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KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
JAHRGANG 1885.
ZWEITER HALBBAND. JUNI BIS DECEMBER.
STÜCK XXVI—LII MIT ZWÖLF TAFELN, DEM VERZEICHNISS DER EINGEGANGENEN DRUCK-
SCHRIFTEN, NAMEN- UND SACHREGISTER.
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BERLIN, 1885.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
IN COMMISSION IN FERD. DÜMMLER'’S VERLAGS - BUCHHANDLUNG
HARRWITZ UND GOSSMANN
23. Sepf. 5” 1
INHALT.
Seite
BER DestRenikles"Kahıt in den. Pontus, - =. u une ee. ae
Horrory: Über zwei Strophen der Voluspa. . . e u Be eoni
Coxze: Jahresbericht über die Thätigkeit des Kanseriieh desischen Srcheeniopischen Instituts 55
Rors: Über die von Hrn. Dr. Paur Güssrenor in Chile gesammelteunGesteimene
Boresrister: Berichugung zu Coelodon (hierzu Taf. V). -. - - 2 2 u 2 2 2 nn em en e 567
SCHERER: Altdeutsche Segen . . . . Fe a N RE a il
RANmELSBERG: Über die Gruppe des Skapoliths Ai er ch No Are ee ee ee‘)
RE OS TREE Be ei 63
Eos zen, ANGURWORELE Fon Kon Res SHE Eu Be RER FE SE Pe ne RT RE 1:1
Bot Bois- Rewmonn: Antwort an Hrn. Scuunze . » . 2 2. 0 mon a en ann en 620
RRRIRERDEEATTTTIDLSTEH EIER ut te euer el ee De ha age ne Pa ren te en 023
Currıus: Antwort an Hrn. HırscareLn . . i ; 2626
Zetrer: Bericht über die zur a der hen Doeisfrage von 1882 eingegangenen
Arbeiten. . . 628
WeIerstrass: Über die eg Darsiellharkbit nr willkürlicher Wünelioken einer sahllen
; Veränderlichen . . . Fa a en N ee Mer 03
Kronecker: Über das Be Bis ea RE: EL RA eo
Evriss: Epigraphische Miscellen (hierzu Taf. VI bis x. N ERR ST N er 0
E. pu Boıs-Reymonnp: Lebende Zitterrochen in Berlin. Zweite Mittheilung . I ar ol
Hınstepr: Eine Bestimmung des Ohms . . . ET ee sed A a 133
Kroxecker: Zur Theorie der elliptischen Barenone N ee et Moe OL
Kronecker: Über den Caucnv’schen Satz . . . e & ke
Wererstrass: Über die analytische Darstellbarkeit arte willkürlicher Kundinnen einer reellen
Veränderlichen. Zweite Mittheilung . . . A rel)
Noeruins: Vorläufiger Bericht über die Benendersche Beschaffenheit ee Ost- erde 807,
' Weser, H.F.: Das Wärmeleitungsvermögen der tropfbaren Flüssigkeiten . . » » 2 2.2.2.....809
Wien: Über den Einfluss der ponderabeln Theile auf das Bebeurtenlsichte ve PER ea
- Hormann: Über die Sulfoeyanursäure . . BE EA RER 2 WE
Hormans: Über das Amin des Book mekhyihengels ROLE ae
Krosecker: Über eine bei Anwendung der partiellen rn nützlie % ea a
Berenpr: Das Tertiär im Bereiche der Mark Brandenburg (hierzu Taf. XD). . . » 2.2.2... 863
Dirmans: Über Pithom, Hero, Klysma nach Navıure. . . . . en a er et)
_ FoERSTER: Mittheilungen über Handschriften des Libanios. . . a OO
_ SCHWENDENER: Über Scheitelwachsthum und Blattstellungen (cn Taf. xıv) N ODT
Toster: Ein Lied Bernarts von Ventadour . . . Yy4l
| Hormann: Über die Einwirkung des Ammoniaks and Be Hlhssd auf den Euoeyuaiesankeneihniaiher
und das Cyanurchlorid. Normale alkylirte Melamine . . . Be 4 ‘958
Horsans: Über die den Alkyleyanamiden entstammenden alkylirten Tsetoelartns en über die Consk-
tution des Melamins und der Cyanursäure . . . .. 981
G. Kırcnnorr: Zur Theorie der Gleichgewichtsvertheilung Aa Elektricität auf zwei häieenden Kugeln. 1007
v. Lexpenrern: Beitrag zur Kenntniss des Nerven- und Muskelsystems der Hornschwämme . . . 1015
Inhalt.
Seite
Wiese: Über den Einfluss der Sad des Glases auf die Nachwirkungs- Erscheinungen bei
Thermometern . e . 1021
Lorrıme: Archaische Inse ‚hriften in Hosoken . 1031
Kroxecker: Die absolut kleinsten Reste reeller N u . 1045
v. Juerıng: Über die Fortpflanzung der Gürtelthiere . 1051
Kuxpr: Über die elektromagnetische Drehung der Polkäskonschin des Tichtes im "Eis . 1055 ||
Wererstrass: Zu Hrn. Liypemann’s Abhandlung: »Über die Luporpn’sche Zahl« 1067
Scuseiver: Der unterirdische Gammarus von Clausthal (@. pulex, var. subterraneus) (hierzu Taf. m. 1087 -
Weser, Leoxn.: Mittheilung über einen Differential- Erd - Induetor 1105 |
Westersaier: Zur physiologischen Bedeutung des Gerbstoffes in den Pflänzen ee Tat. xvD. 1115 31
Vircnow: Über krankhaft veränderte Knochen alter Peruaner 1129 | j|
Pernıce: Zum römischen Sacralrechte. 1. 1143
Brusser: Über die Landschenkungen der Merowinger Ari den Agılolloper 1173 |
Berichtigungen . 2 . 1202 |
Verzeichniss der eingegangenen DEE hriften : -(1) 7
Namen - Register = N
Sach - Register
—— an ng un
1885.
AXVI.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
4. Juni. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
l. Hr. Duncker las: Des Perikles Fahrt in den Pontus.
2. Hr. Scherer legte eine Erklärung zweier Strophen der
Voluspa vor, von dem Privatdocenten an der hiesigen Universität
Hrn. Dr. J. Horrorr.
Beide Mittheilungen folgen umstehend.
3. In Übereinstimmung mit der vorberathenden Commission der
Borr-Stiftung hat die Akademie den statutenmässig am 16. Mai zu
vergebenden Jahresertrag des Stiftungscapitals mit 1350 Mark dem
Privatdocenten der Wiener Universität, Hrn. Dr. E. Hurrzscn aus
Dresden, zuerkannt, um denselben zu einer weiteren Ausdehnung der
litterarischen Studien und Sammlungen in Stand zu setzen, mit welchen
er zur Zeit in Indien beschäftigt ist.
4. Die Akademie hat zu einer Publication der Resultate ihrer ver-
mittelst einer Bewilligung aus dem Dispositionsfonds Sr. Majestät des
Kaisers und Königs im Jahre 1883 ausgeführten Expedition nach dem
Nimruddagh, welcher zugleich die nicht bereits anderweitig veröffent-
lichten Ergebnisse der Aneyra-Expedition von 1882 angeschlossen werden
sollen, 4500 Mark, und zur Drucklegung eines von dem Missionar Hrn.
H. Brıinker bearbeiteten Wörterbuches der Herero-Sprache einen Zu-
schuss von 2000 Mark bewilligt. Ferner hat die physikalisch - mathe-
matische Classe aus den ihr überwiesenen Fonds bewilligt: 2000 Mark
an Hrn. Prof. Doury in Neapel zur Fortsetzung der Jahresberichte der
Sitzungsberichte 1885. 45
532 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
Zoologischen Station, und 600 Mark an Hrn. Dr. OÖ. ZacnArıs in
Hirschberg i. Schl. zu einer faunistischen Untersuchung der Seefelder
in der Grafschaft Glatz.
5. Die Aufnahme einer von Hrn. Prof. G. Hırscnrern in Königs-
berg eingereichten Abhandlung über paphlagonische Felsengräber,
welche Resultate einer im Jahre 1882 mit Unterstützung der Akademie
ausgeführten Reise enthält, in den Band der Abhandlungen für 1885
wurde genehmigt.
6. Das eorrespondirende Mitglied der physikalisch-mathematischen
Classe, Hr. Heste, ist zu Göttingen am ı3. v. M. verstorben.
933
Des Perikles Fahrt in den Pontus.
Von Max Duncker.
1% der Biographie des Perikles giebt Plutarch Cap. ı8 bis 22
einen Überblick über dessen Kriegsthaten. Nach Erwähnung der
Expedition des Perikles in den thrakischen Chersones, seines Zuges
und seiner Thaten im korinthischen Meerbusen fährt Plutarch fort:
»In den Pontus schiffte er mit einer grossen und prächtig ausgestat-
teten Flotte und vollbrachte den hellenischen Städten, worum sie
gebeten hatten und erwies sich ihnen wohlthätig. Den umwohnenden
Barbarenvölkern aber und deren Dynasten bewies er die Grösse und
Furehtlosigkeit und Kühnheit der Macht der Athener, zu schiffen,
wohin sie wollten, und das gesammte Meer sich unterthan zu machen;
den Sinopern aber liess er den Lamachos mit dreizehn Schiffen und
Kriegsleuten zurück gegen den Tyrannen Timesilaos. Und als dieser
und seine Partei vertrieben waren, brachte er den Beschluss zur An-
nahme, dass sechshundert Athener aus freiem Willen nach Sinope
schiffen und mit den Sinopern zusammensiedeln sollten, und Häuser
und Landbesitz, die die Tyrannen zuvor inne gehabt, unter sich zu
vertheilen hätten. Im Übrigen aber wich er dem Drängen der Bürger
nicht, noch liess er sich mit ihnen durch solche Stärke und solches
Glück zu dem Verlangen verleiten, wiederum Aegyptens sich anzu-
nehmen und die Herrschaft des Königs an den Meeresküsten zu er-
schüttern. Denn viele hatte schon jenes unselige und verderbliche
Begehren nach Sieilien ergriffen, das späterhin die Redner im Gefolge
des Alkibiades zur Flamme entzündeten; einige träumten sogar, dass
in Folge der gegenwärtigen Vormacht und des günstigen Ganges
der Dinge Tyrrhenien und Karchedon nicht ausser dem Bereiche der
Hoffnung lägen. Aber Perikles hielt solchen Ausgriff in Zaum und
beschnitt die Unternehmungslust und wendete das Schwergewicht der
Macht auf die Bewahrung und Befestigung des vorhandenen Besitzes,
denn er hielt es für eine grosse Sache, den Lakedaemoniern Wider-
stand zu leisten, und arbeitete diesen stets entgegen. Das bewies er
vielfach und zumeist durch sein Verhalten bei dem heiligen Kriege.
45°
534 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
Denn nachdem die Lakedaemonier nach Delphi gezogen waren, das
die Phokier inne hatten, und es den Delphern zurückgegeben hatten,
zog er selbst, sobald jene sich entfernt, aus und setzte die Phokier
wieder ein.e — »Und dass Perikles mit Recht die Macht der Athener
zusammengehalten, bezeugte ilım, was geschah. Denn zuerst fielen
die Euboeer ab, gegen die er mit Streitmacht hinüberging, und gleich
darauf wurde gemeldet, dass die Megarer Feinde geworden, und dass
ein feindliches Heer unter Führung des Pleistoanax, des Königs der
Lakedaemonier, an Attika’s Grenzen stehe.«
Ausser dieser Erzählung Plutarch’s geschieht eines Zuges des
Perikles in den Pontus weder im Summarium des Thukydides, noch
bei Diodor, noch sonst irgendwo in der uns erhaltenen Überlieferung
‘rwähnung. Aus dem Schweigen des Summarium kann nicht mehr
geschlossen werden, als dass Thukydides diesem Zuge kein besonderes
Gewicht beilegte, die gleiche Erwägung kann Diodor’s Grund gewesen
sein, denselben in seinem Auszuge aus dem Ephoros wegzulassen,
vorausgesetzt, dass er bei diesem erwähnt war. War Theopomp, wie
sich vermuthen liesse (Strabon p. 247), Plutarch’s Gewährsmann für
die Erzählung der Fahrt in den Pontus, so würde die Athen accentuirt
günstige Färbung derselben gewiss nicht auf diesen zurückgeführt
werden dürfen. Dass Plutarch jeden Falls auch hier des Krateros
Sammlung, die er bei den attischen Biographieen überhaupt zu Rath
zieht, benutzt hat, beweist die Erwähnung des Sinope betreffenden
Psephisma.
Ich untersuche zunächst: ob die Zeit dieser Fahrt in den Pontus,
die Plutarch nicht angiebt, bestimmt werden kann. Aus der Reihefolge
der Feldzüge in den angezogenen Capiteln Plutarch’s kann keine Fol-
gerung gezogen werden, da er mit des Perikles angeblicher Warnung
vor der Schlacht bei Koroneia anhebt (demnach mit dem Jahre 447),
darauf von des Perikles Thaten im thrakischen Chersones erzählt,
die im Jahre 452 liegen, dann seine Thaten im korinthischen Busen
erwähnt, welche 455 vollbracht wurden (Diodor ıı, 85), und nun
auf die Fahrt in den Pontus übergeht. Das nächstliegende scheint,
diese Fahrt des Perikles Thätigkeit auf dem Chersones anzureihen,
ihn von hier in den Pontus segeln zu lassen. Aber Plutarch sondert
beide Züge sehr bestimmt, und lässt ihn die Fahrt in den Pontus
an der Spitze »einer grossen prächtig gerüsteten Flotte« ausführen.
Zudem lagen die Dinge im Jahre 452 für Athen nicht so, dass an
weitausgreifende Unternehmungen, an Fahrten in den Pontus gedacht
werden konnte. Unter dem Druck der schweren Niederlage von Pro-
sopitis, die über zweihundert Trieren und deren Bemannungen gekostet,
hatte der Bundesschatz von Delos nach Athen geflüchtet werden müssen,
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 535
um Euboea und Naxos in Gehorsam zu halten, mussten die Gegner
Athens ausgetrieben und hier wie dort Kleruchen eingesetzt werden;
die Treue Milet’s, Erythrae’s und Kolophon’s wankte,' und die Expedi-
tion des Perikles nach dem Hellespont konnte damals keinen anderen
Zweck haben, als so entscheidende Punkte wie die Meerengen für
Athen zu sichern.
Ist jene Combination demnach unzulässig, so steht zur Frage,
ob sich der Erzählung Plutarch’s Andeutungen über die Zeit des Zuges
in den Pontus entnelımen lassen. Wenn es in dieser heist: in den
Pontus zog Perikles, aber dem Drängen der Bürger, sich Aegyptens
wieder anzunehmen und die Herrschaft des Königs an den Meeres-
küsten zu erschüttern, widerstand er, woran sich dann schliesst, dass
er das Ausgreifen nach Sieilien in Zaum gehalten und die Unter-
nehmungslust der Athener beschränkt, so steht hiernach das Unter-
nehmen im Pontus in bestimmtem Gegensatz zur Aufnahme des Krieges
in Aegypten und zu Absichten auf Sieilien. Dass Perikles sich Unter-
nehmungen nach Westen, nach Sieilien hin schlechthin widersetzt,
diese absolut hingestellte Behauptung Plutarch’s ist den Thatsachen
gegenüber hinfällig. Der Staatsmann, unter dessen Leitung Thurii
gegründet wurde (443), gegen Tarent ein Bündniss zu Gunsten des
von den Tarentern bedrängten Thurii mit dem Fürsten der Messapier
geschlossen wurde (Thukyd. 7, 33), eine attische Flotte unter dem
Befehl des Diotimos vor Neapolis ankerte,’ den Ambrakioten d.h.
mittelbar den Korinthern das amphilochische Argos entrissen und
Bündniss mit den Akarnanen geschlossen ward (Thukyd. 2, 9. 68), der
den Widerstand der Volksversammlung überwand, um die Defensiv-
alllanz mit Kerkyra durchzutreiben, der bald darauf nicht nur mit
Rhegion Bündniss schloss, d. h. Athen gegen Lokri verpflichtete, son-
dern auch mit Leontini, d. h. Athen zur Hülfe gegen Syrakus ver-
pflichtete® — von dem kann doch auch nicht mit einem Schein der
Begründung behauptet werden, dass er die Unternehmungslust der
Athener nach Westen hin beschnitten habe. Aus dem angeblichen
Gegensatze des Perikles gegen das Drängen der Athener nach Westen
hin lässt sich somit keinerlei Anhalt für die Expedition in das
Schwarze Meer gewinnen.
Vielleicht eher aus dem vorangestellten Gegensatz des Perikles
»gegen das Drängen, sich Aegyptens wieder anzunehmen und des
Königs Herrschaft an den Meeresküsten zu erschüttern«. Wann konnte
in Athen ein Drängen stattfinden, sich Aegyptens wieder anzunehmen
ı C.I.A. 1, 9. 10. 11. 13. 231. 4, 22°. Respubl. Athen. 3, 10. 11.
? Timaei fragm. 99 M. Strabon p. 146.
BEOSTTAR 13,74. IV 23%
536 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
(rar dvrıraußavesde)? Kimon hatte, die Vergeltung für Prosopitis
herbeizuführen, sofort, nachdem er den Frieden mit Lakedaemon zu
Stande gebracht, Persien an zwei sehr empfindlichen Punkten ange-
griffen, am Nil und in Kypros; die attische Flotte vor Kypros hatte
Prosopitis glänzend bei Salamis gerächt. Niehts natürlicher und nichts
gewisser, als dass Kimon’s Partei, die nach seinem Tode sein Ver-
wandter Thukydides, des Melesias Sohn, mit Gewicht und Nachdruck
zu führen verstand, sich der Rückrufung der Flotte aus Aegypten
widersetzte, auf Fortsetzung des so glücklich wieder begonnenen Krieges
gegen Persien drang, während Perikles »den Hass gegen die Meder
fallen liess«, wie die Mytilenaeer bei Thukydides (3, 10) sagen. d.h.
den Krieg gegen Persien überhaupt nicht gemeint war fortzuführen,
vielmehr nach einem Abkommen mit Persien trachtete. Damit hätten
wir denn einen Moment des Drängens, wenn nicht auf ein Wieder-
eintreten für Aegypten, so doch auf Fortsetzung des Krieges gegen
Persien am Nil gefunden, der chronologisch zu fixiren ist. Es konnte
nur in dem Herbste, der der Schlacht von Salamis folgte, d.h. in
dem des Jahres 449, und im Frühjahr 448 stattfinden. Wir wissen
zudem, dass dieses Drängen nicht zum Ziele gelangte, dass Perikles
vielmehr erreichte, die Unterhandlung mit Persien an Stelle der Fort-
setzung des Krieges gegen den König zu setzen, welche jedoch, wie
ich in einer früheren Untersuchung ausgeführt habe, nicht zum
Ziele führte.
Zu diesem chronologischen Ansatz des Drängens stimmt voll-
kommen der Fortgang der Erzählung bei Plutarch: wie Recht Perikles
gehabt, die Kraft Athens in Hellas zusammenzuhalten, das bewiesen
die folgenden Ereignisse: der Zug der Spartaner nach Phokis, der
Abfall Euboea’s und Megara’s, die Invasion der Peloponnesier, d. h. die
Ereignisse der Jahre 448, 446 und 445. Nicht ganz jedoch stimmt
dazu der von Plutarch gewählte Ausdruck, das Drängen sei darauf
gegangen Alyyrrov re marıv dvrıraußaveodeu, den er zudem seiner Quelle
entlehnt haben wird, da er bis dahin Aegyptens auch nicht andeutend
gedacht hat. "Avrıraudaveodei allein hätte vollkommen genügt, wenn
das Drängen der Athener einfach auf Fortsetzung des im Zuge befind-
lichen Krieges gegangen wäre. Die Wendung rarw dvnmamßarso>eu
deutet doch auf eine stattgehabte Unterbrechung der Hülfe für Aegypten;
auf einen Zwischenraum, der zwischen vordem gewährter und nun
wieder zu gewährender Hülfe lag; d. h. auf ein Drängen (der Athener
auf Erneuerung der Hülfe für Aegypten, die früherhin gewährt, (danach
aber nicht gewährt worden war.
Ist ein in dieser Weise zu qualifieirender Moment solchen An-
dringens zu ermitteln? Wenn Plutarch uns sagt, der Zug der Spartaner
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 537
nach Phokis, der Aufstand Euhoea’s und was dem folgte haben be-
wiesen, wie wohl Perikles daran gethan, die Kräfte Athens in Hellas
zusammenzuhalten, so ist die Thatsache des Zurückhaltens richtig,
der Zweck jedoch, den Plutarch diesem Zusammenhalten unterlegt, wurde
in keiner Weise erreicht. Athen hat bis dahin niemals so schwere
Schläge empfangen, eine so einschneidende Herabdrückung seiner
Macht und seines Ansehens in Hellas erfahren, als gerade in diesen
Jahren. Auf den kecken Angriff der Spartaner während der Geltung
des fünfjährigen Friedens auf den Verbündeten Athens, auf die Phokier,
folgt eine etwas schüchterne Erwiederung. Nach der Niederlage von
Koroneia opfert Athen ohne Weiteres seine Anhänger in den boeo-
tischen Städten, sanktionirt es vertragsmässig die Wiederaufrichtung
der Macht Thebens, die die medische Politik seiner Regierung vernichtet
hatte, d. h. Athen giebt seine Zustimmung, dass ein waffenstarker
Gegner an seine Grenze, neben ihn tritt und legt damit selbst den
Grund zu seinem Verderben; im dreissigjährigen Frieden verzichtet
es auf Megara, d. h. auf die Vormauer, die ihm während des ersten
peloponnesischen Krieges die Invasionen der Peloponnesier abgewehrt,
und dazu auf Troezen und Achaia. Nach solehen Verlusten Athens,
nach dem Abschluss so schmählicher Verträge, die Athens Machtstellung
auf dem Festland beseitigten, lag den Gegnern des Perikles sicherlich
nahe, darauf zu dringen, dass nun wenigstens, nachdem Alles, was Atlıen
im ersten Kriege gegen Theben, Korinth, Sparta, die Peloponnesier
trotz des gleichzeitigen Kampfes gegen Persien errungen, was Kimon's
Friede Athen erhalten, geopfert sei, nachdem der Friede mit Lake-
daemon und Theben durch solche Opfern erkauft sei, die Kräfte Athens
dem Kriege gegen Persien zurückgegeben würden, die nationale Auf-
gabe weitergeführt, damit dem Könige die gebührende Antwort auf
die schnöde Abweisung der billigen Vorschläge, die Athen ihm ge-
macht, ertheilt, die Gunst des Umstandes, dass es dem Amyrtaeos
auch nach Entziehung der Hülfe Athens gelungen sei sich zu behaupten,
verwerthet, und den Persern die aegyptische Wunde offen gehalten
werde. Dies war doch wohl der Moment, in dem es zur Frage und
dringend zur Frage stand, sich Aegyptens wiederum anzunehmen,
da zudem der Aufstand in Aegypten gerade in diesem Augenblick, in
Folge eines in Persien erfolgten Umschwunges, sich mit eigener Kraft zu
behaupten ersichtlich ausser Stande war. Die angedeuteten Umstände
treffen in dem Herbste, der dem Abschluss des dreissigjährigen Friedens
folgte, in dem Herbst des Jahres 445 und dem Frühjahr 444 zu-
sammen.
Dass das Drängen: Athen muss sich Aegyptens wiederum an-
nehmen, in der That zu dieser Zeit stattgefunden, erhellt aus einer
538 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
aus des Philochoros Atthis erhaltenen Notiz: unter dem Archontat des
Lysimachides, d. h. im Jahre 445/44, sei dem attischen Volke ein
Geschenk von 30000 Scheffeln Weizen aus Aegypten gekommen«;
auch Plutarch gedenkt am Schlusse der Biographie des Perikles des
Korngeschenkes, das der König Aegyptens gesendet.‘ Ich habe in
einer früheren Untersuchung nachgewiesen,” dass der Geschenkgeber
kein anderer war als Amyrtaeos (in den Inschriften Amen -ar-t-rut?),
und das Geschenk keinen anderen Zweck haben konnte, als die Unter-
stützung seines Hülfsgesuches. Es war eine gewiss nicht schlecht be-
rechnete Unterstützung dieses Gesuchs, die Stimmen aller der attischen
Bürger, denen an einem oder zwei Scheffel Weizen gelegen sein konnte
— nach Philochoros waren deren gegen 15000 d.h. die Hälfte der
Bürgerschaft vorhanden —, dafür zu gewinnen, dass Athen ihm wiederum
Hülfe gewähre. Hatte ihn, nachdem die sechszig Trieren, die ihm
Kimon geschickt, zurückgerufen worden waren, der Bruch des Königs
mit seinem Schwager Megabyzos (Bagabuksha), der innere Krieg in
Persien, der nach des Ktesias Angabe fünf Jahre nach der Gefangen-
nahme des Inaros, d. h. fünf Jahre nach dem Herbste des Jahres 454,
somit im Herbste 449, nach der Schlacht beim kyprischen Salamis, zum
Ausbruch kam, bis jetzt gedeckt, nach der nunmehr eingetretenen Ver-
söhung des Artaxerxes und Megabyzos war er verloren, wenn er nicht
Hülfe fand, und er konnte diese nirgend anders als in Athen finden.
Demnach wird, meine ich, ausser Zweifel stehen, dass das Drängen,
sich Aegyptens wiederum anzunehmen, von seiten der kimonischen
Partei im Herbste 445 mit neuer Stärke wieder aufgenommen und von
der durch des Amyrtaeos Geschenk gewonnenen Menge sehr lebhaft
unterstützt worden ist.
Einfache Ablehnung war offenbar unmöglich. So nachtheilige Ver-
träge, wie die eben mit Theben und den Peloponnesiern geschlossenen,
konnten des Perikles Stellung nicht ohne Erschütterung gelassen haben,
und wenn die Verurtheilung des Kallias, wie ich früherhin auszuführen
versucht,’ wegen Unterhandlung des dreissigjährigen Friedens erfolgt
ist, so wäre damit die ohnehin anzunehmende Stärke der Opposition
thatsächlich belegt. Perikles selbst musste fühlen, dass nach solchen
Schlägen wiederum Kraft und Action zu zeigen, unerlässlich sei. Sein
rasches, weitgehendes Nachgeben nach kurzen Zusammenstössen, die
Athen unmöglich gebrochen haben konnten, sowohl gegen Theben als
gegen Sparta, ist nur durch seine Überzeugung zu erklären, von der
' Philoch. fragm. 90. Plut. Periel. 37.
* Sitzungsberichte 1883 S. 935 ff.
° WIEDEMANN, Gesch. Aegypt. S. 272.
* Sitzungsberichte 1884 S. 811.
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 539
auch sonst ausreichende Beweise vorliegen, dass Atlıen seine ganze Kraft
auf die Seeherrschaft zu concentriren, und sich demgemäss in Hellas
auf Attika und Euboea zu beschränken habe. Die Seeherrschaft wollte
er, aber er wollte sie in möglichst geringem Gegensatze gegen Persien,
unter möglichster Aufrechthaltung des Status quo gegen Persien, jeden-
falls unter Verzicht auf Offensive gegen Persien. Eben hierin lagen
für ihn die Anstösse der Hülfsgewährung für Amyrtaeos, der Wieder-
aufnahme des Krieges am Nil: man kam dann wieder in offenen Krieg
mit dem Könige, man ging dort unabsehbaren Verwickelungen ent-
gegen und man konnte schliesslich dort wieder bei einem Prosopitis
ankommen.
War es unmöglich, dem Drängen nach dem Nil direet zu wider-
stehen, so musste versucht werden, ihm die Spitze abzubrechen, indem
ein anderes Unternehmen an die Stelle des aegyptischen gesetzt wurde,
ein Unternehmen an sich der Seeherrschaft Athens nützlich, das zu-
gleich für eine Diversion zu Gunsten des Amyrtaeos ausgegeben werden
konnte. Perikles wusste die Bedeutung der Meerengen zu würdigen,
wie seine Expedition nach dem Chersones im Jahre 452 und die An-
stalten, die er bei dieser zur Behauptung desselben, die Einrichtung
der Kleruchieen auf Lemnos zu Hephaestia und Myrina, die, wie Kırcnnorr
nachgewiesen, im Jahre 448 erfolgte,' und Athens Stellung in der
Nähe des Hellespont verstärkten, beweisen. Die Hellenenstädte an
den Ufern des Pontus in seinen Bund zu ziehen, hatte Athen noch
niemals versucht, wenigstens nicht ernsthafter versucht; nur von einer
angeblichen Fahrt des Aristeides in den Pontus liegt eine recht un-
bestimmte Notiz vor.” Die Städte an der Westküste wie an der Nord-
küste des Pontus standen nicht unter persischer Hoheit, und wenn
man selbst die der Südküste mit Athen zu verbinden unternahm, —
die Herrschaft Persiens an dieser Küste stand nicht sehr fest und traf
Persien nicht tiefer. Jedenfalls war man sicher, einer Perserflotte auf
dem schwarzen Meere nicht zu begegnen, und immer war es bei
solehen Versuchen möglich, auf den Schiffen oder wenigstens in deren
Nähe zu bleiben und weiterer Verstrickung aus dem Wege zu gehen.
Gesuche aus dem Pontus sind dem Perikles zu Hülfe gekommen,
um eine Expedition in dieser Richtung an die Stelle einer neuen Landung
in Aegypten zu setzen. Plutarch sagte uns oben: Perikles habe »den
hellenischen Städten im Pontus erfüllt, worum sie gebeten«. Welcher
Art waren diese Bitten, welche vermochte Athen zu erfüllen? Eine
derselben wenigstens ergiebt Plutarch’s Erzählung selbst. Sinoper, vor
! Abhandl. d. B. Akademie 1873 S. 30.
% Plut. Aristid. c. 26.
540 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
dem Tyrannen der Stadt, d. h. wohl vor dem Haupte der medischen Partei,
vor dem von den Persern eingesetzten Stadtvogt Sinope’s flüchtig, haben
in Athen um Zurückführung, um Austreibung des Tyrannen gebeten.
Für Athens Handel waren nähere Beziehungen zu Sinope, Begünsti-
gungen desselben gewiss nicht unerwünscht. Aber Perikles hat, wie
Plutarch sagt, mehr als einer der hellenischen Städte die gestellten
Bitten erfüllt, ihnen Dienste geleistet und den umwohnenden bar-
barischen Völkern und deren Königen und Dynasten die Grösse der
Macht Athens und dass diese bis zu ihnen reiche, gezeigt. Mit
den Königen und Dynasten der umwohnenden barbarischen Völker
kann Plutarch hier den Perserkönig um so weniger meinen, als er
diese Fahrt in den Pontus nicht nur in Gegensatz zu dem Drängen
der Bürger nach Aegypten, sondern auch in Gegensatz zu deren
Drängen, »die Herrschaft des Königs an den Meeresküsten zu er-
schüttern«, stellt, wobei er freilich vergessen hat, dass die Nordküste
Kleinasiens zu den Satrapieen Phrygien und Kappadokien gehörte, dass
die Kriegsthat in Sinope, die er selbst erzählt, Erschütterung der Herr-
schaft des Königs an der Meeresküste bezweckte und vorerst erreichte.
