JOH. FRIEDR. HERBART'S

SÄMTLICHE WERKE.

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JOE FR. HERBART'S

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SÄMTLICHE WERKE.

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IN CHRONOLOGISCHER REIHENFOLGE

HERAUSGEGEBEN

VON

KARL KEHRBACH.

FÜNFTER BAND.

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NOV. .2.2. M

LANGENSALZA, DRUCK und VERLAG von HERMANN BEYER & SÖHNE.

1890.

VORREDE

des Herausgebers zu den Schriften des fünften Bandes.

Citierte Ausgaben.

A. P. M = Altpreufsische Monatsschrift, herausgegeben von Reicke u. WlCHART. HR = HERBART'sche Reliquien, herausgegeben von T. Ziller. KlSch = J. F. Herbart's Kleinere philosophische Schriften, herausgegeben von G. Hartenstein. O = der jemalige Originaltext. SW = J. F. Herbart's Stimmt liehe Werke, herausgegeben von G. Hartenstein.

I.

Erste Vorlesung über praktische Philosophie. Im Sommer 1819.

S. 1 10.

Die für den Sommer 18 19 angekündigte Vorlesung über die prak- tische Philosophie verwandelte Herbart in eine öffentliche, aus Gründen, die er auf S. 4 u. ff. angiebt. Warum er die erste Vorlesung dieses Kollegs sorgfältig aufschrieb und vom Blatte ablas, ist S. 3 angegeben.

Das Manuskript, 2059 der Königsberger Universitätsbibliothek, welches vorliegendem Abdrucke zu Grunde gelegen hat, besteht aus 12 Bll. 40.

IL Ueber Menschenkenntnisse in ihrem Verhältniss zu den politischen

Meinungen. [1821.] S. 11 24. Das Manuskript 2056 (6) zu der bei der Geburtstagsfeier Friedrich Wilhelms III in der deutschen Gesellschaft zu Königsberg gehaltenen Fest- rede besteht aus 32 S. 40, von denen 27 beschrieben sind. Auf S. 9 und 10 der Handschrift ist ein Teil des Inhalts ausgestrichen. An den Rand hat Hartenstein mit Bleistift geschrieben „das Ausgestrichene gilt." Es handelt sich hierbei nur um den Abschnitt S. 16, Z. 4 v. u. „man täuscht sich, wenn" . . . bis . . . S. 17 Z. 19 v. o. „Zeit betrachten, so wird leicht erhellen, dafs" ... Es sind dabei unter die oben an- geführten durchstrichen en Anfangs- und Endworte, und zwar nur unter diese, Punkte angebracht worden, die also belegen, dafs Herbart diese Worte gelten lassen wollte. Ohne den dazwischen liegenden kreuz und quer durchstrichenen Text ist aber eine Ueberleitung von d<en unter- punktirten Anfangs- zu den Endworten nicht ohne Correkturen zu er- möglichen. Es ist daher wie in SW und KlSch der durchstrichene Text mit abgedruckt worden. Herbart hat wahrscheinlich den durchstrichenen Text anfänglich weglassen wollen, sich aber dann eines anderen besonnen und durch die am Anfang und Ende angebrachten Punkte bezeichnen wollen, dafs auch das daswischen liegende Ausgestrichene Geltung haben sollte. Uebrigens ist auch noch auf S. 15 der Handschrift (im vor- liegenden Texte S. 19, Z. 18 v. u.) ein Abschnitt ausgestrichen, aber hier

VIII Vorrede des Herausgebers zum V. Bande.

ist wohl ausgeschlossen, dafs Herbart diesen Satz hat gelten lassen wollen. Der Satz, welcher sich nach „finden werden" anschliefst, lautet:

„Ueberall wird man in der waltenden Macht, der man unterworfen ist, etwas zufälliges finden, da sie bestimmten Personen unter bestimmten, veränderlichen Umständen zu Theil geworden ist; überall wird man sich fragen, ob dieser Zufälligkeit zu dienen nothwendig sey ? Und überall wird es Menschen geben, die, weil sie gar wohl einen andern Staat, andere Formen und eine andere Verfassung sich denken können, vergessen werden, dafs der Werth eines neuen Gebäudes, verglichen mit dem eines alten, noch brauchbaren, zuerst davon abhänge, ob man im Stande sey es vechter zu bauen wie das alte ? Eine Frage, die beym Staate, dem Inbegriff aller Rechstverhältnisse noch weit wichtiger ist als bey jedem andern Ge- bäude."

III.

Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats- wissenschaft [1821.] S. 25—40.

Die Handschrift zum vorliegenden Texte befindet sich in der Königs- berger Bibliothek, als Msc. 2058. Dieselbe umfafst 24 S. gr. 40.

IV. De attentionis mensura causisque primariis. [1822.] S. 41 89.

Die folgenden unbedeutenden Verbesserungen sind im Texte nicht angemerkt worden :

S. 62, Z. 2 v. o. longa . . . statt . . . lange. S. 74, Z. 17 v. u. statt ,

d u du

_ m dti m d u

S. 79, Z. 1 v. o. . 4- . . . statt . . . -. S. 86, Z. 3 v. u. 312,5 du

p u Z p u-\-

187,5 statt 4I2>5 du 1875.

Die Abweichungen von SW sind unter dem Texte verzeichnet. Nachzutragen wäre noch S. 52, Z. 5 v, o. "ut" in SAV gesperrt; ferner S. 67, Z. 10 v. o. und aut den folgenden Seiten haben SW „log. nat." immer gesperrt. S. 76, Z. 28 v. o. „cum" in SW statt „quum" im Original.

V.

Ueber die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psy- chologie anzuwenden. [1822.] S. 91 122.

Der genaue Titel, der unter V abgedruckten Schrift lautet: Ueber die | Möglichkeit und Notwendigkeit, | Mathematik auf Psychologie anzuwenden. Von [ Johann Friedrich Herbart, | Professor der Philo- sophie zu Königsberg. | Königsberg, 1822. | Bey den Gebrüder Born träger. X, 102, kl. 8 0.

III. Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. VI. Rede. IX

Leider ist es dem Herausgeber erst nach dem Drucke des Text- teiles vorliegenden Bandes gelungen, ein Exemplar dieser Schrift zu be- kommen, der Text ist daher nach SW gedruckt worden.

Die nachträgliche Vergleichung des Textes von SW und dem Original (O) hat folgende Abweichungen ergeben:

S. 93, Z. 5 v. o. SW: Auf solches Gerathewohl . . .; O: Auf ein solches Ge- rathewohl. — S. 94, Z. 17 v. o. SW: Philosophen . . .; O: sind Philosophen. S. 94, Z. 10 v. u. SW: Vorurtheilen . . .; O: Urtheilen. S. 95, Z. 4 v. o. SW: For- schungen; O: Nachforschungen. S. 97, Z. 15 v. u. SW: unvollkommene; O: voll- kommene. — S. 99, Z. 12 v. u. SW: ganz natürlich; O: sehr natürlich. S. 102, Z. 6 V. u. SW: mit hin . . . ; O: hin mit. S. 102, Z. 8 v. u. SW: immer von selbst; O.: immer selbst. S. 106, Z. 7 SW: irgend einer Sicherheit; O: irgend einiger Sicherheit. S. 108, Z. 2 3 v. o. SW. : dahin unbekannten; O: dahin so gut als unbekannten. S. 115, Z. 22 v. o. SW : und wir; O: und wie wir (Druck- fehler). — S. 115, Z. 8 v. u. SW : erst als; O: erst wie. S. 115, Z. 7 v. u. fehlt nach „Ellipse" in SW der Zwischensatz : , die Kometenbahn erst wie eine Parabel, und späterhin wie eine Ellipse. S. 115, Z. 5. v. u. SW: Die Gemälde.. .; O: Das Gemälde. S. 116, Z. 11 v. u. SW : producirt . . ., O: reproducirt. S. 118, Z. 23 v. o. SAV: merkwürdigsten; O: merkwürdigen. Aufserdem drucken SW „etwa", statt O: „etwan" und „von Fichte" statt „von Fichten" (S. 108, Z. 6 v. o.).

Durch ein Versehen sind folgende Korrekturen nicht erledigt worden: S. 93, Z. 17 v. o: ich in eben . . . statt: ich eben in. S. 94, Z. 10 v. u. . Vorurtheilen . . . statt : Urtheilen (O). S. 94, Z. 5 v. u. : ungeordneter . . . statt : untergeordneter. S. 97, Z. 15 v. u. : imvollkommene . . . statt: vollkommene (ü). S. 98, Z. 25 v. o: Dafs es . . . statt: Dafs er. S. 100, Z. 5 v. o: unlautere moralische Gesinnung . . . statt: unlautere Gesinnung. S. 102, Z. 10 v. o.: Zwischen welchen . . . statt: zwischen welche. S. 105, Z. 7 v. u. : mag er vollkommen wahr . . . statt: mag er noch so vollkommen wahr. S. 107, Z. 1 v. o.: Hemmungsgrad . . . statt: Hemmungs- grund. — S. 109, Z. 19 v. u. : eine solche Menge . . . statt: eine Menge. S. 114, Z. 10 v. u. : unkräftig . . . statt: urkräftig. S. 115, Z. 7 v. u. mufs nach „Ellipse" der Zwischensatz eingeschoben werden : die Kometenbahn erst wie eine Parabel, und späterhin wie eine Ellipse (O). S. 118, Z. 16, 17, 22 v. o.: rationaler, irratio- naler . . . statt: rationelle, irrationeller. S. 121, Z. 8 v. o. : werde angezeigt . . . statt: werden angezeigt. S. 121, Z. 13 v.o.: umgekehrten der Zahlen . . . statt: umgekehrten Zahlen. S. 121, Z. 17 v. o.: Nach „werden" mufs der Satz eingefügt werden: Allein hier stofsen wir auf ein unerwartetes Hindernifs!

VI.

Rede, gehalten am Geburtstage Kant's, zu Königsberg. 22. April

1823. s- -23 126.

Die Handschrift zu VI scheint verloren gegangen zu sein. Der vor- liegende Text ist genauer Abdruck des in den Herbart'schen Reliquien gebotenen Textes. Dieser wiederum ist nach dem in der Altpreufsischen

X Vorrede des Herausgebers zum V. Bande.

Monatsschrift (A. P. M.) von Dr. Reicke nach der Handschrift heraus- gegebenen Texte gedruckt worden.

Dieser Letztere enthält nur am Schlüsse noch den Zusatz: „Kant's Vater- stadt soll leben!" den Ziller weggelassen hatte und der hier nachgetragen sei.

Der Text von HR zeigt gegenüber dem von A. P. M nur einige ganz unbedeutende orthographische Abweichungen. („Kant's" statt „Kants"; „Speculation" statt „Speku- lation".)

VII.

Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

S. 127 140.

Die Veranlassung dieser Vorlesung giebt Herbart S. 12g an.

Die Handschrift, welche vorliegendem Abdrucke zu Grunde gelegen hat, befindet sich in der Königsberger Universitätsbibliothek (Msc. 2056 VII). Dieselbe umfafst 35 beschriebene Seiten.

VIII. Zwei Vorlesungen. S. 141 161.

I. Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten.

S. 147—158.

II. Ueber den Gegensatz der beyden Electricitäten. S. 159— 161.

Herbart hat diese beiden Vorlesungen nicht drucken lassen, ob- wohl er es beabsichtigt hatte (s. S. 143 Z. 1). Hartenstein erwähnt KlSch Bd. I, S. LXXV in dem Verzeichnis der im Herbart'schen Nachlasse befindlichen Schriften die vorstehenden Vorlesungen, druckt sie aber nicht ab, weil, wie er KlSch Bd. II, S. XVII sagt, der Vortrag (Hartenstein spricht nur von einem Vortrage) „aufser einer genauen Beschreibung der Instrumente, deren sich Herbart bei seinen Versuchen über Electricität bedient hat, nichts enthält, was nicht im IL Bande der Metaphysik 400 412, S. 531 587) auseinandergesetzt wäre." In SW sind die beiden Vorträge auch nicht gedruckt worden. Obwohl Her- bart ausdrücklich in der Vorrede (S. 143) erklärt, dafs er die beiden Vorlesungen in „zwei verschiedenen gelehrten Gesellschaften" gehalten habe, enthält doch die Handschrift unter der Überschrift eines jeden der Vorträge den Vermerk: „vorgelesen in der physikalisch-ökonomischen Ge- sellschaft" zu Königsberg.

Meine Nachforschungen in Königsberg über den wahren Sachverhalt haben bis jetzt ein Resultat nicht ergeben. Sollte das in Zukunft der Fall sein, so wird in den Nachträgen des Schlufsbandes der Herbart-Ausgabe darüber Bericht erstattet werden. Wahrscheinlich ist der eine Vortrag in der Deutschen Gesellschaft gehalten worden. Hätte Herbart beide Vor-

VII. Hauptansichten der Naturphilosophie. XI. Psychologie als Wissenschaft etc. XI

träge in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft gehalten, so würde er sicher nicht dieselben mit gleichlautenden Eingangsworten begonnen haben. Die Handschrift trägt die No. 2069 der Königsberger Universitätsbibliothek und umfafst 60 S. 40. Die zweite Vorlesung ist nicht mehr vollständig erhalten. Es darf nicht auffallend erscheinen, dafs auf S. 151 die ein- getragene Seitenangabe des Originals von S. [28] auf [31] springt. Im Manuskript sind nämlich die Seiten 29—30 durchstrichen. Herbart hat aber trotz dieser Ungiltigerklärung dieser Seiten die Ziffern der folgenden Seiten nicht geändert.

IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. [1824.] S. 163

bis 170.

Da die Handschrift, welche Ziller bei der Herausgabe des vor- liegenden Textes in den Herbart'schen Reliquien benutzen konnte, nicht mehr aufzufinden war, so ist hier der Ziller'sche Text zu Grunde gelegt worden. In Gemäfsheit der in der Vorrede zum ersten Bande vorl. Ausgabe S. XIV Anmerkung angegebenen Grundsätze, ist nur die Ortho- graphie etwas verändert worden.

S. 167, Z. 12 v. u. ist der Druckfehler „Gerade" in „Grade" stillschweigend ver- bessert worden.

X. Zwei Promotionsreden aus dem Jahre 1824. S. 170 176.

Das Manuskript zur ersten Rede (Msc. 2382, (1) 40) der Königs- berger Universitätsbibliothek) besteht aus 4 grofsen Quartseiten, von denen 3 vollständig beschrieben, mit „tibi primus gratulor" abschliefsen, die 4. nur die Worte : „examine rigoroso feliciter superato ob praeclara in philo- logicis specimina exhibita" enthält. Diese Formel ist (s. S. 174) nach „Hamann" eingefügt worden.

Mit der Handschrift zur 2. Rede (Msc. 2382, 2 40 4. S.) verhält es sich ähnlich. Herbart schliefst S. 3 mit „proclamo". Nachträglich wird er dann die Formel: „ob eximia in philosophicis specimina et ceterum ingeniis cultum" auf die 4. Seite eingetragen haben. Diese Formel ist im vorliegenden Texte S. 17Ö nach „Sieffart" eingefügt worden.

XL Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster synthetischer Teil 1824.

S. 177—402.

Folgende Verbesserungen sind, ohne dafs eine Anmerkung darauf hinwies, stillschweigend im Texte bewirkt worden :

XII Vorrede des Herausgebers zum V. Bande.

S. 341, Z. 16 v. u. : mit der Kraft . . . statt ... mit der . S. 351, Z. 18 v. u. : 0,0614 . 2 . . . statt . . . 0,0614 -f 2. S. 352, Z. 18 v. u.: 0,6965 . . . statt

H I

statt . . . [c -f- ^—) [SW drucken hier iälschlich nach dem Original.] S. 384, Z. 4

v. o.: 0,34454 statt °34454- s- 4IO> z- 6 v. o. : Kraft gesperrt (= SW.) S. 431, Z. 7 v. u. : Daseyns? . . . statt . . . Daseyns.

Folgende Abweichungen der Ausgabe SW von O sind im Texte selbst nicht angemerkt worden. Der vorliegende Text folgt in den folgenden Fällen dem Wortlaut von O S. 226, Z. 9 v. u. SW: bei § . . . O: beym §. S. 233, Z. 2 v. o. SW: Gang setzte... O: Gang setze. S. 233, Z. 10 v. o. SW: § 11 O: 11 13. S. 259 im griechischen Chat hat SW accentuiert (ebenso 266, Z. 3, v. u. tw.) S. 310, Z. 5 v. u. hat SW die Worte H. S. aufgelöst in „Hemmungs-Summe". S. 311, Z. 2

v.u. SW.: ß -—; O: ß =—. S. 311, Z. 2 v.u. SW: (ab+an); O: (ap + an).

a

S. 349 die letzte Zeile vor § 80 SW: q = 1 r t - ;

°^y ° a -|- c a -\- c

O: rf = , 1— = -4-. - S. 355. 2- 9 v. o. SW: (1 = e~l) . . . O: (1— «-*)-

a -f- c a -\- c

S. 387, Z. 5 v. u. SW: . . . und folglich eine Constante . . . O: und folglich <p eine Con- stante. S. 391, Z. 8 v. u. SW; ^c ctpe—ß*... O: ctf -f V— ape-ß*. S. 403, Z. 5 v. o. SW: Die Kraft . . . O: Diese Kraft. S. 403, Z. 3 v. u. SW: in Gleich-

13 1

artigen ... O: in Gleichartiges. S. 406, Z. 24 v. u. SW: u tis etc. O: u

US etc. S. 407, Z. 3 v. o. SW : müfsten . . . O : müssen. S. 407, Z. 3

v. u. SW: Bewufstsein verschwunden . . . O: Bewufstsein völlig verschwunden. S. 408, Z. 15 v. u. SW: ertheilten . . . O: ertheilen. S. 420, Z. 9 v. o. SW: „und" nicht gesperrt. S. 423, Z. 14 v. u. SW: Ja und Nein . . . O: des Ja und Nein.

S. 431, Z. 11 v. o. SW: Substanz uneingeschränkt . . . O: Substanz als un- eingeschränkt.

Eine Anzahl der vorstehenden Verbesserungen und Abweichungen würden bereits ira Texte als solche bezeichnet worden sein, wenn nicht befürchtet worden wäre, dafs durch die dann notwendigerweise in die mathematischen Formeln einzufügenden Ver- weisungsziffern sehr leicht Irrtum oder doch eine Erschwerung der Lektüre hervorgerufen werden könnte.

Berlin, März 1890.

Karl Kehrbach.

Inhalt des fünften Bandes.

Seite VII-XI

Vorrede des Herausgebers zu den Schriften des V. Bandes

I. Erste Vorlesung über praktische Philosophie. Im Sommer 1819 1 10

II. Ueber Menschenkenntniss in ihrem Verhältniss zu den po- litischen Meinungen. Rede [1821] 11—24

III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats- wissenschaft. [1821] 25—40

IV. De Attentionis Mensura Causisque Primariis. [1822] 41—89

Prooemium 43— 46

Conspectus 4/

Praemonenda 54

De attentionis causis primariis 54 °2

De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis primariis

reddi nequit 82—89

V. Ueber die Möglichkeit und Nothwendigkeit , Mathematik auf

Psychologie anzuwenden. [1822] 91 I22

Vorwort 93— 94

VI. Rede, gehalten am Geburtstage KANT's, zu Königsberg. [1823] 123—126

Vn. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

[1823] I27-^°

VHI. Zwei Vorlesungen über Electricität 141 161

Vorrede 143— »4<>

Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der Electricitäten 147 158

Ueber den Gegensatz der beiden Electricitäten 159— 161

IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. [1824]

X. Zwei Promotionsreden. [1824]

XI. Psychologie als Wissenschaft neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Erster synthetischer Theil. [1824]

Vorrede

Inhalt des ersten Bandes

Einleitung

Erster, synthetischer Teil

Erster Abschnitt. Untersuchung über" das Ich, in seinen

nächsten Beziehungen .... 23/-

Erstes Capitel. Über die philosophische Bestimmung des Begriffs

vom Ich 237—242

163-

-170

171-

-176

177-

-402

179-

-183

184

185-

-234

235

XIV Inhalt des fünften Bandes.

Seite Zweytes Capitel. Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen

Problems, nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung .... 242 253 Drittes Capitel. Vergleichung des Selbstbewufstseins mit andern

Problemen der allgemeinen Metaphysik 253 273

Viertes Capitel. Vorbereitung der mathematisch -psychologischen

Untersuchungen 273 280

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.... 281 337 Erstes Capitel. Summe und Verhältnifs der Hemmung bey vollem

Gegensatze 281 287

Zweytes Capitel. Berechnung der Hemmung bei vollem Gegensatz,

und erste Nachweisung der Schwellen des Bewufstseyns 288 297

Drittes Capitel. Abänderungen des Vorigen bey minderem Gegensatze 298 306 Viertes Capitel. Von den vollkommnen Complicationen der Vor- stellungen 3°7—3 l 7

Fünftes Capitel. Von den unvollkommnen Complicationen 317 324

Sechstes Capitel. Von den Verschmelzungen 324 337

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.. 338 402

Erstes Capitel. Vom Sinken der Hemmungssumme 338 342

Zweytes Capitel. Von den mechanischen Schwellen 342 354

Drittes Capitel. Von wiedererweckten Vorstellungen nach der ein- fachsten Ansicht 354 368

Viertes Capitel. Von der mittelbaren Wiedererweckung 368 386

Fünftes Capitel. Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen . . . 386 —402

I.

ERSTE VORLESUNG

UEBER

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE.

Im Sommer 1819.

[Text nach dem Msc. 2059 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Citirte Au sgaben.

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX, 165 178), herausgegeben von G. Hartenstein. KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 297 310), herausgegeben von G. Hartenstein.

Herbart's Werke. V.

Erste Vorlesung über tfie praktische Philosophie im

Sommer 1819.

M. h. H. Das System der praktischen Philosophie, welches ich, meiner langen Gewohnheit gemäfs, in diesem Halbjahre wieder vortrage, wurde niedergeschrieben und öfifentlich durch den Druck bekannt gemacht zu einer Zeit, da ich in Göttingen als Unterthan des Königs Hieronymus Napoleon lebte und lehrte. Mit andern Worten, es erschien mitten in der Zeit der hoffnungslosesten Schmach, welche Deutschland jemals er- duldete. Was damals die Zeitgenossen nicht mehr erleben zu können meinten, geschah bald; Deutschland wurde erlöset vom fremden Joche. Glauben Sie vielleicht, diese Veränderung hätte gewirkt auf meine Lehr- sätze vom Recht und der Pflicht, vom Staate und seinen wesentlichen Einrichtungen? Sie würden sich irren. Als mein Buch erschien, war der westphälische Despotismus noch nicht reif genug, um einem Lehrer, der nur allgemeine Betrachtungen anstellte, Zwang aufzulegen; daher konnte ich in meine kurzen Worte alles das einhüllen, was jemals, auch in der freyesten Zeit, im ausführlichen mündlichen Vortrage auseinander- zusetzen mir Bedürfnifs geworden ist und noch werden wird. Und be- merken Sie wohl, meine Herrn: damals genossen die deutschen Uni- versitäten überall, auch im Auslande, eine sehr hohe Achtung, durch welche sie gegen Machtgriffe geschützt waren. Niemand glaubte einen Vorwand finden zu können, um sie in ihrer alten Freyheit des Lehrens und Lernens zu kränken. Der grofse Napoleon fürchtete, Deutschland. das damals so geduldige Deutschland! aufzuregen, wenn er die Universitäten angriffe. Soviel wirkte der unbescholtene Ruf, dessen sich unsre Hochschulen erfreuten ! Seitdem nun hat sich manches Jahr herum- gewälzt, mit allem dem Reichthum der mannigfaltigsten Begebenheiten, um derentwillen man oft gesagt hat, unsre Zeit presse Jahrhunderte zusammen in Jahrzehnde. Und dafs ich in diesen Jahren des Wechsels meine prak- tische Philosophie, die zwar immer dieselbe blieb, mit wechselnder Stim- mung, wechselnder Hoffnung, vortragen mufste, können Sie leicht denken. Doch niemals, selbst in den trübesten Tagen niemals ! habe ich beym An- fange dieser Vorlesungen eine solche Beklommenheit empfunden, wie jetzo.

Sie sehn schon, meine Herrn, dafs ich beklommen bin, da ich ein Blatt mitbringe, welches ich ablese ; Sie sehn, dafs ich mir nicht getraue, mich nach meiner Gewohnheit der Eingebung des Augenblicks zu über- lassen. Und warum nicht? Weil die Worte, die ich heute im Anfange der Stunde zu Ihnen spreche, bereit sein sollen, Jedem der von mir des- halb Rechenschaft fordern könnte, genau und pünklich vorgelegt zu werden.

I. Erste Vorlesung über die praktische Philosophie.

Doch spannen Sie Ihre Erwartung ja nicht zu hoch ! Was ich Ihnen sagen will, ist das Einfachste von der Welt. Nichts weiter will ich, als Ihnen erklären, weshalb ich diesmals diese Vorlesungen, die schon, wie ge- wöhnlich, im Catalog als Privat - Lektionen angekündigt waren, öffentlich halte. Indessen freylich, um dies erklären zu können, mufs ich des Gegen- standes gedenken, der jetzt das allgemeine Gespräch des Tages ausmacht.

Eine Begebenheit* hat sich ereignet, die wenn sie erdichtet wäre, tragisch heifsen würde; tragisch im höchsten Sinne des Wortes, weil sie weder ein blofses Unglück, noch ein blofses Verbrechen, noch eine blofse Abbüfsung des einen durch das andre, mit einem Worte, nichts Ein- faches für Gefühl und Beurtheilung, sondern gerade im Gegentheil, eine so schreckliche Verwickelung darstellt, dafs sie das Gefühl betäubt, indem sie das Urtheil auf zweifache und entgegengesetzte Weise beschäftigt, und dafs man den Tod als Erlöser zugleich und als verdiente Strafe herbey- ruft, damit der Verbrecher die Nemesis versöhne, und durch höhere Er- leuchtung von seinem unglücklichen Wahn gereinigt werde. Menschen können ihn richten und sie müssen es; aber das ist nicht alles; jenseit des Grabes mufs ihm eine neue Sonne aufgehn, zunächst um die Nacht seines Irrthums zu erhellen, dann um ihm den wahren Weg der Tugend und des Heils zu zeigen, welchen er, wie es scheint, redlich suchte und nicht finden konnte. Jenseit des Grabes, in der übersinnlichen Welt, die wir jedoch hier als Verlängerung unseres irdischen Lebens betrachten, suchen wir die Milderung, die Besänftigung, deren unser empörtes Ge- fühl bedarf; und leicht würden wir finden, was wir suchen, wenn uns ein Gegenstand der Phantasie beschäftigte, den wir mit poetischer Frey- heit behandeln könnten ! Leider,! die That, von der ich spreche, ist wirk- lich geschehen. Kein glückliches Hindemifs hat den Dolchstofs vereitelt, kein besonnener Freund, kein warnendes Zeichen hat den Irrenden zurecht- geführt. Er hat Zeit genug gehabt, um fürchterliche Danksagungen gen Himmel zu senden für das Gelingen einer That, die der Himmel niemals lohnen, höchstens nach vollständiger Bufse verzeihen kann.

Und wer ist der Thäter? Ein Studirender. Und wo sucht man den Grund der That ? In dem Geiste, der jetzt auf den Universitäten herrschen soll. Und wen macht man deshalb verantwortlich? Die akademischen Lehrer. Und in welcher Fakultät sucht man die Irrlehren ? In der philosophischen.

Dahin ist es gekommen! Ein Trugbild von heroischer Tugend hat einen einzelnen Jüngling verleitet, wir hoffen wenigstens bis jetzt, es sey ein Einzelner ; darum verklagt man die Freyheit des Denkens und Lehrens, ohne welche bald die Philosophie wird in Vergessenheit gerathen müssen.

Gleichwohl ist es sehr gewifs, dafs eben nur die Philosophie vermag, die schwankenden Meinungen vestzustellen, und das Paradoxon zu lösen, wie eine That, an der jede Entschuldigung scheitert, hervorgehn konnte aus Gesinnungen, die eine wahre moralische Energie zu bezeichnen scheinen. Es ist gewifs, dafs eben jene heilloseste Verschwendung der edelsten Gemüthskräfte, die wir betrauern, durch die nämliche Wissen- schaft, welche zu lehren mir hier obliegt, ohne viel Mühe hätte in wohl

* Die Ermordung Kotzebues.

Erste Vorlesung über die praktische Philosophie im Sommer 1819.

überlegte Sparsamkeit können verwandelt werden, vielleicht mit Verlust an falscher Gröfse, aber mit Gewinn an wahrer Würde, die sich nur auf Unschuld und Reinheit gründen kann.

Sie werden im Laufe dieser Vorlesungen allmählich die verschiedenen Arten der Beurtheilung hervortreten sehen, aus welchen sich der Aus- spruch über eine That und Gesinnung unvermeidlich zusammensetzt. Sie werden sehen, in wiefern dies Beydes, That nämlich und Gesinnung, theils verbunden, theils aber auch gesondert werden mufs, um die Be- urtheilung zur Reife zu bringen. Sie werden auch jene unglücklichen Verwicklungen begreifen lernen, in welchen zuweilen der gesunde Sinn der redlichsten Menschen sich gefangen findet, so dafs er nicht mehr vermag sich über Liebe und Hafs zu erheben, sondern nur partheyische Urtheile zu Stande bringt, die oft auf beyden Seiten gleich verkehrt, und doch gleich ehrlich gemeint, zum Vorschein kommen. Sie werden Ge- legenheit finden, über jene Jesuitische Moral nachzudenken, welche lehrt, der Zweck heilige die Mittel. Sie werden sehn, dafs dieser Grundsatz, weit entfernt, moralisch zu seyn, vielmehr alle Moral untergräbt; und dafs er, unfähig die Thaten zu reinigen, die Gesinnungen in ihrem Innersten vergiften mufs, wenn er ins Herz eindringt, und nun mit Vestigkeit durch- geführt wird. Sie werden sehen, dafs die praktische Philosophie den Menschen zum Handeln zwar auffordert, aber noch weit mehr darin be- schränkt und dafs sie ihm im Voraus die Hoffnung benimmt, der wahren Tugend in den äufserlichen Handlungen einen richtigen und vollständig angemessenen Ausdruck zu geben. Schlagen Sie mein Buch auf; es ist vor mehr als einem Jahrzehend geschrieben und auf die heutigen Be- gebenheiten gewifs nicht berechnet; aber es schliefst mit einem Capitel über die Gränzen der Geschäfftigkeit. Und wie solle es nicht? Hatte doch schon Platon, der beste unter den alten Sittenlehrern, die Ge- rechtigkeit darin gefunden, dafs Jeder das Seinige thue, und nur das Seinige! Wenn dem also ist: so liegt in der Vielgeschäftigkeit das Un- rechte und Verkehrte; so ist Ueberschreitung des Berufs der Schritt zur Sünde; so ist falsche Einbildung eines vermeinten Berufs der allergefähr- lichste Wahn, der ein sonst edles Herz umstricken kann.

Aber die praktische Philosophie, wie genau sie auch lehren mag, was zu thun und zu lassen sey, hat gewöhnlich das Schicksal, dafs sie der Reue gleicht; der Reue, die zu spät kommt. Zu spät schon damals, als Platon ihren ersten Grundgedanken richtig darlegte; denn das Zeit- alter war schon verdorben, ein verzehrendes Fieber erschöpfte schon die gährenden Kräfte; Ordnung und Unterordnung war schon entwichen aus dem Volke, und dem Macedonischen Despotismus wurde schon die Ge- legenheit bereitet, die er späterhin so begierig ergriff. Zu spät kommt die praktische Philosophie auch jetzt. Sie findet ein Geschlecht, das sich einbildet, ein philosophisches zu seyn, und das in der Staatslehre zwischen den ausschweifendsten, unter sich entgegengesetzten Irrthümern umherschwankt, indem es bald von Freiheit und Gleichheit, bald von der Ueberlesenheit der Stärkern und dem Bedürfnisse der Schwächern, bald von der ursprünglichen Eigentümlichkeit als dem Grunde alles Rechts zu reden beliebt. Ein Geschlecht, das sich einbildet, ein philosophisches zu

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I. Erste Vorlesung über die praktische Philosophie.

seyn, und das mit besserem Rechte, ein aufgeregtes, stürmisches, viel- geschäfftiges genannt wird; während Philosophie mit der nämlichen Ge- müthsruhe anfangen mufs, mit der sie endigen soll. Jedoch eben deshalb, meine Herrn ! gebiete ich mir in diesem Augenblick, nicht weiter zu klagen. Es soll nicht scheinen, als hätte ich selbst die Gemüthsruhe verloren. Wie in den vorigen Jahren, so will ich auch jetzo meine Wissenschaft in ihrer Allgemeinheit vortragen, meinen Zuhörern aber nicht blofs die Nutz- anwendung überlassen, sondern ihnen auch, falls ich irgend eines Ein- flusses auf ihre Stimmung mächtig bin, die Stimmung der Ueberlegung, der nüchternen Prüfung, der Umsicht und Vorsicht mittheilen, die ich selbst zu allererst von demjenigen fordere, der da begehrt, für einen Philosophen gehalten zu werden. Sie sollen es fühlen, meine Herrn, dafs die Wissenschaft, welche ich lehre, zwar für einen denkenden Menschen nicht eben schwer zu fassen, wohl aber unfafslich ist für jeden unruhigen Kopf. Begegnet es irgend einen von Ihnen, dafs er sich hat hinreifsen lassen von einer Angelegenheit des Augenblicks, sey sie grofs oder klein, und erfülle sie ihn mit Liebe oder mit Hals: so soll er gewahr werden, dafs er hier bei mir ein Fremdling ist, den höchstens das Einzelne an- sprechen kann, dem aber der Zusammenhang fehlt. Wer zu irgend einer Parthey gehört, und wem diese Verbindung mehr gilt, als ruhige Vernunft und veste Ordnung: den will ich bald überzeugen, dafs ich ihm nicht erlaube, mich zu seiner Parthey zu zählen. Das, meine Herrn, ist meine AVeise, und dafür bin ich hier lange genug bekannt.

Und darum achte ich mich berechtigt eben so sehr als verpflichtet, unter den gegenwärtigen Umständen meine praktische Philosophie nicht etwa leiser vorzutragen, als sonst; sondern noch lauter; ja so laut und so öffentlich, als es ohne Zudringlichkeit und Anmaafsung nur möglich ist.

Noch immer besteht hier in Königsberg der unglückliche Unterschied zwischen öffentlichen und Privat- Vorlesungen, der anderwärts beinahe ver- schwunden ist. Noch immer kann die Rücksicht auf eine geringfügige, dem wahrhaft Dürftigen leicht zu erlassende Zahlung, es dahin bringen, dafs ein wohlgeordneter Lehrkursus zerrissen wird, indem bei einigen Vor- lesungen das Lehrzimmer zu sehr, bey andern gleich wichtigen, ja als Fortsetzung der vorigen geradehin notwendigen , zu wenig gefüllt ist. Wenn ich eine solche Rücksicht für dies mal hinwegräume, wenn ich die Thüren meines Lehrzimmers für diesen Sommer so weit als möglich öffne, so wird man mich wohl nicht anklagen, als hätte ich mir und meinen Vorlesungen nur übertriebene Wichtigkeit beygelegt. Ich will weiter nichts, als die Veranlassung zum Nachdenken über die wichtigsten Angelegen- heiten des Lebens so öffentlich als möglich darbieten. Ich weifs längst, dafs weder ich noch meine Lehre zu dem Geiste dieser Zeit passen. Ich wende auch nicht das kleinste Mittel an, mich diesem Geiste näher an- zubequemen. Wer mein Lehrbuch mit meinen Vorträgen vergleichen will, der wird finden, dafs sie sich verhalten wie kleine Schrift zu grofsen; und dafs meine mündliche Rede blofs dazu dient, damit man in meinem Buche das lesen könne, was wirklich darin steht, was aber freylich, einer langen Erfahrung zufolge, weder ungeübte noch blöde Augen, ohne Hülfe, darin zu finden wissen. Erwarten Sie demnach hier nichts Verändertes, nichts

Erste Vorlesung über die praktische Philosophie im Sommer 1819.

für den Augenblick Ersonnenes! Am allerwenigsten dürfen Sie glauben, ich wolle Ihnen mit der Einschärfung dessen beschwerlich fallen, was zwar sehr wahr, aber auch allbekannt ist, z. B. dafs der Meuchelmord ein Ver- brechen ist, und dafs, wer für sich selbst Freyheit der Rede verlangt, dieselbe Freyheit auch seinem Gegner gestatten mufs. Unbekanntschaft mit solchen Sätzen ist es nicht, um derentwillen Sie, meine Herrn, Sich hier versammeln konnten. Auch wollen wir die Erinnerung an jene unselige Begebenheit keineswegs vesthalten, sie würde uns stören; wir wollen uns ihrer absichtlich entschlagen, und das wird jetzt um so leichter geschehen, nachdem ich ein für allemal einige Worte darüber gesprochen habe.

Wir kommen nunmehr zu unserm eigentlichen Zweck, zu der Wissen- schaft, die ich hier lehren soll. Hiezu ist es allerdings nützlich, dafs wir einen Fall vor Augen haben, in welchem wir uns aufgefordert fühlen, den Werth einer Gesinnung und Handlung zu beurtheilen. Aber statt des einen Beispiels können wir tausend andre finden, und unter diesen andern Bevspielen wiederum viele, die weit bequemer sind für den Zweck meiner nächsten Vorlesungen, welcher darin besteht: über die ersten Gründe solcher Beurtheilung Rechenschaft zu geben. Weit bequemer denn die Fälle, in welchen neben dem offenbaren Verbrechen noch etwas von lobenswerthen Gesinnungen hervorblickt, sind mehr gemacht, das moralische Urtheil zu verwirren , als es aufzuklären ; höchstens können sie dazu dienen, uns von der Nothwendigkeit der Wissenschaft, die man praktische Philosophie nennt, zu überführen. So nämlich wie mitten unter Streit und Gewaltthätigkeit sich das Bedürfnifs von Recht und Gesetz am meisten fühlbar macht: eben so ergiebt sich aus dem Streit der Mei- nungen am deutlichsten, wie nöthig es wäre, veste und bestimmte Gründe zu kennen, wornach die richtigen Beurtheilungen des Guten und Bösen von den falschen und verkehrten können unterschieden werden. Allein das Gefühl vom Bedürfnisse dieser Kenntnifs ist noch nicht die Kenntnifs selbst ; um die wahren Gründe der moralischen Beurtheilung wirklich zu finden, mufs man sich zuerst das Deutlichste, Offenbarste, was keinen Zweifel und keine Verwirrung in uns hervorbringt, zu vergegenwärtigen suchen.

Man mufs ferner die Thatsache des moralischen Urtheilens, so wie es in uns geschieht, sich möglichst vollständig vor Augen stellen. Dazu nun gehört erstlich die Bemerkung: dafs eine Handlung, die wir als moralisch betrachten, stets aus einem Wollen hervor- geht, während die Strebungen eines blofs thierischen Triebes so wenig als die Wirkung einer Maschiene, für gut oder böse gehalten werde. Was aber Wollen sey? darnach fragt man nicht, sondern man setzt es als bekannt voraus, indem man moralische Urtheile fällt; man hält sich überzeugt, dafs Jeder das Wollen aus seiner innersten Erfahrung kenne, und es von Allem, was unwillkührlich in ihm vorgeht, wohl unterscheide. Ueberlegen Sie ferner, meine Herrn, dafs zu jedem Wollen ein Gegen- stand gehört, welcher gewollt wird; dieser Gegenstand heifst eben in so fern ein Gut, als er die Befriedigung des Wollens herbey bringt, sobald er selbst erreicht wird. Es heifst ein wahres oder ein falsches Gut, weil entweder die Befriedigung, so wie sie gehofft wurde, erfolgt, oder im Gesentheil die Erlangung des gewollten Gegenstandes den Willen selbst

8 I. Erste Vorlesung über die praktische Philosophie.

verändert, ihn wohl gar in Widerwillen verwandelt; da denn der Mensch klagt, von einem trüglichen Schein verblendet gewesen zu seyn. Hier werden Sie Sich erinnern, dafs nach der Erlangung des angestrebten Guts jedesmal der Mensch darüber zu urtheilen pflegt, ob dasselbe ein wahres oder falsches Gut sey ? ob er sich nunmehr seiner Erwartung gemäfs be- friedigt finde oder nicht? Diese Beurtheilung , ist sie es etwan, die wir die moralische nennen? Sie werden leicht entdecken, dafs sie es ganz und gar nicht ist, sondern dafs man sich hier vor einer Verwechselung hüten mufs , die freylich oft genug begangen ist : Nämlich es sind zwey verschiedene Urtheile, das eine über den Gegenstand, ob er dem Willen entspreche, oder nicht; das andre über den Willen, ob er moralisch gut sey oder böse. Sie sehen aber auch den Anlafs zu der Verwechselung. Nämlich das Wort gut ist doppelsinnig; einmal bedeutet es Güter, die man besitzen kann; das anderemal bezeichnet es den persönlichen Werth, den man uns selbst zuschreibt. Die Güter sind das Gegentheil der Uebel, die das Unglück über uns verhängt ; das Gute ist das Gegentheil vom Bösen, was in unserm eignen Herzen liegt.

Wir sind noch lange nicht fertig mit dem Geschafft, uns die That- sache des sittlichen Urtheilens klar vor Augen zu stellen. Denn man schreibt dem Menschen, den man als gut oder böse betrachtet, nicht blofs Willen zu, sondern auch Vernunft. Was ist Vernunft? Auch dies wird als bekannt vorausgesetzt, und zwar wiederum aus der innem Er- fahrung. Jedermann ist sich bewufst, dafs er überlegen und wählen könne, jedermann nennt die Andern um sich her desto vernünftiger, je genauer sie ihr Wollen mit der Betrachtung aller Umstände in Einstim- mung setzen, je besser sie es verstehen, ihre Wünsche zu beschränken, sobald daran etwas Unpassendes bemerkt wird ; unvernünftig aber heifst derjenige, welcher die Gründe nicht vernimmt, die ihn vom Handeln ab- halten könnten und sollten. Fragen Sie mich noch nicht, was für Gründe das seyen? Denn es ist eben diese Frage, zu deren richtigen und genauen Beantwortung wir uns erst von ferne vorbereiten. So viel aber liegt klar vor Augen, dafs wir bey einer vollständigen Beurtheilung der Moralität einer Handlung, oder eines Vorsatzes dazu, allemal annehmen: der Beurtheilte sey innerlich sein eigner Zuschauer gewesen ; er habe als solcher die Gelegenheit und die Fähigkeit gehabt, sich selbst zu loben oder zu tadeln, und hiemit sich entweder anzutreiben oder zurückzuhalten ; eine Fähigkeit , die man bald Vernunft , bald Freyheit nennt ; und um deren richtige Benennung wir uns hier noch nicht zu bekümmern brauchen, weil wir noch nichts erklären, sondern fürs erste die Thatsachen auffassen wollen. Deshalb nun sage ich nicht etwa, der Mensch hat Vernunft, oder Freyheit, sondern vielmehr: indem wir Jemanden moralisch beurtheilen, setzen wir in ihm voraus die Selbstbeobachtung, Selbstbeurtheihmg, und Selbstbestimmung dergestalt, dafs, wenn diese drey Stücke fehlten, wir über ihn nicht glauben würden ein vollständiges moralisches Urtheil fällen zu können. Hingegen eine unvollständige, oder besser eine partielle Be- urtheilung, würde dennoch möglich seyn, wie sich tiefer unten zeigen wird.

Wenn aber Jemand sich selbst beurtheilt, thut er wohl dieses nach derselben Regel, nach welcher auch wir, und jeder andre unbefangene Zu-

Erste Vorlesung über die praktische Philosophie im Sommer 1819.

schauer, ihn beurtheilen würde? Oder nach einer andern, oder vielleicht nach gar keiner Regel? Hierüber läfst sich, wenn man nicht gleich Anfangs Erschleichungen in die Thatsachen einmischen will, nichts anders sagen als dieses: es scheint, als müfste die Beurtheilung nach einer all- gemeinen Regel geschehen; denn man setzt voraus, dafs alle Zuschauer, wenn sie nur unbefangen seyen, über einerley Gesinnung und That auch einerley Urtheil fällen werden; und man nimmt an, dafs, nach Hinweg- räumung aller Eigenliebe und Verblendung, auch der Thäter selbst seine That nicht anders als einstimmig mit dem unpartheyischen Zuschauer be- urtheilen könne. Also mufs ja wohl eine allgemeine Regel vorhanden seyn, die, weil sie in Allen dieselbe ist, auch Allen das gleiche Urtheil abnöthigt. So schliefst man;- allein bemerken Sie wohl, meine Herrn, dafs ich mich für diesen Schlufs nicht verbürge. Es könnte ja sein, dafs man nach gar keiner Regel urtheilte, sondern dafs nur das Urtheilen eine Be- gebenheit wäre, die sich in den Urtheilenden unter gleichen Umständen stets auf gleiche Weise ereignete. Allein man ist nun einmal gewöhnt, zu einem Urtheil einen Richter, und zu dem Richter ein Gesetz, ja auch zu dem Gesetze einen Gesetzgeber hinzuzudenken. Wendet man diese Meinung an auf unsern Gegenstand : so entsteht der Gedanke, es liege in uns ein Gesetz, das vielleicht von der Gottheit, als dem höchsten Gesetz- geber, uns eingepflanzt sey. Wollen Sie indessen die blofse Thatsache der innern Erfahrung rein auffassen, so müssen Sie fürs erste den Richter, das Gesetz, und den Gesetzgeber noch ganz weglassen, bis wir etwan in der Folge genauer sehen, was an der Sache sey.

Das aber ist unleugbar, dafs oftmals in der Brust des Menschen ein grofser Aufruhr entsteht, wenn sich der Wille nicht nach dem Urtheile richtet. Oder bleibt auch Anfangs Alles stille, so kommt doch eine späte Reue nach; und diese Reue läfst sich nicht für Thorheit erklären, wenn sie auch erst so spät eintritt, dafs sich die begangenen Thaten gar nicht mehr zurücknehmen, noch in ihren Folgen abändern lassen; vielmehr ist sie dafür bekannt, dafs sie unter allen Qualen, die ein Mensch leiden kann, die schrecklichste und unheilbarste ist. Mit ihr steht in genauer Verbin- dung die Schande, die gerade so in dem Verdammungs - Urtheil Anderer, wie die Reue in der Selbst-Verklagung besteht. Und auf ähnliche Weise hängen auch die Gegentheile, nämlich das gute Gewissen und die Ehre, mit einander zusammen. Beydes ist sehr bekannt; und ganz in der Nähe werden Sie noch einen dritten Begriff finden, nämlich den der Tugend. Sie dürfen nur den Unterschied der Ehre vom guten Gewissen, dafs jene von Andern, dieses von uns selbst herrührt, in Gedanken weglassen, so bleibt das reine Löbliche zurück; dieses aber, wenn es vollständig ist, und schon deshalb als dauernde Eigenschaft einer Person vorgestellt wird, ergiebt das, was man Tugend nennt. Aus dem Vorigen ist klar, dafs die- selbe auf der innigen Verbindung und Einstimmung zwischen Vernunft und Einstimmung zwischen Vernunft und Willen beruht.

Eben diese Verbindung führt noch einen Hauptbegriff herbey, den wir sorgfältig merken müssen. Denn wiewohl wir es oben zweifelhaft ge- lassen haben, ob das moralische Urtheilen wirklich nach einer, ihm vor- angehenden, Regel geschehe, wobey die Regel das Erste, das Urtheil das

IO !• Erste Vorlesung über praktische Philosophie.

Zweyte seyn würde : so ist doch soviel ganz offenbar, dafs, wenn einmal erst moralische Urtheile ausgesprochen sind, und wenn sie als etwas Vor- handenes und Bekanntes angenommen werden, sie alsdann auch als Vor- zeichnungen, Vorbilder, Vorschriften für den Willen erscheinen, die, falls sie allgemein sind, und sich unter verschiedenen, wechselnden Neben- Umständen gleich bleiben, selbst Regeln sind, denen der Wille unterworfen ist. Und hierin liegt nun der Begriff der Pflicht, auf den ich Sie führen wollte. Man hält diesen Gedanken vest, obgleich man einräumt, der Wille könne sich der Pflicht entziehn. Man sagt alsdann, die Pflicht soll be- folgt werden, obgleich ihr der Wille nicht folgen muls, sondern frey ist. Und hier kommt uns der Ausdruck Freyheit noch einmal entgegen, jedoch in einer ganz anderen Bedeutung, wie oben. Denn vorhin fanden wir die Freyheit in der Vernunft; hier in dem Willen. Vorhin erschien die Freyheit als Empfänglichkeit für Gründe ; hier als Ungebundenheit trotz den Gründen. Eine sehr gefährliche Zweydeutigkeit, deren wir öfter werden erwähnen müssen.

Es ist jetzt Zeit, Ihnen von der Absicht aller dieser Entwickelungen Rechenschaft zu geben. Aus der Thatsache, dafs wir Willen, Vernunft, und eine Verbindung beyder, in jedem Menschen voraussetzen, über den wir ein moralisches Urtheil fällen, entspringen drey Hauptbegriffe, der von Gütern, Tugenden, und Pflichten; und hiermit die drey Fragen nach dem höchsten Gute, nach der ganzen Tugend, und nach der allgemeinsten Pflicht. Könnte man nur Eine dieser Fragen beantworten, so wäre der Eingang in die praktische Philosophie geöffnet. Dem höchsten Gute würde man die andern Güter unterordnen; aus der Tugend würde man das Ver- hältnifs aller ihrer Theile bestimmen; aus der allgemeinsten Pflicht würde man durch Anwendung auf die im Leben vorkommenden Fälle und Um- stände die sämmtlichen Verhaltungs-Regeln ableiten; und sobald man eins von diesen Dreyen geleistet hätte, würde sich das Uebrige leicht ergeben. Denn zwischen Gütern, Tugenden, Pflichten, ist eine enge Verbindung, wie Sie leicht errathen werden, und wie ich nächstens ausführlich dar- zustellen mir vorbehalte.

Nun hat wirklich die praktische Philosophie sich bisher immer ab- wechselnd bald als eine Lehre von Gütern, und deren Unterordnung und Zusammenstellung unter das höchste Gut, bald als eine Darstellung der

Tugend, ihrer Bestandteile und ihrer Aeufserungen, bald als die Wissenschaft vom Sittengesetze und den daraus entspringenden Pflichten gestaltet. Des- halb mufs unsre erste gemeinsame Ueberlegung darin bestehen : welche, und ob irgend eine dieser Formen, wir als die richtige anzuerkennen und uns anzueignen befugt sind ? Da wir aber im Anfange der heutigen Stunde uns nur gar zu deutlich an die Schwankungen und an das Verwickelte in den moralischen Urtheilen erinnert haben : so können Sie leicht denken, dafs man sehr Ursache hat, sich um eine recht veste Grundlage für unsre Wissenschaft zu bemühen, damit man zu sicheren Entscheidungen gelange, und nicht etwan selbst über die wichtigsten Angelegenheiten des Lebens in fortdauernden Zweifeln befangen bleibe.

II.

UEBER

MENSCHENKENNTNISS

IN IHREM

VERHAELTNISS zu den POLITISCHEN MEINUNGEN.

REDE,

gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August.

l82I.

[Text nach dem Msc. 2056 (6) der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Citirte Ausgaben.

SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX, 179 197), herausgegeben von G. Hartenstein. KlSch = T. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 311 330), herausgegeben von G. Hartenstein.

1821. Rede, am 3. August in der Deutschen Gesellschaft

gehalten.

Ueber Menschenkenntnis, in ihrem Verhältnis zu den politischen Meinungen.

Der heutige Festtag, der noch eine lange Reihe von Jahren hindurch möge gefeyert werden, erneuert jedesmal die Veranlassung, die kühne Stellung des Preufsisfchen Königs -Throns in der Mitte gröfserer Mächte und Völker zu bewundem ; und von da weiter umherschauend, die Ver- änderungen zu überdenken, welche die zuletzt erlebten Jahre mit sich brachten. Gewifs ! wir Alle wünschen einander Glück, dafs der traurige Zeitraum vor den letzten Befreyungskriegen uns jetzt schon wie im ent- fernten Hintergrunde erscheint; dafs der Mann, der einst allmächtig war, in diesen Tagen als auf seinem einsamen Felsen verstorben konnte an- gekündigt werden, ohne eine merkliche Bewegung der Gemüther zu ver- anlassen; und dafs wir die Blitze, die jetzt noch am politischen Horizonte flammen, wie ein stummes Wetterleuchten mit ansehen können, ohne zu fürchten, der Donner werde bald auch über unsern Häuptern rollen. Gleichwohl kann der theilnehmende Zuschauer sich der mannigfaltigsten Empfindungen nicht erwehren, wenn er die schönen Länder, Italien und Griechenland, betrachtet; wenn er den Schmerz der Sehnsucht sich denkt, womit ein unterrichteter Mann in jenen Gegenden an den Ruinen einer vielleicht für immer begrabenen Vorwelt vorbey gehn mufs. Aber können wir auch verweilen in diesen Empfindungen der Theilnahme? Können wir unserm Herzen uns überlassen, während die Frage, was klug, was unklug war, auf uns eindringt? Ueberspannte Entwürfe, tollkühne Wag- stücke, stofsen das Mitgefühl zurück; sie tragen die Schuld, wenn erträg- liche Uebel in gänzliches Verderben ausarten. Die neuesten Unter- nehmungen, höchst verschieden in Ansehung der Frage von Recht und Unrecht, sind einander ähnlich in Hinsicht des Erfolgs; der bey der einen äufserst mislich ist, bey der andern offenbar verfehlt war. Wie Mancher, der in Gefühlen schwärmend, schon im Geiste den Einwohnern von Turin und Neapel zujauchzte, und mit ihnen die goldne Wolkengestalt anbetete, die man, mit einem Worte von sehr schwankender Bedeutung, Freyheit zu nennen pflegt; wie Mancher mag hinterher sich im Stillen geschämt haben, als ihm die Zeitungen den Ausgang meldeten !

Sie werden es nicht rnisbilligen, höchstgeehrte Anwesende ! wenn ich die Hindeutung auf bestimmte Thatsachen hier ganz kurz abbreche, und

I_i II. Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.

mich in meine Behausung, die der allgemeinen Begriffe, zurückziehe. Dafs ich aber gerade jetzt mich veranlafst finden konnte, über Menschen- kenntnifs in Beziehung auf politische Meinungen nachzudenken, liegt deutlich genug vor Augen. Menschenkenntnifs ist eine natürliche Feindin aller politischen Ueberspannung ; und wo man die letztere wahr- nimmt, kann man sehr sicher schliefsen, es müsse an jener erstem gefehlt haben. Stärker jedoch kann sich die, der Menschenkenntnifs entgegen- stehende Verblendung unmöglich äufsern, als wenn, im Angesichte der europäischen Mächte, in solchen Gegenden ein Volksaufstand gepredigt wird, wo keine allgemeine, drückende Noth des Volkes voranging, die allein den flüchtigen Worten und Meinungen auch da noch Bestand geben könnte, wo es darauf ankommt, das Aeufserste zu wagen.

Indem nun auf der einen Seite die wesentlichsten Bedingungen und Kennzeichen der wahren Menschenkenntnifs, auf der andern die Haupt- Unterschiede der politischen Meinungen, den Gegenstand meiner Betrach- tungen ausmächen müssen, damit am Ende das Verhältnifs einleuchte, welches der Natur der Sache nach zwischen beyden besteht : kann ich nicht umhin, an jener eingebildeten, falschen Menschenkenntnifs vorüber- zugehn , die so gemein ist , wie das politische Gespräch ; so beschränkt, wie der Gesichtskreis in welchem sie entstand; so abhängig von Vor- urtheilen und Leidenschaften, als nur irgend eine Meinung, im Gegensatze des wahren gründlichen Wissens, es seyn kann. Ich meine jene Art von Menschenbeurtheilung, die wir bey den gewöhnlichen Zeitungslesem fast aller Klassen und Stände antreffen. Bey jeder wichtigen Neuigkeit, die Europa durchläuft, bewegen sich unzählige Zungen; sie loben, sie tadeln, sie schmähen; sie drohen wohl gar; doch vor allen Dingen sind sie be- schäftigt, die Gesinnungen der auf der Weltbühne handelnden Personen auszusprechen, verborgene Absichten zu verkünden, und von geheimen Zurüstungen den Erfolg zu weissagen. Könnten wir alle diese Zungen auf einmal reden hören, unstreitig würden wir die natürliche Partheylich- keit der verschiedenen Stände, Alter und Völker leicht wieder erkennen, wir würden sehen, wie oft diejenigen sich am klügsten dünken, die sich von den arglistigen Absichten der Mächtigen die abentheuerlichsten Vor- stellungen ausgesonnen haben ; und wie oft die Grofsen das Mistrauen der Geringem mit gleichem Mistrauen vergelten. Ist dies die wahre Menschenkenntnifs ? Eben so wenig als Gespensterfurcht Naturkunde ist. Vorsichtig mag man den nennen, der sich jede Gefahr so grofs als mög- lich, und jeden Mächtigen als gefährlich denkt; aber dieser Vorsichtige ist weder ein guter Beobachter, noch ein guter Bürger; ob ein guter Staatsmann ? darüber mögen Geschichte und Erfahrung reden ; allein ich besorge, Sie werden den ängstlichen Regierungen, die stets gegen das Volk auf ihrer Hut sind, nicht eben das beste Zeugnifs ausstellen. Wie dem auch sey: jede Kenntnifs, also auch Menschenkenntnifs, wird der Unbefangenste am sichersten erwerben. Daher erwarte ich sie nicht etwa bey dem, welcher oft durch Schaden klug wurde, sondern bey dem, welchen sein natürlich richtiger Blick von Jugend auf vor Schaden ge- hütet hat. Und wenn die spätem Jahre des Lebens den Vorzug der vollständigem Beobachtung, und der reifem Beurtheilung besitzen, so hat

Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. 15

es mir doch oft geschienen, die wahre Weltklugheit wachse mit dem Menschen heran, dergestalt dafs, wo sie dem Jünglinge nicht blüht, sie auch dem Manne keine Früchte zeitigt.

Die erste Bedingung der ächten Menschenkenntnifs liegt hiemit schon vor Augen; sie heifst: ruhige, unbefangene Beobachtung, ohne Furcht und Hoffnung, ohne Vorliebe und Abneigung. Schwer ist es gewifs, diese Bedingung zu erreichen. Denn wer geht durchs Leben, ohne beständig zu fürchten und zu hoffen ? Welches menschliche Antlitz kann uns be- gegnen, das wir nicht auf irgend eine Weise, oft ohne es zu merken, mit unsern Wünschen und Besorgnissen in Verbindung setzten ? Wenigstens ist das die Art vieler Menschen, alle Sachen und Personen als Gelegen- heiten und Gefahren zu betrachten; ihre Gespräche sind Erkundigungen, ihre Grüfse schon sind Gesuche, wo nicht umgekehrt Begünstigungen für den, dessen stummes Anliegen sie zu erraten glauben. Diese Gattung von Leuten pflegt für sehr klug gehalten zu werden ; allein ihre Menschen- kenntnifs möchte zu vergleichen seyn mit der Botanik derjenigen, die in den Pflanzen nur Heilkräfte suchen, und keine Blume lieben, die nicht offizineil ist und nicht im Laboratorium zu thuh giebt. Dem wahren Botaniker hingegen ist jedes Gewächs merkwürdig, was sein Wissen ver- mehrt, und sein Verhältnifs zur Natur zu einer innigem Vertraulichkeit erhebt; ebenso werden auch nur diejenigen Beobachtungen uns mit Sicherheit in das Wesen des Menschen hineinschauen lassen, die wir ohne weitere Rücksicht deshalb machen, weil wir ein offenes Auge haben, und deshalb aufbewahren, weil wir keinen Beytrag zu dem Ganzen unseres Wissens gering schätzen.

Indessen ist das unbestochene Sehen und Urtheilen, nebst der Sorge, nicht Erfahrung mit Erschleichung zu mischen, nur die erste vorläufige Voraussetzung, ohne welche kein unverfälschtes Wahrnehmen würde statt finden können; aber die Kunst des Beobachtens l reicht weiter; sie ver- langt Schärfe der Unterscheidung und Vollständigkeit der Zusammen- fassung. Indem wir diese unentbehrlichen Tugenden bey dem Menschen- kenner aufsuchen : wird es uns sogleich auffallen, dafs demselben eine be- sondere Schwierigkeit im Wege steht. Ihm ist nämlich sein Gegenstand dem gröfsten Theile nach gar nicht unmittelbar in der Erfahrung gegeben. Jeder Mensch schaut zunächst nur in sein eigenes Innere; die Herzen der Andern sind ihm verschlossen, wenn sie sich nicht frey willig ihm öffnen; und selbst in diesem Falle, wie macht er es, sie zu verstehen? Er vergleicht sie mit sich selbst; er deutet ihre Aeufserungen auf einen ähnlichen Lauf der Empfindungen und Vorstellungen, wie er in seinem Bewufstseyn vorfand; er deutet richtig oder falsch, nicht blofs weil er Jene Andern, sondern auch weil er sich selbst besser oder schlechter be- obachtete. Hier müssen die mindesten Spuren dessen, was er in sich nur noch kaum unterschied, zu Aufschlüssen dienen, um von den gröfsten Ab- weichungen der Charaktere und Empfindungsweisen nur die Möglichkeit zu fassen ; der Einzelne mufs die Menschheit in sich tragen, in sich finden und durchdenken, um alle die mannigfaltigen Aufsenseiten anderer Men-

1 Beobachters SW.

t 5 II. Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.

sehen in seiner Vorstellung auf ein Inneres, das etwa dahinter verborgen seyn könne, zurückzuführen. Er mufs in sich selbst ganz allein den Dol- metscher finden, um ihre Sprache, nicht blofs die Laute ihres Mundes, sondern auch die Zeichen ihres Handelns, sich zu übersetzen und aus- zulegen. Welche Feinheit der Selbstbeobachtung setzt dies voraus! Die sanze Möglichkeit des Guten und des Schlechten, des Edeln und der Verworfenheit, die Kräfte der Tugend und des Lasters, die Schwächen der Abspannung und der Ueberspannung, des Vorwärts und Rückwärts Schreiten und Gleiten, den Aufschwung, die Stetigkeit und das Nieder- sinken — dies alles soll er in sich erkennen, um es in Andern wieder- zufinden; denn er kann die Andern nicht einmal errathen, aufser nach der Vorzeichnung, die er in sich erblickt, und die er wohl in Gedanken ver- gröfsem, verkleinern, hie und da abändern und anders zusammensetzen, aber nicht aus anderm Stoffe bilden kann, nicht zu erfinden, nicht wirk- lich neu zu schaffen vermag. l Dafs unter diesen Umständen in der That Menschenkenntnifs in gewissem Grade möglich ist, und dafs es Manchem gelingt, sie zu erwerben : dies zeigt einen hohen Grad von Gleichartigkeit der menschlichen Naturen in allen dem, was man die Elemente ihrer Zu- sammensetzung nennen mag; doch kann Jeder nur nach dem Umfange seines Geistes, und nach der Geduld, womit er der Selbstbeobachtung sich widmet, ohne vor der vollendeten Auffassung an sich meistern zu wollen, dahin gelangen mehr oder weniger von dem Ganzen der Menschheit zu verstehen. Ohne nun die Schwierigkeiten, welche selbst in das eigne Innere tief hineinzuschauen uns verwehren, hier weiter zu erwähnen; wende ich mich zu der Forderung der Vollständigkeit im Zusammenstellen dessen, was die Erfahrung darbietet.

Hier kommt es nicht darauf an, in vielen Exemplaren einerley vor Augen zu haben, sondern kein Exemplar für ein Ganzes zu halten, das nur ein Bruchstück ist. In wiefem nun auf die Mensch engeschichte der Spruch pafst : es geschehe nichts Neues unter der Sonne, wiederholt sich in vielen Beyspielen nur einerley Erscheinungen und Lehren; und in dieser Hinsicht allein, würde Geschichte wenig geeignet seyn, Mensch en- . kenntnifs zu fördern. Aber aus einem andern Grunde mufs die Summe von allgemeinen Bemerkungen über den Menschen, welche man Psycho- logie nennt, sehr nothwendig durch Geschichte ergänzt und berichtigt werden. Nämlich kein Mensch steht allein, und kein bekanntes Zeitalter beruht auf sich selbst; in jeder Gegenwart lebt die Vergangenheit, und was der Einzelne seine Persönlichkeit nennt, das ist selbst im strengsten Sinne des Worts ein Gewebe von Gedanken und Empfindungen, deren bey weitem gröfster Theil nur wiederholet, was die Gesellschaft, in deren Mitte er lebt, als ein geistiges Gemeingut besitzt und verwaltet. Daher täuscht man sich sehr, wenn man die Beobachtung eines einzelnen Men- schen für vollständig hält; man täuscht sich, wenn man das Mannigfaltige in ihm, und man täuscht sich nochmals, wenn man die Einheit dieses Mannigfaltigen, sey sie nun wirklich vorhanden oder nur hineingedacht, als bezeichnend für das Ursprüngliche seines Wesens ansieht. Das wahre

i Nach „zu schaffen vermag" Absatz S\V.

Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. \-j

Ursprüngliche des menschlichen Geistes ist vollkommen einfach; eben des- halb enthält es nicht das Mindeste von der Mannigfaltigkeit der Gesetze, welche die Psychologen in dem Denken, dem Wollen, dem Empfinden zu bemerken glauben, sondern diese Gesetze entstehen erst mit den Ge- danken und aus denselben; auch sind sie nur deshalb allgemein, weil die Bedingungen ihrer Erzeugung in den menschlichen Seelen überall gleich- artig sind. Doch ich darf mich hier nicht vertiefen in diejenige Wissen- schaft, welche in Ansehung der Seele das, was jenseits der Erfahrung liegt, zu erkennen gestattet; es sey genug nur angedeutet zu haben, dafs die Psychologie, wenn sie vollständig seyn soll, nicht auf der blofsen Erfahrung allein beruhen könne; dafs es vielmehr Quellen einer wissenschaftlichen Mensch enkenntnifs gebe, welche aufzusuchen desto nöthiger ist, je unzu- länglicher und unsicher jene Deutung ausfällt, die wir unserer inneren Wahrnehmung geben, wenn wir darnach Andere beurtheilen, in deren Inneres wir unmittelbar nicht hineinschauen können.

Mag man aber durch Speculation oder auch blofs durch Erfahrung den Menschen kennen, wofern man nur sich gewöhnt, nie die Auffassung des Einzelnen allein für vollständig zu halten, sondern ihn stets mit seiner Umgebung und in seiner Zeit zu betrachten, so wird leicht erhellen, dafs in jedem Menschen eine ihm eigenthümliche Form, und ein auf ihn zufällig übertragener Stoff von Gedanken und Meinungen unterschieden werden müsse. Die eigenthümliche Form besteht in dem Temperament, und in einem, von Jugend auf beynahe gleichbleibenden, durch keine Erziehung und keine Schicksale abzuändernden, Rhythmus der geistigen Bewegungen. Hingegen die ganze Masse der Vorstellungen kommt eben so gewifs wie die Muttersprache, von aufsen, und würde mit einer andern vertauscht werden, wenn wir das neugeborne Kind des Engländers nach China, das des Chinesen nach Paris verpflanzten, ohne Kunde und Be- gleitung aus dem väterlichen Hause. Diese Masse der Vorstellungen ändert sich aber auch ohne Verpflanzung durch die Zeit. So werden unstreitig Deutsche Kinder jetzt mit ganz andern Darstellungen der Deutschen Geschichte, und hiedurch mit ganz andern Nationalgefühlen ernährt, als dies vor der Schlacht bei Leipzig, und vor dem doppelten Einzüge in Paris der Fall seyn konnte. Nur ist eine solche Veränderung nicht plötzlich und nicht durchgreifend. Sehr vieles von dem, was den jungen Deutschen jetzt beschäftigt, ist noch genau das nämliche, als was vor zwanzig Jahren sich darbot. Daher verräth sich die Zufälligkeit des Ge- dankenstoffes nicht blofs darin, dafs dem Einzelnen eine veränderte Um- gebung auch eine andere Summe von Vorstellungen würde zugeführt haben, sondern überdies sind die Theile dieser Summe einander selbst zufällig, und einer dem Laufe der Dinge anheimgestellten Umwandlung durch neue Zusätze und Ausscheidung des Alten unterworfen. Wird man unter diesen Umständen wohl erwarten dürfen, dafs alle Meinungen und Gewöhnungen eines Menschen unter einander vollständig zusammenstimmen müfsten? Wenn er im Laufe der. Zeit manche, in ihren Gründen widerstreitende Ansichten kennen gelernt hat, so läuft er Gefahr, von einer jeden unwill- kührlich etwas zu halten, und abwechselnd in längern oder kürzern Perioden hie und dorthin zu schwanken. So erwacht in dem Weltmann in spätem

Hkrbart's Werke. V. 2

t 8 IL Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.

Jahren die Religion, zum Zeichen, dafs ihre Jugend - Eindrücke niemals eigentlich ausgetilgt, sondern nur unterdrückt waren. Und wie viel schnellere Wechsel, wie stürmische Umkehrungen der Gesinnung würden wir vielleicht in dem heutigen Spanien finden, wenn wir dort die einzelnen Menschen ganz nahe beobachten könnten! Denn man kann es als psycho- logisch unmöglich ansehn, dafs in dieser alten Werkstätte der Mönche, aus welcher jedoch die französischen Waffen leichter als die mitgekommenen Ansichten vertrieben werden konnten, jetzt schon ein bestimmtes Gleich- gewicht der Meinungen sollte eingetreten seyn; vielmehr ist die bürgerliche Gährung in jenem Lande nur als ein äufseres Zeichen eines Kampfes zu betrachten, den eine grofse Zahl von einzelnen Menschen mit sich selbst kämpfen mufs, um die ersten Jugendeindrücke gegen alles das Neue, was der Lauf der Zeit herbeiführte, in ein bestimmtes Verhältnifs zu setzen. Und wiewohl Niemand den Spaniern wünschen wird, dafs eine so lange und furchtbare Reibung, wie die des dreyfsigjährigen Krieges in Deutsch- land war, auch bey ihnen eintrete: so kami man doch kaum verkennen, dafs dem heftigen Gegensatze der politischen Meinungen dort ein anderer in Ansehung der Religionslehren beynahe nothwendig folgen müsse, dessen Entscheidung desto länger dauern dürfte, je tiefer und schmerzlicher das Andenken an erlittene Verfolgungen wahrscheinlich noch in manchen Familien fortdauert. Der Religionskampf aber ist gewifs nicht blofs ein äufserer, sondern zuerst und vorzüglich ein innerer; ja in seine Strudel geräth gewöhnlich alles das, worin der Mensch mit sich selbst nicht einig werden kann, mag es Wissenschaft oder Kunst, mag es Lebens plane oder Lebens-Ansichten betreffen. Wer nun die Menschen wünscht kennen zu lernen, der wird sie vorzüglich in diesem Zustande der Uneinigkeit mit sich selbst zu beobachten suchen, und zwar nicht blofs dann, wenn sie den innern Streit offen zu Tage legen, sondern schon da, wo sie sich ungewifs fühlen, und eben deshalb das Sicherste statt des Besten, das Handgreiflichste statt des Höheren und Schöneren erwählen; wo sie in die Gemeinheit zurücksinken, weil in ihrem edlern Streben ihnen der Gearen- stand dunkel, oder ihr Beruf, ihre Kraft, ihnen zweifelhaft geworden ist. Auf diesem Punkte verführt sie das Beyspiel, ergreift sie der Eigennutz, erdrückt sie die Auctorität; hier verlieren sie die Freyheit, die sie umsonst in den Staatsverfassungen wiedersuchen.

Diese Schwankung, welche daher rührt, dafs in dem Gedankenkreise des Menschen keine ursprüngliche Einheit ist, wird in ihren Folgen noch wichtiger wegen eines andern Umstandes, dessen ich kurz erwähnen mufs: ich meine die engen Schranken der Möglichkeit, dafs der Mensch ein Mannigfaltiges zugleich bedenke, und beharrlich seiner Betrachtung gegen- wärtig erhalte. Grofse Geister, im Gegensatze der Menschen von kleinem Gehirn, würden wir nicht bewundern, wäre nicht der weite Umfang dessen, was sie theils zugleich, theils schnell hinter einander fassen und besorgen, eine Seltenheit, deren Mangel der gewöhnliche Mensch nur zu schmerz- lich an sich selber tadelt. Allein was heifst grofs, und welcher Umfang ist weit? Diese Worte bezeichnen eine Vergleichung , welche, über die gewohnten Grenzen hinaus fortgesetzt, und bald genug alle menschlichen Geister als schwach und klein darstellt, wenn wir das Ganze der mensch-

Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. iq

liehen Angelegenheiten zum Mafsstab nehmen. Sehr grofse Gelehrte be- kennen, die Tiefe ihres Wissens mit Einseitigkeit der Bildung bezahlt zu haben, und sie verlangen sogar dieselbe Einseitigkeit von ihren Schülern. Der gröfste Staatsmann läfst eine Menge von untergeordneten Personen für sich arbeiten; und ein berühmter Minister sagte von sich selbst, er wolle lieber seine Zeit damit tödten, dafs er Papier zwecklos in Stücken zerschneide, als irgend eine Arbeit selbst verfertigen, die er füglich einem Andern auftragen könne. Gewifs ein deutliches Bekenntnis, wie wichtig es sey, den Geist nicht zu überfüllen, wenn dessen Beweglichkeit nicht leiden solle. Daher bey wachsender Cultur die immer vermehrte Zahl der Unterschiede zwischen Ständen, Fächern, Gewerbszweigen, Arbeiten aller Art. Aber bey dieser Lage der Dinge rechnen wir alle gegenseitig auf einander; keiner vermag an seinen Platz sich zu stellen und zu behaupten, wo nicht jeder Andre auf dem seinigen steht. Wer denn bevestigt die Plätze, auf denen wir stehn? Unstreitig der Staat. Woher denn empfing der Staat die Macht, so viele Plätze zu stützen; so viele Personen, die an diesen Plätzen stehen, zu tragen? Ohne Zweifel von dem allgemeinen Gefühle des Bedürfnisses, sich anzulehnen an Gesetz und Ordnimg, sich zu fügen in die bestehenden Formen. Aber wenn es wahr ist, dafs die Stärke des Staats beruht auf der Schwäche und Beschränktheit der Einzelnen : mufs nicht der Staat schwächer werden, wenn die Kraft, die Einsicht, die Ausbildung und Uebung bei den Einzelnen wächst? Wird nicht der Staat, indem er dieses wahrnimmt, die Bürger suchen in der Unmündigkeit zu erhalten? Werden nicht die Einzelnen ihrer Seits dem Staate widerstreben, wenn sie sehen, ihre Schlaffheit und Sorglosigkeit sey es gewesen, die sie abhängig machte von einer zwingenden Gewalt?

Dafs ich diese allgemein bekannten Fragen beantworten sollte, werden Sie, höchstgeehrte Anwesende, nicht erwarten; ich habe sie nur in Er- innerung gebracht, um den Ursprung der unvermeidlich verschiedenen politischen Meinungen zu bezeichnen, die sich in allen Staaten zu allen Zeiten gefunden haben und finden werden. Wir können alle politischen Meinungen, wie mannigfaltig sie auch seyn mögen, auf zwey bekannte Hauptclassen zurückführen. Die Anhänger der einen nennen sich Liberale; die der andern halten sich an die Legitimität. Beyde kommen darin über- ein, dafs sie das Recht zu ihrem Schilde erkoren haben; aber die einen reden von dem Recht, das, wie sie sagen, mit uns geboren ward, die andern verweisen uns an Urkunden und bestehende Verfassungen. Es dürfte aber wenig Menschenkenntnifs verrathen, wenn wir die Meinungen vom Recht als die wahre Quelle der Gesinnungen betrachten wollten. Mag es seyn, dafs einzelne Denker sich in dieser Hinsicht bestimmte Ueber- zeugungen gebildet, und dafs sie, was weit mehr sagen will, diese Ueber- zeugungen auch wirklich zur Grundlage ihrer ganzen politischen Denkungs- art erhoben haben. Aber die gröfsere Zahl der Menschen, wenn vom strengen Denken, von systematischer Theorie die Rede ist, mistraut sich selbst; sie mistraut auch den Philosophen und ist weit davon entfernt, etwa diesen oder jenen Schriftsteller als eine Auctorität für sich anzu- führen, der man mit reiner Hingebung, vollends mit Aufopferung, folgen müfste. Die Liberalen wollen nur sich selber folgen; die Freunde der

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Legitimität suchen dagegen den Schutz derer, welche die Macht in Händen haben; und das beste, was man von beyden Parthey en sagen kann, besteht darin, dafs' die wahren Liberalen Freyheit nicht blofs für sich, sondern für Jedermann verlangen; die wahren Verehrer der Legitimität aber nicht blols für sich, sondern für das bürgerliche Ganze den Schutz der Ordnung zu behaupten wünschen. Ist es nun möglich, möchte man fragen, dafs die Liberalen keine Ordnung, dafs die Legitimen keine Freyheit begehren? Beyde wollen ja beydes; wie können sie denn streiten? Aber der Streitpunkt liegt eben deshalb nicht auf dem Felde des Rechts, sondern auf dem der Menschen-Beurtheilung. Die Frage ist weit weniger über das, was seyn solle, als über das, was seyn könne.

Hören wir die Liberalen : so ist der Mensch ursprünglich ein strebendes, wollendes Wesen; so beruht der Staat auf der Zusammenwirkung der Willen; so ist bey einer gebildeten Nation, und in Zeiten wie die unsrigen, jede Unterdrückung ein Reiz zur Gegenwirkung; so spannt Alles, was nicht mit allgemeiner Zustimmung geschieht, die Kräfte der Unzufrieden- heit zur immer stärkeren Aeufserung; das Ganze kann nicht in Ruhe seyn, aufser durch ein Gleichgewicht aller Wünsche und Interessen; man mufs demnach erlauben, dafs diese Wünsche, diese Interessen, und mit ihnen die Gedanken und Meinungen, sich laut äufsern, man mufs auf sie hören, man mufs bereit seyn, ihnen nachzugeben, selbst wenn dem öffentlichen Verlangen ein Irrthum zum Grunde läge. Die Nation mufs nach dieser Ansicht Erfahrungen machen; durch Erfahrungen sich bilden; sie wird als- dann endlich von selbst den Ruhepunkt finden, auf welchem ein vestes, durch allgemeine Ueberzeugung geheiligtes Gesetz die ferneren Umwand- lungen verhindert. Dann erst wird das goldene Zeitalter eintreten; Jeder wird sehen, dafs er nach Billigkeit nichts mehr verlangen könne als er schon hat; Alle werden darauf achten, dafs Keinem einfallen könne, mehr als das Billige zu fordern. Ob es alsdann noch Kriege geben könne unter den Völkern? Kaum weifs ich, was ich im Namen der Liberalen hierüber sagen soll. Die edelsten und einsichtsvollsten unter ihnen können wohl nicht umhin, anzuerkennen, dafs, wenn einmal von politischen Ideen die Rede seyn soll, die einer gesetzlichen Verknüpfung aller Staaten, welche einander berühren können, die wichtigste oder wenigstens die gröfste und umfassendste von allen ist; allein es scheint fast, als ob dieser allgemeine Bund, diese Verbrüderung, heutiges Tages von Manchen weniger gewünscht würde, seitdem etwas in die Wirklichkeit eingetreten ist, das mit der be- zeichneten Idee eine unverkennbare Aehnlichkeit hat. Soll man denn glauben, es wäre besser, wenn die Staaten gegen einander im Natur- zustande lebten, der, sobald einer es für sich nützlich findet, in Kriegs- stand übergehen wird? Vielleicht! Da Manche den Krieg als ein gym- nastisches Spiel betrachten, dessen die Nationen zuweilen bedürfen, um sich zu ermuthigen und zu erfrischen. Aber die Consequenz wird als- dann auf die Frage leiten, ob eine ähnliche Gymnastik nicht auch zwischen den Provinzen eines Staats, ja zwischen den Familien einer Stadt, einzu- führen wäre, damit die Wirkung noch sicherer und heilsamer ausfallen möchte. Doch, die wahren Denker können eine solche rückgängige Be- wegung im Gebiete der Ideen nicht machen; und welche Meinung sie

Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 1821. 21

auch über einzelne Begebenheiten hegen mögen, darin werden sie zu- sammenstimmen, dafs die öffentliche Anerkennung: für christliche Staaten gezieme sich ein christlicher Bund, zu den besten, würdigsten Erzeug- nissen der neueren Zeit zu rechnen ist.

Hören wir nun auch die Freunde der Legitimität: so werden Viele, vielleicht die Meisten von ihnen, gleich zuerst in Ansehung des eben erwähnten christlichen Bundes ihre Menschenkenntnifs gelten machen gegen die Idee; sie werden uns sagen, dafs zwischen mehreren Staaten, die kein gemeinsames Oberhaupt anerkennen, es kein wahres Bündnifs o-eben könne, als nur das der gemeinsamen Vortheile; weil aber dieses mit den Zeitumständen veränderlich sei, so müsse man sich mit jenem o-ebrechlichen europäischen Gleichgewichte begnügen, welches wir aus den Zeiten vor der französischen Staatsumwälzung wohl kennen. Nur inner- halb der einzelnen Staaten gebe es einen rechtlichen Zustand; und auch dies nur in so fern, als eine Herrschaft, eine unwiderstehliche Macht vor- handen sey, welche den Gedanken des Rechts, der als blofser Gedanke nichts vermögen würde, in ein wirkliches Verhältnifs umbilde. Daher sey Alles verloren, sobald diese Herrschaft zweifelhaft werde; daher gebe es keine Herstellung des Verlorenen, aufser durch Rückkehr und durch Wieder- Bevestigung derselben Herrschaft. Jedoch, hiermit allein werden die Denkenden, die Verständigsten unter den Legitimen, sich nicht begnügen. Sie werden einsehen, dafs blofse Herrschaft auch den Usurpator zum Fürsten des Rechts machen würde, so lange er noch das Haupt der Armee ist; sie werden bemerken, dafs es gerade Mangel an Menschen- kenntnifs sey, zu glauben, das Scepter habe in jeder Hand, die es zu führen wisse, einerley Gewicht. Denn eben das bezeichnet den legitimen Herrn nicht blofs als den rechtlichsten, sondern unter gleichen Umständen auch als den stärksten, dafs in Ansehung seiner in den Gemüthern der Menschen keine Frage entsteht, wie er dazu komme, herrschen zu wollen? Dafs ihm ganz allein es geziemt, die Kröne zu tragen, sie sey nun eine Last oder ein Schmuck; weil es Schwäche seyn würde, das Geschäft zu verweigern, welches der Umstand seiner Geburt, und die ohne sein Zuthun vorhandene Sitte ihm anweist. Oder wäre es etwa für Ludwig den acht- zehnten, da er in der Verbannung lebte, anständig gewesen, sein Recht auf die Krone, ich will nicht sagen, gegen das angebotene Jahrgehalt zu verkaufen, aber doch durch eine Verzichtleistung auszulöschen, und hiemit sich selbst unfähig zu machen, der Nation den Mittelpunkt der Ordnung darzubieten, wozu ihn nachmals die Umstände wirklich erhoben? Wohl aber geziemte es jenem andern Ludwig, dem Bruder des französischen Kaisers, einen Thron zu verlassen, für den er nicht geboren war; denn zwischen ihm und den Niederländern bestand nur ein erkünsteltes, will- kührliches Verhältnifs, höchstens ein Vertrag, der aufgehoben war, sobald die völlige Unmöglichkeit, die Pflichten desselben seinerseits zu erfüllen» offenbar einleuchtete.

Das Verhältnifs des erblichen Herrschers nun, werden die Freunde der Legitimität fortfahren, enthüllt das ganze Geheimnifs aller Stufen der Güter und des Ranges im Staate. Denn auch Adel und Reichthum erben sich fort; jeder Besitz aber geziemt dem am Meisten, welchem er ungesucht

22 II- Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.

zu Theil wurde. Ihn trifft kein Vorwurf der Habsucht; aber der Vorwurf der Schwäche würde ihn treffen, wenn er fahren liefse, was sein ist. Nur die neuen Reichen brüsten sich mit ihren Schätzen; so verrathen sie die Begierde, womit sie die Hände darnach ausstreckten. Das ganze Volk empfindet diesen Unterschied, sofern es unbefangen beobachtet; wer ihn nicht empfindet, der ist geblendet, oder bestochen durch eigne Wünsche. Aber nur zum allgemeinen Nachtheil können in diesem Punkte die Em- pfindungen verfälscht werden, denn beginnt einmal der Glaube an uralten Besitz zu wanken und zu zweifeln, dann werden alle Güter die Zielpuncte des Eigennutzes; Betrug und Raub lauern auf Gelegenheit, Unruhe und Sorge wird das allgemeine Loos; die Nation hat dann ihren inneren Frieden verloren.

Nachdem ich nunmehr in der Kürze die Meinung der Liberalen und die der Legitimen anzudeuten versucht habe, wird es nöthig seyn, zuvörderst beyde unter einander zu vergleichen, damit leichter erhellen möge, auf welcher Seite sich die richtigste Menschen-Beurtheilung finde. Es läfst sich wohl nicht verkennen, dafs die Liberalen sich eine ideale Zukunft, die Legitimen eine ideale Vergangenheit wenigstens dunkel vorstellen, die den Gegenstand ihrer Sehnsucht ausmacht. Denn die einen suchen das Neue, die andern streben zurück zum Alten. Jene denken sich jeden Bürger als eine öffentliche Person, die mit Rath und That ins Ganze zu wirken berufen sey ; und wo dies in der Wirklichkeit sich nicht zeigt, da glauben sie eine Lähmung der natürlichen Kraft, eine Folge der Unterdrückung wahrzunehmen, da setzen sie einen Drang voraus, der sich einmal Luft machen werde; dem man schon jetzt, oder bald, oder doch allmählig Luft machen müsse, um eine gefährliche Explosion zu vermeiden. Und wenn nun alle verborgenen Kräfte öffentlich werden hervorgetreten seyn, dann erst erwarten sie einen Zustand des ruhigen Gleichgewichts, des friedlichen Zusammenlebens, ja des harmonischen Zusammenwirkens; ohne zu bedenken, dafs unter vielen aufgeregten, stark gespannten Kräften, bey vielen lauten Ansprüchen, die alle befriedigt seyn wollen, das Gleich- gewicht auch viel schwerer zu erhalten, viel leichter zu stören ist, als in einem einfachen System der Wirkung und Gegenwirkung. Die andern aber, die Freunde des Alten, denken sich eine Vergangenheit des tiefsten Friedens, des Besitzes ohne Tadel, ohne Verdacht, ohne Frage nach seinem rechtlichen Ursprünge; als hätten jemals die Armen1 ganz neidlos neben den Reichen gewohnt, als hätten alle Herrscher seit undenklichen Zeiten eine völlig legitime Herrschaft geübt; als wäre die Frage, woher das Recht zum Vorrang der Einen, woher die Pflicht der Andern zum Dienen und zur Unterordnung, eine Erfindung der neuesten Zeit. Allein das Loos der Menschheit war nicht so glücklich, und wird nicht so glücklich seyn, wie die verschiedenen Parthey en sich überreden. Jede Zeit, jeder Staat, worin überhaupt der Grad von Bildung vorhanden war und seyn wird, den das politische Nachdenken voraussetzt, hatte und wird haben sowohl Vorwärts- als Rückwärts-Strebende ; sowohl Freunde der Patrizier als Verehrer des Volks, sowohl eine rechte als eine linke Seite, und,

1 Die Aermern SW.

Rede, gehalten in der Deutschen Gesellschaft, am 3. August. 182 1.

wenn das Glück grofs ist, sowohl einen Pitt, als einen Fox. Denn kein Zeitalter erbt von dem vorhergehenden einen durchaus geläuterten recht- lichen Zustand; es erbt Processe ohne Sentenz, und Sentenzen ohne Exe- cution, und, was noch schlimmer ist, Executionen ohne Procefs und Sentenz ; es erbt Friedensschlüsse, die der Krieg erzwang, und die eben deshalb den Keim zum neuen Kriege enthalten. Unter solchen Umständen aber gehört noch mehr als blofse Rechtlichkeit dazu, wenn der Krieg nicht ausbrechen soll. Die rohe Menge bedarf des Druckes von Oben, die Gebildeten bedürfen des Ehrgefühls und alle bedürfen der Religion, damit jeder in seinem Gewissen sich scheue, die Vorwände zu ergreifen, die allenfalls den Streit beschönigen könnten.

Wenn nun schon die erste Bedingung der Menschenkenntnifs, Unbe- fangenheit und gleiche Entfernimg von Vorliebe und Abneigung, sowohl bey den Liberalen als bey den Legitimen vermifst wird; wenn vielmehr die Einen als unmäfsige Liebhaber des Neuen, die Andern des Alten, sich leicht genug verrathen: werden wir sie die hohem Bedingungen der Menschenkenntnifs, Schärfe der Unterscheidung, und Vollständigkeit der Zusammenfassung besser erfüllen sehn? Oder werden wir nicht vielmehr entdecken, dafs sie weit entfernt, sich in fremde menschliche Empfindungen wahrhaft hineinzuversetzen, ihr eignes vorherrschendes Gefühl ohne Umstände auch Andern beylegen? Wozu Neuerungen, fragte jener fran- zösische Generalpächter, befinden wir uns nicht wohl ? Unstreitig befanden die Generalpächter sich wohl; und bey den übrigen Menschen setzten sie eine Genügsamkeit voraus, die statt aller Güter des Lebens dienen könne, um ein ähnliches Wohlseyn hervorzubringen. Wie stark der Stachel der Entbehrung die gröfsere Volksmenge reizen müsse, wie schwer die Tugend der geduldigen Entsagung sey, das haben von jeher gewifs wenige Reiche erwogen, sie haben deshalb gewifs die Summe der Kräfte, welche gegen sie und ihre Vorrechte gespannt seyen, sehr selten richtig geschätzt; sie haben schlecht überlegt, wie fern der scheinbare Friede in der bürger- lichen Gesellschaft, auf den sie zählen, haltbar und dauerhaft sey; sie ver- rechnen sich endlich ganz, wenn sie glauben, das Gewicht, was die untern Klassen drückt, noch vermehren zu müssen; sie vergessen alsdann, dafs eben der Druck es ist, welcher den widerstrebenden Kräften ihre Spannung giebt. Aber die Liberalen verrechnen sie sich weniger? Weil ihr eignes Gemüth voll ist von politischen Interessen, weil sie nichts anderes be- denken, als öffentliche Angelegenheiten, darum vergessen sie, dafs die bei weitem gröfsere Zahl der Menschen nur ein bequemes und anständiges Privatleben im Auge hat; sie wundern sich, wenn Versammlungen, wozu alle Bürger eingeladen werden, um etwa für öffentliche Posten den rechten Mann zu wählen, nur spärlich besucht sind; sie klagen über Erschlaffung des Gemeinsinns, wenn nach solchen Zeiten, in welchen ausserordentliche Umstände eine Ueberspannung des politischen Interesse hervorgerufen hatten, nun wiederum die natürliche Sorge eines Jeden für sein Haus ihre Rechte gelten macht. Nun ist zwar gewifs, dafs nicht die ganze Würde des Menschen Platz hat im Hause, dafs sie, um in vollem Glänze zu erscheinen, Raum sucht im Felde oder auf dem Forum, oder vielmehr auf den Tafeln der Weltgeschichte, um die Nachwelt erreichen zu können.

2A II- Ueber Menschenkenntnifs in ihrem Verhältnifs zu den politischen Meinungen.

Aber die Geschichte wächst, während das Gedächtnifs des Menschen gleich grofs bleibt; und nach zehn Jahrtausenden wird im Tempel des Nach- ruhms der Platz so eng und so kostbar seyn, dafs alle diejenigen, welche den Geist nicht gänzlich über die Zeit zu erheben Kraft besitzen, willig einräumen werden, die Bestimmung des Menschen sey durchgehends auf das Haus beschränkt, mit Ausnahme einer kleinen Minderzahl, die in öffentlichen Geschäften ihren Wirkungskreis findet. Und wenn wir uns das Bild dieser entfernten Zukunft mehr ausmalen wollen, so erblicken wir zwar ohne Zweifel den ganzen Erdkreis, sofern die Natur nicht Eis- felder oder Sandwüsten entgegenstellte, bedeckt mit cultivierten Völkern und Staaten; wir erblicken alle diese Staaten in Gemeinschaft, in Verkehr, in Wechselwirkung; und wir können leicht voraussehn, dafs alsdann der- jenige Theil der Menschenkenntnifs, welcher auf Vollständigkeit der Zu- sammenfassung beruht, weit leichter zu erreichen seyn mufs als jetzt, weil es alsdann noch weit offenbarer einleuchten wird, wie in einem so weit ausgedehnten Räume der Zusammenwirkung Aller mit Allen, und nach einer so sehr verlängerten Weltgeschichte Jeder mit dem Ganzen seiner Mitwelt und Vorwelt verbunden ist, so dafs man aufser dieser allgemeinen Verknüpfung den Einzelnen aufzufassen kaum noch wird versuchen wollen. Aber eben deswegen, weil das Ganze so grofs, wird der Einzelne desto kleiner seyn; und weil die Geschichte so lang, wird das Leben des Menschen desto kürzer scheinen. Noch mehr als jetzt werden alsdann die verschiedenen Zweige der Industrie sich getheilt, noch schärfer als jetzt werden die Fächer der Kunst und der Gelehrsamkeit sich gesondert haben; noch mehr als jetzt wird man bey der Uebersicht des Ganzen der Wissenschaft sich mit allgemeinen Umrissen begnügen müssen. Und die noch weit wichtigem Umrisse des gesellschaftlichen Daseyns, die man Sitten, Urkunden, Gesetze, und Verfassungen nennt, müssen sie nicht in demselben Grade ehrwürdiger werden, wie es sich ldärer zeigt, dafs ohne sie die ungeheure Mannigfaltigkeit der menschlichen Verhältnisse sich nicht einmal überschauen, viel weniger in Ordnung halten, und gegen den furchtbarsten Umsturz sichern läfst? Gewifs, wenn erst ein ent- schiedenes und unverkennbares Uebergewicht des Allgemeinen über jedes einzelne menschliche Daseyn, ja über die Fassungskräfte jedes Einzelnen vorhanden ist: dann wird ein tiefes Gefühl der Abhängigkeit von dem grofsen Ganzen der Dinge sich jedem Versuch eines willkührlichen Ver- fahrens entgegensetzen, und vor der Erkenntnifs des Nothwendigen werden die politischen Meinungen verstummen. Doch wohin bin ich gerathen? und welche entlegene Zukunft habe ich mir vorgespiegelt? Die politischen Meinungen sind laut und werden noch lauter werden; und alle diese Meinungen werden von grofsen Menschenkennern nicht blofs angenommen, sondern vertheidigt und verfochten. Diesen Streit kann meine Rede, und würde sie auch zur vollständigsten Abhandlung, nicht enden und nicht schlichten; nur wünschen und hoffen kann ich, dafs die zugleich legitime und liberale Herrschaft, unter der wir leben, uns fortdauernd mit dem Schutze beglücken möge, unter welchem allein es möglich ist, so ruhig und so unbefangen, wie ich es gethan habe, die politischen Meinungen zu berühren.

III.

UEBER

EINIGE BEZIEHUNGEN

ZWISCHEN

PSYCHOLOGIE

UND

STAATSWISSENSCHAFT.

1821.

[Text nach dem Msc. 2058 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Citirte Ausgaben.

S"\V = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. IX, 199 219), herausgegeben von

G. Hartenstein.

KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 331 352), herausgegeben Von

G. Hartenstein.

Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und

Staatswissenschaft.

Dafs die Staaten aus Menschen bestehen, und dafs die Menschen ihre geistige Natur in den Staat mitnehmen, liegt unmittelbar vor Augen. Daher war es natürlich , dafs schon Plato in seinen Büchern von der Republik, Psychologie und Staatslehre verknüpfte. In der Seele glaubte er zwischen Denken und Begehren den ifvf.iog zu finden, die Thatkraft, welche noch unbestimmt in Ansehung ihrer Gegenstände, sich nach beiden Seiten hinwenden, und entweder der Vernunft oder der Sinnlichkeit ihren Nach- druck mittheilen kann; ein Begriff, der etwas anders modificirt, bey den Heutigen den Namen der Freyheit des Willens führt, und auch hier das bezeichnet, was entweder für Vernunft oder für Begierde sich ent- scheidend, beide zur wirklichen Thätigkeit ergänzt, die sie für sich1 allein nicht entwickeln würden. In dem Staate suchte nun Platon denselben Typus wieder; und indem er sich den geordneten Staat gleich dem ge- ordneten Menschen dachte, sonderte er zuerst unter den Staatsbürgern diejenigen aus, welchen ein freyes Wirken, eine überwiegende Stärke, durch die Natur verliehen war; wenn nun diese zur guten Natur auch die gute Bildung empfangen würden, dann, dachte er, seyen sie die wahren Wächter des Staates, indem sie im Dienste des Weisesten, das gemeine Volk zu- gleich schützten, und in Ordnung hielten. Eine repräsentative Verfassung nach heutigem Sinne, hat die Platonische Republik ganz und gar nicht, und wenn sie dem Platon wäre vorgeschlagen worden, möchte er sie leicht irgendwo in der Reihe derjenigen Verfassungen eingefügt haben, durch welche er seinen vollkommenen Staat, mit allmählich wachsenden Fehlern herabsinkend, in seiner Ausartung herdurchgehen läfst. Oder noch wahrscheinlicher würde er die Repräsentation, in Hinsicht auf die heutige Gröfse der Staaten, als ein unter Umständen brauchbares, keineswegs aber wesentliches Hülfsmittel angesehen haben, um das, worauf es in den Staaten ankommt, Uebereinstimmung derselben mit der menschlichen Natur, und Entscheidung des Unbestimmten was in ihr liegt, für das Gute und Rechte zu Stande zu bringen und vestzuhalten.

*e"

Ob die Psychologie der neuern Zeit irgend einen bedeutenden Denker einladen könnte, nach ihrem Vorbilde, sich einen wohlgeordneten Staat vorzustellen, das ist eine Frage, welche im Vorbeygehen zu berühren, sich kaum vermeiden läfst, obgleich sie einer Untersuchung schwerlich

1 für sie allein SW.

28 HI- Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821.

werth ist. Wollen wir uns im Ernste den Staat in drey solche Gewalten zerlegt denken, die sich verhalten wie das Vorstellungsvermögen, das Be- gehrungsvermögen, das Gefühlsvermögen? Wollen wir einer Corporation im Staat das blofse Anschauen und Denken, der andern ein blofses Wünschen, Streben und Wollen, der dritten gar das rein passive Fühlen auftragen? Wollen wir ferner ein Collegium im Staate anordnen, welches das allgemeine Gedächtnifs darstellen, ein anderes, welches die Einbildungskraft repräsen- tiren; und soll, indem wir so fortgehen, gar irgend ein Departement der Affecten und ein anderes der Leidenschaften errichtet werden? Ehe wir einen so ungereimten Gedanken völlig ausführen, wird uns der Verdacht aufsteigen, die heutige Psychologie mit ihren gespaltenen Seelenvermögen möge wohl Schuld daran seyn, wenn sich zwischen ihrer Darstellung des einzelnen Menschengeistes und zwischen der bürgerlichen Vereinigung vieler Menschen, keine Analogie will finden lassen; sie möge wohl das Untrenn- bare zu trennen versucht, und sich hintennach eine Wiedervereinigung: dessen eingebildet haben, was, wäre es einmal getrennt, nimmermehr wieder zur Einheit zurückkehren würde.

Hiegegen dürfte Jemand einwerfen, es könne der Psychologie unserer Zeit nicht zum Vorwurfe gereichen, wenn sie einer zu weit getriebenen Analogie nicht entsprechen wollte. Das sey eben der Fehler der heutigen Philosophie, dafs sie über dem Jagen nach Aehnlichkeiten der Unterschiede vergäfsen. Schon habe man in der heutigen Naturphilosophie unternommen, den Staat nach dem Vorbilde des Universum zu construiren; das Mis- lingen eines solchen Beginnens solle uns warnen, nicht die Seele mit dem Staate zu vergleichen. Die inneren Verhältnisse der Seele seyen schwerlich von der nämlichen Beschaffenheit wie die äufseren Verhältnisse zwischen den Mitgliedern eines grofsen und öffentlichen Gemeinwesens; jeder Staats- bürger sey ein ganzer Mensch, mit allem Vermögen des Leibes und der Seele; man könne nicht erwarten, dafs die Verhältnisse auch nur zweyer Menschen unter einander, viel weniger der unter den grofsen Menschen- massen, den Ständen, den Communen, den Provinzen, welche den Staat ausmachen, das im Grofsen wiederholen sollten, was im Kleinen in der tiefen Brust des Einzelnen verborgen liege. Das sey ebenso, als ob man sich einbilden wolle, eine grofse Menge von Uhren sollen ein ähnliches Ganzes darstellen, wie die Theile einer einzigen Uhr; oder eine grofse Menge menschlicher Leiber solle sich zu einem solchen System verknüpfen, wie Lunge, Leber, Magen, Herz, Muskeln, Nerven, Knochen in dem ein- zelnen menschlichen Leibe.

Das Gewicht dieses Einwurfs, geehrteste Anwesende, scheint mir in der That grofs genug, um uns von übereilten Vergleichungen abzuschrecken. Wenn es sich nicht sollte nachweisen lassen, dafs in den Staaten eine ähn- liche Verknüpfung statt finde, wie in dem menschlichen Geiste, so möchte es uns wenig helfen, etwan das Beyspiel derer für uns anzuführen, die mit dem Mikrokosmos und Makrokosmos, in alten Zeiten, oder auch jetzt, ge- spielt haben. Wer lieber phantasirt als denkt, der verknüpft freylich Alles, aber nur in seiner Vorstellung, denn über die Natur der Dinge hat er keine Gewalt. Auch müssen wir uns darauf gefafst halten, dafs selbst wenn wir haltbare Vergleichungspunkte zwischen Seele und Staat wirklich

Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 20

antreffen sollten, doch auch des Verschiedenen, des Eigenthümlichen, des Unvergleichbaren sich auf beyden Seiten genug zeigen werde.

Die erste recht deutliche Spur aber, welche auf die Aehnlichkeit zwi- schen Geist und Staat hinweist, liegt in dem Umstand, dafs die Sprache es ist, welche das Band der menschlichen Gesellschaft knüpft. Denn ver- mittelst des Wortes, vermittelst der Rede, geht der Gedanke und das Ge- fühl des Einen hinüber in den Geist des andern; dort weckt er neue Gedanken und Gefühle, welche zugleich über die nämliche Brücke wandern, um die Vorstellung des ersten zu bereichem; auf diese Weise geschieht es, dafs der allgemeinste Theil unserer Gedanken aus uns selbst entspringt, wir Alle vielmehr gleichsam aus einem öffentlichen Vorrath schöpfen und an einer allgemeinen Gedanken-Erzeugung Theil nehmen, zu welcher jeder Einzelne nur einen verhältnifsmäfsig geringen Beytrag liefern kann. Aber nicht blofs die Summe des geistigen Lebens, sofern sie im Denken besteht, ist ursprünglich Gemeingut, das sich durch die Sprache Allen mittheilt: sondern auch der Wille der Menschen, der sich nach den Gedanken richtet, die Entschliefsungen, die wir fassen, indem wir auf das was Andre meinen, Rücksicht nehmen, geben deutlich zu erkennen, dafs unsere ganze geistige Existenz ursprünglich von gesellschaftlicher Art ist. Unser Privat- leben ist nur aus dem allgemeinen Leben abgesondert, in welchem es seine Entstehung, seine Hülfsmittel, seine Bedingungen, seine Richtschnur findet und immer finden wird.

Nun ist aber offenbar, dafs die Art, wie wir uns das allgemeine Leben aneignen, nothwendig gleichartig seyn mufs mit den innersten Bestimmungen unserer eignen Geistes - Entwickelung. Das allgemeine Leben ist nichts aufser den Individuen; es besteht eben in dem, was diese, jedes einzeln genommen, in sich vollziehn, nachdem sie sich dazu gegenseitigen Anlafs gegeben hatten. Wenn wir einen fremden Gedanken zu dem unsrigen machen, so mufs derselbe Gedanke in uns möglich seyn, er mufste auch in uns, wennschon nicht zuerst, entstehen können. Wenn der Plan, den wir entwarfen, von Andern angenommen wird, wenn er ihre Mitwirkung erlangt: so mufste er auch in ihren Neigungen und Bestrebungen Wurzel fassen können. Es leuchtet also ein, dafs das ganze Gewebe des gesell- schaftlichen Daseyns nicht nur aus den Fäden besteht, welche die Indivi- duen spinnen, sondern dafs es auch auf dieselbe Weise zusammenhängen mufs, wie die Individuen ihre eignen Gedanken, Gesinnungen, Entschliefsun- gen verknüpfen, denn es wird eben von ihnen verfertigt, und aufser ihren Geistern und Gemüthern ist es gar nicht vorhanden.

Dies wird noch klärer werden, wenn wir eine andere Betrachtung an- stellen, die Anfangs der vorigen gerade entgegenzustehen scheint. Sind nicht in der Gesellschaft eine Menge von verschiedenen, einander wider- sprechenden Meinungen im Umlauf? Giebt es nicht im Staate eine un- zählbare Summe von streitenden Interessen? Und ehe sich ein allgemeiner Wille bilden kann, müssen nicht zuvor die widerstrebenden Kräfte sich unter einander ins Gleichgewicht gesetzt haben? Aber gerade so geht es in dem Geist des einzelnen Menschen. Jedes Individuum trägt eine unermefsliche Manigfaltigkeit von Vorstellungen in sich, die unter einander vielfach entgegengesetzt sind; eben wegen dieses Gegensatzes verdrängen

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die Gedanken einander aus dem Bewufstseyn. Dieses wohl wissend, suchen wir uns aller Störung von aufsen zu erwehren, wenn wir über etwas scharf nachdenken, wenn wir irgend eine, gröfsere oder kleinere, geistige Arbeit zu Stande bringen wollen; es ist aus langer Erfahrung bekannt, dafs der Gegenstand, den wir bearbeiten, sogleich unser inneres Auge fliehen wird, sobald ein unzeitiges Geräusch, eine fremdartige Nachricht, ein unerwar- tetes Geschafft, uns in Anspruch nimmt; darum verbieten wir, wenn es nur möglich ist, der äufseren Welt, uns neue Vorstellungen zuzuführen, auf so lange, als wir mit unserem schon gesammelten Gedankenvorrath lebhaft beschäfftigt sind. Aber was hilfts? Wir tragen der störenden Kräfte nur zu viele in uns selbst. Ehe wir es uns versehen, hat das in uns, was man Phantasie nennt, einen Sprung gemacht; unsere Gedanken sind auf einen Abweg gerathen, haben sich in einem Walde verloren; wir wissen nicht mehr was wir wollten, und müssen uns mit Anstrengung wieder auf den Anfangspunkt unseres Denkens zurückversetzen, um es nach dem vorigen Plan nur besser fortzuführen. So leicht stören wir uns selbst, so wirkt ein Theil unserer Vorstellungen wider den andern, so zerschneidet ein Gedanken-Faden den andern. Und wie viel stärker noch zeigen sich die wider einander aufgeregten Kräfte in unserm Innern, wenn das Gefolge von Begierden und Leidenschaften, wenn die Affecten in uns zum Vor- schein kommen. Diese sind sammt und sonders nichts anderes, als ver- schiedene Modificationen der Abweichung unserer vorhandenen Vorstellun- gen vom Gleichgewichte; daher ist ein stürmisches Meer, dessen Wogen sich bald über den Spiegel desselben Gewässers, wenn es ruhig ist, erheben, bald unter dieser Fläche hinabsinken, das wahre und treffende Bild eines dem Wechsel der Affecten unterworfenen Gemüths. Demnach, wenn in der Gesellschaft der Menschen die Meinungen einander widersprechen, so wiederholt sich hier nach einem gröfsern Mafsstabe, was wir in unserm Innern beobachten können, wenn wir dem Spiel unsrer eigenen Gedanken zuschauen; und wenn im Staate die Interessen sich kreuzen, so durch- kreuzen sich nicht minder unsere Wünsche, unsere Rücksichten; ja wenn endlich im öffentlichen Leben ein Wechsel von Faktionen die bürgerliche Ruhe stört, so lang das Vorbild nicht blofs, sondern selbst der Ursprung hiervon offenbar in dem Tumult der Leidenschaften, die in den Gemüthem gähren.

Wir sehen nunmehr, wenn wir das Gesagte zusammenfassen, eine doppelte Grund - Aehnlichkeit zwischen dem Staate und dem einzelnen Menschengeiste; nämlich Hemmung des Entgegengesetzten, und Verbindung dessen was sich nicht hemmt. Aus diesen beyden Anfängen entwickelt sich das geistige Leben; und eben darum erblickt man sie wieder in der Gesellschaft, wo die Sprache das Verbindungsglied wird für die Gedanken und Wünsche der verschiedenen Individuen.

Bevor ich nun diesem Principium seine Folgen abzugewinnen suche: mufs ich zuerst meinen Gegenstand gehörig begränzen. Die Staatswissen- schaft, sofern sie vorschreibt was seyn solle, welche Verfassung und Ver- waltung dem Gemeinwesen gebühre, liegt hier gänzlich aufser meiner Sphäre. Die angefangene Betrachtung ist rein theoretisch; sie nimmt die Staaten als vorhanden an, und als schwebend durch ihre innern Kräfte

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zwischen mancherley Zuständen, ohne Rücksicht auf die Frage, was in diesen Zuständen Gutes oder Böses liege. Die Beschränkung auf einen solchen Standpunkt ist unvermeidlich weil die Psychologie, welche andern das andre Glied der Vergleichung darbieten soll, eine rein theoretische Wissenschaft ist, innerhalb deren die Moral gar keine Stimme hat, wie wohl es sich von selbst versteht, dafs die Erkenntnifs des menschlichen Geistes, nachdem man sie besitzt, zum Dienste sittlicher Zwecke soll ge- nutzt werden.

Zuerst nun gilt von jedem System von Kräften, es sey welches es wolle, immer der Satz, dafs es zum Gleichgewichte strebe. So ist es in der Seele, so ist es im Staate. Allein die geistigen Kräfte erreichen ihren Gleichgewichtspunkt niemals vollkommen, und sie sind auch dann, wenn sie demselben schon nahe stehen, äufserst leicht ihm wieder zu entführen. Das erfahren wir (um hier von der spekulativen Erläuterung dieses Satzes zu schweigen) zuvörderst in uns selbst. Wohl manchmal scheinen unsere Gedanken sich irgend einem Ruhepunkte zu nahem, allein gar bald werden wir inne, wie die mindeste Veränderung der äufsern Reizung uns allerley Vorstellungen aufregt, die in uns tief vergraben geschlafen hatten, die aber nunmehr, verstärkt, durch neue Auffassungen von aufsen, eine Kraft ge- winnen, wodurch sie unseren geistigen Horizont verrücken; uns zum Beyspiel über öffentliche Neuigkeiten unsre Privatsorgen vergessen machen; oder uns vom heitern Genufs des gesellschaftlichen Lebens plötzlich in irgend eine finstre wissenschaftliche Tiefe hinein versetzen. . Diese Reiz- barkeit, dieselbe Wandelbarkeit zeigt sich auch im Staate; sofern wir unter diesem Worte nicht etwa blofs die Verwaltungsmaschinen, sondern das wahre gesellschaftliche Zusammenleben verstehen; und folglich darauf Acht geben, welche Gesinnungen, und wie schnell sie wechseln, je nachdem die öffentliche Aufmerksamkeit auf diesen oder jenen Gegenstand gelenkt wird, und besonders je nachdem sie für diese oder jene Personen gewonnen und in Anspruch genommen wird, die eben sich hervorthun oder sich eine allgemeine Misbilligung zuziehen. Was es immer seyn ' möge , das ein allgemeines Interesse erregt, es wirkt immer dahin, Meinungen hier zu ver- binden, und dort zu trennen; eine Veränderung, die oftmals vorübergehend in manchen Fällen aber bedeutend ist durch ihre Folgen. Denn jede Ver- einigung der Meinungen stiftet eine Gesammtkraft, welche, wenn ihr Ge- legenheit gegeben wird sich thätig zu äufsern, nicht unterlassen wird, zu verrathen, dafs sie in etwas die Richtung verändert hat, wohinaus sich bis dahin das Ganze bewegte. Und jede Spaltung in den Meinungen schwächt eine Kraft, die bisher als eine einzige gewirkt hat. Dies würde weit öfter merklich werden und sich in wichtigen Folgen äufsern, wenn nicht gewöhn- lich ein und dasselbe Ereignifs hier Gleichdenkende vereinigte, dort Ver- schiedengesinnte von einander entfernte, so dafs mehrere Kräfte zugleich entstehen, deren Wirkungen sich gegenseitig aufheben. Aber im Laufe der Zeit beobachtet man dennoch höchst auffallende Abänderungen in der Hauptrichtung des gesellschaftlichen Strebens, die sich allmählig aus jenen kleineren, und anfangs unbedeutendem Umstimmungen, ergeben haben.

1 was immer es SW.

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Man würde sich indessen die Reizbarkeit und Wandelbarkeit, sowohl im menschlichen Geiste, als im Staate, viel gröfser vorstellen als sie wirk- lich ist, wenn man von dem Gedanken ausginge, dafs die ungeheure Menge von Kräften, welche dort in der ganzen Summe aller Vorstellungen, hier in der Menge aller Individuen liegt, unabläfsig in Wirksamkeit wäre. Die psychologische Untersuchung lehrt aber, dafs in einem solchen System von Kräften, wie die Vorstellungen des menschlichen Geistes es bilden, noth- wendig die grofse Anzahl der schwächeren Kräfte dem Uebergewicht einiger, verhältnifsmäfsig weniger hervorragenden, weichen müssen, so dafs die schwachen nur in1 Verbindung mit den starken, etwas bedeuten und ver- mögen. Wer nun dieses der Psychologie nicht würde glauben wollen; wer auch nicht in seiner innern Erfahrung wahrzunehmen wüfste, welcher Unterschied ist zwischen dem herrschenden Hauptgedanken, und dem Schwärm von Notizen, oder von Einfällen, die nur von jenem hervor- gerufen oder veranlafst, kommen und wieder gehen, um gebraucht und wieder zur Seite geworfen zu werden: wer diese Unterordnung in sich selbst also nicht kennte : Der würde wenigstens im Staate das Gesrenbild dazu finden, wo es allemal Patronen und Clienten giebt und geben wird; und wo niemals eine Demokratie in dem Sinne existiert hat oder existieren wird, dafs in der That Alle gleichen Einflufs auf den Gang der öffent- lichen Angelegenheiten hätten. Was man im Staate erreichen kann, das besteht darin, dafs man die oftmals lästigen Coeffizienten wegschafft, welche Reich thum und Geburt herbeybringen, und vermöge deren das Ueber- gewicht gar sehr von dem natürlichen Schwerpunkte der zusammenwirken- den Willen entfernt wird; wer aber diesen Gegenstand näher untersuchen will, der darf auch nicht vergessen, dafs gerade Geburt und Reich thum es sind, wodurch, wenn man ihnen einen mäfsigen Einflufs läfst, die allzu grofse Wandelbarkeit und Reizbarkeit, die sonst nach psychologischen Gründen im Staate noch immer vorhanden sein würde, am sichersten ver- mindert werden kann. Auf den Reich thum pafst dies natürlich nicht, in wiefern er sich in dem Besitz schwindelnder Spekulanten befindet, die ihn jeden Augenblick einem Hasardspiel Preis geben, und damit so lange fort- fahren, bis sie ihn wirklich verloren, und sein Gewicht ha andere Hände gebracht haben. Aber es pafst auf diejenigen Güter, welche ruhig bey den Familien bleiben, während die Generationen wechseln; und welche den Glanz der Namen, die einmal durch Glück oder Werth ausgezeichnet waren, zu erhalten dienen. Hiemit soll nicht, nach Art einiger Neuern gesagt seyn, dafs die Idee des Staates ursprünglich und nothwendig Adel und unbedingtes Erbrecht einschliefse. Sondern nur soviel ist wahr, dafs beyde als Nothmittel nützlich sind, so lange die blofs psychologischen Kräfte den Staat gar zu beweglich machen, das heifst so lange noch in den Gedanken, den Meinungen, den Vorurtheilen, den Gefühlen, den Sitten, den Gesetzen, den Ueberzeugungen, nicht diejenige Vestigkeit und Gleich- förmigkeit der Geistesbildung sich zeigt, welche, gemäfs den ewigen und nöthwendigen Wahrheiten, dereinst alle Nationalität veredeln und über den ferneren Wechsel erheben soll. Bis dahin sind in der That jene fremd-

1 nur noch in SW.

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artigen Gewichte, in einer gewissen, mäfsigen Stärke, dem Staate ebenso unentbehrlich, wie der Ballast dem Schiff, welches ohne ihn nicht tief cenug im Wasser gehn, und deshalb allen Windstöfsen preisgegeben seyn würde. Denn nach den psychologischen Gesetzen wechselt die in einem gegebenen Zeitpunkte vorhandene Unterordnung der schwachem Kräfte unter die stärkern, sehr leicht, und zuweilen sogar ziemlich schnell; wovon der Grund sehr begreiflich ist. Es sind nämlich an sich die schwächern vollkommen gleichartig den stärkern, sowohl in der Seele die Vorstellungen, als im Staate die Menschen. Nun können in der Seele die schwächern Vorstellungen, wenn sie gleich für jetzt völlig dienend und unterwürfig darnieder liegen, und für sich garnichts zu vermögen scheinen, doch gar leicht in einem sehr bedeutenden Grade verstärkt werden, durch neue Wahrnehmungen oder durch neue Verbindungen; und genau ebenso werden auch im Staate die Anfangs wenig thätigen, die ruhig unterwürfigen Menschen zuweilen durch neue Erfahrungen geweckt und erhitzt; sie werden alsdann vollends stark und einfiufsreich , indem sie sich versammelen und rath- schlasren, indem sie Partheven bilden, etwas Gemeinschaftliches unter- nehmen und nach kleinem Erfolgen zu gröisern Dingen aufstreben. Wenn so etwas begegnet, alsdann nimmt plötzlich das Staatsschiff eine andere Richtung; gerade so wie das Denken und Handeln des Menschen, wenn eine neue Combination, eine neue Erfindung gelungen ist, oder wenn auch nur eine neue Meinung sich über die andern Meinungen erhoben, wenn ein neues Vorurtheil den Standpunkt verrückt hat, aus welchem man die Dinge zu sehen, das heifst eigentlich, seine Vorstellungen von den Dingen zu verknüpfen, gewohnt war.

Es ist nun zwar schwer zu entscheiden, ob das menschliche Nach- denken mehr von diesem psychologischen Mechanismus, oder ob der letztere mehr von jenem abhänge, und durch dasselbe könne zur Ordnung und Beständigkeit gebracht werden. Soviel ist gewifs, dafs keine mensch- liche Weisheit sich jenen Anfechtungen ganz entziehen kann, die aus der natürlichen Reizbarkeit unseres einmal vorhandenen Vorstellungskreises gegen neu hinzukommende Vorstellungen und Gefühle, nothwendig entsteht. Allein andererseits mufs man auch anerkennen, dafs, indem der Mensch sein eigener Zuschauer ist, und indem die Menschheit ihre eigene Ge- schichte sammelt, schreibt, und beurtheilt, eben in dieser Selbstbeobachtung eine neue geistige Kraft entspringt, die zwar nicht ganz alleinherrschend, doch sehr mächtig eingreifend, zur Mäfsigung der Reizbarkeit, zur An- ordnung des Verworrenen, zur Bevestigung des Wandelbaren, nach Be- griffen und mit Ueberlegung hinwirkt. Man kennt diese Kraft, womit der Mensch sich aus seinem Taumel emporarbeitet, nicht blofs aus eigner innerer Wahrnehmung, nicht blofs durch die Erinnerung aus den Jugend- jahren, und durch den Uebergang aus der eigenen früheren Beweglichkeit zu der allmählig gewonnenen männlichen Vestigkeit; sondern jeder von uns, und schon die Meisten vor uns, waren der Wirksamkeit einer Für- sorge unterworfen, womit die früheren Geschlechter den späteren vorarbeiten, indem sie ihren eigenen Schatz von Lehre und Warnung, von Regeln und Grundsätzen, von angenommenen Gesetzen und Einrichtungen überliefern, die zu den stärksten psychologischen Kräften gehören, welche es geben

Herbart's Werke. V. 3

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kann, und die in demselben Maafse an Herrschaft gewinnen werden, wie sie an innerer Wahrheit und Gültigkeit gewinnen. Was in dem Laufe eines Menschenlebens ein glücklicher Augenblick ist, da der Mensch, sich selbst mit seinen Blicken umspannend und beurtheilend , einem Gesetze sich unterwirft, dessen Urheber er selbst ist: eben dies ist in der Geschichte ein grofser Mann, ein Gesetzgeber, ein Weiser, der sein Volk begreift, und demselben die Ordnung vorschreibt, deren es bedarf. Er selbst hat sich erhoben aus der Mitte der Uebrigen; seine Gedanken sind ursprünglich entnommen aus der allgemeinen Gedankenmasse; darum passen sie auch wieder zu dem Denken und Fühlen der Andern, sonst könnten sie keinen Einflufs gewinnen, und am wenigsten nach seinem Tode sich erhalten.

Aber gerade dieser Umstand beweiset auch und erklärt, dafs, und warum Individualität und Nationalität in die angefangene Charakterbildung mit hinüber gehen. Zu keiner Zeit, in keinem Augenblicke, ist der Mensch reiner Geist ist ein Volk die reine Menschheit; jede Ueberlegung, auch die, wodurch der Mensch für sich, oder der Gesetzgeber für das Volk, sich über sich selbst erhebt, um sich gleich einem Fremden, eine Lebens- ordnung vorzuschreiben, jede Entschliefsung und Handlungsweise, die auf solche Ueberlegung folgt, verräth immer noch den Boden, aus welchem sie entsprang, und zeigt, wenn nicht das Unrichtige, so doch das Einseitige dessen, der über sich oder sein Volk verfügte. Wie die Resultate der Wahrheitsforschuns: zwever deich wahrheitsliebender Denker entweder in ihrem Inhalte, oder doch in der Methode sie zu erreichen, von einander abweichen, so hat auch die Sittlichkeit der trefflichsten Menschen ihr Persönlich -Eigenthümliches; so hat vollends jede Nationalbildung ihre Flecken und Schoofssünden, welche abzulegen sie weder Fähigkeit noch Neigung zeigt. Diese Abweichungen, in ihrem Ursprung vielleicht unbe- deutend, werden in der Folge wichtig, wenn die mehreren Menschen oder Nationen, zusammen stofsen. Kleine Vorurtheile reichen hin, um sie von einander entfernt zu halten; und wo keine Verbindung glückt, da steht die Zwietracht schon in der Nähe, um beym geringsten Anlafs hervorzubrechen. Wem fallen hiebe}' nicht religiöse Secten und Religions- kriege ein! Um ihnen auszuweichen, lehrte das achtzehnte Jahrhundert Toleranz, aber das neunzehnte, sich klüger dünkend, bezeigt hie und da schon wieder Lust, die alten Reibungen zu erneuern.

Dafs in den Fehlem der Nationalbildung die Gebrechlichkeit der Staaten ihren Sitz habe, während einzelne Fehler der Verwaltung, und selbst, wenn man will, der Verfassung im Laufe der Zeit in soweit pflegen gehoben zu werden, als der gesunde Geist der Nationen ihnen überlegen ist, dies ist zu bekannt, um einer Anführung zu bedürfen. Wenn wir aber die letzte Folge jener Gebrechlichkeit, den Untergang der Staaten, ins Auge fassen, wenn wir versuchen, sie mit dem Tode der einzelnen Menschen zu vergleichen , so werden wir inne, dafs die beyden Fäden unserer Betrachtung hier aufhören, parallel zu laufen. Der Tod des Menschen ist kein psychologisches, sondern ein physiologisches Ereignifs; dieses aber entrückt den Gegenstand der Psychologie aller ferneren Be- obachtung. Hingegen die Staaten, wenn sie auch noch so sehr altern, gleichen doch jenem Sterblichen, dem eine Göttin Unsterblichkeit geschenkt,

III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821. i^

aber die ewige Jugend vergessen hatte. So schleppte das griechische Kaiserthum ein langes, sündiges und sieches Leben, und so hätte auch das ihm verschwisterte römische Reich vielleicht noch lange gedauert, ja es wäre vielleicht mit Hülfe des Christenthums verjüngt worden, wenn nicht die Stöfse von aufsen ihm ein Ziel gesetzt hätten. Man hat nun zwar, um die Parallele auf andere Weise fortzuführen, den Staaten oft- mals ein organisches Leben zugeschrieben; durch welche Vergleichung die Physiologie an die Stelle der Psychologie gesetzt wird. Allein diese Zu- sammenstellung reicht gerade soweit und nicht weiter, als die vorige. Es ist der Mühe werth dies näher zu bestimmen. Die Physiologie hat zu ihrem Gegenstande organische Leiber, deren ganze mögliche Bildung sich aus einem Keim entwickelt, dessen Kleinheit ihn den Sinnen entzieht. Mit dem Keime aber ist ganz bestimmt die fernere Evolution vollständig gegeben; dergestalt, dafs man den Keim wohl pflegen oder verderben, die Evolution wohl einigermafsen beschleunigen oder verzögern, nicht aber dauerhaft verändern kann. Denn wenn Jemand etwan die Mifsgeburten als abgeänderte organische Form betrachten will, so mufs man ihn erinnern, dafs diese an sich gebrechlich, und der Fortpflanzung unfähig sind. Solche Bestimmtheit der Form nun ist weder in dem menschlichen Geiste, noch in dem Staate zu finden. Vielmehr gilt vom Geiste und vom Staate der Satz, dafs sie sich bestimmten Organismen zwar allmählig, und ins Un- endliche fort nähern, sie aber niemals völlig erreichen; oder kurz: Physio- logie zeichnet die Asymptote für Psychologie und Staatswissenschaft. Es ergiebt sich nämlich allerdings aus dem System aller Vorstellungen im Individuum und im Staate eine bestimmte Assimilationsweise für neu hinzu- kommende Vorstellungen, sammt den aus ihnen entstehenden Gefühlen und Begierden; aber jede Assimilation verändert zugleich das Assimilirende und giebt dadurch den künftigenden Assimilationen eine neue Richtung. Hierauf beruht die Möglichkeit der Erziehung, von der man sehr unrichtige Begriffe hegt, wenn man sie der Gärtnerei vergleicht; denn während die letztere blofs die vorbestimmte Evolution der Pflanzen fördert, greift die erstere allerdings in das Innere des Keims ein, indem sie dem Menschen Gedanken, Gefühle und Bestrebungen einimpft, die er ohne sie niemals erlangt hätte. Darum wird ein junger Neuseeländer, den wir in Europa erziehen, zwar nicht völlig Europäer werden, aber auch nicht völlig Neu- seeländer bleiben; jenes nicht, weil sein Geist, als er zu uns kam, schon ein Analogon von organischer Bestimmtheit erlangt hatte; dieses nicht, weil die Organisation des Geistes nicht die Vestigkeit der eigentlichen Organismen hat, sondern sich nach neuen Eindrücken innerlich umändert. Und hiemit hängt unmittelbar der Unterschied zusammen, dafs Pflanzen und Thiere eine zugemessene Zeit des Wachsens, Bestehens und Welkens haben ; hingegen die Staaten sich bald schnell bald langsam entwickeln (vergleichen wir beyspielshalber nur das heutige, noch sehr junge und doch schon so starke Nordamerika mit dem alten langsam wachsenden Rom!) und dafs eben so wenig in der Abnahme der Staaten, wie in ihrem Wachsen, bestimmte Perioden herrschen, vielmehr oftmals ein wechselndes Rückgehen und Vorwärtsgehen, wo nicht gar eine Art von Wiedergeburt in ihnen zu bemerken ist, dergleichen dem heutigen Frankreich, und

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vielleicht auch Spanien zu Theil zu werden scheint. Und soll ich hiebey nicht auch an Deutschland, an Preufsen mich erinnern?

Es sind in der That nicht sowohl die successiven, als die simultanen Merkmale des Staats und der Organismen, die zwischen beyden eine Vergleichung rechtfertigen. Wie die Organe, von denen die Organismen ihre Namen führen, wie Lunge und Herz, Leber und Magen, Muskeln und Nerven, zum Leben zusammen wirken: so arbeiten bekanntlich im Staate die verschiedenen Stände, zwischen denen die gemeinsame obliegende Arbeit setheilt ist, zum Bestehen und Gedeihen der Gesellschaft einander in die Hand. Um aber diese Vergleichung durchzuführen, reicht es nicht hin, einen bestimmten Staat mit einer hestimmten Art von Thieren oder Pflanzen zusammenzustellen, sondern man mufs beynahe die ganze Natur- geschichte durchlaufen, vom Polypen bis zum Menschen, oder vom Pilz bis zur Eiche, um den Staat, der eigentlich nie etwas bestimmtes ist, sondern der stets wird, und schwebt, und vorwärts oder rückwärts geht, mit dieser seiner ganzen Veränderlichkeit als einen Organismus denken zu können. Denn beym Ursprung der Staaten war ohne Zweifel die Theilung der Arbeit in ihnen höchst unvollkommen, gerade wie die Theilung der organischen Functionen bey den niedrigen Thieren und Pflanzen; aber in dem aufblühenden Staate sondern sich die Stände immer weiter, sie nehmen Mittelglieder zwischen sich auf, denen die Sphäre ihres Thuns immer enger begränzt wird; wie wenn den Thieren ohne Herz, allmählig Herz und Lunge, denen mit wenigen Nervenknoten allmählig ein Rücken- mark und ein Hirn einwüchse. Und nun können wir in unsere Be- trachtung auch wiederum den menschlichen Geist einführen, der uns eine Aehnlichkeit mit dem Staate darbietet, welcher ich, ihrer Dunkelheit wegen, vorhin noch nicht wagte zu erwähnen. Nämlich der Geist, wie der Staat ist zwar niemals ein ganz vest bestimmter Organismus, aber er organisirt sich fortwährend; und dieses sein Fortschreiten bezieht sich nicht blofs auf die Weise der Assimilation neuer Vorstellungen, sammt der Reizbarkeit gegen dieselben (wovon schon oben die Rede war), sondern auch auf die Sonderung der Functionen, die zum geistigen Leben zusammengehören. Aber hier mufs man nicht nach aufser einander liegenden, räumlich ge- trennten Organen fragen, dergleichen wohl Einige im Gehirn gesucht haben, weil sie das vollkommen intensive Wesen des Geistes, und die mitten in dieser strengen Intensität dennoch enthaltene Mannigfaltigkeit, Sonderung, und Entgegengesetztheit, nicht fassen, vielleicht nicht einmal ahnden konnten. Vielmehr mufs man sich üben, um zuerst nur soviel zu begreifen, dafs unsere Vorstellungen vom Raum und von den räum- lichen Dingen, in der Seele nicht aufsereinander, dafs unsere Vorstellungen von der Zeit und den zeitlichen Dingen, in der Seele nicht nacheinander seyn können; dafs vielmehr jede solche Vorstellung ihr Mannigfaltiges völlig zusammenfassen, völlig in Eins drängen mufs, um den vorgestellten Raum und die vorgestellte Zeit wirklich zu enthalten, und Nichts davon zu verlieren. Hat man dies begriffen: dann wird man besser vorbereitet seyn um auch noch zu fassen, dafs in der Einen, ungetheilten Seele, deren Vorstellungen aber durch sehr vielfältige Gegensätze und daraus ent- stehende Hemmungen gehindert werden, sich vollständig zu durchdringen,

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es verschiedene, gröfsere und kleinere Vorstellungsmassen gebe, in deren jeder eine gegenseitige Bestimmung der Partialvorstellungen all- mählig entstehe, die sich aber in dieser Hinsicht auf verschiedenen Puncten der Reife befinden; dafs während der stets fortgehenden Abwechselung unserer Gedanken, sich die mehreren Vorstellungsmassen berühren, in einigen Punkten verschmelzen, und dadurch eine neue, gegenseitige Wirk- samkeit erlangen; dafs die stärksten, die herrschenden Vorstellungsmassen theils mit den meisten schwächeren, auf eine bestimmte Weise verbunden sind, theils mit neu hervortretenden, sich am ersten, und am einfiufs- reichsten, verbinden ; und dafs von der Art und Weise dieser Verbindungen (die unendlich verschieden, aber in jedem einzelnen Falle mit mathe- matischer Genauigkeit bestimmt ist) die Eigenthümlichkeit der Herrschaft abhänge, welche die starken Vorstellungsmassen ausüben, und welche die schwachen von ihnen erleiden. Um hier an etwas Bekanntem anzuknüpfen, erinnere ich an die wissenschaftlichen Systeme, an die moralischen, poli- tischen, religiösen Ueberzeugungen, an die Verknüpfung zwischen diesen und den wichtigsten Lebens- Erfahrungen und Lebensplänen, an das Gefüge der mancherley Privatverhältnisse; wer dies alles in sich selbst mit anhaltender Aufmerksamkeit beobachtet, der wird sehr bald seine eigenen herrschenden Vorstellungsmassen, und die wichtigsten Verbindungen der- selben, gewahr werden; auch die Art ihres Wirkens wird ihm nicht ent- gehn, wenn gleich die Erklärung dieses Wirkens ohne tiefere Speculation nicht e;enüQ;end ausfallen kann. Der gebildete Mann ist demnach inner- lieh ausgerüstet mit einer Menge von Organen zu seinem Denken und für seine Entschliefsungen ; dem Ungebildeten fehlen diese Organe; alle Un- wissenheit ist Mangel, aller Irrthum ist Krankheit in einem der Organe; wie viele aber ihrer, und wie vollständig ausgebildet ein jedes eigentlich seyn solle? Das ist eine Frage, die gerade so lautet, wie die: Wann im Staate die Theilung der Arbeit still stehn solle, und welches in den Unterabtheilungen der Stände die letzten Verzweigungen seyen? Es ist eine Frage wie die: wie viele Organe eigentlich zu einem ganz voll- kommenen Leibe gehören, nicht etwan blofs auf der Erde, oder in unserm Sonnensystem, sondern absolut genommen und auf dem vollkommensten aller Weltkörper? Man sieht sogleich, dafs alle diese Fragen unbeant- wortlich sind.

Die Physiologie hat neuerlich angefangen, sich aufs engste mit der vergleichenden Anatomie zu verbinden; man wird daraus schliefsen dürfen, dafs sie sich nicht mehr auf die Angabe des Nutzens der einzelnen Theile in dem menschlichen Leibe beschränke, sondern dafs sie dem Leben in allen Formen nachspüre, die es anzunehmen fähig ist. Die Staatswissenschaft wird Niemand mit der Statistik einzelner Staaten ver- wechseln ; sie ist längst in ihrer natürlichen Verbindung mit der Geschichte bearbeitet worden; sie haftet also nicht an der besonderen Organisation dieses oder jenes Staats, sondern sie hat die Möglichkeit und stufenweise Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt im Auge. Die Psychologie allein schien zurückzubleiben; und sie kann freylich nicht von der Stelle kommen, so lange sie sich mit den fabelhaften Seelenvermögen trägt, die ungefähr so viel bedeuten, als wenn ein Physiolog, der niemals

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ein anatomisches Messer in Händen gehabt, niemals eine Lunge, einen Magen, ein Herz, niemals Adern, Nerven, Muskeln gesehen, noch davon gehört hätte, dem menschlichen Körper allerley Vermögen zueignen wollte, z. B. ein Vermögen zu athmen, ein Vermögen zu erröthen, ein Vermögen die Glieder zu bewegen, ein Vermögen zu wachsen, und dergl. mehr. Allein ich habe mir längst, und auch in dieser Vorlesung, die Freyheit genommen, die Seelenvermögen, Gedächtnifs, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft, und so weiter, bey Seite zu setzen; die wirksamen Kräfte in den Vorstellungen selbst aufzusuchen und das geistige Leben, dessen An- fänge sich in den Thieren, in den Wilden, in den Kindern zeigen, bis zu seiner höchsten uns bekannten Ausbildung hinauf als ein Continuum von Phänomenen zu betrachten, dessen gesammte Möglichkeit mit allen in ihm liegenden Uebergängen und Verbindungen, die eine und untheilbare Aufgabe der Psychologie ausmacht; eine Aufgabe, die freylich nicht blofs empirisch ist noch seyn kann, sondern die vielmehr die ganze Speculation, mit allen ihren Hülfsmitteln und Wendungen, und dann wiederum eine sorgfältige Vergleichung mit der Erfahrung, unumgänglich erfordert. Sobald aber die Psychologie auf diese Weise bearbeitet wird, ergeben sich nicht blofs die Vergleichungen, sondern auch die Anfänge der inneren Ver- bindung, worin diese Wissenschaft mit anderen zu treten geeignet ist. Nun bin ich zwar sehr weit entfernt, um einiger neuen philosophischen Grundsätze willen, sogleich eine Reform in den mit der Philosophie ver- wandten Wissenschaften anzukündigen; eine Anmaafsung, deren Bey spiele nur allzubekannt sind. Allein soviel getraue ich mir zu behaupten, dafs eine richtige Psychologie viel genauer, als die bisherige falsche es vermochte, sich mit der Staatswissenschaft in Verbindung setzen wird. Was in den Staaten sich zusammenwirkend erhebe, sich wieder einander wirkend vernichte; was leicht und schnell veränderlich, was langsam und schwer beweglich sey; wieviel der blinde Mechanismus durch sich selbst hervorbringe, wie viel kluge Ueberlegung, und sittlich reines Wollen vermöge; welche Reizbarkeit, welche Unsicher- heit, welche Gefahr und Hoffnung auch der scheinbar am besten organisirte Staat übrig lasse; welche Theile seiner Einrichtung, gleich harten Knochen, blofs durch ihre mechanische Vestigkeit nützlich seyen, und wie man ihre Dauerhaftigkeit sichern könne; welche andre Theile dagegen die Reiz- barkeit der Muskeln oder gar die Empfindlichkeit der Nerven besitzen, und wie man diese durch leise Berührung zugleich schonen und ins Spiel setzen müsse: diese und tausend ähnliche Fragen wird sich der Staats- kundige schwerlich je genügend beantworten können, solange nicht die Hemmungen und Complicationen der Vorstellungen, die Strebungen und Spannungen der Gemüthszustände , der Ursprung der Formen aller Er- fahrung, die Stufen der Entwickelung in Urtheilen und Begriffen, die Verhältnisse der Vorstellungsmassen in der Selbstbeobachtung und Selbst- beurtheilung, kurz solange nicht die geistige Organisation ihm klar vor Augen liegt, die, mehr oder minder ausgebildet, in jedem einzelnen, das Ganze des Staates mit bestimmenden, Bürger, vorhanden ist; und die eben darum in Allen wirkt, weil das Ganze der Natur seine ersten, ein- fachen Bestandtheile niemals verleugnen kann. Wenn nun die Psychologie einen Theil des Fundaments ausmacht, worauf die Staatswissenschaft,

III. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staatswissenschaft. 1821. 30

um vollständig begründet zu seyn, ruhen mufs, so findet zugleich ein um- gekehrtes Verhältnifs zwischen bevden statt, nämlich dies, dafs die ab- geleitete Wissenschaft zur Rechnungsprobe diene für die, von der sie abhängt; dafs also die Irrthümer, welche in die Psychologie eingeschlichen seyn möchten, sich dadurch verrathen werden, wenn in der Staatswissen- schaft nichts Haltbares vorkömmt, was ihnen entsprechen könnte. Auch dieses Verhältnifs aber ist gegenseitig; die richtigen Lehrsätze der Staats- kunst, sobald sie hinausgehn über die praktischen Ideen, über die Be- stimmungen dessen, was seyn soll, müssen in Ansehung der Ausführbarkeit und der Wirksamkeit der durch sie vorgeschriebenen Maafsregeln sich durch psychologische Gründe, die ihnen zur Unterstützung dienen, bewahr- heiten, widrigenfalls sind sie ebenfalls des Irrthums verdächtig. Schwerlich könnte ich diesem Vortrage einen angemessenem Schlufs hinzufügen, als indem ich zweyer falschen Lehren gedenke, deren eine in der Psychologie die andere in der Staatswissenschaft ihren Sitz hat, und die durch Zu- sammenstellung beyder Wissenschaften ihr Irriges sehr leicht verrathen. Die eine ist die sogenannte transscendentale Freyheit des Willens, durch welche Kant, verleitet durch eine unrichtige Wendung in seiner Begründung der Sittenlehre, die der Wahrheit näherliegende Ansicht Leibnitzen's ver- drängte, und welche Schelling ganz wider den Geist der gesunden Natur- betrachtung, aufrecht halten wollte. Nach dieser Lehre von der Freyheit des Willens ist der Causalzusammenhang aufgehoben, welcher den Gang der Menschengeschichte, und die Bildung1 der Nerven aus psychologischen Gründen umfassen sollte. Wo jedes Individuum absolut frey ist, da mufs man in der gesammten Thätigkeit Aller und folglich in dem Resultate dieser Thätigkeit keinen Zusammenhang, sondern Lücken und Sprünge erwarten; und da ist es ganz vergeblich, eine auch nur wahrscheinliche Regelmäfsigkeit der Zusammenwirkung veranstalten zu wollen. Also wäre die Staatskunst zwar vielleicht eine Aufgabe in der Idee, aber eine voll- kommene Thorheit in der Ausübung. Da dieses falsch ist, so mufs auch die Annahme der transscendentalen Freyheit einen Irrthum enthalten, dessen Entwickelung übrigens nicht dieses Orts ist. Das andere Beyspiel bietet in der Staatswissenschaft die Meinung dar, als lasse sich irgend eine Verfassung erfinden, die für alle Staaten die rechte sey oder doch die beste. Wenn dies wahr seyn soll : so mufs der Schwerpunkt des ge- sammten Wollens im Staate durch irgend eine Einrichtung können bevestigt werden, indem, wenn er sich verrückt, offenbar die Constitution des Staates keinen Haltungspunkt mehr hat. Nun setzt aber die Vestigkeit jenes Schwerpunkts entweder Unbeweglichkeit aller einzelnen Willen, oder genaue Compensation ihrer Bewegungen voraus, wovon das letztre, wenn wir es psychologisch überlegen , sich womöglich noch ungereimter zeigt, als das erstere. Hat man aber mit der Reizbarkeit des menschlichen Geistes zugleich auch die Gesetze des Uebergewichts der stärksten und am besten verbundenen Vorstellungsmassen wohl begriffen, hat man überdies die psychologische Möglichkeit einer moralischen Bildung eingesehen, ver- möge deren die herrschenden Vorstellungen eben die des Guten und Rechten seyn müssen: so ergiebt sich nicht blofs eine Freiheit der Indi- viduen, die gerade nach Kaxt's eigentlicher Meinung in der Moralität selbst

40 HI. Ueber einige Beziehungen zwischen Psychologie und Staats Wissenschaft. 1821.

liegt, sondern es erhellet auch, dafs jenes Streben nach der besten Ver- fassung des Staats, wofern es nicht widersinnig seyn soll, innigst verbunden seyn mufs mit dem Bemühen für die allgemeine Veredlung des Volks, durch welche allein die Wirksamkeit des unter sich entgegengesetzten Privatinteresse soweit vermindert, und ein gemeinsamer Schwerpunkt alles Wollens so dauernd bezeichnet werden kann, dafs es erlaubt ist, an eine wahre Stabilität des Staatsa;ebäudes zu denken. Doch diese Wahrheit ist zu unserer Zeit der allgemeinen Anerkennung schon so nahe, dafs ich hoffen darf, in Ihrer Zustimmung:. Q-eehrteste Anwesende, für meinen Vortrag hier einen Ruhepunkt zu finden.

IV. DE

ATTENTIONIS MENSURA CAUSISQUE

PRIMARIIS.

1822.

[Text der Originalausgabe, Regiomonti, fratres Boratraeger, 1822.]

Citirte Ausgaben.

O = Originalausgabe, Regiomonti ap. fratres Boratraeger, 1822, XIV u. 65 S. 40. SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. VII, S. 73—128), herausgegeben von G. Hartenstein'. KlSch n= J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, 353 416), herausgegeben von G. Hartenstein.

Vollständiger Titel der Originalausgabe:

De I attentionis I mensura causisque primariis.

Psychologiae principia statica et mechanica

exemplo illustraturus.

scripsit | Joannes Fridericus Herbart

philos. et paed. p. p. O. in academia regiomontana.

Regiomonti,

apud fratres Bomtraeger,

1822.

[in] Prooemium.

Disquisitionibus psychologicis cum adductus essem ad aequationem dif- ferentialem formae sequentis

i

mdu -f- n (i u) [i du

= dZ,

pu qZ -\- r

solvi eam posse per methodum notissimam coefficientium indeterminatorum, ea quidem lege atque conditione, ut, quoties divergere inciperet series infinita, toties novi quaererentur coefficientes, novaque series adstrueretur; iamdu- dum demonstravi, eiusque calculi expositionem publici iuris feci*. Verum - tamen haec erat nomine potius, quam revera problematis solutio. Nam taedium calculi etsi semel aut iterum diligentia vinci posset, casus tarnen difficiliores agredi vetuit; quaestionis autem natura postulabat, ut magna valorum literis m, n, ß, tribuendorum varietas perlustraretur; nee enim psychologiae praesidium [IV] in numeris singulis computandis positum est, sed in toto funetionum ambitu percurrendo, eoque, quantum fieri potest, uni conspectui proponendo. Itaque saepius ad eandem rem reversus, pluribus modis eam tentavi, ut viam magis expeditam invenirem; nee tarnen suetis mathematicorum substitutionibus et transformationibus quiequam profeci. Patet, in aequatione proposita variabiles u et Z esse permixtas, eamque ab homogeneis, si pro ß ponatur numerus mägnus aut parvus, longe abhorrere; nee ullum auxilium a theoremate tayloriano exspeetandum esse,

dZ ..,.,.

cum pendeat ab utraque quantitate vanabih; quamobrem omnes quo- du

tientes differentiales sunt incogniti. Accedit, quod non tantum Z, sed etiam

dZ ,

, calculo est eruendum, ad erroris suspicionem propulsandam; negotii du

enim rite confecti nulluni aliud habemus indicium, nisi illud, quod ipsa

praebebit aequatio, ubi substituto valore invento ipsius Z in idem nos re-

1 7

ducet , cuius valorem iam cognoverimus. Quibus difficultatibus fractus, du

ingenii mei tarditatem increpans, totam hanc disquisitionem, in psychologia

quidem admodum necessariam, aliorum diligentiae iam commendandam

atque relinquendam [V] putabam, cum lux nova mihi, de natura serierum di-

vergentium meditanti, affulgere videbatur. Series enim, quibus uti mathe-

* Königsberger Archiv für Philosophie etc., drittes Heft 1812.

44 IV' De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

matici consuerunt, ita procedunt, ut exponentes eandem servent differen- tiam; quod etsi calculum solet commodiorem reddere, tarnen haud scio, an ipsi functionum naturae nonnunquam parum sit aptum atque consen- tiens. Itaque paullulum de via communi deflectens, nullam omnino seriei formam praescribens, sperabam fore, ut idoneis exponentibus ex ipso cal- culo haustis, paucissimis terminis id assequerer, quod series praeformatae ne in infinitum quidem productae potuerint perficere. Cuius rei periculum facere non frustra sum conatus; adeo enim commodam calculi rationem sum nactus, et variis numeris constantibus in aequationem introducendis tarn aequabiliter se applicantem, ut vix mihi persuadere possim, ullam in tali re solutionem directam meliorem fore, quam hanc indirectam. Minime tarnen haec ita accipi velim, quasi meam opinionem illorum iudicio ante- ponam, qui in mathematicis plus studii colloearunt.

Caeterum mea parum refert, quam longe abfuerim a summa calculi subtilitate; non enim eam sum provinciam sortitus, mathematicorum arti- ficia ut tra[IV]derem. Neque magis in eo laboravi, ut commendarem hanc, qua primus sum usus, applicationem matheseos ad psychologiam ; neve id egi, psychologiae ultima viscera ut patefacerem. Consilium huius libelli scribendi totum in eo positum est, ut calculi ad psychologiam adhibendi luculentum praebeatur exemplum; cui consilio satisfacturus, exemplum tale debebam eligere, quod a reliquis psychologiae partibus posset segregari; omnia autem erant removenda, quibus adhibitis lectores in metaphysicas tenebras devoluti sibi fortasse viderentur.

Quaestio causarum, quibus hat, ut animi attentio vel excitetur, con- servetur, augeatur, vel demittatur, concidat, evanescat, etsi non una omnium gravissima, tarnen in maximarum numero est habenda. Schola Wolfiana attentionem putabat esse principium notionum distinctarum, totiusque facul- tatis superioris, qua homines bestiis praestarent. Quod etsi recte se habere negabunt ii, qui bestias docent ajtes, futilissimas certe, nee eas ipsas sine attentione pereipiendas, manifesto tarnen, in quo videmus homines homi- nibus antecellere, in eodem etiam bestias tarn longe superant homines euneti, ut nulla fieri possit comparatio. Fichtii dictum memini, attentionem [VII] esse fontem libertatis ; quod dictum, eo sensu, quo proferebatur, minime probandum, paullo immutatum verissimum esse libenter concesserim. Quam- quam enim celeberrimum illud commentum de libertate, quam dieunt, transcendentali, totius philosophiae theoreticae certissima est pernicies, illud tarnen vere dici potest, libertatem tantam fore, quantum habeamus impe- rium in attentionem nostram; ut, si quis sponte sua attentionem posset in quameunque partem et eunvertere et revocare, eandemque pro arbitrio et extollere et deprimere, hie certe non finitam illam, quam homines tanquam \*irtutis praemium consequuntur, sed infinitam libertatem, tanquam donum naturae esset adeptus. Neque mirum, viros quosdam fortes et strenuos propositique tenaces, cum in coercendis cupiditatibus tum in regendo cogi- tationum decursu admodum exercitatos, in eum ineidisse errorem, ut, quam vim voluntatis multum valere sentirent, eandem ultra omnes terminos adaugeri, idque ipsum volendi nisu et contentione perfid posse putarent, atque si quis contrarium affirmaret, eum ignaviae crimen subire arbitraren- tur. Iidem tarnen si tarn acres fuissent in observando, quam vehementes

Prooemium.

45

fuerunt in disputando, primum [VIII] hoc animadvertissent, attentionem sae- pissime antecedere omnem voluntatem, neque exspectare, donec libeat eam provocare ; deinde intellexissent, in ea ipsa voluntate, quae iubeat cogitationes quasdam deponi atque removeri, messe attentionem quandam ad illas res quarum oblivisci velimus; postremo si ingenue fateri voluissent, quoties invitissimi suam attentionem turbari, atque ne summo quidem conatui ob- temperare sentirent, eo certe redacti fuissent ut suspicarentur, minimam attentionis partem sitam esse in nostra potestate, voluntatem vero non tantum maxima ex parte, sed omnem pendere ab attentione, ita quidem, ut, quandocunque attentio pareat voluntati, tum aliam quandam necesse sit attentionem subesse ipsi huic voluntati.

Qualemcunque tarnen attentioni statuas nexum intercedere cum volun- tate atque cum omni hominum facultate superiori, id efficietur quod volui; quaestionem de causis attentionis maximi in psychologia esse momenti. Efficietur etiam aliud quid: duo videlicet esse attentionis genera, quorum alterum pendeat a voluntate, alterum non pendeat. Sed hie denuo est dividendum : praeeipuae attentionis caussae saepissime latent in cogitationibus iis, quas dici[IX]mus reproduetas, cum anteriore sint tempore coneeptae, post dimissae, et nunc primum revocatae; unde sequitur, ceteris omnibus paribus attentionem nullam fuisse futuram, si forte is, qui nunc animum attendit, non accessisset praeparatus prioribus illis cogitationibus olim iam conformandis. Longe aliter se habebit tota quaestio, si attentionem nullis alienis subnixam adiumentis speetamus; qualis in iis sit necesse est, qui eiusmodi adminicula sibi nondum compararunt. Atque hoc est punctum illud quaestionis principale, quod volui designare, ubi in huius commen- tationis inscriptione de causis attentionis primarüs me dicturum signifieavi. De reproduetionis vi in sustinenda attentione tantum adiieiam, quantum potero; uberior tarnen huius rei explicatio reservanda est alii libro, quoniam non omnia, quae huc pertinent, commode separari possunt ab universo dis- quisitionum psychologicarum ambitu; eandemque ob causam voluntatis in attentionem potestas hie fere est silentio praetereunda.

Quod autem metaphysicam quoque missam fecerim, id sane mira- buntur ii maxime, quorum caussa potissimum haec scripsi; itaque brevi dicam quod [X] sentio. Recte nihil de rebus psychologicis scribi potest, nisi iuneta metaphysica atque mathesi; sed quae recte sunt scripta, ea lectorem desiderant omni ex parte praeparatum. Nostri autem temporis ea est calamitas, ut foedissimum factum sit illarum artium diseidium : qua cala- mitate tanto magis atque gravius premitur haec aetas, quanto rariores sunt, qui illud malum vel agnoscant vel sibi demonstrari patiantur. Mathe- matici superbiunt in legibus phaenomenorum determinandis, veram rerum naturam, quae subsit phaenomenis, nihil curantes; philosophi se iaetant in contemnendis sensuum praestigiis; ubi autem ad phaenomena explicanda descendunt, destituti matheseos auxilio maxime necessario, ineptissimas nugas effutiunt; nesciunt enim, quid quamque rem sequatur, quod ex sola logica satis intelligi non potest: quocirca vel recte positis prineipiis recte uti nequeunt. Quae cum ita sint: psychologia cuinam sit scribenda, revera nescio: illorum quidem neutris eam scribi posse video. Ut tarnen aliqua ex parte initium caperem, confugiendum mihi putavi ad nudam ex-

^6 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

perientiam, atque periculum faciendum, possenine more mathematicorum rebus, quas omnes norunt, calculum applicare, omissis iis, de quibus plurimi dubi[IX]tant, pauci consentiunt multi ne audiendum quidem sibi arbitrantur. Interim ne quis iustum nie putet excedere modum, cum poscam, qui mathematicus, idem ut sit philosophus : clarissimum adferam exemplum ; non Piatonis et Pythagorae, non Leibnitzii et Wolfii, qui fortasse in singulis matheseos partibus excelluisse, nee tarnen in universa arte amplificanda totum vitae Studium collocasse videbuntur: his, inquam, testibus uti nolo; locupletiorem habeo; quem iure magistrum omnium, qui nunc vigent, mathematicorum dicere possumus, Leoxhardum Eulerum! Cuius cum evolverem theoriam motus corporum solidorum, formulas et aequationes inde petiturus (nee enim aliud quid exspeetabam), disputantem inveni auetorem usque ad §. 184 de loco et tempore, de motu et quiete, de viribus mechanicis, id est, de metaphysicae notionibus difficillimis; atque ita quidem disputantem, ut essent luculentissima omnia, multa verissima, ipsique eirores commissi ad excitandum lectoris ingenium apti; quo nihil melius de ullo philosophorum easdem res traetante praedicari potest. Jam ea lectione finita desii mirari, formulae illae paene divinae, quibus totam mecha- nicam corporum esse su[XII]perstructam sciebam, unde originem traxerint: quae enim coelesti quodam afflatu pervenisse ad hominum ingenia possunt videri: ea manifesto philosophandi nisu strenuo et diligentia assidua sunt deteeta. Quamobrem non omnis mechanicae coelestis inventae laus soli mathesi est tribuenda, sed metaphysicae sua pars vindicanda: mathesis autem ad summum dignitatis fastigium tum denique est perventura, ubi methaphysicam adiuvans mechanicam mentis patefecerit; ut tandem aliquando genus humanuni eam assequatur scientiam, quam Apollo commendavit Pythius nobilissimo illo praeeepto: nosce te ipsum.

[xiii] Conspectus.

Caput primum.

Praemonenda.

i. In oraue systema virium oppositarum, qualiscunque sint generis, discrimen cadit

staticae et mechanicae.

2. Eiusmodi vires adesse in mente, experientia docet.

3. Ipsae perceptiones seix ideae oppositae virium naturam induunt; neque de ficti- ciis illis, quae vulgo feruntur, facultatibus animi (e. c. memoria, imaginatione, in- tellectu, etc.) ullo modo est cogitandum.

4. Formulae fundamentales, quibus nititur statica et mechanica mentis.

Caput secundum. De attentionis causis primariis.

5. Eorum, quae de attentione docet experientia, expositio.

6. De calculo instituendo, quantitatibus constantibus ita sumtis, ut solutionibus finiüs uti liceat.

7. De calculo tum expediendo, cum eius initium a seriebus infinitis capiendum mit. [XIV] 8. De calculi subsidiis, si in aequatione proposita valor numeri ß fuerit vel magnus

vel parvus. 9. De attentionis mensura.

Caput tertium. Oe iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis primariis reddi nequit.

10. De reproductione in Universum.

1 1 . Attentio quomodo pendeat a cogitationibus reproductis.

12. De voluntatis vi in sustinenda attentione.

[i] Caput primum.

Praemonenda.

i,

Omnes vires agere censentur, quantum possunt, nisi impediantur viribus contrariis: qi;od ubi accidit, vel contrarius e'xorietur eventus, vel nullus. Primum indicat, vim fortiorem vicisse; secundum, vires esse aequales, unde duetum est nomem aequilibrii. Nam ad libram et pondera hie non esse respiciendum, omnes norunt: tota vocabuü vis posita est in denotanda aequalitate actionum et reactionum, se invicem tollentium, ut quaeeunque ex singularum virium conatibus prodire debuerint, ea prorsus cessent, et, cum semper sint exstitura, perpetuo tarnen deleantur et evanescant. Jam per se patet, hanc notionem adeo esse universalem, ut ad motum et materiam nullo modo possit restringi. Quaeeunque fieri possunt, ea possunt impediri; quameunque vim animo fingas, aliam contrariam ipsi cogitare poteris, eamque, sie placet, aequalem priori, aut, si mavis, per se quidem vel fortiorem vel remissiorem, sed eiusmodi conditionibus implicatam, ut actiones tarnen evadant aequales, seque invicem in ipso nisu agendi exstinguant. Cuius rei vectis praebet exemplum, sed ita comparatum, ut eius notio principalis multo latius pateat. Removere possumus non pondera tantum, sed fulcrum, iugum, ipsam denique lineam mathematicam atque vires motrices ei adplicatas; remanebunt vires qualescunque certis con- ditionibus agendi obnoxiae, [2] quibus determinetur, quantum hae vires sint acturae, ut diiudicari queat, utrum eventus nascatur, an vero nascens destruatur.

Igitur eodem iure, quo loquimur de virium magneticarum, electricarum, chemicarum aequilibrio, psvehologiae quoque tribuenda erit pars quaedam statica, et aha pars mechanica, quamvis nihil hat in mente, quod ad notiones loci et spatii possit referri. Multa enim evenire et mutari in animis nöstris, certissimum est; earumque mutationum vires quasdam esse causas, nemo negabit, nisi quis putet fortuito fieri, quae fiunt in mentibus, quod est absurdum. Quarum virium si veras notiones adhuc usque con- cepissent philosophi, indagare etiam potuissent leges motuum animi, nee non leges aequilibrii in animo; sed haec omnia non modo neglecta, sed prorsus incognita iacuerunt, quoniam illi falsissimis de quibusdam faculta- tibus animi opiniunibus deeipi se passi sunt, in quibus ne minimum quidem inest veritatis vestigium.

Caput Primum. m

2.

Cum de aequüibrio in animo vel constituto vel sublato, sermonem inceperim: quaerenda mihi sunt exempla in experientia communi obvia, quibus ea, quae dixerim, possim illustrare. Ac primo quidem lectores puto cogitaturos de animi perturbationibus, et de virtutibus iis oppositis, constantia et gravitate, quarum id videtur esse munus proprium, ut aequi- librium vel tueantur, vel restaurandum curent. Neque tarnen haec exempla per se sunt satis perspicua, sed paullo diligentius consideranda: nondum enim patent vires oppositae, quas quaerebamus, ut earum aequilibrium cognosceremus. Cave putes, alteram vim esse virtutem, alteram animi perturbationem : sed virtus illa potius artifici est similis, machinam eversam reficienti; nee quisquam somniabit de aequilibrio artificis cum machina; sed ipsi machinae insint pondera quaedam, necesse est, ab artifice ad aequilibrium redaeta. Sic etiam virtus efficiet, ut in animo [3] perturbato vires quaedam sibi oppositae, ab aequilibrii statu deieetae, quam celerrime reponantur. Quales autem hae sint vires, inde nondum perspieimus; nee spes est, eas, nisi alia subveniant auxilia, posse cognosci. Tanta enim cogitationum in animo perturbato est multitudo, tamque celeriter moventur atque aestuant, ut facile intelligatur, totam hanc rem longissime esse remotam a simplicitate prineipiorum in limine theoriae alieuius ponendorum. Teneant velim lectores hanc admonitionem , in primordiis psychologiae perscrutandis omnino abstinendum esse ab exemplorum complicatorum usu: vera enim initia adeo sunt parva, ut cemi vix queant; atque ut accedant ad similitudinem punetorum illorum, in quorum motibus describendis prima mechanicae corporum capita versantur.

3-

Oppositas sibi invicem esse seimus simplicissimas illas pereeptiones colorum, sonorum, et alias eiusdem generis: nee ullam aliam ob causam, nisi quoniam sibi sint oppositae, virium naturam eas induere affirmo. Quae propositio in duas est dividenda:

1) pereeptiones simplices oppositae in se invicem agunt tanquam vires contrariae ;

2) eius actionis causa est ipsa contrarietas.

Harum propositionum seeunda huc non pertinet; est enim tota metaphysica: fuit tarnen prununtianda ad arcendas falsas opiniones. Nolo in hac coraraen- tatione omnia probare: sed recte intelligi cupio.

Primae propositionis veritatem m experientia communi quasi per nebulam internoscere licet. Fac, te hominem audire utentem lingua tibi ignota: senties, verba pronuntiata tibi excidere memoria, nisi ille tarn lente loquatur, ut possis in singulis syllabis excipiendis commode morari: senties itaque, sonorum oppositorum varietatem [4] eam vim habere, ut pereeptiones tuae se invicem ex animo tun propellant. Sed fuit quondam tempus, ubi nullam omnino linguam didiceras: tum omnes soni, quos audiebas, eam in animo tuo exercebant vim, quae nunc a sermone quidem patrio tibi abesse videtur, quoniam eum tibi familiärem reddidisti. Ex hoc exemplo reliqua omnia possunt cognosci. Hominum adultorum experientia maximam partem

Herbart's Werke V. 4

co IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

se habet eodem modo ac sermo patrius; perceptiones singulares ita sunt inter se arctissimo vinculo coniunctae, ut separatim agere non possint; et hanc ob causam non sentimus, quanto illae sibi ipsae sint invicem impedimento, quantamque inter se exerceant pressionem. Ac ne tum quidem, cum aliquid novi accidit, totam vim contrarietatis, inter novas et priscas perceptiones intercedentis, experimur; nihil enim accidere potest, quod homini adulto omni ex parte sit novum.

Mirari solent homines primo discentes, quantam aeris molem inscii corpore sustineant: multo magis mirarentur, si scirent, quantus in animo sit notionum et cogitationum nisus contrarius. Sed maxime mirum hoc fortasse videbitur, quod ob hunc nisum nullo dolore afficimur: quod tarnen satis facile poterit explicari.

Effectus enim simplex simplicis pressionis ex notionum vel percep- tionum contrarietate coortae, nullus est alius, nisi ut illae notiones vel omnino, vel aliqua ex parte evanescant, prorsus eodem modo, sicut eva- nescunt tum, cum obruimur somno. Obdorsmiscere autem nemo se sendet unquam; abeunt enim cogitationes, quas absentes observare non poterit: eandemque ob causam sensus nullus inest in singulis perceptionibus, qua- tenus ab aliis se ex animo propelli patiuntur. Longe aliter se habet res, ubi plures agunt vires, ut effectus pressioni simplici debitus impediatur; iamque haec est regio dolorum et cupiditatum, quam tarnen in hac commen- tatione ne e longinquo quidem possum ostendere. Adeant lectores, si pla[5]cet, meum compendium psychologiae*). Hie ad calculum mihi est properandum, cuius causa haec scribo.

Formulas fundamentales staticae mentis alibi iam exposui, hie autem denuo eas evolvi necesse est, propterea quod hac opportunitate utendum, ad latinos terminos technicos constituendos.

Deest primo in sermone latino vox satis congruens cum nostro: Vorstellung. Nam notio usurpari solet pro cogitatione generis, non autem pro pereeptione rei singularis, quam nunc ipsam vel intuemur vel sentimus ; accedit etiam, quod in vernaculo sermone tria habemus correlata: Vor- Stellung, Vorgestelltes, Vorstellen; quibus designandis vocula notio se aecorn- modari non patitur. Sed quoniam verbum aptius vix posse inveniri videtur (nam idea graecum est, et Platonicae philosophiae, iam nimium falsa huius vocis interpretatione turbatae, omnino relinquendum), a notione distin- guere possumus eam, quam refert, imaginem [von der Vorstellung das Vor- gestellte); dieuntur etiam notiones animo informari, sed eiusmodi infinitivo non est opus. Prorsus enim falsa est opinio, actum quendam vel facul- tatem formandarum notionum, diversam ab ipsis notionibus, menti inesse; eumque errorem genuit mechanicae mentis summa inscientia.

Remotis iam omnibus facultatibus, tum sensuum, tum rationis; remota etiam tota quaestione de origine notionum (quae quaestio, nimis festinanter agitata, satis diu praestrinxit philosophorum aciem), poneunus, uni menti

*) Lehrbuch der Psychologie. Königsberg 18 16.

