Pan 3 a | Peſtalozzi' s faͤmmtliche Schriften.

1

Bietter; Baud.

. ut 6 75

Mit den allergnaͤdigſten Privilegien Ihrer Majefiäten des Kaiſers aller Reußen und Koͤnigs von Polen, des Koͤnigs von Preußen,

des Königs von Bayern, des Königs von Würtemberg, Seiner

Koͤnigl. Hoheit, des Großherzogs von Baden und der Hoch⸗ loͤblichen Cantons regierungen der Eidgenoſſenſchaft.

Stuttgart und Tuͤbingen, N in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung. 1820

Lienhard und Gertrud,

Ein Buch fuͤr das Volk.

Wie deter hee l.

Dritte Auflage.

Stuttgart und Tuͤbingen, in der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.

8 8

n

0

1

*

1

2”

; 8

Lienhard und Gertrud.

e

Peſtalozzi's Werke. IV. 3

De Erſte Zugabe zu der Lebensbeſchreibung der Sylvia.

Arner, Theteſe und Gluͤlphi ſaßen an dem Abend, an dem fie den Brief der Sylvia, deren Lebensbeſchreibung uns eben vorlag, empfangen, froͤhnch und voll Hoffnung für ihr ernſtes Beſtreben bei einander; aber dieſer Brief ſtoͤrte ihre gluͤckliche Stimmung. Sie iſt ein eingefleiſchter Teufel, ſagte Arner, da er ihn geleſen; es geht kein Wort uͤber ihre Lippe und keine Zeile aus ihrer Feder, wovon einem ehrlichen Manne nicht die Galle uͤbergehen muß. Arner wußte einen Augenblick nicht eigentlich, was er da— mit anfangen wolle, und meynte, es waͤre das bejte, die Tabakspfeife, die er eben rauchen wollte, damit auzugüne | den. Thereſe und der Lieutenant aber waren nicht dieſer Meinung.

Nein, nein, ſagte Thereſe, dieſen Luͤgen-Brief mußt du mir nicht verbrennen, er kann uns noch zu et vas recht gut ſehn. | 10

RE Aue

Arner. Und wozu denn?

Thereſe. Den Oncle zu uͤberzeugen, wie ſie auch uͤber ihn luͤgt.

Arner. Duͤrfen wir ihm denſelben zeigen, wie er iſt?

Thereſe. Ja freilich, wir muͤßen es.

Arner. Aber fuͤrchteſt du nicht der Oncle denke zum Theil wirklich auch ſo, wie ſie ſchreibt?

Thereſe. Wenn er zum Theil auch wirklich ſo denkt,

ſo hat er doch ſicher das nicht, geſagt, was ſie ſchreibt. Es iſt gar nicht feine Art, ſich Io aus zudruͤcken, und ich

12

wette, er weiß bon dem Brlef kein Wort.

Arner. In dieſem Fall duͤnkt mich ſelber, es koͤnnte gut ſeyn, daß wir ihn ihm zuſchicken; aber ich muß ihn doch noch einmal leſen, ich habe ihn nur durchblaͤttert. Mit dem nahm er den Brief in die Hand, las ihn mit Aufmerkſamteit und ſagte dann: ja, es duͤnkt mich jetzt

ſelber, du habeſt recht; ich will ihm den Brief ſchicken

und ihm unverholen ſchreiben, was ich uͤber denſelben und ale über die Schreiberinn deſſelben denke. 171 Thereſe.“ Das iſt recht, er m es noͤthig, SER man ihm uͤber beydes die Wahrheit ſage. te Die ganze Nacht über lag Arnern dieſer Brief und die

Antwort, die er darauf ertheilen wolle, vor der Seele.

Er koünte keinen Augenblick ſchlafen, ſtand am Morgen

fruͤh auf und ſchrieb daun an ſeinen Oncle folgenden Brief:

Hochgeborner ‚Herr ‚General! Theurer, lieber Dncle! Sie wiſſen, daß ich für unfere Sylvia ſeit dem Tode

ihres Vaters, luͤber den ich mich auch ſonſt fo ſehr zu bes

J

* E

4

\ 5

klagen habe, in allen Faͤllen das herzlichſte und ernſthaf— teſte Intereſſe zeigte, und von meiner Seite für ihr Gluͤck gern beitragen wuͤrde, was ich immer koͤnnte; aber ihr Character nimmt zuſehends eine Richtung, deren Folgen mir fuͤr ſie ſelber bang machen muͤßen. | ) |

Sie hat ganz gewiß ohne alle Urſache fi einen ganz wuͤthenden Haß gegen mich und die Meinigen uͤberlaſſen und urtheilt uͤber mich, mein Benehmen und meine Ein— richtungen mit einer Frechheit und Unverſchaͤmtheit, die ohne Grenzen iſt. Das Ganze ihres Erziehungsgangs, ſowie das Ganze ihrer jetzigen Lebensweiſe macht ſie uͤber das, was Erziehung iſt und ſeyn ſoll, ſo unfaͤhig zu ur— theilen, als je ein Menſch in der Welt daruͤber zu urthei— len unfaͤhig iſt, und doch miſcht ſie ſich in die Beurthei— lung meiner diesfaͤlligen Anſichten, Grundſaͤtze und Maß— regeln auf eine Weiſe ein, die geradezu unertraͤglich iſt, und von der ſie in dem Brief, den ich geſtern von ihr erhalten, ein Probeſtuͤck abgelegt, das alle Schranken des Verhaͤltniſſes, iu dem fie ſich gegen mich befindet, uͤber— ſteigt. Ich haͤtte ihn aber dennoch blos mit Verachtung bey— ſeits gelegt, ohne ihm die geringſte Folge zu geben; aber da ſie in Ruͤckſicht auf mehrere Punkte, die ſie beruͤhrt, ſich auf Sie beruft, ſo duͤrfte und wollte ich nicht anders, als den Brief, ſo wie ich ihn empfangen, Ihnen zuſenden. Ich bin uͤberzeugt, es iſt unmoͤglich, daß Sie dieſe ſtolze Baſe bei allen ihren Spiel-, Tanz- und Bonsmots-Fer— tigkeiten fuͤr einen competenten Richter der Maßregeln, die ich fuͤr die Erziehung meiner Kinder nehmen ſoll, an— erkennen. Eben ſo bin ich uͤberzeugt, Sie koͤnnen es nicht

6

als eine henkersmaͤßige Härte anſehen, daß ich einer arm⸗ ſeligen Dorjdirne, die ſich zu mir ins Schloß geſchlichen, um die braͤvſten Leute aus ihrem Dorf zu verleumden und zu verſchreyen, gedroht, ſie mit dem Harſchier heim zu— ſchicken. Es iſt zwar wahr, ſie kleidet ſich nicht wir eine andere gemeine Bauerntochter, ſondern vom Kopf bis zu den Füßen wie eine anmaßliche aber halbverlumpte Stadt— tochter, und iſt auch, als ſie zu mir kam, damit ſie keine Kothſchuhe ins Schloß bringe, auf einem Muͤllerkarren bis ins Schloß gefahren. Das aber, ich weiß, Sie finden es auch alſo, iſt doch kein Grund, daß ich ſie, wenn ſie Lumpenjireihe macht, auf eine andere Weiſe behandeln ſollte, als ich jedes andere Dorfweib im gleichen Fall bes handeln würde, a

Lieber Oncle! Es iſt in meiner Lage aͤußerſt wichtig, daß ich frechen Leuten in meinen Doͤrfern zeige, ſie haben es Geſchwatzwerk halber nicht mit meinem Großvater zu thun. Das Unglüd iſt namenlos, das daraus entſtanden, daß er Schurten und Verlaͤumdern gegen ehrliche Leute Gehoͤr gegeben. Lieber Oucle! Ich wuͤßte nicht, in wel— chem Grad ich mich ſelber verachten muͤßte, wenn ich Leu— ten, die meine Schwäche mißbrauchen weten, um ihre Nachbaren bei mir zu verleumden und ihnen Unrecht zu thun, nicht zeigen wuͤrde, in welch' einem hohen Grad ich dieſe Handlungsweiſe verabſcheue, und wie ſehr ich fie zu beſtrafen fuͤr meine Pflicht halte. Und dieſe Eichenberge— rinn hat hierin auf eine Weiſe gefehlt und ſich mit einer Frechheit benommen, die allen Glauben uͤberſteigt, und iſt dabei im Ganzen ihres Seyns und Thuns eine ſo

7

elende Creatur, daß es mir doch unbegreiflich iſt, wie Solvia es nur in den Mund nehmen, darf, ſie waͤre in meinem Schloſſe fuͤr meine Kinder brauchbar. Gott be⸗ wahre mich davor, eine ſolche Kreatur einen Augenblick neben meinen Kindern im Schloß zu haben. Weniger verwunderte ich mich über das, was Sylvia über Gluͤlphi und Rollenberger Boͤſes geſagt. Beyde ſind Maͤnner, de— ren Werth uͤber das, was ſie zu beurtheilen faͤhig iſt, weit erhaben iſt. Ebenſo begreife ich gar wohl, daß viele von den Einrichtungen, die ich in Bonnal mache und machen muß, ihr nicht gefallen. Aber ich kann durchaus auf ihre diesfaͤlligen Anſichten und Wuͤnſche leine Ruͤck— ſiht nehmen. Der Plan meines Lebens iſt gemacht und ſteht unerſchuͤtterlich feftz ich will als Vater meiner Herr— ſchaftsangehoͤrigen leben und ſterben, aber Ihrem und meinem Namen damit gewiß auch keine Schande machen. Dieſer Vorwurf koͤnnte mir freilich auch nur als Ahndung ſeiner Möglichkeit weh thun, aber im Mund der Sylvia, deren Vater unſerm Namen, wie vielleicht bei hundert Jahren kein Edelmann ſeiner Familie, Schande gemacht hat, iſt dieſer Vorwurf doch nur frech und konnte um ſo weniger einen Eindruck auf mich machen, da ich uͤberzeugt bin und es auch Ihnen, lieber Oncle! nicht verhehlen will, daß Sylvia, wenn ſie gewiſſe Verbindungen, die ſie, wie ich gewiß weiß, in der Hauptſtadt hat, nicht aufgiebt, in die Lage kommen kann, uns Schande zu machen, wie ihr Vater uns Schande gemacht.

Lieber Oncle! Es kommt Ihnen vieles nicht zu Ohren, das man ihr in der Hauptſtadt oͤffentlich zur Laſt legt.

8

Man hat Achtung für Sie und ſchont Ihres Alters; aber die Sache iſt gleich wahr. Sie hat in der öffentlichen Achtung ohne Grenzen verloren, und die Lobreden, die ihr im Anfang nach ihrer Ruͤckkunft zu Theil wurden, ſind allenthalben, wo ſie einen wirklichen Werth haben konnten, verſtummt. Ich ſage das nicht, um ihr bei Ihnen ein boͤſes Spiel zu machen; aber ich bin uͤberzeugt, wenn ir— gend etwas Sylvia von ihrem mehr als unvorſichtigen Benehmen zuruͤckbringen kann, fo iſt es ein Wort von Ihnen. Ich weiß, Sie nehmen herzlichen Antheil an ihrem Gluͤck, und Sie koͤn en es am meiſten dadurch befördern, daß Sie ſie aufmertſamer auf ſich ſelbſt machen. Es iſt unbegreiflich, wie ſie ſich ſelbſt vergeſſen und denken kann, ich habe der Eichenbergerinn mit dem Harſchier gedroht, weil ſie ihr bei ſich Zutritt goͤnne. Ich finde dieſen Zu⸗ tritt freylich unſchicklich und nichts weniger als ehrenhaft, aber ich wußte nichts davon, bis ſie mir es ſelbſt geſchrie— ben. Seitdem ich es aber weiß, kann ich mich auch nicht enthalten, zu denken, daß Sylvia durch Bekanntſchaften von dieſer Art, am Ende in der Hauptſtadt zum Geſpoͤtt werden muß, wie die Eichenbergerinn dieſes in ihrem Dorf iſt und werden mußte, weil ſie in allen Ruͤckſichten etwas anderes und etwas mehr ſeyn will, als ſie wirklich iſt. Daß ſie es wagt, mir mit Ihnen zu drohen, will ich nicht einmal beruͤhren. Ich wuͤrde Ihnen Unrecht thun, wenn ich einen Augenblick daͤchte, ſie könnte durch Unwahrheiten und Niedertraͤchtigkeiten bei Ihnen jemals zu dieſem Ziel gelangen. Sie waren immer unſer lieber, guter Oncle,

9 und ich und meine liebe Frau werden uns immer beſtre— ben, Ihrer Liebe und Guͤte wuͤrdig zu bleiben. Arner von Arnheim,

- p. u. Ein ſchwacher Mann, den die Niedertraͤchtigkeit an der Naſe herumfuͤhrt.

Der General war uͤber den Brief Arners betroffen und uͤber denjenigen der Sylvia im Ernſt empoͤrt. Er fand ihn beym erſten Durchleſen ohne Grenzen unver— ſchaͤmt, und konnte es gar nicht begreifen, wie ſie es habe wagen duͤrfen, dieſen Brief hinter ſeinem Ruͤcken und ohne ihm nur ein Wort davon zu ſagen, an Arner abgehen zu laffen. Sie hatte dem General nicht einmal geſagt, daß ſie im Sinne habe, Arner uͤber dieſe Eichenbergergeſchichte einen Vorwurf zu machen. Er hatte den Brief auch kaum geleſen, ſo ließ er ſie rufen. Als ſie kam und ihren Brief an Arner offen auf dem Tiſch liegen ſah, war ſie aͤuſſerſt betroffen. Sie hatte ſich nicht vorſtellen koͤnnen, daß Ars ner es wagen duͤrfe, dem General dieſen Verdruß zu ma— chen und ihm ihren Brief zuzuſenden. Sie wußte ſich im erſten Augenblicke nicht zu benehmen. Der General fuhr ſie roh an. Er war ſeit ſeiner Frauen Tod niemals uͤber ſie erbittert wie jetzt. Er ſagte ihr in der erſten Hitze, was ſie auch denke, Arner alſo zu ſchreiben; ob ſie nicht

10

denke, male ſtuͤrbe, fo habe fie in der Welt niemand mehr als Arner, und es koͤnne ihr leicht, leicht dazu kom— men, daß fie noch bei ihm das Gnadenbrod ſuchen muͤſſe. Sie weinte auf dieſes Wort, faßte ſich aber doch ſchnell und ſagte: ſie wollte lieber zu den Zigeunern laufen und ſich bis in die Tuͤrkey durchbetteln, als bei Arner das Gnadenbrod ſuchen. Das iſt das gleiche Wort, das ſie der Kloſterfrau antwortete, die ihr ſagte, ihre Verwandte werden ſie nicht aufnehmen, wenn ſie aus dem Kloſter weglaufe. Der General erwiederte ihr heftig, was ſie ſage ſey unvernuͤnftig geredet, und Arner habe das an ihr nicht verdient.

Sylvia. Er iſt mir unausſtehlich, und nicht nur mir, er iſt es allen Menſchen, die nicht jedermann vor den Kopf ſtoßen und nicht alles in der Welt auf den Kopf ſtellen wollen.

General. Das iſt nicht ſo. Ich hoͤre hie und da gar viel Gutes von ihm. Er hat ſelber bei Hofe viele Freunde.

Sylvia. Er wird fie wohl verlieren; er macht Nar— renſtreiche über Narrenſtreiche.

General. Es gefaͤllt mir auch nicht alles was er thutz aber er iſt noch jung, und junge Leute wollen immer etwas Eigenes haben.

Sylvia. Er verliert ſeine Jugend und gibt in der ſchoͤnſten Zeit ſeines Lebens ſeinem Haus eine Richtung, die ſeinem und unſerm Namen Schande machen muß.

General. Schweig doch, ſchweig doch von dieſem Schand machen, wenn er auch in ein und anderm nicht ſo aufmerkſam auf ſeinen Familienrang und auf ſeine Fa—

11

milienehre ift, als ich es gern ſaͤhe, fo ift damit noch nicht geſagt, daß das unſerer Familie Schand machen werde. Man weiß eigentlich noch nicht, wie das, was er thut, ausfallen wird, und uͤbrigens mag das ſeyn, wie es will, ſo gibt dir das kein Recht, ihm ſo unverſchaͤmt zu begegnen, wie du es in deinem Brief gethan haſt.

Sylvia. Er hat mich mit feinem Benehmen gegen die Cichenbergerin, die er wie eine Landſtreicherinn behan— delt, aͤbernommen.

General. Was geht dich dieſes Menſch an? Ich habe es einmal geſehen, es hat wirtlich das Ausſehen einer Landſtreicherinn, und ich kann nicht begreifen, daß du fie dem Vetter fuͤr die Erziehung ſeiner Kinder anrathen duͤrf— teſt, und was er von ihr ſchreibt, macht, daß ich dir im Ernſt fagen muß, ich wuͤnſche, daß du fie nicht mehr in mein Haus hinein laſſeſt.

Sylvia. Ich laſſe ſie ja nur auf meine Stube und auch nur, wenn niemand rechter bey mir iſt, zu mir kommen.

General. Du vergiſſeſt, daß deine Stube in meinem Haus iſt, und in meinem Haus will ich in keiner, in gar keiner Stube, daß man Leute darin empfange, die man nicht bey ſich ſehen laſſen darf, wenn jemand rechter dar— in iſt. x

Sylvia. Ich habe doch bisher geglaubt, ich fen in meiner Stube in ſo weit frey; wenn ich's aber nicht darf, ſo will ichs eben nicht mehr thun.

General. Was du mir fuͤr ein Geſicht machſt. Du wirſt ſeit einiger Zeit offenbar auch gegen mich ſo frech,

12

daß ich mich bald nicht mehr erwehren kann zu denken, was du mir liebs und freundliches erweiſeſt, ſey nur ge” heuchelt, und du wollteſt in deinem Herzen lieber auch mit mir ſo grob und ſo unverſchaͤmt ſeyn, als ich hundertmal ſehe, daß du fonft mit jedermann gern biſt.

Sylvia fühlte, daß er auf dem Punkt fey, ganz durch⸗ zuſehen, was in ihrem Benehmen gegen ihn wahr iſt. Natuͤrlich erſchrak ſie daruͤber, und both allem auf, dem Oncle, bei dem es ihr nur ſo lang er in ſie vernarret blieb, recht wohl ſeyn konnte, dieſen Gedanken mit aller Kunſt, deren ſie faͤhig war, aus dem Kopf zu bringen, und wollte natuͤrlich ſich in keine beſtimmte Erlaͤuterung darüber mit ihm einlaffen. Sie kannte dafuͤr andere Mittel. Sie ſprang von ihrem Stuhl auf, fiel ihm um den Hals und weinte in dieſer Stellung ſchluchzend und mit Thraͤnen, ohne ein Wort zu ſprechen. Der Oncle wollte ſich von ihr losmachen und ſagte: mit dem biſt du nicht anders als du biſt; laß mich jetzt gehen. Sie aber blieb feſt in ihrer Stellung und ſeufzte immer tiefer Er wieder— holte: laß mich gehen und zeig dich in Zukunft: anders als bisher. Jetzt fing fie endlich an zu reden, und ſagte: mein Gott! meinGott! Oncle, Sie machen mich zum ungluͤck— lichſten Menſchen, der auf Gottes Boden herumgeht, wenn Sie glauben koͤnnen, ich ſey gegen Sie undankbar. Lieber, lieber Oncle! ſetzen Sie mich auf die Probe; ich will durch Feuer und Waſſer laufen, wenn ich Ihnen dienen kann.

Der ſchwache Alte war ſchon wieder auf dem Ruͤckweg zu einer freundlichern Stimmung und ſagte: ſchweig mir jetzt, ſchweig mir jetzt hievon, es wird ſich zeigen, wie du

15 dich betragſt; Für einmal will ich jetzt lieber von etwas anderm reden.

Sylvia erwiederte: es iſt wahr, kommen Sie, Oncle⸗ es iſt ja die Stunde, wo wir gewoͤhnlich mit einander Schach ſpielen. N

Nun, nun, ſagte der Onele, vor einer Stunde haͤtte ich nicht geglaubt, daß ich heute mit dir Schach ſpielen wuͤrde. Kommen Sie jetzt, erwiederte Sylvia, und waͤhrend dem ſie den Tiſch bereitete, nahm ſie Arners Brief an ihn weg, ſchob ihn in Sack, fieng das Spiel ſchnell an, ließ ihn eine Weile gewinnen, verwirrte ihn dann wieder, lenkte ſeine Aufmerkſamkeit lebendig auf's Spiel, war heiter und froh, nahm ihn, wenn ſie lachte und ſcherzte, bei der Hand, wie wenn gar nichts vorgefallen waͤre, und ſie hatte ihn bald vollig wieder, wo fie ihn wuͤnſchte. Er fieng zwar wieder einmal, aber jetzt in einer ganz andern Stimmung, an zu ſagen: es iſt wie du Arner geſchrieben.

Sylvia erwiederte: es iſt wahr, es find mir in einem Brief ein paar unvorſichtige Worte an ihn entfallen.

Was? was? ein paar Worte? erwiederte der General, der ganze Brief iſt von Anfang bis ans 1 ein rn... ſtuͤck von Unverſchaͤmtheit. f

Sylvia. Verzeihen Sie, Sie wiſſen, woruͤber ich auf— gebracht war, und es iſt doch auch nicht recht, daß er ſich erlaubt, uber mich zu urtheilen und abzuſprechen, wie er es ſelber in ſeinem Brief an Sie gethan hat. Und faſt halb in Thraͤnen ſetzte ſie jetzt noch hinzu: er thut mir, weiß Gott, darin unrecht, Oncle! und das kann einer Perſon, die ſonſt ſo ungluͤcklich iſt als ich bin, nicht anders als weh thun.

14

General. Schweig jetzt davon, ich will ſelber gern glauben, daß er in dem Urtheil, welches er in ſeinem Brief, über dich fall, zu weit geht. Aber es ſcheint, ihr fehlet hierin Beyde, und ihr muͤßt das in Zukunft gut ſeyn laſſen und einander nicht gegenſeitig plagen.

Sylvia. Machen Sie nur, Oncle, daß er mit mir wieder gut wird, es ſoll dann an mir gewiß nicht fehlen,

Der General erwiederte: ich will das gern thun, fo viel ich kann und ihm ganz gewiß unparthepifch- auf ſei⸗ nen Brief antworten. b

Sylvia wiederholte die Worte: er ſolle ihr aaa wie⸗ der gut machen und ſie wolle auf ihrer Seite gewiß thun was recht ſey. 1

Der General verſprach es ihr noch einmal. Aber als er am Morgen Arners Brief beantworten wollte, konnte er ihn bey allem Nachſuchen nicht mehr finden. Er wußte, auch ſeinen Inhalt bei fernem nicht mehr deutlich. Viel deutlicher aber erinnerte er ſich der Bitte der Sylvia: er ſolle ihr doch ihren lieben Vetter helfen wieder gut machen. Seine Antwort fiel ſo aus, daß man darin wohl ſah, was er vom Inhalt des Briefs vergeſſen und was er davon noch behalten. Sie lautet wortlich alſo:

ö 0. BE 7 Man kommt mit dem auf beiden Achſeln bac e wo S weit. !

Lieber Vetter! Dein Brief hat mir Muͤhe, recht ſehr Muͤhe gemacht.

15 Ich wollte dir ihn umſtaͤndlich beantworten, aber er ift mir, ich weiß nicht wie, abhanden gekommen, faſt ehe ich ihn recht geleſen; ich kann alſo nicht in's Umſtaͤndliche deſſelben eintreten. Der Vorfall mit der Eichenbergerinn ſcheint mir die eigentliche Urſache der verdruͤßlichen Stim⸗ mung zu ſeyn, die zwiſchen dir und der Sylvia jetzt ſtatt findet. Ich weiß nicht, wer dieſe Eichenbergerinn iſt, und was ſie fuͤr ein Menſch iſt, und es liegt mir gar nichts daran, ob du ſie mit dem Bettelvogt oder mit dem Har— ſchier im Land herum fuͤhren laſſeſt. Ich wußte auch gar nicht, was mit ihr in deinem Schloß vor deiner Audienz vorgefallen, und Sylvia hatte gar unrecht, mich in Ruͤck⸗ ſicht auf das Narrenſpiel mit dieſer Dorfdirne hineinzu— ziehn. Ich will gar nichts davon wiſſen. Ich miſche mich auch gar nie in Sachen, die mich nichts angehen, inſon— derheit wenn's Sachen ſind, die eine Audienzſtube ange⸗ hen; um ſolche Sachen kuͤmmert ſich ein alter Offizier ſo wenig als um den Mann im Mond. Darin hat Sylvia ganz unrecht, ſo wie auch darin, daß ſie das, was ſie dir ſagen wollte, ſo unverſchaͤmt grob geſagt als ſie gethan. Ich habe es ihr auch im Ernſt verwieſen und geſagt, ſie hätte an ihren Vater und an das große Unrecht denken ſollen, das er dir gethan. Sie geſteht jetzt auch ſelber, daß ſie ſich hierin uͤbereilt. Aber laß es jetzt auch damit gut ſeyn und vergiß, was diesfalls geſchehen. Du biſt indeſſen auf deiner Seite auch zu weit gegangen. So ſchlecht als du ſie in deinem Brief ſchilderſt, iſt ſie doch auch nicht. Sie kann Fehler haben und ich glaube ſelber, daß ſie welche hat, aber daß wir fuͤrchten muͤſſen, ſie werde uns

10

8 i in dem Grad, wie der Erzſchlingel, ihr Vater, Schande machen, das iſt jetzt doch auch nicht. Nein, fo etwas has ben wir von ihr gewiß nicht zu fuͤrchten. Es geht mir bierin ihrenthalben wie mit dir. Man muß nie das Schlimmſte glauben. Wenn ich alles glaubte, was ich von dir ſchon gehoͤrt habe, ich würde dir ganz gewiß das groͤßte Unrecht thun. Aber ich thue es nicht. Ich weiß, daß du in der Hauptſtadt Feinde haſt, und halte alles was ich glaube, das von dieſen herkommen koͤnnte, ſchon zum vor⸗ auß für nicht wahr. Du haſt aber auch Freunde und war⸗ me Freunde daſelbſt, und da mag mir Sylvia und die halbe Welt boͤſes von dir ſagen, ich glaube lieber das Gute, das ich von deinen Freunden von dir hoͤre. Ich bitte dich, vergiß jetzt den Narrenbrief der Sylvia. Sie ſieht, daß ſie unrecht hat und ſie wird ſicher ſo etwas nicht wieder thun. Es iſt aͤuſſerſt unangenehm, wenn zwiſchen Perſonen, die in ſo nahen Verhaͤltniſſen zu einander ſtehen, dauernde Mißhelligkeiten obwalten. Mache, daß wenn wir bald einmal, wie es ſeyn kann, zu dir kommen, ich keine Ge: ſichter antreffe, die einander ſcheel anſehen. Ich komme nicht an einen Ort, wo dies der Fall iſt. Wenn wir zu dir fommen, ſo mußt du machen, daß alles froh und freund— lich mit einander iſt. Wir fehlen alle ſamt und ſonders viel, und keiner meynt, daß er fehle, ein jeder glaubt, ſeine Meinung und das was er will, ſey das beſte. Darum muß ein jeder immer trachten, ſich mit dem andern zu vertragen. Du kannſt ſicher ſeyn, wenn ich hie und dm auch etwas an dir und an dem, was du thuſt, nicht fo finde, wie ich es gerne hätte, fo bin ich doch immer dein

17 dich aufrichtig liebender Oncle, und deine Thereſe un) deine Kinder koͤnnen deſſen verſichert ſeyhn wie du. General v. Arnheim.

9. 4.

Es iſt nicht gut, in die Haͤnde eines ſolchen Weibes zu fallen.

Das Wort der Sylvia an ihren Oncle, er ſolle doch machen, daß Arner wieder mit ihr gut werde, fie wolle denn auch thun, was recht ſey, war nichts weniger als Ernſt. Sie trieb mit dieſem Wort mit dem guten Alten nur den Narren. Dieſer nahm es auch ſehr treuherzig auf und redte dem guten Arner, wie wir geſehen haben, mit allem Ernſt zu. Sie aber aͤnderte in ihrem Beneh— men gegen Arner diesfalls kein Haar, und hörte keinen Augenblick auf, dem alten Haß, den ſie gegen ihren Bet: ter trug, freyen Lauf zu laſſen, wo fie immer fonnte und mochte, und ſuchte beſonders ſein Benehmen als Edelmann und Herrſchaftsherr, wo ſie immer konnte, veraͤchtlich zu machen. Seit einiger Zeit gab ſie ſich alle Muͤhe, uͤber die Art, wie er die Verbrechen Hummels beſtrafte, ihr Geſpoͤtt zu treiben. Sie wußte, daß dieſe Behandlungs— weiſe den in der Hauptſtadt uͤblichen Rechtsformen ent⸗ gegenſtanden, und da ihr daran gelegen war, Arner in der Hauptſtadt und bei Hofe fo viel als moglich lächerlich zu Peſtalozzi's Werke. IV. 2

18

machen, fo ſaͤumte fie keinen Augenblick, dieſe Geſchichte an beiden Orten zum Tagsgeſpräch des guten, halbguten und ſelber auch des viertelguten Tons daſelbſt zu machen, und gab ſich beſonders Muͤhe, bey dieſem Anlaß Helidor mit den Laͤcherlichkeiten ihres lieben Vetters bekannt zu machen.

Dieſer Mann, der die eigentliche Oberbehöoͤrde alles Muthwillens, aller Verſchwendung, aller Unſittlichkeit, aller Uarechtlichkeit und aller Verfaͤnglichkeit iſt, das von oben herab durch Unterbehoͤrden das Herzogthum auſſer allen wirklichen Regierungsſegen hinauswirft, dieſer Mann, der an der Stuffe des Throns ein Spiel treibt, das ihn noͤthigt, auf alles, was im Land Außerordentliches auch nur ſpuckt, will geſchweigen geſchieht, aufmerkſam zu ſeyn, wußte bisher nicht einmal, daß ein Edelmann im Land lebt, der Arner hieß, fand das, was Sylvia von ihm er— zählte, fo veraͤchtlich fie es ihm auch darfiellte, doch weit mehr auſſerordentlich als laͤcherlich. Er frug genau bey ihr nach, was Arner eigentlich thue, und was er eigentlich wolle. Ueber ſein Wollen ſagte Sylvia, er ſey ein Narr, er wiſſe es ſelbſt nicht; uͤber ſein Thun war ihre vorzuͤglichſte Bemerkung, er behandle alle Leute, die feinem Großvater lieb geweſen, uͤbel, und habe ob einem armſe— ligen Karſtſtreich, den der Vogt Hummel im Rauſch bey einem ſeiner Marchſteine gethan, einen Rechtslerm ange— fangen, wie wenn er die ganze Chriſtenheit verrathen und bey die em Anlaß alle Vorgeſetzten im Dorf zu Schanden gemacht und ſie ob kleinen Vortheilen, die ſie ſich in der Verwaltung des Gemeinguts, wie dieſes in allen Dörfern geſchieht, erlaubt, nicht etwa blos beſtraft, ſondern bei den

19

ärgſten Beltlersleuten und Halunken im Dorf um Verzei— hung zu bitten gemacht. Helidor fragte: was er bey dieſem zu Schandenmachen der Vorgeſetzten im Dorf eigentlich ſuche? Sie erwiederte: aus allem, was ſie ſehe, gehe hervor, er wolle das unterſte zu oberſt kehren, und glaube, man muͤſſe immer dem Untern gegen den Obern, dem Armen gegen den Reichen aufhelfen. Dieſer Narrengedanken ſcheint mir bey allem, was er thut, im Hintergrunde zu liegen. Er entreiſſe z. B. den großen Bauern die Weidvortheile und gebe ſie den Bettlern. Auch ſey er mit dem gemeinſten Lumpengeſindel ſo freundlich als er immer koͤnne, und hingegen mit Leuten, die etwas mehr zu bedeuten haben, und ſogar mit Perſonen von ſeinem Stand, ſo grob und ungeſchliffen, als er nur immer koͤnne. Sie brachte ſogar die Geſchichte mit der Eichen— bergerinn in Anregung. Von der Schule und dem, was diesfalls Arner vorhabe, wußte ſie noch gar nichts.

9. 5. Irrreligibſe Verruchtheit in einen Mantel gehuͤllt, der viele zu verfuͤhren geeignet iſt.

Das ſind Narrheiten, ſagte Helidor am Ende zu Sylvia, die dem Herrn von Arnheim ſelbſt vergehen werden, wenn er fie noch eine Weile getrieben.

So wenig er indeſſen dem Thun Arners einiges Ge⸗ wicht zu geben ſchien, fo ſagte er doch zur Splola, ſie

zu ſolle ihn forthin berichten, was fie von Arners Thun weiters vernehme. Auch geſiel er ſich zu dieſer Zeit oͤfters davon zu reden und zu ſagen: die Anſichten, von denen Arner ausgehe, und von denen auch der Herzog ehemals ausgegangen, ruhen trotz allem Anſchein von Weisheit und Heiligkeit, den man ihnen zu geben geneigt fen, auf irrigen Fundamenten. Auch arbeite die Menſchen-Natur den Folgen hrer Taͤuſchung in allen Verhäaͤltniſſen ſelber entgegen. Alles in der Welt, ſagte er ferner, was noch immer von dieſer Traͤumerſorgfalt fuͤr die Armen und Elenden im Land ausgieng und auf die Grundlage eines Bruder- und Schweſterſinns, der in uns liegen ſollte und nicht in uns liegt, gebaut worden, hat noch geſcheitert.

Wo er immer ſeinem irrreligidſen Sinn freyen Lauf aſſen durfte, machte er dem göttlichen Erlöfer des Men— ſchengeſchlechts ſelber den Vorwurf, er habe wirklich einen olchen Traͤumer-Zuſtand der Menſchheit bezweckt, und das buͤrgerliche Eigenthum der Menſchheit durch den Bru— der⸗ und Schweſterſinn des Glaubens, den er predigte, wo nicht fo viel als aufgelöst, doch die Freiheit in den weſentlichſten Genießungen derſelben untergraben und zu Grund richten, oder wenigſtens dem Dienſt ſeines Glau— bens und ſeiner Glaͤubigen unterordnen wollen. Dann ſetzte er mit dem ganzen Hohn feines Unglaubens und ſeines Spottgeiſts noch hinzu: was iſt denn aus dem ho— hen, göttlihen Bruder- und Schweſtertraum geworden ? Man frage die Geſchichte, und ſehe darinn, wie bald das Gemeingut ſeiner Glaͤubigen in Kloſtergut reicher Prieſter hinübergegangen. vor deren Thuͤren die gemeinen Chriſten

27

zum Lohn ihres Glaubens bald Allmoſen betteln mußten. In dieſen engern Kreiſen, ich möchte ſagen, in den Krei— ſen, in denen er der Selbſtſucht eins durch Unglauben und Liebloſigkeit verhaͤrteten Herzens, ganz freyen Lauf laſſen konnte, ſprach er dem Recht der Fuͤrſten eben fo ſehr Hohn als er darin mit den Anfprächen der Prieſter fein Geſpoͤtt trieb; denn ob er gleich die Nothwendigkeit der unbeding ten Freyheit und Willkuͤhr der Macht auch in dieſen Krei— ſen behauptete, ſo aͤuſſerte er ſich in denſelben daruͤber dennoch, dieſe Freyheit und Willkuͤhr der Macht ſey frey— lich nur um der Schlechtheit und Unwuͤrdigkeit der Men⸗ ſchennatur ſelber willen, und von wegen ihrer notoriſch beurkundeten und unwiderſprechlich bewieſenen Unfoͤhigkeit zu einer hoͤhern und edlern Geſtaltung, nothwendig. Er erkannte durchaus weder fuͤr Zeit noch fuͤr Ewigkeit etwas Goͤttliches in unſrer Natur, und behauptete auf das Fun— dament dieſer niedrigen Anſicht, die er ſich von ihr machte, unſer buͤrgerliches Daſeyn koͤnne und muͤſſe weſentlich mit feſter und uͤberwaͤgender Ruͤckſicht auf das Thieriſche un— ſerer Natur ins Aug gefaßt werden, indem es gaͤnzlich unmoͤglich, die ſich in dieſem Zuſtand unausweichlich durch— kreuzenden und gegenſeitig anſtoſſenden Anſpruͤche der Selbſtſucht unſrer Natur genugſam im Zaum zu halten und dadurch einen allgemeinen Ruhzuſtand im geſellſchaft— lichen Leben zu erzielen, als durch Mittel, die der Selbſt— ſucht der groͤßern thieriſchen Kraft uͤber die Anſpruͤche der kleinern und ſchwaͤchern ein entſcheidendes Uebergewicht verſchafft.

Alſo auf dieſe Weiſe von der Nothwendigkeit der buͤr—

\

22

gerlichen Rechtloſigkeit des groͤßern oder desjenigen Theils unſers Geſchlechts, den er das Volt hieß, uͤberzeugt und hieruͤber ganz mit ſich ſelber einig, mußte ſich auch der letzte Schatten eines Gefuͤhls von einem innern, aus dem Goͤttlichen unſerer Natur hervorgehenden allgemeinen Recht unſers Geſchlechts in ihm vollends verlieren. Er konnte desnahen auch nicht anders, er mußte den Gedanken an ein bruͤderliches und ſchweſterliches Verhaͤltniß deſſelben, das uns gemeinſam durch Glauben, Liebe und Treue unter ein— ander vereinige, als ein Traumgebilde unſerer verirrten Einbildungskraft und als einen Affengeluſt anſehen, der uns auſſer die Wahrheit unſerer Natur heraus und uͤber dieſelbe in eitle, vergaͤngliche Wollen emporhebe. Er konnte nicht anders, er mußte dieſen Gedanken als eine Anſicht erklaͤren, die mit dert ieriſchen, aber nach ihm einzig wahren Baſis unferer menſchlichen Verhaͤltniſſe im Widerſpruche ſtehen und ſich auf teine Weiſe als wirkliche, menſchliche Wahrheit bewähren koͤnnen. In dieſen Kreiſen, wo er durchaus offen ſprach, und ich moͤchte ſagen, weder vor Gott noch vor den Men— ſchen irgend eine Scheue zeigte, machte er ſich gar nichts daraus, es geradezu auszuſprechen, das Chriſtenthum habe in feinem Urſprung ſolche, dem Weſen aller buͤrgerlichen Vereinigung widerſprechende, Grundſaͤtze gehabt und nicht ohne Schlauheit und Kunſt auf die Anerkennung derſelben losgearbeitet. Die Geſchichte zeige indeſſen eben fo tlar, daß die frommen Lobredner eines ſolchen Bruder- und Schweſter— vereins nach den erſten Jahrhunderten des Chriſtenthums, ſehr bald eben fo niedrige Lobredner und Auspoſauner eines rechtloſen Zaſtands des menſchlichen Geſchlechts im verwerf—

& 25

lichſten Herrendienſt und des unbedingt blinden, ungdt li— chen und widergoͤttlichen Gehorſams im Menſchendienſt geworden.

So ſehr aber dieſer tollfühne und verwegene Frevler alles göttlichen und menſchlichen Rechts Arners diesfällige Mei— nungen und Beſtrebungen in ſeiner Lage und in ſeinen Ver— haͤltniſſen gegenwaͤrtig ganz fuͤr unbedeutend achtete und ſo ſehr er ſich auch uͤberzeugt hatte, daß alle Verſuche, die eine ſolche Tendenz haben, in unſerer jetzigen Welt ſcheitern werden und ſcheitern muͤſſen, ſo ſagte er denn doch: es gibt auch in dieſer unſerer jetzigen Welt Augenblicke, die dieſen Traͤumen auf eine Weiſe ſehr guͤnſtig find, und die Um— fiande, in denen wir leben, ſcheinen dieſes vorzuͤglich zu ſeyn. Er erklaͤrte ſich daruͤber beſtimmt alſo: die vielſeitige Noth unſerer Tage macht tauſend und tauſend Menſchen nach ſolchen Traͤumen haſchen, und ſie die Schiffbruͤchige einen Strohhalm für einen Maſtbaum anſehen, von denen nur vor 20 Jahren keinem einzigen nur der Sinn daran ge— kommen wäre, nach einem ſolchen Traum zu haſchen. Aber in dem er alſo die keimende Zeitneigung, ſich an Strohhalm von ihm fo geheißener ſchwacher Glaubenstraͤumereyen feſt zu halten und ſogar die Rettung von großen und allgemeinen Landesuͤbeln zu erwarten, dem Drang unſerer gegenwärtigen Geldnoth zuſchrieb, verbarg er ſich denn ſorgfaͤltig, daß die— ſer Gelddrang, der im Herzogthum wirklich groß iſt, we— ſentlich und unwiderſprechlich von dem Sittenverderben her— ruͤhrt, das er ſelbſt durch den Luxus, den Muͤßiggang und, das Gauckler- und Comoͤdiantenleben, das ehemals im Land— gar nicht Brauch und Recht war, das aber er bei Hof und

24 in der Hauptſtadt eingefüh.i und ſelber in alle Derfwinkel des Landes ſich einſchleichen gemacht habe. Er ſchrieb des⸗ nahen auch, in dieſer Verblendung lebend, dieſes Uagluͤck nicht feiner eigentlichen Urſache, ſondern einer ſeiner we— ſentlichen Folgen der Geldjudereg, die im Land wirklich den oberſten Gipfel ihrer giftigen Umtriebe erhalten, zu. Dieſe haßte er freyhlich von ganzem Herzen und mußte ſie haſſen, weil er bey ſeinem hoheitlichen Lumpenleben gar oft in Fall kam, ſich von den ſchlimmſten Geldjuden aus der Noth helfen zu laſſen. Er aͤuſſerte ſich desnahen auch gar bitter uͤber den Einfluß, den die beſtehende große Geldjuderey auf alle Angelegenheiten der Welt habe. Sonder bar iſt es, wie er die ihm eben ſo verhaßte Zeitauftlär: ung mit dieſer Geld— juderey als eins und das nehmliche Landesuͤbel in ſeinem Kopf zufammenb: ingen konnte. Er aͤuſſerte ſich in dieſer Hinſicht mehrmal, der raſende Hang, Bücher und Zeitungen zu lefen, der ſich bis in die hinterſten Dorfwinkel hinabge— ſchichen, ſey eben die nehmliche d Folge der Geiſtesverarmung und Landeselendigkeit, der ſich im elenden Treibjagen nach jedem Kreuzer, der immer nur aufzutreiben ſey, auch zeige. Minder unbegreiflich iſt es, daß, da er jetzt von der Syl— via Unterredung auf die Geldjuderey der Zeit aufmerkſam gemacht ward, ihm jetzt auch der Hofjude zu Sinn kam, dem er in ſechs Wochen die, dem Herzog entfremdete, und dem Juden verpfaͤndete Kleinodien wieder heraus zu loͤſen, verſprochen. | Er wußte jest ſchon wohl, daß er dieſes auf dieſe Zeit nicht werde thun koͤnnen, aber er war gar nicht der Mann, der ſich ob fd etwas graue Haare wachſen läßt. Der Verfalltag war noch nicht da, und bis ſo' lang tröftete

7

er ſich mit dem Sprich vort; kommt Zeit, kommt Rath. Vundert euch des Mannes und desſchrecklichen Widerſpruchs, der in ſeinem Thun lieget, nicht. Wer in dem Grad wie dieſer Mann, die Menſchennatur mißlennt und verachtet, der hat den innern Keim der Gottesverlaͤugnung und der Fuͤrſtenverhoͤhnung; er hat den innern Keim der Verhoͤhnung aller wahren goͤttlichen und aller wahren menſchlichen Ord⸗ nung in ſich ſelber; er hat den Keim der niederſten Geiſtes⸗ richtung und der außerjien Herzensverhärtung i in ſich ſelber. Die Folgen dieſes Zuſtands und auch die Art, wie ſich dieſe Folgen in der Eigenheit dieſes Mannes ausſprechen, ſind unausweichlich und erklaͤren ganz den Auſchein des Wider⸗ ſpruchs, der vielſeitig zwiſchen dem aͤuſſern Thun dieſes Mannes und dem Innern ſeiner Anſichten und Geſinnungen ſtatt hat. | | Je größer die innern Anlagen und die aͤußern Mittel eines in Ruͤckſicht auf das Weſen der Menſchennatur ſo tief verirrten Mannes ſind, deſto entſchiedener und kuͤhner geht er auch in ſeinem Unglauben an alles Goͤttliche, den aͤußern Schein des Gottesdienſts, und hinwieder in ſeinem Unglau— ben an irgend ein Fundament des Menſchenrechts den Schein der heiligſten Staatstreue als ſeinen Schild vor ſich her tra— gend, aber denſelben auch in beyder Ruͤckſicht wider Gott, wider alles Göttliche und wider alles Menſchliche zum Dienft feiner Selbſtſucht und zur Sicherung feines thieriſchbehag— lichen Lebens und aller ſinnlichen Erquickung, die er allein ſucht, benutzend. Doch wir verlaffen den Mann, den wir unter der Ru: brik: irrreligidſe Verruchtheit in einen Mantel gehuͤllt,

20

„der viele zu verführen geeignet iſt“ ins Aug gefaßt haben, und wende mich von der thieriſchen Kraft viefer Ver: ruchtheit zu dem reinen, milden Sinn, der von Anbeginn der Welt an allem wahrhaft Goͤttlichen und allem wahrhaft Menſchlichen zum Grund lag.

J. 6.

Es oͤffnen ſich Anſichten, die den Zuſammenhang des reinen Mutterſinns in der Wohuſtube mit dem Beduͤrfniß eines reinen Vaterſinns in der

Schulſtube in ſein wahres Licht zu ſetzen beginnen.

Indeſſen Sylvia den großen Feind alles Wahren, Gu— ten und Menſchlichen auf Arners Thun mit der ganzen Bitterkeit ihres Herzens aufmerkſam gemacht und im Zu— ſammentreffen ihrer gegenſeitigen Schlechtheit ihn dahin gebracht, daß er im Zuſammenhang des guten Thuns Arners mit dem Weſen des Chriſtenthums das Heiligſte laͤſterte, gieng Arner und die vereinigten Freunde des Guten in Bon— nal ihren ſtillen Weg fort. Alle Aufmerkſamkeit war fetzt auf Gluͤlphis zu errichtende Schule hingerichtet. Arner, der Pfarrer, auch Thereſe und die Frauen redeten mit Gluͤlphi beynghe von nichts anderm, als von dieſem Vorhaben. Er ſelbſt war in feinem Innerſten lebendig davon ergriffen, und der Gedanke, daß wenn ſein Vorhaben gelingen ſolle, ſo muͤſſe es unbedingt auf die Fundamente gegruͤndet werden,

ö *

DT

durch welche Gertrud die Reſultate ihrer Wohnſtube her— vorgebracht hat, kam ihm immer wichtiger und vielſeitiger vor die Augen. Er verhehlte ſich aber auch die Schwierig— keit der Ausfuͤhrung dieſes Vorhabens nicht, ob er ſich gleich dieſelben bei fernem nicht in ihrer ganzen Aas dehnung und Groͤße vorzuſtellen vermochte. Er verſäumte indeſſen keinen Augenblick, den er frey harte, Gertrud zu beſuchen und mit ihr daruͤber zu reden. In allen Unterredungen, die er in dieſen Tagen mit ihr hatte, war immer ihr erjies und letz— tes Wort: ich ſchäme mich allemal, wenn ihr bei mir über den Gegenſtand der Erziehung Aaͤfſchluß zu ſuchen ſcheint. Ich habe in meinem Leben eigentlich nie an die Erzie— hung gedacht. Es iſt mir auch nie in Sinn gekommen, daß ich jemals in Fall kommen koͤnnte, ein Wort daruͤber verlieren zu muͤſſen. Das war auch im eigentlichen Sinn wahr. Sie konnte wirklich nicht wohl darüber reden. Sie verſtand gar oft die Worte nicht einmal, mit denen Gluͤlp hi ſie dieſes oder jenes daruͤber fragte. Faſt in jedem Fall gieng ihre Erklaͤrung dahin: lieber Herr Lieutenant, Ihr braucht meiner nichts; ich weiß es, Ihr werdet vom Mor— gen bis zum Abend mit Ernſt und Eifer für Euere Kinder thun, was ihr koͤnnet und moͤget; Ihr werdet fie bald ken— nen und einſehen lernen, wie ein jedes denkt, was ein jedes thut und was ein jedes will und bedarf. Es wird Euch ſicher gleichſam von ſelbſt in Mund fallen, was in jedem Fall in Ruͤckſicht auf jedes eurer Kinder Noth thut und nuͤtzlich ſeyhn wird. Was ich allein ſagen kann, iſt: Euer Vorhaben iſt groß; aber hoffet auf Gott, bethet, ſeyd ge— duldig und thut, was ihr koͤnnt und moͤget, und Gottes Segen wird bey Euch ſeyn.

. 28

Zu Zeiten aber erhob ſie ſich dennoch zu Aeuſſerungen, die tief in das Weſen der Erziehung eindrangen. Einmal ſagte ſie: ihr moͤchtet an euern Kindern thun, was ihre Eltern an ihnen verſaͤumen und durch euere Schule nach⸗ helfen, was ihnen daheim fehlt, das iſt freylich ein Got⸗ teslohn, aber es greift ſehr weit; das, was man in der Schule treibt, das Schreiben, Leſen und Rechnen iſt eigent⸗ lich nicht das, worin es ihnen daheim am meiften fehlt; daß fie etwas lernen und etwas konnen, | das iſt freylich nug und gut, aber daß fie etwas werden, daß ſie das recht werden, was ſie einſt ſeyn ſollen, das iſt, was noth thut und wozu es ihnen daheim ſo vielſeitig an Leitung und Fuͤhrung fehlt, und wo ein Schulmeiſter, der das will, was ihr wollt, vorzuͤglich nachhelfen muß. Das Rechtthun muß ihnen zur Gewohnheit und ihr Willen da⸗ für unerſchuͤtterlich gemacht werden. Als fie einſt ſich ſo lebhaft uͤber das, was die Erziehung weſentlich und unumgaͤnglich fordere, ausdruͤckte, unterbrach Gluͤlphi ſie plößlich und ſagte: Frau, Frau, ſaͤhe es doch in meinem Innerſten ganz aus, wie bey dir, aber wie viel, wie viel fehlt mir noch, bis ich da bin. Um Gotteswillen, er wiederte Gertrud, was bin ich denn, was kann ich denn, daß Ihr ſo von mir redet? Hier druͤckte Gluͤlphi ihr die Hand und ſagte: eben das, daß du nicht weißt, was du hierin biſt, iſt der groͤßte Beweis, wie wahrhaft das in dir liegt, was ich bei dir zu lernen nothwendig habe. Er ließ fie nicht antworten und ſagte forthin: ich bitte dich, mache, daß du (mir ſo vielſeitig und beſtimmt als moͤglich, erzählen koͤnneſt, wie du es gemacht haft, mit

29 deinen Kindern dahin zu kommen, wo du mit ihnen hinge— kemmen biſt. Zweimal erwiederte ſie: lieber Herr Lieu— tenant, ich kann das nicht, es iſt mir unmöglich, ich weis es ſelbſt nicht. Aber er bath forthin und bath ſo drin— gend, daß fie nach einigem Staunen ihm endlich antwor— tete: Nun, lieber Herr Lieutenant, wie hab' ich's denn ges macht? Ich wußte, daß ich nichts bin, nichts hatte und nichts konnte, und unendlich viel bedurfte, um nicht mitten in meiner Haus haltung und mit ihr fo elend zu werden, als nur immer eine Haushaltung auf Gottes Boden elend werden kann; und nun, was that ich da und was mußte ich unter dieſen Umſtaͤnden fuͤr mich und meine Haushal⸗ tung thun? Ich vertraute nicht auf mich, und ich konnte weder meiner Kinder noch meines Manns halber auf mich vertrauen; aber ich hatte beyde innig lieb und that als Frau an meinem Mann und als Mutter an meinen Kin— dern, was ich konnte und mochte, und wenn eins von ih— nen gegen mich oder gegen ſich ſelber fehlte, ſo machte mich das frenlich oft trauern und weinen, aber es minderte Gott— lob nie meine Liebe zu ihnen und mein Vertrauen auf Gott; es ſtaͤrkten mich vielmehr beyde und gab mir die Standhaftigkeit, Geduld und Selbſtuͤberwindung, die ich in meiner Lage fo dringend nothwendig hatte, fo daß ich, fo lange mein Elend auch dauerte, meine Hoffnung auf Gott nie fallen ließ und nie zweifelte, er werde endlich, wenns fein heiliger Wille ſey, mich aus meiner Noth erretten und mich in meinem Mann und in meinen Kindern ſegnen. Lieber Herr Lieutenant, dieſe Hoffnung und dieſer Glauben war meine einzige Kraft, oder vielmehr das einzige Mittel

50

zu der Kraft, die mir Gott gab, in meiner Lage zu leiden, was ich mußte, und zu thun, was ich konnte, um meinem Mann und meinen Kindern jeden Dienſt zu leiſten, den ich ihnen vor Gott und den Menſchen ſchuldig war. End— lich hat Gott und mein Heiland geholfen, und mir in meiner Lage ſeinen Segen verliehen. In dieſem Glauben lebte ich und fuͤr dieſen Glauben bethete ich jeden Morgen und jeden Abend zu Gott und zu meinem Heiland. Gluͤlphi ſah ſie, fo lange fie redte, mit inniger Wehmuth an und ſagte dann: und ſo, meynſt du, wird Gott auch mir bey meiner Schule helfen, wenn ich, wie du, mit Geduld und Selbſtuͤberwindung vom Morgen bis an den Abend mit reinem Herzen thue, was ich kann, und leide, was ich fol? O ja, erwiederte Gertrud, Ihr werder in Eu— rer Schule Wunder ſehen, wenn Ihr auf Gott vertraut und dem Werk des Herrn, dem Ihr Euch widmet, mitten unter allen Schwierigkeiten, die euch darin aufſtoßen wer— den, getreu verbleibt. Gluͤlphis Ruͤhrung ſtieg immer höher, und im tiefſten Gefühl dieſer Rührung jelber ſagte er denn noch: ja liebe Frau! mein Entſchluß iſt groß und geht weit uͤber meine Kraͤfte. Ich kann wohl meine Kin⸗ der in dieſem oder jenem unterrichten, aber Du haſt mich gelehrt, wie nichtig das, was aller Unterricht den Kindern geben kann, iſt, wenn die Erziehung nicht mithilft, daß die Kinder innerlich und aͤußerlich kraftvo as werden, was fie ſollen und ſich das einuͤben und geichſam zur an— dern Natur machen, was recht und gut iſt und ihnen durch ihr Leben noth thut. Und wie rein, wie erhaben rein, wie kraftvoll und fehlerlos, icht mochte Jagen, wie von

51

Suͤnden rein muß das Herz deſſen ſeyn, der ſeine Kinder mit Sicherheit zu dieſem Ziel zu führen im Stand iſt.

————ů————ůĩ—ðððr ˙—

BEL Die hohe Glut, die dem ſtillen, milden Sinn der Gertrud zum Grund liegt, bricht jetzt in eine hohe, aber reine Flamme aus, die Gluͤlphi ergreift, hoͤher hebt und in dieſer Höhe ſeſthaͤlt.

In dieſem Augenblick, wie wenn eine hoͤhere Macht Gertrud jetzt uͤber ſich ſelbſt und uͤber alle Anſichten und Gefühle ihrer Schuͤchternheit emporhob, ſprach fie mit ei— ner Kraft, die ſelber ihre Stimme veraͤnderte, dann aus: es iſt wahr, jeder Unterricht und jede Erzie— hungsbeſtrebung, die von unſrer Suͤnde aus— geht und ein Werk unſerer Suͤnde und unſe— rer Selbſtſucht iſt, iſt wie verflucht. Sie dachte es nicht, aber ihr Wort und die Art, wie ſie es ausſprach, machte einen Eindruck auf Gluͤlphi, daß er, davon ergrif— fen, die Unterredung mit ihr nicht fortſetzen konnte, ſondern von ihr forteilen mußte, um ſich einſam mit dieſem ihrem Wort ſelbſt zu beſchaͤftigen. Es iſt wahr, ſagte er jetzt in der Einſamkeit, in die er ſich hineingefluͤchtet, zu ſich ſelber, es iſt wahr, Segen und Fluch ſind gleich in der Hand des Erziehers; und wenn er nicht reines Herzens iſt und ſein Unterricht und ſeine Bildungsmittel von dem Boͤſen und Schlechten ausgehen, das in ihm ſelbſt liegt,

52

ſo haͤngen ſie ſich daburch nicht nur an alles Schlechte und Boͤſe, das in ſeinen Kindern, ſondern auch an alles Boͤſe und Schlechte, das im Land iſt, und wenn denn fein Unterricht auch hie und da an Ort und Stelle wie ein großes Licht ſcheint, fo firht es um deswillen nichts deſto weniger weſentlich mit aller Finſterniß im Land, die da iſt, im innigſten Zuſammenhang, und wirkt in dieſem Dienſt ſeiner Natur nach und nothwendig nicht Segen, ſondern Fluch im Land. Dieſe Anſicht des Gegenſtands fuͤhrte ihn in Ruͤckſicht auf ſein Vorhaben zu einer Auf— merkſamkeit auf ſich ſelbſt, die noch nie in dieſem Grad in ihm lebte. Er fühlte tief, daß die Unſchuld, der Glau- ben und die Liebe, die in der Gertrud Stube das Wunder der Freiheit und des Frohſinns im Gehorſam und in der Anſtrengung ihrer Kinder erzeugt, nicht in dem Grad in ihm leben, der geeignet und genugthuend ſeye, eben dieſe Nefultate in feiner Schulſtube mit feinen Kindern zu er» zielen. Er fagte in dieſem Augenblick zu ſich ſelber: meine Natur draͤngt mich nicht von ſelbſt mit derjenigen Kraft zur Schulmeiſtertreue, wie der Gertrud hohe Natur ſie von ſelbſt zu ihrer Muttertreue hindraͤngt. Nach einer Weile ſagte er dann wieder: mein Gott! mein Gott! ich darf mir nicht verhehlen, wie unendlich ich noch davon entfernt bin, durch einen lebendigen Glauben und durch eine leben dige Liebe in meinem Innerſten in dem Grad zum Ge⸗ beth und zum Flehen nach Gottes Huͤlfe hingeriſſen zu werden, wie Gertrud durch ihren Glauben und durch ihre Liebe zu Gott und zum Flehen nach feiner Huͤlfe hinge— riſſen wird. Er gieng mit hohem Ernſt in ſich ſelbſt und

55

ſprach es geradezu aus: meine Fehler werden mir in mei— ner Schulſtube nachfolgen, mein Schulmeiſtern wird im— mer mit aller meiner Lieutenantsderbheit, mit aller Lieute— nantsanmaßung verwoben ſeyn; ich werde ſelbſt die Ab— richtungskleinmeiſterey, die ich mir bey meinem Soldaten— muſtern angewoͤhnt, nicht ganz aus der Art meiner Schul— führung verbannen koͤnnen.

So redte er nach ſeiner Unterredung mit der Gertrud lange mit ſich ſelbſt. Es war ihm unmöglich, ihr Wort „jeder Unterricht und jede Erziehung, die von der Suͤnde ausgeht, iſt wie verflucht“ zu vergeſſen und aus ſeinem Kopf herauszubringen.

9. 8. .

Die erſten Folgen eines großen Worts, das Ger— trud fredte.

Von der Stunde dieſer Unterredung an fragte Gluͤlphi Gertrud nicht mehr: wie ſie es gemacht habe, ihre Kinder zu der Hoͤhe zu erheben, die bey ihnen das Wunder der Freyheit und des Frohſinns zin ihrer Anſtrengung und in ihrem Gehorſam erzeugt, und in allweg aus ihnen ge— macht, was aus ihnen geworden? Er wußte jetzt, wie ſie es gemacht habe, aber er fuͤhlte auch tief, daß er das, was ſie thue, nicht wie ſie koͤnne, oder vielmehr, daß er das, wodurch das, was ſie an ihren Kindern thut, fo ge

Peſtalozzi's Werke. IV» 3

54

lingt, nicht wie fie in ſich felbft trage und die Kräfte durchaus nicht beſitze, durch die ſie das, was ſie an ihren Kindern geleiſtet, an, ihnen zu leiſten vermochte. Dieſe Anſicht machte auch einen ſo tiefen Eindruck auf ihn, daß er ſagte, wenn er nicht ſein Wort: Schulmeiſter in Bon— nal werden zu wollen, gegeben haͤtte, ſo wuͤrde er ſich jetzt wohl dreymal bedenken, ehe er es thaͤte; aber be- legte denn dieſes nicht wollen eigentlich im Geiſt des grad— ſinnigen Soldatenlebens und der feſten Ueberwindungskraft, die in demſelben ſo oft nothwendig iſt. Muß doch, ſagt er dann zu ſich ſelber, sein armer Teufel von Soldat ſeig Leben an ſein Wort ſetzen, wenn er ſich einmal hat anwerben laſſen, wie ſollte ich das meinige in dieſer Angelegenheit brechen duͤrfen? Doch kam ihm denn auch wieder in Sinn, aber wenn ich nicht kann, was ich will, und bey meinem beſten Willen noch denken muß, daß meine Fehler meinen Unterricht ſelber vergiften und meinen Kindern eigentlich noch zum Fluch machen koͤnnten, wo ſtehe ich denn ſelber mit meiner Standhaftigkeit und mit meinem Wort halten? und hieruͤber troͤſtete ihn nur das Wort, das Gertrud ſo oft zu ihm geſagt: Hoffet auf Gott, glaubet, bethet, ſeyd ge— duldig, und thut, was ihr koͤnnet und moͤget, und ihr wer⸗ det Wunder in eurer Schule ſehen. Dieſe Worte beruhig— ten ihn jetzt, da er noch eine Weile einſam im Garten her— um ging, nicht nur, ſie erhoben und entflammten ihn, daß er endlich wie von einer innern Macht getrieben, einmal uͤber das andere zu ſich ſelber ſagte: Gott iſt in den Schwa— chen maͤchtig; ich will auf ihn hoffen und glauben und bethen. In der Ruͤhrung dieſer Stimmung ſetzte er denn

35

noch hinzu: ich will thun, was ich kann und nicht zu viel hoffen, aber dabey mich auch' nicht fuͤrchten; Gott wird hel— fen. Dieſe Worte lagen noch auf ſeiner Zunge, als er endlich aus dem Garten in die Stube des Pfarrers hinein— trat. Die Fuͤlle der Kraft dieſer Worte lag auf ſeiner Stirne, und er ſtand mit einem Ernſt da, den man noch nie an ihm geſehen.

Arner, der wußte, daß er von der Gertrud kam, ſagte ihm mit ſeiner lachenden Unbefangenheit: Sie kommen von der heiterſten Frau, die ich kenne, und ſehen ſo duͤſter aus. Gluͤlphi erwiederte: Es iſt keiner von Euch allen, der, wenn er mit mir bey ihr geweſen waͤre, jetzt nicht eben ſo ernſt waͤre, als ich. Dann erzaͤhlte er ihnen, ſo gut er konnte— den Lauf des ganzen Geſpraͤchs mit dieſer Frau, und beſon, ders den Eindruck, den das Wort: „jeder Unterricht, der von der Suͤnde ausgeht, iſt wie verflucht,“ auf ihn gemacht hat. Er ſetzte hinzu: wir koͤnnen uns nicht verhehlen, jede Richtung, dieldie Schwaͤchen unſrer Sinnlichkeit und unfrer Selbſtſucht unſerm Unterricht geben, geht von unſrer Suͤnde aus, und dieſe Anſicht muß einen alten Lieutenant, der Schulmeiſter werden will, doch nothwendig etwas ernſthaft machen. N

Der Junker, der Pfarrer, die Frauen, und wer in der Stube war, wurden durch dieſe Erzählung geruͤhrt. Bes ſonders machte das Wort: „jeder Unterricht, der von der Suͤnde ausgeht, kann den Kindern zum Fluch werden“ auch auf ſie alle den groͤſten Eindruck. Der Junker nahm den guten Gluͤlphi treuherzig bey der Hand und ſagte ihm: dieſes Wort muß jeden Vater, jede Mutter und jeden Men—

*

56

ſchen, der naͤher oder ferner an der Erziehung Theill zu neh⸗ men ſucht, in einem hohen Grad ernſthaft machen.

Und einen Seelſorger, duͤnkt mich, ſagte jetzt der Pfarrer, noch weit mehr als einen Erzieher und einen Schulmeiſter.

Die Herren unterhielten ſich noch eine Weile uͤber dieſe Anſicht des Erziehungsweſens, und fanden einſtimmig, les ſeye wahr, jeder Menſch, der im Dienſt feiner Sinnlichkeit und feiner Selbſtſucht, folglich im Dienſt der Urquellen aller menſchlichen Schlechtheit und alles menſchlichen Ver— derbens-Erzieher, Schulmeiſter oder Pfarrer wird, traͤgt den Keim, durch den er das Heiligſte und, Weſentlichſte, was er als Erzieher, als Schulmeiſter und als Pfarrer erzielen und befoͤrdern ſollte, zu Grund richten und verder— ben muß, in ſich ſelber. Der Pfarrer war von dieſer An— ſicht des Pfarrdienſts, ob ſie gleich die ſeinige war, aͤußerſt geruͤhrt. Er wiederholte ſie aber nochmals und ſagte: je— der Seelſorger, der aus Gruͤnden, die ſich aus ſeiner Sinn— lichkeit und Selbſtſucht herſchreiben, einen Pfarrdienſt ſuche, fey in Ruͤckſicht auf das Weſen des Segens, den er bey fei- ner Gemeinde erzielen ſollte, im gleichen Fall, wie ein Menſch, der von keinen hoͤhern Beweggruͤnden, als von dieſen getrieben, einen Schuldienſt ſuche.

So lange die Herren bey einander waren, trieb ſich ihre Unterredung immer um den Punkt des Unſegens herum, den alle Arten von menſchlichen Schwächen, ſowohl im Erz ziehungsgeſchaͤft als im Pfarrdienſt, beydes auf die Schul und Pfarrkinder haben muͤſſen, und Morgens darauf, da Gluͤlphi jetzt der Gemeinde zum Schulmeiſter vorgeſtellt werden ſollte, waren die Herren, die an dieſer Vorſtellung

0 57

Gluͤlphis in Bonnal Theil nehmen ſollten, voll des glei— chen hohen Ernſts uͤber dieſen Gegenſtand, und der Tag war aͤußerſt feyerlich. Arner kam mit ſeiner ganzen Familie am Morgen ganz frühe, von mehreren Beamteten beglei— tet, und beynahe fo} feyerlich als am Tag, an dem man ihm huldigte, nach Bonnal. Gluͤlphi und alle Anwe⸗ ſenden waren aͤußerſt fill. Arner und der Pfarrer führten ihn mit einer Feyerlichkeit in die Kirche, ich moͤchte ſagen, wie der geruͤhrteſte Braͤutigam ſeine Braut zum Altar führt. Die Kirche war auch gedrängt voll, denn es wunderte ſich alles uͤber die außerordentliche Veranſtaltung, die fuͤr die Vorſtellung dieſes Schulmeiſters in Bonnal gemacht wurde.

J. I a im dnn 8 S eine Predigt.

150 3 schlag m 222

Der Sfarrer wollte in dieser Predigt lik großer Rüͤh⸗ rung von dein erhabenen und göttlichen Verhältniß, 8 das zwiſchen Eltern und Kindern, eben wie zwischen dein Va⸗ ter im Himmel und dem Menſchengeſchlecht⸗ "fait finde, und zeigte feiner Gemeinde, wie ein jeder son len durch dieſe Verhaͤltniſſe aufgefordert werde, feine Kinder in der Zucht und Ermahnung des Herrn zu erziehen; wie die Schulen zu allen Zeiten und unter allen christ lichen Vol⸗ kern als ein heiliges Mittel angesehen worden, das menſch⸗ liche Verhaͤltniß zwiſchen Eltern und Kindern mit dem goͤttlichen Verhaͤltniß des Menſchengeſchlechts zu Gott im Himmel in einen übereinftünunenben Zuſammeihang zu bringen. Er ſagte ferner, wie der Segen, der dem Men—

55 ſchengeſchlecht durch die Schulen zufließen Fünne und zu— fließen ſolle, nichts anders als eine Verſtaͤrkung, Erhöhung und Sicherung der Segnungen fenen, die den Menſchen durch das haͤusliche Leben allgemein gegeben und vorbe— reitet werden ſollen. Das chriſtliche Hausleben, ſprach er weiter, und ſein eigentliches Heiligthum, die Vater, Mut⸗ ter und Kinder im Glauben und in der Liebe vereinigende Wohnſtube, iſt und muß desnahen auch nothwendig als der heilige Boden und das heilige Fundament einer jeden guten chriſtlichen Schule und dieſe dann hinwieder als ein göttliches, heiliges Sicherungs-, Verſtaͤrkungs- und Er⸗ haltungsmittel des wahren chriſtlichen Glaubens und Le— bens in den Wohnſtuben und in den Haushaltungen, an— geſehen und dafuͤr erkannt werden. Dann entwarf er ſeiner Gemeinde das hohe Gluͤck eines Landes und eines Orts, in welchem dieſe heilige Vereinigung des Hausſegens und des Schulſegens in ſeiner ganzen Kraft und Reinheit ſtatt findet; dann aber auch das ſchreckliche Ungluͤck eines Landes und eines Orts, wo es ſowohl an einem guten, christlichen Hausleben als an guten Schulen mangelt, mit einer Lebendigkeit und Staͤrle, daß den Zuhörern der trau⸗ rige Zuſland, in dem ſich Bonnal in dieſer gedoppelten Ruͤckſicht, befindet, mit den lebhafteſten Farben vor Augen ſtand und nothwendig ans Herz gehen mußte. Mitten, indem er alſo mit der groͤßten Lebhaftigkeit uͤber dieſen Gegenſtand ſprach und ſelber uͤber denſelben innig geruͤhrt da ſtand, hielt er einen Augenblick ſtille, warf einen Blick voll Wehmuth auf ſeine Gemeinde, faltete dann die Haͤnde und dankte mit ſichtbarer Ruͤhrung Gott, daß der Herr

59

und Vater dieſer Gemeinde zu einer Schule helfen wolle, die die heiligen Kräfte eines beſſern, chriſtlichen, haͤuslichen Lebens, in ihren Kindern zu enthalten, zu beleben und zu

ſtaͤrken, und dadurch den aus Mangel eines wahrhaft chriſtlichen Hauslebens und eben ſo aus Mangel einer wahrhaft chriſtlichen Schuleinrichtung herruͤhrenden Grund— urſachen ihres vielſeitigen Ungluͤcks und ihres vielſeitigen ſittlichen, geiſtigen und wirthſchaftlichen Zuruͤckſtehens und ihres daraus herfließenden ungluͤcklichen und elenden Zu- ſtandes ein Ende zu machen, geeignet fey. Er machte ſeine Gemeinde tief fuͤhlen, wie ſehr ſie dieſer Wohlthat beduͤrfe, indem er zu ihnen ſagte: ſinnet ihm ſelber nach, welch ein Unterſchied iſt zwiſchen einer Haushaltung, die für alles, was ihr zeitliches und ewiges Heil erfordert, ge: bildete Kräfte in ſich ſelbſt hat, und armen verwahrloſeten Leuten, denen dieſes alles mangelt, und die von allem, was ſie, um ſich Leibs- und Seelenhalber in allen Ruͤck— ſichten wohl verſorgen zu koͤnnen, beduͤrfen, nichts recht verſtehen, und nichts recht koͤnnen, und in jedem Vernunft, Ueberlegung, Erfahrung und Gewandtheit anſprechenden Vorfall, weil ſie ſich darin nicht zu rathen und zu helfen wiſſen, in den Fall kommen, ſich an boͤſe Schaukoͤpfe, elende Maulbraucher und feine Verdreher aller Wahrheit und alles Rechts zu wenden, um bey ihnen Rath und Huͤlfe zu erhalten. Ihr wiſſet, wie mancher von euch in dieſer Lage ungluͤcklich geworden, und indem er geſucht hat, einen kleinen Theil ſeines Eigenthums und ein unbedeu— tendes Recht zu erhalten, um fein ganzes Vermoͤgen u damit um alle Fundamente ſeiner wirklich rechtlichen Stel—

40 lung gekommen, und wie überhaupt in der Welt der Starke den Schwachen, der Reiche den Armen, der Schlaue den Dummen berathet, und was die Hälfe iſt, die der Menſch, der ſich nicht zu helfen weiß und doch huͤlfsbe— duͤrftig iſt, von denen zu erwarten hat, die keiner Hülfe beduͤrfen, und die Noth der Huͤlfsbeduͤrftigen weder kennen noch zu Herzen nehmen. Ihr wißt, und zwar wie viel— leicht keine andere Gemeinde in euren Umgebungen aus traurigen Erfahrungen, die ihr in eurer Mitte ſelber eine ſo lange Reihe von Jahren gemacht habt, wie ungluͤcklich und elend der Zuſtand eines verwahrlosten, unchriftlich und unmenſchlich verwirrten Dorfs iſt, wenn je Menſchen in der Welt find, die ſich nach einem chriſtlich und menſch— lich beſorgten Zuſtande ihres Dorfs ſehnen und wuͤnſchen ſollen, daß ihre Kinder fuͤr ihr zeitliches und ewiges Heil beſſer erzogen, gebildet und verſorgt werden, als bisher geſchehen, und als ſie ſelbſt ſind. Chriſten und Bruͤder! rief er dann mit einer Kraft aus, wie ihm noch niemand auf der Kanzel ſprechen, gehört, geht doch in euch ſelbſt, denket euch, wie elend, niedrig und veraͤchtlich der Zuſtand eines an Leib und Seel verwahrlosten, und hingegen wie ehrwuͤrdig, wie beruhigend und erhebend derjenige eines in ſeinen weſentlichſten Beduͤrfniſſen wohlbeſorgten Dorfs iſt, und fraget euch dann ſelber: in welchem von beyden wuͤnſchet ihr, daß eure Kinder und Kindeskinder einſt le— ben? Ich weiß zwar wohl, daß viele leichtſinnige und ſchwache Leute und ſelber viele leichtſinnige und ſchwache Eltern in eurer Mitte ſind, denen dieſe Frage in ihrem Leben nie in den Sinn gekommen iſt; aber ſo weit iſt doch

* 41

kein Vater und keine Mutter in eurer Mitte verſunken, und verwildert, daß einer oder eine von ihnen es ausſpre— chen dürften, es iſt mir nichts daran gelegen, ob meine Kinder in dem, was ſie fuͤr ihr zeitliches und ewiges Wohl beduͤrfen, hintangeſetzt und verwahrlost, oder ob fie dafür gut und ſorgfaͤltig gebildet und wohl verſorgt werden; nein, es iſt doch in eurer Mitte ganz gewiß keins ſo weit unter alle menſchliche Gefuͤhle verſunken, daß es dieſen Greuelausdruck der hoͤchſten Verwilderung und Unmenſch— lichkeit auch nur denken, will geſchweigen ausſprechen dürfte; ich bin vielmehr überzeugt, weil die meiſten von euch wuͤn⸗ ſchen nichts ſehnlicher, als daß es diesfalls um ihre Kins der und Kindskinder beſſer ſtehe als um ſie ſelber, daß ſie an Leib und Seel beſſer verſorgt werden, als dieſes ihnen ſelber zu Theil worden. Nein, nein, ich weiß es, ich bin | überzeugt, es iſt in eurer Mitte keines fo tief verſunken, euer und eurer Kinder diesfaͤlliges Gluck fo weit mit Fuͤ— ßen von ſich zu ſtoßen und Gottes ob euch waltende Vor⸗ ſehung, fo weit zu verkennen, daß jr euch nicht von Herzen freuet, daß ihr, die ihr ein Beiſpiel eines in das tiefſte ſittliche, bürgerliche und haͤusliche Elend verſunkenen Dorfs waret, von euerm Herrn und Vater Handbiethung findet, zu einem in einem hohen Grad des Glucks und des Segens erhobenen Dorf. Ich will nichts von den vielſeitigen Bemuͤhungen und Einrichtungen reden, die er in allen Ruͤckſichten für euch und für euer Gluͤck trifft, ich gedenke jetzt nur deſſen, warum wir gegenwaͤrtig beyein— ander ſind. Er will euch eine Schule ſtiften, die den we— ſentlichen Beduͤrfniſſen eurer Kinder in allen Ruͤckſichten

42

entſprechen und genugthun ſoll. Er will Euch einen Schulmeiſter geben, der eure Kinder das, was ihnen zu koͤnnen und zu wiſſen nutz und nothwendig iſt, auf eine Weiſe lehren und es ihnen einuͤben wird, wie wenige Kinder ſo gluͤcklich ſind, das, was ſie wiſſen und koͤnnen muͤſſen, in eben dem Umfang und auf eine eben ſo gute Weiſe lernen zu koͤnnen. Liebe, chriſtliche Freunde und Bruͤder! Er wird von den Gaben, von den Kraͤften und Anlagen, die Gott in eure Kinder gelegt hat, keine ſchlafen, keine verloren gehen laſſen; nein, nein, er wird von kei— ner Gabe, von keinem Talent, das Gott in eins eurer Kinder gelegt hat, zu ihm ſagen: dieſe Gabe iſt nicht fuͤr dich, du kannſt von ihr, ob fie dir gleich Gott gegeben, um der Menſcheu willen, keinen Gebrauch machen, und das Wort wird nicht uͤber ſeine Lippen gehen, Kind, du ſollſt in deinen Umſtaͤnden um ihretwillen auch nur keinen Gebrauch davon machen wollen. Nein, nein, er iſt da— von uͤberzeugt, was Gott dem Menſchen gegeben, das ſoll ihm kein Menſch rauben, und er, der Menſch ſelbſt ſoll und darf es auch nicht, als wäre es ihm von Gott um— ſonſt gegeben, anſehen und ins Aug fgſſen. Nein, nein, jedes Talent, jede Gabe, die Gott dem Menſchen gegeben, iſt fuͤr ihn, in welchem Stand und in welcher Lage er ſich befinden mag, anwendbar. Jede Gabe, die Gott ei— nem Menſchen gegeben, liegt in ihm als ein göttlicher Schatz, den die Welt in ihm anerkennen und ihm helfen ſoll, ihn aus den Tiefen ſeines Innern, wie das Gold aus den Tiefen der Berge, herauszuholen und zu Tag zu foͤr— dern. Nein, nein, kein Menſch iſt fuͤr die Kraͤfte und

45 Anlagen, die Gott in ihn gelegt hat, zu gering und zu ſchlecht. Kein menſchlicher Stand, keine menſchliche Lage iſt ihrer Natur nach und gleichſam von Gottes- und des goͤttlichen Rechts wegen fo verworfen, daß Gottes gute Gaben darin nicht anwendbar ſeyn ſollten, und nicht Frucht tragend gemacht werden konnten. Keine Lage des Men— ſchen darf vom Menſchengeſchlecht alſo verworfen angeſehen und behandelt werden. Aber ſo wenig euer neue Schul— meiſter die Kraͤfte und Anlagen eurer Kinder ſchlafen laſ— fen wird, eben fo wenig wird er ihre Kraͤfte und Anlagen durch die boͤſen Kuͤnſte leidenſchaftlicher Triebe und unrei— ner Umtriebe beleben und mit dem wilden Feuer eitler und roher Beſtrebungen auf eine Weiſe anfachen, daß ſie ſich unter einander ſelber aufreiben und verzehren nein, nein, er wird eure Kinder nicht zum Vielwiſſen, er wird ſie nicht zu unnuͤtzem und uͤberfluͤſſigem Wiſſen, er wird ſie zum Koͤnnen des Nuͤtzlichen und Noͤthigen und durch dieſes Koͤnnen zum Erkennen deſſelben hinfuͤhren. Er wird ſie nicht traͤumen und gruͤbeln, er wird ſie thun und leben lehren. Er wird ſie durch das Glauben ſelber den Sinn und den Werth des Glaubens, er wird ſie durch das Lieben ſelber den Sinn und den Werth des Liebens, durch das Denken ſel ber den Geiſt und den Werth des Denkens und durch das Arbeiten ſelber den Geiſt und den Werth der Arbeitſamkeit erkennen lehren. Er wird das Reden uͤber die Gegenſtaͤnde ihrer Erkenntniß nicht ihrer Erkenntniß, ſondern ihre Erkenntniß dem Reden uͤber die— ſelbe vorhergehen machen, und in feinem Unterrich, die wirkliche Entfaltung der Kraft jedes Guten und jeder Tu—

44 1

gend und die Einuͤbung ihrer Fertigkeiten den erlaͤuternden

Worterklaͤrungen daruͤber vorhergehen machen. Er wird das Weſen der Kräfte und Anlagen eurer Kinder ſich ih⸗ nen nie als untergeordnet unter die zufaͤlligen und weſent⸗ lichen Formen ihrer Anwendungsweiſe entfalten laſſen. Er wird ihre Kraͤfte und Anlagen im Innerſten ihres We⸗ ſens durch Glauben und Liebe, durch Gottesfurcht und Erbarmung mit den zufaͤlligen Formen ihrer vielſeitigen Anwendungsweiſen in Uebereinſtimmung zu bringen und auf dieſer Bahn zu verhuͤten ſuchen, daß ſie nicht ſelber unterjochte Knechte ihrer eigenen, einſeitig entfalteten und von ihrem Fleiſch und Blut überwägend belebten und da⸗ durch verwirrten und aufgedunſenen Kraͤfte und Anlagen ihrer Natur werden. |

Er wird trachten, eure Kinder dahin zu Pre: ihre Kräfte und Anlagen durch Selbſtüberwindung und Selbſt⸗ beherrſchung uͤber die Gewalt der Finſterniß und den Willen des Fleiſches und des Blutes zu erheben, und ſie dadurch angenehm machen vor Gott und den Menſchen. Dann ſagte er ferner, Freunde! Bruͤder! Ex wird eure Kinder im Glauben und im Gehorſam des Glaubens zu fleißigen und verſtaͤndigen Kindern machen. Er wird ſie auf dieſer Bahn des wahren, heiligen, innern menſch⸗ lichen Lichts von den Werken der Finſterniß dieſer Welt abhalten, und indem er fie in dieſem reinen Lichts zu Gott und ihrem Erloͤſer hinfuͤhrt und in der innerſten Tiefe ihres Weſens durch das goͤttliche Heiligthum feines Glau— bens innigſt mit allem Goͤttlichen und Heiligen zu verei— nigen ſuchen wird, dieſelbe zugleich auch fuͤr alle Geſchaͤfte.

1 49

des Lebens, fuͤr alle Theile ihres Berufs und ihrer haͤus— lichen und buͤrgerlichen Pflichtſtellung verſtaͤndig zu machen ſuchen und auch dieſes auf die Fundamente eines ſtillen, beruhigten, haͤuslichen Lebens zu gruͤnden ſuchen, die bis— her in der Erziehung und Bildung der Kinder unſers Dorfs nicht anerkannt und benutzt worden find. Ihr, wiſ— fet, liebe Zuhörer! ihr ſelber ſeyd in euerer Jugend zu dem, was ihr diesfalls fuͤr euer zeitliches und ewiges Wohl nothwendig gehabt haͤttet, nicht mit der Sorgfalt, Liebe und Weisheit gebildet worden, deren ihr ſo ſehr beduͤrft haͤttet. Das ſollte euch auf der einen Seite froh und dankbar fuͤr die Huͤlfe machen, die von dieſer Seite euer fuͤr eure Kinder wartet, auf der andern Seite aber kann ich mir auch nicht verhehlen, das Ungluͤck, daß auch ihr in eurer Erziehung ſo viel als verwahrloſet ſeyd, wird mehr als wahrſcheinlich bey vielen von euch dahin wirken, daß ſie wahrſcheinlich die Art und Weiſe, wie euer neue Schulmeiſter eure Kinder fuͤhren und die Mittel, die er fuͤr ihre Bildung anwenden wird, ſonderbar finden und mißbilligen werden. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, es wird einer Menge Leute unter euch vorkommen, er lehre ſie Sachen, die ſie nicht brauchen, die ihnen nichts nuͤtzen und abtragen; bedenket aber, daß ihr hieruͤber durchaus nicht richtig zu urtheilen im Stande ſeyd; bedenket, daß euch durchaus alles fehlt, was euch zu einem gültigen Ur: theil über dieſen Gegenſtand faͤhig machen und berechtigen kann, und glaubet mir und eurem Herrn und Vater, wir kennen den Mann, der das ſchwere Werk, eure verwahr— foften Kinder zu beſſern und zu geſchicktern Menſchen zu

46 machen, über ſich nimmt. Wir kennen ihn und wiſſen, daß er ein weiſer Freund der Kinder, ein einſichtsvoller Erzieher und ein in einem hohen Grad gewandter und tief begruͤndeter Lehrer und faͤhig iſt, eure Kinder in allem, was ſie zu ihrem zeitlichen und ewigen Wohl beduͤrfen, weiters zu fuͤhren, als ihr alle nicht gefuͤhrt worden ſeyd, und als ihr doch ſelber fühlen müßt, daß ihr hättet geführt werden ſollen. Aber redet ſelbſt, Reiche und Arme! Seht euch ſelbſt an, blickt auf euch ſelbſt, auf eure Lage und auf eure Verhaͤltniſſe, blickt auf euer ganzes Senn und Leben, und antwortet euch ſelbſt, muͤſſet ihr nicht ſelber wuͤnſchen, daß es mit euch anders ſtehen und um euch anders ausſehen moͤchte, als es wirklich mit euch ſteht und um euch ausſieht? Wahrlich, wahrlich, ihr koͤnnet nicht anders, ihr muͤſſet alle wuͤnſchen, daß es anders mit euch ſtuͤnde und um euch ausſaͤhe; daß ihr es anders und beſſer hät- tet und anders und beſſer waͤret, als ihr es wirklich habet, und als ihr es wirklich ſehd. Aber warum koͤnnt ihr nicht beſſer ſeyn als ihr ſeyd, warum koͤnnt ihr nicht beſſer machen, was ihr doch gerne beſſer haͤttet, als eben darum, weil ihr innerlich und äußerlich zu nichts beſſerm gezogen und gebildet ſeyd? Re— det und antwortet, ihr, die ihr reich ſeyd! warum ſitzt ihr ſo armſelig mit euerm Hab und Gut in unſerer Mitte, und wiſſet nichts damit anzufangen, weder zu Gottes Ehre, noch zu eurer eigenen Befriedigung, noch zum Dienſt eu— res Naͤchſten und Nebenmenſchen? Redet und faget, war— um koͤnnt ihr euern Reichthum zu nichts, zu gar nichts von allem dieſem, das allein euerm Leben einen wahren Werth geben koͤnnte, benutzen? Warum koͤnnt ihr mit al

47

lem euerm Reichthum nicht einmal euere Kinder aus dem Koth und dem armſeligen Lebens zuſtand erheben, in dem ihr ſelbſt ſtecket? Warum dient er euch nicht einmal dazu, eure Kinder zu braven, brauchbaren, in ihren Lagen und Verhaͤltniſſen befriedigten Menſchen zu machen? Warum koͤnnet ihr das alles ſo wenig, als weil eure Seelen von Jugend auf leer gelaſſen worden von allem Glauben an das Goͤttliche, Heilige, von aller Liebe zum Edlen, Schönen und Guten, von aller Erkenntniß des Wah- ren, von aller Achtung des Rechten, von aller Gewandt⸗ heit und Anſtrengung im Nuͤtzlichen und Nothwendi⸗

gen, und von aller Bildung zu dem Umfang der Fertig— keiten, deren ihr in euerm Leben unumgaͤnglich beduͤrft, von Jugend auf leer gelaſſen worden, in Verwilderung aufgewachſen, in Ruͤckſicht auf die Entfaltung eurer innern, beſſern Kraͤfte verwahrlost und vernachlaͤßigt feyd. Und ihr, liebe, ungluͤckliche, leidende Arme! warum koͤnnt auch ihr euch in eurer zuruͤckgeſetzten traurigen Lage fo wenig hel- fen, als nur darum, weil ihr Erziehungshalber in der gleichen Lage ungeſchulet und in Ruͤckſicht auf die Entfaltung eurer Kräfte und Anlagen eben fo vernachlaͤßigt und verwahr- lost ſeyd, als es eure Reichen auch ſind. Darum, nur darum allein koͤnnt ihr euch in eurer Lage nicht beſſer ſelber helfen, weil die Kraͤfte, die euch Gott an Leib und Seel zu eurer Selbſthuͤlfe und damit zur Befoͤrderung eu— res zeitlichen und ewigen Wohls gegeben, in euch ſchlafen geblieben und niemand, niemand auf Erden euch zu ihrer Entfaltung mit der Weisheit und Kraft die Hände gebo- ten, die dazu erfordert wurden. Darum und darum allein

48 iſt es, warum ihr fo oft für euch und für eure Kinder die noͤthige Nahrung und Decke nicht findet, hungrig und nackend und ungluͤcklich umherzieht, wie Schaafe, die ohne einen Hirten in der Irre herumlaufen, ſerben und hin— fallen, ohne daß, ich möchte ſagen, auch nur ein Hüter knecht hinzulaͤuft, ſie bis auf den Tag der Schlachtung auf ſeiner Weide oder in ſeinem Stall zu verſorgen. Ja, ungluͤckliche, durch euer Leben verwahrloste Arme! nur darum, weil ihr in eurer Erziehung verwahrlost worden, nur darum iſt es, daß ihr auch bey den vorzuͤglichſten An⸗ lagen, die euch Gott gegeben, es in eurer Selbſthuͤlfe nicht weiter gebracht, als fo viele eurer Reichen, die mitten in ihrem Wohlſtand und Ueberflußf zwiſchen den Gaukelge— nießungen ihres ſinnlichen Wohlbehagens zu nichts weiter gekommen ſind, als zu einem nicht bloß unwuͤrdigen, ſelbſt— ſuͤchtigen und liebloſen, ſondern ſelbſt zu einem unſinnigen, verworfenen, unmenſchlichen Gebrauch ihres Wohlſtandes, deſſen ſich auch ſo viele Arme unter euch im Gebrauch der Krafte und Anlagen, die Gott ihnen zu ihrer Selbſt⸗ huͤlfe gegeben, ſchuldig gemacht haben. Und nun, chriſtliche Freunde und Bruͤder Eſagte endlich der Pfarrer, wollt ihr jetzt dieſen boſen Zuſtand der Dinge, der in eurer Mitte feſtſteht, fortdauern laſſen, da euch euer Herr und Vater fromm, chriſtlich und edelmuͤthig die Hand biethet, denſel— ben zu enden und alle dienlichen Anſtalten trifft, euch an Leib und Seel beſſer zu verſorgen, als ihr es bisher gewe— ſen. Reiche und Arme! wollet ihr das? Oh nein, Oh nein, ihr wollet das nicht und ihr koͤnnt das nicht wollen. Oh nein, Oh nein, ihr wollet die Hand, die euer Herr und

49

Vater heute fo wohlthätig gegen euch ausſireckt, nicht auf eine ſo empoͤrend undankbare Weiſe von euch zuruͤckſtoßen. Ich bin uͤberzeugt, ihr erkennet die Vorſorge, die euer Herr und Vater in allen Ruͤckſichten fuͤr euer zeitliches und ewiges Wohl euch angedeihen laßt, mit Dankbarkeit und Ruͤhrung. Ich bin uͤberzeugt, ihr erkennet auch das, was er in Ruͤckſicht auf die Wahl und Anſtellung euers neuen Schulmeiſters fuͤr euch gethan hat, als eine große Wohlthat, die euer Vater im Himmel in der Fuͤlle ſeiner Gnade und Liebe euch angedeihen laſſen, mit dem Dank und mit der Liebe, die ihr Gott und euerm Herrn ſchul— dig ſeyd, und erwarte in dieſer Ruͤckſicht beſonders, daß ihr euern neuen Schulmeiſter als einen Mann anſeht, erkennt und aufnehmt, den euch Gott zu euerm Retter und Helfer in tiefen Leiden und Noͤthen geſandt hat.

9. 10.

Eine kurze, aber eine Rede von aͤchtem, altemi, reinem Rittergeiſt.

Nach der Predigt trat der Junker mit Gluͤlphi, den er an der Hand fuͤhrte, an der Treppe des Chors vor den Taufſtein und ſagte: Liebe Kirchengemeinde von Bon— nal! Wenn ich je in meinem Leben mit innerer Ruͤhrung und Erhebung in einer Kirche gejlanden, fo iii e8 heute. Liebe Gemeinde: Euere Kinder haben wir dieſe Woche

Peſtalozzi's Werke. IV. 4

50

den alten, lieben Vaternamen wieder gegeben. Ich möchte ihn verdienen. Ich möchte in Wahrheit, in Treue und Liebe euer aller Vater ſeyn. Ich möchte Vaterwerke an euch thun und die erſte, die weſentlichſte Vaterpflicht, die ich euch ſchuldig bin, in Treue und Wahrheit erfuͤllen, und freue mich, einen Mann gefunden zu haben, der die— ſem wichtigen Vorſatz meines Lebens ein volles Genuͤge zu leiſten, vorzuͤglich geeignet iſt. Mein Gluͤck iſt groß und ich kann es Gott nicht genug danken, daß ich fuͤr euch den Mann gefunden, den ich euch jetzt vorſtelle. Nehmt ihn mit Liebe auf. Denket, daß er euer Wohl— thäter und der Wohlthaͤter eurer Kinder und Kindskinder werden kann, und geht ihm von eurer Seite, ſo gut ihr koͤnnt und moͤget, an die Hand, und ſuchet in Ueberein— ſtimmung mit ihm eure Kinder auch zu Haus zu allem Guten zu halten, das in eurer Macht iſt.