Welche hellenischen Städte ausser Sinope können es gewesen sein,
denen Bitten erfüllt wurden, welche Könige und Dynasten der Bar-
baren waren es, denen Athens Macht vor Augen geführt wurde?
Die Zurückwerfung des persischen Angriffs auf Hellas, der persi-
schen Herrschaft bis über die Meerengen, war nicht nur den Hellenen,
die diese Thaten vollbracht, sie war auch denen, die diesseit der
Meerengen Unterthanen Persiens gewesen waren, den Makedonen
und den Thrakern zu Gute gekommen. Makedonien hatte wie von
der persischen Herrschaft durch die Verschwägerung seines Fürsten
mit dem Hause des Megabyzos, durch die Gunst des Hofes, so von deren
Zurückwerfung die erheblichsten Vortheile gezogen. Unter den dureh
die Zurückwerfung der Perser befreiten thrakischen Stämme erhoben
sich die Odrysen, die im Thale des Artiskos sassen, gute Streiter
und Reiter. Ihr Stammhaupt Teres unterwarf die benachbarten
Thraker, drang nordwärts bis zum Haemos und über den Haemos
bis an die Donau vor.' Jenseit der Donau gebot den Skythen König
Ariapeithes; mit diesem trat Teres in Freundschaft und gab ihm seine
Tochter zur Ehe (um 465). Danach dehnte Teres seine Herrschaft ost-
wärts bis zur Küste des Pontus aus; nicht ohne schweren Kampf und
Wechselfälle wurde er hier seiner Landsleute, der Thyner, Herr.” Die
! Thukyd. 2, 29. 96. Herod. 4, 78.
® Thukyd. 2, 97. Xenoph. Anabas 7, 2. 21. Die Ausdehnung des Odrysen-
reiches bis zur Donau, die damit zusammenhängende Verbindung des Teres und
Ariapeithes muss um 465 liegen, da der Sohn des Ariapeithes und der Tochter des
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 541
wachsende Macht der beiden befreundeten Fürsten konnte nicht ohne
Wirkung aufdie Hellenenstädte der tırakischen und der skythischen Küste,
auf Apollonia, Odessos, Istros, Tyras, Nikonion, Olbia, Panticapaeon,
Phanagoria geblieben sein. Des Teres Herrschaft reichte nach Unter-
werfung der Thyner bis an die Thore von Byzanz." Diesen wie jenen
Städten im Pontus musste erwünscht erscheinen, sich gegen den Odrysen-
könig, gegen den Skythenkönig auf eine andere Macht stützen zu
können, die ihnen von der See her Schutz zu gewähren in der Lage war.
Es gab keine andere ausser Athen. Hierauf gerichtete Bitten mögen
von einer oder der anderen hellenischen Stadt der thrakischen und
der skythischen Küste nach Athen gelangt sein. Auf das Ansuchen
der Sinoper, auf Gesuche hellenischer Städte der West- oder Nordküste
des Pontus gestützt, mochte es dem Perikles um so leichter gelingen,
die Fahrt in den Pontus an die Stelle des Krieges am Nil zu setzen,
als Gesuche von Hellenen doch dem Gesuche des Amyrtaeos vorgehen
mussten, als nicht in Abrede zu stellen war, dass das Erscheinen einer
starken attischen Flotte an der Nordküste Kleinasiens, die Streitkräfte
Persiens von Aegypten ablenken und hierher ziehen könnte.
Die nachtheiligen Verträge, die Athen eben geschlossen, und
deren Nachwirkung auf die Stimmung in Athen, die Veränderung
der Lage des Aufstandes in Aegypten, das Eintreffen des Geschenkes
des Amyrtaeos im Jahre des Lysimachides, jedenfalls nach der Ernte
am Nil, d.h. im Spätsommer oder Herbst 445, stellen ausser Zweifel,
dass das Drängen »sich Aegyptens wiederum anzunehmen«, im
Herbst und Winter 445/44 stattgefunden hat, und dürfen wir dem-
gemäss mit voller Sicherheit des Perikles Fahrt in den Pontus mit
jener grossen und prächtig ausgerüsteten Flotte in das Frühjahr und
den Sommer des Jahres 444 v. Chr. setzen. Diesem Ansatze wider-
spricht die Notiz in Plutarch’s Erzählung von dieser Fahrt nicht, dass
Perikles den Lamachos mit dreizehn Schiffen vor Sinope zurückgelassen
habe, auch wenn es sich um Lamachos, des Xenophanes Sohn,” handelt,
woran ich deswegen nicht zweifele, weil gerade dem Lamachos, des
Xenophanes Sohn, im Jahre 424 eine Expedition in den Pontus auf-
getragen wird,’ und vorauszusetzen ist, dass Lamachos Mitstrateg des
Perikles auf dessen Zuge war, da dreizehn Trieren und ein selbständiges
Teres schon um 438 König der Skythen wird. Bei Herodots Anwesenheit im Skythen-
lande, die wir doch vor, wenn auch nicht lange vor seine Übersiedelung nach Thurii
setzen müssen, war Ariapeithes noch am Leben, denn Herodot konnte sich bei einem
Beamten des Ariapeithes — Herodot giebt ihm den Titel &rirgoros — nach dem Stamm-
baum des Anacharsis erkundigen.
! Thukyd. a. a. O.
2 Thukyd. 6, 8.
® Thukyd. 4, 75. Diodor ı2, 72.
542 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
Commando doch wohl nur einem auf der Flotte befehligenden Strategen
anvertraut werden konnten. Um 444 Strateg sein zu können, musste
Lamachos 475 geboren sein. Diesem Ansatz steht Plutarch’s Bemerkung
im Leben des Alkibiades nicht entgegen (ce. ı8): bei der Strategenwahl
im Jahre 416/15 sei Lamachos dem Nikias und Alkibiades als ȟber-
ragend im Alter« zugesellt worden. Wenn 475 geboren, war Lamachos
416 neun und fünfzig Jahre alt, Alkibiades, 420 zuerst Strateg, min-
destens drei und dreissig Jahr. Auch den Worten gegenüber, die
Aristophanes in den Acharnern, die 425 aufgeführt wurden, dem
Dikaeopolis dem Lamachos gegenüber in den Mund legt: op@v rorıoüs ev
avdpas Ev Tals Tageow, veavias Ö’olos CU dimdedpaxoras — MoSohopolvras Tpels
dpayuas hält dieser Ansatz für Lamachos Stand. Der Accent der
Apostrophe liegt auf dem Strategensold -— Lamachos war notorisch
sehr unbemittelt, — als Jünglinge konnten attische Strategen über-
haupt nur uneigentlich bezeichnet werden, das bekannte ungestüme
Wesen des Lamachos konnte als Jugendlichkeit charakterisirt werden;
das eios oü geht aber offenbar auf diadedswxores: »Jünglinge, Ausreisser
wie du«, ziehen den Strategensold.'
Ist die Zeit der Expedition des Perikles in den Pontus demnach
auf das Jahr 444 zu bestimmen, so bleibt die weitere Frage zu
erledigen, welche Früchte sie Athen eingetragen hat. Die bedeutendsten
Städte am Nordufer Kleinasiens waren Herakleia und Sinope. Die Fahrt
in den Pontus traf zunächst Herakleia. Ob Perikles versucht hat, hier
Verbindungen anzuknüpfen, steht dahin. Aus Trogus hat uns Justin
folgende Notiz erhalten: »Als die Athener zur Herrschaft kamen und
nach Besiegung der Perser Tribut zum Schutz in Hellas und Asien
ausschrieben und alle eifrig zu dieser Schutzwehr ihres Heiles bei-
trugen, weigerte Herakleia allein aus Anhänglichkeit an den König
der Perser zur attischen Flotte zu steuern.« Diese Weigerung kann
dem Perikles gegenüber erfolgt sein, sie könnte aber auclı schon früher
erfolgt sein, wenn es mit der Fahrt des Aristeides in den Pontus
Richtigkeit hätte. Unternommen hätte Aristeides dieselbe nach der
betreffenden Angabe bei Plutarch gegen Ende seiner Tage; diese Fahrt
könnte demnach, wenn sie geschehen, nur in den Jahren zwischen
470 und 465 stattgefunden haben, d. h. erst nachdem Kimon Byzanz
zum zweiten Male genommen, und selbstverständlich vor dem 465
erfolgten Tode des Aristeides. Aber auch später kann diese Weigerung
liegen, als Athen 424 jenes Geschwader unter Lamachos in den Pontus
sendete, Geld von den pontischen Städten einzutreiben. Mit diesem
Zuge des Lamachos steht die Weigerung Herakleia’s bei Justin in
' Aristoph. Acharn. 599—602. 615. Plut. Nieias 15; Aleib. 21. Praee. ger. reip. 31.
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 543
Verbindung: »Lamachos wurde entsendet, den verweigerten Beitrag
zu erzwingen«. Fest steht, dass pontische Städte erst bei der Ver-
anlagung des Jahres 425 zur Steuer veranlagt worden sind, und nicht
minder sicher ist, dass Lamachos diese neuausgeschriebenen Tribute
einzutreiben in den Pontus geschickt wurde." Damit ist nicht ausge-
schlossen, dass Athen bereits früherhin, bereits auf der Fahrt des Perikles
versucht hätte, mit Herakleia in Beziehung zu treten, dass die Stadt
sich jedoch wie später den Zehntausend gegenüber geschlossen hielt.
Bestätigend spricht für Trogus, dass wir im vierten Jahrhundert die Ty-
rannen Herakleia’s in naher Beziehung zum Hofe der Perser finden.
Sicher ist nur, dass Perikles vor Sinope ankerte, dass er hier den
Lamachos zurückliess, dem es dann gelang, den Timesilaos und seine
Partei aus Sinope zu vertreiben. Und über Sinope hinaus ist Perikles
an dieser Küste gekommen. Wenn Theopomp meldet, dass Amisos un-
fern der Mündung des Lykastos, eine Gründung Milets, von attischen
Colonisten unter Führung des Athenokles neu besiedelt worden sei
und den Namen Peiraea oder Peiraeeus empfangen habe, und erhaltene
Münzen von Amisos, auf deren Rückseite die Eule mit der Beischrift
Ile und Ilepaöv sich finden, diese Notiz bestätigen,’ so kann doch
kaum einem Zweifel unterliegen, dass die Einleitung zu dieser Siede-
lung auf die Fahrt des Perikles in den Pontus zurückgeht. An einer
anderen Stelle sagt auch Plutarch, dass Amisos eine Pflanzstadt der
Athener sei, zu der Zeit erbaut, da deren Macht blühte und sie das
Meer inne hatten (Lucull. 19), und bei Appian erfährt Lucullus vor
Amisos: die Stadt sei vr’ "Adyvaiuv Saraccaoxparoüvrwv erbaut (Bell.
Mithrid. 83). Sinope finden wir vierzig Jahre nach der Zusiedelung
der Athener selbständig und über Kotyora, Kerasus und Trapezus
gebietend, in gespanntem Verhältniss zu dem Dynasten der Paphla-
gonen (Xenoph. Anab. 5, 5, 5. 6); wiederum dreissig Jahre später be-
lagert der Satrap Datames Sinope und schlägt hier seine Münzen.’
Amisos hat weder den Namen Peiraeeus noch seine Freiheit gegen
die Perser behauptet. Wie zu Sinope hat Datames zu Amisos Münzen
geschlagen. Nachdem die Stadt lange unter Persien gewesen, befahl
Alexander die Herstellung der Demokratie in Amisos, auf Grund der
attischen Abkunft der Amisener erklärte er diese für ihr »väterliches
Erbtheil«e; noch im ersten Jahrhundert v. Chr. sind Athener nach
Amisos übergesiedelt und hier des vollen Bürgerrechts theilhaft ge-
worden (Appian. Bell. Mithrid. 8. Plut. Lucull. 19).
! Justin 16, 3. Thukyd. 4, 75. Diodor 12, 72.
? Theopomp. fragm. 202 M. Lraxe Numism. Hellen. Asia 9. Branpıs Münz-
wesen S. 432. 550.
® Polyaen. 7, 21, 2. 5. Branpıs Münzwesen S. 136. 238. 427.
544 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
Der wichtigste Handelsplatz an der Nordküste des Pontus, vor-
nehmlich für die Ausfuhr des Korns, das das Fruchtland der Krim
und des Nordwestufers der Maeotis reichlichst erzeugten, war Panti-
kapaeon, an der Strasse vom Pontus in die Maeotis. Hier in Panti-
kapaeon war zu der Zeit, da Xerxes gegen die Hellenen auszog, ein
Geschlecht zur Herrschaft gekommen, das seinen Ursprung von den
alten Fürsten Mytilene’s herleitete; vom König Archaeanax, der Sigeion
erbaut haben sollte, wollten sie durch den Skamandros abstammen,
der, den Teiern, die vor dem Kyros flüchtend Phanagoria um die
Mitte des sechsten Jahrhunderts erbaut, folgend, Mytilenaeer zu Hermo-
nassa, südwärts von Phanagoria angesiedelt haben sollte." Bei der
Nähe des Weidebezirks der königlichen Skythen, an den Stromschnellen
des Dniepr, der wachsenden Macht des Ariapeithes gegenüber, konnte
es den Archaeanaktiden wohl von Werth sein, in Verbindung mit
Athen zu treten; sie bedurften des Schutzes, während seinerseits Athen
daran gelegen sein musste, seinen Handel in Pantikapaeon geschützt
und begünstigt, seinen Kornankauf hier gesichert, von Ausfuhr-
verboten und Ausfuhrzöllen möglichst unbeschwert zu stellen. Wenn
wir nun erfahren, dass Nymphaeon, ein guter Hafenplatz an tiefer Ein-
buchtung eine Stunde südwärts von Pantikapaeon an der Meerenge,” den
Athenern gehört, ihnen jährlich Steuer im Betrage eines Talents gezahlt
habe,” so werden wir annehmen können, dass es der Zug des Perikles
in den Pontus gewesen ist, der die Verbindung zwischen Athen
und Pantikapaeon eingeleitet oder befestigt, der Athen dazu ver-
holfen hat, auch an dieser Meerenge eine Station zu errichten, hier
zu Nymphaeon Fuss zu fassen. Erhielt Athen eine Besitzung bei
Pantikapaeon, so war es zur Behauptung derselben zugleich zum
Schutze Pantikapaeons gegen den Ariapeithes verpflichtet. Wie kam
Diodor’s Quelle dazu, unter dem Jahre 438/37 zu vermerken, dass
in diesem Jahre der letzte Archaeanaktide endete; — eine Notiz, welche
Diodor aufgenommen hat,‘ obwohl er weder dieses Geschlechtes noch
des Reiches am Bosporus zuvor gedacht, — wenn eben dieser letzte
Archaeanaktide nicht in Verbindung mit Athen gewesen, wenn der
Übergang der Herrschaft in Pantikapaeon an ein neues Fürstenhaus,
das der Spartokiden, nicht eine gewisse Bedeutung für Hellas und
Athen gehabt. Und wenn Plutarch die Hegemonie Athens unter des
Perikles Leitung »eine durch unterthänige Völker, durch Freundschaften
Eustathius ad Dionys. Perig. 549. Böck» (.1.G. 2 p. 90 sqq.
Scylax 29. Peripl. Pont. Eux. 45.
Aesch. in Ctesiph. 171. Krateros bei Harpocration u. Photios Nyabator.
12, 31.
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 545
der Könige und Bündnisse mit Dynasten gepanzerte« nennt,' so werden
wir nicht nur an das Bündniss mit dem Fürsten der Messapier, an
die wechselnden Bundesgenossenschaften mit dem Perdikkas von Make-
donien, mit dessen Bruder Philippos und dem Fürsten der Eleimioten,
mit dem Fürsten der Molosser, dessen Sohn Tharypas in Athen er-
zogen wurde,” zu denken, sondern auch ein Bündniss mit dem letzten
Archaeanaktiden von Pantikapaeon hinzuzufügen haben. Mit um so
grösserer Sicherheit als die Verbindung zwischen Athen und Panti-
kapaeon, die Freundschaft seiner Fürsten für Athen über den Verlust
Nymphaeons hinaus fortdauerte. Von dem Spartokiden Satyros, der
am Ausgange des fünften Jahrhunderts regierte, rühmt Isokrates, dass
er und sein Vater auch in Jahren ungenügender Ernte den Athenern die
Ausfuhr erlaubten, den anderen Kaufleuten nicht gewährten.” »Leukon«,
des Satyros Nachfolger. der in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts
regierte, »und seine Vorfahren«, so sagt Demosthenes den Athenern,
»haben Euch grosse Dienste geleistet; Leukon lässt unsere Kaufleute das für
uns bestimmte Korn zollfrei ausführen, während die anderen ihm den
Dreissigsten zahlen müssen und gestattet den nach Athen bestimmten
Schiffen vor den andern zu laden.«* Den von Isokrates und De-
mosthenes angeführten ähnliche Privilegien werden schon damals für
‘ die Faktorei und Station zu Nymphaeon zugestanden worden sein. Ob
Perikles auch mit den Hellenenstädten der Westküste des Pontus,
mit Apollonia, Mesambria, Istros in. Verbindung getreten, erfahren
wir nicht; nur dass diese Städte danach den Odrysen, dem Sitalkes
und Seuthes Tribut gezahlt, sagt uns Thukydides.’
Gehen die Beziehungen Athens zu Pantikapaeon und den Fürsten
des Bosporus unzweifelhaft auf die Fahrt des Perikles in den Pontus
zurück, so kann auch die gute Kunde Herodots vom Pontus und
den Skythen an dessen Ufern wie von deren Nachbarn im Norden mit
diesem Zuge zusammenhängen, so mag der Ankauf der ersten drei-
hundert Skythen Seitens des attischen Gemeinwesens, die Verwendung
von Skythen als Polizeimannschaft in Athen von den durch diesen Zug
angeknüpften näheren und lebhafteren Beziehungen Athens zur Küste
der Skythen ausgegangen sein, wenn auch Andokides in den verwirrten
Angaben, die er in der Rede vom Frieden über die Folgen des fünf-
jährigen und des dreissigjährigen Friedens macht, den Ankauf der ersten
dreihundert Skythen dem Frieden des Kimon, deren Vermehrung dem
Periel. 15.
Thukyd. 2, 80. Justin. 17, 3. Plut. Pyrrh. ı.
Trapezit. 57.
Demosthen. in Leptin p. 460. Dinarch. e. Demosthen. 43.
24 97:
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546 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
dreissigjährigen Frieden folgen lässt.‘ Die bedeutsamen Erfolge dieses
Zuges für Athen liegen darin, dass nachdem Lamachos den Timesilaos
und seine Partei aus Sinope vertrieben, auf des Perikles Antrag sechs-
hundert Athener in Sinope angesiedelt, und weiter Amisos in eine attische
Pflanzstadt umgewandelt, die Station zu Nymphaeon erworben wird.
Sowohl die Siedelung zu Sinope als den Auszug der attischen
Auswanderer unter Athenokles nach Amisos werden wir in das dem
Zuge in den Pontus folgende Jahr, in das Jahr 443, setzen dürfen.
In demselben Jahre erfolgte die Errichtung der attischen Kleruchie auf
Imbros, eine Verstärkung der Stellung Athens am Eingange des
Hellespont, an der Strasse in den Pontus, die demnach wohl auch
zur Sicherung des dort im Pontus Gewonnenen bestimmt war.” Schutz
für Pantikapaeon zu gewähren kam Athen kaum in die Lage, da
Ariapeithes nicht lange nach des Perikles Fahrt dem Könige der Aga-
thyrsen erlag, Zwiespalt unter den Skythen und Spannungen zwischen
den Skythen und dem Nachfolger des Teres auf dem Throne der
Odrysen folgten.’
Pontische Städte der attischen Bundesgemeinschaft anzuschliessen
hat Perikles, soweit wir sehen können, nicht beabsichtigt. Handels-
verbindungen zu knüpfen, Pflanzstädte zu gründen, Schutz auf Grund
besonderer Bündnisse zuzusagen, wird im Pontus ebenso wie in den
westlichen Gewässern des Perikles Tendenz gewesen sein. Dem engeren
Bunde sollte sich ein weiterer Kreis, ein weiterer Bund in Ost und
West anschliessen, für den Athens Flotten hier wie dort, der natio-
nalen Mission getreu, den hellenischen Städten an den Küsten eine
bereite Stütze wären. In den Quotenlisten der Bundessteuer sind
pontische Städte nicht aufgeführt; zur Bundessteuer pontische Städte
heranzuziehen scheint erst mittels der neuen durchgreifend erhöhten
Veranlagung des Jahres 425/24 für die Bundesorte versucht worden
zu sein. Wenigstens lässt sich aus jener Angabe des Krateros, dass
Nymphaeon jährlich ein Talent gezahlt, aus der Argyrologie des La-
machos im Pontus im Jahre 424, aus einigen Namensspuren von etwa
ı8 Orten in jener Veranlagung (C. J. A. ı, 37 Fragm. Z.*), deren fünf
" Andocid. de pace 5. 7 und ebenso Aeschines, der diese Stelle abgeschrieben
hat (Falsa Leg. 173). In keinem Falle darf der erste Ankauf, wie neuerdings ge-
schehen, unmittelbar hinter die Schlacht von Salamis gelegt werden.
® C.1.A. 1,236. Im Jahre 444/43 zahlt Imbros nach dieser Liste zwei Talente
Bundessteuer, nach der Liste des Jahres 442/41 ©. I. A. ı, 238 und den folgenden
nur noch ein Talent. Die für die Ausstattung der Kleruchen erforderlichen Landstrecken
müssen demnach im Jahre 443/42 abgetreten worden sein, Kırcauorr Abh. B. Akad.
1873 5. 34.
® Herod. 4, 78— 80.
* Dass nur acht r«zraı für die bestehenden vier Quartiere des Bundes für die
neue Veranlagung gewählt sind, die Liste selbst kein pontisches Quartier anzeigt,
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 547
KönLer zu Nymphaeon, zu Kimmerion, Patrasys, Kerasus, Nikonia
ergänzt hat, schliessen, dass damals ein Versuch zur Besteuerung
pontischer Städte gemacht worden ist, der indess keinenfalls zu erheb-
licheren Resultaten geführt hat.
Ob eine andere die Strasse aus dem Pontus durch die Meerengen
angehende Einrichtung mit dem Zuge des Perikles in Zusammenhang
steht, ist nicht sicher zu entscheiden. Ein Beschluss der attischen
Gemeinde aus der ersten Prytanie des Jahres 426/25, d. h. aus dem
August, September 426 ‚ bestimmt, dass den Methonaeern gestattet sein
soll, jährlich so und so viele Scheffel Korn (die Zahl ist nicht erkenn-
bar) aus Byzanz auszuführen; die Hellespontophylakes sollen dies weder
hindern noch durch andere hindern lassen, anderen Falls soll jeder
von ihnen um 10000 Drachmen gebüsst werden; die Methonaeer sollen
ihnen declariren, wie viel Korn sie bis zur festgesetzten Höhe aus-
führen; die ausführenden Schiffer sollen straflos sein. Demnach be-
stand zur Zeit dieses Beschlusses eine attische Behörde im Hellespont,
welehe die Durchfuhr, insbesondere die Durehfuhr von Korn durch
den Sund zu hindern befugt war. Die Annahme, dass Athen, auch
nur für Kriegszeiten nicht nur seinen Gegnern, sondern auch seinen
Bundesorten, zu denen Methone gehörte, die Zufuhr pontischen Kornes
gesperrt, d. h. die Aushungerung der eigenen Bundesgenossen betrieben
hätte, ist unmöglich. Und doch handelt es sich bei dem Volksbeschluss
in Rede ersichtlichst um ein Privilegium für Methone; ein zweiter Be-
schluss aus derselben Zeit lässt den Methonaeern nach, von der Bundes-
steuer nur den Antheil der Göttin zu entrichten, d. h. das Sechzigstel
der Steuer. Demnach wird kaum ein anderer Ausweg bleiben, als
die Annahme, dass es sich nicht um die Gestattung der Ausführung
von Getreide aus Byzanz überhaupt, sondern um das Zugeständniss
zollfreier Ausführung eines bestimmten Quantums an Getreide handele,
wofür doch auch der Umstand spricht. dass die für die Methonaeer
Getreide führenden Schiffe stratlos bleiben sollen; hätte eine absolute
Sperre des Hellespont für Getreideschiffe bestanden, so mussten die
Schiffe, die sie zu brechen suchten, einfach zu Prisen gemacht werden;
die Bestrafung, die in diesem Fall nicht eintreten soll, deutet auf
mildere Ahndung für versuchte Defraudation durch die Wachtbehörde
als Regel. Danach hätte im peloponnesischen Kriege eine Zollerhebung
von Korn in der Meerenge auch für die Bundesorte Athens statt-
gefunden, und wenn sich dies so verhielt, so folgt aus der nur auf
Nichtverhinderung des Durchgangs lautenden Verfügung des Volks-
spricht nicht gegen Könner’s Ergänzungen; die pontischen Städte konnten sehr wohl
den hellespontischen angeschlossen werden.
! Böck# Mondceyclen S. ı9. Unger attischer Kalender S. 19.
Sitzungsberichte 1885. 46
548 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
beschlusses, dass sich die Zollstätte bereits oberhalb der Station der
Hellespontophylakes befunden haben muss, also etwa an der Einfahrt
aus der Propontis in den Sund, vielleicht schon jenseit der Propontis,
vielleicht an der Ausfahrt aus dem Bosporus in die Propontis, jeden-
falls unterhalb Byzanz, da die Ausfuhr eben aus Byzanz gestattet wird.
Die Wache im Hellespont hatte somit nur die Aufgabe, unverzolltes
Getreide nicht durchzulassen.
Erhob Athen während des archidamischen Krieges Zoll vom Ge-
treide und dann wohl auch von Anderem, was aus dem Pontus kam,
bei der Ausfahrt aus dem Bosporus oder bei der Einfahrt in den
Hellespont, wurde die Entrichtung desselben im Hellespont controllirt,
so ist nicht wahrscheinlich, dass dieser Sundzoll erst mit dem Beginn
dieses Krieges eingeführt worden ist. Die Einführung einer für die
Hafenplätze und dichter bevölkerten Handelsstädte des Bundes so
lästigen Maassregel in dem Augenblicke, in welchem die chalkidischen
Bundesorte in vollem Aufstande waren, in dem Athen starke Leistungen
der Bündner für den Krieg in Anspruch nehmen musste und nahm, ist
kaum anzunehmen. War dieser Sundzoll aber bereits vor dem Kriege
eingeführt, so kann er doch wohl nur auf die Initiative des Perikles
zurückgeführt werden, dessen Sorge für die Einkünfte Athens, dessen
Werthlegung auf den Besitz eines möglichst ansehnlichen Kriegsschatzes
uns ja ausreichend bekannt sind. Ist die Einführung des Sundzolles
von Perikles ausgegangen, so dürfte diese doch wohl mit dem Zuge
in den Pontus zusammenhängen.
Das Bestehen des Sundzolls vor dem peloponnesischen Kriege
haben neuerdings GILBErRT (Griechische Staatsalterthümer S. 393) und
nach ihm Beroca (Rhein. Museum 1883 S. 37 ff.) angenommen. Beide
identifieiren die in dem das attische Finanzwesen neu regulirenden
Volksbeschluss, dessen Fassung im Jahre 436/35 Kırcunorr nach-
gewiesen hat, erwähnte dex&rn, deren Ertrag die Hellenotamien der
Göttin abliefern sollen, »sobald die Verpachtung stattgefunden«, mit
diesem Sundzoll, und beide nehmen an, dass die Errichtung der Zoll-
stätte zu Chrysopolis im Gebiete von Kalchedon, d. h. unterhalb Byzanz,
durch Alkibiades und seine Mitfeldherren im Jahre 411/10 zur Er-
hebung der dexarn rüv &x rov Ilevreu rAciwv, von welcher Xenophon
und Diodor berichten,' nur die Erneuerung des zuvor bestandenen, durch
das Missgeschick Athens und den Abfall der Bündner beseitigten Sund-
zolles gewesen. Die Zollstätte bei Kalchedon entspricht einer Lage,
wie sie aus dem Beschlusse für Methone erschlossen werden musste.
Obwohl die dexzrn hiernach, wie nach Ausweis jenes Beschlusses,
" Xenoph. Hellen. ı, ı, 22; Diodor ı3, 64.
Duncker: Des Perikles Fahrt in den Pontus. 549
jedenfalls unterhalb Byzanz erhoben wurde, somit Alles was aus dem
Pontus kam, frei in Byzanz eingeführt wurde, so mochte diese Belastung
und damit die Beschränkung ihrer Ausfuhr nach dem aegaeischen
Meere, und weiterhin, den Byzantiern doch recht lästig fallen. Diese
sehr selbstverständliche Missempfindung in Byzanz wird uns durch
eine ausdrückliche Angabe Xenophons bestätigt. Als Thrasybulos
nach der Wiederaufrichtung Athens den hergestellten Sundzoll, die
dexarn zu Chrysopolis, im Jahre 390 den Byzantiern »für vieles Geld«
verkaufte, wurden diese dadurch vollständig für Athen gewonnen.'
Wenn sich nun fünfzig Jahre zuvor, Byzanz dem Aufstande der
Samier gegen Athen im Jahre 440 angeschlossen hat, darf hieraus
geschlossen werden, dass die erste Errichtung des Sundzolles zu Chry-
sopolis vor dem Jahre 440 liegt, dass es diese Beeinträchtigung seines
Handels war, die Byzanz damals zur Erhebung gegen Athen getrieben
hat? Ist dieser Schluss berechtigt, dann würde die Einführung des
Sundzolls allerdings mit dem Zuge des Perikles in den Pontus in
Verbindung zu setzen und demgemäss etwa 443/42, der Kleruchie
auf Imbros gleichzeitig. anzusetzen sein.
