weisbar sind, da alle Eindrücke der Sinne, des Gcmüthes und Geistes eine Umänderung in ihr zu verursachen ver¬ mögen. so lüist sich kaum etwas Bestimmtes über jene aus-

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III. Allgemeine Krankheitslehre.

sagen. Die Folge erst zeigt, ob sie da war oder nicht. Sie verhält sich nach den mannigfachsten Umständen äufserst verschieden; bald findet sie in hohem, bald in geringem Grade, bald gar nicht statt, wie dieses am auf¬ fallendsten bei einwirkenden Contagien beobachtet wird. Daher oft der Streit, ob eine Krankheit ansteckend sei oder nicht, indem von einer Anzahl Menschen, welche unter den gleichen Verhältnissen der Ansteckung sich aus¬ setzen, einige erkranken, andere vollkommen gesund blei¬ ben. « Das erfahren wir über die Krankheitsaulage in ei¬ nem Lehrbuche der allgemeinen Pathologie, das in Deutsch¬ land im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ge¬ schrieben ist! In demselben Geiste sind alle übrigen Ab¬ schnitte abgehandelt.

Der dritte Abschnitt handelt « von dem Nervensysteme als Krankheitsursache”, der vierte «von dem verschiede¬ nen Verhalten der Reizbarkeit als Krankheitsursache,” der fünfte «von dem Blute als Krankheitsursache,” der sechste « von den verschiedenen organischen Geweben als Krankheitsursache,” der siebente von der Ernährung, den Ab - und Aussonderungen als Krankheitsursache,” der achte von der angeborenen und erworbenen Krankheitsanlage,” der neunte « von den gewöhnlichen Lebensbedürfnissen als Krankheitsursache,” der zehnte «von dem Einflüsse der äufseren Natur als Krankheitsursache, der elfte «von den Giften und Ansteckungsstoffen als Krankheitsursache , der zwölfte « von dem Verlaufe der Krankheit. »

Um noch eine Probe zu geben von dem Geiste, in dem dies Buch geschrieben, und den Leser in den Stand zu setzen, sich selbst ein Urtheil über dasselbe zu bilden, thcilen wir noch den Anfang des achten Abschnittes « von der angeborenen und erworbenen Krankheitsanlage,” mit, der gewifs zu den besten gehört:

« Aufser den allgemeinen, in den Verhältnissen und in der Zusammensetzung des Körpers gegebenen Ursachen des Erkrankens, entspringt hierfür noch eine reiche (Quelle

104 III. Allgemeine krankheitsichre.

in ursprünglichen, individuellen Anlagen, die theils in der Gesuiidheitsbeschaffenheit der Ellern, theils in der durch Geburt und Lebensverhältnisse bedingten Verfassung des Gemüthe9 wie der Seele, und in den durch das Alter her¬ vorgerufenen Einflüssen begründet sind. So wie durch die Zeugung, als den vergröfserten Heproductionsact, die Achn- lichkcit mit den Eltern oder Grafseltern, in der Form des Körpers, in Richtungen des Gcmüthes und des Charakters gegeben werden kann, so vermag auch der Keim zu Krank¬ heiten, durch (len Moment der Vereinigung der Geschlech¬ ter und durch den Aufenthalt des Gezeugten im Mutter¬ leibe übertragen zu werden. Die durch den Begattungs¬ act und durch die Schwangerschaftszeit mitgetheilte Ab¬ weichung von dem regclmäfsigen Stande der Kräfte, der Form und Mischung, ist gewissermaafsen eine in die To¬ talität des Organismus gesäete Ursache, die in einer blofscn vermehrten Empfänglichkeit für Reize, oder in wirklichen Uebeln besteht. Jede von der Geburt an eingepflauzte, angeborene Anlage unterscheidet sich von der später er¬ langten oder der erworbenen dadurch, dafs sie fast durch das ganze Leben mehr oder weniger sich zeigt, und trotz mancher Vorkehrung von Jugend auf, trotz einer umge¬ änderten Lebensweise unter andern localen und socialen Verhältnissen häufig dann sich geltend macht, wenn die afficirten Organe am meisten in Anspruch genommen wer¬ den. Die körperliche und geistige Verfassung während der Gcschlechtsvereinigung übt auf die Fortpflanzung krank¬ hafter Zustände einen unbestreitbaren Eiuflufs aus. Kin¬ der, welche vom Vater in der Trunkenheit erzeugt wer¬ den, verfallen häufig in Blödsinn. Fast zu allen Zeiten und bei allen Völkern galten Scrophcln, Lungenschwind¬ sucht, Gicht, Hämorrhoiden und Stein für erbliche Uebel. Die Scrophcln, als Leiden der lymphatischen Gefäfse, bre¬ chen im Kindcsalter, die Lungenschwindsucht, mehr in arterieller Reizung begründet, im Jünglingsalter, Gicht und Hämorrhoiden, als mit dem Vcncnsystciuc zusammenhän-

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III. Allgemeine Krankheltslehre.

gcnd, mehr im Mannesalter hervor. Je ähnlicher die Kin¬ der ihren Eltern oder Grofsältern hinsichtlich der Körper- constilution , des Gcmüthcs und des Charakters sind, desto mehr werden sie von denselben Beschwerden, an denen jene leiden, heimgesucht. Dals die erbliche Anlage kei- nesweges blofs im Einllusse nachtheiliger Gewohnheiten und einer verkehrten Lebensart begründet sein können, das erhellt mit daraus, dafs auch bei Thieren unter sehr wechselnden Umständen, angeerbte Krankheiten Vorkom¬ men, wie namentlich beim Pferde der stille und rasende Koller, der Wurm, der Rotz und der Dampf; beim Rind¬ vieh die Franzosen und die Fallsucht, beim Schaafc die Rückenmarksdarre und der Wasserkopf, beim Schweine die Finnen. Die Anlage zu Geisteskrankheiten ist ge¬ wissen Familien eigen, und zwar erscheint nicht nur die eine oder andere bestimmte Form, sondern bald diese, bald jene. In den höchsten Ständen findet sic sich verbreite¬ ter, als in den unteren, besonders da, wo die einzelnen Glieder einer Familie ausschliefslich untereinander heira- then. Daher die Häufigkeit dieser Ucbel in den alten schottischen Geschlechtern. Auch die Neigung zum Selbst¬ morde gehört hierher. Uebrigens ist eine sorgfältige Le¬ bensweise von Jugend auf, um den Krankheitskeim zu til¬ gen oder zu schwächen, nicht so erfolglos, als manche ältere Aerzte, namentlich der als Polygraph bekannte Spa¬ nier Lud. Mercatus behauptete. Wenn auch die Bedin¬ gung dieser Leiden noch so tief in der Constitution und in einzelnen Organen liegt, so kann doch bei consequen- ter Vermeidung der wahrscheinlichen Veranlassung der wirkliche Ausbruch verzögert und gemildert werden. Die Nachkommenschaft wird nur (?) dann von den Uebeln der Väter heimgesucht, wenn sie ohne Nachdruck und Aus¬ dauer dagegen ankämpft. Organische Fehler, ja sogar zu¬ fällige oder künstliche Verstümmelungen, können auf spä¬ tere Geschlechter übergehen. Taube erzeugen öfters wie¬ der Taube und Augenübel, wie v B. die Cataracta centra-

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JV. Das (Quecksilber.

Iis, kommen zuweilen erblich in Familien vör. Auf die Bluterfamilien hat man in neuerer Zeit mehr als sonst ge¬ achtet. Unter den angeborenen organischen Fehlern wer¬ den gar niht selten die Verschlickungen des Aflers, der Mutterscheide und des Muttermundes zur verborgenen Krank¬ heitsursache. (Wie kommen denn die hierher?) Alle Ucbcl die nicht durch erbliche Anlage, sondern erst während des Lebens durch ein ungleiches Verhältnis nachtheiliger Ein¬ flüsse sich bilden, heifsen erworbene. Sic unterscheiden 6ich von jenen dadurch (sic!), dafs sie leichter zu heben, und fast immer die sie erzeugenden oder veranlassenden Ursachen nachweisbar sind. Esquirol nennt den ange¬ borenen Blödsinn Demencc, deu erworbenen Idiotie. Der angeborene ist, wenn er nur auf Mangel der Entwickelung eines Thciles oder des ganzen Gehirns beruhet, unheilbar, hingegen der erworbene, der durch Druck des Gehirns ver¬ mittelst eines Knochens oder einer Flüssigkeit entsteht, weicht einer zwcckmäfsigcn Behandlung. » Sic.

Sl annius.

IV.

Das Quecksilber. Ein pharmakologisch - therapeu¬ tischer Versuch von Doctor Ludwig Wilhelm Sachs, ordentlichem Professor der praktischen Me- dicin An der Universität Königsberg, Director des medicinischcn Policlinicums u. s. w. Königsberg, im Verlage der Gebrüder Bornträger. 8. VIII und 368 S. ( 1 Thlr. 22 Gr.)

In dieser beachtenswerten Schrift erhalten wir den Abdruck eines Artikels aus dem dritten Bande des von Sachs und I)ulk bearbeiteten Handwörterbuches der prak- ischcn Arzneimittellehre. Der erste Abschnitt enthält die

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IY. Das Quecksilber.

Pharmacognostik des Quecksilbers und seiner wichtigsten Präparate, und hat Dulk zum Verfasser, der ihn mit allem Fleifse bearbeitet hat. Der zweite, bei weitem um¬ fassendere Abschnitt, hat die Pharmacodynamik der wich¬ tigsten Quecksilberinittal zum Gegenstände, und rührt von Sachs her.

Der Conflict des Menschen mit der Aufsenwelt ge¬ biert die Krankheit, deren Beendigung, wird sie durch Umänderung der Tbätigkeit im Innern des Körpers allein nicht erreicht, die Kunst durch Mittel, die die Aufsenwelt beut, zu erlangen bemühet ist. Die Erkenntnifs des Ver¬ hältnisses, in welchem diese Mittel zum menschlichen Or¬ ganismus stehen, gehört also zu den wichtigsten, aber auch schwierigsten Aufgaben des Arztes, und bei den geringen Fortschritten, die wir in dieser Erkenntnifs gemacht ha¬ ben, gebührt jedem Versuche zur Förderung derselben Auf¬ merksamkeit und Dank. Das Produkt jener Aufmerksam¬ keit ist aber Uebereinstimmung, oder Zweifel. Die eine oder den anderen darzulegen, wo sie in dem Ver¬ folge der Darstellung des Herrn Sachs über das Verhält- nifs des Quecksilbers zum menschlichen Organismus sich uns aufgedrungen, werden wir nicht unterlassen.

Der Verfasser beginnt mit -dem Beweise, dafs reguli- nisches Quecksilber auf den thierischen, wenigstens auf den menschlichen Organismus nur mechanisch, sonst gar nicht wirke, dafs die Präparate also, welche das Queck¬ silber in Verbindung mit Sauerstoff oder einer Säure (oder einem andern einfachen Körper, wie Chlor, Jod; Ref.) nicht enthalten, wirksam sind, nicht durch das, was sic bei der Anwendung sind, sondern durch das, was sie unter der Anwendung werden. Die Wirkung der grauen Quecksilbersalbe tritt da am stärksten hervor, wo die Ausbauchung am gröfsten ist.

Es folgt eine Schilderung der Veränderungen im Or¬ ganismus, wrelche durch das Quecksilber hervorgerufen werden: zuerst wenn cs kurze Zeit in kleineren Gaben

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IV. Das Quecksilber.

im Allgemeinen, dann wenn C8 so in Fällen von Hyper¬ trophie, von Anschoppung, von Säfteviscidität gereicht wird; hierauf kommen die Erscheinungen, welche dem anhaltenden Gebrauche des Quecksilbers folgen, iu Be¬ trachtung, dann die Effecte grüfsercr, und endlich sehr grofser (iahen.

Da regulinisches Quecksilber, wie der Verf. mit Hecht bemerkt, keinen Einflufs auf den menschlichen Organismus übt: sondern diesen erst durch seine Verbindung mit an¬ deren Stoffen erhält, so wäre es wol w&nschenswerth ge¬ wesen, statt der W irkungen des « Quecksilbers (oder des Calomel), die seiner einzelnen Präparate zu schildern. So nur wäre es möglich gewesen zu unterscheiden, was dem Quecksilber, was den ihm verbundenen Stoffen, was der Verbindung als solcher gebührt. Das wäre der Gang ei¬ ner wahrhaft wissenschaftlichen Untersuchung gewesen.

Halten wir uns indessen an dem, was der Verfasser gegeben! StaU das Verhältnis « des Quecksilbers »» zu ein¬ zelnen Systemen und Organen scharf ins Auge zu fassen statt aus dem Effecte seltener und kleiner Dosen, die der Darreichung häufiger und grüfsercr folgender Wirkungen abzuleiten und immer gleichzeitig die Verhältnisse zu be¬ achten, in denen die afücirten Systeme und Apparate des Körpers zu einander stehen, statt eines ruhigen, beson¬ nenen, langsam, doch sicher fortschreitenden Ganges: wird gleich ein gewaltig kühner Sprung gewagt e9 wird gleich nach einem einfachen, in seiner Einfachheit aber umfas¬ senden Ausdruck für die arzneiliche Grundwirksamkeit des hier in Hede stehenden giofsen Mcdicamcntcs gesucht, und ohne weiteres als mcdicamentöser Grundcharakter des Quecksilbers, «die Tendenz, aller Vegeta- tionsthätigket direct entgegen zu wirken,»* ge¬ funden.

Zur Erläuterung wird nun Folgendes hinzugefügt: « Die organische V egetationsthätigkeit nämlich hat zwei Facto- reu: den \ erflüssiguugs- und Fcstbildungsprozcfs, vcuüse

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IV. Das Quecksilber.

und arterielle Thätigkeit, Blutbereitung und Blutgerinnung (Ernährung), Bildung des flüssigen und des festen Orga¬ nismus. Alle diese Ausdrücke sind physiologisch völlig gleichbedeutend. Krankhafte Veränderungen des Vegeta¬ tionsprozesses können daher nur in folgenden Grundweisen (denn der Zusammensetzungen hier zu gedenken, ist nicht nöthig) zu Stande kommen: entweder nämlich beide Facto- ren sind in einem Zustande gesteigerter Thätigkeit, oder in verminderter Thätigkeit. Dafs das erste auf beiden Seiten und im ganzen Organismus in gleichem Maafse ge¬ schehen sollte, ist gewifs ein seltener, vielleicht nie cin- tretender Fall, wenigstens würde sich dies schwerlich als Krankheit manifestiren können; das letztere hingegen, die quantitative Depotenzirung beider Vegetationsfactoren, ist ein sehr häufiges pathologisches Ereignils, und z. B. bei jeder wahrhaften Cachexie gegeben; oder es sind die bei¬ den Glieder des plastischen Prozesses in ein disharmoni¬ sches Verhältnifs zu einander versetzt, dergestalt, dafs eine der beiden Functionen sich auf Kosten und mit Zurück- drängung der andern vollzieht (diesen pathologischen Zu¬ ständen liegt allezeit, mehr oder weniger, näher oder fer¬ ner, ein qualitativer Fehler, d. h. ein Nervenleiden zum Grunde); oder endlich, sie gerathen in eine rein qualitativ fehlerhafte Thätigkeit, so dafs das Krankhafte eben ledig¬ lich, oder wenigstens in der Art, nicht in dem Maafse der Energie, mit welchem der Prozefs geschieht, enthalten ist. Unerinnert sieht also jedermann, dafs es vier Familien rei¬ ner Vegetationskrankheiten geben könne: Entzündungen mit ihren generischen und specifischen Differenzen, Ato- nieen, Differenzen der Harmonie zwischen den Thätigkei- ten der Grundfactoren des Vegetationsprozesses (welche freilich den Ursachen oder Wirklingen nach mit qualitativ fehlerhaften Zuständen eng Zusammenhängen), und reine Nervenkrankheiten. »

« Bei der entschiedenen arzneilichen Beziehung des Quecksilbers zur Vegetationsthätigkeit kann cs, auch bei

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IV. Das Quecksilber.

(Irr mindesten Uebcrlegung und bei den auseinandergebend* *tcn Ansichten über den specifischcn und erschöpfenden pharmacody namischcn Charakter dieses Mittels, keinem Zweifel unterliegen, dafs innerhalb der angegebenen Sphäre pathologischer Prozesse das Quecksilber eine ausgezeich¬ nete medicamentöse Stelle einnehmen müsse. Da aber hierüber viel Unklarheit und Verworrenheit verbreitet ist, wendet sich der Verf. zur Widerlegung der von Vogt vor- getragenen Ansicht: Der Grundcharakäcr der Quecksil- berwirkung sei Erhebung des Vertlüssigungsprozesses und gleichzeitige Beschränkung und Zurückdrängung der Bil¬ dung aus dem Flüssigen ins Feste und der damit beauf- tragten organischen Gebilde.”

Herr Sachs setzt dieser Ansicht entgegen: «Wo ein solcher Zustand des vorschlagenden Verilüssigungsprozesscs in irgend einem Grade gegeben sei, da sei in dcmselbcu Grade und als unausbleibliche Folge Congestion gesetzt. Niemand wi?d dies aber zu behaupten wagen, ja kein er¬ fahrener Arzt wird anzuerkennen anstehen können, dafs das Quecksilber eben zu den allerwirksamsten Mitteln ge¬ gen Congcstionszustiindc gehört. Letzteres, dafs das Queck¬ silber wirksam sich beweiset gegen Congestionszustände, räumen wir mit Freuden ein, finden aber den Grund da¬ von in dem Umstande, dafs eben andere Congestions¬ zustände mit der entschiedensten Tendenz zur Absonde¬ rung durch das Quecksilber erzeugt werden. Gesetzt z. B. das Quecksilber, oder um uns bestimmter auszudrücken, das Caloinel wird angewendet bei einem Congestionszu- standc gegen das Gehirn: so wird es sich wirksam bewei¬ sen, weil es einen Congpstionszustand nach einem andern Organ, z. B. nach der Leber, der Darmschleimhaut hin erregt, welchem in eben diesen Thcilen Absonderungen folgen. 'Herr Sachs scheint hier gänzlich den Umstand aufscr Augen gclasscu zu haben, defs eben jedes auf den menschlichen Organirmus dynamisch wirksame Mittel ciu Spccificum, d. h. ein bestimmten Organen, oder Systemen

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IV. Das Quecksilber.

entsprechendes ist. Auf dieselbe Weise ist die Wirkam- keit des Quecksilbers «gegen Hypertrophie, gegen An¬ schoppungen iu drüsigen Gebilden, gegen krankhafte Ex¬ sudationen in Höhlen oder parenchymatösen Eingeweide], »» zu erklären. Hier findet in einem System oder Orgme eine vermehrte Thätigkeit, eine vermehrte Abscheiding statt: die Thätigkeit in einem andern, diesem gegeuübtr- stehenden, wird daher vermindert.

Wollte man annehmen, das Quecksilber wirke aller Ve¬ getation im Allgemeinen und gleichmäfsig entgegen: so müfste man seine Wirksamkeit bei vorhandener Exsudi- tion von Serum, z. B. in einer serösen Höhle, sich so er¬ klären : dafs ln verhältnifsmäfsig ganz gleichem Maafse mit der Abnahme dieser Flüssigkeit ein Schwinden der Sub¬ stanz, und damit der Energie des gesammten Körpers statt finde. Bestätigt aber die Erfahrung, das hier einzig sichere Criteriuin, diese Erklärungsweise? Gewifs nicht. Gleich- wol nimmt Herr Sachs dies an, wenn er sagt: «Die Quecksilberwirkung ist gleichzeitig und gleichartig gegen beide Factoren des Vegetationsprozesses gerichtet, d. h. sie hat weder die Tendenz die Liquation (oder den organi¬ schen Bildungsprozefs des Flüssigen) zu befördern, noch die Festbildung zu beschränken, sondern sie Beide direct zu untergraben, d. h. Colliquation zu erzeugen. » « Colli-

quation also beruhet nicht auf der Deterioration weder des einen, noch des andern einzelnen Factors des Vegetations¬ prozesses, sondern in beiden Richtungen, in seiner Ge- sammtheit ist er in ein mehr oder minder beschleunigtes Rückschreiten versetzt; die Krankheit besteht nicht in fal¬ scher Bildung, sondern die Entbildung (Auflösung) ist die Krankheit und ihre Vollendung hat den Tod nicht zur Folge, sondern ist er selbst.»

Gewifs wäre es der Wissenschaft förderlicher gewesen, Herr Sachs hätte nicht blofs die Extreme der Queeksil- berwirkuug zur Bestimmung ihres Charakters beachtet: sondern gewissermaafsen Stadien unterschieden, je nach der

1|| IV. Das Quecksilber.

G'rfsc und Dauer der zur Einwirkung auf den Organis- iiii5 benutzten Gabe. Er würde auch Vogt1« Ansicht nötiger gewürdigt haben, die eben die Einwirkungsweise de Mittels iu einem bestimmten Grade sehr richtig bezeich¬ ne. Bei Vogt ist noch besonders zu loben, dafs er zu¬ gleich den lebenden Organismus als solchen achtet und die Vechselwirkung seiner Gebilde uud Functionen anerken¬ nend, die primären Wirkungen des Mittels von den sc- CJndüren, bei denen das Verhältnis der Organe und Sy- s.eme zu einander die gröfstc Bolle spielt, unterscheidet. aIs eine solche secundäre Wirkung des Quecksilbers er¬ kennen wir aber hier die nach seiner Darreichung bcob- ichtete « belebte Thatigkeit des lymphatischen Systemes und Erhebung des Besorptionsprozesscs. »» Herr Sachs, ohne Zweifel der Meinung, jeder Arzt müsse diese Ein¬ wirkung des Quecksilbers als eine primäre betrachtet ha¬ ben, zieht scharf dagegen zu Felde. «Zuvörderst stellt er den Widerspruch heraus, der darin liegt, ein Mittel für ein mächtiges Besorbens geltend zu machen, dessen Wir¬ kung in dem Maaise entschieden befördert wird, je mehr cs, sei es durch den gegebenen Krankheitszustand selbst, oder durch andere absichtlich herbeigeführte Erregungen, oder durch begünstigende äufsere Verhältnisse mit ver¬ mehrter Exhalationsthätigkeit in Verbindung gesetzt ist. Wird nicht die Wirkung des Mercurs um vieles erhoben, wenn bei seiner Anwendung gleichzeitig eine Methodus diaphoretica beobachtet wird?»» Ganz gewifs, und um so mehr wird gewifs auch die Resorption krankhafter Erzeugnisse verstärkt werden, da sie eben nicht directe, sondern indirecte, durch W echselwirkung der Gebilde des Organismus bedingte Folge der Quecksilbereinwirkung ist.

Etwas sophistisch fragt Herr Sachs alsbald: «Ob nicht, wenn man das Quecksilber als Besorbens betrach¬ tet, ganz kunstgerecht die örtliche Syphilis, statt dadurch geheilt, durch das Hinübcrtreiben des Virus in die ge- saminte Säftemasse iu allgemeine verwandelt werden müsse?

Hätte

IV. Das Quecksilb er/

<

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Hätte dies nicht um so mehr geschehen müssen, ruft er aus, da in solchen Fällen der Mercur in Gaben gereicht wird, die den Ausscheidungsprozefs gar nicht, oder doch kaum merklich befördern?

Zunächst möchten wir aber an Herrn Sachs, der mit vollem Rechte die Wirksamkeit des Mercurs gegen Syphi¬ lis anerkennt, die Frage richten, wie es dann kömmt, dafs ein Mittel, als dessen ausschliefsender Charakter die Ten¬ denz, aller Vegetation eutgegenzuwfrken anerkannt wird, überhaupt gegen eine Krankheit sich wirksam beweisen kann, die ebenfalls diese, oder wenigstens eine ganz ähn¬ liche Tendenz der Zerstörung durch ihren ganzen Verlauf bekundet? Sollte es nicht rathsam sein, das syphilitische Virus als ein specifisches anzuerkennen, das durch ein an¬ deres Specificum, das Quecksilber, getilgt werden kann, und um so mehr getilgt werden mufs, je ausschliefslicher bei verhinderter Einwirkung auf die diesem Mittel entspre¬ chenden organischen Gebilde, seine Wirksamkeit der des syphilitischen Giftes entgegengestellt wird? Damit ist nicht

gesagt, dafs das Quecksilber als Gegengift die Syphilis

\

unter allen Umständen tilgen müsse. Wir haben mit or¬ ganischen Körpern, wir haben mit Individuen zu thun: die Vorgänge im Organismus sind uns häufig sehr dunkel, und die Individualität ist das Product der ganzen Vergan¬ genheit, nicht des Einzelnen allein, sondern in gewissem Sinne auch der seiner Vorfahren. Die eine oder die andere der beiden im Organismus in Conflict gerathenden Potenzen kann durch diesen eine solche Umänderung erfahren ha¬ ben, dafs ihre gewöhnliche Wirksamkeit verloren geht. Wir wiederholen es nochmals, dafs eine primäre und eine secundärc, eine gewissen Theilen des Organismus und eine der in ihn eingedrungenen fremden Potenz gegenüberstchende Wirkung des Quecksilbers sorgfältig unterschieden werden mufs. Hierdurch bewahrt man Respect vor dem Satze des Widerspruches, und braucht nicht «in Hebung zu sein, in Einem Athemzuge Entgegengesetztes zu behaupten, n Band 28. Heft 1. 8

114

*IV. Das Qaccksill)cr.

ohne deshalb genöthigt zu sein, der individuellen Ansicht des Herrn Sachs zu huldigen.

Folgen wir nun der Darstellung des Herrn \ erfassers, so finden wir alsbald von ihm das Quecksilber da überall als augezeigt betrachtet, wo cs eine vernünftige ärztliche Aufgabe sein kann: einen directcn Angriff auf den Yege- tationsprozefs zu machen und untersagt überall, wo einen solchen Angriff zu machen, dem Heilzwecke direct wider¬ sprechend ist. Erfweudet sich zunächst zu den Entzün¬ dungen. Als cingeräumt nimmt er hier an: den allge¬ meinen Begriff der Eulzündung, als bestehend in einem Zustande der Reaction aller organischen Systeme mit (ab¬ solut oder relativ) gesteigerter Energie; ferner: das Zer¬ fallen der Entzündung in drei Ordnungen: sensible, irri¬ table und vegetative: sodann: das Auseinandergehen jener Entzündungsordnung in drei Gattungen, nach den Spaltun¬ gen jedes organischen Systemes in sich selbst in drei llaupt- modificationen ; und endlich die wichtige Verschiedenheit, welche durch die doppelte Weise entsteht wie jede Ent¬ zündung ihren Verlauf haben kann, als acute nämlich, oder als chronische.

« Zuvörderst erledigt sich nun die Frage: ob und in wie fern das Quecksilber ein Autiphlogisticum sei? ganz von selbst. Entschieden verneinend nämlich mufs die Ant¬ wort ausfallen, wenn man bei der Entzündung lediglich auf die beiden constituirenden organischen Systeme (das sensible und irritable) Rücksicht nimmt; zu beiden steht das Quecksilber in gar keiner directcn Beziehung; bedenkt man aber, dafs die Vegetation eben nur als Resultat der vereinten Thätigkeit der beiden organischen Grundsysteme zu Stande kömmt, und erinnert man sich, dafs bei der Entzündung, in wie fern sic ein Reactionszustand mit ge¬ steigerter Energie ist, allezeit auch der Vegetationsprozeis einen starkem Anstofs erhalten mufs: so begreift sich au¬ genblicklich, dafs das Quecksilber, obwol an sich gewifs kein Autiphlogisticum, doch in einzelnen Momenten jedes

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IV. Das Quecksilber.

Entzünduugsvcrlaufes und für ein einzelnes, wicwol im Ganzen nur untergeordnetes, Moment jedes Entzündungs¬ prozesses, durch seine medicamentöse Grundeigenschaft ve¬ getationswidrig zu wirken, ein heilsames Mittel werden kann. Eben so ist es nun unmittelbar einleuchtend, dafs der organische Werth des Quecksilbers bei Entzündungen (nie: gegen dieselben) in demselben Maafse gröfser ist, als das vegetative Moment in ihnen bedeutender wird.

Der Verf. verweilt zuerst bei der Erörterung der Wir¬ kungen des Quecksilbers bei der sensibeln Entzündung, d. h. derjenigen, in deren Krankheitsprozesse das sensible System der vorschlagende Factor ist. Gegen die beiden ersten Gattungen der sensibeln Entzündung (des Cerebral- und Rückenmarksystemes) ist das Quecksilber rationell we¬ nig anwendbar, vorzüglich indicirt aber bei der dritten Gattung, bei den Entzündungen des plastischen Nervensy- stemes. Auch bei den sensibeln Entzündungen des Cere¬ bral- und Rückenmarksystemes kann es ohne Zweifel in einzelnen Momenten geschehen, dafs der damit nothwen- dig verbundene Nisus zu einem krankhaften Vegetations¬ prozesse die ernsteste Berücksichtigung und schleunige Be¬ seitigung erfordert, in welchen Fällen sich dann die An¬ wendung des Quecksilbers empfehlen und in der That auch bewähren würde. Es gilt dies namentlich von den chronischen Entzündungen dieser beiden Gattungen, wel¬ che vorzugsweise zur Erzeugung fehlerhafter Vegetations¬ produkte den Grund hergehen. Jede chronische sensible Entzündung und was sich irgendwie der Natur nach die¬ ser nähert (z. B. chronische Rheumatalgien), hat die Nei¬ gung in ein Nervenleiden, oder deutlicher gesprochen, in eine Nervenkrankheit sich zu verwandeln; am meisten dro¬ het diese Gefahr, wenn das secundär von sensibler Ent¬ zündung ergriffene Organ von grofser sensitiver Dignität ist. Diesem bedenklichen Uebergange kann das Quecksil¬ ber steuern, indem es, ein künstlich herbeigeführtes vege¬ tatives Leiden setzend, die pathologisch eingeleitete Rich-

8

tfß IV. Das Onecksilbcr.

hing des Krankheitsprozesses zu einer Nervenkrankheit ver¬ ändert, mit Einem Worte: indem cs eine günstige Kcvul- sion erzeugt. Als Beispiel wird die Rlieumatalgia facialis angeführt. Ein Irrthum der Folgenreichsten Art wäre cs, das Quecksilber bei Entzündungen des plastischen Nerven¬ systems für schlechthin indicirt zu halten. Aon den sen- sibcln Entzündungen des Ganglicnsystemes untersagen die acuten wenigstens (als solche betrachtet der Verf. den Causus, die Fchris ardens) die Anwendung des Quecksil¬ bers ganz entschieden.

Ehe der Verf. nun in die Untersuchung über das phar- macologisch - therapeutische Verhaltnifs des Quecksilbers zur chronischen Ganglienentzündung eingeht, spricht er sich aus über die physiologischen und pathologischen Ver¬ hältnisse des Gangliensystems. Seine allgemeine plastische Fuuction beruhet auf seiner Eigenschaft, die Blutincitation zu bewirken. Diese Blutincitation , obwol die allgemeine und Grundeigenschaft dieses Systems, wird doch nicht überall von demselben auf gleiche Weise und mit gleichem Ergebnils vollzogen, der plastische Prozefs vielmehr kömmt in seiner Besonderheit nach der Verschiedenheit der zu rc- staurirenden einzelnen Theile wirklich nur dadurch zu Stande f dafs das Blut, die allgemeine, ernährende Masse, an jeder einzelnen Stelle in einen verschiedenen, dem be¬ stimmten Theile entsprechenden innern Zustand, d. h. in einen verschiedenen inuern Erregungszustand versetzt wird. Diesem Zwecke entsprechend, ist das Gangliensystem ei- genthümlich gebaut, und auf eine völlig verschiedene Weise (dendritisch) mit den Gclafsen verbunden. Seine Haupt- thätigkeit hat dieses Nervensystem zwar auf die Arterien, d h. auf dasjenige Gcfäfssystem gerichtet, das den Prozefs der organischen Festbildung vollbringt; glcichwo! übt cs aber auch einen äufserst bedeutenden Einflufs auf die Ve¬ nen, namentlich auf die Pfortader, d. h. auf dasjenige Ge- fiiUsystem aus, das vorzugsweise dem Prozesse der Blut¬ bereitung, d. h. der Bildung des flüssigen Organismus vor-

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IV. Das Quecksilber.

steht. In diesem Systeme kann der Erregungszustand aut' eine krankhafte Weise gesteigert sein, sowol allgemein, als auch nur örtlich. Dieser krankhaft gesteigerte Erre¬ gungszustand kann aber in diesem Systeme in sehr ver¬ schiedenem Grade statt finden, wodurch denn der Erschei¬ nung, wie der Wirkung nach sehr verschiedene Krauk- heitsverhältnisse sich entwickeln müssen. Die pathologi¬ sche Veränderung des Erregungszustandes im sympathi¬ schen Nervensysteme kann röin qualitativer Art sein, und dies entweder allgemein (was sich schwer durch die Be¬ obachtung zur Gewifsheit bringen läfst, jedenfalls gewifs aber nur ein höchst seltenes Ereignifs sein kann, oder nur örtlich, aber an mehren einzelnen Stellen (was ebenfalls nicht häufig geschieht), oder nur an einer einzelnen Stelle (ein relativ sehr häufiger Fall); woraus sich denn drei Reihen pathologischer Zustände hervorbilden können:

a) Es kann nämlich das plastische und insensitive Nervengebilde zu einem sensitiven, nicht plastischen sich umbilden. Hieraus erzeugen sich vielfache Geistes- und Gemüthskrankheiten, und ihnen verwandte krankhafte Zu¬ stände.

(Mit diesem Satze kann Ref. durchaus nicht einver¬ standen sein. Es geht dem Gangliensysteme, wie der Milz und anderen Gebilden dieser Art, in deren Function eine klare, über jeden Zweifel erhobene Ansicht uns abgeht: was uns dunkel ist an normalen und normwidrigen Vor¬ gängen im Organismus, wird auf ihre Rechnung gescho¬ ben. Schon was der Vcrf. oben als Bedeutung des Gang¬ liensystems zusammenfafste, ist grofsentheils wahrschein¬ lich, aber keinesweges durch scharfe Beobachtung der Wis¬ senschaft gesichert und über allen Zweifel erhoben. Nun soll aber ein Gebilde, dessen Functionen «plastische” sind, zu einem « sensitiven sich ausbilden. Die Function eines Gebildes ist das Resultat seiner eigenthümlichen Form, Mischung und Verbindung mit andern Gebilden (alle diese Eigenlhümlichkeiten sind der Ausdruck des Waltens eines

i

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IV. Das Quecksilber.

Höheren, eins wir eben nur durch seine Manifestation im Körperlichen, durch die höchste hierin siel* t bare Zweck¬ mäßigkeit ideell erkennen; aus ihnen resultirt nicht das Leben, sondern sic aus ihm). Geht seine cigcnthüm- liche Function ihm verloren, um einer anderen Platz zu machen: so finden gleichzeitig die auffallendsten Verände¬ rungen in den eben genannten Verhältnissen statt. Wie ganz anders verhält sieb v B. ein Ilautsiiick, das der Sitz einer anomalen Sccrction geworden ist, als ein gesundes? Und wie anders wieder eine solche anomale Sccrction, als irgend eine gesunde? So lange uns nun nicht bei cincrUm- wandlung der (angeblich) normal plastischen Function eines Nerven in eine anomal sensible eine dieser corrcspondirende Umwandlung des formellen und chemischen Verhaltens dieser Nerven anatomisch sonnenklar nachgewiesen wird, welche Forderung keinesweges übertrieben zu nennen ist, müssen wir eine solche Umwandlung in das Gebiet der (aller Ana¬ logie ermangelnden) vagen Hypothesen verweisen. Die Wissenschaft bedarf fester Stützen: wehe dem Gebäude, dessen Grund zusammenstürzt. Es zerfällt, so prachtvoll und glänzend es immer aufgefiihrt sein mag!)

Oder b) es kann das plastische Ncrvcngcbilde zwar eine rein qualitative Veränderung seiner Thätigkcit erfah¬ ren, ohne jedoch seine allgemein plastische Function auf¬ zugeben, oder eine sensitive anzunehmen. Es bleibt viel¬ mehr allerdings plastisch thütig, aber in qrialitativ verän¬ derter Art, seine (?) Productc (?) sind z. B. nicht animalisch, sondern vegetabilisch (? doch höchstens, den Ausdruck an und für sich betrachtet, vegetabilischen ähn¬ lich), z. B. ein Diabetes mellitus.

Oder c) das plastische Nervengebildc hat weder seine allgemeine plastische Function cingebüfst, noch den ani¬ malischen Charakter derselben, noch hat er eine ihm fremd¬ artige sensible Thätigkcit angenommen; aber seine plasti¬ sche, obwol animalische Function selbst ist eine fremdar¬ tige geworden, sic entspricht nicht dem Typus der Gat-

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IV. Das Quecksilber.

tuug, sondern nähert sich dem einer tiefer untergeordneten Gattung, wird z. B. zu einer der weilsblutigen Thiere; ihre Produclc daher, wenn sie zur Selbstständigkeit ge¬ langen, reifsen sich innerhalb des Organismus von dem¬ selben zu einer selbstständigen Existenz los, verzehren aber gleichsam das höhere Thier; jedenfalls bildet dieses nicht weiter sich selbst, sondern ist in der entschiedensten Ge¬ fahr, in untergeordnete zu zerfallen. Hierher gehört eine nicht ganz geringe Zahl höchst wichtiger, leider aber auch vielfach verkannter pathologischer Zustände, wovon wir nur einen hier nennen wollen, in so fern es denken¬ den Aerzten nicht zweifelhaft sein kann, w7ie sehr unsere Deutung ihm entspricht. Der Verfasser wei¬ set auf Helminthiasis hin. (Begründet die Art der Secre- tion den Charakter des Nervensystems? Viel weniger pomp¬ haft läfst sich des Verfassers letzter Satz doch wol so ausdriieken: durch die Wechselwirkung der Gebilde des Organismus, vorzüglich wahrscheinlich des Gefäfssysle- mes und Ganglien -Nervensystemes, können unter Umstän¬ den Secretionen zu Stande kommen, die dem Organismus fremd werden und unter günstigen Verhältnissen eine be¬ schränkte Selbstständigkeit zu erlangen vermögen.)

Endlich ists auch leicht sowol der Möglichkeit nach zu erkennen, als in der Beobachtung nachzuweisen, dafs sich krankhafte, auf gesteigertem (überall: quantitativ ver¬ ändertem) Erregungszustamle des Gangliensystemes beru¬ hende Zustände mit andern qualitativ fehlerhaften inneru Zuständen und Prozessen (allgemeinen oder nur örtlichen ) desselben Systemes zusammensetzen und bis auf einen ge¬ wissen Grad mit einander verschmelzen können.

Auf diese Sätze sich stützend, fährt der Verf. fort: «Wo ein allgemein gesteigerter Erregungszustand des Gan¬ gliensystemes, also eine allgemein erhöhetc Blutincitation zu Stande kömmt, da müssen sich die höchsten Grade des lieberhaften Prozesses überhaupt entwickeln. Je aufgereg¬ ter aber das Blut ist, desto weniger ist es geschickt, dern

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IV. Das Quecksilber.

fast eine pflanzliche Ruhe (?) erfordernden Veget^tions- prozesse zu dienen; wenn dieser daher durch jede fieber¬ hafte Bewegung schon leidet, bei stärkerer jedoch sehr bald eine fühlbare Niederlage erfährt: so uiufs er hier bei der höchsten Exaltation des fieberhaften Prozesses unter dem tobenden Blutstroin völlig erdrückt werden. Mit jeder Fieberbewegung ist vermehrte Wärmccntwickelung verbunden; hier bei den extravagantesten Fiebcranslrcn- gungen mufs auch die kraukhaftc Wärmccntwickelung ihre höchsten Grade erreichen. Nun, eben dies aber bildet den¬ jenigen Kraukheitszustaud, den die Alten Causus, febris ardens genannt haben, den wir aber besser durch die Be¬ nennung: Erethismus univcrsalis, oder allgemeine, acute Ganglicnentziindung bezeichnen zu können glaubten.» (Auch hier handelt es sich nur um Eines um die Nachwei¬ sung der Existenz einer Gangliencntzündung. Mit dem Be¬ griffe * Entzündung » sind wir schon gewohnt, dcu einer Veränderung in den entzündeten Organen selbst zu ver¬ knüpfen. Hat der Verf. Gelegenheit gehabt, oder es der Mühe werth erachtet, eine solche Veränderung die auch nur entfernt auf «Entzündung» deuten könnte, zu beob¬ achten? So lange nicht wenigstens dies geschehen ist, ist und bleibt die ganze Annahme Hypothese.)

Wichtig erscheint dem Verf. die Differenz zwischen chronischer Ganglienentzündung und acuter.

«Der chronische Erethismus ( Ganglienentzündnng) ist in seiner Erscheinung immer erkannt, seinem eigentlichen Sein nach aber bisher immer verkannt worden. Allge¬ meine Gereiztheit, Blutaufregungen, Stärke- und Schwä¬ chegefühl, flüchtig kommend und gehend, lassen sich nicht übersehen. Es hat denAerzlcn, namentlich wenn sie sich nicht leicht entschliefsco konnten, der mcdicinischcn Grund¬ wissenschaft, der allgemeinen Pathologie den Rücken zu kehren, Mühe genug gemacht : Congcstion, Erethismus und Orgasmus begrifflich irgendwie auscinader zu halten; wie wenig es ihnen aber damit gelungen ist, erkennt man

I

IV. Das Quecksilber. 121

schon an ihrer Scheu, diese Dinge auch nur phänomeno¬ logisch einander gegcnübcrzustellen, um, was inan fort und fort verwechselt und dennoch zu scheiden sich gedrängt fühlt, im Bilde wenigstens zu fixiren. Man befindet sich indessen schon in einer geradlinigen Richtung zur natur- gemäfseu und wesentlichen Auffassung der gewöhnlichen Form des Erethismus, wenn man ihn in seiner Entstehung aus chronischer Ganglienentzündung, ja, als eben diese selbst, denkt. Wo überall im Gangliensysteme eine Ent¬ zündung auf chronische Weise sich bildet, da wird frei¬ lich, mehr oder weniger, eine gewisse Gereiztheit des Blutes überhaupt, ferner desjenigen Organs, in welchem die Entzündung ihren Sitz hat, und derjenigen, mit wel¬ chen dieses in einem nicht gar zu entfernten sympathi¬ schen Verhältnisse steht, nicht unbemerkt bleiben können; eben so werden, bei einiger Dauer eines solchen Zustan¬ des, Trübungen in den Functionen der primär und secun- där betheiligten Gebilde nicht ausbleiben können, deren respective Wichtigkeit von der Bedeutung der in die Krankheitssphäre gezogenen Theile abhängig ist. Alles dies, unter Umständen nicht unwichtig, zuweilen sogar sehr wichtig, jedenfalls aber der Beobachtung sich von selbst aufuöthigend , soll freilich von ihr nicht zurückgewiesen werden, doch ists in Wahrheit nur die Aulsenseite, das hei weitem Unwichtige, ja nur das relativ Zufällige in Be¬ ziehung auf den eigentlichen, unscheinbar und verdeckt, aber desto leichter zum Verderben fortschreitenden innern Krankheitsprozefs. Von der chronischen Ganglienentzün¬ dung nämlich ist ein quantitativ fehlerhafter plastischer Prozefs ganz unabtrennlich, .ja eben dieser ist ihr wesent¬ lichstes inneres Moment. Dieser fehlerhafte Vorgang setzt sich innerlich auf eine intensive Weise fort, erregt, we¬ nigstens anfänglich, oft lange Zeit hindurch, keine sehr auffallende Störungen, oder nur solche, welche man wie¬ derum auf das lediglich und relativ zufällige äufsere Er¬ scheinungsmoment des Erethismus, auf individuelle Con-

m

IV. Das Quecksilber.

6titutionsverlnillnis.se, oder auf Blutwallung, ungleiche Blnl- vcrlbciluug, krankhafte Heizung u. s. w. zu beziehen in der Uebung ist."

Nach diesen Expcctorationcn bemüht sich der Verf., den Prozcfs der Tuberkclbilduug als aus chronischer Gan- licnentzündung hervorgegaugen zu schildern. Rüge ver¬ dient hier die unablässige Polemik gegen anders denkende, oder, da 6ic den Vorgang nicht zu erklären vermögen, zweifelnde oder schweigende Aerzte, dabei das ewig wic- derkehrende Verwundern, dafs man des Herrn Verfassers Ansichten nicht angenommen. Haben denn diese irgend eine Basis, als die individuelle Anschauungsweise des Verfassers? Nur Klarheit und Beweis der blinde Glaube ist mit Hecht längst verbannt. Es mag Mancher das Un¬ zulängliche unseres Wissens über so dunkle Vorgänge im Innern des Organismus gefühlt, Mancher auch Versuche zu ihrer Aufklärung gemacht, aber auch ihre Unzulänglichkeit erkannt, und darum lieber geschwiegen haben. Nicht als sollte hierdurch Herrn Sachs irgend ein Vorwurf gemacht werden; im Gegcntheil verdienen seine Bestrebungen dank¬ bare Anerkennung, und mit Freuden würden gewifs von Allen die Resultate derselben als grofs und schön ange¬ nommen werderden, wenn nur ihre Wahrheit einleuch¬ tend dargethan wäre. VortrelTIich , acht wissenschaftlich, hat Herr Sachs von seinen Grundsätzen aus, Alles bear¬ beitet; fragt man aber, woher diese Grundsätze kommen, so erfährt man ohne grofse Mühe, dafs sie nur Kinder des Verstandes des Herrn Verfassers sind, deren Ansscheu, bis jetzt wenigstens, jede andere Vaterschaft bestreitet.

Wir müfsten ein Buch schreiben, wollten wir in eine Beleuchtung aller pathologischen und therapeutischen An¬ sichten cingehen, die der geistreiche Verf. bei Gelegenheit seiner Darstellung der Einwirkungen des Quecksilbers bei einzelnen Krankheitsgruppen und Arteu dieser cingcwobcn. Die Fieber und die Nervenkrankheiten werden nach einer sehr ausführlichen Darstellung der Entzündungen kürzer

123

V. Physiologische Arbeiten.

abgehandelt; es folgen Syphilis , Drüsenkrankheiten, Haut¬ krankheiten, Krankheiten der Schleimhäute, Exantheme. Nirgend ein Huldigen der gewöhnlichen Ansichten , überall Neues und Geistvolles, aus dem das Wahre rascher aner- kannt und assimilirt werden würde, wäre nicht Alles mit zu apodictischer Bestimmtheit als Solches geboten und gepriesen.

Praktischen Regeln über die Anwendung des Queck¬ silbers folgt eine Darstellung seiner einzelnen Präparate in ihren Beziehungen zu krankhaften Zuständen des mensch¬ lichen Körpers, die den Schlufs macht.

Sts.

V. '

Ueberslcht der physiologischen Arbeiten,

mit Einschlufs der zugehörigen Doctrinen«

Die Elementartheile des thierischen Körpers.

(Nach Car. Aug. Sigismund Schultze Prodromus de- scriptionis formarum partium elementarium in animali- bus. Berol. 4.)

Es kann kein Zweifel obwalten, dafs in den klein¬ sten und einfachsten Theilen der Organe und ihrem Wech- selverhältnifs die Lehensquelle seihst und die Ursachen der Verschiedenheit der Lebensprozesse zu suchen sind. Eine genaue mikroscopische Untersuchung dieser Theilchen in BetretT ihrer Gestalt, Verbindung, Zahl, Farbe, Gröfse, Festigkeit, Mischung, und eine Bestimmung ihrer übrigen physischen und chemischen Verhältnisse, würde gewifs um ein Bedeutendes in der Einsicht in die Lebenserscheinun¬ gen uns fördern.

124

V. Physiologische Arbeiten.

I)a ein großer Theil der Physiologen unserer Zeit noch die Meinung liegt, dafs die gröfseren Thiere aus Infusorien zusammengesetzt werden: so hält der Ycrf. eine Aufzäh¬ lung der Urformen organischer Theilchen, die er binucu einem Zeiträume von 10 Jahren aufgefunden, für zweck- mfifsig. Alle zeigen keine Spur weiterer Zusammensetzung, sie schwimmen entweder einzeln in Flüssigkeit, oder bil¬ den durch ihre Vereinigung Gewebe und Organe. Alle sind sehr klein, die meisten mit unbewaffnetem Auge nicht sichtbar; alle enthalten Wasser, einige in gröfsercr, andere in geringeirr Menge, je nach dem Grade ihrer Stärke oder Weichheit.

1. Der Schleimstoff, Thierstoff Döllinger’s. Der einzige Bestandteil der einfachsten Thiere, durchsichtig, weifs, jeder Gestaltung fähig, daher inmitten der flüssi¬ gen und festen Elementartheile stehend, Mutter der übri¬ gen Elemente, die die festen Organe bilden, Hülle und Bindestoff in den höheren Thieren; in allen Organ der Er¬ nährung und Absonderung; in den einfacheren zugleich Gefühl und Bewegung bewirkend.

2. Die Schleimkügelchcn. Rund, sehr durchsichtig, farblos, nur bei stärkster Vergröfscrung sichtbar, den Schleimstoff fast aller Thiere und den von den Schleim* membranen abgesonderten Schleim erfüllend. Die Kügel¬ chen der Tracheen, die S. in den Trachcalsäckeu der In¬ sekten gefunden, weichen wenig von ihnen ab. Sic sind in den Luftsäcken unbefestigt enthalten, und dürften kaum eine eigene Art bilden.

3. Die Ncrvenkügelchen. Rund, halbdurchsicbtig, weifs oder grau, von gleicher Kleinheit bei den Thieren der verschiedenen Klassen, überall in Linearform angeord¬ net, der Empfindung vorstehend. (Gewifs nicht richtig. Ref.)

4. Die Chylus- und Lymphkügclchen. Beinahe rund; bisweilen winkelig und plattgedrückt (besonders aus den ( hylusgefäfsen des Verdauungskanales, ehe diese in die Drüsen getreten sind ), halbdurchsicbtig, von verschiedener

V. Physiologische Arbeiten.

I

Gröfse in demselben und in verschiedenen Thie

dem blofsen Auge nicht wahrzunehmen, in dein

Theile des Chylus und der Lymphe schwimmei

den Blutkügelchen besonders dadurch unterschiede^ üals

Schaale uud Kern nicht getrennt sind, sondern eine Masse

bilden.

5 und 6. Kern und Schaale der Blutkügelchen. Ein fester, kugelrunder, oder fast kugelrunder, durchsichtiger Kern, eingeschlossen in einer meistens runden, halbdurch¬ sichtigen, linsenförmigen oder erbsenförmigen, oder kugel¬ runden Schaale; die aus beiden Bestandtheilen gebildeten Kügelchen nur mikroscopisch wahrnehmbar, von verschie¬ dener Gröfse bei verschiedenen Thieren, am gröfsten im Proteus anguineus, am kleinsten in der Ziege: die Zahl der im Blute schwimmenden Kügelchen bei den warm¬ blütigen Thieren am gröfsten.

7. Hautdrüsenkügelchen. In der milchigen Flüssigkeit der Hautdrüsen der Salamander, Tritonen, Kröten, fand S. sehr kleine, runde, halbdurchsichtige, weifse Kügelchen in sehr grofser Anzahl.

8. Milchkügelchen. In grofser Anzahl in der Milch der Säugethiere schwimmend, rund, durchsichtig, weifs, sehr klein, durch Gerinnen der Milch sich verbindend, übrigens fest, so dafs sie durchs Kochen sich nicht verän¬ dern; den KäsestofT wahrscheinlich enthaltend.

9. Pigmentkörner des Auges. Sie haben in den ver¬ schiedenen Thierklassen verschiedene Gestalt und Verbin¬ dung. In den zusammengesetzten Augen der Insekten sind sie keilförmig, durchsichtig und hängen an den Gesichts- flächen , die an ihrer Basis mit schwarzem Pigmente über¬ zogen sind; bei den Fischen sind diese Körper kleiner, von allen Seiten mit schwarzem Pigmente überzogen, und bilden, mit der Chorioidea sowol, als unter sich mittelst Schleimstoffes verbunden, eine Membran. Bei den Vögeln und Säugethieren fand S. statt der keilförmigen vielwiuk- ligen, fast kugelrunde, mit schwarzem Pigmente überzo-

126

V. Physiologische Arbeiten.

pene, ohne dies, durchsichtige Körper, an der Chorioidca befestigt, welche das gewöhnlich sogenannte schwarze Pigment bilden.

10. Schleimgcwcbfasern. Cylindrisch, durchsichtig, weifslich, bei den höheren Thieren in allen Richtungen durch den SchlcimstolT dringend, nicht parallel, elastisch, cootractil, aber bei der Contractiou keine Runzeln bildend.

11. Nervenfasern. In den Ccntraltheilen des Ncr- vcnsyslemcs sind die Nervcnkügclchen durch eine zähe, klebrige, bei den niedern Thieren durchsichtige, hei den höhern Thieren halbdurchsichtigc Materie zu Fasern ver¬ bunden, so dafs die einzelnen Kügelchen nicht von ein¬ ander getrennt werden können. Die Fasern bilden Plat¬ ten und Bündel.

12. Muskelfasern oder Muskelfäden. Cylindrisch, so¬ lide, sehr dünn, fast undurchscheinend, weifs oder gelb, bei den niederen Thieren; roth bei den höheren, beson¬ ders den warmblütigen, parallel, durch Schlcimgewebe zu Bündeln verbunden, coutractil, bei der Contraclion sich runzelnd.

13. vSehnenfasern. Sehr feste, solide, elastische, durch¬ scheinende, bläulich -weifse Fäden von Perlglanz, ohne Zu- sainmcnzichungskraft, parallel, durch sehr festes Schleim¬ gewebe verbunden. Sie bildeu die Ligamente und Sehucn.

14. Spiral- oder Tracheenfasern. Cylindrisch, sehr wenig zusammengedrückt, elastisch, silberfarben, halbdurch- sichlig. Sie sind spiralförmig zwischen der innersten und der äufseren Tracheenhaut in drei oder vier Zügen umgc- wundeu, und durch ihre nebeneinander gelegenen Enden verbunden. Ihre Dicke ist je nach dein Umfange der Tra¬ cheen verschieden, und sic kommen nur iu den Tracheen der Insekten vor.

15. Gcfäfshaut fasern. Fast cylindrisch, dünn, glanz¬ los, elastisch, zerbrechlich, in spitzen Winkeln mit den benachbarten mittelst Zellgewebes verbunden, fest. 'Sie bilden die plattgcdrücktcu Kreis- und Läugsfaserbüudel,

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V. Physiologische Arbeiten.

die die innerste Haut der Arterien und Venen umgeben, durch deren Zusammenziehungen die Blutbewegung ver¬ stärkt wird.

16. Knochenkörner. Fast rund, glanzlos, wcifslich, hart, mit blofsen Augen sichtbar, durch Knorpel unter¬ einander verbunden; bei den grüfseren Knorpelfischen: Haien und Rochen, sehr deutlich; hei den höheren Thie- ren nur in der Ossificaiionsperiode erscheinend.

17. Knochcnblättchen. Gli izlose, weifsliche, harte, mit blofsem Auge erkennbare Plättchen, durch Winkel und Ränder untereinader verbunden, sehr häufig Zellen bildend. Sie sind die Bestandteile des Inneren der ausgehildeteren Knochen.

18. Knochenfasern. Von faseriger Gestalt unterschei¬ den sie sich vorzüglich durch Lage und Verbindung von den Knochenblättchen , da sie in scharfen Winkeln unter¬ einander verwachsen, den äufseren, dichteren Theil der Knochen bilden.

19. Hornblättchen. Meistens schuppenförmig, trocken, hart, elastisch, halbdurchsichtig, von verschiedener Farbe und Gröfse in demselben Thiere, unter allen Elementar¬ theilen die gröfsten, die äufsere Oberfläche der höheren Thiere, seltener einen Theil der Innenfläche unter dem Namen Oberhaut, Schuppen, Nägel, Schilder bedeckend.

20. Ilornzellen, hornige Bläschen. Trocken, elastisch, weifs, mikroscopisch, durchsichtig, das sogenannte Mark der Federn, Haare, Stacheln bildend, mit Luft oder Ocl erfüllt.

21. Hornfasern. Cylindrisch, trocken, hart, elastisch, halbdurchsichtig, von verschiedener Farbe und Gröfse. Un¬ tereinander verwachsen bilden sie die Bedeckung der Hör¬ ner, die Schafte der Federn, Stacheln und Haare.

Oie letztgenannten sechs Elementartheile haben eine gröfsere Aehnlichkcit untereinander, als die übrigen, mei- stcntheils sind s ie aber durch die Gestalt unterschieden und haben verschiedene chemische Eigentümlichkeiten, da

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%

128 VI. Medicinische Bibliographie.

in den Knochen der Kalk, in den Hörnern der Ilorns vorwaltet. Die übrigen anatomischen Elcmeutarthciie si . tl auch in chemischer Hinsicht von einander verschieden, wie die Blut-, Lymph- und Milchkügelchen, die gefärbten Kör¬ perchen des Auges, die Nerven-, Muskel- und Gcfafshaut- fasern. Wahrscheinlich werden auch bei den übrigen che¬ mische Verschiedenheiten nachweisbar sein.

8.

Medicinische Bibliographie.

Ilcinroth, J. Ch. A., die Lüge. Ein Beitrag zur Seelen- krankheitskundc für Aerzte u. 8. w. gr.8. Leipzig, F. Flei¬ scher. 2 Thlr. 12 Gr.

Hellmuth, F., die Seife, ein neu entdecktes Heilmittel gegen Erkältung, Frostbeulen, Hautschwäche, Rheuma¬ tismen, Verbrennungen und einige andere Beschwerden. 8. Stuttgart, Neff. br. 8 Gr.

In Verbindung mit der Redaction des Originals er¬ scheint gleichzeitig in unserm Verlag eine deutsche Ucber- setzung der interessanten Zeitschrift: Journal des connais- sances Medico- Chirurgicalcs etc., unter dem Titel:

Allgemeines Journal für medicinische und chirurgische Kenntnisse, hcrausge- geben von I)r. Armand Trousseau, Dr. Ja¬ cob Le band y und Dr. Henri Gonraud; übersetzt durch Dr. Lo ebner in Nürnberg. Monatlich erscheint 1 Heft mit mehreren Stahl¬ stichen. Preis für den Jahrgang: 2 Thlr. 16 Gr. oder 5 Fl., für den halben Jahrg. 1 Thlr. 8 Gr. oder 2 Fi. 30 Kr., für 3 Monate 18 Gr. oder 1 Fl. 20 Kr.

In Frankreich fand dieses Journal vermöge seines ge¬ diegenen, interessanten Inhaltes, ungewöhnliche Aufnahme, und wir dürfen einen gleichen Erfolg für obige gelungene Ucbersctzung erwarten. Alle solideu Buchhandlungen neh¬ men Bestellung darauf an.

Paris, im Jauuar 1834.

II ei de 1 off und C a m p c.

au

Untersuchungen über Lymph- und Chylus- körnchen, und ihr Verhältnis zu den Blut¬ körperchen.

* \ >

Von

Rudolph W a g n e r ,

Professor in Erlangen * 1 ).

.Oie Untersuchungen über Lymphe und Chyhis, ihr Ver- hältnifs zum Blute und zu den Kernen der Blutkörperchen sind sehr sparsam und unvollständig, und dennoch ist die nähere Kenntnifs hiervon die erste Bedingung zu einer ge¬ naueren Einsicht in den Vorgang bei der Ernährung. Man findet in dem Blute aller Wirbelthiere, mit Ausnahme des

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1) Ich hatte vorliegenden Aufsatz vor mehren Mo¬ naten Herrn Professor Bur dach für den fünften Band sei¬ ner Physiologie zugesandt; da aber erst der sechste Band die Blutbildung abhandeln soll, der vielleicht erst in einigen Jahren erscheint, so V,og ich ihn zurück und gebe ihn hier, uin wo möglich weitere Forschungen zu veranlassen. Der im nächsten Jahre erscheinende fünfte Band wird übrigens einige Untersuchungen über die feinere Structur der Ge¬ webe enthalten, wozu Herr Burdach die Güte hatte, mich aufzufordern.

R. Wagner.

f30 I. Lympli- nnd Chyluskümclien.

f

Menschen und der Sauget liiere, wo die Blutkörnclien sehr klein und rund sind, neben den gewöhnlichen ovalen Blut¬ körnchen, sparsamer andere Körperchen von einer zwei¬ ten, mehr rundlichen Form. Die sparsameren Körnchen sind weit kleiner, farblos, und haben ein ganz anderes Aussehen; diese sprach man für dem Blute beigemengte Lymphkörnchcn au, weil, wie Job. Müller sagt, der sie bei den Fröschen beobachtete, sie ganz mit den sehr spar¬ samen Körnchen der gerinnbaren Lymphe bei den Fröschen übereinkämen, wie sie daselbst unter der Haut sich findet. Ich habe sie im Blute der Fische, Amphibien und Vögel häufig beobachtet, wo sie, wie gesagt, durch ihre Gröfsen- verschicdenheit und ihr übriges Ansehen sich sogleich von den gewöhnlichen Blutkörnclien unterscheiden lassen. Sie wechseln in ihrer individuellen Gröfse noch mehr, als die Blutkörnchen. So fand ich sie im Blute der Taube 4-J-0- und j-J-y'" im Mittel, beim Frosch bis auc^

darüber und darunter; noch kleiner sind sie bei den Fi¬ schen. Bei Ammocoetes branchialis, welcher Fisch runde, scheibenförmige, den menschlichen ähnliche, nur gröfsere Blutkörnchen hat, welche tj‘ö To*o /y/ messen, und da¬ her ganz von dem ovalen Typus der übrigen Fische ab¬ weichen, fand ich sic von -5-^- bis TJT/y/ wechselnd. Am interessantesten war mir aber ihre Beobachtung im Blute der Wassersalamander, welche die gröfsten Blutkör¬ perchen unter den von mir beobachteten Amphibien ha¬ ben, weshalb sic sich auch am besten zu Versuchen eig¬ nen. Die Blutkörnchen von Triton taeniatus messen im Durchschnitt Linie in der Länge; sie sind sehr flach, scheinen aber, wie bei allen Amphibien, doch einen mitt¬ leren Nabel zu haben, den man bald deutlich, bald weni¬ ger zu bemerken glaubt. Unter diesen Blutkörnchen la¬ gen nun in sehr beträhtlichcr Menge kleine, rundliche, doch etwas abgeplattete Körnchen (wahrscheinlich flache Linsen), von sehr verschiedener Gröfse; meist maafsen sic Liuie, viele waren aber auch gröfser, bis zu TJ-0 ;

(

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I. Ly mph - und Chyluskurnchen. 131

die gröfsten hatten eine ovale, keine kreisförmige Gestalt, hatten aber doch stets ein körniges Aussehen, wie die kleineren, wodurch sie sich von den Blutkörperchen un¬ terschieden; andere, wenige, schienen endlich den Blut¬ körnchen noch ähnlicher, so dafs sich entschieden die An¬ sicht aufdrang, als wenn diese rundlichen Körnchen suc- cessive in die Blutkörnchen übergingen, indem man eine Wenge Uebergangsformen sehen konnte. Eben so verhielt es sich mit der Farbe. Die Lymphkörnchen waren unter dem Mikroskop ungefärbt, die Blutkörnchen gelblich, die gröfsten Lymphdrüsen schienen bereits deutlich etwas ge¬ färbt. I)afs diese zweite Form von Körnchen wirklich Lymphkörnchen sind, dafür sprechen mehre andere Beob¬ achtungen. Vor Allem ihre Vergleichung mit wirklichen Lymphkörnchen. So hat schon J. Müller bemerkt, dafs diese Körnchen bei den Fröschen mit denjenigen Körnchen die gröfste Aehnlichkeit haben, welche in der Lymphe unter der Haut dieser Thiere Vorkommen. So verhält es sich auch hei Vögeln, wo ich bei verschiedenen Arten Lymphe und Blut untersucht habe. Bei der Taube z. B. maafsen die äufserst deutlichen Lymphkörnchen, welche sich in der Lymphe der Halsdrüsen finden, bis -gig-, ja auch nur gJ-g-'", einzelne weniger, andere auch etwas mehr; im Allgemeinen sind sie aber gewifs etwas kleiner, als die dem Blute beigemengten Lymphkörnchen, welche -j-J-y bis -g-i-ö ,u messen. Diese Lymphkörnchen aus der Hals¬ drüse hatten aber sonst im Ansehen grofse Aehnlichkeit mit den dem Blute beigemengten; mit den Blutkörnchen der Taube verglichen, scheinen sie drei- bis viermal klei¬ ner, mit menschlichen Blutkörnchen zugleich betrachtet, fast noch einmal so klein; sie sind farblos, etwas körnig, und sehen wie plattgedrückte Linsen aus. Aehnlich fand ich es bei anderen Vögeln, was zu beweisen scheint, dafs wirklich die dem Blute beigemengte zweite Form von Körnchen, der Lymphe angehöre.

Sonst habe ich noch mehre Versuche und Beobach-

9 *

132

1. Lymph - und Chylaskomcben.

tungcn an der Lymphe und dem Chylus bei Säugcthiercu und Vögeln angestellt, von welchen ich die wichtigsten liier mitthcilcu will. Die mikroskopische Untersuchung der Lymphe ist leichter anzustellen, und man ist weniger der Täuschung ausgesetzt, als beim Blute, weil die Lymphe in getödteten Thicren länger unverändert zu bleiben scheint, und Verdünnung mit Wasser auch hei weitem nicht so altcrirend einwirkt

Aus der Mesentcrialdriise eines seit zwei Tagen ge¬ tödteten Kalbes drückte ich den Saft aus, einen weifsli- chen Chylus, der noch sehr schöne, wohlerhaltcnc Körn¬ chen enthielt, welche yjy bis yJy"' maafsen, und platt zu sein schienen: Die Chyluslymphc vom Kaninchen un¬ tersuchte ich hierauf; ein Kaninchen wurde nach einer reichen Mahlzeit getüdtet und noch warm untersucht; die Drüsen des Gekröses strotzten von weifslichein Chylus; die Körnchen waren sehr zahlreich und von verschiedener Gröfsc, sie maafsen yjy bis t Jyy//j die gröfseren schienen mir deutlich kreisrund und flach, vielleicht selbst bicon- cav; einzelne maafsen nahe an yJ-y Linie, alle batten eine etwas körnige Oberfläche, wodurch sie sich von den Blut- körneben durchaus unterschieden; sic waren ganz farblos, oder matt bläulich - weifs; die Blutkörnchen erschienen deutlich etwas hiconcav und maafsen y-Jy Linie im Durch¬ schnitt; individuelle Gröfsenunterschicdc waren bei den Blutkörnchen weit geringer, als hei den Lytnphkörnchcu. Von einem ebeu getödteten Schaafc untersuchte ich Chy¬ lus und Lymphe ganz frisch. Die Lymphe wurde aus einer Ilalsdrüse genommen, wo sie beim Durchschnitt aus¬ träufelte; die Kügelcheu waren rund, wahrscheinlich lin¬ senförmig abgeplattet (da keines auf dem Rande stand, so konnte ich die Form nicht scharf erkennen), hatten eine feinkörnige Oberfläche und eine wechselnde Gröfsc, meist zwischen y und y-Jy'", einzelne maafsen bis nahe an TVoi manche dagegen fast nur yjy'"; Wasser veränderte sic nicht merklich. Die Drüsen des Gekröses entleerten

133

I. Lymph- und ChyluskÖrnchen.

beim Durchscheiden und Ausdrücken einen bläulich- weifscn Chylus, der ganz ähnliche Körnchen, wie die Lymphe der Ilalsdriise enthielt, nur war die Gröfsendifferenz noch be¬ trächtlicher, indem sie zwischen -j-fo bis schwank¬

ten; dabei schwammen noch eine Menge kleinerer Körn¬ chen umher, welche etwa ytVo Linie messen mochten; die Körnchen hatten ein körniges Aussehen, keines schwamm auf dem Rande, so dafs ich auf diese Weise die Form hätte beobachten können, was doch die Blutkörnchen, die ich gleichzeitig mit untersuchte, sehr leicht thaten, wo man daun den münzenförmigen, aber doch wie es schien r), etwas abgerundeten Rand sah, der dicker war, als im menschlichen Blutkörnchen; diese Blutkörnchen waren deut¬ lich röthlich, viel gleichmäfsiger in der Gröfse als die Lymph- und ChyluskÖrnchen, maafsen zwischen und yj-g-"', waren aber nicht gröfser und kleiner, so dafs sie unter die Lymphkörnchen gemischt im Allgemeinen weit kleiner erschienen, indem die Mehrzahl der letzten gröfser war; auch hatten sie kein körniges Ansehen, wie die Lymphkörnchen, sondern zeigten den Schatten, welcher den Blutkörperchen des Menschen und der Säugethiere das Ansehen giebt , als seien sie auf der platten Fläche etwas vertieft. Lymphe und Chylus wurden 24 Stunden im Uhr* glas unter Wasser gesetzt und hierauf wieder mikrosko¬ pisch untersucht, wo ich gar keine merkliche Veränderung

1) Ich mufs hier bemerken, dafs die Kupfertafel, welche meiner kleinen Schrift über das Blut (Leipzig, bei Vofs. 1833.) angehängt ist, nicht gelungen ist; die Um¬ risse sind zu hart, zu grell und scharf, der Schatten zu rauh; ich finde überhaupt, dafs der Ausdruck «münzen¬ förmiger Rand” nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern dafs sich der Rand zugeruudet auf die Flächen umbiegt, wie bei allen weichen organischen Theilen. Als Druck¬ fehler mögen dort verbessert werden: S. 34 Lymphkügel- chen vom Frosch maafsen bis •> statt yj-y bis

und S. 80 Z. 9 v. u. mufs es statt Ernährungsfiüssigkeiten Absonderungsllüssigkeiten heifsen.

134

I. Lymph- und Chyluskürnchen.

wahrnehmen konnte; sie blieben rund, batten das fein¬ körnige Aussehen, was nur bei einzelnen noch stärker hervortrat, und zeigten dieselben GröfiendifFerenzen wie früher; die meisten maafsen zwischen yjy untl ToT Linie.

Noch interessantere Resultate gewährt die Untersu¬ chung der Lymphe bei Vögeln, wegen der grofsen Ver¬ schiedenheit der darin enthaltenen Körnchen von den Blut- körperclten. Die Lymphe erhält inan rein aus den Lytnph- drusen am Ilalse, welche besonders bei Wasser- und Sumpf¬ vögeln, namentlich den langhalsigcn , z. IL dem Fischrei¬ her, sehr stark entwickelt sind. Ich habe sic bei ver¬ schiedenen Vögeln untersucht, von der Taube habe ich die Resultate schon oben angegeben; bei einer Henne waren die Körnchen in einer Lymphdriisc am Halse sehr zahlreich, ganz rund, und maafsen y-Jy bis y-§y Linie; sic waren ganz farblos, hatten eine körnige Oberfläche; ähnlich fand ich sie bei einem jungen Falco tianunculus, wo sie y-£y bis

Linie maafsen. Einige Versuche stellte ich mit der Lymphe vom Fischreiher an, wo aus den ansehnlichen 5 bis G Halsdrüsen auf jeder Seite ziemlich viel Lymphe zu gewinnen ist; die Körnchen waren zahlreich, maafsen y-*y ut im Mittel, hatten eine feinkörnige Oberfläche (feinkörni¬ ges Aussehen, als ob sie aus kleinen Körnchen zusammen¬ gesetzt wären, was aber auch von Unebenheit der Ober¬ fläche herriihren kann) und wechselten in der Gröfsc so stark, dafs manche nahe an y-£- y/7/, andere nahe an kamen, während die Blutkörperchen yiT bis T]y'" lang, yfö'" ungefähr breit waren. Mit Wasser behandelt blic- beu die Körnchen unverändert, eben so mit Essigsäure; auch Essignaphtha veränderte sie weiter nicht, als dafs sic zum Thcil zusammenklebten und zusammenhängende Mas¬ sen bildeten; Liq. ammonii caust. dagegen zu einer in \\ asser suspendirten Menge von Lymphkörnchcn gesetzt, verwandelte alles in eine schleimige Masse; man sah keine Spur von Körnchen mehr, diese lösten sich vielmehr sehr rasch auf.

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I. Lymph- und Chyluskörnchen. 135

Aus den bisherigen Beobachtungen geht mit grofscr Wahrscheinlichkeit hervor, dafs die dem Blute beigemengte zweite Form von Körnchen hei Vögeln, Amphibien und Fischen, wirkliche Lymphkörnchen sind, weil die Körn¬ chen aus der Lymphe dieser Thiere mit jenen die gröfste Achnlichkeit haben. Beim Menschen und bei Säugethieren sind wegen der runden Form und der Kleinheit der Blut-

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körnchen, so wie wegen geringer Gröfsendifferenz zwi¬ schen Blut- und Lymphkörnchen, letzte schwerer im Blute aufzufinden; doch wird dies bei einiger Genauigkeit und Angestrengtheit in der Beobachtung gewifs auch der Fall sein, wenn man erst einmal die Bilder von Lymph- und Blutkörnchen der Säugethierc sich recht wird eingeprägt haben.

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Sehr wünschenswerth mufs es erscheinen, das Ver- hältuifs der Lymphdrüsen zu den Kernen der Blutkörnchen auszumitteln. J. Müller sagt, es sei möglich, dafs die Kerne der elliptischen Blutkörperchen aus den Lymph- und Chyluskügelchen entständen; ich habe, so manches Anziehende auch diese Ausicht hat, in meiner Schrift zur vergleichenden Physiologie des Blutes einige Zweifel da¬ gegen erhoben, und jetzt, nach wiederholten Versuchen, mehren sich diese Zweifel auf der einen Seite, während auf der anderen wieder Kerne der Blutkörnchen und Lymph¬ körnchen unverkennbar viele Aehnlichkeit zeigen. Ich habe aus verschiedenen Thieren die Kerne der Blutkörnchen durch Behandlung mit Wasser dargestellt, und dieselben gleichzeitig mit Lymphkörnchen unter dem Mikroskop be¬ trachtet, verglichen und gemessen. Die Blutkörnchen von Menschen und Säugethieren haben ebenfalls im Wasser un¬ auflösliche Kerne, wie J. Müller und ich gesehen haben; sie sind ungefähr um \ kleiner, als die ganzen Blutkör¬ perchen, so fand ich die Kerne wenigstens neuerlich im geschlagenen Menschenblute, wo die durch Essigsäure sicht¬ bar gemachten Kerne bis maafsen, während die

ganzen Blutkörperchen im Durchschnitt eine Gröfse von

136 I. Lymph« und Chylnskürnchen.

y*— Linie haben. Dagegen sind die Lymphkörnchen vom Schaaf und die Chyluskörncheo yom Scbaaf und Kanin¬ chen nach meinqn Beobachtungen im Durchschnitte sek st grüfser, als die ganzen Blutkörnchcn dieser Thiere, ob¬ wohl auch einzelne kleiner sind. Meine Beobachtungen elimmen in diesem Bezüge ganz mit denen von J. Mül¬ ler überein, was mir um so interessanter ist, als ich die meinigen ohne Kcnntnifs dieser schon vor einem halben Jahre angestellt, die Physiologie von J. Müller aber erst vor einigen Wochen erhalten habe. Müller fand die Gröfse der Chyluskügelchen, welche er allein untersuchte, bald gleich derjenigen der Blutkörperchen, wie bei der Katze, bald, und zwar meistens etwas kleiner, wie beim Kalbe, bei der Ziege, beim Hunde; bei welchem letzten er sic von sehr verschiedeper Gröfse, die meisten sehr klein, und alle kleiner als die Blutkörperchen fand; beim Kaninchen fand er sogar die Chyluskügelchen zum Theil grüfser, als die Blutkörperchen; die meisten waren sehr klein, ^ bis ^ so grofs, und einige waren offenbar grüfser, wenigstens noch einmal so grofs. Was die Vögel betrifft, so habe ich die Kerne der Blutkörperchen aus der Taube dargestellt, und genau mit den Lymphkörnchen gemessen; die Kerne fand ich thcils rundlich, wie Lymphkörnchen, aber nicht ganz regelmäfsig rund, sondern etwas eckig, wie Sandköruchcn , andere waren länglich, wie die Flecke der Blutkörnchcn, aber auch von körnigem Aussehen; sie maafsen y-J-y bis und darunter; die Lymphkörnchen

fand ich zu bis -r*-5-'//, manche grüfser, manche klei¬ ner; wurden beide zugleich unter dem Mikroskope be¬ trachtet, so konnte man sie am Ansehen leicht unterschei¬ den, auch nicht verkennen, dafs die Lymphkörnchen im Allgemeinen stets grüfser waren, obwohl auch einzelne ßich kleiner erwiesen; ich möchte ungefähr sagen, dafs man die Mehrzahl der Kerne zu die Mehrzahl der

Lymphkörnchen zu annehmen kann , sie sich also

verhalten, wie 6 zu 5. Beim Frosche maafsen die

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137

I. Lyinph- und Chyluskürnchen.

dem Blute beigemengten Lymphkörnchen bis yj-g-'", die Kerne der Blutkörnchen bis yjy"'; das Ansehen war sonst von beiden einander ähnlich. Noch auffal¬ lender war die Aehnlichkeit zwischen Lymphkörnchen und Kernen der Blutkörnchen beim Wassersalamander, wo sie sich mit Wasser überaus schön darstellen lassen; ich fand die Kerne hier grofs, theils rund, theils oval, und hielt sie für flachgedrückte Kugeln; sie raaafsen his tto"') und glichen mit ihrer körnigen Oberfläche aulserordentlich den Lymphkörnchen , nur wTarcn diese im Allgemeinen ebenfalls gröfser. So fand ich auch bei Fischen, wie ich in meiner früheren Schrift angegeben habe, die Kerne stets kleiner, als die dem Blute beigemengten Lymphkörn¬ chen; dies fand ich auch neuerlich bei den anomalen, rund¬ lichen Blutkörnchen von Ammocoetes branchiälis bestätigt, wo die durch das Wasser dargestelltcn Kerne Linie maafsen, und alle weit kleiner waren, als die Lymph¬ körnchen im Blute, welche yj-g- bis y^y'" maafsen. Man sieht ein , dafs die mikrometrische Messung hier einen si¬ cheren Anhaltspunkt bietet, um darauf Schlüsse über Ueber- einstimmung und Verschiedenheit von Blutkernen uud Lymphkörnchen zu gründen. Da die Lyinph- und Chyluskürnchen bei allen Wirbelthieren gröfser sind, als die Kerne der Blutkörnchen, bei Säugethieren die letzten nicht nur bei weitem übertreffen, sondern sogar häufig den ganzen Blutkörperchen derselben an Gröfse gleichkom- men, ja dieselben sogar noch häufig übertreffen, so ist es klar, dafs die Lymphkörnchen wenigstens nicht so, wie sie sind, die Kerne der Blutkörnchen abgeben, und um solche zu werden, mit einer farbigen, dem Blutkörnchen erst seine so entschiedene individuelle Form gebende Hülse, umgehen werden kennen.

Was das Verhältnifs der Kerne zu den Blutkörperchen betrifl’t, so ist es schwer zu sagen, auf welche Weise die Kerne im ganz frischen lebendigen Blute im Blutkörperchen enthalten seien; die Ausmittelung der Structur dieser zar-

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138

I. Lymph- und Chylnskörnchen.

tcn Gebilde ist sehr schwierig. Es hat mir jedoch immer geschienen, dafs je frischer und je reiner, d. h. hlofs für sich und im Serum, man elliptische Blutkörperchen un¬ tersucht, um so weniger deutlich ist der Kern; ja seihst der ovale Flos, mit dem Schatten auf der einen Seite, hei ovalen Blutkörperchen (ein nothwendiger Ausdruck der Wölbung), verhält sich anders, als nach einiger Zeit, weun im Blutkörperchen Veränderungen vor sich gehen; sobald dies der Fall ist, sobald Luft oder Wasser, oder dergleichen äufsere Potenzen auf die Blutkörperchen ein¬ wirken, scheint sich sogleich der Kern inwendig stärker zu bilden, sich gleichsam von seiner Schaalc erst abzulö¬ sen; er tritt stark hervor, während der Band, die Hülse, Kerben, Risse, Sprünge bekommt; kurz der Kern scheint sich in gewisser Hinsicht zu bilden, als Folge eines Auf¬ lösungsprozesses, obwohl gewifs schon ursprünglich sich Centrum und Peripherie eines Blutkörnchens immer ver¬ schieden verhalten, was sich schon aus ihrem Verhältnils und ihrer Löslichkeit oder Unlöslichkeit im Wasser ergiebt.

Auf der anderen Seite spricht aber auch wieder aus¬ nehmend viel zu Gunsten der Meinung, dafs die Lymph- kürneben die Kerne der Blutkörperchen abgeben. Die Farblosigkeit, das ganze äufscre Ansehen, die körnige Ober¬ fläche, und die wirklich, besonders beim Wassersalaman¬ der deutliche, successive Annäherung der Lymphkörncheu in Form und Gröfse zu den Blutkörnchen; ferner das Ver¬ halten gegen Reagcntien; Blutkernc und Lymphkörnchen sind auflöslich im Wasser und werden darin nicht verän¬ dert, eben so wenig werden sic vom Alcojiol, von Naph¬ tha, von Essigsäure aufgelöst, während sowohl Kerne, als Lymphkörnchen in Alkalien, z. B. in Liq. ainmon. und Liq. kali. caust. vollkommen löslich sind. Sie stimmen darin nach meinen Untersuchungen mit den Eiter- und Scblcimkörnchen überein, welche ebenfalls in Säuren nicht, in Alkalien sehr leicht löslich siud.

Erlangen, im August 1833.

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I. Lymph- nnd Chyluskornchen. 139 Nachschrift.

Ich ging im Vorigen nicht weiter auf die schönen Untersuchungen von J. Müller ein, der auch in der menschlichen Lymphe Körnchen fand, indem ich mir vor-' behalte, in der nächsten Zukunft, so es Gottes Wille ist, mich recht speciell mit den mikroskopischen Untersuchun¬ gen des menschlichen Körpers zu beschäftigen. Des treff¬ lichen Ehrenberg’s Angaben über die Ablagerung von Kernen an bestimmten Stellen, kenne ich leider nur aus der Andeutung in Poggendorf’s Annalen, welche Ab¬ handlung er mir gütigst mittheilte. Seine Gratulations-, Schrift: De usu globulorum sanguinis, ist mir noch nicht zugekommen. Seine Mittheilungen über die Structur der Nerven stimmen ganz mit den meinigen überein; ich habe sie in den Beiträgen für Burdach’s Physiologie bespro¬ chen; dort werden auch noch einige Zweifel gegen seine Ansicht ihre Stelle finden, dafs die Körner der Retina Kerne von Blutkörnchen seien. Indefs bescheide ich mich gern und stelle, dem Publikum gegenüber, meine wenig zahlreichen Beobachtungen unter seine zahlreicheren.

Ich berühre hier nur noch eine Angabe des Herrn Prof. Job. Müller, und lade darüber ihn und andere Physiologen zur Prüfung ein. Ich ziehe die Stelle aus meinen Noten, wie ich sie früher niederschrieb: «Ein fri¬ sches, lebendiges Blutkörperchen innerhalb eines Gefäfses scheint Kein und Hülse innig verbunden zu haben; es ist ein zwar weiches, aber dessenungeachtet sehr elastisches Körperchen; die lebendigen Blutkörperchen können sich zusammendrücken uud verlängern, und nehmen, sobald der Widerstand aufhört, sogleich ihre alte Gestalt an; Job.

I

Müller leugnet mit Unrecht diese Thatsache; man kann sich nirgends besser davon überzeugen, als wenn man eine frisch ausgeschnittene Frosch- oder Wassersalainandcr- Lunge zwischen zwei starken Glasplatten platt drückt, und sie so unter das Mikroscop bringt; die Blutkörperchen drängen sich theils unter sich, tiieils durch die engen

j40 I. Lvmph- und Chyluskümchen.

Wände des Parenchyms, und nehmen so allerlei Gestalten und Formen an, werden länger und schmäler, geigenför¬ mig, herzförmig u. s. w. Sobald der Druck aufhört, keh¬ ren sic in ihre ursprüngliche Form zurück. Hier kann man auch sehr schön jenes höchst merkwürdige Phänomen beobachten, welches mau an den Kiemen sieht, nämlich ein Abstofsen und Anziehen (?), ein Tanzen und Rotiren der Blutkörperchen^ sobald sie einem mit Luftzellen be¬ setzten Streifen sich nähern, längs welchem eine zitternde Bewegung, gleichsam das Ausströmen eines gasförmigen Fluidums, bemerklich ist. Dieses Phänomen beruht wohl nicht auf derselben Ursache, wie das Abstofsen kleiner Thcilchen an den Kiemenfasern. Auch die Czermack- sehen Beobachtungen lassen sich wohl hier anreihen.

Ich benutze feiner die Gelegenheit, einige Druckfeh¬ ler in diesen Annalen zu verbessern. So steht in meiner llecension von Schultze’s Lehrb. der vergl. Anatomie, November 1832. S. 300 Z. 7 v. u. Zoll, und soll

heifsen: yy*0y Zoll. Bei meiner Anzeige von Eble’s Ta- schenb. der Physiol. März 1833. S. 355 und 356 heifst es immer fälschlich Richard statt Prichard. Ferner werde ich auf der Liste der Mitarbeiter der Hefte Januar, Fe¬ bruar, März 1833 als in « München aufgeführt. Fs beruht dies auf einer Pcrsonalvcrwcchsclung, die, wie ich in Brie¬ fen und öffentlichen Blättern sehe, so wie in manchen Schriften, z. B. in H. v. Meycr’s Palacologica, zu bei¬ derseitigem Schaden der zwei Namenträger führt. Mein sehr weither Freund Dr. Job. Andreas Wagner näm¬ lich, war früher hier Doceut der Zoologie, und ist seit einem Jahre Mit-Conservator der zoologischen Sammlung in München und nun auch Professor der Zoologie daselbst an Wagder’s Stelle. Ich selbst bin immer hier gewesen. Dies zur Nachricht namentlich für die verehrten Herren Col- legen, mit denen ich in Briefwechsel zu stehen dieEhrc habe.

Erlangen, den 0. November 1833.

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II. Anatomische Bemerkungen. 141

* I

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n.

Anatomische Bemerkungen.

Yoa

Dr. C. Krause,

Professor in Hannover.

Kürzlich ist von einem der berühmtesten Physiologen die innere Substanz des Corpus cavernosum penis, nämlich die rölhlichen, ziemlich weichen, aber festen Bündel, welche die von der fibrösen äufseren Haut des Corpus ca¬ vernosum gebildete Röhre in verschiedenen Richtungen netzartig durchziehen und ausfüllen, für musculös erklärt, und in dieser Substanz freie Zellen erkennt, die nicht Er¬ weiterungen der Venen, also nicht von der innersten Ge- fäfshaut umkleidet sein sollen. Gegen diese Ansicht, welche Herr Prof. Müller gewifs mit besseren Gründen unter¬ stützen wird, als J. Hunter, welcher schon durch die Annahme eines in diesen Bündeln stattfindenden Krampfes für berechtigt sich hielt, sie für musculös zu erklären, glaube ich, so weit sie den Bau des Corpus cavernosum im Menschen betrifft, vorläufig aus folgenden anatomi¬ schen Gründen auf das Bestimmteste mich erklären zu dür¬ fen, indem ich die physiologischen Verhältnisse, aus wel¬ chen man für oder gegen die Existenz von Muskelfasern an dieser Stelle schliefsen könnte, hier übergehe.

1) Die Farbe jener Bündel ist von der Menge und Qualität des in den Zwischenräumen derselben stagniren- den Blutes abhängig. In einem und demselben Corpus cavernosum sind sie oft in der Nähe der Wurzel ganz von derselben blafsröthlichen Farbe, wie die Tunica dartos des Hodensackes solche darbietet; in der Nähe der Eichel dagegen, wenn daselbst die Zwischenräume von dunklem Blute erfüllt angetroffen werden, purpurroth, blauroth,

142

II. Anatomische Bemerkungen.

violetf; dagegen die Farbe der Muskeln nach sehr ver- schiedenen Todesarten häufig höher oder tiefer, zuweilen aueh noch auffallender verändert ist, aber doch stets ihre eigentümliche Nuance erkennen läfst.

2) Jene röthlichen Bündel sind zwar durch ihre Farbe und Weichheit von den Sehnenfaserbündeln im In¬ nern der Corpora cavernosa penis merklich verschieden; besitzen aber, wenn man sie zerreilst, eine bei weitem gröfscre Festigkeit und Flasticität, als die (todten) Mus¬ kelfasern aus irgend einem unzweifelhaft musculösen Or¬ gane des Menschenkürpers. (Die Vergleiche sind vorzugs¬ weise mit den Muskelfasern der Blase und des Darinka- ualcs anzustcllcn.)

3) Unter dem Mikroskop bieten sie ein unregelmäfsig fascrigkörniges Ansehen dar, welches, mit Ausnahme der Farbe, ganz dem Ansehen kleiner Partikeln verdichteten Zellstoffes, namentlich der sogenannten Tunica nervea des Darmkanals, gleich kommt. Abgesehen von der netzarti¬ gen Anordnung der gröberen Bündel, welche noch bei

weitem unregelmäfsiger ist als z. B. die der Muskelfasern der Blase, zeigen sich nirgends die verhältnifsmäfsig lan¬ gen, gestreckten, parallelen Fibrillen, die man in kleinen, dem unbewalTnctcn Auge kaum sichtbaren Partikeln der Muskelfasern bemerkt. In einem Zoll langen Stück der inneren Substanz eines sehr frischen Corpus cavernosuin penis von einem stark muskulösen Manne, welches ich, in möglichst kleine Partikeln zerlegt, vermittelst eines Plö- selschcn Mikroskopes bei 140maliger und stärkerer Ver- gröfscrung untersuchte, konnte ich nicht eine einzige Mus¬ kelfaser, die doch von Fasern anderer Art leicht zu un¬ terscheiden sind, auffinden.

4) Schon durch mehrstündiges Kochen verwandeln sich die Fasern des Corpus cavcruosun penis gröfstcntheils iu Gallerte, während beim Kochen der Muskelsubstanz nur der Zellstoll in ihr diese Veränderung erleidet, uud die Muskelfasern nur deutlicher hervortreten. Untersucht

II. Anatomische Bemerkungen. 143

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man alsdann ein noch nicht zu Gallerte geschmolzenes Stückchen der inneren Substanz des Corpus cavernosum, und ein gleich lange Zeit gekochtes Stückchen Muskelfaser, unter dem Mikroskop, so zeigt sich der Unterschied noch deutlicher, als im frischen Zustande.

5) Eine Auflösung der gehörig ausgewässerten Fasern des Corpus cavernosum in concentrirter Essigsäure, wird durch eisenblausaures Kali nicht gefällt: in der Auflösung der auf gleiche Weise behandelten Muskelfasern erfolgt aber ein reichlicher weifser oder weifsblaulicher Niederschlag.

Bringe ich daneben in ‘Anschlag, dafs man nicht sel¬ ten noch in den Leichnamen die Zwischenräume der Bün¬ del in grofsen Strecken vollkommen von Blut angefüllt findet, und dafs die Injectionsmassen, in einen beliebigen Zwischenraum der Bündel eingespritzt, in die Venen an der Oberfläche des Corpus cavernosum übergehen: so kann ich nur der Ansicht anhangen, dafs die röthlichen Faser¬ bündel der Corpora eavernosa penis aus verdichtetem Zell¬ stoffe bestehen, dafs ihre Zwischenräume von sinuösen, vielfach um jene Bündel sich windenden und communici- renden Venen zwar ausgefüllt werden, deren dünne, aber verbältnifsmäfsig sehr starke innere Haut (einer äufseren entbehren sie) die Bündel allerdings bekleidet, und ihnen dadurch zum Theil die grofse Festigkeit verleihet, welche die des lockeren Verbindungszellstoffes und die der Mus¬ kelfasern weit übertrifft.

Derselbe von mir sehr und wahrhaft verehrte For-

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scher erklärt hinsichtlich der Wirkung der Muse, ischio- cavernosi seine Anhänglickeit an die Meinung Sömmer- ring’s: dafs nämlich diese Muskeln die hinteren Enden der Corpora eavernosa abwärts und rückwärts ziehen, diese verkürzen und pressen, und dadurch im mit Blut gefüll¬ ten Zustande die Anschwellung und die Steifigkeit ver¬ mehren. Im angefüllten Zustande bringe ihre willkühr- liehe Zusammenziehung keine Wirkung hervor: käme es auf ein Zusammendrücken der Vena dorsalis penis an, so

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II. Anatomische Bemerkungen.

sei der Impotenz leicht abgeholfcn. Unzweifelhaft ver¬ mehren diese Muskeln die Anschwellung und Steifigkeit durch Verkürzung und Pressung, aber nur unter der Be¬ dingung, dafs der Hückflufs des Blutes aus dem Penis durch den Ilauptvcncnstamm zugleich ge¬ hemmt ist: denu wäre dieses nicht* der Fall, so müfste ein durch Anspannung der äufscren fibrösen Haut des Pe¬ nis auf das innere mit Blut überfüllte Gewebe dieses viel¬ mehr von Blut entleeren: ein Verhältnis, welches der verewigte Meckel sehr richtig erkannt, und daher den genannten Muskelu die Function zugeschriebeh hat, nach beendigter Ereetion die Entleerung des angehäuften Blutes zu befördern. Es ist nicht zu übersehen, dafs die Muse, iscbiocavernosi einer eine gewisse Zeit anhaltenden un- wi llküli rücken Contraction fähig sind, und in dieser während einer kräftigen Ereetion sich wirklich befinden: so wie auch, dafs mehre Menschen imStande sind, durch möglichst lange fortgesetzte und wiederholte willkühr- liche Zusammenziehungen der genannten Muskeln, eine anfangende Ereetion hervorzubringen, die bei aufhörender willkührlicher Wirkung der Muskeln alsbald nachläfst, oder in eine unfreiwillige Erectiou übergeht. Wenn es übrigens bei der Impotenz von mangelnder Ereetion nicht noch auf andere Verhältnisse ankäme, als auf eine nicht in hinlänglicher Stärke und Dauer ausgeübte Zusammen¬ drückung der Vena dorsalis penis: so 'würde dennoch diese Congestion (etwa durch mechanische Mittel) bei einem lebenden Menschen, ohne gleichzeitige Verschliefsung der zuführenden Gefäfse, nicht sogar leicht zu bewerkstelligen sein: dafs aber eine Unterbindung dieser Vene, unter Scho¬ nung der Arterien, wirklich die Ereetion zur Folge hat, ist durch zahlreiche directc Versuche, wie Ticdemaun sich ausdrückt, sattsam bestätigt.

Das Ganglion am hinteren Umfange der Wfurzel des Nervus glossopharyngeus ist, seit Herrn Prof. Müller’s Bekanntmachung, von Herrn Dr. Baring und von mir

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IH. Kopfverletzungen. 145

in mehren verschiedenen Köpfen aufgefunden worden, wo¬ bei wir indessen bemerken, dafs mehre der hinteren Wur¬ zelbündel an seiner Bildung Anthcil nehmen. Ich erin¬ nere mich, diesen Nervenknoten schon gesehen, aber sein Verhältnifs zum Ganglion petrosum nicht vollständig er¬ forscht, sondern ihn für eine Varietät des letzten hinsicht¬ lich der Lage, und für ein doppeltes Vorkommen dessel¬ ben, gehalten zu haben. Unter dankbarer Anerkennung der vielen Bereicherungen, welche die Wissenschaft dem Entdecker bereits verdankt, wird dasselbe gegenwärtig un¬ ter dem Namen Ganglion Mülleri s. jugulare. nervi glos- sopharyngei in die Reihe der Wurzelganglien eintreten müssen.

' ' ' III.

Erfahrungen und Beobachtungen über Kopf¬

verletzungen.

Von

J. F. Dieffenbach,

\

Professor in Berlin.

Schon vor einigen Jahren habe ich in dieser Zeit¬ schrift eine Reihe von Beobachtungen über Kopfverletzun¬ gen mitgetheilt. Es sind mir seitdem wieder Verletzungen des Kopfes vorgekommen, aber ich müfste der Wahrheit geradezu widersprechen, wenn ich sagte, meine Kennt¬ nisse über diese Verletzungen hätten seitdem bedeutend zugenommen, meine Einsichten wären tiefer geworden, und meine Behandlung wäre viel glücklicher. Das Ein¬ zige was ich seitdem noch mehr habe einsehen gelernt ist, dafs ich alle Verletzungen des Kopfes für bei weitem Baifvl 28. Heft 2.

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III. Kopfverletzungen.

gefährlicher halte, als dies früher der Fall war, oder als ich dies von mehren berühmten chirurgischen Schriftstcl- lcrn vernehme. Welch eine rohe Ansicht war es doch, nach welcher man in der Trepanation ein Mittel gefunden zu haben glaubte, eine grofe Zahl von Kopfverletzungen zu heilen! Welch eine Verirrung der Einsicht und An¬ sicht, seehsunddreifsigmal die Krone an den Schädel an¬ zusetzen, und ihn dadurch in ein weitlöcheriges Sich zu verwandeln 1 * Dergleichen hält aber kein Pferd aus. Pud wenn auch wohl Einer zum Triumph der unvernünftigen Kunst davon kommt, so mufs man bedenken, dats ein Mensch, dem ein Pfahl durch den Leih gefahren, oder ein anderer, dem ein Anker in den Hauch gedrungen, oder ein dritter, dem eine Wagendeichsel queer durch die Brust gefahren, dennoch am Lehen geblieben; alles Fälle aus der neuesten Zeit, die uns Froricp’s interessante Noti¬ zen berichten.

In der Regel fürchtet man nur diejenigen Kopfver¬ letzungen, wo der Schädel gebrochen ist; man fürchtet Splitterung, Druck, Reizung, Extravasat, Entzündung oder Erschütterung des Gehirns u. s. w. , ist hier ungemein fein und gelehrt im Deuten und Distinguiren der Erscheinun¬ gen, und beachtet die äufserlichen Beschädigungen der W eichthcilc, besonders der Kopfschwarte wenig, hält eine Verwundung derselben für unbedeutend, legt ein Heftpfla¬ ster darauf, und denkt, die Hautwunde werde schon hei¬ len. Ein Anderer hat Rust’s treffliche Grundsätze über Kopfverletzungen und seine Regeln für die Fälle, wo lu- cisioncn oder Dilatationen nöthig sind, ganz mifsverstau- den, er glaubt, jedem der sich nur den Kopf gestofsen hat, müsse ein Kreuzschnitt an diese Stelle gemacht und das Periost abgeschabt werden; er sucht nach Ritzen, er macht förmlich unterirdische Jagd auf Fissuren und un- terrninirt die Sehädelbcdeckung wie ein Maulwurf. Stirbt dann der Kranke an Erysipclas der Galea, oder an Nc- crose des Knochens, iu deren Folge sich Abtrennung der

147

III. Kopfverletzungen.

dura Mater vom Schädel bildet, so war dies bei der Scctiou alles Folge der richtig erkannten schweren Kopfverletzung.

Es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen einer gewöhnlichen Hautwunde und einer Wunde der Kopfhaut. Wer zu irgend einem Heilzweck eine einfache Incision in die Kopfbedeckungen gemacht hat, und zwar so, dafs sich die eine Hälfte der Wunde in der Galea, die andere in der Stirnhaut befindet, wird bemerken, dafs ungeachtet der genauesten Vereinigung durch Heftpflaster und sorg¬ fältig angewandter kalter Umschläge, der Wundtheil der Kopfhaube bald in Eiterung überging, bald zusammen¬ klebte, während die ganze Umgegend sich crysipela- tös entzündete, worauf dann nachträglich Eiterung ein¬ trat wogegen die Wunde der Stirnhaut genau von der Haargränze an, gar nicht entzündet erschien, sondern schon in wenigen Tagen vollkommen geheilt war.

Dies beweist doch eine ganz besondere Vulnerabilität der Kopfschwarte, welche uns sehr aufmerksam machen mufs. Mehrmals habe ich den Tod nach ganz einfachen Verletzungen der Kopfschwarte eintreten sehen, indem diese Haut sich rosenartig entzündete, worauf Delirien und der Tod eintraten, und wovon ich einige Beispiele anfüh¬ ren werde. In anderen Fällen entstand profuse Eiterung und Entblöfsung des Knochens im Umkreise, und ebenfalls Tod. Es findet nämlich zwischen der äufseren Oberfläche des Schädels und der inneren ein inniger Lebenszusammen¬ hang statt, indem sich auf der letzten secundär derselbe Lcidenszustand ausbildet, der auf der äufseren Oberfläche statt hat.

Jene rosenartige Entzündung der Galea, welche oft unter den stürmischen Erscheinungen der Entzündung der harten Hirnhaut zum Tode führt, zeigt eine weitverbrei¬ tete Lostrennung dieser Haut vom Knochen, und dazwi¬ schen eine schmierige Beschaffenheit der convexen Ober¬ fläche der dura Mater. Bei äufserer Eiterung des Kopfes, welche einer leichten Verletzung folgte, wird dieser schmie»

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148

III. Kopfverletzungen.

ri"c Ueberzug mit graulicher Entfärbung der dura Mater auch bisweilen angetroffen; weit häufiger ist aber dagegen eine Ansammlung von Eiter an der der äufscren Verletzung entsprechenden Stelle unter dem Schädel, welcher hei der Eröffnung als eine dünne ichcrösc Masse hervorstürzt. Ei¬ nige solcher Beobachtungen , wo also der Tod nach ganz leichten äufscren Verletzungen, welche durchaus nur die Kopfschwarte betrafen, erfolgte, werde ich weiter unten anführen. Ich bemerke hier nur noch, dafs diese Gefahr der Verletzung der Galca auch grüfstentheiis in ihrer sch neuartigen Structur liegt, da sehnige Gebilde bekanntlich der heftigsten Entzündung unterwarfen sind.

Jede leichte Verletzung der Galca begehrt daher die strengste antiphlogistische Behandlung; jede Incision und jede Dilatation, frischer Stofs, Fall, Schlag, bedarf der sorg¬ fältigsten Uebcrlegung; denn immer wird dadurch die Ver¬ wundung, und mithin die Gefahr vergröfsert.

Am allerwenigsten darf man aber einen Einschnitt in den Kopf machen, um unter der Haut liegendes Blut zu entfernen, oder eine Fissur aufzusuchen. Wer wird dies heim Beinbruch tlmn, wo die Haut oft zerrissen ist? Es würde allein durch die Eröffnung der Haut die Verjau¬ chung des Gliedes und der Tod herbeigeführt werden. Wenn wir dies inzwischen hei den Knochen der äufscren Gliedmaafsen so sehr fürchten, so mufs cs hei der Kopf¬ bedeckung noch weit mehr der Fall sein. Bleibt z. B. hei einer starken Quetschung des Kopfes die Haut un eröffn et, so kann das Blut wieder resorhirt werden; wird eine Oelf- nung gemacht, so tritt die Luft in das Innere der Extra- vasathöhlc ein, ein Theil des Blutes wird entleert, der andere decomponirt, die Wunde erscheint unrein, schmutzig, und die Verjauchung beginnt.

Ganz anders verhält sich die Sache mit den Einschnit¬ ten am Kopfe, wenn die Verletzung in Eiterung überge¬ gangen, oder Ahsccssc vorhanden sind; hier kann man

«

III. Kopfverletz ungen.

149

nach Belieben cinschncidcn; ein grofser Einschuilt, der auf beiden Seilen über die Eiterhöhle hinaus reicht, ist bei weitem einem kleinen vorzuzichen, und am verwerflich* slen ist dann das blofse Eiustechen mit einer Lancette. Das ist nachtheiliger, als das gar nicht Oeirueu. Die Höhle füllt sieh immer von neuem mit Eiter, die Luft macht den Schädel necrotisch, es kommt zu keiuer reinen Entzündung d r Wandungen, die sich nicht wieder anle- gen. Wer nun hier gar an Druckverbände denkt, um eine Anlegung zu erzwingen, verursacht eine immer wei¬ tere Abtrennung; denn zwei unreine Flächen wachsen nicht zusammen. Es giebt keinen verderblicheren Grundsatz in der Chirurgie, als den, dafs man zwei mit necrotisirtem Zellgewebe überzogene Flächen mit einander in Berührung erhält, sie dccomponircn sich wechselseitig, und werden immer unreiner. Selbst zwei reine Granulationsflächen werden meistens unrein, wenn sie aufeinander liegen; ge¬ nähert müssen sie einander wohl werden, aber es mufs ein fremder StolF dazwischen liegen. Hier ist die wech¬ selseitige Berührung eben so nachtheilig, als sie bei fri¬ schen Wuuden nolhwendig ist; bei letzten der dazwischen liegende fremde Körper so schädlich, als bei jenen vor- theilhaft. »

Es sei mir erlaubt, hier eine Anzahl von Fällen mit- zuthcilen, welche mir innerhalb der letzten Jahre vorge¬ kommen sind. Manchem mag es vielleicht ganz unnütz erscheinen, dals ich auch Fälle von einfachen Verletzun¬ gen der Kopfhaut bekannt mache; doch erhallen diese durch ihre namhafte Zahl, und durch die Zusammenstel¬ lung mit schweren Beschädigungen des Kopfes einigen Werth. Dieser ist auch gewifs nicht geringer, als der so mancher anderen in mcdicinischen Journalen mitgelheiltcn Aufsätze.

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150

III. Kopfverletzungen.

Falle von Verletzungen der ankeren Bedeckungen des Kopfes an verschiedenen Stellen desselben.

Ich habe schon oben bemerkt, dafs die Kopfbedeckun¬ gen durchaus keine Neigung zur ersten Vereinigung ha¬ ben. Kein Tbeil des Körpers zeichnet sich in dieser Be¬ ziehung auf eine so unvorteilhafte Weise vor allen übri¬ gen aus. Fast jede einfache Wunde der Kopfhaut, sie mag klein oder grofs sein, der Länge oder der Quere nach verlaufen, die Haut gerade oder schief durchschnciden , sie teilweise oder ganz trennen, es mag das Periosteum un¬ verletzt sein, oder vom Knochen getrennt, die W unde von einem scharfen Werkzeuge oder vou einem stumpfen Körper herrühren: fast immer geht die Wunde in Eite¬ rung über, und heilt nur durch den Granulationsprozefs. Einige höchst seltene Ausnahmen von dieser Hegel können nicht berücksichtigt werden. Wir müssen uns bei unserer Behandlung nach der eigentümlichen Neigung der Wun¬ den der Kopfbedeckungen nur durch jenen Prozefs zu hei¬ len richten. Wir müssen daher alles vermeiden, was die Heizung und Entzündung vermehrt, die prima intentio nicht etwa durch blutige Näthc oder auch nur durch Heft¬ pflaster erzwingen wollen, sondern immer unsere Zuflucht zum Eise oder zum kalten Wasser nehmen. Blutige Hefte sind höchstens in den Fällen anzuwenden, wo ein losgc- rissener Lappen der Kopschwartc sich so stark zurück¬ zieht, dafs dadurch der Schädel auf einer bedeutenden Fläche entblöfst wird, aber hier nur in der Absicht, um den Knochen nicht absterben zu lassen, und das Gehirn gegen den mittelbaren Einllufs der Luft zu schützen.

Diese geringe Neigung der Kopfschwarte, ihre zufäl¬ ligen Wunden durch prima intentio zu schliefsen, beob¬ achtete ich nicht allciu bei allen zufälligen Beschädigun¬ gen, sondern auch bei unendlich vielen Operationen am Kopfe, z. B. Exstirpationen von Blutschwämmen, Hygro- men heilten die Wunden immer durch Granulation, auch

UL Kopfverletzungen. 15 1

wenn kein Hautmangel da war. Verpflanzt dagegen legt diese Haut diese Eigenthümlichkeit ab, indem sic sich, zum Nasenersatz benutzt, eben sowohl wie die Stirnhaut, mit der Gesichlshaut verbindet. Doch bin ich von dieser Operationsmethode, wegen jetziger gröfserer Besorgnils vor hedeutenderen Wunden der Galea, etwas zurückge¬ kommen.

Bei diesen oberflächlichen Kopfverletzungen sind aulser den kalten Umschlägen, Blutentziehungen und Abführmit¬ teln in der ersten Zeit, in der zweiten, besonders bei öde- matöser Geschwulst der Kopfschwarte, Umschläge von lauer Aqua saturnina vortheilhaft. Bei sccundären Zu¬ fällen behaupten Galomel und Aruica noch immer ihren alten Ruf.

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Ich gehe hier nun zuerst zu den Fällen von Ver¬ letzung der Kopfbedeckungen ohne Beschädigung des Kno¬ chens über:

1. Ein Maurergeselle, 24 Jahre alt, stürzte, indem er eine Last trug, mit dem Kopfe auf eine steinerne Stufe, worauf er einige Zeit bcwufstlos liegen blieb. Die einige Zoll lange Wunde auf dem linken Scheitelbeine zeigte eine Entblöfsung des Knochens, die Galea im Umkreise der Wunde war stark angeschwollen. Bei einer kühlenden Behandlung erfolgte die Heilung durch Eiterung ohne wei¬ tere Zufälle.

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2. C. Pascnow, ein 12jähriger Knabe, stürzte zwei

Stock hoch herab und traf mit der Stirne zuerst den Bo¬ den, wo er gegen die Ecke eines Holzstücks fiel. Unge¬ achtet der Höhe des Sturzes, war das Bewufstsein keinen Augenblick gestört. An dem rechten vorderen Theile des Scheitelbeines befand sich eine gelappte Wunde von Zoll Länge. Der Knochen war zwar entblöfst, aber kein Bruch zu entdecken. Zwei obere Schneidezähne waren abge¬ brochen, und das linke Knie stark gequetscht. Blutegel,

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III. Kopfverletzungen.

Eisuraschliige und kühlende Abführungen stellten den Kran¬ ken so schnell wieder her, dafs er schon nach 12 Tagen mit geheilter Wunde entlassen werden konnte.

3. Der 27jährige Glaser wurde durch einen Ochsen, welchen er an einem Seile führte, Hingerissen, eine Strecke weit geschleift, und erlitt hierbei an mehren Körpertei¬ len Contusionen und eine Zerrcifsung der Kopfbedeckun¬ gen von drei Zoll Länge über dem linken Scheitelbeine, mit Entblöfsung des Knochens. Er wurde streng antiphlo¬ gistisch behandelt, und die Heilung erfolgte binnen weni¬ gen Wochen.

4. E. Pagel, 30 J. alt, eine Epileptische, stürzte in einem heftigen Anfälle rückwärts zu Boden, und erlitt eine bedeutende Quetschung des Hinterhauptes. In der Mitte der Geschwulst befand sich eine W7undc von einem Zoll Länge. Eine Erweiterung der W unde zeigte den Kno¬ chen unverletzt. Die gewöhnliche Behandlung stellte die Kranke wieder her; doch entzog sie sich der Behandlung, ehe die W unde geschlossen war. Epileptische Anfälle waren in der Zeit der Behandlung nicht cingetrctcn.

5. Joh. Schubert, 21 jähriger Arbeitsmann, stürzte rücklings vom Gerüste etwa 12 Fuls hoch herab aufs Kreuz, mehre Steine mit sich nachreifscnd. Der Kranke wurde sogleich bei Besinnung nach der Charite gebracht. Hechts auf der Stirn waren geringe Spuren einer Contu- sion, rechts eine etwa -j Zoll lange gequetschte Längen- wunde. Uebrigens klagte der Kranke nur noch über einen Schmerz in der linken Seite, der durch einen hcrabrol- Jendcu Steiu vcranlafst worden war; äufscrlich war nichts sichtbar.

Behandlung: Adcrlals, Eisumschläge über den Kopf, innerlich Natr. sulph. Nach 18 Tagen wurde die W’unde durch Eiterung geheilt.

1IL Kopfverletzungen.

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6. Mar ie Lohmey, ein öffentliches Mädchen, stürzte sich, um einer Mifshandlung zu entgehen, aus dem zwei¬ ten Stock ihrer Wohnung auf die Strafse. Die linke Seite der Stirn erlitt eine bedeutende Quetschung, und über dem Arcus superciliaris entstand eine kleine tiefe Wunde, durch welche man indessen keinen Knochenbruch ermit¬ teln konnte. Aufserdem war das Gesicht und das linke Handgelenk stark gequetscht. Eine Reihe bedenklicher Zu¬ fälle folgte der Verletzung; doch wurde durch eine streng antiphlogistische Behandlung, durch Aderlässe, Blutegel, kalte Umschläge, die Gefahr beseitigt, und die Kranke war binnen vierzehn Tagen geheilt.