Gluͤlphi ftand, ifo lang der Junker redte, in einer Ruͤhrung neben ihm da, die faſt eine Muthloſigkeit aus— zudruͤcken ſchien, die ihm nicht eigen war. Er hob ſo lang beynahe kein Aug auf; da er aber ausgeredt, ſagte er: Liebe Nachbaren! Ich werde durch meine Stelle aufgefor— dert, einen Theil eurer Pflichten an euern Kindern zu er— fuͤllen, dadurch aber auch berechtigt, zu erwarten, daß ihr die eurigen an euren Kindern mit Gewiſſenhaftigkeit er⸗ fuͤllet und euer Hausleben nicht mit dem Guen, das wir in der Schule ihnen einzuuͤben ſuchen, im Widerſpruch; ſtehe. Ich bin mich nicht gewohnt, viel Worte zu machen. Wir haben gegenſeitige Pflichten gegen einander. Ich will Gott bitten, daß er mir Gnad gebe, die memigen mit

51 Treue und Sorgfalt zu erfüllen; thut auf eurer Seite das nehmliche, fo wird wills Gott der Segen des Herrn auf unſern gemeinſamen Bemuͤhungen ruhen. Mit dem endete er.

9. 11. Die Freuden dieſes Tags, die leider nicht unge— truͤbt ſind.

Der Junker wollte den Tag dieſer Inſtallirung Gluͤl— phis zum Schulmeiſter feinen Schulkindern zu einem Freu— dentag machen und machte fie gleich nach der Kirche zu ſich ins Pfarrhaus kommen.

Es war in Bonnal eine Stiftung von eknem alten Junker im Dorf, die verordnete, daß alle Jahre, einmal an der Weihnacht und einmal an der Oſtern, den Kindern ein paar Eyer und ein paar Broͤdchen ausgetheilt werden mußten, und der Junker hatte an der letzten Oſtern geſe⸗ hen, wie tief und lebendig die Freude uͤber dieſe Eyer und über dieſe Broͤdchen auf das Gemuͤth der Kinder gewirkt, und erinnerte ſich, daß der Pfarrer damals zu ihm geſagt, dieſe Freuden vermiſchen ſich in der Einbildungskraft der Kinder ſo mit den Gegenſtaͤnden der Feyerlichkeit dieſe Tage ſelber, daß die Geſchichte von der Geburt Chriſti und den Hirten auf dem Felde und den Koͤnigen aus Mohrenland und diejenige von den Waͤchtern bei ſeinem Grab und den Engeln in ſchneeweißen Kleidern, die den

52

Stein wegwaͤlzten und den Weibern erſchienen, ihnen bey jedem Aalaß, der fie an dieſe Ausaheilung der Broͤd en und Cyer erinnere, auch zu Sinn kommen und ſich ihnen ſo angenehm einpraͤgen, daß ſelbige ihnen durch ihr ganzes Leben als angenehme Geſchichten vor der Seele ſchweben.

Der Junter, der dieſe Weihnachts- und Oſtereperfreu— den an der Hand ſeiner Ahnfrau mit vielen Kindern ſei— ner Dörfer feiber genoſſen und ſich derſelben noch mit an— genehm belebtem Gefuͤhl erinnerte, wollte dieſe Jugendfreu⸗ den in ſeinen Doͤrfern nicht nur nicht untergehen laſſen, er wollte ſie vielmehr vermehren, und jetzt den Stiftungs— tag der Schule in Bonnal den Schulkindern eben ſo zu einer Freude ihres Herzens und ihrer Unſchuld machen. Selber der Pfarrer gab ſich alle Muͤhe, den Kindern von Bonnal auf dieſen Tag ſo ſchoͤn gemahlte Eyer anzuſchaf— fen, als man je an einem Oſtertag ſchoͤn gemahlte Eper auf einem Dorf geſehen. Und die Frau Pfarrerinn, die den Garten voll Blumen hatte, machte einem jeden Kinde zu feinen Eyern und feinem Broͤdchen noch einen großen ſchoͤnen Blumenſtrauß. Als nun die Kinder nach der Kirche in's Pfarrhaus kamen und die Brödchen, die ſchoͤn gemahlten Eyer und die Blumenſtraͤuße, die auf dem Tiſch lagen, ſahen, und hoͤrten, daß ſie ihnen gehoͤren, ſagten ſie zu einander: das geht ja wie an der Oſter; aber ſo ſchoͤn war es doch an keiner, ſo lang wir leben. Einige meyn— ten gar, fie müßten jest, wie das an der Oſter und an der Weihnacht der Brauch war, ihr Oſter- oder ihr Weih— nachtlied fingen, und wollten ſogleich anfangen; andere

5⁵ aber ſtuͤpften ſie und ſagten ihnen: nein, nein, es iſt nicht Oſtern, wir wollen warten, bis man uns ſingen heißt. Gluͤlphi wußte noch nichts von dieſer Freude, die der

Junker und die Frau Pfarrerinn jetzt den Kindern machten. Er wußte nicht einmal, daß ſeine Schulkinder im Pfarrhaus ſeyen, ſondern war ernſt und ſtill in einer Nebenftube mit dem Junker und dem Pfarrer. Thereſe ſagte indeſſen den Kindern, ſie ſollen, ſobald ſie die Thuͤre aufthun, das ſchoͤnſte Lied, das ſie in der Schule ſingen gelernt, mit einander anſtimmen. Es lautet: f

Wer in feinen Lebensjahren

Als Kind, Juͤngling, Mann und Greis

Unſchuld doch kann ſtets bewahren,

Der hat Freud und Gluck zum preis;

Den beſiegen nicht die Luͤſte,

Den verklagt umſonſt der Neid,

Der fuͤhlt Muth, auch wenn er wuͤßte

Gleich geh' es zur Ewigkeit.

Jetzt that Thereſe die Thuͤre auf, die Kinder ſtimmten ihr Lied an, und Gluͤlphi ſah ploͤtzlich die ſingenden Kin— der mit ihren Eyerbrödchen und Blumenſtraͤußen in der Hand auf ihn zu ſpringen. Es war ihm bey dieſem An blick zu Muth, wie Arner, da der Kinderzug mit dem Engel, der Rickenbergerinn an der Spitze, im Garten des Pfarrhauſes ihn in ſeiner dunkeln Laube wie aus einem Traum erweckte. Er ſtand gerührt vor fie hin, Tief fie ihr Lied ausſingen und ſagte dann zu ihnen: ihr ſeyd jetzt meine Kinder; es freut mich, euch hier zu ſehen;

54 wir werden uns von nun an alle Tage fehen, und Lich hoffe, wir werden einander recht lieb werden. Die Kin der waren faſt alle guten Muths. Es war ihnen jetzt faſt wie an der Oſtern, wo faſt in keinem Haus ein Kind iſt, das nicht meynt, es waͤre nicht recht, wenn es jetzt nicht freudig waͤre. Auch gaben ihm viele auf das Wort: „will's Gott, werden wir uns einmal recht lieb wer— den“ zur Antwort: ja gewiß, ja gewiß. Andere aber ſtießen doch die Köpfe zuſammen, antworteten nichts, und ein Kind des Geſchwornen Huͤgis ſagte zu ſeinen Geſpielen fo laut, daß es der Schulmeiſter faſt haͤtte hören mögen: ich weiß nicht, ob uns der Herr Schulmeiſter allen ſo lieb werden wird, mir einmal glaube ich, werde meiner Lebtag, wenn ich auch hundert Jahr alt werde, gewiß kein Schulmeiſter lieb. Gluͤlphi bemerkte dieſes Fluͤſtern. Es mißfiel ihm, aber er wollte die Freude der andern Kinder nicht ſtoͤren, er warf nur einen ernſten Blick an das Kind hin, aber fragte nicht, was es ſey, das ſie ſich ins Ohr fluͤſtern; er ſtand vielmehr forthin ganz unbefan— gen und liebevoll unter ſie hin, both einem nach dem an— dern die Hand; auch der Junker und Thereſe ſtellten ſich mitten unter fie hin, beſchauten ihre Ener und ihre Blu— menſträuße und redten mit allen über dieſes und jenes, von ihren Aeltern, von ihren Geſchwiſterten, von ihrem Haus, von ihren Umſtaͤnden, ſo wie ſie von einem jeden von ihnen etwas wußten. Dann ſagte der Junker eins— mahl: die guten Kinder muͤſſen jetzt auch noch ihrem neuen Herrn Schulmeiſter Geſundheit trinken, und ließ ſogleich durch feinen Klaus einige Flaſchen Wein, den er

55

mit ſich von Arnheim gebracht, auf ihren Tiſch bringen. Die gute Frau Pfarrerinn trieb ſogleich alle Glaͤſer auf, die ſie im Pfarrhaus und bey guten Nachbarn fand; aber es waren nicht genug für die Menge der Kinder. Der Junker aber ſagte: was macht das? gebt ihnen nur eure Taſſen und kleine Becken, die ihr in der Kuͤche habt. Da ſuchte ſie alle ihre Thee- und alle ihre Caffeetaſſen, die ſie im hinterſten Winkel fand und alle Becken in der Kuͤche zuſammen, bis ſie fuͤr ein jedes dieſer Kinder ein kleines Trinkgeſchirr hatte, und ließ zugleich die Magd

ein paar Leib Brod verſchneiden, und zu jedem Trinkge— N ſchirr ein Stuͤck hinzulegen. Dann fuͤllte der Klaus jedes Trinkgeſchirr mit dem guten Wein des Junkers, und auch der Pfarrer und die Frau Pfarrerinn ließen ſich jedes ein Glas davon einſchenken, hielten dann ihre Glaͤſer hoch auf, machten auch die Kinder die ihren hoch aufheben und riefen laut: „Es lebe unſer liebe neuer Herr Schulmei— ſter!“ Auch die Kinder riefen es alle laut, und tranken dann auf ſeine Geſundheit. Dann hielt auch der Schul— meiſter das Glas, das ihm die Frau Pfarrerin einge- ſchenkt und in die Hand gegeben, in die Hoͤhe, und trank es auf die Geſundheit der lieben Kinder aus, und die mei— ſten Kinder traten jetzt näher zu ihm und viele draͤngten ſich an ihn ſo nahe an, als ſie konnten. Er both allen die Hand, aber redte kein Wort. Er konnte es nicht. Auch viele Kinder ſahen's, waren geruͤhrt wie er, und redten auch kein Wort; einige warfen einen Blick voll innerer kindlicher Bewegung und Anmuth, und er ſtand ſtill und ernſt, mit einem Blick voll Wehmuth, in dem ſich Freuden

56

und Sorgen, Hoffnung und Kummer ineinander verſchmel— zen. Doch das Bild iſt zu ſchoͤn, es darf nicht ſo unge— truͤbt da ſtehen. Schon beym Austrinken des Freuden— weins, den ihnen der Junker dem neuen Schulmeiſter zum Lob und zur Ehre gab, zeigte ſich der große Unterſchied, der unter dieſen Kindern war und das viele Schlechte, das ſchon in ſie eingeſchlichen und in ihnen eingewurzelt war. Einige Kinder tranken ihr Glas faſt in einem Schluck aus; andere hielten daſſelbe, nachdem fie es ſchon ausgetrunken, noch ganz umgekehrt mit zuruͤckgelegtem Kopf uͤber den offenen Mund, damit auch noch der letzte Tropfen, der noch darin, in denfelben hineinfalle. Ein paar, die ihre Glaͤſer ſchnell ausgetrunken, jauchzten denn noch, wie wenn ſie im Wirthshaus waͤren; andere lachten die, ſo ihre Glaͤſer langſam austranken aus, und ſagten zu ihnen: fie wollen ihnen helfen, wenn fie nicht mögen damit fer- tig werden. Faſt alle lobten den praͤchtig guten Wein und ſagten: ſie haben ihr Lebtag keinen ſolchen getrunken. Des Weibels hochmuͤthiges Toͤchterchen hingegen ſagte zu einem, das neben ihm ſtand, aber ſo leiſe, daß es nie— mand hätte hoͤren ſollen: mein Vater hat noch viel beſ— ſern daheim im Keller; aber das andere antwortete ihm faſt laut: du kannſt mir das nicht angeben, das iſt nicht wahr, das iſt gewiß nicht wahr. Schweig doch, ſchweig doch, ſagte jetzt des Weibels Toͤchterli, es muß niemand hoͤren, was wir mit einander reden, und gieng ſchnell von ihm weg.

Nicht nur das, es begegnete noch vieles, das nicht blos die Ungezogenheit und Frechheit vieler dieſer Kinder,

ſondern auch das Mißtrauen und die Vorurtheile, die man ihnen gegen den neuen Schulmeister beigebracht, deutlich an Tag legte. Auch merkte man es vielen deut— lich an, daß ſie noch gerne ein Glas von dem guten Wein gehabt haͤtten, und uͤberhaupt zeigte es ſich, daß die ſchoͤ— nen Eyer und der Blumenſtrauß, den die Frau Pfarre rinn ihnen gab, ihre Aufmerkſamkeit mehr beſchaͤftigten, als was man immer zu ihnen ſagte.

Es war Gluͤlphi immer mehr unbehaglich, je mehr er ſie beobachtete, und er war wirklich froh, als der Hans jetzt in die Stube kam und ſagte, das Mittageſſen ſey ſchon ſehr lange auf dem Tiſch und es warte alles auf die Herren, worauf denn die Kinder mit ihren Blumen— ſtraͤußen, Epern und Broͤdchen nun heim giengen.

Die Frau Pfarrerinn feperte an dieſem Mittag die Inſtallirung des Schulmeiſters mit einem Eſſen, wie ſie bey vielen Jahren kein ſo ſchoͤnes und ſelber an der Hul— digung des Junkers kein beſſeres hatte. Die Stunde war froͤhlich; alle, der Junker, Thereſe, der Pfarrer, die Frau Pfarrerinn und der Rollenberger wetteiferten, dem Gluͤlphi den Tag durch ihre heitere Theilnahme unvergeßlich zu machen. Was dieſe Stunde noch belebte, war Bylyfskg, der, als er von Arner vernommen, daß Gluͤlphi an dieſem Tag zum Schulmeiſter in Bonnal inſtallirt werden follte, ihm, die Freude dieſes Tags zu erhöhen, ein Geſchenk von ſehr ſchoͤnem, ſchwarzen Tuch ſandte, das ſich beſſer zu ſeinem neuen Beruf ſchicke als ſeine Soldatenkleidung.

Eindruck dieſer Inſtallation auf den alten Schul: meiſter.

Den alten Schulmeiſter aber aͤrgerte es ſchon, daß der Pfarrer um des neuen Schulmeiſters willen eine Pre⸗ digt gehalten, und daß der Junker ihn beym Taufſtein an der Hand gehabt und der Gemeinde vorgeſtellt; doch troͤ— ſtete er ſich damit, der alte Junker fel. habe mit feinen Bauern nicht fo Narrencomddien geſpielt, und er denke, wenn er unter dem neuen Junker Schulmeifter geworden, ſo waͤre ihm dieſe Ehre auch zu Theil geworden. Aber als er nach der Kirche die Kinder ins Pfarrhaus gehen ſah und in feiner Stube gar wohl hörte, wie fie ſich da— ſelbſt luſtig machen, bald dieſes bald jenes mit Oſtereyern und mit Blumenſtraͤußen in der Hand am Fenſter ſtanden, wollte ihm das gar nicht behagen. Er ſchuͤttelte den Kopf und ſagte: vor altem hat man auch wohl einem braven Schulmeiſter einen Freudentag gemacht und ihn zu einer Mahlzeit eingeladen, aber die Schulkinder ſo zu gaſtriren, wie es jetzt geſchieht, das kam doch vor altem keinem Men— ſchen in Sinn. Doch der neue Schulmeiſter wird, ſo ſehr er jetzt juheyet, wie man jetzt auch immer ein Nar⸗ renweſen ob ihm treibt, ſeine liebe Noth auch kriegen, ich weiß das gewiß, fang’ er nur einmal an ſchulmeiſteren, er wird dann fihon ſehen, ob der Schulmeiſterhimmel fo voller Geigen hange. So troͤſtete er ſich der Sache hal—

59

ber, die ihm fo uͤbel gefiel, oder vielmehr, er machte eine gute Mine zum boͤſen Spiel. Als aber jetzt der Junker jedem Kind ſein Glas Wein geben ließ und denn mit ih— nen Gluͤlphis Geſundheit trank und der alte Schulmeiſter den lauten Ruf aller Kinder: „Es lebe unſer neue Herr Schulmeiſter“ in ſeiner Stube deutlich hoͤrte, konnte er ſich nicht mehr halten. Das wird ja mir offenbar zur Schand und zum Spott gethan, ſagte er zu ſich ſelber und ſtampfte mit den Fuͤßen. Da ihn ſeine Schweſter ſo laut mit ſich ſelber reden und mit den Fuͤßen ſtampfen hoͤrte, fragte ſie ihn: was er doch habe? Er antwortete: börft du denn doch, wie der Pfarrer mich durch alle Schul— kinder ausſpotten laͤßt und ſiehſt du denn nicht wie ſie alle Fenſter in der Stube aufgethan, damit ich auch hoͤre, mit welchem Lerm und Jubel ſie des neuen Schulmeiſters Geſundheit trinken? Seine Schweſter antwortete ihm: lieber Bruder, im Sommer ſind ja die Fenſter im Pfarr— haus immer offen, und wo viele Leute in einer ſo kleinen Stube beyeinander find, fo muß man fie aufthun, man moͤchte es ſonſt darinn nicht verleiden.

Aber hoͤrſt du, wie laut ſie ihm ſeine Geſundheit bruͤl— len? Das geſchieht doch mir zum Trotz, das kannſt du nicht ableugnen, ſagte jetzt der Bruder, und die Schweſter

erwiederte: du biſt naͤrriſch, Bruder, wo man luſtig iſt,

und einander Geſundheit trinkt, da geht's allenthalben ſo laut; ich will meinen Kopf daran ſetzen, es denkt kein Menſch an dich. ö

Er. Ich weiß wohl, was ich weiß. Der Pfarrer hat mich immer gehaßt, ich habe es zwar niemand geſagt,

60

aber es iſt doch wahr, er hat mich, ſeit dem er da iſt, im mer gehaßt, und wo er immer konnte geplagt.

Sie. Ich kann das nicht glauben. Warum ſollte er dich ſo haſſen?

Er. Das weiß ich wohl warum; ich verſtehe die Bi— bel beſſer als er, und weil er das weiß, muß er mich haſ— ſen, er kann es durchaus nicht an mir leiden.

Sie. Du haſt dieß ſchon oft geſagt, und dich ſchon fo oft damit erzanft, und am End, wer weiß, wer Recht hat.

Er. Das weiß ich ſicher, und er weiß es auch. Sie. Daß du die Bibel beſſer verſteheſt als er? Er. Ja, das weiß er. Er hat ſchon manchmal das

auf der Kanzel geſagt, was er von mir gehoͤrt, und wenn er mich nicht haßte, er wuͤrde es ſelbſt eingeſtehen, daß ich die Bibel wenigſtens fo gut verſtehe als er.

Sie. Und ich glaube denn noch nicht, daß er dich ei— gentlich ſo haſſe.

Er. Wie darfſt du das auch ſagen? Er hat mich ja von meiner Stelle weggejagt, wie man einen Hund aus der Kuͤche jagt. ö

Sie. Du kannſt doch auch nicht ſagen, daß er dich auf dieſe Weiſe fortgejagt; er hat dir ja die ganze Be— ſoldung gelaſſen.

Er. Ja, wenn das nicht waͤre, Gott weiß, was ich thaͤte, wenn man ſo unrecht leidet, ſo kommen einem gar boͤſe Gedanken.

Sie. Laß dir doch keine ſolche kommen und ſey ein hriſt.

61

Er. Ja, wer kann ein Chriſt ſeyn, wenn's einem ſo geht?

Faſt im gleichen Augenblick, in dem er ſo raſend uͤber den Pfarrer und das Unrecht, das er ihm anthue, redte, ſagte der gute Pfarrer zum Junker und zum Gluͤlphi: es war ſonſt immer meine Gewohnheit, wenn eine Schul— feyerlichkeit war, den Schulmeiſter auch einzuladen und ich wuͤrde es auch heute gern gethan haben, aber ich weiß, es waͤre ihm jetzt nicht wohl bey uns.

Das iſt gewiß, erwiederte Gluͤlphi, ſo wie ich ihn an— ſehe, wuͤrde ihm unſer Mittageſſen ganz gewiß nicht wohl ſchmecken, wenn er es neben uns ſitzend zu ſich nehmen muͤßte.

Pfarrer. Er muß ſeine Sache doch haben, und ich will machen, daß es ihm unſerthalben nicht ſchlecht ſchmeckt und damit ſagte er zur Frau Pfarrerin: fie ſolle ihm von ihrer Mahlzeit ein ſo ſchoͤnes Ehreneſſen zurecht machen und in fein Haus ſchicken, als je ein Schulmeifter aus einem Pfarrhaus ein ſchoͤnes Ehreneſſen bekommen. Und die Frau Vfarrerin ruͤſtete ihm darauf einen ganzen Korb voll von ihrer guten und ſchoͤnen Mahlzeit, legte noch zwey Flaſchen von dem alten, guten Wein hinzu, von dem der Junker dieſen Morgen den Kindern gegeben, und ſandte das alles dem Schulmeiſter, mit einem freundlichen Gruß von ihnen allen und auch vom neuen Schulmeiſter.

Jener hatte eben noch das Wort: „ja, wer kann ein Chriſt ſehn, wenn man es einem macht wie mir“ im Mund, als des Pfarrers Hans ſeinen Korb von allem Guten, das ſie zu Mittag hatten, in ſeine Stube brachte,

62

und mit dem Gruß vom Junker, dem Pfarrer, ihren Frauen und dem neuen Schulmeifier auf den Tiſch ſtellte. Es fehlte kein Stuͤck von ihrem Eſſen. Selber von dem gro— ßen Fiſch und der Paſtete, die die Frau Pfarrerin um des Junkers und der Thereſe willen auf ihrem Tiſch hatte, war auch ein Stuͤck fuͤr den Schulmeiſter im Korb.

Seine Schweſter warf in dem Augenblick, in dem der Hans feinen Korb auf den Tiſch ſtellte und das Tuch, mit dem das Eſſen bedeckt war, abnahm, einen Blick auf ihren Bruder, der ihm deutlich ſagte: ſieh jetzt, obs wahr ſey, daß der Pfarrer dich wie einen Hund, den man aus der Stube jagt, behandle. Er verſtand den Blick, ſchuͤt— telte aber dennoch den Kopf; doch faßte er ſich ſoweit, daß er ganz mit den ordentlichen Worten, mit denen ein wohlgelehrter Schulmeiſter einen Pfarrer fuͤr ein großes Geſchenk dankt, danken konnte und wirklich dankte. Aber ſobald der Hans aus der Stube war, ſagte er denn doch zur Schweſter: ja, ja, das ſoll mich jetzt wieder gut ma— chen, fuͤr das Unrecht, das mir geſchehen.

Die Schweſter, die gut war, antwortete ihm nur, fo ein ſchöͤnes, gutes Ehreneſſen hat doch gewiß noch kein Pfarrer ſeinem liebſten Schulmeiſter geſandt.

Das iſt wahr, erwiederte der Schulmeiſter, das Eſſen iſt brav, recht brav, und ich haͤtte eher an den Tod gedacht, als daß ich heute fo ein gutes Ehreneſſen aus dem Pfarrhaus erhalten wuͤrde.

Die Schweſter ſuchte ihm jetzt eilend Meſſer und Ga— bel aus der Tiſchtrucken hervor. Und auch ein Glas! noch ein Glas! rief der Schulmeiſter. Da er es hatte,

65 l ſaͤumte er nicht mehr. Er bethete geſchwind uͤber Tiſch, und als er fo nach feiner Weiſe die Kappe abzug, die Hände faltete und Gott dankte, für die Speiſe und Trank, die er ihm beſcheere, ſagte die Schweſter lachend: Du dankſt doch im Herzen jetzt dem Pfarrer quch ein we⸗ nig dafuͤr.

Er. Ja, mit dem hat es jezt noch gut Zeit; der fann mit dem Dank warten, bis s mir ſeinethalber anders wird, als mir noch jetzt iſt. |

Sie. Aber du haft doch dem Hans zu Handen des Pfarrers ſo ordentlich gedankt, daß einer haͤtte glauben ſollen, es fen dir Ernſt.

Er. Nein, nein, vom Ernſt ift noch keine Rede, aber ich habe es wohl thun muͤſſen, es haͤtte ſonſt nicht gefehlt, die hochadelichen und hochehrwuͤrdigen Herren und Frauen am Tiſch haͤtten ſich nichts daraus gemacht, zu ſagen: ich ſeye ein grober Luͤmmel, und das mag ich eben doch auch nich! gern heißen.

Mit dem aber ſchwieg er und a5 d drauf los, daß es eine Luſt war. Beym erſten Glas Wein aber ſagte er: das iſt auch ein herrliches Glas Wein, ſo hat mir der Pfarrer noch nie keinen gegeben; er iſt gewiß von dem, den er dem Junker aufſtellt. Und einen Augenblick drauf: der neue Schulmeiſter bekommt gewiß immer von die em, weil er fo geliebt iſt. Mit dem ſchenkte er ſich ein Glas nach dem andern ein; aber da er boͤſen Wein iinft, kam ihm mit dem Trinken auch immer noch mehr in Kopf, wie unrecht ihm geſchehn, und mit jedem Glas brauchte er fein Maul wieder mehr über den Pfarrer, den

64

Junker und alles Unrecht, das er leide. Er tröftete fich aber denn gleich wieder damit, der liebe Gott werde wohl auch Alles raͤchen, wie er in ſeinem heiligen Wort verſprochen, alles Unrecht, das in der Welt der Schwaͤchere fo oft von’ dem Staͤrkern leiden muͤſſe. Er hatte ſchon vorher ein gutes Glas Wein getrunken, und dieſer letzte beſſere ſtieg ihm jetzt ſo in den Kopf, daß er nicht mehr recht wußte, was er redte, und » me er das in dieſem Fall immer that, anfieng uͤber das, was ihm eben im Kopf ſteckte, mit uͤbel angebrachten Spruͤchen aus der Bibel herumzuwerfen. Jetzt war ihm eben das Unrecht, das er vom Pfarrer und vom Junker leiden muͤſſe, im Kopf, und von ſeiner berauſchten Einbildungskraft belebt, ſagte er jetzt: Haman, im Buche Eſther, war auch ſo ein gewaltthaͤtiger Tyran, der das Volk Iſrael wegen ſeines rechten Glaubens ver— folgte, wie mich jetzt der Junker und der Pfarrer wegen meines guten Glaubens und meiner beſſern Einſichten in das Wort Gottes und in das Evangelium verfolgen; aber der liebe Gott hat dieſen großen Feind ſeines heiligen Volks ſchoͤn an den hoͤchſten Galgen gebracht, der noch je in der Welt aufgerichtet worden. Ich glaub', es fen ein Schnabel— galgen geweſen. Ich hab', ihn einmal in einer Kupferbibel abgemahlt geſehen; der Haman war daran ſo klein wie ein Vogel, ſo hoch hieng er in der Luft. Ja, ja, es giebt Leute, die ich auch gerne ſo hoch in der Luft, und ſo tlein als ein Vogel am Galgen haͤngen ſaͤhe. Indeſſen war ſeine Bouteille leer, und er wollte ſogleich die andere auch noch angreifen; aber ſeine Schweſter, die ſah, daß er ſchon laͤngſt mehr als genug getrunten, und der das Selbſigeſpraͤch über

65

Daman und den Schnabelgalgen anfieng angſt und 565 zu machen, ſagte zu ihm: wenn du bey dir ſelber wäreſt und nicht ſo voll, wie ich dich in meinem Leben noch fa; A nie; geſehen, jo wuͤrde ich dir was anders ſagen; ſchaͤme dich, du redſt wie ein Unſinniger und ein Unchriſt, und ich haͤtte nicht geglaubt, daß du im Stand wäͤreſt, derglei⸗ chen abſcheuliche Worte uͤber deine Lippen gehen zu laſſen. Er aber gab ihr keine Antwort auf das, ſondern ſagte nur: gieb mir die zwepte VBouteille, die mir der Pfarrer geſchickt hat. Aber es war keine Rede davon; ſie hatte fie ſchon laͤngſt auf die Seite gebracht, und als er jetzt mit Ungeſtuͤmm noch einmal ſagte: hoͤrſt, bring mir meine Bouteille antwortete ſie ihm: wenn du jetzt nicht im Augenblicke mit deiner Bouteille ſchweigſt, fo werfe ich fie dir ſammt dem Wein zum Fenſter hinaus.

Der Schulmeiſter kannte ſeine Schweſter und wußte, daß fie im Stande war, mit der Bonteille Wort zu hallen und redte jetzt kein Wort mehr von ſeinem rechten Glauben, ſondern nur von der Bouteille. Nein, nein, ſagte er, zum Fenſter hinaus mußt du ſie nicht werfen, es koͤnnte Jahr und Tag gehen, ehe ich wieder zu einem fo guten Slas Wein kaͤme, ich, will jetzt eben ins u gehen und fie dart mor⸗ gen trinken. DO f

Nun, nun, wenn du jetzt ins Bett willt und machen, daß dich kein Menſch mehr ſehe, wie du jetzt biſt, ſo will ich denn auch mit dem ſchweigen, was ich dir noch zu ſagen hät. te; aber mach' mach jetzt, daß du aus der Stube und fort kommſt.

46

Peſtalozzi's Werke. IV. 5

66

Er wollte jetzt aufſtehen, aber er ſchwankte auf beyde Seiten und mußte ſich mit beyden Haͤnden am Tiſche hal— ten. In die er Stellung, da er ſah, daß er keinen Schritt vorwaͤrts konnte, ſagte er denn doch zur Schweſter: es ſcheint du habeſt doch recht, es iſt mir jetzt ſelber, ich habe mehr als genug; dieſer Wein muß doch verdammt ſtark ſeyn, daß eine einzige Bouteille mich ſo zugerichtet. Zu— gerichtet biſt du dir einmal gewiß, ſagte die Schweſter, und er: es iſt wahr, du mußt mir helfen, ich koͤnnte Hals und Bein brechen die Treppe hinauf. Ich ſehe es wohl, fagte die Schweſter, und fuͤhrte ihn ziemlich Wen fort und] ins Bett.]

J. 12.

Eine dieser Schulmeiſterinſtallation auf das Dorf Bonnal.

Es war aber nicht blos der alte Schulmeiſter, auf dem dieſe Inſtallirung des neuen einen widrigen Eindruck machte, faſt das ganze Dorf fand es ſonderbar, daß der Junker, und der Pfarrer mit dieſem Manne ſo viel Weſens ma— chen. Viele ſagten: wenn dieſer Lieutenant wirklich unſer Junker wäre und wir ihm huldigen muͤßten, man koͤnnte um ſeinetwillen faſt nicht mehr Firlifanzereyen mit ihm und mit uns treiben. Faſt kein Menſch als etwa die Weiber, die am Sonntag ins Pfarrhaus kamen, waren

7 7 . 4 7 73 899

67

mit diefer Inſtallirung ganz zufrieden. Selbſt der Baum wollenmeyer, der mit ihnen im Pfarrhaus war, ſagte: es ſey nicht immer gut, wenn man ein Kind, ſo lieb es einem ſey, zu hoch anſtimme; man muͤſſe immer trachten, daß man es ausſingen koͤnne, wie man es angefangen. Nur von den Kindern waren einige mit dieſem Tag recht von Herzen zufrieden, und ſagten zu einander: ſie ſehen es dem neuen Herrn Schulmeiſter ſicher an, daß es ihnen bey ihm wohl ſeyn werde. Jetzt fiengen auch viele von ihnen an, über den alten zu klagen, wie haͤſſig und unwirſch er ſey und wie ungerecht und partheyiſch er oft mit dem einen und dem andern gehandelt und mit der Ruthe blind dar— ein geſchlagen, ohne zu ſehen, wen es treffe. Mehrere Knaben, denen Gluͤlphi auf der Allment beym Baumſetzen geholfen, und die ihn auch geſehen, bey dem Kinderzug Ordnung machen, ſagten zu ihren Eltern: wir moͤchten denn doch auch ſehen, ob der alte Schulmeiſter im Stand wäre, beym Baumſetzen oder beym Kinderzug fo Ordnung zu machen, wie es der Herr Lieutenant kann. Die mei⸗ ſten Väter aber lieſſen aus dieſer Lobrede Glälphi gar nichts gehen und ſagten, Baͤume ſetzen, und mit Trom⸗ meln und Pfeifen Ordnung machen, ſey etwas ganz anders als Schulhalten.

Viele Leute geſtunden zwar gern, des Pfarrers Rede ſey recht ſchoͤn und brav geweſen und es waͤre wohl zu wuͤnſchen, daß es im Dorfe ſo ſeyn koͤnnte und ſo werden moͤchte; aber wie der Junker und der Pfarrer und der Schulmeiſter, wenn ſie auch noch ſo ſehr zuſammenhalten und ſelber ihre Weiber noch dazu mitnehmen würden

455

machen konnten, daß es anders und ſo wuͤrde, wie er ge— ſagt hatte, das loͤnnen ſie nicht begreifen, und ſie glauben auch, es ſey gar nicht möglich. Ein Huͤgi ſagte: wenns auch moͤglich eyn ſollte, fo muͤßte mir doch wenigſeens der Mann, druch den man es verſuchen wollte, ganz ans ders gusſehen als der Lieutenant und nicht einen Solda— tenrock tragen wie er.

Dieſer Rick aͤrgerte auch viele. Duͤmmer aber druͤckte ſich uͤber dieſes Aergerniß doch niemand aus, als der Hart— knopf; er ſagte: es ſey unmoglich, daß ein Menſch in ei— nem Soldatenrok die Religion verſtehen und den Katechis— mus erktaͤren koͤnne. Da aber das Bibelerklären des Hartknopfs ſelber im Dorfe nicht jedermanns Sache war, fo antwortete ihm daruͤber ein Eichenberger: es ſey am Schulmeiſter⸗Ertlaͤren nicht viel gelegen, das Erklaͤren ſey des Pfarrers Sache; der Schulmeiſter muͤſſe nur machen, daß fie bras leſen ſchreiben und auswendig lernen, und je weniger er ſich mit dem Ertlaͤren abgebe, deſto beſſer ſey es.

Ein guter Fuͤrſprech des Hartinepfs ſagte: man nehme das, woruͤbe man nicht viel rede und nicht gut erkläre, auch nicht zu Herzen, und man koͤnne die Religion nicht genug zu Herzen nehmen. Daruͤber antwortete ein ſchlichter Bauer: was man als ein Narr zu Herzen neh— me, es moͤge ſeyn was es wolle, das ſey mehr als genug zu Herzen genommen, und das, woroͤber man viel ſchwatze und ſein Maul brauche, ſey entweder gar nicht oder dumm zu Herzen genommen. Das Thun, das Thun und nicht das Maulbrauchen zeige, was mar wahrhaft zu Herzen genommen.

49

Eine dicke Baͤuerin, die eben da war, ſagte: wenn ſie alles, was in den Buͤchern ſieht, zu Herzen nehmen wollte, fo wurde ſie gewiß darob eine Närrin oder gar eine Bett: lerin werden. Sie wolle lieber das, was fie un Stall und auf der Schuͤtte habe, zu Herzen nehmen.

Ein alter Mann, der am Tiſche war, ſagtes er Haba in drey Pfarrhaͤuſern gedient, er ſey zwey Jahr bei einem Advokaten geweſen und habe ein paar Gerichtſaͤſſe (Richter) getaluu, die wie eine Dole ſchwatzen konnten, und die Er— fahrungen, die er bey allen dieſen Leuten gemacht, haben ihm ſo ein Mißtrauen gegen das Maulbrauchen beyge— bracht, daß er ſich vor einem jeden Mang, der für irgend eine Sache den Advocaten mache, im eigentlichen Ver ſtand fürchte. Eule 10

In einem andern Haus ſagte jemand: der Herr Lieu— tenant muß ein ſehr gelehrter Mann ſeyn, daß der Jun er und der Pfarrer ſo gar viel Weſens aus ihm machen. Aber es wollte kein Menſch in dieſem Haus einen gelehr— len Schulmeiſter ruͤhmen. Mehr als einer, der am Tiſche ſaß, behauptete: es könne einem Dorfe kein ‘größeres Um: gluͤck begegnen, als wenn es einen ſolchen Schulmeiſter bekomme. Der aͤlteſte Mann, der am Tiſche ſaß und ein guter Bauer war, aber dabeh keine Zeile in einem Buche richtig leſen und auch feinen Namen nicht eimal ſchreiben konnte, fagte: er habe inuner gehört, daß Bauern, die fa gut geſchulet worden, daß ſie mit den Pfarrern ſelber ha⸗ ben disputiren koͤnnen, haben immer weniger Korn auf ihren Aeckern geſchnitten, als die, ſo von dem, worüber Lie andern disputirten, kein Wort verſtanden, und nannte

# I 119

70

dann ein paar Dörfer, in welchen es fo weit und breit berühmte Schulmeiſter gehabt, aber die brävfien Hausvaͤ⸗ ter in dieſen Dorfern haben ſich «bitter beklagt, wie lieder— lich und unverſcaͤndig ihre Buben dadurch geworden, daß ſie den ganzen Tag ob den Buͤchern ſitzen und alle Zei— tungen auftreiben wollen, die ſie nur haben auftreiben konnen. 5

Der Reutibauer ſagte: wir haben, Gottlob, ich glaube fo lang unſer Dorf ſteht, noch keinen gelehrten Schulmei— ſter gehabt, aber es ſcheint, unſere Alten haben doch ge⸗ wußt, was es damit fuͤr eine ſchoͤne Sache ſey. So un⸗ gelehrt unſere Schulmeiſter waren, ſo hat mein Vater doch geſagt, mein Großvater habe es zum Spruͤchwort gehabt: er moͤchte keinen Burſchen zum Knecht dingen, von dems er gehoͤrt, daß ihn, fein e gar zu ſehr gelobt.

Der geitzige Rabſer, der neben dem 1 ſaß, ſagte: es iſt nicht mit den Buben allein, es iſt mit den Maitlenen (Toͤchtern) das nehmliche. Ich moͤchte keins zu einer Sohnsfrau ins Haus nehmen, wenn ich hoͤrte, daß der Schulmeiſter viel Weſens von ihm gemacht.

Es iſt eine ausg machte Sache, ſagten viele, die den alten Mann dartber ſo reden hoͤrten, wer vom Morgen bis an den Abend Geſchaͤfte hat, die er nicht vernachlaͤßigen darf, der kann und ſoll den Kopf nicht mit Sachen anfuͤllen, die ihm Haͤnd' und Fuͤße, die er dazu braucht, lahm ma⸗ chen und ihn dahin bringen, daß er ſeiner Geſchaͤfte halber an einem Aug blind wird, am andern ſchielt, und hin⸗ wieder ihrethalben auch nur am linken Ohr hört und am rechten, aber darüber ganz taub wird.

8455

Dieſe Haushaltung hatte auch eine Tochter, die eine Anhaͤngerin des Pfarrers Flieginhimmel war, in ihrer Verwandtſchaft, und jedermann war darüber) einſtimmig, ſie haben an dem Anhang dieſes Mannes erfahren: wie weit das Kopffuͤllen mit Sachen, die man nicht verſtehe und nicht zu verſtehen nothwendig habe, den Menſchen außer der Ordnung, in der er leben ſollte, wegbringe, und vom Weg, den er Pflichthalber taͤglich mit Eifer und An— haͤnglichkeit betreten ſollte, abfuͤhre. |

Ein Lindenberger, der kein Anhaͤnger des Pfarrers Flieginhimmel, aber ſonſt ein guter Kopf war und zum voraus fuͤhlte, daß der Leutenant. für das Dorf ein guter Schulmeiſter werden konne, ſagte: es ist wahr, man kann den Kindern den Kopf dumm und erbaͤrmlich voll machen, aber es iſt mit dem Leerlaſſen deſſelben auch nicht alles gewonnen, und ich wüßte bald nicht, ob ich lieber wollte, daß man den Kindern den. Kopf ſo anfülle, daß ſie dabei dumm werden, oder ob man ſie dadurch, daß man ihnen den Kopf leer laſſe, dumm mache. bl

Ein alter Moßbauer ſagte; ihr habt die Hauptſache, die ein Darf gefahret, wenn es einen gelehrten Schulmei- fier hat, noch vergeſſen und das iſt, dal die beſten Köpfe, die es im Dorf giebt und die Söhne der wohlhabendſten Manner r von dem Geluſt angeſteckt werden konnten, Stadt⸗ herrchen und Stecklibuben zu werden. Alles, was am Tiſch war, geſtand ein, das ſey wirklich die größte Gefahr, die es mit einem gelehrten Schulmeiſter fuͤr ein Dorf ha— be, und zugleich, es ſey auf den Doͤrfern kein Leben er- baͤrmlicher, als das Halb herrenleben und nicht nur einer

mn km

fagte : Gott bewahre uns, daß der Herr Lieutenant unfere Buben mit feiner Schule nicht dahin bringe, daß ſie mit der Zeit der Eicheubergerin gleich ſehen / die der Junker für die Stadtkuͤnſte, die fir ihm ius Schloß bringen wollte, mit bem Harſchier aus demſelben weg und nn ins er zu fuͤhren im Sinn Janke h |

Beyde ſind Narren, die ſo das verfaulte Alte 5 beybehalten, und die ſo das unreife Neue a ‚einführen, wollen, 2

11e

i JJ. N HN

Indeſſen einige der vernünftigſten Bauern des neuen Schulmeister halber dieſe Beſorgniß äufferten, waren doch auch einige, beſonders einige alte Männer und Weider, die des Pfarrers Predigt und des Junkers Rede mit Auf— merifamfeit zugehört hatten, die ſagten: es ſcheine gar wicht, wie wenn weder der Pfarrer noch der Junker einem ſolchen Halbherrenmweſen gar guͤnſtig ſeyen, und auch der D Schulm eiſter habe ihnen gar nicht die Gattung des neumd— dige n Herrchenlebens, worüber man an Oertern, wo es fo neue gelehrte Schulmeiſter habe, klage; im Gegentheil, ſagten mehrere, der Pfarrer und der Junker haben geredt, zie wenn fie diesfalls noch in der Alten Welt lebten; dieſe Welt ſey aber nicht mehr da, und es ſey von einer andern Seite auffallend, daß unſere Kinder es durchaus nothwendi

7

haben, in den Schulen mehr zu lernen, als unſere Vorfah— ren darin zu lernen nothwendig gehabt habens uns ſelber mangelt jetzt ſchon viel, das wir koͤnnen ſollten und nicht gelernt haben!. Ein alter Mann, der da war, ſagte noch: alles um uns her iſt fo pfiffig und treibt Käuſte wider alles, was recht, gut und wahr iſt, ewig konnen alſo, ſo gut es auch die Aten in ihrer Einfalt hatten, nicht mehr bleiben wie ſie waren. Es iſt unumgaͤnglich nothwendig, daß auch der Einfaͤltigſte und Aermſte im Dorf erlennen lerne, wo ihn etwa ſein reicher und pfiffiger Nachbar bey den Ohren kriegen und au der Naſe herumfuͤhren wolle oder konne, und eben ſo, daß ſich der Arme und Schwache gegen dieſe im and⸗taͤglich großer werdende Gefahr ſchuͤtzen und ſchirmen lerne, und dafuͤr iſt es offenbar und dringend nothwendig, daß unſere Schulen unſere Kinder weiter führen, als ſie ge— genwaͤrtig thun. Der Lindenberger gieng hieruͤber in's Um⸗ ſtaͤndliche und fagte: es ſpringt einem jeden, der 2 und 30 Jahre in unſerm Dorf gelebt hat, in die Augen, wie wir dadurch benachtheiligt und beeintraͤchtigt worden ſind, daß im ganzen Dorf zu einer Zeit, wo ein jeder Narr mit dem Baumwollenweſen Höre konnen reich werden, kein einziger als der Baumwollenmeper im Stand geweſen iſt, davon Nutzen zu ziehen und hingegen faſt das ganze Dorf durch die Hoffarth und das Freſſen und Saufen, zu dem dieſer neue Verdienſt beynahe allein gebraucht wurde, ſo weit zu Grund gegangen, daß wir jetzt zwanzig und dreißig mal mehr Arme haben, als ehe dieſer Verdienſt, den wir fo übel benutzt, ins Land gekommen. N

Der Hariknopf, dem dieſe Anſicht des Lindenbergers hin—

74

terbracht worden, ward darob ſehr muͤrriſch und ſagte: die— fes ſey eine Anſicht, die nur auf das Zeitliche gehe und die gar nichts als eine Hauptſache ins Aug gefaßt werden koͤnnez hingegen aber fey gar nicht wahr, daß der Pfarrer oder der Junler in der Kirche auf eine Weiſe geredt haben, wie wenn wir noch in der alten Welt lebten; ſie leben wahrlich mit Haut und Haare ganz in der neuen, und zwar auf das al⸗ lerſchlimmſte und allergefahrlichfte in der Neuerungsſucht derſelben. Sie haben ja behauptet, ſie wollen das Dorf beſſer machen, als es iſt, und das ſey wider die gute alte Welt und den guten alten Glauben. Was wollen ſie mit dem Dorf machen, was man mit dem Menſchen nicht ma⸗ chen tann! Es iſt gar nichts Gutes am Menſchen. Alles, was an ihm iſt, und alles, was er thut iſt Suͤnde, Greuel und Schande, und auch an euerm Schulmeiſter iſt nichts Gutes; ihr werdet es erleben, daß nichts Gutes an ihm iſt, und daß er nichts Gutes thun kann. Dann ſetzte er noch eifrig, faſt wuͤthend hinzu: von der Fußſohle an bis auf ſeinen Scheitel iſt alles an ihm boͤs, und die neuen Lehren vom Beſſermachen der Menſchen, als ſie ſind, ſind alles Lehren des Antichriſten, von dem ihr erleben werdet, daß er auf dem Weg iſt und bald kommen wird.

| F. 14. Arners Thun fallt immer tiefer in ſchlechte Maͤuler.

Zu ſo ſonderbaren Bemerkungen gab die Inſtallirung Gluͤlphis die Rede, die der Pfarrer bey dieſem Anlaß ge—

iD

halten, Gelegenheit. Auch die Eichenbergerin ließ dieſe ihr ſchickliche Gelegenheit nicht unbenutzt vorbeygehen, der Sylvia, wie fie Auftrag hatte, umſtändlich zu berichten, was in Bonnal vorgeht, und was Arner daſelbſt alle Ta— ge Krummes und Dummes anſielle. Sie gieng dieſen Sonntag ganz gegen ihre Gewohnheit auch in die Kirche und die Art, wie der Junker dieſen Dorfſchulmeiſter der Gemeinde vorſtellte, kam ihr ſo ſonderbar und unbegreif— lich vor, daß ſie waͤhrend der Predigt und in der ganzen Verhandlung einmal uͤber das andere zu ſich ſelber ſagte: ich bin doch in meinem Leben ſchon in mancher Narren— comoͤdie geweſen, aber eine, die ſo erzdumm war, wie dieſe, habe ich doch nie geſehen. Sobald ſie aber aus der Kir- che heraus kam, war ſie bis auf den Abend auf den Bei⸗ nen, um in allen Haͤuſern, in die fie, ohne Gefahr ausge— ſpottet zu werden, hineindurfte, auszuforfchen, was man darin ‚über dieſe Inſtallirung des Schulmeiſters über des Pfarrers Predigt und uͤber des Junkers Benehmen allent- halben ſage, und ſaͤumte denn nicht, als ſie ſpaͤt auf den Abend heim kam, an Sylvia zu ſchreiben und ihr alles zu berichten, was vorgefallen. Ihr Brief an ſie lautet woͤrtlich alſo:

Hochwohlgebornes, gnaͤdiges Fraͤulein!

Ich beeile mich, Ew. Gnaden ungeſaͤumt zu berichten, was heute für eine Narrencomoͤdie in der Kirche von Bon— nal geſpielt worden. Der Junker iſt am frühen Morgen mit ſeinem beſten Wagen und mit einem Gefolg von Be— amten, faſt wie wenn er den Herzog bewillkommen wollte,

=-f 10

im Pfarrhaus von Bonnal aufgefahren. Ich glaube, wenn er für feine Bediente eine Galalivree gehabt hatte, ſo hate er ſie viejeibe bey dieſenn Autaß anziehn gemacht; da aber feine Knechte aue Köthluͤmmel fine, ſe hat dieſe Galaerſcheinung nicht Stattfinden lounen, und ſein Klaus und ſein Rollenberger find, wie gewöhnt, in ſeyr ſchaͤbigen Kleidern in die Kirche gekommen, in der dann der Juater feinen treſflichen Herrn Schulmeiſter vor dem Taufftcein beym lieben Haͤndchen genommen und ihn ſeiner Gemeinde als feinen beſten Freund und als den großen Mann, der ihm helfen werde, die eingefallenen Mauern ſeines guten Jeruſalems wieder aufzubauen. Sie ſagte daraus ferner, wie der Pfarrer in der Predigt, eben wie der Junker, das Maul ſo voll genommen, und der guten Gemeinde, wie der Prophet Heftlimacher, verkündet und geweiſſaget, was der große Herr Lieutenant aus ihren Bauernbuͤben und Bauernmaͤdchen fuͤr wohlgezogene, vortreffliche, geiſtvolle und hochgelehrte Männer. und Weiber zu machen gedenke, und wie, wenn ſie dieſem ſeinem guten Freund und Schul— meiſter an die Hand gehen und helſen werden, ihrem gu— ten Dorf das Geld zum Dach hinein regnen und die ge— bratenen Tauben zum Maul hinein ſtiegen werden.

In dieſem Geiſte ſagte ſie denn noch vieles, oder gar alles, was die loſeſte Zunge, die täglich aus allem das Gift zu ziehn gewohnt iſt, uͤber Sachen und Menſchen, die ihr verhaßt find, zu ſagen im Stande iſt.

Sylvia ſaͤumte nicht, dieſen Brief noch am nehmlichen Abend, da ſie ihn empfing, Helidor'n in die Hand zu ge— ben. Als er ihn geleſen, ſagte er: eine ſchlummere Zunge

9

Habe ich doch nicht bald geſehen, fie macht beynahe Ihn a den Rang ſtreitig. Ueber die Sache ſelber ſagte er: der gute Arner iſt, wie ich Ihnen ſchon geſagt, in den 9 Nenſch⸗ lichteitstraͤumen unſerer Tage verirrt, und hat, wie es ſcheint, auch ſeinen Lieutenant damit angeſteckt; ich möchte faſt denken, die Wunde, die der hintende Mann auch am Kopf hat, habe Arnern geholſen, ihn diesfalls zu verfüͤh— ren. Aber wie wird's den armen zwey Herren in der Ausfuͤhrung ihrer Projecte gehn? Er ſetzte zuletzt noch la⸗ chend tiefe Bemertung hinzu, das adeliche Cadetenco sus von = , in dem der Lieutenant nichts als reiten, tanzen, fechten, ſiſchen, jagen und ſich ſchlagen gelernt hat, ſcheint eben keine gute Verbereitungsſchule von Leuten zu ſeyn, die die Welt bis auf die hinterſten Dorfwinkel hinab von den Uebeln, an denen fie, wie dieſe Herren nach ihren Träumerbegriffen ſich einbilden, fo unausſprechlich leidet, heilen wollen. Am End aber ſagte er doch noch zur Syl— via: Ihre Eichenbergerinn luͤgt indeſſen und verdreht, das fallt auf; ich ſehe, daß ſie uͤber Arner und das ganze We— fen in Bonnal wuͤthend iſt. Das macht aber nichts. Man kann zu dem Spruͤchwort: „Kinder und Narren ſagen die Wahrheit“ noch hinzuſetzen: „auch wer recht wülhend iſt, ſagt die Wahrheit.“ Schreiben Sie ihr, fie ſolle Ih— nen auch forthin ee berichten, was in Bonnal vorfalle.

Sylvia ſaͤumte nicht, ſogleich, als ſie von eee weg⸗ kam, an die Eichenbergerinn zu ſchreiben:

Gute Freundinn! 1 30608 Du haft jetzt eine vortrefftiche Waste dich a an Ar⸗

73

ner zu rächen, und ihm den Schimpf, den er dir in fei- nem Schloſſe angethan, mit Zins und Kapital zuruͤckzu— zahlen. Ich habe dich mit dem Mann, der in unſerm Herzogthum alles vermag, in Bekanntſchaft gebracht. Er haßt das ganze Narrenzeug, das Arner in Bonnal vor— hat, wie du ins Auge, und was für unsz noch weit wich— tiger iſt, er ſieht es nicht gern. Ich bin uͤberzeugt, er hat etwas dagegen, das ihm wichtig iſt.

Ich weiß zwar nicht eigentlich was, aber ich ſehe klar, daß er froh iſt, wenn alles das Weſen dumm und ſchlecht geht, und bin uͤberzeugt, wenn er etwas dazu beitragen koͤnnte, daß es recht dumm und recht ſchlecht gienge, fo wuͤr— de er es thun. Er hat mit einer Miene, die mir keinen Zweifel übrig laͤßt, zu mir geſagt, du koͤnneſt vielleicht fel- ber etwas dazu beitragen, daß es noch duͤmmer und ſchlech— ter gehe, als wenn du nicht dabey waͤreſt, und du ſolleſt mir doch alles berichten, was vorfalle. Du ſiehſt jetzt, wie ich dich in der Welt hervorziehe. Das haͤtteſt du doch in deinem Leben nicht hoffen duͤrfen, daß du ſo mit einem Mann, der der erſte im Herzogthum iſt, bekannt wuͤrdeſt. Du kannſt noch zu Ehr und Anſehen kommen, mehr als du zu denken vermagſt, wenn du dich recht brav haͤltſt. Er hat zwar auch geſagt, du habeſt ein boͤſes Maul, man duͤrfe nicht alles, was du etwa fageft, für baar Geld an— rechnen, aber er ſetzte gleich hinzu, das mache jetzt nichts, es ſpringe in die Augen, du ſeyeſt recht empoͤrt uͤber den ſchoͤnen Junker, und wenn man uͤber einen Menſchen oder über eine Sache recht raſend ſey, fo ſehe man ihre Fehler

79 fidye® ganz richtig, und es iſt mir ganz klar, daß er die Fehler dieſer Sache gerne hoͤrt.

J. 15.

Man muß die Hülfe für die Erdenbewohner nicht beym Mann im Mond und die Huͤlfe für ein armes Dorf nicht beym Traͤumer in den Wolken, und mehr beym Mann, der zu Fuß durchs Koth geht als bey dem, der zu Pferd uͤber Berg und Thal reitet, ſuchen.

Doch wir muͤſſen wieder zu Arner und Gluͤlphi ins Pfarrhaus zuruͤckkehren. Wir haben fie, eben da fie die Kinder mit ihren Eyern, Broͤdchen und Blumenſtraͤußen wieder heim ſchickten, verlaſſen. }

Als fie fo bey einander am Tiſch ſaßen und der Hans ſchon wieder von dem alten Schulmeifier, dem er fein Eh— reneſſen gebracht hatte, zuruck war, ſagte Arner zum Pfar⸗ rer: Lieber Herr Pfarrer! Unſer Schulmeiſter iſt jetzt ein— geſetzt und von dieſer Seite iſt einmal wenigſtens ein An— fang gemacht, etwas fuͤr unſer armes Dorf zu thun, aber wie viel braucht es noch von anderen Seiten, wenn wir tief und mit Erfolg in das, was es weſentlich nothwendig hat, eingreifen wollen.

Pfarrer. Es braucht freylich noch viel.

(87

Junker. Und zwar viel, das nicht in unſere⸗ N liegt und nicht von uns abhaͤngt. f

Pfarrer. Das iſt unſtreitig.

Junker. Wenn wir denn zu dieſem andern nur auch noch ſo viele Huͤlfe und Handbiethung faͤnden als zu un— ſerer Schule.

Gluͤlphi miſchte ſich jetzt ins Geſpraͤch und ſagte: wir muͤſſen dieſe Huͤlfe und Handbiethung für unfer Dorf vor⸗ zuͤglich bey den Perſonen ſuchen, die vorigen Fonntag Abend bey uns geweſen.

Alles, was am Tiſch war, ſtimmte ihm bey und ſagte: das iſt gewiß, der Baummollenmeyer und die Weiber, die vor 8 Tagen mit ihm bey uns waren, ſind gewiß die tuͤchtigſten Leute, die wir im Dorf finden koͤnnten, um durch ſie auch die innere Verbeſſerung der N deſſelben hinzu wirken.

Wir wollen ſie auch dieſen Abend zu uns kommen laſſen, ſagte auf einmal Arner, und mehrere von denen, die am Tiſch ſaßen. 1

Das geſchah auf der Stelle. Der Pfarrer ſchickte ſo— gleich ſeinen Hans zu ihnen hin, ſie einzuladen; aber ehe ſie kamen, redten die Herren und Frauen uͤber die Kinder, und das Benehmen von einigen, denen ſie nebſt Eyern, Broͤdchen und Blumenſtraͤußen zu trinken gegeben. Die Frau Pfarrerinn ſagte: ſie habe zwiſchen die Freude hinein, die ihr dieſer Auftritt gemacht, dennoch einiges ſehr Unangenehmes bemer t.

Alle und inſonderheit Gluͤlphi, und zwar mit einer

1 14177

81

Art von Aengſtlichkeit, deren er fonft nicht gewohnt war, fragten ſie jetzt: was das ſey?

Sie erwiederte: Es haben ſich offenbar etliche Kinder von den andern getrennt und ſich allerhand Sachen, die die Andern nicht hoͤren ſollten, in die Ohren gefluͤſtert. Auch habe fie in dem Kabinettchen ihrer Stube, wo fie niemand vermuthet, mit ihren eigenen Ohren gehoͤrt, daß eines dem andern erzaͤhlt: ſein Vater und ſeine Mutter haben ihm daheim ſchon geſagt, fie wiſſen nicht, was das ſey, daß man ſo ein Weſen mit der neuen Schuleinrich— tung treibe, und was man damit ſuche, daß man ihnen ſo flattire; ſie ſollen ſich in Acht nehmen und nicht alles glauben, was man ihnen ſage; es ſey nicht alles Gold was glaͤnze; aber ſie ſollen doch auf alles, was man ihnen ſage, Acht geben und ihnen alle Abende erzaͤhlen, was fie immer in der neuen Ordnung dieſer Schule ſehen und hö- zen. Die Frau Pfarrerinn war eben noch an dieſer Erzählung, als der Baumwollenmeyer mit fenen Schwe— ſtern, der Gertrud und der Reinoldin in die Stube hin— eintrat.

Gluͤlphi, der ſchon über das, was er ſelber Aehnliches an den Kindern bemerkt, etwas aͤngſtlich war, wurde uͤber das, was jetzt die Frau Pfarrerinn erzählte, noch mehr betroffen. Auch auf Arner und den Pfarrer machte es einen unangenehmen Eindruck, aber der Baumwollenmeyer ſagte ihnen gerade heraus: ſie ſollten das nur nicht ſo hoch aufnehmen, es werde dergleichen noch viel anders und noch viel wichtigers begegnen.

Peſtalozzs Werke. IV. 6

82

Was die Herren am meiſten ſchmerzte, war, daß, wie es ſcheint, im Dorf niemand glauben wolle, ſie handeln in dem, was ſie fuͤr das Volk thun, aus gutem Herzen, und man ſch eibe ihnen ſelbſtſuͤchtige Abſichten zu.

Darüber ſagte der Baumwollenmeyer: aber wie koͤnnen Sie denken, daß es in einem Dorf, in dem ſich vielleicht faſt ein halbes Menſchenalter kein Menſch um den andern ein Haar kruͤmmte, und bald ein jeder das halbe Dorf aufgeopfert haͤtte, wenn er geglaubt haͤtte, ſich dadurch ei— nen Vortheit verſchaffen zu koͤnnen, es anders kommen koͤnnie? Wenn Sie dieſen Zuſtand der Dinge ins Aug faſſen, ſo muß es Ihnen einleuchten, daß es faſt unmoͤg— lich iſt, daß in einem ſolchen Dorf ein Menſch dem an— dern etwas Gutes zutrauen koͤnne. Er ſagte ferner: zu dieſem Mißtrauen gegen alles Beſſere, das ſchon im Dorf eingewurzelt ſey, komme noch, daß die Hummelsgeſchichten bey den meiſten Dorfmatadoren dahin gewirkt, daß ſie jetzt nicht blos mißtrauiſch und furchtſam, ſondern noch zum voraus erbittert gegen alles eyen, was der Junker thue und vorhabe, und denn, fuͤgte er noch bey, habe endlich der alte Sauerteig der Religionszaͤnkereyen, die ſeit dem Pfarrer Flieginhin mel ins Dorf gekommen, dieſes Miß— trauen und dieſen Wi erwillen gegen alles Neue auf den hoͤchſten Gipfel gebracht.

85

J. 16. Große Verirrungen der menſchlichen Selbſtſucht in Ruͤckſicht auf den geſellſchaftlichen Begriff des Gemeinguts.

Auch das Mareili und die Gertrud miſchten ſich jetzt ins Geſpraͤch und ſagten gerade heraus: einige von den Matadoren im Dorf wuͤrden, ſo lange noch ein Tropfen Blut in ihren Adern flieſſe, nicht verzeihen, daß ſie unter der Linde neben dem Vogt als Schelmen und Diebsleute haben daſtehen und den Bettelmann Niggeli und feines Gleichen um Verzeihung bitten muͤſſen, daß ſie mit dem Gemeingut übel gehaufet.

Das iſt gewiß, fügte jetzt der Meyer, dieſe Burſche haben in ihrem Leben nicht geglaubt, daß das Gemeingut den Bettelmann Niggeli und feinesgleichen etwas angehe.

Das glaub' ich wohl, erwiederte Gluͤlphi; die Welt iſt ſich allenthalben gleich, und es wuͤrde mich wundern, wenn Dorflumpen, wie dieſe Vorgeſetzten ſind, das Gemeingut anders anſehen wuͤrden, als dieſes in ſo vielen andern und groͤßern Orten der Fall iſt. Er brachte denn noch das Exempel der Herren von Krehwinkel an, die ſich von Va— ter auf Sohn hinab ſo gewohnt waren, das Krehwinkel— Gemeingut als ihr eigenes Gut anzuſehen und zu benutzen, daß fie ſogar gemeiner Krehwigkelbuͤrgerſchaft durch eine Rathserkenntniß verbothen, dieſes Gut weiter in irgend

84

einer öffentlichen Handlung Stadtgut zu nennen, fondern daſſelbe mit dem Namen Herrengut oder Rathshausgut zu betitteln. 5

Die Herren begriffen jetzt freylich allgemein, daß bey ſolchen Vorgeſetzten- Begriffen uͤber das Gemeingut unter den Daͤchern von vielen großen Haͤuſern die Leute eben nicht allgemein gut fuͤr Arner geſtimmt ſeyn koͤnnen, und wunderten ſich auch nicht daruͤber, als die Reinoldin er— zaͤhlte, des Geſchwornen Huͤgis Frau habe den Blumen— ſtrauß, den ihr Kind aus dem Pfarrhaus heimgebracht, ſogleich zum Fenſter hinaus auf den Mift und feine zwey Braoͤdchen ihrem Hund und ihrer Katze dargeworfen.

Auch daruͤber verwunderten ſie ſich nicht mehr, daß der Speckmolch, da ihm fein jüngerer Bub ſagte, wie lu— ſti ſie auf des neuen Schulmeiſters Geſundheit getrun— ken, ihm geantwortet: er wollte lieber, er haͤtte ſeinen Stieren und Kuͤhen im Stall auf ihre Geſundheit getrun— ken, als auf die des Narrenſchulmeiſter z Sie hörten noch einige ſolche Aeuſſerungen, die die innere boͤſe Stimmung vieler Lumpen im Dorf gegen alles, was fie vorhatten beurkundeten.

DL: Alles Streben der Menſchen fordert bey feinem innern Geiſt noch eine Anordnung und Si⸗ cherſtellung ſeiner aͤußern Mittel.

Aber es war dem Gluͤlphi fihon eine Weile“ unbehag⸗

0 85 lich, dieſe Aeußerungen alle zu hören und er ſagte: was hilft uns, dieſes Narrenzeug alles zu wiſſen? Es iſt jetzt nur die Frage, wie wir es machen muͤſſen, um allmaͤhlig genugſamen Einfluß zu bekommen, um nach und nach dieſe boͤſe Stimmung im Dorf zu aͤndern?

Gleich darauf ſagte der Baͤumwollenmeyer: es komme in dieſer Sache nicht darauf an, daß viele Leute ſich dar— ein miſchen, ſondern darauf, daß die, ſo ſich darein mi— ſchen, die Rechten ſeyen. Er meynte, je ſtiller man mit der Abſicht, den Haushaltungen des Dorfes aufzuhelfen, thun werde, deſto beſſer werde es gehen, und ſetzte hinzu: er ſehe freylich voraus, daß die Sache in verſchiedenen Rückſichten Schwierigkeiten haben werde, aber unmdͤglich ſey ſie doch nicht, und es walten einige Umſtaͤnde im Dorf vor, die, wenn man fie mit Liebe und Thaͤtigkeit benutze, die Endzwecke des Junkers durch ſich ſelbſt befoͤrdern werden.

Arner und der Pfarrer fragten: was er eigentlich fuͤr Umſtaͤnde meyne? Er antwortete: die Noth und das Elend, das im Dorf iſt, hilft an ſich ſehr dazu, daß hundert und hundert Menſchen ſelber zeigen werden, daß ſie vieles an— ders wuͤnſchen, als es iſt, und denn iſt das, was wir ſu— chen, fo offenbar dieſer Leute ihr Vortheil, daß viele von ihnen, ſobald ſie einmal einſehen werden, daß es ihr Vor— theil iſt, von ſelbſt zu dem, was wir wuͤnſchen, Hand bie— then werden.

Der Junker wollte hieran einen Augenblick zweifeln, aber das Mareili ſagte zu ihm: ſehen Sie nur, wie es,

86

ſeitdem Sie den Spinnerkindern zehntfrene Aecker ver⸗ ſprochen mit dem Baumwollenſpinnen beſſer geht.

Der Junker lachte und ſagle: das iſt aber ein erkauf— tes Rechtthun.

Das Vaumwollenmareili lachte auch und fagte: frey— lich, aber wenn man das Gute will, muß man ſich oft dazu verſtehen, es zu kaufen und manchmal denn noch recht theuer. . Ful

Nun, wenn's nur beſſert, ich will manchmal hie und da etwas dafuͤr zahlen, ſagte der Junker.

Man redte noch eine Weile über die Mittel, die Leute dahin zu bringen, das zu thun, was ihr eigner Vortheil iſt. Das Mareili ſagte denn noch: viele haben es damit wie das liebe Vieh, es geht kein Stier und kein Pferd von ſelbſt an den Pflug und an den Wagen, ſie wollen daran angeſchirrt und daran angefuͤhrt ſehn; wenn ſie dann aber nur hernach brav ziehen und fahren, ſo hat man alles, was man von ihnen fordern kann.

Es lachte jetzt alles ob dem Gedanken, daß ſo viele Leute auch zu dem Guten, das man von ihnen wuͤnſcht, muͤſſen angeſchirrt und angeſpannt ſeyn, und daß man, ſetzte Gluͤlphi hinzu, oft noch eine gute Geiſſel dazu brau— chen muß. Der Gertrud aber wollte dieſe Vergleichung mit dem Anſchirren und Anſpannen nicht gefallen. Sie ſagte: es gibt aber Gottlob doch auch noch Leute, die das gute Joch des Rechtthuns ſelber gern an Hals nehmen oder doch wenigſtens nicht auf dieſe Art damit angeſchirrt werden muͤſſen.

Darin gab aber auch jetzt der Gertrud alles Recht, und

87 alles fühlte, die hoͤhern Beweggründe der Liebe und des Glaubens muͤſſen hierin das Weſentlichſte und ſo viel als alles thun, und alles geſtund, daß durch das aͤußerliche Anſchirren und Anſpannen zum Rechtthun ewig nie eine wahre Vollendung des Guten zu erzielen fen.

Das Mareili fand dieſes auch ganz richtig, ſagte aber doch: das iſt denn des Herrn Pfarreas und des Schulmeiſters ſeine Sache; unſer einer muß hingegen gar viel mit dem Anſchirren und Anſpannen zu thun haben, und das iſt denn uͤbrigens doch auch nicht gar nichts, und es geht einmal jetzt, ſeitdem der Junker ſie mit der Zehendfrey heit fuͤrs Hauſen und Sparen ſo viel als angeſchirrt hat, gewiß wie es ohne das damit ewig nicht gegangen waͤre. Das Mareili fuhr dann fort zu ruͤhmen, wie gut es jetzt mit dem Spinnen gehe, und ſagte, ſie ſind nicht nur ſparſamer, ſie treiben ſogar Hof— fart mit ihrem Garn, und zeigen mir Woche fuͤr Woche recht hochmuͤthig, wie fie es mir jetzt beſſer machen.

Es iſt gut, ſagte jetzt Gertrud, daß ich dich kenne und weiß, daß du nicht dazu gemacht biſt, die armen Spin⸗ nerleute im Dorf hoffaͤrtig zu machen, ſonſt muͤßte ich dir fagen, es iſt im Grund fuͤr den wahren Seegen einer Haushaltung nichts dabei gewonnen, wenn fie aus keiner liederlichen Lampenhaushaltung eine geizige und eine hof: fürtige Haushaltung wird, aber ich kenne dich, Mareili, und weiß, daß du das beſſer verſtehſt als ich, und bei deinen Spinnerleuten beſſer zu verhuͤten im Stande biſt als ich es waͤre.

5. 4

Das außerſte Beduͤrfniß der innern Reinheit aller Dorfverbeſſerungsmittel und das aͤußerſte Hins derniß derſelben in der bürgerlich noch gefteis gerten, thieriſchen Selbſtſucht unſrer Natur.

Indeſſen machte das Wort der Gertrud auf Gluͤlphi abe mal einen tiefen Eindruck. Er ſah ſie, ſobald ſie es aus geſprochen hatte, mit dem ſtillen Ernſt der wahren Ruͤhrung an und ſagte zu ihr: dein Wort, die Beweg— gruͤ de zum Spinnen bei deinen Kindern nicht aus Geiz und Hoffart hervorgehn zu machen, iſt mit deinem großen Wo t: aller Unterricht, der von der Suͤnde ausgeht, it verflucht, die nehmliche Sache, und ſagt nichts anders, als: aller Erwerb, der von der Suͤnde ausgeht und zur Suͤnde hinfuͤhrt, iſt mit dem Unterricht, der da— von ausgeht und dahin führt, im nemlichen Falle.

Gertrud widerſprach es nicht, und Gluͤlphi fuhr fort: du meynſt alſo auch, alle Mittel, den Haushaltungen im Dorf aufzuhelfen, die von Selbſtſucht und Leidenſch aft ausgehen, und hinwieder zu Selbſtſucht und Leidenſchaft hinf hren, koͤn nen im Grund nichts helfen?

Von dieſer Seite, ſagten Arner und der Pfarrer, kann man den Endzweck, einem verdorbenen Dorf wieder auf— zuhelfen, nicht ſchwer genug ins Aug faſſen, und ich möchte | bald fragen, ſagte Arner, wie darf ich Hand daran legen

89

und wer darf Hand daran legen? und auch Gluͤlphi ſagte: wer darf nun Dorfſchulmeiſter werden, wenn er fuͤrchten muß, daß jeder ſeiner Fehler ſeinen Schulkindern zum Unſegen, oder wie du ſaͤgteſt, ſogar zum Fluch wer— den kann?

Gertrud war uͤber den Ernſt und die Aufmerkſamkeit, mit der ihr Wort aufgenommen war, betroffen, ſaß ein paar Augenblicke beſchaͤmt und erroͤthet da, faßte ſich aber bald wieder zuſammen und ſagte mit einer Wuͤrde, die die innerſte, höchfie Erhebungsausdruͤcke: des Menſchen Thun iſt nichts; er muß auf Gott vertrauen und mitten in ſeiner Schwaͤche und in ſeinen Fehlern auf Gottes Se— gen hoffen. Ich habe es erfahren: Gott iſt in den Schwa— chen maͤchtig. Wer es redlich meynt und mitten in ſei— nen Schwaͤchen das Gute foͤrdert und ſucht ſo gut er es vermag, den ſegnet Gott und hebt oft in ſeiner Liebe wun— derbare Folgen der Fehler auf, die die Menſchen in ihrer Schwaͤche taͤglich machen. f

Dieſe Worte der Gertrud giengen den meiſten Perſo— nen, die da waren, ans Herz, daß ihnen die Thraͤnen in den Augen ſtunden. Eine Weile war alles ſtill. Arner unterbrach die Stille und ſagte zu Gertrud: du haſt uns getröftet und erhoben; wir wollen mit Vertrauen auf Gott zuſammenſtehn und, wie du ſagteſt, uͤr unſern Zweck thun, was wir koͤnnen und moͤgen.

N 99

J. 19.

Hauptfragen, auf die es bey einem ernſten Ver⸗ ſuch, auch nur das niederſte Dorf in eine beſſere Ordnung zu bringen ankommt, mit fortdauernder Darlegung der Hinderniſſe, die die geſteigerte thieriſche Selbſtſucht dem We— ſentlichen ſolcher ernſten Verſuche in den Weg legt.

Sie giengen jetzt noch ins Umſtaͤndliche, was in ihrer Lage zu thun ſey, hinein. Es ſchien ihnen, daß es bey dieſer Unterſuchung auf folgende zwey Fragen ankomme: 1) Welches ſind die Haushaltungen im Dorf, von denen

man vorzuͤglich hoffen darf, daß ſie die Handbiethung

zu einer beſſern Hausordnung mit gutem Willen an—

nehmen werden? g

2) Was fuͤr Menſchen im Dorf ſind willig und faͤhig, uns zu dem, was wir zu erzielen ſuchen, Hand zu biethen?

In Ruͤckſicht auf die erſte Frage erwiederte der Meyer: ich darf ſicher annehmen, von den Spinnerhaushaltungen, die bey meiner Schweſter keine Schulden haben und auch die, wenn fie genoͤthigt find, ſolche machen zu muͤßen, ſel— bige ſchnell und ſorgfaͤltig wieder zuruͤckzuzahlen ſuchen, ſind auch die, denen man ihrer Fehler halber, ſie zu beſ— ſern, am leichteſten an Leib kommt.

91

Seine Schweſter nannte auf der Stelle fuͤnf bis ſechs Haushaltungen, die ſich Schuldenhalber auf dieſe Weiſe benehmen und von denen ſie ſicher ſey, auf ſie jeden Einfluß, den man wuͤnſche, zu haben, um ihre Haushal— tungen im Allgemeinen in eine beſſere Ordnung zu bringen.

Ueberhaupt fanden ſie, wenn bey armen, liederlichen und unordentlichen Leuten nicht noch Hochmuth und Frech— heit hinzuſchlagen, ſo haben ſie im Allgemeinen faſt immer noch ein weiches Herz im Leib, und laſſen ſich gewoͤhn— lich auch noch recht gern einen guten Rath geben, wenn ſie gefehlt haben; aber wo das Gegentheil der Fall und Liederlichkeit und Unordnung noch mit Hochmuth und Frechheit gepaart ſey, da ſeyn die Leute denn eigentlich ausgeſchaͤmt und ſicher die Letzten, von denen man hoffen konne, etwas zu ihrer wirklichen Beſſerung aus— zurichten. | |

Alles ſtimmte hierin dem Mareili bey; nur der Meyer bemerkte noch: man muͤſſe diejenigen, die hierin die letz— ten ſeyn werden, nicht unter den Armen ſuchen.

Daruͤber ſagte Arner lachend: du meynſt doch etwa auch nicht, daß man dieſe Letzten vorzuͤglich unter den Reichen ſuchen muͤſſe? er Das nicht, erwiederte der Meyer, wohl aber unter den Dorfmeiſtern, die die Herzensverhaͤrtung ihres Hochmuths und ihrer Frechheit bey aller Unordnung und aller Lieder— lichkeit durch ihre Stellen und ſo viel als von Amtswegen ſteigern und höher treiben können, als alle übrige Reiche und Arme im Land. |

9%

Der Junker wollte ihm im Anfang widerſprechen und ſagte: er glaube, beydes der Bettelhochmuth und die Bet— telfrechheit, To wie der Vorgeſetztenhochmuth und ihre Frech— heit haben in Ruͤckſiht auf die Verhaͤrtung des Herzens ungefahr die nemliche Wirkung.

Der Meyer erwiederte: es habe diesfalls ein ſehr gro— ßer Unterſchied ſtatt. Freche und hochmuͤthige Menſchen, die vermöge ihrer Stellung, ich moͤchte ſagen, eigentlich von Amtswegen und auf ihre Eide hin gegen gemeine Menſchen, die bey ihnen Recht zu ſuchen, oder gegen ſie die Wahrheit zu behaupten genoͤthigt find, Gewalt brau⸗ chen und der Unſchuld, die wider ſie zeugt, wie ſie wollen, das Maul ſtopfen koͤnnen, ſolche Leute ſind in Ruͤckſicht auf die höchſten Reitze zur aͤußerſten Verhaͤrtung des Her— zens in einer Lage, in welche ein armer Mann im Land und auch ein reicher, der außer Amt und außer oͤffentli— chem Einfluß ſteht, ſehr ſelten das Ungluͤck hat, zu kom— men. Die Reitze hiezu ſind indeſſen in dieſen Lagen ſo groß, daß ich wenigſtens im umfang meiner Lebenserfah— rungen und in dem Bauern- und Dorfkreis, den ich allein. zu beobachten die Gelegenheit hatte, noch wenige Meuſchen gefunden, die ihnen ganz zu widerſtehen vermochten, und unter den ihnen untergeordneten Mitmenſchen ganz mit dem milden Sinn der Unbefangenheit und Aamaßungslo— ſigkeit umhergehen, der einem jeden Menſchen, der nicht in einer offentlichen Stellung lebt, ſo leicht iſt, in ſich ſel— ber zu erhalten.

Arner widerſprach ihm das jezt nicht mehr, ſagte ihm

8 aber doch: es duͤnkt mich, du faſſeſt die Oberbauern in deinem Dorf doch ziemlich ſtreng ins Auge.

Der Meyer erwiederte: wenn mir mein Dorf und die Nachkommenſchaft darin wahrhaft, wie ſie es ſoll, am Herzen liegt, ſo darf ich nicht anders, ich muß dieſe meine Oberbauern, wie Sie fie nennen, in Ruͤckſicht auf ihre Herzensverhaͤrtung als die letzten anſehen, die ſich ihrer Fehler halber auf einen beſſern Weg werden leiten laſſen.

Der Menger wollte am End ſich auf eine Art ſeiner Anſicht halber entſchuldigen und ſagte noch: Gnaͤdiger Herr! Es mag an andern Orten anders ſeyn, aber bei uns haben unſere Oberbauern unter der Leitung des Hum— mels, von dem Sie uns endlich erlöst haben, mit Huͤlfe der Schreibſtube im Schloß und ſelber durch Einmiſchung des damaligen Herrn Vicaris allen Fundamenten unſers alten Dorfſeegens und unſers fillen, frommen haͤuslichen Lebens vollends den Hals gebrochen und ein verruchtes, verfaͤngliches Kunſtbenehmen in alles Privat- und oͤffent— liche Leben des Dorfs hineingebracht, daß wenn Sie, gnä— diger Herr! der Hauptquelle unfers diesfaͤlligen Unglücks nicht Einhalt gethan haͤtten, wir bis auf Heute nicht dar— an denken koͤnnten, auch nur einen Schritt zu einer wah— ren Verbeſſerung der Lage unſers Dorfs thun zu koͤnnen. Es iſt unwiderſprechlich, wenn Sie uns hierin nicht ge— holfen haͤuen, ſo wuͤrden wir mit allen unſern Bewuͤhun— gen unter dieſen Umſtaͤnden nichts anders thun, als leeres Stroh dreſchen. Aber Gottlob, es if jet ja anders, war das letzte Wort, das der Meyer hieruͤber ſagte.

Und wie aus einem Munde wiederholtevalles, was am

94 Tiſch war, das Wort: Gottlob, es iſt jetzt ja anders. Und man kam ſogleich wieder auf die Frage: welches denn beſtimmt diejenigen Haushaltungen im Dorf ſeyen, von denen man vorzuͤglich hoffen duͤrfe, daß ſie die Hand— biethung zu einer beſſern Hausordnung mit gutem Wil— len annehmen werden.

6. 20.

Ein guter Boden für die Dorfverbefferung wo man ihn nicht leicht ſuchte.

um

Hieruͤber ſagte das Mareili: ich glaube, daß wir den beßten Boden fuͤr das, was wir diesfalls ſuchen und wuͤn— ſchen, an Ort und Stelle finden werden, an die niemand ſo leicht denkt.

Natuͤrlich fragten jetzt alle, was und wo denn dieſer beßte Bodenseigentlich ſey?

Das Mareili nannte vor allem aus die Haushaltung des gehaͤngten Uelis und ſagte: ſeit dem Ungluͤck ihres Mannes lebt ſeine Frau in ihrer Stube, wie die ſtillſte, braͤpſte Kloſterfrau in ihrer Zelle. Ich gehe zu Zeiten zu ihr, und ich kann nicht ſagen, welch einen ruͤhrenden Ein— druck dieſe Frau auf mich macht; es iſt, wie wenn ſie von der ganzen Welt auſſer ihrer Stube nichts mehr wiſſe, und mit ihren Kindern redt ſie von Morgen bis am Abend

95 nichts als vom Bethen und Arbeiten. Es fuhr fort: auch des Ruͤckenbergers Haushaltung iſt in dieſem Fall.

Es ſah in ſeinem weißen Kleid aus wie ein Engel und iſt in ſeinem Herzen ein wirklicher Engel. Es ſchwebt auch auf ſeiner Mutter und auf allen ſeinen Geſchwiſter— ten eine Art von Wehmuth, die mir immer zu Herzen geht, wenn mir eins von ihnen vor die Augen kommt, und es iſt auch nicht möglich, daß eine Haushaltung file ler, frommer und fleißiger ſeyn koͤnne als dieſe. Auch die Geſchwiſterte der hingerichteten Lismergrithe ſind von der braͤpſten, eingezogenſten und fleißigſten Arbeitern, die ich habe, und doch war dieſe Haushaltung vor ihrem Ungluͤck eine der ſchlechteſten und leichtſinnigſten im Dorf; aber ſeither laͤßt ſich weder die Mutter noch eins der Geſchwi— ſterten faſt vor keinem Menſchen mehr ſehen. Sie brin— gen mir ihr Garn, damit ſie niemand ſehe, immer zwi— ſchen Feuer und Licht und an Tagen, wo mir ſonſt nie— mand Garn bringt.

Dieſe Aeuſſerung erregte allgemeine Ruͤhrung und Auf— merkſamteit. Man wunderte ſich im Anfang der Vor— zuͤglichkeit dieſer unglücklichen Haushaltungen; aber bald vereinigte ſich alles mit der Aeuſſerung des Pfarrers, die er alſo ausdruͤckte: dieſe Haushaltungen ſind durch das Ungluͤck, das ſie getroffen, allerſeits dahin gebracht worden, daß ſie Jahre lang in herzzerſchneidenden Gefuͤhlen lebten, und von Kraͤnkung, Betruͤbniß und Sorgen ſo ſtark und fo tief litten, daß ſich faſt nothwendig in ihrem Innerſten ein heiliger Ernst entfalten mußte, der nicht anders als dahin wirten konnte, die Schwachheilsgeluſte der Thor—

96

heit dieſer Welt und ihrer Sinnlichkeit maͤchtig ſtill zu ſtellen, und hingegen die hoͤhern Kraͤfte der Anſtrengung, der Selbſtuͤberwindung und mit ihnen den Segen und die Unſchuld eines ſelbſtſuchtloſern, beſſern Lebens zu er— zeugen.

In dem Augenblick dieſer Aeuſſerung ſchlug Gertrud ihre Augen nieder und eine Thraͤne floß uͤber ihre Wan⸗ gen. Gluͤlphi bemerkte ſie, nahm ihre Hand und ſagte zu ihr: liebe Gertrud, du denkſt in dieſem Augenblick an das Ungläck, in dem du ſelber gelebt.

Sie erwiederte: wie konnte ich anders? Ich war eine lange Reihe von Jahren in Lagen, in denen ich das aͤu— ßerſte Elend, in welches dieſe Haushaltungen verſunken, eben wie ſie gefahrte, und ich kann nicht anders als mir ſelber geſtehen, ich danke die wenige Kraft, die ich hatte, meiner Haushaltung unter dieſen Umſtaͤnden zu ſeyn, was ich ihr ſeyn ſollte, dem Drang dieſer Tage und den Lei— den und Sorgen, die ich taͤglich hatte, bis uns Arner

Huͤlfe ſchaffte.

97

J. 21.

Die Zeitabſchwaͤchung unſrer, durch Sinnlichkeit verdorbenen, Einbildungskraft im Zuſammen⸗ hang mit unſrer Neigung zur Gemaͤchlichkeit des Lebens, zum Bilderdienſt, zum Sektegeiſt und den damit innig verbundenen Fehlern des Mißtrauens und der Verlaͤumdungsſucht; eben ſo der Zuſammenhang des Zeituͤbels unſrer Nervenſchwaͤche mit ſchwaͤcherer oder ſtaͤrkerer Theilnahme an dem Luxusverderben unſrer Zeit und der großen Steigerung des Lumpenlebens, in welches die größere Mehr⸗ heit unſers Volks bis auf die niederſten Doͤr— fer hinab in ihrer haͤuslichen und buͤrgerlichen Abſchwaͤchung verſunken ſind. |

Gluͤlphi und Gertrud ſagten ſich die paar Worte, die ſie eben redten, mit einer Sorgfalt und Stille, daß ſie niemand anderer hoͤrte, und die Unterredung lenkte ſich ſogleich wieder allgemein auf die Nachforſchungen, was fuͤr Haushaltungen im Dorf ſeyen, von denen man ſich am meiſten Hoffnung machen duͤrfe, daß ſie vorzuͤglich und leichter als die anderen in das Gleis eines beſſern häuslichen Lebens einzulenken ſehen. Bey dieſer Nachfor— ſchung nahm jetzt der Pfarrer das Wort und ſagte: auch von des Pfarrers Flieginhimmel Anhaͤngen ſind viele ſehr

Peſtalozzi's Werke. IV. 7

98

eingezogen und ſtill; aber ihr Mißtrauen gegen jedermann, der nicht ganz wie ſie denkt, und das Woͤrtliche und ſinn— lich Belebte ihrer Bethanſichten und Religionsausdruͤcke nicht ganz mit ihnen theilt und vollig wie fie ausſpricht, ſchließt ihr Herz vor ſehr vielen Menſchen zu, die ihre Religion Geiſt-Herzens- und Ausuͤbungshalber kraftvol— ler, gediegener und probhaͤltiger in ſich ſelbſt tragen.

Der Baumwollenmeyer bemerkte hieruͤber, das Haupt— übel, das einige von dieſen Aahaͤngern des alten Pfarrers von andern Leuten trenne, liege nicht ſo ſehr in ihren Meinungen als in ihrer Neigung zur Bequemlichkeit.

Der Pfarrer fand dieſe Bemerkung ganz richtig und Außerte ſich darüber beſtimmt: die Sucht zur Bequemlich— keit und Traͤgheit, die er unter den Anhaͤngern dieſes Mannes allgemein angetroffen, hange innig mit den Ver— irrungen der Einbildungskraft zuſammen, welchen der religiofe Bilderdienſt fo leicht veranlaßt. Er ſagte: fie kaufen ſich, da ſie in unſerm Dorf reformirt ſind, freylich keine geſtochne und gemahlte Bilder, aber fie tragen alle religidſe Anſichten, die ſich bildlich denken laſſen, ſo ver⸗ haͤrtet in ihrer Einbildungskraft in ſich ſelbſt herum, daß ihr Seelenzuſtand in dieſer Ruͤckſicht viel ſchlimmer ſey als derjenige von Leuten, die geßſochene und gemahlte Bilder nur in die Haͤnde nehmen und vor Augen halten, indeſſen dieſe ſie, eben weil ſie ihre Anſichten an nichts Aeuſſerliches knuͤpfen, das Verderben ihrer Einbildungs— kraft dadurch weit höher treiben als die andern und ſich dadurch auch weit ſtaͤrker abſchwaͤchen. Ihre allgemeine Neigung zur Bequemlichkeit ſey eine unzweideutige und

99 offenbare Folge dieſer innern Abſchwaͤchung der Kräfte ih— res Geiſtes, ihres Herzens und ihrer Hand, die durch das zum Aberglauben und zu einer Art von Abgoͤtterey hin— führende Imaginationsſpiel, das fie in dieſer Stimmung mit dem Hoͤchſten und Heiligſten treiben, erzeugt werden. Dieſes Spiel aber habe ſeiner Natur nach das Gleichge— wicht der menſchlichen Kraͤfte und zwar zu Gunſten der Traumſucht gegen die Eindruͤcke der Realitaͤt ganz auf, und koͤnne nicht anders, als bey der groͤßeren Menge der ſchwaͤchern Menſchen zu einer ſittlichen, geiſtigen und phy— ſiſchen Indolenz hinfuͤhren, muͤſſe aber zugleich eine Menge Menſchen von mittlern Kräften zu einem Sinn eines bö- ſen Maulbrauchenden Intrigirens fuͤr ihre Meinungen hinlenken, und endlich diejenigen von ausgezeichneten hoͤ— bern Kräften zu einer fanatiſchen Anſtrengung hinfuͤhren, in welcher ſie ſich ſelbſt und alles in der Welt dem Traum⸗ bild ihres Imaginationsſpiels und ihrer daraus herfließen— den Meinungen und Anſichten mit der groͤßten Herzloſigkeit und Gewaltthaͤtigteit aufzuopfern in den Stand kommen. In unſern Dörfern, ſetzte der gute Pfarrer hinzu, hat dies ſes fromme Imaginationsſpiel, das mein Vorfahr zu uns gebracht, nur auf einige ſchwaͤchere Menſchen und zwar meiſtens weiblichen Geſchlechts eigentlich tief eingegriffen, und ich kenne auch nur den Hartknopf, der ſich zum Gluͤck aber auf eine ſehr dumme Art zum Intriganten dieſer Meinungen erhoben; zum hoͤhern und weit greifend gefaͤhrlichen Fanatismus iſt es bey uns gar nicht gerom— men. Auffallend hingegen, ſetzte er hinzu, iſt es, wie die ſchwachen Anhänger, die dieſer Mann uns hinterlaſſen,

100

die wirkliche Thatkraft zu allem Edeln und Guten in ſich ſelbſt abgeſchwaͤcht haben. Er fuhr dann fort und ſagte: ehe dieſer Pfarrer in unſer Dorf kam, war daſſelbe, nach dem Zeugniß der aͤlteſten Maͤnner, ein frommes, braves, arbeitſames Dorf, ohne daß man dabey viel Wortweſens über Religion und Religions ⸗Gegenſtaͤnde machte, aber ſeitdem habe das Traͤumen und Schwatzen uͤber die Re— ligion und Religionsmeinungen dem kraftvollen, alten Sinn der Religion und dem mit ihm innig verbundenen eben fo kraftvollen, alten Pflichtleben des Volks im hoͤch— ſten Grad Schaden und Nachtheil gebracht und hingegen die Vorſchritte des Unglaubens und des Lumpenlebens, das unter dem Hummel Mode geworden, ſehr aufgeholfen. Die Leute, ſagte er ferner, die Anhaͤnger der Meinungen dieſes alten Pfarrers geblieben, ſeyen zwar auch jetzo noch ſoviel als gutmuͤthige Menſchen, die durchaus nichts Gu— tem eigentlich abgeneigt ſeyen, aber ihre Schwaͤche mache ſie gegen alles und gegen alle guten Menſchen, die nicht in der Modefarb und in der Modeform ihres eignen Gu— ten vor ihnen erſcheinen, mißtrauiſch und ihre Schwaͤche gebe ihm nicht eine ſtille, aber belebte Neigung zum Ver— leumden, und eine boͤſe ſplitterrichterliche Zunge gegen al— les Gute, das nicht ihre Form habe, und bringe ſie dahin, ihr diesfaͤllige Urtheile bey allem Schein von Demuth mit großer Härte als wirklich ein Verdammungs-Urtheil aus- zuſprechen.

Er ſagte noch beſonders in Ruͤckſicht auf ihre Neigung zur Bequemlichkeit, daß ſie, wenn ſie durch die Folgen derſelben in Noth und unbequeme Lagen gerathen, die Ge—

101

muͤthsruhe, die ſie, ſo lange ſie ſich bequemlich pflegen koͤnnen, als einen Beweis einer goͤttlichen, innern Seelen— ruhe an ſich ruͤhmen, ſich in ihnen ſchnell verwirre und dagegen eine Schwachheitsunruhe eintrete, die ohne ihres— gleichen iſt und ſich bey gemeinen Chriſten, die ohne ſol— che hohe Religionsauszeichnungen und Vereinigungen le— ben, nicht ſtatt haben. Es war niemand am Tiſch, der uͤber dieſen Schwachheitszuſtand der Anhaͤnger dieſes Pfar— rers nicht auffallende Veiſpiele wußte. Der Pfarrer brachte beſonders das von der kranken Kienaſtin an, die bey ihrer unzweideutig ausgezeichneten Herzensguͤte durch das Spiel der Einbildungskraft, in der ſie ihre Religions-Anſichten und Meinungen in ſich ſelber ſtaunend und traͤumend her— umtrug, durch einen großen Theil ihres Lebens ungluͤcklich geworden, aber zuletzt am End ihrer Tage, das wahrſchein— lich nahe ſey, dahin gekommen, das Ungluͤck ihrer diesfaͤlli⸗ gen Verirrungen und Irrthuͤmer einzuſehen und zu bereuen. Der Pfarrer ſetzte, nachdem er eine Weile von dieſer Frau geredet, noch hinzu: ſowie ſie, ſeyen auch die meiſten An— haͤnger dieſes ſeines Vorgaͤngers im Grund ihres Herzens innerlich wohlgemeint, und er hoffe, wenn einſt die Schu— len dieſen Leuten die innere kraftvolle Handbiethung, die ſie zu erziehen ſuchen, geben werden, ſo werde ſich auch ihre Neigung zu einem uͤberwaͤgenden Spielwerk ihrer Imagi— nationskraft und in der Folge auch diejenigen zu ihrer Be— quemlichkeit, allmaͤlig verlieren.