Wie sich dies verhalte, jedenfalls ist die Fahrt in den Pontus, die
Perikles an die Stelle des Krieges am Nil setzte, die erste selbstständige
Action zur Realisirung des weitausgreifenden, nur zu kühn gedachten
Programmes, das Perikles für die auswärtige Politik Attika’s entworfen
und ausgeführt hat. Die nicht sehr glückliche Einleitung hatte die
Verhandlung mit Persien, das Nachgeben Theben und Sparta gegen-
über gebildet: Athens Kraft sollte unter möglichster Vermeidung des
Contlietes mit Persien auf das Meer concentrirt werden. Dem Amyrtaeos
hat Perikles freilich durch den Zug in den Pontus keine Hülfe gebracht,
Persiens Herrschaft über Aegypten ist bald danach hergestellt worden,
aber er hat mit demselben den Bereich attischen Einflusses und
attischer Sehutzmacht nach Osten hin erweitert: er hat Athen Stütz-
punkte und Handelsstationen im Becken des schwarzen Meeres er-
worben, und während nun hier Sinope und Amisos colonisirt wurden,
begann er im nächsten Jahre mit der gleichen Ausdehnung attischen Ein-
flusses und attischen Schutzes nach Westen hin. Um dieselbe Zeit, da
Odrysen und Skythen unter Teres und Ariapeithes gegen die Hellenen-
städte am Pontus emporwuchsen, drangen samnitische Auswanderer gegen
Kyme, Dikaearchia, Neapolis und die Tyrrhenerstädte dieser Küste
vor. Die Gründung von Thurii sollte Athens Einfluss am Busen von
Tarent sichern, das Bündniss mit den Messapiern, die Einleitung der
Verbindung mit Neapolis, das nicht nur eine attische Flotte in seinem
Xenoph. Hellen. 4. 8, 27. 28. 31. Demosth. in Leptinem p. 475 R.
46*
550 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
Hafen sah, sondern nach Strabon’s Angabe auch attische Colonisten er-
hielt, folgten. Indess Athen hier im Westen weiter mit den Akarnanen,
mit Kerkyra, mit Rhegion und Leontini abschloss, wurde im Norden
noch während der Dauer des Kampfes gegen Persien, um die im
samischen Kriege abgefallenen karischen Städte, als des Megabyzos
Sohn Zopyros im attischen Heere gegen Kaunos kämpfte, am stry-
monischen Busen die Ortschaft der Bisalten, Brea, in eine attische
Kleruchie verwandelt, erfolgte hier die Gründung von Amphipolis,
an der Propontis die Gründung einer attischen Pflanzstadt, die Diodor
Letanon nennt (435/34). die Verstärkung der Kleruchie auf Naxos.’
Im sicheren Besitze Fuboea’s. fest gestützt auf die Kleruchieen in der
Mitte der Kykladen, auf den Inseln vor der thrakischen Küste und
auf dieser selbst: Skyros, Lemnos, Imbros, auf dem Chersonnes und zu
Brea wie auf die Pflanzung zu Amphipolis, über die Kräfte der zur
Abhängigkeit und zum Gehorsam verurtheilten Bundesorte nach seinem
Ermessen verfügend, weithin mit seinen Verbindungen und seinem
Handel nach Osten und Westen, von Neapolis und Rhegion bis nach
Pantikapaeon und Amisos reichend, hielt Perikles Athen auch seinen
Gegnern in Hellas gewachsen.
! Plut. Perikl. ıı. Diodor ı2, 34.
551
Über zwei Strophen der Voluspä.
Von Dr. JuLıus HorrorY.
(Vorgelegt von Hrn. SCHERER.)
Ar Eingange der Voluspa berichtet die Seherin in weihevollen Worten
von dem Urbeginn aller Dinge: es war nicht Sand noch See noch kühle
Wogen; Erde gab es nicht, noch Himmel droben: ein Schlund war
der Klüfte aber Rasen nirgends. Von der Weltschöpfung selbst ent-
wirft sie in Strophe 4 ein erhabenes Bild:
Apr Bors syner
peir es mipgarp
sol skein sunnan
pa vas grund gröen
bjopom of yppo,
meran sköpo.
a salar steina
grönom lauke.
(d. h.: In frühen Zeiten hoben Bors Söhne die Lande empor, die, die
den herrlichen Mittelgart schufen. Von Süden schien die Sonne auf
steinbedeckten Boden: da spross wohl aus dem Grunde das grüne
Kraut hervor.)
Hierauf folgen in den beiden Haupthandschriften der Voluspa
zwei fünfzeilige Strophen merkwürdigen Inhalts:
Sol varp sunnan
hende högre
sol ne visse,
stjornor ne visso,
mäne ne visse,
Gengo regen oll
ginnheilog gop
noött ok nipjom
ınorgen heto
undorn ok aptan
sinne mäna
umb himenjopor.!
hvar sale ätte,
hvar stape atto,
hvat megens ätte.
a rokstola,
ok of pat gettosk.
nofn of gofo,
ok mipjan dag.
orom at telja.
(d. h.: Von Süden schlang die Sonne, die Gefährtin des Mondes, ihre
rechte Hand um den Himmelsrand. Nicht wusste die Sonne, wo Säle
sie hatte, nicht wussten die Sterne, wo Stätten sie hatten, nieht wusste
der Mond, wie viel Macht er hatte. — Da gingen die Rathmächtigen
alle auf die Rathstühle, die hochheiligen Götter und beriethen Dies,
! In B fehlt durch ein Versehen himen vor jopor.
552 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
Der Nacht und den Mondzeiten gaben sie Namen, Morgen und Mittag
setzten sie ein, Nachmittag und Abend zur Jahresberechnung.)
Hieran schliesst sich weiter der Bericht von der arbeitsfrohen
Frühzeit der Götter:
Hittosk eser a Ipavelle,
peirs horg ok hof hatimbropo.
afla logpo. aup smipopo.
tanger sköpo ok tol gorpo.
(d.h.: Es trafen sich die Asen auf dem Idafelde, die Altar und Heilig-
thum hoch aufbauten. Sie gründeten Essen, sie schmiedeten Gold;
sie schufen Zangen und machten sich Werkzeug.)
Dass die beiden fünfzeiligen Strophen den Gedankengang des
Dichters unterbrechen und dem Gedichte füglich nicht ursprünglich
angehört haben können, hat Mürrennorr (Deutsche Alterthumskunde
V 91 £.) überzeugend nachgewiesen. In der ersten der beiden Strophen
irrt die Sonne, wie MürLLesHorr hervorhebt, unstät umher, während
sie in Strophe 4 ganz normal functionirte. Und in Strophe 4, könnte
man hinzufügen, wird die Sonne concret als Himmelskörper aufgefasst:
sie scheint auf den Boden und ihre Strahlen locken das junge Grün
hervor; in der folgenden Strophe dagegen wird sie als personifieirt
gedacht: sie ist die »Gefährtin« des Mondes, schlingt ihre »Hand«
um den Himmelsrand und »weiss« nieht, wo sie ihre Säle hat. Die
Strophe steht also mit der vorhergehenden im Widerspruch und kann
unmöglich mit dieser von einem und demselben Verfasser gedichtet
sein. Noch weniger aber verträgt sich die zweite fünfzeilige Strophe
mit dem Vorhergehenden, denn in ihr treten die Götter urplötzlich
berathend und handelnd auf, obgleich von ihrer Existenz in dem
Gedicht noch gar nicht die Rede gewesen ist. Die beiden Strophen
sind also von einem Interpolator nachträglich in die Voluspa einge-
schoben; ursprünglich folgte auf den kurzen Bericht von der Erschaffung
der Welt unmittelbar die Strophen von dem ersten Auftreten der
Götter auf dem Idafelde.
Was nun die beiden eingeschobenen Strophen selbst betrifft, so
hat Mürrennorr ohne Zweifel Recht, wenn er sie als ein Fragment
eines alten Liedes von der ersten Welteinrichtung ansieht. Die zweite
von ihnen enthält eine formelhafte überschüssige zweite Zeile, die
MüÜrLLEenHorr mit Fug gestrichen hat; dieselbe ist aus Strophe 9 und ı 1,
wo sie am Platze steht, herübergenommen, an unserer Stelle aber
durchaus entbehrlich. Sonst ist die Visa insoweit klar, als es keinen
Zweifel leidet, dass sie die Einsetzung der Tageszeiten durch die
Götter behandelt. Die vorhergehende Strophe, die ebenfalls eine über-
schüssige Zeile enthält, ist dagegen als eine der dunkelsten in der
Horrory: Über zwei Strophen der Voluspa. 553
ganzen Edda bekannt, und auch MürtEenHorr ist es nicht gelungen,
ihren verborgenen Sinn zu ergründen. »Was die beiden ersten Zeilen
derselben eigentlich besagen«, äussert er a. a. O. S. 91, »hat noch kein
Sterblicher herausgebracht«. Die Ungereimtheit der älteren Deutungs-
versuche liegt freilich klar zu Tage. Man las früher himinjödyr
oder himinjödyr und übersetzte demgemäss im ersten Falle: sie fuhr
oder tastete von Süden her mit der rechten Hand herum nach der
Himmelrossthür, »so dass sie sich«, wie MÜLLEnHorFr bemerkt, »im
Dunkel befunden zu haben scheint oder blind war«, — während nach
der zweiten Lesart die Zeile bedeuten würde: sie schlang die Rechte
um die Himmelrossthiere, »entweder«, fügt Mürtennorr sarkastisch
hinzu, »aus purer, zweckloser Zärtlichkeit, oder aus Trauer oder
aus sonst einem unbekannten Grunde«. Aber auch der Bussr'schen
zweifellos richtigen Lesung himinjopur vermochte MüLLennorr keinen
befriedigenden Sinn abzugewinnen. »Neuerdings«, sagt er, »hat man
nun herausgefunden, dass die Sonne mit der rechten Hand am Rande,
an der Umzäunung oder den Schranken des Himmels umherlangte;
ob innerhalb oder ausserhalb derselben, um den Ausgang oder den
Eingang zu finden, oder warum sie überhaupt so hantieren muss,
hat man bisher uns noch nicht gesagt oder auch nicht bedacht«.
Nach MürrenHorr sind und bleiben die beiden Zeilen unverständlich:
»wenn irgend wo«, meint er, »so scheint es mir, kommt hier eine
der von Hrn. Busse treffend so benannten ‘Dummheiten’ eines Inter-
polators, der nicht zu sagen wusste, was er wollte und sollte, an
den Tag«. Nicht viel günstiger urtheilte er über die letzten Zeilen
der Strophe; unleidlich war ihm namentlich die Discrepanz zwischen
der dritten und vierten Zeile einerseits, worin von der Sonne und den
Sternen erzählt wird, dass sie nicht wussten, wo sie ihre Säle oder
Stätten hatten, und der fünften Zeile andererseits, die uns berichtet,
dass der Mond nicht wusste, wie viel Macht er hatte. MÜLLENHOorFF
betrachtete deshalb die Zeile von dem Mond als einen späteren Zu-
satz, dessen Entfernung wenigstens einen äusseren Parallelismus zwischen
den beiden letzten Zeilen zu Wege bringt (a. a. O. S. 92). Dass aber
auch durch diese Weglassung der eigentliche Sinn der Strophe nicht
im Mindesten verständlicher wurde, sah MürtLennorr sehr wohl ein
und wiederholt hat er sich, im Colleg und im Gespräch, über das
quälende Räthsel beklagt. »Ist es denkbar, dass ein Dichter, der
bei Verstande war, die Sonne schlechthin als die Gefährtin des Mondes
bezeichnen konnte? Hat doch die Sonne die Aufgabe am Tage zu
leuchten, der Mond den Beruf die Nacht zu erhellen, und nur aus-
nahmsweise erscheinen beide gleichzeitig am Himmel. Ganz besonders
unpassend ist aber der Ausdruck »Gefährtin« an dieser Stelle; denn
554 Gesämmtsitzung vom 4. Juni.
wenn die Sonne unstät durch den Himmelsraum irrt, kann sie nicht
wohl die Begleiterin des Mondes sein. Weshalb weiss die Sonne nicht
ihre Säle zu finden und warum wissen die Sterne nicht wo ihre Stätten
sind?« Je länger man über die Strophe nachdenkt, desto unentwirr-
barer verschlingen sich die Fäden, desto üppiger schiessen die Wider-
sprüche empor. Sie wird auch ewig räthselhaft bleiben, so lange
man bei der Erklärung derselben von unseren althergebrachten Begriffen
von Himmel und Erde ausgeht. Vergegenwärtigt man sich aber,
welche Naturanschauung dem alten Dichter vorschwebte, so verschwin-
den im Nu alle Widersprüche und die scheinbar unverträglichen Züge
vereinigen sich wie von selbst zu einem Totalbilde, wie es hoheitsvoller
und phantasiemächtiger keine der echten Strophen der Voluspa ent-
hält. — Wenn man den Polarkreis überschritten hat, geht bekannt-
lich die Sonne in einem Theile des Winters nicht auf, in einem Theile
des Sommers nicht unter. Die Dauer dieses Zeitraums ist je nach
der Lage des Ortes eine verschiedene; am Polarkreise selbst beträgt
sie nur einen Tag; weiter nördlich dagegen mehrere Wochen, am
Nordeap sogar über zwei Monate.‘ Während im Winter die wochen-
lange Abwesenheit der Sonne das Leben in jenen nördlichen Gegen-
den mit Nothwendigkeit freudlos und finster gestaltet, verbreitet anderer-
seits im Sommer die mitternächtige Sonne über die ganze Natur einen
fast überirdischen Schimmer, von dem der südlicher Wohnende
nur schwerlich sich eine Vorstellung zu bilden vermag. »Man hat
behauptet«, sagt in seinen Kleinen Erzählungen (»Eine neue Ferienreise«)
S. 58 BJörnsTJERNE Bsörnson, der Dichter des jungen Norwegens, » welche
Vorstellungen man auch mitgebracht hätte, so würden sie sich doch
unter dem überwältigenden Eindrucke des Anblicks selbst völlig ver-
lieren. Und das ist die Wahrheit. Sobald die schwimmende Feuer-
kugel in voller Grösse den Horizont entlang gleitet, wozu die Vor-
zeichen nur einen Augenblick vorher wahrnehmbar sind, so verwan-
delt sich Himmel, Gebirg und Meer. Sie selbst kann stundenweise
mit blossen Augen betrachtet werden; es steht da kein hindernder
Strahlenglanz um sie, alles Feurige befindet sich innerhalb ihrer Peri-
pherie, aber diese ist auch weit grösser, als man sie sich am Tage
vorzustellen gewohnt ist, ja, so gross, dass man am Anfange
ganz davon ergriffen ist, und noch lange von nichts Anderem in
gleicher Weise. Endlich tritt die Farbe hervor; die Sonne ist jetzt
ein rothglühendes Meteor, von dem man glauben könnte, es wollte
in Millionen Stückchen zerschmelzen, wenn nicht die ruhige Hoheit
' Genaue Angaben über die Länge der Winternacht und des Sommertages an
verschiedenen Stellen im nördlichen Norwegen finden sich z. B. bei vu Cuaıru: The
land of the Midnight sun 1. 107.
ne
Horrory: Über zwei Strophen der Voluspa. 555
des Schauspiels, die harmonische Farbenpracht am Himmel, an dem
es majestätisch vorwärts schreitet, Frieden gäbe, vollen und verklärten
Frieden. Wenn ein Wolkenstreifen über die Kugel hinfort gleitet,
wird er sofort durchglüht und immer dunkler roth, so dass sich
auf der Sonne gleichsam Gebirge und Landschaften abzeichnen. Aber
wenn ein Wolkenstreifen an dem farbenfeinen Himmel dahinschwebt,
werden blos die Ränder erhellt, sie erscheinen weiss- oder rothglühend,
während das Innere Farbe hält und das Ringsumliegende um so mehr
hervorhebt. Denn der Himmel zeigt alle Farbenübergänge vom
stärksten Blutroth über den Bergen bis zu dem weisslichgrauen
Einerlei in der Höhe, und zwar in der Weise, dass Du auf keinen
einzigen Punkt auch nur so viel wie eine Nadelspitze setzen und
sagen kannst: hier geht die eine Farbe in die andere über. Wäre
der Anblick nun immer derselbe, so könnte man seiner schliesslich
vielleicht doch überdrüssig werden. Allein er wechselt unaufhörlich;
jetzt ist die Sonne mehr violett und jetzt wieder mehr rothgelb, nun
wie mit einem grünen Schleier verhüllt und nun wieder glänzend in
hellem Weiss; aber hinter ihren wechselnden Schleiern immer warm,
immer roth.... Und gleichzeitig wechselt der umgebende Himmel in
allen Farbenübergängen, als durchtlöge ihn ein unaufhörliches Beben,
und je nachdem die Wolken an demselben sich verdünnen oder ver-
diehten, je nachdem sie in die bläulichen, weissen Schichten oder
in die rothen, violetten kommen, erglühen ihre Ränder stärker, während
ihr Inneres weiss oder dunkel wird. Das Schauspiel ist fortwährend
so abwechselnd, so neu, dass ich alte Leute dasselbe mit der gleichen
unablässigen Aufmerksamkeit habe verfolgen sehen, wie wir es thaten.«
Während somit die Sonne im hohen Norden in unvergleichlicher
Pracht und Schöne einherschreitet, bietet dagegen der Mond einen
traurigen und kläglichen Anblick dar. »Einmal«, erzählt Bsörnson,
»als gerade die Mitternachtssonne am herrlichsten war, ging der Mond
auf; er wusste vermuthlich nicht, was los war, denn ein traurigeres
und zornigeres Gesicht, albernere und unlustigere Grimassen kann
kein dem Opiumrauchen ergebener Chinese machen. Mit diesem haar-
losen Exemplar der Säuferelasse hatte er überhaupt eine treffende Ähn-
lichkeit. Dass ein Diehter je Oden an ihn geschrieben, eine Geliebte je
schmachtende Blicke zu ihm emporgerichtet habe, war nicht leicht zu
verstehen. Wir pfiffen ihn aus, so dass er jimmerlich seine Strasse zog,
und folgten ihm mit lautem Gelächter. Er war auch merkwürdig
zusammengeschrumpft und auffallend klein geworden; er musste es
gewiss selbst fühlen, denn er hielt sich in bedeutender Entfernung. «
Von der Farbenpracht und dem Strahlenglanz der Mitternachts-
sonne giebt die mitgetheilte Schilderung Bsörnson’s ein wunderbar
Sitzungsberichte 1885. 47
556 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
stimmungsvolles Bild. Es verdient aber noch betont zu werden, dass
auch die Bahn der Sonne sich im hohen Norden dem Auge ganz
anders darstellt als südlich vom Polarkreis. Im nördlichen Norwegen
steht die Sonne zwar wie anderswo Mittags im Süden, und geht von
da nach Westen und weiter nach Norden beständig sinkend bis an
den Horizont. Am Horizont entlang rollt sie aber, wie mich mein
College Dr. Lenunann-Fırnes belehrt, eine Strecke von links nach rechts,
hebt sich dann wieder, geht nach Osten und von da weiter nach
Süden. Da die Sonne überhaupt nicht untergeht, so befinden sich
Nachts Sonne und Mond gleichzeitig am Himmel.
Halten wir nun diesen Thatbestand fest und erwägen wir weiter,
welehe Wirkung derselbe ausüben müsste auf das empfängliche Ge-
müth eines Dichters im alten Norwegen, der von Astronomie in un-
serem Sinne Nichts wusste, dem aber Sonne und Mond als lebendige,
vernünftige Wesen galten, die bei Tag und bei Nacht zum Wohle
des menschlichen Geschlechts ihre ewigen Bahnen wandelten, so
können wir über den Sinn der räthselhaften Strophe keinen Augen-
bliek mehr im Zweifel sein. Unser Dichter sah die Sonne Nachmittags
von Süden her kommen, allmählich sinken und schliesslich den Horizont
entlang nach rechts gleiten, und unwillkürlich formte sich der wunder-
same Vorgang in seinem Geiste zu einem packenden Bild: die Sonne
schlang von Süden her ihre rechte Hand um den Himmelsrand. Er
sieht ferner mit Staunen, dass die Sonne nicht nach gewohnter Weise
untergeht, sondern dass sie sich bald wieder erhebt und ihren Lauf
von Neuem beginnt. Da wird ihm mit einem Male der Zusammen-
hang klar: die Sonne wollte sich wie sonst zu ihren Wohnungen
unter dem Horizonte begeben, um dort der Ruhe zu pflegen, aber
sie findet diesmal nicht den Weg, sie weiss nicht, wo ihre Säle
sind und deshalb klammert sie sich mit der rechten Hand an den
Himmelsrand fest. Die Sonne geht also gar nicht zur Ruhe; auch bei
Nacht muss sie, mit dem Monde zugleich, den Himmelsraum durch-
messen; auch sie ist jetzt zum Nachtgestirn und damit in Wahrheit
zur »Gefährtin des Mondes« geworden. Aber dem Mond wird bei dieser
Gefolgschaft unheimlich und bange: er fühlt wie neben der mächtigen
Gefährtin sein Glanz erbleicht und seine Gestalt sich verkleinert; und
mit Schrecken fragt er sich, wo nun seine Macht geblieben? Die Sterne
spielen dagegen bei dem gewaltigen Wettstreit zwischen Sonnenschein
und Mondeslicht nur eine ganz unwesentliche Rolle und es ist nicht
anzunehmen, dass unser Dichter, dessen Blick auf Grösseres gerichtet
war, sich viel um sie bekümmert haben sollte. Die überschüssige
vierte Zeile ist augenscheinlich von einem unersättlichen Interpolator
angehängt, der an Sonne und Mond nicht genug hatte, durch seine
—
Horrorv: Über zwei Strophen der Voluspa. 557
Zuthat aber verrieth, dass er nicht wusste, worauf es bei der Schil-
derung ankam, und dass er die Vorgänge, von denen uns die Strophe
berichtet, nicht mit eigenen Augen geschaut hatte.
Es ist also klar, dass die ganze Strophe sich auf die Mitternachts-
sonne und ilır Verhältniss zum Monde bezieht; in den Versen, worin
sogar noch MÜLLENHoFF nur Dummbheiten eines Interpolators erblickte, der
nicht zu sagen wusste, was er wollte und sollte, haben wir die Stimme
eines tiefempfindenden Sängers erkannt, der mit sicherer Hand die
einzelnen Züge der erhabensten Naturerscheinung im hohen Norden
zu einem Gesammtbild von knapper Form aber mächtiger Wirkung
zu vereinigen verstand. Die Strophe zeigt uns aber nicht nur einen
wie gewaltigen Eindruck der Anblick des mitternächtigen Sonnenauf-
gangs auf unsern Dichter machte, sie lässt uns zugleich erkennen,
wie er bestrebt war, sich das wunderbare Phänomen nach seinem Sinne
zu erklären. Sein erstes Empfinden ist Schreck und Staunen: die Welt
ist aus den Fugen; die Sonne wandelt unbekannte Wege, der Mond hat
seine Macht verloren. Und unwiderstehlich drängt sich ihm weiter
der Gedanke auf: zurückgekehrt ist der Zustand, der ehedem herrschte,
als die Weltordnung noch nicht befestigt war und die Himmels-
körper noch nicht ihre geregelten Bahnen hatten. Aber unser Dichter
empfand zugleich, dass ein solcher Zustand nicht lange andauern
könne; er sah voraus, dass Gesetz und Ordnung sich bald einstellen
würden und liess deshalb auf die Schilderung des ruhelosen Treibens
von Sonne und Mond den Bericht von der Einsetzung der Tageszeiten
unmittelbar folgen. Auch hier liegt also der mythologischen Auffassung
ein regelmässig wiederkehrender Naturvorgang zu Grunde: wie jeden
Frühling Freyr den Beli erschlägt, jeden Herbst Pjazi die Ibunn ent-
führt, so gehen im höchsten Norden jeden Sommer die Götter auf
die Rathstühle und regeln der Sonne Bahn und des Mondes Lauf,
den Menschen zur Jahresberechnung.
Für die Beurtheilung der echten Bestandtheile der Voluspa ist
unsere Strophe ohne Belang; für die richtige Auffassung des alten
Gedichtes von der Weltordnung, wozu sie ursprünglich gehörte, ist
sie dagegen von der grössten Bedeutung. Über Plan und Aufgabe
dieses Gedichtes werde ich mich in einem anderen Zusammenhang
zu äussern haben; hier hebe ich nur hervor, dass die oben behandelte
Strophe wichtige Kriterien für die Bestimmung sowohl des Alters als
der Heimath des gedachten Liedes enthält.
Wie die Eddalieder überhaupt manch alterthümliche und sonst
unbelegte Form aufweisen, so bietet uns auch die vorliegende Visa
ein &ra£ Asyousvov von hohem Alter dar. Während »Rand« im Alt-
nordischen sonst jabarr heisst, hat sich hier die antike sonst nur
558 Gesammtsitzung vom 4. Juni.
als Nomen proprium vorkommende Form jopurr erhalten, die nicht
nur von neueren Auslegern lange unrichtig aufgefasst wurde, sondern
sogar schon dem Schreiber des Codex Regius im dreizehnten Jahr-
hundert unverständlich gewesen zu sein scheint. Dieser Umstand hat
auch nichts Auflallendes, wenn wir bedenken, dass das alte joburr,
wie ich im Archiv for nordisk Philologie 146 gezeigt habe, schon
zur Zeit des Hallfrebr vandr&paskald, d.h. um das Jahr 1000 herum
durch japarr verdrängt worden war. Wir dürfen hieraus mit hoher
Wahrscheinlichkeit schliessen, dass unsere Strophe und damit auch
das Gedicht überhaupt, wovon sie einen Theil bildete, schon dem
zehnten Jahrhundert angehört, d. h. dass es mindestens eben so
alt war, als die echte Voluspa, die, wie ich in den Göttinger gelehr-
ten Anzeigen ı885 S. 27 ff. nachwies, in den letzten Jahrzehnten
vor dem Eindringen des Christenthums gedichtet sein muss. Lässt
sich so das Alter des Liedes mit Hülfe der sprachlichen Form der
Strophe annähernd bestimmen, so giebt uns andererseits ihr Inhalt
Aufschluss über den Ort, wo das Gedicht entstanden ist. Da nämlich
die Mitternachtssonne nur nördlich vom Polarkreis siehtbar ist, und
zwar um so länger, je weiter man sich von diesem entfernt, da aber
andererseits der Polarkreis die Nordküste von Island nur eben streift,
und die Mitternachtssonne für diese Insel mithin so gut wie nicht
existirt, so folgt hieraus fast mit Nothwendigkeit, dass unsere Strophen
und mit ihnen das ganze alte Weltordnungslied in Norwegen eüt-
standen sind — ein Resultat, das für die Beantwortung der Frage
nach der Heimath und dem Ursprung der Eddadichtung überhaupt
nicht ohne Bedeutung ist.
Um diese grössten Probleme der skandinavischen Alterthums-
kunde ihrer endgültigen Erledigung nahe zu bringen, wird freilich viel
Arbeit und Mühe erforderlich sein. Weite Strecken liegen ‘auf diesem
Gebiete noch im Dunkel und an manchen Stellen trägt der Boden’
keine Frucht. Trügen jedoch nicht alle Anzeichen, so gehen wir
Jetzt einer schönen und hoffnungsreichen Arbeits-Epoche entgegen. Mit
Mürrtennorr’s letztem Werke begann für die Eddaforschung eine neue
und bessere Zeit. Und mit Hülfe seiner Methode wird es der Zu-
kunft gelingen, auch diejenigen Räthsel zu lösen, über die hinweg-
zukommen dem Verblichenen selbst nieht mehr beschieden war.
Zi
Di
Ne)
Jahresbericht über die Thätigkeit des
Kaiserlich deutschen archaeologischen Instituts.
(In der öffentlichen Sitzung am 19. März 1885 erstattet von Hrn. Coxze
is. oben S. 245].)
Di. regelmässige Plenarversammlung der Centraldireetion fand am
7. bis 10. April 1884 statt: in ihr fanden unter Anderem die Mit-
gliederernennungen statt. Es wurden zu ordentlichen Mitgliedern er-
nannt in Deutschland Hr. Pucusrteisn; in Frankreich die HH. Homorue
und HERoN pE Virrerosse; in Holland Hr. J. P. Sıx; in Italien Hr.
Gumarpist; in Österreich-Ungarn Hr. Krein; in der Türkei die HH.
Maspero in Cairo, Jon. Morprmann in Constantinopel und Ramsav in
Smyrna. Zu eorrespondirenden Mitgliedern wurden ernannt in Deutsch-
land die HH. OntenscntAger in München, Arsorp in Kempten, Han-
MERAN in Frankfurt a. M., Kerver in Mainz; in Amerika (V. St.) Hr.
Jos. Tuacner CLarke in Boston, Hr. J. R. Sterkerr aus Lexington
und Frau Lucy Mircnerr in New-York; in Frankreich die HH. Brapz
in Agen, DE LA Branchere in Algier, Caenar in Douay, Ducuesse in
Paris, Pourze in Gonstantine und SacazE in St. Gaudant; in England
die HH. Jege in Glasgow, Hopekın in Newcastle und Nicnors in Law-
ford Hall; in Italien die HH. PicecorLomisı in Pisa, Promıss in Turin,
Marrıinertı in Anagni, Cicerensa in Palestrina, Ferrr in Florenz,
Tamronı in Terranuova-Pausania, sowie die HH. Dümmter, Hürsen,
Kroker, Meier und Rıcuter, zur Zeit in Rom; in Österreich die
HH. Scuseipder in Wien und Gereıcn in Ragusa; in den ottoma-
nischen Staaten die HH. DerATTRE in St. Louis de Carthage, NıkEPpnoros,
Erzbischof von Methymna, in Kalloni, Fontrıer in Smyrna und
StamarıaDıs in Samos; in Portugal Hr. Corcno in Lissabon; in Russ-
land Hr. Korrorkow in Orel; in Spanien Hr. Mrrına in Madrid.
Für die Reisestipendien wurden erwählt und erhielten die Bestäti-
gung des auswärtigen Amts die HH. Dünnter, Körr, Marx, RosssacH
und für das Stipendium der christlichen Archaeologie Hr. Morırz.
Die archaeologische Zeitung, die Ephemeris epigraphica, die
römischen Monumenti, Annali und Bullettini, die Mittheilungen des
athenischen Zweiginstituts haben ihren Fortgang genommen, wenn auch
das Erscheinen der Monumenti und Annali sich etwas verzögerte.
Sitzungsberichte 1885. 48
560 Gesammtsitzung vom 4. Juni. — Mittheilung vom 19. März.
Bei dem römischen Zweiginstitute wurde namentlich die ständige
Beobachtung der pompejanischen Entdeckungen und der etruskischen
Funde fortgesetzt, in Orvieto auch eine kleine Ausgrabung unternommen.
Die römische Bibliothek des Instituts wurde ausser den regel-
mässigen Anschaffungen durch Schenkung einer Photographiensammlung
durch Hrn. pres Graners und von Seiten des Hrn. von PLArser durch
die werthvolle Schenkung bereichert, durch welche die bereits früher
dem Institute zugewendete Prarner’sche Sammlung italischer Städte-
geschichten eine äusserst erwünschte Vervollständigung erhalten hat.
Von dem athenischen Zweiginstitute gingen im Laufe des Rech-
nungsjahres namentlich zwei grössere Unternehmungen aus, eine Aus-
grabung an der Stelle des Tempels von Sunion und eine Bereisung
der Insel Creta. Die Ausgrabung leitete Hr. Dörrrern, die Bereisung
unternahm Hr. Fagrıcrus; das am meisten in die Augen fallende Er-
gebniss der eretischen Reise war der Fund der grossen Inschrift von
Gortys, an welchem der italienische Reisende Hr. HaLsuerk wesent-
lichen Antheil nahm.