7. Sophie Klatt, Dienstmädchen, 22 Jahre alt, aus Freienwalde, ward von Kavallerie übergeritten und durch einen Säbelhieb in den Kopf verletzt. Der Hieb geht, quer anfangend, über das rechte Scheitelbein, ist zwei Zoll lang, und durchdringt nur die Haut. Dabei empfin¬ det die Kranke Schmerzen in der Brust und dem Rücken, Taumel und Schwere im Kopfe. Es ward eine Venaseetion von einem Pfunde gemacht, kalte Umschläge über den Kopf, und innerlich eine Solut. Natri sulph. cum Nitro

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depur. gegeben. Da sich am folgenden Tage die Schmer¬ zen nicht gehoben hatten, wurden 20 Blutegel auf die Brust gesetzt, kalte Umschläge fortgesetzt, und innerlich ein Decoct. Althaeae mit Nitrum und Tart. stibiat. gereicht.

Bei dieser Behandlung liefsen die Schmerzen bald ganz nach, und da die Kopfwunde schon längst vernarbt war, so konnte die Kranke als geheilt entlassen werden.

8. Georg Herzog, 38 J. alt, fiel mit dem Hinter¬ kopfe auf das Steinpflaster, und wurde dadurch stark be¬ täubt. Es fand sich, nachdem das Haar abgeschoren wor¬ den, gerade mitten auf dem Hinterhauptsbeine, eine £ Zoll lange und 3 Zoll breite gequetschte Wunde, die Umge¬ gend contundirt, sonst weiter keine Verletzung. Der

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III. Kopfverletzungen.

Kopf war frei, das Allgemeinbefinden ungetrübt. Eine Salzlaxanz, ‘20 Blutegel und kalte Umschläge beseitigten die Nacht hindurch den Schmerz in der Wunde, so dafs der Kranke bald wieder entlassen werden konnte.

9. C. Schice f, ein 31 J. alter gesunder Arbeitsmann, erhielt durch den Fall von einem Wagen eine fast 1 Zoll lange Wunde an der linken Kopfseite. Durch einen zu gleicher Zeit über den Kopf gehenden Schlitten wurden der Antitragus und die Concha des rechtcu Ohres dicht am Knochen abgerissen. Drei blutige Hefte wurden zur Vereinigung der letzten Wunde angelegt, und über beide verletzte Stellen kalte Umschläge gemacht, innerlich wurde eine Salzlaxanz gegeben.

Nach drei Wochen konnte der Kranke, vollkomineu geheilt, entlassen werden.

10. Johann Lehmann, Arbeitsmanu, 30 J. alt, ward in einem Streite mit seiner Frau von derselben in den Kopf gebissen. Der Bifs war oberflächlich durch die Kopf¬ bedeckung gedrungen, und hatte unbedeutende Geschwulst und später Eiterung zuwege gebracht. Es wurden Catapl. cnioll. ad locum affectum applicirt, und die Geschwulst schwand bald. Die Vernarbung der Wuude ging bei ein¬ facher Behandlung leicht von statten.

11. Wilhelm Bon net, Schneidergesclle, 31 J. alt, fiel so stark auf ein stumpfkantiges Stück Eisen mit dem Gesicht, dafs er besinnungslos nach Hause gebracht wei¬ den rnufste. Am folgenden Tage kam er in die Charite. Eine genaue Untersuchung ergab Folgendes: Dicht über dem oberen Orbitalrandc des rechten Auges war eine un¬ gefähr ‘2 Zoll lange und -J- Zoll breite Wunde; der Knochen war jedoch unverletzt. Das obere und untere Aogenlied waren bedeutend angesch wollen, und thciUveise mit Blut unterlaufen; das Allgemeinbefinden gut. Es wurde eine

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III. Kopfverletzungen.

Venasectiou von 1 Pfund gemacht, und 20 Blutegel ad locum affect. gesetzt. Hierauf kalte Umschläge gemacht, innerlich eine Solut. Natri sulph. gereicht. l)a am Abend ziemlich lebhaftes Fieber eintrat, was auch am fol¬ genden Tage noch fortdauerte, so erhielt Pat. ein Decoct. Althaeae mit Nitr. und Natr., wonach das Fieber nachliefs. Die Geschwulst sank bei Anwendung der kalten Um¬ schläge immer mehr, und die Wunde wurde nun einfach behandelt, so dafs Patient bald als geheilt entlassen wer¬ den konnte.

12. J. Berendt, Arbeitsmann, 21 J. alt, aus Witten¬ berg, ward im Gedränge von berittenem Militär verfolgt, und erhielt einen Säbelhieb in den Kopf. Bei näherer Un¬ tersuchung fand sich, dafs die Wunde 2-J- Zoll lang, gerade in der Vereinigung der beiden Scheitelbeine verlief, und sich bis an den Winkel des Hinterhauptbeines erstreckte, nach vorn nur die Haut durchdrang, nach hinten aber an einer ± Zoll langen Stelle die Beinhaut durchfühlen liefs. Die Ränder waren scharf abgeschnitten, durch Coagulum mit einander vereinigt, und nur nach hinten einige Linien auseinander stehend. Aufserdem klagte der Kranke über Schmerzen an der linken Seite, in der Gegend des Tro¬ chanter, die nach seiner Aussage von erhaltenen Kolben- stöfsen herrühren sollten. Es war jedoch keine Verletzung

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wahrzunehmen.

Es wurden an die schmerzhafte Stelle 20 Blutegel ge¬ setzt, und über die Kopfwunde kalte Umschläge gemacht; innerlich Solut. Natr. sulph. gegeben.

Die Schmerzen an der Hüfte nahmen bald ab, und die Kopfwunde heilte durch Eiterung, so dafs der Kranke, beinahe völlig geheilt, seine Entlassung forderte.

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13. Heinrich Günther , Schlossergeselle, 36 J. alt, aus Halle, fiel von einer beträchtlichen Höhe herab und ver¬ letzte eich dabei bedeutend den Ilinterkopf. Bei der Un-

156 IH. Kopfverletzungen.

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tcrsuchung zeigte sich an der rechten Seite des Ilintcr- kopfcs eine halbmondförmige, etwa im Kreise 2 Zoll be¬ tragende gequetschte Wunde, die bis auf das Periosteum ging, und neben dieser eiue zweite, 1 Zoll lange Längen- wumle. Beide wurden, durch Trennung der llautbriicke, mit dem Pilaster in eine verwandelt, und Eisumschläge gemacht; auch ward eine Vcnäsection angeslcllt, und in¬ nerlich Natrum sulph. gegebeu. Die Wuude heilte ohne Zufalle durch Eiterung.

14. Johann Berger, Arbeitsmann, 3S J. alt, bekam in der Trunkenheit Schläge, und fiel dabei auf den II in* terkopf. Bei seiner Aufnahme in die Charite war er noch im trunkenen Zustande, Gesicht geröthet, Puls fieberhaft, die Zunge belegt, Erbrechen war vorher dageweseu. Am, lliulerkopfe, an der Verbindungsstelle des Hinterhaupt¬ beines mit dem Scheitelbeine, fand sich eine dreieckige Längenwunde, die bis auf den Knochen drang, letzter war jedoch ganz unversehrt. Es wurde ein Aderlafs von 1 Pfund gemacht, und Sohlt, uatr. sulph. mit Tart. stib. gegeben. Es trateu keine weitereu Zufälle ein, und die Wuude heilte durch Eiterung.

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15. C. Köpke, 53 J. alt, Wäscherin, stürzte mit ei¬ ner Last Holz von einer steilen Treppe herab, und traf mit dem Kopfe auf deu scharfen Hand einer Mauer, wo¬ durch ein fast handgrofser Lappen der Kopfschwarte vom linken Os bregmatis abgestreift wurde; das Pericranium war an dieser Stelle meistens mit abgeschält. Ungeachtet keine Erscheinung von Affcctiou des Gehirns sich cin- stellte, so wurden doch Blutentzichungcn angewandt, kalt fomentirt und kühlende Abführungen gegeben. Darnach trat heftiges Fieber ciu, dem eine starke Eiterung und thcilweisc Zerstörung des Lappens durch dieselbe folgte. Da sich die Kopfschwarte nach allem Seiten hin untermi- uirte uud der Ausllufs des Eiters durch den Lappen geh in-

III. Kopfverletzungen. 157

dert wurde, so wurde dieser gespalten, und bald darauf bildete sich eine üppige Granulation, und schon nach vier Wochen war die Kranke so weit genesen, dafs sie, ihrem dringenden Wunsche gemäfs, mit einer kleinen noch ei¬ ternden Stelle am Kopfe, in ihre Wohnung entlassen wer¬ den konnte.

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6. Johann Münchow, 34 J. alt, erhielt durch ei¬ nen Schlag mit dem Bayonettc an der linken Seite des Ilinterkopfes, über der Protuber, occipit. externa, eine ly Zoll lange Wunde, welche stark blutete. Die Unter¬ suchung ergab, dafs es eine einfache Trennung der Haut vom Zellgewebe sei, ohne Verletzung derGalea aponeurotica. Die Wunde wurde mit Charpie bedeckt und Eisumschläge angewandt. Das Allgemeinbefinden blieb immer gut, und als wegen einer Eiteransammlung die Wunde dilatirt wurde, fand sich der Schädel noch vom Pericranium be¬ deckt. Er war in drei Wochen so gebessert, dafs er ent- lassen werden konnte.

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7. J. Köhler, Schlossergeselle, 42 J. alt, ein cor- pulenter Säufer, wurde von einem Spielsgesellcn überfal¬ len und durch einen Schlag mit einem Steine am Hinter¬ haupte verwundet, so dafs er vorn überstürzte. und sich, indem er mit dem Gesicht zur Erde liel, die Umgegend des linken Auges bedeutend quetschte. Die gequetschte, bis auf die Protuberantia occipitalis eindringende Wunde, war in einem weiten Umkreise geschwollen und entzün¬ det, und das ganze Auge mit Blut unterlaufen. Bei küh¬ lender Behandlung trat indessen kein gefährlicherer Zufall ein, und der Kranke wurde vollkommen geheilt.

8. J. Zachert, 45 J. alt, erhielt in einem schwer¬ betrunkenen Zustande eine Hiebwunde in den Kopf, in der Mitte des linken Scheitelbeines, wodurch diesem 1 Zoll lang entblöfst wurde. Anfangs zeigten sich keine Erschei-

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UI. Kopfverletzungen.

oungcn, nach zwei Tagen jedoch entwickelte sich ein hef¬ tiges Fieber, und die Wunde und die umgebende Kopf¬ haut entzündeten sich bedeutend. Bei der strengsten anti¬ phlogistischen äufscren und inneren Behandlung legten sich indessen diese Symptome, es trat eine gutartige Eiterung ein, und der Kranke konnte rach vier Wochen geheilt entlassen werden.

19. W. Nonicke, 39 Jahre alt, erhielt im trunkenen Zustande mit einem eisernen Instrumente mehre Schläge auf den Kopf und ins Gesicht. Es wurde eine Venäsection, kalte Umschläge auf den Kopf, und eine Abführung durch Natr. sulphuricum verordnet. Nach einem ruhigen Schlafe fühlte sich der Kranke vollkommen wohl, und wurde am dritten Tage entlassen.

‘20. Fricdrikc Mcurit, 17 J. alt, fiel mit dem Kopfe so heftig gegen ein Treppengeländer, dafs sic sogleich das Bewufstscin verlor. Ein herbeigerufener Arzt schickte die Kranke, nachdem er Einiges verordnet hatte, sogleich nach der Charite, wo sie in eiuem sehr abgespannten Zu¬ stande ankam. Auf dem linken Scheitelbeine war eine durch eioen Kreuzschnitt vergrpfserte Wunde. Die Un¬ tersuchung mit der Sonde ergab, dafs der Knochen nicht verletzt war. Sogleich wurde eine Venäsection von lj- Pfund vollzogen; innerlich erhielt die Kranke eine Solut. natri sulphur., äufserlich kalte Umschläge über den ganzen Kopf. Am folgenden Tage hatte die Kranke sich wieder erholt, und ihr Befinden war, Schwäche abgerechnet, recht "ut. Mit den kalten Umschlägen auf die Kopfwunde wurde noch einige Tage fortgefahren, und diese sodann durch cin- gcbrachte Charpie bis zum 21 sten Tage offen erhalten, von welcher Zeit ab man die Heilung (durch einfachen Salbenvcrband und durch Anwendung des Lapis infornalis) einleitetc, die rasch von statten ging. Das Allgemeinbe¬ finden der Kranken war fortwährend gut.

III. Kopfverletzungen. 159

21. W. Ortei, 18 J. alt, wurde von einem von ei¬ ner bedeutenden Höhe herabstürzenden Mehlfasse, von des¬ sen scharfem Rande, am Kopfe gestreift, auf dem sich rechts von der Pfeilnath eine 1^ Zoll lange, bis auf den Schädel dringende Wunde fand, deren Umgebung bei der Aufnahme in die Charite» stark entzündlich erschien. Da¬ bei war starkes Fieber und Heftige Affection des Kopfes vorhanden. Durch kühlende äufsere und innere Behand¬ lung wurde der Kranke, ohne weitere Zufälle , völlig wie¬ der hergestellt.

22. Der 41jährige Sommerlotte trug durch einen Fall mit der Mitte der Stirn auf das Steinpflaster eine Wunde von drei Zoll Länge davon. Erst mehre Tage nach dem Eintritte der Eiterung begab sich der Kranke, heftiger Schmerzen und Anschwellung der Umgegend wegen, in die Charite, wo er durch Cataplasmen und Salbe ge¬ heilt wurde.

23. Der Kattundrucker Niemann, 23 J. alt, fiel mit dem Kopfe auf das Steinpflaster. Es zeigte sich darauf eine Wunde von über vier Linien Länge auf dem rechten Scheitelbeine. Die Sonde stiefs auf den blofsen Schädel. Es zeigten sich einige Gehirnzufälle und Vorboten von De¬ lirium tremens. Es wurde stark zur Ader gelassen und eine sehr kühlende Behandlung angefangen, und mehre Tage lang fortgesetzt. Es entzündete sich dann die Galea in grofsem Umkreise um die Wunde, sie wurde teigig und löste sich vom Schädel. Ein Einschnitt wurde nüthig. Die Jauche verwandelte sich in guten Eiter, und die Wunde heilte, ohne dafs sich etwas vom Knochen exfo- liirt hätte. Fünf Wochen nach seiner Aufnahme verliefs der- Kranke die Anstalt.

24. Daniel Herms, Zimmergeselle, 20 Jahr alt, aus Perleberg, fiel von eiuem Gerüste, und ward ohne Besin-

III. Kopfverletzungen.

160

uung nach der Charite gebracht. Bei der Untersuchung fand 6ich au der rechten Augenbraune eine Ij-Zoll lange, ge¬ quetschte, schiefe, nach aufsen verlaufende Wunde, die durch Anlegung einer blutigen ISath in der Mitte verei¬ nigt wurde; aufserdom aber am rechten oberen Augenlicde ein Ecchymom, und beide Hände etwas geschwollen uud schmerzhaft. Aufserdem war nichts wahrzuuehmen.

Es wurde sogleich ein Adcrlafs von 12 Unzen gemacht, an die Handgelenke Blutegel gesetzt, und über letzte und den Kopf Eisumschläge applicirt. Die prima intentio ge¬ lang vollkommen, eben so verschwand das Ecchymom bei fortgesetzter Behandlung, nur blieben die Handgelenke noch längere Zeit schmerzhaft, so dafs öftere Anwendung von Blutegeln nüthig wurde. Es verminderten sich die Schmerzen, und der Krauke ward auf 6ein Verlangen, bei¬ nahe ganz geheilt, entlassen.

25. II. Min gram, 30 Jahre alt, ein kräftiger Mann, wurde durch einen Lanzenstofs am oberen Theile der Stirne verwundet, worauf er augenblicklich besinnungslos zu Bo¬ den stürzte. Es stellten sich hierauf andere Zufälle, welche auf eine bedeutende Hirnaffcction schlicfsen liefsen, ein. Bei der Aufnahme in die Charite war der Kranke noch unbesinnlich, auch hatte sich ein starkes Fieber eingestellt. Nach einer starken Blutcntlcerung und starken Abführ¬ mitteln, verschwand indefs alle Gefahr, es stellten sich keine neuen Zufälle wieder ein, und der Krauke konnte in der fünften W oche geheilt entlassen werden.

26. Neumann, Tischler, 26 J. alt, zwei Kopfver¬ letzungen von 1 Zoll Länge; der Schädel lag blofs; keine Zufälle; fast geheilt entlassen.

27. Dem A. B ruin ert, 19 J. alt, wurde durch ein un- bcschlagcucs Pferd eine mehre Zoll lange Wunde über der liukeu Augcubraunc geschlagen, und zugleich der Kuochcn

von

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III. Kopfverletzungen. 161

von der ßcinhaut entblöl'st. Die Wunde heilte binnen drei Wochen ohne Zufälle.

28. J. Apfelbaum, Sclmhmachergcselle, 42 J. alt, ein kräftiger Mann, stürzte eine Treppe herab, und fiel mit dem Kopfe auf den Boden. Er blieb bewufstlos lie¬ gen. An der rechten Seite des Schädels, auf der Mitte des Scheitelbeines, fand sich eine 1 Zoll lange, gequetschte, bis auf den Knochen eindringende Wunde mit angeschwol¬ lener Umgegend. Der Kranke, welcher die erste Zeit von einem anderen Arzte behandelt worden war, erholte sich bald wieder, und bei einer kühlenden Behandlung und einem einfachen Verbände erfolgte binnen sechs Wochen völlige Heilung.

29. C. Horn, Nachtwächter, 43 J. alt, erhielt mit einem kleinen Beile, welches die Krücke eines Spazier¬ stockes bildete, einen Hieb auf den Kopf, dafs er zu Bo¬ den fiel. Dennoch folgten keine weiteren Zufälle, welche auf eine Affection des Gehirns deuteten. Die zwei Zoll lange Wunde befand sich am oberen Rande des linken Scheitelbeines, der Schädel war aber nicht entblöfst. Eine kleinere, leichtere Wunde, befand sich etwas weiter ab¬ wärts. Obgleich dem Kranken zur Ader gelassen und kalte Umschläge gemacht wurden, so bildete sich dennoch in den nächsten Tagen ein Erysipelas aus, welches den ganzen Kopf und das ganze Gesicht einnahm, mit den ge¬ fährlichsten Erscheinungen ab wechselte, und von Delirien und tiefem Sopor begleitet war. Die Heilung gelang in¬ dessen binnen drei Wochen.

30. C. Herhold, Maurerlehrling, 21 J. alt, aus Kö¬ nigsberg in der Neumark, ward durch einen hcrabfalleu- den Mauerstein am Kopfe verletzt. Er ward den 26. Au¬ gust 1830 in die Charite gebracht. Bei näherer Untersu¬ chung zeigte sich die WTunde höchst unbedeutend, gegen

Band 28. Heft 2. 11

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III. Kopfverletznngcn.

Zoll lang, oberflächlich, nicht einmal überall die Cutis pcnctrircnd. Die Umgegend dagegen war bedeutend ge¬ schwollen, doch fehlten bedenkliche Zeichen gänzlich. Es ward eine reichliche Vcnäscction gemacht, und Eisuin- schlage auf den Kopf; innerlich eine salinischc Abführung gegeben.

In nicht gar langer Zeit erholte sich der Kranke gänz¬ lich, die Wunde vernarbte, und er ward den 3. Scpt. ge¬ heilt entlassen.

31. Gottlob Wallow, 30 J. alt, bekam einen Hieb mit einem stumpfen Säbel über den Kopf, welcher eine 1’ Zoll lange, bis auf die Beinhaut des Schädels gehende Wunde hervorbrachte. Zu gleicher Zeit wurde der linke Oberarm durch einen dicken Knittel stark contundirt. Es wurde eine Venäsection von anderthalb Pfund gemacht, und Eisumschläge angewandt. Es traten im Verlaufe der Krankheit keine bedenklichen Zufälle ein, und die Wunde heilte bei einer einfachen Behandlung durch Granulation.

32. Charlotte Volker, 49 J. alt (aufgenommen in der Charite den 7. Octob. 1829, gebessert entlassen den 10. Nov.). Patientin wurde von ihrem Sohne mit einem Steine geschlagen. Eine gequetschte Wunde durchdrang am linken Scheitel die Haut zwei Zoll lang bis auf den Knochen, eine ähnliche war daneben, und eine dritte rech- tcrscits. Erweiterung der Wunden, Aderlafs, kalte Um¬ schläge, Laxanzen, Fufsbäder. Es traten keine bedenkli¬ chen Zufälle ein, und die Wunden heilten binnen drei Wochen durch Eiterung.

33. W. Alisch, Maurergeselle, 22 J. alt, stürzte von einem einstöckigen Gerüste auf das Steinpflaster, und be¬ rührte mit dem Bande der Orbita des rechten Auges den Boden. Der Augcnliedrand hatte eine -J Zoll lange, ge¬ quetschte W unde, und der Knochen war cntblöfst und

IIL Kopfverletzungen. 163

rauh, die Augcnliedcr mit Blut unterlaufen; aufserdem war der rechte Arm stark gequetscht und eine Crepitation am unteren Ende des Radius vorhanden. Aderlafs, Blutegel und kalte Umschläge wurden sogleich angewandt, und nach einigen Tagen der Arm eingewickelt. Die Heilung erfolgte ohne Zufälle.

34. Val. Cap sch, 40 J. alt, Drechslergeselle, fiel mit dem Kopfe gegen eine Tischecke und stiefs sich eine 1 Zoll lange Wunde auf der Mitte des Scheitels. Der no- chen war entblöfst. Es erfolgte Heilung durch Granulation.

35. Carl Fanchow, ein kräftiger, sonst gesunder, 21 J. alter Kutscher, fiel am 2. Nov. 1829 rücklings mit dem Scheitel gegen die Ecke eines harten Körpers, wodurch er sich eine stark blutende, sehr geröthete und an den Rändern gerissene, einen Zoll lange Wunde zuzog, welche sich in die Tiefe bis zur Gal. aponcur. erstreckte. Die genauere, nach Entfernung der Kopfhaare und Erweite¬ rung der Wunde angestellte Untersuchung ergab das näm¬ liche. Kühlende’ Ableitungen auf den Darmkanal und eis¬ kalte Umschläge auf den Kopf wurden bis zum Eintritte der Eiterung angewandt, sodann die Wunde ganz einfach

verbunden, und der Kranke am zwölften Tage entlassen.

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36. Johanna Kuntz, 44 J. alt, erhielt mit einem stumpfen Werkzeuge, 2 Zoll über dem rechten Ohre, eine -f- Zoll lange, 4 Zoll breite gequetschte Hautwunde, mehre Contusionen in der Umgegend und fiel darauf io eine Ohn¬ macht, die wohl eine Viertelstunde anhielt. Sie empfand darauf dumpfen Kopfschmerz, Schwindel, Schmerz in der Umgegend der Wunde, wie in derselben, welche Schmer¬ zen bei ihrer Aufnahme noch fortdauerten.

Ein Aderlafs von 10 Unzen Blut, mehrmaliges An¬ setzen von Blutegeln und anhaltend fortgesetzte kalte Um¬ schläge, hatten das Befinden der Kranken sehr gebessert,

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III. Kopfverletzungen.

und nacli dem Gebrauche von einer Solulio natri sulphur. cum nitro wurde sie nach acht Tagen als geheilt entlassen.

37. Ale, Schlosser, 41 J. alt, bekam durch einen Fall auf den Kopf während eines Rausches, eine 1 Zoll grofse Wunde auf den rechten Scheitel, wobei zugleich das Pe- riosteum mit abgestreift war. Die Heilung erfolgte in vier Wochen.

38. C. Heydcmann, 39 J. alt, hatte mit einem Drci- fufs einen Schlag auf den Kopf bekommen, an der Stelle, wo sich das Stirnbein mit dem unteren vorderen Winkel des Scheitelbeines verbindet. Die Wunde war zehn Li¬ nien lang. Man sah an dieser Stelle eine Spalte im Kno¬ chen, deren Grund etwas eingedrückt war. Die Haut¬ wunde wurde etwas erweitert, und darauf die strengste antiphlogistische Behandlung angefangen. Gchirnzufälle wa¬ ren gar nicht vorhanden, und traten auch in späterer Zeit nicht ein. Die Wunde füllte sich bald mit Granulation aus, und die Kranke, welche am 24. August aufgenom¬ men war, wurde am 14. October geheilt entlassen.

39. Frau Hasse, 32 J. alt, erhielt durch einen Schlag mit einem scharfen Blechlöffel eine dreieckige Wunde,

welche sich von der Stirne über die Nasenwurzel er-

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streckte, und bis auf den Knochen cindrang. Die Heilung erfolgte ohne weitere Zufälle.

40. Carl Richter, Arbeitsmann, 31 J. alt , von ziem¬ lich guter Constitution, war vor 8 Jahren von einem Hause gefallen, und hatte seitdem noch eine lähmungsar¬ tige Schwäche der unteren Extremitäten, und zuweilen ziehende Schmerzen nach dem Laufe des Nerv, ischiadicus und cruralis. Jetzt kam er, am 5. September, mit einer gequetschten Wunde über der linken Schläfe und einigen blauen Hecken in derselben und um die Augen

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III. Kopfverletzungen.

Zeichen der Kraftäufserung seiner Frau, in die Anstalt. Er klagte über heftige Schmerzen in den afficirten Stel¬ len, der Puls war langsam, kräftig, voll, deshalb: Venac- sect. ad libr. j., Solut. Natr. sulphur., kalte Umschläge auf die gequetschten Stellen. Die Heilung der Wunde erfolgte durch Eiterung.

41. Die 45jährige Frau Böhm erhielt von ihrem Manne mit einem Stücke Holz einen Schlag auf die Mitte des Kopfes, wodurch eine mehre Zoll lange, bis auf den Schä¬ del dringende Wunde hervorgebracht wurde. Sie war anfangs betäubt, und Zufälle der Hirnreizung dauerten mehre Tage lang. Bei kühlender äufserer und innerer Be¬ handlung, und bei einem späteren einfachen Verbände, er¬ folgte die Heilung binnen einigen Wochen durch den Eite-

rungsprozefs.

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42. Caroline Körner, 34 J. alt, aufgenommen den 13. Iuli 1829, geheilt den 20. ejusd. Patientin sprang, von ihrem Manne gemifshandelt, aus dem Fenster, fiel auf den Kopf, verlor aber nicht die Besinnung. Wüstheit udü Schwindel, über dem linken Auge eine kleine Exco- riation mit schwacher Geschwulst und Suggillation, unter dem Auge ein kleines Ecchymom. Auf dem linken Auge Striemen und geringe Schmerzen, am Halse Schmerz ohne Merkmale der Verletzung. Die Heilung erfolgte ohne weitere Zufälle.

43. Jacob Friese, 54 J. alt, aufgen. 14. 4. 30, ge¬ heilt 27. 4. 30. Patient fiel von einer Treppe, mit dem Gesicht auf die Stufen. Betäubung unbedeutend. Das rechte Auge suggillirt und schmerzhaft, der Rücken längs der Wirbelsäule, ohne äufsere Merkmale, schmerzhaft. Kalle Umschläge. Sol. nitri et natri sulph.

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44. Otto Rösener, 41 jähr. Schneidermeister, erhielt im Streite einen Schlag auf die linke Schläfe, worauf er

166 III. Kopfverletzungen.

bevvufstlos niederst ürzte. Zu sieh gekommen, empfand er heftige Schmerzen in der ganzen liuken Seite des kopfe9, und wurde mit dieser Klage aufgenommen. Die Stelle war geröthet und keife, auf dem liuken oberen. Augenlicde Suggillation.

Behandlung. Blutegel an die Schläfe, und kalte Umschläge, stellten den Kranken nach fünf Tagen voll¬ kommen her.

45. Johann Bastian, ein 48 Jahre alter Tagelöhner, bekam bei einer Rauferei bedeutende Faustschläge ins Ge¬ eicht und auf das Hinterhaupt; auch hatte man ihm den Hals mehrcmale stark zusammengedrückt. Gegen die Folgen dieser Gewalttätigkeiten, nämlich Heiserkeit und Contu- sionen, wurde eine starke Venäsection gemacht, worauf der Kranke sich um so vieles besser fühlte, dafe er so¬ gleich wieder entlassen zu werden verlangte.

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46. Georg Ziegen heim, 30 J. alt. Der trunkene Kranke fiel von einer Treppe mit dem Kopfe gegen einen Eckstein, und blieb betäubt liegen. Aus der Kopfwunde soll er an vier Pfund Blut verloren haben. Bei der Un¬ tersuchung fand man über dem äufseren Augenhöhlenrande der rechten Seite eine 1^ Zoll lange, } Zoll tiefe bis auf die Galea aponeur. dringende, J- Zoll klaffende und in ziemlich gerader Richtung auf dem Stirnbeine von oben nach unten gehende Wunde. Die Umgegend war ge¬ spannt und schmerzhaft, die rechten Augenlicder etwas ge¬ schwollen und suggillirt; Knochenverletzungen waren nicht zu entdecken. Das Allgemeinbefinden war, aufser ei¬ nem Gefühl von Schwere im Kopfe und geringen Ucbel- keiten, gut; wie auch Puls und dio übrigen Functionen normal waren.

47. Runge, Maurergeselle, 28 J. alt. Patient hatte mit einem eisernen Instrumente mehre Schläge auf den

III. Kopfverletzungen. 167

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Kopl erhalten, uml war eine halbe Stunde lang besinnungs¬ los liegen geblieben. Eine genaue Untersuchung des Ko¬ pfes ergab, dafs nur die Weichtheile des Schädels, aber durchaus nicht die Knochen gelitten hatten. Das Allge¬ meinbefinden des Kranken war den Umständen nach gut; er war bei vollkommenem Bewufstsein, und klagte nicht über besondere Schmerzen im Kopfe. Erbrechen war eini- gemale eingetreten; der Puls sehr voll und frequent.

Es wurde sogleich eine Venäsection gemacht; kalte Umschläge über den Kopf, innerlich Solut. natri sulph. verordnet. Allmählig stellten sich jedoch Eingenommen¬ heit des Kopfes, lebhafte Aufregung des Gefäfssystemes, Apathie, Rothe des Gesichtes u. s. w. ein. Eisumschläge, wiederholtes Aderlafs, Btutegel, Blasenpflaster in den Nacken, Salut, natri mit Nitrum, brachten indefs bis zum 5ten Tage bedeutende Milderung der Zufälle hervor. Nach einigen Tagen bildete sich indessen eine Gesichtsrose aus» worauf, als diese ungestört verlaufen war, völliges Wohl¬ befinden bei dem Kranken eintrat.

Die Wunden, welche fortwährend gut geeitert hat¬ ten, wurden geheilt, und der Patient entlassen.

48. Johann Wunsch, Schneidergeselle , 40 J. alt. Patient erhielt in einem Streite mehre Faustschläge in die Schläfengegend, und wurde mit dem Hinterhaupte so hef¬ tig auf das Steinpflaster niedergeschleudert, dafs er 2 Stun¬ den lang besinnungslos liegen blieb. 49 Stunden darauf, den 27. April 1831, kam Pat. zur Anstalt.

Auf der linken Seite des Hinterhauptbeines war eine ungefähr anderthalb Zoll lange, von oben nach unten ge¬ hende Wunde. Da rings um dieselbe die Kopfhaut stark angeschwollen war, so wurde ein Kreuzschnitt gemacht, worauf man den darunter liegenden Knochen unverletzt fand. In der rechten Schläfengegend war eine nach den Faustschlägen entstandene bedeutende Geschwulst.

Das Allgemeinbefinden des Kranken war gut. Er war

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111. Kopfverletzungen.

bei völliger Besinnung, und klagte nur über Schmerz, in der rechten Schläfengegend. Erbrechen war nicht einge¬ treten, wiewohl Patient Uebclkcitcn empfand. Es wur¬ den nach einer \ enäsection kalte Umschläge über den Kopf, und innerlich Solut. Natri sulph. verordnet, bei welcher Behandlung sich Pat. sehr wohl befand. Am ersten Mai stellte sich aber gegen Mittag deutliches Fieber ein, das gegen Abend bedeutend exacerbirtc, und erst gegen Mit¬ ternacht remittirte; dabei war der Kranke weniger besinn¬ lich, mehr apathisch, klagte über Kopfschmerz, und hatte in der Nacht mehrmals ein bitteres, galliges Erbrechen. Eine Venäsection von 1J Pfund und Solut. von Glau¬ bersalz mit Nitrum wurden mit Erfolg angewandt. Drei Tage darauf bildete sich ein Erysipelas faciei aus, gegen weiches , da das Kopfleiden ganz verschwunden war, ein Brechmittel mit dem besten Erfolg angewandt wurde. Mit der Abnahme der Geschwulst im Gesichte, schwanden auch das Fieber und die gastrischen Symptome, und Pat. befand sich darauf ganz wohl. Die Wunde, welche durch eingelegte Charpie offen erhalten war, eiterte gut, und wurde endlich bei einfachem Verbände geheilt. Patient verliefe die Anstalt aiu 24. Mai.

49. Fricdr. Daberietz, Maler, 41 J. alt, aus Ber¬ lin, ward, als er sich von einem Falle wieder aufrichten wollte, durch die Deichsel eines schnell fahrenden Wagens wieder zu Boden geworfen, und dabei vielfach verletzt. vSein Zustand war folgender: Uebcr dem linken Auge, ge¬ rade über dem Orbitalrande, war eine nicht tief cindrin- geude Wunde von 1 Zoll Länge, unter demselben Auge, am unteren Orbitalrande, ebenfalls eine nur kleine Exco- riation. Der rechte Oberarm und die rechte Hand waren bedeutend gequetscht, weniger der linke Unterschenkel; keiner der Knochen, weder das Os frontis, Os maxill. superius, Os brachii und der Handknochen waren gebro-

III. Kopfverletzungen. 169

eben. Das linke Auge war wegen der heftigen Geschwulst geschlossen, dasselbe war unverletzt. Da der Kranke sich im trunkenen Zustande befand, so konnte er über den Hergang des Unglücksfalles nicht genügende Auskunft ge¬ ben, was er jedoch am folgenden Tage, nachdem er sei¬ nen Rausch verschlafen, vollkommen zu thun im Stande war. Es wurden sogleich 20 Blutegel an den rechten Arm und Hand gelegt, eine Yenäsection von 1 Pfund ge¬ macht, darauf kalte Umschläge auf den Kopf, Arm und Hand, und innerlich eine Solut. Natr. sulph. mit Nitr. ge¬ reicht. In den folgenden Tagen mufste dem Kranken der mäfsige Genufs von Branntwein gestattet werden, da die Vorboten des Delir, tremens sich schon zeigten; nichts destoweniger ward die Method. antiphlogistica in ihrem ganzen Umfange noch fortgesetzt.

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Den zehnten Tag nach geschehener Verletzung fing Patient an sehr unruhig zu werden, bekam einen stieren Blick, und sprach viel und lebhaft. Da gegen Abend diese Erscheinungen bedeutend Zunahmen, so wurde ein Aderlafs von 8 Unzen gemacht, und innerlich Calomel zu 4 Gran gegeben. Seine Unruhe dauerte jedoch die ganze Nacht hindurch, und da eine Metastase auf das Gehirn befürch¬ tet ward, so bekam er kalte Umschläge auf den Kopf, des Nachmittags 10 Eimer kaltes Wasser als Uebergiefsung, und 3 Eimer als Sturzbad auf den Kopf, in einem war¬ men allgemeinen Bade sitzend. Nach dieser Application bekam er starke Vesicatoria in den Rücken und auf die Waden , cufserdem innerlich die Calomelpulver.

An den folgenden Tagen ward Patient ruhiger, und hatte seine Besinnung; die Vesicatorc hatten gut gezogen, und die Wunden wurden reizend verbunden, um die Se- cretion zu unterhalten. Des Abends erhielt er: Inf. ilor. Sambuci mit Spir. Minderen und Vin. stib. Hierauf nahm die Besserung des Kranken täglich zu, die Wunden heil-

170 IIL Kopfverletzungen.

ten ohne bedeutende Entstellung, und Patient wurde ge¬ heilt entlassen.

50. Charlo tte Zellmcr, eine 30jährige, kräftige Frau, war mit der Stirn gegen eine Badewanne gefallen, und ohnmächtig liegen gehliehen. Beim Erwachen fühlte sie dumpfen Kopfschmerz, Schwindel, Neigung zum Erbre¬ chen. Eiu bald nachher angestelltcs Adcrlafs brachte zwar einige Erleichterung, aber die Beschwerden wurden hin¬ nen 24 Stunden wieder ärger, und cs trat ein starkes Fieber hinzu. Am dritten Tage kam die Kranke in die Charite. Sie hatte neben dem Tuber frontale der rechten Seite, und zwar nach aufsen, eine gerade herablaufende, gequetschte, über einen Zoll lange, bis auf das Periost eindringende Wunde mit entzündeten Rändern, deren Um¬ gebung contundirt und sehr empfindlich war. Fieber, Uebelkeit, belegte Zunge und Schwindel wurden durch einige starke Venäsectionen , mehrmaliges Ansetzen vieler Blutegel, kalte Umschläge und abführende Salze, so wie durch das einige Tage nachher reichlich gegebene Calo- mcl, bald zu bedeutender Besserung gebracht. Doch ent¬ stand eine sehr starke Salivatiou mit heftiger Anschwel¬ lung der Schlingwerkzcuge, wozu obnmachtähnlichc Zu¬ fälle und Fieber hinzutrateu. Nach zweckmäfsiger Be¬ kämpfung dieses neuen Ucbcls, wurde die zurückbleibcnde Geschwulst der Zunge sehr glücklich durch Betupfen mit Höllenstein gehoben. Die Kopfwunde, welche während dieser Zeit mittelst eines Kreuzschnittes erweitert worden war, um keine Eitersenkung entstehen zu lassen, heilte bei dem einfachsten Verbände, so dafs die Kranke nach einer vierwöcheutlichen Behandlung vollkommen herge- stellt war.

51. Carl Koch, 23 J. alt, ein kräftiges, plcthorischcs Subjcct, erhielt Abends mit Knütteln, wie er glaubt, mehre Schläge auf den Kopi, und wurde noch obeuein

III. Kopfverletzungen. ' J 7 1

mit Sporen getreten, so dafs er betäubt zu Boden gesun¬ ken. Er kam nach fünf Minuten wieder zu sieb, blutete wenig, und da die Blutung ärger ward, so liefs ein geru¬ fener Arzt kalte Umschläge machen. Als der Kranke zur Charite kam, war sein Zustand folgender:

Die Weichtbeile des behaarten Kopfes waren, wie auch noch die Scheitelgegend besonders, angeschwollen und empfindlich. Sieben Wunden zeigten sich auf dem abgeschorenen Scheitel, wovon die gröfste zwei Zoll lang und mitten auf dem Scheitel bis auf den Knochen ging, wo dieser i Zoll lang zu fühlen war. Die anderen Wun¬ den gingen nicht bis auf den Knochen. Aufserdem waren noch unbedeutende Quetschungen und kleine Risse auf dem Kopfe. Brüche der Schädelknochen waren nicht wahrzunehmen, auch keine Gehirnaffectionen. Es wur¬ den sogleich kalte Umschläge über den Kopf gemacht, welche so lange fortgesetzt wurden, bis die Wunden, bei übrigem vollen Bewufst- und Wohlsein des Kranken, an- fiugen zu eitern.

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Der jetzt angewandte einfache Verband wurde einmal mit Vin. camphor. aufgelegt, wegen Schlaffheit der Wun¬ den, und eine consensuelle Narbeuansch wellung verlor sich bald wieder. Der Kranke wurde geheilt entlassen.

52. Fr. Pabathan, 34 J. alt, ein kräftiger Mann, erlitt durch einen Sturz von einem Wagen auf das Stein¬ pflaster eine Verletzung des Hinterhauptes. Bei der Un¬ tersuchung nach mehren Tagen fand sich eine Geschwulst von der Gröfse einer Wallnufs, und in der Mitte eine Wunde von anderthalb Zoll Länge, durch welche man den Knochen vom Periost entblöfst fühlte. Ungeachtet der strengsten antiphlogistischen Behandlung bildete sich eine Rose aus, welche zuerst den ganzen behaarten Theil des Kopfes eiunahm, und sich dann auch über das Gesicht verbreitete. Die Augen waren durch die kugelförmig auf¬ getriebenen Lider völlig zugeschwollen, und das Auseheu

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III. Kopfverletzungen.

des Kranken höchst frappant. Dabei war heftiges Fieber, und mit Delirien abwechselnder Sopor vorhanden. Unge¬ achtet des Nachlassens der Rose dauerte der aflicirte Zu¬ stand des Gehirns fort. Die Kopfschwartc hatte sich in einem weiten Umkreise vom Knochen getrennt, so dafs mehre Einschnitte nölbig wurden, um denselben zu ent¬ leeren. Allmählig verschwanden alle bedenklichen Sym¬ ptome, das Bewufstsein kehrte wieder, die Haut schuppte sich vom ganzen Kopfe ab, die Wunden begannen üppig zu granuliren, und heilten, ohne dafs sich ein Kuochen- stück abgestofsen hätte. Die ganze Krankheit dauerte bei¬ nahe drei Monate.

53. Carl Maconi, 22 J. alt. Patient wurde mit ei¬ nem Kloben IIolz in das Gesicht geschlagen, worauf er betäubt zu Boden fiel.1 Der Schlag hatte eine Quetsch¬ wunde von 1|- Zoll auf der rechten Backe, wie cs scheint ohne Verletzung der Ilartthcile veranlafst, dem eine be¬ deutende Anschwellung des ganzen Gesichtes folgte. Durch den Fall während der ersten Betäubung zog sich Patient eine Wunde auf dem Hinterkopfe zu, etwas über der Protuberantia occipitalis, von ungefähr 1 Zoll Länge, welche ziemlich stark blutete und eine bedeutende An¬ schwellung der Wcichtheilc veranlagte, die sehr schmerz¬ haft bei der Berührung war. Eine Verletzung des Kno¬ chens war nicht bemerkbar. Der Kranke befand sich in ciuem fieberhaft aufgeregten Zustande, der Puls war fre¬ quent, voll und hart, w’eshalb eine Veuäsection von 1 Pf. gemacht wurde. Innerlich erhielt er eine Solut. natri sul- phur., und über den Kopf kalte Umschläge. Unter diesen letzten erfolgte sehr bald Resorption des ergossenen Blutes, doch bildete sich ein kleines fistulöses Geschwür auf dem Ossc zygomatico, welches aber durch Touchircn mit Höllenstein bald verheilte. Da sich eine kleine Eitcrscnkuüg in der Wunde am Hinterkopfe gebildet hatte,

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III. Kopfverletzungen. 173

so wurde dieselbe durch einen Kreuzschnitt erweitert und die Eiterfläche blofsgelegt, und nachdem bei trockenem Verbände eine gute Granulation eintrat, diese durch Ung. basilicum unterstützt. Die Heilung ging nun so rasch vor sich, dafs nur eine kleine Stelle noch wund war, die Pa¬ tient aber nicht für wichtig genug hielt, um noch länger in der Anstalt zu bleiben.

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54. Heinrich Jaschinski, 29 J. alt, wurde mit einem stumpfen Instrumente an den Kopf geschlagen, und fiel bewufstlos nieder. Die rechte Seite des Gesichtes war bedeutend angeschwollen und suggillirt, vorzüglich die Augenlieder. Auf der rechten Seite des Stirnbeines, dicht über dem Augenhöhlenrande, zeigte sich eine gerissene, gequetschte, in zwei Schenkel auslaufende Wunde. Der eine, am Augenhöhlenfortsatze des Stirnbeines anfangende Schenkel, war 2^ Zoll lang, klaffte anfangs 1 Linie breit, weiter hinauf, nach oben und innen verlaufend, \ Zoll weit auseinander, und drang bis auf den Knochen. Der zweite Schenkel, von innen nach aufsen und oben lau¬ fend, in einem Winkel von ungefähr 60 Grad mit dem vo¬ rigen, drang nur bis auf den Muscul. frontalis und einen klei¬ nen Theil des temporalis. Der Hautlappen konnte zurück¬ geschlagen werden; Spuren von Verletzung des Knochens waren nicht da.

Gleich nach der Verletzung befand sich der Kranke gut; dann klagte er über Schmerz, faden Geschmack und Hitze. Der Puls war frequent, voll, härtlich; die Zunge be¬ legt, die Respiration frequent. Man machte eine Venäsection von 1 Pfund, und gab eine Solut. natri sulphur. und Eis¬ umschläge. Die Nacht war leidlich. Den folgenden Tag war der Puls grofs und frequent, und die Respiration kurz und abgestofsen; die Geschwulst war bedeutend, und wurde durch Blutegel gemäfsigt. Symptome und tie¬ fere Leiden fehlen gänzlich, und das Be^vufstsein ist un-

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III. Kopfverletzungen.

gestört. Später wurde ein einfacher Verband angelegt, der Lappen heilte vollkommen an; und cs erfolgte Hei¬ lung und Vernarbung.

55. Wilhelm Licrcowski, 28 J. alt. Durch einen Fall auf den mit Quadersteinen bedeckten Flur, hatte Pa¬ tient sich eine Verletzung zugezogen wobei im ersten Augenblicke die Symptome einer Commotio cercbri sich zeigten; und so ward er denn auch der Charite über¬ geben. Hier gelang es den Acrzten bei der näheren Untersuchung, die affectirte Geistesabwesenheit zu erken¬ nen, thcils durch Drohungen, thcils durch Zureden. Die Wunde war nur unbedeutend, wurde durch eine ge¬ wöhnliche antiphlogistische Behandlung geheilt, und der Kranke am 30. Juli 1831 entlassen.

56. Albcrtinc Dasselmann, aus Königsberg, Sol¬ datentochter, 16 J. alt, von kräftiger Constitution und ple- tborischem Habitus, ward am 21. Juli von einem Steine auf den Kopf getroffen, welcher drei Stockwerke hoch her¬ unterfiel und sie zu Boden warf. Sie blieb anderthalb Stun¬ den besinnungslos liegen, und weifs auch nicht, was einige Zeit darauf mit ihr vorging. Den darauf folgenden Nach¬ mittag hatte sie fortwährend Uebelkeit und Erbrechen. Sie kam am 22. Juli zur Anstalt, mit einer Wunde am An- gul. lambdoidcus oss. occipitalis, welche den Knochen ent- blöfst hatte. Der Knochen war aber, wie ein gemachter Kreuzschnitt zeigte, nicht verletzt. Das Gesicht war auf¬ gedunsen, geröthet. Sie klagte über Druck in der Nieren¬ gegend; daher innerlich: Nitrum mit Natrum sulph., Salz¬ säure; auf die Wunde: Charpie und eiskalte Ucberschlägc; unter das Getränk: Crcmor Tartar, mit Zucker.

stellte sich Oeffnung ein, der Kopfschmerz schwand, der frequente, unterdrückte, gespannte Puls ward normal. Allmählig wurden die kalten Ucberschläge ausgesetzt, die etwas schlaff gewordene Wunde mit Chamomillcn - Infus, bedeckt, bis sich gute Granulation cinstcllte; dann ward

[II. Kopfverletzungen. 175

die Wunde blofs trocken mit Charpie verbunden, die wu¬ chernde Granulation hierauf wieder mit Lapis infernalis touchirt. Die Vernarbung schritt gut fort, und es war nur noch ein kleiner Thcil der W’unde offen, als die Patientin auf ihren Wunsch entlassen wurde.

57. Friderike Genzer, Arbeitsfrau, 42 J. alt. Pa¬ tientin war von kräftigem Körperbau, kam am 3. Octo- ber 1829 früh um 4 Uhr in die Anstalt, da ihr in der vergangenen Nacht (11 Uhr) am Kopfe und dem linken Arme mehre Verletzungen mittelst eines faustgrofsen, in ein Tuch gewickelten Steines beigebracht worden waren. Eine genaue Untersuchung ergab indessen, dafs selbst die tiefste Wunde, über der Mitte des Orbitalrandes des rech¬ ten Auges, nicht über 3 bis 4 Linien tief eindrang. In der Nähe des linken Ellenbogens, am Ober- und Vorder¬ arme, zeigte sich eine bedeutende Quetschwunde mit ober¬ flächlicher Schwappung der Haut und einer schon bei lei¬ ser Berührung ziemlich schmerzhaften Geschwulst. Eine Verletzung der Knochen war au keiner Stelle bemerkbar. Das Allgemeinbefinden der Kranken war bei ihrer Auf¬ nahme ganz ungetrübt.

Ein Aderlafs am ersten Tage von \\ Pfund, am fol¬ genden von 1 Pfund, Blutegel an den Kopf, kalte Ueber- schläge über denselben und der Gebrauch von Calomel (2 Gran alle 2 Stunden, zwei Tage lang fortgesetzt, bis zu den Prodromen des Ptyalismus) verhüteten jedes beun¬ ruhigende Symptom und jede Entzündung. Eine später (am 6ten Tage) durch die eintretende Menstruation erzeugte Aufregung de3 Gefäfssystemes, wurde schnell durch eine Solut. vou Nitrum sulphuricum mit Tart. stib. und ein reizendes Fufsbad beseitigt. Die Heilung der Wunden ging glücklich von statten, und als auch die letzte Wunde über dem Orbitalrande wieder durch Verband mit Ung. basilic. vernarbt war, wurde die Kranke am 20. October als ge¬ heilt entlassen.

176 III. Kopfverletzungen.

58. Carl Ross eck, 20 J. olt. Kurz vor seiner An¬ kunft war der kräftige, etwas hagere Kranke, seiner Aus¬ sage nach, vom dritten Stock auf einen Haufen Steine und Holz herabgcfallen, hatte jedoch sogleich wieder aufstc- hen und den Weg nach der Anstalt zu Fufsc machen kön¬ nen. Erbrechen war auf den Fall nicht erfolgt. Es fan¬ den sich durchaus keine Erscheinungen von Gehirnleiden, sondern blofs eine drei Zoll lange, nach dem grofseu Durchmesser des Kopfes verlaufende Wunde auf dem lin¬ ken Scheitelbeine, welche, ihrer scharfen Ränder wegen, ganz einer Hiebwunde glich, und nur die Schädelbedcekun- gen durchdrungen halte; doch waren diese in bedeuten* dem Umfange, besonders nach der Schläfe hinab, vom Pe- ricranium gelöst. Die anfangs noch bedeutende Blutung, dauerte in geringem Grade noch fort. Verletzungen an¬ derer Körpertheile fänden sich nicht. Die Wuude ward sogleich durch einen quer durchgeführten Schnitt , so weit die Ablösung sich erstreckte, in eine Kreuzwunde ver¬ wandelt, und Charpie hineingeschoben. Auf die ganze leidende Seite des Kopfes wurden kalte Umschläge ge¬ macht, aufserdem zwei Pfund Blut aus dem Arme abge¬ lassen, und innerlich eine Solut. Na tri sulph. gereicht.

Die Schnittwunde, anfangs mit trockener Charpie ver¬ bunden, nahm nach einigen Tagen ciu übclcs Ansehen an; nach Anwendung des Chlorkalks erfolgte jedoch die Rei¬ nigung des Geschwürs in kurzer Zeit. Zur Beförderung der Granulation wurde dasselbe immer anfangs mit Cam- pherweiu, darauf wiederum mit trockener Charpie ver¬ bunden, und zuletzt der Vernarbunsprozefs durch Touchiren mit Lap. infernal, und Auflegen vou Charpie cingcleitct, vor dessen gänzlicher Vollendung der Kranke, auf eigenes Verlangen, als geheilt die Anstalt verliefs.

IV.

IV. Flcckfieher.

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iv.

Beiträge zur Geschichte der Epidemieen.

Von

Dr. J. Rosenbaum,

Lange Zeit hindurch war der ärztliche Forschungs¬ geist in Hinsicht auf die epidemischen Krankheiten in einen sorglosen Schlummer versunken, höchstens waren Pocken und einige andere einzelne Leiden der Gegenstand seiner Beschäftigungen gewesen , und auch hier entfernte man sich bald von der geschichtlichen Bahn, um desto freier sich in dem Gebiete der Theorie ergehn zu können, bis endlich die Cholera auftrat, sich zum Charakter einer VVeltseuche emporschwingend. Vergebens mühte sich die Theorie ab, eine Erkenntnifs zu affectiren; wie sehr sie sich auch wandte und sträubte die Mifsgriffc die sie jeden Augenblick beging, zwangen sie endlich zu dem Gestäud- nifs, dafs sie Führerlos auf unbekannten Wegen wandle, und sie bei ihren kühnen Sprüngen eine Lücke hinter sich gelassen, die nicht sogleich auszufüllen war. Allerdings fehlte es nicht ganz an Hülfsmitteln, die wenigstens für den ersten Anlauf einigen Anhalt darbieten konnten, allein diese waren bisher meistens so unberücksichtigt geblieben, dafs sie ein grofser Theil kaum den Namen nach kannte, und selbst eines derselben dadurch der Zernichtung Preis gegeben war; wir meinen Webster’ s Werk *), das, auf Kosten des Verfassers gedruckt, weil es nicht gekauft ward, den Weg der Maculatur wandeln mufste, so dafs sich kaum noch einige Exemplare erhalten haben. Eiues viel besseren Schicksals hatten sich auch die Werke von

1) A brief history of epidemic and pestilential disea¬ ses, etc. by Noah Webster. 2 Voll. Hartford, 1799. 8.

Band 28. Heft 2. 12

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IV. Fleckfieber.

Villa Iba, Ozanam und Schnurrcr nicht zu erfreuen, welches letzte namentlich, ungeachtet seiner vielfachen Mängel, doch seine Vorgänger ziemlich gut benutzt hat, und so wenigstens einigermaafsen einen Anhaltspunkt dar- hictet. Bei einer solchen Lage der Dinge war es ein durchaus zeitgemäfses Unternehmen des Herausgebers die¬ ser Annalen, dafs er das ärztliche Publikum auf diese Schwäche der Litteratur aufmerksam machte, und ihr seit der Zeit durch eigenes Beispiel kräftig entgegenzuwirken strebte. Die Masse der Gegenstände ist aber zu grols für die Kraft des Einzelnen, und die Ilülfsmittcl oft so zer¬ streut und unzugänglich , dafs die Ilerbeischaffung der letz¬ ten schon nicht ganz unvcrdicnstlich sein kann; um so mehr, wenn dadurch gleichzeitig alte eingewurzelte Irr- thüiner berichtigt werden. Solch einen Zweck nun sollen gegenwärtige Beiträge haben; mögen sie denen als Bau¬ steine dienen, welche einen Thcil des grofsen Gebäu¬ des ausfüllen sollen; nicht jeder kann ja nach Corinth reisen! Wenn irgend aber eine epidemische Krankheit in geschichtlicher Hinsicht Geist, Gelehrsamkeit und Ausdauer im Forschen erfordert, so sind es sicher die Pctechialfic- berepidemie» u , welche trotz einzelner schätzbaren Bemü¬ hungen, noch immer sehr im Argen liegen, da sic durch die nur zu häufigen Verwechselungen mit der Pest ira löten und ITten Jahrhundert in eine fast babylonische Ver¬ wirrung gerathen sind, und ein Labyrinth darstellen, zu dessen sicherer Durchwandlung der Faden der Ariadne nicht so leicht zu finden sein möchte. Sic sollen uns da¬ her zunächst beschäftigen, und so Gelegenheit darbicten, den Auszug aus einigen Schriften mitzutheileu , die in viel¬ facher Hinsicht einander ähnlich sind. Indem sie unter dem Namen Purpura zwei Pctechialflebcrepidemicen be¬ schreiben, hat man sie beide lange Zeit, durch den aller¬ dings zweideutigen Titel verleitet, fast allgemein zur Con- statirung von Frieselficberepidemieeu benutzt (Ploucquet, \ ogcl, Jos. Frank und andere), was zum Theil die Sei-

IV. FJcckfieber.

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tenheit der Quellen entschuldigen mag. Schon aus Spren¬ gel^ Geschichte der Arzneikunde, Bd. 3. S. 239, hätte man sich wenigstens in Bezug auf die erste, gleich zu er¬ wähnende, eines Besseren belehren können. Vogel giebt

gar das Jahr des Eischienenseins derselben als das der Epi-

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demie an! Doch gehen wir jetzt zur näheren Angabe die¬ ser Monographie selbst über. Sie erschien unter folgen¬ dem Titel:

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Joannis Coyttari, Thaerei Alnisiensis, consiliarii et medici regii: De Febre purpura epidemiali et contagiosa Lib. II. Ad Illustrissimum Anti- stitem Baptistam Tiercellinum, Episcopum Lucionen- sem, D. Kochaemanae. Parisiis apud Martinum Juvi- nem, via S. Jo. Lateranensis ad insigne Serpentis. 1578. 4.

Das was der Titel giebt, ist auch fast alles, was wir über den Verfasser selbst wissen, der übrigens nicht, wie öfters geschehen, mit dem allerdings gleichzeitig zu Nürn¬ berg lebenden Anatomen Volch er Coi ter (1534 1600) zu verwechseln ist. In dem Distrikte Aunis, dem jetzi¬ gen Departement Niedercharente geboren, practicirte Coy t- tar zu Poitiers, und beobachtete hier und da in der Um¬ gegend, vom Mai bis zu Weihnachten des Jahres 1557, eine Petechialfieberepidemie, welche, wegen Unbekannt¬ schaft der damaligen Aerzte mit dieser Krankheit, eine nicht geringe Verheerung anrichtete. Die verschiedenar¬ tigen Ansichten, welche sich damals nothwendig gleich anfänglich bilden mufsten, bestimmten C. , seine Beobach¬ tungen täglich sorgfältig aufzuzeichnen, um so zu einem bestimmten Resultate zu gelangen, und die Seichtigkeit einer Schrift des Dr. Nicolas Michaelis, Decans der Aerzte zu Poitiers (deren nähere Angabe jedoch fehlt), worin zugleich die gröbsten Ausfälle auf die übrigen Ge¬ nossen der Kunst enthalten waren, war die Veranlassung zur Herausgabe der seinigen. Dies, so wie mehres andere.

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IV. Fleckfioher.

was wir an passenderen Orten einschalten werden, erfah¬ ren wir aus der Vorrede. Die Schrift selbst ist in zwei Bücher abgcthcilt, von denen das erste das pathologische Bild der Krankheit, mit einer Menge zum Theil dem Ge- genstande etwas fern liegender Deductionen nach Galen und Avicenna verwebt, enthalt, das zweite aber die therapeutischen Ansichten und Erfahrungen des Verfassers, riebst Krankengeschichten, darstcllt. Ohne uns streng an den Gang der Darstellung irn Werke selbst zu binden, suchen wir das Gegebene vielmehr unter folgende .Rubri¬ ken zu ordnen: 1) Witterungs- und Krankhcitseonstitn- tiou; 2) Krankheitsbild, Diagnose; 3) Ursache und Wesen der Krankheit; 4) Therapie.

1) W as die Witterung und den Zustand der At¬ mosphäre überhaupt betrifft, so wurde am 14. Marz 1556 ein C'omct sichtbar, welcher bis z:i Ende dieses Monats stehen blieb. (Forest beobachtete ihn sorgfältig, nach demselben war er vom 28. Februar bis 21. April sichtbar. In Pommern sah man ihn zuerst den 3. März, Cramcri Pommrische Kirchen -Chronik. Stettin 1626. fol. Th. III. S. 36. Anfserdem wurden auch Erdbeben, Blutregen und eine Conjunction der Sonne mit dem Mars in diesem Jahre beobachtet. Pertschii Origincs Voitlandiac et Ronside- liensium. 1675. 4. S. 155.) Eben so sah man Sonncn- und Mondfinsternisse, S. 115. Vom Aufgang der Plejaden bis zum Ilcrbstäquino^tium herrschte eine brennende Hitze, hierauf regnete es mehre Tage anhaltend, und dann folgte eine ziemlich heftige Winterkälte, welche bis zum Ende des Februars 1557 anhielt. Dann regnete es wieder bis zum April, wodurch grofsc Nässe entstand, und hier¬ auf folgte abermals eine ziemlich starke Hitze, S. 116, die m September von einer plötzlich einlretendcn Kälte ver¬ drängt ward, S. 7. (Nach Cramcr I. c. IV. S. 110 war nach der Ernte des Jahres 1556 bis zu der des folgenden Jahres überall, namentlich in Deutschland und den Nie¬ derlanden, grofse Theurung, und nach Schnurrer’s Chro-

IV. Flecklieber.

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uik der Seuchen, II. S. 99, bemerkte man im Frühling 1557 an mehren Orten starke Ueberschwemmungen.) In Hin¬ sicht auf Krankheitsconstitution linden wir von C. Folgendes angegeben: Im Frühlinge des Jahres 1557 herrschten in Poitiers und der Umgebung Masern und Pocken unter den jüngeren Bewohnern, gleichzeitig aber keine andern Krankheiten, mit Ausnahme einiger sporadi¬ schen Fälle vn Faulliebern, die aber bei passender Be¬ handlung meist leicht geheilt wurden, S. 4. Gegen den Mai begann nun an mehren Orten Purpura zu wüthen, und den 15ten d. M. brach diese Krankheit auch in Poitiers aus. (In Italien, namentlich in Florenz, herrschte die¬ selbe Krankheit um diese Zeit, Schnurrer 1. c. S. 99.) Sic hielt bis zu Weihnachten an, und verschwand dann, nachdem lange Zeit Nordwind geweht hatte, S. 24. Wäh¬ rend die Purpura noch mit verheerender Wuth um sich griff, erschien plötzlich im Anfänge des Septembers, mit dem schnellen Eintritt der Kälte, unter dem Volke ein anstrengender, anhaltender Husten, der mit drückendem, spannendem und klopfendem Kopfschmerz verbunden, den Kranken äufserst beschwerlich war, der, ohne sie gerade bettlägerig zu machen, doch von den gewöhnlichen Ge¬ schäften abhielt. Das Volk nannte diese Affection mit ihren Symptomen Coqueluche oder Cocceluche, wel¬ che die Griechen unter dem Namen Cephalalgie, die Ara¬ ber unter Soda beschrieben, S. 7. Diese Krankheit befiel gleich anfangs ohne Unterschied den ganzen Monat Sep¬ tember hindurch bis zum 15. October so viele Menschen, dafs man kaum Tausend fand, die daran nicht gelitten hätten. Von denen die C. sah, starb beinahe niemand, aufser etwa solche, die seit vielen Jahren an phthisischer Engbrüstigkeit litten, und die von der durch die Cocce- Iuchc erregten Uongestion zu den Lungen, endlich au der Auszehrung starben, S. 7. NiclU immer war die Krank¬ heit einfach, sie wurde oft mit Febris diaria, Synochus non putridus und Catarrhus pulmonum verbunden beob-

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IV. Fleckficber.

achtet. C. versprach zwar, zu Ende des Werkes die Be¬ handlungsart der Coqucluehe anzugeben, allein es findet sich nichts davon vor, wahrscheinlich weil er dies zum Gegenstände einer eigenen Abhandlung machen wollte, die er später mit der Beschreibung der Influenza von 1580 vereinigt herausgab; wenigstens fuhrt Ca ne re Biblioth. de la mcd. folgende Schrift, jedoch ohne Jahreszahl , von ihm an: Discours de la coqucluehe et autres maladies popu- laires, qui ont eu cours* ä Poitiers en 15S0. Poitiers. 8.

2) Was nun die Krankheit betrifTt, welche der eigentliche Gegenstand der Schrift ist, so herrschte sie, wie gesagt, nicht blofs zu Poitiers, sondern auch zu Bo- cbcllc, Angouleme, Bordeaux, Tours etc., überhaupt in der jetzigen Vendee, Charente und Gironde, und zwar na¬ mentlich in den ersten Monaten mit einer solchen Wuth, dafs eine Menge Menschen sehr schnell, sie mochten in ärztlicher Behandlung gewesen sein oder nicht, starben; ja die Zahl der Todteu fast gröfscr war, als in den Pest¬ zeiten, da viele schon vor Schreck und Todesfurcht ins Grab sanken, S. 3. Fast alle Mittel zeigten sich anfangs fruchtlos, weder über den Namen, noch über die Natur der Krankheit konnte man einig werden, Aerzte und Volk wareu in Verzweiflung. An d<pi Kranken bemerkte man aber Folgendes: Sie fühlten zuerst grofse Mattigkeit, uud Trägheit in den Gliedern; drückenden Kopfschmerz; bei den meisten rötheten sich anfangs die Augen, wenn das Fie¬ ber heftig war, Bachen und Kehle waren zusannncngc- schniirt, und ein eigentümliches Gefühl zwischen den Schulterblättern vorhanden. Das Fieber war anfangs bei vviclen gelinde, sie gingen noch herum und verrichteten ihre Geschäfte; andere dagegen fieberten gleich anfangs heftig, wareu entweder schlaflos und unruhig, konnten weder sitzen noch gehen, und wollten dennoch vor Un¬ ruhe und Hitze nicht im Bette bleiben; oder sie waren comatös, und blichen cs bis zum Tode. Obschon iLie Kran¬ ken über heftige innere Hitze klagten, so zeigte doch we-

IY. Flecklieber.

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der Temperatur noch Puls etwas widernatürliches, oder venigstens nur geringe Abweichungen, meist fühlten sie sich vielmehr kühl an; der Puls war unentwickelt, selten, olt dem gesunden ähnlich. Die Zunge war in den ersten Tagen sehr rauh und trocken, der Athem stinkend; einige waren verstopft, andere hatten Durchfall, sie mochten Me- dicin genommen haben oder nicht; die Sedes waren dünn, übelriechend. Der Urin dünn, wässerig, gelblich; ein Enaeo- rem in der Mitte habend; oft war er während der ganzen Krankheit dünn und crude; öfter noch konnte man aber gar kein Urtheil aus demselben entnehmen, S. 160 165. Das Fieber zeigte sich sehr verschieden, und C. theilte danach, indem er noch die Dauer der Krankheit berück¬ sichtigte, diese in verschiedene Formen, in pathologischer und therapeutischer Hinsicht ein. Nämlich 1) Purpura cum synocho wurde nur bei jungen Leuten, Männern wie Frauen, beobachtet. Die innere Hitze war hier sehr grols, Kopfschmerz heftig; zuweilen auch Schmerz in der Magen- und Lumbargegend, und an anderen Stellen des Körpers. Das Gesicht war roth, Durst heftig, Puls un¬ gleich, schnell, häufig, das Athmen erschwert, Schmerz in Schlund und Kehle; hierzu gesellten sich Angst, Un¬ ruhe, Delirien; der Urin war roth, schäumend; bei denen, welche genasen, wurde er am dritten Tage dick, trübe, und setzte etwas weifses Sediment ab; am vierten Tage setzte sich der Urin schnell, aber das Sediment war gleich- mäfsiger, weifser, und das Fieber verschwand, S. 295. Die Flecken erschienen den zweiten oder dritten Tag, mit allgemeinem copiösen Schweifse, wenn der Ausgang gut war; mit wenigem und mühsam hervordringendem, wenn die Krankheit tödtlich endete, wobei sich die übri¬ gen Symptome steigerten. Die Krankheit löste sich ent¬ weder am vierten Tage, oder der Kranke starb, S. 167. 2) Purpura cum febre continua acutiore, dauerte bis zum siebenten Tage. In den ersten drei Tagen klag¬ ten die Kranken entweder über grofse Mattigkeit und Ge-

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IV. FIcckfieber.

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fühl vod Zerschlagenheit der Glieder, oder Kopfschmerz., Herzensangst, Traurigkeit; andere über Schmerz in der Nierengegend, Appetitlosigkeit, Schlaflasigkeit oder schreck¬ hafte Träume; der Puls war selten und schwach, Urin dünn und crude, hatte zuweilen gelbliches Enaeorem. Dies dauerte bis zum fünften Tage, wo Unruhe, Delirien, Brech¬ neigung, selbst Erbrechen von vielen .Spulwürmern, na¬ mentlich bei denen, die gleich anfangs über einen Schmerz in der Magengegend geklagt hatten, eintrat. Dann erfolgte reichlicher häutiger Urinabgang, so dafs es schien, als wollte die Natur dadurch die Krankheit zur Entscheidung bringen. Bald aber gesellte sich hierzu Diarrhöe von stiu- kendeo Massen, S. 168. Die übrigen Symptome steiger¬ ten sich nun, es brach Schweifs auf Stirn und Brust aus, die Extremitäten wurden kalt, und die Kranken starben. Bei denen welche genasen, zeigten sich vom fünften Tage an des Nachts blande Delirien, während die Kranken des Tages über meistens bei sich waren, dann brach ein reich¬ licher Schweifs aus, und die Kranken schliefen am sieben¬ ten Tage und die folgende Nacht hintereinander fort. Auf- gewacht fühlten sie sich daun wie neugeboren , doch blich noch lange grofse Schwäche zurück. Zuweilen beobach¬ tete man schon am dritten oder fünften Tage reichlichen stinkenden Schweifs mit Petechialausbruch auf Brust und Armen, oft auch auf den Schenkeln, was die Genesung ver¬ kündete, S. 169. Selten entschied sich die Krankheit durch Diarrhöe mit Abgang von Spulwürmern. Meist bot der Urin bei den Genesenden schon am dritten Tage Zeichen von Kochung dar. 3) Purpura cum febre maligna continua acuta, dauerte bis zum elften oder vierzehn¬ ten Tage. Diese Form wurde meist nur bei robusten Sub- jccten beobachtet. Das Fieber war hier bis zucn seebsteu Tage kaum bemerkbar, weder Temperatur noch Puls zeig¬ ten etwas abnormes; die Kranken klagten blofs über Ab¬ scheu vorSpeisen, zunehmende Kraftlosigkeit, Kopfschmerz, Schwere in den Gliedern, gingen dunu meist bis zum sie-

IV. Fleckfieber.

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honten Tage noch herum, und schrieben ihr Unwohlsein ge¬ wöhnlich dem Schnupfen oder der Erkältung zu. Am elften Tage flofs einigen die Nase, oder sie bekamen Diarrhöe mit Abgang von Spulwürmern; bei den meisten erschien dann copiöser und sehr übelriechender (graveolcns) Schweifs, nebst Petechien, wobei sich aber alle Symptome steiger¬ ten, S. 171. Die Kranken lagen dann entweder co- matös im Bette, oder hatten furibunde Delirien, die auch den zwölften Tag mit Angst und heftigem Durst fort¬ dauerten; am dreizehnten Tage wollten die Kranken auf¬ stehen , bekamen aber bald kalte Schweifse und starben den vierzehnten Tag. Einige genasen unter starkem Na- senbluteu oder allgemeinem copiösen Schweifs, S. 172. Partielle Schweifse brachten meist den Tod; S. 296. 4) Purpura cum febre continua ex accidentia acuta. Hier waren die Erscheinungen wie bei der Acuta, nur dafs Genesung oder Tod den 17ten oder 20sten Tag erfolgte. 5) Purpura cum febre longa et mixta. Die Krankheit hatte hier anfangs die Gestalt einer Febris lenta, gegen den 14ten oder 17ten Tag zeigten sich nicht selten Spuren von kritischen Bewegungen, entweder durch Ausbruch von Schweifs, Nasenbluten, Diarrhöe, oder häu¬ figen Urinabgang, wobei einzelne Flecke ausbrachen, S. 174. D ie Krankheit endete zuweilen erst gegen den 34 40sten Tag unter profusen Schweifsen; nicht selten entstand auch ein bedeutender Lendenabscefs, S. 173. Selbst Abscesse in den Muskeln der epigastrischen Gegend beobachtete man, die leicht für Leberabscesse, welche übrigens auch vorka¬ men, genommen werden konnten, S. 290. Meist fiel diese längere Dauer der Krankheit in die Monate Juli und Au¬ gust, S. 311. (Also vor dem Erscheinen der Influenza!) Bei einigen konnte man Tertiantypus in den Exacerbatio¬ nen wahrnehmen; sie bekamen an einem Tage zweimal Frost und Hitze, und am folgenden Tage nicht, S. 69. Niemals erschien aber die Krankheit unter irgend einer Form von lutcrmitteus, S. 70. (Dennoch sagt C. S. 314, dafs die

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IV. Fleckfieber.

Krankheit zuweilen den Charakter einer bösartigen Iutcr- mittens gehabt habe!) Niemals sah man Epiala, wohl aber Lipyria damit verbunden, was auch I)r. N. Michae¬ lis in seiner Schrift bemerkt, S. 70. Aufserdem beobach¬ tete man auch Hepatitis, Nephritis, S. 327, und Encepha¬ litis, S. 307, mit der Purpura vergesellschaftet. Merkwür¬ dig war die zahlreiche Menge von Spulwürmern, welche durch Mund und After, bei einigen gleich anfangs, bei anderen auf der Höhe der Krankheit, oder in der Zeit der Krise ausgeleert wurden. Nur bei einigen beobachtete man dies nicht, und dann fand man sie meist in den Lei¬ chen. In den 10 oder 12 Leichen, welche C. untersuchte, fand er sie an verschiedenen Orten, im Dickdarm, Dünn¬ darm oder im Magen. Ihre Gröfse zeigte deutlich, dafs sie nicht in einem oder zwei Monaten entstanden waren, sondern viel früher; denn diese entstehen nur in dem Men¬ schen, wenn eine Verderbnifs der Säfte vorausgegangen ist, S. 138. (Man glaubte nämlich früher, dafs diese En- tozocu ein Produkt der Krankheit seien, cf. Balth. Con¬ rad de Febr. misc. Ungar, c. 10. Selbst Ilippocrates nannte ja daher Fieber, wobei häufiger Abgang von Wür¬ mern statt fand, -rv^tTovq und den Herbst, in

welchem diese Erscheinung häufig war,

Vcrgl. Foesius ad Hippocrat. Sect. VH. p. m. 75 Occo- nom. Hipp. s. v. 3-n^let. Erzählt doch selbst Hercules Saxon. Lib. X. de plica c. 28., dafs 15*19 in der Pannoni- schen Pestilenz Schlangen und Eidechsen im Körper ent¬ standen wären!)

Was nun die Petechien betrifFt , so äufsert sich Coyttar darüber auf eine Weise, die gar keinen Zweifel übrig lassen kann, dafs sie, und nicht Friescl, wie so viele geglaubt haben, hier das begleitende Symptom waren. Bei allen, sagt er Seite 5, che sic ihren Geist aufgaben, bra¬ chen Flecke auf der Haut aus, in Gestalt von Blutstropfen, welche auf den verschiedensten Thcilen des Körpers zer¬ streut, vorzüglich Arme, Brust uud Schenkel bedeckten.

IV. Fleckfieber.

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Es entstand nur die Frage: waren dies Ueberbleibsel von Mückenstichen (pulicum puneturae vestigia), oder Pro¬ dukte der innerlich afficirten Elutmasse? Ich wusch also, fährt 0. fort, um hierüber Gewifsheit zu erlangen, die Arme mit lauwarhiem, weifsen Weine, worin Weizenkleie gekocht war, und trocknete sie dann ab. Da aber hier¬ durch nichts abgewaschen war, so strich ich mit der Hand sauft über die Haut, um zu sehen, ob sich dem Gefühle nicht etwas Rauhes, Ungleiches, Tumorähnliches darbiete. Auch hierbei vermochte ich nichts wahrzunehmen. Es waren nur unter dieser Zeit einige Flecke bleicher gewor¬ den, andere hatten eine schwarze, violette oder blaue Farbe angenommen (in blaum degenerare intuerer). Die Farbe hielt sich 3 bis 5 Tage, namentlich bei denen, die starben. Weder waren es also Bisse oder Stiche von Mücken, noch Hauteruptionen, wie wir sie bei ebulliren- dem Blute blutreicher Subjekte oft als Begleiter nicht pe- stilenzialischer Fieber sahen, und welche wieder ver¬ schwanden, wenn der Fervor sanguineus nachliefs. Eben so wenig waren es Eruptionen, wie sie bei Leuten er¬ scheinen, bei denen die Leber sich in erhöheter Thätigkeit befindet, oder das Blut, wenn sie durch Reiben oder Lau¬ fen erschöpft sind; sondern es waren Flecken, welche die Alten von der Aehnlichkeit mit Mückenstichen, puncti- culae, oder von der linsenförmigen Gestalt, lenticulae nannten. Unsere Frauen nannten sie von der Farbe ma- culae purpureae, und die Krankheit selbst febris purpurea, oder schlechthin purpurea, welchen Namen auch die Aerzte beibehielten, da er schon seit vielen Jahren gebräuchlich war, S. 6. Die Gestalt der Flecke war verschieden, bei einigen waren sie gröfser und breiter, bei anderen kleiner; seltener oder häufiger, dich¬ ter oder zahlreicher, und erschienen bald schneller, bald langsamer, S. 137. Meistens sah man sie am 4ten, 7tcn und I4ten Tage hervorbrechen, bei einigen jedoch auch erst den lösten (s. Vorrede). Auf das Fieber hatte ihr Er-

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188 IV. F leckfieber.

scheinen meistens keinen Eiutlufs, nur zuweilen waren sie bei der synochiselicn Form der Krankheit kritisch, was auch Prof. Ko nd eiet zu Montpellier beobachtete. (Vorr. )

Die Diagnose der PurpuraSjvon Variola und Morbil- lon, welcheS. 9—17 gegeben wird, so wie die von der Pest S. 184 u. 185, übergeben wir, da sie nichts besonde¬ res enthält. Genug, dafs C. namentlich zwischen letzter und der Purpura einen Unterschied macht, was viele nach ihm nicht gethan haben.

3) Was das Wesen der Krankheit bctrilTt, so ist es eine Febris continua epidemialis, bei der an den kritischen Tagen Flecke auf der Ilaut er¬ scheinen, S. 46, die das Produkt einer im Inne¬ ren sich befindenden giftigen Materie sind, S. 45. Denn der Name Purpura bezeichnet nicht sowohl eine besondere Krankheit, als nur ein Symptom derselben, S. 45. Während bei der Pest vorzüglich die Lebensgeister ergriffen sind, ist bei der Purpura vorzüglich das Blut aflicirt, und zwar im Centro, S. 1S6. Obscbon sic meist, wie jetzt, nur epidemisch erscheint (wir beobachteten sie mehrmals in unseren Provinzen, Vorrede), so wird sie doch auch zuweilen sporadisch beobachtet, wo sie aber leicht den passenden Mitteln weicht. Ansteckend war die Krankheit nicht, S. 48, da immer nur einer oder der andere aus einer Familie davon ergriffen ward und starb, während in der Pestzeit ganze Familien ausstarben, wenn erst einer ergriffen war, S. 45. Dennoch inufs man sic, wegen der Wuth womit sic in den ersten drei bis vier Mouaten ihre Opfer ergriff, einen .Morbus epidemialis pestilcns nennen, S. 44. (Coyttar scheint aber über die Ansteckung nicht recht im Klaren gewesen zu sein, denn er nennt die Krankheit auf dem Titel des Werkes eine Febris contagiosa, und S. 44 sagt er, sic sei nicht so sehr (non usque adco) ansteckend gewesen, als die Pest, die früher an diesen Orten geherrscht habe.) Neu wrar die Krankheit eigentlich nicht. Die Allen kannten sie wahr-

IV. Fleckfieber.

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scbci nlicli , rechneten sie aber zu den Exanthemen, wie ja noch jetzt die meisten Praktiker Purpura wie Morbillen beschreiben und behandeln; oder sie herrschte früher nicht so epidemisch und pestilentialisch, wie sie Fraca storo in Italien sah, und wir bei uns mehr als einmal!

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(Vorrede.) Was die Ursachen der Krankheit betrifft, so liegen sie vorzüglich in der Luft, die auf eine eigenthümlichc Weise verderbt ist, S. 151. (Purpura vero ab ambientis aeris vitio in humana corpora invelii osten- demus, p. 9.) Namentlich ist der Grund in dem schnel¬ len Witterungswechsel, der in diesem und dem vorherge¬ henden Jahre statt fand, zu suchen, 8. 143. 146. ^Denn meist ging verhinderte Ausdünstung bei den Kranken vor¬ her, S. 141. Viele erkrankten unmittelbar, nachdem sic vom Regen durchuäfst waren und sieh mit den nassen Klei¬ dern niedergelegt hatten. Auch sind die Bewegungen der Gestirne, das Erscheinen des Cometen, in Anspruch zu nehmen, S. 143. Der Unbekanntschaft der Alten mit den letzten Momenten ist namentlich die mangelhafte Kennt- nifs mehrer Krankheiten zuzuschreiben. (Vorrede.) Der Genufs schlechter Nahrungsmittel ist zwar auch mit in Anschlag zu bringen, nur darf man nicht zu viel dar¬ auf geben, da Krankheit bei verschiedenen Menschen aus- brach, die keinesweges ein und dasselbe genossen hatten, S. 150. Uebermäfsige Ausübung des Coitus trug ebenfalls zur Entstehung der Krankheit bei, S. 148. Obschon Leute jedes Standes, Alters und Geschlechtes, Knaben, Jünglinge, Jungfrauen, Menschen in der Bliithe der Jahre, Greise, Bauern, Städter, Arme wie Reiche und Vornehme, Prie¬ ster, Mönche, so wie Frauen jedes Alters und Standes, von der Krankheit ergriffen wurden und starben, S. 4, so herrschte dieselbe doch meist unter dem gemeinen Volke, von dem die meisten ein Opfer derselben wurden, weil sie entweder keinen Arzt hatten, oder dessen Vor¬ schriften schlecht befolgten , S. 255. Die übrigen waren meist cacochymische, plethorische und solche Subjecte, die

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schon längst an Obstructioncn und Schwäche innerer Theile gelitten halten. S. 45. Auch Schwanke re erkrankten;

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namentlich erwähnt C. die Geschichte zweier, von denen die eine, 6 Monate schwanger, den vierten Tag der Krank¬ heit Abortus erlitt und an Haemorrhagia utcri starb, weil sic durchaus den Aderlafs verweigerte, S. ‘250.; die an¬ dere, im vierten Monate der Schwangerschaft, ward ge¬ rettet, und gebar zur gehörigen Zeit glücklich, S. 253.

4) Die Behandlung der Krankheit giebt nun Coyttar im zweiten Buche, nachdem er zuerst eine lange Litanei über die Unwissenheit der Aerzte seiner Zeit, und die Frechheit derselben, Krankheiten bebandclu zu wol¬ len, die sie nicht verstehen, abgesungen hat, S. 181 1S3. Im Anfänge der Krankheit sei weder V. S. noch Arznei nöthig, wenn nicht Synocha oder andere dringende Sym¬ ptome sich zeigten, S. 39. Wenn deutliche Zeichen, na¬ mentlich galliger Cruditäten, vorhanden sind, giebt er Emetica, die oft die ganze Krankheit endigten, S. 314. Dagegen war Vorsicht nöthig bei dem Gebrauche von Ab¬ führmitteln, welche, höchstens im Anfänge der Krankheit pafsten, S. 329. Die Hauptsache beruht bei einigermaalsen erheblichen Symptomeu auf Aderlafs, der aber nicht zu stark sein darf! S. 306, denn 7 bis 8 Unzen sind vollkommen hinreichend. Dagegen war es oft nöthig, be¬ sonders bei der synochalcn Form, die Venäsection zwei- his dreimal zu wiederholen, S. 39, denn wenn dies nicht geschah, so entstand meist eine nicht zu stillende Blutung aus der Nase, und die Kranken mufsten ohne Rettung sterben, S. 329. In Hinsicht der Zeit hatte C. sie sowohl am 3ten , als am IStcn, 22sten, selbst 25sten Tage der Krankheit mit Glück vorgenommen und wiederholt, S. 39. Da nämlich das Blut bei Purpura im Centro, und nicht iu der Peripherie entmischt sei, wie bei Variolac und Mor¬ billi, so könne auch von keinem Zuriicktreten der ent¬ mischten Flüssigkeit nach Ausbruch der Flerke durch die ^ enäsection gesprochen werden, wie dies hei jenen Exan-

IV. Fleckfiebcr.

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tliemen allerdings der Fall sei, S. 246. Das zum zweiten- male entleerte Blut war meist dick, schwarz oder aufge¬ löst, S. 327. Bei vielen bemerkte man schon nach einer solchen zweiten Venäsection , die meist nur aus 4 bis 6 Un¬ zen bestand, auffallende Besserung, cs stellten sich allge¬ meine copiöse Schweifse ein, und die Kranken genasen, S. 329. (Wenn Massa de Febr. pest. tr. 3. c. 9. f. 78b, und Erastus Epist. 23. f. 84 a. Figur. 1595. 4., welche Sprengel III. S. 241 anführt, entgegengesetzte Resultate von der Venäsection erhielten, so lag dies vielleicht zum Theil an der gröfseren Menge von Blut, die sie entzo¬ gen! Doch gesteht Coyttar S. 3 selbst, dafs im Anfänge der Epidemie die Kranken trotz dem, dafs er zwei- bis dreimal Venäsectionen gemacht, gestorben seien.) Bei der bereits erwähnten vier Monate Schwangeren hatte er am fünften Tage der Krankheit, zwei Tage nach dem Aus¬ bruche der Flecke, eine Venäsection von 8 Unzeu ge¬ macht, und sie genas, wie gesagt, ohne Abortus zu lei¬ den, S. 253. Bei deutlich ausgesprochener Phrenitis öff¬ nete er V. cephalica oder frontalis, S. 307, und wenn dann die Symptome nicht schwranden, liefs er die Haare ab- scheeren und Ol. rosar. Nuc. jugh, oder Amygdal. amar. einreiben, S. 308. In gelinderen Fällen aromatische Kräu¬ terkissen auf die Stirn, oder Leinwandlappen mit den ge¬ nannten Oelen bestrichen auflegen, S. 288. Bei Schmer¬ zen in der Magengegend , Einreibungen aus Salben von Ol. mastic. , Ol. rosar., Ol. papav. alb., S. 289. Aehnliche Einreibungen und Ueberschläge auf das Herz, das ja vor¬ zugsweise afficirt ist, so wie auf Milz- und Nierengegend, S. 292. Innerlich wurden überall bezoardische Tränke ge¬ geben. Sehr ausführlich giebt C. die Krankengeschichte und Behandlungsart seines ersten Patienten an. Die Krank¬ heit war mit Synochus verbunden, daher gleich anfangs eine Venäsection von 8 Unzen, das Blut war hellroth und gesund; C. glaubte, es würden sich Variolae ausbilden, bis Purpura am dritten Tage erschien. Dann liefs er ihn

192 V. System der praktischen Mcdicin.

baden, abermals eine Vonäsection von 1 Unacn machen, und gab Pot io bezoardica; die Krankheit entschied sich durch Schweife, und der Patient genas, S. 245 u. f.

(Fortsetzung folgt.)

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Opnifc Sistemui praktisch eskoi m c d i c i n n i , d. i.: Versuch eines Systems der prakti¬ schen Mcdicin; von Prochor Tscharu- kowski, Dr. Med., ord. Prof, der med. Klinik und gelehrtem Secretiir der Kaiser!. Russ. medico- chirurg. Academie. Erster Theil, die Fieber ent¬ haltend. St. Petersburg, 1833. 8. XIII n. 352 S.

Während die russische belletristische Litteratur so sehr anwächst, dafe die Uebcrsetzungslust und die Lesesucht der Deutschen schon manches Erzcugnife derselben sich ange- cignet liat, fehlt es nocli immer sehr an Thütigkeit inner¬ halb der Wissenschaften; vielen derselben fehlt e9 noch an Original- Lehrbüchern und Uandbücbern. Wenn nun der Verf. der vorliegenden speciellcn Therapie schon als mehrjähriger Lehrer der Klinik auf Abfassung eines prak¬ tischen Handbuches volles Recht hat, so bedurfte cs für ihn keiner Entschuldigung, dafe er keine blofee Ucker» Setzung geliefert habe, was laut der Vorrede seine erste Absicht war. Rufsland hat übrigens so viele Eigentüm¬ lichkeiten in physischer und moralischer Beziehung, dafs Art, Verlauf und Behandlung der Krankheiten besondere Rücksichten verdienen. Jedoch nicht hierdurch hat sich der Verf. zur Abfassung eines neuen Handbuches bewogen gefühlt, sondern durch das Studium des Kicscrschcn Sy- stemes der Medicin, und die vermöge desselben aufgereg¬ ten

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V, System der praktischen Medicin. 193

ten Gedanken. Obgleich nun der Verf. jenem Werke nicht unbedingten Beifall giebt, so hat er doch mehre wesent¬ liche Grundsätze desselben, namentlich die erkünstelte Drei¬ heit, immer im Auge, und erregt in uns das Bedauern, dafs die jungen Aerzte, denen das Buch in die Hand ge¬ geben werden soll, in eine Systematik gedrängt werden, die ihnen nichts nutzen, wohl aber schaden kann. Doch die Gewalt des praktischen Bedürfnisses ist so grofs, dafs die Lernenden ein unpraktisches System bald ab werfen, und sich nur das Einzelne aneignen. In dieser Beziehung aber hat der Verf. sich meistens an gute Vorbilder gehal¬ ten, uns jedoch kaum etwas Eigenes gegeben, was übri¬ gens gerade bei der so vielseitig bearbeiteten Fieberlehre sehr schwierig ist. Das Bestreben des Verf., ein System zu begründen, und die neuere Physiologie mit der Patho¬ logie näher zu verbinden, scheint uns ganz mifslungen. Unsere Leser werden selbst beurtheilen, ob die folgende Darstellung den Namen eines Systemes mehr verdient, als frühere Werke; nach der neueren Physiologie haben wir uns ganz vergeblich umgesehen; denn w7as etwa davon nach Kiese r mitgetheilt wird, entspricht nicht den Fort¬ schritten der beiden letzten Jahrzehende. Das gesammte Werk ist auf vier Theile berechnet; während der erste die fieberhaften Allgemeinleiden enthält (einschliefslich der Exantheme), wird der zweite die Entzündungen, und die beiden letzten die chronischen Krankheiten enthalten.

Das in Paragraphen abgetheilte Werk beginnt mit all¬ gemeinen Grundsätzen, wobei jedoch weder der gegen¬ wärtige Standpunkt der praktischen Medicin, noch deren geschichtliche Entwickelung berührt wird. Vielleicht wer¬ den diese Gegenstände nach dem Lehrplane der Academie anderweitig vorgetragen. Die angegebene Litteratur ist überaus gering, und enthält selbst grofse Werke nicht im¬ mer; so fehlen bei der allgemeinen Litteratur die ausführ¬ lichen Handbücher von Jos. Frank und Sundelin. Noch magerer sind die Angaben bei den einzelnen Krankheiten;

Baud 28. Heft 2. 1’3>

104 V. System der praktischen Medicin.

so fehlt zJ B. jede Andeutung der neueren Litteratur der Nerven fieber rücksichtlich ihres Zusammenhanges mit Un- terlcibszuständen; hingegen ist manches Buch angegeben, was jetzt nur antiquarisch merkwürdig ist; x.B. Stark von den Schwämmchen (vom J. 1784); alles Neuere über diese Krankheit, seihst Billard, fehlt. Auffallend ist cs, dafs von den in russischer Sprache geschriebenen, freilich mei¬ stens übersetzten Werken, auch nicht mit Einem Worte die Hede ist.

Einleitung. §. 1 7. lieber Krankheitsichre über¬ haupt, und über den BegrifT einer Species niorbi.

§. 8 17. Ueber Krankheit überhaupt, und deren Einthcilung. Indem die Begriffe von Materie und Kraft als oberste Grundlage aller Naturbelrachtuug angegeben werden, soll zugleich darauf die oberste Einthcilung der Krankheiten bezogen werden. Die alte Sonderung dersel¬ ben in acute und chronische, welche trotz ihrer Mängel doch immer unentbehrlich bleibt, wird von dem Verf. so gedeutet, dafs die acuten Uebel auf einer vorzugsweisen Veränderung in den Kräften, die chronischen aber mehr in Veränderung des materiellen Zustandes beruhen. Es ist aber ein wesentlicher Vorzug des letzten Jahrzehends, dafs die Annahme einer vom Materiellen getrennten Dynamik in der Krankheitslehre immer mehr Beschränkungen er¬ halten hat. Alle Krankheiten gehen wesentlich von ma¬ teriellen Veränderungen in Systemen oder Organen aus, und sind ohne dieselben geradehin undenkbar. Was wir rein dynamisch nennen, ist nur Ausdruck unserer Unwis¬ senheit. In den hitzigen Krankheiten ist namentlich durch die Bemühungen der neueren Acrzte, wozu die Anatomen nicht wenig beigetragen haben, das, was früher dynamisch genannt worden, ungemein zusammengeschmolzen, und zer¬ fällt immer mehr. Es giebt gegenwärtig sogar mehr chro¬ nische Uebel, deren materielle Grundlage noch nicht aus- gemittelt ist, und die daher für sogenannte dynamische gelten, als acute; denn dafs die Nervenfieber, welche sonst

V. System der praktischen Medicin. 195

als rein dynamische Affectioncn galten, es nicht sind, wird jetzt wohl von wenigen Aerzten bezweifelt, die mit der neueren Litteratur bekannt sind. Jene alte Eintheilung könnte daher nicht weiter bestehen, wenn sic auf den vom Verf. angegebenen Gründen beruhte; allein sie wird bestehen, weil gewisse Uebcl wesentlich fieberhaft sind, an dere aber nicht; dabei wird nicht in Abrede gestellt, dafs bei nicht wenigen Uebeln zweifelhaft bleibt, in welche Hauptabtheilung sie zu stellen sind. Doch die Aerzte ha¬ ben überhaupt nicht in vollkommener Systematik ihren Ruhm zu suchen, und können sich mit vielen unvollkom-

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menen Abtheilungen der Naturgeschichte trösten.

§. 18 30. Ueber hitzige Krankheiten im Allgemei¬ nen. In Folge der Annahme, dafs dieselben vorzüglich auf veränderter Lebensthätigkeit ohne materielle Grundlage beruhen, wird nun weiter geschlossen, dafs, da alle Le¬ bensthätigkeit vom Nervensysteme ausgeht, auch jene Krank¬ heiten im Nervensysteme ihren nächsten Grund haben müs¬ sen. Diese Behauptung der alten Solidar- Pathologie kann zu den gefährlichsten praktischen Irrthümern führen; sie ist falsch, w-ie ihre Prämisse; denn so wichtig auch das Nervensystem ist, so kann es doch für sich allein das Le¬ ben nicht begründen. Die nähere Entwickelung der Erscheinungsweise dieser Krankheiten ist naturgemäfs, je¬ doch sehr unvollständig in Vergleich mit den Darstellun¬ gen von Reil, P. Frank, Baumgärtner u. a. Unge¬ gründet ist die Behauptung, dafs diese Krankheiten immer plötzlich auftreten; denn wir beobachten oft Fälle, wo Menschen tagelang fieberhaft einhergehen, ohne den An¬ fang ihres Erkrankens angeben zu können. Häufig äufsert sich der Verf. gegen die Humoralpathologie, und scheint damit unbekannt, dafs neuerdings sehr ausgezeich¬ nete Männer ihr das Wort geredet, und dieselbe alltäg¬ lich mehr Raum gewinnt. Diese Krankheitsklasse zer¬ fällt in allgemeine und örtliche.

§. 31 135. Dieser Abschnitt enthält eine nosologi-

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196 V. System der praktischen Medicin.

gehe und therapeutische Darstellung der allgemeinen hitzi¬ gen Krankheiten oder Fieber, als eines besonderen Krank¬ heitsgeschlechtes. Da nnn in den Gcschlcchtscharaktcr nichts aufgenommen werden darf, wa9 nicht jeder Gat¬ tung und Art, die zu diesem Geschlechtc gehören, ange¬ messen wäre, so dürfte also hier nichts Vorkommen, was nicht jedem idiopathischen Fieber eigen wäre. Dieser lo¬ gischen Anforderung entspricht jedoch der Verf. nicht, in¬ dem er hier ganz Kies er folgt. So stellt er denn nach ihm die Behauptung auf, dafs jedes allgemeine Fieber vom vegetativen Leben beginne, dann zum Blutsystem über¬ gehe, und endlich sich im Centralnervensysteme äufscre, worauf denn die Rückbildung in entgegengesetzter Ord¬ nung erfolge. Dieser Hypothese zufolge, welche jetzt kei¬ ner Widerlegung mehr bedarf, mufs es 6 Stadien geben, in deren Schilderung man allenfalls das Bild eines soge¬ nannten Nervenfiebers, nicht aber die schlichteste Ficber- fortn, d. i.: den Geschlechtscharakter erkennen kann, lieber die Gelegenhcitsursacheu wird ganz erfahrungsmäfsig gehandelt. Die Therapie mufs sich gewaltsam in die Form jener 6 Stadien schmiegen. Das erste Stadium erfährt eine viel zu reizende Behandlung; Kampher und Opium können hier in der Regel nur schaden. Hieraus ergiebt sich fer¬ ner, wie wenig der Tadel gerecht ist, den der Verf. über diejenigen ausspricht, die in diesem Stadium ganz der Heil¬ kraft der Natur vertrauen. Mögen diese zuweilen durch Unthätigkeit schaden; nie aber können sie so grofsen Nach¬ theil bringen, als wenn man den Anfang der Krankheiten mit Beizmitteln bestürmt. Wenn man bedenkt, wie viele Millionen innerhalb Rufslands ohne alle ärztliche Behand¬ lung genesen, so mufs man der Heilkraft der Natur alle Ehre widerfahren lassen, wenn man auch gleichzeitig zu- giebt, dafs die Sterblichkeit innerhalb Rufslands wohl er- mäfsigt werden könnte, wenn die Heilkunst auf die Masse des Volkes innerhalb des Landes mehr cinzuwirken ver¬ möchte, als bisher. Die Einthcilung der Fieber in iu-

V. System der praktischen Medicin. 197

tcnnittcntcs, rernittentes und continuae scheint dem Verf. den Auforderungen der Physiologie am meisten entspre¬ chend; den ersten liege ein Leiden der vegetativen Ner¬ ven, den folgenden ein krankhafter Zustand der Häute, den letzten eine fehlerhafte Thätigkeit des Blutgefäfssyste- nies zum Grunde. Man erstaunt über die Möglichkeit, Be¬ hauptungen dieser Art, die freilich nicht neu sind, mit einem Tone der Sicherheit vortragen zu hören, der nur aus der festesten Uebcrzcugung hervorgehen kann. Leider sucht man vergebens nach irgend einem Beweise.

Wir kommen nun an die einzelnen Fiebergattungen. Sic beginnen mit dem Wechselfieber , §.136 227. Bei den classischen Arbeiten, die wir über dieses uralte Uebel haben, von denen jedoch der Verf. keine einzige anführt, ist auch die Darstellung desselben dem Zwecke entspre¬ chend ausgefallen. Nur gegen Einzelnes lassen sich Ein¬ wendungen machen. Wenn der Verf. §. 146. sagt, dafs das Wechselfieber in St. Petersburg nicht zu den gewöhn¬ lichsten Krankheiten gehöre, so könnte man glauben, dafs es daselbst selten sei. Es mufs daher heifsen, dafs es nicht sehr häufig sei. Dafs das Wechselfieber nicht selten chro¬ nische Uebel hebe (§. 161.), ist wiederum etwas zu viel behauptet; denn die Fälle sind in der That selten. C. G. Neumann leugnet sie sogar ganz. Die sehr häufig auf¬ gestellte und hier vom Verf. wiederholte Behauptung, dafs das Wechseifieber auf veränderter Lebensthätigkeit der Nerven des organischen Lebens beruhe (§. 171.), ist zwar völlig unerwiesen; allein sie mag als unschuldige Hypo¬ these gelten, da die folgenden praktischen Vorschriften nicht nach derselben , sondern nach der ungeheuren Er¬ fahrung, die man hierüber hat, verfafst sind. Die Frage, ob man nicht in manchen Fällen einige Paroxysmen ab- vvarten müsse, ehe man zur Heilung schreitet, behandelt der Verf. als widersinnig ( §. 198.); allein er widerspricht hierbei seiner eigenen Ansicht, dafs das Wechselfieber nicht

selten chronische Krankheiten hebe, wozu doch wohl eine

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198 V. System der praktischen Mcdicin.

gewisse Zeit erforderlich ist. Unsere Meinung gellt dahin, dafs inan allerdings jederzeit das Wechselfieber zu entfer¬ nen suchen müsse, dafs man aber dazu nicht immer, na¬ mentlich nicht hei bedeutendem Gastricismus und unvoll¬ kommen ausgebildcter Form, die China und deren Präpa¬ rate, also die sichersten Febrifuga, sogleich in Anwen¬ dung ziehen dürfe. Bei dem Chinin hätte wohl die salzsaure Verbindung desselben, wegen ihrer leichteren Auflöslichkeit, Erwähnung verdient.

Als zweite Fiebergattung folgen die nachlassenden Fie ber, von denen zuerst im Allgemeinen, §. 228 236, und dann im Besonderen, bis §. 364, gehandelt wird. Diese völlige Trennung von den folgenden anhaltenden Fiebern ist ein theoretischer Gcwaltstreich; die Natur kennt ci i e- selbe nicht; vielmehr ist jedes Fieber, welches kein Wcc.h- selfieber ist, in seinen milderen Formen ein nachlassendes, und wird hei zunehmender Heftigkeit ununterbrochen, wo¬ bei jedoch längst bemerkt worden, dafs cs ununterbrochene Fieber eigentlich gar nicht giebt, wenn dieser Ausdruck im strengsten Sinne genommen wird, was auch der Vcrf. anerkennt §. 265. Die Behauptung, dafs den nachlag* senden Fiebern vorzüglich schwächliche Personen unter¬ worfen 6ind, §. 233, scheint uns nicht naturgemäfs.

§. 237 252 handeln vom Catarrhalfieber, und dann vom rheumatischen Fieber; §. 253 278 vom gastrischen Fieber, in seiner einfachen Gestalt, ferner als Schleimfie¬ ber und als Gallcnfieber. Ganz nach den Ansichten der gastrischen Schule abgchandelt; Broussais ist nicht eines Wortes der Widerlegung gewürdigt. In den übrigen Theilen dieses Abschnittes folgt das gelbe Fieber, wel¬ ches unter den ununterbrochenen Fiebern stehen sollte, und mit einer den Grunzen dieses Werkes nicht angemes¬ senen Weitläufigkeit abgchandelt wird; der Ilemitritaeus, welcher zu den Wechselfiebern gehört, und die Cholera. Bei der letzten werden alle einfachen und gewöhnlichen Formen übergaugeu, und sogleich zur Beschreibung der

V. System der praktischen Medicin. 199

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asiatischen Cholera geschritten, die als ein ganz miasma¬ tisches Uebel angesehen wird. Die Stellung einer Krank¬ heit, bei der die stockende Gefäfsthätigkeit charakteristisch ist, unter den nachlassendcn Fiebern ist in merkwürdigem Gegensätze mit der oft wiederholten Behauptung des Verf., dafs seine Darstellung eine physiologische sei. Der Ab¬ schnitt schliefst mit einem Kapitel über- die Erhaltung der Gesundheit in heifsen Gegenden, welches wir schwerlich in einem Lehrbuche der speciellen Therapie zu linden er¬ warten durften.

Die ununterbrochenen Fieber, zuerst das Allgemeine, §. 364 369. Nach der Ansicht des Verf., dafs diese Fieber im Blutgefäfssysterne ihren Sitz haben, erwartet man hier eine Berücksichtigung der Veränderungen des Blutes; allein davon ist gar nicht die Rede; er spricht immer nur von den Gefäfsen, und zwar ganz im Allge¬ meinen.

Das Entzündungsfieber, §. 370 388. Diese natur- gemäfs abgehandelte Form, welche übrigens in reiner Ge¬ stalt selten vorkommt, giebt den besten Beweis gegen die Unzweckmäfsigkeit der Annahme dieser Fiebergattung, da sie immer deutliche Nachlässe hat.

Das Nervenfieber, §. 389 416, würde am besten im Verein mit dem besonders abgehandelten Faulfieber und Typhus zusammengestellt worden sein. Hier ist zunächst das einfache, gewöhnliche und nicht ansteckende Nerven¬ fieber zweckmäfsig abgehaudelt, und bei der Behandlung auf die Therapie des Fiebers überhaupt, die dem Werke verangeht, hingewiesen.

Delirium potatorum , §. 417 438. Das Pathologi¬ sche nach Bark hausen, die Therapie nach Sutton.

Das Faulfieber, §. 439 479. Die dieses Fieber be¬ zeichnende Neigung zur Zersetzung hätte auf die Mischungs¬ verhältnisse hinführen können; der Verf. bleibt jedoch fest in seiner solidarpa Biologischen Ansicht.

Ansteckende Fieber, zuerst überhaupt, §. 480 502.

200 V. System der praktischen Mcdicin.

Was hier abgehandelt wird, gehört meistens in die allge¬ meine Pathologie. Alle früher abgehandelten Arten gelten dem Verf. als uicht ansteckend, was man ihm nicht leicht zugeben wird. Dafs derselbe bei seiner Richtung alle An¬ steckung auf das Nervensystem beziehen würde, liefs sich erwarten; wie wenig aber die Impfung und die oft zur Ansteckung nöthige Berührung hiermit stimmen, ist leicht zu begreifen. Dafs kräftige Menschen seltener angesteckt werden, als schwächliche, ist nicht richtig; oft trifft das Gegcntheil ein.

Bewahrung vor epidemischen und ansteckenden liebeln, §. 503 507. (Hier sind Druckfehler in der Paragraphen¬ zahl, wie denn überhaupt die Zahl der Druckfehler über- grofs ist.)

Die Pocken, §. 508 (nach unserer Berechnung) 539 nach Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts; lebhaft müs¬ sen wir dem Verf. widersprechen, wenn er bei den vor dem Ausbruche der Pocken eintretenden Krämpfen Opium zu geben anrätb, und zwar einjährigen Kindern zu 2, zweijährigen zu 4 Tropfen. Gewifs hat er dies nie aus¬ geübt; die verderblichen Folgen würden ihn verhindert ha¬ ben, einen solchen Rath zu ertheilen. Einimpfung der Menschenpocken, §. 540 und 511. Falsche Pocken, §. 542 547. Varioloiden, §. 548 550, für die Wichtigkeit und nach dem gegenwärtigen Standpunkte der Sache viel zu kurz. Kuhpocken, §.550 570. Auch dieser Abschnitt hätte nach den neueren Verhandlungen bearbeitet werden müssen. Die Fragen über Schwächung der Vaccine, Zahl der Stiche, erneuerte Impfung u. s. w. , sind gar nicht berührt.

Die Masern, §. 571 590. Die Darstellung bündig und wahr; nur scheint der Verf. mit dem in manchen Epi- demieen bösartigen Verlaufe, den unter andern Kreis ig in diesen Annalen geschildert hat, unbekannt, und stellt daher die Prognose zu günstig. Der Rötheln wird nur

V. System der praktischen Medicin. 201

in einem Paragraph (591) gedacht; ein vom Verf. erleb¬ tes Beispiel bestätigt die allgemeine Annahme, dafs sie eine Mittelform zwischen Scharlach und Masern sind,

Scharlach, §. 592 620.. Zweekmäfsige Darstellung, bei der man jedoch eine genügende praktische Anweisung vcrmifst. Bei einem so gefährlichen Uebel mufs der Schü¬ ler nicht blofs erfahren, was in Anwendung gezogen wor¬ den, sondern was sich am meisten erprobt hat.

Das ansteckende Nervenfieber, §. 621 625, wird

mit Beziehung auf die früheren Darstellungen wahr¬ scheinlich nur wegen der Flecke als besondere Form er¬ wähnt, Eben so findet die Pest* §. 626 660, hier wahr¬ scheinlich wegen der Analogie der Carbunkeln mit den Hautausschlägen ihre Stelle. Ueber die Richtigkeit der Schilderung vermag Ref. nicht zu urtheilen; jedenfalls werden die neueren litterarischen Hülfsmittel, z.. B. Wol- mar, vermifst.

Nach einigen Bemerkungen (§. 661 664.) über die zufälligen (d. i. minder geregelten) Ausschläge hitziger Art, folgen dieselben:

Das Nesselfieber, §. 665 670. * Der Friesei, §,671 bis 678. *• Die Schwämmchen, §.679 688, deren Stel¬ lung in dieser Reihe wohl sehr bestritten werden kann. Der Pemphigus, §. 689 695. Der Gürtel, §. 696 bis 704. Petechiae, §. 705 710. Der Verf. thut

nicht wohl, sie mit dem Ausdrucke zu bezeichnen, der im Russischen für Flecken gebraucht wird (pötnui), da es vie¬ lerlei Flecken giebt, die nicht Petechien sind, und daher hier nicht abgehandelt werden, Uebrigens dürften diesel¬ ben überhaupt hier keine Stelle finden, da sie theils als Symptom der Nervenfieber bei denselben ihre Stelle fin¬ den, theils bei chronischen Zuständen Vorkommen, und also nicht hierher gehören.

Möge der Verf. in den folgenden Bänden sich immer mehr von den Schlingen eines gewaltsamen Systemes los-

20? VI. Phrenologie.

sagen, mul durch Dai-stcllung der Ergebnisse schlichter Beobachtung seinem Werke eine dauernde Stelluug in der mediciuischeu Litteratur erringen.

i.

VI.

George Combe's System der Phrenologie.

Aus dem Englischen übersetzt von Dr. S. Ed.

Hirschfeld. Mit neun lithographirten Tafeln.

Braunschweig, bei Friedr. Vieweg und Sohn. 1833. 8. XXIV und 498 S. (3 Tblr. 12 Gr.)

Die Lehre Gall’s, welche den früheren Namen, Cra- nioscopie, mit dem jetzt üblicheren der Phrenologie ver¬ tauscht hat, enthält zwar innig verbundene, jedoch we¬ sentlich verschiedene Elemente: die Aufstellung einer lieihc selbstständiger Erkcuntnifs- und Gemüthstriebe, um aus dem Vorherrschen eines oder mehrer unter ihnen die in- dividucllc Eigentümlichkeit eines jeden Menschen zu er¬ klären; und die Bezeichnung bestimmter, jenen als Organe angchöriger Gehirntheilc, welche nach Maalsgabc ihrer Ent¬ wickelung die über ihnen gelegene Parthie des Schädels nach aufsen drängen, und an den gröfseren oder geringe¬ ren Jlcrvorragungen desselben in ihrer relativen Grüfse er¬ kennbar sein sollen. Die Kritik kann beide Elemente leicht und vollständig von einander trennen, da die Bestimmung jedes Triebes ausschlicfslich von der Beobachtung solcher Individuen abgeleitet wird, die ihn in ihrer Denk- und Handlungsweise am stärksten entwickelt zeigen. Erst nach¬ dem derselbe auf rein psychologische Weise festgeslcllt worden ist, bemühen sich die Phrenologcn, den ihm ent¬ sprechenden Gchirnthcil aufzusuchen; cs kann sich daher sehr leicht ercigueu, (lafs die Phrcuologic vor dein Forum

203

VI. Phrenologie.

der Psychologie in ihren wesentlichen Bestrebungen ge* rechtfertigt erscheint, während ihre anatomisch -physiolo¬ gischen Deutungen als unhaltbar befunden werden. Eben weil ihre beiden Elemente mit einander vermengt wurden, fand sie so zahlreiche Gegner, sowohl unter den Philoso¬ phen, welche sich gegen die Annahme von Geisteskräften sträubten, die in einzelnen Gehirntheilen gleichsam sub- stanziirt sein sollten, weil hierin der crasseste Materialis¬ mus ausgesprochen zu sein schien; als unter den Anato¬ men, denen die Ansicht des Gehirns als einer zusammen¬ gefalteten Membran nicht zusagte, und die gegen die Ueber- einstimmung der Hervorragungen des Schädels mit den un¬ ter ihnen gelegenen Gehirntheilen die mannigfachsten Ein- wiirfe erhoben. So ist es denn gekommen, dafs Deutsch¬ land, aus dessen Schoofse Gail hervorging, die Acten über seine Lehre als geschlossen ansieht, während zu ihrer Aus¬ bildung in Frankreich und Schottland gelehrte Vereine zu¬ sammengetreten sind, welche ihr Werk mit grofsem Eifer und mit reicher Ausstattung au Hülfsmitteln fördern, und Amerika ihr sogar eigene Lehrstühle errichtet hat.