Je mehr die Herren in's Umſtaͤndliche ihrer Nachforſchun— gen eindrangen, deſtomehr fanden ſie Haushaltungen in ih— rem Dorf, von denen ſie Hoffnung haben durften, man

102 /

werde Ihnen auf diefe oder jene Weiſe zu ihrer Beſſerung naͤher kommen koͤnnen; ſie fanden ſogar, daß auch in den Haushaltungen von einigen reichen, alten Bauern, die aber unter dem alten Lumpenleben von den Dorfmatadoren als Eſel und Kuhbauern verſchrien und hintenangeſetzt worden, noch gar viel Gutes vom alten Leben des Dorfs uͤbrig ge— blieben, und von denen der Baumwollenmeyer und feine Schweſter behauptete, ſie ſeyen nur unwiſſend, aber nichts weniger als kraftlos und ungeſchickt, und desnahen gar wohl aus ihrer Beſchraͤnkung, in der ſie mehr aus Furcht vor dem Boͤſen der neuen Zeit, als aus eigner Kraftlofig- keit ſtehen geblieben, heraus und in ein beſſeres Gleis zu bringen. So lang beſchaͤftigten ſie ſich uͤber die erſte Frage.

b. 22. Auch in dieſer Lage gibt der Bibelſpruch Licht: „wer da ſucht, der findet, und wer da an— klopft, dem wird aufgethan werden.“

In Nuͤckſicht auf die zweyte Frage: was für Menſchen im Dorf willig und faͤhig ſeyn moͤchten, ihnen zu dem, was ſie zu erzielen ſuchten, Hand zu bieten? ſchienen die Herrn im Anfang wenig Hoffnung zu haben, und ſelber der Junker und der Pfarrer meynten, ſie faͤnden im Dorf nicht die Hülfe, die fie dazu noͤthig hätten; das Mareili hingegen

I

103

Aufferte ſich, es meyne, die Herren haben dafür Mittel, wie vielleicht kein Dorf in der Welt. Diefe aber wußten eigent— lich nicht, was es meynte, und frugen es ſaͤmmtlich: wie es das verſtehe? Es erwiederte lachend: ihr Herrn! findet doch ein jeder Lumpenwirth, der es dahin bringt, daß der Dorfvogt, der Weibel und die Richter im Dorf viel bey ihm zuſprechen und ihm in jedem Fall, wo es etwas ein— traͤgt, das Wort reden, in allen Gaſſen Leute, die alles thun, was ſie nur koͤnnen, um ſein Wirthshaus in Aufnahme zu bringen, wie ſollte es denn euch, ihr Herren! an Mit— teln zu Erreichung eurer guten Zwecke fuͤr unſer Dorf fehlen koͤnnen? i

Der Junker fand dieſe Vergleichung gar ſonderbar und ſagte zwar lachend, aber doch nicht mit dem Anſchein der voͤlligen Billigung, zum Mareili: wie kommſt du dahin, unſere Beſtrebungen, euerm Dorf aufzuhelfen, mit den Beſtrebungen eines ſolchen Lumpenwirths zu vergleichen, und uns faſt zu winken, als ob die Mittel, die wir fuͤr unſere Zwecke in unſerer Gewalt haben und brauchen ſol— len, die nehmlichen, oder doch wenigſtens denen aͤhnlich ſeyen, die ein ſolcher Mann fuͤr die ſeinigen hat und braucht?

Das Mareili ſchuͤttelte uͤber dieſe Bemerkung nur den Kopf und ſagte: die Herren glauben ganz gewiß nicht, daß es das, was es geſagt hat, alſo verſtanden habe. Dieſe aber drangen fortwährend und Arner jetzt halblaͤ— chelnd darauf, es ſolle doch ſagen, was es eigentlich mit ſeiner Bemerkung denn meyne. Endlich ſagte es: wenn es eben ſeyn muß, ſo will ich ſagen, wie ichs denke. Ich meyne, wenn in einem Dorf der Junker, der Pfarrer und

104

der Schulmeifter, die ſaͤmmtlich Leute wie Sie find, zu— ſammenſtehen, um einem Dorf aufzuhelfen, fo haben fie dafuͤr mehr Mittel in ſich ſelbſt, als ſieben ſolche Wirthe in den Dorfvögten und Vorgeſetzten, die ihnen für ihre Zwecke beyſtehen.

Daran habe ich nicht gedacht, ſagte jetzt der Junker, daß du uns mit deiner Vergleichung ſo viele Ehre erwei— ſen wolleſt, weil du es aber ſo meynſt, ſo muß ich dir antworten, wenn wir bey allen Mitteln, die wir, wie du ſagſt, mehr in uns ſelbſt haben, als ſieben ſolche Wirthe, dich, deinen Bruder und dieſe zwo Frauen nicht an der Hand hätten, fo würden wir mit allem unſerm guten Willen ſo viel als nichts in euerm Dorf ausrichten koͤn— nen, und denn muß ich leider noch hinzuſetzen, wenn wir das ganze Dorf auslaufen wuͤrden, ſo wuͤrden wir doch keinen zweyten Baumwollenmeyer, kein zweytes Mareili, keine zweyte Gertrud und auch keine zweyte Reinoldin finden.

Aber weder der Meyer noch die Weiber wollten Leute ſeyn, deren Gleichen man im Dorf keine andere finden ſollte. Das Baumwollenmareili ſagte ſogar: b'huͤt uns Gott davor, daß wir vergleichen Leute ſeyen. Es iſt kein Menſch in der Welt ſo brav, daß man nicht noch einen brävern findet, wenn man ihn recht ſucht.

Alles lachte jetzt über des Mareili's eifriges „b'huͤt uns Gott davor, daß wir die braͤbſten im Dorf oder gar allein darin brav ſeyn ſollten,“ und Gluͤlphi ſagte: bravo, bravo, Mareili! es muß nie Jemand der braͤpſte ſeyn wollen; es muß auch niemand mehr ſeyn wollen als er

105

iſt, und mehr haben wollen, als er hat. So wollen wirs jetzt auch machen. Das Mareili verſtand ihn nicht, aber blickte nur mit ſeinen großen Augen ſo gegen ihn hin, daß man deutlich ſah, es haͤtte gern, daß er noch mehr ſagte. Der Junker aber fragte beſtimmt: was er damit menne, fie wollen es auch fo machen. Er erwie— derte: Wir haben nur einen Junker und einen Pfarrer, und es kommt keinem Menſchen von uns ein Sinn daran, einen zweyten Junker oder einen zweyten Pfarrer zu wuͤn— ſchen, und ſo wollen wir jetzt auch mit einem Meyer, mit einem Mareili und mit einer Gertrud genug haben, und fuͤr einmal von dieſen lieben Leuten allen keinen zwey— ten weder wuͤnſchen noch ſuchen.

Das Mareili und die Gertrud ſchlugen die Augen nie— der und ſchwiegen jetzt ganz ſtill; die Reinoldin aber ſagte muthvoll und jugendlich freudig: es ſoll an uns nicht feh— len; wir wollen helfen wo wir koͤnnen und moͤgen. Mit dem ſtand ſie auf, both dem Mareili und der Ger— trud die Hand, und ſagte: ich bin jung, aber ich traue auf euch und will euch folgen in allem, was ihr mir, diesfalls rathet. Auch der Meyer aͤuſſerte ſich beſtimmt: wills Gott, richten wir mehr aus, als wir jetzt ſelber glau— ben, es iſt ein ſeltener Fall, daß ein Dorf die Huͤlfe fin— det, die wir uns von euch, ihr Herren! verſprechen duͤrfen.

Wenns nur auch nicht ſo gar ſchlimm in unſerm Dorf ausſaͤhe, ſagte jetzt noch der Junker. Auch der Gluͤlphi erwiederte: es iſt wahr, es ſieht im Dorf ſo ſchlimm aus, daß, wenn man ihm ein wenig nachſinnt, einem der Muth in dem, was wir vorhaben, voͤllig entfallen koͤnnte. Und

106

fie konnten ih nicht enthalten, ihr Vorhaben noch eine Weile in dieſem Sorge erregenden Geſichtspunkte ins Aug zu faſſen, und der Junker ſagte noch: wenn ich mir das Dorf, fo wie es unter der Linde vor mir ſtand, vor Aus gen ſtelle, ſo iſt es mir allemal, die Hoffnung, wir wer— den das, was wir ſuchen, ausrichten, verſchwinde aus mei— ner Seele, und es faͤllt mir bey aller Huͤlfe, die ich weiß, daß wir von euch haben werden, doch ſchwer zu glauben, daß wir dem Vorhaben gewachſen ſeyen.

Alles war einſtimmig, die Ausfuͤhrung ihres Vorha— bens ſey aͤuſſerſt ſchwierig. Arner aͤußerte ſich ſogar in einem wiederkommenden mißmuthigen Augenblick, ob es nicht der Fall fen, daß man das Dorf, wenigſtens in Ruͤckſicht auf die Alten, beynahe fuͤr unverbeſſerlich halten muͤſſe? dem widerſprach jetzt Glälphi mit Lebhaftigkeit. Auch der Baumwollenmeger und ſeine Schweſter wider— ſprachen dieſer Anſicht und ſagten, man muͤſſe in der Welt keinen einzigen Menſchen, geſchweige ein ganzes Dorf, fuͤr unverbeſſ erlich halten.

Gertrud, deren ſtiller Muth ſich immer gleich bleibt, nahm das Wort und ſagte: nein, nein, unverbeſſerlich iſt der Menſch nie; die Kraͤfte ſeines Geiſts, ſeines Herzens und feiner Hand koͤnnen beym Lumpenleben eines Dorfs wohl lahm und wenn ihr wollt, ausſaͤtzig werden, aber des Menſchen Herz und des Menſchen Kopf, wenn es ſchon, ich moͤchte ſagen, in Hirn und Bruſt durch Um— ſtaͤnde halb in Faͤulniß gebracht werden kann, ſtirbt doch nie ganz in ihm aus. Der Menſch kann freylich eine Weile ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Vernunft und oh—

107

ne Ihätigfeit leben, aber die Kraft feines Glaubens, die Kraft ſeiner Liebe, die Kraft ſeiner Vernunft und ſeiner Thätigkeit ſtirbt doch nicht ganz in ihm aus, und wenn das bey einem eiazelnen Menſchen wahr iſt, fo iſt es noch weit mehr bey einem ganzen Dorfe wahr. Sie ſetzte hin— zu: wenn man nur von oben herab recht an das Gute, das im Menſchenherz iſt, anklopft, ſo oͤffnet es ſich gewiß. Dieſer Anſicht widerſprach jetzt niemand, und es ver— einigte ſich alles in der Meinung, es komme gar nicht dar— auf an, daß ſie im Anfang viele Leute faͤnden, die ſich mit ihnen zu ihren Zwecken vereinigten, wohl aber, daß man es von gben herab wohl verſtehe, die zu ſuchen, die in jedem Fall fuͤr das, was man nothwendig hat, die rech— ten ſind. Und der Lieutenant ſagte jetzt noch ſelber: es iſt ſogar gut, daß jetzt unſrer, in Ruͤckſicht auf unſere Zwecke, nicht zu viel ſeyen; es iſt ein altes und ein wahres Sprich— wort: „wo viele Hirten ſind, da wird nicht wohl gehuͤ— tet.“ Er ſetzte noch hinzu: das iſt gewiß, es koͤnnte fuͤr unſere Zwecke nicht verderblicher ſeyn, als wenn ſogar die Waſchweiber beym Brunnen und die Maulbraucher in Wirthshaͤuſern zuſammenſtuͤnden und ſich erzählen wuͤr⸗ den, wie ſie dem Junker an die Hand gehen wollen, ſein verlumptes Dorf in Ordnung zu bringen. Alle und ſelber auch der Junker fuͤhlten ſich fuͤr ihre Zwecke wieder etwas muthvoller als vor einigen Augen— blicken, und redten jetzt mit mehr Unbefangenheit von den Schwierigkeiten und dem ſtarken Widerſtand, der ihnen bei ihrem Vorhaben von verſchiedenen Seiten aufſtoßen wuͤrde. Das Baumwollenmareili ſagte: das Dorf mache

8 8 108 ſich die wunderbarlichſten Vorſtellungen von dem, was der Lieutenant mit ſeiner Schule und der Junker mit dem Dorf anfangen wolle. Die Reinoldin ſagte: in ihrer Nachbarſchaft fuͤrchten die Leute, der Schulmeiſter werde die Bettelbuben mit den Narrheiten, die er ſie lehren wer— de, fo hoffaͤrtig machen, als nie kein Bauernbub' ob dem größten Stall voll Stiere und Kühe hoffaͤrtig werden koͤnne.

Ja, fagte der Pfarrer, mein Klaus hat mir dieſen Mor— gen auch erzaͤhlt, der Sigriſt habe geſtern zu ihm geſagt, wenn der adeliche und wohlgebohrne Herr Lieutenant ein halb Jahr lang bey ihnen Schulmeiſter ſeyn werde, ſo koͤnne denn der Junker und der Pfarrer darauf zahlen, die Bona⸗ lerbuben werden vor ihnen keinen Huth mehr abziehen und keinen Scharrfuß machen, wie fie es bisher gethan. Der gute Sigriſt habe noch hinzugeſetzt: das ſey vor altem doch ſo ſchoͤn geweſen und der alte Junker und der alte Pfarrer haben es ſo gern geſehen.

Es lachte zwar alles uͤber das Hutabziehen und den Scharrfuß, den der alte Junker und der alte Pfarrer ſo gern geſehen, aber der Baummollenmeyer ſagte, wenn es nur beg ſolchen Sigriſtenklagen uͤber das Hutabziehen und den Scharrfuß machen, bleiben wuͤrde, aber er fuͤrchte weit andere Auftritte, die der Neid und die Niedertraͤchtigkeit ei— niger Menſchen im Dorf gegen alles Gute, was ſie verſu— chen moͤchten, hervorbringen werde.

Ach wie doch die Menſchen bis zur Verworfenheit niedertraͤchtig und ſchlecht ſind, ſagte jetzt wieder der Junker. Aber Gluͤlphi, vom Wort der Gertrud geſtaͤrkt, antwortete ihm mit ernſter Faſſung: das iſt nur in großer Beſchraͤnkung

109 wahr. Eigentlich darf man doch gar nie ſagen: der Menſch ſey niedertraͤchtig und verworfen, man darf nur ſagen: die Menſchen, die durch Verwahrloſung, Sinnlichkeitsuͤberfuͤl— lung und Verkuͤnſtelung außer die Kraft und das Rechts— gefuͤhl der Menſchennatur hinausgeworfen worden, nur dieſe ſind eigentlich niedertraͤchtig und verworfen.

Er hatte das Wort kaum ausgeſprochen, ſo erſchallte gleichſam wie aus einer Stimme: ja, es iſt wahr, die Menſchen ſinken nur durch Verwahrloſung, Ueberfuͤllung und Verkünſtelung zur Niedertraͤchtigkeit und Verworfen⸗ heit hinab. Dann aber erkannten ſie auch eben ſo allge— mein, die Verwahrloſung der groͤßern Menge der Menſch— heit auf der einen Seite und die ſinnliche Ueberfuͤllung und Verkuͤnſtelung der andern habe in unſerer Zeit eine Hoͤhe erreicht, die vielleicht, ſo lange die Welt ſteht, nie ſo groß geweſen, und redten noch eine Weile von der Hoͤhe dieſer Verworfenheit und Niedertraͤchtigkeit, die ſie in ih— ren Beſtrebungen eigentlich zu fuͤrchten haben, und fanden dabey doch denn allgemein, unter dem aͤrmern und arbei= tenden Volk gebe es dennoch wenig Menſchen, die man eigentlich mit dem Namen niedertraͤchtig und verworfen bezeichnen duͤrfe, und der Meyer und Gluͤlphi, die beyde große und weitfuͤhrende Lebenserfahrungen gemacht haben, ſagten einſtimmig: Menſchen, die man ſoweit als ſchlecht bezeichnen duͤrfe, haben ſie wenige unter denen gefunden, die außer ihrer Wohnſtube nichts zu befehlen haben, außer bey ſolchen, die von Leuten, die zur Verworfenheit ver— ſunken, zu ihren Niedertraͤchtigkeitsſtreichen, an die Hand gedungen und verfuͤhrt worden. Aber leider giebt es unter

110

einem tief verſunkenen Volk, ſagte dann der Lieutenant, freylich in allen Winklen Hungerleider, die nach den Bro— ſamen ſchnappen, die die verworfenſten Menſchen oft von den Tiſchen ihrer Niedrigteit fallen laſſen.

. 23. Armſeligkeit, Schwachheit und Heurathsintriguen.

So oft der Junker die Gertrud ſah', fragte er denn immer dem Huͤbelrudi nach, und wie es ihm mit der Meye— rin gehe. Auch dießmal fragte er mit Angelegenheit dar— nach. Gertrud erwiederte, wie das letztemal, ſie koͤnne eigentlich nichts ſagen, die Meyerinn erklaͤre ſich nicht be— ſtimmt daruͤber, daß aber die Voͤgtin faſt im Sinn habe, allem aufzubiethen, was ihr immer moͤglich, damit aus dieſer Heyrath nichts werde, daran zweifle ſie keinen Au— genblick; ihr boͤſer Wille daruͤber ſehe ihr zu den Augen hinaus, wenn man ſie nur anſehe.

Der Junker ſagte: geſchehe in Gottes Namen daruͤber was wolle, aber es macht mich allemal verdrießlich, wenn ich daran denke, wie ſich der Vogt in dieſer Sache gegen mich benommen.

Dieſer ſaß in dieſem Augenblick bey einem Glas Wein bey ſeiner Frau in der Stube, die dieſen Morgen auch in der Kirche geweſen und ſeit dem Mittageſſen ein Wei

111

tes und Breites darob machte, was doch der Junker und der Pfarrer mit dieſem Exerziermeiſter, den er zu ihrem Schulmeiſter gemacht, anfangen wolle.

Der Vogt troͤſtete ſich daruͤber mit dem Wort: Gott— lob, daß das Schulweſen eine Sache iſt, die nicht vor Audienz kommt. Ich verſtehe gar nichts davon, und wuß— te nicht, was ich dazu ſagen mußte.

Voͤgtin. Ich glaube bald, du wuͤnſcheſt, daß gar nichts von Audienz komme, damit du uͤber gar nichts deine Meinung ſagen muͤßeſt. h

Vogt. Du haft faft recht. Die Audienzſtube iſt mir verleidet wie kaltes Kraut, und es macht mir Mühe, wenn ich darum uͤber irgend etwas das Maul aufthun muß.

Frau. Wenn du nur auch auſſer der Audienzfiube dein Maul uͤber nichts wie ein Narr aufthun und nicht dummes Zeug ſchwatzen wuͤrdeſt, wie du letzthin beym Junker deiner Schweſter halber gethan haſt.

Ja, erwiederte der Untervogt, du mahneſt mich eben recht daran, ich habe heute den Junker noch keinen Au— genblick geſehen, und ich darf nicht anders, ich muß dieſen Abend noch zu ihm.

Frau. Thue doch etwas Geſcheiders, das iſt gar nicht nothwendig. |

Vogt. Doch, doch, ich darf nicht anders; er koͤnnte meynen, was dahinter ſtecke, daß ich nicht zu ihm komme.

Frau. Mepne er was er wolle, bleib du jetzt ordent— lich zu Haus; du koͤnnteſt ihm noch einmal verſprechen, du wolleſt das Deinige dazu beptragen, daß der Bettel— rudi deine Schweſter zur Frau bekomme.

112

Vogt. Ich hab' ihm das nie verſprochen.

Frau. Sag' das nicht. Du haſt es vielleicht nicht im Sinn gehabt zu halten, das traue ich dir noch zu, aber verſprochen haſt du es ſicher.

Vogt. Ah deine Schweſter bekommt, wie es ſcheint, den Ochſenfeißt doch nicht.

Die Urſache aber, warum der Vogt dieſes ſagte, iſt folgende: der Ochſenfeißt, dem die Untervoͤgtin ihre Schwaͤ⸗ gerinn zugedacht, hatte vor ein paar Tagen vernommen, daß der Bettelbub, der Huͤbelrude, ſich um ſie bewerbe, daß das ganze Dorf von dieſem Gerede voll ſey. Als er das vernahm, ſtand er eben unter feiner Hausthuͤre. Er blieb, da er das hoͤrte, wohl eine Viertelſtunde unter der Thuͤre ſtehen und hatte das Maul vor Verwunderung offen; denn er konnte nicht begreifen, daß ein Menſch, dem er mehr als einmal, wenn er in ſeinem Dorf gemetzget, etwas Abgehendes zum Allmoſen gegeben, ihm Heurathens— halber in den Weg kommen konne. Als ihm aber end— lich das Maul wieder zufiel, wurde er ſo wild, daß er eine Weile nicht wußte, was er machte und ſich, damit er wieder zu ſich ſelber komme, zum Eſſen und Trinken hinter den Tiſch ſetzen mußte. Dadurch brachte er ſich wieder ſo weit zu ſich ſelber, daß er zu dem Schulmeiſter gehen und ihm dann folgenden nachdruͤcklichen Brief an die Untervoͤgtin angeben koͤnnte.

Herzvielgeliebte Frau Bas Voͤgtin!

Ich muß mich ſchaͤmen wie ein Hund, und moͤchte wild werden vor Zorn, was über euere Gſchwey (Schwaͤ—

115

gerin) hier ein Gerede geht. Die ganze Kilchhoͤre (Ort) weißt, daß ich ein Aug auf ſie habe; ihr ſeyd allein Schuld daran, ſonſt kein Menſch. Ich wäre ſchon laͤngſt verſor⸗ get, wenn ihr mich nicht mit ihr aufgehalten haͤttet, und ich will wenig ſagen, zehen und zwanzig Meitli, die eben ſo huͤbſch und noch huͤbſcher und mit dem Geld denn ganz anderfi beſtellt find als dieſe, würden die Finger nach mir lecken, wenn ich nur ja ſagte; und ich weiß gar nicht, was dieſe ſich einbildet und was ſie meint, daß ſie beſonders habe, und warum ich leiden ſollte, daß ſie mich aufzieht; und ich werde mich keinen Augenblick beſinnen, ſie hocken (ſitzen) zu laſſen, wie fie hockt, inſonderheit auf das hin, was man mir jetzt von ihr erzaͤhlt, und nur allein euch zu gefallen, weil ihr es ſo gern hättet und chon fo viel Mühe damit gehabt habet, will ich doch nicht voͤllig von ihr ab— ſtehen, und glauben, wenn es ſchon nicht zu glauben iſt, es ſey nicht wahr, was man von ihr erzaͤhlt. Aber lang will ich das doch nicht mehr ſo haben, und ihr koͤnnt es ihr nur ſagen, wenn ſie dieſes wollen oder es mit dem Bettel⸗ buben ſey wie man redet, daß ſie ihn neben mich ſielle, ſo ſoll fie meiner nur kein Acht mehr nehmen.

Dieſes habe ich nicht unterlaſſen koͤnnen euch zu ſchrei— ben. Womit, in den Schirm Gottes wohl befohlen, ver⸗ bleibe.

Herzvielgeliebte Frau Bas Untervögtin! Euer geireuer Vetter: f Hans Ulrich Ochſenfeißt, Metzger und Sonnenwirth.

Peſtalozzi's Werke. IV. 8

114

Auf dieſen Brief hie ift es, wie ich fagte, daß der Un tervogt glaubte, es fen mit dem Ochſenfeißt feiner Schweſter halber am Ende, er werde ſie nicht mehr nehmen. Seine Frau aber war nicht dieſer Meinung, und da ihr Mann ihr jetzt ſagte: er glaube, es koͤnne nicht mehr viel ſchaden, was er auch jetzt uͤber dieſe Sache dem Junker ſagen moͤchte, antwortete ſie: erſt wenn ſich Schwierigkeiten in einer Sa⸗ che zeigen, muͤſſe man anfangen, recht Sorg zu tragen, daß fie nicht fehle, dieſer Brief fey noch gar nicht das End alles Widerſprechens und es ſey uͤber dieſe Sache bey weitem noch nicht aller Tage Abend, ſie werden den Meiſter Ochſenfeißt wohl wieder einen andern Brief ſchreiben machen und wolle erſt jetzt recht anfangen, ſich alle Muͤhe zu geben, daß ihr die Sache nicht fehle.

Nun, nun, ich wuͤnſche dir Gluck dazu: aber ich muß jetzt gehen, ich muß nothwendig zum Junker.

Sie wollte ihn noch einmal abhalten, da ſie aber nicht konnte, wiederholte ſie ihm: So mach mir denn doch we— nigſtens in dieſer Sache nicht noch einmal einen Narrenſtreich, wie du mir ſchon einen gemacht haſt. Mit dem mußte ſie ihn gehen laſſen, und er kam faſt eben in dem Augenblick zum Junker, als dieſer dem Huͤbelrudi und der Meyerin bey der Gertrud nachgefragt und zu ihr geſagt, es mache ihn allemal verdruͤßlich, wenn er daran denke, wie ſich der Vogt dieſer Sache halber bey ihm benommen. Da er zum Jun— ker kam, fragte er ihn: was er zu befehlen habe? Der Jun— ker erwiederte: nichts, jetzt gar nichts und der Vogt wollte ſogleich wieder fortgehen und ſich, wie man ſagt, aus dem Staub machen, ehe der Junker noch zu einem

115

zweiten Wort kommen konnte. Aber dieſer verſtand es nicht fo und rief ihm nach: aber hör doch, da wir letzthin vom Huͤbelrudi und deiner Schwefier ſprachen, fagteft du mir, es ſoll dieſer Sache halber an dir nicht fehlen. Haſt du ihm jetzt bey ihr, wie du mir Hoffnung dazu gemacht, das Wort geredt? Der arme Mann erſchrack fu ſehr, daß er eine Weile nicht antworten konnte. Endlich brachte er doch her⸗ aus: gnaͤdiger Herr! verſchonen Sie mich doch in dieſer Sache. Ich kann darin nicht helfen. Wo ich mich diesfalls hinwende, habe ich nur Verdruß.

Junker. Haſt du dich etwa der Sache gar zu eif— rig angenommen, daß du ſo Verdruß davon haſt?

Vogt. Nein, nein, das nicht, das nicht.

Junker. Aber warum haſt du denn Verdruß davon?

Der Vogt wollte mit der Sprache nicht heraus. Aber der Junker fragte ihn mehreremale und ernſthaft bis er endlich ſagte: er habe ſowohl bey feiner Frauen als bey fei= ner Schweſter damit Verdruß gehabt.

Junker. Aber warum das?

Vogt. Eben weil ich zu Ihnen geſagt habe, es ſoll an mir nicht fehlen.

Junker. Da hat man dir denn ſehr Unrecht gethan. Ich ſah dirs im erſten Augenblick an, daß dir dabeh nicht Ernſt war; aber du haͤtteſt beſſer gethan, du hat teſt mi damals, wie jetzt, gerade heraus gejagt, du wolleſt und koͤnneſt dich der Sache nicht auneymen. Ich hätte dir auch in dieſem Fall gar nichts weiter zugemuthet.

Vogt. Es iſt wahr, es iſt wahr, gnäviger Herr! ich wollte ſelber, ich hätte damals dieſes gerade heraus gejugi?

5 116

Der Junker ſagte ihm noch zuletzt: du willſt es eben immer allen Leuten recht machen und damit machſt du es Ni mand recht und bringſt es mit dieſer Art, dich zu bes tragen, am End dahin, daß jedermann merkt, er duͤrfe auf ein Wort von dir nicht zählen.

Damit ließ er ihn gehen, und der arme Mann ſagte im Weggehen wieder zu ſich ſelber: waͤre ich doch nie Unter— vogt geworden; ich habe ſeit der Zeit mehr Verdruß und Sorgen als ſonſt in meinem ganzen Leben.

Der Geiſt iſts, der da lebendig macht, das Fleiſch iſt gar nichts nutz.

Als Arner und Thereſe verreist waren, gieng Gluͤlphi noch zu der Frau, die ſeit einigen Tagen in Ruͤckſicht auf die Schulfuͤhrung ſeine ganze Seele in ihrer Hand hatte.

So wie er in ihre Stube hineintrat, ſagte er zu ihr: jetzt morgen geht mein neues Amt an; aber es iſt mir, als betraͤte ich ohne einen Wegweiſer ein Land, in dem ich in meinem Leben nie geweſen.

Sie haben einen treuen und guten Wegweiſer fuͤr dieſes Land in ſich ſelbſt, erwiederte ihm Gertrud.

Ich fuͤhle mit jedem Tag und mit jeder Stunde mehr, daß ich fuͤr das, was ich morgen ſeyn ſoll, noch nichts

117

bin, ſo ſprach jetzt der Mann, deſſen Lebensmuth in als len andern Verhaͤltniſſen ſo groß und ſtark war. Gertrud, die ihn tief kannte und hoch achtete, antwortete ihm: wer in Ihrer Lage alſo von ſich ſelber redet, der fuͤhlt, was er darin bedarf, und wer das ſo wie Sie fuͤhlt, der hat dafuͤr ſicher mehr Kraͤfte, als er ſelbſt glaubt.

Gluͤlphi. Schmeichle mir nicht, Gertrud, hilf mir wo du kannſt. Du haft mein Inneres geſtaͤrkt und erhoben, ſtaͤrke auch meine aͤuſſere Kraft. Ich gehe an meine Schul⸗ meiſterarbeit, wie ein Lehrling an fein Handwerk geht, ohne daß er vorher ein Werkzeug dafur in feiner Hand gehabt.

Gertrud. Alle Berufe haben eine innere Kraft zu ihrem Fundament, und wer dieſe is ſich ſelbſt hat, dem wird es immer leicht, jedes aͤuſſere Werkzeug deſſelben, wenn er es auch ſchon noch nie in der Hand gehabt, wohl zu behandeln. Und mit dieſem Wort lenkte fie das Ge— ſpraͤch von den Schwierigkeiten des Schulweſens zu den Anſichten des hohen Segens und der großen Freuden die⸗ ſes Stands. Das Geſpraͤch erhielt ſich eine Weile auf dieſem erheiternden Geſichtspunkt. Dann aber fiel Gluͤl⸗ phi noch einmal mit dem Gedanken ein: wie ſehr ihm die weſentlichen Mittel zu dieſem Segen mangeln. Ger⸗ trud wiederholte ihr Wort: Sie haben die Kraͤfte zu die⸗ ſen Mitteln mehr als Sie glauben in ſich ſelbſt. Ohne ſeine Antwort zu erwarten, ſetzte ſie hinzu: gehen Sie doch nur mit Freuden in ihre Schule und denken Sie denn nicht an ſich ſelbſt, denken Sie denn nur an Ihre Kinder. Glauben Sie mir, ſetzte ſie hinzu, wenn Sie denn vom Morgen bis an den Abend das thun und mit

118

ihnen arbeiten, faſt ohne einen Augenblick zu haben, an ſich ſelber zu denten, ſo werden Sie fuͤr alles, was Sie ſeyn und werden ſollen, mehr Kraft in ſich ſelber ſpuͤren und darin weiter kommen, als wenn ſie vom Morgen bis an den Abend nichts thaͤten, als an ſich ſelber denken und nachſtaunen, was Ihnen darin mangie und was Sie diesfalls werden ſollten.

Sie, die Gepruͤfte, hielt ſich durch ihr Leben an dem in ihr tief gereiften Grundſatz, daß der Menſch in allen Verhaͤltniſſen, wenn er von dem, was er darin ſeyn und thun ſoll, das mit unablaͤßlichem Eifer und unermuͤ— deter Anſtrengung thut, was er darin wirklich ſchon kann und verſteht, dadurch auch das, was er darin noch nicht kann und nicht perfieht, und zwar auf die bejimöglichfte Art lernt und ſich einuͤbt. Gertrud hoher und durch das haͤusliche Leben gebildeter und erhaltener, religiofer Sinn war in ihr zu einer ianern, wortleeren Kraft gereift, die ſie ſtart und unermuͤdet machte in allem Wert des Herrn und in der Erfuͤllung jeder ihrer Pflichten. Und noch ein Wort, das fie ia dieſer Unterredung zu Gluͤlphi ſagte, iſt für jeden Menſchen, der den Gegennand der Erziehung in feinem innern Weſen erforſcht, ſehr wichtig. Sie ſagte nehmlich in der Lebhaftigeu dieſes, den Gluͤlphi aufmun— ternden, Geſpraͤchs: die Mutter oder der Schulmeiſter muß fuͤr das Kind nicht das ſeyn wollen, was er oder ſie ſich ſelbſt gern iſt, ſie muͤſſen ihm beyde auch nicht das geben wollen, was ſie juͤr ſich ſelbſt gern haben, und nicht das für ihn ſeyn wollen, was fie ſelber gern für daſ— ſelbe ſeyn. Ich darf z. Ex. mein Kind nicht kochen leh—

119

ren, weil ich ſelber gern koche, aber wenn mir das Ko⸗ chen auch die allerunangenehmſte Arbeit waͤre, die ich kennte, ſo muͤßte ich das Kind doch kochen lehren, weil es ihm nothwendig iſt, daß es kochen koͤnne.

Es war ſchon uber 10 Uhr, als er von der Gertrud weg ins Pfarrhaus heimgieng. Auf der Straße kam er vor ein paar Männern vorbey, die ihn kannten. Als fie ihn ſahen, verbargen ſie ſich hinter einen Holzſtoß, bey dem er vorbeygehen mußte und erhoben daſelbſt ein muth⸗ williges, lautes Gefpött über den Wunderthaͤter, den Schul- meiſter, den man ihnen jetzt aufſalzen wolle, daß es ihm zu Herzen gieng und auf den Eindruck, den der Gertrud ermunterndes Geſpraͤch auf ihn gehabt hat, in dieſem Au- genblick eine nachtheilige Wirkung hatte. 5

J. 25.

Die Unverſchaͤmtheit macht Menſchen dummes Zeug ſagen, die, wenn ſie das nicht waͤren, Anlagen genug hätten, das ganz klug ins Aug zu faß ſen, woruͤber ſie jezt dumm reden.

Und dieſes um ſo mehr, da der geſtrige Tag ſchon eine Art von fieberiſcher Wallung in ſeinem Gebluͤt erzeugt. Er hatte ſchon den ganzen Tag durch Kopfweh, und konnte nicht ſchlafen bis gegen den Morgen, da er denn

120

noch in einen harten, aber unruhigen und ermattenden‘ Schlaf fiel. Es traͤumte ihm noch in demſelben: er ſtehe zwiſchen einem ſchauerlichen Abgrund und einer unerfieige lichen Felswand. Als er erwachte, lag er ſo ſehr in ei— nem Schweiß, daß bald jedes Haar an ihm traufte und er konnte es ſich nicht verhehlen, er ſey nicht in einer gu— ten Stimmung fur den Tag, der ihm bevorjiehe, und als er das Fenster aufthat und das Wetter bey ſchauerlich kaltem Wild regneriſch fand, ſagte er auch: es ſteht am lieben Himmel heute ungefaͤhr wie in meiner Seele.

Er wollte jetzt, was ſonſt noch nicht ſo regelmäßig ſei⸗ ne Gewohnheit war, was ihm aber Gertrud ſo ſehr ans Herz legte, bethen und bethete wirklich; aber die innere, warme Erhebung, ohne die jedes Gebeth ein toͤnendes Erz iſt und eine klingende Schelle, dieſe hohe Erhebung fan) er nicht in einer innern Belebung in ſich ſelbſe, wie er ſie nothwendig hatte und wuͤnſchte. Er ſuchte ſie, aber er ſuchte ſie in Unruhe, und in dieſer findet ſich das Hohe und, Gotliche nicht rein. Der Herr Pfarrer und die Frau Pfarrerin fahen ihm, als er in die Stube zum Morgen⸗ trinken zu ihnen tam, die Unruhe an, in der er war, und wollten ihn ber yde in feine Schule begleiten. Aber er bath ſie, ihn dieſen erſten Schultag mit der Gertrud bey ſeinen Kindern allein zu laſſen. Er hatte dieſes geſtern auch Ar— ner und Thereſe, die ebenfalls dieſen Tag mit ihm in der Schule zubriagen wollten, gebethen. Mit Ruͤhrung gaben ihm jetzt der Pfarrer und die Frau Pfarrerinn, da er nun in die Schule gehen wollte, die Hand, wuͤnſchten ihm Gottes Segen zu siggem eren Lug. Aach er gieng mit

121

Ruͤhrung, aber nichts weniger als muthvoll und heiter in ſeine Schulſcube. Da er aber darein kam, fand er von den Matadoren und ihren Weibern faſt ein Dutzend der Unverſchaͤmteſten, die im Dorf waren, da ſtehen, die ihn ungefaͤhr fo gruͤßten, wie ein Meiſter ſeinen Geſeller gruͤßt, wean er zu ihm in die Stube, in ver er für ihn arbeitet, kommt. Sie ſagten ihm auch ſogleich und zwar wie wenn es fi) von ſelbſt vecſtuͤnde, daß fie das Recht dazu hät ten, fie ſeyen da, um heute feiner Schule beyzuwohnen und zu ſehen, was er Neues mit ihren Kindern vorneh— men werde. Aber er verfiand das nicht fo. Er antwortete ihnen: er verbethe ſich das, und wolle heute mit ihren Kindern allein ſeyn. Die Herren Matadoren und ihre Weiber machten daruͤber große Augen. Sie konnten gar nicht begreifen, wie ein Schulmeiſter es wagen duͤrfe, ih— nen in ihrer Schulſtube zu ſagen, daß er ſie nicht darin haben wolle, thaten im Anfang, als ob fie ihn nicht ver— ſtuͤnden, ſtießen aber unter ſich die Köpfe zuſammen und blieben ſtehen, wie ſie ſtanden und wo ſie ſtanden. Aber Gluͤlphi wiederholte ihnen, daß er jetzt allein ſeyn wolle, und daß er die Schule nicht anfange, bis fie zur Thuͤre hinaus und er mit den Kindern allein ſey. Da ſie ſahen, daß ſie ihr Daſeyn nicht erzwingen koͤnnten, giengen ſie endlich. Aber ſobald ſie vor der Thuͤre waren, ſagte einer zum andern: das iſt doch ein unverſchaͤmter Mann, un— ſer Schulmeiſter. Der Huͤgi ſagte gar: er macht es uns eben wie der Pfarrer, der die Leute zur Kirche hin— aus ſchickte, die zuhoͤren wollten, wie er auf den Hum— mel haͤtte predigen ſollen und nicht geprediget hat. Die

122

dicke Aebin, der Geſchwornen Frau, antwortete: auch der Junker wollte, da es mit dem Hummel zum Galgen gieng, wie jetzt der Schulmeiſter, nicht jedermann dabey ſeyn und mitlaufen laſſen. Ja, ja, man ſiehts, dieſe drey Herren ſind unſerthalben ganz gleicher Meynung in der Schule, in der Kirche und ſelber behm Galgen; fie wollen an kei— nem von allen dieſen drey Orten jemand zuſehen oder zu— hören laſſen, was fie daſelbſt treiben, ausgenommen Leute, die ſie ſelber gern dabey haben. Dieſe Gleichheit der drey Herren an allen dieſen drey Orten, beluſtigten die dicken Weiber und Maͤnner eine Weile. Indeſſen ſchuͤttelte jetzt der Richter Kienholz, der dem Hartknopf verwandt war und gar oft bey einem Glas Wein, das er ihm zahlte, uͤber fromme und geiſtliche Dinge ein weites und breites Geſpraͤch führte, den Kopf und ſagte: aber in die Länge kann das doch mit der Schulſtube nicht alſo gehen. Das iſt unmöglich, erwiederten ihm alle, und einer fluchte ſogar und ſagte: das kann ſo wenig in die Laͤnge alſo gehn, als der Teufel in Himmel kommt. Andere unterſtuͤtzten die Hoffnung, daß es damit nicht in die Laͤnge gehen konne, ſogar mit dem Sprichwort: ſtrenge Herren werden nie alt.

125 J. 26.

Weh dem Kind, deſſen Geiſt und Herz ſchon in feiner Unmuͤndigkeit und in feinen Schuljah— ren zum Dienſtknecht, ich mödte ſagen zum Packeſel feines Maulbrauchens gemacht wird,

Doch ich kehre von dem Rath dieſer zur Thuͤre hin— ausgeſtellten Thoren wieder zu meinem lieben Gluͤlphi in feine Schulſtube zuruͤck.

Der Pfarrer hatte am Sonntag Abend in allen Haͤu⸗ fern auſagen laſſen, daß die Schulkinder alle auf den Schlag 8 Uhr in dem Schulzimmer verſammelt ſeyn ſol— len, und die Maͤnner und Weiber, die er jetzt wieder fortgeſchickt, waren alle, eben wie auch Gluͤlphi faſt eine Viertelſtunde vorher ſchon in der Schulfiube. Von den Kindern aber mangelten um halb neun Uhr noch viele, und die, die jetzt noch mangelten, waren alle beſcimmt Kin⸗ der aus den Haͤuſern der groͤften Lumpen und aus einigen Vorgeſetztenhaͤuſern. Die Kinder der Gertrud und auch diejenigen, die mit wundergebigen Matadoren und ihren Weibern ankamen, waren die erſten und auch des Rudis Kinder, die mit der Gertrud auf den Schlag s Uhr ankamen. Das ganze Dorf war im hoͤchſten Grad uͤber das, was Gluͤlphi in der Schule vornehmen werde, geſpannt, und es war ſchon ſeit ein paar Tagen in allen Winkeln daruͤber ein großes Gerede, was er alles mit den Kindern anfange. Darum ließen ſich auch die Matadoren und ihre Weiber fo

124

ungerne aus der Schulſtube herausſtellen. Dieſes Gered war aber auch natuͤrlich, indem der Junter ſchon vor etlichen Tagen Dreyſtuhl, Hobelbank, eine kleine Schmiede, einen Ambos, und Naͤhkiſſen, Spitztrucken und Spinnraͤder und noch viel dergleichen Sachen fuͤr die Schule ins Pfarrhaus bringen ließ und Gluͤlphi hatte auch wirklich in den erſten Tagen, da er ſich entſchloſſen, Schulmeiſter in Bonnal zu werden, ſich vorgenommen, gleich im Anfang den woͤrtli— chen Unterricht in feiner Schule mit allen dieſen Arbeitsgat⸗ tungen zu verbinden; aber Gertrud zeigte ihm ſogleich, daß dieſes nicht moglich und daß er damit anfangen muͤſſe, ſich genau an das zu halten, was die Kinder bisher gelernt, ſo wenig es auch ſey und ſo ſchlecht ſie es auch moͤgen ge— lernt haben. Er ließ alſo Drehſtuhl, Hobelbank, Naͤhtiſſen und Spitztrucken fuͤr einmal im Pfarrhaus ſtehen, wo ſie ſtanden und fieng die Schule mit Pruͤfung deſſen an, wat ſie konnten, und zwar zuerſt mit den Gebethen und den Bibelſpruͤchen, die ſie konnten und ließ ſie dieſe auswendig herſagen.

Da Gertrud ihm dieſen Rath gab, ſagte fie ihm zu⸗ gleich, er werde dadurch, daß er pruͤfe, was ſie koͤnnen, wenn er acht gebe, wie fie es koͤnnen, zugleich auch ent- de ken, was fie ſeyen, oder vielmehr wie es mit ihnen in allen Ruͤckſichten ſtehe.

Es war auch wirklich alſo. Bey dem erſten Verſuch, ſie die Gebether und Bibelſpruͤche, die fie auswendig konn— ten, ihm vorſprechen zu machen, ſprang die erbaͤrmliche Leer⸗ heit, die in ihrem Innern herrſchte und die unglaubliche Un⸗ geſchicklichkeit in dem, was fie zu koͤnnen glaubten und aus⸗

125

wendig daher ſagten, ihm fo in die Augen, daß dem guten Lieutenant ſchen in der erfen Schulſtund die Geduld faſt ausgieng. Schon der Contraſt, den ihr Anblick mit den Worten, die ſie ausſprachen, die aber offenbar in ihrem Mund Unſinn waren, machte, brachte ihn auſſer Faſſung. Des Halloris Kind, dem Neid und Bosheit aus den Augen heraus ſahen, ſah ihn mit dem offenbarſten Blick der Frech⸗ heit und der unverſchaͤmteſten Verachtung an, in dem es ihm den Spruch aufſagte: „Du ſollt lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen und den Nähen wie dich ſelbſt.“ Aber es wußte nicht, weder wenn das dich ſelbſt gemeint ſey, noch daß es ein Gemuͤth habe, und von dem Naͤchſten wußte es gar nichts, als daß ſeines Vaters Bruder beym letzten Scheibenſchießen am naͤchſten an den Nagel geſchoſſen.

Des geizigen Rabſer Kind ſagte ihm den Spruch auf: „verkauf was du haſt und gieb es den Armen“ und auch denjenigen: „ſammelt euch nicht Schaͤtze, die der Roſt frißt.“ Aber als es der Schulmeiſter fragte: ob es auch ſchon einem armen Kinde etwas gegeben? ſagte es gerade heraus nein; und ein Kind, das neben ihm ſaß, fluͤſterte ihm ein, es muͤſſe das dem Schulmeiſter anders ſagen. Aber es antwortete ihm auch ins Ohr fluͤſternd: du, felber eſſen macht feiſt. Und dieſes Kind meynte im Ernſt nicht, daß es ſchuldig ſey, von dem, was ſein ſey, irgend jemand etwas zu geben, und als ihm nach der Schule einige Kinder ſag— ten, es habe bey dem Schulmeiſter mit ſeiner Antwort ein ſchlechtes Eh gelegt, ſagte es, fein Vater und feine Mut: ter werden doch wohl wiſſen, was recht ſey, und ſie haben ihm ſchon oft geſagt, es muͤſſe alles, was ſie ihm geben,

126

fuͤr ſich behalten und ſelber eſſen, und es ſey wie geſtohlen, wenn es ſo etwas zum Haus hinaus trage und es einem andern gebe. Von dem, was ein Schatz oder Schaͤtze ſeyen, wußte es gar nichts als dieſes: es habe ſchon viel von Schatzgraͤbern gehört, und daß der Teufel die Schaͤtze, die er unter dem Boden habe, wenn ihn die Schatzgraber recht beſchwoͤren koͤnnen, ihnen herausgeben müffe. Er hoͤrte dies und noch viel anders, da es ihm jetzt zu thun war, die Kinder kennen zu lernen, mit vieler Geduld an und ſagte gar wenig daruͤber.

Aber die Frechheit eines Fnaben, der des Hartknopfs Bruders Sohn war, den wir ſchon kennen, brachte ihn auſ— ſer Faſſung. Er wollte ſeine Bibelſpruͤche nicht blos aus— wendig ſagen, er wollte ſie auch noch erklaͤren, und da er dem Herrn Schalmeiſter die heil. X Gebothe auffagte, machte er uͤber ein jedes derſelben eine Bruͤhe, die erklaͤren ſoll⸗ le, wie es der liebe Gott mit dieſem Geboth eigentlich ge⸗ meynt. Doch war er auf feiner Hut und ſagte nur dum— mes Zeug, aber eigentlich nichts Freches und Boshaftes darüber. Seine diesfͤllige Unverſchaͤmtheit war eigentlich nur in ſeiner Stellung und in ſeiner Mine ſichtbar. Auch ließ ihn der Lieutenantn nur mit einem Blick ſuͤhlen, daß ihn ſein Benehmen aͤrgere, und daß er mit ihm unzufrieden ſey. Aber da er hernach, als er andere Kinder ihre Spruͤ— che aufſagen ließ, mehr als eine Viertelstunde lang bes merkte, daß der Buͤrſch immer mit dem Knaben, der neben ihm ſaß, ſchwatzte und über Hachen, die er ihm in die Oh— ren fluͤſterte, den Maͤthwillen trieb, wandte er ſich plotzlich an dieſe zwey Schwager und fragte nicht den Harnnopf,

127

fondern den andern: was fie mit einander haben? Dieſer ſagte ihm dann geradezu: der Hartinopf habe ihm erllaͤrt, wie es eigentlich mit dem Vten und VIten Geboth ge— meynt ſey. Nun, wie hat ers denn erklaͤrt? Der Hartknopf ſtupfte zwar den Knaben und winkte ihm mit dem Kopf, er ſolle es nicht ſagen. Aber dieſer war ein gerader Kerl, achtete des Winks nicht und ſagte: der Hart— knopf habe in Ruͤckſicht auf das VIte Geboth ihm die Erklaͤ⸗ rung gegeben, es ſey ein großer Unterſchied zwiſchen ſtehlen und ſtehlen; es ſey eine ganz andere Sache, wenn man einem armen Mann als einem reichen ſtehle, und hinwie— der ſey es auch noch ein Unterſchied, ob der Mann, dem man ſtiehlt, ein braver oder ein ſchlechter Mann ſey, oder ob er auch ſelber ein Schelm und ein Dieb ſey, und uͤber— haupt ſey nicht alles geſtohlen, das man ſo heiße. Es ſey ein großer Unterſchied zwiſchen dem Freveln und dem Steh— len. Wenn man Holz im Wald nehme, ſo ſey das nicht geſtohlen, ſondern nur gefrevelt; und die Juͤnger, die am Sabbath Aehren abgerupft, haben ſie gewiß auch nicht auf ihren eigenen, ſondern auf fremder Leute Aecker abgerupft; und eben fo habe das Vte Geboth feine Einſchraͤnkungen, und man muͤſſe gewiß niemand folgen, der etwas Dummes oder Unrechtes befehle.

Der Hartknopf wollte laͤugnen und ſagen, der andere Knabe habe zu viel geſagt und ihm feine Meynung ver— dreht. Aber er war dabey fo verwirrt und betroffen, daß Gluͤlphi ihm anſah, daß er luͤge. Er hieß ihn auch blos ſchweigen, aber ſeine Frechheit und der Grad, in dem er ein von der [handlichften Selbſtſucht eingegebenes Maul

128

brauchen bis zum auswendig herplappern verſtellter, re⸗ ligidſer Wahrheiten ſich ſelbſt verhaͤrtete, machte ihm aͤuf⸗ ſerſt Muͤhe. >

Ein anderer Verwandter vom Hartknopf, ein erzdum- mer Junge, konnte ganze Kapitel von der Bibel auswen— dig und wollte ihm den 9gten Pſalm auswendig ſagen; aber er ſprach beynahe kein einziges Wort richtig aus, und fo wie er es ausſprach, hatte kein einziger Vers eis nen menſchlichen Sinn. Stolz uͤber das voͤllig Auswen— digkoͤnnen des großen Pſalms machte er denn noch ein Geſicht dazu, daß man nicht ſagen konnte, ob die Unver⸗ ſchaͤmtheit oder die Dummheit mehr daraus hervorguckte. Aber Gluͤlphi konnte es nicht mehr ausſtehen; er hieß ihn endlich ſchweigen und ſagte ihm: das, was du mir vorſagſt, iſt nicht der 9)te Pſalm, das iſt eine Toneſeley, die tein vernuͤnftiger Menſch fuͤr den gyten Pſalm aner— kennen wird.

Wohl freylich, erwiederte der Bube, Kr freglich iſt das der ggte Pſalm, Herr Schulmeiner.

Dieſer antwortete: ja, wie er gedruckt iſt, aber ſo wie du ihn ausſprichſt, iſt er es nicht. Er iſt, ſo wie du ihn ausſprichſt, lauter Uaſinn, und du hättefi beſſer gethan, du haͤtteſt den Eulenſpiegel fo auswendig gelernt, wie du dieſen Pſalm auswendig ſagſt.

Der Bub antwortete ganz unbefangen: Herr Schub meiſter, ich kann ihn auch, wenn ihr wollt, ſo will ich euch etwas daraus aufſagen. 5

Die Roheit und Frechheit fo vieler Kinder war un— erträglich und er ſah offenbar, daß einige davon noch auf—

129

gewiegelt waren, ihm frech zu begegnen. Faſt bey allen andern, ſelbſt bey offenbar ſchlauen und verſchmitzten Kin⸗ dern einiger abgefeimter Dorfmeiſter fand er ihren Men⸗ ſchenſinn und Menſchenverſtand von allem dem, was ſie aus den Buͤchern konnten, wie weggewiſcht. Nirgend, nirgend fand er auch nur die Spur eines Willens und eines Strebens, das zu verſtehen oder zu fuͤhlen, was; ſie auswendig ſagten, und je groͤßer und erhabener der In⸗ halt alles deſſen war, was fie ihm daher plapperten, deſto gefuͤhlloſer und ſtockduͤmmer ſtanden fie! vor ihm da. Es war beynahe bey der Gertrud Kindern alllin, daß er dutch auswendig gelernte Gebether und Vibelſſ uche Menſchen⸗ verſtand und Menſchengefuͤhl in- Uebereinſtimmung mit den Worten derſelben angeregt und belebt fand. Doch auch bey einigen Kindern der Anhaͤnger des Pfarrers Flieginhimmel zeigte ſich noch eine etwelche Neigung, das zu verſtehen und zu Herzen zu nehmen, was fie auswen— dig konnten und lernen mußten, aber fie hatten auch ‚alle gemein durchaus Feine Fähigkeit, ſich beßtimmt und 1 ſtaͤndlich über das, was fie wirklich einſahen und zu Hers zen nahmen, auszudruͤcken. Dieſe Fertigkeit hatten in der ganzen Schule einzig und allein die Kinder der Gertrud. Das alles machte ſeine Stimmung trotz allem, was er ſich diesfalls vorgenommen, unlieblich. Er ſtand nach der er⸗ ſten halben Stunde mit ſauerm Geſicht und einem muͤr— riſchen Weſen vor ſeinen Kindern, die ihn ſelber nichts Gutes von ſeiner Schulfuͤhrung ahnen ließ. Es ſchien ihm faſt unmoͤglich, auch nur ein Wort in' dem belebten Geiſt des muͤtterlichen Intereſſes und der muͤtterlichen Peſtalozzi's Werke. IV 9

150

Aufmunterung mit den Kindern zu reden, von dem er doch ſelbſt uͤberzeugt war, daß der ganze Erfolg des Schul— weſens davon abhange. Er war durchaus in ſeiner Schul— ſtube noch nicht zu Haus, und ſo gleichſam in einem frem— den Haus verwirrt und unruhig. Das war ihm um ſo druͤckender, da er offenbar ſah, daß einige Kinder noch auf— gewiegelt waren, ihm unfreundlich und frech zu begegnen. Auch Gertrud fuͤhlte ſich an dieſem erſten Schulmorgen ſo unbehaglich, als ſie ſich in ihrem Leben in ihrer Wohn— ſtube nie ſo unbehaglich fuͤhlte. Die Verlegenheit Gluͤl— phismachte ihr Muͤhe, aber ſie war ſelber eben ſo verlegen und beyde giengen mit fichtbarer Unzufriedenheit über den Gang, den ihre erſte Schulſtunde genommen, da es jetzt Mittag laͤutete, heim.

ure n, ge aft Der Mund geht jedem Menſchen, deſſen Seele

unruhig, bewegt iſt, gern zu weit auf, und ARE die ihn dann aus ſeinem zu offe⸗ nen Mund te sk haben oft ſehr boͤſe

Sega. 1

ei 6

Der Lieutenant im Pfarrhaus zu Mittag. Natuͤr⸗ lich war die erſte Frage die der Herr Pfarrer und die Frau Pfarrerinn an ihn thaten, wie ſeine erſte Schulſtun⸗ de abgelaufen. Er antwortete: ich kann eben nicht viel

131

ruͤhmen, die Finder haben mir nichts weniger als gutes Blut gemacht; aber ich fürchte, fie haben eben auch über mich nicht viel zu ruͤhmen gehabt, wenn ſie heim kom— men. Doch ich denke, wir mͤſſen ein Maͤß Salz mit einander eſſen, ehe wit einander recht kennen, und will alſo weiter ſehen, wie es geht, ehe ich viel davon erzthle,

Der Pfarrer und feine Frau ſihen, das er ſehr bes wegt, aber voller Gedanken ſey und nicht gern viel rede. Das Mittageſſen gieng alich ſciller "vorüber, als noch kei⸗ nes, dem Gluͤlphi im Pfarrhaus ber wohnte. Rx

Indeſſen hatte der Hens ſchon während dem Mittag⸗ eſſen vernommen, daß Gluͤphi in der Schule ein Wort vom Eulenspiegel geſagt, das 70 ſehr 9 ee worden. at

Es war auch wirklich ein fatcles Work. Er hatte es kaum ausgeſprochen, ſo flüſterte ein Kind von den frim- melnden Schwaͤchlingen des Marter Flieginhimmel ſeinem Nachbarskind ins Ohr: haft! du auch gehort? er hat, glaub’ ich, geſagt, er wollte den een lieber als die Bibel. l f

So und auf andere Weiſe noch Gere) ward auch das Wort dieſen Mittag Bon ae im 1 0 er umgetragen.

Doch war hie und da ein Vater und eine Mütter die das nicht glaubten, und den Rindern, die das fo unglaub⸗ lich als es wirklich war, heimbrachten, antworteten: es iſt nicht moͤglich, er kann es nicht ſo geſagt haben. Andere aber, die das Wort, fo wie man es herümtrug, ſelber nicht glaubten, denen es aber wie eine gemaͤhete Wieſe

152

war, meynten und ſagten unter einander: wenns auch die Kinder nicht ganz recht verſtanden haben, ſo muͤſſe man doch mit einem Mann, der, wenn ihm Kinder Bibelſpruͤ— che aufſagen, vom Eulenſpiegel auch nur reden, dürfe, fir cher doch auf ſeiner Hut ſeyn. Nicht nur einer brachte bey dieſem Anlaß an, das fen. ungefähr, ein Wort, wie das, ſo der Herr Pfarrer einmal geſagt, es waͤre beſſer, man wuͤrde den Katechismus mit Pappe verkleiben, als die Kinder ihn auswendig lernen machen.

Die Sache war dieſe. Im Hirzauerwirthshaus ſagte ein katholiſcher Bauer zu einem reformirten, der wie der andere betrunken war: es ſey doch nicht recht, daß fie in ihrem Catechismus das Meßopfer eine vermaledeite Ab⸗ goͤttereh heißen. Ja, antwortete der beſoffene Refor— mirte, das iſt wahr, und man muß es ſagen, es kann kein Menſch ſelig, werden, der das anders anſieht. Was ſagſt du, du vermaledeiter Spitzbub? ſagte jetzt der andere, wir Kathotifeien werden alle ſelig, aber kein einziger Re⸗ formirter. Mit dem ſtunden begde vom Tiſch auf, grif⸗ fen einander an, und ungluͤcklicherweiſe hatte der Katholi⸗ ſche ein Meſſer in der Hand, mit dem er, da bende im Kampf zu Boden fielen, den Reformirten, ohne daß ers im geringſten im Sinn hatte, tödlich verwundete. In dem Augenblick, da der Pfarrer den Bericht von dieſem Un« gluͤck erhielt, ſagte er in Gegenwart des Sigriſten: ich wollte, ich dürfte dieſe Frage vom Meßopfer in alten Ka— tehismusbächern mit Pappe verkleiben, daß kein Kind mehr eine Solbe davon zu leſen bekaͤme. 8

Der arme Sigriſt aber, der an den Katechismus mehr

155

als an Gottes Wort glaubte, erzaͤhlte, was der Pfarrer doch fuͤr ein boͤſes Wort wider den reformirten Glauben geredt habe. So kam es in aller Leute Maͤuler, und es iſt nun ſchon 7 Jahre ſeither, und noch erzählen; es ihm viele Leute nach, und zwar nicht wie es wahr iſt, ſondern wie es der Sigriſt verdreht hat, naͤmlich daß er lieber wollte, er dürfte den ganzen Katechismus mit Pappe ver- kleiben, als daß er ihn muͤſſe die Kinder auswendig lernen machen. Und mehrere von den jetzigen Gegnern des Pfarrers wiederholten dieſe Geſchichte und aͤuſſerten ſich in Ruͤckſicht auf das Wort, das heute dem Gluͤlphi ent⸗ runnen, mit einer aͤngſtlichen Bedenklichkeit unter einander, man koͤnne ſich vor Leuten, die unter irgend einigen Um— ſtaͤnden ſo ein Wort fallen laſſen, nicht genug huͤten, weil man nicht wiſſe, was ſie noch mehr denken als fie fagen, Andere, wie der Hartknopf, redten nicht einmal mit dies ſer Maͤßigung, ſondern ſprachen geradezu aus: das iſt ja ein Gotteslaͤſterer, der Lieutenant, wenn wir noch im al— ten Bund lebten, ſo waͤre das wenigſte, das ihm begeg— nete, daß man ihn ſteinigte. '

Unſchuld und Reinheit des Herzens führt den feh— lenden Menſchen leicht zur Erkenntniß ſeiner

ſeloſt.

5 *

So weit kann in Religionsſachen ein einziges unvor— ſichtiges Wort fuͤhren. Der Lieutenant, der es in aller Unſchuld geſprochen, dachte nicht daran, daß er auch nur ein Kind damıt geärgert, will geſchweigen das halbe Dorf, aber als er nach der Schule zufaͤlligerweiſe ein Wort von dieſem Eindruck vernahm, ſchaͤmte er ſich vor ſich ſelber. Es war ihm darum auch ſo unbehaglich beym Mittageſſen, und machte ſich darüber mit dem Ernſt Vorwuͤrfe, der in ſeinem Character liegt. Er entfernte ſich auch, da er kaum die halbe Zeit, die er gewoͤhnlich beym Tiſch zubrachte, ſich dabey aufgehalten und gieng in den Garten. Aber wie ihm am Morgen einzig die Schlechtheit der Kinder druͤ— ckend vor den Augen ſtand und ihn verwirrte, ſo ſtand ihm jetzt auch und noch vielmehr ſeine eigene diesfällige Schwaͤche vor der Seele, und er mußte mehreremal zu ſich ſelber ſagen: nein, ſo ungeſchickt und ſo Glaubens— und Liebeleer hätte ich nicht geglaubt, daß ich wäre, als ich jetzt ſelbſt finde, daß ich in dieſer erſten Schulſtunde war; aber auch fo erſcrecklich, fo erbärmlich erſchrecklich feste er hinzu, habe ich mir nicht vor,‚ellen koͤnnen, daß es mit dieſen Kindern im Dorf ausſehe, als es wirk—

155

lich mit ihnen ausſieht. Doch milderte ſich der Grad dieſes widrigen Eindrucks, den ſeine Schulkinder dieſen Morgen beynahe allgemein auf ihn gemacht haben, jetzt ſchon merklich. Er fand in ſeinem Herzen ſelber einen Widerſpruch gegen die Allgemeinheit und Staͤrke dieſes Eindrucks, und ſagte jetzt plotzlich einmal zu ſich ſelber: ich bin weiß Gott daran ſelber ſchuld. Und ſo wie er das Wort ausgeſprochen, überzeugte er ſich, er habe dieſen

torgen ob der Neuheit des Gegenſtands den Kopf ver⸗ loren, und es fen ſicher, feine boͤſe Laune und fein Kopf: weh haben ihn die Schlechtheit feiner Kinder größer anſe— hen machen, als ſie wirklich ſeh. So ſtand er eine Weile in ſich ſelbſt gekehrt an einer Ecke des Gartens, und der Gedanke, die Mutterkraft, das Mutterleben und die Mut- tertreue, die ich mir zur Richtſchnur meiner Schulfuͤhrung machen wollte, war durchaus nicht in mir, ſtand ihm leb— haft und betruͤbend vor der Seele, und mit ihm kam ihm auch Gertrud zu Sinn, wie ſie den ganzen Morgen kei— nen Augenblick mit dem Leben, mit dem Muth und mit der Freyheit neben ihm geſtanden, der ihr daheim bey ih- ren Kindern, ſo natuͤrlich und ſo gewohnt iſt. Jetzt, ſagte er zu ſich ſelber, ſtand ſie den ganzen Morgen ſo ver— legen da, wie ich ſie, ſo lange ich ſie kenne, keinen Au— genblick ſo verlegen geſehn. Es iſt offenbar, meine Unge— ſchicklichkeit machte ihr Muͤhe und betruͤbte ſie. Bey dieſem Gedanken fielen ihm Thraͤnen in die Augen; aber im feſten Glauben an ſie und an ihr Wort ſagte er jetzt zu ſich ſelber: das muß anders werden, ich will meinen

cuth nicht fallen laſſen und zum Gebeth meine Zuflucht

156

nehmen, wie fie mir hundertmal den Rath gegeben. Daun fielen ſtille, wortleere Seufzer zu Gott im Himmel, daß er ihm doch helfe, Schulmeiſter zu ſeyn, wie er es ſegn ſolle, aber ohne Gottes Hülfe nicht ſeyn koͤnne. Er fühlte jetzt auch wirklich, daß fein Muth ſich ſlaͤrke, und wie jeder Menſch ſeine belebteſten Gefuͤhle immer in Ue— bereinſtimmung mit der beſtimmteſten Eigenheit feines Seyns und Lebens ausſpricht, ifo ſprach er jetzt das Ger fühl feines ruͤckkommenden Muths ganz in Uebereinſtim— mung mit feinem Soldatenleben, und faſt vollig mit ei— gentlichen Soldatenworten aus. Es iſt in jedem Fall, ſagte er zu ſich ſelber, Schande, ewige Schande, ſeinen Muth zu verlieren; ih darf und ſoll ihn nicht verlieren, und was ich jetzt ſuche, fordert mich zu einem hoͤhern Muth auf, als ein Soldat je in einer Schlacht braucht.

Auch Gertrud war mit ſich ſelbſt unzufrieden. Sie fuͤhlte, daß ſie verlegen und unthaͤtiger neben Gluͤlphi in der Schule ſtand, als fie ſich vorgenommen, aber 'ſie gab nicht, wie Gluͤlphi meynte, daruͤber ſeinem Benehmen, ſondern eher ſich ſelbſt Schuld, und ſagte ſchon in der Schule und noch beſtimmter und lebendiger, als fie aus derſelben heim kam, zu ſich ſelber: in meinem Leben war mir nie ſo unbehaglich unter Kindern, als es mir dieſen Morgen in der Schule wax. Ich weiß nicht, wie es kam, ich hatte keinen Einfluß weder auf Gluͤlphi noch auf die Kinder. Ich ſah, daß alles nicht gieng wie es ſollte, aber ich konnte nicht helfen, und fand! fo ohne Einfluß da, daß ich mich ſchaͤme, wenn ich daran denke.

1

157 Die einzige Entſchuldigung, die fie ſich darüber mach te, war: noch kenne ich dieſe Kinder nicht, und habe auf ſer meiner Wohnſtube mich noch nie mit fremden Kindern abgegeben.

J. 29.

Es iſt eine große, eine erhabene Kunſt, Vater und Mutter auch nur eines fremden Kinds zu ſeyn, und beym beßten Willen, den ein Menſch dazu haben mag, greift er es im Anfang faſt ſicher noch ungeſchickt an und muß, ehe er es recht kann, ſicher noch ein gutes Lehrgeld zahlen.

Sobald Gluͤlphi im Garten 1 Uhr ſchlagen hörte, gieng er in feine Schulſtube und Gertrud war ſchon in derſel— ben, als er darin ankam. Es gieng auch dieſen Nachmit⸗ tag darin wirklich beſſer. Der Lieutenant gab ſich aͤuſſer⸗ ſte Muͤhe, gegen den widrigen Eindruck, den die Kinder dieſen Morgen auf ihn machten, gefaßt zu ſeyn, und Ger: trud zwang ſich, mitten im Gefuͤhl der Unkunde, in der fie in dieſen ihr neuen Umgebungen fiand, zu der milden, aber ununterbrochenen Thaͤtigkeit und der feſten, aber lieb- reichen Aufmerkſamkeit, die nicht ermangelte, ihr dieſe Kinder ſchon heute etwas naͤher zu bringen. Dieſes aber war indeſſen bey aller Sorgfalt und Muͤhe, die ſich beyde

155

darüber gaben, nichts weniger als leicht. Selber die braͤ⸗ vern Kinder antworteten ihnen im Anfang gar nichts, wenn ſie etwas zu ihnen ſagten. Die frechſten und ſchlech⸗ teſten waren die erſten, von denen ſie unbefangene Ant⸗ worten erhielten, und Gertrud und Gluͤlphi fuͤrchteten auch jetzt noch, dieſer Zuſtand der Schuͤchternheit moͤchte wo— chenlang dauern und ihnen fo lang an den Hauptſachen, die ſie bey den Kindern zu erzielen ſuchen, hinderlich ſeyn. Gluͤlphi ſagte ſelber: ich weiß nicht, wie lange dieſes Fremdſeyn unter den Kindern noch dauern, unb noch we— niger, wohin es am End noch fuͤhren wird. Dieſes machte ihm um ſo mehr Muͤhe, da juſt diejenigen Kinder, die ihnen nach andern Kennzeichen die brädften, gutmuͤ⸗ thigſten und hoffnungsvollſten in die Augen fielen, ſich auch als die ſchuͤchternſten und zuruͤckhaltendſten gegen ſie zeigten. Gluͤlphi und Gertrud fanden dieſen Zuſtand in einem hohen Grad bedenklich. Gluͤcklicherweiſe aber kam der Gertrud in dieſer Verlegenheit zu Sinn, das Baum— wollenmareili koͤnnte ihnen darin ſehr an die Hand gehen. Und ſie hatte hierin ganz recht. Das Mareili iſt faſt mit allen Haushaltungen im Dorf nahe bekannt. Es ſieht ihre Eltern und ſie ſelbſt faſt alle Wochen in ſeinem Haus, und ſo kann es nicht fehlen, wenn es ſich entſchließen wird, einige Tage nach einander ſelber in die Schulſtube zu kommen und Gluͤlphi und Gertrud hierin an die Hand zu gehen, ſo kommt es ganz gewiß dahin, es ihnen leich— ter zu machen, Eingang und Zutrauen bey den Kinder zu finden und beſonders ihre, ihnen fo hinderliche Schuͤch⸗ ternheit zu beſiegen und fie zu graden, offenherzigen Aeuſ—

159

ſerungen und Antworten und einer freundlichen Annahme deſſen, was man ſagt und ſagen muß, zu bringen, als dieſes ihnen heute nicht hat gelingen wollen. Gertrud entfchloß ſich auch, fo bald die Schule aus ſey, darüber mit Gluͤlphi zu reden, und war zum voraus uͤberzeugt, das Mareili werde ihnen dieſen Dienſt, den es eigentlich nicht ihnen, ſondern dem ganzen Dorfe leiſten ſollte, in keinem Fall abſchlagen. Indeſſen thaten ſie doch ſchon jetzt mit einigen beſſerm Erfolg, was ſie konnten und mochten. Da ſie dieſen Nachmittag nur das Leſen probirten und die Kinder ihnen auch ſchon, ich moͤchte ſagen, um ein Haar weniger unbekannt waren, als dieſen Morgen, ſo begegnete auch jetzo ſchon weniger, das ihnen in dem Grad anſidßig und empoͤrend war als dieſen Morgen.

Auch war auffallend, daß der Gertrud Kinder von ei— nigen andern jetzt ſchon als diejenigen erkannt wurden, die mehr als ſie konnten. Noch auffallender war, daß ſchon an dieſem Abend einige Kinder ſich von der Gertrud Kin— dern gern zeigen lieſſen, was ſie ihnen zeigten. Das mach— te auch den Kindern der Gertrud eine große Freude. Es iſt auch bey kleinen Kindern ein ſuͤßes Selbſtgefühl, etwas zu koͤnnen, das andere nicht koͤnnen und ihnen damit zu dienen. Und als Gluͤlphi die Freundlichkeit der Kinder der Gertrud mit einigen andern ſah, ſagte er zu ihr: dei— ne Kinder verſtehen es beſſer, ſich ihren Kameraden lieb zu machen, als ich es verſtehe, mich meinen Schulkindern lieb zu machen.

Gertrud erwiederte: es iſt unſtreitig, daß die Kinder ſich gegenſeitig ſchneler finden und alles lieber von einan—

140

der annehmen, als von groͤßern Leuten, und, lieber Herr Lieutenant, wenn Sie einmal in Ihrer Schulführung weiter ſind, ſo wird Ihnen dieſer Umſtand in allem, was Sie an Ihren Kindern erzielen wollen, ſehr vortheil- haft ſehn.

Dieſe Anſicht freute Gluͤlphi ſehr. Sie gaben ſich auch noch dieſen Abend alle Muͤhe, zu thun was ſie immer konnten; aber die Ungewandtheit, die ſie dieſen Morgen ſo ſehr in ihrer Lage druͤckte, machte ſie darin auch dieſen Nachmittag noch ſchwerfaͤlig. Als Gluͤlphi die Gertrud den Abend heim begleitete, war das erſte Wort, das er zu ihr ſagte, da er in ihre Stube hineintrat: es iſt heute noch nicht gut gegangen. Gertrud erwiederte: aller Une fang iſt ſchwer.

Gluͤlphi. So ſchwer haͤtte ich ihn doch nicht ge— glaubt. Aber auch das haͤtte ich nicht geglaubt, daß ich fuͤr das, was ich jetzt ſeyn ſoll, ſo wenig ſey, als ich wirklich bin.

Gertrud. Sagen Sie doch das nicht. Sie ſind fuͤr das, was Sie jetzt ſeyn wollen und ſeyn ſollen, durchaus nicht wenig. Sie ſind nur darin noch ungewandt und Sie muͤſſen denken, kein Menſch kann eine Arbeit ſchon recht, wenn er ſie das erſtemal in die Hand nimmt. Sie ſetzte hinzu: ich ſchmeichle Ihnen nicht, aber ich glaube nicht, daß es viele Menſchen in der Welt habe, die fuͤr das, was ſie ſeyn ſollen, in ſich ſelbſt mehr ſind als Sie.

Gluͤlphi. Wie darfſt du das ſagen? Ich habe das

141

Vaterherz nicht, das mich allein zu dem machen kann, was ich ſeyn ſollte.

Gertrud. Sie haben es in einem hohen Grad, und es iſt eben, weil Sie es haben, daß Sie den Mangel der Uebung in dem, was Sie jetzt ſeyn ſollen, ſo ſehr fuͤhlen.

Gluͤlphi. Du weißt nicht, wie mir dieſen Morgen zu Muth war. Es ergriff mich beynahe ein Widerwillen gegen das Schulhalten, dem ich nicht widerſtehen konnte.

„Gertrud. Dieſen muͤſſen Sie freylich nicht bey ſich Wurzel faſſen laſſen; aber ich bin auch ſicher, er war dieſen Nachmittag ſchon nicht mehr fo en in Ihnen als am Morgen.

Gluͤlphi. Es ſchien mir dieſen Zuchmiung wirklich ſo; aber das Bild der Kinder, das mich dieſen Morgen fo empoͤrte, ſtand mir auch den Nachmittag noch fo leb⸗ haft vor Augen, daß ich mich fuͤrchte, dieſer Widerwillen möchte ſich leicht wieder in mir erneuern.

Gertrud. Haben Sie Mitleiden mit dieſen larmen Kindern, ſo wird dieſes gewiß nicht geſchehen und ales gut gehn. a

Dieſes Wort: „haben Sie Mitleiden mit dieſen armen Kindern“ ergriff Gluͤlphi auf eine unbeſchreibliche Weiſe. Er ſah ſie, ſobald ſie es ausgeſprochen, mit einem ſtarren Blick an und ſagte wie zu ſich ſelber: du haſt recht; wäre mein Herz heute mit wahrem Mitleiden ge gen die Kinder belebt geweſen, ſo waͤre mir dieſes nicht begegnet. Er warf jetzt auch dieſes Widerwillenshalbet einen tiefen Blick int ſein Herz und ſagte zu ſich felber* ich bin mir zwar des ernfien Verlangens bewußt, aus dies

142

fen Kindern etwas anderes und beſſers zu machen, als ſie find und weiß auch, daß ich mich hiefuͤr ganzlich aufopfern kann, aber daß ich ſie jetzt noch nicht liebe, wie ich ſie lieben ſollte, das iſt mir auch ſonnenklar, indem mir heute offenbar das Mitleiden fehlte, das fuͤr meine Zwecke ſo nothwendig iſt. Es iſt unſtreitig, ſo lange mir dieſes fehlt, iſt meine Liebe gegen dieſe Kinder noch nicht wahr. So tief gieng er jetzt des Widerwillens halber, der ihn dieſen Morgen ergriff, in ſich ſelber. Er fuhr noch eine Weile in dieſem Selbſtgeſpraͤch fort und ſagte dann: ich weiß aber jetzt auch deutlich, woher dieſer Widerſpruch, der ſich in meinen Gefuͤhlen dieſen Morgen ſo ſtark ausſprach, ei⸗ gentlich kommt. Dieſe Kinder ſind mir noch ganz fremd, und ich wußte bis auf dieſe Stunde nicht, was dieſer Umſtand auf die Wahrheit und Unwahrheit der menſchli— chen Liebe fuͤr einen entſcheidenden Einfluß hat, bis er durch das Mitleiden, zu dem du mich jetzt hinrufſt, bes ſiegteſt. Dieſes Wort ſagte er zur Gertrud und dann wieder wie zu ſich ſelber: ich wußte auch ſchon laͤugſt, daß der Menſch eigentlich keinen Menſchenhaufen wahrhaft und warm liebt, ſondern immer nur einzelne Menſchen darin; aber das dachte ich mir bis jetzt noch nicht ſo leb— haft, daß einiges Mitleiden und Erbarmung nothwendig iſt, wenn innige warme Liebe uns auch gegen ganze Mens ſchenhaufen, die man einzeln noch nicht kennt, wahrhaft und warm ergreifen ſoll. Und dieſes fehlte mir dieſen Morgen, ſagte er jetzt wieder zu Gertrud, und ſetzte hinzu: und ich waͤre auch jetzo, ohne dein erhabenes Wort, nicht dazu gekommen; ich kann dir nicht ſagen, wie ſehr du auf

145 dem Weg, den ich betreten, meine Stuͤtze biſt, und wie ſehr ich darauf eine Stuͤtze nothwendig habe.

Gertrud erwiederte: ach, ich habe für die Huͤlfe, die Sie auf dieſem Weg von mir erwarten, ſelber eine Stuͤtze nothwendig; aber, Gott Lob! ich weiß auch eine.

Gluͤlphi. Wo ſollteſt du wohl jemand finden, der mir eine beſſere Stuͤtze waͤre, als du?

Gertrud nannte ihm darauf das Baumwollenmareili.

Gluͤlphi erwiederte: das Baumwollenmareili kann wohl beſſer als du Baumwolle austragen und damit Geld ver— dienen, aber mir eine beſſere Stuͤtze fuͤr die Erziehung mei⸗ ner Kinder zu ſeyn, als du biſt, das laͤßt es dann wohl bleiben.

Gertrud. Herr e Das a reili hat beym Baummollenaustragen und beym Geldver— dienen ob dieſer Arbeit gelernt, Menſchen zu kennen, mit ihnen umzugehn, ſelbige ſich anzuzieh'n, zu Freunden zu machen, und zu ſeinen Zwecken zu brauchen, und wer das kann, der iſt wahrlich nicht ungeſchickt behm ER Ser manden eine gute Stuͤtze zu ſeyn.

Das widerſprach ihr jetzt Gluͤlphi nicht und Gertrud ſagte noch ferner: und denn iſt es nicht nur das; es kennt faſt alle Haushaltungen, die meiſten Kinder kommen alle Wochen zu ihm ins Haus, und er iſt ihrer faſt ſo gewohnt, als wenn ſie ſeine eignen Kinder wären. Und mir fehlt das im hoͤchſten Grad; es kennt mich, auſſer des Rudis, beynahe kein Kind im ganzen Dorf. Darum will ich es bitten, etliche Stunden taͤglich zu uns in die Schule zu kommen. Ich bin ſicher, daß fein Daſeyn uns unſre Ar-

144

beit ſehr erleichtern wird. Jetzt begriff Gluͤlphi ganz, daß ſie recht habe und trieb ſelber daran, daß ſie das Ma⸗ reili dieſen Abend noch bitte, ihnen alſo an die Hand zu gehn. a

i J. 50. |

Wer an einem Ort zu Haus iſt, der kann am beßten rathen und helfen, was auch immer darin begegnet; auch wenn Feuerd- und PR ee darin Fee

Das Mareili hatte gleich nach Mittag vernommen, der neue Schulmeiſter ſolle geſagt haben, es waͤre beſſer, die Kinder lernten den Eulenſpiegel auswendig als den Kate⸗ chismus und den Pſalter. Es antwortete zwar der erſten Perſon, die ihm das ſagte: das iſt nicht wahr, das iſt nicht wahr, es iſt eine Verlaͤumdung, und ſetzte hinzu: ich kenne den Mann, er kann das nicht geſagt haben. Aber da man ihm von vielen Seiten antwortete: es ſey doch wahr, und wie es auch das widerſprechen koͤnne, was die ganze Schule gehoͤrt habe, und es ſey kein einziges Kind in der Schule, das nicht bezeugen werde, daß das woͤrtlich' ſo fen, wie man es ihm erzaͤhlt, ſo ſprang es auf der Stelle von den Weibern, die ihm das verdrehten und als wahr und alſo wirklich richtig aufſalzen wollten, heim und nahm

Im

145

das altefte Kind feines Bruders zu ſich in die Kammer und fragte bey demſelben dem, was Gluͤlphi diesfalls geſagt, ſo genau und umſtaͤndlich nach, daß endlich klar herauskam, es ſey ein Mißverſtand geweſen und die Sache ſelber fey nichts mehr und nichts weniger als dieſe: ein Hartknopfen— bub habe ſeine Bibelſpruͤche dem Schulmeiſter auf eine Weiſe aufgeſagt, daß ſie wegen ausgelaſſenen und falſch ausge— ſprochenen Woͤrtern in ſeinem Mund lauter Unſinn waren, und daß er ſich dabey auf die frechſte und unverſchaͤmteſte Weiſe benommen, da habe freylich der Schulmeiſter zu ihm geſagt, es waͤre beſſer, er lernte den Eulenſpiegel auf dieſe Weiſe auswendig, als Bibelſpruͤche. Das war freylich etwas ganz anderes als das, was man im Dorf diesfalls herumgetragen. Dennoch ſchuͤttelte das Mareili und der Baumwollenmeyer den Kopf uͤber das Wort und ſagten aus einem Munde: Es iſt doch ein dummer Streich, daß er dieſes Wort geſagt. In dem Augenblick aber, in dem ſie alſo daruͤber redten, trat Gertrud in ihre Stube, und der Baumwollenmeyer fieng ſogleich an und ſagte; es iſt un— ſerm guten Herrn Lieutenant in ſeiner erſten Schulſtunde ein Wort entfahren, das im Dorf nicht gutes Blut macht.

Gertrud, die ſogleich fuͤhlte, daß er das Wort mit dem Eulenſpiegel meyne, erwiederte: Es hat mir auch nicht gefallen, und ich bin recht daruͤber erſchrocken.

Aber weißt du auch, erwiederte das Mareili, wie man jetzt das Wort im ganzen Dorf herumtraͤgt? und erzaͤhlte ihr dann, daß man allgemein behaupte, er habe geſagt, es waͤre beſſer, die Kinder lernten den Eulenſpiegel auswendig als Bibelſpruͤche.

Peſtalozzi's Werke, IV. 10

146

Daruͤber war Gertrud ſehr betroffen.

Das Mareili aber ſagte: man muß den Leuten dar- uͤber auf der Stelle das Maul zuthun.

Gertrud. Wenn's nur Gottes Willen iſt, daß man es kann.

Mareili. Ich will's wenigſtens probiren. Ich kom⸗ me morgen, ſobald man in die Schule geht, auch dahin, und ich denke, ich werde dieſer Haue wohl einen Stiel finden. |

Gertrud. Das geb' Gott. Aber weißt du auch, warum ich jetzt eben hier bin?

Mareili. Nein, das weiß ich nicht.

Gertrud. Es iſt wunderbar, wie das jetzt zuſammen— trifft; ich komme eben, dich zu bitten, zu mir in die Schule zu kommen.

Mareili. Um dieſes Geredswillen?

Gertrud. Nein, ich komme, dich darum zu bitten, weil es heute in der Schule nicht hat gehen wollen wie wir es gern hätten und wie es ſeyn ſollte.

Mareili. Aber was ſoll ich dazu helfen? Ich bin keine Schulmeiſterinn. ö

Gertrud. Das wohl. Aber ſieh, Mareili, der Lieu— tenant und ich ſind den Kindern allen ganz fremd, und du kannſt nicht glauben, wie ſehr das ihm und mir hinderlich iſt. Die Kinder geben uns nur keine Antwort und ſehen uns an, wie man ein fremdes Thier oder ein Meerwun— der anſieht.

Mareili. Das weiß ich wohl.

Gertrud. Dich hingegen kennen faſt alle, und es iſt

147

dir unendlich leichter als uns, fie ins Gleis zu bringen, in das wir ſie hineinbringen muͤſſen. Darum haben wir dich dringend bitten wollen, einige Tage bey uns in der Schule zuzubringen und uns darin an die Hand zu gehen.

Das Mareili fühlte ganz, daß Gertrud darin recht hatte,

und auch, daß es dem Herrn Lieutenant und ihr wirklich an die Hand gehen konnte und antwortete ihr: es iſt wahr, es kennen mich faſt alle Kinder, und viele, wenn ſie nicht recht thun wollten, muͤſſen mich ſcheuen und in dieſer Ruͤck— ficht ſehe ich wohl, | daß es euch im Anfang euers Schul- meiſterns dienen kann, wenn ich einige Tage bey euch in der Schule ſeyn kann. Ich wil auch jogleich mit mei⸗ nem Bruder darüber reden; euer Schulweſen liegt ihm ſo am Herzen, daß er, ſo ſehr er mich auch im Haus noth— wendig hat, mir das doch nicht abſchlagen wird.

Mit dem gieng das Mareili ſogleich zu ſeinem Bruder, und dieſer antwortete ihm: was wir immer fuͤr dieſe Schule thun können, das iſt unſere Schuldigkeit und die Ger rud hat ganz recht, ſie haben in der Lage, in der ſie gegen die Kinder und gegen das Dorf ſind, eine Perſon, wie du biſt, im Anfang unumgaͤnglich nothwendig. IR

Mit Freuden gieng das Mareili wieder zur Gertrud, und ſagte: ſie duͤrfe eine ganze Woche, und wenns nothwen— dig fen, noch länger in die Schule kommen, und werde alles thun, was es immer koͤnne, dem Herrn Lieutenant und ihr an die Hand zu gehen.

Das Mareili giebt ein Beyſpiel des Muths, den der Meuſch immer hat, wenn er ſich in einer Sache und an einem Ort recht zu Haus fuͤhlt.

Die Schule war den folgenden Morgen kaum angefan— gen, fo fiand d abs Mareili in der Schulſtube. Sobald es die Thuͤr aufthat, ſtanden eine Menge Kinder und bepnahe alle ſeine S Spinnerkinder auf einmal von ihren Plaͤtzen auf, ſprangen ihm entgegen und ſa gten zu ihm: das iſt auch brav, daß du zu uns kommſt. Aber es ſchuͤttelte den Kopf ob ihrem Aufſtehen und ihm Entgegenlaufen, und ſagte zu den Kindern: was iſt das? geht im Augenblick an eure Plaͤtze und an eure Arbeit, und ſchaͤmt euch, es ſoll kein einziges von euch auf dieſe Art von ſeinem Platz aufſtehn, ohne den Herrn Lieutenant zu fragen.

Ja, ja, erwiederten die Spinnerkinder, aber es freut uns auch fo, daß du zu uns kommſt. Und das Mareili: aber mich freut es nicht, euch zu ſehen, wie ihr da ſeyd; es iſt, wie wenn ihr keinen Meiſter haͤttet und niemanden was nachfragtet. Wenn ich bey euch wäre, ich wollte euch lehren, bey den Buͤchern ſo ſtill ſitzen und ſo fleißig ſeyn, als ihr es bey den Baumwollenraͤdern ſeyn muͤßt, wenn ihr euer Brod dabey verdienen wollt.

Die Kinder entfchuldigten ſich und ſagten alle: fie wol— len gewiß recht thun und brav lernen.

Nun, nun, erwiederte das Mareili, aber ich bin jetzt

149

eigentlich nicht um deswillen, ſondern um einer ganz ans dern Sache willen da; es geht im Dorf ein unverſchaͤmtes Lügengeſchwaͤtz herum, der Herr Lieutenant habe zu euch geſagt, ihr thaͤtet beſſer, ihr wuͤrdet den Eulenſpiegel auswendig lernen als Bibelſpruüche. Das iſt zwar ein ſo' unſinniges Wort, daß man hätte denken ſollen, es haͤtte es kein vernuͤnftiger Menſch geglaubt; aber ſo ſehr es auch eine Schandluͤge iſt, ſo iſt es doch im Dorf herum— getragen worden, als wenn es wahr wäre; und wenn ich wuͤßte, daß es eins von euch wire, das dieſe Schand⸗ luͤge heim gekramt, ich wuͤrde es auf der Stelle vom Platz nehmen und mit ihm zu ſeinem Vater oder zu feiner Mut⸗ ter gehn und es dann lehren, da die Wahrheit zu ſagen und feine Luͤgengeſchwäͤtz zuruͤckzunehmen. Es ſetzte hin— zu: ich weiß genau, was der Herr Lieutenant geſagt. Mit dem Wort zeigte es dann auf den Hartknopfenbub und ſagte: wenn ſo ein dummer Burſche Bibelſprüͤche, wie ein Papagey, daher ſagt, daß lauter Unſinn darin iſt, und hinten und vornen kein Menſch ihn verſteht, und noch dazu unverſchaͤmt und frech iſt und ſen Maul braucht, ſo hat denn der Herr Lieutenant doch wirklich recht, wenn er zu einem ſolchen Eſelskopf ſagt: du thaͤteſt beſſer, du lernteſt den Eulenſpiegel ſo dumm und ſo unſinnig aus— wendig, als du deine Bibelſpruͤche dumm und unſinnig auswendig lernſt und daher ſagſt. |

Einige Kinder wurden ob diefer Rede des Mareilis feuerroth, denn ſie fuͤhlten, daß ſie daheim die Sache nicht vollends ſo erzaͤhlt, wie das Mareili ihnen jetzt wiederholte, daß ſie geſchehen.

150

Das Mareili ſah dieſes Rothwerden ganz klar und war, auch überzeugt, es fen bey einigen dieſer Kinder wirkliche,

abſichtliche Bosheit geweſen, dieſes Wort daheim zu ver—

drehen, aber es that nicht, als ob es diesfalls etwas merke. Die Menge der andern Kinder riefen ihm laut und unbes fangen zu: es ſey wahr, es verhalte ſich alles, wie es ſa— ge, aber fie ſeyen nicht ſchuld, daß man es alſo verdreht im Dorf herumtrage; fie haben es daheim nicht fo erzählt.

Ich will es ſelber glauben, daß keines von euch ſo bos⸗ haft geweſen ſey, des Herrn Lieutenants Wort alſo zu ver⸗ drehen; aber es iſt doch glaublich, daß einige von euch Darüber daheim in Tag hineingeſchwatzt und dummes Zeig daruͤdber erzählt haben. Ich muß euch unverholen ſagen, Kinder, wenn ihr alle daheim es um kein Haar anders erzaͤhlt haͤttet, als genau wie es geſchehen, ſo haͤtte das Luͤgengeſchwaͤtz, das man im Dorf daruͤber treibt, dar gewiß nicht Fuß faſſen koͤnnen. Dann ſetzte es no hinzu: aber das fage ich euch allen, wenn ich in Zukunft von einem einzigen von euch vernehme, daß es daheim etwas von der Schule erzählt, das nicht ganz wahr und auch nur ein wenig verdreht iſt, ſo will ich Mittel finden, ihm das Maul daruͤber zuzuthun, daß es an mich ſinnet, und jetzt erwarte ich von einem jeden von euch, der noch einen ehrlichen Blutstropfen im Leib hat, daß er dieſen Mittag feinem Vater und feiner Mutter, und wen er fonft autrifft, beſtimmt ſage und erzaͤhle, was der Herr Lieutenant diesfalls wirklich geſagt und bey wel⸗ chem Anlaß er es geſagt, und wie das, was ma. em Dorf darüber herumtrage, faul und falſch ſeh. Dann wandte

151

es ſich noch an den Hartknopfenbub, der durch feine Dumm: heit und Frechheit des Lieutenants Wort veranlaßt, und ſagte zu ihm: ſiehſt du jetzt, dummer Junge, wie man damit großes Unrecht thun und großes Ungluͤck ſtiften kann, wenn man Sachen, die, weil ſie hoch und heilig ſind, mit Verſtand ins Aug faſſen und wohl zu Herzen nehmen ſollte, wie ein Eſel in Kopf faßt und wie ein Narr daherplappert, ſo daß Gottes Wort in einem ſolchen Mund ſelber zum Unſinn und zur Aergerniß werden muß.