Von den Unternehmungen der Centraldireetion führte Hr. Micnaeuıs
das Repertorium in diesem Jahre noch fort, Hr. Kekur£ mit Hrn. OrTro
die Sammlung der antiken Terracotten, Hr. Rogert mit Hrn. Eıcanter
die der römischen Sarkophage, Hr. Körre die der etruskischen Urnen
und Spiegel; für die Fortsetzung der Wiener Sammlung der griechi-
schen Grabreliefs waren namentlich Hr. Kırserırzey in St. Petersburg
und Hr. PostorarkAas in Athen thätig; die kartographische Aufnahme
von Attika nahm unter Leitung der HH. Currivs und KAurert durch die
HH. EscnenBuRG, VON TWARDOWSKI, von ZIETEn und Worrr ihren Fortgang.
Es erschienen der zweite Band der antiken Terraeotten, Sieilien
umfassend, das zweite und dritte Heft der Fortsetzung der etruski-
schen Spiegel, das dritte Heft der attischen Karten. Die testamen-
tarisch verordnete Herausgabe der Iwasorr schen Darstellungen aus
der heiligen Geschichte schritt bis zur Ausgabe des zehnten Heftes,
mit welchem das neue Testament abgeschlossen ist, vor; es wird
nunmehr das alte Testament folgen.
Ein Erlass Sr. Durchlaucht des Hrn. Reichskanzlers vom 9. März d.J.
hat die Centraldireetion aufgefordert, eine in Zukunft weiter als bisher
gehende Anwendung der deutschen Sprache in den Publieationen und bei
den öffentlichen Sitzungen des römischen Zweiginstituts herbeizuführen.
Ausgegeben am 11. Juni.
Berlin, gedruckt in der Reiclisdruckerei.
’.
1885.
AXVIN.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN,
11. Juni. Sitzung der physikalisch-mathematischen Ülasse.
Vorsitzender Secretar: Hr. E. vu Boıs-Reymonv.
1. Hr. Roru las: Über die von Hrn. Dr. Pavı GüssreLor
in Chile gesammelten Gesteine. Die Mittheilung folgt umstehend.
2. Derselbe berichtete über eine von ihm im Jahre 1881 ausge-
geführte geologische Reise in Schweden. Die Mittheilung wird später
veröffentlicht werden.
Sitzungsberichte 1885. 4.)
or N LDE
2
563
Über die von Hrn. Dr. Paus Güssrerpr in Chile
gesammelten Gesteine.
Von J. Rorn.
Braune schlackige Lava von der höchsten Spitze des Vulcans Maipo
(5400”), ein Augitandesit, zeigt höchst ausgezeichnete Schmelzwirkungen
durch Blitze: mit grünem Glas bekleidete röhrenartige Hohlräume «durch-
ziehen das Gestein. Es enthält nur wenige Einsprenglinge von Augit.
Ein Augitandesit aus der Gegend des Vulcans Maipo (aus 3306”
Meereshöhe, 69° 53’ W.L. von Gr., 34° ı3’ S. Br.) zeigt in dichter,
schwarzer, compacter, halbglasig aussehender Grundmasse zahlreiche,
weisse, leistenförmige Plagioklase und einzelne grüne Augite. U. d.M.
erkennt man noch Magneteisen. Die zum Theil ausgezeichnet zonalen
Plagioklaseinsprenglinge schliessen Glas, die hellfarbigen Augite Glas
und Magneteisen ein. Ein Theil der Augite ist in der Art umge-
wandelt, dass neben dem breiten Saum von Erzkörnern nur ein
schmaler Augitkern übrig bleibt. Die Glasbasis umschliesst zahlreiche
Kryställchen von Plagioklas und Augit neben Magneteisenkörnern.
Aus dem Maipothal, oberhalb der künstlichen und unterhalb der
natürlichen Brücke, liegt ein gangförmig auftretender Uralitsyenit vor.
Das compacte, hellfarbige, mittelkörnige Gestein enthält neben vor-
wiegendem weissem Orthoklas weissen Plagioklas, reichlich hellgrünen
Uralit, kleine farblose Quarzkörner, gelblich grünen Epidot in unbe-
stimmt begrenzten Partieen, und lässt auf der Oberfläche einige zu
Brauneisen verwitterte Körner von Schwefelkies erkennen. U. d. M.
bemerkt man in dem Uralit zum Theil noch die gelbbraunen Augit-
kerne. Ausserdem kommt spärlich primäre Hornblende vor. Endlich
finden sieh noch reichlich kleine Titanite, einige Apatitnadeln und
Körner von Magneteisen. Der Uralit zeigt sich hier und da zu Chlorit
und Magneteisen umgesetzt.
Aus der Moräne des Gletschers in der Agua de la vida (s. Mathem.
u. naturw. Mitth. 1884. S. 462) liegen folgende Gesteine vor.
ı. Granit mit überwiegendem weissem Orthoklas, untergeordnetem
weissem Plagioklas, farblosen Quarzkörnern, unregelmässig begrenzten,
dunkelgrünen Biotitblättehen und spärlichem Zirkon.
49*
564 Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe vom 11. Juni.
2. Diabasporphyr mit diehter blaugrüner Grundmasse, dessen
reichliche, weisse, grosse Plagioklase zum Theil zu Epidot umgesetzt
sind. Auch die u. d. M. hellfarbigen Augite sind zum Theil in Epidot
und Viridit umgewandelt und schliessen Magneteisen ein, das sich auch
in der Grundmasse findet.
3. Krystallinische Schiefer mit reichlichem grauweissem Orthoklas,
grossen hellgrünen Glimmertafeln und etwas Eisenglanz.
Am Kamme des Cajon de los Cipreses steht feinkörniger Diabas an,
während das Hauptgestein des Thales von einem dichten, compacten,
dunkelgrauen Gestein gebildet wird, das der schwedischen Haelleflinta
am nächsten steht und wie diese an den Kanten durchscheinend ist.
Auf’ Klufttlächen sieht man Bedeckung mit kleinen grünlichen Glimmer-
blättchen.
Augitandesit vom Rio Diamante, SO vom Maipo, NO vom Vulcan
Overo. Aus 1968” Seehöhe. Die compacte, dichte, schwarze, halb-
glasig aussehende Grundmasse zeigt reichlich grosse weisse Plagio-
klase, einzelne grüne Augite und etwas Olivin. U.d.M. erkennt man
noch spärlich Magneteisen und Hypersthen, der meist schärfer begrenzt
ist als der neben ihm vorkommende Augit. Die Plagioklaseinspreng-
linge enthalten zahlreiche, meistens rundliche Einschlüsse von dunkel-
farbigem Glas, welche in den hellfarbigen Augiten nur einzeln auftreten.
Die überwiegende, in dünnsten Schliffen braungraue, durchsichtige
Glasbasis füllt den Raum zwischen den Plagioklasen und Augiten aus.
Cerro Overogebiet, Thalsohle des Rio Negro. Der Augitandesit
führt in diehter, compacter, braungrauer Grundmasse zahlreiche grosse
Plagioklase, einzelne dunkelfarbige Hornblenden und grüne Augite.
U. d. M. erkennt man noch Magneteisen. Die zum Theil zonalen Pla-
gioklaseinsprenglinge enthalten spärlich Glimmeranschlüsse; die hell-
gelblichgrünen Augite reichlich Einschlüsse von Glas und Magneteisen.
Der Augit ist hier und da mit einem schmalen Erzrand umgeben. Die
stark dichroitische braungelbe Hornblende zeigt stets dunklen Erz-
rand. Die Grundmasse ist ein glasgetränkter Mikrolithenfilz mit feinen
bräunlichen Körnern. Eine blauschwarze, augitarme, halbglasig aus-
sehende Abänderung verhält sich u. d. M. ebenso. Neben Augit und
Hornblende ist noch Hypersthen vorhanden.
Eine dritte hellere, mehr blaugraue Abänderung führt neben
kleinen Augiten grössere Hornblenden und enthält spärliche glasige,
u. d. M. braune, feingekörnte Grundmasse, welche ausgezeichnet
fluidale Struetur zeigt. Plagioklas und Augit schliessen Glas und
Magneteisen ein.
Vom Atravieso Cruz de Piedre, Argentinien, 34° 8° S. Br., liegt
zweiglimmeriger Gneiss mit sehr wenig Muscovit vor.
Rorn: Über die von Hrn. Dr. P. Güssreror in Chile gesammelten Gesteine. 565
An der Nordwestflanke des Aconcagua sammelte Hr. Dr. GüssreLpr
in 5500 bis 6100” Seehöhe:
Ein hellröthliches, splittrig brechendes, eompactes, zähes Gestein,
das in dichter Grundmasse einige Quarzkörner und etwas Feldspath
erkennen lässt. U. d. M. sieht man noch etwas verwitterte Hornblende.
Wahrscheinlich liegt in dem stark verwitterten Gestein ein Felsit-
porphyr vor. Ein schwarzer, ebenfalls verwitterter Tuff lässt u. d. M.
neben Plaglioklas-Chlorit, Magneteisen, Kalkspath erkennen. Ein spär-
liches augitisches oder amphibolisches Mineral ist vollständig in Chlorit
mit breitem Erzrand umgesetzt. Nach dem einzigen Handstück lässt
sich das Alter des Tuffes nicht mit Sicherheit bestimmen. Ein weisses
durch Schwefelwasserstofffumarolen zersetztes Gestein zeigt reichlich
Gyps neben Schwefel. Es erinnert an zersetzte Trachyte, begreiflicher
Weise ist eine Altersbestimmung des Gesteins nicht thunlich. Lässt
sich auch nach diesem Vorkommen der Aconcagua nicht als Vulkan
bezeichnen, da Laven und jüngere Eruptivgesteine nieht vorliegen,
so lässt sich doch Fumarolenwirkung mit Sicherheit an den Gesteinen
erkennen.
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567
Berichtigung zu Coelodon.
Von H. BurmEISTER.
(Vorgelegt am 21. Mai |s. oben S. 485.)
Hierzu Taf. V.
13h Gattung Coelodon gehört zur Gruppe der fossilen Faulthiere, welche
Owen unter dem Namen der Gravigraden den lebenden Tardigraden
entgegengestellt hat, und wurde von Dr. Lusp mit obigem Namen im
Jahre 1839 in den Abh. d. Kön. Akad. z. Copenhagen, math.-phys.
Classe, Tom. VII, S. 72 zuerst erwähnt, nachdem er einige Knochen
derselben schon früher, 1837 ebenda, Tom. VI, S. 240. pl. II, Fig. ı
bis 5. besprochen hatte, ohne einen besonderen Gattungsnamen hinzu-
zufügen." Wiederholte glückliche Funde erweiterten seine Kenntniss
dieses merkwürdigen Thiers und setzten endlich Prof. J. Reınnarnr
in den Stand, die ausführliche Beschreibung des fast vollständigen
Skelets eines jungen Individuums zu geben, welche vierzig Jahre nach
Dr. Lunp's erster Nachricht, in den Abhandlungen derselben Akademie,
V. Reihe, Tom. XII, Nr. 3., 1878 erschienen ist.
Bisher war von diesem Thier kein Knochen unter den zahlreichen
Resten fossiler Säugethiere der Pampas-Formation aufgefunden, so
dass ich in meiner Description physique de la Republique Argentine
tom. III p. 337 die Gattung Coelodon nur erwähnen, aber nicht weiter
hesprechen konnte. Seitdem sind, im Laufe des vorigen Jahres, drei
halbe Unterkiefer hier gesammelt worden, wovon zwei in den Besitz
des Museo Nacional” übergingen, und diese setzen mich in den Stand,
das Thier nicht bloss aus eigener Anschauung zu kennen, sondern
sie gewähren mir auch Gelegenheit zu einer wichtigen Correetur der
Gattungsbeschreibung, welche ich mir erlaube der Königlichen Aka-
demie hiermit zu übersenden.
' Den später gewählten Gattungsnamen Cbpelodon hatte übrigens schon LATREILLE
in Anwendung gebracht. für eine Gattung der Longicornes, die SERVILLE 1832 in den
Annales de la Soeiete Entomologique de France I. 164. beschrieh.
® Das Museo Publico, bisher Eigenthum der Provinz von Buenos Aires, ist seit
September vorigen Jahres (1884) in den Besitz der National - Regierung übergegangen
und führt jetzt den Titel: Museo Nacional.
568 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Juni. — Mittheilung v. 21. Mai.
Der Schädel des a. a. O. beschriebenen Individuums zeigt in der
Abbildung Taf. I, Fig. ı und 2. neben den deutlichsten Merkmalen
seines jugendlichen Alters, welches die noch überall sehr sichtbaren
Nähte anzeigen, zwei merkwürdige Eigenschaften, beide ohne weiteres
Beispiel in der Gruppe der Gravigraden: einmal die blasenförmige
Auftreibung der Flügelbeine, und daneben die verringerte Zahl der
Zähne, d. h. nur vier an jeder Seite im Oberkiefer und je drei im
Unterkiefer.
Die Richtigkeit der zuerst genannten Eigenschaft ist nicht zu
bezweifeln; sowohl die Beschreibung, als auch die klare Abbildung
heben sie mit Nachdruck und Deutlichkeit hervor. Sie fehlt den
sämmtlichen bisher aufgefundenen anderen Gravigraden, findet sich
aber bei zweien Arten der lebenden Tardigraden, nämlich bei Choloepus
didactylus und Bradypus torguatus. Ich habe diese Beschaffenheit der
Flügelbeine beider Speeies in meiner: Systematischen Übersicht der
Thiere Brasiliens, I. Th. S. 260 und 266 nur kurz angegeben und
werde Abbildungen davon nebst weiterer Besprechung im dritten
Heft des Atlas de la Description physique de la Republique Argentine
II" Seet. pl. XII. welches nächstens erscheint, veröffentlichen, daher
ich dieser merkwürdigen Eigenschaft hier nicht weiter gedenke, bloss
erwähnend, dass dieselbe in frühester Jugend nur sehr schwach auf-
tritt und erst mit zunehmendem Alter zu wahrer Blasenform sich
entwickelt, wie BrarmvirLe’s schöne Abbildung in der Osteographie,
genre Bradypus, pl. II, zeigt, am Schädel des Unau. Aber auch dieser
hier abgebildete Schädel ist noch ziemlich jung, wie die sichtbaren
Nähte beweisen; ganz alte Thiere haben beträchtlich grössere Blasen.
Die zweite der erwähnten Eigenschaften, vier Zähne an jeder Seite
im Oberkiefer, aber nur drei im Unterkiefer, worauf Prof. Reıwuarpr
grosses Gewicht legt in seiner Beschreibung, als wichtigen Gattungs-
charakter, ist ein Irrthum, denn sie findet sich nur in der ersten
Jugend, nicht im reifen Lebensalter, : wie die drei kürzlich aufge-
fundenen halben Unterkiefer gezeigt haben.
Von dem am besten erhaltenen derselben, einer ganz unversehrten
Hälfte der rechten Seite, lege ich der Akademie in Fig. ı die Ab-
bildung vor, in natürlicher Grösse, von der Innenfläche, gegen die
Mundhöhle zu betrachtet, und erläutere dieselbe durch nachfolgende
Beschreibung.
Beim Vergleiche mit den beiden Figuren auf Taf. I in Reısnarpr's
Abhandlung zeigt sich alsbald die vollständigste Übereinstimmung
der allgemeinen Form, neben beträchtlicher Verschiedenheit in der
Grösse und einer starken Verletzung am vorderen Ende. Dem Unter-
kiefer des Reinnarpr'schen Schädels fehlt die Spitze des Kinns, welche
.
Burneisrer: Berichtigung zu Coelodon. 569
in meiner Fig. ı als lang ausgezogene Verlängerung, wie bei Choloepus,
hervorragt und wahrscheinlich den Zwischenkiefer noch etwas an Länge
übertraf. Die Ansicht des Schädels von unten in Fig. 2 lehrt, dass
diese Spitze da abgebrochen ist, wo die Symphysis mentalis beginnt,
welche nach Angabe meiner Fig. ı jene beträchtliche Länge hat, d.h.
fast ein Drittel der ganzen Länge des Unterkiefers einnimmt. Von der
hinteren Ecke dieser Symphysis, welche in der eitirten Fig. 2 deutlich
erkannt wird, bis zum hinteren Ende des horizontalen Kieferastes,
misst der Reınnarpr'’sche Unterkiefer nur 8.3°”; der von mir abgebildete
hat dagegen eben diese Strecke ı1.2°” lang; wobei noch zu beachten
bleibt, dass auch in meiner Fig. ı der äusserste Rand dieser Strecke
etwas schadhaft, also wohl ein wenig zu kurz gezeichnet ist. Misst man
den Unterkiefer in Reınuarpr'’s Fig. 2, von der Ecke der Symphysis
mentalis bis zum hinteren Rande des Condylus, welcher den Unterkiefer
mit dem Schädel verbindet, so erhält man 9.5
dagegen und am Original ist dieser Abstand 16.8°°. — Da nun an eben
diesem Unterkiefer die Symphysis mentalis, welche durch ihren lang
mandelförmigen Umriss und ihre beträchtliche Erhebung sehr in die
Augen fällt, 9.5°” lang ist, und der untere Rand des horizontalen
Astes, von der Ecke der Symphysis bis zur hinteren Endecke desselben
ı 1.2" beträgt, eben diese Strecke aber in Reınnarnr's Figur nur 8.3”,
em
; in meiner Figur
em
so darf man die fehlende Spitze der letzteren auf eirca 5°” ansetzen
em
und die Länge des ganzen Unterkiefers auf 12.6 bis 13°” anschlagen,
cm
während mein Exemplar eben diese Strecke zu 20.0°” bis zum am
weitesten vortretenden Punkte des hinteren Randes angiebt, mithin
um mehr als ein Drittel grösser ist als jenes.
Weitere gemessene Dimensionen bestätigen das angegebene Grössen-
verhältniss, daher ich noch folgende Maasse hersetze in ‘Centimetern.
REINHARDT'S Mein
Exemplar Exemplar
Höhe des Condylus, über der Hinterecke 4-5 | 9:4
Höhe des Kronenfortsatzes, von ebenda 6.0 12.6
Höhe der Alveolarportion ...........- 2.6 5.6
Reısuarpr beschreibt die drei Zähne des Unterkiefers als denen
von Megatherium ganz ähnlich, d. h. jeden mit zwei erhabenen Quer-
kanten von dachförmiger Gestalt auf der Kaufläche, und ebenso sind
die vier Zähne beschaffen, welche im Alveolartheil des mir vorliegen-
den Unterkiefers stecken. Der erste Zahn ist etwas niedriger, weil
stärker abgekaut, die drei folgenden haben ziemlich gleiche Höhe,
aber die Abkauung ist an jedem folgenden etwas geringer. Am
570 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Juni. — Mittheilung v. 21. Mai.
hintersten steht die hintere Querkante gegen die vordere an Höhe
zurück, umgekehrt am ersten Zahn die vordere gegen die hintere;
an den beiden mittleren Zähnen haben beide Querkanten fast gleiche
Höhe, doch übertrifft die hintere etwas die vordere an Erhebung.
Die entsprechenden Verhältnisse lassen sich an den drei Zähnen
in Remmarpr's Fig. ı nur zum Theil erkennen, denn nicht mehr als
zwei Zähne sind sichtbar. Am ersten ist die hintere Querkante etwas
höher als die vordere, am zweiten scheinen beide gleich hoch zu
sein. Die Beschreibung des dänischen Textes kann ich leider nicht
zu Rathe ziehen, aus Unkenntniss der Sprache: der französische Auszug
am Schluss der Abhandlung beschreibt die Zähne nur im Allgemeinen
und widerspricht der schon früher ausgesprochenen Vermuthung von
=. Zähnen im höheren Alter, als unstatthaft. — Und doch hat sie
sich, als völlig der Wahrheit gemäss, wenigstens für den Unterkiefer
bestätigt, wie das noch deutlicher ein zweites Exemplar desselben
lehrt, dessen Zahnreihe vollständig erhalten ist, obgleich übrigens
mehr beschädigt als das abgebildete.
Dieser zweite halbe Unterkiefer ist von der linken Körperseite
und hat etwas kleinere Dimensionen: seine vier Zähne sind in Fig. 2
von der äusseren, gegen die Backe gewendeten Seite abgebildet; man
sieht, dass sie einzeln eine wenig geringere Grösse haben, denn sie
messen zusammen nur 6.4” in die Länge, während die des grösseren
Kiefers von Fig. ı 7°” lang sind. Von den vier Zähnen dieses zweiten
Exemplars entsprechen die drei vorderen ganz denen in Fig. ı ab-
gebildeten, wobei indess zu beachten, dass die Kaufläche jedes Zahnes
schief gegen die Axe des Zahnprisma’s steht, also die äussere Seite
desselben niedriger erscheint, als die innere. Der vierte Zahn aber
ist etwas kleiner, als die drei anderen, ragt weniger aus dem Kiefer
hervor und hat einen geringeren Umfang der Kaufläche, offenbar
weil er ein jüngerer später zum Durchbruch gekommener Zahn ist,
dessen Benutzung von kürzerer Dauer war, als die der drei anderen.
Hiermit stimmt es sehr gut. wenn auch der ganze Unterkiefer etwas
kleinere Dimensionen besitzt, weil er einem etwas jüngeren Individuum
angehört hat, als der in Fig. r abgebildete, zugleich aber auch einem
beträchtlich älteren, als der des von Reısnarpr abgebildeten Schädels.
Nimmt man die Länge der Zahnreihen meiner beiden Unterkiefer von
6.4°” und 7°” als Maassstab der Vergleichung an, so war der ganze
Unterkiefer jenes Individuums etwa 16.5°" lang, wenn der dieses 20°”
misst. Remmaror's abgebildeter Schädel mit kaum 13°” Länge des
Unterkiefers passt als jüngstes Glied sehr gut in diese Scala.
Der neulich bereits verstorbene PauL GERvAIS sagt in einer kurzen
Notiz über Coelodon, Memoires de la Soeiete Geologique de France,
Burmeister: Berichtigung zu Coelodon. 571
II. Ser. t. IX. no. V. p. 23, dass er bei Besichtigung des von REınHArpT
ihm in Copenhagen gezeigten Exemplars einen Zahnkern unter dem
ersten Zahn des Unterkiefers wahrgenommen habe, den er als zu
einem Ersatzzahn gehörend deutet. Mit Recht widerspricht Reıymarpr
dieser Annahme, denn die phyllophagen Edentaten, wohin die Gravi-
graden und Tardigraden gehören, wechseln nie ihre Zähne; sie behalten
dieselben Zähne lebenslänglich, aber die Grösse jedes einzelnen Zahnes
nimmt bis zu einem gewissen Alter etwas zu, indem der Zahn in
frühester Jugend mit konischer Spitze das Zahnfleisch durehbricht und
erst, wenn der oberste konische Theil des Zahnkörpers abgenutzt ist,
die prismatische oder cylindrische Form annimmt und mit gleicher
Grösse fortan beibehält. Sollte nicht Gervaıs den Kern des später
kommenden vierten Zahns im Unterkiefer gesehen und nur bei der
Erinnerung seiner Beobachtung über die Stellung des Kerns im Unter-
kiefer sich geirrt haben? — Fast möchte ich das glauben, denn dieser
Gedächtnissfehler wäre leichter zu entschuldigen als die Annahme eines
Zahnwechsels, welcher gerade bei den phyllophagen Edentaten als
niemals eintretend schon lange sicher bekannt war. Hat doch Lunn
auf die konische Form ihrer Zähne im ersten Jugendalter anfangs
seine Gattung Sphenodon gegründet, sie aber später selbst mit Recht
wieder eingezogen, nachdem er das wahre Verhältniss erkannt hatte.
Owen und Bramvirre haben beide den mangelnden Zahnwechsel der
lebenden Tardigraden bestimmt nachgewiesen.
Nachdem ich auf diese Art die Anwesenheit von vier Zähnen
im Unterkiefer der Gattung Coelodon dargethan habe, bleibt für mich
kein Zweifel übrig, dass im Oberkiefer nicht bloss vier, sondern wie
bei allen anderen phyllophagen Edentaten, fünf Zähne bei dem-
selben Thier vorhanden waren. ReımAarpr glaubte seine Annahme
von =, Zähnen bei Coelodon dadurch unterstützen zu können, dass
er behauptete, die Zähne der phyllophagen Edentaten träten stets
gleichzeitig auf, nicht, wie sonst wohl, die hinteren später, wobei
er sich auf Scelidotherium und Mylodon beruft. Für beide Gattungen
kann ich seine Angabe als richtig bestätigen; es befinden sich von
ihnen in der hiesigen Sammlung alle Altersstufen, selbst noch nicht
in Wirksamkeit getretene, ganz frische Zähne, die dem Typus von
Sphenodon genau entsprechen; aber dennoch beweist diese Berufung
nichts für Remmarpr’s Annahme, denn Scelidotherium und Mylodon
bilden eine besondere Unterabtheilung der Gravigraden, zu welcher
Coelodon nieht gebracht werden kann: Coelodon gehört vielmehr mit
Megatherium in dieselbe Unterabtheilung, und von letzterer Gattung
wissen wir bis jetzt nichts Sicheres über die frühere Form ihrer Zähne,
indem noch niemals jugendliche Individuen mit beginnender Abkauung
572 Sitzung der phys.-math. Classe v. 11. Juni. — Mittheilung v. 21. Mai.
der Zahnkronen aufgefunden sind. Da nun auch, was Remmarpr nicht
gewusst oder nicht beachtet zu haben scheint, bei den lebenden Tardi-
graden der hinterste Zahn etwas später durchbricht. also erst nach
den vorhergehenden in Funetion tritt, was mehrere Schädel eben
geborener oder ganz junger Individuen von Bradypus tridactylus
(brasiliensis) der hiesigen Sammlung mir zeigen, so ist es durchaus
nieht unglaublich, dass bei Megatherium ein ähnliches Verhältniss
stattfand, wenn man weiss, dass es sich bei dem nah verwandten
Coelodon ebenso verhält. Für die nahe Verwandtschaft beider Thiere
spricht aber nicht bloss der gleiche Zahntypus, d. h. die Gleichförmig-
keit der Zähne wie unter sich, so auch zwischen beiden Gattungen,
während Seelidotherium und Mylodon ungleichartige Zähne, mit wesent-
licher Verschiedenheit des letzten unteren an den Tag legen, sondern
ganz bestimmt die Lage der Öffnung des Seitenastes vom Canalis alveolaris,
welcher den Unterkiefer nach aussen, am Grunde des Kronenfortsatzes
durchbricht. Die vordere Öffnung 'dieses Seitenastes liegt bei Serli-
dotherium, Mylodon und Megalonyx unter dem Grunde des Kronen-
fortsatzes, auf der Aussenfläche des horizontalen Kieferastes, bei
Megatherium und Coelodon dagegen auf der Innenseite, an der Basis des
Kronenfortsatzes, im Winkel, wo sich derselbe vom horizontalen
Stamm des Unterkiefers absondert. Um diese Lage recht deutlich zu
machen, habe ich in meiner Fig. ı die sehr versteckte Öffnung durch
den beigeschriebenen Buchstaben a angezeigt. Von den lebenden Faul-
thieren besitzt nur Choloepus den Seitenast des Canalis alveolaris, bei
Bradypus fehlt er. Die früher von mir der Akademie vorgelegte fossile
Gattung Nothropus hat ihn und folgt mit seiner Mündung nach aussen,
wie auch Choloepus, dem Typus von Scelidotherium, Mylodon und
Megalonyyw.
Schliesslich habe ich noch des dritten grössten Exemplars eines
halben Unterkiefers von Coelodon zu gedenken, welches, obgleich hier
gefunden, nicht in den Besitz unseres Museums gelangte, mir also
auch nicht zur Untersuchung zugänglich ward. Dasselbe hat ein hie-
siger, allezeit schreibfertiger Schriftsteller, Hr. FLorentıno AMEGHINO,
unter dem neuen Namen Oracanthus Burmeisteri im Boletin d. 1. Acad.
Nac. d. eiene. exact. tome VII, p. 499—501 mit beigegebener Abbil-
dung beschrieben, ohne mich vorher von seiner Absicht zu unter-
richten, oder mich um meine Zustimmung zu befragen. Seine ziemlich
gut ausgeführte Figur lehrt, dass ihm die Alveolarportion mit einem
Theile der Basis des Kronenfortsatzes eines wahrscheinlich ganz aus-
gewachsenen Individuums von Coelodon vorlag, dessen vier anwesende,
aber der Kronenleisten grösstentheils beraubte Zähne eine Gesammt-
länge von 8.6°" besitzen. Der Alveolartheil ist, neben den beiden
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‚gsber. d. Berl. Akad.d. Wiss. 1835.
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ER SL YERBLETET
Burmeister: Berichtigung zu Coelodon. 573
mittleren Zähnen, 7.2°” hoch, und der ganze vorhandene Rest des
Unterkiefers gegen 21°” lang. Hiernach muss der unversehrte Unter-
kiefer mit der weit nach vorn reichenden, am Rest grösstentheils
fehlenden Kinnspitze und der gleichfalls zertrümmerten Hinterecke,
eine Länge von mindestens 25°" besessen haben; und da der Unter-
kiefer stets beträchtlich kürzer ist als der ganze Schädel, so dürfte
der letztere wohl ohne Übertreibung auf 30°” Länge geschätzt werden.
Das erwachsene Thier mag also eine beträchtliche Grösse erreicht
haben, denn seine früher angenommene Kleinheit gilt nur für die
Jugend des kaum den Pubertätsjahren nahen, zuerst beschriebenen
Individuums. Wahrscheinlich bezeichnen die beiden als verschiedene
Arten von Dr. Lunp und Prof. Reınsmarpr aufgestellten Exemplare nur
verschiedene Altersstufen einer und derselben Art.
Buenos Aires, ı2. April 1885.
Ausgegeben am 18. Juni.
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1885.
XXIX.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
11. Juni. Sitzung der philosophisch-historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Currivs.
l. Hr. Vanzen las über die Elektra des Euripides.
2. Hr. Scherer machte eine Mittheilung über altdeutsche
Segen. Dieselbe erfolgt umstehend.
3. Hr. Dirımasw legte vor Epigraphische Mittheilungen
von Hrn. Prof. Evrıse. Der Abdruck erfolgt in diesen Berichten.
|
u 4
Altdeutsche Segen.
Von W. SCHERER.
Wasch die Freundlichkeit des Hın. Dr. S. Löwenrenn, Privatdocenten
der Geschichte an der Universität Berlin, lernte ich einige altdeutsche
Segensformeln kennen, welche zum Theil zwar in der Zeitschrift für
deutsches Alterthum 23, 436 durch Hrn. MoreL-Farıo veröffentlicht,
aber, abgesehen von einigen Erläuterungen Hrn. STEIMEYER’s, die ich
im Folgenden dankbar benutze, noch nicht so gewürdigt worden sind,
wie sie verdienen.