Da die Gränzen einer kritischen Anzeige nicht gestat¬ ten, eine so umfassende Lehre in allen Richtungen zu ver¬ folgen ; so hebt Ref. vorzugsweise ihre psychologische Seite hervor, wobei er sieh einige vorläufige Bemerkungen er¬ laubt. Es giebt eine analytische und eine synthetische Me¬ thode der psychologischen Forschung. Jene strebt die Thatsachen des Bewufstseins auf ursprüngliche Kräfte der Seele zurückzuführen, und dieselben in den Formen oder Gesetzen ihres Wirkens abgesondert aufzustellen. Sie ist das nothwendige Ergebnifs des logischen Verstandesge¬ brauches, welcher die unendliche Mannigfaltigkeit uud Ver¬ wickelung der concreten Erscheinungen auf die Grundver¬ hältnisse ihrer ursächlichen Elemente bezieht, also jene in der Einheit und Allgemeinheit der Prinzipien verknüpft. Alle Zweige der Naturkunde geben Zeugnils, dafs nur ein solches Verfahren wissenschaftliche Befriedigung zu gewäh-

204 VI. Phrenologie.

ren vermag; und wenn es der Psychologie bisher so we¬ nig gelungen ist, sich jener hierin glcichzustcllen , dafs sie sicli durch den endlosen Widerstreit der in ihr herrschen¬ den willkührlichen Meinungen fast lim allen Credit ge¬ bracht hat: so liegt die Schuld davon nicht in der Unan¬ wendbarkeit der analytischen Methode auf sie, sondern darin, dafs die wesentlichen Thatsachcu des geistigen Le¬ bens noch nicht mit der erforderlichen Bestimmtheit her¬ ausgestellt worden sind. Abgesehen von den Verirrungen in das unfruchtbare Gebiet metaphysischer Streitigkeiten über das Wesen der Seele, über die innere Einheit oder Verschiedenheit ihrer Kräfte, wurde ihre Erkenntnifs da¬ durch verzögert, dafs man die Aufmerksamkeit zu sehr den Vorstellungen zuwandte, welche iu ihre Merkmale zergliedert, und nach diesen mit einander verglichen, sich den logischen Regeln gcmäfs leicht in höhere und niedere Rangordnungen bringen liefsen, nach denen die verschie¬ denen Vorstellungskräfte bestimmt werden. Von diesem Standpunkte aus glaubte man das ganze Gebiet der Seelen- cr8cheinungen überschauen zu können, da die Gemüths- triebe jederzeit an Vorstellungen geknüpft sind, und’ sich scheinbar in diese auflösen lassen; ihre Definition war da¬ her leicht gegeben, und somit die subjectivc oder gemiith- liclie Richtung der Seele bald in eine abstracto Lehre ge¬ bracht. Aber es fehlte dieser an allem inneren Leben und an objectiver Wahrheit; man konnte aus ihr nicht die zu Leidenschaften anwachsende Macht der einzelnen Triebe erklären, weil es im logischen Sinne schlechthin unbegreif¬ lich ist, warum die leidenschaftlichen Vorstellungen unge¬ achtet aller in ihnen enthaltenen Widersprüche und Unge¬ reimtheiten dennoch eine so entschiedene und andauernde Herrschaft über alle anderen Vorstellungen behaupten, dafs sic diese mehr oder weniger vollständig aus dem Bewufst- sein verdrängen, und sich durch die einleuchtendsten Be¬ weise ihrer Verkehrtheit nicht widerlegen lasscu. Die Psychologen nahmen daher zu erkünstelten Dcutungcu ihre

VI. Phrenologie. 205

Zuflucht, indem sie die Gewalt der Leidenschaften theils aus hartnäckigen Irrthümern des Verstandes erklärten, ohne zu bedenken, dafs die von ihnen Befangenen oft ihre Thor- heit sehr deutlich begreifen, und dennoch dem ungestü¬ men Drange nicht widerstehen können; theils indem sie sich auf die Macht der Gewohnheit beriefen, die wenig¬ stens bei allen zum erstenmale ausbreebenden Leidenschaf¬ ten gänzlich vermifst wird anderer eben so unhaltbarer Tbeorieen nicht zu erwähnen. Viele Aerzte glaubten dies Räthsel dadurch zu lösen, dafs sie den Sitz der Leiden¬ schaften in die Organe der Brust und des Unterleibes ver¬ legten, welche allerdings oft eine so lebhafte Reaction bei jenen zeigen. Indels nur ein völliges Verzichtleisten auf selbstständige psychologische Forschung konnte eine solche Lehre erzeugen, welche durch unzählige Beispiele leidenschaftsloser Gemüthszustände bei allen möglichen Stei¬ gerungen und Depressionen der organischen Thätigkeit je¬ ner Gebilde, so wie andererseits dadurch auf das Bestimm¬ teste zurückgewiesen wird, dafs die mächtigsten Leiden¬ schaften, wenn der Körper durch Gewohnheit sich gegen ihre Impulse abstumpfte, oder wenn sie weniger in stür¬ mischen, vorübergehenden Affecten, als in gleichmäfsig be¬ harrlicher Richtung des Gemüthes wirken, kaum eine Ver¬ änderung in den körperlichen Functionen hervorbringen. Auf jenen Aerzten lastet daher der Vorwurf, dafs sie die Bedeutung der physischen Lebensbedingungen in ihrem Zu¬ sammenwirken mit der Seele weit überschätzten, und die Abhängigkeit dieser von jenen in so grellen Farben schil¬ derten, dafs die Fähigkeit des Menschen zur moralischen Selbstständigkeit fast auf Null reducirt wurde.

Wollen wir uns daher auf erfahrungsgemäfse Weise von dem Seelenleben Rechenschaft geben, so müssen wir vorher die Lehre von den Gemüthstrieben sowohl von der logischen Behandlungsweise der Psychologen, als von der materialistischen Deutung der Aerzte unabhängig machen. Um in die Betrachtung der Gcmüthserscheinungen Klarheit

206 VI. Phrenologie.

und Ordnung zu bringen, bedürfen wir allerdings des ana¬ lytischen Verfahrens, welches sic nach der verschiedenen Richtung des Gcmüthes auf die mannigfachen Motive sei¬ ner Thätigkeit, Religion, Liebe, Freiheit, Ehre, Macht u. s. w. unter allgemeine Gruppen bringt, weil jedes dieser Motive einen ihm entsprechenden Trieb vorausselzt, ohne dessen Regsamkeit seine Wirkung auf den Menschen ver¬ loren geht. Ohne die genaue Bestimmung der Triebe, und ohne ihre Ableitung als Verzweigungen aus einer Slamm- wurzel würde die Betrachtung der Gemüthsregungen , und ihre Beziehung zu den concrcten Handlungen, welche aus dem vereinzelten oder gemeinsamen Wirken derselben her¬ vorgehen, sich in ein endloses Chaos verlieren. Aber die auf analytischem Wege gewonnene abstracte Definition und systematische Zusammenstellung der Triebe giebt uns kei¬ nen Aufschluls über die extensive und intensive Macht, die Dauer und andere Modifikationen ihrer Thätigkeit. Wir müssen sie im Conflicte untereinander beobachten, denn die wahre Bedeutung eines Triebes lüfst sich weniger an seiner in die Sinne fallenden Aeufserung, als an dem Eiu- flussc erkennen, den er auf andere Triebe ausübt, oder von ihnen erleidet., wodurch die jedesmalige Gemüthsvcrfas- sung bedingt wird. Diese Betrachtung der Seelcnzustände in der Gcsammtwirkung aller Triebe bildet die synthe¬ tisch-psychologische Forschung, welche uns vor¬ nehmlich mit der grofsen Wahrheit bekannt macht, dals jene Triebe, ungeachtet der vollständige Inbegriff ihrer An¬ lagen bei jedem Menschen vorausgesetzt werden mufs, dennoch in unendlich verschiedenen Verhältnissen ihrer Thätigkeit auftreten, und durch da» Vorherrschen eines oder mehrer unter ihnen die Richtung der Denk- und Handlungsweise bestimmen. Hierin ist die individuelle Ei¬ gentümlichkeit des Charakters begründet, welche unter eben so vielen Gestalten erscheint, als cs Menschen gab und geben wird. Praktische Mcnsckenkenntnifs besteht daher in der durch scharfe Beobachtungsgabe und ausgc-

207

VI. Phrenologie.

/

breitete Erfahrung erworbenen Geschicklichkeit, die we¬ sentliche Geistes- und Gemüthsverfassung eines jeden deut¬ lich zu erkennen. In diesem Sinne war daher ächte Le¬ bensklugheit jederzeit das Eigenthum aller grofsen Gesetz¬ geber, Herrscher, Geschäftsmänner, Weltweisen, Geschichts¬ forscher und Dichter, welche das innere Triebwerk des Gemüihes durchschauten, und ungeblendet durch den Schimmer einer erkünstelten Gesinnung und Handlungs¬ weise, deren wahre Bedeutung an den leisesten und un- willkührlichsten Zügen erkannten. In den Werken dieser Männer ist ein unerschöpflicher Schatz ächter Menschen- kenntnifs niedergelegt, und aus der wissenschaftlichen Durchdringung ihrer Erfahrungen mufs die Seelenlehre her¬ vorgehen, wenn sie ihre objective Gültigkeit durch prak¬ tische Anwendbarkeit bewähren soll. Indefs das gröfste Genie vermag es nicht, jenen unermefslichen Stoff zu be¬ herrschen, und sich von allen Beschränkungen seines Ge¬ sichtskreises durch Individualität, Zeitalter und Lebens¬ weise zu befreien. Der Mensch bleibt sich immerdar eine Aufgabe, an deren Lösung alle Geschlechter ihre Kräfte versuchen sollen, um das Leben stets neu zu gestalten, und nicht in einer als allgemein gültig angenommenen Form erstarren zu lassen. Eine vollständige Psychologie verlangen, hiefse daher beinahe so viel, als eine umfas¬ sende Naturkunde fordern; aber die Behauptung, dafs wir bisher von aller pragmatischen Seelenkuude entblöfst ge¬ wesen seien, würde nichts anderes aussagen, als dafs die Menschen stets in voller Unkenntnifs ihrer selbst gehan¬ delt, und daher nie etwas aus Ueberlegung, sondern alles nach blofsem Zufall hervorgebracht hätten.

Gail besafs ein ausgezeichnetes Talent, die hervor¬ stechenden Eigenshafteu einzelner Menschen zu bemerken. Schon in der Jugend fesselte ihn die Beobachtung, dafs seine Geschwister und Mitschüler, ungeachtet sie unter gleichen oder doch ähnlichen Verhältnissen der Erziehung und des Unterrichtes lebten, dennoch in ihren Fähigkeiten

208

VI. Phrenologie.

und Neigungen die auffallendsten Unterschiede zeigten, Von denen die Richtung ihrer geistigen Entwickelung und ihrer Lebensweise durchaus bestimmt wurde. Es leuchtete ihm bald ein, dafs die praktische Philosophie vor allem die Bedingungen der Individualität erforschen müsse, um nach Maafsgabc derselben die Verhältnisse eines jeden naturgcmäfs zu beurtheilen und zu regeln. Je weniger Aufschlufs hierüber die Compendicn der analytischen Psy¬ chologie ihm gaben, um so mächtiger fühlte er sich zur Beobachtung hingezogen, bei welcher ihm die grofse Ge¬ schwindigkeit seines Geistes, sich in die verschiedenartig¬ sten Seelenzustände anderer zu versetzen, ungemein zu Hülfe kam. Weniger reich war er mit dem philosophi¬ schen Takte ausgestattet, welcher die allgemeinere Bedeu¬ tung der einzelnen Geistes- und Gemüthstriebe richtig er- fafst, daher er sich durch vereinzelte Beobachtungen dazu verleiten liefs, einen Mord-, Diebes- und Kaufsinn aufzu¬ stellen, und hierdurch alle diejenigen gegen sich einzu¬ nehmen, welche angeborene Anlagen zu Lastern mit Ab¬ scheu verwarfen. Wir werden sehen, wie glücklich die¬ ser Anstofs von seinen Nachfolgern beseitigt worden ist.

Vom psychologischen Standpunkte aus betrachtet ist daher Gall's Lehre die Sprache der Natur, welche ihre Werke zwar nach allgemeinen Typen vollbringt, aber ihre zusammengesetzteren Geschöpfe, namentlich den Menschen, unter beträchtlichen Modificationen der Grundform entste¬ hen, und diese in Folge ihrer Entwickelung unter abwech¬ selnden \ erhältnissen noch mannigfacher sich gestalten läfst. Aus dieser auf individuelle Eigentümlichkeit ge¬ wendeten Richtung seines Forschens entsprang die Muth- maafsung, dafs es äufsere, sinnliche Merkmale gebe, an de¬ nen sich die Seelcnverfassung eines Menschen, auch w’enn er sie zu verbergen strebe, erkennen lasse. Dieser Ge¬ danke war nicht neu; denn das zu allen Zeiten rege In¬ teresse der Menschenken ntuiJfe hat die mannigfachsten Ver¬ suche erzeugt, die Geheimsprachc der Seele in den Chif-

fern

209

VI. Phrenologie.

/

fern der äufseren Gestalt .zu lesen, wie denn namentlich La vater’ s Physiognomik dergleichen in den Liueamenteu des Gesichtes aufgefunden zu haben sich rühmte. Auch sind die Ausdrücke des Antlitzes eine genaue Symbolik des Geistes; nur dafs wir ihr, wie den hieratischen Schrift¬ zügen, kaum Worte unterlegen, sondern dem plastischen Künstler die Nachahmung jener Bildersprache überlassen müssen, welche wir besser mit dem Gefühl, als mit dem Verstände begreifen. Da Gail, als Arzt von der wesent¬ lichen Bedeutung des Gehirns als Seelenorgan überzeugt, in der verschiedenen, durch die äufserc Schädelbildung be- zeichneten Gestaltung desselben die Andeutung der geisti¬ gen Eigentümlichkeit aufsuchte, so war seine Lehre ur¬ sprünglich nichts anderes, als eben auch eine Physiogno¬ mik , der man durchaus nicht den Vorwurf machen konnte, dafs sie das Bezeichnete über dem Zeichen vergesse, oder mit anderen Worten, dafs sie die Seele mit dem Gehirn¬ mark identiücire, um alle Erscheinungen des Bewustseins ausschliefslich aus organischen Regungen desselben zu er¬ klären.

In der Gal Ischen Physiognomik lag aber ein Keim weiterer Entwickelung, die sie als blofse Semiotik der In¬ dividualität nicht hätte erreichen können. Wenn es sich nämlich durch die Erfahrung bestätigen sollte, dafs einer hervorstehenden geistigen Anlage jedesmal die Vergröfse- rung eines bestimmten Gehirntheiles entspräche; so liefse sich der Gedanke nicht abweisen, das letztes ein eigen¬ tümliches Organ jener darstelle, dafs folglich das Gehirn ein Gliederbau selbstständiger Geistesorgane sei. Diese An¬ sicht stand der herrschenden Meinung direct gegenüber, der zufolge das Gehirn als allgemeines Seelenorgan mit der Gesammtheit seiner Substanz bei jeder Geistesthätigkeit wirksam sein soll. Wir verlassen indeis diese Streitfrage, zu deren Lösung die bisherigen physiologischen und ana¬ tomischen V orarbeiten lange noch nicht ausreichen.

Es wurde schon bemerkt, dafs Gail aus vorkerrschen-

Band 28. Heft 2. 14

210

V II. Bildungsfclder

der Neigung zu individualisiren , die Charakterformen zu concrct, und darum einseitig auffai'slc. Spurzheim half diesem Mangel grofsenihcils durch gründlichere Bestim¬ mung der einzelnen Triebe ab, und ihm ist der Verf. vor¬ liegender Schrift vornämlich in der Darstellung derselben gefolgt. Jndcfs haben selbst die neueren Phrenologen sich durch da9 eifrige Bestreben . jedem Triebe sogleich eiu Or¬ gan anzuweisen, in ihrer psychologischen Forschung Fes¬ seln angelegt, und sich der übereilten IIolTbung hingege¬ ben, nach der bildlichen Tafel, auf welcher jene Organe in ihrer Aneinanderreihung bezeichnet sind, das Triebwerk der Seele construircn zu.könncn. Es wurde indels schlimm mit der Seelenlchre bestellt sein, wenn die Zahl ihrer Elemente durch die Summe von Gehirnwindungen be¬ stimmt, und der Umfang des geistigen Wirkens auf dem engen Gebiete der Oberfläche des Schädels abgemessen werden müfste. An eine Gestaltung der Psychologie zur wissenschaftlichen Einheit ist daher bei der Phrenologie nicht zu denken; sie liefert nur eine Fülle vereinzelter Thatsachen, und in diesem Siune wollen wir die von ihr aulgestellten Triebe der Reihe nach durchgehen.

(Schlufs folgt.)

VII.

Beobachtungen ursprünglicher Bildungs- fchler und gänzlichen Mangels der An¬ gen bei Men scheu und Tbieren. Von Dr. Burkhard Wilhelm Seiler, Königl. Sachs. Hof- und Medicinalratbe, Director der chirurgisch- medicinischen Acadcmie, Professor der Anatomie, Physiologie und gerichtlichen Arzneikunde, In¬ spector der anatomischen Sammlungen, des Kü-

%

und Mangel des Auges. 211

nigl. S ächs. Ordens für Verdienst und Treue Rit¬ ter, des König]. Schwedischen Sanilalscollegiums, der medicinischen Facultafen zu Kasan und ^esth auswärtigem, mehrer Gelehrten- Gesellschaften or¬ dentlichem und correspondirendem Mitgliede. Dres¬ den, in der Waltherschen Buchhandlung. 1833. (3 Thlr.)

Der hochberühmte Verfasser bringt mit dieser äufserst fleifsigen Schrift seinem Collegen Hedenus am Tage des vollendeten fünfzigsten Jahres treuer und ehrenvoller Amts¬ führung im Namen der Professoren der chirurgisch -medi¬ cinischen Academie zu Dresden, freundliche und herzliche Glückwünsche dar selbst durch vorliegendes Werk zu¬ gleich aufs Schönste den Beweis führend, dafs hohes Al¬ ter, folgt es einer in geistiger Regsamkeit und Thätigkeit vollbrachten Jugend, eine Segnung des Himmels ist, in¬ dem es nicht unfähig macht Treffliches zu leisten, son¬ dern dem Trefflichen nur noch das Siegel voller Reife aufdrückt.

Das Verlangen, einzelne interessante Beobachtungen anzureihen dem bisher Bekannten, und selbst in organi¬ sche Verbindung zu setzen mit dem Verwandten, hat den Verfasser getrieben, auf die Beschreibung einiger wichti¬ gen Mifsbildungen der Augen, ausführliche Zusammenstellun¬ gen und Abhandlungen über die Bildungsfehler dieserOrgane folgen zu lassen. Es beginnt das Werk mit der Beschrei¬ bung der Mifsbildungen. Zunächst verweilt der Verf. bei dem Kopfe eines vollkommen reifen, todtgeborenen Kin¬ des männlichen Geschlechts, dessen übrige äufsere und in¬ nere Organe ganz normal gebildet sind. Zu einer sehr grolsen Hirnhöhle, ist das Gesicht sehr niedrig. Die Stirn¬ beine, die Scheitelbeine und das Hinterhauptbein stehen weit auseinander, durch häutiges Gewebe mit einander verbunden, nach dessen Durchschneidung eine beträcht¬ liche Menge trübes Wasser ausfliefst und die harte Hirn-

14 *

2fO VII. Bildnngsfchler

haut sich als eine grofsc Wasserblase zeigt, in welcher durchaus keine Spur von Gchirnmassc zu finden ist, ob- wol ^is Rückenmark die gehörig geschlossene Wirbelbcin- höhle bis zu dem ersten Halswirbel anfüllt. Das Schloch und die obere Angenhöhlenspalte sind sehr verengert, der Türkensattel flach. Betrachtet man die Augen von vorn, so sicht man längs des oberen und unteren Augen¬ höhlenrandes die Augenlider in Form niedriger, nur eine Linie im senkrechten Durchmesser haltender haarloser Haut¬ falten hinlaufen, zwischen welchen die Augcnlidcrspalten von 5 Linien Breite und 4 Linien Höhe sich finden, die von jenen in der Bildung gehemmten Augenlidern unge¬ fähr bis zur Hälfte bedeckt werden. In der Tiefe zwi¬ schen jener Spalte sieht man die Bindehaut des Augapfels, als Fortsetzung der innern Platte der Augenlider. Es geht das Hautgewebe von dem obern Augcnlide zu dem untern ununterbrochen über die vordere Fläche der Augengrubc fort; da wo es diese bedeckt wird es dünner, und im fri¬ schen Zustande konnte man seine zartere, den Schleim¬ häuten ähnliche Decke (Epithelium) deutlicher erkennen; auch war diese Hautfläche etwas röthlichcr, als die äafsere Platte der Augenlider. Wo hinten das Rudiment des Aug¬ apfels anlicgt, sieht inan von vorn nur eine schwache Er¬ habenheit. Thränenpunkte sind vorhanden. Dicht hinter der Hautplatte, welche die Augengrube bedeckt und nach vorn zu schliefst, liegt der kleine Augapfel, dessen Durch¬ messer von vorn nach hinten 1‘ Linie, dessen (4)uecr- durebmesser 1| Linie beträgt. An einer Stelle ist seine vordere Fläche genau mit der Conjunctiva verbunden; seine untere Fläche liegt auf dem unteren geraden Augenmus¬ kel; seitlich und hinten ist er mit Zellstoff umgeben, in welchem man eben so wenig, als an seiner hin¬ teren Fläche, eine Spur des Sehnerven ent¬ decken kann. An der vorderen Fläche ist eine kleine, trübe Cornea zu erkennen, durch 'welche man im Innern des Augapfels schwarzes Pigment sehen kann, und die sich

und Mangel des Auges. 213

tcn Theil jenes kleinen Augapfels umgibt, deutlich unter¬ scheiden läfst. Bei der Oeffnung des linken Augapfels llielsen einige Tropfen ganz klaren Wassers aus. Die in¬ nere Fläche der Sclerotica ist mit einer hinten bräunlich, vorn nur schwärzlich gefärbten Choroidea bedeckt. Uebri- gens bilden diese Häute nur einen kleinen mit Wasser an¬ gefüllten Sack, in welchem weder Nervenhaut, noch Glas¬ körper oder Krystalllinsc zu finden ist. Die Thränendrü- sen fehlen in beiden Augen. In der Augenhöhle der rech¬ ten Seite fehlen der obere gerade und untere schiefe Au¬ genmuskel; in der linken Augenhöhle fehlt der untere schiefe Augenmuskel. Alle andere Muskeln, mit Ausnahme des unteren geraden, mit welchem der kleine Augapfel verbunden ist, endigen sich in Zellstoff an der hinteren Fläche der Bindehaut des Augapfels. Von den Nerven fehlen in der rechten Seite das Ganglion ciliare und die zu demselben gehörigen Aeste des dritten und des ersten Astes des fünften Hirnnerven, welcher sein Ganglion Gasseri bildet, und aus welchem Ober- und Unterkiefernerven her¬ vorgehen. In der Augenhöhle der linken Seite fehlen alle

Nerven. Der sechste Ilirnncrv geht eben so, wie eine

/

leere Nerveuscheidc des ersten Astes des fünften Nerven- paares nur bis zu der oberen Augenhöhlenspalte, dann ver¬ weben sie sich mit dem Zellstoff, von welchem aus sich ein dichterer Streif, wahrscheinlich ein Rudiment der Ncr- venscheidc, als Fortsetzung des sechsten Hirnnerven zu dem äufseren geraden Augenmuskel verfolgen läfst. Ueber- haupt ist von dem fünften Nervenpaare auf dieser Seite nur eine dünne Nervenscheide vorhanden, die sich da, wo der halbmondförmige Nervenknoten liegen sollte, in Zell¬ stoff /verliert. Demuogeachtet sind Aeste des Oberrollner- veu und des Stirnnerven auf der Stirne, so wie die Aeste des Uuteraugenhöhlenucrveu auf die gewöhnliche Weise in dem Gesichte verbreitet. Der Stamm des fünften Ner¬ ven ist also durch eine dünne Nervenscheide angcdcutet,

214 VH. Bildungsfehlcr

die bald ganz verschwindet, und doch sind die Endästc entwickelt. Die Arteria ophthalmica verbreitete sich zu den vorhandenen Gebilden regclmüfsig.

Eine zweite Mifsgcburt, ein reifes, gut genährtes, todt- geborenes Kind männlichen Geschlechts, mit zu grofsem Kopfe, fehlendem linken, kleinem und mifsgebildetom rech¬ ten Ohre, mit verkürzten und gekrümmten Vorderarmen, mit verbildetem Daumen der rechten und fehlendem der linken Hand, und mit zu grofsem Hodensacke, wird riiek- sich t lieh der Mifsbildungcn seiner Augen zunächst genauer beschrieben. Nach Eröffnung des Schädels flofs eine zuin Theil sulzige, zum Theil ganz wässerige Flüssigkeit aus, und die harte Hirnhaut zeigte sich alä eine grofse Was¬ serblase; von dem Gehirn war keine Spur zu finden. Auf dein Schädclgrundc sind die Sicbplatte des Sicbbcincs mit sehr kleinem Hahnenkamm, die Augenhöhlenplatle des Stirnbeines, die grofsen ud* kleinen Flügel des Keilbeines, der Grundthcil des Hinterhauptbeines von normaler Bil¬ dung. Das Sehloch und die obere Augenhöhlenspalte sind sehr eng; der Felsenthcil des Schläfenbeines der linken Seite ist nur durch eine Knochcnlciste angedeutet; auf der rechten Seite ist er auch kleiner ata gewöhnlich. Be¬ trachtet man die Augen von vorn, so findet man die Au¬ genlider und den Augapfel normal gebildet, aber die Thrä- nenpunktc fehlen an beiden Augen. Nach Wegnahme der Augenhöhlcnplattc des Stirnbeines vermifst man die Thrä- ncudrüsen. In der rechten Seite fehlen der obere und der untere schiefe Augenmuskel. Von den zum Auge gehöri¬ gen Nerven findet man nur die leere Scheide des Sehner¬ ven. welche aber so dünne ist, dafs sic nur bis zu dem Zellstoffe, welcher in dem Sehloche liegt, verfolgt werden kann. In der linken Augenhöhle fehlen der obere gerade und die beiden schicfeu Augenmuskeln. Man findet die von Nerven maVk ganz leere vSchcidc des Sehnerven, in welche man von der zur Wasserblase ausgedehnten harten Hirnhaut aus ein Uotshaar bis zu dem Augaptcl einführen

215

und Mangel des Auges.

kann, und welche daher ohne Zweifel mit der in jener Blase befindlichen Flüssigkeit angefüllt war, die sich dem¬ nach bis iu die Höhle des Augapfels selbst verbreitete, und die Sl eile des Glaskörpers einnahm. Das dritte Ner¬ venpaar geht wie gewöhnlich zu dem äufseren geraden Au¬ genmuskel. Von den übrigen Nerven bis zu dem Vagus sind zwar dünne, leere Scheiden auf der harten Hirnhaut zu sehen, allein sie sind so dünn zellstoffig und verwe¬ ben sich mit dem Zellstoffe der harten Hirnhaut so innig, dafs man sie nur bis in diesen verfolgen kann. Erst von dem Giossopharyngeus an werden die Nervenscheiden et¬ was fester; sie enthalten aber nur wenig Nervenmark und erscheinen wie verkümmert; doch kann man den N. gios¬ sopharyngeus, vagus, accessorius Willisii und hypoglossus bis zu ihrem Austritte aus der Hirnhöhle verfolgen. Die Augäpfel sind etwas gröfser, als sie nach dem Alter und der Gröfse des Kindes hätten sein sollen. Conjunctiva, Sclerotica, Cornea, Iris und Krysfalllinse sind normal ge¬ bildet; die Choroidea ist hinten bräunlich, nur vorn in der Gegend des Faltenkranzes, und an diesem, zeigt sich schwarzes Pigment. Die Nervenhaut und Glaskörperhaut fehlen ganz, und die Stelle des Glaskörpers ersetzt eine ganz wasserhelle Flüssigkeit. Sehr merkwürdig ist an dieser Mifsgeburt, dals Nieren, Nebennieren, Harnleiter? Harnblase, Harnröhre und die Eichel des männlichen Glie¬ des fehlen, dagegen Hoden, Nebenhoden und schwammige Körper des männlichen Gliedes vorhanden sind.

3. Einem Microcephalus fehlt von den Kopfknochen das Stirnbein; die Scheitelbeine, das Hinterhauptbein bis auf den Grundtheil, welcher unförmlich breit, der Schup- pcntheil und die Felsentheile des Schläfenbeines sind un¬ vollkommen entwickelt; von dem Keilbeine fehlen die grofsen Flügel; von den kleinen Flügeln finden sich nur Rudimente, der Körper des Keilbeins ist unförmlich grofs. Die Halswirbel mangeln ganz; die übrigen Wirbelbeine sind gehörig entwickelt. Die Ilirnncrven fehlen alle, bis

216

VII. Bildungsfeblcr ,

auf den Sehnerven. Es fehlen von den Knochen, welche die Augenhöhlen bilden, die Augenhühlcnplattc des Stirnbeins, *cr grofse Flügel des Keilbeins und die Au- genhöhlenplatte des Jochbeins. Das obere und untere Au¬ genlid besteht aus Linien hohen llautfaltcn, welche den stark hervorragenden Augapfel wie ein Kranz umgeben. Die Augenliderspaltc ist von einem Augenwinkel zu dein anderen 7 Linien breit. Die Augäpfel sind vcrhältnifs- mafsig zu grofs. Von den Muskeln licls nur der Augen- lidhebcr sich ganz deutlich darstellen; übrigens ist die hin¬ tere Flache der Sclcrotica mit einem undeutlichen Faser¬ und Zellstofigcwcbc umgeben, aus welchem man nur den oberen geraden Augenmuskel mit Mühe herauspräpariren konnte. Ungeachtet der Sehnerve ziemlich schwach ist, so hat sich doch die Ncrveuhaut des Augapfels entwickelt; auch alle übrigen Iläutc desselben und die Krystalllinse haben, die unvcrhältuifsmäfsigc Gröfsc abgerechnet, eine normale Bildung; die Glaskürperhaut fehlt dagegen, und eine wasscrhcllc Flüssigkeit ersetzt die Stelle des Glaskör¬ pers. Schwarzes Pigment findet sich nur vorn auf der Uvea, dem Faltenkranze und in dessen Nähe auf der Cho- roidea; der hiutere Thcil dieser Haut hat eine bräunliche Farbe. Nebcu diesen Missbildungen ist auch das äufsere Ohr sehr unvollkommen entwickelt; Helix und Antitragus sind uoch wenig gesondert. Ein grofser Nabelbruch ent¬ hält fast die ganze Leber, die meisten dünnen und einen Theil der dicken Gedärme.

Es folgt viertens die Beschreibung eines vollkommen reifen, wohlgenährten Kindes männlichen Geschlechtes, mit gänzlichem Mangel der Augen, aller zu denselben gehöri¬ gen Gebilde und mehren anderen Mifsbildungcu. Dieses Kiud hat 3 läge lang nach der Geburt gelebt, und wurde durch Linflöfscn von Milch und Chaniillenlhce erhalten. Die Stellen, wo die Augenhöhlen ihren Sitz haben soll¬ ten, sind mit einer Fortsetzung der Kopfhaut überzogen, die auch bis zu den verwachsenen Nasenbciucu, welche

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und Mangel des Anges.

wie ein Schnabel hervorragend mit Haaren bedeckt sind. Den mittleren Tlieil des Gesichtes nimmUein grofser Wolfs¬ rachen ein. Von der äufseren Nase sind nur die unvoll¬ kommen entwickelten und verwachsenen Nasenbeine vor¬ handen; der Zwischenkieferknochen, die Hirufortsätze des Oberkiefers und die Gaumenknochen fehlen ganz, so dafs man frei in die zusammengeschmolzene Nasen- und Mund¬ höhle hineinsieht, in welchen oben in der Mitte die senk¬ rechte Platte des Siebbeines, zu beiden Seiten die unte¬ ren Muscheln , und neben diesen vorwärts die Rudimente des Zahnzellentheiles des Oberkiefers liegen; die Grund¬ fläche dieser grofsen Höhle bilden die Zunge und der Un¬ terkiefer. Das rechte äufsere Ohr ist vollkommen ent¬ wickelt, das linke Ohr ist verkrüppelt; weder Helix und Anthelix, noch Tragus und Antitragus sind deutlich ge¬ sondert; der äufsere Gehörgang ist verschlossen.

Die rechte obere Gliedmasse fehlt bis auf Schulter¬ blatt und Schlüsselbein. Die linke obere Gliedmasse ist vorhanden, aber der Daumen fehlt; statt des zweiten, drit¬ ten und vierten Fingers ist ein unförmlich grofser Finger vorhanden; der kleine Finger ist normal. Die untere Kör¬ perhälfte ist äufserlich ohne Bildungsfehler.

Nach Eröffnung der Hirnhöhle flofs viel Wasser aus; in dem Grunde dieser Wasserblase sah man ein unvoll¬ kommen entwickeltes Gehirn. Von den Stirnbeinen ist nur ein kleines, unförmliches Rudiment vorhanden , wel¬ ches links neben der Siebplatte des Siebbeines und unmit¬ telbar über dem Rostro liegt; die Schuppentheile der Schlä¬ fenbeine fehlen, dagegen haben die Scheitelbeine einen sehr ausgedehnten Umfang; sie erstrecken sich von dem Hinterhauptbeine bis zu dem Felsen tlieile der Schläfenbeine, vorn bis zu dem Rudimente der Stirnbeine und bis an die ungewöhnlich breiten kleinen Flügel des Keilbeines. Auf der Grundfläche der Hirnschaale sieht man, aufser dem Rudiment des Stirnbeines, die Siebplatte des Sicbbeincs, die sehr dünn ist und statt der Siebbeinlöcher* nur seichte

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VII. Bildungsfehler

Vertiefungen zeigt; der llahneokamm fehlt ganz; zu bei¬ den Seiten jener Platte liegen die ungewöhnlich breiten kleinen Flügel des Keilbeins; sie gehen gekrümmt aufwärts und seitwärts, verbinden sich mit dem Rudimente des Stirnbeines und den Scheitelbeinen nach aus- und auf¬ wärts und nach einwärts mit der Siehplatte des Siebbeines. Zwischen ihnen und den weiter rückwärts liegenden grofsen Flügeln des Keilbeines ist ein beträchtlicher Spalt, wel¬ cher mit einer weichen, sehnenfaserigen Masse ausgclüllt ist und in die Nasenhöhle führt. Die obere Fläche des Körpers des Keilbeines ist ungewöhnlich breit; die grofsen Flügel des Keilbeines und die Felsentheile der Schläfen¬ beine liegen so dicht an einander, dafs die Keilbein- Fel¬ senspalte fehlt. Da die Augenhöhlenplatte des Stirnbeins, der Oberkieferknochen und der Jochbeine, so wie die Pa- pierplatten des Siebbeines und die Thräncnbeiue fehlen, so sind auch beide Augenhöhlen ganz unentwickelt geblieben; die Scheitelbeine schliefscn sich au die kleinen Flügel des Keilbeines an, und die behaarte Haut setzt sich unmittel¬ bar in die Wangenhaut fort. Von dem Gehirne sind ei¬ nige unvollkommen gebildete Theile vorhanden, doch hat die Entwickelung die hinteren Lappen des grofseu Gehir¬ nes, die Sehhügel und die Vierhügcl auf beiden Seiten erreicht. Von oben sicht inan nämlich im Grunde der Wasserblase der harten Hirnhaut und auf der Grundfläche der Hirnschaale ein gröfercs Rudiment des rechten, ein kleineres des linken hinteren Lappens der Halbkugeln des grofseu Gehirnes; rechts eine halbmondförmige Vertiefung, als Spur der Seitenhirnhöhlen; in dem linken Rückenmarke eine kleine, unförmliche Grube. \orn hinter der Sieb¬ platte treten beide, nur zum Thcil entwickelten, hinteren Lappen des grofsen Gehirnes divergirend auseiuader, so dafs man jene Knochcnplattc, nur von der harten Hirn¬ haut bedeckt, sogleich blofs liegen sieht. In der Mitte zwischen jenen Rudimenten ist eine Spur der dritten Hirn- höhle, welche hinten auf beiden Seiten durch die Seh-

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und Mangel des Auges.

hiigel und unten von der grauen Platte begränzt wird; hinter dieser liegen die nicht recht deutlich gesonderten Vierhügel, die Sylvische Wasserleitung, das kleine Gehirn mit dem oberen Wurm und ungleichen Halbkugeln, in dem die rechte die gröfsere ist. Betrachtet m^n diese Ge- hirntheile von unten, so findet man die unvollkommen ent¬ wickelten hinteren Lappen dei^ rechten und linken Halb¬ kugeln des grofsen Gehirnes; dazwischen vorn liegt der grofse Spalt, durch das Auseinanderweichen ihrer innern Flächen bewirkt; hinter diesem folgen der rechte und linke Hirnschenkei, der Gehirnknoten, das verlängerte Mark mit deutlich gesonderten Pyramiden und Olivenkör¬ pern, das kleine Gehirn nebst dem unteren Wurm und alle llirnnerven, mit Ausnahme des Geruchsnerven; die Sehnerven können bis zu den Sehhügeln verfolgt werden, und beide vereinigen sich an der gewöhnlichen Stelle. Es fehlen demnach: die Zirbel, der grofse und kleine Seepfer- defufs, die Nebenerhabenheit, die gezahnte Leiste, der Hornstreif, die gestreiften grauen Körper, die vordere und hintere Commissur, der Balken, die Scheidewand, das Ge¬ wölbe, die Markhügelchen, der Trichter und der Hirn¬ anhang.

In Betreff der Unterleibshöhle ist noch zu bemerken, dafs die Milz ungewöhnlich grofs, die linke Niere sehr klein, die rechte flach, schlaff und überhaupt unförmlich ist; die Nebennieren fehlen; die dicken De* me sind sehr erweitert, besonders das letzte Stück, vor der linken Krümmung bis zu dem Ende des Mastdarmes; der wurm¬ förmige Anhang hat eine beträchtliche Länge.

Nach der Beschreibung dieser merkwürdigen Mifsgc- burten und der Erläuterung ihrer und einiger anderen Ab¬ bildungen, geht der Verf. über zu der Abhandlung: Von den ursprünglichen BilduDgsfehlern und dem gänzlichen Mangel der Augen. \

In dem Abschnitt, der die Zahl der Augen behan¬ delt, macht der Verf. darauf aufmerksam, dafs man die

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VII. Bikhmgsfchlcr

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Art von Monophthalmie, bei welcher das vorhandene Auge seine gewöhnliche Lage behalt und gar keiue Spur von doppelter Entwickelung seiner einzelnen Thcile zeigt, wohl unterscheiden müsse von der Art der Einäugigkeit, bei welcher die Augen in der Milte unter dem Stirnbeine lie¬ gen und immer das Bestreben zur Bildung zweier Augen in irgend einem Thcile wenigstens angcdcutet ist. Für jenen Bilduugsfehler schlägt er den Namen Monophthalmia perfecta, für diesen Monophthalmia imperfecta s. Cyclopia vor. Diese letztere betrachtet der Verf., gestützt auf lluscb ke ’s und auf eigene Untersuchungen, mit II. als eine Folge der in ihrem normalen Wirken gehemmten or- ganisirendeu Thätigkeil, wenn ihm gleich die Annahme, dafs der vollkommensten Cyclopenbildung nie früheste Pe¬ riode der normalen Entwickelung des Auges entspräche, noch der Bestätigung, besonders durch Untersuchungen der Embryonen der Säugethicre zu bedürfen scheint.

In dem die Gröfse des Augapfels behandelnden Ab¬ schnitte wird eine nicht geringe Zahl von Bildungsabwci- chuugcn der einzelnen Gebilde auf normale Entwickeluugs- stufen reducirt, , wobei besonders Huschke’s trclllicher Aufsatz im Mcckelscheu Archiv beuutzt und gewür¬ digt wird.

«In der Abhandlung über den gänzlichen Mangel der Augen findet sich alles hierher Gehörige mit grofsem Fleifsc zusa mm enge trogen; die einzelnen Bilduugsabwcichungcn der oben beschriebenen Mifsgeburt werden auf normale Eut- wickcluogsstufen reducirt, und daun wird einigen allge¬ meinen Betrachtungen Baum gegönnt.

Mau kann, wie das der Fall beweiset, in dem bei dem gänzlichen Mangel der Augen und aller zu denselben gehörenden Thcile, doch der Sehnerv selbst bis zur Ver¬ bindung beider Nerven, die Sehnerven- und Vicrhügel, nebst allen andern für das Auge bestimmten Nerven vor¬ handen waren, nicht als allgemein gültig anuchmcn.

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und Mangel des Auges.

dafs die Nerven solcher Organe fehlen, die nicht gebildet sind, wenn gleich dieser Satz für die meisten Fälle gilt.

Aber auch Rudolphi’s Satz, dafs Augen ohne Seh¬ nerven und Netzhaut nicht Vorkommen können, steht nicht fest, wie dies die oben angeführten Fälle beweisen.

Auch bei Mangel des Geruchsnerven und des fünften Ncrvenpaarcs kann sich das Gcruchsorgan entwickeln.

Für die Richtigkeit der Beobachtung, dafs die zu ei¬ nem Systeme gehörigen Tlieile oft zusammen fehlen, spre¬ chen die oben beschriebenen Mifsbildungen: gleichzeitiger Mangel der Geruchsnerven und der zum Geruchsorgan ge¬ hörigen Gebilde; Mangel der Thränendrüse, Thräuenpunkte, des Thränensackes und Thränenkanales. In demselben Kinde fehlten Nieren, Nebennieren, Harnblase, Prostata, die hin¬ leitenden Saamengänge, die Harnröhre nebst ihren schwam¬ migen Körpern und die Eichel zusammen, während Hoden und schwammige Körper des männlichen Gliedes vorhan¬ den sind, wodurch die nähere Beziehung der schwammi¬ gen Körper des männlichen Gliedes und der männlichen Saamenfliissigkeit, als gemeinschaftlicher Träger der männ¬ lichen Kraft angedeutet zu sein scheint, während die man¬ gelnden Gebilde nur den niedriger stehenden Ausführungs¬ organen angehören.

Doch kann man aus diesen Beobachtungen nicht den Schlufs ziehen und als Entwickelungsgesetz aufstellcn : dafs ein Theil durch den andern gebildet werde, oder dafs die verschiedenen Organe aus einem Centrum nach der Peri¬ pherie gleichsam herauswachsen müssen. Bei der rcgel- mäfsigen Entwickelung des Embryo sehen wir allerdings, wie ein Theil nach und nach an den anderen sich anrei¬ het, allein eben so wenig hierin, als in dem oft vorkom¬ menden gleichzeitigen Mangel der zu einem Systeme ge¬ hörigen Gebilde können wir die Beweise für eine solche Abhängigkeit der Organe von einander finden, und es scheint das von Ru dolp hi aufgestelltc Bildungsgcsetz, dafs

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VIT. TUMnngsfohlor

jeder Theil des Centrums und der Peripherie nach Manfs- ^abc des Zeitpunktes seiner Entwickelung, an seiner Stelle als primitiv, oder durch Zeit und Ort nothwendig bedingt, nach bestimmtem Typus geformt werde, wofern kein Hin- dernifs in diesem 'Punkte statt findet, durch mehre Beob¬ achtungen bestätigt zu werden. Klinkosch sab schon bei gänzlichem Mangel der Stämme des sechsten Nerven- paarcs die peripherischen Acste entwickelt. Seiler un¬ tersuchte einen Fötus, bei welchem alle Nerven vorhan¬ den waren, ungeachtet Gehirn und Rückenmark gänzlich mangelten. Solche Fälle genügen aber doch nicht, um Serres Meinung zu bestätigen, dafs die Bildung der Ner¬ ven in der Peripherie beginne und nach dem Centrum dringe; die Entwickelungsgeschichte des ganzeil Embryo von den ersten Monaten bis zur Vollendung aller seiner Organe, die frühere Bildung des Stammes, die spätere des Kopfes, der Extremitäten und dieser im Einzelnen ganz vom Centrum aus, ja jede Regeneration widerlegt diese Meinung. Die Tendenz der Bildung geht vom Centruni aus; allein es können Zwischenglieder in ihrer Entwicke¬ lung gehemmt werden, während die sie umgebenden Thcilc immer im Wachsthum fortschreiten; an eine entferntere Stelle angekommen , wird die orgauisirende Kraft auch für das Zwischenglied gleichsam von Neuem belebt. Beson¬ ders sprechen für die Unabhängigkeit der Entwickelung einzelner Tbcile die halben oder Viertelskörper, wo Kopf. Brust und die oberen Gliedmaafscn , ja selbst auch ein Theil des Unterleibes fehlen; hier haben sich die wenigen vorhandenen Theile ganz ausgebildct, ohne dafs sie von einem Mittelpunkte aus herausgewachsen sind.

Bald wendet sich jetzt der \ erf. zur Darstellung der ursprünglichen Bildungsfehler des Auges insbesondere. Zu¬ erst werden die Augenhöhlen betrachtet rücksichtlidh ihrer Gröfse, ihrer Slellung zu einander, ihrer Gestalt und des Mangels von I heilen, die zu ihrer Bildung beitragen. Es folgen Augenbraunen und Augenwimpern, Augenlider und

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nntl Mangel des Auges.

Thränenorgane; hierauf die Augenmuskeln, Augennerven und die Bindehaut des Augapfels. Bei Betrachtung der angeborenen Bildungsabweichungen der Sclerotica und Cor¬ nea verweilt der Verfasser länger bei der Hyperkeratosis. Es kommt hier zuerst die Frage in Betracht, ob dieser Bildungsfehler als eine Hemmungsbildung, oder als Folge eines krankhaften Zustandes angeboren anzusehen ist. Wimmer’s Gründe für die Annahme der ersten Erklä¬ rungsweise sind sehr schwach. Seiler fand bei der Un¬ tersuchung sehr vieler Embryonen von Menschen und Thie- ren die Hornhaut wohl ebenmäfsig kugelig erhoben, nie aber konisch hervorragend. Es dürfte daher die Hyper¬ keratosis wol als Folge einer früher vorhanden gewese¬ nen, aber zum Stillstand gekommenen krankhaft zu reich¬ lichen Absonderung von Wasser in dem vorderen Theile des Augapfels (Hydrops bulbi oculi anterior) zu betrach¬ ten sein, welches zur Wucherung und Verdickung der Hornhaut Veranlassung gegeben hat, wie wir dies auch bei anderen Geweben sehen, die zum Stillstand gekom¬ mene krankhafte Wasseransammlung umgeben. Ammon’s Beobachtung von öfterem gleichzeitigen Bestehen eigen¬ tümlich abweichender Schädelformen und der Amaurose bei der angeborenen Hyperkeratosis scheint zu einflußrei¬ chen Folgerungen für die Genesis dieses ßildungsfeblers führen zu können, weil jene Kopfformen auf einen nicht normalen Gang der Entwickelung des Gehirnes, auf eine zu langdauernde Ansammelung von Wasser, ehe sich die Gehirntheile gebildet haben, auf einen hydrocephalischen Zustand und auf eine zugleich vorhandene zu reichliche Wasserabsonderung in dem ganzen Augapfel, oder wenn die Krystalllinse sich schon gebildet hat, vielleicht nur zwischen ihr und der Hornhaut hindeuten; besonders da die Entwickelung des Auges und des Gehirnes in so ge¬ nauer Beziehung zu einander stehen und nach Huschke’s Beobachtung die Höhle der Augenhäute anfänglich mit den Hirnblasen durch den Kanal der Sehnervenscheidc in Ver-

224

VII. Bildtmgsfchlcr

bindung steht. Diese Meinung gewinnt dadurch noch an Wahrscheinlichkeit, dafs mau bei Kindern mit Wasseran¬ sammlung in der Schädelhöhle jene Missbildungen des Schä¬ dels öfters beobachtet hat, und weil bei der Hyperkera- tosis immer Schwachsichtigkeit; öfters Amaurose beobach¬ tet worden ist. Wenn sich nämlich die Eirnmassc über¬ haupt langsamer und uykräftig aus dem Wasser hcrans- bildct, so wird dasselbe ohne Zweifel auch mit dem Marke des Sehnerven der Fall sein; er wird dem unbewaffneten Auge schon in Hinsicht der Materie zu dünn, die Netz¬ haut mehr einer serösen Hautplatte, als einer Nervenmark- Ausbreitung ähnlich erscheinen; noch mehr wird er aber in den für uns unerforschbaren Mischungsverhältnissen von dem gesunden Nervenmark abweichen, und dieses ist ge- wifs eine Ilauptursache des angeborenen schwarzen Staa- rcs. Mit dieser Ansicht über die Genesis der angeborenen Hyperkeratosis läfst sich die partielle Verdickung der Horn¬ haut von ihrem äufscrcn Rande gegen das Centrum hin, recht gut vereinigen. Denn wir Finden öfter, dafs da, wo krankhafte Wasseransammlungen zum Stillstand kommen, oder selbst durch Efeisaugung etwas verringert w'erdeu, Verdickungen der Gewebe entstehen, welche die Wasser¬ ansammlungen einschlicfscn. So sehen wir cs an allen se¬ rösen Häuten, an allen Wasserblasen, die sich in dem Pa- renchyma der Eingeweide bilden, ja selbst die Schädel¬ knochen werden nicht selten bei Ilydroccphalis verdickt gefunden. Man könnte, fahrt der Verf. fort, die Einwen¬ dung machen, dafs man nicht bei jeder angeborenen Hy¬ perkeratosis jene cigenthiimlichc Kopfform gefunden hat; aber abgesehen davon, ob die Beobachter so, wie Am¬ mon, auf genaue Untersuchung des Schädels Rücksicht ge¬ nommen haben, so wird sich dieser Eiuwurf leicht da¬ durch beseitigen lassen, dafs die Wasseransammlungen in der Scbädclhöhlc in sehr verschiedenen Graden statt lin¬ den können, selbst in so geringen, dafs sie keine unge¬ wöhnliche SchädcLform bewirken, wenn gleich die mit

jenes

und Mangel des Auges.

225

jener Disposition verbundene krankhafte Wassererzeugung in dem Auge die konische Hornhaut bedingt hat. End¬ lich dürfte man bemerken: es seien ja bei dem Hydroph- thalmus jeder Art die Augenhäute dünner, nicht verdickt. Dieses ist allerdings der Fall, so lange die Krankheit noch im Zunchmen ist, oder noch nicht lange genug still ge¬ standen hat, um jenen Verdickungsprozefs der Augenhäute durch die, das Organ gleichsam schützende, bildende Kraft hervortreten zu lassen. Doch sind auch bei der Augapfel¬ wassersucht die Haute des Auges nicht immer verdünnt. Seiler hat selbst bei einigen hydrocephalischen neugebo¬ renen Kindern, bei denen zugleich llydrophthalmia poste¬ rior vorhanden war, die Sclerotica nicht dünner, sondern dicker, als gewöhnlich, gefunden.

Zunächst werden nun der Mangel der Gefäfshaut, der theilweise Mangel des Strahlenkörpers, das Coloboma cho- roideae abgehandelt, und dann gelangt der Verf. , vom schwarzen Pigmente redend, zur Weifssucht, bei deren Be- trachtung er wieder länger verweilt.

«Die bei den Albinos so merkwürdige, gemeinschaft¬ liche Entfärbung der Haut, der Haare und der Augeu, und die mehrfachen Beziehungen, in welchen diese beiden Gebilde zu einander stehen, finden zwar zum Theil, nach Blumenbach, ihre Erklärung in der Aehnlichkeit der Gewebe. Vorzüglich klar wird uns aber jenes Verhält- nifs, wenn wir uns daran erinnern, dafs die Augenhäute aus den Primitivfalten, den ersten Bildungen für das äufscre Hautsystem, eben so wie die Hirnhäute, entste¬ llen. Es entspricht demnach die Sclerotica der dura Ma¬ ter, und dadurch der Lederhaut, die Choroidea der pia Maler, dadurch dem freien Gefäfsnetze auf der Lederhaut und dem Malpighi sehen Schleime, die Nervenhaut der Ilirnmasse selbst und dadurch einer freieren Entwickelung des in der Lederhaut reichlich verbreiteten Nervengewe¬ bes. Ja selbst der Arachnoidca hat Iluschke ihr Analo¬ gon in der Lamina fusca Scieroticae und der Descemet- Band 28. Heft 2. 15

226 VII. Bildangsfehler

gehen Haut nachgewiesen. Sehr interessant ist cs aber, «lafs dieses seröse Hautgewebe stufenweise gleichsam sich mehr spndert und aus den benachbarten Geweben sich herausbildet. In der Lederhaut erscheint cs ganz, unbe¬ stimmt, nur durch die Function angedeutet; jene analogen Hautgewebc des Auges sind auch noch sehr zart, und erst im Gehirne, und vorzüglich im Kückenmarke, tritt die Arachnoidea als dichtere und von den benachbarten Ge¬ bilden gesonderte Haut auf. Aus dieser Achnlichkeit der Kildungsverhältnissc kann man sich wol auch die genauen pathologischen Beziehungen, in denen das Hautsystem und die Augen zu einander stehen, zum Tbeil erklären; denn es ist bekannt, wie Dyscrasicen, welche jenes System vor¬ zugsweise ergriffen, auch nicht selten in hartnäckigen Krankheiten der Augen hervortreten und im antagonisti¬ schen Laufe sich äufsern. »

Folgende Gründe sind cs, die den Verf. bestimmen, die Weifssucht zu den Hemmungsbildungcn zu rechnen: 1 ) T)ie Pigmentbildung 'im Auge beginnt allerdings sehr zeitig; schon bei Embryonen vom 19tcn und 20sten Tage bei Säugethicren , bei vier- und fünfwöchentlichen Embryo¬ nen beim Menschen erscheint das Auge schwarz; allein das schwarze Pigment ist noch in der späteren Zeit des Fötuslehcns an dem vorderen Theilc der Choroidea und dem Strahlenkörper am reichlichsten angehäuft, so dals der hintere Thcil dieser Haut röthlich erscheint, ja öfters hat Seiler diesen Theil der Choroidea noch ganz frei von demselben gefunden. Es ist nicht zu zweifeln, dafs in der früheren Zeit der Entwickelung der Augen, die man bei Säugethieren noch nicht beobachtet hat, das schwarze Pig¬ ment ganz fehlt. 2) In den Augen der Isabellenpferde sieht man jene Hemmung der Pigmentbildung deutlich, in¬ dem sie durch das ganze Leben auf den Strahlenkörper beschränkt bleibt. 3) Die Haut der Embryonen ist in den ersten Monaten ohne Pigment. 4) Auch die Infusorien sind ungefärbt oder grün. 5) Die feinen weifsen Haare

227

und Mangel des Auges.

(Lanugo), welche die Haut der Albinos durch das ganze Lehen bedecken, deuten ebenfalls auf eine Hemmungsbil¬ dung, denn dieses Gebilde, ein Product des fünften Mo- uats des Fötuslebens, fällt gewöhnlich schon vor der Ge¬ burt, oder doch bald nach derselben aus. Weniger Werth möchte auf das längere Bestehen der Sehlochhaut zu legen sein, denn es sind bis jetzt nur zwei Fälle bekannt, bei denen sie sich fand. 6) Die Schwächlickeit der Körper-

und Geisteskräfte gehört zwar nicht zu den beständigen,

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charakteristischen Zeichen der Weifssucht; sie ist aber doch bei vielen Albinos beobachtet worden, und wie Troxler bemerkt, kommt die Weifssucht in der Schweiz oft in Verbindung mit dem Cretinismus vor, so dafs sich dann in der unvollkommenen Entwickelung des Seelenorganes, und mit ihm mehrer anderer Gebilde des Körpers, jenes Bleich-, Welk- und Mattsein recht deutlich ausspricht, welches, wie Troxler sagt, der Taubstummheit beim Cre¬ tinismus entspricht, und als eine Art des Cretinismus selbst, in einer besondern eigenthümlichen Form auftritt, die ihr durch die besondere Reihe der hauptsächlich leidenden Or¬ gane ertheilt wird. Wie aber vielseitiger Forschungen un¬ geachtet, unsere Kenntnisse über die Entwickelung des angeborenen Cretinismus doch noch uicht weiter gediehen sind, als zu der Annahme einer Hemmung der organisi- renden Kraft, oder, nach Troxler: « einer Entartung, und zwar ursprünglich einer eigenthümlichen Umwandlung des organisirenden Prinzipes, so dürfte über jenen merkwür¬ digen Pigmentmangel, und warum die Hemmung der Ent¬ wickelung in diesem vorzugsweise, ja bei der sporadischen Weifssucht oft allein hervortritt, nach unseru gegenwärti¬ gen Kenntnissen von den Bildungsgesetzen, ebenfalls nicht mehr zu sagen sein.

Was endlich die entfernten Ursachen der Leucosis an- betrifft, so ist wol wahrscheinlich, dafs alles, was depri- mirend auf Seele und Körper der Schwangeren einwirkt, die Thätigkeit der organisirenden Kraft mindern oder hem-

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«228 VII. Bildtingsfehlcr

men kann, wie es auch in der That hei mehren Mutlern von Albinos nachgewiesen worden ist; theils lebten sie in Dürftigkeit, oder der Körper war durch häufige Wochen¬ betten erschöpft, thcils halten sie Kummer und Sorgen,* oder sic gabeu an, dafs sic in den ersten Monaten der Schwangerschaft über weifsc Kaninchen mit rothen Augen u. dergl. erschrocken seien. Unstreitig geht aber Mans¬ feld zu weit, wenn er glaubt, dafs bei Europäern und Negern psychische Einflüsse einzig und allein als entfernte

Ursache der W'eifssueht anzusehen seien, wenn es gleich

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allerdings merkwürdig ist, dafs auch bei Erwachsenen Kummer, Furcht und Schreck das Verschwinden des Pigmentes in den Haaren und der Haut schnell herbeige- fiihrt haben.

Bei der Darstellung der Mifsbildungcn der Iris wer¬ den auch die neueren divergirenden Ansichten über das Coloboma iridis besprochen. Der Verf. rechnet dasselbe allerdings zu den llcinmungsbildungcn; allein die Kegen- bogenhaut erscheint sowol bei Embryonen von Vögeln und Säugethieren, als bei denen von Menschen, in Form eines geschlossenen schmalen Ringeb, wie dies Kiescr, Bacr, Ammon und Arnold beschrieben haben, und Seiler nach eigenen Untersuchungen an Embryonen von Menschen und Thieren bestätigen kann. Bei Katzen schien S. zwar cinigcmalc der untere Theil jenes Ringes der Iris gespal¬ ten zu sein, allein der Verf. zweifelt nun nach genauer und mehrmaliger Untersuchung nicht mehr, dafs die eigene Bildungsweise der Iris bei jeneu Thieren mit senkrecht gespaltenen Pupillen ihn getäuscht habe, was auch bei der horizontal gespaltenen Pupille leicht geschehen kann. Diese eigene Bildung ddr Iris hat vielleicht auch andere Beob¬ achter irre geführt, oder sie haben die Spalte in der Cho- roidea und dem Ciliarkörper für eine Spalte in der Iris gehalten, was gewifg bei denen der Fall gewesen ist, welche die Irisspalte bei sechs- und sieben wöchentlichen Embryonen gesehen haben wollen. Seiler kann daher

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und Mangel des Auges.

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Müller nicht beistimmen, wenn er behauptet, die Spalte der Iris an der unteren Seite sei bei allen Thieren, und an der unteren inneren Seite auch bei dem menschlichen Embryo eine unleugbare Thatsache. Kömmt aber die Iris¬ spalte während der Entwickelung des Embryo als normale Bildung nicht vor, so kann das Coloboma iridis auch nicht zu den Ilemmungsbildungen in dem von Walther aufge- fafsten Sinne gerechnet werden; vielleicht könnte man dasselbe aber doch als theilweise Hemmungsbildung der Iris ansehen. Hie Gefalse der Iris charakterisiren sich nämlich dadurch, dafs sie am äufscren und inneren Rande Kreise bilden, und die zwischen beiden liegenden Stämme von aufsen nach innen geschlängelt verlaufend, mit einan¬ der anastomosiren , ohne netzartige Verbindungen einzu¬ gehen, wie dies die Gefäfse der Aderhaut thun. Wenn nun an irgend einer Stelle ein zur Bildung eines oder ei¬ niger neben einander liegender Kreise bestimmtes Gefäfs- stämmchen obliterirt, so wird die Iris an dieser Stelle in ihrer Entwickelung gehemmt werden, während die übri¬ gen Gefafskreise gegen den Pupillarrand hin sich ent¬ wickeln, und auf diese Weise wird da, wo die Bildung der Iris zurückgeblieben ist, eine Spalte entstehen. Aehn- liche Obliterationen von Gefäfsen kommen ja während der Entwickelung des Embryo als normale und pathologische Erscheinungen öfter vor; im Auge selbst hat man die Ar- teria centralis obliterirt gefunden, und hält dieses mit liecht für eine der Ursachen des angeborenen grauen Staares.

Es folgen die Bildungsfehler der Nervenhaut, der wäs¬ serigen Feuchtigkeit, der Krystalllinse und ihrer Kapsel, des Glaskörpers und des Strahlenplättchens.

H ie Kupfertafel enthält, aufser den Darstellungen der oben beschriebenen Mifsgeburten, die einiger Bildungsfehler der Augen.

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VIII. Symblepharon.

VIII.

Das Symblepharon, und die Heilung dieser Krankheit durch eine neue Operations¬ methode. Ein Gliickwlinschungsschreiben , dem Herrn Dr. J. A. W. Hedenus am Tage seines fünfzigjährigen Amtsjubiläums, den 16. Juli 1833, überreicht von Dr. F. A. v. Ammon. Zweite, verbesserte Auflage. Mit einer Kupfertafel. Dres¬ den, in der Waltherschen Ilofbuchandlung. 1834. 8. 32 S.

Symblepharon definirend, als Verwachsung eines oder beider Augenlider mit dem Augapfel, unterscheidet der Verfasser zwei Arten, je nachdem diese Verwachsung an der vorderen, bei der Abduction sichtbaren Fläche der Li¬ der, oder an den hinteren Stellen derselben vorkömmt.

1. Symblepharon posterius, entstanden durch Ver¬ kürzung der degCnerirten Bindehaut an der Übergangs¬ stelle vom Augapfel zu den Augenlidern.

2. Symblepharon auterius, entstanden durch theil- weise oder gänzliche Verwachsung der vorderen Fläche der Augapfclbin'dehaut mit der des Augenlides, oder durch neue Bildungen auf derselben.

Untersucht man d?s S. posterius, das bei weitem häu¬ tiger am unteren, als <ftn oberen Augenlidc vorzukommen scheint, genauer, so findet man eine Verkürzung des Rau¬ mes an dem äufscrcn Palpebralrandc bis zur Tiefe der Bin- dehautuinschlagung. Diese Verkürzung des Raumes ist stets Folge einer chronischen Entzündung der Coujunctiva, wodurch diese Membran eigentümlich degenerirt, dann verdickt sich zusammenzieht, den hintersten Tbeil des Au¬ genlides und die unterste Partie des Bulbus gleichsan* ver¬ lädt und, ohne eine Falte nach hinten und innen zu bil* den, vom Augenlidc gerade zum Augapfel geht. Bei die-

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VIII. Symblepharon.

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«er Verkürzung der Conjunctiva in Folge chronischer Ent¬ zündung bilden sieh sehr bald Längenfalten, die an die Stelle der verloren gegangenen normalen hinteren Quer- falte treten. Diese Längenfalten erstrecken sich bisweilen von der inneren Seite der Palpebralconjunctiva bis zur Ilornhautbindehaut uud werden mit Unrecht für neue Bil¬ dungen gehalten, während sie doch nur die zusammenge¬ schrumpfte und verdickte Conjunctiva sind. Dieses Sym¬ blepharon, herbeigeführt durch Verkürzung der Conjunctiva bulbi et palpebrarum, kömmt am häufigsten bei solchen Erblindeten vor, die an Phthisis bulborum in Folge hefti¬ ger Ophthalmieen, vorzüglich der Ophth. neonatorum und der sogenannten Ophth. contagiosa leiden. Der Verf. ge¬ denkt hier eines Falles, wo der atrophische linke Aug¬ apfel unter der Conjunctiva des unteren Augenlides liegt, welches dadurch, dafs sich zwischen dem atrophischen Bulbus und der unteren Palpebralconjunctiva ein Fluidum abgesondert hat, in die Höhe gehoben ist, so dafs also mehr eine Ausdehnung des unteren Augenlides nach oben, als eine Ectopia bulbi statt findet.

Aufserdem kommt aber diese Verkürzung der Binde*, haut blofs in der Mitte derselben, manchmal aber auch ganz in ihrer Ausbreitung, und zwar bei Menschen vor, die Jahre lang an dyscratischen Ophthalmieen gelitten ha¬ ben, namentlich an scrophulös-catarrhalischen. Jeder Be¬ wegung des Bulbus folgen die Falten, welche am unteren Rande der Ilornhautbindehaut zu der verkürzten inneren Fläche des Augeulides gehen, wenigstens theilweise, und dehnen sich nach oben und unten bald aus, bald ziehen sie sich zusammen. Häufig entzünden und vergröfsern sich diese Falten. Es bildet sich sodann eine nicht unbedeu¬ tende Schleimabsonderung im Auge, die vorzüglich am Morgen sehr lästig wird; hierdurch wird ein chronisch¬ entzündlicher Zustand unterhalten, und sehr bald erstrecken sich dann Gefäfse in zahlreichen Windungen über die Fal¬ ten der degenerirten Conjunctiva zur Cornea, und verur-

232 VIII. Symblepharon.

Sachen hier nicht selten Auflockerungen der Bindehaut oder Trübungen derselben, wodurch das Gesicht bedeutend be¬ einträchtigt wird, liier wird fast immer ein operatives Verfahren nothwendig. Auf dem umgeklappten Augenlidc fafst man die Conjunctivafalten mit einer kleinen Augcn- pincctte und trägt sic durch Querschnitte, mit einer schar¬ fen Coo per sehen Scheere geführt, ganz ab. Bei der Ent- fernung der Bindehautfalten ist der Scheerenschnitt sehr grofs zu machen, und so die kranke Bindehaut der Aus¬ breitung des ganzen Augenlides nach abzutrennen. \N ird nur ein kleiner Tlicil der Conjunctivafalten entfernt, so gelingt eine gute Heilung nicht, weil sich immer die Wundränder leicht berühren können und um so schneller, zusammcnklebcn , je geneigter die degcncrirtc, aber jetzt verwundete Conjunctiva zur entzündlichen Rcaction und zum plastischen Exsudate ist. Die Verhinderung der Ag¬ glutination gelang dem Verf. durch fieifsige Abduclion des unteren Augenlides und durch zeitige Anwendung der Opiumtinctur als Eintröpfelung, die öfters schon am vier¬ ten Tage nach der Operation gebraucht ward. Kalte Um¬ schläge nach derselben wirken stets woblthatig.

Der zweite Grad des Symblepharon posterius ist der- jenige Zustand, wo die Verkürzung der Conjunctiva noch stärker ausgchildct, und wo diese Membran aufserdem so degenerirt ist, dafs sie sich hinsichtlich ihrer Dicke der Cutis nähert. Das obere Augenlid erhält in diesen Fällen eine ganz eigene Stellung, indem es in der Mitte durch Einschrumpfung des Tarsus sich verkürzt, als sei ein Stück ausgeschnitten worden, oder als sei ein geringes Colohoma palpebrae vorhanden. Dabei kann man das obere Augen¬ lid vom Bulbus gar nicht abduciren, da cs mit diesem durch die verkürzte und- verdickte Conjunctiva zusammen¬ hängt; manchmal ist cs, als wolle die Natur durch Bil¬ dung von Oucrfalten in der verdickten Conjunctiva vor dem oberen Augenlide, der Verkürzung dieses Organes also gleichsam durch Bildung eines zweiten oberen Augenlides

233

VIII. Symblepharon.

abhclfeti. Am unteren Augenlitle ist die Verkürzung ge¬ wöhnlich bei weitem geringer, obgleich sie auch hier be¬ deutend ist. Die übrigen Symptome, welche der Ucber- häutung der Conjunctiva angehöreu, fehlen nicht, so wie eine grofse Menge von Falten vom Augenlide zum Bulbus und über diesen hinweg um die Hornhaut herumgehen. Die Conjunctiva stellt in diesen Falten gleichsam einen Vorhang dar, der unmittelbar von dem oberen Augenlide an der vorderen Fläche des Bulbus herabhängt. Hier be¬ findet sich hinter der Conjunctiva, da wo dieselbe sich zwischen Bulbus und Augenlid herumschlagen sollte, eine grofse Anhäufung einer neu gebildeten, sehr verdickten Cellulosa, welche mit der hinteren Fläche jener Membran dicht zusammenhängt und hier die abnorme Verbindung zwischen dem hinteren Theile des Augenlides und Aug¬ apfels, sonach ein wahres Symblepharon posterius bildet. Die vordere Fläche der verdickten Conjunctiva hat ganz das Ansehen der Cutis. Bei genauerer Untersuchung mit der Lupe sah der Verf. auf ihr regelmäfsige, eckige Figu¬ ren, denen ähnlich, welche man bei näherer Betrachtung der Epidermis wahrniijimt; Haarbildung war nicht wahr¬ zunehmen.

Dicht unter dieser oberen Hautschicht, welche die verdickte Conjunctiva ist, liegt eine Menge sehr verdick¬ ter Cellulosa, die eine sehr feste und körnige Beschaffen¬ heit, und eine sehr dunkle Farbe hat. Eine Ueberhäutung der Conjunctiva hat der Verf. nicht auffinden können. Es folgt jetzt die Geschichte der von dem Verf. in einem Falle dieser Art angestellten Operation, die vielleicht glück¬ licheren Erfolg gehabt hätte, wäre hier die Cornea ge¬ sund gewesen.

Das Symblepharon anterius ist verschieden, je nach¬ dem es entsteht:

. 1) durch abnormen Zusammenhang der Augenlider mit

dem Augapfel, veranlafst durch theilweise oder gänz¬ liche Zerstörung der Bindehaut der Augenlider und

234

VIII. Symblepharon.

des Augapfels. Es kann gänzlich, thcilwcisc, ein¬ fach, complicirt statt finden. Oder 2) durch regelwidrige Verbindung der Augenlider mit dem Augapfel, veranlafst durch Excrescenzeu auf der inneren Fläche der Bindehaut.

Selten entsteht das Symblepharon durch Verwundung. Einfache Verletzungen, namentlich Einrisse der Augenlider, können deshalb kein Symblepharon veranlassen, weil die unverletzte Bindehaut des Augapfels als Schleimhaut zur Agglutination mit der ihrer Lage nach correspondirendeu und verletzten Stelle der Bindehaut des Augenlides nicht geschickt ist. Trifft aber die Verletzung die Schleimhaut der Augenlider und des Bulbus zugleich und so, dafs diese partiell verloren geht, und dafs die ihrer Bindehaut be¬ raubten Stellen der Augenlider und des Augapfels sich ge¬ genseitig berühren, so ist durch die auf diesen Stellen nun eintretende adhäsive Entzündung die nächste Bedingung zuin Symblepharon gegeben, die im Aufauge häufig ver¬ kannt wird und bei etwa verordneter anhaltender Com- pression der Augengegend durch Verbandstücke fast immer zu einem unheilbaren, das Angesicht des Verwundeten beeintiächtigenden und sehr verstellenden Symblepharon führt. Ocfters gesellen sich in diesen Fällen zu der Ver¬ wachsung des Augenlides mit dem Augapfel Dislocationen jener, z. B. Ectropium, so dafs dann ein complicirtcs Sym¬ blepharon entsteht. Eine Krankengeschichte erläutert die¬ sen letzten Satz.

Bei weitem häufiger aber kömmt die gleichzeitige Zer¬ störung der Oberfläche oder des Corpus papillare der Bin¬ dehaut. des Augapfels uud der Augenlider durch ätzende Stoffe vor. Je gröfscr hier die Menge des zerstörenden Stoffes ist, welcher zwischen Lider uud Augapfel drrngt, je intensiver die corrodirende Thätigkeit desselben wirkt, desto ausgebreiteter und schneller geht die Bildung des Symblepharon vor sich, indem sich aus den zerstörten uud dann uleerirenden Bindchautstellcn des Augapfels und

VIII. Symblepharon. 235

des Augenlides üppige und feste Granulationen erheben , sich gegenseitig berühren und sodann fest verwachsen. Nun können entweder beide Augenlider gleichzeitig mit dem Augapfel verwachsen, wozu dann sehr häufig eine krankhafte Verbindung der Augenlider untereinander sich gesellt, oder das Symblepharon betrifft nur ein Augenlid, und dies entweder theilweise, oder ganz. Im ersteren Falle sind meistens die Seitentheile verwachsen, und zwar vorzüglich das obere Augenlid mit der Caruncula lacry- malis. Während diese, meistens klein, das Gesicht nicht stören, wird nicht selten die Normalstellung des Augen¬ lides verändert, wenn zu beiden Seitentheilen und am convexen Theile des Tarsus die Verwachsung des Augen¬ lides mit dem Bulbus statt findet. Durch eine sehr innige Verwachsung eines Theiles der Augenlider mit dem Bul¬ bus kehrt sich jener nicht selten nach innen um, so dafs die Augenwimpern den Augapfel reizen und partielles Ek- tropium mit dem Symblepharon vorkömmt, ln allen die¬ sen Fällen ist das Gesicht sehr gestört, meistens ganz auf¬ gehoben, und die vordere Fläche des Bulbus fast immer für den Durchgang der Lichtstrahlen ungeschickt. Je aus¬ gebreiteter dies Symblepharon ist, desto inniger und fe¬ ster ist auch gewöhnlich die Verwachsung; diese zeigt, wenn man sie trennt, ein sehr festes, cellulöses, gefäfs- reiches Gewebe, das sich bisweilen ziemlich tief in das Parenchym der Cornea oder Sclerotica, oder der Augen¬ lidsubstanz erstreckt, und mit diesem so verschmilzt, dafs man die Gränzen des einen oder des anderen Organes gar nicht bestimmen kann. Bei gröfseren Symblepharen kann die Operation nie schaden, indem sie durch Erregung von Entzündung in der festen Cellulosa deren Neigung zu Gra¬ nulation und Verwachsung befördert.

Die Excrescenzen, welche Ursache eines Symblepha¬ ron anterius werden, sind eigentümliche, ligamentöse Stränge, ein Conglomerat einer festen, organischen, nicht gefäfsreichen , sondern cellulösen Masse, deren Oberfläche

236

VIII. Symblepharon.

meistens rolli ist und sich von dein Gewebe der Schleim¬ häute durch Mangel an Glanz unterscheidet.

Die Operation des Symblepharon besteht darin, dafs man das mit dein Augapfel verwachsene Angenlidstuck von dein Augenlidrande aus umschneidet, auf dem Bulbus sitzen läfst und über ihm die Vereinigung des verwunde¬ ten Augenlides bewirkt, die ohne Verwachsung mit dem Bulbus dann zu Stande kömmt. Nur beim wahren Sym¬ blepharon antcrius partiale, einerlei, ob durch Granulation der Bindehaut, oder durch Excrescenzcn auf derselben ver¬ ursacht, ist diese Operationsweise indicirt.

Mittelst eines scharfen Staarmessers oder eines feinen länglicheu Bistouris, durchschneidet man das durch eiuigc Sonden in der Nähe der Verwachsung stark in die Höhe gehobene Augenlid so, dafs man dicht um die Verwach¬ sung herum in triangulärer Form das verwachsene Stück dej Augenlides von den freien Theilen dieses Organes von den allgemeinen Ilautbcdeckuugen aus trennt. Die Stelle des Augenlides, an der dasselbe mit dem Augapfel ver¬ wachsen ist, bleibt an diesem sitzen und das Augenlid hängt, in zwei Lappen gethcilt und in der Mitte eines gröfseren oder eines geringeren Theilcs seiner Substanz be¬ raubt, herunter. Ist die Blutung durch kaltes Wasser gestillt, so ist zu versuchen, ob die zur Heilung nöthige Berührung der Wundränder des durchschnittenen Augen¬ lides zu bewirken ist. Kann dies wegen zu grofsen Sub¬ stanzverlustes nicht geschehen, so wird die Verlängerung des äufseren Stückes des durchschnittenen Augenlides uoth- wendig. Hierdurch wird die innigste Berührung der Wund¬ ränder des durchschnittenen Augenlides möglich, die mau dadurch erhält, dafs man drei bis vier feine, umschlun¬ gene Inscklcnnadcln so cinlegt, dafs der übrig gebliebene Th eil des Tarsus dabei gefafst wird. Sollte die Spannung in der Wunde sehr grofs sein, so läfst sich in der Nähe des äufseren Orbitalrandcs, dicht oberhalb der Augcubrau- neu oder am unteren Theilc der Orbita, die allgemeine

237

VIII. Symblepharon.

Bedeckung durch einen halbzirkelförmigen, tiefen Einschnitt trennen und dadurch die Spannung heben, wo denn die nach dem äufseren Theile des durchschnittenen Augenlides geschobene, vom Knochen gelösete Ilautbedeckung durch eine schmale Compresse in dieser Lage zu erhalten ist. Manchmal ist es, die Spannung zu mindern, noch vor¬ teilhafter, den äufseren Augenwinkel zu dilatiren. Vorn dritten Tage an löset man nach und nach die umwundene Insektennadelnath, hat aber wohl zu beachten, dafs kein entstellender Spalt zurückbleibt1. Dies ist der erste Act der Operation. Das über dem am Augapfel noch fest¬ sitzenden Palpebralhautstücke vereinigte Augenlid hat auf seiner inneren Fläche eine gesunde Schleimhaut; diese kommt mit der äufseren Fläche des mit dem Augapfel ver¬ wachsenen Palpebralhautstückchens, also mit der Epider¬ mis in Berührung, einer Membran , mit der zu verwachsen

0 1

sie keine Tendenz hat. Finden sich auf dem zurückge¬ bliebenen Palpebralstückchen Wimpern, so müssen diese ausgezogen werden.

In den Fällen, wo Atrophie des Bulbus oder Degene¬ ration der Cornea in der Art da ist, dafs an eine Wieder¬ herstellung der Sehkraft nicht gedacht werden kann, wo es sich demnach hei der Operation des Symblepharon um Beseitigung der Entstellung des Gesichtes, oder darum han¬ delt, ein künstliches Auge einlegen zu können, reicht die¬ ser Operationsact hin. In dem vom Verf. operirten Falle nahm die Epidermis des auf dem collabirten Augapfel sitzen gebliebenen Augenlidstückes schon nach wenigen Wochen eine Schleimhautähnliche Beschaffenheit an, und das ganze Palpebralstück verkleinerte sich bedeutend. Nur dann, wenn das am Bulbus haftende Palpebralstück rei¬ zend auf Augenlid oder Auge ein wirkt, ist dasselbe zu entfernen, was jedenfalls auch dann geschehen mufs, wenn Hoffnung vorhanden ist, durch Abtragung desselben, die verlorene Sehkraft wieder herzustellen. Dies ist der Zweck des zweiten Operationsactes, welcher vollzogen wird, so-

238 IX. Entozocn des Auges.

bald die Vernarbung des durchschnittenen Augenlides zu Stande gekommen ist, und dasselbe sich überhaupt gut ge¬ staltet hat. Die Augenlider werden vom Gehiilfcn gehö¬ rig vom Bulbus abgezogen und, wo dies nicht leicht an¬ geht, wird der äufsere Augenwinkel dilatirt. Nun wird das Palpebralhautstück vom Bulbus abgetrennt. Ist dies geschehen, so stillt man die Blutung, reinigt das Auge von Coagulum, macht mehre Tage hindurch kalte Um¬ schläge auf das Auge und wiederholt alle 2 bis 3 Stun¬ den Einspritzungen von kaltem Wasser, die später mit In- jectionen einer durch warmes Wasser diluirlen Aqua ve- geto-mineralis Goulardi zu vertauschen sind. Die durch die Exstirpation wund gewordene Stelle des Auges findet die ihr jetzt gegenüber liegende innere Fläche des Augen¬ lides gesund, und kann 6onach nicht mehr mit ihr ver¬ wachsen; die eintretendc Granulation auf dem Augapfel ist möglichst bald durch Blei- oder Zinkmittel, wol auch selbst durch eine Auflösung von Höllenstein mit Opium zur Ueberhäutung und Heilung zu bringen, wobei aber zu erinnern ist, dafs eine Pellucidität derselben schwerlich zu erlangen sein dürfte.

IX.

Die E ntozoen des Auges, Eine naturhistori¬ sche, opthalmonosologische Skizze von Dr. An¬ ton Gesch cidt, prakt. Arzte in Dresden. Ans Ammon s Zeitschrift für Ophthalmologie Bd. 3. St. 4. besonders abgedruckt. Dresden, in der Wal- tberschen Hofbachhandlung. 1833. 8. 59 S.

Nach historischer Darlegung des bisher über diesen Gegenstand Gelieferten, geht der Vcrf. an die Mitlheiluug seiner eigenen Beobachtungen. In dem menschlichen Auge

239

IX. Entozoen dos Auges.

fand er drei Entozoenformen: 1) Distoma oculi bumani (vier Stück bei einem fünfmonatlichen Kinde, das mit Ca¬ taracta lenticularis cum partiali capsulae suffusione gebo¬ ren, an Atrophia mesaraica starb). 2) Filaria oculi hu- mani (drei Stück in der cataractosen Linse bei einem 61 jährigen Manne). 3) Echinococcus hominis (zwischen Linse und Choroidea in dem kranken Auge eines 24jähri- gen Zöglings des Blindeninstituts, der an Phthisis tuber- culosa starb). Id Säugethier- Augen sind vom Yerf. zwei Entozoenformen beobachtet: eine Filaria im Glaskör¬ per eines Hundes, und Cysticercus cellulosae im Auge des Schweines; ein Exemplar des letztem fand sich in der vorderen Augenkammer, ein zweites in einem anderen Auge zwischen Choroidea und Retina; in einem dritten Auge wurde von Prinz ein Exemplar zwischen Conjun- ctiva und Sclerotica gefunden. In allen Fällen wurden Cy- sticerken in anderen Theilen des Körpers gefunden. Vogelaugen untersuchte der Yerf. lange vergeblich auf Hel¬ minthen, bis es ihm endlich gelang, im Glaskörper eines Falco lagopus eine Filaria zu entdecken, die er Filar. ar- mata nennt.

Nach genauen Mittheilungen über alle diese Fälle, geht der Verf. über zu Betrachtungen über Entozoogenese im Allgemeinen. Wie dies für die übrigen Organe längst anerkannt ist, müssen pathologische Veränderungen statt finden, ehe es zur Wurmerzeugung im Auge kömmt. Sind aber die Würmer einmal erzeugt, so unterhalten diese nicht nur den Krankheitsprozeis, aus dem sie hervorge¬ gangen, sondern veranlassen auch noch neue Erscheinun¬ gen. Da jedoch die die Wurmerzeugung bedingenden Af- fectionen mit den von den Würmern ausgehenden coindi- ciren und eine ununterbrochene Kette von Erscheinungen bilden, so ist es wol eine kaum lösbare Aufgabe, diese von jenen zu trennen und zwischen ihnen eine Demarca- tionslinie zu ziehen. Dafs die der Entozoogenese voraus¬ gehenden krankhaften Erscheinungen sich meist auf gehin-

240 X. Entzündliche Anlage

derten oder aufgehobenen StolFwechscl beziehen, läfst sich aus den meisten Beobachtungen schlicfscn. Der Verfasser schildert nun die in den verschiedenen Tlieilen des Auges bei Vorhandensein von Entozoen beobachteten krankhaften Erscheinungen, uud schliefst mit einer Widerlegung der Nord ina nn sehen Ansicht, dafs das Scotoma durch vor¬ handene Entozoen vielleicht bewirkt werden könne. Fol¬ gend Punkte werden Nord man n entgegengesetzt: 1) Die bis jetzt beobachteten, zwischen der Netzhaut und der OefTnuog der Pupille, und zwischen dieser und der Horn¬ haut lebenden Biunenwürmcr sind zu grofs, als dafs sic nach dem von Nordmann gegebenen Calcul das Scheu der bei Myodesopsic vorkommenden Gestalten verursachen können. 2) Die meisten an diesem Uebel Leidenden se¬ hen die Figuren bald entfernter, bald näher. 3) Der Zu¬ stand ist gewöhnlich ein vorübergehender, und kann nicht selten willkührlich hervorgerufen werden. 4) Der Erzeu¬ gung von Würmern gehen pathologische Veränderungen voraus, die das Sehen mehr oder minder trühen. 5) Die erzeugten Würmer verursachen sehr bald solche organi¬ sche Störungen , die das Sehen in hohem Grade beeinträch¬ tigen, oder gänzlich aufheben.

X.

i

Memoire et observations pratiques sur la diathese infl ammatoire des enfans nou- veaux-nes. Par P. E t i e n n e Martin, Membre de la legion d honneur, Ancien - Chirurgien en chef de lhospice de la charite de Lyon etc. Lyon, chez Louis Perrin. 1831. 8. 82 S.

Die Krankheit, welche Martin Diathese inflamma- toirc des nouveaux-ncs nennt, ist eine bösartig verlau¬ fende

f

der Neugeborenen. 124 1

lende Rose, welche in der Privatpraxis zu Lyon häufig Vor¬ kommen und viele Kinder wegraffen soll. So wie bei al- leu entzündlichen Affectionen der Haut nicht selten auch Entzündungen innerer edler Organe sich zeigen, so wer¬ den auch hier diese Complicationen wahrgenommen und zu oft nur erst bei der Section erkannt, was besonders dann der Fall zu sein schein! , wenn die anfänglich ery- sipelatöse Entzündung, in der Tiefe um sich greifend, nach und nach die Gestalt einer phlegmonösen annimmt. Mar¬ tin ist der Meinung, dafs diese Diathesis iuflammatoria von den Aeltern auf die Kinder übergehe, da er sie nur in gewissen einzelnen Familien, hier aber bei sämmtlichen Kindern, beobachtet habe. Dies galt insonderheit von drei Haushaltungen, in welchen die Väter eine athletische Con¬ stitution und ein sanguinisch -biliöses Temperament hatten, indefs die kräftigen und mit einem sanguinisch -lymphati¬ schen Temperamente begabten Mütter während der monat¬ lichen Reinigung viel Blut verloren, selbst in der ersten Schwangerschaftshälfte regelmäfsig ihren Monatsflufs beka¬ men, und während der Dauer der Schwangerschaft an Na¬ senbluten, Congestionen des Blutes nach dem Kopfe und der Brust, Kreuzschmerzen , Krämpfen und Erschlaffen der Glieder litten.

Die Kinder dieser Mütter pflegten bei der Geburt un¬ gewöhnlich stark und vollsaftig z^u sein, auf der Binde¬ haut der Augen fanden sich Ecchymosen, um den After herum wirkliche Hämorrhoidalknoten, und ihre ganze äufsere Körperfläche bot die Erscheinungen dar, welche Jahn im Conversationsblatte als Symptome der Rothsucht beschrieben.

Der Anfang der Krankheit war in der Regel 24 bis 48 Stunden nach der Geburt, um welche Zeit sich ein¬ zelne Hautpartien entzündet zeigten. Die Entzündung ver¬ breitete sich nach und nach über die Schleimhaut der Lip¬ pen, des inneren Mundes, der Nase, der Vorhaut und der Eichel, des Nabels, welche Gebilde mit sero-sanguinolen- Band 28. Heft 2. 16

242 X. Entzündliche Anlage der Neugeborenen.

$

ten oder mit citcrartigcn Pscudogebilden gleichsam über¬ zogen wurden.

Die anfangs rein crysipelatösc Entzündung nahm spä¬ ter den phlegmonösen Charakter an, und ging in Eiterung, auch wohl in Brand über. Gleichzeitig entstanden Meteo¬ rismus, Erbrechen, Auftreibung der Lebergegend, Kolik, eine grüne Diarrhöe, profuse Harnentleerung, keuchende Respiration, Schluchzen, ein Zucken des Gesichtes, allge¬ meine Krämpfe, heftiges Fieber, unter welchen Zufällen endlich der Tod erfolgte.

Bei der Leicheuölfnung fand M. die Haut mit Brand¬ flecken bedeckt, Eiteransammlungen und Blutaustrctungcu im Zellgewebe, Geschwürbildungen auf den Schleimhäu¬ ten; die Lungen bald hepatisirt, bald vom Blute strotzend, bald mit der Pleura und den Rippen verwachsen, das Herz entzündet und die Herzgclafse blutreich, den Magen und die Gedärme entzündet, die Blutgefäße im Gehirn und die Gehirnhäute strotzend.

Die Krankheit, sich selbst überlassen, nimmt einen tödtiiehen Ausgang, welcher auch nicht auszublciben pflegt, sobald einzelne Partien in Eiterung oder Brand übergegan¬ gen sind. Ein günstiger Ausgang ist nur bei Zertheilung der Entzündung möglich, welcher nur mit Hülfe eines streng entzündungswidrigen Verfahrens gelingt. Unter die¬ sen Umständen verschwinden die Symptome, ohne beson¬ dere Krisen, mit Ausnahme eines Falles, wo M. ein Blut¬ harnen voraugeheu sah.

Martin ’s Kurmethode ist vorzugsweise auf die Müt¬ ter gerichtet, ihnen schreibt er den wiederholten Gebrauch lauwarmer Bäder, eine strenge Diät und wiederholte Blul- ausleerungen während der Schwangerschaft vor. Rück¬ sichtlich der Kinder warnt er vor zu schneller Unterbin¬ dung der Nabelschnur, vor zu warmer Bedeckung und zu festem Wickeln, empfiehlt ein seltenes Anlegen an die Brust, statt dessen häufig Zuckerwasser , kühlende Laxantia und fleifsiges Baden. Nach erfolgtem Ausbruche der Krankheit

XI. Bl ancards Lcxicon.

243

empfiehlt er Blutegel, Bäder, ableitende und entzündungs¬ widrige, den Leib eröffnende Mittel, um so dem Ueber- gange in Eiterung vorzubeugen. Den Beschlufs machen fünfzehn besondere Krankengeschichten.

Ref. hat eine weitläufige Mittheilung für um so nütbiger erachtet, als gerade diese Krankheit, besonders von deut¬ schen Aerzten, für die Zellgewebsverhärtung angesehen worden ist; daher die fehlerhafte Beschreibung derselben in den Lehr- und Handbüchern über Kinderkrankheiten.

Hey fei der.

XI.

Neue Ausgabe.

Stephani Blancardi Lexicon medicum, in quo artis medicae termini anatomiae, chi- rurgiae, pharm aciae, chcmiae, rei bota- nicae etc., proprii dilucide breviterque exponun- tur. Editio novissima multum emendata et aucta a Carolo Gottlob Kühn, med. ac chirurg. D. Physiologiae et Pathologiae in litterarum univer- sitate Lipsiensi Prof, publico. Vol. I. A L. Lipsiae sumt. Bibi. Schwickert. 1832. 8 maj. pp. 890. Yol. II. Lipsiae. 1832. 8maj. p. 891 1743.

Das Blancardsche medicinisehe Lexicon hat von sei¬ nem Erscheinen an bis auf unsere Tage einen allgemein anerkannten Werth erlangt und behauptet, und hat des¬ halb nach dem Tode des Verfassers in gelehrten Männern, wie z. B. Isen flamm, Autoreu gefunden, welche das¬ selbe unter ihren Schutz nahmen. in unseren Tagen hat der berühmte Leipziger Herausgeber der Griechischen

244

XI. Blancnrd's Lexicon.

V

Acrzle, ein in seinem hohen Alfer noch ungemein th.ili ger Mann, es der Mühe werth gehalten, das in Hede ste hende Huch zu emendiren und zu erweitern.

Wer könnte unter so bewandten Umständen daran zweifeln wollen, dafs das Blancard - KQhnsche mcdici- nisclic Lexicon ein den Ansprüchen der Zeit genügendes Werk sei. Jede Seite, ja fast jeder Artikel ist ein Beweis für die eben gegebene Ansicht. Aber wer ganz Vollstän¬ diges hier sucht, der irrt sich, wie es der Natur der Sache nach nicht anders s^in kann! Denn wer könnte verlan¬ gen wollen, hier die gesammten Ausgeburten des neuen Graecobarbarismus, der in unsern Tagen unter den Aerz- ten so viele Anhänger hat, zu finden? Wer könnte, wenn er cs mit der Kunst gut meint, auch nur entfernt wün¬

schen mögen, liier eine niederschlagende und abweisende Kritik aller der falschen Wörter zu finden, mit deren Bil¬ dung sich so viele Aerzte unserer Tage, gleichsam als ver¬ ständen sic das Griechische aus dem Fundamente, beschäf¬ tigen? Sonach ist es wohl, wenn auch nur stillschwei¬ gend, die Absicht des Bearbeiters gewesen, nur das was wahrhaft nützlich ist in griechisch benennender Hinsicht hici namhaft zu machen und zu erklären! In dieser Be¬ ziehung genommen, ist das vorliegende Lexicon sehr um¬ fassend und sehr vollständig, und wir wünschen ihm ein grofses Publikum! Das «nocturna versarc manu, versarc diurna» gilt von diesem Werke, wie nicht leicht von ei¬ nem anderen, für unsere medicinischc Jugend..

Ammon.

XII. Dissertationen. ‘245

XII.

D isser tationen.

J. Der Universität Gent.

D iss er tat io inedico - iuaug. de Taenia, quam a. D. o. M. ex auctoritate rectoris Magu. Jos. Franc. Kl uys- kens nec non nobil. facultatis med. decreto pro Gradu Doctoris etc. in Academia Gandavensi p. def. Job. Ro- mualdus Marinus, Tubecensis, Chirurgus nec non art. obstetr. Magister, plur. societ. med. sodalis. Bruxellis, 1831. 4. pp. 30.

Eine durch ihren inneren Gehalt ausgezeichnete Schrift, welche in Holland, Belgien und Frankreich eine allgemeine Aufmerksamkeit erregte, in Deutschland dagegen wenig noch gekannt zu sein scheint. Sie besteht aus vier Haupt¬ abschnitten, deren erster die Naturgeschichte des Band¬ wurms nach Bremser bearbeitet enthält, indels der zweite von der Entstehungsweise desselben und von den verschie¬ denen Theorieen darüber, der dritte von der Symptoma¬ tologie, der vierte von der Therapie handelt. Nach einer kurzen Prüfung einzelner Verfahrungsarten, verweilt er bei der Anwendung der Granatrinde, die verschiedenen Schrift¬ steller anführend, welche günstige Resultate davon sahen, zugleich aber auch elf einzelne Fälle beschreibend, in wel¬ chen er von dem Gebrauche desselben in folgender Weise die Abtreibung des Wurms bewirkte:

Den Tag zuvor beobachtet der Kranke eine absolute Diät, und nimmt zugleich anderthalb bis zwei Unzen Ri- cinusöl. Am folgenden Morgen trinkt er in halbstündlichen Zwischenräumen eine Abkochung von der Granatrinde, welche nach 24stündigcr Maccration in 2 Piund Wasser bis auf l Pfund eingekocht worden war. Zuweilen ent¬ steht Erbrechen, in der Regel aber erfolgt unter leichten

r , \

;

i

246 XII. Dissertationen.

Koliksrinnerzen und einigen diarrhöeartigen Stühlen der Ab¬ gang des Wurms.

Hef. versuchte die Abkochung der Granatrinde in. meh¬ ren Fallen, ohne einen reellen Nutzen davon zn sehen. Er bescheidct sich indessen sehr gern jedes Urthcils über die Wirksamkeit dieses Arzneikörpers, und wünscht nur. dals andere Praktiker sich veranlafst fühlen mühten, ihre NN ahr- nehmungen darüber mitzutheilen, besonders wenn diese in größeren Heilanstalten gemacht wurden.

Ueyfclder ,

2. Der Universität Erlangen im Jahre 1SH-.

1. Buschhorn, Ilislorischc Andeutung über den gegen¬ wärtigen Standpunkt der psychischen Arzncikundc. 8. 36 S.

Der Verf , ein Schüler Friedrcich’s, wie er sich nennt, schildert kurz und ungenügend die Lehren der vier Schulen, in welche er die Ansichten über psychische Heil¬ kunde theilt, nämlich: 1) die He i n ro t hsche, 2) die Nasse - Fr ic d re i ch sehe Schule, 3) die Lehre von Ja¬ cob i, 4) die Lehre von Groos.

2, Jäcklc, Ucbcr die Formen der Epilepsie. 8. 49 S, Nach Prof. Schönleiu’s Vorträgen bearbeitet.

3- Uckcrmanu, Ucbcr Seirrhus und Krchsbildung, uud deren Behandlung. 8. 46 S.

NVie es scheint, ganz nach Prof. Jäger’s Heften be¬ handelt,

4. De arsenlci vi medicatricc auctorc Hoffmauu. 8. 31 S.

Bekanntes wohlgeordnet.

5. Loschge, Einiges über die Atrophie. 4. 16 S.

Unbedeutend.

XII. Dissertationen.

247

$ \ %

6*. Oe sanguinis in periculosa haemorrhagia uterina trans-

lusione auctore Carolo Waller, Londinensi. 8. 29 S.

Oer Verf. erzählt drei Fälle, nach eigener Beobach¬ tung, die günstig abliefen.

7. Kunhardt (aus Lübeck), Ueber Mydriasis. 8. 16 S. Mit einer illuminirten Kupfcrtafel.

Gut behandelt; Prof. Jäger theilte dem Verf. einen Fall zur Beschreibung mit.

8. Handschuch, De plantis fumariaceis systematis ua- turalis earumque viribus et usu, adjectis descriptionibus specierum, quae in Germania crcscunt. 8. 44 S.

Die trefflichen Beschreibungen der sämmtlichen Arten mit ausführlicher Litteratur und Synonymik rühren vom Prof. Koch her, und sind natürlich das Beste der ganzen Abhandlung.

9. Kästner, Ueber die Natur des weifscn Blutes. 8. 108 S.

Diese lleifsig geschriebene Inaugural- Abhandlung ist vom Sohne des Prof, der Chemie und Physik Dr. Käst¬ ner zu Erlangen verfafst. Der Verf. betrachtet zuerst Lym¬ phe und Chylus besonders in chemischer Hinsicht, und geht dann auf das rothe Blut über. Eine eigenthümliehe Meinung stellt er über Blutfaser und Blutroth auf, indem er sie als polare Bildungserzeugnisse des Eiweifses, der Lymphe und des Chylus betrachtet, Je weiter nämlich der Chylus iu der Entwickelung fortschreitet, um so mehr wird er reich an Fibrin, oder wahrscheinlicer, um so mehr geht das Eiweifs desselben (galvanischer Entwicke¬ lung unterliegend?) in Blutfaserstoff und Blutroth, d. i. in zwei Bihlungstheile über, die sich durch Berührung inner¬ halb der salzig - wässerigen Substanz des Serums (die als solche sich analog verhält dem feuchten Leiter wirksamer galvanischer Ketten) wechselseitig elektrisircn und so elek¬ trische Strömungen bewirken, die, wie in den Schliefsungs-

248

XII. Dissertationen.

<1 rät heil zusammengesetzter galvanischer Ketten, fortdauernd Wörme erzeugen. Wahrscheinlich wird hierbei der Blut¬ faserstoff clcktro-negativ, das Blutroth hingegen clcktro- positiv. Ueber das rothe Blut stellt der \ crf. die neue¬ sten Beobachtungen gut zusammen. Der zweite Abschnitt handelt vom gesunden und krankhaften weifsen Blute. Was der Verf. über das (weifse) Blut der wirbellosen Thiere sagt, ist dürftig, und ohne dafs eigene Beobachtungen nö- thig gcwescu waren, die doch leicht anzustellen waren, hätte der Verf. mehr benutzen können. Hätte er die wichtige Schrift von Carus: «über die äufseren Lcbcns- bedingungen der weifs- und kaltblütigen Thiere,” ge¬ kannt, die schon 1824 erschien, so würde er nicht gesagt haben: «dafs die weifsen Säfte dieser Thiere der Gcrin- nung fähig seien, und dabei in Serum und Placenta zer¬ fallen, wird aus den darin nachgewiesenen Kügelchen und Faserfäden sehr wahrscheinlich; » denn Carus hat dies weitläufig am Blute der Wcinbergsschncckc und des Fluss¬ krebses beschrieben. Indem der Verf. ferner von dcu weifsen Stiften der Mollusken, Insekten, Spinnen, Crusta- ceen und Uiugelwürmer spricht, könnte es scheinen, als schriebe er auch den letzten ein weifses Blut zu, da dies doch, mit wenigen Ausnahmen, sehr intensiv roth gefärbt ist. Schlemm uud Mayer habcu bekanntlich an jun¬ gen saugenden Katzen und Hunden eine weifslichc Färbung des Blutes bemerkt; der Verf. fand dies nach Versuchen an zwei jungen Kätzchen nicht; doch zeigte cs sich, dafs das Serum des Blutes der einen Katze eine merkliche Menge von Fett enthielt. Am ausführlichsten und genaue¬ sten verbreitet sich nun der Verf. in dem Abschnitte über das krankhafte weifse Blut, welchen Kcf. den Lesern empfiehlt.

10. Dalmatiae nova Serpcntum gcncra auctorc Fride- rico Ludovico Fleisch mann, Norimbergcnsi. Ac- ccduut tabulae aeucac duac. 4. .‘15 S.

XII. Dissertationen.

249

Zwei in Dalmatien gefundene Schlangen, deren Dar¬ stellung die beiden schon gestochenen und vortrefflich eo- lorirten Tafeln, worauf sich auch die Schädel befinden, gewidmet sind , gaben dem Yerf. den Stoff zur vorliegen¬ den Abhandlung. Sie gehören zur alten Gattung Coluber, von welcher indefs die mit hinteren Giftdrüsen und Gift¬ zähnen versehenen Arten von den neueren genaueren Her- petologen mit Recht abgetrennt, und als eigene Gattungen unterschieden werden. Ob die beiden vom Verf. beschrie¬ benen Schlangen wirklich als neue Genera (Tarbophis und Rbabdodon, wie er sie nennt) bestehen können, und nicht etwa zu den schon bestehenden von Oppcl, Kühl oder Boie gerechnet werden müssen, wie dies wahrscheinlich ist, mufs der Entscheidung geübter Herpetologen anheim¬ gestellt bleiben. So viel Ist gewifs, und dies zeigen die Beobachtungen von Schlegel, Joh. Müller und Du- verroy über die höchst mannigfaltigen Bildungen der Drüsen und Oberkieferzähne der Ophidier, dafs noch ein grofses, interessantes Feld der Zergliederung geöffnet ist, und woraus hervorgehen wird, dafs viele bisher als un¬ giftig bekannte Schlangen wirklich mit einem Giftapparate versehen sind. Der Yerf. fand bei der ersten beschriebe¬ nen Art oder Gattung (Tarbophis) den hintersten Ober¬ kieferzahn viel länger, als die übrigen, und äufserlich mit einer Furche versehen; bei der zweiten Art (Rhabdodou fuscus) finden sich an derselben Stelle mehre gerade tief¬ gefurchte, längere Zähne, wovon zwei (unter den drei vorhandenen) offenbar Ersatzzähne sind, ganz wie bei den vorderen Giftzähnen der Yipern. Die anatomischen Angaben, besonders über die Drüsen, sind leider so kurz und ungenau, dafs sie gar keinen Aufschlufs geben, ob Giftdrüsen vorhanden sind, und wo sie liegen. Sehr wich¬ tig wäre es gewesen, wenn der Verf. den Streit über die Existenz der Milz bei den eigentlichen Ophidiern beriiek- sichtigt und die dargebolene Gelegenheit benutzt hätte, ihn aufklären zu helfen, denn die Worte: «Lien non de-

250 XIII. Medicinische Bibliographie.

cst M bei der einen, und « lien miuiinus »> bei der anderen Art, sind viel zu ungenau. Rcf. bat zwar, übereinstim¬ mend mit Duverroy und Retzius, sieb von der Exi¬ stenz der Milz bei den Ophidiern überzeugt und gesehen, dafs Meckel’s Nichtauffindcn derselben auf einem Irr- tbume beruht, der sich aus der eigenthömlicben Verbin¬ dung der Milz mit dem Pankreas leicht erklärt.

11. Zirngibl, De haemorrhoidibus et colica haemorrhoi- dali. 8. 32 S.

12. Einige Bemerkungen über den Unterschied zwischen Gicht und Rheumatismus, von Sc u ffe r h e 1 d. 8. 23 S.

13. Jnaugural- Abhandlung über das Chlor, dessen Präpa¬ rate und Anwendung zum mediciuischcu Gebrauche, von A. F. Weiler. 8. 64 S.

Gute chemische Kenntnisse verrathend, flcifsig und brauchbar.

XIII.

Medicinische Bibliographie.

Fl eck 1 es, L. , die Krankheiten der Reichen. Diätetische Grundlinien für das höhere und conversationelle Le en. gr.8. Wien; Gerold, br. 20 Gr.

liofmann, J. , Genius morborum epidemicus anno 1832. Vindobonae observatus haustus ex observatiouibus in no- socomio c. r. universali viennensi institutis. Cum XII tabulis litho-impr. Smaj. Wien, Gerold, br. n. 21 Gr.

Jahrbücher, mcdicinische, des Kaiscrl. Köuigl. österrei¬ chischen Staates. Ilcrausg. von A. J. v. StitTt und red. von J. N. v. Raimann. liier Band oder neueste Folge Vr Band, ls 3s Stück. Mit 6 Kupf. gr.8. Wien, Ge¬ rold. br. 4 Thlr.

251

XIII. Medicinische Bibliographie.

I

Karpff, A. F., descriptio morbornm anno 1831 Jaurini epidemicorum , cum adversariis pathologico-therapeutieis, 8maj. Wien, Gerold, br. 14 Gr.

Krüger-IIansen, die Homöopathie und Allopathie auf der Wage. Mit Bildnifs. gr.8. Rostock, Oeberg. n. 2Thlr.

Mittheilungen aus dem Tagebuche eines Arztes. Aus dem Engl, von C. Jürgens. 3 Bde. 8. Braunschweig, Vieweg. 4 Thlr,

Schroff, E, St. und K. D., Taschenbuch der Arzneimit¬ tellehre und Receptirkunde, nach dem neuesten Stand¬ punkte dieser Wissenschaften entworfen. Auch unter dem Titel: Arzneimittellehre und Receptirkunde, zum Behufe der Vorlesungen entworfen. 12. Wien, Gerold, hr, 1 Thlr. 8 Gr.

Siebold, A. E,, Journal für Geburtshülfe, Frauenzimmer- und Kinderkrankheiten. Herausgeg. von E. C. J. v, Sie¬ bold. 13r Bd. 2s Stück, gr.8. Frankfurt, Varrentrapp. br. 20 Gr.

Strempel, J. C. F., Untersuchungen über Arzneitaxen, mit besonderer Hinsicht auf die ältere Preufsische, Han¬ noversche und auf die neue Preufsische Arznei -Taxe. 4. Rostock, Oeberg. geh. n. 12 G rj

Sachs, L, W. , das Quecksilber. Ein pharmakologisch- therapeutischer Versuch, gr.8. Königsberg, Bornträger.

1 Thlr. 22 Gr.

Amussat, J. Z., die Harnconcretionen beim Menschen nach ihrer Gröfse und Form geordnet, um die verschie¬ denen Schwierigkeiten bemerkbar zu machen , auf welche man bei der Lilhothripsie und beim Steinschnitte stofsen kann. Grofse Tafel mit illum. Abbildungen, gr.Fol. Wei¬ mar. Industr.Compt. 21 Gr.

Arznei-Taxe, neue, für Hannover, vom 1. Octob. 1833. 8, Hannover, Hahn. 6 Gr.

Caspar i, C., Bibliothek für die homöopathische Medicin uud Materia Medica. Zweite Auflage. 3 Bde. gr.8, Leip¬ zig, Focke. br. 3 Thlr.

‘J52 XIII. Mechanische Bibliographie.

Glaser, alphabetisch- nosologisches Repertorium der An zeigen zur Anwendung der bis jetzt bekannten homöo¬ pathischen Arzneien, in verschiedenen KrankheiUzustnu- den nach S. Hahnemann’s u. a. Schriften bearbeitet. lb\ Heidelberg, Groos. cart. 18 Gr.

Hahne mann, Sam., Organon der Heilkonst. Fünfte, verb. und verm. Aufl. Mit dem Bildn. des Verf. gr.8. Leip- zig, Arnold, br. , 2 Thlr. 8 Gr.

Segin, Fr., die chirurgischen Werkzeuge aus elastischem Harze. Nebst Angabe ihrer Bereitung und Gebrauchs¬ weise. Mit 6 Steiutafeln. gr.Fol. Heidelberg, Groos.

1 Thlr. 12 Gr.

Wcndt’s, Job., praktische Matcria mcdica, als Grund¬ lage am Krankenbette und als Leitfaden zu akademischen Vorlesungen. Zweite, verm. Ausg. gr.8. Breslau, VV. G. Korn. 2 Thlr. 4 Gr.

Abbildungen aus dem Gesammtgebicte der theoretisch- praktischen Geburtshülfe, nebst beschreibender Erklä¬ rung derselben. Nach dem Franzos, des Maygrier bcarb. und mit Annlerkungen versehen von E. C. J. v. Sicbold. Zweite, umgearb. u. verm. Aufl. lste Lief. Lex. 8. Ber¬ lin, Hcrbig. Subscriptionspreis mit Vorausbezahlung der letzten Lieferung n. 1 Thlr. 8 Gr.

Duj) uytren’s klinisch -chirurgische Vorträge etc., bearb. von E. Bech uud R. Lcoohardi. (itc Lief. gr.8. Leipzig, Baumgärtner. 15 Gr.

Funk, R., Katechismus der Chirurgie, oder systematisches Handbuch der gesummten Chirurgie in katechetischer Form. Zweite, völlig umgeänd., sehr verm. Ausg. gr<8 Leipzig, Baumgärtuer. br. 1 Thlr. 8 Gr.

Hartlaub, C. G. Chr., Katechismus der Homöopathie. Vierte, verm. und verb. Aufl. gr.8. Leipzig, Baumgart¬ ner. br. 16 Gr.

Kämmerer, die Homüopathik heilt ohne Blutcntzichun- gen. Mit Vorrede von Sam. Hahnemann. gr. 12. Leip¬ zig, Baumgärtuer. br. 9 Gr.

253

XI!!, Medicinische Bibliographie.

Baring, O. , über den Markschwamm der Hoden. Mit 4 lithogr. Taf. gr.8. Göttingen, Dieterich. 1 Thlr. 8 Gr. Brandt, J. F. , und J. T. C. Ratze bürg, getreue Darstel- lu ng und Beschreibung der Thiere, die in der Arznei¬ mittellehre in Betracht kommen. Bd. II. Heft VI VIII. oder 11s 13s Heft. gr.4. Berlin, Hirsch wähl. n. 4 Thlr. Encyclopädie der gesammten medicinischcn und chirur¬ gischen Praxis, von G. Fr. Most. 4s Heft. Gonorrhoca bis Hystriciasis. Lex. -8. Leipzig, Brockhaus. hr. n. 20 Gr. Mühry, A. A., ad parasitorum malignorum imprimis fungi medullaris oculi historiam symholae aliquot. 4maj. Göt¬ tingen, Dieterich. n. 1 Thlr.

Tuchen, L. F., kurze Uebersicht der wichtigsten Rea- gentien, welche bei Apotheken -Revisionen erforderlich sind. 8. Leipzig, Berger, br. 9 Gr.

Universal - Lexicon der praktischen Medicin und Chi¬ rurgie, von Andral etc. Frei hearh. von mehr, deut¬ schen Aerzten. Ir Bd. 4te Lieferung. Lexic. -8. Leipzig, Franke, hr. n. 8 Gr.

Wagenfeld, L., allgemeines Vieharzneibuch. Zweite, sehr verm. u. verb. Aufl. Mit 9 lithogr. Tafeln, gr. 8. Königsberg, Bornträger. 1 Thlr. 18 Gr.

W e n z 1 , J. B. , vom Umrifs des Lebens und der letzten Krank¬ heitsgeschichte Dr. Sim. v. Häberls, zunächst für Aerzte. Mit 2 Steinzeichnungen io Fol. 8. Landshut, Krüll. 18 Gr. Kahn, medicinisch -polizeiliche Abhandlung über die Mo- saischcnSanitätsgesetze. gr. 12. Landshut, Krüll. hr. n. 8 Gr. Weber, M. J., Schema des medicinischen Studiums, gr.8.

Bonn, Weber, geh. 3 Gr.

Attomyr, Briefe über Homöopathie. 8. Leipzig, Koll- mann. br. 20 Gr.

Becker und Gräger, Beiträge zur Würdigung der Ho¬ möopathie. gr.8. Mühlhausen, Heinrichshofen. 8 Gr.