Caput Primum. ct

messe ditas notiones simplices contrarias, et praeterea omnino nihil. Quae notiones si vel maxime sibi sint contrariae, patet tarnen, altera notione prorsus depressa, ita ut nullam vim exercere possit, alteram ab omni illa, de qua antea dixi, pressione fore immunem: idque probe est tenendum, etsi iam per[6]spiciamus, fieri non posse, ut altera totum pressionis subeat onus, altera maneat intacta, sed distribuendum esse hoc, quicquid sit, oneris, ita quidem, ut utraque notio partem eius legitimam sustineat.

Sed antequam hie pergam, dicendum est de notionum robore proprio, quam intensitatem nominare possem, nisi lectoribus cavere deberem a con- fundendo robore cum tensione notionum, quae est res plane diversa atque paullo infra illustranda.

Robur proprium est id, quod nos dieimus Stärke einer Vorstellung. Experientia docet, notionem aliam alia fieri fortiorem, ubi rem aliquam vel diutius contemplemur, vel clariore luce adhibita conspiciamus, vel oculos, aures, etc. propius admoveamus. Quoquo modo nata sit haec quantitas intensiva notionum, sive hoc robur, numeris iam possumus uti ad desig- nandas rationes inter eiusmodi quantitates. Nominemus alteram notionem

A, alteram B, sintque m et n certi quidam numeri: poterimus ponere

A : B m : n,

etsi nulla nobis suppetit mensura, sive unitas, ad quam referatur vel A vel

B, si de absoluta harum notionum quantitate intensiva quis velit interrogare.

Sed suspicor, fore, qui inanes hoc loco möveant scrupulos, dicent enim, notionibus nullam competere quantitatem intensivam, neque notionem arboris per se fortiorem esse notione domus. Qui si mihi melius latine reddere poterunt id, quod nos dieimus Vorstellung, libenter concedam illis, ut suo more loquantur de notionibus: verborum enim erit haec, non rerum disputatio. Arboris autem et domus notiones sunt admodum com- positae, atque haue ob causam ab hac disquisitione alienissimae ; neque earum mentionem fecissem, nisi saepissime protervas eius generis obiec- tiones essem expertus.

Redeamus ad propositum; atque iam erit manifestum, pressioni illi a notionum contrarietate proficiscenti utramque notionem tanto fortius posse resistere, quanto plus habeat roboris. Itaque [7] resistent in ratione m : n. Quanto magis autem restiterint, tanto minorem mutationem sunt passurae;

itaque mutationes erunt = : = n : m. Ubi monendum, de nulla

m n

alia mutatione hie cogitandum esse, nisi de illa, quam supra indieavi,

scilicet notiones prorsus oppresas evanescere, et quasi consopiri. Neque

tarnen prorsus evanescent, sed obscurabuntur tantum. Etenim si altera

evanuisset, nihil superesset, unde altera vel minimum pateretur; cum

autem sibi invicem sint impedimento, neutra totam sustinebit pressionem,

itaque utriusque aliquantum in animo remanebit.

Calculi hoc loco instituendi nulluni aliud est negotium, nisi ut iacturam

faciendam rite distribuat. {Jactura idem est ac lingua vemacula die

Hemmungssuvune ■; ratio distribuendae iacturae est Hemmungsverhältniss)

Tanta autem est iactura facienda, ut eodem designetur numero, qui indicat

minorem notionem; minorem vero eam dico, quae minus habet roboris.

4*

52

IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

Quod ut commodius perspiciatur, certos ponamus numeros; sintque binae notiones = 3:2; iactura facienda erit = 2. Nam st notio minor Iota esset oppressa, altera maueret int acta atque prorsus incolumis; quod cum fieri nequeat, aliquantum patietur, neque tarnen plus, nisi icL quod minori notioni sit emohcmento ; ut) ademtam alter i altera sibi vindicet partein; sive, ut, claritatis quantum alteri detrahatur, tantum accedat alteri. Notiones enim omnino nituntur contra pressionem, eamque ob causam iactura semper erit minima, qua esse polest. Ita existit calculus sequens :

(3+-'):{2! = -jij

hl

unde residuum erit

fortioris notionis =3 ~ = ~

tenuioris notionis = 2 [8] sive universe, posito a > b,

±

5

bb

a + b

(a + b) : = b :

a ab

bb a-f b

a + b

aa-f-ab bb ab

= !— r-r , et b x- =

a -f b a -j- c

bb

a-f b

unde a

Hie calculus facillime aecommodabitur quoteunque datis quantita- tibus. Pro ternis notionibus, posito a >> b, et b > c, iactura facienda est = b -f c; ut enim fortissima notio remaneret, incolumis, binae minores prorsus essent opprimendae; quod cum illa fortissima non possit efficere, obscurabitur aliqua ex parte; quantum autem haec detrimenti capiet, tantum illis accedet lucri. Ratio iacturae distribuendae designatur per numeros

, , , sive commodius per b c, ac, ab; unde habebitur a b c

(b c -j- a c -f a b)

bc ac ab

= (b + c)

bc.(b-fc)

bc-f-ac-fab a c . (b -f- c)

bc-J-ac-j-ab a b . (b -f- c)

bc-fac-fab

ubi tarnen notandum, c non admittere valorem minorem quam b 1/

a b . (b -f c)

Hie enim valor prodit ex aequatione c =

bc-}-ac-|-ab

notio minima, cui respondet numerus c, prorsus evanescit. a b . (b + c)

b + a quo casu Nam

si

c

bc -\- ac -\- ab

evaderet quantitas negativa, omni sensu esset desti-

Caput Primum. o

ac. (b 4- c)

tuta. Saepissime tarnen accidit, ut c Sit < ; ; M I gl sed tum

b c -\- a c -f- a b

res redit ad calculum pro binis notionibus a et b; quod hie fusius explicare

non possum. Re explorata apparet, eiusmodi notiones omnino consopitas,

quamdiu ita se habent, nihil facere ad determinandum statum animi, atque

propterea in calculo prorsus negligendas esse.

Totius staticae mentis fundaraentum iam est in conspectu; sed sunt

quaedam diligentius consideranda.

A) Notiones pressionein ferentes atque sustinentes, niti contra nunquam desinunt; quod si fieret, aequilibrium constitutum denuo tolleretur.

B) Quo magis premuntur, tanto magis contra nituntur: unde efficitur, notiones minimi roboris maxime itendi.

C) Etsi evanuisse, vel ex animo propulsae dicantur, latentes tarnen resident in mente, et quidem integrae, non truncatae, nulla sui parte amissa. *)

D) Pressione sublata, non possunt quin emergant; quod ut fiat, nullo alieno auxilio est opus ; etsi notiones coniunetae mutuum saepissime sibi invicem auxilium praebent. Hinc petenda est memoriae et imaginationis explicatio.

E) Notiones per se non sunt vires; itaque si quarundam minor est inter ipsas contrarietas, minus etiam virium inter sese exercent. Nam omnis earum vis est mutua, quocira haec vis longe diversa est ab earum robore.

F) Hinc patet, quid discriminis intersit inter staticam corporum et staticam mentis. Corpora plerumque agunt tanquam pondera : est autem suum cuique pondus, quo cognito pressionem etiam novimus inde exspec- tandam. Vectibus imposita, mutato intervallo [10] ab hypomochlio, diversis modis ab aequilibrio recedunt vel propius accedunt; cuius rei nihil simile est in notionibus. Comparari tarnen quodammodo potest pressio notionum cum pressione corporum elasticorum; neque vero utilitatis vel subsidii ad calculos commodius peragendos quiequam inde poterit redundare. Diffi- cillimi enim calculi versantur in determinando aequilibrio earum notionum, quae cum aliis sunt aliqua ex parte, nee tarnen omnino atque perfecte coniunetae; quae res psychologiae ita est propria, ut prorsus abhorreat a rebus in corporum natura considerandis.

Mechanicae mentis formulam fundamentalem investigaturi, redeamus necesse est ad iacturam faciendam, quam fieri seimus non a robore notionum nunquam deminuto, sed ab imaginis, animo obversantis, claritate. Qua iactura facta, adest aequilibrium; sed ea subito fieri nequit; transeant enim necesse est notiones per omnes claritatis gradus a summo ad infimum usque. Non opus in hac re videtur verborum ambagibus. Tota iactura facienda, quam neglecta distributione in singulas notiones hoc loco tanquam unicam Summam consideramus, ponatur = s; elapso tempore = t pars

i) < ^1" l±iL o (Druckfehler), b c -\- a c -\- a b

*) Distinxi hie animum a mente; ut animus sit idem, quod gennanice dicere con-

suevi Beiinifstscyn ; qua quidem in re vocabulum latinum mihi aptius ipso vernaculo

videtur.

ca IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

illius sumraae depressa sit = 0; itaque pars residua = s n; haec pars

erit vis agens in temporis puncto sequente == d t; huic actioni propor-

tionalis erit depressio inde exstitura, quam ponemus = d o: inde habebimus

aequationem

(s o) d t = d n

Const

unde t = log.

s - 0

Posito t = o erit a = o, unde Const = s, itaque

s

t = log. ,

0 s o

atque a = s (1 e~ ) ; s a=se—t unde intelligitur , aequilibrium omnino perfectum nunquam adfuturum, quoniam non fit a = s, nisi t = 00 .

[11] Primo statim intuitu apparet magnum discrimen his formulis inter- cedens cum formulis fundamentalibus mechanicae corporum; quae repetuntur a differentialibus secundi ordinis, quoniam a celeritate spatium, celeritatis autem incrementum pendet a vi motrice. Manifeste totum hoc discrimen oritur a corporum inertia, qua pergunt in motu, etiamsi nulla vi externa söllicitentur. Psychologia nihil habet, quod possit comparationi ansam praebere.

Caput Secundum.

De attentionis causis primariis.

5-

Minoris sane laboris esset ac negotii, attentio quid efficere possit, perscribere, quam quibusnam causis fiat ut gignatur, alatur, adtenuetur. Quodcunque enim summi homines valent ingeniö et diligentia, id valent attentione; et ubicunque vel acumen deficit vel Studium, defuisse atten- tionem iure suspicabimur. Cum autem mathematicis potissimum haec scribantur, licebit pace illorum impedimenta etiam in causarum numero habere, quandoquidem illi certe hoc dabunt, impedimenta esse causas negativas: unde non parum adiumenti nobis est accessurum. Nam patebit, de attentione non tantopere quaerendum esse, cur adsit, quam cur deficiat; eiusque rei rationem inveniemus multis modis inhaerere in iactura illa facienda, de qua locutus sum in capite superiore.

Attentus dicitur is, qui mente sie est dispositus, ut eius notiones incrementi quid capere possint: carent autem attentione, qui res obvias non pereipiunt. Itaque cernitur quaedam integritas atque [12] valetudo mentis in attentione; contra vitio vertitur non attendisse, quod vel videndo, vel audiendo, vel cogitando assequi potueris. Hinc fit, ut attendendi legem nobis imponamus : eaque in re voluntatis imperium multum posse, omnes norunt. Quamobrem divi- denda est attentio in duas partes, voluntariam et non voluntariam : quarum par- tium primam hie seiungimus a nostro proposito; altera qualis sit, observando

Caput Sucundum. sc

necesse est didicisse, antequam ad calculum rem revocare in anknum in- ducere possimus.

Ac primum omnium id experientia docet maximeque confirmat, tem- pori obnoxiam esse attentionem : debilitatur enim atque frangitur diutur- nitate. Ipsum nomen attentionis, ductum a tendendo, denotat vim quandam contrariam, cui sit resistendum atque contra enitendum: scimus etiam, devicta attentione alias quasdara cogitationes prorumpere, mentemque in diversas quasi partes trahere, unde suspicari licet, eas latuisse tanquam hostes in insidiis, atque iam antequam conspicerentur, coecam illam vim nobis intulisse, cui resistendum esse sentiebamus, et cui tarnen aliquando fuit cedendum. Multum saepe sublevamur in eiusmodi certamine, si in ipsa re, ad quam attendimus, satis inest varietatis, ut eam perlustrando quasi in ,orbe circumagamur : e contrario autem ut quaeque res est sim- plicissima, ita maxime solet attentionem defatigare. Sed si quis inde concluderet, aucta varietate semper diminutum iri attentionis molestiam, in summum illaberetur errorem; id enim ipsum est difficillimum , magnam rerum copiam sie animo comprehensam tenere, nihil ut excidat, nullaque in parte ut ordo turbetur. Videmus, plures hostes a diversis partibus attentioni esse cavendos: idque magis elucescet, ubi perpendemus, rerum novitas quid adferat vel praesidii vel difficultatis. Novi aliquid dicere vel monstrare Student ömnes, quorum interest aliorum animos in se converti; sed saepissime videmus, nova repudiari, ne antiquis et consuetis pars honoris detrahatur. Itaque contradicere sibi ipsa videtur experientia, cum attentio[i3]nis fovendae causa commendet modo simplicitatem, modo varieta- tem, modo nova, modo antiqua: neque tarnen hie adesse contradictiönes veras, sed apparentes tantum, calculi ope infra ostendetur.

Tempus in attentionem non solum vim exercet diuturnitatis, sed etiam opportunitatis. Qui suspenso sunt animo, speetaculo, meditatione, curis oecupati, ii nihil pereipere solent; oculis non vident, auribus non audiunt, sensibusque integerrimis uti nesciunt. Fortiorem tarnen sonum, lumenque ardentius pereipiunt; unde patet, ad proportiones rem redire, ut, qui magis sit oecupatus, is vehementius sit compellandus.

Sed cum pateat, ut quaeque maximo impetu in sensus irruant, ita plurimum esse effectura, magnopere mirum potest videri, in lenissimis per- ceptionibus tarnen eam esse vim, ut penitus animis nostris se insinuent, firmissimasque nobis praebeant notiones. Cave putes, hinc argumenta peti posse contra mechanicam mentis; calculus ipse totum miraculum destruet, reique rationem exhibebit.

Reliquum est, ut de diversitate hominum, aetatum, raorum, hilari- tatis vel morositatis, pauca adiieiam. Observamus sane, non omnes iisdem rebus oculos et aures praebere; sed quando tangi ea quisque sentiat, quae ipsi sint cordi, tum demum animum appellere et aures arrigere: prima artis euiuseunque elementa discentium perbrevem esse attentionem, sed magis assiduam fieri procedente scientia et usu: hilarem respuere tristia, morosum iocosa, ita ut attendere non modo nolit, sed etiam vix possit: et quae sunt eiusdem generis plura. Facillime perspicitur, haec omnia pendere a cogitationibus reproduetis, atque propterea nun referenda esse inter causas primarias: quas enim quisque non habet praeformatas cogi-

c6 IV. De attentionis mensura causisque piimariis. 1822.

tationes, eas reproducere nequit; quibus autem est instructus, his augeri quidem vehementer potest attentio et minui, sed semper licebit quaerere, quid futurum fuisset, si reliquis causis illae non insuper accessissent? Deesse certe poterant salvo eodem animi statu, qui fuit [14] ante attentionis initium: ita enim quiescebant obrutaeque iacebant quasi in fundo mentis, ac si omnino nunquam affuissent. Causas autem primarias ab hac acce- dente reproductione prorsus segregandas esse, melius ex ipso calculo appa- rebit: cui iam nos accingamus.

Primordia calculi capienda sunt a quaestione praevia: notio nunc primum exöriens in mente, remotis omnibus impedimentis, qualis sit futura functio temporis? Ac praesto videbitur responsio: tempori fore propor- tionalem ; quoniam oriatur in omnibus punctis sive minimis particuiis tem- poris. Eödem modo celeritas corporis cadentis uniformiter augetur cres- cente tempore, quoniam a gravitate constante corpus impellitur. Verum- tamen responsio illa omnino est falsa: experientia docet, tempore minime longo elapso, perceptionem quamcunque ita esse perfectam, ut nulluni amplius incrementum (quod quidem sentiri possit), ipsi accedat, etsi diu- tissime velimus in eadem perceptione perseverare.

Paullulum hie subsistamus. Dicent fortasse aliqui, celeritatem nas- centem non fuisse comparandam cum notione nascente, quoniam illius quidem causa sit nota, huius vero ignota. Errant; ignoramus causam celeritatis; nam gravitas nihil est nisi verbum designahdo phaenomeno aptum, attractio autem, quam plurimi putant agere in distans, certissime est falsa hypothesis, quod cum nonnisi metaphysicis rationibus explicare possim, hie tantum confirmabo auetoritate Euleri in iheoria motus cor- porum rigidorum § 184. Omne argumentum, unde cöncludimus, celeri- tatem illam esse proportionalem tempori, eo nititur, quod in singulis parti- cuiis temporis nihil est discriminis, quare si quid in ullo temporis puncto iam oriatur, id aeque in omnibus fieri arbitramur.

Sed haec in mente secus se haben t. Quae dicturus sum, metaphy- sicis nituntur rationibus; lectores ea videbunt experientiae esse [15] consen- tanea, ac per se simplicissimam praebere hypothesin, etsi argumentis com- probari non possent.

Unaquaeque notio, in statu suo completo, habenda est pro unitate, tali, qualis est sinus vel cosinus totus; quae augeri non potest, sed admittit fractiones. Notionem in mente nascentem, itaque nondum completam, dieimus perceptionem; quae cum nascendo augeatur, fractio est illius unitatis. Quant em autem eins tempore quodam elapso iam natum est, tantum denuo nasci nequit ; itaque ademtum est a facultate mentis, eandem notionem in maius robur evehendi. Ponamus totam hanc facultatem = (f ; elapso tempore = t si notionis robur sensim crescendo evectum est ad quanti- tatem = z, residuum illius tacultatis erit <\ z. Perceptionis intensitatem ponamus esse constantem, et = ß\ habebimus

ß (7 z) () t <5 z

Caput Secundum. 57

Const unde ßt = log.

7-z

<f

Pro t = o etiam z = o; hinc ßt = log.

r/ z

/?t\ dz -ßt

z = 7 (1— e j et --==/yr/e

Hinc sequitur:

1) facultatem mentis, notionem aliquam producendi, cito decrescere, nee tarnen unquam prorsus in nihilum abire. (Quaestionem, an eiusmodi facultates possint restaurari, hie non curo; tantum dico, notiones, quibus utatur homo adultus, maximam partem esse reproduc/as, non autem denuo produetas. Addentur nonnulla de hac re in capite sequente.)

2) quameunque pereeptionis intensitatem, minimam aeque ac maxi- mam, aptam esse, ad idem efficiendum notionis robur, si temporis satis sibi concedatur. Ita tollitur admiratio illa, de qua in § praec. sum locutus.

[16] Formulae propositae attentionem indicant absolutam, sive maximam, nullis cum viribus contrariis confligentem : quae si unquam usu veniret, nomine quidem latino, dueto e tendendo, non recte designaretur, quoniam intendi non possunt, quae secura sunt ab omni nisu contrario.

Sed nisi forte velimus sermonem instituere de primo vitae initio, ut aliae nullae nee praecesserint, nee simul adsint notiones (quod sane ridi- culum esset), semper confligendum erit cum viribus oppositis; notionum animo praesentium quaedam erunt contrariae notioni nascenti: hinc iac- tura facienda, et pro rata parte distribuenda.

I. Ad iacturam determinandam primo loco observandum est, orientem notionem initio certe admodum imbecillam fore, ipsique confligendum esse cum notionibus priori tempore natis; quod tempus nisi fuerit perbreve, illae iam non parum roboris erunt consecutae. Itaque certum est, notionem nascentem esse omnium notionum minimam; atque iam patet ex supra dictis (4), ad iacturam facienda m tantum unoqiwque temporis puncto aecres- cere, quantum accedat ad notionem nascentem *) : nisi forte minor sit con- trarietas; qua de re pauca adhuc sunt dicenda.

Mente coneipiamus colorem rubrum et caeruleum: quos ita distare seimus, ut intennedius sit violaceus, neque tarnen unicus sibique semper par, sed modo propior rubro, modo caeruleo. Horum colorum ea est ratio, ut quasi linea continua interposita videatur inter rubrum et caeruleum, qui sint eius lineae puneta extrema: violacei autem coloris tot sunt varietates, ut proximae quaeque non possint discerni, earumque contrarietas sit infinite parva. Hoc [17] exemplo ad euiuseunque generis notiones aecommodate >, apparebit, contrarütatem notionum (nostro sermone der Hemmungsgrad) esse quantitatem talem, ut eins maximus valor sit = 1, reliqui valores intermedii sint inter 0 et 1. Maximum valorem admisimus supra (4), ubi diximus,

*) Docuimus, pro ternis notionibus a, b, c, posito a > b et b > c, fore iactu- ram = b -\- c; iam fingamus, b vel c aliquid incrementi capere, ita tarnen, ut semper maneat <C a : patet, idem incrementum accedere ad iacturam, quae semper est = b -f- c

e8 IV. De attentionis mensura causisque primariis.

si altera notionum prorsus sit oppressa, tum demum alteram fore incolumem: quod si fieri posset, etsi prior illa non prorsus esset oppressa, contra- rietas notionum non esset = i, sed aequalis cuidam fractioni genuinae = n. Jactura facienda in hac, quam nunc tractamus, disquisitione, non pro constante haben debet: sed variabilis est duplici ratione, tum crescendo,

dz ßt

tum decrescendo. Invenimus esse = ,k/ e , hinc lacturae accrescit

dt '

Tißye dt, denotante n quantitatem contrarietatis inter notionem nas-

centem et illas, ad quas animo praesentes accedit. Eodem autem tempus- culo = d t, quo augetur iactura = v, diminuitur etiam suo ipsius pondere, quoniam unoquoque temporis, puncto notiones claritatis suae primitivae detrimentum aliquod capiunt: ea iacturae adhuc faciendae deminutio est = v d t. Hinc existit aequatio

ßt

dv=7i,j<fe dt = vdt.

Lectores nosse censentur integrationem formulae dy-f-Pydx = Qdx;

ßt qua applicata ad dv-fvdt=/T/^/e dt invenietur

v = e [/"e . /r/jf/e dt -|- Const]

t ßt t(i—ß) i t(i— ß)

Est autem fe, . e dt =/e dt = ./e

i ß

unde v = e -f-le

I— ß

Restat constans determinanda. Fieri potest, ut iam initio temporis adsit quaedam iactura facienda, scilicet ex iis notionibus, quae animo ob- servantur antequam nova notio accedat: neque tantum pot[i8]est fieri, sed revera necesse est, quoniam scimus (4),. nmiquam ullas notiones prorsus ad suum aequilibrium pervenire. Ponamus, sicut iam consuevimus, illam iacturam primo fuisse = s, deinde eius desedisse aliquantum = 0, eo autem temporis puncto, quo accedat nostra nova notio, reliquam esse quantitatem = s o; sequitur, pro t = o esse v = s 0, unde fit

7ljj(f

atque hinc denique v =

ßt -t

Interdum commodius erit scribi v = ^,>'/ 1- (s n) e

Haec iactura facienda rite distribuatur necesse est, eaque distributio caput est negotii suscepti: sed antequam eo procedamus, iuvabit paullo altius inqui- rere in formulam modo inventam, variosque valores in illa comprehensos. Primo intuitu apparet, quomodo pendeant hi valores a quantitatibus n et s o; sed numerus ß multifariam formulae implicitus est: unde hoc quidem statim intelligitur, inter iacturam, sive pressionem, et intensitatem

n-l*- + c

1— ,*

-ßt ( TTJtf

)c~t

C l S O

\ I—fl

) c

-ßt -t .„ff«, C 6 \ t

*—n\

Caput Secundum. cg

novae notionis, non esse simplicem quantitatis relationem; etsi ex huius notionis adventu ea pressio coorta videatur.

ßt t

e e o

Ponamus 8 = i : inveniemus ; = ; ut differentiatione

' i ß o

opus sit ad verum valorem cognoscendum; quam patet ita esse instituendam,

ut ß sumatur pro variabili. Prodit t e ; atque hinc.

•t . , , —t

v

n r/te -f- (s a) e

Porro dv=e dt [n(f (i t) (s a)]

Sit n (f (i t) (s -f- a) = o,

r _ . 7i w (s a) iq sequitur = t,

71 ff

quo tempore elapso ad summum evecta erit iactura facienda; post autem magis descrescit, quam novis accessionibus augetur. Differentiando formulam universalem, habebitur

dv nß*a> —ßi (nßy \ -t

- = e 4- (s a)

dt i —ß T Vi— ß V \

quo posito = o prodibit

log. nat -Z—L ßt = log. nat [— '-^ - - (s a) j - - t

, . i . . (i (s-g) (1-/8) unde t = —j log. nat (^-

Ex hac formula pro Omnibus valoribus numeri ß colligitur, quando iactura lutura sit maxima; ut autem eius vim commodius perspiciamus , addam quae sequuntur.

i ) Sit s a adeo parvum , ut proxime accedat ad valorem = o ;

sequitur t = log . Haec quantitas semper est positiva, etsi

i ß ß

ß > i ; fit autem infinita, ubi ß evanescit; et infinite parva, si ß crescit

in infinitum; quoniam logarithmi, quamvis infiniti, inferiorem iis numeris

tenent ordinem, cum quibus simul abeunt in infinitum.

2-) Habeat s n valorem finitum et mediocrem (nequit enim esse

permagnum, quoniam pars est omnium notionum animo simul praesentium) ;

atque ponamus

a) ß > i ; videbimus, ß posse ascendere ad infinitum ; quo facto fit

, ' ,og(i _!=£.)"__' (log (■ + !=±) - iog fi _ + 1

ß °\ n (( j ß ß \ n y I

log. ß, quod est infinite parvum.

b) ß < i ; iam cavendum erit, ne formula maniscatur valorem nega- tivum, qui futurus esset imaginarius, quoniam tempus semper est positivum. Itaque scribamus [20]

t== I . nß,f. {i—a)(i—ß)

I —ß °° 7lß2(f

perspicuum est, tempus fore nulllum, si habeatur

6o

IV. De attentionis mensura causisque primariis.

nßZ(j = nßrp (s a) (i //), sive

ff = nß(f , vel /j

71(1

f

His expositis, omnia adhuc usque tradita sunt exemplis ad certos numeros adactis illustranda. Simplicitatis causa ponamus s ff = i , et n = i, quoniam istae quantitates parum molestiae facessunt; sed ß et t per varios valores sunt persequendae. Commodum erit, literae ijp tribuere valorem = 10, etsi vere est unitas illa, quam uniuscuiusque notionis robur non potest excedere: quod si stricte vellemus observare numerorum inte- grorum usus paene omnis tolleretur, atque prorsus in fractiones devolveremur. Caeterum patet, veritatem nullo modo laedi, si unitatem illam quasi de- cima sui parte demensam concipiamus; dummodo memoria teneatur men- sura semel constituta.

Ex aequationibus propositis

-e-"')

et v =

n ßq -ßt .

f "/''/' \

t e

inveniuntur valores

sequentes :

[21]

/»-T

fi— I

ß = 2

10

z = 0,4876 v = 1,3689

z = 0,9516 v = 1,8097

z = 1,8127 v = 2,6270

2

z = 2,2119 v = 2,3294

z = 3.9347 v = 3.6392

z = 6,3212 v = 5.3795

t -= 0,64436

1

z = 7.2437 v = 5.513 maximum.

t = 0,9

z = 5.9343

v = 4.0657

maximum.

t = I

z = 3>9347 v = 2,7544

z = 6,3212 v = 4,0469

z = 8,6467 v = 4.6510

t = 1,17558

z = 44444

v = 2,7780

maximum.

t = 2

z = 6,3212 v = 2,4609

z -= 8,6467 v = 2,8419

z = 9,8169

v = 2,4756

t = 3

z = 7.7683 v = 1,7833

z = 9Ö02 2 v = i,5434

z = 9.9753 v = 0,9961

t = 10

z = 9.9327 v = 0,06697

z = 9.99Q4 v = 0,00458

z = 9.9999 v 0,00094

Caput Secundum. ßl

Intuentem hanc tabulam fugere non potest, adesse etiam aliud maxi- mum praeter illud, quo calculo iam persecuti sumus; comparantes enim pro tempore = 2 valores ipsius v, intelligimus, eam seriem, ubi ß = i, hie eminere, cum tarnen et ab initio medium locum teneret, et sub finem eodem revertatur. Quod latius patere primo confirmabimus exemplis; com- putantes enim pro ß == tem[22]pus maximi = 1,3733 et ipsum maximum

= 1,5197, invenimus, tempore = 2 valorem ipsius v inferiorem fore hoc maximo, atque hinc certe inferiorem etiam valore 2,841g, quem adipiscitur v in serie illa, ubi ß = 1 : posito autem ß = 5 prodit tempus maximi = 0,38312 et ipsum maximum = 7,3618; sed deinde ita decrescit v, ut tempore t = 2 sit = 1,8264. Nee mirum: omnis enim notionum motus in mente (quem motum seimus nihil esse praeter vicissitudinem minoris et maioris claritatis), pendet ab earum contrarietate, qua premuntur, intenduntur, et ad agendum excitantur; itaque maiores existunt motus, ubi fortior accedit .pereeptio nova ad notiones iam animo praesentes ; iique motus maiores celerius etiam tendunt versus finem suum , qui est aequilibrium : minores autem motus sunt tardiores, atque ita in longius tempus produeuntur.

Calculo quoque eandem rem persecuturi, utamur differentiatione ipsius

v secundum ß; ut (s a) e ' habeatur pro constante, et factores n (p itidem constantes seponantur. Restat differentiandum

■i ( ßt -t

prodibit

d a e-^t(/J2t-/jt+I)_e~t

Numerator evanescit pro ß = 1 ; sed cum idem hat in denominatore, bis repetatur dififerentiatio necesse est, qua peraeta perdueimur ad nume- ratorem

e~ (ß2t* —ßa 4/?t2 -f-3t2 -j- 2 t)

Posito ß = 1 et reiectis iis quae invicem destruuntur, superest

e p (2t 12), quod cum evanescat posito t = 2, iam apparet, hoc tempore maximum illud quaesitum pro ß = 1 revera adesse.

Oritur autem hie magna quaestio, quid hoc sibi velit, ß => 1 et t = 2 ? quod ut intelligatur, subsint unitates necesse est, non arbitrariae, sed deter- minatae. Eiusmodi unitates nonnisi experien[2 3]tiae ope constitui possimt; quanti autem hoc sit laboris, quot subtilissimarum observationum moles com- paranda et exagitanda, ex mathematicorum studiis, in cognoscendam corpo- rum libere cadentium celeritatem aliaque similia, impensis, satis perspicitur. Fateor, nie nondum eo pervenisse, ut certi aliquid de illis unitatibus pro- ferre possim ; iuterim a maximis erroribus illae ipsae disquisitiones n< )bis cavent, in quibus versamur. Neminem latet, quomodo afheiamur n< »vis pereeptionibus : permovemur aliquantulum, mox autem animus quasi in inte- grum restituitur. Itaque satis breve nobis videtur id tempus, quo iactura facienda primo evehitur ad maximum, deinde fere tota residit, ut animum in motu esse non amplius sentiamus. Rite per}Densis iis, quae in nobis ipsis observamus, nemo diem aut annum putabit pro unitate illius temporis

62 IV. De attentionis mensura causisque primariis.

habendum; ne de tota quidem hora cogitabit quisquam; sed ipsa horae minuta prima nimis longa videbuntur; in minutis secundis dubitabundi haere- bimus. Altera ex parte certissimum est, fractiones admodum parvas minuti secundi ab hac quaestione esse alienissimas; nee ulla alia est causa, cur celeritatem corporum coelestium et luminis admirari soleamus, nisi haec una, motus anirai ita tardos esse, ut nullam mutationum intemarum seriem, cum illa celeritate cömparandam, in nobis queamus observare.

Satis cognita iactura facienda, pergamus ad eiusdem distribuendae negotium.

II. Differt haec distributio duplici modo ab illa, quam antea (4) per- feeimus: variabilis enim est ipsa et iactura et ratio eius distribuendae.

1 ) Quandoquidem iactura est variabilis : uno quasi actu in partes dissecari nequit; sed redeamus necesse est ad minimas eius particulas, quibus in tempusculis infinite parvis notionum claritas diminuitur. Cum v sit funetio ipsius t, post certum tempus quantumeunque certa aderit iactura facienda, quae per proximum tem[2 4]pusculum dt manebit constans; hinc vdt erit id, quod necessitate urgente = v in tempusculo dt adimendum Omni- bus simul sumtis, atque hanc ob causam distribuendum est in singulas notiones.

2) Ut ratio distributionis explicetur, ponamus, animo praesentes esse notiones duas a et b eo ipso tempore quo accedat nova notio, cuius vim variabilem designemus per x. Respiciendo ad anteriora (4) patebit, ratio-

iii. nem distributionis denotari numeris , , ; sive commodius numens

a b x

b x, a x, ab.

Hinc calculus induit formam sequentem pro nova notione x:

. , n a b v d t

bx + ax + ab : a b = v d t : , -

bx-f-ax-j-ab

Ponamus a-)-b = c, ab = c': terminus ultimus , quem quaesivimus , fit

c vdt . .

: 7: cuius Integration e peraeta invenietur ea iacturae pars, quae novae

cx-f- c

notioni erit ademta. Hanc partem postea designabimus litera Z, distin-

c v d i guenda az. Itaque ent r=dZ.

ex -\- c

Similis erit calculi forma, si plures animo affuerint notiones eo tem- pore quo accederet nova. Potest etiam fieri, ut non eadem sit omnium notionum inter sese quantitas contrarietatis : hoc casu scribantur numeri illi, rationem distributionis denotantes, ita:

, 1 » sive bxf, ax»;, abo-, a b x

ubi i, 77, &, determinandi sunt seeundum contrarietatum quantitates. Hinc

abvdt abtf-vdt .

Pro ü i 1 ü Prodibit : r r. Sed posito bf + a-//

bx-j-ax-f-ab (bt -f- a /,) x -\- ab fr

Caput Secundum. 63

c'vdt = c et ab# = c, eadem recurret formula -, qua mm usi sumus;

cx = c

constantium valore immutato, unde sequenti calculo nihil negotii potest

c accedere. Atque revera unica tantum [25] adest constans, scilicet quotiens ,

isque variis modis existere potuit ex numeris a, b, e, i], S, ut eundem cal- culum variis liceat constantibus primitivis applicare.

Latet autem summa difficultas in illa vi variabili, quam designavi litera x. Mirum fortasse videbatur lectoribus, quod eius loco non statim ponerem illud z,

quod scimus esse = cp (1 e_ ^ ); nam qualis tandem ea vis potest esse, nisi vis ipsius novae notionis z? Sane nulla est alia, sed non est eadem tota atque integra, sed pars eius variabilis. Quod ut intelligatur, res denuo est consideranda. Singulis tempusculis oritur dz, quod est infinite parvum: adsunt autem vires finitae contrariae notionum animo praesentium. Nonne exspectandum est, vim infinite parvam a viribus finitis protinus exstinctum iri? Hoc revera fieri in quibusdam casibus, infra videbimus: si semper fieret, nunquam alicuius novae perceptionis conscii nobis esse possemus. Fac autem, singulis tempusculis aliquid remanere ex singulis dz: omnes istae partiadae superstites iimgentnr inier se, atque ita vim efficient finitam, eamque semper crescentem. Ita revera fieri solet; quomodo autem fieri possit, intelligemus attendendo ad ea, quae supra dicta sunt de virium in animo agentium natura. Diximus (4, E), notiones per se non esse vires, sed sollicitari ad agendum pressione mutua. Hinc patet, infinite parvas illas particulas dz exercere infinite parvam pressionem contra notiones animo iam praesentes, neque maiorem pati reactionem, quam excitaverint; ut non mirum sit, aliquantum remanere, atque coalescere in quantifa/em finitam. Certissimum tarnen est, hanc quantitatem finitam non adaequari posse toti summae omnium dz, sive toti z; multum enim est deperditum, atque quasi dispersum; quod cum nonnisi vim habeat infinite parvam, in conflictu virium finitarum pro nihilo est habendum.

[26] Jam duos constituamus limites, quos inter necesse est quantitatem illam finitam contineri : hi limites, sunt z et z Z, denotante Z eam partem ipsius z, quae elapso tempore t ita est depressa, ut non amplius sit animo praesens. Vis novae notionis minor esse non potest quantitate z Z ; nam quantum eius animo simul est praesens elapso tempore t, tantum certe coaluit, unamque exercet actionem; verum paullo maiorem esse, inde sequitur, quod notiones partim depressae, vim tarnen integram conservant (4, C). Distinguamus duo tempora diversa, t et t'; elapso breviore tempore t, animo praesens sit z Z; procedente tempore haec quantitas et augetur novis d z accedentibus, et minuitur pressione non inter- missa; elapso longiore tempore t' aliud habebimus z' Z'; quantum autem prioris z Z interea est depressum , id non desinit agere in animo, sed pergit in resistendo viribus contrariis; attamen non continetur in quantitate z' Z'; atque ita errorem calculi efficiet, si totam vim agentem ponemus = z Z .

Nihilominus utemur calculo sie instituto, quoniam nulla spes est, eum aecuratius exhibendi: quocirca deliberandum est, quanto in errorc possimus

64

IV. De attentionis mensura causisque primariis.

versari. Ac primo notandum, quantitatem negligendam non esse talem, ut,

si cognita esset, simpliciter addi deberet ad vimagentem; sed semper

quodammodo est seiuncta, atque hanc ob causam parum habet momentr*).

Negligimus enim id, [27] quod animo non est praesens; hanc autem ipsam

ob causam non potest coalescere cum iis novae notionis incrementis, quae

postea in animum inducuntur.

Deinde videamus, quomodo fieri possit, ut quantitas negligenda vel

augeatur vel minuatur. Quo magis priore tempore creverit quantitas z Z,

et quo fortius postea deprimitur, tanto maior habebitur error. Sin statim

ab initio maxima fuit pressio subeunda, non multum potuit coalescere; et

postea deminuta pressione haud multum absumetur. Hoc modo dignos-

cemus eos casus, in quibus respiciendum erit ad alterum limitem, qui,

etsi nunquam potest attingi, de erroris commissi quantitate tarnen nos

poterit securos reddere.

c v d t

Redeo nunc ad differentiale illud ; T = dZ, quod contineri vide-

cx -j-c

c'vdt c'vdt . ....

mus hmitibus T et -—-. -,, ita quidem, ut a priore lnnite

cz-|-c c(z Z)-]-c

semper satis longe absit, ad posteriorem autem multo propius possit accedere.

Ex superioribus est

*) Huius rei explanandae causa redeamus ad supra (4) tradita; et perpendamus exempla calculi, quo determinatur aequilibrium notionum, si vires earum sunt constantes. Ponamus ternarum notionum robora esse in proportione numerorum 3, 1, 1; iactura facienda erit = 2 ; eaque sie distribuetur :

hl

\^\

6 1

3

l _ 2 .

7 6

3

7

3

1

11

7

1

7

1

7

Mutemus exemplum; ponamus loco binarum notionum, quarum utraque = 1 [27] unam singularem, cuius vis sit = duabus illis, sive = 2. Jactura etiam erit = 2, sed longe aliam habebimus distributionem, scilicet

5 =

l»J

= 2

= Hl1) 5

_ J_

5

ubi patet, quantum momenti sit in coniunetione earum virium, quas antea pro disiunetis habuimus. Sed dicet fortasse aliquis, in priore exemplo notiones numeris 1 et 1 desig- natas fuisse oppositas inter se; hinc maiorem exstitisse pressionem. Itaque si non fuissent opposiiae, sed tantum disiunetae, lenior fuisset pressio subeunda? Mir.ime! nam et iactura et eius distributio eaedem manent. Quod ne paradoxon videatur, pauca addam. Ponantur binae notiones, b et c; iactura erit = c, ob contrarietatem inter b et c.2) Accedat tertia notio a; iactura erit b -f- c, ob contrariam fortiorem a. Itaque duplex adest ratio, cur iactura involvat quantitatem c; hinc vero non existit maior pressio, sed idem animi motus sufficit duabus rationibus simul; atque cum quantitas c iam oppri- matur propter contrariam a, non potest denuo opprimi propter contrariam b.

i) O (Druckfehler).

2) b et a O, SW (Druckfehler).

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 65

[28] ( nß<f\ , -t

/ , / —ßt-, s ° 7 ce dt

c vdt c .nßrp.e 'dt \ 1 ßj

+ ? = ^r^(c9.(ir-e--ft)-f:|0 "cyO-e-^ + c" Ad. hanc fi trmulam, integrationi satis facili se praebentem, nisi valor nimis

incommodus tribuatur literae ß; infra revertar, ubi usus postulabit.

c v d t ,

Longe ahter se habet aequatio ; 7 = dZ, sive c vdt

0 M c (z Z) + c

= czdZ- cZdZ-|-c'dZ, sive

cnßq —fi-t ,( 7ißw\ t

dt + c s 0 —Je dt

I /3 \ I /3>

= cr/ (1 e-/?t)dZ cZdZ + c'dZ. In hac aequatione permixtae sunt quantitates variabiles; nee certum ordinem aequationis assignare possumus, quoniam diversissimos literae ß necesse est tribui valores; quamobrem de eius solutione direeta et finita vix aliquem puto cogitaturum.

1

Ponamus 1 e " -j- u; ße dt = du; e = (1 u) ,

d t = ; transfomiabitur tota aequatio in sequentem :

ß{i— u)

1

__J_du + _^<J_7=7j(I-u) du

^ cr/udZ cZdZ -\- c'dZ. Facile nunc discerni poterit casus, quo aequatio finitam admittat solu-

71 ßa

tionem, scilicet si s o = : eumque casum obsolvam , antequam

1 ß

approximationis methodum universalem proponam. Moneo tarnen, non

multum esse praesidii in hoc casu eiusque solutione; angustis enim limitibus

circumscriptus est. Primo ß non debet sumi > 1 , ne s o fiat negativum ;

deinde nee ad unitatem ni[2o]mis prope debet accedere, quoniam s o non

potest evehi ad valores permagnos^ Sed ubieunque ß habetur satis parvum,

ineipiendum est ab hoc casu, ut reliqua commodius perspiciantur.

. c c 7iq> Ponatur Z = y -j , == m ; ent aequatio nostra

C I jJ

mdu = cf/udy cydy,

sive d u = u d y

m

-mydy'

unde u

cfJL ( _ ctpy = e m (/e m

y d y 4- Const.

m

)

Porro /e~

111 m m y d y = y. e c'f

_ m? y m2 _

m e "

C2 (f)2

cjpjy m

cpy /my

1 C2 (f 2 J

\ c^>

Herbart's Werke. V.

66 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

c fmy 1112 \ C_HJ_

Hinc u = -f- Const. e m

m \ c ff c2 </ 2 /

Ad constantem deterniinandam habemus u = o pro Z = o y -j , sive

c

c

u = o pro y =

c

1 / m \ cyy

Cum commodius scribatur u = v -I 1 4- Const. e m erit

7 \ ' c (f I

1 / m c'\ . c V

o = -f- Const. e

'/ W

c> atque Const. = e m .

m

m

9

(c +cy).

Cr/

I r m

itaq ue u = I c v H r- c I . e

c q> L - (f V </ /

Reponamus Z = y 4-

-?D*-<+:-+('-a'"]

c c

[3°] r _ / _.x QLftZ-

fiet

[c (f Z c z 4 ( c' ) ( e m l ' I

Haec formula, etsi brevissima, tarnen aliquid habet incommodi, quoniam non facile potest reverti: assumto enim u, quaeritur Z; ex natura formulae autem sumto Z quaerendum esset u. Levatur tarnen haec molestia magna ex parte ope tabularum logarithmorium naturalium; quod ut illustrari possit exemplis, pro quantitatibus constantibus certi numeri sunt introducendi.

Constantes c et c' cum existant ex superioribus a et b, sit a = b = 5; hinc a -}~ b = c -= 10; ab = c' = 25. Jam supra statuimus (f = 10; seimus autem, hmic numerum 7 re\-era esse unitatem, quam notiones excedere non possunt; quamobrem etiam a et b non possunt esse >> 10. Ex ipsis autem existat necesse est s n, quae est illarum iactura adhuc facienda inter se, si nihil novi esset ad illas accessurum; unde patet, pro medioeri illo valore a = b = 5, s o non statui posse ultra valorem = 5, quem si haberet, totä haec iactura adhuc integra esset, sive o adhuc esset = o. Sed alia exstat ratio, quae cavere nos iubet, ne ipsi s a nimium valorem tribuamus. In aequatione c' v dt = (cz cZ-fc') dZ ponatur t = o; fient z = Z = o, sed v = s a, unde pro t = o est (s n) dt = dZ; eodem vero primo temporis initio ex aequatione z = </

(1 e p ), sive dz=ß(fe p dt habetur dz = ;ir/dt. Jam apparet, non posse statui primum illud dZ > dz, quoniam non plus adimi potest, quam adest; itaque nunquam committendum erit, ut ponatur s o>1jf/) quod est absurdum.

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 67

Quam ultimam invenimus aequationem , ea nititur positione s 0

= £_l_; unde sequitur n < 1 ß, ne fiat s o > ßq>. Itaque [3 1] posito 1 ß

ß =— licebit sumere n = o, 6; unde habebimus, propter f/-= 10, s o

-6 , C71W

= _ = 3 ; atque ita, quoniam m = - = 25. 9 = 225, exemplum

aequationis nostrae existit sequens:

100

■-'155 [»* -.(«-WH' =* -')]

= ^[z+T(»iZ-')]

lz

Inde sequitur

40 u 4Z = e9 1 ,

sive log. nat. (40 u 4 Z -f- 1 ) = -i- Z Haec aequatio ut solvatur, ponamus

Z = 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 . . . .

H 7 4 8 12 16 20 24 28

IT = IT' T' T' T' T' IT' 7"' " " ' '

quibus fractionibus conversis in decimales, inspiciendo in tabulas logarith- morum naturalium facillime invenietur, cuinam numero integro proximum sit Z; deinceps autem approximationibus erit utendum. Caeterum notan-

dum est, u = 1 e non posse ascendere ultra unitatem. Exempl.

causa ponamus u = 1 ; conversa fractione = 2,6666 . . . apparet, huic numero proximum esse log. nat. 14 = 2,639 '■> ex Z = 6 autem sequitur 41 4 Z = 17; igitur Z > 6; sed fractio-^- = 3,1 .... devol- vit nos usque ad log. nat. 2 3 ; atque simul quantitas 41 4 Z retrograditur usque ad 13 ; unde conspicimus, propius nos abfuisse a vero, cum poneremus Z = 6. Approximationis causa sit Z = 6 + x; unde [32]

41 24 4x = e9

(6 4-*)

2,666

..±-x

sive 17 4 x = e

e. 9

2,666 . = e

"\ fi

l6 X2

(•■+^ + r.-r+'--)

24

Est autem e 9 = 14,392 .. . hinc fit

17 14,392 = 2,607 = x . ( 4 + ~ 14,392 4- )

9

2,607

et x = '7 = 0,25

10,396

68 ,IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

Ut propius accedamus, sit Z = 6,25 4- x'; itaque

-1 (6,25 + x') 41 25 4x' = e 9 3^

, , 2,777 ... 1 4 , 16 x'2 \

«.I6-4X-. . (I + -x +-—.•■)

2'?77 , n

Cum sit e = 16,0833 . . . sequitur

0,0833 =x'. (4 + —- 16,0833 +...)

unde x' = 0,0073 et Z = 6,2426 . . .

-*' 4 ,

qui numerus sequentibus seriei e 9 = 1 -I x . . . terminis adhibendis

9 ulterius, si placet, investigabitur.

Potuimus etiam alia ratione calculum instituere; eaque utamur in altero exemplo. Sit u = habebimus aequationem

log. nat. (21 4 Z) = Z

4 16

Si z esset = 4, existeret Z = = 1,7771 ••• et l°g- nat- (2I ID)

= log. nat. 5 1,60943; unde Z>> 4; sed si ponamus Z = 3, fit [33] Z

12 = = 1,333 et log. nat. (21 12) = log. nat. 9 = 2,197 . . . Est

autem 1,777... = log. nat. 5,91 ... et 1,333 ••• = log. nat. 3,78... atque videmus quasi eodem tempore procedere numerum 5 usque ad 9, et retrograd! numerum 5,91 ... usque ad 3,78... ut, si Ulis motum ab aequabilitate non nimis abhorrentem tribuere liceat, celeritates motuum sint in ratione (9 5) : (5,91 3,78) sive 4 : 2,13. Occurrant autem necesse est sibi in aliquo itineris conficiendi loco, quem facile inveniemus. Inter- vallum primitivum numerorum 5 et 5,91 ... est 0,91 . . . itaque iam cognitis celeritatibus habemus

4 : 2,13 = x:o,9i— x

unde x = 0,5938; et 0,91 x = 0,32. Quaerimus autem illud Z, quod pertineat ad inventum x; idque innotescet per hanc proportionem :

2,13 ... : 0,32 ... = 4 : 0,5938 ..= 1 10,1484 ...

unde Z = 4 0,1484 = 3,8516. Quod ut facilius intelligatur, numerorum mutationes, quae sibi respondent, ita proponam:

Mutato numero (21 4Z) ex 5 in 5,5938 et in 9

lz et e 9 5,91 . . 5,5938 3,7%

mutatur Z 4 ... 3,8516 ... 3;

±Z

?.tque propter aequationem 21 jZ = e 9 , verum Z eadem ratione

interpositum sit necesse est inter 4 et 3, qua ratione 5,5938 interiacet

Caput Secundum. De attentionis causis primariis.

inter 5 et 9, vel inter 5,91 et 3,78. Correctione tarnen opus est, tum ob defectum in numeris 5,91... et 3,78...; tum ob errorem admissum in hypothesi motus aequabilis in functionibus alia lege procedentibus. Quae correctio sie instituenda, logarithmum convertendo in seriem: [34]

log. nat. (5,5938— 4 x)=-l 5,5938+1(1 TT^r) =4"^'85i6 + x)

v 5>593ö/ 9

sive 1,72159 f 4X0+-T4Xo1 ' + ••■)= 1,7118 +-^x ^5>5938^2 L5,5938J ^ I ' ^9

Neglecto seriei logarithmum referentis termino seeundo, et qui eum sequuntur,

habebimus

0,0098 = x f -i -\ ^-~

^ 9 5,5938 unde x = 0,00845 et Z = 3,86005 Ad ulteriores correctiones viam patere, manifestum est; quas autem adhibui, eae iam usum psychologiae excedunt, quocirca crassiori calculo utamur; verum id agamus, ut totam rem uno adspectu possimus amplecti. Tentando e tabulis invenietur

pro u = Z 2,1 1

u = j- Z =5,21

Itaque habemus

diff. I. IL III. IV.

pro u = o , Z = o

, 2,11

u = , Z = 2,11 0,36

t Qr i,75 + 0,04

u = , Z = 3,86 0,40 0,12

3 i.35 0,08

u = -f, Z = 5,21 0,32

u = 1 , Z = 6,24 Quamquam differentiae non evaneseunt, valde tarnen diminuuntur, atque licebit nobis seriem tov Z habere pro arithmetica; ut possimus compin- gere omnia in notissimam formulam interpolationis : cuius ope invenietur z = 9,332 u 4,064 u2 -4- 2,304 u3 1,28 u + Haec formula si quem offendet, quoniam non est adaequata, fatendum tarnen erit, eam correctionibus ansam praebere commodissi[35]mam Ponatur exempli causa u = ; prodibit Z = 2,728; quod si recte se haberet, log.

nat. 3,42 esset = 1,21; est autem revera = 1,23...; ut error quidem sit commissus, sed talis error, cuius remedia secundum methodos traditas in promtu iam habeamus, et facillime possimus expedire.

Comparationis causa mutabo quasdam quantitates constantes; sit

ß == , unde 1 , i = ; hinc n < 1 ß poterit adscendere in mai-

, n ß a orem valorem; ponamus igitur n ==— ; atque habebitur s a =

c TT ff m c ff

= I'875J ; s = m = 234,375; c. = 1,5625; = 0,42667;

I ß <f m

ut formula universalis

yo IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

U-^[CZ+(C'-V)-(^Z-')]

r r , 0,42667 z 1

u = [Z +°'I5625 (e i)J

diff. I. IL III. IV.

unde pro u = o , Z = o

u = > Z = 2,15 0,14

1 , 2,01 + 0,24

u = T, Z = 4,16 0,38 = 0,23

3 7 !>63 + 0,01

u = 7-1 z = 5,79 0,39

1,24

u = 1, Z = 7,03

Non morabor in serie ex his valoribus construenda; patent enim primo intuitu, quae sunt consideranda. Erat

in primo exemplo /? = ; n = 0,6; s a = 3;

in secundo . . . . ß = y; 71 = 0,75; s 0= 1,875; deminuta simul perceptionis intensitate (ff) et pressione initiali (s o), mirum non est, initio fere eandem servari proportionem inter notionis acquisitae robur (10 u = z) et eius detrimentum (Z); etsi autem inde ab u = o usque ad u ==— inter quantitates Z nihil [36] fere sit discriminis, subinde tamen perspicitur, quid possit maior notionum contrarietas (71) ad augen- dam derrinienti quantitatem; cum videamus quantum distent valores finales 6,24 et 7,03. Caeterum in hoc genere calculi iactura facienda

nßcf, ßt , 7ißa\ —t

e -j- s o

i ß V 1— ßl

non potest assurgere ad maximum; nam ex hypothesi constituta s a

nßq . nß<i —ßt —ßt

= 7 sequitur v = T— e , sive (s o) e , unde intellisritur,

pressionem semper diminutum iri, idque fieri eo celerius, quo maius sit ß.

Cum autem respiciendum sit ad temporis decursum, quaeramus t ex assum-

,, , Bt\\ , . log. nat. (1 u) tis u. Habemus u = 1 e ' J, hinc t = -, atque

ß

in exemplo primo secundo

pro u = o , t = o t = o

u = --, t = 0,86 . . . 1,44

u = -i-, t = 2,08 3,46

u = j-, t = 4,16 6,93

u = 1, t = 00 X

Itaque propter minorem perceptionis intensitatem in secundo exemplo notionem novam multo tardius et formari et pressioni cedere videmus.

i) u = e— 1 ~?x SW.

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 7 i

Quid autem accidisset, si in altero exemplo eadem adfuisset pressio ini- tialis (s a) ac in primo? id quidem iam scimus ex superioribus ; nam propter s a = 3 >> ß q> = 2 notio nova ipsis temporis punctis, quibus perciperetur, ita fuisset exstincta, ut eius ne minimum quidem vestigium in mente potuisset remanere. Quem casum observamus in hominibus, qui sanis sensibus, sed animo suspenso, nihil nee auribus nee oculis pereipere videntur. Restituto c< »gitationum aequilibrio, prorsus in integrum restituitur facultas notionis formandae ex pereeptionis particulis minimis coalescentibus; ipsa autem haec facultas nihil aliud est nisi impedimenti secessio; [37] qua secessione facta, coaleseunt illae particulae nullam aliam ob causam, nisi quoniam sunt in eadem mente, nee distinentur nimia pressione.

7-

77 ß (f . .

Cum rarissime possit evenire, ut Sit s o = -, aequatioms pro-

fr

positae

^±An_i_i.L_a_ ±£n h_u] ß

du

C n <p C / n fj <{ \

~ ~, du+^s °— —--5 (

I jj p \ I - pl

= c r/i u d Z cZdZ-f-c dZ

integrandae negotium maxima ex parte adhuc superest peragendum. Etsi

autem methodum universalem approximationis traditurus sum, eius tarnen

demonstrandae causa utar numeris certis assumtis; ineipiendum enim est a

coefficientibus indeterminatis, et enatis inde seriebus infinitis; quae series

nisi oculis proponantur, ostendi nequit, quomodo ulterius sit procedendum.

Sit ß, ut erat, = , sed n = 1, et s a = 1,9; ut habeamus casum non longe abhorrentem ab eo, quem modo traetavimus. Prodibit calculus satis facilis, quem absolvere licet serie infmita tali, quatem Offerent coefficientes indetenninati. Habemus aequationem

3 12,5 d u 75(i u) 4 d u = (100 u 10 Z -\- 25) d Z. Ponatur Z = Au + B 112 -f- C u3 + D u+ + . . . Coefficientibus more solito determinatis invenimus

Z = 9,5 u + 5,05 112 0,2766 ... u3 + 7,8 . . . U4 -f- . . . Pro u = 0,05 fit Z = 0,487 . . . atque cum novae notionis robur sit z = 10 u = 0,5; residuum eius ademto Z erit = 0,013, quod etsi parvum, tarnen non omnino est nihil. Sed posito u = o, 1 , sive z = r , existit Z ■=■ 1 ,00 1 ; unde intelligitur, iam plus esse detri[38]menti quam lucri; quod cum fieri ne- queat (nam quantitatibus negativis hie nullus est locus), videmus, filum pereeptionis quasi abscindi, et parvülam notionem natam ita esse oppres- sam, ut in maius robur crescere non possit. Neque tarnen omnino pro nihilo est habenda; iam enim adepta est quantitatem finitam; paullo post potent reproduci et augeri; sed reproduetionem nunc quidem non curamus.

Minuamus pressionem; sit s 0= r: maneant reliqua. Aequatio erit 312,5 d u 187,5 (1 u)4 d u = (100 u 10 Z -f -5) d Z et coefficientibus determinatis

Z = 5 u -\- iou- 21,666 . . u3 -\- 49,166 . . u^ -- . . .

72 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1882.

quam seriem patet esse adeo divergentem, ut ea vix uti possimus usque ad u = o, 1 .

Tandem perventum est ad ea, quae omni huic scriptioni ansam prae- buerunt. Ad plenam problematis solutionem duplex ratio est ineunda; primo efficiendum, ut totius functionis Z etsi non adaequatam descriptionem, imaginem tarnen adumbratam adipiscamur, deinde ut in singulis valoribus error, quousque quis velit, approximando corrigatur.

Seriei divergentis propositae naturam diligentius perpendentem fugere non potest, omnes terminos sibi invicem derogare, sed tanto impetu fern, ut alius alii recte nequeat moderari. Terminus seeundus, continens quadra- tum ipsius u, nimis celeriter crescit; qui cum sit coercendus, accedit tertius, ab illo subtrahendus; sed hie involvit cubum quantitatis u, adeoque vehe- mens assurgit, ut novo temperamento sit opus; pessimum autem remedium affert quartus, multo magis ipse coercendus quam superiores; et sie porro alius super alium proruunt, ut tota series a veritate avertatur. Itaque vitium est in forma seriei, sive in exponentibus, ad describendam funetio- nem placide fluentem haud idoneis. Si autem hoc vitium ita [39] conemur tollere, ut sumtis aliis exponentibus sueto more coefficientes determinemus, vell nullos vel eosdem reperiemus. Ponatur exempli causa

_1 J_ A.

Z = Au2 + Bu + Cu2 -f-Du2 4-Eu2 +...

eiecti coefficientes postliminio redibunt; quoniam prior illa aequatio tacite

complectitur hanc novam, atque affirmant esse A = o, C = o, E = o, et

sie porro; ut nihil relinquatur nisi termini involventes dignitates integras

ipsius u.

Quantumvis divergat series, tarnen ex ea bim valores ipsius Z erui

poterunt, sumto u satis parvo: cognito autem Z, semper ex ipso, aequatione

dZ . ,

inveHietur ; atque si contingat, ut nunc quotientem possimus determuiare du

tanquam funetionem ipsius u, integrando reditus patebit ad ipsum Z.

Pro u -- 0,05 aequatio proposita dabit Z = 0,2726, - =5,8583;

dZ

pro u = 0,1 erit Z = 0,5832 ; et - = 0,4964.

du

Differentiale seriei Z = 5 u -\- 10 112 2 1,06 . . vi 3 est dZ

= 5 + 20 U 04,99 . . U2,

d u

sed hinc retinendum est nihil nisi = 5 -f- u u ; ubi per u u ea om-

d u

nia designavi, quae pendent ab u; eaque aliqua ex parte cognoscemus

ex binis Ulis valoribus iam inventis. Quibus ut aecommodetur u u , po- nendum

i(<.o,05;- = 0,8583

,»-0,i;- = 1,4964 unde log fi -(- X log 0,05 = 1 0,8583 et log fi -\- '/. log 0,1 = 1 1,4964

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. - 2

[40] , 11,4964 10,8583

itaque /.= —- -, =0,80104

lo,i —log 0,05

et /i = 9,4840 ut fiat |^=5 + 9,484 u°-8oi94

et integrando Z = 5 u -J- 5,2632 u I>8oI94

Confirmantur hoc calculo, quae dixi de exponentibus. In seeundo seriei termino omnia erant nimia, atque hanc ob causam terminus tertius nimiam attulit correctionem, quae nunc non est metuenda.

Procedendi via iam est aperta; sed cautio quaedam adhibenda, ne calculi ambages fiant longiores. Si poneremus u = 0,4 aut =0,5, termi- nus 9,484 u°' 8oi94 computandus esset per log 9,484-1-0,80194111, et 0,80194 lu denuo per 1 0,80194 -\- log 1 u; atque cum eiusmodi calculus saepe sit repetendus (plures enim eiusmodi termini adsunt et prodibunt), haec ratio descendendi ad logarithmos logarithmorum, plurimum incommodi esset allatura. Itaque cum in arbitrio positum sit, quosnam valores veli- mus tribuere ipsi u, eligamus tales, ut eorum logarithmi fiant simplicissimi. Sit u = 0,316228, cuius logarithmus est = 0,5 1 = ; statim appa-

ret, 0,80194 lu esse = 0,40097; atque hac ratione calculi quantum superest facillime expedietur.

Ex C— = 5 + 9.484 °'8°194, posito u = 0,3 16228, fit %- = 8,7716; du du

atque Z = 5 u -|- 5,2632 u1,80194 dat Z = 2,24303. Sed ex aequatione proposita

312,5 - 187,5 (1 -u)4 == dZ ioou 10Z-I-25 du

adhibito valore ipsius Z modo invento prodit - == 7,9408; atque [41]

facile perspicitur, hunc valorem multo propius illo superiore ad veritatem acce- dere, quoniam parum afficitur errore, qui in determinando Z potuit committi. Eadem ratione pro u = 0,398 107, cuius logarithmus est =0,6 1 = 0,4,

d Z

habebitur - = 9,5313; et Z = 2,99163; sed hoc valore ipsius Z intro-

dZ dueto in aequationem propositam invenitur - 8,2504. Jam quaeratur,

. . d Z

quantum mtersit inter valores mventos ipsius .

8,77 16 9.5313 7,9408 et 8,2504

0,8308 1,2809

Ponatur —- = 5.4- 9,484 u°'8oi94 _ ,/ u^'; Crit d u

/<'. 0,316228^ =0,8308

u . 0,398107'- =1,2809

ja IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

unde ?/ = 1,8802; et ^'=7,2376

\Z = 5 + 9,484 u°'8oi94 _ 7,2376 u1'8802 d u

et integrando Z = 5 u -f- 5,2632 uI,8oi94 2,5129 a2'8802

Sed ultimi termini modo inventi egent correctione, eamque ipsi prae- bebunt; certiores eirim nos faciunt de valoribus ipsius Z antea adhibitis,

, dZ .

ubi ex aequatione quaerebamus - . Repetito calculo primus quotiens dif-

ferentialis erit =7,7345; alter =7,8519; atque nunc

8,7719 9,5313

7,7345 et 7,8519 1,0371 1,6794

[42] unde X' rectius =2,0933; ,"'=II,546

^ = 5 -f 9,484 u°'8oi94 _ 1 1,546 u2'°933 Z = 5 u + 5,2632 uI'8oi94 _ 3,7325 u3,0933

Idem correctionis genus denuo potest adhiberi, verum id fieri minime est necesse. Procedamus ponendo u = 0,794328, cuius numeri logarith-

dZ mus est =0,9 1= 0,1; erit - =5,7549, et Z = 5,6166; sed

hoc valore ipsius Z introducto in aequationem prodibit = 6,4746.

d u

Tandem ponatur u = 1 ; habebitur - = -,978; Z = 6,5307; quo valore

dZ substituto, aequatio praebet - = 5,2352. Quaerantur düferentiae valo-

d u

rum inventorum.

6,4746 5,2352

5,7549 et 2,978

0,7197 2,2572

r\ 7

Patet, ad inventum addendum esse terminum formae u" u ; eumque,

d u

ut supra, accommodandum valoribus suscipiendis 0,7197 et 2,2572. Peracto

calculo reperietur

~ = 5 + 9,484 u°'80I(M _ , I)546 u2'°933 _|_ 2,257 u4,9638 d u

Z = 5 u + 5,2632 uI'8oi94 _ 3,7325 u3,0933 + 0,37845 u*^ Huic seriei nihil amplius est addendum; nam perventum est ad maximum valorem u = 1 , ultra quem u = 1 e ^ I non potest extendi. Coeffi- cientes decrescunt; exponentes vero tarn cito assurgunt, ut ultimo termino turbari non possint valores prius inventi pro minoribus u; tertius tarnen terminus aliquantum erroris affert, si u = o,i vel paullo maius aut minus;

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. y c

sed eiusmodi valores deter[43]minandi sunt aut ex solis duobus terminis pri- mis, aut ex ipsa serie primitiva; itaque correctione, alioquin satis expedita, non est opus.

Prima negotii parte confecta, sequitur, ut pro singulis valoribus in- ventis ad veritatem quouspue quis velit appropinquemus.

Proposita aequatione huius formae

r

m d u + n (i u) ^ d u = p u d Z -- q Z d Z -f- r d Z

u + Li (i u)^J

integrando et constantem addendo prodit m u - - u p

= P/udZ- |qZ^ + rZ

d Z r _, n d Z

invento 3 mvenin potest Au d Z ; quoniam autem nostrum non om- d u du

nino recte se habet, ponatur pro certo quodam valore ipsius u, p/"u d Z

= f -f- v, et simul Z = g -\- \v. Sit etiam

m u -j- n ß, Li ( 1 u) ^ J = M: erit

M = f + v ~ q g2 q g w -i- q w2 -f r g -j- r w

et M -f -i- q g2 r g f = v -f [r q g) w ^- q W2

Valores f et g functionum p_/u d Z et Z sibi invicem respondent; qua- mobrem etiam variationes ipsarum sibi respondeant necesse est. Quae variationes cum sint v et w, eaeque satis parvae, si prior calculus bene successerit: possumus uti hac proportione; dZ : p'u d Z = w : v, sive v =

p u w. Neglecto qw2, erit

M+^qg2-rg~f

w

p u -|- r q g

quo invento, supputandum qw2, et numeratori addendum, atque divi-

dendum denuo. Repeti etiam potest tota haec correctio, positis f -\- v = f ', et g -(- w =

o-

o

dZ r In exemplo nostro ex invento fit

d u

/u d Z = 2,5 u2 + 3,3848 u2'8oi94 _ 2,8207 u4>°933 _|_ 0,3241 1 u6'9638 [44] Habuimus autem pro u = 1 *, Z = 6,9091 ; idque nunc est = g; porro f= 338,82; M 275; hinc reperitur w = 0,038098; et post additum

numeratori qw2 fit \v = 0,038228; unde Z correctius = 6,947328. Sie repeti placet correctionem , inveniemus INI -\- -^- q g'2 = 516,327, et

* In subtiliori calculo non pro u = 1 quaerenda statim erit haec correctio, sed ad- da ad terminos fi u seriei inventae pr< dem ratione, quam exposui, possunt inveniri.

- A 7

hibenda ad terminos fi u seriei inventae pro ; quorum etiam plures, si placet, ea-

d u

76 IV. De attentionis mensura causisque primams. 1822.

r g -\- f' = 516,326; tota autem correctio redibit ad ; ubi notan-

55526

dum, in toto calculo nie non Septem, sed tan tum quinque logarithmomm

notis decimalibus usum esse.

Peracto calculo, paullo accuratius inspiciamus, quid consecuti simus;

et conferamus haec cum superioribus.

Posito ß = -j-, primo (6, versus finem) fecimus tt = , s 0= 1,875;

inde exstitit functio Z describens curvam concavam; differentiae enim se- cundae seniper erant negativae. Deinde fecimus 77=1; s 0=1,9; ita parum mutatis constantibus evenit, ut Z non solum abiret in curvam convexam, sed etiam pro u = o, 1 modum omnino excederet, et percep- tionem vix inceptam exstingueret. Nunc servavimus et /?==—, et n = 1 ; temperavimus autem s o, ut esset = 1 ; hinc orta est functio Z descri- bens curvam primo quidem convexam, sed puncto inflexionis praeditam (fere pro u = 0,4 ; nisi calculus crassior nie fefellit), atque abeuntem in con- cavam, ita quidem ut primus quotiens differentialis paene idem sit in fine, qui fuit statim ab initio. Videmus, in eiusmodi casibus periculum instare, ne punctum inflexionis nimis prope accedat ad eam lineam rectam, quam describit z = 1 o u, hac enim linea tacta, evanescit z Z, sive rumpitur perceptio: sed eo periculo superato, multo melius procedit nova notio for- manda, quam initio sperandum videbatur. Quaeri potest, quantum s o sit sumendum, ut punctum [45] inflexionis cadat in lineam rectam ipsius z = 10 u; putabam, me hinc non longe ab futurum esse, si ponerem s o=,i,5; servatis reliquis constantibus; verum instituto calculo reperi, scindi lineam rectam a functione Z statim post u = 0,5.

Tanta curvarum varietate reperta in exigua constantium mutatione, maiores ipsius ß valores quid sint effecturi, nunc perscrutemur. Certum est, aucta perceptionis intensitate notionem inde orientem minus iacturae passuram esse; sed quum hanc ob rem etiam primus quotiens differentialis necessario adtenuetur, miruni videri potest, quod indicat formula, eum pro u == 1 in infmitum abire! Manifestum est, pro ß > 1 fieri

1

1

(i-u)/*

(I— u) ?

atque hoc = pro u = 1 ; unde procul dubio pro eodem u.

o

m -+-n(i u)^ dZ

= cc

pu qZ-fr du

Ut totam rem cognoscerem, posui ß = 5, s 0=1. n =s i- ex Z = A u -f- B u2 -j- C u3 -f- D u- -j- . . . coefficientibus determinatis factum est Z = 0,2 u -f 0,688 u2 1,1316 u3 -f 5,S5 . . u4 . . . Hinc pro u = 0,1, Z = 0,026; pro u =. 0,2; Z = 0,064; deinde determinato fi u}; calculo prorsus eadem ratione confecto, ut supra ostendi, deductus ' sum ad series sequentes:

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. yy

r\ 7

= 0,2 -f- 0,85789 u°'8~338 _|_ 2)22o8 u4,6566 _|_ I5j7976 u3°'681

Z = 0,2 u -f- 0,45794 ^'^338 _|_ 0,39261 U5'6S66 _|_ 0,49865 u^1'681 ubi notandum, utriusque seriei terminum tertium inventum esse posito 11 = 0,501187, cuius logarithmus est = 0,3; et u = 0,398107 cuius logarithmus = 0,4; quartus autem terminus cum non pos[4Ö]set quaeri ex u = i, usus sum valoribus u = 0,954992 et u = 0,977237, quorum loga- rithmi sunt = 0,02 et 0,01. Pro u = 0,977 . . . inventum est Z = 1,219; quamquam autem u iam proximum est limiti, quem transcen- dere nequit, magna tarnen adhuc sequitur mutatio; quod ut intelligatur,

respiciendum est ad tempus. Habemus u = 1 e— $ ; haec autem quantitas citissime fere ad summum, quo perduci potest, fastigium extol- litur; et pro u = 0,977 est t = 0,76 . . . neque mirum, sequenti tempore, incremento fere nullo accedente ad u, augeri pressionem, ut aequilibrium, notione nova magnopere turbatum, possit restitui. Quam rem calculo, quan- tum opus est, satis commode sie persequemur. Seimus, u fere ad quan- titatem constantem esse redactum, eiusque limites facillime posse assignari; itaque nihil obstat, quo minus ipsi certum tribuamus valorem. Numeris m et n rite determinatis, erit aequatio nostra pro u = 0,9 7 7 2..

_±_

62,5 d u -j- 67,5 (1 u) 5 du= 122,7 d z 10 Z d Z

1

unde 62,5 u 337,5 (1 u ) 5 = 122,7 Z 5 Z2 + Const. Quoniam Z= 1,219 Pr0 u = °>977-- erit Const. = 361,656

Hinc pro u = 1 inveni Z = 2,745 . . . Si calculum aecuratius institui placet, non tarn cito properandum erit ad u = 1 , sed pro valore paullo minori correctionis genus supra demonstratum adhibeatur necesse est, ut inveniatur numerus constans ipsi u tribuendus, qui minore errore usque ad u = 1 possit revera pro constante haberi. Sed operae non est pre- tium; satis iam perspieimus, augeri Z, neque tarnen magis quam fuit ex- speetandum.

Nolo morari in aliis valoribus tw s a pro eodem ß tribuendis; quanta enim vis sit in pressione initiali, superiori satis demonstrarunt.

[47] Alioloco* casum ß = } et facilem et satis memorabilem, fusius

explieui. Notandum est praeeipue, pro s 0 = 3,125 et 71 = 0,78125 funetionem Z abire in lineam reetam, sive esse perpetuo = A u ; sunt etiam alii earundem quantitatum valores, quibus sumtis idem aeeidit. Posito 71 = 0,78125 tantum potest pressio initialis, ut pro s 0 = 3,125, Z eve- hatur usque ad 6,25 pro u= 1, sed posito s n = o, Z consistat in valore = 2,y. Cuius casus eam potissimum ob causam feci mentionem, quod addenda sunt pauca de altero limite, quem dixi hunc nostrum calcu- lum non posse attingere, multoque minus transire. Etenim ubi primum

exposui aequationem ; ; = d Z (6, II), locutus sum de limitibus quan-

cx + c

Königsberger Archiv, Heft III.

/8 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

titatis x, quorum alter est z, alter, veritati longe propior, z Z; atque ostendi, illum primum tum potissimum respiciendum esse, ubi pressio, ab initio minor, deiiiceps augeatur, quod videmus fieri, si s 0 = o, ut tota

pressio pendeat a contrarietate n. Integrationem formulae > proce-

cxfc

O f

dere posito e = x secundum regulas calculi integralis notissimas, loco

citato monstravi, et res per se satis est manifesta; itaque hie tantum appo- nam valorem inventum pro ß =s } s -0 = 0, n = 0,78125, u = 1; reperi enim Z = 2,334: alter autem calculus, quem hie ubique secuti sumus, praebuit Z = 2,7. Neque tarnen putandum est, verum valorem adeo incertum relinqui, ut fluetuare possit inter 2,3 et 2,7; fac enim, Z esse = 2,334; sequitur, vim pressioni resistentem, sive x, reduci fere ad z 2>334 (scilicet pro u = 1), itaque x = z falsa erat hypothesis falsumque ipsum Z = 2,334, ex hac hypothesi profectum; multo autem rectius x = z Z sive z 2,j; quoniam ex x = z Z inventum est Z = 2,7. Quodsi hoc casu, ubi errare maxime potuimus, parum [48] erroris adesse videmus: colli- gere licet, in reliquis calculum nostrum veritati satis fore consentaneum. Denique, ne quid omissum videatur, minuamus quantitatem contra- rietatis n; inveniemus id, quod exspeetandum est, notionem rezentem, etsi initio impedimentis laborantem, procedente tarnen tempore liberius cres- centem. Sit ß = ~-, s 0 = 2, sed n = ; prodit calculo iam exposito

dZ 1,824 . 2,753

^- = 4 3.6 u -f- 3,3545 u 0,8149 u

2,824 3-753

Z==4u 1,8 u2 -j- 1,1878 u 0,2171 u

Vel fi == -i-, s— 0 = 3, n =~; hinc

dZ 2,11714 3,08

T- *^ O 5,6 U -f- 3,4102 U 0,487 U

^r a 0,1 3>II7I4 4.08

Z = 6u 2,8 u2 -f- 1,904 u J * 0,119 u

Utrumque exemplum ita comparatum est, ut terniinus seeundus sit

subtrahendus a primo, unde patet, pressionem statim ab initio relaxari.

Contrarium observari potuit in exemplis superioribus, ubi terminus seeundus

erat positivus.

8.

Cum in calculo peragendo plurimum negotii valores numeri ß facessant, vereri forsitan aliquis poterit, ne difficultatum moles magnopere augeatur, si ille numerus sit permagnus vel admodum parvus; quocirca hanc rem arbitror non omnino silentio esse praetereundam.

I. Sit ß numerus magnus. Brevissimo tempore u = 1 e * proxime accedet ad unitatem; hoc autem tempore Z erit admodum exi-

guum. Si calculum placebit institui, notandum erit, 1 propemodum

reduci ad 1 ; ut loco aequationis

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. 79

1

[49] _L

m + n(i— u) <* dZ . mdu . ndu

'— = scnbi possit -4 -—. r =az,.

pu qZ-fr du puZ r +■ (p r)u— pu*

Quomodo pergendum sit, postquam u valorem fere constantem sit asse-

cutum, iam supra docui.

Sed calculo vix opus esse videtur. Omnia enim eodem fere modo

se habebunt, ac si totum robur notionis recentis subito exstitisset, atque

sine ullo temporis decursu accessisset ad eas notiones, quae iam antea

animo observabantur. Quod ubi fit, calculo longe simpliciori est utendum,

quem hie non curo, quoniam nimis est a proposito alienus. Quae enim

fortissima pereeptione mentem percutiunt, ea non pertinent ad excitandam

attentionem, sed ad terrorem iniieiendum.

1 II. Sit ß numerus admodum parvus. Sequitur, esse permagnuni,

1 1

et (1 u) <* evanescere pro u adhuc parvo. Quamobrem hie, sicut

in priore casu, zalculus dilabitur in duas partes; quarum prima ita est comparata, ut u pro constante possit haberi, altera id praebet commodi,

1 1

quod evanescente termino n ( 1 u) ^ res redit ad idem illud inte-

grale finitum, cuius explicationem dedi statim ab initio (6, in fine). Itaque loco aequationis

1

m

+ n(i u) ^ dZ .

= - , pnmo habetur

pu qZ-f-r du

1

mdu-J-n(i u) ^ du = dZ (Const q Z)

deinde m'du = p'u'dZ q'Z'dZ -f- r'dZ, ubi quantitates m', p', u, Z', r', invenientur facto u = e -\- u et Z === r\ -\- Z .

In utraque formula nihil est difficultatis ; atque iam patebit, valores ipsius ß parvos aut magnos non augere calculi molestiam, [50] sed minuere et levare. Cavendum tarnen erit, ne propter quantitates neglectas nimius exöriatur error; peraeta igitur prima calculi parte, adhibeatur illud correc- tionis genus, quo supra usus surn (7), ubi quaesito integrali

M -f -i-qg2_rg f

AidZ posui : = ">■

J pu + r— qg

Ut satis commode inveniatur /u d Z, habeatur necesse est Z = Au -f-Bu2-f-... ad hanc autem formam obtinendam plerumque^ sufficiet, inventis duobus ipsius Z valoribus y et = d, pro = u et = u , pom

;- = Au'-f Bu'2 et <) = A u" -j- B u"2

Versabitur enim calculus in quantitatibus admodum parvis; unde plura for- tasse orientur commoda; sed ea mihi non magnopere curanda putavi,

So ^ De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

quoniam totius rei summam satis mihi videor explicuisse in antece- dentibus.

Quod matheseos proprium est munus et donum praeclarissimum, ut ex cogitationum temere vagantium nebulis nos eripiat, distinctarumque notionum lumen accendat: hoc tantum beneficium etiam in res psycho- logicas posse redundare, attentionis exemplo iam in eo sumus ut demon- stremus. Satis enim cognitis quatuor attentionis causis primariis, duabus positivis, qi et ß, duabas negativis, s o et n, certam nunc constituemus attentionis mensuram.

Attentio procul dubio est quantitas; potest enim augeri et minui. Itaque ponamus hanc quantitatem =X; patet fore Xdt incrementum notionis, ad quam dirigitur attentio, in tempusculo dt. Revocanda hie in memoriam sunt ea, quae tradidi supra (5), ubi dixi, attentum vocari eum, qui sit mente ita dispositus, ut eius notiones incremen ti aliquid capere possint.

[51] Idem autem incrementum est d (z Z); itaque d (z Z) = X d t,

d(z— Z) et a = ; quae est attentionis mensura, sive ipsa attentio, qua-

tenus ut quantitas speetatur.

Sepositis igitur omnibus causis seeundariis, quibus effici solet, ut

quantitates q, ß, s o, n, quas hie pro constantibus habemus, reddantur

variabiles; nihil superest negotii, nisi ut evolvatur quotiens differentialis modo

propositus.

^ . , , dZ dZ dZ du

Calculo determmavimus - ; est autem = . , et propter 10 u

du dt du dt 1

= z,

fit

10 du =

d z;

hinc

d (z dt

Z)