Ich beginne mit einem Spruch, den wir schon länger kennen, der
von Hrn. Keınz in München entdeckt, von Hrn. Konran Hormann in den
Münchener Sitzungsberichten 1871. I. S. 661 ff., von MüLtennorr in
den Denkmälern, zweite Ausgabe, S. 483, behandelt wurde, und dessen
Dunkelheiten ich mittels der neuen Fassung nicht aufzuheben, aber
doch zu vermindern im Stande bin. Die neue Fassung lautet:
Contra ecaducum morbum.
Accede ad infirmum iacentem et a sinistro usque ad dextrum
latus spacians sieque super eum stans die ter: Donerdutigo, diete-
wigo, do quam des tiufeles sun, uf adames bruggon unde setteta einen
stein cewite, do quam der adames sun unde sluog des tiufeles sun
zuo zeinero studon, petrus gesanta paulum sinen bruoder da zer aderuna
aderon ferbunde pontum patum, ferstiez er den satanan, also tuon
ih dih unreiner athmo fon disemo christenen lichamen, also sceiere
werde buoz disemo christenen lichamen, so seiero so ih mit den handon
die erdon beruere, et tange terram utraque manu et die pater noster.
Post hee transilias ad dextram et dextro pede dextrum latus eius tange
et die: Stant uf wazwas dir, got der gebot dir ez. Hoe ter fac et
mox videbis infirmum surgere sanum.
Die Abschrift des Hrn. Löwenrern habe ich genau wiedergegeben;
auch seine Interpunetion. Die Schlussformel fehlt in der älteren, schon
früher bekannten Fassung. Sie ist etwa so zu schreiben und zu ver-
stehen: ‘Stant üf! waz was dir? got der geböt dir ez.'
Den gemeinschaftlichen Theil der beiden Fassungen (M und L)
stelle ich neben einander, um den Gewinn, den wir aus der neuen
(L) ziehen, möglichst bequem anschaulich zu machen.
Sitzungsberichte 1885. 50
578 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Juni.
M L
Doner dutiger Doner dutigo :
dietmahtiger dietewigo
do quam des tiufeles sun
stuont uf der adamez prucche uf adames bruggon
schitote den stein zemo wite 5 unde setteta einen stein ce wite
stuont des adamez zun do quam der adames sun
unt sloc den tieveles zun unde sluog des tiufeles sun
zu der studein. zuo zeinero studon.
Sant peter sante petrus gesanta
sinen pruder paulen 10 paulum sinen bruoder
daz er arome da zer aderuna
adren ferbunte aderon ferbunde
frepunte den paten pontum patum
frigezeden samath ferstiez er den satanan.
friwize dih 15 also tuon ih dih
unreiner atem unreiner athmo
fon disemo meneschen fon disemo christenen lichamen.
also sciere werde buoz
disemo christenen lichamen
zo sciero zo diu hant 20 so sciero so ih mit den handon
wentet zer erden die erdon beruere.
Der Schluss, in welchem die Anwendung gemacht wird, Z. ı5
bis 21, erfordert keine weitere Bemerkung. Wenn ich ihn in abge-
setzten Zeilen drucken liess, so will ich damit kein Metrum behaupten,
während in den ersten vierzehn Zeilen allerdings der Rhythmus des
viermal gehobenen Verses zu herrschen scheint und im Anfang Al-
litteration (Z. 1. 2; vielleicht auch 9. 10 unregelmässig Petrus: Paulum:
pruoder?), später zuweilen Reim durchbricht.
Suche ich nun einen reineren Text für diese vierzehn Zeilen herzu-
stellen, indem ich mich bei unwesentlichen Abweichungen an L halte,
bei wesentlichen, zwischen denen sich nicht entscheiden lässt, beide
Fassungen wiederhole und im übrigen die kritische Erwägung des
Zusammenhanges walten lasse, so würde etwa folgende Gestalt heraus-
kommen:
Doner dütigo
dietewigo (dietmahtiger?),
des tiufeles sun,
stuont üf Adämes bruggon
5 unde seitöta einen stein ce wite.
dö quam der Adämes sun
unde sluog des tiufeles sun
zuo zeinero stüdon.
Petrus gesanta
ı0o Paulum sinen bruoder,
daz er Aderuna (Arome?)
äderon ferbunde
ferbunde Pontum Patum,
ferstieze den Satanan.
ScHERER: Altdeutsche Segen. 579
Sehr viel weiter, als MÜLLEnHorr war, sind wir nun in der
Erklärung des Spruches hiermit allerdings nicht gekommen; aber der
Zusammenhang, den MürtLennorr nur vermuthungsweise herstellen
konnte, wird durch die Überlieferung bestätigt. Die beiden mythisch-
legendarisehen Vorgänge, die neben einander gestellt werden, sind jeder
der Hauptsache nach klar, wenn auch im Einzelnen noch manches
unklar bleibt. Und wer Mürtennorr's Erläuterungen liest, wird so
viel davon verstehen, als sich bis jetzt verstehen lässt.
Die fallende Sucht wird auf einen bösen Dämon zurückgeführt,
und wie dieser Dämon in zwei bestimmten legendarischen Fällen ver-
trieben wurde, so soll es auch hier geschehen.
In dem einen Falle wurde des Teufels Sohn, Donar, der alte
Gewittergott, der (mit seinem Blitze) einen Stein zu Brennholz spaltete,
von Adam’s Sohn in einen Busch verjagt.
In dem anderen Falle wurde der Satan selbst durch den von
Petrus abgesandten Paulus, wir wissen nicht bei wem, mittelst Ver-
bindung der Adern vertrieben.
Die Möglichkeit einer Anknüpfung des zweiten Falles an die
Legende von Pontius Pilatus findet sich nicht. In dem ersten Falle
liegt wenigstens der Gegensatz zwischen Heidenthum und Christen-
thum, unverkennbar und merkwürdig genug, vor.
Auch eine zweite und dritte der von Hrn. LöwEsrerp abgeschrie-
benen Beschwörungsformeln versetzen uns auf bekannten Boden.
Ad fluxum sanguinis narium.
Christ unde iohan giengon zuo der iordan, do sprach Christ:
Stant iordan, biz ih unde iohan uber dih gegan. also iordan do stuont,
so stant du N. illius bluot. Hoc dicatur ter et singulis vieibus fiat
nodus in erine hominis.
Item alio modo.
Tange nares hominis duobus digitis et die in dextram aurem:
Strangula, vena, murmur, luna cessa. Pater noster. Hoc ter.
Zu beiden Formeln vergl. Denkm. Nr. 47, ı und Mürtennorr's
Erläuterung. In der ersten, offenbar gereimten, fehlt hier die sonst
übliche Beziehung auf Christi Taufe im Jordan; zur zweiten stellt
sich die S. 462 angeführte Formel: ‘strangula venam limis. murmur
accessus.
50®
580 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Juni.
Dass eine Formel in’s rechte Ohr gesagt wird, begegnet mehrmals,
z. B. in den folgenden, ebenfalls von Dr. LöwenrerLp mitgetheilten
Zaubersprüchen, deren erster, neben allerlei unsinnigem Zeug, in dem
Worte ‘Wamapis’ eine Entstellung von ‘wambizig’ zu enthalten scheint,
das wir aus einer Heilformel ad equum infusum bei Mürennorr Denkm.
485 kennen.
Ad voraecitatem equorum.
Cum equus alieuius infirmatur prae nimia voracitate, sie emen-
dabis ei. Seias nomen eius, euius est, et accepto ligno corili susur-
rabis ei in dextram aurem hee verba semel cum oratione dominica:
Wamapis, union, geneprol, genetul, katulon, gortrie, uniferuna, nocti-
feruna, maris samna neque samna nec te damnet. Et cum ligno
terges erura et pedes equi et secundo ac tercio eadem facies et eir-
eumduces ad solissequium ter.
Contra Agaleiam.
Quandocumque videris homini vel iumento contigisse morbum
quem dieunt agaleia, hoc modo emendabis. Susurra ei in dextram
aurem hec verba: Quando Christus est natus, ante fuit unctus quam
baptizatus; salvator mundi oceidat istud malum et auferat hune dolorem,
semel adiungens pater noster et cum hireino ealeiamento dextri pedis
tui simul eum pede tuo firmiter fricabis ter et in girum duces ter
ad solissequium. Cum hee ter sie feceris, animal deo adiuvante
sanandum esse noveris.
Beziehungen auf das Leben Jesu wie hier und in dem ersten
Spruche zur Stillung des Nasenblutens begegnen wir noch in folgen-
den, durch Hrn. LöwenreLp mitgetheilten Formeln.
Contra Überbein.
Lignum de sepe vel aliunde sumptum pone super uberbein faeiens
erucem et ter dieens pater noster, additis his teutonieis verbis: Ihbe
sueren dich (l. Ih besueren dih) uberbein bi demo holze da der
almahtigo got aner sterban (l. an ersterban) wolda durich meneschon
sunda, daz du suinest unde inal (l. in al) suaechost (l. suachost). Si
hoe tribus diebus dilueulo feceris, uberbein evanescere eitius videbis.
Contra vermem edentem.
Ih gebiude dir wurm du in demo fleiske ligest, si din einer,
sin din zuene, siue (l. suie) filo din si, in nomine patris et fili et
SchERER: Altdeutsche Segen. 581
spiritus saneti, bi Jhesu nazareno, der ze bethleem geboren wart, in
tlumine iordan getoufet ward, ze iherusalem gemarteret wart, ze monte
oliveti ze himele fuor, daz du des fleiskes niewet mer essest unde
des bluotes niewet mer trinkest des mannes N. vel des wibes in gotes
namen amen. + Quieumque homini hac medieina vermem emendare velit,
caveat ne alicui iumento per eam emendet, quia postea homini non
proderit.
In dem nun folgenden Spruch, der ebenfalls Christi Erdenwallen
freilich zu einer fingirten Erzählung benutzt und der wieder das Motiv
enthält, dass einem kranken Thiere in's Ohr geraunt wird, erlaube
ich mir den Text mit den üblichen Längezeichen zu versehen, ihn
theilweis in Verse zu ordnen, sowie selbständig zu interpungiren
und die Varianten der Abschrift erst nachträglich anzugeben.
Ad equum errehet.
Man gieng after wege,
zöh sin ros in handon.
do begagenda imo min trohtin
mit sinero arngrihte.
5 ‘wes, man, gestü?
zü ne ridestü?”
‘waz mag ih riten?
min ros ist errahet.'
‘nü ziuh ez dä bi fiere,
ı0o tü rüne imo in daz öra,
drit ez an den cesewen fuoz:
sö wirt imo des err®heten buoz.’
Pater noster. et terge cerura eius et pedes, dicens ‘also seiero
werde disemo (euiuscumque coloris sit: röt, suarz, blanc, valo, grisel,
feh) rosse des errzheten buoz, samo demo got dä selbo buozta.’
Die Abschrift bietet Z. 8 errehet, Z.9 nu ziu hez da bifiere,
Z. ı2 und in der Prosa erretheten (statt errsheten).
Die Sprache in ihrer äusseren Gestalt weist hier wie sonst auf
die erste Hälfte des zwölften, frühestens das Ende des elften Jahr-
hunderts. Wie in dem ersten behandelten Spruche der Umlaut des
uo in beruere vorkommt, so hier der Umlaut des ä in errshet. Wie
aber dort der heidnische Donnergott fortlebt, so werden wir auch
hier eher ins neunte, als ins elfte Jahrhundert zurückgewiesen.
Schon das Fehlen des unbestimmten Artikels beim ersten Wort
ist höchst alterthümlich (J. Grm, Gramm. 4, 396). Und was kann
582 Sitzung der philosophisch -historischen Classe vom 11. Juni.
arngrihte in Z. 4 anders sein, als eine Entstellung von @rgrehti, &re-
grehti, das nur bei Otfried und im Ludwigsliede vorkommt? Selbst
der Reim truhtin: ergrehtin steht im Ludwigslied sowie bei Otfried
4, 31, ıg9 und ist daher gewiss altvolksthümlich. Vielleicht war
die Entstellung des Wortes mit einer Anlehnung an das mittelhoch-
deutsche Compositum arnebote (der heil. Petrus wird gebeten, des
Beters arnebote bei Gott zu sein: WACKERNAGEL altdeutsche Predigten
218, ı9) und mit einem Gedanken an die Boten, die Apostel des
Herrn verbunden. Aber freilich, die gewöhnliche Bedeutung ‘Barm-
herzigkeit, Gnade’ kann £rgrehti hier nicht haben.
Selbst wenn man verstehen dürfte ‘der Herr in seiner Gnade
(erbarmte sich seiner und) ging ihm entgegen’; so wäre dies gegen
den Stil des Gedichtes, das offenbar absichtlich von vornherein nicht
sagt, weshalb der Mann sein Ross am Zügel führt: wir sollen ebenso
gespannt sein, was es mit der Sache auf sich habe, wie Christus
neugierig fragt, warum der Mann nicht reite. Und Christus soll ihm
nicht aus Barmherzigkeit entgegenkommen, sondern ihm zufällig be-
gegnen. Wäre mit ergrehti ein moralischer Begriff verbunden, so
würde die consequente Darstellung gestört, von Mitleid geredet, wo
wir einen mitleidswürdigen Zustand noch gar nicht erkannt haben,
und so die Hauptwirkung verdorben.
Aber auch abgesehen von solchen stilistischen Erwägungen, rein
sprachlich genommen, kann von ‘mit’ in diesem Zusammenhange wohl
nichts abhängen als die Begleitung Christi. Indessen wie verträgt
sich dies mit der Bedeutung von ergrehti?
Das Wort wird von SchmeLLer im Bayr. Wb. 2°, 3ı nicht richtig
aufgefasst, wenn er erklärt: “id quod honori regis, dei’ oder gar
‘quod ei prae omnibus eonvenit, debetur, praerogativa.’ Richtig aber
ist die Beziehung auf den irdischen oder himmlischen König; nur
bei Otfried 2, 20, ı wird es von Menschen gesagt, wie ERrDMANN zu
Otfried 1, 4, 17 bemerkt. Ich glaube, dass etwa die Übersetzung
‘Gnadenfülle' den Sinn des Wortes trifft: denn ra ist hier gewiss
die Gnade, das Geschenk, das vertheilt, gespendet wird (vergl. Vırmar,
deutsche Alterthümer im Heljand S. 70); und grehti mag, entsprechend
den Bedeutungen des Adjectivs gereht, die SCHMELLER a. a. O. gut
entwickelt, so viel als ‘Bereitschaft, das was zubereitet ist, bereit
liegt’ sagen wollen. Aus ‘Gnadenfülle” ergiebt sich einerseits die
‘Bereitwilligkeit, Gnaden zu spenden’, die an den meisten Ötfriedischen
Stellen gemeint ist, anderseits die ‘Gnadenfülle des Herrscherthums,
die Königswürde, die Majestät‘, die im Ludwigslied und gelegentlich
bei Otfried dem Zusammenhang am meisten entspricht. Dass nun
Abstraeta, die eine Eigenschaft bedeuten, auf Personen übergehen
ScHERER: Altdeutsche Segen. 583
können, an denen eine solche Eigenschaft irgendwie haftet, ist bekannt.
Und so mag eregrehti den Sinn eines Colleetivums angenommen haben,
einer Gruppe von Personen, an denen die Gnadenfülle des Königthums
irgendwie haftet, sei es, dass diese Personen activ an der Spendung
der Gnaden Antheil nehmen dürfen, sei es, dass sie passiv mit den
königlichen Gnaden vorzugsweise bedacht werden, sei es, dass sie nur
als lebendiger Ausdruck der Majestät um den Herrscher versammelt
sind. Wie dem nun auch sei, der Etymolog wird zugeben müssen,
dass das Wort den Sinn haben könne, den die unbefangene Inter-
pretation dafür verlangt und den selbst die späte Entstellung des
Wortes, wenn ich sie richtig erklärt habe, noch festhält. Ich über-
setze: ‘mit seinem Gefolge’.
Mehr dem althochdeutschen als dem mittelhochdeutschen Sprach-
gebrauche gemäss ist dann ferner in Z. 5 die Form zü, d.h. ziu, für
zi hiu (GRAFF 4, 1184).
In Z. 9 macht die Wendung ‘bi fiere” Schwierigkeit. Auf dem
Boden des Mittelhochdeutschen weiss ich gar nichts damit anzufangen.
Heisst es aber so viel, wie bei Otfried “in fiara’ (s. Kerır’s Glossar
S. 119), so kann man übersetzen: ‘Nun zieh es bei Seite’.
Endlich sei noch angemerkt, dass selbst die im prosaischen
Anhang stehende Farbenbezeichnung grisel zwar bei NoTker, aber nicht
mehr im Mittelhochdeutschen nachgewiesen ist.
Die mässige und müssige Kunst, das ganze Gedichtehen in die
Sprache des neunten Jahrhunderts umzuschreiben, mag ich nicht üben.
Auch die Verse, für das elfte Jahrhundert nicht schlecht, müssten
dabei einige leichte Verbesserungen erfahren. Wir haben drei Strophen
vor uns, Strophen zu vier Kurzzeilen oder zwei Langversen, wie sie
Otfried gebraucht. Der Reim ist im ersten und im vierten Reim-
paare gestört. Im ersten könnte man die Wendung after wege durch
after lande (NoTkeEr : PırEer 2, 622, ı) ersetzen; auch after wegon, wenn
es sonst vorkäme, würde dem Reime genügen (vergl. Otfried ı, 5, 3
gote : himile : MüLLennorr zu Denkm. 26, ı). Aber wer sich an die
reimlosen Verse bei Otfried (Erpmann S. ıxvur f.) erinnert, wird es
vorziehen, überhaupt nicht zu ändern und ebenso das vierte Verspaar
unangetastet lassen, in welchem statt des Reimes Allitteration herrscht,
freilich eine unregelmässige wie im Muspilli 3: enti si den lihhamun
likkan läzzit. Die Möglichkeit einer solchen Allitteration verbietet auch
die Vermuthung, es sei durch die Schreibung hros eine richtige alt-
hochdeutsche Bindung herzustellen.
Das kurze epische Lied, das wir so gewinnen, scheint mir lehr-
reich und hübsch. Durch eine gemüthlich-willkürliche Erfindung
suchten die Geistlichen der karolingischen Zeit dem deutschen Volke
584 Sitzung der philosophisch-historischen Classe vom 11. Juni.
den Herrn Christus nahezubringen. Er tritt gleich einem König auf,
wie im Heljand. Aber selbst die kleinen Leiden des Menschen mag
er stillen, und ein unbrauchbar gewordenes Pferd ist dem Helfer
nicht zu gering. Der Dichter weiss seinen Stoff geschickt zu fassen;
mit einer wunderlichen, halb komischen Situation beginnt er, enthüllt
ihre Gründe durch ein Gespräch, bei welchem die Sprecher so wenig
episch benannt werden, wie in dem Gedichte von Christus und der
Samariterin, und benutzt das Gespräch weiterhin, um durch Christi
guten Rath Abhilfe zu schaffen: denn dass der Rath sich. bewährte,
wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
Der rasche, entschiedene, etwas humoristisch gefärbte Ton ist
ein werthvoller Beleg dafür, dass wir uns aus den unbedeutenden
Resten und Spuren eine richtige Vorstellung von dem volksthüm-
lichen Stile jener Zeit gebildet haben (Gesch. der deutschen Litt. S. 6 1 ff.),
der im Georgsliede fortlebt, in der älteren Judith zu erkennen ist
und auf die Spielleute des zwölften Jahrhunderts übergeht.
Bemerkenswerth, dass der Dichter verschweigt, was man für die
Hauptsache halten sollte, die Worte, welche dem Pferd in's Ohr
geraunt werden (vergl. Denkm. Nr. 6) und die z. B. in einem anderen
Spruche ‘contra rehin’ (Denkm. S. 484) seltsam genug lauten. Hier
mag ein bestimmtes Geschmacksurtheil zu Grunde liegen: die heilende
Formel, die z. B. im zweiten Merseburger Zauberspruch die Pointe
ausmacht, erschien diesem Autor vielleicht als hässlich, unverständlich
oder prosaisch; oder sie widerstrebte seinem Stilgefühl, das unge-
duldig nach schnellem Fortschritt und Abschluss verlangte: Worte
innerhalb einer Rede angeführt, gleichsam eine Anführung in der
Anführung, machen stets den Eindruck des bedächtigen Verweilens.
Auch kann der Dichter, absichtlich oder unwillkürlich schelmisch,
das, was in’s Ohr geraunt wird, obgleich es Christus dem Manne
nothwendig mittheilen musste, als unhörbar, als ein Geheimniss für
sein Publiecum, behandelt haben.
Der Verfasser der lateinischen Gebrauchsanweisung hat sich, wie
jedermann sieht, an die Vorschriften Christi nicht gehalten: er lässt
das gliedersteife Pferd durch ein anderes Verfahren curiren, als es
‘got selbo’ jenem Manne rieth.
ScHERER: Altdeutsche Segen. 9385
Eine kurze poetische Formel endlich machte den Schluss:
Contra vermes pecus edentes.
Ih besuere dih sunno, bisecon Germano, daz tu hiuto ne sein e
demo + die colorem + siehe die wurme uzsin.
Ich weiss den Spruch nicht anders zu verstehen und herzustellen,
als etwa so:
Ih besuere dih, sunno,
ih bisueron dih, mäno,
daz tü hiuto ne sein,
€ demo .... fiehe
die wurme iz sin.
In der vierten, reimlosen, Zeile ist ein zweisilbiges, eine Farbe
bezeichnendes Adjeetiv vor “fiehe’ oder ‘“fihe’ zu denken. Der Imperativ
sein, abhängig von daz, ein willkommenes neues Beispiel für eine
schon sonst beobachtete, aber nicht häufige Construction (zu Denkm. 78,7)
ist durch den Reim gesichert.
Über die Pariser Handschrift Nouv. aeg. lat. 229, welche diese
und die anderen vorstehenden Segensformeln enthält, werde ich
Näheres berichten, so bald ich sie selbst gesehen habe. Einstweilen
vgl. Deuiste, Melanges de paleographie p. 455-
Ausgegeben am 18. Juni.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1885. 51
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1885.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
18. Juni. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Auwers.
1. Hr. Ramuersgere las die umstehend folgende Abhandlung
über die Gruppe des Skapoliths.
2. Hr. Duncker überreichte den zweiten Band der im Auftrage
der Akademie herausgegebenen preussischen Staatsschriften aus
der Regierungszeit König FrırperıcnH’s N.
Sitzungsberichte 1885. 52
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989
Über die Gruppe des Skapoliths.
Von (. RAMMELSBERG.
Dx fortschreitende Kenntniss der morphologischen und der chemischen
Eigenschaften der Mineralien hat genöthigt, in vielen Fällen den Namen
eines einzelnen Minerals auf eine Gruppe gleichkrystallisirter, d. h.
isomorpher Mineralien zu übertragen. Feldspath, Glimmer, Augit,
Granat, Turmalin sind Bezeichnungen für solche Gruppen geworden,
welche nirgends häufiger als in dem grossen Gebiet der Silicate vor-
kommen.
Die Glieder einer isomorphen Gruppe haben oft eine analoge
Zusammensetzung und lassen sich dann durch eine allgemeine
Formel bezeichnen. Olivin, Granat, Turmalin, Epidot ete. sind von
dieser Art. Die isomorphen Mischungen innerhalb dieser Gruppen
sind den Grundverbindungen gleich constituirt.
Allein in anderen ebenso gut durch die Isomorphie ihrer Glieder
charakterisirten Gruppen sind diese Glieder nicht analog zusammen-
gesetzt, und ihre isomorphen Mischungen weichen von den Grund-
verbindungen ab. Als Hauptbeispiele dürfen Feldspath und Glimmer
genannt werden. Sie zeigen, dass die Ursache der Isömorphie nicht
in der Analogie der Verbindungen zu suchen ist.
Das Trisilicat des Albits und das Halbsilicat des Anorthits treten
zu manchfachen isomorphen Mischungen zusammen, den Kalknatron-
feldspäthen oder Plagioklasen, welche für die Kenntniss der kry-
stallinischen Gesteine von der grössten Bedeutung sind. Alle diese
Zwischenglieder folgen einem Mischungsgesetz, welches sich in
jedem einzelnen Fall durch die Abhängigkeit des Atomenverhältnisses
Al:Si von dem Na:Ca thatsächlich controliren lässt
Finden wir nun auch in anderen Silicatgruppen stöchiometrische
Differenzen, so liegt die Vermuthung nahe, dass es auch hier zwei
Grundverbindungen gebe, durch deren Mischung die Zwischenglieder
entstanden sind. Hier ist aber die Speculation der Erfahrung voran-
geeilt; man hat zwei hypothetische Grundverbindungen construirt,
und mit Hülfe derselben die Natur der einzelnen Glieder zu deuten
52#
590 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
versucht. Man übersah, dass es sich beim Feldspath um ein Gesetz
handelt, dessen Richtigkeit an jeder einzelnen Analyse geprüft werden
kann, während im vorliegenden Fall eine willkürliche Interpretation
der Thatsachen stattfindet."
Von den Silicatgruppen, welche in neuerer Zeit nach dieser
Richtung Gegenstand der Speeulation geworden sind, hat die Gruppe
des Skapoliths mein Interesse ganz besonders erregt, und habe ich
mich bemüht, durch eine Reihe von Versuchen die Kenntniss der
chemischen Natur ihrer Glieder zu erweitern.
In krystallographischer Hinsicht ist die Skapolithgruppe sehr aus-
gezeichnet. Alle ihre Glieder sind vollkommen isomorph, viergliedrig,
und beträgt der Endkantenwinkel ihres Hauptoktaeders nahe 136°.
Die Glieder tragen sehr manchfache Namen: Sarkolith, Humbold-
tilith (Melilith) Mejonit, Wernerit, Nuttalith, Stroganowit, Paralogit,
Porzellanspath, Mizzonit, Dipyr, Cuseranit, Marialith u. s. w.
In qualitativer Hinsicht stimmen sie überein; es sind Silieate von
Thonerde, Kalk und Natron. Nur im Humboldtilith treten noch Eisen
(als Oxydul oder Oxyd) und Magnesia in wesentlicher, in allen übrigen
aber nur in geringer Menge oder gar nicht auf.
Es ist weder ein natronfreier Skapolith, der dem Anorthit ent-
spräche, noch ein kalkfreier, dem Albit entsprechender Skapolith
bekannt, die als Grundverbindungen gelten könnten.
Wie grosse Verschiedenheiten aber die Zusammensetzung der
einzelnen Glieder darbietet, das lehrt schon ein Blick auf ihren Säure-
gehalt, welcher von 40 Procent bis zu 60 Procent steigt.
Mit Zunahme der Säure sinkt der Gehalt an Kalk (von 24 auf
4 Procent), während die Menge des Natrons (von etwa 2 auf fast
ı0 Procent) steigt.
Die hier in Betracht kommenden Mineralien sind vielfach Gegen-
stand chemischer Untersuchung gewesen, insbesonders hat aber
G. vom Rarn durch eine in meinem Laboratorio vor 32 Jahren durch-
geführte Reihe von Analysen’ zur Kenntniss der Skapolithe beigetragen.
Schon vor längerer Zeit hatte ScuarnäurL in dem Porzellanspath
von Passau einen Gehalt an Chlor angegeben. Neuere Analysen
haben dieses Element, welches in der nahestehenden Nephelin- und
Sodalithgruppe eine wichtige Rolle spielt, auch im Mejonit und in
den Werneriten nachgewiesen, und somit unsere Ansichten ‘über deren
! Vergl. Tscuermax, die Skapolithreihe. Wien. Akad. Berichte 88 (1883).
2 Posen. Ann. 90, 82. 288. (1853). 119, 254 (1863) Ztschr. d. geol. Ges. 18, 635
(1866). Possenv. Ann. 144, 384 (1872).
Ramnetspers: Über die Gruppe des Skapoliths. 591
Constitution modifieirt, ein Punkt, welcher vornämlich mir Anlass
gegeben hat, eigene Versuche in diesem Gebiete anzustellen.
Wenn eine Anzahl gleichkrystallisirter Verbindungen, wie die
Glieder der Skapolithgruppe, bei qualitativer Übereinstimmung so
grosse Verschiedenheiten in der Zusammensetzung zeigt, so sind die-
selben entweder ursprünglich vorhanden, wie dies auch in anderen
Mineralgruppen der Fall ist, oder sie sind eine Folge von Umwand-
lungsprocessen, durch welche gewisse Bestandtheile fortgeführt, andere
hinzugetreten sind. Wir müssen annehmen, dass in der Skapolith-
gruppe beide Fälle zutreffen, und hierin liegt die grosse Schwierigkeit,
die Thatsachen richtig zu deuten.
In keinem Fall darf die Ansicht gelten, dass die Zunahme der
Kieselsäure, die Abnahme des Kalks und der steigende Natrongehalt
nothwendig eine Umwandlung der ursprünglichen Substanz anzeigen.
Alle äusseren Merkmale geben zu erkennen, dass der Wernerit von
Gouverneur mit 52 Kieselsäure und ıo Kalk und der Marialith mit
62 Kieselsäure und 4 Kalk ebenso unzersetzte Verbindungen sind wie
der Mejonit mit 44 Kieselsäure und 22 Kalk oder der Sarkolith mit
40 Kieselsäure und 33 Kalk.
Andererseits aber wissen wir, dass die Skapolithe gewisser Fund-
orte in Glimmer, Epidot, Albit, Speckstein und Thon verwandelt
vorkommen, und dass der Umwandlungsprocess, wenn er bis zu
einem gewissen Grade vorgeschritten ist, sich sowohl äusserlich als
auch durch die Analyse (Eintreten von Wasser, Kali, Magnesia, Eisen)
zu erkennen giebt. Sehr schwer aber ist es, die ersten Stadien solcher
Veränderungen zu erkennen, welche selbst in gut ausgebildeten
Krystallen meist von aussen nach innen fortschreiten.
Manche Skapolithe findet man mit einer dünnen Schicht Kalk-
spath bedeckt. Andere sind in letzteren eingewachsen, und ihre
Krystalle schliessen ihn in feiner Vertheilung ein. Bei der wohl-
bekannten Art, wie das Wasser auf kalkreiche Silicate wirkt, liegt
die Vermuthung nahe, der Kalk entstamme dem Skapolith.