Borges, W. II. L., über Schädelrisse an einem neuge- hornen Mädchen, und deren Entstehung, gr.8. Münster, Regensberg. br. 6 Gr.

‘i54 XIII. Medicinische Bibliographie.

Eschcrich, F., die Influenza, ein epidemisches Katar« rhalliebcr. gr.8. Würzburg, Stahcl. geh. n. 8 Cr.

Hcnslcr, Ph. J., über die verschiedenen Arten des thic- rischcn Magnetismus und ihre verschiedenen Wirkungen auf den Menscheu im kranken Zustande, gr. 8. NN ürz- burg, Stahel. br. n. 1 Thlr.

Simon, J. Fr., kurze Beleuchtung der Schrift des Herrn Kranniehfeld über die Nothwendigkeit gründlicher phar¬ makologischer Kenntnisse zum Ueben einer glücklichen Praxis, gr.8. Berlin, Hirsch wa Id. br. 6 Gr.

Stilling, B., die künstliche Pupillenbilduog in der Scle- rotica. Mit Abbildungen, gr.8. Marburg, Elvvcrt. br. IG Gr.

Bi sch off, Chr. II. E., die Lehre von den chemischen Heilmitteln, oder Handbuch der Arzneimittellehre, gr.8. Bonn, Wehes, br. n. 2 Thlr. 12 Gr.

Macher, M. , die den Gränzen der Steyermark nahen Heil¬ wasser in Ungarn, Kroatien und Illyricn. (Giätz.) Leip¬ zig, Kummer, br. 14 Gr.

Universal -Lexicon der praktischen Mcdicin und Chi¬ rurgie, von Andral etc. Frei bearb. von mehr. Aerzten. IrBd. 5te Liefer. Lexic.-S. Leipzig, Franke, br. n. 8 Gr.

v. Achthofen, reiue Erfahrung über die Kindviehkrank¬ heit des Jahres 1830 am Niederrhein, gr.8. Wesel, Bagel. br. n. 6 Gr.

Hu eck, A., Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Mit Hinweisung auf M. J. Weber’s anatomischen Atlas, gr.8. Riga, Frantzen. 20 Gr.

über das Studium der Anatomie, in drei Vorle¬ sungen. gr.8. Ebcnd. br. 4 Gr.

Simon, F. A., der unsterblichen Narrheit Samuelis Hab- nemanni dritter Thcil erste Abtheilung, oder kritische Betrachtungen über Herrn Kopp’s Erfahrungen und Be¬ merkungen. gr.8. Hamburg, Uoflinauuu. Campe, br. 1 Thlr.

I

XIII. Medicinische Bibliographie. 255

Weber, M. J., Schema des medicinischen Studiums. Für

angehende Mediciner, und als Leitfaden zu Vorles. über

\

Encyclop. und Methodol. gr.8. Bonn, Weber, geh. 3 Gr.

Abbildung und Beschreibung aller in der Pharmacopoea Borussica aufgeführten Gewächse; von Fr. Guimpel; Text von F. L. v. Schlechtendal. 2r Bd. 15s u. 16*s lieft, gr.4. Berlin, Oehmigke. br. n. 1 Thlr. 12 Gr.

Pfeufer, Chr., Beobachtungen über Krätze, und ihre Be¬ handlung durch die Schmier- oder grüne Seife. 8. Bam¬ berg, Dresch. br. 8 Gr.

Puchelt, F. A. B., tabellarische Uebersicht der Zeichen, welche das Herz darbietet, und der Krankheiten, welche sie andeuten. Fol. Heidelberg, Mohr. 3 Gr.

Weber, G. A., systematische Darstellung der reinen Arz¬ neiwirkungen aller bisher geprüften Mittel. Mit Vorw. von Sam. Hahnemaun. Fünfte und letzte Liefer. gr. 8. Braunshweig, Vieweg. br. 2 Thlr. 4 Gr.

Zeitschrift für Physiologie. Herausgeg. von Fr. Tiedc- mann, G. R. Treviranus und L. Chr. Treviranus. Vr Bd. ls Heft. Nebst 2 Tafeln Abbildungen, gr.4. Heidelberg, Groos. br. n. 3 Thlr.

%

Bei dem Verleger dieser Annalen sind im Jahre 1833 folgende medicinische Schriften erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:

Caii, Joh. Britanni, de Ephemera britannica über; recudi

curavit J. F. C. Hecker. 12. br. 12 Gr.

/

Friedreich, J. B., systematische Literatur der ärztlichen und gerichtlichen Psychologie, gr.8. 2 Thlr. 6 Gr.

Günther, J. J., Versuch einer medicinischcn Topographie von Köln am Rhein; nebst mehreren die Erhaltung der bestehenden und Herstellung der verlorcneu Gesundheit betreffenden Bemerkungen, gr.8. 1 Thlr. 3 Gr.

I

25G

XIII. Medicinische Bibliographie.

II o c , J., von den Krankheiten des Herzens und der grofsen Gefäfsc; Ucbersctzung aus dem Engl., mit einer Vorrede, Aumcrkungcn und Zusätzen von F. W. Becker.

g r.s. 2 Tblr. 12 Gr.

Horn, W., Reise durch Deutschland, Ungarn, Holland, Italien, Frankreich, Grofsbritannien und Irland, in Rück¬ sicht auf mcdicinische und naturwissenschaftliche Insti¬ tute, Armenpflege etc. 4ler und letzter Baud, Ergän¬ zungen. gr.8. 1 Thlr. Alle 4 Bände 10 Thlr.

Richter, A. L., Lehrbuch von den Brüchen und Verren¬ kungen der Knochen, zum Gebrauche für Studircnde; nebst 8 Kupfertafeln in Folio, gr.8. 2 Thlr. 18 Gr.

die Seebäder auf ISorderncy, Wangeroog und Hcl- golaud, nebst topographischen und geognostischen Be¬ merkungen über diese Inseln der Nordsee. 8. br. 15 Gr.

Rust, J. N., Handbuch der Chirurgie. 9rBaud: Hcro bis Inh. gr.8. Pränumerationspreis 3 Thlr.

- desselben lOrBand: Ini bis Lithi. gr.8. 3 Thlr.

desselben 1 1 r Band: Litho bis Men. gr.8. 3 Thlr.

Strahl, IM. II., über das Scharlachfieber und ein gegen

alle Formen und Stadien desselbcu höchst wirksames Spc- ciOcum. gr.8. br. 6 Gr.

- der Alp, sein Wesen und seine Heilung. Eine Mo¬ nographie. gr.8. 1 Thlr. 6 Gr.

Sundclin, K., das Krankenexamen, ein Taschenbuch für junge Acrzte zum Gebrauch am Krankenbette. 12. geh.

1 Thlr. 9 Gr.

Zeitung, medicinischc, hcrausg. von dem Verein für Heil¬ kunde io Preufsen (unter RusVs Präsid io). 2r Jahrgang. 1833. Fol. Wöchentlich 1 bis l-£ Bogen. 3 Tblr. 16 Gr.

Ferner ist bei demselben so eben erschienen und in

$

all en Buchhandlungen zu haben:

Der c n g 1 i sc h c vSc h wc i fs; ein ärztlicher Beitrag zur Ge¬ schichte des 15 teil und 16ten Jahrhunderts von Dr. J. F. C. Hecker, gr.8. Patenlvelinpapicr. br. 1 Thlr. 12 Gr.

-

/ \

I.

Ueber die Gestalt und Grofse der Durch-

* »

messer der feinsten Blutgefäfse in den klein¬ sten Netzen derselben.

Von , 1

Doctor Valentin

in Breslau,

Es ist durch die Bemühungen eines Ruysch, Albin, Lieherkühn, Barth, Prochaska, Sömmerring, Sei¬ ler, Döllinger, Joh. Müller, E.H. Weber, Berres u. a. ermittelt, dafs die feinsten Blutgefäfse des thierischen Körpers keinesweges frei enden, sondern zuletzt zu netz¬ artigen Verbindungen eingehen, um die durch die Arte¬ rien herbeigeführte und dem Einflüsse der kleinsten Theile der Organe ausgesetzte Blutmasse zum Herzen wieder zu¬ rückzuleiten. Man hat bekanntlich seit Bichat’s Zeit diese Gefafse als ein eigenes System angesehen, und mit dem Namen des Capillargefäfssystemes belegt. Wenn überhaupt es häufig der Fall, und der Natur unseres Denkvermögens gernäfs nothwendig ist, einzelne abgerissene Momente des Uebergangcs und des Werdens zu fixiren und mit beson¬ deren Namen zu belegen, so dürfte aus diesem Grunde auch diese Benennung ihre volle Rechtfertigung finden.

Band 28. Heft 3. 7 17

258 I. Die feinsten Blutgcfäfsc.

i

Wir wurden auch dcu Gebrauch derselben unbedingt ge¬ billigt, und die Ausdrücke: Capillargcfafee, HaHrgcfiiCsc u. dergl. angenommen liabcn, wenn nicht offenbar durch diese allgemeine Bezeichnung eine in der Natur der Sache seihst begründete, wichtige Differenz unausgcdrückt bliebe. Denn in den allermeisten Fällen finden sich zwar an den Stel¬ len, wo die kleincu Arterien in die Venen cinhiegen, zahl¬ reiche und feine Netze, welche eben wegen ihrer Natur als vermittelnde Uebergangsform eben so gut zu den Ar¬ terien, als zu den Venen gerechnet werden können. Nicht so häufig aber, dennoch andererseits eben uicht selten, bil¬ den die Arterien allein, oder die Venen allein, charakteri¬ stische Netze ihrer kleinsten Blutgcfäfse, welche sich zu einem oder mehren Acstchen gleichartiger Natur sammeln, und so dem äufseren Ansehen, der Gröfsc und der Form nach zwar mit den sogenannten Capillargefafsen Überein¬ kommen, die für die Physiologie aber so überaus wichtige Vermittelung der Arterien und Venen durchaus nicht be¬ wirken. Die Arterien allein bilden in den drüsigen Or- gauen vorzüglich solche Netze, wie in der Leber, den Nie¬ ren u. dergl., wo dieselbe Erscheinung auch ^ehen so häufig in den Venen zu beobachten ist. Die Blutadern des Bauch¬ felles und des Saamenstrauges dagegen haben diese Bildung in so ausgezeichnetem Grade, dafs sie selbst bei minder glücklichen Einspritzungen schon deutlich zu erkennen ist.

Wollte man daher die bczcicbncten Unterschiede fest- lialten, so könnte man die kleinsten Gefafse überhaupt, feinste Blutgefäfsnetzc nennen, diese aber in drei Klassen Zerfällen, nämlich in Arlericunetzc, welche von dcu Ar¬ terien allein, in Vencnnctze, welche von den Venen allein gebildet werden, und endlich in Ueb^rgangsnetze, welche die Vermittelung von Arterien und Venen in den Organen bedingen. Doch mufs ausdrücklich bemerkt werden, dafs die letzte Bezeichnung nur Für die in jedem mit Blut- gefäfsen versehenen Theile vorkommenden feinsten Ueber- gangsbildnngen gilt. Uebergänge gröfscrcr Arterienstämme

259

I. Die feinsten ßlntgefafse.

in gröfserc Venenstämine sind zwar bei weitem seltener, doch aber an manchen Theilen, z. B. den Extremitäten, constant.

Diese feinsten Blutgefäfsnetze, sie mögen von den Ar¬ terien oder den Venen allein, oder beiderlei Gefäfsen her- riihren, haben in jedem Theile etwas durchaus Eigentüm¬ liches und Charakteristisches, welches schon bei dem er¬ sten Anblicke derselben auffällt eine Wahrheit, welche dem in der Technik der Anatomie schon so weit vorge¬ schrittenen R uysek nicht unbekannt war *)• Dafs sie an

i

derselben Stelle desselben Organes verschiedener Thiere ein ganz eigenthüinlich differentes Aussehen besitzen, hat S. Th. Sömm erring schon am Auge gezeigt, und durch die Reiflichen, von seinem Sohne nach dem Wollaston- schen Apparate verfertigten Zeichnungen bildlich darge¬ stellt 1 2). Wie schon nach diesem zu erwarten ist, findet nicht blofs an demselben Theile bei verschiedenen Thie- ren, sondern an verschiedenen Theilen desselben Thieres ein durchaus constanter Unterschied dieser Netzchen statt. Von dem Menschen, welcher mit Recht als vorzüglicher Anhaltpunkt bei solchen sonst zu vagen Untersuchungen angesehen werden inufs, haben Prochaska, E. H. We¬ ber und J. Berres einiges hierher Gehörige geliefert, und zum Theil durch Worte und einige mehr oder minder na¬ turgetreue Abbildungen erläutert. Allein die Unmögliok- keit, den Charakter der so vielfach und so zierlich ver¬ schlungenen Gefäfse durch die Rede wiederzugeben, und die daher in der Natur der Sache selbst liegende Mangel¬ haftigkeit einer jeden Beschreibung der Art, macht die Noth wendigkeit eines vollständigen Kupferwerkes über die feinsten Blutgefäfsnetze fühlbar, um so durch unmittelbare

1) Vergl. Fr. Ruyschii ep. probl. III. S. 28.

2) S. Denkschriften der Königl. Academie der Wis¬ senschaften zu München für die Jahre 1818 ins 1820. Bd. Vll. München 1821. 4. S. 3 bis 16. Tab. 2.

17 *

260

I. Die feinsten Blutgefafse.

Anschauung das zu ergänzen, was das Wort nie zu ver¬ vollständigen vermag.

Auincrkung. Gegen die Möglichkeit einer solchen Ar¬ beit hat sich keiner bestimmter ausgesprochen, als Prochaska. S. seine Bemerkungen über den Or¬ ganismus des menschlichen Körpers, Wien 1S10. N. Vorrede S. 2 und 3, in welchem Werke sich schon fast wörtlich das über die feinsten Blutgefafsnctze in der Disquisitio anatomico- physiologica organismi corporis huinani ejus processus vitalis, Viennae 1812. 4., gegebene und so häufig benutzte neunte Kapitel (pp. 92 109) deutsch vorfindet S. 65 101. Wenn es auch wahr ist, dafs keine Abbildung die Natur je erreicht, so ist cs doch von unberechen¬ barem Nutzen, wenigstens das Nothwendigste und Wichtigste durch solche Mittel auch für diejenigen, welche feine Injcctionen unter guten Microscopcn, welches letzte wahrlich keine Nebensache hier ist, zu sehen keine Gelegenheit haben, zugänglich zu machen. Wie weit cs aber hier zu bringen mög¬ lich sei, zeigen gewifs in hinreichendem Maafsc die von Falbe gezeichneten und Lyon net gestochenen Abbildungen zu Licbcrkühn's Diss. de fabrica et actione villorum iutestinorum tenuium hominis: L. B.

. 1745. 4., vorzüglich Tab. I. und II. Dasselbe fast

läfst sich von manchen neueren Zeichnungen behaup¬ ten, wie Rcifsciscn über Structur der Lungen. Berlin 1822. Fol. Tab. 3. Fig. 3., Söinmcrring in den Denkschriften der Münchener Acadcmic Bd.VII. Tab. 2. Fig. 1 4., Bcrrcs in den Jahrbüchern des österreichischen Staates, vorzüglich Tab. II. Fig. 1., Tab. III. Fig. 1., Tab. V. Fig. 3 5., Windiseb- mann, de penitiori auris in amphibiis struclura Bonnac 1831. 4. Tab. II. Fig. 6. u. m. a. der neue¬ sten V>cit angehörigen Schriften. Doch ist cs an dererseits richtig, dafs völlige Wahrheit und Schön-

L Oie feinsten ßlutgefafse. *261

fielt nie bei diesen Dingen durch bildliche Darstel¬ lung zu erreichen ist. Allein welche Abbildung, besonders so verwickelter Dinge, leidet nicht an denselben Fehlern? und ist dennoch ganz brauch¬ bar, weil sie die nicht immer zu Gebote stehende Anschauung des Gegenstandes selbst ersetzt. Auch der trell'liche E. II. Weber spricht sich mit gleicher Gesinnung über diesen Gegenstand aus. S. Hilde brandt's Anatomie, besorgt von E. II. Weber. Th. III. Braunschw. 1831. 8. S. 33. 34.

Wenn nun jedem Theile bestimmte und charakteristi¬ sche Netze der feinsten Blutgefäfse eigen sind, so fragt es sich mit Recht, worin denn diese Unterschiedsverhältnisse begründet sind, und ob sich diese auf gewisse Gesetze re- duciren lassen. Wir müssen aber hier durchaus Mehres in Betrachtung ziehen, um zu bestimmten Resultaten zu gelangen, nämlich den Charakter der Organe selbst, ihre Gröfse, Eage, Form, Verbindung mit anderen Theilen, und die histologischen Verhältnisse eines jeden mit Blut- gefäfsen versehenen Theiles. Alle diese Momente sind für die Betrachtung von grofscr, doch ungleicher Wichtigkeit Lage, Form und Gewebe scheinen unter ihnen den ersten Rang einzunehmen; doch ist es noth wendig, vorzüglich die beiden ersten zu sondern, und dem letzten entgegen¬ zustellen. Die Form und Lage hat auf die Form der Ueber- gangsnetze den gröfsten Einilufs; eben so sehr werden diese aber auch durch den histologischen Charakter bestimmt, so dafs dieser, er finde sich in welchem Organe oder Or~ gantheile er wolle, immer in derselben Urgestalt wieder¬ kehrt, und nur Metamorphosen seines eigenthümlichen Ty¬ pus darstellt. Ueberhaupt müssen wir den Charakter der feinsten Blulgelafsnetze eines Theiles als aus dem Conflictc zwischen Lage und Form einerseits, und Gewebe anderer¬ seits hervorgegangen betrachten. Es hat daher jede Form ihre Eigentümlichkeit, jedes Gcwehe seine Eigentüm¬ lichkeit, welche überall hiudurchbliekl, und cs Ucfscn sich

262 I. Die feinsten Blntgefafse.

zwei Urreihcn dieser Charaktere aufstcllcn, mit deren Hülfe sich schon der Charakter der feinsten Blutgclafsuctzc eines Theilcs im Voraus bestimmen licfsc. , Keiner der ge¬ nannten Schriftsteller scheint diese der unmittelbaren Beob¬ achtung entnommene. Ansicht speciell ins Ange gefafst zu haben. Vielmehr vermengen die meisten Organ und Hi¬ stologie derselben (also den Complex verschiedener histo¬ logischer Bestandteile), und scheinen im Ganzen weder ein sicheres Prinzip, noch wissenschaftliche Ordnung hei der Aufzählung ihrer Injectionen beobachten zu wollen. Prochaska führt die einzelnen Organe auf. E. II. We¬ ber schaltet seine inicromctrischen Messungen nebenbei bei der Behandlung der Theile ein, an welchen sic angc- stcllt wurden. Berrcs dagegen, welcher die ganzen Netze ihrem äufseren Ansehen nach unter acht llauptrubriken bringt, stellt zwar häufig histologisch analoge Theile, wie Gehirn und Nerven, willkührlichc und unwillkiihrlicho Muskeln u. dergl. zusammen, vereinigt aber auch dem Ge¬ webe nach durchaus verschiedene Gebilde, wie iris und willkührliche Muskeln, Linsenkapsel und Scheidenhaut des Hodens u. dergl., in eine Abtheilung. Es ist datier wohl der Mühe wert!», wenigstens das im Allgemeinen hierher Gehörige genauer durchzugehen, um die hier obwaltenden Grundgesetze, wenn auch nur im Ucberblicke, zu erken¬ nen, da eine ins Spccicllste ciugehendc Durchführung not¬ wendig eine Darstellung säinmtlicher Blutgefäfsnetze des Körpers erforderte. Eine solche zu liefern, würde aber ein eigenes Werk, nicht einen ephemeren Aufsatz verlan¬ gen. Um aber rein analytisch zu Werke zu gehen, wer¬ den wir zuerst von dem schon oben hingesteUten Resul¬ tate abstrabiren, und die sich uns darbietenden Thatsachcn kürzlich beleuchten.

I)afs der histologische Charakter eines Theilcs auch das Altssehen seiner Blutgefäfsnetze bestimme, zeigt sich da am deutlichsten, wo verschiedene Gewebe auf- oder nebeneinander liegen, und zusammen erst ein Organ oder

I. Die feinsten ßlutgefafse. 263

einen Organthcil ausmachen. Die Bronchialgeiafse sind durchaus schon dem Aeufscren nach von den der Lungen verschieden, wie Reifs eisen so schön dargestellt hat. Ganz, anders verhalten sich die Gefafse der Buyschiana, als die der vorliegenden und zum grofsen Theile mit ihr verwachsenen Choroidea. Selbst die Netze des Knorpels, sowohl des bleibenden, als des ossificirenden, sind von denen des Knochens durchaus verschieden. Am meisten jedoch ist der Darmkanal dazu geeignet, diese Wahrheit zu bekräftigen und allem Zweifel zu überheben. Denn an vollkommen injicirten und aufgespannten Darmstücken kann man mit Bestimmtheit die drei verschiedenen Netze unter¬ scheiden, welche den drei verschiedenen Geweben des Nahrungskanales angehören; nämlich nach innen das der Schleimhaut, und an den Stellen, wo sie sich vorfinden, der Zotten und Magen- und Darmdrüsen, in der Mitte das der Muskelhaut, und nach aufsen das des serösen Ueber- zuges des Bauchfelles, nebst dem dazu gehörenden Schleim- gewebe. Ja die Differenz ist hier so grofs und so auffal¬ lend, dafs die innere Oberfläche eines glücklich injicirten Darmrohres etwas durchaus anderes zu sein scheint, als seine äufsere. Auch an den accessorisclien Drüsen des Darmkanales läfst sich eben so gut, doch seltener, das¬ selbe wahrnchmen, weil die Injection des serösen Ueber- zuges dieser Theile ohne Extravasat im Inneren fast nie gelingt, oder, wie ich vorzüglich häufig bei Fötusinjectio- nen gefunden habe, diese letzte vollkommen sich füllt, während das Parenchym von aller Injectionsmasse frei bleibt. Auch die Nieren zeigen diese Unterschiede nach vollständiger Anfüllung mit grofser Deutlichkeit, noch mehr aber der Hoden, vorzüglich wenn die Einspritzung durch die Vena spermatica, welche sehr leicht gelingt, glücklich gemacht ist.

Das Schleimgewebe scheint von diesem Gesetze, dals jedem histologischen Theile seine eigene Bildung der Ge- fafsnetze zukommc, eine Ausnahme zu machen. Die ge-

‘264

I. Die feinsten Blutgcfafse.

wohnliche eigentümliche Form ist eine gewisse freie Ver¬ breitung dieser Blutgefäfsnctzc, als seien diese liier durch keinen histologischen Urtheil gebunden in ihrer höchsten Verbreitung und Verknüpfung, durch nichts gehindert. Am schönsten sieht man dieses in dem Schleimgewcbc der Achselhöhle, des Daumens, in der Nähe der Patella und dergleichen mehr, unvergleichlich schön auch an den so häufig vorkommenden krankhaften Adhäsionen der Lungen und der Pleura an dem Brustkasten. Eine völlig verschie¬ dene Form haben aber die Uebcrgangsnetzc in dem zwi¬ schen den Nerven-, Muskel- und Sehnenfasern atisgebrci- teteu Schleimgcwebe. Es ist an diesen Stellen überhaupt von so verschiedenem Aussehen, dafs man wohl zu glau¬ ben verleitet wird, als sei diese Form der stringenteste Be¬ weis gegen die Indentitüt eines Urtypus in den einzelnen Gewcbtbcilen. Bedenkt man aber andererseits, dafs das Schleimgewebe an diesen Thciicn durch die in dasselbe hineingcbildcten Urbestandtheile der Gewebe zusammenge¬ drängt und modificirt ist, dafs uie zwischen den einzelnen Nerven-, Muskel- und Sehuenfasern verlaufenden Gefäfs- chcn auf den Charakter der Uebergangsgefäfse in dem ver¬ bindenden Schlei mgevvcbe von dem höchsten Einflüsse sind, so wird das so sonderbare Phänomen uns begreiflicher und in der Natur der Sache begründeter erscheinen. Wo auch nur im mindesten das Schleimgcwebe freier und ungebun¬ dener hervortritt, da nimmt cs auch sogleich die eigen¬ tümliche Form wieder an. Am schönsten ist dieses an wohlgelungencn Einspritzungen der Extremitäten zu ver¬ folgen, wenn man der Reihe nach das Schleimgewcbc zwischen den einzelnen Muskelfasern, Muskclbündcln, Mus¬ keln, diesen uud den umhüllenden Scheiden, diesen und der Fett- und Lederhaut betrachtet, eine Anschauung, welche man durch einen passenden Pcrpendicularschnitt einer solchen Extremität auf das deutlichste darstcllcn kann. Die Vergleichung zwischen dem zwischen dem Pcritonaeum uud der Muskelhaut des Darmkanalcs gclegc-

265

I. Die feinsten Blutgefäfse.

nen mit dem die beiden Platten der Netze verbindenden Schleimgewebe ist nicht minder geeignet, uns dieser Wahr¬ heit zu vergewissern.

So sehr nun auch diese Thatsachen für die Abhängig¬ keit der feinsten Blutgefäfsnetze von dem histologischen Charakter sprechen, so ist dieses doch keinesweges das einzige Moment, von welchem diese bedingt werden. Mit Bestimmtheit läfst sich noch kein histologischer Unterschied zwischen Cortical- und Medullarsubstanz der Nieren naeh- weisen, und doch sind die kleinsten Blutgefäfse beider so durchaus verschieden. Etwas Aehnliches sehen wir an den Uebergangsnetzen der oberflächlichen und tieferen Schicht der Lungen, der Leber in ihrem Parenchym und in der Nähe der gröfseren Gallengänge, der Drüsen bei ihren x\us- führungsgängen u. dergl. mehr. Gegen diese Erfahrungen liefse sich freilich noch die Einwendung machen, dafs diese Theile auch verschiedene Gewebe haben. Eine solche Be¬ hauptung ist aber durch genaue Beobachtung nichts weniger, als erwiesen. Die Bronchien behalten ihre eigentüm¬ liche Natur bis kurz vor ihrer Endigung als Lungenbläs¬ chen, wie Reifs eisen schon gefunden hat *). Die Natur der Speichelkanäle in den Speicheldrüsen ist nach E. H. Weber, Müll er ’s und meinen eigenen Untersuchungen durchaus dieselbe. Denn bei dem Embryo zeigt die in früherer Zeit der Entwickeln g als Traube erscheinende Parotis durchaus keinen Gewebeunterschied in ihren En^. den, oder ihrem gröfsten, gemeinschaftlichen Ausführungs¬ gange. Dasselbe haben wir auch während der Entwicke¬ lung an den Gallengängen der Leber mit Deutlichkeit wahr- genommen. Bei dem Erwachsenen, wo die isolirte Unter¬ suchung dieser letzten Theile noch nie vollkommen geglückt ist, zeigt sich wenigstens nirgends ein Gewebeunterschied derselben, man mag sie so tief in das Parenchym hinein verfolgen, als man nur immer wolle.

1) L. c. S. 9 und 10. *

I

26(i

1. Die feinsten Blotgefafsc.

Doch auch auf histologisch durchaus gleichartige Thcile hat die Verschiedenheit des Organes oder der Organthcilc, in welchen sie Vorkommen, bisweilen einen ganx entschie¬ denen Kinilufs. Der Charakter der Ucbergangsnctzc der Schleimhäute ist durchaus verschieden, je nachdem diese dem Auge, der Nase, den Nebenhöhlen derselben, dem Munde, dem Hachen, der Luftröhre, den Lungen, dem Schlunde, dem Magen, dem Zwölffingerdärme, den übri¬ gen Abtheilungen des Verdauungsrohres, den Geschlechts- thcilen u. dergl. mehr angehören. Die Nervcnsubstauz be¬ sitzt ein ganz verschiedenes kleinstes Blulgcfiifsnelz im Ge¬ hirne, den Nerven, der Sehhaut, den Ganglien u. dergl. mehr. In den Drüsen und drüsigen Organen finden wir die auffallendsten Differenzen, wrie in der Thymus, der Schilddrüse, den Speicheldrüsen, den Lymphdrüsen, der Lieber, der Milz, den Nieren, Nebennieren u. dergl. An anderen Geweben dagegen ist die Textur durchaus gleich¬ artig, cs finde sich au welchen Stellen es wolle, so au den willkührlichcn , den unwillkührlichen Muskeln, den Sehnen, den Ligamenten u. a. Vergleichen wir aber diese beiden scheinbar einander widersprechenden Reihen unter¬ einander, so 6ehcn wir, dafs bei den ersten, zu einer Klasse gehörenden Theilen Form und Function an den ver¬ schiedenen Organen und den verschiedenen Stellen unge¬ mein von einander abwcichen, während bei den letzten diese beiden Dinge überall gleich bleiben. Für diese letz¬ ten entstehen daher auch gewisse Urtypen der Gestaltung, und zwar meistens der Längentypus, welche sic immer be¬ gleiten, und nur in verschiedenen Nuancen und Hiebt ungen sich vorfiuden. So herrscht in den Muskeln offenbar ein Längentypu9 vor, welcher sich in den willkührlichcn Mus¬ keln meist longitudinal und gerade gegen die Axe des Kör¬ pers legt, iu einer Schicht der Magen- und Blascnhaut transversal, au dem Darmrohre und den Sphiuctercn cen¬ tral darstcllt. Die Function aber ist überall dieselbe, Zu- sammeuzichung und Ausdehnung. Nicht so ist es dagegen

267

I. Die feinsten Blntgefafse.

bei der ersten Reihe der Fall. Wie verschieden ist nicht Bau und Function der Nierenkörnchen von den Lcber- körnchen, und dieser von analogen in dem Drüsenparen¬ chym zerstreuten Körperchen? wie verschieden die Form der inneren Theile der Schilddrüse von der der Thymus und der Nebennieren? Ich brauche nur die Formen der Schleimhaut vom Munde bis zum After zu nennen, um den Unterschied zur Erinnerung zu bringen. Und doch ist es immer histologisch dieselbe Schleimhaut.

Aber an allen den Stellen, wo bei demselben Geweb¬ theile auch der Charakter der Uebergangsnetze sich ändert, zeigt rsich auch eine Veränderung des morphologischen Verhältnisses, sei es in dem Organe selbst, oder in dessen Gewebtheilen. Beide Modificatiouen entsprechen auch ein¬ ander auf das Bestimmteste. Die Schleimhaut des Nah¬ rungskanales ist ein so deutlicher Beweis des eben ausge¬ sprochenen Satzes, dafs eine etwas speciellere Betrachtung derselben wohl hier am rechten Orte sein dürfte. Im Magen finden sich vielfache maschenförmige Uebergangsnetze, wel¬ che die den Schleim und den Magensaft übsondernden drü¬ sigen Organe auf das vielfachste umspinnen. Im Zwölf¬ finger- und Dünndarme treten diese verhältnifsmäfsig wei¬ teren und gröberen Netze zurück, und an ihrer Stelle fin¬ det sich jenes feine, die breiten, kolbigen und platten Zot¬ ten umspinnende Gefäfsnetz, welches Lieberkühn so schön und möglichst naturgetreu durch LyonneUs Mei¬ sterhand hat darstcilcn lassen. Im weiteren Verlaufe des Dünndarmes, wo die Zotten schmaler, länger, runder, und bisweilen etwas kolbiger werden, wird auch das Gefäls- uetz verhältnifsmäfsig breiter und gröfser, weniger zwar im Einzelnen verzweigt, dagegen in seinen relativ dicke¬ ren und gröfseren Gefäfsen mehr ausgebildet. Dieser ganze Charakter bleibt so lange constant, als die äufsere Con- formation der Schleimhaut dieselbe bleibt. Wo aber, wie dies in dem unteren Theile des Dünndarmes zuerst geschieht, die Drüsenhäufchen sichtbarer hervortreten und

268

I. Die feinsten Blutgefafsc.

eben dadurch die Schleimhaut des Darmkanales gleichsam gcthcilt wird, in die drüsenreichen Stellen, deren Zwi¬ schenräume und Umgebungen die Zotten einnehmen und die driiscnloscn, ändert sich sogleich auch der Charakter der feinsten Blutgefiifsnetze. Er spaltet sich gleichsam nach dieser zwiefachen Umänderung in zwei Theilc. Die Zotten behalten, wie in den oberen Darmstiickeu, ihre eigenen, charakteristischen Netze, während die Drusen- häufchen von besonderen, äufserst zierlichen Maschen um¬ sponnen werden. Sehr schön stellt sich dieses an dem un¬ tersten Theilc des Dünndarmes, nahe am Colon dar. Im Colon bleibt das masebenförmige Wesen allein zurück und bildet, vorzüglich im Colon descendcns und Rectum, eine eben so feine, als eigentümliche Compositiou. Wir müs¬ sen aber hier ausdrücklich die Bemerkung einschalten, dafs alle diese Eigenschaften der kleinsten Gefafse der Schleim¬ haut des Nahrungskanales mit völliger Bestimmtheit und Richtigkeit nur an frischen Präparaten zu beobachten sind. Getrocknete Stücke zeigen zwar aucJi in jedem Theilc ei¬ nen verschiedenen Charakter, allein dieser weicht in 60- fern von dem in der Natur statt findenden ab, als durch das Trocknen die kleinen Netze sich verschieben, oder durch das Verschwinden des Parenchyms sich aneinander- legcn *), und so die ihre Eigentümlichkeit mehr oder

1) Es ist daher gewifs unrecht, wenn Rudolphi an vielen Licberkii hn sehen Präparaten, welche er bei Augustin sah, Extravasate beobachtet haben wollte. S. seine Bemerkungen aus dem Gebiete der Naturgeschichte u. s. w. auf einer Reise durch Deutschland u. s. w. Th. 1. Berlin 1804. S. 48. Das beim Trocknen entstehende Ein¬ schrumpfen des Parenchyms läfst die Netze, dereu Acsfe an einader rücken, oft als blofsc Extravasate erscheinen. Dasselbe fand wahrscheinlich auch hier statt. Denn Lie¬ ber kühn hob, wie Rudolphi selbst sagt, nur gut aus- gefüllte Theilc auf, und hatte bei Darmzottcu, w'clchc so leicht vollständig sich füllen, Extravasate für gute Präpa¬ rate auszugcbcu, sicher nicht uöthig.

269

I. Die feinsten Blutgefafsc.

minder constituircnde Regclmäfsigkeit verlieren. Gerade das Umgekehrte läfst sich von manchen anderen Theilen behaupten, z. B. den Lungen, der Lederhaut n. dergl. , welche eben durch das Trocknen an Schärfe und Bestimmt¬ heit nur gewinnen, ohne von ihrer Wahrheit etwas ein- zubiifsen.

Wie sehr aber endlich die äufsere Form überhaupt, ohne Rücksicht auf Gewebe oder Organ, auf den Charak¬ ter der Gefäfsnetze Einflufs habe, läfst sich durch mehr, als ein Beispiel nach weisen. Die haufenweise neben ein¬ ander liegenden Dröschen der Gedärme sind jedes einzelne von einer einfachen oder zusammengesetzten Gefäfsmaschc umgeben, welche aus einem darunter liegenden gröfseren Gefäfse entspringt. Ganz dasselbe findet sich bei allen Lymphdrüsen und den gesonderten Läppchen der Speichel¬ drüsen. Auch hängt auf dieselbe Art jedes Fettklümpchen an einem einzelnen Gefäfsstämmchen, während jedes Fett¬ kügelchen von einer kleinen Gefäfsmaschc umschlossen ist. Und was findet zwischen diesen Organen für eine andere Aehnlichkeit und Analogie sich vor, als die der blofs äufseren Form? Zwischen je zwei Muskelfasern läuft ein feines Blutgefäfs, welches mit seinen Nachbaren durch mehr oder minder geschlängelte Anastomosen sich verbin¬ det. Ein ähnliches Verhalten findet sich in den Nerven, ein ähnliches in den Sehnen, wenn auch in den ersten die Querverbindungen vor den Längsästen vorherrschen, in den letzten dagegen beide einander das Gleichgewicht zu halten scheinen. Dasselbe liefse sich über die Knor¬ pel, Knochen, Schleimdrüsen u. dergl. behaupten, wenn cs sich darum handelte, monographisch diese Richtung zu verfolgen.

Nach dem, was wir hier kürzlich angedeutet haben, und an einem anderen Orte noch specieller entwickeln wer¬ den, hat also jeder Theil seinen bestimmten und eigen- thümlicheu Charakter der feinsten Blutgefäfsuetze, welcher durch folgende drei Momente bedingt ist:

270 «• D ic feinsten Blutgefafsc.

1 ) Durch «len histologischen Charakter eines Organes, oder eines Organlhciles;

2) durch die Natur des Organes seihst; und

3) durch die Verschiedenheit der Gcslaltformen, wel¬ che die einzelnen Gewebe an bestimmten Stellen eines einzelnen Organes annehmen.

Erst durch die Combination dieser drei Punkte ent¬ steht der eigentümliche Charakter der feinsten Blutgc- fäfsnetze, und jede nähere Bestimmung derselben muß» diese drei Momente nothwendig berücksichtigen. Allein da die Gewebe oft gleich, und was hier von vorzüglicher Wichtigkeit ist, die Gestalt derselben in den verschieden¬ sten Thcilen oft ähnlich ist, so darf es uns nicht wundern, wenn auch die äufscre Form der Uebergangsnetze in die¬ sen Organtheilen gleich oder ähnlich ausfallcu wird 1 ). Es würde aber ein Mifsgriif und nur verwirrend sein, wegen dieser blofs äufseren, und selbst da nur unvollständigen Achnlichkeit, diese verschiedenen Dinge in eine Klasse zusammenzuwerfen, und so einen Ucbcrblick des Ganzen nach dem minder wichtigen Habitus liefern zu wollen. Am zwcckmäfsigsten verführe man in dieser Rücksicht, wie ich glaube, wenn man die einzelnen Organsyslemc behandelte, diese selbst dagegen aber nach ihren verschie¬ denen histologischen Bestandteilen und Formen durch¬ ginge. Dadurch würden Wiederholungen, welche auf die¬ sem Felde nie umgangen werden können, wenigstens so sehr als möglich vermindert werden, und das Ganze über¬ haupt eine mehr wissenschaftliche und systematische Form bekommen.

Die Gröfsc der Durchmesser der kleinsten Blutgefäfs- netze ist erst in der neuesten Zeit einer genaueren Untcr-

1) Ich kenne hier kein deutlicheres Beispiel, als die Vergleichung der Schleimhaut des Rachens mit der der Nase, wie sic minder leicht heim Menschen, deutlicher hei Haussäugethiereu, vorzüglich dem Kalbe, zu beobach¬ ten ist.

271

I. Die feinsten Blutgefafse.

suclmng und Prüfung unterworfen worden. Eine mathe- matiscii bestimmte Gröfse hier finden zu wollen, ist in mehr als einer Rücksicht ein sich selbst widerlegender Widerspruch. Schon der hlolse Anblick mehrer Stücke desselben Präparates, vorzüglich unter einer etwas stärke¬ ren Vergröfserung, wo die auch verhältnifsmäfsig so über¬ aus kleinen Differenzen deutlicher hervortreten, mufs je¬ den Beobachter hinlänglich daVon überzeugen, dals hier nur gewisse variable Gröfsen anzunehmen sind, welche be¬ stimmte Gränzeu zwar nicht überschreiten, der Veränder¬ lichkeit dagegen einen hinreichenden Spielraum gestatten. Es findet hier durchaus dasselbe statt, welches die Beob¬ achter schon längst an den gröfseren Gefäfsstämmen wahr¬ genommen haben. Es ist gewifs, dafs das stärkste Gelafs des ganzen Körpers die Aorta sei, welche selbst aber von oben nach unten allmählich sich verschmälert, und auf diese die Iliacae, Carotides, Crurales, Brachiales u. dergl. der Reihe nach folgen läfst, dafs im gesunden Zustande nie eine Ausnahme von dieser Regel vorkommt, die einzelnen Durchmesser dieser Gefäfse dagegen in verschiedenen Lei¬ chen von einigen Linien nicht selten bis zu einem halben Zolle variiren. Will man daher sichere und zu wissen¬ schaftlichen Resultaten zu benutzende Zahlen aus den mi- crometrischen Gröfsenbestimmungen der kleinsten Blutge- fäfsnetze erhalten, so ist eine Messung durchaus unzurei¬ chend, da diese nicht nur den so leicht möglichen sub- jectiven Fehler verhüllt, sondern auch die Variabilität des Durchmessers auf keine Weise angiebt, ja man durchaus nicht wissen kann, ob mau das Maximum oder Minimum, oder eine dem einen oder dem anderen sich nähernde Mit¬ telzahl habe. Man mufs daher eine ganze Reihe von Mes¬ sungen aufstellen, welche wo möglich aus verschiedenen Präparaten desselben Theiles entnommen sind, um hier¬ durch Mittel und Gränzen genauer bestimmen zu können. Ich habe deshalb von jedem der von mir gemessenen Theile, wo möglich und fast immer an verschiedenen Prä-

272

I. Die Feinsten Blntgefafse.

paraten zehn Messungen angestcllt, und so die gröfstc er¬ haltene Zahl als Summum, die kleinste als Minimum, und das Mittel aus allen zehn Zahlen als Medium angczcichct 1 ).

Bei der Trefflichkeit der Micromcter, welche an den neueren Microseopcn gröfscrcr Art angebracht sind, kann man diese Messungen auf eine Höhe der Genauigkeit brin¬ gen, welche eben so bewdndernswürdig, als erspriefs- lich für die Physiologie ist. Es wird aus der bald zu lie¬ fernden Tabelle sich von selbst ergeben, wie sehr die un¬ ter der Web ersehen, auf dem Frauenbofcrschcn lihd auf dem PI öfsl sehen Schraubcnmicrometer angcslelltcn Messungen bis auf 0,0001 übereinstimmen, ein eben so si¬ cherer Maafsstab für die Vortrefflichkeit und Bestimmtheit dieser Instrumente, als für die microinctrisclic Messung über¬ haupt. Bei unserem Gegenstände ist C9, wie es sich bald ergeben wird, unnöthig, die Gröfsenvcrhältnissc der Durch¬ messer der feinsten Blutgclafsnctzc , wie Job. Müller vor¬ schlägt, auf gewisse constante Urgrölscn desselben Thiercs zu reducircn. Auch kennen wir keinen Theil im thieri- schen Körper, welcher nicht der Variation zwischen Grän¬ zen, welche die genannten Micromcter noch bestimmt an¬ zugeben vermöchten, unterworfen sei. Selbst die von Jo h. Müller zu diesem Zwecke vorgcschlagencn Blutkörperchen machen hier keinesweges eine Ausnahme. Auch sie sind noch durch Zahlen zu bestimmenden veränderlichen Gröfsen unterworfen. Es bleibt daher nichts übrig, als sich auf

die

1) Zu unserer nicht geringen Freude sahen wir, nachdem das hier Gesagte schon längst niedergeschrieben ■worden, dafs Job. Müller ganz derselben Ansicht ist, und zufällig dieselbe Zahl von Messungen als Normalzahl für micrometrische Gröfscnbestimnmng überhaupt vorschlägt. Vergl. die Vorrede zu seinem Ilandbuchc der Physiologie des Menschen für Vorlesungen. Bd. I. Abth. I. Coblcnz 1833. S. S. IV bis VI, wo überhaupt, wie in mehren Stellen des Werkes selbst, wichtige und gründliche Bemerkungen über Bedeutung und Behandlung der Micromctric enthalten sind.

273

I. Die feinsten Biutgefäfse.

die Genauigkeit der Instrumente zu verlassen, und es wäre wollt wünschenswerth, dafs jemand, dem beide Arten von Micrometern zu Gebote stehen, durch Messung derselben identischen Theile unter beiden Instrumenten über die Uebereinstimmung oder Abweichung, welche zwischen ih¬ nen statt findet, Licht verbreitete. Die grofse Consonanz zwischen den meisten Netzen der Biutgefäfse, sie mögen unter diesem oder jenem Micromctcr gemessen sein, be¬ rechtigt uns wohl zu der Vermuthung, dafs die hier vor¬ kommenden Aberrationen so gering seien, dafs sie ohne Schaden gleich Null gesetzt werden können. Doch fragt cs sich, ob auch andere nicht injicirte Theile dieselbe Uebereinstimmung der Resultate zeigen oder nicht, da es wohl denkbar ist, dafs durch die verschiedenartige Fül¬ lung der Gefälse eine durch das Instrument entstehende Differenz durch die Verschiedenheit des Objectes ausge¬ glichen werden könnte. Die Naturforscher Berlins, Wiens und Münchens, wo, so viel wir wissen, wenigstens Frauen- hofersche, Plöfslsche und Schieksche Schraubenmicro- nieter zugleich vorzufinden sind, könnten am leichtesten den erwünschten Aufschlufs hierüber geben.

Ueberhaupt wird häufig die Ausdehnung der kleinsten Gefäfsnetze durch die hineingetriebene Injectionsmasse dazu benutzt, um die Richtigkeit einer micrometriscben Messung der Art im Ganzen verdächtig zu machen. Als die dafür sprechenden Beweise wird die eine jede glückliche In- jection begleitende Anschwellung -des eingespritzten Thei- les, die microscopische Anschauung und Vergleichung in- jicirter und nicht injicirter Präparate desselben Theiles u. dergl. mehr angeführt. Allein so wahr die Prämisse ist, so falsch ist dagegen der Sehlufs. Denn diese künstliche Vorbereitung verändert zwar die Gröfsen, doch nach ge¬ wissen, wenigstens dem Mittel nach zu bestimmenden Verhältnissen, welche als Differenzen zwischen injicirten und nicht injicirten Präparaten angesehen werden können. Wenn man den Exponenten des Gröfscnvcrhältnisscs der Band 28. Heft 3. 18

274

I. Die feinsten Blutgcfafsc.

Anschwellung überall gleich annchmcn könnte , so bliebe für die Bhitgcfäfsc, für sich betrachtet, das Verhältnis durchaus ungestört, da die Grüfsc des Exponenten sich absol t gleich bliebe. Doch ist dieses wenigstens nicht iu allen Thcilen der Fall. Es wäre daher wichtig, alle Or¬ gane in dieser Beziehung in beiden Zuständen, im injicir- teu und nicht injicirtcn, zu vergleichen, und so die sich in jedem einzelnen Thcilc vorfiudende Mitteldifferenz Be¬ hufs der Kediiclion anzngeben. Allein von manchen ist dieses durchaus nie möglich, wie von der Leber, der Milz, den Nieren u. dcrgl. mehr. Wir sind daher genötkigt, gewisse Mitteldifferenzen überhaupt anzuuehmen, um 60 den durch die Beobachtung selbst gegebenen Fehler we¬ nigstens so kleiu als möglich zu machen. Nach mehren am Hodensackc, der Kniescheibe, der äufscrcn Haut, der Darmschleimhaut und der Lungenoberfläche Neugeborener in beiden Verhältnissen entnommenen Messungen ist die mittlere Differenz als des Volumens des Ganzen anzu¬ nehmen 1 ). Man dürfte daher in der Correction wenig irren, wenn man, besonders zu micrortietrischcr Verglei¬ chung anderer heterogener Theile die unten als Mittelzak- len angegebenen Wcrthc auf £ rcducirte, und die dann hcrauskoinmenden Zahlen als den mit Blutflüssigkeit an¬ gefüllten Gefäfschen augehörig betrachtete.

Eine andere Frage ist die, ob es eineu Gröfscnuntcr- schied bedinge, je nachdem diese Präparate frisch und feucht oder getrocknet gemessen werden. Doch mufs ich nach meinen vielfach in dieser Beziehung angcstcllten Untersu¬ chungen hier jede Differenz bei guten Einspritzungen, wo

1 ) Die sicherste Vergleichung fände freilich an sol¬ chen durchsichtigen Theilen statt, welche die Beobachtung der Girculation au lebenden Tkieren zulassen, wie z. B. der Fledermausflügel, das Netz der Nager, die Froschlüfse, die Leber des Salamandcrcmbryo u. dcrgl. Allein bisher wollte uns die zu einer solchen Betrachtung nothige Voll¬ ständigkeit der Präparate nicht gelingen.

/

I

\

f. Die feinsten Blntgefafse. 275

die Injectionsmasse gleichmäfsig und besonders die Farbe fein verl heilt ist, leugnen. Denn nur das dazwischen lie¬ gende Parenchym vertrocknet und wird durchsichtig, wäh¬ rend die mit Masse vollkommen angefüllten und ausgedehn¬ ten Gefafschen durch jene in unverändertem Zustande er¬ halten werden. Eben dieses Verschwinden des Paren-

i *

chyms zieht bei dem Trocknen an diesen Theilen sehr grofse Vortheile, an anderen dagegen wahre Nachtheile nach sich. Denn manche Organe, wie Leber, Lungen, Lederhaut u. dergl. lassen getrocknet den Zustand ihrer feinsten Blutgefafsnetze weit besser wahrnehmen, als frisch, während dagegen bei anderen, wie Schleimdrüsen, Darm¬ zotten u. dergl. das Umgekehrte statt findet. Durch das Trocknen verschwindet bei den letzten das Parenchym gänzlich dem Auge des Beobachters, und häufig erschei¬ nen daher da, wo frisch die schönsten und feinsten Netze wahrzunehmen waren, um Extravasate oder von In- jectionsmasse gleichmäfsig gefärbte Stellen, welche keinen deutlichen Gefäfscharakter wahrnehmen lassen, wie wir schon oben zu bemerken Gelegenheit hatten. Es liegt da¬ her in der Natur der Sache, dafs die Micrometrie die Beob¬ achtung bald der frischen, bald der trockenen Präparate fordert, und ich wiederhole es nochmals, dafs bei keiner dieser beiden Methoden irgend eine Differenz je eintrete, wenn die Messungen überhaupt nur accurat und richtig angestellt werden eine Forderung, zu welcher höchste Genauigkeit des Beobachters nicht minder, als des Instru¬ mentes selbst, erforderlich ist.

Ich habe in die nun folgende Tabelle alle mir be¬ kannten zuverlässigen Messungen der feinsten Blutgefäfs- netze aufgenommen. Doch mufste ich hier mit strenger Kritik verfahren und nur solche eintragen, welche mit der gröfsten Genauigkeit und durch gute und feine Instrumente augestellt wurden. Denn eine blofse Schätzung nach dem Augenmaafse, wie bei Micrometern, welche nur Linie angeben, kann auch bei der gröfsten Vorsicht sebr leicht

IS *

276

I. Die feinsten Blntgefafse.

wichtige Fehler enthalten. Am zuverlässigsten sind hier unbedingt die Schraubcmnicromcter, deren sich Job. Mül¬ ler, Berres und ich bedient haben, und welche *nr nie mit gröfster Präcision anzugeben vermögen. Die Ouel- len der einzelnen Messungen habe ich immer hinzugeftigt. Die beigcselzten Buchstaben bezeichnen die Autoritäten. \V. bedeutet E. II. Weber (Meckel ’s Arch. 1827. Hi lJebrand t’s Anatomie, bearb. von Weber, Band I. bis IV.), M. Job. Müller'(Meckel’8 Arch. 1830. De glandularum secernentium structura penitiori, Lips. 1830. fol. Ilaudbuch der Physiologie des Menschen, Bd. I. Abth. I. Coblcnz 1833. 8.), B. Berres (Medicin. Jahrb. des österr. Staates. 1833. Bd. 11. S. 115 132. 258 267. 433 414.), und II. llcnle (De membrana pupillari aliis- que oculi inembranis pcllucentibus. Bonnae 1832. 4.). Meine eigenen, vermittelst eines an einem Plöfslscheö Instrumente angebrachten Schraubcnmicrometers angestell- ten Messungen, habe ich mit V. bezeichnet. Dafs die letz¬ ten Wcrthc nach immer zehn Messungen entnommen, und auf welche Weise Summura, Minimum und Medium be¬ stimmt sind, habe ich schon oben angegeben. Eigene, von mir angefertigte Präparate, bildeten die Grundlage meiner Erfahrungen. Der Gleichförmigkeit wegen habe ich alle Messungen nach den bekannten Verhältnissen auf Pariser Linien rcducirt, wiewohl Bcrres’s und das von mir ge¬ brauchte Micromctcr unmittelbar Wiener Linien augeben.

/

I. Die feinsten Blutgefäfse. 277

Mi cro metrische Tabelle

der bisher bekannten Messungen der Durchmesser der Aeste der kleinsten injicirten oder injicirbarcu Blutgefäfse *)•

(Bestimmung in Theilen des Pariser Zolles.)

Maximum. Medium. Minimum.

Arterien unter demNagel. B.

Dieselben. V. . . . . .

Aeufsere Haut. W. . . ,

Lederhaut. B .

Dieselbe. V .

Dieselbe von einem dcrReife nahen Schweinefötus. V.

Haut des Hodensackes, mit Blut gefüllt. W. . . .

Entzündete Haut. W. . .

Lippe eines Kindes. B. . .

Zunge einesKindes. B. . .

Schleimdrüse d. Mundes. B.

Schleimhaut d. Rachens. V.

Schleimhaut d. Magens. V.

Schleimhaut des Dünndar¬ mes. V .

Darmzotten aus dem Dünn¬ därme eines Kindes. B.

»

Dergl. aus dem Dünndarme Erwachsener. V. . . .

Dergl. aus dem Duodenum Erwachsener. V. . .

Dergl. der Katze. V. . .

Dergl. des Huhnes. V. .

Schleimhaut des Dickdar¬ mes. B . . .

0,000582.

0,000756. 6,000438. 0,000253.

0,000800.

0,000776. 0,000681.

0,000405. 0,000369. 0,000278.

0,000765. *0,000705. 0,000253.

> J . .

0^00309.

0,000500. 0,000250.

0,000485.

0,000776.

0,000681. 0,000291.

0,000507. 0,000243. 0,000202. 0,000670. 0,000542. 0,000484.

0,000658. 0,000491. 0,000400.

■7

0,000485.

/ r '

0,000791. 0,000566. 0,000506.

0,000726. 0,000441. 0,000435. 0,000253. 0,000186. 0,000129. 0,000610. 0,000506. 0,000305.

0,000485. 0,000388.

1) Die Theile, denen keine spccielleren Bestimmungen hinzugefügt sind, sind aus dem Menschen genommen.

278

f. Die feinsten Blntgcfafse.

Maximum. Medium. Minimum.

Schleimhaut des Dickdar¬ mes. W .

Dieselbe. V. .

Schleimhaut des Uterus ei¬ nes trächtigen Kauiu- chcns. V. .... . Muskelhaut des Düuudar-

t

mes. B .

Dieselbe. V .

Seröse Haut des Dünndar¬ mes. V. . .

Vagina humeri eines Neu¬ geborenen. V .

Netz, des Dünndarmes. B. Pia mater eines acht Zoll laugen Schweinefbtus. V. Dieselbe mit Blut gefüllt. V. Plexus choroideus latera¬ lis. B .

Corticalsubstanz, des Ge¬ hirns. B. . . . > . Ilirn des Menschen. W. . Hegenbogenhaut. M. . .

Vordere Flüche der Iris. B. Hintere Fläche der Iris. B.

Aderhaut. B .

Strahlcnkörpcr. B. . . .

Ciliarkörper. M. . . . Bindehautblättchen derCor- uea eines fast ausgetra¬ genen Kalbes. II. . .

Retina. B .

Ruyscbiana. \V. (nach Sum¬ me rring's Abbildung berechnet) .

0.000500. 0.000330.

0,000507. 0,000380. 0,000355.

0,000755. 0,000519. 0,000421.

0,0003S8. 0,000194.

0,000464. 0,000300. 0,000232.

0,000506. 0,000400. 0,000349.

0,000405.

0,000194.

0,000483. 0,000405. 0,000271.

0,000364.

%

0,001746. 0,000191.

I

0,000681. 0,000097.

0,000250. 0,000190.

0,000470. 0,000370.

0,001746. 0,000681.

0,000582. 0,000485.

0,001746.

0,002925.

0,000530.

0,001380. 0,000700.

0,001458. 0,000097.

0,000186.

I

, / . . . . I

I. Die feinsten ßlutgefafse. 279

Ruyschiana. B. (nach Som¬ mer ring’ s Abbild, be¬ rechnet). B .

Dieselbe,

gröfsere Gefäfse. V. . kleinereNetzgefäfse. V. Nervus iscbiadicus eines

Kindes. B .

Nervus medianus eines Neu¬ geborenen. V. ... Augenmuskel eines Kin¬ des. B .

Biceps brachii. V. . . .

Sehne des Flexor digito- rum sublimis. V. . .

Verknöchernde Knieschei¬ be, mit Blut gefüllt. W. Lymphdrüse. M. . . . Dieselbe von dem Halse eines der Reife nahen Schweinefötus. V. . . Lungen :

Tieferes Adernetz. B.

Oberes Adernetz. B.

Leber. V .

Milz eines Kaninchens. V. Milz des Menschen. V. . Nieren :

Netzförmige Blutge- fäfse. M. . . .

t

Dieselben. V. . .

Malpighische Kör¬ perchen. W. . .

Dieselben. M. . .

Dieselben. V. . .

Maximum. Medium. Minimum.

0,000776. 0,000485.

0,005800. 0,004865. 0,002573.

0,000708. 0,000487. 0,000354.

\ ' /

0,000729. 0,000485.

0,000258. 0,000234. 0,000129.

0,000194.

0,000405. 0,000338. 0,000200.

%

0,000355. 0,000270. 0,000151.

*

0,000514.

0,000500. 0,000330.

0,000405. 0,000355. 0,000304.

0,000291.

0,00097.

0,000608. 0,000514. 0,000405. 0,000756. 0,000596. 0,000124. 0,000756. 0,000405. 0,000360.

0,000580. 0,000370.

0,000710. 0,000557. 0,000405.

i .

0,008830. 0,006666.

0,007000.

0,008583. 0,007096. 0,006416.

I

230

I. Die feinsten Blutgefafsc.

Nieren -Blutgcfafse aus ei¬ nem der Reife nahen

Schaaffbtus. V .

Nebenhoden. B .

Derselbe. V .

Ilodc eines Neugeborenen.

w .

Derselbe eines Schweinc-

fötus. V .

Wolffscher Körper eines Schaaffötus. V. . . . Placenta humaua. V. . . Gefäfse an den Zotten des Chorion. W .

Maximian. Medium. Minimum.

0,000507. 0,000396. 0,000258. 0,000388. 0,000291.

0,000462. 0,000330. 0,000253.

0,001126. 0,000750.

0,000355. 0,000303. 0,000253.

0,000607. 0.000441. 0,000253. 0,000891. 0,000665. 0,000405.

0,000750. 0,000250.

Aus dieser nun gegebenen Reihe der bisher bekann¬ ten micrometrischen Messungen der Durchmesser der fein¬ sten Blutgefafsnelze sehen wir, dafs diese zwar oft zwi¬ schen ziemlich bedeutenden Differenzen variiren, im Gan- zen jedoch eine gewisse mittlere Gröfse behaupten, welche festzuhalten und zu wissenschaftlicher Anwendung zu be¬ nutzen ist. Das Gesagte dürfte nicht blofs von diesen, sondern von allen kleinsten Theilen der thierischcn Kör¬ per gelten, welche zwar variiren, ja vcrhältnilsmüfsig noch mehr, als die gröfscren, gewisse Termini aber doch kaum je überschreiten. Anders ist es aber bei den Pflanzen. Hier sind oft dicht nebeneinander liegende und zu einem Systeme gehörende Zellen von so verschiedener Gröfse, dafs eiue micrologische Bestimmung derselben eine blofsc Spielerei, nicht aber eine wissenschaftliche Beschäftigung * zu nennen wäre. Doch haben auch hier manche der klei¬ neren Thcilc eine constante und der Messung wohl werthe Gröfse, wie der Durchmesser der Spiralgefiifse, der von Robert Brown aus vielen Zellen beschriebene Nucleus, die Saftkügelchen (minder die Saflbläscbcn), die von

r

I. Die feinsten Blntgefafse. 281

Meycn in Vallisneria aufgefundene Atmosphäre der Saft¬ bläschen, u. dergl. m.

Von gröfserem Nutzen ist die micrometrische Verglei¬ chung der histologischen Bestandteile des Körpers mit den in ihnen enthaltenen Blutgefäfsen, als untereinander selbst. E. II. Weber, und vorzüglich Job. Müller, haben hier 6chon den Grund zu dieser Art von Erfahrungen gelegt. Die erste Art* der Zusammenstellung ist an einem und demselben Stücke mit eigenen Schwierigkeiten verbunden. Denn an einem gnt injicirlen Präparate wird das Auge eines selbst geübteren Beobachters durch den Reichthum der gefüllten Gefäfse so geblendet, dafs der zwischen die¬ sen liegende histologische Urtheil fast ganz dem Blicke entschwindet. Nicht injicirte Präparate dagegen lassen keine sichere Messung der feinsten Blutgefäfse zu. Am besten eignen sich zu solchen Untersuchungen frische Prä¬ parate von Theilen, welche nicht vollkommen undurch¬ sichtig, und daher auch bei durchfallendem Lichte deut¬ lich erkennbar sind. Wo dieses aber nicht der Fall ist, ja bei frischen Theilen die feinsten Blutgefäfsnetze undeut¬ lich oder gar nicht sichtbar sind, da mufs der histologische Bestandthcil am frischen, das Aestchen des Blutgefäfses dagegen am getrockneten Präparate desselben Stückes ge¬ messen werden.

Ich habe in der Tabelle zwar alle Messungen auf sechs Decimalstellen berechnet, mufs aber selbst bemerken , dafs bei aller Vorsicht micrometrischer Messungen doch nur die ersten vier Zahlen unbedingt als richtig angenommen wer¬ den können, die übrigen dagegen mehr für die vierte Zahl bestimmend, als selbst bindend sind. Vergleichen wir die einzelnen oben angegebenen Gröfsen untereinander, so se¬ hen wir, dafs dem Gehirn, den Lungen und der Aderhaut des Auges die feinsten Gefäfse eigen siud. Setzen wir nun den Durchmesser der feinsten Gefäfse, der Hirngefäfse, auf 0,0001 Pariser Zoll, wie dieses ohne bedeutenden Feh¬ ler geschehen kann, so können wir leicht auf diese als

282

f. Die feinslen ßlutgefafsc.

Einheit zu supponirende GröCsc die den übrigen Organen zukommenden Zahlcnwerthe rcduciren. Wir erhalten dann für die Menschen folgende Tabelle 1 ):

Lungen 0.97.

Aderhaut 1,7.

Netz des Dünndarmes 1,9.

Nervus medianus 2,3.

Schleimhaut des Hachens 2,4.

Sehne des Vorderarmes 2,7.

Muskelhaut des Dünndarmes 2,8.

Strahlenkörper 2,9.

Biceps brach i i 3,3.

Nebenhoden 3,3.

Lederhaut 3,6.

Schleimhaut des Dick darin cs 3,8.

Seröse Haut des Dünndarmes 4,00.

Vagina humeri 4,005.

Milz 4,05. '

Lymphdrüse 4,1.

' Iris 4,2.

Arterien unter dem Nagel 4,3.

Darmzotten aus dem Duodenum 4,4.

Lippe 4,8.

» ltuyscbiana 4,8.

Schleimdrüsen des Mundes 4,85. Dünndarmscbleimhaut 4,9.

Zotten des Chorion 5,00.

Leber 5,1.

Schleimhaut des Magens 6,4.

NicrengeHifse 5,5.

Diiundarmzottcn 5,6.

1) Die Bestimmungen sind gröfstcnthcils durch die von mir gefundenen Medien gemacht. Wo nur ein Maxi¬ mum und Minimum des Wcrthcs bekannt ist, habe ich nach diesen die Mittclzahl bestimmt.

283

II. Congestionen.

Placcnta 6,6.

Malpighische Körperchen 7,09.

Retina 7,7.

Zunge 7,7.

Hoden 9,3.

Künftige Beobachtungen werden wohl noch manche Correctur in dieser tabellarischen Uebersicht nothwendig machen, so wie überhaupt die specicllen Data vervoll¬ ständigen. So müssen wir offen bekennen, dafs wir nur ungern die Zahlenwerthe der Milz aufgenommen haben. Denn wir sind fest überzeugt, dafs bis jetzt eine in jeder Rücksicht wünschenswerte Injection dieses Organes noch nie geglückt ist. Das sogenannte pinselförmige Endigen der Gefäfse können wir keinesweges, aus mehr als aus einem Grunde, für das Capillargelafssystem der Milz hal¬ ten. Es breiten sich vielmehr wahrscheinlich noch netz¬ förmige Blutgefäfschen von grofser Feinheit über die Milz¬ bläschen aus. Doch bleibt die Entscheidung, ob, und die Bestimmung der Art und Weise, auf welche dieses ge¬ schehe, künftigen Forschungen überlassen. Ueberhaupt ge¬ hört die Milz zu denjenigen Organen, für welche noch am wenigsten geschehen, das aber auch am schwierigsten zu erforschen ist.

II.

Was sind active Congestionen, und wie ent¬ stehen sie?

% ' * '

Von

Dr. H. Sqccow, <

Privatdocenten an der Universität Jena.

- I

Bis auf die neuesten Zeiten hat sich eine doppelte Meinung über das Wesen der Congestionen erhallen. Wäh-

284

II. Congestionen.

rcnd nämlich Einige blofs dca Andrang des Hintes nach einem Tlicilc damit bczcichnctcn, wollten Andere eine wirkliche Anhäufung desselben darunter verstanden wis¬ sen. Je nachdem man sicli aber die (Kongestionen durch vermehrte, oder verminderte Eebensthäligkcit entstanden dachte, nanutc man sie activ, oder passiv. Verstand man unter (Kongestionen vermehrten Andrang, so hiefsen sic activ, wenn man sic sich durch vermehrte Tbätigkeit des Herzens und der Arterien; passiv, wenn man sic sich durch verminderten Andrang herbeigeführt daclUe. Nahm man aber das Wort Congestion gleichbedeutend mit An¬ häufung, so nannte man sic activ, wenn sie durch An¬ drang; passiv, wenn sie durch verminderten Ablluls ent¬ standen sein sollte. Aufser dieser activen und passi¬ ven Congestion sprechen jedoch Heil, Hartmann, Neu¬ mann, und früher schon Gaub, vou einer durch örtlichen Heiz erzeugten Congestion, ohne sich jedoch näher über ihre Entstehung9weise auszulassen.

Abstrahiren wir aber von den Begrilfbestiminungen der Congestionen, welche gleichzeitig ihr vermeintliches Wesen bezeichnen sollen, so können wir im Allgemeinen vermehrtes Auftreten des Blutes in einem Theile darunter verstehen. Iu sofern aber die Verhältnisse, welche dieses vermehrte Auftreten erzeugen, auf einer vermehrten Thä- tigkeit eines Organes oder Systemes beruhen, 60 nennen wir die dadurch herbeigeführten Congestionen, den allge¬ meinen BegrilTbcstimmungcn zufolge, activ; und nur von ihnen soll hier gehandelt werden.

Vielfach sind aber die Verhältnisse, vou denen man da9 Entstehen dieser Congestionen hergcleitet hat. Betrach¬ ten wir sie daher näher, um so das inehr oder weniger Wahrscheinliche trennen zu können, da durch die bishe¬ rigen Untersuchungen und bei der Schwierigkeit der un¬ mittelbaren Beobachtung an den fraglichen Organen, von einer Gewifsheit noch nicht die Hede sein kann.

II. Congestionen. 285

Die Hauptquellen, voo denen man die Entstehung acti- ver Congestioneu herleitete, sind aber folgende:

1. Vermehrte Thätigkeit der Arterien. Dafs Ar¬ terien durch vermehrte Thätigkeit (Contraction, Oscilla- tion, Federkraft u. s. w.) das Blut nach einzelnen Theilcn in gröfserer Menge, als gewöhnlich, führen könnten, ist eine der weitverbreitetsten Ansichten. Allein sie ist, von dem jetzigen Standpunkte der Physiologie aus betrachtet falsch. Denn im normalen Leben tragen die Arterien durch abwechselnde Contraction und Expansion, oder andere Be¬ wegungen, zum Kreisläufe des Blutes nichts bei. (Vergl. Oestreichcr vom Kreisläufe des Blutes. 1826. Wc- demeyer Untersuchungen über den Kreislauf des Blutes. 1428., und Burdach’s Physiologie Bd. IV. §. 734 u. f.) Nach Heizungen aber ziehen sich die Arterien zwar zu¬ sammen, allein ungleichmäfsig und anhaltend, so dafs sie dann den Blutandrang nach einem Theile nicht befördern, sondern nur verhindern können, wie dies Verse huyr, Hunter, Parry, Wedemeyer u. a. gesehen haben. (Vergl. Burdach a. a. O.) Andere Thatsachen aber, die beweisen könnten, dafs durch Arterien der Blutandrang auf irgend eine Weise befördert werden könnte, fehlen uns; und selbst wenn sie aufgefuuden würden, so könn¬ ten 6ie keinen Einflufs auf Entstehung der Congestionen haben, wenn nicht gleichzeitig vom Hauptstamme mehr Blut geliefert würde, was Stieglitz (Pathologische Un¬ tersuchungen I. S. 106.) sehr richtig bemerkt.

2. Vermehrte Thätigkeit der Capillargefäfse. Wenn der Andrang nicht durch Arterien, so könnte er vielleicht durch die Capillargefäfse bestimmt werden, meinten einige. Allein auch die Capillargefäfse haben keine Kraft dasjllut fortzutreiben, da ihnen im normalen Zustande Contraction und Expansion mangeln (Vergl. Oestreichcr a. a. O. IL §. 21.), und wenn sic sich im gereizten Zustande zusam¬ menziehen, dadurch nur Hemmung der Strömung herbei-

286

II. Congcstionen.

geführt wird. (Vergl. Burdach a. a. O. §.736.) Auch durch Saugkraft, durch Capillaranziehuug, können sic den Blutandrang nicht befördern, da ihnen diese Kraft völlig mangelt. (Vergl. Oestrcicher a. a. O. II. §. 22.)

3. Eigene, dem Blute inwohnende Bewegungskraft. Das Blut könne freiwillig nach einem Organe hin sich be¬ wegen, ist eine in neuerer Zeit ausgesprochene Meinung, deren Widerlegung sich bei VVedcmcycr (a.a.O. S. 341.) und Burdach (a. a. O. §.739.) findet.

4. Vermehrte Thätigkcit des Herzens. Wiewohl durch die Contractionen des Herzens das Blut mit gleicher Stärke nach allen Thoilcn des Körpers hingeirieben wird, so beobachten wir dennoch, dafs Organe, die viel Anlage zu Congcstionen haben, d. h. die bei einem expansibeln Gewebe mit vielen Gcfäfsen versehen sind, wie Schleim¬ häute, Lungen, Wangen u. s. w., von Blute strotzen, wenn die Thätigkcit des Herzens vermehrt wird. Dann nämlich strömt in diese Organe, so wie in alle übrigen, in einer gegebenen Zeit mehr Blut, als gewöhnlich, aber nur in den gefäfsreicheren treten die Symptome der Congcstionen auf, während in den gefäfsarmen die vermehrte Blutmenge nicht in die Sinne fällt. Gleichzeitig mag denn auch das Weiterströmen des Blutes in diesen schwammigen Orga¬ nen erschwert, und so das Entstehen der Congestionen er¬ leichtert werden. Auf diese Weise entstehen vorzüglich Congestionen bei starken körperlichen Bewegungen, bei aufregenden Leidenschaften u. s. w., überhaupt in allen den Fällen, wo keine ähnlichen Reizungen statt finden, sondern nur die Contractionen des Herzens verstärkt und vermehrt werden. Hierher sind also zum Theil die acti- ven Kongestionen der Autoren zu rechnen, und sie sind nach dein bisher Gesagten die einzig denkbaren, wenn von Andrang des Blutes bei Congestionen die Rede ist.

Abgesehen von derartigen Congestionen, sehen wir jedoch häufig partielle Blutvermehrung nach örtlichen Reizen entstehen, wo vermehrte Herzlhätigkeit nicht mit

287

II. Congestionen.

im Spiele ist. Wenn daher von vermehrtem Andrang nicht die Rede sein kann, so bleiben Festhalten und verhin¬ dertes Ahfliefsen des Blutes als einzig denkbare Ursachen ührig. Aufser den bisherigen, hätten wir daher noch fol¬ gende Zustände zu betrachten, von denen man die Entste¬ hung der Congestionen ableiten kann.

5. Erweiterung der Gefäfse, vorzüglich der Capillar- gefäfse. Dafs Erweiterung der kleinen Gefäfe nach mäfsigen Reizen entstehen könne, darüber ist kein Zwei¬ fel mehr. Gruithuisen sah wie Gefäfse drei bis vier Kügelchen führten, da sie früher nur eins enthielten. (Salz¬ burger Zeitung. 1811. S. 34.) Dasselbe beobachtete Thom¬ son und Oestreicher a. a. O. S. 64 und 129.) Mit die¬ ser Erweiterung ist gleichzeitig Verlangsamung des Blut- laufcs verbunden (Bur dach a. a. O. S. 228. 422. 425.), und so um so leichter das gleichzeitige Auftreten der Con¬ gestionen erklärlich. Allein es fragt sich nur, ob denn diese Erweiterung eine primäre sei, oder ob sie erst durch das Eindringen des Blutes erzeugt werde? Stieglitz (a. a. O. I. S. 176. 177. 187. 195.) erklärt sich für die pri¬ märe Erweiterung, indem er meint, das der Tissus erecti- lis, die Venennetze sich ausdehnen, und das Blut in sie hineinströme. Er beruft sich hierbei vorzüglich auf He* benstreit’s Autorität, und fühlt zur Unterstützung sei¬ ner Meinung Stellen aus Tiedemann’s lind Weber’s Schriften an. Allein schlagende, und auf unmittelbare Beobachtung sich stützende Beweise vermifst man doch. Dazu kommt, dafs die entgegengesetzte Meinung, nach welcher die Erweiterung erst ein secundärer, durch das Einströmen des Blutes bedingter Zustand ist, nicht ohne Autoritäten dasteht. So schien es Oestreicher (a. a. O. I. 2. §. 11.) , dafs die Erweiterung Folgezustand sei; auch Kaltenbrunncr und Müller sprechen sich dahin aus. (Vergl. Burdach a. a. O. §. 425.) Uebcrdem ist ja nir¬ gends ein Turgor ohne gleichzeitig vermehrte Säftemasse bemerkbar, und daher wohl nicht leicht primär; wohl

i

288

%

II. Congestionen.

aber erscheint in einzelnen Fallen der Turgor offenbar als gccundär, als vom Blutandrang bedingt; so schwellen z. E. Telangiectasieen beim Laufen, beim Schreien an. Endlich inufs man bedenken, dafs feste Gewebe durch Heize nie expandirt, sondern contrahirt werden. Stieglitz’s Mei¬ nung würde daher nur dann zulässig sein, wenn man an¬ nähme, dafs die kleinsten Gefäfsc vom Parenchym nicht geschieden wären, sondern ohne eigentliche, ohne eigen¬ tümliche Gefäfswändc existirten; denn dann würde, wenu sich die festen Theilc, wenn sich das Parenchym contra- hirte, das Lumen der Gefäfse notwendig erweitert wer- dcu müssen.

Wie einleuchtend daher beim ersten Anblick auch die Idee, dafs das Blut in das erweiterte Gewebe, wie die Luft in die ausgedehnten Lungen dringe, uns Vorkommen mag, so erscheint bei genauerer Prüfung die Annahme der¬ selben doch nur sehr problematisch. Ueberdem würden dadurch auch wohl nicht alle Erscheinungen bei Congc- stionen, namentlich bei denen mit vermehrtem Wachs¬ tum, mit Entzündung u. s. w. verbundenen, erklärt wer¬ den können. Daher müssen noch andere Entstehungsw'ei- sen der Congestionen aufzufinden sein. Dies scheint auch seihet Sticglitz’s Meinung zu sein, weswegen er bei Entstehung der Congestionen noch eine andere, und zwar folgende Ursache auftreten läfst:

6. Contractionen der Venen. Es hat nämlich Stieglitz (a. a. O. S. 176 und 190) die Meinung aufge¬ stellt, die Congestionen nach dem Penis während der Ere- ction entständen so, dafs die Venen desselben durch be¬ sondere Muskeln contrahirt würden, und so den Hückflufs des Blutes erschwerten, während gleichzeitig das Capillar- netz sich erweitere und das cinströinende Blut in gröfsercr Menge aufnehme. Wenn nuu auch eine ähnliche Meinung, dafs nämlich die Venen durch den Arcus oss. pubis com- primirt würden, schou von früheren Aerztcn ausgesprochen war, so zeichnet sich Stieglitz doch dadurch aus, dafs

er

289

II. Congestionen.

er eine Contraction durch Muskeln, und eine ähnliche auch beim Entstehen anderer Congestionen annimmt (a. a. O. S. 192). Allein wenn auch bei aufserordentlichen Cou- gestionen, wie hei denen während der Erection, ein be¬ sonderer Apparat ( Contractionen der Venen durch Mus¬ keln) vorhanden ist, so geht daraus noch keinesweges her¬ vor, dafs bei gewöhnlichen Congestionen Contraction der Venen, wenn auch nur durch Krampf (wie Stieglitz meint), nicht durch besondere Muskeln, als Ursache auf¬ trete. Bedenken wir nun noch, dafs die Venen überhaupt nur wenig Reizbarkeit und Bewegungskraft zeigen, und sich im gesunden, normalen Zustande nie, nach angewand¬ ten Reizen aber nur selten contrahiren (vergl. Burdach a. a. O. §. 737., Oestreicher a. a. O. I. 4- §. 4.), so möchte die Entstehungsweise der Congestionen durch Con¬ traction der Venen, als eine höchst problematische er¬ scheinen.

7. Vitale Attractionskraft der einzelnen Organe. Das Blut kann vermöge der Beziehung, in der es zu den Organtheilen steht, von diesen angezogen, festgehalten werden, und durch Steigerung dieser Beziehung ist das Auftreten der Congestionen an einem Theile gegeben. f Stieglitz ist durchaus gegen diese Meinung. Be¬ leuchten wir daher zuvörderst seine Gründe, um dann Thatsachen, welche für die Attraction sprechen, anzufüh¬ ren. Stieglitz’s Gründe gegen diese Meinung sind:

a) Kanäle worin Flüssigkeiten geleitet würden, und Attraction, seien nirgends zusammen zu finden (a. a. O. S. 132). Allein das durch Kanäle zu einer Stelle gelei¬ tete Blut kann doch von den festen Organtheilen angezo¬ gen werden. Werden doch zur Ernährung einzelne Theile aus dem Blute angezogen, warum nicht das Blut als solches?

b) Die Bewegung des Blutes gehe vom Herzen aus, und werde durch keine weiteren Veranstaltungen nach einem Theile hin determinirt (a. a. O. S. 261 ). Allein

Band 28. Heft 3. 19

290

II. Congostioncn.

einmal ist dieser Satz durchaus nicht erwiesen, dann aber braucht ja das Blut durch die Attraction nicht nach eiuein I heile hin determinirt zu werden; ist es aber an einen Ort gcstolscn worden, dann kann es daselbst attrahirt, festgchalten werden.

c) Die Atlractioncn im Fötus seien Mysterien. Allein der (»rund der Bewegung, der Grund der Attraction der Flüssigkeiten im Fötus, kann immer tilge 1 sein, die Er- scheinuug aber ist cs nicht; und da das eigentliche Raren chym der Organe fortwährend sich neu bildet, wie die T. heile im bötus, so ist cs wahrscheinlich, dafs hier auch fortwährend ein ähnliches Vcrhältnils statt findet, wie dort.

d) Die Anziehung sei unerweisbar (a. a.O. S.107.2G0). Diesen Grund wollen wir im Folgenden zu entkräften ver¬ suchen. bür das Anziehungsvcrmögcn der festen Theile scheinen nämlich folgende Umstände zu sprechen:

a) Ein Hauptgrund scheint der zu sciu, dafs in ver¬ schiedenen Lebens- und Ent Wickelungsperioden, desglei¬ chen bei gewissen Reizzuständen einzelner Organe, daselbst eine gröfsere Menge Blut sich vorfindet. Es hat daher offenbar der Lebenszustand eines jeden Organes auf die jedesmal in ihm befindliche Menge Blutes einen entschie¬ denen Einflufs. Dies aber ist cs, was wir Attractionskraft nennen. Denn dafs in diesen ballen das Verweilen des Blutes und die gröfsere Menge desselben nicht von mecha¬ nischen Einflüssen abhängen könne, ist ja daraus deutlich zu sehen, dafs der jedesmalige Lebenszustand stets damit gleichen Schrill hält, was nicht der Fall ist, wo offenbar mechanische Bedingungen die Blutanhäufung erzeugten. So sehen 'wir da, wo Druck, wo Krampf Congestionen unter¬ halten, bei \ ariccs o. s. w., keine gleichzeitige Vitalitäts¬ erhöhung, die bei ( ongestionen nach dem Uterus während der Schwangerschaft, nach dem Zahnfleisch während der Dcntilionapcrinde u. s. w. nicht zu verkennen ist. Des¬ wegen schein! auch Stieglitz’« Meinung, nach welcher

291

II. (Kongestionen.

die durch Erweiterung oder Verengerung der Gefafse er¬ zeugte gröfsere Blulmcnge den Vegetationsprozefs, als et¬ was Secundäres, erhöhe (a. a. O. S. 266 und 267), nicht annehmbar.

b) Umgekehrt nehmen Tbeile, deren Lebensthätig- keit sich vermindert, weniger Blut auf; so sehen wir nach gelähmten Tbeilcn, nach den Genitalien, nach den Brü¬ sten, wenn sie ihre Function eingestellt, keine Congestio- nen entstehen, obgleich man meinen könnte, in den ge¬ schwächten Tbeilcn sei der Widerstand gegen den Andrang des Blutes geringer, und die Weiterbeförderung desselben in den Venen werde vermindert, wäre anders die gang¬ bare Meinung von den sogenannten passiven (Kongestionen richtig.

c) Das Blut bewegt sich auch ohne Herz und ohne Cefäfse im Fötus, daher denn offenbar der allgemeine Grund des Blutlaufes, der im Verhältnifs des Organischen zum Blute liegt. (Vergl. Burdach a. a. O. §. 759. 708.)

d) Das Blut fliefst an den Wanden der Gefäfse lang¬ samer, als in der Mitte, was vorzüglich in deu kleinsten Arterien bemerkbar ist; da nämlich wird der Einflus des Herzens schwächer, und eine andere Kraft beginnt zu wir¬ ken. (Vergl. Burdach a. a. O. §. 724.)

e) Das Blut fliefst in den kleinsten Gefäfsen conti- nuirend, und nicht mehr remittirend, woraus ebenfalls er¬ sichtlich, dafs es sich hier mehr und mehr der Kraft des Herzens entzogen hat, und von einer anderen abhäugt. (Vergl. Bur da ch a. a. O. §. 721.)

f) Auch das Schwanken , das Balanciren der Blut¬ körner bei gehemmtem freien Laufe, scheint auf Anziehung hinzudeuten. (Vergl. Bur dach a. a. O. §. 758.)

g) Endlich spricht auch die Analogie dafür: Denn es werden ja einzelne Theile aus dem Blute angezogen, indem das arterielle Blut in venöses verwandelt wird; dui’ch poröse unorganische Substanzen bewegen sich Flüs¬ sigkeiten von einem Fol zum andern, wenn sie dem Ein-

19 *

292

II. Congcstioncn.

flusse der Elcktricitüt ausgcsetzt werden; ähnliche Bc- wegungen der Flüssigkeit bewirkt die orgauischc Substanz in den Pflanzen.

Wenn nun durch diese Betrachtungen das Attractions- vermögen der organischen Substanz in Beziehung auf das Blut büchst wahrscheinlich, wo nicht ewiesen erscheinen möchte, so läfst es sich wohl behaupten, dafs die Entste¬ hung der Congcstioncn durch Altraciion des Blutes mehr, als eine blofsc Hypothese ist. Ob nun dieses Attractions- vermögen überhaupt nur vom Verhältnis der Organthcilc zum Blute abhänge, oder vielleicht vom Nervencinflusse, welche Meinung ich in einer früheren Abhandlung (de ( ongestionibus, Jenac 1820) zu verheidigen suchte, mufs bei der Schwierigkeit der Untersuchung und unmittelbaren Beobachtung für jetzt wohl noch unentschieden bleiben.

Sonach wären denn zwei Arten von activen Conge- stionen anzunehmen, die eine, welche als Symptom ver¬ mehrter Jlerzlhätigkeit erscheint, die andere, welche durch vermehrte Attraction, die von den einzelnen Organen auf das Blut ausgeübt wird, entsteht. Eine dritte Art der Congestionen von primärer Erweiterung der Capillargcfafse, ist nach den bisherigen Untersuchungen wohl noch nicht zulässig ( vergl. 5.), würde aber, wenn eine solche Erwei¬ terung wirklich als primär sich auswiese, als ciu mit der Attraction coincidirendcr Zustand gedacht werden müssen, indem derselbe Reiz, welcher Cootraction des Gewebes erzeugte (denn nur auf diese Weise wäre hierbei Erweite¬ rung der Gelafsräume denkbar), auch gleichzeitig die At- tractionskraft erhöhen würde.

(

.111. Haschischa. 2y3

iii.

Ueber die Haschischa * 1 2) oder das Kraut der

Fakire.

Nach dem Arabischen des Tokyy Eddin Makrizi 2)

von

Dr. v. Sontheimer,

Königl. Württemberg. General - Stabsarzt.

Hasan, Sohn Mohammed’s, sprieht sich in dem Buche, betitelt: die guten wissenschaftlichen Vor- bedeutungen, über das Lob der Haschischa (Cannabis sativa) folgendermaafsen aus: Im Jahre der Hedschira 658 fragte ich den Scheik Djafar Schirazi, Sohn Moiiam-

%

1) Diese Arzneipflanze, welche ihren Ruf in der An¬ wendung auf den menschlichen Körper vorzüglich aus den früheren Zeiten des Orients herleitet, ist in den Arznei¬ mittellehren entweder gar nicht aufgeführt, oder nur gauz kurz abgefertigt, so dafs man nur ihre betäubende oder narcoiische Wirkung kennt. (S. Dictionaire des Sciences medicales, Tome IV. p. 532, und Schwartze’s pharma- cologische Tabellen Band II. AbtheiL 3. S. 158.) Ich hielt es daher für kein ganz unnützes Unternehmen, wenigstens in historischer Hinsicht, wenn ich das Geschichtliche die¬ ser Pflanze, so wie ihre Wirkungen auf den menschlichen Körper in Verbindung mit ihrer damals ziemlich allgemein verbreiteten Anwendungsart nach den Nachrichten eines der ausgezeichnetsten Geschichtsforscher der damaligen Zeit, dem ärztlichen deutschen Publikum vorlegte.

2) Dieser Aufsatz des Tokyy Eddin Makrizi ist aus einem Manuscript, welches sich in der Königl. Biblio¬ thek zu Paris vorfindet und betitelt ist: Historische und topographische Beschreibung Aegyptens und Cairo’s, entnommen, und in der Chrestomathie Arabc des Baron Sylvestre de Sacy im ersten Bande S. 74 abgedruckt. Makrizi wurde zu Cairo im Jahre der Hed¬ schira 760 geboren, und starb daselbst als ausgezeichneter Gelehrter im Jahre 845.

294

III. Haschischa.

mcd’fl und Mönchen des Ordens von Ilaidcr im Lande Tusser, nach der Gelegenheit der Entdeckung dieses Arz¬ neikörpers, seines ausschließlichen Besitzes der Fackirc, und seiner nacldierigcn allgemeinen Verbreitung. Er cr- theilte mir darüber folgende Auskunft: Ilaidcr, der Vor¬ steher derScheicke, unterzog sich sehr den Uebungcn und dem Eifer der Frömmigkeit, nahm wenig Nahrung zu sich, und brachte es auf einen hohen Grad der Enthaltsamkeit von irdischen Dingen und zu der öffentlichen Anerkennung seiner Frömmigkeit. Zu Nisabur, einer Stadt in Chorasan, war er geboren. Seine Wohnung lag auf einem Berge zwischen Nisabur und Rama. Auf diesem Berge hatte er ein Kloster erbaut, und eine Menge Fackire hatte sich um ihn versammelt. Ilaider war in diesem Kloster in einem Winkel abgesondert, und verweilte daselbst über zehn Jahre, ohne dafs er je aus diesem Orte hervorging, oder jemand anderem aufser mir, der ich zu seiner Bedienung aufgestellt war, den Zutritt zu ihm gestattete. Eines Ta¬ ges als cs sehr heifs war, und zur Zeit der gröfsteu Ilitze, ging der Scbeik ganz allein auf das Feld. Als er vom Lande in sein Kloster zurückgekehrt war, war über sei¬ nem Antlitz Freude und Heiterkeit verbreitet, gauz im Gegeusatze von dem, was wir vorher an ihm zu sehen

gewohnt waren. Er gestattete seinen Mönchen den Zutritt

zu sich, und fing an, 6ich mit ihnen gesellschaftlich zu unterhalten. Als vrir deu Scbeik in diesem Zustande von Leutseligkeit sahen, indem er vorher eine so geraume Zeit in Einsamkeit und Abgeschiedenheit gelebt hatte, fragten wir ihn um die Ursache dieser Veränderung. Haider entsprach unserem Wunsche, und sagte: als ich so in mei¬ ner Abgeschiedenheit lebte, kam cs mir auf ciunial in den Sinn, ganz allein auf das Land zu gehen. Ich ging hin, und fand alle Thcile der Pflanzen in vollkommener Ruhe. Wegen Mangel an Luftbewegung und Heftigkeit der Hitze bewegte sich nichts an ihnen. Ich stieß auf eine mit Blat¬ tern versehene Pflanze; ich bemerkte, wie ßic sich in die-

111. llaschischa.

295

sem Zustande leicht und sanft hin und her bewegte, gleich dem Taumeln eines Betrunkenen. Ich entschlofs mich, von dieser Pflanze Blätter abzupflücken, uud sie zu essen. Darauf erzeugte sich die Heiterkeit, von der ihr nun Au¬ genzeugen seid. Kommt mit mir, damit ich eure Aufmerk- samkeil auf diese Pflanze leite, und ihr sie erkennen lernt. Nachdem er ausgeredet hatte, gingen wir auf das Feld, wo er uns die Pflanze vorzeigte. Als wir dieselbe be¬ trachtet hatten, erwiederten wir ihm, dafs man diese Pflanze Hanf (Konuah) nenne. Er trug uns auf, vou ihren Blättern abzupflücken, und zu essen, was wir Hin¬ ten. Darauf kehrten wir in das Kloster zurück, und fan¬ den unsere Herzen mit Heiterkeit und Freude erfüllt, welche wir unmöglich verbergen konnten. Als der Scheik uns in diesem Zustande sah, den wdr beschrieben haben, empfahl er uns, die Eigenschaften dieser Pflanze geheim zu halten. Er nahm uns den Eid ab, dafs wir den ge¬ meinen Haufen von Menschen nicht davon unterrichten, dagegeu den Fackiren diese Eigenschaften nicht verhehlen sollten. Er setzte hinzu: der höchste Gott hat euch durch eine besondere Gnade in die Mysterien der Blätter dieser

Pflanze eingeweiht, um durch ihren Genufs die eure Herzen

* 1

umstrickenden Sorgen zu verscheuchen. Durch ihre Wir¬ kung werden eure Gedanken sich lichtvoll entfalten. Be¬ wahret das euch Anvertraute mit Sorgfalt, und haltet das, was man euch zu verwahren aufgetragen hat, tief in euren Herzen verborgen. Der Scheik Djafar fährt ferner fort: Ich pflanzte dieses Kraut, als der Scheik Haider uns damit bekannt gemacht hatte, während seines Lebens im Kloster, und er trug mir auf, nach seinem Tode das¬ selbe um sein Grab zu pflanzen. Der Scheik Haider lebte nach dieser Begebenheit noch zehn Jahre. So lauge ich in seinen Diensten war, sah ich nicht einen Tag vor¬ übergehen, ohne dafs er von dieser Pflanze als. Er trug uns auf, von der llaschischa zu essen, und wenig Nah¬ rungsmittel zu uns zu nehmen. Der Scheik Haider

‘296

HF. Haschischa.

starb auf dem Berge in seinem Kloster im Jahre 618. Ueber sein Grab wurde eine grofsc Kapelle erbaut. Zahl* reiche Wallfahrer von dem Volke von Chorasan gingen dahin, verehrten sein Andenken, besuchten sein Grab, und hatten hohe Achtung vor seinen Schülern. Vor seinem Tode empfahl er seinen Schülern, dafs sie die Vornehme¬ ren, und ausgezeichnete Männer des Volkes von Chorasan, mit dieser Pflanze und deren Wirkungen bekannt machen sollten, welche sie auch nachher in Anwendung brach¬ ten. Die Anwendung der llaschischa hörte nicht auf sich auszudehnen, und erstreckte sich in die Provinzen von Chorasan und Persien. Die Völker von Irak (Chaldaca) wufsten nichts von ihrem Genufs, bis unter der Regie¬ rung von Mostanscr Billah im Jahre 628 der Herrscher von Ormus, und Mohammed, Sohn Mohammed’s, Herrscher von Bahrein, welche beide ihre Staaten an den den Ländern Persiens nahe gelegenen Ufern des Meeres hatten, dahin kamen, die Leute ihres Gefolges diese Pflanze dahin brachten, und diese Völker mit ihrem Genufs be¬ kannt machten. Die Haschischa verbreitete sich in Irak, und ihre Kunde gelangte bis zu den Völkern von Syrien, Aegypten und Rum (Graecia), welche diese Pflanze alle in Anwendung brachten. In diesem Jahre erschienen zu Bagdad die Silbermünzen, statt deren sich die Menschen früher bei ihren Käufen roher Gold- oder Silbcrstiicke be¬ dienten. Der weise Mohammed Jimaschki, Sohn Alis, Sohn Aamos, schreibt ebenfalls die Bekanntmachung der Haschischa in seinem Gedicht dem Scheik Haider zu:

«Lasse den WTcin, und trinke aus der Schale von Haider, welche nach Ambra riecht, und den grünen Schimmer des Schmaragds an sich tragt. Der Mundschenk, welcher dir sie reicht, ist zarter, aU der Türke. Er schau¬ kelt sich sanft auf einem Ast, der biegsamer ist, als der der Weide. Wenn diese Schale in seiner Hand in der Runde hcruingeht, so gleicht sic einem zarten Flaum auf einer Wange, deren Farbe mit der der Rose streitet. \ on

III. Ilaschischa.

297

dem leisesten Zephir hin und her getrieben, schaukelt die Ilaschischa sich auf ihrem Stengel, wie ein von Wein Berauschter. An ihren Aesten treibt sich nach Sonnen- aulgang das Blatt hervor, und das Girren der seufzenden Tauben besingt sie. In ihr ist Frohsinn, nichts Aehnliches ist im Wein. Horche nicht auf die Rede der Thoren, die ihren Gebrauch verbieten. Sie ist eine keusche Jungfrau. Das Wasser, welches aus den Wolken kommt, hat ihre keuschen Züge nicht verdorben. Weder Füfse noch Hände haben sie zerquetscht, um ihren Saft auszuzieben. Nie hat sie ein christlicher Priester in seinen Becher gemischt, und die Gottlosen nähern sich nicht diesem ihrem Gefäfs. Es ist kein Gebot bekannt , welches sie nach Malek ver¬ bietet, keine Beschränkung nach Schafei und Ahmed, und No man hat keine Befleckung ihrer Blätter aufgestellt. Nimm sie daher mit einem glänzenden indischen Messer hinweg. Durch die Hascbischa halte die Hand des Kum¬ mers und der Sorgen von dir ab. Freue dich, und ver¬ schiebe den Tag der Freude nicht auf morgen. »

Der weise Ahmed II a 1 e b i, Sohn Mohammeds, Solim Zammans, schreibt in seinem Gedicht die Entdeckung der Ilaschischa ebenfalls dem Scheik Haider zu:

« Eine schlanke Schönheit sah ich immer die Flucht ergreifen. Ein Zusammentreffen ohne wilde Blicke von ihr fand nie statt. Eines Tages traf ich sie lächelnd in heiterer Gemüthsstimmung, und leutselig im Umgänge. Als ich alles, was ich wünschte, erfüllt sah, bezeugte ich ihr meinen Dank für die nach so langem Widerstreben günstige Aufnahme. Sie erwiederte mir: Danke es nicht meiner angeborenen Zuneigung zu dir, sondern danke es deinem Vermittler, dem Wein der Armen, dem Kraut der Bräute, der Ilaschischa. welche sich zwischen uns zum Vermittler aufgestellt hat, so wie zwischen allen Lieben¬ den, deren Herz sie erweitert. Wenn dir am Herzen liegt, eine flüchtige Gazelle zu erjagen, so beeifere dich, dafs sie das Kraut der Hascbischa weide. Dank’ es der Gesell-

298

111. Hascluscha.

scliaft der Schüler von Haider, welche zu Gunsten der Freunde des Vergnügens diese heilige Institution cingeführt haben. Lasse die Feinde der Freude, und gestatte mir die hohe Achtung vor den Menschen, welche den Ge¬ brauch dieser Pflanze bekannt gemacht haben. u

Der Scheik Mohammed Schirezi Kalen de ri er¬ zählte mir, dafs der Scheik Haider während seines Le¬ bens nie die llaschischa genossen habe, und dafs das ge¬ meine Volk von Chorasan die Entdeckung derselben des¬ wegen ihm zuschreibt, weil seine Schüler in der Anwen¬ dung derselben bekannt waren. Die Bekanntmachung der llaschischa, wie er mir sagte, fand, vor der Entdeckung derselben von Haider, zu einer weit früheren Zeit statt. Dieses geshah in Indien durch einen Scheik Namens Bir- aztan, welcher der erste war, der die Völker Indiens mit dem Genüsse dieser Pflanze bekannt machte, welche früher von derselben keine Kenutnifs hatten. Sie wurde in den Ländern Indiens so bekannt, dafs ihre Kunde nach den Provinzen von Jemen (Arabia felix) gelangte. Von da aus verbreitete sie sich zu den Völkern Persiens, dann wurde sic uuter den Völkern von Irak, Kuin, Syrien und Aegypten bekannt in dem Jahre, welches ich oben ange¬ führt habe. Birazian lebte zur Zeit Chossrocs, bis zur Zeit des Ifslamismus, zu welchem er sich selbst be¬ kannte. Die Menschen dieser Zeit brachten diese PJlanze in Anwendung. Ali, Sohn Mekkis, schreibt ebenfalls die Bekanntmachung der llaschischa den indischen Völkern in seinem Gedicht zu, welches er mir mit lauter Stimme hersagte:

« Eutfernc von mir die Trauer uiit ihren Stacheln, welche eine unschuldige Jungfrau, die iu ihrem grünen Kleide nach Hause geführt wird, zerstreut. Geziert mit ihrem ganzen Putz wird sie sich uus zeigen, wie die Braut sich unverschlcicrt ihrem Gemahl zeigt in einem Kleide von reichem Seidenstoff, über jede Vergleichung der Bercdtsamkeit und Dicbtkuust erhaben. Ihre Schönheit

III. Ilaschischa.

299

hat mit ihrem Feuer im Augenblicke des Erscheinens die Blicke überrascht. Sie beschämte die Pracht der Gärten und der Blumen. Der verborgene Schatz der Reize die¬ ser Braut erfüllt die Seele mit süfsem Entzücken, und wenn sie sich des Nachts nähert, so entzückt sie des Mor¬ gens alle Sinne. Den Geschmack hat sie vom strahlenden Honig, und den Geruch vom durchdringenden Moschus. Ihre ausgezeichnete Farbe hat eine außerordentliche Lieb¬ lichkeit, und man wendet sich bei ihrem Anblick von al¬ len übrigen Blumen hinweg. Ihre Farbe ist zusammenge¬ setzt aus Dunkelroth und VVeifs, und sie wendet sich mit Stolz von den kostbarsten Blumen hinweg. Die Röthe ihrer Farbe verdunkelt das Licht der Sonne, und der Voll¬ mond wird durch ihre Weifse beschämt. Durch ihre Schön¬ heit zum ersten Rang erhoben, ist sie der Schmaragd der Garten, den die Wolken mit ihrem reichlichen Gewässer bewässert haben. Von dem Augenblicke ihres Erschei¬ nens hat sie die Leidenschaft heftiger Liehe eingeflölst. Bei ihrer Annäherung sind die Schaaren von Sorgen, die meinen Geist fesselten, eilig verschwunden. Schön an Ei¬ genschaften, ausgezeichnet an Rang, übertrifft sie all mein Bemühen zu ihrem Lohe. Komm denn, und eile, die Schaar der Sorgen zu verscheuchen. Halte die Hand der Sorgen durch diese indische Pflanze ab, die schärfer ist, als Schwert und Lanze. Nach dem Ursprünge ihrer Er¬ scheinung und ihres Genusses von den Menschen, gehört sie Indien an. Nicht indischen Ursprungs ist die Farbe, wie Indiens schwarze Lanzen. Durch ihren Genufs wei¬ chen die brennenden Sorgen von uns. Sie verbreitet in unseren Seelen Freuden, die sich auf unserem Antlitz ver¬ künden. »

Was mich betrifft, sagte der nämliche Gelehrte, so behaupte ich, dafs die Ilaschischa, welche ins hohe Alter- thurn hinaufreicht, schon seit der Erschaffung der Welt bekannt war. Den Beweis dazu liefern die Aerzte, wie Ilippoc rates und Galen us, welche diese Pflanze in

300

1(1. Haschischa.

ihren Werken überliefert haben, in welchen von der Natur derselben, von den Eigenschaften, dem Nutzen und Nach¬ theil die Rede ist 1 ). Ihn Djezla sagt in dein Werk, betitelt « Monhadji albcyan”: Die Konnab ist das Blatt des Hanfs. Es giebt einen in Gärten gebauten, und einen wilden. Der in Gärten gebaute ist besser, welcher hitzig¬ trocken im dritten Grade ist. Einige nennen ihn im er¬ sten Grade hitzig, andere kalt- trocken im ersten Grade. Der wilde aber ist hitzig -trocken im vierten Grade. Man nennt diese Pflanze auch Reff, wie man aus dem Gedicht des Tokyy Eddin Mausili ersehen kann: «Halte ab die Hand der Sorgen durch die KcfT, denn die KeiT ist das Heilmittel der von grausamen Sorgen geplagten Liebenden. Halte sie ab durch die Tochter der Kon na bis, nicht durch die Tochter des Weinstocks, sondern fliehe vor der Toch¬ ter des Weinstocks. »

Er bat mir ferner gesagt, dafs die Fakire bei der An¬ wendung der Haschischa die Absicht zu erreichen glauben, aufserdem dafs sie an ihr Vergnügen finden, die Saamen- feuchtigkcit zu verlrockncn, und durch die Verminderung derselben den Reiz zum Beischlaf abzuschnciden, damit ihre Neigungen nicht zu dem sollicitirt werden, was sie zu fleischlichen Vergeben anreizt. Nach den Behauptun¬ gen einiger Acrzte mufs derjenige, welcher die Saamen oder das Blatt dieser Pflanze geniefst, sie mit Mandeln, Pistazien, Zucker, Honig oder Mohn geniefsen, und dar¬ auf Sauerhonig triuken, um ihre nachtheiligen Wirkungen abzuwenden. Wenn die Pflanze geröstet wird, ist sic we¬ niger nachtheilig; daher ist es allgemeine Sitte, dafs man

1) Ibn Djezla Ali ta teb, Sohn Isa’s, starb zu Bagdad im Jahre 493. Er schrieb dieses Werk, welches in der Kö- nigl. Bibliothek zu Paris sich als Manuscript vorfindet und betitelt ist: « deutliche Anweisung zur Anwendung der einfachen und zusammengesetzten Arzneimittel, » nach al¬ phabetischer Ordnung.

III. Haschischa.

301

sic vor dem Genüsse röstet. Wenn sie, ohne vorher ge¬ röstet worden zu sein, genossen wird, bringt sie grofse Nachtheile hervor. Die Constitutionen der Menschen äufsern sich auf ihren Genufs sehr verschieden. Es giebt Leute, die sie mit anderen Dingen vermischt nicht geniefsen kön¬ nen, und wieder andere, die sie rnit Zucker, Honig oder anderen Süfsigkeiten vermischen. Ich las in einem Werke von Galen, worin er sagt, dafs sie die Unverdaulichkeit heile, und der Verdauung sehr dienlich sei. Ihn Djezla erwähnt in seinem Werke « Monhadzi etc.», dafs die Saa- men der Gartenkouuab die wirklichen Haufsaamen seien, und dafs ihre Fructification der der Somna gleiche, aus deren Saamen man Oei prefst. Honain ßen Isak fuhrt an, dafs die wilde Konnab an einsamen und verödeten Oertern die Höhe einer Elle erreiche, und dafs ihr Blatt sehr ins Weifse schlage. Jahya, Sohn Masawaih’s, sagt in seiner Abhandlung über das Regim der Körper im gesunden Zustande, dafs derjenige, in dessen Körper das Phlegma vorherrscht, erhitzende und trocknende Nahrungs¬ mittel wählen soll, wie getrocknete Trauben und Hanf- saamen. Der Verfasser des Werkes von der Anwendung der Arzneimittel sagt, dafs die Hanfsaamen eine diureti- sche Wirkung besitzen, sehwer verdaulich, von böser Na¬ tur, und dem Magen schädlich seien. Ferner sagt er: Ich habe rie zur Reinigung des Schmutzes der Hände ein bes¬ seres Mittel gefunden, als die Haschischa, wenn sie mit derselben abgewaschen werden. Unter den Eigenschaften dieser Pflanze nahm ich auch diese wahr, dafs sehr viele der giftigen Thiere, wie Schlangen und ähnliche, wenn sie die Ausdünstung der Haschischa riechen, fliehen. Auch habe ich Menschen gesehen, welche, wenn sie nach ihrem Genüsse die Wirkungen derselben empfinden und sich von denselben befreien wollen, etwas Olivenöl in ihre Nasenöffnungen träufeln, oder geronnene Milch zu sich neh¬ men, wodurch die Kraft der Wirkung dieser Pflanze ge-

302

III. Ilaschischa.

schwächt wird. Das Schwimmen in einem fliclsendcn Wasser schwächt ebenfalls ihre Wirkung, so wie auch der Schlaf dieselbe hemmt.

Der Verfasser dieses Werkes sagt aber selbst: Ver¬ lasse die Pfade der Masse der Menschen, auf welchen 6ic sich verirren; da sie ihre Naturen durch diese Pflanze zer¬ stören. Der Cbadi und Reis Tadji-eddin Ismail Mah- zumi, Sohn von Abdalwahkal, Sohn von Chat ha, hat mir erzählt von seiner Geisteskrankheit, von Reis Ala-eddin, Sohn desNefis, gehört zu haben, dafs man ihn über die Ilaschischa um Rath gefragt habe, und dafs er folgende Auskunft ertheilt habe: Ich habe mit der Ila¬ schischa Versuche augestellt, nnd gefunden, dafs sich auf ihren Genufs schlechte und niedrige Neigungen ererben. Wir haben unsere ganze Lebensdauer hindurch die Men¬ schen beobachtet, welche sich den Genufs der Ilaschischa angeeignet haben, und die Erfahrung gemacht, dafs sie in ihren geistigen Anlagen so tief herabsanken, dafs fast gar nichts inehr von Menschlichkeit an ihnen übrig blieb *). Ihn Reitar in seinem Werke über die einfachen Arznei¬ mittel sagt: Von der Ilaschischa giebt cs noch eine dritte Art, welche uutcr dem Namen indischer Konnab bekannt ist. Ich habe sie nirgends, aufscr in Aegypten, getroffen. Sic wird in den Gärten gebaut, und heilst ebenfalls Ila¬ schischa. Sie wirkt sehr berauschend. Die Dosis, in wel¬ cher die Menschen sie zu sich nehmen, ist I bis 2 Drach¬ men. Wenn aber jemand eine stärkere Dosis zu sich nimmt, so verfällt er in heftige Ermattung mit Delirien. Personen, welche dieselbe beständig zu sich nahmen, ha¬ ben an ihren geistigen Fähigkeiten bedeutende Nachtheile erlitten; indem sie iu einen Zustand vvn Manie verfielen,

1) Dieses "V ferk von Ihn Boitar, welcher im 12tcn bis 13tcn Jahrhundert lebte, befindet sich in der Biblio¬ thek de rEscurial, aus welcher nur wenig bekannt ist. (S. Biographie medieale Tom. I. p. 89.)

III. Haschischa.

303

der hier und da mit dem Tode endigte. Ich sah die Fa¬ kire sie auf verschiedene Art anweuden. Einige davon lassen die Blätter der Haschischa stark einsieden, und kne¬ ten mit der Hand die Masse so lange, bis ein Teig daraus entsteht, aus welchem sie nachher Kügelchen machen. An¬ dere lassen die Blätter ein wenig trocknen. Nach dem Trocknen dörren sie dieselben, zerreiben sie mit der Hand, und vermischen sie mit Scsamkörnern (Sesamuni indicum, Forsk. ), deren Schaale weggenommen wird, und mit Zucker. Darauf essen sie dieselbe trocken, und kauen sie lange im Munde. Bald nach diesem Genüsse hüpfen sie mit Leichtigkeit umher, und äufsern grolses Vergnügen. Wenn die Haschischa die Fakire berauscht, so verfallen sie in einen Zustand von Manie, oder in einen der Manie nahen Zustand. Diese Wirkung der Haschischa habe ich selbst mit angesehen. Wenn man wegen der Wirkung ihres übermäfsigen Genusses in Sorgen ist, so schreite man schnell zu einem Brechmittel aus Fett und lauem Wasser bestehend, so dafs der Magen sie entleert und gereinigt wird, hernach zu säuerlichen Getränken, welche in diesem Falle äufserst nützlich sind. Fasse das Wort eines Weisen über diese Pflanze ins Auge, und hüte dich durch den Gebrauch derselben vor Verderbnifs deines Körpers und vor der Zerstörung deiner geistigen Anlagen. Ich habe auch die Zeit gesehen , in welcher nur Leute von der niedrigsten Volksklasse dieselbe zu sich nahmen, und aufserdem es übel deuteten, wenn man sie Ilaschischa- esser nannte. So sehr war der Genufs der Haschischa eine Schande. Der Emir Sudun Scheikuni verwüstete den Ort, wo diese Pflanze wuchs, welcher unter dem Na- meu Djoneina in dem Landstriche Thibbalc und Baballuk und in dem Bezirk Masil bei Bulak bekannt war. Er zer¬ störte alles, was sich vou dieser verwünschten Pflanze an diesem Orte vorfand. Er liefs alle Leute von der niedrig¬ sten und verworfensten Volksklassc, welche diese Pflanze zu sich nahmen, gefänglich einsetzen, und strafte sie, wenn

304

III. Haschischa.

sic solche wirklich genossen hatten, dadurch, dafs er ihneu die Zähne nusreiCscn liefs. Viele Menschen vom gemeinen Volke erstanden wirklich diese Strafe. Ungefähr im Jahre 7S0 und darüber, wurde diese böse Pflanze unter den Ab¬ fall gezählt, bis der Sultan von Bagdad, Ahmed, Sohu Oweis, vor Tammcrlan’s Waffen nach Cairo floh. Im Jahre 795 sah man diejenigen, welche den Sultan beglei¬ tet hatten, öffentlichen Gebrauch von der Ilaschischa ma¬ chen. Die Leute von Cairo verabscheuten die Leute des Gefolges des Sultans, erkannten den Genuis der Ilaschischa als einen schimpflichen, und machten denselben die gröfs- ten Vorwürfe. Als der Sultan von Cairo wieder nach Bagdad zog, verlicfs er zum zweiteumale diese Stadt, und verweilte geraume Zeit in Damask. Die Leute seines Ge¬ folges machten das Volk von Damask mit der Ilaschischa bekannt. Um diese Zeit kam ein Mann von der Sekte Mohaled’s in Persien nach Cairo, welcher die Haschischa mit Honig zubereitete, und ihr eine Menge trockener Sub- stanzen, wie die Wurzel der Mandragora und ähnliche Körper beifügte, welche Zusammensetzung er Okdas (Bo¬ lus) nannte, und sie heimlich verkaufte. Durch ciue Reihe von Jahren verbreitete sich der Gcnufs dieser Pflanze unter einer Menge von Menschen. Im Jahre 815 aber wurde diese verwünschte Pflanze öffentlich verbreitet, ihr Genufs bekannt, ihr Wesen offenkundig, uud die Schande, von ihr zu sprechen, aufgehoben, so dafs wenig fehlte, dafs sich die gebildeteren Leute damit Geschenke mach¬ ten. AuS diesem Grunde siegte die Niedrigkeit der Em¬ pfindungen über die geistigen Anlagen, und der Schleier der Schamhaftigkeit und der Sittlichkeit wurde unter den Menschen gelüftet. Sic führten die schamlosesten Rcdeu hei ihren Gesprächen, und rühmten sich sogar ihrer La¬ ster. Sic wichen vor allen Tugendhaften und Edeln zu¬ rück, und alles Lasterhafte und Niedrige iu ihrer Natur trat offen hervor. Aufscr der Gestalt, blieb ihnen nichts Menschliches mehr übrig, uud wäre ihnen nicht noch die

Schön-

/

IV. St. Ludwigs- Hospital. 305

Schönheit der menschlichen Figur gehliehen, so würde man sie für Thiere gehalten haben.