10 d

u

dZ du du' dt

du

~~~ dt

(IO-

dZ\ "du/

dt

Porro

U :

= 1 e

-£t

du =

ße~

-"«

unde

d

(z-Z) dt

= tu

-ßt

(,o

du/

= ,^(1

-u)

(IO-

dZ\ 'du)

Primo adspectu patet, fore, ut attentio statim ab initio decrescat

propter factorem e ' , nisi alter factor (10 ) contrario motu satis

\ du/

celeri progrediatur. Quanto maius fuerit ß, tanto maior primo temporis

puncto erit attentio, sed ea lege, ut quanto maior fuerit, tanto citius

decrescat. Perceptiones vehementiores fortem quidem excitabunt atten-

tionem, sed talem, quae aufugiat rapidissimo cursu.

Uberius nunc exponam exemplum illud satis memorabile, quo usus

sum in calculo explicando, ubi vidimus, funetionem Z describere lineam

puncto infiexionis praeditam; ut intelligatur, qualis in einsmodi casibus

exstitura sit attentio.

Caput Secundum. De attentionis causis primariis. ß I

Erat in illo exemplo ß = , s o = 1,71 = 1, et

dZ 0,80194 2,0933 4.9638

^ = ,5 + 0,4^4^ —11,54611 +2,25711

[52] Invenietur inde

dZ

pro u = 0,1, = 6,49, Attentio = 0,63

0,2 7,22 0,45

°'3 7>69 0,32

0,4 7>Ö7 0,26

0,5 7.82 0,22

0,6 7,53 0,198

°>7 7.05 0,177

0,8 6,45 0,14

0,9 5,79 0,08

1 5>23 o

Ubi notandum, primo temporis initio attentionem fuisse = 1, celeriterque esse diminutam, antequam functio Z tenderet versus punctum inflexionis. Sed inde ab u = 0,4 usque fere ad u = 0,7 videmus illam lentius decres-

cere; quod ut ad temporis decursum reducatur, apponam has temporis determinationes ;

pro 11 = 0,4, t== 2,55

o,5 3,46

0,6 4,58

JLt

Cetera satis patent ex ipsa aequatione u = 1 e 5 . Longe aliter res

se habebit, si u = 1 e - ; habuimus posito ß = 5, s a = 1, n = 1,

dZ .00 °'87338 1 o ^6566 30,68

= 0,2+0,0578911 + 2,2208 u +15,7911

du

itaque attentionis factor 1 u citissime decrescit, et alter factor

dZ dZ

10 = —*- prorsus evanescit, ubi - = 10, quod eventurum est tempore du du

finito. Atque hoc multo latius patet; scimus enim, si ß > 1, [53] semper fieri

dZ , „. dZ

-- = ZG pro u= 1, unde intelligitur fore = 10 tempore quodam

du du

finito; idque tempus necessario finis erit attentionis.

Reliquum est, ut exemplum adferam attentionis initio paullulum

crescentis. Inventum est posito ß = —, s 0 = 3, tt

1 T

dZ 2,11714 3,08

T— = 6 5.6 u + 3.4 102 u 0,487 11

unde pro u ■= o, attentio = 2

0,1 2,04

0,2 2,002

0,3 1,89

etc. etc.

Herbari's Werke. V. 1

g2 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

Facile perspicitur, attentionis fovendae vim maximam esse in valoribus minoribus ipsius n, id est, contrarietatis notionum; ultimum enim exem-

plum eo potissimum difiert a superioribus, quod posuimus n =— . IMe-

mores autem semper simus necesse est, omnem adhuc usque fuisse quaestionem de una eademque perceptione per aliquod temporis spatium perseverante sine ulla mutatione; quid enim sit causae, cur variatio delectet, hac ipsa disquisitione sumus edocti, scilicet quoniam fieri nullo modo potest, ut attentio stabilis et immota in una re simplici diutius haereat defixa.

[54] Caput tertium.

De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis

primariis reddi nequit.

10.

Omnis theoria comparanda est cum experientia; quod in rebus psycho- logicis ita quidem fieri, ut certörum numerorum instituatur comparatio, rarissime potest*; functionum autem natura satis apparet in phaenomenorum vestigiis, si modo theoria fuerit satis completa. Expositis igitur attentionis causis primariis, ulterius quomodo sit progrediendum, paucis adhuc indi- candum est; quoniam experientia nostra miscet causas primarias cum secun- dariis. Sunt autem omnes causae pro secundariis habendae, quibus fit, ut variis modis mutentur Mae primariae.

In experientiam nostram tota illa atque integra notionum producen- darum facultas vel potius possibi/i/as (verbo utor minus latino, ne foveam errorem pessimum de facultatibus certis animo insitis), nunquam potent cadere; sive, ut signa mathematica repetam, quantitas q abit in q. z non sua lege, sed minuitur etiam notionibus reproductis, quoniam nulla perceptio simplex nobis adeo est nova, cuius non aliquid ex priore tempore menti inhaereat.

Deinde solemus esse in duplici fluxu tum cogitationum tum percep- tionum; ut quantitates s n et >t, perpetuis sint mutationibus obnoxiae.

Quae inde sequantur, exponi non possunt, nisi prius cognitis repro- ductionis legibus.

[55] Omni pressione subita sublata, notionem oppressam qualemcunque emersuram esse, iam supra dixi (4, D). Ponamus hanc notionem = H ; elapso tempore t reproducta sit eius quantitas = h; nisus, quo haec notio mutat statum suum, insequenti tempusculo dt erit H h," itaque repro- ducetur (H h) d t, idque erit = d h. Ex aequatione

* Potest tarnen fieri in re musica ; ut docui iam pridem in Königsbcrger Archiv für Philosophie etc. Heft IL (s. Bd. III, S. 97 ft". vorl. Ausgabe.) eaque disquisitio lectoribus hie in memoriam est revocanda.

Caput tertium. De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis etc. 8^

(H— h) dt = dh

dh

sive dt =

H h

H sequitur t = log

H h

et h = H (i e_t)

prorsus eadem ratione, ut vidimus residere iacturam faciendam (4, in fine)- Verumtamen pressio nee subito, nee omnis umquam tollitur; sed levatur accedente nova pereeptione homogenea, iisdem notionibus, quibus illa oppressa tenebatur, contraria et repugnante. Itaque reproduetio non prorsus sequitur illam legem simplicem modo expositam, sed aliam magis compositam; cuius formam ut quodam modo intelligant lectores, animad- vertänt necesse est, aueta pereeptione recente sensim plus spatii sive liber- tatis dari notioni emergenti; ut liberiori nisu possit statum suum mutare. Inde fit, ut ab exiguis profeeta initiis magna tarnen celeritate augeatur reproduetio: expressa enim per seriem procedentem seeundum dignitates temporis, hanc induit formam:

at3 -|_bt4 -j- . . .

ut appareat, eam statim post initium propemodum proportionem cubi tem- poris servare.

Est etiam aliud reproduetionis genus, ortum a mutuo eoniunetarum notionum auxilio; cuius leges calculi ope determinatae tanti [56] sunt momenti, ut totam psychologiam novo lumine collustrent; quas alio loco sum expositurus.

1 1.

Notio qualiscunque, anteriore tempore menti informata, si cum Omni- bus aliis, quibuscum est coniuneta, oppressa et obruta iacet, idque non mechanicis tantum sed etiam staticis legibus; nihil potest in definiencli» praesenti animi statu: itaque facultati sive possibilitati, eiusdem generis notionem pereeptione nova denuo coneipiendi, nihil omnino praeripiet. Restaurata est igitur tota haec quantitas, quam designare litera q> consue- vimus. Oborta autem pereeptione homogenea, protinus ineipit reproduetio ; quae cum augeatur magna celeritate (10), quantitas q> citissime deminuitur; idque tanto magis est futurum, quanto saepius eiusmodi pereeptiones iam praecesserunt, quoniam omnes olim coneeptae notionis homogeneae partes simul reprodueuntur.

Observamus, res quotidiano usu familiäres nobis faetas nullam fere attentionem excitare. Versamur in domo, in platea, oecurrunt nobis res plurimae notissimae; sed earum adspectu minime movemur; persequimur cogitationes eas, puibus eramus oecupati. Ubi vero aliquid ineidit novi, statim oculi intenduntur, aures arriguntur, cogitationes turbantur et quasi disiieiuntur. Quod fieri minime posset, nisi ea adesset dicriminis ratio, quam exposuimus. Attentio fugata reproduetione, redux et praesens cernitur eodem temporis puncto, quo ab hoc hoste non premitur.

6*

84 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

Ut tarnen semper adversetur attentioni reproductio , tantum abest, ut potius saepe sociae sint et amicae coniunctissimae. Res aliqua ex parte iam cognitae multo melius et firmius percipiuntur, quam plane novae et a consuetudine abhorrentes. Ratio est in promtu. Obest primo rerum novarum contrarietas n; sunt enim [57] oppositae consuetis; deinde continua perceptionum sive etiam cogitationum novarum series sibi ipsa repugnat, magnumque involvit s a, si tertia et quarta perceptio accedit aequilibrio nondum constituto inter priores. In consuetis alia res est; quibus homo- genea nova ubi accedunt, sensim illis adiunguntur quarum ad aequilibrium iamiam erat perventum.

Audimus vernaculo sermone saepe hanc querimomam: res novas et antea inauditas non posse comprehendi, earumque cogitationem aegre eo adduci, ut consistat. (Wir können das nicht begreifen, flicht verstehen.) Quod tametsi intellectui magis quam attentioni soleat vitio verti, revera magnam partem redit ad molestiam in conatu attendendi exortam ob defectum aequilibrii. Sane non est mirum, aegre comprehendi notiones, quibus adversi aliquid vel revera inest, vel ob cogitationes perperam annexas inesse putatur; fluctuant enim varia reproductionum excitata mobilitate, quae priusquam requiescat, consistere non possunt. Multo magis mirandum, saepissime homines sibi placere in opinione rerum, ut putant, praeclare exploratarum, quas si recte perspexissent, omnino ne cogitari quidem posse intellexissent; cuius generis esse omnes experientiae formas universales, priusquam correctione metaphysica sint subactae, alio löco docui*. Quae res tanto compluribus viris doctis fuit miraculo, ut ipsi in opinionum somniis mallent persistere, quam ad genuinam philosophiam criticam exper- gisci. Ne tarnen in nimiam hoc loco delabamur admirationem, cautum est in superioribus. Ademta enim molestia aequilibrii in notionibus consti- tuendi, ademtus est sensus contradictionum; atqui in vulgaris experientiae formis, prima infantia conceptis, aequilibrium certe nequit deesse; ut vel ex hac sola ratione intelligatur, quanta vis sit consuetudinis in occultandis veris theoreticae philosophiae principiis.

[58] Turbato animi aequilibrio per cogitationum reproductarum de- cursum, impediri attention ein, satis est manifestum. Distingui tarnen possunt duo attentionis genera, quorum alterum continetur aequilibrio, alterum requirit animi motum vel adeo perturbationem. Sunt sane quaedam volup- tatum illecebrae, nee non doloris et irae incitamenta, quibus mente prorsus quieta non fere attendimus, etsi multo plus habeant imperii in eos, quorum iam in eam partem declinatus est animus. Hinc ädmonemur, posse talem esse cogitationum reproductarum seriem et continuationem, ut conspiret cum serie quadam perceptionum ; idque seetantur omnes et oratores et poetae et magistri, ubi docilem reddere attentionem cupiunt. Sentiunt enim, magni sua interesse, ut minime ipsis resistat auditorum animus, sed sua sponte in eam partem vergat, in quam ipsi ducere velint. Itaque nunquam longins deflecti eos oportet ab exspeetatione nostra, nee immiscere eius- modi aliquid, quod possit a re alienum videri; aliquant ulum tarnen deci-

* Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, vierter Abschnitt, (s. Bd. IV vorl. Ausgabe.)

Caput tertium. De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis etc. 85

pere exspectationem solent, ut novitati consulant; sed ea cautione, ne rum- patur cogitationum filum, quod ubi semel acciderit, operam perdiderunt. Maxime autem ridiculi sunt, qui coelum et terram et Acheronta moventes et miscentes, nihil proficiunt; quoniam nee praesenserunt, quamnam in partem secuturus sit lectoris animus, nee intelligunt, imaginum diversissi- marum notiones temere cumulatas, ipsius contrarietatis mole et pondere necessario ita corruere, ut praeter taedium nihil relinquatur.

12.

m

De voluntatis potestate in attentionem quaerentibus, duplex parata ex superioribus est responsio. Primo enim vim habet voluntas agendi in illas causas attentionis primarias; deinde alio impulsu agit in reproduc- tionem, ut per hoc quasi medium tendat versus eundem finem.

[59] In causam primam q voluntatis imperium est nulluni; ut per se patet. Alteram, ß, saepissime mutamus pro arbitrio, per actiones externas, sensus manusque vel etiam res obieetas vel admovendo vel retrahendo, ut per- ceptiones fiant vel fortiores vel remissiores. Actione autem interna po- tissimum nobis subiieimus causam tertiam s rr; eaque actio eultiori vitae atque honestati et virtuti maxime est propria. Sapientis esse, animum servare liberum a perturbationibus, omnes norunt; itaque quatenus homines sapiunt, omni opera et diligentia enituntur, ut quam proxime semper accedant ad mentis aequilibrium. Tendit eodem omnis fere cura, qua mens ut sit sana in corpore sano, studemus efficere. Ubi notandum, prudentium voluntatem saepe suecurrere imbecillitati aliorum; attentio enim vi et minis, vel etiam preeibus et exhortationibus, solet excitari ; qua ratione liberi quidem animorum motus, artibus excolendis apti, ad eftectum nun perdueuntur (quos etiam in nobismet ipsis voluntati non parere seimus); sed proterva petulantia effrenataeque libidines hoc modo coercentur; et ad sanitatem revocantur.

Quarta causa primaria n non ita quidem pendet a voluntate, ut nunc cum maxime possimus pro arbitrio pereeptionum recentium et notio- num iam dudum menti insitarum contrarietatem et contentionem vel minuere vel augere: sed tota forma voluntatis, quem charaetcrem hominis vocare solemus, res novas vel repudiat vel adsciscit; atque ita maximam in attentionem vim exercet.

Reproductio quomodo dirigatur voluntate, res est a nostro proposito aliena; sed quomodoeunque id fiat, transeat effectus necesse est in atten- tionem, quam seimus multis modis affici a reproduetione. Quamobrem etiam voluntatis in ipsam voluntatem imperium huc pertinet, minime quidem absolutum, nee miraculum, neque tarnen omnino negandum. Sed sentiant velim Tectores, plurima esse in psychologia quae nesciant, quorumque cog- noscendorum l nulla [00] umquam sit spes, nisi tractentur simili ratione qua usus sum in altero huius libelli capite, ubi primarias quidem atten- tionis causas in lucem satis mihi videor protraxisse.

1 quarumque cognoscendarum O (Druckfehler.)

86 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

Absoluta hac scriptione, cum iam in eo essem, ut typis excudendam dimitterem, feliciter mihi contigit, ut collega aestumatissimus Bessel, astro- nomus celeberrimus , ad me visendum veniret: quocum in eiusmodi s-ermones deductus sum, ut ei quid nuperrime egerim, narrare, et aequa-

1

m d u -J- n ( 1 u) P du

tionem dZ = - proponere non dubitarem.

pu qZ + r

Summum virum, cui nihil in mathesi est arduum, si- adirem, magna me posse molestia liberari, iamdudum intellexeram ; sed fuerat verecundia, ne ipsius otium circulusque turbarem; periclitari etiam volebam, quid meis viribus possem. Re cognita, illius tarn insignis fuit humanitas, ut statim de aequatione se meditaturum polliceretur ; aliquot autem diebus elapsis, de eo, quod invenisset, per literas his verbis certiorem me faceret:

Vo?i so verschiedenen Seiten ich Ihr Differential auch anzusehen be- „müht gewesen bin, so hat sich mir doch keifte zeigen wollen -weiche „seine Integration gäbe. Ich habe es verschiedene Male vorgenommen „und wieder liegen lassen, in der Zwischenzeit aber nie meine Gedanken ,, davon entfernt; alles ist fruchtlos gewesen] und am Ende bin ich fast ..überzeugt worden, dafs nur eine successive und ganz kunstlose Näherung ..zum Ziele führen kann. ,,Ich meine dies so, dafs man das Integral, ..durch die Reihe

Z = a s + , j s 2 + y s 3 + . . .

„von u = k bis u = k + s sucht, wo s so klein genommen werden ,,mufs, dafs die höhern Glieder verschwinden, und ivo die Coefficienten „aus den Gleichungen [61]

25-I5 (l-k)4= «(2 + Sk-^Z')

+ 60(1— k)3 =2/?(2 + 8k -Z') + a(8—±u) -9o(i-k)*=3y(2 + 8k-^-Z')+^(8— £-«)— J«Ä

|-6o (i-k) =4<S(2 + 8k- i-z') +37(8- i-«)-i-i2-

5

-15 = 5* (2 + 8k-fZ0 + 4*(8-f«)-fy/?-f/Sy-f«<>

„abgeleitet werden. Der Wer/h Z', von Z, ist bekannt, dadurch dafs „man von k=o anfängt, und bis k + s = 0, 1 fortgeht; dann von ,,k = o, I bis k + s, so eveil es gehl, u. s. w. -wodurch man, 'wenn ..man nur die Rechnung flicht scheitet, Jede beliebige Genauigkeit er- klangen kann.'1

Lectores ne haereant in numeris, quibus cel. Bessel est usus, dicendum mihi est, illum respexisse ad aequationem supra (7) propositam

312,5 du 187,5 (J u)4du = (ioou ioZ + 25)dZ, quae multiplicata per abit in hanc formam :

25 du 15 ( 1 u)-* du = (8 u 0,8 Z + 2) d Z

Captit tertium. De iis attentionis phaenomenis, quoram ratio ex causis etc. 87

Methodus tradita non toto genere mihi differre videtur ab illa, quam exposueram loco saepius commemorato {Königsberger Archiv Heft III), ubi scripsi:

„Man setze 1 e = u, und

Z==Au-f- Bu2 +Cu3 -f-Du+ -f. ...

,,Aas dieser Reihe suche man für irgend ein hinreichend kleines t den Werth von Z mit der Genauigkeit die man verlangt. Alsdann setze man iveiter

m e = v, und

Z = A' + B'y + C'y 2 + D'y 4 -f . . . 1 „Hier ist m eine noch unbestimmte Grösse, der man zu zuiederhohlten Malen einen andern und andern Werth beylegen wird. Man habe nämlich vorhin für ein Heines t den Werth Z = u gefunden [62] so berechne mau aus demselben t

auch e , und setze dieses = m, folglich y = o, und daher A' = Z = «.

Nun werden sich B', C', D', und so weiter, auf gewohnte Weise bestimmen lassen; die Reihe wird für etwas grössere t, als die er st er e gestaltete,'1 brauch- bar sej'n, und man wird, sobald es nöthig ist, das nämliche Verfahren er- neuern können."

Cum ab ill. Bessel rem suseeptam et serio traetatam viderem, tem- perare mihi non potui, quin novis preeibus instarem, ut de methodo, quam in hoc commentario exposui, iudicium ferret. Postridie bene mane chartis, quas miseram, mihi relatis, repulsam me tulisse putabam; legens autem epistolam adiunetam vix sanis oculis uti mihi \idebar. Vir gra- vissimis observationibus et ealculis semper ineumbens, unde se distrahi aegerrime pati solet, non ea tantum perlegerat, de quibus ut iudicaret petieram, sed numerorum etiam meo calculo inventorum veritatem explora- turus, ipse molestissimam rationem perfecerat: ut viginti numeros, qui sunt

totidem valores ipsius Z et , possim illiüs beneficio cum lectoribus

du

communicare! Ita huius viri et benevolentiam et assiduitatem aequari

perspexi egregiae in rebus adversis fortitudini (quam ante aliquot annos

cognoveram, cum laesus rabiosi canis morsu putaretur, miserrimaeque

mortis imagine et acris medicinae doloribus asperrimis simul exeruciaretur) ;

quantum autem polleat sagacitate et acumine, meum non est praedicare,

cum in mathematicorum prineipibus iamdiu ab universo orbe literato

habeatur.

Numeri, ab ipso methodo illa, quam praeeeperat, inventi, hie

sequuntur.

[63] u = o, Z:

0,1 0,2

o,3 0,4

dZ

0,

du

=

0,5810

1.2755 2,0293

2,8070

6,4914 7>3096 7,7068 7,8038

1 Z =-- Au -f- Bus + Cu* 4- . . . . SW.

2 gestattete SW.

88 IV. De attentionis mensura causisque primariis. 1822.

dZ

u = o, Z = o, = 5,

du

0,5 3.5828 7,6787

0,6 4,3376 7,3925

o,7 5,°579 7,0007

o,8 5-7359 6,5531

0,9 6,3680 6,0888

1 6,9541 5,6347

Investigavit etiam punctum inflexionis, eiusque locum assignavit esse u = 0,3901.

Instituta comparatione primo meum calculum in. eo reprehendere debeo, quod statim ab initio non satis curae adhibuerim in determinandis coefficientibus seriei divergentis primitivae

Z = 5u-j- iou2 21,66 . . u3 -j- 49,16 . . . u4 ... haue enim solam ob rationem fieri potuit, ut neglecto termino quinto et

sexto invenirem pro u = 0,1, Z = 0,5832, et = 6,4964; cum ratio

du

dZ

celeberrimi Bessel pronuntiaverit esse Z = 0,5810 et = 6,4914.

du

Sed eo magis mirum est, meum calculum in fine, pro u = I, ubi necessario est omnium errorum congeries, non longius aberasse; inveni enim Z = 6,947 . . . quod parum differt a = 6,954 . . . Itaque vitium non methodo, qua usus sum, videtur inhaerere, sed esse in numeris, quos nullo fere negotio potuissem aecuratius exhibere. Ceterum patet, eiusmodi vitia usum psychologicum minime turbare: [64] res autem secus se haberet, si punctum inflexionis me latuisset; quod melius, quam arbitrabar, est inventum.

Monuit tarnen cel. Bessel, methodum meam non tarn late patere, ut constantium valoribus quibuseunque sufriciat. Qua in re speetandus

1

m + n ( r u) ^

est denominator fractioms propositae ; augetur enim

p u -j- r q Z

error commissus in determinando Z per coeffieientem q; meusque calculus

totus everteretur, si fieri posset, ut esset q Z > p u -j- r. Respiciant autem

lectores ad supra dieta (6, II), ubi reperient, eiusmodi casus vix fingi

posse : nulla certe adest ratio, cur ponamus, a, b, q , esse fractiones genuinas.

Variae tarnen admitti debent rationes qZ : (pu-f-r), ea, qua usus sum,

aliae magis, aliae minus commodae; quocirca in eligendis valoribus ipsius

u interdum tardius erit procedendum, terminorumque /< u numerus eiugendus.

Alio monito vir excellentissimus notavit proportionem dZ :pudZ = w : v ; atque censuit esse v = p u w -j- p/ö Z . d u, ut fd Z . d u omnes complectatur errores inde ab u = o commissus in valoribus funetionis Z determinandis. Verum observavit ipse iudex aequissimus, idem fere iam

dictum esse in annotatione mea, de correctione singulis terminis /tu adhibendis.

Caput tertium. De iis attentionis phaenomenis, quorum ratio ex causis etc. 8o

Adiecit quaedam de methodo mea, significans eam et novam et casibus non rarissimis esse applieandam; quae an amicitiae magis quam ipsi1 rei sint tribuenda, videant alii.

Quicquid sit, confirmato iam animo, atque in mathematicis rebus explanandis, viribus meis paullo minus diffisus, pergam ad altiora in psycho- logia, cum primum expoliendis iis, quae dudum [65] paravi manus admo- vere per otium licuerit. Nihil enim curo, nisi ut intelligantur, quae dico; nihil autem habeo, quod doceam mathematicos, nisi rem unicam: esse ali- quam provinciam, ad hucusque ab iis intactam (ne ditam iis incognitam), quae tarnen ad matheseos ditionem aliqua ex parte pertineat, et sine eius auxilio nullo modo recte possit exeoli. Hanc rem, philosophis nostri temporis miram, incredibilem, abominandam, mathematicis tarn dilucide exponi posse spero, ut eam sibi suscipiendam esse putent. Quod ubi eftecero, officio functus mihi videbor; nara sat scio, errorum latebras maxime reconditas novo veritatis sole iri collustratum.

1 ipsae O.

V. UEBER DIE

MOEGLICHKEIT und NOTHWENDIGKEIT,

MATHEMATIK auf PSYCHOLOGIE

ANZUWENDEN.

Vorgelesen in der Königlichen Deutschen Gesellschaft, am 18. April

1822.

[Text nach SW VII, S. 129—172.]

Citirte Ausgaben.

KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II, S. 417 458), herausgegeben von G. Hartenstein-.

Vorwort.

[131] Es trifft sich zuweilen, dafs leicht hingeworfene Aufsätze glück- licher sind im Publicum, als gründliche Abhandlungen, besonders wenn es darauf ankommt, von neuen Theorien die ersten Grundbegriffe bekannter und geläufiger zu machen. Auf solches Gerathewohl hin lasse ich diese Blätter abdrucken, deren Haupttheil in der letzten Sitzung der hiesigen königlichen deutschen Gesellschaft mit gefälliger Aufmerksamkeit angehört wurde. Meine ursprüngliche Absicht war blofs, eine zur wissenschaftlichen Unterhaltung bestimmte Stunde passend auszufüllen; hiedurch fand ich mich in Form und Materie beschränkt. Allein man lieset schneller, als ein mündlicher Vortrag gesprochen wird; um nun den Lesern ebenfalls für eine Stunde Beschäftigung darzubieten, habe ich Anmerkungen hinzu- gefügt; und dies gewährte mir zugleich den Vortheil, mich über Manches ausführlicher äufsern zu können. Unter die Anmerkungen hat der Zufall eine polemische gemischt, die meine allgemeine praktische Philosophie betrifft; ein schon im Jahre 1808 herausgegebenes Buch, das aber noch heute meine Ueberzeugung treulich ausspricht, und das ich eben in dem Maafse deutlicher und vollständiger werde vertheidigen können, wie meine psychologischen Darstellungen weiter vorrücken. Praktische Philosophie und Psychologie stehn in solcher Verbindung, dafs jede von den Fehlern der andern leiden mufs, und beide nur wechselsweise davon können ge- reinigt werden. Zuerst mufs man wissen, dafs die Principien der erstem nicht in Geboten, sondern in willenlosen Urtheilen bestehn; sonst sucht man in der zweiten nach einer gebietenden praktischen Vernunft als einem Grundvermögen der menschlichen Seele, welches die Psychologie nicht nachweisen kann, weil es nicht [132] existirt. Dann mufs man in der Psychologie den menschlichen Geist in seinem Fortschreiten von den niedrigsten bis zu den höhern Stufen gleichsam beobachtet haben; sonst behalten die sittlichen Urtheile, Gefühle, Ueberlegungen, Entschlüsse, Regeln, Grundsätze und Systeme immer etwas Geheimnifsvolles, welches so lange die Ueberzeugung stört und irrt, wie lange man nicht ein jedes von dem Allen an seinem rechten Orte erblickt, wo es sich natürlich bildet, und eben darum sich in seinem wahren Werthe behaupten kann. Kein Wunder, dafs Theologen, die von den wissenschaftlichen Untersuchungen über diese Gegenstände keinen Begriff haben, sich in ängstliche Grübeleien über den Ursprung des Bösen verlieren; wenn sie aber bis zu dem anmaafsenden Klageruf fortschreiten, „unkräftig sei alles, was die Philosophen statt des Christen t hu ms geben," so bleibt nichts übrig, als sie ernstlich zurechtzu- weisen; denn ihre Gespensterfurcht ist nicht blofs ansteckend, sondern sie

Q4 Vorwort.

kann selbst die Quelle von vielem Bösen werden. Indessen sind sie in sofern zu bedauern, als zu ihren andern Träumen auch noch der von Philosophen kommt, die statt des Christenthunis Etwas (ich weiss nicht was) geben wollen; finden sie einen, dem ein solches Projekt im Kopfe steckt, so dürfen sie ihn sicher für einen Phantasten halten; denn als Philosoph würde er ganz andere Geschäfte zu besorgen haben.

Mit der reifsten Ueberzeugung und dem tiefsten Gefühle, dafs gerade dasjenige Geschäft, welchem ich nicht blofs dies Büchlein, sondern seit Jahren meine besten Kräfte gewidmet habe, zu den nothwendi<rsten und dringend- sten gehört, die jemals in der wissenschaftlichen "Welt können unternommen werden, verbinde ich zugleich das, manchmal niederschlagende, Bewufstsein, dafs ich mich glücklich schätzen mufs, wenn ich es nur so weit bringe, anzufangen, was ich Andern zur Vollendung werde überlassen müssen. Und zu meinem grofsen Schmerze sehe ich: unsre Zeit hat zwar Kräfte genug zum Vollbringen, aber diese Kräfte sind zersplittert, statt dafs frühere Jahrhunderte sie wenigstens zuweilen vereinigt sahen. Jetzt sind hier Mathe- matiker, und dort Philosophen; als ob man, ohne beides zugleich zu sein, ein ächter Wahrheitsforscher sein könnte! Unsre heutige Mathematik ist so reich, so ausgedehnt, dafs sie ihren Verehrern nicht Zeit gönnt, noch etwas [133] Anderes zu bedenken. Von unsern philosophischen Schulen hat die eine so viel zu phantasiren, zu combiniren, zu deuten, und zu polemisiren, dafs sie zum Untersuchen nicht kommt; eine andre schwelgt in Gefühlen, und wiegt sich mit Einbildungen von der Nichtigkeit aller Demonstration in einen süfsen Schlaf; eine dritte, freier von Vorurtheilen als jene beiden, ist so ungelenkig, so steif und starr, dafs sie immer das- selbe wiederholt und nie von der Stelle kommt. Unterdessen wächst der Empirismus wie Unkraut; und wo ein Streben nach dem Hohem rege wird, da fehlt die rechte Zucht, und alle Verführung der Schwärmerei findet leichtes Spiel mit Köpfen voll untergeordneter Gedanken.

Man kann das Zeitalter nicht wählen, in dem man leben und wirken möchte; ich gebrauche meine Tage nach Gelegenheit und Kraft, wie Andre das benutzen werden, was ich darbiete, das fällt ihrem Willen und ihrer Verantwortung anheim.

[_ 1 34J Höchstgeehrte Anwesende!

Da uns die königliche deutsche Gesellschaft den bequemsten und schicklichsten Vereinigungspunkt darbietet, um uns von der Richtung unserer wissenschaftlichen Forschungen gegenseitig in Kenntnifs zu setzen : so habe ich geglaubt, für die heutige Sitzung, in welcher mir die Ehre Ihrer ge- neigten Aufmerksamkeit zu Theil wird, von der günstigen Gelegenheit Gebrauch machen, und einen Gegenstand ankündigen zu dürfen, der freilich abstract scheinen mag, der jedoch gewifs von allgemeinem Interesse ist. Sokrates wird von allen Jahrhunderten gelobt, dafs er die Philosophie vom Himmel zur Erde und zu den Menschen herabgerufen habe; wenn er aber heute, wieder erstanden und bekannt mit dem Zustande unserer Wissenschaften, noch einmal zum Himmel hinaufblickte, um von dort etwas Heilsames für die Menschen herunter zu holen , so würde er da oben weit weniger die heutige Philosophie, als die Mathematik, geschäftig, und in ihren Bemühungen mit dem glücklichsten und glänzendsten Erfolge gekrönt finden. Da möchte es ihm denn wohl einfallen zu fragen: „Saget mir, o ihr Vortrefflichen, was ist besser, die Seele oder das Körperliche ? Was ist euch wichtiger, die Nutation der Erdaxe oder das Schwanken eurer Meinungen und Neigungen? Was ist euch nöthiger, die Stabilität des Sonnensvstems oder die Befestigung eurer Grundsätze und Sitten? Wovon leidet ihr mehr, von den Perturbationen der Planeten oder von den Re- volutionen eurer Staaten? Und wenn die Mathematik ein so vortreff- liches Werkzeug eurer Nachforschungen ist, warum versucht ihr denn nicht, es zu brauchen bei dem, was euch das Wichtigste und Nöthigste ist? Oder wenn die Mathematik bei euch im höchsten Ansehen steht, so dafs ihr geneigt seid, sie allen andern Wissenschaften vorzuziehen: warum ver- urtheilt [135] ihr sie denn, entweder solche Gegenstände zu bearbeiten, die euch so ferne stehen, dafs sie noch kaum die Neugierde einiger wenigen Gelehrten reizen können, oder so nahe bei euren gemeinsten sinnlichen Be- dürfnissen und Wünschen, dafs die Beschäftigung damit fast zu der niedrigen Klasse der banausischen Künste herabsinkt?" Wenn Sokrates so fragte: wollten wir ihm etwa antworten, die Mathematik arbeite ja auch in unsern Zeughäusern, und vor den Wällen belagerter Städte? Sie lehre uns, den menschlichen Kunstfleifs nicht blofs zu beleben, sondern auch zu zerstören? So möchten wir doch wohl nicht wagen, uns dem Spotte des bekanntlich sehr ironischen Mannes Preis zu geben. Doch mit welchem Netze von Fragen er uns umstricken, und wie künstlich er uns aus unsern gewohnten Vorstellunesarten heraus winden und ziehen würde: wer möchte es wagen, geehrteste Anwesende, das darzustellen? Wenigstens ich wage

o6 AT. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik aut Psychologie anzuwenden.

es nicht; und um desto weniger, da etwas Anderes mir näher liegt, als die Art, wie sich etwa Sokrates über unsere beschränkte Anwendung der Mathematik wundern würde. Mir ist es nämlich nicht unbekannt geblieben, dafs man sich über meine Versuche, der Mathematik ein Geschäft in der Psychologie zu geben, gewundert hat, und dafs diese Verwunderung ganz kürzlich durch die von mir herausgegebene Abhandlung über das Maafs und die allgemeinsten Bedingungen der Aufmerksamkeit,* von neuem ist angeregt worden. Je geringer nun die Anzahl der Leser eines Aufsatzes sein wird, der eine verwickelte Differentialgleichung behandelt: desto mehr mufs ich darauf gefafst sein, dafs man es dabei lassen werde sich zu wundern, ohne sich genauer um die Sache zu bekümmern. Deshalb habe ich mich entschlossen, einmal in anderer Sprache, als in algebraischen Zeichen, einen kurzen Bericht über mein Unternehmen abzustatten ; ein Unternehmen, dessen erste Anfänge noch in die letzten Monate des acht- zehnten Jahrhunderts fallen, ja dessen Keim ich eigentlich noch früher in der fichte'schen Schule fand (i); und womit ich seitdem, zwar oft und lange unterbrochen, doch ohne je den Faden zu verlieren, beschäftigt war (2), jetzt aber von neuem mit der ernstlichen Absicht beschäftigt bin, nicht eher abzulassen, als bis ich meine Vorarbeit geübtem Mathematikern zur Fort[i3ö]setzung darbieten kann. In dem Bericht über dieses mein Unter- nehmen werde ich die Scheingründe, von denen die vorerwähnte Ver- wunderungherrührt, voranstellen; und erst nach deren Beantwortung hoffe ich geneigtes Gehör für die Nachweisung, dafs Mathematik auf Psychologie anzuwenden möglich, und dafs es nothwendig sei (3). Eine kurze Bemerkung darüber, dafs diese meine Untersuchung sich in der That nicht blofs auf Psy- chologie beschränkt, sondern dafs sie entferntere Beziehungen auf Physiologie und auf die gesammte Naturwissenschaft hat, soll den Beschlufs machen. Der erste von den Scheingründen, die mir entgegenstehen, ist seiner wahren Natur nach nichts anderes, als die alte Gewohnheit; den Worten nach aber lehnt er sich an eine völlig unwahre Behauptung. Man hat nie gehört, dafs die Mathematik anders angewendet sei, als auf Gegen- stände, die entweder selbst räumlich sind, oder sich doch räumlich dar- stellen lassen; z. B. auf Kräfte, die mit gewissen Entfernungen wachsen oder abnehmen, und deren Erfolge man messen oder scharf beobachten kann. Man sieht aber nicht ein, welches Maafsstabes sich Jemand be- dienen könnte, um das Geistige in uns, das Wechselnde in unsern Vor- stellungen, Gefühlen und Begierden, seiner Gröfse nach zu bestimmen und zu vergleichen. Unsre Gedanken sind schneller, wie der Blitz; wie sollten wir ihre Bahn beobachten und verzeichnen? Die menschlichen Launen sind so flüchtig wie der Wind, die Stimmungen so ungewifs wie das AVetter; wer kann hier gegebene Gröfsen finden, die sich unter das Gesetz einer mathematischen Regelmäfsigkeit bringen liefsen? Wo man nun aber nicht messen kann, da kann man auch nicht rechnen; folglich ist es nicht möglich, in psychologischen Untersuchungen, sich der Mathematik zu be- dienen. — So lautet der Svllogismus, welcher sich aus dem Kleben an

* De attentionis mensura caxisisque primariis. Regiomonti 1822 (s. Xo. IV vorl. Bandes).

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, gj

dem Gewohnten und aus einer augenscheinlichen Unwahrheit zusammen- setzt. Es ist nämlich, um beim letzten anzufangen, ganz falsch, dafs man nur da rechnen könne, wo man zuvor gemessen hat. Gerade im Gegen- theil! Jedes hypothetisch angenommene, ja selbst jedes anerkannt unrich- tige Gesetz einer Gröfsenverbindung läfst sich berechnen; und man muß bei tief verborgenen, aber wichtigen Gegenständen sich so lange in Hypo- thesen versuchen, und die Folgen, welche aus denselben fliefsen würden, so genau durch [137] Rechnung untersuchen, bis man findet, welche von den verschiedenen Hypothesen mit der Erfahrung zusammentrifft. So ver- suchten die altem Astronomen excentrische Kreise, und Kepler versuchte die Ellipse, um darauf die Bewegungen der Planeten zurückzuführen, der nämliche verglich die Quadrate der Umlaufszeiten mit den Würfeln der mittlem Entfernungen, ehe er deren Uebereinstimmung fand; desgleichen versuchte Newton, ob eine Gravitation, umgekehrt wie das Quadrat der Entfernung, hinreiche, den Mond in seiner Bahn um die Erde zu erhalten; hätte aber diese Voraussetzung nicht genügt, so würde er eine andre Potenz, etwa den Würfel oder die vierte oder fünfte Potenz der Ent- fernung zum Grunde gelegt, und die Folgen daraus abgeleitet haben, um sie mit den Erfahrungen zu vergleichen. Das eben ist die gröfste Wohl- that der Mathematik, dafs man lange vorher, ehe man hinreichend be- stimmte Erfahrungen besitzt, die Möglichkeiten überschauen kann, in deren Gebiet irgendwo die Wirklichkeit liegen mufs: daher man denn auch sehr unvollkommene Andeutungen der Erfahrung benutzen kann, um sich mindestens von den gröbsten Irrthümern zu befreien. Lange vorher, ehe ein Vorübergehn der Venus vor der Sonne zur Bestimmung der Sonnen- parallaxe diente, suchte man den Augenblick zu treffen, wo der Mond von der Sonne halb erleuchtet ist, um aus gemessenem Abstände beider Himmelskörper die Entfernung der Sonne zu finden. Das war nicht möglich; denn alle unsre Zeitmessung ist aus psychologischen Gründen viel zu grob, als dafs der verlangte Augenblick hätte können genau genug bestimmt werden; allein dennoch gewann man hiedurch die Einsicht, dafs die Sonne ein paar hundert mal so weit zum wenigsten entfernt sein müsse, als der Mond. Dies ist ein sehr einleuchtendes Beispiel, dafs auch eine höchst unvollkommene Gröfsenschätzung, da wo keine scharfe Be- obachtung möglich ist, sehr belehrend werden kann, wenn man sie nur zu benutzen weifs. Und war es etwan nothwendig, für unser Sonnen- system den Maafsttab zu besitzen, um seine Ordnung im allgemeinen kennen zu lernen? War es (dafs ich aus einer andern Gegend ein Bei- spiel nehme) nicht eher möglich, die Gesetze der Bewegung zu erforschen, ehe man die Fallhöhe in der Secunde an einem bestimmten Orte auf der Erde genau kannte? Nichts weniger. Solche Erforschungen der Grund- ?naasse sind an [138] sich sehr schwierig, aber glücklicherweise bilden sie Untersuchungen von eigener Art für sich allein, auf welche die Kenntnifs der wichtigsten Grundgesetze gar nicht nöthig hat zu warten. Einladend freilich ist das Messen zum Rechnen, und jede leicht bemerkliche Regel- mäfsigkeit gewisser Gröfsen ist ein Reiz für die mathematische Unter- suchung. Umgekehrt, je weniger Symmetrie in den Erscheinungen, desto mehr verspätet sich der wissenschaftliche Fleifs. Bewegten sich die Himme^s-

Herbart's Werke. V. 7

g8 "V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

körper in merklich widerstehenden Mitteln, oder wären die Massen nicht so klein gegen die Distanzen, so wäre vielleicht die Astronomie nicht weiter, wie jetzt die Psychologie; und jene würde sich alsdann nicht ein- mal, gleich dieser, wegen des Mangels an Schärfe der Beobachtungen durch die Menge derselben zu entschädigen hoffen können.

Ein zweiter Einwurf soll sich darauf gründen, dafs die Mathematik nur Quantitäten behandelt; die Psychologie aber Zustände und Thätigkeiten von sehr verschiedener Qualität zum Gegenstande hat. Wollte ich diesen Scheingrund ganz ernsthaft widerlegen, so würde ich davon ausgehen, metaphysisch nachzuweisen, dafs die wahren, eigentlichen, ursprünglichen Qualitäten der Wesen uns völlig verborgen, und gar kein Gegenstand irgend einer Untersuchung sind (4); dafs dagegen, wo wir in der ge- meinen Erfahrung Qualitäten wahrzunehmen glauben, der Grund davon oft blofs quantitativ ist; wie z. B. wir ganz verschiedene Töne hören, aus denen sich noch weit mehr verschiedene Consonanzen und Dissonanzen zusammensetzen lassen, während blofs längere oder kürzere Saiten schneller oder langsamer schwingen. Aber so tief will ich mich für jetzt nicht ein- lassen. Denn es liegt mir hier nichts daran, den Satz zu beweisen, dass in der menschlichen Seele gar keine Mannigfaltigkeit ursprünglicher Ver- mögen existirt; das Vorurtheil von innerer qualitativer Vielheit in Einem Wesen mag hier ganz unangefochten bleiben, obgleich es zu den ersten Bedingungen wahrer Erkenntnifs gehört, dafs man sich davon losgerissen habe. Für jetzt genügt es zu sagen, dafs wie viel eingebildete Qualitäten auch Jemand in der Seele unterscheiden möchte, er dennoch nicht ab- läugnen könne, dafs er aufserdem eine unendliche Menge von quantita- tiven Bestimmungen des Geistigen gebe. Unsere Vorstellungen sind stärker, schwächer, klärer, dunkler; ihr Kommen und Gehen ist [139] schneller oder langsamer, ihre Menge in jedem Augenblick gröfser oder kleiner, unsere Empfänglichkeit für Empfindungen, unsere Reizbarkeit für Gefühle und Affecten schwebt unaufhörlich zwischen einem Mehr oder Wenig-er.

o

Diese und unzählige andere Gröfsenbestimmungen, welche bei den geistigen Zuständen augenscheinlich vorkommen, hat man sehr mit Unrecht für Nebenbestimmungen des Wesentlichen gehalten, und dies ist der wahre Grund, weshalb man die strenge Gesetzmäfsigkeit dessen, was in uns vor- geht, nicht entdecken konnte. Dafs die vermeinten Nebenbestimmungen gerade die Hauptsache sind, kann ich hier in der Kürze nur an einem einzigen auffallenden Beispiele deutlich machen. Jedermann kennt den Schlaf; jeder weifs, dafs derselbe in einer Unterdrückung unserer Vor- stellungen besteht, die im tiefen Schlafe vollkommen, im Traume un- vollständig ist. Aber die Wenigsten denken daran, dafs auch selbst während des hellsten Wachens in jedem einzelnen Zeitpuncte uns nur äufserst wenige von unsern Vorstellungen gegenwärtig sind; dahingegen die sämmtlichen übrigen uns gerade so wenig beschäftigen, wie im Schlafe; oder, wie man es bestimmter ausdrücken kann, dafs unsre meisten Vor- , Stellungen latent , und nur wenige jedesmal frei sind. Hier bitte ich, einen Blick in die Physik zu werfen, um sich an die latente und freie Wärme zu erinnern (5). Was war die Physik, bevor man diese gehörig unterschied und in Betracht zog? Gerade das ist heut zu Tage noch

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, qq

die Psychologie. Alle geistigen Zustände und Erzeugnisse hängen zu allererst von der Grundbedingung ab, dafs diese oder jene Vorstellungen in uns wach seien; denn der Schlaf, er sei nun ein totaler oder partialer, hindert Alles, so weit er reicht; oder mit andern Worten: diejenigen Vor- stellungen, welche nach den Gesetzen ihres Gleichgewichts in uns latent sind, wirken für so lange gar nichts im Bewufstsein. Anders verhält es sich mit solchen latenten Vorstellungen, welche nur nach den Gesetzen ihrer Bewegung in diesem unterdrückten Zustande sind; diese wirken sehr stark auf die Gemüthszustände, auf Affecten und Gefühle: doch der Unter- schied zwischen Statik und Mechanik des Geistes läfst sich hier nicht entwickeln (6).

Noch andre Einwürfe gründen sich auf die gangbaren Meinungen von den sogenannten obern Vermögen des Geistes; und ich weifs wohl, ja ich habe es längst erfahren, dafs ich [140] hier gerade an die mäch- tigsten Vorurtheile stofse; an Vorurtheile, die darum unüberwindlich sind, weil man sie nicht ablegen will, und weil man sich gewaltsam sträubt, dasjenige, was ihnen widerspricht, auch nur zu überlegen. Die Haupt- punete sind hier das Genie und die Freiheit. Was ist das Genie? Lassen Sie mich der Kürze wegen durch ein Gleichnifs antworten: das Genie ist ein Planet. Es geht keine gerade Strafse, sondern seine Bahn ist eine krumme Linie; auf dieser steht es zuweilen still, um rückwärts zu wandern; Anfangs langsam, dann geschwind, dann wieder langsam; darauf geht es vorwärts, nun taucht es sich in die Strahlen der Sonne, und durchwandelt mit ihr in Gemeinschaft den Himmel; doch nur kurze Zeit, denn bald wiederum zieht es vor, in dunkeler Nacht zu leuchten, und sich desto gröfser zu zeigen, je vollkommener die Opposition ist, in welche es sich setzt gegen das Gestini des Tages. Diese Worte passen, ich gestehe es, besser auf einen Planeten, als auf das Genie; doch die Aehnlichkeit wird deutlich genug sein. Das Wort Planet bezeichnet einen Irrenden, und wenn man will, mit Rücksicht auf die Träume der Astrologie, einen irrenden Ritter, der recht romantisch auf schreckliche oder liebliche Abenteuer aus- geht; und wie sich's eben trifft, bald Tod und Verderben dräut, bald Heil und Segen bringt. Wer möchte die Kreuz- und Querzüge eines Aben- teurers auf eine feste Regel bringen? Und doch, was ist geschehn? Die irrenden Ritter sind verschwunden wie Gespenster, seitdem die Un- wissenheit ist verdrängt worden von der Wissenschaft. Jetzt richten sich die Planeten nach dem Kalender; und das geht ganz natürlich zu, denn die Kalender haben gelernt, sich nach den Planeten zu richten. Gerade eben so und in demselben Sinne würde sich das Genie nach der Psycho- logie richten, wenn schon jetzt unserer Psychologie so viel wahre Wissen- schaft zum Grunde läge, als unsern Kalendern. Soviel über das Genie, welches zwar seine Regel nicht kennt, aber darum doch nicht abläugnen darf, eine solche zu haben, denn das Nichtwissen ist kein Beweis vom Nichtsein. Aber was soll ich nun von der Freiheit sagen? Zuerst dies, dafs ich in der That müde bin, darüber zu reden. Denn längst habe ich die Gründe der Verwirrung und des Irrthums in diesem Puncte an- gezeigt, und in allerlei Formen dargestellt; ich habe die ursprünglichen Urtheile, aus denen das mo[i4i]ralische Gebot hervorgeht, gesondert und

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I OO V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

jedes einzeln bestimmt; ferner nachgewiesen, dafs diese Urtheile, welche den Unterschied des Löblichen und Schändlichen, des Guten und Bösen festsetzen, nothwendig ganz willenlos, und selbst das vollkommenste Gegen- theil alles Wollens sein müssen, indem sie durch jede Vermischung mit demselben sogleich verfälscht werden, und eine unlautere Gesinnung er- zeugen würden. Von dem Augenblicke an, da mir diese Grundsätze klar wurden, habe ich die vermeintliche Unbegreiflichkeit der Willensfreiheit wie einen Nebel zerfiiefsen gesehen; indem das Würdige und Hohe, was man darin sucht, einen ganz andern Platz hat, das Gemeine und Schlechte aber, was nun von der Freiheit, als Quelle der Möglichkeit des Bösen, noch übrig bleibt, nicht sicherer unter die ihm gebührende Zucht kann gestellt werden, als nachdem man ihm die blendende Larve der Freiheit abge- rissen, und es als eine Afterorganisation erkannt hat, die gleich Molen und Warzen, nach Gesetzen der psychologischen Nothwendigkeit nicht blofs wachsen, sondern auch abnehmen, und unter gegebenen Umständen zerstört oder verhütet werden könne. Was ich hier sage, das trifft in gewissen Puncten zusammen mit den frommen Gefühlen, die den Menschen warnen, in seinem eignen Selbst, (das heifst hier, in seinem Willen,) den Ursprung, oder gar das Gesetz des Guten und Bösen zu suchen; und es besteht vollkommen mit der Zurechnung, die erstlich die That auf den Willen, dann den Willen auf den beharrlichen Charakter der Person zurückführt, ohne über den tiefer liegenden Grund irgend eines Charakters auch nur das Mindeste zu entscheiden, oder darauf irgend eine Rücksicht zu nehmen. Doch alle Schwierigkeiten der Freiheitslehre würden bald verschwinden, wenn man sich nicht von dem Willen, der übrig bleibe, wenn die bekannte Freiheitslehre weggenommen werde, die allerseltsamsten Vorstellungen machte. Wer da sagt: ich kann mir keinen Willen denken, der nicht als solcher schon frei wäre, dem mufs man antworten: behalte die Freiheit, denn in dem Sinne, worin du das Wort nimmst, ist sie wirk- lich vorhanden. Die menschliche Seele ist kein Puppentheater; unsre Wünsche und Entschliefsungen sind keine Marionetten; kein Gaukler steht dahinter, sondern unser wahres eigenes Leben liegt in unserm Wollen, und dieses Leben hat seine Regel nicht aufser sich, sondern in sich; es hat seine [142] eigne, rein geistige, keineswegs aus der Körperwelt entlehnte Regel; aber diese Regel ist in ihm gewifs und fest, und wegen dieser ihrer festen Bestimmtheit hat sie mit dem sonst ganz Fremdartigen, den Ge- setzen des Stofses und Drucks, immer noch mehr Aehnlichkeit, als mit den Wundern der vorgeblich unbegreiflichen Freiheit (7).

Um nun die Möglichkeit, dafs Mathematik auf Psychologie ange- wendet werde, nachweisen zu können : mufs ich zuvörderst die materiale Möglichkeit unterscheiden von der formalen. Jene beruht auf den Gröfsen selbst, die sich dem Psychologen darbieten; diese auf dem Verfahren, welches in der Untersuchung zu befolgen ist. Es scheint mir zweckmäfsig, die Gröfsen selbst einstweilen noch bei Seite zu setzen, und vor allem die Form des Verfahrens etwas näher zu bezeichnen. Ich besorge näm- lich, dafs man sich entweder an ältere verfehlte oder an neuere ganz leichtsinnige Versuche erinnern werde, der Mathematik in der Philosophie theils etwas nachzuahmen, theils mit den Zeichen und Ausdrücken derselben

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, j o I

ein unnützes und fhörichtes Spiel zu treiben; welches beides von dem Gebrauch , der Mathematik, den ich unternommen habe, völlig verschieden ist. An jenen Verkehrtheiten ist, um es mit Einem Worte zu sagen, die Unbekanntschaft mit der wahren Natur der metaphysischen Probleme Schuld, welche die Mathematik aufzulösen so unfähig ist, dafs sie viel- mehr zu allen Zeiten denselben mit grofser Kunst aus dem Wege ge- gangen ist. um nur ja nicht dadurch in Verlegenheit gesetzt zu werden. Wer sich der metaphysischen Untersuchungen mächtig fühlt, der wird in manchen Puncten nachzuholen finden, was die Mathematik geflissentlich versäumt, oder nie zu Ende gebracht hat; wie bei den Parallelen, beim Unendlichen, beim Irrationalen, und bei allem, was mit dem Begriffe der Continuität zusammenhängt. Weit gefehlt, in den eigentlich metaphy- sischen Untersuchungen der Mathematik nachahmen zu können, mufs man hier mit andern Hülfsmitteln und Kräften auch andere Anstrengungen verbinden, und sich andere Uebungen für neue Verfahrungsarten ver- schaffen. Die Mathematik vermag wirklich Nichts aufser dem Gebiet der Gröfsen; bewundernswerth aber ist die Kunst, womit sie sich dieser allent- halben bemächtigt, wo sie sie antrifft. Erinnern wir uns nur gleich der Netze, womit sie Himmel und Erde umsponnen hat; jenes Sy[i43]stems von Linien, die sich auf Azimuth und Höhe, Declination und Rectas- cension, Länge und Breite beziehn: jener Abscissen und Ordinaten, Tan- genten und Normalen, Krümmungskreise und Evoluten; jener trigono- metrischen und logarithmischen Functionen, welche alle im voraus bereit liegen, und nur darauf warten, dafs man sich ihrer bediene. Ueberblickt man diesen Apparat: so sieht man freilich, dafs die Mathematiker keine Zauberer sind, sondern dafs bei ihnen alles natürlich zugeht; man em- pfängt vielmehr den Eindruck wie von einer Menge künstlicher Maschinen; zahlreicher Zeugen einer mannigfaltigen und höchst lebendigen Industrie, die ganz dazu gemacht ist, um wahren und bleibenden Reichthum zu erwerben. Aber was ist nun dieser Apparat? Besteht er aus wirklichen Dingen? Wir wollen uns einzelne Beispiele vergegenwärtigen. Was ist die Himmelskugel? Ist sie ein wirkliches Gewölbe, eine wahre Hohlkugel, auf der man sphärische Dreiecke zeichnen könnte? Nein! sie ist eine nützliche Fiction, ein Hülfsmittel des Denkens, eine bequeme Form der Zusammenfassung aller Gesichtslinien, die zu den Sternen hingehn, und bei denen man blofs ihre Lage, nicht ihre Länge in Betracht zieht. Was ist der Schwerpunct? Ist er wirklich ein Punct in einem Körper? Was der Mittelpunct des Schwungs, sammt den Momenten der Trägheit für willkürlich anzunehmende Umdrehungsaxen ? Warum redet die Statik vom mathematischen Hebel, der in der Natur nicht vorkommt? warum die Mechanik von Bewegungen der Puncte, von einfachen Pendeln, vom Fall geworfener Körper im luftleeren Räume? Warum nicht gleich vom körper- lichen Hebel, von bewegter Materie, und von den Wurflinien in der Atmosphäre? Mit einem Worte, warum bedient sie sich so vieler fingirten Hülfsgröfsen ; warum berechnet sie nicht unmittelbar das, was in der wirk- lichen Welt sich vorfindet und geschieht? Die Antwort liegt schon in der Frage: jene Fictionen sind nämlich wirkliche Hülfen; jene ange- nommenen Gröfsen sind solche, auf welche die wirklichen erst müssen

102 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

zurückgeführt, oder zwischen denen sie müssen eingeschlossen werden, wenn man sich diese letzteren, die wirklichen Gröfsen, entweder genau oder doch annäherungsweise will zugänglich machen. Hier ist nun zwar nichts, was die Psychologie der Mathematik nachahmen könnte; aber desto gewisser bringt die letztere ihr [144] eigentümliches Verfahren allent- halben mit hin, wohin sie selbst kommt. Demnach, in wiefern die geistigen Zustände und Thätigkeiten wirklich von Quantitäten abhängen, in sofern kann man sicher voraussehn, die Berechnung dieser wirklichen Quantitäten werde ebenfalls nur durch Zurückführung derselben auf einfachere, be- quemere Hülfsgröfsen geschehn, zwischen welche jene gleichsam einzu- schalten, oder auch, von welchen sie abhängig zu machen seien, damit man ihnen so nahe als möglich auf die Spur kommen könne. Man mache sich demnach darauf gefafst, nur einen allgemeinen und sehr vereinfachten Typus des Begehrens, und eben so allgemeine Typen gewisser Hauptklassen von Gefühlen, Imaginationen u. dergl. wissenschaftlich nachgewiesen zu sehn; während die individuelle Wirklichkeit sehr sicher ist, sich der mathe- matischen Bestimmung und Begrenzung auf immer entziehen zu können. Nichts wäre lächerlicher, als wenn Jemand fürchten wollte, durch irgend eine Mantik von Zahlen und Buchstaben seiner Geheimnisse beraubt, oder in den verborgenen Regungen seines Herzens beschlichen und belauscht zu werden; in dieser Hinsicht wird die gemeine Weltklugheit immer weit schlauer und furchtbarer sein, als alle Mathematik und Psychologie zu- sammen genommen.

Es ist nun Zeit, die Gröfsen selbst, welche sich der Berechnung dar- bieten, genauer anzugeben. Man mufs vom Einfachsten ausgehn, und beim ersten Anfange noch alle Verbindung der Vorstellungen unter einander bei Seite setzen (8). Alsdann bleiben nur zwei Gröfsen, auf die man Rück- sicht zu nehmen hat : die Stärke jeder einzelnen Vorstellung, und der Grad der Hemmung zivischen je zweien (9). Hier ist schon Stoff genug für die Rechnung, um von zweien ganz allgemeinen psychologischen Phänomenen den ersten Hauptgrund zu entdecken; nämlich erstlich von dem oben er- wähnten Umstände, dafs die allermeisten unserer Vorstellungen in jedem bestimmten Augenblicke latent sind; und zweitens von der eben so merk- würdigen Thatsache, dafs, so lange nicht physiologische Gründe den Zu- stand des Schlafs bewirken, niemals alle Vorstellungen zugleich latent werden, auch niemals alle bis auf eine, sondern dafs stets, während des leib- lichen Wachens, irgend Etwas, und nie etwas ganz Einfaches, sondern etwas einigermaafsen Zusammengesetztes, vorgestellt wird (10). Hier[i45]über würde man sich längst gewundert, und nach der Ursache gefragt haben, wenn nicht das Gewohnte und Alltägliche sich in den Augen der Menschen immer von selbst verstünde.

Die Rechnungen, zu welchen die Stärke jeder einzelnen Vorstellung und der Grad der Hemmung zwischen je zweien Anlafs geben können, sind noch sehr einfach; sie werden aber schon weit verwickelter, wenn man nunmehr auch die dritte Gröfse, den Grad der Verbindung unter den Vorstellungen, in Betracht zieht. Alsdann ändern sich die früher erhaltenen Resultate, und neue kommen hinzu. Ueberdies bietet sich jetzt noch eine vierte Gröfse dar, um in die Rechnung einzugehn, nämlich die Menge der

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 10^

verbundenen Vorstellungen. Besonders merkwürdig aber sind die längern oder kürzeren Vor Stellungsreihen, welche bei unvollkommner Verbindung dann entstehn, wann eine Vorstellung mit der andern, die zweite mit der dritten, diese mit der vierten, und so fort, in gewissem Grade verknüpft sind, während die erste mit der dritten, die zweite mit der vierten, und den folgenden, entweder gar nicht, oder doch wreit schwächer verschmelzen. Solche Vorstellungsreihen sind gleichsam die Fasern oder Fibern, woraus sich gröfsere geistige Organe zusammensetzen; und sie tragen dabei ganz bestimmte Gesetze ihrer Reizbarkeit in sich, auf deren genauere Kenntnifs in der Psychologie eigentlich alles ankommt. Entfernte, aber höchst unzu- längliche Andeutungen davon liegen in dem, was man unter dem Namen der Ideenassociation längst kennt; alles bestimmtere Wissen mufs jedoch von der Rechnung ausgehn; und diese ist von den wichtigsten Folgen nicht blofs für die Theorie des Gedächtnisses, der Phantasie, des Ver- standes, sondern auch für die Lehre von den Gefühlen, Begierden und Affecten. Nichts hindert mich, es unverhohlen zu sagen, dafs hier die Mathematik eine grenzenlose Unwissenheit aufdeckt, in welcher sich die Psychologie bisher befunden hat. Sogar das räumliche und zeitliche Vor- stellen hat hier, nicht aber in vermeinten Grundformen der Sinnlichkeit, seinen Sitz und Ursprung.

In Ansehung schon gebildeter Vorstellungsreihen entstehen ferner neue Quantitätsbestimmungen daraus, ob dieselben von irgend einem Reize in einem oder in mehrern Puncten zugleich getroffen werden; desgleichen, ob sie sich mehr oder minder in einem Zustande der Evolution oder In- volution be[i46]finden; weiter, ob aus diesen Reihen, die ich vorhin Fasern oder Fibern nannte, sich schon gröfsere oder kleinere Gewebe ge- bildet haben, und wie diese Gewebe construirt sind; ein Gegenstand, der zwar bei verschiedenen Menschen, wegen der gemeinschaftlichen Sinnen- welt, in der wir leben, und auf deren Veranlassung sich unsre Vorstel- lungen eben so wohl verknüpfen als erzeugen, grüfstentheils gleichartg sein mufs, doch so, dafs bedeutende Modificationen eintreten, die von dem geistigen Rhythmus jedes Individuums, zufolge seines Nervenbaues und seiner ganzen leiblichen Constitution, abhängen; und andre Modi- ficationen, welche der Erfahrungskreis und die Gewöhnungen des Indi- viduums bestimmen, und welche man durch Erziehung und Unterricht suchen kann zweckmäfsig einzurichten. Dieser letztere Punct mufs be- senders sorgfältig bemerkt werden. Bekanntlich wird die eigentliche Humanität dem Menschen nicht angeboren, sondern angebildet; der ganz wilde Mensch ist nichts als ein Thier, wiewohl ein solches Thier, in wel- chem die Menschheit durch Hülfe der Gesellschaft könnte entwickelt wer- den. Daher hat man schon oft die Hypothese vernommen, ein höheres Wesen müsse sich der ersten Menschen angenommen und sie geistig ver- edelt haben; eine Meinung, die wenigstens nicht so gewaltig gegen die Erfahrung verstöfst, als die von einem allmäligen Herabsinken der Mensch- heit aus einem ursprünglich höhern Zustande in den nachmaligen niedern, statt dafs die ganze Länder- und Völkerkunde uns den ungeselligen Men- schen roh und thierisch, folglich die eigentliche Menschheit von der Ge- sellschaft abhängig zeigt. Dies wird sehr schlecht beachtet von denjenigen

104 v- Ueber d. Möglichkeit u. Xothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

Psychologen, welche Vernunft und innern Sinn, Ueberlegung und Selbst- beschauung für ursprüngliche Vermögen der menschlichen Seele halten; man mufs sie aber damit entschuldigen, dafs sie aus Unkunde in der Mathematik und der davon abhängenden Mechanik des Geistes die Wege nicht errathen können, auf welchen die allmälige Veredelung des mensch- lichen Geistes fortschreitet. So viel indessen läfst sich leicht bemerken, dafs in dem Geiste nicht alle Vorstellungen gleichmäfsig verbunden, und dafs sie in sehr verschiedenem Grade beweglich sind; dafs sie ähnlich den höhern und niedrigem Wolkenschichten in der Atmosphäre, in ver- schiedenen Richtungen theils langsam, theils schneller und flüchtiger um- her[i47]sch\veben; dafs eben deshalb unter diesen verschiedenen Vor- stellungsmassen, bei ihrem mannigfaltigen Zusammentreffen, sich grofsen- theils dieselben Verhältnisse wiederholen müssen, die zwischen neuen An- schauungen und altern dadurch reproducirten Vorstellungen sich erzeugen; dafs es folglich nicht blofs eine äufsere Apperception, sondern auch ein inneres Vernehmen, oder eine Vernunft geben müsse, bei welcher das, was man Ueberlegen und Schliefsen nennt, nur nach vergröfsertem Maafs- stabe denselben Procefs wiederholt, der schon beim Zueignen sinnlicher Empfindung durch Anschauung und Urtheil vollzogen wird. Doch welches ist dieser Procefs? Ich glaube es zu wissen, aber ich kann es hier nicht entwickeln. Nur so viel kann ich sagen: die hohem Thätigkeiten des Geistes können unmöglich nach ihren wahren Gründen und Gesetzen er- forscht werden, so lange man die niedrigem noch nicht kennt, denen sie ähnlich, und von denen sie abhängig sind; wiewohl man nun die mathe- matische Betrachtung schwerlich jemals bis in die obersten Regionen des vernünftigen Denkens und Wollens fortführen wird, so ist dieselbe dennoch als Grundlage der Erkenntniss auch dieser höchsten Gegenstände ganz unentbehrlich, damit wir, wenn die Wahrheit in ihren genauesten Bestim- mungen uns vielleicht verborgen bleibt, wenigstens nicht die Lücken unse- res Wissens, so wie es bisher geschieht, mit groben Irrthümem ausfüllen, und durch unnützen Zank von Partheien, die alle gleich Unrecht haben, uns am Ende die Philosophie selbst verleiden.

Und hier findet sich der Uebergang zu dem letzten Theile meiner Betrachtung. Es ist nicht blofs möglich, sondern nothwendig, dafs Mathe- matik auf Psychologie angewendet werde; der Grund dieser Notwendig- keit liegt, mit einem Worte, darin, dafs sonst dasjenige schlechterdings nicht kann erreicht werden, was durch alle Speculation am Ende gesucht wird; und das ist Ucberzeugung. Die Xothwendigkeit aber, dafs wir den Weg zur festen Ueberzeugung endlich einschlagen, ist um desto dringen- der, je gröfser täglich die Gefahr wird, dafs die Philosophie in Deutsch- land bald in denselben Zustand gerathe, in welchem sie längst in Frank- reich und England sich befindet. Es gehört mit zu der grofsen Ver- blendung der meisten heutigen Philosophen Deutschlands, dafs sie diese Gefahr nicht sehen. Verstünden sie Mathematik, (dazu gehört aber mehr, als einige [148] geometrische Elemente, und allenfalls quadratische Gleichungen zu kennen, oder einmal mit den Zeichen der Differentiale und Integrale gespielt zu haben,) verstünden sie, sage ich, Mathematik: so würden sie wissen, dafs ein unbestimmtes Reden, wobei jeder das

V. Ueberd. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 105

Seinige denkt, und welches eine täglich wachsende Spaltung der Meinungen erzeugt, trotz aller schönen Worte und selbst ungeachtet der Grölse der Gegenstände, doch auf die Länge schlechterdings kein Gleichgewicht be- haupten könne gegen eine Wissenschaft, die durch jedes Wort, was sie ausspricht, wirklich belehrt und erhebt, während sie zugleich nicht etwa durch ungeheure ausgemessene Räume, sondern durch das, alle Be- schreibung übertreffende, Schauspiel des ungeheuersten menschlichen Scharf- sinnes ein nie ermüdendes Staunen für sich gewinnt. Die Mathematik ist die herrschende Wissenschaft unserer Zeit; ihre Eroberungen wachsen täglich, wiewohl ohne Geräusch; wer sie nicht für sich hat, der wird sie dereinst luider sich haben.

Jetzt mufs ich bestimmter angeben, worin der Grund liege, dafs nicht blofs die Mathematik Ueberzeugung in sich trägt, sondern sie auch auf die Gegenstände überträgt, auf die sie angewendet wird. Dieser Grund findet sich zwar zu allererst in der vollkommenen Genauigkeit, womit die mathematischen Elementarbegriffe bestimmt sind; und in dieser Hinsicht mufs jede Wissenschaft ihr eigenes Heil besorgen; keine kann es von der andern leihen oder geschenkt bekommen; die Psychologie eben so wenig von der Mathematik, als die letztere von jener. Aber das ist nicht Alles. Sobald das menschliche Denken sich in langen Schlufsfolgen, oder über- haupt an schwierigen Gegenständen versucht, deren inneres Mannigfaltiges sich gegenseitig verdunkelt: so tritt nicht nur die Gefahr, sondern auch der Verdacht des Irrthums ein; weil man nicht alles Einzelne mit gleich- zeitiger Klarheit überschauen kann, und sich daher am Ende begnügen mufs, daran zu glauben, dafs man Anfangs nichts verfehlt habe. Jeder- mann weifs, wie sehr dieses selbst beim Rechnen, also beim ganz elemen- taren Gebrauche der Mathematik der Fall ist. Niemand wird sich ein- bilden, dafs es damit in den höhern Theilen der Mathematik besser gehe; im Gegentheil, je verwickelter die Rechnung, desto höher steigt, in sehr schneller Progression, die Unsicherheit und der Verdacht verborgener Fehler. Wie macht es nun die Mathe[i49]matik, um dieser, ihr selbst im höchsten Grade beiwohnenden Unbequemlichkeit abzuhelfen? Schärft sie ihre Beweise? Giebt sie wohl gar neue Regeln, wie man die vorigen Regeln anwenden solle? Nichts weniger! Jede einzelne Rechnung, für sich betrachtet, bleibt in dem Zustande einer sehr grolsen Unsicherheit. Aber es giebt ja Rechnungsproben ! Es giebt auf dem Boden der Mathematik zu jedem Puncte hundert verschiedene Wege; und wenn man auf allen hundert Wegen genau dasselbe findet, so überzeugt man sich, den rechten Punct getroffen zu haben. Eine Rechnung ohne Controle ist so viel wie gar keine. Gerade so verhält es sich mit einem jeden einzeln stehenden Beweise in irgend welcher speculativen Wissenschaft; mag er noch so scharfsinnig, mag er noch so vollkommen wahr und richtig sein, er ge- währt doch keine bleibende Ueberzeugung. Wer daher in der Meta- physik, oder in der von ihr abhängenden Psychologie hoffen wollte, seine höchste Sorgfalt in der schärfsten Bestimmung der Begriffe und im folge- rechten Denken, schon durch Ueberzeugung, wohl gar durch allgemein mittheilbare Ueberzeugung belohnt zu sehen : der würde gar sehr ge- täuscht werden. Nicht blofs die Schlüsse müssen sich gegenseitig, im-

IOÖ V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

gezwungen und ohne den leisesten Verdacht der Erschleichung, bestätigen: sondern bei allem, was von Erfahrung ausgeht, oder über Erfahrung urtheilt, mufs die Erfahrung selbst, und zwar in unzähligen speciellen Fällen, das Re- sultat der Speculation genau, und nicht blofs obenhin, bekräftigen. Und jetzt bin ich beinahe am Ziele, denn ich habe nur noch nöthig, auf eine ein- zige Bedingung aufmerksam zu machen, ohne deren Erfüllung Erfahrungen und Theorien gar nicht können mit irgend einer Sicherheit verglichen werden. Alle Erfahrung ist quantitativ bestimmt; und sie ist den gröfsten Veränderungen ausgesetzt, wenn die Gröfsen, von denen sie abhängt, verändert werden. Soll ich dies noch durch Beispiele belegen? Soll ich etwa erinnern an die berühmte Frage der Aerzte : was ein Gift sei? ein Begriff, der bekanntlich deshalb Schwierigkeit macht, weil für unsre Ge- sundheit das Heilsamste im Uebermaafse schädlich, das Schädlichste in rechter Quantität heilbringend wird. Doch wozu mich bei so leichten Gegenständen aufhalten? Dass, was ich zeigen wollte, liegt schon am Tage; nämlich dies, dafs jede Theorie, die man mit der Erfahrung ver- gleichen will, erst soiveit fortgeführt iverden [150] mufs, bis sie die quan- titativen Bestimmungen angenonunen hat, die in der Erfahrung vorkommen oder bei ihr zum Grunde liegen. So lange sie diesen Punct nicht erreicht, schwebt sie in der Luft, ausgesetzt allem Winde des Zweifels, unfähig, sich mit andern, schon bevestigten Ueberzeugungen zu verbinden. Alle quan- titativen Bestimmungen aber sind in der Hand der Mathematik, und man kann daraus sogleich übersehen,' dafs alle Speculation, welche auf Mathe- matik nicht Achtung giebt, sich mit ihr nicht in Gemeinschaft setzt, nicht mit ihrer Hülfe die mannigfaltigen Modificationen unterscheidet, welche durch Veränderung der Gröfsenbestimmungen entstehen müssen, entweder ein leeres Gedankenspiel, oder im besten Falle eine Anstrengung ist, die ihr Ziel nicht erreichen kann. Vielerlei wächst auf dem Boden der Specu- lation, das nicht von Mathematik ausgeht und sich um sie nicht kümmert; und ich bin sehr weit davon entfernt, alles, was solchergestalt wächst, für Unkraut zu erklären; wachsen kann wohl manch edles Gewächs, aber zur letzten Reife gelangen kann keins ohne Mathematik. Selbst über diesen Punct giebt es jedoch eine empirische Art von Ueberzeugung, die sich nicht anders als durch eigne Uebung im Gebrauch der Mathematik er- werben läfst. Man mufs es gleichsam mit Augen gesehen haben, wie die Rechnung Folgerungen aus den vorhandenen Vordersätzen ableitet, die man nicht erwartet, Umstände hervorhebt, an deren Wichtigkeit man nicht gedacht, schiefe Ansichten zerstört, deren man bei aller Behutsamkeit sich doch nicht erwehrt hatte.

Es wird Ihnen, höchstgeehrte Herren, von selbst aufgefallen sein, dafs meine letzte Behauptung sich gar nicht auf Psychologie beschränkt, sondern ganz allgemein alle Speculation trifft; denn überall ist eine mannigfaltige Controle, und überall genaue Vergleichung mit der Erfahrung nöthig. Diese Ueberschreitung meines Gegenstandes würde mir jedoch viell eicht, als hieher nicht gehörig, zum Vorwurfe gereichen, wenn nicht der Gegenstand selbst die Tendenz zur Erweiterung auf die Naturwissen- schaft in sich trüge. Damit dies klar werde, bitte ich die Erinnerung zurückzurufen an diejenigen Gröfsen, welche die Psychologie der Rech-

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 107

nung darbietet. Es waren: Stärke der Vorstellungen, Hemmungsgrund, Innigkeit der Verbindung, Menge der Verbundenen, Länge der Vorstel- lungsreihen, Reizbarkeit derselben an verschiedenen Puncten, das Mehr oder Weniger der Involution oder Evolution, der Verwebung oder Iso- lirung, und, was bei aller geistigen Bewegung sich von selbst versteht, die Geschwindigkeit oder Langsamkeit in der Veränderung der wechseln- den Zustände. Bei allen diesen Gröfsen, an deren vollständiger Auf- zählung hier nichts gelegen ist, kommt das, zuas eigentlich vorgestellt wird, weiter nicht in Betracht, als nur in sofern davon Hemmung und Verbindung unter den Vorstellungen abhängt. Wir können daher gar nicht sagen, dafs Rechnungen dieser Art sich gerade auf Vorstellungen, als solche, ausschliefsend bezögen; im Gegen theil, wenn es andre, innere Zustände irgend welcher Wesen giebt, die theils unter einander entgegengesetzt, theils der Verbindung fähig sind, (dies letztere folgt aber unmittelbar aus der Voraussetzung, sie seien in Einem Wesen,) so passen darauf alle die nämlichen Rechnungen; und es kommt blofs noch auf die Frage an, ob wir Ursache haben, innere Zustände der beschriebenen Art noch in andern Wesen, aufser in uns selbst, anzunehmen. Doch hier, höchstgeehrte Herren, würde ich wirklich Ihre Zeit und Geduld über das mir gestattete Maafs ausdehnen, ich würde selbst bestimmter, als bisher, die verschwiegenen metaphysischen Voraussetzungen meines Vortrags andeuten müssen, wenn ich etwas mehr sagen wollte als dieses : dafs alle organische Reizbarkeit, weit entfernt sich aus blofsen Raumverhältnissen erklären zu lassen, auf innere Zustände, ja selbst auf einen Grad von innerer Ausbildung hin- weiset; und dafs, wenn nicht diese letztere, so doch jene, die innern Zu- stände, schon bei allen chemischen, elektrischen und magnetischen Ver- hältnissen, — und, was dasselbe sagt, bei aller Construction und Con- stitution der Materie müssen vorausgesetzt werden; dergestalt, dafs die Psychologie den Naturwissenschaften überall wird vorangehen müssen, wo- fern es unserm Zeitalter Ernst ist, den letzteren eine feste philosophische Stellung und Gestaltung zu geben.

Anmerkungen.

(i) S. 96. „Ein Unternehmen, dessen Keim ich in der flehte1 sehen Schule fand.'1

Diese Worte sollen nicht so ausgelegt werden, als ob Fichte [152] selbst den Gedanken gefafst hätte, Psychologie als einen Theil der an- gewandten Mathematik zu betrachten. Davon war Er, ein so entschiedener Verfechter der transscendentalen Freiheit, gewifs weit entfernt. Aber Fichte hat mich hauptsächlich durch seine Irrthümer belehrt; und das vermochte er, weil er im vorzüglichen Grade das Streben nach Genauigkeit in der Untersuchung besafs. Mit diesem Streben, und durch dasselbe, wird jeder Lehrer der Philosophie seinen Schülern nützlich werden ; ohne Genauigkeit bildet der Unterricht in der Philosophie nur Phantasten und Thoren.

Fichte machte bekanntlich das Ich zum Gegenstande seiner Forschung ;

Io8 V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

oder mit andern Worten, er suchte nach den Bedingungen des Selbst- bewufstseins. Hiedurch bereicherte er die Philosophie mit einem bis da- hin unbekannten Probleme; denn dasselbe war früherhin sehr wenig be- achtet worden; und Kant, der die Vorstellung Ich für ganz arm und leer an Inhalt erklärte, hatte durch diese falsche Behauptung vollends die Auf- merksamkeit davon abgewendet. Von Fichte, der sich immer von neuem mit diesem Gegenstande beschäftigte, und doch nie damit fertig wurde, lernte ich einsehen, dafs hier eine eben so reiche als tiefe Fundgrube ver- borgen liegen müsse, die aber nur den gröfsten Anstrengungen sich öffnen könne. Das Erste, was sich mir enthüllte, war dies, dafs die Ichheit schlechterdings nichts Primitives und Selbstständiges, sondern das Ab- hängigste und Bedingteste sein müsse, was sich nur irgend denken lasse; und hiemit lag es am Tage, dafs Fichte's Meinungen das vollkommenste Widerspiel der Wahrheit sind; ein lehrreicher Warnungsspiegel für die, welche ihn zu benutzen wissen. Das Zweite, was ich fand, war: dafs die ursprünglichen Vorstellungen eines intelligenten Wesens, wenn sie jemals bis zum Selbstbewufstsein sollen ausgebildet werden, (da sie, wie so eben gesagt, das Ich nicht als ein Fertiges in sich schliefsen können,) entweder alle, oder doch theilweise einander entgegengesetzt sein, und in Folge dieses Gegensatzes einander hemmen müssen; so, dafs die Gehemmten nicht verloren gehen, sondern als Strebungen fortdauern, welche in den Zustand des wirk- lichen Vorstellens von selbst zurückkehren, sobald aus irgend einem Grunde die Hemmung entweder ganz oder doch zum Theil unwirksam wird. Diese Hemmung nun konnte und mufste berechnet werden; und hiemit war es klar, [153] dafs die Psychologie eines mathematischen sowohl als eines metaphysischen Fundaments bedürfe.

(2) S. 96. „womit ich seitdem, zwar oft und lange tmterbrochen, doch ohne je den Faden zu verlieren, beschäftigt war."

Schon in meinen Hauptpuncten der Metaphysik, die im Jahre 1806 zuerst für einen engern Kreis von Bekannten gedruckt wurden, sind die ersten und leichtesten Elemente der Statik des Geistes angegeben. Im Königsberger Archiv (181 1 und 18 12) wurden neue Ausführungen ver- sucht; die erste vollständige mathematisch-psychologische Abhandlung ist jedoch die ganz kürzlich herausgegebene, de altentionis mensura.

(3) S. 96. ,,dafs Mathematik auf Psychologie anzuivejiden möglich, und dafs es nolhzvendig sei."

Der beste Beweis der Möglichkeit pflegt immer der durch die Wirk- lichkeit zu sein; aber man mufs nicht vergessen, dafs bei allen Beweisen auch auf die Personen, denen etwas soll bewiesen werden, sehr viel an- kommt. Im gegenwärtigen Falle werden Personen erfordert, die im Diffe- rentiiren und Integriren geübt sind. Und dies nicht allein: sondern sie müssen auch metaphysische Argumente und Begriffe fassen können, und vor allem: sie müssen sich für Psychologie interessiren. Wo soll ich diese Personen suchen , unter den heutigen Mathematikern ? oder unter den Philosophen?

Das Beste, was ich mir selbst darauf antworten kann, ist dies, dafs doch nicht alle psychologischen Berechnungen so besonders schwer und abschreckend sind. Mag freilich eine Formel wie

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik aut Psychologie anzuwenden, joq

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die Mehrzahl derer, welche von einer Theorie der Aufmerksamkeit wohl etwas hören möchten, wenn es sich mit ihrer Bequemlichkeit vertrüge, zurückschrecken: aber ein so leichter Ausdruck wie

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kann doch wohl kaum demjenigen anstöfsig sein, welcher übrigens wünscht, sich mit dem Unterschiede der latenten von den freien Vorstellungen be- kannt zu machen.

(4) S. 98. „Die zuahren, ursprünglichen Qualitäten der Wesen [154] sind uns völlig verborgen, und gar kern Gegenstand irgend einer Unter- suchung."

Hiemit soll nicht das Bekannte: „ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist," in Schutz genommen werden. Dieser Spruch findet nur darum so viel Beifall, weil er der Faulheit im Denken, einer heutiges Tags epidemischen Krankheit, das Wort redet. Aber das Aeufserste, was wir über die wahren Qualitäten der Wesen bestimmen können, ist dies, dafs jede dieser Qualitäten, einzeln und für sich allein betrachtet, mit Beiseitsetzung aller Relationen, schlechthin einfach, die verschiedenen Qualitäten mehrerer Wesen aber grofsentheils unter einander in conlrärem Gegensatze seien. Wenn diese metaphysischen Sätze der gegenwärtigen Abhandlung als Amulete wider Einmischung des modernen Spinozismus dienen können, so leisten sie hier, was sie sollen; übrigens gehören sie nicht zur Sache.

(5) S. 98. „Latente und freie Wärme."

Bekanntlich verbirgt sich in den Flüssigkeiten, besonders den elasti- schen, eine Menge unfühlbarer Wärme, dafs die höchsten Grade der Hitze entstehn, wenn man neue chemische Verwandtschaften schnell in Wirksam- keit setzt, um jene Flüssigkeiten zu einer Aenderung ihrer Form, das heifst hier, zu einer Verdichtung, zu nöthigen. Allein das Gleichnifs, welches ich von da entlehnt habe, darf nicht zu weit ausgedehnt werden. Die unfühlbare Wärme ist gebunden; und kein Physiker wird ihr ein Streben beilegen, sich von selbst aus dieser Gebundenheit zu befreien: vielmehr sind entgegengesetzte chemische Kräfte nöthig, um sie heraus- zutreiben. Hingegen die Vorstellungen sind verdunkelt, indem sie gehemmt werden, gröfstentheils durch ihren Gegensatz unter einander. Wider diese Gewalt, die sie leiden, streben sie fortwährend zurück in ihren ursprüng- lichen Zustand; und sobald der Druck weicht, erheben sie sich durch dieses ihr Streben von selbst ins Bewufstsein, so weit sie können. Man denke sich vorläufig einmal die Vorstellungen unter dem Bilde elastischer, gegen einander gedrängter Stahlfedern, deren Spannung vom gegenseitigen Drucke abhängt. Wäre ein System von vielen solchen, theils stärkeren, theils schwächeren, und einander theils mehr, theils weniger nahe gerückten Federn vorhanden; und würde bald hier, bald dort eine neue Feder zwischen die übri[i55]gen hineingeklemmt, so würde sich, so oft dies

I IO V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden,

geschähe, der Zustand des Gleichgewichts unter den Federn abändern; auch würde nach jeder Abänderung das ganze System noch lange fort- schwingen. Dies mag das beste Gleichnifs sein, was man aus der Körper- welt entlehnen kann, um das System unsrer Vorstellungen, zu welchem die Erfahrung immer neue hinzufügt, dadurch abzubilden. Aber auch hier darf die Vergleichung nicht zu weit ausgedehnt werden. Die Ungleich- artigkeit des Körperlichen und Geistigen ist bekannt. Für nachdenkende Leser dienen jedoch Gleichnisse eben so sehr durch ihr Unpassendes als durch ihr Treffendes zur Belehrung und Uebung.

(6) S. 99. Unterschied zwischen Statik und Mechanik des Geistes."

Es giebt eine Menge von Leuten, die über Mechanismus sehr geläufig

plaudern, obgleich sie nicht einmal Statik, vielweniger Mechanik studirt

haben. Die Erinnerung daran veranlafst mich, hier etwas tiefer in die

Sache einzugehen.

Statik heifst die Lehre vom Gleichgewichte, Mechanik die Lehre von den Veränderungen, welche dem Gleichgewichte entweder vorhergehfi, ehe es sich bilden kann, oder ihm nachfolgen, wenn es aufgehoben wurde. Bei dem Worte Gleichgeivicht denkt Niemand an Getvichte; die Kräfte und deren Richtungen mögen sein, welche sie wollen; es kommt nur darauf an, ob ihre Wirksamkeit sich dergestalt gegenseitig aufhebt, dafs kein weiterer Erfolg daraus entstehen kann, und dafs der ganze Zustand so bleiben mufs, wie er ist. Eben so wenig ist es nöthig, bei den Worten Statik und Mechanik an die Körperwelt zu denken; blofs der Umstand, dafs die Principien der Körpermechanik leichter zu finden sind, als die mehr verborgenen der Mechanik des Geistes, dieser Umstand ist Schuld, dafs es eher eine Mechanik der ersten als der zweiten Art gegeben hat. Kennten wir noch eine dritte Art von Kräften aufser den körper- lichen und den geistigen: so würde es ganz unstreitig auch dafür eine Statik und Mechanik geben; denn diese beiden Wissenschaften finden überall Platz, wo es ein System von Kräften giebt, die einander entgegen- wirken, so dafs sie einander entweder aufheben oder nicht. Und immer werden die Bedingungen, unter denen sie sich vollkommen am weitern Erfolge hindern, die ersten festen Puncte der Untersuchung darbieten; das heifst, [156] immer wird die Statik vorangehn vor der viel schwerern und weitläuftigern Mechanik; gesetzt auch, es fände sich, dafs das voll- kommene Gleichgewicht eigentlich ein idealer, niemals ganz erreichbarer Zustand sei; wie es bei den geistigen Kräften, laut Zeugnifs der Erfahrung, wirklich ist, und laut Zeugnifs der Rechnung nothwendig sein mufs. Es ist nämlich frerade die immerwährende Bewegung und Beweglichkeit des Geistes, die wir in uns wahrnehmen, und deren Mangel oder Ueber- maafs ein Hauptkennzeichen von Geisteszerrüttung ausmacht, einer der ersten Puncte, worüber die Mathematik Rechenschaft darbietet, und Ein- sicht in die Gründe verschafft.

(7) S. IOO. ,, Wunder der vorgeblich unbegreiflichen Freiheit." Die Wundergläubigen selbst werden vermuthlich einräumen, dafs Wunder die Ausnahme, natürliche Ereignisse aber die Regel bilden. Wie wäre es, wenn sie, um der Bewunderung recht voll zu werden, sich ein- mal entschlössen, erst die Regel, die sie wahrlich noch sehr wenig

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 1 1 1

kennen, aufmerksam zu studiren? Der Contrast würde doch vermuth- lich desto auffallender hervortreten. Dafs aber des Natürlichen in uns, so wie außer uns, weit Mehr geschieht, als des Wunderbaren; dafs auch die grofse Zahl der Menschen, von denen hauptsächlich die Volksmenge im Staate abhängt, uns des Ge?neinen unendlich viel mehr als des Aufser- ordentlichen und des Erhabenen zu schauen giebt, weifs Jedermann. Wüfste nur auch Jedermann, wie viel dazu gehört, um von dem Gemeinen, z. E. vom Fallen der Steine, oder vom Mondwechsel, oder vom Aus- wendigbehalten des Gelernten, oder vom Schreck und vom Zorn, Grund und Ursache anzuheben! Nachdenkenden Menschen ist es be- kanntlich schon oft begegnet, dafs das Gemeine selbst für sie zum Wunder geworden ist.

Doch ich mufs ernster sprechen über den höchst ernsten Gegenstand. Freiheit dies Wort hat Wunder gewirkt; und sie selbst, die Freiheit, sollte kein Wunder sein? So wird Mancher fragen, und sich dabei der Männer, welche grofs waren durch Selbstbeherrschung, mit Achtung, ja mit Ehrfurcht erinnern. Diese Ehrfurcht ist und bleibt gerecht, man mag nun ihren Gegenstand in seiner Tiefe, oder nur oberflächlich erkennen. Aber gegründet ist auch die Furcht vor den Vorurtheilen , die an das Wort Freiheit sich zu hängen pflegen; und jede Gemüthsbewegung, sei sie nun ihrem Gegenstande günstig [157] oder ungünstig, wirkt immer nach- theilig da, wo es auf kaltblütige Untersuchung ankommt.

Als die kantische Lehre von der transscendentalen Freiheit des Willens sich in Deutschland gelten machte: da war die Zeit des ersten Enthusiasmus für die Revolution in Frankreich. Wer jene Zeit erlebt hat, der wird nicht läugnen können, dafs auf die philosophischen Untersuchungen eine politische Stimmung Einflufs hatte, die gar sehr der Unbefangenheit des Nachdenkens zuwider war. Jetzt ist es um nichts besser. Zwar die poli- tischen Meinungen sind gemäfsigter, denn sie gingen durch eine schmerz- liche Schule der Erfahrung; aber den Schutz der wieder erwachten religiösen Stimmung mifsbraucht ein düsterer Geist des Grübelns über ver- alteten Dogmen; ja wenn wir Herrn geheimen Kirchenrath Daub in Heidelberg glauben wollen, der Teufel selbst ist los und spukt, wo nicht in den Gemüthern, so doch in den Köpfen.

Die heidelbergische Theologie hat schon einmal meine Federn in Bewegung gesetzt;1 jetzt eben, da ich dies schreibe, finde ich in den Heidelberger Jahrbüchern der Literatur, Januar 1822, eine persönliche Veranlassung, noch etwas deutlicher zu sprechen, als in meinen Gesprächen über das Böse schon geschehen war. Es heifst daselbst:

„Herbart zeigt, dafs die Moral als Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre „unwirksam sei, und macht zur Grundlage seines Moralsystems den sitt- lichen Geschmack für die eigenthümliche Schönheit der sittlichen Ver- hältnisse des innern Menschen. Allein da der Geschmack des Indivi- duums doch nur der Geschmack seiner Vernunft ist, und Herbart selbst „auch unrichtige Charaktere annimmt, so ist nicht zu sehen, wie dieser „Geschmack zur herrschenden Kraft werde, und man müfste immer wieder

1 Vgl. die „Gespräche über das Böse" im IV. Bande.

112 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

„einen Geschmack an diesem Geschmack und so bis ins Unendliche „voraussetzen, ohne je auf einen lebendigen Grund zu kommen."

Wie vielen Antheil an diesen Worten der, mir nicht näher bekannte, recensirte Verfasser habe, weifs ich nicht; mir ist der Recensent, (ich will ihn nicht nennen, obgleich er sich selbst genannt hat,) verantwortlich, der so Etwas auf meine [158] Kosten abdrucken liefs, ohne es zu verbessern! Da ich die Stelle eben jetzt zu lesen bekomme, so gewinnt sie das zu- fällige Verdienst, mich zu erinnern, dafs ich vergebens über Möglichkeit und Nothwendigkeit einer verbesserten Psychologie schreiben würde, wenn ich unterliefse, zugleich über praktische Philosophie das Nöthige zu sagen, die mit jener in der engsten Gemeinschaft, theils der Wahrheit, theils noch weit mehr des Irrthums steht.

Wenn es wahr ist, dafs ich gezeigt habe, Güter-, Tugend- und Pflichten- lehre sei unwirksam, welches unstreitig so viel heifst als, diese Lehren können nichts wirken, und haben folglich nie etwas gewirkt, so mufs ein böser Dämon sich meiner Person bedient haben, um ein unheilvolles, ent- setzliches Wunder zu vollbringen, wodurch alle die segensreichen Früchte vernichtet sind, welche die stoische Tugendlehre, die kantische Pflichten- lehre, und selbst die Glückseligkeitslehre so vieler edlen Männer von richtigem Ueberblick über das Ganze der menschlichen Natur, theils in alten, theils in neuern Zeiten ganz unstreitig hatte heranreifen lassen. Zu meinem Tröste über eine so schreckliche Verwüstung, die ich in der moralischen Welt angerichtet habe, gereicht es indessen, dafs mein per- sönliches Ich, mein Selbstbewufstsein, ganz frei und rein ist von allem Mitwissen um die That des besagten bösen Dämons; ja sogar mein Buch, meine allgemeine praktische Philosophie, enthält nicht Einen Buchstaben, welcher, mit wachenden Augen und mit Besinnung an den Zusammenhang des Ganzen gelesen, als Mitschuldiger an jener Unthat könnte zur Rechenschaft gezogen werden. Vielmehr bezeugt das Buch schon auf Seite 17, [vgl. Bd. II, 337] (und bis zur siebenzehnten Seite pflegen ja wohl auch diejenigen zu kommen, die zwar nicht die Bücher, aber in den Büchern lesen,) Folgendes deutlich und wörtlich:

„dafs nun die bisher vorhandenen Lehren von Pflichten, Tugenden, „und Gütern, vom Herzen zum Herzen gesprochen, das Bessere in den „Menschen zum Noch-Besseren vielfältig erhöht haben, dies zu ver- kennen sei ferne! Gleichgesinnte Gemüther verstehen einander trotz „dem unrichtigen Ausdruck." Ja vollends S. 270, [Bd. II, 411] nachdem von der Freiheitslehre die Rede gewesen, heifst es daselbst:

„Möchte nun die innere Möglichkeit der Tugend für die [159] Theorie „noch so räthselhaft sein: die gegenwärtige Untersuchung (das heifst: „die praktische Philosophie in ihren Haupttheilen,) ignorirt das Räthsel „ganz und gar.11

Diese Stelle möchte wohl eines Commentars bedürfen, besonders für Leute, die alles durch einander mengen, und von der, dem besonnenen Forscher höchst nöthigen, Fertigkeit, jede Untersuchung in ihre eigenihüm- liche Sphäre einzuschlie/sen, ja die verschiedenartigen Betrachtungen so streng zu sondern, als ob jede für die andre ein Gehehnnifs iväre, keinen Begriff haben.

V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 113

Als ich meine praktische Philosophie schrieb, da wufste ich sehr gut, dafs meine Metaphysik die transscendentale Freiheit verwirft, und dafs in meiner Pädagogik, (denn dahin gehört die Frage,) von den Bedingungen, unter welchen die sittlichen Urtheile wirksam fürs Leben werden, viel- fältig geredet werde. Ich wufste das, aber meine praktische Philosophie durfte es nicht wissen. Nicht ihre Sache war es, der Psychologie vor- greifend, von dem Wirken und wirklichen Geschehen im menschlichen Geiste Lehrsätze aufzustellen. Ausdrücklich bekannte meine praktische Philosophie, dafs sie nur

„über Bilder des möglichen Wollens zu urtheilen, den Willen selbst hingegen, und sein wirkliches Thun ganz ungebunden zu lassen habe.'' Es mag sein, dafs eine solche Beschränkung in den Augen mancher Menschen die praktische Philosophie vernichte. Sie freilich würden es viel besser machen, sie würden den Himmel und die Unterwelt in Be- wegung setzen, um Effect zu machen. Mir liegt am Effect überhaupt wenig, in der praktischen Philosophie vollends beinahe Nichts; aber alles liegt mir an der Wahrheit.

Die Reden von der Tugend, von der Pflicht, von den Gütern, von der Freiheit, von der Erbsünde u. s. w. sind eine wirksame Rhetorik; denn sie fassen das menschliche Gemüth an seinen empfindlichsten Stellen; sie resen die Affecten auf; und sie stiften auf diese Weise viel Gutes und viel Böses. Will man aber wissen, was der wahre und ächte Gehalt aller dieser Reden sei, so müssen die Affecten ruhen, und die Rhetorik mit allen ihren Künsten mufs schweigen. Was vorzuziehn, was zu verwerfen sei, mufs ohne irgend eine Regung des Willens, erkannt werden; so dafs nicht blofs die Schönheit, sondern auch das Häßliche, nicht blofs des inner n, son[iöo]dern auch des in geselliger Gemeinschaft lebenden Menschen, offenbar werde; und zwar ohne im logischen Zirkel schon sitt- liche Verhältnisse vorauszusetzen, die vielmehr als sittlich erst durch die willenlose Beurtheilung selbst bezeichnet und ursprünglich unterschieden werden können. Wer hiebei nicht sein individuelles Begehren, Meinen, und einseitiges Auffassen, durch die Kraft der Selbstbeherrschung, welche die Grundbedingung der Speculation ist, zu unterdrücken vermag; wer nicht versteht, seine Gedanken so zu stellen und zu halten, wie sie durch die ersten leitenden Principien der Untersuchung gefordert werden; wer überhaupt nicht sein objectiv nothwendiges Denken von seinem subjectiven. und insofern zufälligen Gedankenlauf zu unterscheiden geübt ist: der ist nicht reif weder für diese noch für irgend eine Speculation; und er wird sich nicht über seinen individuellen Geschmack erheben. Wer aber gar noch in Frage stellen wollte, ob unrichtige Charaktere anzunehmen seien oder nicht: der würde eine grenzenlose Unwissenheit verrathen; denn die unrichtigen Charaktere sind eine allbekannte Thatsache. Dafs nicht zu sehen sei, wie der sittliche Geschmack zur herrschenden Kraft werde, ist wahr in der praktischen Philosophie; denn in diese Wissenschaft, wenn man nicht schon die Psychologie als bekannt voraussetzen will, gehört die ganze Frage nicht; die praktische Philosophie bringt den sittlichen Ge- schmack zur Sprache; sie sondert und begrenzt die durch ihn erzeugten Begriffe sie selbst ist ein Denken, aber nicht ein Herrschen. Dafs der Hekhakt's Werke. V.

114 ^"- Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit. Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

sittliche Geschmack für sich selbst ein Gegenstand der Beurtheilung wird, ist wahr, insofern er in ein Verhältnifs mit dem Willen eingeht; wer aber diese Wahrheit verstanden hat, der wird hiebei nicht an ein Fort- schreiten ins Unendliche denken, und noch viel weniger die Frage vom Wirken und Herrschen des sittlichen Urtheils dahinein mengen.

Die oben dargelegte Stelle der Heidelberger Jahrbücher steht nicht allein, sondern in der Mitte von Xexiex an Kant, Fichte, Schellixg, Schulze, Bouterwek, Fries und Köppex; der Epilog dazu lautet folgendermaafsen :

„Also unkräftig ist alles, was die Philosoplien statt des Christenthums geben.1'

Man sieht: die Philosophen haben undankbare Schüler; das ist in- dessen nichts Neues, und kein Unglück: der Undank läfst [161] sich ertragen, aber die Mißverständnisse sind ein Unkraut, das man ausraufen mufs, so oft sich Gelegenheit findet. In dieser Hinsicht sind mathematische Dar- stellungen eine treffliche Sache; sie werden entweder verstanden oder nicht; ein Drittes ist bei ihnen kaum denkbar.

Da mir einmal die heidelberger Jahrbücher vor Augen liegen, will ich zum Schlufs noch ein paar Zeilen von Herrn Kirchenrath Paulus daraus abschreiben, die ich zugleich bereit bin zu unterschreiben: „Unendlich und absolut an sich ist geivifs unsre Freiheit nicht. .Dennoch ist sie in Be- ziehung auf die Gewalt der sintilichen Begierde, im besonnenen Zustande, kräftig genug. Wir sind frei, um immer freier zu werden. Es giebt Grade der Freiheit, wie Grade der Einsicht und Vollkommenheit." Das war von jeher meine Lehre, und sie ist es noch heute. Um diese Lehre zu begreifen und begreiflich zu machen, braucht man nicht alte Streit- fragen wieder zu wecken, nicht alte Streitigkeiten wieder zu entzünden, nicht den Fanatismus wieder in Gährung zu versetzen; man braucht nicht die unermefslichen Gefahren über das bürgerliche Leben nochmals herbei- zurufen, von denen die Kirchengeschichte so traurige Kunde giebt. Die- jenigen, die solches thun, sind verantwortlich für die Folgen, und die leere Ausflucht: das hatten wir nicht gedacht, nicht beabsichtigt, kann ihnen nicht zur Entschuldigung gereichen. Sie mufsten wissen, dafs die menschliche Xatur sich zu allen Zeiten gleicht, und dafs furchtbare Ausbrüche des Fanatismus auch in unsern Tagen leider! nicht ohne Beispiel sind. Die Folgen solcher Lehren, wie Herr K. R. Paulus, S. 37 und 38 des er- wähnten Journals, warnend und mit gerechter Besorgnifs, anführt, lassen sich nicht berechnen; wenn aber der theologische Uebermuth, der jetzt die Philosophie urkräftig schilt, auf gerader Bahn fortschseitet, so bereitet er sich selbst eine Zeit der schmerzlichen Reue, wodurch er der ge- schmähten und verachteten eine unverlangte Genugthuung geben wird.

(8) S. 102. „Man muß vom Einfachsten ausgehn, und beim ersten Anfange noch alle Verbindung der Vorstellungen unter einander bei Seile setzen."

Wollte ich dies mit Rücksicht auf die nächstvorhenrehende Anmerkung erläutern: so würde ich auseinandersetzen, dafs man überhaupt die Kunst verstehen müsse, eine Untersuchung anzufangen, und dafs einer der schwersten Theile dieser Kunst [162] darin bestehe, das bei Seite zu

V. Ueber d. Möglichkeit u.Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, i i g

setzen, zvas zum Anfange nicht gehört. Ich würde hinzufügen, dafs die- jenigen Leser philosophischer Schriften, denen es Ernst ist, daraus lernen zu wollen, vor allen Dingen die Sonderung der verschiedenartigen Probleme daraus lernen müssen, damit Licht und Ordnung in ihre Köpfe komme, und ihnen nicht etwa die Ungereimtheit begegne, auf den ersten Seiten einer praktischen Philosophie nach den Bedingungen zu suchen, unter denen moralische Vorstellungen im menschlichen Gemüthe wirksam und kräftig werden können. Die Psychologie ist nun noch ungleich schwerer als die praktische Philosophie; und wer hier die voreiligen Fragen nicht zurückhalten kann, wer nicht Geduld hat, beim Atifange anzufangen, dem mufs man ohne Schonung zurufen : odi profanum vulgus, et areeo.

Es ist nun die Verbindung der Vorstellungen, welche beim Anfange der Psychologie mufs bei Seite gesetzt werden, damit man erst die Wir- kungsart einfacher Vorstellungen kennen lerne. Giebt es denn einfache Vor- stellungen ? So höre ich fragen. Ich antworte, dafs ich beim Anfange der Psychologie diese Frage bei Seite setze, weil erst die Psychologie selbst, in ihrem Fortgange, sie beantworten kann; und weil man, um anfangen zu können, gar nicht nöthig hat darüber zu entscheiden. Die Probleme müssen vereinfacht werden; das ist das Bedürfnifs der Untersuchung; und dies Bedürfnifs mufs man befriedigen, wie weit man sich auch da- durch fürs erste von der Wirklichkeit entfernen möchte ; sonst kommt die Untersuchung nicht in Gang, und wir lernen nichts, sondern bleiben stecken in der alten Finsternifs. Die Frage: giebt es einfache Vor- stellungen? bedeutet für den Psychologen gerade so viel, als für den Mechaniker, der von der Bewegung der Puncte handelt, die Frage: giebt es denn einfache Puncte ? Darauf würde der Mechaniker ohne Zweifel antworten, er verlange einen gelehrigen Schüler, der Geduld habe zu warten, bis der Nutzen und die Anwendung des Vorgetragenen an die Reihe komme.

Allerdings aber mufs man von Anfang an die Länge des Weges einigermaafsen zu schätzen wissen, den man wird zurückzulegen haben. Indem wir mit der Untersuchung über die Wirkungsart einfacher Vorstel- lungen beginnen, stehen wir noch ganz aufser dem Kreise dessen, wovon unser wirkliches Bewufstsein uns die Beispiele darbietet. In uns sind alle Vor[i63]stellungen in unermefslich mannigfaltiger Verbindung, und dieser Umstand ist höchst entscheidend für deren Energie und Wirkungsart. Nur allmälig, und immer mehr, und immer genauer, wie sie weiter fortschreitet, kann die Psychologie uns über dasjenige belehren, was in uns vorgeht. Darüber würde man jedoch dem geübten Mathematiker gar nicht nöthig haben, etwas zu sagen. Dieser weifs sehr gut, dafs in der Astronomie die Erde erst als eine Kugel, dann wie ein Ellipsoid, die Erdbahn erst wie ein Kreis, dann wie eine Ellipse betrachtet wird; und eben so in unzähligen andern Fällen. Die Correctionen kommen nach; aber erst mufs man Umrisse entwerfen, ehe man die Gemälde auszeichnen kann. Niemand tadele hier meine Weitläuftigkeit ; ich habe aus Erfahrung gelernt, wie nöthig sie ist. Irgendwo hatte ich den Satz ausgesprochen, dafs von ztveien Vorstellungen niemals eine die andre ganz unterdrückt , daß hinsesen von dreien Vorstellungen sehr leicht die schwächste durch die beiden

8*

I l6 V. Ueberd. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

stärkeren könne völlig aus dem Bewufstsein verdrängt werden. Dieser Satz gilt von einfachen Vorstellungen, und das war ausdrücklich dabei bemerkt worden. Sollte man für möglich halten, Jemand könne auf den Einfall kommen, zu versuchen, ob wohl von den Vorstellungen dreier Menschen sich der Satz in der Erfahrung bestätigen werde? dergestalt, dafs die Vorstellung eines dieser Menschen in uns unterdrückt werde durch die beiden Vorstellungen der andern Menschen ? Es liegt ja am Tage, dafs die Vorstellung eines jeden Menschen eine ungeheuer vielfache und verwickelte Vorstellung ist ; und dafs wegen der höchst vielfältigen Aehnlichkeit der Menschen unter einander, jede solche Vorstellung die andre vielmehr producirt, als verdrängt! Nichts destoweniger ist ein Psychologe, ein nam- hafter Schriftsteller, mit diesem Einwurfe gegen mich öffentlich aufgetreten. Gewifs haben die Mathematiker, in deren Kreis solche Gedankenlosigkeit niemals kommt, keinen Begriff davon, mit welcher Dreistigkeit sich die unbesonnensten, lächerlichsten Plaudereien einem philosophischen Vortrage in den Weg stellen.

(9) S. 102. „Die Stärke jeder einzelnen Vorstellung, und der Grad der Hemmung zivischen je zweien."

Jetzt komme ich auf einen Punct, den selbst Mathematiker \ielleicht mifsverstehen könnten, wenn sie nicht aufmerksam gemacht würden. Ich meine nicht die Stärke jeder einzelnen [164] Vorstellung; der Unterschied zwischen stärkeren und schwächeren Vorstellungen ist aus der Erfahrung bekannt genug. Aber schwerer zu fassen ist der Begriff vom Gegen satze, oder vom Hemmungsgrade der Vorstellungen.

Wenn man zu dem Mathematiker von entgegengesetzten Kräften spricht: so denkt er sich zunächst solche Kräfte, die, wenn sie gleich stark sind, einander auf Null reduciren. Wollte man dieses auf Vor- stellungen anwenden : so würde der falsche Gedanke herauskommen, als wäre eine Vorstellung das Negative der andern ; so dafs,;awenn ihrer zwei gleich starke auf einander wirkten, sie sich gegenseitig vernichteten, und alles Vorstellen aufhörte. Nun giebt es aber unter Vorstellungen gar kein solches Verhältnils. Keine ist an sich das Negative der andern; jede für sich genommen ist rein positiv, sie ist das Vorstellen ihres Vorgestellten. Zum Beispiel : die Vorstellung Blau ist nicht Minus Roth , und eben so rückwärts : die Vorstellung Roth ist nicht Minus Blau. Daher können sie mit einander auch nicht Null machen. Gleichwohl sind sie entgegen- gesetzt, und zwar dergestalt, dafs ihr Gegensatz das Extrem ist für ein ganzes Continuum schwächerer Gegensätze. Denn zwischen Blau und Roth läuft eine Linie des Violetten in allen seinen Abstufungen. Mischt man Blau und Roth zu gleichen Theilen, so hat man ein Violett, welches dem reinen Blau und dem reinen Roth gleich stark entgegengesetzt i.-t. nämlich halb so stark, als die beiden reinen Farben unter einander. Die Vorstellung eines solchen Violett kann daher zum Beispiele dienen, wenn es darauf ankommt, den Begriff des Hemmungsgrades unter den Vor- stellungen deutlich zu machen.

Wenn nun die Vorstellungen sich nicht vernichten , und doch ent-

l engesetzt sind, so werden sie wohl, möchte Jemand meinen, ein

drittes Mittleres hervorbringen; so wie zwei Kräfte, deren Richtungen

V. Ueber d. Möglickkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, ny

einen Winkel bilden, den Körper, auf den sie wirken, nach der Diagonale treiben. Aber dieses ist eben so falsch wie das Vorige. Die Erfahrung lehrt aufs bestimmteste, dafs die beiden Vorstellungen des Rothen und des Blauen sich in unserm Geiste keineswegs dergestalt mischen, wie die Pigmente im Farbentopfe. Die beiden Vorstellungen gehen nicht zu- sammen in eine Vorstellung des Violetten, sondern sie bleiben völlig rein und gesondert.

Man sieht demnach, dafs hier alle Analogien mit dem, was [165] von räumlich entgegengesetzten Kräften bekannt ist, irre führen würden , und dafs man sich solcher Analogien gänzlich zu enthalten habe.

Böte nun die Erfahrung unmittelbar den Grundbegriff von dem Ge- setze de?- Kraft, womit Vorstellungen einander entgegenwirken, dar: so wäre ohne Zweifel schon seit Jahrhunderten die mathematische Psychologie eine bekannte Wissenschaft; und man würde sie viel früher gefunden haben , als die physische Astronomie ; denn für diese ist das Gesetz der Gravitation auch nicht unmittelbar gegeben; es hat müssen errathen werden, und dies ist spät genug geschehen.

Mittelbar ist indessen die Erfahrung auch für die Psychologie das Erkenntnifsprincip ; aber das Medium der Ableitung ist hier die Meta- physik, welche, vom Begriff des Ich, als dem durchs Bewufstsein unmittel- bar Gegebenen, ausgehend, die Bedingungen erforscht, unter denen allein ein vorstellendes Wesen zur Vorstellung Ich gelangen könne. Da findet sich denn, dafs die ursprünglichen Vorstellungen entgegengesetzt sein müssen, ohne sich zu vernichten, und ohne in ein Mittleres zusammen zu laufen, wie die Erfahrung es bestätigt. Aber es findet sich nun auch der bestimmte Begriff, den man der weiteren Untersuchung zum Grunde legen mufs, nämlich dieser : die unter zwei Vorstellungen entstehende , für beide ganz zufällige, Hemmung ist eine ge?neinsame Last für beide, die nicht gröfser , aber wohl kleiner sein kann, als die schwächste von beiden Vor- stellungen ; diese Last vertheilt sich tinter beide nach dem umgekehrten Ver- hältnisse ihrer Stärke.

Das ist der Begriff, welchen die Metaphysik an die Mathematik ab- liefert, und welchen die letztere so nehmen mufs, wie er gegeben wird. Zum Behuf der Rechnung besitzt der Begriff eine vollkommen zulängliche Bestimmtheit. Will aber der Mathematiker nicht daran glauben, dafs die Metaphysik ihm einen wahren Begriff, angemessen der Natur des mensch- lichen Geistes, darbiete : so steht ihm nun noch frei, den Begriff als eine Hypothese zu betrachten, ihn als solche der Rechnung zum Grunde zu legen; alsdann aber so weit im Calcul fortzuschreiten, bis er auf solche Puncte trifft, wo sich die Erfahrung bestimmt genug vergleichen läfst, um über die Wahrheit oder Falschheit des Princips zu entscheiden.

Man begreift leicht, dafs selbst ein verfehlter Versuch nicht [166] ein vergeblicher sein würde. Denn sobald die Erfahrung erst anfängt eine Theorie zu widerlegen , so beginnt sie auch hiermit schon , einen Wink zu geben, wie man eine bessere Theorie an die Stelle setzen soll. Der Fehler wird irgend eine Gröfse haben; aus mehrern solchen Fehlem werden Verbesserungen entstehen; und wo es darauf ankommt, aus Fehlern die Wahrheit zu finden, da sind die Mathematiker in ihrem Elemente.

1 18 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

Solcher Puncte, wo die Erfahrung im allgemeinen, ohne scharfe Be- stimmung der Quantitäten, mit der Rechnung zusammentrifft, lassen sich manche, und darunter sehr auffallende und bedeutende nachweisen, aber keine Untersuchung, wenigstens von den leichteren, scheint mir geschickter zu dem Zwecke, die Theorie an der Erfahrung zu prüfen, als die über die consonirenden und dissonirenden Intervalle und Accorde in der Musik, Denn hier giebt es bekannte und längst bestimmte Zahlen Verhältnisse; und dieser Gegenstand ist daher für die Psychologie eben so wichtig, als die Lehre vom Pendel, nach Theorie und Erfahrung, zur Bestimmung der Fallhöhe. Daher habe ich vor vielen Jahren schon die psychologischen Gründe der Musik untersucht und bekannt gemacht, aber, wie es scheint, ohne Leser zu finden, die eine solche Untersuchung zu schätzen wufsten. Zu bemerken ist übrigens hier, dafs die Erfahrung doch ziemlich weite Grenzen, nach mathematischer Schätzung, offen läfst, innerhalb deren das, was man die Beobachtungsfehler nennen kann, liegen bleibt; und thöricht genug ist die Meinung, als ob die Musik auf dem Unterschiede ratio- neller und irrationeller Tonverhältnisse beruhete. Kein menschliches Ohr vermag diesen Unterschied so genau zu fassen, dafs man darauf bauen könnte; im Gegentheil, selbst wenn die falschen Töne schon anfangen, das Ohr zu beleidigen, bleibt die Musik dennoch verständlich; und das ist ein Glück; denn vollkommen reine Musik hören wir niemals; und an wahrhaft rationelle Verhältnisse ist in der Wirklichkeit nicht zu denken.

(10) S. 102. „Von der merkwürdigsten ThatsacJie, dafs niemals alle Vorstellungen zugleich latent werden, sondern stets irgend etwas, nie ganz Einfaches, vielmehr einigermafsen Zusammengesetztes, vorgestellt wird."

Diese Stelle kann ohne Rechnung nicht erläutert werden, so wenig wie das darauf Folgende; aber sie veranlafst mich, einige [167] Resultate von Rechnungen herzusetzen. Geübten Mathematikern mag es vielleicht einige Unterhaltung gewähren, sich zu den Zahlen die Formel selbst zu suchen, die sie theils aus dem eben zuvor angegebenen Gesetze, von der Hemmung als einer gemeinsamen Last für die wider einander strebenden Vorstellungen, leicht finden, theils durch Induction aus den gleich folgenden Zahlen eben so leicht errathen können. Minder geübten Rechnern wird hier freilich keine Unterhaltung, aber eine desto nützlichere Gelegenheit, ihr Nachdenken anzustrengen, dargeboten werden; doch kaum darf ich bei einer so leichten Sache von Anstrengung reden. Nur darauf kommt es an, dafs man eine kleine Ueberwindung nicht scheue, um seine Aufmerksamkeit auf die Gröfsenverhältnisse zu richten, die unter Vor- stellungen stattfinden können.

Die allerleichteste und einfachste Voraussetzung, welche man machen kann, ist diese: zwei vollkommen entgegengesetzte Vorstellungen, auf die keine andere Kraft wirkt als eben nur ihr Gegensatz, seien gleich stark. Die Folge wird sein, dafs eine jede zur Hälfte gehemmt, also verdunkelt wird; und dafs von beiden die Hälfte im Bewufstsein gegenwärtig bleibt.

Gesetzt aber, die eine sei doppelt so stark wie die andre: so wird von der stärkeren fünfmal so viel als von der schwächeren, im Bewufst- sein als ein wirkliches Vorstellen übrig bleiben, nachdem die Hemmung geschehen ist. Man konnte wohl schon ohne Rechnung vermuthen, die

V. Ueberd. Möglichkeit u. Nothwendigkeii, Mathematik auf Psychologie anzuwenden, i ig

schwächere würde von der Hemmung am meisten zu leiden haben; aber dafs der Unterschied so grofs ausfalle, wird man Mühe haben zu glauben. Allein man vergleiche diesen Fall mit dem vorigen. Da ist denn zuerst zu bemerken, dafs die gemeinsame Last, oder die Hemmungssumme, welche aus dem Gegensatze der Voi Stellungen entsteht, und welche unter ihnen mufs vertheilt werden, hier nickt im mindesten größer ist als zuvor. Denn es ist zwar eine der Vorstellungen jetzt doppelt so stark, als sie vorhin war; aber eine Vorstellung a//ei'n macht keinen Gegensatz; hätte die Hemmung sich auch verdoppeln sollen, so hätte die andre Vorstellung ebenfalls und um eben so viel stärker werden müssen; dies ist nicht ge- schehn ; also bleibt die Hemmungssumme wie vorhin. Ganz anders steht es um das Verhältnifs, in welchem diese gemeinsame Last vertheilt werden mufs unter beide Vorstellungen, die daran zu tragen haben. Die schwä- [i68]chere mufs sich doppelt so viel gefallen lassen als die stärkere; wir wollen demnach die gemeinsame Last in drei gleiche Theile theilen; zwei davon wollen wir derjenigen Vorstellung auflegen, welche nur einfache Stärke hat; einen Theil aber soll die doppelt so starke Vorstellung über- nehmen. Nun müssen wir uns erinnern, dafs der Ausdruck: eine Last tragen, hier blofs bildlich ist. Eine Vorstellung trägt eine Last, das heifst soviel, als: ihr Vorgestelltes, oder das durch sie uns vorschwebende Bild, wird verdunkelt ; es entsteht ein Verlust, nicht an der Thätigkeit des Vorstellens, sondern am Erfolge, am Vorgestelltwerden. Also: das Vor- stellen verwandelt sich zum Theil in eine vergebliche Anstrengung, vorzu- stellen. Jedoch bleibt einiger Erfolg dieser Anstrengung; sonst würde unter den beiden Vorstellungen wenigstens eine, ganz verdunkelt werden, da sie beide, der Voraussetzung nach, ganz entgegengesetzt sein sollen. Demnach: um unsre Rechnung zu vollenden, müssen wir das, was wir vorhin eine Last nannten, die wir einer Vorstellung auflegen wollten, jetzo als einen Verlust des wirkliehen Vorstellens von ihr abzielm; alsdann ist das Abee- zogene anzusehn als eine völlig vergebliche Anstrengung, und der Rest als ein völlig ungehemmtes, völlig wirkliches Vorstellen; obgleich eigentlich die ganze Vorstellung nicht in zwei Theile, die man einen vom andern abschneiden könnte, zerfällt, sondern nur der Grad des wirklichen Vor- stellens vermindert, und die ganze Vorstellung in einen Zustand der An- strengung oder des Strebens versetzt wird. Wenn wir jetzo die beiden Vorstellungen in Hinsicht ihrer Stärke, ausdrücken durch die Zahlen Eins und Zwei; wenn wir uns überdies erinnern, dafs die Hemmungssumme so grofs ist wie die schwächste der beiden Vorstellungen (da ja der Ueber- schufs der stärkeren über die schwächere, wie vorhin gezeigt, die gemein- same Last oder die Hemmung nicht vermehrt) : so haben wir Zweidrittel abzuziehen von Eins, und ein Drittheil von Zwei. Der Rest vom ersten Abzüge ist nur ein einziges Drittheil, so viel beträgt das wirkliche Vorstellen, was nach der Verdunkelung von der schwächeren Vorstellung

noch übrig ist; aber der Rest vom zweiten Abzüge ist 2 , oder Fünf- drittel; also verhält sich dieser Rest zu jenem wie Fünf zu Eins.

Hätten wir Anfangs die stärkere Vorstellung = 10, die schwächere 1 gesetzt: so wäre die Hemmungssumme auch jetzt [i<>o] noch, wie

1 20 V. Ueber d. Möglichkeit u. Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

vorhin, = i ; diese zerfiele nun in i o -f- i = 1 1 gleiche Theile ; jeder

solche Theil wäre = ; zehn derselben abgezogen von i läfst i =— :

ii ° ° ii ii '

einer der nämlichen Theile hin weggenommen von 10 giebt zum Rest

10 ^-==^; also sind die Reste jetzt sogar im Verhältnifs wie i zu 109.

Man sieht daraus, wie wichtig für den Erfolg die Unterschiede der ur- sprünglichen Stärke der Vorstellungen sind.

Jetzt wollen wir einmal die Hemmungssumme vergrüfsem. Die ur- sprüngliche Stärke der Vorstellungen soll sein Zwei und Drei. Nun ist

die Hemmungssumme = 2; das Hemmungsverhältnifs = : = 2 ; 2. Die Hemmungsumme zerfällt in 2 + 3 = 5 gleiche Theile; jeder dieser Theile ist =— : die stärkere Vorstellung verliert zwei solche Theile; die schwächere deren drei. Es findet sich * = , und 2 =

° 5 5 ' 5 5'

also das Verhältnifs der Reste ist 11:4.

Noch ein paar Beispiele zur Uebung im Rechnen! Die Vorstellungen seien 3 und 5; die Hemmungssumme = 3, das Hemmungsverhältnifs y:y=5:3> aber 5 + 3 = 8, also 8 : 5 = 3 : -g5 , und 8 : 3 = 3 : -|- ;

*s 0 ..„,1 . 9 31

o -g- x und 0 -g- x-

Es seien die Vorstellungen 4 und 5; die Rechnung steht kurz so:

9'Ui 4l?f s-f=f.

Wer nun alle diese Beispiele, die man leicht nach Belieben vermehren kann, in Gedanken zusammenfafst und überlegt: der wird sogleich finden, dafs ungeachtet des grofsen Vortheils, welchen die ursprünglich stärkere Vorstellung behauptet, doch auch die schwächste von der stärksten niemals wird ganz und völlig unterdrückt werden können; denn die Hemmungs- summe mufs sich immer vertheilen; und da sie niemals gröfser sein kann als die schwächere Vorstellung, so bleibt von dieser letztem allemal so viel übrig, als wieviel von der stärkeren gehemmt wird.

Dieses wichtige Resultat aber darf man nicht zu weit ausdehnen; denn es gilt nur von zweien Vorstellungen. Sobald drei oder mehrere Vorstellungen zusammentreffen, ergiebt sich, dafs die dritte und die fol- genden sehr leicht ganz unterdrückt werden. Jedoch wir wollen auch hier vom Leichtesten anfangen.

Drei gleich starke Vorstellungen, jede = 1, seien vollkom[i 7o]men entgegengesetzt, und in voller Wirksamkeit wider einander ohne Einflufs einer fremden Kraft. Die beiden letztem Bedingungen sind die nämlichen wie oben; allein ich wiederhole sie absichtlich, theils damit man sie sich einpräge, theils damit man auch die Möglichkeit andrer Fälle (die eine andre Rechnung erfordern) nicht ganz aus den Augen verliere. Es ist nun klar, dais in diesem Falle nur eine der drei Vorstellungen könnte un- gehemmt bleiben, wenn die andern beiden ganz gehemmt würden. Denn nach der Voraussetzung sind alle drei einander vollkommen zuwider; das heifst, die erste der zweiten, die zweite der dritten, und die dritte der ersten; jede mufs demnach weichen vor den beiden übrigen. Man nehme

V. Ueber d. Möglichkeit u. Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 121

zwei heraus, welche man will; die Hemmungssumme unter ihnen ist nach dem Vorigen = 1 ; das Uebrigbleibende demnach ebenfalls = 1 ; kömmt hinzu die dritte Vorstellung, so bildet sich eine neue Hemmungssumme, wiederum = 1; also ist die ganze Hemmungssumme = 2. Diese zerfällt in drei gleiche Theile für die drei gleich starken Vorstellungen, folglich

verliert jede und behält jede .

Nun wollen wir die Voraussetzung abändern, Die Stärke der drei Vorstellungen werden angezeigt durch die Zahlen 1, 2, 3. Für die beiden schwächern wäre die Hemmungssumme, wie oben gezeigt, = 1, und das Uebrigbleibende = 2 ; kommt dazu die stärkste = 3 , so ist die neue Hemmungssumme = 2 , wie ebenfalls schon nachgewiesen wurde ; also beides addirt giebt die ganze Hemmungssumme = 1 -J- 2 = 3. Die Hemmungsverhältnisse sind die umgekehrten Zahlen selbst; also 1,

--, ; oder schicklicher ausgedrückt: 6, 3, 2. Man wird demnach die

Hemmungssumme in 11 gleiche Theile zerlegen , damit hievon 6 der schwächsten, 3 der mittlem, und 2 der stärksten Vorstellung als Verlust angerechnet werden. Die Hemmungssumme war =3, davon könnten wir

nun zwar leicht nehmen, welches = Verlust trabe für die Vor- 11 11 11 °

Stellung ^ ; und eben so -^ = Verlust für die mittlere = 2 ; aber 0 J) 11 11

wenn wir nun auf ähnliche Weise von ^ oder Verlust für die

11 ^ 11

schwächste Vorstellung, die nur = 1 ist, berechnen: was soll das bedeuten? Der Mathematiker wird hier eine Minusgröfse anzutreffen glauben; der- gleichen kann aber hier gar nicht stattfinden; denn dafs eine Vorstellung negativ werde, hat schlech[i7i]terdings keinen Sinn. Vielmehr entdeckt es sich, dafs wir eine unpassende Rechnung geführt haben, weil wir nicht zuvor die Bedingung berechnet hatten, unter welcher auf die zuvor be- schriebene Weise drei Vorstellungen in Wirkung und Gegenwirkung treten können.

Dieser Gegenstand ist nun schon ein klein wenig schwerer, wie das Vorhergehende; und er läfst sich nicht füglich so ganz im Tone des Unter- richts für Anfänger vortragen. Doch will ich einen Versuch nicht scheuen.

Man hat aus der vorigen Rechnung so viel gesehen, dafs, wenn 2 Vorstellungen = 2 und 3 vorhanden sind, alsdann eine dritte Vor- stellung merklich gröfser sein mufs als 1, wenn von ihr auch nur das Mindeste neben jenen übrig bleiben soll. Es wird nun irgend eine Gröfse geben, welche diese dritte, um der eben ausgesprochenen Forderung zu genügen, zum wenigsten besitzen mufs. Oder bestimmter und wissen- schaftlich gesprochen: es mufs eine Grenze geben, die den Unterschied festsetzt zwischen solchen Vorstellungen, welche hinzukommend zu jenen beiden stärkern, von ihnen ganz, oder nicht ganz, verdunkelt werden. Diese Grenze nenne ich die Schwelle des Beivufstseins. Sie zu bestimmen, erfordert nichts als eine höchst leichte algebraische Rechnung; wer Algebra versteht, wird sie ohne die geringste Mühe selbst finden, und daraus schliefsen, dafs z. B. für zwei Vorstellungen, beide = 1, die gesuchte

Grenze *ei = *— = 0,707 . . ., allein hierum bekümmere ich mich für

122 V. Ueber d. Möglichkeit u. XoÜnvendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden.

jetzt nicht; vielmehr will ich blofs die Frage beantworten, was für eine Rechnung nun an die Stelle jener treten solle, die wir eben vergeblich geführt haben?

Da die Vorstellung = i nicht bestehen konnte neben den beiden andern = 2, und = 3 : so wird sie ohne allen Zweifel ganz unterdrückt; aber mehr Leides kann ihr nicht geschehn. Sie ist nun in eine ganz vergebliche Anstrengung zum Vorstellen verwandelt worden; sie richtet nichts mehr aus; kann aber auch von der Hemmungssumme nicht das Geringste mehr zu tragen übernehmen, sie trägt davon nur gerade so viel, als wieviel ihre eigne Gröfse ausmacht', oder mit andern Worten: wieviel sie selbst zur Henunungssumme beigetragen hatte, soviel nimmt sie jetzt, da sie verschzvindet, mit sich hinweg. Wo bleibt denn das Uebrige der Hemmungssumme? Dieses müssen die beiden stärkeren Vorstellungen unter sich vertheilen. Aber [172] das hätten sie auch gethan, wenn die schwächste gleich Anfangs gar nicht zugegen gewesen wäre; sie hätten alsdann gerade eben so viel, nämlich ihre Hemmungssumme unter sich, zu vertheilen gehabt, wie jetzt, nachdem die dritte Vorstellung der Hemmungssumme zwar einen Zusatz gegeben, aber das diesem Zu- sätze gleiche Quantum auch wieder mit sich genommen hat. Also müfste man die dritte gar nicht mit in die Rechnung einführen, sondern sie völlig ignoriren; und das richtige Resultat ist schon dort gefunden, wo wir den Verlust für die Vorstellungen = 2 und = 3 bestimmten, in der Voraus- setzung, dafs nur diese beiden allein vorhanden seien.

Jetzt brauche ich kaum noch zu sagen, dafs latente Vorstellungen die- jenigen sind, welche unter die Schwelle des Bewufstseins fallen; so wie hier die Vorstellmag = 1 neben den beiden = 2 und = 3. Allein man mufs nicht unbeachtet lassen, dafs hier blofs von dem Zustande des Gleich- gewichts, also von der Statik des Geistes die Rede war. Die Bewegungs- gesetze führen auf eine ganz andere Art von Schwellen des Bewufstsein. Und das hier Vorgetragene ist bei Verminderung des Hemmungsgrades und bei eintretender Verbindung der Vorstellungen , den mannigfaltigsten Abänderungen unterworfen. Aber man mufs, wie schon oben gesagt, beim Anfange a?ifangen, und darum allein war es hier zu thun.

VI.

REDE,

GEHALTEN am GEBURTSTAGE Kant'S,

ZU KOENIGSBERG. 22. April 1823.

[Text nach HR, S. 322—324.]

Citirte Ausgaben.

A.P.M. = Altpreufsische Monatsschrift, herausgegeben von R. Reicke und Wichert. 1865, S. 245.

Rede an Kant's Geburtstag, von Herbart gehalten in der Kant-Gesellschaft zu Königsberg den 22. April 1823.

[322] Höchst geehrte Herren!

Dem grofsen Archimedes, dessen Namen leben wird, so lange die Mathematik lebt, war ein Grabmal errichtet worden; aber die Syracusaner hatten das Grabmal vergessen; sie leugneten das Dasein desselben, als Cicero, der einige Verse der Inschrift auswendig wufste, sich darnach erkundigte. Er selbst mufste es aufsuchen, erkannte es an der Kugel und dem Cylinder, die man zum Andenken an eine schöne Erfindung des Archimedes oben darauf abgebildet hatte; rief nun einen Haufen von Arbeitern herbei, die den Platz vom dichten Gesträuch reinigen mufsten, damit man hinzutreten könne; und so kam die Inschrift zum Vorschein, deren Zeilen beinahe [323] schon zur Hälfte verwittert waren. So schlecht erhält sich das Andenken an grofse Männer, wenn es nicht sorgsam be- wahrt wird! So wenig leisten todte Monumente, wenn keine lebendige Rede den eingehauenen Buchstaben zu Hülfe kommt! So zerstörend wirkt der Wechsel der Zeiten, der Sorgen, der Meinungen, der Herren und Diener und alles des künftig blendenden Glanzes, der die Augen der Menge bald hierhin, bald dorthin zieht. Selbst die Sprache unterwirft sich dem Wechsel; und der Schriftsteller, den heute Jeder versteht, bedarf vielleicht schon nach hundert Jahren eines Commentars.

Der ehrenwerthe Kreis, in dessen Mitte ich rede, bewahrt das An- denken Kant's. Zwar nicht er allein; denn für jetzt noch werden Kant's eigene Werke gelesen; sie bilden fortwährend die Grundlage unserer heutigen philosophischen Literatur. Aber welches Zeitalter kannte so reifsende Wechsel wie das unsrige? Wie weit hin schon entschwanden jene Tage, in denen Kant lehrte! Damals, welche Empfänglichkeit für Specu- lation, heute, welche Sättigung, welcher Ueberdrufs! Damals, welches Aufstreben zum Lichte; heute, wie viel Angst, es möge zu hell werden! Damals, welches Wohlgefühl frischer Kräfte, die nur beschäftigt sein wollten; heute, wie viel Noth, Verlegenheit, Erschöpfung; welche Schwärmerei und Deutelei; welche Verbrechen aus politischem und religiösem Fanatismus! Es leidet keinen Zweifel, heute würde Kant weit mehr Mühe haben, mit seiner Lehre durchzudringen, als damals; und ein Zeitalter, das wenig auf- gelegt ist, gewisse Wahrheiten zu empfangen, wird es um Vieles fähiger sein, sie fest zu halten? Düstere Wolken verhüllen die Zukunft; ernster wird die Bestimmung der schönen Stiftung, die uns heute vereinigt; ernster

I2Ö VI. Rede, gehalten am Geburtstage Kant's zu Königsberg. 22. April 1823.

schon durch den Gedanken an die Möglichkeit, dafs irgend einmal ein Bedürfnifs entstehen könnte, von hieraus auf einen grofsen Kreis zu wirken und das Andenken Kant's friedlich und lebendig zu erhalten.

Nicht von einzelnen Lehrsätzen ist die Rede, wenn man die Ehre Kant's feiert. Was unter dem Namen des Kantischen Systems pflegt gelehrt und gelernt zu werden, das ist einer verschiedenartigen Beurtheilung unterworfen und es fällt selbst in den Wechsel der Zeit; vorzüglich aber mufs man bedenken, dafs Kant's Hauptschriften mehr die Form und den Zweck einer Propädeutik, als eines Systems haben, und wer [324] die höchst dürftige vorkantische Philosophie kennt, der verlangt gewifs nicht, dafs die Zeit der Aussaat auf einem beinahe wüstliegenden Brachfelde zugleich auch die Zeit der Ernte hätte sein sollen.

Aber an Kant's Namen haftet die Ehrfurcht für einen Inbegriff persönlicher Eigenschaften, die man äufserst selten in einem und dem- selben literarischen Charakter vereinigt findet. Bei diesem Tiefsinn so viel Gelehrsamkeit, bei dieser äufsersten Zartheit des moralischen Gefühls so viel klarer gesunder Verstand; bei dieser Fähigkeit, das Gröfste und Fernste zu umfassen, so viel Ruhe des Geistes, ja so viel Pünktlichkeit im Einzelnen, so viel Enthaltsamkeit, so viel kritische Selbstbeherrschung. Das ist's, was man um so mehr bewundert, je mehr man die Einseitigkeit Anderer, die Vereinzelung jener Eigenschaften und die Uebertreibungen, die Verirrungen kennen lernt, welche so leicht entstehen, wo das Gleich- gewicht mangelt, in welchem Kant's Geist sich schwebend zu erhalten vermochte.

Unser Zeitalter ist vielfältig aus dem Gleichgewicht gekommen und während es durchgehends den Grund seiner Uebel zum grofsen Theile in der Schwankung der Meinungen sucht, bemerkt man dennoch wenig Interesse an den tiefern Forschungen, wodurch eigentlich allein die Meinungen auf bestimmte Principien können zurückgeführt und darnach geregelt und festgestellt werden.

Möchte Kant verjüngt zu uns wiederkehren! Möchte er die Denk- kraft neu aufregen! Möchte er Maafs und Ziel setzen den Befürchtungen und Hoffnungen, den Dogmen und dem gelehrten Eifer, dem Deuten und Behaupten, wie dem Zweifeln und Streiten! Vergebliche Sehnsucht! Kant wohnt in hohem Regionen. Aber möge sein Geist fortwirken; möge die Erinnerung an ihn wach bleiben; möge das Studium zu ihm wiederkehren; möge die Dankbarkeit diesen Verein erhalten, welchen die Freundschaft für ihn stiftete! Möge seine Vaterstadt sich stets, wie jetzt, durch ihn geehrt fühlen, wie sie selbst ihn zu ehren gewohnt ist!

VII.

UEBER DIE

VERSCHIEDENEN HAUPTANSICHTEN

DER

NATURPHILOSOPHIE.

Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg am 24. April

1823.

[Text nach dem Msc. 2056 der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Citirte Ausgaben.

S\Y = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. I), herausgegeben von G. Har- tenstein. KlSch = J. F. Herbart's Kleinere Schriften (Bd. II), herausgegeben von G. Har-

tenstein.

I

Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Natur- philosophie.

Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823.

Höchstgeehrte Herren!

Ein Jahr ungefähr ist verflossen, seitdem ich die Ehre hatte, diesem gelehrten Kreise Rechenschaft von den Gründen abzulegen, weshalb ich einen Theil der Psychologie mathematisch zu behandeln für nöthig erachte.1 Damals gedachte ich die nächste Aufforderung, hier einen Vortrag zu halten, zu einer Fortsetzung jener Betrachtungen zu benutzen; wenn aber dieses für heute noch unterbleibt, so bitte ich Sie wenigstens nicht zu glauben, [2] ich sey mir ungetreu geworden. Im Schoofse des philosophischen Denkens erzeugt sich gleiches Interesse für das Körperliche wie für das Geistige; jenes aber stellt sich uns jetzt besonders, in den Entdeckungen der Physiker, so oft von neuen Seiten dar, dafs man wenig Reizbarkeit besitzen müfste, um nicht davon angezogen zu werden. Kurz, ich war in den letzten Wochen mit Experimenten beschäfftigt ; diese riefen mir meine frühern naturphilosophischen Untersuchungen ins Gedächtmfs; jetzt bitte ich um Erlaubnifs, von dem reden zu dürfen, was mir gerade am lebendigsten vorschwebt; so jedoch, dafs ich am Ende einige Blicke auf das psychologische Feld zurückwerfen werde.

Lassen Sie mich jene bekannten Verse Schiller's voranstellen:

Welche wohl bleibt von allen den Philosophieen ? ich weifs nicht; Aber die Philosophie hoff' ich, soll immer bestehn.

Schiller sah in der Philosophie ein Streben, welches stets achtungs- werth bleibe, auch wenn seine Producte mifsrathen. Diese Gesinnung, glaube ich, müssen wir uns vorzüglich [3] dann vergegenwärtigen, wann von Naturphilosophie die Rede ist. Die Natur spricht zu uns in Räthseln; ziemt es etwa dem Menschen nicht, darauf zu hören? Wer Ohren hat zu hören, der hört; und wer irgend ein Mittel weifs, um die Untersuchung anzugreifen, der untersucht; wenn er nicht entweder zu träge, oder sonst schon zu sehr beschäfftigt ist. In dem letzten Falle befinden sich, wie mich dünkt, alle diejenigen, die uns rathen, uns lieber mit Beobachtungen

1 Vergl. die vorhergehende Abhandlung: „Ueber die Möglichkeit und Notwendig- keit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden."

Herbart's Werke V. *

I-JO VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

und Rechnungen zu begnügen, welche dazu hinreichen können, um die Gesetze und die regelmäfsige Wiederkehr der Erscheinungen ans Licht zu bringen. Diese Männer wissen ohne Zweifel, dafs das Gesetz noch nicht der Grund der Erscheinung ist; sie wissen, dafs die Frage nach den Quellen des Nils nicht schweigt, wenn man auch im Delta noch so genau das Steigen und Fallen des Stroms beobachtet hat. Gleichwohl finden sie sich durch den Gewinn der empirischen und mathematischen Naturforschung so reichlich belohnt, [4] dafs sie demselben gern ihre ganze Mufse schenken, gern dahin ihre ganze Kraft und Uebung richten. Darüber wird die tiefere Forschung erst versäumt, dann für unnütz erklärt, endlich ganz verworfen unter dem Vorwande, sie sey schon so Vielen mifslungen, und könne eben deshalb Niemandem ge- lingen. Ein offenbar übereilter Schlufs; wozu man weniger geneigt seyn würde, wenn man wüfste, welche Ursachen, welche mangelhafte Vor- bereitungen an dem bisherigen Mislingen Schuld waren. Einseitige Ansichten, schwärmerische Vorliebe für Hypothesen, fremd- artige Einmischungen, das sind drey grofse Fehler, die vieles ver- derben können, die sich aber vermeiden lassen. Hierüber eine kurze Erläuterung, welche nützlich seyn wird, um uns den Gegenstand unserer heutigen Betrachtung lebhafter zu vergegenwärtigen.

Was zuvörderst die einseitigen Ansichten betrifft, so werden uns deren sogleich vier einfallen, wenn wir uns an den bekannten Unterschied der mechanischen, chemischen, vitalen, und psychischen Kräfte erinnern. Aus frühern Zeiten sind Versuche genug bekannt, alle Natur, selbst die geistige, aus Materie und Bewegung zu erklären, die Materie aber aus [5] Atomen von absoluter Härte und Undurchdringlichkeit zu con- struiren. An diese Fabel glaubt jetzt Niemand mehr. Eben so wenig an einen alles erklärenden Chemismus; aber Vielen behagt das Leben, und die Einbildung, wenn man nur die Vitalität klein genug nehme, so könne man auf den untersten Stufen des Lebens selbst die starre Masse, mit ihren rein statischen und mechanischen Phänomenen antreffen. Diese Einseitigkeit ist um Nichts besser als die Vorigen; und eben so wenig besser als die folgende, welche nur psychische Kräfte anerkennen will, alle äufsere Natur aber als blofse Vorstellung betrachtet; die noch heute nicht ganz verschwundene Irrlehre des Idealismus. Alle diese Vor- stellungsarten thun der Natur Gewalt an, und zwar in völlig gleichem Grade; das wird auch ohne Beweis derjenige empfinden, der sich gewöhnt hat, mit gleichmäfsiger Aufmerksamkeit die verschiedenen Gebiete der Natur ins Auge zu fassen.

Als Beyspiel der andern beyden, zuvor genannten, Fehler, drängt sich nur zu sehr jene Naturphilosophie auf, welche als das Eigenthum einer heutigen philosophischen Schule allgemein bekannt ist. Sie setzt absolute Identität, wider die Erfahrung, die uns ein Mannigfaltiges in zufälligen Ver- bindungen [6] und Trennungen zeigt; wider das Bewufstseyn vernünftiger Individuen, die sich frey, das heifst zum Mindesten, Einer unab- hängig vom Andern fühlen; sie setzt diese absolute Identität ohne Beweis, demnach als Hypothese; aber mit einer schwärmerischen Zuversicht, für welche der Name intellektuale Anschauung ist erfunden worden.

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Da sich Anschauungen nicht widerlegen lassen, so kann der Beweis, dafs jene absolute Identität nicht blofs erfahrungswidrig, sondern auch vernunftwidrig und völlig ungereimt ist, denen nichts nützen, die einmal in jener Schwä- merey befangen sind. Für die Naturphilosophie ist es ein Unglück, damit in Verbindung gerathen zu seyn. Die Folge davon war der dritte FeMer, nämlich fremdartige Einmischung von theologischen und politischen, ja selbst von den, unter einander selbst entgegengesetzten spinozistischen und platonischen Meinungen; daher man jetzt in Einem Zuge von der Freyheit und dem Magneten, von der Tugend und der Schwere, von dem Wasser und der Liebe reden hört; ja ich erinnere mich sogar von einem Laster gelesen zu haben, das dem Nichts entsprechen sollte; welches Laster ohne allen Zweifel die Deuteley ist.

[7] Mufste die Naturphilosophie in diese Fehler gerathen? Davon ist sie so weit entfernt, dafs vielmehr nicht einmal deren Möglichkeit sich aus ihrem Gegenstande oder aus ihren Hülfsmitteln erklären läfst. Ihr Gegenstand ist die Natur; mit dem ganzen Reichthum von Thatsachen, welche mit der Vorsicht heutiger Beobachter und Experimentatoren sind gesammelt worden; aber menschliche Sorgen, Bedürfnisse, Leidenschaften gehören nicht in diesen Kreis; und können denjenigen, welcher sich hieher begiebt, am wenigsten erreichen. Ihre Hülfsmittel sind Mathematik und Metaphysik, von denen die erste1 das Muster der Besonnenheit, die andre freylich ein oft mislungenes Werk des menschlichen Denkens, doch wenigstens seit dem sehr nüchternen Aristoteles keine Schwärmerey ist, die mit der eingebildeten intellectualen Anschauung könnte verwechselt werden. Wenn nun die Metaphysik eine Probe aushalten soll, bey der ihre möglichen Irrthümer sich verrathen müssen, so kann dazu nichts besser dienen, als eine schon vorhandene Verbindung von geläuterten Erfahrungen mit der Mathematik, wie sie jetzt in den Händen unserer Physiker ist. Gesetzt, die Metaphysik trage [8] in diesen schon grofsentheils geordneten Gedanken- kreis falsche Ansichten hinein: so ist die Gefahr' gering und von kurzer Dauer; sie ist nicht gröfser als die einer unrichtigen mathematischen Hypothese. Denn die Folgerungen wird das Experiment und die Rech- nung widerlegen; man wird alsdann den Gründen rückwärts nachgehn, bis man den Ursprung des Fehlers entdeckt. Das ist das Verfahren wahr- heitliebender Männer; dies Verfahren ist unter den mathematischen Phy- sikern längst üblich; und es bleibt nur zu wünschen übrig, dafs man in dem Kreise dieser höchst achtungswerthen Gelehrten sich nicht mit halber Wahrheit begnüge, sondern nach der ganzen und vollen Wahrheit strebe, die man ohne Metaphysik eben so wenig wird erreichen können, als ohne Mathematik.

Wollen Sie, höchstgeehrte Herrn! mir nun erlauben, dafs ich Ihnen in wenigen Umrissen das Bild einer künftigen Naturphilosophie, wie ich es im Geiste zu erblicken glaube, mit Worten darzustellen suche: so ist es am bequemsten, sogleich vier verschiedene Haupt-Ansichten zu unter- scheiden, von denen zwey der Form nach verschieden, zwey andere der Materie nach entgegengesetzt sind. Die [9] Naturphilosophie kann theils in

1 die erstre SW.

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\-\2 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

synthetischer, theils in analytischer Form ihre Untersuchungen anstellen; und sie kann theils von der Voraussetzung einer universalen Einheit, theils eines ursprünglich Mannigfaltigen Gebrauch machen. Hier leuchtet sogleich ein, dafs die beyden letzten, der Materie nach verschiedenen Ansichten, sich unter einander aufheben; man kann sie daher nur als Versuche neben einander stellen, von denen einer sich im Verfolg der Untersuchung als unhaltbar zeigen mufs, dennoch aber zum Ganzen wesentlich mit gehören wird, wofern man nicht schon a priori seine Unzulässigkeit deutlich genug möchte erkannt haben.- Anders verhält es sich mit jenen, der Form nach verschiedenen Ansichten; diese bestehn neben einander, und sie unter- stützen sich gegenseitig, wie ich nun sogleich entwickeln werde.

Wenn sich in den Naturerscheinungen das, ihnen zum Grunde liegende Reale unmittelbar finden liefse; wenn es darin blofs verhüllt, und nicht verlarvt wäre: so [10] würde man, wie bey der Blumenknospe, in welcher schon die Samenkapsel versteckt liegt, eine Hülle nach der andern vor- sichtig hinwegnehmen, und das allmählig entkleidete Reale würde endlich nackt vor unsern Augen dastehn. Die Naturphilosophie wäre alsdann ganz analytisch; sie hätte keinen synthetischen Theil; am wenigsten brauchte ein solcher dem analytischen voranzutreten. Könnte es so seyn, so wäre es gewifs schon längst so; denn der Geist des analytischen Verfahrens ist bey unsern Naturforschern im hohen Grade ausgebildet. Dafs es nicht so seyn kann, hat psychologische Gründe, die mit dem Ursprünge und dem Bildungsgange der menschlichen Erkenntnifs innig zusammenhängen. Das Reale ist schlechterdings nirgends, in keinem Puncte, unmittelbarer Gegenstand der Erkenntnifs; es mufs, ungeachtet alles dessen, was einige Schulen in ihrer Rathlosigkeit, von unmittelbarer Offenbarung oder An- schauung gefabelt haben, lediglich durch Schlüsse in so weit gefunden und bestimmt werden, als es sich überhaupt finden und bestimmen läfst. [i i] Diese nämlichen Schlüsse müssen nun in ihrem Fortgange dahin gelangen, die Möglichkeit der Materie, nicht als eines wirklichen Dinges, sondern als Erscheinung, darzuthun; und zugleich die mannigfaltigen Grundbe- stimmungen, sowohl der Materie im Allgemeinen, als ihrer Hauptarten, zu entwickeln. Nur unter der Voraussetzung, dafs dies gelungen, wenig- stens nicht ganz und nicht in den Grundzügen verfehlt sey, lohnt es sich überhaupt, von Naturphilosophie zu reden. Gesetzt, auf dem ganzen Wege der Speculation bis hieher, sey gar kein Fehler gemacht worden, auch besitze die Untersuchung in jedem Puncte die gebührende wissen- schaftliche Bestimmtheit: so können nun, da in der Construction der Materie gewifs Gröfsen-Begriffe vorkommen müssen, sogleich mathematische Untersuchungen an die metaphysischen geknüpft werden; und es läfst sich denken, dafs auf solche Weise eine mögliche Natur a priori erkannt werde, von der unsre wirkliche irdische Erscheinungswelt ein kleiner Theil ist. Allein, ein so weiter, glücklicher Fortgang ist nicht zu hoffen. Je weiter der Weg, desto gröfser die [12] Gefahr des Irrthums. Daher mufs man, sobald es irgend geschehen kann, von der Erfahrung her der Speculation entgegen kommen. Nicht als ob die Erfahrung unmittelbar bekräftigen sollte, irgend ein Reales sey wirklich so, wie die Metaphysik sage; das kann nicht geschehn, weil in der Erfahrung das Reale nicht gegeben,

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sondern nur angedeutet wird, nämlich als eine nothwendige Ergänzung, ohne welche die Erfahrung sich nicht würde denken lassen. Aber sobald die Speculation anfängt anzugeben, wie gewisse Erscheinungen darum, weil sie aus dem Realen entspringen, beschaffen seyn müssen: also gleich kann man die Erfahrung fragen, ob diese Erscheinungen in unsrer Sinnen- welt vorkommen, und zwar genau so, wie man geglaubt hatte es voraus- zusehn. Findet sich nun Aehnlichkeit der Abweichung: so wird man die frühere Untersuchung so lange prüfen und berichtigen, bis vollkommene Congruenz vorhanden ist. Diese Arbeit erfordert nun nicht blofs syn- thetische, von der Metaphysik ausgehende [13] Speculation, sondern auch Analysis der Erfahrung. Gesetzt, man habe es darin zur Fertigkeit gebracht : so wird man, nachdem die allgemeinsten Bestimmungen schon durch Synthesis bekannt sind, hierauf eine grofse Mannigfaltigkeit von Er- scheinungen zurückführen können; weit leichter, als wenn man dieselben alle hätte a priori finden sollen. Dafs hier überall die Mathematik zwischen Erfahrung und Metaphysik in die Mitte treten müsse, weil sonst gar keine bestimmte Vergleichung beyder möglich seyn würde, bedarf für den Kundigen kaum der Erinnerung.

Das Bisherige würde das Verhältnifs zwischen Synthesis und Analysis in der Naturphilosophie zureichend angeben, wenn man annehmen dürfte, beyde würden von einer einzigen Person vollzogen. Allein der geübte Metaphysiker und der geübte Experimentator müssen wohl als zwey ver- schiedene Personen gedacht werden; und überdies der geübte Mathematiker als ein dritter zwischen beyden. Hier wird nun immer einiges Mistrauen Platz behalten. Der Experimentator wird die, ihm dargebotene synthetische Grundlage immer nur als [14] Hypothese betrachten; er wird versuchen wollen, ob nicht noch ein andrer Schlüssel eben so gut zu den Erscheinungen passe. Darum mufs neben der wahren Metaphysik noch eine falsche aus- gebildet, und versuchsweise der Erfahrung angepafst werden; und dieses führt mich nun auf die beyden, der Materie nach entgegengesetzten, Hauptansichten der Naturphilosophie.

Diese beyden Ansichten sind beynahe so alt wie die Philosophie selbst. Wenn ich sie bis auf Platon zurückführe, so leitet dieser sie von Jonischen und Eleatischen Philosophen ab; ja er will die eine schon beym Homer finden. Es ist der Mühe werth, uns hier an die bekannte Stelle im Theätet zu erinnern, wo der Satz des Protagoras angeführt wird: aller Dinge Maafs sey der Mensch. Oder mit andern Worten: was mir scheint, ist wahr für mich, was Dir scheint, wahr für Dich. Wie ist das möglich, und was will Protagoras damit sagen? Der geheime Sinn des Satzes, bemerkt Platon, sey dieser: Nichts ist an sich irgend etwas Bestimmtes; aber aus Bewegung, Veränderung, Mischung entsteht Alles; es giebt kein ruhendes Seyn, sondern nur ein Werden. Unsre Philosophen sagen mit blofser [15] Veränderung der Worte: mit dem Seyn gleich ewig, und mit ihm ursprünglich Eins und Dasselbe, ist das Werden. Dafs jedes individuelle Leben aus dem allgemeinen zu begreifen, dafs hingegen die Elemente der Natur, wie sie die Chemiker aufstellen, nur Gedankendinge seyen, dals das Leben des Menschen ein stetes Aufge- nommen-Werden seines leiblichen Daseyns in seine Beseelung sei ; u. dgl. m.

1^4 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

Das sind neue Worte, aber alte Ansichten; es sind diejenigen Meinungen, gegen welche sich Platon auf alle Weise stemmte; begreiflich mit mehr Aufwand von Worten, als heutiges Tages nöthig ist, weil die Chemie in in ihrem gebildeten Zustande sich durch sich selbst dagegen vertheidigt. Unsre Chemie nämlich führt auf den gerade entgegengesetzten Grund- gedanken, von Elementen, die ungeachtet alles Wechsels der Zustände, die sie in zufälligen Mischungen durchlaufen, dennoch innerlich, ihrem wahren Wesen nach, bleiben was sie ursprünglich sind; aber auch diese Ansicht, von dem ruhenden Seyn, welches, einzeln genommen, von selbst keinen Wechsel beginnt, und von dem Gegensatze dieses Seyenden gegen die Erscheinung, die eben durch [16] ihren Trieb zum Wechsel sich als blofse Erscheinung, als ein Nichtiges, Unwahres charakterisirt; auch diese Ansicht ist nicht neu; sie ist die Grund -Voraussetzung der Eleaten und des Platon, die nur nicht im Stande waren, sie durchzuführen; zum Theil darum, weil ihnen die heutigen Kenntnisse der Mathematik und Natur- forschung abgingen. Selbst die Atomenlehre des Leukipp und Demokrit, gehört dem ursprünglichen Streben nach hieher; so sehr sie auch durch das Kleben an Raumbestimmungen, durch die Unfähigkeit, sich ein un- räumliches Seyn zu denken, ist verdorben worden.

Wie wohl ich nun aus metaphysischen Gründen mich für die zweyte, und gegen die erste Ansicht entscheide: so wünsche ich dennoch der Naturphilosophie, sie möge fortwährend nach beyden Ansichten zugleich bearbeitet werden. Denn ich bin überzeugt, dafs die Lehre vom allgemeinen Naturleben, welches sich in die Gattungen, Arten, und Individuen der Naturproducte nur verzweige, und im Laufe der Zeit verschiedene Evo- lutionsstufen durchlaufe, sich ohne jene Fehler durchführen lasse, welche den heutigen, schwärmerischen, und Alles bunt durch einander mengenden Darstellungen ankleben.

[17] Das Beste, was diese Ansicht für sich hat, ist keine vor- geblich intellectuale, sondern die ganz gemeine sinnliche Anschauung; die Erfahrung selbst, wie derjenige sie erblickt, der sich, ohne kritischen Geist, ohne tieferes Nachdenken, dem Gesammt-Eindrucke der Erschei- nungen hingiebt. Dafs man eine Meinung, die ganz offen auf der Ober- fläche vor Jedermanns Augen daliegt, als ein Werk tiefsinniger Specu- lation anpreifst, fällt ins Lächerliche. Jedermann sieht das Wachsen der Pflanzen und Thiere, er sieht die Metamorphosen der Knospen und Keime'; kennt die Nahrungsmittel, und begreift, dafs dieselben in einem continuir- lichen Uebergange aus einem Zustande in einen andern begriffen seyn müssen, bis sie sich in die verschiedenen vesten und flüssigen Theile der organischen Leiber verwandelt haben. Jedermann weifs überdies, dafs die Arten und Gattungen der Thiere und Pflanzen gewisse Stufenfolgen der Aehnlichkeit und Verschiedenheit durchlaufen; und es kann Niemandem unerwartet seyn zu hören, dafs die Naturforscher zwischen den bekannten Arten und Bildungen noch eine Menge [18] von Mittelgliedern einzuschieben, neue Vergleichungspuncte aufzustellen, die Reihen des Aehnlichen und Verschiedenen zu verlängern, endlich die Natur mehr und mehr als ein Ganzes darzustellen Gelegenheit gefunden haben, welches wie von einem Triebe beseelt scheint, und in welchem es Mühe kostet, sich irgend ein

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Ruhendes, vom allgemeinen Wandel und Wechsel Ausgenommenes auch nur zu denken. Weit weniger Anstrengung ist nöthig, Alles in Einem Strome schwimmend sich vorzustellen, als einzusehen, dafs, und warum man diesem Strome sich entgegenstemmen müsse. Weit bequemer ist die Rede vom allgemeinen Leben, als die Forschung nach irgend einem von den Gründen, warum denn nicht jedes Ding bereit ist, in jedes andre überzufiiefsen? Warum die Arten und Gattungen der lebenden Wesen vest stehn? Warum die chemischen Verbindungen nach bestimmten Pro- portionen geschehen? Warum das Licht nur in geraden Linien gehn will, alle krummen Wege aber verschmäht ? Warum die Weltkörper den strengen Regeln der Himmels-Mechanik Folge leisten, von allen andern uns [19] be- kannten Naturkräften aber nicht die mindeste Notiz zu nehmen scheinen? Warum im Ganzen genommen das eigentliche Leben, das der Pflanzen und Thiere, nur einen so äufserst kleinen Theil des ganzen Daseyns der Natur ausmacht, während so ungeheure Massen von Gestein und Metall übrig bleiben, welchen Leben einzuhauchen selbst der kühnsten Phantasie kaum gelingen will? Mag man indessen versuchen, diese und so viele ähnliche Schwierigkeiten zu besiegen! Wer es nicht genau nimmt, der wird gar leicht darüber etwas Scheinbares sagen können.

Weit schwerer ist eine Naturphilosophie nach der entgegengesetzten Ansicht; und zwar besonders deswegen, weil diese nur im strengen Denken, (keinesweges aber in dem, an sich nichts entscheidenden, Sinnen- Eindruck einer Mehrheit unabhängiger Gegenstände,) ihren Grund hat, und deshalb mit derselben Strenge des Denkens, woraus sie entstand, auch durchgeführt werden mufs, wenn sie nicht als ungenügend in sich selbst zusammenfallen soll.

Nach dieser Ansicht nun besteht zwar die Materie, einstimmig mit dem Erfahrungsbegriffe und mit der [20] Chemie, wirklich aus ihren einfachen Elementen, und ist in dieselben endlich theilbar, sie ist demnach, als raum-ausfüllende Masse, kein geometrisches Continuum: aber sie ist auch nicht, wie die gedankenlose Atomistik meint, eine blofse Anhäufung un- durchdringlicher Theile, die neben einander lägen ohne einen Grund des Zusammenhangs und der innem Configuration. Sondern die Materie ist ganz und gar das Resultat innerer Zustände ihrer Elemente; und die ganze Naturphilosophie ist Nach Weisung des not h wendigen Zusammenhangs der innern und äufsern Zustände. Diesen Begriff auseinanderzusetzen ist schwer, weil weder Physiker noch Philosophen geübt sind, auf innere Zustände dessen, woraus Materie besteht, ihr Augen- merk zu richten. Es würde mir wenig helfen, wenn ich hier blofs an Leibniz erinnern wollte, der die Materie aus Monaden bestehn liefs, welchen er Vorstellungen, also innere Zustände, beylegte; denn freylich bey dem Worte Vorstellungen denken wir an Bilder äufserer Gegenstände; und was diese leisten könnten, um daraus materielle Eigenschaften zu be- greifen, läfst sich kaum einsehn. [21] Ich will daher lieber an einen Gegen- stand erinnern, der es dem Physiologen längst nahe gelegt hat, an innere Zustände zu glauben; ich meine die Reizbarkeit und Wirksamkeit der Nerven. Hier, hoffe ich, wird man der Hypothesen von einem Nerven- Fluidum, oder von Nervenschwingungen, oder von den Nerven als galva- nischen Conductoren, längst müde seyn; man wird einsehn, dafs man jeden

136 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

Nerven als eine Kette empfindender T heile betrachten mufs, dafs also der Nerv in jedem Punkte lebendig ist, und dafs dieses Leben durch- aus nicht durch blofs materielle Bestimmungen kann beschrieben werden. Aber nicht blofs den Nerven, sondern auch andern vesten Theilen des Leibes, und nicht blofs den vesten, sondern auch allen flüssigen Theilen jedes lebenden Organismus hat man mit vollkommenem Rechte Vitalität zugeschrieben. Die flüssigen Theile nun haben gar keine bestimmte Con- struction; sie streben aber beständig nach einer solchen; und gelangen dazu wirklich, in so fem sie die vesten Theile ernähren. Genau so strebt auch die unorganische Materie, sich zu krystallisiren; ihr aber genügt die Krystallform, weil ihre innere Bildung nicht den Grad erreicht hat, welchem der \_22~] Bau eines organischen Leibes entsprechen würde. End- lich selbst die nicht sichtbar krystallisirte Materie verräth wenigstens, dafs ihr die Lage ihrer Theile nicht gleichgültig ist; sie erhält sich gegen wider- strebende Kräfte in ihrer Dichtigkeit und Cohäsion; es sey denn, dafs sie einem ihrer Auf lösungsmittel begegne, denn alsdann beginnen neue innere Zustände, und als Folge derselben neue Constructionen im äufserlichen Daseyn.

Es wird nun scheinen, als hätte diese meine Darstelluno- viel Aehn- lichkeit mit jener frühem Ansicht, die vom allgemeinen Leben ausgehend, dieses nur vermindert, um auf die rohe Materie zu kommen. Aber die Aehnlichkeit ist nur zufällig; und liegt mehr in den Gegenständen, die erklärt werden sollen, als in den Principien der Erklärung. Zwar habe ich hier, um mich in der Kürze einigermafsen verständlich zu machen, von den höchsten Phänomenen des Lebens angefangen, und bin von da rückwärts zu den untersten Stufen der Materie herabgestiegen. Aber die regelmäfsige Untersuchung geht den umgekehrten Weg. Sie setzt nicht das Leben voraus, um die Materie zu erklären; [23] sondern sie findet zuerst solche innern Zustände, welchen die blofse, chemische Durchdringung ge- nügt; und sie erblickt die ganze räumliche Existenz als eine blofse Folge davon, dafs unter gewissen Umständen es unmöglich wird, jenen innern Zuständen ganz vollständig zu genügen. Was wir chemische Durch- dringung nennen, das ist, in seiner höchsten Reinheit gedacht, gar keine räumliche Existenz; es ist ein reines Causal - Verhältnifs ; und zwar nicht ein solches nach der Kantischen Ansicht, welches an die Zeit gebunden wäre, sondern ein völlig unzeitliches und eben so völlig unräumliches. Aber es giebt Umstände, unter welchen sich dieses reine Causalverhältnifs nicht völlig ausbilden kann; alsdann nehmen die Elemente, die sich darin befinden, eine räumliche und zeitliche Form des Daseyns an; so entsteht Materie, als eine Beschränkung, als ein Mangel dessen, was eigentlich hätte seyn sollen. Das mag mystisch klingen; es ist aber metaphysisch, das heifst aus klar gedachten, in der Erfahrung gegebenen [24] Begriffen, mit logischer Nothwendigkeit geschlossen; und die ganze Schlufskette ist so weit entfernt von reizenden Bildern oder erhabenen Ideen, dafs man dafür keine andere Vorliebe fassen kann, als für das erste beste mathematische Theorem.

Als man nach Kaxt's Anleitung versuchte, sich die Materie aus den beyden Kräften, der Attraction und Repulsion, zu construiren: -da erhob

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sich die Frage: sollen wir denn nur die Materie blofs als Kraft, und gar nicht als Substanz denken? Oder sollen wir die Substanz, die reale Grund- lage beybehalten, und dieser hintennach die Kräfte beylegen; gleichsam wie Prädicate im logischen Urtheil dem Subjecte gegeben werden? Wenn die Materie, als Substanz, schon da ist, wird sie noch etwas, als Zugabe, in sich aufnehmen, das nicht unmittelbar in ihrer Substantialität schon enthalten ist? Und diese Zugabe, wie wäre sie beschaffen? Zwey unter- einander entgegengesetzte Kräfte, eine anziehende, eine abstofsende! Ist denn die Materie etwa ein Staat nach Montesquieu's Beschreibung, der sich durch gleiche, wider einander strebende Kräfte in seiner Verfassung erhält? Ein solcher Staat würde nicht in Ruhe, sondern im innern Kriege begriffen seyn; und eine solche Materie [25] würde sich selbst aufheben; daher wie dort der Staat, so hier die Materie ist misverstanden worden. Und dennoch ist es wahr, dafs Attraction und Repulsion das ursprüngliche Wesen der Materie ausmachen; es ist ebenso wahr, dafs beyden die Sub- stanz zum Grunde liegt; aber der Fehler lag darin, dafs man weder die Möglichkeit, diese entgegengesetzten Kräfte zu vereinigen, noch den Zu- sammenhang derselben mit der Substanz nachzuweisen vermochte. Die Wahrheit ist, dafs Attraction und Repulsion die nothwendigen äufsern Folgen der innern Zustände sind, in welche mehrere verschiedene Substanzen (eine allein reicht nicht hin) sich gegenseitig versetzen. Daher giebt es nicht in den Substanzen Kräfte, als deren Eigenschaften: sondern es entstehn aus dem innern, unräumlichen, wahren Causalver- hältnifs der Substanzen zwei blofs scheinbare Kräfte, die nichts anders sind als eine doppelte Nothwendigkeit, dafs zu dem inneren Zustande ein ihm angemessener, äufserer Zustand hinzutrete.

Von dieser doppelten Nothwendigkeit nun sind die [26] chemischen Kräfte nur die nähern Bestimmungen nach Verschiedenheit der, ins Causal- Verhältnifs tretenden Substanzen, die mechanischen Kräfte sind davon entferntere Folgen, die vitalen sind beydes vorhergehende verbunden, aber auf hohem Stufen der innern, und dämm auch der äufsern Ausbildung; endlich die psychischen Kräfte enthüllen uns das Innere, welchem das Aeufsere entspricht; aber freylich erblicken wir dieses Innere in unserm Selbstbewufstseyn auf einem so hoch gestellten Puncte, dafs wir damit kaum noch die psychischen Zustände der Thiere, vollends die weit niedrigem der Monaden, woraus die Körper bestehn, zu vergleichen im Stande sind.

Hier ist nun die Stelle, wo die Psychologie in die Naturphilosophie eingreift. Ungefähr so, wie uns die Astronomie gewöhnt, ungeheure Räume, vor denen Anfangs die Phantasie erschrickt, mit Leichtigkeit zu durch- laufen: so mufs die Psychologie uns üben, die weite Strecke der ver- schiedenen Ausbildung von Menschen und Menschenracen zu überschauen; dann von da rückwärts gehend thierische Zustände zu begreifen ; endlich einzu- sehn, [2 7] dafs trotz der anscheinenden gänzlichen Ungleichartigkeit dennoch die Linie, auf der wir uns bewegen, zurückläuft zu den innern Zuständen der Elemente nicht blofs belebter, sondern selbst roher Körper; obgleich hier von Selbstbewufstseyn , von Vorstellungen, von Erkenntnissen, von Entschliefsungen, nicht aufs entfernteste die Rede seyn kann. So paradox nun das hier Gesagte lauten mag, so ist es denn doch schlechterdings

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unentbehrlich, um die so oft aufgeworfene, so oft flüchtig beantwortete Frage gehörig zu erörtern: Wie denn Materie und Geist in Verbindung treten können? Es ist bekannt, dafs man dieser Verbindung durch mehr als eine Art von prästabilirter Harmonie bald aus dem Wege gegangen, bald ihr mit mehr als einer idealistischen Lehre in den Weg getreten ist, um ihr ewiges Stillschweigen aufzuerlegen; aber die Frage schweigt nicht; und kann von keiner Theorie gehörig behandelt werden, die entweder Geistiges auf Kosten des Körperlichen, oder Körperliches auf Kosten des Geistigen begünstigt. Denn die Verbindung steht ganz deutlich als eine gegenseitige Abhängigkeit vor Augen; zugleich aber ist die Abhängigkeit nicht so grofs, [28] dafs man sie in völlige Einheit verwandeln dürfte; sondern die geistigen Functionen wechseln zwischen Regsamkeit und Unthätigkeit, und die leiblichen Kräfte entwickeln sich und schwinden, ohne dafs irgend eine veste und deutliche Proportion zwischen jenen und diesen zum Vor- schein käme. Hat man aber den innem Bildungsgang der Seele psycho- logisch kennen gelernt: so ist nicht schwer einzusehn, wie einerseits der- selbe Anfangs mit dem Organismus und dessen Entfaltungen verknüpft seyn, und doch, einmal in Gang gesetzt, nun andererseits von jenem in hohem Grade unabhängig fortgehn, und seinen Weg auch noch über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus verfolgen könne. Noch weniger schwer aber ist alsdann die Verbindung zwischen Leib und Geist zu be- greifen, denn beyde gehören zusammen wie Aeufseres und Inneres; der Leib ist ein Aeufseres, das den innern Zuständen aller seiner Elemente entspricht, welche Elemente sich auf sehr verschiedenen Stufen ihrer innern Ausbildung befinden; unter diesen Elementen befindet sich Eins, (oder wenn man will, einige wenige, statt deren aber die Voraussetzung eines einzigen [29] allemal hinreicht,) welches zu einer ganz vorzüglichen Aus- bildung emporsteigt; dieses eine nennen wir die Seele; und das ganze System seiner innern Zustände nennen wir Geist. In dem Geiste ruht das Selbstbewufstseyn, welches demnach keineswegs in den Elementen der Materie verstreut liegt; das kann es auch nicht, denn das Ich setzt Ein- heit, das heifst hier, völlige Durchdringung aller dazu gehörigen Vor- stellungen, voraus. So ists beym Menschen; hingegen bei den Thieren verschwindet, je tiefer wir hinabsteigen, desto mehr jener Unterschied in der Ausbildung der Elemente, welche zusammengenommen äufserlich als Leib erscheinen; kein Wunder also, dafs die Hervorragung des einen Ele- ments, dessen innere Zustände in ihrer Wechselwirkung wir unter dem Namen des Geistes kennen, sich bei ihnen nicht mehr deutlich offenbart, vielmehr der Geist vom Leibe verschlungen seheint, weil sich hier kein Herrschendes, kein einzelnes Vorzügliches, hervorgearbeitet hat. Wo keine Diener, da kein Herr; wo kein Gehirn, da keine Seele!

Lassen Sie uns jetzt zurückschauen auf die zuvor [30] genannten, der Form nach verschiedenen Natur-Ansichten. Was ich soeben von der Materie, von ihren scheinbaren Kräften, von ihrer Verbindung mit dem Geistigen sagte, das hat seinen Grund in dem synthetischen Theile der Naturforschung; dem beobachtenden und analysierenden Physiker wird es dagegen ziemlich gleichgültig, in sein Geschafft wenig eingreifend erscheinen. Er beobachtet nicht Materie im Allgemeinen, sondern starre, tropfbare,

Vorgelesen in der Königl. Deutschen Gesellschaft zu Königsberg, am 24. April 1823. 13g.

dampfartige und gasförmige Körper; um ihm näher zu treten, mufs man erst nachweisen, dafs es Umstände giebt, in denen die Repulsion ein grofses Uebergewicht über die Attraction gewinnt; dafs hiedurch ein Unterschied, aber auch eine vielförmige Verbindung zwischen dichter und dünner Materie begründet wird; hiemit läfst sich analytisch die Erscheinung des Ponderabeln und Imponderabeln vergleichen. Aber auch dies führt uns noch nicht ganz in die Sphäre des Beobachters und Analysten; er will überhaupt nicht allgemeine Begriffe, sondern wirkliche Körper bearbeiten; und jede Allgemeinheit ist ihm verdächtig, die er nicht aus dem Indi- viduellen durch Induction erlangen kann. Mit einem Worte; er sucht nicht Ei nheit, sondern nur Abkürzung des Ausdrucks; [31] seine Allgemein- heiten sind nur Abbreviaturen für das Einzelne. Doch wie? Gehe ich nicht vielleicht zu weit? Zwar erinnere ich mich wohl, dafs hie und da ein Physiker sich rühmt, seine Theorie sey durchaus nichts weiter als die unmittelbare Aussage der Erfahrung. Allein die Physik strebt zur Geometrie hinan; und diese begnügt sich nicht mit Inductionen. Der Mathematiker betrachtet das allgemeine Gravitationsgesetz nicht als die Folge von ein- zelnen Erfahrungen; sondern er wagt die Voraussetzung, es gebe wirklich in der Natur einen allgemeinen Grund der Anziehung, von welchem die einzelnen Anziehungen als Wirkungen mit Recht können abgeleitet werden. Wollte der Physiker nicht eben so seine Lehre von Bindung und Ent- bindung der Wärme bey den Form-Aenderungen der Körper, wenigstens versuchsweise als Erkenntnifs einer in der Natur selbst liegenden, allge- meinen Nothwendigkeit betrachten; wollte er nicht ernstlich den einzelnen Fall als untergeordnet, als beherrscht von der höhern Regel, ansehen; sollte in der That die Induction, die im Felde der Erfahrung niemals über den heutigen Tag hinausreicht, der Physik die einzig zulässige Art der Einheit darbieten: dann könnte niemals ein künftiger Erfolg voraus- gesetzt, niemals ein Experiment [32] als Bekräftigung eines zuvor aufgestellten Lehrsatzes unternommen werden; sondern man müfste stets warten, ob die Erfahrung wohl in der nächsten Stunde so gefällig seyn wolle, noch ein- mal zu wiederhohlen, was sie kurz zuvor unter den nämlichen Umständen gelehrt hatte. Kurz: auch die Erfahrungs -Wahrheit fordert bleibende Gründe, welche im Wechsel der Zeiten beharren; und auch der Physiker setzt stillschweigend ein Reales voraus, welches er auf dem Wege der Induction nie würde gefunden haben. In so fern nun gleitet alle Physik hinüber in Naturphilosophie; aber zunächst nur in deren analytischen Theil; und hier giebt es allerdings noch kein Streben nach universaler Einheit; hier finden sich einzelne Untersuchungen in unbestimmter Menge, die sich durch neue Beobachtungen vermehren. Wer hier das vorhandene Mannigfaltige zu einem organisch-wissenschaftlichen Ganzen umbilden wollte, der würde sich kein Verdienst erwerben; denn die Analysis mufs vom Ge- gebenen ausgehn; dieses findet sich Anfangs als ein nur lose zusammen- hängendes Mannigfaltiges; so gerade mufs die treue Natur- Darstellung es wiedergeben; sie mufs nicht ins Schöne [33] malen, nicht idealisiren wollen. Strebt die analytische Naturphilosophie nach etwas Höherem : so mufs sie warten, bis der synthetische Theil weit genug vorgerückt ist; alsdann muls sie sich diesem anschliefsen ; will sie aber, seine Manier nachahmend,