Bei keinem anderen Mineral differiren die Analysen, welche sich auf
den nämlichen Fundort beziehen, in dem Maasse, wie beim Wernerit ge-
wisser Localitäten. So wurde gefunden:
Kieselsäure Kalk
Barease. 2: 4ı bis 53 Procent 20 bis 10 Procent
Bolton... Ha 2 vAgRı ;% 26 » 15 »
Arendal; „2. AS 52 » a7 zn T2 »
Malsjos...: 47 » 52 » De EZ »
Hieraus lässt sich schliessen, dass der W. an diesen Orten eine
Umwandlung erlitten hat, und dass es sehr fraglich ist, ob die dortigen
592 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
säureärmsten und kalkreichsten Abänderungen die ursprüngliche Sub-
stanz darstellen.
Bei dem grossen Reichthum an thatsächlichem Material, welches
durch die zahlreichen Analysen gegeben ist, ist es immerhin eine
lohnende Aufgabe, zu untersuchen, ob innerhalb der Gruppe bestimmte
und einfache Verbindungen auftreten, ohne Rücksicht darauf, ob die-
selben ursprüngliche oder aus einer Umwandlung von solchen ent-
standen sind. Es wäre zwecklos, sich an einzelne Analysen zu halten;
man hat vielmehr den Blick auf die Gesammtheit zu richten, und dabei
gelangt man in der That zu gewissen Reihen, die oft Vorkommen sehr
entlegener Fundstätten einschliessen, und deren chemische Ähnlichkeit,
selbst Gleichheit den Beweis liefert, dass ihre Zusammensetzung, sei sie
eine ursprüngliche oder später erst entstandene, jedenfalls eine be-
stimmte ist. Nur wo ansehnliche Verluste oder Wassergehalte angegeben
sind, muss von einer Berechnung Abstand genommen werden.
Bei den vielfachen Schwankungen in den Atomverhältnissen von
Na: Ca:Al:Si gelangt man am leichtesten zu einem allgemeinen Resul-
tat, wenn man Ca —= >R. A — 6R setzt, und das Verhältniss R : Si
berechnet. Man findet dann, dass die Skapolithgruppe einschliesst:
A. Halbsilieate (Sarkolith).
Verbindungen von normalen und Halbsilieaten.
6. Normale Silicate (Mizzonit).
D. Verbindungen von normalen und zweifach sauren Silicaten
(Marialith).
Die grosse Mehrzahl gehört der Reihe B an.
Speeielle Berechnungen einzelner Vorkommen sind nur dann statt-
haft, wenn die Analysen vollständig sind, d. h. auch die Chlor-
bestimmung nieht unterlassen ist, obwohl ein geringer Chlorgehalt,
der stets in der Form von NaCl vorausgesetzt ist, auf die Atom-
verhältnisse des Silieats keinen merklichen Einfluss hat.
A. Halbsilicate.
Hierher gehört der Sarkolith, der nach meiner Analyse '
3NatSiO!
Na’ Ca? Al'Si°0'° — | 27Ca’SiO*
| 101830")
ist.
Er enthält von allen die geringste Menge SiO? (40 Procent) und
die grösste Menge CaO (33 Procent).
' Hdb. der Mineralchemie 2, 463.
Rammeısgers: Über die Gruppe des Skapoliths. 593
B. Verbindungen von normalen und Halbsilicaten.
I. ı Mol. normale Silicate und 6 Mol. Halbsilicate.
Re 377 2401J.
Mejonit vom Vesuv.
Den älteren Analysen fehlt die Chlorbestimmung; Damour giebt
3 Procent Wasser an. Zur Berechnung dienen nur die von Rarn
und NEMINAR.
2Na — R gesetzt, ist
R:Al:Si R:Si
nach RarnH 2.4: 102 2.3 20 2 9,2,0.0,707
» U NEMINAR 1:32:12 2.3 FAT = 20.2: 7
Nimmt man R:Si= 26:7 = 3.71...:ı an, so ist der M.
R?*S/70?”7 — R’SiO3 + 6R+SiO*.
Die Grösse des Chlorgehalts ist vielleicht schwankend, denn Nemnar
fand 0.14 Procent, Sıpöcz dagegen 0.74, neben 0.22 SO?.
Indem wir das Atomverhältnis R:Al:Si= 1.33:1:2.33 an-
nehmen, erhalten wir die Formel
NaCl + 4R'ABSi70”,
welche, da im Silicat Na: Ca = ı:1ı2 ist, speciell lautet
| Nasi707
20NaCl + { . (40a? Si70”7
zAl3sı?" O°:
oder endlich, in aufgelöster Form:
Na’SiO3 | Na#SıO*
20NaCl + g)40aSi0? Ne6 6 er |
| 3418:500\ | "13APSO"
Berechnet Gefunden
ns Raru WOoLrF
So? 0417. 0.22
Cl 0.74 0.74
SiO? 43.75 43.36 42.55
AlO® 31.88 32.09 31.15 Bui7a
CaO 21.70 20.75 22.61 22.43
N=>07 2) 1.76 1.85 1.86
! Wenn !/, des NaCl = Na?SOt ist.
594 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
I. Verbindungen von ı Mol. normaler Silicate und 3 Mol.
Halbsilicate.
B:Si= 3.5: 1:
Wir müssen diese Zusammensetzung dem sogenannten Mejonit
vom Laacher See' und denjenigen Werneriten von Pargas zuschreiben,
welche das Minimum an Säure, das Maximum an Kalk enthalten.
Dies ist zunächst der von Rarn” untersuchte Ersbyit (N. NORDENSKIÖLD'S
wasserfreier Skoleeit), der zwar derb, aber vollkommen frisch und
spaltbar ist (Hdb. Nr. 3).
Kürzlich hatte ich Gelegenheit, das Material nochmals zu analy-
siren und das Resultat durch die Bestimmung des Chlors zu vervoll-
ständigen.
Unzweifelhaft gehört auch der krystallisirte W., den Worrr unter-
sucht hat (Hdb. Nr. 5), sowie, obschon im Kalk etwas geringhaltiger,
der von Raru analysirte (Nr. 6) hieher.
R:Al:Si R:Si
ı. Laach Rarnu 1.388 1722.50 N
2. Ersbyit R. 1.2 Se 2.AiE, 320, CE
2% » Rg. TA 32246 8.080
4. Pargas WoLer, 1.11,052,2.34 Are
5. » Rarn Re BT 3.3324
Mit Ausnahme des letzten sind diese Skapolithe Verbindungen,
entsprechend
R“Sjt0'5 — R?SiO3 + 3R'SiO".
Das Atomverhältniss Na: Ca ist in
ve 1:"208 Am 2
DE 10:22 Se 518)
30 475
Die beiden letzten bleiben, der ansehnlichen Verluste halber, von
der weiteren Berechnung ausgeschlossen.
Wir nehmen für 1—3 die Proportion 1.375 :1:2.5, d. h. die
Formel
R"AISSi?O”
an.
Lässt man die Chlorbestimmung in 3. auch für ı. gelten, so ist
der Mejonit vom Laacher See
x Na” Al°Si?°075
allen 6a ASITOF N
! Pose. Ann. 119, 268 (1863).
® Poss. Ann. 144, 384 (1872).
Rannersgers: Über die Gruppe des Skapoliths. 595
Berechnet Gefunden
cl 0.19
SiO®? 45.29 A5.13
AlO® 30.80 29.97
CaO 19.92 19.30
Na’O 3.85 3.65
100.05
Der Ersbyit unterscheidet sich lediglich durch das Verhältniss
Na: Ca im Silieat (1:5) und die Menge des Chlorids. Er ist
{ Na” Al’Si?O75)
oc hsagnl:
Berechnet Gefunden
Re. Rara
Gl 0.24 0.20
SsıO? 45-32 44-47 44.26
AlO? 30.82 30.69 30.40
W307 F>r.L5 20.76" 20.38”
H Na’O 2.55 2.49 TAT
100.08 Glührverl. 1.07 0.58
99.68 99.05
II. Verbindungen von je ı Mol. normaler und Halbsilicate.
Baus /3,°7;
R°S]?07 — R’SiO3 + R+SiO*.
Eine sehr zahlreiche Abtheilung, welche an sehr verschiedenen
Orten sich findet. Die einzelnen unterscheiden sich durch das Ver-
hältniss R: Al, welches theils 1.5 :ı, theils ı: 1 ist.
IE — 1,5974
RAP SISO®" — ROSR07.
Wernerit von Malsjö. Ä
Ich habe den röthlichen derben W. dieses Fundorts untersucht,
nachdem er durch Behandlung mit Essigsäure von einer kleinen Menge
Kalkspaths befreit war. Er enthält im Silieat 2Na: 3Ca, und ist
3Na’S707
NaCl + 3Na°CarAl’Si#0% — NaCl + | 9Ca3Si?07 |
SAP Si? 0°"
oder endlich
! Worin das Aeg. von 0.16 MgO.
2 Desgl. 0.15 MgO.
° Worin das Aeg. von 1.15 K?O.
596 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
| A ( 3Na*SiO*t |
NaCl + | 9CaSiO3 } + | 9Ca?SiO*
SALSI?O \ SA? so")
Berechnet Gefunden
01 0.40 0.41' 0.41
SiO®? 48.90 48.84 48.06
AO? EI 27.78 27.34
Cao 17.11 16.20 15.94
Na’O 6.66 6.58 6.33
100.78 99.81 K?Oo.22
Glühverl. 1.61
99.91
Hiermit stimmt eine Analyse Rar#'s des blauen W. von Malsjö,
obwohl sie 3 Procent Verlust aufweist. Gefunden: SiO? 47.24, AlO? 25.19,
CaO 17.24, MgO 2.27, Na’O 3.55, K?O 0.85, H?0 1.75. Der Verlust
dürfte Al und Na treffen.
An demselben Fundort kommt aber auch W. mit nur ı2 Procent
Kalk und einem höheren Säuregehalt vor, welcher in der IV. Reihe
anzuführen ist.
Zu den W., welche gleich dem beschriebenen von Malsjö aus je
ı Mol. beider Silicate bestehen, und in denen R:Al= 1.5:rist, ge-
hören folgende, bei denen die Chlorbestimmung noch fehlt.
„
R:Al:Si Na:Ca
Bolton Rarn?” 1,7 282.330 1:5
Ostgothland Bere IH60222,2:07 122
Laurinkari WoLFrr TEL L:®
Arendal (derb) Rarn | _
Arendal (kryst.) Rarn | Ko 8
Arendal WoLFrF AS FE: 123.2 TER
[97
Hesselkulla WoLrr Kal 1:01
B. R:Al=ı.2:ı
RSALSIHO® — RÖSI?OT.
Vollständige Analysen liegen vor
ı. vom Wernerit von Rossie, Sıröcz;?
RAR. » » Boxborough, Becke.'
Nach Abzug von NaCl ist hier im Silieat:
' Nach Abzug des Glühverlustes und Verwandlung des K in Na.
® SiO? 44.4 Procent. Nach Abrechnung des Eisens. (Pose. Ann. 90, 95.) Auch
die Analysen von Worrr und von Prrersen dürfen auf denselben W. bezogen werden.
® TscherM., Mitth. 1877, 266.
* Ebendas.
Rammerssers: Über die Gruppe des Skapoliths. 597
U
R:Al:Si Na: Ca
1 ie: MER) 172.5
DM LEON ER 2.G ER
Beiden W. entspricht die Formel:
Na°Si?07
NaCl + gNa’Ca5APSi0® — NaCl + 3 | 5Ca}Si?07
;ABSieO?" \
oder
\ a Na!Si 0! |
NaCl + g|! 5CaSiO3 ) + !s5Ca’Ssı0*
5A1Si?0° ) 5APSPO"” \
Berechnet Gefunden
Rossie Boxborough
Cl 0:23 0.22 0.21
SiO® 49.45 49.40 50.53
AlO®? 30.03 30.02 29.31
GaO 16.49 15.87 14.50
Na’O 3.85 2.08 3.82
100.05 Glühverl. 0.64 0.54
In dem ersten sind o.1ı SO? in Cl, in beiden FeO und MgO in
CaO, K?’O in Na’O verwandelt.
Offenbar ist hieher auch der Porzellanspath von Passau
zu rechnen, in welchem nach ScharsÄutL 0.92 Procent Chlor ent-
halten sind. Nach Abzug desselben als NaCl bleibt für das Silicat
R:A:Si= ia: 0.9:2.8, so dass es gleichfalls
RSAISINHO®
ist. Na:Ca ist in demselben = ı:2 und das Na des NaCl verhält
sich zum Rest = 1:6.
Eine spätere Analyse Wırrstein’s deutet einen weiter veränderten
Zustand der Substanz an, welche schliesslich zu Kaolin wird.
SCHAFHÄUTL WirrsTein
Cl 0.92 1.34;
SiO? 49.20 54-87
AU 27.30 25.23
CaO 15.48 11.62
Na?0 453 4-95
K’O 1.23 1.50
H’O 1.20 99.51
99.86
598 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
In der letzten Analyse ist im Silieat R:Al:Si— 1.14,:.1.373 75
Na:Ca=1:1.3 und Na:Na= 1:4; diese Abänderung steht dem
W. von Pargas in der Abtheilung IV nahe.
Unstreitig sind noch andere W. hieher zu zählen, deren Analysen
jedoch der Chlorbestimmung ermangeln.
Wenn wir den Humboldtilith (Melilith) dieser Abtheilung ein-
reihen, so geschieht dies auf Grund einer neueren Analyse von
Scuumwr', welche das Vorkommen im Basalt des Hochbohl in der
schwäbischen Alp betrifft.
Es ist nämlich
en Gefunden Angenommen
R:#:Si SE GE 026
Fe: Al ne! 10272
Na:R Re) 1: 1555
Be :Me.3Ca WERn.7 224 1:10: 25.66
Na°Si?07
Na?R"Resir0® — 1ıR3Si207
2B3Si0”"
Berechnet Gefunden
Si0O? 45.20 44.76
ALO3 8.86 7.90
FeO3 , 6.18 5.16
Fe oO 1.39 1.39
Ca0O 27.06 27.47
MgO 772 8.60
Na’?O 3.59 2.87
100. 1.42 Glühverlust
99-57
Erneute Untersuchungen des H. vom Vesuv und von Capo di
bove wären sehr zu wünschen.
IV. Verbindungen von 4 Mol. normaler Silicate uud ı Mol.
Halbsilicate.
Bei ZA
R"Si50'% — 4R?SiO3 + R'SiO!.
! N. Jahrb. Min. 1882. 2, 369.
RANMNELSBERG: Über die Gruppe des Skapoliths. 599
Hieher gehören Wernerite von Gouverneur, Malsjö, Arendal
und Pargas, von denen neuere vollständige Analysen vorliegen.
Der W. von Gouverneur, New York, wurde von G. vom Rırn,
später von Sıröcz und zuletzt von mir untersucht. Er bildet durch-
sichtige, in Kalkspath eingewachsene Krystalle und hat ein V.G. — 2.66.
Der W. von Malsjö unterscheidet sich von dem in der vorigen
Abtheilung beschriebenen durch einen Mehrgehalt an Säure von 3 Pro-
cent, und einen Mindergehalt an Kalk von 4 Procent. Er hat ein
V.G. = 2.675, und wurde von Sıröcz analysirt.
Auch der W. von Arendal dieser Abtheilung, im Säure- und
Kalkgehalt dem vorigen gleich, steht in ähnlicher Beziehung zu den
von HArrwarz, Worrr und Rarn beschriebenen. Er hat ein V.G. —
2.676 und wurde ebenfalls von Sıröcz untersucht.
Der hieher gehörige W. von Pargas bildete eine trübe krystal-
linische Masse, und scheint mit einem früher von Harrwarn unter-
suchten (von Petteby bei Pargas) übereinzustimmen. Er ist kürzlich
von mir analysirt worden.
Alle diese W. enthalten 532 — 54 Procent SiO’ und nur 10—ı2 Pro-
cent (a0,
ı. Gouverneur.
"
Nach Abzug von NaCl bleiben im Silicat, 2Na=R gesetzt,
R: Al: Si
1.2:0.98:3.5 nach mir
1217: 2.0 8,3005 2» SIPOCZ.
Unter Annahme von ı1.2:1:3.5 erhält man
Re Alosisot:
zude rda Na 092 0 Srılgek 1.2237) ist, -und NaCl: Na = 153,
8NaCl + 3NaCa?A1Si350'? —
2Na”Sı50"
8NaCl + !4CadSı50"
5AlPSi'50#
oder in aufgelöster Form
2Na’SiO?) A
8NaCl + 4 !4CaSi03 ) + (4Ca?SiO*
5AlSi?0° \Arspo"
600 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
Berechnet Gefunden
Reg. Sır. Raru
Cl 2.38 2.33 2.14
SiO? 52.87 52.90 52.05 52.25
AlO? 25.68 24.95 »6:32 23.97
CaO 11.28 10.54 11.62 10.95
NEO 8,32 9.10" 7:68 9.84
100.53
Sıröcz giebt auch 0.14 SO? an, die bei mir nicht vorhanden war.
Er fand 11.30 CaO, 0.23 MgO, o.ıı FeO, so wie 6.64 Na’O und
1.58 K’O neben 0.42 Glühverlust.
2. Malsjö und Arendal.
Beide sind unter sich und dem vorigen gleich, nur etwas ärmer
an NaCl
2NaCl + Na?Ca’Al'Si3 0"? —
2Na”Si50"°
6NaCl + !40a°Si50"
5A] Si50#
Berechnet Gefunden
Malsjö Arendal
Cl 1.80 1.70 1.63
Si0O? 53.39 52.48 BR
Al0? 25.93 25.26 24.24
CaO 11.39 12.44 11.57
Na’O 7.88 7.00 7.47
100.39
In Malsjö wurden 0.39 FeO, 0.79 K’O und 0.75 H’O gefunden. —
Arendal gab 0.9 SO?, aeg. 0.8 Cl, so dass dessen Menge somit 2.43,
und dieser W. dem von Gouverneur gleich sein würde. Ausserdem
waren 0.26 FeO, 0.42 K’O und 1.08 H’O vorhanden.
Auch ein von Damour” früher beschriebenen W. von Arendal ist
wohl gleicher Natur, nur werden 3.25 Procent Wasser und nach Ab-
zug desselben 14.5 CaO angegeben.
3. Pargas.
Er weicht nur insofern von den vorigen ab, als Na: Ca im Silicat
nieht = ı: ı, sondern = 4:3 ist. Er wird durch
\ 2
;NaCl + Na” Ca" AlSi50?” — 5NaCl + | 3CaPSi50"
| Arsiso® \
ausgedrückt.
! Gef. 8.10 Na20, 1.53 K2O.
?2 Des Croızeaux Manuel ı, 225.
RauneLsgers: Über die Gruppe des Skapoliths. 601
Berechnet Gefunden
Cl 1.85 1275
SiO? 53.16 59.32
AlO3 25.51 24.67
(a0 10.50 9.84
N3:0: ‚9.38 9.12
100.40 0.71 Glühverlust.
Im Na’O ist das Aeq. von 3.93 K?’O enthalten.
Auch ein faseriger und stänglicher W. von Le Selle, Monzoni,
scheint gleicher Natur zu sein. Nach Kırrennever' enthält er 52.19 SiO?,
23.54 AlO?, 9.61 Ca0, 12.65 Na?O, 2.1ııK?O. Auf Cl wurde nicht
Rücksicht genommen.
Die Berechnung der hier zusammengestellten Analysen spricht
theilweise zu Gunsten einer Verbindung von ı Mol. Halbsilicat mit
bald 3, bald 5—6 Mol. normalen Silicats. Das für alle vorausgesetzte
Verhältniss 1:4 ist gleichsam ein mittleres. Wäre es möglich, solche
Substanzen in den einzelnen Theilen eines Krystalls zu untersuchen,
so dürften sich wohl Verschiedenheiten ergeben.
C. Normale Silieate.
Bi Den: RSiO3.
Wir müssen als solche den W. von Ripon, Canada, so wie den
Mizzonit vom Vesuv betrachten.
Der erstere, von Apams” untersucht, enthält 54.8 SiO? und 9.0 CaO,
der letztere, von Raru® analysirt fast genau die gleichen Mengen, es
fehlt jedoch die Chlorbestimmung.
Im W. von Ripon sind 2.41 Cl = 1.56 Na, und 0.8 SO? — 0.46 Na
enthalten. Es bleibt dann für das Silicat, Na — R gerechnet,
R:Al:Si=1.18:1:4.1= 1.22 :1.04:4.25, wofür wir 1.25 :1:4.25
=5:4:17 setzen, d. h. das Silicat
RSALSiYTOS"
schreiben.
Da nun in ihm Na: Ca = ı.3: 1 ist, so erhält man
Na*tCa? Al+Si'705' >
oder vollständig
! Rarn: Verh. V. Pr. Rheinl. 1879.
2 Am. J. Sc. (3) 17.315.
® Pose. An. 119, 254-
602 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
ee 2Na’SiO?
son, casio).
? \A1Soo
Berechnet Gefunden
so? 0.73 0.80
cl 2.60 SAAL
SiO? 56.08 54.86
AlO3 22.43 22.04
Ca0 9.24 9.09
Na’0 09.66 9:01”
100.74 Glühverl. 0.86
Die Rechnung verlangt also ı.2 Procent mehr Säure als gefunden
wurde. Nur unter der Annahme, dieser W. enthalte etwas Halb-
silicate (etwa I15R? SiO? gegen RiSi Ot), würde diese Differenz ver-
schwinden.
Leider ist es mir aus Mangel an Material bisher nicht gelungen,
am Mizzonit die fehlende Chlorbestimmung nachzuholen. Rarn’s
Analyse ergiebt
Na :CasAl:Sı = 1.52.007:10:2,0; oder R: Al: Si nahe —ATTEN.N.
Mit Rücksicht auf einen sicherlich vorhandenen Gehalt an NaCl dürfte
man vermuthen, der M. sei
Na’SiO3
4NaCl + Na C3Al’Si'0* — 4NaCl +! 3CaSiO3 \.
4AlSP O0 \:
Zu dieser Abtheilung gehören auch ihrer Zusammensetzung nach
die an verschiedenen Punkten in den Pyrenäen vorkommenden Skapo-
lithe, welche man früher theils Couseranit, theils Dipyr genannt hat.
Dass sie in die Skapolithgruppe gehören, ist besonders von ZırkEL”
nachgewiesen worden. Ihre äussere Beschaffenheit lässt schliessen,
dass nicht alle sich in unverändertem Zustande befinden, und dies
wird durch einen bis 5 Procent steigenden Wassergehalt einiger be-
stätigt. Abgesehen von diesem, enthalten sie 533 —58 Procent Säure
gegen 8—ı2 Procent Kalk. Berechnet man die Atomverhältnisse, so
' "
findet man, 2R = R, genommen,
Worin 0.49 Fe 03.
Worin 1.13 K2O.
Ztschr. d. Geol. Ges. 19, 68 (1867).
RANMELSBERG: Über die Gruppe des Skapoliths. 603
R:Al:Si R:Si
ı. (Couseranit) DurREnoY 1.57:1:3.7 2v.A 3
2. (desgl.) GoLDscHniDT VNA AEN BT
3. Pouzac Pısanı a: Ike) ee
4. Libarens Deuesse 2 203.8 EN
5. Pouzae Damour a LEAST ZT
6. Libarens Pısanı na Bee 2.01
Nr. ı und 2 sollen je ı At. Na und K enthalten.
Der säureärmste (52.3 Procent) und der kalkreichste (11.95 Pro-
cent) Nr. ı steht den Werneriten von Gouverneur, Malsjö und Arendal
(Abtheilung IV) sehr nahe, während die säurereichsten (58 Procent)
und kalkärmsten (7— 9.7 Procent) Nr. 5 und 6 gleich dem W. von
Ripon und dem Mizzonit als normale Silicate erscheinen.
Ferner ist
Al:Ca Ca-Na, RK
13 1,1. 1.7.0
DE 10:G 10:2003
Sc. Wenon 1:0.6
A21,70:06 10:79.0
Bi 102 Wr.
08217.0.0 239
D. Verbindungen von normalen und zweifach sauren Silicaten.
Von Skapolithen dieser Art kennen wir nur einen einzigen, den
von G. vom Rarn' beschriebenen Marialith aus dem Piperno von
Neapel. Die von ihm mitgetheilte Analyse entbehrt einer Chlor-
bestimmung. Da jedoch Asıcn in dem Gestein dieses Element ge-
funden hatte, Raru selbst die Gegenwart von Sodalith nicht nachzu-
weisen vermochte, so machte dies einen Chlorgehalt des M. wahr-
scheinlich. Die Gefälligkeit Scaccar's hat mich in den Stand gesetzt,
diese Bestimmung ausführen, die Analyse überhaupt, die Alkalien aus-
genommen, wiederholen zu können. Dadurch ist die Zusammensetzung
dieses säurereichsten und kalkärmsten Gliedes der Gruppe klargestellt.
Nach Abzug des NaCl ist im Silicat
R:Al:Si— 0.9:1:5.3, wofür wir ı:1:5 annehmen. Ferner
ist Na:Ca=3:1, und NaCl:Na=ı:2, so dass die Formel
| 3; Na’s; 0"
3NaCl + Na’ Ca? AB Si50”— 12 NaCl + | 2 Cat Sı on!
5; AltSi50?
folgt.
! Ztschr. d. Geol. Ges. 18, 634.
Sitzungsberichte 1885. 53
604 Gesammtsitzung vom: 18. Juni.
Die Silicate entsprechen mithin
RSSi504 — 3R?SiO3 + R’Si?OS,
d.h. der M. besteht aus 3 Mol. normaler und ı Mol. zweifach
saurer Silicate.
In aufgelöster Form ist seine Formel
Na \ ze)
ı2NaCl+3 | 2CaSiO3 ! + 2 CaSi?O>
| „assoo\ 15A18760:5
It K:Na=1:12, so ergiebt die Rechnung:
Gefunden
Re.! Raru
Cl A207 4.00
SiO? 60.12 61.40 62.72
AlO3 20.44 19.63 21.82
CaO 4:49 4.10 0.63”
_Na’O 10.32 9.37
K’O 1292 1.15
100.96
Umgewandelte Skapolithe.
Während kein Grund vorliegt, einen Skapolith, welcher so reich
an Säure und so arm an Kalk ist wie der Marialith, für ein Um-
wandlungsproduct zu halten, kennen wir evidente Fälle, in denen
sowohl die morphologische wie die chemische Beschaffenheit der Sub-
stanz den veränderten Zustand der ursprünglichen Masse ersehen lassen.
Besondere Verdienste hat sich G. vom Rarn durch die Untersuchung
derartiger Vorkommen von Arendal erworben, die durch Eintreten
von Kali und Wasser und Reduetion des Kalks auf ein Minimum eine
beginnende Glimmerbildung andeuten. theils durch das Verschwinden
der Alkalien und Aufnahme von Magnesia, Eisenoxyd und Wasser auf
complieirtere Processe schliessen lassen. Überhaupt ist die Verwand-
lung des Skapoliths in Epidot, Albit, Glimmer, Speckstein und Kaolin
wohl bekannt.
Diesen Thatsachen möchte ich einige neue hinzufügen.
Als Wernerit von St. Lawrence Co., New York,” erhielt ich zwei
isolirte Krystalle und ein derbes Stück, beide von bläulicher, aussen
! Nach Abzug von 2.85 Procent Magneteisen.
®2 Und 0.3ı MgO.
® Als Fundorte von Skapolith in St. Lawrence Co. führt Daxa blos Edwards
und Gouverneur an.
RAumeisgers: Über die Gruppe des Skapoliths. 605
mehr grünlicher Farbe, frei von Kalkcarbonat. Die Krystalle liessen
sich mit Hülfe aufgelegter Glimmerblättchen annähernd messen, und
ergaben die Winkel des Skapoliths. Das V.G. der Krystalle ist 2.621.
Krystalle Derbe Masse
Ci 0.09 0.20
SiO’ 50.73 59.2C
A1lOS 25.49 34.78
CaOd 10.24 0.11
MgO — 0-07
Na?’O 11.09 DSH
Glühverlust 1.96 Beat
99.60 100.07
Während die Substanz der Krystalle noch so ziemlich an den W.
von Gouverneur erinnert, sehen wir in der derben Masse den Kalk
und die Alkalien fast verschwinden, und das Ganze in ein wasser-
haltiges normales Thonerdesilicat verwandelt.
Die vorliegende Arbeit versucht nicht, die Zusammensetzungs-
differenz der Skapolithe auf hypothetischem Wege zu erklären. Sie
vergleicht die Thatsachen, wie sie vorliegen, und untersucht die Ver-
bindungsverhältnisse, ohne entscheiden zu wollen, ob dieselben durch-
gängig ursprüngliche sind.
Ausgehend von dem für alle Salze, also auch für die Silicate
geltenden Gesetz, dass jede Sättigungsstufe durch ein einfaches Ver-
hältniss der beiden Radicale charakterisirt ist, existiren für uns nur
solehe Siliecate als selbständige, in welchen die Proportion R:Si= 2:1
(normale), oder —=n- 2:1 (basische) oder 2:n-ı (saure) sind. Zwischen-
verhältnisse führen wir hier wie in allen ähnlichen Fällen (z. B. bei Vana-
daten, Molybdaten, Wolframiaten) auf intermediäre Verl indungen zurück.
Wir denken uns ferner in Silicaten mehrerer Metalle jedes ein-
zelne Siliecat als für sich bestehend, die Mol. der einzelnen in be-
stimmter Weise gruppirt, gleichwie wir ein Doppelsalz, z. B. Alaun,
uns nicht als ein Gesammtmol. K?’A1LS'O', sondern als K’SO! + AISSO”
vorstellen, und in der Bildung und Zersetzung (durch Diffusion der
Lösung) Gründe für unsere Ansicht finden.
Diesen Anschauungen gemäss haben wir darzuthun gesucht, dass
in der Skapolithgruppe nur die einfachsten, unendlich oft wieder-
kehrenden Silieate auftreten, nämlich:
normale — N2’Si0O3 = CaSi0O3 — AlSi30?
Halbsilieate — NatSi0O* = (a?’Si0* = Al’SPO"”
zweifach saure = Na?’Si?05 — CaSi?05 — AlSi?O"5
und Verbindungen je zweier von ihnen.
606 Gesammtsitzung vom 18. Juni.
Folgende Übersicht ergiebt die einzelnen Abtheilungen.
Procent
Ssi0? CaO
A. Halbsilieate.
BERROLEHE: 2. er ee 40 33
B. Verbindungen von normalen und Halbsilicaten.
I. Zu ı und 6 Mol.
Meyjanıt wom- Vie. 4 1 en 44 22
I. Zu ı und 3 Mol.
MWemerit (Ersbyt) mon: Parzas 2a Dre eu... 0: 45 20
(Mejonit vom Laacher See).
UI. Zu je ı Mol.
Wernerit von Malsjö (Re.)
» » Rossie erh re Ra Ines SEELE ET 49 16
» » Boxborough
(Bolton, Arendal, Hesselkulla, Laurinkari, Ostgothland.)
Porzellanspath.
Humboldtilith vom Hochbohl.