LV.

Kurze Notiz

über das St. Ludwigs -Hospital zu Paris.

» . **

Von

Karl Martins,

Interne daselbst.

Die Hospitäler, welche Für specielle Krankheiten be¬ stimmt sind, haben von jeher die besondere Aufmerksam¬ keit des reisenden Arztes auf sich gezogen; in dieser Hin¬ sicht ist das Ludwig’s- Hospital dem Fremden eines der wichtigsten in Paris, von deutschen Aerzten wird es be¬ sonders fleifsig besucht. Eine kurze Notiz über das Ge¬ bäude selbst, das Personal der Aerzte, und einige statisti¬ sche Resultate, für deren Genauigkeit ich bürgen kann, werden vielleicht den Lesern dieser Annalen nicht unwill¬ kommen sein.

Das Ludwig’s -Hospital liegt am nördlichen Ende der Stadt, von der es durch den Canal St. Martin getrennt ist. Es wurde auf Befehl Heinrich’ s des Vierten, und nach den Entwürfen von Claude Chastillon erbaut. Im Juli 1607 wurde der Grundstein gelegt. Das Central -Ge¬ bäude bildet ein grofses Viereck, welches einen Garten für die Kranken umschliefst. Dieses Gebäude hat nur ein Stock, und bildet eigentlich einen einzigen grofsen Saal, der ringsherum geht, aber doch verschiedene geschlossene Abtheilungeu bildet. Die erste ist die chirurgische; sie

Band 28. Heft 3. 20

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IV. St. Ludwigs- Hospital«

besteht in allem aus 186 Betten, davon 141 für Männer, und 45 für Weiber bestimmt sind. Die Herren Kicbc- rand und Jobert haben gemeinschaftlich 112 Kranke zu besorgen; Herr Gerdy 74. Alle möglichen chirurgischen Fälle linden sieb hier zusammen, und man siebt besonders sehr viele Fracturcu, Luxationen u. s. w.. weil das Spital in einer volkreichen Vorstadt, weit entfernt von allen an¬ deren liegt. Zwei Weibersäle sind Herrn Manry unter¬ geordnet; sie enthalten 76 Betten, und sind aasschliei'slich für Weiber bestimmt, welche an chronischen liebeln, Scro- pbclu, Hautkrankheiten, Syphilis u. s. w. leiden. Herr Lugol bat zwei Säle, in denen 82 Betten stehen, die für Scrophulüsc männlichen Geschlechts eingerichtet sind. Diese Säle nehmen das erste Stock des Gebäudes ein; sie sind alle sehr hoch, sehr luftig, und hell. Unter ihnen, au rez de chausscc, sind theils die Bade- uud Dampfan¬ stalten, thcils die Säle von Herrn Erucry, welche gröfs- tentheils von Krätzigen besetzt sind. 104 Betten sind den Männern, 81 den Weihern bestimmt. Alle diese Abthei¬ lungen befinden sich in dem viereckigen Centralgebäude, das wir beschrieben haben, einbegriffen. Am nordöstlichen Winkel des Hospitals liegt der Pavillon St. Matlhicu, wel¬ cher 112 Betten enthält, die nur Für chronische Haut¬ krankheiten, und zwar nur für Männer bestimmt sind; Dr. Biett ist hier Arzt. In dem kleinen Gebäude sind vier Badewannen mit einem eigenen Wasserbehälter, und eine Küche. Die Kranken haben einen eigcucn Garten. Am entgegengesetzten Winkel liegt der Pavillon de la Lin¬ gerie, woriu 24 Betten sind, welche zur Abtheilung des Dr. Gerdy gehören, uud für schwangere Weiber aufbe¬ wahrt werden; diese werden nur cUva 24 Stunden vor der Niederkunft zugelassen, und es geht kein Tag vorbei, wo nicht eine oder selbst mehre Entbindungen statt ha¬ ben. Fremde können nicht gegenwärtig sein. Der west¬ lichen Fa 9a de des Vierecks gegenüber liegt der Pavillon Gabrielle, wo 65 Weiber, welche an Hautkrankheiten lei-

I

IV. St. Ludwigs- Hospital. 307

(len, von Alibert behandelt werden. Die Zahl der Bet¬ ten im ganzen Spital beträgt in allem tOG. Die Säle sind fast alle in der Mitte gedielt, und haben Bretterböden auf der Seite; sie werden alle Tage gehöhnt (cires). Die Bett¬ stellen sind von Eisen, mit weifscn Gardinen umgeben.

Noch mehre Gebäude stehen um das Ceutralhaus; sie dienen zur Wohnung der Beamten, der Internes und der Augustinerschwestern, welche die Kranken abwarten. Sie enthalten aufserdem eine schöne Apotheke, geräumige Kü¬ chen, und eine eigene Gasanstalt (Gazometre), die erste, welche in Paris erbaut wurde, und nur zur Beleuchtung des Hospitals dient. Im gleichen Bezirk liegt noch eine Kirche, mehre Werkstätten (für Tischler, Schlosser u. s. w.), ein Sectionssaal, der ein eigenes Gebäude ausmacht, und grofse Gemüsegärten.

Jeder Arzt macht eine Visite Morgens; in der übri¬ gen Zeit sind die Kranken der Sorge der Internes über¬ lassen, es giebt deren 9, welche immer 2 oder 3 Gehül- fen unter sich haben. Zu diesen Stellen gelangt man, wie in allen Pariser Spitälern, durch öffentliche Prüfungen (Con¬ cours). Fremde können sich auch melden.

Im Jahre 1833 wurden im Hospital 5539 Kranke auf¬ genommen; nämlich:

Acute Krankheiten . ... 418.

Chirurgische Fälle . . 1069.

Krätzige . 1817.

Hautkranke . 717.

Rheumatische Kranke . . 242.

Scrophulöse . 230.

Im Ganzen hat das Hospital nur 72 hölzerne Bade¬ wannen und 15 Fumigatiouskasten; diese Zahl ist hinrei¬ chend für die ungeheure Menge Bäder, welche sowohl den Kranken des Spitales, als Auswärtigen jährlich gege¬ ben werden. Die Kranken, des Hauses nehmen meistens die Bäder Nachts, die Auswärtigen am Tage. Die letz¬ ten melden sich bei dem Arzte, welcher täglich ciue Con-

20 *

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IV. St. Ludwig s - Hospital.

sultation hält, uud empfangen einen Zettel für 6 Bäder; es sind meistens solche, die mit leichten Ilautausschlägcn oder rheumatischen Schmerzen befallen sind. Die Bäder sind: einfache (nur im Sommer für auswärtige Kranke), alkalinischc, Schwefelbäder, und manchmal Sublimat oder Jodine enthaltende. Die Fumigationen bestehen aus aro- matischcu, Weingeist- und Zinnober- Käucberungcu. Zwei Kammern sind auch für Dampfbäder und Douckes de va- peur eingerichtet.

Hier eine Tabelle, welche die Ucbcrsicht der im Jahre 1832 gegebenen Bäder, Räucherungen und Douchen angiebt:

Den Kranken des Hauses (Interieur).

Fumigationen

Bäder

rzbäder (Do cbes) . . ,

Den auswärtigen Kranken (cxtericur).

309

V. Phrenologie.

- V.

George Combe's System der Phrenologie. Aus dem Englischen, übersetzt von Dr. S. Ed. Hirschfeld. Mit neun lithographirten Tafeln. Braunschweig, bei Fnedr. Yieweg und Sohn. 1833» 8. XXIV und 498 S. (3 Thlr. 12 Gr.)

(Schlufs.)

Der Verf. beginnt mit dem Geschlechtstriebe, den er in einer rein sittlich gehaltenen Darstellung nicht als thierischen Instinkt der Begattung, sondern als die starke Zuneigung beider Geschlechter zu einander bezeich¬ net. Der Irrthum einiger, welche diesen Trieb als bei¬ nahe gleichbedeutend mit Befleckung ansahen, entstand daraus, dafs man die Aufmerksamkeit zu sehr auf seinen Mifsbrauch richtete, dem er, wie jede weise Natureinrich¬ tung, unterworfen ist. In dem ruhigen und unzudringli¬ chen Wirken dieses Triebes liegt selbst für die zarteste Empfindlichkeit nichts nur im Geringsten Grobes und Be¬ leidigendes; er mildert alle stolzen, reizbaren und unge¬ selligen Grundlagen unserer Natur bei jeder Sache, welche das andere Geschlecht betrifft, und vermehrt die Thäfig- keit aller freundlichen und wohlwollenden Erregungen. Der Mann ist, im Allgemeinen genommen, grofsmüthiger und liebreicher gegen Frauen, als gegen Männer, oder als Frauen untereinander. Hierdurch läfst sich beweisen, dafs der Geschlechtstrieb nicht durch Wohlwollen oder Anhäng¬ lichkeitstrieb überhaupt entsteht, denn in diesem Falle würde kein Unterschied in dem Verkehre der Individuen jedes einzelnen Geschlechtes untereinander statt finden. Gedachtes Vermögen begeistert den Dichter in seinen Schil¬ derungen der Leidenschaft der Liebe.

An dem Triebe der Kinderliebe erläutert der Verf. vortrefflich, dafs derselbe, wie alle übrigen Triebe,

i

310

Y. Phrenologie.

nicht ans »lein Nachdenken hervorgeht. Der Verstand ver¬ folgt nur Ursachen und Wirkungen, und entscheidet nach e^uer Vergleichung der Umstände. Die Mutter, wenn sic mit unaussprechlicher Freude ihren Säugling anlächelt, ar- gumentirt sich nicht in dies sceligc Gefühl hinein. Die Erregung geschieht urplötzlich; der Gegenstand braucht sich nur darzubieten, und die ganze Macht der elterlichen Liebe bewegt ihr Gemiith. Auch ist die Kinderliebe ein ursprünglicher Trieb, denn sic steht in keinem bleibenden Verhältnis zu irgend einem anderen Gefühle oder Ver¬ mögen des Geistes. Hinge sie vom Wohlwollen ab, so dürfte kein Selbstsüchtler stark an seine Nachkommen¬ schaft gefesselt sein, und doch ist dies häufig der Fall. Wäre sie eine Modification der blofsen Eigenliebe, wie einige vermuthet haben, so nniCste elterliche Zuneigung im Verhältnis schwach sein, wie Allgcmeingeist vor¬ herrscht; aber auch diese Theorie ist durch die Erfahrung widerlegt. Eben so wenig finden wir, dafs die Liebe zur Nachkommenschaft in einem bestimmten Verhältnifs zu den intellektuellen Fähigkeiten steht. Das durch dieses Ver¬ mögen erzeugte Gefühl ist so mächtig, dafs kaum ein an¬ deres leichter dem Mifsbrauchc unterworfen ist. Wirkt es zu kräftig, und ist dabei nicht durch das Urthcil geregelt, so führt cs zur Verbitterung und Verziehung der Kinder, zu unvernünftigen Besorgnissen wegen derselben, und zu dem übertriebensten Dünkel hinsichtlich ihrer eingebilde¬ ten Vortrefflichkciten. Mangel an jenem Gefühl läfst die Kinder als eine schwere Bürde betrachten, welche der Sorge von Miethlingen preifsgegeben , jeder Gefahr ihres zarten Alters ausgesetzt werden. Dieser Mangel ist es vor¬ nehmlich, aus welchem Mütter unter unglücklichen Um¬ ständen zum Kindcrmorde sich verleiten lassen, denn ein starkes Gefühl für ihre Leibesfrucht würde sie siegreich über jede Versuchung erheben. Diese Bemerkungen mögen als Frohe einer Menge anderer, eben so vortreff¬ licher, gelten.

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V. Phrenologie.

Den nächstfolgenden Trieb bestimmte Spur z heim als Vaterlandsliebe, welche bekanntlich bei den Schwei¬ zern und den meisten Bergvölkern stark entwickelt ist. Combe giebt ihm dagegen eine allgemeinere Bedeutung, in sofern derselbe als Einheitstrieb das Vermögen der Seele bezeichnen soll, in irgend einer Richtung ihrer Thätigkeit zu beharren, gleichviel ob sie mit Vorstellungen wissen¬ schaftlich beschäftigt, oder mit irgend einem praktischen Triebe wirksam ist. Combe’s Definition gehört zu den logischen Verirrungen der Scholastiker, welche für jede Qualität eine eigenthümliche Substanz oder Kraft aufstell¬ ten; denn die Energie des Wirkens, welche als blofses Prädicat jedes einzelnen Triebes gedacht werden mufs, zu einem selbstständigen Vermögen zu erheben, heifst nichts anderes, als allen Kräften eine besondere Kraft hinzuge¬ sellen, ohne welche jene nicht thätig sein können. Aber auch Spurzlieim’s Begriff hält eine strengere Prüfung nicht aus; denn wollen wir jedes zusammengesetzte Lebens- verhältnifs, wie es die Nationalität auf dem heimathlichen Boden ist, auf ein Grundvermögen der Seele basiren: so werden wir für jede neue Form der Civilisation auch ei¬ nen besonderen Trieb aufstellen müssen. Wir haben hier # - ,

ein einleuchtendes Beispiel von den Verirrungen der syn¬ thetischen Pathologie, wenn sie nicht durch das analyti¬ sche Verfahren in Schranken gehalten wird. Combe hält jedoch seinen Einheitstrieb selbst für problematisch.

Der Verf. unterscheidet in der Einleitung Triebe als innere Anregungen, die uns nur zu gewissen Handlungen antreiben, und Gefühle, welche sich als Empfindungen nicht auf eine blofse Neigung für Etwas beschränken, son¬ dern aufserdem noch eine Erregung eigenthümlicher Art mit sich führen. Diese Begriffe sind aber so unklar uud verworren, als ihre Trennung dem Geiste einer gesunden Psychologie widerstrebt. Gefühl ist nämlich nichts ande¬ res, als subjectiver Ausdruck der Thätigkcitsweise eines Triebes. Wirkt dieser frei, so wird der Mensch sich des-

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sen durch das Gefühl der Freude bewufst; so wie er im umgekehrten Falle Schmerz empfindet. Gemischte Gefühle von Freude und Schmerz zugleich vcrralhcn ihm den in¬ neren Widerstreit der Triebe, deren Verhältnis zu einan¬ der er an jenen erkennt. Au den Gefühlen erfährt er da¬ her die jedesmalige Verfassung des Gcmüths, und die ein¬ fachste Reflexion belehrt ihn, auf welchen Trieb das vor¬ herrschende Gefühl bezogen werden mufs. Gefühle sind daher ein vortreffliches Mittel der praktischen Selbster- kenntnifs, wenn man sich gegen ihre Täuschungen sicher zu stellen weifs. Hiermit steht die Erfahrung nicht in Widerspruch, dafg die sogenannten Gefühlsmenschen ge¬ wöhnlich arm an Thatkraft sind; denn eben weil sie sich an dem subjectiven Spiele mit den Trieben, an der leeren Vorstellung ihrer möglichen Wirkung ergötzen, versäu¬ men sie die objectiven Bedingungen ihrer positiven Thä- tigkeit, ohne welche der Wille uiemals zum thatkräftigeu Eiuflufs reift. Nach diesen Bemerkungen mufs daher Ref. die Trennung des Anhäuglichkeitstriebes von dem Gefühle des Wohlwollens für unstatthaft erklä¬ ren, weil beide in dem allgemeineren Begriffe der Liebe enthalten sind. Im höheren Sinne umfafst diese allerdings auch die Geschlechts- und Kinderliebe; doch lassen beide sich schon eher als eigenthümlichc Abzweigungen des allge¬ meinen Liebestriebes bezeichnen, der oft durch das mäch¬ tige Naturvcrhältnifs zu Gatten und Kindern so vollständig erschöpft wird, dafs er in jeder anderen Richtung verküm¬ mert. Da wir diese Beschränkung des allgemeinen Wohl¬ wollens am häufigsten bei dem weiblichen Geschlcchte an- treffen, dem der Verf. den stärksten Anhänglichkeitstrieb beilegt; so fällt seine Darstellung desselben im Wesentli¬ chen mit dem Geschlcchtstricbe zusammen. In angemes¬ sener Allgemeinheit ist dagegen die Darstellung des Wohl¬ wollens gehalten, und durch die ausgesprochenen Maxi¬ men und die Handlungsweise berühmter Männer, Hein¬ riche IV., Fcuelou u. a., in deren Charakter Herzens-

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güte (len vorherrschenden Zug ausmachte, erläutert wor¬ den. Auch die Ausartungen des Wohlwollens, wenn es nicht durch Gewissen und Verstand geleitet wird, und durch Verschwendung gegen Nichtswürdige Schaden stif¬ tet, hebt der Verf. gebührend hervor, wie er denn über¬ haupt sehr glücklich in dem Bestreben ist, alle morali¬ schen Gebrechen aus Verirrungen natürlicher Triebe zu er¬ klären. Nur durch die synthetische Psychologie können wii uns von den unheimlichen Gespenstern des bösen Prin¬ zips , der Erbsünde befreien, mit denen die Metapbysiker eich so oft mystilicirt haben, und denen sie abstracle For¬ meln der vernünftigen Willensfreiheit entgegenstellen mufs- ten, ohne uns jemals begreiflich machen zu können, wo¬ durch der Kampf des guten und bösen Prinzips zu Gunsten des einen oder anderen entschieden werde. Stellen wir uns dagegen ein Individuum vor, wie es in dem bestimm¬ ten Verhältnisse seiner Triebe leibt und lebt, wie die vor¬ herrschenden seine gesammte Denk- und Handlungsweise durchdringen, und sich in tausend kleinen Zügen verra- then; so wird es uris meistentheils nicht schwer fallen, die Genesis der auffallendsten moralischen Erscheinungen zu erklären. Sehr wahr sagt daher der Verf.: Mangel an Wohlwollen bringt nicht etwa Grausamkeit oder irgend ein selbstthätig schlechtes Gefühl hervor; wohl aber führt er zur Rücksichtslosigkeit gegen die Wohlfahrt anderer. Diejenigen z. B., bei denen jener Trieb schwächer ist, als Erwerbstrieb *und Selbstachtung, fühlen sich selten beru¬ fen, Handlungen der Liebe zu fördern; sie bringen gemei¬ niglich als Entschuldigung vor, dafs sie genug mit sich selbst zu thun hätteri. Sind grofser Erwerbstrieb und Selbst¬ achtung mit geringem Wohlwollen verbunden; so wird das Individuum an gar keine uninteressirte Güte glauben, und Grofsinuth, welche kein selbstsüchtiges Ziel hat, für Schwachheit halten. Eine solche Verbindung, zu der sich noch starker Zerstörungslrieb gesellt, führt auch wahr¬ scheinlich denjenigen, der sie besitzt, zum Zweifel an dem

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Wohlwollen des höchsten Wesens. Kurz, Mangel an Wohl¬ wollen macht das Gemiith zum Vorherrschen der niederen Triebe geneigt, und die Geistesstimmung wird dann leicht kalt, hart, launisch, unglücklich. Man hat wenig Mitgefühl an Freude; das Antlitz der Schöpfung scheint nicht zu lächeln; man betrachtet moralische und physische Gegen¬ stände von ihrer dunkelsten Seite, und wenn Zerstörungs- tricb stark ist, so stählt sich die Seele gegen ihre einge¬ bildeten schlechten Eigenschaften mit Bosheit mit einem Worte: Menschenhais ist die Folge. Ganze Nationen, z. B. die Caraiben, verrathen durch Grausamkeit einen Mau- gcl an Wohlwollen. Sehr interessant sind die Bemer¬ kungen des Vcrf. über die Synthesis vou Wohlwollen und Zerstörungstrieb, welche man wegen ihrer entgegengesetz¬ ten Natur für unvereinbar in einem Individuum hielt. In wiefern eine solche Verbindung möglich sei, wird sich aus der Erklärung des Zerstöruogstricbes ergeben.

Die Trennung des Bekämpfungs- und Zerstö¬ rungstriebes gehört zu den erkünstelten Subtiliiäten der Phrenologie, da beide im Wesentlichen den Trieb zur Ver- theidigung des Rechtes gegen Verletzungen desselben dar- stcllcn, und den Muth erzeugen. Ob der Angrilf auf einen Gegner blofs auf seine Abwehr, oder auf seine Vernich¬ tung gerichtet ist, hängt von Nebenbedingungcu ab, die dem Muthe ursprünglich fremd sind. Iudefs abgesehen da¬ von weht in der Schilderung dieses Triebes der Geist männ¬ licher Philosophie, welche aus dem deutlichen Verständ¬ nis der gesellschaftlichen Verhältnisse entspringt. Seitdem das Wort Humanität Mode geworden ist, beeilt man sich von allen Seiten, sie als das Evangelium der Moral zu predigen. Im öffentlichen, wie im Privatleben, in der LiUeratur, wie in praktischen Verhältnissen, in der Er¬ ziehung wie in Irrenhäusern und Gefängnissen, überall soll die Milde vorherrschen, welche der persönlichen Freiheit die möglichst weiten Gränzen steckt, und den Liberalis¬ mus zur Pflegerin der geistigen Entwickelung bestellt. Rcf.

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ist weit davon entfernt, die harten, geisttödtendcn For¬ men des - Mittelalters in Schutz zu nehmen; abe* jene schlaffen Grundsätze, welche den Leidenschaften einen voll¬ ständigen Sieg verschaffen, indem sie den sittlichen Ernst verbannen, der diesen durch angemessene Strafen die nö- thigen Schranken setzt, sie haben schon zu verderbliche Folgen hervorgebracht, als dafs ein unbefangener Beobach¬ ter sich über ihre demoralisirende Tendenz täuschen könnte.

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Die Phrenologie hat sich daher ein Verdienst durch Auf¬ stellung eines dem Wohlwollen wesentlich entgegengesetz¬ ten Triebes erworben, der das Recht durch Bekämpfung und Vernichtung seiner Gegner zu schützen bestimmt ist. Zu allen hochherzigen Charakteren ist eine bedeutende An¬ lage dieses Triebes unerläfslich. .Selbst bei Wohlthätig- keitsentwürfen , oder bei Plänen zur Beförderung der Re¬ ligion oder des Wissens, zeigt sich Widerstand, und der Bekämpfungstrieb beseelt denjenigen, der ihn besitzt, mit. jener instinktartigen Kühnheit, welche den Geist befähigt, ohne Furcht auf einen Kampf in der Sache der Tugend zu blicken, und ihn ohne Wanken zu bestehen. Wäre der Trieb bei den Urhebern jener Entwürfe sehr klein; so würden sie leicht durch Widerstand erdrückt, und alle ihre Bemühungen vereitelt werden. Dieser aus dem Vor¬ herrschen oder Mangel des Bekämpfungstriebes hervorge¬ hende Gegensatz des Charakters läfst sich wohl nicht bes¬ ser, als durch die Vergleichung Luther’s undMelanch- thon’s erläutern, welche unstreitig beide von gleichem Eifer für die Reformation beseelt waren, und doch in so verschiedenem Sinne für sie wirkten. Der Verf. verfolgt den Bekämpfungstrieb in seinen mannigfachen Formen und Ausartungen, welche aus den verschiedenen Lebensverhält¬ nissen und aus seinem Verhältnis zum Verstände, iu wie¬ fern er durch denselben richtig oder fehlerhaft geleitet wird, entstehen. Derselbe erzeugt besonders die Neigung , zum Kriege, und flöfst den Schriftstellern eine Liebe für Schlachten ein. Homer und Walter Scott glühen mit

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mehr als gewöhnlichem Feuer, wenn sic von Kämpfen, Niederlagen und Siegesgeschrci reden. Durch dieses Mit¬ gefühl der Geschichtschreiber, ltedner und Dichter für Waffenthaten, sieht man denn auch dcu Krieger zu un¬ überlegt zum Ilcldcu erlichen, und so das Schlacbthand- werk hegen, und, mit zu wenig Rücksicht auf die Ver¬ dienste des Kampfes, glorreich preiseu. Ist jener Trieb zu kräftig, und schlecht geleitet; so hat er die traurigsten Folgen. Er llüfst dann die Liebe zum Streite um seiner selbst willen ein, zerstört im öffentlichen, 'wie im Privat¬ leben alle Wohlfahrt durch Händelsucht, und artet in Nei¬ gung zum Blutvcrgicfsen aus. Wird er uicht durch hö¬ here Gefühle geleitet; so treibt er Schriftsteller durch einen instinktmäfsigen Ilang an, jede Maafsregei, jedes Gefühl, jede Lehre, welche von anderen vertheidigt werden, an¬ zugreifen, und sic täuschen sich dabei oft dergestalt, dafs sie diese Eigenschaft für scharfen, philosophischen Geist halten. Bayle war ein solcher Mann, und man bemerkte von ihm, das Mittel, ihn etwas Nützliches schreiben zu lassen, sei, ihn nur anzugreifen, wenn er Recht hätte, denn dann würde er zu Gunsten der Wahrheit mit aller Energie auftreten. Da überhaupt ein leichter Rausch die vorherrschenden Triebe am stärksten erregt, wie denn Wohlwollende in ihm alles Eigenthum verschenken möch¬ ten; so scheinen auch Leute, bei denen der Bekämpfungs¬ trieb grofs ist, die ihn aber nüchtern durch ihre morali¬ schen und intellektuellen Vermögen im Zaume halten, in der Trunkenheit einen ganz anderen Charakter anzunch- inen, und aufserordcntlich streitsüchtig zu werden. Als die höchste, krankhafte Ausartung des Bekämpfungstriebcs mufs die Tobsucht betrachtet werden; so wie umgekehrt sein gänzlicher Mangel hei ganzen Nationen, z. B. den Hin¬ dus, jene Charakterschwäche zur Folge hat, welche sie unfähig macht, das Joch der Engländer abzuschiittcln. Diese Bemerkungen werden hinreichen, die Allgemeinheit eines Triebes zu bezeichnen, dcu Gail anfangs in beschränk-

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tester Bedeutung als Würg- und Raufsinn cliarakterisirte, welche ilm nur im Zustaude höchster Verwilderung dar¬ stellen.

Ueber den Verheimlichungstrieb giebt der Ver¬ fasser folgende Erklärung: Die verschiedenen Vermögen der menschlichen Seele sind einer unwillkürlichen Thätig- keit ausgesetzt, welche oft auf Befehl des Verstandes nicht wieder weicht. Wollte man alle diese unwillkürlichen Regungen, z. B. des Gcschlechtstriebes, der Beifallsliebe, des Erwerbstriebes in aller der Lebendigkeit, mit der sie entstehen, aufser sich zu erkennen geben; so würde das gesellige Leben durch eine rohe Masse widriger Unschick¬ lichkeiten verunstaltet werden, und der Mensch würde die Gesellschaft seiner Mitmenschen mehr als Pest und Ilun- gersnoth scheuen. Ein instinktartiger Trieb, die verschie¬ denartigen Begierden und Bewegungen, welche unwill- kührlich im Geiste entstehen, bei sich selbst zurückzuhal-

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ten, war also nöthig, um dem Verstände Zeit zu lassen, ihre Aeufserungen zu regeln. Aufserdem ist auch der Mench manchmal feindlichen Angriffen ausgesetzt, die in Fällen, wo die Kraft fehlt, sie mit Gewalt zurückzu wei¬ sen, durch Verschlagenheit vereitelt werden können. Leute, die selbst das zur Intrigue erforderliche Talent besitzen, sind auch von Natur geschickt, die geheimen Machinatio¬ nen Anderer zu errathen und zu vereiteln. Sie lesen rnit grofser Fertigkeit die natürliche Sprache der Verheimli¬ chung bei Anderen in ihren Mienen und Aeufserungen. Wie nothwendig indefs dieser Trieb auch zur Lebensklug- lieit ist, so artet er doch leicht in Lüge, Heuchelei und Tücke aus. Diese Bemerkungen sind naturgetreu und füh¬ ren zu einer Menge praktischer Folgerungen , die man mit vielem Interesse bei dem Verf. lesen wird. Die Frage, ob der Verheimlichungstrieb ein ursprüngliches Seelcnver- mögen ausmache, müssen wir indefs übergehen, da sie eine ausführliche Erörterung erfordert.

Gegen den Er werbstrieb wurde von den Anliphrc-

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nologcn der Einwurf erhoben, dafs das Eigenthum eine ge¬ sellschaftliche Einrichtung sei, und dafs folglich das Stre¬ ben nach persönlichem Besitze nicht von einem ursprüng¬ lichen Seelcnvcrmögen abgeleitet werden könne. Der Verf. erwiedert darauf, dafs der Gedanke des Eigenthums aus der instinktartigen Eingehung eines bestimmten Triebes ent¬ stehe, und dafs die Gesetze der Gesellschaft Folge, nicht aber Ursache desselben sind. lief. fühlt sich "gedrungen, der letzten Bemerkung eine ganz allgemeine Ausdehnung zu geben, in sofern jeder gesellschaftliche Zustand Product der in einem Volke vorherrschenden Triebe ist, nach de¬ ren Wechsel sich die Epochen der Weltgeschichte umgc- slaltcn. Dies führt uns unmittelbar auf den Begriff der Volkslcideuschaftcn , deren reifsender Strom alle anderen Interessen verschlingt. Den Beweis dafür finden wir in den Kriegen, welche bald durch religiöse, bald durch ehr¬ geizige oder gewinnsüchtige Motive entflammt wurden, nach denen sich die volkstümlichen Institutionen, so wie die Nationalgesinnung richteten. Ueber den Erwerbstrieb äufsert der Verf. noch treffend, dafs derselbe dem Hange der Menschen zum Genufs Schranken setzen müsse, der sie aufserdem verleiten würde, alles aufzuzehren. Wirk¬ lich leiden wilde Völker, selbst unter den glücklichsten Himmelsstrichen, oft die größte Noth, weil sic nicht lür den kommenden Tag sammeln. Dafs die Wohlfahrt civi- lisirter Völker grofsentheils durch den Erwerbstrieb, die Quelle des Nalionalreichthums, bedingt wird, bedarf kei¬ nes Beweises, obgleich schwarzgalligc Moralisten zu allen Zeiten gegen ihn geeifert haben. Nur in seinen Ausar¬ tungen stellt er sich der sittlichen Rüge blofs, weil er dann den Geiz, und bei noch höherer Demoralisation die Neigung zum Diebstahl erzeugt. Dafs letzte bei manchen wilden Völkern vorherrscht, ist bekannt genug, eben so, dafs manche Menschen einen unwiderstehlichen Hang zum Stehlen von Kindheit au zeigen. Wenn Gail diese That- sachcu mit einem ursprünglichen Diebcssinne in Verbindung

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brachte, so hatte er nur den rohen Stoff seiner Beobach¬ tungen für einen allgemein gültigen Begriff ausgegebeu. Pie tägliche Erfahrung lehrt, dafs manche Kinder alles verschenken, andere dagegen alles sich aneignen und nichts mittheilen wollen; wenn diese daher sittlich verwahrloset werden, so kann der Erwerbstrieb leicht zur herrschenden Leidenschaft ihres Lebens werden, welche sie zu jedem Frevel verleitet.

Diese, und noch einige der Kürze wegen übergangene Triebe, trennt der Verf. von den Gefühlen, als deren un¬ terscheidendes Merkmal er noch angiebt, dafs sie nicht die unmittelbare Folge des Daseins äufserer Gegenstände sind, sondern erst mittelbar durch intellektuelle Wahrnehmun¬ gen oder Anregungen hervorgebracht werden. Dieser Un¬ terschied ist indefs eben so unhaltbar, wie der schon frü¬ her widerlegte, da das Wesen eines Triebes als des in¬ neren Bestimmungsgrundes der Handlungen unverändert bleibt, gleichviel ob derselbe auf sinnliche oder übersinn¬ liche Motive gerichtet ist. Wir behalten daher den Na¬ men Trieb bei, weil derselbe das Streben zur Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses der Seele ausdrückt. Denn man kann nur dann zu einer systematischen Uebersicht aller Gemiithstriebe gelangen, wenn man die wesentlichen Verhältnisse, durch welche der Mensch zu Handlungen be¬ stimmt wird, vollständig aufsucht. Jene Verhältnisse las¬ sen sich aber daran erkennen, dafs sie die Grundlage des gesellschaftlichen Zustandes ausmachen, und durch ihre Vernichtung die Auflösung desselben zur nothwendigeu Folge haben.

Ein solches Element ist die Ehre, welche die Men¬ schen antreiht, sich durch ihre Handlungen der gegensei¬ tigen Achtung würdig zu zeigen. Wer sich darüber hin¬ wegsetzt, die Meinung Anderer von sich als Prüfstein sei¬ nes sittlichen Werthes zu betrachten, rnufs entweder ein vollkommener Weiser unter einem Haufen von Thoren sein; oder er ist ein Niederträchtiger, der über die gröfsten

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Schandtaten nicht mehr erröthet. Rcf. setzt diese kurze Schilderung an die Stelle der weitschweifigen Darstellung des Verf. , welcher einen unnötigen Unterschied zwischen der Selbstachtung und der Beifallsliebe macht. Denn beide gehören so wesentlich zusammen, dafs man sie richtiger als innere und äufserc Ehre bezeichnen kann. Wollen wir aber zur genaueren Bestimmung des Ebrtriebcs, in wiefern derselbe unter mancherlei Mifsgcstalten auftritt, die fehler¬ haften Modificationcn desselben unterscheiden; so gehören dahin der Stolz, Hochnmth, Dünkel, die Prahlerei, Eitel¬ keit u. s. w. Einen richtigeren Takt zeigt der Verf. in der Zusammenstellung einzelner Züge, welche den gere¬ gelten und uumäfsigen Ehrtrieb charakterisircn. In Betreff des ersten bemerkt er z. B., dafs diejenigen immer mit der dauerndsten und aufrichtigsten Hochachtung behandelt wer¬ den, die sich selbst zu hoch schätzen, als dafs sie je eine niedrige Handlung begehen könnten; dafs dagegen aus zu geringem Selbstgefühl Mangel an Selbstvertrauen entspringt, durch welchen selbst höher begabte Individuen die Erfolge ihrer Leistungen vereiteln. Frau von Stael sagte von einem Helden der Revolution, dafs er bedeutende Talente gehabt habe: «Mais au lieu de travaillcr il s’ctonnait de lui-meme. » Als ein besonderes Verdienst der Phrenolo¬ gie, auf welches wir später zurückkommen werden, mufs das Bestreben betrachtet werden, die Formen des Wahn¬ sinnes aus dem Vorherrschen der ihnen entsprechenden Triebe zu erklärcu. Der Verf. führt mehre Beispiele von Monomanie aus übertriebenem Stolze an, und schildert überhaupt die Verirrungen desselben, gleichsam als Ueber- gangsformen zur Geistcszerrüllung, mit den lebendigsten Farben. Unrichtig ist cs dagegen, wenn er das Verlangen nach Macht aus dem Ehrlricbe ableitet. Beide sind zwvar häufig mit einander verbunden, aber in ihren Wirkungen auf das Gemüth sehr verschieden. Denn der Ehrsüchtige bewirbt sich nur um die Achtung anderer, um sie zu Gun¬ sten seiner Absichten zu stimmen; er muls sich daher ihrer

Denk-

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Denkweise anbequemen, weil er im Widerstreit mit der¬ selben ihre Wertschätzung nicht gewinnen würde. Der Herrschsüchtige strebt dagegen, den Willen anderer von sich abhängig zu machen, unbekümmert um ihr Urtheil über sich, dem er im Gefühle seiner Ueberlegenheit gern Ilohn spricht. Er ist daher weit eher der Grausamkeit und überhaupt jeder Barbarei fähig, dagegen der Ehrsüch¬ tige wenigstens den guten Schein retten mufs, und oft wi¬ der seinen Willen zu wohltätigen Handlungen sich ge¬ zwungen sieht. Die Phrenologen haben daher einen wich¬ tigen Gemüthstrieb übersehen, weil sie das Organ dessel¬ ben am Schädel nicht fanden. Denn dafs der Trieb, des¬ sen Ausartung als Herrschsucht bezeichnet wurde, ein ur¬ sprünglicher und wesentlicher sei, ergiebt sich leicht aus der Natur der gesellschaftlichen Verhältnisse. Da nämlich der Mensch die Mitwirkung anderer zur Erreichung seiner Absichten oft nicht dadurch gewinnen kann, dals er ihr Interesse durch Wohlwollen, Geld, Achtung und andere Motive sich erwirbt; so bleibt ihm dann nur die Macht, durch welche er sie auch wider ihren Willen für sich be¬ stimmt. Im rohen Naturzustände macht er das Recht des Stärkeren geltend; m civilisirten Staaten bewaffnet ersieh dagegen mit dem Arm des Gesetzes, um die Widerstre¬ benden zum Gehorsam zu zwingen. Unstreitig ist dies Motiv der Handlungen von allen übrigen Beweggründen wesentlich verschieden, und mufs daher auf einen eigen¬ tümlichen Trieb bezogen werden.

Wir überschlagen wieder einige Kapitel, und schalten statt ihrer die Bemerkung ein, dafs der Verf. die meisten der bisher erläuterten Triebe zu den niederen rechnet, W’eil der Mensch sie mit den Thieren gemein hat, die nachfol¬ genden dagegen dem Menschen ausschliefslich beilegt. In der Darstellung der erstgenannten vergleicht er daher, wie Gail und alle seine Nachfolger, ihre Aeufscrung bei Men¬ schen und Thieren, und sammelt damit sehr schätzbare Materialien zu einer comparativen Psychologie. Ref. mufs Band 28. Heft 3. 21

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diesem Verfahren seinen vollen Hei fall schenken, und spricht seine Ueberzeugung aus, tlafs nur die synthetische Psycho¬ logie zu der auf unverantwortliche Weise vernachlässigten Erforschung der Thicrscelcn den Weg bahnen kann. Denn die Analysis gelangt bald zu den transccudentalcn Begrif¬ fen der Vernunft, Willensfreiheit u. s. w., welche aufser- halb jeder Anwendbarkeit auf die eomparative Psycholo¬ gie liegen.

Unter Ehrfurcht versteht der Phrenologc zuvörderst den religiösen Trieb, der sehr richtig als unabhängig von dem Verstände bezeichnet wird, welcher nach der Mei¬ nung der Metaphysiker den Glauben an Gott aus der Be¬ trachtung der Weltordnung ablciten soll. Der Verf. hätte hinzusclzen können: dafs nach so vielen verunglückten Be¬ weisen über das Dasein Gottes jede syllogistiscbe Begrün¬ dung der Religion, welche Kant mit der ganzen Schärfe seiner Kritik bekämpfte, uns verdächtig sein müsse, und dafs wir in unserer heiligsten Angelegenheit sehr übel bc- rathen wären, wenn sic von dem Wechsel der dogmati¬ schen Schulen abhängig sein sollte. Der Verf. hat die Thatsache, dafs alle Völker einen religiösen Cultus begrün¬ deten, und dafs Menschen von beschränktem und ungebil¬ deten Verstände oft eine tiefe Frömmigkeit an den Tag legen, sehr passend zu dem Beweise benutzt, dafs der Trieb dazu dem Menschen angeboren sei, und dafs der Verstand durch alle Scblufslolgcn dem Gcmiitbe keine re¬ ligiöse Gesinnung einhauchen könne, deren oft die aufge¬ klärtesten Denker ermangeln. Auch läfst sich aus der oben gegebenen Definition der Triebe leicht beweisen, dafs Religion eine Angelegenheit des Gcmüthes ist, und dafs der Verstand dasselbe nur dabei leiten soll. Denn unstrei¬ tig ist das Verhältnis des Menschen zu Gott eine der we¬ sentlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Zustandes, der ohne öffentliche Ehrfurcht vor dem Heiligen, dem unver¬ meidlichen Verderben entgegencilt. Das ßewufstscin jene« Verhältnisses mufstc daher den Völkern, wenn sie über-

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haupt als solche bestehen sollten, auch ohne schulgerechte Philosophen lebendig werden, und ihre ausgezeichnetsten Männer hatten nur das Vorrecht, jene der Menge unbe¬ greiflichen Regungen des Gemüthes in eine der herrschen¬ den Sinnesweise entsprechende Form einzukleiden, um sie verständlicher als Gegenstand der Anbetung aufzustellen. Sie sprachen daher als angeblich gottgesandte Propheten nur die Gesinnung aller aus, und Gail bemerkt sehr rich¬ tig, wenn nicht eine natürliche Fähigkeit, religiöse Erre¬ gung zu empfinden, zuvor da gewesen wäre, so hätte die Offenbarung für den Menschen eben so unnütz werden müssen, als für das Thier. In diesem Satze ist eine ganz allgemeine Wahrheit angedeutet, welche uns zur deutlich¬ sten Unterscheidung des Wirkens der Gemüthstriebe von den Verstandesoperationen führt. Jenes nämlich geht aus innerer Naturnotwendigkeit hervor, und kann daher wohl gehemmt und irre geleitet, nie aber vertilgt werden; ja unter äufserem BrucKe steigert es sich sogar zu der ge¬ waltigsten Leidenschaft. Die Verstandesthätigkeit dagegen, wenngleich allgemeinen Gesetzen unterworfen, ist doch so wenig an eine bestimmte Form der Entwickelung gebun¬ den, dafs im Reiche des freien Denkens die widerspre¬ chendsten und willkürlichsten Theorieen sich gestalten und gegenseitig bekämpfen, und eben weil sie aus keiner allgemeinen Notwendigkeit hervorgehen, auch keinen Ein- flufs auf das praktische Leben haben. Fast gegen jeden Trieb ist ein philosophisches System gerichtet gewesen, dessen Lehren im Fluge der Zeit verhallten, während je¬ ner mit jedem Geschlecht zum frischen Wirken wieder¬ geboren wurde. Wenn Sophisten mit Erfolg einen Grund¬ trieb des gesellschaftlichen Lebens bekämpften, so geschah es nur dadurch, dafs sie andere Triebe zu Leidenschaften zu entflammen wufsten. Denn immer nur aus Trieben, nie aus philosophischen Dcductiooen, entspringen Leiden¬ schaften; wenn daher der religiöse Sinn eines der Völker sich zur Schwärmerei steigern konnte, welche die lackel

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und (Ins Seil wert des Fanatismus filier ganze Zeilnller schwang: so intifs derselbe in einem mächtigen Triebe ge¬ würfelt sein, bei dessen allgemein verbreiteter Aufregung Priestersatzungen einen so furchtbaren Anklang fanden. Das Verhältnifs der Vernunft zum religiösen Triebe be¬ schränkt sich folglich darauf, denselben durch aufgeklärte Begriffe richtig zu leiten. Hierauf deutet auch der Vcrf. hin; jedoch bezeichnet er die Verirrungen des religiösen Triebes nicht durch die ungeheuren Erscheinungen der Re¬ ligionskriege, sondern er begnügt sich, die inifsgestalteten Ucligionsansichtcn balbcultivirter Völker zu nennen, welche mehr von intellcctucller Beschränktheit, als von einem lei¬ denschaftlichen Triebe zeugen. Widersprechen mufs dage¬ gen Hef. dem Vcrf. , wenn derselbe die Ehrfurcht gegen Aclteru, Vorgesetzte, und überhaupt gegen alle Verhält¬ nisse, von denen der Mensch sich abhängig fühlt, zu dem religiösen Triebe rechnet. Er hat dabei allerdings den Sprachgebrauch für sich, welcher die Gesinnung des Ge¬ horsams gegen jede rechtmäfsige Autorität mit dem Worte Pietät belegt, und diese als den stärksten Zügel aller egoi¬ stischen Leidenschaften, folglich als den mächtigsten Hebel der moralischen Cultur bezeichnet. Auch läfst sich nicht bestreiten, dafs im unentwickelten Zustande des Gcmüthes, wie er sich bei Kindern und uncivilisirtcn Völkern findet, die mannigfachen Kegungen der Ehrfurcht gegen göttliche und menschliche Gesetze innig mit einander verbunden sind, und sich so leicht mit einander vertauschen. Hier¬ auf hat sich zu allen Zeiten die Macht der Hierarchie ge¬ gründet; denn wie hätten wohl die römischen Priester ganz Europa an ihre herrschsüchtigen Entwürfe fesseln können, wenn nicht die päpstlichen Bullen als Emanatio¬ nen des heiligen Geistes gegolten hätten? Aber wenn auch die uranfänglichen Kegungcn der Triebe w ie die Blät¬ ter eines aufbrausenden Keimes gleichsam in einander ge¬ wickelt sind, und daher von dem rcllcctirenden Verstände leicht mit einander verwechselt w'erdcn künucn, woraus

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die läuschuiigeu unaufgeklärter Völker über die Richtung ihres Strebens entspringen; so tritt doch bei fortschreiten¬ der Entwickelung des Gemüthes durch freie Verstandes- cultur die wesentliche Verschiedenheit der Triebe nacli ihren Motiven oder Zwecken um so deutlicher hervor. Wie hätte wohl das grofse Werk der Reformation zu Stande kommen können, wenn der Heros deutscher Gei¬ ster, unser Luther, nicht die reinste Verehrung Gottes mit dem entschiedensten Sinne gegen jede menschliche Auto¬ rität zu paaren gew'ufst hätte? Höchlich zu loben ist dagegen die Erklärung des religiösen Wahnes aus den Ver¬ irrungen des ihm entsprechenden Triebes, als ein überaus schätzbarer Beitrag zur Pathogenie der Geisteskrankheiten, deren naturgemäfse Theorie an der Phrenologie einen fe¬ sten Stützpunkt iindet.

Die Bestimmung des Gewissens, welches sich in den stärksten Regungen des Gemüthes kund giebt, macht eine der schwierigsten Aufgaben der Psychologie aus. Der Ver¬ fasser, welcher eiue Menge der widersprechendsten Defi- uitiouen desselben zusammeustellt, bezeichnet dasselbe als ein Vermögen, dessen Zweck es ist, das Gefühl der Ge¬ rechtigkeit oder der Pflicht, unabhängig von Selbstsucht, zu erzeugen, und welches sich in der Sentenz ausspricht: Fiat justilia, ruat coelum. Wirkt es vereint mit dem Ver¬ stände, so entsteht daraus die Gerechtigkeit. Der Ver¬ stand erforscht die Ursachen und Folgen der Handlungen; hat er aber das gethan, so empfindet er durch sich selbst weiter keine Erregung, welche sich im Gefühle entschie¬ dener Billigung oder Mifsbilligung bei der Beurtheiluug ei¬ gener oder fremder Handlungen offenbart. Das Gewissen ist als Ordner aller übrigen Vermögen von der höchsten Wichtigkeit. Es zügelt z. B. den Bekämpfungstrieb, indem es die Vcrtheidigung, nicht den tückischen Angriff, er¬ laubt; reizt der Erwerbstrieb zu mächtig, so erinnert es uns an die Rechte Anderer; neigt Wohlwollen zur Ver¬ schwendung, so giebt es die Weisung, sei gerecht, ehe

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da grofsmüthig bist. Ja cswirkt nicht allein als Zaum für unsere zu thätigen Gelüste, sondern dient zugleich als Sporn, um unsere Vermögen, wenn sie zu schwach sind, anzutreiben, lief, fügt hinzu, dafs das Gewissen auch des* halb als Gemüthsregung betrachtet werden müsse, weil cs durch Vcrstandcstäurchungen irre geleitet werden, und selbst bis zum Wahnsinn leidenschaftlich ausarten kann. Penn in jedem Zeitalter haben sich die Pflichtbegriffe an¬ ders gestaltet, und dadurch dem Gewissen eine andere Richtung gegeben, so dafs die nämliche Handlung bei dem einen Volke die höchste Bewunderung, bei dem anderen den tiefsten Abscheu weckte, je nachdem die voi herr¬ schenden Triebe eine verschiedene Lebensansicht erzeug¬ ten. Wenn wir es also im gewissen Grade als abhängig von denselben erkennen müssen, und wenn nur die voll¬ ständigste Cultur des Gemüthes in glcichmälsigcr Entwicke¬ lung seiner Triebe gegen alle Irrungen des Gewissens schützt; so fragt es sich, ob und in wiefern wir es uns als ein selbstständiges Vermögen denken können? Zunächst ergiebt es sich, dafs wir dasselbe für gleichbedeutend mit der Ehrfurcht erklären können; denn es regt sich überall nur in dem Anerk<ymtnifs eines Gesetzes, von welchem wir uns abhängig fühlen, dessen Verletzung wir folglich als eine Beeinträchtigung der Bedingungen unserer Wohl¬ fahrt betrachten. Haben wir diese auf dos Wirken der edleren Gemüthstricbc, der Religion , Liebe, gegründet; so mufs uns alles, was wir im Widerspruch mit denselben thun, als eine feindselige Handlung gegen uns selbst er¬ scheinen, und daher im Bewufstsein den schmerzlichen Widerstreit erzeugen, in welchem unsere bessere Natur unter dem Ausbruche der niederen Triebe zu leiden hat. Herrschen aber diese dergestalt vor, dafs die egoistischen Motive als oberste Gesetze des Handelns gleich Götzen von dem entarteten Gemüthc verehrt werden; so wird auch das Gewissen so sehr depravirt, dafs es vorder Ver¬ letzung des Heiligen und Guten nicht mehr, wohl aber

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vor der Beschädigung egoistischer Interessen Scheu empfin¬ det. Lesen wir nur in der Seele eines Geizigen! Oh er aller Religion entsagt, die heiligsten Rande der Natur zer¬ rissen hat, kümmert ihn wenig; aber nicht verzeihen kanu er es sich, Wenn er einer Anwandlung von Grofsmuth Raum gegeben hat. Wie der Mensch ist, so ist auch sein Gott, sagt ein wahres Wort; und so ist auch sein Gewis¬ sen, setzen wir hinzu. Demnach ist Gewissen nicht Aeufse- rung eines selbstständigen Vermögens, sondern die irn Ge- müth durch das Urtheil über die Angemessenheit oder Nichtaugemessenheit der Handlungen zu seinen vorherr¬ schenden Trieben hervorgebrachte Wirkung. Wollte man dagegen einwenden, dafs hier durch die Bestimmung des Gewissens, als des allen Menschen eingeborenen inneren Richters über unseren Lebenswandel aufgehoben, mithin die Allgemeinheit des moralischen Gefühls, ohne welches die Menschen unfehlbar ihren Leidenschaften zur Beute werden müfsten, abgeleugnet werde; so läfst sich hierauf erwiedern, dafs wirklich die Herrschaft egoistischer Triebe und sinnlicher Begierden im Menschengeschiechte grol’s ge¬ nug ist, um daran zu erkennen, dafs jener Richter nur zu oft durch sie bestochen, sein Urtheil in ihrem Interesse abgiebt, und daher nichts weniger, als ein zuverlässiger Führer ist. Was ist denn häufiger, als die Erfahrung, dafs der Mensch, der bei bösen Handlungen den inneren Wider¬ streit seiner besseren Regungen gegen sie empfindet, diese durch Sophistereien zu beschwichtigen sucht, und damit leider nur zu leicht fertig wird? Sind dagegen bei ihm die edleren Triebe lebendig; so bedürfen sie wiederum nicht eines besonderen Vermögens, welches ihnen den Sieg über die niederen Motive verschallte, denn die Voraus¬ setzung eines solchen Vermögens würde jenen Trieben den selbstständigen, tbatkriiftigen Charakter absprechen. Wenn indefs Ref. mit dem Verf. über dessen oben gegebene De¬ finition nicht einverstanden sein kann; so mufs er doch dessen Bemerkungen über das Gewissen, in sofern darunter

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V. Phrenologie.

im engeren Sinne die Regung der edleren Triebe verstan¬ den wird, volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn überall Spricht sich in ihnen ein warmer Eifer für die sitt¬ lichen Angelegenheiten aus.

Die Festigkeit und Hoffnung zu zwei Grundver¬ mögen des Gemüths erheben, heifst wiederum: blofsen Zu¬ ständen von Trieben eine abstracto Selbstständigkeit beile¬ gen. Dafs der Verf. die Festigkeit von dem oben wider¬ legten Einheitstricbe gesondert hat, läfst sich gar nicht entschuldigen, da beide, streng genommen, nur einen Re¬ griff ausmachen. DerWitz gehört ursprünglich gar nicht zum Gern ulk, denn er ist eine eigeuthümliche Art des Verstandesgebrauchs, obgleich er durch das Spiel mit den Trieben einen starken Eiuflufs auf das Gemüth ausübt. Gleiche Bemerkung trifft auch das Vermögen der Idea¬ lität, von welchem der Sinn für Wunder nur eine Spiel¬ art bildet. Der Verf. bezeichnet Idealität als eine Urem- pfindung, welche wohl beschrieben, aber nicht delinirt werden könne, und welche sich mit jeder Empfindung, jedem Begriffe, jedem Erzeugnisse, deren wesentlichste Eigenschaften mit ihrer eigensten Natur nicht in Wider¬ spruch stehen, vermischen können. Die Erkenntnils- und Denkkräfte, heifst es an einer anderen Stelle, nehmen alle Eigenschaften wahr, wie sie in der Natur vorhanden sind; dies Vermögen erlangt dagegen etwas Vollkommenes. Es strebt, jeden Gegenstand, welcher sich dem Geiste dar¬ bietet, zu erheben, mit den glänzendsten, vorzüglichsten Eigenschaften auszustatten, und weckt dadurch die Begei¬ sterung. Diese und ähnliche Ausdrücke sind etwas vage Bezeichnungen der productiven Phantasie, über deren Wir¬ kungen im Leben der Verfasser viclo treffende Bemerkun¬ gen macht.

Den Nachahmungstrieb beschränkt der Verf. viel zu einseitig auf das Talent der Schauspieler, den charak¬ teristischen Ausdruck fremder Persönlichkeit aufzufasscu , und künstlerisch au sich darzustcllcn. Deun unstreitig ist

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jener Trieb einer der vorherrschcndsten, der das Leben so

sehr in allen Richtungen durchdringt, dafs nur die ent¬ schiedenste Eigenthümlichkeit des Charakters sich von sei¬ nem mächtigen Einflüsse befreien kann. Er ist cs, der das Kind in seiner geistigen Entwickelung leitet, weil es unfähig, sich die Regel seiner Thätigkeit vorzuschreiben, wenn auch nur spielend die Sitten und Handlungen Er¬ wachsener nachbildend sich aneignet, und sich dadurch in die Verhältnisse hineinlebt, welche dereinst seine Kräfte in Anspruch nehmen sollen. Er ist es, der den Charakter jedes Zeitalters, jedes Volksthums grofsentheils bedingt, weil die hin und wieder schwankende Menge, geblendet durch die Autorität hervorragender Männer, sich von ih¬ nen seine Denkweise vorzeichnen läfst, und ihrem Vor¬ bilde, mag es sie auf die Bahn der Tugend führen, oder auf verderbliche Abwege verlocken, oft mit grofser Uu- beholfenheit nachstrebt. Und die Sympathie, welche ihr geistiges Band um die Menschen schlingt, so dafs sie un¬ willkürlich in die gleichen Zustände des Wirkens und Leidens hineingezogen werden, was ist sie anders, als die gegenseitige Nachahmung, welche den Wetteifer erzeugt, und durch diesen die Gesammtkraft der Nationen zu allen Grofsthaten der Weltgeschichte entflammt? Blicken wir endlich auf die ungeheuren Erscheinungen finsterer Jahr¬ hunderte, in denen nur die wenigen Hochbegabten zum deutlicheren Selbstbewufstsein gelangten, während die grofse Menge, vom Schwindel ergriffen, alle gesellschaftliche Ord¬ nung zerstörte, um die wilde Begeisterung in den Kreuz¬ zügen, Geifslerfahrten, in der Tanzwuth (deren leben¬ dige Schilderung von Hecker jedem Leser in frischer Erinnerung sein wird) und anderen fanatischen Verirrun¬ gen austoben zu lassen; so werden wir auch bei ihrer Er¬ klärung den Nachahmungstrieb zu Hülfe nehmen müssen. Ein so gewaltiges Vermögen bedarf daher einer grofsarli- gern Darstellung, die ihm vom Verf. nicht zu Theil ge¬ worden ist.

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V. Phrenologie.

Mit den genannten Seelen vermögen schliefst der Verf. die Keilic der Gernüthstricbe, und lafst die Betrachtung der Erkcnutnifs- und Denkkräfte folgen. Aus den bishe¬ rigen Erörterungen gebt indefs wohl hervor, dafs die Pbre- nologen zu wenig analytische Denker sind, um die Grund¬ begriffe ihrem W esen nach in reiner Absonderung heraus- zustcllcn, und sie in präcisen Delinitionen aufzufassen. Dieser Mangel wird besonders in der Darstellung der in-

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teilectüellcn Functionen fühlbar, an welche man nach so vielen Vorarbeiten um so gröfsere Ansprüche machen mufs, je mehr der Verstand in der Logik sich auf dem eigent¬ lichsten Gebiete der Reflexion befindet, und daher vor¬ zugsweise über sein W irken Rechenschaft geben mufs. Die Phrenologen verralhcn auch hier ihre, allen Synthetikern gemeinsame Neigung zum Zersplittern und Vervielfältigen der Begriffe, dem nur eine bis zu den Elementen aufstei¬ gende, die wesentlichen Unterschiede hervorhebende Ana¬ lyse Vorbeugen kann. So finden wir denn unter der Ru¬ brik der Erkenntnifsvcrmögcn nicht weniger als zwölf Sinne aufgezählt, nämlich den Gegenstand-, Gestalt-, Gröfsen-, Gewicht-, Farben-, Ort-, Zahl-, Ordnung-, Thatsachen -, Zeit-, Ton- und Sprachsinn. Durch einige dieser Sinne wird die verschiedene Empfänglichkeit des Anschauungsvermögens bezeichnet, je nachdem cs iu der Richtung des einen oder anderen äufscren Sinnes ( Gesicht, Gehör, Getast) stärker oder schwächer entwickelt her¬ vortritt, seihst den Objekten eines Sinnes verschiedene Seiten der Betrachtung ahgewinnt, wie denn namentlich das Auge bald für die Wahrnehmung der Farben, bald für die der Formenverhältnisse besser organisirt ist. Notii- wendig wird hierdurch die Richtung der \ erstandesthätig- keit auf diese oder jene Reihe der Naturerscheinungen vor¬ zugsweise bestimmt, gleichwie auch die productive Phan¬ tasie sich danach zu den verschiedenen Talenten für die schönen Künste eigcnthiimlich gestaltet. Dennoch bleiben Verstand und Phantasie ihrem Wesen nach in allen jeueu

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V, Phrenologie.

Modiflcationen sich gleich, und wir müssen diese fiir Wir¬ kungen eigenthümlicher Organisation des Nervensystcmes erklären, welche mit den höheren Denkgesetzen nichts gemein hat, ihnen nur einen verschiedenen Wirkungskreis eröffnet. Anders verhält es sich mit den Gemüthstrieben, welche bestimmten Verhältnissen des geistigen Lebens ent¬ sprechen, und daher nicht aus organischen Bestimmungen abgeleitet werden können. Ref. überschlägt die Lehre von den Vorstellungsvermögen, um noch für einige wichtige Sätze der Phrenologie Raum zu ersparen.

Unter der Ueberschrift, «Art der Thätigkcit der ver¬ schiedenen Vermögen,” spricht der Verf. zuerst die wuch¬ tige Bemerkung aus: Sämmtliche Vermögen bringen, wenn sie im gehörigen Grade thätig sind, gute passende, und uoth wendige Handlungen hervor. Nur ein Uebermaafs (oder falsche Richtung, Ref.) ihrer Thätigkeit erzeugt Mifsbräuche. Mit diesen Worten ist der eigentliche Standpunkt psycho¬ logischer Naturforschung bezeichnet, welche jede Mystifi- cation durch ein böses Prinzip ausschliefst (vergl. die Be¬ merkungen über das Wohlwollen).

Die Vermögen der Triebe und Gefühle, heifst es wei¬ ter, können nicht mittelst eines blofsen Willensactes (un¬ mittelbar) zur Thätigkeit angeregt werden. Wohl aber können sie durch innere Erregung thätig sein, und danu wird das Verlangen oder die Empfindung eines jeden wahr¬ genommen, wir mögen wollen oder nicht, und ohne dafs wir uns einen Grund dafür angeben könuen. Abermals eine überaus wichtige Wahrheit, welche den unwillkühr- lichen Wechsel in dem Wirken der Gemüthstriebe als die Ursache so vieler räthselhaften und merkwürdigen Erschei¬ nungen des Bewufstseins aufstellt. Wie olt fühlt sich der Mensch in seinen festesten Entschlüssen erschüttert, in sei¬ nem entschiedensten Wirken durch plötzlich in ihm erwa- - chende Regungen gehemmt, welche selbst der scharfsin¬ nigste Selbstbeobachter nicht immer zu deuten vermag. Dergleichen Vorgänge durch dunkle Vorstellungen erklären

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V. Phrenologie.

zu wollen, ist ein arger IMifsgriflT; sie ganz abzuleugnen, wie dies ein berühmter Mann gethan hat, ciu noch grösse¬ rer Fehler. Nur durch Triebe können Triebe gezügelt wer¬ den, und wer sich hierauf nicht versteht, wird die viel¬ fältigen inneren Anfechtungen im Gemüt he durch alle Rich¬ tung des Denkens nicht beschwichtigeo. Alle aufrichtigen Selbstbekenntnisse ausgezeichneter Menschen geben Zcug- nifs von den barten Kämpfen, die sie mit gewaltsamen Regungen zu bestehen hatten. Für die Forschung bleibt liier noch viel zu thun .übrig. Wir haben indefs nicht nö- thig, mit den Phrenologcn jenen Wechsel der Erregung auf die Gchiruorgane zu bezeichnen, die erst noch bewie¬ sen werden sollen; er erklärt sieh ganz einfach daraus, dafs im Geiniithe das Ecwufstscin seiner mannigfachen Be¬ dürfnisse nothwendig erwachen mul's, wenn nicht ein ein¬ zelner Trieb in herrschende Leidenschaft ausarten soll.

Jene Vermögen werden unabhängig vom Willen durch die Gegenwart für sie von Natur geeigneter äufscrer Ge¬ genstände zur Thätigkeit angeregt. So inufstc cs sein, wenn der Mensch rasch und entschlossen handeln soll, wo zur Reflexion keine Zeit übrig bleibt. Wenn z. B. die Gefahr nicht alle Triebe, sie zu bekämpfen oder ihr zu entfliehen, zur höchsten Intensität steigerte; so würde der Mensch ihr unfehlbar zur Beute werden. Nur angodeutet hat der Verf. bei einer anderen Gelegenheit, dafs die Triebe, wenn sie übermäfsig thätig werden, den Verstand über¬ wältigen, und ihn dadurch zu Täuschungen verleiten; wir können hier diese überaus wichtige Wahrheit uicht wei¬ ter entwickeln.

Die uüwillkührliche, krankhafte Steigerung eines Trie¬ bes erzeugt eine heftige Begierde des Gcmüthcs, in der Richtung desselben zu wirken, und bringt dadurch die ihm entsprechende Form des Wahnsinnes hervor. Schon bei dem Bekämpfungs- , Ehr- und dem religiösen Triebe war hiervon mit der gebührenden Anerkenntnis des Ver¬ dienstes, das sich die IMircnologcu um die Theorie der

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V. Phrenologie.

Geisteskrankheiten erworben haben, die Rede; ja cs ist ihnen diese Deutung derselben so wichtig, dafs sie die Erscheinungen der Monomanie als einen Ilauptbeweis von der Selbstständigkeit der Triebe aufstellen, von denen ei¬ ner entartet sein kann, während die übrigen ihrer Bestim¬ mung gemäfs wirken. Sie verstehen es, in der Seele zu lesen, in ihr das Ursprüngliche in allen Verirrungen und Abweichungen an den wesentlichen Zügen wieder zu er¬ kennen, und die Abhängigkeit des Verstandes von den Trieben in das rechte Licht zu stellen, in sofern er gleich¬ zeitig durch regelmäfsig wirkende Triebe zu richtigen, durch entartete zu verkehrten Urtheilen geleitet wird, ohne die grellsten Widersprüche darin wahrzunehmen. Diese Erscheinung, welche den Charakter der Monomanie bildet, mufste den logischen Psychologen unbegreiflich Vor¬ kommen, daher sie sich gleichsam instinktmäfsig von dem Gebiete des Wahnsinnes abwandten, und es den Aerzten überliefsen, aller psychologischen Deutung ein Ende zu machen. Aber auch den Phrenologen spielt ihre Organen- lehre einen Übeln Streich, denn nicht in den Trieben, son¬ dern in den Organen suchen sie die krankhafte Erregung

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auf, die vermöge ihres physischen Charakters jedes direct psychische Heilverfahren ausschliefsen soll. Wir werden nun mit den oft genug wiederholten Argumenten abgefun¬ den , dafs der Geisteskranke sich durch Widerlegung sei¬ ner Irrthümer nicht bekehren lasse, weil wir durch Dia¬ lektik eben so wenig sein krankes Gehirn umstimmen, als eine andere Krankheit heilen können. Ja der Verf. be¬ müht sich, diese Ansicht sogar auf Leidenschaften auszu¬ dehnen, welche, weil sie übermäfsig entwickelte Gehirn¬ organe vorhussetzen , durch die Reaction derselben auf je¬ den directen Angriff nur noch gesteigert werden sollen. Der Verf. weifs daher keinen anderen Rath, als einmal das Individuum in Verhältnisse zu bringen, welche sowe¬ nig als möglich die Thätigkeit des fehlerhaften Vermögens in Anspruch nehmen, und zweitens, allen seinen höheren

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Gefühlen, die bedeutender entwickelt sind, Beweggründe darzubicten, welche die Triebe im Zaume ballen, und so viel als möglich die Stelle des schwachen Gewissens er¬ setzen können. Offenbar lenkt er mit diesen Vorschriften wieder auf den rechten Weg ein, wie denn überhaupt ein häufiges Schwanken der Phrenologen zwischen der psychi¬ schen und physischen Ansicht fast nothwendig aus ihrer Stellung hervorgellt; namentlich wird niemand gegen die zweite Regel etwas ciuzuwcndcn haben, und auch die erste ist in sofern gültig, als jede Aufreizung des vorherr¬ schenden Triebes zu leidenschaftlichen Ausbrüchen sorgfäl¬ tig vermieden werden mufs, wiewohl dies nicht immer möglich ist. Aber in der Phrenologie fehlt ein wichtiges Element der Psychagogik. die Disciplin, mag diese durch die gebietende Autorität des Arztes, oder wenn diese auf das verwilderte Genuith nicht mehr wirkt, durch cocrci- tive Maafregeln, welche die eindringlichste Sprache zur Seele reden, gehandhabt werden. Denn wie in Volkslei- denschaften Strafen die ultima ratio geltend machen müs¬ sen, der sich jeder Widerstand beugt, so die Strenge auch im Bezirke des Irrenhauses, dessen oberstes Gesetz der Gehorsam ist. Von ihm hängt eben sowohl die Aufrecht¬ erhaltung der Ordnung des Ganzen ab, welches aufserdem in wilder Zerrüttung zu Grunde gehen müfste, als auch die tobenden Leidenschaften Einzelner an ihm den festen Zügel linden. So lange den Ausbrüchen der Leidenschaf¬ ten uicht ein Damm entgegengesetzt wird, sondern sie ungehindert die unterjochte Seele mit sich fortreifsen kön¬ nen, lassen sie keine ihneu widerstrebende Regung in der¬ selben aufkommen. Man täusche Vieh uicht durch einzelne gelindere Fälle von Wahnsinn gutgearteter Gemüther, de¬ ren bessere Triebe bald geweckt und in siegreichen Kampf mit der vorherrschenden Leidenschaft gebracht werden können; man vergesse nicht die stille Macht des Kranken¬ hauses, welches dem Kranken das Bewufstsein seiner Ab¬ hängigkeit und die Nothwcudigkeit der Selbstbeherrschung

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V. Phrenologie. v 335

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aufdriogt. Freilich würde der Arzt ein grofser Thor sein, der mit den Kranken disputiren wollte, ohne seinen Wor¬ ten den Nachdruck einer gebietenden Autorität geben zu können; aber um die übermüfsig wirkenden Triebe auf das natürliche Maafs, und die ausgearteten in die sittliche Rich¬ tung zurückzubringen, dazu bedarf es der Belehrung, durch welche der Kranke, sobald er für sie empfänglich geworden ist, bestimmt werden mufs, selbstthätig an der Cultur seines Gemüthes durch besonnene Ueberlegung zu arbeiten. Denn die Triebe an sich siud blind, und wir¬ ken ohne Leitung des Verstandes allemal fehlerhaft, daher ohne sittliche Aufklärung desselben, und ohne jene feste Haltung, welche den Willen von ihm abhängig macht,

auch die edelsten Triebe ausarten müssen.

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Nur indirect, keifst es ferner, können die Gemüths- triebe durch den Willen in Thätigkeit versetzt, oder da¬ von zurückgehalten werden. Die Erkenutnifs- und die Denkvermögen haben nämlich die Bestimmung, Ideen zu bilden. Wenn diese Vermögen gebraucht werden, um in¬ nerlich Gegenstände vorzustellen, welche von Natur ge¬ eignet sind, Triebe und Gefühle zu erregen; so werden diese auf dieselbe Weise, wenn auch nicht mit gleicher Stärke, in Thätigkeit versetzt, als wenn die geeigneten Gegenstände äufserlich vorhanden wären. Die Lebendig¬ keit des Gefühles wird in solchen Fällen im Verhältnisse zu der Kraft der Vorstellungen und der Kraft der Triebe und Gefühle zusammengenommen stehen. Daher wird auch jemand, bei dem diese oder jene Empfindung durch inneren Reiz des Triebes vorherrschend tkätig ist, seinen Verstand mit Ideen gefüllt haben, welche zur Befriedigung jener dienen, oder in anderen Worten, die gewöhnlichen Gegenstände des Denkens richten sich nabh den Trieben, welche aus inneren Ursachen am thätigsten sind. Eben so hängt auch die Vorliebe für die eine oder andere Be¬ schäftigung von den besonderen Trieben oder Gefühlen ab-, welche (vorherrschend) thätig sind, und die Verstaudes-

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kräfte dienen nur als Werkzeuge zur Befriedigung dersel¬ ben. Hieraus erklärt sich leicht die grofsc Verschieden¬ heit des Geschmacks und der Anlagen unter den Menschen; denn niemals findet sich unter zwei Individuen genau die¬ selbe Verbindung der Triebe; eines jeden Gefühle sind ihm

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daher gewissermaafsen eigen thümlich, und jeder verlangt daher auch besondere Gegenstände zu seiner Befriedigung. Da die Vermögen der Triebe und Gefühle keine Ideen bil¬ den, und da cs unmöglich ist, ihre Erregungen direct durch einen Willensact »urückzurufcn; so folgt daraus, dafs diese Vermögen auch nicht mit den Eigenschaften der Wahrheit, der Vorstellung, des Gedächtnisses und der Einbildungs¬ kraft begabt sein können. Sie haben nur die Eigenschaft der Empfindung, d. h. wenn sie thätig sind, so wird eine Erregung oder Empfindung wahrgenommen. Bef. un¬ terschreibt gern diese Bemerkungen, und hat sich nur hier, wie an anderen Stellen erlaubt, das von dem Verf. häufig statt der Triebe gebrauchte Wort Organ auszulassen.

Wir brechen hier ab, weil das Mitgetheilte wohl hin¬ reicht, um daran zu erkennen, dafs der Kern der Phre¬ nologie gesund ist, und die Keime tieferer Wissenschaft in sich birgt, welche unter sorgfältiger Pflege gewifs zur fruchtbringenden Entwickelung gelangen werden. Wenn wir auch die Zuversicht nicht tkeilcn können, mit wel¬ cher sic den geheimnifsvollen Bau des Gehirns enträthselt und mit der Geistesthätigkeit in Uebcreinstimmung ge¬ bracht zu haben behauptet; so hat sic doch durch ihre Organcnlehre wesentlich dazu beigetragen, die Psychologie auf einen für die Erforschung der Gemüthstriebc überaus günstigen Standpunkt zu führen. Ist es dem vereinten Streben wackerer Männer erst gelungen, hinreichende Ma¬ terialien zur synthetischen Psychologie zu sammeln, und dadurch die hohlen Abstroctionen zu verdrängen, 'welche bisher für Seelenkunde ausgeboten wurden; so mag immer¬ hin die Crauioscopie als ein Vehikel ihrer Forschungen gleich ciucm uubrauchbar gewordenen Instrument bei Seite

gelegt

VI. Schwerhörigkeit. 337

gelegt werden. Der Irrthum war oft genug die Saamcn- külle der Wahrheit, welche aufkeimend sie durchbricht, und zu ganz anderer Gestalt sich entwickelt, als sie im Embryonenzustande errathen liefs. Die Phrenologie kehrt als Zögling, welcher unter der Pflege des Auslandes er¬ freulich gedieh, in die deutsche Heimath, den Mutterboden so vieler grofsen Gedanken, welche erst auswärts ihre Be¬ glaubigung finden mufsten, zurück; und das Vaterland, welches so viele ungerathene Fremdlinge bereitwillig auf¬ nahm, wird nicht länger den eingehornen Sohn verleug¬ nen, der als kräftiger Zeuge deutschen Forschergeistes dazu beitragen mag, das immer noch viel zu schwache Selbst¬ gefühl der Deutschen dem Auslande gegenüber zu steigern.

Ideler.

VI.

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Erfahrungen über die Erkenntnifs und Hei¬ lung der langwierigen Schwerhörigkeit; von Dr. W. Kramer. Mit lithographirten Abbil¬ dungen. Berlin, bei Nicolai. 1833. 8. 106 S.

(16 Gr.)

Eine Schrift über Krankheiten des Gehörorgans, wenn sie nicht blofse Compilation, sondern wie die vorliegende, Resultat eigener Beobachtungen ist, verdient stets wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes und des Mangels an gründlichen Bearbeitungen desselben eine genaue, in das Einzelne eingehende Würdigung. Diese wollen wir vor¬ anschicken, ehe wir unser Urtheil über das Ganze ver¬ lautbaren.

Die Einleitung macht uns mit den Ursachen bekannt, welche den Verfasser bewogen haben, seine Arbeit zu ver¬ öffentlichen. Unser bester Schriftsteller, Itard, habe viele Band 28. Heft 3. 22

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VF. Schwerhörigkeit.

Mängel, «Ia!i in gehöre z. II. dafs er das Ohrentönen als eine selbstständige Krankheit abhandele, während dasselbe stets nnr Symptom der verschiedenartigsten Krankheits¬ zustände des Gehörorganes sei; dafs er die chronische Schwerhörigkeit bald nach den Ursachen, welche krank¬ hafte Veränderungen im Gehörorgane hervorrufen, bald aber nach diesen Veränderungen sei st in Unterarten ab¬ theile; dafs er endlich so leicht über die Behandlung der nervösen Schwcrliürigkeit hinwegschlüpfe. Der Tadel er¬ scheint vollkommen begründet, aber unser Autor mufs cs sich gefallen lassen, dafs wir an seinem eigenen Buche, und zwar gleich am Titel, einen ähnlichen Fehler rügen.

rige Schwerhörigkeit an, als ob nicht auch die Schwer¬ hörigkeit eben so, wie das Ohrentönen, nur ein Symptom der verschiedenartigsten Affectionen des Gehörorganes wäre. Im Inhaltsverzeichnisse drückt sich der Verf. ganz anders, als auf dem Titel , und, wie mich dünkt, richtiger aus, denn dort heifst die oberste, alle übrigen umfassende Rubrik: «Chronische Krankheiten des Gehörorganes. Der Mangel eines gründlichen Handbuches der chro¬ nischen Gehörkrankheiten also veranlafstc den Verfasser, dieselben zum Gegenstände seiner Untersuchungen zu ma¬ chen. Er gründet diese nur auf seine cigencu Beobach¬ tungen, weil es, wie er meint, so sehr an fremden zuver¬ lässigen Erfahrungen , lind diesen auch fast durchgängig an einer genauen Angabe der Hörweite des Kranken vor und nach der Cur fehle. Die Nichtbeachtung fremder Erfah¬ rung, welche der Verf. hierin und bei jeder vorkouunen- den Gelegenheit in seiner Broschüre ausspricht, hat der¬ selbe zwar mit vielen Acrztcn neuerer Zeit gemein, Bef kann sic aber durchaus nicht billigen. Weit entfernt, ge¬ fördert zu werden, wird die Wissenschaft vielmehr da¬ durch in ihrem ferneren Fortschreiten gehemmt. Eine T^ehre, welche wie die unsere nur auf Erfahrung gegrün¬ det ist, mufs zurückschreiten, wenn man alles, was die

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VI. Schwerhörigkeit.

Vorfahren in langer Reihe von Jahren zu erlernen Gele¬ genheit hatten, als unbrauchbar verwirft; und wer, wie unser Vcrf. , nur dasjenige als reell gelten lassen will, was er selbst sah, der wird sicher eine nur sehr unvollkom¬ mene Kenntnifs seines Gegenstandes erlangen.

Hätte der Verf. , welchem praktisches Talent nicht ab¬ gesprochen werden kann, sich mehr um die Leistungen seiner Vorgänger bekümmert, so würde er gewifs Besse¬ res geliefert haben. *

Ref. wünscht dem Verf. von Herzen, dafs seine Leser in dieser Beziehung anders denken, und den von ihm mit- getheiiten Thatsachen mehr Glauben schenken mögen, als er seinen Vorgängern zollt. Mit heller Fackel der Kritik die vorhandenen Beobachtungen beleuchten, sie mit den eigenen Zusammenhalten, und daraus allgemeine Schlufs- folgerungen ziehen, ist ohne Zweifel ein richtigeres, aber freilich auch ein mühsameres Verfahren, als das vornehme Verwerfen alles Fremden, wohinter sich nur allzuoft die Unkenntnifs desselben zu verbergen sucht. Es mufs dem Verf. allerdings zugestanden werden, dafs die Litteratur seines Gegenstandes noch viel zu wünschen übrig läfst, allein er war nicht berechtigt, darüber Klage zu führen, da wir im Verlaufe seines Büchleins deutliche Spuren entdecken, dafs er mit den wichtigeren Bereicherungen, weiche die Gehörheilkunde in neuerer Zeit erhalten, nicht durchge- 1 hends bekannt ist. Weder sind ihm die besseren Arbeiten von Deleau, besonders sein Extra! t d’un ouvrage inedit inlitule traitement des maladies de Poreille moyenne, qui engendrent Ia surdite, Paris 1830, bekannt, noch erwähnt er Buchanan, Westrumb und andere verdienstvolle Schriftsteller.

Beobachtungen mit Bestimmung der Hörweite linden sich in der That auch bei Deleau, Buchanan, Saun- ders u. a. Diese Autoren bedienten sich zur Bestimmung der Hörweite, wie alle Ohrenärzte und auch unser Verf., einer Cylinderuhr.

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VI. Schwerhörigkeit.

Ueberdies, wenn auch zugestanden werden mufs, dafs eine Beobachtung erst dann ihren vollen W crtli erhält, wenn sic mit genauen Bestimmungen der Hörweite ausgc- stattet ist, giebt es doch so viele andere Mittel, sich von den verschiedenen Graden der Feinheit des Gehörs, we¬ nigstens approximativ zu unterrichten, dals der blolsc Man¬ gel der Angabe der Gehörweite uns noch nicht berechti¬ gen kann, alte lehrreiche Beobachtungen geradezu auf den littcrarischen Kehrichthaufen zu werfen. Es kommt hier, wie überhaupt, auf die Glaubwürdigkeit dessen an, der die Beobachtung angcstellt hat und mittheilt. Trug und Irrthum sind selbst bei Bestimmung der Hörweite nicht immer zu vermeiden. Der Verf. lii Ist sich sodann über die bei den Ohrkranken erforderliche Localuntersuchung aus, und giebt auch dabei kurz, wiewohl nicht immer ganz richtig, die darauf Bezug habende Structur der rI heile an. V on der Mündung der Eustachischen Trompete in der Rachenböhle sagt er, sie liege vor dem Iiamulus pterygoi- deus; ein kleiner anatomischer Druckfehler. Zur Untersu¬ chung des äufscrcn Gehörganges bedient er sich eines zwei¬ armigen Ohrspicgcls, wie er von Fabricius Hilda nus bis auf Itard angewandt worden; das simple Instrument hätte der doppelten Abbildung und der ausführlichen Er¬ klärung nicht bedurft.

Ref. macht hierbei auf die einfachen, trichterförmigen, inwendig polirten Obrspiegel, wie Dclcau sie braucht, aufmerksam; sie haben vor den zweiarmigen den Vorzug, dafs sic den Gehörgang nicht blofs dilatiren, was doch auch nur den vordersten Tkeil desselben betrifft, sondern ihn auch erleuchten.

Der Cathetcrismus der Eustachischen Röhre ist etwas flüchtig beschrieben. Dafs die Eustachische Röhre nur 8 Linien lang sei, ist unrichtig, und selten steht, wie der Verf. angiebt, ihr Eingang in gleicher Höhe mit dem un¬ teren Nasengange, meist höher. Nach dem Rathe des V erf. soll der Catheter, wenn er bis in die hintere Wand

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VL Schwerhörigkeit.

des Schlundkopfes gebracht worden, mit gesenktem Schenkel zurückgezogen werden. Dieses der Struktur der 1 heile widersprechende Manöver wird oft Anlafs zu wie¬ derholtem, vergeblichem Zutappen werden müssen, ehe die Operation glückt. Ref. hält die in RusVs Magazin Bd. 38. Heft 3. angegebenen Handgriffe für rationeller und in der Praxis besser zum Ziele führend, wie er denn auch der Meinung ist, dafs man nicht immer mit den metallenen Sonden, deren sich der Verf. ausschliefslich bedient, aus¬ reicht, und oft zu Doppelröhren, von welchen die eine elastisch, die andere von Metall ist, wie sie am angeführ¬ ten Orte vorgeschlagen sind, greifen mufs.

Die Doppelröhren haben den Vorzug vor den einfa¬ chen metallenen: dafs man sie viel tiefer in die Trompete einführen kann, während sie die Fehler von Deleau’s Sonden nicht thcilen.

Folgen wir nunmehr dem Verf. zu den einzelnen Krankheitsformen: Er beschreibt zuvörderst drei chroni¬ sche Krankheiten des äufseren Gehörganges, nämlich eine rothlaufartigc Entzündung der auskleidendcn Membran des¬ selben, die Entzündung dieser Membran mit Neigung zu polypösen Wucherungen, und die Entzündung der ausklei¬ denden Membran und des darunter liegenden Zellgewebes.

Ref. erstaunte nicht wenig, die Reihe der chroni¬ schen Krankheiten mit einer acuten, der rothlaufartigec Entzündung, begonnen zu sehen; doch bald ergab es sich, dafs das Leiden, welches der Verf. als rothlaufartigc Ent¬ zündung des äufseren Gehörganges beschreibt, nichts an¬ ders ist, als die oft beobachtete Verstopfung desselben durch eine Ansammlung von verhärtetem Ohrenschmalz, welcher der Verf. willkührlich eine Entzündung als Ur¬ sache unterschiebt. Es ist aber bekannt, dafs dieses chro¬ nische Uebel in der Regel ohne Schmerzen und Beschwer¬ den entseht, so dafs die Kranken meistens kein anderes Symptom, als das der Schwerhörigkeit empfinden; sic wun¬ dern sich alsdann sehr, wenn cs sich zeigt, dafs so viel

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Unrath in ihrem Ohre gewesen. Die Ursache dieser An¬ häufung ist in der grofsen Mehrzahl der Fälle nicht ent¬ zündlicher Art, und sehr oft mit Abnormitäten des YYachs- thums der im äufseren Gehörgange befindlichen Haare ver¬ gesellschaftet, wo nicht dadurch selbst herbeigefiihrt. Schon der alte Lecu wenlioek (Arcana na turne dctecta pag.418 seq. ) wufste es recht gut, und jeder Arzt, welcher solche Gehörkranke behandelt hat, wird sich ebenfalls daran er¬ innern, dafs das aus den Ohren derselben entfernte Sccrct fast stets mit feinen Haaren, oft mit sehr vielen, vermischt ist. Dafs aber die Abnormitäten des Haarwuchses in ei¬ nem Causalverhältnissc mit Verstopfung des äufseren Ge¬ hörganges durch Ohrenschmalz stehen, darauf deutet auch der Umstand, dafs diese Krankheit meistens erst im vor¬ gerückteren Alter beobachtet wird, in welchem der Haar¬ wuchs in der Nase, den Ohren u. s. w. stärker wird.

Der Verf. sagt auch selbst S. 21 und 22: «Häufig entziehen sich diese Symptome entzündlicher Aufregung der Wahrnehmung des Kranken gänzlich, uud es würde diese an sich leichte Entzündung regelmäfsig und unbe¬ merkt verlaufen, wenn nicht die Anhäufung eines zähen Ohrenschmalzes als mechanisch und chemisch wirkende Schädlichkeit die iu der Absonderung erlöschende Entzün¬ dung immer von neuen wieder anfachte. Selbst die drei beigefiigten Krankengeschichten zeugen wider den Verfas¬ ser. Sie betreffen Subjekte von 50, 54 und 72 Jahren; bei keinem derselben geschieht Erwähnung von entzünd¬ lichen Symptomen, nur bei dem ersten heifst es, es sei grofse Empfindlichkeit gegen scharfe Töne und öfteres Jucken und Kitzeln in beiden Gchörgängen gleichzeitig mit dem Bestehen der Verstopfung der Gchörgänge vor¬ handen gewesen.

Diese Beobachtungen beweiscu also nicht, was sie beweisen sollen: dafs die Verstopfung des äufseren Gehör¬ ganges Folge einer Entzündung sei.

Die Anwendung des Seifeuwassers zur Erweichung des

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V 1. Schwerhörigkeit.

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verhärteten Ohrenschmalzes darf nicht so unbedingt empfoh¬ len werden, als es der Verf. thut, denn eben in den Fäl¬ len, wo zugleich ein entzündliches Leiden vorhanden ist, innls das Seifenwasser, als zu reizend, vermieden werden.

Der zweite Absch nitt handelt die Entzündung der auskleidenden Membran des Gehörgauges mit einer Nei¬ gung zu polypösen Wucherungen ab. Diese Krankheit ist wieder nichts anderes, als die unter dem Namen der Po¬ lypen des äufseren Gehörganges von den Autoren aufge-

führte. Ref. stimmt zwar mit dem Verf. darin üherein:

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die Ohrpolypen als Folge, nicht als Ursache der mit ihnen gleichzeitig obwaltenden Entzündung zu betrachten; kann es aber doch nicht ungerügt lassen, dafs der Verf. diese Ansicht, welche nicht von allen Pathologen getheilt wird, ohne Beweis hingestellt, und verlangt hat, dafs man sie auf Treue und Glauben hinnehmen soll.

Ueber Pathologie und Behandlung dieser dem Gehör gefährlichen Krankheit sagt der Verf. das Bekannte. Zwei darauf bezügliche Krankheitsfälle, welche er beifügt, bie¬ ten kein neues Interesse dar; der zweite lief in Folge einer durch Erkältung herbeigeführten Metastase tödtlich

ab; die Section des Kopfes wurde aber nicht gestattet.

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Hierauf folgt die chronische Entzündung des äufseren Gehörganges unter dem Namen: Entzündung der aus¬ kleidenden Membran des Gehörganges und des darunter liegenden Zellgewebes. Die Beschrei¬ bung ist nach der Natur gezeichnet, leidet aber an dem Fehler des ganzen Buches; der Verf. hat nämlich blofs be¬ schrieben, was er gesehen, ohne Benutzung fremder Ar¬ beiten, daher ist sie einseitig, und umfalst nicht alle Va¬ rietäten. Das was er beschrieben hat, ist die am häufig¬ sten vorkommende Form, bei welcher die Schmalzdrüsen vorzugsweise entzündet sind, wodurch eine Verengerung des hinteren Theilcs des Gehörganges entsteht. Er ver¬ langt mit Recht, dafs die Behandlung nicht einzig und allein auf den Gchörgaug beschränkt werde, sondern den

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VI. Schwerhörigkeit.

Gesammtorganismus zuvörderst in Anspruch nehme, und ta¬ delt den Mifsbrauch der adstringirenden Mittel, welche erst nach beseitigter entzündlicher Heizung Platz greifeu dürfen; er empfiehlt, wie seine Vorgänger, künstliche Ge¬ schwüre hinter den Ohren, und beginnt die Localbchand- lung mit Einbringung von Prefsschwamm in den äufseren Gehörgang, wodurch die Verengerung des letzten iheil- weisc gehoben werden soll; dauert dessenungeachtet der Ohrcnfiufs fort, dann tritt nach dem Verfasser, gleich¬ viel ob das Trommelfell durchbohrt, ob Kno- chenfrafs vorhanden ist oder nicht, der Zeit¬ punkt für die örtliche Anwendung a d stri n giren- der Mittel ein.

Dieses unrationelle Verfahren spricht sich selbst das Urtheil. Hef. glaubt sich in Bezug auf dasselbe jeder Kri¬ tik cuthalten zu können. Die drei erzählten Krankheits¬ geschichten zeigen durch ihren unvollständigen Erfolg, dafs es nicht so ein Leichtes um die Behandlung der chroni¬ schen Otitis ist, als der Verf. zu glauben scheint.

Die Verengerung des Gehörganges durch Flechten er¬ wähnt der Verf. nur gelegentlich , und verweist in Bezug darauf auf die allgemeine Pathologie uud Therapie.

Die im Gefolge der äufseren chronischen Ohrenent¬ zündung erscheinende Durchlöcherung des Trommelfelles

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berührt der Verf. kaum, indem er die Wiederherstellung des Gehöres in diesem Falle für eine Unmöglichkeit erklärt.

Diese Behauptung steht offenbar mit der Erfahrung im Widerspruche; denn wenn gleich das Trommelfell ein zum feinen Hören nothwendiger T heil ist, so wird doch bekanntlich das Hören durch eine in demselben befindliche OefTnung nicht unwiederbringlich vernichtet, was auch der Verf. selbst recht gut zu wissen scheint, indem er wei¬ ter unten Anzeigen für die Perforation des Trommelfelles aufstellt. i

Die von vielen Schriftstellern nufgeführte Erschlaffung, so wie auch die zu starke Anspannung des Trommelfelles,

345

VI. S chwerhürigkeit.

hält der Verf, für durchaus hypothetisch, und folgt hierin dein Aussprüche Itard’s. Solche Affectionen sollen sich, wie er behauptet, weder im Lebenden, noch in der Leiche nachweisen lassen. Was die Auffiudung eines Vitalitäts¬ fehlers, wofür doch die übermäfsige Anspannung des Trom¬ melfelles gehalten werden mufs, bei Leichen betrifft, so wundern wir uns nicht, dafs der Verf. nicht gefunden, wohl aber darüber, dafs er gesucht hat. Die Erschlaf¬ fung des Trommelfelles aber ist allerdings am Cadaver, und zwar von Morgagni (de sedib. et caus. Epist. XXL art. 24.) und von Rosenthal (Horn’s Archiv 1819. Juli und August. S. 17 Anmerkung.) gefunden worden.

Die Verdunkelung des Trommelfelles berührt der Verf. kurz und meint, dafs sie für sich allein dem Hören kei¬ nen bedeutenden Eintrag thue. Sodann handelt derselbe, S. 49 bis 85, die Krankheiten des mittleren Ohres ab.

Der Katarrh der Eustachischen Röhre und der Trom¬ melhöhle macht den Anfang. Er wird, wie schon De- leau lehrte, durch den Catheterismus der Eustachischen Röhre erkannt; die eingeblasene Luft, wenn sic eindringt, rregt ein «brodelndes » (Deleau’s muköses) Geräusch; dringt die Luft nicht ein, so sollen einige Tage lang In- jectionen von Wasser gemacht werden, um den Weg zu bahnen.

In Bezug hierauf erinnert aber Ref., dafs das in die Paukenhöhle gespritzte Wasser dieselbe oft mehre Tage lang nicht wieder verläfst, und daher kurze Zeit nach Wasseriujectionen die Beschaffenheit des durch Luftinjectio- nen erregten Geräusches durchaus kein richtiges Criteriurn abgiebt. Wenn es mifslingt, durch wässerige Ein¬ spritzungen den Weg in die Paukenhöhle zu bahnen, so giebt der Verf. den Rath, durch den in die Eustachische Röhre eingebrachten Silberkatheter eine Darmsaite in die Paukenhöhle zu führen. Durch dieses Manöver werden organische Verengerungen der Eustachischen Trompete von Verschleimung derselben unterschieden. Dieses Verfahren

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»

VI. Schwerhörigkeit

ist ohne Zweifel gut, und das allein sichere und zweok- mäfsige. Rcf. , welcher früher zu diesem Zwecke dünne stählerne Sonden empfahl, hat dieselben als nicht biegsam genug, selbst schon langst verlassen, und sich ebenfalls zu den Darmsaiten gewandt.

Die Behandlung des Trommclhöhlcnkatarrhs beruht, nebst Befolgung der etwanigen allgemeinen Indicationcn, nach dem Verf. auf Fortschaffung des augehäuflcn Schlei¬ mes und Verhütung neuer Anhäufungen. Dazu dienen die Injectionen, und zwar, da die Perforation des Trommelfelles und die Anbohrung des Zitzenfortsatzes wesentliche Nach¬ theile verursachen, die Injectionen durch den naturge- mäfscu Weg, durch die Eustachische Köhrc.

Unser Autor behandelt die Frage zwischen den Luft- und Wasscrinjectionen in die Eustachische Köhrc, wie die meisten seiner Vorgänger, auf eine höchst einseitige Weise. Er stellt sich nämlich, wie diese, die Frage: Soll man Luft oder Wasser injiciren? Kesser wäre es aber, wenu man sich fragte: lu w elchen Fällen müssen luftförmige deu wässerigen, in welchen hingegen wässerige den luft¬ förmigen Injectionen vorgezogen werden?

Der Verf. verwirft die Luftiujectionen , von denen er irrthümlich glaubt, dafs Delcau ihr Erfinder sei, wäh¬ rend sie doch schon Lentin anw’audte; er zieht die wäs¬ serigen Injectionen vor und bemerkt ganz richtig, dafs der gegen dieselben erhobene Eiuwurf, dafs sic nicht naturge- mäfs seien, da die Trommelhöhle eine Lufthöhle sei, nicht auf den kranken Zustand Anwendung finden könne. Die Erfahrung zeigt auch, dafs eine verschleimte Paukenhöhle wässerige Injectionen gut verträgt. Gleichwohl mufs Ref. prolcstiren, wenn der Verf. hei der Behandlung des Pau- kcnhöhlcncatarrhcs der Luftinjectiooen entbehren zu kön¬ nen glaubt, denn das von einem Catarrh geueseude mitt¬ lere Ohr verträgt keine wässerigen Injectionen mehr, wie unser Verf. Seite C8 selbst sagt, bedarf aber oft noch der Luftinjectioucn.

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VI. Scliwcriniriikcit.

Aufserdcm gicbt es Krankheitszustäudc des mittleren Ohres, bei welchen dasselbe, wenn man Luft einbläst, von Anfang her keinen schleimigen, sondern einen trocke¬ nen Ton gicbt, und alsdann selten wässerige Einspritzun¬ gen verträgt.

Der Verf. empfiehlt besonders die wässerige Auflösung des Kochsalzes zu Einspritzungen ; die Quantität des Koch¬ salzes soll mit der eintretenden Reconvalcscenz vermindert werden; er will dadurch sehr gute Resultate erlangt ha¬ ben. Der Vorschlag scheint eine praktische Prüfung zu verdienen.

Nachdem der Verf. sich von Seite 55 bis 59 bemüht hat, die zum Theil allerdings nicht haltbaren Gründe zu widerlegen, welche Deleau für seine Sonden und für die ausschliefsliche Anwendung der Luftdouchen angiebt, thcilt er bis Seite 64 sehr ausführlich Deleau’s Verfahren beim Catheterismus der Eustachischen Röhre aus dessen Aufsatz in der Revue medicale von 1827, und dessen Rapport adresse aux membres de l’administration des hospices de Paris 1829, mit.

Der Verf. beschreibt alsdann seine, im Wesentlichen mit der Itardschen übereinstimmende Weise, die Injectio- nen in die Eustachische Röhre zu machen. Die Itard- sche Laufzange (pince ä coulant) hat er modificirt und abbilden lassen, die Modification scheint aber unwesent¬ lich zu sein.

Die Injection, räth der Verf., wenn sie nicht gleich bis an das Trommelfell dringt, mit Kraft zu machen; spült das eingespritzte Wasser nicht Schleimportionen aus der Tuba aus, so soll es alsdann mit Kochsalz geschärft wer¬ den. Zusätze von aromatischen Aufgüsseu, von Auflösun¬ gen von Schwefelleber u. s. w. zu den Einspritzungen zu

machen, widerräth er als nachtheilig; er macht von Neuem

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auf die Thatsache aufmerksam, dafs der Erfolg der ersten Injectionen fast stets nur vorübergehend ist, und dafs erst nach lange fortgesetzter Behandlung die Besserung von

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348

VI. Schwerhörigkeit.

Dauer ist. Wenn die Cur so weit gediehen ist, dafs bei starkem Einblasen durch den Catheter der LufUtrom ohne Widerstand bis zum Trommelfell dringt und ein durchaus trockenes Geräusch hervorbringt, sollen die Einspritzungen aufhören.

In Bezug auf flüssige Einspritzungen ist Ref. hierin gleicher Meinung Luftinjectionen aber können alsdann, nach Ref. Erfahrung, immer noch mit Vortheil zur ferne¬ ren Roboration der Schleimmembrau der Paukenhöhle an¬ gewandt werden.

Es folgen fünf instructive Krankheitsfälle; bei dein letzten kann man dem Vcrf. den Vorwurf machen, dafs er sich auf die Behandlung des rechten Ohres beschränkte, am linken aber keine Ileilvcrsuche anstelltc, weil der linke Nasengang zu eng war, um dem Katheter den Durch¬ gang zu gestatten.

Der Verf. hätte hier das von Dclcau vorgeschlagenc und ausgeiibte Verfahren, den Katheterismus der Eusta¬ chischen Röhre durch den Nasengang der entgegenge¬ setzten Seite zu verrichten, mindestens versuchen sollen. Ref., kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dafs dieses Ma¬ növer, wenngleich sehr schwierig, doch ausführbar ist.

Die Verengerungen der Eustachischen Trom¬ pete, zu welcheu der Vcrf. alsdann übergeht, vergleicht er wohl nicht ganz glücklich mit denen der Harnröhre. Um diese Verengerungen zu heben, bringt er durch einen silbernen Katheter eine dünne Darmsaite in die Tuba, läfst sie einige Zeit liegen, und wiederholt dieses Manöver mehrmals.

Auch Ref. befolgt dieses Verfahren, und kann cs als nützlich und gefahrlos empfehlen. Das von Dclcau vorgeschlagenc Einbringen eines Stückes Prefsschwanun durch deu Katheter ist zwar keinesweges unausführbar, wie der Verfasser behauptet, aber cs erscheint gefährlich, denn cs könnte geschehen, dafs der durch den Schleim er¬ weichte Prcfsschwamm zurückblicbc, wenu mau ihn mit-

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VI. Schwcrli üri gkoit.

tclst des durch ihn gezogenen Fadens wieder auszieben wollte, indem dieser ausrisse. Zudem ist die in Anwen¬ dung gebrachte Darmsaite ein weit einfacheres Mittel.

Stricturen im knöchernen Theile der Trompete (bes¬ ser würde gesagt sein: Unwegsamkeit des knöchernen Thciles der Trompete, denn ob Stricturen oder andere Hin¬ dernisse diese Unwegsamkeit verursachen, läfst sich doch wohl kaum a priori entscheiden) vermochte der Verf. nicht auf diese Weise zu heilen, und hält hier die Per¬ foration des Trommelfelles für angezcigt.

Aufser der Verschliefsung der Eustachischen Röhre läfst er nur noch Verknorpelung oder Verknöcherung des Trommelfelles als Indication für die Durchbohrung dessel¬ ben gelten, und erklärt sich mit Recht gegen die in- distincte Anwendung dieser Operation bei hartnäckiger Schwerhörigkeit.

Die einzige beigegebene Krankengeschichte betrifft ei¬ nen Fall, in welchem diö Darmsaiten, und nach ihnen auch die zweimalige Perforation des Trommelfelles, nicht von erwünschtem Erfolge waren.

Die Verwachsung der Eustachischen Röhre soll, wenn sie am Eingänge befindlich, durch die Unmöglichkeit den Catheterismus mit geschickter Hand zu volllüT.ren, befin¬ det sie sich weiter oben, dadurch erkannt weiden, dafs die vordringende Darmsaite auf ein unüberwindliches Hin- dernifs stöfst. Da die Diagnose auf so unsicheren, blofs negativen Gründen beruht, verwirft der Verf. auch die ohnehin unzweckmäfsigen und gewagten Vorschläge von Saissy und Perrin, durch ein Stilet oder gar durch Höllenstein die Röhre wieder herzustcllcn. Ein Fall ist beigegeben, wo dem Verf. bei seiner vielen Uebung der Catheterismus beider Eustachischen Röhren nicht gelang, weshalb er eine Verschliefsung derselben zu erkennen glaubte. Da das Trommelfell beiderseits durchsichtig er¬ schien, so möchte vielleicht die Diagnose in Zweifel zu ziehen sein. Der Kranke wurde als unheilbar entlassen,

350

VI. Schwerhörigkeit.

ohne dafs die Durchbohrung des Trommelfelles vorgenom- inen worden wäre.

Die dritte Abtheilung, von Seile 86 an, begreift die Krankheiten des inneren Ohres, die nervöse Schwer¬ hörigkeit. Der Verf. theill dieselbe in eine erethi- schc, und in eine torpide Form ein; er unterscheidet 6ie durch das Onrentönen , welches ein steter Begleiter der ersten sei, hei der letzten aber fehle. Die Diagnose der Krankheit kann natürlich nur auf negative Momente be¬ gründet sein; lief, glaubt aber, dafs die von dein Verf. angeführten noch nicht genügend sind, um die Annahme einer nervösen Taubheit in concreto zu rechtfertigen.

Der Verf. sagt: «Wenn der änfscrc Gehörgang frei und rein, das Trommelfell durchsichtig und glänzend, die Eustachische Trompete und Paukenhöhle frei von jeder Schleimauhüufung, und zugänglich für die Luft und Was- scrdouchc sind, so ist man berechtigt, den Grund der Schwerhörigkeit im Gehörnerven selbst zu suchen.”

Ref. glaubt, dafs alle diese Negationen vorhanden sein können, ohne dafs man berechtigt ist, die Krankheit als im Nerven begründet anzusehen. Bei Diagnosen, welche, wie diese, lediglich auf dem Wege der Exclusion gestellt werden, kann man nicht vorsichtig genug zu Werke ge¬ hen; nun ist cs aber seit Büchner allgemein bekannt, dafs die meisten tauben Personen diejenigen Töne recht gut vernehmen, welche ihnen durch feste, an den Schä¬ del oder die Zähne gelegte Leiter mitgcthcilt werden. In allen diesen Fällen mufs mau nach des Ref. Dafürhalten den Gedanken an eine Inhabilität des Gehörnerven ver¬ bannen, dagegen auf eine Krankheit derjenigen Organe schlicfscn, welche das Geschäft haben, den Schall zur Per- ception des Nerven zu bringen. Diesen Punkt hat der Verf. ganz übersehen, und so bleibt es denn immer zwei¬ felhaft, ob sich nicht unter den von ihm mit Erfolg be¬ handelten Kranken mancher befand, desen Labyrinth voll¬ kommen gesund, und wo nur das mittlere Ohr krank war.

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Vf. Schwerhörigkeit. 351

Kann denn Krankheit des mittleren Ohres nicht auch ohne Verstopfung und Schleimanhäufung gedacht werden? Kommt sie nicht wirklich vor?

Das die nervöse Schwerhörigkeit begleitende Ohren¬ tönen, erklärt der Verf. durch die bei erhöheter Reizbar¬ keit des Gehörnerven von diesem percipirte Bewegung des Blutes in den Arterien des Labyrinths. Diese Art des Ohrentönens kommt vor , und wird von gebildeten Kran¬ ken als solche erkannt; Ref. sieht aber nicht ein, warum das mit wahrhaft nervöser Schwerhörigkeit auf¬ tretende Ohrentönen nicht auch in einer krankhaften Thä- tigkeit des Gehörnerven selbst seinen Grund haben kann, wie manche subjective Lichterscheinungen beim schwar¬ zen Staar.

Die Prognose stellt der Verf. bei jungen Subjecten und bei der torpid -nervösen Form am günstigsten, das letzte, weil hier die Anwendung kräftigerer Reizmittel ge¬ stattet ist. Der Verf. dringt darauf, dafs man die ört¬ liche Behandlung des Gehörorganes ausschliefslich in Anspruch nehme; das Labyrinth sei so isolirt von dem übrigen Körper, dafs die allgemeinen Mittel, wie man sie bisher mit geringem Erfolge anwandle, vergeblich sein müssen. Von diesem Grundsätze ausgehend, applicirt er seine Mittel lediglich durch die Eustachische Röhre auf die Paukenhöhle, und hat diesem Verfahren seine guten Erfolge zu danken. Der Verf. hat Injectionen von Koh¬ lensäure, sowohl rein, als mit atmosphärischer Luft ver¬ mischt, von Wasserstoffgas, von Kohlenwasserstollgas (Kohle im Maximo) mit und ohne Zusatz von Essigäther, ohne Erfolg versucht, und blieb zuletzt bei den Essigäther¬ dünsten stehen, welche siel) ihm bewährten. Ref. kann nicht über alle diese Mittel aus eigener Erfahrung urt hei¬ len, nur die Kohlensäure und die Essigätherdünste hat er in seiner Praxis, aber nur bei Krankheiten der Pauken- höhle, angewandt, und sic hier als nützliches, erregendes Mittel erkannt. Die Aethcrdünste entwickelte der Verf.

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VI. Schwerhörigkeit.

anfangs in dem von Itard hierzu vorgcsehlngcnen Appa¬ rate, verlief* ihn aber bald, weil in demselben der Aether, indem man ihn tropfenweise auf eine glühende Metallplattc fallen läfst, nicht blofs verflüchtigt, sondern zersetzt wird, und vertauschte ihn mit einem sehr einfachen, leicht zu construirendcn Apparate eigener Erfindung, mittelst dessen der Aether verflüchtigt und mit Wasserdämpfen vermischt, in einer Temperatur von 30 bis 40 Grad Reaum. in die Eustachische Röhre getrieben wird. Der Verf. versichert von diesem Verfahren, wenn es eine angemessene Zcitlang mit Beharrlichkeit fortgesetzt worden, die erfreulichsten Resultate erhalten zu haben. Die Anwendung des Galva¬ nismus hat er nicht versucht, indem er denselben, so wie die Elektricität, für eine Kraft hält, welche unserer Herr¬ schaft noch nicht genug unterworfen sei, um sic dem schwachen Reizvertrage des kranken Gehörnerven anpas¬ sen zu können.

Zuletzt berührt der Verf. noch kurz die Hörrohre. Er erklärt sie nur für die torpide, nicht für die crethisch- nervöse Schwerhörigkeit passend. Die Verstärkung des Schalles, welche sie hervorbringe, mache den Schall zu¬ gleich verworren, unverständlich, verstärke das Ohrtöneu, und sage deshalb den an crethisch- nervöser Schwerhörig¬ keit leidenden Krankcu nicht zu. I)ic Thatsache ist rich¬ tig das « Warum ist der Verf. aber schuldig geblieben, und deshalb auch die Abhülfe. Dieser Erscheinung liegt aber keine andere Ursache zum Grunde, als dafs durch den langen und vcrhältnifsmäfsig engen Canal des Hör¬ rohres die Luft in beständigem Strome zieht, und dieser Luftzug, indem er an die festen Wandungen des Hörrohres stöfst, ein Vibriren derselben erregt, so dafs dem subjecti- ven Sausen, welches der Kranke empfindet, noch ein ob- jectivcs hinzugefügt wird, weun er das Hörrohr an das Ohr legt. Verschliefst inan hingegen die weitere, den Schall aufnehmende Mündung des Hörrohres durch ein dar¬ über ausgespanntes Goldschlägerhäutchen, so wird dadurch

der

VI. Schwerhörigkeit. 353

der Luft der Durchzug verwehrt, das Sausen hört auf, der Schall aber verliert nur sehr wenig an Intensität, und so wird das Hörrohr für älle Kranke ungleich brauchba¬ rer. Diese einfache und nützliche Verbesserung rührt von Itard her.

Den Beschlufs des Ganzen machen noch die Geschich¬ ten von fünf Kranken, bei welchen die in die Eustachi¬ sche Röhre geleiteten Aetherdämpfe von gutem Erfolge waren.

Nach dem Vorangegangenen stellt es sich nun heraus, dafs die Pathologie der Gehörkrankheiten sich keines sonderlichen Gewinnes durch das vorliegende Werkcheu zu erfreuen hat; denn bei den Krankheiten des äufseren Ohres ist der Verf. , wie wir gesehen haben, hinter sei¬ nen Vorgängern zurückgeblieben; in Bezug auf die Krank¬ heiten des mittleren Ohres gebührt zwar demselben das Lob, die Diagnostik der Verengerungen der Eustachischen Röhre besser begründet zu haben, als frühere Schriftstel* ler; aber die Krankheiten des Trommelfelles und ihren Zusammenhang mit denen des mittleren und äufseren Oh¬ res hat er unvollständiger gewürdigt, als sie es verdienen, und Frühere es gethan haben, und des Verf. Diagnostik der nervösen Schwerhörigkeit beruht, wie wir gesehen haben, auf nicht ganz richtigen Grundlagen, so dafs da¬ durch auch alles andere über diese Krankheit von dem¬ selben Gesagte schwankend wird.

Was die Therapie betrifft, so besteht das Verdienst des Verf. zuvörderst darin, dafs er von Neuem auf die Wichtigkeit der örtlichen Behandlung, und besonders der Application der mcdicamentösen Stoffe auf die Schleimhaut der Paukenhöhle hinweist, und sodann in der Einführung einiger neuen Verfahren gegen die Krankheiten des mitt¬ leren und inneren Ohres, über deren Werth fernere Prü¬ fungen zum Theil erst noch entscheiden müssen.

Erweitert haben demnach die Forschungen des Verf. ' die ' Wissenschaft nicht eben um Vieles, gleichwohl aber Band 28. Heft 3. ^

354

VII. Heilquellen.

ist Hof. doch weil entfernt, ihm Verdienst absprechen zu wollen. Das YVerkchcn enthält viele lur die Praxis schätz¬ bare Winke, besonders in den Krankengeschichten, diese müssen dankbar angenommen werden, und cs würde un¬ gerecht sein, mehr zu verlangen, da der Verf. kein Hand¬ buch schreiben, sondern nur « K rfa h rungen » mittheilen wollte. Seine Erfahrungen haben aber auch vielen früher gemachten Beobachtungen eine neue Bestätigung geliefert, und dieses Verdienst schlägt. Kef. sehr hoch an; denn wenn es gleich rühmlicher sein mag, Neues zu liefern, so ist es doch mindestens eben so nützlich, das Alte zu befestigen, damit nicht endlich hei stetem Aufbauen der (irund wan¬ kend werde. Manches freilich, was lief, dem Verf. hier¬ her rechnet, will dieser als eine neue Eroberung geltend machen, er wild sich aber gewifs bescheiden, wenn er die Litteratur mehr zu Rathe gezogen haben wird. Er hat mit Eifer gearbeitet, und ist gewissenhaft zu Werke gegangen. Dies und sein an den Tag gelegtes Talent be¬ rechtigt uns zu der lloll'nung, dafs er künftig noch bedeu¬ tendere Beiträge auf diesem Felde liefern werde.

Die üufserc Ausstattung des Buches ist gut.

K.

VII.

Schriften über Hcilqnellen.