Das Mareili ward ſo eifrig, daß der Lieutenant und Gertrud es bathen, es ſoll ſich doch maͤßigen, die Kinder ſeyen daran unſchuldig. dire

Das iſt gleich viel, erwiederte das Mareili, das iſt gleich viel, mit ſolchen Sachen laͤßt es ſich in einem Dorf nicht ſpaſſen. Ich ruhe nicht, bis kein Menſch dieſe un— verſchaͤmten Luͤgen mehr in den Mund nehmen darf, und wenns einer thut, es mag ſeyn wer es will, ſo werde ich Wege finden, ihm durch das Schloß und dem Junker zu zeigen, daß es Mittel gebe, boshaften Verlaͤumdern in ſolchen Faͤllen den Mund zu ſtopfen, daß er ihnen zuge⸗ ſtopft bleibt. 6

Die Kinder thaten Maul und Augen auf, da das Ma— reili ſo redte. Einige ſagten: es thut doch auch gar zu wuͤſt darob. Andere aber ſagten: es hat doch recht, man hat dem Herrn Schulmeiſter das Wort auf eine unver⸗ ſchaͤmte Art verdreht; und viele, recht viele aͤuſſerten ſich: der Hartknopf ſey ein dummer Luͤmmel und ein boͤſer Bube, und habe ſicher verdient, was das Mareili ihm ge⸗ ſagt. Auch ſaͤumten alle Kinder, ſo bald ſie nach Haus

152

kamen, keinen Augenblick, ihren Eltern zu erzählen, was das Mareili uͤber die Eulenſpiegelgeſchichte geſagt und wie es allen Leuten das Maul uͤber dieſelbe ſtopfen wolle, wenn ſie es nicht von ſelber zuhalten wollen; und viele ſagten dabey noch: es ſey doch nicht recht, wie man dem Herrn Schulmeiſter das Wort verdreht.

Dieſer Bericht der Kinder aber wurde von den Eltern gar ungleich aufgenommen. Viele ließen ihnen aus dem, was ſie jetzt zur Entſchuldigung des Herrn Schulmeiſters anbrachten, gar nichts gehen und ſagten ihnen: ſie haben die Eulenſpiegelgeſchichte ſelber nicht vollends ſo erzaͤhlt, wie ſie jetzt ſagen, daß ſie vorgefallen. Andere ſagten ganz kurz: ſie moͤgen jetzt ſagen was ſie wollen, das Wort mit dem Eulenſpiegel ſey ein unverſchaͤmtes Wort geweſen und das Mareili habe ſeine gute Gruͤnde, warum es daſſelbe verlleiſtern und den l. Herrn Schulmeiſter darüber weiß waſchen wolle, aber andere Leute haben nicht, wie es, gleiche Gruͤnde dafuͤr. Auch das ſagten, inſonderheit in den großen Haͤuſern, viele Eltern: der Baumwollenmeher und das Mareili fangen, ſeitdem ſie an den Sonntagen Abend zu der vornehmen Geſellſchaft ins Pfarrhaus kom— men, an, ſich in Sachen zu miſchen, die ſie nichts ange— hen. Es koͤnne ein jeder des Lieutenants Worte auslegen, wie er wolle, und der Baumwollenmeher und feine Schwe— ſter haben das nicht vorzuſchreiben. Es werde ſich aber etwa wohl zeigen, wie der Herr Schulmeifler dieſes ſchlechte Wort etwa nach durch andere, die er zu demſelben hinzu ſetzen werde, noch ſelber erklaͤren werde. Auch viele Spin— nereltern wollten dieſes Worts halber auf beyden Achſeln

5 tragen und ſagten zu ihren Kindern: miſchet euch in nichts, was der Schulmeiſter geredt hat und auch was er ferner reden und ſagen moͤchte, wir moͤgen keinen Verdruß we— der mit dem Mareili noch mit der andern Parthey haben.

J. 32.

Der Menſch hat unrecht, wenn er in irgend einer Sache das, was Gott und die Natur vor—

angeſtellt, zuruͤckſetzt und hintennach ſtellt.

Nachdem das Mareili ſo ſeine Eulenſpiegel- und Hart— knopfengeſchichte abgethan, ſetzte es ſich an den Schultiſch und ſagte: was ſagt ihr dazu, Kinder, wenn ich jetzt ein paar Tage da bleibe und euerm Herrn Lieutenant helfe ſchulmeiſtern?

Alle Kinder, die es kannten, erwiederten: das waͤr' auch brav, das waͤr' auch brav.

Mareili. Was meynt ihr? wollt ihr mir auch recht folgen?

Ja freylich, ja freylich, riefen eine Menge Kinder und einige ſetzten hinzu: wir kennen dich, und wenn du uns nur winkſt, ſo verſtehen wir, was du willſt und was du meynſt.

154

Mareili. Verſteht ihr den Herrn RE noch nicht ſo wie mich?

Die Kinder ſchwiegen. Nur eins ſagte: 15. dürfen n nicht ſo mit ihm reden wie mit dir. i

Mareili. Und mit der Gertrud?

Kinder. Auch nicht ſo gar.

Mareili. Ich will euch lehren, daß ihr vor dem Abend ſie verſtehen und mit ihnen reden duͤrfet wie mit mir.

Mit dieſem Wort wandte es ſich gegen den Herrn Lieutenant und ſagte ihm: jetzt kommen Sie, und fragen Sie ein Kind nach dem andern, was Sie nur wollen. Ich will ſehen, ob ſie auch nicht uͤber alles luſtig und freudig Antwort geben koͤnnen, wie wenn ich ſie fragen wuͤrde.

Der Lieutenant ließ fi) das nicht zwenmal ſagen. Er gieng mit ihm von einem Kind zum andern, fragte es, was ihm in Sinn kam und das Mareili nahm dann das Kind, das er ſo fragte und das ihm nicht antworten durfte, lachend bey'm Kopf, bey der Hand oder bey den Ohren und ſagte: Antwort', antworte geſchwind, was dir in Sinn kommt, aber munter und luſtig und laut. Es gieng keine Viertelſtunde, ſo antworteten ihm ſchon einige Kinder laut, munter und beſtimmt auf ſeine Fragen, und es duͤnkte ſie ſelbſt luſtig, daß ſie das Mareili ſo, aber freundlich beyh'm Kopf und bey den Ohren nahm, um fie zu zwingen, das Maul aufzuthun und nicht mehr ſchuͤch— tern zu ſeyn. Etliche fiengen jetzt ſchon an, lachen d zu antworten und Munterkeit und Scherz in hre Antworten

-

155

hineinzubringen. Darüber zeigte dann das Mareili und der Lieutenant ſeine herzliche Freude, und dieſe Kinder mußten dann ihre frohen und luftigen Antworten laut wiederholen. Ueber ein paar ſolche muntere Antworten lachte die ganze Schulſtube mit dem Lieutenant, und jetzt war die Schuͤchternheit im Antwortgeben jafı bey allen Kindern dahin, und die ſchuͤchterſten und beſcheidenſten waren jetzt die, ſo ihm die heiterſten und ungezwungen— ſten Antworten gaben. Es war auch Gluͤlphi auffallend, daß jetzt offenbar diejenigen Kinder, die vorher aus Frech— heit und Unverſchaͤmtheit am ungezwungenſten antworte— ten, nunmehr in dem Grad ihm bedaͤchtlicher und gezwun— gener antworteten, als die braͤvern und unſchuldigern un— gezwungener und freywuͤthiger wurden.

Indeſſen fuhr jetzt Gluͤlphi mit ſeinen Kindern in der Ordnung fort, wie er es mit der Gertrud abgeredt hatte. So wie fie ihm geſtern Vibelſpruͤche auswendig ſagen mußten, machte er fie jetzt in der Bibel leſen. Sie laſen faſt alle ſehr ſchlecht. Das war aber noch nicht das ſchlimmſte, das ſchlimmſte war dieſes, daß das, was fie laſen, für ſie gleichſam in einer andern Sprache war, als in der, in der fie gewoͤhnlich redten, was fie reden konn— ten. Es war auch, auſſer der Gertrud Kinder, ſo viel als keines im Stand, den Sinn deſſen, was es geleſen, aus frehem Mund und in feiner gewohnten Sprache zu wiederholen. Gluͤlphi erwartete daruͤber auch nichts an— ders. Er wußte ſchon laͤngſt, daß man in allen ſchlechten Bauernſchülen das Leſenlehren auf eine Weiſe betreibt, als wenn es das Redenkoͤnnen gar nichts angienge. Aber

156

fo ſehr er diesfalls auch nichts anders erwartete, fo wich: tig waren ihm doch die Folgen dieſes unſinnigen Beneh— mens. Er ſah es als die erſte tiefgreifende Verkehrtheit im Unterricht an, daß man fuͤr das Redenkoͤnnen, das of— fenbar dem Leſe- und Schreibunterricht vorhergehen muͤſſe, nichts thue, und das letzte, das beſtimmt nur eine kuͤnſt— liche Art des Redens ſey, zu lehren ſucht, ehe man fuͤr die Erlernung des Redenlehrens irgend etwas gethan hat. Er fuͤhlte vor allem aus die Nothwendigkeit, hierin zu helfen; aber es war ihm ſchwer, ſeine Ausſprache war den Kindern ſo fremd, als die Buͤcherſprache, in der ſie leſen lernten. Dem Mareili hingegen war es gar leicht; ſeine Sprache war mit derjenigen der Kinder vollkommen die nehmliche, und es fühlte ſogleich, daß es hier beſſer als der Lieutenant helfen koͤnne. Wenn nun die Kinder einen Bibelſpruch geleſen und mit aller Muͤhe, die ſie ſich gaben, doch nicht in ihrer Hausſprache herausbringen konn- ten, was er eigentlich ſagen wolle, fo ſagte das Mareili ihnen denn ſeinen Inhalt in ihrer Hausſprache vor, und fie wiederholten das, was es ihnen ſagte, ſogleich mit Leichtigkeit, und viele von dieſen kamen ſchon an dieſem Tag dahin, den Inhalt einiger der leichteſten Stellen, die fie geleſen, ſelber ohne des Marellis Huͤlfe, in ihrer Spra- che ausdruͤcken zu konnen. Man kann ſich faſt nicht vor— ſtellen, wie ſehr das neue Gefuͤhl, dieſes zu koͤnnen, einige Kinder freute. Viele, viele ſagten mit einem Blick, der dem Mareili heiter zu danken ſchien, nein, nein, das haͤt— ten wir doch nicht geglaubt, daß wir das ſo geſchwind lernen koͤnnten. Auch Gluͤlphi dankte dem Mareili und

157

fagte: du haft mir diefen Morgen meiſterlich gezeigt, wie ſehr du uns dienen und helfen kannſt. Es war auch wirklich auffallend, in welchem Grad die Kinder dieſen Morgen ſchon heimiſcher und freundlicher waren und wie offenbar faſt alle Augenblicke mehrere von ihnen ſich den Kindern der Gertrud naͤherten und ihnen ſagten: wir ler— nen gewiß jetzt auch alles, was ihr koͤnnt; und das freut uns, das freut uns.

. 53,0.

Nur der verſteht es, eine Schule wohl zu fuͤhren, der wohl weiß, worauf es im Leben ſelber taͤglich und ſtuͤndlich ankommt, wenn man gut und mit heiler Haut durch die Welt Toms men will. |

Das Mareili aber achtete auf dergleichen Augenblicks— freuden der Kinder nicht viel. Es wußte, daß ſie bei un— gezogenen Kindern ſo unbedeutend und voruͤbergehend ſind, als Sonnenblicke, die an einem ſtarken Regentag zwiſchen dicken und ſchweren Wolken hindurch ſchimmern und von denen die Bauern ſagen: „Sonnenblick Regendick,“ und war uͤberzeugt, daß nur Anſtrengung und Ausharrung dergleichen Entſchluͤſſen bey Kindern Feſtigkeit und Dauer verſchaffen koͤnnen. Es war ihm alſo vor allem auch das

158

Wichtigste, ſich ſicher zu ſtellen, daß die Kinder von der Stund an daran gewoͤhnt werden, in der Schule ihre Kraͤfte weit mehr anzuſtrengen, als es bisher geſchehen. Im erne ſten Gefuͤhl dieſes Beduͤrfniſſes ſtellte es ſich jetzt oben an die zwey Schultiſche, nahm eine Stellung an, wie wenn es in ſeiner Werkſtube ein halb Dutzend ſchlechte Spinner— weiber muſtern und in Ordnung bringen wolle, und ſagte dann zu den Kindern: Kinder! wiſſet ihr noch, was der Herr Pfarrer am Sonntag in der Kirche zu der ganzen Gemeinde geſagt hat? das nehmliche will und muß ich jetzt euch auch ſagen. Wollt ihr in der Welt etwas Rechtes wer— den, oder wollt ihr darin von eurer Jugend auf bis ans Grab ſchlechte, unnuͤtze, zu nichts taugliche und brauchbare Men— ſchen ſeyn und bleiben, und auf eine Weiſe aufwachſen, daß ihr nothwendig dumme, elende Creaturen werden muͤſſet, die ſich in keinem Fall zu rathen und zu helfen wiſſen, wie es ihnen nothwendig iſt, und wie ſie ſollten? oder wollt ihr Menſchen werden, die das recht konnen und recht verſtehen, was der Menſch koͤnnen und verſtehen muß, wenn er mit Gott und Ehren durch die Welt kommen und unter allen Umſtaͤnden, die ihm begegnen möchten, wie ein verſtaͤndi⸗ ger und wohlerzogener Menſch ſich zu rathen und zu helfen wiſſen ſoll?

Natürlich ſagten alle Kinder, fie wollen brave und rechte Leute werden und in der Welt nicht wie Lumpengeſindel und armſeliges, unvernuͤnftiges Pack erſcheinen.

Das Mareili antwortete ihnen: ich glaub es gar wohl, daß ihr alle brave Menſchen und Ehrenleute werden wollet, Haber ihr muͤßt nicht glauben, daß das fo leicht ſey. Was

-

159

das Händli nicht lernt, das kann der Hanſel nicht. Wer ſeine Jugend nicht brav anwendet, der kommt in jedem Fall zu einem ſchlechten Alter, in dem ihm nie wohl ſeyn und nie wohl werden kann. Es braucht viel, recht viel zu ver: ſtehen und zu koͤnnen, wenn man mit Ehren will durch die Welt kommen, und man lernt nichts, gar nichts recht, wenn man ſich nicht große Muͤhe dafuͤr gibt und Tag und Nacht darob ſitzt. Denket nur beym elenden Spinnen, wenn ihr traͤge ſeyd und euch nicht alle Muͤhe gebt, was richtet ihr aus? Es iſt mit allem, was man in der Welt lernen muß, die nehmliche Sache, wenn man nicht fruͤh und ſpat darob ist, und ich muß es ſagen, in den Schulen ſelber kann man traͤge werden und zwar noch eher als in ir⸗ gend einem braven Haus. Wenn ihr das nicht zu Herzen nehmt, was ihr lernen ſollt, und Kopf und Haͤnd' nicht ernſt und unverdroſſen dabey haltet, wie beym ſchwerſten Geſchaͤft, das ihr daheim machen muͤßt, ſo wird nichts rech⸗ tes aus euch werden und es wird weniger nuͤtzen, in der Schule geweſen zu ſeyn, als wenn ihr zu Haus Holz ge⸗ ſcheitet, Baumwolle geſponnen oder ſonſt etwas Nuͤtzliches und Nothwendiges gethan haͤttet.

So redte er über eine Viertelſtunde mit dem groͤßten Eifer und ſagte denn noch: es kommt nicht darauf an, daß ihr etwa über das oder dieſes beſſer ſchwatzen lernet, als ihr es jetzt koͤnnt, es kommt darauf an, daß ihr auch ein verſtaͤndi— ges und thätiges Leben angewoͤhnet, und daß ihr die Mit— tel, die euch dazu helfen konnen, euch mit Fleiß und An— ſtrengung einuͤbet, bis ſie euch gelaͤufig und ſo zu ſagen zur andern Natur geworden.

1 60

Die Kinder horchten mit großer Aufmerkſamkeit zu, und verſprachen ihm alle, fleißig zu ſeyn und ſich alle Muͤhe zu geben, etwas zu lernen. Dann ſagte das Ma— reili noch: trauet euch nicht ſo wohl, Kinder; der Menſch, iſt ſchwach, und vergißt ſo leicht, was er ſich vornimmt. Bethet alle Morgen und alle Abende fleißig, daß euch der liebe Gott helfe, eure guten Vorſaͤtze auch recht zu erfuͤllen.

Auch Gluͤlphi und Gertrud ermahnten ſie jetzt zum fleißigen Bethen und fagten beyde: ihr werdet ſonſt leicht wieder vergeſſen, was euch das Mareili geſagt und was ihr mir verſprochen. 1

Die Schulſtunde war eben voruͤber. Die Kinder ſtan— den auf und draͤngten ſich alle faſt unwillkuͤhrlich um das Mareili herum. Es both allen die Hand und ſagte: gib mir jetzt noch die Hand darauf, daß du nicht vergeſſen wolleſt, was du mir heute verſprochen.

Dann bothen ihnen auch Gluͤlphi und Gertrud die Hand und ermahnten ſie, nicht zu vergeſſen, was ſie heute verſprochen.

161 9. 54. Der Menſch lebt in Kraͤften und durch Thaten.

Woͤrter im Dienſt der Kraͤfte und Thaten be⸗ helfen das menſchliche Leben

Krafte und Thaten im Dienſt der Woͤrter enthelfen das menſchliche Leben.

Es war ein ſchoͤner Morgen. Gluͤlphis Muth fiärkte ſich wunderbar und ſo, daß er am End des Morgens zu ſich ſelbſt ſagte: noch keine Schlacht hat beym Anfang ei⸗ nen Feldherrn mehr erſchreckt, als mich heute der Anfang meines Schulmeiſterverſuchs, aber auch hat noch nie ein ſo unbedeutender Umſtand die Anſicht eines Feldherrn von einer ſolchen Schlacht fo ſchnell und plotzlich geändert, als die Erſcheinung des Baumwollenmareili's in meiner Schule die boͤſe Anſicht, die ich noch geſtern von dem Erfolg mei⸗ ner Schule hatte, ſchon heute veraͤndert.

Es war auch wirklich alſo.

Die niederſchlagende Anſicht, die ihm geſtern fo miß— ſtimmte, verlor ſich mit jedem Augenblick. Die Kinder wurden ihm zuſehends einzeln lieb und in dieſer beſſern Stimmung erregte die nehmliche Anſicht der Schlechtheit eines Kinds, die ihn geſtern empoͤrte, warmes Mitleiden in ſeiner Seele. Er fuͤhlte in dieſem Mitleiden eine Kraft in ſich entfalten, die ihn jetz doppelt freute, weil ſie ihm geſtern ſo ſehr mangelte. Das Mareili konnte er nicht

Peſtalozzi's Werke. IV. 11

162

genug anſtaunen. Es war ihm unbegreiflich, wie es beym Baumwollenauswaͤgen und beym Garn einnehmen zu der Faͤhigkeit, die Menſchen hinzubringen, wo es ſie haben wollte, und deſonders zu der unwiderſtehlichen Kraft, mit den Leuten reden zu konnen, die es an ſeinen Kindern erwieſen, gekommen.

Er redte über das ganze Mittageſſen mit dem Pfarrer uͤber den Eindruck, den das, was das Mareili, das doch ganz gewiß auſſer der Bibel und ſeinem Gebethbuch noch kein anderes Buch in der Welt geleſen, mit den Kindern geredt hat, auf fie gemacht habe, und fie fanden bepder- ſeits, die innere, hoͤhere Kraft der Beredſamkeit ruhe gar nicht auf der Kenntniß der Redekunſt und ihrer Formen, ſondern auf der lebendigen, geiſtigen und gemuͤthlichen Fuͤlle, mit welcher ein Menſch den Gegenſtand, uͤber den er reden will, in fi ch felber aufgenommen, und denn hin— wieder auf dem lebendigen Intereſſe, das man hat, ſich dem, mit d dem man redet, dieſen Gegenſtand auf eine Art, die ee zu faſſen geneigt und geſchickt iſt, deutlich und klar zu machen und mit Beweggruͤnden, die ſichern Eingang bey ihm finden, fuͤr denſelben zu gewinnen. Alles, was das Mareili zu den Kindern redte, ſagten ſie ferner, lag und lebte ſchon als Erfahrungsſache in dem Geiſt und in dem Herzen ſeiner Kinder; darum wirkte auch jedes Wort, das es redte, ſo ſehr auf ſie. f

Die Herren endeten ihr Geſpraͤch uͤber dieſen Gegen— ſtand mit der Bemerkung: nur das, was in geiſtiger, ge⸗ muͤthlicher und phyſiſcher Uebereinſtimmung mit dem ſteht, was das Individuum, mit dem man redet, wirklich ſelbſt

165 iſt, nur das iſt für daſſelbe wirklich Wahrheit; aber es iſt für daſſelbe auch eine wortleere, ſtille und darum auch das Innerſte eingreifende Wahrheit. Jedes Gerede aber, das nicht in ſolchen, in das innere Weſen des Manns, mit dem man redt, eingreifende Wahrheiten hat, jede Wortfuͤlle, die für den Mann, zu dem fie geredt, im Er— fahrungsgang feines Lebens nicht einen belebten Hinter- grund hat, iſt für denſelben ein elendes Geſch watzwerk und eine armfelige Maulbraucherey, und kann ihm alle böfen Folgen herbeyfuͤhren, die dieſes große Haus— mittel der ſelbſtſuͤchtigen Verirrungen unſers Geſchlechts, die Maulbraucheren, durch ihre Taͤuſchungen und Anma— ßungen demſelben herbeyzufuͤhren gewohnt iſt. Und Gluͤl— | phi fügte dieſer Bemerkung noch eine Stelle bey, die er einmal aus dem Tagebuch eines ſeiner Freunde ausgeſchrie— ben: „Woͤrter find nichts als ein Huͤlfsmittel der nach Ent— „faltung und thaͤtlicher Wirkung ſtrebenden, menſchlichen „Kraͤfte, das ſich in Schall und Laut durch den Mechanis— „mus des Munds ausſpricht und durch denjenigen des Ge— „hoͤrs wieder empfangen wird. An ſich iſt das Wort alſo „ein nichtiger, leerer Schall, und es wird dem, der redet, „nur durch ſeine Uebereinſtimmung mit der Kraft und „Wahrheit, in der es von ihm ausgeht, und bey dem, der „es hoͤrt, nur durch die Uebereinſtimmung mit der Kraft und „der Wahrheit, die es in ihm antrifft, zu etwas mehr als „zu einem leeren Schall, zu einer Realitaͤt. Darum iſt „auch das Wort des kraft⸗ und thatenloſen Manns, ſo wie „es in ihm liegt, ſpreche es ſich in bürgerlicher Scheinweis— „heit oder in religioͤſer Scheinſalbung aus, nichts anders

164

„als ſo ein leerer Laut, geeignet das Abſterben des Manns, „der es ausſpricht, durch den Sinn des Gehörs zu beur— „kunden und verſtaͤndlich zu machen, denen es durch den „Sinn des Geſichts nicht genugſam in die Augen zu fallen „vermag. Es iſt wahr, das Wort des unerweckten, Fraftz, „willen- und thatenloſen Manns, ſo ſehr es auch in eines „andern Mund einen erhabenen und tiefen Sinn haben „mag, iſt in ſeinem Mund nichts anders als ein leerer, eit— „ler Laut, der ihm und einem jeden Mann, der ihm gleich iſt, „zu einem Ohr hinein und zum andern wieder hinaus geht.“

9. 35. Wenn dein Aug heiter iſt, ſo iſt dein ganzer Leib heiter, und wenn dein Aug dunkel iſt, ſo iſt auch dein ganzer Leib dunkel.

Froh und freudig eilte Gluͤlphi, da es Ein Uhr ſchlug, wieder in ſeine Schule. Gertrud und das Mareili waren ſchon wieder da, als er ankam.

Oh, wie viel beſſer gieng es ihm jetzt ſchon als geſtern! Was ihn noch ſo vor wenigen Stunden empoͤrte, erregte jetzt ſein Mitleiden, und was ihm da noch maͤchtig erzuͤrnte, deſſen erbarmte er ſich jetzt. Er druͤckte jego einem Knaben, der ihn geſtern ausſpottete und noch heute ein haͤmiſches Geſicht gegen ihn machte, liebreich die Hand, und ſagte zu

165

ihm: armes Kind, ſey doch nicht fo, du ſchadeſt nur dir ſelber. Mit jedem Augenblick fielen ihm jetzt die Kin— der mehr einzeln ins Aug. Der ihn verwirrende und ſo ſehr mißſtimmende Eindruck der Schlechtheit des ganzen Haufens war gleichſam in ihm verſchwunden. Sie ſtan— den ihm jetzt im Gegentheil alle Augenblicke mehr als ein— zeln vor Augen und naͤherten ſich ſo immer mehr ſeinem Herzen. Alle Augenblicke kam ihm jetzt an dieſem oder an jenem Kind, das ihm geſtern ganz verſchroben vorkam, das eine oder das andere 5 ae und ſogar liebens⸗ wuͤrdig vor.

Gertrud hatte ihn geſtern ſchon darauf aufmerkſam gemacht, daß nicht alle Kinder allgemein und gar nicht alle gleich, ſondern die einen in dieſem, die andern in je— nem, die einen auf dieſe, die andern auf jene Art verſchro— ben feyen, und daß mitten in dieſer Verſchrobenheit der eine dieſes, der andere jenes Gute an ſich habe, der eine dieſe, der andere jene vorzuͤglichen Anlagen beſitze, die, wenn ſie auf eine gute Art angeregt und belebt wuͤrden, der anderweitigen Verſchrobenheit deſſelben, ſo viel als von ſelbſt ſich entgegenſetzen, und dadurch mitwirkende Entfal- tungs⸗, Bildungs: und Staͤrkungsmittel ihrer allgemeinen Kraͤfte und Anlagen werden.

Das wurde ihm jetzt mit eder Stunde heiterer. Es waren dieſen Nachmittag ſchon nicht mehr blos der Ger— trud und einige wenige andere Kinder, bey denen er einen guten Erfolg ſeiner Bemuͤhungen zuverſichtlich hoffte. Er faßte beynahe kein einziges mehr im voͤlligen Dunkel des Nebels ins Aug, der ſich geſtern in ihm uͤber das Ganze

106

der Anſicht dieſer Kinder verbreitet. Er konnte nicht an— ders, er mußte von dem einen und dem andern ſchon heute zu ſich ſelber ſagen: es iſt mir, als ob es nicht das nehm— liche Kind ſey, das mir geſtern vor Augen ſtand.

Die Folgſamkeit, die Ordnung, die Thaͤtigkeit, die das Weſen alles Schulſegens macht, ſchien ihm ſchon an die— ſem Tag durch das Mareili errungen; und als er ihm am Abend fuͤr, das, was es diesfalls geleiſtet, gedankt, ſagte er zugleich zur Gertrud, wenn das gute Mareili mir meinen Schulfegen in dem, was auſſer mir iſt, geſichert, ſo haſt du mir ihr in dem, was in mir ſelbſt liegt, gegruͤn— det, indem du Mitleiden und Erbarmen fuͤr meine Kin— der in meine Seele hineingebracht, ohne welche, wie ich es heiter ſehe und lief fühle; alle aͤuſſere Huͤlfe, die ich für meine Schule erhalten koͤnnte, ohne alle Folgen ſeyn wuͤrde rein! id | .

Und er hatte ganz recht. Sein Mitleiden und ſein Erbarmen haben, ihn ſelber bey allen großen und hohen Anlagen, die er hiefuͤr hatte, zu einem ganz andern Schul: meiſter gemacht, als er geſtern noch war. Da er alſo die Wirkung des Mitleidens und Erbarmens auf die reine Entfaltung der hohen Muttertreu, die in der Gertrud Stube, auf deren Fundamente er ſeine Schule begruͤnden wollte, Statt fand, ins Aug faßte, fiel ihm in dieſem Au— genblick der Bibelſpruch in den Mund: „wie ein Vater ſich uͤber ſeine Kinder erbarmet, ſo erbarmet ſich der Herr über alle die, fo ihn lieben!“ und er mußte zu ſich ſel— ber ſagen: wie ſich Gott über die erbarmet, die ihn lieben, alſo muß ich mich uͤber die Kinder dieſes Dorfs erbarmen,

167 wenn ich fie wahrhaft liebe und wahrhaft ihr Schulmei⸗ ſter ſeyn will. Und dann ſetzte er noch einmal hinzu: ohne dieſe hohe Kennzeichen der Goͤttlichkeit und Reinheit der menſchlichen Liebe iſt es unmöglich, das Reſultat der Freyheit, des Frohſinns und der Unſchuld in der Anſtren⸗ gung der menſchlichen Kraͤfte zu erzielen, das die Wohn⸗ ſtube der Gertrud zum Heiligthum Gottes macht und ohne | welches zu erkaͤmpfen, es mir wahrlich nicht der Mühe lohnen koͤnnte, Schulmeiſter in Bonnal zu ſeyn. |

So redte jetzt der Mann, den nur vor ein paar Tagen ein ſolcher Eckel gegen alles Schulhalten ergriff, daß er faſt an keinem Kind irgend etwas Gutes mehr ſah, und ſoweit war feine diesfaͤllige Stimmung ſchon heute, wieder geaͤn⸗ dert.

Es gieng auch von jetzt an alle Tage beſſe er in der Schu⸗ le. Das Mareili kam bis am Freytag alle Morgen und alle Nachmittag in dieſelbe. Am Samftag kam es nicht, weil es an dieſem allgemeinen Srestag (Speditionstag) nothwendig in ſeiner Baumwollenſtube ſehn müßte. a

9.556. Abermal wenn Bei Aug fler iſt, 10 iſt auch

dein ganzer Leib finſter, und deine Werke ſind Werke der Finſterniß.

Indeſſen die gute Gertrud dieſe Zeit uͤber alle Tage bey Glaͤlphi in der Schule zubrachte, gieng fie im Heimweg

168

faft jeden Abend noch beym guten Rudi vorbey. Sie hatte ſeinethalben wegen der Meyerin noch nicht alle Hoffnung Perloten. Edelmuͤthig, wie ihre Freundin war, konnte 1 Gertrud keinen Augenblick zweifeln, daß fie bey dem guten Rudi ohne Vergleichung gluͤcklicher ſeyn würde als beg dem Ochſeufeißt, den die Voguin ihr fo zudringlich anem⸗ pfahl, Was den Rudi noch beſonders daruber in guter Hoffnung erhielt, war dieſes, daß er als ſicher vernommen, die Meyerin habe uͤber den unverſchaͤmten Brief, den der reiche Tropf, an die Hutervdgiin geſchrieben, gelacht und ihr, da ſie ihn, ihm ſelber zeigte, daruͤber keine Antwort ge⸗ geben. Ai ch meynte er, er habe ſeit einiger Zeit bemerkt, ſie begegne ihm, wo ſie ihn antreffe, immer freundlicher. Indeſſen war die Untervoͤgtin ihrer gemachten Aeuſſe— rung, wenne eine Sache anfange ſchwjerig und mißlich zu werden, N müͤſſe man die Mühe, dir man ih, vorher dar⸗ über gegeben, denn verdoppeln, vollig getreu. Je beſſer die Berichte für! den guten Rudi zu lauten anfiengen, deſto mehr verdoppelte fie, auch ihre Bemühungen, dieſem gu⸗ ten Menſchen ſeine Hoffnungen zu Waſſer zu machen. Die Meyerin konnte keinen Schritt thun, dem die Voͤg— tin nicht nachſpuͤrte. Wenn ſie den Rudi auch nur auf der Straſſe gruͤßte, fo vernahm fie es. Auch betam fie wirklich die Nachricht, die Meyerin zeige ſich, wo ſie den Rudi immer; antreſſe, gegen ihn ſo freundlich, als ſie immer nur könne und dürfe, Die Voͤgtin verſuchte das Aeuſſerſte und man möchte wirklich meynen, es koͤnnte dem Teufel nicht zu Sinn kommen, was ihr alles, dieſe Sache zu hindern, in den Kopf ſtieg. Aber das meiſſe a

169

fehlte ihr doch, und war umfonft vexſucht und ge han. Eudlich, nachdem ihr vieles gefehlt, kam ihr gar in Sinn, fie wolle den unnatuͤrlichen Edel, der die Meyerin ſſo leicht anwandle, fuͤr dieſen Zweck benutzen und ihn gegen den Rudi kehren, wie er bisher gegen den Ochſenfeißt gelehrt war. Sie ließ zu dieſem Endzweck allenthalben im Dorf ausfpreugen, die gejiorbene Frau des Huͤbelru— dis habe das fallende Weh gehabt, und man habe deut— liche Spuren, ſeine Kinder moͤchten vom gleichen Uebel behaftet werden, wenn fie es nicht ſchon ſeyen, mit dem Zuſatz, dieſe Krankheit ſchleiche ſich bey nervenkranken Leu— ten und in unreinlichen und unordentlichen Haushaltungen leicht ein. Und da dieſe Frau wirklich eine lange Reihe von Jahren nervenkrank war, und es auch eben ſo lange in ihrem Haus immer bis zum Eckel unreinlich ausſah; hoffte die Untervoͤgtin, dieſes Gerücht werde unfehlbar im Dorf Fuß greifen und auch bey der Meyerin ihres Eckels halber am allerleichteſten Glauben finden, ſobald es ein— mal im Dorf nur ausgeſprochen würde. Aber zum Gluͤck fuͤr den Rudi erwahrte ſich auch hier das Sprichwort: wem Gott wohl will, dem mag niemand uͤber, und wer ſeinem Naͤchſten eine Grube gräbt, faͤllt ſelbſt hinein.

Es gieng zwar gar nicht lange, ſo entſprangen, man wußte nicht wie und woher, auf einmal die ſonderbarſten Geruͤchte uͤber dieſen Mann. Man ſagte ſich im ganzen Dorf die ſchandbarſten, unflaͤtigſten Dinge uͤber ihn ins Ohr, ſchonte weder der Frauen unter dem Boden noch der unmuͤndigen Kinder. Ich darf nicht ins Maul neh— men, was man alles ſagte, und erzaͤhle das einige davon,

170 man ſagte uͤber die Frau felig, ihre Gichter ſehen, b'huͤt uns Gott davor! eine Art Weh geweſen, das den Kindern ſelber noch im Blut ſtecken koͤnne, und das Liſeli mache in Gottes Nahmen Augen, daß man fo etwas fürchten muͤſſe, wenn mann's nur anſchaue. Der Teufel haͤtte nichts erfinden koͤnnen, das ſchlauer ausgedacht geweſen, in der Meyerin eine Art von Entſetzen gegen den Rudi hervorzubringen, und auf dieſe feine Hoffnungen ſcheitern zu machen. N 8 Es erſchuͤtterte die Meherin, da das Gerücht ihr zu Ohren kam, durch und durch, und wenn ſie nur eine Vier— telſtunde gewartet haͤtte, daß der Schrecken daruͤber ſich in ihr ſetzen und der Eckel dagegen haͤtte Fuß greifen koͤn— nen, fo wäre der Untervoͤgtin ihr Abſehen wie gewiß we— nigſtens ſo weit gerathen, daß ſie den Rudi auch nicht mehr hätte heurathen konnen, wenn fie hintennach ſchon zehnmal vernommen, daß an allem nichts wahr waͤre.

————

J. 57. Der Wahrheit Licht und der Liebe Flamme leuch⸗ tet in die hinterſten Winkel der Finſterniß und bringt ihre Werke an den Tag.

Aber ſie ſprang zu ſeinem Gluͤck in allem Feuer auf das erſte Wort, das fie hörte, zur Gertrud, und redte in

#

171

diefem Feuer mit einer Heftigkeit, die dem Eckel, den fie ſicher gefaßt hätte, wenn fie ſich gemaͤßigt, nicht Pla gab. Das rettete den guten Rudi.

Sie ſtampfte in der erſten Minute, in der dritten hatte ſie Thraͤnen in den Augen.

So lange fie ſtampfte, ließ fie Gertrud fortreden; da ihr aber Thraͤnen in die Augen kamen, nahm ſie ſie bey der Hand und ſagte: du dauerſt mich, aber du biſt be— trogen. a

Wer wollte doch auch Satans genug ſeyn, denn gera— den Wegs ſo etwas zu erſinnen, wenn gar nichts dahin— ter waͤre? ſagte die Meyerin mit fortdauerndem Eifer.

Ich will nicht ſagen wer, erwieberte Gertrud, und ſah die Meyerin bey dieſem Wort ſteif an; aber jemand, fuhr ſie fort, hats gethan und erfunden, das iſt gewiß, und du kannſt es daraus abnehmen, daß man von allem dieſem uͤber den Rudi kein Wort erzaͤhlt, ſo lange er ein armer Mann war und von dir nichts wußte, und es aber jetzt herum trommelt, da man hoͤrt, y er dich ak men follte,

Bey dieſem Wort kam der Meyerin wie ein Blitz in Sinn, die Untervoͤgtin koͤnnte dahinter ſtecken.

Gertrud aber gab keinen Wink, daß ſie diesfalls gegen jemand in ihrem Herzen einen Verdacht habe, und ſagte

ur: es mag jetzt Mißverſtand oder Bosheit die Urſache dieſes Gereds ſeyn, ſo iſt ſo viel gewiß, die Sache iſt nicht wahr, und an deinem Platz wuͤrde ich mich daruͤber nicht in Eifer bringen laſſen, ſondern ruhig der Wahrheit

172

oder Unwahrheit der Sache auf die Spur zu kommen ſuchen.

Die Heftigkeit der Meyerin war jetzt ſchon voruͤber. Sie ſagte ruhig zur Gertrud: du biſt doch unparthegiſch.

Dieſe antwortete: bewahr' mich Gott, daß ich dir ei⸗ nen Mann anrathen ſollte, der dir hintennach, fo wie du biſt, wenn er auch unſchuldig wäre, zum Eckel werden muͤßte.

Du biſt brav und gut, ſagte jetzt wieder die Meherin.

Und Gertrud: wenn ich dir nur limmer lieb bleibe und es dir wohl geht.

Die Meyerin erwiederte: ich thue jetzt, was du mix gerathen, und will fuͤr einmal weder glauben, daß etwas, noch daß nichts daran wahr ſey.

Ohne es der Gertrud zu ſagen, war der Verdacht, die Voͤgtin möchte daran ſchuld ſeyn, ſchon in die Seele der Meyerin gedrungen, und ſie war lebhaft entſchloſſen, vorzuͤg⸗ lich und vor allem dieſer Spur nachzugehen. Sie traf auch gleich bey ihrem Haus eine Waͤſcherin, die Krummhaͤuslerin, an, die ſie als eine Erzſchwatzerin kannte, und oft bey der Voͤgtin geſehen, und fragte ſie: ob ſie die verſtorbene Frau des Huͤbelrudis gekannt? Dieſe ſaͤumte dann nicht, von dem Ungluͤck dieſer Frauen und dem fallenden Weh, das fie manchmal beym Neumond. überfallen u. ſ. w. zu erzaͤhlen.

Die Meherin ſah ihr ſteif ins Geſicht und ward von der Art, wie fie es erzaͤhlt, uͤberzeugt, daß fie das feiber nicht glaube. Sie gieng ihr auf eine andere Weiſe zu Leib, und brachte mit einem Trinkgeld und dem Verſpre—

175 chen, es ihr nicht auszubringen, endlich heraus, was fie ahnete.

Aber ſo ſehr ſie die Ausſage der Waͤſcherin zufrieden ſtellte, fo wurmte ihr dennoch, es koͤnnte, wo nicht viel, doch etwa wenig hinter der Erdichtung ſelber ſtecken, die die Voͤgtin im Dorf ſherumgebothen. Das alte Sprich⸗ wort: „es iſt kein Raͤuchli ohne Feuerli“ wollte ihr noch gar nicht aus dem Kopf:

Sie konnte nicht anders, ſie mußte noch lange und auf alle Weiſe nachforſchen, ob denn gar nichts dahinter ſtecke. Es fand fich auch gar nichts. Selber die rauhe Hallorin, die zehen Jahre mit dem Rudi unter einem Dach gewohnt und dabey mit ihm und mit feiner Frauen beſtaͤndig im Streit geweſen, fagte: fie koͤnne nicht fagen, daß nur das Geringſte von dieſem Geruͤcht wahr ſey, und ſetzte hinzu: es wire etwas anders, wenn man ſagte, ſie fep eine lies dsrliche Frau geweſen und ein Narr, und habe den lieben Gott mit Bethen und Muͤſſiggehen zwingen wollen, daß es in der Welt anders gehe als es geht u. dergl.; aber daß ſie die fallende Sucht an ihr gehabt oder uͤber ihren Mann ſolche Klagen gefuͤhrt, und daß er ein Unflath ſey, wie man jetzt ſage, das ſey hundertmal nicht wahr, wenn man es auch hundertmal ſage. Und ſo war's allent⸗ halben; es kam nichts heraus, als daß es Luͤgen und Aber— lügen ſeyen.

Hingegen vernahm ſie durch ihr Nachforſchen alle Tage neue Umſtaͤnde von ſeinem alten Elend, von ſeiner Geduld und ſeiner Gutmuͤthigteit; und das brachte ihr den Rudi jeden Tag näher ans Herz.

J. 38.

Es iſt fuͤr arme Leute in der Welt oft eine ſchwere Sache, Recht zu ſuchen und Recht zu finden; Wohl denen, die Huͤlfe dazu finden.

1

Der Rudi ſelber war einer der letzten Menſchen im Dorf, der dieſe boͤſe Nachrede gegen ſeine Frau ſelig vernahm. Er weinte die hellen Thraͤnen. Ach, mein Gott! ſo redte er eine Weile mit ſich ſelber ach, mein Gott! daß mir jetzt auch noch das begegnen muß, und daß die Leute auch fo entſetzlich boͤs find. Und denn bald darauf: es iſt jetzt, denke ich, mit meiner Hoffnung auf die herrliche Meyerin auch vollkommen aus. Wenn ſie ein Wort dergleichen ver— himms, fo erſchrickt fie darob, daß fie keinen Augenblick mehr an mich denken darf, und ich muͤßte ihr zum Herzen hinaus fallen, wenn ich ſchon ſiebenfach darin waͤre.

Es kam dem guten Menſchen noch kein Sinn daran, daß die Untervoͤgtin dahinter ſtecke; aber er wußte ſich weder zu rathen noch zu helfen.

Mit der Gertrud war es nicht voͤllig alſo. Ob ſie gleich im Anfang den Gedanken aus ihrem Herzen entfernen wollte, daß die Voͤgtin daran Schuld ſeyn koͤnnte, ſo kamen jetzt ſo viele Umſtaͤnde hervor, daß ſie nunmehr vollkommen da— von uͤberzeugt war. Und als ſie ihren guten Rudi ſo in tiefem Jammer daruͤber verſunken ſah, konnte ſie nicht mehr unthaͤtig dabey bleiben. Aber ſich ſelber in dieſer Sache zu helfen, fühlte fie ſich fo wenig faͤhig als der Rudi ſelber.

175

Sie troͤſtete den Mudi mit wenig Worten, lief aber ſporn— ſtreichs zu dem Baumwollenmareili, von dem ſie wußte, daß es ſich in ſolchen Faͤllen beſſer als ſie zu helfen ver— ſtand, um ſich bey ihm Raths zu erholen, was in dieſer Sache zu thun ſey.

Das Mareili, das auch ſchon von dieſem Geruͤcht gehoͤrt, erwiederte: man muß in aller Eil ſuchen, der Sache auf die Spur zu kommen und trachten, daß man es der Voͤgtin beweiſen koͤnne, daß das Geruͤcht von ihr herkomme; das uͤbrige wird ſich denn ſchon geben.

Ja, erwiederte Gertrud, wenn nur das moͤglich iſt, aber ich weiß nicht, wie es anſtellen. Und das Mareili: Laß das nur mich machen; ich kenne die Lumpenleute ſchon, die die Voͤgtin zu Streichen von dieſer Art gebrauchen kann, und es fehlt nicht, ich will dieſer Sache noch vor dem Abend» brod auf der Spur ſeyn. Geh' jetzt du mir wieder heim und laß mich machen.

Gertrud gieng jetzt und ſagte noch im Gehen: wenn's nur Gottes Wille iſt, daß dir das nicht fehlt.

Es fehlte ihm nicht. Gertrud war kaum eine Stunde wieder bey Gluͤlphi in feiner Schule, fo ließ fie das Mas reili herausrufen und fügte ihr: es habe ſchon zwey im Rech⸗ ten guͤltige Maͤnner zu Zeugen, daß die Voͤgtin zwey Tage nach einander zu ihren Weibern gekommen und bey ihnen ein Weites und Breites von der böfen Krankheit, mit der des Rudis Frau befallen geweſen, gemacht, und wie man den Kindern in den Augen anſehe, daß fie die nehmliche ſchreckliche Krankheit gefahren; ſie habe eine von dieſen Frauen fogar beyſeits genommen und ihr im Vertrauen ge—

g 176

fagt, fie ſey in einer großen Verlegenheit, man gehe von mehreren Seiten ihre Schwägerin, die Meyerin an, daß fie den Huͤbelrudi heurathe, und es thue ihr in der Seele weh, und mache ihr bang, ſie in eine Haushaltung hinein- gehen zu laſſen, wo ſie dergleichen Ungluͤcke zu erleben ge— fahre; ſie duͤrfe es ihr aber nicht ſagen, weil ſie glauben wuͤrde, es geſchaͤhe aus Mißgunſt und Neid, weil fie wiſſe, daß fie den Huͤbelrudi nicht gerne habe; fie muͤſſe fie des— nahen dringend bitten, die Sache im Dorf, wo ſie immer konne und möge, anzuregen, daß es der Meyerin von ak len Seiten zu Ohren komme u. ſ. w.

*

2

9. 39. Die hoͤchſte Lobrede einer Obrigkeit iſt das allges meine Vertrauen, das der Arme und Schwa⸗ che im Land auf ſie hat.

Die Gertrud freute ſich wie ein Kind über dieſe Nach— richt, aber fo fehr fie guch das Mareili freute, fo war dies ſes damit noch nicht zufrieden. Es ſagte, wir muͤſſen und duͤrfen jetzt nicht auf dem halben Wege ſtehen bleiben, die Voͤgtin muß mir wiſſen, was fie gethan hat und du muft, ſobald die Schule aus iſt, und wenn du kannſt, fruher, mit mir ins Pfarrhaus; der Herr Pfarrer muß dem Junker auf der Stelle ſchreiben, was diesfalls vorgefallen; das Ue— biige wird ſich denn wohl von ſelbſt geben.

177

Sie giengen auch wirklich, ſobald die Schulſtunde vor⸗ uͤber, mit einander ins Pfarrhaus, und erzählten dem H. Pfarrer umſtaͤndlich, was diesfalls bei gegnet und wie weit fie. der Quelle dieſer Unverſchaͤmtheit auf der Spur ſeyen.

Der Pfarrer fragte der Sache ſehr ſorgfaͤltig und um⸗ ſtaͤndlich nach und das Mareili nannte ihm die zwey Maͤnner, die zu der Ausſage, die es ihm hinterbracht, ſtehen wuͤrden, wenn es nothwendig waͤre, und wieder⸗ holte ihm denn ihre Ausſagen noch einmal mit Beſtimmt⸗ heit. Der Pfarrer verſicherte jetzt die zwey guten Weiber, daß er ſogleich die noͤthigen Schritte thun werde, der ar— men Frau unter dem Boden zu ihrem Recht und dem guten Rudi aus ſeiner diesfaͤlligen Noth zu helfen. Er ließ dann dieſe zwey Maͤnner noch dieſen Abend zu ſich kommen, fragte auch ſie uͤber das, was die Voͤgtin dies— falls mit ihnen und mit ihren Frauen geredt, genau aus, und als er ſich der Bosheit dieſes Weibs, der Verrucht⸗ heit ihrer Mittel, ſo wie der rechtlichen Beweisbarkeit die— ſer teufliſchen Handlung ganz uͤberzeugt hatte, bath er die zwey Zeugen, fuͤr einmal niemand zu ſagen, daß er mit ihnen darüber geredt, war aber am Morgen darauf bey— nahe vor Tag ſchon beym Junker und erzaͤhlte ihm den ganzen Vorfall mit allem, für feine Beweisbarkeit noͤthi⸗ gen Belegen, f

Peſtalozzi's Werke. IV: 12

178 | J. 40.

Sind unſere Zeiten fuͤr einen ſolchen Rechtsgang zu ſchlecht, oder iſt ein ſolcher Rechtsgang fuͤr unſre Zeiten zu ſchlecht?

Der Junker, empoͤrt uͤber die Voͤgtin, geruͤhrt uͤber den Rudi, und erfreut uͤber den Erfolg der Nachforſchungen des Mareilis, ſprach jetzt wie in einer Begeiſterung ploͤtz— lich das Wort aus: dieſer Erzlumpenſtreich muß mir, wenn's Gottes Wille iſt, die Meyerin noch zur Braut des guten Rudis machen.

Von dieſem unerwarteten Ausſpruch uͤbernommen, ſagte der Pfarrer mit inniger Ruͤhrung: wenn das auch möglich wäre, wie gluͤcklich waͤre dieſer Lumpenſtreich für dieſen guten Menſchen!

Wir wollen jetzt fort und dann in Bonnal ſehen, was hiefuͤr moͤglich, erwiederte jetzt der Junker, eilte, ſo ſehr er konnte, fortzukommen, ließ die zwey ſchnellſten Pferde, die er im Stall hatte, anſpannen und legte den Weg nach Bonnal in ſo kurzer Friſt zuruͤck, als er dieſes noch nie gethan.

Im Pfarrhaus abſteigen und der Voͤgtin ſagen laſſen, ſie ſolle auf der Stelle ins Pfarrhaus kommen, der Jun— ker ſey da und laſſe ſie rufen, war die Sache des gleichen Augenblicks. Naluͤrlich erſchrak die Voͤgtin über dieſen Bericht, doch ahnete ſie nur nicht, was die Urſache davon ſeyn moͤchte. Auch ihr Mann ſchuͤtte te ob dieſem Be:

179

richt den Kopf und ſagte zu ſich ſelber: das iſt doch eine ſonderbare Art, eines Untervogts Frau in ein Pfarrhaus rufen zu laſſen. Doch ſie mußte gehen und gieng. Aber fie war todtblaß, als fie im Pfarrhaus in die Stube hin— eintrat und den gnaͤdigen Herrn fragen wollte, was er zu befehlen habe. Aber der Junker ließ ſie nicht einmal zum Reden kommen. Sie hatte kaum die Thuͤre aufge⸗ than, ſo fuhr er ſie mit dem Wort an: weißt du, was man thun muß, wenn man einen Menſchen vor ſich hat, der vom Teufel beſeſſen iſt?

Sie erwiederte am ganzen Leib zitternd: Gnaͤdiger Herr! wie ſollte ich das wiſſen?

Und Arner: ich will dir, wenn du es nicht weißt, an dir ſelber zeigen; ich will dir den Teufel, von dem du beſeſſen, auf eine Weiſe austreiben, wie er dir in deinem Leben noch nie ausgetrieben worden iſt.

Wuth und Furcht ergriffen jetzt die Voͤgtin miteinan⸗ der. Sie wollte reden, aber ihre Lippen bebten, ihr Hals ſchwoll ſichtbar unter dem Kinn auf. Sie konnte nicht reden, und mitten in ihrer Wuth nicht einmal ahnen, was Arner meynte und wollte. Jetzt gab er ihr plotzlich Aufſchluß und ſagte: du haſt die verfluchteſten Geruͤchte, die je eine teufliſche Seele gegen eine unſchuldige Frau, die ſchon im Grab liegt, ausſagen kann, im Dorf herum verbreitet.

180

J. 41.

Es zeigen ſich Schwierigkeiten in dieſem Rechts⸗ gang, und es wird heiter, daß er für Bir chermenſchen und ſchwache Richter, und viel⸗ leicht auch fuͤr die, ſo ſchwach ſind, nichts taugt. 0

Nun merkte die Voͤgtin, warum es zu thun fey. Da⸗ mit minderte ſich zwar nicht ihre Wuth, doch etwas ihr Schrecken. Sie glaubte, weil es nur das anbetreffe, ſo koͤnne fie auf ihres Mannes Schutz und Einfluß zählen, und ſieng nach und nach an, die Miene und Stellung zu nehmen, die alte Richter ganz wohl an Schelmen kennen, die mit dem Glauben, fie koͤnnen ihre Schelmenſtuͤcke ab⸗ leugnen, und mit dem feſten Entſchluß, es zu probiren, vor ihnen ſtehen. Mit dieſer Miene und in dieſer Stel⸗ lung ſah ſie jetzt Arner ſteif an und die Voͤgtin ſagte ſo eutſchloſſen als es immer ihr Herzklopfen, das fie zu ver⸗ bergen ſuchte, zuließ: Gnaͤdiger Herr! Sie mepnen ge wiß, ich ſey an den Geruͤchten ſchuld, die gegen die ver— ſtorbene Frau des Huͤbelrudi im Dorf herumgehen, aber, ich kann Sie verſichern, dieſe Geruͤchte ſind gar nichts weniger als neu, (fie find ſchon bey Lebzeiten der Frauen im Dorf herumgegangen; was man jetzt ſagt, iſt nur aufgewaͤrmt, was ſehr viele Leute ſchon vorher wußten; daran aber, daß das jetzt geſchieht, bin ich gar nicht ſchuld,

181

und weiß gar nicht, wie das kommt, daß man diefe Sa⸗ che im Dorf eben jetzt wieder aufwaͤrmt.

Sie wagte dieſe Sprache in der feſten Ueberzeue gung, es duͤrfe ſie kein Menſch in dem, was ſie hieruͤber im Dorf ausgeſchwatzt, vorrathen und mit dem feſten Ent: ſchluß, ſobald fie aus dem Pfarrhaus heraus fen, mit je⸗ dermann, der ihr diesfalls etwas ausbringen konnte, zu reden, und alles zu thun, was nothwendig, um einem je— den von ihnen das Maul daruͤber ſicher zu ſtopfen.

9. 42. Der Schweizeriſche Bergarzt Schuͤppach hatte in ſeiner Apothek eine Flaſche mit der Auſſchrift: Der Fe wird Meiſter.

Der Junker verſtand das aber nicht ſo; er wußte ſchon, was an der Sach war, und die erzwungene Frech— heit, in der die Voͤgtin mitten in eben ſo erzwungenem Herzklopfen vor ihm da ſtand, empoͤrte ihn auf eine Weiſe, daß er ſie ſtreng anſah, aber dabey ganz ruhig zu ihr ſagte: du behaupteſt alſo, du habeſt dieſe Gerüchte nicht ins Dorf hineingebracht und nicht darin herumgeboten.

Beydes, der Blick des Junkers und ſeine Frage erhoͤh⸗ ten die Angſt ihres Herzens und verwirrten ſie in dem Schelmenmuth, zu dem ſie ſich einen Augenblick vorher

\ 182

glaubte, erheben zu duͤrfen, faſt eben ſo ſtark als bey. der erſten Anfrage des Junkers. Zitternd ſagte ſie jetzt: ſie habe es gewiß nicht gethan, und ſie werde daruͤber ver— laͤumdet. Das war dem Junker jetzt genug. Er nahm ihrenthalden feinen feſten Entſchluß, und fagte: wenn das iſt, Frau, ſo ſoll dir Gerechtigkeit widerfahren. Vorlaͤufig will ich dir ſagen, wenn du verlaͤumdet biſt, ſo iſt fuͤr ein— mal ver Herr Pfarrer dein Verlaͤumder. Aber, du. haft dabeh gar nichts zu fuͤrchten, es ſoll dir Gerechtigkeit wi— derfahren, wie wenn er der geringſte Bauer im Dorf waͤre. Wenn du aber ſchuldig biſt, ſo nimm dich in acht; denn ich will kein Spiel mit dieſer Sache treiben, und du bleibſt indeſſen da, bis unterſucht iſt, ob du Recht oder Unrecht habeſt.

Todtiblaß und verwirrt erwiederte fie jetzt: ich werde doch zu meinem Mann heimgehen duͤrfen.

Nein, erwiederte Arner, du darfſt nicht einen Schritt auſſer das Haus, und ſtehſt von dieſem Augenblick an un— ter ſtrenger Wacht, bis es ausgemacht iſt, ob du unſchul— dig oder eine Verlaͤumderin biſt. Im letzten Fall wirſt du dann ſehn, was weiter begegnet, und wie lange denn

das Zuchthaus dein fernerer Aufenthalt ſeyn wird.

In dieſem Augenblick ſah ſie den Harſchier neben ſich ſtehen, fieng dann zu heulen an: ich bin ein ungluͤckliches Menſch! oh, Herr Jeſus! wie bin ich ein ungluͤckliches Menſch!

Arner kehrte ihr den Ruͤcken, und der Harſchier winkte, ihr, daß ſie jetzt mit ihm komme.

Ich will ja bekennen, ich will ja bekennen, ſagte ſie

185 jetzt, hielt ſich mit beyhden Haͤnden am Tiſch, der da ſtand und ſchrie immer: ich will ja bekennen, ich will ja be« kennen.

Sie bekannte wirklich, ſie habe hie und da zu einigen Leuten geſagt, die Huͤbelrudin ſey mit der fallenden Sucht behaftet geweſen; aber fie habe es auch von andern Leur ten gehört.

Hierauf fragte ſie Arner: von wem haſt du es gehoͤrt, ehe du es ſelbſt geſagt?

Sie erwiederte: ſie koͤnne das jetzt nicht mehr eigent⸗ lich ſagen.

Arner ſagte: nun, es wird dir vielleicht wohl wieder zu Sinn kommen, wenn man dich weiter fragt. Aber fuͤr einmal iſt mir wichtig zu wiſſen, warum du dieſes Geruͤcht im Dorf ausgebreitet.

Daruͤber wollte ſie jetzt nicht mit der Sprache heraus, und wandte ſich wie ein Wurm, dieſes zu verkleiſtern.

Arner ſagte ihr aber gerade heraus, daß er es ſchon wiſſe, und ſetzte noch hinzu: es muͤſſe ihr ſelber zum Maul heraus, wenn ſie auch daran erſtickte.

Es wollte ihr lange nicht heraus; aber als er wieder vom hier bleiben und mit dem Harſchier auf's Zimmer ſpazieren ſprach, bis die Wahrheit auf einem andern Weg heraus ſey, ergab ſie ſich endlich und ſagte: ſie wolle es in Gottes Namen eben auch ſagen, fie habe ihrer Schwä- gerin ſchon lange eine ſehr gute Parthey zugedacht, und die Furcht, fie möchte ſich von des Maurers Frau bere— den laſſen, daß fie den Huͤbelrudi nehme, habe fie zu die— ſem ungluͤcklichen Schritt gebracht, der ihr aber jetzt herz⸗

184

lich leid fen, fie wollte jetzt um alles in der Welt, daß ſie das nicht gethan haͤtte. 6 5

Nun, wenn das dir ſo ernſt iſt, ſo kannſt du deinen Fehler wieder gut machen. Gehe jetzt nur zu deiner Schwaͤgerin und ſag' ihr, daß das Gerücht, das uͤber die geſtorbene Hüͤbelrubin im Dorf herumgetragen worden, faul und falſch ſey, daß du es wie ein ſcham- und ehrlo⸗ ſes Weib erſonnen, um deinem ſchoͤnen Ochſenfeißt bey ihr ein gutes Spiel zu machen, und ihr den armen Rudi aus dem Kopf zu bringen. Sag' ihr, daß ich alles das wiſſe und du kein Mittel findeſt, der Schande und Spott, den dieſe Handlung verdient, zu entrinnen, als wenn du auf der Stelle zu ihr geheſt, ihr alles bekenneſt, ſie um Verzeihung bitteſt und ihr heilig verſprecheſt, ſie mit dei— nem Ochſenfeißt in Zukunft ruhig zu laſſen, und wenn ſie ſich allfaͤllig entſchließen wollte, an ſeiner Statt den Huͤbelrudi zu heurathen, ihn als ihren lieben Schwager zu erkennen, und ihm und ihr alles Lieb's und Gut's zu erweiſen, was eine brave Schwaͤgerin einem lieben Schwa— ger und ſeiner Frauen zu erweiſen vor Gott und Men— ſchen ſchuldig iſt.

Die Voͤgtin verſprach dieſes alles zu thun, nur bath ſie, ob ſie doch nicht, ehe ſie es thun muͤſſe, vorher noch einen Augenblick heim zu ihrem Mann duͤrfe?

Nein, war wieder die Antwort des Junkers, mit dem Zuſatz: du mußt jetzt ſogleich zur Meyerin gehen und der Harſchier muß dir auf der Stelle nach, zu ſehen, daß du in keines Menſchen Haus hinein 4 bis! du e 1 was du dellercheſt

185

Sie mußte alſo gehen, aber ehe fie kam, hatte die Megerin ſich ſchon uͤberzeugt, daß fie es ſey, die dieſes Gerücht im Dorf ausgebreitet.

9. 45.

Der hohe Segen, der auf Eutſchluͤſſen ruhet, die die Raͤhrung des Herzens hervorbringt.

=.

Die Meherin ſtand eben am Fenſter und ſah die Un— tervoͤgtin auf eine Weiſe gegen ihr Haus zuſpringen, wie ſie ſie in ihrem Leben nie ſpringen geſehn. Sie ſah auch den Harſchier hinter der Voͤgtin eben ſo ſchnell nachlaufen, aber dachte doch nicht daran, daß das Geſchwindgehen von beyden zuſammen gehoͤre, that aber doch ihr Fenſter auf und rief der Voͤgtin uͤber die Gaſſe hinaus zu: was doch das ſey? ob ihr ein Ungluͤck begegnet?

Dieſe antwortete ihr aber nicht, ſondern ſprang, was ſie konnte und mochte, ins Haus hinein, und that dann unter Heulen und Jammer, was ſie mußte, wiederholte aber zwiſchenhinein mehr als einmal, daß ſie ein ungluͤckliches Menſch ſey, und daß fie es doch gewiß nicht boͤs gemeynt habe.

Die Mehyerin konnte eine Weile nicht Mitleiden mit ihr haben, ſo erbaͤrmlich ſie ſich auch gebehrdete und heulte, im Gegentheil, fie freute ſich recht koͤniglich, daß ihre Schwaͤ⸗

186

gerin fir den verruchten Streich, den fie den Huͤbelrudi ſpielen wollte, den Lohn bekommen, den ſie verdient. Was ſie aber am meiſten freute und zugleich lachen machte, war, daß ſie ihr verſprechen mußte, im Fall der Rudi ihr Mann werden ſollte, eine brave und freundliche Schwaͤgerin an ihm zu ſeyn. Doch lachte ſie nicht lange. Der ganze Vor— fall, wie er auf des Rudis Schickſal Einfluß haben konnte, und dann die Theilnahme der Gertrud, des Mareilis und des Junkers ſtanden ihr jetzt lebhaft vor der Seele. Sie konnte nicht anders, ſie mußte zu ſich ſelber ſagen: es iſt Gottes Fuͤhrung. Und es ergriff ſie ploͤtzlich eine ſo war— me, neue Aaſicht alles deſſen, was begegnet, und ein ſolcher Andrang aller Beweggruͤnde, die ſie zu einem Entſchluß fuͤr den guten Rudi bringen konnten, daß ſie es jetzt ſo geradezu ausſprach: ich kann es mir nicht verhehlen, er iſt mir lieb. So wie ſie das ausgeſprochen, uͤberließ fie ſich beynahe ſelber unbewußt dem Gefuͤhl dieſer Liebe, und der Gedanke ward ihr, ehe ſie es ahnete, gelaͤufig: ich kann mit ihm, ich kann in ſeiner Haushaltung ſo gluͤcklich werden, als in keiner andern, die ich kenne. Und nun war ſie von einem Augenblick der hohen Ruͤhrung ergriffen, in welcher edle Menſchen ſo oft blitzſchnell in den wichtigſten Angelegen— heiten entſcheidende Entſchluͤſſe nehmen. Was ſie vor einer Viertelſtunde nicht dachte, war jetzt vollendet. Sie ſprach plotzlich das Wort aus: ich will ihn in Gottes Namen nehmen und war jetzt entſchieden. Nachdem ſie das Wort: ich will ihn in Gottes Namen nehmen ſo aus— geſprochen, ſtand er ihr gleichſam wie lebendig vor ihrer Seele. Sie vergaß jetzt den Vogt, die Voͤgtin, den Junker,

187

die Gertrud, und felber die Gründe, warum fie ihren Ent: ſchluß gefaßt, verſchwanden vor ihren Augen; fie ſah jetzt nur ihn vor ihrer Seele und alles, was ihn angieng, ſeine Kinder, ſeine Matti, ſeine ſchoͤne Kuh, ſeine Stube und ſelber die Helgen (Kupferſtiche), die darin an der Wand hangen. Ihre Ruͤhrung ſteigt jetzt in ihrer Stimmung im“ mer hoͤher, Thraͤnen fließen von ihren Augen, nun riegelt ſie die Thuͤre ſitzt nieder zum Tiſch nimmt das Gebeth— buch von der Wand und bethet laut das Gebeth einer Tochter, die in den heil. Eheſtand treten will, legt dann ihren Kopf über ihre Haͤnde und Über das Buch, netzt beyde mit Thrä- nen und bethet noch, daß Gott ihren Entſchluß ſegne und heilige, ſteht dann wieder auf, troͤcknet ihre Augen, fuͤhlt ſich mit ſich ſelber zufrieden und ſagt: ich will in Gottes Namen jetzt zur Gertrud und ihr meinen Entſchluß ſagen. Sie hat es um mich und um den Rudi verdient, daß ſie ihn wiſſe, ſobald ich ihn ſelbſt weiß. Jetzt kleidet ſie ſich an und geht zu ihr hin.

9. 44. Freundſchaftliche Liebe und ein kleiner Mißverſtand.

Gertrud ſah ſie kommen, aber mit einem ſo langſamen Schritt, und den Kopf ſo ſehr gegen die Bruſt hinabge— ſenkt, daß ſie zu ſich ſelber ſagte: fo habe ich die Meye—

188

rin in meinem Leben nie gegen mein Haus kommen ſehen. Es ahnete ihr auch nichts Gutes; im Gegentheil, ſie fuͤrch— tete, das Gerede wegen der verſtorbenen Frau des Huͤbel— rudis liege ihr noch unbehaglich im Kopf. Auch war das letzte Wort, das die Meperin diesfalls mit ihr geredt hatte, eben nicht gar troͤſtlich. Jetzt war das Herz der Meyes rin ſo voll, daß ſie, ſobald ſie in die Stube kam, beynahe als ob fie krank wäre, leiſe und ſchnaubend, aber ſchnell zur Gertrud ſagte: ich habe in Gottes Namen jetzt mei- nen Entſchluß uͤber dieſe Sache genommen.

Gertrud ahnete nichts weniger als den wahren Sinn der Worte; im Gegentheil, ſie nahm es in einem ganz entgegengeſetzten Sinn auf und antwortete ihr mit ſichtba⸗ rer Betruͤbniß: du wirft dich doch wills Gott in deinem Entſchluß nicht uͤbereilen.

Die Meyerin merkte ihren Irrthum und erwiederte ihr laͤchelnd: ich habe mich wills Gott nicht uͤbereilt.

Gertrud. (faſt mit naſſen Augen) Und du lachſt noch. Das iſt doch nicht recht.

Meyerin. Und wenn ich Urſach dazu hätte?

Gertrud. Dazu haſt du keine.

Meyerin. Und wenn du ſelber die Urſache davon waͤreſt?

Gertrud. (Mit ſichtbar ſteigender Wehmuth.) Schweig' doch; du machſt mir Muͤhe; ich koͤnnte jetzt bald boͤſe werden.

Mehpyerin. (Noch heiterer een ) Ich will dich wohl wieder gut machen.

139

Gertrud. (Noch immer im Serthum.) So ſah ich dich in meinem Leben nie. N

Mepyerin. Du mußt mich doch auch anhören,

Gertrud. Ich habe dich nur zu viel angehoͤrt; geh' jetzt doch zu deinem Sonnenwirth.

Meyerin. Du biſt in einem Traum, ich will den Sonnenwirth nicht.

Gertrud. Was? was? ſagteſt du nicht, du ſeyſt entſchieden? 0

Megerin. Ja, fuͤr deinen Rudi. Ich kam eben zu dir, es dir zu ſagen.

Gertrud war wie aus den Wolken gefallen. Sie ſiel der Meyerin um den Hals, und es war beynahe, als wenn ſie an ihrem Hals einſinken wollte, ſo ſehr hatte ſie dieſe Freude uͤbernommen. Sie konnte einige Augenblicke nicht reden. Nach einer Weile ſagte ſie: Gott Lob! Gott Lob! ſchwieg dann wieder ſtill. Auch die Meyerin war eine Weile ſtill und freute ſich des Eindrucks, den ihr Entſchluß auf die gute Gertrud gemacht. Nach einer Weile, in wel⸗ cher beyde einander ſtill und geruͤhrt anſahen, ſagte Gertrud zur Meyerin: fie habe dieſen Morgen geglaubt, es wäre heute fuͤr den guten Rudi der allerſchlimmſte Tag geweſen, den er diesfalls noch ſeit dem erſten Augenblick, in dem er an fie gedacht, hätte haben konnen. g

Und die Mehyerin erwiederte: es iſt wahr, der Tag fieng bey mir fuͤr ihn alſo an, aber eben das, was den Tag Ar ihn ſo boͤs machen ſollte, hat mich zu ſeiner Braut ge— macht und an meiner Schwägerin das Sprichwort erfuͤllt: „wenn das Maß voll iſt, fo uͤberlaͤuft es“ und denn

190 noch ein anders: „wer feinem Nächften eine Grube graͤbt, der füllt leicht felbft hinein.“ Einen Augenblick darauf aber ſagte ſie denn zur Gertrud: du, ich bin jetzt zwar eine Braut, aber mein Braͤutigam weiß kein Wort davon.

9. 45. Ein Mann, der das Gluͤck verdient, das auf ihn wartet.

Was ſagſt du? erwiederte Gertrud, weiß er von allem noch gar nichts? dann ſpringe ich auf den Augenblick hin, mache ihn hieher kommen, der gute Menſch kann ſonſt dieſe Nacht abermal nicht gut ſchlafen.

Meyer in. Aber meynſt du, er koͤnne dieſe Nacht beſſer ſchlafen, wenn er es weiß?

Gertrud. Das nicht, aber beſſer ruhen kann er, wenn er's weiß.

Meyerin. Das Herz klopft mir, wenn du ihn bringſt. Wollen wir nicht warten bis morgen.

Gertrud. Das nicht. Ich gehe ſogleich. Mit dem gieng ſie zu ihm hin. Der Rudi wußte gar nichts von allem dem, was der Meyerin halber den Tag über vorgefallen und war immer noch in der betruͤbten und hoffnungsloſen Stimmung, die ihn alſobald ergriffen, als er das boͤſe Wort vernommen, das man über feine arme

191 Frau ſelig im Grab, herumtrug, als Gertrud in ſeine Stube hineinkam. Sein erſtes Wort, das er zu ihr ſagte, war: liebe Frau! ich kann das Unrecht, das meiner lieben Frauen unterm Boden geſchieht, faſt nicht ertragen.

Gertrud wollte ihn in ſeiner Stimmung ſogleich nicht unterbrechen. |

Er jammerte mit ſolcher Wehmuth, und druͤckte dieſe Wehmuth mit einem Edelſinn aus, daß ſie ihm gern eine Weile zuhoͤrte, er fagte unter anderm: wenn's mir in Got— tes Namen auch mit der Meyerin ganz fehlt, es thut mir nicht halb ſo weh, als daß man es meiner armen Frau unter dem Boden alſo macht. Bei dieſem Wort konnte Gertrud ihn nicht mehr fortreden laſſen, ſo ſehr ruͤhrte ſie die Wehmuth ſeiner Stimmung. Sie ſagte jetzt: du mußt doch den Muth nicht ganz fallen laſſen, und auch dieſe Sache nicht mehr zu Herzen nehmen, als es Noth thut.

Rudi. Ich kann der Betruͤbniß, die mich diesfalls ergriffen, nicht widerſtehen.

Gertrud. Gott hat bisher geholfen, er wird ferner helfen, und wir haben ja jetzt einen Herrn im Schloß, der auch niemand unter dem Boden Unrecht geſchehen laͤßt, wenn er helfen kann.

Rudi. Wie ſollte er helfen koͤnnen? Gegen ſolches Geſchwaͤtzwerk iſt kein Recht auf der Welt, und große Laͤſtermaͤuler kann kein Herr ſtopfen, ſo gut er auch ſeyn mag.

Gertrud. Du mußt das nicht denken, will geſchwei gen es ſagen, vielleicht vernimmſt du noch ehe du in:

192

Bett gehft, daß der Junker auch diesfalls mehr kann und ſchon mehr gethan hat, als du jetzt glaubſt. Aber komme jetzt mit mir heim, ich habe dir etwas zu ſagen, das * freut. 7

Und der Rudi: ach, es freut mich nicht ſo leicht et⸗ was, und ich mag mich heute vor keinem Menſchen zei— gen; wenn du mir etwas zu ſagen haſt, ſo ſag' mir's doch hier.

Gertrud. Nein, nein, komm' mit mir, ich habe dir etwas zu ſagen, das ich dir nur in meiner Stube fügen kann. Es trifft die Meperin an. al

Rudi. Ach, was willſt du mir von ihr ſagen?! Es iſt mit dieſer Hoffnung jetzt ganz aus. ö

Gertrud. Laß doch nicht allen n kal und komme doch nur mit mir. NT

Sie ließ nicht nach, er mußte BR FRE aber er bath ſie denn auf der Straße noch mehr als einmal, ſie ſoll ihm doch ſagen, was ſie ihm zu ſagen habe, damit er wieder heim koͤnne zu ſeinen Kindern. Sie that es nicht, ſo ſehr er in ſie drang, und antwortete ihm noch, als er an ihrer Thuͤre war: ich kann nicht, aber du triffſt jemand in der Stube an, der etwas von ihr weiß, und der es ſel⸗ ber ſagen will.

195 9. 46.

Die Sonne fangt einem guten Mann an zu

ſcheinen.

Mit dem that ſie die Thuͤre auf und ſah die Meyerin in ihrer Stube.

Den Rudi ergriff eine Bewegung, die im Anſehen nach einer Art von Entſetzen gleich war, fuͤr die ich aber keinen Namen weiß. Es war das Erſtaunen der Hoff⸗ nungsloſigkeit bey der ploͤtzlichen Erſcheinung eines unglaub— lich ſchimmernden einzelnen Strahls von Hoffnung fuͤr eine Sache, nach der ſich ein Menſch lange geſehnt, aber für die er in dem Augenblick dieſer Erſcheinung keinen Hoff: nungsfaden mehr findet, an den ſie die Erſcheinung dieſes einzelnen, aber NAD ſcheinenden Strahls anknüpfen konnte.

So noch faſt an der Thuͤre ſtehend, fiel er beynahe an den Boden, als er von dieſem Erſtaunen ergriffen mit ſchwan— kendem F Fuß naͤher in die Stube hineintreten, und zu dem Ti⸗ ſche, an dem fie ſaßen, hingehen wollte; aber die Meyerin ſtand fo plotzlich, wie wenn ſie ihm zur Huͤlfe eilen wollte, vom Tiſch auf, gieng dem guten ſchwankenden Mann entgegen, nahm ihn bey der Hand, und ſagte ihm fo freundlich und fo anmuthsvoll wie ſie noch nie mit ihm geredt hatte: lieber Rudi, komm, ſit jetzt zu uns, wir haben jetzt etwas Wichti- ges mit einander zu reden. Er ſtand noch halb ſtumm da, und konnte kaum hervorbringen: mein Gott! mein Gott!

Peſtalozzi's Werke. IV. 1

1

194 was ift das?! Ihr Blick, ihre Stellung, ihr Wort ſchienen ihm wie er ſie wohl wuͤnſchte, aber wie er ſie noch nie geſehen und jetzt weniger als je hoffen zu duͤrfen glaubte, im Gegentheil, es ſtieg ihm jetzt noch der Gedanken auf, man wolle ihn gewiß noch wegen dem elenden Geruͤcht, das im Dorf von feiner Frau fel. herumgehe, befragen.

Die Meyerin ſah feine Verlegenheit und ſagte, ihm lieb— reich die Hand druͤckend: ich glaube, du fuͤrchteſt dich vor dem, was ich mit dir reden will. Das mußt du nicht. Komm, ſitz' jetzt zu mir zu; ich weiß jetzt was ich will und was ich ſoll. N

Die Gertrud war ob dieſer Vorrede ungeduldig, und ſagte zu ihr: bring' ihn doch aus der Angſt, und ſag' ihm, was du ihm ſagen willſt.

Die Meyerin erwiederte: nun wenn du nicht warten magſt, ſo ſag' du ihm's doch ſelber, und Gertrud nicht faul, ſprach jetzt das Wort aus: nun denn, lieber Rudi, ſie iſt entſchloſſen, deine Frau zu werden.

Mit dem fiel fie denn der Meyerin um den Hals, und nun fiel eine Scene vor, die ich dich, lieber Leſer! zu den— ken bitte, ich kann ſie nicht beſchreiben. Nachdem ſie vor— uͤber, und auch der gute Rudi fein neues Gluck ruhiger zu fuͤhlen anfieng, erzaͤhlte ſie ihm denn die ganze Ge— ſchichte des Tags, wie ſie der Wahrheit des boͤſen Geruͤchts ganz auf die Spur gekommen, wie dieſer Vorfall ihr Herz ihm naͤher und ſie zum Entſchluß gebracht, den ſie jetzt genommen. Dann erzaͤhlte ſie ihm auch, wie der Junker den guten Fuͤrſprech des reichen Ochſenfeißt, ihre Schwaͤgerin, in Ordnung geſtellt und ſie dahin gebracht,

195

daß fie ihr verſprechen muͤſſen, feine freundliche gute Schwaͤgerin zu werden; wie ſie das alles unter Heulen und Zaͤhnklappern vollbracht und verſprochen, fie in Zeit und Ewigkeit nicht mehr mit ihrem Ochſenfeißt zu plagen, und wenn ich dich heurathe, deine und meine gute Schwe— ſter zu ſeyn. Das, fagie fie denn, und des Junkers das mit ſo liebreich verbundene Fuͤrſprache fuͤr dich hat mich endlich dahin gebracht, daß ich mich mit Gott entſchloſſen dieſen Schritt zu thun.

Man kann ſich die Freude der Gertrud und die Ruͤh— rung des guten Manns nicht wohl vorſtellen. Unwillkuͤhrlich fielen ihm die Worte in den Mund: Gott hat Großes an mir gethan; feine Barmherzigkeit waͤhret für und für beh denen, die ihn fuͤrchten; er erhebt den Niedrigen aus dem Staub, den Hungrigen fuͤllet er mit Speiſe, und er ge⸗ denket der Barmherzigkeit. 5

9. 47. Eine erhabene Brautſtunde.

So im Innern in ſich ſelbſt erhoben, ſagte er jetzt zu der Meyerin: Gott hat Großes an mir gethan, mein Gluͤck iſt groß, aber das Gluͤck meiner Kinder iſt noch größer. Dann einen Augenblick hernach, o, meine Kin— der! o, meine Kinder! wie gluͤcklich feyd ihr! Weh—

196

muth ergriff jest den guten Mann, häufige Thränen flo- ßen von feinen Augen. Ich muß heim, um meinen gu— ten Kindern zu ſagen, wie gluͤcklich fie und ich nun feyen, ſagte er jetzt plotzlich; aber einen Augenblick darauf, ach, du kommſt doch mit mir! Gar gern, erwiederte die Meyerin, und nun ſtanden fie beyde ſogleich auf, nahmen auch Gertrud mit, und ſo giengen ſie jetzt alle zu den lie— ben Kindern des guten Rudis. Als ſie kamen, ſaßen dieſe alle bey ihren Raͤdern, ſpannen fleißig und wiederholten mit einander das Lied: Wer Gott vertraut, hat wohl ge— baut, im Himmel und auf Erden. Sie hatten dieſen Mor— gen der Gertrud verſprochen, es mit einander auswendig zu lernen und zu ſingen.

Mit einem treffendern Lied haͤtten ſie doch unwiſſen— derweiſe ihre gute neue Mutter nicht empfangen koͤnnen; auch war fie eben, wie der Rudi, davon aͤuſſerſt gerührt. Auf einen Wink der Gertrud ſtanden ſie jetzt von ihren Rädern auf, und Gertrud ſagte, ehe der Rudi und die Meyerin zu einem Wort kommen und ſie gruͤßen konnten, liebe Kind er, danket Gott, ihr habet jetzt wieder eine neue gute Mutter. Kommt, kommt, ſeyd nicht ſcheu, bietet ihr jetzt die Hand. Die Kinder ſprangen von ihren Raͤdern auf, und die Meyerin und der Rudi umfaßten ſie jetzt, ich moͤchte ſagen, mit allen Haͤnden, die ſie hatten. Ei— nige Augenblicke konnten beyde kein Wort hervorbringen. Doch raffte fi) die Meperin bald zuſammen, und ſagte jetzt zu den Kindern: ja, Kinder, ich will von nun an euere Mutter ſeyn, und Gott bitten, daß er mir Grade gebe, an euch alles zu thun, was ich an euch thun jellte,

197

wenn ich euere eigene Mutter, und ihr meine eignen Kin⸗ der waͤret. Dann nahm ſie wieder eins nach dem andern bey der Hand, und ſagte zu einem jeden von ihnen: werde ein braves, gottesfuͤrchtiges Kind und denn zu allen mit einander: euer Vater hat viel mit euch gelitten, aber der liebe Gott hat geholfen. Er hat jetzt nicht viele Sor⸗ gen mehr, als fuͤr euch; machet ihm Freude; feine Free de wird auch die meinige ſeyn, liebe Kinder! bethet für ihn, und wenn ihr das thut, wenn ihr am Morgen und Abend fuͤr euern Vater bethet, fo bethet auch für mich. Das letzte Wort, das ſie in dieſem Augenblick zu ihnen ſagte, war: geb' uns Gott ſeinen Segen!

Der gute Rudi wiederholte das Wort: geb' uns Gott ſeinen Segen. Es war das erſte Wort, das er redte, ſeitdem er in ſeine Stube hineintrat. Lange nachher ſagte er kein anderes mehr. Seine Stille gefiel der Meyerin, und ruͤhrte ſie, daß ſie ſelber zu den Kindern ſagte, wir wollen doch jetzt nicht viel reden; aber ſie blieb den gan— zen Abend da, und ſobald es ihr der erſte Eindruck zuge— laſſen, ſagte ſie zur Gertrud, die ſogleich ihrer Gewohn— heit nach in der Stube die Hausmutter machte und dies und jenes in Ordnung brachte, ſie ſolle ihr jetzt den Ge— fallen thun und ſtill ſitzen, und heute in dieſer Stube nichts auruͤhren; es freue ſie jetzt, ein paar Stunden zu thun, als wenn ſie ſchon die eingeſeſſene Mutter ſin die— ſer Stube waͤre. Dann nahm ſie dem kleinen Rudili den Haſpel, an dem er Garn aufwand, und ſagte: es geht dir noch nicht recht haſpelte munter drauf los, half den Kindern an ihren Raͤdern, wo es fehlte, floch—

198

zwehen die Zoͤpfe, kochte der Kleinen den Brey, gab dem Engelkind auf ihrem Schooß zu eſſen, zog es dann ab, hielt es eine Weile nadend, wie die gemalte Mutter Got: tes den lieben Heiland, auf ihrem Arme machte dann daſſelbe ſeinen Geſchwiſterten allen gute Nacht ſagen, hielt ihm das Koͤpfchen an ihre Backen, ſie kuͤßten daſſelbe alle und es machte allen Ae Ae —, dann that ſie es ns Bett, konnte faſt nicht von ihm weg, und ſang ihm ch ein Schlaflied vor, bis es entſchlafen. Der Rudi ſtand bey allem dieſem hinter ihr zu wie ihr Schatten. Er hatte immer ein ſilbern und vergoldetes Halsband mit Granaten und Bollen in einem Papier in der Hand, Ach, mein Gott! er hatte es unter der Frauen ſelig, einer reichen Baͤuerin verſetzt, und jetzt, da er es konnte, auf dieſen Fall wieder herausgeloͤst, und dachte wohl tauſendmal, ſo oft er es anſah, wenn's auch die Frau ſe— lig wuͤßte, daß ich wieder dazu gekommen, es wuͤrde ſie doch auch freuen. Aber er durfte das Papier der Mepe— rin faſt nicht geben, ſie merkte es und fragte ihn noch ſelber: was haſt du da in den Haͤnden? nahm ihm es ab und trug es dem lieben Rudi zur Freude noch an dieſem Abend am Hals heim, pfluͤckte dann, als ſie jetzt heim wollte, noch Blumen in ſeinem Garten, und trug fie in einem Koͤrbchen, dab auch des Rudis war, an ih— rem Arm.

9

9. 48.

Eine muntere Anzeige einer Hochzeit in einem

Pfarrhaus.

In dieſem Augenblick trat des Junkers Klaus in die Stube, und that die Augen groß auf, als er die Meyerin, ſo wie eine Hausmutter neben dem Rudi und ſeinen Kin— dern ſtehend antraf. Der Junker hatte ihn hingeſchickt, der Gertrud zu ſagen, er fen ſeit dieſem Morgen im Pfarr— haus, und wuͤnſche ſie, noch eh' er verreiſe, zu ſehen. Der Klaus ſagte noch zu ihr, er habe auch das Baumwollen— mareili einladen muͤſſen, ins Pfarrhaus zu kommen. Ger— trud antwortete: fie wolle auf der Stelle kommen. So: bald er aber fort war, ſagte ſie zum Huͤbelrudi und zur Meperin: ihr muͤßt mit mir zum Junker kommen; er muß noch heute und das von euch ſelber wiſſen, daß ihr ver— ſprochen ſeyd; er hat es um euch verdient. Das hat er, erwiederte die Meyerin, aber ich ſcheue mich doch, es ihm ſchon jetzo ſelber zu ſagen.

So will ich's denn fuͤr dich thun, erwiederte Gertrud, aber iomm jetzt nur mit mir.

Sie wußte wohl; Gertrud ließ nicht nach, bis ſie ja ſagte und aufſtand. Der Huͤbelrudi kam recht gerne und freute ſich recht ſehr, dem Junker fuͤr alles zu danken, was er auch = Teſer Sache für ihn gethan habe. Sie traten kaum en Pfarrhof hinein, fo ſah fie der Pfar— rer am Fenſter, wandte ſich um und ſagte: kommt, kommt

200

doch und feht, was ift das? der Huͤbelrudi und die Mepe- rin kommen mit Gertrud.

Alles ſprang jetzt ans Fenſter und alles ſagte aus ei— nem Mund: die ſind verſprochen und alles rief aus einem Mund: Gertrud, du bringſt uns eine Braut und einen Braͤutigam. Das bring' ich euch, Gott Lob! das bring' ich euch, erwiederte Gertrud.

Die Meyerin ſtand ſtill und gerührt, und der Rudi hatte auch das Herz voll. Er wollte gern dem Junker danken, denn er dachte in ſeiner Seele, wenn er ſeine ſchoͤne Kuh nicht im Stall und den Heuſtock und die Matte, die er ihm wieder gegeben, ſo haͤtte die Gertrud bey aller Liebe und bey aller ihrer Mühe bey der Meyerin doch vor mir kein Wort reden dürfen, und ich wäre der gluͤck— liche Menſch nicht, der ich jetzt bin. Aber er konnte nicht reden. Doch alles ſah ihm an den Augen an, was er ſa— gen wollte; alles ſtand um ihn und um die Mehyerin her— um, alles both ihnen die Hand und alles wuͤnſchte ihnen Gluͤck. Der Junker vergaß jetzt in der Freude, die er und alle ob dem Rudi und der Meyerin hatten, warum er die Gertrud habe ins Pfarrhaus kommen laſſen. Gel: ber da jetzt auch das Baumwollenmareili zu ihnen kam, vergaß er das. Alles beſchaͤfktigte ſich jetzt mit dem Huͤß⸗ belrudi und der Meyerin, und alle erzaͤhlten ſich die Ge— ſchichte dieſes Tags, ſoviel ein jeder davon wußte und daran Theil nahm. Die Meperin mußte dem Junker be— ſonders genau und ſorgfaͤltig erzaͤhlen, wie ſich die Voͤgtin bey ihr benommen, da er ſie heute zu ihr geſchickt, und da die Meyerin denn uniſtaͤndlich erzählt, wie die ar me

201

Troͤpfinn vor Jammer und Herzenleid faſt vergangen,

wie zitternd und angſtvoll ſie um Verzeihung gebethen,

und wie oft fie es wiederholt und wie heilig und nit was

für einem ſchweren Seufzer fie verſprochen, wenn es etwa Gottes Wille waͤre und es mit der Heurath mit dem Rudi

ſeyn muͤſſe, wie ſie in dem Fall ihn gewiß als ihren lie— ben Schwager anerkennen und in allen Stuͤcken gewiß,

gewiß gut behandeln wolle. Alles mußte ob dieſem heiligen Verſprechen und ob dieſem wiederholten „gewiß, gewiß“ herzlich lachen, denn alles kannte die Voͤgtin und

alles wußte, daß es ihr weniger weh gethan haͤtte, wenn

ſie auf einmal ihren ganzen Stall Vieh und, ich darf wohl ſagen, ihren Mann ſelber todt im Bett angetroffen hätte, als es ihr weh gethan, genöthigt zu ſeyn, der Meyerin zu ſagen, ſie wolle des Huͤbelrudis Schwaͤgerin ſeyn.

9. 49. Er hat doch recht und es iſt doch gut, daß er ſie begnadigt.

Wer am lauteſten daruͤber lachte, das war der Junker. Mit der ganzen Heiterkeit eines beftiedigten Frohſinns ſagte er nun: wir wollen jetzt gern glauben, es ſey ihr heiliger Ernſt geweſen, da Fe ihre Jammer- und Noth⸗

202

ftund fehr brav uͤberſtanden. Er feste noch hinzu: ifie hat einmal jetzt mitgeholfen, einer Sache, die dem An— ſchein nach recht boͤs werden wollte, ein gutes Ende zu machen, und jetzt moͤchte ich, daß auch ihrenthalben dies— falls alles abgethan und vergeſſen waͤre, und ſie muß mir ihre erſte freundliche Stunde mit ihrem neuen Schwager, ſey es ihr nun ernſt oder heuchleriſch gemeynt, in meiner Gegenwart mit uns im Pfarrhaus zubringen.

Mit dem ſandte er ſogleich ſeinen Klaus hin, ihr zu ſagen, daß ſie zu ihm ins Pfarrhaus komme. Und es war nur erſt, da der Klaus fort war, daß der Junker da— hin kam, dem Mareili und der Gertrud zu ſagen, daß er ſie ins Pfarrhaus kommen laſſen, um ihnen herzlich für alles zu danken, was ſie gethan haben und noch ferner thun werden, ſeinem lieben Herrn Lieutenant die ihm ſo neue und ſchwere Arbeit, das Schulhalten, zu erleichtern.

Ar

J. 50.

Wie die Voͤgtin ſich der Begnadigung, die ihr Arner zugedacht, wuͤrdig erzeigt.

Indeſſen aber der Junker alſo die Voͤgtin wieder zu Ehren ziehn und ihrenthalben alles, was ſie gefehlt, als todt und vergeſſen angeſehen wiſſen wollte, that ſie von . dem Augenblick an, in dem fie von der Meyerin weg war,

205.

nichts anders als daheim bey ihrem Mann uͤber den Ehr— und Gott'svergeſſenen, tyrannifchen Zwingherrn zu wuͤthen, der es ihr des Huͤbelrudis halber ſo infam gemacht habe. Sie brach in dieſem Wuͤthen ſogar in die Worte aus: es nehme ſie jetzt nicht mehr Wunder, warum die alten Schweizer ihre Zwingherrn todt geſchlagen oder zum Land hinausgejagt, ſeit dem ſie jetzt geſehn, was dergleichen Her— ren mit Ehrenleuten im Land thun loͤnnen und thun duͤr— fen. Es war umſonſt, daß ihr Mann ihr hundertmal ſagte, ſie ſolle doch nicht ſo wuͤthen, ſie koͤnne ja nicht aͤndern, was nun einmal ſo ſey.

Warum haſt du doch den verfluchten Vogtdienſt ange— nommen? ich wollte lieber, du waͤreſt Knecht bey den Tür: ken geworden, als daß du dieſen verfluchten Dienſt ange— nommen; es waͤre alles nicht ſo gekommen, wenn du nicht Vogt waͤreſt, ſagte jetzt das Weib.

Aber ihr Mann ließ fich denn das doch nicht gern fagen. er erwiederte der Frau: ſchweig mir d doch davon, du biſt im⸗ mer ſo gern Voͤgtin geworden, als ich Vogt.

Es iſt ein Ungluͤck, antwortete die Vögtin; es iſt ein Ungluͤck; freylich, wenn ich das hätte voraussehen koͤnnen, was mir jetzt begegnet, ich haͤtte mich mit Haͤnd' und Fuͤ⸗ ßen dagegen geſperrt.

204

9. 51. hi die Einbi ldungskraft krummen Schalken und boͤſen Narren noch Augſt und Schrecken uͤber das hinaus macht, was die Folgen ihrer Thaten ihnen wirklich zuziehen.

Als ſie eben das Maul mit dem Wort: „ſie hͤtte ſich mit Hand und Fuͤzen dagegen geſperrt“ noch voll hatte, klopfte des Junters Klaus an der Thuͤre. Sie ſah ihn plotzlich am Fenſter, ward todtblaß und ſagte zu ihrem Mann: um Gotleswillen, was iſt das ſchon wieder? geh' doch du und red' mit ihm; das Herz klopft mir, wie wenn ich ſterben muͤßte.