IV. Zu 4 und ı Mol.
Wernerit von Gouverneur
» » Malsjö (Sır.)
j ... Arendal Se, lee 53
» » Pargas (Re.) \
(Le Selle, Couseranit und Dipyr zum Theil.)
GC. Normale Silicate.
Wernerit von. Riponrri:sel. IS ME 56 9
(Mizzonit, Couseranit und Dipyr zum Theil.)
D. Verbindungen von normalen und zweifach sauren
Silicaten zu 3 und ı Mol.
Meamalitb... rl er TE EEE 60
45
Die Skapolithgruppe gleicht am meisten der des Nephelins und
Sodaliths, insofern die Silicate meist, vielleicht immer, mit gewissen
Mengen Chlornatrium (anscheinend zuweilen auch mit Natronsulfat)
verbunden sind, dessen Menge im Allgemeinen mit derjenigen des
Natronsilicats zunimmt. So ist das Verhältniss NaCl: Na des Silicats in
Ersby ne
Malsjö (Re.) = ı: 6
Gouverneur = 1: 3
Ripon — Re or
Marialith ——) (02
Doch finden auch Ausnahmen statt, weil vielleicht wie
beim
Sodalith. das Verhältniss des Chlorids zum Silicat kein eonstantes ist.
RANMELSBERG: Über die Gruppe des Skapoliths. 607
Bei der Formulirung ist jede hypothetische Annahme vermieden.
Eine solche würde darin bestehen, wenn man in den Skapolithen Ver-
bindungen eines Natronskapoliths und eines Kalkskapoliths erblicken
wollte. Um jedoch dieser auch in anderen Fällen gebrauchten Schreib-
weise der Formeln gerecht zu werden, a sie hier einen Platz finden.
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+ 2Na0l
+ 2NaCl
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(Sıe.) desgl. + 6NaÜl
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Ausgegeben am 25. Juni.
Berlin. gedruckt in der Reichsdruckerei
Sitzungsberichte 1885. 54
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1885.
XXX
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
"ZU BERLIN.
25. Juni. Sitzung der philosophisch -historischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. Currivs.
l. Hr. Warrz las über den sogenannten catalogus Felicianus
der Päpste.
2. Hr. Hırschrero legt das jüngst erschienene Werk von GAETANo
Marıst: iscrizioni antiche doliari pubblicate dal Comm. G. B. pe Rossı
(Rom 1884) im Auftrage des Herausgebers vor und hebt die Bedeutung
der durch 8o Jahre unpublieirt gebliebenen Sammlung für chronolo-
gische und topographische Untersuchungen hervor. Derselbe liest
sodann einen von pe Rossı an Hrn. Monmsen gerichteten Brief vor,
in dem Hr. pe Rossr der Akademie seinen Dank ausspricht für die
Hrn. Deesser, dessen Verdienste um das Werk von dem Herausgeber
auf das Wärmste anerkannt worden sind, gegebene Erlaubniss, die
für das Corpus inseriptionum Latinarum gesammelten Scheden zur
Emendation und Ergänzung der Marınt'schen Lesungen benutzen zu
dürfen.
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Ausgegeben am 2. Juli.
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Sitzungsberichte 1885.
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XXX
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
25. Juni. Sitzung der physikalisch-mathematischen Classe.
Vorsitzender Secretar: Hr. E. pu Boıs-Revmonov.
l. Hr. Auwers las eine Abhandlung, in welcher Beobachtungen
der Sonnenfinsterniss vom 16. Mai 1882 in Berlin, Potsdam und Strass-
burg und deren Ergebnisse mitgetheilt wurden. Die Veröffentlichung
derselben wird am geeigneten Orte stattfinden.
2. Hr. Beyrıcn legte eineMittheilung des Hrn. Prof. Berexpr hierselbst
über das Tertiär im Bereiche der Mark Brandenburg vor. Dieselbe wird
nach Herstellung der dazu gehörigen Karte in diesen Berichten erscheinen.
3. Hr. Burmeister in Buenos Aires sendet zu seiner im Stück NXVII,
vom 1 1.Junid.J., abgedruckten Mittheilung: Berichtigung zu Coelodon,, eine
Ergänzung, welche dem Abdruck in den Mathematischen und naturwissen-
schaftl. Mittheilungen hinzugefügt werden wird, für die Leser aber, seren
nur die Sitzungsberichte zu Gebote stehen, hier in einer Anmerkung folgt.
' Zu dem Satze oben S. 571. 572: »Coelodon gehört vielmehr mit Megatherium in die-
selbe Unterabtheilung, und von letzterer Gattung wissen wir bis jetzt nichts Sicheres über
die frühere Form der Zähne, indem noch niemals jugendliche Individuen mit beginnender
Abkauung der Zahnkronen aufgefunden sind« — bemerkt Hr. Burueisver jetzt: »Es ist
möglich und mir sehr wahrscheinlich, dass Megatherium Gervaisü (Les Mammiferes fossiles
de l’Amerique du Sud, ete. par H. Gervaıs et Fr. Amecnmo; Paris 1880. 8°. p. 137;
no. 194) diesen Jugendzustand der gewöhnlichen Art vorstellt; alles was die Verfasser in
der kurzen Beschreibene von specifischen Unterschieden angeben: — vier Zähne im
Öberkiefer, drei im Unterkiefer an jeder Seite; kürzere Gesichtsportion des Schädels;
geringere Grösse des absteigenden Astes am Jochbogen — spricht dafür, dass der Schädel
einem jugendlichen Individuum angehört hat; zumal wenn man weiss, dass die im Gebiss
der Gattung Megatherium so ähnliche Cnelodon - Gattung dieselben Verhältnisse zeigt. «
Ausgegeben am 2. Juli.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei,
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XXX.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
2. Juli. Öffentliche Sitzung zur Feier des Lrissız’schen
Gedächtnisstages.
Vorsitzender Seeretar: Hr. Currius.
Hr. Currıus eröffnete die Sitzung mit folgender Ansprache:
Von unsern öffentlichen Sitzungen sind zwei nationalen Festtagen
gewidmet zum Zeugniss, dass sich die Akademie mit dem geschicht-
lichen Leben des Vaterlandes in unauflöslichem Zusammenhange fühlt.
Die dritte ist eine häusliche Feier. Es ist der Ehrentag des ersten
Vorstandes unserer Gesellschaft; es ist der Tag, an welchem die
neuen Mitglieder an den Herd des Hauses geführt werden und an
dem das Andenken derer gefeiert wird, welche unserer Gemeinschaft
entrissen sind. Der Leısnız-Tag ist aber nicht blos ein Tag dank-
barer Rückschau. wie man eines Wohlthäters gedenkt, aus dessen
Schenkung ein Haus gegründet ist, unter dessen Dach man zu-
sammen wohnt: es ist keine äusserliche Thatsache, die wir uns in
das Gedächtniss rufen, sondern ein innerer, stetiger Zusammenhang,
der zum Ausdruck drängt, eine Lebensgemeinschaft wie zwischen
Wurzel und Stamm. Denn bis heute sind wir beschäftigt, durchzu-
führen und auszugestalten, was Leısnız vorschauend entworfen hat;
wir sind Glieder einer Kette, die ein Lebensstrom erwärmt. Was
auch in glücklichen Stunden dem Einzelnen gelingt, das Grösste,
Meiste und Beste haben wir empfangen; wir wandeln auf Bahnen,
die unsre Vorgänger geebnet, wir ärndten unaufhörlich, was sie
Sitzungsberichte 1885. 56
614 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
gesäet haben. Wir halten auch, je mehr die Arbeit sich theilt, um
so entschlossener an der Gemeinsamkeit fest, wie sie uns in der
Person unsers Gründers vorbildlich vor Augen steht, und gedenken
derer, welche ihr in hervorragender Weise gedient haben, mit
besonderer Dankbarkeit. Darum tritt mir auch an diesem Tage das
Bild des Mannes vor die Seele, der vor 70 Jahren in diesen Kreis
eintrat, der als Träger unserer gemeinsamen Interessen wirksamer
gewesen ist als irgend ein Akademiker, der an Leısnız’ Werk fort-
gebaut hat, und der mit Leienız die Verwandtschaft hatte, dass er
die wichtigsten Riehtungen akademischer Forschung in seinem Geiste
vereinigte.
Seit Aueust Böckn eintrat, haben sich auch in dem stillen Kreise
unserer Akademie mancherlei Wandlungen vollzogen. Damals stand
sie der Öffentlichkeit ferner; damals wurden noch keine Monats-
berichte oder Wochenberichte, wie sie die bewegtere Gegenwart her-
vorgerufen hat, veröffentlicht; nur in Jahresbänden wurden die Denk-
schriften niedergelegt. Aber es waren Werke, welche die Akademie
zum Centrum des geistigen Lebens machten; es waren Thaten des
Geistes, an denen das deutsche Volk sich aufrichtete, und wir sehen
zu den Männern, die damals zusammenstanden, wie LEoroLD von Buch,
den Gebrüdern HumsoLpt, NIEBUHR, SCHLEIERMACHER, SAVIGNY, BÖckH,
noch heute wie zu Heroen empor.
Die Bewegung, die mit der Erhebung Deutschlands zusammen-
hing, hat auch zu einer inneren Umgestaltung geführt. Die willkür-
lichen Schranken des alten. Classensystems waren nicht zu halten,
indem Naturkunde und Mathematik sich immer enger verschwisterten,
und andererseits die Einheit philosophischer und historischer Forschung
durch die Arbeiten von Böcku und SCHLEIERMACHER deutlicher hervor-
leuchtete. Durch eine wohlthätige Reform erhielt jede der Doppel-
classen nun die nöthige Stärke, um sich als einen selbständigen Or-
ganismus mannigfaltiger Lebensthätigkeit zu fühlen, und die gegen-
seitige Wechselwirkung, die zur Gesundheit einer akademischen Körper-
schaft unentbehrlich ist, wurde frischer und lebendiger, als es im Vier-
classensystem der Fall gewesen war. Die Verschiedenheit der zwei
Hauptbahnen menschlicher Erkenntniss ist klarer in's Bewusstsein ge-
treten, aber zugleich das Bedürfniss gegenseitiger Ergänzung und die
Gewissheit der die Mannigfaltigkeit umspannenden Einheit.
Verschiedene Wege sind eingeschlagen, um jede Gebietstrennung
aufzuheben. Man hat die 'Thatsachen des geistigen Lebens in Form
von Gesetzen zu bringen gesucht, welche wie ausnahmlose Ordnungen
der Natur den Entwickelungsgang der Völker beherrschen sollen. Man
hatte andererseits die der sichtbaren Welt zu Grunde liegenden Normen
Currıus: Festrede. 615
als etwas dem menschlichen Denken so Entsprechendes aufgefasst, dass
auf dem Wege des sich selbst überlassenen Gedankens die Natur-
gesetze erkennbar seien.
Alle gewaltsamen Einigungsversuche haben aber immer das Gegen-
theil bewirkt und die Kluft grösser gemacht als zuvor. Denn alle
wahre Verständigung kann nur darauf beruhen, dass mit voller
Unbefangenheit bei jeder Richtung wissenschaftlieher Forschung der
besondere Beruf, die besonderen Aufgaben und Methoden klar in’s
Auge gefasst werden. So gewiss der Menschengeist ein in sich einiger
ist und nach einer Wahrheit dürstet, so gewiss gehen auch unsere
Wege nicht bloss äusserlich neben einander; es fehlt nie an solchen,
die mit Belehrung und Erhebung von einem Arbeitsfeld auf das andere
blieken, und unser Böckn hat der historisch -philologischen Forschung
die grössten Dienste geleistet, indem er, von Hause aus mit mathe-
matischem Sinne ausgestattet, messend, rechnend und wägend an die
Probleme der Alterthumswissenschaft hinangetreten ist.
Hat man schon in alter Zeit das rastlose Streben der Menschen-
seele mit dem Feuer edler Rosse verglichen, die unaufhaltsam zum
Ziele eilen, ist es wohl auch mir gestattet, die Akademie nach der
Reform unter dem Bilde eines Zwiegespanns zu betrachten und darin
den Ausdruck des wetteifernden Strebens nach einem Ziele wie der
gegenseitigen Förderung in Erreichung desselben zu erkennen. Die
Gangart der beiden Rosse ist aber eine sehr verschiedene, und es
darf nicht befremden, wenn der methodisch sichere, schulgerechte
und tadellose Gang, der auf der einen Seite anerkannt werden muss,
auf der anderen vermisst wird, indem hier mehr Unruhe und Un-
sicherheit herrseht und die Gefahr eines Fehltritts näher liegt.
Es wäre ungerecht, wenn man diese Beobachtung ohne Weiteres
in Lob und Tadel umsetzen wollte. Der Unterschied liegt in der
Verschiedenheit unserer wissenschaftlichen Berufsthätigkeit begründet.
Freilich fehlt es auch auf dem Felde philosophisch - historischer
Forschung nicht an solehen Arbeiten, wo bei Sammlung, Ordnung
und Deutung des neu gewonnenen Materials die Technik des sach-
kundigen Forschers nicht leicht fehl gehen kann, aber die köstlichsten
Belehrungen, die uns unverhofft aus Stein und Erz entgegenleuchten
oder aus zerfetzten Streifen von Papyrusrollen, die sich ein warmer
Freund klassischer Litteratur ins Grab legen liess — sie fliessen nur
tropfenweise; jede einzelne Thatsache aber ist Theil eines Ganzen
und kann nur im Zusammenhang gewürdigt werden, dessen Her-
stellung einer divinatorischen Geistesthätigkeit bedarf.
Ein gewisser poetischer Zug, so darf ich wohl unter Zustimmung
meiner Freunde sagen, ist bei jeder wahrhaft wissenschaftlichen Leistung
56*
616 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
unentbehrlich. Bei der mathematisch-physikalischen Forschung liegt
der schöpferische Act im Aufstellen des Problems. Ist eine bedeutende
Aufgabe richtig gestellt, so giebt die Operation des auf einen Punkt
gerichteten Gedankens, von allen Nebendingen unberührt, von allen
individuellen Neigungen und Stimmungen unbeirrt, in Maass und Zahl
die endgültige Antwort.
Als philosophisch - historischer Forscher hat uns zwar schon Aristo-
teles ein unvergleichliches Beispiel gegeben, dass man der voran-
gehenden Methode, wie er sie nennt, gleichsam selbstlos, folgend,
auch die Einrichtungen der Menschenwelt so unbefangen betrachten
und erörtern kann, wie der Physiologe einen Pflanzen- oder Thier-
körper untersucht. Das Resultat kann aber nie als ein gegebenes
hingenommen werden, und während der Naturforscher nur Eins im
Auge hat, drängen sich hier bei jeder Betrachtung so mannigfaltige
Gesichtspunkte auf, welche beachtet sein wollen, wenn der todte
Stoff lebendig und die innere Wahrheit gefunden werden soll. Das
geschichtliche Bild lässt sich nicht wie ein Mosaik aus Steinen und
Stiften zusammensetzen. Die Bruchstücke sollen zu einem Ganzen ver-
bunden werden und es wird eine so energische Selbstthätigkeit ver-
langt, dass WırHeLm von HunsoLpr in einem seiner vorzüglichsten
akademischen Vorträge auf die innere Verwandtschaft des Dichter-
berufs mit der Aufgabe des Gechichtschreibers hinweisen konnte.
Darin liegt ja der unvergleichliche Reiz historischer Probleme,
dass jedes einzelne uns in das volle, reiche Menschenleben hineinführt
und alle Saiten unseres Gemüths anklingen lässt — aber wir steuern
auch bei jedem, das Nächstliegende überschreitenden Versuche in ein
klippenreiches Fahrwasser hinaus, wo wir mit dem, was doch jeder
wissenschaftlichen Forschung Endziel ist, ein allgemein gültiges Schluss-
ergebniss zu finden, Schiffbruch zu leiden fürchten müssen.
Beim Messen und Wägen können auch die etwa unterlaufenden
Täuschungen in Rechnung gebracht werden. Aber wie wäre es mög-
lich, die subjeetiven Beeinflussungen, denen die Geschichtsbetrachtung
ausgesetzt ist, zu überblicken und zu controliren?
Sie liegen zum Theil schon im Temperament. Die Einen sind von
Natur geneigt, jeder ansprechenden Überlieferung zuzustimmen, die
Andern lehnen sich dagegen, wie eine ungebührliche Zumuthung auf.
Auch besteht zwischen dem Gegenstande und dem Betrachtenden
eine Art von persönlichem Verhältniss, insofern die Völkergeschichte
den Lebensbeschreibungen vergleichbar ist. Niemand wird leicht auf
den Gedanken kommen, Biograph eines Bildhauers zu werden, wenn
er nieht ein angeborenes Interesse für die Kunst des Meisters hat.
So fühlen wir uns zu den Völkern hingezogen, für deren geschicht-
Currius: Festrede. 617
liches Wesen wir eine volle Auffassung zu haben glauben, und diesem
Zuge der Wahlverwandtschaft wird man die Berechtigung nicht ab-
sprechen wollen. Ein tief empfundener Antheil an dem Gegenstand
der Darstellung steht ja mit kritischer Quellenforschung nicht im Wider-
spruch. Wer hat mit seinem persönlichen Urtheil weniger zurück-
gehalten als Nıesunr und wie sehr das Gemüth von Böckn bei Be-
urtheilung der athenischen Staatsmänner betheiligt war, dafür zeugt,
dass er sich gedrungen fühlte, Abbitte zu thun, als er an dem lautern
Charakter des Perikles einen Zweifel ausgesprochen hatte.
Auch wird man dem Geschichtsschreiber das Recht einräumen,
Jas man dem Bildhauer giebt, der die charakteristischen Züge zum
vollen Ausdrucke bringt und über die zufälligen Entstellungen des
Gesichts hinwegsieht; denn nicht in den Schwächen, die ein grosser
Mann mit Allen seines Geschlechts theilt, liegt seine Bedeutung, sondern
in dem, was er vor den Andern voraus hat.
Ein gewisser Idealismus ist Recht und Pilicht des Historikers,
aber er ruft begründeten Widerspruch hervor. Man vermisst die
richtige Vertheilung von Lieht und Schatten, von Haupt- und Neben-
gruppen. Wie kräftig hat O. Mürzer die hellenische Geschichte ge-
fördert, indem er die Städte und Stämme als die eigentlichen Träger
derselben aus dem Dunkel hervorzog! Aber er war so eingenommen
für die neu entdeckten Minyer und so begeistert für seine Dorier, dass
er sie, wie wir jetzt urtheilen müssen, auf Kosten der Wahrheit aus-
gestattet hat.
Der Mensch kann in Betreff des Menschlichen von sich selbst
nicht frei werden. Der Eine schwärmt für die Idee des mittelalter-
liehen Kaiserthums, der Andere legt den Maassstab nüchterner Politik
an, der Eine sieht in dem religiös-sittlichen Verhalten eines Volkes
die Ursachen seines Vor- und Rückganges, die Anderen fesselt mehr
als alles Andere der Gegensatz der Parteien, in denen sie der Gegen-
wart entsprechende Richtungen wiederfinden. Darum schrieb MiLrorv
die Geschichte der Griechen als Tory, GEORGE GroTE als Whig. GRroTE
glaubte aus seinem parlamentarischen Leben die Erfahrungen mitzu-
bringen, um die antiperikleische Partei zum ersten Mal in das rechte
Licht zu stellen und er ruhte nicht seinen Kleon so zurechtzu-
machen, dass der alte Gerbermeister, nothdürftig gesäubert, berechtigt
schien neben ihm auf den Vorderbänken einer lieberalen Opposition
Platz zu nehmen.
Wenn es sich um die Beurtheilung von Personen handelt, mit
denen unser Leben so eng verknüpft ist, dass wir es ohne dieselben
gar nicht denken können, werden wir uns mit einem grösseren Kreise
am wenigsten verständigen können. Wir sind hier am empfindlichsten
618 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
und am wenigsten zu Compromissen geneigt. So ist es auch mit
den Völkern der Geschichte. An den Hellenen haben wir Alle zuerst
die Schwungkraft des Geistes erprobt, uns in fremde Länder und
Zeiten lebendig zu versetzen; es sind die ersten Eindrücke, die uns
aus der Welt des Alltäglichen herausheben. Als Knaben nehmen
wir Partei für Achill oder Hektor und als Männer finden wir in
der Griechenwelt am meisten wahre, volle Menschengeschichte, die
unsere ganze Persönlichkeit in Anspruch nimmt.
So kommt es, dass, während die urkundliche Kenntniss des
klassischen Alterthums seit Nıesguar und Böck so riesenhafte Fort-
schritte gemacht hat, der Gegensatz der Ansichten in Hauptfragen
der Wissenschaft nirgends grösser ist, und nirgends vermissen wir
mehr eine ruhige Objectivität, die allein zu allgemein gültigen An-
schauungen führen kann.
Auf der einen Seite glaubt man noch die Brandspuren vom
Untergange llions nachweisen zu können und die Gebeine der Atriden
zu besitzen, auf der anderen wird Alles, was die Sage meldet, als
willkürliche Erfindung eines Poeten angesehen. Die Einen erkennen
es als eine der wichtigsten Aufgaben, das von den älteren Völkern
in Glauben und Sitte den Hellenen Überlieferte so zu erörtern, dass
sie den Übergang derselben in hellenisches Eigenthum nachweisen,
die Anderen verfolgen Jeden, der in dem Wesen der Athena einen
Keim des Ausländischen nachweisen will, wie den Schänder eines
Heiligthums.
Wir bewegen uns auf Gebieten, wo es unmöglich ist, die Unrichtig-
keit der einen, die Gültigkeit der entgegengesetzten Anschauung mit
Gründen, die keinen Zweifel lassen, zu erweisen. Daher verharren
so Viele bei den Anschauungen, in welche sie sich einmal eingelebt
haben, während Andere wiederum den Spielraum, welcher der histo-
rischen Combination gewährt ist, als einen Tummelplatz benutzen, auf
dem ein glänzender Scharfsinn seine Triumphe zu feiern sucht, indem
er eine Überlieferung des Alterthums nach der andern aus dem Wege
räumt, ohne auch nur den ernsten Versuch eines Beweises anzutreten.
Das sind Zustände, welche den Eindruck von Anarchie machen,
weil für die Lösung unserer Probleme keine Methoden vorliegen. deren
correete Befolgung den Erfolg verbürgt, weil die unbereehenbare Auto-
nomie des geistigen Lebens aller gesetzlichen Normen spottet, unter
denen die Natur sich begreifen lässt. weil keine Schranke vorhanden
ist, welche von Abwegen zurückhält, kein Beobachtungsinstrument,
welches den Punkt angiebt, wo der 'Thatbestand aufhört, den An-
schauungen zu entsprechen. Das ist also die sittliche Forderung, die
unausgesetzt an den Geschichtsforscher herantritt, dass er in sich das
Currıus: Festrede. — Schutze: Antrittsrede. 619
Maass finde und, je mehr Freiheit ihm gegeben ist, um so mehr
Selbstbeschränkung und Selbstverläugnung übe.
Unsere Alterthumsforschung hat sich der physikalisch -mathema-
tischen Methode genähert, indem sie mehr als früher eine empirische
geworden ist und durch Erzielung thatsächlicher Aufschlüsse das Ge-
biet subjeetiver Vorstellungen einzuschränken gelernt hat. Sie hat die
Gefahren eines einseitigen Idealismus auch dadurch bekämpft, dass sie
die Welt der Alten in allen Beziehungen des praktischen Lebens zu
erforschen begonnen hat, und Niemand hat mehr als Böckn uns darin
ein Vorbild gegeben. Niemand hat kühner neue Aufgaben gestellt,
Niemand hat sich vorsichtiger der Wahrheit genähert, Niemand ge-
wissenhafter den vollen Beweis für seine Anschauungen zu geben sich
bemüht. Darum sind während der massenhaften Erweiterung unseres
Urkundenvorraths seine Darstellungen des antiken Lebens in allen
Hauptpunkten unerschüttert geblieben und wir ehren in ihm den Meister
der Tugend, welche für die philosophisch-historische Forschung das
höchste Lob ist und zugleich die Bedingung jedes dauernden Erfolgs,
weil sie die subjeetiven Neigungen zügelt und regelt, der Tugend
besonnener Maasshaltung, der attischen Sophrosyne.
Darauf hielt Hr. Scuuzze folgende Antrittsrede:
In der grossen Auszeichnung, mit welcher mich die Akademie
dureh die Wahl zum ordentlichen Mitgliede geehrt hat, erblicke ich
vorwiegend eine Anerkennung meiner wissenschaftlichen Arbeitsriehtung.
Gerade für den Zoologen, dessen Aufgaben von entgegengesetzten Seiten
so verschieden beurtheilt werden, muss es von besonderem Werthe
sein, die Richtung seines Strebens von den berufensten Beurtheilern
gebilligt zu sehen. 3
Meinen Bildungsgange entsprechend, welcher mich von dem
Studium der Mediein aus. von der berufsmässigen Beschäftigung mit
der Anatomie des Menschen durch die vergleichende Anatomie zur
Zoologie geführt hat, ist die Grundriehtung meiner Arbeiten stets die
vergleichend anatomische gewesen.
Durch den Einfluss meines Lehrers Max Scuurtze war früh eine
besondere Neigung zu histiologischen Untersuchungen, sowie zur Er-
forschung der mikroskopischen Thierwelt in mir geweckt worden, und
durch die selbstgewonnene Überzeugung von der grossen Bedeutung
der Entwiekelungsgeschichte für die thierische Morphologie ward ich
zu embryologischen Studien veranlasst.
620 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
So kam es, dass auf meine deseriptiven und vergleichend ana-
tomischen Arbeiten zunächst rein histiologische, darauf Studien über
mikroskopische Organismen und schliesslich eine fortlaufende Reihe
von Untersuchungen über den Bau und die Entwickelung der bisher
so auffallend vernachlässigten Spongien folgte. Diese merkwürdige
Thiergruppe, mit deren Studium ich noch jetzt beschäftigt bin, ver-
spricht trotz oder vielmehr gerade wegen der Einfachheit ihrer Organi-
sation für die Lösung mancher allgemeinen Fragen von hervorragender
Bedeutung zu werden.
Wenn ich bisher zu diesen Untersuchungen absichtlich nur die
mir lebend zu Gebote stehenden Arten verwandt habe, so glaubte ich
doch die von der grossen englischen Tiefsee- Erforschungs- Expedition
erbeuteten und mir zur wissenschaftlichen Verwerthung angebotenen
reichen Schätze von Glasschwämmen nicht zurückweisen zu dürfen,
da ein eingehendes Studium der feineren Organisationsverhältnisse
dieser bisher noch fast unbekannten Bewohner der grössten Meeres-
tiefen besonders wichtige Ergebnisse zu liefern versprach.
Die bis jetzt gewonnenen Resultate erscheinen geeignet, eine feste
Stütze für jene Theorie zu liefern, welche uns zu einer ungezwungenen
und einheitlichen Auffassung der gesammten Lebewelt und ihrer Ge-
schichte führt — für die Abstammungslehre, nach welcher sich die
ganze ausgestorbene und lebende Thierwelt wie ein gewaltiger Baum
darstellt, dessen zarte Wurzeln als allereinfachste Lebewesen schon
lange vor der Silurperiode entstanden, in dessen stattlicher Krone
wir jetzt an einem der jüngsten grünen Zweige das Geschlecht der
Menschen blühen sehen.
Durch die Aufnahme in diesen Kreis hervorragender Gelehrter
habe ich neue Anregung zu freudigem wissenschaftlichen Schaffen
gewonnen, und ich hoffe, dass es mir auch gelingen wird, meinen
Pflichten als Mitglied der Akademie gerecht zu werden.
Hr. pu Boıs-Revnonp, als Secretar der physikalisch-mathematischen
Classe, antwortete:
Ihr Erscheinen in unserem Kreise, Hr. Scuurze, ist ein neues
Glied in der Reihe von Wandlungen, welche die Wissenschaft von
den Lebewesen, und deren Vertretung in der Akademie und an der
ihr eng verbundenen Hochschule, während des letzten Vierteljahr-
hunderts erfuhren. Es wäre hier nicht an der Zeit zu verfolgen, wie
einst LicHTEnstem aus einem Arzt in holländischen Diensten am Cap
E. ou Boıs-Reymonp: Antwort an Hrn: Schurze. 621
der erste Professor der Zoologie an der jungen Berliner Universität,
der Begründer der zoologischen Sammlung und des zoologischen
Gartens, und jahrzehndelang der Zoologe der Akademie ward. Ausser
dem Erforscher des kleinsten Lebens, wie EHRENBERG selber das Feld
seiner Thätigkeit nannte, und dem feinen Kenner der Insectenwelt,
Kruse, gab es aber damals unter uns neben Lic#Tensteım noch einen
Zoologen, und zwar ersten Ranges, Niemand anders als Jonannes
MüLrer, dessen ragendes Haupt im Gedenken des heutigen Geschlechtes
schon mythischer Nebelglanz umfängt.
Ausgegangen von der vergleichenden Physiologie, durcharbeitete
er mit der ihm eigenen Energie, zum Theil unterstützt durch Gehülfen
wie Henze, 'TRoSCHEL, Hın. Caganıs, mehrere der wichtigsten Abthei-
lungen des lebenden und des ausgestorbenen Thierreiches, indem er bei
tiefster Kenntniss der Gesammtorganisation aller Thiere im Sinne der
alten Cuvıer'schen Systematik classificirend verfuhr, und besonders
absoluten Merkmalen nachging, in welchen er den Stein der Weisen
für die Systematik erblickte. Der Mikrographie sich zuwendend, schuf
er dann bei uns, wie Epwarp Forges in England, jene wissenschaft-
liche Seefischerei, aus der, im Verein mit Liesıe’s Welt im Glase,
allmählich die heutigen Aquarien und zoologischen Stationen sich ent-
wickelten, und schliesslich auch die Challenger-Expedition hervorging,
deren Ergebnisse zu verwerthen das sonst so eifersüchtige Ausland
Ihrer Sachkenntniss, Hr. Scnuurze, zum Theil überlässt.
Aber wie bewundernswerth auch Mürter's zoologische Arbeiten
erscheinen, der ihn dabei leitende Gedanke kennzeichnet einen heute
völlig überwundenen Standpunkt: der Gedanke, den allgemeinen Plan
zu enträthseln, dessen Verwirklichung die periodisch schaffende Macht
von Anbeginn der Lebewesen bis zum Auftreten des Menschen auf
Erden sich vorsetzte. MüLLer’s schmerzliche Sehnsucht nach besserer
Einsicht, wie sie gelegentlich seines Fundes der Entstehung von
Schnecken in Holothurien sich Luft machte, zu einer Zeit, wo
ÜUHarLes Darwın längst im Besitz des Geheimnisses war, erinnert fast
an die Klage, welche Geier dem greisen König auf Sans-Souei in
den Mund legt, einem Volk als Held gesandt zu sein, dem nie die
Dichtung auf goldener Wolke erschien, zu einer Zeit, wo Götz und
Werther schon den Sonnenaufgang der deutschen Poäsie verkündet
hatten.