1. Rcmini8ccnzen über die Heilquellen des Her¬ zogthums Nassau. Mit besonderer Berücksich¬ tigung Sch langen bad s. Zur Eröffnung der Curzeit an den Heilquellen des Taunus in dem Jahre 1833 von Dr. Kenner v. Fennenberg, Badearzte in Scbvval hach und Schlangeubad. Wiesbaden, bei Enders. 8. 35 S.

355

VII. Heilquellen.

Zu bedauern ist es, dafs der von Ficker (dem Vater) und einigen anderen Badeärzten angefangene Gebrauch, nach Beendigung einer jeden Curzeit über ihre Heilquel¬ len zu berichten, nicht allgemeiner geworden ist, was frei¬ lich auf eine andere Weise, als in vorliegenden Blättern, geschehen mufs, wo Inhalt und Darstellung die Vermu- thung erwecken, dafs die Schrift nicht aus der Feder eines gehildeteu Brunnenarztes, sondern eines Wirthes und Kell¬ ners hervorgegangen, welcher nach Marktschreierweise sich und seinem Städtchen Zulauf verschaffen will. Hieraus geht hervor, dafs diese Broschüre weder Aerzte, noch ge¬ bildete Nichtärzte befriedigen kann, es sei denn, dafs mau an Agrypnie leidend (was beim Gebrauche der Eisenbäder ja oft der Fall ist) mit Hülfe einer langweiligen, Ekel er¬ regenden Lectüre den Schlaf herbeiführen will.

In einem schwülstigen, an Hyperbeln reichhaltigen Style wird von den Verbesserungen, Verschönerungen und Heiltugenden Wiesbadens, Ems, Schlangenbads, Schwab bachs, Weilbads gesprochen, Selters und Geilnau uner¬ wähnt gelassen. Lobeserhebungen werden gespendet, die nur schaden können, da die Wirklichkeit nicht bietet, was hier verheifsen wird. Weilbachs Heilkräfte werden überschätzt, und die erzwungenen Lobpreisungen und die vielen gewagten Behauptungen über alle Thermen des Her¬ zogthums Nassau erwecken beim Leser den Gedanken 4 dafs der Verf. die Verpflichtung übernommen, die Nas- sauischen Bäder auf Kosten anderer zu erheben. Wahr¬ lich, die Schrift ist ein Seitenstück zu den Aushängeschil¬ dern jener in Paris geächteten Aerzte, welche ohne (Queck¬ silber auf eine sanfte Weise galante Krankheiten in we¬ nigen Tagen beseitigen wollen.

Was über das liebliche Schlangenbad hier gesagt ist, dürfte auch eben nicht das Vertrauen der Aerzte zu dieser Heilquelle befestigen, welches besonders bei hysterischen Frauenzimmern sich wirksam zeigt, und durch kein an¬ deres Bad, selbst Ems nicht, zu ersetzen ist, und bei ge-

23 *

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\ II. I loJIqnclIcn.

I

wissen eingewurzelten Untci lcibsk rank heilen mit grofscr Aufregung des Nervensystems . vorzugsweise geeignet zu sein scheint, eine Bude- und Brunnencur zu eröffnen.

Leider existirt über Schlangcnbad noch immer keine genügende Brunnenschrift, und wir dürfen auch nicht wün¬ schen, von Herrn Kenner eine solche zu erhalten, die doch nur Dichtung und Wahrheit in einem schwülstigen Style enthalten würde.

t

2. Eigent ml ich e Heilkraft verschiedener TM i - neral wässer; aus ärztlichen Erfahrungen dargestellt von Joseph Bitter v. Vering, Dr. der Arzneikuude, ausübendem Arzte in Wien u. s. w. Wien, 1833. 8. 68 S. '

Non multa, sed multum enthält vorliegende Bade¬ schrift, welche uns mit den Eigenthiimlichkeitcn mancher bisher noch wenig gewürdigten Trink- und Badequellcn bekannt macht, und das Resultat einer gediegenen Erfah¬ rung ausspricht. So viel Badeschriften wir auch schon besitzen mögen, so fehlt es uns immer noch an einer hin¬ reichenden Erfahrung über die Heiltugenden und Eigen, thümlichkeitcn der einzelnen Heilquellen, und wir w’erden solche nicht eher besitzen, als bis die Badeärzte, welche die meisten Kranken während einer Saison nur scheu und nachher nie mehr zu Gesichte beKommcn, mehr gemein¬ schaftlich mit den Acrztcn handeln, welche aus der Nahe und Ferne die Kranken ihnen zusenden. Ein solcher Aus¬ tausch der Beobachtung und der Erfahrung wird aber dann erst zu einem wissenschaftlichen Resultate führen, wenn die Badeärzte aufhören das zu sein, was sie bisher waren, und es unter ihrer Würde halten, in einem Geiste zu schreiben und zu arbeiten, wie Herr v. Fenn er in den Beminiscenzen über die Nassauischen Heilquellen gethan,

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VII. Heilquell en.

der Seite 18 daselbst Klage führt, dafs neben den eisen¬ haltigen Mineralwässern heut zu Tage keine auflösenden Mittel mehr verordnet werden, was die Folge gehabt, dafs die au eisenhaltigen Brunnen früher so nothwendig befundenen Abtritte verschwunden seien!

Was der in den Annalen der Wissenschaft rühmlichst bekannte Vering über die eigentümliche heilkräftige Wirkung der einzelnen Mineralquellen bemerkt, welche erst in einer richtigen Folge nacheinander gebraucht für die Kranken erspriefslich werden, verdient bei den jünge¬ ren Aerzten Berücksichtigung zu finden , welche überhaupt gut thun würden, nach Beendigung ihrer Studien einen Thcil ih rer für die Reisen in fremden Ländern bestimmten Zeit den Bade- und Brunnenorten des Vaterlandes zu wid¬ men, was in subjectiver nnd objcctiver Beziehung von gröfserem Wertlie sein dürfte, als die Anwesenheit in den italienischen Caffee’s u. s. w., wohin sie überhaupt nicht leicht wirkliche Kranke senden dürften.

Der Verf. kennt sämmtliche Quellen von denen er hier handelt, entweder aus Autopsie, oder aus den Resul- taten eines wiederholten Aufenthaltes seiner Patienten, denen er nie eine bestimmte Anzahl Becher oder Bäder vorschrieb, indem die zur Sättigung des Organismus nö- th »ge Zeit von der Individualität des Kranken abhängig ist. Eben so fand er es häufig räthlich, die Mineralwässer untereinander, oder mit künstlichen gemischt trinken zu lassen, woher es kommen mag, dafs die hier mitgetheilten Erfahrungen verschieden von denen anderer Aerzte sein mögen.

Sch wefel wässer beleben nach V., ohne Beeinträch¬ tigung der Ernährung, die Verrichtungen der Aussonue- rungsorgane, und bewirken, unter Steigerung des Blutum- tricbes und erhöheter Thäligkeit der Leber und Pfortader, eine Lösung der krankhaften Erzeugnisse. Für Gichtkranke passen sie nicht unter allen Umständen, da sie bei ner¬ vösem Gichtleiden häufig Metastasen herbeiführen, die

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VII. Heilquellen.

Gichtanlage nicht beseitigen, und hei jüngeren Kranken die Gicht unheilbar machen. Demzufolge betrachtet V. die schwächeren Schwefelwässer für unheilbare Gichtkranke im vorgerückten Alter aU ein treffliches Linderungsmittel, besonders wenn nebenbei zur Winterszeit gegen die krank¬ hafte Beschaffenheit des Blutes gewirkt werde, wobei nicht aufser Acht zu lassen ist, dafs nach einem mehrjährigen Gebrauche dieser Thermen derselbe nicht ausgesetzt, oder mit einer anderen vertauscht werden darf, unter welchen Umständen der Kranke leicht apoplectisch endigen kann.

V. rühmt die Schwefclwässer besonders gegen Scro- pheln, wobei aber gleichzeitig Antiscrophulosa verordnet werden müssen. (Das Ol. jecinoris aselli dürfte hier vor allem den Vorzug verdienen. lief.)

In Bezug auf die eigenfhiimlichen Heilkräfte einiger Schwefclwässer bemerkt der Vcrf. , dafs die Quelle zu Unter- Meidling bei Wien gegen gichtische Blasenkrank¬ heiten, Gries und Stein, das Wasser zu Vöslau gegen scrophulösc, gichtische Uebel der Haut und des Uterus sich bewähre, dafs Land eck von scrophulös- gichtischen Brustkranken vertragen werde, iodefs Baden bei Wien gegen Krankheiten der Haut, der Knochen und der Nie¬ ren, gegen den wreifsen Flufs, Trentsin in Ungarn gegen syphilitische Gicht und arthritische Augenentzündungen, Warmbrunn gegen veraltete scrophulöse und syphiliti¬ sche Nasengeschwüre, Aachen gegen veraltete syphiliti¬ sche Krankheiten, Lähmungen, Folgen von' Metall Vergif¬ tungen, Piestyau in Ungarn gegen scrophulös-gichtischc Flechten, Steifigkeit der Muskeln, Harkauy in Ungarn gegen Gicht, complicirt mit Unterleibskrankhciten , gegen Nachübcl von Arsenik- und Quecksilbervergiftungen, Me¬ li ad ia in der Militärgränze des Bannats gegen gichtische und durch Wunden bedingte Gelcuksteifheit, gichtische Blasenübcl, scrophulöse Haut- und Knochenkrankheiten, Abano in der Lombardei gegen Mcrcurialkraukhcit und syphilitische Gicht, Wind dorn, Ba reges gegen Gicht,

VII. Heilquellen. 359

v

Scropheln und durch Verwundungen bedingte Gclenkstei- ligkeit treffliche Dienste leisten.

lief, hat die Erfahrung nicht, um beurtheilen zu kön¬ nen, in wie weit die Aussprüche des Verf. richtig sind, und glaubt nur die Bemerkung machen zu dürfen, dafs eine zu genaue Specialisirung der Wissenschaft und Kunst, für jetzt wenigstens nicht, förderlich sein könne, und zwar wegen Mangel an zuverlässigen Vorarbeiten für diesen rein praktischen Gegenstand.

Die Eisen wässer verbessern nach V., unter Beschleu¬ nigung des Kreislaufes, die Beschaffenheit des Blutes, da¬ her sie als Nachcur in der Scrophulosis, gegen die durch all gemeine Körperschwäche und mangelhafte Beschaffenheit des Blutes bedingten Ucbel, bei sogenannten Blutern, bei allen aus Nervenschwäche entspringenden Krankheiten, bei leucophlegmatösen Individuen passen. Pyra warth in Nie¬ derösterreich soll vorzugsweise bei Atonie der Geschlechts- theile, Binnewieden in österreichisch Schlesien bei Ner¬ ven- und Verdauungsschwäche, Taymannsdorf in Un¬ garn bei atonischer Gicht, bei krankhaften Umbildungen der Unterleibsorgane, Füred in Ungarn gegen Bleichsucht, Schleimllüsse und Nervenleiden, Franzensbrunn gegen Hypochondrie, Blutanschoppungen in der Leber und Milz, als Nachcur nach Karlsbad, die Salzquelle zu Franzeus- brunn gegen langwierige Hals- und Brustbeschwerden, Blasenschleimflüsse, die Gasbäder daselbst gegen atoni- sclie Gicht, bösartige Geschwüre, Unfruchtbarkeit wegen auf¬ gehobener Reizempfanglichkeit der Geschlechtsthoile, Ano- malieen der Menses, die Moorbäder daselbst gegen Rha- chitis und Verhärtungen drüsiger Organe, Neulublau in Ungarn gegen Nervenschwäche, Stockungen in den Unter- leibseingeweiden , Anomalieen der monatlichen Reinigung, Hals- und Brustleiden, Recoaro in der Lombardei in al¬ len Krankheiten, gegen die mau Karlsbad verordnet, wenn die letzten wegen ihrer erhitzenden Wirkung unpassend sind, Klausen in Steiermark gegen reine Schwäche, Cu-

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VII. Heilquellen.

dova gegen directc Schwäche, Bart fei d gegen die aus dirccter Schwäche der Nerven entspringenden Krankhei¬ ten, gegen wTeifscn Flufs, mit besonderem Erfolge ge¬ braucht werden. Die letzte Quelle soll vollkommen Pyr¬ mont, und wahrscheinlich daher auch die Quellen von Schwalbaeh ersetzen, die wir zu unserer Verwunderung hier nicht erwähnt finden, obwohl der Verf., der das be¬ nachbarte Schlangenbad besuchte, sie gowifs gekannt hat.

Die Jod enthaltenden Wässer befördern dicThätlg- keit des Drüsen- und Lymphsystems, und vermehren die Ab- und Aussonderungen, erweichen Lungenknoten und wirken cigenthiimlich reizend auf die Genitalieo. Luhat- schowitz in Mähren zeigt sich wirksam gegen Bauch« scropheln, Ilautausschläge und äufsere Scropheln, Ilall in Oesterreich gegen scrophulösc Anschwellung der Schild¬ drüse, Atonie der Gebärmutter, scrophulösc Geschwüre, Heilbrunn in Baicrn gegen Gries- und Steinbeschwer¬ den, Hautllechten, scrophulöse Augenleiden, Wassersucht.

Die Wirkung der erdig-alkalischen Mineral¬ wässer bezeichnet V. als auflösend auf Drüsen- und Lymphsystem, die Harn- und Ilaulabsonderung verbessernd und belebend, das Nervensystem beruhigend, wogegen die saliuisch alkalischen und muriatisch - alkalischen Mineral¬ wässer einen flüchtigen Charakter haben und belebend aufs Nervensystem, mitReiz auflösend auf das Drüsen- und Lymph¬ system wirken. Ueber Ems theilt der Verf. das Bekannte mit, und er hat gewifs Recht, wenn er behauptet, dafe sehr reizbare und durch ein hohes Alter schwächliche Kranke erst Schlangenbad besuchen sollen, bevor sie ihre Cur in Ems beginnen. Andersdorf in Mähren soll ge¬ gen Schwäche und Reizbarkeit der Respirationsorganc, die Folge überstandencr Entzündungen, Borszek in Sieben¬ bürgen gegen Schwäche und \ erschleimug der Harnorganc, Schleimhämorrhoiden , Schlangenbad gegen Baucbscro- pheln, Flechten und Hautkrankheiten, Blasenkrampf, Döb- bel in Steiermark gegen durch Scropheln und Gicht be-

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VII. Heilquellen.

dingte Ncrvcuübel, Töplitz in Böhmen gegen Ucbel gich¬ tischen Ursprungs, Verengerungen des Mastdarms, Bilin gegen llämorrhoidalbeschwerden , Gastein gegen venöse Gicktleideti, Erschöpfung der Nervenkraft, männliches Un¬ vermögen, Fac hingen gegen Gallensteine, Harnbesch wer¬ den und Wassersucht, Selters gegen Lungenschwäche, Skleno in Un garn gegen scrophulösc Leiden des Uterus, der Lungen und Ohren, sich heilsam zeigen.

Der Leser, wie der Verf. , wird den Vorwurf nicht unbillig finden, dafs die in dieser Klasse zusammengestell¬ ten Wasser nicht zusammen passen, und auch durchaus nicht zusammen gehören, was namentlich von dem che¬ misch indifferenten Gastein gilt, das nicht einen Platz ne¬ ben Töplitz erhalten darf. Eben so müssen wir uns wun¬ dern, in der Klasse der Glaubersalzwässer Karlsbad, Pfef- fers und Marienbad nebeneinander zu sehen.

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Unter den Bittersalzwässern wird dasPüllnaer besonders richtig gewürdigt. Von den Kochsalzwäs¬ sern behauptet der Verf., dafs sie eine eigeuthümliche Wirkung auf das Drüsensystem, auf die Schleimhäute der Respirations- und Harnwerkzeuge haben, und den Abgang der Menses befördernd wirken. Unrichtig ist es, dafs Soo- len- und Seewasser sich nur zum Baden qualificiren, indem in neuester Zeit sie auch getrunken werden, wie namentlich in Kreuznach und Scheveningen geschieht. Un¬ erwähnt hat der Verf. gelassen, dafs Soolen- und Salzbä¬ der die beim Eintritt der Menses häufig sich einstellenden Krampfbeschwerden beseitigen, und bei Blutern die Prä¬ disposition zu jenen tödtlichen Blutungen aufheben.

Wir wünschen dieser kleinen Schrift viele Leser, die gewifs befriedigt sie aus der Hand legen werden, indem jeder die Ueberzeugung erlangen wird, dafs er hier Wahr- 7 heit, keine Phantasiestücke findet.

Ueyfe liier.

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362

VII. Heilquellen.

3. Ueber die Mineralwasser in dem Königreiche Würtemberg und in den angrenzenden Gegen¬ den; nebst Bemerkungen über das Verhältnis ihrer Mischung und Temperatur zu den Gcbirgsartcu. Von Moritz Friedrich Leipprand. Tübingen, IS3I. 8. 47 S.

Die Schrift bestellt aus zwei Hauptabschnitten; der erste enthält eine Uebersicht der Mineralwasser im König¬ reiche Wiirtemberg. Ihre Eintbeilung ist folgende:

I. Mineral wasser mit schmeckbarem oder riechbarem mineralischen Ge h alte.

A) Säuerlinge, a) solche, die eine beträchtliche Menge kohlensaures Eisenoxydul enthalten; *) natronhal¬ tige Säuerlinge: Autogast, Petersthal; ß) nicht natronhal¬ tige Säuerlinge: Griesbath, Ripoldsau; y) bittersalzbaltigc Säuerlinge: Imnau, Niedernau; J) glaubcrsalzig - und bit¬ tersalzig- kochsalzige Eisensäuerlinge: KannstaU, Berg bei Kannstatt; t) Eisensäuerlinge mit Mangel oder geringen Mengen von schmeckbaren Salzen: Ueberlingcn, Hattenho¬ fen, BieriDgcn; b) solche, welche kein kohlensaures Ei¬ senoxydul enthalten, <*) kohlensaures Natron haltige: act) Drinach, ßß) Göppingen; ß) Säuerlinge ohne kolilen- saurcs Eisen und Natrum: ««) Obernau, Börstiugen; ßß) Ditzeubach, Klein- Engstingen.

B) Mineralwasser, welche Schwefelwasser¬ stoffgas enthalten, a) Natronhaltige Sehwefclwasser, u) Glaubersalz- und Natronhaltige Sehwefclwasser: Bill; ß ) Natronhaltige ohne Glaubersalz: Reutlingen, Beohliu- gen; y) Bittersalzbaltigc: Sebastianswcilcr, Ohmcnhauseu: J') Sehwefclwasser ohne kohlcnsaures Natrum und ohne bemerklichc Mengen von Glaubersalz und Bittersalz: Tü¬ bingen, Rcigheini, Zaizcnhauscu. b) Sehwefclwasser, die ihren Gehalt an Schwefelwasserstoff durch deu Geruch verrathen (schwefcligc Wasser), *) eisenhaltige: Ncu- stütlen, Bad bei Waiblingen, Schlamm, Ueilbrouu, Was-

VII. Heilquellen. 363

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seralfingen; ß) nichteisenhaltige: Stuttgart, Kornwestheim, Winterbach.

C) Mineralwasser, welche kohlensaures Eisenoxy¬ dul enthalten, ohne hervorstechende andere, insbesondere gasförmige Bestandteile, a) mit kohlensaurcm Natrum: Drinach, Ueberlingen; b) ohne kohlensaures Natrum: Jor¬ dansbad bei Biberach.

D) Salzwasser, a) glaubersalzig- kochsalzige Mi¬ neralwasser: Mergentheim; b) Salzsoolen: Friedrichshall, Ludwigshall, Rappenau, Dürrheim, Wilhelmshall, Sulz, Hall, Niedernhall und Weinsbach, Bruchsal und Upstatt.

II. Min eralwasser ohne schmeckbaren und riechbaren Gehalt:

A) Süfse Wasser von höherer Temperatur, a) warme, *) mit kohlensaurem Natrum: Wildbad; ß) ohne kohlensaures Natrum: Baden; b) laue Quellen, *) mit Natr. carbon.: das Libenzeller Bad; ß) ohne Natr. carbon.: Huhbad, Safsbad, Badenweiler.

B) S üfse Wasser von gewöhnlicher Tempe¬ ratur, a) Natrumhaltige: Krähenbad, Nieratzer Bad bei Wangen, Thierbad bei Welzheim, Tübingen; b) ohne kohlensaures Natrum , *) bittersalzhaltige: Stuttgart, Theus- serbad; ß ) mit schwefelsauren Verbindungen: Bad zu Rie¬ tenau, Kirchbrunnen zu Heilbronn u. s. w.; y) bittererdige und kalkerdige: Waldbad, Gangulfsbad, Ilgenbad, Wildbad bei Giengen.

Der andere Abschnitt betrifft das Verhältnifs der Mi¬ neralwasser zu den Gebirgsarten , und hier finden wir fol¬ gende Aeufserungen: Die warmen und lauen Quel¬ len kommen blofs in der Granitformation und der damit eng verbundenen Sandsteinformation des Schwarzwaldes, wo diese den Granit kaum bedeckt, vor; daher die hohe Temperatur der warmen Quellen in der Bildungsperiode der Gebirgsmassen und in der Tiefe zugleich ihren Grund zu haben scheine. Die Sauerwasser fehlen der Kru- pcrformation und der Molassc Oberschwabens, und linden

364

VIII. Aerztliche Mittheilungen.

sich in allen Kalkformationcn. In ihrer Nachbarschaft sind häufig Schwefelwasser- oder Schwefelkies-, oder schwefel- saure Verbindungen. Die Sch wcfcl wasscr finden sich hauptsächlich in der Gryphitenkalkformation , Wasser mit kohlcnsaurcm Eisenoxydul in allen Formationen, ain häufigsten in der Gncus-, Granit- und Sandsteinformation des Schwarzwaldes, die Salzwasscr in der Muschelkalk- forniation; Wasscr mit Mangel an Schwefelsäuren und salzsauren Verbindungen in der Molassc und im Grvphitenkalk ; kohlensaures, sch wefclsa ures und salzsaures Na t rum enthaltende Wasscr in der Gncus-Granitformation und im Gryphitcnkalk; Wasser mit kohlensaurer Bittcrerdc in der Muschelkalk- lind Gryphitcnkalk-, in der Krupcrformation und in der Molassc; Gypshaltigc Wasscr in der Kruper- und Mu- schelkalkforniation; die reinsten, den destillirten Wassern analoge Wasser, in der Sandsteinformation des Schwarzwaldes.

Aehnliche Arbeiten über andere Gegenden und ihre Bäder, namentlich Nassau, den Preufsischen Niederrhein, Böhmen, Schlesien u. s. w., wären willkommene Gaben für Kunst und Wissenschaft.

Ileyf ehler.

VIII,

Mittheilungen aus dem Gebiete der ge¬ summten Heilkunde. Herausgegeben von ei¬ ner medicinisch - chirurgischen Gesellschaft in Ham¬ burg. Band II. Hamburg, in Commission bei Per¬ thes und Besser, i 833. 8. VI u. 431 S. (1 Thlr. 8 Gr.)

Von allgemeinerem Interesse als der erste Band der thiitigeu ärztlichen Gesellschaft Hamburgs ist dieser zweite,

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VW. Aerztliche Mittheilnngen. 365

der TI. Versammlung der Aerzle und Naiurforscher ge¬ widmete, da er eine Uebersicht der epidemischen Krank¬ heiten Hamburgs von den Jahren 1826 bis 1833 giebt Voran gebt die besonders von Dr. Hachmann herrüh¬ rende Bearbeitung der Krankheitsconstitution und Witterung Hamburgs vom Jan. 1829 bis Dec. 1831. Eine mühsame, monatliche Zusammenstellung aus den Be¬ richten der meisten Mitglieder, die, keines Auszuges fä- hig, viele Thatsachen über das Erscheinen der epidemi¬ schen und endemischen Krankheiten enthält. Ref. hätte gewünscht, dafs der Hr. Verf. aus den monatlichen Dar¬ stellungen ein Bild der Constitutio annua epidemica gege¬ ben hätte. Biliöse Krankheiten des Frühlings 1830, von Dr. Heise. Mit Ausnahme der Wechselfieber, sind fast alle Fieber Hamburgs mit örtlichen Symptomen der Schleimhäute verbunden, entweder der Respirations¬ organe oder des Darmkanales. Im genannten Frühjahre entstanden weniger häufig gastrische, als biliöse Fieber. Trägheit, Zerschlagensein der Glieder, Unlust zur Ar¬ beit, Schläfrigkeit, drückende Schmerzen im Vorderkopfe, Schwindel, Flimmern vor den Augen, Appetitmangel, bit¬ terer Geschmack, weifs oder gelb belegte Zunge, träger Stuhlgang, Drücken in der Magengegend, Empfindlichkeit gegen Druck auf die Lebergegend, besonders den linken Lappen, schmerzhaftes Ziehen in der rechten Schulter und häufiger noch im rechten Beine, besonders in der Wade, sparsamer, brauner Urin u. s. w., zeigten die venöse Be¬ schaffenheit des Blutes an, welche sich durch vermehrte Thätigkeit in der Leber zu entscheiden suchte. Dies ge¬ schah denn durch Naturhülfe, indem sich nach 8 bis 14tä- gigem Leiden ein Brechdurchfall ausbildete, oder durch Kunsthülfe, indem nach gelindem antiphlogistischem Ver¬ fahren Evacuantia, besonders nach oben, gegeben wurden. In vielen Fällen aber trat die Naturhülfe nicht ein, und es ging dann dieser Zustand von Polycbolie in wirkliche Febris biliosa über, die mit einem bedeutenden Frostan-

366 VIII. Aerztüche Mittheilungen.

falle, grofscr Beklemmung in den Präcordico und darauf folgender brennender Hitze begann. Die Augen glänzten, das Gesiebt war rolh, der Kopf schwindlich, Scblaf un¬ ruhig mit Delirien, Puls lebhaft, gefüllt und frequent. Zie¬ hende Schmerzen in den Extremitäten, besonders in den Waden, grofscr Durst, trockene (besonders in der Mitte) Zunge, Gefühl von Völle in der Magengegend, Pulsatio epigastrica, Schmerzen in der Leber, die sich durch Er¬ schütterungen (Husten, Niesen u. s. w. ) und Bewegungen des Körpers vermehrten, beschleunigte Respiration, kur¬ zer, trockener Husten, zuweilen mit blutigem Auswurfe. Auch jetzt erschien Brechdurchfall, doch ohne Euphorie. Der Durchfall hielt oft lange an, und mufstc dann mit Opium, welches auch die anhaltende Schlaflosigkeit hob, bekämpft werden. Am besten bekam auch dann noch ein gelindes antiphlogistisches Verfahren mit mäfsi- gen Blutentziehungen; in der Reconvalesccnz Mineralsäu¬ ren. In wenigen Fällen steigerte sich die Fcbris biliosa zur Hepatitis. Sehr richtig bemerkt der Verf., dafs die jedesmalige Beschaffenheit des Erdbodens zur Erzeugung von epidemischen Krankheiten von weit gröfscrem Ein¬ flüsse sei, als die der Atmosphäre. Deshalb giebt es auf dem Meere keine epidemische Constitution, und der Auf¬ enthalt auf demselben disponirt, die Witterung mag sein wie sie will, durchaus nicht zu Krankheiten. Feuchtig¬ keit des Erdbodens, Ueberschwemmungen , wie sie in Deutschlands Flufsgebieten im Frühjahre 1830 fast durch¬ gängig statt fanden, haben in Hamburg, so auch in ande. ren Orten, die galligen Krankheiten wahrscheinlich her¬ vorgebracht Sieben Krankheitsfälle bcsehliefsen den gut geschriebenen Aufsatz, der den bald nachher an Diabetes mellitus erfolgten Tod des Verf. bedauern lälst. Die Wcchselficberepidciniecn der letzten Jahre in Hamburg, nach Beobachtungen des Dr. P. Schmidt. E. F. Ilomann, Weis flog und eignen beschrieben von Dr. Hackmann. Das Jahr 1826 bildete wieder die trotz der

VIII. Aerztliche .Mittheil ungen. 367

günstigen Lage und der gewöhnlichen, zu Wcchselfiebcrn disponirenden Volksdiät längere Zeit fehlende Intermittens, zu einer Epidemie aus, die sich al)cr auf die tief gelege¬ nen Sladttheile, welche Ueberschwemmungen ausgesetzt gewesen waren, beschränkte. Im nächsten Jahre, wo die günstigen Bedingungen, Ueberschwemmungen und heifser Sommer, fehlten, breitete sich die Epidemie viel weiter aus und erstreckte sich auch über hoch und trocken ge¬ legene, selbst sandige Binnenländer Deutschlands, zum Be¬ weise, dafs die Ursachen dieser Epidemieen nicht blols localer oder nur tellurischer, oder atmosphärischer Art, sondern von allgemeinen cosmischen Einflüssen bedingt werden. In den Jahren 1828 bis 1831 hatten die Epide¬ mieen eben so bedeutende Intensität, so dafs in den heifsen Sommern selbst die sonst gewöhnlichen galligen Fieber vor ihnen zurücktraten. Häufig gingen Symptome einer Febr. nervosa versalilis vorher, und wurden durch den eigent¬ lichen Wechselfieberanfall beseitigt. Ref. sah in den erst¬ genannten Jahren öfter einen Wechsel zwischen beiden Krankheitsformen in einem Kranken, so dafs Typhus ab¬ dominalis, Febris biliosa, selbst Parotidengeschwülste nach dem Erscheinen einer Febr. intermittens verschwanden, aber nach Unterdrücken oder freiwilligem Verschwinden dieser wieder erschienen u. s. w., so dafs Ref. schon da¬ mals mehrfach äufserte, die nächste Ursache der Febr. in¬ termittens bestehe wohl nicht in einem Nerven-, sondern in Blutleiden, wie bei den genannten, in übermäfsiger Ve- nosität begründeten Krankheiten eine Ansicht, deren weitere Entwickelung hier zu viel Raum einnehmen würde.

Der Typus dieser in der Regel einfach verlaufenden Wechselfieber war meistens tertian, und drückte sich selbst anderen Krankheiten auf. So hatten nicht nur die ga¬ strisch-nervösen Fieber, sondern auch die catarrhalischen Beschwerden der Luftwege, die hcctischen Fieber, ja selbst die Krampfanfälle hysterischer Frauen einen Tertiantypus. Merkwürdig ist, dafs die neuesten Wechsclficberepidemieen

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368

VIII.

Acrztlichc Mitthcilangen.

so sehr selten zur Bildung sogenannter Ficbcrkuchen Ver¬ anlassung geben, was doch so oft in den älteren geschah; Bef. und mit ihm mehre Beobachter sahen sic nie, so auch der Yerf., die aber doch in den Leichen solcher Per¬ sonen, die, nachdem sie längere Zeit am Wecksclficbcr gelitten hatten, an anderen Krankheiten gestorben waren, die Milz gröfser und dunkler, härter oder weicher, als gewöhnlich fanden. Die Proguosc war gut, nur häufig Recidivc und nicht immer au den gewöhnlichen Tagen, souderu häufig nach diesen durch die leichtesten Diätfeh- ler. Zwei Drittel der Kranken litten daran. Die Behand¬ lung war einfach, und bestand vorzüglich in China und Chinin. Versucht wurden Kali carbon. Acid. muriat., Martialia und Tiuct. Fowleri, aber bald wegen geringer Wirksamkeit verlassen. Die Wiederkehr der Anfalle konnte durch kein Mittel, sondern nur durch die strengste Diät verhütet werden.

Die Keuchhustenepideinie in Hamburg und Altona während der Jahre 1829 und 1830, aus den Berichten der Doct. II ach mann und Bell re zusam¬ mengestellt von Dr. J. M. A. Schüu. Merkwürdig ist, dafs die Epidemie in Altona eineu gutartigen Charakter hatte, was in Hamburg nicht der Fall war, wo die häu¬ figen Complicationen immer nur eine zweifelhafte Prognose gestatteten. Was schon in anderen Epidemieen beobach¬ tet wurde, dafs die Kinder, welche später, oft ein Jahr

nach überstandener Kraukheit von einem Catarrhalhusten

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befallen wurden, mit dem Keuchhustenlone husteten, faud auch in dieser statt. Die Krankheit brauchte in der Re¬ gel zwölf Wochen zu ihrem gänzlichen Verlaufe. Reine, trockene Kälte der Atmosphäre bewirkte leicht entzünd¬ liche Complicationen, besonders dann, wenn der Husten im Abnehmen war. Zum ersteu Stadium der Krankheit gesellte sich zuweilen ein sehr heftiges Gefäfsficber, dem leicht locale Entzündungen folgten. Im zweiten Stadium complicirte sich das Uebel mit Hirn- und Brustentzün-

dun-

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VIII. Acrztliche Mittheil □ngcn.

dangen. Erste manifcitirten sich durch clonische Krampfe, die entweder sogleich oder im zweiten Anfalle durch Apo¬ plexia serosa tödteten. Nach Erkältungen entstanden häu¬ fige Brustentzündungen, die oft mit Lungenlähmung ende¬ ten. Letzte erschien zuweilen auch ohne vorhergehende Entzündung bei cachectischen Kindern, besonders bei denen, welchen im zweiten Stadium zu viel Blut entzogen war. Der Husten verschwand, die Respiration wurde stöhnend und sehr erschwert, die Extremitäten kalt, der Puls klein, kaum fühlbar, das Gesicht collabirte, das Sensorium blieb frei. Herzkrankheiten wurden als Nachkrankheiten nicht bemerkt. Diese fanden sich in Altona gar nicht ein, wäh¬ rend in Hamburg Atrophie, die in der Regel tödtlich en¬ dete, in einzelnen Fällen scrophulöse Ausschläge mit Drü¬ senanschwellungen folgten. Sobald Scharlach erschien, ver¬ schwand der Keuchhusten. Hachmann undBehre mach¬ ten während dieser Epidemie die (von Ref. nnn schon in so manchen Epidemieen gemachte) Erfahrung, dafs es kein Wittel gab, die Dauer bei den einzelnen Individuen abzu¬ kürzen oder zu beschränken, wohl aber einige, um die stürmischen Hustenanfälle zu mäfsigen.

Die Pockenepidemie des Jahres 1829 in Ham¬ burg. Nach den Beobachtungen der Doctoren Schmidt

undFallati beschrieben von Dr. Schön. In diesr nichts

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Eigentümliches habenden Epidemie erkrankten fast nur Erwachsene, unter ihnen eine 74jährige Frau. Die The¬ rapie erforderte meist Antiphlogistica.

Die Masernepidemie des Jahres 1828 in Ham¬ burg und Altona. Nach den Beobachtungen der Docto¬ ren Hachmann und Behre, mitgetheilt von dem letzten. In beiden Städten verbreiteten sich die Masern von Osten nach Westen, als gutartige Epidemie, welcher Charakter auch bei dem verschiedensten Temperaturwechscl sich er¬ hielt, und bei früheren Epidemieen, welche manche Opfer durch Bronchitis forderten, nicht gefunden wurde. Chro¬ nische Hautausschläge hoben die Neigung zur Ansteckung Band 28. Heft 3. 24

370

VIII. Acrztliche Mitthcilungm.

nicht auf, selbst im Verlaufe der Vaccine wurden einige Kinder von Masern * befallen , und beide Krankheiten ver¬ liefen ganz regclmäfsig. Das Stadium catarrhnlc war zu¬ weilen 8 bis 14 Tage lang, und endete meistens mit ei¬ nem galligen oder wässerigen Erbrechen, oder Durchfalle, bei dein die ersten Mascrnlleeke sichtbar wurden. Die Ab-

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schuppung war sehr gering, oft nur im Gesichte, zuwei¬ len aber auch gar nicht sichtbar. Das Leiden der Augen und der Schleimhaut der Respiratiousorganc war sehr un¬ bedeutend.

Die Scharlachepidemieen der Jahre 1826, 1830 und 1831 in Hamburg und Altona. Nach den Beobachtungen der Dootoren Hach manu, Heitz, Stcetz, ßchrc, Hermes, van der S missen und eigenen dar¬ gestellt von Dr. P. Schmidt. Die Epidemie von 1826, in anderen Gegenden Deutschlands so bösartig, war in Hamburg leicht und gutartig, wie der Scharlach daselbst fast immer ist. Im Jahre 1830 erschien wieder eine ziem¬ lich verbreitete Epidemie, besonders in Altona, die im folgenden Jahre abnahm, aber auch bösartiger wurde. Die Scharlachröthe und Angina waren intensiv, dabei die fast überall gefährliche entzündliche Affection der Nasenschlcim- haut mit Absonderung einer copiösen, dünnen, übelrie¬ chenden, scharfeu Flüssigkeit, starkes Thränen der Augen, Schwere und Druck im Kopfe (besonders in den Stirn¬ höhlen, wo die dieselben umkleidende Haut nach dem Tode nicht selten entzündet gefunden wird und Veranlassung zum Fortschreiten der Entzündung auf die Hirnhäute giebt, Ref.) u. s. vv. Dem Zurücktreten des Ausschlages folgte nicht immer ein tödtl icher Ausgang; oft starben Kranke mit blühendem Scharlach. Nicht selten fand sich eine ein¬ seitige Parotidengeschwulst , die nicht zurücktrat und sehr langsam sicli zerth eilte. Nicht ungünstig war der Ueber- gang in Eiterung (in den meisten Epidcmicen der einzige günstige Ausgang, Ref.). Der Tod in dieser Epidemie er¬ folgte meistens in der Mitte der Krankheit, uud dann an

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YflF, Acrztliche Mittheilungen. 371

Apoplexie; nicht selten jedoch auch später an Hydrops acu¬ tus. Die Therapie erforderte ziemlich allgemein Biutent- leerungcn und andere Antiphlogistica; in der nervösen form das Chlor, und bei nicht gehöriger Entscheidung der Krankheit auf die Haut, Diaphoretica. Erst im Jahre 1831 zog sich die Altonaer Epidemie nach Hamburg, nachdem sie 1830 nur sporadisch auf dem Altona nahen Hambur¬ ger Berge vorgekommen war, und blieb ohne Beschrän¬ kung während der Influenza, der Wechselfieber-, Pocken- und Choleraepidemie desselben Jahres. Auch hier war sie nicht so gutartig, als die früheren Hamburger Epidemieen. Merkwürdig ist, dafs während in Altona gleich im An¬ fänge der Epidemie die Nasenschleimhaut so bedeutend er¬ griffen wurde, dieses in Hamburg erst später bei Zunahme der Bösartigkeit, oft nur als Fortsetzung der entzündlichen Reizung des Rachens und der Tuba Eustachii geschah, und dann weniger bedenlich war. Der Ausschlag hatte in an¬ deren Fällen eine Himbeerröthe, und bestand oft nur aus hirsekorngrofsen, nicht über der Haut erhabenen Stippchen. Folgten, wie es zuweilen geschah, unmittelbar dem Schar¬ lach die natürlichen Blattern, so verliefen sie tödtjich. Die Ursache der Todesfälle während der ersten Hälfte des Scharlachs wurde selten durch die Section ermittelt; das Ergebnifs derselben bei den durch Verschwinden des Aus¬ schlags Verstorbenen bestand meistens in Wasserergiefsun- gen. Die Prognose und Therapie war wie gewöhnlich unbestimmt, und bei letzter nützten die besten Berech¬ nungen und Erfahrungen sehr wenig. Eine Reihe gut erzählter Krankheitsfälle beschliefst diesen interessanten Abschnitt.

Ueber die Cholera. Nach gemachten Beobacht ün- gen während der ersten Choleiaepidemie in Hamburg im Herbste 1831; von Dr. Siemssen, dirigirendein Arzte des Choleraspitales Eric ns. Der Verf. behandelte darin 150 Kranke. Die Vorboten der Cholera fehlten selten ganz, und bestanden in der Regel in allgemeinem Unwohl-

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VIII. Aerztliche Mittheilungen.

sein und Durchfall. Am peinigendsten für die Kranken war die Dyspnoe und Krämpfe. Ein englischer Matrose, der die Cholera schon in Ostindien gehabt hatte, versi¬ cherte, die Krämpfe der Bauch- und Wadenmuskeln seien ihm viel schmerzhafter in Hamburg, als in Ostindien vor¬ gekommen. Auf einzelne Symptome hatte wohl die herr¬ schende Scharlachepidemie Einflufs, da sich Bef. nicht er¬ innert, von anginösen Beschwerden bei der Cholera an anderen Orlen gelesen zu haben. Heber das Wesen der Cholera äufsert sich der Verf. sehr kurz, und verwirft selbst seine und anderer Hypothesen. Unter den Resulta¬ ten der Leichenöffnungen ist dem Bef. besonders die Beob¬ achtung merkwürdig, dafs sich in dem Dünndärme des achtmonatlichen Fötus einer an der Cholera Verstorbenen dieselbe weifse Masse befand, wie im Darmkauale der Mutter; im Dickdarme war Meconium. Nach dem Verf. ist die Austeckungsfäbigkeit der Cholera, wenn sie ja existirt, nicht so grofs, dafs man sich vor ihr zu fürchten nöthig hätte; überhaupt sind die Bedingungen der Verbrei¬ tungsweise der Cholera dem Verf., wie den meisten ruhi¬ gen Beobachtern, unbekannt. In den beiden ersten Sta¬ dien der Krankheit nutzten dem Verf. besonders Brech¬ mittel und Beibungen der Extremitäten, im dritten Blut- entlccrungen und Ableitungen auf Haut und Darmkanal. Aphorismen über das Erscheinen der epidemi¬ schen Cholera in Altona, von Dr. Bchre. Eine un¬ gewöhnliche Witterung, besonders aber schwüle Gewit¬ terluft und gänzliches Verschwinden der Wechselfieber, gingen dem Erscheinen der Krankheit vorher. Diese war aber, trotz der steten Berührung mit Hamburg, so wenig verbreitet, dafs nur einer von 1000 Einwohnern erkrankte. Das Wesen der Krankheit hält B. für einen congcstiven Catarrh der Schleimhaut des Magens und Darmkanals. Er stellte an sich heroische Proben (Trinken von warmem Cholerablute, Einreibungen mit Schweifse, Nichtbeachten der bei Sectioncn verletzten und mit dem Darmiuhalte bc

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Vlfl. Aerztliche Mitthcilangcn.

schmutzten Finger u. s. w.) an, und wurde, wie viele an¬ dere Experimentatoren, nicht angesteckt. Er hält deshalb (auch noch aus anderen Gründen, Kef.) die Cholera für nicht-contagiüs, sondern für epidemisch -miasmatisch. Der Typhus carceralis contagiosus in Ham- burg, beobachtet und behandelt im allgemeinen Kranken- liause von Dr. P. Schmidt, zeitigem Hülfsarzte. Als die Cholera die Stadt Hamburg bedrohte, sperrte man die da¬ selbst befindlichen Vagabunden in ein grolses Hanfmaga¬ zin, das, nur eilig und nothdürftig eingerichtet, und sehr zugig, die von Bekleidung fast ganz entblöfsten Menschen nur schlecht gegen die rauhe Witterung des Spätherbstes schützte. Der Lebensunterhalt war dagegen sehr gut und kräftig. Von mehren hundert Personen wurden nur 27 befallen, mehr aber von einem Typhus, der sich bei Ab¬ nahme der Choleraepidemie in dem Magazine entwickelte. 70 leichte Fälle wurden in einem WTerkhause behandelt, und da die schwer Erkrankten immer nach dem allgemeinen Krankenhause geschafft wurden, so starb von ihnen keiner. Von den 77 schwerer erkrankten Männern starben 11, von den 28 Weibern 7. Im Hospitale erkrankten noch 14 Per¬ sonen (unter ihnen vier Wärter und eine Wärterin), von äenen 4 starben. Der erste Zeitraum des Fiebers (bis zum 7ten Tage) hatte meist einen catarrhalisch- entzündlichen Charakter, der später dem typhösen, zuweilen auch dem putriden wich (am 7ten bis Ilten Tage). Am 3ten oder 4ten Tage erschien ein masernähnliches Exanthem, das 5 bis 8 Tage stand, und kleienartig abschuppte. In vielen Fällen waren neben diesen Flecken auch Petechien. Haupt¬ sächlich zeigten sich Kopfaffectionen, die in Schwindel, Ohrenbrausen, Delirien und Stupor bestanden. Die kriti¬ schen Bewegungen fanden sich in der Schleimhaut, der Leber und in den allgemeinen Hautbedeckungen. Nur sehr langsam verlor sich in der Reconvalesccnz die Demenz, und es blieb noch lange Stumpfheit der äufseren und in¬ neren Sinne nach. Scctionen zeigten Blutreichthum der

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VIII. Acrztliche Mitteilungen.

Meningen, zuweilen selbst Verklebungen durch plastische Lymphe und Exsudate in den Höhlen. Die Contagiosität der Krankheit war nicht zu verkennen. Die Behandlung verdient Nachahmung, wie überhaupt der ganze Aufsatz Beachtung. Bemerkungen über denselben üe* gen stand, giebt Dr. Fallati, der auch Hülfsarzt im all¬ gemeinen Krankenkausc war. E9 sind gröfstentheils Be¬ stätigungen der obigen Mittheilungen. F. sah aber nie Krisen, sondern nur Lysen.

Die Influenza in Hamburg im Mai 1833; von Dr. Hach mann. Wie an anderen Orten, ging der In¬ fluenza ein leidlicher Gesundheitszustand vorher; der um so mehr mit der nachmaligen Krankenzahl (in Hamburg waren binnen vier Wochen mehr als die Hälfte der Ein¬ wohner erkrankt) contrastirt. Gegen Ende der Epidemie gingen viele Catan halficber in entzündliche, mit gastrischer oder rheumatischer Couiplication über, und cs verlor sich auf diese Weise die Influenza und jede andere Krankheit, so dafs nun eine noch stärkere Pause in ärztlichen Ge¬ schäften, als vor dem Erscheinen der Influenza , statt fand. Die Krankheit selbst trat, wie überall, gleichmäfsig und gutartig auf, und war nur durch Complicatjoncn , durch Erwreckung schlummernder Krankheitsheerde, besonders in den Lungen, lebensgefährlich. Der Verf. liefs bei wirkli¬ chem Brustleiden, vorzüglich aber bei Schwangeren, Blut entziehen, gab bei Gastricismus Brechmittel, und bei zö¬ gernder Beconvalescenz und nachblcibendem Schwächcge- fühle, gelinde, ausleercnde Mittel. Bittere Mittel vermehr¬ ten die Schwäche (auch Rcf. bestätigt dies).

Im Anhänge erhalten wir die Uebersicht der Er¬ eignisse der Hamburger Entbindungsanstalt in den Jahren 1829 bis 1832 incl., vom Arzte derselben, dein Dr. Homann. Interessant ist eine Zangengeburt, wegen des relativ zu grofseu Kindeskopfcs. «Sic betraf eine Ne¬ gerin von Guinea, welche von einem Europäer gcschwäu- gert worden war. Die Person war kleiu, fleischig, äufserst

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V III. Aerztliche jNJiltheilungen.

gesund und kräftig, hatte diinue, zarte Knöchel, und sehr schön geformte Iländc und Fiifse; das Becken war in al¬ len Dimensionen etwas eng. Da sie noch nicht lange Zeit in Europa war, so wurde, um eine ganz reine Beobach¬ tung machen zu können, ihrem Betragen durchaus keine Vorschriit gemacht; allein obgleich die Geburt, im Allge¬ meinen genommen, regelmäfsig verlief, so betrug sic sich doch so ungestüm und mufste so oft unter dem Bette, wo¬ hin sie sich verkroch, wieder hervorgehoit werden, dals der erste Vorsatz aufgegeben, und sie auf das Geburtslager unter Aufsicht gebracht werden mufste. Das geborene Kind, ein grofser, starker Knabe, trug die charakteristi¬ schen Configurationen seiner Mutter: die Farbe der Haut war schmutzig -gelbgrau, an der Fufssohle, der Handfläche, der inneren Seite der Schenkel und der Achselgrube mehr in das Weifse spielend; schon am dritten Tage aber zeigte sich die ausgebildete Farbe der Mulatten. Mutter und Kind verliefsen die Anstalt gesund.» In den genann¬ ten Jahren wurden auch drei Perforationen gemacht, bei der dritten war das Kind wahrscheinlich todt, ob bei den beiden ersten, erfahren wir nicht. Ueber die Be¬ handlung des Mittelfleisches während der Ge¬ burt, von dems. Verf. II. läfst die Seitenlage annebmen, das Mittellleisch nicht unterstützen, aber auch die Wehen nicht verarbeiten, nicht drängen und pressen, und hat nur einmal bei einer Erstgebärenden, wo das Kind mit unge- sprengten Häuten plötzlich durchging, einen 1 Zoll tiefeu Mitteifleischrifs gesehen. Der Verf. will deshalb, «dafs,» um die Dammeinrisse zu vermeiden, «man die Hebammen anweise, den Damm nicht mehr zu unterstützen, weil un¬ geschickte Hände von unvollkommenem Wissen und dem Willen zu helfen in Thätigkeit gesetzt, gewifs mehr zur Zerreifsung des Mittelfleisches beitragen, als die Integrität desselben zu erhalten.» Beiträge zur Lehre von der Wendung auf den Kopf durch innere Hand¬ griffe; von dems. Verf. Diese Operation hält der Verf.

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IX. Klinische Mittbeilongen.

für weniger schmerzhaft, und nocl» dazu gefahrloser für Kiud und Muttor, als die Wendung auf die Fufse, ver¬ steht sich, wenn man die von ihm gegebenen An - und Gegenanzeigen, und die Technik der Operation berück¬ sichtigt. Diese Abhandlung, die von der Geschicklichkeit und der reichen Erfahrung des Vcrf. in der Geburtshülfe zeugl , beschliefst eine scharfe Rccension der Gratulations¬ schrift des I)r. Wehn an Ritgcn u. s. w., welche das¬ selbe Thema abhandelt.

Beschreibung einiger anatomischen Präpa¬ rate aus der pathologisch - anatomischen Samm¬ lung der Gesellschaft, von Dr. Fallati. Reichhal¬ tig, aber keines Auszuges fähig. - Ref. wünscht der achtbaren Gesellschaft ein fröhliches Gedeihen und Mufse zur Herausgabe ähnlicher Schriften, die mannigfache Beleh¬ rung verbreiten, uud eiueu tüchtigen Geist erkennen lassen.

Vehr.

IX.

Klinische Mittheilangen; von Dr. F. A. G.

Bern dt, Königl. Geh. Med. Rathe u. s. w. Heft I.

Greifswald , in der acad. Buchhandl. bei G. A. Koch. 1833« 8. VIII u. 166 S. (23 Gr.)

Von jeher war cs erfreulich, auch von fern das prak¬ tische Wirken der zur Fortbildung der Wissenschaft und zur Erziehung der Aerzte angestellten Lehrer beobachten zu können, und wir erkennen es daher mit Dank an, dafs wir in den neuesten Zeiten von den meisten klinischen In¬ stituten more veteruin Nachrichten bekommen. Der Verf. vorliegender Mittheilungen, seit 1824 Prof, der praktischen Medicin auf der Universität Greifswald, ist nicht zum cr- atcumalc als Schriftsteller aufgetreten , wir begegneten ihm schon oft, und verdanken ihm manche Belehrung.

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IX. Klinische Mittheil ungen,

I. Kurze Geschichte der Errichtung und Ver- vollk ommnuDg der klinischen I ns titute zu Greifs- wald. Erst seit dem Jahre 1794 bestand eine ambula¬ torische Klinik, doch fehlte ein geordneter klinischer Un¬ terricht gänzlich, und W. Sprengel hatte das Verdienst, diesen und eine chirurgische Klinik im Jahre 1822 einzu¬ führen. Hierauf bauete der Verf. fort, hatte aber viele Schwierigkeiten zu überwinden, bis er die gewöhnliche Zahl der in der Klinik behandelten Kranken von 30 bis 40, auf 400 bis 600 jährlich bringen konnte. Diese Vergröfse- rung bewirkte, dafs eine medicinisch -chirurgische Lehran¬ stalt mit der medicinischen Facultät verbunden wurde.

II. Ueber die Aufgaben des klinischen Un¬ terrichtes, die Erfordernisse, w eiche die Lö¬ sung derselben noth wendig macht, und über die Art und Weise, nach welcher derVerf. diese Lö¬ sung zu erstreben bemüht gewesen ist. Der klini-

*

sehe Unterricht schliefst nach dem Verf. zwei Hauptauf¬ gaben ein: 1) die Anweisung zur Anwendung heilwis- senshaftlicher Grundsätze auf specielle Krankheitsfälle, und 2) die Uebung der Beobachtungsgabe der Schüler, die An¬ weisung, wie aus einzelnen Beobachtungen Erfahrungs- facta gewonnen, und aus diesen wissenschaftliche Resultate erhoben werden können. Das ärztliche Kunstgeschäft am Krankenbette umfafst a) die Ermittelung und Feststellung des gegenwärtigen und zukünftigen Zustandes der Krank¬ heit (Krankenexamen, Erkenntnifs und Benennung der Krankheit, Prognose); b) die Feststellung des Heilplanes init der specitischen Heilmethode (Würdigung der Natur¬ heilkraft, Feststellung des speciellen Zweckes der Heilung, die Bestimmung der Objecte, Verbindung der Indicationen und Verordnung der Mittel); c) die Fortbchandlung des Kranken; d) die Recouvalescenz, die Behandlung der Ster¬ benden und Hinterbliebenen. Wir übergehen hier eine "■ Beleuchtung dieses Schema’s um so eher, da wir Aehn- liches bei Gelegenheit einer Anzeige der Methodik der

i

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IX. Klinische Mittheilungen.

ärztlichen Kunstausübung desselben Verf. gegeben haben, und aucli der Vcrf. sieh in späteren Schriften weitläufiger in dieser Iliusicht ausgesprochen hat. Hecht zvveckmäfsig ist der Entwurf über den Inhalt der Krankengeschichten, den sich mehre Schriftsteller, der logischen Ordnung we¬ gen, zum Vorbilde nehmen könnten.

III. Gedrängte Uebersicht des nosologischen Systemcs. Der Verf. nimmt dynamische, Vcgcta- tions- und organische Krankheiten an. Zu 1) gehö¬ ren : Fieber, Entzündungen, Nervenkrankheiten, z. IE Hy¬ pochondrie, Hysterie, die Algieen, Krämpfe und Lähmun¬ gen, Scheintod, Toxication. 2) Cachcxicen, Dyscrasieen, Iufectionen (Lues), Aussatzkrankheiten, Plethora, Anac- mia, Tabes, Phthisis, Gastricismus, Wurmkrankheiten Cholera sporadica, Lienteria, Blutfliisse, Harnruhr, Steiu- krankheiten, Schleimflüsse, Icterus, Speichelflufs, Wasser¬ sucht, Windsucht. 3) Vitia primae et secundae formatio- uis. Abweichungen in der Zahl und Lage der Theile, in der Contiguität und dem Bildungszustande des Gewebes. Schon diese kuze Uebersicht wird genügen, die Mängel dieser Krankheitscintheilung, *n der ganz verschiedene Zu¬ stände nebeneinander stehen und verwandte völlig getrennt sind, zu zeieen.

IV. Summarische Uebersicht der in der me- dic. Klinik von 1824 bis 1833 behandelten (621(i) Kranken. In diesen 9 Jahren war der sthenisebe Krank¬ heitscharakter, besonders in den Verdauungsorganen, vor¬ herrschend. Die gesundeste Zeit war von der Mitte des August bis zum Anfänge des November. Fremde erliegcu an der Sceküstc leicht vielfachen catarrhalischcn Beschwer¬ den. Exanthematische Krankbeiteu kamen nicht häufig vor. In neun Jahren sah der Verf. nur zweimal die Ruhr. Ma¬ genkrämpfe sind sehr häufig (Ursache ist wohl Arthritis anomala, da die Arthritis regularis gar zu selten beobach¬ tet wurde), aus ihnen entwickeln sich nicht selten Magen- verhärtuugeu. Scrophcln sind gutartig, Khachitis sehr sei-

IX. Klinische Mittheilnngen. 379

tcn, desgleichen Pbthisis pulm. purulenta, häufiger dage¬ gen Phthisis pituitosa.

V. Medicinische Beobachtungen und Erfah¬ rungen u. s. w. 1) Behandlung des Wechselfie¬ bers. Der Verf. behandelte in den 9 Jahren gegen tau¬ send Wechselfieberkranke, von denen nur 44 an Quartana und einige 20 an Fieber c. typo anonialo litten. Die ge¬ wöhnlichen Wechselfieber weichen sehr kleinen Gaben der China, wenn diese während des Paroxysmus, oder noch besser, eine Stunde vor demselben gegeben werden. Oft ist schon eine Gabe von Chinae pulv. scr. j, oder Chinin, sulphur. gr. ij iij hinreichend, den nächsten Angriff zu verhindern; am zweckmäfsigsten aber die Gabe von einer Drachme des Chinapulvers. Die Behandlung mit gröfseren oder kleineren Gaben der China macht keinen Unterschied hinsichtlich der Recidive. Bei der Febr. interm. quartana giebt der Verf. selten China, sondern (nach Hildanus) den Helleborus in starken Gaben. Folgende Formel war ihm von dem günstigsten Erfolge: ip Extr. helleb. Am¬ mon. mur. Ja dr. ij., Extr. absinth. dr. j., Aq. mentb. pip. unc. V. D. S, Alle zwei Stunden einen Efsiöffel voll. Zwölf Kranke wurden damit, und nur der dreizehnte nicht geheilt, bei dem China mit zu Hülfe genommen werden mufste. Bei einer Quartana duplicata eines 16jährigen Kranken, der seit drei Jahren an Wechselfiebern gelitten hatte, wurde der eine Typus durch Helleborus, der an¬ dere, hartnäckig fortdauernde, durch China und Belladonna geheilt. Bei Kindern wurde die endermatisehe Methode mehrmals versucht, und in der Regel das Wechselfiebev beseitigt, aber auch in einzelnen Fällen nicht. Das übelste dabei ist die Reizung der Cutis durch das Chinin, welche oft zu hartnäckigen Verschwärungen Veranlassung giebt. (Ref. hat ebenfalls viele Versuche damit angestellt, und ist zu dem Resultate gelangt, dafs die endermatisehe Me¬ thode nur bei gänzlich darniederliegenden Verdauungskräf- ten, bei Dysphagiecu und bei Febr. intermitlens cum typo

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IX. Kl imsclie Mlttheilnngen.

anomalo scu erratico auzu wenden sei.) Der Gebrauch des Ferr. hydroeyan. gegen Wechsclficbcr nutzte 12 mal unter 22 Fällen, des Piperins 3mal unter 8, das Salicins in 5 Fal¬ ten gar nichts (übereinstimmend mit des Ref. Erfahrungen). 2) Reobachtungen über merkwürdige metastati¬ sche K ra n k h c > t s p ro z es sc: a) Rrandigc Zerstörung des liodensackes nach Paraphimosis, darauf folgende Entzün¬ dung und Eiterung in den Bauchdecken, und während der Bildung des Eitcrungsfiebers tödtliche Pneumonie. Der Vcrf. mciut, dafs die Metastase durch Aufsaugung des Ei¬ ters entstanden sei. Ref. glaubt, dafs tief liegende, bedeu¬ tende Abscesse frühzeitig genug geöffnet werden müssen, um dieses zu verhindern, b) Versetzung einer rheuma¬ tisch-entzündlichen llalsaffection auf das Herz. (War hier vielleicht nur ein hysterischer Anfall, der durch die kräf¬ tige Arznei, bestehend aus Infus, rad. valer. (ex unc. j. parat.) unc. v. , Liq. ammon. succ. dr. ij, Gumm. mimos. Tinct. castor. sib. ^ dr. j., Tinct. opii simpl. Camphor.

scr. j., Sachar. dr. iij. M. S., alle halbe Stunden einen Efslöffel voll, und angewandte Hautreize, schnell beseitigt wurde?) 3) Heilung eines chronischen Wund¬ starrkrampfes. Die Krankheit entstand ohne wahr¬ nehmbare Ursache nach der Amputation des Oberschen¬ kels, welche wegen eines Osteosarcomes vorgenommen wurde, mit den heftigsten, den ganzen Körper durch- schicfsenden, vom Stumpfe ausgehenden Schmerzen, und wurde durch grofse Gaben von Opium und Calomel, bis zur Salivation, geheilt. 4) Encephalitis phreni-

tica. Ein lBjähriger, gesunder Schiffsjunge, erkrankte am 15. Juni an Kopfschmerz, Mattigkeit, Uebelkeit und zwei¬ maligem Erbrechen. Am IStcn hatte er Geistesstörung, und am 19tcn kam er in das Hospital, wo er ain folgen¬ den Morgen, nach durchtobter Nacht, noch sehr stark auf¬ geregt war. Er lag sehr unruhig im Bette, richtete sich auf, warf sich umher, und schwatzte in unverständlichen Worten. Zuweilen zeigte sich in seinen Gcberdeu und

381

IX. Klinische Mittheilnngen.

Handlungen etwas Boshaftes. Die Augen flogen wild hin und her, die Pupillen bald verengert, bald erweitert, die Augenlider weit geöffnet; dabei Zähneknirschen und un¬ aufhörliches Spucken. Das Gesicht nicht bedeutend gerö- tliet, die Temperatur normal, nur sehr wenig erhöht am Kopfe, trockene Tiaut, zusammengezogener, unterdrückter, nicht fieberhafter Puls. Stuhlgang und Urin wird unbe- wufst entleert; die Zunge wenig belegt; Druck auf die Magengegend schien Schmerzen zu verursachen. Es wurde zuerst ein Aderlafs angestellt, dann kalte Umschläge, und Abends Blutegel an den Kopf, früher Tart. stib., später alle Stunden Calomel gr. j. Hiernach etwas mehr Ruhe, die sich aber später wieder verlor. Dahei öftere Verän¬ derung der Gesichtsfarbe und der Gröfse der Pupille. Spä¬ ter kalte Uebergiefsungen im warmen Bade, wonach wie¬ der etwas Ruhe, die aber nach Wiederholung des Bades nicht wieder eintrat. Man gab, da Spulwürmer abgegan¬ gen waren, Anthelminthica; allein ohne Besserung. Am 22sten trat Collapsus mit Erweiterung der Pupillen, am 23sten Krämpfe, und in der Nacht zum 25sten der Tod ein. Die Oeffnung des Kopfes zeigte die Blutgefälse stark mit Blut überfüllt; die Hirnmasse von gewöhnlicher Con- sistenz, die Ventrikel mehre Unzen Wasser enthaltend, die Plexus choroidei laterales blutleer; dcnFornix ganz weich, breiig und so aufgelöst, dafs er in die seröse Flüssigkeit der Seitenventrikel gleich- ' sam üherflofs. Der Plexus choroid. medius stark ent¬ wickelt und blutreich. Am Tnber cinereum, zwischen Arachnoidea und pia Mater, fand sich ein etwa einen hal¬ ben Zoll Durchmesser enthaltendes gelatinöses Exsudat von weifser Farbe. Das Cerebellum gesund. Die Gefäfse der Medulla oblongata und des oberen Theiles der Medulla spi- nalis sehr entwickelt und blutreich. Unterleibs- und Brust¬ höhle normal.

U e h r.

3S2

X. luigc.

X.

R ü * g e .

Die Uebcrsetzungslust der deutschen Aerzte ist schon so oft gerügt worden, dafs cs überflüssig scheint, über die Sache an sich noch ein Wort zu verlieren. Wenigstens zeigt die Erfahrung, dafs auf diese Weise der Fluth von Uebcrsetznngen , womit der deutsche Büchermarkt über¬ schwemmt wird, noch kein Einhalt geschehen ist. Viel¬ leicht gelänge cs aber, dem Unwresen zu steuern, wenn man sich die freilich in jeder anderen Hinsicht schlecht lohnende Mühe gäbe, die Uebersetzungen als solche einer strengeren Kritik zu unterwerfen, als bisher gesche¬ hen ist, indem die Kecensenten nur gar zu häufig über den Inhalt des in fremder Sprache erschienenen Buches die deutsche Bearbeitung desselben vernachlässigen, oder ihr noch wohl gar am Schlüsse der Rccension ein allge¬ meines Lob ertheilen, wenn sie auch von den gröbsten Fehlern wimmelt, die der Beccnsent, wenn sie nicht gar zu sehr den Sinn entstellen, oft seihst nicht gewahret, weil er zu selten Gelegenheit hat, die Uehersetzung mit dem Originale zu vergleichen, was doch billig hei der Reccn- sion der ersten geschehen sollte. Würde auf diese Weise jeder Fehler rücksichtslos aufgedeckt, und über jedes schlechte Machwrerk die kritische Gcifscl schonungslos ge¬ schwungen, so würde bald mancher allczcilfertige Ucber- 6etzer aus Ehrgeiz sich bewogen fühlen, seine flüchtige Arbeit vor dem Druck einer strengeren Revision zu un¬ terwerfen, oder auch ohne sonderlichen Nachtheil des lesenden Publikums ungedruckt der Vergessenheit zu übergehen. So z. B. ist cs doch gar zu arg, und meines Wissens vou keinem Reccnscntcn gerügt, dafs, in der deutschen Ueherßetzung der Schrift von John Mason Good <c über die ostindische Cholera,»» Tübingen bei C.

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X. Rüge.

F. Osiander, 1831, welcher ein «ordentlicher öffent¬ licher Lehrer der Heilku nde » seinen Namen geliehen hat denn ich wTill hoffen, dafs er den schon jedem Ter¬ tianer, geschweige denn einem Manne in solchem Amte, unverzeihlichen Schnitzer nicht selbst gemacht hat S. 2, wo vom Dhanwantori, als einer mythologischen Person der Hindus, die Rede ist, «welche mit dem Griechen Aeskulap in Briefwechsel steht» (!!!) Wofür soll man einen so groben Verstofs gegen deu vernünftigen Sinn halten? Ein Fehler aus Unwissenheit kann es un¬ möglich sein; denn angenommen, der sich als Uebersetzer aufwerfende «ordentliche öffentliche Lehrer» u.s.w.

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oder was er sonst sein mag, wiifste nicht, was jeder Ge¬ bildete, wenn er auch kein Englisch versteht, errathen kann, dafs das Englische « corres pon d », welches im Ori¬ ginal, wie ich nicht zweifle, obgleich ich dasselbe nicht gelesen habe, gebraucht ist, unserem Deutschen «ent¬ sprechen, gleich kommen» correspondirt, so mufste es ihm doch, ehe er solchen Unsinn niederschrieb, einfal¬ len, dafs die Helden der Mythe in der Kunst des Schrei¬ bens nach unserer Art noch wohl nicht so bewandert sein mochten, als die Schreibhelden unseres Zeitalters! Man kann also wohl nur annehmen, dafs es in der Ueber- setzungsfabrik , aus welcher jenes Opus hervorging, auf solche Kleinigkeiten nicht ankommt! -

Dies war indefs noch ein ganz amüsanter Fehler, wel¬ cher weiter keinen Schaden thut, sondern obendrein zur Belustigung manches Lesers gedient und diesem ein Lächeln abgezwungen haben mag, wie ich versichern kann, dafs ich obiges Büchelchen blofs dieses Schnitzers wegen ge¬ kauft habe. Anders verhält es sich, und ernsthafter wird die Sache, wenn ein solcher sich in praktische Dinge ein¬ schleicht. Soll doch vor einigen Jahren eine hohe Person in Deutschland an einem Druckfehler gestorben sein , der sich in eine ausländische Vorschrift eingeschlichen hatte, nach welcher jener hohen Person ein Narcoticum verab-

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384

X. Rüge.

reicht worden, und der im Druckfehlerverzcichnifs über¬ sehen war; warum sollte denn nicht auch einmal jemand an einem Uebersctzungsfchler slcrben können? Das möchte wohl öfter geschehen, wenn die vielversprechenden, weit herkommenden, und eben deswegen gewifs stets sehr wirk¬ samen Recepte immer so kräftige Droguen enthielten, als jenes Narcoticnm war. Glücklicherweise ist das aber nicht immer der Fall, und so kann der Leser denn auch bei solchen zuweilen noch lächeln, wie ich mich dessen nicht enthalten konnte, als ich in Rust’s Magazin für die gc- sammte Heilkunde, Bd. 34. Heft 2. S. 314 bis 329 eiueu Aufsatz «eine kritische Darstellung» betitelt las «über die Behandlung der Hydrophobie im Allgemeinen und die (auschliefslich die? sollte es in Mexico nicht noch mehre Mittel gegen die Hundsw'uth ge¬ ben, als dies eine von einem alten Weibe empfohlene? Wahrscheinlich eben so viele und eben so untrügliche, als bei uns!) Heilmethode derselben bei den Mcxi- canern» welche letzte aus Hardy’s Travels in the Intcrior of Mexico, in 1825, 26, 27 and 28, Lon¬ don 1829 in deutscher Version ihrem wesentlichen Theile nach folgcndermaafsen wiedergegeben wird: «Die Person, welche von dieser Krankheit befallen wird, mufs wobl in Sicherheit gebracht werden, damit sie weder sich selbst, noch andern schaden könne.» (Das lasse ich gern gelten, aber nun höre man weiter:) «Weiche danu eine Reinette (?!) ungefähr fünf Minuten lang in einem et¬ was über halb vollen Trinkglase Wassers. Wenn dies ge¬ schehen ist, so thuc so viel pulvcrisirte Sabadille (Vera¬ trum Sabadilla Metzii) dazu, als man zwischen dem Dau¬ men und drei Fingern fassen kann (5j), mische es gut untereinander und gieb es dem Patienten ein, d. h. zwinge es in einem freien Augenblicke seine Kehle hinunter. Dann mufs der Kranke wo möglich an ciu Feuer oder in die Sonne gebracht, und gut durchwärmt werden » u.s. w. Sodann läfst siebs der Verf. der «kritischen Darstel¬ lung»

385

X. Rüge.

lang» mit anzuerkennendem Fleifse und Scharfsinn ange¬ legen sein, das Wirksame dieser es ist nicht zu läug- nen, etwas mystischen Methode herauszuklauben, und erklärt endlich das fünf Minuten lange Einweichen der Rei¬ nette für sehr wesentlich (worüber man sich heutiges Ta¬ ges nicht wundern darf, wenn man bedenkt, mit wie viel Wenigerem die Anhänger jener neuen Lehre ich weifs übrigens nicht, ob auch der Verf. sich zu ihr bekennt - ungleich gröfsere Dinge ausrirhten), indem die Apfelsäure das Sabadillpulver, seinem alkalischen Hauptbestandtheile nach, leichter löslich, und dadurch wirksamer macht. Um über diesen, einem altgläubigen, dem das neue Licht noch nicht aufgegangen ist, jedoch schwer einleuchtenden Rie- senschlufs nicht sogleich das triviale: « Crcdat Judaeus Apella!” auszurufen, will ich nun gern glauben, dafs die Reinettäpfel in des Herrn Verfassers Physikat, in Westpreufsen nämlich, eine gute Portion Apfelsäure ha¬ ben, und davon selbst eine mehr als homöopathische Dosis durch das fünf Minuten lange Einweichen in Wasser aus¬ lecken lassen mögen, es auch dahin gestellt sein lassen, ob die Chemie sich schon den Gesetzen der neuen Lehre fügt und ein so unscheinbares Menstruum anerkennt, und ob die Reinettäpfel im warmen Klima Mexiko’s, wenn es deren überall dort giebt, eine ähnliche Portion leicht aus¬ leckender Säure haben, als in Westpreufsen aber die ganze Mühe dieser «kritischen Darstellung« hätte sich der Iir. Verf. um etwas leichter, und «die Hei¬ lungsart der Hydrophobie« bei den Mexikanern den Deutschen etwas, wenn auch noch nicht viel, plausibler gemacht, wenn er das Englische «Rennet”, wie siebs gebührt, mit «Labmagen” übersetzt, und nicht die paar n- Striche mehr darin, als in dem Worte «Ren et,” «die Reinette,” übersehen hätte. So habe ich wenigstens dieselbe Vorschrift in einem englischen, freilich nicht -me- dicinischen Journale, dem Sun, wenn ich nicht sehr irre, gefunden. Es könnte abeir wohl sein, dafs unser Verfasser Band 28. Heft 3. 25

386 XL Medicinische Bibliographie.

scr seine «kritische Darstellung“ nach einer siche¬ reren (Quelle bearbeitet hätte, in welchem Falle ich dc- precire. -

Ich möchte wohl den Vorschlag machen, für solche und ähnliche Proben litterarischer Seichtheit in irgend ei¬ ner kritischen Zeitschrift eine eigene Rubrik zu eröffnen. Sic würde sich mit eben so leichter Mühe ausfüllen las¬ sen, als sie gewifs ihr Gutes haben, und nebenbei zur Er- götzlichkcit der Leser dienen würde.

li n.

XI.

Medicinische Bibliographie.

Dzondi, C. II., observatioues ophthalmologicac. 8 maj. Halle, Anton, br. 10 Gr.

Kupfcrtafcln, chirurgische. Ilerausgeg. von R. Froriep. 62s Heft. gr.4. Weimar, Ind.Compt. br. 12 Gr.

Stüler, G. W. , die Homöopathie und die homöopathische Apotheke in ihrer wahren Bedeutung dargcstellt. Mit Vorr. eines Nicht- Arztes, gr.8. Berlin, Enslinsche Buclih. geh. 18 Gr.

Univcrsal-Lexicon der praktischen Medicin und Chi¬ rurgie, von Andral etc. Frei bearb. Ir Bd. 6tc Lief. Lex. -8. Leipzig, Franke, br. n. 8 Gr.

Golds, Ludw., Repetitorium der medicinischcn und ope¬ rativen Chirurgie. 8. Berlin, Hirschwald. 2 Thlr. 16 Gr.

Sammlung auserlesener Abhandlungen zum Gebrauche praktischer Acrzte. 40r Bd. 4s Stück. Neue Saminl. etc. 16r Bd. 4s Stück, gr.8. Leipzig, Dyksche Buchhand¬ lung. 18 Gr.

/

XL Medicinische Bibliographie. 387

Copland, J. , cncyclopädisches Wörterbuch der prakti¬ schen Medicio. Aus dem Engl, mit Zusätzen von M. Kalisck. Ir ßd. ls lieft, gr.8. Berlin, Mittler, hr. 16 Gr.

Dieffenback, J. F., physiologisch -chirurgische Betrach¬ tungen hei Cholera - Kranken. Eine vom Institut de France gekrönte Preisschrift. Zweite, verm. Aufl. gr.8. Güstrow, Opitz, geh. 6 Gr.

Encyklopädie der gesammten medicinischen und chi¬ rurgischen Praxis; von G. Fr. Most. 5s lieft, gr.8. Leip¬ zig, Brockhaus. br. n. 20 Gr.

Funke, K. F. W. , die Noth Wendigkeit einer Veterinair- organisation in dem Königreiche Sachsen, nachdem Bei¬ spiele des Auslandes. 8. Leipzig, Friese, br. 6 Gr.

Homöopathik, die, der gesunden Vernunft, so wie dem Staats- und Privatrechte gegenüber; in zwei Theilen. Ir Theil. gr.8. Quedlinburg, Ilanewald. 18 Gr.

Jahrbücher der homöopathischen Heil- und Lehranstalt zu Leipzig. Herausgeg. von den Inspectoren derselben. 2s Heft. gr.8. Leipzig, Schumann. n. 1 Thlr.

/ I.

Bei den Gebrüdern Bornträger in Königsberg ist so eben erschienen, und in allen Buchhandlungen

zu haben :

Das Quecksilber, ein pharmakologisch -therapeutischer Versuch vom Prof. Dr. L. W. Sachs, gr. 8. 1 Thlr. 22 Gr.

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I.

Paracelsus über psychische Krankheiten.

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Durch H. D amerow,

Doktor und Professor der Medicin,

V on den beiden Schriftstellern über Geschichtliches der Lehren von den psychischen Krankheiten, hat der eine nichts über Paracelsus, und der andere wenigstens nichts aus den Quellen selbst geschöpftes mitgcthcilt. Ileinroth übergeht ihn, indem er behauptet, dafs Paracelsus nichts für psychische Heilkunde geleistet habe; Fried re ich glaubt ihm und giebt (wie ich in der Beurtheilung seiner Litterärgesehichte, in den Jahrbüchern für wissenschaft¬ liche Kritik, April 1831, No. 70 72, näher nachgewie¬ sen) nur Excerpte aus Rixner’s und Siber’s Leben und Leb rmeinungen des Paracelsus, Suizbach 1829, und aus Sprengel’s Geschichte, welcher, wie auch Haller, je¬ nen Mann von seinem Standpunkte aus nicht richtig be- urtheilen konnte, wenn er ihn auch ernstlich hätte stu¬ dieren mögen. Dem Loos, Jahn, Leupoldt, Schultz, wie auch mir, lag bei dem über Paracelsus Geschriebe¬ nen das specielle Eingehen in seine Ansichten von den psychischen Krankheiten zu fern; und so ist denn bis heule so gut wie nichts zur Oeffccilichkeit gebracht. Daher will ich es hiermit thun, um den vielfach nicht gekannten und verkannten deutschen Protomedieus auch in diesem diffi-

Band 28. Heft 4. 20

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I. Paracelsus

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eilen und nur beiläufig auf seinen großen, vielumfasÄcnden Wanderungen besuchten Punkte wieder zu begegnen.

Er zeigt sich auch hier im Wesentlichen auf die näm¬ liche Weise, wie ich ihn in meinen «Elementen etc. dar¬ gestellt, In seinen Ansichten über psychische Krankheiten ist das Streben nicht zu verkennen: iu die Tiefe zu dringen, alle Erscheinungen von innen heraus, wie aus einem Keime (organisch) zu entwickeln, den ganzen Menschen als eine selbstständige Einheit und in Harmonie mit dem All, als einer selbstständigen Einheit, zu erfassen, und zwar, da Begriffe und empirische Kenntnisse des Ein¬ zelnen fehlen, zum Th eil durch Allegorien, Sym¬ bole, Magie, Signaturen etc., kurz durch bildliche Anschauungen, deren unerschöpfliche Grund- quellen er fand iu der grofs artigen Eiuheit des Makrokosmus und Mikrokosmus.

Auch für psychische Krankheiten gelten daher seine vier Säulen der Medicin: Philosophie, Astronomie, Alehy* mie, Tugend (Theosophie); desgleichen Sätze, wie fol¬ gende: Philosophie, Astronomie und Medicin siud nicht drei Künste, sondern eine. Einen Mann geben sie, nicht drei, darum, der in Einem steht allein, der ist leer und närrisch (I. 371 *); die Vergleichung Macrocosmi und Mi- crocosmi inufs miteinander übereinander übereintreffeu; sol¬ ches aber zu offenbaren erfordert ein Buch dreimal so grofs als die ganze Bibel (I. 339.); der Arzt, der nicht durch Phi¬ losophie (Licht der Natur, unsichtige Natur, Vernunft) in die Arznei geht, geht nicht in die rechte Thür, sondern oben zum Dach hinein, und werden aus ihnen Mörder und Diebe (Ch. magn. III. TI). Auch seine Ideen über Ana¬ tomie, welche, abgesehen von der Polemik gegen die ge¬ wöhnliche, ähnlich sind den unsrigeu über ächte Phy-

*) Ich citire stets nach der IIus ersehen Ausgabe: Straßburg, Zelzner, 1616 18. 3 Bände, folio.

über psychische Krankheiten. 391

siologie des Menschen, gelten für psychische Krankhei¬ ten. Seinen Bcgriü von Anatomie unterscheidet er sehr bestimmt von der gewöhnlichen «localis Italorum, id est cadaverum. » In jener soll ihm substantia, materia, forma betrachtet werden, deren jedes die beiden andern in sich hat; sie ist ihm «Theoria medicorum» (I. 640). In der grofsen Chirurgie spricht er sich (III. 259 261) näher aus. Da heifst’s: «In der todten Anatomie werdet ihr weder Natur noch Wesen erkennen. Nutzt inwendig gar nichts. Essentia, Eigenschaft, Wesen und Kraft, so ist das höchst der Anatomie; ist abgestorben. Die ist bis¬ her noch nicht tractirt worden; denn es ist gemeiner Brauch, das Beste wegzulassen. Aber der lebendige Leib ist es, der Gesundheit und Krankheit anatomatiziren läfst, nicht der todte; er fordert daher eine lebendige Anatomie. In der todten Anatomie spielt der Sophist. Nehmt euch die lebendige Anatomie vor, und lafst von dem todten Gaukelspiel, worin ihr nur erkennt, was die Natur so auswendig begreift. Skribenten der todten Anatomie haben mit grofsen Lügen und Unverstand die Profefs der IVledicin gefälscht, glorierend der anatomischen Bossen zu Ferrar uud Paris. Aber solch’ Gaukelspiel brauchen die Walchen , die allemal zu äffen und zu betriegen geneigter sind, und denen wir'Teutschen, als barbari, den Pfennig zu schauen von Herzen gern geben. »

Wer vorweg wähnt, dafs des Paracelsus Ansichten über den in Rede stehenden Gegenstand nur chemisch und alchymisch sind, irrt doppelt; einmal weil dieses Vorurtheii ein falsches ist; dann weil ein solcher, mit sei¬ nen Schriften nicht bekannt, gewöhnlich mit Chemie un¬ seren späteren Begriff, und mit Alchymie den beschränk¬ ten der Goldmachung verbindet, welche Paracelsus in ihr nicht lehrt, wie er ausdrücklich (I. 220) bemerkt. Allerdings lehrt die Alchymie auch nach ihm Magualia, Arcana, Mysteria bereiten, um das höchste, was in der Natur ist, herauszubriugen , da die Natur (I. 219) nichts

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I. ParacclSns

an den Tag giebt, das vollendet sei, sondern der Mensch erst vollende, welche Vollendung Alchymie ist.» Nennt er nun ebendaselbst den Rebmann, der den Wein macht, den Weber, der das Tuch macht, einen Alchymislen, so ist freilich unter Alchymie hier nur künstliche Bereitung der Arzneikräfte zu verstehen, nämlich seiner «Arcana,” welche, die Quintessenz der lebendigen Naturkräftc ent¬ haltend, auch den inneren Grund der Krankheiten fort zu¬ nehmen die Kraft haben sollen. In diesem Sinne sagt er: ,< Arzt soll Arcana brauchen, sonst gelit’s ihm wie llund, der ixi Stuh’ gefistet hat, stcckt’s Rekholdcrholz an, Ge¬ stank bleibt darin, das ist nur corrigiren, nit heilen.» «Denn,» sagt er (Cb. magn. III. 77.), «der ist heilig, desseu Worte Kraft haben, also der Arzt, dessen Arznei Kraft hat.» Die Alchymie dagegen im lebendigen Leihe des Menschen, die organische, lehrt ihn mehr oder minder den inoern Grund und Zusammenhang der Dinge kennen, ist als «Separatio, Erzeugerin und Gebärerin des Anfangs der Dinge, ein göttlich Geschehen,» und analog dem, was wir Eutwickelung, Metamorphose nennen.

Ferner wird es sich zeigen, dafs auch diejenigen sehr irren, welche, gleichfalls ohne ernstes Studium seiner Werke, meinen, dafs -in seinen Ansichten über psychische Krankheiten sich nichts vorfinden würde als abergläubi¬ sche Ideen der Zeit über Magie, Alchymie, Theosophie, Besessensein und Exorcismus, angewandt auf jene Krank¬ heiten. Zeigen sich auch Spuren von diesen mystischen Tiefen und Untiefen, scheinbaren uud wirklichen Wider¬ sprüchen, so sind dieselben freilich leicht zu bespötteln von jenen, welche vergessen, dafs sie zufällig drei Jahr¬ hunderte später leben uud urtheilcn, welche nicht beden¬ ken, dafs nach drei Jahrhunderten unsere Zeit in mancher Beziehung eben so abergläubisch, wie jene Paracelsischc erscheinen dürfte, welche nicht wissen, dafs er der noth- wendige Repräsentant einer ganzen Bildungsstufe seines \ olkes war, und dafs der Aberglaube jener Zeit (wie

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über psychische Krankheiten.

Steffens sehr treffend In seinen polemischen Blättern zur Beförderung der speculativen Physik, erstes Heft, 1829, S. 13 sagt), ihr Glaube war. Doch ich will nicht wie¬ derholen, was ich zu des Pa ra celsus Rechtfertigung und zu seinem Verständnifs gesagt in meinen Elementen etc. 113 125, und in der Beurtheilung von «Schultz IIo- möobiotik etc.,» in den Jahrb. für wissensch. Krit. Fehl*. 1832, No. 33 35; sondern dafür mit hierher bezüglichen Stellen von Gölhe und Ilee:el dies einleitende Vorwort

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schliefsen. Gölhe nämlich antwortet bei Gelegenheit von Schiller’s Anfragen, wegen theatralischer Benutzung und Wirkung der astrologischen Ideen für den Wallen st ei n, plastisch -schön und die rauhen Gegensätze ausgleichend so: «der astrologische Aberglaube beruht auf dem dunkeln Gefühl eines ungeheuren Weltganzen. Die Erfahrung spricht, dafs die nächsten Gestirne einen entschiedenen Einflufs auf Witterung, Vegetation u. s. w. haben; mau darf nur stu¬ fenweise immer aufwärts steigen, und es läfst sich nicht sagen, wo diese Wirkung aufhört. Findet doch der Astro¬ nom überall Störungen eines Gestirnes durch’s andere; ist doch der Philosoph geneigt, ja genöthigt, eine Wirkung auf das entfernteste anzunehmen, so darf der Mensch im Vorgefühl seiner selbst nur immer etwas weiter schreiten, und diese Einwirkung auf’s Sittliche, auf Glück und Un¬ glück ausdehnen. Diesen und ähnlichen Wahn möchte ich nicht wTol Abergtaube nennen; er liegt unserer Natur so nahe, ist so leidlich und läfslich als irgend ein Glaube. Nicht allein in gewissen Jahrhunderten, sondern auch in gewissen Epochen des Lebens, ja bei gewissen Naturen, tritt er öfter, als man glauben kann, herein. G. 8. Dccbr. 1798. Hegel sagt in seinen Vorlesungen über die Ge¬ schichte der Philosophie, welche jeder kennen sollte, der sich zu wahrhaft tiefen und ernsten Gedanken in diesem Gebiete erheben will, im ersten Theile Seite 59: «Jede (Philosophie) hat im Ganzen des Ganges eine besondere Enlvvickelungsstufe, und hat ihre bestimmte Stelle, auf der

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I. P a c a c o 1 s o s

sie ihren wahrhaften Werth und Bedeutung hat. Nach dieser Bestimmung ist ihre Besonderheit wesentlich auf- i zufassen und nach dieser Stelle «anzuerkennen, um ihr ihr Recht wiederfahren zu lassen. Eben deswegen mufs auch nicht mehr von ihr gefordert und erwartet werden, als sie leistet. Es ist in ihr die Befriedigung nicht zu suchen, die nur von einer weiter entwickelten Erkcnntnifs ge¬ währt werden kann. Jede, eben darum, weil sic die Dar¬ stellung einer besondern Entwickelungsstufe ist, gehört ih¬ rer Zeit an und ist in ihrer Beschränktheit befangen. Das Individuum ist Sohn seines Volkes; seiner Welt; der Ein¬ zelne mag sich aufspreixen, wie er will, er geht nicht über sie hinaus. Denn er gehört dem einen allgemeinen Geiste an, der seine Substanz und Wesen ist; wie sollte er aus diesem herauskommen? Jede kann also nur Be¬ friedigung für die Interessen gewähren, die ihrer Zeit au¬ gemessen sind.”

Die Ansichten des Paracelsus über Seelcnkrankhei- ten sind zu entnehmen: 1) aus dem Buch von den Krankheiten, so der Vernunft berauben (I. 486 bis 506); cs ist das siebente von den gröfstentheils verlo¬ ren gegangenen, oder noch nicht aufgefundenen neun Bü¬ chern von der Arznei. Dieses Buch ist besonders heraus¬ gegeben von Ad. v. Bodenstein 1567, welcher, 1528 geboren, in demselben Alter wie Paracelsus starb, einer der ersten Ausbreitcr seiner Lehre in Basel, wo Parac. begonnen hatte, war, und sich selbst in seiner Grabschrift nennt: Th. Prc. ut primus sic fidus et Opcre et Ore inter- pres; 2) aus dem Troctat von der Taubsucht (I. 530 bis 533 ) in den eilf Tractaten vom Ursprünge und den Ur¬ sachen von Krankheiten; 3) aus den Büchern: de Luna- ticis und auch zum Theil: de generatione stulto- riirn (II. 161 ISO) in der Philosophia magna; 4) aus einer I\Icngc zerstreut in seinen Werken vorkommeuder Stellen.

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über psychische Krankheiten.

Aus diesen sämmtlichcn Materialien eine anschauliche Zusammen- und Darstellung des Verständlichsten und Ver- ständigsten z?u gehen, soll versucht werden; und es dürfte «ich aus derselben für den freien, nicht in sich und seiner Zeit egoistisch fixirten Leser und Forscher ergeben, dafs Par. Werke, wie überhaupt, so auch in Bezug auf psy¬ chische Krankheiten, nicht nur für seine, sondern auch unsere Zeit reicher sind an tiefen, fruchtreichen Ideen, als manche selbst von denen unserer Zeitgenossen, ohne ein¬ mal daran zu erinnern, dafs bei diesen, wie bei Paracel¬ sus, des Unbrauchbaren, Verfehlten genug vorkommt, und ohne zu fragen , wie nach drei Jahrhunderten unsere Lei¬ stungen beurtheilt werden mögen.

In dem Buche «von den Krankheiten, so der Vernunft berauben,» spricht er in den fünf Kapiteln des ersten Tractats von den Ursachen, in den fünf Kapiteln des zweiten Tractats von der Kur: 1) der fallenden Siech¬ tagen, 2) der Chorea St. Viti, 3) der suffocatio intel- lectus, 4) der Manie und 5) der rechten unsinni¬ gen Leute. Von diesen Kapiteln gehören, um uns nicht zu weit auszudehnen, nur die zwei letzten vor unser Forum, wenn gleich auch die übrigen viel Interessantes, selbst Tiefes enthalten, was in Bezug auf die Chorea las- civa schon Hecker in seiner «Tanzwuth,» Seite 17 bis 21, mitgetheilt hat. Im Allgemeinen sei nur bemerkt, dafs Par. in diesem Buche auf dem medicinischen Standpunkte steht, dafs er diejenigen Krankheiten meint, welche sym¬ pathisch durch innere und äufsere natürliche Ursachen den Menschen der Vernunft berauben, daher er sie auch Krank¬ heiten nennt, welche die Vernunft entziehen; obgleich er freilich, wie man es hei ihm gewohnt ist, nicht ganz con- sei[uent diese ursprüngliche Ansicht testhält. Bemerkens¬ werth ist es auch, dafs er sehr bestimmt sich gegen den Aberglauben seiner Zeit, solche Krankheiten den Einflüs- sen des Teufels zuzuschreiben, stemmt. So sagt er gleich im Anfänge des Buchs: Wir erkennen in den Krankhei-

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I. Paracolsns

tcn, so der Vernunft berauben durch Experienlirung, dafs sie aus der Nalur entspringen und wachsen. Und wie¬ wohl die Götlerisclicn Verweser (Geistlichen) solche Krank¬ heiten zu unsern Zeiten in Europa den incorporalischen Geschöpfen und diabolischen Geistern zulegen, so sind wir dies zu glauben und zu halten noch nicht unterrichtet. Denn die Natur zeigt uns so viel an, dafs solches Fiirgc- ben der irdischen Götter (Geistlichen) ganz absinnig ist, und werden melden, dafs solcher aller aus der Natur ein Anfang ist. M

Zunächst nun vom «Ursprung und der Heilung der Mania» (I. 488 491, und I. 500 501).

Dem in diesen beiden Kapiteln Gesagten, möge, was sich sonst Wichtiges in den Werken des Paracelsus über Manie findet, angereihet werden, um ein übersichtliches Ganzes darzustellen. Gleich zu Anfang nennt er die Manie u eine Veränderung der Vernunft und nicht der Sinne. Manie kommt mit Toben und unsinniger Weise, nimmer kein Hub’, viel Unglücks machen, und wird dadurch er¬ kannt. dafs sie von selbst wieder nachlüfst und anfhört, und wieder zu der Vernunft kommt. » Deshalb rechnet er sie auch im Ruch « de Renovationc et Restauratione morborum u zu den Krankheiten, welche « in der Renova¬ tion und Restauration hioweg gehen, es sei denn (1.827) eine Krankheit, die aus der Geburt ihren Ursprung nahm, welche nicht genommen wird. u Diese Annahme des Pe¬ riodischen, als eines pathoguomischen Symptoms der (acu¬ ten) Manie, verrätb einen ausgezeichneten Blick in die Natur derselben. Ucbrigens fügt er sehr vor- und umsich¬ tig hinzu, dafs wenn gleich sie oft w’iederkebre, uud vom Mond und sonstigen Accidenten abhänge, dies doch nicht immer der Fall sei. Er nimmt zwei Arten von Manie an, eine die bei gesundem Leibe entspringt, und eine aus andern Krankheiten. Seine Theorie von der Entstehung derselben aus der Materie, welche er, im Kapitel vom * Ur¬ sprünge u giebt, ist die, dafs ein Humor in das Haupt de-

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iibcr psychische Krankheiten.

stillirt, entweder unterhalb, oder oberhalb des Diaphragma, nimmt aber aufserdem eine dritte Destillation aus den Glie¬ dern an. Er sagt von der ersten: diese Mania ist fast thumb und unbesinnig, fallen gleich nieder, mögen nicht essen, kotzen viel, haben auch Durchlauf, und brumlen viel mit sich selbst, haben nicht sonderlich Acht auf die Leut’ und ihre Wohnung. Von der zweiten heifst’s: dieselbe ist fast grimmig, mit vielem Trucken um das Herz und an der Br, ist, und mit viel Stichen. Die dritte, aus den Gliedern, macht fröhlich und frisch und ganz wild, mit vielem Wöthen.

Da im weitern Verlauf diese Formen nur nach seinen alchymischen Principien explicirt werden, so scheint cs, als würden diese Principien nur auf die bekannte Theorie der Alten von der Manie angewandt. Dem ist aber doch nicht ganz so, obgleich nicht geläugnet werden soll, dafs er jene alten Elementargeister in diesem Punkte nicht völ¬ lig abgeschüttelt hat. Am Schlufs nämlich des Kapitels von dem Ursprünge der Manie sagt er, dafs es nach Obi¬ gem scheine, als käme sie aus den Qualitäten (der Alten), was aber nicht der Fall sei. Denn der Maniacus, der da brumlet, ist nicht ein Melancholicus; der da wollt fechten und schlagen, kommt nicht aus der Cholera; sondern die Verschiedenheit kommt daher, wenn ein Melancholicus, der von seiner Natur ein natürlicher Melancholicus ge¬ wesen ist, Maniacus wird, in welchem Falle die materia maniaca seine alte Weise und Geberd, die er in seiner Natur hat, incendirt und anreizt. Also auch die andern thun.

So erkennen wir in dem so eben Angeführten die tiefe Andeutung, dafs je nach dem Temperament, Naturell des Menschen die Formen der Manie und der psychischen Krankheiten überhaupt verschiedenartig auftreten; und dafs die Manie des Cholerikers (in den Gliedern) den Charakter jenes heftigen Naturells hat, desgleichen die Manie der Me¬ lancholiker (unter dem Diaphragma) und die der Sau-

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I. Paracelsus

guiniker (über dem Diaphragma) den des entsprechenden Naturells, eine Ansicht, welche in der Natur und Er¬ fahrung allerdings als richtig sich erweiset, wichtig für rationelle Bestimmung der Formen und der individuellen Jleilindicationcn ist, und besser als die Ansicht derer, welche auf unnütze Weise überall neue Species sehen uud aufstellen.

Ferner nennt er die Manie « eine Anzünderin der heim¬ lichen Geherden und Eigenschaften der Menschen. » Fein wie diese Bemerkung ist auch der Zusatz, dafs manche Manie nicht anzeigt die Natur des Menschen, sondern den Kampf seiner Natur wider die Manie. Und allerdings giebt cs nach meinen Beobachtungen solche Formen von Manie, in denen die Natur sich gegen dieselbe sträubt, und hef¬ tiger aus (Grimm wider die Krankheit, als aus den in der Krankheit selber liegenden Gründen tobt und wüthet, welche Form aber auch eine andere psychische Einwir¬ kung erheischt.

Die Kur betreffend, so ist dieselbe, gcmäfs diesen Büchern von der Arznei, nur «Chirurgisch» und « Phy¬ sisch» (innerlich). Er räth conscquent: « Apertive zu ma¬ chen,» um den Humor destillatus herauszulassen, welches Mittel ja noch heute eines der wesentlichsten der « indi- rect- psychischen Methode» ist. Er räth als äufsere Mit¬ tel: selbst alle Extremitates zu ölTnen an Zehen, Fingern und Haupt, und zwar entweder durch blasenziehende und Aczmittel, oder durch Instrumente (Flietmen). Im Allge¬ meinen aber zieht er die erste Methode vor, und zwar haben ihm die blasenziehenden Mittel am bestcu gefallen, von welchen, wie von den Aezmitteln, er auch Formeln und deren Bereitung und Dosen (I. 500) angiebt.

Die (innerliche Behandlung besteht «in abführen¬ den , coagulircndcn und stillenden Mitteln aus der (Quinta Esscntia,» und rechnet er zu jenen besonders metallische Mittel, als: quinta csscutia Argcnti, Mcrcurii, Saturni, Ferri, auch Ol. camphorac und andere i zu dcu stillenden Anli-

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über psychische Krankheiten. 399

spasmodica, Sedativa, Narcotica, gleichfalls aus der Quint¬ essenz. Mit den Simplicibus crudis, sagt er, wolle ersieh nicht beladen, obgleich andere von ihnen so viel erfahren haben wollen. Diese milde Methode macht er auch an andern Stellen gelegentlich lächerlich. So sagt er (I. 223), dafs Phrenesis, Mania, Mclancholia, id est Tristitia , nicht mögen durch die Decoquirung der Arzneien, diesen Suppenwust, worin die Arcana ertrinken, geheilt werden ; und (I. 257, in seiner dritten Defension): Ihr möget durch Euren Zucker -Kosat den Veitstanz und Lunaticos curiren. Freilich habt Ihr es nicht gethan, und werdet cs auch da¬ mit nicht tliun. Mufs ein anderes sein. Warum wollt Ihr mir verargen, so ich das nehme, was ich nehmen mufs und soll. Ich lafs es den verantworten, der es also com- ponirt hat in der Schöpfung Himmels und der Erden.

Aderlässe empfiehlt er auch als etwas Bekanntes in dem Kapitel de cura maniae, doch redet er hier nicht weiter davon, weil, setzt, er hinzu, es gemein ist und am Tage liegt. Ausführlicher läfst er sich aus J(Paramiron I. 31): Was hilft in Mania, als allein, eine Ader aufzu¬ schlagen? Dann geneset er. Das ist das Arcanurn, nicht Camphor, nicht Nenufar, nicht Salvia und Majorana, nicht Clystiere, nicht Infrigidantia, nicht das nicht dies, son¬ dern Phlebotomia. Vom Blute läfst er die Manie des¬ wegen aber nicht entstehen, und spricht ausdrücklich da¬ gegen. Merkwürdig ist eine andere Stelle (I. 713.), welche lautet: «Wo Manie in einem Haupte verborgen liegt im Paroxysmus, so bald in dies Wunden oder Aderlafs ge¬ schieht, so Ist das tödtlich», eine Cautele, woraus her¬ vorzugehen scheint, dafs bei bevorstehendem Ausbruch der Manie er gegen die Phlebotomie ist. Diese Stelle ist nicht zu verwechseln mit der in ( bi r. magn. III. 540, wo er von den « apocryphischen Wunden der Manie,” und den Unterschieden derselben einiges beibringt. Endlich rälh er (II. 330), dafs der unsinnige, tolle Maniacus müsse an Ketten gelegt werden. Dies ist seine arzneiliche Kur

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I. Paracelsus

der Manie, und cs bedarf kaum der Bemerkung, dofs die¬ selbe noch beute bei Engländern und denen, welche die indirect psychische Kur allein anwenden, wesentlich auf die nämliche Art, mit Ausnahme der Ketten, an deren Stelle ein anderer Zwangsapparat getreten ist, gehand- liaht wird.

Hinsichtlich der Wichtigkeit des Schlafes heim De¬ lirium und der Manie ist er mit den bekannten Aph. Hipp, in |der 2len Section völlig einverstanden. Er fügt hinzu (I. 708): «wo Schlaf nichts vermag (im Delirio), da ist es chronisch, ein Zeichen, dafs das Uebel fix ist im Hirn, bleibend, unvergeblich. Schlaf ist eine Arznei über alle Gominas und Lapides pretiosos, deshalb auch auf Som- nifera in rechter Essenz so viel zu geben. Das Wort Manie kommt noch in anderer Verbindung und Bedeutung als der gewöhnlichen vor. So hat er eine mania somnii, cordis, uud begreift darunter (II. 266) das Nachtwan¬ deln, wenn anders die Stelle acht ist. Ferner hat er eine cbriecata, inebriecata mania. Diejenigen welche daran leiden «pochen (II. 370) in der Schrillt und legens alles nach der fremden Weisheit aus, und interprelirens widersinnig.” Die Stelle ist übrigens leicht hingeworfen, und nicht so klar, dafs mit Gewifsheit zu entscheiden, ob er hier nur polemisch und ironisch redet, oder ob er die Form meint, welche wir Daemonomania, mania religiosa nennen, und von welcher Beispiele genug aus der Zeit der Reformation bewahrt sind, selbst in Schriften der Aerzte. Im Allgemeinen versteht er unter Ebriecatum das, wenn der Mensch von seiner eigenen allgemeinen Weisheit fällt und in eine andere, fremde Weisheit kommt. Er nimmt nämlich eine humana Sapicntia und eine aliena Sapientia an. Die humana ist ihm die, welche Gott dem Menschen giebt, durch die der Mensch als Mensch leben und als Mensch alle Dinge erkenneu, ermessen und verstehen soll. Bei der aliena Sapicntia weicht der Mensch von der mensch¬ lichen und nimmt eine andere an sich, uud nach dcrsel-

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über psychische Krankheiten. 401

ben beurtheilt er alles, was er sieht und hört; er fleucht hin und wieder, wie das Rohr im Wasser; diese aliena ist ein Schwindelgeist, der da taubt (tobt) und ertollct wider alle menschliche Art. Das Wort « Ebriecatum ist gleichsam beispielsweise, wie er selbst sagt, vom Rausch und dessen Folgen hergenommen; und da es wirklich scheint, dafs er das Wort «aliena» (sapientia) hier imSinne des neueren Französischen «aliene,” als Gattungsbegriir für den seinem Selbstbewufstsein entfremdeten Geist, oder wenigstens für « Narrheit » überhaupt im populären und medicinisehen Sinne nimmt, so mag er auch wohl bei mania ebriecata an verkehrte und zugleich an wahnsinnige Auslegung der Schrift gedacht haben.

Ehe wTir weiter gehen zum fünften Kapitel dieses Bu¬ ches de morbis amenlium, betitelt «vom Ursprünge und der Heilung der rechten unsinnigen heute,” wird hier passend eingeschaltet das Kapitel über

die Taub sucht,

von welcher er am ausführlichsten handelt I. 530 533, und auch beiläufig an anderen Stellen. Die Definition liegt im Allgemeinen in dem Namen Taubsucht für « Tobig- keit » «Tobsucht”, und erscheint in so fern nur dadurch von der Manie unterschieden, dals die Tobsucht nicht « pa- roxysmirt, welches ein wesentliches Criterium seiner «rei¬ nen (acuten) Manie war. Doch bezeichnet er im wei¬ teren Verlaufe dieses Aufsatzes mit dem Namen «laub¬ sucht” die Seelenkrankheiten («Unsin nigkeit ”) in genere, und ist ihm dann «Taub” nicht gleich «tobig,” sondern gleich «taub,” gleichsam an und für Vernunft. In die¬ sem letzteren Sinne nimmt er das Wort nicht nur selbst in diesem Aufsatze, sondern auch in dem Prolog zu dem Buche: de Lunaticis.

Seine Definition von Taubsucht ist nun zunächst ' folgende: «So ein gesundt Mann der Vernunft, sie ver¬ liert und ihr entrinnt, und gebraucht sie nicht dahin, da¬ hin er sie gebrauchen soll, und darum sic ihm geschaffen

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I. Paracelsus

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ist, sondern unbcsinnt wuthet und tobt mit aller Ungcstii- migkeit, so ist er in der Taubsucht. » Weiter sagt er ge¬ radezu, dafs er hierunter nicht die Besessenen, Trunkenen, Narren, Tyrannen meint; denn das seien nicht Krank bei- ten, sondern andere Zufälle; die rohsucht sei aber rechte Krankheit. Demzufolge ist sie ihm der höchste Grad der Manie, der chronischen Tobsucht.

Diese Definition näher commentirend durch eines sei¬ ner Lieblings- Beispiele , aus der Natur genommen, geht er allmätig von der gegebenen zur « Unsinnigkeil » überhaupt über. «Wie eine Schüssel voll Bosen und Gilgen, darun¬ ter eine Handvoll Nesseln liegen, wegeu der Nesseln nicht angerührt werden, also stechen auch die Unkräuter der Vernunft. Demi so Nesseln wachsen unter den Bosen (der Vernunft), so brennt sie und wütbet, und solche Vernunft wird niemands Ni»ä, und sticht und brennt einen jegli¬ chen, der ihr hellen und sie suchen will.»

Aufser dieser bildlichen Ursache giebt er noch eine

tiefere, psyschologische an, nach welcher er die Taubsucht

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aus der Ucbcrreizung, Verblendung, und dem «Ueber- b rauch» der natürlichen Kräfte der Vernunft her¬ leitet. Denn, sagt er, ein jeglich Ding hat sein Amt da¬ hin und nicht zu andern. Dahin zu sehen, wohin wir sollen uud müssen, nicht dahin, was nicht möglich ist zu erlangcu. Wie ein Aug in der Sonne, welche auch ein Aug des Himmels ist, erblindet, so gerinnt die Vernunft in den Dingen, welche sich wie die Sonne zum Auge ver¬ halten. Höher sinnen, als die Vernunft zu tragen ver¬ mag, ist ein Nicderwerffcn desselbigcn in seiner Vernunft. Denn wie ein Mensch mehr Stärke hat, denn der andere, so ist auch einer Vernunft mehr nützlich als der andern. Sein höchstes mufs jeder erkennen, damit ui t unsere Ver¬ nunft gegen die Vernunft steht, wie unser Aug gegen das Aug des Himmels. »

Gleichfalls aus der Kcnntnifs des Menschen und seines Wahnsinnes geschöpft ist die Bemerkuug, dafs Mcuschcu

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über psychische Krankheiten. 403

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wegen der engen Gewissen zerrüttet werden, die tief (wie sie"s heifsen) im Geist lehren, sieh selbst in Zweifel und Sorgen bringen, und so ihr Hirn tobig und unsinnig ma¬ chen. Hei andern, meint t‘r sehr klug, walte aber noch eine verborgene Ursache, und hierhin rechnet er als fei¬ ner Herzenskündiger « die Spitzfindigkeit derer, welche anders ihre Weisheit brauchen, als ihnen angeboren ist, und mit Phantasieren gelockt werden, wie ein Huud mit einem Stück Fleisch. Fassen solche Phantasieen den Men¬ schen, so heifsen sie ihm das Hirn und er schreit sein Noth und sein Elend, wie eine Geis, die dem Wolf im Maul sitzt. » Darum, setzt er hinzu, bleib ein jeglicher in seinem Beruf; fremden Beruf anzunehmen, das geschieht dir aus den Geistern, welche dich am letzten heifsen, das ist dich unsinnig machen. Solche Speculationes nun im Kopfe nennt er Mirmidones. Wo sie bei einander ste¬ hen, da sind sie zwieträchtig, ein jeglicher will wider den andern und wird daraus ein Scharmützel, gleich als wenn ein Haufen Volks einander schlägt.

Es ist augenscheinlich, dafs Paracelsus sich allmälig von der ersten Definition der Taubsucht entfernt, und zu

den fixen Ideen, zum Wahnwitz, zur Unsinnigkeit im All-

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gemeinen fortschreitet, was vornehmlich aus folgender Stelle (I. 533, Signa) hervorgeht: «Wer in seiner be¬ kannten Weise, Gewohnheit und Brauch abw^eicht, so sag, dafs dieser zur Unsinnigkeit geht. Sonderlich so er seiner selbst nit gewaltig ist, neidet und feindet die Leuth, schlägt, kirrt, tobet und mit allen Wüthen, der ist auch unsinnig: der still ist, ruhig, aber entsetzt seiner gewohn¬ ten Vernunft, der ist auch unsinnig.«

Aufser diesen mitgetheilten psychisch -intellektuellen Ursachen führt er noch andere an, nämlich: die Elemente, Influenz, Constellation , Conjunction, kurz den Macrocos- mus; ferner Krankheiten und meint, dafs in ihnen wie in Kräutern ein Geist sei, welcher, so wie er in das Hirn kommt, dasselbe zerbricht und unsinnig macht. Gegen

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die Ansichten der Humoristen erklärt er sich aucli hier, namentlich dagegen, dafs die Unsinnigkeit allein von Ge¬ schwüren herrühre. Er sagt vielmehr weit- und um- \ sichtiger, als mauchc Irrenärzte noch heut zu Tage, dafs das Geschwür daraus wird, woraus die Unsinnigkeit auch wird, und dafs, folgt die Unsinnigkeit auf das Geschwür, dieses ein Vorbote der Ursache der Unsinigkeit sei.

Ich meine, Ihr habt auch Mirmidones, redend wozu Ihr nicht berufen seid. Wie Ihre Theorie, so auch Ihre Kur.”

Aufscrdem zieht er auch gegen diejenigen her, welche behaupten, « sie haben den Teufel beschworen, so cs doch nur eine Tobigkeit gewesen sei. So bestetten sie das Opfer, was mehr einlrägt, als wenn sie sagten: die Arznei hat’s gethan. Der Erfahrne lehr’ nit Teufel beschwören, son¬ dern dicSccrcta, Unsinnige zu heilen.» Namentlich er¬ wähnt er das Kloster Ossien in Kärnthen, auch andere, «wo sie ein Heiligthum haben, um den Teufel auszutrei¬ ben. Das Heiligthum ist aber ein Arznei. Sie helfeu mit den Crystallen, und er fragt nun ironisch: ob das Cry- stall St. Niklas oder St. Peters sei. Fürwahr, schliefst er, wären es Teufel, sie flöhen diese heiligen Väter nicht; wäre ihre Arznei vom Körper der Heiligen, oder ein Geist- heilthum, es schwände ihnen in der Hand. Denn darum ist nicht Arznei geben, dafs sie unsre Sünden zunichte mache, sondern allen Buben und Frommen ist sie in die Hand geben. Aber die Kraft, welche sie vorgeben, will einen ganzen Maun haben.» Uebrigens giebt er sel¬ ber nichts. Besonderes über die Kur an, als dafs er Cry- stalle, Cauleria und Actualia nennt, worüber er in dem Abschnitte von der Manie weitläuftiger sich ausgelassen hat. In seinem « gründlichen Unterricht vom Ader¬ lässen » empfiehlt er (I. 725) dieses Mittel, wenn von dem Blute das Hirn in unsinnige Taubweise gebracht wird.

Er rälh das Schlagen der mittleren Stirnader, beider Schlaf- adern, der Ilauptadcrn an den Füfsen, und zwar am ge¬ eignetsten, wann der Mond sich der Sonne nahet. Im

schlimm-

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über psychische Krankheiten.

schlimmsten Falle rätli er seihst die Ader durch glühendes Eisen zu öffnen, und sich nicht an die Schmerzen zu keh¬ ren , wohl aber sich zu beileifsigen die Wunde offen zu erhalten mit Salibus Alcali!

Praktisch richtig stellt er eine schlechte Prognose den «Fantasten,» die Mirmidones haben, indem er die Heilung derselben zweifelhaft nennt, und zwar, weil sic gemäfs ihrem fantastischen Geiste behandelt werden müssen. «Aber wie mit Narren nichts kann ausgerichtet werden in der Weisheit, also mit den Geistleuten (Fantasten), wird nichts ausgerichtet zu der Gesundheit, oder nur wenig.”