Der Vogt ſchuͤttelte unzufrieden den Kopf, daß er ſo

llemal hingehen müffe, wo ſie nicht gerne hingehen wolle. 85 gieng aber doch und kam bald mit dem Bericht zuruͤck: fie müͤſſe ins Pfarrhaus, der Junker laſſe ſie rufen.

Voͤgtin. Geh' doch du für mich, ich birke dich um Gottes willen, geh doch du für mich. Han 23

Bog t. Ich darf nicht, es geht nicht, du muß gehen, und ich nig auch nicht allenthalben hingehen wo du nicht willſt und dann um deinetwillen wie ein Narr daſtehen.

Voͤgtin. Haͤtteſt du doch dem Klaus geſagt, ich ſey todt krank und liege im Bett. *

Vogt. Das iſt eine Narrenrede. Er hat dich ja un— ter dem Fenſter geſehn und gegruͤßt. Du tannſt nicht an— ders, du mußt gehen.

205

Voͤgtin. Ich gehe nicht. Laſſe ihm meinethalben fa gen, was du auf der Welt willſt, ich gehe nicht.

Vogt. Aber weißt du, wie er den Treufeug auf der Tragbare im Veit und in der Peröcke hat abholen und uns ter die Linde bringen laſſen? und willt du es darauf an⸗ kommen laſſen, daß er mit dir auch ſo ein Spektatel treibe?

Voͤgtin. Jeſus! Jeſus! ich darf nicht gehen.

Vogt. Du darfſt gehen und mußt gehen; er wird dich nicht freſſen; du haft ja alles gethan, was er dir be— fohlen.

Voͤgtin. (beynahe heulend.) Aber wenn er damit noch nicht zufrieden iſt und mich einſperren laͤßt?

Vogt. Er thut das nicht. Er thuts gewiß jetzt nicht mehr.

Voͤgtin. Komm' doch um Gotteswillen mit mir.

Vogt. Das geht nicht, ich darf und ich will nicht. Aber das will ich dir noch thun, wenn du nach einer Vier— telſtunde nicht mit heiler Haut wieder zuruͤck biſt, ſo will ich ins Pfarrhaus ſchicken, und dann ſehen wo es fehle, und was weiter zu thun ſey.

Weiter konnte ſie den Vogt nicht bringen. Sie mußte gehen und gieng endlich; aber faſt ihr letztes Wort war noch; ſchick doch bald, recht bald nach, zu ſehen, wie es mir geht.

Das will ich gewiß thun, antwortete der Vogt, aber trink noch ein Glas Wein, damit du nicht ausſeheſt, wie wenn er mit dir zum Galgen oder auf die Haupigrub hin— ausgienge. Ja das will ich, erwiederte ſie, und trank noch zwey oder drey Glaͤſer, aber es half ihr nichts, fie ſah

* 37 206

noch immer aus, als wenn es mit ihr zu den zwey boͤſen Oertern hingienge, von denen ihr Mann eben geredt, und als ſie jezt bald gegen das Pfarrhaus kam, ſchwankte ſie mit jedem Tritt auf beyden Seiten, und es ſah vollends mit ihr aus wie mit der frommen Barbel, als ſie wegen ihrer Abendtruͤnke, die ſie dem Hummel ſchuldig war, un— ter die Linde zum Junker mußte. Und als ſie im Pfarr— haus die Thuͤre aufthat und den Huͤbelrudi und die Meye— rin neben einander am Tiſch ſitzen ſah, wurde ſie faſt ohn⸗ mächtig. Es ſchien, als wollte fie auf der Stelle in den Boden verſinken, dann fie glaubte, und es' war nicht anderſt, als ob jemand zu ihr ſage, er muͤſſe jetzt die Meyerin und alle Leute, die da ſeyen, aufs wenigſte kniefaͤllig um Verzeihung bit— ten, und ihr verfluchtes Verſprechen, das der Teufel in der Hoͤlle fuͤr den Junker erfunden, und ihm in den Sinn gegeben, noch einmal wiederholen.

So mehr als erſchrocken, fo vom Entſetzen ergriffen, ſtand jetzt die arme Tröpfin. Alles, was am Tiſch war, hatte Mitleiden mit ihr. Die Meyerin und der Huͤbel— rudi ſtanden vom Tiſch auf, giengen ihr entgegen, und wollten ſie beruhigen, aber der Junker kam ihnen vor und ſagte zu ihr: Voͤgtin, du haft deine Sathe bey deiner Schwaͤgerin gemacht, wie du verſprochen, und ich habe dich nur kommen laſſen, um dir zu ſagen, daß ich jetzt darüber mit dir zufrieden bin. Sey du jetzt auch mit allem zufrieden wie es iſt, und laß alles gut ſeyn, wie es iſt. Der Huͤbelrudi iſt jetzt mit der Meyerin verſpro— chen; zeig ihm jetzt, daß es dir ernſt iſt, was du ſeiner Piautk verſprochen, und daß du ihn von nun an mit

207

Freuden als deinen lieben Schwager anſehen und behan— deln wolleſt.

Es war der Voͤgtin, wie wenn ſie aus dem Fegfeuer entronnen. Sie verſprach alles, was man nur wollte, und es war eigentlich, wie wenn der Wein, den ſie vor einer Viertelſtunde getrunken, nun auf einmal anfange, ſeine Wirkung zu zeigen, und ſie zu ſtaͤrken. Sie hatte ſich vom Schrecken ſoweit erholt, daß ſie jetzt vollends dergleichen thun konnte, als ob ſie mit gutem Willen und gerne neben dem Huͤbelrudi abſitze. Die Frau Pfarrerin brachte indeſſen einen ſchoͤnen großen Kuchen auf den Tiſch, ſetzte ihn den Neuverſprochenen vor, und ſagte zur Meye— rin: du mußt jetzt den erſten Kuchen, den du mit dem Huͤbelrudi iſſeſt, bey mir eſſen und ich will ſehen, ob ſich auch die Untervögtin ihn bey uns wohl ſchmecken laͤßt. Das geſchah auch ganz nach dem Wunſch der Frau Pfar— rerin. Die Voͤgtin und trank ſo brav und dem An- ſchein nach ſo freundlich und frey als kein anderer Menſch am Tiſch. Indeſſen ſchlich ſich, da fie alſo da ſaß und Kuchen aß, ihr Toͤchterchen in die Kuͤche des Pfarrhau— ſes und ſagte zur Koͤchin: die Mutter habe einen Schluͤſſel im Sack, den der Vater nothwendig haben muͤſſe, fie follte mit ihr reden.

Wart nur ein wenig, ich gehe gleich in die Stube, ſagte die Koͤchin; aber in dieſem Augenblick ſah das Toͤch— terchen durch das Speiſeloch, das aus der Kuͤche in das Speiſezimmer geht, daß die Mutter wohlgetroſt bei einem ſchoͤnen Kuchen neben der Meyerin und dem Huͤbelrudi am Tiſch ſitze und brav darauf los eſſe. Jetzt wußte es

208

ſchon, was es wiſſen wollte und ſagte zur Koͤchin: die Mutter werde wohl bald wieder heim kommen, es koͤnne icht warten und wolle jetzt wieder heimgehen; aber die Mutter hatte es durch das offene Speiſeloch, vor dem es ſtand, auch bemerkt, ſtand ploͤtzlich vom Tiſch auf, gieng in die Kuͤche, nahm ihr Kind auf die Seite und ſagte zu ihm: ſag' dem Vater, es ſey alles vorbey, die Schweſter ſeyh mit dem Rudi verſprochen, der Junker und alle ſeyen auch ihr gut begegnet, ſie moͤchten jetzt nur, daß alles mit dem Schleich-Rudi, der ihnen dieſen Streich geſpielt, wie- der gut wuͤrde. ff

9. 52. Wie der Ochſenfeißt den Korb, den ihm die Meyerin giebt, heimtraͤgt, wie lange die zwey Verlobten bey ihrem Apfelkuchen im Pfarr- haus ſitzen bleiben, und wie tief Arner den Zuſammenhang ſeiner Herrſchaftspflichten mit einem Schaͤdelort zu Herzen nimmt.

Mit dem Fam fie wieder in die Stube, und machte fo, gut ſie konnte, forthin eine gute Miene zum boͤſen Spiel, gieng aber denn doch bald heim.

Sobald fie nach Haus kam, fand fie den Ochſenfeißt

1 {

hunter dem Tiſch, der, wie er fagte, nun zum letztenmal

209 da ſey und wiſſen wolle, wie es mit der Menerin ſtehe, ob er ſie bekomme oder nicht. CR

Ach mein Gott, ſagte die Voͤgtin, ſie ſitzt eben als Braut mit dem Huͤbelrudi bey einer guten Kuchen im Pfarrhaus hinterm Tiſch.

Aſſo iſt's aus, d' Katz und d' Maus, ſagte der Och⸗ ſenfeißt, ſchuͤttelte den Kopf, ſtand dann auf und murrte im Weggehen: ich habe alſo hier nichts weiter zu thun; aber ihr habt mich doch unverſchaͤmt lang mit dieſem Menſchen im Land herum geſprengt. tt

Aber der Huͤbelrudi und die Meyerin bleiben noch ſo lange, bis der Junker nach Arnheim verreiste, und waren beym erſten Apfelkuchen, den ſie als Braut und Braͤuti— gam mit einander aßen, ſo freudig und munter, als unter hundert tauſend reichen und vornehmen Leuten vielleicht kein einziges Paar den erſten Apfelkuchen ſo froh und heiter mit einander geeſſen.

Als der Junker voll von den Gedanken dieſes Tages in eine Art von Wehmuth verſunken im Heimfahren jetzt in der Tiefe an dem Grab des ungluͤcklichen Rickenber⸗ gers vorbeikam, ergriff ihn unwillkuͤhrlich eine unbeſchreib⸗ liche Ruͤhrung. Er mußte zu ſich ſelber ſagen, wahrlich hier liegt ein edler Mann begraben, und eine Weile darauf: ſein Haus wäre unter einem beſſern Herrn viel- leicht ein Haus von Menſchen beynahe wie Engeln ge— worden. Er ſeufzte tief über feines Großvaters pflichtlo— ſes, Menſchenverwahrloſendes Leben. Und wer theilt dieſes Gefuͤhl nicht mit dem guten Junker, und fuͤhlt nicht daß an ſolchen Schaͤdelorten Menſchen verfaulen, die un⸗

Peſtalozzi's Werke. IV. 14

210

ter einer wahrhaft väterlichen und thaͤtigen Ortsobrigkeit ſich zum Dienſt des Vaterlandes und der Menſchheit un— ter Hunderttauſenden als die Erſten und Beſten haͤtten auszeichnen koͤnnen.

9. 55.

Ein Menſch, der einem Kind oder einem ſchwa⸗ chen Menſchen einen Hund anhetzt, iſt ein abſcheulicher Menſch.

So wie indeſſen eine Teufelsarbeit, die ein boͤſes Weib einem guten armen Mann geſpielt, gluͤcklich ein Ende ge— nommen, ſo kam jetzt eine andere Teufelsarbeit, die ein boͤſes Weib dem guten Junker zu ſpielen gedenkt, an die Tagesordnung. |

Die Sylvia hatte nehmlich, wie wir wiffen, der Ei— chenbergerin geſchrieben, wenn ſie viel recht dummes und ſchlechtes Zeug von Bonnal auftreiben werde, ſo habe da— durch Gelegenheit, zwey Fuͤchſe in einem Loch oder zwey Maͤuſe in einem Schlag zu fangen, indem ſie dadurch in die Bekanntſchaft des im Herzogthum allmaͤchtigen Heli— dors gelangen und zugleich Gelegenheit finden koͤnne, auf der einen Seite dem tyranniſchen Dorfherrn, der fie mit dem Harſchier habe herumfuͤhren laſſen wollen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, auf der andern Seite ſelber zu Ehr und Anſehen und zu einer Stelle zu gelangen,

211 t

wie es für fie in der Lage, in der fie fich befinde, ohne dieſe Bekanntſchaft nicht moͤglich waͤre, daran zu gedenken. Seitdem dieſes armſelige Geſchoͤpf dieſen Brief erhalten, konnte es vor Eifer, im Dorf viel dummes Zeug gegen Arner und ſein Thun aufzutreiben, faſt nicht mehr ſchla— fen. Es war Tag und Nacht auf den Beinen, allem nach— zuforſchen, was in Bonnal, im Pfarrhaus, in der Schule und ſelber in Arnheim gethan und geredt und ſogar etwa gedacht werden moͤchte, und ſchrieb ſelbſt, ehe ſie dieſes noch gethan, gleich nach Empfang des Briefs der Sylvia, Fol- gendes zur Antwort.

. 52.

Kriecherey, Windbeuteley und Jufamie in einem Brief.

Hochwohlgebornes, gnaͤdiges Fraͤulein!

Ew. Hochwohlgeboren gnaͤdiges Schreiben hat mich bis in den oberſten Himmel entzuͤckt. Oh, wie froh bin ich, dem unverſchaͤmteſten Menſchen, den ich in meinem Leben geſehn, den haͤßlichen Streich, den er mir mit fei- nem Harſchier geſpielt, vergelten zu koͤnnen, und wie un— ausſprechlich freut es mich, aus dem infamen Dorfneſte in dem ich jetzt wohne, erloͤst zu werden und hoffentlich

212

koͤnnen, einen Platz zu bekommen, darin es auch ein Menſch, deſſen Erziehung ihn berechtigt, ſich uͤber Schwein— und Kuhftälle und über Leute, wie die find, die zu fol- chen Staͤllen gehoͤren, emporzuſetzen, auszuhalten vermag. Schon an ſich ſelbſt iſt mir das Leben zwiſchen Miſthau— fen, Strohhuͤtten und Bettlerleuten unertraͤglich, und denn noch unter einem Junker und neben einem Pfarrer, die behderſeits ſchlechter find, als ich noch keine in der ganzen Welt angetroffen. Ich kann und mag es nicht mehr aus— halten, und ich koͤnnte mir die Fuͤſſe ablaufen und die Haͤnde abarbeiten, um Se. Hochfuͤrſtliche Excellenz, zu dem Sie mir allergnaͤdigſt Zutritt verſchaffen wollen, zu befriedigen, und es iſt nichts moglich und nichts denkbar, wozu ich mich im Dienſt einer ſolchen Excellenz nicht hingeben und verſtehen wuͤrde. Auch weiß ich unaus— ſprechlich viel von dem Narrenzeug, das Sr. Excellenz bey den Geſinnungen, die er darin offenbar zeigt, wichtig und weſentlich ſeyÿn muß. Aber das iſt unmoglich, fo aufs Papier zu bringen, wie es ſeyn muß, wenn es rech— ten Eindruck machen und ſo durch Mark und Bein gehen muß, wie dieſes bey einer muͤndlichen Unterredung und mit einem Maul, wie das meinige, das Sie kennen, leicht iſt und ihm eine Freude macht, wie er keine beſſere wuͤnſcht. Ich muß Sie alſo dringend bitten, mir Gelegenheit zu verſchaffen, fo geſchwind als moͤglich einmal bey ihm vor⸗ gelaſſen zu werden, u. ſ. w.

0. 55. Ein Weib, das ſich ſonſt nicht leicht ſchaͤmt, kommt

wegen etwas, wofuͤr die Deutſchen keinen Na— men haben, wegen einer Etiquette in Verle— genheit.

Soloia that nichts weniger gern, als dieſe Eichenber— gerin dem Helidor perſoͤnlich vorzuſtellen; aber da fie in ihrem Brief ſagte, daß ſie unausſprechlich viel wiſſe, das ihn intereſſiren koͤnnte und auch wohl begriff, daß die Ei— chenbergerin nicht faͤhig ſey, etwas Umfaſſendes und Viel— ſeitiges in Briefen vorzutragen, ſo entſchloß ſie ſich dann, den Helidor ſelber entſcheiden zu laſſen, ob es ſich ihm der Muͤhe lohne, ſie vor ſich zu laſſen oder nicht. Er mußte lachen, als Sylvia dafuͤr anfrug, und ſagte: ich bin in einer Stellung, daß ich mir ſolche Zudringlichkeiten taͤg— lich von aller Art von Narren gefallen laſſen muß. Er ſetzte hinzu: ich habe ſchon von manchem Narren vernom— men, was mir geſcheide Leute nicht geſagt haͤtten, und ſie ſagt mir vielleicht mitten unter allem Gewaͤſch, das ich von ihr erwarte, auch etwas, das mir recht iſt zu wiſſen, und das mir ſonſt niemand ſagen wuͤrde. Auf dieſe Aeuſ⸗ ſerung Helidors berichtete Sylvia die Naͤrrin, daß fie das Gluͤck haben konne, ihm vorgeſtellt zu werden.

214

F. 56.

Wie ein hoher Grad von Unnatur innerlich zur Laͤcherlichkeit des Unſinns und aͤuſſerlich zur Laͤcherlichkeit ſogar in der Kleidung hinfuͤhrt.

Seit dem die Eichenbergerin von Sylvia den Bericht empfangen, daß ſie dem groͤßten Mann im Herzogthum, dem Helidor, werde vorgeſtellt werden, war das armſelige Geſchoͤpf ganz auſſer ſich vor Freuden. Es wurde ſo ver— wirrt darob, daß ihm wunderbarliche Dinge durch den Kopf giengen. Sie ſagte mehr als einmal zu ſich ſelber: ich haͤtte mir doch vorſtellen ſollen, daß man hoͤhern Orts ſolche Narrheiten nicht gern ſehen koͤnne und nicht gern ſehen werde; aber gut iſt, daß ichs jetzt weiß, ich will mich darnach richten. Helidor iſt mein Mann. Ich habe ſchon viel von ihm gehoͤrt. Er iſt mir ganz gewiß der rechte Mann. Wenn ich nur vor ihm erſcheinen darf, er wird mich gewiß verſtehen. Dann hub ſie ſich zu den hoͤchſten Entſchluͤſſen, zu denen ſie faͤhig war, empor. Es iſt nichts, es iſt gar nichts, ſagte ſie jetzt zu ſich ſelbſt, daß ich mich in feinem Dienſt nicht zu thun unterſtuͤnde. So im Gemiſch von alter Wuth und neuer Freude ſagte ſie denn noch: was im Staatsdienſt geſchieht, hat eine ganz andere Bedeutung und ganz andere Anſichten, als was im gemeinen Leben geſchieht. Und einen Augen— blick darauf ſprach fie in dieſer Ueberſpannung ihres Hoch—

215

finns im Unſinn das Wort aus: ich würde mir nichts daraus machen, Arner fein Narrendorf ſelber anzuzunden, wenn Helidor mir nur einen Wink gaͤbe, daß es ihm recht wäre. Sie konnte auch vor lauter Eifer, Helidor ſtatt⸗ lich und unbeſchreiblich gut zu dienen, die ganze Nacht nicht ſchlafen und war morndes am Morgen fruͤh und den ganzen Tag uͤber auf den Beinen, allem nachzufor— ſchen, was in Bonnal, in der Schule, im Pfarrhaus und ſelber in Arnheim geredt, gethan und ſelber gedacht wur— de, um es auf das Umſtaͤndlichſte und, wie ſie meynte, Zuverlaͤßigſte Helidor hinterbringen zu koͤnnen. Am Tag vorher war denn noch eine ihrer Hauptſorgen, wie fie ſich auf dieſen Beſuch ankleiden und in die Hauptſtadt hin— bringen laſſen wolle. Aber mir fehlt die Unnatur, in der man leben muß, um das, was bis zum Eckel unnatuͤrlich uͤbertrieben iſt, in ſeiner Unnatur lebendig genug in ſich ſelbſt aufzunehmen und in der Wahrheit feiner Unnatur,— wie es wirklich iſt, darzulegen. Sie raffte am Morgen alle Kleider, die ſie hatte, zuſammen, legte ſie im ganzen Zimmer auf Tiſche, Bett, Baͤnke, Stähle und allenthal- ben herum, um vom Kopf bis zu den Füffen das Beßte, das ſie hatte, auf dieſen Beſuch anzuziehn. Einiges da— von war noch von ihrer Großmutter, einer ſtattlichen Bäuerin, anderes von ihrer Mutter, die ſich ſchon bettler— haft ſtaͤdtiſch kleidete, noch anderes von ſich ſelber, wie ſie es ſich in der Stadt Kraͤhwinkel angeſchafft hatte, wo ſie ein Jahr und 14 Tage in einer Toͤchterpenſion war, nur wegen dem vorzuͤglichen Talente, wie ihre Mutter meinte, auch eine liberale Erziehung zu erhalten.

216

Das Ganze ihrer Kleidung hatte mehr Farben als ein Harlequins-Kleid. Die Franzoſen waren mit ihrem Drey— farbenſpiel nur Narren gegen ſie; ſie verſtand das Nar— renſpiel mit den Farben beſſer. Sie hatte mehr als fie benzehen am Leib, und fuhr mit dem ſchoͤnſten einſpaͤn— nigen Wagen, den ſie auf drey Stunden weit in der Runde auftreiben konnte, aber mit einem Pferd, dem bey naͤhe⸗ rer Betrachtung an Augen und Fuͤſſen allerhand Weſent— liches mangelte, zur Hauptſtadt. Auch trug fie Glaskral⸗ len am Hals, die fuͤr eine braune Indianerin groß und bunt genug geweſen waͤren. Zu dem hatte ſich noch eine ſeit Jahren eingeroſtete Uhr, an der etwas Gold oder Ver— goldung war, an einer Kette, deren gebrochene Gelenke mit grobem, ſchwurzem Faden wieder zuſammengebunden waren. So erſchien ſie vor Helidor und gebehrdete ſich, als ſie bey ihm eintrat, kruͤmmer und verſchrobener, als ein Polniſcher Jude vor einem Edelmann, der ihn knuten darf. Sitzen wollte ſie um keinen Preis, ſtehend wollte ſie ihren Bericht abſtatten, und man ſah ihr es heiter an, daß ſie es knieefaͤllig wuͤrde gethan haben, wenn Helidor es nicht mit einem ſichtbaren Kopfſchuͤtteln verhindert hätte,

a Eine Dorfſchalksnaͤrrin ſtattet an einen Hof-Mann Bericht ab uͤber das Baumwollenmareili, uͤber Gluͤlphi, uͤber ſeine Schule, uͤber ſeine Eu— lenſpiegelgeſchichte und über feine Partheylich— keit zu Gunſten von Kindern, deren Eltern dem Henker unter den Haͤnden geweſen alles auf eine Weiſe, die dem Hof-Mann gar nicht mißfaͤllt, und in einem Geiſt und Sinn, den viele andere Leute und ſelber viele Stadtleute mit der baͤueriſchen Schalksnaͤrrin theilen. |

So auch aͤußerlich in ihrer ganzen Erbaͤrmlichkeit da— ſtehend, fieng fie denn an, über alles, was in Bonnal vorfiel, ihr laͤſterliches Schandmaul in aller ſeiner Kraft zu gebrauchen. Zuerſt erzaͤhlte fie, was fie ſchon in dem Brief an Sylvia gethan, von der großen Comoͤdie, die man am Sonntag vor dem Anfang der neuen Narren— ſchule mit dem ſaubern Herrn Schulmeiſter getrieben, und dann wie der witzigen Gans ſchon am erſten Schultag ein Ey entfallen, wie nehmlich der Herr Schulmeiſter vor den dummen Bauernbuben, die das für eine halbe Got⸗ tesläfterung anſehen mußten, habe ſagen dürfen: es wäre beſſer, ſie lernten den Eulenſpiegel auswendig als die Bi— bel; auch wie er, weil er ſelber nichts konne und nichts

218

verſtehe, alle Weiber, die er nur finden koͤnne, zum Schul⸗ halten ſich zu Hülfe ziehn; wie er ſchon am erſten Tag eine lumpige Maurersfrau alſo angeſtellt, die ihm aber ſchon am zweyten Tag nicht mehr genug geweſen, und wie er dann noch des Baumwollenmeyers Schweſter, die nicht einmal ihren Namen recht ſchreiben koͤnne, mit ſamt der Gertrud ſich zur Huͤlfe angeſtellt. Ueber das Mareili gieng es dann ſchrecklich los. Sie haßte daſſelbe auf den Tod. Unter den Gruͤnden, die ſie zu dieſem wuͤthenden Haß gehabt, war einer der vorzuͤglichſten: als ſie einmal uͤber das Reichwerden dieſer Haushaltung durch den Baum— wollengewerb ihr Maul unverſchaͤmt gebraucht und unter anderm geſagt, fie ſeyen bey ihrem Gedenken Bettelleute geweſen ließ es ihr zur Antwort ſagen: ſie, die Ei— chenbergerin, koͤnnte freylich eher aus reichen Leuten Bett— ler als aus Bettlern reiche Leute machen, ſie thaͤte aber beſſer, ſie wuͤrde ſich in einem Spital, wo man Stadt— narren verſorgt, verpfruͤnden, als auf ihrem Dorf Nar— renſpuck treiben, wie ſie thue.

Das war freylich etwas ſo ſtarkes, daß es die arme Eichenbergerin nicht wohl verdauen konnte. Sie fuhr jetzt auch ſchrecklich uͤber das gute Mareili los, wie es zu allen Zeiten ein unverſchaͤmtes Menſch geweſen, und wie es ſich auch jetzt unterſtanden, Eltern der Schulkinder mit dem Junker zu drohen und ihm ſagen zu laſſen, wenn eines von ihnen das Schandwort uͤber den Eulenſpiegel und die Bibel, das der Schulmeiſter oͤffentlich in der Schule vor allen Kindern ausgeſprochen, noch einmal wiederhole, ſo wolle es ſich ins Mittel legen, und es bey feinem guten

219

Freund, dem Junker, gewiß dahin bringen, daß ein jeder, der ſich unterſtehe, das noch einmal zu ſagen, ſicher in ein Loch hineingeſperrt werde, wo er von der Sonne am Tag und vom Mond in der Nacht gleich viel zu ſehen bekom⸗ men werde. So weit, ſetzte ſie noch hinzu, hat der ſonſt fo ſtolze Junker fein Anſehen preis gegeben. Dann gieng ſie noch umſtaͤndlicher in die Art und Weiſe, wie der H. Lieutenant feine Schule in Bonnal führe, hinein und er— zahlte, wie unverſchaͤmt er am erſten Morgen die bräpften Vorgeſetzten mit ihren Frauen, die auch, wie das an

Vauernorten Gebrauch ſey, den erſten Schultag in der Schule bleiben und mit eigenen Augen ſehen wollten, wie er mit ihren Kindern umgehe, wie Hunde zur Schule hin— ausgejagt und keinen Buchſtaben mit den Kindern zu leh— ren angefangen, bis ihre Eltern alle zur Thuͤre hinaus waren. Sie ſagte ferner, es wiſſe kein Menſch, was man daraus machen muͤſſe, daß er die Kinder der abſcheulichſten Menſchen, des gehenkten Uelis, die Geſchwiſterte einer hin— gerichteten Kindesmoͤrderin und die Kinder eines Ricken— bergers, der ſich ſelbſt erhenkt, allen andern vorziehe, und diejenigen der brapften, angeſehenſten Bauern ſchnoͤder und ſchlechter behandle, als die Kinder der groͤßten Lum— pen und Bettler. Sie glaube, ſetzte ſie hinzu, zwar an vielem von dieſem ſeyh nur das Baumwollenmareili ſchuld, der Gluͤlphi kenne ja niemand im Dorf und koͤnnte von ſich ſelbſt nicht dahin kommen, auf dieſe partheyiſche Art mit den Kindern umzugehen, wenn dieſes boshafte Menſch ihm nicht ſagen wuͤrde, wer die Leute ſepen, denen jedes Kind zugehoͤre.

22D

9. 58.

Fortſetzung des Schalksnarrenberichts über die ſchlechten Grundſaͤtze des Junkers in Ruͤck— ſicht auf das Lumpenvolk (la canaille) im Land.

Auf dieſes Wort hin fragte Helidor die Eichen dergerin: was das Baumwollenmareili auch für Gründe haben koͤn— ne, den Schulmeiſter dahin zu bringen, Kinder, deren El— tern dem Henker unter den Hinden geweſen, den Kindern der angeſehenſten Leute im Dorf vorzuziehn?

Die Eichenbergerin antwortete: das Baumwollenma— reili und ſein ſtolzer Bruder ſtammen von den aͤrmſten und lumpigſten Leuten her, die es im Dorf gebe, und man koͤnne es ihnen aufweiſen und darthun, daß es in ſeiner Jugend ſelber gebettelt, jetzt aber ſey es durch Juden und Schachern, wie man fagt, bey ihrem Baumwo lenweſen ſehr reich geworden und moͤchte nun uͤberall und in allen Ruͤckſichten mehr ſeyn als andere Leute, und begegne dar— um allen Leuten im Dorf, die aus guten Haͤuſern her— ſtammen und ſeit Menſchenalter in Ehr und Anſehen ge— ſtanden, fo grob und allem Lumpenpack hingegen fo hoͤflich.

Helidor mußte ob den guten Haͤuſern, die ſeit Men— ſchenaltern fo in hoher Dorfehre und in hohem Dorfan— ſehen gefianden, lachen; denn er war felber ein Menſch ſo ſehr von geſtern her, daß im ganzen Herzogthum kein Menſch recht weiß, ob er einen Vater oder eine Mutter

r

221

in der Welt habe oder gehabt habe. Das ahnete freylich die Eichenbergerin von der Hochfuͤrſtlichen Excellenz, vor der fie jetzt zu ſtehen die Gnade hatte, gar nicht. Sie fuhr noch eine Weile über den Hochmuth dieſer neurei= chen, aber alt- Bettler-Haus haltung das Maul zu brau— chen fort, und ſetzte noch hinzu: fie haben mit ihrem uns verſchaͤmten Behandeln der alten Ehrenleute im Dorf jetzo auch ein recht gutes Spiel. Der Junker ſey mit ihnen im gleichen Spital krank und zeige alle Tage mehr, daß er es wie darauf anlege, den groͤßten Lumpenleuten im Land höflich und freundlich und den ehrenveſten und ges bildeten Leuten im Land grob und hart zu begegnen.

9. 59 · 5 Jetzt geht's uͤber die Sonntagsgeſellſchaft und mit ihr uͤber das Volkserziehen und ſelber uͤber die Unverſchaͤmtheit der Anſpruͤche der Men: ſchennatur los.

So fuhr ſie in einem fort, Arners ganzes Thun auf das allerſchnoͤdeſte durchzuhecheln. Natuͤrlich konnte ihrer boͤſen Zunge das Wichtigſte und Tiefgreifendſte, das der Junker auſſer der Schule in Bonnal vornahm, ſeine Sonn— tagsgeſellſchaft, nicht entgehen. Sie berichtete dem großen

onn

in

Mann, den ſie vor ſich hatte, daruͤber alſo: der gnädiee Herr, der wohleyrwuͤrdige Herr Pfarrer, der wohledelveſte Herr Lieutenant, und denn das neuadeliche Haus vom Baumwollenmeyer nebſt ein paar Schwatzweibern von Bonnal ſitzen alle Sonntag Abend wie Narren im Pfarr— haus zuſammen und halten mit einander Rath, wie man aus Lumpen gutes Tuch und aus gutem Tuch Lumpen machen koͤnne. Man kann nichts anders denken, als ſie haben ſich in den Kopf geſetzt, alle krummen Holzli grad zu machen; und was bis jetzt dem lieben Gott ſelber in den größten Pallaͤſten und in den prachtvollſten Städten in der Welt noch nicht gerathen, das wollen jetzt dieſe Herren im groͤßten Kothloch, das vielleicht in der Welt ſey, ausrichten. Sie bruͤten, wie es ſcheint, uͤber eine Kunſt, die ſchwerer auszufuͤhren ſey als die Goldmacher— kunſt und das perpetuum mobile, womit ſich ſchon ſo viele Narren zu Grund gerichtet. Sie bruͤten nehmlich an der Idee, das Volk wohl zu erziehn und daſ— ſelbe wohl zu verſorgen. Die Ausführung dieſer neumdͤdiſchen Idee fen, wie ſie von den reſpectabelſten und venerabelſten Menſchen gehoͤrt, die der Erdboden trage, vom Teufel in der Hoͤlle und von ihm als der bitterſte Zankapfel unter die Menſchen geworfen worden. Sie, dieſe ſchwarze Idee, lenke ihrer Natur nach dahin, die Ordnung in der ganzen Welt umzukehren, und was oben iſt, hinunter zu ſtuͤrzen, und was unten iſt, in die Hoͤhe zu heben. Man wolle vermoͤg dieſer Idee trachten, den, der nichts hat, zufrieden zu ſtellen, da es doch unmoͤglich ſey, den, der etwas hat, zufrieden zu fielen, und auch

nn“

225 dieſer, man moͤge ihn erziehn wie man wolle, nicht zufrie— den ſey und nicht zufrieden werden koͤnne. Eben ſo wolle man in Gefolg dieſer Ideen den Traum einer Menſchen— natur, die der Neiche"und Vornehme in ſich ſelbſt nicht einmal reſpectabel finden koͤnne, ſogar im Armen und Bettler reſpectirt wiſſen. Das gehe denn freylich nicht an und werde in Ewigleit nicht angehen. Es ſcheine aber, die Herren fuͤhlen das ſelber, in dem ſie das, was ſie vorhaben, eigent— lich doch niemand ſagen, ſondern im Gegentheil ſo geheim— nißreich damit verfahren, als immer die Frey maurer. Was man allein auskundſchaften koͤnne, ſey, ſie ſuchen ſich in alle Haͤnſer einzuſchleichen, machen allenthalben die Guten, Lieben, fragen allem nach, hetzen hie und da den Mann gegen die Frau und die Frau gegen den Mann auf, und ſetzen den dummen Bauersleuten allenthalben in den Kopf, wenn ſie ihnen folgen, ſo werde es ihnen denn das Geld zum Dach hinein regnen und die gebratenen Tauben zum Maul hinein fliegen. Sie behauptete: der Junker treibe die Verführung des Volks über alle Grenzen. Er mache daſſelbe ſich allgemein in goldenen Traͤumen verlieren und mache es den Himmel voll Geigen ſehen, ſelber in dem Augenblick, wenn ein Donnerwetter daran ſtehe. Die Volksfeſte, die er in Bonnal vorbereite, von denen er aber ſage, daß ſie erſt nach ſeinem Tod ausfuͤhrbar ſeyen, ſeyen nichts anders als Narrenſtoff zu ſolchen Traͤumen. In— deſſen habe er in Bonnal ſchon viele tauſend Baͤume, ſie wiſſe nicht ob Schatten-, Zierd- oder Fruchtbaͤume, fuͤr dieſe Feſte pflanzen laſſen. Bis auf dieſen Grad verheiſchle er das Volk, daß es am Ende zu nichts mehr lauge und

224 zu nichts mehr fruchtbar ſey; er wiſſe aber ficher ſelber zu nichts, wohin ſein Benehmen fuͤhre. Er untergrabe dadurch, wie die Baroneſſe von Arnheim es wohl wiſſe und ſich bitter daruͤber beklage, alle Fundamente ſeines herrſchaftli— chen Stands, und dieſes in dem Grad, daß er ſelber elen- den Spinnerkindern zehendfreye Aecker verſpreche, ohne daran zu denken, daß er dadurch ſeinen Bauern den, allen herrſchaftlichen Rechten, toͤdtlichen Geluſt nach allgemei⸗ ner Zehendfreyheit in Kopf bringe.

9. 60.

Ein Weib, das die Weltkenntniß in einer Zwerg⸗ geſtalt um ſich herum traͤgt, und ein Mann, der die Miniaturanſichten folder Weltkennt⸗ niſſe auf eine Weiſe zum Weltdienſt braucht,

wie der ganze Haufe ſolcher Zwergleins in

der Weltkenntniß es nicht zu ahnen vermoͤgen.

So gieng es faſt eine ganze Stunde uͤber den guten Junker los. Dieſes Weib, deſſen Zudringlichkeit es ſelber auch mit den Bauchanfihten von Menſchen, die nicht zu ihrem Stand gehoͤren, bekannt machte, und welches da— durch im Stand war, mit dem faden Geſchwatzwerk, das aus dieſen Bauchanſichten hervorgeht, vielſeitig ein Weites und Breites zu machen, wußte der Gruͤnde zu Dutzenden

225 nn

herzuerzaͤhlen, warum Arners Thun nichts tauge, und über den landesverderblichen Einfluß, den die Denkungs- und Handlungsart dieſes guten Mannes haben muͤſſe, in fitte licher, rechtlicher, politiſcher, polizeylicher und oͤkonomiſcher Hinſicht ſtundenlang zu radotiren, ohne daß ihr der Mund einen Augenblick ſtill ſtand, und da Helivor feine guten Gruͤnde hatte, es gar wohl leiden zu moͤgen, daß der Men— ſchenkreis, der in Arners Umgebung liege, fein Thun fo unvernünftig finde, als dieſes Weib daſſelbe ihm darſtellte, und da er überhaupt ein Mann war, der es in ſeiner Stel⸗ lung eigentlich darauf anlegte, daß das Volk im Land viel Gutes fuͤr ſchlecht, und viel Schlechtes fuͤr gut anſehe, ſo widerſprach er unſrer Eichenbergerin in keinem Wort; im Gegentheil, er ſagte, um ſie noch zu fernern Aeuſſerungen uͤber dieſen Gegenſtand zu locken und ſie eigentlich auf die Anſicht hinzulenken, die ihm die wichtigſte war: wann das ſo iſt, ſo wird das ganze Weſen in Bonnal beym erſten Stoß, den es erhalten wird, von ſelbſt zuſammenfallen. Sie antwortete: das iſt gewiß, das iſt gewiß, ein jeder Wind wuͤrde das elende Ding umſtoßen, wenn er nur ein— mal durch das Dorf hindurch blaſen wuͤrde.

Er. Aber macht er ſich mit ſeinem Benehmen nicht ſehr viele Feinde?

Sie erwiederte ihm: Ja freylich, und zählte ihm denn an den Fingern her, wie viel er dergleichen ſchon habe und wie viel er ſich taͤglich noch dazu mache. Das alles war Helidor ganz recht. Es fiel ſogar ein Laͤcheln, das ihn dar⸗ über anwandelte, ſelber der Eichenbergerin auf. Dieſe lachte, da ſie ihn lächeln ſah, faſt laut und ſagte: zählen Sie dar—

Peſtalozzi's Werke. IV. 15

226

auf, er macht feine Sache recht ungeſchickt. Helidor erwie- derte: man muß ihn machen laſſen; es iſt eben nicht noͤthig, daß dergleichen Weltverbeſſerer die geſcheideſten Leute in der Welt ſeyen; fie würden fonft darin alles anders machen als es iſt.

Eichenbergerin. Dieſer einmal macht recht dum— mes Zeug und weiß ſicher nicht, wohin ſein Benehmen ihn endlich ſelber hinfuͤhren wird.

9. 61.

Jetzt fangen auch noch die eigenen Angelegenheiten der Berichtserſtatterin an, aus Tageslicht zu kommen.

Helidor wußte nun von dem, was fie ihm fagen Form: te, genug, und wollte ſie jetzt entlaſſen; aber nun kam ſie erſt mit ihrer eigenen Angelegenheit, wie ſie in Gottes Namen nicht mehr in dieſem Koth- und Narrenloch von Bonnal wohnen koͤnne und ſich demuͤthig zu einer Anſtel— lung als Erzieherin oder Geſellſchafterin in einem vorneh— men Haus empfehle; was ſie alles zu ihrer Ruhe und zu ihrer Ehre und auch uͤber das Ungluͤck der Zeit, in wel— cher die Auszeichnung und die Verdienſte der Leute nicht mehr geachtet und geſchaͤtzt werden, noch anbrachte, das uͤbergehe ich. Helivor, der ihre Maulbraucherey noch eine

957 0

Weile zu ſeinen Zwecken zu benutzen wuͤnſchte, machte ihr einige allgemeine Hoffnungen, die aber an die weitern Dienſtleiſtungen, die er von ihr erwarte, angeknuͤpft wa— ren. Sobald fie fort war, ſagte er zu ſich ſelber: Stoff iſt genug da, um die Seifenblaſe des Bonalerweſens, wenn man nur will, zu verſprengen; und das muß aber doch ſeyn. Wenn es bloß ein wenig Fuß gegriffen und ein paar Windbeutelehen davon ſich bis nach Hof verirren wuͤrden, ſo koͤnnte den Herzog doch der Narr ankommen, dieſe neue Edition ſeines alten Traͤumerlebens auch anſe— hen zu wollen. Dazu will ich aber eben keine Gelegen« heit geben. Ich würde mich ſicher nicht wohl dabeg befinden, wenn er dieſes Fieber noch einmal bekommen würde. Man muß zu vechter Zeit dazu thun, dieſem Dorfgaukelſpiel ein Ende zu machen, ehe weder er noch viele andere Leute Luſt bekommen, es anzugaffen. Gut iſt, daß er die Mit⸗ tel, ihm ein Ende zu machen, ſo gut vorbereitet. Einen Augenblick darauf ſagte er: Sylvia iſt wie dazu gemacht, das zur Reifung zu bringen, was hier zu thun iſt. Sie muß mir fuͤr einige Zeit in dieſes Traͤumerneſt. Bey dem Stoff, den ſie dafuͤr findet, iſt es fuͤr ſie ein Spaß, Arner dahin zu bringen, daß er ſeine diesfaͤllige Projekte aufgiebt oder das Gallenfieber daruͤber bekommen muß. Ich kann ihr dieſes Geſchaͤft auf eine Weiſe empfehlen, daß der geluſtvollen Creatur der Schweiß ausgeht, wenn es fehlen ſollte.

228

J. 62.

Zur Geſellſchaft iſt ein Schwein des andern und ein Hund des andern werth.

Er wußte wohl, daß ſie lieber allenthalben hingehen wuͤrde als dahin, aber auch, daß ſie dahin gehen muͤſſe, wenn er wolle.

Sie machte nehmlich ſeit einiger Zeit Jagd auf einen Grafen von Raubholz, und glaubte auf der einen Seite, ihn durch die Hoffnung, der Oncle werde ſie zur Erbin einſetzen, zu einem Eheverſprechen zu bringen, auf der andern Seite aber den Oncle durch die Ausſicht einer ſo brillanten Heurath bewegen zu koͤnnen, ſie wenigſtens zum Theil ſeines Erbs halber zu betrachten. Fuͤr dieſen Zweck war ihr Helidors Mitwirkung unumgaͤnglich nothwendig. Der Raubholz war freplich ein Graf und zwar von ei⸗ nem ſteinalten Stamm, aber dabey ein Lump und ein Verſchwender ohne ſeines Gleichen. Das machte Sylvia aber gar nichts. Sie kannte ſich ſelber, wußte, daß er von dieſer Seite ganz ihres Gleichen iſt und fuͤhlte im Her— zen, daß ſie nichts Beſſeres verdiene, alſo ob er ein Hund, ein Eſel, ein Aff und ein Faulthier oder das alles zuſammen int einer Perſon ſey, das machte ihr nichts. Sie wollte des Junkers Erb, und that dafuͤr alles, und das, was ſie dafuͤr thun mußte, war freylich recht viel und un— ter tauſend Töchtern hätte es ficher nicht eine gethan.

Der Raubholz war indeſſen mitten in dem Beurer

229

ſtand, zu dem er ſich herab gearbeitet, doch keiner von denen, die ſich fuͤr nichts und aber nichts fuͤr ein ſolches Weib ſo leicht wegwerfen; im Gegentheil, da man ihm von mehrern Seiten vorſpiegeln wollte, dieſe Sylvia waͤre unter ſeinen Umſtaͤnden eine gute Parthey fuͤr ihn, ihr Oncle ſey eitel und wenn ſie ſich mit einem Mann aus einer ſo hohen Familie verbinden koͤnne, ſo werde es nicht fehlen, er werde ſie gewiß zu ſeinem Erben einſetzen, antwortete er beſtimmt und derb: er fen kein Idealiſt, er liebe die Realitäten; wenn die Einſetzung der Sylvia zur Erbin des Generalen gerichtlich ausgefertigt in ihren Haͤnden liege, ſo laſſe ſich denn an eine Heurath mit ihr denken, ohne das wuͤrde er ſie nicht von der Straſſe auf— leſen, wenn er ſie am Boden liegend faͤnde.

Dieſe Antwort von ihm zu hoͤren, machte der Sylvia ſo viel als ein Glas kaltes Waſſer zu trinken, im Gegen— theil, ſie ſagte einem ihrer Vertrauten, der ihr dieſe Ant— wort brachte: er hat recht, daß er die Realitaͤten liebt, er weiß ſie auch zu brauchen und er waͤre ein Narr, wenn er anders daͤchte und an ſeinem Platz waͤre es ihr genau wie ihm. Deſto eifriger aber that ſie alles, ſeinethalben ihren Zwecken entgegenzuſtreben. Sie beſuchte ſeit einiger Zeit wirklich, freylich ſo viel ſie konnte, beſonders fuͤr den Oncle incognito, einige Haͤuſer, die durchaus nicht in ei— nem ganz guten Ruf ſtanden, in denen ſie aber ſicher war, den Grafen anzutreffen. Dieſer Beſuche halber aber war ſie ſeit dem Brief, den Arner an den Generalen ge— ſchrieben, in ſehr großer Verlegenheit. Er that in dieſem Brief von Verbindungen erwaͤhnen, die ihr Schande ma—

230

chen konnten, und fie glaubte jetzt ſicher, dieſe Aeuſſerun— gen Arners beziehen ſich auf die Beſuche, idie fie in die ſen Haͤuſern machte, um den Raubholz darin anzutreffen. Dabey wußte fie auch, daß der General ſchon hie und da vernommen, der Raubholz ſey ſeines Betragens halber in der Hauptſtadt und ſelber bey Hof ſo wenig in einem gu— ten Ruf, daß man ihm in einigen guten Geſellſchaften ſogar den Zutritt verſage. Sie lag desnahen dem Helidor, wo fie immer konnte, beſtoͤndig in den Ohren, daß er den Grafen, auf welche Art es immer möglich fen, mehr zu Ehren bringe, und ihm eine ehrenhafte Anſtellung ver— ſchaffe. Aber fo ſehr Helidor auch alles wagte, was gehen mochte, ſo wagte er es doch nicht, die oͤffentliche Meynung für dieſen Mann fo auffallend zu ſtoſſen. Perſoͤnlich hatte er ihn ganz gern. Erfah ihn auch zu Zeiten bey ſich, und fand ihn zu einigen krummen Streichen ganz brauch— bar, und er haͤtte ihm ganz gewiß das Erb des alten Ge— nerals ſo gern zugeſchoben, als es ihn gefreut haͤtte, es Arner zu entziehn. Aber er konnte bey der oͤffentlichen Meynung, die gegen ihn ſtatt fand, durchaus nicht thun, was er gern wollte. Er redte ihm wohl hie und da auf Schleichwegen das Wort und zog ihn auch hie und da zu einer gemiſchten Geſellſchaft; aber in Geſellſchaften, wo Leute waren, denen er ſogar Geld, das er im Spiel mit ihnen verloren hatte, ſchuldig war, durfte er ihn nicht hinfuͤhren. Einen etwa um ein halbes Procent hoͤhern Orden als der, den er trug, hatte er Gelegenheit, ihm zu verſchaffen, aber an eine Anſtellung, die irgend eine Art von Verantwortlichkeit hatte, durfte er ihn nicht empfeh-

251 .

len. Er empfahl ihn auch nicht dazu. Auch befriedigte das, was er fuͤr ihn that, Sylvia natuͤrlich um ſo weniger, da die Sache mit dieſer Heurath mit jedem Tag dringen— der und mit jedem Tag ſchwieriger wurde. Sie ſah den General, der ſchon ſein ſiebenzigſtes Jahr uͤberſtanden, ſeit einiger Zeit ſichtbar abnehmen, und der Gedanke, ihn ſter— ben zu ſehen und denn unverſorgt vielleicht gar an Arners Durft *) kommen zu muͤſſen, war ihr unertraͤglich, und was ſie von dieſer Seite fortdauernd immer that, den Oncle von dieſer Seite ſich guͤnſtiger zu machen, ſchien ihr ſelber auch ohne merklichen Erfolg zu ſeyn. Unter dieſen Umſtaͤn— den blieb ihr für ihre Zwecke nichts uͤbrig, als Helidor im— mer mehr zu beſtuͤrmen, daß er den Grafen noch etwas mehr hervorziehe. Sie that das auch mit ziemlicher Zu— dringlichkeit, und da ſie Helidor nur ein paar Stunden nach der Audienz, die er der Eichenbergerin gab, zu ſehen be— kam, hatte fie das Maul ſchon wieder mit dieſer Zudring«- lichkeit offen. Das war jetzt Helidor recht. Er gab ihr die beſtimmte Antwort, was jetzt für ihre Endzwecke weit wich— tiger ſey, als das einſtweilige Hervorziehen ihres Hrn. Gra— fen, fen, daß man alles anwende, den General über Arner unzufrieden zu machen und es dahin zu bringen, daß er ſich ſeiner ſchaͤme und ihn ſelber zu verachten anfange; das mit dem Enterben koͤnne erſt dann mit Hoffnung des Erfolgs betrieben werden, wenn man einmal mit dem General dies— falls im Reinen ſey. Bis dahin ſey alles, was man dar- uͤber verſuche, in den Tag hinein verſucht.

Ihre Nothdurft bey Arner ſuchen zu muͤſſen.

*

252

0. 65.

Dienſttreu der Verruchtheit für verruchte Zwecke, und einige Aufſchluͤſſe uͤber die Beweggruͤnde, Mittel und Schwierigkeiten einer ſolchen Dienſttreu fo wie eine Andeutung, daß auch die hoͤchſte Verruchtheit Ueberwindungs— kraͤfte bedarf und beſitzt, daß aber ſolche Ue— berwindungskraͤfte oft auch an einem Sprich⸗ wort, das klein iſt, und wie das Veilchen im | Koth blüht und duftet, ſcheitere.

Sylvia begriff das ſehr wohl und ſagte: aber, was iſt dann zu thun? N |

Helidor erwiederte: Sie muͤſſen mit dem General fo bald immer moͤglich nach Arnheim.

Sylvia. Das wird etwa nicht wahr ſeyn.

Helidor. Es iſt gewiß wahr und unumgaͤnglich nothwendig.

Splvia. Das wäre vom Teufel; ich wollte lieber nach Siberien.

Helidor. Aber der Weg zu des Oncles Erb geht uͤber Arnheim.

Sylvia. Aber hoffentlich doch nicht der einzige.

Helidor. Ganz ſicher iſt er fuͤr Sie der einzige. Ich ſtehe dafuͤr, es iſt für Sie tein anderer offen.

Sylvia. Aber das iſt ein verflachter Weg, und es

255 konnte mich auf demſelben noch ein Erbrechen ankommen, daran ich ſtuͤrbe, dann hätte ich ja noch dazu den Weg umſonſt gemacht.

Helidor. Oh, Sie ſterben noch nicht ob dem erſten Erbrechen, und denn laͤßt ſich fuͤr etwas, das ſo viel iſt, als des Generalen Erb, doch etwas probiren, das einige Geduld braucht.

Sylvia. Sie koͤnnten mir nichts vorſchlagen, das mir fo zuwider wäre, als nach Arnheim zu gehen. Der Oncle hat mich ſchon lange in dieſes Schloß, das Arner jetzt täglich mehr zu einem Bauernhof macht, hinfuͤhren wollen, und ich hatte große Muͤhe, ihn davon abzuhalten; jetzt wollen noch Sie mich bereden, dahin zu gehen.

Helidor. Wenn Sie die Hoffnung mit des Gene— ralen Erb nicht ganz aufgeben wollen, ſo muͤſſen Sie hin und ich daͤchte, dafuͤr koͤnnten Sie ſich etwas uͤberwinden.

Sylvia. Freylich, wenn es denn mit dem Erb ſicher waͤre, ſo ließe ſich wohl etwas dafuͤr thun.

Helidor. Ich daͤchte es auch.

Sy loia. Wenn es dann ſicher waͤre, ich gienge da— fuͤr ſechs Wochen drey Tag ſelber ins Fegfeuer.

Helidor. Wer nichts waget, der ſiegt nicht, und wer nichts ſetzt, der gewinnt nichts, es muß etwas pro— biert ſeyn. Gewiß iſt ſo viel, es giebt keinen beſſern Weg, Arner und ſein ganzes Weſen zu compromittiren und ihm ſo viel Spuck in ſein Neſt hineinzubringen, daß er jeder⸗ mann zum Geſpoͤtt wird und der General ſich ſelber, wo er hinkommt, ſich ſeines Neveu's ſchaͤmen muß, wie er

254 ſich einſt eines andern Manns, den Sie auch kennen, ſchaͤmen zu muͤſſen glaubte.

Sylvia. Ja, wenn wir ihn dahin bringen, daß er ſich Arners halber ſchaͤmen muß, wie er ſich einſt ſeines Bruders, meines gnaͤdigen Herrn Vaters halber, ſchaͤmen zu muͤſſen glaubte, ſo glaube ich denn ſelbſt, haben wir ein gutes Spiel, ihn Erbshalber dahin zu bringen, wo wir ihn wuͤnſchen.

Helidor. Sie ſehen alſo, was weſentlich noth thut.

Sylvia. Aber wird es ſo leicht ſeyn, Arner ihm veraͤchtlich zu machen?

Helidor. Es iſt ſo viel Stoff da, Arners Thun zu verwirren und zum oͤffentlichen Geſpoͤtt zu machen, daß es Ihre Eichenbergerin ſelber gemerkt und beſtimmt zu mir geſagt hat, wenn nur ein Wind wider ihn durch das Dorf blaſe, fo falle fein ganzes Werk zuſammen, und denn iſt in der ganzen Welt auch noch niemand ſo geſchickt, dieſer boͤſe Wind für Arners ganzes Thun zu ſeyn, als Sie ſelber, wenn Sie ſich nur entſchlieſſen konnen, einige Monathe auf dieſem Bauernhof, wie Sie ſein ſchoͤnes, praͤchtiges Schloß heißen, zu reſidiren.

Sylvia. Stoff, ihm Spuck, großen Spuck zu ma⸗ chen, iſt ſicher genug da.

Helidor. Sie ſehen alſo, daß mein Rath, dahin zu gehen, nicht aus der Luft gegriffen.

Sylvia. Ich habe das nie gedacht, ich gieng nur nicht gern dahin. b

Heliſdor. Aber jetzt gehen Sie doch gern.

255

Sylvia. Für Arners Erb wuͤrde ich freylich alles thun, was, wie das Sprichwort ſagt, der boͤſe Brief aus— weist.

Helidor. Sie ſind plotzlich in dieſer Sache fo eifrig worden als Ihre Eichenbergerin.

Sylvia. War ſie denn ſo eifrig?

Helidor. Man kann doch nicht wohl eifriger cpi Man hat mir erzaͤhlt, ſie habe vor lauter Freude, mir vorgeſtellt zu werden, noch vor meiner Thuͤre zu einer ih— rer Bekannten geſagt, ſie wuͤrde Arners Dorf an allen vier Waͤnden anzuͤnden, wenn ich ihr nur einen Wink gaͤbe, daß ich es gern hätte. {

Sylvia. Ich hätte fie dieſes Worts nicht faͤhig ger glaubt.

Helidor. Sie iſt mitten in ihrer erbaͤrmlichen Ei— telkeit eine feinere Hexe, als man glaubt. Sie ſieht in verſchiedenen Ruͤckſichten beſtimmt mit vieler Leichtigkeit, wo ſie zu Haus iſt.

Solvia. Nun, gnaͤdiger Herr! weil Sie die Eichen— bergerin ſo ruͤhmen, ſo hoffe ich, Sie trauen auch mir zu, daß ich in dieſer Sache etwas koͤnne und daß ich darin etwas wolle, dafuͤr gebe ich Ihnen mein Wort.

Helidor. Wir ſind alſo dieſer Sache halber in Ord— nung. Sie gehen, ſobald Sie koͤnnen, nach Arnheim.

Sylvia. Ja, ich gehe, ich ſehe, daß es ſeyn muß.

Helidor. Und Sie bereden den Oncle, daß er recht bald geht.

Sylvia. Ich muß ihn nicht bereden, ich muß nur aufhoͤren, ihn davon abzuhalten.

256

Helidor. Machen Sie denn Ihre Sache da recht gut, und ich will dann hier fuͤr Sie thun, was ich kann und Ihren Herrn Grafen ſoweit zu Ehren bringen, als es nur immer geht.

So ward von zwey abſcheulichen Menſchen ein Plan entworfen, der Arn er einige Monathe ſpaͤter an den Rand des Grabs gebracht hat.

Aber, Leſer! fuͤrchte dich nicht. Ehrlich waͤhrt am laͤngſten. Es wird der Sylvia mit ihren Teufelsprojecten gegen Arner nicht beſſer gehen als der Untervoͤgtin mit ih— rer Teufelsarbeit gegen den Huͤbelrudi, und Helidor wird, in ſeinen Werken ſelber gefangen, der Verzweiflung nahe gebracht werden.

*

b. 64.

Weh dem, der den Sehenden blind wuͤnſcht und dem, der in der Finſterniß ſitzt, das Licht ausloͤſcht. Weh dem, der dem Lahmen ſeine Kruͤcke unter der Achſel wegnimmt und dem Verwundeten ſeine heilende Wunde aufreißt, daß fie von neuem eitere und blute,

Doch ich wandelte lange und ermuͤdend genug in den Labyrinthen einer boͤſen Verruchtheit; wie froh, wie froh bin ich, aus dem Dunkel ihrer Irrgaͤnge, aus der Ver—

257

worfenheit ihrer Schlupfwinkel und aus den ſchauerlichen Abgruͤnden ihrer Verwilderung in der milden Gegend ei— nes ſtillen, heitern Himmels wieder frey und froh und unbefangen zu athmen; wie froh bin ich, wieder zur Gertrud, zu Gluͤlphi, zu Arner und den vielen guten Menſchen in niedern Huͤtten, die ſelber in dem ſonſt ſo ſchlechten Bonnal wohnen, zuruͤckzukehren.

Aber mußte dann mein Gemälde dieſer Verruchtheit die vielen Seenen dieſer Verruchtheit beruͤhren? Mußte ich dann die Verirrungen ihrer Labyrinthe und das Schau— erliche ihrer Abgruͤnde in der Schande feiner ganzen Wahr⸗ heit zu Tag foͤrdern?

Wer kann fragen? Muß der Islaͤnder nicht wiſſen, daß er unter Schnee und Eis lebt? Muß der Suͤdlaͤnder nicht wiſſen, daß er zwiſchen Schlangen und Ottern, und der Afrikaner, daß er zwiſchen Löwen und Tigern lebt, und die Baͤume ſeiner Waͤlder voller Affen ſind? Muß der Arme in der Welt nicht wiſſen, was ihm das Brod von dem Maul weg nimmt und das Kleid ſeiner Bloͤſſe ihm von dem Leib reißt? Muß der Unſchuldige nicht ler⸗ nen, dem Boͤſen zu widerſtehen und unangeſteckt und un— zertreten in ſchlechten, in gefaͤhrdeten Umgebungen ſich ſel— ber zu helfen? Muß der Edelſinn, der im Land iſt, nicht vom Bild des Verderbens, das den Schwachen und Ar— men um ihn her laͤſtet und draͤngt, aufgeſchreckt werden, daß er aufwache und nicht ſchlafe, und ſein Herz ſich in ſeinem Innerſten bewege, zu widerſtehen dem Boͤſen, auf— zuhelfen dem Guten, zu beſorgen den Verwahrlosten, zu unterfiügen den Schwachen, zu retten den Gefährdeten,

258 zu troͤſten den Leidenden, zu widerſtehen dem Unrecht und in der Demuth dennoch mit Mannskraft dem Trotz der Bosheit unter Augen zu ſtehen?!

Ich verlaſſe den Schatten meines Gemaͤldes mit Be— wußtſeyn, daß er ſchwarz aufgetragen werden mußte, um ſeine Wirkung nicht zu verfehlen, und gehe, ohne Abſicht, die Scenen der Schlechtheit, die ich eben berührt, auf im— mer zu verlaſſen, zu gruͤndlichen Scenen des haͤuslichen Lebens hinuͤber. Aber ich fuͤhle mich zum voraus in die Nothwendigkeit verſetzt, den ſchwarzen Pinſel meiner Dar— ſtellung bald wieder in die Hand nehmen zu muͤſſen.

J. 65.

Unſere Alten kannten die wahren Fundamente des Landesſegens beſſer als wir. Sie, dieſe Fun⸗ damente, gehen aus dem Heiligthum der Wohnſtube einzelner Menſchen hervor; ſie faſſen in den frommen Anſtrengungen des gu— ten Vater- und Mutterherzens ihre erſten Wurzeln, und wachſen im heiligen Boden dies ſer Stuben in ihren Segenskraͤften empor, bis an die Stuffen des Throns.

Ich kehre aus dem Wirrwar, in dem ich Arners Thun int Zuſammenhang mit vielen Anſtoͤſſen einer ihn umge—

239

benden, böfen Welt ins Aug faſſen mußte, weg und wende mich nach ein paar kleinen Stuben in Bonnal, zu ſehen, wie ſein Thun und ſeine Zwecke in dieſen Stuben, gleich— ſam von der Welt abgeſchnitten, daſtehen, und durch ſich ſelbſt anfangen, im Mutterboden alles wahren Welt- und Menſchenſegens, in der Wohnſtube Wurzel zu faſſen. Wir haben daſſelbe in den erſten Tagen, in denen das Baumwollenmareili dem Gluͤlphi und der Gertrud in der Schule an die Hand gieng, verlaſſen. Sein Einfluß, die Schulkinder von Bonnal dem Lieutenant und der Gertrud naͤher zu bringen und die Hinderniſſe, die ihren Bemuͤ— hungen dadurch aufſtieſſen, daß ſie alle ihnen beyden ganz fremd waren, zu heben, war entſchieden. Sie wurden ih— nen alle Tage weniger fremd und beſonders war ſchnell auffallend, wie die Schuͤchternheit der beſſern Kinder in dieſer Schule ſich in dem Grad verlor, als die Frechheit der ſchlechtern Kinder ſich minderte. Alle Tage gaben mehrere Kinder dem Lieutenant mit Freyheit und Vertrauen Antwort auf alles, was er fragte und eben fo bothen taͤg— lich mehr Kinder der Gertrud mit lieblich Tachelndem Munde die Hand, ſobald ſie ihnen die ihre mit ihrem lieblichen Lächeln anboth. Und fo wie innere Heiterkeit und Freyheit in den Seelen der Kinder täglich mehr Platz griff, fo ward auch mit jedem Tag größere Stille, größere Thaͤtigteit, größerer Eifer unter den Schulkindern ſicht— bar. Sie ſelber wurden ſich unter einander taͤglich mehr lieb. Hie und da wurde das eine und das andere, ſelber auch arme, Kind einem Kameraden oder einer Geſpielin lieb, die daſſelbe vorher nicht kannte, nicht achtete, oder

240

gar verachtete. Und wie vorher in der Schule Bosheiten, Narrenſtreiche und oft ſogar ſchandbare Poſſen die groͤß— ten Schlimmlinge mit ganzen Dutzenden Kameraden ver— band und ſie zu Theilhabern ihrer Rohheiten und Schlechte heiten macht, ſo verbanden jetzt ſchon beſſere geiſtige und gemuͤthliche Vorzüge, die die Kinder in ſich ſelbſt zu fuͤh⸗ len anfiengen, einzelne, beſonders vorzuͤgliche Kinder mit andern, die mit ihnen die nehmlichen Gegenſtaͤnde mit gleicher Lebendigkeit fühlten und mit gleichem Intereſſe er⸗ griff. Taͤglich ſtanden mehr Kinder mit Anmuth und Freyheit um die Kinder der Gertrud herum, lobten fie, daß ſie dieſes und jenes beſſer konnten und angriffen, als ſie es konnten und mochten, und bathen ſie ſo kindlich und bruͤderlich, als ſie konnten, daß ſie ihnen dieſes oder jenes zeigen oder ihnen in dieſem oder jenem helfen. Einige der Reichen bothen ihnen ſogar Aepfel und Birnen oder was ſie ſonſt zu eſſen in die Schule brachten, an; aber Gertrud hatte es ihnen verbothen, fie durften nichts von ihnen annehmen, und ſie nahmen auch nichts von ihnen an. Es war in der Fuͤhrung der Gertrud eine ſtille Kraft, die dem feſten Ernſt, mit welchem Gluͤlphi zu Werk gieng, in einem hohen Grad zu Huͤlfe kam und wefentlic dazu beytrug, daß die ſichtbar wachſende Lieblichkeit im Zuſam— menleben dieſes Schulhauſes in keiner Ruͤckſicht in Schwaͤß che ausartete, und dieſes Haus mitten in feinem Vorſchrei⸗ ten in der vielſeitigſten Kraftbildung ſeiner Kinder ſich dem heimeligen (heimathlichen) des ſich gegenſeinig in Frey— heit und Frohſinn liebenden und dienenden haͤuslichen Le⸗ bens täglich mehr naͤherte, das man ſonſc in irgend einer

241

Schule ſo ſelten findet, ohne welches aber eine jede Schule mehr ein Gewaltshaus der Abrichtung zu irgend einem Kenntniß⸗ oder Fertigkeitsfach als eine Bildungsanſtalt zur freyen und harmoniſchen Entfaltung des ganzen Um- fangs der menſchlichen Anlagen und Fertigkeiten iſt und angeſehen werden muß. Es war aber auch, wie wenn das liebe, graue Alterthum in dieſer Schulſtube wieder aus dem Grab aufſtehen und mit einem neuen Leben in Frohſinn und Thaͤtigkeit, in Glauben und Liebe wieder entkeimen wollte. Auch das heilige, innere Band alles wahren Se⸗ gens im haͤuslichen und oͤffentlichen Leben, die Religion, faßte in dieſer Stube in ihrem reinen Geiſt und in ihrer hohen Kraft wieder eine neue, liebliche Wurzel, in dem ſie ſich ſo dem Geiſt des Alterthums näherte. Er konnte nicht anders. Der gute Saamen des Alterthums iſt hei— lig. Lieblich ergreift er dos menſchliche Herz. Der Geiſt der Froͤmmigkeit, der Geiſt des Gebeths iſt ein heiliger Geiſt. Gertrud erhabene Seele entkeimte in ihm; das Mareili lebte weniger erhaben, aber feſt in ihrer Wahrheit und Gluͤlphi hob ſich mit jedem Tag im wachſenden Fuͤhlen ihres Seegens hoͤher empor,

Peſtalozzi's Werke. 17. 16

242

J. 66.

Der Erde Segen ift Himmels: Segen, und ohne das Himmliſche iſt nichts Irrdiſches wahrer Segen.

Die Feſtigkeit, die Deutlichkeit und die Andacht, mit— welcher Gluͤlphi täglich feine Schule mit Gebeth anfangen und mit Gebeth enden machte, hatte einen ſehr großen Einfluß auf den Ernſt und den freyen, entſchloſſenen Wil— len der Kinder zum Rechtthun und zur ſittlichen, geiſtigen und phyſiſchen Anſtrengung, die jedes Rechtthun voraus— ſetzt und hinwieder bildet. Auch gefiel Gluͤlphis Aufmerk— ſamkeit auf dieſen Gegenſtand allgemein, ſo wie der große und vielſeitige Gebrauch, den er in ſeinem Unterricht von der Bibel machte. Beym Leſenlernen ſowie im Schrei— benlernen und in den Uebungen des Gedaͤchtniſſes waren es meiſtens Bibelſpruͤche, die er dazu brauchte, und ihre Redeuͤbungen waren meiſtens Uebungen etwas zu erzaͤh— len, das ihnen aus ihrem Leben vollkommen bekannt war, oder auch von dem, was ihnen in ihrem Haus und in ihren Umgebungen begegnet und auf irgend eine Art ei— nen ſtarken Eindruck auf ſie gemacht. Oft ließ er ſie auch beſtimmt wiederholen, was er zu ihnen gefagt oder ihnen befohlen und auch, was man ihnen zu Haus auszurichten aufgetragen. Redeuͤbungen aus Buͤchern machte er fuͤr einmal mit ſeinen Kindern keine als aus der Bibel. Er fand dieſes Glaubensbuch eben darum, weil die Kinder

243 an daffelbe als an Gottes Wort glaubten, mehr als kein anderes geeignet, ihre Kraͤfte in ihrem ganzen Umfang harmoniſch und allgemein in Anſpruch zu nehmen, zu er— greifen und fie dadurch zu einer unter ſich uͤbereinſtim— menden Anſtrengung der Kraͤfte ihres Herzens, ihres Geiſts und ihrer Hand zu erheben. Er fand dieſes Buch in dieſer Ruͤckſicht, wie kein anderes, geeignet, bey feinen Kindern den Gefahren vorzubeugen, die die Verirrungen der ſchwachen, menſchlichen Natur und die Gewaltthaͤtig— keit ihrer Selbſtſucht unſer Geſchlecht in fittlicher, geiſtiger und phyſiſcher Hinſicht taͤglich ausſetzen, zu verhuͤten und den Eindruck jeder Anſicht des Lebens und jedes Begeg⸗ niſſes der Welt, ſowie denjenigen alles Unterrichts und aller Lehre durch Glauben und Liebe in ihrem innerſten Weſen zu heiligen und zu reinigen und ſeine Kinder durch Selbſtuͤberwindung zu dem Umfang der Kräfte und Fer— tigkeiten zu erheben und zu bilden, die die Ausuͤbung der weſentlichen Pflichten des Menſchengeſchlechts allgemein vorausſetzen. Dieſer Ernſt in der Liebe, dieſe Sorgfalt im Glauben und dieſe Begruͤndung des Aeuſſern durch die Heiligung des Innern, die den meiſten Eltern weſentlich durch ſeine Sorgfalt fuͤr die Gebethſtunde und fuͤr das Bibelleſen ins Aug fiel, machte beynahe allgemein im Dorf einen guten Eindruck fuͤr ihn, und gefiel vielen Leuten im Dorf, die nie glaubten, daß ſie jemals einen Gefallen an dem neuen Schulmeiſter und an dem, was er thue, ha— ben werden. Auch das Geſchwaͤtz, daß er den Eulenfpte- gel mit der Bibel gleich viel werth achte, verlor ſich all— maͤlig unter allen Leuten, die ſein Thun und Laſſen auch

244

nur halb unbefangen ins Aug faßten und ſpuckte nur noch unter Leuten, die entweder wie der Hartknopf, der alte Schulmeiſter und der Staͤndliſaͤnger Chriſten, verirrte Halb— narren, oder wie einige Vorgeſetzten und Vorgeſetztenweiber erbitterte Schalksnarren waren. Von dieſen lieſſen es ſich freylich einige nicht ſo leicht ausreden, es ſtecke hinter dem Wort, das er doch ſo offenbar und gewiß geredt habe, ſicher und gewiß etwas mehr, als man jetzt daraus machen wolle. Einige von dieſen glaubten aber freylich ſelbſt nicht, was fie ſagten, aber thaten darum denn auch deſto eifri— ger, als wenn fie es glaubten. Dieſer Art Leute wieder⸗ holten jetzt, mehr als ſie es vorher gethan hatten, das Wort: man koͤnne mit Leuten, denen dergleichen Aeuſſe— rungen, wenn auch wider ihren Willen, entfahren, nicht genug auf ſeiner Hut ſeyn. Einige von ihnen giengen ſogar ſoweit, daß fie ſich im Stillen wieder dahin aͤuſſer— ten: man koͤnne und duͤrfe dergleichen, in die Religion eingreifenden Thatſachen Gewiſſenshalber nicht unterdruͤ— cken und nicht ablaͤugnen, wenn auch ſelber das Schloß und das Pfarrhaus zum Unterdruͤcken ſolcher Wahrheiten helfen wuͤrden, wie dieſes jetzt wirklich der Fall zu ſeyn ſcheine, und wie es auch bei der Teufelsgeſchichte des Vogt Hummels, die auch ſo wieder das Zeugniß von vielen Menſchen, die es gehoͤrt haben, unterdruͤckt und wegge— laͤugnet worden, der Fall geweſen ſey. Doch waren auch dieſe Leute durch die Unſchuld, mit welcher die Kin— der alle Tage von der Sorgfalt des Lieutenants in Ruͤck— ſicht auf die Gebethſtunde und das Bibelleſen der Kinder ſoweit genirt, daß fie in ihren diesfaligen Aeuſſerungen

me

245 anfiengen, hie und da hinter den Berg zu tragen und ſich in acht zu nehmen, wen fie felbige vertrauten. Bey den »Unbefangenern war es jetzt eine ausgemachte Sache, daß das Gerede mit dem Eulenſpiegel, wie es im Dorf her— umgetragen worden, ein Mißverſtand geweſen ſeyn muͤſſe, und das Zutrauen der mehrern Eltern fuͤr den Gluͤlphi wuchs von Tag zu Tag. Einige derſelben und ſogar ei— nige von denen, die er den erſten Schultag zur Thuͤre hinausgeſtellt, lieſſen ihn jetzt durch ihre Kinder gar freund— lich gruͤſſen und fragen: ob fie jetzt nicht einmal kommen und ſehen duͤrfen, wie er mit ihren Kindern Schul halte. Er ließ ihnen antworten, wenn ſie ſtill, ohne Geraͤuſch mit einander da ſitzen wollen, ſo daß alles ſeinen Weg fortgehen koͤnne, wie wenn niemand da waͤre, ſo moͤge er es wohl leiden; aber er ſage ihnen zum voraus, er koͤnne ſich nicht mit ihnen abgeben und duͤrfe keine Zeit mit Schwatzen verlieren.

Dieſe Antwort gefiel zwar bey weitem nicht fo allge- mein als ſein Bethen und Bibelleſen. Es erneuerte ſich vielmehr vielſeitig wieder das Geruͤcht, er ſey zu ſtolz fuͤr einen Schulmeiſter.

Zwar widerſprachen dieſer Meynung alle Tage mehr Kinder und ſagten: er ſey gewiß, gewiß nicht hochmuͤ⸗ thig. Aber die meiſten Eitern lieſſen ihnen aus ihrer Meynung nichts gehen und antworteten ihnen: ihr ver— ſteht das nicht; wenn er ſchon mit euch freundlich und gut iſt, ſo kann er doch hochmuͤthig ſeyn.

Einer der pfiffigſten Vorgeſetzten ſagte zu ſeiner Frau— en: es iſt in der Schule und bey! den Kindern für ihn

246

keine Materie (Stoff) da, um ſtolz zu ſeyn oder ſtolz zu thun; auch die hochmuͤthigſten Leute find eben nicht al lenthalben hochmuͤthig; ſie kriechen oft vor denen, die hoͤher als ſie ſind, und ſind oft mit dem Bettler auf der Straſſe freundlich und mit ganz gemeinen Leuten im Land oft ſogar hoͤflich; fie zeigen ihren Stolz nur gegen Leute, die etwas weniges mehr als ſie ſind, gegen die ihres glei— chen und gegen die, ſo auch gern ſo viel ſeyn moͤchten, als ſie ſind.

Es iſt mit dem Stolz der Leute, fo gewiß als die Son— ne ſcheint, wie du ſagſt, antwortete die Frau; wir haben an unſerm Junker ſelber das auffallendfie Beyſpiel. Er ſcheint bey gewiſſen Leuten oft fo demuͤthig als hie und da ein Praͤlat vor dem Altar und ein Kloſterbruder vor dem Praͤlat.

Der Mann erwiederte: du haſt vollkommen recht. Er giebt ſelber Maͤnnern und Weibern, die ſich kaum des Bettelns erwehren moͤgen, die Hand, wie wenn ſie ſeines— gleichen waͤren, und iſt dann wieder mit Herrſchaften, die er nicht mag, oder die ihm ungelegen zum Beſuch kommen, fo grob, als wenn fie ihre Herrſchaften von ihm zu Lehen empfangen haͤtten.

Der Mann und die Frau ſchwatzten noch eine Weile uͤber ſeine Grobheit, die er auch gegen ſeine Bauern im Dorf zeige.

Und am End ſagte der Mann mit einem Mißmuth, daß man denken moͤchte, es waͤre ihm ſelber ſo etwas be— gegnet: es muß ein Bauer nur einen groſſen Hof, viel Vieh im Stall und viel Korn auf der Schuͤni haben, fo

/

247 kann er ficher ſeyn, der letzte Bettler im Dorf hat's beffer bey ihm und wird freundlicher aufgenommen und ange— ſehen als er.

So hatte des Gluͤlphis Antwort an die Maͤnner und Weiber, die gern wieder in ſeine Schule gegangen waͤren und viel mit ihm geſchwatzt hätten, das alte Gered über ſeinen Hochmuth wieder aufgewaͤrmt. Aber das war auch jetzt das einzige, das man ihm öffentlich und laut vorwarf. Zu ſeinem Gluͤck aber that ein Regentag auch dieſem Ge— red großen Abbruch.

Es iſt eine Ordnung in Bonnal, daß ſeit zwanzig Jah— ren ein verfaulter Steg vor dem Schulhaus nicht einmal wieder gemacht worden, und die Kinder, wenn's ein paar Tage nach einander geregnet, faſt bis an die Waden hin— auf naß werden muͤſſen, wenn ſie uͤber die Kengelgaß in die Schule wollen.

Aber das erſtemal, da der Gluͤlphi die Gaſſe ſo voll Waſſer ſah, ſtand er, ſobald die Kinder anfiengen zu kom— men, in vollem Regen in die Mitte der Gaſſe hinein und hob eines nach dem andern uͤber den Bach.

Das duͤnkte ein paar Maͤnner und Weiber, die gerade vor der Schule uͤber wohnten, und juſt diejenigen, die am meiſten klagten, er moͤge den Leuten vor Hochmuth kaum guten Tag und gute Nacht ſagen, gar luſtig.

Sie hatten eine rechte Freude daran, zu ſehen, wie er in ſeinem rothen Rock durch und durch naß werde, und bildeten ſich ein, er moͤge es keine Viertelſtunde erleiden, und werde ihnen augenblicklich rufen: ob ihm dann nie— mand helfen koͤnne?

248

Aber da er fortmachte, wie wenn keine Katze, gefchwei- ge ein Menſch, um ihn herum wohne, der ihm helfen konnte, und Haar und Kleid und alles an ihm traufte und er immer noch keinen Schatten Ungeduld zeigte, und immer noch ein Kind nach dem andern hinuͤberlupfte, fiengen ſie doch an, hinter ihren Fenſterſcheiben zu ſagen: er muß doch ein guter Narr ſeyn, daß er fo lang fortmacht und wir müf- fen uns, ſcheint es, doch geirrt haben; wenn er hochmuͤthig wäre, fo haͤtte er ſchon lange aufgehört.

Endlich krochen ſie gar aus ihren Loͤchern hervor, ſtan— den zu ihm zu und ſagten: fie haben es nicht eher geſehen, daß er ſich fo viele Muͤhe mache, er ſolle doch heimgehen und ſich trocknen, und fie wollen die Kinder ſchon hinuͤber— lupfen, fie mögen es eher erleiden als er, ſje ſeyen ſich eher gewohnt.

Noch mehr: fie wollen noch, ehe die Schule aus fen, ein paar Tannen zufuͤhren, daß wieder ein Steg ſey wie vor altem.

Sie ſagten es nicht bloß. Ehe es 11 Uhr laͤutete, war wirklich ein Steg da, daß die Kinder nach der Schule trock— nen Fuſſes uͤber den Bach gehen konnten.

Und auch die Klage uͤber ſeinen Hochmuth verlor ſich jetzt, da die zwey Nachbarsweiber, die am ſchlimmſten uͤber dieſen Punkt über ihn klagten, ihr Lied darüber anderß an- ſümmten.

g. 67.

Es erſcheinen wieder hoͤhere Anſichten uͤber das Schulhalten.

Die liebevolle Unſchuld der Gertrud, das feſte Beneh— men des Baumwollenmareilis, ſowie die ausgezeichneten Kenntniſſe, die großen Lebenserfahrungen und die unermuͤd— liche Thaͤtigkeit des Lieutenants konnten nicht anders, als auf den guten Fortgang der Schule einen entſcheidenden Einfluß haben. Da ſich das Baumwollenmareili, nachdem ek etwas mehr als eine ganze Woche vom Morgen bis an den Abend in der Schule war, zuruͤckgezogen, indem es dem Hausweſen ſeines Bruders nicht laͤnger mangeln konnte und das, warum Gertrud es gebethen, ihnen an die Hand zu gehen, ſoviel als gaͤnzlich erzielt war, ſtellte Gluͤlphi noch eine Margreth zur Huͤlfe an, Dieſe Frau war in den haͤuslichen und weiblichen Arbeiten allgemein in einem hohen Grad geuͤbt und erfahren, und ſelbſt un— ermuͤdet im Arbeiten, im Lehren der Arbeiten ſo ſtreng als ſie im Leiten und Zeigen derſelben geſchickt war. Er hatte ſie nothwendig, denn er war entſchloſſen, ſeine Schule ſolle weſentlich als ein fortdauerndes Bildungsmittel des haͤuslichen Lebens und aller Angewoͤhnungen, deren daſ— ſelbe bedarf, daſtehen, um nicht weniger als in eine ein— ſeitig beſchraͤnkte, von dem Geiſt und den Endzwecken des haͤuslichen Lebens getrennte und ſogar ihnen nachtheilige,

250

fie hemmende und fidrende Bildungs- und Unterrich es- Anſtalt ausarten. i

Das Wort der Gertrud: „jeder Unterricht, der von der Sünde ausgeht, iſt verflucht, war ihm ſtets vor den Augen, und er wiederholte mehreremal bey ſich ſelbſt die Worte: jede Schule, die die Kraͤfte des haͤuslichen Le— bens im Kind ſtoͤrt und daſſelbe aus feinem, den ganzen Umfang ſeiner Kraͤfte gemeinſam und harmoniſch bilden— den, Segen herausfuͤhrt und demſelben ſtoͤrend entgegen wirkt, geht von der Suͤnde aus und fuͤhrt hinwieder zur Sünde. Die Erhaltung und Stärkung des haͤuslichen Sinnes und ſeines Lebens im Glauben und in der Liebe, im Bethen und Arbeiten, im taglichen Anſtrengen feiner Leibs- und Seelenkraͤfte für Zeit und Ewigteit, im kindli— chen, liebevollen, ſich aufopfernden Hingeben fuͤr ſeine Pflichten, im ſtillen, die Welt und alles, was darin iſt, vergeſſenden Einſchließen ſeiner ſelbſt in ſeinem Kaͤmmer— lein, dieſes Leben des wortleeren und kraft- und thaten— vollen chriſtlichen Menſchen als Fortſetzung der h. Ange— woͤhnung einer jeden chriſtlichen Wohnſtube durch die Schule in der That und Wahrheit zu foͤrdern, zu befeſti— gen und zu ſichern, war jetzt das einzige Ziel ſeiner Schule. Auch hielt er dafuͤr, die Schulbildung muͤſſe die Luͤcken, welche die zum Theil einſeitige und beſchraͤnkte Ausbildung der Arbeits- und Berufsferligkeiten, die das haͤusliche Le— ben zu ertheilen vermag, offen laßt, auf alle Weiſe aus- zufuͤllen trachten. Er ließ desnahen auch im Anfang der dritten Woche die Hobelbaͤnke, die Drehſtuͤhle, die Schmiede, die Spitztrucken und Arbeitstiſche, die der Junker fuͤr

251 die Schule nach Bonnal kommen laſſen, die aber bis jetzt im Pfarrhaus in Verwahrung geblieben, in die Schulzim— mer bringen, um ſeine Kinder ſogleich thatſaͤchlich in den weſentlichſten Fertigkeiten des bürgerlichen Beruflebens zu uͤben. Mit jedem Tag war ihm heiter, die Arbeitſam— keit, die phyſiſche Thaͤtigkeit unſers Geſchlechts ſey das wahrhafte, heilige und ewige Mittel der Verbindung des ganzen Umfangs unfrer Kräfte zu einer einzigen, gemein⸗ ſamen Kraft, zur Kraft der Menſchlichkeit. Alle Tage ſah er mehr, wie die Arbeitſamkeit den Verſtand bildet und den Gefuͤhlen des Herzens Kraͤfte giebt, wie ſie das den Kraͤften und der Reinheit des Lebens toͤdtliche Schwei— fen der Sinne verhuͤtet, der Einbildungskraft die Thore ihrer Verirrungen zuſchließt, den eitlen Zungen die Spitze ihrer Geſchwaͤtzigkeit abſtumpft, den Fflichtſinn unſerer Natur vor ſeinem Verderben bewahrt und von den Schwaͤ— chen zuruͤckfuͤhrt, unſer Maulbrauchen uͤber das Thun fuͤr das Thun ſelber und unſer Geſchwaͤtz uͤber Heldengroͤße für Heldengroͤße, und unſer nichtiges Traͤumen uͤber die goͤttlichen Kraͤfte des Glaubens und der Liebe fuͤr dieſe Kraͤfte ſelber anzuſehen. Dieſe hoͤhern Anſichten uͤber die menſchliche Ausbildung waren es, warum er Drehſtuhl, Hobelbank, Spitztrucken, Naͤhkiſſen u. ſ. w. in ſeine Schule aufnahm. Aber erzaͤhlen, wie er jedes einzelne dieſer Arbeitsmittel gebraucht hat, das will ich ſo wenig, als ich erzaͤhlen will, wie er ſeine Kinder leſen, ſchreiben und rechnen gelehrt. Daß er es auf die vorzuͤglichſte und erprobteſte, beßte Weiſe zu thun geſucht, das verſteht ſich von ſelbſt. Aber ich will jetzt kein Schulmeiſterbuch we—

252

der fuͤr das A B C noch für das Hobeln und Drehen und fuͤr keine einzige nothwendige Schuluͤbung ſchreiben.

J. 68.

Sonntagsverſammlungen, die moͤglich waren, ſo lang der Kulturzuſtand unſers Welttheils noch fo weit zuruͤck war, daß nicht alle Schnei⸗ der, Schuhmacher, alle Subſtituten der Uns terſekretaͤrs, alle mouchards, Weibel mit ihren Weibern jeden Sonntag an den ſinnli— chen Vergnuͤgungen der hoͤhern Staͤnde, an Baͤllen, Comoͤdien, Tanzpartheyen, Gaukel⸗ ſpielen, Hazardſpielen ꝛc. ꝛc. Theil nehmen, und wenn ſie es nicht thun, unter ſich ſelber zum Geſindel gerechnet werden, mit welchen Leute auch nur von einiger Diſtinction und Lebensart nichts zu thun haben koͤnnen und ſich nicht zu ihnen zaͤhlen duͤrfen.

Arner und Thereſe kamen jeden Sonntag mit dem Pfarrer, der Frau Pfarrerin und dem Baumwollenmeher, ſeiner Schweſter und der Gertrud zuſammen. Man miß⸗

255

deute mir das Wort nicht, ich ſpreche, es war eigentlich eine Regierungs verſammlung für das Dorf. Ich meyne, der Geiſt und das Herz, der alle Perſonen, denen die Verwaltung und Beſorgung eines Dorfs anvertraut iſt, beherrſchen ſollte, lebte in einem hohen, die Menſchen— natur erhebenden und befriedigenden Grad in dieſen Per— ſonen. Es geſchah nichts gutes, nichts loͤbliches im Dorf, das in dieſer Verſammlung nicht zur Sprach kam, und nicht bey einem oder dem andern Glied dieſer Verſamm— lung thaͤtige Theilnahme fand; aber viel Böfes, das im Dorf vorgieng, wurde, wenn es auch ſchon einigen Glie— dern der Verſarumlung bekannt war, darin doch nicht be— ruͤhrt, denn ſie hatten alle den Grundſatz, es ſey umſonſt, uͤber die ſauern Fruͤchte eines Baums, der ungezweit, Cungeproft) in der Wildniß aufgewachſen, zu klagen, man muͤſſe anſtatt deſſen die geſuͤndeſten und ſchoͤnſten Zweige, die er habe, ausſuchen und neue und beſſere Fruͤchte dar— auf impfen und zweien. Das ſuchten die Glieder dieſer Verſammlung alle mit ernſtem Fleiß und großer Sorgfalt, Anſtrengung und Treue zu thun. Sie forſchten jeder kleinſten Spur von etwas Gutem, das mitten im Verder— ben des ganzen Dorfs bey einzelnen Eltern und Kindern noch da war, mit thaͤtigem Eifer nach, und fanden wirf- lich hie und da etwas Gutes, Erfreuliches und fogar Herz— erhebendes, wo man es gar nicht erwartet, und wo man es, wenn man es nicht geſucht, auch gewiß nicht ge— funden haͤtte. Das Baumwollenmareili erzaͤhlte am allermeiſten, wie viele, auch von den ſchlechteſten, Eltern anfangen, ſeitdem ihre Kinder zu Gluͤlphi in die Schule

254 gehen, auf fie aufmerkſamer zu werden und zu rühmen, wie ſie zu Haus weit freundlicher und gefaͤlliger mit ih» ren Geſchwiſterten und aufmerkſamer und thaͤtiger in al— lem ſeyen, wodurch fie ihren Eltern Freude machen koͤn— nen.

Das war aber auch nicht anders moͤglich. Gluͤlphi und Gertrud thaten alles Mögliche, den reinſten, thaͤtigſten, haͤuslichen Sinn durch ihre Schulfuͤhrung in ihren Kin— dern zu wecken und zu beleben und zwar nicht blos mit eiteln, leeren Worten und Lehren, ſondern thatſaͤchlich, ei— nerſeits durch Angewoͤhnung einer ununterbrochenen Thaͤ⸗ tigkeit, anderſeits durch eine eben ſo ununterbrochene Be— lebung eines frohen und freyen, heitern, lieblichen Sinns und einer damit verbundenen, herzlichen Theilnahme an allen Begegniſſen, die in ihren Umgebungen die zärtern Fäden des menſchlichen Herzens ergreifen und in edeln, reinen Gefühlen reg erhalten konnten.

So wie er uͤberzeugt war, die Denkkraft des Menſchen bilde ſich nicht durch das Reden uͤber das Denken, ſondern durch das Denken ſelber, und hinwieder, die Kunſtkraft und die Fertigkeiten, deren ſie bedarf, bilden ſich nicht durch das Reden uͤber die Kunſt, ſondern durch das Arbeiten der Kunſt, ſo war er auch uͤberzeugt, Glauben und Liebe bilden ſich nicht durch das Reden uͤber dieſe hohen und heiligen Fundamente unſers innern Lebens, ſondern durch die Thatſache des Lebens im Glauben und in der Liebe.

Dieſer Ueberzeugung getreu that er dann auch in Ver— bin dung mit der Gertrud alles, in ſeiner Schulfuͤhrung die Thaiſache des Glaubens und der Liebe bey ſeinen Kindern

255

auf alle Weiſe zu beleben und zu bilden, überzeugt, daß alle, auch noch ſo heitere, Erklaͤrungen uͤber Glauben und Liebe und alle, auch noch fo warm ausgeſprochene Worte darüber ohne inneres, wirkliches Leben im Glauben und in der Liebe ein leerer Wind ſey, von dem das zu unter— richtende Kind eigentlich nie weiß, woher er kommt und wohin er weht.