140 VII. Ueber die verschiedenen Hauptansichten der Naturphilosophie.

allein stehn und unabhängig auftreten, so verwandelt sie sich in einen Zwitter, ähnlich den historischen Romanen, unwissenschaftlich und ver- werflich gleich diesen. Verwaltet die analytische Naturlehre treulich ihr Amt: so ist sie nur Vorbereitung; nichts Vollendetes; sie besitzt Einheiten; aber noch keine Einheit. Sie widerstrebt keiner Theorie; aber sie ist neutral, und sieht dem Kampfe der verschiedenen Theorien gelassen zu.

Anders verhält es sich mit dem synthetischen Theile der Natur- wissenschaft. Diesem mufs allerdings die Idee der organischen Einheit vorschweben; aber hier drohen gefährliche Verwechselungen. Die orga- nische Einheit ist nicht ursprüngliche Identität; und nach einer Idee ver- fahren, heifst nicht, den Gegenstand des Verfahrens [34] für ein System von Ideen halten. Der Künstler bildet den Marmor nach der Idee des Schönen; aber den Marmor hält er nicht für schön, sondern betrachtet und behandelt ihn als einen gegebenen Stoff. Der Naturlehrer findet Thon und Sand, Gestrüpp und Gewürm, Schlangen und Kröten, neben den edlern Gebilden; wollte er nun damit anfangen, die Unterschiede der Dinge zu verwischen, so würde er nichts weiter gewinnen, als die Mühe, sie hintennach doch wieder hinzuzeichnen; und den Vorwurf, erst geleugnet zu haben, was späterhin, gleichviel mit welcher Wendung, doch mufs ein- gestanden werden. Die Idee der Einheit erfordert vielmehr eine solche Allgemeinheit der Grundbegriffe, welche sich von selbst allen den Modi- ficationen darbiete, die genügen können, um der Mannigfaltigkeit der Natur- gegenstände zu entsprechen. Ob nun diese Allgemeinheit durch Annahme eines Realen, mit einem inwohnenden Evolutions-Triebe, oder ob sie durch Aufstellung eines Verhältnisses [35] unter dem ursprünglichen Mannig- faltigen, welches geschmeidig genug sey für nähere Bestimmungen jeder Art, möge erreicht werden: dies gehört schon zu den materialen Ver- schiedenheiten der Naturansichten, wovon oben die Rede war; allein der synthetischen Grundlegung zu unserer Wissenschaft, sofern sie blofs formale Forderungen zu erfüllen sucht, ist es nicht wesentlich, dazwischen eine Wahl zu treffen. Es ist vielmehr vortheilhaft, selbst unhaltbare Ansichten so weit auszubilden, als es mit einigem Schein der Wahrheit geschehen kann; denn eben dadurch erreicht man den Punct, wo die Täuschungen ohne Zwang von selbst entfliehen.

Kaum wird es nöthig seyn, dals ich jetzt noch den Wunsch aus- spreche: die Einseitigkeit der heutigen Naturphilosophie möge bald durch diejenige Wahrheitsliebe gemildert werden, welche Alles prüft, um das Beste zu behalten.

VIII.

ZWEI VORLESUNGEN.

I. VERSUCHE UND BETRACHTUNGEN ÜBER DEN GEGENSATZ DER BEYDEN ELECTRICITÄTEN.

Vorgelesen in der physikalisch - ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg,

am 23. Januar 1824.

IL UEBER den GEGENSATZ der BEYDEN i ELECTRICITÄTEN.

Vorgelesen in der physikalisch - ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg.

1824.

[Text nach dem Msc. 2069 der Königsberger Universitäts-Bibliothek.]

Vorrede.

Die beyden Vorlesungen, welche ich hier zusammen drucken lasse, sind in zwey verschiedenen gelehrten Gesellschaften gehalten worden; man wird sich nicht wundern, wenn man sie eben so ungleichartig findet, als sie es ihrer Bestimmung nach seyn mufsten. Die erste wandte sich un- mittelbar an das Denken; die zweyte, bey welcher Versuche vorgezeigt wurden, zunächst an das Anschauen, und alsdann an diejenige Art der der Betrachtung, welche von den Thatsachen ausgeht, ohne darauf all- gemeine Voraussetzungen zu übertragen. Ueber diese zweyte Vorlesung zuerst einige Worte.

Dafs ich Thatsachen bekannt mache, und dafs ich wünsche, meine Versuche von Physikern wiederhohlt, geprüft und weiter geführt zu sehen, wird mir wohl Niemand verdenken; besonders da hier von den so schwer zu beobachtenden [2] kleinen Electricitäten die Rede ist, die ohne Zweifel in der Natur viel häufiger vorkommen, als die starken und gewaltsamen, deren Glanz auch die flüchtigen Zuschauer zu fesseln pflegt. Die Erscheinungen, die mir meine Werkzeuge darboten, waren nichts weniger als glänzend; aber sie waren deutlich und gleichförmig. Dafs ich etwas übersehen haben könne, weifs ich sehr wohl; und wünsche eben so wohl Berichtigung als Fortführung und Ergänzung meiner Versuche. Mich in den Rang eines geübten Physikers zu stellen, fällt mir übrigens nicht ein, aber Physik gehört eben so wohl als Mathematik zu den Hülfswissenschaften der Philosophie; und die gelehrte Welt kennt glücklicherweise keine geschlossenen Zünfte. Um das Eine darf ich gewifs bitten, dafs man nicht die Richtigkeit meiner Beobachtungen leugne, wenn man sie nicht mit zulänglichen Werkzeugen wiederhohlt. Wer aber einmal die Kosten angewandt hat, sich einen recht wirksamen und fehlerfreyen Elektro-Multiplicator anzuschaffen und über- dies einen Condensat. >r, dessen Sammlungsplatte blofs zwischen zwey höchst dünnen Luftschichten, [3] ohne Berührung solcher Körper, die leicht durch Reiben elektrisch werden, eingeschlossen ist : der wird ja diesen Apparat auch zu unzähligen anderen Versuchen gebrauchen können, und nicht be- fürchten dürfen, dafs ihn der Aufwand gereuen werde.

Von der Uebung und Vorsicht, welche der Multiplicator nötig macht, will ich nichts sagen; die Physiker wissen das besser als ich. Ob meine Versuche zur Aufklärung theoretischer Ansichten dienen können? ist nicht meine erste Sorge; aber angenommen, dafs sie als Versuche, nicht irgend einen, mir verborgenen, Fehler haben, so glaube ich in der That, dafs sie einiges Licht geben können; und zwar deswegen, weil sie äufserst einfach sind, und folglich nicht so vielerley Auslegungen unterworfen, wie Manches, an sich höchst Schätzbare, das wir neuerlich gelernt haben.

Iji VIII. Zwei Vorlesungen.

Um verstanden zu werden, braucht die zweyte dieser Vorlesungen wohl nur aufmerksames Lesen: allein mit der ersten, besorge ich, könnte es sich anders verhalten. Sie ist eigentlich ein Seitenstück zu meiner kürzlich herausgegebenen kleinen Schrift: über die Möglichkeit und Nothwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. [Vgl. No. VI vorl. Bandes.] "Wie diese, [4] will sie nicht beweisen, sondern nur das Verstehen dessen erleichtem, was anderwärts war bewiesen und begründet worden. Aber selbst eine solche Erleichterung setzt doch voraus, dafs der Leser sich auch um die anderen Schriften des Verfassers bekümmere, nicht aber fordere, man solle ihm Dinge, die ihrer Natur nach verborgen liegen, und zu denen nur eine, in die Tiefe hinabsteigende Untersuchung gelangen kann, auf der Oberfläche hinlegen, als ob sie mit den Vorstellungsarten des gemeinen Verstandes erreichbar oder gar mit gewissen gangbaren Irrthümern der Schulen verträglich wären. In meiner Abhandlung: theoriae de attractione elementorum principia meta- physica, [s. Bd. III, No. VIII] habe * ich schon vor zwölf Jahren meine allgemeine Untersuchung über das Wesen der Materie bekannt gemacht. Diese Abhandlung war eine akademische Gelegenheitsschrift; schon als solche wurde sie damals wenig verbreitet; und überdies bezieht sie sich genau auf meine Hauptpuncte der Metaphysik, deren wahrer Inhalt noch bis heute ein öffentliches Geheimnifs zu seyn scheint, und vielleicht so lange bleiben wird, bis einmal ein Zweyter, durch die ursprünglichen meta- physischen Probleme selbst angetrieben, auf meinen Weg geräth, da ihm denn meine Spuren zu Hülfe kommen werden. Der Grund aber, weshalb ich bisher keine ausführliche Darstellung meiner Metaphysik übernommen habe, lag einfach darin, dafs ich in den Naturwissenschaften zuvor weiter vorzudringen suchen wollte, um alsdann eins mit dem andern in die gehörige Verbindung bringen zu können. Für jetzt noch wird es für den Leser am bequemsten seyn, wenn ich ihn an das letzte Capitel meiner Ein- leitung in die Philosophie [s. Bd. IV, No. I] verweise, worin das Resultat jener frühern, und zugleich einige spätere Untersuchungen kurz angegeben sind.

Zu ausführlichen Anmerkungen, dergleichen ich der Vorlesung über Anwendung der Mathematik auf Psychologie beygefügt habe, wäre auch diesmal Veranlassung genug gewesen; hätte ich aber derselben einmal nach- gegeben, so möchten leicht der Zusätze mehr geworden seyn, als mir für diese flüchtigen Blätter passend scheint. Mich zu vertheidigen gegen Leute, die nicht sowohl meine Schriften, als mich selbst angreifen, scheint mir vollends nicht nöthig. Oder soll ich etwa darum, weil Einer so artig ist an meinem Namen zu zupfen, damit ein philosophischer Bart heraus- komme, mich zum Schutze meines Namens aufgefordert glauben? Nicht viel mehr Antwort verdient der unpartheyische Richter, der meine offene Er- zählung, wie Fichte meine psychologischen Untersuchungen veranlafst habe (woran gar nichts zu verheimlichen ist,) zu einem „merkwürdigen Geständ- nisse" verdreht; während er selbst, indem er mir Ueberschätzung der Kategorie der Quantität vorwirft, das unfreywillige Geständnifs ablegt, dafs er von meinen Hauptarbeiten, die nach der Sprache der Kan- tianer im Bezirke der Qualität und der Relation liegen, und die ich zum mindesten höher schätze als meine Rechnungen nicht das Geringste weifs; ja vermuthlich nicht einmal soviel davon gehört hat, dafs in meiner

Vorrede. 145

Lehre alle Kategorien ohne Ausnahme verworfen werden. Etwas ernsthafter ist [7] indessen die Anzüglichkeit: es scheine bey mir ein Axiom zu seyn, dafs es, aufser mir, wenige oder keine Philosophen gebe, die zugleich Mathe- matiker seven. Aufser mir? ich bin kein Mathematiker; eben so wenig als ich darum ein Schlösser bin, weil ich mich zuweilen des Hammers und der Feile bediene, wenn ich zu einem bestimmten Gebrauch diese Werk- zeuge nöthig habe, die allein dazu taugen. Beliebe der Herr nur recht bald die Liste der „mehrern sehr hochachtbaren Philosophen in Deutsch- land und in Frankreich, die zugleich Mathematiker sind", anzufertigen, auch sich selbst etwa den. obersten Platz auf dieser Liste anzuweisen, den ich ihm nicht beengen werde. Ich bin noch neugieriger auf die Philo- sophen in Frankreich, als auf die mehr als wenigen Mathematiker in Deutschland, welche da zum Vorschein kommen werden; besonders aber bitte ich, dafs die Liste einerseits den Philosophen, andererseits den Mathe- matikern zum Durchstreichen vorgelegt werde, damit nur die sehr hoch- achtbaren Namen, die vor beyden bestehn können, übrig bleiben. Als- dann können wir weiter überlegen, wie viele wohl mehrere im Gegen - satze von wenigen seyen? und wieviel Grund wohl vorhanden war, [8] mir zu widersprechen, indem ich auf die unleugbare Thatsache aufmerksam machte, dafs sich bey uns Mathematik und Philosophie weit getrennt haben.

Hierüber zur Selbsterkenntnifs zu gelangen, ist dem heutigen gelehrten Publicum höchst nöthig, freylich aber giebt es auch noch andere Puncte, worin die Selbsterkenntnifs heilsam seyn würde; und noch andre Stimmen, aufser der meinigen, die trotz dem Gerede der Schulen frey und offen die Wahrheit sagen.

Folgende merkwürdige Äufserungen stehen im Novemberheft der Jenaischen Literaturzeitung :

„Jedermann weifs, dafs die neueren Entdeckungen in der Physik, Chemie, Astronomie, Naturgeschichte, die Philosophen bald nach Kant veranlafsten, den bisher allgemein sicher geglaubten Weg zu verlassen. Die Philosophie nahm jetzt ein pantheistisches Colorit an, welches sie dem vollendeten Spinozismus sehr ähnlich machte. Hieraus erklärt es sich, wo- her diese Philosophie zu zwey wesentlichen Eigenheiten kam, wodurch sie sich nach Leibnitzen's, Wolf's, Hume's, Kant's Vorgange nicht mehr auszeichnen sollte. Die eine ist, dafs die Bekenner der Naturphilosophie in Sachen der Logik, Psychologie u. s. w. sich einem ähnlichen [9] Schauen und Wahrnehmen zu überlassen pflegen, wie das in der sichtbaren Natur möglich ist; d. h. man pflegt blofse Visionen für baare Wahrheit zu nehmen, ohne streng zu untersuchen, wieviel die Phantasie dabey zum Schaden der Wahrheit Antheil haben könne. Eine zweyte, wo möglich noch kläg- lichere Eigenheit ist das unselige, oder viel armselige Streben nach Tota- lität, das Universalisiren oder Generalisiren , das die begründesten, von den gröfsten Denkern anerkannten Unterscheidungen gänzlich annullirt, und überall ein leeres, nutz- und liebloses ev y.a) nav an ihre Stelle setzt. Man plage sich nur durch ein Produkt dieser Philosophie hindurch, und frage sich alsdann, was man eigentlich dabey gewonnen habe, ob etwas Anderes, als eine Masse von Bildern, die kaum zu Erläuterungsmitteln

Hkrbart's Werke. V. IO

\a6 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.

dienen, geschweige dafs sie poetischen Werth hätten ! Wie wohlthätig für die Bildung des Verstandes, wurden Aristoteles, und in neuern Zeiten Wolf, Baumgarten, Kant; wie wenig dürfte sich aber ernst eine [10] Philo- sophie dieses Svstemes zu rühmen haben, die, das Philosophiren aus und in reinen Begriffen verlassend, - sich in Spielereyen über Dinge verliert, die aufserhalb des Kreises der für uns sicheren Wahrheit liegen! Was das Ende einer solchen Philosophie seyn mufs, liegt der Welt theils schon vor Augen, theils kann man es aus jedem Handbuche der Geschichte der Philosophie ersehen. Sie wird vermöge ihres Hanges zum Dogma- tismus, allmählich in das Gebiet des Positiven zurückkehren, bis zuletzt ein alles zermalmender Skepticismus die Ge- spenster verjagt, und einen heilern Tag vorbereitet." U. s. w. Die Feder, aus welcher diese Worte geflossen sind, ist mir unbekannt; auch bin ich weit entfernt, der ganzen Recension, aus der ich sie entlehne, meinen Beyfall zu geben. Aber was ich ausgezogen habe, das ist wahr, und mufs laut gesagt werden. Denn das Uebel der heutigen unphilo- sophischen Geistesrichtung ist grofs, und liegt tief, daher man sich nach gewissen zarten Ohren, die keinen unangenehmen Ton hören mögen, nicht richten kann. Doch gestehe ich, es ist mir willkommen, [11] dafs ein Andrer als ich, das vorgetragen hat, was die heutige gelehrte Welt sich so ungern sagt, obgleich sie es seit langen Jahren fühlt.

Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der

beyden Electricitäten.

Vorgelesen in der physikalisch-oekonomischen Gesellschaft zu Königsberg,

am 23. Januar 1824.

Sie wollten mir nicht erlauben, höchstgeehrte Herrn! blofs als Zu- hörer Ihren Sitzungen beyzuwohnen; aber Sie werden auch nicht verlangen, dafs ein blofser Liebhaber der Physik den Gegenstand, welchen er berührt, erschöpfen solle; und das um desto weniger, da an eigentliche Vollständig- keit in physikalischen Untersuchungen heut zu Tage selbst die Meister noch nicht denken können.

Hare und Silliman haben neuerlich die Meinung geäufsert: der Kupferpol des Defiagrators sey positiv, der Zinkpol negativ electrisch.1 Wenn ich dies recht verstehe, so ist es derselbe Gedanke, auf den ich durch Versuche, die den eigentlichen Gegenstand meiner heutigen Mit- theilungen ausmachen sollen, bin geführt worden. Meine Meinung will ich, der Deutlichkeit wegen, im Voraus so angeben: Die Franklinsche Lehre scheint, diesen Versuchen zu folge, die wahre; jedoch mit umgekehrter Bedeutung der Worte Plus und Minus.

Erlauben Sie mir zuerst eine kurze einleitende Betrachtung über die jetzt mehr geltende Symmersche Ansicht, wornach zwey electrische Fluida vorhanden seyn sollen, die in ihrer Verbindung mit einander den für uns unbemerkbaren electrischen Stoff ausmachen. So drückt sich selbst Berzelius aus;2 also auch ein so grofser Chemiker fand keine Spur von demjenigen Dritten, was als das Neutrale aus der Verbindung jener beyden Entgegengesetzten entstehen müfste. Um so eher wird es mir erlaubt seyn, zu zweifeln, ob ein solches Neutrales überhaupt existire. Zwar [15] behauptet man, jene Annahme zweyer Flüssigkeiten liefere die ein- fache Erklärung aller Thatsachen. Ganz bestimmt sagen dieses Ampere und Babinet;3 und das erste Merkmal der beyden Flüssigkeiten, welches sie angeben, ist dies: sie sollen sich gegenseitig neutralisiren. Wenn wir uns nun die bekanntesten Thatsachen vergegenwärtigen, von dem Un- gestüm, womit die beyden Electricitäten zu vereinigen pflegen, dem Zer- malmen des Glases, wenn eine geladene Flasche springt, den mannigfaltigen

1 Schweiggkr's Journal für Chemie und Physik, Band 9, Heft 1.

2 Lehrbuch der Chemie, S. 63.

3 Darstellung der neuen Entdeckungen über Electricität und Magnetismus; gleich im Eingange.

IO*

tj.8 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.

Zerstörungen des Blitzes u. dergl. m., so sollte man auf den Gedanken kommen, die Verwandtschaft jener beyden Flüssigkeiten sey eine der stärk- sten Naturkräfte, die es gebe; es werde demnach sehr schwer seyn, das aus beyden gebildete Dritte zu zerlegen; und jede von beyden werde den Körper, in welchem sie sich befinde, sehr leicht verlassen, wenn es darauf ankomme, mit ihrer entgegengesetzten in Verbindung zu seyn und zu bleiben. Lassen Sie uns mit diesen Gedanken an die Betrachtung des ersten besten Electrometers gehn, um zu erfahren, ob wir die sich dar- bietenden Erscheinungen nun erklären können.

Divergirt das Electrometer : so prüfen wir es mit nahe gehaltenem geriebenen Siegellack; fallen jetzt die Kügelchen zusammen, so sagen wir: die mitgetheilte Electricität, welche das Werkzeug enthält, ist positiv; denn sie läfst sich von der negativen, die vom Siegellack her auf sie wirkt, neu- tralisiren. Nun aber erwarte ich die einmal geschehene Neutralisation werde beharren; die Verbindung so nahe verwandter Flüssigkeiten werde keiner geringfügigen Ursache wegen wieder aufhören. Allein was geschieht? Ich ziehe das Siegellack zurück und das Electrometer divergirt wie Anfangs! Wie soll ich das erklären? Warum verläfst nicht entweder die eine Flüssig- keit das Siegellack oder die andere das Electrometer? Dann könnten sie ja in Verbindung bleiben. Hängt vielleicht doch die Flüssigkeit, die wir negative Flüssigkeit nennen, zu stark am Siegellack? Wohlan! statt des Siegellacks wollen wir den Knopf einer geladenen Flasche aufs Electrometer wirken lassen; dieser ist dafür bekannt, dafs man sehr leicht aus ihm einen Funken ziehen kann, er wird also auch jetzt seine Electricität leicht her- geben, um die entgegengesetzte zu sättigen. So sollte man denken. Aber der Erfolg des Versuchs bleibt wie vorhin. Widersteht vielleicht die Luft? Aber diese weicht beim electrischen Puppen tanze sehr leicht aus; ein mechanisches Hindernils kann sie also für so feine Flüssigkeiten, wie die angenommenen, nicht seyn. Aber in ihr selbst war ohne Zweifel zwischen dem Electrometer und dem Knopfe der Flasche eine Vertheilung vor- gegangen! Recht wohl; alle dadurch entstandenen partiellen Neutralisationen können bleiben, wofern nur die Lufttheilchen , welche dem Knopfe der Flasche die nächsten sind, ihm soviel Electricität abgewinnen, als nöthig ist, um die in ihnen durch die Vertheilung angezogene Flüssigkeit zu sät- tigen. Allein das geschieht nicht. Wo bleibt nun die angenommene, sehr starke, alle andere Verwandtschaften überbietende Kraft, womit [18] die beyden Flüssigkeiten unaufhaltbar zu einander streben?

Auf diese Betrachtungen bin ich eigentlich durch eine Erfahrung von anderer Art geführt worden; die mir die feinen Werkzeuge, welche ich gleich die Ehre haben werde hier vorzuzeigen, nur zu oft darboten. Häufig genug fand ich, dafs meine isolirenden, mit Fimifs überzogenen Träger, an diesen Instrumenten elektrisch geworden waren, wodurch meine Versuche gestört wurden. Ausgehend nun von der Voraussetzung einer vorhandenen Flüssigkeit, die man durch ihre entgegengesetzte sättigen müsse, nahm ich meine Zuflucht zur Electrisirmaschine ; ich liefs einen Strom entgegengesetzter Electricität durch jene Werkzeuge gehn. Aber ich verfehlte meinen Zweck. Anfangs fand ich die Werkzeuge mm be- haftet von einem Residuum der ihnen mitgetheilten Electricität; doch dies

Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electrici täten. 14g

war leicht herauszubringen. Allein dann fand sich der vorige Fehler unver- ändert wieder ein; diejenige Electricität, die ich hatte [19] neutralisiren wollen, schien aus den Winkeln, wo hinein sie sich vor ihrer Gegnerin mochte verkrochen haben, vollständig wieder hervorzutreten. Ist das ein Phänomen, was man bei Voraussetzung einer mächtigen Verwandtschaft zwischen beyden, erwarten mufste ?

Eine andre Thatsache will ich hier sogleich anführen, welche be- weiset, dafs die gangbaren Vorstellungen vom Gegensatze der Electricitäten einer sehr starken Reform bedürfen. Diese Thatsache bietet sich sehr leicht in verschiedenen Formen dar; gleichwohl habe ich sie in den mir bekannten Darstellungen der Electricitätslehre so durchaus nicht erwähnt gefunden, dafs ich in Versuchung gerathen könnte, sie für neu zu halten, wenn nicht mein hochgeehrter College, Herr Professor Wrede, sie schon gekannt hätte, als ich mit ihm davon zu reden anfing.

Man setze eine geladene Flasche (gleichviel ob positiv oder negativ geladen) auf ein, nicht gar zu grofses Isolirbrett. Da die Luft den Knopf nicht vollkommen [20] isolirt, so wird, aus besonderen Gründen, das Brett in wenigen Augenblicken eine schwache, der Ladung entgegengesetzte Elec- tricität annehmen. Jetzt fasse man ein gewöhnliches Goldblatt-Electro- meter an dem metallenen Deckel, von welchem herab die Goldblättchen in dem gläsernen Cylinder hängen. Man sollte glauben, das Electrometer könne so angefafst, unmöglich divergiren, da jede, ihm etwa mitgetheilte Electricität durch die Hand, die mit den Goldblättchen durch Metall ver- bunden ist, verschwinden müsse. Will man es denn wagen, das Electro- meter neben die Flasche auf jenes Isolirbrett zu stellen? Man läuft Gefahr die Goldblättchen zerrissen an den Wänden des Cylinders wieder zu finden, sie divergiren schon bey der Annäherung an das Isolirbrett.

Deutlicher wird dieser Versuch unter einer anderen Gestalt. Um ein Quadranten-Electrometer recht genau zu isoliren, hatte ich es auf der Spitze einer Siegellackstange befestigen lassen, die vertikal [21] auf einem hölzernen Fufse stand. Dies Werkzeug war auf ein Isolirbrett gestellt worden; ich electrisirte das Brett, und berührte zufällig das Electro- meter. Augenblicklich fing es an zu divergiren. Noch mehr: ich suchte ihm durch öftere Berührungen die Electricität zu entziehen, aber dies war nicht eher möglich, als bis zuvor das Isolirbrett von der seinigen war be- freyt worden. Und der wichtigste Umstand ist folgender. Dem diver- girenden Electrometer nähere man den Finger oder einen andern Leiter; statt davon angezogen zu werden, entflieht es vor ihm; und auch diese Repulsion dauert so lange, wie das Isolirbrett seine Electricität behält. Nachdem man es derselben beraubt hat, zeigt sich die gewöhnliche Er- scheinung, Attraction statt der vorigen Repulsion. Auch ist diejenige Electricität, mit welcher das Electrometer divergirt die entgegengesetzte von der, welche man dem Isolirbrette mitgetheilt hatte.

Wenn wir diese Erscheinungen an unsere gewohnten Vorstellungsarten anknüpfen wollen: so sind wir zu allererst [_2 2~\ genöthigt zu sagen: das Electro- meter, obwohl durch die ganze Länge der Siegelstange getrennt von dem elektrischen Brette, auf dem es steht, wird dennoch durch dies Brett in einen solchen Zustand versetzt, vermöge dessen es diejenige Electricität,

j e.Q VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.

womit es divergirt, so vest an sich bindet, dafs sie in keinen Leiter über- gehn kann. Dieser Zustand des Electrometers ist aber nicht selbst Elec- tricität; denn gerade erst dadurch entsteht die Divergenz, dafs man durch Berührung diejenige E. herauszieht, welche der dem Fufsgestelle mitge- theilten gleichartig ist. Also giebt es gewisse Zustände der Körper, welche der Electricität analog sind, ohne sie selbst zu seyn. Ferner: mit diesem seinen Zustande wirkt das Electrometer nicht blofs bindend auf die in ihm enthaltene E., sondern auch vertheilend auf den sich annähernden Finger, der sonst unmöglich aus der Feme auf dasselbe wirken könnte, da er für sich in gar keinem electrischen Zustande sich befindet. Jetzt wollen wir die Beschaffenheit der E. näher berücksichtigen. Es sey [23] dem Fufsgestelle -j- E. mitgetheilt worden. Dadurch geschieht längs der Siegellackstange eine Vertheilung, vermöge deren, wenn sie stark genug wäre, das Electrometer gleichfalls mit + E. divergiren würde. Durch die Berührung nimmt man diese letztern hinweg. Nun divergirt das Elektrometer wirklich, aber mit E. Weil dieses E. gebunden ist, so hängt nicht von ihm, sondern von der noch immer im positiven Zustande befindlichen Masse des Electrometers die Vertheilung ab, die sich in dem angenäherten Finger ereignet. Demnach wird in ihm, nach gewohnter Art zu reden, -f- E. zurückgestofsen, und E. zu dem Electrometer hin- wärts gezogen. Weil aber im Electrometer E. gebunden ist, so ent- steht Repulsion zwischen den beyden Electricitäten, und ihr giebt die Kugel des Electrometers nach, indem sie den Finger flieht. Sobald jedoch das Fufs- gestell von seiner + E. befreyt wird: hört der positive Zustand der Masse des Electrometers auf, und hiermit auch die davon abhängende Vertheilung. Das Electrometer [24] divergirt jetzt wie zuvor; aber in demselben ist nun E. frey; hievon geht die Vertheilung aus; also ist sie in dem Finger jetzt die umgekehrte der vorigen; daher erfolgt Anziehung zwischen dem Finger und der Kugel; diese nähert sich dem Finger und das Electrometer wird entladen.

Sehr merkwürdig ist in diesem Versuche der Umstand, dafs bey ihm die Vertheilung und die Divergenz nicht von einerley, sondern von ent- gegengesetzten Ursachen bestimmt werden. Hinge die Divergenz von dem Zustand der Körpermasse des Elektrometers ab: so müfste sie schon vor- handen seyn, ehe dasselbe berührt wird; ja sie würde dann sich am stärksten zeigen, weil sie durch zwey zusammenwirkende Ursachen hervor- gebracht würde, nämlich zugleich von dem Zustande der Masse des Electro- meters, und von jenem, ihm gleichartigen, + E., das erst durch die Be- rührung herausgezogen wird. Aber von der Berührung verräth das Electro- meter seinen elektrischen Zustand keineswegs; es divergirt erst in dem Augenblicke, wo man es [25] anfafst. Vor der Berührung war das vor- handen, was man Neutralisation der beyden E. durch einander zu nennen pflegt. Erst nach der Berührung, also wenn E. allein zugegen ist, geschieht die Divergenz und die mit ihr gleichartige Repulsion zwischen dem Finger und der Kugel des Electrometers. Nun sollte man erwarten, dafs dieselbe E., welche fähig ist, Divergenz zu verursachen, auch die Vertheilung be- stimmen würde. Aber gerade das ist das Wesentliche des Versuchs, dafs sich hievon das Gegentheil ereignet. Ein Electrometer, welches durch die

Virsuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten. t ^ i

in ihm vorhandene Electrieität die Vertheilung bestimmt, nähert pich alle- mal dem angenäherten Leiter; hier aber sehen wir Repulsion statt Attrak- tion; und eben daraus folgt der wichtige Satz: dafs die Masse des Körpers, welcher die in ihm enthaltene E. gebunden hält, selbst im Stande ist, die Vertheilung zu bestimmen.

[26] Es war mir interessant, zu wissen, wie weit sich wohl dieser Zustand der Körpermasse möchte erstrecken können, und ob eine merkliche Zeit nöthig wäre, ihn hervorzubringen. Um dies näher kennen zu lernen : stellte ich auf ein Isolirbrett ein zweytes, und auf dieses ein drittes, beyde etwan einen Fufs hoch. Jetzt setzte ich die geladene Flasche auf das unterste; ein Goldblatt- Electrometer aber auf das oberste. Die Flasche war äufserst schwach ge- laden. Ich zog aus ihrem Knopfe den Funken. Dadurch erhielt das unterste Brett die entgegengesetzte Electrieität. Jetzt war das Electro- meter durch beyde isolirenden Stative, und noch durch seinen eignen Glas- cylinder von dem electrisirten Brette entfernt; und man sollte denken, es wäre hiedurch aus aller Gemeinschaft mit demselben gesetzt worden. Allein sobald ich die oberste metallene Deckplatte, von wo die Gold- plättchen herabhängen, anfafste: zeigte sich auch die Divergenz. Doch war diese Wirkung [2 7] schwächer, wenn drey, als wenn nur zwey Isolirbretter auf einander gestellt wurden. Die Wirkung nimmt also zwar ab, wenn die Entfernung wächst, aber eigentlich scheint sie durch Leiter und Nicht- Leiter ins Unendliche fortgepflanzt zu werden; wenigstens habe ich eine Verschiedenheit von Zonen, oder dergleichen, die man wegen der bis- herigen Vorstellun^sarten etwa denken möchte, nicht bemerken können. Indessen wird der Versuch mancher Wiederhohlung bedürfen, wenn er durch alle möglichen Abänderungen soll verfolgt werden. Aber auch manche andere Versuche möchten nun einer neuen Beleuchtung bedürfen, in die sich ein Zustand der Körper, welcher der Electrieität analog ist, wird eingemischt haben, ohne dafs man darauf geachtet, und bey den theoretischen Erklärungen die nöthige Rücksicht darauf genommen hätte.

[2 8] Freylich giebt es manche Erscheinungen, die uns auf den Gedanken bringen können, die Electrieität wandere nur auf der Oberfläche der Körper umher, ohne mit der innern Beschaffenheit derselben in irgend eine Ge- meinschaft zu treten; und diese Meinung, welcher Biot geneigt zu seyn scheint, wird besonders durch den Umstand begünstigt, dafs ein und der- selbe Körper, wenn seine glatte Oberfläche nur rauh gemacht wird, oft ganz veränderte electrische Verhältnisse zeigt. Allein es scheint mir, der angeführte Versuch müsse die Vorsicht unseres Urtheils über diesen Punkt noch vermehren. Indessen kehre ich jetzt zu den Erfahrungen zurück; und nehme mir die Freyheit, zuerst ein paar Worte über die Werkzeuge zu sagen, die ich hier vorzeige.

[31] Sie sehen hier zwar Nichts, als den bekannten Multiplicator, und Condensator. Allein bey der Einrichtung sind einige kleine Veränderungen angebracht.

Jedermann weifs, dafs die Wirkung des Multiplicators auf der soge- nannten Vertheilung beruht. Eine isolirte Metallscheibe ist electrisirt; dicht neben ihr geht in einer parallelen Ebene eine andre vorbey, deren Rückseite eine ableitende Metallfeder streift; indem sie nun vermöge der

I?2 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.

Vertheilung die entgegengesetzte Electricität von jener erstem angenommen hat, verläfst sie die Feder; und da sie an einer sich drehenden Axe isolirt bevestigt ist, wird sie nach einem halben Umlaufe einer dritten Metallplatte zugeführt, der sie ihre Electricität abgeben kann. Aber diese dritte Metallplatte steht ebenfalls auf einer isolirenden Glassäule, überdies dient sie als Condensator-Deckel, indem ihr parallel und ganz nahe eine vierte Platte, ohne Isolirung aufgestellt ist. Daher kann man durch öftere Umdrehungen jener Axe, die nämliche Vertheilung nach Belieben wieder- hohlen; und so erhält man eine Art von Vervielfältigung, nicht derjenigen Electricität, die man will kennen lernen, sondern der durch sie bey jeder neuen Umdrehung von neuem erregten entgegengesetzten. [32] Die Conden- sation wird alsdann aufgehoben, indem die vierte jener Platten auf einem Schieber beweglich, welchen man nur nöthig hat hinwegzuziehn, damit die angesammelte Electricität sich in dem, mit der dritten Platte verbundenen Electrometer offenbare.

Untersucht man jedoch dies sinnreich erfundene Instrument genauer: so sieht man bald, dafs die Multiplication eigentlich nur eine Summirung von Gliedern ist, deren Gröfse sich vermindert und sehr bald unmerklich wird. Denn die dritte Platte nimmt der zweyten nur so lange und in so fern die durch Vertheilung entstandene Electricität ab, wie ihre Capa- cität, verbunden mit dem Grade der Condensation, es zuläfst. Die zurück- stofsende Wirkung der schon angesammelten Electricität müfste vermindert, und beseitigt werden, wenn man das Instrument verbessern wollte. Als- dann aber könnte man füglich statt einer zweyten Platte, worin die Ver- theilung geschieht, ihrer so viele nehmen, als sich bequem an einer Axe bevestigen, und genau genug in einer Ebene herumführen lassen.

Dem gemäfs habe ich mir zwey Multiplicatoren verfertigen lassen, deren einer vier Scheiben, der andre sechs [33] im Kreise herumführt; zu- gleich sind die Platten, welche den Condensator bilden, beträchtlich ver- gröfsert. Allein hieraus hätte eine neue Unbequemlichkeit entstehen können. Je gröfser der Condensator, desto mehr zerstreut sich die Elec- tricität. Daher hat mein Electrometer noch einen zweyten, ganz kleinen Condensator, der aus der gröfseren Platte, die ich vorhin als die dritte zählte, nach Oeffnung des ersten Condensatörs die Electricität anzieht und verdichtet. Und mit diesem zweyten Condensator ist das Electrometer um seine Axe beweglich. Folglich kann man, nachdem der erste Conden- sator seine Electricität an den zweyten abgab, diesen wiederum von jenem entfernen, und dann die Umdrehung der Axe mit Erfolg wiederhohlen. Endlich steht neben dem ersten Electrometer mit Hollundermark-Kügel- chen, noch ein zweytes weit empfindlicheres von Goldblättchen, dessen Verbindung mit jenem man durch einen beweglichen Draht nach Belieben bewirkt und aufhebt. Die Wirksamkeit des Multiplicators ist oft unerwartet so grofs, dafs die Goldblättchen zerreifsen würden, wenn sie mit ihm in unmittelbarer Verbindung stünden.

[34] Singer, in seinen Elementen der Electricität, beschuldigt dieses, und die ihm ähnlichen Werkzeuge einer geringen Zuverlässigkeit, indem sie Electricität selbst hervorbrächten. Ich darf hinzusetzen: wenn mein Multiplicator dies thut, so ist er so aufrichtig, es selbst' anzuzeigen, sobald

Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten. 153

man nur nicht vergifst, ihn oft zu fragen. Aber noch mehr: meinen viel- fältigen Erfahrungen zu Folge geschieht dies erstlich nicht so gar leicht, wofern man sich hütet, die Glasstäbe zu berühren; zweytens, bey weitem die gefährlichste Stelle ist der gläserne Träger der ersten Platte, der man die zu prüfende Electricität mittheilt. Dieser Träger nun steht ohnehin auf einem Schieber, daher habe ich mir mehrere solche Träger sammt Platten und Schiebern machen lassen; wird einer electrisch, so nehme ich einen anderen; und das Instrument ist von seinem Fehler befreyt. End- lich, will man den Zustand desselben ganz genau prüfen, so berührt man nach geschehenen Umdrehungen den Electrometer des einen Multiplicators mit der auffangenden Spitze des andern; alsdann zeigt der zweyte das- jenige vergröfsert, was das erste nicht mehr [35] zeigen konnte. Werkzeuge, die man oft gebrauchen will, mufs man ohnehin wenigstens paarweise haben.

Weit kürzer kann ich mich fassen über meine Condensatoren. Es sind Metallplatten, an isolirten Trägern seitwärts bevestigt, die zwischen zwey anderen, nicht isolirten, eingeschlossen werden können; so dafs sie nur durch eine dünne Luftschicht getrennt sind; ohne Anwendung solcher Substanzen, die durch Reiben elektrisch werden könnten. Die Conden- sätion ist also zwiefach vorhanden. Die oberste und unterste Platte können theils geschoben, theils nach gehöriger Entfernung von der mittlem, ge- dreht werden um die Axe, woran sie seitwärts bevestigt sind. Der Be- quemlichkeit wegen ist mit der mittleren Platte, worin sich die Electricität sammeln soll, ein Draht verbunden, worin ein paar Gelenke angebracht sind, und der sich in eine Spitze endigt; so kann man den Condensator leicht mit andern Körpern in Gemeinschaft bringen. Uebrigens läfst sich für den Fall, wo stärkere Electricitäten zum Ausströmen geneigt sind, der Draht sammt der Spitze auch abschrauben.

Den Anfang meiner Versuche mit diesen, oder vielmehr zuerst mit grobem Werkzeugen, habe ich schon bekannt gemacht; in der Meinung, dafs Thatsachen, die einer weitem Prüfung und Verfolgung [36] Anlafs geben können, als Gemeingut zu betrachten seyen.

Hier werde ich davon nur ganz kurz sprechen.

Um zu sehen, ob Phänomene der Voltaischen Electricität schon aus momentaner Berührung isolirter Metallplatten blofs am Rande oder in wenigen Puncten hervorgehn würden: schmolz ich Handgriffe von Siegel- lack an Platten von Kupfer und Zink; und versuchte mancherley Be- rührungen; unter andern auch solcher Platten, die zu Condensator-Deckeln dienten. Durch einige Spuren von Erfolg aufmerksam gemacht, liefs ich mehrere Platten von verschiedenen Metallen mit isolirenden Handgriffen versehen; wurde- nun eine solche Platte auf die Siegellack-Puncte eines metallenen Untersatzes gestellt; so dafs sie mit diesem einen Condensator bildete; wurde sie alsdann mit einer von der andern isolirten Platte am Rande berührt, die letztere femer an den Multiplicator gebracht, und diese Operation einigemale wiederholet: so zeigte der Multiplicator zuvörderst positive Electricität; entledigte man ihn aber derselben, und prüfte man, mittelst seiner, jene erstere Platte, die als Condensator -Deckel gebraucht war, so zeigte er nunmehr negative Electricität an. Gleichen Erfolg er-

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gaben die beyden Platten, wenn man sie [37] umtauschte; stets erhielt der Condensator-Deckel E., und die andere, zwischen ihm und dem Multi- plicator hin und hergetragene, -f- E. Auch war die Wahl der Metalle so gut als gleichgültig. Hieraus schlofs ich damals: die Condensation müsse den Grund ausmachen, dafs eine ihr unterworfene Metallplatte vorzugs- weise negativ electrisirt werde. Allein späterhin wurde ich darauf geleitet zu bemerken, dafs eine sehr schwache, durch meine jetzigen feineren Werkzeuge jedoch leicht zu entdeckende, Electricität der isolirenden Hand- griffe mit im Spiel gewesen sey. Daher vermuthete ich einen electrophorischen Einflufs; der Gegenstand schien nun zu verwickelt, um ihn für sich allein aufzuklären. Andere Versuche führten auf eine neue Spur. Ich wünschte zu wissen, ob eine Menge von Plattenpaaren der Voltaischen Säule, nicht durch einen feuchten Leiter, sondern durch wenige, aber gut leitende Puncte verbunden, wohl Polarität zeisren möchten? Demnach liefs ich Metallknöpfe kommen, von der kleinsten Art, wie wir sie in unseren Tuch- kleidern gebrauchen; drev derselben stellte ich auf ein Voltaisches Platten- paar; [38] darauf legte ich ein neues Plattenpaar, und so weiter; daher die Verbindung der nächsten Plattenpaare blofs in den drev Punkten statt fand, wo das obere durch die unter ihm stehenden Knöpfe getraten wurde. Jetzt versuchte ich mit dem Condensator und Multiplicator die oberste Platte; ich erhielt negative Electricität. x\lsdann prüfte ich die untere Piatte; diese gab nicht die entgegengesetzte, sondern dieselbe Elec- tricität. Ich untersuchte die Mitte meiner Säule; der Erfolg war dersebe; ja ich konnte Verbindungs-Drähte anbringen wo ich wollte, stets lud sich mein Condensator negativ. Die Vermuthung lag nahe, dafs ich zum zweytenmale nach Voltaischer Electricität vergebens gesucht, aber etwas ganz anderes gefunden hatte. Jetzt prüfte ich mit dem Condensator andere Metallmassen; indem ich mit ihnen die an jenem befindliche Auf- fange-Spitze wiederhohlt in Berührung brachte. Jedesmal bekam ich nega- tive Electricität; doch merklicher durch meinen grofsen Condensator als durch den kleinen; und besser aus gröfsern als aus [39] kleinern isolirten Metallmassen. Jedoch zeigten sich Spuren von negativer Electricität auch dann, wann ich die Spitze meines grofsen Condensators wiederhohlt in Wasser steckte, ja selbst wenn ich Glas mit ihr öfter berührte. Noch später bemerkte ich, dafs hiebey auch Wirkungen in kleine Entfernungen stattfinden können, wenn man die auffangende Spitze des Condensators sehr nahe, doch nicht völlig in Berührung bringt mit den Spitzen oder scharfen Kanten anderer Metallkörper. Insbesondre hatte ich zu andern Zwecken ein stark magnetisches Hufeisen auf eine isolirte Glassäule be- vestigen, die Pole aber mit messingenen Fassungen versehen lassen, worin bewegliche Stahlspitzen eingeschroben waren ; wenn ich nun eben diese Stahlspitzen, entweder beyde zugleich oder einzeln, nahe an die Spitze meines grofsen Condensators brachte, und sie während einer Minute etwan in dieser Stellung liefs, so war die negative Electricität zuweilen so stark, dafs man, um sie wahrnehmen zu können, beynahe nicht einmal des Multiplicators bedurft hätte. Die [40] beyden Pole des Magneten machten dabey keinen merklichen Unterschied.

Was soll ich nun aus diesen Versuchen schliefsen? War die Luft in

Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beiden Electricitäten. kc

meinem Zimmer negativ electrisch? Dann hätte man die Metalle durch Berührung davon befreyt; zum Ueberflufs wiederhohlte ich die Versuche in einem andern Zimmer; ich liefs auch, nach Oeffnung des Fensters einen Windstofs auf meine Metallplatten wirken; aber dies änderte Nichts. Ich liefs sogar durch die Electrisirmaschine positive E. im Zimmer ver- breiten ; meine Werkzeuge sogen etwas davon ein ; aber nach wenigen Be- rührungen waren sie davon frey; und nun begannen die vorigen Erfolge von neuem. Gaben die Condensatoren Electricität her? Sie wurden für sich allein vielfältig am Multiplicator geprüft, und zeigten sich rein. Der natürlichste Gedanke, der sich darbietet, ist dieser: da der Conden- sator, so lange er geschlossen ist, die electrische Repulsion vermindert, so wird er einer Repulsion, die von aufsen auf ihn wirkt, nachgeben. Ist nun die Electricität ein Fluidum, welches in einigermaafsen elastischem Zustande sich in andern Körpern befindet, so wird sie aus ihnen in jenen bey der Berührung hinübergehn. Wiederhohlt man die Berührung: so wird sich im Condensator das schon angesammelte Fluidum langsamer gegen den berührenden Körper, als aus diesem gegen jenen bewegen; es wird also kein Gleichgewicht eintreten, wofern die Berührung nicht zu lange dauert, sondern der Condensator wird sich noch mehr anfüllen. Gröfsere Metallmassen werden mehr herbeyleiten, [41] als kleinere, besonders isolirte. Weil aber das, was wir negative E. nennen, sich so beständig und regelmäfsig, als man es bey Versuchen mit schwachen Electricitäten nur irgend erwarten darf, im Condensator einfindet, so wird die negative Elec- tricität selbst jenes in den Körpern vorhandene Fluidum seyn; und wenn wir aus andern Gründen die Symmersche Theorie von zweyen, einander neutralisirenden Flüssigkeiten verwerfen, so werden wir versuchen müssen, ob die Franklinsche, auf die bekannten Phänomene mit der Modifikation pafst, die sogenannte negative E. sey die wahre positive.

Mit diesen Gedanken ging ich nun an die Betrachtung derjenigen Versuche, durch welche man früher schon den Unterschied der beyden Electricitäten zu bestimmen gesucht hat. Zuerst [42] erwähne ich hier der mit Zinnober gefärbten Karte, durch die man die Funken einer geladenen Flasche schlagen läfst. Die Enden der Drähte sollen nicht gerade ein- ander gegenüber, sondern einen Zoll weit von einander abstehen. Alsdann, sagt Singer, zeigt sich der Lauf des Fluidums vom positiven Drahte her durch eine schmale schwarze Linie auf dem Kartenblatte, die sich bis zum Loche erstreckt, und auf der entgegengesetzten Seite durch einen schwarzen ausgebreiteten Fleck, der das durchbohrte Loch in der Nähe des negativen Drahtes umgiebt. Ist nun wohl diese Erklärung richtig? Ein Unterschied der beyden E. ist zwar offenbar vorhanden; allein angenommen, dafs die Electricität von dem sogenannten positiven Drahte komme: so wird sie erstlich gegen den Widerstand der Luft anstreben, und zwar nach allen Seiten; kann sie demnach den Zinnober schwärzen, so wird sie hier einen ausgebreiteten Fleck hervorbringen, den aber Singer nicht am positiven, sondern am negativen Ende bemerkte. Zweytens, an der Seite, woher sie kommt, wird ihre Wirkung, welche es auch sey, sich am stärksten zeigen; denn weiterhin zerstreut sich [43] gewifs etwas von ihr auf der mit Zinnober bedeckten Karte. Also wollen wir

156 VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.

den Punct, wo sie noch ganz gesammelt hervortritt, lieber da suchen, wo wir das Loch finden; und das ist an der negativen Seite. Hier sprang der Funke heraus; er sollte nun gerade zum entgegengesetzten Drahte hinübergehn; dann wäre das Loch in die Mitte gekommen; aber zurück- gehalten von der Luft und angezogen von der Karte, durchbohrte er die- selbe früher, und das Loch findet sich nun näher dem Punkte, wo sich der Funke zuerst erzeugte.

Nicht schwerer, sondern leichter noch erklären sich die andern hierher- gehörigen Versuche. Singer liefs auf ein Flugrad beyde entgegengesetzten Drähte des allgemeinen Ausladers wirken; das Flugrad, sagt er mit Recht, hätte still stehen müssen, wenn zwey Fluide von beyden Seiten her gleich- mäfsig darauf gewirkt hätten. Nun bewegte sich aber das Flugrad, und zwar in der Richtung vom positiven zum negativen Drahte. Also, schliefst Singer, bewegt sich auch das Fluidum in dieser Richtung. Wie? [44] ist denn die Electricität ein Wind, der die Körper vor sich her treibt und fort- reifst? Ich denke, sie zieht die Körper an; und wenn das Flugrad zum negativen Drahte hin ging, so kam eben daher die anziehende Kraft.

Eben so verhält es sich mit der Lichtflamme zwischen zwey Drähten, die zum negativen Drahte hin, nicht, wie man behauptet, geblasen, sondern gezogen wird.

Allein am meisten beschäfftigt die Anhänger der Franklinschen Lehre das elektrische Licht. Dies, sagen sie, kommt sichtbar aus der positiven Seite. Wir wollen die Sache näher ansehn. Eine negativ electrisirte Spitze leuchtet nur mit einem Puncte, oder doch mit einem kleineren Büschel als die positive. Soll ich den Grund angeben? Meiner Meinung nach findet sich derselbe unmittelbar darin, dafs es hier die Spitze selbst ist, welche die Electricität zerstreut. Der leuchtende Punkt ist allemal der, von dem die Strahlen ausgehn. Aber die positive elektrische Spitze? Diese leuchtet nicht, wohl aber leuchten alle die Lufttheilchen, [45] welche dieser Spitze, die man der Wahrheit gemäfs die negative nennen sollte, die Electricität, deren sie bedart, zusenden. Kein Wunder, dafs da viel Licht erscheint, wo viele Luft die Electricität hergiebt; hingegen weniger dort, wo nur eine Spitze ausströmt. Aber man scheint zu glauben, die Elektricität sey selbst der leuchtende Körper! Wie könnte sie doch das? Leuchten erfordert eine Bewegung nach allen Richtungen ringsum. Hingegen die Electricität geht ihren geraden Weg zum nächsten Leiter, den sie antrifft. Sie selbst kann also gar nicht leuchten; wie sie es auch im vollkommenen Vacuo nicht thut. Aber wenn eine Spitze oder ein Lufttheilchen von ihr zu stark, das heifst, über dessen Empfäng- lichkeit, ergriffen und gleichsam glühend gemacht ist : dann mufs ein Theil sich von ihr gefallen lassen, nach allen Richtungen ausgeworfen zu werden; und nun gelangt das elektrische Licht zu unsern Augen. Man hat ge- glaubt, der elektrische Funke sey ein Baum, hervorgewachsen zuerst nnt dem Stamm, dann sich vertheilend in Aeste und Zweige. Aber wir [46] wollen ihn lieber vergleichen einem Strome, der aus vielen Quellen hervorging, und der viele Nebenflüsse in sich aufnimmt. Die Mimdung des Stroms ist da, wo man vorhin glaubte, den Stamm aus dem Boden hervortreten zu sehn.

Versuche und Betrachtungen über den Gegensatz der beyden Electricitäten. 157

[49] Nach dieser Ansicht nun würde sich die Erregung der Electricität in unseren Maschinen sehr einfach so erklären: Durch Reibung wird das Glas zum Schwingen gereizt; bey dieser Veränderung in seiner Cohäsion läfst es sein Electricum fahren, und das leitende Amalgama sammt dem Küssen und der Kette führt sie hinweg. Nach der Schwingung stellt sich vermöge der Elasticität des Glases sein Cohäsionszustand wieder her, und mit ihm die Verwandtschaft zum Electricum, daher es dasselbe dem Conductor entreifst, den wir positiv nennen, aber negativ nennen sollten. Das Glas mufs glatt seyn, weil eine mattgeschliffene Oberfläche durch Reibung nicht zum Schwingen würde gereizt werden. Bey der Berührung zwischen Kupfer und Zink u. dergl. zieht der vollkommnere Leiter das Kupfer etwas vom Electricum des unvollkommnern mit sich hinweg, oder führt es dem feuchten Leiter in den Säulen zu. Flaschen laden sich, wenn durch ihre ganze Masse sich der Zustand fortpflanzt, den eine Seite bekommen hat; das Uebrige ergiebt sich von selbst. Electrometer [48] divergiren, indem sie ent- weder vom mitgetheilten Electricum anschwellen, oder weil es ihnen ent- zogen worden, es aus der Luft, und folglich die Luft selbst, die es nicht fahren läfst, an sich heranziehn, und auf diese Weise gleichsam eine Feder zwischen sich spannen. Die Vertheilung ist nichts als ein Druck des Elec- tricums von der Seite, die dessen mehr besitzt, gegen die andere, wo ein relativer Mangel stattfindet. Wenn wir eine lange Metallstange in die Luft hinaufstrecken, so zieht diese nicht Electricität an, sondern haucht sie aus, dann heifst sie in unserer Sprache positiv electrisch.

Ob diese Ansichten einen Werth haben, mag hier unentschieden bleiben. Allein folgende Umstände sind factisch, und führen zu merk- würdigen Betrachtungen.

Erstlich : mit meinem grofsen Condensator, von fünf vertikal stehenden Platten, 6 Zoll im Durchmesser, deren drey isolirt und verbunden sind, während zwey andre dazwischen tretende zur Verdichtung der Elasticität in jenen Dreyen dienen, und an einer Axe, worauf sie verschoben werden können, bevestigte, ein Werkzeug, das durch Schieben und Drehen sich sehr [49] genau behandeln läfst, mit diesem gewifs viel fassenden In- strumente glaubte ich kleinen isolirten Metallplatten die Electricität der- gestalt entziehen zu können, dafs sie in unserer Sprache positiv electrisch würden. Allein vergebens habe ich nach einem sichern Zeichen hievon gesucht. In allen Versuchen dieser Art war immer nur Eine Electricität, unsre sogenannte negative deutlich zu bemerken, die sich im Condensator einfand. Daher vermuthe ich, dafs hier das Electricum, was die Ober- tläche verliert, sich aus dem Inneren wieder ersetzt; und dies ist mir desto wahrscheinlicher, weil auch nach öfterer Wiederhohlung ein solches isolirtes Metall davon immer ziemlich gleichviel herzugeben scheint.

Zweytens: steht die Spitze meines grofsen Condensators eine kurze Zeit lang über Wasser : so ladet sich auch dadurch der Condensator negativ ; und dies scheint um so mehr der Fall zu seyn, wenn eine Metallstange im Wasser steht. Wieviel Electricität würde nun wohl das Meer, und der feuchte Erdboden, wieviel folglich [50] der ganze Körper der Erde her- geben, wenn überall solch einsaugende Spitzen und Condensatoren vor- handen wären. Weswegen ich aber die Spitzen einsaugend nenne, wird

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aus dem Vorigen noch erinnerlich seyn; deshalb nämlich, weil allen Er- fahrungen zu folge der Condensator in jeder Hypothese als ein Werkzeug mufs gedacht werden, das in sich die electrische Repulsion vermindert, daher nicht abzusehen ist, wie es dazu kommen könnte, einem unisolirten Körper, den seine Spitze nicht einmal völlig berührt, Electricität abzugeben; wohl aber begreiflich ist, dafs es ihm dieselbe abnehmen werde, wenn in diesem Körper die Electricität auch nur die geringste Spannung hat. An- genommen nun, dafs in unserem Falle das Wasser seine Electricität aus- haucht, so wird es dieses in einem freylich weit geringem Grade immer thun. Denn es verhält sich zur Atmosphäre stets einigermaafsen so, wie eine aufgerichtete Metallstange; ist es nun richtig, dafs diese, durch welche wir die Luft [51] positiv electrisch zu finden glauben, eigentlich an die Luft ihr Electricum abgiebt: so wird, in geringerem Maafse, auch die Luft dem Wasser die Electricität abnehmen, die, wie wir gesehen haben, in dem letztem einige Spannung hat. Folglich wird die ganze Atmosphäre eine bedeutende Menge Electricität aus dem ganzen Erdball fortwährend auf- nehmen, vielleicht aber beym Gewitter, und noch öfter beym Regen, den wir negativ elektrisch nennen, wieder zurückgeben.

Doch ich bin weit entfernt, schon jetzt Resultate ziehen zu wollen. Blofs der Deutlichkeit wegen schliefse ich mit dem Satze: es giebt nur Ein Electricum, aber in Hinsicht seiner zwey entgegengesetzte Zustände der Körper; und diese Zustände, indem sie sich durch das Innere der Körper fortpflanzen, geben Anlafs zu den Erscheinungen, um derentwillen man zwey Electricitäten angenommen hat. Ob nun dieser Satz richtig sey, das werden fernere Erfahrungen lehren.

[52] Anhangsweise noch ein paar Worte über den Magneten. Wie alle andre Metalle hat derselbe, gleichviel durch welchen Pol, meinem Con- densator negative Electricität mitgetheilt. Allein ich erhielt positive, wenn ich einem zweyten Magneten ein wenig Eisenfeile dargeboten hatte, und nun wiederhohlt mit einigen von den Borsten, welche die Eisenfeile bekannt- lich bildet, wenn sie am Magneten hängt, über die Spitze des Conden- sators weg gegen die Mitte des ersten Magneten hinfuhr. Doch ist dieser Versuch nicht immer gelungen; und das ist natürlich. Denn man mufs die Spitze des Condensators nahe neben den ruhenden Magneten stellen und mit dem andern, den man in der Hand hält, nahe daran vorbei- streichen, welche Umstände für sich allein negative Electricität erzeugen. Auch weifs ich nichts zur Erklärung dieser Erscheinung anzuführen; und kann nur soviel sagen, dafs meine Erfahrungen weit entfernt sind, mich an Identität von Electricität und Magnetismus glauben zu machen.

Ueber den Gegensatz der beyden Electricitäten. tcq,

•[53] Ueber den Gegensatz der beyden Electricitäten.

Vorgelesen in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg, am . . . l

Sie wollten mir nicht erlauben, höchstgeehrte Herrn! blofs als Zu- hörer Ihren Sitzungen beyzuwohnen; Sie werden auch nicht verlangen, dafs ein blofser Liebhaber der Physik den Gegenstand, welchen er berührt, erschöpfen solle; und dies um desto weniger, da an eigentliche Vollständig- keit in physikalischen Untersuchungen heut zu Tage selbst die Meister noch nicht denken können.

Aus der Zeit, in welcher die Franklinsche Theorie der Electricität am meisten verbreitet war, haben sich die Benennungen : -(- E. und E. bis jetzt erhalten; obgleich die Symmersche Ansicht mehr Beyfall gewonnen, und im Grunde den Begriff von einem negativ - electrischen Zustande der Körper, der ein Zustand des Mangels und Bedürfnisses seyn [54] würde, ver- drängt hat durch die Meinung, negative Electricität sey eben so und in demselben Sinne etwas Wirkliches, wie die positive, und man könne beyde nur gegenseitig, jede als das Widerspiel der andern, charakterisiren. Dafs sehr viele Thatsachen auf diese Vorstellungsart führen, setze ich als bekannt voraus; allein der Deutlichkeit wegen will ich sogleich hinzufügen, dafs mich andre Umstände neuerlich hierüber sehr zweifelhaft gemacht haben. Vielleicht wird es mir gelingen, in diesem heutigen Vortrage Einiges zu Gunsten der Franklinschen Theorie aufzustellen; jedoch mit der Bestim- mung: die sogenannte negative, oder die Harz-Electricität sey die wahre positive, die Glas-Electricität dagegen die eigentliche negative, oder der- jenige Zustand der Körper, worin sie jener ersteren bedürfen, und sie entweder leihen oder an sich reifsen.

Zuvörderst verweile ich einige Augenblicke bei der Prüfung der Lehre von zweyen Flüssigkeiten, wie sie noch ganz neuerlich an der Spitze des Werkes von Ampere und Babinet (Darstellung der neuen Entdeckungen [55] über Electricität und Magnetismus) mit der Behauptung ist gestellt worden: sie liefern zu allen Thatsachen eine einfache Erklärungsart.

Gleich das erste dort angegebne Merkmal ist dies: die beyden Flüssigkeiten sollen sich gegenseitig neutralisiren. Und gleich die erste und gemeinste Thatsache, die jedes Electrometer darbietet, scheint mir da- mit im Widerspruch zu stehen. Das Electrometer sey electrisirt; um zu erfahren, ob positiv oder negativ? halten wir nahe daran etwan geriebenes Siegellack; die Kügelchen fallen zusammen; nun haben wir die Antwort auf unsre Frage; die Electricität nämlich ist positiv. Aber wie fanden wir das? Wir wissen, unser Siegellack versetze die Kügelchen in den nega- tiven Zustand. Gesetzt, dies geschehe durch eine Flüssigkeit, die wir Harz- Electricität nennen können, und sie neutralisire, wie behauptet wurde, die ent- gegengesetzte Flüssigkeit, welche sie antraf: so mufs nach unsern chemischen Kenntnissen vom Neutralisirungs-Procefs jetzt aus der Verbindung beyder Flüssigkeiten im Electrometer ein Drittes entstehn, [56] wodurch die Eigen- schaften verhüllt werden, die vorhin jede der beyden Flüssigkeiten aus-

1 Die Zeitangabe fehlt in der Handschrift.

IÖO VIII. Zwei Vorlesungen. 1824.

zeichneten. Für den Augenblick scheint es auch wirklich so; das Electrometer würde durch jede einzeln genommen, divergiren; allein jetzt bemerkt man in ihm keine Spannung. Nun aber ziehn wir das geriebene Siegellack zurück, und sogleich tritt die frühere Electricität wiederum hervor. Wie ist das möglich ? Hatten nicht beyde Flüssigkeiten sich gegenseitig vermöge ihrer Verwandtschaft vereinigt? Mufs denn das Dritte, welches wir als Product dieser Verwandtschaft betrachteten, nicht beharren; so gut wie jede chemische Verbindung, die einmal zu Stande gekommen, so lange besteht, bis sie durch mächtigere Kräfte zerstört wird ? Wodurch sind denn hier die vereinigten Electricitäten wieder getrennt worden? Etwa durch die An- ziehung der Masse, woraus das Electrometer besteht? Wenn diese An- ziehung stark genug ist, wie hat sie denn vorhin nachgiebig genug seyn können, um die sogenannte Vertheilung in ihrem Innern zu gestatten? Denn man lehrt ja: bey Annäherung des geriebenen Siegellacks werde, noch dazu aus der Ferne! die ungleichartige E. angezogen; die gleichartige zurückgestofsen ; und dies lasse sich der Körper, worin [57] die Vertheilung vor sich gehe, ganz ruhig gefallen. So mächtig also ist die gegenseitige Anziehung der ungleichartigen Electricitäten; gegen sie kommt die Attraction des Körpers nicht in Betracht; und hintennach, wenn nun in dem Electrometer die Vereinigung der beyden Flüssigkeiten wirk- lich geschehen, dann ist dieselbe so wandelbar, dafs sie wie ein Hauch verfliegt, ohne eine Spur zurückzulassen, obgleich gar keine neue Kraft auf sie wirkt. Es scheint mir klar, dafs hiedurch die Vorstellung einer Neutralisation, sobald man einen Augenblick über die Thatsachen nach- denkt, gänzlich zerstört wird. Entweder kommt die Anziehung, welche die Masse des Electrometers ausüben kann, in Betracht, oder nicht. Im ersten Falle mufste bey der Annäherung des geriebenen Siegellacks eine doppelte Wahlverwandtschaft eintreten; die negative E. des Siegellacks band die positive im Electrometer, wodurch beyde neutralisirt wurden; ferner band nun der Körper des Electrometers, die in ihm frey gewordene negative; dann aber mufste dasselbe durch jene positive, die wir als ihm mitgetheilt voraussetzen, fortdauernd divergiren; [56] indem nun die Erfahrung das Gegentheil zeigt, widerlegt sie die Meinung von der Anziehung des Körpers gegen die angenommene Flüssigkeit. Hiemit sind wir auf den zweyten Fall verwiesen. Das aus der Ferne wirkende Siegellack entbindet demnach die im Electrometer vereinigten Flüssigkeiten ihrer gegenseitigen Einwirkung; eine derselben bemächtigt sich nun der, in demselben vorhandenen, mit- getheilten Electricität, und auch jetzt haben wir eine doppelte Verknüpfung, an der nichts wunderbar ist als die Leichtigkeit, womit sie zerstört wird, indem man das geriebene Siegellack wieder entfernt. Zwar möchte Jemand sagen: Das Divergiren des Electrometers rühre nur her von derjenigen Portion der positiven Electricität, die so eben von der negativen des Siegel- lacks war verlassen worden, als wir dies letztere hinwegnahmen. Allein hier erzeugt sich die obige Frage von neuem. Warum denn wird nicht, vermöge der einmal vorhandenen Verbindung, sammt dem Siegellack auch die von demselben schon ergriffene Electricität des Körpers mit fortgeführt? Widersteht etwan die Luft? Doch ist sie beweglich genug, um sogar ldeine Papierblättchen durchschlüpfen zu lassen,

Ueber den Gegensatz der beyden Electridtäten. 161

falls diese [59] einer elektrischen Anziehung unterworfen werden; wieviel leichter mutete ein höchst feines und theilbares Fluidum durch sie hindurchgehn können! Oder spielte hiebey die Luft eine mehr thatige Rolle? War etwan auch in ihren kleinsten Theilen überall vom Siegellack bis zum Electro- meter eine Vertheilung vorgegangen? Vermuthlich ! Demgemäfs wurde in denjenigen Lufttheilchen , die sich dem Siegellack zunächst befanden, ein Quantum positiver Electricität gebunden; und ich frage nun, warum diese nicht in demselben Grade und derselben Art von Verbindung, worin sie einmal ist, dem Siegellack nachfolgt, sobald es vom Electrometer entfernt wird? Alsdann können die übrigen Verbindungen ebenfalls bleiben wie sie sind; und die im Electrometer vorhandene mitgeth eilte Electricität wird die entgegengesetzte, von der sie einmal neutralisirt war, eben so wenig fahren lassen, als irgend eine durch den vorigen Procefs frey gewordne und wieder gebundene sich aus ihrem einmal erlangten Besitze wird vertrieben finden.

Noch auffallender wird dies, wenn wir an die Stelle des Siegellacks etwan den Knopf einer geladenen Flasche setzen; der sehr leicht etwas von seiner Electricität [60] fahren läfst. Könnte bey dem ganzen Vorgange, von dem die Rede ist, irgend eine Kraft, die nach Art der chemischen Verwandtschaften wirkte, ins Spiel kommen: so würde der Knopf, dessen Nähe einmal ein Electrometer zusammenfallen machte, gewifs nicht durch seine Entfernung neue Divergenz hervorbringen ; viel eher würde die mittel- bar oder die unmittelbar mit dem Electrometer in Verbindung getretene Electricität des Knopfs, sich in dem Augenblick, da er zurückbewegt würde, von ihm trennen, um die einmal geschlossenen chemischen Verbindungen nicht zu stören.

Der Einwurf, den ich hier gegen den Begriff der Neutralisation der beyden E gemacht habe, läfst sich leicht allgemeiner vortragen; und be- sonders auf jede vorgebliche Zersetzung der electrischen Flüssigkeiten bey ihrer ursprünglichen Erregung anwenden. Allein ohne mich dabey aufzuhalten, erwähne ich noch eines anderen Merkmals, das auf eine mir unbegreifliche Weise dem Gegensatze der beyden Flüssigkeiten zu- geschrieben wird.

Ampere und Babinet wollen die Bezeichnungen durch Plus und Minus bevbehalten wissen, weil diese Worte in allen Anwendungen der mathe- matischen ....

HEBRAhT's W. rke. V. I I

IX.

MATHEMATISCHER LEHRPLAN

FÜR DIE

REALSCHULEN.

Juni 1824.

[Text nach HR, S. 302 309. ]

1 1

Mathematischer Lehrplan für die Realschulen.

[302] Da ich in Ansehung der Bürgerschule mit Herrn Consistorial- rat Dinter im ganzen übereinstimme und überdies der Meinung bin, dafs der Wert der Schulpläne größtenteils von deren Ausführung und der Beaufsichtigung dieser letzteren abhängt: so glaube ich der mir ge- wordenen Aufforderung durch eine Beilage zu Herrn etc. Dinter's Gut- achten hinlänglich nachzukommen; worin ich nur den Haupt- Gegenstand des Unterrichts in jenen Schulen ins Auge fassen und alles andere als Zusatz zu jenem betrachten werde.

Eine Provinz, deren Wohlstand sehr gesunken ist, darf sich zwar nicht schämen, das Wiederaufblühen desselben bei solchen Schulen, deren Zweck nicht eigentliche Gelehrsamkeit ist, sehr ernstlich zu berücksichtigen. Aber jede Schule mufs ihre Ehre haben, unabhängig von ihrem Nutzen. Sonst giebt sie dem Fleifse keine Begeisterung.

Aus beiden Gründen betrachte ich die Mathematik als den Haupt- gegenstand der Bürgerschule. Keine ehrenvollere Gymnastik des Geistes läfst sich finden; und die Spannkraft, welche sie hervorbringt, ist selbst gröfser als die durch die Sprachen des Altertums; ihr Nutzen aber ist unbezweifelt.

Doch wegen der Einseitigkeit, womit die Mathematik droht, mufs ihr Geschichte, mit manchen ihrer Nebenstudien, zur Seite stehen. Und als erste vorläufige Bedingung des Gedeihens betrachte ich die Voraus- setzung: es sei ein Lehrer vorhanden, der im hohen Grade die Kunst des Erzählens besitze; ja es sollten deren wenigstens zwei sein. Denn die ältesten Schüler brauchen einen derselben; aber schon die [303] jüngsten brauchen einen zweiten; besonders weil nichts so geschickt ist, Kinder, die von verschiedenen Seiten her zusammenkommen, gleichartig zu machen, als ein Strom von Erzählungen, der sie alle gemeinschaftlich fortreifst.

Dies nun vorausgesetzt, und angenommen überdies, dafs Botanik im Sommer und Mineralogie nebst einer wohlbegrenzten Zoologie (ohne unzartes Berühren de^r Geschlechts-Verhältnisse) im Winter, gleich von der untersten Klasse an in Gang gesetzt seien: so mufs aus der Mitte dieser Studien die Mathematik hoch emporsteigen, und ihre Zweige weit verbreiten.

Alles wäre verdorben, wenn man sich hier ein anderes Ziel setzen wollte. Sobald Mathematik über Regeldetri und gemeine Planimetrie hinausgeht, mufs sie ernstlich angefafst werden, damit nicht ein halbes, totes und deshalb unnützes Wissen herauskomme. Das kann leicht be- gegnen; aber auch das Gegenteil läfst sich leisten, wie ich aus Erfahrung weifs. Und besonders eine Schule, worin Mathematik die Gymnastik des

l66 IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824.

Geistes liefern soll, kann und darf sich mit einigen mühselig eingelernten Rechnungsformeln durchaus nicht begnügen.

Höhere Mathematik ist das Ziel, welches man erreichen mufs, nicht um die ganze, höchst abstrakte Wissenschaft, sondern nur eine gründliche Einsicht in diejenigen Lehren darzubieten, welche sich auf Artillerie, Baukunst und Maschinenwesen dergestalt beziehen, dafs sie künftige spezielle Studien zu unmittelbarem Gebrauche vorbereiten und hinlänglich erleichtern können.

Der höhere Kalkül, wiederum nicht in seiner mannigfaltigen Ver- zweigung, sondern nur in seinen allgemeinsten und leichtesten Anfangsgründen (von denen sich aber unzählige fruchtbare An- wendungen machen lassen), ist das Mittel, durch welches man zum Ziele gelangt.

Damit aber meine Behauptungen nicht zu nackt da stehen und nicht die Grenzen einer Schule, die vielleicht keine altern als siebzehnjährigen Schüler haben wird, zu überschreiten scheinen, sehe ich mich genötigt, in einiges Detail über den mathematischen Unterricht einzutreten.

Die Kraft der Jugend mufs frühzeitig dahin gelenkt werden. Dies geschieht im allgemeinen durch vorläufige, grofsenteils empirische Be- schäftigung mit mathematischen [304] Gegenständen. Hierher gehören die Anschauungs- Übungen mit ihren teils ebenen, teils sphärischen, aus Holz, Pappe, oder zum Teil durch Zeichnen auf der Schiefertafel, zum Teil durch künstlichere messingene Werkzeuge dargestellten Dreiecken. Das Wesentliche ist Anschauung s^esrebener mathematischer Formen, besonders im Anfange Schätzung der Winkel, und Beachtung ihrer trigono- metrischen Funktionen (der Tangenten, Sekanten, Sinus, Kosinus), weiter- hin leichte Rechnung, und selbst die einfachsten Formeln der sphärischen Trigonometrie, mit Hilfe eines passenden Werkzeuges beinahe unmittelbar dem Auge dargestellt.

Die Wirkung dieser Vorübungen zeigt sich erst später, wenn der mathematische Unterricht selbst eintritt, durch eine weit stärkere Auffassung und durch ein schnelleres Nachdenken, als unvorbereitete Schüler zu leisten pflegen. Von der Sorgfalt, womit diese Anschauungsübungen geleitet werden, hängt die ganze Bürgschaft ab, dafs der nachfolgende Unterricht gelingen werde. Aber diese Sorgfalt mufs nicht aus Mifsverstand ängstlich werden. Man darf die Anschauungsübungen nicht in die Länge ziehen, als ob jeder Knabe sie pünktlich einlernen sollte. In gemessenem Schritte müssen sie vorübergeführt werden; sie können im ganzen anderthalb Jahre dauern mit Einschlufs des sphärischen Teils; eine beträchtliche Pause mufs in die Mitte fallen, denn die zweite Hälfte ist schon um vieles schwerer wie die erste.*

* Meine sphärischen Anschauungs-Übungen sind nicht gedruckt, obgleich schon mehrmals im pädagogischen Seminar durchgeführt. Auf Verlangen würde ich sie be- kannt machen. l

1 Die sphärischen Anschauungs - Übungen etc. „Anschauungslehre der sphär. Formen" sind von Hartenstein herausgegeben in SW. Bd. XI, S. 234 ff. (nicht Bd. XII, S. 319 wie HR angeben). In vorliegender Ausgabe mit den Akten des pädagogischen Seminars abgedruckt.

IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824. 167

Die zweite Stufe des mathematischen Unterrichts ist sehr bekannt; auf ihr stehen gemeines Rechnen und Planimetrie. Dabei ist nur zu be- merken, dafs diese Planimetrie nicht höher gehalten werden mufs, als jenes; denn in der That sind die feineren Anwendungen der Proportionen (die ich hier unter dem gemeinen Rechnen mit begreife) wohl reichlich eben- so schwer, als die gewöhnliche Geometrie, selbst Stereometrie mit einge- schlossen. — Auf dieser zweiten Stufe darf man nicht eilen; und der Unterricht darin ist längst, im ganzen genommen richtig, geordnet worden, daher ich weiter nichts darüber sage.

[305] Allein jetzt folgt eine dritte Stufe, in Hinsicht deren ich mit dem gewöhnlichen Verfahren durchaus nicht zufrieden bin. Man pflegt nämlich hier entweder eine weitläufige Algebra, oder teils eine ebenso trockene und langgestreckte Lehre von den Kegelschnitten folgen zu lassen, teils sich in die Trigonometrie zu verlieren, ohne zu überlegen, dafs man dem Schüler nunmehr so bald als möglich irgend einen grofsen Gegenstand zeigen mufs, der sich durch mathematische Arbeit den Augen näher bringen läfst. Dabei tritt nun ein unglücklicher Respect, wo nicht eine wahre Scheu, vor der Differential- und Integral-Rechnung hinzu, als wenn beide etwas an sich besonders Hohes, einen eigentlich für sich bestehenden Teil der Wissenschaft ausmachen könnten, Dieses aber ist durchaus unrichtig. Man sollte niemals von Differenzieren anders reden, als so, wie man vom Multiplizieren oder Dividieren spricht; eins und das andere sind Rechnungs-Arten, die gebraucht werden, wo sie passen, und deren man mächtig sein mufs, sobald man irgend einen mathematischen Gegenstand, der über die gemeinen Proportionen hinaus liegt, vollständig in seine Gewalt bringen will.

Was>äuf der dritten Stufe des mathematischen Unterrichts eigentlich vorkommen mufs, das könnte ich Trigonometrie nennen, wenn nicht dies Wort teils zu viel, teils zu wenig ankündigt; ich will mich also ausführ- licher erklären.

Der Natur der Sache nach folgt auf die Begriffe der Proportionen sogleich die Lehre von den Potenzen, wobei die von Wurzeln und Loga- rithmen sich notwendig mit anschliefst. Und auf die gemeine Geometrie folgen die Kurven, oder was dasselbe ist, die räumlichen Symbole der Funktionen, von dem einfachsten angefangen. Hiervon sind eigentlich die Gleichungen des zweiten und der höheren Grade nur spezielle Fälle; und aus der Auflösung derselben eine eigene Wissenschaft zu machen, die man Algebra nennt, ist wiederum nichts als eine äufserliche Verunstaltung der innerlich vollkommen gesunden Wissenschaft.

Indem man nun den Schüler zu den Potenzen, Kurven und Gleichungen führt, mufs man ihm zugleich eine Beschäftigung darbieten, die so schnell als möglich in Anwendung übergeht; und hierzu braucht er die Elemente der Trigonometrie, aber noch nicht den hochgehäuften Vorrat der ana- lytischen Formeln.

[306] Demnach setze ich aus einer Reihe von Lehrsätzen ein kleines Ganzes zusammen, welches dem Schüler die Möglichkeit der Trigonometrie vollständig erklärt und zugleich ihm aus derselben ein Werkzeug macht,

IÖ8 IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824.

das er gebrauchen könne. Hierher gehören * : der binomische Satz ; zuerst nur aus der Kombinationslehre bewiesen für ganze bejahte Exponenten. Dann der Tayl< >r'sche Satz, entwickelt aus der Lehre von den arith- metrischen Reihen, wobei der Beweis aus höchst einfachen Elementen sehr leicht hervortritt; hiemächst Erweiterung des binomischen Satzes durch den Taylor'schen und durch die leichtesten Betrachtungen der Differential- Rechnung auf einem bekannten Wege, alsdann weitere Benutzung des Taylor'schen Satzes zur Aufsuchung der Reihen für Sinus und Kosinus, wenn der Bogen in Länge gegeben ist; ferner Aufsuchung der Bogen für gegebene Anzahl von Graden mittelst der Integration des Differentials

dt

, welches s elbst sehr leicht geometrisch gefunden wird, endlich die

1 j— dt

Lehre von den Logarithmen, gebaut auf den binomischen Satz, indem

X

ex = ^ 1 -f- dx) d-x. entwickelt wird, wobei alles auf deutliche Erklärung von e ankommt, oder, was nahe dasselbe ist, deutliche Erklärung der Gleichung ax=y, wo x und y veränderlich sind. Die Rechnung wird fortgeführt

, . T . du 1 -{- u bis zur Integration von , und zu log. .

0 1 + u ° 1 u

Hierbei ist zu bemerken, dafs nach allen den hier gewonnenen Formeln wirklich einige Rechnungen müssen gemacht werden, z. B. Aufsuchung der natürlichen Logarithmen für alle Zahlen von 1 bis 10 und Berechnung des Sinus und Kosinus von u. s. f. Denn Formeln, nach denen der Schüler wirklich niemals rechnet, sind ein toter Schatz.

Erst nachdem der Schüler auf diese Weise eingesehen hat, wie sich auf hinreichend gebahnten Wegen (denn von mühseligen Umwegen mufs man mit Schülern nicht reden, schon um sie nicht zu verwirren) die Trigonometrie sowohl [307] ihre eigenen Funktionen, als ihre Hilfsmittel, die Logarithmen, verschaffen könne: ist es Zeit, ihn nach den Haupt- formeln zur Auflösung der Dreiecke (die sehr leicht gefunden und erklärt werden) rechnen zu lassen. L'nd nunmehr bedarf er noch einiger weniger Vorkenntnisse aus den leichtesten Grundsätzen der Statik und Mechanik, um eine populäre Astronomie mit seinem Lehrer zu durchlaufen, wozu sich die Briefe von Brandes trefflich eignen, unter der Voraus- setzung, dafs der Lehrer vielfältig über das Buch hinausgehe und Rech- nungen zur Übung einschalte, jedoch ohne sich auf zusammen- hängende mathematische Darstellung einzulassen, die hier viel zu weit- läufig sein und die Erhebung des Geistes, die hier eigentlich beabsichtigt wird, nicht vermehren würde.

Denn die Zeit der Schule ist bekanntlich kurz, der vorerwähnte mathe- matische Unterricht der dritten Stufe braucht etwa ein halbes Jahr, täglich eine Stunde, und ebensoviel jene populäre Astronomie. Um uns zu orientieren, wollen wir diesen ganzen Unterricht auf Sekunda verlegen; so

* Eine vollständige Aufzählung wird man hier nicht erwarten. Ob z. B. und in- wieweit die Stereometrie schon hier, oder erst in Prima Zeit und Platz finde, wird durchgehends von Lehrern und Schülern abhängen, und sich kaum allgemein bestimmen lassen. H.

IX. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824. i6n

kommt auf Tertia das früher erwähnte Rechnen mit Proportionen samt der Elementar-Geometrie, und die untem Klassen haben Zeit genug, um nebst den Anschauungs-Übungen die ganz gewöhnlichen Rechnungs-Arten zu lehren und zu üben. Es bleibt also nur noch übrig, von dem Unter- richte in Prima zu sprechen.

Hier mufs wohl die Bemerkung eingeschaltet werden, dafs eine Bürgerschule nicht Hoffnung hat, die ganze Summe ihrer Schüler bis Prima zu führen. Drückt doch dieser Umstand schon die Gymnasien! Doch haben alsdann die Eltern sich meistens selbst den Nachteil zuzuschreiben, wenn das Angefangene nicht vollendet wird; denn warum lassen sie die Kinder auf dem Gymnasium, wenn sie sie nicht wollen studieren lassen? Sie könnten sie ja auf die Bürgerschule schicken! Allein eben deshalb, weil sich denjenigen Bürgerschülern, die ihren Weg nicht ganz zu Ende fortsetzen, keine andere Lehranstalt, die sie zweck - mäfsiger hätten besuchen können, darbietet, ist es hier die Schule selbst, welche so viel als möglich sorgen mufs, dafs allenfalls schon auf Sekunda ein Stillstand stattfinden könne. Und das wird als ein Neben- Vorteil aus der vorherbezeichneten Anordnung des mathematischen Unter- richts sich auch ergeben. Nämlich die Schüler haben nun [308] auf Sekunda gelernt, mit Logarithmen zu rechnen und mindestens die ebene Trigonometrie zu gebrauchen; sie werden demnach so viel Theorie und Vorübung besitzen, als der gemeine Feldmesser bedarf, wenn nur noch die dazu nötigen speziellen Anleitungen (die nicht gar zu viel Zeit kosten können) insoweit hinzukommen, als man sie von der Schule verlangen wird, und als das Alter von etwa 15 Jahren sie anzunehmen aufgelegt ist. Auch solche, die wegen schwächerer Anlage, oder aus Unaufmerk- samkeit, das Vorgetragene nicht ganz fassen, werden so viel Routine aus den Übungs-Beispielen gewinnen, dafs sie denjenigen ungefähr gleich- zustellen sind, die von den Gymnasien zwar keine gründliche Kenntnifs des Altertums, aber doch manche nützliche Notiz mit hinwegnehmen, die sie späterhin irgendwie zu ihrem Fortkommen benutzen.

Inzwischen können solche Nebenrücksichten nicht Anspruch machen, auf den Hauptplan einzufiiefsen.

Für Prima bleibt der Bürgerschule nun noch der Unterricht in der Mechanik und Statik samt denjenigen Erweiterungen der reinen Mathe- matik, die man dafür zweckmäßig finden wird; wohin teils die Lehre von den kubischen Gleichungen (falls diese nicht schon auf Sekunda Zeit fanden) und teils Übungen in der analytischen Trigonometrie, teils Kenntnis verschiedener Kurven gehören wird. Ausführlicher Vortrag der Lehre von den Kegelschnitten scheint mir nicht passend für die Bürger- schule; es liegt darin zu viel gelehrter Luxus, der ohne Wert ist, wenn keine Anwendung und Fortsetzung hinzukommt. Dagegen braucht die Mechanik manche einzelne Kunstgriffe des Integrierens, welche gelegent- lich, so wie sie nötig sind, können gezeigt werden, ohne dafs man in das System der Integral-Rechnung (wie es in den Abstraktionen der Mathematiker nun einmal existiert) sich einzulassen nötig hätte, welches auch ganz unmöglich sein würde.

Das hohe Ministerium hat einen sehr umfassenden Unterricht in der

IjO X.I. Mathematischer Lehrplan für die Realschulen. 1824.

Naturlehre von der Bürgerschule verlangt. An diesen hohen Befehl schliefst sich nun hier mein Vorschlag an. Naturkunde würde ihrer festesten Punkte und Stützen entbehren, wenn Statik und Mechanik nicht gehörig gelehrt würden, so dafs, wer künftig weiter gehen will, dieser seinen Weg wenigstens vor sich sehe und es als möglich betrachte, darauf fort- zuwandeln. Alles nun, was ich zuvor vom [309] mathematischen Studium gesagt habe, findet hier sein Ziel, wohin es strebte und worauf es be- rechnet war.

Sechs Stunden wöchentlich Mathematik durch alle Klassen, zuzeiten aber noch einige Stunden mehr für besondere Zweige oder Anwendungen ungefähr, doch nicht ganz ein solches Verhältnis der Mathematik, wie der alten Sprachen auf den Gymnasien zu den sämtlichen übrigen Studien, das wird hier ein Gesetz sein müssen, wovon kein Vorwand des künftigen Berufs, als ob derselbe so viel Mathematik nicht brauche mufs dispen- sieren können; gerade so wenig als auf den Gymnasien ähnliche Dispen- sation vom Griechischen und dergleichen erlaubt wird. Denn die Mathe- matik soll ihre beste Wirkung unmittelbar leisten durch Förderung des scharfen Denkens und des Erfind ungsgeistes.

Freilich wird der Gewinn nun noch sehr davon abhängen, ob ein Unterricht in der Physik und Chemie hinzukommt. Ja eigentlich bleibt der wahre WTert einer Schule immer ein Produkt aus der Gesamt- wirkung aller Lehren. Und wenn ich hier blofs den mathematisch-physi- kalischen Teil des Unterrichts betrachtete, so möchte ich dadurch nicht gern den Schein auf mich ziehen, als ob dies Folge irgend einer Vorliebe wäre, indem ich vielmehr das übrige stillschweigend voraussetze, auch noch besonders bemerke, dafs eine Schule, welche (dem hohen Ministerial- Rescript gemäfs) neuere Sprachen sorgfältig lehren soll, nicht unterlassen kann, der neueren Geschichte auf ihren obersten Klassen eine grofse Bedeutung zu geben und überhaupt den abgehenden Schüler, so voll- ständig, wie nur immer sein Alter es erlaubt, in die heutige wirkliche Welt einzuführen.

i. Juni 1824. Herbart.

X.

ZWEI PROMOTIONSREDEN

aus dem Jahre 1824.

I. Zur Promotion von Heinr. Otto Hamann. II. Zur Promotion von Friedr. Ludw. Sieffert.

[Text nach dem Msc. 2382, (1 u. 2) der Königsberger Universitätsbibliothek.]

Maiores nostri in constituendis literarum universitatibus , cum theo- logorum iurisconsultorum, medicorum studia segregassent, hanc nostram artium facultatem, plurimarum rerum varietatem amplectentem, unam tarnen esse voluerunt, eamque non historicam, mathematicam, philologicam, sed philosophicam nominaverunt. Qua in re quid consilii sint secuti, facile apparet. Artium omnium originem et naturam spectabant; philosophiam sciebant iis temporibus ortam, quae historiae lovo nihil fere nisi mythos habuerint, in matheseos primis elementis elaboraverint, de philologia cogi- tare non potuerint; itaque, quam artem cognoverant esse antiquissimam, hominumque studiis primis quaesitam, eam primo loco posuerunt, verum ea lege et conditione, arctissimum illud vinculum, quod cunctis inter sese artibus intercedit, ne laederetur et rumperetur, sed qui mathesi, ant historiae, ant philologiae studeret, idem ut philosophiae operam daret; neve quis philosophum se posse recte dici arbitraretur, nisi rerum sensibus occuren- tium, quarum in rationibus et finibus indagandis versaretur, copiam satis amplam historiae et philologiae ope cognovisset, quantumque in rebus ex- plicandis quantitatum et numerorum iusta observatio et computatio posset, in mathematicorum scholis didicisset.

Ab hisce maiorum institutis sapientissimis aetas nostra haud parum deliexit. Historia ipso temporum fluxu in maximam molem excrevit; ma- thesis hominum acutissimorum diligentia in admirandae altitudinis fastigium esUevecta; philologia. totius antiquitatis portas nobis pandens, in scholis usum habet maxime necessarium; philosophia fata sua conqueritur, quod, quantum augmenti acceptum referat Leibnitzio et Kantio, tantum fere detrimenti ceperit scholastica Wolfii sterilitate et Schellingii ubertate sive, ut rectius dicam levitate vana, et temeraria; ut non mirum sit, reperiri quosdam, qui, etsi in philosophando non fuerint laboriosi, tarnen inter histo- ricos, mathematicos, philologos, dignitatis locum satis amplum se consecuturos esse minime desperent. Itaque iamdudum nobis fuerunt philosophiae doc- tores creandi, quos melius philologiae, historiae, matheseos doctores salu- taremus; summique in philosophia honores iis haud raro conferuntur, qui philosophiam vix primis labris attigerunt. Quam rem etsi multas habere excusationes non diffiteor, tarnen tu, Candidate humanissime, quid de deceat, vide et cura! Piatonis, Aristotelis, Ciceronis libri manibus tuis terantur necesse est, diseipulisque tuis et explicandi tibi sunt et commendandi: quos libros ubiubi evolveris, in summas philosophiae laudes atque in ipsam philo-

I 7 i X. Zwei lateinische Promotionsreden aus dem Jahre 1824.

sophiam incides, ut eam si maxime velles, effugere tarnen non posses. Atque cave putes, temporum nostrorum rationem tarn longe abhorrere ab illa veteris aevi, ut tibi negligenda sint, quae olim optimi ingenii viri sum- mis studiis prosequebantur. Humani generis natura non est immutata; iisdem alimentis indigemus hodie, quibus illi veteres; versamur in eadem natura, premimur iisdem quaestionibus, propositi nobis iidem sunt virtutis labores, aspiramus ad eadem sapientiae praemia. Esse quosdam scio, qui contrarium affirmare audeant: qui tibi non sunt audiendi; mihi vero errores illorum dolendi quidem, neque tarnen nunc temporis refellendi, sed ad- monitionis, in officii mei rationibus positae, finis est faciendus. Ut autem doctorem te pronuntiare possim, prius iuramento solito es astringendus, quod his terminis continetur:

amplecti Te de singulis doctrinae caelestis articulis Universum scrip- turae propheticae et apostolicae consensum et praecipua symbola cum his consentientia : consentire in illud doctrinae genus, quod ex his con- stitutum sub titulo Augustanae confessionis traditum et deinceps in Apo- logia repetitum est, eo intellectu at sensu, qui cum universa scriptura prophetica et apostolica congruit; teque in hac agnita veritate adiuvante gratia Dei permansurum, publicam utilitatem huius Academiae promo- turum animi gratitudinem in illustrem Borussia Principem, in acadenüae huius Professores, et inprimis in Decanum et collegium artisticum debita subiectione et observatione declaraturum nee denuo Magisterii titulum alibi repetiturum esse.

Praestitis praestandis, Ego, J. F. H. Doctor Gottingae a. celeb. Eich- hornio rite promotus ea qua polleo auetoritate, te, Henrice Otto Hamann, examine rigoroso feliciter superato, ob praeclara in philologicis speeimina exhibita Doct. philosophiae creo, ren. procl. eamque dignitatem tibi primus gratulor.

IL

Dignum te esse qui consequaris quod petieris, ordo philosopborum, id est, amplissimi, qui adsunt, prudentissimique viri, et intellexerunt et pronun- tiarunt. Sanxerunt autem maiores nostri, at religione quadam obstringamus eum, cui honores nostros simus delaturi; iuramenti severitatem adhibuerunt, non eo quidem consilio, quasi rem quandam magnam, difficilem, arduam, a novo doctore peragendam spectarent, vel officium aliquod gravius ab illo postul-arent : sed ab hoc promotionis actu omnem levitatem longe abesse voluerunt, iurisque non scripti, et legum a sola ratione profectarum, quibus uti decet doctam civitatem, sensus vividiores excitari curaverunt. Quamobrem meum esse arbitror, ut hoc ipso temporis puncto tali ad te rae convertam oratione, qualem, si unquam andiendus tibi fui, non audire tan tum, sed alta mente debes reponere atque conservare. Philosophiae doctorem te creamus, non ornamenti solum, verum etiam perpetuae admonitionis causa. Notam indelebilem tibi inurimus; ut, cum theologus velis et esse et dici, nunquam obliviscaris, theologiam a philosophia nunquam posse recte segregari. Nam philosophiae proprium est, animos erectos tenere ad cogitandum, alacres ad veritatem investigandam, strenuos in repellendis erroribus vel veteribus vel novis, sinceros et candidos in confitenda ignoratione rerum obscurarum. Theo- logis autem quam multi tendantur laquei, ut paullatim deflectantur ab illo since- ritate, atque, ut auctoritate, necessario quidem ipsis concessa, abutantur ad commovendos perturbandos, offuscandos hominum animos ; hoc neque te fugit, et melius etiam, quam nunc fert aetas tua, procedentibus annis perspicies. Accedat enim necesse est usus vitae ad studia tua : libris deditus fuisti ; homines non libris, sed vita et usu cognoscuntur. Itaque melius, quam potuisti, intelliges, rem maxime salutarem, religionem dico, imbuere homines quos- dam auctoritate tanta, quantam homo vix ferre potest, ut maxima opus sit inte- gritate ne theologo idem accidat, quod pati solent, qui sunt magna potentia, magnis opibus elati atque inflati. Dummodo in medio hoc discrimine col- locatus integritatem tuam poteris tueri et conservare, tibique temperare, ne in dominatione turpissima laudem tibi quaerendam putes : hac lege et conditione gratulor tibi ex animo non hunc tantum, quem iam in eo sum ut tibi conferam, honorem nostrum, sed maiores etiam illos, quos aüquando te consecuturum puto, honores theologicos. Scio sane, philosophiae non cam esse vim, ut possit multorum animos sibi conciliare; fateor, non mul- tis solum, sed omnibus nobis, quotquot sumus, religionis disciplinam esse admodum necessariam; nihil ab hac laude detrahere cupio. Tantum dico, philosophiam tibi aut semper fore colendam, aut, intermissione facta, maion etiam cura recolendam, ut possis in bis, quos nunc excitatos videmus,

176 X. Zwei lateinische Promotionsreden aus dem Jahre 1824.

opinionum fluctibus, et stare cum dignitate, et peragere, quae debentur,

officio et lionestati, atque ita vere de hominum genere et de virorum doc-

torum civitate bene mereri.

Voce iam tibi praeibo, ut solito iure iurando te possis adstringere; quod

his verbis continetur:

amplecti te de singulis doctrinae caelestis articulis Universum scripturae propheticae et apostolicae consensum, et praecipua symbola cum his consentientia : consentire in illud doctrinae genus, quod ex his constitutum et sub titulo augustanae confessionis traditum, et deinceps in apologia repetitum est, eo intellectu et sensu, qui cum universa scriptura pro- phetica et apostolica congruit, et in hac agnita veritate adiuvante gratia Dei te esse permansurum, publicam utilitatem academiae promoturum, animi gratitudinem in illustrissimum borussiae principem, academiae huius professores, et inprimis in Decanum et collegium artisticum debita sub- iectione et observatione declaraturum, nee denuo magisterii titulüm alibi repetturam.

Itaque te, Fridericum Ludovicum Sieffert, ob eximia in philosophicis

speeimina et ceterum ingeniis cultum, ego J. F. H. consentiente ampl.

philos. ordine ea, qua polleo auetoritate, doctorem philosophiae creo,

renuntio, proclamo.

XI.

PSYCHOLOGIE als WISSENSCHAFT

NEU GEGRÜNDET AUF

ERFAHRUNG, METAPHYSIK und MATHEMATIK.

ERSTER SYNTHETISCHER THEIL.

1824.

[Text der Originalausgabe, Königsberg, A. W. Unzer, 1824.]

Citirte Ausgaben:

O = Originalausgabe, Königsberg, A. W. Unzer. 1824, XIV u. 390 S. 8°. SW = J. F. Herbart's Sämmtliche Werke (Bd. V, S. 189 514), herausgegeben von G. Hartenstein.

Herbart's Werke. V. 12

Vollständiger Titel der Originalausgabe:

PSYCHOLOGIE ALS WISSENSCHAFT

neu gegründet auf

Erfahrung, Metaphysik und Mathematik.

Von

Johann Friedrich Herbart

Professor der Philosophie zu Königsberg.

Erster, synthetischer Theil.

Königsberg, 1824.

Auf Kosten des Verfassers und in Commission bey

August "Wilhelm Unzer.

Vorrede.

Die Philosophie stand in ihrer Blüthe zu Kant's und Fichte's Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungsgeiste neue Nahrung dargeboten wird. Damit mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen Strebens, der unglücklicherweise eine zweyte des Schwindels, und eine dritte der Abspannung gefolgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nachkam, aber fürs erste einen Schleyer fallen zu lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet, ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu be- sitzen. Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hoffen, dafs, nachdem die Hülfsmittel gefunden sind, nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu bedienen.

Kant wurde Idealist wider seinen Willen; er hat seine Anhänglich- keit an die Dinge an sich nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit behauptete, sie zu erkennen. Fichte ergab sich dem Idealismus williger, wiewohl auch noch mit einigem Widerstreben; aber ihm geschah es wider seine Absicht, dafs er ein von tausend [IV] Bedingungen umwickeltes Ich zum Vorschein brachte, obgleich er das absolute Ich auf den Thron zu heben gedachte. Ein absolutes Urwesen, Grund der Welt und Grund des Ich, liefs sich Schelling gefallen; er wurde Spinozist vielleicht eben so sehr wider sein Wollen und Meinen, als Kant Idealist gewesen war. Wenn nun die Geschichte der Philosophie diese Ereignisse kurz erzählen will, so wird sie sagen : die Begriffe verwandeln sich den Philosophen unter den Händen unwillkührlich, während sie sie bearbeiten. Wenn aber die Philosophie selbst zu dieser Geschichte hinzukommt: so mufs sie in dem scheinbar zufälligen Ereignifs das Nothwendige, und in den besondern Fällen das Allgemeine nachweisen, was sich in jenen Beyspielen nur un- vollkommen abspiegelt.

Richtige Erkenntnifs dieser nothwendigen und allgemeinen Umwand- lung gewisser Begriffe im Denken, ist das erste Hülfsmittel, welches bisher gefehlt hat.

Mathematische Untersuchungen über den Zusammenhang und den Lauf unserer Vorstellungen sind das zweyte. Die Seelenvermögen waren ein Surrogat, dessen sich bisher nicht blofs die empirische Psychologie, sondern auch Kant bev seinem kritischen Unternehmen bediente. Frever von Vorurtheilen in diesem Puncte zeigte sich Fichte; er wollte zu den Producten des menschlichen Geistes .die Acte des Producirens finden.

12*

j go XL Psychologie als Wissenschaft.

Warum hat man diese nothwendige Untersuchung vernachlässigt? Ohne Zweifel aus zwey Gründen. Erstlich, weil Fichte in dieser Hinsicht wirklich blofs gewollt, aber nichts geleistet hat, auch bey seinem Verfahren nichts leisten konnte; kein Wunder, dafs nun die Fortsetzung unterblieb, da gar kein Anfang gegeben war. Zweytens, weil man sich blenden liefs von der Kehrseite des FiCHTE'schen Unternehmens, näm[V]lich von dem gigantischen Project, aus dem Ich die Welt zu deduciren. Man verliefs zwar das Ich, aber man behielt die weltumspannende Tendenz. Kennen wir denn unsern Standpunct auf dieser Erde noch so wenig, um uns kos- mologischen Träumen hinzugeben? Ist etwa der Himmel noch jetzt für uns eine Kugel, in deren Mitte wir auf einer unermefslichen Ebene vest- stehn? Welt- Ansichten gehören dem Glauben; aber die wahre Philosophie sagt nicht mehr als sie weifs. Und um etwas zu wissen, prüft sie die Anschauungen jeder Art, die ihr gegeben sind, ohne irgend einer unbe- dingt zu vertrauen.

Man wird mich nun fragen, wie denn mathematische Untersuchungen über den menschlichen Geist möglich seyen? Und welchen Gewinn sie bringen? Auf die erste Frage kann nicht die Vorrede, sondern nur ■das Buch antworten; über die zweyte sollen hier einige Worte Platz finden.

Die Psychologie hat einige Aehnlichkeit mit der Physiologie; wie diese den Leib aus Fibern, so construirt sie den Geist aus Vorstellungs- reihen. Und wie dort die Reizbarkeit der Fibern ein Hauptproblem, so ist hier die Reizbarkeit der Vorstellungsreihen gerade das, wovon alle

weitere Erkenntnifs der geistigen Thätigkeiten abhängt. Man wird aber dieses Buch nicht halb, sondern ganz lesen müssen, um hievon unter- richtet zu werden. Dem zweyten Theile dieses Werks, welcher die psycho- logischen Thatsachen auf ihre Gründe zurückführen soll, ist es vorbehalten zu zeigen, dafs die Spannung in den Vorstellungsreihen eben so wohl der Grund der Gemüthszustände, als die Ordnung, in welcher jede Vorstellung auf die übrigen mit ihr verbundenen wirkt, der Grund aller Formen ist, welche wir in unserm Anschauen und Denken bemerken. Aber die Ord- nung beruht hier auf einem Mehr [VI] oder Weniger der Verbindung; die Spannung auf einem Mehr oder Weniger der Hemmung; bey des hängt innig zusammen; jedoch Niemand hoffe davon etwas zu begreifen, wenn er nicht rechnen will. Kann er doch ohne dies Hülfsmittel nicht einmal die Gestalt und die Spannung einer Kette begreifen, wie wollte er die Gestalt und die Wirksamkeit seiner unermefslich vielfach verwebten Vor- stellungen aus ihren Gründen erkennen? Aber gerade so wie eine an zwey vesten Puncten aufgehängte Kette dem gemeinen Beschauer ein gemeines Ding zu seyn scheint, das er gedankenlos ansieht, ohne sich um die ungleiche Spannung, um das Gesetz ihres Wachsens und Abnehmern, um die Abhängigkeit der Krümmung von der Spannung, das heifst, der äufseren Erscheinung des Ganzen von der Wechselwirkung der einzelnen Theile, zu bekümmern : gerade so gedankenlos steht seit Jahrhunderten die empirische Psychologie vor dem Schauspiel, was die von ihr sogenannte Association der Ideen ihr darbietet; sie erzählt, dafs sich die Vorstellungen nach Raum und Zeit associiren; und es fällt ihr nicht einmal ein, dafs alle Räumlichkeit und Zeitlichkeit eben nur die näheren Bestimmungen

Vorrede. I 8 I

dieser Association sind, die in der Wirklichkeit nicht so schwankend vor- handen ist, wie die gangbare Beschreibung davon lautet, sondern mit der strengsten mathematischen Regelmäfsigkeit sich erzeugt und fortwirkt. Wo nun die allerersten Elemente von Kenntnifs der geistigen Natur noch so unbekannt und ungeahndet liegen: da wolle man von Verstand und Ver- nunft doch ja lieber schweigen als reden! Man kennt davon Nichts, als die Aufsenseite; und alles, was vermeintlich darauf gebaut worden, ist nichts als ein Wunsch, der künftig einmal kann erfüllt werden, wenn man erst einen Begriff haben wird von der Arbeit, die dazu nöthig ist.

[VII] Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart klingen für wahrheit- liebende Männer; und es kann dem Publicum nicht unerwartet seyn, welches- so viele Jahre lang Zeuge war vom endlosen Streite der Schulen; viel- mehr wird man hieraus längst geschlossen haben, dafs es allen Partheyen an den entscheidenden Gründen fehlte. Und gerade dieser Umstand ist der Ursprung der Partheylichkeit. Wenn die Mathematiker streiten, so rechnen sie; und die Rechnung bindet dergestalt alle Willkühr, dafs der Versuch jeder Widerrede aufhören mufs. Die Philosophie wird nicht alles berechnen können, aber sie wird grofse Schritte thun können, damit sich in ihr das Gewisse vom Ungewissen sondere; und wenn der Streit der Schulen fortdauert, so wird er sich doch mäfsigen, und nicht mehr, wie jetzt, zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch weit gröfseres Uebel ist, als selbst der lauteste Streit, so lange er mit der Aussicht auf künftige Vereinigung geführt wird.

Hiemit sind meine Ansichten und Gesinnungen hinreichend ange- deutet; besonders wenn man das hinzudenkt, was ich in Ansehung der heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich zu reden ich mich dringend veranlafst finden könnte, hier verschweige, und selbst im Buche nur selten berührt habe; weil ich lieber will, dafs die Knoten sich allmählig lüften und lösen, als dafs sie durch eine heftige Behandlung sich noch mehr zusammenziehn. Aussprechen mufs ich jedoch, dafs während eines vollen Viertel-Jahrhunderts ankämpfend wider Wind und Strom, ich nur mit äufserster Anstrengung meine Richtung habe behaupten können, und dafs ohne die Stütze der Mathematik ich sicherlich hätte unterliegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir ein widerwärtiges Zeitalter in den Weg legte, beruht mein Anspruch auf nachsichtige Be- urthei[VIII]lung von Seiten des competenten Richters, welchem früher oder später mein Werk begegnen wird. Sorgfältige Vergleichung desselben mit meinen früheren Schriften darf ich in Fällen, wo etwas dunkel scheinen möchte, wohl von jedem aufmerksamen Leser erwarten.

Noch ein Wort habe ich zu sagen über den Gang der vorliegenden Untersuchungen in Beziehung auf die Verschiedenheit der Leser. Für Manchen würde es ohne Zweifel bequemer gewesen seyn, wenn ich die Grundlinien der Statik und Mechanik des Geistes gerade zu auf den em- pirischen Boden gestellt hätte. Da es hiebey nur auf die Hemmung unter entgegengesetzten Vorstellungen ankommt, welche sich ziemlich deut- lich unmittelbar in der Erfahrung zu erkennen giebt: so hätte ich recht füglich im Geiste der Mathematiker an ein Gegebenes die Rechnung knüpfen können; man würde mir den Satz: dafs entgegengesetzte Vor-

l82 XI. Psychologie als Wissenschaft.

Stellungen sich zum Theil in ein Streben vorzustellen verwandeln, entweder als Thatsache zugegeben, oder, Falls jemand seiner innern Wahr- nehmung nicht so viel zugetraut hätte (und das wäre allerdings auch bey mir der Fall gewesen), wenigstens die Hypothese gestattet haben, die sich alsdann durch ihre Fruchtbarkeit hätte rechtfertigen müssen. Allein hiemit wäre der geschichtliche Gang meiner Untersuchungen verdeckt worden. Diesen habe ich gerade im Gegentheil ganz offen dargestellt. Von der Untersuchung des Ich bin ich wirklich ausgegangen; die noth wendigen Reflexionen über das Selbstbewufstseyn haben sich von ihrer besonderen Veranlassung späterhin losgemacht; daraus ist ein allgemeiner Ausdruck derselben entstanden, den ich Methode der Beziehungen nenne, und auch für andre metaphysische Grund-Probleme passend gefunden habe; zugleich ergab sich aus jenen Reflexionen [IX] der Begriff des Strebens vorzustellen mit einer solchen Bestimmtheit und Notwendigkeit, dafs nunmehr auch seine Fähigkeit, sich der Rechnung zu unterwerfen, vor Augen lag; und erst viel später (als ich das Lehrbuch zur Psychologie niederschrieb) bemerkte ich, dafs zum Behuf des Vortrags für Solche, die man mit Metaphysik nicht behelligen darf oder will, das nämliche Princip auch als Hypothese konnte dargestellt werden. Wenn sich ein Indi- viduum lange Jahre hindurch auf einer und der nämlichen Linie des Forschens mit möglichster Behutsamkeit fortbewegt: so entsteht daraus für dieses Individuum Ueberzeugung, für Andre zunächst nur eine Thatsache auf dem Gebiete des wissenschaftlichen Denkens, die ihnen rein und voll- ständig, nur von zufälligen Nebenumständen gesondert, mufs vorgelegt werden. Die Thatsache nach ihrer Art zu betrachten, ist ihre Sache; als ihre Pflicht aber kann man ihnen zumuthen, dafs sie dieselbe aufbewahren, und unverfälscht weiter mittheilen, damit sie noch in späterer Zeit von anderen Augen könne gesehen, und vielleicht anders ausgelegt werden.

Nichts verhindert übrigens, dafs jeder Leser sich nach seinem Be- dürfnifs einen Anfangspunct in diesem Buche aufsuche, der ihm bequemer ist, als der meinige. Man kann immerhin die metaphysische Untersuchung über das Ich, fürs erste wenigstens, ignoriren; man kann die Grundlinien der Statik und Mechanik des Geistes gleich Anfangs aufschlagen; es wird nicht gerade schwer seyn, auch hievon ausgehend, das Nachfolgende zu verstehen; und man wird sich hiemit unmittelbar in den Besitz des Vor- theils setzen, den mathematische Entwicklungen durch ihre natürliche Deutlichkeit gewähren.

Eine andre Classe von Lesern kann ich mir denken, die wegen ihrer vorhandenen Angewüh[X]nungen beynahe nur von hinten anfangend sich einen Zugang zu diesen Untersuchungen zu schaffen aufgelegt seyn dürften. Dahin gehören die, welche in ihrem System, und eben deshalb in dessen Gedankenkreise vesthängen; so dafs ein Buch, worin nicht von denselben Gegenständen unmittelbar die Rede ist, die sie zu bedenken gewohnt sind, für sie eine Wüste ohne Ruhepunct ist. Für solche Leser kann ich nicht schreiben! Sollte mir gleichwohl ein Besuch von ihnen zugedacht seyn, so müfste ich bedauern, dafs nicht der zweyte Theil meines Werks zugleich mit dem ersten hat erscheinen können; wäre dies der Fall, so würde es leichter als jetzt geschehen, dafs man sich zuerst bey den An-

Vorrede. 1 83

Wendungen orientirte, und von da rückwärts zu den Granden fortginge. Indessen enthält auch dieser erste Band am Ende Einiges, das für Manche zur Einleitung gehören würde.

Will endlich Jemand versuchen, sich auf meine Schultern zu stellen, um weiter zu sehen wie ich: so darf er wenigstens nicht besorgen, dafs unter mir der Boden einbreche. Denn ich stehe nicht (wie man bey oberflächlicher Ansicht etwa glauben könnte) auf der einzigen Spitze des Ich: sondern meine Basis ist so breit wie die gesammte Erfahrung. Zwar habe ich gesucht, einem einzigen Princip so viel als möglich abzugewinnen; aber außerdem habe ich auch die andern Quellen des menschlichen Wissens benutzt; in welcher Hinsicht meine Einleitung in die Philosophie mag nachgesehn werden. Personen, die aufgelegt waren mir Unrecht zu thun, haben zwar wider den klaren Augenschein, den meine Einleitung darbietet, mich in den Ruf gebracht, als suchte ich einen Ruhm darin, der Erfahrung zu widersprechen; allein nicht alle Nachreden haften; und meine Versicherung wird doch auch einigen [XI] Glauben finden : es sey in der theoretischen Philosophie meine Hauptangelegenheit, die Erfahrung mit sich selbst zu versöhnen. Uebrigens kenne ich die Macht der Vorurtheile; und wenn man aus dem hier vorliegenden Buche eben so deutlich herauslieset, ich sey ein vollkommener Empirist, als aus jenem, ich sey Gegner aller Erfahrung, so werde ich mich darüber nicht mehr wundern, und nicht sehr betrüben. Misdeutung ist für jede neue Lehre das alte Schicksal; und jetzt, da ich diese Blätter aus meinen Händen lasse, darf ich mich ruhig darin ergeben. Bereit fühle ich mich zu dieser Resignation; allein indem ich mir alle Umstände nochmals vergegenwärtige, glaube ich nicht, dafs sie nöthig ist. Deutlich gesprochen habe ich in diesem Buche. Und die Philosophie der letzten zwanzig Jahre ist ein Baum, den man im Grunde längst an seinen Erüchten erkannt hat. Diese Philosophie ist keineswegs das Werk eines Übeln Willens, oder geistloser Köpfe; aber sie ist auch eben so wenig das Werk ächter Specu- lation; sondern das Kind eines Enthusiasmus, der es unterliefe, sich selbst die kritischen Zügel anzulegen. Kant besafs den Geist der Kritik; aber welcher Mensch hat je sein Werk vollendet? Unvollendet blieb das Werk der Kritik. Darum konnte die Philosophie sich mit dem Wissen des Zeitalters, wie es in andern Fächern fortwächst, nicht ins Gleichgewicht setzen. Vergebens sucht man Rath bey altern Zeiten; sie wußten nicht mehr wie wir. Des-Cartes, Locke, Leibniz, Spinoza, selbst Platon und Aristoteles taugen bey uns nur zur Vorbereitung; in noch frühere Zeiten müfsten wir wissentlich hineindichten, was die Documente nicht enthalten. Unsre Mathematiker und Physiker verachten die Philosophie der Zeit, und sie haben nicht Unrecht. Die Kirche weifs, dafs sie auf [XII] einem antiken, und in seiner Art vollkommen klassischen Funda- mente beruht; für die allgemeinen Bedürfnisse der Menschheit ist längst gesorgt. Nicht so für die Angelegenheiten des Wissens und für das, was davon abhängt. Darum wolle man den neuen Versuch gefällig aufnehmen, und ihn sorgfältig prüfen.

Inhalt des ersten Bandes.

Einleitung.

I. Von den verschiedenen Weisen, wie die gemeine Kenntnifs der Thatsachen

des Bewufstseyns gewonnen wird. § I 6. II. Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen, was innerlich wahrgenom- men wird. § 7 9.

III. Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psychologie mit Abstractionen zu behelfen ? §10.

IV. Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Thatsachen des Bewufstseyns zu Principien der Psychologie zu benutzen. § 11 13.

V. Vom Verhältnisse der Psychologie zur allgemeinen Metaphysik. § 14 16. VI. Blicke auf die Geschichte der Psychologie seit Des-Cartes. § 17—22. VII. Plan und Eintheilung der bevorstehenden Untersuchungen. § 23.

Erster, synthetischer Theil.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich, in seinen näch- sten Beziehungen.

Erstes Capitel. Ueber die philosophische Bestimmung des Begriffs vom Ich.

§ 24—26. Zweytes Capitel. Darstellung des im Begriffe des Ich enthaltenen Problems,

nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung. § 27 30. Drittes Capitel. Vergleichung des Selbstbewufstseyns mit andern Problemen

der allgemeinen Metaphysik. § 31 35. Viertes Capitel. Vorbereitung der mathematisch-psychologischen Untersuchungen.

§ 36-40-

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.

Erstes Capitel. Summe und Verhältnifs der Hemmung bey vollem Gegen- satze. § 41—43.

Zweytes Capitel Berechnung der Hemmung bey vollem Gegensatze, und erste Nachweisung der Schwellen des Bewufstseyns. § 44 51.

Drittes Capitel. Abänderung des Vorigen bey minderem Gegensatze. § 52 bis 56.

Viertes Capitel. Von den vollkommenen Complicationen der Vorstellungen. § 57-62.

Fünftes Capitel. Von den unvollkommenen Complicationen. § 63 66.

Sechstes Capitel. Von den Verschmelzungen. § 67 73.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

Erstes Capitel. Vom Sinken der Hemmungssumme. § 74 76. Zweytes Capitel. Von den mechanischen Schwellen. § "JJ 80. Drittes Capitel. Von wiedererweckten Vorstellungen nach der einfachsten

Ansicht. § 81—85. Viertes Capitel. Von der mittelbaren "Wiedererweckung. § 86 93. Fünftes Capitel. Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen. § 94 97. Sechstes Capitel. Ueber Abnahme und Erneuerung der Empfänglichkeit.

§ 98—99- Siebentes Capitel. Von den Vorstellungsreihen niederer und höherer Ord- nungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung. § 100 102.

Einleitung.

[i] Die Absicht dieses Werkes geht dahin, eine Seelenforschung her- beyzuführen, welche der Naturforschung gleiche; in so fern dieselbe den völlig regelmäfsigen Zusammenhang der Erscheinungen überall voraussetzt, und ihm nachspürt durch Sichtung der Thatsachen, durch behutsame Schlüsse, durch gewagte, geprüfte, berichtigte Hypothesen, endlich, wo es irgend seyn kann, durch Erwägung der Gröfsen und durch Rechnung. Dafs die Seelenlehre sich von mehrern Seiten der Rechnung darbietet, diese Bemerkung hat mich auf die Bahn der jetzt vorzulegenden Untersuchungen gebracht; und je weiter ich sie verfolge, um desto mehr überzeuge ich mich, dafs nur auf solchem Wege das Misverhältnifs zwischen unsern Kenntnissen von der äufseren Welt, und der Ungewifsheit über unser eigenes Innere, kann ausgeglichen, nur auf solche Weise der Stoff, welchen Selbstbeobachtung, Umgang mit Menschen, und Geschichte, uns darbieten, gehörig kann verarbeitet werden.

Von den Meinungen derer, die auf innere, auf intellectuale An- schauungen eine Naturlehre gründen, werde ich freilich mich weit entfernen müssen. Ihre Naturlehre ist nicht das passende Gleichnifs für die Psycho- logie; ihre Anschauungen sind der Selbsttäuschung mehr als verdächtig, denn es sind offenbar nur unrichtige Begriffe, die aus speculativen Ver- legenheiten entsprangen; hätte es aber auch mit diesen Anschauungen, als Thatsachen, [2] seine Richtigkeit, so würde dabey noch vergessen oder ver- kannt seyn, dafs alle Anschauung, innere sowohl als äufsere, um sichere Ueberzeugung zu begründen, erst die Probe machen mufs, ob sie sich im Denken halten könne? oder ob sie ein blofser Stoff für Kritik und Um- arbeitung werde, sobald der Denker sie ernstlich angreift? Des leichten Beyspiels, welches die Astronomie uns liefert, indem sie die scheinbaren Bewegungen auf die wahren zurückführt, ist kaum nöthig, zu erwähnen. Um nichts besser werde ich zusammenstimmen mit Denen, welche durch das Dogma von der sogenannten transscen dentalen Freyheit des Willens einen grofsen Theil der psychologischen Thatsachen der all- gemeinen Gesetzmässigkeit entweder geradezu entziehen, oder doch diese Gesetzmäfsigkeit für blofse Erscheinung erklären. Diese häufen irrige An- sichten der praktischen Philosophie auf psychologische Vorurtheile; indem sie die Selbstständigkeit des sittlichen Urtheils mit einer Selbstständigkeit des Willens verwechseln; die Zurechnung, welche den Willen treffen sollte, über ihr Ziel hinaustreiben, und sich dabey in müssige Fragen nach dem Ursprünge des Willens verlieren; endlich das Urtheil mit dem Gebute

l86 XL Psychologie als Wissenschaft.

zusammenschmelzend sich eine praktische Vernunft erfinden, deren Ver- hältnifs zu der theoretischen sie in die unnützesten Streitigkeiten verwickelt. Das Gewebe dieser Täuschungen aufzulösen, ist zum Theil die Sache der praktischen Philosophie, und in so fern mufs ich mich auf eine frühere Schrift beziehen*; damit aber auch die Psychologie von ihrer Seite zu Hülfe komme, mufs erst sie selbst mit vorurtheilsfreyem Geiste bearbeitet werden.

Abweichen mufs endlich von allen Denen, welche die innern That- sachen zu erklären glauben, indem sie sie classificiren , und nun für jede Classe von Thatsafjjjchen eine besondere, ihr entsprechende Möglichkeit annehmen, diese Möglichkeiten aber in eben so viele Vermögen übersetzen; wobey die logischen, zur vorläufigen Uebersicht der Phänomene brauch- baren Einteilungen, wider alles Recht, für Erkenntnisse realer Vielheit und Verschiedenheit ausgegeben werden; und wodurch statt des ächten Systems, der, unter sich nothwendig zusammenhängenden psychologischen Gesetze ein blofses Aggregat von Seelenvermögen herauskommt, ohne Spur einer Antwort auf die Frage: warum doch gerade solche und so viele Vermögen in uns beysammen, und warum sie in dieser, und keiner andern Gemeinschaft begriffen sevn mögen? Die sogenannte empirische Psycho- logie, welche aus solcher Behandlung des Gegenstandes entsteht, ist be- kannt genug, es wird auch noch jetzt hie und da daran gekünstelt, ob- gleich das Interesse dafür sich grofsentheils verloren hat. Hier aber ent- steht ein Kreislauf von Uebeln. Unrichtiges Verfahren siebt schlechten Erfolg; das Mislingen bricht den Muth und hemmt den Fleifs; je nach- lässiger nun gearbeitet wird, desto weniger bessert sich das Verfahren ; und der Irrthum, dessen man längst müde geworden, fährt gleichwohl fort zu täuschen.

Nach den vorstehenden Erklärungen werden Manche dies Buch für immer bey Seite legen; möchten nun die Wenigen, welche noch nicht ab- geschreckt sind, sich zuerst der längst anerkannten, höchsten Wichtigkeit einer ächten Wissenschaft von Uns selbst, von unserem Geiste und Ge- müthe, erinnern! Einer Wissenschaft, die wir im Grunde immer, als ob wir sie schon besäfsen, im Stillen voraussetzen, wo wir von uns etwas fordeni, für uns etwas wünschen, wo wir mit unsern Kräften etwas unter- nehmen, oder daran zweifelnd etwas aufgeben, wo wir im Wissen oder im Handeln oder im Geniefsen vorwärts streben oder rückwärts gleiten. Uns selbst schauen und denken wir in Alles hinein, darum weil wir mit unsern Augen sehen, und mit unserm Geiste den[_|.]ken; in unsern eigenen Zuständen liegt das Glück und das Uebel, welches wir empfinden, und dessen Vorstellung1 wir auf Andere übertragen; nach dem Standpuncte, auf welchem der Mensch steht, richtet sich sein Begriff von Gott und vom Teufel, so wie von der Erde aus und mit irdischen Werkzeugen wir in das Licht der Sonnen und in die Nebel der Kometen hineinblicken. Können wir nun das, was wir in unser Wissen und Meinen selbst hinein- trugen, wieder abrechnen? Und bleibt alsdann noch ein wahrhaft objectives

Nämlich auf meine allgemeine praktische Philosophie.

1 Vorstellungen S\Y.

Einleitung. 187

Wissen übrig? Oder ist die Abrechnung unmöglich, und ist die ganze Welt, die ganze Natur, blofs für uns und in uns? Oder sind wir selbst dergestalt in der Welt, dafs in der Selbstanschauung der Welt auch die Geister der Menschen, wie Theile im Ganzen enthalten sind? Solche Fragen, ohne alle Psychologie zu beantworten, wird wohl Niemand ver- suchen. Dadurch aber, dafs man in die Lehren vom Ich oder von der Weltseele die gemeinen Vorstellungsarten der empirischen Psychologie einwickelt, ohne sie zu verbessern, kommt die Wissenschaft nicht von der Stelle. Und gleichwohl, wo wäre die Wissenschaftslehre oder die Natur- philosophie, die nicht auf der Einbildungskraft, der Urtheilskraft, der Vernunft, dem Verstände, dem freyen Willen, als auf eben so vielen unentbehrlichen Krücken sich gelehnt hätte und einhergegangen wäre? die nicht, obgleich undankbar, dennoch Dienste von der empirischen Psy- chologie angenommen, und dadurch ein mittelbares Bekenntnifs von der Wichtigkeit unseres Gegenstandes abgelegt hätte?

Möchten ferner die Leser, die sich entschlossen haben, mir ernstlich und beharrlich auf meiner Bahn zu folgen, in der Ueberlegung dessen, wornach sie zuerst zu fragen haben, mir zuvorkommen! Dieses aber sind die Principien, die ich zum Grunde lege1, und die Methoden, deren ich mich bedienen werde. Wobey sogleich zu bemerken, dafs hier lediglich von Principien der Er[5]kenntnifs, das heifst, von Anfangspuncten des Wissens die Rede seyn kann; keineswegs aber von Real-Principien, das heifst, Anfangspuncten des Seyns und Geschehens. Denn wie, und ob überhaupt, wir die letztem zu erkennen vermögen? das ist eben die Frage; es ist keine Gewifsheit, von der man ausgehn könnte. Und den Lehren, nach welchen es irgend ein Reales geben soll, das man unmittel- bar und ursprünglich erkenne, steht die Thatsache entgegen, dafs sie be- zweifelt werden, da doch kein Zweifel möglich wäre, wenn durch irgend ein Princip des Wissens geradezu ein realer Gegenstand gewufst würde. Meinerseits benachrichtige ich den Leser, dafs ich alle vorgebliche Identität von Ideal- und Real-Principien schlechthin leugne, und jede Behauptung der Art als einen Schlagbaum betrachte, wodurch der Weg zur Wahrheit gleich Anfangs versperrt wird. Alles unmittelbar-Gegebene ist Erscheinung; alle Kenntnifs des Realen beruht auf der Einsicht, dafs das Gegebene nicht erscheinen könnte, wenn das Reale nicht wäre. Die Schlüsse aber von der Erscheinung auf das Reale, beruhen nicht auf eingebildeten For- men des Anschauens und Denkens; dergleichen Manche in dem Räume und der Zeit, ja sogar in dem Causal-Gesetze, oder noch allgemeiner in einem sogenannten Satze des Grundes zu finden glauben; dergestalt, dafs sie diese Formen für zufällige Bedingungen halten, auf welche nun einmal das menschliche Erkenntnifsvermögen beschränkt sey, während andre Ver- nunftwesen wohl eine andre Einrichtung ihres Denkens haben könnten. Wer dieser Meinung zugethan ist, der verfährt consequent, wenn er die Schlüsse von der Erscheinung auf das Reale für ein blofses Ereignifs in unserm Erkenntnifsverm<">gen hält; der Fehler liegt aber daran, dafs er die Formen des Denkens blofs empirisch kennt, ohne Einsicht in deren innere

1 zum Grunde O („lege" fehlt).

l88 XI. Psychologie als Wissenschaft.

und unabänderliche Nothwendigkeit. Wäre ihm diese klar, so würde er auch richtigen Schlüssen vertrauen; und das Suchen nach einem hohem Standpuncte, auf welchem die einmal er[6]kannte Wahrheit wohl wieder Irrthum werden möge, würde er als eine Träumerey betrachten, deren Ungereimtheit daraus entsteht, dafs die Evidenz des Wachens verloren geht und vergessen wird. Diejenigen, welche auf verschiedenen Standpuncten Verschiedenes wahr fanden, hatten auf keinem richtig gesehen.

Eine zweyte Bemerkung, die gleich hier nöthig scheint, betrifft das Verhältnifs der Principien und Methoden. Beyde bestimmen einander gegenseitig. Nämlich ein Princip soll die doppelte Eigenschaft besitzen, eigene Gewifsheit ursprünglich zu haben, und andere Gewifsheit zu er- zeugen. Die Art und Weise, wie das letztere geschieht, ist die Methode. Daher richtet sich aber auch die Methode nach dem Princip, auf welches- sie pafst; und ihm selbst mufs sie abgewonnen werden. Der Denker, welcher in der Mitte seiner Beschäftigung mit einem (nicht willkürlichen, sondern gegebenen) Begriffe, gewahr wird, dafs dieser Begriff ihm nöthige neue Begriffe an jenen anzuknüpfen, die zu ihm wesentlich gehören;, derselbe findet, und erfindet eben dadurch die Methode, welche zu jenem Begriffe, als dem Princip, gehören wird. Ueber ein solches Verhältnifs zwischen Methoden und den entsprechenden Principien lassen sich all- gemeine Untersuchungen anstellen; aber in der reinen formalen Logik mufs man dergleichen nicht suchen; denn eben weil diese von allem Inhalte der Begriffe abstrahirt, kann sie das Eigenthümliche besonderer Erkenntnifs- quellen, und die besondere Art, wie daraus geschöpft werden mufs, nicht erreichen. Daher kann auch die Frage, wie vieles aus einem einzigen Princip könne abgeleitet werden? nicht durch die allbekannte Bemerkung, dafs zu einer logischen Conclusion wenigstens zwey Prämissen gehören, zurückgewiesen werden. Wer in der Philosophie gute Fortschritte machen will, der mufs sich vor allen Dingen hüten, in der Form seines Denkens nicht einseitig zu werden, und sich keiner beschränkten Angewöhnung zu überlassen. Fast jede Classe von Problemen [7] hat ihr Eigenthümliches, sie verlangt neue Uebungen und Anstrengungen.

Hieraus erklärt sichs, dafs oft die fruchtbarsten Principien lange Zeit ungenutzt liegen bleiben. Man kennt sie in ihrer ersten Eigenschaft, näm- lich dafs sie an sich gewifs sind; aber man ist noch nicht aufmerksam geworden auf die zweyte, vermöge deren sie neue Gewifsheit erzeugen können. Und warum nicht? Weil man die dazu nöthige Methode nicht hat, und die derselben angemessene Geistesrichtung und Uebung nicht besitzt.

Die Gefahr aber, dafs vorhandene Principien ungenutzt bleiben, ist um desto gröfser, je mehr unsre Aufmerksamkeit getheilt wird, je mehr die Menge der Principien uns zerstreut; je unbestimmter sie vor unsern Augen gleichsam herum schweben; endlich je mannigfaltiger wir noch aufser dem speculativen Interesse von ihnen beschäfttigt werden.

In solchem Falle nun sind wir mit den Principien der Psychologie. An ihnen haben wir einen Reichthum, den wir nicht zählen können; ein Wissen, das, wie ein Irrlicht, uns stets begleitet, und stets flieht; eine Ueberzeugung, deren Stärke zwar die gröfste, deren Bestimmtheit aber die

Einleitung. 189

allerlei einste ist; eine Basis von Untersuchungen, welche als Ganzes völlig vest lieo-t, und doch in jedem einzelnen Puncte schwankt; endlich eine Aufforderung zum Nachdenken, die so dringend und auf so mannigfaltige Weise einladend, die mit so vielerley Angelegenheiten unsere Lebens und unserer Geschaffte verflochten ist, dafs wir vor lauter Interesse zu der- jenigen rein speculativen Gemüthsfassung, deren es zur Untersuchung ein- zig bedarf, kaum gelangen können.

Welches sind denn die Principien der Psychologie? Diese Frage hoffe ich mit allgemeiner Zustimmung so zu beantworten: es sind diejenigen Thatsachen des Bewufstseyns, aus welchen die Gesetze dessen, was in uns geschieht, können erkannt werden. Die Thatsachen des Bewufstseyns sind ohne Zweifel die An[8]fangspuncte alles psychologischen Nachdenkens; abgesehen von ihnen, was hätten wir von der Seele zu sagen oder zu fragen? Nun soll auch aus den Principien etwas weiteres erkannt werden; und hier möchte man sich vielleicht nicht mit den Ge- setzen der geistigen Ereignisse begnügen wollen, sondern auch noch Auf- schlufs über das reale Wesen der Seele verlangen. Allein ob dieses er- kennbar sey? wird wohl der Leser das vor der Untersuchung entscheiden wollen? Wir suchen ein speculatives Wissen; also freylich kein blofses Register von Thatsachen, sondern eine gesetzmäfsige Verknüpfung derselben; darüber hinaus grundlose Behauptungen aufzustellen, würde Nichts helfen; ergiebt sich aber auf rechtmäfsigem Wege noch etwas Mehr, so ist dies als eine willkommene Zugabe zu betrachten.

Wenn nun gleich die gegebene Antwort einleuchtend ist, so hat sie doch nur den Werth einer Nominal-Definition. Denn wir sehen noch nicht, ob es denn solche Thatsachen des Bewufstseyns wirklich gebe, die zu Erkenntnifsgründen der aufzusuchenden Gesetze dienen können? Welche es seven? Wie man sie herauswählen könne aus der Fülle der innern Wahrnehmungen? Wie aus ihnen etwas folge, und wie Vieles? Ob man mehrere solche Thatsachen verbinden müsse, oder nicht? Ob man sich aller deren, welche die Würde von Principien behaupten können, noth- wendig bedienen müsse; oder ob sie den mehrern Thoren Einer Stadt zu vergleichen seyen, unter denen man wählen darf, weil jedes den Ein- gang zu der ganzen Stadt darbietet, obgleich vielleicht Eines schneller und bequemer als die andern, uns in den Mittelpunct der Stadt würde gelangen lassen?

Diese Fragen, ohne Zweifel schwer genug zu beantworten, setzen alle schon voraus; dafs man die Thatsachen des Bewufstseyns, so wie die innere Wahrnehmung sie darbietet, wenigstens kenne und übersehe. Aber hat uns die empirische Psychologie auch nur so weit vorgearbeitet? Sie erzählt vom Vorstellungsvermögen, Gefühl[o]verm<">gen, Begehrungsvermögen; sie ordnet diesen Vermögen, als ob es Gattungsbegriffe wären, andere Vermögen unter, zum Beyspiel, Gedächtnifs, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft; ja in dieser Unterordnung geht sie noch weiter, indem sie ein Ortgedächtnifs, Namengedächtnifs, Sachgedächtnifs, einen theoretischen und praktischen Verstand, u. dgl. aufweist. Ist nun wohl hier ein Ende der Unterordnung ? Und ist das Allgemeine, dem etwas subsumirt wird, eine Thatsache? Gewifs nichts weniger; alle Thatsachen sind etwas individuelles,

190 XI. Psychologie als Wissenschaft.

sie sind weder Gattungen noch Arten. Die letztem aber müssen durch eine regelmäfsige Abstraction aus der Auffassung des Individuellen ent- springen. Wie nun, wenn das Individuelle nicht still genug hielte, um sich zu einer regelmäfsigen Abstraction hemigeben ?

Wer auch nur einen Versuch macht, die hier aufgeworfenen Fragen ernstlich zu überlegen: der wird bald inne werden, dafs der Stoff, den wir behandeln wollen, äufserst schlüpfrig ist. Daher können wir diejenigen Untersuchungen, welche den wesentlichen Inhalt dieses Buchs ausmachen, nicht gleich vornehmen, sondern es sind einige vorbereitenden Betrachtungen nöthig. Zuerst über die Auffassung und Benutzung der psychologischen Principien. Femer über das Verhältnifs der Wissenschaft, die wir Psycho- logie nennen, zur allgemeinen Metaphysik Dann werden wir uns in der Kürze an die neuere Geschichte der Psychologie erinnern; und erst am Ende dieser ganzen Einleitung kann über den Plan des Buchs eine nähere Auskunft gegeben werden. Die Leser aber werden gebeten, sich einen ruhigen Schritt gefallen zu lassen; und vest zu glauben, dafs in der Philo- sophie allemal der Weg, den man in scheinbaren Geniesprüngen vorwärts macht, langsam wieder rückwärts gegangen wird.

[IO] I.

Von den verschiedenen Weisen, wie die gemeine Kenntnifs der Thatsachen des Bewufstseins gewonnen wird.

§ i.

Die Thatsachen des Bewufstseyns (unter welchen die psychologischen Principien sich befinden müssen) werden entweder unwillkührlich gefunden, oder sie werden absichtlich gesucht. Man könnte hinzufügen, entweder durch Beobachtung unserer selbst, oder Anderer: allein es ist bekannt, dafs die Aeufserungen Anderer nur mit Hülfe der Selbstbeobachtung ihre Aus- legung erhalten können; daher es rathsam seyn wird, zunächst bey der Selbstbeobachtung stehen zu bleiben.

Die Absicht, unser Inneres wahrzunehmen, kommt zwar im gemeinen Leben nicht gar häufig vor. Desto mehr aber wird man durch psycho- logische Beschäftigungen dazu veranlafst, und selbst angetrieben, indem man den Gegenstand, wovon die Rede ist, unmittelbar auffassen möchte. Aus diesem Grunde wird es hier ganz passend seyn, von der absicht- lichen Betrachtung der Thatsachen des Bewufstseyns anzufangen.

§ 2.

Den Versuch, in sein Inneres zu blicken, kann man jeden Augen- blick anstellen. Immer wird sich etwas finden, woran gerade jetzt gedacht wurde; immer auch ein körperliches Gefühl sich entdecken lassen, wäre es auch nur das, welches mit dem Stehen, Sitzen, Liegen, überhaupt mit der nothwendigen Unterstützung des Körpers verbunden ist. Ferner wird das, woran gedacht wurde, nicht einfach seyn; auf seiner Mannigfaltigkeit wird die Selbstbetrachtung umherlaufen, und es einigermafsen verdeutlichen. Aber nicht nur das Hervorgehobene wird alsbald wieder schwinden; sondern alles, was die innere [i i] Wahrnehmung gefunden hatte, wird sich gar bald verdunkeln, und irgend eine Veränderung in dem Schauspiele sich zeigen. Am gewöhnlichsten ist es die Selbstbeobachtung selber, von der eine neue Gedankenreihe anhebt, die wenige Augenblicke später aufs neue zum Object einer wiederhohltcn Reflexion sich darbietet.

Das eben Beschriebene wird sich mannigfaltig abändern, wenn mitten im Geschafft, in der Leidenschaft, während des Sprechens mit Andern, wir uns selber belauschen. Das Geschafft geräth dadurch ins Stocken und die Leidenschaft mäfsigt sich, und macht gar oft einem Affecte Platz, der aus dem Urtheil über uns selbst entspringt. Das Zuhören bey der eignen

IQ2 XI. Psychologie als Wissenschaft.

Rede hemmt ihr rasches Fortströmen; und es regt sich ein Bestreben, den Gedanken zu concentriren, den die Worte aus einander legen; den Ausdruck entsprechender, ja den Ton der Stimme anklingender zu machen. Will man verhüten, dafs nicht der Zuschauer in die Handlung ein- greife? Will man sich absichtlich gehen lassen; um rein aufzufassen, was von selbst innerlich geschehe? Nur um so eher wird alles, was zu sehen war, sich verdunkeln, und gar bald wird nur noch der Zuschauer sich und sein eignes Warten beschauen. Eine Stunde lang, wohl gar einen Tag lang unablässig und streng sich selbst beobachten, um in jedem Augen- blick den eben vorhandenen inneren Zustand unmittelbar wahrzunehmen: dies könnte als eine der stärksten Selbstpeinigungen denen empfohlen werden, die darin ein Verdienst suchen.

§ 3-

Unabsichtlich ist Jeder sein eigner Zuschauer während seines ganzen Lebens, und eben dadurch gewinnt er seine eigene Lebensgeschichte. Auch bringt er diese Geschichte, und die aus ihr geschöpfte Kenntnifs seiner Person, zu jeder Selbstbeobachtung mit; jene ergiebt das Subject, zu welchem diese nur die Prädicate liefern soll. Und schon aus diesem Grunde kann die absichtliche [12] Selbstbetrachtung niemals reine Resultate liefern; der Beobachter kennt sich, den er kennen lernen will, schon viel zu gut im Voraus.

Die eigne Lebensgeschichte ist jedoch weder eine völlig zusammen- hängende Kenntnifs, noch aus bestimmt begränzten Theilen zusammen- gesetzt. Ihre Parthieen treten durch Anstrengung sich ihrer zu erinnern, oder durch zufällige Veranlassungen, heller und ausführlicher hervor; wie viele aber der übrig gebliebenen Lücken sich noch möchten ausfüllen lassen, das leidet keine genaue Angabe.

Der Faden der Lebensceschiehte ist überdies sehr vielfältig der Faden äufserer Begebenheiten, die in ihrem Zusammenhange mit Interesse be- trachtet wurden, und wozu nur hinterher hinzugedacht ist, dafs man dieses Alles erlebt habe. Wiewohl nun auch die äufsere Begebenheiten innerlich mufsten aufgefafst werden, und alle innere Auffassungen zu den Thatsachen des Bewufstseyns zu rechnen sind: so kann man doch keines- weges behaupten, dafs das Auffassen selbst wiederum innerlich wahrgenommen sey, eben so wenig, als dafs dieses Wahrnehmen des Auffassens abermals Gegenstand einer hohem Wahrnehmung geworden sey, welches ins Unendliche laufen würde! Demnach ist der Gegenstand der Wahrnehmung keinesweges immerfort Wir selbst; vielmehr wird die innere Wahrnehmung häufig durch die äufsere, oder auch durch andere Gemüthsbewegungcn unterbrochen. Ueberdies läfst sich das Eintreten einer erneuerten, also früher erloschen gewesenen, Aufmerksamkeit auf uns selbst, oft genug deutlich wahrnehmen.

§ 4-

Was aber in solchen Zeiten in uns vorging, da wir weder willkührlich noch unwillkührlich auf uns achteten: das erfahren wir sehr häufig aus

Einleitung. j q :>

dem Munde Anderer, oder wir schliefsen es aus den Pioducten unserer eigenen Thätigkeit; und dieses giebt eine dritte Art, wie wir [13] zur Kenntnifs der Thatsachen unseres Bewufstseyns gelangen. Wir sind zum Beyspiel «ine Strecke gegangen; ganz in Gedanken vertieft; aber die Stelle, wo wir uns jetzo befinden, verräth, wie weit unsre Schritte uns ge- tragen haben. Oder wir haben Jemanden die Zeitung vorgelesen, ohne Interesse und Aufmerksamkeit; so wissen wir vielleicht Nichts von mehrern Zeilen, die doch der Zuhörer gar wohl vernommen hat. Oder, mitten im Phantasmen an einem Instrumente sind unsre Gedanken von der Musik abgekommen; und während wir mit ganz andern Gegenständen uns leb- haft beschäfftigen , stört uns ein Anwesender mit Bemerkungen über das was wir so eben gespielt haben. So erfahren wir hintennach, was alles durch unseni Kopf gegangen ist. Es ist hier der Ort, einer Zwev- deutigkeit zu gedenken, an welche der Leser schon kann gestofsen seyn. Thatsachen des Bewufstseyns würden im engsten Sinne nur die innerlich beobachteten seyn. Durch diese Bestimmung des Begriffs wären nicht blofs diejenigen Vorstellungen ausgeschlossen, welche wegen ihrer Dunkel- heit unbemerkt bleiben: sondern auch das active Beobachten, sofern es nicht wiederum in einer höhern Reflexion ein Beobachtetes wird. Aber das active Wissen gehört gewifs mit zum Bewufstseyn, wenn es nicht selbst ein Gewufstes wird. Und die dunkeln Vorstellungen verdunkeln sich so allmählig, dafs das innerlich Beobachtete von dem, was sich der Beob- achtung entzieht, nicht kann scharf abgeschnitten werden. Ueberdies wird Niemand bezweifeln, dafs das Beobachtete mit dem Nicht- Beobachteten in einem unzertrennlichen Zusammenhange fortlaufender Gemüths-Thätigkeit stehe. Daher rechnen wir zu den Thatsachen des Bewufstseyns alles wirkliche Vorstellen; und folglich zu den Arten, sie zu erfahren, auch die Beobachtung der Producte unserer vorstellenden Thätigkeit, sollte auch die innere Wahrnehmung unseres Thuns gemangelt haben.

Bekannte Beyspiele zu häufen, wäre unnütz. Aber [14] desto not- wendiger mufs bemerkt werden, dafs ganze Massen un serer geistigen Thätigkeit uns nicht eher als solche bekannt werden, als bis die Betrachtungen über unser inneres Produciren, von wo die idealistischen Systeme ausgehn, uns darauf führen. Ein Reisender erzählt wohl von dem was er gesehn hat; aber indem er seines Sehens erwähnt, und was er dabey empfunden, beschreibt, fällt ihm nicht ein, \<>n denjenigen Thätigkeiten seines Geistes zu sprechen, vermöge deren er das, an sich intensive, Wahrnehmen, in ein räumliches Vorstellen aus- gedehnter Gegenstände verwandelt hat. Und in unsern Psychologien lesen wir zwar von der Form der Anschauung und des Denkens, welche die gegebene Materie der Empfindungen in sich aufgenommen habe; allein man unterläfst die eben so wichtige als weitläuftige Erörterung, durch welche Stufenfolge die sogenannten reinen Formen des Anschauens all- mählig zum klaren Bewufstseyn gelangen; wie die Unterscheidung be- stimmter Figuren möglich geworden sey; wie das Augenmaafs, wie das rhythmische Gefühl sich ausbilde.

Man kann die Frage, was für eine Bewandnifs es mit den behaup- teten Formen des Anschauens und Denkens haben möge, hier noch ganz Herbart's Werke. V. 13

I Q_|_ XL Psychologie als "Wissenschaft.

unentschieden lassen: gleichwohl steht der Satz vest, dafs in den An- wendungen und dem deutlichen Vorstellen dieser Formen eine Menge psychologischer Thatsachen verborgen liegen, die ohne Zweifel in wesent- lichem Zusammenhange mit den übrigen Thatsachen des Bewufstseyns stehen, und schon deshalb der Aufmerksamkeit der Psychologie keines- weges entgehen dürfen. Allein, sowohl diese, als überhaupt die ganze Classe derjenigen Thatsachen, welche nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern aus den Producten unserer Thätijrkeit erst <resehlossen werden, entfernen sich eben dadurch von der Eigenschaft der Principien; sie sind vielmehr Probleme, welche die Wissenschaft durch Lehrsätze zu lösen hat, und wobey wir uns [15] wohl hüten müssen, den Er- schleichungen T h ü r und Thor zu ö f f n e n !

§ 5- Ueber Beobachtung Anderer, als ein Mittel zur Auffindung psycho- logischer Thatsachen, läfst sich wohl kaum etwas sagen, das nicht in die vorstehenden Erörterungen zurückliefe. Denn, abgesehen von der Frage nach der Glaubwürdigkeit der Zeugnisse, wird alles darauf ankommen, wieviel und wie genau jene Anderen von sich selbst auffassen und erzählen, und wie richtig wir theils ihre Erzählungen verstehen, theils die äufsern Zeichen ihrer inneren Zustände auslegen. Mit ihren eignen Auffassungen nun sind jene in eben der Lage, wie wir mit den unsrigen: um aber ihre Beschreibungen zu verstehen, können wir unsre eignen innern Wahr- nehmungen zu Hülfe rufen. Daher beurtheilt denn auch Jeder die Andern nach sich selbst; und die seitnern Zustände der Leidenschaft oder Be- geisterung, die zarteren Regungen empfindlicher Gemüther, werden von der bey weitem gröfseren Menge der Menschen nicht verstanden.

Die erste Bemerkung, die sich hier aufdringt, ist wohl diese, dafs die Unsicherheit in den, auf dem Wege der Ueberlieferung erworbenen psycho- logischen Kenntnissen, in einem zusammengesetzten Verhältnisse stehe, und deshalb gröfser sey, als bey der Selbstbeobachtung. Denn hier ver- einigen sich die Mängel und die Erschleichungen in der überlieferten Nachricht mit denen in unserer Auslegung, und so laufen wir die Gefahr einer doppelten Täuschung. Sie kann auch noch gröfser werden, wenn die Ueberlieferung durch eine ganze Reihe von Menschen fortläuft, deren Jeder das Seinige hinzuthut. Sollte wohl dieser Fall da statt finden, wo Einer von seiner intellectualen Anschauung redet, und die Tradition davon ihren Weg durch Kopf und Mund verschiedentlich gestimmter Schwärmer nimmt, die Alle in sich selbst wiederfinden wollen, was sie vernahmen?

Zu einer zweyten Bemerkung veranlafst die Neigung [16] einiger Psychologen, bey den seltenen und sonderbaren Erscheinungen der Nacht- wandler und Wahnsinnigen länger zu verweilen, als bey denen, die sich im gewöhnlichen Zustande ereignen; oder auch nur, sich über die Träume und ihre Sprünge mehr zu verwundern, als über den regelmäfsigen Ge- dankengang der Wachenden. Natürlich ist es zwar, dafs aufserordentliche Erscheinungen zuerst die Aufmerksamkeit wecken und auf sich ziehen; allein schon aus der Physik weifs man, dafs von den gewöhnlichsten Be- gebenheiten (z. B. von den Veränderungen des Wetters) die Gründe oft

Einleitung. j <, ^

am tiefsten verborgen liegen. Und in der Psychologie finden sieh die gröfsten Schwierigkeiten eben da, wo man am schnellsten mit einem Worte fertig zu werden glaubt. Ich erinnere nur an das Wort Vernunft; dieses allbekannte Wort, dessen Erklärung gewifs Jeder in seinem eignen Bewufstseyn anzutreffen, behauptet, während er die psychologischen Curiosa meistens bey Andern aufsucht. Es dürfte sich finden, dafs wir nicht so sehr Ursache hätten, die Nachrichten von ungewöhnlichen Gemüths- zuständen zu sammeln. Der Reich thum von Auffassungen, die wir tätlich an uns selbst machen können, ist eben so grofs, als dessen Verarbeituno schwierig und weitläuftig; und in dem Maafse, als wir für die Erscheinungen in uns, die allgemeinen Gesetze erkennen, mufs es uns auch möglich werden, aus den nämlichen Gesetzen viel besser, als aus blofser Ueber- tragung eigner Gefühle, die Gemüthszustände Anderer, selbst in ihren weitesten Abweichungen vom Gewöhnlichen, zu verstehen und zu erklären. So braucht der Astronom nur den Lauf der bekanntesten Planeten auf die Kegelschnitte zurückgeführt zu haben, um seinen Calcul gar bald auch den neuesten und fremdartigsten Phänomenen am Himmel anpassen zu können.

Hiemit leugne ich jedoch keineswegs irgend einer ächten psycho- logischen Beobachtung ihren Werth ab. Für alle Erfahrungen mufs sich irgendwo eine Stelle in den Wissenschaften finden, wo sie willkommen seyn kön[i7]nen. Nur ist ein sehr grofser Unterschied zwischen dem, was am meisten auffällt, und dem, was die tiefsten Untersuchungen fordert- so wie zwischen dem, was am weitesten hergehohlt wird, und dem. was die reichsten, oder die ersten und nöthigsten Aufschlüsse darbietet.

§ ö.

Es kann von Nutzen seyn, wenn der Leser die vorhin o-ewiesenen Wege, wie wir zur Kenntnifs der inneren Thatsachen gelangen, weiter ver- folgen will; besonders um sich Rechenschaft davon zu geben, wie der Vor- rath psychologischer Kenntnisse, den man schon zu besitzen "-laubt aus absichtlicher oder unabsichtlicher Selbst-Auffassung, aus Deutuno- der vorgefundenen Producte eigner Thätigkeit, aus Zeugnissen und aus Beob- achtung Anderer, allmählig sich zusammengesetzt habe. Diese Ueberlegunq- soll nicht auf einen Lehrsatz hinführen; aber sie soll heraushelfen aus dem Glauben an die Abstractionen der Schulen; sie soll das unmittelbare Be- wufstseyn dessen zurückführen, was den Erklärungen von Sinnlichkeit und Verstand, von Begehrungsvermögen und Gefühlvermögen, und wie diese Ge- dankendinge weiter heifsen, eigentlich an ächter Erfahrung zum Grunde lieo-t.

Gesetzt nun, der Vorrath der psychologischen Thatsachen sev bev- sammen: welche Art von R egelmäfsigkeit Iäfst sich im Allgemeinen an ihnen erkennen oder doch vermuthen ? Dies ist die erste Frage der speculativen Psychologie.

13'

IQ 6 XL Psychologie als Wissenschaft.

IL

Von einer allgemeinen Eigenschaft alles dessen, was innerlich

wahrgenommen wird.

§ 7-

Erinnert man sich der Veränderlichkeit des Schauspiels, was die ab- sichtliche Selbstbeobachtung antriftt, [18] ohne es in einerley Zustande vesthalten zu können, und überdies der Abwechselungen in einander über- fliefsender Gemüthslagen, welche den Stoff unserer eigenen Lebensge- schichte ausmachen: so zeigt sich Alles als kommend und gehend, als schwankend und schwebend; mit einem Worte, als etwas, das stärker und schwächer wird.

In jedem der eben gebrauchten Ausdrücke liegt ein Grüfsenbegriff. Also ist in den Thatsachen des Bewufstseyns entweder keine genaue Regelmäfsigkeit , oder sie ist durchweg von mathematischer Art; und man mufs versuchen, sie mathematisch auseinanderzusetzen.

Warum ist dies nicht längst unternommen worden? Darauf könnten die älteren Zeiten, sich entschuldigend, antworten : die Mathematik sey, vor Erfindung der Rechnung des Unendlichen, noch zu unvollkommen gewesen. Allein folgende Bemerkungen sind allgemeiner.

§ 8.

Erstlich: die psychologischen Gröfsen sind nicht dergestalt gegeben dafs sie sich messen liefsen; sie gestatten nur eine unvollkommne Schätzung. Dies schreckt ab von der Rechnung; jedoch mit Unrecht. Denn man kann die Veränderlichkeit gewisser Gröfsen, und sie selbst, in so fern sie veränderlich sind, berechnen, ohne sie vollständig zu bestimmen; hierauf beruht die ganze Analysis des Unendlichen. Man kann ferner Gesetze der Grüfsenveränderung hypothetisch annehmen, und mit den berechneten Folgen aus den Hypothesen die Erfahrung vergleichen. Sind die einzelnen Erfahrungen wenig genau, so ist dagegen ihre Menge in der Psychologie unermefslich grofs, und es kommt nur darauf an, sie geschickt zu benutzen. Uebrigens werden wir keiner Hypothese bedürfen, sondern auf einem vesten Wege der Untersuchung diejenigen Voraussetzungen finden, deren Kreis zum Behüte der Psychologie mathematisch durchlaufen werden mufs.

Die Schwierigkeit des Messens kommt daher fürs Erste nicht in Betracht; aber wichtiger ist das Folgende.

[19] § 9- Zwcytens: Gerade das Schwanken und Fliefsen der psychologischen Thatsachen, welches eine mathematische Regelmäfsigkeit derselben im Allgemeinen vermuthen läfst, erschwert gar sehr den Anfing der Unter- suchung. Denn hiezu sind veste, genau bestimmte und begränzte Prin- zipien die erste Bedingung; was aber soll man aus jener allgemeinen S< hwankung dergestalt herausheben, dafs man es mit Sicherheit gesondert

Einleitung. T g y

betrachten könne? Mufs man nicht fürchten, Zusammengehöriges aus- einander zu reifsen, und Bruchstücke eines unheilbaren Ganzen als selbst- ständig zu behandeln? Man sagt z. B. vom Menschen: er habe Ver- stand und Willen; man handelt in den Psychologien zuerst vom Er- kenntnifs vermögen, dann vom Begehrungsvermögen. Wie wenn man von einem Dreyecke sagte: es habe Seiten und Winkel? und wenn man dem gemäfs die Trigonometrie in zwey Abschnitte zerlegen wollte, deren einer von den Seiten, der andere von den Winkeln handele ? Wer bürgt uns dafür, dafs unsre Psychologien weniger ungereimt seven, als eine solche Trigonometrie seyn würde? Stehen nicht vielleicht diejenigen Thatsachen des Bewufstseyns, die wir zu trennen pflegen, durch gewisse unbemerkte Mittelglieder in eben so genauer Beziehung, als Seiten und Winkel im Dreyecke ?

Diese Betrachtung müssen wir erst weiter führen, ehe von Principien der Psychologie, und von deren wissenschaftlicher Behandlung die Rede seyn kann.

III.

Weshalb sind wir so geneigt, uns in der Psychologie mit Ab-

stractionen zu behelfen?

§ 10.

In andern Wissenschaften ist die Abstraction ein absichtliches Ver- fahren; wobey man weifs, was man zu [20] rücklegt, und warum man anderes hervorhebt. Die Reflexion hält gerade diejenigen Begriffe vest, unter welchen gewisse merkwürdige Relationen statt finden; und nachdem dieselben untersucht sind, steht es der Determination frev, die gesetz- mäfsige Anwendung davon auf den Umfang der Begriffe zu machen. In der Psychologie sind dagegen unsre Aussagen von dem innerlich Wahr- genommenen schon unwillkührlich Abstractionen, ehe wir es wissen, und sie werden es noch immer mehr, je bestimmter wir uns darüber erklären wollen.

Sie sind schon Abstractionen, ehe wir es wissen. Denn die genaue Bestimmung des Fliefsenden unserer Zustände (durch Ordinaten, zu denen die Zeit als Abscissenlinie gehören würde,) fehlt schon, indem wir dieselben zum Object unsers Vorstellens machen. Sie verliert sich immer mehr, je länger wir die Erinnerung an ein innerlich Wahrgenommenes aufbehalten wollen. Sie verfälscht sich, je mehr wir uns anstrengen, sie vest zu halten; denn eben dadurch mischt sie sich mit dem übrigen Vorrathe unserer verwandten Vorstellungen.

Aber auch je bestimmter wir uns darüber erklären wollen, desto weiter kommen wir ab von der Wahrheit dessen, was eigentlich wahr- genommen wurde, und desto tiefer gerathen wir in die Abstractionen hinein. Aus einem zwiefachen Grunde.

Erstlich, je mehr wir uns bemühen, recht getreulich nur Das zu berichten, was wir erfahren haben: desto lieber verschweigen wir Alles

Iq8 XI. Psychologie als Wissenschaft.

was wir nicht genau bemerkten, was wir nicht gewifs verbürgen können; wir heben demnach nur das Gewisseste heraus. Daher lassen wir in der Erinnerung an die inneren Wahrnehmungen absichtlich los von dem, dessen Schwankung wir fühlen, dessen bestimmte Angabe wir nicht zu erreichen hoffen. Was wir übrig behalten, ist ein Abstractum. Dies Verfahren herrscht sichtbar in allen Psychologien. Die Verfasser derselben sprechen z. B. recht gern vom Gedächtnifs; denn dafs es überhaupt ein | solches gebe, [21] daran zu zweifeln fällt ihnen nicht ein; jeder Mensch mufs ja unzählige Thatsachen dafür anführen können! Aber schon von den nächsten Arten, welche der Gattung: Gedächtnifs, untergeordnet sind, als von dem ' Ortsgedächtnifs, dem Namengedächtnifs, dem Zahlengedächtnifs, dem Gedächtnifs für Begriffe und Lehrsätze, für Urtheile und Schlüsse, für die Empfindungen während des Denkens, Ueberlegens und Beschliefsens, für das Wünschen und Wollen, für das was man gethan oder gelitten hat: hievon getrauen sich die Psychologen nicht, uns viel zu sagen. Warum denn nicht? Doch wohl nicht darum, weil das Gedächtnifs schon beym niedem Vorstellungsvermögen abgehandelt wird, und es an diesem Orte in den Büchern ein vgtgov tiqmxsqov seyn würde, schon auf Begriffe, Ur- theile, Schlüsse, auf Fühlen und Wollen, Rücksicht zu nehmen? Denn hieraus würde blofs folgen, dafs die Stellung der Lehre vom Gedächtnifs eine Veränderung erleiden müsse. Aber daran liegt der Fehler, dafs beym genauem Eingehn auf das Specielle, und auf die einzelnen Thatsachen, sich das Gedächtnifs nicht so bequem würde losreifsen und abgesondert als eine eigene Seelenkraft hinstellen lassen; indem in jedem einzelnen Falle sich eine Menge von schwer zu bemerkenden, und noch schwerer zu beschreibenden, daher gern mit Stillschweigen übergangenen Neben- umständen geltend machen, die theils auf das erste Auffassen, theils auf das Merken, theils auf das Verknüpfen mit andern Vorstellungen, theils auf den Vorsatz des Behaltens und das Interesse des Gegenstandes, theils auf die Zeit, während welcher das Gemerkte noch vor dem ersten Ver- schwinden im Bewufstseyn gegenwärtig blieb, theils auf die Gemüthszustände in der Zwischenzeit bis zur Reproduction selbst, ihre Geschwindigkeit, Lebhaftigkeit und Treue, Einrlufs gehabt haben, und die bey jenen Arten des Gedächtnisses sehr verschieden zu seyn und zu wirken pflegen. Der Erste, der dies Alles gehörig in Erwägung zieht, und da[2 2]bey mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu Werke geht, wird finden, dafs die vermeinten Nebenumstände die Hauptsache sind, und dafs von dem sogenannten Gedächtnifs nichts als der leere Name übrig bleibt.

Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise zum Beispiel dienen können. Ueberall werden die obersten Gattungsbegriffe mit der gröfsten Dreistigkeit hingestellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Specielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen ; und doch ist es eben dies, worauf in einer empirischen Wissenschaft Alles ankommt! Oder hat schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Einbildungs- kraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in Staats- männern, in Feldherren, äufsere? Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der Logiker unterscheide ? Welche Abstufungen die Ver- nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Erwachsenen, bey

Einleitung. jgg

Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey Bauern, Handwerkern, und bey den hohem Ständen? Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft, zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegungen erhalten haben, dafs kaum noch etwas Gemeinsames übrig bleibt, erinnert mich, fort- zugehen zu dem zweyten Grunde, der uns in den psychologischen Ab- stractionen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.

Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen sie auch ge- braucht werden zur Erklärung dessen was in uns vorgeht. Aber je weniger von den nähern Bestimmungen der Thatsachen in den Begriffen jener Ver- mögen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung. Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entstehen unbeantwortliche Fragen über das Causalverhältnifs der Seelenvermögen unter einander, wodurch sie beym Zusammenwirken eins in das andere eingreifen, und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern, oder veranlassen, oder nöthigen. Jede solche Frage, in[23]dem sie mit einem Geständnifs der Unwissenheit endigt, bringt den Schein hervor, als liege eine dunkle, unübersteigliche Kluft zwischen den Seelenvermügen, die nun gleich Inseln aus einem un- ergründlichen und unfahrbaren Meere herausragen. Was Wunder, wenn man es endlich müde wird, um das Zusammenwirken der Seelenvermögen sich zu bekümmern; wenn man vielmehr sich darin gefällt, die weite Trennung derselben durch recht grofse Unterschiede des einen Vermögens vom andern, deutlich zu beschreiben? Und hierin hat man es in der That weit gebracht. Die Seelenvermögen scheinen in ein/em wahren bellum omnium contra omnes begriffen zu sevn.

Die Einbildungskraft sich selbst überlassen, erschafft Phantome; aber die Sinne verscheuchen sie; doch manchmal auch lassen sie sich von jener bethören, so dafs wohl gar Gespenster mit Augen gesehen werden. Starkes Gedächtnifs findet sich bey schwachem Verstände, und umgekehrt; die Ausbildung des einen läfst Nachtheil besorgen für das andere. Nocli weniger Friede hält der Verstand mit den Sinnen; er entdeckt ihren Trug, er zeigt, dafs die Sonne still steht, und das Ruder auch im Wasser ge- rade ist; er erblickt einfache Gesetze, wo die Sinne lauter Unordnung sahen. Nicht besser vertragen sich Verstand und Einbildungskraft; er findet sie thöricht und flatterhaft, sie ihn unbehülflich und trocken. Besser als beyde dünkt sich die Urtheilskraft; der Verstand wufste nur die Regel, sie erst erkennt das Rechte und Wahre mit Bestimmtheit im Einzelnen. Aber die Vernunft erscheint; sie schwingt sich auf zum Uebersinnlichen, Unendlichen, zur eigentlichen Wahrheit, während alle jene auf dem Boden der Erscheinungswelt kriechen. Bey diesen Streitigkeiten bleiben Gefühl und Begehrungsvermögen nicht müssig. Die letzte Entscheidung über Wahrheit und Irrthum behauptet am Ende das Gefühl; insbesondere spricht es bald für, bald wider den Verstand; der doch seinerseits gegen die Einmischungen des Gefühls in seine Untersuchungen sich nachdrück- lich ver[24]wahrt. Die Begierden bedienen sich des Verstandes, wo er ihnen nützlich seyn kann, aber sie verweisen ihm seine difficiles nugas, seine brodlosen Künste. Er will von ihnen nicht gestört, am wenigsten

verblendet seyn; doch er mufs weichen oder fr < 'ihnen, da sogar die Ver- nunft sich ihrer kaum erwehren, und das Vernünfteln der Leidenschaften

2oo XI. Psychologie als Wissenschaft.

nicht verhindern kann. Die ästhetische Urtheilskraft kämpft wider die Sinnenlust; und sie vertheidigt zuweilen die Einbildungskraft wider den Verstand. Aber die Vernunft pflegt ihr zu widersprechen, und das Schöne mit dem Häfslichen in den Rang blofser Erscheinungen zurückzustellen. Unser eignes Ich ist der Kampfplatz für alle diese Streitigkeiten! Ja es ist selbst die Gesammtheit aller dieser streitenden Partheyen!

Wird man dieses im Ernste glauben? Und doch stützt sich alles

zuvor Gesagte auf bekannte Thatsachen. Die Frage ist blofs, ob eine wirkliche Vielheit von Kräften, die mit einem beharrlichen Daseyn in uns bestehen und wirken, und einander bald helfen, bald anfeinden, aus den Thatsachen solle geschlossen werden? Ob man immer fortfahren wolle, dem augenscheinlich flüssigen Wesen aller Gemüthszustände Trotz zu bieten: und, je mehr dieselben jeder Auffassung in harten und starren Formen widerstreben, desto hartnäckiger und eifriger ihnen dergleichen aufzudringen? Unseres Wissens hat die bisherige, auch die neuere und neueste, Psychologie, durchaus nichts anderes geleistet, als immer neue, vergröfserte, schärfer gezeichnete Spaltungen und Gegensätze unter den vermeinten Seelenkräften. Jedoch, unsere Philosophen fangen schon an sich zu entschuldigen, wenn sie aus Noth, wie sie meinen, und weil man sich doch müsse ausdrücken können, von Seelenvermögen reden; sie wollen es schon nicht Wort haben, dafs sie wirklich und im Ernste jene Trennungen vorgenommen hätten; sie verehren die unbekannte Einheit aller jener Vermögen. Damit haben sie nun zwar an wirklicher Kennt- nifs der Seele noch nichts gewonnen, und die eigentliche [25] Physik des Geistes mag wohl so bald noch nicht neben der falschen Freyheits- lehre der neuem Zeit aufkommen können; doch sind die Zeichen vor- handen, dafs die alten Götter nicht mehr lange bestehen, und dafs ihre Orakel bald verstummen werden. Denn in der That ist es, beym Lichte besehen, nicht so sehr übler Wille, noch unbeugsames Vorurfheil, sondern es ist Ungeschick, und Mangel an Kenntnifs der Möglichkeit einer bessern Auffassung der Thatsachen, was der bessern Psychologie im Wege steht. Unsre Philosophen smd nicht Mathematiker; darum kennen sie nicht die Geschmeidigkeit, womit die mathematischen Begriffe sich dem Fliefsenden anpassen; vielmehr pflegen sie sich bey den mathematischen Formeln etwas recht Steifes, Starres und Todtes zu denken; in diesem Puncte aber kann man ihre Unwissenheit lediglich bedauern.

IV.

Allgemeine Angabe des Verfahrens, um Thatsachen des Bewufst- seyns zu Principien der Psychologie zu benutzen.

§ ".

Wollten wir schon hier einen bestimmten, schmalen, systematischen Pfad anzeigen, auf welchem man in die Psychologie eingehn könne: so würde dem nächsten und dringendsten Bedürfnifs nicht Genüge gesehehn.

Einleitung. 20 1

Dieses Bedürfnifs besteht darin, eine richtige Ansicht im All von der Umwandlung zu fassen, welcher unsre Vorstellungsart mufs unter- worfen werden ; und es rührt her von der Menge der psychologischen Abstractionen, an die wir gewöhnt sind. Wir finden nun einmal uns selbst bald anschauend, bald denkend, bald wollend und so ferner; und ohne uns unter dergleichen Abstracta, [26] wie Anschauen, Denken, Wollen, zu subsumiren, wissen wir kaum, uns über unsre eignen Zustände und Bestrebungen Rechenschaft zu geben. Die ganze Masse unserer Meinungen von uns selbst und von dem was in uns vorgeht, bedarf einer Totalreform ; und sie mufs dazu in Bereitschaft gesetzt werden. Eben deshalb ist vor- hin die unvermeidliche Mangelhaftigkeit aller unserer unmittelbaren Kenntnisse von den inneren Thatsachen, und die daraus entstehende Neigung, dieselben in abgezogenen Begriffen, und zwar in den weitesten am liebsten, vorzustellen, hinterher aber diese Begriffe, sammt ihren Sub- Straten, den Seelenvermögen, so gut oder so schlecht es gehn will, wieder an einander zu fügen, in Betracht gezogen worden: damit es einleuchten möge, dafs hier ganz andere Operationen des Denkens zur Verbesserung erfordert werden, als die blofse Classification, Induction, Analogie, oder welche andre Zusammenstellung eines Vorraths von Kenntnissen da an- gebracht seyn würde, wo das erste Material mit Bestimmtheit gegeben wäre, und wo die Abstractionen stufenweise von unten auf, mit aller Besonnenheit, und beliebiger Verweilung auf jeder Stufe, würden vollzogen werden können.

Diejenige Operation des Denkens, wodurch die Mangelhaftigkeit ver- bessert wird, heifst Ergänzung. Und wo die Mangelhaftigkeit der em- pirischen Auffassung unvermeidlich ist, da mufs die Ergänzung auf specu- lativem Wege unternommen werden. Dieses aber ist nur möglich durch

Nachweisung der Beziehungen; das heifst, derjenigen Relationen, ver- möge deren eins das andere nothw endig voraussetzt, und, was das Zeichen davon ist, eins ohne das andere nicht kann gedacht werden.

Dergleichen Beziehungen liegen zum Theil offenbar durch den Begriff selbst vor Augen, (wie zwischen einem Logarithmus und der Basis sammt dem Modulus des Systems, oder zwischen dem Differential und seinem Integral, nämlich abgesehen von der wirklichen Berechnung,) [2 7] und alsdann brauchen sie nur nachgewiesen zu werden. Zum Theil können sie leicht bev einiger Aufmerksamkeit, und auf dem Wege logischer Schlüsse gefunden werden, (wie zwischen einem Paar unmöglicher Wurzeln einer Gleichuug). Zum Theil aber verräth sich die Nothwendigkeit, den Beziehungen nach- zuforschen, erst durch das Widersprechende eines von seinen nothwendigen Voraussetzungen entblöfsten Begriffes: welcher letztere Fall in den ersten Grundbegriffen der allgemeinen Metaphysik vorkommt. Alsdann mufs die Aufsuchung der Beziehungen nach derjenigen Methode eingeleitet werden, welche ich in den Hauptpuncten der Metaphysik angegeben, und Methode der Beziehungen genannt habe. Hievon wird tiefer unten noch etwas vorkommen.

Die ganze Psychologie kann nichts anders seyn, als Ergänzung der innerlich wahrgenommenen Thatsachen: Nachweisung des Zusammenhangs

202 XL Psychologie als Wissenschaft.

dessen was sich wahrnehmen liefs, vermittelst dessen was die Wahrnehmung nicht erreicht; nach allgemeinen Gesetzen.

Während die Beobachtung nur dann erst und nur so lange die im Bewufstseyn auf und niedersteigenden Vorstellungen erblickt, wann sie in einem gewissen höheren Grade von Lebhaftigkeit sich äufsem : müssen sie der Wissenschaft immer gleich klar vor Augen liegen, sie mögen nun wachen und das Gemüth erfüllen, oder in den Vorrathskammem des Ge- dächtnisses ruhig schlafen, und auf Anlässe zum Hervortreten warten. Denn von den geistigen Bewegungsgesetzen sind sie hier so wenig ausgenommen wie dort.

Während die moralische Selbstkritik bekennt, die Falten des eignen Herzens nicht durchforschen zu können: mufs die Wissenschaft eben so wohl von der Möglichkeit des Einflusses der schwächsten Motive unter- richtet seyn, als von der Gewalt, welche die stärksten ausüben, und von der Klarheit, wodurch die überdachtesten sich auszeichnen.