Dies über Manie und Tobsucht, welche Formen er am ausführlichsten behandelt hat, wenn gleich er beson¬ ders unter Taubsucht auch schon die psychischen Krank¬ heiten als Gattung versteht. Dafs er auf dem rechten Wege ist, dafs er die Tiefe sucht, ist nicht zu verkennen, wie auch die Form der Darstellung beschaffen sei, und obgleich er die Manie in diesen Büchern von der Arznei mehr vom rein medicinischen , als zugleich psychologischen Stand¬ punkte betrachtet, welchen wir in den folgenden, nament¬ lich im Buche de Lunaticis, vorherrschend linden werden. Frei von allem theosophiseben Gebräu ist er in diesen Ka¬ piteln, und geifselt überall den natürlichen und künstlichen Aberglauben der Zeit. So weit meine kritischen Unter¬ suchungen über die Zeitfolge der Schriften des Paracel¬ sus reichen, hat er vorliegende Bücher in seiner besten Zeit, in der ersten Hälfte der dreifsiger Jahre des sechs¬ zehnten Jahrhunderts geschrieben.

In dem Buche: von den Krankheiten, so der Vernunft berauben, spricht er im fünften Kapitel des ersten und zweiteu Traktats von

«Ursprung und Kur der rechten unsinnigen Leute» (I. 495 497 ; und I. 504 506).

Er läfst sich in demselben über Seelenkrankheiten im Allgemeinen und über einzelne Formen dersel en aus. Die rechten Unsinnigen unterscheidet er gleich von vorn Band 28. Heft 4. 27

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herein von der (aculcn) Manie dadurch, dafs 1)ei ihnen keine rogelmäfsigen Paroxysmcn cintrctcn. Er sagt aus¬ drücklich, dafs er jetzt von denen rede, «die da alle¬ zeit bei unsinnigem und unvernünftigem Leben sind, und nicht paroxysmiren eine Zeit uni die andere, wenn gleich die Dauer nicht allemal gleich ist, auch uicht die Zd-

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stände etc.” Ja er hebt die «Entziehung” der Vernunft als das mitten im Wechsel der Formen dauernde und cha¬ rakteristische Zeichen der rechten Unsinnigkeit hervor, und bemerkt, dafs die «rechten unsinnigen Leute” nicht krank seien. «Sie sind ganz ohne andere Krankheit, ist kein Schmerz da, kein Weh, wie in morbo caduco, Ma¬ il ia, Chorea lasciva (etc., sondern sie leben allemal al¬ lein in Tobigkcit. Ja er setzt hinzu, dafs wenn «Wehe¬ tage” sich mit der Unsinnigkeit verbinden, so ist der Tod nicht weit, was freilich nicht richtig ist, wenn er auch als Grund angiebt, « weil der Ursprung der Krankheit dann so heftig sei, dafs er den Spiritus vitae verletzt und vergiftet, der dann den Tod cinführt.

Ueber diese Ei n fii h rn n g des Todes spricht er seine Ansicht im Paramir. Lib. II. de originc morboruin ex tri- bus primis substantiis in einem schönen Hilde ans, wel¬ ches ich beiläufig cinzuschalten mir erlaube. Er sagt näm¬ lich: «Wo die drei sich trenuen, entsteht Krankheit und Tod. Es soll nichts Ewiges bleiben in den Kreaturen des Fleisches. Wie ein Reich zerbricht, so zerbricht die Ge¬ sundheit. So nun der Tod sicht die Zerstreuungen des Reichs, so fällt er ein, wie ein Reich, das zergehen will, in fremde Iland kommt. Wenn die drei Sub¬ stanzen sich scheideil aus der Einigkeit, so sitzt der Tod wie ein Nachbar da, und fällt ein, bis er je einen Thcil nach dem andern überwunden, bis niemand ist der ihn vertreibt. Sitzt cf nur etwas da, so ist die Arznei ein Beistand der Natur, durch die sich die Natur wieder er¬ holt (I. 41). Alle Dinge worden von Gott auf einen Ter¬ min gesetzt. Dieser Zeit Endigung ist der Tod; er sitzt

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neben uns und wartet auf unsere bella intcstina, damit er cinbrccben könne. Er weifs nit die Stund, wann er tödten soll, aber ist gehorsam seinem Herrn, Gott im Him¬ mel. Daher läfst er sich auch wegtreiben, geht auch wrohl öfters irre hinzu und davon. »

Solcher « Vcsanien ( Wahnsinn als Gattung) nimmt er nun in diesem Kapitel von « den rechten unsinnigen Leuten» vier Arten an: 1) Lunatici, 2) Insani, 3) Vcsani, 4) Melan chol ici.

Diese vier Formunterschiede macht er nun seinen Principien gemäfs, sich durch das Wesen, nicht durch die Erscheinungen leiten zu lassen, nach den Ursachen der Krankheiten.

Lunatici sind ihm diejenigen, welche ihre Krank¬ heiten aus dem Monde haben, und sich nach demselben verhalten und zeigen.

Insani sind diejenigen, welche die Krankheit von Gehurt an aus dem Mutierleihe haben, und dieselbe als ein Erbt heil einer vom andern empfangen.

Vesani sind diejenigen, welche durch Speis und Trank und Kräuter von Vernunft und Sinnen kommen.

Melancholici endlich sind diejenigen, welche von der eigenen Natur von der Vernunft kommen, und zu der Unwissenheit sich verkehren.

Bei dieser Eintheilung der Formen des Wahnsinns drängt sich eine Bemerkung auf, welche Paracelsus sel¬ ber nicht angedeutet hat, weiche aber nichts desto weni¬ ger wahr ist; es ist nämlich die, dals diese Formen in inniger Beziehung und in nothwendigem Zusammenhänge stehen mit seinen den concreten Inhalt seiner allgemeinen Pathologie umfassenden Grundideen de Entihus morborum (Paramiron). Das Ens Astrorum ist wirksam iu den Lu- naticis; das Ens Naturae in den Insanis; das Ens Veneni in den Vesanis; das Ens Spiritus in den Melancholicis, und das Ens Dei würde es sein in den von Geistern im kirch¬ lichen Sinne Obsessis, welche er in diesem Kapitel nicht

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I. Paracelsus

läugnct, Im übrigen aber auf seine Abhandlung de Vatibus et Spiritibus verweiset, und ausdrücklich bemerkt, «« dafe diese vier Formen nicht von Geistern und Teufeln Beses¬ sene seien, als viele plappern. Denn der Teufel und sein Gesellschaft geben in kein nnbesinnten Körper, der nicht nach seiner Eigenschaft mit ganzer Vernunft gcrc- girt wird. Darum kommt er auch nicht in diese vier Ge¬ schlechter; sind vor ihnen befreit, denn sic sind der Ver¬ nunft nit gewaltig. » Dieser Vergleich der « Entia

morborum mit den Formen der psychischen Krankheiten ruht auf seinen acht naturphilosophischen Ideen über Trans- plant atio (Metamorphose), ist Zeuge der besonnenen Consequenz in Anwendung pathologischer Grundansichten auf die psychischen Krankheiten, zugleich auch vou der zu seiner Zeit umsichtigen Theorie derselben. Denn, wie man auch über die Entia morborum urtheilcn mag, im Allgemeinen enthalten sie eine grofsartig concentrirte An¬ schauung von dem Inbegriff der krankmachenden Potenzen, welche für die rohe, stets zufällige Einzelheiten wahr- nehmende Empirie nur zahllos und zugleich chaotisch da sind. Hegel sagt, dafs vor Allem die Anstrengung zu be¬ wundern sei, mit welcher Paracelsus und andere dama¬ lige Denker, in den sinnlichen Dingen, welche sic zur Bezeichnung wählten, nur die allgemeine Bestimmung er¬ kannten und festhieltcn. Ein solches Auffassen und Be¬ stimmen war unendlich über das gedankenlose Aufsuchen und chaotische Hercrzählcn der Eigenshaften der Körper erhaben, worin die heutigen, empirischen Physiker ihren Ruhm setzen, und es für verdienstlicher halten, immer auf Erfindung eines Besondcrn auszugehen, anstatt dafs sie su¬ chen sollten, das Besondere auf das Allgemeine zurückzu¬ führen. (Encycl. der phil. Wissenschaften. Erste Auflage. (§. 245.) -

Nicht nur die .vier Hauptformcn der «Vesanicn» di- stiuguirt Paracelsus nach den dem Wesen aller Krank¬ heiten analogen Ursachen, sondern er sucht auch weiter

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in die Ursachen der Ursachen jener einzelnen Formen einzudringen.

Die Euts teil ung dcr«Insani» betreffend, so sieht er dieselbe einmal im «Saamen sammt der Operation,» und zweitens in der von den Eltern auf das Kind über¬ gehenden erblichen Anlage. Die Krankheit ist also ent¬ weder angeboren oder erblich. Als Grund für die Mög¬ lichkeit der Insania durch den Saamen führt er den Satz an: « Wo keine Vollkraft der Materie, ist auch keine Voll¬ kraft der Vernunft. » Hinsichtlich der Erblichkeit bemerkt er sehr wohl, dafs und warum solche Krankheit nicht immer erbe, und sagt, « dafs, selbst wo beide Eltern un¬ sinnig sind uud doch ein sinnigs geboren werde, es die Stärke der Natur sei, welche selbst das Widerwärtige und Unbequeme hintan treibe.» Weiter findet sich in dem Ab¬ schnitte von dem «Ursprünge» nichts besonderes, da er auf seine Abhandlung de generatione humana verweiset, auf welche ich hier nicht weiter eingehen , aber versichern kann, dafs seine Ideen über die Zeugung, namentlich in unserer Zeit werth sind gekannt zu sein, dafs ihre Nicht- Berücksichtigung in der Geschichte dieser Lehre eine be¬ deutende Lücke lassen würde, und dafs gerade über die¬ sen Gegenstand wie über Transmutation und Transplanta¬ tion (Entwickelung und Metamorphose) eine Fülle herr¬ licher Ideen, freilich neben abenteuerlichen Paradoxien, und in wunderlicher Sprache dargestellt, überall in seinen Werken vergraben liegen, welche Ansichten gleich denen über den Wahnsinn zu veröffentlichen und ans Licht der Ge¬ genwart zu bringen, mir die schickliche Gelegenheit nicht entgehen soll, wenn kein anderer diese verwickelte Ar¬ beit über sich nehmen möchte.

Die Behandlung der «Insani», namentlich das Heilen, ist nach ihm nur dann möglich, «wenn die Com- plexen und Ilumores ganz umgcwandelt und umgekehrt werden, so dafs die neuen stärker seien, als die alten. Dies ist zu versuchen durch couforlativa und sedaliva aus

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I. Paracelsus

der Quintessenz. Am wichtigsten sind die Präservative, welche er freilich seltsam genug aufstellt. Unter andern sagt er, dafs wenn der Coitus provocirt wird sccundum mentem et volnnlaiem Insaniac, d. h. durch geistigen Ap¬ petit (Phantasie, psychische Einwirkung), so entsteht In- sania bei dem Kinde, und um die z u verhüten, müfsten solche Eltern sogleich in kalt Wasser geworfen werden et cxpellitur coitus et extinguitur. Würde dagegen der Coitus durch Kunst, durch Anreizung, Mcdicamina con- fortativa, also sine mente et voluntate cxcrcirt, sei er gut und nichts zu furchten für das Kind, weil die Natur als solche in sich vollkommen und nie in Insania sei. So paradox und absurd dies Präservativ im ersten Augen¬ blicke erscheinen mag, so blickt doch, wie durch magi¬ sches Helldunkel, der Gedanke durch, dafs nur von Psyche und Geist durch die Einbildungskraft die Insania angezeygt wird, nicht von dem Beischlaf als einem rein organischen Akt, an welchen der Geist der Unsinni¬ gen gar keinen Thcil hat.

Die Vcsani erscheinen nach Parac. in mannigfacher Art und Form, und er zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit solcher Wirkung durch Speise, Trank und Kräuter (Philtra), geschehe Gleiches ja doch auch beim unvernünftigen Vieh. Den ganzen Vorgang nennt er «na¬ türlich und zauberisch, sagt: cs liegt eine grofse Philoso¬ phie und Contemplation in der Natur dieses Gegenstandes; doch wolle er von dem was Incantation dabei thut lie¬ ber schweigen und verweisen auf seine Schrift de Incan- tationibus. Durch die natürliche uud zauberische Erklä¬ rung drückt er eines Thcilcs nichts anderes aus, als dafs es mit dein Ursprünge der Vesania auf natürliche und auf räthselhafte , unerklärliche Weise zugehe. Hegel sagt in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion, er¬ ster Bd. S. 231 ff. (Naturreligion der Zauberei): «Das Princip der Zauberei ist, dafs zwischen dem Mittel uud dem Erfolg der Zu>aimneuhaug nicht erkannt wird. Zau-

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berei ist überall, wo dieser Zusammenhang nur da ist, ohne begriffen zu sein. Dies ist auch bei den Arzneien hundertmal der Fall, und man weifs sich keinen andern Rath, als dafs man sich auf die Erfahrung beruft. Man sagt, es ist dieser Zusammenhang und dies ist blofs Er¬ fahrung, die aber selbst unendlich widersprechend ist. Die Gränze des bekannten und unbekannten Zusammenhanges ist daher schwer anzugeben. In so fern hier eine Wirkung vom Lebendigen auf Lebendiges und noch mehr vom Geistigen auf Körperliches statt findet, so sind hier Zusammenhänge, die nicht geläugnet werden können, und die doch so lauge als unerforschlich, als Zauber oder als WTunder auch erscheinen können, als man nicht den tie¬ feren Begriff dieses Verhältnisses kennt. Beim Magnetis¬ mus hört so alles was man sonst vernünftigen Zusammen¬ hang nennt, auf, es ist nach der sonstigen Weise der Be¬ trachtung, ein unverständiger Zusammenhang. » Anderen Theils aber zeigt sich die Erklärung der Vesania durch Zauberei, und zwar wegen des Inhalts seiner Fragmente de Incantationibus, auf welche er verweiset, als abergläu¬ bisch, [und als ganz befangen in dem allgemeinen Nebel seiner Zeit. Nun gilt für Paracelsus das, was Hegel weiter an demselben Orte sagt: « Wenn der Kreis der Vermittelung in der Zauberei aufgethan ist, so eröffnet sich das ungeheure Thor des Aberglaubens, da werden alle Einzclnhcitcn der Existenz bedeutsam, denn alle Umstände haben Erfolge, Zwecke, jedes ist ein Vermitteltes und \er mittelndes, alles regiert uud wird regiert; was der Mensch tliut, hängt nach seinen Erfolgen von Umständen ab; was er ist, seine Zwecke, hängen von Verhältnissen ab. Er existirt in einer Aufsenwelt, einer Mannigfaltigkeit von Zu¬ sammenhängen, und das Individuum ist nur eine Macht, in so fern es eine Macht über die einzelnen Mächte des Zusammenhanges ist. In so fern dieser noch unbestimmt, die bestimmte Natur der Dinge noch nicht erkannt ist, so schwebt man in absoluter Zufälligkeit. » Allgemeine

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Gründe, nicht allein die « Mania durch Zauberei,» haben mich veranlagt, die Gedanken des tiefsten Denkers unse¬ rer Zeit (in welchen ein anderer Geist wehet, als z. B. in den magisch beleuchteten Blättern aus Prcvorst), über die¬ sen Gegenstand herauszuheben. Sic sind wahrhaft objectiv, philosophisch, eine Fackel zur vernünftigen, vorurteils¬ freien Beurteilung des Paracelsus in diesem Gebiete überhaupt, mit welchem Hochmut und Faulheit des 6ub- jccliven Egoismus des Verstandes gleich fertig sind, indem sie sagen: «das ist alles lauter Unsinn," übrigens sich selbst und andern nicht weiter Rede stehen!

Manche dieser Vesani, sagt Paracelsus weiter, in- \ cliniren in der IJnsinnigkeit zur Liebe, andere zum Kriege, andere zum Steigen, Klettern und Laufen und so fort auf zahllose Weise. Die etwanige Heilung ist in ärztlicher Hinsicht gleich der der Iusania, wenn auch ohne Hoffnung des Erfolges. Uebrigens rätli er gemäfs den Ursachcu zu verfahren. « Purgantia helfen nichts, da die Krankheit in Spiritu vitae liegt, welchen keine Purganz austreibt. »

Die Mclancholici betreffend, so ist das an dieser Stelle über dieselben Gesagte kaum der Rede wertli, wie er überhaupt die Melancholie wegen der Humoralidecn, welche ihn wohl beschleichen, und wegen seiner schein¬ bar unsichcrn Theorie über dieselbe, nirgend nur etwas ausführlich darstellt, sondern nur gelegentlich hie und da ihrer auf von einander abweichende Art gedenkt. Oben (Seite 407) nimmt er sie für I nsinnigkeit aus der eigenen Natur. Hier (I. 497) nimmt er eine vierfache aus den vier Complexen (Mel., Chol., Sang., Phlegm.) durch Trei- bung des Spiritus ins Hirn entstandene an, und übcrläfst das Weitere denen, die de Complexibus schreiben. So deutet er hier vielleicht eine vierfache Form von Melan¬ cholie an, w ie früher eine vierfache Form von Manie, nur verschieden nach dem Temperament und Naturell dessen, welcher von ihr befallen wird. Doch unterscheidet er sie hier nicht auf die Art, wie wir sic von den andern For-

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über psychische Krankheiten.

men der Seelenkrankheiten unterscheiden, sondern sie ist ihm mehr « Unsinnigkcit » überhaupt. Dies wird noch ein¬ leuchtender, wenn er bei der Kur der Melancholie eine traurige Melancholie, welche durch «lachende Arzneien,» eine lachende, die durch «traurige Arznei» gesund wird, annimmt. Zu jenen Mitteln rechnet er, nicht ohn e prakti¬ schen Blick in die psychische Pharmakologie, «Conforta- tiva,» zu diesen die «Opiate.» An einer andern Stelle (1.269. Labyrinth, medicor.) heifst es gelegentlich: «Nit, dafs man sagen soll, cujus Humoris? Melancholici : So doch Melancholia nichts ist, daun eine tolle, unsinnige, phantastica Krankheit,» und versteht darunter das, was er im Abschnitte von der Taubsucht «Mirmidones» nannte, analog unsern «fixen Ideen.» Die klarste, der gewöhn¬ lichen entsprechende Definition giebt er (I. 1016. de Co- rallis), wo er sie eine Krankheit nennt, die in einen Men¬ schen fällt, dafs er mit Gewalt traurig wird, schwermü- thig, langweilig, verdrossen, unmuthig und fällt in selt¬ same Gedanken und Speculationes, in Traurigkeit und Wei¬ nen. Der Zusatz, dafs sie durch die rothe Coralle fort- gehe, und durch die blaue sich mehre, ist eine Grille der Zeit, und beruht auf der Empirie ihrer naturphilosophi¬ schen Richtung, nämlich auf der Signatur der Dinge, und gehört am Ende in eine Categorie mit der Beobachtung von Rush und Esquirol, dafs die Färber in Indigo schwermüthig, und nach andern, die in Scharlach, zorn- müthig werden sollen.

Die Lunatici betreffend, so ist das über den Ur¬ sprung und die Kur derselben in den Kapiteln « vom Ur¬ sprünge und Heilung der rechten unsinnigen Leute » vor¬ kommende, hierhin verlegt, um sich an die Darstellung des' Buchs «de Lunaticis » in dem philosophischen Theile seiner Werke unmittelbar zu reihen. \

Den Ursprung der Luualicorum leitet Par. vom Monde ab, und theilt diese Meinung noch selbst mit Irrenärzten der Gegenwart, nur mit dem Unterschiede, dafs seine

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Theorie den herrschenden astrologischen Ansichten, welche das Weltall als einen Organismus betrachteten, dessen Glieder mit den ihnen entsprechenden des menschlichen Organismus in unmittelbar spiritualiscbcm Conncx standen, entnommen ist; dagegen die neueren Verthcidigcr gar keine Theorie haben, und sich auf ihre Erfahrung berufen, welche jedoch andere auch aus Erfahrung nicht als wahr gelten lassen könuen. Die Gestirne, namentlich der Mond, wir¬ ken nach Paracelsus gleich dem Magnet, ohne Sitt¬ lichkeit und Empfindlichkeit auf den Menschen und auf seine Vernunft. In dem Monde ist eine virtus attra- ctiva, die Vernunft aus dem Haupte zu ziehen, und zwar dadurch, dafs er dasselbe humoris und virtutis cerebri beraubt, wie die Sonne die Feuchtigkeit aus dem Erdreich zieht. Durch diese Attraction werden viele Menschen ih¬ rer Sinne beraubt. Im \ oll - lind Neumond ist diese Ein-

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Wirkung auf das Ilirn, den mikrokosmischen Mond, ain stärksten. Die Kur ist zunächst prophylac tisch. Die Kraft des Mondes wird abgehalten durch Arznei,. wie die Kraft des Magnets dadurch, dafs das Eisen mit Ol. Mcr- curii überzogen wird. Die grofsle specifische Kraft gegen alle sieben Planeten hat die (Quinta Esscntia Auri, wegen der grofsen Kraft, welche sie dem Ilerzeu giebt. So spricht er de Luuaticis in diesem letzten Kapitel des »Bu¬ ches von den Krankheiten, so der Vernunft berauben;» anders dagegen in

dem Buche de Lunaticis, (im Anfänge der Philo- sophia magna) (II. 164 173). ie wir gescheu, dals Parac. Gattung und Artcu der psychischen Krankheiten nicht durchweg strenge sondert, vielmehr den richtigen BegriiT der Art auch statt des Gat¬ tungsbegriffes gebraucht; so macht er es auch mit den Eu- naticis. Im vorigen Abschnitte bezeichnet er damit nur diejenigen, welche durch den Mond der Vernunft beraubt werden; in diesem dagegen, welcher ziemlich um dieselbe Acit geschrieben sein dürfte, begreift er unter derselben

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Bezeichnung die Unsinnigkeit in genere. Unter diesem Nomen, sagt er, werden alle Maniae und Yesaniae ver¬ standen, und zwar nicht, weil Luna es allein thnt, son¬ dern weil ich dahei bleiben will, als einem gemeinen und verständigen Namen. Der innere Grund zu dieser Bezeich¬ nung liegt aber nach ihm darin, dafs in den Gestirnen (nach Plato) thierische Art und Vernunft ist, dafs die thierische Vernunft im Menschen und in den Gestirnen, daher auch in der Unsinnigkeit, in Wechselwirkung, in Concordanz gleich Mann und Frau in der Ehe steht, weil in der Unsinnigkeit die thierische, nicht menschliche Vernunft im Menschen regiert. Darum, fährt er fort, der Nam’ Lunaticus mit Recht steht, weil selbiger bewei¬ set, dafs vom Himmelslauf, von oben herab Viehstern iu Viehstern kommt. Also hat der Himmel seine Gemein¬ schaft zum Menschen, so weit sein Viehisches das Viehi¬ sche im Menschen, was dem Menschen verboten ist, an- tritft. » Wie hier, so sehen wir noch heute die Eng¬ länder das Wort « Lunatic » als Gattungsbezeichnung des Wahnsinns gebrauchen, und es dürfte diese Bezeichnung des Paracelsus durch die Rosenkreuzer und besonders durch Fludd in England heimisch geworden sein.

Aus den angezogenen Gründen für die Wahl des Wor¬ tes «Lunaticus» geht schon hervor, dafs Parac. hier mehr auf dem philosophisch -theosophischen Standpunkte steht, von welchem aus auch das Ganze tief und ernst aufgefafst ist. Das Buch de Lunaticis ist daher ein Versuch: aus dem Begriffe und Wesen des Menschen die Mög¬ lichkeit, Wirklichkeit und das Wesen der psy¬ chischen Krankheiten zu entwickeln, ein Ver¬ such, welcher nicht nur zu seiner, sondern auch zu un¬ serer Zeit Achtung verdient, weil selbst nicht Wenige von denjenigen, welche im Wahne stehen, den Wahn¬ sinn ergründet zu haben, an solchen Versuch für unsere Zeit nie gedacht, geschweige ihn ausgeführt haben.

Der hauptsächlichste Iuhalt dieses Buches, so weit er

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den vorliegenden Gegenstand betrifft, wäre nun, nach des Parac. eigenen, nur etwas fafslichcr und geordneter dar- gestclltcn Worten, doch ohne etwas Fremdartiges, ihm nicht Angchörigcs, zu subsumiren, (eine Arbeit, welche dem Historiker, und namentlich dem Kenner des Para¬ celsus nicht gar leicht erscheinen dürfte), etwa fol-

« Es gieht einen zwiefachen, angebornen Geist im Men¬ schen, den thicrischen und den göttlichen, durch welchen der Mensch ein Mensch wird und eine vernünf¬ tige Creatur, und ohne welchen er nur einen thicrischen Geist hat, also gleich einem Thier ist. Der aus der thicrischen Natur des Menschen seiende Geist ist ent¬ standen aus dem Limbus, welcher nichts anderes ist, als das sterblich Ding am Menschen, was da faulet und ab¬ stirbt, und jmit dem die thierischc Art auch abstirbt und fault.® Dieser thierischc Geist ist gleich dem, was wir thierischc Seele (anima) nennen. « Der aus der mensch¬ lichen Natur des Menschen seiende Geist wird aus dem Fiat, das ist der Mensch;” er ist das was wir Geist, In¬ telligenz, Vernunft nennen. « Diese beiden Geister

nun sind zwei widerwärtige; jedoch mufs einer dem an¬ dern weichen. Nun soll aber der Mensch kein Thier sein, sondern ein Mensch : soll er nun ein Mensch sein, so mufs er aus dem Geist des Lehens des Menschen leben und hin¬ weg tliun den thierischen Geist; der Mensch empfängt und erbt das Thicrische, und mufs es in sich tragen, weil er ein Mensch ist. In ihm sind alle Arten und Eiccn- schäften des Thiercs; was im Tliicrc in specie, das ist im Menschen in genere; in ihm ist thicrische Art des \VoIfes, Fuchses, der Sau, Elster, er wird daher auch so genannt. Den Hunden soll nach Christus nicht das Heiligthum, deu Säuen nicht die Perlen hingeworfen werden; er meint da¬ mit Menschen mit thicrischer Vernunft, nicht Thierc in Form und Gestalt. Wie das Thicrische, so ist auch das W eltall überhaupt iu ihm, da die Himmel auch nur lliic-

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rische Art und Eigenschaft in sich haben, und nichts menschlich -geistiges in ihnen ist. (Platonische Idee.) Und darum ist der Mensch, in so fern er ein sterbliches Wesen ist, den thierischen Gestirnen unterworfen und mit ihnen befreundet. Seinem W'esen nach ist er aber frei, ohn’ die all’, und von niemand angenaturt, als allein von Gott. Ist er aber edler, wie kann er dem nie- dern unterworfen sein? Dadurch, dafs er sich dem Thierischen unterwirft, was ihm verboten ist zu sein, oder zu gebrauchen. Das Firmament gewaltiget im Menschen, wie die Sinne auf das Aug1, welches geblendet wird, wenn es nicht geschützt (überdeckt) wird durch die Su- pcrcilia und Palpebrae der Vernunft. Dann macht das Fir¬ mament freudig, hitzig, schärft den thierischen Verstand, d. h. er mufs liegen in Toben und Affecten und nun sind die Glocken gossen zur Unsinnigkeit;- ihr ist Platz ge¬ geben und sie kann den Anfang nehmen. Bald folgt, dafs derselbe sich selbst nicht kennt, nicht weifs was er ist und so wird er zerrüttet und unsinnig, er mufs stu¬ dieren und fantasieren was ihm die thierische Vernunft giebt und verleihet. Solche Menschen ertoben in sich selbst, glauben sich und beharren darauf.

Seinen rechten Grund der Vernunft, Weisheit, Fiirsfrch- tigkeit hat der Mensch aus Adam, nicht aus dem Vieh. W7as der Geist lehrt und thut, das ist aus Gott, dem soll der Leib und seine Form und Art uuterthänig und gehorsam sein. Selbigen Geist bricht nichts, ihn beleidigt nichts. Der thierische Geist aber der sorgt, darum zerrüttet er sich, wird taub, unsinnig, schellig, tölpig zu einem War- zeichen, dafs wir auf dieser Vernunft WTisheit, List und Ränken nicht bauen, sie nicht brauchen sollen. Der Mensch soll ein Mensch bleiben und dann geschieht ihm nichts Uebles. Daher sage ich allegorisch, dafs, so ein Mensch taub, unsinnig wird, er im thierischen Geist er¬ trinkt, wie beim Rausch durch den Wein. Das Thier im Menschen ist das Subjectuin, welches unsinnig wird und

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zerrüttet nnd zerbrochen, und nit der Mensch. (Uebri- geus) ist und bleibt cs eine grofse Sache, dnfs der Mensch kann seiner Sinne beraubt vrerden,’der doch ist die edelste Kreatur, und dafs der welcher aus Gott ist, soll beraubt werden seiner Vernunft und göttlichen Geschichte und Lehre und Furcht! Doch bezwecket Gott hiebei, dafs wir betrachten: was wir sind, und desto fester, ämsiger und strenger in Gott sehen und uns zu dem lautern, unbe¬ fleckten Menschen halten. Denn der rechte Mensch ist aller Dinge erledigt, ihm schadet nichts, weder von oben noch von unten. Denn wie wohl die Natur grols und mächtig ist, so greift sic doch allein die ihrigen an, und die nicht ihr sind, die greift sie nicht an. Wandelt der Mensch also gleich dem Vieh, so geht cs ihm so, wie ihn die Sterne führen und der kälberische Verstand, « d. b. der sterbliche, unvernünftige Theil der Seele, die sinnlichen Triebe, Begierden, Affekte u. s. w.

Nach dieser Zusammenstellung der Ideen des Parac. über die Entwickelung zum und über die Genesis und Aus¬ bildung von Wahnsinn ( Unsinnigkcit) , wollen wir das nä¬ her auf die Lunatici sich beziehende folgen lassen.

Von den Lunaticis wie von den Narren, welche nicht Klinke sind sondern Thoren, giebt es viele Arten und Weisen, Geschlechter und Formen. Die Narren nämlich haben den thierischen Geist angeboren, sind aus Schwach¬ heit mifsrathen; sie gehören zu dem «vernünftigen« thic- rischen Vieh, die Lunatici zu dem unsinnigen thierischen Geist, und verhalten sich beide zu einander, wie Hund und wüthender Ilund. Nicht in der menschlichen Ver¬ nunft, sondern in der thierischen ist Erkcnntnifs des Lu- naticus Morbus zu suchen. Die lies durch Leser: denn es ist ein Grofses den tauben Wüthcrich zu verstehen, er ist nicht minder, denn ein wüthender Hund.«

Die Cur des Morbus Lunaticus ist in diesem Traktat gemäfs der Pathogeuie und Actiologie gehalten. Nach ei¬ nem kurzen, zeitgemäfsen astrologischen Vorworte geht er

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zu den Präservativen der Krankheit, welche stets vor¬ angehen sollten, wie er sagt. Die einfache Regel , welche uns gleich in medias res führt, ist die, dafs der thierische Verstand gebrochen werde. « Führ ihn also ab von sei¬ nem thierischen Verstand, erklär ihn ihm, unterricht ihn. Nimmt er cs an, ist’s gut: wo nicht, sag’s dem Nächsten: Lafs ihn beichten: Sag’s der Kirche. Will’s nit helfen, thu’ ihm wie den Ethnischen, wirf ihn in die äufserste Finsternils, damit er durch die Kraft seiner Viehgeister nicht die ganze Stadt, sein Haus, sein Land mit verführ. Denn was anders kann solche Dinge ausreutten, wenn ge¬ treue Wörter nicht helfen wollen, als die Obrigkeit? Hiermit ist nichts anderes gesagt, als die Zügellosen einsper¬ ren, und sichern zu lassen. Besser ist es, fährt er fort, der Unsinnigkeit vorzubeugen, als dafs der thierische Ver¬ stand ertobt, und am letzten Ende sich darin verhärtet und beharrt.

Sind aber die Präservative uiclit gebraucht worden, und es dahin gekommen, dafs die Menschen ertobt sind, verwildert und sich selbst nimmermehr kennen, so ver¬ mag ich (Parac. ) fürwahr keinen andern Rath zu geben, als auf zwei Wegen:

Der eine ist der, dafs wenn sie neben dem unsin¬ nigen Wege noch einen vernünftigen haben, diesen fürzunehmen, und ihm vorzuhalten, mit dieser seiner übrig bleibenden Vernunft ihm das Hirn zu spalten, und ihm das seiner Unsinnigkeit Gemafse zu sagen. Weiter räth er das zu thun, was er in den Präservativen angegeben, und fügt hinzu: denn solcher versteht wohl, dafs er Unrecht thut, aber er ist so unsinnig, dafs er nicht folgen kann. Dieses Präservativ und die Kur räth er so früh als möglich anzufangen , weil « sie dann noch zart sind, wie ein Mark und leichter zu bewegen und zu bekehren. Später erhärten sie mehr und mehr, und ist hart zu heben. »

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Diese Methode lehrt also: In den Fällen, wo der

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I. Paracelsus

Wahnsinnige in mitten seines Wahnsinnes noch verständi¬ ges Bewufstscin , gesunde geistige Kräfte hat, sich an diese zu halten und an sic die psychisch -intellektuelle Heilme¬ thode anzuknüpfen; in der That eines der allcrwescnt liebsten Principien einer acht rationellen Psychiatrie, weil dadurch bezweckt wird: nicht von aufsen hinein, gleich¬ sam durch Juxtapposition an den Kranken, sondern von innen heraus, gleichsam durch Intussusccption, in der er¬ krankten Seele durch das in ihr seiende Gesunde die aegri- tudo und den morbus zu überwinden. Dadurch wird auf rein Sokratischem Wege die Heilkraft der Seele selbst in und für sich geweckt und unterstützt, und vermag durch Hülfe der Psychiatrie, wesentlich durch eigene Kraft, ihre Seclenkrankheit zu heben. Der psychische Arzt ist dann im Sokratischcn Sinne nur der Geburtshelfer der psychi¬ schen Gesundheit. x

Der zweite Weg ist, dafs wenn sie nichts Ver¬ nünftiges neben dem Unsinnigen mehr haben, wenn die Vernunft nicht ncbenlüuft, und von Conzcienz nichts ge¬ spürt wird, sondern sic ganz toll, unsinuig, wild, vie¬ hisch immerfort sind, und mau Nolli hat sie anzubindcu, damit sie sich und andern Seel und Leib nicht verletzen, dann die Arznei zu gebrauchen, welche Christus von den Besessenen lehrt, d. h. Fasten nnd Beten, and Anwendung des Gebotes: Liebe deinen Nächsten als dich selbst! In dem Elende, da du dann bist, wollen w’ir dich und uns behüten und bewahren, dein Joch und Biird auf uusern

Kücken nehmen und Gott uusern Erlöser anbeten dich

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davon zu entbinden. » Wahrlich Grundsätze für Heilung und Pilege der heilbaren und unheilbaren Gemüthskrau- ken, welche Jedem, der von Paracelsus nur als von einem «rohen, liederlichen, gemeinen Vagabondeo » nach Sprengel reden gehört hat, wegen des Edlen, Hülfrci- chcn und Guten, also acht Humanen, wras darin in der Sprache seiner Zeit ausgedrückt ist, sehr überraschen dürf¬ ten! In dem Grade Unsinnige hält er «für nicht weit von

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über psychische Krankheiten. 421

den Besessenen und Behafteten entfernt. Darum ist auch keine Arznei zu finden, als die von den Besessenen ge¬ sagt ist.» Die Mittel nun, die letzten in verzweifelten Fällen, giebt er näher an in dem unvollständigen Traktat de daemoniacis et ohsessis. Sie reduciren sich dort (II. 264) 1) auf Austreibung durch den Willen und die Gewalt Christi, 2) auf Beten, aber nit blofs Maulklauffen, und 3) auf Fasten.

Der gleich auf den Traktat de Lunaticis folgende*. De generatione Stultorum (II. 174 180), interessirt im Ganzen weniger den Irrenarzt und die Irren* heilkunde, da hier nicht von der Mania, sondern von der Narrheit und Thorbeit (Stultitia) die Rede ist, d. h. «von denen, die nicht krank sind, und die kein Gestirn und Kräuter haben , damit sie möchten witzig werden. »

Aber auch dieser Aufsatz liefert den Beweis, wieseln* es ihm um die Klarheit der Unterschiede von Thoren und Wahnsinnigen, worauf in medicinischer und gericht¬ licher Hinsicht so gar viel ankommt, zu thun ist, welche Unterschiede er hier noch bestimmter darlegt, als in dem Traktat de Lunaticis. Den Unterschied des Stulti, Lunatici und des Weisen gieht er so an, dafs «die Nar¬ ren eines milden Gestirnes sind, aus Schwachheit mifs- rathen: so die Unsinnigen aus zu viel der viehischen Ver¬ nunft geboren sind (vergl. oben Seite 418). Beide unter¬ scheiden sich von dem Weisen dadurch, «dafs die Wei¬ sen den viehischen Leib nit lassen herrschen, und bei ih¬ nen daher der Himmel nichts auszurichteu vermag, wel¬ cher auch im viehischen Wesen liegt. Bei den W7eisen bleibt der Mensch ein Mensch und braucht das Viehische an sich, wie ein Instrument. Der Leib ist dem innern Menschen bei Weisen gehorsam und bricht ihm den Him¬ mel; dagegen des Narren Wissen und Können seihst sein Instrument verdirbt.»

Wer verkennt hier und in vielen anderen Stellen in

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Paracelsus den Er wecker und Restaurator der Ideen, Band 28.’ Heft 4. 28

422 I. Paracclsns

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welche «furch Stahl, vermittelt «furch J. B. v. Hei¬ mo nt, 'zur höchsten Spitze der Vollendung getrieben sind, von welcher höchsten Spitze aus das tiefer unten liegende und auch Realität und Existenz habende, und keine .Ily- pothese seiende, rein Materielle kaum bemerkt, also auch nifcht genug geachtet werden konnte!?

llerausgehobcn zti werden verdient ferner die Bemer¬ kung, dafs die Narren «wohl ein Mifsgewächs, Ueberge- wäehs, als Kröpfe und derlei am Leibe tragen, und wie wohl dasselbe nicht proprium Stultorum, sondern auch anderer, so triiB es doch diese am meisten.” Die Ur¬ sache liegt nach ihm, sehr umsichtig, darin, dafs nicht allein die ^rnunft, sondern auch der Leih verschnitzelt wird. <^ie, namentlich die Kröpfe, kommen aus den er- zischcu und mineralischen Wassern, die Kröpfe aus eige¬ ner Art gebären, auch am häufigsten io solchen Gegenden sind.” Gegeu solche Kröpfe räth er auch anderswo (Ch. mg. III. 587 und 588) aufser cauteria actualia und corro- siva, als die besten mcdicinischen Mittel: cx salc medi- camina, quia cx mincralibus est gcncratio. Aliud inedi* cameu, fährt er fort, vidi in Frawcn zimmern, dafs sic propriam urinam trinken in atirora et magnas strumas depulcruut, honum haustuin biberunt, et praestat urina Sale (588). Er sagt auch an dieser Stelle, dafs Strumosi rari sapientes sind, auch gewöhnlich taub.

Die Stelle ist wichtig, weil ohne Zweifel der Cre- tinis'mus, der augehoren- endemische Blödsi nn gemeint ist, über welchen nirgend in den Paracelsischen Schriften eigeuds die Rede ist. Keinesweges darf aber diese Stelle zu der Meinuog veranlassen, als wenn er unter «Stulti» nur Blödsinnige verstände, also von diesen allein hier han¬ delte. Der ganze Inhalt des Traktats beweiset, dafs er im Allgemeinen nur Thoren, Narren, Gecken im Sinne hat. So heifst cs an einer Stelle: «Es ist auch Weisheit in den Narren, scheint aber wie ein Light durch ein Horn, oder einen Nebel, dimkel und trüb. Solch Licht scheint

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iil)er psychische Krankheiten.

durch den Narrenkopf der Narren und ist für den weisen Mann nicht zu verachten; und obwohl der viehische Leih in ihnen ein Narr ist, so ist doch sein Seel, sein Geist kein Narr; denn das Ewige ist ohne alle Narrerei und Thorheit ; es hat hei ihnen nur nit können herauskommen und den Leuten angenem sein. Einem Fürsten steht es daher wohl an, seine Hof-Narren nicht vexiren, sie in ihren Bossen, wie sie die Natur ihnen giebt, gewäh¬ ren zu lassen, und alle Dinge aufzumerken und wohl zu ermessen. Vor Gott, der sie werden liefs, sind sie nit verachtet. »

Interessant ist dieser Traktat auch besonders für Psy¬ chologen dadurch, dafs er eine Art von Genesis der Noth- wendigkeit und Geschichte der Narren enthält. Dahin gehört z. B. der «Schlufsakt des Narrenlebens. » Er sagt : «Greift den Narren der Tod an, so fällt das Narrenwerk weg, und ist ganz demüthig und still, und trauert und

erkennt den Abschied aus dieser Welt. Der Tod ist mehr

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als der Himmel, darum weicht dann vom Menschen alle Influenz, alle Impression, alle Constellation. Nun ist der Tod allein Herr, er erschrecket alle Gestirn im Menschen und alle Glieder und was an ihm ist. Nun steht die vie¬ hische Vernunft still, und gilt nichts mehr, und nichts ist da, als der pur lautre Mensch in seiner Contemplation. So steht es mit den Narren auch; der Tod treibt von ih¬ nen die Narrerei, Fantasei, und der Mensch in ihnen der erkennt sich selbst. Der Tod scheidet den viehischen und den menschlichen Verstand. Und obschon die Na¬ tur gefehlt hat, so ist doch an Seel und Geist nichts gefehlt worden. Und in gleicher Weise, als einer der krumm und lahm geboren ist, ohne Füfse, dafs er mufs

auf dem Arfs rutschen, und unser einer wohl laufen mag:

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so die zwei Zusammenkommen in jener Welt welcher wird lahm sein? Keiner! Also auch: Welcher wird ein Narr sein? Keiner!»

Mit diesem natürlichen Ende aller erschaffenen Dinge

28 *

424 I. Paracelsus

wollen wir auch die Darstellung der Pa racclsi sehen Leh¬ ren von den psychischen Krankheiten und der ihnen ver¬ wandten und nahe stehenden Zustände würdig schliefsen, da er das « grofse Mysterium » als den Beginn ihrer Geistesfreiheit erkennt, und somit Natur und Geist, das Sterbliche und Unsterbliche am Schlufs dieser Tragödie des menschlichen Lebens scheidet und dadurch zugleich versöhnet.

Durch diese der Quelle durchaus enl nommene, nur geordneter zusammengcstelltc, und das was für jetzt als Bodensatz erscheint zurücklassende, Darstellung glaube ich nun meinen alten Paracelsus auch spcciell hinsichtlich seiner Lehrmeinungen und Leistungen über psychische Krankheiten gerechtfertigt zu haben, wie auch selber gerechtfertigt zu sein durch Zeitigung und Mittheilung die¬ ses Produkts oder richtiger Edukts.

Der Rechtfertigung und Vertheidigung bedurfte Paracelsus von wegen der Hypothese, dafs er nichts, oder nur Unbedeutendes in der psychischen Medicin ge¬ leistet habe; ich sage Hypothese, weil solcher Be¬ hauptung der reale Grund, die Empirie und Erfahrung des Historikers: Selbststudium der Quellen, fehlte. Und in der That ist cs ein seltsames Omen, ein sonderbares Zusammentreffen, dafs gerade der Mann dies Auto da Fe zufällig über ihn hat ergehen lassen, welcher den Para- celsischcn, namentlich den in dem Traktat de Lunaticis und de gcncrationc stultorum ausgesprochenen, mehrfach höchst ähnliche, ja gleiche theoretische Grundansichten, in seinen « Seelenstörungcn »> und besonders in seinen spä¬ teren zahlreichen, auf dem Titel auch nebenbei «als Bei¬ träge zur Seelcnhcilkundc bczeichncten , an salbungsvol¬ ler christlicher Ethik für die Irrenheilkunde, welche ein Theil der Heilkunde ist, überreichen, und freilich schon einzig dadurch ausgezeichneten, aber zu der erwarteten allgemeinen Anerkcnntnil’s Seitens der praktischen Irren-

I

über psychische Krankheiten. 425

ärzte nicht berechtigten Werken, auf so geistreiche, äm- sige und aufrichtige Weise niedergelegt hat. Para¬ celsus bedurfte dieser Rechtfertigung um so mehr, als unser erster litterarisch - historischer Sammler für Psychia¬ trie, dessen mühseliger Flcifs wegen des bequem aus sei-

i

nen unentbehrlichen Büchern zu ziehenden grofseu Nutzens die aufrichtigste Anerkennung verdicut, durch das Wagnifs, seinem in dieser Partie der Geschichte « sorglos über die Flüche hin» eilenden Vorgänger, aufs Wort zu glauben, sehr schadet: einmal, weil alle, die nicht mit eigenen Au¬ gen die Quelle anseheu, und das sind gar viele, als wahr nachbeten, was ihnen der Verfasser der Litterärgeschiehte vorsagt, wodurch es möglich wird, dafs ein Irrthum so lange für Wahrheit gilt, bis die vermeinte Wahrheit als Irrthum aufgezeigt wird, was z. B. beim Paracelsus überhaupt von Haller bis zu unserer Zeit gedauert hat; dann, weil die Wenigen, welche zur Quelle gehen, dem LJrtheile und den Excerpten jenes gelehrten Litterators vielfach nur ein unsicheres Vertrauen schenken dürften, wodurch leider ein grofser Theil des Wertkes solcher noth- wendigen Bücher verloren gehen mufs.

Die Rechtfertigung für meine Arbeit gründet sich we¬ niger auf das blofse Bekanutmachen der unbekannten und verkannten Ansichten des in der Medicin Epoche machen- üen Arztes über psychische Krankheiten, als auf das was und wie er über dieselben sich auslälst. In quantita¬ tiver Hinsicht nimmt er es mit den systematischen Schrift¬ stellern über die Medicin überhaupt, welche nur nebenbei jener Krankheitsklasse gedenken können, vollständig auf; der qualitative Werth seiner Leistungen liegt in dieser Arbeit, und ist das Urtheil den sachverständigen Aerzten und Historikern ankcimzustellen.

Nur sei cs mir erlaubt, amSchlufs noch einmal daran zu erinnern: s

1) dafs er recht interessante, selbst lehrreiche dia¬ gnostische, pathologische und therapeutische Einzelnhei-

426 I. Paracelsus

tcn über die Scclenkrankhciteu und einzelne Formen der¬ selben giebt;

2) dafs er die Einlheilungs- Momente aus den Ur¬ sachen hernimmt;

3) dafs er die Ursachen der Ursachen weiter und weiter verfolgt;

4) dafs er den einen, allen Formen und Arten von Scclenkrankhciten, so wie verwandten, analogen, ähnli¬ chen Zuständen, gemeinsamen Grund und Begriff, mit Be¬ rücksichtigung der gegenseitigen Unterschiede, zu erfor¬ schen und ins Klare zu bringen strebt;

5) dafs er hier, wie überall, nach der im Vorworte gegebenen Weise in das Wesen der Erscheinungen zu drin¬ gen sich anstrengt;

6) d^fs er zugleich bei seinen Untersuchungen über Ursprung und Kur der Seelenkrankheitcn , die ganze Na¬ tur und den ganzen Menschen, also, seiner grofsartigen Anschauung gcmäl's, Makrokosmus und Mikrokosmus zu Hülfe nimmt.

Da& und wie er dies Alles that, dadurch offenbarte ■er sich auch in diesem Gebiete, für seine Zeit, trotz ihrer und seiner grillenhaften , paradoxen Naturansichten, welche durch seinen schöpferischen Geist noch fruchtreicher wur¬ den, als der, die einseitige, entartete, todte Elemcntar- lehrc und den Aberglauben der Kirche und der Massen mit allen Waffen Bekämpfende und eine höhere, lebendi¬ gere Richtung ins geschichtliche Dasein Rufende. Für un¬ sere Zeit ist die Erweckung und Darstellung seines den Menschen und die Natur seines Wahnsinnes treffendcu WTurfes zeitgemäß für diejenigen, welche die Zeichen der Zeit sich und andern und der Zeit selber verständlich und gegenständlich zu machen streben. Und wenn gleich He¬ gel unbedingt Recht hat, v’cun er (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, (1.60) sagt: «Eine frühere Stufe wieder erwecken, hicfsc, den gebildeteren, tiefer in sich gegangenen Geist auf ciue frühere Stufe zuruck briugeo

t

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über psychische Krankheiten. 427

#

wollen. Das Iäfst er sich aber nicht gefallen; das würde ein Unmögliches, ein eben so Thörichtes sein, als wenn der Mann sich Mühe geben wollte, sich auf den Stand¬ punkt des Jünglings zu versetzen, der Jüngling wieder Knabe oder Kind zu sein, wenu auch der Mann, Jüngling und Kind ein und dasselbe Individuum ist; » obgleich er eben so sehr Recht hat, wenn er (61) sagt: «Ein sol¬ ches Aufwärmen ist daher nur als der Durchgangspunkt des Sicheinlernens in bedingende, vorausgehende Formen, als ein nachgeholtes Durchwandern durch nothweudige Bildungsstufen anzusehen; wie solches in einer fernen Zeit Nachmachen und Wiederholen solcher dem Geiste fremd gewordenen Principien, in der Geschichte als eine vorübergehende Erscheinung anftritt. / Dergleichen sind nur Uebersetzungen, keine Originale; und der Geist befriedigt sich nur in der Erkenntnifs seiner eigenen Ursprünglich¬ keit», so kann doch der allgemeine Sinn und Geist sei¬ nes (Parac.) Wollens und Schaffens in der Mediciu und in den psychischen Krankheiten vor drei Jahrhunderten, jetzt nach drei Jahrhunderten noch in der Art und in dem Grade anregend und beziehungsreich sein, wie es die Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten der Zeiten, und ihrer welthistorischen, anthropologischen und medicinischen Bil¬ dungsstufen und Bedürfnisse zulassen; was freilich so leicht hinzuschreiben, als es grofs und schwer zu erkennen ist. -

4*28

I

II. Decoctum Zittmanni.

ii.

Praktische Bemerkungen und Beobachtungen

über

die Anwendung des Decoctum Zitlmanni.

Von

D r. B e h r e

in Altona.

Zweite Abtheilung.

Yorgclcsen in der raedicinisch -chirurgischen Gesellschaft zu Ham¬ burg d. 6. April 1832.

Ucberzeugt, dafs nur wiederholte Erfahrungen in un¬ serer empirischen Kunst über den Werth oder Unwerth einer besonderen Kurmethode entscheiden können, nament¬ lich daun, wenn diese Erfahrungen bei versbhiedenartigen Individuen und unter verschiedenartigen Umständen uud Modificationen der zu beseitigenden Krankheit ohne Vor- urtbeil gemacht werden: glaubo ich mit einigem Beeilte meine neuen Beobachtungen über die Wirksamkeit des Zittmann sehen Dccocts bei veralteter Syphilis, so wie auch bei anderen dyscralischen Krankheiten mittheileu zu dürfen, ohne gerade Gefahr zu laufen, durch eine, frei¬ lich etwas variirte Wiederholuug des früheren Tliema’s die Geduld meiner Leser zu sehr zu ermüden. Es sei mir gestattet, in dieser zweiten Abtheilung mit einem Falle den Anfang zu machen, wo das genannte, sonst wirklich so bewährte TVI i t tel , mich im Stiche liefs, da man gerade aus den mifslungcnen Versuchen oft am meisten lernt. Meiner Eitelkeit bitte ich es zu gute zu halten, wenn ich alsdann noch vier Fälle folgeu lasse, in welchen das Mittel wahrlich Ungewöhnliches leistete.

i

II. Decoctum Zittmanni.

429

Zehnter Fall.

Herr Chirurgus H., ein junger Mann von 26 Jahren, in seiner Kindheit an wiederkehrenden scrophulösen Affectionen leidend, späterhin aber gesund und kräftig, verletzte sich im Anfänge des Jahres 1831 beim Verbinden der Geschwüre einer an Herpes syphiliticus leidenden Frau am Zeigefinger der rechten Hand, ohne indessen diese Verletzung, welche in wenigen Tagen heilte, weiter zu beachten. Vier¬ zehn Tage später bildete sich an der Narbeustelle ein har¬ tes Knötchen, welches bald gröl’ser wurde, sich mit Eiter anfüllte, platzte, heftige Schmerzen verursachte und dem¬ nächst in oberflächliche Ulceration überging. Ein ein¬ facher Verband mit rother Präcipitatsalbe brachte indessen jenes Hautgeschwür nach acht Tagen zur Heilung. Der junge Mann befand sich mehre Wochen nachher vollkom¬ men wohl. Nun aber, gegen Ostern 1831, wurde er von öfterem Gliederreifsen heimgesucht, die Sedes wurden träge, er fühlte sich abgeschlagen und unlustig. Bald trat nun ein warzenartiger Ausschlag im Gesichte, namentlich an der Stirn und Nase und an der Oberlippe ein, der, ohne gerade zu schmerzen , doch ein unangenehmes Span¬ nen erregte, und durch seine Kupferfarbe, so wie durch die veranlafste Entstellung des Gesichtes, dem Kranken sehr beschwerlich war. Abführmittel, die in Anwen¬ dung gezogen wurden, fruchteten nichts; vielmehr bildete sich ein ähnlicher Kupferausschlag mit warzenförmigen Er¬ habenheiten an den Armen und Schenkeln aus, und die beiden gröfsten, an der Stirne befindlichen Stellen , sowie die eine Stelle am rechten Nasenflügel, gingen in Ulcera¬ tion über, mit welcher heftige Schmerzen in deu Geschwü¬ ren selbst, besonders aber sehr lästige Stirnschmerzen ein¬ traten. Der Kranke, der bis dahin an sich selbst herum¬ gepfuscht hatte, zog nun einen Arzt zu Ratlie. Die¬ ser wufste nicht so recht, worau er eigentlich sei, und wirklich war die Beurtheilung dieses Falles auch nicht so

430

II. I) ccoctum Ziitinnnni.

leicht. Dafs eine syphilitische Infcction die Ursache der genannten krankhaften Erscheinungen sei, schien dem behandelnden Arzte höchst wahrscheinlich, und dieser An¬ sicht gemäfs wurde auch der Kurplan eingerichtet. Zuerst bekam der Kranke Calomel nebst Ilolztränken bis zur eintretenden Salivation, darauf einige Wochen später Sublimat nach der Dzondischen Angabe, alsdann ein dein Zitt mannschcn ähnlich bereitetes Dccoct, örtlich ver¬ schiedenartige Salben und Wässer, sümnvtlick mit Mercu- rialpräparateu bereitet. Die Hauptsache aber ward bei dieser Behandlung vernachlässigt, nämlich die gehörige Diät und das nothwendige strenge Regimen. Der Kranke hielt'sich während dieser ganzen Zeit nicht nur nicht zu Hause, sondern setzte sich auch mancherlei Erkältungen aus, beging grobe Diätfehler, mit einem Worte er lebte in diätetischer Hinsicht noch weniger regelmäßig, als er cs früher gethan hatte. Die angewandten Mit¬ tel fruchteten nichts wohl trat ab und zu eine mo¬ mentane, scheinbare Besserung ein, die aber bald einer be¬ deutenderen Verschlimmerung der örtlichen Symptome Platz machte. So zog sich das Uebel bis zum ersten Octobcr 1831 hin, zu welcher Zeit mein Rath nachgesucht ward. Ich fand die Geschwüre an der Stirne mit barten, ausgefressenen Rändern, speckigem Grunde, starker Bor¬ kenbildung und heftig schmerzend, eben so die an dem rechten Nasenflügel, der Oberlippe und dem Kinne. Mehre Geschwüre von gleichem Ansehen hatten sich au den Ar¬ men, auf dem Rücken' und an den Oberschenkeln gebil¬ det; in der Mitte des Penis befand sich in der Oberhaut ' des Gliedes ein einem Furunkel ähnliches Geschwür, wel¬ ches sich indessen von den übrigen durch seiu Ansehn we¬ sentlich unterschied. Das Allgemeinbefinden war schlecht, der Kranke gemülhlich sehr affleirt, die Verdauung ge¬ stört, der Appetit lag darnieder. Nachts wenig Schlaf, wegen ziehender Schmerzen im ganzen Körper, und we¬ gen der großen Agitation des Gcmüths.

II. Decoctum Zittmanm.

431

Dafs hier eine syphilitische Infection dem Uebel zum Grunde lag, war mir nacli genau angestelltem Kranken- examen höchst wahrscheinlich; dafs jedoch das ursprüng¬ liche Uebel zugleich durch den unregelmäfsigen Mercurial- gebrauch sehr verändert sei, daran zweifelte ich um so weniger, als der ganze Habitus des Kranken, der gleich¬ sam scorbutischc Zustand des Zahnfleisches, mir auf eine gleichzeitige Mcrcurialkrankheit nur zu deutlich hinzudeu¬ ten schienen. Etwas Bestimmtes mufste gescheiten, und daher entschlofs ich mich zur Anwendung des Zitt- mannschen Decocts, der ich mehre Tage eine leicht näh¬ rende Kost mit Hinweglassung aller übrigen Mittel vor¬ ausgehen liefs. Die Geschwüre wurden blofs mit ei¬ nem Fliederaufgusse verbunden.

i Am 3ten October begann die Kur, welche ganz nach der früher angegebenen INorm geregelt ward, nur mit dem Unterschiede, dafs ich das Quantum des Folia sennae um eine Unze vermehrte. Dennoch waren die Stuhlaus¬ leerungen anfangs nur sparsam, nur zwei bis drei in 24 Stunden, der Schweifs aber desto reichlicher, die Urinse- cretion ebenfalls sparsam. Schon am 6ten October trat eine starke Affection des Zahnfleisches mit Geschvimrbil- dung an den Lippen, und Anschwellung der Zunge ein, die sich indessen nach dem zweiten Laxans und beim Gebrauche eines leichten Salbei -Infusums bald minderte. Merkwürdig war es, wie nun die Geschwüre und die war¬ zenartigen Excrescenzcn sich in ihrem ganzen Aussehen

rasch besserten, reiner wurden und zum T heil vernarbten.

'

Während der letzten Hälfte des ersten Cyklus der Kur vermehrten sich die Stuhlausleerungen, so dafs täglich 5 bis 6 Sedes statt hatten; dennoch war die Perspirations- rnenge im Bette reichlich, selbst die Urinsecretion ward reichlicher. Allein es stellte sich nun förmliche Sali- vation ein, welche eine Zwischenpause von acht Tagen nöthig machte, während welcher ich aufser einer blandeu Diät nur Abends Electuarium lenilivum zur Beförderung

432

II. I) ecoctam Zittmnnni.

des Stuhlganges nehmen liefs, mit den örtlichen Mitteln aber fortfuhr. Die Geschwüre an der Stirne waren in der besten Heilung begriffen, das an der Ala narium bereits vernarbt, die der Arme und Schenkel vernarbt, von dem am Penis befindlichen furunkclartigen Geschwür war kaum noch eine Spur vorhanden,

Erst am 28. October begann der zweite Cyclus der Kur, nachdem die Salivation fast ganz cessirl batte und die ursprünglichen Geschwüre sieb in der besten Hei¬ lung befanden, grofsentbeils schon vernarbt waren. Das Decoct wurde wieder auf dieselbe Weise angewandt, nur liefs ich der Nachmittagsportion noch eine Unze Infus, sen- nae compositum hinzusetzen, um die Einwirkung auf den Stuhl zu befördern. Während dieses zweiten Cyclus wurden die Slublausleerungen reichlicher, als Maximum kann ich 8, als Minimum 4 während 24 Stunden ange¬ ben. Die Hautausdünstung am Morgen im Bette war geringer, der Urinabgang aber ziemlich bedeutend, stets mit einem leichten Sediment. Salivation trat durchaus nicht wieder ein. Die Geschwüre waren sämmtlich ge¬ heilt, bis auf das in der Mitte der Stirne; die der Ala narium und der Oberlippe waren noch mit dünnen Kru¬ sten, die unter sich aber durchaus kein Eiter enthielten, bedeckt. Am 2. November ward die Kur durch ein Laxans beendigt. Nachträglich gab ich noch ein De¬ coctum lignorum zum täglichen Getränk, nebst karger, blander Diät, und liefs zugleich die vernarbten Geschwüre (das an der Stirne war auch 8 Tage später gut vernarbt) mit dem Residuum des Decoct. lignorum waschen. Da öfter die Oeffnung träge war, so wurde zuweilen der Ge¬ brauch des Electuar. lenitiv. am Abende nüthig. In dieser Zeit nun war cs, dafs der Genesende, durch einen sehr reichlichen Appetit verführt, 6ich mehrfache Diätfeh- Icr zu Schulden kommen liefs, selbst bei dem sehr rau¬ hen Wetter sich wiederholten Erkältungen aussetzte, in¬ dem er gegeu meinen Befehl das Zimmer verliefe. Die

II. D ecoctnm Zittmanni.

433

Folgen dieser Unbesonnenheit blieben nicht lange aus. Die Geschwüre, bis dabin geschlossen und glatt vernarbt, wurden wieder gereizt, sie öffneten sich wieder, und be¬ sonders ward die Nase durch warzenförmige, in Ulcera- tion rasch übergebende Excrcscenzcn verunstaltet, so dafs ich am 15. November von neuem das Decoct. Zittmanni in Anwendung ziehen mufste. Die örtlichen Mittel wur¬ den eben so, wie früher, fortgesetzt; die Diät und das ganze Regimen sehr strenge beobachtet, so, dafs der Kranke nun sich stets zu Bette halten mufste. Obgleich die Stuhlausleerungen reichlich, die Urinsecretion gehörig, die Ilautausdünstung sehr stark, besonders am Morgen war, so leistete das Decoct. Zittmanni doch gar nichts. Die Geschwüre nahmen an Umfang und Tiefe zu, an Armen und Schenkeln brachen die alten Narben wieder auf, be¬ sonders aber verbreitete und vergröfserte sich das Geschwür an der rechten Ala nasi und zerstörte selbst einen Tbeil des Knorpels. Die Schmerzen in den ulcerirten Stel¬ len waren heftig. Am 24. November ward dieser dritte Cyclus durch ein Laxans beendigt. Die örtliche Be¬ handlung blieb dieselbe, nur mit der Ausnahme, dafs ich täglich einmal mit einer leichten Auflösung des Lap. inf. die Geschwüre betupfte. Innerlich reichte ich ein Chinadecoct mit Schwefelsäure neben blander, leicht näh¬ render Diät.

Obgleich die Kräfte des Kranken sich hoben, sein Körpervolumen sich wieder vermehrte, die Oeffnung regel- mäfsig erfolgte, der Schlaf ziemlich gut war, so vergröfser- ten dennoch die Geschwüre sich langsamen Schrittes, und

i

nahmen nun mehr das ausgefressene Ansehen scrophulöser Geschwüre an. Bemerken mufs ich indessen dafs das Zimmer, in welchem der Kranke sich aufhielt, höchst kalt gelegen und einer perpeluellen Zugluft ausgesetzt war; bemerken mufs ich zugleich, dafs der Kranke öfters Diät- fehler beging, so oft und viel ich ihn auch warnte. So zog sich das Uebel mit langsamem Fortschreiten durch den

434

II. Dccoctnm Zittraanni.

Dcrember hin; das Exlractum ronii maculati, welches icli in Pillenform und in steigender Dosis anwandte, schien eine Zeitlang einen günstigen Einfluis auf die Geschwüre auszuüben, jedoch bald verschlimmerten sich dieselben wie¬ der, so dafs Ende Dccember die linke Ala narium fast ganz zerstört war. Die örtliche Anwendung einer So* lution des Nairum chloricum fruchtete auch nichts, die Warzenbildung an der Nase, an der Oberlippe und au der Stirne nahm zu. Der Kranke war in Verzweiflung. Ich beschlofs, die Inunctiomkur nunmehr anzuwenden, und schlug dies dein Kranken vor. In seiner Behausung aber war die Ausführung dieses Vorhabens ganz unmög¬ lich, und da es mir durch die gütige Vermittelung des Herrn Dr. Frickc möglich war, dem Kranken die Auf¬ nahme in das Hamburger allgemeine Krankenhaus zu ver¬ schaffen, so übergab ich ihn am 16. Januar 1S3‘2 der Be¬ handlung des Hrn. Dr. Fr icke, der mit der gröfsten Sorg¬ falt sich des der Verzweiflung nahen Kranken annahm. Unter der sehr sorgfältigen Behandlung des Hrn. Dr. Fr. gelang die Heilung des Kranken vollkommen nach regel- mäfsig angewandter Inu net ionskur. Am 5ten April ist der Genesene aus dem Hamburger Krankenhause entlassen und nach Altona zuruckgekehrt. Er befin¬ det sich jetzt sehr wohl, sämmliiehe Geschwüre sind aufs beste vernarbt, indessen haben die Narben noch stets ein etwas kupferiges Aussehen ; die Verdauung ist vollkommen regulirt, der A'ppetit sehr stark. Die gröfste Vor¬ sicht hinsichtlich der Diät wurde noch fortwährend beob¬ achtet.1 August 1S33: Der Genesene befindet sich dauernd wohl.

Worin es lag,' dafs in diesem Falle das Zittmann- sche Dccoct seinen so bewährten Ruhm nicht behauptete, weifs ich, aufrichtig gestanden, nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Man hätte glauben sollen, dafs dieser mit scrophu- löscr Dyscrasie complicirtc Fall, der mehr in der Haut

II. D ccoctum Zittmanni.

435

wurzelte, gerade zur Anwendung dieses Mittels recht ge¬ eignet gewesen wäre, besonders da vorher schon viel , und unregelmüfsig, Mercur gebraucht war. Dennoch war dem nicht so. Das Zittmannsche Decoct leistete hier allerdings im Anfänge etwas, viel vielleicht, da sämmt- liche Geschwüre vernarbten und der Kranke sich übrigens sehr wohl befand; alleiu diese Genesung war nur von kurzer Dauer. Sei es, dafs die Diätfehler jenes Rccidiv zuwege brachten, sei cs dafs eine sehr heftige, mit Be¬ stimmtheit nachzuweisende Erkältung Veranlassung der spä¬ ter eintretenden Verschlimmerung war; so bleibt es doch factisch, dafs die dritte Anwendung des Decocts eigentlich ganz nutzlos blieb, obgleich dieselbe mit der gröfsten Strenge durchgeführt ward. Ueberfütterung mit Mercur, woran man wohl nach dem Verausgegan^enen hätte den¬ ken können, kann auch nicht statt gehabt haben, sonst wäre ja wohl die Inunctionskur , während welcher der Kranke auf eine enorme Weise saiivirte, und die heftigste Mercurialgeschwulst der Zunge und des Gaumens hatte, die man nur bei einem Inunctionspatienten sehen kann, ebenfalls fruchtlos gewesen. Und doch hat gerade diese den Kranken hergestellt. Wollte ich in mei- * nem Raisonnement weiter gehen, so würde ich nur zu leicht mich in das vage Gebiet der Conjecturcn verlie¬ ren. Genug der Kranke ist jetzt (und hoffentlich nicht blofs temporär) geheilt. Vielleicht hat mein Re- censcnt mir richtigere Ansichten über diesen Krankheits¬ fall mitzutheilen, als die von mir vorgetragenen. Mit vielem Danke würde ich hier jede Belehrung entgegen¬ nehmen.

Elfter Fall.

Herr Capitain S., 46 Jahre alt, sehr cholerischen Tem¬ peraments, früher ein sehr kräftiger Mann, der auf seinen weiten Reisen nach Ost- und Westindien, so wie wäh¬ rend eines längeren Aufenthaltes in Nord- Amerika sich

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II. Decoctum Zittmanni.

allen möglichen nachtheiligen Einflüssen des Klima’s und der Lebensweise ausgesetzt hatte, ward im Jahre 1827 genöthigt, in Laguagra seinen temporären Aufenthalt zu nehmen. In manche politische Angelegenheiten durch seine Verbindungen mit dem Präsidenten Bolivar hincin- gezogen, fehlte es nicht an Gemiithsbewegungen mancher¬ lei Art, die dem sehr reizbaren, alles mit der gröfsten Heftigkeit erfassenden Manne wiederholte Unpäßlichkeiten zuzogen, Welche sämmtlich von den gastrischen Organen, besonders von der Leber, ausgingen. Nachdem seine Familie ihm nachgereist war, häuften sich die Sorgen; jene Beschwerden traten stärker und häufiger ein, ein hef¬ tiger Rheumatismus, veraulafst zuerst durch eine während der Regenzeit schleunig unternommene sehr angreifende Reise, gesellte sich hinzu, und das Befinden des Kranken verschlimmerte sicli mehr und mehr. Im Anfänge des Jahres 1831 war cs, als derselbe, nach vorausgegangenem, sehr heftigen Kopfschmerz, gegen welchen starke Ader¬ lässe und grofse Dosen von Caloincl angewandt wurden, zu beiden Seiten der Stirne, etwa einen Zoll oberhalb der Glabella, eine schmerzhafte Anschwellung bemerkte. Zu¬ gleich bildeten sich Anschwellungen in der Mitte der Ti¬ bia beider Unterschenkel und an dem oberen Ende der Ulna des linken Armes, und gleichzeitig trat eine förm¬ liche Contractur der Finger und Handgelenke, so wie der Füfse und Zehen ein. Die Verdauung war sehr ge¬ stört, der Kranke magerte ab, hatte wenig Appetit, und war sehr niedergeschlagen; der Schlaf ward durch die an¬ haltenden, besonders Nachts vermehrten Schmerzen sehr gestört. Sein Wunsch war nun, nach Europa zurück¬ zukehren, und nachdem er mit grofser Mühe seine dorti¬ gen Verbindungen gelöst hatte, rcalisirtc er denselben, und kam nach einer sehr glücklichen Fahrt im Julius 1831 in Altona an. Es war am 26. Julius, als ich den Kranken zum erstcnmalc sah. Ich kann nicht läugnen, dafs der Anblick des Mannes einen ganz cigcnthüiniichcu Eindruck

auf

II. D ccoctnm Zittmanni.

437

auf mich machte. Ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, mit sehr markirten Zügen, die Farbe ^bcr erdfahl, dabei schwarze Augen, die, namentlich beim lebhaften Reden, ungewöhnlich glänzten, gleichsam brannten; kohlschwarze Augenwimpern und Augenbraunen neben grauweißem, nur mit einzelnen schwarzen Haaren untermischtem Haupthaar und Backenbart. Die Stirne bis fast zum Hinterhaupte kahl, und auf den Stirnbeinen zu jeder Seite eine Promi¬ nenz von der Gröfse eines Gänseeies auf der rechten, von

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der eines Taubeneies auf der linken befindlich, wodurch der ganze Schädel wirklich etwas Hörnerartiges erhielt, und das sonst sehr interessante Gesicht auf unangenehme Weise entstellt ward. Bei genauerer Untersuchung fand ich auf dem rechterseits befindlichen Tumor eine kleine, abgestorbenes Zellgewebe mit übelriechendem Eiter Vermischt enthaltende Oelfnung, den linkerseits deutlich fluctuirend. Zugleich bemerkte ich deutlich, dafs diese Anschwellungen offenbar von der Knochenhaut aus¬ gingen. An dem vorderen Theile der Tibia beider Unter¬ schenkel waren ebenfalls Auftreibungen der Knochenhaut zugegen, nicht minder am Oberarme linkerseits und in der Mitte des Radius rechterseits. Heftige Knochenschmer¬ zen raubten Nachts allen Schlaf. Die Verdauung war träge, der Kranke fühlte sich sehr ermattet und febricitirte ei¬ gentlich fortwährend. Er erzählte mir auf mein Be¬ fragen, dafs er früherhin allerdings wiederholt an Trippern gelitten, nie aber von einem Geschwür an den Genitalien heimgesucht worden sei. Jene Tripper hätten sehr lange angehalten, wären aber später, ohne örtliche Folgen zu hinterlassen, allmählig verschwunden. *— Zu Erkältungen aber sei er seit langer Zeit sehr geneigt gewesen, habe wiederholt das Klima -Fieber überstanden, und habe in der wärmeren Zone häufig an Verdauungsbeschwerden gelit¬ ten. Die Diagnose war hier wahrlich nicht leicht. Nachdem ich den Kranken mehre Tage hindurch beobach¬ tet, die zweite Kopfgeschwmlst durch einen ergiebigen Band 28* Heft 4. 29

U. Decoctum Zittmanni.

438

Schnitt gcölliict, und \ icl abgestofsencs übelriechendes Zell¬ gewebe aus derselben entleert hatte, wobei ich örtlich nur das Ungucut saturninuin zum \ erbandc anwandtc, be- schlofs ich vorläufig von einem Aufgüsse der Sarsaparilla mit Zusatz von etwas Fol. scnnac Gebrauch zu machen. Als Palliativa wurden Abends kleine Dosen Dovcrschcn Pul¬ vers zur Linderung der nächtlichen Knochcnschmerzen ge¬ reicht. Mit diesen Ali t tcln fuhr ich einige Wochen fort, örtlich t ha t ich so wenig als möglich, beobachtete aber den Kranken, dessen Diät natürlich sehr genau regu- lirt war, sorgfältig. Schon während dieser Zeit ward das Ansehen des Kranken besser, die Ausleerungen reichli¬ cher, die nächtlichen Schmerzen geringer. Ich ge¬ wann am Ende die Ueberzeugung, cs hier weniger mit einer syphilitischen, als vielmehr mit einer arth ri tischen Affection zu tliun zu haben, die durch ein chronisches Le- berleidcu vielleicht hervorgebracht, wenigstens aber un¬ terhalten und vermehrt sei. Eine Umstimmung des ganzen Organismus schien mir zur Heilung der Dyscrasie durchaus erforderlich, und ich wählte in diesem Falle das Zittmannsche Dccoct um so lieber zu diesem Zwecke, da ich cs erstlich mit einem Knochenleiden zu thuu hatte, zweitens aber auch nicht so ganz sicher war, ob doch nicht irgend eine veraltete syphilitische Affection mit im Spiele sei. Bemerken mufs ich noch, dals das Stirn¬ bein, nach genauer Untersuchung mit der Sonde, an den beiden Stellen der gröfscren Anschwellungen sich ober¬ flächlich cariös fand.

Die Kur begann am 11. August mit einem Laxans aus Kali tartar. und Jalappe. Am folgenden Tage ward das Zittmannsche Dccoct getrunken, und überhaupt der ganze Cyclus der Kur auf die oben angegebene Weise durchge¬ führt. Die Diät ward sehr strenge befolgt. Die ulcerir- ten Steilen am Stirnbein verband ich blol’s mit einfacher, in warmes Wasser getauchter Charpie. Während des ersten Cyclus der Kur war die Ilautausdüustung am

If. D ecoctnm Zittmanni.

439

Morgen beim Genüsse des warmen Decocts sehr reichlich, der Urinabgang sparsam, die Stuhlausleerungen Nachmit¬ tags reichlich; das Minimum derselben war 3, das Maxi¬ mum 12. Vorboten des Speichelflusses stellten

sich am achten Tage der Kur ein, verloren sich aber bald heim örtlichen Gebrauche eines Infus, salviae, und erschie¬ nen nachher auch nicht wieder. Merkwürdig war es mir, wie während der letzten Tage dieses ersten Cyclus die nächtlichen Knochenschmerzen bereits fast ganz ver¬ schwunden, die Tophi an den Extremitäten kleiner und scheinbar weicher geworden waren, und die cariösen Ge¬ schwüre am Stirnbein ein viel gesunderes Ansehen ange¬ nommen batten, nachdem sich viel abgestorbenes Zellge¬ webe abgestofsen hatte. Der hier secernirte Eiter hatte jetzt schon einen durchaus blanden Geruch. Die Haut des Kranken hatte jenen graugelblichen Teint fast ganz ver>- loren. Der Appetit stellte sich in hohem Grade ein», so dafs es aller Philosophie bedurfte, den Kranken bei der schmalen Diät zu halten. Nach beendigtem ersten Cyclus interponirte ich acht volle Tage, während welcher der Kranke ein Sarsaparilladecoct trank, und von dünner Kalbfleischsuppe lebte. Im Oertlichen ward nichts geändert.

Am 6. September begann der zweite Cyclus der Kur. Diesmal war die Hautausdünstung viel geringer, die Urin- seerction bei weitem reichlicher, besonders aber die Stuhl- ausleerungen, deren Minimum 5, das Maximum aber 16 innerhalb 24 Stunden war, so dafs ich einmal, des hefti¬ gen damit verbundenen Tcnesmus wegen, eine Dosis Pul¬ vis Doveri zu geben genöthigt war. - Mit einem Laxans aus Kali tartar. und Jalappe ward die Kur beendigt; na¬ türlich nachher noch stets eine blande Diät beobachtet, so dafs der Kranke nur sehr langsam zu einer reichlicbe- , ren Diät überging. Er war höchst abgemagert, sehr matt, fühlte sich übrigens aber wohler, als seit vielen Jahren. Die Gesichtsfarbe war wieder frisch, die Zunge

29 *

I

440 IT. Decoctum Zlttmanni.

rein, jede Spur von Leberlcidcn verschwunden. - Die Sedes waren jetzt, ohne befördernde Mittel, sehr gere¬ gelt. Fast alle Tophi waren resorhirt, einen einzigen am rechten Schienbein ausgenommen, der, wenngleich ver¬ kleinert, dennoch hei der Berührung sich erkennen liefs, und leicht schmerzte. Von den nächtlichen Knochcnschmer- zen, besonders von den im Stirnbein und Ilinterkopfe haftenden, war gar keine Rede mehr. Die Oeffnung de9 mittleren cariösen Geschwüres hatte sich bei dem einfa¬ chen Verbände, nachdem ein dünnes Blättchen des Kuo- chens abgestofsen war, von selbst geschlossen, jene horn- artigen Erhöhungen zu beiden Seilen der Stirne waren verschwunden, die noch bestehenden Wunden eiterten mäfsig , sonderten aber einen durchaus blanden, nicht übel¬ riechenden Eiter ab. Die Sonde entdeckte hier fortwäh¬ rend Rauhheit der oberen Lamelle des Stirnbeins. Ich befeuchtete die zum Verbände angewandte Charpic mit Liquamen Myrrhae, und liefs noch mehre Monate hin¬ durch ein Decoctum China« mit Acid. phosphor. dilutum gebrauchen, neben einer blanden, aber mäfsigen Diät. So verging der gröfste Theil des Winters wah¬

rend welchen der Kranke bei mäfsiger Bewegung in freier Luft sich verhältnifsmäfsig wrnhl befand, an Kräften zu¬ nahm, und hauptsächlich nur noch über eine zurückge¬ bliebene Steifigkeit der Hände, Finger, der Fiifse und Ze¬ hen zu klagen hatte. Er gewann wieder Embonpoint, und hat jetzt ein sehr stattliches Aussehen. Die beiden Oeifnungcn der früheren Geschwüre am Stirnbein sind noch uicht ganz geschlossen, aber sehr verkleinert, ab und zu stofsen sich kleine Parthiccn der oberen cariösen Lamel¬ len des Stirnbeines ab, darunter aber befinden sich ge¬ sunde Granulationen, und von Woche zu Woche verklei¬ nern sich diese restircudcn Geschwüre mehr und mehr. Sic schmerzen durchaus gar nicht. Ich lasse den Ge¬ nesenden jetzt von Schwefelbädern Gebrauch machen, um die noch übrig gebliebenen Reste der arthritischcn Cou-

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tracluren der Hände und Füfse zu tilgen, daneben wird das aus Thierknochen bereitete Oel (Oleum animale co- ctum) Morgens und Abends in die ungelenkigen Parthiecn eingerieben. Innerlich wird nichts gereicht; alle vier W ocheu etwa ein salinisches Laxans. Fortwährend aber wird eine blande Diät und gehöriges Regimen im weite¬ sten Sinne des Wortes beobachtet. Tägliche Bewegung in freier Luft, wenn es irgend die Witterung erlaubt. Ich hoffe, in wenigen Monaten die noch restirenden Ge¬ sell würsölfnungen geschlossen und den Kranken ganz her¬ gestellt zu sehen, uud werde dann das etwa Nachträgliche dieses mir sehr interessanten Falles initzutkeilcn nicht ver¬ säumen.

Jetzt, im August 1833, ist der Kranke dieses Falles vollkommen hergestellt. Nachdem sich mehre kleine Kno¬ chenstückchen von der oberen Tafel des Stirnbeins nach und nach abgestofsen haben, sind die beiden Geschwür- öilnungen geschlossen, die Steifigkeit der Hände und Füfse ist fast vollkommen beseitigt, die Verdauung vortrefflich, mit einem Worte, der Genesene so wohl, wie er seit vielen Jahren nicht gewesen.

Zwölfter Fall.

Herr J., Ilandlungsreisender, 32 Jahre alt, sanguinisch- cholerischen Temperaments, kam am 10. October 1831 in die Behandlung meines Collegen, des Hrn. Dr. S trübe in Altona. Der Kranke hatte seit seiner Mannbarkeit der Venus und dem Bachus stark geopfert. Siebenmal war er vom Tripper heimgesucht worden, und zweimal von syphilitischen Geschwüren an der Eichel und der Vorhaut. Behandelt war er während dieser Affection von verschie¬ denen Aerzten Kopenhagens, Stockholms und Hamburgs; hatte sich jedoch, seinem eigenen Geständnisse zufolge, nie sonderlich genau au die diätetischen Vorschriften sei¬ ner Aerzte gekehrt.

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IF. Decoctum Zittmanni.

Im August 1831 zog J. sich in Hamburg eine Gonor- rhoca zu, welche er sich durch einen Apothekergehülfen sehr rasch (innerhalb 9 Tagen) curiren liejs. Wodurch? bleibt unbekannt. Nach einigen Wochen aber stellte sich von neuern, ohne neue Ansteckung, ein Ausfluß» aus der Harnröhre mit sehr lästigem Jucken an der sehr engen Vorhaut ein. Von einem zu Rathe gezogenen Arzte Ko¬ penhagens wurden innerlich Cubeben, örtlich Waschungen der Vorhaut mit Aqua nigra, nachher Calomelpulver ver¬ ordnet, dabei Diät, welche von dem Kranken aber nicht gehalten ward. Bei der Zurückkuuft des Kranken nach Hamburg fand Hr. Dr. S trübe an der inneren Fläche des sehr gcröthelen Praeputii , in der Nähe des Frenulums, ein linsengrofses, speckiges Geschwür mit harten Rändern; dabei Spannung in beiden Leistengegenden, indessen kei¬ nen Außflufs aus der Harnröhre. Spuren von Saliva-

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tion waren nicht zugegen, im Schlunde nichts Krankhaftes au entdecken.

Der Gebrauch des Calomel ward vorläufig ausgesetzt, dem Kranken eine strenge Diät, die bis dahin während der Reise sehr vernachlässigt war, empfohlen, der örtliche Gebrauch der Aqua nigra aber fortgesetzt. Dies war am 10 October.

Am 18. October sah der behandelnde Art den Kran¬ ken wieder. Das Geschwür am Praeputio hatte sich ver¬ kleinert, die Inguinaldrüscn waren jedoch mehr geschwol¬ len, ohne sonderlich schmerzhaft zu sein. Seit vier Tagen waren Ilalsschmerzcn eingetreten , die, bei genauer Untersuchung, von mehren speckigen Geschwüren, welche an der Uvula, so wie am Arcus palati mollis ihren Sitz hatten, herrührten. Der Kranke hatte während der letzten Woche unmäfsig Wein, auch Branntwein getrun¬ ken. - Es wurde nun Sublimat nach Dzondi’s Me¬ thode neben einem Dccoct. Spcc. lignor. mit Zusatz von Radix cbinac angewandt, dabei karge Kost, und örtlich zum Gurgeln und Ausspülen des Mundes lauer Thoc cm-

If. Decoctum Zittmanni.

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pfohlcn. Die Verhältnisse des Kranken gestatteten indes¬ sen weder Hausliiiten, noch regelmäfsige Beobach lung der diätetischen Vorschriften. Dennoch waren nach viertägi¬ ger Anwendung des Sublimats die Halsschmerzen ver¬ schwunden, die Geschwüre im Rachen reiner geworden, das ersle ursprüngliche Geschwür am Praeputio vernarbt. Aut die noch angescliwollcnen Inguinaldrüsen ward ein Ammoniacpflaster gelegt, übrigens die Kur fortgesetzt. Am neunten Tage derselben stellten sich die Vorboten des Speichelflusses ein, weshalb acht Tage hindurch der Su¬ blimat ausgesetzt wurde. Mit dem Decoctum lignorum fuhr der Kranke indessen fort, und erhielt ein Abführmit¬ tel aus Jalappe und Gummi guttae. Nach erneuertem achttägigen Gebrauche des Sublimats, und dem örtlichen Gebrauche eines Decoct. ulmi als Mundwasser, waren auch die Geschwüre des Rachens gut vernarbt und jeder ]lals- schmerz verschwunden. Es ward nun der Sublimat in ab¬ nehmender Dosis noch drei Tage hindurch fortgesetzt, dar¬ auf ein Decoctum chinae mit Calmus gegeben, und nach acht Tagen der Kranke mit den besten Warnungen, be¬ sonders hinsichtlich der Diät, aus der Kur entlassen. Sechs Wochen später suchte Herr J. die Hülfe seines Arztes von neuem nach, über einen lästigen Catarrh kla¬ gend. Kaum genesen, hatte Herr J. unmäfsig getrun¬ ken, stark geraucht, einmal auch den Coitus mit einer Gassendirne vollzogen. Der Grnnd des angeblichen Catarrhs waren neue Rachengeschwüre, die sich besonders an der rechten Seite des Arcus palatinus hinab verbreite¬ ten , und wobei der ganze Rachen stark gereizt und ge- röthet erschien. Die Inguinaldrüscn .waren nicht mehr geschwollen, am Penis kein neues Geschwür entstanden, das alte dauernd vernarbt. Die Snblimatkur wurde nun von neuem begonnen, strenge Diät angeordnet, die aber nicht gehalten wurde. Eben so wenig war der Kranke zu Hause zu hallen. Dennoch ging difc Heilung der Ilalsgeschw'üre , freilich langsam, von statten, und zwar so,

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If. Decoctum Zittmanni.

dafs erst nach sechs Wochen der Kranke aus der Kur ent¬ lassen werden konnte. Allein schon vier Wochen

später meldete er sich von neuem hei seinem Arzte, über 6chr heftige Ilalsschmcrzeii, namentlich an der rechten Seite, und gleichzeitiges unerträgliches Ohrcnreifsen, so wie über ein höchst lästiges Gefühl von Trockenheit des Hachens klagend. Es fand sich an der rechten Seite, dicht neben der Mündung der Eustachischen Röhre, ein kleines speckiges Geschwür, der ganze Rachen aber war sehr gerüthet, ohne eigentlich ulcerirt zu sein.

Um diese Zeit war cs, als mein Freund Hr. Dr. S trübe in Altona, dem ich auch die genaue Mittheilung dieser Krankengeschichte verdanke, mir den Kranken vorstcllte, uin meine Meinung über die Natur und über die zweck- mäfsigstc Behandlung des Uchels zu hören. Ich war nach genauerer Untersuchung und genauem Krankenexamen überzeugt, es hier mit einer nie vollkommen gehobenen veralteten syphilitischen Affection zu tbun zu haben, zu¬ gleich aber auch mit einer Mercurialkrankheit, hervorge¬ bracht durch den unregelmüfsigcn Gebrauch des Mercurs von Seiteu des Kranken, und Vernachlässigung des bei diesem Gebrauche so noMiwendigeu Regimen«. Nur eine euergische Kur konnte liier radicale Hülfe bringen. Ich schlug deshalb das Decoctum Zittmanni vor, zu dessen genauem Gebrauche der Kranke sich auch verstand. Vorher erhielt derselbe 4 läge hindurch ein Sarsaparillcn- decoct mit Acid. nitr. di lut. , neben strenger Diät.

Am 4. Januar 1832 begann nun die Kur, bei welcher natürlich aufs strengste das Zimmer gehütet ward, und zwar so, dafs der Krauke \ormittags das Bette nicht ver¬ lassen durfte. Die Kur selbst ward genau nach der früher schon gegebenen Beschreibung geregelt. Nach vier Tagen waren die Ilalsschmerzcn der rechten Seite verschwunden, das Geschwür hatte ein reines ‘Ansehn ge¬ wannen. Oerllich ward.nnn blofs lauwarmer Thce ange¬ wandt. Am Tage des zweiten Laxans bekam der

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II. Decoctum Zittmanni. 445

Kranke Schmerzen an der linken Seite des Rachens, und bei genauer Untersuchung fand sich hier das früher ver¬ narbte Geschwür am Arcus palati wieder geöffnet, ohne jedoch einen speckartigen Grund zu zeigen. Es blieb fünf Tage hindurch geöffnet, vernarbte dann aber rasch zugleich mit dem Geschwüre der rechten Seite, so dafs am fünf¬ zehnten Tage der Kur alles aufs schönste vernarbt, und jeder Schmerz, so wie jede entzündliche Spannung des Rachens verschwunden war. Oertlich wurde nun Roth- wein und laues Wasser zum Ausspülen des Mundes und zum Gurgeln angewandt. Nachdem der erste Cyclus der Kur vollendet, ward ein freier Tag interponirt, dann aber sogleich zum zweiten Cyclus geschritten, um mit Sicher¬ heit jede syphilitische, so wie jede Mercurial-Dyscrasie zu tilgen. Die gröfste Anzahl der Stuhlausleerun¬ gen in 24 Stunden betrug 9, die geringste 3, die mitt¬ lere, mit Einschlufs der einzelnen Laxirtage, betrug 4.

Salivation trat während der Kur nicht ein, doch fand

. . . . ' m sich ein ziemlich starker Mercurialgeruch am 18ten Tage

derselben ein, welcher etwa drei Tage hindurch anhielt, und dann von selbst verschwand. Die Transpiration war nur in der ersten Ilälfte der Kur beträchtlich, besonders Morgens, während der zweiten Hälfte dagegen kaum zu bemerken. Die Urinsecretion war sehr reichlich, be¬ sonders während des zweiten Cyclus.

Nach beendigter Kur mul'ste der Genesende noch fünf Tage lang das Zimmer hüten, und durfte nur sehr allinäh- lig zu einer kräftigeren Diät übergehen. Zur Nachkur er¬ hielt er ein Decoctum chinae mit Elixir. acid. Ilalleri. Herr J. hat jetzt (März 1832) ein gesundes Ansehen wie¬ der erhallen, fühlt sich kräftiger und wohler, als seit lan¬ ger Zeit, und steht seinem Geschäfte mit neuer Thätigkeit

wieder vor. -

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II. Decoctum Zittmnnni.

Drei zcli nt er Fall.

Herr II., Vorsteher einer chemischen Febrile, 25 Jahre alt, mager und zur Melancholie sehr geneigt, früher Ona¬ nist, zog sich im November 1831, nach dem Coitus mit einem öffentlichen Mädchen, ein syphilitisches Geschwür an der inneren Fläche der sehr engen Vorhaut zu, wel¬ ches mehre Wochen hindurch mit Snlinis, "Später mit Mer- curialien behandelt ward, ohne jedoch zur Heilung zu ge¬ langen. Im Gegenthcil vergröfserle cs sich trotz Calomcl und Sublimat, trotz aller angewandten Salben und Wäs¬ ser mehr und mehr, die Ränder des Geschwürs wurden hart, kuorpelartig, cs ward trichterförmig \ erlieft, blutete leicht, schmerzte heftig, die Vorhaut schwoll ödematös an, an der Corona glap.dis entstanden (wahrscheinlich durch die mitgetheilte Absonderung des syphilitischen Eiters) vier neue kleinere Geschwüre, und es war zu befürchten, dafs jenes erste, so sehr in die Tiefe dringende Geschwür, wel¬ ches alle Charaktere eines sogenannten Ilnntcrschcn Chankcrs zeigte, eine bedeutende Zerstörung hervorbrin¬ gen werde. Bis dahin hatte der Kranke das Haus nicht gehütet, im Gegenthcil sich häufig dem Zugwinde und der kalten Winterluft ausgesetzt. Diät war einiger- mnafsen gehalten worden. Der Bachen war bis jetzt frei, leichte Rauhheit indessen zugegen, und etwas Mereu- rialgeruch. Die Stuhlauslccrung war sehr erschwert und sparsam. Ende December sah ich den Kranken, auf den Wunsch seines Hausarztes, meines Freundes des Ilrn. Dr. Schubart in Altona, und stimmte sogleich für die Anwendung des Decoctum Zittmnnni, mit dem nach der bekannten Vorschrift am 28. December der Anläng ge¬ macht wurde. Das sehr gereizte, bedeutend in die Tiefe gehende Geschwür ward blofs mit Charpic, die in ein Decoctum herb, conii getaucht war, bedeckt, alle übri¬ gen örtlichen Mittel hinweggclassen. Während der er¬ sten Hälfte der Kur erfolgten täglich gewöhnlich vier S tu hl-

II. Decoctum Zittmanni.

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a 11 s I o er u n ge n , die Transpiration war Morgens beim Genüsse des warmen Dccocts sehr reichlich, Nachmittags ward reichlich Urin gelassen, welcher anfangs stets ein Sediment zeigte. Ein leichter Mercurialgeruch trat schon am fünften Tage ein, mit Schmerzen im Zahnfleisch, verschwand aber, nachdem der Mund häufig mit Milch und Wasser gespült worden war, in einigen Tagen. Schon vor Beendigung des ersten Cyclus war das grofse Geschwür rein geworden, die ödematöse Anschwellung der Vorhaut war verschwunden, so wie die Schmerzen; die harten Rän¬ der des Geschwürs waren erweicht, die kleineren Ge¬ schwüre bereits in der Heilung begriffen. - Der Appe¬ tit stellte sich in starkem Grade ein, jedoch wurde stets die nothwendige strenge Diät beobachtet. Nachdem ein freier Tag interponirt war, an welchem der Kranke drei Suppen erhalten hatte, begann am 9ten Januar 1832 der zweite Cyclus der Kur, welcher eben so, wie der erste, durchgeführt ward; nur mit dem Unterschiede, dafs, wegen zu sparsamer Stuhlausleerung, der Nachmittagspor¬ tion des Dccocts zwei Unzen Infus, sennae hinzugefügt wurden, wodurch nun täglich 4 bis 6 Stuhlgänge eiutra- ten. - Die Transpiration minderte sich, der Urinabgang aber war, besonders Nachmittags und Abends, sehr reich¬ lich. Ungemein rasch schritt nun das grofse Geschwür in der Heilung vorwärts; die kleineren waren bereits ver¬ narbt. -— Am Uten Januar war jenes beinahe vernarbt, nur in der Mitte war eine kleine, der Caro luxurians ähnliche Stelle, der Grund ganz ausgefüllt. - Ein leich¬ tes Betupfen mit Lapis infernalis beförderte die vollkom¬ mene Vernarbung, welche nach zwei Tagen aufs schönste zu Stande gekommen war. Am 18. Januar beschlofs ein Laxans die Kur. Es versteht sich von selbst, dafs der Genesene nur sehr langsam zu seiner gewohnten Diät wie¬ der überging; zur Nachkur erhielt er ein Decoctum chinae mit Acid. phosph. dilut. uud Extract. cort. aurantior. Die Waschungen mit dem Decoct. conii wurden noch eine

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II. Decoctum Zittmanni.

Zeitlang fortgesetzt. Der KranKc nahm an Kräften und an Fleisch zu, befand sich besonders wohl, und ist bis jetzt (August 1833) vou jeder krankhaften Aflectiou frei geblieben.

Vierzehnter Fall.

Auch diesen in mancher Hinsicht interessanten, und sehr für die grofse Wirksamkeit des Decoctum Zittmanni sprechenden Fall, verdanke ich der gütigen Mittheilung meines Freundes, des Herrn Dr. St ruhe in Altona.

Maria L. hatte in einem Alter von 11 Jahren gegen das Ende eines fünfmonatlichen Aufenthaltes auf dem Lande, angeblich durch das Zusammenschlafen mit einem erwach¬ senen Mädchen, mehre Geschwüre an den Gcschlcchtsthei- len erhalten, welche binnen einigen Wochen sich über die unteren Extremitäten, den After, und nach oben bis an den Nabel erstreckten, reichlich scharfe Jauche absondernd.

Ein zu Käthe gezogener Arzt verordnete kalte Halb- bäder, deren vierwöchentliche Anwendung das Verschwin¬ den der Geschwüre zur Folge hatte. Bald darauf bildeten sich indefs Kacbengeschwüre aus, denen eine Entzündung des linken Auges und ein copiöser Jaucheausflufs der Nase schnell folgten. Gegen diese Beschwerden wurde drei Jahre lang nur topische Anwendung des Chainillcnaufgus- fces, Veränderung der Diät nicht verordnet.

Die starke Zunahme des Uebcls, welches bereits die äufscren Parthieeu der Nase ergriff, so wie der Tod des früheren Arztes, bestimmten die Adlern, uns die Behand¬ lung der Kranken zu übertragen.

Am 17tcn November 1831 bot der Zustand der jclz( 14jä hrigen L. folgendes dar: Aufscr dem entschieden scro- phulösen Habitus, hatte die Kranke ciue sehr bedeutende Abmagerung nebst caehectischcr Gesichtsfarbe, und einen Ausdruck tiefen Leidens in den Zügen des Gesiebtes. Die frühere chronische Augenentzündung war verschwunden, die Kacheugcschw üre hatleu die äufscren Kennzeichen sy-

II. Decoctum Zittmanni.

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philitischcr Geschwüre; Jaucheausflufs hatte sowohl aus den vorderen, als hinteren Oeflhungen der Nasenhöhle statt. Die Menge des Ausflusses war ziemlich beträcht¬ lich, und nicht selten mit Blutungen verbunden; letzte waren übelriechend, jauchenartig, grüngelb gefärbt. Der Durchgang der Luft durch die Nasenhöhle war gän dich gehindert. Die aufsere Form der Nase zeigte sich ge¬ schwollen, besonders die linke Hälfte derselben, wo der Nasenflügel gröfstentheils zerstört war. Die untersuchende Sonde entdeckte in der Gavitas nasi mehre entblöfste Kno- chenstcllen, so wie eine allgemein verbreitete Wucherung der Nasenschleimhaut, die indefs nicht der polypösen an- gehörte. Von dem cartilaginösen Theile der Nasenschei- dewrand hatten sich an mehren Stellen kleine Stücke ex- foliirt, wodurch an einem Punkte eine vollständige Durch¬ löcherung erzeugt worden war.

Die sorgfältigste Diät, so wie die kräftigsten umstim- menden Mittel, durch anhaltende Derivantien und topische Anwendung eines Cicuta- Aufgusses mit Chlor-Natron un¬ terstützt, brachten während fünfmonatlicher Behandlung keine Besserung, höchstens einen Stillstand des Uebels her¬ vor. Wir beschlossen demnach, als letztes Mittel das De¬ coctum Zittmanni in Gebrauch zu ziehen. Nachdem vier¬ zehn Tage lang jeder Arzneigebrauch ausgesetzt worden, begannen wir die Kur auf die gewöhnliche Weise mit einem Abführpulver. Die Kranke blieb während der gan¬ zen Kur im Bette, und trank Morgens eine halbe Flasche starken, Nachmittags eine halbe Flasche schwachen De- cocts, zugleich streng die vorgeschriebene Diät beobach¬ tend. In die Nase liefsen wir nur kaltes Wasser von Zeit zu Zeit einziehen. Auf die angeführte Weise verbrauchte die Kranke, ohne Unterbrechung, in einem Zeiträume von 22 Tagen 8 Flaschen des starken, und eben so viel des schwachen Zittmannschen Decocts, nebst 3 Abführpulvern.

Während der ersten Tage bekam die Kranke sehr reichliche, übelriechende Schweifse, denen ein heftiger

II. Decoctum Ziltmnnni.

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Kopfschmerz vorherging. Die Stuhlauslecrungen betrugen in dieser Zeit 3 bis 4 täglich, stiegen aber gegen das Ende der Kur auf 10 bis 12 binnen 24 Stunden, indem zugleich die Schwcifse fast gänzlich aufhörtcu. Der in reichlicher Menge gelassene trübe Harn setzte nach dem Erkalten eine Materie ab, welche ihrer Beschaffenheit nach dem puri¬ formen Exsudate der Schleimhäute sehr nahe zu stehen schien. Das am vierten Tage der Kur eintretende heftige Erbrechen wurde durch Einreihen des Lin. vol. camph. in die Magengegend sehr bald beseitigt. Am Ilten Kurtage stellten sich Vorboten der Salivation ein, verschwanden indefs am loten Tage nach vorhergegangenen , sehr übel¬ riechenden Darmauslecrungcn. Während der ersten Hälfte der Kur zeigte sich keine wesentliche Veränderung des Krankheitszustandes, nur empfand Patientin von Zeit zu Zeit ein heftiges Jucken in der ganzen inneren Nasenhöhle, welches nach einigen Tagen anhaltend wurde. Gleichzei¬ tig minderte sich der Nascnflufs, indem er zugleich eine dein gelblichen Nasenschleime ähnliche Beschaffenheit an¬ nahm. Nach beendeter Kur gingen wir zu einer nähren¬ den, reizlosen Diät über, bei welcher nach 3 bis 4 Wo¬ chen der freiwillige Ausflnfs der Nase verschwand.

Jetzt, 6 Monate nach beendigter Kur, hat die L. eine blühende Gesichtsfarbe, der Körper, bedeutend entwickelt, ist kräftig und gesund, durch gut vernarbte Granulationen sind die früher entblöfsten Knochenstellen und die OetT- nung in dem cartilaginösen Theilc des septi nasi bedeckt; der Durchgang der Luft durch die Nasenhöhle ist gänzlich frei; auch die äufsere Form ist vollkommen rcstituirt, und nur am linken Nasenflügel deutet noch eine kleine Narbe auf die frühere Destruction.

Zuletzt mufs ich, meinem Vorsätze getreu, noch kürz¬ lich zweier Fälle erwähnen, in denen ich neuerdings das Decoctum Zittmauni zum Thcil ganz ohne, zum Iheil nur mit sehr zweifelhaftem Erfolge an-

II. Decoctum Zittmanni.

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wandte. Beide Fälle betreffen indessen nicht syphilitische Affectionen, da in dem einen ein schon seit vier Jahren bestellender Herpes exedens scrophnlosus nasi et labii su- pe rioris, in dem anderen eine durch scrophulöses Leiden bedingt erscheinende, dem Fungösen sich nähernde Poly¬ penbildung in der rechten Nasenhöhle den Gegenstand der ärztlichen Behandlung ausmachtc. In beiden Fällen schritt ich zur Anwendung des genannten Mittels nur mit geringer Hoffnung des Erfolgs, und nur die Ueberzeugung, dal’s dasselbe auf keinen Fall den Kranken einen Nachtheil bringen könnte, bestimmte mich, wenigstens den Versuch

zu machen. » , i

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Fünfzehnter Fall.

Fräulein de J. aus Hamburg, einige 30 Jahre alt, in ihrer Kindheit häufig von scrophulösen Drüsenabscessen, deren hiuterlassene Narben noch sichtbar sind, heimge¬ sucht, wünschte am 7ten April 1831 meinen Rath wegen einer last schmerzlosen, bereits seit zwei Jahren bestehen¬ den xlnschwellung der rechten Nasenseite, welche zugleich mit einer bald vermehrten, bald etwas verminderten Un- durchgängigkcit dieser NasenöfTnung für die äufsere Luft verbunden war. Eine genaue Untersuchung der leidenden Parthie zeigte äufserlich eine Auftreibung der Naserikuo- chen, selbst ganz bis zum Thränenbein hinauf, zugleich eine leichte Anschwellung in der Gegend des Saccus la- crymalis, verbunden mit leichtem Thränen des rechten Au ges. Bei der neuen, im hellesten Lichte vorgenomme- neu Untersuchung, entdeckte ich eine fleischige, blafsröth- licli aussehende, dem Gefühl mittelst der Sonde sich ziem¬ lich fest darstellende Masse, welche frei herabhing, und deren Wurzel etwa einen Zoll hoch an der inneren Wan¬ dung der Nasenölfnung, mithin an der Nasenscheidewand,

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von der untersuchenden Sonde umschrieben werden konnte. Beim starken Schneuzen trat diese Afterproduction, welche

ich für einen Fleischpolypcn zu halten geneigt war, nicht

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II. Decoctum Zittmanni.

weiter hervor. Zugleich fand eine mäfsige Absonderung eines scharfen, dünnen, etwas flau-süfslich , gleichsam saa- menartig riechenden Schleimes aus der rechten NasenötT- nung statt. I)ic Kranke, übrigens wohl und regel- mäfsig menstruirt, datirt die Entstehung dieses l ebcls von einer Zeit her, zu welcher sic (im Frühjahre 1829) sehr häufig und reichlich an Nasenbluten litt, und endlich mit¬ telst des Gebrauches eines starken, sehr adstringirenden Schnupfwassers diese fast zur Gewohnheit gewordene lilnt- absonderung in wenigen Tagen so gänzlich unterdrückte, dafs sie seit jener Zeit nie wiedergekehrt ist. Der Habi¬ tus scrophulosus der Kranken ist nicht zu verkennen. Ich verordnete zuerst vier Blutegel in die rechte Na- scnöflnung, riet h diese örtliche Blutcntzichung alle vier¬ zehn Tage zu wiederholen, äufserlich Morgens und Abends Unguent. neap. in die geschwollene Parlhic und in die Stirngegend einzureiben, und öfters am Tage kaltes Was¬ ser aufzusebnauben. Daneben innerlich eine leicht auf den Darmkanal wirkende Mixtum resolvens. Der vier- wöchentliche Gebrauch dieser Mittel hatte wenig Verän¬ derung hervorgebracht, indessen war jene geringe Schmerz¬ haftigkeit der geschwollenen Parthie ganz gewichen. Nun ging ich zum örtlichen Gebrauche der Tinctura opii cro- cata über, dessen anhaltende Fortsetzung eine stärkere, citerartige Secretion aus der Nase, und eine geringe Ver¬ minderung des Polypen zur Folge hatte. Das Thräncn des rechten Auges hatte nach einem halben Jahre gauz aufgehört, es war öfters freiwillig Nasenbluten eingetre¬ ten, und der Durchzug der Luft durch die betheiligte Na- senscite ziemlich wiederhergestellt. Ich verband nun die Tinctura opii crocati mit Liquamen myrrhae, und liefs die Nase öfters mit einer schwachen Auflösung des Natrum chloricum ausspülen. Im Frühjahre 1832 war die An¬ schwellung des Nasenknochens, welche ich als ein für sich bestehendes, durch scrophulösc Dyscrasic vcranlafstcs Lei¬ den ansehen mul'stc, da der Polyp keinesweges von dem

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II. Decoctum Zitimanni.

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Umfange war, dafs jene durch letzte hätte veraulafst wer¬ den können, wesentlich gemindert , der Schmerz ganz ge¬ hoben, der Polyp aber noch in statu quo. Längere Zeit wurden Plummersche Pulver mit Coniumextract, nach¬ her das Püllnaer Bitterwasser neben einer streng geregel¬ ten Diät in Gebrauch gezogen ; die örtlichen Mittel fort¬ gesetzt. Der Polyp blieb unverändert, ich beschlols nun, denselben mittelst der Zange zu entfernen, und unternahm die Operation am 16. Mai 1832. Es gelang mir auch, den mit einer ziemlich breiten Basis am hinteren oberen Tiieile der Scheidewand aufsitzenden, ziemlich festen Po¬ lypen von der Gröfse des Nagelgliedes des kleinen Fingers, gehörig zu fassen, und durch langsame Drehungen zu ent¬ fernen. Die Operation war sehr schmerzhaft, und eine sehr heftige Blutung, die ich durch Aq. Thedenii und durch Tamponade stillen mufste, nöthigte mich, die genauere Un¬ tersuchung der freieren Nasenhöhle zu verschieben. Indes¬ sen war der Durchzug der Luft nach der Operation kei- nesweges ganz frei, und der in die nunmehr weite Nasen- öffnung eingeführte kleine Finger fühlte deutlich, beson¬ ders nach hinten und oben, namentlich an der oberen Mu¬ schel, eine mit breiter Basis aufsitzende, den ganzen hin¬ teren Raum einnehmende und auch zur äufseren Nasen¬ haut sich erstreckende, schwammartig anzufühlende Ex crescenz der Nasenschleimhaut. Ein späterer Versuch, diese theilweise mit der Polypenzange zu entfernen, mifs- gliickte, da die einzeln gefafsten Parthieen sogleich abris* sen , wie es auch bei der breiten Basis nicht anders mög¬ lich wark Es wurden nun mehre Wochen lang mit rei¬ zenden Salben, adstringirenden Wässern, später mit bal¬ samischen Mitteln bestrichene Plumaceaux in die Nase ein¬ geführt, und dadurch eine reichliche Eiterabsonderung, durch welche ich die Excrescenz zu schmelzen hoffte, her¬ vorgebracht. Die Nase ward allerdings freier, allein die Afterproduction wollte nicht gänzlich weichen. Ich machte nun ein Vierteljahr hiudurch von einem Schnupf- B and 28* lieft 4, 30

II. Dccoctnm Zittmanni.

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pulvcr aus Ualomel und Zucker ää, abwechselnd mit der Tim t. »j>ii croeata, Gebrauch. Zuletzt entstand eine Ein¬ wirkung auf das Zahnfleisch und ein leichter Speichelflufs, und nöthigte zum Aussetzen des Calomels. Nachher, im Anfänge des Jahres 1833, wandte icli anhaltend eine concentrirte Auflösung, zuerst des Lap. infernalis, nach¬ her des, organische Gebilde tiefer zerstörenden Lapis enu- sticus an, und verminderte dadurch die Aftcrproduction wesentlich, ohne sie jedoch ganz zu heben. Unter diesen Umständen, die sowohl die Geduld der Kranken, als ancb die des Arztes sehr auf die Probe stellten, be« schlofs ich, das Zittmannsche Decoct anzuwenden, um durch die dadurch bewirkte Umstimmung des ganzen Or¬ ganismus vielleicht eine Rückbildung der Alterproductiou zu erreichen, oder wenigstens der erfolgreicheren Anwen¬ dung der örtlichen Mittel den Weg zu bahnen.

Am 25. Mai 1833 begann die Kranke die Kur ganz nach der Vorschrift. Das Maximum der Stuhlauslee¬ rungen war 6. das Minimum 2 innerhalb 24 Stunden. Der Schweifs war sehr reichlich Morgens nach dem star¬ ken Decoct, so auch die Urinahsonderung Nachmittags nach dem schwachen. Gegen das Ende der Kur trat eine Affcction des Zahnfleisches mit leichtem Speichelflufs ein, der aber nach dein viertägigen reichlichen Gebrauche des Püllnaer Bitterwassers wieder verschwand. Oertlich wurde hlofs kaltes Wasser zum öfteren Ausspulen der Nase angewandt. Zur Nachkur ward acht Tage hindurch ein Chinadecoct mit Phosphorsäurc gereicht. Ende Junius befand die Kranke sich sehr wohl, die Knochen¬ auftreibung der rechten Nasenseite ist sehr gemindert, und vermindert sich wöchentlich noch mehr, allein die schwam¬ migen Excreseenzen der Schleimhaut sind, wenn auch wie¬ der etwas gemindert, doch noch keinesweges gehoben, so dafs ich während des Julius von Neuem von der Anwen¬ dung des Lapis cansticus Gebrauch gemacht habe. Jetzt, August 1833, wende ich ein Unguentum e Kali hydrojodi-

IL Decoctum Zittmanni.

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nico täglich an, und cs scheint mir, als wenn der nun¬ mehr 14 tägige Gebrauch dieses Mittels wirklich eine we¬ sentliche Verminderung der Degeneration der Schleimhaut bewirkt, jedoch zweifle ich nach so vielen mifslungenen Versuchen, dafs diese Besserung von Dauer sein werde. Wäre es hier nicht am richtigsten, die ganze rechte Nasenseite zu spalten, und alsdann ein gehörig geformtes Glüheisen (natürlich mit Vorsicht) auf die ganze degene- rirte Parthie einwirken zu lassen (??).

Sechzehnter Fall.