Gertrud und er thaten vom Morgen bis am Abend al— les, das Zutrauen und die Liebe der Kinder wirklich zu erhalten. Sie fianden in jedem Augenblick und in jedem Verhaͤltniß mit liebender, ſchonender und helfender Kraft neben ihnen. Ueberzeugt, daß nur der Vettrauen findet, der kraftvoll und maͤchtig daſteht fuͤr das, was er will und ſich liebevoll und ſchonend geneigt zeigt, mit feiner Kraft dem zu dienen, der ihrer bedarf; uͤberzeugt, daß das wahre Vertrauen der Menſchen nur aus Thaten her— vorgeht, die den Dank jedes guten Menſchenherzens an— ſprechen, ſuchten beyde, Gertrud und er, das Danfgefühl der Kinder gegen fie durch ihre Thaͤtigkeit und Liebe taͤg— lich rege zu machen, und da ſie eben ſo den Zuſammen— hang des guten, menſchlichen Vertrauens mit dem Zu— trauen auf Gott, mit dem Glauben an Gott mit innigem, warmem Gefühl erkannten, fo thaten fie auch alles, das Gefühl ihrer Kinder für die Gutthaten Gottes lebhaft in ihnen zu entfalten und trachteten dahin, daß dieſe Guttha— ten ihnen als Thatſachen ihres innern und aͤuſſern Lebens taͤglich lebendig vor ihren Augen ſtehen und ſo die Ge— fühle der Dankbarkeit in ihnen erzeuge, aus deren wirli- chem Daſeyn Vertrauen und Liebe zu Gott nothwendig

256

hervorgehen muͤſſen. Gluͤlphi war innig von dem Grund— fag oͤberzeugt: das Leben bildet und das bildende Leben iſt nicht Sache des Worts, es iſt die Sache der That, es iſt Thatſache. Er begründete alſo feine Bildung der Kinder zur Liebe und zur Flammenglut ihres innern, hei— ligen Weſens nicht durch das Hoͤren und Auswendiglernen von Spruͤchen uͤber die Liebe und uͤber ihren Segen, ſon— dern durch die thaͤtliche Liebe ſelber, zu der er ihnen taͤg— lich Gelegenheit, Reiz, Beyſpiel und Aufmunterung gab. Er fuͤhrte ſie zum wirklichen Leben in der Liebe. Er ſtellte ihnen die Thatſache der Noth, des Leidens und des Elends vieler Menſchen ruͤhrend vor ihre Sinne. Es war nicht das Bild des Elends von Menſchen, die tauſend Jahre vor ihnen gelebt oder tauſend Stunden entfernt von ihnen wohnen, es war das Leiden und das Elend von Menſchen, die ihnen nahe ſtanden, deren Thraͤnen ſie in ihren Augen ſahen, deren Hunger aus ihrem Geſicht zu ihnen ſprach, und die in Bloͤſſe und Nacktheit vor ihnen zu ſtanden und aus Mangel von Bildung unbehuͤfflich und ungewandt ſich in ihrer Noth nicht zu helfen wußten. Er ſuchte durch die lebendigen Anſchauungen des Elends ſelber die Herzen der Kinder zur Theilnahme an allen Schickſalen ihrer Mitmenſchen und zum thaͤtigen Mitlei— den und Erbarmen ihrer Noth zu erheben und ſelber in Noth und Armuth zum ernſten Nachforſchen uͤber die Mittel, der Noth und dem Elend der Menſchen abzuhel— fen, hinzufuͤhren. Auch kettete er dieſe Aufmerkſamkeit ſeiner Kinder auf die Noth und das Elend ihrer Neben— menſchen vorzuͤglich auf ihre naͤchſten Umgebungen, uͤber⸗

257 zeugt, daß das Herz der Menſchen vorzüglich und am ſtaͤrkſten durch die Noth der Seinigen angeregt, angeſpro— chen und belebt wird. So, wenn ein Menſch im Haus eines ſeiner Schulkinder krank war, ſey es Vater, Mutter, Geſchwiſterte oder auch der letzte Knecht oder die letzte Magd im Haus, fragte er dieſes Kind allemal und zwar im erſten Augenblick, in dem er in der Schule erblickte, wie ſich ſein Kranker befinde, und das Kind mußte ihm umſtaͤndlich und beſtimmt daruͤber Rede und Antwort ge— ben. Er ließ ſich in ſolchen Faͤllen gar nicht mit halben Worten abſpeiſen, er fragte ſo beſtimmt, daß wenn das Kind daheim dem Kranken nicht ſelbſt nachgefragt, es im Augenblick als daruͤber unwiſſend vor ihm da ſtand, und denn gab er ihm das Unrecht ſeiner diesfaͤlligen Unwiſſen— heit ſo zu fuͤhlen, daß es ſich ſchaͤmte und hernach gewiß nicht wieder in die Schule kam, ohne vorher genau nach— zufragen, wie ſich ſein Kranker befinde. Er fragte auch jedesmal die Kinder, ob ſie auch ſelber mit dem Kranken geredt und ob ſie ſich beſtreben, ihm ſeine Krankheit auch zu erleichtern und wenn's auch nur dadurch waͤre, daß ſie in ſeiner Naͤhe ſtill ſeyen und kein Geraͤuſch machen, da— mit der Kranke ruhig ſeyn koͤnne. Die groͤßern dieſer Kin: der fragte er allemal auch noch, od ſie ihrem Kranken nicht auch wachen und ob ſie es etliche Naͤchte nach ein— ander aushalten moͤgen, und zeigte ihnen ſeine Freude, wenn ſie ſagten, ſie moͤgen es wohl erleiden und er es ihnen anſehe, daß ſie es gerne thun. Er unterließ auch nie, wenn er ſo mit einem Kind uͤber einen kranken Haus— genoſſen redte, es allemal zu fragen: betheſt du auch alle Peſtalozzi's Werke. IV. N it

258

Morgen und alle Abend fuͤr deinen Kranken, daß ihm der liebe Gott bald wieder zu ſeiner Geſundheit verhelfe? und wenn er wußte, daß der Kranke arm oder wenigſtens nicht in Umſtaͤnden war, daß er das, was ihm in feiner Krank— heit nahrungs- und arznepenhalber helfen konnte, ſich leicht anzuſchaffen, ſo fragte er das Kind umſtaͤndlich, wie der Kranke diesfalls beſorgt ſeh, und wenn er ſah, daß das, was nothwendig waͤre und ihm wohl thun wuͤrde, man— gelte, ſo ſagte er es augenblicklich der Frau Pfarrerin, be— richtete es ins Schloß und redte oft auch mit dem Baum—

wollenmeher und feiner Schweſter darüber, und fand im— mer zu dem, was hierin nothwendig war, immer leicht Huͤlfe fuͤr ſeine Kranke, und wenn er etwas fuͤr ſie aus dem Pfarrhaus oder ſonſt woher bekam, ſo forderte er die Kinder der reichſten Bauern auf, es dem Kranken zu bringen; dann begegnete oft, daß die Eltern dieſer Kinder ſich ſchaͤmten, dieſen Kranken nicht auch etwas mitzuſen— den und etwas zu dem hinzulegten, was Gluͤlphi ihnen gab. Das freute dann die Kinder gewohnlich fo ſehr, daß ſie es auch den andern erzaͤhlten, und ſo ward es denn ſehr bald zur Gewohnheit, daß faſt allemal, wenn arme Kranke im Dorf waren, die Kinder der reichen Bauern ihre Eltern ſelber um etwas fuͤr dieſelben bathen, und es ihnen zubrachten. Auch arzneyenhalber war Gluͤlphi in dieſen Faͤllen aͤuſſerſt ſorgfaͤltig. Wenn die Leute aus Un— geſchicklichkeit oder Armuth nicht zum Arzt giengen, ſo gieng er ſelber oft zum Doctor Muͤller, redte mit ihm uͤber den Kranken, und brachte ihn oft ſelber an ſeiner Hand an das Bett des Kranken.

259

In dieſem Geift war es, daß er feinen Unterricht über Glauben und Liebe thatſaͤchlich begruͤndete, und daß die Kinder dieſen Unterricht wohl verſtanden, zeigten ihm oft weit mehr Thraͤnen ihrer Ruͤhrung in ſtillem und wort⸗ leerem Schweigen als paſſende Antworten auf das Woͤrt— liche des Unterrichts vom Glauben und der Liebe, das alſo innerlich begruͤndet, aber ohne großes Gewicht auf das Woͤrtliche dieſes Unterrichts zu legen, gegeben wurde.

Die nehmlichen Anſichten und Grundſaͤtze, die er in Ruͤckſicht auf die Entfaltung des Herzens zum Glauben und zur Liebe hatte, hatte er auch in Ruͤckſicht auf die Entfaltung des menſchlichen Geiſts zur Denkkraft. Er gieng auch hierin weit mehr thatſaͤchlich als durch Wort— erklaͤrungen zu Werk. Sein Unterricht im erſten Kunſt— mittel der Verſtandesbildung war meiſtens nichts anders, als eine ſorgfaͤltige Bemuͤhung, dem Kind in dem, was es ſelber gern woͤrtlich ausdruͤcken moͤchte und noch nicht konnte, mit dem Wort, das es ſuchte, nachzuhelfen und uͤberhaupt ſich uͤber das, was ihm ſeine aͤuſſern und in— nern Sinnen ſchon zum vollendeten Bewußtſeyn gebracht haben, auch mit Beſtimmtheit ausdruͤcken zu können. Das Fundament der Reduͤbungen ſeiner Kinder war alſo we— ſentlich ihr Leben ſelber. Er ließ ſie ſich gar oft erzaͤhlen, was ſie den Tag uͤber gethan und ſie gar oft beſtimmt und umſtaͤndlich uͤber das erklaͤren, was ſie am meiſten intreſſirt, ihnen am meiſten Freude gemacht oder auch ſehr mißfallen; kurz, er machte ſie vorzuͤglich uͤber ſolche Dinge fi beſtimmt erklären, wofür fie eben fo vorzuͤg— lich innerlich in Freud oder in Leid belebt waren, und in—

260

dem er alle Kunſtmittel der Geiſtesbildung, die in feiner Gewalt waren, fuͤr ſeine Kinder benutzt, legte er das groͤßte Gewicht der Verſtandesbildung auf die Arbeit ſelber, in— dem er uͤberzeugt war, daß die Arbeitſamkeit vorzuͤglich geeignet iſt, das Gleichgewicht der menſchlichen Kraͤfte, woraus alle richtige Urtheile und mit ihnen alle Reſultate des reinen menſchlichen Denkens weſentlich und faſt all— gemein hervorgehen, zu erhalten und zu ſtaͤrken. Auſſer dem innern, gemeinbildenden und ſich gegenſeitig unterftü- genden Zuſammenhang der ſittlichen, geiſtigen und phyſi— ſchen Anſtrengung liegt in der Natur der Arbeitſamkeit nicht nur eine zwingende Hinlenkung unſrer Geiſteskraͤfte zu einer ununterbrochenen Aufmerkſamkeit, Sorgfalt und Gedaͤchtlichkeit, dieſen weſentlichen Bildungsfundamenten alles Denkens. Aber nicht nur das, es liegt auch in der Natur aller Arbeitſamkeit und in dem Stoff der zu bear- beitenden Gegenſtaͤnde gleichſam ein Nothzwang zum Glau— ben an die Wahrheit ihrer Anſpruͤche an die Unterwer— fung unter alle Geſetze, die unabaͤnderlich in ihrer Natur liegen und jeden Widerſpruch gegen Wahrheit auf der Stelle ſtrafen, indem ſie in der Anſicht deſſen, was wahr oder falſch ſich nicht mit Träumen irrfuͤhren und nicht mit Worten daruͤber mit ſich markten laſſen, ſondern jeden Verſuch der Selbfifucht zur Selbſttaͤuſchung auf eine Weiſe beſchaͤmen, wie der feinſte Dialektiker auch den elen— deſten Verſuch der Selbſtſucht zur Selbſttaͤuſchung bey woͤrtlichen Nachforſchungen uͤber im Streit ſtehende An— ſicht, nicht leicht zur Beſchaͤmung des Unrecht habenden Theils auseinander ſetzen und unwisdericglich darſtellen

261

kann. So wichtig iſt die Benutzung der Arbeitſamkeit zur Begruͤndung der weſentlichen Mittel zum Forſchen nach Wahrheit, zur Ausbildung der Denkkraft, zur Beſiegung der Ungeduld im Voreilen unſerer Urtheile und zur Be— kaͤmpfung der Einmiſchung der ſinnlichen Luſt und der ſinnlichen Unluſt, die uns ſo oft dahin reiſſen, mit beyden Händen nach den Lügen zu greifen, um fie zu erhaſchen, und der Wahrheit den Ruͤcken zu kehren und ihr, wenn ſie uns auch vor den Augen liegt und durch alle fuͤnf Sinne ſich an uns andraͤngen will, dennoch mit Haͤnden und Fuͤſſen ihr widerſtreben. So ſehr hatte Gluͤlphi in feinem Grundſatz recht, die phyſiſche Anſtrengung des Men— ſchen als ein weſentliches Fundament ſeiner Verſtandesbil— dung und ſeiner Wahrheitsfaͤhigkeit anzuſehn und zu er— kennen. Wenn wir jetzt auch die Bildung zur Kunſt ge— ſondert von der Herzens- und Geiſtesbildung als phyſiſche Bildung anſehen, wie ſie vorzuͤglich als Erwerbs- und Berufsſache kann und muß ins Aug gefaßt werden, ſo theilen ſich ihre Mittel eben wie die einzeln ins Aug ge— faßten Mittel des Herzens- und der Geiſtesbildung we— ſentlich in reine Mittel zur Entfaltung der phyſiſchen Kraͤfte, die aller Kunſt zum Grund liegen und denn in Bildungsmittel zur Anwendung der entfalteten Kraͤfte in beſtimmten Künften und Berufen.

Die phyſiſchen Kraͤfte, deren Entfaltung hiefuͤr erzielt werden muß, ſind die Kraͤfte unſerer fuͤnf Sinne und unſrer Glieder und vorzuͤglich des Augs und der Hand. Das Augenmaß und die feſte Sicherheit der Hand ift die aͤuſſere Baſis aller Kunſt, und je wichtiger, ich möchte

x 262

ſagen, je kunſtreicher die KRunſt, der Erwerb und Beruf, zu welchem ein Kind gefuͤhrt werden muß, iſt, deſto vol— lendeter muͤſſen auch die Mittel zur Entfaltung der Kraft des Augenmaſſes und der Sicherheit der Hand ſeyn. Die Bildung zu beyden aber geht hinwieder offenbar vom Le⸗ ben ſelber, von der das Ganze unſrer Natur ergreifenden Strebkraft des Augs und der Hand zur Entfaltung ihrer ſelbſt aus. In dieſer Strebkraft aber liegen denn auch die unwandelbaren Geſetze, nach welchen die diesfäͤlligen Anlagen der Menſchennatur von den erſten, ſchwachen Aeußerungen ihres Daſeyns an bis zum Darlegen der auf ſerſten, hoͤchſten Kraft, zu welcher ſie ſich zu erheben ver— moͤgen, ſich ſelber bey jedem einzelnen Menſchen zu ent⸗ falten ſtreben. Aber dieſes Leben der Menſchen iſt einzeln. Das, was es durch ſeine zerſtreute Erſcheinun— gen zur Entfaltung unſrer Kraͤfte gethan hat und noch thut, bleibt in fo weit auf einzelne Menſchen beſchraͤnkt, und wirkt in fo weit nur zufällig auf das Ganze unſers Geſchlechts. Die Kunſt aber kann durch regelmäßige, zus ſammengeſtellte Formen und Mittel tauſenden geben, was das ſich ſelbſt uͤberlaſſene Leben nur hie und da einzelnen Menſchen ertheilt. Aber wenn die Kunſt dieſes mit Er— folg zum wirklichen Segen des Menſchengeſchlechts thun ſoll, ſo iſt offenbar, ſie muß in den Formen und Mitteln ihrer Einmiſchung weſentlich von dem ausgehen, was die Natur zur Entfaltung dieſer Kraͤfte ſelbſt thut, und ſich hierin den ewigen Geſetzen unterwerfen, nach welchen dieſe ihnen vorgehend die Kräfte der Menſchennatur ſelber ent— faltet. Das aber, was hierin in Ruͤckſicht auf die Ent—

265

falteng unſrer Kunſtkraͤfte wahr iſt, iſt auch in Ruͤck— ſicht auf die An wendung dieſer Kräfte gleich wahr. Das Leben bildet und leitet die Anwendung unſrer ent— falteten Kraͤfte, wie es die Entfaltung derſelben ſelber bildet und leitet. Es fuͤhrt den einzelnen Menſchen nach feinen Verhaͤltniſſen, Lagen und Umftänden herrſchend und zwingend dahin, ſeine entfalteten Kunſt-, Erwerbs- und Berufskraͤfte auferft verſchieden, d. h. als Bauer, als Handwerker, als Kuͤnſtler, als Kaufmann ꝛc. ꝛc. in dieſen Berufen ſelber anzuwenden, um ſelbige durch die Anwen— dung zur vollendeten Reifung zu bringen; und das, was diesfalls auf dieſe Berufe wahr iſt, das iſt es auch in Ruͤckſicht auf den Einfluß des Lebens auf die hoͤhere Kunſt. Ich kann aber hierin nicht ins Umſtaͤndliche, das darüber Licht geben kann, eintreten, und ſage nur dieſes: eine er— baͤrmliche Zeit, in der das Menſchengeſchlecht in tiefer Ab— ſchwaͤchungs-Verwilderung vor den Augen der Kunſt ſteht, bildet nicht leicht den hohen Kunſtgeiſt der Bildhauer Griechenlands, nicht einmal denjenigen der Mahler des Mittelalters. In jedem Fall aber muß die Bildung zur Kunſt als Bildung phyſiſcher Kraͤfte, eben wie die Bil— dung des Geiſts, mit dem erſten Beduͤrfniß der Gemein— bildung unſerer Kraͤfte zur Menſchlichkeit in Uebereinſtim— mung gebracht, d. h. den Anſpruͤchen der gebildeten, ſitt— lichen Kraft, den Anſpruͤchen des Glaubens und der Liebe untergeordnet werden. Noch muß ich meiner Anſicht uͤber die phyſiſche Bildung zur Kunſt dieſes beyfuͤgen: in der pſychologiſch geordneten Bildung des Augenmaſſes und der Hand, wenn dieſe in Zahl und Form, d. h. in die

264

Denkkraft bildenden und dafür berechneten Mitteln des Zaͤhlens und Meſſens gegeben worden, liegt der ganze Um— fang des geiſtigen Weſens aller Kunſt, fo daß wenn hier—

in und durch dieſe Mittel der Geiſtesbildung des Kinds ein Genuͤge geſchehen, fo bleibt eigentlich in Ruͤckſicht auf die phyſiſche Ausbildung der Kunſt nichts weiter zu thun uͤbrig, als die ſpezielle Uebung des Augs im Anſchauen einzelner Gegenſtaͤnde der Kuͤnſte und Berufe, zu denen das Kind gebildet werden muß, und denn die Bildung der Hand zu der vielſeitigen Gewandtheit und Kraftan⸗ ſtrengung, deren es zur aͤuſſern Darſtellung und Ausuͤbung der geiſtig begriffenen und innerlich in ſich ſelbſt vollende— ten Anſichten der Kunſtwerke und Berufsarten, zu deren Ausfuͤhrung es Neigung oder Beduͤrfniß in ſich ſelbſt fuͤhlt. Aber auch dieſe Anſicht, d. h. die weitere Darlegung, wie die Hand zu den verſchiedenen Bewegungen und Kraft— anſtrengungen zu ſolchen einzelnen Kunſt- und Exwerbs— zwecken durch tuͤckenloſe Reihenfolgen von Uebungen ge— bildet werden koͤnne und gebildet werden muͤſſe, fuͤhrte hinwieder zu weit, als daß ich mich jetzt hieruͤber weiter aͤuſſern koͤnnte.

265

$. 69.

Fortfegung der Folgen dieſer Sonntagsverſamm— lungen, die aber, wie geſagt, in einem Zeit⸗ punkt und bey einer Lebensweiſe nicht ſtatt finden koͤnnen, wo die Menſchen durch die Sitten der Zeit und des Landes aus aller Einfachheit, Unſchuld und Reinheit des haͤusli— chen Lebens nicht blos herausgelockt, ſondern ſelber herausgetrieben werden, wenn ſie auch nur von ferne als Leute von einiger Diſtinc⸗ tion, Lebensart und Bildung, ich will nicht einmal ſagen, als Leute von gutem Ton an⸗ geſehen werden wollen.

Da die Glieder der Sonntagsverſammlung keinen Anlaß verſaͤumten, wo fie irgend einem Menſchen von Bonnal ein gutes Wort geben und mit ihm von dem Be— finden ſeiner Haushaltung, ſeiner Kinder, ſeines Gewerbs, oder von irgend etwas, das ihm zugeſtoßen, zu reden und ihm in Freud und Leid herzliche Theilnahme zu zeigen, ſo vergieng faſt kein Tag, daß nicht hie und da ein Menſch von Bonnal, der vorher den Junker, den Pfarrer, das ganze Schloß, das Pfarrhaus und den Baumwollenmeher dazu fuͤr nichts achtete, weil er glaubte, ſie achten ihn auch für nichts, anſieng zu fagen: wir haben uns doch an dieſen Menſchen geirrt, wenn man itznen ein gutes Wort

266

giebt, fo geben fie einem zwey dafür, und wenn man einmal mis ihnen bekannt ift, fo gehen fie mit einem um wie mit ihresgleichen. So näherten ſich ihnen nach und nach die Herzen von vielen. Freylich aber druͤckten ſich auch einige von denſelben uͤber dieſe Naͤherung menſch— licher Herzen auf eine ſonderbare Weiſe aus. Der Hans Morlauer ſagte vor einem ganzen Tiſch voll Leuten: es iſt mir einmal, wenn ich den groͤßten Stall voll Kaͤlber und Schafe hätte und fie alle mein, voͤllig mein wären, fo daß ich niemand einen Kreuzer mehr darauf ſchuldig bliebe, ich koͤnnte ſie nicht ſo lieb haben, als es ſcheint, daß der Gluͤl— phi dieſen ganzen Haufen Schulkinder, die ihm doch alle fremd und nicht fein find, lieb hat. So geſchahen mitten in den anfangenden Lobreden auch uͤber den Junker, den Pfarrer und alle Glieder der Sonntagsgeſellſchaft bey den ihnen ſich naͤhernden Herzen einiger Leute im Dorf dennoch die ſonderbarſten Anmerkungen daruͤber. Indeſſen wurden dieſe Sonntagsverſammlungen allmaͤlig immer wichtiger und eingreifender ins Dorf. Es fanden ſich bald in jeder Woche neue Anknuͤpfungspunkte auf dieſe oder jene Weiſe, durch dieſen oder jenen Kanal mehr oder minder einigen Einfluß auf dieſe oder jene Haushaltung oder auf dieſen oder jenen einzelnen Menſchen zu haben, freylich meiſtens auch nur einen einſeitigen Anfangseinfluß, der auf beſon— dern, einzelnen Umſtand beſchraͤnkt war und unmöglich) als ein allgemein auf ihn eingreifender Einfluß angeſehen werden durfte. Die Erfahrung uͤberzeugte ſie ſchnell, daß man an den meiſten Orten ſich mit einem ſolchen An— fangseinfluß begnuͤgen und ruhig, ſtill und ohne Zudring—

267

lichkeit abwarten muͤſſe, bis ſich etwa wieder ein Umſtand zeige, wo man ein Wort mehr reden oder etwas mehr thun koͤnne, um einen beſſern und tiefer greifenden Einfluß zu erhalten. Die Glieder der Verſammlung benahmen ſich aber auch hierin vortrefflich. Nie hat wohl ein Pfarrer weniger den Pfarrer, ein Junker weniger den Junker und ein reicher Gewerbsmann weniger den nicht mehr Bauer gemacht, als Arner, der Pfarrer und der Baumwollen— meher dieſes jetzt thaten und eigentlich durch dieſe Sonn— tagsverſammlung immer mehr lernten, dieſes mit Erfolg fuͤr ihre Zwecke zu thun. Ich darf wohl ſagen, dieſe fonntägliche Abendſtunde war eine herrliche, meufchliche, Seelerhebende Stunde; ich darf mehr ſagen, ſie war ein wahrer Gottesdienſt, ich darf ſagen: ſie war im Geiſt und in der Wahrheit ein Gottesdienſt. Alle Glieder dies ſer Verſammlung ſuchten mit reinem Herzen ihren Mit— menſchen in der Liebe zu dienen, und bey ihnen das Goͤtt— liche in der menſchlichen Natur uͤber das Sinnliche und Thieriſche ihres Verderbens ſiegen zu machen. Oder iſt es nicht ein Gottesdienſt, den Hungrigen zu ſpeiſen, den Durſtigen zu traͤnken, den Nackenden zu kleiden, den Ge— fangenen zu beſuchen, des Elends ſeiner Bruͤder minder zu machen auf Erden. Iſt es nicht ein wahrer Gottes— dienſt, ſich zu allem dieſem im Geiſt und in der Wahr— heit vorzubereiten, oder wiſſet ihr das Wort des Erloͤſers nicht mehr: was ihr dem Geringſten meiner Bruͤder ge— than habet, das habet ihr mir gethan. Aber freylich gien— gen die Juden, die ihn fuͤr ſeine Lehre und ſein Leben ge— kreuzigt, fuͤr ihren Gottesdienſt nach Jeruſalem zur Kirche

268

und verſammelten ſich in ihren Synagogen zum lauten Ju— dengeſchrey und Wortgepraͤng uͤber Moſen und die Eh ten, das fie ihren Gottesdienſt hießen.

Nebenbey find dieſe Sonntagsverſammlungen, ſagte ein— mal der Pfarrer, auch ein wahrer und großer Fuͤrſtendienſt, der Junker erwiederte ihm daruͤber: Helidor wuͤrde den Bauch in die Haͤnde nehmen vor Lachen, wenn er ſo etwas hoͤrte.

Aber Gluͤlphi entgegnete darauf: ich weiß nicht, ob er nur lachen würde; es kommt darauf an, wer um den Weg waͤre, wenn dieſes vor ihm ausgeſprochen wuͤrde.

Das iſt gewiß, dieſe Verſammlungen ſind geeignet, das Herz der Edeln im Land zur Theilnahme an dem, was das Volksheil iſt, zu erheben, wie einſt die Verſammlungen von Männern aus den drey Urkantonen der Schweiz im Gruͤtli geeignet waren, das Herz der Edeln in den dreh Landern zu den großen Thaten unfrer Väter zu erheben.

9. 70,

Der Geiſt der Sonntagsverſammlungen geht vor— uͤber, es erſcheinen jetzt ſchon wieder Leute, die Anſpruch auf den guten Ton unſrer ſchoͤ— nen Zeit zu machen berechtigt ſind.

Sylvia war kaum von der Unterredung mit dem Groß— meiſter des Ordens vom neuen, guten Ton im Herzog—

269

thum, vom Helidor, zuruͤck, fo fragte fie ihren Dncle, den General, wie bald er jetzt die Reife nach Arnheim, die er ſich ſchon fo lange vorgenommen, mit ihr machen wolle?

Er antwortete: es iſt bis nach dem Herbſt nicht mög: lich.

Sie. Aber warum doch das, Oncle? die Jahrszeit iſt jetzt noch angenehm und nach dem Herbſt iſt es bey uns faſt immer regneriſch und unangenehm.

Er. Ich wollte ja ſchon vor vielen Wochen gehen, und haͤtte den Bau in meinem Haus nicht angefangen, wenn du mich nicht von dieſer Reiſe abgehalten haͤtteſt.

Sie. Ich wollte dieſe jetzt gerne mitmachen.

Er. Das kann jetzt nicht ſeyn; wenn man baut, ſo kann man nicht von Haus weg. |

Sie. Das meiſte von dem Bau aber iſt ja verdun— gen.

Er. Deſto noͤthiger iſt es, daß man dabey ſey und ſehe, wie es gemacht werde.

Sie. Sie haben einen recht braven Baumeiſter; Sie duͤrfen es ihm wohl etwas anvertrauen. |

Er. Das ift nicht geredt. Ich bin nicht wie dein Vater, und vernachlaͤſſige ſolche Hauptſachen nicht gern.

Sie. Es wäre doch ſehr gut, wenn Sie dieſe Neife jetzt moͤglich machen koͤnnten.

Er. Aber Warum denn das?

Sie. Ihr Vetter wird noch vollends ein Narr, wenn’ Sie ihn nicht von den Charletanereyen die er treibt, zu—

ruͤck fuͤhren.

270 Er. Aber was geht das zuletzt dich an? du haſt dich bis jetzt nicht viel um ihn bekuͤmmert, und was du jetzt ſagſt, ſcheint mir gar nicht mit dem Verſprechen uͤberein— zuſtimmen, das du mir ſeinethalben noch vor kurzem ge— macht haſt.

Sie. Lieber Oncle! es iſt nur aus Sorgfalt fuͤr ihn, daß ich das jetzt ſage.

Er. (mit Kopfſchuͤtteln) Ich muß faſt denken, es ſtecke etwas anders hinter dem einsmaligen Geluſt, nach Arnheim zu reifen, da du mir doch fo manchmal geſagt, du wollteſt lieber das kalte Fieber bekommen, als noch einmal in dieſes Bauernneſt, wie du es heißeſt.

Sie. Lieber Once! Was ſollte doch dahinter ſtecken? Es iſt nichts als Sorgfalt fuͤr Arner ſelber und fuͤr die Ehre unſerer Familie, warum ich Sie jetzt bald gern dort ſaͤhe.

Er. Sey es jetzt, was es wolle. Kurz, es geht nicht, daß wir nun dahin reiſen.

Sylvia war beynahe wuͤthend, und das erſte Wort, das Sie, als ſie von ihm weg wieder in ihrer Stube war, zu ſich ſelber ſagte, war: wenn ich jetzt nur wüßte, wie ich machen koͤnnte, daß es Helidor nicht an mir zuͤrntz aber er iſt ein verdammter Kerl; ich weiß zum voraus, wenn ich ihm nicht diene, ſo dient er mir gewiß auch nicht, und läßt mir minen Raubholz fo ehrlos daſtehn, daß der Oncle am End, wenn meinethalben von ihm wie— der die Rede ſeyn wird, ſich ſeiner mehr ſchaͤmen wird,

271

als ich es mit allen meinen Kuͤnſten je dahin bringen werde, daß er ſich Arners halber je werde ſchaͤmen müf- ſen.

71.

Wahrheiten der thieriſchen Anſicht uͤber das Le— ben, uͤber Erziehung, uͤber Bildung, uͤber Geldwerth, uͤber die Brauchbarkeit der Men— ſchen, und uͤber die Gefahren, die es haͤtte, wenn man das niedere Volk gar zu wohl lehren wollte, ſich ſelber zu helfen.

Sie war uͤber den Abſchlag des Generals, nach Arn— heim zu reiſen, ſo verdruͤßlich, daß ſie einige Tage lang nicht wußte, was ſie that, und jedermann, der ihr aufſtieß, uͤbel begegnete. Da ſie fuͤrchtete, der Verdruß Helidors uͤber dieſen Abſchlag ſey noch groͤßer als der ihrige, und ihm um der Dienſte willen, die ſie in ihrer Angelegenheit mit dem Raubholz von ihm erwartete, die bittere Pille dieſes Abſchlags gern verſuͤßt hätte, und doch nicht recht wußte, wie das anſtellen, konnte ſie ſich nicht entſchlieſſen, zu ihm zu gehen. Sie meynte, ſie koͤnnte es ſchriftlich beſſer, verſuchte es auch dreymal, an ihn zu ſchreiben, aber jedesmal mißfiel ihr der Brief, ſobald er geſchrieben war,

\

272 ml

fo daß fie keinen abſchickte. Er wird mich, fagte fie zu ſich ſelber, jetzt ganz fuͤr ein unbrauchbares Geſchoͤpf an— ſehn, mit dem gar nichts auszurichten iſt und mich dann ſtehen laſſen, wie er jedermann ſtehen laͤßt, der ihm nicht gut genug dient. Die Stunden der Truͤbſal jener from— men Barbel, als der Harſchier zu kam, ſie unter die Linde abzuholen, waren ihr nicht ſo ſchwer als die Tage der wilden, innern Wuth der Sylvia. Sie wiederholte in denſelben wohl hundertmal: ich bin doch ein ungluͤckliches Menſch; aber es iſt auch ein elendes, es iſt ein verfluch⸗ tes Leben, wenn man nicht Geld genug hat zu dem, was man braucht. Mehr als einmal ſagte fie auch dieſes zu ſich ſelber: ſie meynen, was ſie an mir gethan haben, daß fie mir, wie fie es heißen, eine gute Erziehung gegeben, d. h. daß ich mich habe faſt zu Tod hunden laſſen muͤſ— ſen, um dahin zu kommen, zu ſcheinen, was ich nicht bin und comoͤdiantenmaͤßig etwas vorzuſtellen, wo kein Haar davon wahr iſt, und in mir ſelber alle Tage und alle Au— genblicke wuͤthende Wuͤnſche zu entflammen, von denen ich keinen einzigen durchſetzen und mir ihn, ſo ſehr ich darnach lechze, zum befriedigenden Genuß bringen kann— Haͤtten ſie mich doch nur bey meinen lieben Zigeunern ge— laſſen, ich hätte mich bey denſelben luſtig, froh und gau— felnd durch die Welt gebettelt, und geſetzt, ich wäre am End mit einer Diebsbande gefangen und ſelber auch ge— koͤpft worden, fo hätte ein kalter Streich (Schwerdſtreich) dieſem Lumpending, das man Leben heißt, aber kein Le⸗ ben iſt, ein Ende gemacht. Jetzt aber ſehe ich demſelben nirgends kein Ende, und bin keinen Augenblick ſo froh,

osx

200 s fo frep und ſo gluͤcklich, als ich es bey meinem Vater und unter ſeinen Zigeunern war. Dieſe Gedanken trieben ſie umher, wie es, ſo ſagt man, eine arme Hexe umher— treibt, wenn die ſchwerſte der Arbeiten, die ihr der Teufel aufgiebt, ihr den Angſtſchweiß austreibt. Sie konnte dieſe Zeit uͤber keinen Augenblick ſchlafen; ſie auch beynahe nichts, aber ſoff von des Generalen Liqueur alle paar Stun— den ein oder zwei Glaͤsgen. Des Nachts durch ſpielte ſie mit Aglee, der Theilhaberin ihres infamen Lebens. Dieſe fluchte mit ihr über das fatale Begegniß, aber lachte mit⸗ unter zwiſchen das Fluchen hinein, und da Sylvia keinen Ecken von ihrem Kopf beym Spiel, ſondern ganz bey dem ihr jetzt ſo widrigen Abſchlag des Generalen und bey fir nen Zugaben und Anhaͤngſeln hatte, ſo gewann Aglee ihr auch alles Geld ab, das auf dem Spiel ſtand. Am vier- ten Tag aber nach dieſem Abſchlag bekam Sylvia einen Brief von der Eichenbergerin, darin dieſe ihr berichtete, daß ſie zufolge den Auftraͤgen des im Land allmaͤchtigen Helidors taͤglich und ſtuͤndlich auf den Beinen ſey, allem nachzuforſchen, was in Bonnal und Arnheim geſchehe; daß es aber gar nicht gebe, wie fie wuͤnſche und wie fie auch wiſſe, daß der große Mann, der ſie fuͤr dieſes Ge— ſchaͤft beauftragte, es ebenfalls auch wuͤnſche, daß der Junker, der Pfarrer und der Gluͤlphi in ihrem, wie fie es heiſſen, groſſen und fuͤr die Welt wichtigen Vorhaben immer eifriger ſeyen; daß, wie man ſage, auch die Bu— ben verflucht viel lernen, und daß ſie eine große Freude zeigen, in die Schule zu gehen; daß ferner ihnen Gluͤlphi diele Sachen zeige, die man ſonſt in keiner Schule zu Peſtalozzi's Werke. IV. 18

274 lernen Gelegenheit habe. Zwar mißfalle das, wie natuͤr⸗ lich, auch den meiſten Bauern und Bauernweibern. Sie ſagen, wenn es etwas Rechtes und etwas Eintraͤgliches waͤre, ſo haͤtten es die Alten gewiß auch ſchon getrieben, und viele ſagen daruͤber noch, das bringe ihren Kindern nur Herren-Narrheiten in Kopf, mit denen ſie keinen Hund aus dem Ofen heraus locken koͤnnen, hingegen aber ruͤcke es ihnen das, was ihnen vor der Naſe liege und Brod ins Haus bringen koͤnne, aus den Augen, und ma⸗ che fie daſſelbe vernachlaͤſſigen. Auch die Sonntagsver⸗ ſammlungen mißfallen ſehr vielen Leuten. Einige naſe⸗ weiſe Weiber möchten auch gern dabey ſehn und meynten, ſie konnten dem Junker eben ſo gut und eben ſo viel Neuheiten vom Dorf erzaͤhlen und auch fuͤr daſſelbe ihm gute Raͤthe ertheilen, als immer das Baumwollenmareili und die Maurersfrau. Andere glauben, dieſe Verſamm⸗ lungen feyen ein eigentliches und unertraͤgliches Spionen⸗ weſen man werde bald in keinem Haus kein Wort mehr reden und keinen Kuchen mehr eſſen konnen, ohne daß man es im Schloß und im Pfarrhaus vernehme. Der Staͤndliſaͤnger, der alle Zeitungen, deren er habhaftig wer— den koͤnne und dadurch faſt das ganze A B C der neuen Kraftſprache unſerer Zeit auswendig gelernt, ſagte: die bürgerliche Selbſtſtaͤndigkeit, die haͤusliche Sicherheit und alle Rechts wohlthaten der buͤrgerlichen Geſellſchaft werden durch ſolche ariſtoeratiſch klubiſtiſche Vereinigungen zwi— ſchen den Junkern, den Pfarrern und den Schulmeiſtern auf allen Doͤxern im hoͤchſten Grad gefaͤhrdet. Aber fo ſehr dieſes auch auf viele einen ſehr widrigen Eindruck

275 machen wuͤrde, wenn ſie es verſtuͤnden, ſo mache es kei— nen; denn auffer ihr, fagte fie, verſteht im ganzen Dorf kein Menſch, was der Narr damit ſagen will, und alſo macht es auch den Eindruck gegen den Junker und ſein ganzes Weſen nicht, wie es gut waͤre, daß es thaͤte; hin— gegen mache das eint und andere im Benehmen des Jun— kers, des Pfarrers und des Gluͤlphi gegen die gute Sache, die man ihr zu befoͤrdern aufgetragen, einen ſehr widri⸗ gen Eindruck, und fey ihr im hoͤchſten Grad widriger Nach— theil, das iſt vorzuͤglich vom Bethen und Bibelleſen wahr, welches der Gluͤlphi auf eine fuͤr einen alten Lieutenant unbegreifliche Weiſe mit der hoͤchſten Sorgfalt betreibe. Er mache ſich dadurch ſehr viele Leute gut, die ſonſt in Ewigkeit ihm nicht gut werden wuͤrden und ein verdamm— ter Umſtand ſey kuͤrzlich noch mit dem Regenwetter eins getreten. Vorher habe ihn faſt das ganze Dorf fuͤr einen ſtolzen Narren angeſehen und habe ihm auch ſtolz begeg— net, aber da er an dieſem Regentag mit ſeinem rothen Rock in den Regen hinausgeſtanden und die Schulkinder, die ſonſt bis zu den Knien hinauf naß geworden waͤren, eine ganze Stunde lang mit eigener Hand uͤber den Bach hinuͤber gehoben, fo habe das bey einer Menge Leute im Dorf dahin gewirkt, daß ſie ihn jetzt nicht mehr fuͤr ſtolz achten und anfangen, mit ihm freundlicher und zutrauli— cher zu werden, als ſie es noch mit keinem Schulmeiſter waren. Dieſer Umſtand, und auch, daß er und der Jun⸗ ker und der Pfarrer mit allen Leuten im Dorf ſogar freundlich und auf eine Weiſe gut ſeyen, wie das bis da— hin gegen Baurenleute nicht uͤblich war, das alles mache,

276

daß man wirklich fürchten muͤſſe, wenn die Sache noch ine lange Zeit fo fortgehe, fo möchten die Leute, die ih— nen feind ſeyen, die wenigern und die, ſo es mit ihnen hielten, die mehrern werden; es fen desnahen unumgaͤng⸗ lich noͤthig, daß der boͤſe Wind, den, wie Sylvia wohl wiſſe, Helidor ins Dorf wuͤnſche, ſobald als immer moͤg⸗ lich darein blafe, um dieſem Gang der Dinge eine Rich— tung zu geben, der man luſtiger zuſehen und ſpaßhafter abwarten koͤnne, als dieſes der Fall ſeyn moͤchte, wenn Arners Angelegenheiten anfangen wuͤrden etwas Wurzel zu faſſen, ſie wollen nicht verhehlen, daß ſie dies zu fuͤrch— ten anfange, und es dringend fanden, daß dieſe Sach fo bald moͤglich einen Stoß bekomme, der ſie nicht bloß zu erſchuͤttern, ſondern zu verſchuͤtten geeignet. Sie hoffe aber, daß das jetzt bald unfehlbar geſchehen wuͤrde, wenn das wohledelveſte Fräulein Sylvia, wie fie ihr dieß für gewiß verſichert, naͤchſter Tage nach Arnheim abreiſen wuͤrde; ſie ſey uͤberzeugt, es werde wohl und Hochderſel— ben ganz leicht ſen, Mittel zu finden, die Windfahnen in dieſem Dorf auf die Seite zu drehen, wo es unum— gaͤnglich nothwendig ſey, daß der Wind jetzt hinblaſe. Dann berichtete fie noch, die Frechheit der Sonntagsver— ſammlungen in Bonnal uͤberſteige alle Grenzen. Sie habe durch einen ganz ſichern Kanal vernommen, ſie halten ihre Sonntags verſammlungen, in denen fie alle Weibertlatſche— reyen, die im Dorf herumgehen, zufammentragen, für eis nen wahren Gottesdienſt. Hundert Leute im Dorf, wenn ſie das hoͤrten, wuͤrden es fuͤr eine wahre Gotteslaͤſterung anſehn; ihr aber liege an dem nichts, fie mochten ihret—

277

halben dieſe Frau-Baſen-Arbeiten anſehen, für was fie immer wollten. Aber ſie habe etwas weit Wichtigeres gehoͤrt, das von der hoͤchſten Bedeutung ſey und das ſie durchaus nicht verſchweigen duͤrfe: der Pfarrer von Bon⸗ nal habe nehmlich gewagt, es auszuſprechen, ihre Ver⸗ ſammlungen ſeyen auch noch ein wahrer Fuͤrſtendienſt. Hieruͤber habe zwar der Junker geantwortet: Helidor wuͤrde den Bauch in beyde Haͤnde nehmen vor Lachen, wenn er das hoͤrte. Gluͤlphi aber habe eingewendet: das ſey noch nicht ſo gewiß, es kaͤme denn noch darauf an, wer eben um den Weg ſey, wenn man ihm dieſes ſage. Soweit, ſetzte fie hinzu, treiben dieſe Leute ihre Frech— heit, und es iſt offenbar, daß ſie ſich ihrer Zwecke halber ſicher glauben, und daß es dringend iſt, daß man alles, was in der Welt nur immer moͤglich iſt, dagegen thue und in Bewegung ſetze.

Dieſer Bericht war freylich für die Sylvia nichts we— niger als troͤſtlich, aber ſie fuͤhlte doch, daß er ſie in die Nothwendigkeit ſetze, Helidor ungeſaͤumt davon Nachricht zu geben. Sie zerriß den letzt angefangenen Verſuch, an ihn zu ſchreiben, und berichtete jetzt ziemlich einfach, aber umſtaͤndlich, was ihr die Eichenbergerin eben geſchrieben. Doch ließ ſie mit aller Sorgfalt den Umſtand aus, daß die Eichenbergerin hoffe, ſie werde naͤchſter Tagen nach Arnheim verreiſen, wie ſie ihr dieſes ſo gewiß verſprochen; dieſer Umſtand lag ihr ſchwer auf dem Herzen. Sie ſchaͤmte ſich diesfalls auch, Helidor alles verſprochen zu haben, und jetzt nichts halten zu koͤnnen. Sie ſchlich alſo über dieſen Punkt fo kurz und ſo ſchnell hin, als fie im-

278

mer konnte, klagte hingegen weh- und demuͤthig, daß jetzt der General fo eigenſinnig fey und durchaus vor End des Herbſts nicht nach Arnheim abreiſen wolle und fie dadurch gehindert werde, bey dem beßten Willen, den ſie dafuͤr habe und bey dem großen Intereſſe, das ſie darin belebe, die Wuͤnſche Helidors darin zu befriedigen, daß ſie aber nach dem Herbſt ſich doppelt bemuͤhen werde, alles mit der größten: Thaͤtigkeit auszuführen und durchzuſetzen, woran ſie fuͤr einmal auf eine ihr ſo unangenehme Weiſe verhindert worden. Auch ſetzte ſie noch in Ausdruͤcken, die ihre diesfaͤllige Aengſtlichkeit gar nicht verbargen, hin⸗ zu: fie hoffe, daß Helidor dieſe Verſpaͤtung ihr auf keine Weiſe zuſchreiben werde, und bitte ihn dringend, in der Sache des Herrn Grafen, auf deren Erfolg jetzt des Erbs halber von ihrem Oncle ihre Hoffnungen noch einzig und allein ruhen, forthin zu thun, was ihm immer moͤglich, wie er dieſes bisher guf eine Weiſe gethan habe, fuͤr die ſie ihm in ihrem Leben nie genug werde danken koͤnnen.

Auch Helidor war uͤber dieſe Nachrichten nichts weni— ger als erfreut. Er las den Brief mehreremal mit Auf— merkſamkeit, und ſagte dann zu ſich ſelber: die Sache mit dieſer Schule und mit dieſen Sonntagsgeſellſchaften will einen ernſthaftern Gang nehmen, als ich dachte und als es mir dienen kann. Es iſt mir heiter, wenn ich dieſer Sache halber ganz blind und gleichguͤltig ſeyn werde, ſo koͤnnte ſie mir uͤber den Kopf wachſen, ehe ich mich deſſen verſehe. Jetzt iſt fie freylich noch nichts und es iſt wahr, noch kann ſie ein Wind umblaſen; aber bey gaͤnzlicher Windſtille, das ſehe ich jetzt auch klar, kann ſich die Lage

279

der Dinge ändern. Ich darf mich nicht taͤuſchen, bey ei— ner ſolchen gaͤnzlichen Windſtille kann ſie Wurzel faſſen, daß es einen zehnfach groͤßern Wind braucht, ſie zu ent— wurzeln als jetzt ſie umzublaſen. Man darf die Sache nicht in die Länge gehen laſſen. Der Eifer, der ſich in der Schule zeigt, iſt bedeutender, als hundert Halbkoͤpfe dieſes ahnen koͤnnten. Gluͤlphi iſt ein ſehr guter Mathe⸗ matiker und der beßte lineariſche Zeichner, den ich kenne und dabey popular und voll bon sens, und wenn er an etwas ſitzt, ſo iſt er im Stand, Tag und Nacht daran zu arbeiten. Die Anhaͤnglichkeit der Kinder an ihn, die mich aufmerkſam macht, iſt eine Folge ſeiner Kraft. Er hat immer die beßten Köpfe für ſich und für das, was er wollte, intreſſiren konnen, und er iſt ſicher im Stand, feine Schulkinder auf einen Punkt der Cultur zu führen, der unſerm Land durchaus nicht conveniren kann. Wenn es ihm auch nur ein wenig gelingt, ſo iſt Arners Eitelkeit dann dabey im hoͤchſten Grad intereſſirt, daß er alles thun wird, die Sache aufs hoͤchſte zu treiben, und Arner hat ſicher Mittel, die in der Hand eines Mannes wie Gluͤlphi iſt, weit und ſehr viel weiter fuͤhren koͤnnen, als ich dieſen Spaß nicht gehen laſſen kann und nicht gehen laſſen will; ſo wenig die Sache jetzt noch ſcheint und wirklich iſt, ſo wenig kann man wiſſen, wohin ſie fuͤhrt; doch glͤͤcklicherweiſe iſt Sylvia wie dazu gemacht, Ar⸗ ner hierin einen Streich zu ſpielen, und ſein hohes, heilig getraͤumtes Kartenhaus mit einem Hauch umzublaſen. Am allermeiſten machte ihn das Wort: „ihre Sonntags verſammlungen fenen auch ein Fuͤrſtendienſt“ gufmerkſam.

Der Teufel mag wiſſen, was fie alles bey dieſem Wort gedacht haben mögen, und die Antwort Gluͤlphis zeigt klar, daß er mich vollkommen durchſieht und ganz richtig, weiß, was ich wollen muß und was ich fuͤrchten muß,. In Ruͤckſicht auf der Sylvia de- und wehmuͤthiges Abs, bitten über ihr nicht Schuld ſeyn an dem Abſchlag des, Generalen, nach Arnheim zu gehen, mußte er mitten in der N verdrüßlichen Stimmung, in der er war, dennoch herzlich, lachen, und ex gab diesfalls ein merkwuͤrdiges Beyſpiel, daß die Gutmüͤthigkeit der Menſchennatur, wenn fie in eis nem, Menſchen, auch gegen alles, was das menſchliche Herz. in Unſchuld. und Reinheit mit Theilnahme und Be⸗ dauern, anſpricht, ſo viel als ganz Tod und oft dennoch für das Unwüxdigſte und Sqhlechteſte erwachen und dafuͤr Bedauern und Theilnahme zeigen kann. Sylvia dauerte ihn wirklich. Er, der dem wirklichen Leiden und Elend unſers Geſchlechts tauſendfach Hohn ſpricht und allen freme den Jammer im Spiel eigener Luſt für nichts achtet, ‚Dies ſer hartherzige Mann hatte jetzt Mitleiden ob Sylvia, ſprach ihr Muth zu und ſagte zu ihr: ſie ſolle fich über dieſen Abſchlag keine graue Haare wachſen laſſen; man muͤſſe in der Welt alles nehmen wie es ſey, und ſetzte noch ganz freundlich hinzu: ſo ſehr er auch gewuͤnſcht, daß ſie dieſe Reiſe in den erſten Tagen gemacht haͤtte, fo werde es in der Sache ſelber am End doch auf vier oder fünf Wochen nicht ankommen; fie ſolle nur alles, was den Erfolg. diefer Reiſe befördern und ſtark und entſchei⸗ dend machen koͤnne, zum Voraus mit der größten Sorg⸗ falt vorbereiten. Er traue ihr alle Teufelskuͤnſte, die hie—

281

für gut ſehen, zum voraus vollkommen zu, und ſeh verſi— chert, ſie werde, wenn ſie einmal da ſey, die Sache zu dem Ziel hinlenken, wo es nothwendig ſey, daß ſie hinge— lenkt werden muͤſſe. Indeſſen trat er mit ihr ſehr ins Umſtaͤndliche ein, was in Ruͤckſicht auf die Eichenbergerin zu thun nothwendig ſey. So ein elendes Geſchoͤpf, ſagte er zu Sylvia, ſie auch in einiger Ruͤckſicht, weis Sie doch recht, ſie mit mir bekannt zu machen. Sie kann in der Lage, in der das Bonnalergeſchaͤft ſich befindet, mir ſehr wichtige Dienſte thun. Sie muͤſſen allem aufbieten, ſie in ihrem Eifer warm zu erhalten und fie beſonders aufs muntern, ſolchen Worten auf die Spur zu gehen, wie das eines ſey, das der Pfarrer geſagt, ihre Sonntagsverſamm— lungen ſeyen ein wahrer Fuͤrſtendienſt, und was bey die— ſem Anlaß ſonſt geredt worden. Solche Aeuſſerungen ſeyen von der hoͤchſten Wichtigkeit, ſie geben uͤber die innern Zwecke und die verſteckten Tendenzen der Handlungen von ſolchen Leuten oft ein auffallendes Licht, und es ſeyen immer ſolche innere Zwecke und Tendenzen, worauf man in der Welt eigentlich Achtung geben muͤſſe, wenn man recht und ſicher auf die Spur kommen wolle, wie man es mit einem Menſchen habe, und wo man mit ihm zu Haus ſey. Die aͤuſſern Handlungen, wenn man ihre innere Tenr denz nicht kenne, fuͤhren einen nur an der Naſe herum und ſeyen eigentlich nur ein Harlequinskleid, darin ein je— der die wahre Farbe und Beſchaffenheit ſeiner Haut und der Eiterbeulen, die er darin habe, zu verſtecken ſuche. Indeſſen iſt mir ſehr viel daran gelegen, daß die Eichen— bergerin ſelber eigentlich nicht wiſſe, in welchem Grad mich

282 m

dieſe Sache inireffirt. Es muß auch völlig ſcheinen, wie wenn ſie alles, was ſie darin thut, aus ſich ſelber thue. Es darf in Bonnal kein Menſch ahnen, es komme von jemand anders als von ihr ſelber, und wenn es der Fall fen, daß fie in dieſer Angelegenheit in Zank oder in ein” Geſchwaͤtz verwickelt wuͤrde, ſo muͤßte ſie das nicht achten und nur lachend auf ihre eigene Rechnung fortzanken und hadern. Dergleichen Sachen machen in einem Dorf die groͤßte Wirkung, wenn ſie als Bauerngeſchwaͤtz und Bau⸗ erngezank zum Vorſchein kommen und fortdauernd als Bauerngeſchwaͤtz und Bauerngezaͤnk angeſehen und behan— delt werden, bis die Sache, die man damit zu erzielen ſucht, reif iſt; denn aber, wenn die Sache einmal dahin gediehen und der Mann, den man dadurch an Pranger ſtellen will, in den Augen des Volks wirklich am Pran⸗ ger ſteht, dann erſt iſt es Zeit, daß ſich unſer einer dar⸗ ein lege und davon Notitz nehme. Die Eichenbergerin ſolle ſich ja in Acht nehmen, kein Wort darüber laut wer⸗ den zu laſſen, daß er ſich dieſer Sache annehme oder ihr auch nur im geringſten nachfrage. Er empfahl Sylvia noch am End, der Eichenbergerin alle mögliche Hoffnun— gen zu machen, wenn ſie in dieſer Sache gluͤcklich fe p und ſich alle aan Muͤhe gebe.

285

RAR Hingeworfene, einzelne Gedanken und Bruchſtuͤcke

von Anſichten und Gefuͤhlen Gluͤlphis uͤber Menſchennatur und Menſchenbildung.

Seitdem Gluͤlphi ſich fo gleichſam ganz in feine Schule vergraben und Kopf und Herz davon allein voll hatte, unterhielt er ſich faſt taͤglich in jedem Augenblick, den er dafür frey hatte, mit Arner über dieſen Gegenſtand, und ſuchte eben fo taͤglich Gelegenheit, in Unterhandlun- gen mit der Gertrud immer mehr in den Geiſt des haͤus— lichen Lebens, der in ihrer Wohnſtube herrſchte, hineinzu— dringen, indem er den Erfolg ſeiner Bemuͤhungen als Schulmeiſter nur in dem Grad groß und gewiß achtete, als es ihm gelingen moͤchte, den Geiſt dieſer Wohnſtube zum Geiſt ſeiner Schulſtube zu machen. Eben ſo unter— hielt er ſich auch gar oft mit dem Baumwollenmeyer und mit ſeiner Schweſter uͤber den nehmlichen Gegenſtand, und wo er allein war und die Nacht durch, in der er ge⸗ woͤhnlich wenig ſchlief, beſchaͤftigte er ſich mit nichts an— derm und ſuchte faſt ununterbrochen, die weſentlichen An— ſichten, die ihm uͤber dieſen Gegenſtand durch den Kopf giengen, bey ſich ſelber woͤrtlich auszuſprechen und ſie da— durch immer klarer und deutlicher zu machen.

Leſer! Ich will einige dieſer Anſichten, ſo wie er ſie in dieſen Selbſtgeſpraͤchen ſich ſelber vorſtellte, darlegen; aber erwarte keinen groͤßern Grad von Deutlichkeit, Ord⸗

284

nung, Vollſtaͤndigkeit, Zufammenhang und Reifung in der Darſtellung der Anſichten dieſer Selbſtgeſpraͤche, als den— 5 jenigen, zu dem der Mann, deſſen Hauptanſichten, ich hier darlege, bis jetzt ſelber gekommen; erwarte nichts als Bruchſtuͤcke von Anſichten und Vorſtellungen, wie ſie die— ſem Mann im Chaos ſeines Strebens in der Finſterniß als einzelne Lichtſtrahlen erſchienen, da ſtanden, verſchwan— den, wieder erſchienen und wechſelnd in Licht und Schat— ten noch unreif in ihm voruͤber giengen; erwarte einen lebendigen Traum des Wahrheit ſuchenden Manns, aber vergiß nicht, er erzaͤhlt dir ſeinen Traum und ſagt dir zum voraus, er weiß, daß er in dem, was er dir vor— legt, noch vielſeitig traͤumt und durchaus noch nicht mit beſtimmtem und vollendetem Bewußtſeyn in der Wahrheit deſſelben lebt.

Der Zweck aller Erziehung, ſagte er in dieſen Selbſt⸗ geſpraͤchen, kann kein anderer ſeyn, als durch die Erzie— hung dahin zu wirken, daß die Kinder der Menſchen got> tesfuͤrchtig, fromm, verſtaͤndig und für den ganzen Um— fang ihrer Pflichten gegen Gott, gegen den Naͤchſten und gegen ſich ſelbſt willig, thaͤtig, geſchickt und zu jeder hiefuͤr noͤthigen Anſtrengung und Ausharrung kraftvoll gebildet werden.

Um dieſen allgemeinen Zweck der Erziehung zu erzie— len, iſt eine mit demſelben uͤbereinſtimmende und ihm ge— nugthuende Ausbildung des ganzen Umfangs der ſittlichen, geiſtigen und phyſiſchen Kraͤfte unſerer Natur weſentlich nothwendig. Jede diefer, in ihrem Weſen dreyfach ver— ſchiedenen, Grundkraͤfte unſrer Natur entfaltet ſich aber

285 nach eigenen, ihr ſelbſtſtaͤndig einwohnenden Geſetzen, ver— mög einer, jeder derſelben ebenſo felbfiftändig einwohnenden lebendigen Strebkraft nach ihrer Entfaltung.

Die Geſetze, nach welchen ſich das fuͤhlende Herz, der denkende Geiſt und die Sinnen und Glieder des menſch— lichen Koͤrpers entfalten, find bey einer jeden dieſer drey Urkraͤfte von den Geſetzen, nach welchen ſich die zwey andern in ihm entfalten, weſentlich verſchieden; aber alle entfalten ſich bey ihrer Verſchiedenheit vermoͤg einer der— ſelben einwohnenden Strebfraft nach ihrer Entfaltung, durch Reize, Triebe und Mittel, die ſelbſtſtaͤndig in jeder einzelnen derſelben liegen. ö

Es iſt kein fremder, es iſt kein auſſer mir ſelbſt woh— nender Wille und keine auſſer mir ſelbſt befindliche Streb— kraft, es iſt mein eigener Wille, es iſt meine in mir ſelbſt wohnende Strebkraft, von welchem das Erwachen meines Herzens zum Fuͤhlen, meines Geiſts zum Denken, mei— ner Augen zum Sehen, meiner Ohren zum Hoͤren, mei— ner Fuͤſſe zum Gehen und meiner Haͤnde zum Greifen ausgeht und dieſes Erwachen meiner Stredkraft zur Ent— faltung meiner ſittlichen, geiſtigen und phyſiſchen Grund⸗ fräfte, ſowie das durch die ganze Epoche meiner Bildung, d. i, durch mein ganzes Leben fortdauernde Wachsthum und Staͤrkung meiner Kraͤfte iſt in ſeinem Weſen ſelbſt— ſtaͤndig und nach den eigenthuͤmlichen Geſetzen einer jeden dieſer Kräfte felbfithätig. Aber dieſe ewigen, ſelbſtſtaͤndi— gen Geſetze der Entfaltung jeder einzelnen dieſer Urkraͤfte ſtehen in ihrem Weſen durchaus nicht im Widerſpruch unter ſich ſelbſt; im Gegentheil, ſie vereinigen ſich durch

286

ein hohes, heiliges, inneres Band zum Zuſammentreffen zu einem gemeinſamen Ziel und wirken, vermoͤge ihrer Natur, in keiner einzelnen ihrer Abtheilungen hemmend und ftorend gegen den ſelbſiſtaͤndigen Entfaltungsgang der andern Grundkraͤfte und Anlagen unſrer Natur. Dieſe innere Einheit der Grundkraͤfte unſrer Natur ſteht desna— hen auch durch ihr Weſen in ſelbſtſtaͤndiger Erhabenheit ob aller menſchlichen Kunſt. Keine menſchliche Kunſt darf und ſoll es auch nur verſuchen, weder das Weſen und die Eigenheit einer jeden dieſer dreh Urkraͤfte noch das heilige Band ihrer Vereinigung unter ſich ſelber durch ſeine Einmiſchung zu hemmen und zu ſtoͤren; im Gegentheil jede Einmiſchung der menſchlichen Kunſt in die Entfal— tung der Kraͤfte unſrer Natur muß ſich den Geſetzen, nach welchen die Menſchennatur dieſe Kraͤfte ſelber entfaltet, und dem heiligen Band, das dieſe Geſetze unter einander verbindet, unbedingt unterwerfen. Alle Kunſt des Men— ſchengeſchlechts in der Erziehung muß ſich in allen drey Urfaͤchern unſerer Bildung an das reine, von keiner menſch— lichen Kunſt abzuaͤndernde Naturſtreben zur Entfaltung unſrer Kraͤfte anſchlieſſen, von ihm ausgehen und in je— dem feiner. Vorſchritte an ihn feſthalten. Die Einmiſchung unſrer Kunſt in die Erziehung kann und muß alſo in ih— rem Weſen in nichts anderm beſtehen, als in der erleuch— teten Sorgfalt unſers Geſchlechts fuͤr die Entfaltung und Bildung des ganzen Umfangs der Kraͤfte unſrer Natur, wie fie in unſern Kindern liegen, mit dem Gang der Nas tur in ihrer Entfaltungsweiſe unfrer Kräfte in Ueberein— ſtimmung zu kommen und uns darin mit ihr in Ueberein. ſtimmung zu erhalten.

287

Die Möglichkeit dieſer Uebereinſtimmung aber ergiebt ſich nur durch die Unterordnung der Anſpruͤche unſrer geiſtigen und phyſiſchen Anlagen und Kraͤfte unter die hoͤ— hern Anſpruͤche unſrer ſittlichen und durch die Sittlichkeit goͤttlichen Anſpruͤche unſrer Natur. Nach dieſer Anſicht liegt alſo eine dreyfache Strebkraft zur Entfaltung unſrer Kraͤfte in unſrer Natur, nehmlich die Strebkraft zur Ent: faltung der Anlagen unſers Herzens, zweytens die Streb— kraft zur Entfaltung der Anlagen unſers Geiſts, drittens die Strebkraft zur Entfaltung der Anlagen und Kräfte unſers Leibs und ſeiner Glieder.

Das zu erzielende Reſultat unſrer Herzensbildung iſt offenbar Veredlung und Befriedigung unſrer Natur durch Glauben und Liebe.

Das zu erzielende Reſultat der Bildung unſers Geiſts iſt offenbar Veredlung und Befriedigung unſrer Natur durch Wahrheit und Recht.

Das zu erzielende Reſultat unſrer phyſiſchen Anlagen und Kräfte iſt Veredlung und Befriedigung unfrer Natur durch Arbeit und Kunſt.

Das zu erzielende Reſultat der Gemeinbildung aller unſrer Kraͤfte iſt die Veredlung und Befriedigung unſrer Natur durch die Harmonie in der Ausbildung der Ge— ſammtkraͤfte unſrer Natur im Glauben, in der Liebe, in

Wahrheit und Recht, in Arbeit und Kunſt. Das zu erzielende Reſultat der Gemeinbildung unſrer Kräfte iſt die Menſchlichkeit ſelber, d. i. die Erhebung unſrer Natur aus der ſinnlichen Selbſtſucht unſers thieri— ſchen Daſeyns zu dem Umfang der Segnungen, zu denen

288

die Menſchheit ſich durch die harmoniſche Bildung des Herzens, des Geiſts und der Kunſt zu erheben vermag.

Dieſes letzte Reſultat der Menſchenbildung, die Menſch— lichkeit ſelber, iſt aber nur durch Unterordnung der An— ſpruͤche unſrer geifiigen und phyſiſchen Anlagen unter die hoͤhern Anſpruͤche der von Glauben und Liebe ausgehen— den Sittlichkeit und Religioſitaͤt unſers Geſchlechts zu et: zielen. gun

Die Nothwendigkeit dieſer Unterordnung der Geiſtes· und Kunſtbildung unter die Bildung des Herzens, unter die ſittliche Bildung, liegt faktiſch als Thatſache vor un- ſern Augen. Das Kind glaubt und liebt lange, ehe es denkt und arbeitet. Es glaubt und liebt, in zwar einfeiti- ger, aber in dieſer Einſeitigkeit dennoch wirklichen Vollen— dung ſeiner Kraft zu lieben und zu glauben, noch ehe die erſten Spuren der Denk- und Kunſtkraft in ihm entfaltet vorliegen. Sein Glauben an die Mutter und ſeine Liebe zu ihr iſt bey der hoͤchſten Ohnmacht feines geiſtigen und phyſiſchen Daſeyns ſchon lebendig, kraftvoll und unerſchuͤt— terlich, und wenn auch nur ſinnlich, doch in ihm vollen— det. So offenbar hat der Gang der Natur die Geiſtes— und Kunſtbildung der Herzensbildung nachgeſetzt und ſie muß ihr auch durch die ganze VBildungsepoche des Mens ſchen, das iſt von der Wiege an bis ans Grab nachgeſetzt und untergeordnet bleiben. Der Menſch muß ſich geiſtig und phyſiſch im Dienſt des Glaubens und der Liebe entfalten und ausbilden, wenn er durch ſeine Aus— bildung ſich veredeln und befriedigen ſoll—

x * 289

Das iſt Gottes Ordnung uͤber Geiſt, Herze und Kunſt, aus deren innigen Einheit die Menſchlichkeit, d. i. ein die Menſchennatur wahrhaft befriedigendes Leben allein ber: vorzugehen vermag. Dieſer Ordnung Gottes muß die Kunſt der Erziehung ſich im haͤuslichen, offentlichen, bür- gerlichen und Privatleben unterwerfen. Des Menſchen wahres, zeitliches und ewiges Heil geht nur aus dieſer Unterwerfung hervor.

So wie die Natur im Leben dieſe Ordnung Gottes ausſpricht, ſo muß auch die Kunſt ihren Willen oder viel— mehr ihr Pflichtgefuͤhl, ſich demſelben zu unterwerfen und in allen Theilen ihrer Einmiſchung mit ihr in Ueberein— ſtimmung zu bleiben, mit Beſtimmtheit und gradſinniger Kraft ausſprechen.

Alle Einmiſchung unſrer Kunſt in die Bildung unſers Geſchlechts muß alſo von der Anerkennung dieſer Unter— ordnung ausgehen, und es iſt nur die Anerkennung derſel— ben und ihrer heiligen Pflicht, wodurch die Kunſt im Leben den Menſchen wirklich bildet. Das Wort: das „Leben bildet,“ ſagt eigentlich nichts anders, als, die Pflicht der Anerkennung dieſer Unterordnung iſt bildend, denn offenbar iſt alles Kunſt- Leben unſers Geſchlechts, in fo fern es dieſe Unterordnung nicht aner— kennt, verbildend und nicht bildend. Die ſelbſtſtaͤndige Strebkraft der Natur zur Entfaltung jeder einzelnen Kraft kommt unter ſich ſelber nur durch die Anerkennung dieſtr Unterordnung in Harmonie mit ſich ſelbſt, und die Ge— ſetze dieſer Harmonie und diejenigen ihrer Unterordnung

Peſtalozzi's Werke. IV. 19

290 find in ihrem Weſen die nehmlichen, und in ihren Wir— kungen ſich ſelbſt gleich. 5

Auch iſt die Strebkraft der Natur zur Entfaltung unſrer Kraͤfte, ſo wie ſie ſich in den Schranken dieſer Ge— ſetze aͤuſſert, das Thun der Natur ſelber und in ſo weit un— fehlbar. Aber wenn es aufhert, reines Thun der Natur, reine Aeuſſerung dieſer Strebtraft ſelber zu ſehn und von auf ſen her durch den Einfluß einer vom menſchlichen Verderben ausgehenden und die Pflicht der Unterordnung des Flei— ſches unter den Geiſt mißfennenden Einmiſchung der Kunſt beſtimmt wird, ſo wird dieſer Einfluß fuͤr die Menſchen— natur ſo verderblich, als er in ſeiner urſpruͤnglichen, un⸗ verdorbenen Richtung ihr ſegensreich iſt. Es kann nicht anders ſeyn, jede die Pflicht dieſer Unterordnung mißten⸗ nende Einmiſchung der Kunſt, wenn ſie anſtatt den ewigen Geſetzen der Natur untergeordnet mitzuwirken, ſich herr- ſchend, ich möchte ſagen, über dieſelbe hermacht und ſich anmaßt, ihr Streben nach ihrer Willkuͤhr, d. i. nach den Anſichten ihrer Geluͤſte, ihrer Selbſiſucht und ihres Ver— derbens zu beleben, zu reizen, zu lenken und zu verfünfieln und denn in dieſer Verkuͤnſtelung ſelber bald anzuſtren⸗ gen, zu ſteigern und ſogar zu begeiſtern, bald aber hin— wieder dieſes Streben nach eben dieſer Wiakuͤhr zu hem— men, zu laͤhmen, zu baͤndigen, und fogar die Fuſſe unter die Pantoffel der Fuͤſſe zu bringen, fo kann diefe unna- türlich durch Verkuͤnſtelung bald erſtickte, bald belebte Strebkraft unſrer Natur durchaus nicht mehr zur Erzie— lung des zu bezweckenden letzten Reſultats der menſchli—

291

chen Bildung zur Erzielung der Menſchlichkeit ſelber hin⸗ wirken, ſondern muß dieſer Erzielung noihwendig weſent— lich hinderlich und der Menſchennatur ſelbſt im hoͤchſten Grad verderblich ſeyn. Wahrlich, dieſe alſo verkuͤnſtelte Selbſtkraft unſerer Natur muß uns zu allem dem hin⸗ führen, was den Tod der Menſchlichkeit, die Erkaltung des Lebens im Glauben und in der Liebe und des ho— hen, heiligen Eifers fuͤr Wahrheit und Recht den Ver⸗ luft aller hohen und heiligen Anſichten der Kunſt her— vorbringt, und auf dieſer Bahn ſelber der Unmenſchlichkeit Thür und Thor oͤffnet und zum ausgeſprochenen Unglau— ben an alles Heilige und Hohe zum gewaltfamen Entge- genſtreben aller Anſpruͤche der Wahrheit, des Rechts und der Liebe zur gewaltthaͤtigen Unterdruͤckung der Schwa— chen, zum Frevelmuth in der Verhoͤhnung des Leidenden, und zum Gebrauch der Reitze der Kunſt, zur Ertoͤdtung des göttlichen und heiligen Sinns, der in ihr liegt, hin⸗ fuͤhrt.

Das Nehmliche, was in Ruͤckſicht ie die Einmiſchung der menſchlichen Selbſtſucht in die Le kung der Strebkraft unſerer Natur zur Entfaltung der Kraͤfte wahr iſt, das alles iſt auch in Rückſicht auf die Einmiſchung der menſchlichen Selbſtſucht in die Strebkraft unſrer Natur zur Anwendung unſter entfalteten Kraͤfte gleich wahr. Dieſe Einmiſchung unfrer Selbſtſucht führt uns in der Anwendung unſerer entfalteten Kraͤfte eben wie in ihrer Entfaltung ſelber zu allem dem hin, was das innere Le— ben der Menſchlichkeit zu ihrem Tod fuͤhrt und der Un— menſchlichkeit zu ihrem ſchrecklichen Leben Thuͤr und Thor

292

aufthut und unſer Geſchlecht durch Unglauben und Lieb» loſigkeit, durch empoͤrenden Widerſtand gegen Wahrheit und Recht, durch Unterdruͤckung der Schwaͤche, durch Ver— hoͤhnung des Leidens und durch Mißbrauch der Kunſt zur Veroͤdung des Geiſts und des Herzens, zur Verwil⸗— derung unſerer Natur hinfuͤhrt. )

j

Anmerfung.

„) Ich weiß, die Zeitwelt liest die Reſultate meiner Lebens— erfahrungen lieber in Anſichten und Worten, die ſie taͤg⸗ lich hört und ſieht, als in Verſuchen, ſich über dieſe Als tagsanſichten und Alltagsſprache zu noch nicht vollendet gereiften hoͤhern Anſichten zu erheben und in einer zu dieſen hoͤhern Anſichten nicht einmal gereiften Sprache; zu dem weiß ich auch, daß lebendige Anſchauungen des, dem Wahren und Guten, das dem Zeitgeiſt mangelt, entgegenſtehenden Schlechten zum Regmachen einer edeln Selbſtſucht nach dem Beſſern gut iſt. Ich wende mich alſo wieder zu Leuten, die ich nicht liebe, aber eben darum gern ſchildere; denn es ift nothwendig, den Wil⸗ len der Unſchuld zum Widerſtand gegen die erſten, zum Theil ganz unerkannten, Urſachen des Verderbens des Volks zu beleben. Tauſend unſchuldige Menſchen, die einzeln unendlich viel beytraͤgen koͤnnten, dem Weltver— derben, dem tauſend und tauſend unſchuldige, elende Menſchen unterliegen, in ihren naͤhern Umgebungen zu ſteuern, kennen die Urſachen dieſes Verderbens nicht, und ahnen nicht einmal, daß fie möglich, will geſchweigen, daß ſie da ſind. Wahrlich es iſt ein Verdienſt um die Menſchheit, viejen guten xeufen den Staren hieruͤber

zu ſtechen.

N 72.

Alſo Wiedererſcheinung des Lebens und Strebens im tiefen Koth der meunſchlichen Selbſtſucht ihres Verderbens und ihrer Verkuͤnſtelung.

Sylvia ſaͤumte nicht, nach ihrer Unterredung mit He— lidor ihre Eichenbergerin mit allem dem, was ſie fuͤr He— lidor thun könne, bekannt zu machen, und einerſeits ihr die größte Thaͤtigkeit in ihren Kunſtſtücken gegen Arner zu empfehlen, anderſeits ihr zu ſagen, daß ſie die groͤßte Sorgfalt gebrauchen und das groͤßte Geheimniß daraus machen muͤſſe: wer und was hinter ihrem Thun ſtecke, und ja gegen keinen Menſchen auf Gottes Boden ein Wort davon fallen laſſen ſolle, daß Helidor oder ſie mit ihr daruͤber geredt oder gar zu etwas darin aufgehetzt habe. Dieſer letzte Auftrag kam indeſſen etwas zu ſpaͤt, denn die Eichenbergerin hatte ſich ſchon hie und da groß gemacht, wie ſie mit der Fraͤulein Sylvia von Arnheim in ganz genauer Bekanntſchaft ſtehe und von ihr in ſehr wichtigen Verhaͤltniſſen mit Auftraͤgen beehrt werde; und daß Helidor fie einer allethoͤchſt-gnaͤdigen Audienz gewuͤr— digt, war nichts weniger mehr als ein vollkommenes Ge— heimniß im Dorf. Auch ſchien Sylvia, da ſie ihr die diesfalls nothwendige und fo wichtige Geheimnißmacherey anempfahl, eine Verlegenheit bey ihr zu bemerken und ſagte: du wirft doch nicht etwa ſchon gusgetrommelt ha—

\

ben, daß wir dich im Dorf herumſchicken, dein Maul daruͤber zu gebrauchen.

Was denken Sie? was denken Sie? gnädiges Fraͤu— lein, daß ich mich ſo etwas zu thun unterſtehen wuͤrde, ſagte jetzt die Eichenbergerin.

Und Sylvia: das iſt gut, das iſt gut, daß es nicht geſchehen; es darf nicht geſchehen, wenn es ſchon wahr iſt; es darf das kein Menſch wiſſen.

Aber es wißtens ſchon mehrere Leute; indeſſen laͤug— nete es die Eichenbergerin derb weg, daß ſie etwas im Dorf habe verlauten laſſen, gieng dann aber auf der Stelle zu mehrern Perſonen, denen ſie im Vertrauen davon ge— ſchwaͤtzt und ſagte ihnen, daß ſie doch keinem ſterblichen Menſchen ein Wort von dem ſagen, was ſie mit ihnen geredt, weil das ihr das größte Unglüd, das in der Welt immer zu erdenken moͤglich ſey, uͤber den Hals ziehen koͤnnte dann aber hoffte fie, wenn ihr etwa früher oder ſpaͤter daruͤber ein Fehler auskommen moͤchte, ſo koͤnne ſie ihn durch die Thaͤtigkeit, die fie in dieſem Geſchaͤft zeige, und hoffentlich durch das Gluͤck, das ſie darin haben werde, in allen Faͤllen wieder gut machen. Dieſe Thaͤtigkeit war vorher ſchon groß, jetzt verdoppelte fie dieſelbe. Haupt— ſaͤchlich aber ſpuͤrte fie allem nach, was in der Sonntags. geſellſchaft im Pfarrhaus etwa uͤber Sylvia, über Helidor und ſelber uͤber den Herzog geredt werde, was man ei— gentlich mit der Schule und mit dem Herren -Lehren der Bauernbuben und der Bauernmaͤdchen wolle. Sie wußte, daß die Baumwollenſpinnerweiber gar oft uͤber das neue Schulweſen mit dem Baumwollenmareili reden, und daß die—

295 ſes ihnen unverholen darüber ſage, was es darüber weiß und was es daruͤber denkt. Sie machte ſich desnahen an ein paar der ſchlimmſten Lumpenweiber im Dorf, die ihm am Samſtag ihr Garn brachten, gab ihnen einige Batzen zum Saufen, und lockte auf dieſe Art nicht nur alle Worte heraus, die über. dieſen Punkt in des Baumwollen— mareilis Stube geredt worden, ſondern brachte dieſe Wei— ber noch dahin, daß ſie das Baumwollenmareili auch uͤber dieſes und jenes ausfragten, wovon ſonſt nicht die Rede geweſen waͤre. Auf dieſem Weg und durch Nachforſchun— gen in vielen andern Haͤuſern brachte ſie heraus, daß das Mareili von der Eichenbergerin ſagte: ſie gehoͤre eher in ein Stadtnarrenhaus als in ein Dorf, und vom Herzog: es fen ewig ſchade, daß er nicht unter beſſern Händen ſey; und vom Helidor: es glaube nicht, daß er in ſeinem Le— ben ein einziges von den heil. X Gebothen auswendig ge— lernt. Von der Sylvia ſagte es: ſie ſchicke ſich zum He— lidor, wie kaum eine Schweſter zu ihrem Bruder und von Gluͤlphi: wo er irgend ein Kind finde, das einen gu— ten Kopf habe, ſo jage er ihm nach, wie kein Jaͤger dem ſchoͤnſten Reh; wenn auch der Vater eines ſolchen Kinds am Galgen verfault, ſo mache ihm das nichts; er ſage ſelber, nur deſto eher ſuche er ein ſolches auf; ein ſolches Kind habe denn auch mehr als kein anderes, Beweggruͤnde in ſich ſelbſt, brav und mitleidig fuͤr den Armen und Ver— laſſenen zu werden, und was an ihm ſey, dazu beyzutra— gen, daß kein anderer Menſch mehr ſo verfuͤhrt und ſo ungluͤcklich werde, als ſein Vater, das wolle er thun, und denn habe er die Meynung: man koͤnne dem Armen nur

296 , =

durch den Armen ſelber helfen, die Reichen ſtehen Leibs⸗ und Seelehalber dem Armen nur zum Verſuchen und zum Verderben nahe; um ihnen zu helfen ſtehen fie Leibs- und Seelehalber von ihm eben fo entfernt, als wenn fie dies⸗ falls beyhm Mann im Mond Quartier genommen haͤtten; die Almoſen der Reichen ſeyen meiſtens Gift für die Ar— men, und je größer fie oft ausfallen, deſto ſtaͤrker und lodtli cher ſeye gar oft ihr Gift. | |

Ein Spion, wenn er die ganze feindliche Arif durch⸗ taufen und ſich im Ruͤckweg bey der letzten feindlichen Schildwache durchgeſchlichen, wenn er das ganze Lager ab- gemeſſen und die Zahl der Feinde bis auf den letzten Mann im Sack mit ſich zuruͤck traͤgt, freut ſich nicht fo ſehr über den Erfolg ſeiner Kundſchaft, als die Eichenbergerin ſich uͤber den Erfolg ihrer Nachforſchungen freute. Sie eilte was ſie konnte, ihre Entdeckungen der Sylvia zur Kunde zu bringen. au

Das iſt verfluchtes Zeug, was dieſe da treiben, ſagte Sylvia und eilte dann eben fo ſehr, es Helidoy bekannt zu machen. f

2

J. 75. Aus dem Mund der Unmuͤndigen und Saͤuglinge haſt du dir dein Lob vorbereitet. 0

Gluͤlphi fuhr indeſſen fort, durch taͤgliche Uebung und unermuͤdete Anſtrengung ſich in ſeiner Schulſtube der Kraft, die er in der Gertrud Stube kennen gelernt, zu naͤhern, d. h. ſeine Schulmeiſterey dem hoͤhern Geiſt und Sinn der wahren Erziehungsiraft zu unterordnen. Er wurde taͤglich kraftvoller, in allem feinem Thun auf das innere Weſen der Liebe, des Glaubens, des Denkens und Handelns feiner Kinder einzuwirten. Er wurde mit je dem Tag kraftvoller und geuͤbter, das Herz ſeiner Kinder ſeinem Herzen, den Geiſt ſeiner Kinder ſeinem Geiſt naͤ— her zu bringen und auch feine feſte, ununterbrochene Thaͤ— tigkeit ihnen zur taͤglichen Gewohnheit zu machen. Er wurde täglich faͤhiger, dahin zu wirken, daß feine Kinder bey allem ihrem Thun Herz, Hand uad Geiſt bey einan— der haben. Sein großer Grundſatz, alle Anwendungsuͤbun— gen den Uebungen zur Entfaltung der Kräfte, die dieſe Anwendungsuͤbungen vorausſetzen, unterzuordnen, d. h. die pſychologiſch zu ordnenden Reihenfolgen der Mittel und Uebungen zur reinen Entfaltung der Grundkraͤfte unſ— rer Natur den Anwendungsuͤbungen dieſer Kraͤfte vorher— gehen zu machen, wurde ihm mit jedem Tag heiterer und klarer, ebenſo wie auch derjenige, daß alle Anwendungs— uͤbungen der menſchlichen Kraͤfte mit dem Grad der ent—

298

falteten Kräfte ins Gleichgewicht und in Uebereinſtimmung gebracht werden muͤſſen. Nicht weniger befriedigten ihn die Verſuche, jedes einzelne in irgend einer Kraft, Fertig keit oder Kenntniß vorgeſchrittene Schulkind zu benutzen, um diejenigen feiner Mitſchuͤler, die in dizſer Kraft, Fer⸗ ligkeit oder Kenntniß merklich hinter ihm zuruͤck find, an die Hand zu gehen, wie in der Gertrud Stube und auch in der Wohnſtube einer jeden braven, gemeinen Haushal⸗ tung jedes Geſchwiſterte das, was es kann, ſeinem juͤn⸗ gern, ungeuͤbtern Geſchwiſterten zeigt und ihm darin an die Hand geht. Der Grundſatz dieſer Benutzung der in jedem Fach geuͤbtern und vorgeruͤcktern Kinder zum Une terricht und zur Anführung der juͤngern, ungeuͤbtern wurde ihm in der Ausführung vorzuͤglich durch einen zweyten, von mir ſchon einmal beruͤhrten, Grundſatz erleichtert und in ſeinen Folgen wichtig, nehmlich daß jedes Kind das, was es in der Schule lernen, auch auslernen, d. i. auf eine Weiſe koͤnnen muͤſſe, die es in Stand ſetzt, das, was es kann, auch andern wieder zu zeigen und andere wieder darin zu unterrichten. Seine Erfahrungen zeigten ihm jetzt, daß dieſes nicht nur ſo zu verſtehen ſey, ein Kind muͤſſe am End ſeiner Schuljahre, wenn es alles, was es in der Schule zu lernen habe, vollendet, denn im Stand ſeyn, auch andern Kindern in allem dieſem zu unterrich— ten, ſondern ſogar die Kinder muͤſſen ſchon in der Schul— zeit, wie dieſes auch in der Wohnſtube der Gertrud der Fall ſey, auf jedem Grad des Unterrichts, auf dem ſie ſtehen, ehe fie von dentfelben auf einen hoͤhern geführt werden duͤrfen, in demſelben zu einer Sicherheit und Vol—

29)

lendung im Können deffelben gebracht werden, daß fie ſchon in dieſer Zeit Kindern, denen er noch nicht fo vollen— det eingeuͤbt iſt, darin unterrichtend an die Hand gehen koͤnne. Daß dieſes aber mit der groͤßteg Kindlichkeit und Einfalt ausgeuͤbt werden muͤſſe, verſteht ſich von ſelbſt. Am voerzuͤglichſten aber richtete er feine Schulmeiſterkraft dahin, die Kinder täglich und in allen Ruͤckſichten an ei— nen hohen Grad der Auſtrengung und Ausharrung zu gewohnen; fruͤh und ſpaͤt zu ſeyn, nichts langſam in die Hand zu nehmen und bey allem Thun ſchnellen Schrit— tes vorwaͤrts zu gehn und nirgend und einmal muͤſſig um— her zu ſtehen, forderte er jeden Augenblick von feinen Kin— dern. Wer in den Tag hinein lebt und ſich nicht fruͤhe Vorſaͤtze des Lebens macht, denen er nachſtrebt und für die er jeder Ausharrung und jeder Aufopferung faͤhig ſeyn muß, aus dem wird nichts in der Welt, ſagte er faſt taͤg— lich zu feinen Kindern. Dieſes Wort gefiel zwar nicht allen Leuten im Dorf. Eine Mutter von einem feiner Schultinder ſagte einmal zu Gluͤlphi: dieſes Treiben zum etwas werden in der Welt nuͤtzt eben nicht alles, wenn mein Kind nur ein frommer, ordentlicher Chriſt wird.

Und wenn du das willſt, ſagte Gluͤlphi, ſo ſolls dir auch recht ſeyn, daß er ſeinen Kopf und ſeine Hand als Chriſt brauchen lerne. Liebe Frau, das Chriſtenthum iſt das Hoͤchſte, wornach der erhabenſte Menſch ſtreben kann; wenn aber der Menſch nichts iſt, wenn alles, was goͤtt— lich und erhaben in ſeiner Natur liegt, in ſeinem Kopf ſchlaͤft und in ſeinen Haͤnden lahm und in ſeinem Her— zen nur kraftlos, wie der Traum eines Schlummernden,

300

daliegt, wie kann er dann nach dem Hoͤchſten, nach dem Erhabenſten ſtreben, das in der Menſchennatur liegt? Es war Gluͤlphi in der Welt nichts ſo zuwider, als wenn er ſah, daß jemand die Lehre von der Nachfolge des Ge— kreuzigten zu einem anſchaulichen Beleg der Vis inertiae unſers Verderbens herabzuwuͤrdigen verſuchte. Er glaub— ie: man muͤſſe die Kinder in allen Ruͤckſichten menſchlich beleben, um fie eben fo fähig zu machen, in allen Ruͤck— ſichten chriſtlich kraftvoll zu handeln und ihrem guten Willen in allen Verhaͤltniſſen thatſächlich die Folgen zu ſichern, ohne welche aller Anſchein des menſchlichen Wil- lens nur ein eitler Geluſt unſerer thieriſchen Natur und durchaus nicht als ein wirklicher, menſchlicher Wille an— geſehen und erkannt werden kann. Auf dieſe Anſichten und Grundſaͤtze geſtuͤtzt, ſetzte er in Ruͤckſicht auf die Ent— faltung der menſchlichen Kräfte feiner Schulfuͤhrung keine Schranken, denn er war vollkommen uͤberzeugt, kein Menſch könne in keinem Stand weder zu edelmuͤthig und wohlwollend noch zu chriſtlich und zu verſtaͤndig, noch zu kunſtfaͤhig und berufsfaͤhig ſeyn und gemacht werden; aber indem er ben eben dieſer Schulfuͤhrung den Geiſt des häuslichen Wohnſtubenlebens eben ſowohl zu ſeinem oberſten Ziel ſetzte, als er es auch zu ſeinem erſten Schul— mittel benutzte, ſo ward er dadurch hinwieder genoͤthigt, die Anwendung der in feinen Kindern entfalteten Kräfte durch ſeine Schulmittel ebenſo in den Geiſt, in den Sinn, in die Beduͤrfniſſe, Mittel und Eigenheiten ihres Stands hineinzulenken und die äuſſere Anwendung ihrer Kräfte den Aaſprachen und Beduͤrfniſſen dieſes Stands zu unter:

=

301

werfen, wie jede gute Wohnſtube vermoͤg des Weſens ih— rer Natur ſelber genoͤthigt iſt, die Kraͤfte, die ſie in ihren Kindern entfaltet, in den Geiſt und in die Beduͤrfniſſe ih— res Stands hineinzulenken und denſelben zu unterwerfen. Er arbeitete desnahen auch mit aller Kraft und mit aller Kunſt, die in ſeiner Hand war, daß der Verſtand ſeiner Kinder als ein landwirthſchaftlicher Verſtand und ihr Herz als ein in der Landwirthſchaft befriedigtes, an ihren Sur: gen und Freuden theilnehmendes Herz und ſelber ihre Hand als eine fuͤr die Landwirthſchaft geſchickte und ge— wandte Hand zum Vorſchein komme, und fuͤhrte ſie auf dieſer Bahn dahin, daß fie in feiner Schulſtube mit: vol lem Herzen ſammt ihm Lavaters Lied anſtimmten:

Stimmet wack're Landes bauern, Stimmt ein Lied mit Freuden an; Eins, das hinter Thor und Mauern Keiner mit uns ſingen kann.

So den Nuſpruͤchen der Menſchennakur in der Ent: faltung ihrer göttlichen Kräfte auch kein Haar verge— bend, ſuchte er feine Kinder durch die Anwendung ih⸗ rer Kräfte dahin zu erheben, daß fie ſich in den Schran— ken ihres Standes gluͤcklich und geſegnet fuͤhlend, aus frehem Willen und eigenem Trieb mit Anſtrengung und Eifer ſich ſelber die Kenntniſſe und Fertigkeiten zu erwer— den ſuchten, die ſie in Stand ſtellen konnten, ſich ihren Stand auch unter allen Schwierigkeiten und Muͤhſeligkei— ten, die er, wie alle andere Staͤnde haben moͤge, ſich ſe— gensreich und befriedigend zu machen. Um aber dieſes

202

Ziel, feine Schulkinder ſich in den Schranken ihres Stands ſo gluͤcklich fuͤhlen zu machen als ſie ſich nach dem Ein⸗ Sud, den ihr eigenes Gluͤck auf fie machte, nicht leicht in einem andern Stand fuͤhlen konnten, zu erreichen, ſuchte er ihnen die Bildung zu ihrem Stand und auch die Bildung zu den Beſchwerden ihres Stands ſo leicht und fo angenehm zu machen als moͤglich; und benutzte hiefuͤr vorzuͤglich die allgemeine Neigung der Menſchen zum Ge— ſang. 1 :

Thereſe und die Frau Pfarrerin bothen ihm hierin die Hand, und gaben alle Wochen zweymal den Kindern im Singen Unterricht. Auch trachtete er durch den Geſang auf jedes, die menſchliche Natur belebendes und erheben— des, Gefuͤhl bildend einzuwirken. Sie lernten Sonntags— lieder, Lieder zu ihrer Morgen- und Abendandacht, Lieder zur Ehre Gottes, zum Dank fuͤr den Erloͤſer, zum Lob der Bibel, aber denn auch Freudenlieder, Erndtelieder, Feyerabendlieder und lachende Darſtellungen vielerley Thor— heiten und Irrthuͤmer des Lebens. Auch verſammelte er ſeine Kinder oft zu Abendfreuden, an denen oft das Schloß und das Pfarrhaus ganz Theil nahmen.

Wenn das geſchah, ſo brachte man den Kindern aus dem Schloß und dem Pfarrhaus allemal ganze Körbe voll Fruͤchte der Jahrszeit, Kirſchen, Birnen, Aepfel, Zwetſchgen und im Winter gedoͤrrtes Obſt mit, und man kann ſich nicht vorſtellen, was das fröhliche, freye Bepein- anderſeyn der Dorfiinder von beyden Geſchlechtern in ſol— chen vom Schloß und Pfarrhaus ſelber zerheiterten und belebten Abendſtunden dazu beytrug, gegenſeitig ſanftere

505

und edlere Gefühle in ihnen reg zu machen und fie zu verſchiedenartig bildender Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt und auf ihre Geſpielen hinzulenken, auf die ſonſt Bau— ernkinder im allgemeinen zu ganzen Haufen ſo ſelten hin— gelenkt werden. Man kann ſich nicht vorſtellen, was die Menſchlichkeit dieſer das Schloß, das Pfarrhaus und das Dorf vereinigenden Abendſtunde dazu beptrug, mitten in der Kraftanſtrengung, die beſonders die Bildung zum landwirthſchaftlichen Leben ſo weſentlich dedarf, den mil— den, froͤhlichen und heitern Sinn des Lebens in ſeinen Kindern zu erhalten, der die Harmonie der menſchlichen Kraͤfte und das Gleichgewicht, in dem ſie unter einander ſtehen ſollen, mit eben ſo viel Sicherheit ausdruͤckt, als der Mangel dieſes milden, froͤhlichen, heitern Sinns im Leben den Mangel an innerer Harmonie unſerer Kraͤfte in uns ſelbſt und des Gleichgewichts, in welchem ſie un— ter einander ſtehen ſollten, beurkundet.

504

6. 74.