Aber was die Wissenschaft mehr w^ifs als die Er [2 8] fahrung: das kann sie nur dadurch wissen, dafs das Erfahrene ohne Voraus- setzung des Verborgenen sich nicht denken läfst. Denn nichts anders als eben die Erfahrung ist ihr gegeben: in dieser mufs sie die Spuren alles dessen antreffen und erkennen, was hinter dem Vorhange sich regt und wirkt.

In diesem Sinne also mufs sie die Erfahrung überschreiten: welches übrigens von jeher jede Philosophie gethan hat; auch jene, die zwar das Ueberschreiten verbot, aber gleichwohl von einem noch unverbundenen, in der Receptivität anzutreffenden Mannigfaltigen redete; das in der Erfahrung niemals vorkommen kann, vielmehr erst, indem es die Formen der Spon- taneität annähme, sich ins Bewufstseyn erhoben finden müfste: anderer Beyspiele nicht zu gedenken !

Wo nun und in wie vielen Puncten der ganzen Masse aller innern Wahrnehmungen sich Beziehungen entdecken lassen, die auf Voraussetzungen, auf Ergänzungen, auf nothwendigen Zusammenhang mit anderem, das ent- weder im Bewufstseyn oder hinter dem Bewufstseyn vorgegangen seyn mufs, hindeuten, und nach was immer für einer Methode mit Sicherheit darauf zu schliefsen erlauben: da, und so vielfach sind die Principien der Psychologie.

§ 12.

Ein Paar Beyspiele von Beziehungen in der Psychologie, wenn auch nur von den offenbarsten, sind vielleicht nicht überflüssig; sie können wenigstens einigermafsen dienen, um von der Gestalt psychologischer Nach- forschungen einen vorläufigen Begriff zu fassen.

Das Begehren steht in offenbarer Beziehung zu dem Vorstellen; denn es hat einen Gegenstand, auf welchen, als auf sein Ziel, es sich richtet. Denselben in Vergessenheit bringen, ist das sicherste Mittel, die Begierde zu beschwichtigen. Wiewohl nun diese Beziehung vor Augen liegt: so ist sie doch bey weitem noch nicht hinreichend bestimmt. Denn es fragt sich: unter welchen Bedingungen wird das Vorgestellte ein Begehrtes? Wel[29]che Beschaffenheit des Vorgestellten, und des Vorstellens, mufs

Einleitung. 20"

man voraussetzen, wenn es unter der Form des Begehrens im Bewufst- sevn erscheinen soll ? Läfst sich die Antwort finden, indem man von dem Begehren, als dem Bedingten, zu seinen bis jetzt unbekannten Bedingungen fortschliefst: so ist die Thatsache, dafs wir begehren, zum Princip einer psychologischen Untersuchung erhoben.

Das Gedächtnifs bezieht sich offenbar auf den Gegenstand, welcher behalten wird; folglich auch auf die Production oder erste Auffassung dieses Gegenstandes. Demnach bezieht es sich auf die Sinnlichkeit; denn was es aufbewahrt, das sind grofsentheils Anschauungen. Es bezieht sich eben so offenbar auf die Phantasie, das heifst, wir behalten viele von den Bil- dern, die wir selbst entworfen haben. Es bezieht sich nicht minder auf den Verstand, denn wir behalten auch die Resultate unsrer Speculationen; auf das Gefühl, denn wir erinnern uns an Lust und Schmerz; endlich auf den Willen, denn auch unsre Entschliefsungen halten wir vest, und ihre Wirksamkeit erneuert sich nach Unterbrechungen. Mit gutem Bedacht habe ich in der Pädagogik vom Gedächtnifs des Willens geredet; einem für die Erziehung höchst wichtigen Gegenstande, denn darauf beruhet die Möglichkeit des Charakters und des consequenten Handelns. Ohne Ge- dächtnifs des Willens bleiben angefangene Arbeiten liegen, und aus ent- worfenen Plänen entweicht das Feuer, das sie zur Reife bringen sollte. Am meisten Gedächtnifs des Willens zeigt die Rache, und kann dadurch auch den, welcher an der Existenz desselben zweifeln möchte, zur Ueber- zeugung bringen. Aber das Gedächtnifs bezieht sich vor allen Dingen auf das Vergessen, im weitern Sinne dieses Worts, da es nämlich nicht den vergeblichen Versuch, sich an etwas zu erinnern, sondern überhaupt die Entweichung einer gehabten Vorstellung aus dem Bewufstseyn bedeutet. Denn eben in so fern schreiben wir uns ein Gedächtnifs zu, in wiefern [30] eine Zeit verfliefsen kann, in welcher wir an einen gewissen Gegenstand gar nicht denken, ohne dafs doch darum uns die Kennt- nifs desselben verloren ginge, die vielmehr auf gegebene Veranlassung wieder hervortritt. Wer nun aber alle diese Beziehungen des Gedächt- nisses, welche nur im Allgemeinen bekannt sind, dadurch gehörig zu be- stimmen und vollständig zu machen wüfste , dafs er auch noch die Be- dingungen, sowohl bey der Erzeugung, als bey der Entweichung, als auch endlich bey der Erneuerung einer Vorstellung, (ohne welche Bedingungen die Reproduction ausbleibt,) angäbe und bewiese : der hätte die bekannten Facta ergänzt, indem er die Vorstellungen bis in den Hintergrund des Bewufstseyns, wohin sie sich zurückziehn , und von wo sie wiederkehren, gleichsam würde begleitet haben. Und wer diese Kenntnifs sich auf sol- chem Wege verschafft hätte, dafs von dem Gedächtnifs, als einem Inbegriff bekannter Thatsachen, auf dessen noth wendige Voraussetzungen wäre ge- schlossen worden : der würde dadurch diese Thatsachen zu psychologischen Principien gestempelt haben. Wer aber vom Gedächtnifs nur in Namen- erklärungen, und in Distinctionen, und in einigen Sätzen redet, die Jeden die Erfahrung längst gelehrt hat, der misbraucht ein vielsagendes Wort, wenn er sich eine Theorie des Gedächtnisses zuschreibt.

Nicht zu den offenbaren Beziehungen gehört die des Selbstbewufst- seyns auf die Individualität eines Jeden. Daher hat man den Gedanken

204 XL Psychologie als "Wissenschaft.

fassen können, das Ich als Absolutum aufzustellen ; ein sehr grofser Fehler, der aber zu seiner Aufdeckung schon wissenschaftlicher Reflexionen be- darf. Und die Geschichte der neuem Philosophie hat nur zu gut gelehrt, wie leicht diese Reflexionen verfehlt werden können.

Nichts desto weniger sind Fichte's ältere Werke voll von Bestrebungen, die weitgreifenden Beziehungen des Selbstbewufstseins aufzufinden; und ohne allen Zweifel wird die Nachwelt, sehr ungleich den Zeitgenossen, [31] diesen Werken, selbst abgesehen von dem Verdienst, den Idealismus mit einer bis dahin unbekannten Consequenz zu verfolgen, schon deshalb Gerechtigkeit widerfahren lassen, weil darin das Ich als Mittelpunct von Beziehungen aufgestellt, und der erste Versuch gemacht ist, ein weit- läuftiges System von Beziehungen nach allen Richtungen hin zu durch- suchen. Fichte's gröfster Fehler bestand darin, dafs er der einmal an- genommenen Gewohnheit, das Ich absolut zu setzen, auch dann noch an- hing, als ihn schon die Untersuchung in ihrem Verlauf durch jeden Schritt aufmerksam machte, dafs er nicht mit einem Absoluten, sondern mit einem vielfach Bedingten zu thun habe; welcher Folgerung er dadurch zu ent- gehn meinte, dafs er alle die gefundenen Bedingungen in das Ich selbst einschlofs. Aber die unrichtige Ansicht verdarb selbst die Kenntnifs dieser Bedingungen, und daher konnte freilich nur eine unhaltbare Theorie her- auskommen. Dieselbe Art der Untersuchung über denselben Gegenstand, aber nach einer ganz entgegengesetzten Methode, (welche trennt, wo Fichte verbinden wollte,) und zu ganz entgegengesetzten Resultaten hinführend, wird einen Theil dieses Buches ausmachen; und das eben Gesagte mag als entfernte Vorbereitung dazu dienen.

§ 13-

Wenn es Methoden giebt, durch welche man verborgene Beziehungen aufdecken kann, so ist eben der Umstand, welcher zuvor der wahre Ur- sprung psychologischer Schwierigkeiten zu seyn schien, und welcher in der That eine empirische Naturgeschichte des Geistes unmöglich macht, für die speculative Psychologie eher vortheilhaft als nachtheilig. Der Umstand nämlich, dafs alle psvchologische Wahrnehmung, um vestgehalten zu werden, sich unwillkührlich in eine Abstraction verlieren mufs: und da- her von den wirklichen Thatsachen nur Bruchstücke liefert. Dieses ist nicht nachtheilig:

Denn der abstracte Begriff kann durch seine Beziehungen wieder er- gänzt werden; und je allgemeiner er ist, [$2] um desto eher ergiebt er in Verbindung mit den Ergänzungen eben das, was in allen Wissenschaften zuerst gesucht wird, nämlich eine allgemeine Theorie, durch deren Hülfe eine grofse Mannigfaltigkeit von Thatsachen gleich Anfangs überschaut werden kann. Ueberdies ist ein Begriff für die speculative Behandlung allemal um so bequemer, je allgemeiner, das heifst, je ärmer an Inhalt er ist; so lange nur die Abstraction nicht den Keim der Beziehungen in ihm zerstört hat. Im letztem Falle freylich wird er unbrauchbar; allein alle Ueberladung mit Merkmalen, welche die Untersuchung nicht fördern, bringt nur Verwirrung hervor.

Ein neuer Zuwachs an Bequemlichkeit aber ist es, wenn, der All-

Einleitung. 205

gemeinheit unbeschadet, ein Begriff uns nicht nöthigt, sogleich in seinen Um- fang hinabzusteigen, und specielle Fälle zu durchlaufen, um uns seiner Gültig- keit, und seiner wesentlichen Merkmale zu versichern. Um dies deutlich zu machen, nehme man zuvörderst ein Paar Beyspiele des Gegentheils. Der Begriff des Willens ist sehr allgemein; aber um uns seiner Gültigkeit zu versichern, (dafs er aus dem Gegebenen entsprungen, nicht willkührlich ge- macht ist,) müssen wir Beyspiele dazu in der innem Wahrnehmung unseres eignen Wollens aufsuchen. Was finden wir nun hier? Sehr verschiedene, continuirlich in einander fliefsende Grade des Wollens ! Entschlüsse, aber auch Neigungen, Launen, unbestimmte Aufregungen; freye Wahl, aber auch das erzwungene Wollen wider Willen, womit der Wehrlose sich entschliefst, den Räuber abzukaufen. Was heifst nun eigentlich Wollen? Die innere Wahr- nehmung mufs es lehren, aber ihre Belehrung ist zu weitläuftig für einen Begriff, der mit Präcision aufgefafst, und der Speculation überliefert, zum Princip einer Untersuchung dienen soll. Desgleichen, der Begriff des Gedächtnisses ist sehr allgemein; wenden wir aber den Blick einwärts, um uns genau an das Gegebene zu erinnern, was dem Begriffe seinen Inhalt bestimmt, so kommen uns die An[3 3] schauungen, Einbildungen, Begriffe,, Urtheile, Gefühle, Entschliefsungen, entgegen, welche alle das Gedächt- nils aufbewahrt; aber es ist dessen zuviel; und wiederum in dem abstracten Begriffe eines Gemüthszustandes überhaupt, den das Gedächtnifs erneuere, zu wenig unmittelbare Klarheit, als dafs man sich einem solchen Princip gern anvertrauen könnte. Ist schon von andern Seiten her Licht genug vorhanden, dann mag man auch solche Principien gleichsam zu Rechnungs- proben benutzen; allein für die Haupt-Untersuchung bedarf es eines hel- leren Anfangspunctes ; eines Punctes, der nicht zerfliefse, indem man ihn in der Wahrnehmung aufsucht.

Solch ein Punct nun ist ganz vorzüglich das Ich. Dieses läfst sich in einer vollkommnen Abstraction vom Individuellen noch deutlich machen, nämlich als Identität des Objects und Subjects; ohne dafs darum das Selbst- bewufstseyn aufhörte, sich für den Begriff zu verbürgen. Nun sind zwar im Selbtbewufstseyn die Bedingungen nur verdunkelt, unter denen er Realität besitzt, und man würde sich sehr täuschen, wenn man ihn darum an gar keine Bedingungen geknüpft glauben wollte. Allein die methodisch« Speculation, indem sie den Begriff des Ich bearbeitet, findet gar bald seine innere Unzulänglichkeit; und weis't ihm dann ferner seine Ergänzungen mit einer Bestimmtheit und Sicherheit nach, welche die innere Wahr- nehmung nie zu erreichen vermöchte.

Da nun der Begriff des Ich zugleich der allgemeine Begleiter aller Gemüthszustände ist, in so fern wir sie uns selbst zueignen: so vereinigt er im hohen Grade die Eigenschaften eines bequemen Prineips, nämlich Allgemeinheit und Präcision. Und deshalb werden wir von diesem Princip in der Folge vorzüglich Gebrauch machen; ohne jedoch die übrigen ganz zu vernachlässigen, und besonders ohne solche Vernachlässigung wühl gar einem künftigen Bearbeiter der ganzen Wissenschaft zu empfehlen.

2o6 XI- Psychologie als Wissenschaft.

[34] V. Von dem Verhältnifs der Psychologie zur allgemeinen Metaphysik.

§ 14-

Bisher sind wir so viel möglich in der Nähe dessen geblieben, was unmittelbare Klarheit besitzt, indem es an die innere Wahrnehmung sich anschliefst; jetzt mufs auch von den systematischen Verhältnissen der Psy- chologie als Wissenschaft die Rede seyn.

Die Psychologie wurde in der Wolffischen Periode als der dritte Theil der Metaphysik angesehn. Die Kosmologie ging ihr voran, die natürliche Theologie folgte nach; die Ontologie stand an der Spitze aller drey Wissen- schaften, um ihnen die allgemeinsten Begriffe vorzubereiten. Die ganze Metaphysik trat der praktischen Philosophie gegenüber: denn man war auf den, aller Etymologie widerstreitenden Ausdruck Metaphysik der Sitten noch nicht gekommen.* Leider pafst dieser Ausdruck, der das verderb- liche Vermengen der theoretischen und praktischen Philosophie bedeutet, nur gar zu nahe auf die neuesten Versuche, die Ethik im Geiste des Spinoza zu behandeln, wodurch der wahre Sinn der Billigung und Mis- billigung, kraft welcher Löbliches und Schändliches ursprünglich unter- schieden wird, ganz und gar zu Grunde geht.**

Ich erkläre mich für jene ältere Weise, die Metaphysik zu unter- scheiden und einzutheilen ; mit einigen Veränderungen, welche hier folgen.

[35] Erstlich dasjenige, wovon, als dem andern grofsen Haupttheile der Philosophie, die Metaphysik mufs unterschieden werden, (um der Logik, die nur einen Vorhof ausmacht, nicht zu erwähnen,) ist nicht allein die praktische Philosophie, sondern die gesammte Aesthetik. Von dieser ist die praktische Philosophie ein Theil; aber kein untergeordneter; denn in der allgemeinen Aesthetik sind die Haupttheile nur neben einander ge- ordnet, weil die verschiedenen ästhetischen Beurth eilungen der Farben, Figuren, Töne u. s. w., und so auch der Willens-Verhältnisse, alle ursprüng- lich für sich bestehn, und durch keine gegenseitige Abhängigkeit verknüpft sind. Daher bilden die verschiedenen Kunstlehren, von denen die Tugend- lehre Eine ist, lauter selbstständige Disciplinen, die nur wegen der Gleichartig- keit ihrer Principien (Beurtheilung durch Beyfall oder Misfallen, olme Rück- sicht auf das was ist und seyn kann,) unter den allgemeinen Ciassennamen Aesthetik, logisch zusammengestellt werden. Hierüber habe ich an andern Orten ausführlicher gesprochen, und werde mich jetzt nicht dabey aufhalten.

Zweytens, die Eintheilung der Metaphysik würde klärer seyn, wenn zuvörderst allgemeine Metaphysik von der speciellen oder angewandten getrennt wäre. Es bedarf wohl keiner Erinnerung, dals die allgemeine Metaphysik den Platz der Ontologie einnehmen mufs, welcher letztre Name um so eher aufgegeben werden kann, weil die vormals durch ihn bezeich- nete Lehre ohnehin einer völligen Umschaffung bedurfte. Zur angewandten

Neuerlich hat man dagegen sogar eine Metaphysik des Civil-Processes erfunden; ja ich erinnere mich in einem französischen Buche von einer Metaphysik des Violin- spielens gelesen zu haben.

** Man kann hier meine Gespräche über das Böse vergleichen. (Siehe Bd. IV vorl. Ausgabe.)

Einleitung. ?0*

Metaphysik aber sind ferner zu rechnen : Psychologie, Naturphilosophie, und philosophische Religionslehre. Dafs der Name Kosmologie passender in Naturphilosophie übersetzt werde, schliefse ich daraus, weil wir die Probleme dieser Wissenschaft aus der Erfahrung nehmen müssen, welche dem Menschen auf der Oberfläche der Erde zugänglich ist, während der Begriff der Welt als eines Ganzen, mit dem unser Erfahrungskreis kaum verglichen werden kann, vielmehr in der allgemeinen Metaphysik seinen Platz hat. [36] Die Religionslehre würde mit der Ontologie verschmolzen, an der Spitze der ganzen Metaphysik treten, wenn eine unmittelbare Erkenntnifs Gottes, als des Absoluten, vorhanden wäre : worüber mit ver- schiedenen Systemen zu rechten hier nicht der Ort ist.

Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphysik gestellt zu werden, müfste vielmehr der Psychologie widerfahren, wenn anders das berühmte Unternehmen der Vernunftkritik, ich will nicht sagen richtig ausgeführt worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger Gedanke gewesen wäre oder jemals werden könnte. Eine Vernunftkritik hat zu ihrem Gegenstande die Vernunft, oder besser das gesammte Erkenntnifs- vermögen; diesen Gegenstand muis sie als bekannt voraussetzen; und hierin liegen Irrthümer, die sich durch gar Nichts wieder gut machen lassen. Vom Erkenntnifsvermögen wissen wir als von einer Summe von Thatsachen des Bewufstseyns. Noch glücklich, wenn uns diese durch innere Wahrnehmung, oder wenn man lieber will, durch Anschauung des innern Sinnes bekannt geworden sind. Alsdann aber fragt sich sogleich, wie viel Glauben die innere Anschauung verdiene? Eine Frage, welche die An- schauung selbst, nimmermehr beantworten kann. Allein es ist nicht einmal wahr, dafs wir eine so unmittelbare Kenntnifs von dem sogenannten Erkenntnifsvermögen besäfsen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vor- gefundenen Producten unserer geistigen Thätigkeit herausgedeutet haben. Jedoch was darüber vom § 4 an schon ist gesagt worden, darf hier nicht wiederhohlt werden : auf die entgegenstehende Täuschung; werde ich weiter-

DO D

hin noch zurückkommen.

Wofern nun die Psychologie, weit entfernt der allgemeinen Meta- physik eine Grundlage geben zu können, an ihren Platz in der angewandten Metaphysik zurücktritt (wo sie übrigens aus Gründen, die hier noch nicht klar seyn können, der Naturphilosophie mufs vorangestellt werden) : so 1 beruhet sie selbst auf der allgemeinen [37] Metaphysik, und kann, ohne diese voranzuschicken, weder abgehandelt noch auch nur begründet werden.

In der That, wenn ich tiefer unten behaupten werde, dafs die Seele ein einfaches Wesen, und dafs sie eben aus dem Grunde nicht ursprüng- lich Kraft ist: so mufs ich dabei nothwendig auf die allgemeine Meta- physik (und zunächst, bis eine ausführlichere Darstellung erscheint, auf meine Hauptpuncte der Metaphysik,) hinweisen.

Um jedoch den Hauptstamm meiner gegenwärtigen Untersuchung genugsam bevestigen zu können, werde ich mir erlauben, das Nöthigste aus der allgemeinen Metaphysik, nämlich die Untersuchung über das Ich, hier einzuschalten ; und auch auf andere Puncte jener 'Wissenschaft so

1 „so" fehlt in S\V

2oS 2SJ- Psychologie als Wissenschaft.

viel Licht werfen als hier geschehen kann; wozu sich die Gelegenheiten häufig genug darbieten werden. Und um möglichen Misverständnissen zu- vor zu kommen, bemühe ich mich sogleich, das Verhältnifs der Prin- cipien von beyden, der allgemeinen Metaphysik, und der Psychologie, deutlich auszusprechen.

§ 15-

Die allgemeinen Formen der Erscheinungen, so wie sie vor allem Philosophiren vorgefunden werden, sind die Principien der allgemeinen Metaphysik. Könnten diese Formen, so wie sie vorgefunden (oder, im wissenschaftlichen Sinne des Worts, gegeben) sind, eben so auch gedacht werden, so bliebe es bey der ersten Auffassung oder Anschauung; dieser würde man glauben, und eben deshalb würde keine Wissenschaft, Meta- physik genannt, entstehen; es sey denn als ein Spiel müssiger Köpfe, das man gerade so ignoriren, und von aller soliden Erfahrungs- Erkenntnifs hinwegscheuchen müfste, wie gegenwärtig die Metaphysik von ihren Ver- ächtern in der That ignorirt, und aus der Naturforschung wirklich verbannt wird. Diese Verächter und Widersacher können nur dadurch widerlegt werden, dafs man ihnen die Widersprüche nachweis't, in denen sie aus Mangel an Metaphvsik [38] unvermeidlich befangen sind. Sie können nur dadurch versöhnt werden, dafs sie einsehn lernen, wie die Metaphysik gerade dasselbe Geschafft nur fortführt und zu Ende bringt, was der ge- meine Verstand, nothgedrungen durch das Widersprechende in den Formen der Erscheinung, von selbst beginnt, indem er die Begriffe von Substanz und Ursache erfindet. Denn diese Begriffe sind keine angeborne, son- dern erfundene; sie sind nicht Kategorien, die unbeweglich vest stünden, und die man darum so lassen mülste, wie sie stünden; sondern es sind halbvollendete Productionen, die man ganz zu Stande bringen mufs, damit die Knoten, welche der gemeine Verstand nur vorläufig zur Seite geschoben hat, zu einer vollständigen Auflösung gelangen mögen.

Jene Formen der Erscheinungen aber sind keine andern, als die Com- plexionen, welche wir für die Verknüpfungen mehrerer Merkmale Eines Dinges ansehn; die Veränderungen dieser Complexionen, welche wir für Veränderungen der Dinge nehmen ; ferner der Raum, die Zeit und das Ich. Nachdem die Einsicht gewonnen ist, dafs keine dieser, in der Anschauung gefundenen Formen für sich denkbar ist, sucht die Metaphysik die Be- ziehungen derselben auf, wodurch die vorigen Widersprüche verschwinden. *

Wie verhalten sich nun dazu die Principien der Psychologie ?

Unter den vorhin genannten Formen ist eine, nämlich das Ich, welche eben sowohl zur Psychologie als zur allgemeinen Metaphysik gerechnet werden kann; ja das Ich scheint nicht eine Form, sondern gerade der igentliche Gegenstand der Psychologie zu seyn. Dafs nun gleichwohl die Untersuchung desselben in die allgemeine [39] Metaphysik gezogen werden mufs, rührt her von dem untrennbaren Zusammenhange der ersten

Was hier behauptet ist, müssen fürs erste meine schon oben genannten Haupt- punkte der Metaphysik (siehe Bd. II vorl. Ausgabe) verantworten. Man vergleiche auch unten, § 33 35, und mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, im vierten Abschnitte. (Siehe Bd. IV vorl. Ausgabe.)

Einleitung. 2 0Q

metaphysischen Nachforschungen mit der eben erwähnten; welches schon die leichteste Erinnerung an den Idealismus kann vermuthen lassen. Allein wenn auch in einem vollständigen Systeme der Philosophie dasjenige nicht in der Psychologie darf wiederhohlt werden, was die allgemeine Meta- physik schon vorweggenommen hat: so bleibt doch der Gegenstand selbst psychologisch, und bezeichnet die innige Verbindung der allgemeinen Wissenschaft mit der ihr untergeordneten besonderen.

Aufserdem nun hat die Psychologie an den mannigfaltigen Thatsachen des Bewufstseyns, wie schon oben bemerkt worden, ein unermefsliches Eigenthum, welches die allgemeine Metaphysik unangetastet läfst; so dafs auch diejenigen unter diesen Thatsachen, welche die Eigenschaften eines Princips an sich tragen, der Psychologie allein gehören,

Aber die wissenschaftliche Behandlung dieser blofs psycholi »o-ischen Principien, die Auflösung der in ihnen enthaltenen Probleme*, diese mufs immer mit Zuziehung der allgemein metaphysischen Lehrsätze bewerk- stelligt werden, damit alles gehörig zusammenstimme; und sie kann auch einer solchen Hülfe nicht entbehren, weil in allen speciellen Problemen sich immer die allgemein metaphysischen, wie die Gattung in der Art, wiederfinden.

Man sieht nämlich auf den ersten Blick: dafs alle psvchologischen Principien, so wie sie aus der hinern Wahrnehmung geschöpft werden, zzvej' Umstände an sich tragen, um derentwillen sie unfehlbar in die allgemein metaphysischen Haupt-Probleme zurückfallen. Sie befinden sich alle unter der Mehrheit von Bestim[4o]mungen, die dem Gemüth als einer Einheit zugeschrieben werden; dadurch rufen sie die allgemeine Frage herbey, wiefern überhaupt Mehreres Einem zukommen könne? und diese Frage wird durch die Lehre von der Substanz entschieden. Ferner ist alles innerlich Wahrgenommene im be- ständigen Kommen und Gehen begriffen, es bezeichnet veränderliche Zu- stände des Gemüths; dadurch gehört es in das Gebiet des Veränder- lichen überhaupt, und die Theorie der Veränderung wird dabey unent- behrlich.

Wie nun Jemand die Möglichkeit der Veränderung sich denkt; ob er sie aus äufsern Gründen, oder aus inneren, durch Selbstbestimmung, erklärt, oder ob er ein absolutes Werden annimmt**): dieses entscheidet über die möglichen psychologischen Vorstellungsarten, denen er zugänglich ist. Eben so ist es mit den angenommenen Meinungen über die Substanz.

Deshalb ist es völlig vergeblich, Jemanden für eine Psychologie ge- winnen zu wollen, die seinen metaphysischen Vorstellungsarten widerstreitet ; es sey denn, dafs man seine Metaphysik zugleich mit umbilden könne. Dürfen aber die Seelenlehrer, welche durch blofse Erfahrung sich berech- tigt halten, die metaphysischen Begriffe von Vermögen, Kräften, Thätig- keiten anzuwenden, um dem Gemüth eine Mehrheit davon bevzulcgen,

* Wer sich nicht gleich erinnert, wie die Principien Probleme enthalten, nämlich vermöge ihrer Beziehungen, welche vollständig aufzusuchen eine Aufgabe ist: der beliebe in die §§ 1 1 13 zurückzublicken.

** Vergl. mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie , Abschn. 4, Cap. 2, [s. Bd. IV, No. I].

Heruart's Werke. V. 14

2 I O XL Psychologie als "Wissenschaft.

dürfen sie erwarten, denjenigen zu überzeugen, der eine Metaphysik ent- weder hat, oder auch nur für nöthig hält, darnach methodisch zu suchen? Es werden weiterhin historische Beispiele vorkommen, welche dies erläutern können.

§ 16.

Aufser dem richtigen Verhältnils der Psychologie zur allgemeinen Metaphysik mufs auch noch ein scheinbares in Betracht gezogen werden; eben dasjenige, welches die [41] Versuche veranlafst hat, der Metaphysik eine psychologische Grundlage zu geben.

Um sich hierin desto leichter zu finden: bemerke man, dafs ursprüng- lich die Metaphysik von Naturbetrachtungen anhebt, dafs sie dabev so- gleich auf die Unzuverlässigkeit und Undankbarkeit der sinnlichen Er- fahrung stofsen mufs, dafs es ihr aber nicht so leicht wird, das Bessere an die Stelle zu setzen. Nachdem die ältesten Philosophen bald, mit Heraklit, ein absolutes Werden; bald, mit den Eleaten, ein absolutes Seyn; bald, mit Leukipp, das Volle und das Leere und die kleinsten Körperchen; bald, mit den Pythagoräern, die Zahlen, oder mit Platox, die Ideen zum Grunde gelegt hatten: wuchs immer mehr der Verdacht heran, den die Sophisten aussprachen, den Sokrates begünstigte, den die Akademiker und Skeptiker fortdauernd ernährten, dafs nämlich jene älteren in eine Tiefe hätten blicken wollen, wo hinein das menschliche Auge nicht reiche; und dafs die eigentliche Weisheit darin bestehe, die Schranken unserer Erkennt- nifs wohl einzusehen. * Hierin nun liegt offenbar schon die Weisung, erst das: quid vakant humer i, quid ferre recusent, zu erwägen, das heifst, erst das Vermögen unserer Erkenntnifs genau zu schätzen, ehe man sich in Untersuchunngen über die Natur der Dinge verliere. Und was ist natür- licher, als dafs man über einem Sprunge, über einer Vernachlässigung des Zunächstliegenden, sich zu ertappen glaube, wenn man bemerkt, man habe in den Sternen geforscht, ohne das eigne Herz zu kennen?

Nichts destoweniger ist unsre Kenntnifs der Himmels-Mechanik gegen- wärtig ohne Vergleich vollkommner, als die Kenntnifs des Gesetzmäfsigen in unserm Innern. [42] Und wenn Sokrates wirklich glaubte, mit dem yvütd-i oavTQv leichter fertig zu werden, als mit jenen Nachforschungen, die ihm zu verwegen schienen , so war er in einer mächtigen grofsen Täuschung befanden.

Er hatte vergessen, dafs es nicht sowohl auf die Distanz eines Gegen- standes von uns, sondern auf das Auge ankommt, welches wir für ihn haben. Das sinnliche Auge sieht mit einer Genauigkeit, die sich einer mathematischen Bestimmtheit nahe bringen läfst, und es pflegt seinen Gegenstand nicht selbst zu entstellen; aber die innere Wahrnehmung unter- liegt diesem Vorwurfe und entbehrt jenes Vortheils. Es ist wahr, die sinnlichen Gegenstände wechseln, sie entstehn und vergehen; aber wir

* In Hinsicht der Sophisten ist hoffenüich nicht nöthig, die Hauptsätze des Gorgias und Protagoras hier anzuführen, welche in der That auf das angegebene Resultat hinaus- laufen, so weit auch übrigens ihre Lehrart von der des Sokrates entfernt war. Das: Txarrvjv %()7/fiaTOJv utT^ov av&Qwnoi, ist eigenüich eine Ermahnung, alles "Wissen sey relativ und subjectiv.

Einleitung. 2 11

selbst mit unsem Gemütbszuständen sind noch weit unbeständiger als irgend ein äufserer Wechsel. Man mufs gestehen, dafs die sinnlichen Merkmale der Dinge keinesweges für reale Qualitäten gelten können; aber wenn die Dinge nur in so fern sie uns erscheinen, sich mit Merkmalen bekleiden, so ist es eben so wahr, dafs auch wir selbst nur erkennen, wollen und fühlen, in wie fem uns Objecte gegenüber treten, als Zielpuncte unseres Anschauens und Begehrens; Objecte, von deren Jedem einzeln genommen wir schon im gemeinen Leben bekennen, dafs es uns nur zufällig begegne. Denn wir lassen dieselben Gegenstände gar nicht für Bedingungen unseres Daseyns gelten, von denen doch nicht zu leugnen ist, dafs sie unser ganzes Wissen um uns selbst bedingen. Und während nun dieses Wissen von uns selbst eben so durch Relationen auf das Aeufsere afficirt ist, wie das Erkennen der Aufsendinge durch die Relation auf uns: vermischt sich jenes sehr leicht mit Einbildungen aller Art, von denen dieses viel freyer ist. Das Brüten über sich selbst erzeugt Schwärmer; die Beschäffti<nmo- mit dem was draufsen vorgeht, vermag Schwärmer zu heilen.

Allen diesen bekannten Wahrheiten zum Trotz nun hat man dennoch gemeint, und meint noch heute, man [43] könne wohl mit grofsej Sicher- heit Lehren über die Formen und Gränzen des Erkenntnifsvermögens auf- stellen, und diese zum Maafsstabe aller Wahrheit machen; ohne dafs man nöthig habe genau zu prüfen, wie das Erkenntnifsvermögen selbst erkannt werde; ob die Wahrnehmung desselben zuverlässig und bestimmt, ob die Begriffe, die man. darauf überträgt, deutlich, ob sie auch nur denkbar seyen? Da nun in der allgemeinen Metaphysik nachgewiesen wird, dafs ein Gemüth, als Einheit r it allerley Vermögen, dafs schon ein reales Ver- mögen, welches auf Anlässe zum Handeln wartet, dafs endlich das Ich, dieser vermeintlich gehaltlose und unschuldige Begleiter aller unserer Ge- danken, lauter undenkbare Begriffe und vollständige Widersprüche sind: so mufs das Psychologische, auf welches eine Kritik der Metaphysik sollte gegründet werden, vielmehr sich selbst einer Kritik von Seiten der Meta- physik unterziehen; und jene Lehren, die das Unterste oben gekehrt haben, müssen sich eine neue Umkehrung gefallen lassen, auf dafs die alte gute Ordnung wieder hergestellt werde.

Weil aber nun einmal eine Abweichung von der alten Ordnung Statt gefunden, und Beyfall gewonnen, und selbst vielfältigen, nicht zu verküm- mernden Dank verdient hat, wegen neuer Aufregung der gesammten specu- lativen Thätigkeit: so ist es nun nothwendig geworden, vor einer ausführ- lichen allgemeinen Metaphysik, die Beleuchtung der Psychologie, und der Grundlage, die sie haben oder nicht haben kann, vorhergehn zu lassen. Und das gegenwärtige Buch hat wirklich, abgesehen von seinem positiven Inhalte, die Tendenz, eine durchgeführte Ableugnung dessen darzustellen, wovon Andre, als von dem Ersten was man ihnen zugestehen müsse, aus- zugehn gewohnt sind.

14'

2 j 2 XI. Psychologie als Wissenschaft.

[44] VI. Blicke auf die Geschichte der Psychologie seit Des-CäRTES.

§ 17-

Wir haben neuerlich eine Geschichte der Psychologie von Carus erhalten, ohne Zweifel ein verdienstliches Werk. Doch wäre eine Kritik der Psychologie, im Geiste von Schleiermacher's Kritik der Sittenlehre, etwas weit wünschenswertheres.

Es kann mir nicht einfallen, hier auch nur den geringsten Versuch dieser Art machen zu wollen. Damit meine weitläuftige Einleitung ein Ende finde, mufs ich mich begnügen, bis auf diejenigen Vorstellungsarten l zurückzugehn, welche noch jetzt von Einflufs sind, und ich werde sie nur in so fem in Betracht ziehn, als dadurch für meinen jetzigen Zweck etwas gewonnen wird.

Der erste, den ich hier achtungsvoll nennen mufs, ist Des-Cartes; selbständig und reif in seiner Art als Denker, und geistreich, ohne Künstele}-, als Schriftsteller. Seine meditationes de prima philosophia sind noch heute höchst empfehlungswerth für Anfänger; besonders wenn ein tüchtiger Lehrer hinzukommt. Das grofse Verdienst des Des-Cartes besteht nicht blofs in scharfer Scheidung des Geistes von der Materie, sondern darin, dafs er für die ganze Philosophie den rechten Ton angab, indem er in das Gebiet des Zweifels vorläufig die ganze Körpenveit, und alle unsre Vor- stellungen von derselben verwies; hingegen das Ich als den Lichtpunct der ersten Gewifsheit hervorhob; wodurch jene Besonnenheit möglich wurde, die Kant unter uns erneuerte, und die man niemals wieder hätte verlieren sollen; die Besonnenheit an das eigne Denken, welches auch der Gegenstand unseres Denkens seyn möge. Und welches ist sein Beweis für das Daseyn Gottes? Nicht ursprünglich [45] jenes bekannte Sophisma, nach welchem die Existenz eine der göttlichen Vollkommen- heiten seyn soll; dieses rief er freylich zu Hülfe; allein erst, nachdem die grofse Frage: woher kommt die Erhebung meines Geistes zu solchen Gedanken, deren Gegenstand in der Erfahrung nicht angetroffen wird? ihn dahin gedrängt hatte, den übersinnlichen Ursprung derselben in Gott zu suchen. Seine Lehre von den angebornen Ideen ist übrigens nicht im mindesten schwärmerisch, sondern unver- meidlich für den, welcher nicht schon alles dasjenige weifs, was ich in diesem Buche erst vorzutragen gedenke; nunquam iudicavi, sagt er (in den notis in prögramma quoddam in Belgio editumj, meutern indigere ideis innatis, quae sint aliquid diver sum ab eins facnltate cogitandi: sed cum adver t er em, quasdam in me esse cogitationes, quae non ab obiectis externis, nee a volun- tatis meae determinatione procedebant, sed a sola cogitandi facultate, illas innaias voeavi; eodem sensu, quo dieimus, generositatem esse quibusdam familiis innalam, aliis vero quosdam morbos: non quod istarum familiarum injanies morbis istis in utero matris /aboreut, sed quod nascantur cum qu<idam dispositione sive facultate ad illos contrahendos.

1 diejenigen Vorstellungen SW.

I

Einleitung. 2 1 3.

Eine eigentliche Untersuchung über das Ich, mufs man jedoch bey Des-Cartes eben so wenig, als bei so vielen Späteren, suchen. Auch liegen bey ihm zu viele metaphysische Irrthümer im Wege, als dafs er die wahre Psychologie hätte finden können. Zwar nicht das kann ihm zum Vorwurf gereichen, was vermuthlich unsre heutigen Anthropologen zuerst an ihm tadeln würden, dafs er die Seele zu weit vom Körper trenne: denn von der engen Verbindung beyder war er so überzeugt, dafs er sogar, auf der entgegengesetzten Seite übertreibend, meint, die Ver- besserung des Menschengeschlechts müsse in der Medicin ge- sucht werden*. Eben so wenig hat ihn eine falsche Freyheitslehre der Punct, [46] an welchem so Viele scheitern, geblendet, er lehrt sehr richtig: indiffereniia, quam experior, cum nulla me ratio in unam partem magis quam in alt er am impellit, est infimus gradus libertatis; et nullam in ea perfectionem , sed tantummodo in cognitione defectum testatur ; nam si semper, quid verum et bonum sit, clare viderem, nwiquam de eo quod esset indicandum vel e/igendum, deliberarem. ** Aber sehr nachtheilig mufsten ihm solche Irrthümer werden, wie die Anknüpfung des Seyn an die Zeit, und die Meinung, dafs die Zeittheile von einander unabhängig wären; daher denn aus unserm Daseyn in einem Augenblicke noch nicht das Daseyn im nächsten Augenblicke folgen soll.*** Wichtiger noch sind die Fehler in seiner Lehre von der Substanz; er läfst eine Mehrheit von Attri- buten zu; läfst die Substanzen afficirt und verändert werden; glaubt deren Natur zu erkennen, indem Ausdehnung das Wesen des Körpers, Denken das des Geistes ausmache; nimmt gleichwohl eigentlich nur eine wahre Substanz an, nämlich Gott, welcher allein zu seinem Daseyn keines andern Gegen- standes bedürfet: kurz, man erblickt hier den ganzen Spinozismus im

Keime. Mögen alle Anhänger des Spinoza sorgfältig den Des-Cartes studiren; sie werden ihn dann weniger anstaunen; so wie die Gegnei desselben eine Lehre in milderem Lichte erblicken werden, die nichts als ein natürlicher Auswuchs aus Des-Cartes Irrthümern ist. Doch dieser Gegen- stand kann hier nicht ausgeführt werden ; ich gehe über zu dem berühmten Widersacher des Des-Cartes im Puncte der angebornen Ideen; zu Locken, dem eine länger dauernde Wirksamkeit beschieden war.

Locke nannte sein Werk einen Versuch über das Denkver- mögen, tt Jemand, der von unsern [47] neuern Psychologien zu dem- selben käme, würde sich über den Plan des Werks wundern können. Die Erwartung einer Abhandlung der verschiedenen Vermögen, die man dem Erkenntnifsvermögen (als ob die Vermögen wie Arten unter Gattungen enthalten wären) unterzuordnen pflegt, also die Erwartung einer Lehre von der Sinnlichkeit und so ferner bis zur Vernunft, würde sehr getäuscht werden. Nicht nur hat Locke, wie Tennemann (in der Uebersetzung von

* In der dissertatione de mcthodo, gegen das Ende. ** Meditatio quarta. *** princ. philos. I, 21. t Ibid. 51—56. tt Er sagt im zweyten Buch, c. VI. § 2 : the power of thinking is called the under standing ; und um so weniger habe ich das Wort understanding, wie gewöhnlich, durch Verstand übersetzen wollen.

2i 4 XL Psychologie als Wissenschaft.

Degerando's Geschichte d. Philos. I. Band, S. 226. in der Note) bemerkt, die vollständige Aufzählung der Geistesvermögen nicht zum Gegenstande seines Nachdenkens gemacht: sondern er erscheint auf den ersten Anblick äufserst nachlässig in der Stellung dieser Geistesvermögen. Mitten im zweyten Buch, das überschrieben ist von den Ideen, handeln das neunte, zehnte und elfte Capitel von Wahrnehmung, Gedächtnifs, Witz, Scharfsinn, Abstractionsvermögen ; vorher und nachher ist von einfachen und von zusammengesetzten Ideen die Rede. Dann aber findet sich viel weiter hin, nämlich im vierten Buch, das vierzehnte Capitel von der Be- urtheilungskraft, und nach eingeschobenen Untersuchungen über die Wahr- scheinlichkeit, das siebenzehnte Capitel von der Vernunft. Man erräth sogleich, dafs diese scheinbare Unordnung von einem Plane herrührt, der die Aufzählung der Geistesvermögen ausschliefst; und das erhelltauch aus dem Sätze: alle unsre Ideen kommen von Sensation und Reflexion, welche beyde Thätigkeiten bev Locke noch so ziemlich dem ähnlich sehen, was Andre Geistesvermögen nennen; aber auch grofsentheils die Stelle der übrigen Vermögen vertreten.

Jedoch die Hauptsache ist, dafs Locke der ächten Erfahrung, um einen guten Schritt näher blieb, als Jene, die uns von ihren Abstractionen, und deren hinzugedach[48]ten Substraten, den Seelenvermögen, unterhalten. Locke durchsucht unsern ganzen Gedankenvorrath, und er unternimmt sich darauf zu besinnen, wie wir zu jeder Art von Gedanken mögen ge- kommen seyn. Er hat hier wenigstens in so fem vesten Grund, dafs die Gedanken und Vorstellungsarten, von denen er redet, wirklich vorhanden sind; diese kann man nicht, gleich den Seelenvermögen, für Hirngespinnste erklären, denn man ist sich ihrer wirklich unmittelbar bewufst. Auch das, was er über die Entstehung dieser Gedanken sagt, kann dienen, uns an Vieles zu erinnern, was wir, mehr oder minder bestimmt, von den geistigen Bewegungen innerlich wahrzunehmen vermögen. Freylich verräth sich dabev auch oft genug die allgemeine Neigung, die Erfahrimg durch Er- schleichungen zu verunstalten, und besondere Anlagen nach Bequemlich- keit zu erdichten. Ein Beyspiel giebt das Gedächtnifs. Dieses ist auch dem Locke eine „ability in the mind, when it wiü to revive them (die Vorstellungen) again"*. Und wenn man ja geneigt wäre, diese ability nicht für ein erdichtetes Vermögen, sondern für die blofse allgemeine Be- zeichnung einer Classe von Thatsachen, ohne Erklärung derselben, zu halten: so verdirbt Locke alles an der Stelle, wo er des höchst merk- würdigen und ranz allgemeinen Phänomens erwähnt, dafs wir nur eine sehr kleine Anzahl von Vorstellungen auf einmal im Bewufstseyn gegen- wärtig haben können. Hier spricht er von einer narrowness of the human mind, als von einer besondern Eigentümlichkeit der menschlichen Anlage, und erlaubt sich die Hypothese, dafs bey andern endlichen Vernunft- wesen dies wühl anders seyn könne! Wie gänzlich darin jede Ahndung einer richtigen psychologischen Ansicht verfehlt ist, wird hoffent- lich tiefer unten klar genug werden. Und doch ist dies völlig gemäfs der gewohnten Weise, die Phänomene, die [49] man als Principien benutzen

* Book II. Chap. X. § 2.

Einleitung. 2 I 5

sollte, durch Erdichtung verborgener Qualitäten für alle weitere Forschung zu verderben.

Im Allgemeinen jedoch ist Locke's Ansicht dem Fehler, den er in Ansehung des Gedächtnisses beging, gerade entgegengesetzt. Als eifriger Bestreiter der angebornen Ideen, wollte er die Seele von der Mannig- faltigkeit dessen, womit man sie ursprünglich ausgesteuert glaubte, vielmehr befreven; um für eine, auf Erfahrung gebaute, Theorie Raum zu gewinnen, die, wenn nicht einer mathematisch-physikalischen Demonstration, so doch einer pragmatischen Geschichtserzählung mag verglichen werden. Schade, dafs ihm das Haupt-Argument seiner Gegner, das von den allgemeinen und nothwendigen Wahrheiten hergenommen ist, und das Leibniz in den nouveaux essays gegen ihn gelten macht, nicht in seiner ganzen Stärke scheint vorgeschwebt zu haben. Dies Argument beginnt mit triftigen Gründen, und endigt mit einer Erschleichung. Man sagt mit Recht, Er- fahrung gebe nur das Einzelne, Wirkliche, nicht das Allgemeine und Not- wendige. Man schliefst auch noch richtig, es müsse das letztre auf der Eigentümlichkeit des erkennenden Subjects beruhen. Aber man erschleicht die Mehrheit verschiedener Formen des Erkenntnifs Vermögens, oder auch die Mehrheit der angebornen Ideen; mit einem Wort, man erschleicht die vorausgesetzte Mannigfaltigkeit der Anlage und die besondre Natur des Subjects, woraus man erklären will, dafs dieses Subject, der Mensch, gerade diese und gerade so viele nothwendige Wahrheiten, und keine andern, in seinem Denken antreffe. Denn man hat nicht untersucht, ob nicht die Notwendigkeit in allen jenen Wahrheiten nur von einerley Art sey; und ob nicht der Eine Grund dieser Nothwendigkeit unmittelbar in der Einheit des erkennenden Wesens, ohne irgend eine weitere Bestimmung seiner Qualität, vollends ohne irgend eine Mannigfaltigkeit von Einrichtungen in demselben, vollständig [50] enthalten sey. Dieses nun ist meine Behauptung, und das gegenwärtige Buch, in Verbindung mit der allgemeinen Metaphysik, soll den Beweis davon führen.

Ich behaupte dem gemäfs ferner, dafs Locke und Leibniz in dem Puncte, von wo ihre Streitigkeit ausging, beyde Recht hatten; und nur in so fern Unrecht, als sie ihre Meinungen nicht zu vereinigen wufsten,

Locke hat vollkommen Recht, die Seele eine tabula rasa zu nennen; Leibniz ihm gegenüber Unrecht, wenn er die Seele einer mit Adern durch- wachsenen Marmorplatte vergleicht. Hinwiederum Leibniz hat vollkommen Recht, wenn er (im Anfange des zweyten Buchs der nouveaux essays) dem Satze: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, die Erinnerung bey- fügt: nisi ipse intellectus. Nur dafs in diesem intelkctus nichts Präformirtes, von welcher Art es immer sey, angenommen werde! Die blofse Einheit der Seele, welche nicht einmal eine Eigenschaft derselben, sondern nur eine Bestimmung unseres Begriffs von der Seele ist, diese reicht hin, alles das zu erklären, was Leibniz aus der Erfahrung nicht wollte ab- geleitet wissen.

An dem Locke'schen Werke aber müssen wir noch eine Hauptseite auffassen; gerade die, worüber er selbst gleich im Anfange sich am aus- führlichsten und nachdrücklichsten erklärt. Den ersten Antrieb zu seiner Arbeit hat er in dem Gedanken gefunden, dafs wir überlegen müssen,

2 1 6 XI. Psychologie als Wissenschaft.

wie weit unsre erkennenden Kräfte reichen, ehe wir uns auf den weiten Ocean der Dinge wagen dürfen ; und dafs wir unsre Aussicht und Hoffnunsr auf Erkenntnifs nach unsem Fähigkeiten zu beschränken haben. Ursprung, Gewifsheit und Ausdehnung der menschlichen Erkenntnifs, das ist's was Locke ermessen will. Ein solches Unternehmen sind wir heutiges Tages gewohnt eine Vernunftkritik zu nennen. Aber es ist weit leichter zu begreifen, wie Locke, als wie Kant seinen philosophischen Nach- forschungen eine solche Form geben konnte. Locke, der Weltmann, ver- liefs sich weit [51] vester auf seine unmittelbare gesunde Ansicht aller Dinge, als auf irgend eine schulmäfsige Untersuchung; wie weit er darin geht, sieht man unter andern aus seinen harten Erklärungen gegen die Syllogismen.* Ihm konnte es daher am wenigsten in den Sinn kommen, sich die Frage: wie macht man es, das Erkenntnifsve rmögen zu erkennen, ernsthaft vorzulegen; denn die Reflexion, der Blick in sich selbst, schien ihm diejenige Erkenntnifsart zu seyn, über welcher eine zuver- lässigere sich gar nicht denken lasse. Er traute also der innern Wahr- nehmung geradehin ; und hätte sich z. B. nie einfallen lassen, die Ver- standesbegriffe aus den logischen Functionen im Urtheilen erst noch ab- leiten zu wollen. Er hatte auch keinen kategorischen Imperativ; sondern der Satz: 110 innate practica/ principhs! gehörte wesentlich zu seiner ganzen Ansicht. Worin das Wesen des Geistes bestehe, wiefern unsre Gedanken von der Materie abhängen, sind ihm : specidations, tvhich, however curious and entertaüiing, I shall decline, as lying out of my way. So sprechen die Weltleute; aber nur ein Mann von Locke's ernstem, wahrheitliebendem, frommen Charakter, konnte sich ein Geschafft daraus machen, durch aus- führliche Musterung unsers ganzen Gedankenvorraths diejenigen Warnungen gegen die Speculation zu unterstützen, welche Andre leicht angedeutet und lächelnd hinzuwerfen pflegen. So entstand seine Vernunftkritik, und in ihr passen Form und Inhalt, Principien, Methoden und Resultate voll- kommen wohl zusammen. Will man sich über sie erheben, so ist zu wünschen, dafs man es ganz thue, dafs man vor allen Dingen die Unzulänglichkeit der innern Wahrnehmung, welche zu jeder Vernunftkritik das Object der Untersuchung herbeyschaffen mufs, vollständig erwäge.

[52] § 18. Genügen wird keinem das Locke'sche Werk, der metaphysische Ueber- zeugungen besitzt. Gleich die erste Erkenntnifsquelle, die Sensation, mufste Leibxiz ableuguen, der bey seiner Einsicht in die Unmöglichkeit jedes physischen Einflusses, alle Vorstellungen der Seele ohne Ausnahme, von ihrer eignen Entwickelung erwartete. Und es ist nur Gefälligkeit (die aber die Untersuchung erschweren dürfte,) wenn sich Leibniz schon beym ersten Paragraphen auf einen Standpunct herabläfst, wo er von Vorstellungen, die durch die Sinne gegeben werden, reden kann, im Gegensatz gegen die nothwendigen Wahrheiten. Dafs die Leibniz'schen nouveaux essays dem

* Book IV. Chap. XVII. § 4. Their chief and inain itse is in the sehoois, ivhere men are allowed without shatne to deny the agreetnent of ideas, that do mani-

festly agree etc.

Einleitung. 2 17

Locke'schen Versuche Schritt für Schritt folgen, hindert vielfältig die freye und vollständige Entwickelung der Gedanken. Wie die Erfahrungslehre des Engländers gegen die Metaphysik des Deutschen anstiefs, übersieht man besser auf einen Blick in den kurzen reflexions sur Vessay de Mr. Locke*); wo Leibniz unter andern das wahre Wort spricht: la quaestion de l'origine de nos idies n'est pas preliminaire en Philosophie, et il faul avoir fait de grands progris pour la dien resoudre.

Eine erhabene Phantasie, unterstützt von einigen tiefgegriffenen specu- lativen Hauptgedanken, hatte LEiBNizen dahin gebracht, überall in der Welt und in der Seele, lauter Fülle und Continuität, gesetzmäfsige und harmonische Entwickelung zu erblicken. Daraus entsprang ein psycho- logischer Hauptsatz, der hoch hervorragt, über die Verbindung der beyden so genannten Haupt vermögen des Verstandes und Willens. Les qualitis et actions internes d'une vionade fie peuvent etre autre chose que ses percep- tions et ses appetitions, c' est-ä-dire, ses tendances d'une percep- tion ä V autre.** Deutlicher noch: actio principii interni qua fit mutatio, seu transitus [53] ab una perceplione ad alteram, appetitus appellari polest. Verum quidem est, quod appetitus non semper prorsus pervenire possid ad omnem perceptionem, ad quam tendit ; semper tarnen aliquid eins 00t inet, atque ad novas perceptiones pervenit.*** Die Seele, in stetiger Entwickelung fort- schreitend, erzeugt Vorstellungen; die Erzeugung selbst, die Handlung des innern Princips, als noch nicht vollendet sondern eben jetzt im Streben zum Vorstellen begriffen, ist das Begehren. Hier ist zwar leicht zu sehen, dafs noch genauere Bestimmungen fehlen; denn das blofse Aufstreben einer Vorstellung, für sich allein, und wenn es ungehindert vollzogen werden kann, giebt so zu sagen die Befriedigung vor der Begehrung, und eben darum weder eins noch das andre; indem in jedem Augenblicke dem Streben vorzustellen auch das realisirte Vorstellen entspricht. Es mufs also noch eine Hemmung hinzukommen, welche das Streben zu überwinden habe; doch an diesem Orte ist es uns nicht um eine Theorie der Be- gierde, sondern darum zu thun, dafs man den Keim einer solchen Theorie bemerke, welcher gemäfs die Beziehung des Begehrens auf das Vorstellen 12.) begreiflich, und der Umstand vermieden werde, dafs dieser offen- baren Beziehung ungeachtet, die Psychologien das Begehrungsvermögen neben dem Erkenntnifsvermögen hinstellen, und jedes besonders abhandeln, ohne sich um die Umstände zu bekümmern, unter denen das Vorstellen unfehlbar in ein Begehren übergehen mufs. LEiBNizens richtigen Gedanken hoffe ich am gehörigen Orte bestätigen und ausführen zu können; ob- gleich die dahin gehörigen Ueberzeugungen viel früher, bevor ich die Werke jenes Philosophen studirte, bey mir vest standen. Es ist die Unter- suchung über das Ich, welche mich hier, wie [54] in mehrern Puncten, auf LEiBNizens Spur geführt hat, wie man tiefer unten t sehen wird.

* Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. IL pag. 218. ** A. a. O. S. 32. *** A. a. O. S. 22. Mit Hülfe dieser Stelle des Leibniz würden vielleicht Einige das besser verstanden haben, was ich in meiner praktischen Philosophie S. 28 31 [s. Bd. II, S. 341 vorl. Ausgabe] über das Begehren gesagt habe, t § 36. 37. 104.

2 i g XI. Psychologie als Wissenschaft.

Wie das Begehren sarnmt dem Vorstellen nach Leibxiz zu den Qualitäten der Seele als einer Substanz gehört: so heftet sich bey ihm an denselben Punct auch noch der Satz, dafs die Seele stets denkt. Die Substanz kann nicht ohne Wirkung, und in der Seele kann keine o-eistio-e Leerheit seyn. Wiewohl ich nun hier so wenig, als in dem Grund- begriff der Substanz selbst mit Leibniz einstimme, so mufs ich doch auf einige Folgerungen aufmerksam machen, die er aus jenen Sätzen zieht. Die Seele hat eine Menge von kleinen Vorstellungen; verbinden sich dieselben zu stärkeren, so wird man sich ihrer bewufst; aufserdem kann man sich von ihnen keine Rechenschaft geben; und man mufs demnach die Perceptionen von der Apperception wohl unterscheiden. U Apperception est la conscience, on la con?iaissance reflexive de Vetat intirieur.* Das Ge- räusch des Meeres entsteht aus dem Geräusch jeder Welle; die einzelne Welle würde keine bemerkbare Vorstellung darbieten; gleichwohl mufs aus der Summe aller einzelnen kleinen Vorstellungen das gesammte Geräusch entspringen, welches zu vernehmen wir uns bewufst sind.** Dafs dieser wichtige Gegenstand, über welchen neuerlich Plattxer und Rein- hold verschiedener Meinung gewesen sind***, wieder in Frage genommen werde, mufs mir für meine Untersuchungen wünschenswerth seyn. Schon anderwärts! habe ich gezeigt, dafs die momentanen Auffassungen durch die Dauer einer Wahrnehmung zu einer Totalkraft erwachsen, wofern nicht die momentane Auf [55]fassung zu schwach ist; ich habe versucht, dieses mathematisch zu bestimmen. Hierher aber gehört vorzüglich die Be- merkung, dafs zwey beynahe gleichklingende Ausdrücke einen ganz ver- schiedenen Sinn haben: ins Bewufstseyn kommen, und, den Gegen- stand ausmachen, dessen man sich bewufst wird. Die zuvor ge- nannten kleinen Vorstellungen kommen ohne Zweifel ins Bewufstseyn: gleichwohl werden wir uns ihrer nicht bewufst, wir können es uns nicht sagen, dafs sie ins Bewufstseyn gekommen seyen. Dieses, was schwer zu verstehen scheint, mufs am gehörigen Orte vollkommen klar werden; indessen wird es Gewinn seyn, die Sache schon hier so weit als möglich ins Licht zu setzen. Zuvörderst: die Seele hat viele Vorstellungen, die dennoch nicht im Bewufstseyn sind. Dieses sind die völlig gehemmten, oder nach gewöhnlicher Benennung, die im Gedächtnifs ruhenden Vor- stellungen. Ferner, diese gehemmten Vorstellungen waren früher im Bewufstseyn, und kehren in dasselbe zurück, wenn die Hemmung nachläfst. Allein um nun auch noch sich ihrer bewufst zu werden, (sie zu appercipiren,) dazu gehört, dafs sie selbst Objecte eines neuen Vorstellens werden; welches niemals durch sie selbst, sondern allemal nur durch eine andre Vorstellungsreihe geschehn kann. Dieses aber hängt gewöhnlich von ihrer Stärke, zuweilen von ihrer Neuheit, überhaupt von

* A. a. O. S. 33- ** Nouveaux essays im Anfange.

*** Plattner's philos. Aphorismen § 63. 65. Rjeinhold's Theorie des Vor- stellungsvermögens, drittes Buch § 38.

t Königsberger Archiv für Philosophie u. s. w., drittes Stück, [s. Bd. III, Xo. VI] und de altentionis mensura [s. oben Xo. IV].

Einleitung. 2 I 9

den Umständen ab, unter denen eine Vorstellungsreihe auf eine andere Einflufs hat, und ein Object derselben wird.

LEiBNizens Aufmerksamkeit auf die kleinen Vorstellungen, durch deren Hülfe er die Continuität der geistigen Phänomene verfolgt, und denen er „mehr Kraft als man denken sollte," zuschreibt, verräth das Auge des Metaphysikers, dem es nicht genügt, nur das anzuschauen, was auf dem Vorhange der Wahrnehmung zu sehn ist, sondern der hinter den Vorhang blickt, und dort nicht etwan erdichtete Seelenvermögen, sondern die wahren Kräfte aufsucht, aus denen die sämmt[56]liche Thätigkeit des Gemüths erklärt werden mufs. Denn eben die Vorstellungen selbst sind die Kräfte der Seele. Vorstellungen sind nicht etwan blofse Bilder, ein nichtiger Widerschein des Seyenden, sondern sie sind das wirkliche Thun und Geschehen, vermöge dessen die Seele ihr Wesen aufrecht hält, und ohne welches sie aufhören würde zu seyn was sie ist. Um aber die Art, wie die Vorstellungen zusammenwirken, genau kennen zu lernen mufs man nicht die grofsen Massen von Vorstellungen, welche die innere Wahrnehmung vorfindet, noch die ganzen Classen von Gemüthszuständen, an welchen der logische Scharfsinn der meisten Psychologen sich übt, sondern man mufs gerade wie Leibniz die kleinen Vorstellungen ins Auge fassen, und ich kann hinzusetzen, man mufs auch durch LEiBNizens Erfindung, die Rechnung des Unendlichen, das Auge schärfen, um die kleinen Vorstellungen in ihrer Wirksamkeit beobachten zu können.

Nehme ich noch hinzu, dafs schon Leibniz den vollkommen richtigen Gedanken verbreitete, die Seele erzeuge alle ihre Vorstellungen aus sich selbst: so könnte ich mich einen Augenblick der Verwunderung hingeben, dafs so treffliche Vorarbeiten dennoch keine tüchtige Psychologie erzeugt haben! Aber die prästabilirte Harmonie nach welcher die Seele nicht blofs aus und durch sich selbst, sondern auch von selbst, ohne äufsere Veranlassung, ihre Vorstellungen erzeugen soll, hat ihre schwachen Seiten; sie ist mit theologischen und naturphilo- sophischen Meinungen verwickelt; sie wurde dadurch vielmehr ein Gegen- stand, als eine Quelle neuer Nachforschungen; sie wurde verworfen, und vielleicht beynahe vergessen. LEiBNizens Lehre wurde niedergedrückt, theils durch die auf den ersten Anblick klarere Lehre des Locke, welcher sie noch mehr zu widerstreiten schien, als sie ihr wirklich entgegen ist, (denn die Sätze, dafs die Seele ursprünglich eine tabula rasa ist; und, dafs sie ihre Vorstellungen aus sich selbs er[57]zeugt, können und müssen vereinigt werden,) theils durch den scheinbar befreundeten Einflufs des Wolffischen Systems.

§ 19« Wenn das imposante Ansehen eines, in viele Fächer getheilten, von Definitionen und Divisionen angefüllten, Lehrgebäudes eben so geschickt wäre, achtes Denken zu erwecken, als es fähig ist, Schüler anzulocken : so müfste die Wolffische Periode in der That die Blüthezeit der Philosophie gewesen seyn. Aber je gröfser die Menge des eingebildeten Wissens, desto geringer ist die Spannung des Forschungsgeistes; und dieser wird durch einen kurzen Auf- satz von Leibniz mehr angeregt, als durch einen ganzen Band von Wolfe.

2 2Q -^I- Psychologie als Wissenschaft.

Der Wolffischen Philosophie wird manchmal so erwähnt, als ob sie zu der Leibnizischen beynahe wie die Form zum Inhalte gehörte. Aber wer LEiBNizens Lehre vollends ausarbeiten und systematisch vortragen wollte (womit ihr vielleicht kein grofser Dienst geschähe, denn als System betrachtet, dürfte sie manche Blöfsen zeigen, und als eine Summe von geistreichen Räsonnements ist sie von Leibniz selbst in sehr ansprechende Formen gebracht worden), der müfste doch vor allen Dingen die prästa- bilirte Harmonie, auf deren Erfindung Leibniz selbst überall so vieles Ge- wicht legt, oder eigentlich den Grundgedanken dieser Lehre, dafs keine Substanz in die andre eingreifen könne,* zum Haupt- und Mittelpunct des Ganzen machen; er müfste also wohl vor allen Dingen selbst recht vest davon überzeugt seyn. Aber es ist bekannt, wie Wolff diesen Punct zu umgehen, wie er davon alles übrige möglichst unabhängig zu machen sucht. Mea partim refert, quid de causa comercii animae cum cor- pore slalualur; sind seine eignen Worte.** Wie verträgt sich diese Gleich- gültigkeit mit [58] dem Unternehmen, in der Psychologie, in der Meta- physik, Hauptwerke zu schreiben!

Auf Wollff's Versuch einer Trennung der rationalen und empirischen Seelenlehre weiter einzugehn, verbietet schon der Umstand, dafs eben in seiner empirischen Psychologie, wo er reine Erfahrung verspricht, der Hauptsitz der Seelenvermögen sich befindet. Die Art, wie er diese Ver- mögen einführt, die Rechtfertigung aber verschiebt, ist auffallend genug. Quotnam sint animae facultates, et quales sint, in Psychologia empirica decla- ramus; quid vero proprie sint et quomodo animae insint , in Psychologia rationali demum declarabitur . *** Wir sollen also in der empirischen Psycho- logie zuvörderst uns an die Seelenvermögen gewöhnen; wir sollen auch vorläufig allen Erschleichungen überlassen bleiben, die sich damit verbinden möchten; ein andermal will man unsre Begriffe berichtigen! Doch wir wenden uns sogleich an die Psychologia rational is : was werden wir finden? Facultates animae cum sint nudae agendi possibilitates : animae tribuere diver sas facultates idem est ac affirmare, possibile esse ut diver sae eidem inexistent actiones.j Woraus folgt, dafs die Seele so vielerley Vermögen habe, als nur immer Handlungen in ihr vorgehn; so dafs alles auf die Richtigkeit und Zulänglichkeit der Abstractionen ankommt, durch welche man die Arten und Gattungen dieser Handlungen vestsetzt. Wie sicher und genau nun das Geschafft des Abstrahirens da vollbracht werden könne, wo man nichts als ftiefsende und schwindende Zustände vorfindet; wie viel alsdann ferner die gemachtesten Abstractionen helfen können, um die Erfahrung von diesen fliefsenden Zuständen, nicht etwan zu erklären, sondern nur treulich aufzufassen; wie wohl oder übel demnach die em-

* Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 21. § 7. ** Wolffii psychol. rationalis in praefatione. *** Wolffii psych, empirica § 29.

+ Wolffii psych, ration § 81. Wie es aber eigentlich gemeint sey, das erfährt man nicht so wohl wenn man die Psychologen fragt, als wenn man sie ertappt. So läfst sich Wolff ertappen im § 601 der psych, empir. Zuerst sagt er recht gut : appe- titus mutatur in aversationem ; dann verbessert er sich: appetittts dicitur mutari in aversationem, quando loco facultat is appetendi sese exer it factilt as aversandi!

Einleitung. 2 21

pirische Psychologie mit dem Register von Seelenvermögen berathen sey: darüber ist oben geredet worden. Wir wollen uns daher nicht damit be- mühen, diejenigen Abstractionen, welche Wolff wirklich verzeichnet hat, näher anzusehen. Und wenn die Neuern ihm zu seinem Erkenntnifs- und Begehrungsvermögen noch ein ganzes Hauptvermögen, das Gefühl- vermögen, hinzugefügt haben: so wollen wir darum eben nicht glauben, die Neuern hätten es besser verstanden wie Er, sondern wir wollen diese Mis- helligkeit lieber aus der Unsicherheit des ganzen Unternehmens, die nahe an Unbrauchbarkeit gränzt, zu begreifen suchen. Dagegen aber begleiten wir WoLFFen, den Metaphysiker, noch ein Paar Schritte in seine Ontologie hinein. Er selbst weiset uns dahin. Denn in dem schon angeführten § sagt er weiter: necesse est ut detur ratio suffieüns , cur falia in anima possibilia sint. Quare cum in essen tia contineatur ratio eorum, quae praeter eam enti vel constanter insunt, vel inesse possunt, per vim anima e int eil igt debet, cur talia in anima possibilia sint. Man spanne aber die Erwartung ja nicht zu hoch! Denn es heifst gleich weiter: Tribuuntur itaque animae tales faculiates, quia possibile est ut talia per vim eiusdem diversis legibus obtemperantem actuentur. Man lege also nur die verschiedenen Möglich- keiten in die Eine Kraft hinein, damit man sie alsdann wieder daraus be- greifen könne! Es folgen aber noch Beyspiele. Die Luft läfst sich verdichten; also hat sie ein Vermögen verdichtet zu werden. Der Stein kann warm werden; also hat er ein Vermögen warm zu werden. ,,Haec calefiendi potentia quo modo inest lapidi, eodem modo facultas quaelibet inest animae.'1 Da wir aber noch nicht wissen, wie eigentlich der Stein und die Luft allerley Vermögen enthalten können, vielmehr diese gar nicht geringen physikalischen Fragen noch eher an den Seelen[6o]vermögen, welche wenigstens schein- bar durch ein Gefühl des Könnens sich innerlich kund thun, Beyspiel und Erläuterung finden möchten: so werden wir am Ende in die Ontologie geschickt; und zwar in das Capitel de notione cutis; wo wir unter andern folgende Offenbarung empfangen : Si ens quoddam concipiendum, primo loco in eo ponenda sunt, quae s ibi mutuo non repugnant* Hier mufs nothwendig derjenige bestürzt werden, der bisher von dem Seyenden den Begriff hatte, dafs es eine völlige Einheit, ohne alle Mannigfaltigkeit, ausmache. Bey WoLFFen scheint es nicht einmal einer Frage werth, ob, und in wiefern eine innere Mehrheit sich mit der notione entis vertrage? Auch giebt es dann gleich weiter so viele essentialia, altributa, modi, die alle geraden Weges durch Namenerklärungen eingeführt werden; dafs wir schon darauf gefafst seyn müssen, diese Fülle auch bey dem ens simplex nicht los zu werden, von welchem keine andre Vereinigungen vorkommen, als die sich auf die Ausdehnung beziehen.** Und auch in dem langen Capitel mit dem vielversprechenden Titel : de modificationibus rerum, praesertim simplicium, wird man schwerlich eine tüchtigere Aussage finden , als die im >j ~ 12: Pracsupponi dcbent in ente essentialia, aniequam altributa et modi sequi possunt. Doch es ist bekannt, wie Wolff durchgängig über dem ens, (dem was seyn kann) das Esse vergafs, wie er die Möglichkeit und die

Woi.fi- ii ontologia. § 142. Ibid. § 683.

XI. Psychologie als Wissenschaft.

Namenerklärungen voranschickte, die Realität aber, man weifs nicht recht wie, hintennach dazu kommen liefs; wie er vor lauter logischer Deutlich- keit die eigentlichen Dunkelheiten gar unsichtbar machte. Ein solcher Mann konnte der Psychologie nicht aufhelfen; wohl aber den Winken des Leibniz die nöthige Aufmerksamkeit entziehen.

§ 20.

Seit Wolff's Zeiten haben zwar Materialisten, Skeptiker, Physiologen, die Seelenlehre in mancherley Schwankungen zu setzen, die Freunde der Erfahrung dagegen sie vestzuhalten und durch Beobachtungen zu bereichern versucht. Allein erst die Kant'sche Lehre gewann, wenigstens in Deutsch- land, eine allgemeinere Herrschaft, und damit einen entscheidendem Ein- flufs auch auf die Psychologie. Und ungeachtet des Zwischenraums zwischen Wolff und Kant, erinnert doch der letztere oft genug an jenen, wie auch an dessen Vorgänger. Die ersten Worte der Kritik der reinen Ver- nunft scheinen zu LocKEn geredet; die Erwähnung der noth wendigen und allgemeinen Wahrheiten unterstützt LEiBNizen; und vielfältig in dem Kant'schen Hauptwerke werden Locke und Leibniz einander gegenüber gestellt. Ohne Vergleich lebendiger ist der Ausdruck der Speculation bey Kant als bey Wolff; aber die Namenerklärungen, aus denen Wolff grofsentheils sein Lehrgebäude aufführte, finden doch einen Nachklang in der Terminologie, womit Kant, über den Bedarf, sein Werk ausschmückte. Die rationale Psychologie, welche sich Wolff als sein verdienstliches Werk zuschrieb, fand ihren Gegner in Kant; aber den Seelenvermögen, die jener systematisch abhandelte, widerfuhr die Ehre, von dem letztem noch weit mehr auseinander gesetzt zu werden.

Erinnert man sich der starken Gegensätze, welche Kant zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstände, zwischen dem Verstände und der Vernunft, zwischen der theoretischen und praktischen Vernunft, zwischen der praktischen Vernunft und dem niedern Be°;ehrun£svermö2;en, endlich zwischen den bev- den Arten der Urtheilskraft bevestigte: so mag man wohl überlegen, ob je- mals ein Philosoph die Einheit unsrer Persönlichkeit so gewaltsam behandelt; das fliefsende unserer Zustände, das Ineinander-Greifen aller unsrer Vor- stellungen, das allmählige Entstehen eines Gedankens aus dem andern, so wenig [62] in Betracht gezogen; hingegen an der Verschiedenheit einiger Haupt-Resultate der geistigen Bewegungen, und an dem Widereinanderstofsen einiger Vorstellungsreihen sich so einzig gehalten haben möge? Und wel- ches ist das Band, durch welches jene weitgetrennten Vermögen zusammen- gehalten werden sollen? Um es zu finden, müssen wir bemerken, dafs Kant für die Vereinigung des Mannigfaltigen in der Anschauung weit mehr besorgt war, als für die Einheit des Geistes selbst; und dafs er zu diesem Behufe eine ursprünglich synthetische Einheit der Apperception, nebst einer ob- jectiven Einheit des Selbstbewufstseyns aufstellte, indem er das: Ich denke, allen unsern Vorstellungen zum (möglichen) Begleiter gab. Aber dieses Ich erklärt er weiter hin für die ärmste und gehaltloseste Vorstellung unter allen; ein Gegenstand, auf den wir weiterhin zurückkommen müssen. Was Wunder indessen, wenn das Gefühl des Mangels an Verbindung, schon von den nächsten Nachfolgern Kant's Einige antrieb, eben an dieser

Einleitung. 22X

Stelle, wo noch eine Spur von Zusammenhang sich zeigte, sich anzubauen? Das Bewufstseyn und das Selbstbewufstseyn zum Princip der Kant'schen Philosophie, und damit der Philosophie selbst, als zu dem Einen was Noth thue, zu erheben? An diesen Versuch haben Mehrere der scharf- sinnigsten Männer ihre Kräfte gewendet, und zum Theil verschwendet; in der That aus zu grofsem Vertrauen auf die Kant'sche Lehre, welche sie dadurch besser zu stützen gedachten. Gegenwärtig ist es Zeit, es laut zu sagen, dafs dieser Weg irre führt; obgleich die Kant'schen Schriften einen Schatz von Belehrungen enthalten, den Niemand verschmähen soll.

Was nun insbesondre Kant's Kritik der rationalen Psychologie an- langt: so sind darüber zwey Bemerkungen zu machen. Die eine ist nur Anwendung einer allgemeinen Betrachtung auf einen speciellen Fall. Kant iiat nämlich überhaupt nicht genug dafür gesorgt, an den Stellen, wo er die ältere Metaphysik widerlegen will, sich Metaphysik von der besten Art zu verschaffen. So nun [63] auch schiebt er die Schuld des Irrthums in der rationalen Psychologie auf einen Paralogismus, der wohl schwerlich fähig seyn oder gewesen seyn möchte, irgend Jemanden unter den besseren und sorgfältigeren Denkern zu täuschen. Oder sollte wohl Leibniz darum die Seele für Substanz gehalten haben (man weifs wie viel Gewicht er eben hierauf legt), weil: „ein denkendes Wesen, blofs als ein solches be- trachtet, nicht anders, denn als Subject kann gedacht werden" ?* Schlagen wir den Leibniz auf, so finden wir alles was wir brauchen in folgenden Worten beysammen: II faut dien qu'ily ait des substa?ices simples par-tout, parceque sans les simples il ny anroit point de composees ; et par consequent tonte la ?iature est pleine de vie.** Hier finden wir früher Sub- stanzen als Seelen; früher die Ueberzeugung von einfachen Bestandtheilen des Zusammengesetzten, als von der Einfachheit der Seele; mit einem Worte, früher allgemeine Metaphysik der Psychologie. Und so ist es natürlich. Erst überlegt man, ob Substanzen als einfache Wesen anzu- nehmen seyen ? Dann folgt die Frage, was diese Substanzen seyn mögen? Worauf Leibniz, in der That voreilig, aber in der Absicht, ihnen eine nicht blofs relative, sondern rein-innerliche Qualität anzuweisen, antwortete: sie sind vorstellende Wesen, eben darum, weil sie Substanzen sind. Leib- Nizens Satz heifst nicht, die Seelen sind Substanzen, sondern: die Substanzen sind Seelen. Wer aber diese Vorschnelligkeit vermeidet, der fängt freylich in Hinsicht der Seele von der innern Wahrnehmung an; aber er schliefst nicht von dem: Ich denke, als dem allgemeinen Subjecte zu allen vorgestellten Objecten, auf eine Existenz eines Subjects, das nie Prädicat seyn könne; sondern von der gegenseitigen Durch- dringung aller unserer Vorstellungen, und ihrer Concentration in dem Einen Be[b4]wufstseyn, schliefst er auf die Unmöglichkeit, dieser Durchdringung und Einheit ein zusammengesetztes Substrat zu geben, als in dessen Bestandtheilen die Vorstellungen zerstreut liegen würden; und nun folgt die Nothwendigkeit, die Einfachheit zu erwählen, weil die Zu- sammengesetztheit verworfen werden mufste; endlich aber die Einfachheit

* Kant's Kritik d. r. V. S. 411. ** Leibnitii op. Vol. II. pag. 32.

22 l -^-k Psychologie als "Wissenschaft.

auf eine Substanz zu beziehen,* weil die wirklich vorhandenen Vor- stellungen etwas Reales erfordern, dem sie beygelegt werden können. Wer diese Art zu schließen widerlegen will, der mufs entweder das Mittel erfinden, wie man alles realen Substrats entbehren könne, welches Fichte versuchte, aber ohne Gewinn für Kant, denn das Fichte'sche Ich ist in der That Substanz, nur eine solche, deren Qualität in einem System nothwendig verbundener Handlungen besteht; oder er mufs nach- weisen, wie das zusammengesetzte Substrat eine wahre Einheit des Be- wufstsevns besitzen könne, welches man wohl eine offenbare Ungereimtheit nennen darf.** Mit der Angabe eines Paralogismus aber, dessen sich Nie- mand schuldig macht, ist hier gar nichts gewonnen; und am wenigsten dann etwas gewonnen, wenn noch obendrein die Begriffe selbst, aus denen der vorgebliche Paralogismus seinen Ursprung nehmen soll, im höchste» Grade mangelhaft aufgefafst sind. Dies ist die zwevte Bemerkung, welche hier gegen Kant gemacht werden mufs. Es kann gar nicht zugegeben werden, dafs Kant den Begriff des Ich richtig gefafst habe. Dieser Be- griff ist der Anfangspunct einer [05] weitläuftigen Untersuchung, auf deren Bahn uns Fjchte geholfen hat; ein nicht genug zu schätzendes Verdienst, zu dessen Anerkennung ich durch das gegenwärtige Buch etwas beizutragen wünsche.

§ 21.

Unter den Psvchologen, welche jünger sind als Kant, befindet sich Einer, der leider schon zu den Verstorbenen gehört. Es ist der vortreff- liche, auch von mir sehr hochgeschätzte Carus. Ich wünschte sehr, nicht bekennen zu müssen, dafs dessen Psychologie mich die darin gesuchten Aufklärungen hat vermissen lassen. Was ich gefunden, brauche ich hier nicht zu beurtheilen, da meine Ansicht sehr leicht aus demjenigen kann geschlossen werden, was bereits über die Seelenvermögen, und die auf sie gedeuteten Abstracta, ist gesagt worden.

Von den noch Lebenden werde ich mir nur erlauben, die Herren Professoren Hoffbauer, Fries und Weiss zu nennen.

Der Grundrifs der Erfahrungsseelenlehre von Hoffbauer kann meiner Meinung nach nicht blofs als Beyspiel, sondern beynahe als Muster einer klaren und verständig geordneten Uebersicht bisheriger Psychologie be- trachtet werden. Das Streben, sich vor Erschleichungen zu hüten, ist in sorgfältiger Wahl der Ausdrücke überall sichtbar. Als Methode wird so- gleich im § 10 die Induction angegeben. Auffallend aber ist es, dafs nun gleichwohl das ganze Buch den gewöhnlichen Weg vom Allgemeinen zum Besondern hinabsteigt, während die Induction den gerade entgegen- gesetzten Gang- erfordert. Sollen Leser und Zuhörer von den letzten Resultaten zu der Erkenntnifsquelle geführt werden? Sollen sie mit dem

* Ich lasse hier unentschieden, ob die Seele Substanz für sich allein, oder ob nur Eine Substanz für mehrere Individuen anzunehmen sey? welche Frage übrigens die Psychologie nicht berühren darf, weil das Letztere schon aus Gründen der allgemeinen Metaphysik entschieden zu verneinen ist.

** Blofs um zu erinnern, dafs dieser Gedanke längst bekannt ist, citire ich, was mir zuerst in die Hände fällt, Poley's I40ste Anmerkung zu seiner Uebersetzung des Locke.

Einleitung.

22,5

Glauben anfangen, und mit dem Schauen endigen? So giebt es auch Vor- träge der Chemie, worin mit dem Sauerstoff angefangen, mit den bekannten und sichtbaren Körpern geendigt wird; anstatt dem Zuhörer zuerst die Experimente bekannt zu machen, aus welchen auf den Sauerstoff und seines Gleichen zu schliefsen ist. Aber ich [66] bin weit entfernt, hier einen eigenthümlichen Fehler jenes Grundrisses erblicken zu wollen; da ich vielmehr selbst gezeigt habe, wie unwillkührlich die Psychologie wegen der Schlüpfrigkeit ihres Stoffs in Abstractii >nen hineingleitet, worin sie nicht eher vesten Fufs gewinnt, als bis sie bey den äufsersten Abstractionen angekommen ist, von denen sie alsdann wieder rückwärts den Weg der Determination versucht, und ihn fortsetzt, wie und soweit sie eben kann. Wir schliefsen also aus dem genannten Buche nur soviel, dafs auch ein vorsichtiger und vorzüglicher Denker durch dieselben Schwierigkeiten, welche seine Vorgänger drückten, noch jetzt bewogen werden mag, eine seiner eignen Angabe gerade zuwiderlaufende Richtung zu verfolgen. Wollten wir tiefer eintreten, so würden uns gleich bey der Theorie der Sinnlichkeit einige Untersuchungen der schwierigsten Art, die hier viel zu leicht ge- nommen sind, entgegenkommen; nämlich wie die Auffassung der räum- lichen und zeitlichen Bestimmungen möglich sey, welche in der eigent- lichen Materie der Empfindungen (den Tönen, Farben u. s. w.) schlechter- dings nicht enthalten sind. Aber hier nur die Frage zu verstehen und gehörig zu würdigen, erfordert schon ein Nachdenken, das sich über die Sphäre der sogenannten Erfahrungsseelenlehre weit erhebt; und welches leider eben dadurch pflegt erdrückt zu werden, dafs man den Anfängern die schwersten Sachen so leicht vorstellt.

Bey Herrn Prof. Fries finden wir manche eigentümliche Ansichten eingewebt in eine, der Hauptsache nach Kantische, Lehre. Jene scheinen vorzüglich in der Polemik gegen Fichte und Schelling entsprungen zu seyn. Da die Absicht der gegenwärtigen Schrift nichts weniger als po- lemisch ist, so wollen wir uns mit einigen Proben begnügen, die sich am leichtesten aus der Schrift: System der Philosophie als evi- dente Wissenschaft, herausheben lassen, weil diese in kurzen Sätzen ab- gefafst ist.

[67] Im § 41 des genannten Werkes finden wir, im Widerspruch gegen Fichte's erste Grundgedanken, die Behauptung: „Unsere Vernunft besitzt ein reines Selbstbewufstseyn, welches wir aussprechen: Ich bin. Dieses ist aber nicht zugleieh mit der innern Anschauung gegeben, viel- mehr ist es gar keine Anschauung, sondern nur ein unbestimm- tes Gefühl." Es folgt ein Beweis, der in zweyen Gliedern mit richtigen Bemerkungen anhebt, und mit Erschleichungen endigt. Zuerst die Be- merkung, dafs das reine Selbstbewufstseyn kein Object hat;* woraus ge- folgert wird, es sey keine Anschauung, sondern ein unbestimmtes Gefühl. Das erste ist wahr, und das zweyte falsch. Weil das reine Selbstbewufstseyn eine Vorstellung ohne Gegenstand seyn soll, so ist es ein klarer Widerspruch; und man kann davon gar nichts, auch nicht ein unbestimmtes Gefühl übrig behalten; welches ein Gefühl ohne Gefühltes

* Man vergleiche unten ^ 27 im Anfange. HbKBARi's Werke. V.

2 XL Psychologie als "Wissenschaft.

seyn würde, während das Selbstbewufstseyn seinem Begriffe nach überall kein Gefühl, sondern eine Vorstellung seyn soll. Vielmehr mufs man an- erkennen, dafs unsre Behauptung, es gebe ein reines Selbstbewufstseyn, eine von jenen Abstractiönen ist, die wir von den besondern Selbst- anschauungen hergenommen, dann aber, der Einheit unsrer Persönlichkeit wegen, für etwas angesehen haben, das wohl ohne 'die besondern An- schauungen für sich bestehen, oder, wie Herr Fries im zweyten Gliede seines Beweises meint, zum Grunde liegen könne. Wir sind nun aller- dings genöthigt, uns einen solchen Begriff von uns selbst zu machen; wir sind aber eben so wohl genöthigt einzugestehen, dafs dieser Begriff ohne allen Sinn, folglich auch keine wahre Erkenntnifs eines realen Gegen- standes sey ; dafs es kein reines Selbstbewufstseyn, keine blofse Ichheit wirklich gebe; sondern dafs wir den erwähnten Begriff vielmehr als Anfangspunct einer Theorie, als einen wissenschaftlichen Stoff gebrau- [68]chen müssen, den wir zu verarbeiten haben, bis die Widersprüche (deren er noch mehrere in sich trägt) verschwinden werden. Weil aber Herr Fries mit seiner Polemik gegen Fichte nicht zu Ende gekommen ist: darum läfst er von dem reinen Selbstbewufstseyn noch das unbestimmte Gefühl stehen; darum auch redet er von einem Bewufstseyn des Gegen- standes, nicht wie er ist, sondern dafs er ist. Dieser Widersinn einer Realität ohne Qualität, ist aber eben so wenig eine Wahrheit, als er eine Be- hauptung des Herrn Fries seyn würde, wenn derselbe den Muth gehabt hätte, dem Probleme gerade ins Gesicht zu schauen, und, alle Halbheiten und Ausflüchte bey Seite setzend, das Unding, welches der Begriff des Ich uns vorspiegelt, so ernstlich anzufassen, wie man es fassen mufs, um es zu zerstören.

Weiterhin mischt sich nun bey Herrn Fries die Erdichtung des innern Sinnes und einer Empfänglichkeit desselben, mit richtigen Ahndungen von dem Gedächtnifs, und mit dem völlig wahren Satze: die Vorstellungen im Gemüthe werden von selbst fortdauern, bis sie durch etwas anderes verdrängt werden. Eben so wahr ist der § 51, nach welchem der allgemeine Grund der Association in der Einheit des Subjects und seiner Thätigkeit enthalten ist. Neben so richtigen Ansichten hätte die transscen dentale Einbildungskraft 57.) verschwinden sollen, die abermals erdichtet wird, damit die, für ursprünglich gehaltenen formalen Anschau- ungen, zur Erkenntnifs (soll heifsen: zur Materie der Empfindung, welche allerdings die formalen Bestimmungen keinesweges in sich schliefst) hinzu- k( mimen mögen. Der Kantianismus aber, als Gewöhnung an ein System, mit Uebergehung ganz nahe gelegter Fragen, welche die Ruhe der ange- nommenen Meinungen hätten stören sollen, zeigt sich auffallend beym § 59 62; wo die figürliche synthetische Einheit als Erfolg der Selbst- tätigkeit beschrieben wird, während die Gegenstände in der Anschauung uns unter der Bedingung einer jederzeit möglichen Con-[6c)] struction gegeben werden. Was mögen doch das für Bedingungen seyn, vermöge deren die selbstthätige transscendentale Einbildungskraft gewisse Auffassungen von Farben lieber in die Form eines Vierecks, als in die Form eines Cirkels bringt? Gegebene Bedingungen sind es ohne Zweifel; denn wir können nicht willkührlicher Weise das Runde als viereckigt, oder

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das Viereckigte als rund anschauen. In der Form des Sinnes, dem Räume, kann der Grund des Unterschiedes nicht liegen, denn diese Form ist für alle sinnliche Anschauungen als Eine und dieselbe Bedingung vorhanden. Wenn nun etwa die Vorstellungen ihrem Stoße nach von den Dingen an sich herrühren, wie sie denn in der KANT'schen Lehre ohne Zweifel thun: so müssen diese Dinge an sich, trotz dem, dafs sie von Raum und Zeit nichts wissen, sich doch aufser ordentlich genau auf diese Formen des innern Sinnes beziehen, damit ein Unterschied in jene figürliche synthetische Einheit hineinkomme. Wir erkennen also von den Dingen an sich, dafs in ihnen gerade so viel Verschiedenheit Statt findet, als nöthig ist, um die mannigfaltigen Bedingungen herzugeben, deren wir für die figürliche synthetische Einheit der Einbildungskraft in ihren bunten Abwechselungen bedürfen. Dieses wäre denn eine nicht unbedeutende Kenntnifs von den Dingen an sich, welche die KANT'sche Lehre eben so wenig vermeiden, als leiden kann; und worüber sich die bessern Anhänger der- selben längst hätten erklären sollen, wenn sie es vermöchten. Das Wahre an der Sache aber ist, dafs diese ganze Theorie auch keine leiseste Ahn- dung der Gründe enthält, aus denen die Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen psychologisch erklärt werden müssen. Nicht einmal das Problem ist hier vollständig aufgefafst; denn es fragt sich eben so sehr, was für Bedingungen uns bestimmen, einer Substanz gerade solche und keine andern Eigenschäften zusammengenommen anzuweisen; z. B. dem Wasser die Flüssigkeit neben der Durchsichtigkeit; dem Queck[7o]silber aber weder die Nässe noch die Durchsichtigkeit des Wassers, sondern neben der Flüssigkeit den Glanz und die vorzügliche Schwere. Auch hier liegt in der Materie der Empfindung keineswegs die Gruppirung derselben; und in den vorgeblichen Formen des Verstandes kann sie eben so wenig liegen, weil diese sich gegen alle die verschiedenen Vor- stellungen verschiedener Substanzen auf gleiche Weise ver- halten müssen.

Eine beynahe unbegreifliche Mischung der richtigen Ansichten, nach welchen die Vorstellungen selbst die Kräfte in der Seele sind, und des falschen Bestrebens, Seelenvermögen zu spalten (nämlich wenn die vorige richtige Erklärungsart irgendwo nicht ganz leicht von selbst sich darbietet) : geht nun bey Herrn Fries immer weiter fort. Er findet § 79, den ersten Grund der Abstraction darin, dafs in ähnlichen Vorstellungen, welche im Gemüth zugleich verstärkt werden, die ihnen gemeinschaftliche Theilvor- stellung mehr verstärkt wird, als die unterscheidende Nebenvorstellung. Dieses reicht zwar nicht hin zur Erklärung; denn die angehängte Clausel: das Gemeinschaftliche könne also abgesondert vorgestellt werden, ist eine grofse Uebereilung und Unwahrheit. Dennoch ist der erstere Gedanke richtig, und in der That um so mehr zu schätzen, weil wir damit das Ab- stractionsvermögen, als ob es etwas Besonderes wäre, beseitigen können; und weil hier die Verbindung zwischen der sogenannten Einbildungskraft und dem sogenannten Verstände anfängt hervorzuleuchten.

Die Psychologie des Herrn Fries würde nach solchen Proben sich ohne Zweifel besser dabey befinden, wenn er sie einmal zum Mittelpuncte eines wissenschaftlichen Strebens machte, als so lange er sie nur als den

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Vorhof der Philosophie betrachtet.* Ohne Zweifel verjjijdient es Dank von Seiten derjenigen, welche den unhaltbaren Grund der Kant sehen Lehre für sich allein nicht entdecken können, dafs ein Mann aufgetreten ist, der in eine sogenannte philosophische Anthropologie alles das Schwan- kende zusammengestellt hat, worauf Kaxt, als auf gutem Grunde, vesten Fufs fassen wollte. Dies erleichtert die Prüfung; und wer in den Dar- stellungen des Herrn Fries noch nicht sehen kann, wie in den ersten Voraussetzungen Wahres und Falsches gemischt, und wie selbst das Wahre als roher Stoff unausgearbeitet daliegt, der wird sich schwerlich je darauf besinnen. Mir ist es wahrscheinlich, dafs wenn Kant, mit alter rüstiger Kraft des Denkens, noch lebte, Niemand besser als Herr Fries ihn zu einer Revision seines Systems würde vermögen können. Denn ohne Zweifel bedurfte ein so vortrefflicher Geist nichts anderes, als nur eine Zusammenstellung seiner eignen Voraussetzungen, nur eine Richtung seiner Aufmerksamkeit, welche in den HuME'schen Problemen zu sehr befangen war, um alle die verschiedenen Anfangspuncte der Speculation gehörig zu benutzen. Soll aber nicht von Beleuchtung der KAXT'schen Lehre, sondern von Psychologie die Rede seyn, so bedarf diese der allgemeinen Metaphvsik zu ihrer Unterstätzung; und Herr Prof. Fries hat das Hinterste nach vom gewendet, indem er der Metaphysik seine Anthropologie voran- schickt.** (Man sehe oben § 15 gegen das Ende.)

Diesem Verfahren gerade entgegengesetzt ist das des Herrn Prof. Weiss ; in seinen Untersuchungen über das Wesen und Wirken der mensch- lichen Seele. Er legt eine dynamische Xatur-Ansicht zum Grunde, und macht es mir eben dadurch unmöglich, mich hier, wo für ausführliche Betrachtungen aus allgemeiner Metaphy[72]sik kein Platz ist, anders als nur sehr kurz über sein Werk zu erklären. Die ursprüngliche und noth- wendige Duplicität in der Kraft, die das Daseyn eines jeden Dinges con- stituiren soll (S. 27.), mufs ich gänzlich ableugnen. Und eine solche Dupli- cität zuletzt aus einer absoluten Einheit abzuleiten, kann meiner Meinung nach keine Aufgabe für die Speculation seyn, weil umgekehrt es zu den Aufgaben derselben gehört, alle dergleichen undenkbare Einheiten, aus denen eine Vielheit entspringen soll (zu deren Annahme manche Phäno- mene des Geistes und der Natur allerdings verleiten), gänzlich hinweg- zuschaffen, und die Wissenschaft von ihnen zu reinigen. So kann ich denn auch in keine Gemeinschaft treten mit einer Philosophie, welche das Unendliche als Grund des Endlichen, und dieses als Erscheinung von jenem betrachtet (S. 5.). Dergleichen Philosophie mufs ich dem Spinoza und seinen Erneuerern überlassen; indem ich überzeugt bin, dafs von dem, was wahrhaft Ist, sowohl die Unendlichkeit als die Endlichkeit mufs ver- neint werden; und dafs die Endlichkeit noch überdies auf eine unge- schickte Weise in die Unendlichkeit hineingeschoben wird, von denen, die sich mit diesen Vorstellungsarten tragen ; welches Ungeschickte zu ver-

Man sieht leicht, dafs diese Stelle vor vielen Jahren ist niedergeschrieben worden.

Auf die neuern Werke des Herrn Prof. Fries wird hier aus denselben Gründen keine Rücksicht genommen, derentwegen hier alles vermieden wird, was als Persönlich- heit könnte ausgelegt werden. Der Leser hat nun die Freyheit, anzunehmen, der Gegen- siand meines Tadels sey schon verschwunden, und das Neueste sey davon weit verschieden.

Einleitung. 2 2Q

bessern jeder Versuch vergeblich ist, weil die Unendlichkeit, wenn sie selbst den Keim enthielte, aus dem die Endlichkeit konnte abgeleitet werden, mit sich selbst im Widerspruche stände. Wäre nicht nach diesen Erklärungen jedes weitere Wort überflüssig: so würde ich noch hinzusetzen, dafs in dem genannten Buche die vorläufige Erörterung dessen, was die innere Wahrnehmung geben und nicht geben kann, und die genaue Angabe der Art und Weise vermisse, wie an die Wahrnehmung, und die von ihr dargebotenen Erkenntnifs-Principien, die Speculation sev angeknüpft worden.

Noch Einer ist übrig, zu welchem wir näher hinzutreten müssen, nämlich Fichte. Nicht zwar, um von [73] seiner realen und idealen Thätigkeit weitläuftig zu reden; den heterogenen Elementen, woraus er das für real gehaltene Ich, nicht glücklicher zusammensetzt, als nach ihm Herr Prof. Weiss aus Sinn und Trieb die Seele. Eben so wenig wird uns die unbegreifliche Schranke im Ich, beschäfftigen können, welche die Unmöglichkeit, einen haltbaren Idealismus aufzustellen, klar an den Tag legt. Wohl aber ist es die erste Behandlung des Begriffs des Ich, die uns hier interessirt. Ich schlage Fichte's Sittenlehre auf, welche ich noch jetzt für seine Hauptschrift halte.* Den schon sonst gezeigten Schlufs- fehler, S. 14. 15., wo statt des Denkens der allgemeinere Begriff des Handelns, statt dieses wiederum der ihm untergeordnete des realen Handelns eingeschoben wird, werde ich hier nicht genauer ins Licht setzen; aber die Anmerkung S. 18. 19. ist von der höchsten Wichtigkeit für Fichte's Lehre und wir müssen sie auch hier erwägen. Sie beginnt so: „Dafs das Wollen in der erklärten Bedeutung, als absolut erscheine, ist Factum des Bewufstseyns ; daraus aber folgt nicht, dafs diese Erscheinung nicht selbst weiter erklärt, und abgeleitet werden müsse, wodurch die Ab- solutheit aufhörte, Absolutheit zu sein, und die Erscheinung derselben sich in Schein verwandelte: gerade so, wie es allerdings auch erscheint, dafs bestimmte Dinge in Raum und Zeit unabhängig von uns da sind, und diese Erscheinung doch weiter erklärt wird. Wenn man sich nun doch entschliefst, diese Erscheinung nicht weiter zu erklären; und sie für absolut unerklärbar, d. i. für Wahrheit, und für unsre einige Wahrheit zu halten, nach der alle andre Wahrheit beurtheilt, und gerichtet werden müsse, wie denn eben auf diese Entschliefsung unsre ganze Philosophie aufgebaut ist, so geschieht dies nicht zufolge einer theoretischen Einsicht, sondern zufolge [74] eines praktischen Interesse; ich will selbständig seyn, darum halte ich mich dafür.''

Diese Aussage enthält den einzigen denkbaren Erklärungsgrund, wes- halb Fichte, dem die Unmöglichkeit des Ich deutlich genug vor Augen lag, dennoch dabey beharrte, dasselbe als real, als absolut, und in dieser Gestalt als Princip der Philosophie zu betrachten. Ein wenig weiter hin (S. 42.), sagt uns Fichte : „Nicht das subjective, noch das objective, sondern eine Identität ist das Wesen des Ich; und das erstere wird nur gesagt, um die leere Stelle dieser Identität zu bezeichnen. Kann nun irgend

* Von Fichte's späteren Schriften braucht hier eben so wenig die Rede zu seyn. als von einigen neuern Schriftstellern, die in denselben Irrthümern befangen sind, wie die oben bezeichneten.

2 -iq XL Psychologie als Wissenschaft.

Jemand diese Identität, als sich selbst, denken? Schlechterdings nicht; denn um sich selbst zu denken, mufs man ja eben jene Unterscheidung zwischen subjectivem, und objectivem, vornehmen, die in diesem Begriffe nicht vorgenommen werden soll. So kann man sich allerdings nicht wohl enthalten, zu fragen: bin ich denn darum, weil ich mich denke, oder denke ich mich darum, weil ich bin? Aber ein solches Weil, und ein solches Darum, findet hier gar nicht statt; du bist kein« von beyden, weil du das Andre bist; Du bist überhaupt nicht zweyerley, sondern absolut einerley; und dieses denkbare Eine bist du, schlechthin weil Du es bist."

Dafs ein Undenkbares nicht seyn kann, dafs derjenige sein eignes Denken aufhebt, welcher von dem Undenkbaren denken will, Es sey, dafs also, wenn der Lauf der Speculation auf einen solchen Punct geführt hat, man denselben schlechterdings verlassen müsse: dieses leuchtet un- mittelbar ein. Nachdem also Fichte sich den Begriff des Ich dergestalt analysirt hatte, dafs er einsah, derselbe sey undenkbar: mufste schon dieses, noch ohne vollständigere Entwicklung aller Widersprüche im Ich, ihn be- stimmen, die zuerst angenommene Realität des Ich, sammt der vermeinten intellectualen Anschauung desselben, völlig zu verwerfen. Jede Art von Täu- schung [75] in der Auffassung eines so ungereimten Wesens war eher zu ver- muthen, als an die Wahrheit einer solchen Auffassung konnte geglaubt werden. Und wenn dennoch die Ueberzeugung veststand, das Selbstbewufstseyn lasse sich durch keinen andern Begriff, als nur gerade durch jene Identität des Subjects und Objects rein aussprechen: so folgte eben daraus, man habe ein Gegebenes vor sich, das, weil es nicht gleich einer zufälligen Täuschung verworfen, doch aber auch nicht im Denken beybehalten werden könne, zu einer Umarbeitung des Begriffs auffordere und nöthige; und auf diese Weise zwar keinesweges ein Real-Princip, wohl aber ein Erkenntnifs-Princip für die Speculation abgebe.

Aber Fichte hatte einmal seinem Wollen Einflufs auf das Denken verstattet. Er glaubte in dem Ich die Freyheit zu finden, und von der Freyheit wollte er nicht lassen. Er behielt also den undenkbaren Ge- danken; er gab ihm Auctorität durch das Vorgeben einer intellectualen Anschauung, denn dafür hielt er den Zustand der Anstrengung, mit welcher das Undenkbare als ein Gegebenes der innern Wahrnehmung vestgehalten wurde; und so wurde einer der gröfsten Denker, die je gewesen sind, zum Urheber einer Schvvärmerey, die in der Folge, als sie sich die sogenannte absolute Identität zum Mittelpuncte erkoren, und diese mit Spinozismus, Piatonismus, Physik und Physiologie amalgamirt hatte, in einem weiten Kreise die Stelle der Philosophie besetzte, und aus einem noch viel weitern Kreise die Philosophie verscheuchte, weil man über der intellec- tualen Anschauung nicht den Verstand verlieren wollte.

Dieses letztere ist nun das einzige Wollen, welches in die Forschung einzulassen ich mir erlaube. Da ich einmal denke, und nicht umhin kann, alles Angeschaute zu denken und in Begriffe zu fassen, so will ich weiter nichts als nur, dafs das Angeschaute denkbar seyn, oder, falls es dieses nicht von selbst wäre, denkbar werden solle, wozu denn freylich eine milche Umwandlung der [76] unmittelbar aus der Anschauung gewonnenen Begriffe gehört, die sich als nothwendig, und nicht willkührlich, in jedem

Einleitung. 2 3 1

Puncte rechtfertigen könne. Ich stehe demnach in der Mitte zwischen denen, welche wollen, dafs es bey der Anschauung, bey der Erfahrung wie sie unmittelbar gegeben wird, sein Bewenden haben solle, weil sie das Widersprechende in dem Gegebenen nicht erblicken, und zwischen jenen, welche gar wohl Augen haben für dieses Widersprechende, aber davon nicht lassen wollen, vielmehr ins Erstaunen, ins Entzücken über alle die Wunder sich versenken, die ihnen um so vortrefflicher scheinen, je ungereimter sie sind. Ich gebe den erstem Recht, dafs sie um ihre Nüchternheit nicht mögen gebracht seyn, und dafs sie von keiner intellec- tualen Anschauung wissen wollen, welche die ächte Anschauung nur ent- stellen würde; ich gebe den zweyten Recht, dafs sie die gemeinen An- sichten der Dinge, welche alles lassen wie es zuerst gefunden wird, für unzulänglich erkennen, und auf eine Veränderung, auf eine Schärfung des Blickes selbst antragen, wodurch in der That alles viel wunderbarer erscheinen mufs, als jenen ersteren gelegen ist zu glauben. Aber den einen und den andern mufs ich Unrecht geben, weil sie beyderseits zur eigentlichen Untersuchung zu träge sind, sowohl jene, die im Aufsammeln und Registriren gewisser äufserer oder innerer Wahrnehmungen verweilen, als diese, die es freut, hochtönende Reden zu erfinden, um das Seltsame, was sie gesehen haben, anzupreisen statt es besser zu bedenken.

VII. Plan und Eintheilung der bevorstehenden Untersuchungen.

§ 23-

Wir machen uns nun auf den Weg in das vor uns liegende Gebirge, wohin uns diejenigen sicher nicht fol[/7]gen werden, die immer nur in lachenden Ebenen gemächlich zu lustwandeln gewohnt sind. Der Leser über- lege, ob er gehörig gerüstet sey; was er mitnehmen, was zu Hause lassen wolle. Viel schweres Gepäck frommt dem Reisenden nicht, am wenigsten solches, was ihm, nach seiner Eigenthümlichkeit, besonders lästig fallen würde. Geduld und frischer Muth ist die Hauptsache.

Ganz ohne mathematisches Werkzeug darf der Wanderer nicht seyn. Aber grofse Anmuthungen mache ich in dieser Hinsicht nicht; sie würden mit verdoppeltem Gewicht auf mich zurückfallen. Der Leser vergegenwärtige sich nur die leichteren Rechnungen mit veränderlichen Grüfsen, und deren Symbole, die bekanntesten Curven; er überlege, dafs diese Curven eben nur Symbole für gewisse Regeln sind, wornach jede mögliche, intensive sowohl als extensive, Gröfse wachsen und abnehmen kann; er rufe, wenn es nöthig ist, einen Freund zu Hülfe, der ihm die einfachsten Grund- lehren und Formeln der höhern Mechanik erkläre; und er wird finden, dafs es nicht viel schwerer ist, das Sinken einer Hemmungssumme, als das Fallen eines Steins zu begreifen, Hat er aber erst dies gefafst, so kann er auch von den Grundlehren der Reproductionsgesetze, (worauf Alles ankommt) das Wesentlichste verstehn; und eben so den Hauptsatz über die Abnahme der Empfänglichkeit. Das Schwerere ist weniger nöthig; nicht Jeder braucht mir auf allen meinen Wanderungen zu folgen; man kann sich dennoch wieder zusammen finden.

2 t -j XI. Psychologie als "Wissenschaft.

Ablegen mufs der Leser die metaphysischen Vorurtheile, die er, wer weifs unter welchen Namen, etwan bey sich tragen möchte. Meine Meta- physik wird er, mit Hülfe dieses Buchs, allmählig verstehen lernen. Er durchdenke nur recht sorgfältig den ausführlichen Vortrag über das Ich, welchen er hier finden wird; vergleiche, nachdem dieses geschehen, meine Einleitung in die Philosophie, um sich mit den metaphysischen Problemen, theils im Allgemeinen, theils mit jedem einzeln genom[78]men, vertraut zu machen; präge sich nun vest ein, dafs die befremdende Gestalt, worin die metaphysischen Probleme Anfangs erscheinen, nichts anderes ist als ein psychologisches Phänomen, welches aus psychologischen Gründen erklärbar sevn mufs, die wir im zweyten Theile dieses Buchs aufsuchen wollen; die aber Niemand finden kann, wenn er die Knoten ungeduldig zerhauen will, die er höchst behutsam durch unbefangenes Nachdenken auflösen sollte. Dafs man der leichtem Uebersicht wegen mein Lehr- buch zur Psychologie benutzen könne, brauche ich kaum zu bemerken. Aber sehr dringend mufs ich den Leser an die Fragen erinnern: ob er mit seiner praktischen Philosophie im Reinen sey? und ob er die meinige kenne? Das erste ist an sich nothwendig; das zweyte fordere ich, so gewifs ich nicht will misverstanden seyn. Wessen praktische Philosophie noch schwankt: dessen Gemüth kann bey speculativen Untersuchungen nicht in Ruhe seyn; am wenigsten bey solchen, die den menschlichen Geist betreffen; ohne Gleichmuth aber gelingt keine Speculation, sondern sie erzeugt Wahn und Trug. Wer meine praktische Philosophie nicht kennt, der begreift nicht was ich will, und muthet mir an, Dinge zu wollen, die ich verwerfe. Ein Beyspiel hievon: ich will keine angebornen Rechte; nicht blofs, weil ich weifs, dafs alle angebornen Formen psycho- logisch unmöglich sind, sondern auch, weil ich weifs, dafs, wenn es der- gleichen Rechte gäbe, sie Streit, und hiemit Unrecht erzeugen würden. Ein anderes Beyspiel : ich will kein ursprünglich gesetzgebendes moralisches Gefühl, und eben so wenig einen kategorischen Imperativ, nicht blofs, weil auch dieses angeborne Formen seyn würden, sondern weil ich das moralische Gefühl, sammt der aus ihm entstehenden Bereitwilligkeit zum moralischen Gehorsam, ableiten gelernt habe als Gesammtwirkung aus den verschiedenen praktischen Ideen, die wiederum durch eben so viele ver- schiedene ästhetische Urtheile erzeugt werden. Wenn [79] ich nicht jedes einzelne von diesen Urtheilen genau kennte, nicht geübt wäre, die vor- geblichen Aussprüche des moralischen Gefühls auf sie zurückzuführen, nicht aus den nämlichen Gründen die Tugend als ein Ganzes verschiedener Bestandtheile erkannt hätte, die zum Theil gelehrt, zum Theil geübt werden, zum Theil vor aller Lehre und Uebung voraus, unter Begünstigung einer glücklichen Organisation im Menschen entstehn müssen; wenn ich nicht auf diese Weise einer Menge von psychologischen Fragen, mit denen Andre sieh quälen, im Voraus überhüben gewesen wäre: so möchte leicht der psychologische Mechanismus mich mit eben dem Schrecken erfüllt haben, mit welchem so Viele vor ihm die Augen verschliefsen, die eben so wenig vertragen, ins Innere des menschlichen Geistes zu schauen, als sie das Innere des Leibes ohne Grauen betrachten können. Nach diesen Erinnerungen kehre ich zur Hauptsache zurück.

Einleitung. 233

Von der Grundlegung zu einer Wissenschaft erwartet man, dafs sie die dahin gehörigen Untersuchungen in Gang setze; und weit genug fort- führe, um die Möglichkeit der Wissenschaft, und das in derselben zu beobachtende Verfahren, vor Augen zu stellen. Sie soll demnach die ver- schiedenen Erkenntnifsgründe dieser Wissenschaft, wofern es deren mehrere giebt, durchmustern, und an jedem derselben den Anfang der Forschung zeigen; sey es nun, dafs jedes eigne Aufschlüsse ertheile, oder dafs die verschiedenen auf einerley Resultat führen, in welchem Falle sie immer noch dienen, die Intension der Ueberzeugung zu verstärken.

Von der Psychologie ist nach 11 n, anzunehmen, dafs sie mehrere Erkenntnifsgründe besitze, und zwar nicht eben in dem Sinne, als ob die- selben gleich Vordersätzen zu Schlüssen unter einander zu verknüpfen wären; sondern so, dafs jedes für sich ein Factum des Bewuistseyns dar- stelle, wovon, als dem Bedingten, auf die Be[8o]dingungen, mit Zuziehung der allgemeinen Metaphysik, 15) geschlossen werde.

Wenn nun die Grundlegung zur Psychologie auf solche Weise mit einem oder dem andern der Erkenntnifsgründe dieser Wissenschaft ver- fährt: so ist zu hoffen, dafs bald einige der Realprincipien erkannt werden mögen, aus welchen, als Ursachen, die Phänomene des Bewufst- seyns ihren Ursprung nehmen. In diesem Falle läfst sich von einer solchen, einmal gewonnenen Kenntnifs weiterer Gebrauch machen; die Realprincipien werden zwar niemals eigentliche principia cognoscendi, denn das Wissen von denselben ist immer ein Abgeleitetes; aber die Forschung verändert von hier an ihre Richtung, in so fern sie jetzt von der Be- dingung auf das Bedingte, mit dem Strom der Ereignisse, nicht mehr, wie zu Anfange, wider den Strom, vom Bedingten zur Bedingung fortgeht.

Darum aber, dafs aus einem oder dem andern der Erkenntnifsgründe dergleichen Realprincipien, vielleicht selbst die wichtigsten Hauptgesetze der geistigen Bewegungen, entdeckt seyn mögen: verlieren die übrigen Erkenntnifs- gründe noch nicht ihren Werth. Es mufs auch an sie die Reihe kommen, be- nutzt zu werden: jedoch kann man nun die Untersuchung abkürzen, indem man, anstatt sich noch ganz unwissend zu stellen, vielmehr die schon vorhin ge- wonnenen Aufschlüsse, sobald dieselben gehörig gesichert sind, zum Grunde legt, und nur noch fragt, wie sich darauf die jetzt in Betracht genommenen Phänomene zurückführen, wie sie sich daraus begreifen lassen?

Man wird geneigt seyn, dem gewöhnlichen Sprachgebrauche gemüfs, solche Untersuchungen, die mit dem Laufe der Ereignisse, also von Real- principien zu realen Folgen fortschreiten, synthetisch zu nennen; dagegen werden die andern, vermöge deren die noch nicht erklärten Phänomene auf jene Realprincipien zurückgeführt werden sollen, analytisch heifsen.

[81] Streng genommen freylich beginnt jede Untersuchung ohne Aus- nahme mit einer Analysis, indem sie zuerst den Erkenntnifsgrund logisch klar und deutlich macht; und dann geht sie über zu einer Synthesis, indem sie dem Princip seine Beziehungen, dem Phänomen seine Bedingungen oder noth wendigen Voraussetzungen nachweist. Dieses letztere ist ganz eigentlich Synthetsis a priori ; weil die Angabe der nothwendigen Voraus- setzungen in dem Erkenntnifsgründe selbst noch nicht enthalten war. Allein hier ist nicht der Ort, dergleichen dialektische Betrachtungen im Allgemeinen anzu-

2% a XL Psychologie als Wissenschaft.

stellen; im Verfolg werden sie an dem Beyspiel unserer Untersuchung selbst soweit entwickelt werden, als zu unserer jetzigen Absicht nöthig ist.

Es soll nun die Untersuchung über das Ich, als über denjenigen Er- kenntnifsgrund, welcher am nächsten und bestimmtesten zu psychologischen Realprincipien hinleitet, den Anfang machen. Daraus werden sich sogleich mathematisch bestimmbare Gesetze des Bewufstseyns ergeben, und so weit entwickelt werden, dafs die Möglichkeit, hier eine neue Bahn zu brechen, und namentlich ohne die angenommenen Seelen vermögen in der Psy- chologie fortzukommen, im Allgemeinen erhelle. Diese Untersuchungen zusammengenommen wollen wir (a potiorij den synthetischen Theil unserer Abhandlung nennen. Darauf wird der analytische Theil folgen, welcher die wichtigsten der noch übrigen Phänomene des Bewufstseyns auf die vorhin gewonnene Kenntnifs von den Gesetzen des Geistes zurückführt.

Es ist offenbar, dafs der synthetische Theil keine veste Gränze hat, wie weit er in der Wissenschaft, vielweniger, wie weit er hier, in unserer Grundlegung, auszudehnen sey. Die Folgen aus Realprincipien sind endlos in der Natur der Dinge, unabsehlich in der Wissenschaft. Und für den gegenwärtigen Zweck, Andern die Theilnahme an den be- gonnenen neuen Untersuchungen möglich zu machen, könnte ziemlich willkührlich ein [82] Mehr oder Weniger geschehn, wenn nicht eben die Neuheit der Sache hierin noch Gränzen setzte. Der analytische Theil aber mufs sich nach dem synthetischen richten, in so fern in ihm keine Untersuchung ganz selbstständig, sofern jede unter Voraussetzung des zuvor Bekannten soll geführt werden.

Um nun diesem Buche Rundung und Ganzheit zu geben : wählen wir das Ich, damit es nicht blofs den Anfang, sondern auch das Ende der Abhandlung bezeichne. Denn es mufs hier vorausgesagt werden, dafs aus diesem Erkenntnifsprincip viel früher die mathematische Be- trachtungsart der gesammten Psychologie hervortritt, als die vollständige Auflösung des in ihm enthaltenen Problems sich gewinnen läfst. Daher wird es nothwendig, dieses Problem, nachdem die ersten Schritte zu seiner Erklärung geschehn sind, auf langehin bey Seite zu legen; und so kann es, wenn nicht das Vehiculum, doch den Rahmen bilden, der alle die übrigen hier anzustellenden Untersuchungen einschliefse.

Indessen wird man bald wahrnehmen, dafs nicht die Lehre vom Ich, sondern von den Gegensätzen und Hemmungen unserer Vorstellungen unter einander, den Hauptstamm der Forschung ausmacht. Diese Gegen- sätze finden sich unmittelbar in der Beobachtung; und in so fern hängt ihre Betrachtung nicht einmal nothwendis; ab von der vornan msren Unter- suchung des Ich; jedoch bringt die letztere den Vortheil, jene mit mehr Bestimmtheit, und mit mehr Einsicht in ihre grofse Wichtigkeit, einzu- führen. Auch lassen sich auf solchem Weore die nöthicren Erörterungen aus der allgemeinen Metaphysik bequem hinzufügen; welche gegen das. Ende des ersten Abschnittes ihre Stelle finden sollen.

ERSTER,

SYNTHETISCHER THEIL.

[85] Erster Abschnitt.

Untersuchung über das Ieh, in seinen nächsten

Beziehungen.

Erstes Capitel.

Ueber die philosophische Bestimmung des Begriffs

vom Ich.

§ 24.

Wer bin ich? Diese Frage wirft der gemeine Mensch nicht auf, denn er glaubt sich selbst sehr gut zu kennen. Wer sie aufwirft, der sucht etwas Unbekanntes in sich. Gesetzt nun, er fände dieses Unbe- kannte, wem würde er es zuschreiben? Ohne Zweifel sich selbst. Also scheint es, er kenne sich schon, in so fern er überhaupt ein Ich ist. Was aber ist denn dieses Ich? Kann man es losreifsen von der individuellen Persönlichkeit? Oder bin ich, um nur überhaupt von Mir reden, Mich denken zu können, nothwendig ein bestimmtes Individuum? Diese Frage wird uns zuerst beschäftigen.

Es ist schon nicht ganz leicht, nur die Frage zu verstehen; wir wollen also langsam gehn.

Fichte erklärte das Ich als: Identität des Objects und Sub- jects; und hiemit stimmt der grammatische Begriff des Ich, im Gegen- satze gegen das Du und das Er, wohl zusammen, denn die erste Person ist die, welche von sich selbst redet.

[86] Finden wir denn jemals im Selbstbewufstseyn Uns Selbst blofs und lediglich als ein solches Wissen von Sich? Keineswegs. Immer schiebt sich irgend eine individuelle Bestimmung ein; man findet sich denkend, wollend, fühlend, leidend, handelnd; mit bestimmter Beziehung auf das, was so eben gedacht, gewollt, gefühlt, gelitten, gehandelt wird. Ist nun diese individuelle Bestimmung etwas Fremdes im Ich, wodurch es ver- fälscht, verunreinigt wird?

Man kann wohl Gründe finden, diese Frage zu bejahen. Zuvörderst: in der obigen Erklärung des Ich, es sey Identität des Objects und Sub- jects, kommt gar keine individuelle Bestimmung vor. Ferner: im gemeinen Leben selbst betrachten wir das, was wir eben jetzo thun oder leiden, als etwas Uns Zufälliges. Der Augenblick, in welchem wir uns also finden,

2ig XI. Psychologie als Wissenschaft.

ist nur ein Durchgang, aus welchem wir höchstens, wenn es ein bedeu- tender Lebens -Moment wäre, einen bleibenden Eindruck mitnehmen könnten, so wie wir in ihn hineinbrachten, was in früheren Lebenslagen stark auf uns wirkte. Aber in der Zeit, und durch die Zeit, konnten wir anders ge- bildet oder verbildet werden; gleichwohl wären wir dieselben Personen geblieben, die wir jetzt sind. Daher kann der ganze Zwischenraum zwischen Geburt und Tod, mit Allem, was er aus Uns macht, überall nicht die entscheidende Antwort auf die Frage geben: Wer bin ich denn eigentlich? Und das heifst denn eben so viel, als: in der zeitlichen Wahrnehmung kann ich überhaupt nicht Mich finden, als den- jenigen, der ich eigentlich bin. Diese Wahrnehmung, obschon eine innere, hängt doch an lauter Aeufserlichkeiten; und kann daher bis zu dem wahren Kern unseres eigentlichen Selbst nicht durchdringen.

Allein es möchte Jemand einwenden, die Frage sey lediglich von dem Ich, wie es als ein Gegebenes gefunden werde; man könne nicht leugnen, dafs man jederzeit sich selbst als denjenigen erblicke, der ein Ge[87]schöpf zwar nicht des Augenblicks sey, wohl aber der ganzen früheren Lebenszeit; und auf solche Weise bilde sich das Selbstbewufst- seyn derer, die in Pecking, und die am Orinoko, wie deren, die bey uns leben. Wolle man fragen, wer würde ich seyn, wenn ich da oder dort geboren wäre? so sey dieses widersinnig, denn es setze voraus, dafs eben derselbe Ich, welcher bey uns dieser bestimmte Mensch geworden ist, auch ein ganz Anderer hätte werden können, und dafs der Andere und Ich einerley seyen. Vielmehr könne die Identität der Persönlichkeit an gar Nichts vestgehalten werden, wofern die Bedingungen einer be- stimmten Persönlichkeit mit andern vertauscht gedacht würden. Sogar die Meinung, dafs die nämliche Seele unter verschiedenen Umständen einen verschiedenen Gedanken- und Begehrungs-Kreis erlange, könne zugelassen werden, ohne darum das Selbstbewufstseyn in dem einen Gedankenkreise und das in einem andern dem nämlichen Subject zuzuschreiben; denn die Seele sey weder das Subject noch das Object des Selbstbewufstseyns, da sie im Bewufstseyn gar nicht vorkomme. Sonach möge immerhin von der Seele gesagt werden, dafs die ihr angebildete Ichheit ihr zufällig sey, beynahe eben so zufällig aber sey auch der Ichheit die Seele, dem Selbst- bewufstseyn das unbewufste Substrat; daher dürfe man die innere Wahr- nehmung nicht verlassen, als welche allein einen Jeden lehren könne, wer er sey; und welche mit Hülfe der Erinnerung aus dem früheren Leben ihn dieses auch bestimmt genug lehre.

Wir haben hier zwei verschiedene Ansichten einander gegenüber ge- stellt, deren jede wir noch genauer prüfen müssen, und zwar welches wohl zu merken, hier noch nicht in der Absicht, zu entscheiden, welche von beyden der Wahrheit am nächsten komme, sondern welche jetzo zunächst müsse vestgehalten werden, um von dem Gegebenen in unserm Nachdenken auszugehn, ohne einen Sprung zu machen.

[88] § 25. Käme es darauf an, die erstere Behauptung annehmlich vorzustellen: v > würden sich viele bekannte Meinungen von der Vernunft und Freyheit,

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2^0

nebst ihren Formen und Gesetzen, als von unserer hohem, unzeitlichen, durch intellectuale Anschauung zu erkennenden Natur, im Gegensatze gegen die empirische Auffassung unserer Individualität, hiebey benutzen lassen. Ich erwähne derselben nur, um zu erinnern, dafs dergleichen Lieblingsmeinungen mancher Personen auf den Gang der Speculation nicht den geringsten Einflufs haben dürfen.

Demjenigen, was in der innern Wahrnehmung unzweydeutig gegeben ist und unwillkührlich gefunden wird, scheint ohne Zweifel die zweyte Be- hauptung angemessener als die erste.

Fragt man im gemeinen Leben jemanden, wer er sey, so nennt er Stand und Namen, Wohnort und Geburtsort. Diese und andre äufser- liche Bestimmungen seiner selbst leiten ihn auch im Handeln. Er erfüllt seinen individuellen Beruf, seine Familienpflichten; und je mehr er seiner besondern Stellung in der Welt gemäfs sich beträgt, um desto verständiger finden wir ihn. Wollte er einen andern Begriff von sich selbst bey seinen Entschliefsungen zum Grunde legen, wollte er einen Augenblick von seiner Individualität abstrahiren: wir würden bald sagen, er vergesse sich, er sey ein Thor.

Haben wir denn nun aufser dieser individuellen Ichheit noch eine andre? Wenn wir einmal eingestehen müssen, dafs unser zeitlich be- stimmtes Individuum Wir selbst ist, und wenn wir rückwärts, so oft wir un befangen von uns selbst reden, Niemanden sonst, als eben dieses Individuum im Auge haben: wozu soll es denn führen, dafs man in der Philosophie von diesem nämlichen Individuum zu abstrahiren versucht? Und ist es nicht schon im gemeinen Leben ein Irrthum, wenn man die Umstände des Lebens, die freylich hätten anders kom[8g]men können, als etwas unserer Persönlichkeit zufälliges betrachtet; da wir doch gerade nur unter diesen Umständen, und in Beziehung auf dieselben, unsre eigene Person kennen lernen?

Gewifs würde diese Vorstellungsart den Sieg davon tragen: wenn es möglich wäre, sie in sich selbst zu vollenden. Aber

Erstlich: in keiner augenblicklichen Wahrnehmung finde ich Mich, auch nur als Individuum; vielmehr mufs die Erinnerung zu Hülfe kommen. Ich setze mich als bekannt aus voriger Zeit in jedem neuen Moment vor- aus. Nun ist dieses als bekannt Vorausgesetzte eben so unbestimmt, wie eine Summe von halberloschenen Erinnerungen aus verschiedenen, zum Theil entfernten Zeiten, nur immer seyn kann. Daraus würde folgen, dafs ich nicht genau wüfste, Wen ich eigentlich meinte, falls ich von mir als Individuum redete.

Zweytens: die individuellen Bestimmungen meiner selbst sind ein Aggregat, welches allmählig angewachsen, und noch jetzt im Fortwachsen begriffen ist. Richtet sich die Ichheit nach diesem Aggregat: so wird sie unaufhörlich verändert, und niemals vollendet. Aber im Selbstbewufstseyn sehen wir uns an als ein Bekanntes, Bestehendes, und schon Vorhandenes.

Drittens: ein Aggregat besitzt keine reale Einheit; es ist Vieles; von Mir aber rede ich als von Einem, und einem Realen.

Viertens: die ganze Summe meiner Vorstellungen, Begehrungen und individuellen Zustände, würde keine Persönlichkeit bilden, weifern nicht

2 iQ XL Psychologie als "Wissenschaft.

das Subject vorhanden wäre, welchem jene individuellen Bestimmungen zum innerlichen Schauspiele dienen.

Fünftens: für dieses Subject, für das Wissen um uns selbst, ist es zufällig, was als Gewufstes sich darbieten möge; darum abstrahirt man von den besondern Bestimmungen des Gewufsten, und fafst blofs das Ver- hält[go]nifs des innerlichen Wissens zu irgend einem beliebigen inneren Verlauf von objectiven Erscheinungen, als Charakter der Ichheit auf.

Sechstens: die eben erwähnte Abstraction reicht noch nicht hin. Das Ich fände sonst Sich als eine Reihe wandelbarer Erscheinungen, wenn schon ohne nähere Bestimmung, was für eine Reihe dies seyn möge. Das Subject kann aber sich selbst nichts gleich setzen, was nicht eben so einfach ist, als es selbst. Folglich mufs nicht blofs die Mannigfaltigkeit individueller Bestimmungen, sondern auch der allgemeine Begriff dieser Mannigfaltigkeit, aus der Ichheit ausgeschieden werden. Und so bleibt denn für das reine Ich nichts übrig, als die blofse Identität des Objects und Subjects.

Da sind wir denn wieder angelangt bey dem oben erwähnten gramma- tischen Begriff der ersten Person; nur noch mit der negativen Bestimmung, dafs diese erste Person als Sich selbst nichts von allen dem denken könne, was ihr auf individuelle Weise anzuhängen scheint.

Man bemerke wohl, dafs wir von der Einheit des Subjects, des innerlichen Wissens, ausgegangen sind, um die Mannigfaltigkeit des objec- tiven auszustofsen. Wir haben dabey angenommen, dafs in dem activen Wissen um sich selbst Niemand eine Vielheit finde, dafs er vielmehr sich als Einen Wissenden betrachte, wenn schon eine Mannigfaltigkeit dessen, was er von sich wisse, ihm vorschwebe. Selbst unsere Träume eignen wir uns selbst zu, so sehr wir über das Object lachen, was wir selbst dar- stellen würden, wenn wir lachend dieselben wären, als die wir uns im Traume gebehrden. Wie wir nun von dieser erträumten Individualität abstrahiren, um wachend den Begriff von uns selbst zu bilden; wie jeder, nachdem er sich übereilt hat, vollends der Reuige, der Büfsende, indem er Vergebung der Sünden bittet, sehr gern von den individuellen Zügen seiner Persönlichkeit abstrahiren mag, die ihn als einen Thoren, oder [91] als einen Sünder bezeichnen ; wie er einen Kern seines wahren Wesens annimmt, aus welchem bald das Bessere hervortreten werde : so sollen wir in der Speculation von aller Individualität abstrahiren, weil wil- dem letzten, inwendigsten Kern unserer selbst, der Selbstbeschauung nichts buntes und vielfältig wandelbares gleich setzen können, und weil ein mannigfaltiges Objective im Ich, vermöge der Gleichheit mit dem, sich selbst betrachtenden Subject, auch dieses in ein Aggregat von allerley Handlungen des Wissens zerspalten würde; wobey die Einheit des Ich gänzlich verloren ginge, für welche doch die eigne Selbstauffassung eines Jeden sich verbürgt.

§ 26. Fafst man die vorstehenden Ueberlegungen, welche Jeder für sich durch ursprüngliche Besinnung auf Sich selbst, zur Reife bringen mufs, nochmals zusammen, so ergiebt sich:

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 94 1

Die philosophische Bestimmung des Ich, als Identität des Objects und Subjects, scheint sich dadurch vom Gegebenen zu entfernen, dafs sie die zeitliche Wahrnehmung zurückstufst. Aber hiedurch vollendet sie nur das, und spricht rein aus, was wir im gemeinen Selbstbewufstsevn unbe- stimmt beginnen. Nämlich wir setzen in jedem Augenblick Uns als bekannt voraus; und betrachten die neuen Bestimmungen, welche der Augenblick bringt, als zufällig; so dafs wir vollkommen Dieselben geblieben wären, wenn schon ganz andre Begegnisse uns widerfahren seyn möchten. Daraus entsteht ein Begriff von uns selbst, der sich, näher betrachtet, mit gar keinen Zufälligkeiten, weder vergangenen, noch künftigen verträgt.

Weil nun die zeitliche Wahrnehmung, oder der innere Sinn, von der eigentlichen Selbstauffassung hinweggewiesen worden ist: so scheint es allerdings, als hätten wir zu dieser Selbstauffassung ein ganz eigenes Grund- vermögen. Und weil es denn doch etwas schwer ist zu sagen, was eigent- lich für einen Gegenstand die reine [92] Selbstanschauung erblicke (hier nämlich wird eine Verlegenheit gefühlt, welche von den, im nächsten Capitel zu entwickelnden, Widersprüchen im Begriff des Ich herrührt): so entsteht eine Neigung, das reine Ich mit allerley Prädicaten zu begaben, welche die Quelle vieler Fehlschlüsse (unter andern bey Fichte) ge- worden ist.

Hier ist nun der Ort, an Kant's Behauptung zu erinnern, das Ich sey eine rein individuelle Vorstellung, aber zugleich die ärmste unter allen. Durch die erste Hälfte der Behauptung wird zugegeben, dafs man den Begriff des Ich nicht durch innere Wahrnehmung bestimmen könne. Die zweyte Hälfte mag diejenigen warnen, welche glauben, den Inhalt der Vi irstellung des reinen Ich ohne Schwierigkeit angeben zu können. Uebrigens ist hier ein doppelter Fehler begangen ; theils in der übereilten Annahme eines reinen intellectuellen Vermögens;* theils in dem Vergessen des grammatischen Begriffs des Ich, welcher durch den Gegensatz und die Einerleyheit des Objects und Subjects, der Speculation mehr zu thun giebt, als zahllose andre, an Inhalte viel reichere Begriffe.

Wer aber die vorhin bemerkten Schwierigkeiten, sich von den indi- viduellen Bestimmungen des Ich zu trennen, wohl im Auge hat, und über- dies bedenkt, dafs in dem speculativen Begriffe vom Ich jene Abstraction vom Individuellen allerdings noch weiter getrieben wird, als sie im ge- meinen Bewufstseyh vorkommt: der kann schon errathen, dafs die Be- ziehungen der Ichheit auf die Individualität sich nur verbergen, nichts desto- weniger aber vorhanden sind; und dafs der Erfolg der Speculation kein andrer seyn kann, als eben diese Beziehungen in ihrer Notwendigkeit zu offenbaren, womit denn das Grundvermögen der reinen Selbstauffassung verschwindet, und der innere Sinn seine gehörige Erklärung erhält. So nun ist es in der That. Die philosophische Bestimmung treibt [93] nur die gemeine Vorstellung vom Ich aufs äufserste, um sie an offenbare Un- möglichkeiten anstofsen zu machen; woraus sich ergiebt, dafs der Begriff des Ich, der ein täuschendes Erzeugnifs unseres Denkens war, einer Ver- besserung bedarf, und dafs die zum Irrthum führende Dunkelheit des ge-

:: Krit. d. r. V., S. 423, ganz unten. Herbart's Werke. V. 1 6

2i2 XL Psychologie als Wissenschaft.

gemeinen Bewufstseyns hier, wie in andern Fällen, durch Philosophie erleuchtet werden mufs.

Wir bleiben also für jetzt bey der Erklärung: das Ich ist die Iden- tität des Objects und Subjects; nachdem wir gesehen haben, dafs dieselbe für den Anfang der Untersuchung einzig zulässig ist. Wir werden die Widersprüche entwickeln, die hierin liegen. Wir werden aus diesen Widersprüchen erkennen, was in dem Begriffe des Ich mufs verändert, und was hinzugedacht werden. Die Leser mögen sich hüten, sich bey dieser Untersuchung nicht von angenommenen psychologischen Vorstellungsarten beschleichen zu lassen. Das Problem ist viel zu schwer, als dafs es durch bisher gewohnte Meinungen zu bezwingen wäre; wohl aber kann es durch Einmen<run£ derselben verdunkelt und entstellt werden.

Zweytes Capitel.

Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen Problems, nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung.

§ 27.

Das Problem entsteht aus den Widersprüchen im Begriff des Ich; und es ist kein anderes, als, diejenige nothwendige Umwandlung dieses Begriffs zu finden, wodurch die Widersprüche verschwinden.

Die erwähnten Widersprüche lassen sich auf zwey zurückführen (unge- rechnet diejenigen, welche durch das Nicht-Ich, in Fichte's Sprache, herbeygeführt werden).

[94] 1. Das Ich erscheint als ein im Bewufstseyn Gegebenes, und der Begriff dieses Gegebenen wird für den vollständigen Ausdruck des- selben gehalten. Aber es fehlt ihm sowohl am Objecte als am Subjectc, mithin an seiner ganzen Materie.

2. die vorgegebene Identität des Objects und Subjects widerstreitet dem unvermeidlichen Gegensatze zwischen beyden; mithin ist der Begriff der Form nach ungereimt.

Die Erläuterung des ersten Punctes zerfällt wiederum zwiefach; es mufs sowohl der Mangel des Objects, als des Subjects nachgewiesen werden.

Zuvörderst: Wer, oder Was ist das Object des Selbstbewufstseyns ? Die Antwort mufs in dem Satze liegen: das Ich stellt Sich vor. Dieses Sich ist das Ich selbst. Man substituire den Begriff des Ich, so ver- wandelt sich der erste Satz in folgenden: das Ich stellt vor das Sich vorstellende. Für den Ausdruck Sich wiederhohle man dieselbe Sub- stitution, so kommt heraus: das Ich stellt vor das, was vorstellt das Sich vorstellende. Hier kehrt der Ausdruck Sich von neuem zurück; es bedarf der nämlichen Substitution. Dieselbe ergiebt den Satz: das Ich stellt vor das, was vorstellt das Vorstellende des Sick-Yov- stellens. Erneuert man die Frage: was dieses Sich bedeute? Wer denn am Ende eigentlich der Vorgestellte sey? so kann wiederum keine andere Antwort erfolgen, als durch die Auflösung des Sich in sein Ich, und des Ich in das Sich vorstellen. Dieser Cirkel wird ins Unend-

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2AX

liehe fort durchlaufen werden, ohne Angabe des eigentlichen Objects in der Vorstellung Ich. Der Genauigkeit wegen kann man noch bemerken, dafs in den nachgewiesenen Umwandlungen des ersten Satzes eine Be- stimmung ausgelassen ist, die hier nichts zur Sache thut; nämlich dafs das Ich nicht überhaupt irgend ein Ich, sondern Sich, mithin nicht blofs das Sich vorstellende, sondern sein eignes Sich- Vorstellen zum Gegen- stande hat. Allein [95] dieses gehört zu der geforderten Identität, folglich zu dem zwevten formalen Widerspruch. Hier kommt es uns darauf an, dafs jede Angabe dessen, was das Ich eigentlich vorstelle, wiederum die Frage nach demselben in sich schliefse; folglich die Frage schlechterdings unbeantwortlich ist. Statt der Antwort entsteht eine unendliche Reihe, die sich niemals nähert, sondern von ihrer gesuchten Bedeutung immer gleich weit entfernt bleibt. Diese Reihe ist nun schon darum fehlerhaft, weil das Selbstbewufstseyn von einer solchen vielfachen Einschaltung in sich selbst, nichts weifs. Aber überdies ist sie widersinnig, weil anstatt des wirklich vollbrachten Sich-Selbst-Setzens nichts anderes herauskommt, als eine ewige Frage nach sich selbst.

Nicht besser ergeht es auf der Seite des Subjects. Das Ich mufs seinem Begriffe nach, von sich wissen; was in ihm als Subjectives gedacht wird, mufs wiederum objeetiv, mufs ein Vorgestelltes werden für ein neues Wissen. (Ein Umstand, den Fichte in seinen altem Schriften, ohne ihn vollständig zu erwägen, vielfältig zur Methode des Fortschreitens in der Nachforschung benutzt hat.) Man nehme also an, das Ich sey objeetiv gegeben; so ist es Sich selbst, und keinem Anderen, gegeben; es wird von Sich selbst vorgestellt. Der Actus dieses Vorstellens darf aber auch nicht ausbleiben; was das Ich ist, das mufs es, seinem Begriffe nach, auch wissen; was es nicht weifs, das ist es nicht. Es ist nun wirklich: Sich vorstellend; als ein solches Sich vorstellendes mufs es demnach abermals vorgestellt werden. Aber auch das neue Vorstellen, welches hiezu erfordert war, mufs, so gewifs es ein wirkliches Handeln des Ich ist, wiederum Object werden, für ein noch höheres Wissen. Und dieses Wissen ver- langt, um ein Gewufstes zu werden, femer einen Actus derselben Art. Diese Reihe läuft offenbar ebenfalls ins Unendliche; und sie sollte es eben so wenig wie die vorige; denn auch hier weifs das Selbstbe-[g6] wufstseyn, zwar in seltenen Fällen von einigen wenigen Wiederhohlungen der Reflexion, die das Wissen selbst zum Gegenstande einer neuen Be- trachtung macht, aber es weifs nichts von der Nothwendigkeit solcher Wiederhohlung, um von uns selbst zu reden; viel weniger kennt es eine unendliche Furtsetzung der Reihe. Noch mehr; die wiederhohlte Rück- kehr zu uns selbst, wobey wir immer wiederum Gegenstand des Bewufst- seyns werden, verbraucht Zeit; aber der Begriff des Ich läfst uns gar keine Zeit; ihm gemäfs mufs das Ich, falls es überhaupt gedacht wird, alles dies Denken des Denkens vollständig in sich schliefsen; sonst ist es kein Ich, denn es fehlt ihm an irgend einer Stelle das Wissen um sich selbst. Wir sehn also, wie das Ich nach dieser Betrachtungsart, wenn es auch sein Object wirklich gefunden hätte, dennoch für sich selbst eine unendliche, und eben deshalb eine niemals vollbrachte und nimmer zu vollbringende Aufgabe seyn würde.

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Hat nun schon die doppelte Unendlichkeit, in welche das Ich sich hinausstreckt, deutlich genug gezeigt, dafs durch diesen Begriff, so wie er gefafst ist, wirklich nichts begriffen wird: so treibt vollends die Forderung der Identität aller Glieder der unendlichen Reihen, die Ungereimtheit aufs höchste. Zwar hier möchte Jemand sich die Sache leicht machen wollen. Es ist ja so schwer sich ein Ding zu denken, das mit dem Wissen von sich selbst begabt sey! Auf die Weise lassen die Dichter etwan einen Bauin von Sich sprechen. Dieser, seiner selbst bewufste Baum, was ist er denn eigentlich? Erstlich ein Baum, und dann zweytens die Vorstellung eines solchen Baums; auch, wenns hoch kommt, noch eine Vorstellung von der Vorstellung des Baums. Aber der Baum ist nicht die Vorstellung von dem Baume, und, rückwärts, die Vorstellung eines solchen Baumes ist nicht der Baum! Gleichwohl soll die erwähnte Vorstellung, wenn sie sich ausspricht, von dem Baume reden, als von Sich selbst. Die zwey völlig verschiede[o,/]nen, und blofs in Gedanken zusammengeklebten, der Baum, und ein gewisses Vorstellen von demselben Baume, werden für Eins ausgegeben. Diese Einheit ist ein leeres Wort ohne allen Sinn; und daraus sieht man, dafs es unüberlegt war, dem ersten besten, durch seine eigenthümliche Qualität schon bestimmten, Gegenstande, Selbstbewufstseyn zuschreiben zu wollen. Man setze statt des Baumes die Seele, als ein Wesen mit allerley Kräften, das unter andern auch Selbstbewufstseyn habe. Man wird gerade den nämlichen Fehler begangen haben. Die Seele, als ein solches und kein anderes Wesen, soll ein Bild von sich selbst mit sich tragen; und damit ein Bild der Art vorhanden seyn könne, wird ein eignes Vermögen angenommen, welches sey ein Vermögen ein solches Bild zu tragen oder vorzustellen. Nun meint man, die Seele wisse von sich, weil man in Gedanken eine Summe gemacht hat aus der Seele und aus dem Vermögen, welches ein Bild von der Seele bereitet. Man dringt wohl gar darauf, dafs beydes zusammen nur Ein reales Wesen seyn solle. Und jetzt beantworte man nur noch die Frage, was für ein Wesen das sey? Man gebe die Qualität desselben an. Die Antwort wird sich in zwey Theile spalten; die Seele, und das Vorstellen dieser Seele. Daraus wird nimmermehr Eins, so wenig wie aus der Person, die sich malen läfst, und dem gegenüber sitzenden Maler. Zum Glück weifs unser Selbstbewufstseyn auch gar nichts von dem Wesen unserer Seele zu sagen; und um so eher dürfte man in der Psychologie jenes Grundvermögen der Selbstauffassung sparen, vor welchem das, was wir wahrhaft sind, sich doch nicht sehn läfst.

Nach dieser Digression kehren wir zurück zum Begriff des Ich. Der- selbe ist weit entfernt, uns in die eben erwähnte Verlegenheit zu setzen. Ganz ein anderes ist, was er erheischt. Das Object soll keinesweges ein Ding an sich, es soll das wahre Subject selbst seyn. Da nun auch das Subject nichts für sich allein, sondern lediglich [98] das Vorstellen seiner selbst ist, so soll eben dieses Vorstellen, als ein Erzeugen des Bildes, auch das Vorgestellte, das Bild seyn. Die That soll selbst das Gethane, die Bedingung soll das Bedingte, der wirkliche Actus des Vorstellens soll das, als solches nichtige, Bild selber seyn! Will man der Strenge dieser, offenbar ungereimten, Forderung sich entziehen? Wohlan! so ist

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 245

das Object erstlich ein Reales für sich, und nun kommt zweitens das Subject mit einer Abspiegelung jenes Realen dazu. Da hat man das Ich entzweyet, und ist gerade in das vorhin gerügte Widersinnige des selbst- bewufsten Baumes verfallen. Es bleibt also dabey, dafs das Abgespiegelte ohne alle Vermittelung der Spiegel selbst sey; dafs Ich Mich nur alsdann finde, wann das Vorstellen, anstatt von seinem Vorgestellten unterschieden zu werden, vielmehr eben als actives Vorstellen sein eignes Vorgestelltes ist; folglich die Entgegengesetzten eben als Entgegengesetzte Einerley sind : wobey denn alle jene Begriffe, von der That und dem Gethanen, der Bedingung und dem Bedingten, dem Wirklichen und seinem Bilde, die nur in ihren Gegensätzen einen Sinn hatten, in Unsinn übergehen müssen. Und die vorhin entwickelten unendlichen Reihen wiederhohlen diesen Unsinn ins Unendliche.

Wäre die Rede vom viereckigten Cirkel: so würde sich niemand über dessen Möglichkeit den Kopf zerbrechen. Aber die Rede ist vom Ich, das wir jeden Augenblick aussprechen; von uns selbst, so fern wir uns das Bewufstseyn unsrer selbst zuschreiben. Die Frage ist, Wen wir eigentlich meinen, indem wir von uns reden? Und wenn wir diesen Wen gefunden hätten, was wir denn beginnen, indem wir ihm das Wissen von sich selbst beylegen? Er, der dieses Prädicat empfangen soll, mufs ohne Zweifel dafür empfänglich sevn. Er mufs also kein Ding an sich, er kann aber auch nicht das Von-Sich- Wissen selber seyn. Denn wir sehen nun endlich deutlich genug, dafs dieses Von-Sich-Wissen auf etwas [99] Vorauszusetzendes, und bis jetzt Ausgelassenes, sich bezieht; und dafs man die Auslassung durch eine Ergänzung verbessern mufs. Erst müssen gewisse objective Prädicate herbeygeschafft werden; diese aber dürfen nicht von der Art seyn, dafs sie für sich allein bestünden, und uns am Ende in die beschämende Nothwendigkeit setzten, das Darum-Wissen wie ein Fremdes nur gerade daranfügen zu müssen. Sondern aus der objec- tiven Grundlage jnufs jenes wunderbare, in sich zurücklaufende Wissen von selbst hervorkommen; und zwar dergestalt, dafs vor diesem Wissen sich das Objective gleichsam zurückziehe, damit das Ich nicht Sich als irgend ein bestimmtes Anderes, sondern als Sich selbst antreffen möge.

Diese vorläufigen Vermuthungen werden wir nun genauer auszuführen haben.

Anmerkung.

Es wird erlaubt, und beynahe nothwendig seyn, dafs ich hier meinen Vortrag unterbreche. Denn der Leser mufs hier anhalten; er mufs sich das Vorgehende vollkommen überlegen und einprägen; sonst kann er nicht Einen Schritt weiter gehen. Dafs ich ihn bisher nicht zum Lichte, sondern vielmehr in die dunkelste Nacht geführt habe, weifs ich sehr wohl. Das mufste geschehen; die Natur der Sache bringt es mit sich; und für Denjenigen, der hier ungeduldig wird, rede ich kein Wort weiter. Wohl aber könnte auch der Geduldigste ermüden, und sich in einen Zustand versetzt fühlen, der eine Art von Krankheit ist; ich kenne diesen Zustand aus Erfahrung, und weifs, wie schwer es ist, ihn zu ertragen, wenn man nichts destowenic;er in der Zeit fortleben und forthandeln soll.

2_i6 XL Psychologie als "Wissenschaft.

Daher werde ich auf die dunkle Stelle schon jetzt ein Licht fallen lassen, das von Untersuchungen ausgeht, die erst viel später an die Reihe kommen können.

Die Frage: wer bin ich? ist für den gewöhnlichen Menschen in jedem Augenblick auf individuelle Weise [ioo] zulänglich beantwortet; nimmt man aber die individuellen Bestimmungen hinweg, so bleibt nichts übrig, als eine leere Stelle, und diese läfst sich schlechterdings nicht auf eine allgemeingültige Weise ausfüllen. Daher fasse man die Frage nun so: wie kommt der Mensch dazu, jene Stelle, die für sich allein leer seyn würde, zu setzen, sie mit individuellen Bestimmungen auszufüllen, sie als die erste in seinem ganzen Vorstellungskreise zu betrachten, für die alles Andre ein Zwevtes, Drittes, kurz ein Aeufseres ist; und endlich sie als den Punct anzusehn, worin Wisser und Gewufstes unmittelbar zusammenfallen ?

Diese Fraare zielt, wie es sevn mufs, nicht mehr auf ein Reales, sondern lediglich auf ein Formales; und sie fällt nun zurück in das weite Gebiet der Untersuchung über den Ursprung der Formen in unserem ge- sammten Vorstellen. Eine Untersuchung, die sich ohne Mechanik des Geistes nicht einmal anfangen läfst.

Der formalen Constructionen, in welchen das Ich eine Stelle nicht hat, sondern ist: giebt es mancherley; verschieden an Einfluß und Werth; mehr oder minder zahlreich nach dem erreichten Grade der Cultur. Die bekannteste dieser Constructionen, und, wenn man den zeit- lichen Ursprung des Ich betrachtet, die wichtigste, ist der sinnliche Raum.

Wenn die Anschauung dahin gelangt, Objecte zu begränzen und zu sondern, so zieht sie auch Linien von diesen Objecten gegen den Mittel- punct hin, worin der Mensch (oder das Thier) sich befindet. Nahe diesem Mittelpuncte sieht der Mensch wenigstens einige Theile seines Leibes; durchläuft ein Object die Linie dahin, so endet die Zeitreihe der Wahr- nehmungen mit einer nenen Empfindung (etwa des Stofses oder Schlages); bewegt sich der Mensch, so verändert sich das ganze System seiner Ge- sichtslinien; begehrt er und handelt, so wird die Vorstellung des Begehrten der Anfangspunct einer Reihe, die mit einer Veränderung in der An- schauung des [101] Aeufsern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes, Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen beweglichen Punct; von welchem an, jedem Aufsendinge seine Entfernung bestimmt wird; in welchen hinein er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die ihm vorschweben, verlegen mufs, weil sie ihn begleiten, und draufsen keinen Platz haben. So wird der Mensch in seinen eignen Augen ein vorstellendes Wesen; und von da zu der Bemerkung, dafs unter den Vor- stellungen auch eine des Vorstellenden vorkomme; ist nur noch ein leichter Schritt.

Es mächte nun scheinen, als klebe die Vorstellung des Ich an dem sinnlichen Räume; allein nichts weniger! Es giebt eine Menge ähnlicher, nur nicht so ausgebildeter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der Bürger mitten in bürgerlichen Verhältnissen: er hat dort einen Rang und Namen; Sich findet der thätige Mann in der Mitte andrer Kräfte; der . -lehrte in dem Kreise andrer Gelehrten: der sittlich und

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 247

fühlende Mensch findet sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich darin einnimmt, nicht SO leicht zu bestimmen; hier nimmt die Frage, wer bin ich? eine ernste Bedeutung an; auf die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.

Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaffen sind, welche im Ich zusammentreffen und sich kreuzen; und je nachdem sie in jedem be- stimmten Augenblick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich schwankt das Ich unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches, bald ein vernünftiges, bald stark, bald schwach; es scheint bald auf der Oberfläche, bald in einer uner- gründlichen Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmtlich aus der angedeuteten Lehre; und ebenso der sonderbare Umstand, dafs die gewöhnliche Art zu reden Alles dem Ich zueignet, selbst das, was der denkende Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre Wesen [102] des Ich ansehen möchte. Wir sagen nicht blofs mein Leib, sondern auch mein Geist, meine Vernunft, mein Wille, ja sogar: mein Selbs tbe wufst seyn, mein Leben, und mein Tod. Denn alle diese Bestimmungen fallen in den Punct, welcher Ich heifst.

Der Leser kann nun vermuthen, dafs diese Ansicht vom Ich wohl die richtige seyn möge, aber er weifs von dem Allen noch nichts; ver- versteht auch noch nicht, wie die Vorstellung eines Puncts in einer Reihe möglich ist; begreift also von der gegebenen Erläuterung noch sehr wenig. Um weiter zu kommen, ist es nöthig, diese ganze Anmerkung bey Seite zu setzen, und den Faden des frühern Vortrags wieder aufzunehmen. Derselbe blieb liegen in der tiefsten Finsternifs; wir müssen daher sehr langsam fortschreiten.

§ 28.

Irgend etwas, wenn auch noch so dunkel vorgestellt, hat ohne Zweifel Jeder im Auge, der von Sich redet; denn ein Vorstellen ganz ohne Gegenstand kann doch die Aussage des Ich nicht seyn. Wir müssen also zuerst dem Begriff des Ich ein unbekanntes, und noch zu be- stimmendes Object leihen; und nachsehn, was weiter daraus werde.

Sogleich nun wird das Geständnifs unvermeidlich, dafs wir von der eigentlichen Bedeutung des Begriffs abgewichen sind. Denn nicht ein unbekanntes Object sollten wir annehmen, sondern uns damit begnügen, dafs das Subject zugleich die Stelle des Objects vertrete; dafs das Ich nicht etwas Anderes, sondern Sich setze.

Dieses Geständnifs darf jedoch nicht im geringsten befremden. Denn es versteht sich von selbst, dafs ein widersprechender Begriff, wenn er nicht ganz verworfen werden kann, wenigstens eine Veränderung erleiden mufs. Und die gemachte Veränderung war nothwendig; denn [103] dafs in dem gegebenen Begriff das Object fehlt, haben wir oben gesehn.

Nichts destoweniger bringt die Abweichung vom Gegebenen uns in Verlegenheit. Von dem Vorstellen eines unbekannten Objects liefse sich gar viel reden, ohne dafs dies mit dem vorliegenden Problem nur den

,, ,y XI. Psychologie als Wissenschaft.

mindesten Zusammenhang hätte. Wir finden uns in Gefahr, in ein will- kührliches Denken hineinzugerathen, sobald wir den Begriff des Ich nicht in seiner Strenge vesthalten.

Dieses also darf nicht vernachlässigt werden. Und wir können dem- nach dem Ich nur unter der Voraussetzung ein Object leihen, dafs es aus der Selbst-Auffassung wieder verschwinde.

Verschwindet es aber: so entsteht von neuem das Bedürfnifs eines Objects; obgleich nicht gerade des nämlichen, welches wir zuerst ein- geschoben hatten.

Es steht uns also frev, mehrere und verschiedene Objecte ab- wechselnd dem Ich zum Grunde zu legen. Und nicht blofs steht es frev, sondern bey näherer Ueberlegung findet sich dieses durchaus nothwendig.

Wir würden nämlich im Denken gar nicht von der Stelle rücken, und die Auflösung des Problems nicht im mindesten fördern, wofern wir uns fortdauernd im Kreise jener beyden Reflexionen herumtreiben wollten: der einen, dafs das Ich eines von ihm zu unterscheidenden Objects bedürfe; der andern, dafs das Ich kein von ihm unterschiedenes Object als Sich selbst ansehn könne. Diese Betrachtungen würden uns dahin bringen, das geliehene Object wieder abzusondern, und es dann nochmals herbevzubringen, um es nochmals wegzunehmen; eine Oscillation ganz ohne Ende und ohne Gewinn. Wollten wir dabei das Successive unseres Nachdenkens aufheben, und nach dem Resultat fragen, so wäre es der klare Widerspruch: zum Ich gehört ein fremdes Object, und gehört auch nicht zu ihm. Ein Widerspruch, den man, so wie er vorliegt, durch keine Distinction lösen kann; denn so [104] lange wir nur von einem einzigen fremden Object reden, ist gar nicht abzusehen, woher eine Modifikation kommen sollte, vermöge deren dasselbe in einer Rücksicht dem Ich angehören, und in einer andern Rücksicht von ihm ausgeschieden werden könne.

Hingegen sobald wir uns besinnen, dafs, indem ein geliehenes Object wieder ausgesondert werde, dagegen ein anderes und wieder ein anderes eingeschoben werden könne : geht uns ein Licht auf. Es zeigt sich nämlich jetzt soviel, dafs die Ichheit auf einer mannigfaltigen objectiven Grundlage beruht, wovon jeder Theil ihr zufällig ist, sofern die übrigen Theile noch immer dem Ich zur Stütze dienen würden, falls jener weggenommen wäre. Ich setze mich als dies oder jenes, aber ich bin an keines gebunden, so lange ich wechseln kann. So ruhet ein Tisch. der viele Füfse hat, zwar eigentlich auf allen zugleich, doch könnte er wechselnd, jeden einzelnen entbehren, weil ihn die übrigen noch tragen würden.

Dafs dieses zwar bey weitem nicht die vollständige Auflösung des Räthsels, aber doch der nächste nothwendige Schritt zu derselben ist, zeigt sich noch klärer durch folgendes: Jedes fremde Object, was als das letzte Vorgestellte im Selbstbewufstseyn angesehen wird, bedarf durchaus der vorhin erwähnten Modification; es mufs in gewisser Rücksicht für das- jenige gelten bönnen, was vorgestellt wird, indem wir uns selbst vorstellen; in anderer Rücksicht aber wiederum als dasjenige zu erkennen seyn, was nicht Wir selbst ist. Woher soll nun diese Modification, diese Verschieden-

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heit der Rücksichten ihren Ursprung nehmen? Sollen wir etwan selbst, sie willkührlich erdenken, willkührlich gebrauchen? Aber auf dieser Modi- fication beruht das Selbstbewufstseyn, als Gegebenes, welches keinesweges unserer Willkühr Preis gegeben ist. Soll ein Gesetz, eine ursprüngliche Form unseres Geistes erdacht werden, wornach wir unwillkührlich, und unserer eignen Thätigkeit uns nicht bewufst, ein Fremdes [105] in die Bestimmung unseres Selbst bald aufnehmen, bald ausstofsen? oder auch in verschiedener Rücksicht aufnehmen, und ausstofsen? Aber so lange dieses fremde Object nur ein einziges ist, kann keine Form unseres Geistes den Widerspruch erzwingen, dafs Ich dasjenige sey, was eben nicht Ich selbst, sondern ein Fremdes ist. Auf gar keine Weise kann die eigne Qualität des Fremden in die Ichheit eingelassen werden! Erst dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört Etwas an ihnen dem Vorstellenden; nämlich ihre Zusammenfassung in Ein Vor- stellen; und was aus dieser weiter entspringt. Daraus mufs also auch die gesuchte Modification hervorgehn, durch welche an den verschiedenen Objecten etwas zu bemerken sey, das keinem von ihnen einzeln genommen zukommen würde, das also eben darum vielleicht Uns ange- hören könnte. Dabey bleibt denn die Vorstellung Meiner selbst zwar ab- hängig von der Vorstellung der Objecte, sie bezieht sich auf die- selben, — aber sie fällt dennoch nicht damit zusammen.*

Wir wollen uns erlauben, diese ersten Anfänge der Speculation

sogleich mit der Erfahrung zu vergleichen. Irgend eine Aehnlichkeit mufs doch schon zu bemerken seyn. Ich finde mich denkend, wollend, fühlend. Aber Denken ist das Uebergehen von Gedanken zu Gedanken, Wollen das Fortstreben aus einer Lage der Vorstellungen in eine andere; hier bezieht sich das Uebergehen auf eine Mannigfaltigkeit im Objectiven, das Fortstreben desgleichen; nicht das Objective selbst, wohl aber das Umherwandeln unter seiner Mannigfaltigkeit schreiben wir Uns zu. Was das heifse, Ich finde mich fühlend, mag etwas schwerer zu erklären seyn; doch ist hier soviel sichtbar, dafs keinesweges das Gefühlte (das Objective [106] in eigner Qualität), diese Lust oder jener Schmerz, dasjenige ab- giebt, was wir als unser eignes Ich ansehen.

§ 29.

Noch ein Schritt, und zwar ein sehr wichtiger, ist nüthig, bevor wir unseren Betrachtungen eine neue Richtung und zugleich einen neuen Schwung geben können.

Die mehrern Objecte (wie sich versteht, nicht reale Gegenstände, sondern blofse Vorgestellte, als solche), welche zusammengenommen leisten sollen, was sie einzeln gar nicht vermögen würden, nämlich der boden- losen Ichheit den Boden bereiten: taugen offenbar dazu, als blofse Summe oder als Aggregat, um gar nichts besser, wie die einzelnen für si. h. Modificiren sollen sie einander gegenseitig; so viel wissen wir schon. Aber

* Der § 34 wird die Sache noch mehr ins Licht setzen ; durch ein Verfahren, welches bisher absichtlich ist im Dunkeln gehalten worden.

2Zo XL Psychologie als Wissenschaft.

wie sie sich modificiren sollen, das läfst sich aus den. nämlichen Gründen noch bestimmter angeben.

Denken wir uns ein Subject, begriffen im Vorstellen mehrerer Ob- jecte, und hierin noch ohne Selbstbewufstsevn befangen: so sehn wir sogleich, dafs dasselbe, um zum Ich zu gelangen, nothwendig aus jener Befangenheit im gewissen Grade herauskommen müsse. Da möchte nun Mancher ihm zurufen: hilf Dir selber! Brich die vorigen Gedanken ab, und komme zu Dir! Aber noch ohne Rücksicht auf die hier geforderte Frevheit der Reflexion, welche gar nicht dazu pafst, dafs das Ich als ein Gegebenes gefunden wird, hiefse ein solcher Zuruf soviel, als: tritt aus dem Denkbaren hinüber in das Undenkbare, nämlich in jenen widersprechenden Begriff des Ich; welcher, um von dem Widerspruche geheilt zu werden, nicht einer Losreifsung, sondern einer Anknüpfung an die Objecte bedurfte.

Von den Objecten aus, und durch sie selbst geleitet, müssen wir zu Uns kommen; denn ohne sie ist das Selbstbewufstsevn eine Ungereimt- heit; und eine Sache der Frevheit ist es ganz und gar nicht. Wer sich findet in Schmerz und Elend, wer sich seine Schwäche gesteht, [107] wer an sich selbst verzweifelt: der findet allerdings Sich, aber so wie er nicht will, und nicht würde, wenn er anders könnte. Hier ist also auch nicht einmal für die Erschleichungen Platz, welche man sonst an das Be- wufstsevn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über sich selbst wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit beschaut, der ist wo möglich noch weiter als jene von einem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber seiner selbst sich bewufst ist er dennoch.

Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des Selbstbewufst- sevns herausgehoben aus der Befangenheit in den Objecten ihres Vor- stellens. Denn die Prädicate zwar, welche sie in den erwähnten Zu- ständen sich selbst beylegen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem sie dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt vorausgesetzt. Die Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig, ich bin fröhlich, sind ins- gesammt synthetisch, denn ihre Prädicate werden keinesweges angesehen als inhärirend dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigenschaft bezeichnen, sind dennoch synthetisch, denn sie stützen sich auf eine Reihe von Er- fahrungen und Selbstbeobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch Induction abs;ezo2;en ist. Dem gemäfs liegt die Iehheit nicht in den Auf- fassungen des objectiven, wie sie denn auch ihrem Begriffe nach nicht kann; sondern sie bildet einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich bey- gelegten Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung noch von ihnen zu unterscheiden ist.

Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewifs nicht in dem V< irstellen des fremden objectiven begriffen sind; und wir doch gleich- wohl aus diesem nämlichen Vorstellen des fremden objectiven und durch dasselbe, haben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in diesem objectiven der Grund liegen, welhalb wir aus dem Vorstellen desselben herausgehoben werden. Das Vi ^gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit mufs von sol[io8]cher Beschaffenheit seyn, dafs es die Fesseln lös't, in

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen.

251

welchen ein Subject befangen seyn würde, das nur blofs Gegenstände, aber niemals Sich, kennen lernte.

Die Forderung, unser Vorgestelltes müsse uns über sich selbst hinaus- heben, damit wir zu Uns kommen, ist eine besondere, enthalten unter einer allgemeinem, welche so lautet: unser Vorgestelltes mufs uns auf gewisse Weise aus dem Vorstellen seiner selbst heraus- versetzen.

Nun ist es ein Widerspruch, dafs irgend ein bestimmtes Vorgestelltes A, selbst den Actus des Vorstellens von A zu verändern, oder zu ver- mindern geeignet seyn sollte. Auf die Weise müfste A sich selbst ent- gegengesetzt seyn.

Da nun kein Vorstellen, für sich einzeln genommen, als das Vor- stellen eines bestimmten A, oder B, oder C, und so weiter, uns aus sich selbst herausversetzen kann: so bleibt nichts übrig, als dafs verschiedenes Vorstellen, so fern es durch seine verschiedenen Vorgestellten als ein solches und anderes bestimmt ist, sich gegenseitig vermindere; dafs eins uns aus dem andern herausversetze.

Es müssen also die mannigfaltigen Vorstellungen sich unter einander aufheben, wenn die Ichheit möglich seyn soll.

Dieser Satz ist das Resultat, be.y welchem wir verweilen werden. Dafs ihn die Erfahrung bestätigt, läfst sich sogleich zeigen; dafs er im höchsten Grade fruchtbar ist, wird sich tiefer unten ergeben.

Die innere Wahrnehmuno: lehrt, dafs p-leich unsre einfachsten sinn- liehen Empfindungen verschiedene Reihen bilden, deren jede eine zahl- lose Menge solcher Vorstellungen einschliefst, die in allen möglichen Graden von Gegensätzen stehn. Die verschiedenen Farben verdrängen einander im Bewufstseyn, die Gestalten desgleichen; nicht minder die ver- schiedenen Töne, Gerüche, Geschmacks- und Gefühls- Empfindungen. Wir können die [109] Vorstellung des Blauen nicht vollkommen vesthalten, wenn die des Rothen dazu kommt; die Contraste beschäfftigen uns, indem sie uns anstrengen; aber eine bedeutende Menge des Contrastirenden macht, dafs die Auffassung erliegt. Auf solche Weise kommt Bewegung ins Gemüth; und nicht blofs Bewegung, sondern auch Bildung. Diese flüchtige Erwähnung der Thatsachen mufs vorläufig genügen.

§ 3°- Bey der allgemeinen Gewöhnung, in dem Subjecte des Bewufstseyns alle die nöthigen Vermögen, Thätigkeiten, Formen und Gesetze anzunehmen, welche die Erklärung psychologischer Thatsachen nur immer fordern möchte, läfst sich auch erwarten, dafs man das nüchstvorhergehende Räsonnement eines Sprunges beschuldigen werde; indem es in den Gegensätzen des Vorgestellten dasjenige suche, was man in der Natur des denkenden Sub- jeets viel besser voraussetzen könne. Wir wollen demnach, um den Grund unserer Untersuchung genugsam zu bevestigen, uns auf das vermeinte Ver- mögen der Selbst-Anschauung noch einmal einlassen, um zu überlegen, was für ein Vermögen es denn eigentlich seyn solle.

1. Ein Vermögen, Sich schlechthin zu setzen, oder auch, das: Ich denke, zu allen unsern Vorstellungen schlechthin von selbst

., - -, XI. Psychologie als 'Wissenschaft.

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hinzuzusetzen; ein solches verlangt man nun hoffentlich nicht mehr, da wir im § 2~ die Masse von Ungereimtheiten gezeigt haben, welche für real, ja für sein eignes Wesen zu halten, demjenigen würde ange- muthet werden, welcher also Sich selbst setzen sollte. * (Man vergleiche

noch § 26.)

2. Ein Vermögen, erst etwas objectives, etwas anderes als das Ich, zu denken, dann aber durch einen absoluten Aufsprung sich selbst in diesem Denken zu ergreifen, würde um nichts weiter führen. Zugegeben, dafs in dem Subjecte ein Vermögen zu einem solchen Auf- sprunge sevn könne (welches aus allge[i iojmein metaphysischen Gründen schon unmöglich ist : so möchte immerhin zu der Vorstellung des objec- tiven noch die Vorstellung von dieser Vorstellung hinzukommen; damit aber der Vorstellende sie als sein Vorstellen Sich zueignete, mutete er zuvor Sich gefunden haben; welches zeigt, dafs die Erklärung das Er- klärte voraussetzt, Dafs aber der Vorstellende nicht das Objective, und dessen Vorstellung, unter einander gleich setzen, und daraus ein Ich bereiten könne, springt offenbar in die Augen, da jene zwey nichts weniger als identisch sind.

3. Aber, nachdem man eingesehen hat, dafs in einer gegenseitigen Modification mehrerer objectiven -Vorstellungen allein der Grund des Selbstbewufstseyns gesucht werden könne: ist nun noch zu besorgen, man werde sich die Sache leicht machen, und das Modificiren der mehrern Vorstellungen einem deus ex machinä, einem hinzutretenden Geistesvermögen von eigends dazu erfundener Beschaffenheit auftragen wollen. Einen Verdacht dieser Art dürfen wenigstens Diejenigen gar nicht übelnehmen, welche ganz auf gleiche Weise zu den Vorstellungen des Erkenntnisvermögens das Begehrungsvermögen hinzubringen, damit es die bis jetzt nur noch erkannten äufsem Dinge in Gegenstände der Be- gierden umpräge!

Die nun von dem Geiste der Naturforschung so ganz und gar ab- weichen, mögen denn überlegen, was wohl für eine Modification der vor- handenen Vorstellungen jenes hinzutretende Vermögen bewirken solle? Eine solche mufs es offenbar sevn, wobey das eigentümliche Was einer jeden dieser Vorstellungen beseitigt, und etwas von ihnen allen verschiedenes, nämlich die Ichheit, aus ihnen herausgezogen werde. Nun hat man zwar wohl in der Naturlehre Beyspiele, dafs "gewisse Stoffe, vermöge ihrer innern Gegensätze, wenn sie zusammenkommen, mit einander ein Drittes bilden, worin die Eigenschaften, welche jedes zuvor allein genommen zeigte, ver- schwin[lll]den, um ganz neuen Platz zu machen. Da äufsem sich diese Stoffe selbst als Kräfte: und es mag wohl erlaubt sevn, diesem Gleichnifs als eine entferntere Andeutung dessen zu benutzen, was unser mannigfaltiges Vorgestelltes, indem es sich in Einem Vorstellen zu- sammenfmdet, mit einander macht: um so mehr, da wir an den Harmonien und Disharmonien, nicht blofs zusammentreffender Töne, sondern aller Arten von Gegenständen, welche ästhetischer Verhältnisse fähig sind, die klaren Beyspiele davon haben. Aber nimmermehr ist erhört gewesen, dafs aus Stoffen, die sich passiv verhalten, eine hinzukommende Thätigkeit etwas gemacht hätte, das der Beschaffenheit dieser Stoffe selbst

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Bezielvungen. 2^1

entgegengesetzt gewesen wäre. Dazu gehört eine innere Verwandlung; und diese ist einer neuen Production gleich zu achten. Kann irgend ein Geistesvermögen aus Vorstellungen, die zum Nicht-Ich zu zählen sind, die Ichheit bereiten: so mas; dasselbe Vermögen immerhin auch ein Ich absolut constituiren. Da aber das letzte, laut den geführten Beweisen, ein völliger Ungedanke ist, so ist es auch das erste.

Man lasse also endlich die Geistesvermögen, wodurch unser Vorge- stelltes, als ob es ein todter Vorrath wäre, soll umgebildet werden, ein- für allemal gänzlich fahren! Dagegen besinne man sich auf das Leben und Streben in jeder einzelnen Vorstellung; welches Leben genau zu- sammenhängt mit der Qualität des Vorgestellten, und sich daher mit andern Vorstellungen nur in so fern verträgt, als zwischen den Vorge- stellten keine Gegensätze sind. So verträgt sich der Ton mit der Farbe; aber die Töne unter einander, die Farben unter einander, als Vorstellungen in uns, widerstreben sich nach dem Maafse ihrer Gegensätze und ihrer Stärke.

Uebrigens würde dieser ganze Paragraph in einer, auf allgemeine Metaphysik mit streng systematischer Kürze aufgebauten Psychologie, völlig unnöthig seyn, weil die[i I2]selbe des Begriffs von einem Wesen mit allerlev Vermögen gar nicht mehr erwähnen dürfte.

Drittes Capitel.

Vergleichung des Selbstbewufstseyns mit andern Problemen der allgemeinen Metaphysik.

§31.

Dieses Capitel wäre eine blofse Episode, wenn nicht die vorstehende Untersuchung selbst uns in ein Gebiet allgemeinerer metaphysischer Fragen hineintriebe.

Auf ein Subject mit mannigfaltigen, zusammen und wider einander wirkenden Vorstellungen, sind wir geführt worden. Ist dieses Subject Substanz? Und erzeugt es seine Vorstellungen von selbst, oder unter äufsern Bedingungen? Sind diese Vorstellungen ursprünglich Kräfte? oder kommt ihnen ihre Wirksamkeit, mit der sie wider einander streben, nur zufälliger Weise, nur unter Umständen zu?

Um leichter verstanden zu werden, will ich es wagen, meine Antwort auf diese Fragen, fürs erste ohne Beweis, herzusetzen.

Das vorstellende Subject ist eine einfache Substanz, und führt mit Recht den Namen Seele. Die Vorstellungen ent- halten nichts von aufsen aufgenommenes; jedoch werden sie nicht von selbst, sondern unter äufsern Bedingungen erzeugt, und eben so wohl von diesen, als von der Natur der Seele selbst, ihrer Qualität nach bestimmt. Die Seele ist demnach nicht ursprünglich eine vorstellende Kraft, sondern sie wird

2 za XL Psychologie als Wissenschaft.

es unter Umständen. Vollends die Vorstellungen, einzeln ge- nommen, sind keineswe [i 13] ges Kräfte, aber sie werden es ver- möge ihres Gegensatzes unter einander.

Sollen nun diese Behauptungen bewiesen werden, so bedarf es dazu offenbar der allgemein-metaphysischen Lehren von Substanz und Kraft.

Aber sollten dieselben Behauptungen bestritten werden: so bedarf es dazu etwas mehr als der bisher bekannten kritischen oder idealistischen oder naturphilosophischen Systeme. Denn keins von diesen allen ist darauf gefafst, mit den Widersprüchen im Begriff des Ich zu kämpfen. Keins hat dieselben genau erwogen; überall sehen wir mit gleichem Leichtsinn das Ich entweder absolut hingestellt, oder von anderem abgeleitet, oder an anderes angekriüpft; immer zum Verderben der Systeme, und immer um so mehr, je mehr sie die Betrachtung des erkennenden Subjectes selbst, zum Mittelpuncte ihrer Untersuchungen machen.

Anm erkung.