Ferdinand S., 8 Jahre alt, in sehr ärmlichen Ver¬ hältnissen lebend, kam am 3. Mai 1831 in meine Behand¬ lung. Da der Kranke bereits seit einem Jahre an dem un¬ ten näher zu beschreibenden Uebel litt, und von mehren Aerzten schon behandelt w7ar, konnte ich über die erste Entstehung seiner Krankheit keine genaue Auskunft er¬ halten; nur so viel erfuhr ich, dafs dieselbe zuerst als Bor- kenausschlag an beiden Nasenflügeln aufgetreten sei, und sich hernach auch über die Oberlippe verbreitet habe. Ich fand den ganzen unteren Theil der Nase mit stark ei¬ ternden, bräunliche Borken absetzenden Geschwüren be¬ deckt, welche ganz das ungleiche, granulöse, zerrissene Ansehen der scrophulösen Geschwüre hatten, sich in das Innere der Nasenhöhle fortsetzten, und sich auch über die ganze Oberlippe bis zum rothen Lippenrande verbreiteten. Beide Nasenflügel waren bereits fast ganz zerstört, wie auch die Nasenspitze; das Septum selbst wrar auch mit Ge¬ schwüren besetzt, die Knochen aber nicht ergriffen. Dabei ein deutlich ausgesprochener, scrophulöser Habitus, eine Ophthalmia scrophulosa des rechten Auges mit Ge¬ schwürbildung auf der Hornhaut, geschwollene Cervical-, Subniaxillar- und Sublingualdrüsen, und endlich ein hau figer, kurzer Husten mit sparsamem Auswurfe eines weifsen Schaumes, der bei der Kurzathrnigkcit des Kranken be¬ ginnende Tuberkelbildung in den Lungen befürchten liefs.

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II. Decoctnm Zittinnnni.

Irli diagnosticirfe »In» Ucbcl als Herpes exedens scroplm- losus, und mufste die Prognose natürlich schlecht stellen. Zuerst wurden Blutegel wiederholt in den Umkreis der Geschwüre und in die Temporalgegend des leidenden Au¬ ges angewandt, die Ophthalmie durch zweckmäfsige Mittel ziemlich rasch gehoben, dann ein lange unterhaltenes Vc- 8icans in den Nacken gelegt, welches späterhin häutig wie¬ derholt wurde, und innerlich eine Nitruincmulsion rum . lauroccrasi, so wie örtlich Einreibung des Lin. volat. camph. in die Brust zur Bekämpfung der Lungenaffection angewandt. Dabei blande Diät, vorzugsweise Milchspei¬ sen. Die Geschwüre liefs icli vorläufig nur mit Ceratum saturni, dem etwas Extr. opii aquos. beigemischt war, be¬ decken, um den gereizten, schmerzhaften Zustand dersel¬ ben etwas zu mäßigen. Bei dieser Monate lang fortgesetz¬ ten Behandlung besserte sich das Allgemeinbefinden des Knaben bedeutend, die Geschwüre griffen nicht weiter um sich, wurden reiner, schmerzten wenig, die Eiterung verbesserte sich. Bemerken mufs ich noch, dal's ich ein einfaches Infusum theiforme florum sambuci zum öfte¬ ren Ausspülen der Nase und zum vorsichtigen Betupfen der Geschwüre und Krusten anwenden liefs.

Nach Verlauf eines halben Jahres schritt ich zur An¬ wendung des ('osmisch-IIcllmundschen Mittels. Dasselbe wirkte sehr stark ein, und wirklich erschien uach vier¬ maliger, in vierwöchentlichen Zwischenräumen (während welcher das Ilellmundschc Unguentum narcotico-balsami- cum zum Verbände angewandt wurde) gemachter Appli¬ cation der Arscniksalbe die ganze Geschwürsfläche wesent¬ lich gebessert. Sic war ebener, das Eiter von blander Beschaffenheit, geringe Krustenbildung, und beim Fortge¬ brauche der balsamischen Salbe beginnende Narbenbildung von der Seite der ulccrirten Oberlippe her. Die Brust des Kranken war nunmehr fast ganz frei, die Verdauung regelmäßig, der Körper hatte an Volumen zugeuommen, das Aussehen war frischer. Innerlich liefs ich nun, im

II. I) ecoctuin Zittmanni.

457

Friihjah rc und Sommer 1832, anfangs Eichelkaffee, später¬ hin Eselsmilch trinken, fuhr aber mit den örtlichen Mit¬ teln constant fort, und hatte die Freude, im September vorigen Jahres die Geschwürsfläche der Oberlippe ganz ver¬ narbt, die der Nase aber wesentlich verkleinert zu sehen. Im Innern der Nase aber, bis zur Spina narium anterior, dauerte der Ulcerationsprozefs, doch auch in geringem Grade, noch fort. Trotz der langen Dauer war das Sep¬ tum narium noch nicht perforirt, und im ganzen Laufe der Krankheit habe ich bei der sorgfältigsten Untersuchung kei¬ nen der Nasenknochen entblöfst gefunden-, wohl zum Be¬ weise, dafs hier von einer etwa ererbten Syphilis nicht füglich die Bede seiu konnte. Jene Besserung aber war leider nur von kurzer Dauer. Während des Winters 1832 und 33 setzte der Knabe sich wiederholt Erkältun¬ gen aus, beobachtete ein sehr schlechtes Regimen, und überlud sich namentlich in der Weihnachtszeit den Magen mit schwerverdaulichen Mehlspeisen und Kuchen, wodurch eine nicht unbedeutende gastrische Affection veranlafst ward, welche durch leichte Abführmittel, denen Salmiak folgte, bekämpft wurden. Zugleich aber entstanden neue Ge¬ schwüre auf der Oberlippe, welche rasch von der Spina narium aus um sich griffen, und bald wieder die ganze Oberlippe occupirten; auch an der Nase breiteten sich die Geschwüre nach oben weiter aus und zerstörten die rechte Ala narium gänzlich. Das Ilellmundsche Mittel, wie¬ derholt von Neuem in Gebrauch gezogen, fruchtete wenig oder nichts, eben so wenig ein Decoct. herb, solani nigri mit Sublimat, und mehre andere topische Mittel, unter denen ich nur vorzugsweise das Unguent. album Londinense allein, oder mit Extr. conii, die Tinctura opii crocata, das Unguent. praecipit. rubr., eine Solution des Höllensteins, die reine Aq. saturuina, später mit einem Zusatz des Extr. opii aquos. etc. nenne. luuerlick wandte ich als Nachkur jener gastrischen Affection ein Infus, ebinae reg. cum sale ammoniaco längere Zeit an, später den Sublimat in Aq.

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4r,s

II. Decoctum Zittmanni.

cinnamom. aufgelöst in steigender Dosis, dann das Extractum

Conii ebenfalls in steigender Gabe - alles umsonst.

Wenngleich das Allgemeinbefinden sich im Frühjahre 1S33 wieder sehr gebessert hatte, so schritt die Ulceration, wenn auch nur langsamen Schrittes, dennoch unaufhaltsam vor¬ wärts. Ich entschloss mich uun, wenngleich ohne son¬ derliche Hoffnung eines günstigen Erfolges, zur Anwen¬ dung des Decoctum Zittmanni, womit der Kranke am 25. April den Anfang machte. Ich wich nur in sofern von der Vorschrift ab, dafs ich die jedesmalige Portion, des jugendlichen Alters des Knaben wegen, auf die Hälfte re- ducirte, so dafs Vormittags nur eine halbe Tasse starken, Nachmittags nur eine halbe Tasse schwachen Decocts ge¬ nossen wurde. Dio vorgeschriebene Diät, ebenfalls auf die Hälfte reducirt, wurde sehr strenge beobachtet, der Kranke beständig im Bette gehalten. Während der elf Tage der ersten Kur war das Maximum der jedesmal sehr reichlichen Stuhlausleerungen 4, das Minimum 1; der Schweifs war sehr reichlich während des ganzen Tages, die Urinabsonderung bedeutend vermehrt, am zehnten Tage Vorboten der Salivation, die nach dem letzten Laxans bald wieder verschwanden. Oertlich liefs ich die Geschwüre nur mit iu Infus, flor. sambuci getauchter Charpie verbin¬ den. Wirklich verbesserte sich das Aussehen derselben wesentlich, und es trat selbst an den Geschwürsrändern der Oberlippe beginnende Vernarbung ein; alle Schmerzen hör¬ ten auf, und aus der freieren Nase wurden grofse Borken zur bedeutenden Erleichterung des Kranken ausgestofseo. Nach einer 12 tägigen Zwischenpause , während welcher eine sehr strenge Milchdiät geführt ward, begann der zweite Cyclus des Deeocts ganz eben so, wie oben beschrieben, so dafs am Ende desselben doch die vorschriftsmäfsigcn 8 Flaschen des stark«», und 8 Fl. des schwachen Decocts verbraucht waren. Die Wirkungen desselben waren fast eben so, wie das erstemal, das Maximum der Stuhlaus- leerungcQ 5, das Miuimuiu 1; reichlicher Schweifs, reich-

II. Decoctum Zittrnanni.

459

lieber Urin, kein Speichelilufs. Am 17. Junius been¬ digte ein Laxans die ganze Kur. Allerdings hatte sich das Aussehen der Geschwüre, so wie auch ihre x4usdeh- nung, wieder gebessert, doch verhältnifsmäfsig nicht uin so viel, als beim ersten Cyclus. Ich hoffte indessen uoch etwas von der Nachwirkung, fuhr mit den örtlichen Mit¬ teln fort, und ging nun sehr vorsichtig und langsam zu einer blanden, leicht nährenden Diät über. Die Verdauung des Kranken war vortrefflich, sein Aussehen, die Entstel¬ lung durch die Ulceration abgerechnet, gut. - Nach we¬ nigen Wochen aber stand der begonnene Vernarbungspro- zel's still, und bald wurden die bereits geheilten Parthieen von neuem von der Ulceration ergriffen, die sich endlich ganz zu deu Mundwinkeln hin ausbreitjete. Ich er¬ fuhr, dafs der Knahe wiederholt in der Diät und dem gan¬ zen Regimen gesündigt bähe, auch sah ich, dafs er mit dem Verbinden sehr nachlässig war, und die Geschwüre nie gehörig rein hielt. Unter diesen Umständen blieb mir nichts anderes übrig, als den Kranken der genauen Auf¬ sicht einer öffentlichen Krankenanstalt zu übergeben, und die gütige, menschenfreundliche Vermittelung meines sehr verehrten Freundes, des Hrn. Dr. Fr icke, machte es mir möglich, die Aufnahme des unglücklichen Knaben in das so trefflich eingerichtete Hamburger allgemeine Kranken¬ haus zu bewirken, wo derselbe sich nunmehr unter der ärztlichen Leitung des Ilrn. Dr. Fr icke befindet. Ueber eine bestimmte Besserung läfst, ^sich bis jetzt uoch nichts Gewisses sagen; ich werde indessen jedenfalls spä¬ ter, bei einer anderen Gelegenheit, den Ausgang dieses wohl nicht uninteressanten Falles mitzutheilen nicht er¬ mangeln.

Schliefslich sei es mir nur noch erlaubt, einige Ideen auszusprecheu über die Frage, wo und in welchen Fäl¬ len von Syphilis und von anderen dyscratischen Krankheiteu das Zittmanuschc Decoct Vorzugs-

I

II. Decoctum Zittmanni.

4G0

weise seine Anwendung Finden mochte, wobei ich zugleich den Wunsch und die Bitte n ich t unterdrücken kann, dafs diejenigen meiner Herren Collcgeu, welche von diesem Mittel Gebrauch zu machen Gelegenheit hatten, die dahin gehörigen Fälle der öffentlichen Mittheilung nicht vorenthalten wollen. Vielleicht gelangen wir auf diese Weise dahin, vereint mit den treiflichcn Beobachtungen von Chclius und anderer neuerer Aerzte, diesem Mittel in der Therapie der syphilitischen Krankheiten seinen be¬ stimmten, gesicherten Platz an weisen zu können, ohne in die Einseitigkeit zu verfallen, dasselbe in allen Fällen von veralteter Syphilis anzupreisen.

Meiner Erfahrung nach findet das Decoctum Zittmanni da überall seinen Platz, wo hei wiederholter syphiliti¬ scher Infcction bereits reichlich und unregelmäfsig (d. li. vorzugsweise ohne gehörige Diät und ohne Haus- hüten) Mercur gebraucht worden, das Ucbel aber stets, wie wir cs so oft sehen, nachdem es eine Zeitlang ge¬ schlummert, mit neuen Kräften wieder ausgebrochen ist; bald hier, bah? dort seinen Reflex nehmend. In den Fällen, wo bei veralteter Syphilis das Dermatischc System vorherrschend afficirt ist, wo das Uebel sich unter der Form eines Ilerpes syphiliticus manifcstirt, wo zugleich die Verdauung*organc, namentlich die Leber, mitleiden, möchte das Decoct besonders angezeigt sein; denn, weit entfernt, die Verdauungswerkzeuge anhaltend in ihren Fun¬ ctionen zu stören, regulirt dasselbe vielmehr in seinen Nach¬ wirkungen die früher oft sehr unregeluiafsigc Verdauung, und stellt den Tonus dieser Organe wieder her. Wer¬ fen wir nun dio Frage auf: was wir eigentlich durch die Auwendmig dieses Mittels bezwecken wollen?», so möchte die Antwort wohl die sein: «eine Umstimmung des ganzen Organismus auf irgend einem natürlichen Wege (sei cs nun durch vermehrte Ilautnbsonderung, sei es durch vermehrte Stuhlauslcerung und Urinsecretion , sei es [was freilich seltener der Fall ist | durch vermehrte Speichelab-

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II. Decoctum Zittmanni. 461

sonderung), und somit Wiederherstellung des früher ge¬ störten Gleichgewichtes und Rückbildung der krankhaften Productionen. Wie bei einem jeden Mittel, so finden auch bei diesem manche die Individualität des Krankeu betref¬ fende Modificationcn statt, ohne dafs jedoch in der Haupt¬ sache der Kur deswegen etwas geändert werden müfste. Der ursprünglich vorgeschriebene Zusatz der Folia sennae scheint mir zu stark zu sein, wenigstens babe ich in den ersten Fällen, wo ich diese grofse Dosis nehmen liefs, stets eine zu starke Einwirkung auf den Stuhl beobachtet, so stark, dafs öfters 16 bis 18 Stuhlausleerungen mit dem heftigsten Stuhlzwange erfolgten, und dafs zuletzt unter den heftigsten Schmerzen reines Blut entleert wurde. Ich ziehe daher jetzt vor, die Senna nur in kleiner Quantität dem Decocte zusetzen zu lassen, da sie, bei sensibeln Ver¬ dauungswegen, in der grofsen Dosis erfahrungsmäfsig nicht ertragen wird. Sind mir die Stuhlausleerungen nicht hin¬ reichend, so helfe ich, wie oben bemerkt, durch einen Zusatz des Infusum sennae zur Nachmittagsportion densel¬ ben nach. Weder der eintretende Mercurialgeruch (welcher oft sehr früh sich einstellt), noch eine Saliva- tion mit leichten Ulcerationen des Zahnfleisches halten mich von der Fortsetzung der Kur ab; nur interponire ich dann gern mehre freie Tage, ehe ich den zweiten Cy- clus beginne. Gerade die Fortsetzung der Kur, be¬ sonders wenn alsdann die Stuhlausleerungen, wie es fast immer in der zweiten Hälfte geschieht, reichlicher eintre- ten, mindern und heben jene örtlichen Beschwerden.

Von der Nachkur habe ich schon früher, so wie bei Gelegenheit der einzelnen Fälle, weitläufiger gespro¬ chen. Ich halte die genaueste Beobachtung derselben für höchst wichtig, uud glaube, dafs gerade durch eine sehr genau geregelte Nachkur der vollkommene Erfolg der gan¬ zen Kur wesentlich gesichert werde.

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III. Sterblichkeitsvcrlialtnissc

Die Sterblichkeitsverhältnisse von St. Peters¬ burg im Jahre 1833.

( Vergl. unsere Aufsätze in diesen Annalen von 1832 und 1833. )

Obgleich in dem genannten Jahre durchaus keine Krank¬ heit in 8t. Petersburg eine bedeutende Verbreitung erlangt hat, und die Hospitäler nur im Anfänge desselben bedeu¬ tend augefüllt waren, so ist doch die Todtcnzahl vor dem Cholerajahre 1831, nämlich 10000 bis 11000, auch dies¬ mal bedeutend wieder überstiegen worden. Dabei hat die Zahl der Einwohner abgenomuien; sie war im Jahre 1832: 44.0368, während sic iui Jahre 1833: 445135 betrug. Diese, wenn auch geringe Verminderung der Volkszahl, die wir auch im vorigeu Jahre bemerkten, beruht auf dem anhal¬ tenden Ueberschusse der Todten über die Neugeborenen, während der Zuwachs von aufsen her nicht beträchtlich war. Die Todtcnzahl im Jahre 1833 betrug: mänul. 10836, weibl. 6240. (Das so grofse Uebcrgc wicht männ¬ licher Todten hängt davon ab, dafs die Einwohner aus 201200 männl. und 153845 weibl. bestehen, und also jetzt, wie früher, ein grofses Ucbcrgcwieht der männlichen über die weiblichen Einwohner in St. Petersburg ist.) Von sämmtlichen Lebenden starb also etwas mehr als von den männlichen etwas unter y~, von deu weiblichen über Nehmen wir noch hinzu 148 an verschiedenen Unglücksfällen umgekommene Personen, 36 Selbstmörder und 1 im Duell gebliebenen, welche überall in die allge¬ meine TodtenlLsIc aufgenommen werden, so ergiebt sich die Gcsauuntzahl der Todten auf: 17270, also 1 Todter auf 25] Lebende, ein für unsere Zeiten äufserst ungünsti¬ ges Verhältnis. Wir hatten früher bemerkt, dal’s 1820

von St. Petersburg. 463

nicht voll -jL, 1830 nur etwas über der Einwohner starb. Wir fühlen uns ganz, aufser Stande, die Gründe des ungünstigen Verhältnisses von 1833 anzugeben. Aller¬ dings traf man oft auf üble Nervenfieber; der Scharlach wurde nicht selten tödtlich; allein cs war doch keine be¬ deutende Verbreitung weder dieser, noch anderer Uebel vorhanden; es läfst sich also gar kein anderer Erklärungs¬ grund angehen, als dafs im Allgemeinen die Krankheiten eine gröfsere Bösartigkeit gehabt, und daher verhültnifs- mäfsig oft den Tod zur Folge gehabt haben. Bestimmtere Angaben können wir nicht machen, weil die officielle Angabe der Todten nicht mit einer Liste der Krankheiten, woran sie gestorben, verbunden ist. Die Zahl der Ge¬ burten betrug: männl. 4775, weibl. 4536, überhaupt 9311, also bedeutend weniger,, als die der Todten. Nur 7 Kin¬ der werden als todtgeboren angegeben. Die nicht -rus¬ sischen Gemeinden, sonst, und zumal zur Zeit der asia¬ tischen Cholera, sich eines günstigeren Verhältnisses er¬ freuend, als die Gesammtmenge, haben im Jahre 1833 eine fast so grofse Sterblichkeit, wie im Jahre 1831. Aus Unkenntnifs der Gesammtzahl der hierher gehörigen Ein¬ wohner, welche übrigens in dem , letzten Jahre durch Ueberschufs der Ankömmlinge über die Abgehenden um etwa 1300 zugenommen, können wir das Verkältuifs der Lebenden zu den Todten nicht angehen; dafs die letz¬ ten: 2107, jedoch denen des Cholerajahres (2258) nahe stehen, und die von 1832 (1553) weit übersteigen, ist unleugbar. Auch übertrilft jene Zahl weit die Zahl der Geburten: 1396, jedoch nicht in so ungünstiger Weise, wie bei der Gesammtzahl; denn bei der letzten kommen auf 9 Geborene fast 17 Gestorbene, während bei den Nicht¬ russen auf 2 Geburten etwa 3 Todesfälle kommen. Auch in diesem Jahre zeigt sich das Uebergewicht der Sterblichkeit auf Seiten der am mindesten wohlhabenden nicht-russischen Gemeinden; namentlich hat die schwedi¬ sche: geh. 26, gest. 184, die finnläudische : geh. 160,

464

IV. Gcbnrtshiilfc.

"rst. 494, <lic esthländische: geb. 37, gest. 92. l)ic ka¬ tholische hat ein Verhällnifs, welches etwa der Gesammt- heit der nicht -russischen Gemeinden entspricht, nämlich: geh. 229, gest. 356. Die wohlhabenden Gemeinden haben nnr ein geringes Uebcrgewicht der Todten über die heben¬ den, z. B. die englische: geh. 42, gest. 48, die Annengc- meinde: geh. 237, gest. 263, u. s. w. Diese Betrach¬ tung bringt uns also zu dem Schlüsse, dafs auch im Jahre 1833 die Nichtrusscn ein günstigeres Stcrblichkeitsvcrhült- nils haben würden, als die Gesainmtmassc, wenn nicht die genannten armen Gemeinden, die grofsentheils noch kümmerlicher leben, als der gemeine Russe, und vielleicht noch seltener, als derselbe, ärztliche Hülfe suchen, eine verhältnifsmäfsig so ungeheure Todtenzajil gehabt hätten. Immer bleibt also der Satz unumstöfslich , dafs unter übri¬ gens gleichen Umständen Wohlhabenheit und Bildung bei günstiger, wie bei ungünstiger Gesundheits-Constitution, wesentlich zur Verminderung der Sterblichkeit beitragen.

L ichtenst äd(.

Lehrbuch der Geburtshiilfe fürH ebammen; von F. K. Nägele, ordcntl. üffentl. Professor der Medicin und Geburtshülfe an der Universität zu Heidelberg u. s. w. Zweite, vermehrte und verbes¬ serte Auflage. Heidelberg, bei J. C. B. Mohr. 1833. 8. XVI u. 406 S. (2 Thlr.)

Gcwifs ist die Aufgabe schwierig, für rohe und un¬ gebildete Individuen ein wissenschaftliches Lehr- oder Hand¬ buch zu schreiben, welches ihnen für einen kurzen und ungenügenden Unterricht als Anhaltpunkt, und für das praktische Leben als Ralhgcbcr dienen soll. Bei ciucr

IV. Geburtsliiilfe.

465

solchen Schrift sind Verständlichkeit und Präeision Haupt¬ erfordernisse; aber wie kann man diesen gelingen, wenn man einen Blick auf die geringe intellectuelle Entwicke¬ lung der Personen wirft, für welche das Buch eine Richt¬ schnur abgeben soll? In der That, ich bedaure alle Heb¬ ammenlehrer und alle Chirurgenschulen -Docenten ob des sterilen Bodens, der durch sie urbar gemacht werden soll. Die Vorbildung, mit welcher jene Subjecte zur Schule kommen, erregt ein Grauen, sobald man daran denkt, dais solchen das Leben einer Mutter und ihres Kindes in die Hände gegeben wird! Leider können wir die Hebammen nicht ganz entbehren, aber eben deshalb mufs unser Stre¬ ben auch dahin gerichtet sein, sie möglichst unschädlich zu dressiren; daher beschränke man den Unterricht auf Touchirübungcn und präge ihnen ein, dafs ihre Hauptauf¬ gabe sei, nicht selbstthätig zu sein.

Die Abfassung eines Hebammenlehrbuchs pafst daher weder für junge, noch für gewisse gelehrte Aerzte, wTelche in ihren Schriften wie mit der Beute anderer beladene Kameele erscheinen, woraus sie kümmerlich eine littera- rische Mosaik zusammenstoppeln. Wer ein Handbuch für Hebammen schreiben will, mufs praktisch den Hebammen¬ unterricht geleitet haben, die Anschauungsweise dieser Schülerinnen kennen, und dabei selbst ein denkender Ge¬ burtshelfer sein.

Unter den denkenden Lehrern der Entbindungskunde in Deutschland nimmt Nägele unbestritten den ersten Platz ein, er war daher vor allen berufen, die Aufgabe auf eine würdige Weise zu lösen, woran schon so man¬ cher Professor und so manches Collegium scheiterte.

Das vorliegende Buch zeichnet sich nicht allein durch Klarheit und Präcision, sondern auch durch eine seltene Vollständigkeit aus, welche indessen dem Verf. nicht zum Vorwurfe gemacht werden darf, da es ja jedem Hebam- mcnlehrer frei steht, beim Unterricht zu übergehen, was er für seine böotischen Schülerinnen für ungeeignet erachtet.

466

IV. Gcbortshulfc.

Hof. findet das Ganze so wohlgeordnet , den Stoff so angemessen verarbeitet, dafs er nir.ht ansteht, das Buch auch als Leitfaden für die Ausbildung unserer Geburtshel¬ fer für geeignet zu erklären, wobei cs sich freilich von selbst versteht, dafs Zusätze uud Erläuterungen nicht ent¬ behrt werden können.

Ohne dem Vcrf. schrittweise zu folgen, wollen wir doch den Geist andeuten, der wie der rothe Faden durch das Buch sich windet: Die Hebamme verhalte sich möglichst passiv; w o ein passives Verhalten nicht genügt, rufe sie einen II e b a r z t zu Hülfe.

Der Verf. zeigt sich geneigt den allgemeinen Bädern, der Fortsetzung der gewohnten Lebensweise, der Erhal¬ tung der Lctbesöffnung durch Klysticre, statt durch Laxan- zen, in der Schwangerschaft, verwirft mit Recht die un¬ zähligen Kindeslagen, wde sie seit Beaudeloque zum gröfsten Nachtheile für Wissenschaft und Kunst in unsern Lehrbüchern angenommen worden, reducirt die Schädel-, Gesichts-, Steifs- und Fufslageu auf zwei Haupt lagen, welche freilich bei weitem am häufigsten Vorkommen, aber doch eben so viele Kopf- und Gesichtslagcn nicht ganz ausschliefsen , stellt eine richtigere Diagnose die¬ ser Lagen auf, welche unsere Lehrer der Geburtshülfe wohl berücksichtigen wollen. Gebärstühle werden mit Recht geächtet; Klystiere beim Beginnen der Geburt, eine fortgesetzte horizontale Lage, schon vor erfolgtem Wasser- sprung empfohlen. Jede Wöchnerin soll mindestens neun Tage das Bette und vier Wochen die Wohnung hüten, und nicht den ersten Gang in die ungesunde, kalte und feuchte Kirche thun, nicht über 48 Stunden ohne Leibes¬ öffnung bleiben (schon zu lange! Ref. ), jede Neuentbun¬ dene schon nach 2 bis 3 Stunden ihr Kind an die Brust legen, dies möglichst oft wiederholen und erst nach 6 bis 8 Wochen eine gewisse Ordnung darin einführen. Das Kind werde lose gewickelt, flcifsig, und so oft es sich beschmutzt, gereinigt, täglich gebadet. Eine Amme soll

/

IV. Gebnrtslnilfe. 467

nicht acht Wochen früher niedergekommen sein, als die Mutter, deren Kind sie stillt, zur Auffütterung sich am besten die Kuhmilch eignen, anfangs mit einem Zusatze von zwei Driüheilen Wassers, zuletzt ohne diesen. Sehr genügend und belehrend ist der Abschnitt über die Wen¬ dung auf die Füfse, welche bekanntlich überall in Erman¬ gelung eines Geburtshelfers den Hebammen erlaubt ist. Nach der Ilerableitung der Füfse soll die Entwickelung des übrigen Körpers wo möglich der Natur überlassen bleiben (wenigstens mufs man zur Entwickelung des Ko¬ pfes Wehen benutzen, Ref. ).

Die fehlerhaften Geburten hat der Verf.„ so weit es

0

die Stellung einer Hebamme fordert, erwähnt, bei man¬ chen länger verweilend. Namentlich gilt dies von der Lö¬ sung der Placenta, welche er nie den Hebammen gestat¬ tet; von den eigenthümlichen Convulsionen der Gebären-- den, worüber jeder Leser hier viel Belehrendes finden wird. Ob diese aber stets auf Andrang des Blutes zum Gehirne beruhen, und durch ein Aderlafs und ableitende Mittel beseitigt werden, läfst Ref. dahin gestellt sein. Nicht minder belehrend ist der Abschnitt über die Metror- rhagieen während und nach der Geburt. Ob das frühzei¬ tige Anlegen des Kindes au die Brust das Milchfieber im¬ mer verhindert, bezweifele ich, aber überzeugt habe ich mich, dafs es dann weniger heftig zu sein pflegt; da¬ her auch ich das Ausziehen der Brust durch ein fremdes Kind anzurathen pflege, wenn das eigene sich anfänglich zum Saugen träge zeigt. Dem Tampouiren bei Metrorrha- gieen e placenta praevia, legt Näg. nur einen bedingten Werth bei, und bezeichnet (wie auch Ref.) das Adhäri- ren der Placenta am Muttermunde als einen höchst kriti¬ schen Zustand.

Wir schliefsen hiermit unsere Anzeige über ein Lehr¬ buch, das nicht allein irn Grofsherzogthum Baden, sondern auch in anderen deutschen Staaten eine gerechte Anerken¬ nung gefunden hat, indem es dem Ilebammenunterrichte

468

V. Exstirpation der Zunge.

Kinn Grunde gelegt ward. Eine allgemeine Einführung in alle Staaten verdient es um so mehr, wenn man berück¬ sichtigt, wie wenig brauchbar die bisher dazu benutzten in der That sind.

// c y f< elder .

V.

De exstirpatione linguae. Commcntatio Chi¬ rurgien. Scripsit Dr. Michael Jäger, Med. et Chir. Professor P. O. etc. Erlangae sumtibus Ca- rol. Heyderi. 1832. 4. 18 S. (6 Gr.)

Scirrhus und Krebs, angeborene Angiectasie, Medul- larschwamm und Hypertrophie der Zunge, werden vom Verf. als die indicirendcn Momente der Abkürzung der Zunge bezeichnet. Die vier ersten will ich unbedingt da¬ für gelten lassen, nicht so die Hypertrophie der Zunge, welche einen bedeutenden Grad erreicht haben mufs, wenu man zum Messer seine Zutlucht nehmen soll. Noch vor kurzer Zeit widerrieth ich die Abkürzung der Zunge einer Dame, bei welcher dieses Organ in einem Zustande von Hypertrophie, übrigens vollkommen normal beschaffen war. Die Operation ist um so weniger angezeigt, wenn keine abgeschliffenen, scharfen Zähne die hypertrophisch beschaf¬ fene Zunge berühren, und auch in diesem Falle ist es bes¬ ser, die Zähne zu entfernen, als die Zunge zu verkürzen.

Der Verf. will keine Contraindication für die Exstir¬ pation der Zunge gelten lassen, doch scheint er nicht zu berücksichtigen, dafs das Uebel zurückkommt, sobald mehr als die Hälfte der Zunge vom Krebse zerstört war. - Die Blutung nach der Operation ist nicht besonders zu fürchten, indem sic oft schon bei der Berührung eines Stückes Eises aufhört. Die Sprache und das Schluekeu sind nur unmittelbar nach der Operation erschwert, und

dio

489

V. Exstirpation der Zunge.

die secundäre Entzündung ist eigentlich nur dann zu fürch¬ ten, wenn das entartete Zungenstück nicht mit dem Mes¬ ser, sondern durch die Unterbindung beseitigt wird.

Der Verf. hat einen grofsen Apparatus instrumento- rum für diese Operation nöthig. lief, bediente sich zur Fixirung der Zunge aufserhalb des Mundes seines mit einem einfachen Taschentuche bedeckten Daumens und Zeigefin¬ gers, den blofsen Fingern entgleitet sie.

Die Excision der Zunge zieht J. mit vollem Rechte der Abbindung des entarteten Stückes unbedingt vor, und beschreibt nun die Ausschneidung der Zungenspitze, die Ausschneidung eines Seitentheiles der Zunge, oder der ganzen Zunge. Für die letzte Operation erachtet er die Spaltung der linken Wange, oder auch selbst beider Wan¬ gen für nöthig, und zwar, um die Zunge auf diese Weise bequemer her vor ziehen, fester halten, die Wund fläche sorgfältiger untersuchen und

die Art. ranina leichter unterbinden zu kön

\

nen. Ref. , der diese Operation zweimal zu machen Ge¬ legenheit hatte, vollbrachte die Excision ohne Wangen¬ spaltung, und glaubt, dafs nur in dem Falle die linke Wange zu durchschneiden sei, wo es sich darum han« delt, den Schnitt bis zur Epiglottis zu führen. Mit der Coop ersehen Scheere wird die Operation besser und be¬ quemer gemacht, als mit dem Messer, auch kann man mit Hülfe der ersten leichter die verdächtigen Stellen aus der Wundfläche noch nachträglich entfernen, daher unter¬ schreibt Ref. sehr gern die in dieser Beziehung gemachten Aussprüche des Verf., gleich diesem die Wundfläche mit einem weifsglühenden Eisen betupfend. Die Blutung aus den durchschnittenen Gefäfsen soll man durch kaltes Was¬ ser, zusammenziehende Wasser oder die Unterbindung be¬ seitigen, die Wundränder bei einer partiellen /\ förmigen Excision durch die blutige Nath vereinigen. Der Verf. theilt eine interessante Operation mit, die unter ungünsti¬ gen Verhältnissen unternommen, von einem günstigen Er- Baml 28. lieft 4. 31

470

VF. Behandlung der Irren.

folge gekrönt wurde. Zuletzt handelt J. noch von der Exstirpation mit Hiille der Ligatur, und schliefst mit einer vollständigen Angabe der Litteratur.

Heyfelder.

VI.

Considerations sur le tra item ent des Alie- n es, par Henri A. M. J. L ü w e n hay n , üoeteur en medecine et Chirurgie, membre de plusieurs societes litteraires etc. Premiere partic. St. Pe- tersbourg, 1833- 8. X et 144 pp.

Oder:

Bechere h es theoretiques et pratiques sur Pe ta b 1 iss e me n t des A 1 i e n e s , par Henri L o- wenbayn etc. Avec une planche et un plan li- tbograpbiees.

Aus dem doppelten Titel des Buches geht hervor, dafs es einerseits der erste Theil eines Werkes ist. wei¬ chem nach den in der Vorrede und in den letzten Kapi¬ teln (S. 122. 136. 114.) gcgebeucn Andeutungen, noch zwei, die Pathologie und Therapie der Seeleukraukheiten umfassende, folgen sollen; andererseits, dafs es zugleich eine selbstständig in sich geschlossene Abhandlung über Einrichtung von Irrenansalten bildet.

Unter den Gründen, diesen Gegenstand ausführlicher darzustellen, hebt der Verf. mit Hecht besonders den her¬ vor, dafs die Irrenanstalt « un vcritable instrument de gue- rison, un des remedes les plus efficaces de la Psychiatrie, la premierc condition de la eure» (S. VI. VII.) sei.

Die Arbeit ist die Frucht der auf Reisen durch Deutsch¬ land, Holland, 1 rankreich, Ertgland gemachten Bekannt-

471

VI. Behandlung der Irren.

Schaft mit Irrenanstalten, Irrenärzten (III. IV. ) und dereu Werken. Wenn gleich wir in Deutschland durch No¬ stitz und Jäuckendorf, Roller und Andere, Vollstän¬ digeres über Irrenanstalten haben, wenn gleich eigene, vom Verf. selbst herrührende Ideen in den Hintergrund * treten und seine Kritik des Einzelnen nicht immer die beste und umsichtigste ist, so enthält das Buch doch selbst für diejenigen, welche mit diesen Gegenständen durch Se¬ hen und Studium vertraut sind, eine recht brauchbare Zu¬ sammenstellung von bekannten, weniger bekannten und neuen Einzeluheiten, und gehören hieher namentlich Reise¬ notizen und vor allem der nach Esquirol mitgetheilte Entwurf zur Construction einer grofsen Irrenanstalt' Das Werk ist also immer für uns eine willkommene Erschei¬ nung. Viel gröfseren Werth hat es für Rufsland. Denn da dies grofse Reich seine Bildung aus dem Westen holt, um sie bei sich und im weiteren Osten, seiner welthisto¬ rischen Bedeutung Dach, auszubreiten und einheimisch zu machen, so wird ihm durch vorliegende Abhandlung hin¬ sichtlich der Irrenanstalten von dem neuesten und besten Material zugeführt. W7enn also dies Buch Veranlassung wrerden sollte, dafs z. B. bei Moskau eine nach dem im dritten Kapitel dargelegten Plane construirte und einge¬ richtete Irrenanstalt ins Leben treten könnte, so hätte der Verf. seine Zwecke wohl über alles Erwarten günstig er¬ zielt, und den reichlichsten Lohn für die Arbeit dahin. Einigermaafsen unangenehm berührt es, wenn man alte Irrthiimer und Gebrechen in Irrenanstalten, welche allgemein als solche anerkannt und abgesprochen sind, ei¬ ner abermaligen unnöthig tadelnden und für jetzt vielfach ungei echten Kritik unterworfen sieht. Doch scheint es dem Verf. selber mit solchen in der Vorrede und an meh¬ ren Stellen des Buches allgemein hingestellten Aeufscrun- gen nicht rechter Ernst zu sein, da er an anderen Stellen die TreiFlichkeit vieler Irrenanstalten anerkennt. In jenen, nicht selten bei jungen, sich erst in das Fach hin-

31 *

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VI. ßchnn dlnng der Irren.

cinarbeitenden Autoren, vorkommenden Fehler ist der Verf. z. B. verfallen, wenn er klagt, dafs die Irren zu einem beklagenswert hen Zustande verdammt sind, dafs die Be¬ hörden wenig Interesse für die Sache zeigen, dafs die Ir¬ ren als einfache Gefangene angesehen werden, und dafs mit wenig Ausnahmen sie nicht für Kranke genommen werden (V. VI.). Mag dies Urthcil zum Theil für Rufg- land, was übrigens der Verf. nicht näher angedeutet hat, gellen, so ist doch in Petersburg und Moskau, nach den neuesten öffentlichen Berichten zu urtheilen, ein gu¬ ter, wenn auch quantitativ und qualitativ nicht genügen¬ der Anfang gemacht; mag jenes ürtheil auch für Hol¬ land und Belgien (16. 52. 53.) gelten, wie Guislain, nicht «Guiselin», selbst im Anfänge des 12ten Buches seines Werkes eingestellt, zugleich aber auch wesentliche Verbesserungsmittel angiebt, so bleibt doch die Irrcnkolo- nie in dem Hecken Gheel ein in ihrer Art einziges, merkwürdiges, unter Bedingungen, namentlich für halbge- heiltc und ruhige Seelcnkranke niederer Stände, nachah- mungswei thes Institut, welches Guislain « une des mer- veilles de nötre pays » nennt, und wohin Esquirol ei- gends mit oisin im August 1818 eine Boise unternahm, und daiüber den 8. Januar 1822 in der Acadcmie der Mc- dicin ein Memoire las, welches, beiläufig gesagt, bei wei¬ tem das Beste und Ausführlichste über diese Kolonie ent¬ hält, und woraus ein vollständiger Auszug gegeben ist in dem Magazin von Gerson und Julius, Band 4. 1822. S. 166 175, und desgleichen in v. Froricp’s Noti¬ zen, No. 48. Aug. 1822. S. 55 - 60. Gedachtes Ur- theil jedoch erscheint übertrieben und strenge, wenn es in dem Grade und Maafse auf England, Frankreich und Deutschland ausgedehnt werden sollte. Allerdings bleibt noch gar vieles zu thun übrig; allein was mit grofsen Ko¬ sten, Opfern und Mühen Seitens der Staaten und Behör¬ den für diesen wichtigen Zweig der Medicinalangclegen- beiten geschehen ist, ist ein Grofses; und der für jetzt gd-

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VI. Behandlung der Irren.

cignctere Weg, etwas Gröfscres zu erreichen, ist der der Aufmunterung durch Anerkennung des TretFlichen, und der Erweckung zur Nacheiferung dort, wo die alten mor¬ schen Einrichtungen noch bestehen. In diesem Sinne kann Bayern, dessen Irrenanstalten der Verf. an mehre¬ ren Stellen (16. 52. 53.) als unter aller Kritik seiende, bezeichnet, und welches in der That für Kunst und Er¬ haltung von Kunstwerken die allerüberraschendsten, und für Erhaltung und Wiederherstellung des edelsten und höchsten Kunstwerkes der ganzen Welt, der menschlichen, lebendigen Psyche, bisher sehr dürftige Mittel entwickelt, ein Beispiel nehmen an dem, was auf dem Sonnenstein und in Colditz für Sachsen, in Heidelberg für Baden, in Hildesheim für Hannover, in Sachsenberg für Mecklenburg, in Siegburg, Marsberg, Leubus u. 's. w. für Preufsen, und was ganz neuerlichst in Winnenthal für Würtemberg (nach der höchst ausgezeichnet gefafsten Publication im dortigen Regierungsblatte, No. 51. 9. Decbr. 1833, zu urtheileu) geleistet ist.

Den Inhalt des Buches näher betreffend, so ist in den sieben Kapiteln desselben die Rede von der Nothwendig- keit, den Bedingungen, dem neuen Plane, dem Personal und der Direction, den Kosten der Einrichtung und Un¬ terhaltung, den Beschränkungs- und Bändigungs- Mitteln, und endlich von der moralischen Behandlung und dem in¬ neren Leben eines Hospitals für Alienirte.

Die Mittheilungen über benannte Gegenstände sind den Ansichten, welchen Esquirol in Wrort, Schrift und That stets treu geblieben ist, durchaus im Wesentlichen nach¬ gebildet; und würde diese Ueberzeugung sich gleichsehr dann aufdrängen, wenn die Abhandlung ihm, den der Verf. ,<le plus habile medecin, que la Psychiatrique ait jamais possede (17), uu grand homme (22), un genie, le flam- beau de la Psychiatrie » (27) uennt, auch nicht aus Re¬ spekt und Dankbarkeit dedicirt wäre.

Nach einem etwas rhetorisch gehaltenen Eingänge und

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VI. Bel landlnng der Irren,

einer lockeren Charakteristik über Wahnsinnige, führt der Vcrf. im ersten Kapitel aufscr andern gewöhnlichen Grün¬ den für die Notwendigkeit der Irrenanstalten näher die Bohrung auf, und geht dann im zweiten Kapitel über zu einer numerischen Aufzählung der Erfordernisse zu einer Irrenanstalt, deren Motivirung dann im weiteren Verlaufe folgt, mit Benutzung dcsfallsigcr von Irrenärzten und in Irrenanstalten gewonnenen Belehrungen; und sind nament¬ lich Ilayner und Colditz (weiche zusammen die beste Irren - Pf 1 eg eanstalt, welche Bef. gesehen, bilden), Pienitz und Sonnenstein, Jacobi und Siegburg in Deutschland dankbar genannt, ohne jedoch auch in diesen Notizen sonderlich viel Neues zu geben. Hichcr ge¬ hört aber z. B. die Nachricht, dafs Corcelles, Arzt an einer der besten englischen Irrenanstalten, an der zu Wake- field nämlich, darüber klagt, dafs daselbst, wo am zweck¬ mäßigsten und kostspieligsten für Luft, Heizung und Rei¬ nigung gesorgt ist, dennoch schlechte Luft herrscht. Klagt der Verf., dafs man auch in Sieg bürg, trotz der aller¬ sorgfältigsten Reinlichkeit, in manchen Sectionen fortwäh¬ rend eine sehr verdorbene Luft athme, so gilt dies doch nur für die Abtheilatig im sogenannten Ilinterbau, die während eines mehrwöchentlichen, dem Ref. in steter dank¬ barer Erinnerung bleibenden Aufenthaltes in Siegburg im Jahre 1830 mit W üthenden, Lärmenden, Schmutzigen über¬ füllt war, welchem damalig unvermeidlichen Ucbelstandc hoffentlich gegenwärtig, so weit die freilich ungünstige Localität C6 zuläfst, durch Aufbau eines neuen Stockwer¬ kes und durcl) Fortschaffung des in der männlichen Ab¬ teilung des Hinterbaues befindlichen »«Pissoir» großen¬ teils abgeholfen sein dürfte.

Den Kern des ganzen Buches bildet das dritte Kapi¬ tel, welches einen neuen Plan zu einem Irrenhause, nebst dazu gehöriger Abbildung giebt, und durch welches das zweite Kapitel erst recht cigeutlich verständlich wird. Dieser neue Plan ist eine Idee von Esquirol, im Klei-

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VI. Behandlung der Irren.

ne» schon in seiner Privatanstalt zu Ivry zum Theil aus¬ geführt. Esquirol nämlich hat dem Verf. den Plan von Ivry und den des grofsartigen Projectes mit den Worten gegeben: «Prcnez, je les ai refuses ä tout le monde, mais vous, -vous savez obtenir, ce que vous desirez. » Der kleine Plan von Ivry ist übrigens durch die wissenschaft¬ liche Gastfreundschaft Esquirol’s schon anderweitig be¬ kannt, und weifs Ref. aus der sichersten Quelle, dafs der Mittheilung desselben sich der Prof. Dr. Man dt und der Dr. Rust jun. während ihres Aufenthaltes in Paris im Jahre 1832 zu erfreuen hatten. Für die Bekanntmachung des grofsen Planes ist dem Dr. Löwenhayn nur Dank zu sagen, wenn gleich derselbe in Esquirol’s und Des¬ portes1 Schriften angedcutet, in den Werken von v. No¬ stitz und Roller benutzt, und in der neuen Irrenanstalt zu Rouen durch Foville, einen Schüler Esquirol’s, theilweise ausgeführt ist.

Die Anlage ist auf 450 bis 500 Irre berechnet, und besteht aus einer Reihe zwar getrennter, aber durch eine Säulenhalle verbundener, für die einzelnen Abtheilungen bestimmter, Quarrees von einstöckigen Gebäuden, in de¬ ren Mitte sich ein mehrstöckiges für Oekonomie, Admini¬ stration, Beamtenwohnungen, Reconvalescenten u. s. w. be¬ stimmtes Hauptgebäude erhebt.

Wenn gleich diese Idee grofsartige Vortheile gewährt, wegen der einstöckigen Gebäude, wegen der wirklichen totalen Trennung, nicht nur der Geschlechter, sondern auch der einzelnen Abtheilungen, nach Wohnungen, Ho¬ fen, Gärten u. s. w., so stellen sich andererseits der Aus¬ führung so groLe Bedenken entgegen, dafs Esquirol sel¬ ber diesen Plan als einen ideellen, d. h. nicht durchweg zu realisirenden auzusehen scheint. Zu denselben gehören: die doppelt zu grofse Anzahl der Aufzunehmenden, das 70 b is 80 Morgen haltende Stück Land, die enorme Grund¬ fläche der Gebäude, die ungeheuren Kosten, namentlich von Fundament, Bedachung uud von der offenen, alle

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VI. Behandlung der Irren.

Ouarrec’s verbindenden Säulenhalle. Unvermeidliche Nach-

V

t heile in financicller, administrativer und technischer Hin¬ sicht entstehen dadurch, dafs aufscr der II a u p t ccntralisa- tioi», noch Ncbencentralisationcn in den einzelnen ge¬ trennten Abtlieilungen, und dadurch aufserordentliche Ver¬ mehrung des ßeamtcnpersonals nothwendig werden. Solche Anstalt erfordert aufser dem Direclor vier Aerztc und vier Chirurgen, welche im Hause wohnen und aus den Fonds der Anstalt bezahlt werden; ferner, aufscr dem Ge¬ neral- Inspektor, einen Inspektor und eine Inspektrice für jede der vielen, circa 12 Abtlieilungen; und nun er¬ wäge man noch die Menge von Wärtern (auf 8 bis 9 Kranke einen) und Dienern für Haus und Ilof, Acker und Vieh, ferner für die projectirten Fabriken, Handwerks¬ stätten, für die Milcherei u. s. w.!

Wenn irgend ein Reich, so vermag freilich dasjenige, welches seiner kolossalen Gröfsc analoge Gebäude aufzu- fuhren gewohnt ist, solche kolossale Irrenanstalt zu rea- lisiren. Petersburg oder Moskau möchte wohl am meisten hoffen lassen; und wünscht Ref. , dafs der Dr. Löwen¬ hayn das Gouvernement, oder den das Glänzende, Grofs- artige liebenden reichen Moskowitischen Adel für diesen Plan gewinnen möge.

Die geringe Aussicht zur baldigen Realisirung dieses Planes kann allein schon für jetzt von der Beurlhcilung der Detaillirung desselben abhalten. Die nähere « Expli¬ cation u (33 73), so wie das vierte Kapitel ( personcl et direction), enthalten freilich tüchtige, fremde und eigene Bemerkungen , aber auch irrige; und wird der Verf. die vermifste Vollständigkeit gewifs erst bei näher liegender Möglichkeit der Realisirung zu ergänzen sich bemühen.

Nicht einverstanden kann Ref. mit der Ansicht sein, dafs d ie Anstalt für Heilbare und Unheilbare bestimmt sein solle, wenn gleich diese \erbindung in der projectirten nicht so viel schaden würde; ebeu so wenig mit den ohue Ausnahme und Beschränkung angenommenen Sätzen: dafs

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VI. Behandlung der Irren.

alle Reconvalesccutcn von den übrigen Irren getrennt sein müfsten, und dafs die Geschlechter 'nie Zusammenkommen dürften, da im Gegentheil die Erfahrung zeigt, dafs Reconvalescenten sehr gut unter ruhigen Irren genesen, und die Genesung daselbst mit ein Beweis der dauern¬ den Heilung sein kann, und da die Geschlechter, beson¬ ders aus den höheren Ständen, freilich unter Aufsicht, mit Vortheil von Zeit zu Zeit zusammengebracht werden, was z. B. bei Esquirol, Pienitz und Gör gen bei Tische, auf Promenaden und in den Abendversammlungen seit Jah¬ ren geschieht, wovon Ref. Gelegenheit gehabt hat sich zu überzeugen.

Ein schöner, an Hoffnung reicher, aber an Wirklich¬ keit armer Traum über die Beschaffenheit der Wärter

» A

ist es, wenn der Verf. aufser andern Pflichten derselben die der « raisonnements moraux et spirituels aufführt. Dergleichen direkt moralische Einwirkungen vorschrifts- mälsig auf die Wärter auszudehnen, hält Ref. für so ver¬ werflich, dafs er lieber den Wärter fortjagte, als dafs er dergleichen von ihm duldete. Man mufs sich ein eigenes Geschäft aus der Beobachtung dieser Leute gemacht ha¬ ben, um aus Erfahrung zu wissen, worin, mit seltenen Ausnahmen, diese moralischen und spirituellen Raisonne- meuts derselben bestehen: in dummen, rohen Aeufserun- gen, im Schimpfen, Schelten und anderen Gemeinheiten, womit sie am häufigsten Kranke aus höheren Ständen re- galiren, um den schnöden Kitzel der Schadenfreude zu ge- niefsen, ihr Müthchen in der Art und in dem Grade an Herren und Damen, denen sie im gewöhnlichen Leben pa- riren müssen, mal kühlen zu können. Nur da, wo mu¬ sterhafte, unausgesetzte disciplinarische Beaufsichtigung der Wärter keine Lüge ist, ist dergleichen empörender Skandal zu vermeiden!

Der Verf., welcher wünscht, dafs man seinen Rcise- bemerkungen Vertrauen schenke, hätte solche wie z. B. die ist, dafs «Ideler (43) das llolzsägeu als das non plus

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\ I. Behandlung der Irren.

ultra der specifischcu Mittel gegen psychische Krankheitcu betrachtet, nicht drucken lassen sollen.. Dieses arge Mifsverstanduifs möchte wohl nur dadurch zu erklären sein, dafs Idelcr jene unter Horn schon gebräuchliche Arbeit, hei den durch die bisherige Localitüt höchst be¬ schränkten Beschäfligungsmitteln, die beste und unentbehr¬ lichste genannt haben kann, und zwar mit Hecht. Hei uns schadet diese Bemerkung nicht; aber das Buch ist Fran¬ zösisch geschrieben, ist Ksquirol dedicirt. Wer steht nun dafür, dafs die Franzosen, die das Lächerliche so sehr anzieht, sicli nächstens über dies in der Berliner Charite ge¬ bräuchliche Specificum lustig machen, indem sie die An¬ gabe für baore Münze nehmen. In der Thal können solche unbewährte Bemerkungen von Heisenden, wie sie seit ei¬ niger Zeit leider häufiger Vorkommen, die Irrenärzte ver¬ anlassen, nicht nur sehr zurückhaltend mit ihren Mittei¬ lungen zu sein, sondern auch jedes Wort auf die Gold¬ wage zu legeu, als wenn sic das der Oeffentlichkeit über¬ gäben, was sic doch eigentlich nur der Discretion und der sachverständigen Auffassung gebildeter Fachgeuossen münd¬ lich anverlrauj.cn.

Die Beschaffung der Kosten der Einrichtung und Er¬ haltung betreffend, wovon im fünften Kapitel die Hede, so ist dieselbe nur vorläufig und selbst ins Ungewisse hin projeetirt, und kaun also, besonders bei fehlender näherer Kcnntnifs von der Art der Administration dieses Thciles des Gemeinwesens in Hufsland, keiner weiteren Beurtei¬ lung unterliegen.

ln wie fern die, Seite 113 gestellte Meinung, dafs iu Hufsland eben so viel Wahnsinnige als in Norwegen, näm¬ lich 1 : 551, wenn diese Zählung richtig, Vorkommen möch¬ ten, begründet sei, ist von der Zukunft, in welcher die Möglichkeit einer ächten, treuen Irren -Statistik verhüllt liegt, zu entscheiden; und werde nur hinzugefiigt, dafs z. B. nach den neuesten Berichten von He hm nun über die im Hospital Aller -Leidenden zu St. Petersburg bebau-

VI. Behandlung der Irren. 479

delten Seelenkrankcn (s. Dorpater Jahrbücher für Litera¬ tur, Statistik und Kunst, besonders Kufslands, lsteu Ban¬ des 2tes lieft 1833, S. 183 188) das Verhältnifs der Ir¬ ren zu den Einwohnern für die Hauptstadt von 1:3000 angenommen wird.

Im sechsten Kapitel giebt der Verfasser eine kurze, gut -praktische Zusammenstellung bekannter Straf- und Zwangsmittel, nebst den Indicationen ihrer Anwendung. Es herrscht in derselben eine verständige, allmälige Stei¬ gerung; und die stete Vergegenwärtigung des Faktums, dafs Irre nicht Züchtlinge sind, verhütet jene einseitige, nicht zu individualisiren verstehende Methode, welche, in¬ dem sie zur Erreichung ihrer Zwecke gleich von vorn herein mechanische Hülfsmittel nöthig hat, die im Menschen selber schlummernden Mittel brach liegen läfst, und die Psychagogik der Mechanik opfert, Furcht, Malice, Trotz, Verstellung, Lüge weckt, und den mechanisch an¬ geordneten mechanischen Strafmitteln am Ende das wesent¬ lichste, das moralische Agens raubt, und somit nur jenen tod- ten, den Menschen zur Maschine herabwürdigenden Gehor¬ sam erreicht, welcher der Begleiter von harter Machthabe¬ rei zu sein pflegt , ohne dafs der Arzt die Kranken oft genug weder wesentlich innerlich zu ändern, noch wahr¬ haftig, so wie sie sind, kennen zu lernen vermöchte. Wie ausgezeichnet Esquirol im psychischen savoir faire ist, und w'as er ohne mechanische Hülfe bei den Franzo¬ sen ausrichtet, kann freilich nur der wissen, welcher ihn selber wirken gesehen hat. Seine Macht liegt darin, dafs er mit entschiedenem zur Kunstfertigkeit ausgebildetem Talent jeden Seelenkrankcn nur seiner Individualität ge- mäfs, also jeden auf besondere Weise leitet, und die am meisten zugänglichen Kräfte des Gemüths mit Hülfe jenes leichten französischen Gemisches von Geist, Herz und Witz zur Erweckung des alienirten Selbstbewufstseins anregt.

Im siebenten Kapitel endlich deutet der Verf. einige « notions prcliminaires über moralische Behandlung au,

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VII. Der englische Schweifs.

welche er nebst der Pathologie in dcu beiden folgenden Theilen au führlich der Oeffentlichkeit zu übergeben denkt. Frcundlrchst möchte ihm zu ratheu sciu, noch ferner Jahre¬ lang « diesem Studium jeden Augenblick, über den er disponiren kann, zu widmen» (III.), bevor er sieb an die Herausgabe der folgenden Bände heranwagte. Denn da er in diesem letzten Kapitel, so wie in der Vorrede, sagt, dafs die Seelcnkrankheitcn materiell in Hirn uud Nerven idiopathisch oder sympathisch belcgenc Uebel, also nur Symptome von Körperkrankheiten seien, so würde er, die Sache nicht von einem anderen Gesichtspunkte aufgefafst, nichts Neues sagen; sondern einen Weg gehen, den die¬ jenigen, welche ihn gemacht haben, wohl kaum zum zwei- tenmalc auf die nämliche Art machen würden, wenn sie ihr subjectives Wissen als ein objectives aufzufassen die Kraft haben, und welchen die Psychiatric in ihrem Fort¬ schreiten iin Grunde genommen eigentlich schon gröfisten- theils hinter sich hat.

II. Damerow.

VII.

L'er englische Schweifs. Ein ärztlicher Beitrag zur Geschichte des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts von Dr. J. F. C. Ilecker. Berlin, Verlag von Theod. Christ. Friedr. Enslin. 1834. 8- XII u. 240 S. (1 Tklr. 12 Gr.)

Es ist hergebracht und wir sind cs gewohnt, in dem Thcile des Wissen», den wir als Geschichte bezeichnen, den Menschen zu betrachten im Conflictc mit Menschen, in welchem Verhältnisse vor Allem sich offenbart, wTas er vermag an Kraft uud Grüfsc und Hoheit. Aber cs scheiut, als hätte man ob solcher Betrachtung versäumt, oder ver¬ nachlässigt wenigstens, die Geschichte unseres Geschlechtes

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VII. Der englische Schweifs.

der Geschichte des Weltalls gegenüberzustellen, eine For¬ schung, deren Ergebnisse freilich minder unserer Eitelkeit schmeicheln, da der Herr der Natur weniger handelnd, als leidend auf der Biihne erscheint. Zu gern möchten wir, was durch Menschen geschehen, als jederzeit durch eigene Willenskraft vollbracht darstcllen und vergessen oder läugnen sogar der Urkräfte und Elemente Gewalt über unser Geschlecht, die immer zwar dem sorgfältig Beobachtenden sich kund giebt , doch selten nur für Alle erkennbar und wahrnehmbar wird.

Die Krankheiten, die früher uns fremd, oder nur Ein¬ zelne ergreifend, plötzlich, wie durch einen Zauber her¬ vorgerufen, mit Macht auftreten, Schrecken über die Völ¬ ker verbreiten und Tausende hinwegraffen, aber mahnen auf fürchterliche Weise die Menschen alle an ihre Abhän¬ gigkeit vom Universum.

In doppelter Weise pflegt dieser Volkskrankheiten Verbreitung statt zu haben: entweder eine Epidemie stürmt zu allen Völkern und durch alle Länder fort und ergreift, weder Herkunft noch Sitte der Menschen achtend, Alle, wo sie auch wohnen mögen, mit ähnlichen Sympto¬ men, die kaum mehr, als nur dem Grade nach von ein¬ ander ab weichen. Oder 2) es treten in den verschiedenen Ländern gleichzeitig verschiedene Krankheiten auf, die in der Wahl der zu befallenden Individuen weniger durch augenblicklichen Aufenthalt derselben, als durch deren an¬ gestammten Charakter, deren Nationalität, geleitet werden. Mehr oder minder deutlich zeigen sich in beiden Fällen gleichzeitig, oder kurz zuvor Umgestaltungen in der um¬ gebenden Natur, die der forschende Beobachter mit den un¬ gewohnten Erkrankungen in bestimmte Verbindung setzen mufs, sei es dals er beide als Wirkungen eines dritten unbekannten Agens betrachtet, oder dafs er dieser Krank¬ heiten Ursache in jenen Naturereignissen sucht.

Verweilen wir bei diesem letzten Umstande! Wir hören bei fast allen Epidemieen von merkwürdigen side-

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VH. Der englische Schweifs.

rischen Erscheinungen , von Umwälzungen im Inneren der Erde, von Vulkanen, die sich gebildet, oder plötzlich er- üfiiiet, von Veränderungen in dem Stande der Meeresfläche, von Unterschieden inClima und Temperatur, von Nebeln wel¬ che geherrscht, von auffallenden Umänderungen in der Vegeta¬ tion der Gewächse, von Einwanderungen oder Durchzögen sonst fremder Thicre: Ereignisse, die oft alle dem Erscheinen einer Volkskrankheit eben vorangingen, und die auf gewaltige Umgestaltungen in der Natur schlicfsen lassen. Letzteren aber hat der Mensch sich zu accommodiren : es mtifs Einklang und Harmonie zwischen ihm und dem, was er seine Aulsen- wclt zu nennen beliebt, hergestcllt werden. Ursprüngliche und fortdauernde Harmonie zwischen seinem Geschlecht, in körperlichem und geistigem Verhalten , und dem Aenfse- ren, würde vollkommene physische und psychische Ge¬ sundheit gesetzt haben: das ewige Anpassen der selbst sich melamorphosirenden Menschen an die Aufsenwelt mit ih¬ ren steten Metamorphosen machte die Gesundheit relativ; Widerstreben gegen die Erfüllung der Forderungen der Aufsenwelt, oder Schaffen einer neuen Aufsenwelt im ei¬ genen Innern denn auch Geist und Körper können sich gegenseitig Fremdes und Aeufßercs werden erzeugten die Krankheit, d. i. einen Zustand, dessen Ziel jedesmal Ausgleichung bestehender Disharmonie ist, mag dieselbe erreicht werden oder nicht.

An passen also soll sich die Menschheit an die Ver¬ änderungen, die wodurch hervorgerufen? wird uns viel¬ leicht ewiges Räthsel bleiben in der ganzen Natur plötzlich sich ereignen. Metamorphosen in dem Wechsel- verhältnisse der organischen Thätigkeiten aller Menschen werden von aufsen her mächtig gefordert. Eine grofsc neue Acclimatisation des Menschengeschlechtes geht vor sich. Ein stetes gleiches Product niufs zwar in jedem In¬ dividuum, wie sonst, sich ergeben; doch geht eine Ver¬ änderung vor in dein Antheile, den jeder seiner einzelnen Producenteu zu entrichten hat: die Antagonisten im Kör-

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VII. .Der englische Schweifs.

per gelangen zu gröfserer Tätigkeit, und ein Theil ist häufig des anderen Function zu übernehmen genöthigt. , So ist also hier, wie bei jeder organischen Entwickelung, wo ein Gleiches statt findet,: - Organe schwinden, es bilden sich neue; Organe treten zurück, andere überneh¬ men ihre Function; das System accommodirt sich dem Or¬ gan etc. besondere Anlage zur Krankheit gegeben. Dafs also bei solcher allgemeinen Acclimatisation Wirklich Krankheiten häufiger als sonst auftreten müssen, liegt klar zu Tage: der geringste Verstols gegen die Forderungen der Natur ruft sie hervor.

Warum aber ergreift einmal ein gleiches Uebel un¬ ter allen Völkern jeden, welcher nur erkrankt; warum herrscht ein andermal, je nach Art, Sitte, Wohnort in einem Lande diese, in dem anderen gleichzeitig jene Krankheit? Sind die Umgestaltungen, welche in der Na¬ tur plötzlich vor sich gegangen, das einemal allen Men¬ schen, ohne Rücksicht auf die durch frühere Verhältnisse bedingten Modifikationen ihres Seins, so gleich fremd, dafs bei statt habender innerer Umänderung in Allen nur eine Weise der Erkrankung fast auf Einwirkung jeglicher Po¬ tenz folgen kann? Oder haben schon frühere langsam, doch allgemein vorgeschrittene Umgestaltungen im Aeufseren eine bestimmte, überall gleichmäfsige Umänderung der Constitution aller Menschen geweckt, die jetzt nur poten- zirt wird und überall eine gleiche Entscheidung nach jeder schädlichen Einwirkung fordert? hier giebt es des Dunkeln und Räthselhaften Vieles!

Näher schon liegt uns eine Erklärung der Erscheinung, dafs nach statt gehabten weit verbreiteten, einflufsreichen Naturerscheinungen in dem einen Lande, unter dem einen Volke di eseKrankheitauflritt, während an d ers wo gleich- zeitig eine andere Art des Erkrankens wahrnehmbar ist. Immer eine Differenz in den üulscren Umgestaltungen je nach den Ländern anzunehmen, würde falsch sein, wenigstens die Erscheinung nicht erklären, dafs ein Fremdling, der

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VII. Der englische Schweifs.

in einem Lande seit längerer Zeit sich aufhält, häufig nicht von dem Ucbcl, das seine Umgebungen befällt, sondern von der Krankheit, die gleichzeitig unter seiner Nation herrscht, ergriffen wird. Hier ist cs, wo alles das, des¬ sen Inbegrilf wTir mit dem Namen: Nationalität, National- charaktcr, zu bezeichnen pflegen, seinen mächtigen Einflufs offenbart. Es ist die ganze äufsere und innere Vergangen¬ heit einer Nation, die allen Gliedern derselben einen ähn¬ lichen, wenn auch nicht gleichen Charakter aufgcdrückt: Abstammung von diesem oder jenem Urstammc , wie ihn seine Umgebung gemodelt denn die Physiognomie des Menschen steht in Harmonie mit der scinos Landes: des¬ sen Boden und Erzeugnissen, dessen Pflanzen und Thie- ren Mischung des Urstammes mit fremden Stämmen, Wanderungen des Volkes, traurige oder glänzende Schick¬ sale desselben, Auffinden festen Wohnsitzes: dessen Clima, Lage, Boden, Produkte, dessen düsterer oder heiterer Cha¬ rakter, den Berge, Wilder, Flüsse, Seen, Meer ihm ver¬ leihen. Es richten sich darnach nicht die mehr geistigen Energieen allein, als da sind: Ernst oder Leichtsinn, Schwermuth oder Heiterkeit, Ausdauer oder Wankelmuth, Fleifs oder Trägheit, Tapferkeit oder Feigheit; es sind nicht Religion, Sprache, Regierungsform und Sitte allein, die durch diese Einflüsse sich gestalten: auch dem Körper verleihen sie Bildung und Ausdruck, dem Treiben und Ver¬ hältnisse seiner Systeme und Organe Richtung und Maafs. Fordert daher dieselbe neue Naturrevolution, dafs die Men¬ schen ihr sich anpassen, fordert sie überall eine Acclima- tisation, eine Umänderung der Verhältnisse, in denen des Körpers einzelne Systeme zu einander stehen: 60 ist es natürlich, dafs die Art dieser Umgestaltung nach der Art des Seins sich richtet, dafs hier z. B., um nur kurz eines anzuführen, das äufsere Hautsystem, welches bis¬ her zurücksland, mehr Thäligkeit entfalte, während dort die inneren Häute mehr angeregt werden ; daher denn auch die verschiedenen Arten des Erkrankens,

wel-

VII. Der englische Schweifs. 485

welches bei der vorhandenen Anlage leichter als je erregt

Wird.

Nach diesen Andeutungen wird cs klar sein, welche Anforderungen an den Darsteller solcher Volkskrankheiten zu machen sind: er hat den Conflict des Menschen mit dtr Natur zu schildern, und uns hei unvollkommener Ausglei¬ chung desselben die Genesis bestimmter Volkskrankheiten als nothvv endig zu demonstriren. Diese Aufgabe hat der Verf. in seinem vorliegenden Werke, das mit dem Zustande und den Krankheiten der Völker zu Ende des loten und zu Anfang des löten Jahrhunderts uns bekannt

macht», zu lösen gesuchte

-

Zu Ende des 15ten Jahrhunderts wurden die Völker Von mörderischen Seuchen vielfach heimgesucht. Schon 1477 brach die Drüsenpest in Italien aus, und wüthete ohne Unterlafs bis 1485} nicht ohne gröfsere Naturerschei¬ nungen, wohin namentlich mächtige Ileuschreckenschwärme in den Jahren 1478 und 1482 gehören, und auffallende Zwischenkrankhc-iten, wie ein über das ganze Land ver¬ breiteter entzündlicher Seitenstich im Jahre 1482. In der Schweiz und im südlichen Deutschland stellten sich in Folge von Theurung und Ilungersnoth 1480 und 81 ver¬ heerende Volkskrankheiten ein, während in Westphalen, Hessen und Friesland Faulfieber mit heftiger Ilirnwuth herrschten. Man erinnerte sich nie in diesem Lande so viele Irrlichter, wie in diesen Jahren gesehen zu haben, und auch hier erlag das Volk dem Kornrnangel, so dafs man genöthigt war, Vorräthe fernher herbeizuschaffen* Frankreich wurde nach zweijährigem Mifswachs der Schau¬ platz einer verderblichen Seuche: eines hitzigen Fiebers, mit heftigem Kopfschmerz und Wuthanfällen» Im Jahre 1485 strömte in ganz Europa reichlicher Regen vom Him¬ mel herab, und Ueberschwemmungen waren häufig. Fünf überaus nasse Jahre waren schon vorausgegangen ; 1485 war das sechste; der letzte heifse und sehr trockene Som- Band 28. Heft 4. 32

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VII. I)or engl ische Schweifs.

iw*r war der von 1179 gewesen. Von 1 ISO werden grofse Uebersch wemmungen der Tiber, de« Po, der Donau, des Rheins und der meisten übrigen grofsen Flüsse berichtet mit ihren gewöhnlichen Folgen: Luflvcrderbnifs, Klend und Krankheiten. Die gröfile Ueberschwemmung, der man sich in England erinnerte, war die der Severn im Orto¬ ber des Jahres 14h3 (das grotse Wasser des Herzogs von Buckingham), die 10 Tage dauerte.

« Die damaligen Engländer waren w’edcr an Reinlich* keit, noch in ihren Bedürfnissen an Mäfsigkeit und behag- liehe Verfeinerung gewöhnt. Der thieriscjic Genufs des Vielcssens wurde von Vornehmen und Geringen hochge- halten, den Weinkrügen wurde über die Gebühr zuge* sprochen, und die Landessiltc billigte bei Gelagen und Gostmählern ein so verderbliches Uebermaafs. In Folge des grauenvollen Krieges der rotheu und weifsen Rose, war die ohnehin düstere Stimmung der Engländer gewach¬ sen, und allgemeine Unterdrückung hatte sich der Gemü-

ther bemeistert. ßo bedurfte cs bei vorhandener äufsc-

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rer Ursache und innerer Anlage nur noch eines kleineu Anstolses, um einen gewaltigen Sturm in dem geheimnifs- vollen Getriebe des menschlichen Körpers anzuregen. Die¬ sen Anstofs gab die Landung des Grafen von ltichinoud in IM i Iford Ilaven. Sein Heer bestand nicht aus Schaaren wackerer Krieger, beseelt von Eifer, das entehrte Vater¬ land zu rächen, oder einer guten Sache zu dienen; es wa¬ ren nur umherschweifende Söldlinge, verderbliche Lands¬ knechte, wie man sie in Deutschland nannte, die sich bei Havre unter seinen Fahnen sammelten, Freischützen, die noch von Ludwig XI. errichtet, in der Normandie ohne Scheu brandschatzten, und die Karl VIII. dem Hülfe su¬ chenden Fremden mit Freuden überliefs, um seine fried¬ lichen Landschaften von einer so argen Plage zu befreien. Vielleicht war dieses Kriegsheer nicht schlimmer, als alle andere dieser Zeit, aber gewifs voll hinreichend verderb¬ ter Säfte, um während einer siebentägigen Seefahrt, iu

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VII. Der englische Schweifs.

unreinen Schiffen eng zusammengeschichtet, die Keime ei¬ ner bösen Krankheit auszubriiten , welche bald darauf an den Ufern der Severn wie im Lager zu Liehfield zum Ausbruch kommen sollte. Liehfield liegt niedrig, und hier gerade verweilte das Ilcer in einem feuchten Lager, bis es nach dem nahen Schlacht fclde hei Bösworth aufbrach. Hier erkämpfte Richmond mit kaum 5000 Mann den Sieg über Richard. Schon vor dieser Schlacht hatte eich eine mörderische Seuche gezeigt, welche die Reihen der Streiter lichtete, und, als folgte sie dem Kriegeszuge, innerhalb weuiger Wochen von Wales bis in die Haupt¬ stadt vordrang. « Es war ein überaus hitziges Fieber, das nach kurzem Froste die Kräfte wie mit einem Schlage vernichtete, und während schmerzhafter Magendruck, Kopf¬ weh und schlafsüchtige Betäubung hinzutraten, den Kör¬ per in übeiriechenden Schweifs auflöste. Dies alles ge¬ schah innerhalb weniger Stunden, und niemals blieb die Entscheidung über Tag und Nacht aus. M Unaufhaltsam verbreitete sich die Krankheit von Osten nach Westen über das ganze Land. In London soll sic erst am 21. Sep¬ tember ausgebrochen sein, doch haben die Geschichtschrei¬ ber mit diesem Tage wohl nur den Anfang ihres heftigen Wüthens bezeichnet, das bis zu Ende des folgenden Mo¬ nats, im Ganzen also fünf Wochen fortdauerte. Während dieser kurzen Zeit erlag eine übergrofse Volkszahl der neuen Seuche. Gerade die kräftigen Männer wurden von derselben am heftigsten ergriffen, während Kinder, Wei¬ ber und Greise fast ganz verschont blieben. Das einma¬ lige Ueberstehen der Schweifssucht gab keine Sicherheit; denn viele Genesene erkrankten mit gleicher Heftigkeit noch das zweite- und drittemal. So verbreitete sich die Seuche bis zu Ende des Jahres über ganz England, und hausele aller Orten mit gleicher Heftigkeit, wie in der Hauptsladt. Grofs war der .Schrecken, als sie in Oxford . ausbrach, Lehrer und Schüler flohen alsbald nach allen Seiten, doch ereilte der Tod viele von ihnen, und sechs

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Vif. Der englische Schweifs.

Wochen laug blich die berühmte Hochschule verödet. In Croyland zeigte sicii die Seuche ein Vierteljahr später. Von allen übrigen Orten sind keine bestimmten Angaben auf uns gekommen, doch ist aus den Zeichen allgemeiner Angst und Notli zu entnehmen, dafs der Mcnschcnvcrlust sehr bedeutend gewesen. Die Krankheit war ein hitzi¬ ges Flufelicber mit grofsen Nervenleiden. »»

« Der strömende .Schweifs mit allen seinen Merkmalen schadhafter Beimischung war das Ergebnifs einer von Sei¬ ten der Lungen angeregten, an und für sich kritischen Be¬ wegung. Schädliche, sogar übelriechende Nebel drangen

in das Innere der Werkzeuge des Athmens, und wie hier¬ durch das Blut in seiner Mischung und in seinem Le¬ ben in Anspruch genommen und eine nur durch starkes Schwitzen auszugleichende Verderbnifs in ihm angeregt wurde: so konnte ein unmittelbarer Eingriff in die weit¬ ausgedehnte Verrichtung des achten Nerven nicht fehlen, welche bei Vielen selbst in das Rückenmark ausstrahltc und heftige Zuckungen hcrbciführtc.

Die Krankheit ist höchstwahrscheinlich zuerst in dem Lager Heinrichs VII. ausgebrochen , und verbreitete sich von Westen nach Osten, und wieder von Osten nach Westen. Bei der ganz gleichmäfsigen Einwirkung der vor¬ bereitenden Ursachen, bei welchen die Krankheit ohne Zweifel in ganz England zu gleicher Zeit hätte ausbrechcu müssen, wenn der Zustand der Luft ihre einzige Veran¬ lassung gewesen wäre, läfst sich mithin eine bestimmte Ursache ihres Vorrückens über Städte und Dörfer vermu- then. Diese entwickelte sich allem Anscheine nach in dem

mit üblem Gerüche überladenen Dunstkreise der Kranken,

# # 7 so wie in den Zelten und \Nohnungen, in denen die Sol¬ daten Hei u rieh s VII. nach Entbehrungen uud harter Ar¬ beit in Sturm und Regen eng zusammengedrängt hauseten. « Gewifs hatten die Zeitgenossen Recht, wenn sie den Ge¬ danken an Ansteckung im Sinne der ihnen wohlbekanutcn Fest uicht aufkommen iiefsen. Denn allzuhäutig kamen

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VII. Der englische Schweifs.

unter den Vornehmen Erkrankungen vor, welche aus Ver¬ pestung durch Kranke nicht zu erklären waren, und of¬ fenbar ohne die gewöhnlichen Veranlassungen entstanden. In diesen Fällen gab die Todesfurcht, die der Krankheit überall hin vorauseilte und die Brustnerven in krampfhaf¬ ten Aufruhr brachte, den Anstofs zu dem durch Luftbe¬ schaffenheit und Wohlleben längst vorbereiteten Uebel. Plötzlich, am 1. Januar 1486, wo ein heftiger Sturm wü- thete, hörte die Krankheit auf. Was hatten die Aerzte zur Bekämpfung der Krankheit gethan? Sie safsen und schwitzten über dem Studium alter Sprachen, und suchten Belehrung über ein neues Uebel in Büchern, die vor mehr als 1000 Jahren das Licht der Welt erblickt hatten. Was indefs die gelehrten Herren nicht ergründen konn¬ ten, trotz ihres Studiums aller vergangenen und ihrer Phan- tasieen über alle künftigen Krankheiten, fand der gesunde Menschenverstand heraus: «keine gewaltsame Arzneieu, wohl aber mäfsige Erwärmung anzuwenden; keine Nah¬ rung, und nur wenig mildes Getränk zu geniefsen, und in ruhiger Lage 24 Stunden geduldig auszuharren, bis zur Entscheidung des gefahrvollen Uebels. » Bald ging die Kunde durch das ganze Land, dies Verfahren sei zuver¬ lässig, und so wurden denn bis gegen Neujahr 1486 noch Viele dem Verderben entrissen.

Ehe der Verf. an die Schilderung der zweiten Schweifs-

t

fieberepidemie geht, die im Jahre 1506 England heim¬ suchte, wirft er einen Blick auf den Zustand der Welt zu Anfänge des löten Jahrhunderts, das unerwartete Ent¬ deckungen, einflufsreiehe Erfindungen und der Geister ge¬ waltiges, doch fruchtbares Ringen, schroff von den frühe¬ ren scheidet. Grofse Krankheiten hatten unterdefs Europa heimgesucht die Luslseuchc hatte die Völker mit Ent¬ setzen erfüllt, die Pest war mehrmals wieder aufgetreten. Unvermuthet erhob, im Sommer 1506, der alte Feind der Engländer, das Schweifsfieber, wieder sein Haupt. «Der Wiederausbruch der Seuche verband sich diesmal mit kei-

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VII. Der englische Schweifs.

ncr erheblichen Brgcbenhcit, und so haben die Zeitgenos¬ sen nicht einmal den Monat angegeben, in welchem sic zu wutheu angefangen. Gegen den Herbst war sic schon wieder verschwunden. « Die Krankheit brach in London ans ob sic westwärts vorgedrungen sei, darüber haben die Zcitgeuossen , bald überzeugt von der Geringfügigkeit der Seuche, keine Berichte aufgezeichnet ; wie weit und wohin sie sieh aber auch verbreitet haben mag, über Eng« lands Granzen ging sic nicht hinaus, und nirgends veran- lafste sie eine bedeutende Sterblichkeit. Unerheblich wie diese Seuche war, so begleiteten sie auch keine auffal¬ lende Erscheinungen in England. Mehr Berücksichtigung verdient die trübe und unbehagliche Stimmung des Volkes Hnter der Regierung des habsüchtigen Heinrichs VH. Während diese Krankheit aut England beschränkt blieb, zeigten sich im übrigeu Europa einige Krankheiten, ver¬ schieden nach dem Charakter der Länder und Völker, die sie beimsuchten. In Italien herrschte eine Fleckfieberepi¬ demie; im Octobcr 1505 brach in Lissabon eine sehr mör¬ derische Krankheit aus. Von welcher Art sic gewesen, ob ein Heckfieber oder eine Drüsenpest, und in welchem Zusammenhänge sie mit einer kurze Zeit vorausgegange¬ nen Seuche iu Spanien gestanden, möchte schwerlich noch ermitteln sein. Mit alJcu diesen Erscheinungen bilden die Seuchen in Deutschland und Frankreich zu Anfang des sechzehnten Jahrhunderts ein anschauliches Ganze voll in¬ nerer Verbindung. \ o,n verschiedener Heftigkeit und Aus¬ dehnung währten sic ohne Nachlafs fünf volle Jahre. Das Jahrhundert hatte sich durch einen grofsen Comcten an¬ gekündigt, bald darauf bemerkte man eiu grofses Viehster¬ ben, ein bedeutender Raupen fr als entlaubte 1502 im nörd¬ lichen Deutschland Gärten und Wälder, kleine crvptoga- mische Gewächse (Rlutflecken) wucherten im Wasser und an allerlei feuchten Gegenständen. «Nach allen diesen Thatsachen wird die Vermutbung wahrscheinlich, dafs die Schweifssucht, welche England im Jahre 1506 hciinsuchtc,

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VII. Der englische Schweifs.

wenn auch in diesem Lande selbst von keinen erhebli¬ chen Vorgängen begleitet, mit der krankhaften Regung des Menschen- und Thierlebens im südlichen und in Mittel¬ europa nicht aufser Verbindung stand, und vielleicht als die letzte shwache Nachwirkung geheimnifsvolier Triebfe¬ dern im Reiche der Organischen angesehen werden kann.

Weniger bedeutend, als bei diesen ersten Epidemieen, scheinen die Veränderungen in der Natur gewesen zu sein, die dem dritten Erkranken, das 1517 erfolgte, voraus¬ gingen. Dagegen scheint die eigentümliche Lebens¬ stimmung der damaligen Engländer, erzeugt durch Völ¬ lerei, Unmäfsigkeit und Unreinlichkeit, sehr in Betracht zu kommen, wobei auch der damaligen Sitte des unmäfsi- gen Warmhaltens und einer dadurch hervorgebrachten Nei¬ gung zu Krankheiten, welche durch die Haut sich ent¬ scheiden, gedacht werden mufs. Die SchweilaKicht brach im Juli zu London aus, und war für diesmal so gewaltig und von so raschem Verlaufe, dafs sie, durch keine Vor¬ boten verkündet, die Kranken schon in zwei oder drei Stunden wegraffte, und von diesen der erste Fieberfrost für die Ankündigung des sicheren Todes gehalten wurde. Volle sechs Monate währte die Krankheit: schon ungefähr sechs Wochen nach ihrem Ausbruche erreichte sie ihre gröfste Höhe, und verbreitete sich von London aus wahr¬ scheinlich über ganz England. In Oxford und Cambridge wüthete sie nicht weniger, als in der Hauptstadt, die mei¬ sten dortigen' Einwohner wurden innerhalb einiger Tage bettlägerig, und die aufblühenden Wissenschaften erlitten empfindliche Verluste durch den Tod vieler würdigen und ausgezeichneten Gelehrten. Schottland, Irland und alle anderen überseeischen Länder blieben noch für diesmal ver¬ schont; nur das nahe Calais wurde von der Seuche er¬ reicht, doch kann man nach späteren Beobachtungen mit Sicherheit annehmen, dafs nur die dortigen Engländer, nicht aber die französischen Einwohner daran erkrankten, wie cs denn auch ausgemacht ist, dafs auch das übrige

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Frankreich sich frei von der Krankheit erhielt. Wer¬ fen wir einen Iilick auf den Gesundheitszustand der übri¬ gen Welt, so finden wir im Jahre 1517 Deutschland von der Hauptkrankheit, einem typhöson Fieber, Holland und die Schweiz von einer Diphtberitis, Amerika aufs schreck¬ lichste von Pocken und Masern heimgesucht. So erschien auch der englische Schweifs von 1517 nicht allein, son¬ dern umgehen von einer ganzen Gruppe von Volkskrank- Leifcn, die durch allgemeine krankmachende Eiullüscc von unerkanntem Wesen hervorgerufen wurden.

Mehr aber als je erschienen im Jahre 1528 gewaltige Naturereignisse als Verkündiger schrecklicher, allgemein verbreiteter Krankheiten, die wiederum in der Menschen Plane und Anstrengungen zerstörend und verderblich ein- griilcn - u Ereignisse, die in überraschender Entwickelung zeigen, dafe das Geschick der Völker von den Gesetzen des physischen Lehens zu Zeiten nooh weit mehr geleitet wird, als von dem Willen der Mächtigen dieser Erde und allen Regungen menschlicher Thatkraft, die den entfessel¬ ten Naturkräften ohnmächtig widerstreben.1* «Die Zeit- bucher aller europäischen Völker sind voll von denkwür¬ digen Angaben über die Störungen der Natur in den Jah¬ ren 1527 und 28. Den ganzen Winter hindurch über¬ schwemmten Regengüsse das Land, die Flüsse traten aus ihien Ulcrn, und so wurde die Wintersaat durch Fäulnifs vernichtet. Dann blieb es trocken bis zum April; kaum aber halte man die Sommersaat dem Boden anvertraut, so regnete es wieder volle 8 Wochen Tag und Nacht, so dal’s auch nun die letzte Hoffnung auf eine Ernte vernich¬ tet wurde, und die dorchnäfste Erde in dicken Nebeln den wohlbekannten Dämon der Schweifssucht ausbrütete. 11 In Oberitalien traten schon im Jahre 1527 so bedeutende Uebersch wemmungen aller Flufsgcbiete ein, dafs die Astro¬ logen eine neue Süudfluth verkündeten- Sie wiederholten sich in gleicher Ausdehnung und Verderblichkeit im fol¬ genden Jäkie, so dafs nicht ohne Grund auf ciuc Ucbcr-

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VII. Der englische Schweifs.

häufung der höchsten Gebirge Europa’s mit Schnee geschlos¬ sen werden kann. 1529 den 3. Juli folgte ein gewaltiges Erdbeben in Oberitalicn, und bald darauf ein sogenannter Blutregen in Cremona. 1530 im October trat die Tiber so hoch über ihre Ufer, dafs in Rom und der Umgegend an 12000 Menschen ertranken. Einen Monat später durch¬ brach die See in den Niederlanden die Deiche, und Hol¬ land, Seeland und Brabant litten sehr bedeutend durch das Ueberfluthen des Wassers, das zwei Jahre darauf sich wie¬ derholte. Die Kälte des Frühjahres und die Nässe des Sommers von 1528 verdarben in Frankreich die Saaten, und so brach über das ganze Land eine Hungersnoth her¬ ein, durch ihre Dauer wohl noch empfindlicher, als die Zeiten des Mangels unter Ludwig NI. Denn der Mifs^ wachs wiederholte sich 5 Jahre hindurch, während weh eher keine Ordnung der Jahreszeiten mehr zu bestehen schien. Eine feuchte Sommerwärme herrschte im Herbst und Winter; nur dann und wann kam ein eintägiger Frost zu Stande; die Sommer dagegen waren trübe, feucht und unfreundlich. In der Mark Brandenburg zeigten sich 1528, bei anhaltendem Südostwinde und grofser Trocken¬ heit, Heuschreckenschwärme. Feuermeteore und Cometen erschienen in ungewöhnlicher Zahl. Der Winter von 1529 war äufserst milde: das ganze Frühjahr, den ganzen Sorm mer über blieb jedocli die Nässe vorherrschend. Anhal¬ tende Regengüsse überschwemmten die Felder, die Flüsse traten aus ihren Ufern, das Gedeihen der Früchte wurde durchweg vereitelt, und allenthalben brach Elend und Hun¬ ger herein. Tm Ganzen brach die Sonne nur wenig durch die dichten, grauen Wolken: der Spätsommer und der ganze Herbst, mit Ausnahme einer Reihe heifser Tage vom 24. August an, blieben trübe und nafskalt; man glaubte britische Nebelluft zu athmen. Der Genufs der Fische schadete1 dein Volke. In der Umgegend von Frerburg im Breisgau fand man hier und da todte Vögel unter den Bäu¬ men mit erbsengrofson Eiterbeulen unter den Flügeln, den

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VH. .Der englische Schweifs.

Spuren einer unter ihnen verbreiteten Krankheit, welche wahrscheinlich noch in viel gröfserer Ausdehnung, als in den südlichen Kheinlandcn vorkam. Von llungcrsnoth wur¬ den besonders Schwaben, Lothringen, Elsafs und die übri¬ gen südlichen Uhcinlande heimgesucht, so dafs hier das Elend dieselbe furchtbare Höhe erreichte, wie in Frank¬ reich. Im nördlichen Deutschland war der Zustand i in Ganzen erträglicher. Doch wurde, abgesehen von den zahllosen Uebcln, welche die Theurung an sich schon her¬ vorruft, sogar der Selbstmord häutiger. Auffallend war eine Art von ohnmachtähnlicher Ermattung, die sich im Juni und Juli, gerade bis zu der Zeit, wo die Schweifs¬ sucht ausbrach, besonders in Pommern, zu grofscr Ver¬ wunderung des Volkes sich zeigte. Mitten in der Arbeit, und ohne alle begreifliche Ursachen, wurden die Leute an Händen und Füfsen lahm, so dafs sie sich nicht helfen konnten, wenn sie auch gleich hätten sterben sollen. Er¬ scheinungen dieser Art, welche hier offenbar von atmo¬ sphärischem Einflüsse abhingen, sind nur die äufsersten Stei¬ gerungen einer allgemein krankhaften Abstumpfung des Le« beosgefühls. M

Bringen wir gleichzeitig den psychischeo Zustand der Völker in Anschlag, erzeugt durch die Kriege des erobe¬ rungssüchtigen Franz I. von Frankreich, mit dem Un¬ glück, das sie über Tausende brachten, durch die Grofs- tliat Luthcr’s mit der gewaltigen Aufregung die sie io Deutschland, England und dem Norden hervorrief so kann cs uns nicht Wunder nehmen, wenn gewaltige Krank¬ heiten durch den Kampf der Natur, der Geister und der Leiber geweckt wurde. In Italien herrschte 1528 ein bös¬ artiges Flcckfleber; dieses vernichtete, vielleicht im Ver¬ eine mit anderen Seuchen, das französische Heer vor Nea¬ pel; in Frankreich wüthete in demselben Jahre dicTroussc- galant: ein sehr hitziges Fieber, das die Befallenen in ganz kurzer Zeit, selbst innerhalb weniger Stunden tödtetc, oder kamen sic mit dem Leben davon, sic der Haare und

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VII. Der englische Schweifs. 495

Nägel beraubte, und bei fortdauerndem Widerwillen gegen alle Fleiscbnahrung, langdauernde Schwäche und Folge¬ krankheiten zurückliefs, welche die Genesung der ohne¬ hin schon zerrütteten Kranken gefährdeten. In England brach in den letzten Tagen des Mai 1528 das Schweifs-

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lieber aus, mitten in dem volkreichsten Theile der Haupt- 6tadt, verbreitete sich rasch über das ganze Königreich, und wurde 14 Monate später für alle Völker des nördli¬ chen Europa ein Schreckbild des Entsetzens, wie kaum je eine andere Volkskrankheit. Es zeigte sich sogleich in derselben Tödtlichkeit, wie elf Jahre früher, kündigte sich durch keine Vorboten an, und zwischen Wohlsein und Tod lag nur eine kurze Frist von 5 oder 6 Stunden. Ohne Zweifel hat die Kankheit bis in den lauen Winter in geringerer Stärke unter dem Volke fortgedauert. Dafs 6ie noch während des Sommers 1529 in England vorhan¬ den gewesen sei, darüber sind keine, auch nicht ein¬ mal ungenaue Angaben vorhanden. Als Volkskrankheit be¬ stand sie gewifs nicht mehr, doch ist bei Erwägung der

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Luftbeschaffenheit in diesem Jahre nicht in Abrede zu stel¬ len, dafs noch vereinzelte Erkrankungen am Schweifsfieber vorgekommen sein mögen, denn Seuchen, wie diese, blei¬ ben bei der Fortdauer ihrer ursprünglichen Ursachen nicht ohne Nachzügler. Westwärts nach Irland drang das Schweifsfieber nicht vor, und eben so wenig überschritt es die schottische Gränze. Während also in England die Seuche erloschen war, brach sie am 25. Juli 1529 zuerst in Hamburg aus. Sie soll sich aber nicht eher in der Stadt gezeigt haben, als bis ein Schiffer gerade um die angegebene Zeit aus England zurückkehrte, und mit ihm am Bord viele junge Leute, von denen in zwei Ta¬ gen wohl 12 an dieser Krankheit starben. Diese Verstor¬ benen waren nach einer anderen Nachricht nicht in Eng¬ land, sondern unterweges auf dem hohen Meere erkrankt, und die Seuche brach aus, nachdem die noch übrige Mann¬ schaft gelandet war. Nachdem so das Schweifsfieber unter

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VII. Der englische Schweifs.

der Gesellschaft des Schiffers selbstständig und ohne eng¬ lische Mittheilung ausgebrochen war, mag dieser Leute Verkehr mit Menschen in den unreinen und engen Gassen Hamburgs einen Anstofs zum Ausbruch der Schweifsfichcr- seuche gegeben haben, in sofern sie den vorhandenen Zun¬ der noch entzündbarer machten, oder den ersten Funken hincinwarfen. Fast um dieselbe Zeit, wie in Hamburg, zeigte sich das Schweifsficber in Lübeck, dann plötzlich in Zwickau später im September in Stettin, Danzig

und anderen preufsischen Städten, in Augsburg, in Köln,

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in Strafsburg, in Frankfurt am Main, in Marburg, Göttin¬ gen und Hannover. Nicht reisende Kaufleute haben die Krankheit verschleppt; sie war flüchtiger, als die damali¬ gen Fracht- und Heisewagen auf ungebahnten, grundlosen Landstrafsen, denn es konnte so bald kein Gerücht vou der Krankheit wo hin kommen, so kam sie selber mit. Zwi¬ schen der angedeuteten Grünzc blieben wahrscheinlich nur einzelne Städte und Dörfer von der Schweifsfleberseuchc verschont, und es möchten vielleicht nur wenige Jahrbü¬ cher dieses an grofsen Ereignissen so fruchtbaren Zeitalters aufzufinden sein, in denen der gewaltigen Geifsel des Jah¬ res 1529 nicht auf irgend eine ausdrucksvolle Weise Er¬ wähnung geschähe. In jedem einzelnen Orte aber währte das Schweifsficber nur 5, 6 bis höchstens 10 Tage. Erst vier Wochen später als Deutschland, wurden die Nie¬ derlande von der Seuche heimgesucht. In Amsterdam er¬ schien sie erst am 29. September, während die Stadt in einen dichten Nebel eingehüllt war, und ganz gleichzei¬ tig, vielleicht -noch einen Tag früher, in Antwerpen. In deu letzten Tagen des Monats September und den ersten des October war das Schweifsfieber über das ganze Gebiet der Niederlande, mit Einschlufs von Belgien, verbreitet. Auf die letzten Tage des September fällt auch der Aus¬ bruch der Kraukhcit in Dänemark und in der scandinavi- s chen Halbinsel. Dafs die Schweifssucht auch Litthaucn, Polen, Liefland, vielleicht auch cidcn Thcil von Kufsland

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VII. Der englische Schweifs.

durchzogen habe, wissen wir nur im Allgemeinen. Nir¬ gends aber findet sich eine sichere Spur, dafs sie noch im Dccember 1529 oder im Januar des folgenden Jahres ir¬ gendwo vorgekommen sei. Sie verschwand überall nach vierteljähriger Dauer im Ganzen, ohne irgend ein Merkmal ihres Daseins in der Entwickelung anderer Krankheiten zurückzulassen.

Noch einmal sollte aber das Schweifsfieber England heimsuchen. In Shrewsbury, der Hauptstadt von Shrop- shire, erhoben sich während des Frühjahres dicke, undurch¬ dringliche Nebel von den Ufern der Severn. Nicht lange darauf brach am 15. April das Schweifsfieber wieder aus. Das Erkranken war in Shrewsbury und den benachbarten Orten so beispiellos allgemein, dafs jedermann glauben mufste, die Luft wäre vergiftet: jede einzelne Wohnung wrurde ein Krankenhaus, und nur die Kinder und Alten, die zur Pflege der ihrigen nichts beitragen konnten, blie¬ ben verschont. Ueberall herrschte Trostlosigkeit und Ver¬ zweiflung. Innerhalb weniger Tage starben in Shrcvtfsbury 960 Einwohner, gröfstentheils kräftige Männer und Haus¬ väter. Die Schw’eifsfieberseuche verbreitete sich alsbald über ganz England bis an die schottische Gränze und seine eigenen Meeresgränzen. Von den Ufern der Severn schien eine wahre Vergiftung über ganz England auszugehen. Die Krankheit dauerte im Ganzen fast ein halbes Jahr, näm¬ lich vom 15. April bis zum letzten September: sie ging nur allmälich von Ort zu Ort, und wir bemerken hier nicht die Blitzesschnelle in ihrer Verbreitung, die im Herbst 1529 in Deutschland so grofse Verwunderung erregt hatte. Um den kurzen Weg von Shrewsbury nach London zu¬ rückzulegen, bedurfte das Schweifsfieber ein ganzes Vier¬ teljahr. Denn es brach hier erst am 9. Juli aus, und er¬ reichte schon in einigen Tagen seine grüfste Höhe. Doch war die Sterblichkeit bei weitem geringer, als in Shrcwrs- bury, denn es starben in der ganzen ersten Woche nur 600 Einwohner. Der Menschenverlust im ganzen Reiche

498 VII. Der englische Schweifs,

war sehr bedeutend, so daß ein Geschichtschreiber sogar von Entvölkerung spricht; auch blieb kein Stand verschont, sondern mit gleicher Wuth forderte die Schweifssucht ihre Opfer in den unreinen Hütten der Armen, wie in den Pa¬ lästen der Grafen und Herren.

Man machte in diesem Jahre die höchst auffallende Bemerkung, dafs die Schweifssücht die Ausländer in Eng¬ land durchaus verschonte, den Engländern dagegen ins Aus¬ land folgte, so dafs diese in den Niederlanden und Frank¬ reich, ja selbst in Spanien von der Seuche in nicht unbe¬ trächtlicher Anzahl weggerafft wurden, ohne diese irgend¬ wo den Eingeborenen mitzutbeilen. Nicht einmal in dem nahen Calais erkrankten die französischen Einwohner, und da nun weder die Schotten, noch die Irländer von dem Schweifsfieber heimgesucht wurden, so können wir die Annahme irgend einer Eigenthiimlichkeit in dem ganzen Sein der Engländer, welche sic ausschließlich für diese Krankheit empfänglich machte, nicht von der Hand wei¬ sen. ' Man mufs etwas in der englischen Luft annehmen, das den Engländern die rheumatische Spannung mit t heilte, oder Thrcn mit unverarbeiteten Säften überladenen Körper so durchdrang, dafs ihre Lebensstimmung bis zur sogenann¬ ten Opportunität der Schweifssucht verändert wurde. Bei einem solchen Zustande bedarf cs allerdings nicht der ge¬ wohnten und mehr eigentümlichen Anlässe, um den letz¬ ten Schritt zu der lange verbreiteten Krankheit zu bewir¬ ken, sondern es reichen die ganz allgemeinen Ursachen des Erkrankens hin, um den letzten Anstofs zu geben, wenn dies auch unter einem ganz anderen Himmel sein sollte, wie jetzt bei den Engländern unter dem spanischen.

Der Winter von 1550 und 51 war in England trocken und warm, das Frühjahr trocken und kalt, Sommer und Herbst waren heifs und feucht. Das ganze Jahr zeigte manches Außerordentliche, ohne jedoch in das Pflanzen- und Thierleben so mächtig uud in einem so großen Kreise ciuzugrcifcu , wie die Zeit der vierten Schvveißficberseuehc.

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VII. Der englische Schweifs.

Es wird hier und da sogar als ein Fruchtbares gerühmt. Dennoch fehlt es nicht an Erzählungen vonStürmen, Ueber- schwemtnungen, Regengüssen, Lufterscheinungen und selbst Erdbeben Thatsachen, welche hinreichen, um eine Ueber- ladung des Luftmeeres mit Wasser, und eine gewifs nicht unbedeutende Störung der elektrischen Verhältnisse ganz deutlich zu erkennen. In allen Ländern hatte sich die Jahre zuvor eine typhöse Constitution ausgebildet, die sich bei den geringsten Anlässen durch bösartige Krankheiten zu erkennen gab: Ruhr, Pest, Fleckfieber, Trousse- galant u. s. w. Im Jahre 1551 endlich herrschte in Schwaben eine pestartige Krankheit, die den Herzog Christoph von Würtemberg bestimmte, sich von Stuttgard zurück¬ zuziehen. Sie war nicht eben verbreitet, und blieb, wie es scheint, in den andern deutsche« Landen unbekannt. Auch in Spanien zeigte sich die Pest, und bringt man die Influenz desselben Jahres, so wie die grofsen Erkrankun¬ gen an bösartigen Fiebern in Deutschland und der Schweiz in Anschlag, die noch von den folgenden beiden Jahren berichtet werden, so ergiebt sich wiederum ganz deutlich, dafs die fünfte Schweifsfieberseuche umgeben von einer Gruppe verschiedenartiger Volkskrankheiten erschien, wel¬ che als Wirkungen allgemeiner Einflüsse betrachtet wer¬ den können.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Bild der äufserst hitzig, meist in 24 Stunden verlaufenden Krank¬ heit, deren Verbreitung und Zusammenhang mit anderen Naturerscheinungen wir eben kennen gelernt haben, nach der ausführlichen Darstellung des Verf. bei Schilderung des vierten Erkrankens. Bei den Meisten trat die Krankheit ohne Vorboten , mit kurzem Schüttelfröste und Zittern ein.

Nacken, Schultern, Schenkel oder Arme wurden von zie-

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hendeu Schmerzen befallen. In ganz bösartigen Fällen stell¬ ten sich selbst Zuckungen der Glieder ein. Einige fühl¬ ten auch ein warmes, über die Glieder sich verbreitendes Auwehen, wonach sogleich ohne alle sichtbare Ursache

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VII* Der englische Schweifs.

der Schweife hervorbrach, bei anhaltender, sieb steigern* der Hitze der inneren Theile, die sieb nach aufeen ver- breitete. Viele Kranke empfanden sogleich zu Anfang ein unangenehmes Kricbcln oder Ameisenlaufen in den Händen und Füfeen, das sieb sogar zu stechenden Schmerzen und einem äufserst schmerzhaften Gefühl unter den Nägeln stei¬ gerte, zuweilen auch mit rheumatischen Krämpfen und mit einer solchen Ermattung des Oberkörpers verbunden war, dafs die Befallenen durchaus nicht im Stande waren, die Arme zu beben. Einigen sah man während dieser Zufälle die Ilände und Füfse, den Weibern auch wohl die Weh dien anschwellen. Die Kranken litten bei sehr beschleu¬ nigtem und gereiztem Puls an grofeem Durst, und warfen sich äufserst unruhig umher; unter dumpfem Kopfwell, das Alle empfanden, verfielen Viele in schwatzhafte Irrcredcn oder rasende Fieberwuth, wonach denn die furchtbare Schlafsucht hcreinbrach, die so häufig den Tod durch Schlagflufs lierbciführte. - Von tödtlicher Angst wur¬ den die Kranken gepeinigt, so lange sie ihrer Sinne mäch¬ tig blieben; sic athmeten mit grofser Beschwerde, die Stimme war kläglich und seufzend, das Ilerz zitterte und klopfte fortwährend unter dem drückenden Gefühle inuc- reo Brennens; Zuckungen, Ekel undErbrecben traten nicht eben selten ein. Der Schweifs selbst, der bald zu An¬ fänge der Krankheit leicht und reichlich, bald, besonders bei Phlegmatischen, sehr schwer hervorbrach, war dick und von verschiedener Farbe, bei allen aber von sehr übclem Geruch, der bei etwaniger Unterdrückung, nach erfolgtem Wiederausbrucli, noch viel durchdringender wurde. Mildere Formen der Krankheit wurden ohne alle Gefahr binnen 15 Stunden bei mäfsfger Hitze durch ciuen ganz sanften Schweifs entschieden. E^ zeigte sich sogar eine Form der Krankheit, der gerade der wesentlichste Zufall, der schmelzende Schweifs abging. Auffallend ist cs, dafs während dieser stürmischen Krankheit wieder die Thätigkcit der Nieren, noch die Sluhlauslccrung ganz un¬ ter*

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Vif. Der englische Schweifs.

\ *

terbrochen wurden. Zuweilen bemerkte man selbst in den

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leichteren Fällen, dafs die Kranken gleichzeitig mit dem Ausbruche des Schweifses Harn in grofser Menge liefsen. Wichtig ist die Bemerkung eines achtbaren holländischen Arztes, Tyengius, dafs nach überstandenem Scliweifse an den Gliedmaafsen kleine, nicht zusammenfliefsende und die Haut sehr uneben machende Bläschen erschienen wären, die nach Staphorst in Hamburg noch bei Leichen gese¬ hen sein sollen. Wahrscheinlich waren es Frieselbläs- chen. Die Erschöpfung der Lebenskräfte durch den englischen Schweifs war grofs, woher denn auch schnelle Genesung wohl nur nach der mildesten Form beobachtet wurde; diejenigen aber, denen er heftiger zugesetzt hatte, mindestens noch acht Tage lang sehr hinfällig und kraftlos blieben. Unterdrückung des Schweifses hatte meistens den Tod unausbleiblich zur Folge. Rückfälle waren häufig, wurden nicht selten zwei- oder viermal beobachtet, ja sollen sogar zwölfmal vorgekommen sein, worauf oft Was¬ sersucht folgte. Zu frühe Einwirkung der Luft auf die Genesenden erregte leicht Durchfälle.

Für die rheumatische Natur der gewaltigen Krankheit spricht theils die Art der Einflüsse, die sie ins Leben rie¬ fen, theils sind die Beweise für diese Ansicht aus dem Ver¬ laufe derselben selbst zu entnehmen. Unter letzten werden vorzugsweise vom Verf. hervorgehoben: die grofse Empfind¬ lichkeit der Kranken gegen jeden Wechsel der Temperatur; die Neigung des rheumatischen Zustandes, sich durch sehr ergiebige, saure und übelriechende Scliweifse zu entschei¬ den, die hier aufs höchste gesteigert hervortrat; die eigen¬ tümlich umgeänderte Grundmischung des organischen Stoffes in den rheumatischen Krankheiten, in Folge welcher flüchtige Säure im Schweifse, wie im Harne, und thierische Aussonderungen von besonderem Gerüche vorwalten; die ziehenden Schmerzen in den Gliedern; die Neigung der Flüsse, bei ungünstigem Verlaufe in eigentümliche Wassersucht überzugehen lauter Er* Band 28. Heft 4. 33

:V)2 \ II. L>cr englische Schweifs.

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schcinungcn, die das englische Schweifsfieber in reichem Maafse darbot.

Wir würden, wollten wir alle bedeutenden Bereiche¬ rungen unseres Wissens hervorheben, die die^c Schrift uns dargeboten, die Grunze einer Anzeige weit überschrei¬ ten, es sind: wichtige Thatsachen für die Geschichte der Krankheiten, deren dem englischen Schweifse gleichzeiti¬ ges Auftreten oben angegeben, Darstellung der Influenzen als erste Offenbarungen oder Nachklänge weitverbreiteter Volkskrankbeitcn, Schilderung der Acrzle und ihres Trei¬ bens in jenen Zeiten, dann die interessanten Zugaben der Schrift, die dem englischen Schweifs verwandten Krank¬ heiten: die Herzkrankheit der Alten, den Picardsehen Schweifs und das Röttinger Schweifsfieber betreffend.

Nur auf Eines, das auf die Ansteckung Bezug hat, er¬ lauben wir uns noch kurz aufmerksam zu machen. Der Verfasser unterscheidet bleibende, Jahrhunderte hindurch unveränderliche und zeitliche, vergängliche ansteckende Krankheiten. « Die Austcckungsstoffc jener können füglich die vollkommenen oder unwandelbaren, im Gegensätze der unvollkommenen oder wandelbaren von diesen genanut wer¬ den. Jene sind, einmal gebildet, entweder in einzelnen Kranken, oder in todten Körpern (fomites) immer vor¬ handen, und werden durch ihnen günstige Ursachen all¬ gemeiner Erkrankung (epidemische Constitution) nur in ihrer Wirksamkeit gesteigert, wobei zu bemerken, dafs sic uuter allen Verhältnissen immer dieselben unveränder¬ lichen Kraukheiten erregen, und einzelne Abzweigungen oder Entartungen und Milderungen abgerechnet, ihr eigent¬ liches Wesen nie verlieren. Beispiele sind die Pocken, die Pest, die Masern, und wenn hier auch von lieberiosen Krankheiten die Rede sein kann, der Aussatz, die Krätze und die Lustseuche. * Ref. mag cs nicht bergen, wie er hier des Hrn. Yerf. Ansichten nicht theilt, sondern geneigt ist, auch für die unveränderlichen ansteckenden (fieberhaf¬ ten) Kraukhcitcu ciuo Gcucratio acquivoca in Anspruch zu

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VIII. Medicinische Bibliographie.

nehmen. Zunächst ist durch unsere Ueberzeugung von ihrer ansteckenden Natur die Möglichkeit ihrer Entstehung durch Urzeugung gewifs nicht ausgeschlossen. Und dann wie wollen wir uns das Verhältnis der epidemischen Con¬ stitution zur Ansteckung denken? Wie uns z. B. den von Alex. v. II um hol dt mitgetheilten interessanten Umstand, dais die Pocken im südlichen Amerika in bestimmten Zeit¬ abschnitten fast regelmälsig wiederzukehren pflegen, erklä¬ ren? Warum soll hei einer allgemein verbreiteten Krank¬ heitsanlage, bei einem allgemein gewordenen Bedürfnils, könnte man’s vielleicht nennen, zur Ueberstehung einer Krankheit, diese mit ihrem Ausbruche zögern, bis der Zu¬ fall eine Menge Menschen mit einem oder einigen Indivi¬ duen in Berührung bringt, in denen dieselbe durch Saa- men aufgesprofst ist, der von dem ersten Krankheitsexem¬ plar, welches existirte, abstammt? Der Verf. verzeihe un¬ ser Bedenken.

Die äufsere Ausstattung des Werkes läfst auch die gröfsten Ansprüche nicht unbefriedigt.

Stannius.

VIII.

Medicinische Bibliographie.

Braun, J., die Medicin unserer Tage in ihrer Vervoll¬ kommnung durch das homöopathische Heilsystem, gr, 8. Leipzig, Baumgärtner, br. 1 Thlr. 12 Gr.

Caspari, homöopathisches Dispensatorium für Aerzte und Apotheker. Ilerausgeg. von F. Hartmann. gr.8. Leipzig, Baumgärtner, br, 12 Gr.

Dupuytren, klinisch -chirurgische Vorträge. Für Deutsch¬ land bearb. von E. Beeil und Rud. Leouhardi. Ir Band. Mit 4Kupf. gr.8. Leipzig, Baumgärtner, br. 2 Thlr. 12 Gr.

504 VIII. Mcdiclnische Bibliographie.

Zeitschrift für die gesammte Thierheilkunde und Vieh¬ zucht. Ilcrausgcg. von E. L. W. Nebel und K. \V. Vix. Ir Bd. 4 Hefte, gr.8. Giefsen, Kicker. hr. u. 2 Th Ir.

Abbildung und Beschreibung aller in der Pharmacop. horuss. aufgeföhrten Gewächse, von Guimpel. Text von F. L. v. Schlechtcndal. llr Bd. 17s lieft, gr.4. Berlin, Oehmigkc. br. n. 12 Gr.

Repertorium, allgemeines, der gesammten deutscheu tuedic. chirurg. Journalistik. Ilerausg. von C. F. Klei¬ nert. YHIr Jahrg. 1834. 12 Hefte, gr.8. Leipzig, Koll- mann. hr. 7 Thlr.

Sachs, L. W., und Fr. Ph. Dulk, Handwörterbuch der praktischen Arzneimittellehre. 2r Thcil. 2te Ahthcilung. gr.8. Königsberg, Bornträger. 3 Thlr. 20 Gr.

Schiirmaycr, J. II., Anweisung znr sichern Heilung der KnochenbrQchc des Ober- und Unterschenkels, durch eine einfache und wohlfeile Maschine. Mit einer Stein¬ drucktafel. gr.8. Freiburg, Gebr. Groos. br. 6 Gr.

Wrelcn, die homöopathischen Arzneien in Ilauptsympto-

mengruppen. gr.8. Leipzig, Köhler, br. 1 Thlr. 12 Gr.

Chemnitz, Wangeroge und das Seebad. Neue Auflage. gr.8. Bremen, Kaiser, br. n. 12 Gr.

Clarion, J. I). M., pathologisch -therapeutisches Manual, oder vollständiger Inbegriff der praktischen Medicin nach physiologischen Grundsätzen. Nach dem Franz, mit den nölhigen Abänder, und Zus. vers. von C. J. A. Venus. gr.8. Ilmenau, Voigt. 2 Thlr.

Encyklopädie der gesammten medicinischen und chi¬ rurgischen Praxis; von G. F. Most. 6s Heft. Malacosis bis Polypus. gr.8. Leipzig, Brockhaus. br. n. 20 Gr.

Repertorium, allgemeines, der medic. chir. Journalistik des Auslandes. Ilerausg. von Fr. J. Behrcnd. 5r Jahrg. 1834. 12 Hefte, gr.8. Berlin, Hirschwald. br. n. 6 Thlr.

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