Die Armſeligkeit alles Treibens und Jaſtens unfs rer Leidenſchaften im Gegenſaß gegen die Wuͤrde der Unſchuld, der Menſchenliebe und der Ae f f

17 N

Jihns

hatte Mittel ai en; wu: etwas von 900 "Berichten Ar⸗ ners an Bolifsky über Gluͤlphis Tun e zu verneh⸗ men. ad 25 je lunge 1 Bisher war er gewohnt, alles Gute, das im Sand war, wenn es nicht ihm ſelbſt, merklich ſtark gegen ſeine Kutteln zu greifen ſchien, nicht geradezu zu ſtoſſen, ſon⸗ dern daſſelbe den Weg ſeiner Elendigkeit und ſeiner Traͤu— mernarrheiten (wie er alles hoͤherſtrebende und tiefergrei— fende Gute in der Welt anſah und betitelte) ungeſtoͤrt gehen und ſein Grab gleichſam mit eigenen Fuͤſſen ſuchen u laſſen. Dieſer Handlungsweiſe gewohnt, zeigte er Auf ſerlich ſich lange gar nicht eifrig gegen Arners Thun. Im Herzen war er ihm von Anfang an entſchieden abgeneigt. Er mußte es auch ſeyn. Er nahm als Erfahrungsſache und als unwiderſprechlich an, der Meuſch fen im ganzen Umfang ſeines Daſeyns dem blinden Spiel dargeworfen, das das launige und unerklaͤrliche Schickſal mit ihm trei- be. Dieſes, meynte er, laſſe einen kleinen Theil Menſchen

das Gluͤck wie vom Himmel herab regnen und ohne ſein Zuthun Mittel in die Hand fallen, alle Guͤter, und alle Genieſſungen, die die weite Erde dem Menſchengeſchlechte darbietet, bald in ungeſtoͤrter Gemaͤchlichkeit unter ihrem Dach einzuſchluͤrfen, bald ſie hinwieder im wilden Getuͤm— mel zu zerſplittern. Er wußte zwar wohl, daß die mei ſten dieſer vom Schickſal beguͤnſtigten Menſchen ihr Gluͤck zu nichts anderm brauchen, als daß ſie, den Affen nach— ahmend, die, wenn ſie Menſchenkleider anziehen, ſich fuͤr Thiere von einer hoͤhern Art anſehen oder auch die Pfau— en, die, wenn ſie ihren Hintern mit allen Farben des himmliſchen Regenbogens aufſtraͤuſſen, ſich auch für Wr gel hoͤherer Art halten moͤgen als alle die ſind, die ihren Hintern nicht fo mit allen Farben des Regenbogens gezierk aufftrauffen koͤnnen, den Segen dieſes Gluͤcks eben wie dieſe Thiere in einem armſeligen Gepraͤng zur Schau aufſtellen, um unter ihren Mitmenſchen durch Vorzuͤge, die ſie mit Affen und Pfauen gemein haben, ebenfalls als Geſchoͤpfe hoͤherer Art daſtehen konnen. Aber Helidor glaubte, das ſey ihr Recht und die untern Klaſſen des

Volks muͤſſen dieſes Recht wirklich in dieſer Thierform an

ihnen reſpectiren und in dieſer Ruͤckſicht gewoͤhnt werden, ſich unbedingt fuͤr eine niedrigere Menſchenart anzuſehen, die durchaus nach keiner Art von Genieſſungen geluſten duͤrfen, die das Schickſal ſeinen Guͤnſtlingen darwerfe. Er meynte, wenn die Ginjilinge des Schickſals dieſe niedere Menſchenklaſſe nicht in allen Beziehungen und Verhaͤlt— niſſen dieſer Anſicht gemäß behandle und ‚fie nicht dreh Schritte vom Leib oder vielmehr drey Schritte von aller

Peſtalozzi's Werke. IV. 20

506

ihrer Luft und von allen ihren Freuden weghalte, fo thun ſie dieſer Menſchenklaſſe nicht nur keinen Dienſt, ſondern ſie fuͤhren dieſelbe genau in die Lage, in welcher ſich ein hungriger Fuchs befindet, der, wenn er Trauben vor ſei— nen Augen ſieht, die ihm zu hoch hangen, ſich die Fuͤſſe faſt abſpringt, dahin zu gelangen und bey jedem Sprung wieder, ohne eine Traube in's Maul zu kriegen, am Bo— den herabfaͤllt. Dieſer Helidor war aber auch, feitbem er felber aus dem Kothwinkel, von dem er hergeſtammt, her— vorgekrochen und dahin gekommen, im Herzogthum voll— kommen das vorzuſtellen, was Hummel unter Arners Großvater in Bonnal vorſtellte, der groͤßte Maulbraucher und Spottgeiſt gegen alle Geluͤſte des Volks. Von ei- nem Volkswillen hatte er auch nur keine Ahnung, daß ein ſolcher moͤglich fen, aber Über die Volksgeluͤſte trieb er feinen Spott fo weit, daß wenn man ihm von vorzuͤgli⸗ chen Gaben und ausgezeichneten Talenten, die ſich im Volk befinden und von dem Recht ein Wort fallen ließ, das ſolche ausgezeichnete Gaben dieſen Menſchen gebe, dahinzuſtreben, ſie auch auf eine verhaͤltnißmaͤßige Weiſe anwenden und brauchen zu koͤnnen, und zu duͤrfen, er daruͤber allemal mit einem Hohn antwortete, der jedes edle Menſchenherz zerſchneiden mußte: wenn ein Menſch, der eine feine, gute, und wie er ſie nennt, Hundsnaſe hat, um deswillen auch glaubte, man muͤßte ihm das feinſte Rauchwerk, das es auf der Welt gebe, alle Tage vor der Naſe anzuͤnden, ſo waͤre er denn doch ſicher ein Narr und es ſey offenbar, daß nicht ſeine Naſe, ſondern ſein Beutel ihm das Recht zu dieſen feinen Geruͤchen geben könne.

507 Und es ift freylich auch in dieſer Anſicht etwas ganz Wah— res, und man muß hinzuſetzen, es iſt etwas darin wahr, das fuͤr den Armen von der hoͤchſten Wichtigkeit iſt, aber offenbar iſt die Wahrheit, die darin liegt, im Mund He— lidors dennoch eine Suͤnde, und zwar eine ſchreckliche Sünde gegen das Menſchengeſchlecht.

In Ruͤckſicht auf Arners Angelegenheiten behauptete er, wenn es ihm gelingen koͤnnte, durch den Comoͤdian— tenclub, den er im Pfarrhaus mit einigen Bauern und Bauernweibern in Bonnal gebildet, die Zwecke, die er zu haben ſcheine, in ſeinem Dorf durchzuſetzen, ſo koͤnnte die— ſes von einigen Folgen ſeyn. Er meynte zwar zugleich, Arner habe keine Mittel, mit dieſem Spuck, den er in ſeiner Winkelſchule treibe, weiter in die Welt einzugreifen; doch war ihm dieſer Spuck, ſo ſehr er ihn verachtete, au dem Ort, wo er getrieben wurde, nicht recht, weil er im— mer etwas Aehnliches mit den Beſtrebungen habe, an de— nen der Herzog einſt ſeinen Kopf ſelber angeſtoſſen. Doch tröfiete er ſich diesfalls noch mit der Anſicht, das, was Arner jetzt wolle, ſey eigentlich doch nicht das Gleiche, was der Herzog ehemals geſucht; dieſer habe mit ſeinen Verſuchen immediat auf das Volkswohl und auf die Ver⸗ beſſerung des Zuſtands der Armen im Land hinwirken wollen, von der Bonnalerſchule hingegen glaubte er im⸗ mer noch, es ſey Arner um ein Bisgen mehr Wortkennt— niß und allerley Geſchwatzwerk von Kenntniſſen zu thun. Er achtete in dieſer Ruͤckſicht auch ſein Thun bis jetzt mehr fuͤr eine Dummheit als fuͤr etwas, das auf irgend eine Art gefaͤhrlich werden oder ſonſt weit führen koͤnnte.

508,

Helidor wußte nur gar zu wohl, daß alles Geſchwatzwerk den Menſchen ſchwach mache, und daß man, um auch eis nem guten Kopf alle Bedeutung, allen Einfluß und ſelber alle Tiefe zu nehmen, ihn nur recht vielfeitig zu allerleh Arten von Maulbrauchen hinfuͤhren muͤſſe. Aber da er jetzt, und zwar nicht durch die Eichenbergerin, ſondern durch einen ganz andern Kanal aus der Hauptſtadt ver— nahm, daß Gluͤlphi ein eigentlicher Todfeind der Vielwiſ— ſerey und der Vielſchwatzerey ſey und in feiner Schulfuͤh— rung mit aller Kraft aufs Denken, Schweigen und Thun und nicht aufs Maulbrauchen losgehe und zudem, daß | er ihn vorher ſchon als einen fehr guten Mathematiker gekannt, jetzt noch vernahm, daß er in dieſer Schule auf eine Mathematik hinlenke, die gar nicht zu den Routine— fertigkeiten ihrer Anwendung, ſondern zur allgemeinen Entfaltung der Geiſteskraͤfte und zum Habituelmachen der logiſchen Fertigkeiten hinfuͤhre und zugleich vernahm, daß er die beſten Koͤpfe in Bonnals Jugend ausſuche, und ih— nen in dieſem Geiſt eine Bildung ertheile, ſo aͤnderte er auf einmal ganz plotzlich feine Anſicht über dieſen Gegen— ſtand und ſein Benehmen daruͤber. So wie er bis jetzt die Sache in Bonnal als unbedeutend behandelt und ge— glaubt, es ſey ſein Spiel, keine ſichtbare Aufmerkſamkeit darauf zu werfen und ſogar der Eichenbergerin aufgetra— gen, die hoͤchſte Sorgfalt darauf zu wenden, daß niemand merke, daß ihm etwas daran liege, fo fieng er jetzt an, dieſer Sorgfalt ganz entgegen öffentlich und laut ſich ges gen Arners Thun zu erklaͤren und ſich beſtimmt zu aͤuſ— fern, dieſer unerfahrne, junge Menſch gehe in feinen De-

509 2

firebungen und in feinen Tendenzen von Anſichten und Geſichtspuncten aus, die durchaus unrichtig und bey lei— ner naͤhern Pruͤfung ſtichhaltend erfunden werden koͤnnen. Er wurde ſogar jetzt ploͤtzlich uͤber dieſen Gegenſtand, was ſonſt nicht ſeine Gewohnheit war, geſchwaͤtzig, und ſagte gar oft, wo man's gern hoͤrte und wo man's nicht gern hoͤrte, nicht nur alle Einſichten und Fertigkeiten, zu wel— chen die Menſchen durch ihre Bildung hingefuͤhrt werden, ſondern auch der Grad der Geiſtes- und Denkkraft, ſowie derjenige der Kunſtkraft, welche die Einſichten und Fer— tigkeiten vorausſetzen, zu welchen die Menſchen gebildet werden duͤrfen, muͤſſen in jedem Fall mit dem poſitiven Zuftand, d. h. mit dem Stand, Rang, Vermögen oder mit der Standes-, Rangs- und Vermoͤgensloſigkeit eines jeden Individuums und zugleich mit dem, was in feinem Stand oder Nichtſtand fuͤr ihn ſchicklich und brauchbar ſey, in Uebereinſtimmung gebracht werden; man muͤſſe alſo dem Menſchen auch nicht einmal ſeine Vernunft weiter ausbilden, als er ſie in ſeinem Stand brauchen Tonne. Er behauptete, das fen fo weit wahr, daß in den niedern Staͤnden ſogar der Geluſt, mehr Verſtand zu be— ſizen, als fie darin zu brauchen nothwendig haben, wegen den Folgen, die es haben koͤnnte, zuruͤckgeſcheut und abge— lenkt werden muͤſſe, und es komme in dieſer Sache gar nicht auf den einzelnen Menſchen und die Anſpruͤche, die einer etwa auf ausgezeichnete Geiſtesgaben und Kunſtan— lagen machen moͤchte, an, ſondern einzig und ganz auf den Stand, zu dem er gehoͤre, und auf das Eigenthum, das er beſitze u. ſ. w. Er gieng noch weiter, er ſprach ſeine

510

Anſichten über dieſen Gegenſtand dem politiſchen Club, den er ſelber gebildet und den einige ſehr gute Kopfe beſuchten, mit einer Kraft aus, die das groͤßte Aufſehen machen muß⸗ ten. Er ſagte nehmlich laut und beſtimmt, Arner werde es mit den Grundſaͤtzen, nach denen er ſeine Schule durch ei— nen offenbar gefährlichen, miß vergnuͤgten Lieutenant ein⸗ richten laſſe, es unzweydeutig dahin bringen, daß die be⸗ ſten Köpfe feiner Schule einſt ſich felber oder andern Leu— ten die Kugel durch den Kopf ſchieſſen werden. Na⸗ tuͤrlich erregte dieſes ſtarke Wort Aufmerkſamkeit in der Geſellſchaft. Alles ſtand um ihn herum, und er fuhr fort und ſagte: die Sache iſt wichtig; man kann den Armen im Land durch nichts ungluͤcklicher machen, als wenn man ihn einſehen lehrt, daß er ſelber hoͤhere und groͤßere An⸗ lagen und Kräfte hat, als die Leute von höheren Staͤn— den, die ihn umgeben, indeſſen er aber denn doch dieſe Gaben nicht anwenden kann und nicht anwenden darf. Er ſetzte kuͤhn und derb hinzu: der Kopf des Armen muß nothwendig mit ſeinem Beutel in Uebereinſtimmung ge— bracht werden, und wenn er gluͤcklich ſeyn ſoll, fo muß der erſte ſo leer bleiben als der letzte es iſt. Er ſprach es geradezu aus: das gemeine Volk muͤſſe nicht zur Erkennt⸗ niß der Wahrheit feines Zuſtands hingelenkt und nicht fa- hig und noch weniger geluͤſtig gemacht werden, denſelben mit dem Zuſtand anderer Staͤnde zu vergleichen und ſeine allfaͤllig böhern Talente dahin zu benutzen, ſich durch die- ſelbe dahin helfen zu wollen, worin ſie etwa ſehen, daß andere ſich auch geholfen haben. Er behauptete, man mäffe die guten Köpfe in den niedern Ständen mit aller

511

Kunſt und allfaͤllig, wenn es noth thue und nicht anderſt ſeyn koͤnne auch mit Gewalt vom Selbſtgefuͤhl deſſen, was Geiftes- und Kunſthalber in ihnen liege, zuruͤckzulenken trachten.

9. 74.

Uebergang von ganz heidniſchen Anſichten uͤber das Volk und die Volksbildung zu chriſt⸗ lichen.

Bylifsky vernahm dieſe Aeuſſerung den Tag darauf, als er eben in einer Abendgeſellſchaft war, die aber frey— lich dem Jatrizantenclub Helidors feine boͤſen Worte aus— prach, nicht gleich ſah, ſondern aus den beſten Koͤpfen und den edelſten Maͤnnern des Hofs und der Hauptſtadt beſtand, in dieſer Geſellſchaft druͤckte Bylifsky feine Em— poͤrung uͤber dieſe Aeuſſerung Helidors alſo aus: um Gottes Willen, wo werden wir unter dieſen Mann noch hintommen, wenn wir dem Armen, der nichts hat, ſich durch die Welt zu bringen, als die Anlagen ſeines Her— zens, die Kraͤfte ſeines Geiſts und die Fertigkeiten ſeiner Hand, nicht mehr helfen duͤrfen, dieſe Anlagen, die ihm Gott gegeben, in ſich ſelbſt zu fühlen und dahin aus zubil— den, daß er ſie im Verhaͤltniß der Kraft, mit der ſie in ihm liegen, auch benutzen und zu ſeinem zeitlichen und ewigen

512 N

Wohl anwenden fonne, wenn wir im Gegentheil unſere Verkuͤnſtelungsmittel des Menſchengeſchlechts fo weit' zu treiben, verleitet werden ſollten, daß wir anfangen muͤß⸗ ten, es fuͤr unſere Pflicht anzuſehen, mit Vorſicht und Abſicht zu verhuͤten, daß die beßten Koͤpfe und talentreich— ſten Menſchen in unfrer Mitte nicht einmal dahin kom— men ſollen, die Kraͤfte in ſich ſelber zu fuͤhlen, die Gott ihnen zu ihrem und zu ihrer Nebenmenſchen Heil felbew gegeben. Was wuͤrde aus uns werden, ſprach er mit Heftigkeit, wenn wir auf dieſer Bahn um einiger erbaͤrm— licher Menſchen willen, ſo viel an uns iſt, die Ordnung Gottes und das Weſen der innern, ewigen Ungleichheit der Rangordnung, die er unter den -tenſchen durch die Ungleichheit ihrer Kräfte und Anlagen ſelber gegruͤndet, aufzuheben und uͤber den Haufen zu werfen ſuchten und dahin arbeiten ſollten, daß ſelber das ewige, heilige Fun— dament des wahren, menſchlichen Gotteödienjis, die goͤtt— lichen Kraͤfte der Menſchennatur ſelber dem unheiligſten und verwuͤrflichſten Menſchendienſt, der Blindheit und Kraftloſigkeit der Menſchen— natur Preis gegeben und aufgeopfert werden follten ? Lebhaft uͤber das Unrecht dieſer Anſicht empoͤrt, fuhr By— lifsky im Eifer feiner Aeuſſerungen fort und ſagte: ich kann mir kein Verbrechen an Gott, an den Meaſchen und an das Vaterland denken, das demjenigen die Kraͤfte der Menſchennatur im Menſchen, beſonders im armen Men— ſchen mit Abſicht, Muthwillen und Vorſatz in ihrem Kei— me zu erſticken, gleich kommen koͤnnte.

515

Der erſte Fatholifche Geiſtliche der Hauptſtadt, der auch in der Geſellſchaft Bylifsky's war, theilte dieſe Anſicht mit ihm und druͤckte ſich daruͤber alſo aus: die Anlagen des Geiſts, des Herzens und der Kunſt ſind goͤttliche An— lagen, und fie mit Bewußtſeyn, Abſicht und Vorſatz im Menſchen, inſonderheit im armen Menſchen zu unterdruͤ— cken, iſt in meinen Augen nicht weniger als eine der er— ſten Suͤnden in den heiligen Geiſt, die weder in der ge— genwaͤrtigen noch in der zulünftigen Welt verziehen wer— den koͤnnen.

Bylifsky, der nicht katholiſch war, freute ſich über die Aeuſſerung dieſes Manns, vorzuͤglich darum, weil er es von ihm, als von einem katholiſchen Prieſter nicht erwar— tete, aber der Geiftliche, der das merkte, ſagte jetzt zu ihm: meine Anſicht iſt ganz mit den Grundſaͤtzen der ka— tholiſchen Kirche und mit den Mitteln ihrer ſo feſt be— gründeten Hierarchie uͤbereinſtimmend. Die heil. Kirchen— vaͤter, die erleuchteteſten Paͤbſte und die eifrigſten Biſchoͤffe haben in allen Epochen der Kirche das Chriſtenvolk, und beſonders die ihnen untergebene Geiſtlichkeit auf das waͤrmſte und angelegentlichſte aufgefordert, vorzuͤgliche Talente, die ſie an irgend einem jungen Menſchen, beſon— ders aber an einem armen, jungen Menſchen entdecken wuͤrden, ihrer Aufmerkſamkeit zu wuͤrdigen und dafuͤr zu ſorgen, daß ein ſolcher ausgezeichneter junger Menſch nach dem Willen Gottes, der ihm durch ſolche Anlagen ſelber aus dem Staub ſeiner aͤuſſern Niedrigkeit erhoben, in die Lage geſetzt werden, ſeine Anlagen zum Dienſt der Kirche und des Staats wuͤrdig und ſegensvoll anwenden und ge—

514 ; brauchen zu koͤnnen, und kein Katholik, der hierüber die noͤthigen Einſichten hat und wahrhaft fromm iſt, wird je einem Zeitgeiſt froͤhnen, der um der Elendigkeit willen, in die er ſelber verſunken, ſich dahin erniedrigen wuͤrde, ihn fuͤr ſich und ſeinen Dienſt zu etwas aufzufordern, das ſo offenbar mit dem beſtimmteſten Anſinnen und den Auf— forderungen der heiligen Kirchenvaͤter, der erleuchteteſten Paͤbſte und der froͤmmſten Biſchoͤffe klar und entſcheidend entgegenſteht. Aber es iſt freylich doch auch mit einem Zeitgeiſt ſchon ſehr weit gekommen, der dieſe Aufforde— rung, ſey es laut oder leiſe, fen es direkte oder indirekte, an einen ehrlichen Mann im Land auch nur zu machen wagt. | | | Ja wahrlich, feste Bylifsko mit einem Seufzer bey: es iſt mit einem Zeitgeiſt ſehr weit gekommen, daß ſelber viele, ſonſt ehrlich geſinnte Menſchen vom Volk, d. h. von den Zeitgenoſſen des Zeitgeiſts wie von Stieren reden dürfen, die, wenn ſie ihre Kraft kennten, ſich nicht an ei— nem Zwirufaden von einem Kind herumfuͤhren und an den Pflug und an den Wagen hinſtellen laſſen wuͤrden. Wahrlich, wahrlich, es iſt mit einem Zeitgeiſt weit gekom— men, wenn ſonſt chriſtlich geſinnte Menſchen auf das Fun- dament dieſer Anſicht in Helidors Lied einſtimmen und es ausſprechen, man thue der Religion einen Dienſt, wenn man das Volk in Unwiſſenheit und Kraftloſigkeit go ſinken mache. Der Geiſtliche: Aber wahrhaft Seiflice Menſchen, wenn ſie auch dieſes Wort ausſprechen, denken und ſagen

515

es gewiß nicht in dem Sinn, in dem es Helidor denkt und ausſpricht.

Bylifsky. Das iſt frehlich nicht; aber es iſt ſchon ſchlimm genug, daß ſonſt chriſtlich geſinnte Menſchen durch den Zeitgeiſt dahin gebracht worden ſind, es aufrichtig zu glauben und als wahr anzunehmen, das Volk koͤnne nicht demuͤthig ſeyn und nicht chriſtlich leben, wenn es nicht blind und kraftlos gemacht oder wenigſtens blind und kraftlos erhalten werde. f

Der Geiſtliche. Aber man muß doch nicht vergeſ⸗ ſen, daß die Blendlaterne, die man dem Volk ein ganzes Menſchenalter vorher nicht blos in die Hände gab, ſon— dern es beynahe noch nothzuͤchtigte, ſich damit zu zuͤnden, haben der alten Demuth im Land und dem alten chriſtli— chen Leben ſchon lange den Hals gebrochen, ehe unſer Zeitgeiſt das böfe Wort: man müſſe das Volk blind und kraftlos machen, damit es demuͤthig werde und chriſtlich leben koͤnne Chriſten und Unchriſten in den Mund zu legen ſo vielſeitig und ſo lebhaft verſucht und vermoͤgen.

Bylifsky. Das iſt gewiß, die Fundamente der al- ten Demuth und des alten chriſtlichen Lebens ſind nicht durch einige, gegenwaͤrtig in Umlauf gekommenen Woͤrter des Zeiigeifts, ſondern durch die frühere Vernachlaͤßigung er weſentlichen Mittel der Volkserziehung und der Men— ſchenbildung untergraben und geſtoͤrt worden, und es iſt wahrlich durch tiefe Verirrungen der Vorzeit dahin ge— kommen, daß es unſerm Zeitgeiſt gelungen, ſo viele Leute dahin zu bringen, in allem Ernſt zu glauben, man koͤnne und muͤſſe gegenwärtig im Volk mit feiner Blindheit wies

516

der gut machen, was die Vorzeit durch Blendlaternen in ihm verdorben.

Der Geiſtliche. Inzwiſchen wird ſich an Helidor diesfalls niemand irren. Wer ihn auch nur auf hundert Schritt vom Leib ins Aug gefaßt, der weiß ſicher auch, wenn er den Grundſatz ausſpricht, die Menſchennatur und das Chriſtenthum fordern die Unwiſſenheit und die Kraft— loſigkeit des Volks, fo meynt er damit nichts anders, als das Chriſtenthum und die Menſchennatur taugen fuͤr ihn nur in ſo fern, als ſie in einer Geſtalt vor dem Herzog erſcheinen, die auf keine Weiſe geeignet iſt, dem Herzog eine Anſchauung von irgend einer Wahrheit oder irgend einem Necht, die ihm nicht behage, vor die Augen zu bringen.

Was mich aber, ſagte jetzt der Geiſtliche, in Ruͤckſicht auf dieſen Zeitgeiſt und alle ſeine Folgen, ſie moͤgen auch ſo ſchlimm ausſehen als ſie wollen, immer troͤſtet, iſt die— ſes: die Kraͤfte der Menſchennatur ſterben darum nicht aus,

wenn man ihnen ſchon eine Weile nicht aufhilft; und unna— tuͤrliche Beſtrebungen, fie ſeyen gewaltſam oder hinterliſtig, zu unterdruͤcken, ſind immer weſentlich geeignet, die Kraͤfte ſelber wieder zu beleben, fuͤr die zu unterdruͤcken ſie in Bewegung geſetzt und gebraucht worden.

Bylifsky erwiederte: Es iſt gewiß, das Troͤſtliche gegen alle Uebel, denen das Menſchengeſchlecht ausgeſetzt iſt, liegt in dem ewigen Göttlichen, der menſchlichen Nas tur ſelber; und was auch mich bey der diesfalls ſo fuͤrch— terlich ſcheinenden Allgewalt Helidors troͤſtet, iſt das alte Sprichwort: „ehrlich waͤhrt am laͤngſten.“

910

Bylifsky hatte das Wort kaum ausgeſprochen, ſo nahm der gute Geiſtliche das Glas in die Hand, und trank mit heiterer Stirne auf die Geſundheit des Sprichworts: „ehrlich waͤhrt am laͤngſten.“

Sie unterhielten ſich noch eine Weile uͤber dieſen He— lidor, und waren einſtimmig in der Aeuſſerung: Er iſt ein Unchriſt, der bey der Gewaltskraft ſeiner Anlagen, in den tiefſten Unſinn der Sinnlichkeit verſunken, fuͤr das innere, goͤttliche Weſen der Menſchennatur durchaus kei— nen Sinn mehr hat und darum auch die Menſchen und die Menſchennatur wie ſich ſelber verachtet. Er lebt ganz hingegeben in den Gefühlen und Trieben des ſchlauſten, kraftvollſten und gewaltthaͤtigſten der Thiere, die ſich des Tags in Hoͤhlen und Waͤldern verbergen, des Nachts aber in die Thaͤler und Triften einbrechen, den Raub zu

ſuchen.

Das Thun Arners in VBonnal wird feſt beſtehen. Er erheitert ſich taͤglich mehr in ſeinen Fun⸗ damenten. 6

Helidor hatte, ſeitdem er jetzt ſich öffentlich gegen Ar: ners Thun erklaͤrt, auch der Eichenbergerin durch Sylvia ſagen laſſen, ſie habe jetzt nicht mehr noͤthig zu verbergen,

318 4

daß auch er dieſes Narrenweſen von Bonnal mißbillige, mit dem Zuſatz, ſie ſolle nur immer fortfahren, mit gro— ßem Fleiß nachzufragen, was immer daſelbſt begegne und dabey alles moͤgliche thun, daß immer mehr Leute im Dorf ſelber daruͤber ihr Geſpött treiben, und unwillig werden. 5 f

Es gieng indeſſen Gluͤlphi in ſeiner Schule in Bon- nal immer beſſer, und was vorzuͤglich und faſt mehr als der Anfangserfolg ihrer Bemühungen, die freylich faſt im— mer noch einſeitige und beſchraͤnkte Erfahrungen an ihren Kindern waren, das Herz Arners und Gluͤlphis erhob, war, daß ihre Begriffe über dieſen Gegenſtand ſich immer mehr erheiterte. Gluͤlghi ſagte dieſer Tagen einmal zu Arner: ich erfahre in meiner Schule die Wahrheit des Sprichworts: „thu was recht iſt, ſo wirſt du lernen was recht iſt.“ Arner antwortete ihm: dieſes Sprich⸗ wort ſagt im Grund mit dem Bibel-Spruch: „du biſt uͤber wenig treu geweſen, ich will dich uͤber viel ſetzen“ das nehmliche. 1

Sie ſaſſen dieſer Tagen einen Abend allein beyſamen, und gaben ſich uͤber die Fundamente ihres Thuns und über die Folgen, die ſich früher oder fpäter von demſelben für ihr Dorf erwarten laſſen, mit der unbefangenen Of: fenheit Rechenſchaft, in der ſich nur edle, in einem hohen Grad ſelbſtſuchtloſe Menſchen uͤber ihr eigenes Thun aus— ſprechen dürfen. Eine höhere Lobrede über ſich ſelbſt it aber auch wohl nicht denkbar als dieſe Rechenſchaft; aber es iſt auch nicht leicht eine Unſchuld und Seibſſſuchtloſig⸗ keit zu finden, als diejenige iſt, mit der ſie das Licht, das

519 ihnen allmaͤlig über das Weſen ihres Thuns und feiner Folgen in ihnen ſelber aufgieng, ſich gegenſeitig woͤrtlich zum klaren Bewußtſeyn zu bringen ſuchten.

Sie fanden in dem von ihnen anerkannten Grundſatz: „daß es nothwendig fen, die Geiſtes- und Kunſtanlagen „unſers Geſchlechts den hoͤhern, die Sittlichkeit und Re— „ligioſitaͤt deſſelben begruͤndenden, Anſpruͤche des Herzens, „den Anſpruͤchen des Glaubens und der Liebe unterzu— „ordnen“ eine erhabene Uebereinſtimmung ihrer An— ſichten, mit dem weſentlichen Geiſt des. Chriſtenthums und eine unuͤbertreffliche Erläuterung der Worte der Schrift: was nicht aus Glauben geht, das iſt Suͤnde, und die Liebe iſt des Geſetzes Erfuͤllung.

Sie fanden eben ſo in der Anerkennung des Grund— ſatzes: „daß es nothwendig ſey, die Kräfte unſerer Natur ſelbſtſtaͤndig und durch Maßregeln und Mittel zu ent— „falten, die den Bemuͤhungen, dieſe Kräfte anzuwen— „den und zu benutzen, vorhergehen“ das einige, moͤgliche Fundament einer ſoliden Bildung der Kräfte unſers Geſchlechts und der weſentlichen Mittel eines, der Menſchennatur nicht nachtheiligen Erweckens fo wie ei— nes ſie befriedigenden Erwachens der goͤttlichen Gaben der Menſchennatur und zwar eines Erweckens und Er— wachens dieſer Gaben, die mit der Wahrheit und Kraft dieſer Gaben, ſo wie ſie im Menſchen ſelber liegen, in ge— hoͤriger Uebereinſtimmung ſtehen, alſo daß in dem Men— ſchen, dem viel gegeben, auch viel geweckt, und in dem, dem wenig gegeben, weniger erweckt werden muß.

520

Sie fanden ferner, daß die Anerkennung des Grund- ſatzes: „die Maßregeln und Mittel, die zur Ertheilung „und Einübung der Kenntniſſe und Fertigkeiten, die zur „Anwendung der entfalteten Kraͤfte nothwendig ſind, der „Entfaltung dieſer Kraͤfte nachſtehen und immer nur im „Verhaͤltniß des Wachsthums der zu entfaltenden Grund- „kraͤfte gleichſam in ihrer Nachfolge gegeben und einge- „uͤbt werden muͤſſen.“ Das einzige denkbare und kraftvoll wirkende Mittel ſey, der Einſeitigkeit und der Oberflaͤchlichkeit unſrer Zeitkultur, die durch das Ueberge⸗ wicht unſrer Sinnlichkeit uͤber unſer geiſtiges Weſen und unſerer Abrichtungskuͤnſte uͤber unſere Bildungsmittel in unſerer Mitte herrſchend geworden und uns in allen un⸗ ſern Verhaͤltniſſen und Lagen ſo verkuͤnſtelt (nach bizarren Regeln einer falſchen Kunſt verdorben), daß eigentlich der ganze Umfang alles deſſen, was die Einfachheit und Un— ſchuld der Menſchennatur unſerm Geſchlecht allgemein giebt, aber auch fuͤr daſſelbe allgemein anſpricht, in unſerer Mitte feltener geworden als Gold und Edelſteine unter den Daͤ— chern blutarmer Leute.

Eben fo fanden fie in dem Grundſatz: „die Kräfte „der Menſchennatur koͤnnen unſerm Geſchlecht nur durch „das Gleichgewicht, lin welchem fie durch unſere Kultur „unter einander zu ſtehen kommen, wirklich auf das legt: „Ziel der menſchlichen Bildung, auf die Menſchlich— „keit ſelber hinwirken“ den einzigen, wahren Weg zu aller Weisheit des Lebens und zu allem Thun und Laſſen, das uns in Zeit und Ewigkeit zum Segen gerei chen kann. Sie fanden in dieſem Gleichgewicht der menſch⸗

521

lichen Kräfte das einige Mittel zu verhüten, daß die Streb⸗ kraft irgend einer einzelnen Anlage unſers Geſchlechts mit den andern in offene Fehden gerathen und wie Pharaos Kaͤhe in Egypten ſich unter einander ſelber auffreſſen. Arner und Gluͤlphi giengen denn in ihren Abendun— terredungen in das Uenſtaͤndlichere und Beſtimmtere ihrer Schulfuͤhrung hinein und fanden, daß ohne pſychologiſch gereihete und bis zur Luͤckenloſigkeit ausgearbeitete Stufe fenfolgen der Unterrichts- und Bildungsmittel jedes Fachs der zu erlernenden Kenntniſſe und Fertigteiten der Un— terricht und die Bildung zu dieſen Keantniſſen und Fer⸗ tigteiten gleichſam noch ſelbſt in der Luft ſchweben und eigentlich aller wahren Kunſt mangle. Sie erkannten nur da, wo die Unterrichtsmittel irgend einer Kunſt alſo pſy⸗ chologiſch gereihet in der Hand des Lehrers ſich wirklich definden, das Daſeyn der wahren, ihr eigenes, inneres Weſen nicht verlaͤugnenden Kunft, indem es nur durch eine ſolche Kunſt moͤglich if, in Uebereinſckimmung mit den Geſetzen, nach welchen die Menſcheynatur zur Ent⸗ foltung und Anwendung ihrer Krafte ſelbſi hinſtrebt, auch mit Lehr⸗ und Unterrichtsmitteln wahrhaft bildend auf die Menſchennatur einzuwirken und den Saamen unſers Unterrichts und unfrer Lehre in einen Boden zu verſetzen, in dem er mit Hoffnung eines ſichern Erjoigs einwurzeln, entkeimen, wachſen, aufbluͤhen und in ſeiner Frucht zur vollendeten Reifung gedeihen laſſen.

Und wenn fie denn den ganzen Umfang ihrer Beftre: bungen mit feſter Ruͤckſicht auf das ius Aug faßten, was fie von demifelben zu erwarten haben, aber auch mit ern,

Peſt aloszi's Werke. IV. 21

522

ſter, gewiſſenhafter Beherzigung, wie weit fie fih nicht ſelbſt durch Taͤuſchungen, die ſie in Ruͤckſicht auf ihre Wuͤnſche und Hoffnungen in ſich tragen, irr führen koͤnn— ten, ſo kam wenigſtens ſo viel heraus, alles, was ſie vor— haben und wornach ſie hinſtreben, ruhe durchaus auf kei— nen chimaͤriſchen Einbildungen, auf keinen traͤumeriſch— exaltrirten Ideen und phantaſtiſchen Uebertoͤnungen, es ſey auch auf keine Weiſe von ultra philoſophiſchen Bes griffen abſtrahirt, ſondern uͤberall von vornen bis hinten die Sache des gemeinen Menſchenverſtands, vorzüglich aber und weſentlich die Sache der lieben heiligen Noth, die einem jeden guten Menſchen, der ſie nicht recht einfes hen und verſtehen möchte, die Augen darüber recht und genugſam aufthun wuͤrde, wenn er ſich unſchuldiger Weiſe auch nur ſechs Wochen dreh Tag in aller ihrer Wahrheit ſitzend und leidend fuͤhlen wuͤrde; im Gegentheil, das, was fie ſuchen und wornach ſie ſtreben, ſey in einem Aus— fuͤhrungsmittel zehnfach leichier und einfacher, als tauſend und tauſend Sachen, die man taͤglich ausfuͤhre und durch—⸗ ſetze. Wahr fen freylich, das, was fie wollen, ſey eine Sache, die man thun muͤſſe, wenn man fie haben wolle, aber um fie zu thun, brauche es gar keine Hexe— rey, wohl aber einen recht guten, ehrlichen Willen, und einen Grad von Arbeitseifer und Fleiß, der indeſſen doch auch keine Herkules = oder Simſonsſtaͤrke vorausſetze, fon» dern wahrlich noch kleiner ſeyn duͤrfe, als der Fleiß und der Eifer, den man fo oft für armſelige, elende Hoffarts— ſachen anwendet.

Gluͤlphi ſagte daruͤber noch: das groͤßte Gut, das in

325

der Welt mangelt, kommt gewoͤhnlich auch darum nicht zu Stand, weil es ſchwer, ſondern weil es nicht Mode iſt, und niemand gern der erſte ſeyn will, der mit etwas, das das nicht iſt, Spektakel treiben moͤchte. Arner erwiederte dem Gluͤlphi: ich glaube ſelber, es waͤre nichts in der Welt ſo leicht, als das, was wir ſuchen, wenn die rech— ten Modehaͤndlerinnen mit allen Fonds und aller Kunſt, die in ihrer Hand iſt, ſich darein legen und uns darin an die Hand gehen wollten.

Beide, Gluͤlphi und Arner, mußten ob den ihnen man- gelnden Modehaͤndlerinnen lachen, und Gluͤlphi ſagte noch: es iſt auch mit dem Boͤſen, das in der Welt iſt, eben wie mit dem Guten. Die nehmliche Sache mangelt. Hun⸗ dert und hundert Land- und Leutverderbliche Dinge ge: ſchehen in der Welt gar nicht darum, weil die Leute, die fie thun, eigentlich eine vorzuͤgliche Neigung dazu haben, ſondern weil er die, ſo ihnen gleich und ihre Kameraden find, es auch thun, und hie und da ſogar der eine und der andere von ihren Obern es auch gern hebt, furz, weil es Mode iſt. a

524

Ri ah

Ein nichts entſcheidender Wink über die Frage: „hat das Jagdrecht und das Menſchenrecht „ein gleiches Fundament?“

In den Tagen, in denen Gluͤlphi mit Arner die Grund⸗ ſaͤtze und Anſichten feiner Schulfuͤhrung ins Aug faßte, erhielt Arner von Bplifsky einen Brief, darin er ihm für ſeine Nachrichten von Bonnal dankte und ihn dringend bath, ihm umſtaͤndlich zu berichten, wie er in feinen wich tigen Zwecken vorruͤcke. Er bedaure, daß er ihm nicht Hoffnung machen koͤnne, in feiner, für den Staat fo wich- tigen, Unternehmung von Hof aus unterſtuͤtzt zu werden. Helidor treibe den letzten Heller zu Narrheiten auf, die beym tuͤrkiſchen Kaiſer nicht mehr aſiatiſch roh und nicht mehr aſiatiſch geldfreſſend ſeyn koͤnnten, die ſich aber auch auf ein armes, deutſches Land ſchicken wie Bierſuppe ne— ben tuͤrkiſchem Kaffee und arabiſchem Rauchwerk. Seitdem dieſer Mann, ſchrieb Bylifsky, dahin gekommen, daß alles durchgeht, was er will, ſo geſchieht von dem, was eigent— lich dem Land noth thut, ſo viel als nichts; freylich wenn etwa wilde Schweine oder Woͤlfe in eine Herrſchaft des Lands einfallen und ein paar Aecker umwuͤhlen oder ein paar Schafe wegſchleppen, ſo werden auf der Stelle von der Jaͤgerkammer fuͤrſtliche Jaͤger auf die Herrſchaft, wo dieſer Schaden geſchehen, hingeſchickt, dieſe Thiere auszu— roiten, und es wird gar nicht der Herrſchaft oder den

. 525 herrſchaftlichen Jaͤgern uͤberlaſſen, hiefuͤr Vorſehung zu thun; aber wenn Leute im Land, wie deines Großvaters Hummel, ganze Doͤrfer zu Grund richten, Wittwen und Waiſen zu hunderten um das ihre und arme, verfuͤhrte Leute auf das Schaffot bringen, ſo bringt bey uns keine fuͤrſtliche Kammer dergleichen Jaͤger auf die Beine, um das Land von groͤſſern Unthieren zu reinigen, als Wölfe und wilde Schweine ſind. Doch, lieber Arner! es iſt vielleicht noch gut, daß unter unſern Umſtaͤnden von oben herab nicht gegen alle Uebel, unter denen das Land leidet, ſolche Jager auf die Beine gebracht find und im Land herum jagen. Jaͤger find Jaͤger, und was von ferne her⸗ kommt, kennt Steg und Weg im Land nicht ganz gut, und lebt gewöhnlich nicht ganz heimelig (heimathlich, freundnachbarlich) mit den Leuten, an deren Thuͤren er klopft, und unter unſern Umſtaͤnden konnte noch Schlim— meres daraus entſtehen, als in Steg und Weg verirren und unfreundlich an fremden Hausthuͤren anzuklopfen. Lieber Arner! Ich bin mit jedem Tag mehr uͤberzeugt, die hoͤchſte Huͤlfe, die gegen die am tiefſten im Land ein— gewurzelten Uebel moͤglich, ſind einzig von der Erziehung zu erwarten. Unſer in ſeinem Innerſten unausſprechlich edle Fuͤrſt hat an Mitteln anderer Art, dem Volk zu hel— fen, den Kopf ſo hart angeſtoſſen, daß ſein edler Sinn jetzt, wenn er auch nur ein Wort von dieſem Gegenſtand hoͤrt, nur an ſeine Wunde am Kopf fuͤhlt und die ſen ſo— gleich auf die Seite kehrt. Es iſt moͤglich, und Gott geb' es, daß einſt deine Ver ſuche ein Großes beyt ragen wer: den, feine diesfaͤlliſe Verwundung zu heilen; aber fie

326

muͤſſen weiter getrieben und ihrer Vollendung näher ge⸗ bracht werden, ehe an das zu gedenken iſt. Jetzt möchte ich fuͤr alle Welt nicht ein Wort davon bey ihm fallen laſſen; es würde ihn in feinem Innern über dieſen Ges en nur noch mehr verwirren, und noch ungluͤcklicher machen, als er jetzt ſchon iſt. Aber daß es einſt geſchehen und mit Erfolg geſchehen wird, iſt mein inniger Troſt, und in meiner Lage meine einzige Hoffnung. Ob, daß es dir gelinge! lieber, lieber Arner! wie weit langt dein Thun, aber wie viel braucht es, damit in einem Land nicht zu ſcheitern, in dem der Fuͤrſt unter den Truͤmmern von Verſuchen zu ähnlichen Zwecken felber erlegen und jetzt von dem göttlichen Bild ſeiner alten Zwecke nichts mehr ſieht als das Bild ihrer Verheerung und ihres Miß⸗ lin. gens, wie es ihm ein Helidor vor Augen zu ftellen ver⸗ mag. Ich fürchte von dieſem Mann alles für deine Zwe— cke. Du und deine Freunde ſind einfaͤltig wie die Tauben, aber werdet Hug. wie die Schlangen. Es thut noth, wahrlich es thut noth, es thut fehr noth. Ich weiß es.

Bylifsky.

527

9. 78.

Richtige Anfichten über die Volkserziehung und uͤber die Armenverſorgung machen viel fragen über das Jagdrechte und über die Menſchen—⸗ rechte uͤberfluͤſſig. |

Arner hatte fein weitlaͤufiges Schreiben, darin er ihm von der letzten Unterredung mit Gluͤlphi uͤber den Erfolg ſeiner Schule Nachricht gegeben, und die Grundſaͤtze und Anſichten, darauf ſie ihre diesfaͤllige Hoffnungen bauen, mit umſtaͤndlicher Beſtimmtheit eröffnet, ſchon ehe er By— lifsky's Brief erhalten, vollendet vor ſich liegen; aber als er diefen empfangen und gelefen, fagte er zu ſich ſelber: es ſcheint, Bplifsky ziehe auf der Bahn unſerer Verſuche weiter, als er uns bisher geſagt hat und als wir das ſel— ber thun. Fuͤr einmal traͤume ich mit meinen Verſuchen nichts, als was ich thun muß, um ein braver, gewiſſen— hafter Vater an meinen Herrſchaftsangehoͤrigen ſeyn und bis an mein Grab bleiben zu koͤnnen. Gluͤlphi, das ſehe ich, traͤumt mit ſeinem Thun ſchon etwas weiter; aber mir ſchwindelt der Kopf, wenn ich auf einem hohen Thurm ſtehe. Ich will mich in keine Traͤume von Welt— und Staatenverbeſſerungen vertiefen; wenn ſo etwas reif iſt, ſo kommt es von ſelbſt. Lachend ſagte er zu ſich ſel— ber: ich will lieber neben dem Baumwollenmeher und ſeiner Schweſter im Pfarrhaus uͤber mein Bonnal Rath halten, als der Rath des Herrn Miniſters Bylifsky's wer—

528 den und mir in ſeinem Cabinett mit ihm den Kopf uͤber den Wirrwar ſeiner Staatsangelegenheiten zerbrechen.

Der Brief, den er an Bylifsky vollendet, freute ihn indeſſen jetzt doppelt, und er ſetzte demf. ben noch als Poſt⸗ feriptum hinzu: Lieber Bylifsky! Dein Brief hat mich gefreut, du lebſt im Staat fo voll Ernſts, fo voll Sor⸗ gen, als ich in meinem Winkel; aber mir ſchwindelt vor den Hoͤhen, in denen du lebſt. Ich moͤchte mir nicht ein⸗ mal träumend den Kopf darob zerbrechen. Gradſinnig thue ich auf meinem Winkel, was mir recht Scheint und laſſe die Folgen ſaſſer wein em Kreis dem über, der alles leitet. So darf und will ich fuͤr einmal noch in meiner Tauben⸗Einfalt leben, un denken, ich habe noch ine Schlangen-Klugheit noͤthig. Vielleicht aber findeſt du in den Grundſaͤtzen meines Briefs hie und da etwas, das dir zeigt, wir finden zum Theil doch auch ohne Schlan— gen⸗Klugheit Wege, etwas vorwaͤrts zu ruͤcken oder we— nigſtens zu deutlichen Begriffen und zu einem ſichern Bo— den, auf dem wir fortarbeiten wollen, zu kommen. Mein Brief giebt dir hieruͤber ſo viel Aufſchluß als nur moͤg— lich, und es freut mich, daß ich ihn gleich nach Empfang des deinigen abſenden kann. Du ſiehſt wenigſtens daraus, daß er nicht eine lang und wohluͤberlegte Antwort auf meines Herrn Minißſers Hoffnungen, Sorgen, Bedenten ze. ꝛc. angeſehen werden muß.

Dennoch zeigte Arner Bylifsky's Brief ſogleich feinem Gluͤlphi. Dieſer las ihn mit Aufmerkſamteit durch und ſagte dann zu Arner: es iſt doch gut und mir ganz recht und erfreulich, daß Bylifsky unſer Thun in einem weiler

529

fuͤhrenden Geſichtspunkt ins Aug faßt. Wenn wir jetzt ſchon mit demſelben in einem unbekannten Dorfwinkel vergraben ſind, ſo kann doch niemand eigentlich wiſſen, wie weit und wohin es eigentlich führen wird. Fuͤr ein- mal mag ich mich nicht einmal ſelber dem Traͤumen dar⸗ uͤber uͤberlaſſen.

9. 70.

Gluͤlphis Hochflug zur Begeiſterung uͤber ſein Schulmeiſterweſen in einer ſchlafloſen Nacht.

Es iſt aber nicht wahr, er traͤumte daruͤber mit der ganzen Kraft, die in ſeinem Geiſt und in ſeinem Herzen lag.

Die Unterredung, die er vor wenig Tagen mit Arner uͤber die Grundſaͤtze, Mittel und Folgen ſeiner Schulfuͤh— rung gehabt, fuͤhrte ihn mit aller Gewaltſamkeit, die in ſeinem Character lag, zu einer hoͤhern Anſicht ſeines Thuns. Jemehr er den Inhalt dieſer Unterredungen ſich ſelbſt wie— derholte und uͤberlegte, je mehr uͤberzeugte er ſich, daß es nicht nur moͤglich ſey, die Grundſaͤtze und Mittel der Er⸗ ziehung, die Gertrud in ihrer Wohnſtube eingefuͤhrt, all— gemein in den Schulſtuben des Landes anzuwenden und zu benutzen, ſondern daß es ſogar moͤglich fen, durch ihre

550

Anwendung in den Schuler auf die Verbeſſerung und Veredlung der haͤuslichen Erziehung zuruͤckzuwirken [und durch gebildete Schulkinder dieſe Grundfüse und Mittel in den Wohnſtuben des Volks anzuwenden und in Aus— uͤbung zu bringen. Er achtete die Erreichung dieſes Ziels für das Hoͤchſte, nach dem man Volksbildungs- und Na⸗ tionalfulturhalber ſtreben koͤnne, und wie ein Held der Schlacht, in der er ſiegen wird, ihr oft im Traum von ihr voreilt und den Glauben an den zu echaltenden Sieg ſich nicht aus dem Kopf bringen kann, bis er die Schlacht ſelber gewonnen, ſo eilte jetzt Gluͤlphi mit dem Traum von den Siegesfolgen ſeines Thuns dem Kampf weit vor— aus, den er zu beſtehen hatte, ehe von dieſem Sieg als von einer wirklich geſchehenen Thatſache reden konnte. Wenn er den Tag uͤber von den Anſtrengungen ſeiner Bemuͤhungen nicht ſchlafen konnte, ſo traͤumte er ſich ſchlummernd die großen Folgen, die aus ſeinen Bemuͤhun— gen entſtehen konnten, mochten und ſollten. Vor allem aus war er von den Folgen, die das Auslernen (vollens dete Erlernen) alles deſſen, was die Kinder in den Schu— len lernen muͤſſen, auf das Volk haben muͤſſe, ergriffen. Er traͤumte ſich den Vorſchritt des Segens von Haushal⸗ tungen, in denen die Mutter alle Anfangsgruͤnde des Re— dens, Leſens, Schreibens, Zaͤhlens, Meſſens und Zeichnens ſich ſo eigen gemacht haͤtten, daß ſie ihre Kinder von der Wiege auf zu allem dieſem ſtuffenweis ſelbſt anfuͤhren könnten. Er traͤumte ſich den Zuſtand eines Volks, in welchem die Grundkraͤfte der Menſchennatur alſo allgemein elementariſch entfaltet und das Gefühl, dieſe Kräfte in

551

jeder Art Kunſt und Beruf mit gefegnetem Erfolg an-,

wenden zu koͤnnen, in dem Grad allgemein geweckt und belebt worden, zu welchem die rein erhaltenen und zu ei— ner merklichen Vollendung gebrachte Mittel der Elemen— tarbildung der Menſchennatur dieſe Kraͤfte zu erheben ge— eignet ſind. Er traͤumte ſich den Zuſtand eines Volks, in dem dieſe Entfaltung des Geiſtes und Kunſtkraͤfte unſrer Natur durch die Segens mittel des haͤuslichen Lebens und der Wohnſtube alſo in Glauben und Liebe unter ſich fel- ber vereinigt und dadurch zur hoͤchſten innern Erhebung der Menſchennatur geeignet erſcheinen. Hoch erhob ſich ſein Herz, wenn er in dieſem Traum den Umfang der Mittel ins Aug faßte, die er zur Anbahnung der Muſter⸗ ſchulen, deren Geiſt zu dieſem Ziel führen koͤnnte, in ſei— ner Hand hätte und in ſeine Hand bringen konnte. Er

traͤumte ſich tauſend und tauſend Dinge, die, wenn ſolche

Probſchulen einmal zu ihrer Reifung gediehn, zum Wohl ſeiner Mitmenſchen ausgefuͤhrt und durchgeſetzt werden koͤnnten. Er traͤumte ſich, wie tauſend und tauſend Men— ſchen, die jetzt noch Über die Gegenſtaͤnde, die er zu erzie— len ſuche, ganz gleichgültig feven, dann zumal, wenn fol- che Probſchulen ſo weit vorgeruͤckt, als er nach ſeiner je— tzigen Ueberzeugung gewiß war, damit vorrücken zu fon- nen, mit dem belebteſten Eifer daran Theil nehmen wer— den. Er traͤumte ſich, wie es ihm bey dieſem Erfolg denn leicht werden koͤnne, durch ſeine Schulkinder ſelber Einrich⸗ tungen und Anſtalten zu treſſen, den Segen ſeiner Beſtre— bungen in Bonnal denn noch weiter auszudehnen, als es ihm jetzt noch durch feine beſchraͤnkten Schuluͤbungen nicht

/

552 moͤglich fey. Er traͤumte ſich, wie leicht es ihm in kurzer Zeit moglich werden muͤſſe, in Bonnal neben feiner Schule ein Kinderhaus zu eröffnen, darin arme Mütter, die die Noth⸗ durft des Lebens von der Seite ihrer Kinder wegreißt, daß fie den Tag über ihren Geſchaͤften nachgehen, ins Feld hinaus und an den Taglohn muͤſſen, denn ihre noch nicht ſchulfaͤhigen Kinder in dieſe Stube hineinbringen und den Tag über darin beſorgen laſſen konnten. Er träumte ſich, was fuͤr eine himmliſch ſchoͤne und bildende Uebung das für feine aͤltern Schulmaͤdchen ſeyn werde, der Reihe nach dieſe Kinder den ganzen Tag uͤber in allem Noͤthi— gen zu verſorgen und ſich ſelder die Art und Weife ein— zuuͤben, wie dieſes geſchehen muͤſſe und wie die Anfangs— punkte der ſittlichen, geiſtigen und Kunſtentwickelung fuͤr dieſe Kinder in ihrer erſten Einfachheit ergriffen und fuͤr ihre Bildung von der Wiege auf benutzt werden koͤnnten. Halbwachend, halbſchlafend fagte er denn in dieſen Traͤu— men zu ſich ſelber, wie gern giebt der Junker das Mehl, die Milch und das Holz, das eine ſolche Stube fordert, der Unmündigkeit ſeines Volks! Er ſagte am Morgen nach dieſer ſchlafloſen Nacht ſelber, es ſey ihm einmal in dieſem ſtaunenden Traͤumen uͤber die moͤglichen Folgen feines Thuns zu Sinn gekommen, eine ſolche Noth- und Huͤlfskinderſtube fuͤr die armen Leute, die wegen ihrem Taglohn oder wegen ihren Frohndienſten den Tag uͤber ihre Wohnſtuben beſchlieſſen muͤſſen, wuͤrde kaum den zehenten Theil ſo viel koſten, als ein mit einigen Pferd— zuͤgen wohlbeſtellter herrſchaftlicher Stall und kaum ſoviel

555 als eine gut befegte Jagdmeuthe *) ſelber einen halbar- men Edelmann koſſet. Er ſah den Umfang der Folgen, die eine ſolche muͤtterliche Beſorgungsſtube auf Bonnal und auf jedes Dorf, darin dieſelbe gut eingerichtet wuͤrde, haben muͤßte, und war zum voraus des Eifers verſichert, mit dem Thereſe, die Frau Pfarrerin, Gertrud und die vereinigte ſonntaͤgliche Obſorg-Geſellſchaft des Dorfs, ſich dieſer Kinderſtube annehmen werden. Er traͤumte ſich denn auch neben dieſer Stube noch eine zweyte, darin er den vorgeruͤckten Knaben ſeiner Schule, eben wie den Maͤdchen, Gelegenheit geben koͤnne, den maͤnnlichen Dorf— kindern dieſer Stube zur allmaͤligen Entfaltung derjenigen Fertigleiten behuͤlflich zu ſeyn, die eine groͤßere Anſtren— gung der Kräfte erfordern und für die männliche Erzie- hung nothwendig find. Hauptſaͤchlich aber erhob er fein Herz, in dieſer ſchlafloſen Nacht, dem Gedanken nachzu⸗ haͤngen, wie er durch die ſichern Reſultate ſeiner Schule und beſonders durch diejenigen, zu denen ihm die elemen— tariſch geordneten Uebungen der Zahl- und Formlehre hin⸗ führen, dahin gelangen konnen, Kinder, die ihr Schöpfer mit ausgezeichneten Talenten verſehen, zum Selbſtgefuͤhl ihrer Kraͤfte zu erheben und dahin zu bringen, alles Moͤg⸗ liche zu verſuchen, ſich zu einer ihrer Anlagen angemeſſe⸗ nen Ausbildung, Lebenstüchtigkeit und Lebensthaͤtigkeit fort⸗ zuhelfen. Er ſtellte ſich die Menge der ihm bekannten Beyſpiele vor, wie einzelne, von Gott alſo mit vorzuͤgli— chen Talenten degabte Menſchen in verſchiedenen Staͤn—

„) Stall von Jagdhunden.

554 den und Berufen es fo oft dahin gebracht, ihrem Vater⸗ land und ihren Mitbuͤrgern zum hohen Segen zu werden und ihnen ſelbſt noch nach ihrem Tode bleibende Denk— maͤler einer edeln und wunderbaren Anwendung ihrer vor— zuͤglichen Talente zu hinterlaſſen. Es jammerte ihn, zu ſehen, wie ſehr dieſe Aufmerkſamkeit auf ſolche vorzuͤgliche Talente im Volk, und beſonders in der häͤlfbedͤrftigen Tiefe des niedern Volks in unſern Tagen allgemein mangle, und wie wenig in feinem Vaterland eingerichtet ſey und gethan werde, um ſolchen Individuen eine, ihrer hoͤhern, von Gott empfangenen, ausgezeichneten Gaben, verhaͤlt⸗ nißmaͤßige Handbiethung fuͤr den Gebrauch und die An— wendung ihrer Gaben zum Dienſt Gottes zu verſchaffen. Es war ſeine Ueberzeugung, daß ſolche Individuen wegen ihrer ausgezeichneten Gaben von der Menſchlichkeit und Menſchenfreundlichkeit ihrer Mitbruͤder von Gotteswegen und alſo mit Recht zu erwarten haben ſollten. Um fo mehr erhob es denn ſein Herz, in den ſichern Reſültaten feines Thuns, tiefe, weſentliche Huͤlfsmittel hiefuͤr zu fin« den und vorauszuſehen, wie gewiß es ipm bey dem In⸗ treffe, welches Arner, Bylifsky und durch ihn ſo mehrere edle und gebildete Männer der Hauptſtadt an feinen Bee firebungen nehmen werden, leicht ſeyn muͤſſen, ſich ein paar hiefur faͤhige junge Männer zu verſchaffen, die mit ihm vereinigt dahin arbeiten wuͤrden, einige ganz ausge⸗ zeichnete talentreiche Knaben und Mädchen ihren Ialen« ten gemäß hierin zum Dienſt des Vaterlandes weiter zu, führen und vorzuͤglich zu Erziehern und Erzieherinnen zu: bilden, und zwar auf eine Weiſe und mit einer Sorgfalt,

-

555

durch die ſie alles das genieſſen wuͤrden, was geeignet iſt, fie dahin zu bringen, daß fie auf der einen Seite als Bey— ſpiele vollendet gebildeter Fertigkeiten des haͤuslichen Le— bens daſtehen, auf der andern Seite zu einer hohen Rei— fung in allem dem gelangen wuͤrden, was ſie in Ruͤckſicht auf elementariſche Geiſtes- und Kunſtbildung fuͤr ihre Be— ſtimmung zu wiſſen und zu koͤnnen nothwendig haben. Er glaubte in dieſem Traum die Anbahnung einer we— ſentlichen Volkshuͤlfe zu finden, deren wir nach ſeiner Anſicht dringend beduͤrfen, die ihm aber auch nach eben dieſer Anſicht auf keine andere Weiſe zu erzielen moͤglich ſchien. Er faßte in dieſen Trauerſtunden beſonders den Geſichtspunkt ins Aug, daß alle Grundſaͤtze der Menſch »- bildung und alle Fortſchritte der Erziehungskunſt umſonſt, daß fie wie in den Tag hinein gegeben ſepen, und wie in der Luft daſtehen, ſo lange nicht Anſtalten da fepen, in denen eine bedeutende Anzahl von Juͤnglingen und Maͤd— chen zu einer vollendeten Kenntniß und Ausuͤbungs-Kraft des ganzen Umfangs der aͤchten Grundſaͤtze der Menſchen— bildung, und der vollendeten Mittel der Erziehungs-Kunſt erzogen und gebildet werden. Die Erreichung dieſes Ziels ſchien ihm um ſo wichtiger, da nach ſeiner Behauptung im ganzen Umfang dieſes Welttheils, in welchem fuͤr die Erlernung jeder Wiſſenſchaft und jedes auch noch ſo un— bedeutenden Erkenntnißfaches faſt zahlloſe und gewiß viel überflüffige Anſtalten, Lehrmittel, Methoden und Lehrſtuͤhle daſteh , hingegen für eine mit practifchen Fun— damenten verbundene Erziehung, auf die reellen Funda— mente der Volksbeduͤrfniſſe und auf die tiefern Rechtsan⸗

*

4 556 ſpruͤche der Menſchennatur berechnete Lehrſtuͤhle ſehr we— nige und in ſeinem Vaterlande gar keine aufzufinden ſeyen. ; Diefer Umſtand ſchien ihm um fo mehr auffallend, oder, wie er ſich ausdruͤckte, ſogar allen Glauben uͤberſtei— gend, weil bey der allgemeinen, aufs aͤuſſerſte getriebenen Verfeinerung unſrer Civiliſationsverkuͤnſtlung und dem mit demſelben fo innig verwobenen Uebergewicht der thie— riſch ſinnlichen Tendenz unſerer Natur uͤber unſere ſittliche und geiſtige Kraft in dem guten Zuſtand der Volksbildung das einige allgemeine und tief genug wirkende Mittel ge- gen dieſes böfe Uebergewicht zu ſuchen und zu finden ift. Er glaubte nehmlich, dieſes Uebergewicht der thieriſch-ſinn⸗ lichen Tendenz unſers Seyns und Thuns ſey nicht blos innig mit dieſem Raffinement unſerer Verkuͤnſtlung ver— woben, ſondern gehe mit der ganzen Kraft ſeines tief grei— fenden Verderbens weſentlich von demſelben aus und fey in den allgemeinen ſittlichen, geiſtigen und Kunſtzuſtand unſers Geſchlechts ſoweit eingreifend, daß unter dieſen Um— ſtaͤnden ſelber alle wiſſenſchaftliche und Kunſtbildung un— fers Geſchlechts, mit dem ganzen Umfang ihrer Anſtalten, Lehrmittel, Lehrſtuͤhle und Methoden zu allgemein miß⸗ brauchten Dienſtmitteln unſers Vertünſtkungsverderbens herabſinken und ſeiner thieriſch-ſinnlichen Tendenz unter⸗ liegen muͤſſe. Er war auch nach ſeiner dies faͤlligen An⸗ ſicht ganz uͤberzeugt, daß er nur durch einen tief in das Weſen der Menſchennatur eingreifende und die Reiaheit und Höhe unſers innern göttlichen Weſens mir tiefer Kraft ergreifende und belebende, höhere Erziehungstunſt und

557 Nationalbildung fen, durch welchen es moͤglich gemacht werden koͤnnte. Der offenbar immer wachſenden Tendenz 1 5 Zeitgeſchlechts zum Uebergewicht unſerer Sinnlich— keitsanſprüͤche uͤber unſern ſittlichen und Ae Schranken zu ſetzen. N

*

. 80.

Laͤßt ſich das Miniſterium des Erziehungsweſens und des offentlichen Unterrichts mit dem Kriegsminiſterium und demjenigen der Finanz und Polizey verglichen? und wenn das nicht der Fall iſt, wo liegt die Urſache davon? liegt ſie in der Menſchennatur, liegt ſie im Erziehungsweſen? oder wo liegt ſie?

Er ſagte in dieſen Traͤumerſtunden, das Daſeyn eines Erziehungsminiſteriums, das bald in keinem Staat von Europa mehr mangelt, beweist, daß man in demſelben dieſe wahre Lage der Dinge, wenn man ſie auch nicht volltommen deutlich einſiehn, doch anfängt merklich zu ah: nen. Dieſes Miniſterium ſteht in ſeinen aͤuſſera Formen allenthalben da, wie wenn die Angelegenheiten der Men—

Peſtalozzi's Werke. IV. 22

538

ſchenbildung und der Volkserziehung in allen Reichen eben wie die Angelegenheiten der Armee, der Finanz und der Polizey, vom Thron aus bis in die nicderfien Hätten hinab, in ihrem Geiſt und in ihrer Wahrheit organiſirt, conſtituirt und in Einſicht, Kraft und Mitteln ſoweit in Ordnung gebracht daſtuͤnden, als es die weſentlichen Zwecke eines ſolchen Miniſteriums erfordern. So ſollte es freylich allenthalben ſeyn; ob es aber wirklich ſo ſey, das weiß ich nicht. Ich kenne mich diesfalls nur in unſerm Herzogthum, das mein Vaterland iſt, aber ich darf in Ruͤckſicht auf dieſes Land fo wie auf jeden, auch mir une bekannten, Staat dennoch ausſprechen: ein Miniſterium der Erziehung in einem jeden Reich, in deſſen ganzen Umfang keine einzige, der Erforſchung und Erziehungs— kunſt geweihte, Anſtalt und kein einziger, öffentlicher Lehr⸗ ſtuhl dieſer Will enſchaft zu finden iſt, ſteht wie ohne Haͤnde und Fuͤſſe im Reich da und muß in jedem Fall dieſen Mangel an Hand’ und Fuͤſſen in dem Grad viel— ſeitiger und ſchneller fühlen, als es mit guten Köpfen be— ſetzt iſt und einen reinen, a Willen und wahre Liebe zum Volk hat.

Fortdauernd in dieſem Traumgeſicht herumſchweifend, ſtand ihm klar vor ſeinen Augen, wie ſehr die Erzielung ſeiner Ahnungen, Hoffnungen und Ausſichten fuͤr die Ver— beſſerung des haͤuslichen Zuſtands des Volks von dem all— gemeinen Erfolg von Bildungsanſtalten fuͤr Erzieher und Erzieherinnen angebahnt, befoͤrdert und auf eine Weiſe beynahe geſichert werden koͤnne. Das Bild einer ſolchen Anftalt erhob ſich in ihm zu einer Lebendigkeit, die ihn

7 ö 359

faſt verſchlang. Er hielt beynahe dafür, der ganze Welt— ſegen der Kultur concentrire ſich in dem, was durch dieſe Idee geſucht werden muͤſſe und erzielt werden koͤnne. Alle andere Gedanken verſchwanden beynahe jetzt in ihm vor der Gewalt, mit der feine Seele von allem ergriffen wur— de, was er glaubte, das ihm uͤber das, was ſolche Anſtal— ten brauchen, vorausſetzen und nothwendig haben, ſowie auch uͤber das, was ſie, wenn ſie dieſes alles beſaͤſſen, leiſten koͤnnten, Licht ertheilen und Kraft geben koͤnnte.

J. 81.

Betteley, Reichthum und Mittelſtand in ihren Ur— ſachen und Folgen, mit dem Reſultat in me- dio lutissimus ibis.

7

Ein Gedanke, der ihm uͤber dieſen Gegenſtand vor allem aus wichtig ſchien und ihn ſehr beſchaͤftigte, war dieſer, die Zoͤglinge zu ſolchen Anſtalten müßten aus dem in unſern Tagen ſo ſehr zuruͤckgeſetzten, leidenden, ver— armten und hie und da ſelbſt beynahe zur Entehrung ver— ſuntenen Mittelſtand gewaͤhlt und herausgenommen wer⸗ den. Große Lebenserfaͤhrungen hatten ihn überzeugt, das

540

Perſonale zu ſolchen Lehrern und Lehrerinnen finde ſich nicht leicht in irgend einem andern Stand. Er mußte zu ſich ſelber ſagen: der eigentliche Bettler habe allgemein eine aufferft belebte Neigung, mit jedem Almoſen, den man ihm giebt, ſo geſchwind als moͤglich davon zu laufen und den Mund voll, den er davon bekommt, eben ſo ſchnell ins Maul zu ſtoßen und hinunterzuſchlucken, und zwar in einem Winkel, der ihm hiefuͤr ſelbſt am bequem⸗ lichſten ſcheine. Er fand uͤberhaupt, daß das Bettelvolk im allgemeinen die Wohlthaten, die es bekommt, ſinnlich ſelbſtſuͤchtig und als zu nichts weiter fuͤhrende Augenblicks— erquickungen mißbraucht, und hinwieder, daß dieſes Volk im allgemeinen weder Ehrliebe, noch Selbſtuͤberwindung, noch irgend eine Art von menſchlichem Hoͤherſtreben in fi) ſelbſt trage. Schon das ſieben-, achtjaͤhrige Bettel— kind, mußte er zu ſich ſelber ſagen, traͤgt gemeiniglich ei— nen aͤuſſerſt belebten Saamen ver niedertraͤchtigſten Selbft- ſucht, des Neids, der Falſchheit, der Gierigkeit und Ges waltthaͤtigkeit, kurz des Sanscuͤlottismus in der innerſten Tiefe feiner ſelbſt. Dieſe Erfahrungen überzeugten ihn alſo, daß das Perſonale zu ſolchen Erziehern und Erzie— herinnen durchaus nicht in der niederſten Tiefe des Volls geſucht werden müffe.

Aber ebenſo zwangen ihn groſſe und lange Erfahrun— gen ſeiner Lebenstage, es auch geradezu auszuſprechen: das Kind des Reichen, das im Verkuͤnſtlungsverderben der Zeit der thieriſch-ſinnlichen Tendenz unferer Natur unter» liegend die Mittel, die der Reichthum, dieſe thieriſch-ſinn— liche Tendenz zu befriedigen, an die Hand giebt, von der

541

Wiege auf kennen, fühlen, und ſich dadurch guͤtlich zu thun gelernt hat, iſt trotz der großen Verſchiedenheit, in der es in feiner aͤuſſern Erſcheinung gegen das Bettellind daſteht, dennoch in ſeinem innerſten Weſen mit ihm auf eine Weiſe gleichgeſtimmt, die, wenn man fie näher au ſieht, auffallend heiter wird, aber auch wegen dem aͤuſſern Anſchein der Ungleichheit beym erſten deutlichen Erkennen der Sache Erſtaunen erregt. 5

Zudem mußte er auf das Fundament eben dieſer gro— ßen Lebenserfahrungen zu ſich ſelber ſagen: die Kinder der Reichen uͤberhaupt und auch diejenigen, von denen man es eigentlich gar nicht ſagen kann, daß ſie der thie— riſchen Tendenz unſerer Sinnlichkeitsverkuͤnſtlung eben be— ſonders unterlegen, ſind dennoch im allgemeinen der Fer— tigkeiten der Selbſthuͤlfe, der ausharrenden Anſtrengung und der anhaltenden Thaͤtigkeit und Ueberwindungskraft nicht gewohnt, welche die Kinder, die mit vernuͤnftiger Hoffnung eines geſegneten Erfolgs zu Erziehern und Erzie— herinnen und beſonders zu Volkserziehern und Volkserzie— herinnen ſollen gebildet werden, vorausgeſetzt werden muͤſ— ſen, indem ohne ſichere Erzielung der Reſultate dieſer Kräfte die Bildung für ihren Zweck ſchon zum voraus als verfehlt angeſehen werden muß. Zu dem kommt noch, daß von dem im Zeitgeiſt unfrer Verkuͤnſtlung eingeweih— ten, reichen Eltern unter hundert, neun und neunzig zu ſchwach und zu verblendet ſind, um, wenn ſie auch ein Dutzend Kinder haͤtten, ein einziges derſelben einer Anſtalt anzuvertrauen, die ſolche Anſpruͤche an das Recht der Gr. ziehung und der Erzieher machen würde, Es iſt ficher,

542 von hundert ſolchen Eltern würde nicht ein einziges paar ſich dahin erheben koͤnnen, zu denken und zu glauben, daß in einer ſolchen Anſtalt fuͤr ihr Kind ein Heil zu ſuchen fey.

J. 82.

Fernere Belege von der Wahrheit des Wahl— ſpruchs: in medio und ſeine Anwendung auf die Moglichkeit der Anbahnung und Durchfuͤhrung einer ernſt und redlich gemeyn— ten Volkserziehung und Nationalcultur.

Von dieſer Anſicht ergriffen, ſprach er in dieſer Traum— nacht mit Lebendigkeit aus: im Mittelſtand iſt Kraft im Mittelſtand muß man ſuchen, was Kraft will und was Kraft hat; und dachte ſich dann die Moͤglichkeit, durch Bildungsanſtalten, in denen aus dieſem Stand aus— geſuchte Kinder von ausgezeichneten Geiſtesgaben und Her— zensanlagen zu Erziehern und Erzieherinnen gebildet wuͤr— den, eine wohlthaͤtige und erhebende Ruͤckwirkung auf die— ſen Stand ſelber anzubahnen und durch den Umfang der Bildungsmittel, die ſich aus ſolchen Anſtalten ergeben wuͤrden, dem fuͤrchterlichen Zuſtand dieſes, in ſo vielen Staaten bis zum Verſchwinden verſunkenen, Stands wie— der aufzuhelfen.

249

Dieſer Geſichtspunkt war ihm unausſprechlich wichtig. Er wußte, daß der Mittelſtand von jeher als der Kern aller Staaten und aller Staatskraft angeſehen worden iſt, und wenn je jemand von der Wahrheit und dem Recht dieſer Anſicht uͤberzeugt war, ſo war er es, und fand zu— gleich das Beduͤrfniß, dem weitern Verſinken dieſes Stands in unſerm Welttheil weſentlich, kraftvoll und ohne Saͤum⸗ niß Einhalt zu thun, um ſo mehr dringend, als es nach ſeiner Ueberzeugung ſeit der Entſtehung der Staaten die— ſes Welttheils noch nie der Fall war. Er ſagte nehmlich, und es war ſeine Ueberzeugung, unſer Welttheil falle mit jedem Tag mehr in die Hand der Maͤkler, und ſpreche dadurch fein diesfaͤlliges Beduͤrfniß in dieſer Stunde lau— ter und beſtimmter ſelbſt aus, als dieſes, ſo lange Euro— pens Staaten beſtehen, vielleicht noch niemals geſchehen.

Mitten in dem Traumgeſicht dieſer Nacht, die ihn ſo weit uͤber die Grenzen ſeiner Kraft und uͤber das Ziel ſei— nes Lebens hinausfuͤhrte, war ſeine Ueberzeugung feſt, und er ſprach ſie mit heiterm Bewußtſeyn in ſich ſelbſt aus: eine Volksbildung, die aus Erziehungsanſtalten hervorge— hen wuͤrde, die in der Einfachheit der Wohnſtube der Ger— trud zu einer kraftvollen Ausbildung der Fertigkeiten des haͤuslichen Lebens hinſtrebend, genugſame Mittel zu einer naturgemaͤßen, pſychologiſch tief gegründeten Entfaltung der menſchlichen Geiſtes- und Kunſtkraͤfte in ſich ſelber vereinigte, würde wahrlich in jedem Land Reſultate her— vorbringen, die vorher unerreichbar und ganz unglaublich ſcheinen wuͤrden. Ich bin indeſſen uͤberzeugt und ſpreche es mit unbedingter Zuverſicht aus, die Anbahnung einer

544

ſolchen Volksbildung würde vor allem aus dem, was uns jetzt am allervorzuͤglichſten noth thut, abhelfen. Sie wuͤrde ohne Widerrede dahin wirken, daß der ſtille, haͤusliche Be⸗ g rufsſegen durch die heilige Vereinigung des Bethens und des Arbeitens in den Wohnſtuben des Volks wieder einen neuen, einen beſſern und reinern Boden erhalten wuͤrde, als er ſich jetzt im allgemeinen deſſen an wenig Orten zu ruͤhmen haben mag. Es iſt unſtreitig, die Grundſaͤtze, Befirebungen und Einrichtungen, die zu einer ſolchen Volksbildung hinfuͤhren könnten, muͤßten allgemein dahin wirken, daß der Mann im Land und das Weib im Land wieder mehr, als es jetzt den Anſchein hat, daß es ſo ſey, mit innerer Erhebung ihren Vaterſtolz und ihren Mut⸗ terſegen in der Wirclichkeit ihrer Vaterkraft und ihrer Mut⸗ tertreue ſuchen und finden muͤſſen, ſo daß Mann und Weib | ihre tägliche Berufsarbeit und ihre tägliche Freuden als einen Theil ihrer Vaterſorge und ihrer Muttertreue aner⸗ kennen und ſich dadurch geſegnet, geheiligt und befriedigt fühlten, fo daß fie es für den eigentlichen Fluch ihres Le— bens anſehen wuͤrden, wenn ſie von ihrem taͤglichen Be— rufskarren und den Modeluſtbarkeiten und Modefreuden ihres Hauſes gleichſam auſſer ihr Haus gejagt und genoͤ— thigt würden, beydes, ihre Berufsarbeiten und ihre Haus⸗ freuden gleichſam hinter dem Ruͤcken ihrer Kinder zu ſu— chen und zu treiben, und ſie ſelber als die groͤßten Hin— derniſſe ihrer weſentlichen Vaterpflichten und Mutterſorgen anzuſehn. f

Es iſt unſtreitig, eine ſolche Anbahnung der Volksbül⸗ dung würde dahin wirken, die Kräfte des haͤuslichen X

545 ö

| bens zur ſittlichen, geiſtigen und Kunſtbildung des Volks zu ſtaͤrken und die Väter und Mütter des Lands faͤhiger zu machen, ihren Kindern vom Morgen bis am Abend mit Rath und That wirklich bey zuffehen und in ihrem Thun und Laſſen einen wahrhaft bildenden Einfluß auf ſie zu haben.

Es iſt unſtreitig, eine ſolche Anbahnung der Volksbil— dung würde dahin wirten toͤnnen, die wahre Herzens, Geiſtes- und Kunfibildung des Volts allgemein zu ma— chen. Sie wuͤrde dahin wirken, ihren eigentlichen Saa⸗ men, die Anfangsmittel der Kraftentfaltung unſers Ge— | ſchlechts in feinen natürlichen Boden hineinzuwerfen und in die Hand der Mutter hineinzulenten. Sie wuͤrde die Kraft des Volks, ſeine Anlagen im Kreis der Seinigen zu gebrauchen und ſich im Kreis der Seinigen in allen Beduͤrfniſſen ſelber und ſelbſiſtaͤndig helfen zu tonnen, im Volk allgemein beleben und millionenfach erhoͤhen. Sie würde den, für das häusliche Leben jetzt allgemein fo ſchlafenden, Volksgeiſt wieder aufwachen machen und die in dieſer Ruͤckſicht eben ſo ſehr erlahmte und immer mehr erlahmende Volkshand in Millionen Menſchen wie— der ſtaͤrten und aus dem Zuſtand ihrer Erlahmung zu der alten Kraft der ſich in Vater, Mutter und Kindern vereinigenden, haͤuslichen Selbſthuͤlfe erheben. Sie würde den Umfang der menſchlichen Kraͤfte und Anlagen nicht blos innerlich beleben, ſondern auch aͤuſſerlich ins Leben ſetzen, d. i. zum aktiven Dienſtmittel des häuslichen und offentlichen Segens unſers Geſchlechts erheben.

Sie wuͤrde, beydes, die geiſtigen und mechaniſchen

346 Fundamente aller Erwerbsmittel des Volks weit tiefer und allgemeiner begruͤnden, als ſie jetzt begruͤndet vor unſern Augen ſtehn.

Sie wuͤrde die fuͤr allen Dienſt des haͤuslichen und offentlichen Lebens geeignete und genugthuende Entfaltung der Kraͤfte und Anlagen der Menſchennatur der Ausbil dung aller Fertigkeiten, die dieſe Kräfte zu ihrer Auffern, vielſeitigen Anwendung anſprechen und beduͤrfen moͤchten, vorausgehen, und indem ſie dieſes zu thun und die genug⸗ thuende Entfaltung des ganzen Umfangs der Ausbildung ihrer Anwendungsfertigkeiten zum voraus ſicher zu ſtellen geeignet iſt, wird und muß ſie denn durch die innere, ſo— live Begruͤndung dieſer Anwendungsfertigleiien weſentlich dahin wirken, dem in unſerm Verkuͤnſtlungsverderben ſo hoch geſtiegenen Uebergewicht unſerer Abrichtungselen— digkeiten uͤber unſere Bildungsmittel ein Ziel und dem Zu⸗ ſtand Grenzen zu ſetzen, in welchem wir in der laͤndlichen, buͤrgerlichen, kleinſtaͤdtiſchen, großſtädtiſchen, militärifchen, kaufmaͤnniſchen und buͤraliſtiſchen Handwerksmaͤßigkeit und Standesmaͤßigkeit beynahe allgemein in ein ſo beſchraͤnktes Routineleben verſunken ſind, daß wir uns bey großen Be— gegniſſen und Aenderungen unſerer Lagen und Umſtaͤnde, die allenthalben ſo leicht vorfallen koͤnnen, und in unſern Tagen ſo vielſeitig und grell auf einander folgten, in kei⸗ ner neuen Form unſerer Thaͤtigkeit mehr finden koͤnnen, als in derjenigen, in der wir uns von Jugend auf ge— wohnt ſind, unſern Tabak zu rauchen und ae Mit⸗ tagsſuppe zu eſſen.

Eine ſolche Anbahnung zur Volksbildung würde end-

Ks

547

lich in Ruͤckſicht auf den allverehrten Staatsgegenſtand unſerer Zeit, in Ruͤckſicht auf unſere Finanzen und ihren allgemeinen Boden, unſere Landesinduſtrie unfehlbar einen großen, wohlthaͤtigen Einfluß haben. Wir toͤunen uns dieſes Gegenſtands halber nicht verhehlen, er ſieht jetzt in Ruͤckſicht auf feine ſittliche, geiſtige und phyſiſche Funda— mente in unſerm Welttheil auf einem ſo ſchwantenden Fuß und in Ruͤckſicht auf feine Reſultate, fo in den Luͤf— ten, daß es kein Wunder iſt, wenn ſich die oͤffentliche Meynung der verſchiedenen Stände und Menſchen unfier Zeit über dieſen Gegenſtand fo verwirrt ausſpricht, als dieſes einſt beym babyloniſchen Thurmbau der Fall war. Gewiß aber iſt, die Aabahnung einer pſychologiſch genug— ſam begründeten Nationalcultur würde ihrer Natur nach nothwendig und weſentlich zu Reſultaten hinfuͤhren, die beydes, in Ruͤckſicht auf die Fundamente der Induſtrie und auf ihre Folgen ein wohlthaͤtiges Licht verbreiten muͤßten.

Sie koͤnnten nicht anders, ſie muͤßten weſentlich und nothwendig dahin wirken, den Geiſt der Induſtrie, der dem innern Segen derſelben zum Grund liegt und auf der einen Seite vom Kopf und der Hand, auf der an— dern Seite aber vom Herzen des Menſchen ausgeht, in dieſen zwey weſentlichen Fundamenten ſeiner ſelbſt wohl zu begruͤnden und kraftvoll zu ſtaͤrken.

Sie koͤnnten nicht anders als dahin wirken, dem in— nern, geiſtigen Weſen der Induſtrie durch ihren Einfluß auf die menſchliche Denkkraft und der aͤuſſern Darſtel— lungskraft der menſchlichen Kunſt durch ihren Einfluß auf

548 |

ihre vorzuͤglichen Organe ein tieferes Fundament zu erthei— len, als dieſelbe behm Mangel an einer fo angebahnten Nationalcultur nicht haben koͤnnen und ewig nicht finden werden, am allerwenigſten in einem, durch Verkuͤnſtlung und Abrichtung von dem Gang der Natur ſoweit abgewi— chenen, Zeitpunct. Eben dieſer Einfluß, den eine pſycho— logiſch wohl begruͤndete Nationalbildung auf den Geiſt der Kunſt und ſeine weſentlichen Fundamente, auf die geiſtige Denkkraft und auf die aͤuſſere Ausbildung der Sinne und Glieder, vorzuͤglich des Augs und der Hand haben muͤßte, eben dieſen wohlthaͤtigen Einfluß wuͤrde die Anbahnung einer ſolchen Nationalbildung auch auf das Herz des Men— ſchen, deſſen Anſpruͤche an den Geiſt der Kunſt noch hoͤ— her ſeyn mögen als diejenigen der logiſchen Kraft und des Augenmaſſes und der ſcharfen Genauheit der Hand.

Es iſt unſtreitig, eine pſychologiſch wohlbegruͤndete An— bahnung einer hoͤhern Nationalcultur wuͤrde weſentlich und nothwendig dahin wirken muͤſſen, das Herz der Men— ſchen uͤber den ſinnlichen Erfolg der Induſtrie zu ihrem innern Segen emporzuheben. Sie koͤnnte nicht anders als dahin wirken, das Volk des Landes allgemein dahin zu erheben, alle Theile der Induſtrie und des Erwerbs nicht anders als mit Ruͤckſicht ihres Einfluſſes auf ſeine ſittliche, geiſtige und haͤusliche Selbſtſtaͤndigkeit, ins Aug zu faſſen; eben fo müßte fie in Ruͤckſicht auf jeden eins zelnen Menſchen dahin wirken, die Gegenſtaͤnde der In— duſtrie und des Erwerbs, inſofern ſie in ſeiner Hand ſich befaͤnden, als Mittel feiner eignen perſoͤnlichen, ſittlichen, geiftigen und haͤuslichen Selbſtſtaͤndigkeit mit feſter Ruͤck—

549

ſicht auf fein Haus, feine Kinder und Kindskinder ins Aug zu faſſen. Unter Menſchen, die von dieſen Anſichten be— lebt waͤren, wuͤrde dann freylich die Induſtrie zum Segen des Landes eine andere Richtung nehmen, als ſie beym Mangel einer ſolchen Nationalcultur nehmen kann. Sie würde in dieſem Fall nothwendig dahin wirken, daß Mil- lionen Menſchen Geiſt, Herz und Hand mit Bewußtſeyn des Segens, den ihnen ihre Bildung zur Induſtrie zu ge— waͤhren vermag, anſtrengen wuͤrden, ſich ſelbſt und ihren Kindern durch dieſelbe einen reinen Hausſegen, d. i. ein ſtilles, ſelbſtſtaͤndiges, geſichertes Hausleben im Kreis der Ihrigen zu verſchaffen. Eine ſolche Volksbildung muͤßte nothwendig dahin wirken, durch millionenfache Thatſachen auszuſprechen: aller Flor ein aus einſeitig ſinnlicher Ders wilderung hervorgehendes und zu immer groͤßerer Sinn— lichkeitsverwilderung hinfuͤhrendes Geld- und Gewaltsſpiel unſerer Induſtrie ſtehe mitten im groͤßten Flor ſeiner an— ſcheinenden großen Geldabtraͤglichkeit in Nädficht auf den wahren Volksſegen im Land da, wie eine hoch lodernde, glänzende Feuerflamme, die einige einzelne Menſchen, wels che in einer verhaͤltnißmaͤßigen Entfernung ob ihr empor⸗ ſtehen, wohl angenehm zu erwaͤrmen geeignet iſt, die aber die Millionen derer, die in der Tiefe leben, in der ſie ſich in wilden Wirbeln herumtreibt, ſammt und ſonders ihre Finger verbrennen macht und ſie dann, wenn fie mit ver— brennten Fingern fortfliehn, blutnackend in eiskalter Ve: mosphaͤre ſtehen laͤßt.

350

9. 35. ö Gluͤlphi will ſich uͤber den Mittelſtand im Land nicht taͤuſchen Er findet ihn nicht in der Co— moͤdie, er findet ihn nicht in der Notabllitaͤts— armſeligkeit, er findet ihn nicht im Dienſt— ſtand er findet ihn in Werkſtaͤtten und Wohnſtuben, in denen die Berufswerkzeuge, die Bibel und die Nachtlampe neben einans der ſtehen und Vaͤter darin wohnen, denen der Hausſegen alles, eitle Ehre nichts und

boͤſer Gewalt ein Dorn in den Augen iſt.

Noch immer von den Anſichten feiner Traͤumernacht begeiſtert und hauptſaͤchlich von dem Einfluß ergriffen, den pſychologiſch tiefgreifende Anſtalten zur Bildung von Erziehern und Erzieherinnen auf, die Wiederherſtellung des Mittelſtands haben muͤßten, konnte Gluͤlphi nicht aufhoͤren, dieſen Geſichtspunkt von allen Seiten ins Aug zu faſſen. Ich folge ſeinen Nachforſchungen auf dem Fuß nach. Er ſagte zu ſich ſelber: um ins Klare zu tommen, worin die Wiederherſtellung dieſes Stands beſtehe, müſſen wir zuerſt fragen, wer dieſer Mittelſtand ſey, und worin die Kraft, die ihn zum Segen des Landes macht, beſtehe? Wahrlich, wenn wir dieſe Aufgabe loͤſen wollen, ſo duͤrfen wir uns nicht dahin blos geben, den Schatten von Menſchen, die auf dem Theater den Mittelſtand vorſtel—

551

len, als dieſen Mittelftand felber anzuſehen; wir muͤſſen, um eigentlich zu wiſſen, wer dieſer Stand ſey, uns zuerſt fragen: warum war er in allen einfachen und gluͤcklichen Zeiten als der Kern des Landes angeſehen? Oſſenbar ſind es die, den innern Segen des geſellſchaftlichen Lebens begruͤndende und ſicherſtellende, ſittliche, geiflige und phy— ſiſche Kunft-, Berufs- und Erwerbskraͤfte, die in dieſem Stand mehr als in keinem andern vorliegen, und durch die er, beydes, auf die ob ihm ſtehende, hoͤhern Staͤnde und auf das unter ihm ſtehende, gemeine Volk wohlthaͤ— tig und bildend einwirkte, warum er bis dahin als der Kern der Staaten angeſehen wurde.

Es iſt durchaus nicht ein mittlerer Grad von Geld oder Grundeigenthum, das er beſitzt, noch viel weniger iſt es ein mittlerer Grad von Ehre und Ehrenſtellen, dar— in er ſich befindet, es iſt einzig die innere ſittliche, geiſtige und Kunſtkraft, die dieſem Stand eigen iſt, und die im Erwerbſtand ſich bildende und von Vater auf Sohn ſich erbende Ehrenfeſtigkeit und innere Achtbarkeit des feine Kraft und feinen Werth in ſich ſelbſt fühlenden, und de: durch in ſeinen Umgebungen geachteten, und in laͤndlicher und buͤrgerlicher Stellung gleich wohl ſitzenden, ſeinem Stand und Beruf Ehre machenden, und ſich durch denſel— ben Achtung verſchaffenden Bürgers und Landeigenthuͤ— mers, woraus das Perſonale des aͤchten Mittelſtands her⸗ vorgeht und ſich darin fejihält.

Daß aber der wahre Mittelſtand immer nur aus dem aͤuſſerlich und innerlich, ſittlich und bürgerlich kraftbilden— den, wohlhabenden Gewerbſtand und erwerbenden Berufs

num

22

leben hervorgehen koͤnne, faͤllt, wenn man dieſen Stand

näher betrachtet, in die Augen. Der Mangel uͤberfluͤſiger,

die Anſtrengung der Kräfte: entbehrlich machender Huͤlfs⸗ mittel, verbunden mit dem Beſitz genugſamer Mittel zur Betreibung feiner Erwerbs- und Berufsgeſchaͤfte führen dieſen Stand auf eine Weiſe zum Beſitz innerer Kraͤfte für die Zwecke feines Lebens, die kraftvoll geeignet find, die aͤuſſern Mittel dieſer Kraͤfte taͤglich und ſtuͤndlich zu vermehren, wodurch denn dieſer Stand in den Beſitz von einer Schatzkammer innerer und aͤuſſerer Kräfte gelangt, deren thaͤtiges Kapital auf jedem Punkt, den es beruͤhrt, Geiſt, Leben, Kraft, Gewinn und Segen zu verbreiten geeignet iſt. ER

Das ift fo gewiß wahr, daß man beſtimmt ſagen kann, der Mann des Mittelſtands kann mit dem fuͤnfzig⸗ ſten bis ſechzigſten Theil des Eigenthums eines Mann's, der auch nur eine Million beſitzt, wenn er im Geiſt und in der Kraft des buͤrgerlichen Mittelſtands damit arbeitet, mehr real erzeugen, als der andere mit ſeinem fuͤnfzig bis ſechzig mal groͤßern Kapital durchaus darum nicht kann, weil der Geiſt und die Kraft der Mittel, die er hiefuͤr braucht, der Geiſt des Mittelſtands ewig nicht der Geiſt und die Kraft des Ueberfluſſes und des Reichthums wer— den kann. Der Geiſt des wahren und gebildeten Mittels ſtands iſt erzeugend und ſchoͤpferiſch, der Geiſt des auf— gedunſenen Reichthums it entweder gedankenlos, zerſtreu— end, vergeudend und verſchwenderiſch, oder er iſt kleinlich ſparend, ins todte Grab hineinſammeln, und knauſeriſch zuſammenrafſend.

555

Das alles 4045 iſt wahrlich gut. Were der ſchoͤpfe— riſch erzeugende Kraftgeiſt des aͤchten Mittelſtands der Geiſt des Reichthums und des Ueberfluſſes, die Staaten wuͤrden in die Arme der Millionaͤrs hinabfallen und darin verſchwinden, wie ein im Innerſten ſeiner Felſen geſpal— tener Berg ins niedere Thal hinabfaͤllt und darin ver— ſchwindet. So aber und ſintemal ſie dieſe Kraft nicht haben, ſo bleiben ſie, einige Nebendinge, die denn doch auch noch ihr Gutes haben koͤnnen, abgerechnet, beym Fliegenlaſſen und beym Zuſammenleſen ihres Gelds und ihres Guts dennoch gute Kinder des Staats, inſonderheit wenn jeder von ihnen mit ſeiner Million allein bleibt und nicht ihrer viele mit denſelben auf irgend einer Boͤrſe zu einem gemeinſamen Zweck zuſammenkommen.