Wer die idealistischen und naturphilosophischen Lehren, von denen hier die Rede ist, noch nicht kennt, der mufs Anstalt machen, sie wenig- stens aus einigen Proben kennen zu lernen. Auf Fichte's Wissenschafts- lehre, und die darauf gebaute Sittenlehre, als auf die eigentlichen Haupt- werke dieser Art, sollte ich ihn hinweisen, wenn von gründlichem historischen Studium die Rede wäre; allein, wer es wagt, diese Schriften ernstlich zu studiren, der wird viel Zeit daran verlieren, und er darf nur auf geringen Gewinn rechnen. Kürzer gelangt man in der Hauptsache zum Ziele durch Schelling's Schrift über das Ich, vom Jahre 1795. Hier zeigt sich der falsche Enthusiasmus, welcher seitdem der Philosophie so viel Schaden zu- fügte, schon mit aller seiner Verkehrtheit, aber noch in jugendlicher Liebens- würdigkeit; und was, in Hinsicht seiner, eigentlich allein wissenswürdig ist, man lernt hier sein Entstehen begreifen. Hier sieht man zugleich das Kleben an Auctoritäten, und das Streben, sich über [114] sie hinauszu- schwingen; man sieht ein Klettern an der Kantischen Kategorien-Leiter, ungeachtet der sehr wahren Bemerkung, die Kategorien seyen zwar nach einer Tafel der Urtheilsformen, diese aber nach gar keinem Princip ge- ordnet; welches freylich so viel heifst, als, sie sey unzuverlässig, und von keinem sichern Gebrauche; man findet eine Art von Versprechen, ein Gegenstück zu Spinoza 's Ethik aufzustellen, woraus bekanntlich ein Seitenstück geworden ist, weil der nüchterne Geist Spinoza's mit allen seinen Fehlern, denn doch mächtiger war, als der phantastische, der ihm entgegen treten wollte; man findet endlich eine bewundernswerthe Leichtig- keit, sich in Fichte's Redensarten einzuüben, um das Ich, dessen Tiefe Fichte zu ergründen suchte, nach der Dimension der Breite auseinander zu ziehen. Schon hier erwacht die Begeisterung für jene unglückliche Ein- heit, in welcher das Wesen des Menschen bestehen, und darum das Sollen mit dem Seyn in ein Chaos zusammengeworfen werden soll; das Vorspiel des bekannten Satzes :

Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig;

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 255

eines Satzes, für den glücklicherweise die Menschheit nicht träge genug ist; denn nach dem Vernünftigen, welches noch nicht ist aber werden soll, strebt sie wirklich; nur oftmals mit verkehrtem Ungestüm, weil ihr das Vernünftige so vorschwebt, als wäre es schon ganz nahe und liefse sich mit ein paar raschen Schritten erreichen. Von diesem ver- kehrten Ungestüm, der das verdirbt, was er gewinnen will, giebt gleich der Anfang des vorhin genannten Buchs ein Beyspiel, das statt aller dienen kann. Man vernehme die enthusiastische Rede:

„Wer etwas wissen will, will zugleich, dafs sein Wissen Realität habe. Ein Wissen ohne Realität ist kein Wissen." Was folgt daraus? „Entweder mufs unser Wissen schlechthin ohne Realität ein ewiger Kreislauf (?), ein beständig I5]ges wechselseitiges (?) Verfliefsen aller einzelnen Sätze in einander, ein Chaos seyn, in dem kein Ele- ment sich scheidet, oder

„Es mufs einen letzten Punct der Realität geben," (warum nur einen letzten? Ist die Realität nicht in allen Puncten real?) „an dem alles hängt, von dem aller Bestand und alle Form unseres Wissens ausgeht, der die Elemente scheidet, und jedem den Kreis" (wieder einen Kreis! Wunderbare Vorliebe für die Figur der Kreislinie!) „seiner fort- gehenden Wirkuno- im Universum des Wissens beschreibt."

„Es mufs etwas geben, in dem und durch welches alles was ist, zum Daseyn, alles was gedacht wird, zur Realität (!), und das Denken selbst zur Form der Einheit und Unwandelbarkeit gelangt. Dieses Etwas müfste das Vollendende im ganzen System des menschlichen Wissens" (des ewig unvollendeten!) „seyn, es müfste die ganze Sphäre, die unser Wissen durchmifst, beschreiben, und überall, wo unser letztes Denken und Erkennen noch hinreicht, im ganzen y.o<\i«>; unseres Wissens, als Urgrund aller Realität herrschen."

Wohin strebt dieser Wortprunk? Dahin, dafs im Ich das Princip des Seyns und des Denkens zusammen falle, dafs es durch sein Denken sich selbst hervorbringe. Eine Täuschung, die jetzt für Jedermann veraltet ist! Dafs das absolute Ich durchaus Nichts wissen würde, eben weil es Sich wissen soll, und nur Sich wissen darf, (um nicht ins Nicht-Ich zu verfallen) dieses Sich aber eben nichts anderes seyn darf als nur ein Sich- Wissen, ein Wissen dessen Gegenstand bis ins Unendliche gesucht und nie gefunden wird; dafs ferner das absolute Ich, eben darum weil es nichts weifs, auch nichts ist: diese höchst leichten Ueberlegungen konnten recht füglich im Jahre 1795 angestellt werden; ich selbst habe die ganze Entwickelung derselben in den letzten Jahren [ 1 1 6] des v< »rigen Jahrhunderts gefunden; und bin dadurch wenigstens für meine Person gegen unzählige nachmalige Thorheiten gesichert worden.

Warum haben diese Ueberlegungen sich dem Herrn Schellixg nicht aufgedrungen; damals, als es für ihn Zeit war, sie anzustellen und anzu- erkennen? Weil sein falscher Enthusiasmus ihnen Widerstand leistete. Er forderte, die Wahrheit solle sich wenigstens in Einem Puncte unmittelbar offenbaren. Thäte sie dieses, so müfste es allerdings im Ich ge- schehen; dies ist der einzige Punct, worin man Seyn und Wissen un- mittelbar vereinigt olauben kann; und alsdann wäre die älteste Lehre

2 -(j XI. Psychologie als "Wissenschaft.

Schelling's gerade die beste. Allein auf ein Fordern und Sollen läfst sich die Wahrheit nicht ein; sie erscheint nicht wie ein Dämon auf irgend eine Beschwörungsformel. Unmittelbar offenbart sie sich dem Philosophen in gar keinem Puncte. Und was folgt daraus? Vermuthlich dieses, dafs es für uns gar keine Wahrheit gebe! Wir wollen dies für einen x\ugen- blick annehmen. Unser vermeintes Wissen mag also ein blofses Meinen seyn, das entweder gerade fort fliefst, von hypothetischen oder irrigen Vordersätzen zu deren Consequenzen, oder auch, falls Jemand gern von krummen Linien reden will, unser Wissen mag hyperbolisch, para- bolisch, spiralförmig, oder endlich kreisförmig in sich zurück fliefsen, nach Belieben! Wenn aber Jemand schon dahin gelangt, die Nullität des vermeinten Wissens zu erkennen: so besitzt er gerade hierin den Anfang des wahren Wissens; und er braucht jetzt nur noch Geduld und An- strengung, um dahin zu gelangen. Denn eben die unumstöfsliche Gewifs- heit, dafs es für uns ein scheinbares Wissen giebt, und als Gegenstand desselben eine grofse und weite Erscheinungswelt in uns und aufser uns: diese Gewifsheit ist das vollkommen veste Fundament, die eben so grofse und eben so breite Basis des wahren Wissens. Es ist nämlich nur nöthig, die Bedingungen zu finden, unter welchen allein die Erschei[i I7]nungs- welt erscheinen kann; dergestalt, dafs sie nicht erscheinen würde, wenn diese Bedingungen nicht wären. Hiebey ist von einem letzten Puncte, von einem einzigen Princip, von einem Talismann, dessen Besitz uns zur Herrschaft über das gesammte Universum des Wissens verhelfen würde, nicht aufs entfernteste die Rede. Weifs Jemand die Bedingungen anzu- geben, unter denen allein es möglich ist, dafs Materie erscheine: so findet er hiemit die allgemeine Grmidlehre der Naturphilosophie. Weifs Jemand die Bedingungen anzugeben, unter denen allein es möglich ist, dafs ein Magnet, sammt seiner Polarität, erscheine: so findet er hiemit einen besondern Theil der Naturphilosophie. Weifs Jemand anzugeben, unter welchen Bedingungen es allein möglich ist, dafs die Totalität eines Ge- dankenkreises in der Form der Ichheit eingeschlossen erscheine: so findet er hiemit die Anfänge der wahren Psychologie. Weifs er von allen dem Nichts : so beharrt er in der Welt des Scheins, die für ihn nur gröfser und trüglicher wird, wenn er neben der sinnlichen Anschauung sich auch noch intellectuale Anschauungen einbildet.

Uebrigens wird man mir sagen: es sey beynahe die erste, früheste Schrift Schelling's, gegen die ich hier gesprochen. Ich weifs das, und weifs auch, wie der erste Fehlgriff die folgenden erzeugt hat; die Ver- irrungen des Meisters und die Thorheiten seiner Schüler.

Seit diese Thorheiten in Umlauf kamen, ist die Philosophie mit einer Geschwindigkeit rückwärts gegangen, die selbst mir, dem Zeitgenossen, bey- nahe unbegreiflich vorkommt; künftige Literatoren, wenn sie die nüchternen Werke Kant's so nahe beysammen finden mit der Deuteley, die heute Philosophie heifst, werden den Jahrszahlen auf den Büchertiteln nicht trauen. Auch sucht mehr und mehr die Gelehrsamkeit sich ohne Philo- sophie zu behelfen; sie weifs, das Ansichten, deren Wandelbarkeit die Geschichte bezeugt, ihr wenig nützen können. Die Schwärmerey kommt im Gefolge des Em[i i8]pirismus; und ihre Fortschritte sind reifsend.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 257

Der Respect, welchen ehedem die Wissenschaft dem Staate und der Kirche einflöfste, wird nicht gröfser sondern kleiner. - Wäre das Publi- licum stärker gewesen, so hätten einige Schriftsteller nicht so viel schaden können.

§ 3*-

Um über den Begriff eines Subjects mit mannigfaltigen und wider einander wirkenden Vorstellungen etwas zu entscheiden: kann man sich theils an seinen höhern Gattungsbegriff, den einer Einheit, welche ein gegenseitig widerstrebendes Mannigfaltiges einschliefse, theils an das specifische Merkmal wenden, dafs von Vorstellungen, und einem Subjecte derselben die Rede sey. Die eine wie die andre Betrachtungs- art erfordert allgemein-metaphysische Reflexionen.

Der Begriff der Vorstellung bezeichnet das Vorgestellte als etwas Nicht-Reales, als ein blofses Bild; welches, um vorhanden zu seyn, einer fremden Realität bedarf, nämlich des realen Subjects. Kann man nun die Qualität desjenigen Wesens, welches das Subject der Vorstellung ausmacht, unmittelbar darin setzen, dafs es ein Vorstellendes (die Existenz zu gewissen Bildern) sey? Um diese Frage zu beantworten, müfste man überlegen, ob der Begriff einer solchen Qualität eine absolute Position vertrage? (Man sehe in meinen Hauptpuncten der Metaphysik die §§ 1 und 2.) Im Fall einer verneinenden Antwort wird folgen, dafs dem Wesen das Vorstellen zufällig sey; und es wird weiter nachzusehn seyn, in wiefern einem Wesen überhaupt Accidenzen zugeschrieben werden können; welches auf die Theorie der Störungen und Selbsterhaltungen zurückkommt. (Hauptp. der Metaph. § 5.)

Eben dahin weiset die andere Reihe von Betrachtungen. Einheit eines widerstrebenden Mannigfaltigen ist ein Begriff, der, mit innern Gegensätzen behaftet, eine [119] absolute Position geradezu ausschlägt.* In solchen Gegensätzen steht schon das Mannigfaltige als solches; dann die Mannig- faltigkeit überhaupt wider die Einheit, endlich vollends das Widerstreben in diesem Mannigfaltigen. Also auch hier ist an Qualität eines Seyenden nicht zu denken; sondern nur an ein Zusammen mit andern und andern Wesen, sammt den Folgen davon, den Störungen und Selbsterhaltungen.

Nun sind die Selbsterhaltungen innere Thätigkeiten eines Wesens; sie sind aber nichts äufseres, oder nach aufsen hin gerichtetes. Sollen deren mehrere unmittelbar zusammen oder wider einander wirken (wie hier die Vorstellungen) : so müssen sie die verschiedenen Selbsterhaltungen eines einzigen Wesens seyn. Daraus erhellet die Einfachheit der vorstellenden Substanz, oder der Seele.

Hiermit wäre nun in der Kürze der Weg der allgemein-metaphy- sischen Untersuchungen nachgewiesen, welchen man gehen mufs, um die

* Bequemere Dienste, als die äufserst gedrängten Hauptpuncte der Metaphysik, [s. Band II, 175 226] wird für manche der hier berührten allgemein-metaphysischen Gegenstände mein Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie leisten können. Man ver- gleiche daselbst §§ 97. 101. und besonders § 113. [s. Band IV vorl. Ausgabe.]

Herbart's Werke V. 17

2c8 XI. Psychologie als Wissenschaft. -

Beweise der vorhin aufgestellten Behauptungen zu finden. Begreiflicher Weise kann ich mich hier nicht auf ausführliche Erörterungen dessen ein- lassen, was an seinem rechten Orte ohne alle unmittelbare Beziehung auf Psychologie entwickelt wird. Wohl aber kann ich denjenigen Lesern, welche neben der gegenwärtigen Schrift meine Hauptpuncte der Meta- physik nicht blofs anzusehen, sondern ernstlich zu durchdenken geneigt seyn möchten, durch die, in der Ueberschrift dieses Capitels angekündigte Vergleichung zwischen den Untersuchungen über das Ich, und denen, die zu den Begriffen von Substanz und Ursache führen, zu Hülfe kommen; denn eine solche Vergleichung wird eben so sehr zur genauem Einsicht in das Räsonnement des vorigen Capitels, als zum leichtern Verständ-[i2o] nifs der angedeuteten metaphysischen Lehrsätze beytragen.

§ 33-

Die anzustellende Vergleichung geht theils auf die Materie der Pro- bleme, theils auf die Form der Untersuchung.

Der Materie nach sind die beyden ersten Hauptprobleme der allge- meinen Metaphysik (Hauptp. d. Metaph. §§ 3. 4.) dem hier abgehandelten darin ähnlich, dafs sie Principien sind; in der gleich Anfangs bestimmten zwiefachen Eigenschaft eines Princips, welches erstlich an sich gewifs, zweytens eine abgeleitete Gewifsheit zu ergeben geschickt seyn mufs.

Erstlich, es ist gewifs, dafs wir uns Dinge mit verschiedenen, und veränderlichen Merkmalen vorzustellen genöthigt sind; denn der- gleichen sind uns in der äufsern Erfahrung eben so wohl, als das Selbst- bewufstseyn innerlich, gegeben.

Zweytens, die Begriffe solcher Dinge sind Anfangspunkte eines fort- laufenden Räsonnements gerade so, wie seinerseits das Ich; denn sie ent- halten Widersprüche, welche aufgelös't werden müssen; und deren Auf- lösung zu neuen Lehrsätzen führt.

Am auffallendsten ist der Widerspruch im Begriffe des veränderlichen Dinges; der nämliche, über welchen die Eleaten, und nachmals Platon vielfältig geklagt, den aber die Neuern, theils ganz sorglos, theils im Besitz eingebildeter Aufschlüsse vernachlässigt haben. Da der Begriff des Seyn nur in Beziehung auf ein Was, auf eine Qualität, Sinn und Be- deutung hat: so mufs vor allem die Qualität des Sey enden bestimmt können angegeben, oder falls sie unbekannt wäre, doch wenigstens als eine bestimmte vorausgesetzt werden. Ist nun im Gegentheil die Qualität, welcher das Seyn zugeschrieben wird, veränderlich, so entsteht der Begriff von anderem und anderem Seyenden; eben so vielfach, als die Angabe dessen wechselt, was da sey. Wird aber endlich Sol[i2i]ches und wieder Anderes Seyendes für Eins und dasselbe ausgegeben, wie denn dieses durch die Behauptung, dafs ein Veränderliches immerfort ein und dasselbe Ding bleibe, wirklich geschieht, so liegt der Widerspruch, dafs Entgegengesetztes einerley seyn solle, klar am Tage.

Statt diesem Widerspruch abzuhelfen, hat man in unsern Zeiten den Begriff der Substanz zur Kategorie gestempelt und uns versichert, ein solcher Begriff läge nun einmal in unserm Verstände.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 ^Q

Der Begriff nämlich von dem beharrlichen Substrat der wechselnden Erscheinungen. Wobey zuvörderst anzumerken, dafs das Beharrliche ohne Widerspruch beharren und die Erscheinungen ohne Widerspruch wechseln möchten, wofern nur zwischen jenem und diesen gar keine Gemeinschaft wäre, und die wechselnden, gleich fliegenden Schatten, die Qualität des Beharrlichen ganz unangetastet liefsen. Wenn aber das Wasser (um ein altes Platonisches Beyspiel zu brauchen) bald flüssig, bald vest, bald dampf- förmig erscheint,* so meint niemand die Flüssigkeit, Vestigkeit, Dampf- förmigkeit, ginge das beharrliche Substrat des Wassers nichts an: sondern, die entgegengesetzten Möglichkeiten dieser entgegengesetzten Erscheinungen legt man zusammen genommen dem Einen und sich selbst gleichen Be- harrlichen, als in wohnende Eigenschaften, bey; und giebt ihm dadurch denn freylich eine beharrliche, aber zugleich widersprechende Qualität. Klagt nun Jemand, dafs für das Platonische trtQOi' und ravrov der Sinn unter uns verloren scheine: so hilft man sich mit der Versicherung, es sey ja nur von Phänomenen die Rede! Und alsdann macht man das Hauptgeschäfft unseres Verstandes daraus, dergleichen ungereimte Phäno- mene ernstlich, ja gar wissenschaftlich aufzustellen und abzuhandeln.

[122] Wäre wirklich unser Verstand von Natur mit jener wider- sinnigen Kategorie behaftet: alsdann eben bestünde die wahre Philosophie in einer Kritik des Verstandes; nämlich damit er lernen möchte, sich seiner misgebornen Natur zu schämen, und, falls er nach andern Formen nicht denken könnte, das Denken lieber gar aufzugeben.

Dagegen nun findet sich, dafs die Form der unvermeidlichen Auf- fassung sinnlicher Erscheinungen uns einen widersprechenden Begriff auf- bürden will, den glücklicherweise der menschliche Verstand nur braucht gewahr zu werden, um ihn zu verabscheuen und auszustofsen : wie denn die Alten die kräftigsten Mittel sich haben gefallen lassen, um nur jene ungereimten Erscheinungen aus dem Gebiet des Wissens zu verbannen; und sie entweder (wie die Eleaten) für Gegenstände schwankender Meinungen erklären zu können. Weil sich nun hiebey die Alten offenbar zu weit von der Erfahrung entfernt haben, so müssen wir andre Wege einschlagen, um nämlich für die Erfahrung andre und bessere Begriffe zu gewinnen, die in dem Kreise der erwähnten Kategorien nicht liegen können. Und dieses ist denn das Hauptgeschäfft der allgemeinen Meta- physik. —

Was hier von dem Begriffe des veränderlichen Dinges gesagt worden, dasselbe gilt im Wesentlichen von dem Begriffe des Dinges mit mehrern Merkmalen. Nämlich es brauchen nicht entgegengesetzte, noch successive Merkmale zu seyn, um jenen Widerspruch in der Qualität des Seyenden zu erzeugen; er entsteht schon aus der Summe derjenigen Eigenschaften, die man im gemeinen Leben einem Dinge ganz unbedenklich neben ein- ander einräumt. Das Quecksilber ist weifs und flüssig und schwer; wird wohl hierin ein Widerspruch liegen? Allerdings! sobald das Eine

* Plat. TlMÄEUS pag. 342. Man wolle den Ausruf beherzigen : oi'tvj <??, tstojv ödtnuTi nur avxvtr txaswv (pavT<t£o[t6V(ov, noiov avrutv, ojf ov utiöv xaxo y.n.i «x a/J.o, 7caytfjg, Öiig^i yi^outro:, üx aioyvvat yt ztg avror; uy. i?tv\

17*

25o -^-I- Psychologie als Wissenschaft.

Ding durch eine vielfältige Qualität bezeichnet wird. Man lege sich die Frage vor: Was ist das Quecksilber? Diese Frage verträgt nicht die Antwort: das Quecksilber ist weifs und flüssig und [123] schwer. Die Verkehrtheit läfst sich fühlbar machen durch eine neue Frage: Ist denn das Weifse flüssig und schwer? Oder ist das Flüssige, weifs und schwer? Oder ist das Schwere, weifs und flüssig? Will man nun die erste falsche Antwort verbessern, so wird man das Quecksilber als den Stoff bezeichnen, welcher die mehrern Eigenschaften hat, und in sich vereinigt. Könnte man nur dieses Haben, dieses In-sich- vereinigen, deutlich machen! Unglücklicherweise ist das Haben eines Mannigfaltigen selbst mannigfaltig, und es will scheinen, als müfste dies vielfältige Haben, um die Qualität des Einen Seyenden nur berühren zu können, erst wiederum gehabt werden, durch ein neues, ohne allen Zweifel wiederum vielfältiges Haben! Bey dem In-sich-vereinigen sagt es nun gar der Klang des Wortes, dafs man eben ein Wort eingeschoben, wo der Sinn mangelte. Denn gerade von der Einigung des Mannigfaltigen war die Frage, indem bev den bekannten sinnlichen Kennzeichen des Quecksilbers dennoch von dem Was desselben als von einem unbekannten geredet wurde. Nun be- ruhigen sich die Meisten dabey, dafs sie nicht wissen, wie das Eine zu mehrern Eigenschaften komme? Und freylich wissen sie es nicht. Denn setzen wir irgend ein A als die Qualität des Seyenden, so ist dies Eine und sich selbst gleiche weit entfernt, eine Mehrheit zu ergeben. Haben wir aber in A gleich Anfangs eine Mannigfaltigkeit einzuschliefsen uns erlaubt: so dürfen wir nun schon gar nicht wagen, uns die Frage vorzu- leben, was. eigentlich sey? Denn die Antwort enthält sogleich das Ge- ständnifs, dafs wir Mehrem das Seyn beygelegt, und dennoch für diese Mehrern eine Einheit, wir wissen nicht Welche? angenommen haben. Der Widerspruch ist nun hoffentlich klar genug. Man nimmt an, das Seyende sey Eins; und auf die Frage: Was für eins? antwortet man durch eine Mehrheit von Bestimmungen. Mehrerley nun ist nicht Einerley. Und es ist völlig vergeblich, eine unbekannte Qualität anzu[i24]nehmen, von der nur soviel bekannt sey, dafs sie die mehrem Bestimmungen zu- lasse. Denn immer ist es schon Mehrerley in ihr selber, dafs sie gestattet, von jenen mehrern Bestimmungen auf was immer für eine Weise behelligt zu werden.

Das Gesagte beruhet übrigens auf der Voraussetzung: man habe die Qualität eines Seyenden anzugeben. Daraus eben entspringt die Gefahr, Vieles Seyendes einem einzigen unterzuschieben. Wird der Begriff des Seyn bey Seite gesetzt, so ist für ganz andre Betrachtungen Raum, die wir aber hier nicht verfolgen können.

Statt dessen möchte es beynahe erlaubt seyn, die Warnung gegen das andächtige: die Dinge an sich kennen wir freylich nicht! noch- mals zu wiederhohlen; und zu erinnern, dafs widersprechende Be- griffe auf das, was zu seyn scheint, eben so wenig passen, als auf das was ist. Hiezu aber kommt noch, dafs, wie oben gezeigt, die für vest gehaltene Burg des Idealismus (das Selbstbewufstseyn) eben so- W >hl auf einem Vulkan erbaut ist, als jede Naturlehre, welche die Begriffe von Substanz und Kraft nicht im voraus berichtigt hat; daher denn die

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 26 1

gangbare Theorie von Phänomenen und Noumenen schwerlich noch einen vesten Punct besitzen möchte, auf welchen sich verlassend, sie die Um- arbeitung der vorliegenden widersprechenden Erfahrungs-Begrifle für unnütz erklären dürfte.

Anmerkung.

Eine historische Erinnerung kann behülflich seyn, dafs man den Gegenstand des vorstehenden Paragraphen leichter ins Auge fasse. Be- kanntlich ist es gerade der Begriff der Substanz, um welchen die Spitz- findigkeiten der aristotelisch-scholastischen Philosophie sich vorzugsweise drehen. Nun sind zwar diese Spitzfindigkeiten an sich keine Erkenntnifs der Wahrheit; aber sie geben in so fem ein lehrreiches Schauspiel, als sie aufmerksam machen auf einen Punct, der die Denker nothwendig in [125] Verlegenheit setzen mufste. Ich will aus Baumgarten's Meta- physik ein paar Paragraphen hierher setzen.

§ 40. Complexus essentialium in possibili est essentia, (esse rei, ratio formal is, natura, quidditas , forma, formale totius, ovoiu, riroric, sub- stantia, conceptus entis primus.) Hier zeigen schon die vielen Synonymen, wie viel Mühe man sich gegeben hat, den complexus, die Einigung des Vielen, aufzufassen.

§ 196. Id in substantia, cui itihaerere possunt accidentia, sive sub- stantia, quatenus est subiectum ; id, cui accidentia inhaerere possunt, sub- stantielle vocatur ; nee accidentia existunt extra substaniiale.

Welche monströse Erfindung! So möchte man hier ausrufen. Wie? Braucht denn die Substanz noch ein substaniiale, damit Accidenzen in ihr wohnen können? Heifst sie nicht gerade in dieser Beziehung Sub- stanz, in wiefern sie Accidenzen trägt? Mufs und kann und darf denn zwischen sie selbst, und ihre Accidenzen die ja eben die ihrigen sind, noch ein Mittelglied, das substaniiale, eingeschoben werden? Was ist denn damit gewonnen? Wollen wir nicht noch einen neuen Kitt erfinden, vermöge dessen das substaniiale mit der Substanz zusammen hänge? Und abermals einen andern Kitt, um die Accidenzen in das substaniiale hinein zu leimen? Wird denn dieser Kitt nicht nochmals an die Glieder, die er verknüpfen soll, angeheftet werden müssen? Wird man nicht auf diese Weise die Mittelglieder ins Unendliche vervielfältigen müssen?

Oder was ist das für ein quatenus, in dem Ausdrucke: substaufia, quatenus est subiectum ? Soll die Substanz sich selbst entgegengesetzt werden? Will man sie auffassen, einmal in so fern, in wie ferne sie nicht Subject für ihre Prädicate ist? Darf sie denn jemals anders gedacht werden, als eben in so fern, in wie ferne sie ihre essentialia^ ihre atlributa, in sich vereinigt ?

Hier habe ich die Sprache einer Verwunderung an[i 2 6]genommen, wie sie demjenigen natürlich ist, der noch nicht tief ins metaphysische Denken eingedrungen ist.

Denn allerdings mufsten die Scholastiker die Substanz sich selbst ent- gegensetzen. Allerdings soll sie selbst gedacht werden als Eins; ihr substaniiale aber soll empfänglich seyn für das vielfache Haben der vielen Accidenzen und Attribute. Allerdings sind hier nothwendig zwey Gedanken,

2 62 XT. Psychologie als "Wissenschaft.

die aber freylich Einer seyn sollten, und nicht können. Die Substanz ist jener homerische Herkules, der selbst bei den seligen Göttern wohnt, während sein Schatten in der Unterwelt wandelt.

Mit einem Worte : das substantielle ist der Widerspruch im Begriff der Substanz, wodurch sie ein metaphysisches Problem wird.

Was wird nun derjenige thun, dem dies Problem, das allgemeinste der ganzen Metaphysik, eine Anregung zum Denken gegeben hat? Eine dreyfache Wahl liegt vor ihm. Entweder sich in scholastische Grübeley zu versenken, oder mit dem Verslein: grau. Freund, ist alle Theorie, sich tröstend, aus der Schule ins freye Leben sorglos hinüberzutreten (wobey er nicht vergessen darf, dafs sich alsdann die Pforte der Schule hinter ihm schliefst), oder endlich, die Kraft seines Denkens anzustrengen, damit er den Grund des Widerspruchs genau erkenne, ihn hinweghebe, und nachsehe, welche Veränderung hiedurch in dem vorliegenden Begriffe entstehe. Hierüber giebt das Folgende weitere Auskunft.

§ 34-

Wenn die drey Begriffe, des Ich, der Veränderung, und des Dinges mit mehrem Merkmalen, undenkbar erfunden werden, so ist gewifs schwer zu sagen, was denn noch denkbares in dem ganzen Kreise unserer realen Erkenntnisse übrig bleibe? Wenn aber einem von diesen Begriffen durch irgend eine Art von Reflexion eine Hülfe hat geleistet werden können, so ist wohl zu vermuthen, [127] dafs eine ähnliche Hülfe für alle bereit seyn werde. Haben wir demnach zur Auflösung der Widersprüche im Ich wenigstens einige Schritte thun können, so wäre es schon der Mühe werth, der Analogie nachzugehn, um zu versuchen, ob nicht das Nach- denken über die andern Probleme dieselbe Richtung nehmen dürfte?

Aber diese Analogie würde sich zu einer Methode erheben, sobald man fände, dafs im Allgemeinen auf der Natur eines widersprechenden Begriffes ein gewisser Gang des Denkens beruhe, welchen zu nehmen man gezwungen sey, falls man den Widerspruch los werden wolle.

Bey diesem zweyten formalen Theile unserer Vergleichung der ver- schiedenen Probleme, kommt uns nun sogleich die Logik mit einer allge- meinen, und höchst einfachen Bemerkung zu Hülfe; nämlich dafs von zweyen contradictorischen Gegentheilen gewifs eins wahr sey, wenn das andre falsch ist. Demnach, wenn es falsch ist, dafs Entgegengesetztes einerley sey, so ist wahr, dafs Entgegengesetztes nicht einerley ist. Wenn es falsch ist, dafs im Ich, Object und Subject dasselbe seyen, so mufs es wahr seyn, dafs Object und Subject dasselbe sind. Wenn es undenkbar ist, dafs ein Ding mit veränderter Qualität eins und dasselbe sey, so mufs man zugeben, dafs es nicht dasselbe ist. Wenn es keinen Sinn hat, dafs der Stoff eines Dinges, und die Realitäten, welche man wegen der mehrern Merkmale dieses Dinges annimmt, ein und dasselbe seyen, so mufs an- erkannt werden, dafs die genannten Realitäten von jenem Stoffe zu unter- scheiden sind. Mit einem Worte, die Identität, welche den Widerspruch verursacht, muls geleugnet werden.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 263

So klar nun dieses ist, so haben wir dennoch in den neuesten Zeiten manchmal von Widersprüchen gelesen, die man vereinigen wollte. Die entgegengesetzten sollten Eins und dasselbe werden. Das heifst mit andern Worten: der Widerspruch solle, wenn er etwa noch nicht vor- handen wäre, jetzt eben gestiftet wer[i2 8]den! Denn die Entgegen- gesetzten, die ei einschliefst, fechten einander gar nicht an, wenn sie nicht für Eins ausgegeben werden. Weifs und schwarz bestehen vollkommen neben einander, nur dafs man das Weifse nicht selbst für schwarz erklären wolle. Jene Vereinigung aber sieht einer Versöhnung ähnlich, wobei man den Charakter der Feinde nicht gehörig erforscht hat. Der Streit dauert im Verborgenen fort, und verdirbt die Systeme wie die scheinbaren Freund- schaften. — Im Grunde beweis't ein solches Verfahren, dafs man an das Widersprechende in den aufgestellten Problemen nicht ernstlich glaubt. Und dies ist soviel, als dafs man das Bedürfhifs metaphysicher Unter- suchungen nicht in seiner ganzen Stärke empfindet. Es ist eine Schwach- heit der neuem Zeiten, speculative Schwierigkeiten durch alle ersinnlichen Künste, bald schöner Worte, und aufgeregter Phantasien und Gefühle, bald harter Machtsprüche, und vorgegebener Anschauungen und Offenbarungen, zu bedecken, zu verhüllen, aus den Augen zu rücken, aus dem Sinn zu schlagen. Was Wunder, dafs die Speculation nicht von der Stelle kommt, da ihr erstes Gesetz Aufrichtigkeit ist, nämlich Aufrichtigkeit gegen sich selbst!

Waren die oben entwickelten Begriffe nicht widersprechend? Dann brauchte man sie nicht als solche aufzustellen. Eine blofse Künstelev, ein gesuchter Schein des Mühsamen der Nachforschung, ist der Philosophie ganz und gar unwürdig. Sind sie aber in der That, so wie sie gegeben und gefunden werden, mit sich selbst im Streit: so mufs man damit an- fangen, das Streitende zu sondern; ja man mufs diese nämliche Operation so vielemal wiederhohlen, als noch eine neue Spur widerstreitender Bestimmungen sich entdeckt.

Dieses nun gerade ist der allgemeine Charakter derjenigen Methode, welche ich Methode der Beziehungen genannt, und in den Hauptpuncten der Metaphysik gleich [129] im Anfange vorgetragen habe. An dem Faden derselben läuft auch das Räsonnement im §28 dieses Buches fort, obgleich daselbst von keiner Methode ist gesprochen worden.

Diese Methode hat verschiedene Misverständnisse erlitten; man würde aber dieselbe sehr bald, entweder verstehen und annehmen, oder aber verstehen und verbessern, wenn man nur erst von der widersprechenden Natur der metaphysischen Principien überzeugt wäre. So hinge es daran fehlt, wird die Methode für ein Hirngespinnst gehalten werden. In- zwischen wird mir erlaubt sein zu sagen, dafs dieselbe gröfstentheils durch Abstraction aus den Reflexionen über die erwähnten Probleme ist gewonnen worden; dafs sie demnach von dem Gefühl der Notwendigkeit, von welcher das Nachdenken über jene Probleme getrieben wird, eingegeben, und nichts weniger als willkührlich ersonnen ist. Ihren Platz aber bekam sie in den Hauptpuncten der Metaphysik deshalb ganz vorne, weil sie als allgemeine Methode jeder ihr unterzuordnenden Untersuchung vorangestellt werden mufste. Dabey ist nun unvermeidlich, dafs sie dem nicht gehörig

264 -^- Psychologie als Wissenschaft.

vorbereiteten Leser früher entgegentritt, als er das Bedürfhifs darnach empfunden, und hiemit die Möglichkeit der Einsicht in dieselbe sich verschafft hat.

Die Methode beruht auf folgenden Momenten: Ein widersprechender Begriff A enthalte die entgegengesetzten Glieder M und X, welche er für identisch ausgiebt ; so mufs zuvörderst, wie schon auseinandergesetzt, deren Identität geleugnet werden. Soweit sind wir beym Ich, indem wir ihm ein fremdes Object leihen, welches gerade so viel heifst, als, das Object ist ein anderes als das Subject. Nun ferner entsteht allemal die Schwierigkeit, dafs die Glieder M und N, welche in dem widersprechenden, aber gegebenen Begriffe als Eins und dasselbe aufgefafst waren (wie Object und Subject in dem gegebenen Begriffe des Ich) ihre Gültig- keit verlieren, sobald sie gesondert werden: denn als gesondert sind sie [130] nicht gegeben. Ein Object, welches dem Subjecte nicht gleich ist, kommt im Begriff des Ich nicht vor, und ist eben deshalb ein Begriff ohne Bedeutung, wenn wir ihn nicht wieder an das Gegebene an- zuknüpfen wissen. Folglich müssen wir jedes der gesonderten abermals identisch setzen dem andern; z. B. M, welches von N gesondert war, mufs dem N wiederum gleich gesetzt werden. Dies verwickelt uns in einen secundären "Widerspruch ; INI nicht = N, und M dennoch = X. Im § 28 entsprechen dieser Formel die beyden Reflexionen: zum Ich gehört ein Object, das ihm fremd, und dennoch nicht fremd, sondern dem Sub- jecte gleich sey. Da nun hier M mit sich selbst im Widerspruche erscheint, so mufs wiederum, wie vorhin, nach der angeführten allgemeinen logischen Regel, die Identität verneint werden. Dem gemäfs ist es nicht dasselbe M, dessen Identität mit N gefordert und doch auch geleugnet wurde; sondern man mufs dafür mehrere INI annehmen. So sind im Ich mehrere Objecte angenommen worden. Will man nun die Methode nach aller Strenge beschreiben, so ist hiebey zu bemerken, dafs zwar An- fangs die mehrern M so auftreten, als ob eins die Identität mit N besäfse, das andre nicht; dafs aber jenes im alten "Widerspruch befangen, dieses vom Gegebenen abweichend und folglich ein ungültiger Begriff seyn würde; dafs demnach beyden beydes, Identität und Nicht-Identität mit N, zu- komme; wodurch jedes in den vorigen Widerspruch verwickelt, und aber- mals in eine Mehrheit zerschlagen werden mufs. Kurz, der secundäre Widerspruch steigt gleichsam auf Potenzen ins Unendliche fort (nur nicht gerade auf Potenzen der Zahl zwey, denn die Leugnung der Identität ergiebt nicht bestimmt zwei AI, sondern überhaupt mehrere). Dieses nun ist in der Betrachtung des Ich übergangen worden, weil man bey einem bestimmt vorliegenden Probleme sich gleich auf der Stelle sehr leicht be- sinnt, worauf es ferner ankomme. Nämlich, sobald mehrere M ange- nommen sind, bietet sich die Betrachtung dar, dafs je[i3i]des derselben einzeln genommen die alte Schwierigkeit der Identität mit N, welche nicht denkbar und doch durchs Gegebene gefordert ist, erneuern werde; daher man voraussetzen mufs, dafs sie zusammengenommen eine ge- wisse Modifikation erlangen werden, aus welcher dasjenige hervorgehe, was dem andern Gliede des Hauptbegriffs gleich zu setzen sey. Eine solche Modification müssen die mehrern Objecte, welche einem und demselben

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 26^

Vorstellenden vorschweben, sich gegenseitig schaffen. Die fernere Unter- suchung des §29, welcher gemäfs die Vorstellungen jener Objecte als Kräfte wider einander wirken müssen, geht schon über das Allgemeine hinaus, was bey allen gegebenen Widersprüchen einerley Gang des Denkens, oder einerley Methode erfordert. Das Resultat der Methode ist allemal die Vervielfältigung eines von den beyden Gliedern des gegebenen Wider- spruchs; welches das zu vervielfältigende Glied sey, mufs man aus der Eigen - thümlichkeit des Problems beurtheilen. Z. B. beym Ich wird es Niemandem ein- fallen, eine Mehrheit der Subjecte anzunehmen, um diese dem Objecte gleich zu setzen; weil dies geradezu die Einheit des Bewufstseyns aufheben würde.

Zu dem nämlichen Resultate führt ein anderer, kürzerer Weg, der aber gleich Anfangs durch eine Hypothese betreten wird. Da M für sich nicht gleich N seyn kann: so werde M durch irgend ein X modificirt, und in so fern gleich N. Nun enthält der Hauptbegriff nur M und N. Um sich also vom Gegebenen so wenig als möglich zu entfernen, und keine fremdartigen Merkmale eines beliebig angenommenen X zuzulassen: setze man X gleich M; so hat man mehrere M, wie zuvor. Das Object im Ich werde durch irgend ein X modificirt, um dem Subjecte gleich seyn zu können. Aber was für ein X wird man in den Begriff des Ich ein- lassen dürfen, der nichts anderes kennt, als nur Object und Subject? Die geringste mögliche Abweichung von dem gegebenen Begriff besteht darin, ein Object durch ein anderes modificiren zu lassen. So [132] wird X selbst ein Object, ein Vorgestelltes; oder, wenn es nöthig seyn sollte, eine unbestimmte Menge von Vorgestellten und folglich von Vorstellungen wird sich gegenseitig dahin bringen, dafs, wer sie unter ihrer nun gewonnenen Modification sich denkt, dieser in ihnen das Vorstellende selbst erblickt.

Worin sich diese zweyte Form des Räsonnements von der ersten unterscheide, ist leicht zu sehen. Was bey der ersten den Beschlufs machte, wird hier zuerst angenommen. Dort fand sich am Ende, dafs auf dem Zusammen, auf der gegenseitigen Modification der M, die Auflösung be- ruhen müsse; hier wird die Modification gleich Anfangs gefordert. Dabey aber wird der Fehler begangen, den allgemeinen Begriff irgend eines modifi- cirenden X so einzuführen, als ob es erlaubt wäre, das Problem wie ein Räthsel zu behandeln, und frey umherzusinnen, was wohl für ein X taugen möchte um M zu modificiren? Dieser Fehler wird hintennach verbessert, indem X gleich M gesetzt wird. So erscheint die Auflösung als beruhend auf der kleinsten möglichen Veränderung des gegebenen Begriffs. Der- selbe war Anfangs: Identität von M und N. Er ist am Ende: Identität von N mit M modificirt durch M; nämlich mit einem M, modificirt durch ein anderes, das der Art nach auch ein M ist. Dabev kommen keine neuen Merkmale in den Begriff, aufser nur das der Vielheit der M, und diejenigen, welche in der Modification der M entspringen, oder wegen derselben angenommen werden müssen. So bleibt der Haupt- begriff in seinen nothwendigen Beziehungen eingeschlossen, die sich aus ihm selbst ergeben. Wäre X aber nicht = M, sondern ein Begriff mit fremden Bestimmungen: so käme das Fremde am Ende in der Auflösung als Abweichung vom Gegebenen zum Vorschein. Die Auf- lösung ergäbe nämlich: Identität von N mit M, so fern das letztere modi-

2 56 ^LL Psychologie als Wissenschaft.

ficirt würde, durch etwas solches, wovon im Gegebenen nichts zu finden wäre. Dergleichen möchte höchstens als Hypothese zu dulden seyn, [133] falls zuvor die Auflösung nach unserer Methode vergebens versucht wäre. Es möchte aber Jemand fragen, warum nicht X = N gesetzt werden könne, da doch diese Bestimmung nichts aufser dem gegebenen Begriffe liegendes herbeyführen würde.* Versucht man dieses, so lautet die Auf- lösung: N ist identisch mit M modificirt durch N. Da kommen zwev ver- schiedene N vor; eins, welches in der Modification des M erst entspringen, welches das modificirte M seyn soll; ein anderes, welches dieser Modifi- cation vorausgesetzt wird, da es sie selbst vollbringen soll. Hier wird offenbar N in verschiedenem Sinn genommen; und das modificirende N wäre in der That für den gegebenen Begriff, der nur von dem mit M identischen N Kunde gab, ein Fremdes.

Im Bevspiel: Das Subject werde gleich gesetzt dem Object modificirt durchs Subject. Diese Auflösung des Problems vom Ich möchte wohl Jemand unterstützen, indem er sie so auslegte: Wir erkennen uns selbst, indem das Denkende in uns die ihm vorschwebenden Objecte modificirt; sie, die bisher als Dinge erschienen, jetzt (durch einen Sprung) als blofse Bilder auffafst, und einsieht, dafs die Realität dieser Bilder nur die des Denkenden seyn könne. Da wäre also dem Denkenden gerade jene Spontaneität der Reflexion zugeschrieben, welche wir oben verwarfen; jener absolute Aufsprung, wodurch das Vorstellende in seiner Thätigkeit sich selbst ergreifen sollte. Aber der Begriff des Ich macht uns mit einem solchen selbstthätigen Subjecte, welches in seine eignen Vorstel[i34]lungen eingriffe, und sie dadurch in Spiegel seiner selbst aus eigner Macht ver- wandelte, — keinesweges bekannt. Der Begriff des Ich setzt nicht das Subject als ein Thätiges dem Selbstbewufstseyn voran: sondern er setzt es in das Selbstbewufstseyn hinein, und bindet es an die Identität mit dem Objecte. Wenn wir aber gleichwohl in der Auflösung ein Subject überhaupt vorauszusetzen scheinen: so geschieht dieses in dem Sinne, als wir bev jedem Object ein Subject voraussetzen, für jedes Vorgestellte ein Vorstellendes annehmen müssen. Diesen Begriff würden wir überschreiten, wenn wir dem nämlichen Subject, welchem irgend ein Bild vorschwebt, nun noch aufser dem Vorstellen dieses Bildes sprungweise das Modificiren desselben Bildes zuschreiben wollten, wodurch es bev Gelegenheit desselben seiner selbst gewahr werden sollte. Ein solches Gewahr-werden . ereignet sich zwar wirklich, es geschieht aber nicht sprungweise, sondern im natür- lichen Laufe objectiver Vorstellungen. Besäfse hingegen das Subject erstlich eine Thätigkeit allerley Fremdes vorzustellen, und zweytens eine andre Thätigkeit, sich selbst absolut über dem Vorstellen zu ertappen: so geriethe es in den allgemeinen Widerspruch des Dinges mit mehrern Merk- malen hinein, welchen wir in der letztem Hälfte des § 33 entwickelt haben.

* In meiner Abhandlung: theoriae de attractione elementorum principia meta- physica. hat sich in die Xote^ zum § 9, wo die zweyte Formel der Methode kurz an- gegeben ist, ein Fehler eingeschlichen, den ich hier berichtigen mufs. [s. Band III, S. 162 vorl. Ausgabe.] Es heifst nämlich dort: accedente autem rv> N ad M, pristina redit contradictio. Allein dies pafst nicht, denn die Meinung würde seyn, dafs M durch X modificirt werden, nicht dafs es ihm gleich seyn solle; und das blofse Modificiren würde keinen Widerspruch in sich schliefsen.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 267

Fragt man nun endlich noch, was für eine Gewifsheit unserer Methode denn eigen sey, dafs vermöge ihrer Bearbeitung die Widersprüche weichen müfsten? so ist die Antwort: eine solche Gewifsheit ist der Methode ganz und gar nicht eigen, und eben so wenig ihr jemals zugeschrieben worden. Die Gewifsheit der Auflösbarkeit müssen die Probleme selbst mit sich führen; und das ist allemal der Fall, wenn ein gegebener Begriff, durch welchen ein Reales gedacht werden soll, einen Widerspruch verräth. Dafs im Begriff des Ich keine Widersprüche stecken bleiben dürfen, fordert das Selbstbewufstseyn ; und es verbürgt den Erfolg der Untersu[i35]chung noch vor dem Beginn. Die Methode aber bezeichnet nun dem Denker die ersten Schritte, welche er, durch das Problem selbst getrieben, wird nehmen müssen; und dadurch erleichtert sie es, gleich Anfangs die rechte Bahn zu finden. Gesetzt jedoch, es käme ein Fall vor, wo die Methode sich aus irgend einem Grunde unbrauchbar zeigte bey einem Widerspruch, dessen Auflösbarkeit nicht bezweifelt werden könnte : was würde daraus folgen? Etwa dafs die Methode falsch sey? Keinesweges! Sondern dieses, dafs die ersten Schritte im Denken, welche man auf allen Fall versuchen mafste, nicht hinreichten; dafs man vielmehr seinen Weg werde weiter fortsetzen müssen. Es könnte seyn (um die vorige zweyte Formel wieder zu gebrauchen), dafs M in der That durch ein X, welches nicht gleich M wäre, modificirt werden müfste, um der Identität mit N zu entsprechen. Allein in diesem Falle wäre der gegebene Begriff kein Princip (und überdies in hohem Grade mangelhaft gegeben oder aufgefafst); weil er die fremden Bestimmungen des einzuführenden X nicht angeben, daher auch den Gang des Nachdenkens nicht leiten könnte. Der beste Rath bestünde hier darin, eine solche Untersuchung, welche keinen bestimmten Weg finden könnte, so lange bey Seite zu setzen, bis aus andern erlangten Kenntnissen sich Hülfsbestimmungen darböten. Gewifs ist es der Fall, dafs man oftmals Probleme zu früh ergreift, und sich Gegenstände des Nachdenkens wählt, welche die nothwendigen Eigen- schaften der Principien nicht besitzen.

§ 35-

Um die Vergleichung der verschiedenen Probleme, und ihrer Be- handlung, zwar nicht Schritt für Schritt zu verfolgen (welches nun dem Leser kann überlassen werden), aber doch zu einer Uebersicht zu bringen, erinnern wir an den berühmten Satz des zureichenden Grundes; welcher oft als Axiom aufgestellt, zuweilen auch mit Beweisen versehen worden ist, die aber fehlerhaft waren. Leibniz trieb den Ge- brauch dieses Satzes [136] so weit, dafs er fragte: warum vielmehr Etwas sey als Nichts?* Wir wollen uns beschränken, vom zureichenden Grunde der Veränderungen zu reden; und alsdann wird sich die Nothwendig- keit, einen solchen Grund anzunehmen, und damit der gesuchte Beweis jenes Satzes, in dem Widerspruche finden, der nach ^ ^ in dem Begriffe eines veränderlichen Dinges enthalten ist.

* Leibnit. op. ed. Dutens. Tom. II. pag. 35. §

2 68 XL Psychologie als Wissenschaft.

Wenn eine Sache, die man als eine solche und keine andre zu kennen glaubte, sich vor unsern Augen verändert: so bleibt schon der gemeine Verstand nicht bey dem Ungedanken stehn, dieses Neue und jenes Alte sey Eins und dasselbe; sondern er nimmt an, ein Zusammen der Sache mit irgend einer andern Sache sey entweder eingetreten oder aufgehoben. Das flüssige Wasser in Eis verwandelt, habe Wärme verloren; dasselbe als Dampf verflüchtigt, habe Wärme in sich genommen. So wird die Schuld des anscheinenden Widerspruchs auf etwas Fremdes geschoben. Dieses Fremde wird gedacht als eingreifend, als sich verbindend mit dem, was die Veränderung leidet; es wird also gedacht, wegen einer Noth- wendigkeit, die im Denken entsteht; es wird nicht angeschaut, denn die Erfahrung begnügt sich vielmehr, uns in der sinnlichen Erscheinung das widersprechende veränderliche Ding vor die Augen zu stellen. Uns selbst bleibt es überlassen, getrieben vom Bedürfnifs des Denkens unter den be- gleitenden Umständen der Erscheinung dasjenige aufzusuchen, auf welches wir die Schuld des Widerspruchs abladen, welches wir als das Hinzu- kommende oder Entweichende ansehen können.

Eine völlig fertige Kategorie der Ursache aber ist hier eben so wenig zu finden, als vorhin eine Kategorie der Substanz. Vielmehr wird das Zusammen der mehrern, in so fern daraus eine neue Erscheinung an einem sonst wohlbekannten Gegenstande soll verstanden werden, uns sogleich zum Räthsel, sobad wir uns fra[i37]gen, wie denn die Wirkung in dem Einen habe erfolgen können, vermöge des andern? Wobey nur so viel klar ist, dafs dazu mehr gehöre, als blofses Nebeneinander seyn, dafs das Zusammenkommen der Ursache und des leidenden Gegenstandes die blofs räumliche oder zeitliche Nähe überschreiten, und etwas dabey vorgehn müsse, welches vorläufig mit den Worten Eingreifen, Ver- wandtseyn und sich gegenseitig binden, bezeichnet werden könne.

Hier nun mufs der gemeine Verstand, wie er unter andern in der, so eben gebrauchten metaphorischen Sprache der Chemiker sich äufsert, in Schutz genommen werden gegen die unrichtigen Ansichten der KAXT'schen Schule, welche aus der Verlegenheit entstanden, dem Causalbegriffe, der allerdings nicht im Gegebenen unmittelbar gefundn, sondern in dasselbe hineingetragen wird, seinen Ursprung nachzuweisen. Kant lehnte in dieser Verlegenheit die Causalität an die Zeit, mit der sie gerade gar nichts gemein hat! Es ist längst bemerkt, dafs zwischen Ursache und Wirkung sich kein Vorher und Nachher einschieben darf, als ob die Wirkung noch dürfte auf sich warten lassen, nachdem sie schon vollständig begründet ist. Die Priorität der Ursache liegt blofs im Begriffe; man mufs das Zu- sammen der Mehrern voraussetzen, damit die neue Erscheinung nicht die Identität dessen verletze, an dem sie erscheint. Ueber der Be- trachtung der Zeit- Verhältnisse geht bey Kant das wesentliche Merkmal des Eingreifens ganz verloren; und je schlechter nun eben in diesem Puncte der allgemein vorhandene Begriff der Ursache aufgefafst ist, um desto weniger hätte ein so misverstandener, seiner Bedeutung und seinem Ursprünge entfremdeter Gedanke, unter dem Namen einer Kategorie für eine Form des Denkens ausgegeben werden sollen.

Statt einer vesten Form des Denkens zeigen sich in der Annahme

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 260,

einer Ursache zu der Veränderung vielmehr die ersten nothwendigen Schritte der Untersuchung; [138] eben dieselben, welche sich nach der Methode der Beziehungen ergeben müssen, und sich folglich aus ihr erläutern lassen. Das in der Veränderung entstandene Neue wird als eine Modification des Schon- Vorhandenen mit Hülfe eines Dazutretenden angesehn. Zwey Stoffe (die mehrern M) zusammengenommen sollen das Neue (N) ergeben. Hier ist die Untersuchung über die Möglichkeit der Veränderung gerade so weit gediehen, als die Untersuchung über die Möglichkeit des Ich an der Stelle, wo mehrere Objecte für dasselbe Vor- stellende angenommen werden. Aber so wenig man nun hieraus das Ich begreift, so gewifs vielmehr noch eine weitläuftige Untersuchung bevorsteht, zu der man nur den ersten Anlauf genommen hat: eben so sicher ist der Begriff der Ursache auch nur der Anfang und die Eröffnung einer weit- aussehenden Nachforschung, welche die Metaphysik vollenden mufs, während der gemeine Verstand schon bey den ersten Schritten ermattet. Eine wichtige Bemerkung über die ersten Schritte mufs noch hinzu- gefügt werden, wodurch sich unsre Vergleichung der verschiedenen Pro- bleme am Ziele finden wird. Wir haben oben im § 33 gesehn, dafs nicht blofs die successiven Merkmale des Veränderlichen, sondern auch die gleichzeitigen, überhaupt die mehrern Bestimmungen Eines und desselben Dinges, einen Widerspruch erzeugen. Dieser seltener bemerkte Widerspruch zieht gleichwohl eine ganz ähnliche Untersuchung nach sich, als jener; und es findet sich, dafs kein einziges, in der gemeinen Erkennt- nifs vorkommendes Merkmal der Dinge, als wahre Eigenschaft des Wesens angesehen werden könne, sondern dafs jedes Element der Erscheinung als Andeutung einer Modification eines Wesens durch ein anderes betrachtet werden müsse. Dieses giebt der Untersuchung, auf welche der Causalbegriff führt, eine aufserordentliche Erweiterung; und es wird Ein und dasselbe Geschafft, den Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen, [139] und den zwischen Accidenzen und Substanzen zu erklären.

Der äufserste Punct, bis zu welchem die Vergleichung, die uns be- schäfftigt, kann getrieben werden, und von wo schon die fernere Divergenz anhebt, zeigt sich bey der Auflösung des Problems vom Ich, an jener Stelle, wo die verschiedenen Objecte, auf deren Zusammen das Selbst- bewufstseyn beruhen soll, als Entgegengesetzte, und deren Vorstellungen als einander aufhebend nachgewiesen werden. Dem entspricht bey der Untersuchung über Substanz und Causalität der Gegensatz unter den Qualitäten der Wesen, auf deren Zusammen theils die successiven, theils die simultanen Merkmale der sinnlichen Dinge zurückgeführt werden.* Nämlich gerade so, wie eine blofse Summe von Objecten die Unter- suchung über das Ich nicht fördern würde, eben so vermag eine blofse Summe von Wesen nichts zur Erklärung der Veränderungen, noch über- .haupt der Eigenschaften sinnlicher Dinge. Die Wesen, wie die Vor- stellungen der Objecte, müssen einander auf irgend eine näher zu be- stimmende Weise afficiren.

Hauptpuncte der Metaphysik § 5. [s. Band II, 194 196 vorl. Ausgabe. J

2~jO "SIL. Psychologie als Wissenschaft.

Aber in der nähern Bestimmung tritt nun auch sogleich der Unter- schied hervor, dafs bey den Vorstellungen ein wirkliches Weichen der einen vor der andern denkbar und zur Erklärung des Ich nothwendig ist. Hingegen die Wesen würden sich in vollkommne Undinge verwandeln, wenn sie, entweder, in ihrer Qualität eine Abänderung erlitten, und dennoch, nachdem sie schon andere geworden wären, dieselben blieben wie zuvor, oder, in ihrem Seyn sich vermindern liefsen, während das Seyn gar keine Grade zuläfst, die sich vermehren oder vermindern könnten.* Daher kann der Gegensatz [140] der Wesen höchstens die Folge haben, dafs sie demselben innerlich widerstehen, und sich selbst erhalten; wobey die Art des Widerstandes sich nach der Art der Anfechtung, oder Störung, richtet, und deshalb eben so mannigfaltig ist, als diese nur immer seyn mag. Dafs aber der Gegensatz der Wesen (der keinesweges ein reales Prädicat derselben ist) die bezeichnete Folge oftmals (obschon bey weitem nicht immer) wirklich habe, dieses und nichts anderes macht den Begriff des Zusammen der Wesen aus; welches, wo es vorkommt, nicht aus den Wesen, denen es zufällig ist, sondern aus den Erscheinungen geschlossen wird, zu deren Erklärung es mufs vorausgesetzt werden.

[141] Und so wären wir nun wiederum bey denselben Puncten angelangt, auf die wir schon im Anfange dieses Capitels durch die aufgestellte Be- hauptung geführt wurden, dafs die Vorstellungen nichts anderes als Selbst- erhaltungen der Seele seyen. Weitere Erörterungen des Allgemein- metaphysischen, worauf dieser Satz sich stützt, sind hier nicht am rechten Platze, und können demjenigen kaum Bedürfhifs seyn, welcher mit dem schon Gesagten die oft angeführten Hauptpuncte der Metaphysik, das Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, im vierten Abschnitte, und allenfalls noch das erste Capitel der oben genannten Abhandlung de aitra- ctione elementorum, gehörig vergleichen will.

* Die Elanguescenz der Substanz, womit Kant (Krit. d. r. V. pag. 414) gegen Mendelssohn auftritt, ist nichts als ein Beweis mehr, wie gänzlich der berühmte Kritiker seinen metaphysischen Scharfsinn in die Frage nach dem Ursprünge der Form unserer Erkenntnifs versenkt, wie wenig er dagegen die eigen thümliche Bedeutung mancher Hauptbegriffe, und besonders des Begriffs vom Seyn, erwogen hatte. (Ein paar andre Beyspiele haben wir oben an den Begriffen von Substanz und Ursache gehabt.) Dem Seyenden eine reale Mehrheit von Graden beyzulegen, welche wirklich ab- und zunehmen könnten ; oder ihm eine reale Mehrheit von Attributen beylegen, die sich (wie in Spixoza's Gott) unabhängig von einander entwickeln könnten; oder ihm eine Ausdehnung durch wirklich verschiedene Theile des Raums, oder eine reale Dauer in der Zeit, oder endlich gar eine Veränderlichkeit in der Zeit zuschreiben: alles dies sind gleich arge, klare Ungereimtheiten ; denn sie setzen immer Ein Seyendes als ein Mehreres, und das Mehrere wiederum durch wer weifs welches Band zu einer unbekannten Einheil ver- bunden; von welcher Einheit gleichwohl so viel bekannt ist, dafs eben sie die wahre Qualität jenes Seyenden aasmachen würde (indem von dem Mehrern nur als von Einem gesagt wird, dafs es sey) ; womit denn das Geständnifs abgelegt wäre, dafs die vorgeb- liche Mehrheit, in ihrem Gegensatze gegen die Einheit, nicht real, nicht die wahre Qualität des Wesens sey, sondern aufs Höchste (falls sie sich dazu schickt) für eine zu- fällige Ansicht des "Wesens gelten könne. Wie dergleichen zufällige Ansichten als 11s mittel unseres Denkens gebraucht werden müssen, wenn Wir von den Störungen und Selbsterhaltungen der Wesen eine Theorie aufstellen wollen (so wie der Astronom seine Logarithmen und Integralformeln beym Rechnen braucht, ohne der- gleichen für reale Prädicate der Gestirne zu halten), dies ist in meinen Hauptpuncten der Metaphysik a. a. O. angegeben worden.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 7 I

Anmerkung. Ueber die Kunst des metaphysischen Denkens. Die Behandlung eines jeden metaphysischen Problems hat Anfang, Mittel und Ende; man mufs den Knoten so, wie unsre geistige Natur, ihren Verhältnissen gemäfs, ihn schürzt, erkennen; man mufs alsdann die verschiedenen Operationen, welche zusammen die Auflösung ausmachen, richtig durchführen; und endlich die gefundenen Resultate genau vesthalten

und richtig anwenden.

1. Um die Probleme richtig aufzufassen, mufs man wissen, dafs sie allemal Begriffe sind, und weder etwas Höheres noch etwas Niedrigeres. Nicht Ideen, in welchen ein ästhetisches Urtheil verborgen liegen würde, wodurch sich der Denker in einen bestochenen Richter verwandelt; (so verdarb sich Fichte das Ich, indem er die von ihm hoch verehrte Frey- heit darin zu sehen glaubte). Nicht Wahrnehmungen, denn über sie hat das Denken keine Gewalt, sie müssen bleiben wie sie sind. Von den Begriffen ist nun immer zuerst eine logische Analyse nöthig, und in Folge derselben eine gute Namen-Erklärung, wie jene des Ich, es sey Identität des Objects und Subjects, oder die alte der Substanz, sie sey das [142] Subject, was nie Prädicat werden könne. Hier ist gegen die falsche Genialität derer zu warnen, die sich über logische Pünctlichkeiten erhaben wähnen. Dann aber mufs die Namen-Erklärung verglichen werden mit denjenigen Wahrnehmungen, durch welche der Begriff gegeben ist. So haben wir oben lange gezweifelt, ob wir die individuelle Persönlichkeit in den Begriff des Ich aufnehmen sollten oder nicht; und endlich ge- funden, die Wahrnehmung selbst verbiete uns dies, weil im Selbstbewufst- seyn das Ich als ein Beharrliches betrachtet wird, die Individualität aber sich vom zufällig Wechselnden nicht rein abscheiden läfst. So mufs in Ansehung der Substanz gezweifelt werden, ob sie als Eins gegeben sey ? Dieses Eine wird sich unter dem Vorrath des Gegebenen nicht unmittelbar finden. Oder ob man die vielen Merkmale blofs als Vieles betrachten, deren Einheit aber aufgeben wolle? Dagegen wird sich die Wahrnehmung abermals sträuben; und es wird dabey bleiben, dafs man genöthigt sey, den vielen gegebenen Merkmalen ein unbekanntes Eins zum Grunde zu legen. Ist man nun so weit gekommen, durch Vergleichung mit der Wahrnehmung den Begriff so zu bestimmen, wie er als durchs Gegebene uns aufgenöthigt, das heifst, als ein gültiger Begriff zu denken ist: als- dann folgt abermals eine Analyse, die ihn als einen widersprechenden bezeichnen wird, wenn er ein metaphysisches Problem ist, denn träfe dieses nicht ein, so könnte er bleiben, wie er ist, und die Metaphysik brauchte keine Kunst an ihn zu verschwenden; der blofsen logischen Ueberlegung würde es anheim fallen, ihm in dem Systeme der übrigen Begriffe seinen Platz anzuweisen.

2. War es schon schwer, in sich selbst das Geständnifs zur Reife zu bringen, dafs ein durchs Gegebene unvermeidlich aufgedrungener Begriff widersprechend sey: so wird es nun noch schwerer, in der Klemmt zwischen den beyden widersprechenden Gliedern des Begriffs so lange an- zudauern, ja, sich von ihnen so lange hin- und [143] hertreiben zu lassen,

,j2 XL Psychologie als Wissenschaft.

so vielen anscheinend unnützen Versuchen des Denkens sich hinzugeben, als die regelmäßige Auflösung erfordert. Manche glauben nicht zu denken, sondern zu phantasiren, wenn sie ihre Gedanken nicht gleich in gerader Linie fortführen können ; und hier begegnet selbst Männern dasselbe, was man sonst an Jünglingen bemerkt: sie können sich zuweilen schlechter- dings nicht enthalten, schnell abzuurtheilen ; sie fühlen nicht die Not- wendigkeit, sich erst auf Untersuchung einzulassen. Wie man von uner- fahrnen jungen Königen erzählt, die den Richterstuhl bestiegen hatten, und nun erst von einer Parthey, dann von der andern sich überreden liefsen, unfähig, sich das: audiatur et altera pars, einzuprägen; so geht es auch denen, welche in der Betrachtung eines metaphysischen Problems nicht geübt sind. Die Einheit des Ich, die Einheit der Substanz, ist ihrer Meinung nach so vollkommen klar, dafs dagegen gar kein Einspruch statt finde; aber die Vielheit im Ich (Object und Subject) ist ihnen eben so klar; desgleichen die Vielheit der Attribute und Accidenzen. Daher lassen sie unbedenklich ein ganzes Universum aus dem Ich oder aus der Sub- stanz hervorgehn; sind sie eben mit der Vielheit beschäfftigt, so achten sie nicht auf die Einheit; diese mufs sich nun gefallen lassen, ein inten- sives Vieles zu seyn, so voll und so grofs als eben nöthig ist, damit sich eine Welt daraus entwickele; sind sie hingegen mit der Einheit beschäfftigt, so kostet es sie nichts, dem Vielen zu gebieten, dafs es nur dem Scheine nach für ein Vieles gelten solle, der Wahrheit nach aber Eins seyn müsse. Woher der Schein in der Wahrheit? Diese Frage drückt sie so wenig, dafs sie vielmehr den Wirbel ihrer Gedanken, wie ein wirkliches Hervorgehn aus der Einheit, und Rückkehren in dieselbe beschreiben. Gerade umgekehrt mufs der wahre Metaphysiker nicht blofs die wider- sprechenden Glieder seines Problems, sondern auch den doppelten An- spruch der Denkbarkeit und der Gültigkeit, streng vesthalten, keinem etwas vergeben, keinem [144] mehr einräumen als ihm zukommt. Er mufs die nothwendige Bewegung seines Denkens nicht als einen vorübergehenden Wechsel von Gedanken selber durchlaufen, sondern jeden Schritt in dieser nothwendigen Bewegung als ein Vestes und Unveränderliches sich ein- prägen; gleichsam wie eine Reihe von historischen Gemälden, deren jedes einen Moment des Handelns fixirt, so dafs alle zusammen auch die sämmtlichen Puncte des Uebergangs, woraus die ganze Begebenheit besteht, zur beständigen Anschauung aufbewahren. Dieses Stehen mitten im noth- wendigen Wechsel ist allerdings schwer, weil alle Puncte des Wechsels von der Art sind, dafs man auf ihnen nicht stehen bleiben kann. Aber gerade dieses: Nicht stehen bleiben können, hat der Metaphysiker ein- für allemal darzustellen, so dafs er den Procefs des Denkens, wodurch ihm seine Resultate gewifs wurden, in jedem Augenblick erneuern könne. Wem der Kopf leicht schwindelt, der kann die metaphysischen Steige nicht gehn; wer, um den Schwindel zu vermeiden, mit verschlossenen Augen heiübergehn will, der findet die Steige nicht, und nur in seiner Einbildung kommt er hinüber.

3. Ist endlich ein Punct erreicht, wo man stehen bleiben kann, so folgt daraus nicht, dafs man hier lange stehen und ausruhen müsse. Die Auflösung eines metaphysischen Problems zeigt unmittelbar noch nichts,

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 272 _____^ _ _^ * *■ 1 J

als nur eine allgemeine Bedingung der Denkbarkeit des aufgestellten- Be- griffes; wer mehr verlangt, der mufs weiter fort arbeiten. Er mufs nicht blofs seine Kräfte, sondern auch seine Ueberlegung sammeln für eine, vielleicht völlig veränderte, Art des Fortschreitens, die ganz neue Vorübungen erfordern kann. Im Allgemeinen ergeben sich aus metaphysischen Auf- lösungen sehr bald mathematische Probleme; denn alle Erscheinungen sind Quanta; alles, was als Wirkung von Kräften erscheint, hat Gesetze, die an ein Mehr und Weniger in diesen Kräften gebunden sind; daher die metaphysischen Prineipien unmittelbar gar nichts bestimmtes in der Erscheinungswelt [145] erklären können, sondern allemal auf die hinzu- tretenden Gröfsenbestimmungen mufs Rücksicht genommen werden. Dies wird sich nun im Nachfolgenden gar bald zeigen.

Am schwersten übrigens ist die negative Bedingung des metaphysischen Denkens zu erfüllen; das Verhüten fremdartiger Einmischungen, je schwerer die Probleme, desto mehr mufs man sich bemühen sie gesondert zu halten, um sie einzeln und deutlich zu betrachten. Nirgends mufs mehr Meta- physik angehäuft werden, als der Gegenstand fordert. Ans den Grund- lehren der praktischen Philosophie mufs sie ganz wegbleiben. Und ob- gleich zum vollständigen Aufschlufs über das Ich, auch die Untersuchung über den Raum, und seine Analoga, nöthig ist: so würde doch, wenn ich den Raum, oder gar die Materie und den Leib, schon hier hätte ein- mischen wollen, die Finsternifs undurchdringlich geworden seyn.

Viertes Capitel.

Vorbereitung der mathematisch-psychologischen

Untersuchungen.

§ 36.

Es sind die Betrachtungen des ^29, deren Faden wir wieder auf- nehmen müssen. Dort fand sich der Satz, dafs die mannigfaltigen Vor- stellungen eines Subjects, welches zur Ichheit gelangen soll, unter einander entgegengesetzt seyn müssen; und dieses zwar in dem Sinne, dafs ein Vorstellen das andere vermindere, oder gar aufhebe. Was das heifsen solle, ist jetzt noch näher zu überlegen.

Man denke sich zuvörderst ein Vorstellendes, noch ohne Selbst- bewufstseyn ; auch, um nichts willkührlich anzunehmen und voreilig voraus- zusetzen, noch ohne alle [146] formalen Bestimmungen durch Begriffe, oder durch Raum und Zeit: lediglich hingegeben der Materie der Empfin- dung, wie den Tönen, oder den Auffassungen des Geschmacks, Geruchs, Gefühls. (Der Gesichtssinn würde kein ganz passendes Beyspiel liefern, oder wenigstens wäre ein solches einem Misverständnifs ausgesetzt, weil man bey den Farben immer sogleich irgend etwas von Gestalt und Gröfse hinzudenkt.) Die Forderung ist nun, dafs dies unser Vorstellendes über- gehe zum Vorstellen seiner selbst; aber, wie wir gesehen haben, nicht durch einen absoluten Act, sondern einzig und allein bestimmt durch die Hekbart's Werke. V. 18

_>- i XI. Psychologie als Wissenschaft.

Beschaffenheit derjenigen Vorstellungen, welche wir bey ihm schon voraus- gesetzt haben.

Da also die Vorstellung Ich nicht hinzukommen, sondern werden soll aus dem was schon da ist, so kann dieses Vorhandene nicht ein solches Vorgestelltes bleiben, dergleichen es jetzt ist, sondern es mufs auf allen Fall ein Anderes werden.

Allein hier würde es uns nichts helfen, wenn eine objective Be- stimmung überginge in eine andere. Man setze, die Vorstellung Roth gehe über in die Vorstellung blau, oder die eines hohen Tons verwandele sich in die eines tiefen Tons, so ist das Blaue und der tiefe Ton für die Vorstellung Ich (welche entstehen soll) eben so fremdartig, als die Vor- stellungen des Rothen und des höheren Tones. Mit einer solchen Ab- änderung wäre also nichts gewonnen.

Oder wollte man sagen, die objeetiven Vorstellungen müfsten ganz aus ihrer Art herausarehn, um statt eines Nicht-Ich vielmehr das Ich dar- zubieten : so wäre dieses, auch abgesehen von der Frage nach der Möglich- keit, dem Probleme gar nicht angemessen. Denn wir haben gesehen, dafs die nackte Ichheit ein Widersprach ist; und jene Forderung hiefse dem- nach nichts anderes als, die Vorstellungen sollten aus der Art des Vor- stellbaren hinübergehen in die Art des Undenkbaren und Ungereimten.

[147] Vielmehr, da die Ichheit (nach § 28) sich nothwendig bezieht auf eine Mannigfaltigkeit solcher Objecte, die Nicht-Ich sind: so müssen jene objeetiven Vorstellungen in ihrer eignen Art bleiben ; weil sonst gar der Beziehungspunct für das Ich wieder verloren ginge.

Wenn wir ihnen nun ihre Qualität lassen: so kann ihre Veränderung zunächst nur die Quantität des Vorstellens betreffen.

Allein auch hier ist ein Misverständnifs zu verhüten; nämlich als ob es zuviel wäre an der Menge oder an dem Grade des Vorstellens; da doch nichts Zuviel seyn kann in demjenigen, was wir eben als Bedingung der Ichheit angenommen haben. Es mufs also in einem gewissen Sinne auch die Quantität des Vorstellens die nämliche bleiben.

In einem anderen Sinne aber soll sie gleichwohl vermindert werden : denn so befangen in fremdem Objeetiven, wie wir unser Subject uns bis jetzt denken, darf es offenbar nicht bleiben, wofern es zu sich selbst kommen soll.

Hier kommt es darauf an, einen neuen Begriff zu erzeugen, der allen Rücksichten Genüge leiste.

Wenn wir sagen, das Objective, was es auch sey, tauge nicht einzu- gehn in das Selbstbewufstseyn, indem wir sonst uns selbst als ein Anderes und Fremdes vorstellen würden: so richten wir da unsre Aufmerksamkeit auf die Objecte, auf die Bilder, welche dem Vorstellenden vorschweben: nicht aber auf das Vorstellen, welches wir als eine Thätigkeit dem Sub- jeete selber beylegen. Jenen ersten Punct also trifft unsre Forderung, dafs eine Veränderung in der Quantität des Vorgestellten sich ereignen soll; und wenn wir dabey die Quantität des Vorstellens, subjeeliv ge- nommen, unverändert vesthalten können, so sind die verschiedenen Rück- sichten vereinigt, ohne dafs wir hiebe}' auf einen wahren Widerspruch ge- stofsen wären.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 7 S

Also die Thätigkeit des Subjects im Vorstellen, soll unvermindert beharren, aber ihr Effect, das vorgestellte [148] Bild, soll geschwächt oder gar aufgehoben werden; und hierin soll dasjenige bestehen, was mehrere Vorstellungen vermöge ihres Gegensatzes untereinander bewirken.

Aber eine Thätigkeit, welche fortdauert, während ihr Effect, den sie vermöge ihrer Eigenthümlichkeit hervorbringen würde, durch etwas Fremdes zurückgehalten wird, eine solche kann man nur mit dem Namen eines Strebens bezeichnen.

Aus Vorstellungen wird demnach ein Streben vorzustellen, wenn entgegengesetzte Vorstellungen in einem und demselben Subject, das zum Selbstbewufstseyn gelangen soll, vereinigt sind.

§ 37- x

Den eben gefundenen Gedanken können wir sogleich mit der Er- fahrung vergleichen. Diese lehrt, dafs unsre Vorstellungen sich verdunkeln, schwinden, wiederkehren. Ueber den Zustand, in welchem sie, so fern sie aus dem Bewufstseyn verschwunden sind, sich befinden mögen, kann keine Erfahrung belehren, denn Erfahrung haben wir nur, so fern wir wirklich vorstellen; und die eignen Vorstellungen in ihrem Schwinden be- obachten zu wollen, wäre gerade so viel, als sein eignes Einschlafen l wahrnehmen zu wollen. Wohin die Erfahrung nicht reicht, das läfst sich gleichwohl sehr häufig durch Speculation erreichen: und wir haben so eben gesehn, dafs unsre, aus dem Bewufstseyn zurückweichenden Vorstellungen, sich in ein Streben vorzustellen verwandeln; und dafs sie als ein solches Streben unvermindert fortdauern; daher auch ihr Vorgestelltes wiederkehren mufs, sobald die Hindernisse, von denen sie gedrängt wurden, über- wunden sind.

So wenig nun die Erfahrung diesen Aufschlufs unmittelbar geben lonnte, so brauchbar ist derselbe zur Erklärung der Phänomene. Auf zwey der allerwichtigsten psychologischen Gegenstände, das Gedächtnifs und den Willen, fällt hier ein unerwartetes Licht. Dafs bevde sich auf das Vorstellen beziehen, ist schon im § 12 vorläufig bemerkt worden. Dafs sie allein aus dem Vorstel[i4g]len abgeleitet werden müssen, und ganz und gar nicht als besondre Seelenkräfte angesehen werden dürfen, folgt schon aus der allgemein-metaphysischen, in der letztern Hälfte des §33 angedeuteten, Untersuchung, aus welcher hervorgeht, dafs überhaupt Ein Seyendes keine ursprüngliche Mehrheit von Bestimmungen, ein Vorstellendes keine ursprüngliche Mehrheit von Gemüthskräften, ent- halten könne. Wie aber das Vorstellen in ein Wollen übergehe, kann jetzt nicht mehr zweifelhaft seyn, da wir gesehen haben, dafs Vorstellungen. vermöge gegenseitiger Hemmung, sich in ein Streben vorzustellen ver- wandeln. Modifikationen dieses Strebens müssen alle diejenigen Phänomene seyn, welche unter dem Namen des Willens, im weitesten Sinne des Worts, begriffen werden. Denn alles Wollen trachtet nur dahin, sein Vorgestelltes entweder vollkommen ins Bewufstseyn zu bringen, oder vollkommen hinaus- zuschaffen; (das letztre ist der Fall bevm Verabscheuen.) Mehr aber als

1 sein Einschlafen SW.

18*

■yjft XI. Psychologie als Wissenschaft.

eine Vorstellung ihres Gegenstandes kann keine Begierde erreichen; denn keine Dinge, sondern nur Vorstellungen, haben Platz in einem Vor- stellenden: auch wird jede Begierde befriedigt, nicht durch die Realität, s< »ndern durch neues Gegeben- Werden der Vorstellung ihres Gegenstandes, welches aber freylich in der Regel nur durch sinnliche Gegenwart desselben vollständig erreicht werden kann. Hier bestätigt sich nun der oben ange- führte Gedanke von Leibxiz: die Seele begehre, so fern sie von einer Vorstellung zur andern strebe. (Man vergleiche § 18.) Genauer aber be- steht jedes Vollen in dem Streben gewisser Vorstellungen; und zwar das Bekehren in dem Streben eben derselben Vorstellungen, durch welche früherhin der begehrte Gegenstand ist aufgefafst worden (denn diese näm- lichen Vorstellungen dauern fort im gehemmten Zustande, und wirken in der Seele unaufhörlich gleich elastischen Stahlfedern), hingegen das Ver- abscheuen besteht im Streben anderer Vorstellungen, welche der des Ver- abscheueten entgegengesetzt sind. Dun[i5o]kel bleibt Jbriebey für jetzt noch, wie es zugehe, dafs nicht alle gehemmten Vorstellungen sich unauf- hörlich als Begierden, und, in Beziehung auf dieselben, ihre entgegen- gesetzten sich als Verabscheuungen äufsern? Diese Frage aber kann nur dienen uns zu erinnern, dafs der Begriff des Strebens vorzustellen, ein viel weiterer ist, als der des Begehrens und Verabscheuens, und dafs zu jenem noch viele nähere, bis jetzt unbekannte, Bestimmungen hinzukommen müssen, uro diesen zu ergeben. So wissen wir auch noch nichts von den Gesetzen, nach welchen Vorstellungen, erst bis zum Vergessen gehemmt, dann als ein Eigenthum des Gedächtnisses wieder hervorgehoben werden. Die Aufschlüsse hierüber können erst durch Vergleichung der Erfahrung mit den Lehrsätzen der Mechanik des Geistes herbeigeführt werden. Allein schon die Kenntnifs des genus, noch ohne die genauere Einsicht in das Eigenthümliche der species, hilft eine Menge von Irrthümern zu entfernen, denen man in Hinsicht des Gedächtnisses und des Willens sich gemeinhin zu ergeben pflegt.

§ 38.

Während nun die eben erwähnten Gegenstände eine unerwartete Aufhellung empfangen haben: bleibt dagegen das Hauptproblem noch sehr im Dunkeln liegen, und wird auch noch lange nicht aus demselben hervor- gehoben werden können. Was das Streben vorzustellen, für die Ichheit leiste? das ist bis jetzt nur noch in dem höchst allgemeinen Räsonnement zu erkennen, dafs die fremden Vorstellungen bleiben, ihre Objecte aber weichen müssen, wenn das Ich, das sich auf sie bezieht, und dennoch ihnen allen entgegengesetzt ist, hervortreten soll. Doch um wahrzunehmen, dafs wir der Auflösung um etwas näher gerückt sind, wolle man zurückblicken in den § 28. Dort kam der Satz vor: „Erst dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört etwas an ihnen dem Xi erstellenden; nämlich ihre Zusammenfassung in Ein Vorstellen; und was aus dieser wei[i5i]ter entspringt." Jetzt ist uns gestattet, dieses, was aus der Zusammenfassung in Ein Vorstellen entspringt, näher anzugeben, nämlich in so fem es die Grundlage der Ichheit bildet. Die Objecte «Irr Vorstellungen sind es nicht, wohl aber die Regsamkeit des Vor-

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 77

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stellens selbst in seiner Hemmung, wovon sieh einsehn läfst, dafs es das- jenige ausmachen werde, worin wir Uns Selbst erkennen. Eben das, was zum Gedächtnifs und zum Willen gerechnet werden kann, dieses mag auch Uns bezeichnen; es mag helfen, jenes bisher vergeblich gesuchte Ob- ject im Begriff des Ich 27) allmählig aufzufinden.

Gleichwohl, wie weit sind wir noch vom Ziele! Wir begreifen noch nicht einmal so viel, wie denn ein Vorstellen, vollends ein Streben vorzu- stellen; zum Gegenstande einer höhern Vorstellung werden könne. Und dieses wäre doch die erste Voraussetzung für jedes Finden seiner selbst. Absolute Acte des Aufspringens zur Reflexion auf sich selbst, haben wir anzunehmen uns vielfältig untersagt; wollen wir aber dergleichen Wunder entbehren, und den schwierigen Weg einer ächten Natur-Erklärung ein- schlagen: so müssen wir uns schon gefallen lassen, das Gesuchte eine Zeitlang aus den Augen zu setzen, um andere Spuren desjenigen, was seiner Natur nach leichter und früher erkannt werden kann, zu verfolgen, und auf solche Weise uns erst mit den nöthigen Hülfs-Kenntnissen für die unternommene Nachforschung zu versorgen.

Demnach sey nun auf langehin die Frage nach dem Ich verab- schiedet; der Begriff aber von dem Streben vorzustellen, dieser Haupt- gewinn unserer bisherigen vom Begriff des Ich ausgegangenen Nach- forschungen, wird uns einen reichlichen, ja unerschöpflichen Stoff zu fernem Untersuchungen darbieten, welche selbst wiederum (im § 132) zu der Be- trachtung des Selbstbewufstseyns zurückführen werden.

§ 39-

Dafs unter mehrern, einander entgegengesetzten Vor[i52]stellungen, die Hemmung gegenseitig seyn, folglich die Objecte sämmtlich in gewissem Grade verdunkelt, und die Thätigkeiten des Vorstellens in eben dem Grade in Strebungen verwandelt werden müssen : dies leuchtet so unmittelbar ein, dafs der Beweis überflüssig seyn würde. Zu dem weifs die innere Wahrnehmung nichts von solchen Vorstellungen, die gar keiner Verdunkelung unterworfen wären; vielmehr ist unleugbar, dafs alle uns be- kannten Empfindungen, Gedanken, Gesinnungen, Motive, mit einem Worte alles was im Bewufstseyn angetroffen wird, eben so wohl von anderem verdrängt wird, als es selbst anderes zu verdrängen vermag, jeder Gegen- stand, der das Gemüth beschäfftigt, steht nicht, sondern schwebt im Bewulstseyn; er schwebt in beständiger Gefahr, vergessen zu werden über etwas neuem, wenn auch nur auf Augenblicke.

Dennoch bedarf der Begriff der gegenseitigen Hemmung mancher Erläuterungen. Wir erblicken hier die Vorstellungen als wider einander wirkende Kräfte. Aber gerade wie in der allgemeinen Metaphysik sich findet, dafs das Merkmal der Kraft gar kein reales Prädicat irgend eines Wesens seyn kann, sondern, dafs die Wesen nur zufälliger Weise Kräfte werden, und dafs sie dies auf unendlich verschiedene Weise werden können, ohne alle reale Mannigfaltigkeit in ihnen selber:* eben so ergiebt

* Ueber diesen so höchst wichtigen Punet werden aufmerksame Leser vielleicht nicht blofs den § 5 meiner Hauptpuncte der Metaphysik, sondern auch die schon an-

278 XI. Psychologie als Wissenschaft.

auch die gegenwärtige Betrachtung der Vorstellungen, dafs ihnen alle Kraftäufserung nur zufällig, und in dem Maafse entsteht, als sie gehemmt werden. Jede einzelne Vorstellung ist zuerst und für sich allein nur durch ihr Object, durch das was vorgestellt wird, [153] hiedurch aber vollständig, bestimmt als eine solche und keine andre. So gewifs sie nun dieses Object wirklich vorstellt, eben so gewifs ist sie keinesweges ein Streben vorzustellen; denn die Eigenschaft des Strebens geht erst hervor in der Hemmung durch ein hinzukommendes entgegengesetztes. Es ist auch in ihr gar keine Activität, die auf etwas Fremdes, und gleichsam Aeufseres gerichtet wäre; denn ihrem Begriffe nach besteht eine Vorstellung nur im Erzeugen und Vesthalten ihres vorgestellten Bildes; darin erschöpft sie sich, und aufserdem ist in ihr nichts zu finden. Erst indem sie in einem und demselben Subject mit einer andern ihr entgegenstehenden Vorstellung zusammentrifft, kommt ihr die Activität, wodurch sie über sich selbst hinausgeht. Sie drängt die andre, weil sie von der andern gedrängt wird; beyde aber drängen einander vermöge des unter ihnen entstehenden Gegensatzes. Dieser Gegensatz ist wiederum kein Prädicat weder der einen noch der andern, einzeln genommen; sondern eine formale Be- stimmung, welche nur in Beziehung auf beyde zusammen genommen, Sinn und Bedeutung hat. Wer den Ton c hört, der hört ihn für sich und durch sich selbst, nicht aber als entgegengesetztes von d. Desgleichen, wer den Ton d hört, der hört den einfachen Klang d ohne Gegensatz gegen c Aber wer die Töne c und d beyde hört, oder beyder Vor- stellungen zugleich im Bewufstseyn hat, der vernimmt nicht blofs die Summe c und d, sondern auch überdem den Contrast beyder, und sein Vorstellen ist der Wirkung des Gegensatzes beyder unterworfen. Eben so, wer sich in das Anschaun des ungetrübten Himmels versenkt, der sieht reines Blau ohne Gegensatz, und diese Vorstellung ist für sich vollständig; aber dasselbe reine Blau ist fähig in unendlich viele Contraste einzugehn, gegen andre und andre Farben. Wollte man diese Contraste, und die dazu gehörigen hemmenden Kräfte der Vorstellungen, für inwohnende Be- stimmungen derselben Vorstellungen halten, so wäre keine Vorstellung etwas für sich; es [154] stünde auch niemals eine in einem bestimmten Contraste gegen einzelne andre; sondern sie enthielte zugleich alle die zahllosen möglichen Contraste als Eigenthümlichkeiten in sich ; und am Ende wären gar in jede Vorstellung alle übrigen Vorstellungen, als Be- dingungen dieser sämmtlichen Contraste, mit eingeschlossen, und die Mannigfaltigkeit und Abwechselung der Vorstellungen würde unmöglich.

Diesen Hauptgedanken, dafs nur im Zusammentreffen die entgegen- stehenden Vorstellungen Kräfte werden, wollen wir nun näher bestimmen. Schon die Beyspiele der Farben, der Töne u. s. w., erinnern uns, dafs der Gegensatz zweyer Vorstellungen gradweise verschieden seyn könne. Dem Blau steht das Roth, aber weniger das Violet, in seinen verschiedenen

geführte Abhandlung de attractione elementorum vergleichen, worin ich ausführlich die Unmöglichkeit realer bewegender Kräfte gezeigt, und die Anziehung der Elemente auf eine blofs formale Notwendigkeit zurückgeführt habe, welche in der Art der Raum- erfüllung durch einfache Wesen ihren Sitz hat.

Erster Abschnitt. Untersuchung über das Ich in seinen nächsten Beziehungen. 2 7Q

Nuancen, entgegen; dem Tone c mehr der Ton d, als eis; mehr g, als e. Die Hemmungen, als unmittelbare Erfolge der Gegensätze, müssen sich wie diese, gradweise abstufen. Dafs also Vorstellungen Kräfte werden, dies hat sein Maafs; und zwar ein veränderliches Maafs, weil die Gröfse des Gegensatzes Veränderungen zuläfst.

Neben dieser Gröfsenbestimmung werden wir sogleich noch eine andre als möglich erkennen. Der Erfolg der Hemmung ist Verdunkelung des Objects, und Verwandlung des Vorstellens in ein Streben vorzustellen. Kann ein gewisser Grad des Gegensatzes totale Verdunkelung eines Ob- jects bewirken: so wird ein geringerer Gegensatz nur partielle Verdunkelung zur Folge haben; gradweise verschieden nach den Graden der minderen Gegensätze. Diese partielle Verdunkelung läfst also noch einen Grad des Vorstellens übrig. Auch das Vorstellen der Objecte also hat Grade, wie die Erfahrung bestätigt.

Offenbar aber ist nöthig anzunehmen, dafs ein gewisses Vorstellen, um, verglichen mit einem andern, ein schwächeres zu seyn, erst eine partielle Verdunkelung erlitten haben müsse: auch ohne alle Hemmung kann es ursprünglich ein schwächeres oder stärke[i55]res seyn.* Dieses ist wiederum in der Erfahruno; völlig bekannt ; wir schreiben allen unsem Auffassungen ursprünglich einen Grad zu.

Verbinden wir nun diese Gradbestimmung mit jener, also den Unter- schied der Vorstellungen ihrer Stärke noch mit der Gröfse ihres Gegen- satzes unter einander: so mufs sich daraus ergeben, wie grofs in jedem Falle die Verdunkelung, die Hemmung, das Streben, und auch das noch übrige wirkliche Vorstellen sevn werde. Hier findet die Rechnung einen ihr angemessenen Stoff; und es kommt darauf an, uns von der Form solcher Rechnung einen allgemeinen Begriff zu bilden; womit die Ueber- sicht über die nachfolgenden Untersuchungen zusammenhängt.

§ 40.

Die Verdunkelung der Vorstellungen, vollends wenn sie successiv durch verschiedene Grade fortläuft, hat so viel Aehnlichkeit mit einer Bewegung, dafs es gar nicht befremdend seyn kann, wenn die Theorie von den Gesetzen der Verdunkelung, und der ihr entgegenstehenden Er- hellung, oder dem Wieder-Hervortreten der Vorstellungen ins Bewufstseyn, sich der Theorie von den Bewegungsgesetzen der Körper im Ganzen ähnlich gestaltet. Wenigstens die Sprache mufs von da her ihre Aus- drücke entlehnen, falls nicht eine neue, und deshalb unverständliche Sprache unnützer Weise soll erfunden werden. Nur einige Benennungen, welche als Metaphern neu sind, wird man sich müssen gefallen lassen, damit die neuen Begriffe eine Bezeichnung erhalten können.

Zu allererst werden wir den Unterschied der Statik [150] und

'f Es ist jedoch nur die logische Möglichkeit verschiedener Grade der Stärke und des Gegensatzes , welche hier nachgewiesen worden. Eey einem Gegenstände, worüber die Erfahrung so deutlich spricht, mag dies zum Beginnen der Untersuchut:;,' hinreichen. Die reale Möglichkeit folgt aus allgemein -metaphysischen Betrachtungen über die zufälligen Ansichten der Wesen, und über das Zxisammen derselben, als !• ilingungen der Störungen und Sclbstcrhaltungcn.

28o XL Psychologie als Wissenschaft.

Mechanik, welcher die Lehre von den räumlichen Kräften beherrscht, auch hier wieder finden. Denn das Gleichgewicht, im Gegensatze der noch fortgehenden Bewegung vermöge des Uebergewichts einiger Kräfte über die andern, - ist dasjenige, was auch in Hinsicht der wider einander wirkenden Vorstellungen sich zuerst . darbietet, und sich am leichtesten bestimmen läfst. Die obige Frage, wie grofs, bey gegebener Stärke und gegebenem Gegensatze mehrerer Vorstellungen, die Verdunkelung einer jeden sevn werde, ist offenbar eine statische Frage; denn es wird eine solche Hemmung einer jeden gesucht, bey welcher dem Gegensatze Genüge geschieht, und die Kräfte nicht weiter gegen einander etwas aus- richten können. Allein falls ein solcher gehemmter Zustand einer jeden Vorstellung nicht etwan plötzlich, sondern, wie schon zu vermuthen, allmählig eintritt, so entsteht nun noch eine ganz andre Untersuchung, nämlich mit welcher, sey es gleichbleibenden, sey es veränderlichen Ge- schwindigkeit, die Verdunkelung fortdauernd geschehen, und in welcher Zeit sie geendigt sevn werde. Diese letztre Frage erkennt man ohne Zweifel sogleich für eine mechanische Frage.

Die angeführten Beispiele können hinreichen, um die Aehnlichkeit einer Mechanik des Geistes mit der Mechanik der Körperwelt im Allge- meinen wahrzunehmen. Allein über der Aehnlichkeit darf die Verschieden- heit nicht übersehen werden. Wir haben hier keine räumliche Zusammen- setzung und Zerlegung der Kräfte; wir haben keine Winkel, also keine Sinus und Cosinus, und keine drehende Bewegung; wir haben keinen unendlichen Raum, sondern alle Bewegung der Vorstellungen ist zwischen zwey vesten Puncten eingeschlossen, ihrem völlig gehemmten, und ihrem völlig ungehemmten Zustande; wir haben endlich gar kein beharrliches Fortgehen des Bewegten, folglich auch keine ähnliche Beschleunigung, wie in der Mechanik der Körper, denn jede augenblickliche Bewegung einer Vorstellung ist das unmittelbare Resultat der [157] treibenden Kräfte. Wir haben dagegen hier eine Menge ganz anderer Grundbegriffe, welche die Mechanik der Körper nicht kennt, und auch dann nicht kennen würde, wenn sie, um sich der Analogie der Geistes-Mechanik anzubequemen, die gegenseitigen Drückungen einer Menge von elastischen Körpern unter- suchen wollte, (denn dergleichen liefse sich mit den Vorstellungen noch am ersten vergleichen). Statt der Schwere, welche die Körper nach unten drängt, haben wir hier das natürliche und beständige Aufstreben aller Vorstellungen, um in ihren ungehemmten Zustand zurückzukehren; dieses jedoch ist vielmehr eine Aehnlichkeit als eine Verschiedenheit, indem es einen inwohnenden Trieb nach einer bestimmten Richtung anzeigt, welcher in jedem Augenblick so viel wirkt, als ihm die Umstände gestatten.

Doch wir wollen diese vorläufigen und oberflächlichen Vergleichungcn nicht weiter fortsetzen, sondern zur Sache kommen. Im Begriff, die ersten Linien der Statik und Mechanik des Geistes vorzulegen, kann ich nicht unterlassen, die Nachsicht der Leser anzurufen, welcher das Unternehmen eines blufsen Liebhabers der Mathematik, bey einer so neuen Unter- suchung, ohne Zweifel bedürfen wird.

[158] Zweyter Abschnitt.

Grundlinien der Statik des Geistes.

Erstes Capitel.

Summe und Verhältnis der Hemmung bey vollem

Gegensatze.

§ 41-

Der Gegensatz zweyer Vorstellungen ist voll, oder so grofs als möglich, wenn eine von beyden ganz gehemmt werden mufs, damit die andre ungehemmt bleibe. Dieser Fall tritt zwar niemals ein: denn eine Vorstellung wird nur gehemmt, indem sie widersteht; und ihr Widerstand mufs allemal auch in der entgegengesetzten eine gewisse Hemmung hervor- bringen. Aber man kann sich die Fiction erlauben, dafs die ganze Stärke des Gegensatzes, folglich die ganze Nöthigung zum Sinken nur auf eine der beyden falle: alsdann ist das höchste, was geschehn kann, völliges Sinken dieser einen, oder völliges Erlöschen ihres Vorgestellten, bev Ver- wandlung ihrer ganzen Thätigkeit in ein blofses Streben wider die ent- gegengesetzte. Mehr als Sinken kann sie nicht, und es würde keinen Sinn haben, wenn man sich das Quantum des wirklichen Vorstellens noch über Null hinaus abnehmend, folglich negativ, denken wollte.

Wohl aber läfst sich ein minderer Gegensatz denken. Diesem zu- folge würde eine Vorstellung ganz ungehemmt bleiben können, wenn von der andern nur ein be[ verstimmter Bruch, das heifst eigentlich, wenn die andere nur in einem bestimmten Grade gehemmt würde.

Der Unterschied des vollen und des minderen Gegensatzes ist von der Stärke der Vorstellungen unabhängig. Es sev die eine = a, die andre = b, wo a und b Zahlen bedeuten, vermittelst deren die Stärke beyder verglichen wird; der Gegensatz aber = m} wo in einen Bruch bedeutet, oder höchstens die Einheit: so mufs bey vollem Gegensatze (für welchen m = 1), eben sowohl a ganz sinken, wenn b soll ungehemmt bleiben, als b ganz sinken mufs, damit a ungehemmt bleibe. Denn das Hemmende mufs ganz und gar weichen, wofern für das entgegenstehende alle Hemmung verschwinden, und volle Freyheit wiederkehren soll; und dies ist ganz auf gleiche Weise nothwendig, es mag nun jenes oder dieses das stärkere oder schwächere seyn. Bey minderem Gegensatze mufs inb sinken, falls a, oder es mufs via sinken, falls b ungehemmt bleiben soll.

282 XL Psychologie als Wissenschaft.

Denn je mehr von dem Hemmenden vorhanden ist, in demselben Ver- hältnisse mehr mufs weichen, wofern das gegenüberstehende unangetastet bleiben soll. Bestünde b aus unendlich vielen kleinen Theilen: so würde jedem derselben das Merkmal, einen Gegensatz gegen a zu bilden, zuzu- schreiben seyn, und zwar in dem Grade ?n; mit der Menge der Theile in b aber würde sich diese Entgegengesetztheit vervielfältigen, und deshalb in dem Producte mb ihren Ausdruck finden.

Die Voraussetzung des vollen Gegensatzes wird die nächstfolgenden Untersuchungen erleichtern; deshalb machen wir mit ihr den Anfang.

§ 4-'.

Die Summe der Hemmung ist das Quantum des Vorstellens, welches von den einander entgegenwirkenden Vorstellungen zusammengenommen, mufs gehemmt werden.

Diese Hemmungssumme mufs nothwendig zuerst bestimmt seyn, wenn die Hemmung jeder einzelnen Vor[i6o]stellung soll gefunden werden. Denn, wie schon im § 39 bemerkt, das Widereinanderstreben ist den sämmtlichen Vorstellungen zufällig, und sie äufsern sich demnach nur in so fern als Kräfte, als das Quantum des Gegensatzes, welcher sich zwischen ihnen bildet, es mit sich bringt. Je stärker nun der Grad des Gegensatzes (das obige m) und je Mehr des entgegenstehenden (wegen der Stärke der einzelnen Vorstellungen) : um desto gröfser ist das Quantum dessen, was weichen mufs aus dem Bewufstseyn. Dieses Quantum bildet alsdann gleichsam die Last, welche sich vertheilt unter den verschiedenen Vorstellungen, die daran zu tragen haben; und das sind die sämmtlichen wider einander strebenden. Aber nicht eher können wir füglich von der Vertheilung sprechen, als bis wir die Last kennen, die vertheilt werden soll.

Für vollen Gegensatz nun, und für zwey Vorstellungen a und b, liegt gleich so viel klar vor Augen, dafs entweder a, oder b die Hemmungssumme seyn müsse. Denn es wird zwar von beyden Etwas gehemmt werden, und dafs irgend eins von beyden gänzlich weiche, ist eine blofse Fiction, der die Wirklichkeit durchaus nicht entsprechen kann, weil nothwendig jedes von der ihm entgegenstrebenden Kraft etwas leiden mufs: allein in welchem Verhältnisse auch die Last sich vertheile, sie bleibt doch an sich immer dieselbe; wir haben aber schon im vorigen § bemerkt, dafs diese Last, oder das Zu-Hemmende a seyn würde, wenn b ungehemmt bleiben sollte; hingegen b, wenn a von der Hemmung frey gedacht würde. Gesetzt also, die Hemmungssumme wäre der Gröfse nach gleich a: so würde zwar darum nicht die ganze Vorstellung a gehemmt, aber der Grund hievon läge nur darin, dafs ein Theil dieser Hemmungssumme auf b fiele, und gerade so viel, als auf b käme, dürfte nun von a ungehemmt bleiben. Gesetzt im Gegen theil, die Hemmungs- summe wäre der Gröfse nach = b, so würde nur so viel von b unge- hemmt bleiben kön[i6i]nen, als dagegen von a aus dem Bewufstseyn verdrängt würde.

Wir schwanken demnach nur zwischen zweyen denkbaren Bestimmungen der Hemmungssumme; allein die Entscheidung, welche unter diesen beyden die richtige sey, kann einen Augenblick schwierig scheinen.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 283

Der entscheidende Grund zwar bietet sich leicht genug dar. Nämlich man mufs sich die Hemmungssumme so klein als möglich denken; weil der natürliche Zustand der Vorstellungen der ungehemmte ist, und sie sich diesem, zu welchem sie sämmtlich zurückstreben, gewifs so sehr nähern als sie können. Daraus folgt, dafs wenn a die stärkere, b die schwächere Vorstellung ist, die Hemmungssumme der Gröfse nach nicht = </, sondern = b seyn werde.

Auch wenn man auf die Vertheilung der Hemmungssumme einen Vorblick wirft, so leuchtet gleich so viel ein, dafs zwar die stärkere Vor- stellung das Uebergewicht haben müsse, doch aber unmöglich mehr, als die schwächere ganz, gehemmt werden könne; und dafs dieses Aeufserste völlig das nämliche bleibe, wenn schon die stärkere wie sehr immer wachsen möchte. Z. B. es sey a =■ 10, b=\: so wird zwar gewifs b beynahe ganz gehemmt werden; aber mehr als das ganze b kann auch dann nicht zu unterdrücken seyn, wenn schon a anstatt = 10, vielmehr = 100 wäre. Es ist einmal nicht mehr vorhanden als nur b, was dem a entgegengesetzt wäre! Folglich durch Vergröfserung der stärksten unter den Vorstellungen wächst die Hemmungssumme nicht. Hingegen es sey a= 10, b = 2: so ist nun des entgegengesetzten gewifs mehr geworden. Denn indem b von 1 bis 2 gewachsen ist, mute a einer stärkern Kraft widerstehen, als vorhin, es wird dadurch mehr ins Streben versetzt; und dasselbe ist der Fall bey b, wenn schon dieses nun ver- bal tnifsmäfsig nicht so viel leidet, wie vorhin.

Da nun die Hemmungssumme nicht gröfser seyn [162] kann als b; aber auch nicht kleiner (denn bey vollem Gegensatz ist b ganz und gar dem a zuwider): so ist sie gewifs == b. Dasselbe erhellet auch aus folgender Betrachtung: man setze a ungehemmt, so ist b ganz gehemmt; nun verbessere man die Vertheilung, so dafs auf a auch ein Theil der Last falle, und b dagegen steige: so kann unmöglich durch die veränderte Vertheilung das Quantum des wider einander Wirkenden wachsen oder abnehmen, denn das Wirksame, und seine eigenthümliche Beschaffenheit, vermöge deren es einen bestimmten Gegensatz mit einander macht, bleibt genau das nämliche wie zuvor; also mufs die Summe der Hemmung = b seyn und bleiben.

Allein gerade diese letzte Betrachtungsart möchte man benutzen, um daraus einen Einwurf zu bilden. Setzet umgekehrt (möchte man sagen), es sey b ungehemmt, folglich o ganz gehemmt; bey verbesserter Ver- theilung kann nun das Quantum der Hemmung nicht abnehmen, eben darum weil dies Quantum von der Vertheilung unabhängig ist; folglich ist die Hemmungssumme = a und nicht b. Oder, wenn auf gleichem Wege bewiesen wird, sie sey a, und auch, sie sey b: so verräth sich da- durch die Schwäche der Beweisart, die sich selbst widerstreitet.

Wenn man jedoch das vorhin entwickelte zurückruft, so sieht man offenbar, dafs in der Voraussetzung, a sey ganz gehemmt, das Quantum der Hemmung gröfser angenommen ist, als es nach der Beschaffenheit von a und b zu seyn braucht. Diese beyden können unleugbar eine Stellung gegen einander annehmen, worin weniger von ihnen gehemmt wird; und eben darum werden sie es unfehlbar thun, sobald die Ver-

2$a XL Psychologie als "Wissenschaft.

theilung sich ändert; wiewohl dieses nicht von der neuen Yertheilung herrührt. Vielmehr dasselbe Aufstreben beyder Verstellungen, welches eine bessere Proportion in die Vertheilung bringen wird, eben dieses widersetzt sich auch dem Uebermaafse der Hemmung, und führt sie auf das Nothwendige zurück. [I(:)3] Es scheint demnach unsre Bestimmung der Hemmungssumme hinreichend gesichert zu sevn.

Die gleiche Bestimmung aber wird sich, unter Voraussetzung des vollkommenen Gegensatzes, sehr leicht von zwey Vorstellungen auf mehrere in beliebiger Anzahl ausdehnen lassen. Es seyen aufser a, der stärksten, noch vorhanden b, c, d, ...;/: so ist die Hemmungssumme = b -\- c -\- d -\- . . . -\- n. Denn b und die übrigen stehn dem a ganz und gar entgegen; kleiner also als ihre Summe kann das Quantum der Hemmung nicht sevn: aber auch nicht gröfser, denn wenn jene alle völlig unterdrückt wären, bliebe die stärkste ganz ungehemmt. Will man dagegen versuchen, sich b ungehemmt zu denken, so ist die Summe des Gehemmten = a -f- < ' -f- d -j- . . -\- n ; also gröfser wie vorhin, und so bey jeder andern ähnlichen Voraussetzung. Folglich ist die obige Angabe allein zulässig.

Bevor wir indessen die Betrachtung der Hemmungssumme verlassen, mufs noch einem möglichen Misverständnisse begegnet werden, welches aus der Vergleichung jener Summe mit einer zu vertheilenden Last, ent- stehen könnte. Es wird nämlich dem Geiste unsrer vestgestellten Sätze ganz gemäfs gefunden werden, dafs die Vorstellungen sämmtlich in eben dem Grade, wie sie leiden, auch in wirksame Kräfte verwandelt, dafs sie durch den Druck angespannt werden, und dafs das Gleichgewicht eintrete, sobald Spannung und Druck einander gegenseitig aufheben. Hieraus nun scheint zu folgen, dafs die Summe des wirklich Gehemmten weit weniger betragen müsse, als die ursprüngliche Nöthigung zum Sinken erfordert. Denn diese Nötlrgung und die Spannung der Vorstellungen, werden wider einander wirken; und die erstere kann also den Punct nicht erreichen, wohin sie strebt. Dieses ist scheinbar, aber gleichwohl unrichtig. Es wird nämlich dabev vorausgesetzt, die Vorstellungen könnten der Hemmungs- summe widerstreben. Aber die [104] Vorstellungen widerstreben vielmehr eine der andern. Die Hemmungssumme ist nichts von ihnen Ver- schiedenes; sie ist keine, ihnen gleichsam von aufsen her aufgelegte La>t. an der sie gemeinschaftlich zu tragen hätten ; sondern sie ist nur der Aus- druck von dem Quantum des Widerstreits, der sich unter ihnen erhebt, und unter ihnen bleibt, so fern sie im Bewufstseyn zusammentreffen. Was daher eine Vorstellung durch ihre Spannung gewinnt, das kann nicht Ver- minderung des ursprünglichen, in der Beschaffenheit der Vorstellungen ge- gründeten Widerstreits sevn (sonst müfsten sie ihre Natur ändern), sondern jede Vorstellung gewinnt, so viel sie vermag, über die andern Vorstellungen, die sie um gerade so viel hemmt, als um wie viel sie die Verdunkelung ihres eignen Objects im Bewufstseyn abhält. Und weit entfernt, dafs die Hemmungssumme in der Spannung eine Gegenkraft finden sollte, ist sie vielmehr gerade der Ausdruck dieser Spannung selbst, die mit dem Wider- streite identisch ist, so fern derselbe als Summe des activen Streitens der einzelnen Vorstellungen betrachtet wird. Tiefer unten wird sich Gelegen-

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 28 5

heit finden, dieses sowohl, als die entgegenstehende unrichtige Ansicht in mathematischen Formeln auszusprechen: da sich denn zeigen wird, dafs ganz verschiedene Gesetze des allmähligen Sinkens der Hemmunessumme 1 laraus hervorgehn,

Endlich wolle man nicht fragen, ob wir uns denn solcher Spannung unsrer Vorstellungen auch bewufst seyen? Nach unsrer ganzen vorstehenden Entwickelung sind die Vorstellungen in so fern kein wirkliches Vorstellen, als sie sich in ein blofses Streben vorzustellen verwandelt haben, das heifst mit andern Worten, als sie in Spannung versetzt sind. Unmöglich also kann man diese Spannung im Bewufstseyn dessen geben, was kein Vorstellen, sondern gerade die Abwesenheit desselben ist. Unsre Be- strebungen, Begierden u. s. w., s deren wir uns wirklich bewufst sind, dürfen demnach nicht [165] zu voreilig aus jener Spannung erklärt werden, ob- gleich sie damit wesentlich zusammenhängen.

§ 43-

Das Verhältnifs der Hemmung ist dasjenige Verhältnifs, in welchem sich die Hemmungssumme auf die verschiedenen, wider einander wirkenden, Vi ^Stellungen vertheilt.

Jede Vorstellung behauptet sich, so gut sie kann, unter allen übrigen; sie darf aber nicht als eine ursprünglich angreifende, sondern nur als eine widerstehende Kraft betrachtet werden. Es ist hier gleich An- fangs ein möglicher Irrthum abzuhalten, der zu falschen Berechnungen verleiten würde. Man könnte nämlich glauben: jede Kraft wirke im Verhältnifs ihrer Stärke auf die übrigen. Wäre also z. B. die Vor- stellung a = 2, die Vorstellung b = 1 , und was von b gehemmt würde = x : so müsse für a = 4, das von b Gehemmte = 2 x werden, indem die hemmende Kraft verdoppelt sey. Dies ist darum unrichtig, weil ä = 4 verhältnifsmäfsig weniger von b = 1 angegriffen wird, als a = 2 von dem nämlichen b. Aber a kann nur wirken in so fern es durch das entgegengesetzte dazu getrieben wird. Hätte, zugleich mit a, sich auch b verdoppelt: dann erst wäre mit der Kraft auch die Reizung, folglich der Effect verdoppelt worden.

Gewifs aber widersteht jede Vorstellung dem, zwischen den mehrern entstandenen, Gegensatz um so besser, je stärker sie ist. Sie leidet also im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke.

Und jetzt können wir leicht den Gegenstand völlig ins Klare setzen. Drey Betrachtungen müssen gesondert, und wieder verbunden werden.

Erstlich: jede Vorstellung wirkt im Verhältnifs ihrer Stärke = i.

1

Zwevtens: sie wirkt in dem Verhältnifs, in welchem sie leidet, = —..

1

[166] Drittens: sie leidet im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke, das

heilst, im Verhältnifs .

i

Das Verhältnifs des Wirkens ist zusammengesetzt aus / und , es

i

ist also allemal = 1; und folglich kann man es aus der Rechnung weg-

286 ^I- Psychologie als Wissenschaft.

lassen. Das Verhältnils des Leidens = bleibt allein übrig und be-

i

stimmt die Vertheilung der Hemmungssumme.

So ist es bey vollem Gegensatze, wovon wir jetzt reden. Bey minderem Gegensatze bringt dieser noch einen Zusatz in das Verhältnifs des Wirkens, wovon tiefer unten.

Bev vollem Gegensatze wirken auf jede einzelne Vor- stellung alle andern gleich viel, sie mögen wie immer ungleich seyn an Stärke.

Um diesen Satz ganz einleuchtend zu machen, wollen wir von der leichtesten Voraussetzung anfangen. Es seyen also zuvörderst nur zwey Vorstellungen mit einander im Conflict, die stärkere = a, die schwächere = b. Die Hemmungssumme, welche die Stärke des Conflicts angiebt. ist nun dasjenige, wovon beyde Vorstellungen leiden. Und zwar leidet a im Ver- hältnifs — , b im Verhältnisse -7-. Beyde wirken auf dieses Leiden zurück a b

(nur nicht etwan erst hintennach, sondern indem und in so fern sie die Wirkung erleiden,) im zusammengesetzten Verhältnisse ihres Leidens und

ihrer eignen Stärke, welches = a . und b .— ist, oder = 1. Diese 0 ab

Rückwirkung von a trifft b, und die Rückwirkung von b trifft a; allein

beyde Rückwirkungen sind gleich, und heben sich auf; daher das erste

Verhältnifs, des Leidens von der Hemmungssumme, allein entscheidet.

Es seyen jetzt drey Vorstellungen im Conflict; a, [167] b, c, und «>/>,

1 . auch a > c. Von der Hemmungssumme leidet a im Verhältnisse , b im

Verhältnisse -T, c im Verhältnisse--. Alle Rückwirkungen sind == 1. Jede b c

derselben mag sich gleich vertheilen auf die entgegenstehenden (denn eine besondre Richtung, wider eine vielmehr als wider die andre, kann sie nicht haben), so wird jeder Theil aufgehoben durch einen ihm gleichen entgegengesetzten.

Um noch sorgfältiger zu gehn, wollen wir die Betrachtung darin ändern, dafs wir die Hemmungssumme bey Seite setzen, die Vor- stellungen aber paarweise ins Auge fassen, um nicht blofs jede gegen alle übrigen zusammen, sondern jede gegen jede einzelne im Conflict zu beobachten.

Erstlich: in dem Conflicte zwischen a und b leiden beyde, wie

vorhin gefunden, in den Verhältnissen J - und - . Wir wissen noch nicht 0 ab

x

wie viel sie leiden ; es sev aber das Leiden von a = , so ist das von

a

b = . Zwevtens: mit a ist auch c im Conflict. Wofern nun c von b

a mehr oder weniger leidet als b, so kann dieses nur von dem Ver- hältnisse b : c herrühren; welches das Verhältnis des Widerstandes be-

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 287

stimmt, den beyde der gleichen Kraft a, und ihrer gleichen Spannung,, entgegensetzen. Nach der Proportion

x x

0 c

X X

i^t dasjenige, was c von a leidet. Folglich a von c leidet . Drittens: a a

in dem Cönflict zwischen b und c findet man auf doppeltem Wege die

Bestimmung für das [168] Leiden eines jeden. Nämlich man weifs schon,

wie viel a leidet von #; daraus findet sich, wie viel c leiden müsse von

der nämlichen und gleichgespannten Kraft. Man weifs auch wie viel a

leidet von c: daraus findet sich, wie viel b leiden müsse von der nämlichen

Kraft. Endlich müssen beyde Resultate einander gegenseitig erproben.

Es ist aber

x x

c :a = : , a c

und b : a = : ; a b

wo die vierten Glieder im umgekehrten Verhältnisse von c und b stehen,

wie gehörig. Fafst man nun alles zusammen: so ist das Leiden

2X

von a =

a

von b =

2X

b '

2 X

von c = - —, c

welche Gröfsen zusammen der Hemmungssumme gleich seyn müssen, so«

dafs man daraus x finden kann. Zugleich ist der obige Satz bewiesen,

denn a leidet von b und von c gleich viel, b von c und von a gleich

viel, c v< »n b und von a gleich viel.

Es würde unverzeihlich seyn, eine so leichte Sache auch noch für \ier und mehrere Vorstellungen weitläuftig darthun zu wollen, da der Gang des Beweises klar vor Augen liegt.

Es seyen nun Vorstellungen a, b, r, . . . n gegeben, so sind die

Hemmungsverhältnisse , -r-, .... . Der Rechnung wesren ist nur zu

O 7 7 ' DO

a o c 11

bemerken, dafs hier etwas Combinatorisches eintritt, weil man diese Gröfsen auf ganze Zahlen wird bringen müssen. Daraus entstehn für a, b, c, die Binionen bc, ac, ab; für a, b, c, </, die Ternionen bcd, acd, abd, abc, u. s. f.

'.8S

XI. Psychologie als Wissenschaft.

[i6q] Zweytes Capitel.

Berechnung der Hemmung bey vollem Gegensatz, und erste Nachweisung der Schwellen des Bewufstseyns.

§ 44-

Die Berechnung dessen, was von jeder Vorstellung gehemmt werde, geschieht ohne allen Zweifel durch Proportionen, zu welchen die Hemmungs- summe das dritte Glied liefert, und deren erste beyde Glieder aus den Hemmungs- Verhältnissen hervorgehn.

Es seyen die Vorstellungen a und b gegeben, als wider einander wirkend im Bewufstseyn, und stehend im vollen Gegensatze: so ist, laut voriger Entwickelungen, die Hemmungssumme gleich der schwächeren, oder = b\ das Hemmungsverhältnifs wie b : a. Folglich wird man schliefsen: wie die Summe der Verhältnifszahlen zu jeder einzelnen Verhältnüszahl, so das zu Vertheilende (die Hemmungssumme) zu jedem Theile; oder

+ *)

*

b2

a-\-b

ab

a-\-b

Die Verhältnifszahl b gehört (wegen der Umkehrung des Verhältnisses)

b2

zu a\ folglich

der Rest von a = a

und der Rest von b = b

a^b ab

b2

a-j- b a-\~ b

Diese Reste sind natürlich nicht abgeschnittene Stücke der Vor- stellungen a und b, sondern es sind die Grade der noch übrigen Leb- haftigkeit der Vorstellungen, nachdem durch die Hemmung der zuvor be- rechnete Theil des wirklichen Vorstellens ist aufgehoben, und in ein blofses Streben vorzustellen ist verwandelt worden.

Es seyen auf eben die Art drev Vorstellungen gegeben, nämlich a b, c, worunter a die stärkste, c die schwächste: so ist die H. S. (= Hem-

iii mungssumme) = b -j- c, das H. V. (= Hemmungsverhältnifs)

a

b'

oder bc, ac, ab] und die Proportionen

bc

[bc -(- ac -\- ab) :

ac= (b -f- c)

ab

bc(b-\-c)

bc -{- ac -\-ab ac (b -\- c)

bc -\-ac -^-ab ab (b + c)

bc 4- ac -\- ab

woraus die Reste

von a, =a

be{b + c)

bc -\- ac -\~ ab

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 280

ac{b-\-c)

von b, =b - v ' '—

bc -\-ac -\- ab

ab(b-\-c) von c, =c —-r-± ~—u bc -j- ac-\- ab

Man sieht leicht, wie dies für vier und mehrere Vorstellungen fortgeht. Hier einige Berechnungen in Zahlen. Zuerst für zwey Vorstellungen. Es sey a = 1 , b = 1 , so ist der Rest

Es sey a

von

a,

1 2

von

b,

1

2, b

= I

, so

ist

dei

Rest

von

a,

3

10,

b =

I, !

von io ist

der Rest

von

a,

109 11

II,

b =

IO,

von b, so ist

1 11

der Rest

von

a,

*3'

21

von

b,

100 21

Es sey a

Man sieht, dafs die Reste in einem weit gröfseren Verhältnisse ver- schieden sind, als die Vorstellungen selbst. [171] Doch kann der Rest von b niemals = o werden, denn erst tür a = 00 wird der Werth der Formel

bz : r unendlich ldein. a-f-b

Jetzt für drey Vorstellungen.

a= l, b = 1 , c =s 1 , giebt den Rest

von a, = : von b, = von c, = 3 ' 3 ' 3

a = z, b=i, fs=i( giebt den Rest

von a, = ; von b, ■==.—• von r, =

5 ' 5 ' '5

Wäre hier, statt b und ^, eine einzige Vorstellung von der Stärke b -\- c vorhanden gewesen: so würde von dieser ein gleicher Rest, wie von a, nämlich von jeder der Rest = 1 geblieben seyn. Im gegen- wärtigen Falle bleibt achtmal so viel von a, als von b und von c. So wichtig ist der Unterschied, ob das nämliche Quantum des Vorstellens als Eine Gesammtkraft wirkt, oder ob es in zwey wider einander wirkende Vorstellungen vertheilt ist. Es sey endlich noch

a = 6, £ = 5, ^ = 4, so ist

von a der Rest = I32

37

von b =~ von C = j3 Eine Gesammtkraft =b -\- c, anstatt der beyden Kräfte b und c, hätte hier eine viel kleinere Hemmungssumme ergeben; sie wäre = 6,

Herrart's Werke. V. 19

2C)0

XL Psychologie als Wissenschaft.

anstatt jetzt = 9, geworden. Auch würde von a nur wenig, von der Gesammtkraft desto mehr übrig geblieben seyn.

Der Rest von b kann auch für drey Vorstellungen nicht = o werden ; sonst müfste bbc-\-abb acc = o seyn können, welches nicht angeht, weil b nicht kleiner als c seyn soll, folglich entweder abb> acc, oder doch abb = acc; so dafs immer das Positive überwiegt.

Hingegen der Rest von c kann allerdings = o werden ; ein sehr wichtiger Umstand, wovon bald ein Mehreres.

§ 45- Der Zweck der allgemeinen Formeln kann bey den gegenwärtigen Untersuchungen kein anderer seyn, als, [172] eine Uebersicht über ein ganzes Feld von Möglichkeiten, oder noch genauer, von Erfolgen möglicher Voraussetzungen, zu erlangen. Dieser Zweck wird gar sehr durch kleine Tafeln befördert, welche die Werthe der Formeln für angenommene Grund- gröfsen in Zahlen berechnet darstellen. Um aber die Arbeit abzukürzen, die solche Tafeln kosten, ist es rathsam, einige, für die Rechnung leichte Fälle herauszuheben, und wo möglich so, dafs die übrigen Fälle als zwischen jene einzuschaltende können gedacht werden.

Wir wollen damit hier den Anfang machen. Für drey Vorstellungen sey der Rest von a=p, von b = q, von c = r. Man setze erstlich b = c, woraus q = r folgen mufs. Man setze zweytens b ■= a, woraus p ==q folgen mufs. So findet sich nach gehöriger Rechnung aus den Formeln des vorigen §

für b = cy für b = a,

2 b2 c_{aJrc)

2c -f- a

p = a

b -\- 2a b2

p = q = a

2C

a'

b -\- 2a 2c -\-a

Im ersten Falle sey £= 10, im zweyten c= 10; so kommt

200 , io(io-f-rt)

1) q = a— t 2) p = q = a

10 -J- 2a

100

20 -{- a 200 a2

1 o -f- 2 a b = c = 10

20-\-a a = b, und c = 1 o

p

q = r

a— 10 a= 11

3,33

4,75

3,33 •• 3>12

0=15

10

2,5

a= 20

16

2

a==4o

37,77 ••

1,11 ..

p=q

r

a = b = 10 a = b= 11

3,33 •• 4,22 ..

3,33 ••

2,54 ••

a = b = 12 a = b= 13

a = b 14

5,17 6,03 . .

6,94

i,75 0,93 0, 1 1

a = b = 1 5

7,5

0

a = b =. 20

10

0

[173] Die letzten Werthe des Täfelchens hängen mit den Schwellen zusammen, wovon weiterhin.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 201

§ 46.

Es mag nicht unnütz seyn, auch noch der Aufgabe zu erwähnen, rückwärts aus den Resten als gegebenen Gröfsen die Vorstellungen selbst zu finden. In den Gleichungen

bc (b 4- c)

p =a

q = b

bc -\-ac -\- ab

ac (b --J- c)

bc -l-ac 4- ab at b (b -j- c)

bc 4- ac 4- ab seyen demnach, a, b, c, unbekannt; so bietet sich zuvörderst, sowohl aus der Natur der Sache als auch aus den Formeln, die Gleichung dar: a=P + <! + >'.

Ferner sey - =/; so hat man

bc -\-ac -^-ab J

folglich

a —p bc/; b q = ac/; c r = ab/; a p b a p c

b q a ' c r a oder a2 ap = b2 bq = c2 Cr.

Man setze die schon bekannte Gröfse a2 ap = h, so ist

Dafs man vor der Wurzelgröfse nur das Zeichen 4- gebrauchen kann ist offenbar, indem b und c gröfser seyn müssen als ihre halben Reste.

§ 47-

Aus der Bemerkung, dafs der Rest von c negativ werden kann, ent- wickelt sich der Keim zu sehr weitgreifenden Nachforschungen.

Die Frage: was ein negativ gewordenes Vorstellen bedeuten könne, ist leicht beantwortet. Es kann gar nichts bedeuten ; denn nach den vorigen * Erörterungen ist das [174] Aeufserste, was einer Vorstellung begegnen kann, dieses, dafs sie ganz und gar in ein blofses Streben vorzustellen verwandelt, oder dafs der Rest des wirklichen Vorstellens = o werde. Die Gleichung r = o setzt daher der Anwendbarkeit der vorigen Rechnungsart eine Gränze; denn ein negatives r ist in unserm Falle so gut als eine unmögliche Gröfse.

Aus r = o folgt c = b\/ . Wofern c im Verhältnifs zu b und

0 r b-\-a

a kleiner ist, als nach dieser Formel : so ist jede nähere Bestimmung seiner

Gröfse für die obige Hemmungsrechnung ganz gleichgültig; denn es wird

auf allen Fall ganz gehemmt; daher ist sein Antheil an der Hemmungs-

1 nach vorigen O.

19"

2Q2 XI. Psychologie als Wissenschaft.

summe gerade gleich seinem Beytrage zu derselben, und die stärkeren Vorstellungen theilen ihren Beytrag gerade so, als ob c gar nicht vor- handen gewesen wäre. Der Zustand des Bewufstseyns also, in wiefern er statisch bestimmt werden kann, hängt gar nicht ab von c; noch viel weniger aber von was immer für noch schwächeren Vorstellungen, deren eine unendliche Anzahl vorhanden seyn möchte, ohne dafs sie im geringsten im Bewufstseyn zu spüren seyn würden, so lange dasselbe im Zustande d'es Gleichgewichts aller Vor- stellungen wäre und bliebe.

Dieser Satz, der sich hier mit der höchsten mathematischen Evidenz ergiebt, bietet uns nun den Aufschlufs dar über das allgemeinste aller psychologischen Wunder. Wir alle bemerken an uns, dafs von unserm sämmtlichen Wissen, Denken, Wünschen, in jedem einzelnen Augenblicke eine unvergleichbar kleinere Menge uns wirklich beschaff tigt, als diejenige ist, welche auf gehörige Veranlassung in uns hervortreten könnte. Dieses abwesende, aber nicht entlaufene, sondern in unserm Besitz gebliebene und verharrende Wissen, in welchem Zustande befindet es sich in uns ? Wie geht es zu, dafs es, obschon vorhanden, dennoch nicht eher zur Be- stim[i75]mung unseres Gemüthszustandes etwas beyträgt, als bis es uns wieder einfällt? Was kann unsre lebhaftesten Überzeugungen, unsre besten Vorsätze, unsre ausgebildeten Gefühle, manchmal auf lange Zeiten, verhindern wirksam zu werden; was kann ihnen die unglückliche Trägheit beybringen, durch die sie uns der vergeblichen Reue so oft Preis geben? Andre Gedanken haben uns zu lebhaft beschäfftigt ! Dies wissen wir schon aus der Erfahrung. Und dennoch hat man sich lieber bis in die, alle ge- sunde Metaphysik zerstörenden, Irrlehren, von der transscendentalen Frey- heit, und vom radicalen Bösen, verlieren, als den psychologischen Mechanis- mus, an welchem offenbar die Schuld liegen mufs, genauer untersuchen wollen.

Der eben aufgestellte Lehrsatz ist der erste, obgleich noch sehr be- schränkte, Anfang der Einsicht in diesen Mechanismus. Zwey Vorstel- lungen reichen hin, um eine dritte aus dem Bewufstseyn völlig zu ver- drängen, und einen von ihr ganz unabhängigen Gemüthszustand herbey- zuführen. Eine allein vermag dies nicht gegen die zweyte; wie wir oben sahen, indem wir bemerkten, dafs der Rest von b niemals =o werden kann. Was aber zwey «regen die dritte vermögen, das leisten sie auch gegen eine wie immer grofse Anzahl von schwächern Vorstellungen. Fernere Untersuchungen werden lehren, dafs ganz ähnliche psychologische Ereignisse auch unter gewissen Umständen Statt haben können, ohne dafs die aus dem Bewufstseyn verdrängten Vorstellungen gerade schwächer zu seyn brauchen, als die verdrängenden.

Indessen wollen wir schon hier das Allgemeine dieser Ereignisse mit einem Kunstworte bezeichnen, dessen Gebrauch in der Folge noch oftmals nöthig seyn wird. So wie man gewohnt ist, vom Eintritt der Vor- stellungen ins Bewufstseyn zu reden, so nenne ich Schwelle des Be- wufstseyns diejenige Gränze, welche eine Vorstellung scheint zu über- s< breiten, indem sie aus dem völlig gehemmten Zustande zu einem Grade des wirklichen Vor[ 1 7 6] stellens übergeht. B er echnung der S ch w el 1 e ist ein

Ziveyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 293

verkürzter Ausdruck für Berechnung derjenigen Bedingungen, unter welchen eine Vorstellung nur noch vermag, einen unendlich geringen Grad des wirklichen Vorstellens zu behaupten ; unter welchen sie also gerade an jener Gränze steht. Wie wir vom Steigen und Sinken der Vorstellungen reden : so nenne ich eine Vorstellung unter der Schwelle, wenn es ihr an Kraft fehlt, jene Bedingungen zu erfüllen. Zwar der Zustand, in welchem sie sich alsdann befindet, ist immer der gleiche der vollständigen Hem- mung; aber dennoch kann sie mehr od er weniger weit unter der Schwelle seyn, je nachdem ihr mehr oder weniger Stärke fehlt, und noch zugesetzt werden müfste, um die Schwelle zu erreichen. Eben so ist eine Vorstellung über der Schwelle, in so fern sie einen gewissen Grad des wirklichen Vorstellens erreicht hat.

Ist von den Bedingungen die Rede, unter welchen im Zustande des Gleichgewichts eine Vorstellung gerade an der Schwelle steht: so nennen wir die letztere die statische Schwelle. Tiefer unten werden sich auch mechanische Schwellen zeigen, die von den Bewegungsgesetzen der Vorstellungen abhängen. Unter den statischen Schwellen befinden sich einige, die von Complicationen und Verschmelzungen mehrerer Vorstellungen abhängen: zum Unterschiede von denselben sollen die, welche blofs durch die Stärke und den Gegensatz einfacher Vorstellungen bestimmt werden, gemeine Schwellen htifsen. Die erste Art der gemeinen Schwellen ist die bey vollem Gegensatze, welche wir bisher betrachtet, und durch die

Formel c b\ -— bestimmt haben.

f a -4-0

+

§ 48.

Es ist hier der Ort, auf ein paar früher vorgekommene Bemerkungen zurückzublicken. Schon im § 4 ward angegeben, was unter dem Ausdruck : Thatsachen [177] des Bewufstseyns zu verstehen sey. Im § 18 war die Rede von dem Unterschiede dessen, was ins Bewufstseyn kommt, von dem- jenigen, dessen man sich bewufst ist. Zu dieser Unterscheidung nöthigt der Mangel an Sprache, welchem der Mangel an psychologischen Ein- sichten zum Grunde liegt. Viele nämlich halten das Vorstellen und das Selbstbeobachten dieses Vorstellens für unzertrennlich ; oder sie verwechseln wohl gar eins mit dem andern. Daher wird der Ausdruck : Bewufstseyn, zweydeutig; indem er bald das gesammte wirkliche Vorstellen, also das Hervorragen einiger Vorstellungen über die Schwelle, die Erhebung derselben über den ganz gehemmten Zustand, bald aber die Beobach- tung dieses Vorstellens als des uns r igen, die Anknüpfung desselben an das Ich, zu bezeichnen gebraucht wird. Wir nehmen hier das Wort Be- wufstseyn überall in der ersten Bedeutung; bedienen uns aber für das zweyte der Wendung: man ist Sich einer Sache bewufst.

Hiemit soll zwar noch nicht über die Frage von den sogenannten bewufstlosen Vorstellungen entschieden werden, oder, wie wir uns aus- drücken würden, von den Vorstellungen, die im Bewufstseyn sind, ohne dafs man sich ihrer bewufst ist. Aber, erstlich liegt nach allem Vor- stehenden klar vor Augen, dafs die Gesetze, nach welchen Vorstellungen ins Bewufstseyn treten, viel früher anfangen sich uns zu entdecken, als

2QA X.I. Psychologie als Wissenschaft.

diejenigen, nach welchen das Ich als das Vorstellende mag aufgefafst werden. Die Selbstbeobachtung ist ohne Zweifel etwas ungleich mehr Ver- wickeltes, als das blofse Hervortreten über die Schwelle; und mufs daher, in der Untersuchung, von diesem ganz gesondert werden. Zweytens bedürfen wir eines Namens für die Gesammtheit des jedesmal gleichzeitig zusammentreffenden Vorstellens; und diese ist es, für welche kaum ein passenderer Ausdruck als das Wort Bewufstseyn möchte gefunden werden. Sie ist darum so wichtig, weil sie, für jede in ihr zu einem bestimmten Zeitpuncte enthal[i78]tene Vorstellung, die Wirkungs- sphäre ausmacht ; indem alle gleichzeitig in Activität befindliche Vorstel- lungen sich auf irgend eine Weise gegenseitig afficiren, und zusammen- genommen den eben jetzt vorhandenen Gemüthszustand ergeben. Sollte es übrigens den Sprachgebrauch zu verletzen scheinen, wenn wir von Vor- stellungen im Bewufstseyn reden, deren wir uns gleichwohl nicht bewufst seyen : so wolle man sich erinnern, dafs auch selbst die ganz gemeine Sprache durch den Ausdruck: Er ist ohne Bewufstseyn, einen Zustand bezeichnet, der weit verschieden ist von dem, welchem ein Denker oder Dichter sich in dem Maafse nähert, als er, seiner selbst vergessend, sich in seinen Gegenstand wissenschaftlich oder künstlerisch vertieft.

Im § 17 bot sich die Gelegenheit dar, an Locke's gerechte Ver- wunderung über die „narrowness of the human mind" zu erinnern. Schon jetzt ist soviel sichtbar, dafs diese scheinbare Eigenschaft der Seele, nur eine sehr kleine Anzahl von Vorstellungen gleichzeitig in Thätigkeit setzen zu können, und bey dem Wechsel der Vorstellungen, immer die alten über den neuen fahren zu lassen, ohne sie doch zu verlieren, gar keine Eigenschaft der Seele, sondern blofs ein nothwendiger Erfolg der Gegen- sätze unter unsern Vorstellungen ist. In welche Hypothesen würde man wohl gerathen, wenn man dem Gemüthe gleichsam eine enge Pupille bey- legen wollte, vielleicht mit irgend einer Iris versehen, die sich nach ihren eignen Gesetzen erweiterte und zusammenzöge ? Aus dem obigen ist klar, dafs das Quantum dessen, was im Gleichgewichte beysammen seyn kann im Bewufstseyn, gar kein allgemeines Gesetz hat, sondern in jedem einzelnen Falle von der Stärke und den Gegensätzen der zu- sammentreffenden Vorstellungen abhängig ist. Von physiologischen Einflüssen, welche dieses einigermaafsen modificiren, und der Aehnlichkeit mit jener Pupille um ein weniges näher bringen können, reden wir hier noch nicht.

[179] § 49- Die Wichtigkeit des Gegenstandes fordert uns auf, einige berechnete

Werthe der so einfachen Schwellenformel c = b 1/ - vorzulegen. Wir

' a -f- 0

verbinden damit eine Betrachtung über die zugehörigen Reste von a und

von b.

Aus der Gleichung des § 46

ab(b-\- c) r = c A— ^— '— = o

bc -j- ac -\- ab

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.

'95

ist bekanntlich die Formel c

' a

a

gefunden worden.

Anstatt

diesen Werth von c in die dortigen Gleichungen für p und für q zu substituiren : nehme man die weiterhin im angeführten § vorkommende

Gleichung

wo // =■ a 2 -f- ap.

Für r = o ergiebt sich hieraus c == V k = V a2 ap, oder c2=a2 ap,

oder ap = a2 c2 = (a -f- c) (a c). Ferner ist jetzo a = p -J- q, und

c2 c2

p = a q = a , woraus q ===== , oder aq == c2.

a a

Dies giebt eine sehr fafsliche Relation zwischen q, dem Rest von b, und a, der stärksten der drey Vorstellungen, und c, wenn es seinen Schwellenwerth hat. Man kann sich q als beständige Gröfse, als den Parameter einer Parabel vorstellen, so gehört eine stetige Folge von Werthen für c und a zusammen, wie Ordinaten und Abscissen vom Scheitel auf der Axe genommen. Da a nicht <Cb, so fängt dies ein von a = b, wofür a einen Werth erhält, der von q abhängt (nämlich a = 2q, aus einer gleich folgenden Formel), und alsdann geht es fort bis a = oo (wofür b und c

unendliche von der Ordnung werden, indem b = q -j- 1/ 1-q2-\-qa.

TiSol Aus a=p-\-q\md , -

1 b q

bb

wird ferner

b a

oder q == - deich der Formel im § 44; wie gehörig, weil a und/' nur a -\- b

die Hemmungssumme b zu theilen haben, sobald c auf der Schwelle ist.

Will man also alle zusammengehörige Gröfsen auf einmal berechnen : so

bb ist es bequem, für willkührlich angenommene a und b zuerst r = q ^ ° a-\-b

dann p = a q und c=Saq zu berechnen.

Bey spiele können wir anknüpfen an die im § 44 berechneten Reste für zwey Vorstellungen, indem wir nur die Schwellenwerthe für eine dritte Vorstellung hinzufügen dürfen.

a

b

/

9

C

1

1

1 = °>5

2 'O

1

= °>5

0,707..

2

1

-5-« 1,666..

3

■! =0.333 ••

0,8l6..

10

1

rr = 9-909

77 = °'°9°

0,953

1 1

10

^ = 6,236.. 1 .„ „1 i_

IOO

—=-41761..

7,2 i7 ■■

c folgt in diesem Täfelchen ; welches unter der beständigen Voraussetzung

b = 1 berechnet ist :

296

XI. Psychologie als Wissenschaft.

a

c

1

0,7071

1,1

0,7237

1,2

o,7385

i,3

0,7518

i,4

0,7637

i,5

o,7745

1,6

0,7844

i,7

o,7934

1,8

0,8017

i,9

0,8094

a

c

2

0,8164

3

0,8660

4

0,894

5

0,912

6

0,925

7

o,935

8

0,942

9

0,948

10

o,953

00

1

[181] Es versteht sich, dafs wenn statt der Zahl 1 ein andrer Werth für b gesetzt wird, dann die übrigen Zahlen in gleichem Verhältnisse wachsen müssen. So wenn b = 10, wird a = 11 anstatt 1,1 ; und c = 7,237 anstatt 0,7237; wie das vorige Täfelchen zeigt.

§ 50.'

Will man nun die Henunungsrechnung des § 44 auf angenommene Gröfsen von drey Vorstellungen anwenden : so mufs man zuvor nachsehn, ob nicht die Anwendbarkeit der Rechnung dadurch verändert wird, dafs die schwächste der drev Vorstellungen neben den andern unter die Schwelle sinken mufs ? in welchem Falle die Rechnung gleich Anfangs blofs auf die beyden stärkeren zu beziehen ist.

Z. B. es mögen sich die Vorstellungen ihrer Stärke nach verhalten wie 1, 2, 3. Um hier das vorstehende Täfelchen anzuwenden, dividire man die gegebenen Zahlen durch 2 , damit b = 1 werde. So ist

a = -$- = 1,5; und c = 0,5. Nun zeigt das Täfelchen, dafs schon

c = 0,77 . . . neben a und b zur Schwelle sinken würde; es fehlt also viel, dafs c = 0,5 hier in Rechnung kommen könnte. Die Hemmungs- rechnung geht nach der Formel für zwey Vorstellungen, sie giebt den Rest

von a = , imd von b = . 5 s

Das Beyspiel zeigt den Nutzen, ja beynahe die Unentbehrlichkeit von Schwellentafeln. Zum Unglück hängen in der Wirklichkeit die Schwellen von so manchen, höchst verwickelten Bestimmungen ab (wie sich bald mehr und mehr zeigen wird), ja auch die allgemeinen Formeln, die sich noch finden lassen, sind so zahlreich und zum Theil so schwer zu gebrauchen, dafs nicht wenig Geduld dazu gehören wird, wenn jemals der speculativen Psychologie diese Art van Hülfsmitteln soll geschafft werden.

Indessen ist es schon ein grofser Gewinn, sich nur richtige Begriffe über diese Gegenstände zu erwerben, und im Allgemeinen die Möglichkeit und die Gesetze zu überschauen, nach denen in der Seele sich etwas ereignet und ereignen kann.

[182] In der gegenwärtigen Grundlegung können wir überdies an voll- ständige Ausführungen nicht denken. Nur erwähnen wollen wir daher der Schwellen für mehr als drey Vorstellungen.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2Q7

§ 5i- Es seyen gegeben die Vorstellungen a, b, c, d, geordnet, wie wir stets annehmen, nach ihrer Stärke von der stärksten zur schwächsten. So ist die Hemmungssumme = b -f- c -j-^ d, die Hemmungsverhältnisse sind bcd : acd : abd : abc, und der Rest von d:

abc (b -J- c -\- d)

d

bcd -|- acd -{- <?^^ -[- rt$<:

1 f abc (b 4- c )

Aus j=o folgt d=y -j —v~ - r ;—

6 K /;r -J- Äf -|- ät£

Eben so würde man für fünf Vorstellungen a, b, c, d, e, den Rest von e, oder / finden.

abcd (b -f- c -f d + e)

und aus / ••= o

bcde -}- «<r^/^ -|- abde -j- ß/r^ -f- tf^rrtf

fabcd(b -\- c -j- d)

bcd-\- acd -f- ß^-|- tf£f

Der Vergleichung wegen wollen wir die schon bekannte Formel

]/" a -\fab.b

c by - so schreiben: c=\ -■ so wird das Gesetz des Fort-

r a-j-b ' a-{- b

gangs so klar vor Augen liegen, dafs jeder Zusatz überflüssig wäre.

Es seyen nun alle Vorstellungen, aufser der jedesmaligen schwächsten,

= I. So geben die Schwellenformeln

=Y v= 0,707

0,816.

,866.

welche Reihe sich der Zahl 1 unendlich nähert. Also jemehr Vorstellungen, desto weniger darf die schwächste, um nicht auf die Schwelle zu sinken, von den stärkeren entfernt seyn. Dies gilt um so gewisser, wenn die übrigen Vorstellungen verschieden sind. Denn es wachse a, [183] so bleibt die Hemmungssumme gleich, aber a trägt weniger davon, und wirft desto mehr auf die schwächeren Vorstellungen. Es wachse auch b, so vermehrt sich sogar die Hemmungssumme, und die schwächeren müssen um so eher unterliegen.

Die Möglichkeit, dafs mehr als drey Vorstellungen im Bewufstsevn zusammen bestehen könnten, scheint hiernach in sehr enge Gränzen ein- geschlossen. Allein dies gilt blofs für vollen Gegensatz, und wird über- dies noch durch manche Umstände modificirt.

2q8 XL Psychologie als "Wissenschaft.

Drittes Capitel.

Abänderungen des Vorigen bey minderem Gegensatze.

§ 52.

Zwar das Princip zur Bestimmung der Hemmungssumme, dessen wir uns im § 42 bedient haben, wird uns auch hier nicht verlassen, wo wir die erleichternde Voraussetzung des vollen Gegensatzes entbehren, und zwischen jedem Paare von Vorstellungen jeden möglichen Grad des Gegen- satzes gestatten sollen. Immer werden wir Eine Vorstellung als ganz ungehemmt denken müssen, um nachzusehn, wie viel nun von den übrigen zusammengenommen müsse gehemmt werden; und immer werden wir diejenige Vorstellung auszuwählen haben, welche, damit sie selbst ungehemmt bleibe, den übrigen die kleinste Hemmung auferlege. Allein das Geschafft dieser Auswahl führt eine lästige Weitläuftigkeit mit sich ; die wir jedoch der Genauigkeit wegen wenigstens kenntlich machen müssen.

Zuvörderst ist zu bemerken, dafs die frühere sehr einfache Weise, die bey vollem Gegensatze ausreicht, [184] immer anwendbar ist, so oft alle Vorstellungen in allen Paaren, die aus ihnen genommen werden können, nur einerley Grad des Gegensatzes haben. Unter zwey Vorstellungen o und b, wo a > b, sey der Gegensatz = ?n, welches, wenn nicht = 1, allemal ein ächter Bruch ist 41), so ist die Hemmungssumme = mb) welches man findet, indem a ungehemmt gedacht wird. Denn b un- gehemmt, hätte ma zur Hemmungssumme gegeben, welches gröfser ist als mb. Unter drey Vorstellungen, a, b, c, wenn die Paare a und b, b und c, a und c, immer einerley Gegensatz ;/z mit sich führen, denke man die stärkste, a, ungehemmt, so ergiebt sich die H. S. = mb -f- mc. b ungehemmt, gäbe ma -|- mc) c ungehemmt, gäbe ma -\- mb) immer'' eine gröfsere Hemmung, als die Vorstellungen ihrer Xatur nach noth- wendig fordern, und als ihr Aufstreben zulassen wird. Wie viele nun der Vorstellungen seyn mögen, es seyen ihrer a -\- b -^- c -j-. ..-{-«, immer denke man die stärkste, a, ungehemmt, so ist, für den durch- gängigen Hemmungsgrad = m, die H. S. = m (b -|- c -j- -j- «)•

Bey verschiedenem Grade der Hemmung aber, für drey Vorstellungen a, b, c, giebt es drev Paare, ab, ac, bc, und folglich drey Hemmungs- grade, deren stärksten wir ?n, den mittlem n, den schwächsten p nennen wollen. Es soll noch nicht entschieden werden, welchem unter den Paaren jeder von ihnen zugehöre; vielmehr, da jeder in jedem Paare statt finden kann, giebt es Versetzungen der Hemmungsgrade zwischen den Vorstellungen, oder, wenn man will, der Vorstellungen zwischen den Hemmungsgraden. Dieser Versetzungen sind an der Zahl sechs ; und jede von ihnen bildet einen besonderen Fall zur Untersuchung der H. S. Man kann diese Fälle bequem durch Dreyecke andeuten, in deren Winkel- punrte man die Verhältnifszahlen für die Vorstellungen setzt, und deren Seiten den Hemmungsgraden proportional sind.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2QQ

[185] c b

^ n & n

I. b p a IL c p a

c a

<$> n $ n

III. a p b IV. c p b

b a

$• n & n

V. a p c VI. b p c

Die beyden ersten Fälle haben den stärksten Gegensatz zwischen den schwächsten Vorstellungen; die beiden folgenden zwischen der stärksten und schwächsten ; die beyden letzten zwischen den stärksten.

Was die Hemmungsgrade selbst betrifft, so gilt für sie ein ähnliches Gesetz, wie für die Seiten eines Dreyecks. Ihrer zwey zusammen- genommen dürfen nicht kleiner seyn als der dritte. Denn der Uebergang aus einet Vorstellung zu einer andern durch alle zwischen- liegenden Verschiedenheiten kann wohl kleiner, aber er braucht nicht gröfser zu seyn, als die Summe zweyer Uebergänge von der ersten zu einer dritten, und von dieser zu jener andern; jeder gröfsere Weg ist gewifs ein Umweg, der den wirklich zwischenliegenden Verschieden- heiten etwas fremdartiges beymischt. Ich finde nicht nöthig, die Be- griffe über diesen Punct, der eine Art von geometrischer Evidenz besitzt, hier mehr aufzuklären; welches in die allgemeine Metaphysik zurückführen würde, indem es mit der Construction des intelligibelen Raums zusammen- hängt. Beyspiele werden kaum nöthig seyn; man wird nicht in Ver- suchung gerathen, etwan p = , n == und daneben m, welches

höchstens = sevn kann, = 1 zu setzen. Wichtiger ist es vielleicht,

4

an die Natur unserer einfachen sinnlichen Vorstellungen zu erinnern. [186] Die Töne bilden ein Continuum von nur Einer Dimension, welches wir die Tonlinie nennen wollen.* Ist von ihnen die Rede, so ist allemal P -j- n = m. Hingegen schon die Vocale bilden ein Continuum von wenigstens zwey Dimensionen, denn der Uebergang vom U zum / geht gewifs nicht nothwendig durch A, sondern gerade durch Ü\ obgleich auch der Umweg durch O, A und E möglich ist. Die Farben haben eben- falls zum wenigsten zwey Dimensionen, indem schon Roth, Blau und Gelb, paarweise genommen, eine Folge von Nuancen in gerader Linie zwischen sich einschliefsen, und alle drey in der That ein gleichseitiges Dreieck zu bilden scheinen, in welchem jedoch weder Weifs noch Schwarz, noch selbst, wie es scheint, das reine Braun mit eingeschlossen liegt. Für Farben daher kann man gewifs p = n = m setzen, welches bei Temen unmög- lich ist. Hingegen wird man, wofern vier Vorstellungen von Farben zusammen zu nehmen sind, sich hüten müssen, der vierten ihre Gegen- sätze gegen alle drey andre willkührlich anzuweisen, indem auch hier, wie

* Nicht zu verwechseln mit Tonleiter, die nur einzelne Puncte jener Linie enthalt.

?00 3CI. Psychologie als "Wissenschaft.

beim vierten Puncte auf einer Fläche, aus zweyen Gegensätzen und gleich- sam Distanzen, der dritte von selbst folgt. Dies unter der Voraussetzung, dafs man nicht noch eine dritte Dimension für die Farben rechtfertigen könne, oder dafs man wenigstens in dem vorhandenen Falle von dieser dritten Dimension nicht Gebrauch gemacht habe. Es scheint zwar eine dritte Dimension vorhanden zu seyn, nämlich in dem Gegensatz des Hellen und Dunkeln, welches, auf die Mitteltinte aller übrigen Farben bezogen, Weifs, Grau und Schwarz ergeben dürfte; während doch auch alle reinen Farben bei den Extremen der Verdunkelung oder Erhellung in Schwarz und Weifs überzugehn pflegen. Allein eben aus diesem letztem Grunde laufen wir hier Gefahr, die Intensität der Vorstellungen (den Unter[i87]schied des a, b, c) zu verwechseln mit ihrer specifischen Ver- schiedenheit (dem m, n, p).

Indem wir nun die Hemmungssumme für die unterschiedenen sechs Fälle aufsuchen, werden uns die ersten beyden nicht lange zweifelhaft lassen. Offenbar ist

für den Fall I. die Hemmungssumme = pb -j- nc, IL = pc + nb.

Beydemale wird hier a ungehemmt angenommen, welches nicht blofs selbst am stärksten, sondern hier zugleich von den schwächsten Gegensätzen umgeben ist.

Aber für den Fall III. ist die H. S. j ^tweder Pa + *J

( oder mc -\- pb.

Jene findet sich unter der Voraussetzung, dafs b ungehemmt, diese, dafs a ungehemmt sey. Zwischen beyden kann man nicht im Allgemeinen, son- dern nur in besondern Fällen entscheiden, weil zwar pa > pb, aber zu- gleich nc < mc.

Für den Fall IV. ist die H. S. ] entweder^ c + na wo zwzrpc<mc,

i oder mc -\-nb

aber na > nb.

Für den Fall V. ist die H. S. ( entweder/« + np ^ zwar pa>pCi

\ oder mp -\-p c aber nb < mb.

Der letzte Fall endlich ist der schwierigste. Denn

( entweder pb -(- na für den Fall VI. ist die H. S. I oder ma-\-pc

\ oder mb -j- ?ic

wo keine der drey Angaben vor der andern einen im Allgemeinen zu erkennenden Vorzug besitzt. Sind die Gröfsen in Zahlen gegeben, so versteht sich, dafs man in allen Fällen die kleinste sogleich herausfinden werde. In allgemeinen Rechnungen aber entsteht hieraus eine Unbequem- lichkeit, indem sie oft nur bis auf einen gewissen Punct vollführt werden können, über welchen hinaus man sich auf die Unterscheidung der mög- lichen Fälle einlas[i88]sen mufs. Diese Unbequemlichkeit vermindert sich um etwas durch die Bemerkung, dafs nur in zweyen Angaben, beym Fall V. und VI., c in der Hemmungssumme fehlt. Diese kann man als Ausnahmen betrachten, und dagegen als Regel annehmen, dafs c sich in der H. S. befinde.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ?oi

Wer noch Erläuterungen wünscht, der versuche im Fall III. an- zunehmen, dafs c ungehemmt bleibe. Daraus wird folgen, dafs ci und b so weit sinken müssen, als es ihr Gegensatz gegen c mit sich bringt. Also wird die Hemmungssumme = ma -f" n&- Man vergleiche hiemit die obigen Angaben. Die erste, unter der Voraussetzung, b sey un- gehemmt, war pa -j- nc; diese ist allemal kleiner als jene, derm pa << ma, und ;/ c <; nb- Schon hieraus folgt, dafs die Angabe ma -\- nb ganz un- statthaft ist; und die andre Vergleich ung mit mc -\- pb ist nicht mehr nöthig. Auf ähnliche Weise ist im Fall V. die Annahme, b sey un- gehemmt, ausgeschieden; sie hätte gegeben: H. S. = ma -\- nc, welches verglichen mit inb -L. pc allemal gröfser, und also unbrauchbar ist. Und so sind auch die übrigen unstatthaften Annahmen ausgeschlossen worden.

Auf die Hemmungssumme für mehr als drey Vorstellungen werden wir uns nicht einlassen. Die abschreckende Weitläuftiq-keit der Untersuchung:, auf die man aus dem Vorstehenden schliefsen kann, einerseits, und die mindere Wichtigkeit der Sache andrerseits, wird dies entschuldigen. Natür- lich kommt bey mehr als drey Vorstellungen das Meßte immer auf die drey stärksten an. Sucht man für diese die Hemmungssumme, und addirt dazu, für jede der schwächeren, denjenigen ihrer Gegensätze gegen jene drey, welcher der stärkste ist, und also die geringeren in sich fafst: so wird man schwerlich einen bedeutenden Rechnungsfehler begehn können. Aufserdem giebt die oben erwähnte Voraussetzung eines .durchgängig gleichen Hemmungsgrades aller Vorstellungen unter einander, immer einen Gesichtspunct ab, von wo aus man sich unter den übrigen möglichen Fällen [189] orientiren kann. Diesem analog ist der Fall, wo alle Vor- stellungen gleich stark, aber die Hemmungsgrade verschieden sind. Hier hebe man zuvörderst diejenigen drey Vorstellungen heraus, welche unter einander die gröfste Hemmungssumme bilden. Eine darunter wird bey Bestimmung der H. S. als ungehemmt betrachtet werden; dieser gegen- über denke man sich die sämmtlichen übrigen als sinkend nach ihrem Hemmungsgrade, und addire, was herauskommt, zur Hemmungsumme der herausgehobenen drey. Das Gesagte wird für unsre gegenwärtigen Zwecke völlig hinreichen.

§ 53-

Die Bestimmung des Hemmungsverhältnisses bei minderem Gegensatz ist noch bey weitem schwieriger, als die der Hemmungssumme, falls dabey auf alle Umstände, die vorkommen können, soll Rücksicht genommen wer- den. Die Angabe derselben gehört in die folgenden Capitel; hier werden wir nur das Leichteste, Allgemeinste, und was die Grundlage der Unter- suchung bildet, in Betracht ziehen.

Zuerst müssen die Ueberlegungen des $ 43 zurückgerufen werden. An der Stelle, wo dort gesagt wurde, jede Vorstellung wirke im Ver- hältnifs ihrer Stärke, ist jetzt hinzuzufügen: und im Verhältnisse ihres Gegensatzes. Daher leidet nun auch jede Vorstellung nicht blofs im umgekehrten Verhältnifs ihrer Stärke, sondern sie leidet von jeder andern nach dem Hemmungsgrade, den sie gegen diese andre bildet. Bey zweyen Vorstellungen hebt dieses sich auf, aber nicht so bey mehrern.

302

XI. Psychologie als Wissenschaft.

oder , b ab

Aber für drey Vorstellungen, und drey Hemmungs-

Für a und b, und den Hemmungsgrad vi, sind die Hemmungsverhältnisse

771 7)1

a'

grade, müssen wir die Sache etwas genauer betrachten.

Wir gehn zurück zu den oben unterschiedenen sechs Fällen, wie- wohl nur, um uns der dortigen Bezeichnung zu bedienen, denn der Unter- schied der Fälle selbst kommt [190] hier nicht in Anschlag. Beyspielshalber nehme man den Fall I. Hier leidet a von b und von c. Laut § 43 würde es von beyden gleich viel leiden, wenn der Gegensatz voll wäre. Jetzt leidet es weniger, von b im Verhältnifs p, und von c im Verhält-

P ~r~ n Also ist sein Leiden überhaupt durch die Verhältnifszahl

a

nifs n.

zu bestimmen, wenn wir auf ähnliche Weise das Leiden von b durch

m -1— n

Es ist nun leicht, die

und das von c durch - - ausdrücken

b c

sechs Fälle zu durchlaufen. Jeder bekommt sein eignes Hemmungs- verhältnifs, aber nur nach einerley Regel, indem man für jede Vorstellung die nebenstehenden Hemmungsgrade addirt, und daraus den Zähler eines Bruches bildet, welchem die eigne Stärke der Vorstellung zum Nenner dient. Dies ist alles, was für jetzt von den Hemmungs- verhältnissen kann gesagt werden; auch ist es auf mehr als drey Vor-

stellungen leicht auszudehnen.

§ 54-

Wir dürfen nur das Vorhergehende zusammenstellen, um die Hem- mungsrechnung anzuordnen. Es seyen gegeben die beyden Vorstellungen a und b, der Hemmungsgrad ;«, so hat man

7)i b2

(«+*)

7)1 i

a

a + b mab

P

a

q = b

m b2

a + b 7)1 ab

a + b ist der Rest von a,

ist der Rest von b.

a + b

Beyde Reste zusammen sind = ci - - (1 - m) b, wovon man, wenn der eine in Decimalbrüchen schon berechnet ist, denselben nur abziehn darf, um den andern zu finden.

[191] Bey spiele :

« I, h = 1, m = ~} giebt P = \ m -= -i-, giebt p=-\ giebt p =

m

a= 1, b = 1 a= 1, b = 1

a = 2, b = 1 a = 2, b = 1 für a = 00 wird p

m = -i-, giebt p --

m= y> giebt /; = a, q = (1

8 5

8 : 11

T

q = f = °>75

? = f = 0,87

5

= f = 0,625

= 1,833.., q = = 0,666..

1,916 . . , q = 0,833 . . - m) b.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.

305

Für drey Vorstellungen nehme man die Hemmungssumme aus §52, und nenne sie S; die Hemmungsverhältnisse aus § 53 ; auch nenne man die Zähler der Brüche, wodurch die Verhältnisse bezeichnet werden, 1, rt, &;

l 1] d~

so sind ganz allgemein die Verhältnifszahlen = , -£-, ; oder bei, acri,

a b c

abd; und die Rechnung steht so:

(bei -\- ac )] -{- abd) :<

ba.

ac r, = S:

abd

bciS

bei -\- aci] -\- abd

ae>]S bei -\- aci] -|- abd

abd-S

bei -j- aci] -\- abd woraus sich die Reste durch gehörigen Abzug ohne Mühe finden. Man weifs schon, dafs für den Fall L, 1 = p -j- n, i] = p -f- m, d = m -J- 11 ; für den Fall IL, t = p -\- n, i] m -)- n, d = m -f- p; für den Fall III., t=p-\-tn, ij=p-\-n, & = m -f- », «• s. f. Die Werthe von e, q, d, liegen zwischen o und 2.

Für durchgängig gleiche Hemmungsgrade, oder für p = m = n, folg- lich e = >] = d, fallen diese Gröfsen aus den Verhältnifszahlen heraus, und bleiben nur noch in der Bestimmung von S zurück ; daher verhalten sich alsdann die Theile, welche gehemmt werden, zu den entsprechenden im § 44, gerade wie 5 : (b -f- c).

§ 55- Die Berechnung der Schwelle für die schwächste der drey Vor- stellungen stützt sich hier auf die Gleichung: [192] abdS

bei -j- aci] -j- abd oder C2- (bi -j- arj) -J- ab de = abdS, wobey man nicht vergessen darf, dafs £ in der Regel nach e enthält, also die Gleichung nicht so geradezu kann aufgelöset werden.

Wir wollen hier c = 1 setzen, indem wir es als den beständigen Maafsstab der übrigen Gröfsen ansehn, und aus ihm die zugehörigen b

und a berechnen. Auch sey -— = x, welches also das Verhältnifs zwischen

(i und b andeutet, und uns die Substitution a = y.b verschafft, wodurch die Gleichung zur Division mit b vorbereitet wird. Su kommt

1 + xi, -\- xbd = xbdS

oder i+-^ b (S—i). xd

Bekanntlich liegen die Werthe von a zwischen b und cc ; also die von x

zwischen 1 und 00 . Und da S, nach § 52, meistens b und e, jedes

mit einem Hemmungsgrade multiplicirt, enthält, so sey 5 = ob -j- rr,

oder weil c = 1, S = ob -\- r; alsdann ergiebt sich

für a

1 -4- i] b, oder x = 1, L__i = b (ab -f- r 1)

304 -^- Psychologie als Wissenschaft.

7 I~T 1 l/*1"— r)2 1 * + V

woraus b = \- 1/ -

2a ~ V 4a2 ' $0 für a = 00 , also x = x> , ~ = /) (a£ -|- r 1)

Xf

(A)

woraus 3 = I=? + /^- + A (B)

Diese Gleichungen sind für die Bestimmung der Schwellen wichtig, indem sie dieselben in ihre Gränzen einschliefsen. Wenn a = b beyde kleiner sind, als die Gleichung A anzeigt, so sey übrigens ihre Gröfse welche sie wolle, sie können c = 1 nicht auf die Schwelle bringen. Wenn b allein, kleiner ist als die Gleichung B angiebt, so sey a so grofs es wolle, es bringt doch [193] nicht c = 1 auf die Schwelle. Wenn endlich b (folglich auch a) gröfser ist, als die Gleichung A bestimmt, so ist c = 1 allemal unter der Schwelle, b und a mögen übrigens se}m was sie wollen.

Die beyden Gränzen für b liegen, wie die Formeln zeigen, sehr nahe beysammen. Ihr ganzer Unterschied hängt ab von 1, welches in dem zweyten Theile der Wurzelgröfse einmal zugegen ist, das andremal fehlt. Da e, als Summe zweyer ächten Brüche, höchstens = 2 seyn kann, so müßte & oder a sehr klein seyn, wenn der Unterschied bedeutend werden sollte.

Wir haben die Gültigkeit dieser Formeln auf die Voraussetzung be- schränkt, dafs b und c in der Hemmungssumme sich befinden. Falls statt dessen a und c in ihr vorkommen, behält dennoch S die Form ab -j- t, nur mufs alsdann a zugleich /. einschliefsen. Nämlich es sey die H. S. na -\- xc, so ist dieses = ny.b -f- xc, wegen a -|- y.b; nun lasse man in diesen Fällen tiy. = o seyn, so passen auch jetzt die nämlichen Formeln. Man denke aber nicht, dafs a darum eine grofse Zahl werden könne. Denn obschon ■/. bis zum Unendlichen wachsen kann : so wird <i, wemi es einigermafsen grofs ist, niemals in der Hemmungssumme vor- kommen.

Nur die beyden Fälle, wo c in der Hemmungssumme fehlt, nöthigen uns zu einer neuen Rechnung. Für dieselben sey S = :ia-\-rb = b (nx -j- t), so wird, wenn nx = a),

t -4— xv.

aus -X-J = b(S-i)

jetzt für x = i, —^ = bb (a ~f- r) b

]/ 1 4 (* - - v) - - T woraus b - ( . [ 1 -\- 1/ 1 -|-

2 4- t) ' V " &

Es ist aber in beyden hieher gehörigen Fällen a-\-r-=p-\-n = d; daher die eben gefundene Formel noch einfacher so zu schreiben ist:

[194] *=2V(I+K: + 4 (* + *?))•

Dies ist die eine Gränze, über welche b nicht steigen darf, wofern c = I nicht auf jeden Fall unter der Schwelle seyn soll. Die andre Glänze, unter welcher b nicht seyn darf, mufs aus den vorigen Formeln

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ^q

6^ö

entnommen werden. Denn wenn a = -jo , gehört es gewifs nicht selbst zur Hemmungssumme.

Demnach ist die Formel B ganz allgemein, und zwar in der ersten Bedeutung von n; nur die Formel A erleidet zuweilen die angegebene Abänderung des Werths von a, und in seltnen Fällen tritt in ihre Stelle die Formel C.

§ 56.

Nimmt man durchgängig gleiche Hemmung an, also p n = m, und f i, = d , auch a =-— t = in, so verschwindet aller Unterschied der sechs Fälle; a kann in der H. S. nicht vorkommen, und die Glei- chungen A und B verwandeln sich in folgende:

... . 1 m + V(i vi)'1 -f- 8?/ß

für a = o, 0= -

2 m

für a = -X) , b =

;//

Hieraus ergiebt sich in Zahlen folgendes : soll c = 1 auf die Schwelle

gebracht werden, so ist für m = 1

b höchstens = 1,414 . . b wenigstens = 1

*&'

[195]

m

=

0,9

I.-547

m

=

0,8

1,711 .

m

=

0,7

1,918 .

.

m

=

o,6

2,180 .

m

=

o,5

2,561 .

in

=

o,4

3,108 .

111

=

o,3

4

in

=

0,2

5.740

111

=

0,1

10,840

I,III

1,25

1,428 1,666

2,5

0

10

III = 0,01

100,98 . . 100

Hier nimmt die Differenz der zusammengehörigen Werthe zwar immer zu; aber im Verhältnifs gegen die Zahlen selbst sehr stark ab.

Wie die Voraussetzung des durchgängig gleichen Gegensatzes in der Mitte aller Fälle liegt, und zugleich für die Rechnung eine Bequemlichkeit mit sich führt: so giebt es noch ein paar andre Arten, etwas Mittleres zwischen zwey Fällen hervorzuheben. Man kann rt = .'), und zugleich

o = r setzen, wodurch sieh die Gleichung B in b = verwandelt:

Herbart's Werke V. 20

?o6 XI. Psychologie als Wissenschaft.

Erstlich, wenn man in den Fällen I. und IL p = n setzt, wodurch der Unterschied dieser Fälle aufgehoben wird. Denn

im Fall I. ist r\ = p -(- m, fr = vi -j- n, n = p, r = n, im Fall IL ist it = vi -\- ji, fr = vi -\- p, n = n, x ■= p. Zweytens, wenn man in den Fällen IV. und VI., ;;/ = n setzt, wodurch der Unterschied dieser Fälle, wenigstens in Beziehung auf a = co , also auf die Gleichung B verschwindet. Denn hier kann nur diejenige Angabe der H. S. brauchbar seyn, in welcher kein a vorkommt. Dies vorausgesetzt, findet sich

im Falf IV. i; '=. p -f- v, fr = vi -\- p, n = ;/, t = m, im Fall VI. it == p -{- vi, fr = n -j- p, a === m, r = ;/, wo wiederum für ;/ = vi der Unterschied wegfällt.

In den Fällen I. und IL wird also b = , in den TiOÖl Fällen IV. und

P L

VI. aber b —- für a = oo . Be^•des sind die niedrigsten Werthe, welche m

b haben darf. Aber jener ist grüfser als dieser. Sehr natürlich, denn

die Hemmungssumme ist in jenen Fällen kleiner, daher mufs b mehr

Kraft besitzen, um c zur Schwelle zu treiben.

Aber die Gleichung p = n macht auch die sämmtlichen Fälle I. IL III. und IV. einander gleich in Hinsicht der Gränzformel A. Denn diese Formel beruhte auf der Annahme a = b ; dafür aber werden die Hem- mungssummen alle = p (b -f- c), also wiederum n = t, und auch die Summe e •{- ij bleibt sich gleich, während t) für sich überall gleich ist.

Ob es sich belohnen könne, den verschiedenen Werthen, welche die gefundenen Formeln anzunehmen fähig sind, noch genauer nachzugehn : dies läfst sich im Allgemeinen nicht entscheiden. Vielleicht wird man künftig entdecken, dafs zur Erklärung gewisser, in der Erfahrung vor- kommenden Phänomene, auch die feinsten Unterschiede, deren Möglich- keit in den Formeln liegt, müssen berücksichtigt werden.

Hier mag noch ein kurzes Rechnungs-Beyspiel Platz finden. Man nehme, der Bequemlichkeit wegen, die Hemmungsgrade als gegeben an;

es sey p = , n = , vi = ; und hieraus für den ersten Fall e = , i, = i, fr = auch a = , r = . Nun suche man zuerst

die Gränzen für b. In § 55 giebt die Gleichung A, b = ^,,^y . . . die Gleichung B giebt b = 3,05. Zwischen diesen beyden Werthen mufs man b annehmen, damit c = 1 auf der Schwelle ^ey;- welches für ein kleineres b nicht möglich wäre, wie stark auch a seyn möchte ; für ein gröfseres sich von selbst verstände, oder eigentlich wäre dann c nicht auf, sondern unter der Schwelle. Gesetzt demnach, b sey =3,1; so

giebt die Formel

•/.fr

Hingegen sey b = 3,5, so wird v. = 1,19 . , und a = 4,16 .. . Länger

wollen wir hie[i97]bey nicht verweilen; indem wichtigere Untersuchungen

bevorstehn.

TJp. = l (ß— 1), * = 11,4; folglich a == 35,3 ..

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 3°7

Viertes Capitel.

Von den vollkommenen Complicationen der Vor- stellungen.

§ 57-

Die Voraussetzungen, deren Folgen wir bisher aufgesucht haben, waren so einfach, dafs die mannigfaltig verwickelten Zustände des Be- wufstseVns ihnen selten genau entsprechen können. Aber eben so hebt auch die Statik der Körperwelt von Untersuchungen an, die auf die Wirklichkeit nicht vollkommen passen. Der einfache Hebel, ohne eigne Masse und Schwere, die Bewegung fallender und geworfener Körper im luftleeren Räume, der Schwerpunkt von mathematischen Flächen und Curven, alles dies sind Gedankendinge, die dennoch in der Wissen- schaft den Vortritt haben vor den realen Gegenständen, weil sich an jenen besser als an diesen die Elemente der Wissenschaft nachweisen lassen. In der Psychologie können wir bey dem Mangel oder doch der Schwierigkeit bestimmter Beobachtungen weniger darauf ausgehn, ir- gend ein wirkliches und individuelles geistiges Ereignifs genau zu erkennen und zu erklären : als die einfachen Gesetze einzusehen, deren höchst mannigfaltige Verflechtung die Wirklichkeit bestimmt. Doch es ist nicht nöthig, über das Voranstellen der abstractesten Voraussetzungen demjenigen ein Wort zu sagen , der von irgend einem Theile der angewandten Mathematik auch nur oberflächliche Kenntnifs hat.

Das grofse Prinzip, welches minder offenbar schon die bisherigen Untersuchungen leitete, und immer klärer die [198] folgenden bestimmen mufs, ist die Einheit der Seele. Darum, weil die Vorstellungen alle in Einem Vorstellenden als Thätigkeiten (Selbsterhaltungen) desselben bey- sammen sind, müssen sie Ein intensives Thun ausmachen, sofern sie nicht entgegengesetzt und nicht gehemmt sind. Eben darum auch müssen sie sich hemmen, in so weit ihr Gegensatz es mit sich bringt. Weder un- angefochten, noch un vereinigt können sie bleiben; das erste haben wir bisher betrachtet, das zweyte müssen wir jetzt suchen, allmählig in seinen nähern Bestimmungen kennen zu lernen. Eben dadurch werden wir die abstracten Voraussetzungen mehr und mehr dem Wirklichen an- zupassen im Stande seyn.

Zuerst mufs hier hingewiesen werden auf die verschiedenen Con- tinua, welche durch ganze Gassen von Vorstellungen gebildet werden. Die sämmtlichen Farben ergeben Ein Continuum , die Gestalten ein anderes; die Töne machen ein drittes; die Vocale ein viertes, selbst die Consonanten können wenigstens zusammengestellt werden ; an Gerüche, Geschmäcke, Gefühle ist kaum noch nöthig zu erinnern. Auch lehrt die Erfahrung, dafs zwar verschiedene Vorstellungen aus Einem Continuum einander entgegengesetzt sind, aber nicht Vorstellungen aus verschiedenen Continuen. Die Farbe hemmt nicht die Vorstellung des Hörbaren, viel- mehr das. hörbare Wort, die sichtbare Schrift, und ein von beyden ganz verschiedener Gedanke, der aus mancherley, durch verschiedene Sinne

20 ;;

308 XL Psychologie als Wissenschaft.

wahrgenommenen Eigenschaften irgend eines Dinges zusammengesetzt ist, alles dies tritt in eine Verbindung, die unerklärlich wäre, wenn die grofsen Verschiedenheiten so heterogener Vorstellungen für hemmende Gegen- sätze zu halten wären.

Aus dieser Erfahrung, deren genauere Prüfung und gehörige Be- schränkung nicht dieses Orts ist, wollen wir hier blofs den, schon a priori wenigstens möglichen, Gedanken herausheben, dafs es mehrere Continuen von Vor[ 199] Stellungen geben könne, aus deren einem in das andere kein hemmender Gegensatz hinübergreife, während innerhalb eines jeden alles Mannigfaltige in bestimmten Hemmungsgraden einander im Bewufst- seyn verdunkele.

Nun mufs alles gleichzeitige wirkliche Vorstellen, wegen seiner Durch- dringung in der Einheit des Vorstellenden, sich vereinigen, so weit die Hemmung es nicht hindert. Hier ist sogleich offenbar, dafs es zwey ganz verschiedene Arten der Vereinigung geben müsse, je nachdem ein paar Vorstellungen entweder aus einerley Continuum sind, oder aus verschiedenen. Im ersten Falle werden sie nach dem Grade ihrer Un- gleichheit sich hemmen, und sich nur so weit vereinigen, als die Hem- mung es zuläfst. Im andern Falle ist zwischen ihnen keine gegenseitige Hemmung, sie können sich also gänzlich verbinden.

Zwar auch im letztern Falle wird eine zufällige Hemmung die Verbindung beschränken können. Es seyen die Vorstellungen a und « gleichzeitig im Bewufstseyn, wo die Verschiedenheit der zur Bezeichnung gewählten Alphabete auf Vorstellungen aus verschiedenen Continuen hin- weist: sind nun noch andere Vorstellungen, b, c, ß, y, gegenwärtig, so wird a durch b und C, a durch ß und y gehemmt; und um so viel als die Hemmung beträgt, die Möglichkeit der Vereinigung von a und « ver- mindert. Denn das Streben einer gehemmten Vorstellung ist ausschliefsend wider die hemmenden gerichtet; und da die Vorstellung einzig in diesem Streben noch besteht, so hat sie nun nur ein isolirtes Daseyn, und un- geachtet der Einheit der Seele, worin sie immer noch mit allen andern Vorstellungen ein intensives Eins ausmacht, kann sie sich doch nicht mit irgend einer andern, selbst nicht mit einer ihr gleichen, zu einer Total- kraft verbinden. Wenn daher a und « zum Theil gehemmt, zum Theil aber noch als wirkliches Vorstellen, gleichzeitig im Bewufstseyn zusammen- treffen: so entsteht eine unvollkommne [200] Verbindung beyder; der Grad der Verbindung aber hängt nicht von ihnen selbst, sondern von den zufällig mitwirkenden Kräften ab.

Jetzt wird die Eintheilung verständlich seyn, welche den weitern Untersuchungen mufs vorangestellt werden. Vorstellungen aus ver- schiedenen Continuen können sich gänzlich verbinden, so dafs sie nur Eine' Kraft ausmachen, und als solche in Rechnung kommen; dergleichen Ver- bindung nenne ich eine vollkommene Complication. Vorstellungen aus einerley Continuum können sich, wegen des unter ihnen stattfindenden Gegensatzes, nicht gänzlich verbinden. (Falls sie nicht gänzlich gleich- artig sind, wie die Wiederhohlungen der nämlichen Wahrnehmung) ; als- dann ergiebt sich aus ihrer Stärke und ihrem Gegensatze das Gesetz, wie genau ihre Vereinigung werden kann; dergleichen Vereinigungen nenne

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ?oQ

ich Verschmelzungen. Endlich wegen zufälliger Hindernisse kann es sowohl unvollkommne Complicationen als unvollkommne Ver- schmelzungen geben.

§ &?■

Es seyen zwey vollkommene Complexionen gegeben, A = a -\- «, und B = b -\- ß. Welches wird die Summe und das Verhältnifs ihrer Hemmung seyn?

Die Summe macht bey vollkommenen Complicationen keine besondere Schwierigkeit. Denn das Widerstreitende, Unvereinbare gewisser Vor- stellungen, welches einmal in ihrer Natur liegt, kann durch ihre Ver- bindungen nicht gröfser noch kleiner werden. Sowohl a und b bilden unter sich, als a und ß unter sich, eine Hemmungssumme nach den obigen Bestimmungen; beydes addirt, ergiebt die H. S. der Complexionen A und B. Es sey also der Hemmungsgrad zwischen a und b, = p; zwischen a und ß, = n; so ist nur noch zu bedenken, dafs, obgleich A^> B, dennoch u •< ß seyn kann, wofern nur um so mehr a > b. An- genommen, dafs sich dies also verhalte: so ist die H. S. = pb -\- na.

Mehr Mühe macht das Hemmungs- Verhältnifs. Man [201] wolle hier zurückblicken in die §§ 43 und 53. £0 fern die Complexionen als widerstehende Kräfte betrachtet werden, sind sie Totalkräfte; sie leiden im umgekehrten Verhältnisse dieser Totalkräfte, sie wirken auch der da- durch erhaltenen Spannung gemäfs zurück. Aber so fern die Wirkung einer jeden unmittelbar von ihrer Stärke und ihrem Hemmungsgrade ab- hängt, entsteht eine Schwierigkeit oder wenigstens eine Weitläuftigkeit aus dem Umstände, dafs die Bestandteile der Complexionen einen ver- schiedenen Hemmungsgrad haben können, und dafs in so fern auch die Kräfte als aus verschiedenen Bestandtheilen zusammengesetzt betrachtet werden müssen. Wir wollen nun die drey Ueberlegungen des § 43 er- neuern.

Erstlich: A wirkt im Verhältnisse ap -(- u.n.

Zwevtens: A wirkt im Verhältnisse seiner Spannung = .

1 o A

Drittens: A leidet im Verhältnisse .

A

Dasselbe läfst sich leicht auf B anwenden.

\xr t i- -i ap-A-un bp -\- ßn

Wotern nun hier, so wie oben, und = 1 wäre

A B

(denn wenn man ein gleichartiges Vorstellen von der Stärke A, als aus Theilen a und a besteherd, und eben so ein andres gleichartiges Vor- stellen von der Stärke B, als aus Theilen b und ß bestehend, betrachten

a -j- «

wollte, so wäre p=n, und bey vollem Gegensatze = 1, und

aber = i), so würde blofs das Verhältnifs des Leidens, : , B h AB

übrig bleiben. Jetzt aber ist nur in speciellen Fällen p = n, und des-

■i i o XL Psychologie als Wissenschaft.

halb mufs das Hemmungsverhältnifs aus allen den angegebenen Gröfsen zusammengesetzt werden.

Indem nun die Hemmungssumme die Spannungen in den Verhält- nissen — und bewirkt*), mufs sie zu("2o2]gleich in dem Verhältnifs der AB1 L JO

i T bp 4- ßn ap 4- an «

wirkenden Kräfte und : vertheüt werden. Die erste

B A

Kraft nämlich ist diejenige, die A durch B erleidet, die andre Kraft ist

die, mit welcher A auf B einwirkt. Also dieses zusammengenommen

sind die Verhältnifszahlen :

1 bp 4- 8 n i ap 4- « n . ,

. r ^ ^ , . -?—±- , oder bp 4- ßn, ap 4- an. Für p = n

A B ' B A r \ i > r r

wird daraus B, A; wie gehörig nach §§ 43 und 53.

§ 59- Wir schreiten fort zu drey Complexionen, A = a -\- u, B = b -\- ß, C=c-\-y, wo A die stärkste, C die schwächste, während die Bestand- theile mancherley Gröfsenverhältnisse haben können. Auch seyen die Hemmungsgrade

zwischen a und b, p-, zwischen « und ß, n a ,, c, n; « y, v

b c, m; ß y, ft.

Um nun zuerst blofs die wirkenden Kräfte zu betrachten, so fern sie von der Stärke der Vorstellungen und den Hemmungsgraden unmittelbar abhängen, so wirkt

A auf B im Verhältnifs ap 4- an, auf C an -\- a>>,

B auf A bp -\- ßn.

auf C bm-\-ßu,

C auf A cn -\- yv,

auf B cm -f- ■/,//.

Mit jedem dieser Verhältnisse ist zusammenzusetsen die Spannung der wirkenden Vorstellung. Endlich ist mit der Summe der Kräfte, von denen eine jede Com[2 03]p)exion leidet, zusammenzusetzen das umgekehrte Verhältnifs ihrer Totalkraft, nach welchem sie sich den einwirkenden Kräften unterwirft. Auf diese Weise entspringen folgende Verhältnifszahlen :

[bp 4- ß* cn 4- yv\ I

A leidet im Verhältnifs F ~ ' 1 ^— . -

\ B C J A

c _ föi±*r +

C

cm

+ 7,"

C t

bin

-f AM

A 1

B]

1

J ~C'