Mit der Gewalt des Genius zog JoHannes MÜLLER stets Talente
aller Art in die gerade von ihm bevorzugten Forschungskreise. Einer
seiner Schüler aus früheren Jahren war Ihr unmittelbarer Vorgänger,
Hr. Wıruerm Perers. Nachdem er sich in Nizza als Sammler bewährt
hatte, entsandte ihn Mürrrr nach dem südöstlichen Afrika, von wo er,
622 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
nach unendlicher Mühsal, 1848 mit wissenschaftlichen Schätzen bela-
den heimkehrte, um drei Jahre später Mitglied der Akademie, und
nach LicHtenstein’s Tode, 1857, dessen Nachfolger an der Universität
und der zoologischen Sammlung zu werden. Was er, bei den damals
noch sehr beschränkten Staatsmitteln, für diese Sammlung geleistet,
weiss die Welt. Über die Art seiner wissenschaftlichen Thätigkeit.
sein unermüdliches Beschreiben und Einordnen vorzüglich neuer Wirbel-
thierarten dünken sich die jungen Zoologen und Morphologen moderner
Schule nur zu leicht erhaben. Möchten sie nicht vergessen, dass nur
so der sichere Grund für den von ihnen geplanten Bau gewonnen
werden kann, dass auch diese Arbeit gethan sein will, und noch lange
nieht fertig ist.. Prrers’ kühle, zähe, vorsichtige, ganz dem besonderen
Thatsächlichen zugekehrte Natur, die Natur seiner nordischen Heimath,
war freilich dafür mehr geschaffen, als für keck verallgemeinernde
vorzeitige Phantasien. Aber man thäte ihm Unrecht, glaubte man,
dass er die Bedeutung des von Darwın eröfineten unermesslichen
Ausblickes verkannte. Gern betheiligte er sich bei den dem Britischen
Forscher von der Akademie erwiesenen Ehren, und als Vorsteher der
zoologischen Sammlung richtete er in neuerer Zeit seine Bemühungen
auf Herstellung möglichst vollständiger Varietäten-Reihen, als des un-
entbehrlichen Apparates zur Kritik des Begriffes der Art.
Einen anderen Schüler Mürrer's, aus späterer Periode, haben
Sie selber, Hr. Scuurze, uns in’s Gedächtniss gerufen, den früh ver-
storbenen Meister histiologischer und mikrographischer Forschung, Ihren
lehrer Max Schurtze. Waren Sie schon so mit unserer Körperschaft
gleichsam durch geistige Kindschaft verbunden, so gestatten Sie mir,
an welchem diese Verschlingungen deutschen wissenschaftlichen Lebens
als Zeitgenossen vorüberzogen, auch noch daran zu erinnern, was nur
noch Wenigen bekannt ist, dass der Stolz unserer Chirurgie, der
Lister’ sche Verband, dass die Krönung unseres pathologischen Ge-
bäudes, die neue Diseiplin der Bakteriologie, ihren Ausgang nahmen
von einem Versuche, den vor gerade fünfzig Jahren Ihr Vater bei
Eınarp Mirscnerticnh, nach welchem Sie heissen, im chemischen La-
boratorium der Akademie anstellte.
Soleher Schule und soleher Herkunft haben Sie sich, Hr. Scnuze,
von früh an würdig gezeigt. Seitdem Sie an der Seitenlinie der Fische
das neue Sinnesorgan beschrieben, welches lehrt, dass mikroskopische
Härchen, wie Geschmack, Geruch und Gehör, auch hydrodynamische
Druckempfindung vermitteln, — so dass von den adaequaten Reizen der
Sinnesorgane das Licht allein nicht durch Härchen wahrgenommen
wird, — haben Sie nieht aufgehört, durch mannigfaltige Arbeiten
die theilnehmende Aufmerksamkeit der Fachgenossen zu fesseln. Jetzt
E. ou Boıs-Reymonp: Antwort an Hrn. Schurze. — Hırscarero: Antrittsrede. 623
fällt Ihrer noch jugendlichen Kraft in diesem Kreise die glänzendste
Erbschaft zu. Ihres Berufes wird es sein, die neue Gestalt der Zoologie,
die in grossartigem, aber unbestimmten Umriss unserem geistigen
Auge vorschwebt, zu fester Bildung wenigstens theilweise auszu-
prägen; den leitenden Gedanken, von dem LicHTEstein nichts ahnte,
dessen Aufgang JoHannes MÜLLER nicht erlebte, mit welchem sich
zu befassen PETErs sich scheute, hie und da im Einzelnen auszu-
führen; und so die Abstammungslehre, zu der Sie soeben emphatisch
sich bekannten, mehr und mehr zum Rang einer wohlbegründeten
Theorie zu erheben.
So wird Ihr Eintritt in die Akademie einen Abschnitt im wissen-
schaftlichen Leben einer ihrer wichtigsten Abzweigungen bezeichnen,
indem ihr zugleich durch Sie der Ruhm erhalten wird, der ihr seit
Parzas’ und Iruiser’s Tagen nie ausging, eine Heimstätte strenger
zoologischer Forschung zu sein.
Hr. Hırsc#rrern hielt folgende Antrittsrede:
Der heutige Tag, an dem ich zum ersten Mal in Ihrem Kreise
diese akademische Feier begehen darf, ruft mir die Zeit in das Ge-
dächtniss zurück, in der mir vergönnt ward, in ein dauerndes Ver-
hältniss zu dieser Akademie zu treten. Als ich vor fast dreizehn Jahren
mein erstes ordentliches Lehramt an der Prager Universität anzutreten
mich anschickte, wurde mir die Aufforderung zu Theil, an der Heraus-
gabe der lateinischen Inschriften mitzuwirken. Dass die Annahme dieses
Antrages für mein ferneres Leben nach mancher Richtung entscheidend
sein würde, konnte ich mir nicht verhehlen und nicht ohne ernste
Bedenken habe ich mich entschlossen, auf lange Zeit hin dem Reize
einer freigewählten wissenschaftlichen Thätigkeit zu entsagen, um mich
an der Urbarmachung des epigraphischen Bodens zu betheiligen. Seit
jener Zeit bin ich bestrebt gewesen, nach Maassgabe meiner Kräfte
an diesem Werke mitzuthun und hoffe auch fernerhin in der Stellung,
in die mich Ihr Wohlwollen berufen hat, als gewissenhafter Arbeiter
Ihnen, hochverehrte Herren, meine Dankbarkeit einigermaassen bethä-
tigen zu können.
‘Es ist die Grundlegung der historischen Wissenschaft, dass
die Archive der Vergangenheit geordnet werden‘, so sagte vor bald
dreissig Jahren bei seiner Aufnahme in diese Akademie der Mann,
dem ich meine wissenschaftliche Richtung und mehr als das ver-
danke. Heute ist diese Aufgabe, soweit sie die lateinischen Inschriften
624 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
betrifft, nahezu gelöst und nur wenige Bände, zu denen leider auch
die von mir übernommenen gehören, sind noch nicht zu vollständigem
Abschluss gebracht. Die weitreichende Bedeutung dieses Werkes ganz
zu ermessen, darf füglich einer späteren Zeit vorbehalten bleiben;
dass dasselbe aber der Alterthums- und Sprachforschung, und zwar
nicht allein auf dem sogenannten classischen Gebiet, ein reiches
Material zu wissenschaftlicher Benutzung erschlossen hat, dass auch
die Rechtswissenschaft manche fruchtbare Anregung demselben ver-
dankt, darüber kann bereits heute kein Zweifel bestehen. Wohl
haben die glänzenden Entdeckungen, die in den letzten Decennien
auf dem Boden von Griechenland und Kleinasien gemacht worden
sind, für den Augenblick «das Interesse an den unscheinbaren und
vielleicht gerade durch ihre Massenhaftigkeit weniger wirkenden römi-
schen Insehriftfunden. insbesondere in Deutschland abgeschwächt, und
die hier mehr als auf anderen Gebieten nothwendige Kleinarbeit wird,
selbst in benachbarten wissenschaftlichen Kreisen, nieht selten mit einer
gewissen Geringschätzung angesehen. Gewiss ist Niemand mehr von
einer Überschätzung seiner Arbeit entfernt, als diejenigen, die an diesem
Werke theilgenommen haben; sie sind sich wohl bewusst, dass sie als
bescheidene Werkleute nur die Bausteine sammeln und behauen, dass
sie sich mit dem Lobe eines verständigen, wohl angewandten Fleisses
bescheiden und vielleicht darauf verzichten müssen, da zu ernten, wo
sie gesäet haben. Aber sie sind sich auch bewusst, den kommenden
Geschlechtern den Boden bereitet, das Unkraut aus demselben aus-
gerottet und Quellen erschlossen zu haben, die bisher nur Wenigen
und auch diesen nur in unvollkommenem und getrübtem Zustande
bekannt und zugänglich waren. Durch die systematische Ausnutzung
der Bibliotheken und Museen ist ein seit mehr als vier Jahrhunderten
angehäuftes Material, von dessen Umfang selbst die Eingeweihten nur
eine sehr unzureichende Vorstellung besassen, gesammelt, kritisch
bearbeitet und, insoweit dies mit der Anlage des Werkes vereinbar
war, wissenschaftlich verwerthet worden. Mit der Unzulänglichkeit
und Unzuverlässigkeit der epigraphischen Hilfsmittel hat noch in un-
seren Tagen ein Boreuesı vergeblich gerungen und hat darauf Verzicht
leisten müssen. seine Lebensarbeit zu Ende zu führen. Nach Abschluss
des Corpus inseriptionum Latinarum wird jeder einigermaassen philo-
logisch Geschulte im Stande sein, das vordem unübersehbare Material
mit leichter Mühe für seinen speciellen Zweck zusammenzubringen und
ohne Besorgniss, eine ahnungslose Beute epigraphischer Fälscher zu wer-
den, zu verwerthen. Die Epigraphik hört damit auf, eine eigene wissen-
schaftliche Diseiplin zu bilden und stellt ihr Inventar wohlgeordnet
und registrirt der philologisch-historischen Forschung zur Verfügung.
Hırsc#FELp: Antrittsrede. 625
Als die Aufgabe der classischen Philologie hat der ausgezeichnete
Gelehrte, dessen hundertjährigen Geburtstag wir in diesem Jahre be-
gehen werden, Ausust Borck#, bekanntlich die Erkenntniss des Alter-
thums in seiner gesammten historischen Erscheinung bezeichnet und
in diesem Sinne hat er selbst im Auftrage dieser Akademie die grund-
legende Sammlung der griechischen Inschriften zu Stande gebracht.
Als einen bedeutsamen Beitrag zu der Lösung dieser Aufgabe wird
man das Corpus inseriptionum Latinarum ansehen dürfen, denn nirgend
wohl tritt uns lebendiger und unmittelbarer das Bild antiken Lebens
entgegen, als in den gleichzeitigen monumentalen Zeugen der Ver-
gangenheit. Aber bereits jetzt, da das einst gesteckte Ziel noch
kaum erreicht ist, tritt eine neue Ehrenpflicht an die Akademie heran.
Dureh systematische Ausgrabungen und zufällige Funde, durch epi-
graphische Forschungsreisen und localen Sammeleifer mehrt sich von
Jahr zu Jahr der Denkmälerbestand in ungeahnter Weise und die
Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Redaetionsarbeit zeigt sich nicht
zum mindesten in den Impulsen, die das Werk auf die Forscher-
thätigkeit in allen Culturländern, die einst unter römischem Scepter
gestanden haben, ausübt. Hier dauernd eine Concentration zu schaffen,
das Neugewonnene an seine richtige Stelle zu setzen und der wissen-
schaftlichen Verwerthung zuzuführen, den Faden stets weiterzuspinnen,
das ist eine unendliche Aufgabe, für welche weder die Kraft, noch
das Leben des Einzelnen ausreicht, eine Aufgabe, die nur durch eine
nach menschlichem Ermessen ewige Institution und durch ausreichende
öffentliche Mittel geleistet und gewährleistet werden kann. Die Berliner
Akademie hat es als ihre Pflicht erkannt, dieser Aufgabe sich zu
unterziehen, und wenn Sie, hochverehrte Herren, mir die Ehre er-
wiesen haben, mich in Ihre Mitte zu berufen, so kann ich das nur
als eine Aufforderung betrachten, mich an diesem Werke zu bethei-
ligen an der Seite des Mannes, der uns die Bahn gewiesen und den
Weg bereitet hat.
Über meine eigenen Arbeiten, insoweit sie nicht dem Corpus
inseriptionum gewidmet sind, habe ich nur wenig zu sagen. Von
dem Studium der elassischen Philologie bin ich ausgegangen und habe
mich bestrebt, diesen Boden auch in meinen historischen Untersuchungen
nieht zu verlassen. Die Geschichte des Alterthums, die erst während
meiner Lern- und Lehrzeit als eigene wissenschaftliche Disciplin sich
abgezweigt und eine selbständige Vertretung auf den Universitäten
Deutschlands und Österreichs gefunden hat, ist naturgemäss ein Grenz-
gebiet, das von Historikern, wie von Philologen gemeinsam bebaut
wird. Wer als Philolog sich diesem Studienkreise zuwendet, läuft
oder lief doch bis vor Kurzem noch leicht Gefahr, von den Einen
626 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
als Eindringling, von den Anderen als Abtrünniger angesehen zu wer-
den. Gewiss bin ich weit entfernt, der universalhistorischen Forschung
ihr Recht an diesem Gebiete streitig zu machen, aber wie einerseits der
Philolog ohne Weite des historischen Blickes nothwendig an dem Ein-
zelnen haften bleibt. so wird der Historiker, wenn er nicht auf sicherer
philologischer Basis steht, nimmermehr im Stande sein, sich das volle
Heimatsrecht auf elassischem Boden zu erwerben. In meinen haupt-
sächlich der römischen Kaiserzeit und insbesondere der römischen Ver-
waltungsgeschichte gewidmeten Studien habe ich versucht. eingehende
Detailforschung historisch fruchtbar zu machen und mit Hilfe der epi-
graphischen und literarischen Quellen ein bisher von Philologen und
Historikern kaum berührtes, von Juristen nur gelegentlich gestreiftes
Gebiet einigermaassen zu erhellen. Das für eine Darstellung der Steuer-
und Provinzialverwaltung vor langen Jahren gesammelte Material habe
ich vorläufig bei Seite legen müssen, da die für die Akademie über-
nommene Arbeit neben meinen Berufspflichten in Österreich, zu denen
sich in diesem, an römischen Monumenten so reichen Lande die prak-
tische Pflege der Epigraphik gesellte, mir nur zur Publication kleinerer
Untersuchungen die nothwendige Musse gelassen hat. Wenn ich jetzt
bei der Übernahme eines Lehramtes in meinem Vaterlande in Ihren
Kreis einzutreten gewürdigt worden bin, so wird mir die ehrenvolle
Gemeinschaft mit den vornehmsten Vertretern deutscher Wissenschaft
eine stete Anregung und Mahnung sein, die unvollendeten Arbeiten
zu Ende zu führen und von dem Einzelnen zum Allgemeinen, von
der Epigraphik zur Geschichte wiederum den Weg zu finden.
Hr. Curtiıvs erwiderte die Antrittsrede des Hrn. Hırscareın, als
Seeretar der philosophisch- historischen Classe, mit folgenden Worten:
An Stelle des Mannes, in dessen Arbeitsfeld Sie zunächst einzu-
treten berufen sind, wird mir heute die Freude zu Theil, Ihre Worte
zu erwidern und Sie in unserer Mitte willkommen zu heissen. Sie
sind uns kein Fremder. In demselben Jahre, als Sie einem Rufe in's
Ausland folgten, erhielten Sie von der Akademie die Aufforderung,
Sich an einem vaterländischen Werke zu betheiligen. So blieben Sie
geistig der Unserige und die damals geschlossene Verbindung ist das
Band geworden, das Sie in's Vaterland zurückgeführt und Sie persön-
lich mit uns vereinigt hat.
Es ist, wie mir scheint, immer ein besonderer Vorzug, wenn
bei mannigfaltigem Wechsel äusserer Lebensverhältnisse, welche die
=
Currıus: Antwort an Hrn. Hırsc#reuo. 627
Kräfte des Geistes entwickeln, und dem Historiker einen freiern Um-
bliek über Länder und Volkszustände öffnen, ein innerer Zusammen-
hang unverkennbar hindurchgeht und dem wissenschaftlichen Streben
eine harmonische Einheit giebt.
So werden auch Sie, davon zeugen Ihre Worte, am heutigen
Tage mit dankbarer Befriedigung auf Ihre Lebensführung zurückblicken.
Sie sprechen von der Kleinarbeit, die Sie geleistet; aber durch
die hohen Ziele, welche sie verfolgt, durch den Umfang, in dem sie
angelegt ist, durch den sichern Fortschritt, mit dem sie ein massen-
haftes Urkundenmaterial überwältigt, durch die grundlegende Bedeu-
tung für die Kenntniss menschlicher Schrift und Sprache sowie des
ganzen socialen und politischen Lebens des Alterthums ist es eine
Arbeit in grossem Stil, der Sie Ihre Kräfte gewidmet, und der selbst-
verläugnende Fleiss, den sie fordert, trägt nur dazu bei, ihren sitt-
lichen Werth zu erhöhen. Mit gerechtem Stolz blicken wir auf den
gesegneten Fortgang des gewaltigen Werks, das seiner Vollendung
entgegenreift, auf die ganze Reihe älterer und jüngerer Mitarbeiter,
die aus Schülern zu Kennern, aus Kennern zu Meistern geworden
sind. Es ist neben dem griechischen Urkundenwerk ein Monument
deutscher Geisteskraft zu Ehren des Vaterlandes, und wir erkennen
es mit tief empfundenem Danke, dass unsere Staatsregierung in voller
Würdigung der Bedeutung des Werks, über den ersten Ausbau des-
selben hinaus Fürsorge getragen hat, es auch für die Zukunft lebens-
fähig zu erhalten.
Die beiden akademischen Zwillingswerke sind zwei Bäumen ver-
gleichbar, von deren Früchten die ganze Alterthumswissenschaft
neue Lebenskraft gewonnen hat und deren Kronen sich schon be-
rühren. Die lateinischen Urkunden lehren uns den Fortbestand helle-
nischer Cultur kennen und aus der Insel des Minos tauchen die
Urkunden auf, aus denen sich eine neue Wissenschaft griechisch-
römischer Rechtsgeschichte entwickelt.
Auch Ihre Studien haben Sie nach geschichtlichen Gesichtspunkten
über die Masse der Einzelheiten glücklich zu erheben gewusst. Sie
haben die Verschiedenartigkeit des Provinzialregiments in ein helleres
Licht gestellt, die lohnende Aufgabe Roms in den Landschaften des
Westens, wo durch Verschmelzung mit dem Einheimischen eine reiche
Cultur friedlich aufsprosste und die undankbarere Arbeit in den Donau-
ländern, wo der Staat zum Zweck der Selbsterhaltung erobern musste '
und entvölkerte Länder mit schweren Opfern mühsam zusammenhielt.
Sie haben drei Jahrhunderte hindurch, in denen die weltbeherrschende
Stadt zwischen Prineipat und Senat, zwischen Despotismus und Repu-
blik haltlos schwankte, das gesammte Verwaltungssystem in allen
628 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli,
Formen verfölgt und eine Fülle von Wandlungen nachgewiesen, wo
man eine gleichförmigere Tradition vorausgesetzt hatte.
Sie werden uns mit Ihrer frischen Kraft helfen, der Vorgänger
würdig zu bleiben, an die wir heute Beide ohne Verabredung zu
erinnern uns gedrungen fühlten, die diesen unscheinbaren Räumen
eine unsterbliche Weihe gegeben haben. Damals ruhte des Vater-
landes Grösse auf seiner Kunst und Wissenschaft. Wir wollen das
Unsrige thun, dass im neu gegründeten Reiche die alte Kraft wissen-
schaftlicher Forschung unvermindert fortwirke.
Darauf verlas Hr. Zeızer folgenden Bericht über die zur Beant-
wortung der philosophischen Preisfrage von 1882 eingegangenen
Arbeiten:
In ihrer öffentlichen Sitzung vom 29. Juni 1882 hatte die Aka-
demie zu Preisarbeiten eingeladen, deren Thema in den Worten aus-
gedrückt war:
»Die Akademie wünscht eine Darstellung und Prüfung der
Theorieen über den Ursprung, den Sinn und die Geltung
des Causalitätsgesetzes, welche auf die wissenschaftliche
Entwickelung der letzten drei Jahrhunderte Einfluss ge-
wonnen haben. «
Diese Aufgabe hat drei Bearbeitungen gefunden.
Die erste von diesen, mit dem Motto: »Suum ceuique«, welche
in französischer Sprache abgefasst ist, und schon vor dem Ende des
Jahres 1883 eingieng, macht den Eindruck einer Schrift, die in ihrem
Hauptkörper nach einem andern Plan ausgeführt, der von der Aka-
demie gestellten Aufgabe erst nachträglich und unvollständig angepasst
wurde. Nur ein Drittheil derselben ist nämlich der Geschichte der
Theorieen über das Causalgesetz gewidmet, während der doppelt so
starke Rest in einer selbständigen philosophischen Erörterung besteht,
welehe über das Gesetz der Causalität weit hinausgeht. In seinen
historischen Ausführungen beschränkt sich der Verfasser auf das all-
gemein bekannte, und er behandelt auch dieses oberflächlich und
ungenügend, mit starken Verstössen im einzeinen, und bemüht sich
weder um eine klare Hervorhebung der Momente, auf die es für die
Lösung der vorliegenden Aufgabe ankam, noch um eine tiefere Er-
kenntniss des geschichtlichen Zusammenhangs. Seine Schrift würde
daher den von der Akademie zu stellenden Anforderungen auch dann
nicht entsprechen, wenn die systematische Ausführung ihres zweiten
Theils tiefer in den Gegenstand eindränge und ihn mit grösserer
ZEttER: Beantwortung der philosophischen Preisfrage von 1882. 629
Schärfe behandelte, als diess — trotz einzelner treffenden Bemerkungen
und guten Auseinandersetzungen — geschehen ist.
Noch weniger genügt eine zweite Arbeit mit dem Motto: »Ratio
sufficiens«, da dieselbe statt der von der Akademie verlangten Geschichte
und Beurtheilung der neueren 'Theorieen über das Causalgesetz lediglich
die eigenen, nicht sehr tief gehenden, Reflexionen des Verfassers ent-
hält, und dabei nur ein paarmal auf einige von den bekanntesten
früheren Philosophen einen flüchtigen Blick wirft.
Viel gründlicher verfährt die dritte Arbeit, welche, 711 Folio-
seiten stark, das Motto trägt: »Vere seire est per causas seire«. Auch
sie deckt sich zwar, ihrem Umfang und ihrer Abzweckung nach, nicht
genau mit der Aufgabe, deren Lösung die Akademie gewünscht hatte;
denn nur ihr erster Theil, drei Fünftel des Ganzen umfassend, be-
schäftigt sich mit den neueren Theorieen über die Causalität, der
zweite dagegen bringt speculative Untersuchungen über diesen Gegen-
stand, welche die Grenzen der von der Akademie gestellten Aufgabe
zu weit überschreiten, um bei der Frage nach der Beantwortung der
letzteren in Betracht kommen zu können, welche aber auch an sich
selbst in ihrer dogmatistischen Haltung zur wissenschaftlichen Er-
kenntniss der Frage wenig beitragen. Dagegen werden in dem ersten
Theil die Ansichten von mehr als vierzig Philosophen, theils ausführ-
licher, theils kürzer, dargestellt und beurtheilt. So anerkennenswerth
aber auch der Fleiss und die Sorgfalt ist, welche der Verfasser diesem
Theil seiner Schrift gewidmet hat. so leidet er doch, auch abgesehen
von minder wichtigen Einzelheiten, an sehr erheblichen Mängeln.
Für's erste geht nämlich aus der ganzen Darstellung hervor, dass
sich ihr Urheber die ihm gestellte Aufgabe nicht klar gemacht hat.
Während die Akademie eine Darstellung und Prüfung .der Theorieen
über das Causalitätsgesetz verlangt hatte, beschäftigt sich der grössere
Theil seiner Ausführungen nicht speciell mit den hierauf bezüglichen
Untersuchungen der von ihm besprochenen Philosophen, sondern mit
dem ganzen Inhalt ihrer Systeme; was sich ilınen dagegen in Beziehung
auf den Ursprung, den Sinn und die Geltung des Causalitätsgesetzes
entnehmen lässt, tritt bei den meisten durchaus nicht scharf und klar
hervor. Wenn ferner der Werth einer monographischen Untersuchung,
wie die von der Akademie verlangte, neben anderem wesentlich auch
darauf beruht, dass ihre Angaben durch einen in’s einzelne gehenden
Nachweis ihrer Urkundlichkeit sichergestellt werden, so hat es der
Verfasser hieran viel zu sehr fehlen lassen, und einzelne der von
ihm besprochenen Theorieen scheint er überhaupt nur aus secundären
Quellen zu kennen. Auch hinsichtlich der Vollständigkeit und Gleich-
mässigkeit in der Benutzung des geschichtlichen Materials ist nament-
Sitzungsberichte 1885. 57
630 Öffentliche Sitzung vom 2. Juli.
lich in den Abschnitten seiner Arbeit, welche sich mit den letzten
Jahrzehenden beschäftigen, manches zu vermissen. Ein wesentlicher
Mangel dieser Arbeit besteht endlich darin, dass sie sich fast durch-
weg begnügt, die Philosophen einzeln an einander zu reihen, statt
zu zeigen, um welche Fragen es sich bei der Untersuchung über das
Causalitätsgesetz handelt, wie weit man in der Beantwortung derselben
bis zum 16. Jahrhundert gekommen war, was jeder von den Späteren
zur Berichtigung und Ergänzung seiner Vorgänger that, welche An-
regungen und Einflüsse er von ihnen erfuhr und wie er seinerseits
auf seine Nachfolger einwirkte. Auch diese Lösung der von der
Akademie gestellten Aufgabe kann daher als eine befriedigende nicht
anerkannt werden.
Der vorsitzende Secretar theilte mit, dass die Akademie beschlossen
habe, die philosophische Preisfrage nieht zu erneuern.
Zum Schluss hielt Hr. Dirımasy die Gedächtnissrede auf Rıcnarn
Lersws. Sie wird in den Abhandlungen veröffentlicht werden.
Ausgegeben am 9. Juli.
Berlin, gedruckt in der Reichsdruckerei,
en pe EEE
1885.
AXXIV.
SITZUNGSBERICHTE
KÖNIGLICH PREUSSISCHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
ZU BERLIN.
9. Juli. Gesammtsitzung.
Vorsitzender Secretar: Hr. Currıus.
1. Hr. Weıerstrass las über die analytische Darstellbarkeit
sogenannter willkürlicher Functionen einer reellen Veränder-
lichen.
2. Hr. Kronecker las über das Dirıcaıer’sche Integral.
Beide Vorträge erscheinen in diesem Sitzungsberichte.
3. Das correspondirende Mitglied der Akademie, Hr. CHarLes
ArpuonsE LEoN RENIER, ist in Paris am ı2. Juni gestorben.
Sitzungsberichte 1885. 98
>
“-
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Kruikikrı
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ERIR 1. KROAUS hich wi j
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Er
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) el MIKA B:
633
Über die
analytische Darstellbarkeit sogenannter willkür-
lieher Funetionen einer reellen Veränderlichen.
Von K. WEIERSTRASsS.
Erste Mittheilung.
I: f(x) eine für jeden reellen Werth der Veränderlichen x eindeutig
definirte, reelle und stetige Function, deren absoluter Betrag eine end-
liche obere Grenze hat, so gilt bekanntlich die nachstehende Gleichung,
in der « eine zweite reelle Veränderliche bedeutet und unter k eine
von x und « unabhängige positive Grösse zu verstehen ist:
(1.) Lim» WE Ir me EN = fa).
Der in dieser Gleichung ausgesprochene Satz lässt sich leicht ver-
allgemeinern.
Es werde irgend eine Funetion U (x) von derselben Beschaffen-
heit wie f(x) angenommen, welche ihr Zeichen nicht ändert, der
Gleichung V (— a) = Y (a) genügt und überdies der Bedingung ent-
spricht, dass das Integral
a+
Y (a) de
o
einen endlichen Werth haben muss, der mit » bezeichnet werden
möge. Setzt man dann
+ }
(2.) F(a,h) = —— il u) (" T ") du,
so ist
(3.) Lim - F(x,k) = f («).
k=o
In Betreff des Beweises der Gleichungen (1, 3) möge Folgendes be-
merkt werden. Es seien a, ,a,, b,, b, positive Grössen, b, >a,, b,>a,,
so hat man
58°
Gesammtsitzung vom 9. Juli.
bı+z b—r
BAR ehe U (u) du."
Ze Tec
In Verbindung mit den in Betreff der Funetionen f(x), W (x) ge-
machten Annahmen lehrt diese Gleichung, dass das Integral
rl)
wenn man den Grössen x, % bestimmte Werthe giebt und dann a,,a,
unabhängig von einander unendlich gross werden lässt, sich einer
bestimmten endlichen Grenze nähert und somit das Integral
net)
eine wohldefinirte Grösse ist.
Dies festgestellt, sei nun d eine beliebig klein anzunehmende
positive Grösse, so ist
är ne
Pia, er af 7 E n ) du
+ Se n =) au +; + —— „os(z :) du
+ 00
+ oo
= lee) Yu) du + Bu LU (u) du
>|
RK
72
+ fee — ku) + fie + ku)) Yu) du.
! Ich bezeichne mit /(&1...2) einen Mittelwerth zwischen dem kleinsten und
grössten derjenigen Werthe, welche /(x) in dem Intervall von = x, bis 2— x, an-
nimmt.
WeıersrRAss: Über Functionen einer reellen Veränderlichen. 635
Daraus folgt:
(2, k) =f(a) un en) as. (u) du
[3]
0)
ke
I Re Y Ay | |
# lt (a — ku) + fa + ku) — 2f(a))L (u) du
_ FeR... +0) f@) a
2]
+34: (f@-)+f@ +) — 2fl@)),
wo e,e, positive, zwischen o und ı enthaltene Grössen bedeuten.
Nun seien x, , x, irgend zwei bestimmte Werthe von x, @ die obere
Grenze für den absoluten Betrag von f(x), und g,,9, zwei positive
Grössen, die beliebig klein angenommen werden können. Dann kann
man zunächst der Grösse d einen so kleinen Werth geben, dass der
absolute Betrag von
"(fe -W+f@+W- fa)
stets kleiner als g, ist, wenn x in dem Intervall (x, ...x,), und zu-
gleich v in dem Intervall (0...) angenommen wird. Hat man einen
solchen Werth von 6 fixirt, so kann man ferner eine positive Grösse k’
so bestimmen, dass für jeden Werth von k, der