Es iſt indeſſen wichtig, daß wir dieſe Anſicht von dem wahren, innern Weſen des Mittelſtands feſt im Aug be— halten und uns nicht verführen laſſen, dieſen Stand ir— gendwo zu ſuchen, wo ihm die Mittel zu der Kraftbildung, aus welcher er allein hervorzugehen vermag, mangeln. Es iſt beſonders in unſern Tagen wichtig, daß wir uns durch keinen aͤuſſern Schein verblenden laſſen, ihn an einem un— rechten Ort zu ſuchen, und beſonders, daß wir uns huͤten, den in unſern Tagen ins Unendliche aufgeſchwollenen hoͤ— hern, mittlern und niedern Dienſtſtand als dieſen Kern. der Staaten, als den Mittelſtand anzuſehen; im Gegen- theil, dieſer ſo in Abhaͤngigkeit lebende, weſumirende und nichtserwerbende, unſelbſtſtaͤndige, und durch den Luxus und unverhaͤltnißmaͤſſige Genieſſungen innerlich abgeſchwoͤchte Dienſtſtand, den unſere Vaͤter in ſeiner gegenwaͤrtigen Ge—

Peſtalozzi's Werke. IV. 23

354 ftaltung nicht nur nicht gekannt, ſondern nicht denkbar und nicht moͤglich geachtet haiten, iſt eine von den großen, mitwirkenden Quellen des täglich mehr wachſenden Vers ſchwindens des wahren Mittelſtands. Dieſer wenigſtens in verſchiedenen Unterabtheilungen ſittlich, geiſtig, haͤuslich und bürgerlich oft fo ungebildete, hoͤchſtens zu einem ein« ſeitigen Dienſt und nicht ſelten auch nur zu einer einfeie, tigen Dienſtgrimace abgerichtete Stand iſt, ob er wohl in den aͤuſſern Formen der Ehre und in ſinnlichen Lebensge⸗ nieſſungen und allem ihrem Spielwerk dem Zeitverderben der obern Staͤnde nahe und ob der Ehre und den ſinnli— chen Lebensgenieſſungen der niedern Staͤnde hoch empor— ſteht, um des willen durchaus nicht als der Mittelſtand des Landes anzuſehen; im Gegentheil, die Quellen der Vergiftung des wirklichen Mittelſtands gehen weſentlich von dem Verderben des uͤber alle Maſſen angeſchwollenen Dienfiftands hervor. Aber wir kennen leider den wirkli— chen Mittelſtand, der allein als der Kern des Landes ins Aug gefaßt werden kann, kaum mehr. Wir kennen die Nationalſitten nicht mehr, aus denen er ſich entfaltete. Wir kennen den religioͤſen Geiſt nicht mehr, der ihn hei— ligte. Wir kennen den Rittergeiſt nicht mehr, der ihn ehrte und ſchuͤtzte. Wir kennen den Burgergeiſt nicht mehr, der ihn bildete. Er mußte verſchwinden. Er iſt nicht mehr da, der ſegensvolle Mittelſtand des Landes. Seine Kraft mangelt allenthalben, wo wir nur immer hinblicken. Sie zeigt ſich nicht mehr in den Rathſtuben unfrer Städte, Sie zeigt ſich nicht mehr in den Gemeindverſammlungen unjrer Dörfer. Oder wo iſt fie? in welchem Winkel des

555 Landes zeigt ſich ſeine Wuͤrde und ſeine Kraft? Wo fin— deſt du die im Mittelſtand ausgezeichneten Buͤrgermaͤnner und Volksmaͤnner der Vorzeit, die am Tag der Noth und Gefahr wie Felſen im Land daſtanden und mit Gut und Blut zur Sache Gottes, zur Sache des Vaterlandes, zur Sache des Fuͤrſten, zur Sache der Ruhe, der Ordnung, des Rechts und der Wahrheit, zur Sache der Wittwen und Waiſen, zur Sache der Barmherzigkeit und des Mitleidens ftanden, ſich hingaben und aufopferten und in dieſen Tagen der öffentlichen Noth und der offentlichen Sorgen Gehör fanden und Achtung und Dank, bepdes, beym Fuͤrſten und beym Volk, und die denn hinwieder in den gluͤcklichen Tagen eines beruhigten Zuſtands im Land ihr ſtilles, haͤusliches Geſchaͤft unbemerkt mit geſegnetem Fleiß in ihren Wohnſtuben trieben und keinen weitern Einfluß im Land ſuchten, als denjenigen, den ihnen die öffentliche? Achtung ohne ihr Zuthun gewährte? Wo ſind fie, dieſe Männer des Mittelftandes, die mit ſolchen Kraͤf— ten fuͤr das oͤffentliche Wohl keinen Einfluß im Land ſuch— ten, als den, zu dem ſie das oͤffentliche Zutrauen im Land hinrief? Dieſe Männer, die zwar in ihren Wohnſtuben nicht gern regiert ſehn wollten, aber auch auſſer denſelben nichts zu regieren und auf keine Weiſe eine Kuh im Land zu melten ſuchten, die ſie nicht vorher redlich gekauft und bezahlt hatten, wo ſind ſie? Wo ſind dieſe Maͤnner des Mittelſtands, die der krumme, boͤſe und ſchlechte Mann im Land, wenn er auch aͤuſſerlich höher ſtand als fie und ſelber in ſeinem Unrecht hoͤhern Schutzes ſicher war, den— noch um der oͤffentlichen Mepnung willen ſcheuen und

556

fürchten mußte, daß er in tauſend Fällen nicht thun durf⸗ te, was ihn geluͤſtete? Wo iſt der Mann, von dem die Wittwe, das Waisling und der Schwache und Bedraͤngte ausſpricht: „ſo lange dieſer Mann in unſern Mauern, in unſrer Gemeind lebt, wird mir nichts Boͤſes begegnen, er wird mich gegen jedes Unrecht ſchuͤtzen und ſichern —?“

Ich weiß nicht, ob ich ſagen muß, das Verſchwinden ſolcher Maͤnner iſt die Urſache des verſchwundenen Mit— telſtands, oder der verſchwundene Mittelſtand iſt die Ur- ſache des Verſchwindens ſolcher Maͤnner. Genug, dieſer Stand iſt verſchwunden, dieſe Maͤnner ſind verſchwunden. Unſere Burgermaͤnner, unſere Volksmaͤnner, wie ſie als ſchuͤtzende Felſen der Ehre, des Rechts und des Segens ihrer Staͤdte und ihrer Doͤrfer gerecht und ſtill und fromm, aber maͤchtig in Kraft und That unter uns daſtanden unſer Mittelſtand iſt in unſerer Mitte verſchwunden.

Und was iſt denn zu thun? Offenbar, ſagte Gluͤl⸗ phi jetzt noch zu ſich ſelber, offenbar lenken unſere Staa— ten durch den Verluſt unſers Mittelſtands zur allgemeinen Abſchwaͤchung, bepdes, der obern und der untern Stände; und wir gefahren dadurch einen Landes-Einfluß des Reich⸗ thums, der unabhaͤngend von ſeinem guten oder ſchlechten Gebrauch und ebenſo unabhaͤngend von der Kraft oder Kraftloſigkeit des Manns, in beſſen Hand er ſich befindet, allgemein im ganzen Land als der einzige neryus rerum angeſehen und angebethet wird.

Die Geſchichte und Erfahrung ſagt uns, daß alle Groß⸗ reichen, die nichts als das find, immer mit einer bedeu— tenden Anzahl von Menſchen umgeben ſind, die alles Er—

357

werbs und aller Realverdienſte unfähig, aber durch eine Scheinbildung in Alltagskenntniſſen, im Tanzen, Reiten, Spielen, und allfaͤllig in den Kenntniſſen der Koch- und Putzmacherkunſt ſich zu einem Grad von Bettlernotabili⸗ tät erhoben. Es iſt allgemein notoriſch, daß die Groß⸗ reichen aller Staaten, die nichts als das ſind, die Schein⸗ bildung einer ſolchen Bettlernotabilitaͤt beguͤnſtigen und auf ſolche Art gebildete Menſchen in ihr Gefolg nehmen, ihnen die Entree in ihre Haͤuſer erlauben und ſich an den Spielwerken der Vergeudung des öffentlichen und Privat— vermoͤgens Theil nehmen machen, wodurch ſie dieſe Leute in den Stand ſtellen, ſich denn mit dem vom Hochreich— thum auf gleiche Art beguͤnſtigten, ins Ungeheure ange— ſchwollenen Dienſtſtand im Land vereinigt ein Blendwerk eines Mittelſtands aufzuſtellen, der kein Mittelſtand iſt, und im Gegentheil, ich moͤchte ſagen, mit jedem Athem— zug, den er thut, die Kraͤfte des wahren Mittelſtands aus⸗ haucht, vergiftet und, alſo zugerichtet, in der Luft ver-

ſchwinden macht und endlich die oͤffentliche Meynung von

dem, was dieſen Stand wahrhaft ausmache, bald zu einer bloſſen Idee herabwuͤrdige, die nirgend in der Wahrheit befiehe, fondern nur in den Köpfen von Philoſophen und Träumern ausgeheckt worden.

Gluͤlphi haͤngte dieſer Anſicht e inen Augenblick mit Weh⸗ muth nach, warf wieder einen Blick auf ſeine Schule und auf feine Traumnacht und ſprach dann mit der Kraft der ents ſchloſſenen, innern Ueberzeugung das Wort aus: es kann ges holfen werden, es kann dennoch geholfen, der Mittelſtand kann in feiner Kraft und in feiner Wahrheit wieder herge⸗

*

8 558

ſtellt werden, und zwar durch Mittel, deren Keime in meiner Schule offen vorliegen und deren ſicheres Wachs— thum in meiner Traumnacht offen vor meinen Augen lag. Aber wenn's geſchehen ſoll, ſo kann es nur durch Zeit und Geduld erzielt werden, und was bey zehen und mehr Jahren fuͤr dieſen Zweck geſchehen kann, darf nur als Vorbereitung und Anbahnungsmittel der Hoffnungen und Ahnungen, die hierin ſtatt finden, angeſehen werden. Das, was jetzt von einzelnen Menſchen und ſelber von guten Herrſchaftsherren, wenn ſie auch daruͤber in einer fo vortheilhaften Lage find, als Arner, geſchehen kann, iſt unter den Umſtaͤnden und in der Lage, in der die Welt jetzt iſt und gern bleiben will, wie ein Tropfen ſuͤſſes Waſſer, den man in ein geſalzenes Meer ſchuͤttet; doch wenn einem nichts mehr zu Geboth ſteht, muß man ſich mit dieſem Wenigen begnügen und in jedem Fall muͤſſen die Anfaͤnge zu einem diesfaͤlligen Ziel durch Mittel an— gebahnt werden, die denen gleich ſind, die Arner hiefuͤr verſucht. Indeſſen bin ich doch fuͤr die Zukunft nicht ohne Hoffnung. Wenn Bylifsky ganz iſt was ich ahne, und Gluͤck hat, wie ich hoffe, ſo kann er vielleicht mit der Zeit kleinern und groͤßern Buͤche in das Salzmeer hineinlen— ken, in das wir jetzt nur einzelne Tropfen hineinzuſchuͤr ten vermoͤgen.

559

9. 84.

Es ſtieg durch ſein Herz und nicht durch ſeinen Kopf auf die Hoͤhen ſeiner Menſchlichkeit.

Aber ſo gerne ich meinen Gluͤlphi in den Folgen des Eindrucks, den ſeine Traͤumernacht auf ihn machte, ins Aug faßte, und ſo gerne ich mich lange bey ihm aufhielte, wie ich mir ihn in den erſten Folgen dieſes Eindrucks vorſtellte, fo muß ich mich doch nicht laͤnger dabey auf— halten, als er ſich ſelber dabey aufhielt. Er vergaß ſchon morgen, ſobald er in ſeine Schule hineintrat, ſeinen Traum, die Welt und alles Dichten und Trachten nach Welt- und Volksverbeſſerung. Er war ganz wieder mit Leib und Seel der Schulmeiſter, der nur den Augenblick vor ſich ſah, indem er jetzt als Vater und Lehrer in der Mitte ſei— ner Kinder daſtand. Er lebte ganz in dieſem Augenblick der Gegenwart. Die Vergangenheit war gleichſam eben wie der Traum der Zukunft, der die Nacht vorher ſeine ganze Seele erfuͤllte, verſchwunden. Er ſah jetzt wieder nur ſeine Kinder. Ihr Daſeyn verſchlang ihn jetzt in die— ſen Pflichtſtunden ſeines Lebens, wie wenn auſſer ſeinen Kindern neben ihm keine Welt waͤre. Oh, koͤnnte ich doch die Kraft ſeines jetzigen Schulmeiſterlebens ſchildern, wie ſie wirklich war! Sie beſtand weſentlich im wachſenden Feſthalten ſeiner Aufmerkſamkeit auf jedes einzelne Kind, und zwiſchen hinein werfe ich noch das Wort: wahre Menſchenſorge iſt individuel; Goͤtter moͤgen das Ganze,

360

Goͤtter moͤgen die Welt beſorgen; der Menſchen Sorge fuͤr den Menſchen iſt Individualſorge und das Chriſten— thum iſt Heiligung dieſer Individualſorge, indem es dem einzelnen Menſchen als einzeln, ohne alles Begleit und ohne Zugabe in die Arme ſeines Vaters hinfuͤhrt und dem Herzen ſeines Erloͤſers nahe bringt. Gluͤlphi ſah jetzt nicht mehr den Haufen ſeiner Kinder. Dieſer Haufen, ſo— wie er zuſammen daſtand, war jetzt nichts mehr fuͤr ihn. Jedes Kind ſtand einzeln vor ihm und er lebte, wenn ers erblickte, oder wenn er nur an daſſelbe dachte, ſo ganz in ihm, wie wenn fonft kein anderes neben ihm da wäre. Aber es war auch kein einziges, das er nicht alſo ins Aug faßte, wenn er es erblickte oder an es dachte.

Soweit hatte ſich der Mann in feinem Schulmeifter- dienſt zu der Mutterkraft erhoben, mit welcher das edelſte Weib in dem Augenblick, wenn es ſeinen Saͤugling an die Bruſt legt, nicht denkt, daß es noch ein anderes Kind habe; aber denn hinwieder, wenn ſein Bruder auch nur mit einem kleinen Schmerz am Finger zu ihr hinſpringt, den Saͤugling beyſeits legt und nicht mehr an ihn denkt, bis es den Finger des Bruders mit muͤtterlicher Zartheit verbunden und er dankend und zufrieden wieder von ihr wegſpringt. Alſo trug er die Kinder ſeiner Schule alle in ſeinem Herzen. Dadurch aber kam er auch dahin, daß er Tag fuͤr Tag die Stuffe, auf der jedes derſelben in feinem Unterricht fand, genau kannte. Er ſah mit jedem Tag tiefer in das Herz eines jeden, und kannte mit jedem Tag mehr all ihr Dichten und Trachten, und ebenſo, wie in ſeine Kinder, drang er mit jedem Tag tiefer in den

361

Geiſt ſeines Unterrichts und ſeiner Mittel hinein. Er fuͤhlte beſonders mit jedem Tag mehr das groſſe Verderben der truͤgenden Abrichtungskuͤnſte unſers Geſchlechts, durch die wir immer mehr dahin gelangen, nicht nur mehr zu ſchei— nen als wir ſind, ſondern uns ſelbſt zu taͤuſchen, und wirklich zu glauben, daß wir ſeyen, was wir nicht ſind. Er fühlte dieſes Verderben der Abrichtungskuͤnſte in ſittli— cher Hinſicht vorzuͤglich in dem Einfluß der auswendig gelernten und gedanken- und gefuͤhllos dahergeplapperten Gebethe auf unſere Selbſttaͤuſchung. Er fuͤhlte es in die— ſer Ruͤckſicht ebenſo in dem Selbſtbetrug, in dem wir den Traumeindruck belebter Bilder und Wörter von religiöfen Gegenſtaͤnden für wirklich religios belebte Kraft unfers Geiſts und unſers Herzens anſehen. Er erkannte ſie in geiſtiger Hinſicht in den Folgen gedankenlos geleſener, nur mit dem Gedaͤchtniß woͤrtlich gefaßter, ſo geheiſſener Verſtandesuͤbungen in den Schulbuͤchern, und hinwieder in der Selbſttaͤuſchung, die nothwendig daraus entſpringt, wenn wir uns durch das Gedaͤchtniß das woͤrtliche Be— wußtſeyn von Wahrheiten einuͤben, die, um wirklich ge— faßt und begriffen zu werden, einen weit gebildetern und hoͤhern Grad der Denkkraft und des Urtheilsvermoͤgens vor ausſetzen als derjenige iſt, den wir beſitzen. Er kannte fie endlich in Kunſt- und Berufshinſicht in vielſeitigen Angewoͤhnungen, Sachen, die wir hundert und hundert— mal ſchon gethan haben, dennoch auf eine ungeſchickte und der Natur dieſer Sache nicht angemeſſene Weiſe in die Hand zu nehmen und dabeg trotz aller Erfahrungen doch nicht in den Stand kommen, unſere Ungeſchicklichkeit und

302

Ungewandtheit darin einzufehen und zu behandeln, fondern wie ein alter Schneider, der hundert und hundert Kleider immer zuſchneidet, wie er es von ſeinem Lehrmeiſter ge— lernt und bey aller ſeiner Ungeſchicklichkeit und Unge— wandtheit ewig nie dahin kommt, einzuſehen, daß wenn er gelernt haͤtte, die Menſchenform, die er bekleiden ſoll, feſter und genauer ins Aug zu faſſen und auch das Tuch, das er verſchneiden ſoll, bey jedem Schnitt, den er darein macht, gewandter und vielſeitiger in die Hand zu nehmen und anzuſchauen, er dadurch ein beſſerer Schneider wuͤrde und dabey noch gar viel Tuch erſparen könnte, das er unnuͤtzerweiſe verſchneidet.

Bey dieſem taͤglichen Vorſchreiten in der Erkenntniß des vielſeitigen ſittlichen, geiſtigen und phyſiſchen Verder— bens unſerer Abrichtungskuͤnſte und des verhärteten Rou— tinelebens unſrer Zeitmenſchen, das eine Folge der auf das Hoͤchſte geſteigerten Routinefertigkeiten unſers Ge— ſchlechts wurde er taͤglich mehr von der Wichtigkeit der elementariſchen Ausbildung unſerer ſütlichen, geiſtigen und Kunſtkraͤfte uͤberzeugt. >

Der Geiſt iſt, der da lebendig macht, das Fleiſch iſt gar nichts muß. Der Geiſt iſt geeignet und faͤhig, beydes, zu bilden und gebildet zu werden; das Fleiſch hingegen iſt geeignet und fähig, mit Haut und Kuochen und auch

mit Aug und Ohren abgerichtet zu werden, und hat hinwieder in Haut und Knochen, in Aug und Ohren eine ſinnlich thieriſche Rei— gung andere abzurichten, wie es ſelber abge—

richtet iſt.

Er ſuchte bey den erſten Uebungen des Rechnens das Anſchauungsvermoͤgen der Kinder durch Hinnliche Darle— gung ihrer Verhaͤltniſſe zu beleben und zu ſtaͤrken, und dadurch ihre ſinnlich alſo vielſeitig begruͤndete Anſchauung der als Zahlverhaͤltniß vor ihnen ſtehenden Gegenſtänden zum innern, geiſtigen Bewußtſeyn dieſer Verhaͤltniſſe zu erheben. Er ordnete diesfalls die Reihenfolgen der Zahlen fuͤr dieſe Kinder auf eine Weiſe, daß das geſuchte Reſul— tat der Bildung des geiſtigen Anſchauungsvermoͤgens und der daraus entſpringenden Schlußkraft, welche zur weitern Behandlung der die Denktraft bildenden Zahluͤbungen nothwendig ſind, mit Sicherheit erzielt werde. Dieſe Be— handlung der Anfangsuͤbungen des Rechnens ſchien im Anfang allen Perſonen, die rechnen konnten, und ſelber

564

dem Pfarrer und dem Junker unzweckmaͤßig und unbe⸗ greiflich. Die Kinder ſchienen eine Weile gar nicht zu ler nen, was man gewoͤhnlich rechnen heißt, aber denn nach wenigen Wochen entfaltete ſich in ihnen eine innerlich be— lebte Rechnungskraft, die dieſe Herren mit ſammt ihrer innerlich todten, durch bloſſe Abrichtungsmittel erzielten, poſitiven Rechnungskunſt vor ſich ſelber erroͤthen machte, indem fie ſelber mit der ganzen Kunft] ihrer Rechnungs⸗ fertigkeiten die kindlichen Rechnungsaufgaben nicht mit der Leichtigkeit aufloͤſen konnten, mit welcher dieſes ſelbſt die juͤngſten ſeiner Kinder thaten. Das fiel ihnen um ſo mehr auf, da die größern und vorgeſchrittenern feiner Kinder durch die pſychologiſch geordneten Zahluͤbungen zu einer ſolchen allgemeinen, innern Belebung der Denk- und Forſchungskraft gelangten, daß die Anwendung dieſer Kräfte für fie einen Reitz hat, der es ihnen beynahe un— möglich machte, irgend einen Gegenſtand oberflaͤchlich und gedankenlos ins Aug zu faſſen. Es bildete ſich im Ge— gentheil in ihnen taͤglich mehr, und taͤglich ſichtbarer eine Genauheit und Beſtimmtheit im Anſchauen und Be⸗ urtheilen aller Gegenſtaͤnde, daß ihre ſich ſolid begruͤndende und wachſende Denkkraft, beydes, in ihrem Schweigen und in ihrem Reden immer mehr auffiel. Noch mehr aber als Arner und den Pfarrer übernahm es Glälphi ſelbſt, da er nach einigen durchgeführten, diesfaͤlligen An- fangsuͤbungen fand, daß er in der Klarheit und Heiterkeit der innern Darſtellung der Zahl mit den kleinſten Kindern nicht gleichen Schritt halten, ſondern durch die Routine— fertigkeiten der Rechnungskunſt, zu der er eigentlich nicht

565 gebildet, ſondern abgerichtet worden, das Fundament der wahren Rechnungskraft, das reine, geiſtige Bewußtſeyn der Zahlverhaͤltniſſe in ſich felber geſchwaͤcht. Er Aber zeugte ſich durch dieſe Erfahrung auf eine Weiſe, wie er

es noch nie war, in welchem Grad es fuͤr die geiſtige

Bildung der Kinder nachtheilig iſt, den Unterricht im Rech— nen mit dem Auswendiglernen des Einmaleins und mit den Abrichtungsmitteln zur Kenntniß der vier Spezies und der Regel de tri anzufangen und ſelbigen darauf zu bes gründen. Er geſtand es ſich ſelbſt ein, daß er gegenwaͤr— tig in feinem A5ten Jahr die eigentlichen Fundamente des bildenden Rechnens ſich mit ſeinen Kindern erſt ſelbſt zum klaren Bewußtſeyn bringen muͤſſe, und dieſe Erfah— rung fuͤhrte ihn dann ſehr bald zuerſt zu einer dunkeln Ahnung, dann aber ſehr bald zu einer ſehr klaren Ueber— zeugung, daß der Unterricht in der Geometrie, eben wie der in der Arithmetik, zuerſt durch Anſchauungsuͤbungen aller Verhaͤltniſſe des Raums, der Ausdehnung und der Form pſychologiſch muͤſſe begruͤndet werden, um die gei- ſtige, eigentliche, die Formverhaͤltniſſe innerlich faſſende und ſchaffende, reine Kraft zu begruͤnden und zu entfalten, ſo daß er jetzt mit ſeinen Kindern die Elemente der Raum— und Formverhaͤltniſſe auf eben die Weiſe behandelte, wie er es mit den Zahlverhaͤltniſſen gethan hat. Er erhielt aber auch bey dieſer Behandlung bey ſeinen Kindern das nehmliche, und ich muß ſagen, noch ein groͤßeres Reſul— tat. Der Eindruck, den der erſte Erfolg dieſer Uebungen auf ihn hatte, brachte ihn wirklich noch zu einem groͤßern Erſtaunen als dasjenige war, zu dem er durch den uner—

#

506 warteten Erfolg feiner pſychologiſch geordneten Zahluͤbun— gen gelang. Er ſah durch dieſe Uebungen ſechs- und ſie— benjährige Rinder dahin gebracht, verwickelte Ausdehnungs⸗ und Formverhaͤltniſſe durch die Kraft ihrer innern Vor— ſtellung mit einer Leichtigkeit aͤuſſerlich anſchaulich machen, die den vorgeruͤcktern zwoͤlf- und vierzehnjaͤhrigen Kindern unmoͤglich war beyzubringen und zu ertheilen. Er ſah alſo offenbar, daß die eigentliche, reine Urkraft der Geo— metrie in dem Alter, in dem man dieſe Wiſſenſchaft ge— woͤhnlich erſt anfangt zu erlernen, in ihren erſten An— fangsbeduͤrfniſſen ſchon fo viel als geſchwaͤcht und gelähmt daſtehe, und er war jetzt ganz uͤberzeugt, daß die erſten Uebungen der Geometrie mit den Kindern im ßten, ten und 7ten Jahr muͤſſen betrieben werden, aber auch, daß dieſe Uebungen ihrer Natur nach ſo einfach ſind und ſo einfach ſeyn muͤſſen, daß jede gebildete Mutter dieſe An⸗ fangsgruͤnde, wenn fie ſich nur ein wenig Mühe giebt, ſich dieſelbe eigen zu machen, ſie ihren Kindern in der Wohnſtube mit der groͤßten Leichtigkeit ſelber geben kann.

367 x

J. 86.

Den Eindruck beſtimmter Erfahrungen der ele— mentariſchen Entfaltung unſrer Geiſtes- und Kunſtkraͤfte, beydes, auf einen kraftvoll gebil—⸗ deten Ehrenmann und auf unſchuldige Schul: kinder. f

Dieſer Gang der Ideen uͤber die Bildung und Entfal— tung der menſchlichen Kraͤfte, die unſern Kenntniſſen und Fertigkeiten, wenn ſie fuͤr uns bildend ſeyn wollen, zum Grund liegen muͤſſen, beſchaͤftigie ihn nunmehr mit groſſer Lebhaftigkeit und mit groſſem Intereſſe. Einmal ſtand er im erſten Staunen über feine diesfallige Erfahrungen wie vom Blitz getroffen da und mußte unwillkuͤhrlich zu ſich ſelber ſagen: ſteht denn in unſern Tagen das Erziehungs— weſen nirgend in keinem einzigen ſeiner Faͤcher auf rich— tig berechneten Fundamenten. Vorher und bis auf dieſe Stunden hätte er eher an den Tod als daran gedacht, als daß z. B. das Schreibenlernen, etwas anders als die Uebung einer blos mechanifchen Fertigkeit ſey, und daß alſo dieſer Unterricht in die am vorzuͤglichſten gebildete Kraft unſerer Zeit hineingefallen und alſo in demſelben auch auf eine vorzuͤgliche und vielleicht unuͤbertreffliche Art gegeben werde. Aber jetzt fieng er plotzlich an, ohne daß er noch eigentlich recht wußte warum, auch dieſes Unterrichtsfach nicht als vollkommen pſychologiſch begründet anzuſehen und ins Aug zu faſſen. Es ſtand ihm jetzt lebendig vor ſeinen

568

Augen, wie ſeine Kinder durch ihre Uebungen in Raum— und Formverhaͤltniſſen dieſe Verhaͤltniſſe durch ihr inner lich gebildetes Erfindungsvermoͤgen gleichſam durch ſich ſelbſt finden, in ſich ſelbſt entfalten und ſelber auch durch ſich ſelbſt zu einem großen Grad von Leichtigkeit und ge— ſchmackvoller Zartheit in der Darſtellung derſelben gelan— gen. Er dachte ſich jetzt dieſe Erfahrungserſcheinung im Zuſammenhang mit der Art, wie er in ſeiner Jugend zeichnen gelernt, und faßte jetzt den Gang, wie ſich ſeine Kinder in ihren geometriſchen Anfangsuͤbungen im Gan— zen ihrer Bildung zur Kunſtkraft entfalten, im Zuſam⸗ menhang mit der Erlernung der Zeichnungskunſt ins Aug, und fand denn, daß die Bildung der Hand und des Augs der eigentliche Quell ſey, durch deren genugſam geoͤffne— ten Ausfluß der Zeichnungskunde mit dem ganzen Auss fluß ihrer Beduͤrfniſſe und Mittel gleichſam von ſelbſt hervorgehen, und daß die pſychologiſch geordneten Anfangs— übungen, die Uebungen der Geometrie als das eigentliche A B C aller Hand- und Ausuͤbungen, aus denen die Zeichnungskunde in ihrem ganzen Umfang hervorgehen muͤſſe, angeſehen werden muß. Zugleich ward ihm jetzt auch heiter, daß das Schreibenlernen nichts anders ſey als eine mechaniſche Einuͤbung einiger weniger einzelner Formen des Zeichnens, folglich aus den weſentlichen An— fangsübungen dieſer Kunſt hervorgehen muͤſſe. Auf dieſe Ueberzeugung geſtuͤtzt, ſtellte er alle ſchon angefangenen Schreibuͤbungen bey ſeinen juͤngern Kindern auf einmal plötzlich ſtill, indem er die genugthuende und kraftvolle Ausbildung der Hand und des Augs als die allgemeine

569

Baſis des Schreibens eben wie des Zeichnens erkannte und als bildendes Vorbereitungsmittel, beydes, zum Schoͤn⸗ und zum Schnellſchreiben nothwendig und weſentlich fand. Er gieng noch weiter, er fand in dieſen elementariſchen Uebungen der Geometrie und in dem damit verbundenen Bildungsmittel der Kunſthand und des Kunſtaugs die weſentlichen Fundamente der Volksbildung fuͤr alle Hand— werke, Berufe und fuͤr den ganzen Umfang aller maͤnnli— chen und weiblichen Arbeitsgattungen und uͤberhaupt aller Fächer der Induſtrie. Er erklaͤrte ſich jetzt auch beſtimmt, daß eine den Anſpruͤchen der Menſchennatur und den Be— duͤrfniſſen der Zeit genugthuende Volks- und Nationalbil⸗ dung nur dadurch angebahnt werden koͤnne, wenn die Ente faltung der Grundtraͤfte unſrer Natur auf eine mit dieſer Natur uͤbereinſtimmende Weiſe durch pſychologiſch geord— nete Mittel erzielt und dieſe jetzt noch ſo vielſeitig man— gelnden Mittel von allen Seiten erforſcht, gepruͤft und benutzt wuͤrden.

Die Führung feiner Schulkinder, die aus dieſen Ans ſichten und aus dieſen Beſtrebungen hervorgieng, ergriff dieſe auch an Leib und Seele, um ſo mehr, da ſelbige mit ihrem ganzen Seyn und Thun lim innigſten Zuſammen⸗ hang ſtand, alſo daß die Anwendung derſelben auf die Reinlichkeit der Wohnſtube, auf die Ordnung im Stall, auf ihr Urtheil uͤber Schmied- und Wagnerarbeit, uͤber pfluͤgen und ſaͤen, uͤber karren und fahren gleichſam Kb hervorgieng.

F 1

Peſtalozzi's Werke. IV. 2

.

370 . 87.

Gluͤlphi fuͤhlt, wie ſehr ihr ganzes Treiben und Thun in Bonnal nur noch ein ſchwacher Anz fangskeim von allem dem iſt, was ſie ſuchen und wuͤnſchen, gruͤndet aber doch die Moͤg— lichkeit der Anbahnung einer reellen und folis den Volksbildung auf Geſchichte und Erfah— rung.

Zwar zeigte ſich dieſes Hervorgehen der thatſaͤchlichen Anwendung der Kraͤfte, die er in ſeiner Schulſtube rein, aber gruͤndlich, allſeitig und uͤbereinſtimmend entfalten wollte, wie er ſie in der Gertrud Stube entfaltet ſah, nur noch ſoviel als das neue Erſcheinen eines Keims, der eben aus dem Boden hervorſproßt, aber Zeit, Geduld, War— tung und Sorge bedarf, bis er zur Reifung der wirklichen Frucht, die er verſpricht, zu gelangen vermag. Doch war dieſer Keim dem Auge Gluͤlphis ſchon ſichtbar. Auch ſel— ber einige Eltern ſeiner beſſern Schulkinder bemerkten, daß dieſe ſich vielſeitig in ihrem haͤuslichen Benehmen zu ihrem Vortheil aͤnderten und beſſerten. Vorzuͤglich aber bemerkte Gertrud bey jedem, auch noch ſo kleinen, reellen Vorſchritt der Kinder in der wirklichen Kraftaͤuſſerung ih— rer ſich entfaltenden, geiſtigen, ſittlichen und ſinnlichen Grundlagen aller aͤuſſern Fertigkeiten und Gewandtheiten, die ihnen durch eine gute Erziehung eingeuͤbt und beyge—

571

bracht werden muͤſſen. Sie machte auch Gluͤlphi bey jeder, auch noch fo kleinen, Erſcheinung ſolcher Vorſchritte auf: merkſam auf diefelben, und er ward auch durch dieſe, taͤg— lich vor feinen Augen fiebenden, Anſchauungserfahrungen vollkommen uͤberzeugt, daß die Ahnungen und Hoffnun— gen, die ihm in ſeiner Traͤumernacht ſo lebhaft vor der Seele ſtanden, nichts weniger als aus der Luft gegriffen und in unſerer wirklichen Welt als ein unausfuͤhrbares Spiel eines ſich in den Abwegen der Phantaſie verirrten Einbildungskraft angeſehen werden muß. Er ward viel⸗ mehr uͤberzeugt, daß der ganze Umfang dieſer Ahnungen und Hoffnungen eigentlich das wahre Bild der Reſultate einer in der Angelegenheit der Vollserziehung und Natio— nalcultur wirklich weit vorgeſchrittenen Staatskunſt ſey, deren inneres Weſen in allen Epochen der Geſchichte, die für die Volksbildung und Nationalcultur als Muſter und Vorbilder daſtehen, wirklich ausgefuͤhrt in ihren Mitteln und in ihren Reſultaten als wirkliche, unlaͤugbare That: ſachen vor den Augen der unbefangenen Welt daſtehen und anerkannt werden muͤſſen, indem ſelber der in unſern Tagen noch beſtehende Nationalſegen der auf den hoͤchſten Gipfel der Staats- und Buͤrgerkraft erhobenen Koͤnigrei— che, Provinzen, Städte und Oerter, namentlich England, Holland, die Hanſeeſtaͤdte ſowie die bluͤhendſten Städte der Schweiz und vieler andern Orte, den ganzen, ausge— zeichneten Vorſchritt ihrer Staatskraft und ihres ſtaͤdtiſchen und laͤndlichen Orts- und Hausſegens einer Denkungs⸗ und Handlungsart zu danken haben, die das ehemalige, reale Daſeyn nicht nur von Sitten, Denkungs- und Han:

372

lungsweiſen, ſondern auch von oͤffentlichen Staats- und Ortseinrichtungen beurkunden, welche mit dem Geiſt und dem Weſen der Ahnungen und Hoffnungen dieſer Traͤu— mernacht in vollkommener Uebereinfiimmung ſtehen, und durchaus als thatſaͤchliche Folgen einer in der Vorzeit wirklich vorhanden geweſenen und in wirklicher Ausfuͤh— rung geſtandenen, mit dieſen Ahnungen und Hoffnungen ebenfalls uͤbereinſtimmenden, in der Nationalbildung und Volkscultur ſolid vorgeſchrittenen Staatskunſt angefehen- und anerkannt werden muß.

Er fand aber freylich auch, daß dieſe alte, in unferer Mitte erloſchene Staatskunſt, deren Geift und Weſen wir in der Sittenloſigkeit des Verſchleuderungstaumels unſrer Zeit verloren, nach den Lagen und Beduͤrfniſſen unfter Zeit neu geſtaltet und in neuen Formen wieder bes lebt werden muͤſſe, daß ihr Geiſt und Weſen aber ewig nur aus der Wiederherſtellung einer, unſerm Luxus, unſe— rer Verzaͤrtlung und unſrer Verkuͤnſtlung entgegenſtehen— den, von oben herab beguͤnſtigten und bis in die nieder— ſten Huͤtten hinab belebten Nationalenthaltſamkeit und Na— tionalgenuͤgſamkeit hervorgehen koͤnne, deren ſolide Wieder⸗ herſtellung um ſo dringender, aber auch um ſo ſchwieriger ſey, weil beſtimmt die Staaten, Provinzen und Städte, die durch die Folgen einer in Ruͤckſicht auf die National⸗ bildung ſoliden Staatskunſt und Ortsregierung ſich zum hoͤchſten Grad der offentlichen Staatskraft und des oͤrtli— chen Wohlſtands und des Privatwohls der einzelnen Mens ſchen in alle Fehler des Verſchleuderungstaumels unſrer Zeit hinabgeſunken und den alles auffreſſenden Folgen deſ—

575 ſelben unterlegen, fo daß fie mit jedem Tag mehr die Ne alkraͤfte verlieren muͤſſen, durch welche ihre Vorfahren ih— ren Wohlſtand gegruͤndet.

J. 88.

Eine Schwalbe macht keinen Sommer, Rom iſt nicht in einem Tag gebaut worden, aber eine Maus ſchluͤpft in einem Tag durch viele Loͤ⸗ cher item, Gleich's und Gleich's geſellt ſich gern und es iſt leichter, einen Haufen von Niedertraͤchtigkeiten zuſammen zu tragen als einen Kornhaufen, und eine boͤſe Zunge iſt anſteckender als das gelbe Fieber.

Doch ich bin ſchon wieder voreilend in die Staatsan⸗ ſichten hineingefallen, zu welchen Arners Thun hinfuͤhren moͤchte, und muß wieder in mein gutes Bonnal und zu dem langſamen Gang aller Verſuche, deren moͤgliche Fol— gen Gluͤlphi in ſeiner Traumernacht ſo ſehr erheiterten und begeiſterten, und mich ſelber aus dem einfachen Gang meines Thuns herausriſſen, wieder zuruͤckkehren, obwohl ſeine Ahnungen und Hoffnungen mit der Thatſache, die ich erzaͤhle, im innigſten Zuſammenhang ſtehen.

374

Alles Thun Arners und Gluͤlphis iſt jetzt blos noch als Privatverſuch eines guten, edeln Herrſchaftsherrn, der einen braven, kraftvollen Geſchaͤftsmann zum Schulmei⸗ ſter gefunden und einen eben ſo braven Pfarrer im Dorf hat, anzuſehen, und iſt fuͤr einmal vorzuͤglich geeignet, zu zeigen, was ein einzelner Menſch, wenn er das Wohl ſeiner Nebenmenſchen in ſeinen Verhaͤltniſſen mit Ernſt zu befoͤrdern als feine Buͤrgerpflicht und als feine Chri— ſtenpflicht anſieht, zu leiſten vermag; denn aber freylich auch, wie er, wenn er vom Staat nicht nur verlaſſen und gleichſam auſſer das Recht der offentlichen Meynung und der oͤffentlichen Mitwirkung hinausgeworfen daſteht, ſondern ſogar noch von der von oben herab ſchlecht bear— beiteten, öffentlichen Meynung und ebenſo von einer von oben herab, wo nicht eingelenkten, doch zugelaſſenen, Ent— gegenwirkung in ſeinem Thun geſtoͤrt und verwirrt wird, wie er, ſage ich in dieſem Fall, in ſeinem guten Privat— thun denn noch faſt unuͤberſteigliche Schwierigkeiten zu uͤberwinden hat.

An ſich ſelber konnten ſchon alle Vorſchritte Arners und Gluͤlphis zur Verbeſſerung Bonnals, beydes, in Rüde ſicht auf die Schulfuͤhrung der Kinder und ebenſo in Ruͤckſicht auf das, was fie für die Erwachſenen durch ihre Sonntagsverſammlungen zu erzielen ſuchten, nicht anders als langſam ſeyn. Dabey verwirrten und hemmten noch aͤuſſere Hinderniſſe den ſchon an ſich langſamen Gang die— ſer Verſuche. Selber die Einmiſchung der elenden Eichen— bergerin war nichts weniger als unbedeutend fuͤr die Ver— wirrung und Erlahmung ihrer Verſuche im Dorf. Sie

57 wußte alles, was im Schloß, im Pfarrhaus und in der Schule vorgieng, in vielen Haͤuſern auf eine Weiſe dar— zuſtellen, daß es die einten Leute im Dorf über Arner, Gluͤlphi und wer es mit ihnen hatte, in boͤſe Laune brachte oder ſie ihnen veraͤchtlich machte. So wußte ſie den Um— fand, daß er einige Kinder, die ſchon zu ſchreiben anfan⸗ gen gelernt, wieder damit aufhoͤren gemacht, dahin zu be— nutzen, daß einige Narren im Dorf ſich von ihr angeben ließen, er zeige dadurch offenbar, daß er die Bauern wie— der zu der alten Dummheit, in der ſie vor hundert Jah— ren geweſen, zuruͤckfuͤhren wolle, wo keiner von ihnen ſeinen Namen ſchreiben konnte, ſondern ſeine Unterſchrift und Beyſtimmung zu dem, was ihm vorgeſchrieben wor— den, mit einem Kreuz bezeugen mußte. Es war aber auch wirklich zum Lachen, wie ſie es durch das ungleiche Geſchwaͤtzwerk, das ſie daruͤber im Dorf trieb, dahin brachte, daß, indem man in der einen Gaſſe behauptete, er wolle die Bauernbuben zu Philoſophen machen, die nicht mehr an einen Gott glauben und vor lauter Ge— ſcheidheit, die fie in den Büchern lernen muͤſſen, ihr Haus und Hof verlumpen werden, denn wieder in einer andern Gaſſe behaupteten, er werde fie ganz zu der alten Dumm— heit zurückführen, daß fie wieder katholiſch werden und ihren Namen mit einem Kreuz bezeichnen muͤſſen.

Sie wußte aber auch den feinſten Mann, der nach dem Hummel im Dorf war, den Weibel, in ihr Lumpen- intereſſe zu ziehn. Dieſer Mann hatte den Gang des Hummels zum Galgen mit allen ſeinen Folgen gar nicht ungern geſehnz denn er glaubte ſicher, es ſey kein Menſch

576

im Dorf, dem der Junker die Vogtſtelle anvertrauen koͤnne als ihm, und war auch aͤuſſerſt verdruͤßlich und boͤ— fer Laune, als Arner dem Meyer zum Vogt machte, Doch er kannte dieſen zum voraus als fuͤr dieſen Dienſt unbrauchbar und war ſicher, er komme ſo geſchwind wie— der davon, als er dazu gekommen und war in dieſer Ruͤck— ſicht wohl getroſt und voll Glauben, dieſe Stelle werde ihm im zwegtenmal nicht fehlen; aber ſeitdem das Baum— wollenmareili und ſein Bruder beym Junker, wie man im Dorf ſagt, der Hahn im Korb war und man hie und da anfieng zu ſagen, wenn der neue Untervogt, wie man nicht zweifle, ſeinen Dienſt aufgebe, ſo werde niemand anders als der Baumwollenmeyer Vogt werden, wurde der Weibel in ſich ſelber ſo wuͤthend, daß er ſchwur, alles in der Welt zu probiren, dem Junker Verdruß und ihm ſeine Herrſchaftsſtelle ſo zur Laſt zu machen, daß ſieben Baumwollenmeher mit allem ihrem Geld nicht im Stand ſeyn muͤſſen, ihm ſie leichter zu machen. Und da er wußte, daß die Eichenbergerin und zwar aus Auftrag der Sylvia, die er gar wohl kannte, die ganze Bonnalerſache im Dorf verſchreye und den Bauern als eine Sache vor— ſtelle, die man in der ganzen Welt und am allermeiſten in der Hauptſtadt und bey Hof als eine völlige Narren ſache anſehe, die in alle Ewigkeit keinen Beſtand haben koͤnne und keinen Beſtand haben werde, ſo war er jetzt feit ein paar Tagen auf den Beinen, um die Eichenber- gerin, die er ſonſt ſo ſehr haßte und verſpottete, daß ſie vor Angſt, von ihm auf eine Weiſe, wie es ihr ein paar mal begegnet, empfangen zu werden, nicht in ſein Haus

377

hinein durfte, aufzuſuchen und Gelegenheit zu haben, mit ihr zu ſprechen. Er fand dieſe auch bald, und war jetzt in ſeinem Benehmen gegen ſie wie ein umgekehrter Hand— ſchuh, bemitleidete ihr Ungluͤck, das ihr in der Audienz— ſtube begegnet, mit dem Zuſatz, daß, wenn er da geweſen waͤre, er gewiß dem Junker vorgeſtellt hätte, wie das nicht gehen konne, daß er eine Perſon von ihrem Rang und von ihren Bekanntſchaften und von ihrer Erziehung ſo mit dem Harſchier im Land herum zu fuͤhren drohen duͤrfe. Dann ließ er ſich in ein weitläufiges Geſpraͤch mit ihr ein, wie verkehrt der Junker alles anfange, welch ein elender Kerl ſein neuer Untervogt ſey, und wie der Baum— wollenmeger, wenn er, wie man jetzt allgemein ſage, Un— tervogt werde, im Stand ſey, den Junker und das ganze Dorf in ſeinen Sack hineinzuſtecken und hinzutragen, wo es ihn geluͤſte. g

Das war der Eichenbergerin eine gemaͤhte Wieſe. Sie ſchrieb auf der Stelle an Sylvia, wie ſie an dem Wei— bel, der weit aus der geſchickteſte und erfahrenſte Mann im Dorf ſey, fuͤr ihre gemeinſame Sache einen Fund ge— macht und wie fie an ihm ſicher alle Huͤlfe habe, die fie be— duͤrfe, und wie fie durch ihn jetzt auchden Baumwollenmeher, den fie ſchon vorher als einen hochmuͤthigen und eigennuͤ⸗ tzigen Geizhals gehalten, jetzt vollkommen kenne und wiſſe, was es mit ihm ſey und wie er, wenn er Untervogt wer— den ſollte, fuͤr den Junker und fuͤr das Dorf ein noch weit gefaͤhrlicherer Mann werden koͤnne, als es der Hum— mel, dem noch gewiß in vielen Stuͤcken Unrecht geſchehen ſey, je geweſen ſeyn möge.

578

Es gieng jetzt auch nicht lange, ſo war in allen Haͤu— fern, in die die Eichendergerin hineinſchleichen und darin ihr Gift miſchen konnte, allgemein ein lautes Gerede dar- uͤber, wie denn der Junker ſey, einen Mann, wie den Meyer, den ein jedes Weib an der Naſe herumfuͤhren koͤnne, zum Vogt zu machen und wie der Baumwollens meyer, den er jetzt dazu machen wolle, ein zwenter Hum— mel werden koͤnne, an dem er und das Dorf, beyde, ge— wiß bald genug bekommen werden.

Der Einfluß dieſer armſeligen Eichenbergerin ward aber vorzuͤglich von den Leidenſchaften unterſtuͤtzt und belebt, die durch die Beſtrafungsweiſe des Hummels und die Nachforſchungen uͤber die meiſten Vorgeſetzten und reichen Bauern in Bonnal, die ſich Veruntreuung am Gemeind— gut und am Schloßeigenthum haben zu Schulden kommen laffen, veranlaßt, eben wie durch den Neid und Haß, der durch Vertheilung des Gemeindguts und durch die Hoff— nung zu zehendfreyen Aeckern, die er den Spinnerkindern verſprochen, bey den Reichen im Dorf reg gemacht wor— den ſind.

3579

J. 89.

Der Ingrimm eines in ſeiner Lebensordnung und Lebensehre geſtoͤhrten Schulmeiſters der Uebergang dieſes Ingrimms in Aberglauben und denn des Aberglaubens in ſchwaͤrmeriſche Anmaßungen; ferner, Uebergang dieſer Anz maßungen zum Hinterfuͤrwerden (von Sin— nen kommen) und endlich ein Verſuch zur Heilung dieſes Hinterfuͤrwerdens durch den Verkauf einer Kuh und durch eine Luſtreiſe ins Schwaderlocherbad. Zwiſchen hinein die Sorgfalt von Zucker- und Kaffephantaſten, daß ſie um kein Frohnfaſtengeld kommen.

Auch die neue Schulfuͤhrung belebte hie und da einige Leidenſchaften. Vorzuͤglich aber beym alten Schulmeiſter; ſelber, nachdem er ſchon das große, gute Ehreneſſen aus dem Pfarrhaus bekommen, fluchte er voll von dem guten Wein, den ihm der Herr Pfarrer geſchickt, bis ihn ſeine Schweſter ziemlich unſanft, wie ihr wißt, ins Bett ge— bracht, hinter dem Tiſch uͤber den neuen Schulmeiſter und das Unrecht, das ihm der Herr Pfarrer zugefuͤgt. Doch that er im Anfang, wenn er von dem Schulmeiſter redte, ganz ſtolz; er hielt ihn auch in ſeinem Herzen be— ſtimmt fuͤr nichts anders als fuͤr eine Art Soldatenbettler,

580

denn die Allfanzerehen, die er um des Junkers Suppe willen in der Schule treibe, nur gar zu bald von ſich fels ber erleiden (zum Eckel werden) werden, und verglich das ganze Weſen, wo er hinkam, dem ſchwangern Berg in der Fabel.

Aber da es nicht gerade in der andern Woche kam, wie er meynte, ſondern ihm vielmehr ſeine beßten Leute Tag fuͤr Tag mehr mit dem Bericht kamen, es ruͤhme den neuen Schulmeiſter bald jedermann, und es ſey wie verzaubert, und wie wenn er es den Kindern anthun konne, fo richte er mit ihnen aus, was er wolle, fo ward ihm daruͤber ſo angſt, daß er mit ſeiner Fabel vom ſchwangern Berg und der kleinen Maus, die aus ihm heraus kroch, allmaͤlig ſtill zu werden anfieng. Im Ge gentheil, die Maus kam ihm jetzt bald wie ein Elephant vor, vor deſſen Zähnen und Ruͤſſel er ſich fuͤrchten muͤſſe. Er faßte auch das Wort, das ihm einige Freunde ſagten, es ſeh wie verzaubert, in einem weit ſtaͤrkern Sinn auf, als es die verſtanden, die es zu ihm geſagt haben. Er hatte es kaum gehoͤrt, ſo hielt er ſich in ſeinem Inner⸗ ſten uͤberzeugt, es gehe bey dem Gluͤck, das der Schul⸗ meiſter mit ſeinen Kindern habe, nicht rechter Dinge zu, der Teufel ſelber möge wohl dabey im Spiel ſeyn, und dieſer Narrengedanken, deſſen er, ſobald er ihn einmal im Kopf hatte, nicht mehr los werden konnte, trieb ihn denn bald dahin, daß er nicht mehr anders konnte, als er mußte in wenig Tagen bey Nacht und Nebel anderthalb Stund weit zu einem Senn im Muͤnchhof gehen, der in der Ge— gend den Namen hatte, daß er gegen alle Zaubereh und

x 581 Lachsnerep erprobte Mittel habe, und den Teufel in ſol— chen Faͤllen zwingen koͤnne, daß er thun muͤſſe, was er wolle. Dieſem both er dann Geld an, wenn er dem neuen Schulmeiſter den Teufelsgewalt, den er mit feinen Kin— dern treide, nehmen und ſtill ſtellen koͤnne.

Aber der Senn hatte das Herz nicht, ſich an dieſes Wagſtuͤck zu machen, das, wie er ahnete, weiter langen konnte, als der alte Schulmeiſter jetzt denken möchte, und ihm mehr ſchaden koͤnnte, als das Geld, das er ihm da— fuͤr anbiethe, werth ſey. Er ſagte ihm, wenn es Kuͤhe, Stieren oder Roß, oder auch Menſchenkrankheiten, die von Hexen und Zauberern herkommen, beſonders dergleichen Kinderkrankheiten anbetreffen wuͤrde, ſo wollte er ihm gut dafür ſeyn, daß er helfen koͤnnte, und wenn er ein armer Mann waͤre, ſo wollte er ihm in ſolchen Faͤllen unentgelt⸗ lich helfen und helfen koͤnnen, wenn er rechten Glauben an ihn haͤtte, aber einen Schulmeiſter zu entzaubern, dem der Teufel helfe, ſeine Kinder zu lehren, dieſen Fall habe er noch nie erlebt, und es ſey in ſeinem ganzen Zauber⸗ buch kein Recept dafuͤr da.

So ungetroͤſtet, als er vom Muͤnchhoͤfler⸗ Senn jetzt heimkam, wußte er ſich einige Tage nicht zu troͤſten und gieng ganz ſtill und traurig in ſeiner Stube, in der er ſehr lange Zeit hatte, hinauf und hinunter. Nach ein paar Tagen aber hoͤrte er von des Hartknopfen Gemurmel, das im Dorf herumgieng, der neue Schulmeiſter ſey kein rech— ter Chriſtenmenſch und das ewige Heil der armen Kinder fep in Gefahr, wenn fie unter feinen Händen blieben,

382

Dieſes Gered gab jetzt dem armen Mann, der in ſei— ner Wohnſtube lange Zeit hatte, wieder neues Leben. Der Heidenkerl, dachte er jetzt bey ſich ſelber, thut alſo nicht blos mir, er thut auch dem l. Gott unrecht. Er ſchob jetzt auch ſogleich ſeinen Zorn uͤber ihn auf Rechnung des Unrechts, das er der Religion und dem lieben Gott ſelber thue, und nicht mehr auf ſeine eigene. Das aͤnderte jetzt ſeine Anſichten uͤber dieſen Gegenſtand. Sein Zorn uͤber dieſen neuen Schulmeiſter wurde nun in ſeiner verirrten Seele ein hoher, geiſtiger, ein heiliger Zorn. Sein Eifer ward jetzt in ſeiner Vorſtellung ein Eifer fuͤr die Sache der Wahrheit, des Rechts und der Religion.

Er hieß ihn jetzt einen Heidenmann, ſeine Schule eine Heidenſchule, und verglich das, was man darin trieb, der Kaufhausarbeit im Tempel zu Jeruſalem, das mit ſammt dem Schulmeiſter nichts Beſſeres verdiene, als daß es ihm

gehen ſollte, wie es der liebe Heiland den Taubenverkaͤu⸗

fern und den Geldwechslern gemacht habe.

Das nicht mehr Auswendiglernen des unverſtaͤndlichen und verwirrten Wortkrams, das der Pfarrer nicht mehr haben wollte, hieß er jetzt eine Verlaͤugnung des wahren Glaubens.

Und das Verkleiben der Streitfrage, die dem Michel Sud das Leben gekoſtet, eine Verſtuͤmmelung des geofſen— barten Willens Gottes, mit dem Zuſatz: wenn man eine jede Frage verkleiben wollte, die einen Todſchlag veran— laßt hätte, fo ſolle man in der Chriſtenlehre die Frage zeigen, welche man denn nicht verkleiben muͤßte.

1

385

Doch redte er nur ſo, wenn er allein war; denn er war nicht von der Art der alten, muthvollen, ehrlichen Phantaſten, die Leib, Ehr und Blut, von Brod will ich nur nicht reden, an das ſetzten, was ſie fuͤr Gottes Sache anſahen, fondern vielmehr von der Art der neuen, muth⸗ leeren und aͤngſtlichen, neumodiſchen Zucker- und Kaffe— phantaſten, die ihrem Leib und Blut und auch ihrem Brod nothwendig ſo viel Sorgfalt, auch noch mehr als die Weltmenſchen, die keine ſolche Phantaſten ſind, ange— deihen laſſen muͤſſen, weil ſie mehrentheils, wie der Schul— meiſter, von Jugend auf verderbter, ſchwaͤchlicher Natur ſind und, alſo zu reden, Leibshalber nicht ehrlich, oder wenigſtens nicht fo kraftvoll, gradſinnig, muthvoll ehrlich ſeyn koͤnnen, als ſie wohl gern wuͤnſchten, wenn das ganz und alſo ehrlich ſeyn nur nicht ſoviel Muͤhe, Selbſtuͤberwindung und Anſtrengung brauchte.

Er redte nur alſo, wo er allein war, oder wo er trauen durfte, und trug auch alle Sorge, daß der Junker es nicht etwa erfahre und ihm dafuͤr das Frohnfaſtengeld nehme, welches er ihm, wenn er den Schulmeiſterdienſt ſchon nicht mehr verſah, gelaſſen habe, aber freylich mit dem Zuſatz, ſo lange er ſich in Ruͤckſicht auf den neuen Schul— meiſter und das, was man jetzt in der neuen Schule treiben werde, vernuͤnftig und beſcheiden auffuͤhren und ſein Maul daruͤber nicht auf eine Weiſe brauchen werde, wie er ſchon gehört habe, daß er es hie und da verſucht. Auch that es ihm weh, daß er ſein Herz ſo wenig er— leichtern und ſeine Geſinnungen und Empfindungen dar— uͤber ſo grauſam verſchlucken mußte, daß er manchmal in

584

der Mitte der Nacht aufſtand und wie wenn er von Sin— nen kommen wolle mit einer Geißel in der Hand an Stuͤhl und Baͤnken probirte, wie es auch kaͤme, wenn ei— ner, wie der Heiland im Tempel, die Spinnraͤder und Schreibtiſche in der Schulſtube, ſo unter und uͤber ſich kehrte und mit ſammt dem Heidenmann die Stege hinab und aus ſeiner Schule hinausjagte.

Zwar nahm er ſich auch dabey in acht, daß Thuͤre, Fenſter und Laͤden beſchloſſen ſeyen.

Aber des Sigriſten Frau, die unter dem gleichen Dach wohnte, ſtund einmal, da er ſo ein Gepolter in ſeiner Kammer machte, in der Nacht auf und ſah ihm durch's, Schluͤſſelloch zu, was er machte. i

Es duͤnkte fie nicht anders, als er muͤſſe hinterfuͤr (ganz von Sinnen gekommen) ſeyn. Sie weckte ihren Mann zur Stund auf, ſagte ihm, was ſie geſehen und am Morgen darauf fragten ihn beyde: was es doch in der Nacht mit dem Gepoͤlter, das man in ſeiner Kammer gehoͤrt, geweſen ſey?

Er geſtund es ihnen, es wandle ihn manchmal ſo an, daß er nicht ſchlafen koͤnne, bis er ſeinen Eifer gegen den Heidenkerl, der ihn ſo aus der Schule verdraͤngt und jetzt ſeine ehrliche, alte Chriſtenſchule ſo heidniſch und gottlos fuͤhre und verderbe, auf eine Art, wie er koͤnne, abge⸗ kuͤhlt. g

Das gieng ſeinem Bruder ſo zu Herzen, daß er zu ihm ſagte: ach, koͤnnteſt du deinen Zorn doch nur an dem Heidenkerl ſelber ausuͤben.

585

Ja, ſagte der Schulmeiſter, ich habe ſchon manchmal daran gedacht, wenn nur das verfluchte Fronfaſtengeld nicht waͤre, ſo wuͤßte ich ſchon, was ich thun wollte. Und nach einer Weile ſagte er wieder: wenn mich irgend etwas in meinem Glauben, den ich doch ſchon in meinem ſechsten Jahr auswendig konnte und noch auf den heuti⸗ gen Tag vollkommen auswendig kann, irr machen koͤnn⸗ te, fo wäre es dieſes, wie der l. Gott es zulaſſen könne, daß ſeine treuen Diener ihren wohlverdienten Lohn und ihr tägliches Brod aus der Hand ſolcher Heidenleute ziehn muͤſſen, und darum hundertmal, wo ihnen oder andern armen Leuten unrecht geſchieht, ſchweigen und daſtehen muͤſſen, wie ſtumme Hunde, die nicht bellen konnen. Dann ſetzte er noch hinzu: wie ſie mich doch zu einem ungluͤcklichen Menſchen gemacht haben, daß auf der wei— ten Erde bald kein ungluͤcklicherer Menſch ſeyn kann. Es ſchien, als wenn ihm Thraͤnen in die Augen kommen wollten. Dann aber ſah er ſie plotzlich wild an, bis die Zähne über einander und hielt beyde Fauſte zuſammen, wie wenn er damit darein ſchlagen wollte. Dieſes Bes nehmen machte des Sigriſten Frau todangſt; ſie ſagte zu ihrem Mann: es iſt, wie wir in der Nacht zu einander geſagt haben, er wird ſicher yinterfür, wenn er dieſe Su chen nicht aus ſeinem Kopf ſchlaͤgt.

Der Sigriſt theilte mit ſeiner Frau die nehmlichen Beſorgniſſe, und ſagte: es iſt, weiß Gott! zu fuͤrchten, daß er das werde, wenn er es nicht ſchon mehr als

halb iſt. Peſtalozzi's Werke. IV. 2

2

586

Behse ſuchten ihn jetzt zu beruhigen und ſagten ihm unter andern: er habe ja zu eſſen und zu trinken, mehr als er brauche, und dabey keine Kinder; er ſolle Ruhe ſuchen, und alles aus dem Kopf ſchlagen, was ihn plage und weh thue. Er ſolle denken, das was ihm mit dem Lieutenant begegnet, und daß er ihm vorgezogen worden, ſey doch, da man ihm das Einkommen gelaſſen, eigentlich nur ein Zeitliches und nur eine Ehrenſache, mit der er es nicht ſo genau nehmen ſolle. Der Sigriſt ſetzte denn noch hinzu: denk' doch, Bruder, wie vielmal du mir ſel⸗ ber geſagt haſt, Ehrenſachen und Narrenſachen ſeyen gleichviel; es ſeh keine viel werth.

Der Schulmeiſter antwortete: Bruder, es iſt wahr, ich habe immer geglaubt, ein rechter Chriſt muͤſſe Ehren— ſachen und alles dergleichen Zeug gar nicht achten, und doch thut es mir jetzt ſo grauſam weh, daß ich auf eine ſolche Weiſe an der Ehre angegriffen und gekraͤnkt wor— den bin, und wenn ich mir auch den Kopf darob zerbre— chen muͤßte, ſo weiß ich doch nicht, wie ich es anfangen und was ich machen will, um mich daruͤber zu troͤſten und zu beruhigen. Eine Weile darauf ſagte er dann doch: es ſteckt mir im Kopf, ich muͤſſe etwas thun, mich zu zerſtreuen, und ich denke faſt, ich wolle am Hirzauer— markt, der am naͤchſten Freytag iſt, eine Kuh verkaufen, und mit dem Geld davon mir ein paar Wochen im Schwaderlocherbad wohl ſeyn laſſen; wenn ich dann wies der zuruͤckkomme, fo hoffe ich, die Sachen ſeyen mir dann wenigſtens mehr als jetzt aus dem Kopf, und quaͤlen und plagen mich dann nicht mehr ſo gar.

587

Der Bruder und feine Frau ſagten ihm beyde, er thue ſehr wohl daran, und es fen ein recht guter Einfall mit dem Bad und mit der Kuh. Aber als ſie von ihm weg— kamen, ſagte der Sigriſt doch zu ſeiner Frauen: das gibt eine theure Cur mit einer ganzen Kuh.

Und ſeine Frau erwiederte: ja, aber wenn er hinter— fuͤr wuͤrde, es wuͤrde noch gar viel mehr koſten und ſetzte dann noch hinzu: es iſt gut, daß wir nicht viel auf ſein Erb hoffen, es iſt mir nicht, als ob wir einen Kreuzer von ihm bekommen werden, wenn er ſtirbt.

Ich denk' es auch, ſagte der Sigriſt, er nahm ja das mit einer ganzen Kuh ins Bad gehen ſo leicht auf, als wenn es nur fo viel Batzen antraͤfe, als die Kuh Dublos nen gilt. 1

588

J. 90.

Uebergang von einer Schulmeiſternoth zu einer Wirthshausnoth, und Vorfaͤlle, die mich zweifeln machen, ob das Weintrinken dem Menſchen natuͤrlich, oder ob es, wie das Handſchuh- und Perruͤckentragen, ein Werk ſeiner Kunſt und Civiliſation ſey.

So ſchwer es den Schulmeiſter ankam, aus dem al— ten Gleis feines Lebens herauszutreten, und fo groß die Noth war, die ihn dahin brachte, ſich im Schwaderlocher— bad mit einer ganzen Kuh wieder zur Vernunft zu helfen, und fo auſſerordentlich die Cur, die er dafür nothwendig zu haben glaubte, auch ſcheinen mag, ſo war er doch nichts weniger als der einzige Menſch im Dorf, der auf die oder auf dieſe Weiſe eine Cur von dieſer Art noth— wendig hatte. Die Gewalt der alten Geiſtes- und Her— zensrichtung, die in dieſem Dorf faſt allgemein geworden, war bey vielen Menſchen eben ſo eingewurzelt und un— ausloöſchlich, als bey dieſem Schulmeiſter, und das Lum⸗ penleben, das darin hervorgieng, war eigentlich zum all gemeinen Gewohnheitsleben des Dorfs geworden. Wohin dann aber das fuͤhrt, weiß jedermann. Wer immer die Menſchennatur nur als eine thieriſche Natur und unſer

589 Geſchlecht nur als ein thieriſches Geſchlecht anſieht, hat ganz recht, wenn er ſagt, der Menſch iſt ein Gewohnheits— thier und von einem ſolchen Thier darf man in Ruͤckſicht auf ſeine eingewurzelten Gewohnheiten ſich auch dahin aͤuſſern: kann auch ein Mohr feine, Haut und ein Par⸗ ter ſeine Flecken aͤndern?

So war jetzt das halbe Dorf en alle Abende ins Wirthshaus zu gehn. Arner aber hatte feit den Vor— fällen mit dem Hummel dieſes Haus beſchlieſſen laſſen, ſo daß fuͤr einmal niemand Wein darin ausſchenkte.

Dieſe Maßregel hatte die ſonderbarſten Folgen. Es gab alle Tage mehr Leute, denen das nicht recht lag, und die ſich auf die verſchiedenſte Art dagegen aͤuſſerten und unter andern behaupteten, der Mißbrauch hebe den guten Gebrauch einer Sache nicht auf; der Wein ſey eine Gabe Gottes, und der liebe Gott moͤge ihn armen Leuten ſo wohl gönnen als reichen. Dergleichen Reden floſſen denn. noch aus dem Mund von Leuten, von denen man es gar nicht erwartet haͤtte. Auch war in nicht wenigen Haus— haltungen vom Morgen bis am Abend nichts als Streit, weil der Vater nicht wie er's gewohnt war, am Abend ins Wirthshaus konnte, und die Mutter aber auch nicht, wie ſie's gewohnt war, zu Zeiten ein Glas Wein darus kommen laſſen konnte. Denn dieſes thaten ſehr viele Weiber im Dorf, und bezahlten denn den Hummel dafuͤr mit Baumwollengarn, das ſie dem Mareili geſtohlen, oder mit dem Lohn, den fie von ihm empfangen und ih- ren Männern abgelaͤugnet. Der Unwillen über dieſes

“a

390

Beſchlieſſen des Wirthöhaufes wurde auch immer größer und die heimlichen und oͤffentlichen Klagen daruͤber immer bitterer. e f

Eine Maͤckerin fagte dieſer Tage beym offenen Bruns nen: es wuͤrde den Junker wohl lehren, das Wirthshaus wieder aufzuthun, wenn er nur ein paar Tage ſo ein⸗ geſperrt ſeyn und es haben muͤßte wie ſie. a

Des Arbi's Elfi ſagte das nehmliche, und ſetzte hinzu: ſie wollte lieber in die Hoͤlle, als noch ein halb Jahr mit ihrem Mann ſo leben, wie er jetzt ſey, ſeitdem das Wirths— haus beſchloſſen. SEHR

Eine ARhpmerin ward ob den Zaͤnkereyen, die es alle Augenblicke in ihrer Wohnſtube gab, ſo haͤſſig, daß ſie ein Kalb, welches ſie im Stall beſorgen ſollte, ſo roh an die Wand ſtieß, daß es darob verreckte. |

Selber viele Kinder empfanden es beym Strehlen, beym Ankleiden und behm Waſchen, daß ihre Mutter weit roher mit ihnen umgieng, als da das Wirthshaus offen war. Das Aergerlichſte, was daruͤber begegnete, war aber dieſes: ein alter Leupi machte um deswillen auf feinem Todbett nicht wie ein Chriſtenmenſch, und gab dem Pfarrer, da er zu ihm kam, und ihn fragte, „wie es auch mit ihm ſtehe?“ zur Antwort: er ſey am Einpacken,

wenn er mit wolle. Der gute Pfarrer ſchuͤttelte den Kopf und ſagte: was das auch fuͤr eine Rede fey in ſei— nen Umſtaͤnden? Der alte Kerl aber fuhr in feinem

Ton fort und ſagte: es ſey kein Wunder, daß er ſo rede; es gebe ja einem niemand mehr ein Glas Wein auf den

591 Weg, wenn man auch vor Durſt erſtickte. Und hiemit kehrte er ſich um und murrte gegen die Wand. i

Der Pfarrer, der ſah, daß er jetzt hier nichts Gutes ausrichte, gieng fort, ſchickte ihm eine Flaſche Wein, die er dann plotzlich austrauk, und als dieſer wieder kam, empfieng er ihn doch etwas freundlicher, war aber ſo ſchwach und dem Tod ſo nahe, daß der Pfarrer ihm bey ſeinem Hinſcheiden wohl noch einige Aufmertſamkeit bes zeigen, aber nicht mehr viel mit ihm reden konnte.

Die in böfen Gewohnheiten veraltete und verhaͤrtete Menſchheit faͤllt gar oft in einen Zuſtand, der dem Tod— bett dieſes alien Manns gleich iſt. Der Pfarrer that al- les Mögliche, einige ſolcher verhaͤrteten Menſchen auf beſ— ſere Wege zu lenken, und die meiſten von ihnen ſchienen ihm auch Gehoͤr zu geben und verſprachen alles Gute; aber wenn fie es dann ausführen und halten ſollten, wie ſie es verſprochen, ſo war es dann immer wieder anders.

592

9. 91. ya

Ein Quackſalber, der nicht gern einem guten Arzt “über feine Arzueyen und Curen zur Red ſteht, und weil ſeine Kundſame mindert, vor langer Zeit gern wieder zu der alten Henkers-Fa⸗ milie, von der er herſlammt, zuruͤckkehren Er möchte,

PR

-

So gieng es ihm auch mit dem Treufaug. Er hatte ihm beym Todbett der Voͤgtin alles Gutes verſprochen und namentlich, er wolle mit dem Dr. Muͤller uͤber ſeine Arzneyen und Erfahrungen reden. Der Pfarrer erinnerte ihn ſeiidem mehrmal an ſein Verſprechen. Er ſchlug es ihm auch jetzt zwar nicht geradezu ab, aber er halte im— mer einen Vorwand, warum es heute und morgen nicht wohl ſeyn koͤnne.

Bald mußte er noch Schriften und Papiere zuſammen— ſuchen, ehe er es thun toͤnne; bald, es ſey noch die Fra— ge, ob dem Dr. Muͤller damit gedient ſey? bald, es ſey nur Waſſer in See getragen, und der Muͤller habe ja ſtu— diert, und wiſſe im kleinen Finger mehr als er im gan— zen Kopf, und wieder: wenn der Herr Doctor etwas mit ihm wolle, fo wiſſe er ja wohl, wo er zu Hauſe ſey.

5% 595 Aber es ſtand dem Dr. Müller auch nicht an, ihm da für nachzulaufen. Er fügte dem Pfarrer deutſch: er glaube nicht, daß er etwas wiſſe, und noch weniger, daß er ihm etwas ſage; und denn muͤſſe er geſtehen, er möge nicht, daß man ihm nachrede, er ſey ihm dafuͤr nachge— laufen und habe ſich von ihm zum Narren halten laſſen.

Aber der Pfarrer, der immer bis zur Einfalt ſeinem guten Herzen fol gte, ruhte nicht, bis er ſie einmal bey

einander hatte, und brachte es endlich N einem Mittag. eilen im Pfarrhaus dahin.

Der gute Mann gab das Beßte, das er in der Kuͤche und im Keller hatte, und that alles, was er konnte, den Henkerskerl in gute Laune zu bringen. Er feste ihn, als den altern Arzt, oben an Tiſch, trank zuerſt feine Geſund— heit, und ſagte beym erſten Glas, ſie wollen alle drey naͤchſtens mit einander ins Schloß; der Junker werde ih— nen dann einen andern einſchenken, als dieſer fey, wenn er hoͤre, daß ſie ſo mit einander gute Freunde geworden.

Der Muͤller ließ ſich das Untenanſitzen und alles ge— fallen, weil ſonſt niemand da war, und der Pfarrer ihm vorher das Ehrenwort gethan, er ſoll es doch nicht achten, er richte fonft mit dem alten Narren nichts aus.

Es hatte im Anfang auch den Anſchein, wie wenn es dem Pfarrer nicht fehlen wollte.

Der Treufaug ſoff darauf los und fieng an, fo gefprä- chig zu werden, daß dieſer meynte, er werde, ehe er vom

594

Platz aufſtehe, auskramen, was er im hinterſten Winkel wiſſe. |

Es war nichts weniger. Er redte kein wahres Wort und ſchnitt auf, daß der Muͤller, wenn ihm ſchon der Pfarrer einmal über das andere winkte und ihn noch mit den Fuͤſſen unter dem Tiſch ſtieß, daß er ſchweige, ſich doch nicht mehr halten konnte und ihm widerſprach.

Nun war's aus. Der Treufaug fieng jetzt an, ihn anzuſchnauzen: wenn er's beſſer wiſſe, ſo ſolle er reden und er wolle ſchweigen. Doch ſah er, ſo ſehr er einen Rauſch hatte, es dem Pfarrer an, wie ſehr es ihm weh thue, daß es ſo gehe; aber es machte ihm nichts. Er blieb nur noch, um die Glaͤſer zu leeren.

Als dieſes geſchehen, ſtand er ſchwankend auf, ſtam— melte ein paar Worte des Dankes fuͤr die Ehre, die ihm der Herr Pfarrer erwieſen, ſuchte ſeinen Hut und ſeinen Stock und wanderte weiter,

Als er fort war, ſagte der Dr. Muͤller zum Pfarrer: da ſehen Sie jetzt, daß ich recht hatte, und daß man einen alten Stier, wie dieſer einer iſt, nicht einmal wie eine alte Kuh melken kann.

Der Pfarrer erwiederte: es iſt mein Fehler, daß ich an ſolchen Leuten immer mehr hoffe, als ich ſollte.

Das war ſchon laͤngſt todt in ihm, was dem Men— ſchen warm macht, wenn ſie ſehen, daß ſie jemand kraͤn— ken, das plagte ihn nicht mehr.

595 Was ihn plaget, ift die Langezeit, die er hat, ſeit⸗ dem die Tragbarenhiſtorie ihm feine Kundfame vertrie— ben.

Er klagte auch einem jeden alten Weib, das bey ihm ſtill ſtund, wie ihm das weh thue.

Und da ſein Vetter von Audorf, dem er ſonſt, wenn er ihm nur den Schatten ſah, immer ruͤhmt, wie gut er's habe und wie ein großes Gluͤck es für ihn ſey, daß fein Großvater ehrlich worden, jetzt auf einer Reiſe ins Ober— land bey ihm zuſprach, fieng er an, die hellen Thraͤnen zu weinen und ihm zu klagen, wie es ihm jetzt gehe und wie er oft bey ganzen halben Tagen keine lebendige Seele in ſeiner Stube ſehe. | |

Der rohe Vetter gab ihm zur Antwort: er ſolle nur zu ihm hinabiommen, und da ſoll er den ganzen Tag Leute genug und alles haben, was er nur wuͤnſche.

Das leuchtete ihm wohl ein; aber es kam ihm uͤbers Herz, ſo aller Ehre gute Nacht zu ſagen. Doch bey meh— rerm Nachdenken, da er fand, es ſey ſchon aller Ehre gute Nacht geſagt, entſchloß er ſich, innert 14 Tagen das Haus zu beſchlieſſen und ins Land hinunter zu ziehn, zum Meiſter Johannes, dem Henker in Audorf.

9. 92. 3

Es ſtoͤrt die Buß- und Beſſerungstage alter Suͤn⸗ der nichts ſo ſehr, als weun ſie uͤber ihre al— ten Sünden mit ihren Mitſuͤndern ſelber in

Strcit gerathen. 7

an nn ——

Auch mit dem Hummel war es das Naͤmliche. Er erhielt ſich nicht in der Stimmung, in die ihn des Pfar— rers gute Sorgfalt in ſeinem Ungluͤck hineingebracht hatte. Seine Schulden zwangen ihn, fein Hab und Gut feinen Creditoren darzuſchlagen. Alle Tage kamen neue Forde— rungen an ihn, und da die meiſten groͤßer waren, als die Summe, die er als ſchuldig in ſeinen Buͤchern erkannte, ſo forderte bald dieſer, bald jener mit ihm perſoͤnlich dar⸗ uͤber zu reden und ſich mit ihm zu verſtaͤndigen. Davor fuͤrchtete er ſich wie vor dem Schwerdt; aber es war unausweichlich, und das Schimpfen und Fluchen uͤber ihn und über alle Liſt, über alle Lagen und alle Betriegerepe en, durch die er feine Creditoren fo tief hineingebracht, war im Dorf allgemein, und wurde dadurch noch ſtaͤrker, daß er faſt über alles, worüber er gefragt wurde, nur ausweichende Antworten gab. Es war indeſſen jetzt gar nicht mehr die Zeit, in der ihn die, denen er ſchuldig war, faſt mehr fuͤrchteten als die, die ihm ſchuldig waren.

597

Diefer Umſtand und die Gefahr des Verluſts brachten viele bey feinem Benehmen dahin, daß fie ihn jetzt gar

nicht ſchonten, ſondern frey und gerade herausſagten, wie

es ihrer Forderungen halber ſtehe. Das brachte aber den Hummel ganz und gar aus der geduldigen und beſcheide— nen Stimmung heraus, in die ihn ſein Ungluͤck, das Tod— bett ſeiner Frauen, des Pfarrers gute Sorge und auch des Huͤbelrudis edle Handlungsweiſe gebracht hatte.

Sobald einer von ihnen ſchonungslos mit ihm redte, und ihm einen Wink uͤber das Unrecht gab, in dem er gegen ihn ſtehe, antwortete er ihm mit der ganzen Derb— heit ſeiner alten Tage. Zu einigen ſagte er gerade her— aus: ihr habt zu reden, ihr; ihr ſeyd größere Schelmen als ich; ihr habt dieſes gethan, ihr habt jenes gethan und jetzt danket ihr mir es fo, daß ich euch eure Schelmen— ſtuͤcke habe verſchweigen helfen. Und bey vielen hatte er wahrlich recht. Aber der Eindruck, den dieſer Umſtand auf ihn machte, konnte doch nicht wohl verderblicher ſeyn. Es war, wie wenn alles Gute, das der Pfarrer wieder in ihn hineinzubringen verſucht hatte, in ihm verſchwand. Er ſtand vor dieſen Leuten taͤglich da, wie er vor altem war. Seine alte Suͤnde floß gleichſam neu belebt in ſei— nen Adern. Die Kraft, ſeine Fehler und Geluͤſte wirkſam zu machen, fehlte ihm ſreylich, aber in gewiſſen Augen» blicken Aufferte ſich feine Wildheit nur deſto roher in ihm. Die ernſten, guten Gedanken, die ihm der Pfarrer beyzu— bringen geſucht, waren jetzt wie in ihm ausgeloͤſcht. Er

398 fühlte nur mit dem bitterſten Unwillen und Gram, daß er jetzt Haus und Hof und Mühle und alles verlaſſen und als ein blutarmer Mann fein Leben in einer Winkel⸗ ſtube des Dorfs zubringen muͤſſe. Dieſe boͤſe Veraͤnderung in dem Gemuͤth dieſes Manns, that dem guten Pfarrer, der ſie gar nicht erwartet hatte, jetzt ſehr weh, und er machte den Vogt mit Thraͤnen darauf aufmerkſam. Die⸗

ſer antwortete ihm: es iſt wahr, die Leute, die jetzt taͤ⸗ lich zu mir kommen, bringen mich auſſer alle Faſſung; ich

kanns nicht aus halten, wie fie mir begegnen und wie fie jetzt alles vergeſſen, was ſie mir zu danken haben; wenn nur niemand mehr zu mir gekommen waͤre und ich mit keinem Menſchen kein Wort mehr hätte reden muͤſſen, fo waͤre es mit mir gewiß nicht alſo gekommen. Er ver⸗ ſprach dem Pfarrer auch allemal, in Zukunft auf ſeiner Hut zu ſeyn; aber es waren leere Worte. Sobald jemand wieder von ſeinen Schulden mit ihm redte und ihm ein boͤſes Wort gab, ſo war's immer genau, wie wenn man Feuer zum Pulver hinzulegt. Und ſo wie jetzt ſeine Lei— denſchaften wieder in ihm erwachten, ſo nahm denn auch feine Ermattung in gleichem Grad zu. Wenn er von ei— ner ſolchen Zaͤnkerey wegkam, ſo ſtand er oft ganze Vier— telſtunden mit offenem Maul und mit ſtarren, aufgeſperr⸗ ten Augen in einem Ecken ſeiner Stube, wie wenn er verruͤckt waͤre und glich vollends einer ausgebrauchten, ver— roſteten Maſchine, in der kein einziges Rad mehr in ſei— nem alten Leben fortlaͤuft. Er empfand das aber auch felber, und ſagte einmal zum Pfarrer: es ſey mit ihm wie

599 mit einem abgeſtandenen Wein; fo lange man ihn ſchuͤttle und rüttle, ſcheine es wohl, er habe noch etwas Geiſt, wenn man ihn aber nur ein paar Stunden wieder ſtehen laſſe, fo fen er hinwieder die alte, abgeſtandene Luͤren.

400

9. 93.

Die Vorſaͤtze ſchwacher Leute find wie ein Rauch, der warm aus dem Kamine aufſteigend hoch in die Luft empor wallt, aber denn darin plotzlich erkaltet und verſchwindet, und wo man hudi hudiho ruft, da geht mancher toll und voll und wie ein Narr heim, der ſonſt bey Hauſe gewoͤhnlich nuͤchtern und gar kein Narr iſt. |

1

Indeſſen, daß das Alte, Verhaͤrtete, Boſe in Bonnal noch ſo unerſchuͤtterlich feſt ſtund und Arners gutes Thun auf dieſes Verhaͤrtete, Boͤſe hie und da nicht anders wirk— te, als Geißelhiebe auf Stiere, die ſich, wenn ſie dieſelbe fühlen, in den Nacken werfen und ihre Hörner hervorſtoſ— ſen, ſo zeigte ſich auch auf der andern Seite das Gute, das der Junker im Dorf anzubahnen ſuchte und hie und da angebahnt glaubte, wie man bey uns ſagt, noch ganz nagelneu als ein ſich kaum eben entfaltender Keim, der noch durchaus keine feſte Wurzel in ſeinem Boden gefaßt. Dieſes zeigte ſich ſehr auffallend am Hirzauer Markttag. Dieſer Tag war ſchon ſeit langem ein eigentlicher Juhepen— und Narrentag fuͤr Bonnal. Hirzau iſt ein eigentliches Neſt für Treffer, Saufer und Spieler. Faſt die halben

401

Haͤuſer am Ort find Schenk, Wirths⸗ und Kaffehaͤuſer und mehr als ein Dutzend Buͤrger ſind Geiger. Auch gieng dieſer Tag beynahe nie voruͤber, ohne daß Lum pen⸗ ſtreiche, Schlaͤgeregen, Diebſtaͤhle und aller Arten von Uns annehmlichkeiten an demſelben begegnete. Der Lieutenant hatte ein paar Tage vorher in der Schule geſagt: er hoffe, es werde an dieſem Tage keines ausbleiben, und in dieſes Lumpenneſt hingehen. Auch der Pfarrer hatte am Senn⸗ lag in der Kirche dagegen gewarnt und die Frauen, die am Sonntag gewöhnlich ins Pfarrhaus kommen, hatten ebenfalls ſeit mehrern Tagen jedermann, mit dem fie zu Red kamen, geſucht, von dem Beſuch dieſes Markts abzu⸗ halten; inſonderheit warnte das Mareili die Spinnerwei⸗ ber, die zu ihm kamen, gar ſehr davor, und ſagte ihnen beſtimmt: glaubt nur ſicher, es kommt kein Bein nach Hirzau, von dem es der Junker und der Mfarrer nicht vernimmt, und es iſt jetzt doch keine Zeit, weder den ein- ten noch den andern ob ſo etwas vor den Kopf zu samen

7

2 uf diese vielſeftigen Warnungen hin hatten auch die meiſten Leute ſich vorgenommen, zu Haus zu bleiben und einige gutmüthige Leute, die hie und da ſolche gute Vor⸗

2 nf 7 ® * . * ſaͤtze ausſprechen hörten, ſiengen wirklich an zu ruͤhmen, wie ſeh er es in dieſer Ruͤckſicht im Dorf gebeffert. Aber

wer das Dorf beſſer kannte und nicht blind gutmuͤthig war, er feinen Glauben an diefes fo ploͤtzliche Beſſern, und da ein junger Renold fih auch über dieſe Vorſaͤtze freute und einem alten Aebi den Gaſſen nach und an den

Peſtalozzi's Werke. IV. 26

PR

402

r Fingern vorzaͤhlte, wie viel Haushaltungen nach und nad) in eine beſſere Ordnung komen, antwortete ihm dieſer: wart' doch nur ein wenig, bis der Martt auch vor⸗ uͤber, ich will denn ein Narr ſeyn, wenn nicht ſelber aus den Haushaltaͤngen, die du jetzt fo ruͤhmſt, mehr als ein Dutzend voll uud toll und ein paar Stunden fpater, als fie ſonſt ins Bett gehen, von Hirzau heimtommen.

Er hatte darin recht. Der Morgen dieſes Tags war ſo ſchoͤn; die Sonne gieng wie pures Gold auf, und die Evengeluͤſtige Weiber in Bonnal ſahen frühe unter ihren Thuͤren und Fenſtern nach der ſchonen Sonne und nach dem Weg, der ihnen alſo hinab ins Dorf in die Augen ſchien, und ſagten bald uͤber Gaſſen und Gaͤrten hinüber zu einander: wie das ein ſchoͤner Tag ſey und wie lustig es waͤre, wenn di auch hi

Wir ſind doch keine Kinder mehr und koͤnnen uns ja hüten, ſagte bald dieſes bald jenes. Und denn: gaͤll, Al⸗ ter! du ſaufteſt doch nicht? Nein, nein. Gäll, Junge! du kramteſt doch nicht? Nein, nein. Und du ſpielteſt doch nicht? Ich ruͤhrte feine Karte an. So naͤherte es mit jedem Wort dem lieben Gehen, das denn bald kam. Ihrer wohl 40 Maͤnner, Weiber und Kinder nahmen den Entſchlaß, fie wollen es einmal wa- gen, es werde nicht alles gefehlt ſehn.

Und hin war mit dieſem Wort und wie aus dem Kopf weggewiſcht, was fie mit einander vom Sparen, Sorgha—

405 ben und dergleichen behm Aufgang der Sonne geſchwatzt. Sie waren nicht fobald einige Buͤchſenſchuͤſſe weit vom Dorf weg und bey einander, ſo hatten ſie ein Leben und Jauchzen, daß es im ganzen Dorf toͤnte und denn lange noch vom Berg hinab; und auf dem Markt kauften, tanzten, ſoffen und ſpielten die meiſten ungefaͤhr wie ſie es

immer gethan hatten.

Aber die Leute hatten einen Vater daheim, der auf das Spielen ſeiner Kinder ein Aug hatte.

Er vernahm ihr Marktlaufen, ehe ſie in Hirzau waren, und befahl ſeinem Klaus, der an dieſem Abend den Pfarrer von Bonnal heimfuͤhrte, er ſolle beym Ruͤckfahren am Scheid— weg unten am Berg auf ſie warten, zu ſehen, wer ſie ſeyen und wie ſie zugerichtet.

Aber fie kamen nicht bis in die ſpaͤte Nacht. Er war- tete ſie aus und ſaß da in der ſtockfinſtern Nacht mit ſeiner Pfeife im Mund zwiſchen ſeinen zwey Kutſchenlichtern wie ein wahres Geſpenſt.

Endlich gegen 10 Uhr hoͤrte er ihr wildes Getuͤmmel, und ſie ſahen von ferne ſeine Lichter. Das machte ſie ſtill. Je näher ſie kamen, deſto groͤßer ſchienen ihnen die Feuer und deſto mehr duͤnkte es ſie, es ſegen nicht rechte Feuer, und es ſtecke etwas Unrichtiges dahinter. Sie wurden fo ſtill, daß man bald keinen einzigen von ihnen mehr hoͤrte. Auch ihre Tritie wurden leiſer, ſo daß es bald war, wie

"404 wenn kein Menſch mehr vom Berg herab kaͤme. Und in dieſer Stille ſagte ein Kind, das nicht wie die andern ge⸗ a trunken: dieſe zwey Feuer ſeyen in Gottes Namen mitten zim Weg, wo ſie vorbey muͤſſen, und es ſeh ein wunderli⸗ ches viereckigtes Ding, das groß ſey wie ein Haus und kohlſchwarz, und doch manchmal wie lebendig ſcheine, ge⸗ rade hinter den Feuern.

2

Das machte die volle Heerde ſo ängpiid, daß ſie faſt . | athemlos und wie mit einem Auge gegen die Feuer hinſtarr⸗ ten; und nun bewegte ein Zufall die Kutſche, mit ihr chwankten die Lichter, und die volle Heerde meynte, ſie ſehe a de 5 Feuer kiächthurmhoch; e und hinabſpring en.

B' huͤt uns Gott! und ſegw uns Gott! wie war das ein Schrecken. Die Alten verſtummten und die Kinder huben ein Zettergeſchrey an, und lange wußte niemand, was rathen, was helfen. Endlich nach einer Weile daͤmpfte das Beben des Schreckens bey einigen den Wein, daß es war, wie wenn ſie ihre Sinne wieder bekaͤmen, und ein Leupi kam dazu, daß er, wie vernünftig, ihnen den Rath geben konnte, fie follen Strohhalme ſuchen, und ſie kreuzweis uͤber einander in die linke Hand nehmen, und ſo wollen ſie eins dem andern feſt anhangend in Gottes Namen auf dem Fußweg neben dem Waſſergraben bey dem Geſpenſt vorbeygehen, und denn, wenn ſie gerade voruͤber, ſo ſolle ein jedes die Worte aus⸗ ſprechen: „alle gute Geiſter loben Gott den Herrn.“

Die arme Heerde folgte ihm ſo gern als furchtſame

/ 405 ö * Schafe dem Hund, wenn er den Wolf riecht, und fir zufa n⸗

menjagt, daß ſie deſto ſicherer neben dem Wald be 88. a men.

Sie ſchickten m im Augenblick m an, an den Stauden neben dem Weg Strohhalme zu ſuchen. Als ſie deren hatten, zerbrachen ſie dieſelben, machten Kreuze daraus, und legten ſie den Kleinen und Jungen noch in die Hand, daß ſie ihnen recht kommen, dann lehrten ſie ſie noch die

Worte ausſprechen: „alle gute Geiſter loben Gott den Herrn.“ N

So traten ſie den Weg an; aber ihre Knie ſchwankten, ihre Hande bebten, und fie zogen aneinander hangend fort, wie wenn ſie nicht giengen. So kamen ſie endlich ſo lang⸗ ſam forttreibend gerade neben die Feuer vorüber, und wollten eben ihre Nothworte „alle gute Geiſter“ uͤber ihre ſtarren Lippen herauslaſſen, als in dieſem Augenblick der Klaus ſein Leitſeil zog. Da ſtampften die Roſſe, die Raͤder klirrten, die Feuer ſprangen und, wie wenn die Erde unter ihnen gewichen, lag die Heerde mit einander im Graben und meynte nichts anders, als der Teufel habe ſie alle mit einander ſo auf einen Klapf über Bord geworfen.

Jetzt erhob ſich ein Schreyen, das dem Klaus auf dem Bock ans Herz gieng; denn es war wie das Schreyen aus brennenden Haͤuſern. Er fieng an, ihnen, was er aus dem Hals vermochte, zuzuſchreyen: ihr Narren! ihr Narren! was

N

406 iſt das für ein Schreven? Kalberleder! du Ochs! Sigriſt! Huͤgi! ihr Hornvieh, und du, Leupi! du Narrenfuͤhrer, wofuͤr haltet ihr mich?

Da erkannte die Heerde im Koth die Stimme des Kut— ſchers, und ſie war ihr, wie die Stimme eines Engels. Biſt du es, Klaus? Gottlob, daß du es biſt! antwortete aus dem Graben, was noch reden konnte. Dann fragten fie ihn bald: was doch das für Feuer? und ob er dabep ſey? und das Wort, es feyen feine Kutſchenlichter, richtete ſie auf, wie das Wort: „es ſey Pardon da“ ar— me Teufel unter dem Galgen aufrichtet. Es war nicht anders, als wenn es ſie aus dem Graben heraushob.

So wieder auf den Beinen, kamen ſie nach und nach auch auf die Hauptſtraſſe, wo der Klaus mit ſeiner Kut— ſche wartete.

Die meiſten hatten Schuhe und Huͤte, und was ſie in Hirzau gekramt, verloren, und alle ihre Lichter waren ver— loſchen. Er aber war gar freundlich mit ihnen, und zuͤn— dete ihnen ihre Lichter wieder an. Aber mit dem ſah er auch, wer ſie waren. Das verdroß den Stierenbauer, der boͤſen Wein trinkt, und wenn er eine halbe mehr im Leib hat, als er gewohnt, nie ſein Maul halten kann; er fieng zuerſt an zu murren: es brauche ſich nicht, daß er ihnen jetzt noch ſo unter die Naſe zuͤnde, er habe wohl bald et— wa Bosheiten genug getrieben. Dann bald ſagte er

407

ihm alle Schande und Spott, und bruͤllte laut: wenn er ſiebenmal des Jaͤnters Knecht und feiner Roſſe Kutfcher ſey, ſo ſey's doch nicht recht und nicht brav, und ein ehr— licher Kerl mach's nicht ſo, und dergleichen.

Das aͤngſtigte die vollen Männer und Weiber, daß fie ihn mit Gewalt vom Klaus wegzerrten. Seine Frau hielt ihm ſogar ein Tuch fuͤr's Maul, daß er ſchweigen mußte.

Das volle Volk aber, das noch nicht ſtehen konnte, wollte dem Klaus jetzt doch dies und das ſagen, er ſolls nicht uͤbel nehmen und dergleichen. Aber er ließ ihnen nichts daraus gehen und erwiederte ihnen: ſie denken das alle auch, was der Stierenbauer ſage, und er ſey wohl ſobald der ehrlichſte unter allen.

Mit dem zog er ſein Leitſeil, klatſchte mit der Geiſſel, und weg war er jetzt von der vollen Heerde.

Ende des vierten Theils.

ne EI. 7

IR

«

A Ra tt en or oh Ent. A 2 8. 20 a

e 75 an 11 e 0 ale ee

N

e, a 5 ge. Mi] 10 vie f

2

139

7 5 ,

e I. 3 55 3. ngen, 1

5 A

1

N

* n r RER

11 5

%

+} TI

2 1

ar r

x