*) Diese anspannende Wirkung der H[emmungs] S[umme] bleibt während der ganzen Zeit ihres Sinkens immer in denselben Verhältnissen, denn bey jedem neuen Element, welches sinkt, fragt sich gleichsam von neuem, wie es vertheüt werden solle i und es regt dadurch die widerstrebenden Kräfte auf. Auch widerstehen dieser Ver- theilung immer die ganzen Vorstellungen, folglich die nämlichen Kräfte.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 3 1 1

Kürzer: C(bp -j- ßn) -J- B{cn -f- yr) ;

C{ap -j- «y-z) -|- ^4 (/« -f- yu);

B {an -f ar) -f -J (* « "f /*/')■

Zwey Bemerkungen könhen hier sogleich hinzugefügt werden.

lp + ßn

Erstlich: es sey p ==■ tt, n = v, m = tu ; so wird -— ==/>

^ —i— y

weil "o— = 1 ; eben so bev den folgenden ähnlichen Gröfsen; daher B

werden die Vrerhältnifszahlen

P -j- n p -\- m n-\r m

A '■ ' ~B~~' C~

ganz ähnlich jenen im § 53.

Zweytens: es sey b = ß, c = y, a —=. u, so ist A =2a, B = 2b, C ' = ic\ und die Verhältnifszahlen werden :

p -f- tt -|- n -\- v p -j- n -f- w + /< ;/ 4~ '' + ;w ~h 1"

Zur Abkürzung kann man auch hier wieder die zu A, B, C, ge- hörigen Zähler mit t, rh Ö bezeichnen. Nur dürfen die Bedeutungen dieser Buchstaben dann nicht mit den obigen verwechselt werden. Die- selbe Erinnerung trifft auch p, m und n.

Was die Hemmungssumme für drey Complexionen anlangt : so er- giebt schon der vorige §, dafs dieselbe auch hier die beiden Hemmungs- summen für die Bestandteile der Complexionen in sich schliefse.

Uebrigens mufs es hier genügen, dafs drey binomische Complexionen zur Untersuchung gezogen werden. [204] In das Detail, welches mehrere und vieltheilige Complexionen verursachen würden, können wir uns nicht einlassen.

§ 60.

Die Berechnungen, welche aus den bisherigen Bestimmungen folgen, •werden den grufsen Einfiufs der Complicationen unserer Vorstellungen ins Licht setzen : Für zwey Complexionen ist die Rechnung im All- gemeinen diese :

r/ 1 j.\ -a 1 / 1 a\ "I ic l v\ y(a + *)/ + (" + ß)n

yaß + a.Tt j{a-\-b)p-\-(a + (i)n

Durch S und ^" deute ich nämlich die beyden Theile der Hem- mungssumme an, deren einer aus a und b, der andere aus « und ß ent- springt.

1. Wir wollen annehmen, Ä und B seyen ähnliche Complexionen, d. h.

a:a = b: ß-} also ß == ■■ - und bp -j- ßn = b (p -f- - - n) = ~~ {aP + an)'>

a ad

daher beyde Verhältnifszahlen ganz kurz =b und a; demnach

X12 XI. Psychologie als Wissenschaft.

a + t)

b

fl

das heifst: zwey ähnliche Complexionen hemmen sich im um- gekehrten Verhältnisse ihrer analogen Theile.

Bey spiel: die Vorstellung eines Klanges von der Stärke = 2 sey complicirt mit der Vorstellung einer Farbe von der Stärke = 3 ; die Vor- stellung eines andern Klanges von der Stärke = 8 sey complicirt mit der Vorstellung einer andern Farbe von der Stärke = 12; die Verschiedenheit der Farben sowohl als der Klänge sey welche sie wolle : so wird von der ersten Complexion viermal so viel gehemmt als von der zweyten.

2. Die Hemmungsgrade seyen gleich, oder p = n; [205] so lassen sich dadurch die Verhältnifszahlen dividiren, und die Rechnung bekommt folgende Form :

(S+2)A

A + ß

Das heifst: wenn unter den Bestandteilen zweyer Com- plexionen nur einerley Grad der Hemmung herrscht: so ist die Gröfse dieser Bestandtheile von keinem Einflufs auf das Ver- häitnifs der Hemmung, wofern nur die ganzen Complexionen gleich bleiben, als von welchen nun allein das Hemmungsver- hältnifs abhängt.

Der Gröfse nach aber sind die zu hemmenden Theile um so kleiner, je ungleicher an Gröfse die Bestandtheile der Complexionen. Dieses folgt aus der Hemmungssumme, welche von jedem Paar entgegengesetzter Vorstellungen nur die kleinste in sich fafst.

Bey spiele: Ein Klang = 2 sey complicirt mit einer Farbe = 3, ein andrer Klang = 2 mit einer andern Farbe = 4 ; überdies voller Gegensatz sowohl zwischen den Klängen unter einander als zwischen den Farben; so ist die H. S. = 2 -f- 3 das H. V. wie 6 : 5, also leidet die erste Complexion die Hemmung von 3°, die andre von . Es sey aber ein Klang = 1 complicirt mit einer Farbe = 4, und ein andrer Klang = 3 mit einer Farbe = 3 ; der Gegensatz wie vorhin : so ist die H. S. = i (— 3 = 4, das H. V. wie 6:5, also wird von der ersten Com- plexion gehemmt , von der andern -°.

3. Es sey bp -\- ßn = ap -f- « n, oder p [b d) = n ß), oder p:n = (a ß) : (b a), so ergiebt sich der Satz: von beyden Complexionen wird gleich viel gehemmt, wenn die Hemmungsgrade sich umgekehrt ver- halten wie die Differenzen der ihnen zugehörigen Vorstel- lungen. [206] Damit dieses möglich sey, müssen die Complexionen un- ähnlich seyn in dem Grade, dafs jede bestehe aus der stärksten des einen

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. -i t -i

Paares entgegengesetzter Vorstellungen, und aus der schwächsten des andern. Denn kein Hemmungsgrad kann negativ seyn.

Beyspiel: Zwischen zwey Klängen sey der Gegensatz = i, zwischen

zwey Farben = ; ein Klang = 2 complicirt mit einer Farbe = 6,

der andre Klang = 5 complicirt mit der andern Farbe = 2 : so ergiebt

sich das H. K(5-j-2,^-):(2 + 6.-3-) = ^^ :?-i-8=26 : 26 == 1 : 1.

4 4

Das Auffallende in diesem Beyspiel, dafs eine Complexion = 7 und

eine andre = 8 sich gegenseitig gleich stark hemmen, wird noch mehr

hervortreten in dem folgenden Satze.

4. Es sey n =■ o, so ist das H. V. wie b : a, und die Rechnung

b S a S

giebt die vierten Glieder - - und ; u. und ß mögen sevn was

a -\- b a -\- b,

sie wollen.

Das heifst: wenn von zweven entgegenstehenden Vorstel- lungen jede complicirt ist mit einer solchen die nichts ihr ent- gegengesetztes im Bewufstseyn antrifft: so geschieht die Hem- mung lediglich im A^erhältnifs jener entgegengesetzten; ob- gleich die ganzen Complexionen derselben unterworfen sind.

Beyspiel: Mit der Vorstellung eines Farbigten von der Stärke 3, sey complicirt ein Klang = 1 , mit der Vorstellung eines andern Farbigten von der Stärke 1, sey complicirt eine Gefühlsvorstellung = n: so erleidet die letztre Complexion = 12 eine dreymal so starke Hemmung wie die erstere = 4. Wie sehr die Farben entgegengesetzt seyn mögen, wirkt nur auf die Hemmungssumme.

Das Seltsame, dafs die stärkste Kraft hier am meisten leidet, ist leicht zu erklären. Die Gefühlsvorstellung kann nur widerstehen; aber ihr ist kein Gegensatz eigen, [-07] durch den sie für sich etwas aus dem Bewufstseyn verdrängen könnte. Dagegen erhält sie etwas im Bewufstseyn, das vor einer andern stärkern Vorstellung weichen sollte. Deshalb leidet sie unter derselben Einwirkung, der jenes ausgesetzt ist. Nicht anders ereignet sich dies selbst dann, wenn die gegenüberstehende Vorstellung einfach ist. Es sey u = o, oder im Beyspiel, der Klang fehle gänzlich: so übt dennoch die Vorstellung = 3 die nämliche Gewalt gegen die Com- plexion = 12. Nur mit dem Unterschiede, dafs nun diejenige Hemmung, welche sonst die Vorstellung des Farbigten = 3 mit der des Klanges = 1 gemeinschaftlich getragen hätte, allein der ersteren zur Last fällt.

Es ist der Mühe werth, nachzusehen, in wie fern diese bey zwey Complexionen sich so leicht darbietenden Sätze, auch auf drey derselben Anwendung finden mögen.

Damit erstlich drey Complexionen einander ähnlich seyen , mufs a : a = b : ß = c : y gesetzt werden. Hieraus ist im § 59

bp ~\- fin = {aP ~\~ u /T) ', c n -\- yr = [a n -\- a v) ; a a

cm -\- y u = (</ m -4- ufi), bm -\- ßfi = am -f~ ".")• a a

■2 i 1 XI. Psychologie als Wissenschaft.

Auch ist C = c-4-~ =c(i +— ), B = b(i4-—), A =-- a (i -f );

a a a a

«...

daher sich die Yerhältnifszahlen sämmtlich durch \ A dividiren lassen.

a

Demnach sind dieselben, wenn noch mit a multiplicirt wird:

cb (a,p + utt) -f- bc (an -f- «*')

r a (ap 4- « >-t) -(- « r (rt! -j- « |«)

/;c7 (a» -f- o »') -f- a^ {am -f- « «)• Damit ein fafsliches Yerhältnifs gewonnen werde, bedarf es hier noch eines Zusatzes, der bev zwey Complexionen nicht bemerklich werden konnte. Es sey nämlich p : n = n :y = m : u, folglich an -\- ur = an

-\~ a - [208] = (ap -}- « n), und # m -{- au = (a/ -|- « 71), so werden p p ' p

jene Zahlen:

£ <r [p -f- «), »^ + ), ab (n -\- m) ;

/ ~\~ n p -\- m n -\- rn

oder

a b c

wo das umgekehrte Yerhältnifs der analogen Theile allerdings vorhanden, nur noch durch die zugehörigen Hemmungsgrade afficirt ist.

Ueber den zweyten Satz erhellt schon aus § 59, dafs für p = n, n = v, m = u, die Verhältnisse sind

n -\- p m -f- p n -f- m

~H~' ~B~ ~C~'

Was den dritten Satz anlangt, so scheint es nicht, dafs die Bedingung der gleichen Hemmung für drey Complexionen auf einen schicklichen Aus- druck zu bringen sey.

Auch die vierte Yoraussetzung, n = o , veranlafst hier nur die Be- merkung, dafs, wenn von den drey Vorstellungen «, ß und ;', eine zu einem andern Continuum gehört als die übrigen beyden, dann zugleich zwey Hemmungsgrade = o werden, also mit 71 = 0, zugleich r = o oder u = o.

§ 61.

Zu den sämmtlichen hier geführten Rechnungen kommt nun der Satz :

dafs bey vollkommenen Complexionen sich stets das Gehemmte

auf die Bestandtheile in demselben Verhältnisse vertheilen

mufs; in welchem sie zur Complexion beytragen. Es sey von der

au Complexion A = a -\- u gehemmt die Gröfse u , so ist gehemmt

von a, und . gehemmt von «. Dies versteht sich von selbst aus der a -f- «

Natur einer Totalkraft, deren Theile gleichmäfsig widerstehen und leiden,

und deren ungleiche Theile eben deshalb einem gerade so ungleichen

Leiden unterworfen seyn müssen.

Hieraus geht zugleich hervor, dafs vollkommne Com-[2 0C)]plexionen

sich in allen ihren Zuständen (d. h. bey jedem Grade der Verdunkelung

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ? T e

im Bewufstseyn) doch immer ähnlich bleiben. Denn die Reste müssen ähnlich sein, wenn das Gehemmte immer dieselbe Proportion beobachtet. Merkwürdig ist femer, dafs von den Elementen der Complexionen bald mehr bald weniger als die aus ihnen resultirende Hemmungssumme sinken wird. Denn die partiellen Hemmungssummen vereinigen sich hier zu einer allgemeinen Last, deren Vertheilung nun andern Regeln folgt, als jenen, die in dem Widerstreit der Elemente ursprünglich gegründet waren. Gehn wir zu dem ersten Beyspiele des § 60 zurück: so sey dort für die beyden Klänge der Hemmungsgrad = ^-, für die Farben = 1 : so

o .

ist »S {— = 1 -j- 3 = 4 ; von der ersten Complexion wird gehemmt

2 -f- 8

= 3,2; also für den Klang = 2 beträgt die Hemmung 2-^-2 = i,28;

o

für die Farbe = 3 beträgt dieselbe = 1,92; von der zweyten

0 2 . 4

Complexion wird gehemmt = 0,8; also für den Klan« = 8 ergiebt

10 00

sich das Gehemmte = —^-— = 0,32, und für die Farbe = 12 kommt

20

12 . 0,8 = 0,48. Denken wir die Complication hinweg: so haben wir für

den Klang = 2 das Gehemmte = 0,8 ; für den Klang = 8 kommt 0,2 ; für die Farbe = 3 findet sich das Gehemmte = 2,4 ; und für die Farbe = 12 beträgt dasselbe 0,6. Offenbar verursacht hier die Complication einen Nachtheil für die Klänge, und einen Vortheil für die Farben, indem der gröfsere Hemmungsgrad der letztern auf jene mit einfiiefst. Die Hem- mungssumme für die Klänge ist = 1 ; aber wegen der Complication wird von ihnen gehemmt 1,28 -f- 0,32 === 1,6; die H. S. für die Farben ist = 3, die Complication vermindert dies bis auf 1,92 -[-0,48=2,4. Aber auch [210] nur in der Hemmungssumme liegt der Grund hievon, wie man aus der hierher gehörigen Formel des § 60 sehr leicht sehn wird. Setzt man nun bei ähnlichen Complexionen auch noch die Hem- mungsgrade gleich: so geschieht die Hemtaung gänzlich so, als ob keine Complication Statt gefunden hätte. Denn hiedurch be- kommt die ganze Hemmungssumme zu den ganzen Complexionen dasselbe Yerhältnifs, wie es bey den einzelnen Vorstellungen gewesen wäre. In jedem hievon abweichenden Falle entsteht ein Gefühl des Con- ti-ast es unter den zu wenig gehemmten Vorstellungen, weil sie mit dem Drange, sich zu hemmen, im Bewufstseyn bleiben. Davon tiefer unten im § 104.

S

62.

Welche Arbeit es kosten werde, Schwellentafeln für die vollkommnen Complexionen zu berechnen, läfst sich aus den verwickelten Hemmungs- verhältnissen für drey Complexionen nur gar zu leicht erkennen. Denn für zwey Complexionen kann es keine Schwellen geben, da die Hemmungs-

■i 1 5 XI. Psychologie als Wissenschaft.

summe niemals gröfser seyn kann, als die schwächere Complexion, diese aber nicht völlig sinken wird, ohne einen Theil der Hemmungssumme auf die stärkere zu werfen.

Nur in den vorbemerkten Fällen, wo die Hemmungsverhältnisse auf

Q, «-4-

die Form , , , oder auch , -~, , können gebracht werden. a b c ABC

bieten sich die Wendungen der Rechnung abermals dar, welche schon

bey einfachen Vorstellungen mit verschiedenen Hemmungsgraden gebraucht

sind. Denn die Formel des § 55,

y.o

wird mit gehöriger Veränderung und besonders mit gehöriger Bestimmung von e, rn &, S, auch jetzo passen.

Wir zeichnen hier einen Fall aus, der sehr einfach [211] und zu- gleich sehr abweichend ist von den Bestimmungen der Schwellen in den vorigen Capiteln. Es sey nur eine Complexion im Bewufstseyn gegen- wärtig, allein zugleich zwey einfache Vorstellungen, deren jede einem Ele- mente der Complexion widerstreite. Also a -f- a, b, und y. Alsdann sind (j = o, c = o, C = y, B = b, auch n = u = n = m = o ; indem blofs zwischen a und b der Hemmungsgrad p, und zwischen a und y der Hemmungsgrad *' noch übrig bleibt. Dem gemäfs sind aus § 59 die Hemmungsverhältnisse

für a -f- a, für b, für 7,

ybp-\-byv; yap\ bw.

Ferner wegen der Hemmungssumme, da y auf der Schwelle seyn soll, ist am natürlichsten anzunehmen dafs y << u, folglich dafs vy zur Hemmungssumme gehöre. Unentschieden mag es bleiben, ob a^>b-f wir wollen den Buchstaben h einführen, der a bedeuten soll, wenn a < b, aber b, wenn a^> b; so ist auf allen Fall ph der andre Theil der Hem- mungssumme; also dieselbe =p/i -J- vy. Was nun von y gehemmt wird, findet sich so:

0 ipp -f- br -f ap) -4- bar]: bar = ph + vy: r ■■ ***?. , T ,— r— u w ' ' *' .' J * V * y^bp-\-bi'-\-ap)-\-bav

und y ist auf der Schwelle, wenn

buvtyh + vy)

1 '

y (bp -\- bv -\- ap) -(- bav

woraus

y2 {bp -\- bv -j- ap) -\- ybav ybav2 = phbar

. bav (1 v) phbav

oder y2 -4- y . = f .

bp -\-bv -j- ap bp-\-bv-\-ap

ier Gleichung versteht sich ni Coefficient von y wird = o für v = 1 ; und alsdann

Die Auflösung der Gleichung versteht sich nun von selbst. Der

r-¥-

phba

b(j>+i) + aj>

Die Zweydeutigkeit , ob h •= a oder h = b, wird wegfallen wenn a = b, alsdann ist

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. -i\n

[212] _ l/ paa_

' ~ V 2i> 4- I

\faa

und für _/> = r , y = 1/ . Ist endlich auch u = a = b, so kommt

;' = (?v '. Mit dieser Complicationsschwelle vergleiche man nach § 47

die gemeine Schwelle, welche entstehn würde, wenn aus einem einzigen Continuum von Vorstellungen die stärkste = a -\- a, zwey andre = b

und = y genommen wären, auch a = «■ = b = 1, da dann y = V 1 auf

3 der Schwelle seyn würde. Es leuchtet ein, dafs hier das ganze a -f- f<

im Streite wäre mit jeder der beyden einfachen Vorstellungen; während in unserm Falle nur a wider b, und u wider y streitet, daher ein schwächeres y hinreicht, um noch die Schwelle des Bewufstseyns zu be- haupten.

Fünftes Capitel.

Von den unvollkommnen Complicationen.

§ 63.

Schon der Anfang des vorigen Capitels erklärt den Ausdruck un- vollkommne Complicationen. Die Untersuchung der statischen Ge- setze für dieselben ist schwerer, als die zunächst vorhergegangene für die vollkommenen Complicationen; auch die Mannigfaltigkeit der Fälle ist hier unendlich grüfser, weil die Innigkeit der Verbindung jeden beliebigen Grad haben kann. Daher läfst sich alles bisher über die Complicationen Vorgetragene ansehn als gehörig zu einem speciellen Fall aus einem sehr weiten Gebiete, in welchem wir uns jetzo umsehen wollen. Doch nur das Allgemeinste und Leichteste können wir hier angeben.

[213] Eine Vorstellung = a sey durch irgend welche Kräfte gehemmt bis auf den Rest = r ; desgleichen eine Vorstellung = a, aus einem andern Continuum, gehemmt bis auf den Rest = p. Wenn sie also zusammen- treffen im Bewufstseyn : so verbinden sich die Reste r und q zu Einer Totalkraft, die aber unabtrennlich ist von den ganzen, wiewohl nicht durch- aus verbundenen Vorstellungen a und «. Wird nun eine dieser beyden noch mehr gehemmt, so widersteht nicht nur sie selbst mit ihrer ganzen untheilbaren Kraft, sondern mit ihr und für sie wirkt noch eine gewisse Hülfe, welche die andre Vorstellung ihr leistet. Diese Hülfe zu bestimmen, ist unsre erste Aufgabe. Es ist klar, dafs die Hülfe vollkommen seyn würde wenn r = a und Q = «, welches eine vollkommene Complication ergeben hätte. Um wie viel nun dem r fehlt zu a, und dem o zu c, beydes mufs die zu leistende Hülfe vermindern.

Erstlich, wenn a die Hülfe empfängt: so ist das helfende Quan- tum = o.

Zwevtens, die ganze Hülfe = 0 wird dadurch vermindert, dafs nicht

o l g XI. Psychologie als Wissenschaft.

das ganze a, sondern nur ein Bruch von ihm, sich dieselbe aneignen kann. Dieser Bruch ist = .

a

ro

Beydes zusammen ergiebt die Hülfe = . Desgleichen diejenige

or Hülfe, welche u erhalten kann, =

«

Demnach bilden sich aus den ganzen Vorstellungen und den ihnen

i r9 a* + ro

zukommenden Hülfen, Totalkräfte, deren eine = a -) = s'

a a

A- A _L_ '"? "' + rQ

die andre =■ a -f- =

« «

§ 64.

Um nun die Wirkungsart dieser Complicationshülfen näher kennen zu lernen, wollen wir annehmen, mit der unvollkommnen Complication zugleich sey eine einfache Vorstellung im Bewufstseyn, die mit einem Be- standtheile jener im Widerstreite stehe. Sie heifse b.

[214] Zwischen a und b sey der Hemmungsgrad =m; a mit « com- plicirt, vermöge der Reste r und q. So steht dem « unmittelbar keine Kraft entgegen, sondern nur b wirkt auf dasselbe vermittelst der Reste r und q. Die Wirkung von b auf a ist beschränkt durch den Hemmungs- grad vi; dieser mufs auch die vermittelte Einwirkung auf « beschränken.

Aufserdem bezeichnet der Bruch -- das Verhältnifs, in welchem die ganze

a

Vermittelung jener Einwirkung, welche das ganze a hätte leisten können,

vermindert wird. Und überdies ergiebt der Bruch , in welchem Ver-

a

hältnisse die Fähigkeit von u verringert ist, sich dieselbe Einwirkung zu- zueignen.

T O

Also b wirkt auf a als eine Kraft = m . - - . . b. Aber b wirkt

a o.

nur, in so fern es durch die Hemmungssumme gespannt wird ; diese Spannung ist im Verhältnisse . Endlich « leidet im umgekehrten Ver- hältnisse seiner Kraft; diese Kraft mit der Complicationshülfe verbunden,

istra=." " ■r— . Also erhalten wir, alles zusammengenommen, für das

a Leiden von o. die Verhältnifszahl

r q 1 « mrq

m ' 1t ' ~u ' ' T ' ' f.2 + rQ~ " a (a2 -f- rQ)

Ferner auf a wirkt die Kraft mb, in der Spannung ; und a leidet

b

a2 -r >{> n- sammt seiner Hülfe im umgekehrten Verhältnisse von .uieses

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2 ig

zusammengenommen findet sich für das Leiden von a die Verhältnifszahl

, 1 a ma

mb

b a2 -\- ro a2 -\- ro

Endlieh auf b wirkt nur die Kraft am; es entsteht aber die Frage, welches die Spannung dieser Kraft seyn werde? Für a allein wäre sie

, für eine vollkommne [215] Complexion a -f- « wäre sie

a a -f- a '

für die unvollkommne Complexion ist sie wegen der Hülfe ohne Zweifel

& . 1

= -TT. Das Leiden von b verhält sich überdies wie ; also findet

a2 -\- rQ b

man für das Leiden von b die Verhältnifszahl

b{a2 -j- ro

Alle gefundene Verhältnifszahlen lassen sich durch m dividiren, daher setzen wir

>'9 ^r et «2

a (u2 -f- ro) a2 -j- ro b (a2 + ro)

Nun ist wohl zu bemerken, dafs in diesen Verhältnissen unmöglich

die Hemmungssumme könne vertheilt werden. Denn die Totalkräfte

ro ro

a>-\ , «H , sind nicht, wie die Kräfte in allen unsern bisherigen

a u. °

r o

Berechnungen, rein verschiedene Kräfte, sondern der Theil steckt

a

in a, welches dem a diese Hülfe giebt ; und der Theil steckt eben so

a

in a. Was daher diese Totalkräfte an Hemmung erleiden, das ist eben so wenig rein gesondert; sondern es liegt auf ähnliche Weise in einander verschränkt, wie die Kräfte. Wollte man das alles, was die Totalkräfte zusammengenommen leiden, addiren, so bekäme man mehr als die Hem- mungssumme beträgt; denn man bekäme das alles doppelt, was der Wahr- heit nach in einem andern enthalten ist, obgleich die Rechnung es neben dem andern aufstellt.

ro

Demnach sev das, was von der Totalkraft a -I gehemmt wird,

a

ro

r= u : so mufs dieses 11 zuvörderst zwischen a und - getheilt werden.

a

Nur der erste Theil, der sich für a ergeben wird, gehört wahrhaft z

ur

ro

Hemmungssumme; der andre Theil, welcher auf kommt, ist ein Leiden

a

[21Ö] für das helfende a. Dessen ungeachtet darf er diesem nicht besonders

angerechnet werden, denn er liegt versteckt in dem wirklichen Leiden des

«, welches man findet, indem man diejenige Hemmung, die zur Totalkrat t

« -I gehört, nach dem Verhältnifs u : ein theil t, wo denn wiederum

nur der erste Theil zur Hemmungssumme gehört, der andre aber in dem

3^o

XI. Psychologie als Wissenschaft.

eben gefundenen Leiden von a versteckt liegt, und keineswegs zu dem- selben zu addiren ist.

Nach diesen Prämissen wird folgender Gang der Rechnung klar seyn : man denke sich irgend ein Ar, als ob es dasjenige wäre, was nach den zuvor bestimmten Verhältnissen getheilt würde. Die vierten Glieder der Proportionen zerlege man durch neue Proportionen, um dasjenige, was wirklich zur Hemmungssumme gehört, herauszusondern; man addire das- selbe, und setze es der zuvor bestimmten Hemmungssumme gleich ; dar- aus finde man X, und substituire seinen Werth in die zuvor mit Hülfe desselben bestimmten wahren Theile der Hemmungssumme ; diese Theile sind nun wirklich das, was die einzelnen Vorstellungen leiden, und die Aufgabe ist dadurch aufgelöst.

Durch die Rechnung mag diese Vorschrift vollends klar werden. Zuerst werde X getheilt nach den obigen Verhältnissen M, A, P

(M+N+P):

M

A~ = X P

MX

J/-f .V+ P NX

J/+ N+ ~P PX

MX

M f X-\- P ro

- ist das Leiden für die Totalkraft « -I- M-\- N-{- P u

es zerfällt nach

ro

dem Verhältnisse « : - in zwey Theile. Nur [217] der erstre wird zur

«

Hemmungssumme gehören ; man sondere ihn ab durch die Proportion

«2 +>'P

MX

u

MX

a

u

Ferner

MX

j/_|_ N '+ P («2 + rQ) (J/+ 2V-f- P)

ro

M-\- N+ P

ist das Leiden für die Totalkraft a -| ; es

r o

zerfällt nach a : in zwey Theile; den ersten sondere man ab durch die Proportion

a* -\-ro

a

1 N

NX

a

a

N X

!/_}_ N+P' j/_|_ N-\- P

PX

Endlich -■ ist das Leiden für b\ welches keine Hülfe be-

J/+ N-\- P

kommen hat, sondern seine Hemmung allein trägt. Daher ist hier keine

Absonderung anzubringen, sondern dieses Leiden gehört ganz zur Summe

der Hemmunir.

Jetzt müssen die gefundenen Theile addirt, und der Hemmungssumme

S gleich gesetzt werden ; also

X

«2 M

und folglich A'

M-\-N+P W -f- rn

S(M±N-\- P)

tt2 -j- r o

+ mW+PJ

s

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.

^2 1

Dieser Werth von X ist zu substituiren in die gefundenen Theile, welche gehemmt werden von a, <?, und b; demnach:

u2 MS

i" +''(££-,+'» + $

wird gehemmt von «

a X2 S

wird gehemmt von a

u2 M

a2 + rn '

PS

- wird gehemmt von b.

a2 M °

[2 1 8] Hieraus sieht man nun die wahren Verhältnifszahlen, nach denen die Hemmungssumme sich wirklich theilt.

u2 M

Sie sind , , ai\2, und P,

U2 + r Q

f O d (l2

und weil M "= -, N-== : , P = -j so wird die

a (a2 -\- rQ) a2 -\- r c> b (a2 -J- r Q)

erste Verhältnifszahl ===

die zweyte wird =

die dritte ist und bleibt =

b (a2 -j- r q

In dieser Bestimmung der Verhältnisse müssen zwey andre, aus dem Vorigen schon bekannte, mit enthalten seyn, an denen wir ihre Richtig- keit erproben können. Für. r = a und q === a mufs die unvollkommne Complexion in eine vollkommne übergehn. Dafür wird

«j a a

die Verhältnifszahl für <>.,

\

a2 ff()

U2 rQ

a

K + e>t'

ß3

? + r9y

a2

a (a2 -\- au)2 (a -|- a)2'

ai a

für d, = - ,

a2 -f- d a)2 (d -j- u)2

für b,

a2 d

b (d2 -\- du) b (a -j- «)'

oder mit b [a -j- a)2 multiplicirt, a b, a b, d (a -j- «). Nach §^ 60 und 1 1 1

aber würden wir folgende Rechnung geführt haben: erstlich hätten wir

ß und n = o gesetzt; daraus wäre das Hemmungsverhältnils b : a gefunden ;

bS demnach von der Complexion würde gehemmt ; dieses müfste zer-

rt -}- b

legt werden nach dem Verhältnils der Bestandtheile der Complexion; und

t /->i- j , abS abS

die vierten Glieder würden seyn : v und 1

(a -f a) (a + b) (a -j- a) (a -J- b)

daher wäre gehemmt

Herhart's Werke. V. 2 1

■12 2 ^LL Psychologie als Wissenschaft.

ab S

von «,

[219] von ai

von £,

+ «) (a + J)'

abS (a + «) (T+äj'

(7 5

a-f-3'

welche Gröfsen sich verhalten wie : , : , und a; oder wie üb,

a -\- « a -\- u

ab, a (a -f- u); dieses aber sind die nämlichen Verhältnisse, welche sich aus den obigen Formeln ergeben haben.

Für a = o, folglich für 0 = 0, sind blofs a und b im Widerstreit;

II. .

nun werden jene Verhaltnifszahlen o, , , wie gehöng.

a b

§ 65.

Mit der nunmehr bestehenden Bestimmung des Hemmungs-Verhält- nisses begnügen wir uns hier, weil die nach demselben zu erwartende wirkliche Hemmung allemal noch von andern beygemischten Umständen abhängen wird. Denn wir müssen wegen der angenommenen unvoll- kommenen Complexion voraussetzen, dafs die Elemente derselben, a und u, beyde von irgend welchen, hier unerwähnt gebliebenen, Kräften, gehindert werden sich im Bewufstseyn höher zu heben, wodurch sogleich auch ihre Verbindung inniger werden, folglich r und o sich vergrößern, und deren Wirkung wachsen würde. Eigentlich haben wir im Vorigen nur die Ver- theilung des Drucks bestimmt, der aus dem Gegensatze des a und b entsteht.

Jetzt suchen wir uns die Bedeutung der gefundenen Formeln klärer zu machen. Der Schlufs des vorigen § zeigt, dafs wenn die Complication sich der Vollkommenheit nähert, « beynahe in dem Verhältnils seiner eignen Stärke die ihm fremde Hemmung zwischen a und b, tragen hilft. Am weitesten hievon verschieden ist der Fall einer sehr unvollkommenen Verbindung zwischen a und «. Gesetzt, das Product rp sey so klein, dals man es neben a2 und [220] u2 vernachlässigen könne: so werden die Verhaltnifszahlen nahe

1 ; 0 1 1

ö a «' ci b Das heifst, die Hemmung zwischen a und b wird durch das complicirte a, nun wenig verändert; « leidet desto weniger, je stärker es ist, und je weniger r gegen a, und q gegen u. beträgt. Zwischen diesen beyden äufsersten Fällen liegt in der Mitte die Annahme r = y 0 und(T= «; und nun werden jene Zahlen

a a a

4(„ + _L_a)2 (a + -i-a)- #(« + Jj-a)

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. -i 2 2

für a = u wird hieraus

_! ± L

Sa ga b'

Man kann auch diese Annahme a = « gleich in die allgemeinen

Ausdrücke setzen; alsdann lassen sich diese durch dividiren, und

man findet

VQ

a2 -f- r (J a2 -\- >-q b' Hier ist merkwürdig, dafs die Summe der ersten beyden Zahlen = 1 ist. Demnach verhält sich das, was von der ganzen Complexion a -\- a gehemmt wird, zu dem Verluste von b, im angenommenen Falle wie b zu a; die Reste r und q aber, die niemals einzeln, sondern immer zu einem Producte verbunden in Betracht kommen, bestimmen dann ferner die Vertheilung dessen, was von der Complexion zu hemmen ist, auf die Elemente derselben.

§ 66.

Die höchst wichtige Verschiedenheit der unvollkommenen Com- plexionen von den vollkommenen liegt nun klar vor Augen. Wir haben im vorigen Capitel gesehen, dafs unsre Vorstellungen, so weit sie voll- kommen verbunden sind, trotz allen Hemmungen stets ihren Zusammen- hang unversehrt behaupten; denn vollkommene Complexionen bleiben sich stets ähnlich 61). Ganz an[22i]ders verhält es sich, sobald eine Ver- bindung unvollkommen ist. Da wird durch jede, auch die kleinste Hem- mung, die das eine Element der Complexion stärker trifft, als das andre, auch die Verknüpfung lockerer gemacht, indem eins dem andern um so viel entzogen wird, als dies minder wie jenes unter dem vorhandenen Drucke leidet. Noch mehr! die vorhandene Verknüpfung wird ver- fälscht durch eine entgegengesetzte. Denn nach geschehener Hemmung complicirt sich b mit « in eben dem Maafse stärker, als von a mehr ver- drängt wurde; dergestalt, dafs nunmehr a nicht blofs mit a, sondern auch mit b, dem Widerspiel von a, verbunden ist. Allein hiebey besteht nichts desto weniger in u das Streben, a bis auf den vorigen Punct der Verbindung wieder mit sich zu vereinigen. Denn die ganze Stärke dieser Verbindung wird fortwährend als Bedingung des vorhandenen Gleich- gewichts vorausgesetzt; wäre sie schwächer, so würde b noch mehr als schon geschehen, von a hemmen. Hiedurch kommen wir weiter in der Lehre von den Gefühlen. Denn der Zustand einer Vorstellung:, wie hier u, da sie eine andre, gegen die Gesetze des Gleichgewichts, höher ins Bewufstseyn zu heben bemüht ist, verändert das Vorgestellte um gar nichts, kann also auch nicht zu dem sogenannten Vorstellungs- vermögen gerechnet werden. Es ist ein Sehtien, welches befriedigt werden würde, wenn die angestrebte Vorstellung (hier a) von neuem ge- geben würde; jedoch so, dafs darauf sehr bald ein entgegengesetztes Sehnen, nach b, folgen würde, sobald nämlich dies durch das neue a

21*

324 -^-I- Psychologie als Wissenschaft.

merklich gehemmt, und dadurch seiner Verbindung mit « entzogen wäre. Jedoch dergleichen Betrachtungen lassen sich hier noch nicht ausführen; sie gehören sammt der obigen, am Ende des § 61, in den zweyten Theil dieses Werks.

\_222~] Sechstes Capitel.

Von den Verschmelzungen.

§ 67.

Die ersten Vorbegriffe von den Verschmelzungen der Vorstellungen rinden sich im Anfange des vierten Capitels. Die Vereinigung solcher Vorstellungen, die zu einerley Continuum gehören (wie roth und blau, welches beydes Farben sind, oder wie ein paar Töne, od. dgl.), soll Verschmelzung heifsen. Sie führt einen besondern Namen, weil der Grad •der Verbindung hier nicht, wie bey den Complicationen ungleichartiger Vorstellungen (wie Ton und Farbe), blofs von zufälligen Umständen ab- hängt, sondern durch den Hemmungsgrad der verschmelzenden Vor- stellungen selbst, beschränkt wird. Während nun diese Art der Ver- einigung verschiedener Vorstellungen zu einer Gesammtkraft, niemals voll- ständiger werden kann, als der Hemmungsgrad derselben es gestattet: können recht füglich noch zufällige Hemmungen dazu kommen, um derent- willen die Vereinigung noch geringer wird. Allein solche Nebenumstände setzen wir hier bey Seite.

Es ist aber nöthig, zweyerley Verschmelzung zu unterscheiden, eine nach der Hemmung, eine andre vor der Hemmung.*

Zuvörderst nämlich ist klar, dafs wegen der Einheit der Seele, Alles, was sich nicht widerstrebt, ein intensives Eins werden mufs; daher die Verschmelzung nach der Hemmung. Diejenigen entgegengesetzten Vor- stellungen, deren Hemmung geschehn ist, verschmelzen gerade so weit, als sie sich nun nicht mehr hemmen. Die Reste bilden eine Totalkraft, ähnlich jener bey den unvollkommenen Complicationen; jedoch mit dem Unterschiede, [223] dafs die Complication vollkommener wird, wenn die ■complicirten Vorstellungen zugleich steigen; hingegen, wenn die ver- schmolzenen ihren Verschmelzungspunct übersteigen, die Hemmung von neuem beginnt; (mit einer Einschränkung, die im § 93 erst vorkommt).

Verschieden hievon ist die Verschmelzung vor der Hemmung. Diese hängt ab von einem gewissen Grade der Gleichartigkeit der Vorstellungen. Bey völlig entgegengesetzten kann sie nicht Statt finden, welche gleichwohl jener andern, nach der Hemmung, unterworfen sind. Man denke sich zuvörderst zwey vollkommen gleichartige Vorstellungen, z. B. beym Sehen zweyer gleich gefärbter Puncte, oder beym Hören zweyer gleich gestimmter Saiten. Dafs diese gleichartigen völlig (und augenblicklich) in eine ein- zige Intension des Vorstellens verschmelzen werden, wofern sie gleich-

* Beydes ist eigenüich Verschmelzung während der Hemmung; allein die obige Unterscheidung befördert die Fafslichkeit.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 325

zeitig ungehemmt im Bewufstseyn sind, versteht sich ganz von selbst. Was wird aber daraus werden, wenn ein paar unendlich nahe Vor- stellungen, das heilst, zwey fast gleichartige, und deren Gegensatz unendlich klein ist, sich gleichzeitig ungehemmt zusammenfinden? Natürlich kann der Erfolg nur unendlich wenig von dem vorbemerkten abweichen. Den-

noch hindert der Gegensatz eine völlige Vereinigung. Und was die Hauptsache ist er läfst sich von dem Gleichartigen nicht absondern. Nur in Gedanken kann man eine Vorstellung, verglichen mit einer andern, zerlegen in Gleiches und Entgegengesetztes; der Wirklichkeit nach aber sind dieses nicht wahre Bestandteile der einfachen und sich selbst gleichen Vorstellungen. So ist die Wahrnehmung der violetten, oder der grünen Farbe, desgleichen die irgend eines musikalischen Tones, gewifs eine einfache Wahrnehmung; wenn schon die Zerlegung jener in Roth und Blau, u. s. w. als eine zufällige Ansicht zulässig ist. Da nun das Gleichartige gewifs, und sogleich, verschmelzen sollte, da es aber nicht losgerissen von dem Entgegengesetzten, für sich allein verschmelzen kann; da es vielmehr das letztere in seine [224] Verschmelzung mit sich hineinziehen mufs, so wird der wirklichen Vereinigung ein Kampf vorangehn, dessen Entscheidung bestimmt, wie innig die wirkliche Ver- einigung seyn werde. Also äufsert sich das Gleichartige der Vorstellungen (man vergesse nie, dafs wir von einfachen Vorstellungen reden, und nicht etwa von Complexionen) zuerst als ein Streben zur Verschmel- zung; dergleichen bey den völlig Gleichartigen nicht vorkommen konnte. Dieses Streben wird nun bey unendlich Nahen nur unendlich geringen Widerstand finden.

Nehmen wir hingegen jetzt Vorstellungen, deren Gegensatz eine end- liche Gröfse hat: so kann, erstlich, die Verschmelzung nur allmählig zu Stande kommen, in dem Maafse nämlich, als die Gegensätze dem Streben zur Vereinigung allmählig nachgeben; zweytens, aus dem Grade des Gegen- satzes und der Gleichartigkeit mufs die Stärke des Strebens zur Ver- einigung, und hieraus weiter berechnet werden, wie viel dieses Streben über die Gegensätze vermögen, wie viel wirkliche Vereinigung, und folglich welche Totalkräfte es am Ende erzeugen werde.

So viel zur vorläufigen Aufklärung der Begriffe; wir suchen jetzt die allgemeine Methode aller Verschmelzungs-Rechnung; welche der Rechnung für unvollkommne Complicationen im wesentlichen ähnlich ist.

§ 68.

Für die drey Vorstellungen a, b, c, gebe es drey Verschmelzungs- hülfen, //, h' , //'; welche nach was immer für einem Gesetze bestimmt seyn mögen, nur aber nicht von fremden Einflüssen herrühren, sondern aus gegenseitiger Wirkung von a, b, und c auf einander entsprungen seyn müssen. Auch sey a -j- h = u, b -\- h' = ß, c -\~ h" y. Der Hemmungssumme widerstehen nun diese Totalkräfle nach dem umge- kehrten Verhältnifs ihrer Stärke, und vielleicht noch im geraden Verhält- nisse irgend welcher Hemmungsgrade oder Summen von Hemmungsgraden, um deren Bestimmung wir uns hier nicht bekümmern, deren Stelle wir

326

XI. Psychologie als Wissenschaft.

aber', nach Analogie der Unter[22 5]suchungen im dritten Capitel , mit

e, i(, &, bezeichnen. So werden die Hemmungsverhältnisse

e i, & —, , ; oder tßy, ituy, Saß.

Weil aber die Totalkräfte zum Theil in einander enthalten sind, so wird auch das Gehemmte nach eben denselben Verhältnissen in einander verschränkt seyn (gerade wie im fünften Capitel). Wenn z. B. b dem a eine Verschmelzungshülfe leistet, so ist das Leiden der hieraus entsprungenen Totalkraft nur zum Theil ein Leiden von a; der andre Theil steckt in dem Leiden von b. Daher darf man nicht das Gehemmte der Totalkräfte zu- sammengenommen der Hemmungssumme gleich setzen. Vielmehr sey das- selbe = X; eine noch unbekannte Gröfse. Nun hat man die Proportionen:

tßyX

(eßy -f r,uy + fraß):

tßy

I (t "

= X

d-uji

ißy -\- >,ay -f- fraß

rpyX

eßy + rjay -f ituß ü-aß.X

tßy -f- ijay + &aß

Aus den vierten Gliedern hat man abzusondern das Leiden von <?, ö, und c, durch folgende drey Proportionen:

aeßy X

a

tßyX

ß : b

eßy -\- ituy -\- fraß ' a (eßy -\- itay -\- Süß)

ijuy X b i, « y X

eßy 4. ltay -f &uß ß.(tßy + V,ay + Saß) SaßX cS-aßX

tßy 4" 'iuy -f- Stuß ' y {eßy 4~ '/"/' 4~ &uft) Die Summe der gefundenen vierten Glieder ist die wirkliche Hem- mungssumme, also

X (aeßy brtuy , c&aß'

eßy 4" 'iu'/ -f- &aß

«

+

;>

+

S,

woraus X =

S . (e'ßy 4- Vuy + &aß) . aßy

b =

aetPy2 -{- bi]U2y2 4- c&a2ß2 [226] Durch Substitution dieses Werthes von Är findet sich nun

, T ., S . aeßSy2

das Leiden von a = ; ; ; -

aeß*f 4- btja2y2 -\- c&a'ß*

S . bi,a2y2

a e , J2 f 4- br\tff -\- c $■ u2 ß2

S . cttu2^

" c = atpf 4_ brtff 4- c&a?ß*

Oder ganz kurz: aetPy2, bi,u.2y2, cfrtfß2, sind die Verhältnifszahlen wornach die Hemmungssumme sich vertheilt. Man übersieht diese Ver- hältnisse noch leichter, wenn man sie so schreibt :

<j e b i, c &

c.

2' ->2 P

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. ?27

Und weil a = a + h, so ist = . - ; Qft aber wird

«2 a2 ~\- 2 ah -j- h2

h ein so kleiner Bruch seyn, dafs man im Nenner h2 weglassen kann.

Alsdann ist beynahe = -; welche Abkürzung auch auf die

« a -f- 2 h °

übrigen Verhältnifszahlen pafst.

Sind nur zwey Vorstellungen a und b gegeben: so ist c = o; man

kann durch y2 dividiren; und es ist

, . 5 . tff/?2

das Leiden von # = '

rt:4/y2 -j- ^//«2

b =

.S* . ^ ^

«

2

d^/312 -f- £y/a2'

Für mehr als drey Vorstellungen würde man die Rechnung nach Analogie der hier gezeigten anzuordnen haben.

§ 69.

Um von den gefundenen Formeln eine leichte Anwendung zu machen, wollen wir die Verschmelzung nach der Hemmung mit der Einschränkung in Betracht ziehn, dafs wir zunächst volle Hemmung aller Vorstellungen untereinander annehmen. Dieses befreyt uns von den Rücksichten, welche die Verschmelzung vor der Hemmung sonst erfordern würde; indem die letztere nicht ein [2 2 7] treten kann, wo gar keine Gleichartigkeit der Vor- stellungen vorhanden ist.

Es seyen demnach von a und b, nach vollendeter Hemmung, die Reste verschmolzen. Darauf komme plötzlich die Vorstellung c hinzu; (plötzlich, damit nicht der Zeitverlauf einer länger anhaltenden Wahr- nehmung es nöthig mache, über die Statik des Geistes zur Mechanik hinauszugehn.) Man sucht für die Hemmung zwischen a, b, und c den Punct des Gleichgewichts; (also nur das Ende der Hemmung, nicht ihr allmähliches Werden, welches wiederum in die Mechanik hineingehört)

Offenbar müssen wir hier zuerst die Verschmelzungshülfe bestimmen, welche a und b einander gegenseitig leisten, indem sie von c zum weitem Sinken gedrängt werden. Für c selbst giebt es hier noch keine solche Hülfe, dergleichen es erst nach geschehener Hemmung bekommen wird. So viel liegt vor Augen, dafs a und b nun dem c stärker widerstehen werden, als wenn sie noch unverschmolzen wären, denn sie wirken ihm jetzt zum Theil als Eine Totalkraft entgegen.

Zuvörderst ist im Allgemeinen die Bestimmung der Verschmelzungs- hülfe hier dieselbe, wie im vorigen Capitel. Es sey der Rest von a, = r,

der von b, = Q, so hilft r dem b, in so fern der Bruch die Aneignung

b der Hülfe gestattet; desgleichen q dem a, in so weit der gedrückte Zu- stand von a, gemäß; dem Bruche , für die Hülfe empfänglich ist. Mit

a

einem Worte: a bekommt die Hülfe v- ; und b die Hülfe -.

a b

•2 2 8 XL Psychologie als "Wissenschaft.

Ferner müssen wir in das erste Capitel zurückgehn, um dort die

Werthe von r und p zu finden. Denn diese hängen ab von der Hemmung

b2 zwischen b und a. Es ist aber nach § 44 r = a - : , und

a ~ b

(> = 7T+?

ab2 b*

Folglich ro =

o

a + b (a -f- b)*'

a2Y.2 (1 4- x y.2)

[228] Es sev b y.a; so wird ro = -

L J (i + y.)2

gr a(y.2 -f- y3 Jf4) gr ff(x -j- y.z *3) 1 gr

d = (1 + x)2 ün 7' ~~ (1 -f y)2~ ~ y. ' Ä "

Wir werden einen Augenblick verweilen bey diesen Gröfsen, die man offenbar als Functionen von •/., d. h. von dem Verhältnisse zwischen a

und <5, ansehn kann. Für x = 1 wird = a, und == ff. Ist

die

pr ffx2 or «x

weglassen, und es wird ; , und = Wird von

y.2 -\- y.i yA der Function ' ; das Differential = o gesetzt, so kommt

Qr 1 , Qr

= a, und a 4 b

y. ein kleiner Bruch, so kann man die höchste Potenz als unbedeutend

or ay2 or ay.

- = , und ^— = .

a \ -\- y. a 1 -j- /.

(1 + *y

man auf die Gleichung y.i -\- ±-y.2 |x 1 =0, deren einzige posi-

y. 4- y.2 yJ

tive Wurzel = 1 ; desgleichen von der Function ; ; r- das Dif-

0 (1 -f- x)2

ferential = o gesetzt, führt zur Gleichung x3 -(- 3 y2 y. 1 =0,

deren einzige positive Wurzel etwas kleiner ist als 0,7. Dieser letztere

Werth von /. giebt ohne Zweifel ein Maximum; eigentlich auch für jene

erste Function der Werth /. = 1, doch dieser ist zugleich der höchste

brauchbare Werth von y., denn die Formeln für r und p setzen voraus,

dafs ff > b. Dafs es für die Verschmelzungshülfe, welche b erhält,

ein Maximum giebt, verdient bemerkt zu werden.

Hier folgen einige berechnete Werthe der Verschmelzungshülfen, für

a = 1.

[229]

a

= 0,25

y. = 0,9

rg

b

= 0,25

0,244

0,2717

x = o,8

0,228

0,286

y. = 0,7

0,205

0,293

X ans 0,Ö

0,174

0,291

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 2 20,

x = o, =;

= 0,I3Q -^ =0,278

0,101 0,253

* = o,3 0,064 0,215

/. = 0,2 0,03 2 o, 1 6 1

Für kleinere x findet man sehr leicht -7- = = ax (1 -— ■/.)

0 1 -|- /.

näherungsweise; also z. B. für x = o, 1 ist -- nahe = 0,09; folglich

= 0,009. Man sieht, dafs die Verschmelzungshülfe für /; hier sehr be- deutend ist, indem sie die Stärke desselben beynahe verdoppelt, während dagegen die Hülfe für a nicht in Betracht kommt.

Jetzt können wir in den Formeln des vorigen §. a und ß bestimmen. Die Hemmungscoefficienten e, /;, & werden herausfallen; denn wir haben volle, also gewifs gleiche Hemmung angenommen, und die Verschmel- zungsh ülfen müssen in eben den Graden gehemmt werden wie die Vorstellungen, denen sie helfen, und vermittelst welcher die Hemmung zu ihnen übergeht. Ferner ist c=.y, weil es für c noch keine Hülfe giebt, wie schon erinnert worden. Daher läfst sich durch C = y dividiren; und die Formeln geben nun einfacher

[230]

das

Leiden »3

von

b,

=

Sbya*

1

u2 ß*

»j

ayß2 -f- byu2 Su2ß>

+

u2ß2

" " ayßt + bya' + a'ß*

wobey noch zu bemerken, dafs hier c jede beliebige Gröfse haben kann, indem zu a und /', den schon verschmolzenen, jede starke oder schwache dritte Vorstellung hinzutreten mag. Nur in der Bestimmung der Hemmungs- summe mufs hierauf gehörige Rücksicht genommen werden.

Es sey zuvörderst a = b = c = 1 . Demnach 5 = 2 ; a = ß = 1,25 ; ur = 1,5625 ; uzß2 = 2,4414 . . . und hieraus

das Leiden von a === 0,5614.. b = 0,5614 . . c = 0,8772 . .

woraus die starke Wirkung der Verschmelzung zu erkennen ist; denn ohne

sie hätte das Leiden von allen dreyen gleich grofs, und = = 0,666 . .

seyn sollen.

Es sey ferner a = I ; b = 0,7 ; c =■■ 1 ; also S = 1,7 ; « = 1,205 ! ß = 0,993 ; u2 = 1,4520; fi* = 0,98605 . . ; u2ß2 = 1,43 1 7 . . , woraus

das Leiden von <z = 0,48814 b = 0,50317 c 0,7087

iiQ XI. Psychologie als Wissenschaft.

Dieses Beyspiel zeigt noch weit auffallender die grofse Veränderung, welche aus der Verschmelzung hervorgeht. Denn nach § 49 hätte b unter die Schwelle sinken sollen, weil neben zweyen Vorstellungen, deren Stärke

= 1, die dritte schwächere = V_I_ = 0,707 .. seyn mufs, um sich nur

2

auf der Schwelle behaupten zu können. Jetzt hingegen tritt an die Stelle von b nicht nur die Totalkraft 0,993 ; sondern selbst was diese leidet, ist zum Theil enthalten in dem Leiden von a; daher denn a fast so stark als b selbst, von der Hemmung ergriffen wird. Dennoch gewinnt auch a durch den Schutz der Verschmelzung. Denn ohne diesen wäre zwischen c und a die Hemmungssumme = 1 gleich geth eilt worden, [231] folglich hätte das Leiden von a == 0,5 seyn müssen. Desto gröfser wird die Last für die neu hinzukommende Vorstellung; und, was wohl zu bemerken, auch die Verschmelzungshülfen, welche sie selbst für die Zukunft erlangt, werden um so kleiner, je kleiner ihr Rest ausfällt. Nichts desto weniger ver- ursacht sie für eine kurze Zeit den altern Vorstellungen grofse Beschwerde, wie der folgende Abschnitt zeigen wird; und nicht ohne bedeutende Be- wegung des Gemüths wird der hier gefundene Zustand des Gleichgewichts gewonnen. Dieses eben so wohl als jenes ist der Erfahrung vollkommen gemäfs.

§ 70.

Wir können hier die Fragen nach den Schwellen nicht mit Still- schweigen übergehn, deren zwey verschiedene aus der Verschmelzung folgen müssen. Denn entweder soll b, ungeachtet der Hülfe, die ihm zu Theil wird, von a und c auf die Schwelle getrieben werden; oder c selbst, welches jetzt stärkern Widerstand findet, soll zur Schwelle sinken.

Die erstere Schwelle wird bestimmt durch die Gleichung

Sbyu2

~~ ayß2 + bya2 -\-a2ß2 oder a y ß2 -f- byu2 -\- a2 ß2 = Sy u2. Es ist hier am leichtesten, y zu finden, also die übrigen Gröfsen nach Gefallen anzunehmen. Daher stellen wir die Gleichung so:

a2ßz = y (Sa2 aß2 ba2). Für 5 finden zwey Fälle statt. Entweder das hinzukommende c mufs der Schwelle wegen, auf die es b treiben soll, gröfser seyn als a; dann ist S = a -j- b ; oder b ist so klein , dafs zur Schwelle ein kleineres c hin- reicht, nämlich c <a; dann ist S = b -f- c , oder = b -f- y, weil hier c = y. In jenem Falle fällt ba2 aus den Klammern weg, und man hat

a2 ß2

a (a2 (i*) = Y' [232] Dies wird unendlich für « = ß, welches, wie man aus dem obigen leicht übersieht, nur möglich ist für a = b; aufserdem ist allemal « > ß, demnach immer ein positiver Werth für y zu finden. Die Rechnung er- giebt zum Beyspiel

für a = 1 , b = 0,9 ; y = 1 2, 1 6 . . ,-, 0=== 1, b = 0,y; y= 3,07 . . a= ij b==* 0,5; y 1,13 .

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 331

Hier nähern wir uns schon dem andern Falle; es ist vorauszusehn, dafs ein noch kleineres b auf ein y < 1 hinweisen werde. Demnach nehmen wir nun S = b -f- ;', und ändern die Formel. Es fällt auch jetzt b «2 aus den Klammern weg, und man findet

2

f - y -- = P

ajL y^

' 2U2 ' f 4«4

wo man vor der Wurzelgröfse nur das positive Zeichen nehmen darf, weil sonst y negativ würde, welches keinen Sinn hat. Des Beyspiels wegen sey a = 1, b = 0,1 ; so ergiebt sich y = 0,208 . . Es versteht sich, dafs, um dieses und die vorigen Bevspiele mit § 49 zu vergleichen, man überall die Gröfse im Auge haben mufs, welche durch die beyden andern auf die Schwelle getrieben wird, diese ist hier b, aber im § 49 war sie c Ferner war dort die mittlere der drey Gröfsen = 1 gesetzt, dieses mufs also auch hier geschehn, um in der Vergleichung nicht anzustofsen. In den drey ersten Beyspielen ist a = 1 , und zugleich die mittlere Gröfse; in dem letzten Beyspiele ist y oder c diese mittlere Gröfse, und sie sollte hier zur Einheit, oder zum Maafse für die andern Gröfsen genommen werden.

Doch wir eilen zu der zweyten Aufgabe, c soll auf die Schwelle getrieben werden durch die verschmolzenen a und b. Dafür gilt die Gleichung

Su2ß2

C = a^ß^+bya2 + u2 ß2 [233] oder, weil c = y, und 5 = b + c , indem c, wenn es die stärkste •der Vorstellungen wäre, nicht zur Schwelle sinken würde :

c2 {aß2 -f ba2) = ba2ß2

V aß1

2 -\-bu-2

Es sey a = = b, folglich « = ß, so ist c = «VZ =0,884, wenn a = 1

2

und folglich u = 1,25. Ohne Verschmelzung ist c = » , nach § 49. Für ein sehr grofses a, und sehr kleines /. (man sehe § 69) ist nahe

= av. = b, folglich ß = 2b; ferner « = a, und c = 2aby - ^-- '

oder, indem für ein sehr grofses a füglich 4 a b2 neben ba2 kann weg- gelassen werden, c = 2 b. Dies ist zwar nur ein Gränzwerth, der nicht völlig erreicht wird; allein man sieht daraus, dafs vermöge der Verschmelzung, selbst eine stärkere Vorstellung neben einer schwächeren kann aus dem Bewufstseyn verdrängt werden. Uebrigens mufs nun auch für irgend ein Verhältnifs von a und b, c = b auf der Schwelle seyn. Es ist schwer, dieses Verhältnifs genau zu finden. Man müfste a und ß durch a und b ausdrücken ; oder für a = 1 durch /.,

, , -, XI. Psychologie als Wissenschaft.

nach § 69. Allein schon « = a -f- enthält die vierte Potenz von /. im

Zähler, und die zweyte im Nenner; ß die dritte im Zähler und die zweyte im Nenner; daher würde die Gleichung, worin u2 r>2 vorkommt, auf einen so hohen Grad steigen, dafs die Auflösung so gut als unmöglich fiele. Durch Entwicklung von (i-f *)~2 in eine Reihe, durch Multiplication der zugehörigen Zähler, und Berechnung der daraus entstehenden Gröfsen bis auf die dritte Potenz von ■/., finde ich aus einer cubischen Gleichung v. oder b nahe = ; eine Verbesserung mit Hülfe der Annahme /. = -I- u o-iebt u = -1 , /. = 0,6. Dieses trifft bev der Probe ziemlich nahe zu; doch ist für /. oder b = 0,6 schon c = 0,63 . . [234] auf der Schwelle, also ist es hier schon gröfser als b; daher mufs der gesuchte Werth von b etwas gröfser sevn als 0,6. Der Gegenstand würde eine sorgfältigere Rech- nung, durch Auflösung einer biquadratischen Gleichung und Verbesserung vermittelst höherer Potenzen von tt, wohl kaum belohnen.

§ 7i-

Der am mindesten schwierige Fall der Verschmelzung nach der Hemmung, nämlich der Fall worin alle Hemmungsgrade = I, ist jetzt, so weit es hier nöthig schien, abgehandelt worden. In den übrigen Fällen ist eine Verschmelzung schon vor der Hemmung, im Allgemeinen zu er- warten; wir müssen daher jetzt hieher unsre Aufmerksamkeit wenden.

Schon im § 67 ist erinnert worden, dafs zwischen völliger Identität und völligem Gegensatze zweyer Vorstellungen, ein Continuum möglicher Fälle liege; und dafs diesem ein Continuum möglicher Erfolge entspreche, die aus dem Zusammentreffen zweyer Vorstellungen entspringen müssen. Nun hat die völlige Identität eben so gewifs ein völliges Zusammenfliefsen, also vollständige Bildung einer Totalkraft, als völliger Gegensatz die volle Hemmung zur Folge. Zwischen den Extremen können demnach nicht blofs mindere Hemmungen, es müssen dazwischen auch mindere Grade des Zusammenfliefsens, das heifst, Verschmelzungen vor der Hemmung, statt finden. Liefse sich nun das Verschmelzende zweyer Vorstellungen absondern Vi <n ihrem Gegensatze : so wären die Begriffe hierüber von selbst im Klaren ; wir hätten aber alsdann auch gleich im dritten Capitel die Totalkräfte, welche aus der Verschmelzung entstehen, gehörig in Rechnung bringen, und nicht blofs auf die Grade der Hemmung sehen sollen. Allein Gleich- heit und Gegensatz sind keineswegs Bestandteile der Vorstellungen, sondern Prädicate, die erst im zufälligen Zusammentreffen der Vorstellungen entstehn. Daher kann man die Rechnung nicht so führen, als ob ohne weiteres das Gleiche [235] verschmelze und das Entgegengesetzte sich hemme: sondern man mufs die Verschmelzung ansehen als etwas, das wegen eines gewissen Grades von Gleichartigkeit der Vorstellungen sich ereignen sollte, das aber in dem Gegensatze ein Hindernifs antreffe. Alsdann wird eine vorläufige Berechnung nöthig, in wie weit dies Hindernifs überwunden werden, und dem gemäfs die Verschmelzung wirklich vor sich gehen könne.

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. 333

Ehe wir uns auf die eben erwähnte Berechnung einlassen, wollen wir überlegen, was der Erfolg einer wirklichen Verschmelzung seyn möge? Keineswegs eine Verminderung der Hemmungssumme; sondern blofs eine Verrückung des Hemmungsverhältnisses: dies ist schon aus dem obigen klar. Denn die Verschmelzung bringt gewisse Totalkräfte hervor, die nun in einem andern Verhältnisse, als es die Stärke der Vorstellungen ursprüng- lich mit sich brachte, der Hemmung entgegenwirken, derselben Hemmung, welche in dem Widerstreitenden der Vorstellungen einmal liegt, und welche sich nicht verändern kann, weil sonst diese Vorstellungen nicht mehr die nämlichen bleiben würden. Allein das Hemmungsver- hältnifs kann auch nicht plötzlich verrückt werden. Sonst müfste das Hindemifs, welches durch das Streben zur Verschmelzung erst soll über- wunden werden, plötzlich entweichen; ein unmöglicher Sprung, wie durch Betrachtungen des folgenden Abschnittes noch klärer werden wird, und wie man hier einstweilen als wahrscheinlich einräumen mag. Nun hat die Hemmungssumme ihr Gesetz, nach welchem sie fortdauernd sinkt; ein Um- stand, der ebenfalls in den folgenden Abschnitt gehört. Man denke sich also die Hemmungssumme fortwährend im Sinken begriffen; aber in der nämlichen Zeit das Hemmungsverhältnifs unaufhörlich verändert: so wird man einsehn, dafs, wofern eine wirkliche Verschmelzung zu Stande kommt, die Frage nach dem Quantum des Gehemmten für jede einzelne Vor- stellung nicht mehr eine statische Frage, wie bisher, sondern eine mecha- nische ist. Denn [236] nun hängt dies Quantum des Gehemmten, und der Gleichgewichtspunct, bey welchem die Hemmung still steht, davon ab, wie weit die Bewegungsgesetze der Vorstellungen die Verschmelzung zur Reife gelangen lassen. Folgendes sind die Puncte , worauf es hier ankommt.

Erstlich, die Hemmungssumme sinkt allmählig.

Zweitens, in der nämlichen Zeit ändert sich das Hemmungsverhältnifs allmählig, indem das Streben zur Verschmelzung wider die Gegensätze sich aufarbeitet.

Drittens, hieraus folgt, dafs in jedem Augenblicke die bis dahin voll- brachte Hemmung von dem jetzigen Hemmungsverhältnifs um etwas ab- weicht, und dafs also jene sich diesem gemäfs berichtigt.

Viertens, diese Berichtigung mufs zwar damit endigen, dafs die Vor- stellungen sich nach demjenigen Hemmungsverhältnifs ins Gleichgewicht setzen, welches nach gesunkener Hemmungssumme sich zuletzt ausbildet. Aber eben das letzte Hemmungsverhältnifs hängt von dem Grade der Verschmelzung ab, welchen die fortschreitende Hemmung gestattete. Denn die Vorstellungen können nicht verschmelzen, in so fern sie schon gehemmt sind; (ein Punct, über den wir schon im § 57 gesprochen haben.) Je schneller sie also von Anfang an niedergedrückt werden, desto mehr geht von derjenigen Verschmelzung verloren, welche entstehen würde, wenn es möglich wäre, dafs von der doppelten Wirkung der Gegensätze, nämlich die Vorstellungen sinken zu machen und ihre Verschmelzung aufzuhalten, die erste so lange aufgeschoben würde, bis die zweytc ihr Ende erreicht hätte.

Am gegenwärtigen Orte können diese Betrachtungen nur dazu dienen, den Gegenstand in die Mechanik des Geistes zu verweisen.

22 A. XI. Psychologie als Wissenschaft.

Hier aber ist besonders zu bedenken, was schon vorhin angedeutet wurde, dafs die nämlichen Betrachtungen in die Nachforschungen der vorigen Capitel zurückgreifen müssen. Schon im dritten Capitel durften wir, Falls die Untersuchung vollständig seyn sollte, das Hemmungsver-[2 37] hältnifs nicht blofs von den Hemmungsgraden und von der Stärke der Vorstellungen abhängig machen. Dort, und dann ferner bey den Com- plexionen, deren Elemente aus einerley Continuum ebenfalls der Ver- schmelzung schon vor der Hemmung (oder vielmehr, wie wir nun sehen, während derselben), unterworfen sind, mufste auf die daraus hervorgehende Abänderung des Hemmungsverhältnisses Rücksicht genommen werden.

Würde dieses als ein Vorwurf gegen den bisherigen Vortrag angesehen: so läge die Antwort in der einzigen Erinnerung, dafs die Aufstellung der Elementarbegriffe nicht mit so verwickelten Fragen belastet werden durfte, wie die vom Einflufs der Verschmelzung auf die Hemmung.

Ueberdies aber ist der Einflufs der Verschmelzung nicht von so grofsem Umfange, als es Anfangs scheinen mufs. Und die gehörige Be- grenzung dieses Einflusses ist nun das nächste, was zu bestimmen uns obliegt.

§ 72.

Zuvörderst : die Stärke des Strebens zur Verschmelzung ist von dem Hemmungsgrade zweyer Vorstellungen, und von der schwächeren, nicht aber von der stärkeren unter beyden, abhängig.

Der Hemmungsgrad sey m, ein ächter Bruch; so ist 1 - m das Gleichartige beyder Vorstellungen. Gleichartigkeit aber ist nichts, was einer für sich allein zukäme, sie ist nur Eine für beyde Vorstellungen, während das Entgegengesetzte allemal zweyerley Verschiedenes ist, indem es auf zweyen Eigenthümlichkeiten zweyer Vorstellungen beruht. Die Gleichartigkeit, und mit ihr das Streben nach Verschmelzung, wächst nun ohne Zweifel in demselben arithmetischen Verbältnisse, in welchem der Hemmungsgrad abnimmt. Sie wächst auch, wenn zwey gleich starke Vor- stellungen gleichmäfsig wachsen oder abnehmen; nämlich die Gleichartig- keit ist alsdann gleichsam in einer gröfseren oder geringeren Masse realisirt, daher auch das Streben nach Verschmelzung in einer [238] gröfseren Masse des Vorstellens sich wirksam äufsern wird. - Aber wenn von zweyen, zuvor gleich starken Vorstellungen, jetzo eine sich verstärkt, die andre gleich stark bleibt wie vorhin: so ist hier ein ähnlicher Fall wie schon oben im § 42 bey der Hemmungssumme vorkam. Nämlich die Notwendigkeit der Verschmelzung wächst hier eben so wenig, wie

dort die Nothwendigkeit der Hemmung. Denn die Zerlegung der stärkeren Vorstellung in Gleiches und Entgegengesetztes wächst nicht darum, weil die Vorstellung selbst wächst, sondern sie bleibt in der nämlichen Kraft und Bedeutung, so lange die schwächere, zerlegende Vorstellung sich gleich bleibt. Die Spannung ist nun geringer, sowohl die,, welche zur Ver- schmelzung antreibt, als die welche der Verschmelzung entgegenwirkt. Dieses hindert aber nicht, dafs die Totalkräfte, welche die wirkliche Ver- schmelzung hervorbringt, von der Stärke einer jeden verschmelzenden abhängen. Mau mufs die Energie des Verschmelzens sehr wohl

Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes.

335

unterscheiden von den Kraft -Verhältnissen der verschmolzenen Vor- stellungen.

Ferner: dem Einen, aus der Gleichartigkeit entspringenden Streben zur Verschmelzung, wirken beyde entgegengesetzte Eigentümlichkeiten gerade in so fern zuwider, als sie sich unter einander anfechten, und dadurch das Sinken der Vorstellungen bewirken. Denn derselbe Wider- streit, welcher die Hemmungssumme hervorbringt, macht auch die Ver- einigung in Eine Totalkraft unmöglich, oder doch schwierig und unvoll- kommen. — Demnach sind hier bey zweyen Vorstellungen drey Kräfte vorhanden; die eine zur Verschmelzung wirkende, = i m, und die beyden entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten, oder mit einem verkürzten Ausdrucke, die beyden Gegensätze, jeder == m, dem Hemmungsgrade, weil die ungleiche Stärke der Vorstellungen hier aus den Augen zu lassen ist. Diese drey Kräfte stehn unter einander in voller Hemmung; denn erstlich ist das Entgegengesetzte zweyer Vorstellungen, so fern es aus ihnen herausgehoben gedacht [23g] wird, gewifs völlig entgegengesetzt; zweytens ist eine jede der entgegengesetzten Eigenthümlichkeiten eben so gewifs in vollkommenem Widerstreit gegen die Verschmelzung.

Wie nun mit dreyen, einander völlig entgegengesetzten Kräften zu rechnen sey, wissen wir aus dem ersten und zweyten Capitel dieses Ab- schnitts. Eben so wie dort, mufs auch hier theils ein Quantum Kraft, welches gehemmt wird, also eine Hemmungssumme theils ein Ver- hältnifs angegeben werden, nach welchem die vorhandenen Kräfte den Verlust unter sich theilen. Die drey Kräfte m, m, und 1 m, seyen fürs erste so bestimmt, dafs vi > 1 m. Alsdann ist nach den ersten Grundsätzen die Hemmungssumme = 1 ?n -\- »1 = 1. Und das Hemmungs-Verhältnifs wie 1 m, 1 m, vi. Die Summe der Zahlen, welche das Hemmungsverhältnifs ausdrücken, = 2 - m. Daher die Rechnung folgende :

(2 vi) : \ 1

m

vi

vi

I

m

2

vi

I

vi

2

m

m

m

wenn 1

Hier mufs es etwas der Schwelle des Bewufstseyns Analoges geben,

2 V 2 , und 1 vi = V 2 1 ;

vi

IV

woraus vi

2 vi daher vi : (1 vi) = V2 : 1; wie sich gebührt, wenn neben zwey gleichen Kräften eine dritte auf der Schwelle seyn soll. Es ergiebt sich hieraus folgender Satz:

Wenn der Hemmungsgrad zweyer Vorstellungen nicht

kleiner ist als 2 V 2 = 0,585 . . . , so wird die, zur Verschmel- zung vor der Hemmung wirkende Kraft, gänzlich gehemmt; es geschieht also keine solche Verschmelzung, sondern für alle Fälle dieser Art bleiben die früher gezeigten Rechnungen

. ■}() XI. Psychologie als Wissenschaft.

unverändert. Aber dieses ist noch [240] nicht die engste Gränze, worin die Abänderung des Hemmungs- Verhältnisses durch die Verschmelzung vor der Hemmung, mufs eingeschlossen werden.

Die Vorstellungen sind ursprünglich unverschniolzen. Wenn sie nun auch einander nahe genug, oder gleichartig genug, sind, damit nicht, nach der eben geführten Rechnung, die Energie des Verschmelzens gänzlich überwunden werde von dem entgegengesetzten Eigenthümlichen einer jeden einzelnen Vorstellung: so fragt es sich dennoch, ob irgend etwas von wirklicher Verschmelzung zu Stande kommen könne? Dazu gehört, dafs die Energie der Gleichartigkeit, welche ursprünglich in beyden Vorstellungen nur Eine ist, sich in zwey gleiche Kräfte theile. Denn sie mufs die eine Vorstellung mit der andern, und auch die andere mit jener, verschmelzen.

Nun sind aber die Vorstellungen nicht einerley; und es kann auch in keiner von beyden ' das Gleichartige vom Entgegengesetzten wirklich losgerissen werden, um sich mit der andern zu vereinigen. Also bleibt nichts übrig, als dafs mit jeder von beyden sich die andre in einem ge- wissen, beschränkten Grade verbinde. Jede einzelne Vorstellung wird gleichsam ein Subject, mit welchem sich die andre, so weit sie kann, als Prädicat vereinigen soll. Demnach giebt es nicht eine, sondern zwey Ver- knüpfungen; und die eine, verschmelzende Kraft theilt sich nicht blofs in zwev Kräfte, sondern diese beyden Kräfte sind auch unter einander in vollem Widerstreite, in so fern sie auf umgekehrte Weise eine der beyden Vorstellungen als eine solche setzen, mit welcher die andre unvollkommen verbunden werde. Fragt man aber, wie sich die eine, verschmelzende Kraft theilen könne? so ist die Antwort: sie liegt ursprünglich eben so wohl in der einen als in der andern der beyden Vorstellungen, da zur Gleichheit derselben gewifs beyde nöthig sind; und nur in ihren beyden Aeufseruncren ist sie mit sich selbst im Streite. In dieser Beziehung sind nun offenbar vier [241] Kräfte in eine Hemmungsrechnung zusammen

1 m 1 tn TT

zu fassen; nämlich m, m, , Die Hemmungssumme um-

2 2

1 m fafst die drey schwächern, und ist folglich = 1 . Von wird ge- hemmt . Dieses sey = , so wird jede der schwächren

1 -j- m 2 __

Kräfte völlig gehemmt, und es findet sich m = V 2 1 = 0,414 .. .

Wenn nun der Hemmungsgrad auch kleiner ist als 0,585 . . . aber gröfser als 0,414 so hindert noch immer das Entgegenge- setzte derVorstellungen ihreVerbindung, denn es können die beyden Verknüpfungen, welche jede mit der andern eingehn sollte, nicht zu Stande kommen. Erst für niedrigere Hemmungsgrade tritt die Verschmelzung vor der Hemmung wirklich ein. Und auch da kann ihre Wirkung, in so fern dadurch die Hemmungs- Verhältnisse verändert werden, nicht sehr beträchtlich werden, da nicht blofs die verschmelzende Kraft immer in zwey gleiche Theile zerfällt, sondern diese auch nur mit derjenigen Stärke wirken können, welche ihnen aus dem Streite mit einander und mit den Gegensätzen übrig bleibt. Für sehr kleine Hemmungsgrade endlich fällt die Verschmelzung

Zweyter Abschritt. Grundlinien der Statik des Geistes. ? ? 7

vor der Hemmung mit der nach der Hemmung beynahe zusammen, indem es fast gar keine Hemmung mehr giebt.

In einer ganz andern Hinsicht aber mufs der Faden dieser Unter- suchung weiter verfolgt werden. Wir sind nämlich hier wieder unvermerkt, so wie schon im § 61 und 66, auf das Feld der Gefühle gefathen; und zwar diesmal auf das der ästhetischen Gefühle. Denn der Zustand des Strebens und Gegenstrebens der Vorstellungen, in Ansehung ihrer Ver- schmelzung, ist etwas ganz Anderes als eine Bestimmung des Vor- gestellten; vielmehr lassen sich die vorgefundenen Zustände ganz genau mit den musikalischen Auffassungen gewis- [2ai]ser Intervalle vergleichen; wovon jedoch hier nicht der Ort ist weiter zu reden.

§ 73- Wir sehen jetzt, dafs es für die gröfsere Hälfte der möglichen Hem- mungsgrade nur.blofs eine Verschmelzung nach der Hemmung, und keine vor der Hemmung, giebt; nämlich für die Hemmungsgrade zwischen 1

und 0,414... Es sev nun derselbe = , auch -:=%, wie oben, die

8 a

, Ir~ , , ab

Reste r und p aus ^ 54 jetzt = a und b -— -, ihr

2 [a -f- b) 2 (a -\- b)

Product durch /. ausgedrückt = a2 . --^— ; daraus

4(i+*)2 findet sich für a = 1 folgende Reihe von Verschmelzungshülfen :

Wenn /. = 1, wird - = 0,5625 . . . und -^ = 0,5625 . . .

a b

*==o,9 0.522 0,580

°>8 o,474 0,593

0,7 0,423 0,004

0,6 0,366 0,61016

0,5 0,305 0,61067

0,4 0,242 0,600 1

o,3 0,178 0,5 Q4

0,2 0,1148 0,574

Es leuchtet ein, dafs diese beträchtlichen Verschmelzungshülfen grofsen Ein- llufs haben müssen, insbesondere auf die Schwelle des Bewufstscyns. Uebrigens

rg

hat die Gröfse " auch hier wieder ein Maximum, ungefähr für jc = o,5.

Hiemit sey dieser Abschnitt beschlossen. Es scheint nicht, dafs die Statik des Geistes, so weit sie unabhängig von der Mechanik ist, noch andere Hauptclassen von Untersuchungen enthalten könne, als die, von welchen [243] die ersten Begriffe in den vorstehenden Capiteln sind auf- gestellt worden.* Wir gehen nunmehro an das schwerere Werk, den Be- wegungen nachzuspüren, durch welche der Geist sich dem Gleichgewichte der Vorstellungen annähert, oder davon entfernt.

Man vergleiche jedoch unten § 100 gegen das Ende.

Hbrbart's Werke. V. 22

[244] Dritter Abschnitt.

Grundlinien der Mechanik des Geistes.

Erstes Capitel.

Vom Sinken der Hemmungssumme.

§ 74-

Wenn schon ein Gleichgewicht vorhanden ist, dann kann es nur durch neue, hinzutretende Kräfte gestört werden. Allein da wir von Vor- stellungen reden, so dringt sich zuerst die Bemerkung auf, dafs in An- sehung ihrer es nicht erlaubt ist, das Gleichgewicht als ihren anfänglichen Zustand vorauszusetzen. Vielmehr sind sie ursprünglich alle ganz un- gehemmt: eben in diesem ihren natürlichen Zustande bilden sie auch (wofern nur ihrer mehrere entgegengesetzte beysammen sind) eine Hem- mungssumme; diese nun mufs sinken, und hiemit ist sogleich eine Be- wegung der Vorstellungen vorhanden. In der Reihe der Untersuchungen mufsten wir zuerst das Gleichgewicht bestimmen ; in der Wirklichkeit geht die Bewegung dem Gleichgewichte voran.

Indem die Hemmungssumme sinkt : hat sie in iedem Augenblicke eine bestimmte Geschwindigkeit, und in der bis dahin abgelaufenen Zeit ist ein bestimmtes Quantum gesunken. Beydes haben wir zu berechnen.

Oder wird das Sinken keine Zeit verbrauchen ? Wird mit unend- licher Geschwindigkeit, plötzlich, das ungehemmte Vorstellen zu dem ge- hörig gehemmten übersprin[245]gen ? Die innere Erfahrung, so fern sie sich hierüber befragen läfst, antwortet: dafs allerdings jeder Wechsel unserer Gemüthslagen Zeit verbrauche. Aber auch a priori ist dasselbe mit grofser Bestimmtheit zu erkennen. Zwischen dem ungehemmten und dem gehörig gehemmten Zustande liegt ein Continuum von Mittelzuständen : durch jeden derselben würde selbst ein unendlich schneller Uebergang, wenn ein solcher statt fände, successiv herdurch gehn müssen. Aber bey jedem dieser Mittelzustände ist die Notwendigkeit des ferneren Sinkens geringer, als bey dem vorhergehenden einer, noch weiter vom Ziele ent- fernten Hemmung. Folglich werden die Vorstellungen weniger gedrängt, um aus dem Bewufstseyn zu entweichen. Demnach mufs das Sinken der Hemmungssumme mit abnehmender Geschwindigkeit von Statten gehn, und damit die Geschwindigkeit abnehmen könne, mufs Zeit verfliefsen. Dieses nun mag sich Jeder auf beliebige Weise in seine metaphysische Sprache übersetzen. Der Idealist, und schon der Kantianer, mag immer-

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

339

hin vorläufig sagen, es sey hier nur von Phänomenen die Rede; und zu dem Sinken der Vorstellungen gehöre Zeit in demselben Sinne, als worin die Bewegung der Körper Zeit und Raum verbrauche. Es ist hier nicht der Ort, in der Lehre von Raum und Zeit Falsches und Wahres zu scheiden; oder den, höchst dürftigen, Gegensatz zwischen Phänomenen und Noumenen näher zu beleuchten.

In jedem beliebigen Augenblicke ist die Notwendigkeit des Sinkens der Hemmungssumme so grofs, als das noch ungehemmte Quantum der- selben. Was wirklich sinkt in diesem Augenblicke, ist zugleich dem Augen- blicke und dieser Notwendigkeit proportional. Es sey S die Hemmungs- summe, o das Gehemmte nach Verlauf der Zeit /, so ist

(S es) dt = des.

Kaum wird es nöthig seyn, zu erinnern, dafs man sich nicht durch Analogie mit der Mechanik der Kör[24Ö]per verleiten lassen solle, auch hier an ein Fortgehen mit einmal erlangter Geschwindigkeit zu denken. Die Vor- stellungen streben ihrer Natur nach immer aufwärts ins Bewufstseyn; und ihr Sinken ist keine räumliche Bewegung, sondern eine erzwungene Ver- dunkelung des Vorgestellten. Jedes augenblickliche Sinken ist immer der unmittelbare Ausdruck der Nöthigung zum Sinken. Während also in der Mechanik der Körper die Kraft nur das Differential der Geschwindigkeit bestimmt, ergiebt sie hier geradezu die Geschwindigkeit selbst. Dagegen haben wir hier gar keine gleichförmig wirkende, sondern mir veränder- liche Kräfte.

des

Für /

c

jleichu

mg a

'-*-

integnrt giebt

/

= log.

Const. S—o

o

auch

CS =

o giebt

Const.

= S, also

t

= log.

S

S a"

')■

Das Gehemmte, oder a = S ( i e

Noch zu hemmen S o = Se l.

Wegen der grofsen Wichtigkeit dieser Formeln setze ich für die- jenigen , denen eine Gröfse wie e l und i e * nicht geläufig seyn möchte, folgende Werthe derselben her :

= 0,7788

= 0,6065

= 0,3678

= 0,1353

- 0,0497

Für

4

/ = -'- 2

ist

e t e *

J3

'= 1,

>>

e 4

1>

1 = 2,

jj

e '

t = 1,

e t

1 e 1 e

I e~ I e'

1 e -

= 0,221 1 .

= 0,3934 = 0,6321 . = 0,8646 . = 0,9502 .

Hiezu nehme man, was auf den ersten Blick offenbar ist, dafs für / = 0, oder im Anfange des Zeitverlaufs, e~t= 1, Se~~ l S, oder die Hemmungssumme noch ganz ungehemmt; für t = oo, oder nach einem unendlich langem Zeitverlauf (der, wie sich versteht, nur eine Fiction seyn

kann, die man sich erlaubt anstatt einer äufsersten [247] Gränze), e~ £= -

,,,:

^O XL Psychologie als Wissenschaft.

Se~t = S . , oder die Hemmungssumme bis auf einen unendlich kleinen

00 °

Rest gehemmt, folglich in gar keiner Zeit die Hemmung schlechthin gänzlich vollbracht ist. So sieht man nun das Fortschreiten der Hem- mung deutlich vor Augen. Anfangs verdoppelt sich dieselbe beynahe, wenn die Zeit verdoppelt wird ; aber wenn die Zeit = achtmal verlaufen ist,

oder für / = 2, hat sich das Gehemmte jener ersten Zeit noch nicht vervierfacht, denn 0,86.. ist noch nicht völlig viermal 0,22.. Weiterhin rückt selbst bey der längsten Dauer die Hemmung nur äufserst wenig, ja nur ganz unmerklich, dennoch aber unablässig vor, so dafs das Ge- müth sehr bald beynahe, aber nimmermehr völlig in Ruhe ist*

§ 75-

Die Hemmungssumme ist bekanntlich nichts für sich bestehendes, noch irgend einer Vorstellung insbesondre angehöriges; damit also die vorstehenden Formeln eine reale Bedeutung erlangen, müssen wir weiter nachsehen, welche Verdunkelungen der wider einander wirkenden Vor- stellungen es sind, die zusammengefafst dem Ausdruck : Sinken der Hem- mungssumme, entsprechen.

Es seyen die Hemmungs Verhältnisse der Vorstellungen ausgedrückt durch die Zahlen f, g, h; so sinkt von derjenigen Vorstellung, der die

Zahl f zugehört, der Bruch -=.<?, nämlich bezogen auf das

y + S + h Ganze, was überhaupt sinkt. In dem Zeittheilehen dt nun sinkt über- haupt do=($ o)dt=Se~tdt, folglich von jener Vorstellung sinkt qSe~x dt; wovon das Integral = qSe~ l -\- C. Für t = o ist dieses = 0, also C=qS, und das vollständige Integral =qS(l e~ l) == X; woraus

qS t log. -J—, . </o A

[248] Gestattet nun das Verhältnifs der Vorstellungen, dafs man sie alle in einerley Hemmungsrechnung bringe : so ist am Ende der Hem- mung X=qS, also / unendlich. Das heifst, jede Vorstellung sinkt in einerley Proportion mit der Hemmungssumme, und gelangt daher sehr bald beynahe, aber nie völlig zur Ruhe.

Allein ganz anders verhält es sich mit Vorstellungen, die unter die Schwelle fallen. Es sey eine solche Vorstellung = c, so mufs sie ganz und gar gehemmt werden, oder es ist zuletzt X = c, und die Zeit, während welcher sie völlig sinkt, ist

, 1 qS

q o c

Der Nenner ist hier immer positiv, weil das, was von ihr hätte sinken sollen, immer gröfser ist als sie selbst. Demnach die Zeit des völligen

Wegen des Zeitmaafses, oder der Zeit-Einheit, welche bey den Rechnungen hinzuzudenken ist, vergleiche man unten § 144.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. iai

Sinkens allemal endlich; obschon niemals = o, so lange nicht c selbst

Beyspiele: Bey voller Hemmung sey a = 3, £ = 2, c=l, wofür, wenn nicht c unter die Schwelle fiele, das Hemmungsverhältnifs aus- zudrücken wäre durch die Zahlen 2, 3, 6; also ^ = ; ferner S = 2

+ i=3> ?S= 77, und t = log. nat. ~ = 0,944 . .

Es sey ferner bey voller Hemmung a = 4, # = 3, <r = 2 ; woraus die Hemmungsverhältnisse 3, 4, 6; und q = ; .S"— . 5 ; ^»S'= ; also

/ log. nat. = 2>oi5.

Es sey endlich bey voller Hemmung a = 10, b=io, r = y, also r, wie bekannt, beynahe auf der Schwelle: so ist das Verhältnifs der

or. nat.

Hemmung wie 7, 7, 10; ?==^- = -l; .S" = 17; £S=-|; t ===== loj

85 = 4,4426..

Wäre in dem letzten Beyspiele c = 7,07 . . = 10 ' - genommen worden, so würde die Zeit unendlich grofs geworden sevn. Man sieht also, dafs, wenn, wenn c seinem Schwellenwerthe auch schon sehr nahe ist, doch eine kurze Zeit hinreicht, um es aus dem Bewufstsevn zu ver- drängen.

[249] Merkwürdig ist hiebey noch die Veränderung in der Geschwin- digkeit der übrigen Vorstellungen, welche in dem Augenblicke vorgeht, da die schwächste zur Schwelle sinkt. Die Hemmungs- summe mufs ihrem Gesetze gemäfs continuirlich sinken; verschwindet nun plötzlich diejenige Vorstellung, welche bisher von der Hemmungssumme am meisten zu leiden hatte, so müssen in diesem Augenblicke die stärkeren einen weit beträchtlichem Druck erleiden, als sie bisher zu tragen hatten.

In dem ersten Beyspiele ist nach Verlauf der Zeit =0,944.. noch zu hemmen übrig Se~ t = ^.e~ °>944-- = T, 1 7 ...; dieses drückt, unmittel- bar vor dem völligen Sinken von o, mit der Kraft 1,17.. X auf a, und mit der Kraft 1, 17..X— auf b; hingegen unmittelbar darnach ändert sich das Hemmungsverhälnifs; a und b müssen den Rest der Hemmungs- summe allein theilen; es drückt auf a die Kraft 1,17.. X % auf b die Kraft 1,17.. X --• Die Geschwindigkeit des Sinkens ist, wie oben gesagt, allemal der unmittelbare Ausdruck der zum Sinken nöthigenden Kraft, und derselben proportional. Sie wird demnach in unserm Falle plötzlich mehr als verdoppelt.

Sind mehr als drey Vorstellungen im Spiele: so können sich dergleichen plötzliche Aenderungen mehrmals ereignen ; denn jede der schwächeren hat ihren Zeitpunct, wo sie zur Schwelle sinkt, und den übrigen die Theilung der Hemmungssumme überläfst.

Dies ist ein leichtes Beyspiel von dem, was keine empirische Psycho- logie jemals hätte wissen können. Ueber den Gegensatz der plötzlichen und der continuirlichen Veränderungen im Bewufsteyn kann sie sich nur wundern, nicht sie erklären.

7.A2 XL Psychologie als Wissenschaft.

§ 76.

Die Anwendung des Bisherigen auf Complexionen und Verschmelzungen kann wohl kaum Schwierigkeit finden. Immer beharrt die Hemmungssumme bey dem gleichen Gesetze des Sinkens. Aber die Elemente der Ver-[2 5o] bindungen erleiden mancherley Beschleunigungen und Verzögerungen; auf ähnliche Art, wie deren Gleichgewicht durch die Complication verändert wird.

Die plötzlichen Aenderungen der Geschwindigkeit bey stärkeren Vor- stellungen, indem schwächere zur Schwelle sinken, werden gemildert durch Verschmelzungen und unvollkommne Complicationen. Denn indem die schwächeren zur Schwelle getrieben sind, haben auch die Hülfen, durch welche sie unterstützt waren, völlig gehemmt werden müssen. Diese Hülfen rühren von den stärkeren Vorstellungen her, welche schneller sinken, um die schwächern verschmolzenen oder complicirten länger im Bewufst- seyn verweilen zu machen. Also kann der Abstand der Geschwindigkeiten jetzt nicht so grofs seyn, als bey unverbundenen Vorstellungen, wo in Einem Augenblick der Druck der Hemmungssumme sich ganz auf die stärkeren wirft, nachdem er unmittelbar zuvor diese in eben dem Ver- hältnis weniger, als die schwächern stärker, angegriffen hatte.

Demnach, je weniger Verbindung noch unter den Vor- stellungen statt findet, desto mehr gehen die Bewegungen des Gemüths stofsweise, und mit harten Rückungen; je mehr die Verbindungen zunehmen, desto gleichmäfsiger und sanfter wird der Flufs der Vorstellungen.

Wesentlich ist noch die Bemerkung, dafs alle Verschmelzungen nach der Hemmung, in ihrer Ausbildung eben so fortschreiten müssen, wie die Hemmung abnimmt. Sollten sie erst bey völliger Ruhe entstehn, so ent- stünden sie niemals, weil die Hemmungssumme nie gänzlich sinkt. Aber in wie fern ein paar Vorstellungen einander noch widerstreben, können sie sich nicht vereinigen. Demnach seyen die Reste zweyer Vorstel- lungen, welche nach der Hemmung überbleiben werden, und also sich verbinden können, = r und o; so ist die wirkliche Verbindung am Ende der Zeit /, nach dem obigen =ro (1 e~~ l). Und so tritt denn auch die Ver[25i]bindung sehr bald bey nahe, aber niemals völlig ein. Für Vorstellungen, die zur Schwelle sinken sollen, giebt es keine Reste, also keine Verschmelzung nach der Hemmung. In Hinsicht der Ver- Schmelzung vor der Hemmung müssen wir uns die Uebergänge der Zu- stände, die aus dem Streben zur Vereinigung und den dawider streitenden Gegensätzen hervorgehn, eben so allmählig geschehend denken, wie die bis- her betrachtete Hemmung.

Zweytes Capitel.

Von den mechanischen Schwellen.

* 77

Bey den höchst einfachen Voraussetzungen, nach denen wir bis jetzt gerechnet haben, und womach das Vorstellende nur von äufserst wenigen

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. -i i 2

Vorstellungen beschäfftigt wird, können wir nichts anders erwarten, als dafs sehr bald von der eben vorhandenen Hemmungssumme nur noch wenig übrig seyn, dafs also ein der Ruhe ganz nahe kommender Zustand eintreten werde; aus welchem nur neu hinzukommende Vorstellungen das Gemüth aufzuregen vermögen.

Zu einem Paar im Gleichgewichte befindlicher Vorstellungen komme demnach eine dritte, und zwar plötzlich, d. h. schnell und stark genug, damit wir den Zeitverlauf und das verwickelte Gesetz allmähliger Wahr- nehmung hier als unbedeutend bev Seite setzen können: es wird gefräst nach den Bewegungen der Vorstellungen, die daraus entstehen müssen.

Die hinzukommende wird eine Hemmungssumme bilden, welche sinken mufs. An diesem Sinken werden auch die früher vorhandenen Theil nehmen; und zwar werden [252] sie dabey unter ihren statischen Punct hinabsinken, bald aber wieder zu demselben hinaufsteigen. Hiebey können sie für eine Zeitlang auf die Schwelle des Bewufstsevns getrieben wer- den, welche wir für einen solchen Fall schon oben (im § 47), mecha- nische Schwelle genannt haben.

Um dies leichter aufzuklären: nehmen wir zuvörderst an, zu schon im Gleichgewichte befindlichen, und nach der Hemmung verschmolzenen, a, und b, komme ein so schwaches c, dafs es neben jenen auf die längst bekannte statische Schwelle sinken müsse. Alsdann kann es in statischer Hinsicht auf a und b keinen Einflufs haben. Aber ehe es aus dem un- gehemmten Zustande in den gehemmten übergeht, mufs es durch a und b zum Sinken gebracht werden; dabey wirkt es auf diese zurück und zwingt also auch sie, die schon auf ihrem statischen Puncte waren, unter den- selben hinab zu sinken. Dieses wird so fortgehn, bis die durch c ent- standene Hemmungssumme völlig niedergedrückt ist. Aber hiezu wird keine unendliche Zeit nöthig seyn, denn das Streben jener, auf ihren statischen Punct zurückzukehren, wirkt mit, und beschleunigt alle Be- wegungen. Indem nun a und b wieder steigen, wird c zur Schwelle ge- trieben werden. Man bemerke aber, dafs hier die Bewegung nicht nach einerley Gesetze fortdauernd geschehn kann. Ein Be- wegungsgesetz wird statt finden, so lange a und b sinken, ein anderes wird eintreten, indem sie anlangen sich wieder zu erheben. Dazwischen kann es noch ein drittes geben, wofern etwa b bis zur Schwelle hinab- gedrückt, daselbst eine Zeitlang verweilen müfste, also nur einen gleich- förmigen Druck gegen die übrigen, ferner sinkenden Vorstellungen aus- üben könnte.

Nehmen wir nun die Voraussetzung zurück, dafs c neben </ und b unter der statischen Schwelle seyn solle: so wird zwar der statische Punct von a und b erniedrigt, und die anfängliche Bewegung kann von keinem Zurückstreben dieser Vorstellungen zu ihrem statischen [253] Puncte be- schleunigt werden. Aber sobald derselbe erreicht ist, entsteht ein solches Streben, und wächst bev fortgehendem Sinken; von da an ist der Verlauf des Ereignisses im Allgemeinen wie oben, nur dafs c nicht auf die Schwelle, sondern bis zu seinem statischen Puncte getrieben wird.

Dieses mufs jetzo durch Rechnung näher bestimmt werden. Wir knüpfen dieselbe an eleu § 69, wegen der unfehlbar vorhandenen Ver-

T.AA XL Psychologie als "Wissenschaft.

Schmelzung nach der Hemmung: und nehmen auch hier die abkürzende Voraussetzung voller Hemmung an: zwar nicht eben, um der ziemlich eng begränzten Verschmelzung vor der Hemmung auszuweichen, sondern weil über die Einführung verschiedener Hemmungsgrade in die Rechnung, nach den frühem Auseinandersetzungen wohl kein Zweifel mehr walten kann.

Es sey zuerst c neben a und b auf der statischen Schwelle. So ist bev voller Hemmuno- die neu entstehende Hemmunorssumme ge- wifs = c. Die Verhältnisse, worin sie vertheilt wird, sind aus § 69, (w. > y ■■■= c) acß2, bcu2, u2 ß2. Ist also nach Verlauf der Zeit / das Gehemmte = ff, so wird alsdann

von a gehemmt seyn a c ß2 a : (acß2 -\-bcu2 -\- u2 ß2) „6 bcu2o:(acß2 -\-bcu2 -j- u2ß2)

c u2ß2o: (acß2 -f- bcu2 -j- a2ß2).

Im Zeittheilchen dt drängt zum Sinken erstlich der Rest der Hem- mungssumme, c n, dann aber auch das Wieder- Aufstreben von a und b. Dieses zwar wirkt zunächst nur gegen c, allein dadurch wird die Spannung von c vermehrt, und durch seinen Widerstand wirft es den erlittenen Druck auf a und b zurück. Ueberhaupt kann das Sinken von c wohl beschleunigt werden, aber dann mufs auch das Sinken von a und b rascher gehn, denn die einmal in den Kräften gegründeten Hemmungs- verhältnisse können nicht verletzt werden. Nun beträgt das Wieder-Auf- streben von a und b so viel als ihr Gehemmtes unter dem statischen Puncte: und da sie von [254] Anfang an schon auf dem Puncte waren, zu dem sie zurückkehren müssen, so ist ihr ganzes Gehemmtes gleich ihrem Wieder-Aufstreben. Folglich kommt hinzu die Kraft

{acß2 -f- bcu2)a

acß2 -f. bcu2 -f- u*ß*'

und wir haben die Gleichung

iacß2 -\-bcu2)a \ a-\ n ', 7- -i dt = du.

' acß2 +bcu2 -\-u2ß2)

acß2 4- bcu.2 u2ß2

Es se\- 1

acß2 -\- bcu2 -\- u2ß2 acß2 -j- bcu2 -f. u2 ß2 so ist (c - - qa) dt = d a

1 , c woraus / = loo:.

q c qa

c und 0 = (1 e~ 1 *).

Q

Wofern keine mechanische Schwelle eintritt: so geht nach diesem

Gesetze das Sinken fort, bis die ganze Hemmungssumme niedergedrückt

ist. Denn so lange sich von ihr noch etwas vorfindet, mufs dasselbe auf

alle Vorstellungen vertheilt werden. Erst wann nichts mehr zu vertheilen

ist, können a und // um so viel steigen, als um wie viel sie c sinken

machen.

Man setze also in dem Ausdrucke für /, o = c; so kommt

1 1

/ = los

q ^ I q

für die Zeit, während welcher jenes Gesetz bestehen kann. Es ist

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

345

log . ==1-4- <7-r- q 2 -4- q 3 -4- . . . daher man

q e i q ~ 2 * ' 3 Y ' 4 y '

leicht übersieht, wie diese Zeit um so kleiner ist, je kleiner q, das heilst, je gröfser c, denn der Zähler von dem Bruche q ist die Verhältnifszahl der Hemmung für c. Da q nie = i seyn kann, so ist auch diese Zeit allemal endlich. Es ist merkwürdig, dafs sich die früher vorhandenen Vor- stellungen nur um so kürzere Zeit niederdrücken lassen, je stärker der Druck ist.

Nachdem nun der Hemmung Genüge geschehen, kann c nicht länger a und b zum Sinken zwingen. Das heifst, [255] sie steigen, wie wenn c nicht wäre, nach ihrem eigenen Gesetze; um wie viel aber be'yde zu- sammengenommen steigen, um so viel mufs c sinken. (Nämlich sie steigen zu ihrem statischen Puncte; dieser aber freylich hängt von c ab, wofern nicht, wie hier angenommen, c auf der statischen Schwelle, oder dar- unter ist.)

Die Entfernung vom statischen Puncte bestimmt in jedem Augen- blicke die Kraft und Geschwindigkeit des Steigens. Die anfängliche Ent- fernung ergeben die Ausdrücke für das Gehemmte von a und b, wenn darin o = c gesetzt wird. Also für a ist diese Entfernung = ac2[r: (ac(i2 -4- bca2 -\- a2 ,'i2). Sie heifst S'; und nach einer Zeit des Steigens = /', habe sich von a wieder erhoben das Quantum a. So ist jetzt die Entfernung vom statischen Puncte = S' a\ und hieraus die Zunahme des Steigens

da = ($' o')dt'

S'

woraus /' = log. ,— , , a = S' (1 e~1'). S es

Es mufs nun auch b nach einem ganz ähnlichen Gesetze steigen. c aber nach demselben sinken. Folglich tritt auch hier, wie die Formeln zeigen, das Gleichgewicht nie vollkommen ein, obgleich sehr bald beynahe; die frühern Vorstellungen behalten immer noch eine geringe Bewegung des Steigens, die späteren des Sinkens.

Zu einem Beyspiele sollen einige Zahlen aus § 69 verhelfen. Es

sey a = b = 1, also «2 = 1,5625; u2 (i2 = 2,4414 . .; auch sey

2,4414 . . c = -, also q = = 0,61 . . und / = 1,54 . .

1,5625 -f 2,4414 . .

Um diese Zeit ist von a gehemmt - , nahe 0,1; von b eben so

4 viel; von c wenig über 0,3. Jetzt erheben sich a und b, um das ver- 1< >rene Zehntel wieder zu gewinnen ; unterdessen wird c zwey Zehntel (be\ - nahe) verlieren, und dann auf der Schwelle seyn, wohin es jedoch nie völlig o-ebracht wird; obgleich es in statischer Hinsicht unter der Schwelle ist, [256] und selbst von noch nicht verschmolzenen a und b sehr bald würde zur Schwelle getrieben seyn, wäre es gleichzeitig mit a und b ins Be- wufstseyn gekommen. (Man sehe § 75.) Vielleicht ist nicht über- flüssig zu erinnern, dafs a und b ein Zehntel verlieren, nachdem schon ihre eigne gegenseitige Hemmung so gut als vollbracht war; das heifst, nachdem sie schon halb gehemmt waren. Also ihr niedrigster Stand

i5 XL Psychologie als Wissenschaft.

ist = 0,4; von da an erheben sie sich wieder auf den vorigen Stand = 0,5.

§ 78. Auf die mechanische Schwelle wird b getrieben werden, wofern das, was von b zu hemmen ist, dem Reste von /; aus der frühern Hemmung

eher gleich wird, als die Zeit / = log . abgelaufen ist.

Es sollte von b gehemmt werden die Gröfse bca2a : (acß'- -f- bca2 -\- a2ß2). Nach Ablauf der eben erwähnten Zeit ist a = c. Gesetzt nun, es sey bc2u2 : {acß2 -\- bca2 -f- a2 ß2) gerade gleich dem Reste von b aus der frühern Hemmung: so wird dieser Rest eben in dem Augenblicke völlig gehemmt seyn, da b sammt a wiederum beginnt zu steigen. Also stufst gleichsam b nur augenblicklich an die Schwelle, ohne auf derselben zu verweilen. Dieser Fall liegt in der Mitte zwischen den beyden, da die Schwelle nicht berührt wird, und da die Verweilung auf derselben ein neues Gesetz für den Fortgang der Hemmung herbeigeführt. Von hier also müssen die genauem Betrach- tungen der mechanischen Schwelle ausgehn.

bb , p

Der Rest von b aus der frühem Hemmung ist = - nach § 44.

a -\- b

Ihm soll die Gröfse bc2a2 : (acß2 -\- bca2 -f- «2 ß2) gleich seyn. Wir

haben also

und daraus

a -f- b acß2 + bca2 -f a2 ß2

b(aß2 -f ba2)

(a -f b)a2 a -\- b

[257] Um sich unter den Bedeutungen, welche diese Formel an-

b2a

nehmen kann, eher zu orientiren, setze man für c2 den Werth 7,

' a -j- 0

wegen der Voraussetzung, dafs es auf der statischen Schwelle oder unter

b derselben sey. Alsdann läfst sich durch - - dividiren; und man sieht J a -\- b

auf den ersten Blick so viel, dafs ab > ß2 seyn mufs. Bey Vergleichung

des Täfelchens im § 69 zeigt sich, dafs diese Bedingung ungefähr bey

- .== x = 0,3 anfängt in Erfüllung zu gehn. a

Es sey nun des Beyspiels wegen a = 10, b= 2; demnach a = 10,32 ; ß = 3,61; a2 = 106,5; fi* = l3>°32; so nndet sich c = 2>766 •> welches der Forderung entspricht, neben q und b unter der statischen Schwelle zu seyn. Denn man nehme b zum Maafse der Gröfsen, so ist b= i, 0 = 5, c = 0,883 . .;' aber nach § 49 würde schon c = 0,91 . . zur Schwelle sinken.

Demnach ist es möglich, und es kann selbst ziemlich viele Fälle geben, da die dritte, hinzukommende Vorstellung, neben zwey frühem

i

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

347

(sogar wenn sie unverschmolzen wären) zur statischen Schwelle getrieben wird, und dennoch im Stande ist, während ihres Sinkens, die schwächere der frühem zuvor auf die mechanische Schwelle zu bringen; und selbst sie dort eine kurze Zeit lang aufzuhalten. Denn während das berechnete c, nur b an die Schwelle anstofsen macht, würde ein anderes, um ein weniges stärkere, z. E. c = 0,9, eine kurze Verweilung auf der mechanischen Schwelle bewirkt haben. In der That ist die Sphäre dieser Möglichkeit noch um Etwas gröfser, als wir sie hier

obenhin bezeichnet haben. Denn die Schwellenformel c = b

\ a +b

gilt für unverschmolzene Vorstellungen; aber a und b sind verschmolzen, und neben ihnen ist auch ein etwas gröfseres c auf der statischen Schwelle; welches wir annah[2 58]men, damit durch das Hinzukommen des c der statische Punct von a und von b nicht möge verrückt werden.

& 79-

Zweyerley ist noch übrig: erstlich, das Gesetz zu bestimmen, nach welchem sich während der Zeit, da eine Vorstellung auf der mechanischen Schwelle verweilt, die übrigen bewegen; zweytens, die beschränkende Vor- aussetzung, dafs c auf der statischen Schwelle oder darunter sey, zurück- zunehmen, und die Folgen davon zu erörtern.

Ruhet b auf der mechanischen Schwelle, so liegt eben darin der Unterschied dieser Schwelle von der statischen, dafs nun gleichwohl b nicht aufhört, Einnufs zu haben auf das was im Bewufstseyn vorgeht. Denn wie weit es von seinem statischen Puncte entfernt ist, um so weit ver- mag es, sich wieder zu erheben, wenn schon nicht plötzlich, sondern erst nach vorgängigem ferneren Sinken der übrigen Vorstellungen. Der ganze Unterschied seiner jetzigen Wirksamkeit von jener, da es noch selbst im Sinken begriffen war, ist nur dieser, dafs es zuvor an Spannung zunahm, indem es tiefer sank; jetzt hingegen übt es einen gleichbleibenden Druck, so lance bis es sich von der mechanischen Schwelle wieder erheben kann.

Um hiernach die Formel des § 77, nämlich

(c qa) dt = da, abzuändern, bedenke man, dafs q aus drey Theilen besteht, unter welchen einer die Wirksamkeit von a, ein andrer die von b ausdrückt. Der letztre wird offenbar jetzt constant, und hängt nicht mehr von 0 ab. Alles C< in- stante (welches näher zu bestimmen noch vorbehalten bleibt) mag mit c zu Einer Gröfse zusammengefaßt werden, welche C heifse. Auch sey das übrigbleibende Veränderliche == q n, so wird die Formel

(C q a) dt = da, woraus man sieht, dafs das Bewegungsgesetz mit geringer Veränderung dasselbe ist wie zuvor. Um aber zu[2 59]erst die Zeit zu finden, wann b auf die mechanische Schwelle gesunken, nehme man erst aus § 77 das

von b Gehemmte; dieses dem Rest gleich gesetzt, giebt

a -\- b

7aS XL Psychologie als Wissenschaft.

b2 (acß2 -4- /;r«2 -4- u2 ß2) __ ,

« = ; ; , , welcher Werth von o zu substituiren

{a -\- b) . bcu*

I c ist in die Formel t == los; . . Hiedurch beschränkt sich die

Anwendung des vorigen Bewegungsgesetzes, und ergiebt sich der Anfang des jetzigen.

Diejenige Zeit, welche von diesem Anfangspuncte verläuft, wollen wir, zum Unterschiede von der vorigen, mit /' bezeichnen, und daher die schon gegebene Formel nun so schreiben

{C—q'a)dt' = da, woraus zunächst /' = -, log. (C q ' a) -f- Const.

Damit die Constante bestimmt werde, setzen wir zuvörderst den Werth von a für / ' = o, nämlich

b2 (ac,i2 + bcu2 -L. a2ß2 v

(a -\-!>)~. bca2) '

so wird o = , log. (C q '— ) -|- Const., und folglich

I C-q'2

t = log. .

q C q es

Hieraus erfährt man das Ende des jetzigen Bewegungsgesetzes, oder die Zeit, wann b sich wiederum von der Schwelle erhebt, indem man o = c setzt. Denn nicht eher kann sich b erheben, als bis nichts mehr zu hemmen da ist; indem, hätte sich vorher b nur im geringsten ge- hoben, es sogleich wiederum durch ein endliches Quotum der Hemmungs- summe würde niedergedrückt seyn. Nachdem aber diese gesunken, steigt nothwendig b, wie schon gezeigt, zu seinem statischen Puncte, als ob ihm keine Kraft entgegenwirkte. Dasselbe gilt von a ; sie beginnen ihre Er- hebung zugleich, und können sie niemals ganz vollenden.

[260] Nun haben wir noch C und q' zu bestimmen. Man über- lege, wie a vertheilt wird, während b auf der mechanischen Schwelle ver- harrt. Nur unter a und c kann es vertheilt werden; also entsteht hier eine ähnliche Beschleunigung plötzlich, wie im § 75 bemerkt. Ferner, die Verschmelzungshülfe des b kann dem a nicht mehr zu Statten kommen, da von b nichts mehr zu hemmen ist, allemal aber das Helfende einen Theil des Leidens von dem, welchem es hilft übernehmen mufs. Also a und c theilen ganz nach ihrem ursprünglichen Hemmungsverhält- nisse das Quantum der Hemmungssumme , welches in diesem Zeiträume sinkt. Dadurch wird a verhältnifsmäfsig mehr und schneller angespannt, als vorhin ; und die Kraft seines Wiederaufstrebens folgt jetzt einem neuen Gesetze. Aber von dieser Kraft ist derjenige Theil constant, der durch das Sinken des a, bevor b die Schwelle erreichte, gebildet worden. Diesen finden wir, indem wir statt es in den Werth des von a Gehemmten

setzen 77); es ist also derselbe = -. . Dazu mufs addirt wer-

(a -f- b) u.z

den das gleichfalls constante Gehemmte von b, nämlich der ganze Rest

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 24g

, c .., TT b2 ,. . , <^^2 4- b2u2)

aus der frühem Hemmung, = ; dies giebt ! -. Hiezu

a -\- b (a -\- b) a2

kommt endlich noch c, als Hemmungssumme; so bilden diese drev Theile zusammen die constante Kraft, welche die Bewesmno- verursacht,

baß2 4- b2a2

= H , : rr . Mit dieser constanten Kraft ist nun noch die ver-

[a -f- b) u2

änderliche verbunden ; und sie ist = der hinzukommenden Spannung von a seit völliger Hemmung von b, weniger n. Wegen der Vertheilung des Gehemmten zwischen a und c, finden wir die hinzukommende Spannung

c von a, wenn wir mit dem Bruche dasjenige multipliciren , was ge-

hemmt worden, seit b die Schwelle erreicht hat; nämlich o 2. Die so

- ) c

entstehende Gröfse - zerleg 6 ilaren wir noch in den constanten

a-\- c _ L J3

C CG

Theil : und den veränderlichen . Jener mufs der obis:en

a-\- c a -j- c

constanten Kraft beygefügt werden, dieser dem veränderlichen o. So kommt endlich

baß2 -f- b2a2 2c

' 1 Tl.

(a + b) a2 a -f- c

und ' = -

a -\- c a -\- c

% 80.

Drey verschiedene Zeiträume, jedoch mit einem eigenen Bewegungs- gesetze, haben wir schon unterschieden; einen von dem Sinken auf die mechanische Schwelle, den zweyten während der Verweilung auf der- selben, den dritten, unendlich langen, während der Wieder-Erhebung von dieser Schwelle. Diesen Zeiträumen allen geht ein vierter, oder, wenn man will, ein erster voran, wofern c nicht neben a und b auf, oder unter der statischen Schwelle ist. Alsdann wird allemal der statische Punct von a und b erniedrigt ; und so weit sinken diese Vorstellungen, ohne durch ihr Aufstreben in das Hemmungsgesetz auf die vorhin beschriebene Art einzugreifen.

Man mufs also damit anfangen, diesen ersten Zeitraum zu berechnen.

Das geschieht mittelst der Formel / = log. -, (§74), indem für a

o o

dasjenige Quantum der Hemmungssumme gesetzt wird , welches von allen

Vorstellungen zusammengenommen mufs gesunken seyn, wann a und b

bey ihrem statischen Puncte anlangen. Wir nehmen vorläufig an, beyde

kommen zugleich auf diesen Punct; die Abänderungen wegen des

Gegentheils sollen an einem Beyspiel gezeigt werden. Der erwähnte

Werth von o sev = °.

t -0 XI. Psychologie als "Wissenschaft.

Hierauf beginnt die zweyte, jetzt mit t' zu bezeichnende Zeit, bis b die mechanische Schwelle erreicht. War die anfängliche Hemmungssumme = S, so ist jetzt [262] von derselben noch übrig S -°. Was aber in der Zeit t' sinken wird, ist auszudrücken durch « 3°. Dasselbe wird sich in den gehörigen Verhältnissen vertheilen; also wird (nach § 77 nur a statt a gesetzt) im Verlauf der Zeit /', wenn

acß-\-bc& -\-o.2ß2 =D, von a gehemmt seyn acß2 (a Z°) : D » b bca2{a Z°):D

c .. «»/9?(a 2>)>.D

Demnach wird

[(acß2 A-bca2) (o 2°)l. S— (0 2°) -f- [ ' ^ -^ -J dt =do

a2ß2 oder , indem völlig wie oben q = —fr,

<cß2 -\-bca2 D

Vo

qa 1 dt ' =■ da.

acß2 -f bcu2 Es sey noch zur Abkürzung S ° = o ,

so wird t'- = log. 'S' qn) -\- Const.

b

und weil für / ' = o, o = JT°,

1 tf-gl* 1 S'-2°

' = 7 bg ~S'—go = 7 ^^ ~S^=~qa woraus, Falls b nicht zur mechanischen Schwelle sinkt, die Zeit bis zum Steigen gefunden wird durch Substitution von -S" für o.

Im entgegengesetzten Falle wird zuvor der frühere Rest von b, oder

= (2?° 4- a 2?°) , indem die Hemmung sowohl während /

a-\-b D K ~ '

als während /' immer nach einerley Verhältnifs fortgeschritten ist; oder es ist

bD ^

(a-\-b)ca2 ' Es schliefst sich also die zweyte Zeit mit

I S'-q^°

t = log. _,, -p=.

q S q 21

Nun begiimt die dritte Zeit = / " während der Verweilung auf der

mechanischen Schwelle. Von der Hemmungssumme ist noch übrig S J5" ,

in der Zeit t" wird [263] sinken o 2 '. Von a und b zusammengenommen

. , , faß* +bcu2) L2" 2°) __

ist in der Zeit / gehemmt I—-1 . Von a wird

0 D

(o ^* ) C CS C ^* c

während / " gehemmt ^ = . Es sey nun

a -\- c a -\- c a -j- <■"

(acß2 + bcu2) (-5T JS*) 2'c c

S -\ '- ! -i-1 '- ■— = S , und I j = q ,

D a -f- c a -\- c

so ist (S" q'n) dt" = da,

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. i c i

und /" = -, log. (S" q'a) -j- Const.

weil aber für /" = o, u = JSV, so wird

t == lüg. - ,— .

q S q o

Für das Ende der Zeit t" ist hierin a = S, und alsdann beginnt die vierte, unendliche Zeit der Annäherung zum statischen Puncte.

Um Beyspiele zu haben, vollenden wir die im § 69 geführten statischen Berechnungen. Es sey a = b = c = I. Demnach hier £= 1 ; (nämlich die Hemmungssumme zwischen a und b war schon gesunken, und die ganze jetzige Bewegung hängt ab von dem hinzukommenden c, - obgleich oben die statischen Puncte mit Hülfe des ganzen Gegen- satzes zwischen a, b, und c mufsten bestimmt werden). Ferner ° zu finden, mufs man erst überlegen, wie weit a und b zu sinken hatten, um auf ihren jetzigen statischen Punct zu kommen. Der frühere war = 0,5;. der jetzige ist nach § 69 eine Hemmung = 0,5614; also um 0,0614 mufsten sie sinken. Dies verhält sich zu dem, was gleichzeitig von c hat sinken müssen, wie u.2 : «4 (indem wegen a = b auch u = ß) oder wie 1 : «2 = 1 : 1,5625. Also das Gehemmte von c bis dahin beträgt 0,0959... Nun 0,0614 - + °>°959 = °> oder ° = 0,2187...

Hieraus S = 0,7812 ... und t = log. = log. nat. 10000

0,7812

log. nat. 7812 = 0,2469.. Dies ist die erste Zeit. [-64]

Weiter, q = -- - = 0,4386 . . ; S' = 1 ~- . -T° = 0,8772 . . .

2 -\- (x2 2 -\- a-

Nun kann b nicht auf die mechanische Schwelle kommen ; denn der Ausdruck

11 °

des von b Gehemmten ist - = - , wird hierin a = b = 1,

2 + «2 3,5

so ist jenes Gehemmte nahe y- < , welches letztre den Rest von b aus der frühem Hemmung ausmacht. Also setzen wir gleich nebst dem gefundenen q und S' auch S für a in die Gleichung für /', und eihalten /' = 1,316.. Dies ist die zweyte Zeit. Eine dritte der Verweilung auf der Schwelle fällt hier weg, indem nun sogleich die unendliche Zeit des Steigens beginnt. Es ist t + t' = 1,563; in dieser Zeit sinkt jetzt die ganze Hemmungssumme, wozu sonst unendliche Zeit nöthig ist. Der niedrigste Stand von a und von b ist nach der obigen Bemerkung nahe

= 1 (— 4- —\ = ; ihm gleichzeitig ist von c noch 1 =

im Bewufstseyn; von hier an mufs aber c doppelt so schnell sinken, als a und b steigen.

Zwevtens sey a = i; b = 0,7; c = 1; demnach S = 1 ; um aber ^1o zu finden, müssen wir zuerst die frühere Hemmung von a und b

betrachten. Von a war gehemmt ' ; von b ' ; jenes = 0,28823 . .

i,7 i»7

dieses = 0,41177 .. Da nun c hinzukommt, so ist nach § 69 von a zu

, - 9 XI. Psychologie als Wissenschaft.

O J-

hemmen 0,48814; von b, 0,50317 ... Die Differenzen sind, für a, 0,1999; für b, 0,0914. Hier zeigt sich, dafs nicht zugleich a und b auf ihren neuen statischen Punct von dem vorigen herabsinken; denn gevifs verliert eher b die kleine Gröfse 0,0914, als a um 0,1999 herabsinkt. Deshalb erstreckt sich jetzt die erste Zeit nur bis dahin, wo b seinen statischen Punct erreicht; alsdann folgt eine einzuschaltende Zeit, bis auch a den seinio-en antrifft. Was b verliert, verhält sich zu dem was a verliert, wie lu2 : aßz = 1,016 : 0,986; also während von /;, 0,0914, wird von a gehemmt 0,0887. Was a verliert, [265] verhält sich zum Verluste von c wie ac : a2 = 1 : 1,452; also während von a, 0,0887, wird von c ge- hemmt 0,1288. Demnach ist J^° = 0,0914 + 0,0887 + 0,1288 = 0,3089;

1000 und S ° = 0,691. Daraus / = log. nat. = 0,369 . . Dies

ist die erste Zeit. In der nächsten einzuschaltenden Zeit ist die

bri'.o (o S?°) , ,

hemmende Kraft = S <> -f- , daher setze man

bca2 _ ,., . bca2 .

S J^o = *S , und 1 = q, so ist 6=1 0,09143

0,9085 . . und q = 0,704 . . Am Schlüsse dieser Zeit soll von a ge- hemmt sevn 0,1999, wofür füglich 0,2 kann gesetzt werden; gleichzeitig damit ist nach obigen Verhältnissen von b gesunken 0,200 1 . . und von c o-ehemmt 0,2904; zusammen = 0,6965 = _2f . Hieraus findet sich in Verbindung mit S' und q die einzuschaltende Zeit; sie ist = 0,714 . . Nach Verlauf derselben beginnt derjenige Zeitraum, in welchem a und b zusammen wirken, um die Hemmung zu beschleunigen: die obige zweyte Zeit, zu deren Berechnung wir nun noch einmal die Formel, wodurch die eingeschaltete bestimmt wurde, aber mit andern Bedeutungen von .S'' und q, von Jl"0 und ^', anwenden. Was so eben JT war, wird jetzt ^u, also S^° = 0,6965. Zu S' mufs jetzt das im verflossenen Zeiträume von b o-ehemmte mit gerechnet werden; denn es wirkt fortdauernd als eine constante Kraft. Dieses beträgt 0,2061 0,0914 = 0,1147. Außer- dem können wir den Formeln folgen. Demnach wird S' = 0,7087; und q = 0,4169. Endlich JS" = 0,074 . . Daraus /' = 0,777 . . Dies ist die zweyte Zeit, nach obiger Benennung. Um die dritte Zeit, oder/" zu berechnen, mufs wiederum, und aus dem schon angegebenen Grunde, zu S" die Gröfse 0,1147 addirt werden. Es findet sich S" = 0,790..; q' =0,5; und hieraus /" =0,087.. Dies ist die dritte Zeit, die der Verweilung von b auf der mechanischen Schwelle; worauf die vierte, unendliche, des Steigens folgt. Um zu sehen, wie lange Zeit die Hemmungs- summe [2 66] braucht, um ganz zu sinken, addiren wir die verschiedenen Zeiten. Wir fanden

die erste Zeit = 0,300

die eingeschaltete = 0.714

die zweyte = 0,777

die dritte = 0,087

deren Summe = 1,94 7.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

353

Hiemit läfst sich das vorige Beyspiel vergleichen. 'Beydemal war die Hemmungssumme = i, aber der Unterschied, dafs dort b = I, hier b = 0,7; hat die Zeit des Sinkens der Hemmungssumme von 1,563 bis auf 1,947 verlängert. Der Grund ist nicht schwer zu finden. Die hemmenden Kräfte sind hier schwächer als oben. Gleich die erste Zeit findet sich hier in einem etwas gröfsern Verhältnisse gegen das Gehemmte vermehrt, als dort. In der eingeschalteten aber wirkte vollends nur b allein zum schleunigem Sinken, indem a noch nicht seinen statischen Punct erreicht hatte, also auch den Drang zum Sinken noch nicht ver- mehren konnte. Hingegen im ersten Beyspiele waren gleich am Ende der ersten Zeit a und b zugleich auf ihrem statischen Puncte, und wider- strebten gemeinschaftlich dem Uebermaafse der Hemmung, wodurch sie unter derselben herabgedrückt wurden. Dazu kommt noch die Zeit der Verweilung auf der Schwelle, während welcher die Spannung von b nicht mehr anwachsen konnte. Dieses alles mufste in dem zweyten Beyspiele die Bewegung um etwas langsamer machen.

Vergleichen wir aber auch noch die Zeiten mit dem was in ihnen gehemmt wird! Dazu ist nur nöthig, die Differenzen JT' .3° den Zeiten gegenüber zu stellen.

Zu der Zeit 0,369 gehört das Gehemmte 0,309 » >! » °j7i4 » » » °)3^7

» » » °>777 » » v 0,278

0,087 » » 0,025

Hier ist zwar im Allgemeinen noch immer etwas von allmählig ver- minderter Geschwindigkeit zu bemerken, aber auch etwas scheinbar im- regelmäfsiges, welches von [267] den verschiedenen Bewegungsgesetzen herrührt, die nach einander eintreten, und den gleichförmigen Lauf des Ereignisses nicht weniger als viermal abbrechen.

Man begreift leicht, dafs diese so merkwürdigen Abänderungen der einmal vorhandenen Regel der Bewegung, sich noch sehr vervielfältigen müssen, wofern mehr als drey Vorstellungen im Spiele sind. So oft eine davon ihren statischen Punct, oder die mechanische Schwelle erreicht, ändert sich das Gesetz des Fortgangs der Bewe^uns:.

Wir wollen uns darüber eben so wenig in Untersuchung einlassen, als über die Frage: was geschehen müsse, wenn c früher eintrete, als a und b ihre Hemmung unter einander vollendet haben? Nämlich vollendet bis auf einen unbedeutenden Rest, da das eigentliche Ende nie eintritt, wenn sie sich selbst überlassen bleiben. Dergleichen Fälle liegen in der Mitte zwischen dem eben abgehandelten, und dem gleichzeitigen Zusammentreffen dreyer Vorstellungen. Die mechanische Schwelle wird alsdann seltener erreicht, und die Verweilung auf der- selben verkürzt.

Endlich möchte man noch fragen, ob nicht ein hinreichend starkes c im Stande seyn könne, sowohl a ;ils b auf die mechanische Schwelle zu treiben? Die Antwort hängt von der Betrachtung der Hemmungssumme ab. Ist c gröfser als a, so ist es in der Regel selbst nicht mit in der Hemmungssumme. Vielmehr ist diese alsdann = a\ weil der frühem Hemmung die Summe = b zugehörte. Nun kann a niemals ganz nieder-

Hekkart s Werki:. V. 23

354

XI. Psychologie als Wissenschaft.

Jb

gedrückt werden; denn gesetzt, a und b seyen zugleich auf der mecha- nischen Schwelle, so tragen sie die ganze Hemmungssumme allein; aber dieses ist nicht möglich, da nothwendig auch von c etwas mufs gehemmt sevn. Ganz anders jedoch wird sich dies verhalten, wenn man übergehn will zu der Annahme, dafs nach c noch eine Reihe anderer Vorstellungen, </, e, f, u. s. w. successiv hinzutrete. Dadurch wird die Hemmungssumme [268] unfehlbar bedeutend wachsen; es mufs aber a von jeder neu hin- zukommenden leiden; und da es vorhin schon der mechanischen Schwelle nahe war, kann es ohne Zweifel sehr leicht vollends auf dieselbe getrieben werden, gesetzt auch, dafs keine der hinzukommenden stark genug sev, um a und vielleicht selbst um b auf die statische Schwelle zu bringen. Während also 'jene Reihe von Vorstellungen noch in ihrem Verlauf be- griffen ist, werden a und b fortwährend auf der mechanischen Schwelle bleiben; dennoch aber, nachdem die Reihe zu Ende ist, sehr bald sich von selbst wieder ins Bewufstseyn erheben. So etwas ereignet sich zu jeder Stunde in jedem Menschen, nur nach einem weit vergröfserten Maafsstabe, bey jeder Störung in einem Geschaffte, das man vergifst, so lange die Störung dauert, und wieder ergreift, sobald sie beseitigt ist. Das unangenehme Gefühl der Störung, welches, wenn es heftig ist, im ersten Augenblicke gleich den Organismus in Mitleidenschaft zieht, und dann den Affect des Schrecks erzeugt, rührt her von der Gewalt, womit die zur mechanischen Schwelle getriebenen Vorstellungen, deren man sich nicht bewufst ist, sich denen widersetzen, durch welche sie verdrängt werden. Wirkten die Vorstellungen auf der statischen Schwelle eben so wie die auf der mechanischen: so würde der Mensch sein Dasevn nicht aushalten können.

Drittes Capitel.

Von wiedererweckten Vorstellungen nach der ein- fachsten Ansicht.

§. 81.

Kaum bedarf es der Erinnerung, dafs das zuletzt betrachtete Ereignifs noch von andern wichtigen Folgen be[2ög]gleitet seyn müsse, wofern man nur die sehr natürliche Voraussetzung hinzudenkt, dafs wohl mehrere ältere Vorstellungen, wo nicht im Bewufstseyn, so doch im Gemüthe vorhanden sevn mögen. Um allzu grofse Schwierigkeiten zu vermeiden, wollen wir annehmen, es seyen dergleichen neben a und b auf der statischen Schwelle; die also nur durch a und b zurückgehalten sind, und sich sogleich regen müssen, wofern die entgegenwirkenden von einer fremden Gewalt leiden.

Es mögen sich drey Vorstellungen mit einander im Gleichgewichte befinden. Sinken zwev davon unter ihren Gleichgewichtspunct hinab: so kann die dritte gerade um so viel, als jene zusammengenommen verlieren, sich wieder erheben. Die Hemmungssumme wird dabei nur anders vertheilt. Dafs eine Vorstellung, welche steigen kann, auch steigen werde, leidet keinen Zweifel; jedoch giebt es ein Gesetz, nach welchem sie sich allmählig erhebt, mit abnehmender Geschwindigkeit, weil, je höher

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ->cc

sie sich schon gehoben, um so kleiner die Nothwendigkeit wird, ihren Zu- stand zu verändern, um sich vollends ins klare Bewufstsein aufzurichten. Plötzlich können die dazu nöthigen Uebergänge aus einem Zustande in den andern, eben so wenig geschehn, als eine Hemmungssumme plötzlich sinkt, das heilst, als die gehörige Verdunkelung des Vorstellens sogleich vollständig eintritt, indem der Grund dazu vorhanden ist. Angenommen, die Vorstellung ff sey völlig niedergedrückt; auf einmal verschwinde alle Hemmung; nach einer Zeit t habe sich erhoben das Quantum h; so ist

dh = {ff h) dt, also / == log. - - ; h = ff (i e~l). Ver-

ff li

schwindet aber nicht alle Hemmung: so giebt es für die Vorstellung ff

einen Punct, bis zu welchem ihr gestattet ist zu steigen.* Derselbe sey

rj '

ff'; so ist dh = (ff' h) dt; t = log. , -, h = ff' (i <?-*)

ff h ^

Man bemerke wohl, dafs in diesen Ausdrücken die Stärke der [270] Vorstellung ff gar nicht vorkommt; Falls daher ff' nicht von ff bestimmt wird, so ist das Steigen dieser Vorstellung von ihrer eignen Stärke völlig unabhängig. In diesem Falle befindet sich die Vorstellung ff, wenn sie darum, und so weit sich zu erheben sucht, weil und wie weit die andern, von denen sie gehemmt war, niedersinken. Das Gesetz eines solchen Steigens macht den Gegenstand unsrer nächsten Untersuchung aus.

§ 82.

Neben den Vorstellungen a und b können viele Vorstellungen, die ehemals mit ihnen im Conflict waren, zur Schwelle gesunken seyn. Alle diese regen sich sogleich, wenn eine neu hinzukommende a und b sinken macht. Aber wie sie sich regen, treten sie theils unter einander, theils gegen die hinzukommende, in gegenseitige Hemmung; so dafs diejenigen kaum merklich steigen können, welche auf solche Weise bedeutenden Hindernissen entgegengehn. Um das Einfachste, und zugleich für die aufstrebende Vorstellung Vortheilhafteste vorauszusetzen, wollen wir an- nehmen, es sey nur Eine, und zwar der neu hinzukommenden völlig gleich- artige, neben a und b auf der statischen Schwelle; diese trete nun, frev von den erwähnten Hindernissen, wieder ins Bewufstsein. Also z. B. eine zuvor gesehene Farbe, ein früher gehörter Ton, woran eben jetzt nicht gedacht wurde, erscheint oder erklingt von neuem; die Frage ist, wie die ältere Vorstellung nun der gleichartigen neuen entgegenkommen werde?

Die ältere, sich erhebende Vorstellung heifse ff. Sie sucht nach dem im vorigen § angegebenen Gesetze den Punct zu erreichen, bis zu welchem sie ungehindert steigen kann. Aber dieser Punct ist veränderlich; denn er hängt ab vom Sinken jener beyden, a und b. Die veränderliche Ent- fernung dieses Punctes von der Schwelle, oder das, derselben gleiche, Sinken der beyden, a und b zusammengenommen, heifse .r; die zugehörige Zeit sey /; [271] und das Quantum von ff, welches beym Ablauf von / sich schon erhoben hat, sey ==■}', so ergiebt sich die Gleichung

ix y) dt = dy.

23*

? c 6 Psychologie als Wissenschaft.

Nun ist .v eine Function von /, welche fürs erste = // gesetzt werde. So folgt

ftdt = dy -\-ydt woraus y = e~ t/et . ftdt.

Aus dem vorigen Capitel läfst sich ft näher bestimmen. Ist die neu hinzukommende Vorstellung stark genug, um nicht neben a und b auf die statische Schwelle zu fallen, so gehn die Bewegungen, welche sie ver-

ursacht, nach § 80; wo in der ersten Zeit die Formel / = log.

gilt. Damit hängt zusammen o=S(l- -e~~ '). Die beiden Theile von o, welche, nach den Hemmungsverhältnissen, von a und b gehemmt werden, fasse man zusammen in den Ausdruck ma==mS(l e~ *), so ist dies = x = ft ; denn um so viel Freyheit ist nun dem H eingeräumt um sich zu erheben. Nun ist mS .fe^\\ e~l) dt = mS (? /) -f- Const. ; und dieses mit e~~ l multrpficirt == mS{\ t'e~ l) -J- Ce~ *. Für / = o ist y = o ; also vollständig

ys=mS[i -(1+/) e-*\

'o

w^[^/2-v/3 + i/4---]

o

3

In dieser Formel ist -S diejenige Hemmungssumme, welche beym Hinzu- treten der neuen Vorstellung c zu a und b, sich zwischen diesen dreyen gebildet hat ; bev voller Hemmung ist sie = c, wenn c ■< a, oder im um- gekehrten Falle ist sie a. Hiemit nun steht das Hervortreten der älteren, H, im einfachen geraden Verhältnifs; aber dasselbe richtet sich Anfangs nach dem Quadrate der Zeit. Und der Anfang ist hier das wichtigste ; denn die erste Zeit ist gewöhnlich sehr kurz, wie schon die Beyspiele des vorigen Capitels vermuthen lassen. Es mufs c sehr grofs sevn, und den statischen Punct von a und b bedeutend herab- setzen können, wenn [272] die erste Zeit sich ansehnlich verlängern soll. Da-

S

durch nämlich wächst«— in der Formel t = log . ^ und wird dem

Werthe 6" nahe kommen können. In dieser Hinsicht mag es nicht un- nütz seyn, die Gröfse te~t, welche mit dem Minuszeichen in v vorkommt, näher anzusehn. Sie ist =0 für / = o und für / = cc ; und hat ihr

Maximum für t = I. nämlich den Werth =0,36..; weiterhin wird

2,7..

sie bald ziemlich unbedeutend, und kann alsdann den Gang der Gröfse 1 e— ', mit der sie verbunden ist, nur wenig modificiren. Wo sie den meisten Einflufs hat, nämlich für /= 1, erkennt man den Werth von y sogleich aus der Reihe; es ist nämlich alsdann y = m S (-£■ T 4" T

-- + ■■■)

In den darauf folgenden Zeiten erscheint immer / unter einer Form

wie / == los. -7 1 woraus o = , folglich ma = //

q * S'—qo t q

m S' m Ce ~ 1 l', , , . .

= q (S Ce-i*). Hieraus y = ; + Ae-1 wo A eine

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3 c 7

noch zu bestimmende Constante ist. Für / = o sey y = Y, so ist nun

m S' . .,. mC . .

vollständig v = (1 e~t) -. r(^_qt *_t ) + Y e-*-

q q{l— q) v

Hier wird zuerst die Gröfse e i1' e~x unsre Aufmerksamkeit

anziehn. Sie ist = o für /' = o und für /' = cc ; und hat ein Maximum

für / = ' welcher Ausdruck, wie man sogleich übersieht, nur

1 q

scheinbar negativ ist.

Es ist nun leicht, nach Anleitung des vorigen Capitels für jeden Zeit- raum nach dem ersten, die gehörigen Werthe von S", q, und C, in die gefundene Formel zu setzen. Allein der Gültigkeit der Formel kann die eigne Gröfse der Vorstellung H, wovon y ein Theil ist, eine [273] Gränze setzen. Man mufs sich erinnern, dafs //in, oder das von a und b zusammengenommen Gehemmte, den freyen Spielraum ausdrückt, in welchem sich H ausdehnen kann. Nur gröfser als es ist, kann es durch die ihm gegebene Freyheit nicht werden, noch zu werden streben. So- bald daher mo = H, hört in der Formel (x y) dt = dy, von der wir ausgingen, x auf, veränderlich zu seyn ; es wird = H\ und

aus (H y) dt" = dy

folgt /" = log. ,

rl = y

wenn y ■=== Y' für /" = o. Zuvor mufs man wissen, wann ma = H; das

heifst, man mufs das Ende von /' wissen. Aus dem Vorigen ergiebt sich

sehr leicht die Formel dafür, nämlich

, 1 in C

1 "" 7 ^ mS'^TqH- Oder sollte sich der Fall m n = //"wegen grofser Schwäche der Vor- stellung H schon früher ereignen, ehe noch die Zeit /' anfängt, so hätte man aus dem Obigen H = m S (l e ~~ l) und hieraus alsdann

m S i = los:.

'O*

mS—ti

Bis nun diese, oder die vorbemerkte Zeit abgelaufen ist, erhebt sich jede schwache oder starke Vorstellung, die in dem Falle von H sich befinden mag, völlig auf gleiche Weise; erst in dem hier bestimmten Augenblicke, und zwar plötzlich, eig- net sich eine solche Vorstellung ein Bewegungsgesetz zu, das ihrer Stärke (oder vielmehr ihrer Schwäche) angemessen ist. Die stärksten thun dies am spätesten. Aufserdem sieht man hier noch ausdrücklicher, was eigentlich schon im vorigen § klar wurde: dafs näm- lich niemals eine wieder hervortretende Vorstellung zu einem völlig ungehemmten Zustande zurückkehren kann. Sollte dies geschehn, so müfste in dem obigen [274] Ausdrucke für /", y = H werden können, und dabei einen endlichen Werth für t" ergeben ; aber /" wird unendlich für y = H.

Das erste Beyspiel des § 80 wollen wir hier verfolgen. Dort ist a = b= 1, und beyde sind verschmolzen, ehe c= 1 hinzukommt. Hiezu fügen wir jetzt die Voraussetzung, eine ältere, dem c gleichartige Vorstel-

358 Pschologie als Wissenschaft.

lung H = 0,88 sey im Gemüthe vorhanden; sie kann von den verschmol- zenen a und b auf die statische Schwelle gebracht seyn, laut § 70. Es ist

ac ß2 -\- bca2

m

acß2 -f- bca2 -f a$ß2

hier = = . = o, ^6i ; und 5= 1 ; also wenn in ma auch

2 + a2 3,56.. °

0 = S, dennoch mo = 0,561 . . immer noch viel kleiner als H; woraus folgt, dafs in keiner Zeit die Gröfse von H auf die aufstrebende Be- wegung desselben Einflufs haben wird. Alles jetzt zu berechnende gilt also eben so wohl für jedes H^> 0,561 . . .

Die erste Zeit ist bey ihrem Ablauf = 0,2469; also e ~ l= 0,782 . . , dies multiplicirt mit I -J- t = 1,2469 giebt 0,975; daher y = 0,561 X 0,024 . . = 0,013 . . am Ende der ersten Zeit; eine noch sehr kleine Gröfse; ungefähr der zehnte Theil dessen was von a und b zusammen- genommen jetzt schon gehemmt ist; denn dies beträgt nach § 80 o, 1228 . .

Für die zweyte Zeit ist q = 0,4386; S' = 0,8772 .. ; C = S' q J^° = 0,7812; und die zweyte Zeit bey ihrem Ende = 1,316. Hieraus

-(i *-*) = 0,8208: - (e~^' e~ l') =0,5201; Fe-*

1 q (1 q)

=■ 0,0035; demnach y = 0,304 . . am Ende der zweyten Zeit. Höher steigt y nicht, weil von jetzt an sich a und b gegen c wieder heben. Es befindet sich aber auch jetzt in einem ganz andern Verhältnisse zu dem Spielraum, in welchem H sich ausdehnen konnte. Denn jetzt, da die Hemmungssumme zwischen a, b und c, ganz gesunken, beträgt die hinzu- [2 75]gekommene Hemmung von a und b, die obige Gröfse = 0,561 ; aber y = 0,304 ist hievon mehr als die Hälfte. Man sieht also in dem Beyspiel bestätigt, was aus dem Gesetze des Hervortretens vorauszusehen war, dafs die aufsteigende Vorstellung Anfangs weit von dem ihr gesteckten, oder vielmehr ihr voranschreitenden Zielpuncte, entfernt bleiben, nach einiger Zeit aber ihm bedeutend näher kommen, obschon noch eine gute Strecke zwischen sich und ihm, offen lassen werde.

Wir haben in diesem Beyspiele nur Eine plötzliche Veränderung des Bewegungssgesetzes der hervortretenden Vorstellung bemerken können; es ist jedoch offenbar, dafs jeder der im vorigen Capitel bemerkten Ueber- gänge auch hier Einflufs haben müsse. -

§ 83.

Da in den Bewegungen der Vorstellungen a, b und c ein wichtiger Unterschied davon abhängt, ob c neben a und b auf die statische Schwelle fallen müsse oder nicht: so haben wir den Einflufs dieses Umstandes auf das Hervortreten der altern Vorstellung zu prüfen.

Es sey also jetzt c auf die statische Schwelle zu sinken bestimmt : so verrückt sich der statische Punct für a und b nicht; ihr Wiederauf- streben beschleunigt von Anfang an das Sinken der Hemmungssumme ;

1 c

und für / gilt gleich Anfangs die Formel t = log. nach § 77.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. -i rg

■-■ - \ - ■■ . . - . . .

Diese aber kann für eine nähere Bestimmung der im § 82 für die nach- folgenden Zeiten gebrauchten angesehen werden, wenn C = S' = c gesetzt wird, wobey denn noch q seinen gehörigen Werth nach den Umständen des § 77 bekommt. Hieraus wird

tnc , . m c

y = 1 e-i) , -qt_,-t.

q ' g{i q) '

Denn Y ist jetzt = o, weil beym Anfang der Zeit noch nichts hervor- getreten ist. Aber unsre Formel läfst sich jetzt besser als vorhin zu- sammenziehn; sie wird

r ,-, mc 1 q-\~qe~t e~ **

[276] y =

q 1 --p

mc

L2 6 I q 24 I q J

Hier offenbart sich sogleich, dafs der Anfang des Hervortretens genau

eben so geschieht, wie wenn c nicht auf der statischen Schwelle wäre;

nämlich proportional der Hemmungssumme = c, und dem Quadrate der

Zeit (wöbe}' noch hier, und auch im vorigen § hinzuzufügen ist, dafs auch

m mit c oder 6" wächst und abnimmt). Hingegen im Fortgange zeigt sich

I q2 I qn

eine Abweichung, die von den Brüchen , -, näher bestimmt

I —q 1 —q

wird. Es ist q ein ächter Bruch; sein Werth liegt also zwischen o und 1 ;

1 qn 1 qn

für q = o ist = 1 , für q = 1 wird - = n q n l = 11. Für

I q I q

diese letzte Gränze wäre das allgemeine Glied der eingeklammerten Reihe

1

= -J_ /"

2 . 3 . . . (n 2) . n '

I q n-1 wozu nämlich der Bruch gehören würde. Genau dasselbe all-

I q °

gemeine Glied folgt im § 82 aus der Entwickelung von 1 (1 ~\- l)e~x;

also wären beyde Reihen ganz dieselben. Nun aber ist q niemals ==• 1,

I qa qn 1

sondern allemal kleiner; auch = = qn~ » -L q D 2 . ..

1 q q 1

-j- q -f- 1 um so kleiner, je kleiner q\ also ist in der jetzigen Reihe jedes Glied nach dem ersten, kleiner als das entsprechende in der Reihe des vorigen §; und unsre Reihe überhaupt convergenter als jene.

Im Beyspiele des § 77 war a = b = i, c = , q=o,6i; und die Zeit des Sinkens von a und b, das heilst hier, des Steigens von //, = 1,54 . . . Auch m = 1 q. Hieraus y = 0,1 od . . . Dies Bcyspiel läfst sich mit dem des vorigen § um so eher vergleichen, da die Zeiten des [277] Steigens beynahe gleich sind. Im Anfange des Steigens ver- hält sich das Hervortretende im vorigen Beyspiele zu dem im gegen- wärtigen wie das dortige mS zu dem jetzigen nie, oder wie 0,50 1 : o, 105; jenes beynahe das Dreyfache von diesem; nahe so findet sichg am Ende wieder, indem dort y = 0,304 ; hier y = 0,106 wird. Aber der Unter- schied beyder Beyspiele beruht blafs darauf, dafs dort ^=1, hier t =

ö

60 X.I. Psychologie als Wissenschaft.

gesetzt ist. Im Verhältnifs zu dem ihm eröffneten Spielraum sehen wir H hier fast gerade so weit hervortreten wie dort; beydemal nämlich um ein wenig über die Hälfte dieses Raums. Denn a und b sinken im jetzigen Beyspiele zusammengenommen beynahe um 0,2. Noch wollen wir wegen des Fortgangs in der Zeit eine Vergleichung anstellen. Die

erste Zeit im § 82 war 0,246g, nahe ==— ; setzen wir diese in unsre

l q* l (7 2

jetzige Formel, so ist /2 = : = 1 -f?= 1,61; -r- . /3

J ° 2 32 ' 1 q ' ' 6 1 q

nahe = = - , etwas über 0,004, die Gröfse in

6.4.16 6.4.10 240

der Klammer wird demnach nahe 0,027; dieses multiplicirt mit —.0,39

giebt y = 0,0053 . . . , um so viel ist also H hervorgetreten in der Zeit

==— . Aber diese Zeit hat sich mehr als versechsfacht, wann t = 1,54 . .

Dem Quadrate der Zeit gemäfs sollte sich y bis zum 3 6 fachen erhoben haben; so wäre es bis o, iq . . hervorgetreten. Allein für />i gewinnen die hohem Potenzen von /, also die folgenden Glieder der Reihe einen zu bedeutenden Einflufs. Endlich der verschiedene Fortgang in dem jetzigen

und dem vorigen Beyspiele wird nirgends klärer, als am Ende der Zeit

Denn hier ist das jetzige y beträchtlich mehr als ein Drittheil des obigen (jenes war =0,013, dieses ist =0,0053). Ginge die Abweichung von dem Verhältnifs 3:1 so fort; so würde ein solches Verhältnifs am Ende nicht mehr zu bemerken seyn. Die Formeln zeigen, dafs Anfangs das jetzige y der Proportionalität mit dem Quadrate der Zeit näher bleibt als das obige; aber im vorigen Beyspiele trat sehr bald ein an-[2 78]dres Gesetz des Fortgangs ein, während in dem letzten das ganze Steigen nach einerley Regel konnte vollbracht werden.

§ 84.

In den beyden vorhergeh enden §§ haben wir absichtlich einen wich- tigen Umstand aus den Augen gesetzt, der die erhaltenen Resultate einer Correctur unterwirft, den wir aber erst jetzt ins Licht zu setzen unter- nehmen können.

Da die ältere, wieder ins Bewufstseyn tretende Vorstellung H, mit der neu hinzukommenden c, gleichartig seyn soll: so kann es nicht fehlen, dafs, in dem Maafse wie ihr Zusammentreffen im Bewufstseyn es möglich macht, bevde mit einander verschmelzen. Hierdurch entsteht eine wachsende Totalkraft gegen a und b, wodurch das Sinken derselben beschleunigt wird. Aber um desto mehr gewinnt die Vorstellung H an Frevheit hervortreten zu können ; und wiederum desto schneller sinken a und b, getrieben durch das Zunehmen jener Totalkraft. Man braucht dieses nur auszusprechen, um fühlbar zu machen, welche Schwierigkeiten uns erwarten, indem wir diese Verschmelzung mit in die Rechnung bringen wollen.

Durch eine jede Verschmelzung entstehn eigentlich, aus der gegen- seitigen Verstärkung beyder Verschmelzenden, zwey Totalkräfte, die zum Theil in einander verschränkt sind; wie dieses in den letzten Capiteln des

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 36 1

vorigen Abschnittes hoffentlich wird klar genug geworden seyn. In unserm gegenwärtigen Falle wird die ältere Vorstellung verstärkt durch die neue, und gleichfalls die neue durch die ältere. Allein die erste dieser bevden Verstärkungen werden wir nicht in Rechnung zu bringen haben; aus folgen- dem Grunde. H ist nach der Voraussetzung unter der statischen Schwelle neben a und b\ es bestimmt also für sich allein nichts an dem Zustande dieser bevden Vorstellungen. Es wird auch nichts daran bestimmen können, so lange es nicht durch die erhaltene Verstär-[2 79]kung über die statische Schwelle erhoben wird. Aber selbst wenn dies geschieht: was kann da- von die Folge seyn? Es bekommt nun einen statischen Pünct, zu welchem es aufstreben sollte, einwirkend auf a und b, damit diese sinken müfsten. Nun sind gegenwärtig a und b schon längst im Sinken begriffen ;* gedrängt durch c, haben sie dem H schon weitern Spielraum gegeben, als den es in seinem allmähligen Steigen benutzte. Denn es erhellt aus den vorigen Untersuchungen offenbar, dafs auch ohne Rücksicht auf die Verschmelzung zwischen H und c, sich a und b schneller bewegen, als H ihnen nach- kommen mag. Folglich, was die Verstärkung des H durch c bewirken könnte bey a und b, das ist schon geschehn ehe es gefordert wird; und daher ist die eine jener beyden Totalkräfte für jetzt als unwirksam zu betrachten.

Es bleibt aber die andre; es bleibt die Verstärkung des c durch das allmählig mit ihm verschmelzende y ; und dadurch wirkt jetzt H allerdings mit auf a und b. Dies ists, was wir bisher aus der Acht liefsen, und jetzt in die Rechnung einführen müssen. Wie wird dieselbe dadurch ab- geändert werden?

Die Gleichung des § 82,

{x—y)dt==dy verbleibt in ihrer Kraft ; auch ist noch ferner x eine Function von /, aber nicht von / allein, sondern zugleich von y selbst.

Nämlich x ist = ma, dem, was von a und b zusammengenommen

(aß2-\-ba2)c

gehemmt wird. Nun war m bisher = - . —- , ■— -r- nach $ 77.

{aß2 -\- b a2) c -{-< u ß2

Jetzo bekommt c eine Verschmelzungshülfe, deren Quantum ursprünglich y, die aber nur in dem Verhältnifs, in welchem c nicht gehemmt ist, sich mit c verbinden kann. (Man sehe § 63.) Es sey z = demjenigen, was am Ende der Zeit / von dem sinkenden c noch im Bewufstseyn gegen- wärtig ist, so' kommt für die Verschmelzungshülfe zunächst [280] der Aus-

yz druck . Diese mufs dem c, wo es vorkommt, addirt werden. Demnach c

findet sich / yz\

o

(aß2 _J_3a2)^_j_^J -\-U2ß2

Fragen wir nun nach dem Werthe von z, so hängt wiederum dieses selbst von y ab. Denn

,£,-> XI. Psychologie als Wissenschaft.

u2ß2 fi .

(^+*«*W,+^V+«^

Endlich ist auch a selbst einer Abänderung zu unterwerfen; denn nach § 77 ergiebt sich a aus der Gleichung (c qo)dt = dn, und q =

«2/?2 , zy

'- , wo ebenfalls für c zu setzen c A .

(aß2 Arlane A-«2ß2 c

Wir sehen hieraus, dafs z = - ; welche Bemerkung uns den Weg der

dt

Rechnung bahnen mufs. Der Abkürzung wegen sey aß2Arba2 = f, u2ß2 = g.

dy Die Gleichung x y = -p- verwandelt sich in folgende :

, dn dy

' dt " <//

c 1 dt

Was die erste dieser Gleichungen betrifft, so fällt ins Auge, das sie

von o und fast jranz auf gleiche Weise bestimmt wird, wie von y und dt

dv Ohne Zweifel sind alle diese Gröfsen Functionen von t; setzen wir

dt

nun zuvörderst y -f =//, so wird y = * 4 {ffiftdt -f- C), und aus

o c A = // oder aus a A =/ / + c wird

' dt J ~ dt

n==e t(/et yt _j_ C] d/ j^_ C') = e 'f&ft dtArcArC'e *; daher a = y Ce~ l -\- t -f- G"« »; weil aber sowohl a als ;- = o für /= o, so ist c = C— C, daher endlich a =y + c (i e~ l).

Aus der zweyten Gleichung wird

/r + ^J'C/'" + *'—/*') =^3 +^2 *"*'*

In diese Gleichung mufs der eben zuvor gefundene Werth von V substituirt werden; nämlich y = a c (i e l).

Man setze I « ' = «, (welches für / = o von selbst = o wird) also y = o cu\ überdies nehme man an:_

y =Au -f #u2 + C«3 Ar Du* + . . . daher auch

fl _ (j _|_ f) w -f Bu2 + Cu3 -\- Du* -{-■■■

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

363

^7 = (A + c) -f. 2 + 3 C* + 4 #«3 +

und wesren d t = ,

1

u

da da dt die

A -f c \- 2 Bit -f 3 Ca2 -f 4 Z>«3 A c) u 2 Bti2 3 Cui ...

fBc2

tii

C

Bringt man nun alle Glieder der Gleichung auf eine Seite, und fängt an, die Coefficienten zu bestimmen : so findet sich zuerst

fa+gC (fc2 +gc) [A + c) = o, oder c (A-\- c) = o, das ist, A = o. Dies erleichtert die Rechnung. Es findet sich nämlich weiter, wenn fc2 -J- gc = tt, 0 = gc2 \u gcB \u2 gcC

-^(2B-c)j _^(3C— 2 B) -n{AD-

+ fc2B \ + fcB{2 B—c)

+ fc2C

fB(AtBc-2C2)

fCc2

Die fernere Rechnung mag sogleich an das Beyspiel des % 77 ge- knüpft werden. In demselben waren a = b = 1, [282] c = Hieraus B = 0,097b; C= 0,0453; D = 0,033; E = 0,0225; f ungefähr = 0,017 und 6r = 0,014, Da jedoch diese Coefficienten nicht genug convergiren, so sey

100 v

1

"5

z

= 9>76 + 4,53 « + 3.3 "2 + 2,25 «3 -f- 1,7 «4 -}_ . . .

und man suche die Coefficienten der Reihe

2 = Ä -f .ff'« -f CV +... so findet sich

z = 0,1024 0,0475 u °>OI25 "2 0,0017 0,002 «+,

n2

und v = 7.

100 z

Die Resultate dieser Rechnung, zusammengestellt mit denen des vorig. §, welche das gleiche Beyspiel ohne Rücksicht auf die Verschmelzung dar- bietet, sind nun folgende :

nach § 83

v = 0,0053

y = 0,01893 /= 1, y = 0,0584

'=1,54; .7 = 0,106

für / = , 4

/ = ",

verbessert wegen der Verschmelzung y = 0,0053

v = 0,01897

y = 0,05999

für /= 1,52 ; y = 0,1088

Es ist von selbst offenbar, dafs im Anfange die Verschmelzung der wieder hervortretenden Vorstellung mit der eben jetzt gegebenen keinen Einllufs haben könne. Dieses zeigt sich in den Formeln dadurch, dafs, so wie oben y nur vom Quadrate und den höhern Potenzen der Zeit ab- hängend gefunden war, auf gleiche Weise auch hier die Reihe für y mit dem Gliede Bu2 anhebt, indem A = o ist. (Nämlich «=I t

oßi XI. Psychologie als "Wissenschaft.

= / t2 -4- . . .) Bis zu / = sind nun die Resultate bevder Rech-

2 ' ' 2 . J

nungen beynahe nicht zu unterscheiden (auch die Zahl 0,01897 ist in der letzten Ziffer nicht ganz sicher, weil die Coefficienten hier nicht scharf genug berechnet sind). Weiterhin zeigt sich die Wirkung der Ver- schmelzung zwar merklich, doch, in diesem Beyspiele wenigstens, fast un- bedeutend gering. Weder V erhebt sich beträchtlich mehr, noch auch die Zeit ist um vieles verkürzt. Wegen des letzten Puncts ist zu be- merken, dafs nach der Formel a=y -\- c (1 e *), [283] für t = 1,52 auch CT = 0,4994... also ganz nahe =-^-==£ wird; das heifst, dafs hier das Ereignifs aufhört, indem nun der Hemmung Genüge geschehn ist, und a und b wieder anfangen aufzustreben. Die Dauer des Ereignisses zeigt sich jetzo kürzer, weil die Verstärkung des c durch das ihm ver- schmelzende y mehr Spannung in die entgegengesetzten Kräfte bringt, wodurch die Hemmung beschleunigt, so wie das Leiden von a und b um ein geringes vermehrt, und das von c um ein geringes vermindert wird. Um etwas beträchtlicher mag die Wirkung der Verschmelzung für ein gröfseres c ausfallen, welches a und b mehr niederdrückt, und dadurch die Verein icuner der altern und der neuen Vorstellung befördert. Allein

da die Rechnungen äufsert beschwerlich werden würden, wenn man sie allen denen, in dem vorigen Capitel nachgewiesenen Abänderungen in dem V erlauf der Hemmung anpassen wollte, so mufs an diesem Orte die ge- gebene Probe genügen ; aus der sich schliefsen läfst, dafs man eine leid- liche Uebersicht über den Gang der wiedererweckten Vorstellung auch ohne Rücksicht auf die Verschmelzung, schon durch das Verfahren der §$82 und 83, erlangen könne.

§ 85.

Bevor wir die weiteren Folgen des bisher betrachteten Ereignisses überlegen, ist es dienlich zur Vorbereitung, einer an sich geringfügigen Unrichtigkeit zu erwähnen, welche unter gewissen Umständen sich in die eben geendigte Berechnung einschleichen könnte.

1/ g

Die Verschmelzungshülfe - war der Gegenstand dieser Berechnung;

in so fem sie die Wirkung der Vorstellung c vermehrte. Da nun y zu- nimmt, während 2, das im Bewufstseyn übrige von dem sinkenden c, sich fortdauernd vermindert, so könnte für das Productj'2 ein Maximum ent- stehn. Alsdann wäre dieses Maximum die, ferner nicht mehr veränder- liche Verschmelzungshülfe; die Unrichtigkeit der vorstehenden Rechnung

aber bestünde [284] darin, für die ganze Dauer des Ereignisses die Gröfse

als Verschmelzungshülfe zu behandeln, welches sie doch nur bis zur Er- reichung des Maximum hätte darstellen können.

Bedenkt man, wie langsam Anfangs y zunimmt, wie unwahrscheinlich es daher ist, dals das Maximum bald eintrete; wie kurz die Zeit, auf welche der Irrthum seinen Einflufs äufsern könnte, endlich wie gering die Abweichung der Gröfsen selbst ausfallen wurde: so _ wird man es schwer-

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ?6^

ö

lieh hier für zweckmäfsig halten, diesen Punct einer schärfern Bestimmung zu unterwerfen.

Eine zweite Bemerkung über die nämliche Verschmelzungshülfe be- trifft nun schon die Folgen des HerVortretens einer altern Vorstellung, während die gleichartige neue gegeben wurde.

Man hat gesehen, dafs die hervortretende bei weitem nicht den ganzen, ihr frey gegebenen Raum, während des Sinkens von a und b, wirklich ausfüllt. Was wird geschehen , indem nun a und b wiederum beginnen zu steigen? Der Punct, bis zu welchem y steigen konnte, bewegt sich rückwärts ; und zwar mit einer Geschwindigkeit, die gleich Anfangs am gröfsten ist, gemäfs dem schon bekannten Bewegungsgesetze von a und b\ es wird daher zwar/ noch fortfahren, sich um etwas weniges zu erheben, bis es jenem ihm vorgehaltenen Zielpuncte gleichsam begegnet ; allein sein Aufstreben erleidet gleich Anfangs eine plötzliche Verminderung, und der schnell verminderte Zuwachs mufs sehr bald in eine rückgängige Bewegung übergehen. Hiezu kommt noch ein kleiner Verlust für y, in so fern es als zum Theil verschmolzen mit c, auch mit diesem zugleich zum Sinken genüthigt wird.

Aber die wichtigsten Folgen des Hervortretens von y zeigen sich jetzo, indem es wiederum sinken soll. Da nach §77 sich a und b zwar zu ihrem statischen Puncte erheben, aber mit abnehmender Geschwindig- keit, so dafs [285] sie diesen Punct nie völlig erreichen: so würde schon deshalb y sowohl als c nie völlig durch a und b aus dem Bewufstseyn verdrängt werden; vielmehr könnten beyde mit etwa hinzutretenden neuen Vorstellungen, so fern ihnen diese nicht entgegengesetzt wären, sich com- pliciren, und dadurch Schutz finden gegen die Nothwendigkeit zur Schwelle zu sinken. Allein durch die Verschmelzung von y und c sind zwey Totalkräfte gebildet worden. Wir haben bis jetzt aus dem, im Anfange des § 84 angegebenem Grunde nur diejenige Verschmelzungshülfe in Be- tracht gezogen, welche c erlangt. Die Wirkung derselben ward gering befunden; und sie wird selten viel bedeutender werden, weil die Hülfe sich nur vergröfsert, wenn c selbst schon gröfser ist; so dafs dadurch ver- hältnifsmäfsig nicht viel gewonnen wird. Nur wenn c gegen a und b sehr nahe den Werth hat, der es gerade zur statischen Schwelle bestimmt, dann wird auch eine geringe Verschmelzungshülfe bedeutend, indem da- durch c einen statischen Punkt im Bewufstsein bekommt. Dieser Um- stand nun ist in Hinsicht des y immer von Wichtigkeit. Wir haben an- genommen, y sey ein Theil der Vorstellung H, deren Gröfse aber während des Steigens von y nicht in Betracht komme (§§ 81, 82). Es ist uns erlaubt, vorauszusetzen, H sey zwar unter der statischen Schwelle neben a und b, aber nur um ein weniges; so wird die Verschmelzungshülfe

, die es erlangt, es jetzo über die statische Schwelle erheben

können. Oder, ist H für diesen Erfolg zu klein: so wächst dagegen der

Werth des Ausdrucks ' , das heilst, dem kleineren // wird eine gröfsere

Hülfe zu Theil, durch welche es dem Werthe beträchtlich näher gebracht

366 XI. Psychologie als "Wissenschaft.

wird, den es haben müfste, um über der Schwelle hervorzuragen. Ge- winnt also auch die wiedererweckte Vorstellung nicht so viel, dafs sie sich im Bewufstseyn halten könnte, so gewinnt sie doch bedeutend an der Möglichkeit, dahin [286] gebfacht zu werden. Angenommen, es komme noch eine dritte, dem y und dem c gleichartige Vorstellung hinzu, oder wie wir im gemeinen Leben sagen würden, es werde die nämliche Wahrnehmung mehrmals, kurz hinter einander wiederholt (kurz hinter einander, damit nicht anstatt a und b andre widerstrebende Vorstellungen eintreten) : so giebt die dritte Vorstellung eine neue Verschmelzungshülfe für y, die, nun wenigstens, leicht hinreichen kann, um dem H wieder eine Stelle im Bewufstseyn zu versichern.

Auf diese Weise werden häufig schwächere Vorstellungen

ergänzt, ältere angefrischt. Nur gar zu schwach dürfen sie nicht

seyn. Wenn H so klein ist, dafs es von ma bald übertroffen wird (man

V z sehe §82), alsdann vermindern sich in dem Ausdrucke' , y und H zu-

gleich; und die ganz schwache Vorstellung erhält auch nur eine unbedeu- tende Hülfe. Während daher solche Vorstellungen, die ursprünglich eine gewisse Stärke besafsen, immer fortleben, weil sie immer neue Nahrung durch jede Wiedererweckung bekommen: verschwinden andre, die nicht so viel Kraft haben, um sich die Nahrung zuzueignen; sie verschwinden, obgleich sie nicht ausgetilgt werden; das heifst, sie dauern fort als Stre- bungen im Grunde der Seele, von denen aber im Bewufstseyn keine Wirkung erscheint.

.Merkwürdig ist, dafs die wiederholten Wahrnehmungen eines und des- selben Objects keinesweges zu einer einzigen Vorstellung von dem Einen Objecte zusammenfliefsen. Wir haben nicht, wie man im gemeinen Leben wohl glaubt, von jedem Dinge nur Eine Vorstellung, sondern der Vor- stellungen bleiben so viele, als der Wahrnehmungen. Denn nur ihrem kleineren Theile nach verschmelzen die frühern Wahrnehmungen mit den späteren; und nur das Verschmolzene kann für eine einzige, aus den mehrern Wahrnehmungen entsprungene Vorstellung gehalten werden.

[287] Noch mit einem Worte mufs hier der minderen Gegensätze und der Complicationen Erwähnung geschehn. Falls c, und das ihm gleichartige H, nicht vollen Gegensatz gegen a und b bilden, so wird durch c nur ein geringeres Sinken von a und b bewirkt; also auch nur ein ge- ringeres Hervortreten von H oder von y. Es scheint also, dafs die, unsern jetzigen Vorstellungen näher liegenden, schwerer wieder erweckt werden, als die entferntem. Dagegen bedenke man, dafs dergleichen näher liegende Vorstellungen bey weitem schwächer seyn müssen, wofern sie sich der Voraussetzung gemäfs neben a und b auf der statischen Schwelle befinden sollen.

In Hinsicht der Complicationen werde angenommen, es seyen anstatt a und b ein paar Complexionen A und B im Bewufstseyn vorhanden; das hinzukommende c, eine einfache Vorstellung, widerstreite nur Einem Elemente von jeder Complexion ; H und folglich y seyen dagegen aus

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3 6?

einem andern Continuum von Vorstellungen; und mit den andern Elementen jener Complexionen im Widerstreite. Weil A und B sinken müssen, in- dem c eintritt, so entsteht für H ein ähnlicher Spielraum wie oben, und indem es sich erhebt, eine Complication mit c. Dieses Ereignifs würde also dem zuvor betrachteten völlig ähnlich seyn, pafste nicht dasselbe auf gleiche Weise auf alle Vorstellungen des gleichen Continuum wozu H ge- hört. Also, zwar irgend welche frühere Vorstellungen dieser Reihe müssen wieder erweckt werden, falls sie nicht Hindernisse im Bewufstseyn antreffen; welche es aber seyn werden, hängt von den gegenseitigen Verhältnissen ihrer Stärke ab. Immer werden sie zufälligen Gedanken und Einfällen gleichen, indem sie mit der erweckenden weder Aehnlichkeit noch Zu- sammenhang haben. Wo schon Aufmerksamkeit vermöge gewisser herr- schender Vorstellungen gebildet ist, da kommen dergleichen Einfälle nicht weit; und machen sich kaum bemerklich, weil sie im Entstehen erdrückt werden.

Endlich noch eine Erinnerung an die mechanischen [288] Schwellen. Wir haben am Schlüsse des vorhergehenden Capitels bemerkt, dafs während eines fortdauernden Flusses neu eintretender Vorstellungen, die älteren eine Zeitlang auf der mechanischen Schwelle verweilen können. Wird eine solche wieder erweckt durch eine ihr gleichartige neue, so mufs ihr Hervortreten eine viel gröfsere Lebhaftigkeit zeigen, als beym Hervortreten von der statischen Schwelle vorkommen mag. Eigentlich aber ist das Phänomen von ganz anderer Art als das vorige. Dort wurde eine Vor- stellung auf kurze Zeit hervorgerufen, die wieder sinken mufste; hier wird eine Vorstellung wieder hergestellt, die nur auf eine Zeitlang aus dem Bewufstseyn verdrängt war. Dort, welches« sehr merkwürdig ist, erschien die gerufene Vorstellung sogleich, aber schwach, und mit allmählig an- wachsender Geschwindigkeit; hier kann sie nicht sogleich erscheinen; kommt sie aber, so geschieht es wie mit einem Stofse, dessen Geschwindig- keit jedoch nicht anhält, sondern bald abnimmt. Dieses einzusehn, darf man nur die bekannten Bedingungen des Phänomens erwägen. Die auf der mechanischen Schwelle verweilende Vorstellung kann sich nicht eher erheben, als bis eine gewisse Hemmungssumme gesunken ist; sobald dieses geschehen, steigt sie von selbst mit einer Geschwindigkeit, die Anfangs am ffröfsten ist und sich bald vermindert. Durch das Hinzu- kommen der gleichartigen neuen Vorstellung wird jene eigentlich nicht geweckt, es wird nur das Sinken derer beschleunigt, welche ihrem Hervor- treten hinderlich waren. Also nicht eher, als bis dieses Sinken derjenigen Hemmungssumme genügt, um derentwillen jene Vorstellung auf der mechanischen Schwelle verweilt, kann die letztere hervortreten; die Ver- weilung dauert noch einige, wenn gleich sehr kleine und vielleicht un- merkliche Zeit; dann springt die nun befreyte Vorstellung hervor, und verschmilzt sehr schnell in einem bedeutenden Grade mit der neuen Wahrnehmung.

Anmerkung. Auf den schwierigsten Gegenstand dieses Capitels, die Untersuchung des § 84, habe ich die [289] Rechnung mit Reihen, die nach Potenzen mit irrationalen Exponenten fortschreiten, angewendet, welche man in meiner Abhandlung dt attentionis viensura finden kann;

'6

->68 XI. Psychologie als Wissenschaft.

\J

bey dieser Methode lassen sich durch Zusammenziehung mehrerer Glieder in Eins, noch Vortheile anbringen, die ein Mathematiker leicht finden wird. Allein ich habe kein auffallendes Resultat erhalten, obgleich ich die Voraussetzung dahin abänderte, dafs statt einer einzigen, viele gleichartige Vorstellungen zugleich reproducirt werden. Die Gegenstände dieses, und der beyden folgenden Capitel müssen in besondern Monographien be- arbeitet werden. Hier will ich die Aufmerksamkeit des Lesers nicht ermüden; sondern sie sparen für das folgende Capitel, worauf aller Fleifs mufs gewendet werden, wenn man sich den Kern dieses ganzen Buchs .zueignen will. Die feinern Rechenkünste werden von selbst ihren Platz einnehmen, wenn man erst begriffen hat, wozu sie dienen sollen.

Viertes Capitel.

Von der mittelbaren Wiedererweckung.

§ 86.

Eine Untersuchung von grofser Wichtigkeit steht bevor; die. nicht blofs dasjenige unter sich befafst, was gewöhnlich mit dem Namen der Association belegt wird, sondern die mit ihren Folgen tief in die, durch falsche Metaphysik verdunkelten, Fragen von den Formen der Er- fahrung hineingreift.

Sey es nun, dafs eine Vorstellung von der mechanischen Schwelle sich von selbst erhebt, oder dafs ihr vergönnt ist, von der statischen Schwelle emporzukommen, indem eine hinzutretende ihr Freyheit schafft; im[2go]mer wird sie dasjenige mitzubringen trachten, was mit ihr durch irgend welche Verschmelzungen und Complicationen verbunden ist. Dieses Verschmolzene oder Complicirte wird also mittelbar wiedererweckt; und hier ist der Ort, auch dieses Phänomen zu untersuchen, da es gewöhn- lich die zuvor betrachteten begleiten wird.

Ein ganz einfaches Problem soll zur Vorbereitung dienen, das zwar in der Wirklichkeit niemals so frey von Nebenbestimmungen vorkommen kann, das aber die Hauptpuncte sogleich ins Licht setzen wird.

Von zweyen Vorstellungen Pund 71 seyen verschmolzen oder compli- cirt die Reste r und o; beyde Vorstellungen mögen darnach auf irgend eine Weise zur Schwelle gesunken seyn. Auf einmal verschwinde für P alles Hindemifs: so richtet sich P ins Bewufstseyn auf nach dem im § Si angegebenen Gesetze. Aber TL empfängt von P eine Verschmelzungs- oder Complications -Hülfe = ^ (§§ 63. 6g). Diese Hülfe ist eigentlich

ein Bestreben der Vorstellung P (oder der Seele, in so fern sie das Vor- stellende von P ist), welches Streben dahin gerichtet ist, U wieder auf den Verschmelzungs- oder Complicationspunct zu erheben, das heifst, von II wiederum das Quantum o ins Bewufstseyn zu bringen. So lange dies Ziel nicht erreicht ist, dauert das nämliche Streben fort. Die eigentliche

Stinke desselben ist = r; aber nur in dem Grade kann es wirken

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ?>£>Q

auf 77, weil es nur in diesem Grade von dieser Vorstellung ist angeeignet worden. Ueberdas nimmt das Bestreben ab in dem Grade wie ihm Ge- nüge geschieht; worüber die Betrachtungen der §§ 74 und 81 zu wieder- hohlen sind.

Wäre es nun möglich, dafs die Vorstellung P für sich allein wirkte, nicht gehindert und nicht begünstigt von andern Kräften: wie würde das aus dieser Wirksamkeit entspringende Ereignifs beschaffen seyn?

Erstlich, wie schon erwähnt, P würde sich selbst ins [291] Bewufst- seyn erheben, nach einem Gesetze, welches, wenn p das wieder Hervor- getretene von P am Ende der Zeit / bedeutet, in folgender Gleichung

P

liegt: (P p) dl = dp; oder / = log. P (1 e l) = p.

rg

Aber zweytens: die Hülfe würde zugleich auf 77, welches wir

hier als völlig träge und passiv ansehn, dergestalt einwirken, dafs, wenn das von II hervorgetretene ==== <o, folglich das bis zum Verschmelzungs- puncte noch hervorzurufende = g 10, alsdann diese Gleichung gelten müfste :

Die Brüche -^- und sind hier blofse Zahlen, womit die Kraft r

IL (j

multiplicirt wird. Es ergiebt sich nun

( __ rA

"> = Q \ l e ' nj-

Dieses Resultat zeigt uns vollkommen klar, von 10 wie (), ;-, /, und 77 abhängt.

Erstlich: das von 77 am Ende der Zeit / Hervorgetretene, nämlich (o, verhält sich gerade wie dasjenige Quantum von 77, welches mit P ver- schmolzen war; nämlich wie q.

Zweytens: je gröfser der mit verschmolzene Theil von P, um so ge- schwinder nähert sich das Hervorgetretene seiner Gränze = p.

Drittens: je gröfser .11 selbst, um so langsamer wird es durch die Hülfe gehoben.

Viertens: die Wirkung der Hülfe endigt nie, obgleich sie ihrem Ziele bald sehr nahe kommen kann.

Wir wollen jetzt die Geschwindigkeiten vergleichen, jene, mit der sich

P selbst erhebt, und diese, womit die Hülfe wirkt. Die Geschwindigkeiten

sind bekanntlich in der Psychologie allemal gleich den Kräften, als deren

. dp dm

[292] unmittelbarer Abdruck; die bevden Kräfte aber sind ■— und .

dl dt

Nun ist

' ** = Pe - S und dl

1 dm rg ^

di = n e n

Hbrbart's Wekkk. V. 24

2 7o XL Psychologie als Wissenschaft.

Man kann bevdes gleich setzen, so findet sich

n pn

t = _ log . .

IL r j-q

Nämlich um diesen Zeitpunct hat die Anfangs weit gröfsere Ge- schwindigkeit, mit der P sich selbst erhebt, so weit nachgelassen, dafs die geringere, aber gleichförmiger anhaltende, womit U gehoben wird, jene ein- hohlen, und übertreffen kann. Aber dieser Zeitpunct rückt unendlich weit hinaus, falls II = r, und er findet gar nicht statt, wofern r > IL.

Es sey P= H = i ; r ■== q = ; so kommt für die Zeit, da beyde Geschwindigkeiten gleich werden, / = 2,77 . . . Um diese Zeit ist p=~-, und m = ~ beynahe. Aber die Gränze, oder das Ziel für p ist = 1 , und für (1) ist es = ; also fehlt dort noch -^-, hier noch 4" ', daher die Hülfe

2 ' 16 8 '

nun mehr eilen mufs, zum Ziele zu gelangen; auch wird ihre Geschwindig- keit zuletzt unendlich gröfser, als die mit ihr verglichene.

Um nun die Untersuchung fruchtbar zu machen, nehmen wir an, es seyen mit einer und derselben Vorstellung P viele andre verschmolzen und complicirt; von verschiedener Stärke; auch seyen theils mit dem gleichen Quan- tum von P verschiedene Quanta jener andern Vorstellungen, theils mit verschie- denen Theilen von P einerley oder verschiedene Theile der übrigen verbunden.

Sind die mit P Verbundenen von verschiedener Stärke, so bekommt .77 verschiedene Werthe. Hier mufs man sich vor einem möglichen Mis- verständnis hüten. Es würde eine falsche Auslegung der obigen Sätze seyn, [2 93] wenn man glauben wollte, gröfsere H würden überhaupt weniger und schwerer durch die Hülfen gehoben, als kleinere. Freylich werden sie das, wenn ihr Rest, der mit P verschmolzen ist, gleich geringfügig ausfällt, wie der von schwächeren Vorstellungen. Aber es ist längst gezeigt, dafs die Reste stärkerer Vorstellungen in einem weit gröfseren Verhältnisse die Reste der schwächeren zu übertreffen pflegen; als in welchem Verhältnisse die Vor- stellungen selbst verschieden sind. Daher wird unter gleichen Umständen ein gröfseres H auch ein viel beträchtlicheres q bey sich führen. Und so mufs der dritte der obigen vier Sätze vielmehr so gedeutet werden: ein gröfseres II wird durch die Hülfe gleichförmiger und anhaltender gehoben; eine schwache Vorstellung hingegen eilt mehr, und ersetzt für eine kurze Zeit durch ihre Geschwindigkeit den Mangel der Stärke.

Damit r verschiedene Werthe annehmen möge, oder, damit eine und dieselbe Vorstellung P sich in verschiedenem Grade mit verschiedenen ver- bunden finde : kann man voraussetzen, es sey P allmählig gesunken, und während der Zeit des Sinkens mit mehreren Vorstellungen, die nach ein- ander ins Bewufstseyn traten, verschmolzen. Es mögen aber auch die verschiedenen Grade der Hemmung und der Stärke bey gleichzeitigen Vorstellungen den erwähnten Unterschied hervorgebracht haben. Immer wird dieses die Folge seyn: Jede der mit verschiedenen Quantis von P Verbundenen, hat ihre eigne Geschwindigkeit; das gröfsere Quantum ergiebt die gröfsere, aber auch schneller ab- nehmende Geschwindigkeit.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. -j 7 t

Unmittelbar aus der angegebenen Differentialgleichuno- ist

rt IL log.- **—

Es können also 11, p, und tu unverändert bleiben, [294] alsdann stehen r und t unter einander im umgekehrten Verhältnifs.

Bey spiel: Es habe, wie vorhin, die Vorstellung P eine Stärke = i- ein Theil von ihr, r =~ sey verschmolzen mit q - , einem Theile von

II==i; aber ein andrer Theil von P, r =-!, sey verschmolzen mit 0'=— ,

4 t * 2

einem Theile von einer andern Vorstellung TT = 1 ; man sucht m für

r =~ und t—i, desgleichen 10' für r' ==— und t=2. Es findet sich

(o = «>' = 0,196... In dem Zeitpuncte aber, da w' diesen Werth erlangt,

oder für/ = 2, und r = y, ist w= 0,316...

Mit r' = T sey überdies noch verschmolzen q" = 3, ein Theil von JT" = 4 ; so wird für / = 1 , «)" = o, 1 8 1 8 . . . Aber für t = 2 wird (0 " = 0,352... Vergleicht man w mit w', so sieht man, dafs beyde Gröfsen in ihrem Laufe einander irgendwo durchkreuzen. Denn für / = r ist w > (»", aber für t = 2 findet sich w < (»".

Es kann also eine und die nämliche Vorstellung durch zwey verschiedene Hülfen auf zwey andre Vorstellungen der- gestalt wirken, dafs von diesen eine, schneller im Bewufstseyn hervortretende, nach einiger Zeit zurückbleibt hinter der andern, die Anfangs langsamer hervorgehoben wurde.

§ 87.

Die hervorgehobene Vorstellung wurde bisher als gänzlich passiv be- trachtet. Diese Ansicht ist immer dann gültig, wann sich die erwähnte Vorstellung auf ihrem statischen Puncte, also auch, wann sie sich auf der statischen Schwelle befindet. Denn die Kraft, womit sie von diesem Puncte sich selbst höher heben möchte, wird völlig aufgewogen durch die entgegenstehenden Kräfte, mit denen sie sich ins Gleichgewicht gesetzt hat Welches Widerstreben aber die Hülfe zu überwinden habe, davon bald ein Mehreres.

Setzen wir hingegen, die hervorgehobene Vorstellung werde zugleich mit der hebenden von aller Hemmung, [295] oder auch nur von einem Theile derselben befreyt; sie steige daher mit jener zugleich, aber nicht blofs durch ihre Hülfe, sondern auch durch eigene Kraft, von der statischen Schwelle empor : so kann man sehr leicht zu einem Irrthume verleitet werden, der mich wenigstens lange geblendet, und mir den Zugang zu einem Hauptpuncte in der Lehre von den Gefühlen versperrt hat.

Es scheint nämlich, man müfste nun zu dem obigen Differential dof noch dasjenige addiren, welches das Steigen durch eigene Kraft ausdrückt; also wenn H auf einmal von aller Hemmung frey wäre, folgendermaafsen :

. {q 0) dl + (J7 w) dl = d(o.

Die Folge hiervon wäre, dafs (0 nun geschwinder als sonst, oder dafs ein gröfseres w in bestimmter Zeit hervorträte.

24*

■\n 2 XL Psychologie als Wissenschalt.

Allein es ist falsch, dafs durch ein Zusammentreffen von Kräften, die nicht schon zuvor eine Gesammtkraft gebildet haben, die Geschwindigkeit könnte vermehrt werden. Denn jede von diesen Kräften, sey sie eine Hülfe, oder eigene Energie der steigenden Vorstellung, hat ihr Zeitmaafs, in welchem sie wirkt; wie wir dieses aus dem vorigen § kennen. Wenn nun das, was sie in diesem Zeitmaafse zu vollbringen im Begriff war, durch eine andre, stärkere Kraft, geschwinder geschieht: so kann sie zum Mitwirken gar nicht gelangen ; eben weil in jedem Augenblicke ihr Streben mehr als befriedigt wird. Wirken demnach mehrere solche Kräfte zu- sammen: so bestimmt die stärkste derselben für sich allein die Ge- schwindigkeit des Ereignisses; für alle übrigen aber ist eine Befriedigung ihres Strebens durch glücklichen Zufall vorhanden. Und dieser ihr Zu- stand mufs im Bewufstseyn eine Bestimmung abgeben, die den Gefühlen anheim fällt, ohne Zweifel als ein Lustgefühl, während in An- sehung des Vorgestellten sich dadurch nichts verändert.

Wenn nun JT zugleich durch eigne Kraft steigt, in[2q6]dem seinem Reste o die Hülfe des Restes r von P zukommt: so ist seine eigene Be- wegung (Falls man nicht r, und folglich P, sehr grofs annimmt), ohne Zweifel die geschwindeste; und die Hülfe, anstatt hiezu mitzuwirken, wird der Sitz eines Lustgefühls, dergleichen sich allemal bey rasch fortschreiten- der und leicht gelingender Thätigkeit einfindet; besonders in solchen Fällen, wo das im Grofsen geschieht, hundertfach und tausendfach vervielfältigt was wir hier im Kleinen, als ob nur zwey oder drey Vorstellungen in der Seele wären, elementarisch untersuchen.

§ 88.

An der Betrachtung des § 86 fehlt noch etwas sehr Nöthiges, näm- lich die Erwägung des Widerstandes, den die hervorgehobene Vorstellung finden wird.

Es sey II auf der statischen Schwelle neben den im Bewufstseyn gegenwärtigen Vorstellungen a und b, so kann es nicht ausbleiben, dafs eine Hemmungssumme entstehe, indem P auf JT wirkt, und es durch die Hülfe emporhebt. Diese Hemmungssumme sey = « , indem « den Hemmungsgrad des U gegen a und b bezeichnet (der nach § 52 zu be- stimmen ist), und 01 seine obige Bedeutung behält. Das Sinken der Hemmungssumme gleicht jenem im §77, dergestalt, dafs sie verteilt werde, auf a, b, II, und die Hülfe; dafs aber auch zugleich das Wieder- Auf- stehen von a und b zu ihrem statischen Puncte (auf welchem sie Anfangs mögen gewesen seyn), den Verlauf der Hemmung beschleunige.

In wiefern II und die Hülfe zusammen dahin wirken, dafs nicht II von dem schon erreichten Puncte wieder herabsinke, in so fern sind sie anzusehn als eine einzige Kraft. Dieselbe heifse VJT, also

\Z7 = H -\- -ff Weil a und b verschmolzen seyn werden, so sind die

Hemmungsverhältnisse für die drey Kräfte \/Z, a, und b, nach § 68 zu bestimmen. Diese Verhältnisse sind constant, weil die Kräfte es sind; die [297] Hemmungssumme aber ist veränderlich. Was von TI zu hemmen

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 373

ist, verhalte sich zu dem was a und b zusammengenommen verlieren müssen, wie m : n ; so sind m und n beständige Gröfsen.

Da die Hemmungssumme = a to, so ist in jedem Augenblicke zu ver- theilen aadt. Auf JZ komme via«) dt, auf a und b zusammen na«) dt. Was von a und b aus dem eben angegebenen Grunde nach Verlauf der Zeit / gehemmt ist, wird = nafiodt. Dies ist eine Kraft, welche die Hemmung beschleunigt *). Durch sie sinkt in jedem Augenblicke dt .na/ o) dt. Vertheilt auf Jl, und auf a und b zusammen ergiebt sie, für jenes, eine Hemmung = md t . na f od t; für diese, eine Hemmung = ndt . na f «>dt. Es ist also die augenblickliche Hemmung für a und b zusammen, nicht blofs, wie vorhin angegeben, ==nacodt; sondern dazu kommt noch ndt .na / «> dt. Folglich ist auch nach Verlauf der Zeit / die Kraft, wodurch die Hemmung beschleunigt wird, nicht blofs nuf«>dt, sondern noch darüber n/dt.na/wdt. Auch die letztre Gröfse bewirkt einen Druck, der zu vertheilen ist; der die Hemmung von a und b ver- mehren wird ; der eben damit abermals einen Zuwachs an Hemmung er- geben wird. Sichtbar sind wir hier in einen Cirkel gerathen, der eine unendliche Menge in einander eingewickelter Integrale ergiebt, welche zu berechnen ganz unmöglich wäre.

Es ist also, fürs erste wenigstens, nothwendig, Annäherungen und Gränzbestimmungen zu suchen. Wenn wir annehmen, die Kraft na/otdt drücke nur blofs auf vi2 allein, so machen wir ohne Zweifel du> zu klein; alsdann aber vermeiden wir den Zuwachs der Hemmung für a und b, und wir bekommen eine Rechnung, die sich ausführen läfst. Nehmen wir hin- gegen Rücksicht auf die Vertheilung, so dafs wegen jener Kraft die augen- blickliche Hemmung von" FE, = mdt . nufoidt; und ignoriren wir alsdann den Zuwachs der Hemmung wegen des Druk[298]kes, der auf a und b fällt: so machen wir dm zu grofs, weil die Hemmung zu klein wird. Der wahre Werth von da mufs zwischen beyden Gränzen eingeschlossen seyn. Die Rechnung für beyde Gränzen ist nur Eine, bey welcher ein bestän- diger Factor zugesetzt und weggelassen wird. Für die erste Gränze ist die Gleichung

V

(p «>) dt m u(o dt d t f na «t dt = d(o,

r

n

oder nach We^schaffunc; des Integral-Zeichens

[ -\- m «) d «> dt dd(o = na dt2.

Es sev = P\ und nach der Division mit dt werde für das noch

3 dt r

do) zurückbleibende dt gesetzt , so kommt

P

[ f- ma)pd(') p d p = n a cod(o.

Durch die Substitution p = ui,i, dp = ud<» -}- «> d u, wird nach gehöriger

*) "Vergleiche § 77.

374 -^-1- Psychologie als Wissenschaft.

Rechnung d(o u d u

(0

n a -j- [ -j- m a J u -J- z*2

Aus =. p =. u (<> ist == w <f /, und folglich

du dt=

n u -j- | -|- m a\ n -j- «2

Weil die Gröfsen r, JT, ;«, «, kein vestes Verhältnifs unter einander haben, ist es im Allgemeinen zweifelhaft, ob dieses Differential durch Loga- rithmen, oder durch eine Circular - Function integrirt werden müsse. Im ersten Falle kommt das Integral auf die Form

i u 4- r.

wo i = 2 1/ j-^ -f- maj —na , I r \ "i / , / r

[299] ö^^+mo^+y^+ma) -na.

dio ]\Ian darf keine Constante beyfügen. Denn u = j- ist unendlich

für / = o, indem alsdann auch (0 o; daher verschwinden >y und &

u . neben 7<r, und log. ist = o.

u i

Es ergiebt sich nun e e * = __ daher

}] Se £* d(o

e et 1 uidt

r, & e £ t d«ß

Demnach . dt = .

e b t _ ! „> dx

Setzt man e *i = xi so ist ee et dt = dx, also dt = -'

tx

ldx &dx rtdx d~dx

Nunistzuintegriren ; 4 ; -, oder r .

f x (x 1) ' t (x 1) 4 x (1 x) t(i —x

Weil = 1 , auch rt $ = 1 , aus den oben an-

x(i—x) x i x }]dx

gegebenen Werthen dieser Gröfsen, so wird dies Differential =

dx

, und das Integral

I x

log. x , (: _ v) . Const. = log . (o das heifst x* . (1 x) . C= = * 7* . r e «*) . C

Dritter Abschnitt. Grandlinien der Mechanik des Geistes. 3 7 5

Um hier die Constante zu bestimmen, reicht die Forderung to = o

für / = o nicht zu, denn der Factor 1 e et erfüllt dieselbe, was auch C

sevn mag. Allein man gehe zum Differential zurück. Für / = o mufs

rp </w nicht blofs 10, sondern auch fn and t = o seyn, also ist alsdann —==—-.

Aber aus dem gefundenen Integral ist

,/r„ = C . ( X * ' </.v (1 x) * * dx\ Das erste Glied ist = 0 für t === q, denn es enthält [300] den Factor 1 x; das zweyte ist = . Cdx -\- Cid t. Also 77= £ f = jr

und hieraus C =-=£-. Demnach endlich ilt

rp

o.» = - e vHi e *t). IL 1

Man kann to noch bequemer durch 8 ausdrücken, weil, nach dem

obigen ij -f- 1 = fo Nämlich

'" P Q. ^

„__,-„_, -»0 H

Diese Rechnung gilt der ersten Gränze; sie ergiebt aber auch die zweyte, wenn man für n setzt mn, und darnach die Werthe von f, >j, #, abändert; doch ist dies nicht willkührlich, sondern ergiebt sich erst, wenn man bestimmte Zahlen in die Rechnung einführt.

Aus dem so sehr einfachen Ausdrucke für läfst sich überdies mit leichter Mühe f m d /, ja auch fdt^fio dt finden; und man wird hieraus die Correcturen beurtheilen können, welche noch anzubringen waren. Auch ohne genauere Untersuchung läfst sich, allenfalls durch Vergleichung mit den Differentialen der Linien, Flächen, und Körper wohl vermuthen, dafs in der Reihe der <o, f w d t, / d tf w d /, u. s. w. immer die nach- folgenden später als die vorhergehenden einen merklichen Werth erlangen werden.

Das erste Merkwürdige, was das gefundene Integral uns darbietet, ist, dafs tu = o sowohl für / = o als für / = ao ; daher wir nach seinem gröfsten Werthe zu suchen haben. Derselbe tritt ein (wie man durch die

Differentiation findet), für / = ■- log. . Offenbar eine kurze Zeit, da

* n

& nur wenig gröfser wie »7; und t nicht leicht ein sehr kleiner Bruch werden kann.

Wenn also eine und dieselbe Vorstellung mehrere andre hervorhebt, so hat nicht blofs, wie vorhin schon gefunden, jede der hervorgehobenen ihre eigne Geschwindigkeit, sondern [301] auch ihren eignen Zeitpunct, da sie im Bewufstseyn ihr Maximum erreicht. Die Bestätigung durch die innere Erfahrung dringt sich von selbst auf.

376

XI. Psychologie als Wissenschaft.

Löset man (o in eine Reihe auf, so sind die ersten Glieder:

Da die verschiedenen Potenzen von / eine nach der andern bedeutend werden, so zeigt sich hier der Anfang der Erhebung von (o. Es be- stätigen sich die Bemerkungen des § 86 über die Abhängigkeit des «> von p, r, II. Es verhält sich w gerade wie q (abgerechnet den geringen Ein-

fiufs, welchen g auf die Gröfsen in und ;/ haben kann); und je gröfser ,

um so gröfser, aber auch um so schneller abnehmend, ist die Geschwindig- keit, mit der (o hervortritt. Noch ist zu bemerken, dafs co im ersten An- fang weder von m noch ;;, dann zuvörderst von m, und zuletzt von n ab- hängig wird; indem n erst bey ß und den folgenden Gliedern Einflufs be- kommt.

Noch bequemer läfst sich bey dem Werthe von /, der zum Maximum von (o gehört, die Auflösung in eine Reihe benutzen, um zu sehen, wie dieser Werth durch die beständigen Gröfsen bestimmt wird. Man setze

-f [jL 4- »«) =/; also ;; =/— V/2— *«, 0 =/ 4- V/*-»«,

f

3

i +

na

= 2 V/2 na; =

=J=, Zog. - =

-tf na

n a\

f2>

+ f(--^ + f(-^ +

f2

& i

+f(--a+vG-3+-

, so ist jener Werth von / =

Wenn /2 nahe

= n a, so ist sogleich offenbar, dafs die Zeit fürs Maximum, wächst, wenn f,

r und folglich auch wenn . abnimmt; und umgekehrt. Es sey nun weiter

n

[302] ~ = ±-, so ist dieselbe Zeit =Y7Ta tr+f-V + f "T +

f +-]-

1,2

ist jene Zeit =

Vna' M

ä

VT

" ri— 4- + 4-

Mna1 J T 5

; aber wenn /" = \ 7z «, ist /

indem /" gewachsen, ist t kleiner geworden. Es sey ferner =2, so

V««' n a

also

f +. .... •]•

Die eingeklammerte

Reihe ist aus der Kreisrechnung bekannt; sie ist = 77 = 0,78 tj = dem Halbkreise für den Halbmesser =

. wenn 1. Also die gesuchte Zeit

=*-p= . 1,1 1 ... daher nun / gröfser geworden, indem f abnahm. So V 71 a

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 377

r

bestätigt es sich immer, dafs ein gröfseres schneller, aber auch minder

anhaltend wirkt.

Es sey eine und dieselbe Vorstellung P durch verschiedene ihrer Reste r, r, r" u. s. w. verschmolzen mit verschiedenen Vorstellungen II, IT, II" u. s. w. und der Gröfse nach ZT = II' = FL" u. s. f. auch alle übrigen Umstände gleich: so ist die Folge der Zeitpuncte, worin II, IT, H", durch die Hülfen zum Maximum gehoben werden, wie die Folge der Reste r, r, r" u. s. w. vom gröfsten bis zum kleinsten.

Die Formel für jenes /, woraus wir diesen sehr folgenreichen Satz gefunden, ist um so brauchbarer, da sie allgemein ist, indem sie die un- mögliche Wurzelgröfse nicht mehr enthält, welche oben durch die Inte- gration vermittelst der Logarithmen in dem Falle entsteht, dafsy"2 >• nu.

Nur für u) selbst müssen wir noch auf diesen Fall einen bequemen Ausdruck suchen. Oben ergab sich

du

dt =

n u -\- ( -{- m u j u -\- u2 Im erwähnten Falle kommt das Integral auf folgende Form:

[303] Const. / = ang- tang.

4- mu\ -[-

u

WO i

fnu~T\ii+ mu)

also = tang. (Const. et)

und u = t tang. (C et) —(.•==. + mu). d<o 2\II J

Da u = unendlich für / = o und w = o, so ist C die Zahl,

(od i

welche den Bogen von 90 ° für den Halbmesser == 1 ausdrückt; oder es ist C = n in der gewöhnlichen Bedeutung von n. Aber tang. (— n tt) = cot. tt; daher wird nun

diu , ! ( r \

= idt . cot. tt = + 7>i u) dt

(o 2 \n ~ J

Es ist cot. e t = und t dt cos. tt = d . sin. 1 1, also

sin. tt

C -\- log. 0) = log. sin. tt I— -(- mu) t

in j / r

oder log. -——. = 4- mu

6 C sin. tt 2 \n '

woraus w == C sin. tt . e V\~Ff ~^~ ma)

?~8 3CL Psychologie als Wissenschaft.

d(0 , .

Die Constante mufs wie vorhin aus -— für t = o bestimmt werden.

dt

Es ist ^w = (o . (tdt cos. tt (— -j- muj dt)

worin man den gefundenen Werth von substituiren mufs. Derselbe ist = C sin. tt für / = o, weil alsdann die Exponentialgröfse = i. Aber C sin. tt ist selbst = o für / = o; das Glied also, worin diese Gröfse keinen ihr gegenübertretenden Divisor antrifft, der zugleich auch = o wird,

mufs wegfallen. Hingegen Cos. t t = ist ein solcher Divisor; da-

° ° ° tang. et

her fmdet sich [^04! doj = edt . = zdt . C cos. tt

LO J tang. et

Da cos. it = i, für / = o, so ist endlich = Ct; welches,

dt

den ro '

verglichen mit dem schon bekannten Werthe = , endlich ergiebt

dt IL

ro

C = Jl . Demnach ist nun vollständig

rg

sin. t

t . e \ (— + muj t.

Es kann nur zur Rechnungsprobe dienen, wenn wir auch hieraus die Zeit für das Maximum von w suchen.

- Aus deo = ^- (tdt cos. et e—ft sin. tt e—ft ./dt) = O

wird i cos. tt = f sin. tt; also = tang. tt, oder tt = ang. tang.

welches in eine Reihe zu entwickeln ist. So findet sich /'

T f-2 #4 f6

t = - --LiiJLf Li _j- . . .

f 3 /3 ' 5 fS 7 fl '

Da nun t = V«« f2, so ist - = 1/ -

-T^--)+T(^--r-T(^--)3+-.

I, und /2

i

' = 7

wo man nur nöthig hat, statt f ij zu schreiben -f- (i j,

um die vollkommene Identität dieses Ausdrucks für t mit jenem vor Augen

i 9-

zu haben, der sich aus dem obigen / = log. ergab.

§ 89. Die Berechnungen des vorigen §, wiewohl nur Gränzbestimmungen, haben uns die wichtigsten Aufschlüsse, über den Einflufs von r, g, II,

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

379

und über das Maximum, schon gegeben; und es mag scheinen, wir könnten uns damit für die jetzige Absicht begnügen. AI[305]lein bey einer Unter- suchung, worauf weiterhin so vieles gebaut werden soll, wäre es mindestens doch unschicklich, die schon nahe liegende Auflösung des Problems nicht vollends zu erreichen. Die gefundenen Gränzen sind zu weit aus einander, als dafs sie für eine Berechnung von <>> gelten könnten; auch die Zeit für das Maximum ist noch nicht berechnet, denn die Formel dafür erhält zwey verschiedene Werthe, je nachdem man sie der einen oder der andern von den Gränzbestimmungen anpafst, die für (<> gemacht sind.

Zu der ursprünglichen Differentialgleichung müssen wir zurückgehen, und dieselbe genauer als zuvor angeben. Aus den oben bemerkten Grün-

den ist eigentlich

»

r

d<o = (g ff;) dt mu.u)dt mnadt f <odt

.' mdt . n2u f dt f u>dt mdt . n^u / dt / dt / (odt mdt . »4« f dt f dt / dt / <»dt und so weiter ins Unendliche.

Man fasse die ersten drey Glieder zusammen; das Integral davon ergeben die Formeln des vorigen §, wenn in denselben mn statt n gesetzt wird. Man nehme ferner an (was aus obigen Gründen zu vermuthen, und was sich sogleich bestätigen wird), das Integral der ersten drey Glieder sey, besonders für eine kleine Zeit, von o> nicht weit verschieden; man setze dasselbe statt (o in f dt f < odt; so wird man die Integration des vierten Gliedes vollführen können, und dadurch eine Verbesserung des vorigen Werths von ro erhalten. Man verfahre eben so mit den folgenden Gliedern; man benutze, Falls es nöthig scheint, die schon gefundenen Verbesserungen jedesmal bey den noch zu suchenden.

Dieses schon oben angedeutete Verfahren, müssen wir jetzt vollziehen, um zu sehen, wohin es führen möge.

Den, in der Formel [_Ä\ angegebenen Werth von (o lösen wir der

ro

Bequemlichkeit wegen in eine Reihe auf, und setzen -~- = F, so ist [306]

W=^((#-^)/-^(^-tf)*.+ f (5-3_^)/3_^(d4-^)>---)

folglich

fuuit= F[± (fr _ rj) f _ -L (fr* _ f) ,3 + ± (fr3 _ ,3) * _ J. (fr* _ ,,4) /s . .

/ dt /.odt = F [L (fr _ ,,) n - JJ- (fr* - r,*) /4 + 4_ (fr3 _ ,3) fi . .

f dt f dtf ^dt =* F\± (fr - V) * - s (*■ - u2) * + £ (^ - v) '6 /dt J dt/ d}/ mdt = F [£. (fr - n) ft _ 2_ (fr, _ V) fi . .

/ dt / dt/ dt / dt f (odt = F . [-^ (fr i,) t6 . . | u. s. w.

Die Integrale des vierten, fünften, und sechsten Gliedes von dut sind also zusammengenommen folgende :

•>3o -^-I- Psychologie als Wissenschaft.

F.

m n2 u(& ),) m n2 a ,' . mn2 u

S i't 4 -| (^-2 _ rf) t S - (fr ?/3) / 1

24 120 720

mn3 a ,„ . mn* u ,„

{? - *,) '5 + -— -(** f V6

120 720

m »'4 «

(5- _ , ,6 . . .

720

Und dieses ist die ganze Verbesserung für w, Falls man nicht / 7 und noch höhere Potenzen von / in Rechnung bringen will. Denn erstlich, das siebente Glied von do> ergiebt eine Reihe, die mit ti anfängt. Zwey- tens, will man f dt fdt fi»t aus sich selbst verbessern, so hat man zu

dem anfänglichen Werthe von o>, noch -/4 und das Folgende,

mit gehörigem Zeichen und Coefficienten hinzuzufügen, und daraus von neuem fdtfdtfwdt zu suchen; wobey denn aufser dem vorigen Werthe noch ein Glied erscheinen wird, das P enthält. Daraus ist auf die folgen- den, dieser ähnlichen, Verbesserungen zu schliefsen.

§ 90.

Um nun den Sinn und die Absicht dieser Rechnungen deutlicher zu machen, wollen wir ein Bey spiel durchführen. Man wird sehen, dafs die Formeln, so fem dadurch bestimmte Zahlen gesucht werden, noch sehr unvollkommen, aber für unsem Zweck, das Gesetz eines psychologischen Ereignisses im Allgemeinen kennen zu lernen, mehr als hinreichend sind.

Gemäfs der Voraussetzung des § 88 soll TL auf [307] oder unter der statischen Schwelle seyn neben a und b. Es sey demnach a = t> = 1 ,

und TL = 0,7. Auch ;-=p=— . Daraus ergiebt sich 'TT = TT -\-

1,05714. Die Hemmungsverhältnisse, also m und n, sollen nach § 68; oder, wenn wir « = 1 setzen , indem zugleich nur a und b unter sich, nicht aber mit %_Z7 verschmolzen sind, nach § 69, bestimmt werden. Dem- nach wird w = 0,42496; »=i m = 0,57504; nm = 0,24437.

Nun theilt sich die Rechnung; denn es giebt für sie zwey Wege.

Es ist -M •= + *»«)=/= 0,56962, also/2 = 0,3 2 446. Folglich/ >nm

und<«; daher die Wurzelgröfse V7T ~n im ersten Falle, nachdem nm für n gesetzt worden, möglich, im andern, wo n allein stehn bleibt, un- möglich. Der erste Fall gehört für die Formel A, der zweyte für die Formel B. Wir müssen also beym Gebrauch der ersten Formel überall m n für ti setzen.

Man weifs aus den Entwicklungen des § 88, dafs, wenn n stehn bleibt, d(o zu klein gemacht wird; oder, was dasselbe sagt, dafs wir uns alsdann die Hemmung, gegen welche die zu reproducirende Vorstellung aufsteigen mufs, ein wenig gröfser denken, wie sie wirklich ist. Diese An- nahme giebt die leichteste Rechnung; man wird wohl thun, sie zuerst zu brauchen, um gleichsam den Umrifs des psychologischen Ereignisses zu

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3 8 1

erhalten. Es findet sich für diesen Fall e 0,50058. Daher aus tt =

t ang. fang.

die Zeit des Maximum = 1,4403

hieraus das Maximum selbst =0,20734. Ferner wird in der Formel B, o> = o für <-/= n, wo n wie gewöhnlich, den Bogen von 1800 bedeutet. Hieraus ergiebt sich

für 0 = o, / = 6,276. Will man nun noch dem Steigen und Sinken des 10 [308] genauer zu- sehn, so kann man dasselbe für willkührliche Werthe von / berechnen. Z. B. für / = 1 findet sich rr> = 6,19374 1,4403 hatten wir «> = 0,20734 2 wird «)== 0,19231

3 «« = 0,12889

4 « = 0,06638

5 « = 0,02465

6 w = 0,00322.

Allein dies ist nur die erste Gränzbestimmung. Denken wir uns die Hemmung kleiner, so werden wir gezwungen, die erste Formel A, sammt ihrer Verbesserung im § 89, anzuwenden. Für die Zahlen unseres Bey- spiels wird

(A) 10 = 0,63 105 (e 0,28664 t e o 85260 t)

und die Verbesserung = 0,00269 /+ -f- 0,00023 /s 0,00005 /5.

Hieraus ergiebt sich z. B. für t = T, «0 = 0,20286

/= 1,4403, w= 0,22481 w / = 3 « = 0,06908.

Nach dieser Rechnung steigt also ro etwas höher, und sinkt etwas schneller als nach der vorigen. Man darf sich darüber nicht wundern, denn die Integrale f adt, fdt ftadt u. s. w., wodurch «> in den spätem Zeittheilen vermindert wird, müssen wachsen, wenn w Anfangs gröfser ge- nommen war.

Diese zweyte Rechnung ist nun der Wahrheit näher als die erste ; aber sie läfst sich nicht füglich so ausführen, dafs man den Zeitpunct fürs Maximum und für w = o mit Genauigkeit angeben könnte. Daran ist nun auch für jetzt wenig gelegen, genug, wenn wir wissen, dafs es für die reproducirte Vorstellung ein, von der Stärke der Vorstellungen, dem Grade ihrer Verbindung und Hemmung abhängendes Maximum giebt, und dafs sie, nachdem es erreicht worden, ungefähr noch einmal so viel Zeit braucht, um wieder völlig zu sinken. Aber für die Zukunft können wir nicht be- stimmen, was in Dingen dieser Art wichtig oder unwichtig sey ; denn oft ist Beach[309]tung der kleinsten Umstände nöthig, um die Wahrheit zu finden. Daher will ich die Untersuchung noch einen Schritt weiter führen.

§ 91- Auf unser Problem pafst in grofser Allgemeinheit eine Methode, welche Euler lehrt in den institutt. calc. integralis Vol. IL See/. 2. cap. 2. Wir wollen uns indessen begnügen, das Verfahren an einer Differential-

382 XI. Psychologie als "Wissenschaft.

gleichung des dritten Grades zu üben; da wir von jener, im § 89 aus- einandergesetzten Formel für dco, so viel Glieder nehmen können als wir wollen. Denn ungeachtet die Methode schön ist durch ihre Einfachheit, so wird bey hohem Graden die Anwendung doch beschwerlich; theils wegen der Auflösung einer höhern Gleichung, theils besonders wegen der Bestimmung vieler Constanten. Es sey aus § 89

r du = (g co) dt mawdt vinadt fw dt mrß adtfdtfn dt.

Das Uebrige lassen wir weg, um nicht über das dritte Differential hinauszugehn. Es wird nämlich hieraus

eß(o= - (-^--f- ?««] d2(odt mn&dt2 . d(t, mn2udt3 . co

d(o d2 co

oder wenn = p, = q,

dt F dt2 *

(r , \ , di°> mn2 a co -j- mnu.p -j- I— -\-mu\ q -j- = o.

Dieser Gleichung genügt die Form (o = e *-t ; daraus nämlich wird

d$(t> p = le'-t; q = X2 et- 1- . _ = }.3e^t. Die Substitution dieser Werthe, nebst

dt*

der Division der Gleichung durch e^t giebt

mn 2u-j- m n u). -\- \y?~\~ ma) >- 2-f- ^ 3= o.

Jede der drey "Wurzeln dieser Gleichung kann zur Bestimmung von Ä dienen; doch jede einzeln würde nur ein particujäres Integral geben. Allein sie lassen sich auch alle drey verbinden. Es seyen die Wurzeln = a°, /.', ).", [310] so genügen der Gleichung die für w zu setzenden Werthe e^°t; e''-'t\ e'-"t-y aber auch der Werth

(o = Aetet -f Bel't _L Ce^'t, indem aus der Natur der aufgegebenen Gleichung klar ist, dafs, Falls die aus den drey Bedeutungen von ). entspringenden Werthe oj = P, «j = Q, (• = R, einzeln genommen, derselben angemessen sind, dann auch gesetzt werden könne

at = AP+£Q+ CR.

Es entsteht nämlich alsdann eine Summe dreyer Gleichungen, deren jede für sich, daher auch ihre Summe = o ist.

So entspringt hier aus dreyen particulären Integralen das vollständige; zu erkennen an den drey willkührlichen Constanten, deren gerade so viele zu einer Differential-Gleichung des dritten Grades gehören.

Hat die cubische Gleichung für Ä zwey unmögliche Wurzeln, so mufs die Form der daraus entspringenden Glieder um etwas abgeändert werden.

Es sey X' = p -|- v V 1 und folglich /." = /li v \ 1 so ist

Be%t-\- Ce^'t=^ef-t{Bevt Y 1 -|- Ce vt V~T).

Es ist Bevt% 1 =B cos. vt -f- B sin. vt V— 1

und Ce vt V 1 = Ccos. vt C sin. vt V 1.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ^8^

Die Constanten B und C sind noch unbestimmt. Man nehme an

es sey 2 B = B' —J^t^l ; 2 C=B' + C VZT7; so ist B+C=B'\

B—C=— C V— 1 ; und BeXt + CeV't = eut (# cos, r/_|. q' sin. vt).

Man kann die neuen Constanten abermals verändern. Es sey

B' = B" sin. ff, C' = B" cos. ff, so folgt :

Belt-\- Cel"t= eiit.B" sin. (ff + vt)

demnach m = Ae^°t-\- ep* . B" sin. (ff -f vt) [C].

dir) d2 (0

Die Constanten A, B , <y>, müssen aus a , , für / = o be-

' dt dt2

stimmt werden. Alsdann nämlich ist aus der gegebenen Gleichung

d(< ro d2 m l r \ rQ

' dt 11 dt2 [11 j n

[311] Aber aus der eben gefundenen ist alsdann

(o = A -f- B" sin. ff ;

d (1) . ., ,,

= AeWt 4. pept . B sin. (ff -f- vt) -j- ef-t . ß v cos. r(fl _|_ vt)

verwandelt sich alsdann in

d(<> ,, .,

= X°A -\- fiB sin. (j -f- v B cos. ff

und endlich

_ ^ = )°'Ael°t + fi2e^t . ß" sin. (ff -\- vt) -f p e/it . B" v cos. (ff ~j- vi)

ept . B" v2 sin. (ff. -f- vi) -(- fiept . ß" v cos. (ff ■{- vt) geht über in

= ;k°2 .4 -J- (/< 2 -f- j'2 ) .5" sin. (f -f- 2/1 vB" cos. (f

Also haben wir die drey Gleichungen

o = A -\- B" sin. (f

a' = jj.= X°A + 11 B" sin. ff -f vB" cos. ff

b' =-- (-- -f n a j^| = Ä°2 ,4 -f (,«2 r2) ,5" «». </ -f- 2 /< r^"" «w. ff

2fia b' .

woraus ; ; - =-- B sin. q< = .4

y.°2 -|- ,u2 -f v2 2 /m '

b v 2/1 va

—r~, : ; TT-, ;— r s== tan (f. <i

a (112 A°2 v2 ) b (fi A°) ö '

—A-=B". sin. ff

Angewandt auf das obige Beyspiel, ist 1 zu suchen aus der Geichung 0,14055 + 0,2444 * + M392 l2 + *3 ~ o. Die mögliche Wurzel ist nahe == 1,03375 = Ä°

die beyden unmöglichen sind = 0,05272 -j- o, 36420. V - 1 also (.1 = 0,05272, und v = 0,36420. Es findet sich A = 0,33682

'/ = 77° 5o' 45"

184 -^-k Psychologie als Wissenschaft.

arc. ff = 1,35866 .£" = 0,34454 demnach

<o = 0,33682 e I'°337S t _j_ 0,34454 e ~ 0<°M2 t . sin. ( 1 ,35866 + 0,3642 /) Für / = 1 ergiebt sich hieraus ta = 0,2032 . . . wozu [312] man aus § 89

Fmtäu

die Verbesserung - (ir //)/5 etc. nehmen mufs (denn die obere

Reihe der Verbesserung ist jetzt in der Formel schon inbegriffen), um den Werth ff> = 0,202g zu erhalten, der oben schon gefunden wurde.

Für das Maximum und für ro = o die Zeit zu finden, ist wegen der Verwickelung transcendenter Gröfsen in u) und d(o, nicht ganz leicht. Man kann jedoch entweder durch Versuche, oder nach Anleitung der obigen Formeln, und der aus ihnen gefolgerten für den Zeitpunct des Maximum, sich der Bestimmung der erwähnten Zeiten nähern, und alsdann mit Hülfe des Taylor'schen Lehrsatzes die Näherung weiter treiben.

Was die Zeit fürs Maximum anlangt: so suche man im Beyspiele

zuerst 0 für ^=1,5; wegen der Angabe im § 90. Es findet sich

^ = 0,2264; etwas gröfser als nach der obigen Berechnung; obgleich

von der Verbesserung nach § 89 das erste Glied mit zugezogen ist.

dw ....

Ferner gehört zu diesem Zeitpuncte - = -\- 0,0 103.., also ist hier das

dt

Maximum noch nicht erreicht. Nimmt man nun von der Reihe des

Taylorschen Satzes nur die ersten beyden Glieder, und setzt =p =ft,

den Zuwachs der Zeit bis zum Maximum aber = / , so kommt

dp

dt'

f (t + /) == o =p + t' . -?, also

dt

'=-p-TP'

woraus /' = 0,075... a'so die ganze Zeit bis zum Maximum = 1,575 •• Dafür wird n> = 0,2268. Es würde leicht seyn, aus mehrern Gliedern der Taylorschen Reihe ein genaueres Resultat zu erhalten ; hier kam es nur auf kurze Bezeichnung einer brauchbaren Methode an.

Um den fernem Gang der Gröfse (<> kennen zu lernen, insbesondere um zu sehen, ob sie eben so schnell abnehme, als sie zunahm, ver- doppeln wir die eben gefundene Zeit, und suchen to für / = 3,i5. Es findet sich [313] w = o,n ... Also hat es noch ungefähr die Hälfte seines gröfsten Werthes.

Allein jetzt ist es in einem schnellern Abnehmen begriffen. Durch Versuche findet man es = o ungefähr für / = 3,7 . . mit welcher An- gabe wir uns hier begnügen können. Eine genaue Bestimmung dieses Zeitpuncts wird immer mühsam bleiben.

§ 92.

Was von a und b zusammengenommen -gehemmt wird, das läfst sich, nach § 88 so ausdrücken :

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 285

na f (»dt -\- n2a f dt f (»dt -j-«3« f dt f dt / (»dt etc. Fragt man nach dem Maximum dieser Gröfse : so ist offenbar, dafs das Differential des ersten Gliedes = o ist für 10 = o , dafs aber alsdann die übrigen Glieder ihr Maximum noch nicht erreicht haben. Also bis <o = o wächst die Hemmung von a und b immer fort. Hier aber ist sie wirk- lich am gröfsten, weil hier die Bedeutung der Formel aufhört, indem nicht negativ werden kann. Auch ohne Formel folgt es so aus der Natur der Sache. Die hemmenden Vorstellungen, indem sie schon m zum Sinken bringen, müssen doch auch allemal ihren Theil von der vor- handenen Hemmungssumme übernehmen. Nur erst, nachdem diese ver- schwunden, das heifst hier, nachdem wieder den Nullpunct erreicht hat, können und müssen jene sich erheben.

Jetzt aber erhält auch die Bestrebung der Hülfe, wodurch gehoben wurde, wiederum ihre ganze Spannung, indem sie nun so unbefriedigt ist, wie zu Anfang. Es kommt daher wirklich, Falls nicht veränderte Um- stände eintreten, zu einer Art von Oscillation, wie es die Formeln für w andeuten. Eine kleine Zeit muis verfliefsen, während welcher 10 auf der Schwelle bleibt, weil die Gewalt, womit es dahin gebracht ist, und durch die es noch tiefer hätte sinken sollen, nicht eher nachlassen kann, als bis a und b sich wieder etwas erhoben haben. In dieser Zeit wird das helfende P, auf welches ein Theil der Hemmung fällt, der schon vor- handenen, nur nicht [314] plötzlich befolgten, Nöthigung zum Sinken, noch fortdauernd nachgeben. Aber bald mufs der Moment eintreten, wo P gespannt genug, a und b nachgiebig genug sind, damit w wieder gehoben werden könne. Es mufs jetzt abermals eine endliche Gröfse im Bewufst- seyn erreichen, denn nicht anders kann es als Hemmungssumme einen neuen endlichen Widerstand finden, durch den es wieder zum Sinken ge- bracht werde. Doch wird es nicht so hoch steigen wie das erstemal, weil es sich jetzo während einer noch vorhandenen Spannung der wider- strebenden Kräfte erhoben hat. So weit ungefähr mögen die Conjecturen reichen, die man hier ohne Berechnung wagen darf. *

Wir sollten jetzo untersuchen, was erfolgen müsse, wenn mit einer Vorstellung P, sich mehrere, 7T, IT, IT" u. s. w. verschmolzen finden, ja auch wenn diese unter einander verbunden sind; oder, wenn IL' nicht mit P, wohl aber mit IT verbunden ist, u. dgl. Allein statt dessen müssen wir vielmehr in dem Geschaffte, zu neuen psychologischen Untersuchungen den Grund zu legen, fortfahren.

Nur eine Bemerkung, welche bey den eben angedeuteten Unter- suchungen, und noch bey manchen andern in Betracht kommen wird, soll hier anhangsweise eine Stelle finden.

§ 93' Mehrere Vorstellungen, die durch verschiedene Ursachen zur Schwelle gesunken waren, können entweder durch die Wirkung den Verschmelzungs-

* Diese Untersuchungen mögen Andre fortsetzen. Sie können sehr wichtig wer- den in Hinsicht auf Alles, was sich mit zwischenfallendcn Pausen im Gemüthe gleich- mäfsig wiederhohlt ; auf die Stöfse erneuerter Anstrengung ; desgleichen auf Hebung und Senkung in der Metrik und Musik.

Herbart's Werke. V. 25

-g(j XI. Psychologie als Wissenschaft.

o

und Complications-Hülfen, oder weil sie zugleich frey von einer Hem- [3i5]mung werden, gleichzeitig wieder ins Bewufstseyn hervortreten. Man würde sich irren, wenn man die Hemmung, welche sie jetzo wider einander ausüben, nach den ersten Grundsätzen der Statik ermessen wollte. Dieselbe ist beträchtlich kleiner; denn die Hemmungssumme entsteht jetzt nur all- mählig durch das Steigen der entgegengesetzten Vorstellungen, während sie bey solchen, die zugleich aus dem ungehemmten Zustande sinken, gleich Anfangs vollständig vorhanden ist, und ihre volle Wirkung äufsert. Eine ganz kurze Berechnung für zwey Vorstellungen, die mit einander steigen, kann dies genugsam erläutern.

Dieselben seyen a und b; was von ihnen hervorgetreten, heifse « und ß ; der Hemmungsgrad sey = m. So ist, wenn a > b, die Hem- mungssumme nach Verlauf der Zeit /, oder S, = mß. Davon sinkt im

. . . bmßdt

Zeittheilchen dt der Theil »iß dt; und dieser ist zu zerlegen in - -,

a -\- b

amßdt , . ' '.' .. ',

welches von a, und in - -, welches von /; gehemmt wird. JNun würde

a -j- b

ohne Hemmung das Steigen von b ausgedrückt durch = (b ß)dt;

also mit der Hemmuno:

amßs

/ a»iji\

, b 7 \ . am

woraus 8 -— i e **] wenn /. = i A -— .

x \ / a-\-ö

Also ß nähert sich der Gränze . Es sey m=i, a = b, so ist

/. = i -| -, und b und a können zusammen steigen bis zu ihres

Werths. Eben diese Vorstellungen, wenn sie aus dem ungehemmten Zu- stande mit einander sinken, müssen sich hemmen bis zur Hälfte ihres Werths. Der Unterschied, der sich hier zeigt, ist besonders merkwürdig wegen der innigem Verschmelzung, die aus dem gemeinschaftlichen Steigen hervorgehn . mufs. Man denke an den Werth häufiger Wiederhohlung beym Lernen, erneuerter Versuche im Forschen; und ganz be [3 1 6] sonders an den Unterschied der spätem und der frühern Jahre in Ansehung dessen, was oftmals wiederkehrend bearbeitet wird.

Fünftes Capitel.

Vom zeitlichen Entstehen der Vorstellungen.

§ 94- Es mag scheinen, dafs dieses Capitel hätte das erste dieses Ab- schnitts seyn sollen ; indem die Vorstellungen erst entstehen müssen, ehe sie da seyn können. Aber es wird sich bald zeigen, wie schwierig die vorstehenden Untersuchungen ausgefallen wären, wenn wir in ihre Vor- aussetzungen den zeitlichen Ursprung der Vorstellungen aufgenommen hätten.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ^87

Der Gegenstand, den wir jetzt auffassen, gehört zunächst der all- gemeinen Metaphysik. Man wolle zuvörderst das dritte Capitel des ersten Abschnitts wieder nachlesen; an dessen Ende der Satz vorkam, dafs die Vorstellungen nichts anderes sind als Selbsterhaltungen der Seele in ihrem eignen Wesen; wobey denn die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen von der Mannigfaltigkeit der Störungen herrührt, welchen die Seele in jeder Selbsterhaltung widersteht.

An den Begriff der Störung knüpft sich in der allgemeinen Meta- physik der Begriff des Zusammen ; welches ein unvollkommenes seyn kann, und alsdann Grade hat, die auf das vollkommene Zusammen wie Brüche auf die Einheit müssen bezogen werden.

Dem vollkommenen Zusammen entspricht die vollkommene Störung und die vollkommene Selbsterhaltung, welche letztere hier eine Vor- stellung im Maximum der Stärke seyn würde, dergleichen sich in der Er- fahrung [317] nicht nachweisen läfst. Gleichwohl, indem die Grade des Zu- sammen auf Grade der Störung und auf Grade der Selbsterhaltung hin- deuten, mufs das Maximum der Stärke, die eine Vorstellung erhalten könnte, als die ideale Einheit angesehen werden, wovon jedes wirkliche Vorstellen ein Bruch ist.

Wie die Seele gestört, und dadurch zu Vorstellungen gebracht werde, ist nicht blofs eine einfache metaphysische, sondern zugleich eine höchst verwickelte physiologische Frage, über welche ich an diesem Orte gänzlich schweigen mufs.

Hier aber bemerke man vorzüglich, dafs einmal gebildete Vor- stellungen in der Seele bleiben (sonst könnte, nach den obigen Unter- suchungen, nimmermehr ein Selbstbewufstseyn zu Stande kommen); dafs also, wenn eine gewisse Störung eine Zeitlang dauert, alsdann das in jedem Augenblick neu entstehende Vorstellen sich an- sammelt, demnach ein Integral ergiebt, woran das augenblicklich erzeugte Vorstellen das Differential ist.

Dies Differential nun wäre constant, und sein Integral verhielte sich gerade wie die Zeit, wenn die augenblickliche Zunahme des Vorstellens sich immer gleich bliebe. Alsdann aber ginge das ganze Quantum des an- zusammelnden Vorstellens ins Unendliche,, so wie die Zeit.

Giebt es hingegen ein Maximum der möglichen Stärke für jede Vor- stellung, so sieht man auf den ersten Blick, dafs die augenblickliche Zu- nahme, oder jenes Differential, sich verhalten mufs wie die Entfernung vom Maximum. Alsdann nämlich ist ursprünglich die Möglichkeit, eine solche Vorstellung zu erzeugen, eine endliche Gröfse; und diese Möglichkeit nimmt um eben so viel ab, als wieviel das Quantum des schon erzeugten Vorstellens der nämlichen Art, beträgt. Wir werden dieselbe mit dem Namen der Empfänglichkeit bezeichnen. Sie sey ursprünglich = <f ; und folglich 7 eine Constante; im [318] Laufe der Zeit / werde erzeugt ein Quantum des Vorstellens = z, so. beträgt am Ende von t die Empfäng- lichkeit noch ff z. Ferner die Stärke der Störung sey = ß (hiebey denke man sich die Stärke, mit der ein sinnlicher Eindruck gegeben wird, also die Helligkeit einer Farbe, die Intensität eines Geruchs, eines Ge-

25*

^yg XI. Psychologie als Wissenschaft.

schmacks, eines Tons); auch bleibe ß der Kürze wegen unverändert: so haben wir die Gleichung

ß (ff z) dt = dz woraus z = ff (i e ßt)

In unendlicher Zeit wird z= <p} oder erreicht das fortdauernd an- wachsende Vorstellen sein Maximum.

Ungeachtet der physiologischen Dunkelheiten der sinnlichen Wahr- nehmung werden wir die eben gefundene Formel ferner zum Grunde legen. Sie enthält das einfachste Gesetz über den Anwachs eines gleich- artigen Vorstellens während der Dauer einer sinnlichen Affection, was wir annehmen können, wenn wir nicht diesen Anwachs der Zeit proportional glauben wollen. Dem widerspricht aber, nicht blofs der allgemein - meta- physische Grundsatz, dafs in jedem Wesen jede Selbsterhaltung, die aus dem vollkommenen Zusammen dieses Wesens mit einem andern Wesen hervorgeht, anzusehen ist als die Einheit und zugleich als das Maximum, wonach die minderen Selbsterhaltungen beym unvollkommnen Zusammen der nämlichen Wesen, abzumessen sind: - sondern auch die Erfahrung; welcher gemäfs, erstlich, zwar jede Wahrnehmung eine kleine Zeit erfordert, wenn das durch sie gewonnene Vorstellen einen endlichen Grad von Stärke unter den übrigen Vorstellungen erlangen soll; aber auch zweytens, eine Wahrnehmung, über eine gewisse mälsige Zeit hinaus ver- längert, keinen Gewinn für die dadurch entstandene Stärke des Vorstellens mehr spüren läfst. Beydes wird man durch die eben gefundene Formel ausgedrückt finden. Man bemerke noch, dafs aus derselben [3 1 9] die Stärke des augenblicklichen Anwachses des Vorstellens oder

dz

§ 95-

Aus dem Vorigen versteht sich von selbst, dafs eine Vorstellung, die nicht gerade die erste ihrer Classe ist, für das vorstellende Wesen, schon andere entgegengesetzte im Bewufstseyn antreffen wird; und dafs sie von der Hemmung durch dieselben zu leiden hat, schon während der Zeit ihrer allmähligen Erzeugung. Dieses ergiebt die wichtige Folge, dafs die successiv erzeugten Elemente des Vorstellens nicht vollständig verschmelzen können; dafs also die aus ihnen entspringende Totalkraft bey weitem nicht gleich kommt der ganzen Summe des Vorstellens.

Und hiemit haben wir nun den Gegenstand unsrer nächsten Unter- suchung. Es fragt sich nämlich: wie grofs ist am Ende der Zeit / der eigentliche Gewinn der Wahrnehmung, die aus den unendlich kleinen Ele- menten erwachsene endliche Stärke der gegebenen Vorstellung? Um dieses zu beantworten, müssen wir vor Allem den Verlauf der Hemmung des Wahrgenommenen während der Wahrnehmung, näher betrachten.

Zunächst ist die veränderliche Hemmungssuinme zu bestimmen. Die- selbe sey = >', so nimmt sie im Zeittheilchen d/, wegen der wirklichen

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 3&9

Hemmung ab um vdt. Sie nimmt aber auch zu um n ß (p e ß( dt, wenn 7i der Hemmungsgrad des Wahrgenommenen gegen die schon vorhan- denen Vorstellungen. Denn ßqe—ßt ist die Stärke des augenblicklichen Anwachsens 94), und es ist kein Zweifel, dafs die erst entstehende Vorstellung, welche, Anfangs wenigstens, die schwächste von allen ist, selbst mit in die Hemmungssumme eingehe; obgleich dieses weiterhin sich ändern kann. (Man vergleiche § 52.) Demnach

[320] di'=nß(fe~ ß*dt _ vdt

woraus v = -^-^ e~ ?f + Ce ~ *. 1 ß

Es können nun die früher im Bewufstseyn vorhandenen Vorstellungen beym Anfange der Wahrnehmung noch von ihrem statischen Puncte um etwas entfernt seyn*; alsdann ist für / = o nicht v = o, sondern v = S, wo ^ den Rest bedeutet, der von einer früheren Hemmungssumme noch vorhanden ist. Folglich

S~T^ß+C

und ,= ±I^.e-fl' + (S-^L)

1 ß \ 1 —<f)

e-ßt_e-t

Nur für ß = 1 ist = , daher

' 1 ß °

alsdann v = n ß q t e t -\- Se ~ t.

Das Hemmungsverhältnifs ist ebenfalls veränderlich; und zwar, wenn man die Sache genau nehmen will, auf eine höchst verwickelte Weise. Denn erstlich: die frühem Vorstellungen, noch in gegenseitiger Hemmung begriffen, sind in einem Mittelzustande angefangener und noch nicht vollen- deter Verschmelzung. (Vergl. §§ 68, 69 und 76.) Zweytens: diese Ver- schmelzung wird aufgehalten, und selbst vermindert, durch die hinzu- kommende Wahrnehmung, welche den Conflict vermehrt. Drittens: das Wahrgenommene ist eine veränderliche Kraft, die gegen d.ie Hemmung einen veränderlichen Widerstand leistet.

Unsre Aufmerksamkeit ist jedoch hier nur auf den letzten Umstand gerichtet; daher wir jene beyden ganz ignoriren, welches um so eher er- laubt ist, weil statt der schon geschehenen Verschmelzung die vorhandenen Vorstellungen etwas gröfser mögen gedacht werden; die während der Wahr- nehmung noch zunehmende Verschmeiß 2 ijzung aber kaum bedeutend seyn kann, eben wegen des vermehrten Conflicts.

Bey nahe stehenden Vorstellungen hätten wir auch noch die Ver- schmelzung vor der Hemmung in Betracht zu ziehn J2). Allein wir können gröfsere Hemmungsgrade voraussetzen, um auch diesen Umstand zu beseitigen.

* Dieses ist genau genommen immer der Fall, weil niemals die Hemmungssummen ganz sinken. Vergl. § 74.

^QO XL Psychologie als Wissenschaft.

Da wir nun blofs den veränderlichen Widerstand des Wahrgenommenen

ins Auge fassen: so sey die Kraft, welche dasselbe dem Druck der

Hemmungssumme entgegensetzt, vorläufig = x; alsdann läfst sich der Bruch,

welcher das von dem Wahrgenommenen zu hemmende Quotum bezeichnet,

c

durch ausdrücken, wenn c und c ein paar Constanten sind, die

ex -\- c

man aus den frühem Vorstellungen und den zugehörigen Hemmungsgraden

herleiten mufs. (Man vergleiche § 54, und daselbst für drey Vorstellungen

die Formel, welche das Gehemmte der schwächsten Vorstellung anzeigt.

Dieses ist = ; ,— , das dortige ab fr heifse hier V, das

bei -\- ac rt -j- ab fr

dortige be-\-arp womit die schwächste Vorstellung, dort c, hier x, multi- plicirt ist, wird jetzo durch c bezeichnet.)

Nun aber tritt die gröfste Schwierigkeit hervor. Was soll x seyn? Es wäre = z oder = q> ( 1 e~ ^ 0 , wenn am Ende der Zeit / alles während derselben Gegebene als eine Gesammtkraft wirken, und sich der Hemmung widersetzen könnte. Aber die Hemmung hat vom Anfang an das Wahrgenommene verdunkelt; sie hat nur eine mangelhafte Verschmel- zung des später mit dem früher gegebenen gestattet. Hätte sie jedes Element des Vorstellens, so wie es erzeugt war, auch vollständig auf die Schwelle des Bewufstseyns niederdrücken können, so wäre gar kein Wider- stand vorhanden, denn die Summe aller vereinzelten, unendlich kleinen Elemente, vermag gar nichts wider die vorhandenen endlichen Kräfte. Irgend etwas von Totalkräften mufs durch Verschmelzung jener [322] Elemente gebildet worden seyn. Aber wiederum nicht Eine Total- kraft; denn auch was schon verschmolzen war zu einer endlichen Gröfse, das mufste dennoch fortdauernd sinken, wenn schon während des Sinkens noch in stets vermindertem Grade verschmelzend mit dem Nach- folgenden.

Wir nehmen hier zu Gränzbestimmungen unsere Zuflucht. Nämlich x ist kleiner als z, aber gröfser als z Z, wenn Z das Gehemmte vom Wahrgenommenen am Ende der Zeit / bedeutet. Es wäre x = z Z, wenn blofs z Z verschmolzen wäre, und eine Totalkraft gebildet hätte. Wegen der vor Ablauf der Zeit / schon zu Stande gekommenen, aber unter sich nicht vollkommen vereinigten endlichen Kräfte, die einen eben so unvollkommen concentrirten Widerstand gegen die Hemmung leisten, mufs x etwas gröfser seyn, denn es soll sie alle repräsentiren. Indessen ist offenbar die Voraussetzung x = z Z weniger unrichtig als x = z. Nun würde die letztere Annahme geben:

V v dt

hingegen die erstere giebt

■■ + '

V vdt

= dZ

= dZ

c(z Z)-\-\ das heifst Vr d t = ezd Z cZd Z + \d Z.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. tqi

\rdt Nun läfst sich zwar r-r- =■ d Z am leichtesten integriren; allein

cz-\- i °

bey der minder richtigen Annahme wollen wir uns hier gar nicht auf- halten. *

Die Differential -Gleichung könnte Glied für Glied integrirt werden, wenn nicht czdZ bey gehöriger Substi[323]tution sich verwandelte in (fdZ = cq>e ßf dZ, in welchem letztern Gliede die veränderlichen Gröisen vermengt sind.

Verlangt man keine grofse Genauigkeit (dergleichen die Rechnung ihrer ganzen Anlage nach nicht zuläfst), so kann man in cye ßt d Z an-

"cvdt statt d Z setzen

c z -j- V Folgendes ist alsdann der Gang der Rechnung.

_ a f c v dt Erstlich mufs man cue " . - -— integriren. Durch Substitution

' cz-\- c

der Werthe für v und z entsteht hieraus

c n S(i e-2Pfdt . \ l—ß

c<r ~ ; zrtir + c<p

i—ß c(f(i —e-ßf)-\-'c c<p{i--e P*)'+\

d*' Es sev e ßt = x, woraus dt === - ; so folgt

1 ßx

e~2ßtdt xdx xdx

wenn r =

cq> + "c'

Das Integral, so genommen, dafs es für t = o verschwinde, ist

(c<p -f 7)_l r ' r2 * r—il

femer

ß

1

e>-(i + ß)*dt -xJdx

Cfp^j _>-£') _|_V ß («f +V0 (1 -->'xj Hier mufs für ß ein Werth in Zahlen angenommen werden. Es sey ß = . So wird das Integral 2

C(P ~\~ c

2 1 x 1 1 rx 1

2 r ' r2 ' r3 ö r I

* Schon im dritten Heft des Königsberger Archiv für Philosophie u. s. w. habe ich die gegenwärtige Aufgabe behandelt, und dort die Rechnungen ausführlicher als liier dargestellt, auch einige Erörterungen und Folgerungen umständlicher entwickelt; indessen wolle man lieber die neue Bearbeitung in der Abhandlung: de attrntionis »nnsur«, vergleichen.

39;

XI. Psychologie als Wissenschaft.

Nach dieser Vorbereitung nehme man die ganze vorgegebene Diffe- rentialgleichung. Sie ist

^^Le-ßtdt + \{s-^L\e-tdt = I ß ~ \ I ßj

(c (f, _|_ V) dZ—cye-^dZ— cZdZ. [324] Danun//?^~^^=i-^ und / e~ fdt= 1 x2, (das letztere wegen ß = —); so kommt

(^, + Y>Z- i-,#_

2Vrrr/) (1 *)-{-V (5 n(f) (l x2)

1

-J- 2 VyTf|;

1 r#

(^ 1 ) H log.

r r -

x2

- + -

-j- 2 ^C (S 7l(f)

oder nach Weglassung dessen was sich aufhebt:

ZI + 1 A* . ^

r ' r2 r 1 J

2 c r

1 5— Ä9^ 1 1 Tief -f - -I log.

2

rx

(S 71 (f) ( I X)

Um Beyspiele zu berechnen, setzen wir zuvörderst y=io (obgleich eigentlich q> als Einheit zu betrachten, die aber durch ihren zehnten Theil gemessen werden mag), auch sey c = io, V = 25 (welche Zahlen man unter andern erhalten kann, wenn man ein paar frühere Vorstellungen a und 3, jede = 5, und alle Hemmungsgrade gleich annimmt), endlich 5=i, n = 1 ; so wird

■T_|_V=i25; -^=5;r = -f; = 62,5; 5 7ty = 9;

,5 TT«) 1 rx c<p ,

na 4 = 1,25 ; -=5—4*; endlich = 4, und log.

' r 1 r c

nat. 4= 1,38629... Demnach wird die Formel:

Z2 2s Z=i 2,5 [1,25 log. (5 4*)— 9(1 *)].

Man sieht sogleich, dafs für / = 00 , Z einen endlichen, sehr mäfsigen Werth erlangt. Derselbe ist = 4,199 .. . Aber diesem Werthe nähert sich Z sehr bald. Schon für t = 3 ist Z = 2,964 . . . Für / = ^-findet sich Z= 0,1085.

In der ersten der oben angeführten Abhandlungen habe ich aus der

Kcvdt .

Differentialgleichung, ohne dZ= in dieselbe zu setzen, aut eine

cz -j- C

hie von ganz verschiedene, sehr mühsame Weise, ein kleines Täfelchen be- rechnet, worin die zusammen gehörigen Werthe von z, Z, und z Z sich bey einander finden. Es ist folgendes:

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

393

[325]

' 2

*■-*

*-'- 7

ß = 1

•S" = 3.125

S = 0

5 = 1

•S" = 3,125

71 = 0,78l25

TT = 0,78125

n = 1

n = 0,78125

2

2 = 2,2119

Z = 1,3824

2 = 2,212

Z = 0,253

0 = 2,212 Z = 0,652

2 = 3,93 Z = 1,24

0,8295

1.959

1,560

2,69

t = I

* = 3.9347 Z = 2,4592

^ == 3,935

Z « 0,671

* = 3,935 Z = 1,330

2 = 6,32 Z = 2,12

L4755

3,264

2,605

4,20

/ = 2

z = 6,3211

z = 6,321

2 = 6,321

z = 8,65

^ = 3.95°7

Z = 1,390

Z = 2,530

Z = 3,21

2,3704

4,931

3,791

5,44

' = 3

z = 7,7686

z = 4,8554

2 = 7,77 Z = 1,89

2 = 7.77 ^ = 3.33

2 = 9,50

z= 3,71

2,9132

5,88

4,44

5.79

t = 4

2 = 8,6466

Z = 5.4041

2 = 8,65 Z = 2,20

2 = 8,65 Z = 3,84

z = 9,81 Z = 3,92

3,2425

6,45

4,81

5,89

/ = 00

2 = 10

z = 10

2 = 10

2 = 10

Z = 6,25

Z = 2,7

Z = 4,64

Z = 4,1

3,75

7.3

5,36

5.9

Zu diesem Täfelchen, welches unter den oben erwähnten Gränz- bestimmungen diejenige ergiebt, die der Wahrheit am nächsten kommt, gehört noch folgendes, minder vollständige, zur Andeutung der andern

Gränze, aus dZ - .

cz -f- c

[326]

f-T

*-T

1 2

= 1

■S = 3,125

5 = 0

6' = 1

S= 3,125

71 = 0,78l25

71 = 0,78125

71 == I

TT = 0,78l25

2

Z = 1,138

Z = 0,244

Z = 0,599

Z = 1,066

/ = I

Z = 1,845

Z = 0,614

Z = 1,180

Z = 1,756

/ = 4

Z = 3,486

Z = 1,918

Z = 2,957

z = 3.177

/ r= 00

z == 3.915

■? =3? 2,334

Z = 3.494

Z = 3.333

->q i XI. Psychologie als Wissenschaft.

Vergleicht man mit beyden Täfelchen die vorhin gefundenen Werthe

von Z. so sieht man, dafs dieselben zwischen den Gränzen liegen; wie

natürlich, indem bey der hier gebrauchten Methode beyde Gränzen, ver-

\vdt

möge der gemachten Substitution, dZ = :— -, gewissermaalsen ver-

00 cz -\- c

mischt worden.

Diese Methode giebt also wahrscheinliche Werthe; nur ohne Be- stimmung, wie weit man fehlen könne. In Hinsicht der letztern, und überhaupt wegen der sorgfältigem Behandlung dieses Gegenstandes, be- ziehe ich mich auf die angeführte Abhandlung.

§ 9ö. Man kann fordern, die Gröfse ß solle veränderlich seyn, d. h. die Wahrnehmung solle an Stärke zu- oder abnehmen. Nur kurz wollen wir diesen Gegenstand hier berühren.

In der Gleichung ß (ff z) dt = dz (man sehe § 94), sey ß = t't, eine Function der Zeit; so kommt

dz + z/t dt = ffftdt woraus z = e— fftdt . (/ e fftdt (fftdt -f C). Nun kann man überlegen, welche Form man der Function von / geben wolle, damit nicht schon diese erste Integration erschwert werde.

Es sey ft f- -, welcher Form man durch Ab[32 7]änderung

m -j- 71 1

der Werthe von p, ?n, n, mannigfaltige Bedeutungen geben kann. (Die Buchstaben p, m, n, haben hier nicht mehr die Bedeutung, wie im vorher- gehenden §.) So ist / // dt = log. (m -f- nt) und

P_ P_

efftdt = {m _)_ „/) "; ferner (ff efftdt ftdt == (f (vi -\- nt) n>

( \

" . [cf (m + «/)«+ Q)

daher z == (m -\- nt)

_ L = (p -\- C (m -f- nt) n oder endlich, damit z = o für / = o,

z = y \i mn . (m -f nt) n)

nt

für p = n wird hieraus z = a< . :

T m -\- nt

mint 4- n2 12

für p = 2n wird 2 = a . —. -^ -r— -, u. s. w.

(m -\- nt)2

Wird / = 00, so ist ß = , und z gelangt zu seiner Gränze

n 00

= <f. Das Gesetz der abnehmenden Empfänglichkeit bewirkt,

dafs bey verminderter sowohl als bey gleichbleibender Stärke

der Wahrnehmung in unendlicher Zeit doch einerley Quantum

des Wahrgenommenen herauskommt.

Dntter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. ?gr

Soll aber die Stärke der Wahrnehmung wachsen: so mufs n negativ

P

seyn. Alsdann gilt die Formel ß = , nur bis m = n t, oder

m -}- nt

m

bis / = , wofür ß unendlich wird. Es kann aber in grofs genug

genommen werden, damit diese Zeit sich erstrecke so weit man will.

Setzt man nun p = n, so wird z = -£-=—. Für /=

m n p

({ P ist wiederum z = a. Zugleich ist dz = dl. Demnach : unter der

tn

jetzigen Voraussetzung erreicht z [328] seine Gränze in einer endlichen Zeit, und sein Differential ist constant. Wir haben also hier auch rück- wärts dasjenige Gesetz der anwachsenden Stärke der Wahr- nehmung gefunden, vermöge dessen, ungeachtet der abnehmen- den Empfänglichkeit, das Quantum des Wahrgenommenen der Zeit proportional bleibt.

Erneuern wir nun die obige Frage nach dem Verlauf der Hemmung des Wahrgenommenen während der Wahrnehmung: so ist allgemein

dv = np(f--m n (m + nt) v " ' dt vdt

( L -(- + ■)

v==e—t\fet,np (f m n (jn _|_M/) \n I dt - - Cj

P Man setze 1- 1 = g, so kömmt es nun darauf an, et (m -X-n{\ qdt

zu integriren. Zur Umformung sey ef = x, so bekommt das Differential

diese Gestalt:

Es ist d folglich ^

(m -\- n log. x) ? '

x dx an dx

(in -\- n Ix) « {tu -j- n Ix) « (in -\- nix) a -\- 1 dx 1 x 1 r dx

x 1 r

n-lx)a an J (

(m -\- nix) « + 1 an ' (tn -\- n-lx)a an J (111 -\- nix) «

Hieraus kann eine Reductionsformel gebildet werden, die bis « = 1 herabläuft. Und

dx 1 m . m

e li . e "1 e

m-\-nlx n n n

Hier bedeutet li so viel als Integrallogarithmus*; und es ist

/dx . Die eben angegebne Formel findet man auf folgende

Weise: Es ist

* Von den Integrallogarithmen sehe man Soi.DNER's theorie et tables d'une nouvelle fonction transcendante, ä Afunic. 1809; und Herrn Professor Bessel's Aufsatz im ersten Stück des Königsberger Arclnv's für Naturwissenschaft und Mathematik.

9g5 XI. Psychologie als Wissenschaft.

r dx r et dt i f et dt .

n 2 q\ / ; =- = I : = / ; und es ist zugleich

J m + nlr J m + w/ n J m i

w 4- 2 «* ' m

~ + t en dt et dt

d .li .e n =- = e

m . m .

-.+ / - + /

n 71

Doch genug um ermessen zu lassen, in welche Schwierigkeiten sich die Berechnung von Z und z Z für abnehmende Stärke der Wahr- nehmung verwickeln würde. Hingegen der oben bemerkte Fall der zu-

(fpt nehmenden Stärke , wo z = - , ist leichter zu behandeln. Für diesen ist

m

n qp dv = f— dt vdt, m

m

Um nun der Differential - Gleichung \vdt = czdZ cZdZ -\-"cdZ

einen bequemen und wahrscheinlichen Ausdruck abzugewinnen, setzen wir,

c v dl

wie vorhin, in c z dZ wiederum dZ -— ; und suchen zuerst Je z dZ.

ez-\- e

. , ...... , .- ^l)e-')äl

cz . cvdt \ 7ii \ ml I Es ist j-r— = -. : wovon das

c "' ftf + v)

_ e\n<f2p2tdt , . , . _

erste Glied : ; r- leicht zu integnren ist. Denn

M-I-+(*

m

(cypt -\-m c

I.

ltdt \t v

los.

fll-\-V [u (l2 (.lt-\-V

welches = o für / o. Mehr Mühe macht das zweyte Glied

Scypis ltlz\ e ttdt

ceppt -\- nie

te tdi Denn die Form führt auf Integrallogarithmen.

r -i twt ,. , te tdt . ., i te—tdt 330 Nämlich anstatt , schreibe man zuvörderst . .

Nun ist ferner

tli . e \ el=dtU.e~\il

d.tli.e~~\ ' tl =dlU . e~~\ ' e / -{- e ~ T . iLll—

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 397

,■"-">' tL -('+t) „„. A' + t)

also /- = ' L"'-' •l—fitk.t

J t 1—

Die Exponentialgröfse * \ * ' e \ c<fP! ist äufserst klein, sobald man, um i nicht in zu enge Gränzen einzuschliefsen , m einiger-

m

maafsen grofs nimmt (indem nach dem obigen / höchstens = ). Aber

die Integrallogarithmen ganz kleiner Gröfsen verstatten einen sehr bequemen

/' dx x f dx

abgekürzten Ausdruck. Es ist allgemein U . x = I -- _j_ _j_ / -^- ;

eine Auflösung, die man beliebig fortsetzen kann, und wobey für kleine x allemal das am Ende zurückbleibende Integral viel kleiner seyn mufs, als die entwickelten Glieder. (Man stelle sich, wie schon Herr Soldner

erinnert, die Differentiale - - , -J— , -y*-, u. s. w. als Differentiale einer

Ix {Ix)2 (lx)i

I I Fläche vor, welche bestimmt wird von den Ordinaten , . u. s. w.

so ist offenbar die Fläche /— für ein kleines x eine sehr kleine negative

J Ix

Gröfse; aber / * ist noch viel kleiner, und kommt neben -, wenig J (/*)* lx

oder gar [331] nicht in Betracht.) Es sey nun e 6 =y, daher

(-I = dt, so ist f dtli . e ^ E' = / H . y. Setzen wir hier

y y

abkürzend li . y = —-, so haben wir / -y- oder li . y ; und dem

ly ty

zufolge

/

ie t dt ee —■(' + -)

= . (t -\- 1) li. e \ «/

worin, wie bekannt, ( = Cq>pt und t] = vic. Auch ist noch mit c'ccfp IS : j zu multipliciren, um das zweyte Glied von fczdZ

zu haben.

Jetzt ist /"er dt zu bestimmen. Und es findet sich

revdt = ^^- (t 4. e - *) - KcSe-t

m

Zusammen genommen ergiebt sich

398

XI. Psychologie als Wissenschaft.

UZ?

2

vz=

\S{e t i)

' 71 (f'P

m

+

c Cny 2p

vi

+

cyp c 'f2p

log-

0

VI c

Capt-

in c

+ V 5

?rqp/

(/+!)//.«

c9/ _

/z'.<?

17 <Pl>

Zum Gebrauche dieser Formel bedarf es zuvörderst einer Bemerkung

über die Gröfse S. Nämlich die Stärke der Wahrnehmung, oder

p ...

ß = , ist während des gröfsten Theils der Zeit sehr gering,

tn pt

wenn vi grofs ist gegen p. Allein im Anfange der Wahrnehmung, also

für t = o ist das Gehemmte = Sdt\ während das Wahrgenommene

= ßydt. Jenes darf nicht gröfser seyn als dieses, also S nicht > ßy.

Soll daher das Wahrgenommene von Anfang an zum Theil verschmelzen,

und eine endliche Gröfse erlangen, so mufs bey der jetzigen Untersuchung

S entweder sehr klein, oder = o genommen werden. Der Kürze wegen

geschehe hier das Letz[332]tere. Auch sey p = i, und vi = ctp; über-

y

dies werde bey den Integrallogarithmen die obige Abkürzung h'.jr=

angewendet; so können wir die Formel auf folgende Weise zusammen- ziehn :

Z*

2 C

Z =

2ir c

+ V log.

+

/-f V

Setzt man, wie oben, (f = io, c = io, c = sich zusammen :

für t = i für t = 4 für t = io

Z = 0,1 3 = 0,4 2=1

Z = 0,036 Z = 0,294 Z = 0,91

('+!)«

/ + \

t

25-

7i 1 ; so findet

für t = 15

^ = i>57 0,07.

0,004 0,106 0,09

Offenbar ist der letztere Werth von Z unbrauchbar, denn das Ge- hemmte kann nicht gröfser seyn als das Wahrgenommene. Aber er ver- räth, dafs irgendwo der Rest des Wahrgenommenen ein Maximum hatte, und weiterhin = o wurde, ungeachtet die Summe der elementarischen Wahrnehmungen nicht blofs zunimmt, sondern sogar die Stärke der Wahr- nehmung im Wachsen begriffen ist. Dies erklärt sich aus der vermehrten Spannung der entgegenwirkenden Vorstellungen. Rückwärts, aus der an- fänglich äufserst geringen Spannung der letzteren ist einzusehn, wie es überhaupt möglich war, dafs bey den angenommenen Gröfsen noch irgend ein positives z Z herauskommen konnte. Der Annahme c = IO, \ = 25, entsprechen ein paar gegenwirkende Vorstellungen a und b, jede = 5 ; aber die Stärke der Wahrnehmung, oder ß, ist bey / = o,

nur ; bey t = 1 5 noch nicht mehr als

85'

* Die Untersuchung dieses § gebe ich unvollendet, wie sie ist; weil sie, ohne mir besonders wichtig zu seyn, Andre veranlassen kann weiter zu gehn.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

399

§ 97-

Die Untersuchungen des zweyten und dritten Capitels beruheten auf der Voraussetzung, dafs eine neue [333] Vorstellung plötzlich zu den schon vorhandenen hinzutrete. Diese Voraussetzung kann der Wahrheit nahe kommen, da, wie wir jetzt sehen, bey etwas bedeutender Stärke der Wahrnehmung eine sehr geringe Zeit hinreicht, um eine mäfsig starke Vorstellung entstehen zu machen. (Man setze z. B. im § 95, ß = 3, oder gar = 10; und man wird sehen, wie wenig Zeit nöthig ist, damit sich eine Stärke des Vorstellens erzeuge, die den Beyspielen des zweiten und dritten Capitels entsprechen könne. Es versteht sich, dafs hier von Verhältnissen der neuen Vorstellung gegen die vorhandenen die Rede ist, da wir für das, was Wenig oder Viel sey, keinen andern Maafsstab haben; was aber das Zeitmaafs anlangt, so wird darüber erst im zweyten Theile etwas können gesagt werden, woraus zu erkennen ist, dafs man sich die Zeit-Einheit, im Vergleich mit unsern Minuten und Secunden, als eine nicht ganz kleine Gröfse zu denken hat.)

Es kann aber auch begegnen, und begegnet meistens, dafs eine schwächere Wahrnehmung erst durch längere Dauer eine Vorstellung zu ihrer Energie erhebt; und alsdann entsteht die Frage, welche Abände- rungen daraus für jene früher betrachteten Ereignisse entspringen?

Zuvörderst, dasjenige Sinken der schon vorhandenen Vorstellungen, welches die Hemmung des Wahrgenommenen begleiten mufs, ist aus den vorhergehenden Formeln leicht zu berechnen. Die ganze Hemmungssumme war = »', das Gehemmte in jedem Augenblick = rdt\ das Gehemmte am Ende der Zeit / ist =fvdt; folglich fvdt Z ist dasjenige, was von den früher vorhandenen Vorstellungen zusammengenommen gehemmt wird, und welches man nur nach den Hemmungsverhältnissen vertheilen mufs, um das Sinken jeder einzelnen von diesen Vorstellungen zu be- stimmen.

Ferner, hieraus ergiebt sich auch das Gesetz für eine, dem Wahr- genommenen gleichartige, ältere Vorstellung, die sich jetzo, da sie von der Hemmung frey wird, wieder ins Bewufstseyn erhebt. Wir verweilen hie- bey we[334]nigstens in so fern, als nöthig ist, um den Anfang dieser Wieder -Erhebung kennen zu lernen, der sich nach § 82 verhält wie das Quadrat der Zeit. Die dortige Formel (x y)dt=dy wird uns auch hier leiten; jedoch ohne Rücksicht auf die im § 84 erwogene, schwer zu berechnende, aber ziemlich unbedeutend gefundene, Wirkung der Ver- schmelzungshülfe. Auch werde eine gleichförmig beharrende Stärke der Wahrnehmung vorausgesetzt, also die Rechnung an jene des § 95 an- geknüpft.

Hier nun würden wir auf jeden Fall die Formel für Z viel zu ver- wickelt finden, um sie in einen fernem Calcül einzuführen, böte sich nicht ein Abkürzungsmittel dar. Man habe nämlich eine Reihe berechneter Werthe von Z vor sich, etwa wie das Täfelchen jenes § sie angiebt. Als- dann ist leicht zu erkennen, dafs Z sich nahe durch 2 ausdrücken läfst; wenn man die Zeit t nicht zu grofs nimmt; hier aber kommt es uns blofs auf den Anfang der Zeit an. Es sey Z = C -J- az -J- Kbz2. So ist gewifs

400

XI. Psychologie als Wissenschaft.

C = o , denn Z und z sind zugleich = o. Man braucht also nur ein paar berechnete Werthe von Z nebst den zugehörigen z, um hieraus die nöthigen Constanten "a und "b zu bestimmen, so wird die Formel sehr nahe auch die zwischenfallenden Werthe von Z aus den ohne Mühe zu findenden z herleiten helfen.

Dies vorausgesetzt, so ist nun / vdt "az b"z2 an die Stelle jenes x im § 82 zu setzen, das die Entfernung desjenigen Punctes, wohin y strebt, von der Schwelle des Bewufstseyns , bezeichnete; indem y, das Hervor- tretende der älteren Vorstellung, sich gleichsam in dem Räume auszu- dehnen strebt, welcher frey wird durch das Zurückweichen der Kräfte, von denen es gehemmt war. Und so haben wir nun anstatt (x y)dt = dy

folgende Gleichung:

az

sbz2 y) dt = dy.

{/vdt Zuerst folgt hieraus

y = e * f et \_fvdt "az = "bz:]dt. [335] Man nehme nun v aus § 95; nämlich

» + (*-*$

daher f v dt

71 q

ß

71 ßq

{i-e-P^ + lS

nßq>\g_t

l-ß.

71 ß q

c

'),

ferner z = q (1 e &*), also

"az^-"bz2 = "aq~\-"bq2 (aq -f 2"bq2)e~ ^ Hieraus wird nach gehöriger Rechnung:

y =

TT ff

l-ß

+ s-

Tißq l—ß

tW

= "bq2>

- bq2

TT (f

(!-'-") +

aq -\- 2"bq2

(«"

2ßt _

()

l-ß

s

.{e-Pt-e-t)

nßq

te

t

l 2ÖX \ l ß)

Es verlohnt sich, diesen Ausdruck in eine Reihe zu entwickeln, um zu sehen, wie die verschiedenen Potenzen von t mit ihren Coefficienten nach einander bedeutend werden. Es ist (?— e-t)=*t -p+ \p- ...

e-ßt_e-t=(i-ß)t-^(i -ß*)t2+-\(i -/?3)/3_... e - 2ßt e-t = (l - 2 3)t-±. (, 4^>)^4-i(i— »/»»)* ...

te - t = t t2 + V . .

Man sieht nun sogleich, dafs der Coefficient von t bey gehöriger Zu- sammenfassung = o wird. Um den zweyten Coefficienten näher kennen zu lernen, mufs man zu der Annahme: Z = "az -}- "bz2 zurückgehn. Aus derselben ist dZ (a = 2"bz)dz, also für t = o ist dZ = "adz. Aber

aus der Grundformel ^— , === dZ ist für /= o, dZ = vdt =Sdt,

c{z-Z)+c

iZ

und ebenfalls für i = o ist dz = ß q dt- daher , = "a = -

r ' dz ßq

Ver-

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

401

mittelst dieser Substitution wird auch der zwevte Coefficient = o. Es lieben sich unter einander alle Glieder desselben, welche £ enthalten; ferner alle, welche ,7, und endlich alle, die b </ 2 enthalten.

[330] Erst der Coefficient für ß bekommt einen realen Werth. Da- mit ist der merkwürdige Satz bewiesen, dafs die Bewegung der wieder hervortretenden Vorstellung sich Anfangs verhält wie der Cu- bus der Zeit; so dafs sie weniger scheinen mufs hervorzutreten als vielmehr hervorzuspringen.

Es ist übrigens sehr natürlich, dafs durch eine fortdauernde Wahr- nehmung, die ihr gleichartige ältere Vorstellung mehr hervorgeschnellt wird, als durch den Stofs, welchen eine plötzlich hinzukommende, dann gleich von der Hemmung ergriffene, neue Vorstellung, auszuüben vermag. Aus dem Stofse erfolgt eine im ersten Zeittheilchen schnellere, aber nicht so sehr beschleunigte Bewegung (obgleich auch da noch eine Beschleuni- gung statt findet, da wir oben sahen, dafs die Bewegung sich Anfangs nach dem Quadrate der Zeit richtet). Die eben gefundene Erhebung der älteren Vorstellung, gemäfs dem Cubus der Zeit, geht in den ersten Zeit- theilchen langsamer, weil die hervorrufende Wahrnehmung sich nur all- mählig bildet; jedoch bald um so geschwinder, weil jeder Augenblick die Begünstigung vermehrt, vermöge welcher die zuvor unterdrückte Kraft sich jetzo in einem freyern Räume ausbreitet.

Sechstes Capitel.

Ueber Abnahme und Erneuerung der Empfänglichkeit.

§ 98.

Jedes Continuum möglicher Vorstellungen ist zugleich ein Continuum möglicher Selbsterhaltungen der Seele. Und zu solchen Vorstellungen, die unendlich nahe sind, gehören Selbsterhaltungen fast von völlig gleicher Art, deren [337] eine also nur eine unendlich geringe Modification der andern ist. Etwas entfernteren Vorstellungen entsprechen minder gleich- artige Selbsterhaltungen, doch nicht eher als beym vollen Gegensatz der Vorstellungen können völlig verschiedene Selbsterhaltungen Statt finden.

Um dieses gehörig zu verstehen, bedenke man, dafs Selbsterhaltungen der Seele, und Vorstellungen, völlig Eins und dasselbe sind, nur in verschiedenen Beziehungen ; ungefähr so wie Logarithmen und < Potenz- Exponenten.

Durch das Wort Vorstellungen deuten wir zunächst auf das Phänomen, sofern es sich im Bewufstseyn antreffen läfst : hingegen der Ausdruck Selbsterhaltung der Seele, bedeutet den realen Actus, der un- mittelbar das Phänomen hervorbringt Dieser reale Actus ist nicht Gegen- stand des Bewufstseyns, denn er ist die Thätigkeit seil ist, welche das Be- wufstsevn möglich macht. So gehören Selbsterhaltung der Seele und Vorstellung zusammen wie Tlnin und Geschehen.

Herbart's Werke V.

26

402 XL Psychologie als Wissenschaft.

Dies vorausgesetzt: so ist offenbar, dafs die Abnahme der Empfäng- lichkeit, deren Gesetz im vorigen Capitel angegeben wurde , sich nicht blofs auf völlig gleichartige , sondern auch auf zum Theil ungleichartige Vorstellungen erstrecken mufs. Eine Selbsterhaltung, sofern sie schon vollzogen ist, und fortdauernd geschieht, kann nicht noch einmal geschehn : darauf beruht die Abnahme der Empfänglichkeit. Folglich, wenn eine Selbsterhaltung oder Vorstellung der andern zum Theil gleich- artig ist, so wird durch die erste auch die Empänglichkei t der andern zum Theil erschöpft. Hieraus haben wir nun die näch- sten Folgerungen zu ziehen.

Zwey Wahrnehmungen des nämlichen Continuums können entweder gleichzeitig statt finden, oder einander nachfolgen.

Sind die gleichzeitigen zum Theil gleichartig (wie roth und violett, oder wie ein paar Töne der nämlichen Octave), so ist die Empfänglich- keit, die sie erschöpfen, [338] zum Theil die nämliche. Man mufs hier die Zerlegungen der Vorstellungen in Gleiches und Entgegengesetztes (nicht in der Wirklichkeit sondern im Denken) wieder anwenden, die schon oben in den §§67, 71, ~t2 vorkamen. Sofern die Wahrnehmungen gleichartig sind, in so fem geschieht in beyden nur einerley Selbsterhaltung, Anfangs mit verdoppelter Intensität; die aber nur um so schneller abnimmt, je stärker sie im ersten Beginnen war. Hingegen wiefern die Vorstellungen einander entgegen sind, in so fern liegt in den Selbsterhaltungen etwas Verschiedenartiges; dieses beginnt mit geringerer Intension, und die Ab- nahme der Empfänglichkeit kann in Hinsicht dessen nicht so schnell fort- schreiten. Daraus folgt, erstlich, dafs die Quantität des Vorstellens, gleich- sam die Masse desselben, minder grofs ausfällt, als sie seyn würde, wenn jede der beyden Vorstellungen besonders, und mit unversehrter Empfäng- lichkeit gebildet werden könnte. Zweytens, dafs des Gleichartigen für beyde zusammengenommen, verglichen mit dem Entgegengesetzten, verhältnifs- mäfsig weniger ist, als in der Summe beyder seyn sollte, wenn sie ab- gesondert entstanden wären. Drittens : nichts desto weniger sind bevde Vorstellungen genau die nämlichen , die sie abgesondert seyn würden. Denn des Gleichartigen entsteht während der gleichzeitigen Wahrnehmung beyder Vorstellungen nur in so fern weniger, als es schon vorhanden ist; vorhanden als Gemeingut für beyde Vorstellungen in der Einen Seele, und hinreichend vorhanden, damit bevde Wahrnehmungen in ihrer eigcn- thümlichen Qualität fortdauern können.

Hier mufs man zurückrufen, was schon im § 72 bemerkt wurde. In den Rechnungen, welche sich auf das Verhältnifs des Gleichartigen zum Gegensatze in ein paar Vorstellungen, beziehn, kommt das Gleichartige nur als Eins in Betracht, wenn es schon in beyden Vorstellungen, und also zwevmal vorhanden ist. Denn Gleichartigkeit ist nichts was einer Vor- Stellung allein zukäme : sie liegt blofs in dem Grade von Einerleyheit eines man[33ö]nigfaltigen Thuns in der Seele. Eben darum auch ist es in dieser Hinsicht einerley, ob eine der beyden Vorstellungen stärker oder schwächer seyn möge: wovon sonst auch das Quantum des Gleichartigen, im V ergleich mit dem Entgegengesetzten, abhängen müfste.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

403

Nur wenn von der Masse der Kraft die Rede ist, welche jene bey- den, in gleichzeitiger Wahrnehmung entsprungenen Vorstellungen, einer andern Kraft im Bewufstseyn entgegenzustellen haben, dann kommt es in Betracht, wie grofs die Stärke sey, die ihnen beyden zusammen, als einer unzertrennlichen Einheit, angehören möge. Diese Kraft wird, nach den eben aufgestellten Sätzen, gröfser ausfallen wenn die Vorstellungen weniger gleichartig sind. Allein es ist nicht aufser Acht zu lassen, dafs die minder gleichartigen, also mehr entgegengesetzten, sich schon während der Wahr- nehmung um so mehr hemmen, daher die Elemente der Wahrnehmung sich weniger zu Totalkräften vereinigen können. Dieser Umstand mag sich mit jenem ungefähr aufheben. Es könnte hierüber eine Rechnung angestellt werden, die den Berechnungen des vorigen Capitels analog seyn würde, und die wir eben deshalb hier übergehen.

Eher mag es sich verlohnen, über successive Wahrnehmungen in Rechnungen einzutreten.

Die Wahrnehmung z' gehe voran der Wahrnehmung 2"; ihr Hem- mungsgrad sey =1 «, damit wir den Grad der Gleichartigkeit u setzen können. Man denke sich 2 " = u -\- a> , so , dafs u das Quantum des Gleichartigen, was die Vorstellung 2" enthalten wird, hingegen ta das Entgegengesetzte bedeute. So bieten sich folgende Gleichungen dar: (//• z') u\ ßdt— du; [(1 «) (j to] ßdt = dto

Nämlich die Empfänglichkeit </ zerfällt in die Theile aq, und (1 u) y,. sofern 2" zerlegt wird nach u und 1 «; aber die Empfänglichkeit utf ist vermindert um z" , sofern darin Gleichartiges mit 2" liegt, d. h. um az'. Wie zuvor bedeutet hier ß die Stärke der Wahrnehmung, die wir als beständig ansehn, daher ß als eine Constante zu behandeln ist.

Aus den beyden Gleichungen ergiebt sich

u = a (r^ 2') (1 e ßl ; m = (i «) r/> (1 e ß{) u -4- (( = z" *= (cp uz) ( 1 e ß*) welches letztere Resultat sich vorher sehn liefs, da z = </ . (1 e—§1) nach § 94.

Es folge weiter eine dritte Wahrnehmung =2"', die wir in Gleich- artiges und Entgegengesetztes auf doppelte Weise zerlegen müssen; sowohl im Vergleich mit 2' als mit 2". Zur Erleichterung führen wir noch die Voraussetzung ein, dafs alle drey Vorstellungen in der gleichen Linie liegen (wie in der Tonlinie), oder dafs ihre Verschiedenheit blofs auf dem Mehr oder Minder des Gegensatzes beruhe. Alsdann läfst sich z" selbst durch eine Linie darstellen, die man nur nicht für eine Darstel- lung des linearischen Continuums halten mufs, von welchem z" ' sowohl als z" und z' nur einzelne Puncte sind.

7 1

« I u

Die ganze Linie bedeutet die Vorstellung z " '. Ihre Qualität sey in Rücksicht auf 2' zu zerlegen in Gleichartiges =v« und Entgegengesetztes = 1 \< ; in Rücksicht auf 2" aber in Gleichartiges == y und Entgegen- gesetztes = 1 y. Das Gleichartige = y zerfällt in gemeinsam Gleich- artiges = u und in besonderes Gleichartiges y u. Daher sind eigent-

26*

404 -^- Psychologie als Wissenschaft.

lieh drey Theile vorhanden, nämlich u, y a und 1 y; auch ist yz" = uz' -[" (7 \t) z". In Rücksicht auf den Theil a ist nun an der Empfänglichkeit für z' " nicht nur durch z' sondern auch durch z" etwas verloren gegangen; nämlich zusammengenommen uz' -\- "uz". In Rück- sicht auf den Theil y sa ist nur verloren (y s<z)z". In Rücksicht auf den dritten Theil 1 y ist die Empfänglichkeit noch unversehrt. Daher folgende drey Gleichungen, worin die drey quantitativen Theile von 2, welche dem u, y K<z, und 1 y entsprechen, mit u, v, «, be- zeichnet sind: [341] [_« (<jp 2' z") u\ ßdt = du;

[(/' V«) {'f 2") ''] ßdt = dv; [(1 y) 7 w] /W/ = <A</. Woraus nach der Integration u -j- v -\- 10 oder

III / \ I H\ / 3 4.

z = (rp «s yz ) (1 « pf). Für eine vierte Wahrnehmung z"" findet man

z = (f/> «2 yz dz ) (1 e—pt) und so läfst sich die Reihe ohne Mühe fortsetzen.

Substituirt man die Werthe von z , z", z" , und setzt für einen be- stimmten Zeitabschnitt (1 e ßt) = f, so kommt

z (f f

z" = <p (/■ - aP)

z" = 9 (/ - + 7) f2 + r«/"3)

z"" = 9) (/■ - + V + 0)/2 + («V + W + yd) f* - aydß) u. s. f.

§ 99-

Verwandt hiemit ist folgende mehr verwickelte Aufgabe: Eine Wahr- nehmung durchlaufe unabgesetzt und im gleichförmigen Zuge ein Continuum von Vorstellungen; es soll das ganze Quantum des hiedurch entstandenen Vorstellens gefunden werden.

P 1 -| Q

M R

Hier soll nun die Linie PR nicht, gleich jener vorhin gebrauchten Linie, eine einzige Vorstellung, sondern das zu durchlaufende Continuum möglicher Vorstellungen bedeuten; und zwar das ganze Intervall zwischen zweyen solchen Vorstellungen, die im vollen Gegensatze stehen. R sey fürs erste ein fester Punct an einer beliebigen Stelle. M dagegen ein Punct, der von P nach R hin vorrückt. Auch sey PQ = A, MR = x, RQ = m. T sey die Zeit, in welcher von der wandelbaren Wahrnehmung das ganze Intervall A durchlaufen wird. Während der veränderlichen Zeit / sey der Raum PM = [342] A x m durchlaufen. Wegen gleichförmiger Bewegung ist nun

/ : T = (A x m) : A

x = A f I J m.

In dem Zeittheilchen dt, während welches die fortrückende Wahr- nehmung sich im Puncte M befindet (d. h. diejenige Vorstellung hervor-

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

405

bringt, welche in dem ganzen Continuum die Stelle M einnimmt), wird zugleich ein Quantum von R gegeben (nämlich von der Vorstellung, wel- cher die Stelle R zukommt). Denn R hat gegen M den Hemmungsgrad x, folglich mit ihm einen Grad der Gleichartigkeit =1 x) oder A x, in so fem die Einheit der Gleichartigkeit denselben Ausdruck ihrer Gröfse bekommt wie die Einheit des Gegensatzes. Da dieses in allen Zeittheilchen Statt gefunden, während welcher das von P ausgegangene Wahrnehmen bis zu der jetzigen Stelle gekommen ist; so giebt es ein Integral, welches ausdrückt, wieviel von R schon vorher, als enthalten in den frühern, dem R zum Theil gleichartigen Vorstellungen., ge- geben ist, ehe der veränderliche Punct M, oder, wenn man will, ehe der veste Punct R selbst, erreicht wird. Dieses Integral zu bestimmen, ist eine nothwendige Vorbereitung zur Auflösung unserer Aufgabe.

Für bekannte Bedeutungen, von </, ß} z, haben wir folgende Gleichung: (r/ z) ß {A x) dt = dz

_ (At , \ dz oder ß I -\- vi dt =

T J cp

woraus ß A -j- ßmt log.

1 (f Z

und z = (p

Nun rücke der Punct M vor, bis er in R eintrifft; alsdann ist

, T t = (A f/i) , und A

[343] ( _U{A2-m2)\

z = (f\i e )

So viel ist von derjenigen Vorstellung, die dem Puncte R entspricht, schon gegeben, ehe die fortrückende Wahrnehmung den Punct R selbst erreicht; um eben so viel ist also die Empfänglichkeit für diese Vorstel- lung schon im Voraus erschöpft. Dies abgezogen von der ursprünglichen Empfänglichkeit, läfst nun die Bestimmung zurück: wie viel an neuer Wahrnehmung eben in dem Augenblick erzeugt werden könne, da das wandelbare Wahrnehmen sich in dem Puncte R selbst

befindet. Es ist nämlich dieses = ß (q z)dt, w z in der so eben

gefundenen Bedeutung genommen wird. Allein hier war z eine Constante; statt dessen mufs es eine veränderliche Gröfse werden, indem nun der Punct R als wandelbar, und damit auch vi als veränderlich, und zwar als eine Function von / betrachtet wird. Denn nur dadurch werden wir das verlangte ganze Quantum des allmählig entstandenen Vorstellens finden, wenn wir dessen Differential, das was durch jede augenblickliche Wahr- nehmung in jedem Puncte des Continuums gegeben wird, integriren. Daher mufs jeder Punct durch R angedeutet seyn können, indem R das ganze Continuum von P bis Q durchläuft.

Aus der Proportion / : T= (A vi) : (A folgt m = All ■- j ; da- durch wird

406 XI. Psychologie als Wissenschaft.

8A [t— ^A ß((f z)dt = ß(fe V zTl dt.

Wir können hier A wiederum = i setzen; es war nur vorhin zu mehrerer Deutlichkeit besonders bezeichnet worden.

Die Integration scheint am leichtesten von Statten zu gehn, indem

t2 man / = T ( i u 2) setzt. Daraus wird / = T ( i u )

_ rjr 2 \ / \ ' ,

—Tß . {1—112) dt = TV«, also das ganze Differential = T3(fe 2

1+ Tßu*

du = Tßqe 2 . e2 du. [344] Die Form e >>"2 </# läfst sich

bequem durch Entwicklung in eine Reihe integriren, sobald l, hier

nicht zu grofs genommen wird. Denn aus

ein* = 1 4. iu* _j_ ^- A2?;4 _)_ J_;k3W6 _|_^_x*«8 -|- . .. wird fe *>k* du=

u 4- —Xu3 4- X2«S _J_-^;t37<7 _L_ i-X4«9 4- -!- ÄS«" ... 4- Co»j/. 1 2 ' 10 42 2I° 1320

Das Integral mufs = o werden für / = o; aber für / = o ist u = 1. Es sey ß = —, T= 4, also Ä = 1, so ist Const. = (1 -j- ~~h_ h -{-...*= 1,4626 .. .). Demnach das ganze Integral

= 7,3576... X (1,4626 U j- u3—±-u5 ±-u7...) t

wo u = 1 . Für t = T aber ist u = o also das ganze Quantum des

gewonnenen Vorstellens, vermöge einer Wahrnehmung, die während der Zeit T= 4 das Intervall voller Hemmung gleichförmig durchläuft, ist = 10,761. Dies» Resultat bleibt das nämliche, so lange das Product

unverändert bleibt, z. B. für ß= 1, T= 2. Zur Vergleichung sey /==— T,

so kommt 6,5446; mehr als die Hälfte, wie natürlich wegen der ab- nehmenden Empfänglichkeit, die in der zweyten Hälfte der Zeit nicht noch ein gleiches Quantum des Vorstellens hervorzubringen erlaubt. Noch

halte man hiemit zusammen das erste Täfelchen des § 95, wo für ß = - ,

2 = 8,646... wenn / = 4, und 2 = 6,321... wenn / = 2, oder =— T,

nach unserer jetzigen Annahme, gefunden wird. Die jetzigen Werthe sind beydemal gröfser, weil die Empfänglichkeit bey veränderlicher Qualität der Wahrnehmung weniger leidet, als bey gleichbleibender.

So viel von der Abnahme der Empfänglichkeit. Da die Erfahrung dieselbe schon in einer Minutenlangen Wahrnehmung deutlich genug spüren läfst, indem das Gemüth sich bald unbeschäfftigt findet, und andre zurück- gedrängte Vorstellungen sich wieder erheben, zum Zeichen, dafs die zurückdrängende Kraft nicht mehr wächst: so dürfen wir die noch unbestimmt ge[345]bliebene Zeit-Einheit gar nicht für besonders grofs nach unserem Zeitmaafse halten; und daraus entsteht denn die wichtige Frage, ob die einmal erschöpfte Empfänglichkeit immer so schwach bleibe, oder ob es für sie eine Erneuerung gebe? Und wie eine solche sich denken lasse?

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

407

Dafs die Empfänglichkeit sich erneuere, mufs man schon der Er- fahrung gemäfs höchst wahrscheinlich finden. Wenige Stunden, vollends Tage, müssen nach den bisherigen Betrachtungen, die ursprüngliche Em- pfänglichkeit zwar nicht im strengsten Sinne ganz erschöpfen (hievon lehren die Formeln das Gegentheil), aber doch sie auf einen äufserst kleinen, mit ihrer ursprünglichen Stärke kaum vergleichbaren, Bruch herabbringen, der selbst noch immer abnimmt, und bald wiederum mit seiner eignen früheren Gröfse fast nicht zu vergleichen ist. Dies auf die menschliche Lebensdauer angewendet, so müfste die erste kindliche Empfänglichkeit schnell verschwinden, bis auf beynahe Nichts, der Empfänglichkeit reifer Jahre aber müfste man eine undenkbare Kleinheit beylegen, wenn sie ein für allemal verbraucht wäre.

Allein auch wie die Empfänglichkeit sich erneuere, läfst sich begreifen und näher bestimmen, sobald man sich nur hütet, die metaphysischen Gründe ihrer Abnahme nicht über die gehörigen Schranken auszudehnen. Jede Selbsterhaltung der Seele, also jede Vorstellung, hat ein Aeufserstes, bey welchem sie vollbracht seyn würde, wenn sie es erreichte. Sie kann nur wachsen, wiefern sie zu diesem Aeufsersten noch nicht gelangt ist. Die Empfänglichkeit nimmt ab, in wiefern das, was durch die Wahr- nehmung in der Seele geschehen soll, schon geschehen ist. Rückwärts also, die Empfänglichkeit nimmt nicht ab, in wiefern das, was geschehen soll, eben jetzt noch nicht geschieht.

Hieraus könnte man schliefsen, die Empfänglichkeit erneuere sich schon dadurch, dafs die in früherer Wahrnehmung gebildeten Vorstellungen gehemmt werden; welches doch, ohne nähere Bestimmung ausgesprochen, [346] zu viel geschlossen wäre. Denn so lange jene Vorstellungen nur zum Theil gehemmt, so lange sie noch in einer fortgehenden Hemmung begriffen sind, eben so lange wirken sie noch im Bewufstseyn, und es richten sich nach ihnen die Zustände der übrigen Vorstellungen. Allein, wenn sich eine Vorstellung auf der statischen Schwelle befindet, alsdann ist, wie wir längst wissen, alles was im Bewufstseyn vorgeht, von ihrem Einflüsse unabhängig. Ja sogar in dem Augenblicke, wo sie die Schwelle erreicht, tritt ein neues Bewegungsgesetz für die noch im Bewufstseyn vor- handenen Vorstellungen ein, welches der Ausdruck und Erfolg dieser Un- abhängigkeit ist 75).' Nun strebt zwar die Seele fortdauernd, auch diese Art der Selbsterhaltung, oder diese Vorstellung, wieder herzustellen. Allein sie ist in diesem Streben völlig gebunden; ja dieses Streben ist eine iso- lirte Modification der Seele, indem es die wirkliche Thätigkeit, die Zustände des Bewufstseyns, nicht im mindesten abzuändern und nach sich zu ge- stalten vermag. Also ist hier wirklich der Fall, wo die Empfänglichkeit nicht vermindert seyn kann. Die frühere Vorstellung befindet sich nicht unter den wirklichen Thätigkeiten der Seele, weder unmittelbar als Vor- stellung, noch mittelbar durch ihre Einwirkung auf die Zustände des Be- wufstseyns. Vielleicht noch einleuchtender wird dies durch die Ver- gleichung mit Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle 79). Diese sind ebenfalls aus dem Bewufstseyn völlig verschwunden, aber nur um so vollständiger ist auch die Spannung, mit der sie dasjenige be- stimmen helfen, was im Bewufstseyn vorgeht. Von ihnen also dürfen

aqS XL Psychologie als "Wissenschaft.

wir nicht sagen, dafs in Hinsicht ihrer die Empfänglichkeit unvermindert seyn werde.

Wohl aber dürfen wir den Satz aufstellen: die Empfänglichkeit für eine gewisse Wahrnehmung erneuert sich, indem die frühere, gleichartige Vorstellung auf die statische Schwelle getrieben w i r d.

[347] Und hiedurch mufs sich die Empfänglichkeit vollständig und plötzlich erneuern. Nichts desto weniger sind hiebey Umstände zu be- merken, welche dieser Behauptung nur eine augenblickliche Gültigkeit ge- statten.

Indem eine neue Wahrnehmung eintritt, beginnt auch jede frühere gleichartige Vorstellung (ja selbst die nur zum Theil gleichartigen), sich zu erheben, weil die vorhandenen hemmenden Kräfte zurückwichen (§81 u. s. w.). Sogleich also verschwindet die Bedingung, unter der eine voll- ständig erneuerte Empfänglichkeit vorhanden seyn konnte.

Jedoch verschwindet dadurch die erneuerte Empfänglichkeit bey weitem nicht ganz. Man mufs hier die Untersuchungen des dritten Capitels zu- rückrufen. Diesen zufolge erhebt sich die ältere gleichartige Vorstellung im ersten Anfange nur langsam; sie übt dabey gar keine eigne Wirkung gegen die widerstrebenden Kräfte; blofs als Verschmelzungshülfe verbindet sie sich mit der neu eintretenden Wahrnehmung in dem geringen Grade des wiedererweckten Vorstellens. Also ändert sich der Zustand, in wel- chem sich diese Vorstellung auf der statischen Schwelle befand, nur all- mählig und nicht um gar Vieles. Dem gemäfs verliert auch die vollständig erneuerte Empfänglichkeit nur allmählig und nur ein mäfsiges Quantum.

Hierauf können nun wieder Nebenumstände Einflufs haben. Gesetzt, die wiedererweckte Vorstellung sey durch eine Menge von Verschmelzungs- und Complications-Hülfen verbunden mit den im Bewufstseyn vorhandenen Vorstellungen; sie sey nur so eben erst durch eine andringende entgegen- wirkende Kraft aus dem Bewufstseyn verdrängt: so läfst sich, wenn sie auch schon wirklich auf der statischen, und nicht etwa nur auf der mecha- nischen Schwelle. sich befand, dennoch wohl denken, dafs die Zusammen- wirkung vieler Kräfte ihr jetzt, da sie durch eine gleichartige Wahrnehmung wieder geweckt wird, eine Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit ertheilen, wodurch [348] die erneuerte Empfänglichkeit schnell und beträchtlich leidet.

Aber nicht blofs diese Nebenumstände, sondern ein allgemeiner Grund bewirkt eine Abänderung in dem, was zuvor über den geringen Verlust der erneuerten Empfänglichkeit bemerkt wurde.

Freylich, wenn nur Eine ältere, gleichartige Vorstellung in der Seele ruhet, deren Erwachen der neuen Wahrnehmung Abbruch thun kann: als- dann gilt das zuvor Gesagte; und es ist leicht zu übersehen, dafs die zwar verminderte Empfänglichkeit dennoch eine beträchtliche Stärke des Vorstellens durch die jetzige Wahrnehmung zu erzeugen vermag. Es ge- schehe nun wirklich also; und nicht blofs einmal, sondern vielemal wieder- holet : so werden bev jedem künftigen Eintreten einer neuen . gleich- artigen Wahrnehmung, sich alle jene einzelnen, zuvor gebildeten Vor- stellungen durch eigne Kraft, und zum Theil verstärkt durch ihre Ver- bindungen unter einander, zumal hervorheben. Offenbar bilden sie auf

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

40Q

diese Weise eine Summe, die immer beträchtlicher wird, und wodurch die, zwar vollständig erneuerte, Empfänglichkeit doch immer schneller ver- mindert, ja endlich, bey sehr häutiger Wiederhohlung der nämlichen Wahr- nehmung, beynahe plötzlich von ihrer ersten Stärke auf einen aufseist ge- ringen Grad kann herabgebracht werden. In diesem Falle befinden wir uns mit den Dingen, die wir täglich um uns sehn, und die eben deshalb keinen merklichen Eindruck auf uns machen.

Unter solchen Umständen ergiebt sich dann von selbst, dafs unmög- lich die einzelnen, aus den wiederhohlten Wahrnehmungen gewonnenen, Vorstellungen, sich ins, Bewufstseyn hoch erheben können. Denn die Summe des wirklichen Vorstellens kann nicht jenen äufsersten Grad über- steigen, in welchem die volle und ganze Selbsterhaltung dieser Art be- stehen würde. Desto gröfser und anhaltender aber kann die Anstrengung seyn, [349] mit welcher sich eine Gesammtheit gleichartiger Vorstellungen im Bewufstseyn behauptet.

Siebentes Capitel.

Von den Vorstellungsreihen niederer und höherer Ord- nungen; ihrer Verwebung und Wechselwirkung.

§ 100.

Wir dürfen jetzt freyere Blicke wagen. Bisher waren wir eng ein- geschlossen durch die Nothwendigkeit, die Vorstellungen als einzelne zu betrachten, um die Elemente ihrer Wirksamkeit kennen zu lernen. Jetzt fange der Leser damit an, sich alles Vorhergehende gleichsam nach einem gröfseren Maafsstabe ausgeführt zu denken. Tausende oder Millionen von Vorstellungen, die auf einmal im Bewufstseyn sind, und, sich gegenseitig hemmend, ins Gleichgewicht treten! Complexionen, die nicht entweder vollkommen oder unvollkommen seven, sondern in welchen mit zehn oder zwanzigen völlig verbundenen, noch unzählige andere mit allen mög- lichen Abstufungen minder und minder zusammenhängen! Statt zweyer oder dreyer Töne, deren musikalische Intervalle wir in der Lehre von der Verschmelzung vor der Hemmung im Auge hatten, denke man sich jetzt eine Menge unendlich nahe stehender, zusammenfliefsender ein- facher Empfindungen; so wird in der unauflöslichen Mischung aller, zwar nicht ein scharf bestimmtes ästhetisches Urtheil, aber ein Gefühl des Au- genehmen oder Unangenehmen entspringen. Auch die Bewegungen der Vorstellungen bey ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Reproduction seyen dergestalt mannigfaltig, dafs die Hemmungssummen, während sie abnehmen, schon wieder neue Zusätze [350] bekommen; und dafs, indem aus neuen Verbindungen stets neue Gesammtkräfte entstehn, auch die < ileichgewichts- Puncte, wohin das ganze System sich neigt, stets verrückt werden, folglich die Bewegung nie zur Ruhe komme, sondern in immer neuen Richtungen fortlaufe. Doch dies letzte ist noch nicht verständlich genug; wir sind jetzt im Begriff, die Gründe davon anzuzeigen.

4 I o XL Psychologie als Wissenschaft.

Man gehe zurück ins vierte Capitel, von der mittelbaren Reproduction. Dort haben wir (§88) den grofsen Hauptsatz gefunden, aus welchem sich der Ursprung der Reihenbildung in den Vorstellungen erklärt.

Nun sey nicht blofs, wie dort, eine Vorstellung P mit verschiedenen II, II', H", u. s. w. verschmolzen : sondern es sey a mit b, c, d, e, . . . und eben so b mit c, d, e, . . . und gleichfalls c mit d, e, . . . u. s. w. verschmolzen: so wird das dort (a. a. 0.) gefundene Gesetz der Repro- duction nicht blofs einmal, sondern so vielmal zur Anwendung kommen, als wie viele Vorstellungen zu der Reihe gehören. Dies wird sich voll- ständiger entwickeln lassen, wenn wir erst die beyden Bedingungen er- wägen, unter denen sich eine solche Reihe bilden kann. Die eine hängt von der Zeit ab, die andre von der Qualität der Vorstellungen.

i . Wenn zuerst a, dann gleich darauf b gegeben (durch Wahrnehmung producirt) wird: so wird zuvörderst a sogleich von der Hemmung durch andre, eben vorhandene, ihm entgegengesetzte Vorstellungen ergriffen. Hie- durch sinke es bis auf den Rest r; jetzt trete b hinzu; so verschmilzt b mit dem Reste r von a (wir wollen nämlich hier die Hemmung zwischen a und b bey Seite setzen ; denn wenn auch eine solche vorhanden ist, so wird dadurch nur die Gröfse r um etwas vermindert, und auch b ver- schmilzt dann nicht ganz mit r; dadurch wird die Sache nicht wesent- lich verändert, sondern erhält nur eine leichte Modification). Es sinke weiter sowohl a bis auf den Rest r', als b bis auf den Rest R; jetzt komme c hinzu; so verschmilzt das ganze c mit r und R. Nun [351] sinke a bis auf den Rest r", B bis auf den Rest R', c bis auf den Rest q, jetzt mögen alle diese Reste mit dem eben eintretenden d, verschmelzen. Man sieht wie dies fortgeht, nach folgendem Schema: a

d

x, u. s. w.

r(«) R{n 1) f)(n 2) r(" 3) u. s. w.

Gesetzt, alle diese Vorstellungen werden, nachdem sie in solche Ver- knüpfung mit einander geriethen, auf die Schwelle des Bewufstseyns ge- drückt; nachmals aber finde sich Gelegenheit, dafs eine von ihnen sich wieder erheben könne ; so wirkt sie auf alle übrigen reproducirend. Wie dies geschehe : ist in dem Falle, dafs a sich zuerst erhebe, unmittelbar klar aus § 88 ; es reproducirt nämlich nach der Reihe am schnellsten b, minder schnell c, noch langsamer d, u. s. f. Wäre es aber c, das sich zuerst er- höbe, so würde dieses mit seiner eignen ganzen Kiaft und Ge- schwindigkeit die Reste R und r reproduciren, und dann erst würde es die Reihe d, e, f, u. s. w. ablaufen machen.

2. Die Vorstellungen a, b, c, d, u. s. f. brauchen nicht nach ein- ander gegeben zu werden; wenn sie dagegen in wachsenden Hem- mungsgraden unter einander stehn, und einander an Stärke gleich sind,

r

b

r

R

c

1 / r

R'

Q

111 r

R"

9

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

411

so wird ihre Verbindung und die davon abhängende Wirksamkeit gerade die nämliche wie vorhin. Ist nämlich c mehr als b, d mehr als beyde, u. s. f. dem a entgegengesetzt, und kann die Verschmelzung ungehindert dem Grade des Gegensatzes umgekehrt gemäfs erfolgen (d. h. so dafs je weniger Gegensatz, desto mehr Verschmelzung), so [352] entsteht eine Vorstellungsreihe, deren Anordnung durch die Qualität der Vorstellungen bestimmt ist.

Im analytischen Theile werden wir auf diesen Gegenstand seiner grofsen Wichtigkeit wegen, zurückkommen, und ihn dort nochmals in Ver- bindung mit seinen Anwendungen auf die Erklärung der psychologischen Phänomene in Betracht ziehn.

Hier wollen wir, damit der Leser sich in die Sache hineindenke, nur irgend eine Vorstellung aus der Mitte einer Reihe, ins Auge fassen. Es gilt von ihr der merkwürdige Satz, dafs ihr ein Weiterstreben bey wohnt, wodurch sie eine Wirkung wider sich selbst ausübt, um anderen Platz zu machen; unter der Voraussetzung, dafs zwischen den ihr in der Reihe vorhergehenden und nachfolgenden, Gegensatz vorhanden sey. Man betrachte noch einmal das obige Schema, und in ihm die Vor- stellung c. Es ist ihr, vermöge der eingegangenen Verbindung, wesentlich, dafs mit ihr der Rest R von b, und der Rest r von a zugleich im Bewufstseyn gegenwärtig sey; hierauf ist ihr Streben in demselben Grade gerichtet, womit sie sich selbst im Bewufstseyn zu erhalten, oder sich in dasselbe zu erheben sucht; denn das ganze c ist mit R und r ver- schmolzen. Aber es ist ihr auch, wenn gleich in abnehmendem Grade, wesentlich, dafs sie allmählig das ganze d, das ganzem das ganze/", u. s. w. hervorrufe. Wenn nun d, e, f, dem b und a entgegengesetzt sind, so ist ein Streben, d, e, f zu erheben, zugleich ein Diuck auf b und q, folglich auch auf das mit ihnen verbundene c selbst. Also wirkt c wider sich selbst; und man würde sich irren, wenn man glaubte, diese Wirkung zerstöre sich selbst. Denn angenommen, c sinke wirklich bis auf den Rest q, so verliert es damit noch nichts an seinem Vermögen, // zu erheben; mit welchem es gerade nur durch seinen Rest q verbunden war. Erst wenn es tiefer, als bis auf diese Gröfse q niedergedrückt wird, kann seine Wirkung auf d abnehmen. Gesetzt: es sey nun [353] bis auf seinen zweyten Rest o' gesunken: so wirkt es noch eben so- stark wie Anfangs, um e zu heben; und eben so wird f von dem Reste q", g von (/", u. s. w. immer gleich stark wider a und b gehoben, so lange nicht c unter q , q" , q" . . . successiv herabgedrückt ist.

Was nun hier von c gesagt worden, das gilt eben so von d in Be- ziehung des ihm Vorhergehenden und Nachfolgenden, desgleichen von £,/,... mit einem Worte, von jedem mittlem Gliede einer Reihe; nur nicht vom ersten und vom letzten. Denn das erste Glied, indem es die nachfolgenden successiv hebt, überschreitet weder hierin den Grad von Verbindung, den es mit den nachfolgenden eingehn konnte (und darin gleichen ihm auch die mittlem Glieder), noch hat es solche Vorher- sehende, denen die Nachfolgenden zuwider wären; das aber ist eben der Umstand, weswegen die mittlem sich selbst niederdrücken. Was das letzte Glied anlangt : so ist es der natürliche Ruhepunct für die ganze

a\2 XL Psychologie als Wissenschaft.

Reihe ; es hat nichts mehr hinter sich , wodurch es wider das vorher- gehende wirken könnte ; und seinem inwohnenden Streben geschieht Ge- nüge, so lange, bis alle vorhergehenden auf den Punct der mit ihm ein- gegangenen Verschmelzung herabgesunken sind; ist alsdann noch ein fremdartiger Grund zur fernem Hemmung vorhanden, so verliert sich allmählig die ganze Reihe aus dem Bewufstsevn.

Sollte nun in dem, was hier vorgetragen worden, noch irgend etwas dunkel scheinen : so liegt es an mangelhafter Auffassung des vierten Capitels ; welches man übrigens bey weitem noch nicht ganz zu verstehen braucht, um das gegenwärtige zu fassen. Alles kommt darauf an, dafs man vollkommen einsehe, weshalb eine Vorstellung ihre Nachfolgenden ganz, aber successiv, hingegen ihre Vorhergehenden partial und ab- gestuft, aber simultan, hervorzuheben trachtet. Hieraus ergiebt sich das Uebrige von selbst.

Jetzt ist noch ein wichtiger Umstand zu erwägen, der von der Länge der Reihen abhängt. Wir wollen [354] hiebey die Reihe als gleichartig betrachten, das heifst, die Reste r, R, q, . . . gleich setzen, desgleichen die Unterschiede r r" , R' - R" u. s. f., so dafs die r, r , r" . . . u. dgl. eine gemeine arithmetische Reihe bilden ; folglich in der Vorstellungsreihe die Distanz der Glieder allein den Grad der Verbindung bestimme. Als- dann kommt es nur noch auf die Gröfse der Differenz r r an ; sie wird bestimmen, mit wie vielen folgenden eine jede vorhergehende Vorstellung verschmelze; ob z. B. a schon ganz gesunken sey, ehe die Vorstellungen g, h, i, k, hinzukommen, während die Reihe sich bildet: oder ob vielleicht x, y, z, noch etwas von a im Bewufstsevn antreffen, womit sie verschmelzen können. Wenn nämiich während des Entstehens der Reihe, sich a noch mit x, y, z, verbindet, so wird es sie auch bey der Reproduction wieder zu heben suchen ; erreicht aber a nicht einmal g, h, z', k, so geht auch ein Streben andre hervorzurufen, nicht bis in diese Entfernung hinaus. Unterschiede dieser Art haben einen wesent- lichen Einfiufs auf die Kraft der ganzen Reihe, sich geordnet zu re- produciren, oder kurz, auf ihr Evolutions- Vermögen ; und dies ists, was wir jetzt untersuchen wollen.

Wir nehmen an, die Reihe sey eine Zeit lang ganz aus dem Be- wufstsevn verschwunden gewesen ; jetzt könne sie sich wieder erheben ; aber es sey gleich viel Grund zu dieser Erhebung für alle, in der Reihe enthaltenen, Vorstellungen vorhanden: nun fragt sich, ob dennoch die Reihe geordnet hervortreten werde? Es ist nämlich klar, dafs wenn auch nur das erste und das vierte oder überhaupt das ;«te und das 7/te Glied zugleich ins Bewufstsevn kämen, alsdann Verwirrung ent- stehn müfste ; denn das vierte würde die folgenden schon reproduciren, die vorigen schon herabdrücken, während das erste noch im Streben zur Repioduction des zweyten und dritten begriffen wäre.

Um die Sache leichter zu übersehen, wollen wir uns abermals ein Schema entwerfen. Die einzelnen Vorstel[355]hingen in der Reihe sollen durch Linien angedeutet werden ; und eben so die Verschmelzungshülfen, die sie von andern Vorstellungen empfangen. Man wird leicht folgende Bezeichnung verstehn :

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

413

B

Die Linie AB soll die erste Vorstellung oder das Anfangsglied in der Reihe bedeuten. Die erste Linie rechts neben ihr zeigt die Ver- schmelzungshülfe, welche ihr die zweyte Vorstellung derselben Reihe leistet ; die folgenden Linien deuten auf die immer geringeren Strebungen der nachfolgenden Vorstellungen, wodurch sie das Anfangsglied im Be- wufstseyn zu rufen wirken. Also die ganze Figur bezeichnet die Ge- sammt kraft, womit das Anfangsglied hervorgehoben wird. Dem ähnlich würden wir das Endglied so ausdrücken :

Dabey ist nun gleich zu bemerken, dafs, wenn auch das Endglied eben so viele Verschmelzungshülfen durch die ihm vorangehenden Vor- stellungen bekömmt, wie das Anfangsglied durch die ihm nachfolgenden, die Wirkung dennoch nicht gleichartig ist; denn auf das Anfangsglied wirken alle Hülfen simultan ; hingegen auf das Endglied dergestalt successiv, dafs es durch seine schwächere Hülfen langsamer, als durch die stärkeren gehoben [356] wird. Eins der mittlem Glieder aber kann so bezeichnet werden :

Ein Glied in der Gegend der Mitte erhält nämlich, Falls die Reihe lang genug ist, eben so viele Hülfe von seinen vorhergehenden und nach- folgenden, als das Anfangs- und das Endglied zusammen genommen. Soll dies nicht geschehn: so mufs die Reihe kürzer seyn; und man sieht sogleich, dafs dies die Bedingung des Evolutions- Vermögens ist. Denn wenn die Mitte durch eine gleiche, simultan wirkende Kraft ge- hoben wird, wie der Anfang, so ist unmöglich , dafs die Reihe geordnet ablaufe, dafs alsdann Mitte und Anfang zugleich ins Bewufstseyn kommen.

Wir wollen nun die Reihe kürzer nehmen ; und zwar dergestalt, dafs sich das Anfangsglied gerade noch beym Verschwinden, also durch seinen kleinsten Rest, mit dem Endglied verbunden habe. Alsdann mufs unsre Figur für das Mittelglied sowohl rechts als links etwas verlieren ; denn die ganze Basis derselben mufs jetzt nicht doppelt, sondern nur einfach

4 1 4 2Q- Psychologie als Wissenschaft.

so lang seyn, wie die des Anfangs- oder Endgliedes. Die Figur besteht nunmehr nicht aus zwey an einander gestellten rechtwinkliehten Drey- ecken, wie vorhin, sondern aus zwey Trapezien. Der Inhalt eines jeden dieser Trapezien liegt sogleich vor Augen, wenn die Figur als ein Con- tinuum, oder die Menge der Vorstellungen in der Reihe unendlich grofs, und die Verschmelzung continuirlich abnehmend gedacht wird. Die Höhe der Figur sey = a, ihre halbe Basis = b, so ist jedes Trapezium

1 Z I ' Z. I S 7

= ab a . b . = -%- ab;

2 2 2 2 8

und dies ist die ganze, simultan wirkende, Kraft zum Hervorhe[357]ben der mittlem Vorstellung; die successiv wirkende, welche das andre Tra- pezium darstellt, kommt hier nicht in Betracht. Da nun das Anfangs- glied mit der Gesammtkraft . ab simultan gehoben wird, wie unmittelbar

einleuchtet : so hebt es sich um ^r ab stärker als die Mitte ; es tritt dem- nach hervor, und bestimmt das geordnete Ablaufen der Reihe.

Es ist leicht, dies allgemeiner zu fassen. Ein unbestimmter Theil der Linie b sey die Basis unseres Trapeziums; diesen Theil nennen wir bx; so findet sich die kleinere, auf der Basis senkrechte Seite des Trape- ziums durch die Proportion

b : a (b b x) : a (i x).

Folglich das kleine Dreyeck, durch dessen Wegnahme vom gröfsern

das Trapezium entsteht, ist nun

a p 1 1 x) 2

= _L a . ( i x) . l>. ( i x) = ; und das Trapezium selbst =

ab (2x x2). Wenn nun die Reihe nicht zu lang ist: so entsteht das

Ganze der Verschmelzungshülfe für das Anfangsglied aus allen ihm nach- folgenden Gliedern, in so weit es mit ihnen verschmolzen ist; aber für das mittelste Glied nur aus denen, die ihm folgen (so fern von der simultan wirkenden Kraft geredet wird). Die eben gefundene Formel gilt demnach zwar für beyde; allein x ist in ihr halb so grofs für das mittelste Glied als für das erste; dies Riebt für die Mitte eine Kraft = <*& {x x2).

' o 24'

Also verhält sich die Kraft für das Anfangsglied zu der für das mittlere

wie 2 x zu 1 -x. Und nimmt man x unendlich klein, oder die

4

Reihe unendlich kurz: so hat man das Verhältnifs 2:1, das heifst, der Anfang besitzt zum Hervortreten doppelt so viel Kraft wie die Mitte.

Man sieht hieraus, dafs die Reihen desto mehr Evolutions- Vermögen besitzen, je kürzer sie sind.

Hat dagegen eine Reihe durch ihre Länge oder durch irgend welchen andern Grund, sich einmal der[358]gestalt verwirrt, dafs ihre Glieder näher verschmelzen als es ihre Anordnung mit sich bringt, so ist die Reihe verdorben; weil sie jetzt verschiedenen in ihr entstandenen Reproductionsgesetzen, die unter einander unverträglich sind, zugleich Genüge zu leisten strebt. (Hieher gehören falsche Gewöhnungen in Allem, was durch Wiederhohlung und Uebung gelernt werden soll.)

Weit besser als lange Reihen, sind Reihen von Reihen, oder auch Reihen aus Reihen von Reihen u. s. f., dergleichen vielfältig und

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes.

415

in sehr bunten Zusammensetzungen beym geordneten Denken vor- kommen. (Auch gehört aller Rhythmus hieher; denn er beruht auf Hauptreihen mit weit entfernten Gliedern, deren jedes eine kurze, untergeordnete Reihe zwischen einschaltet.) Die Glieder solcher Reihen können selbst verwickelte Complexionen seyn.

Ganz vorzüglich wird die Verwebung mehrerer Reihen zu weitern Untersuchungen Stoff geben.

Es ist das Wesentliche der Verwebung, dafs in Einem Puncte mehrere Reihen sich kreuzen; oder auch, dafs man von demselben Puncte an- fangend, mehrere Reihen z u g 1 e i c h durchlaufe ; dieses Zugleich aber be- deutet, dafs diese Reihen nicht etwan successive Glieder einer höhern Reihe seyen, sondern wenn sie ja als ein Früheres oder Späteres gedacht würden, die Succession unter ihnen sich auch umkehren liefse.

Gegen die psychologische Möglichkeit solcher Verwebung lassen sich Zweifel erheben. Mag a der gemeinsame Anfang zweyer Reihen seyn, die durch b, c, d, und durch ß, y, d, fortlaufen: so scheint es, die Reihen könnten nicht zwey geschiedene bleiben, sondern es müfsten Com- plexionen bß, cy, entstehn, indem der Rest r von a sowohl b als ß, der Rest r von a sowohl c als y, der Rest r" von a sowohl d als ■> durch einen untheilbaren Act der Reproduction hervorrufe.

Wir wollen uns nun hier nicht auf die Thatsache berufen, dafs zwey Ra- dien eines Kreises, indem sie durch {359] alle concentrische Kreise laufen, wirklich zwey solche Reihen darstellen : sondern es zeigt sich hier die Noth- wendigkeit dessen was die Thatsache vor Augen legt ; nämlich dafs b und ß, wenn sie geschieden bleiben sollen, etwas zwischen sich schieben müssen, wodurch und um wie viel sie getrennt sind. Allerdings ist hier ein Streben zur Vereinigung vorhanden; und die Vereinigung mufs wirklich zu Stande kommen, wenn nicht ein Widerstreben wegen der Reproduction des Zwischenliegenden hinzutritt. Gerade hierin nun be- steht die Verwebung der Reihen, dafs, indem ihrer mehrere ablaufen, zu- gleich nicht nur jedes Glied eine von ihm ausgehende Reihe anregt, son- dern dafs auch die secundären Reihen sich nach einer Regel in andern Reihen Glied für Glied vereinigt finden; so dafs die Vereinigungspuncte jedesmal mehrfach gegeben sind, und dafs die Construction unendlich vielfach in sich selbst zurücklaufe, ohne mit sich selbst in Mishellig- keit zu gerathen. Das Product solcher, sich gegenseitig hervorrufender Reihen ist allemal ein Räumliches, obgleich nicht nothwendig eins im sinnlichen Weltraum.

(Denkt man sich die drey Hauptfarben Roth, Gelb, Blau, sammt allen Zwischenliegenden, die aus ihnen gemischt oder in sie zerlegt werden können : so erscheint das ganze System nothwendig als ein gleichseitiges Dreveck, gleichseitig, weil gleichviel Verschiedenheit der möglichen Mischung zwischen Roth und Blau, Blau und Gelb, Roth und Gelb liegt.*) Auf dem Inhalte dieses Drevecks, der eine vollständige Fläche ausmacht,

* Diese Voraussetzung gegen mögliche Einwürfe zu rechtfertigen, ist hier nicht nöthig. Andre Voraussetzungen werden andre Constructioncn ergeben, auf deren Gestalt hier nichts ankommt.

, j5 VI. Psychologie als Wissenschaft.

angefüllt von allen Mischungen aus dreven Farben, kann man in Ge- danken alle möglichen Figuren zeichnen, darunter auch ähnliche, oder gleiche, mit den bekannten geometrischen Eigenschaften. Dieses Farben- dreveck hängt mit [360] dem sinnlichen Weltraum durchaus nicht zu- sammen : hat auch mit ihm kein gemeinsames Maafs, sondern seine Maafse müssen aus ihm selbst genommen werden; z. E. ein Zehntheil der Distanz zwischen Roth und Blau: dies ist eine völlig bestimmte Gröfse für das Farbendreveck, und ein zulängliches Maafs für alle darauf zu entwerfenden Figuren. Wollte man aber das Farbendreveck aufs Papier zeichnen, so könnte es eben so gut ein Differential -Dreveck sevn, als eine Quadrat- Meile im sinnlichen Weltraum einnehmen. Es giebt noch andre Ver- anlassungen, Raum zu eonstruiren; der intelligible Raum in der Meta- physik gehört hieher. Genau genommen, liegen auch die Gegenstände der reinen Geometrie nicht im sinnlichen Weltraum; dieser letztere ist theils von Körpern erfüllt, theils liegt es leer zwischen ihnen; die geo- metrischen Kreise, Quadrate, Polygone aber sind nirgends in ihm, haben in ihm nicht einmal Platz, wurden auch nicht durch Begränzung aus ihm herausgehoben, sondern der Geometer macht jeden von ihnen ganz von vorn an, und würde aus jedem derselben einen ganz vollständigen Raum, als dessen Umgebung, produciren, wenn ihm daran gelegen wäre, so dafs auch dieser Raum gar keine bestimmte Lage gegen oder in dem sinn- lichen Weltraum hätte, sondern man einen davon sich aus dem Sinne schlagen müfste, um den andern zu denken. Bequemer ist es, die Con- structionen, die nicht noth wendig geschieden bleiben müssen, in einander fallen zu lassen; eigentlich aber ist zwischen dem Kreise des Geometers imd den sämmtlichen sinnlich wahrnehmbaren Kreisen das Verhältnifs einer platonischen Idee zu ihren Nachahmungen; wobey man sich erinnern wird, dafs eine solche Idee durchaus nicht selbst einen Platz in der Sinnen- welt hat, wo sie könnte gefunden oder auch nur dürfte gesucht werden. ja sogar der sinnliche Weltraum ist nicht ursprünglich nur Einer; sondern Auge, und Gefühl oder Getast, haben unabhängig von einander Ge- legenheit zur Production des Raums gegeben; später ist bey[3Öi]des ver- schmolzen und erweitert. Man kann nicht oft genug gegen das Vor- urtheil warnen, als gebe es nur Einen Raum, den des sinnlichen Weltalls. Es giebt ganz und gar keinen Raum; aber es giebt Veranlassungen, dafs Systeme von Vorstellungen ein Gewebe von Reproductions-Gesetzen durch ihre Verschmelzung erzeugen, dessen Vorgestelltes nothwendig ein Räum- liches — nämlich für den Vorstellenden seyn mufs, und solcher Veranlassungen finden sich mehrere, die nicht alle gleichen Erfolg haben; denn manche angefangene Raum-Erzeugung bleibt unvollendet im Dunkeln liegen. Das Vorurtheil aber, von dem hier die Rede ist, reicht schon für sich allein zu, alle Metaphysik zu verderben. Dagegen ist jeder Licht- strahl, der auf die Lehren vom Räume fällt, der Metaphysik im Ganzen wuhlthätig. Wie viel hat Kaxt nicht schon allein dadurch gewirkt, dafs er zu neuer Untersuchung über den Raum wenigstens die erste An- regung gab!)

Obgleich wir hier mehr und mehr auf Gegenstände kommen, die sich ohne Hülfe des analytischen Theils der Psychologie kaum deutlich machen

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 417

lassen : so mufs doch wenigstens mit kurzen Worten angemerkt werden, dafs die Reihenbildung unter den Vorstellungen auch auf die Hemmuno-,

O CT C"

und auf die Schwellen des Bewufstseyns, einen sehr starken Einflufs aus- übt. Im Allgemeinen läfst sich dieses leicht einsehn. Gesetzt, eine Wahr- nehmung reproducire eine früher gebildete Reihe, zugleich aber gebe sie Anlafs zur Verknüpfung ihrer Partial -Vorstellungen in eine andre Reihe: so mufs nothwendig eins das andre stören. Allein hier ist an keine vestbestimmte Hemmungssumme , und eben so wenig an ein fixirtes Hemmungsverhältnifs, zu denken: denn die Reproductions - Gesetze wirken allmählig, und eben so allmählig gerathen sie in Conflict. Damit ist aber nicht gesagt, dafs sich Gegenstände dieser Art niemals würden der Rechnung unterwerfen lassen; vielmehr haben wir schon im fünften Capitel sowohl veränderliche Hemmungssum[3Ö2]men als auch veränder- liche Hemmun2;sverhältnisse in die Rechnuno; eingeführt.

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Dies ist jedoch nicht Alles. Wo Hemmung wegen der Gestalt (so nenne ich kurz diesen Conflict der Reproduktionen) Statt findet, da giebt es auch Begünstigung wegen der Gestalt, oder das Gegen- theil; und wo dieser psychologische Procefs durch die Auffassung eines ge- wissen Gegenstandes herbevgeführt wird, da heifst in gewöhnlicher Sprache, die nur das Vorgestellte bezeichnet, von dem verborgenen Act des Vor- stellens aber nichts aussagen kann, der Gegenstand schön oder häfslich. Will man jemals über das Schöne im Räume nähere Kennt- nifs erlangen: so wird man die Mechanik des Geistes bis hieher fortführen müssen.

Alle Vorstellungen im engern Sinne, das heifst, solche, die ein Bild sind von irgend einem, gleichviel ob wirklichen, oder scheinbaren, oder erdichteten Gegenstande, sind Gewebe von Reihen, die in einer schnellen Succession unmerklich fortfliefsend , durchlaufen werden. Der Schwung durch die Partial -Vorstellungen läfst einen Gesammt - Eindruck zurück, der jeden Augenblick auf die geringste Veranlassung wieder in irgend eine innere Bewegung gerathen kann. Man betrachte drev Puncte; sollte die Anschauung gleichmäfsig auf diesem Bilde ruhen, so müfste das Auge auf den Mittelpunct des Kreises gerichtet werden, der das Dreyeck umschliefst; allein dies geschieht gewifs nicht bey solchen Drevecken, die vom gleichseitigen bedeutend abweichen; hier giebt es einen andern Punct, in welchen das Maximum des Z ugleich- Auffassens der sämmtlichen Winkelpuncte fallen würde. Aber auch da ruhet das Auge nicht , . eben deswegen, weil hier noch immer Ungleichheit Statt findet, indem einer von den Puncten am meisten, ein anderer am wenigsten gesehen wird; nur ein successives Sehen kann dies ausgleichen. Was nun vom Vorstellen dreyer Puncte (aufs Sehen mit dem leiblichen Auge kommt hier [363] nichts an), das gilt um so mehr von vielen Puncten, von ganzen Figuren und Körpern.

Durch diesen Schwung im Vorstellen wird nun die Hemmung zwischen den Theilen des Bildes bey weitem weniger merklich als sie sonst sevn würde. Was wir schnell (aber doch nicht ganz gleichmäfsig, sondern mit successivem Vorherrschen einzelner Theil- Vorstellungen) übersehen können, das gilt uns für eine simultane Wahrnehmung; nur dürfen die darin ent-

Herhart's Wkrkk. V. 27

_j. i 8 XI. Psychologie als "Wissenschaft.

haltenen Reihen sich nicht verwirren; sonst trübt sich das Bild wegen der wider einander strebenden Reproductionen, durch welche jeder Punct auf die übrigen führt.

Anmerkungen.

Gegen das Ende des vorhergehenden Paragraphen wird der Leser eine Dunkelheit bemerkt haben, die sich nicht hinwegräumen Iäfst. Sie liegt nicht in der Sache, aber in der notwendigen Form des Vortrags. Wir nähern uns dem Ende des synthetischen Theils ; es kommt darauf an, dafs derselbe sich mit dem folgenden, analytischen, gehörig verbinde. Wird dafür nicht im Voraus gesorgt: so steht der synthetische Theil zu nackt, und späterhin wird die Anknüpfung zu schwer. Hier mufs der Leser mit eignem Denken dem Buche, welches an diesem Orte nur An- deutungen der analytischen Betrachtung geben kann, zu Hülfe kommen. Er mufs sich dabey vor Uebereilungen hüten; sonst entstehen Deuteleven, wodurch das Gegebene entstellt, und die Theorie auf falsche Wege ge- leitet wird; wovon die Beyspiele in unserer neuesten Philosophie (da, wo sie irgend welche Naturgegenstände deducirt zu haben glaubt) nur zu reichlich vorhanden sind.

Wollte man die Gegenstände, welche des analytischen Verfahrens zur deutlichen Darstellung bedürfen, im synthetischen Theile noch ganz uner- wähnt lassen : so würde noch eine andre Unbequemlichkeit entstehn. Manches, das in den psychologischen Erscheinungen auf ver[36-).]schiedene Weise zum Vorschein kommt, und deshalb im analytischen Theile an verschiedenen Orten seinen Platz hat, ist gleichwohl einfach für die syn- thetische Betrachtung, denn es ist ein und derselbe Grund für eine Mehr- heit von Folgen, die unter verschiedenen nähern Bestimmungen daraus entspringen. Um es in dieser Einheit darzustellen, mufs es im synthe- tischen Theile mit aufgeführt werden. Deshalb will ich hier noch neben- her ein paar wichtige Puncte berühren, die mit den übrigen Gegenständen dieses Capitels nicht in gerader Linie liegen, und daher in den Paragraphen selbst nicht füglich ihre Stelle erhalten konnten.

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A. Involution der Vorstellungs-Reihen. Es ist im Vorher- gehenden vom Ablaufen der Vorstellungs-Reihen, und von ihrem Evolutions- Vermögen gehandelt worden. Man weifs, dafs hiebe}" alles auf die ver- schiedene Wirksamkeit der Reste ;-, r , r", u. s. f. ankommt, wodurch jede einzelne Vorstellung in verschiedenem Grade mit den andern Vorstellungen verknüpft ist. Damit aber diese Verschiedenheit irgend eine Folge habe, mufs eine solche Vorstellung im Bewufstseyn wenigstens so hoch hervor- gehoben seyn, als der gröfste jener Reste anzeigt. Wäre z. B. von der Vorstellung a wohl das kleinere Quantum r" im Bewufstseyn gegenwärtig, nicht aber der gröfsere Rest r und noch weniger der gröfste, r : so würde die mit r" verbundene Vorstellung d gerade so geschwind gehoben, als die mit r verknüpfte c, und die mit r verschmolzene, b. Folglich könn- ten nun b, c, d, nicht als Glieder einer Reihe auseinander treten : und dieser Theil der Reihe a, b, c, d, e, /', g, wäre demnach eingewickelt ; während die nachfolgenden Glieder e, /, g, zwar wohl unter sich zur Evo- lution bereit wären ; aber deshalb einem andern Nachtheil unterworfen

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 4 IQ

seyn würden, weil b, c, d nicht gehörig nach einander ihr Maximum er- reicht hätten und von da wieder herabgesunken wären, also gewissermaafsen noch im Wege stünden, und das Bewufstseyn anfüllten.

[365] Befinden sich nun die Vorstellungsreihen im Zustande der In- volution (und das ist immer der Eall, wenn ein besonderer Grund zu ihrer hinlänglichen Aufregung wirkt), so ist die Mehrheit und Verschieden- heit ihrer Glieder unbemerkbar; sie gelten alsdann für Einheiten, wie z. B. die Vorstellung eines Buches, eines Flusses, eines Beweises; wo die Mannig- faltigkeit der Beyspiele deutlich zeigt, dafs aus der Lehre von der In- volution sich Folgerungen ergeben müssen, die an ganz verschiedene Orte des analytischen Theils hinzuweisen sind. Es ist übrigens von selbst klar, dafs unsre Vorstellung eines Buches nichts anderes enthält, als die einzel- nen Vorstellungen von dem, was auf den verschiedenen Blättern desselben nach einander zu lesen steht, sammt der entsprechenden Reihe von Ge- danken und Gefühlen während des Lesens; und so auch in den andern Beyspielen, die man ohne Mühe vervielfältigen kann. Man denke nun an eine Bibliothek, eine Stromkarte, und eine systematische Theorie; so so wird man sogleich gewahr, dafs hier Bücher, Flüsse, Beweise, wiederum einzelne Glieder von Reihen und von Geweben aus diesen Reihen ge- worden sind; gerade so, wie, noch weiter fortschreitend, wir einer Bibliothek einen Platz in der Reihe der Merkwürdigkeiten einer Stadt anweisen.

B. Wölbung und Zuspitzung der reproducirten Vorstel- lungen. Was ich durch diese figürlichen Ausdrücke bezeichne, das hat einen noch viel gröfsem Umfang als das Vorige, und ist in der Erfahrung nicht so leicht aufzufinden. Man erkennt es jedoch an dem so wichtigen Unterschiede der schärfern oder stumpferen Auffassungen, von denen der Grad der Bestimmtheit im Wahrnehmen und im Denken abhängt. Um von der synthetischen Seite her den Gegenstand deutlich zu machen, wollen wir uns fürs erste zurückversetzen zu ganz einfachen Vorstellungen, etwa zum Hören eines Tons, oder zum Sehen einer Farbe; die Anwen- dung auf die Vorstellungsreihen wird alsdann leicht seyn.

[366] Wenn eine Vorstellung eben jetzt erzeugt, oder, wie man zu sagen pflegt, durch die Sinne als Empfindung gegeben wird : so reprodu- cirt sie nicht blofs die völlig gleichartigen, sondern man kann sie mit einem Lichte vergleichen, das einen Schein ringsumher verbreitet. Denn indem die neue Vorstellung alles ihr Entgegengesetzte zurückdrängt, was sich so eben im Bewufstseyn findet, wird auch alles das, worauf dieses Entgegen- gesetzte hemmend wirkte, mehr oder weniger frey. Es erhebt sich also, wenn wir z. B. einen Ton hören, nicht blofs die völlig gleichartige ältere Vorstellung eben dieses Tones, sondern beynahe in gleichem Falle mit ihm befinden sich die nächst höheren und niedrigeren Töne; daher streben sie gleichfalls empor ins Bewufstseyn ; und so geht das in abnehmendem Grade auf die entfernteren Töne fort. Also kommt eine ganze Tonmasse, oder in einem andern Beyspiele eine ganze Farbenmasse in Bewegung; nur nicht so merklich, als ob alle diese Töne und Farben wirklich wahrgenommen würden. Jetzt kommt es aber darauf an, ob die Empfindung des wirk- lich gehörten Tones länger anhalte. Wenn das geschieht: so stöfst diese Empfindung mehr und mehr die nicht völlig gleichartigen Vorstellungen

27*

A20 XI. Psychologie als Wissenschaft.

wieder zurück; und hiebey wird der innere Widerstreit um desto stärker, je mehr die älteren Vorstellungen unter sich verschmolzen, und je ge- neigter sie deshalb sind, alle in Gesellschaft ins Bewufstseyn zu kommen. Vergleicht man nun die ganze aufgeregte Masse der Vorstellungen mit einem Gewölbe : so kann man fortfahren zu sagen, das Gewölbe werde vom äufsem Umfange gegen die Mitte hin mehr und mehr niedergedrückt; und endlich müsse es sich dergestalt zuspitzen, dafs gerade nur die, der neuen Wahrnehmung völlig gleichartige ältere Vorstellung hervorrage. So geschieht es, so oft wir einen Gegenstand bestimmt als diesen und keinen andern auffassen; denn hierin liegt offenbar ein Actus der Ausschliefsung [367] dessen, was wegen der nähern oder fernem Aehn- lichkeit ins Bewufstseyn mit hervorgetreten war.

Die Uebertragung des hier Gesagten auf unvollkommene Complexionen und auf Reihen ist sehr leicht. Wird ein einzelnes Glied derselben neu gegeben: so regt sich der Verbindung wegen die ganze Complexion oder die ganze Reihe; und im letztern Falle ist nun die Reihe im Begriff ab- zulaufen. Damit aber tritt eine Hemmungssumme ins Bewufstseyn, welche wieder sinken mufs; unter der Voraussetzung nämlich, die neue Auffassung dauere noch fort, und die gleichartige ältere Vorstellung könne daher ihrem Weiter-Streben nicht nachgeben.

Man erinnere sich hiebey des Gefühls, welches entsteht, wenn eine Folge von Vorstellungen langsamer als gewöhnlich, dargeboten wird. Z. B. wenn eine Reihe von Wagen vorüberfährt beym Leichenzuge; oder wenn Jemand sehr langsam spricht; oder wenn eine bekannte Melodie auffallend langsam gesungen wird. Alles Langsame, wenn es nicht aus andern Grün- den widrig ist, nähert sich dem Feyerlichen; es stöfst die schneller fort- eilenden Vorstellungsreihen zurück. So gerathen wir ins Gebiet der ästhe- tischen Beurtheilung. Hier versteht sich von selbst, dafs das Langsame nicht matt und schwach seyn mufs, sondern energisch genug, um den Flufs des Vorstellens wirklich anzuhalten, und das Vordrängende zurück zu zwingen.

Andererseits kommt es darauf an, ob der Mensch sich Zeit lasse, und ob in ihm der Drang der Vorstellungen von zufälligen Hemmungen frey sey. Schwache und langsame Köpfe sind nicht aufgelegt zu scharfen, wohlbegränzten Auffassungen. Der beschriebene Procefs erfordert nämlich, dafs Energie in der Reproduction sey; sonst kommt es gar nicht zum Anstofsen an eine Gränze, welches allemal das innere Streben voraussetzt, dieselbe zu überschreiten, es kommt also nicht zu dem Conflict von dem wir reden. Die Complexionen und Reihen müs[3ö8]sen auf inniger Ver- bindung ihrer Glieder beruhen; sonst ruft nicht eine Vorstellung die andere so lebhaft auf, dafs dadurch eine starke Zurückstofsung könnte veranlafst werden. Aber auch deshalb kann die letztere unmerklich werden, weil ihr nicht Zeit gelassen wird. Uebereilung ist das Gegentheil des Scharf- sinns, auch bei sonst lebhaften Naturen. Verweilung bei jedem einzelnen Puncte ist die psychologische Bedingung des genauen Denkens; sonst lassen sich Verwechselungen, sammt allen ihren Täuschungen, nicht ver- meiden; die Vorstellungen wölben sich wohl, aber zum Zuspitzen gelangen sie nicht, das heifst, die Gedanken kommen nicht zur Reife.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 42 I

§ 101.

Da es an diesem Orte nicht blofs noch darauf ankommt, die Ver- bindung zwischen dem synthetischen und dem analytischen Theile der Psychologie zu vermitteln: so werde ich auch einige andre, an sich höchst wichtige Gegenstände, hier nur so betrachten, wie sie sich als Folgen aus dem bisher Vorgetragenen gleichsam aus der Ferne zeigen lassen.

Ursprünglich fällt jede Vorstellung, indem sie entsteht, in mehr als Eine Reihe. Sie verknüpft sich zum Theil mit denen, die sie eben im Bewufstseyn vorfindet; theils mit gleichzeitig gegebenen; theils mit den- jenigen, deren Reproduction sie, erst unmittelbar, dann mittelbar, veran- lafst. Geht man den reproducirten weiter nach, so sind diese ehemals auf ähnliche Weise, seltener oder öfter, Verbindungen mit anderen ein- gegangen. Daher finden sich in der dritten von jenen drey Arten der Verknüpfung mancherley nähere Bestimmungen, die nur allmählig ent- wickelt werden können. Vermöge der ersten Art bekommt die Vorstel- lung eine Stelle in der Zeit; vermöge der zweyten einen Ort im Räume; vermöge der dritten einen Platz im Reiche der Begriffe.

Bey jeder neuen Reproduction strebt die Vorstellung, alles Verbun- dene theils simultan, theils successiv 100) ins Bewufstseyn zu bringen; hierin wird sie theils begün[3ÖQ]stigt, theils gehindert; und sofern die Reproduction wirklich zu Stande kommt, ist sie das Resultat des Zusammen- wirkens vieler zugleich strebender Vorstellungen. In der Regel kehren diejenigen Vorstellungen am leichtesten wieder, die erst kurz vorher im Bewufstseyn waren ; denn die Zeitreihe, in der sie liegen, hebt sich von zwey Puncten aus, vom jetzigen und von jenem früheren; diese Zusammen- wirkung wird bey längeren Zwischenzeiten unwirksam, wenn nicht gewisse hervorragende Momente in der Zeitreihe (die man Epochen nennen kann), unter sich eine stärkere Verbindung eingegangen waren.

Wir wollen nun annehmen, einerley Vorstellung sey schon sehr oft gegeben worden: so wird sie mit sehr Vielem verbunden seyn; und dies Viele wird in mancherley Gegensätzen stehn; daraus werden vielerley theils materiale Hemmungen (wegen der Beschaffenheit der einzelnen Partial- Vorstellungen), theils formale (Hemmungen wegen der Gestalt, nach vorigem §) entspringen. Nun sollte zwar die oftmals gegebene Vorstellung eine grofse Gesammt-Kraft besitzen; allein ihr Verbundenes steht sich und ihr im Wege; es verdunkelt sich gegenseitig, und sie wird dadurch im Aufstreben gehindert.

Hiebey ist insbesondere zu merken, dafs wegen der successiven Reproductionen (nach § 88) das Verbundene jener Hauptvorstellung nur allmählig mehr und mehr ins Bewufstseyn treten sollte; die Folge davon läfst sich leicht einsehn. Nämlich wenn die Hauptvorstellung mit vielen Reihen verbunden ist, diese Reihen aber unter einander entgegengesetzt sind, so mufs die Wirksamkeit, womit sie einander widerstreben, noth- wendig wachsen, indem die Zeit verläuft; denn während dieses Zeit- verlaufs sollen die Reihen sich im Bewufstseyn entwickeln. Weil sie sich nun daran gegenseitig mehr und mehr hindern, je weiter ihre Entwickelung nach dem Reproductionsgesetze fortschreiten müfste: so leidet die Haupt-

422 XL Psychologie als "Wissenschaft.

Vorstellung selbst hiedurch einen wachsenden Wi[3 7 o]d erstand; sie kann sich im Bewufstseyn nicht lange halten, sondern erliegt gar leicht unter der Last ihrer Verbindungen.

(Dies ist die eigen thümliche Schwierigkeit, welche sich bei Menschen ohne wissenschaftliche Bildung dann äufsert, wann sie allgemeine Begriffe vesthalten sollen. Die Gedanken vergehn ihnen ; sie wissen gar bald nicht mehr, wovon die Rede ist; sie werden müde und gähnen. Umgekehrt erhellet hieraus die Kraft der Bevspiele, das Denken zu unterstützen, in- dem jedes derselben eine bestimmte Reihe veststellt, und den Widerstand der übrigen abwehrt.)

Gleichwohl bereitet sich durch den eben erwähnten Hemmungs-Procefs ein wichtiger Fortschritt in der geistigen Bildung. Ist nämlich die Haupt- vorstellung nur gehörig gebildet worden, durch möglichst vollständiges Ver- schmelzen ihrer früheren Theile mit den späteren, so oft sie gegeben wurde (vergl. § 85), und hat nur nicht irgend ein physiologisches Hindernifs diese Verschmelzungen verkümmert (wie bey Kranken, bey Blödsinnigen, oder schon bey schwachen Köpfen), so giebt ihr die häufige Wiederhohlung unter verschiedenen Umständen dennoch Kraft genug, um in der Mitte andrer Vorstellungen einen Platz zu behaupten. Zugleich erscheint sie nun beinahe isolirt, weil das Ablaufen der ihr anhängenden, sich unter einander hemmenden, Reihen nicht merklich ist. Sie ist also abgelöset von ihren zufälligen Verbindungen nach Zeit und Ort. Mehrere Vorstel- lungen dieser Art können nun unter sich in solche Verbindungen treten, die von ihnen selbst, von ihrem Inhalte, ihrem Vorgestellten, abhängen: kurz, sie können sich nach ihrer Qualität verknüpfen. In so fern aber werden sie dem Verstände zugeschrieben und heifsen Begriffe.

Man kann von den Begriffen auch sagen, sie seyen die Vorstellungen in dem Zustande, worin sie unmittelbar an die Sprache geknüpft seyen; und von der Sprache: sie sev ganz eigentlich das, was verstanden oder nicht verstanden werde, so dafs hieraus sich die ursprüngliche, obgleich nicht die ganze Bedeutung des Wortes Verstand ergebe. Hierauf wer- den wir sogleich zurückkommen; zuerst müssen wir aus der Lehre von den Vorstellungsreihen noch eine andre Betrachtung ableiten.

Eine Complexion aus den Vorstellungen A und B sey im Begriff sich zu bilden. Wenn sie zu Stande kommen soll, so müssen die Reihen, welche von A ausgehn, und die, welche an B geknüpft sind, einander nicht dergestalt hemmen, dafs ihr ferneres Ablaufen dadurch unmöglich würde; sonst wirkt die Hemmung auf A und B zurück, und die Com- plication mufs unterbleiben. Aber gesetzt, die Evolution der Reihen bis zu dem Puncte ihres Zusammenstofsens würde aufgehalten, so würde die Complexion sich dennoch, wenigstens vorläufig bilden, und so lange dauern, bis jene Gegenwirkung der Reihen hervortrete und sie zerstörte. Dafs diese Art der vorläufigen, aber unhaltbaren Complication, das Wesentliche des Traums ausmacht, läfst sich leicht übersehen; dasselbe ist beym Wahnsinn der Fall, nur so, dafs hier das Ablaufen der Reihen sich bis zur Heilung des Kranken verzögert, während die Träume nur des Auf- wachens bedürfen, um ihrer Ungereimtheit überführt zu werden; so wie der Unverstand der Kinder, deren Vorstellungsreihen noch kurz, und mangel-

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 4^3

haft verknüpft sind, durch zunehmende Erfahrung und durch reifere Ge- danken-Verbindung allmählig verscheucht wird.

Erinnern wir uns nun der Sprache: so sehn wir sogleich, dafs jedes gesprochene Wort für den Hörer ein Anfangspunct von Reihen ist, welche sich alle in einander verweben müssen, wofern die Rede soll verstanden werden. Alles, was diesen Procefs der Verwebung hindert, macht die Rede unverständlich.

Aber die Sprache liegt nicht blofs in den Worten, sondern auch in den Dingen. Der Verständige erräth das Verborgene , indem er den Zu- sammenhang ergänzt; und er verwirft die thörichten Meinungen und Pläne, in[372]dem er den Lauf der Begebenheiten vorwärts und rückwärts in Gedanken verfolgt. Es ist klar, dafs hiebey alles auf das Zusammen- wirken seiner Vorstellungsreihen ankommt; gleichviel ob vom praktischen oder vom theoretischen Verstände die Rede ist. Man kann dem Ver- stände zwey Dimensionen zuschreiben: Weite und Tiefe. Die Weite hängt ab von der Menge und Mannigfaltigkeit solcher Reihen, deren Par- tial-Vorstellungen möglichst genau, und ohne Verwirrung, verschmolzen und geordnet seyen; die Tiefe bezieht sich auf die Reproduction der gleich- artigen Vorstellungen, wodurch sie Begriffe sind. Oberflächliche Menschen reproduciren heute nur das Gestrige und Vorgestrige; bey tiefen Charak- teren bewegt jeder Gedanke den Stamm des ganzen früheren Lebens.

Für die Sprache sind alle Begriffe, als solche, Substantiva; das Gehen und Stehen ebensowohl als der Baum und das Haus; das Wenn und das Aber eben so gut wie das Süfse und das Kalte. Aber keine unserer Vorstellungen ist blofs und ursprünglich ein Begriff; eine jede, wie sehr sie auch isolirt zu seyn scheine, hängt noch immer in allen ihren, wie sehr auch verdunkelten, Verbindungen; darum liegt in jeder ein mannig- faltiges Weiterstreben, so wie es oben (im vorigen §) beschrieben wurde. In diesem Weiterstreben müssen die Gedanken sich gegenseitig tragen und halten; darum biegt die Sprache ihre Worte, und baut daraus Perioden. Hiezu dienen ihr vorzüglich ihre verba activa und passiva ; ohne uns aber bey den Worten aufzuhalten, müssen wir noch einen Blick werfen auf die Begriffe des Thuns und Leidens; und wir werden dar- auf sogleich kommen, nachdem wir noch zuvor angemerkt haben, dafs die Bildung der Periode auf dem Gegensatze des J a und Nein (auf der so- genannten Qualität des Urtheils) beruht, und dieses wiederum ein mögliches Schweben zwischen Ja und Nein voraussetzt. Das Nein, welches gewifs kein Erfahrungsbegriff seyn [373] kann, da alle Erfahrung nur Positives giebt, ist nichts anderes als eine veste Hemmung, wogegen eine Vorstellungsreihe anläuft. Absolut vest braucht die Hemmung nicht zu seyn; nur so vest, wie die Aufsenwelt sich uns zeigt, wenn sie, unserti Wünschen und Bemühungen trotzend, uns fortwährend einerley Wahr- nehmung erneuert; so dafs dagegen unsre Wünsche vergeblich anlauten, und hiedurch verneint werden. Dafs auch diese Art von relativer Vestig- keit nicht ursprünglich in den einzelnen Vorstellungen liegt: weifs man aus den ersten Elementen der Statik des Geistes, bey fortschreitender Ausbildung aber kann sehr leicht in einem Systeme von Vorstellungen eine Wirksamkeit entstehn, die sich gegen ein anderes eben s< > 6 artwShrend

A2A XI. Psychologie als Wissenschaft.

erneuert, wie die äufeere Anschauung gegen die von innen hervordringen- den Gedanken.

§ I02.

Die Lehren der Mechanik des Geistes sind so allgemein, dals sie auch dann noch gelten müfsten, wenn wir in einer ganz anderen Natur, als in der wirklichen, lebten ; so wie die Mechanik der vesten Körper sich. mutatis mutandis, ohne besondre Schwierigkeit auch auf eine Astronomie würde übertragen lassen, deren Grundgesetz eine ..Anziehung verkehrt wie der Würfel der Entfernung seyn möchte. Damit würden aber die Er- scheinungen der Himmelskörper keineswegs zusammenstimmen; will der Astronom, während er rechnet, die Thatsachen nicht ganz aus den Augen verlieren, so mufs er innerhalb solcher Voraussetzungen bleiben, die zu den Thatsachen passen. Eben so: wollen wir allmählig uns vorbereiten, die Mechanik des Geistes mit dem zu verknüpfen, was wir in uns fühlen, und aus der Erfahrung von uns wissen: so ist es nöthig, dafs wir uns, nun bestimmter, als zuvor, an unsre Welt, das heifst, an die eigenthüm- lichen Beschaffenheiten solcher Yorstellungsreihen erinnern, die sich im menschlichen Geiste unter [374] den vorhandenen menschlichen Verhält- nissen unwillkührlich bilden.

Hier kommen uns nun zuerst die Unterschiede des Thätigen und Leidenden entgegen. Viele Complexionen wahrgenommener Merkmale, oder, in unserer gewöhnlichen Sprache, viele Dinge, zeigen sich und ihre Veränderungen in der Regel nur als Endpuncte von Reihen, die von andern Dingen ausgehn; oder doch nur in so fern als x\nfangs- Puncte, wie fern sie zuvor Endpuncte früherer Reihen waren. Weit sel- tener sind die andern Dinge, von denen eben so oft Reihen ausgehn, als bey ihnen anlangen. Jene erstem nun werden als Stoff, als Materie, die mit sich machen läfst, bezeichnet; diese letztern, so fem sie von vielen verschiedenen Reihen die möglichen Anfangspuncte sind, denkt man als thätig, als Quelle und Ursprung von Ereignissen.

Man unterscheide hier sorgfältig, was die Worte: Thun und Leiden, eigentlich bedeuten sollten, von dem, was sie in gemeiner Sprache wirk- lich bedeuten. Jenes ist eine metaphysische Frage, deren Gewicht der gemeine Verstand gar nicht empfindet, und deren Beantwortung nicht hieher gehört; aber die zweyte, psychologische Frage ist schon vollständig beantwortet durch das, was oben von den Vorstellungsreihen gelehrt wurde. Wer sich ein Thun denken will, der versetzt sich in einen Zu- stand, als ob in ihm eine Reihe dergestalt abliefe, dafs sie vorzugsweise durch das reproducirende Streben des Anfangsgliedes hervorgehoben würde; um den Verlauf der Reihe bekümmert er sich dabey nicht. Deshalb ist eine Quelle das natürliche Symbol des Thätigen; obgleich sich bey näherer Betrachtung finden würde, dafs auch hier alles, was das sinnliche Auge wahrnimmt, sich lediglich leidend zeigt, indem ja tlie Einfassung der Quelle ruhet, und das ^'asser blofs hervortritt, um fortzufiiefsen, ohne irgend etwas, wenn nicht zufällig, zu ergreifen und abzuändern. Aber unsern eigenen Gemüths[375]zustand, indem eine Vorstellung die von ihr ausgehende Reihe hervorzuheben strebt, leihen wir der Quelle; darum

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belebt sie sich für uns, als ob auch in ihr etwas wäre, welches sich an- strengte, das Wasser zu heben und zu fördern. Ueberhaupt bedeutet im gemeinen Sprachgebrauche die Redensart: das kommt davon, genau so viel als: dies hier ist die Wirkung von jener Ursache dort; und wenn hiemit der gemeine Verstand noch ein dunkles Gefühl des Widerspruchs verbindet, der in dem Leidenden entstanden wäre, wenn es sich selbst verändert hätte, so geht er schon weiter als die Kantische Schule ihn führen würde, die, freylich seltsam genug, in dem Causal - Begriff auch nichts anderes zu finden wufste, als den Anfang einer Reihe.

Ein zweyter Umstand, den wir aus unserm Verhältnisse zur Aufsen- welt hervorheben müssen, ist die Beweglichkeit des Menschen in seiner Umgebung. Ohne diese würden die Anschauungen der Dinge stets für die Dinge selbst gehalten werden; dadurch aber, dafs der Mensch einen Unterschied des Abwesenden und des Gegenwärtigen fafst, lernt er, dafs den Gegenständen ihr Erscheinen oder Nicht-Erscheinen zufällig ist. Die Gegenstände bekommen, so lern sie vest stehn, auch veste Plätze in seinen sich»allmählig bildenden, ordnenden, und verknüpfenden Vorstellungs- reihen, worin die Reihenfolge der Anschauungen aufbewahrt wird. Ihr Erscheinen aber (ihre Sichtbarkeit, Hörbarkeit u. dergl.) wird ihnen wie eine Art von Ausstrahlungs-Sphäre zugeschrieben, die mit wachsender Ent- fernung an Stärke abnimmt. Sie selbst, die Gegenstände, werden betrachtet als das, woher das Erscheinen kommt; und der Mittelpunkt, in welchem die Strahlen des Erscheinens sich von allen Seiten her vereinigen und kreuzen, legt den Grund des Ich, welches zu seiner Ausbildung noch der innern Welt bedaif, die in der Mitte der Aufsenwelt oder des Nicht- Ich sich umherbewegend, nicht blofs Reihen in sich aufnimmt und endigt, sondern auch andre Reihen theils von [376] sich aussendet, theils auszusenden im Begriff ist, durch welche sie den einströmenden begegnet; dergestalt, clafs man nicht sagen kann, ob das Ich mehr activ oder passiv erscheine, indem fast stets beydes zugleich und nahe in gleichem Maafse Statt findet. Die innere Welt aber, oder die Welt der innern Wahrnehmung, ist in steter Fortbildung begriffen, und nach der Art ihrer Bildung höchst ver- schieden; sie erscheint anders dem Dichter, anders dem Philosophen, und beyden anders als dem schuldbewufsten Sünder, oder als dem Tugend- haften, der sich in fromme Selbstbetrachtung versenkt. Jedesmal aber baut sie sich aus nach ähnlichen Formen wie die Aufsenwelt; so dafs auch in ihr das Ich wie ein umhervvandelnder Punct erscheint, dem bald diese bald jene Gegend in ihr mehr sichtbar wird; und will man sie zerlegen, so wird man finden, dafs sie gerade so wie unsre Aufsenwelt, aus Vor- stellungsreihen besteht ; mit dem Unterschiede, dafs in ihr die Gesetze der Wirksamkeit und Reizbarkeit dieser Reihen mehr selbstständig regieren, als in der Aulsenwelt, in welche wir jeden Augenblick neue Vorstellungen aufnehmen müssen, weil unser Verhältnifs zu dem, was wirklich aufser uns existirt, sich unaufhöilieh ändert.

Bei dieser Gränze wollen wir stehen bleiben. Nicht als ob die innere Wahrnehmung nicht in die Mechanik des Geistes gehörte. Unstreitig mufs eine Zeit kommen, wo man auch das Verhältnifs derjenigen Vor- stellungs - Massen, die sich zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen

2 5 XI. Psychologie als Wissenschalt.

Umgebungen und Umständen bildeten, auf synthetischem Wege vollständiger untersuchen wird, wie es auf analytische Weise geschehen kann. Viel- leicht wird man selbst mit der Genauigkeit der Rechnung einige von den Gesetzen erkennen, nach welchen von den stärkeren und älteren jener A'orstellungsmassen die schwächern appercipirt werden; ähnlich der An- eisrnuno; neuer Wahrnehmungjen des äufsern Sinnes durch die älteren Vor- Stellungen, während wir anschauen, und das Angeschaute [377] beurtheilen. Die Aufforderung, Untersuchungen dieser Art anzustellen, ist von der dringendsten Art; denn es kommt darauf an, die Bedingungen der Selbst- beherrschung zu finden, von welcher offenbar die Apperception des eignen Inneren die erste Voraussetzung ist. Es kommt darauf an, die praktische Vernunft zu ergründen, welche man durch die praktische Philosophie allein noch nicht hinreichend kennen lernt. Denn die Vernunft ist kein blofses Sollen, sie ist auch ein wirkliches Handeln; sie vollzieht alle- mal in einigem Grade das, was sie gebietet; es bewegt sich allemal durch sie der innere Mensch, wenn er auch nur erschüttert, und nicht von der Stelle gerückt wird.

Sollen aber die synthetischen Untersuchungen so weit fortgeführt werden: so müssen die Elemente, welche ich hier vortrug, erst geprüft, dann vollständiger ausgearbeitet werden. Diese Mühe, wer wird sie über- nehmen? Ohne Zweifel der Erste, dem dies Buch begegnet, wenn er so viel Mathematik versteht, als nöthig ist, und wenn er sich in das Ganze meiner Lehre zu finden weifs. Allein damit pflegt es nach meinen Er- fahrungen etwas lange zu dauern. Manchmal habe ich bemerkt, dafs Zu- hörer, die ungefähr auf dem Puncte standen, wohin ich den Leser jetzt geführt habe, nun erst irre wurden an dem Ich; nun erst bemerkten, mit welchem schwierigen Probleme sie von Anfang an beschäftigt gewesen waren; nun erst in die Stimmung des Nachdenkens geriethen, worin sie vom ersten Anfang an hätten seyn sollen, Wohl denen, die, wenn auch spät, doch wenigstens irgend einmal dazu gelangen, sich zum ernstlichen Forschen aufgeregt zu fühlen !

Nun erst werden auch diejenigen Untersuchungen gelingen können, mit welchen sich das philosophische Publicum in den letzten Zeiten ver- gebens beschäfftigt hat.

[378] Kant begann ein preiswürdiges Unternehmen, indem er den frühern Dogmatismus durch Kritik des Erkenntnifsvermögens , das heifst: durch die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens, er- schütterte, und neue Anstrengungen des Denkens hervorrief. Aber in so fern er damit ein neues System begründen wollte, fehlte es ihm selbst am Grunde und Boden. Dem starken Geiste fehlten die nothwendigen Hülfs- mittel und Vorarbeiten.

Es liegt mir ob, im zweyten Theile dieses Werks die Möglichkeit des Erkennens aus psychologischen Principien zu erklären und zu begränzen. Dort aber wird sich diese Absicht meiner Bemühungen vielleicht zu sehr unter den übrigen verlieren; daher, und um einigen Lesern mehr An-

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knüpfungspuncte darzubieten, will ich hier noch anhangsweise einige Be- merkungen über die Kant'sche Lehre, sofern sie Kritik seyn soll, hinzu- fügen. Dabey könnte ich mich auf den Erfolg berufen, und diesen gegen Kant gelten machen. Die Sätze, dafs Räumliches und Zeitliches blofse Erscheinung, Substanzen und Ursachen nur unsre Gedanken, Einheit und Regierung der Welt nur Ideen der Vernunft seyen, haben bekanntlich die Nachfolger verleitet, sich die Welt a priori zu construiren ; und sich in sich selbst zu versenken, um die Dinge wie sie sind, aus der Idee hervor- gehen zu lassen. Diese ganz unkritische Art zu philosophiren setze ich fürs erste bey Seite, denn sie war nicht Kant's Absicht, der vielmehr das Wissen vom Glauben trennen, und es auf Erfahrung beschränken wollte. Was aber mich eigentlich beschäfftigt, das ist das Unkritische der Kant- schen Kritik selbst.

Kann man das Erkenntnifsvermögen kritisiren, wenn man den Procefs des Erkennens ganz und gar verkennt ? wenn man nicht einmal nach diesem Processe fragt; wenn man unterläfst, die Nachforschung auf ihn zu richten ?

„Was sind Raum und Zeit ?" So stellt Kant die Frage seiner transscendentalen Aesthetik. Er macht also [379] den Raum und die Zeit zu Objecten seines Denkens. Kein Wunder, dafs seine Antworten sich auf den Weltraum beziehn, der übrig bleibt, wenn die Körper weggedacht werden; und auf die Zeit, worin die Weltbegebenheiten geschehn ; der- gestalt, dafs dieser Raum und diese Zeit die notwendigen Voraussetzungen der Sinnenwelt selbst auszumachen scheinen. So wird das Leere dem Vollen vorausgeschickt; das Nichts wird zur Bedingung des Etwas. Gewifs die seltsamste und ungereimteste aller Täuschungen !

In der That aber ist der Raum nur die Möglichkeit, dafs Körper da seyen, und die Zeit nur die Möglichkeit, dafs Begebenheiten geschehen. Diese Möglichkeiten lassen sich nicht mehr ableugnen, nachdem einmal wirkliche Körper wirklich als ein Räumliches, Ausgedehntes und Be- gränztes aufgefafst, und nachdem einmal wirkliche Begebenheiten als dauernd eine bestimmte Zeit, und als solche, die gerade nicht früher ein- traten und nicht später endigten, sind vorgestellt worden. Gerade dasselbe gilt von allem, was sich jemals in der Wirklichkeit vorgefunden hat. Man denke einmal alle wirklichen Töne und Laute, alles Hörbare hinweg ! Das kann man ; aber die Möglichkeit, dafs Töne gehört werden könnten, kann man nicht leugnen. Folglich bleiben auch alle Regeln der Musik gerade so unwandelbar stehn, wie die Geometrie ohne Körperwelt. Das Verhältnifs der Terzen, Quinten, Octaven ; die Notwendigkeit, den Leitton nach oben, die kleine Septime aber nach unten hin aufzulösen, dies alles steht vest a priori, ob nun in diesem Augenblick wirkliche Saiten und Ohren vorhanden sind oder nicht. Desgleichen denke man alle Farben hinweg: aber die Möglichkeit der Farben kann man nicht leugnen; folg-, lieh auch nicht den Satz, dafs das Farbendreyeck zwei Dimensionen, hin- gegen die Tonlinie nur eine Dimension habe. Nichts desto weniger be- ziehen sich alle diese Sätze auf vorausgesetzte Töne und Farben, die wirklich gehört und gesehen werden könnten; und eben [3 80] so bezieht sich das Aufser- Einander auf irgend ein a und b, welches könnte eins

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hier und das andre dort sevn ; und das Nach-Einander auf ein « und [i, wovon eins früher und ein andres später kommen soll. Die Form der Zusammenfassung ist freylich losgerissen vom Zusammengefafsten ; sie ist über dasselbe hinaus, ins Unendliche erweitert worden, weil die Erweite- rung, nachdem sie einmal in Gang kam, durch keine Gränze aufgehalten wurde; das heifst, weil eine Unmöglichkeit des weitern Aufser- und Nach-Einander nirgends anfängt. Gerade so fanden wir oben das Ich losgerissen von allen individuellen Bestimmungen. Aber nichts desto weniger bezieht sich das Ich auf die Individualität, der Raum auf das Räumliche, die Zeit auf das Zeitliche ; und die Kantische Untersuchung, die eher vom Raum als vom Räumlichen redet, behandelt die leere Form als eine Sache, zerreifst Beziehungspunct und Bezogenes; kehrt das Hinterste nach vornen, und klebt an nichtigen Hirngespinnsten.

Was geschieht in mir, indem ich a, b, c, d neben und aufser ein- ander denke ? Denn vom Anschauen mit dem leiblichen Auge ist hier nicht nöthig zu reden. Welche Modification erleidet mein Vorstellen des a dadurch, dafs sich mit ihm das Vorstellen des b, C, d durch die Be- stimmung verbindet, b liege zwischen a und c, und wiederum c zwischen b und d? Warum ist mein Vorstellen im Uebergange von a zu d, oder von d zu a begriffen, und warum geschieht dieser Uebergang nicht sprung- weise ? Da alle diese Vorstellungen in mir sind, nehmen sie denn auch in mir einen Raum ein ? Etwa so, wie die eingebildeten materialen Ideen, das heifst, Gehirn-Eindrücke, in verschiedenen Theilen der Gehirnmasse neben einander liegen sollten? Wenn dies eine lächerliche Hypothese ist, wie geht es denn zu, dafs mein Vorgestelltes sich aufser einander, und reihenförmig darstellt, während doch die Acte des Vorstellens hiebey schlechterdings nicht auseinander gerissen werden dürfen ?

[381] Das sind die Fragen, die beantwortet werden müssen. Sie passen auf die Landkarte von Utopien eben so gut, als auf die von Europa ; und, mit gehöriger Abänderung auf die Zeit übertragen, eben so wohl auf die Geschichte von Udepoten, als auf die vom Erdball und vom Sonnensystem. Die Antworten darauf müssen eben so wohl die Raum- vorstellungen des Hundes und des Hasen erklären, als die des Menschen, obgleich von den Thieren schwerlich jemand glauben wird, sie stellten Raum und Zeit als unendliche gegebene Gröfsen vor. Wo und wie irgend ein Räumliches oder Zeitliches gedacht, oder gedichtet, oder ge- träumt, oder gesehen, oder gefühlt, oder als Symbol gleichnifsweise zur Erläuterung unsinnlicher Gegenstände gebraucht und gestaltet wird, in diesen und allen erdenklichen Fällen mufs das Vorgestellte darum geordnet aus- einander treten, weil in dem Vorstellen ein geordnetes Streben ist, ver- möge dessen jede kleinste Partial - Vorstellung alle die andern in be- stimmter Reihenfolge nach sich zieht, und in sie hinüberfliefst Zu er- klären, wie dieses Streben und Wirken in die Vorstellungen komme, das war die Aufgabe; aber ein paar unendliche leere Gefäfse hinzustellen, in welche die Sinne ihre Empfindungen hineinschütten sollten, ohne irgend einen Grund der Anordnung und Gestaltung, das war eine völlig gehaltlose, nichtssagende, unpassende Hypothese.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 42 0,

Eben so unkritisch war die Uebereilung, darum, weil Raum und Zeit Formen unseres Anschaueiis sind, zu behaupten, sie wären nicht Formen der Auflassung unsinnlicher Gegenstände, oder mit andern Worten, sie kämen den Dingen an sich nicht zu. Gerade umgekehrt ! Dieselben Gründe, derentwegen das Farbige und das Fühlbare sich räumlich ordnet, kehren mit geringer Veränderung auch dort wieder, wo. die Mannigfaltig- keit des unsinnlichen Realen im zusammenfassenden Denken soll über- schauet werden. Wir schauen freylich blofs mit den Sinnen, wenn Schauen eine formale Modifikation des [382] Empfindens seyn soll. Aber die Form des Anschauens hat eine viel weitere Sphäre; sie ist Form des geordneten Zusammenfassens überhaupt, der Gegenstand sev welcher er wolle. Nur allein da, wo alle Zusammenfassung wegfällt; da, wo man das primitive Reale einzeln betrachten will: hier gilt auch keine Form der Zusammenfassung ; hier müssen Raum und Zeit verneint wer- den. Räumliches und Zeitliches ist seinem Begriffe nach ein Relatives; jedes Reale an sich betrachtet ist ein Absolutes; darum, und aus keinem andern Grunde, ist das Reale an sich unzeitlich und unräumlich.

Ungeachtet aller Mängel behält gleichwohl die KANTsche transscenden- tale Aesthetik immer noch ihr grofses Verdienst durch die einfache Be- merkung, dafs Raum und Zeit Formen des Vorstellens sind. Dasselbe Verdienst besitzt auch die transscendentale Logik in Ansehung der so- genannten Kategorien; indessen ist längst bemerkt worden, dafs dieser Theil der Kant sehen Lehre noch viel hohler und verworrener ist als jener. Man würde ein weitläufiges Werk schreiben müssen, um die un- geheure Masse von Fehlern aller Art, welche sich hier aufgehäuft findet, auseinander zu setzen; und niemals hat sich die Blindheit der Sectirer auffallender gezeigt, als an den Kantianern, die viele hundertmal diese Fehler nachgebetet, und der Welt als hohe Weisheit angepriesen haben.* Nichts in diesem ganzen Abschnitte der Vernunftkritik ist gesund; von dem eingebildeten Leitfaden zur Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe, der in einer falschen Tabelle der logischen Functionen bestehn soll, bis zu der dreisten und völlig grundlosen Behauptung einer Wechselwirkung aller Substanzen, wobey das Zugleichseyn der Dinge für eine objeetive Bestimmung [383] derselben ausgegeben wird (als ob daraus, dafs der Jupiter im Zeichen der Zwillinge steht, und dort mit den Sternen dieses Zeichens zugleich wahrgenommen wird, ein Causalverhältnifs zwischen diesem Planeten und jenen Fixsternen folgte), ist hier Alles leere System-Künsteley, und Mishandlung der wichtigsten metaphysischen Grundbegriffe. Von dieser meiner Behauptung, die ich im Nothfalle durch einen ausführlichen Commentar belegen werde, kann ich hier nur den einen Punct näher be- leuchten, welcher den obigen Fehlern der transscendentalen Aesthetik ana- log ist.

Was ist Einheit und Vielheit? Was Realität und Negation? Was Substanz und Ursache? Was Möglichkeit und Notwendigkeit? Sind es

* Die Starrheit mancher Kantianer ist so grofs, dafs sie als drofsc etwas Achtungs- werthes bekommt. Auch haben diese Männer darin Recht, dafs sie nicht mit den rüstigen Führern der Zeit vorwärts eilen wollten; aber sehr unrecht, wenn sie vom Standpuncte Kants auch nicht weiter rückwärts gehen wollen.

aoq XI. Psychologie als Wissenschaft.

leere Gefäfse, aufgestellt im menschlichen Verstände, in welche die Er- fahrung ihre Anschauungen hineinschütten und bunt durch einander werfen soll? Auf welche Anschauung (die als solche allemal positiv ist) pafst die Kategorie der Negation; und wann ist von irgend einem anschauenden Wesen ein Negatives unmittelbar wahrgenommen worden? Welche Sub- stanz, in ihrem Gegensatze als letztes Subject gegen ihre Prädicate, Attribute und Accidenzen, und als Beharrliches gegen das Mancherley was an ihr wechselt, ist jemals ins Reich der Erscheinungen eingetreten? Welche Kraft hat je die Nothwendigkeit, womit aus ihr die Wirkung folgt, den Sinnen dargeboten? Welche Möglichkeit, in ihrem Gegensatze gegen das Wirkliche, hat jemals ihren Platz mitten unter den Erfahrungen, die als solche lauter Wirklichkeiten sind, eingenommen und behauptet? Wenn nun die Anschauung, unmittelbar und für sich allein, ganz unfähig ist, sich der zu ihr gehörigen Kategorien zu bemächtigen: wie kommen denn diese dazu, sich jener zu bemächtigen? Durch den Verstand? Also hat der Verstand die Realität früher als das Reale, die Substantialität früher als bestimmte Substanzen, die Causalität eher als bestimmte Ur- sachen, die Wirklichkeit eher als wirkliche [384] Dinge! Gerade so hatte die Sinnlichkeit eher die leeren Undinge, Raum und Zeit, als das Räum- liche und das Zeitliche ! Aber Realität, Substantialität, Wirklichkeit u. s. f., sind nichts als abstracte, und, wie die Geschichte der Metaphysik bezeugt, sehr dunkle Begriffe, die, wenn sie zu den Anschauungen gleichsam als eine fremde Zuthat hinzukämen, ihnen den sehr schlechten Dienst leisten würden, sie zu verfinstern und zu verwirren, anstatt sie zu ordnen und verständlich oder verständig zu machen. Ist der Verstand ein Vermögen, die Anschauungen zu verderben ? Ihrer Klarheit ein trübes Element bey- zumischen ? Dafs für ihn zu fürchten sey, er werde im Vergleich mit der Sinnlichkeit verlieren, scheint Kant gefühlt zu haben; denn sonst lag ihm die Versuchung sehr nahe, seine transscendentale Logik und Aesthetik ganz analog und parallel abzufassen. Den bekannten vier Sätzen der meta- physischen Erörterung über Raum und Zeit wären dann folgende vier Behauptungen gegenüber getreten :

1. Damit gewisse Empfindungen als Attribute auf eine Substanz, als Wirkungen auf eine Kraft u. s. w. bezogen werden, dazu müssen die Vor- stellungen von Substanz, Kraft u. s. f., schon zum Grunde liegen.

2. Substanz, Kraft, Reales, Nothwendiges u. s. f., sind nothwendige Vorstellungen a priori. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dafs gar Nichts sey und wirke, obgleich man sich ganz wohl denken kann, dafs jedes einzelne Ding, jede einzelne Thätigkeit aufgehoben würde.

3. Substanz, Realität, Kraft u. s. w., sind keine discursiven, allgemeinen Begriffe, sondern reine Anschauungen. Denn erstlich kann man sich nur eine einzige Substanz vorstellen; und wenn man von vielen Substanzen redet, so verstehet man darunter nur Theile einer und derselben alleinigen Substanz. Diese Theile können auch nicht vor der einigen allbefassenden Substanz gleichsam als deren Bestandtheile (daraus ihre Zusammensetzung m(">g[385]lich sey), vorhergehen, sondern nur in ihr gedacht werden. Sie ist wesentlich einig; das Mannigfaltige in ihr, mithin auch der allgemeine Begriff' von Substanzen überhaupt, beruhet lediglich auf Einschränkungen.

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 43 1

Hieraus folgt, dafs in Ansehung ihrer eine Anschauung a priori allen Be- griffen von derselben zum Grunde liegt. So werden auch alle naturphilo- sophische Grundsätze, z. E. dafs alle Substanzen in der Welt in Wechsel- wirkung stehn, niemals aus allgemeinen Begriffen von Substanz und Welt, sondern aus der Anschauung, und zwar a priori, mit apodictischer Ge- wifsheit abgeleitet.

4. Die Substanz wird als eine unendliche gegebene Gröfse vorgestellt. Diese Unendlichkeit bedeutet Nichts weiter, als dafs alle bestimmte Gröfse von Substanzen nur durch Einschränkungen einer einzigen zum Grunde liegenden Substanz möglich sey. Daher mufs die ursprüngliche Erkennt- nis der Substanz als uneingeschränkt gegeben seyn.

Wer Kants Kritik aufschlägt, wird sehn, dafs ich hier mit geringer Veränderung wörtlich abgeschrieben habe. In diesen Sätzen spiegelt sich aber die heutige sogenannte Naturphilosophie so klar, dafs Niemand mir die veränderte Lesart als meine Erfindung zurechnen wird.

Nun hat Kant, obgleich er die Symmetrie, die er hier so leicht er- langen konnte, nur gar zu sehr liebte, doch nicht für gut befunden, sich selbst in der Lehre von den Kategorien also abzuschreiben. Er läfst es sich vielmehr eine saure Mühe kosten, seine Kategorien als Formen der Verknüpfung darzustellen, wodurch das Mannigfaltige der Erfahrung, nicht blofs so, wie es in der Zeit zufällig zusammenkomme, sondern wie es in der Zeit objeetiv sey, zu einer Erkenntnifs von Objecten zusammen- trete. Die Substantialität ist daher bey ihm keine Substanz, die Realität kein Reales, die Causalität keine Kraft, sondern es sollen erst Substanzen reale Gegenstände, Kräfte u. s. w., in der zeitlichen Erfahrung gefunden werden; und nach seiner ausdrücklichen Versiche[386]rung „hat die Kate- gorie keinen andern Gebrauch zur Erkenntnifs der Dinge, als ihre An- wendung auf Gegenstände der Erfahrung."

Kant sähe also ein, dafs in Ansehung der wahren Bedeutung der Kategorien alles auf die Frage ankomme: wie bildet sich unsre Er- fahrung?

Wenn er nun dies einsah: wie mag es zugegangen seyn, dafs er in einer so wichtigen Untersuchung die einfachsten Zeugnisse der Erfahrung selbst überhörte ?

Es ist nämlich klare Thatsache: dafs in Ansehung des Gebrauchs, den wir von den Kategorien zu machen haben, die Erfahrung noch bey weitem nicht vollständig bestimmt, dafs sie nichts Fertiges, sondern im Werden und im Schwanken begriffen ist.

Das Universum, ist es Eins? Oder ist die Welt nur eine Summe von ursprünglich Vielem? Darüber ist Streit! Das geistige Erdenleben des Menschen, ist es eine Realität, oder eine Negation, und blofse Ein- schränkung eines höheren Daseyns ? Darüber ist Streit! Die Imponde- rabilien, Licht, Wärme, Elekricität u. s. w., ja die Seele selbst, sind es Substanzen oder Accidenzen? Darüber ist Streit! Die sogenannten freyen Handlungen der Menschen, sind sie zufällig oder nothwendig? Darüber ist Streit !

Wie sollen diese Streitfragen zu ihrer Beantwortung gelangen ? Durch die Kateo-orien? Allerdings müfste es so geschehen, wenn dieselben den

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vollständigen Grund ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände in sich selbst enthielten. Warum aber, wenn die Kategorien in jedem mensch- lichen Verstände, die nämlichen, wenn die Verfahrungsarten und Gesetze des Verstandes in uns Allen die gleichen sind, warum finden wir nicht alle die Beantwortung dieser Fragen auf gleichlautende Weise? Ohne Zweifel darum, weil weder unser Nachdenken vollendet, noch unsre Wahr- nehmung und Beobachtung vollständig ist.

[387] Noch weit weniger vollendet ist die Erfahrung des gemeinen Mannes, so wie er sie sich denkt. Er empfindet jeden Augenblick Wärme oder Kälte; aber die Fragen: Ist die Wärme eine Substanz? Mufs man die Kälte blofse Negation der Wärme, oder umgekehrt die Wärme als Aufhebung der Kälte betrachten? Diese Fragen fallen ihm nicht ein. Er hält von Jugend auf das Wasser für eine Sub- stanz; aber bey weiterer Ausbildung läfst er sich geduldig belehren: das Wasser sey nur eine Verbindung des Eises mit der Wärme, das Eis aber nur eine Form, wie Sauerstoff und Wasserstoff verbunden sich in der Er- scheinung darstellen. Seine Kategorien haben ihn nicht belehrt, und widersetzen sich der Belehrung nicht; sie verhalten sich blofs passiv!

Die kritische Untersuchung des Verstandes, was will sie nun eigent- lich wissen? Die Anzahl der ursprünglich vorhandenen Kategorien? An- genommen, es gäbe dergleichen ursprüngliche Denkformen wirklich : so sind dieselben für sich allein nur leere Begriffe, aber kein wirkliches Denken und Erkennen; dasjenige aber, was wir kritisiren wollten, um es besser zu leiten, war eben das wirkliche Erkennen. Die Bewegung, welche in uns vorgeht, während wir denken, die Aufregung, die Erregbarkeit, selbst, welche dabey vorausgesetzt wird, diese mufste untersucht werden.

Hat aber diese Bewegung bestimmte Gesetze, denen sie mit Not- wendigkeit folgt: so können auch die Kategorien Erzeugnisse des Denkens sevn; und zwar unvollendete Erzeugnisse eines noch weiter fortzusetzenden Denkens. Die Notwendigkeit, welche einigen Lehr- sätzen über dieselben bevwohnt, ist alsdann zwar nicht empirisch, sondern a priori] jedoch auf eine Weise, die mit präformirten Begriffen nicht die geringste Aehnlichkeit hat. Hierüber schweigen aber die Argumente der Kant sehen Schule gänzlich, und das ist sehr natürlich, denn sie hat vom Mechanismus des Denkens keine Kenntnifs.

[388] Kant dachte sich seine Kritik als Propädeutik zu einem künftigen System. Hinwiederum seine Lehre von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes sollte die Vorbereitung ausmachen zur Kritik der Vernunft im engem Sinne. Allein ich glaube jetzt hinreichend gezeigt zu haben, dafs noch etwas ganz anderes, nämlich die Hauptansichten der Statik und Mechanik des Geistes, vorausgehn müssen, wenn selbst das, was Kant als seine Elementarlehre betrachtete, zum Gegenstande einer gründ- lichen Untersuchung soll gemacht werden. Im Allgemeinen hat man längst erkannt, dafs der Kant sehen Kritik irgend etwas vorangeschickt werden müsse. Aber man wird sich nicht verhehlen können, dafs Reix- hold, Fichte und Schelling sich in ihren Bemühungen, die Kant sehen Untersuchungen besser zu begründen, sehr weit von diesem Gegenstande entfernten; während Fries, Krug u. a. der Darstellung ihres Meisters

Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. 433

so nahe blieben, dafs eigentlich nur die Form des Vortrags geändert wurde. Die deutsche Philosophie befindet sich nun noch immer in einer solchen Lage, dafs Kants Schriften die Hauptwerke sind, welche Jeder lesen mufs, um sich zu orientiren; dafs also auch der Gang, welchen Kant einmal eingeschlagen hat, eine ganz entschiedene historische Wichtigkeit behauptet, wie man auch übrigens darüber urtheilen möge. Daher können wir diese Lehren von den Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes weder bey Seite setzen, noch sie mit allen ihren Fehlem so lassen wie sie sind; es bleibt nichts anderes übrig, als sie genauer zu prüfen. Wollen nun einige Leser dieses Buchs sich vorläufig selbst versuchen, ob sie aus dem, was hier vorgetragen worden, sich Rechenschaft über den Ursprung unserer Vorstellungen von Raum, Zeit, und den Kategorien herleiten können: so wird dies für sie eine zweckmäfsige Vorbereitung auf den zweyten Theil dieses Werks seyn; obgleich meine Absicht, indem sie die ganze Psychologie umfafst, sich beträchtlich weiter erstreckt.

Durch Fichte, und ganz unstreitig schon durch sei[3 Schnell Vor- gänger Kant, war die Philosophie auf den Weg des Idealismus gerathen; hier stand ihr ein theoretischer, höchst durchgreifender Irrthum im Wege, und sie konnte nicht von der Stelle kommen. Später sind die Dinge des Wissens und des Glaubens, die Kant sorgfältig geschieden hatte, wieder durch einander gemengt worden; daher ist der Untersuchungsgeist gelähmt; der Nebel der Mystik hat sich überall ausgebreitet; und die Philosophie liegt wiederum still. Den Idealismus zerstört die Untersuchung über das Ich, schon in der noch unvollendeten Gestalt, wie ich sie hier (mit dem Vorbehalte, sie im zweyten Theile dieses Werkes wieder aufzunehmen) fürs erste liegen lasse. Damit die Mystik sich von der Wissenschaft zu- rückziehe, braucht nur die Verbindung zwischen Mathematik und Philo- sophie, die ich hier wieder angeknüpft habe, gehörig benutzt zu werden. Daher schliefse ich diesen Theil mit der Ueberzeugung, schon jetzt das Nothwendige geleistet zu haben, um die Wissenschaft von ihren Hinder- nissen zu befreyen. Nur guter Wille mufs hinzukommen; diesen kann ich nicht schaffen, ich kann ihn nur wünschen, nicht mir sondern der Wissen- schaft. Wenn man nicht nachdenken will, so gehn nicht blofs meine Bemühungen verloren, sondern jeder Andere, der Aehnliches versucht, wird gleiches Schicksal haben. Glaubt dies heutige Geschlecht, es dürfe nur mit alten Formen und Gebräuchen auch alte Meinungen und Irrthümer wieder auf die Bahn bringen; versinkt es in den Wahn von einer goldenen alten Zeit, die Einige in die Jahre unserer Väter, Andre ins Mittelalter, noch Andre in eine vorhistorische Periode hineindichten; kennt es keine andre Weisheit als den Empirismus, und liebt es kein geistiges Wohlseyn aufser Träumen unci Ahnungen; so wird der psychologische Mechanismus, der in der Weltgeschichte wie im Einzelnen wirkt, die nächsten Jahr- hunderte so fortführen, wie er die vorhergehenden geführt hat; man wird abwechselnd von Freyheit und von Gesetzmäfsigkeit reden, und weder Eins [390] noch das Andre erreichen; die Literatur wird die Bibliotheken sprengen; aber aus allem Schreiben und Lesen, ja aus allem Beobachten und Versuchen wird kein wahres Wissen hervorgehn. Einer spätem Zeit aber ist es alsdann vorbehalten, sich das Licht, was man hatte ausgeht)

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lassen, noch einmal anzuzünden. Was geschehen kann, das geschieht irgend einmal gewifs. Dem menschlichen Geiste ist es möglich, seine wahre Natur zu erkennen; darum wird er sie erkennen; alsdann werden die Wege des Lebens sich erhellen; der Mensch wird wissen was er thut, er wird seine Kräfte nutzen, und nicht mehr blindlings sein Heil zer- stören.

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DEC 1 5 1983