S. BASCH's ^

Eushhandlung u. Antiquariat

nerlin IV.

Friedricbslrasse 135

nahe d. Schiffbauerdamin.

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Fr. Frommanns Verlag (E. Hauff) in Stuttgart. Schriften von S. Kierkegaard;

Angriff auf die Christenheit.

Uebersetzt von

A. Dorner und Christoph Schrempf.

1896. XXIV u. 632 Seiten. 8«. In 2 Teile brosch. Preis 8 M. 50 Pf.

Die Akten.

Erste Hälfte: Kierkegaards letzte Schriften (1851—55) enthaltend. Inhalt: I. Ueber meine Wirksamkeit als Schrift- steller. — II. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen. III. S. Kierkegaards letzte Aufsätze in Zeitungen und Flugschriften. A. Artikel im Vaterland. B. Dies soll gesagt werden so sei es denn gesagt. C. Der Augenblick.

Zweite Hälfte: Anhang. Inhalt: I. Eine erste und letzte Erklärung. II. Aus Anlass einer mich betreffenden Aeusserung Dr. A. Gr. Rudelbachs. III. Der Gesichtspunkt für meine Wirk- samkeit als Schriftsteller. IV. Richtet selbst. V. Der Augen- blick. — VI. Gottes Unveränderlichkeit.

Daraus Sonderdruck:

Richtet selbst.

Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen (II. Reihe). 112 Seiten 8«. Preis 1 M. 50 Pf.

Deutsche Et. Kirchenzeitnng : Mit der Uebersetznng und Herausgabe dieser Schriften des seltsamen Dänen hat Seh rempfeine grosse und verdienstvolle Arbeit verrichtet. ... S. Kierkegaard ist ohne Zweifel einer der merkwürdigsten Schrift- steller der christlichen Kirche, von einer erschütternden Kraft, die Mark und Bein durchbohrt, und von einer Abstrusität, die zuweilen an Wahnsinn streift. Er möchte der Totengräber einer Christenheit sein , die mit dem Christentum keinen Ernst macht, und verurteilt unerbittlich das Scheinwesen, mit dem nicht bloss die Kirchen, sondern auch die Frommen sich zufrieden geben.

Die Grenzboten : Unter allen modernen Richtern der Christenheit ist der in Deutschland und wohl überhaupt in der AVeit am wenigsten bekannte S. Kierke- gaard, der radikalste gewesen. . . . Wir wollten nur darauf aufmerksam machen, dass Worte wie die seinen bei der gegenwärtigen Stimmung in Deutschland einen tiefen Eindruck hervorbringen müssen.

Leben und Walten der Liebe.

Uebersetzt von A. Dorner.

1890. XV, 278 u. 241 Seiten 8«. Preis geh. 5 M., geb. 6 M.

Frommanns Klassiker der Philosophie

herausgegeben

Richard Falckenberg

Dr. u. o. Professor der Philosophie an der Universität Erlangen.

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III.

S. Kierkegaard

VON

Harald Höffding.

SÖREN KIERKEGAARD

ALS PHILOSOPH

VON

HARALD HOFFDING

PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT KOPENHAGEN.

Mit einem Vorwort

von

CHRISTOPH SCHREMPF

LIC. THEOL. . ^

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STÜTTGAET. Fß. FEOMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

1896.

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LIBRARY

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WIIVERSITY OF TORONTO

Druck von L. Weil in Ellwangen.

Inhalt:

Vorwort des Herausgebers S. III

Einleitang 1

I. Die romantisch-specnlative Keligionsphilosophie ... 6

II. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark . 17

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit 29

IV. Sören Kierkegaards Philosophie 67

jl^ Die Erkenntnistheorie 61

B. Die Ethik 74

a. der Sprang 74

b. die Stadien 87

a. die ästhetische Lebensanschauung .... 88

ß, die ethische Lebensanschaanng 97

y. die religiöse Lebensanschauung 116

0. der Massstab 127

V. Sören Kierkegaard und das Christentum ...... 134

A. Persönlicher Durchbruch 134

B. Das letzte Wort 162

Schluss 160

Vorwort.

Als mir diese Schrift durch die Freundlichkeit des Herrn Verfassers zukam, erregte sie in mir sofort den doppelten Wunsch, sie als einen wichtigen Beitrag zum Verständnis S. Kierkegaards ins Deutsche zu übersetzen und eine zum Teil stark abweichende Darstellung des Philosophen Kierkegaard daneben zu stellen. Aber ich konnte weder das eine noch das andere ausführen. Auch die vorliegende Übersetzung ist nicht von mir gefertigt, sondern von Herrn Pfarrer a. D, A. Dorner in Fellbach bei Cannstatt; doch habe ich sie so durchgesehen und auch durchgearbeitet, dass ich sie wie eine eigene Ar- beit vertreten kann. Und statt etwa gleichzeitig eine- besondere Darstellung von Kierkegaards philosophischem. Denken zu geben, kann ich zunächst nur hier in eineni Vorwort andeuten, warum und wiefern ich ihn anders- wn betrachten und beurteilen würde. Das aber möchte iclr^BI doch nicht unterlassen, da es nicht bloss dem Verständ- nis Kierkegaards, sondern auch der richtigen Auffassung dieser Studie über ihn dienlich sein kann.

Es steht mir nicht zu, die Vorzüge dieser Schrift rühmend hervorzuheben. Sie wird für sich selbst spre- chen. Sie wird namentlich selbst den Nachweis liefern, dass Sören Kierkegaard nicht bloss als geistreicher „ästhetischer" Schriftsteller, auch nicht bloss als charak- terfester Vertreter eines etwas ernsthafteren Christen- tums, sondern in der That als wirklicher Philosoph aufmerksame Beachtung verdient. Ich meine sogar, dass er unter den „Klassikern der Philosophie" ziemlich weit, vorne steht. Denn er hat in Erkenntnistheorie, Ethik und Religionsphilosophie eine bestimmte, nicht so leicht.

IV Vorwort.

zu charakterisierende Richtung wirklich „klassisch" vertreten; und seine ästhetischen Gedanken seien nicht bloss geistreich, sondern oft auch wirklich gut. Den Freund Kierkegaards wird es wohlthuend berühren, dass in der vorliegenden Schrift die streng wissenschaftliche Untersuchung immer wieder die persönliche Sympathie des Verfassers für diesen seltsamen Denker durchscheinen lässt, der ein so tief unglückliches und so beneidenswert reiches Leben geführt hat. Ohne diese persönliche Sympathie wird ja auch kaum jemand die oft sehr not- wendige, aber gewiss auch sich lohnende Greduld haben, den verwickelten Gedankengängen Kierkegaards unver- drossen nachzugehen, ohne die einzelnen, oft unbequemen Päden abzureissen und fallen zu lassen. Dass hier «in Philosoph der Continuität den Irrationalismus Kier- kegaards darstellt und auf seinen wirklichen Wahrheits- gehalt prüft, kann auch der Verehrer Kierkegaards nicht bedauern, sondern nur mit Freude begrüssen. Zudem hebt ja der Herr Verfasser an allen wichtigen Punkten die Verschiedenartigkeit seines Denkens so oiFen und klar hervor, dass dem Leser jederzeit frei steht, sich auf die andere Seite zu schlagen und von a,nderen Voraussetzungen aus anders zu urteilen.

Das möchte ich selbst nun allerdings nicht selten thun.

Ich gehe nämlich bei der Betrachtung Kierkegaards mit Herrn Professor Höffding davon aus, dass er nicht wie andere Philosophen ein System der Erkenntnis geben wollte, sondern vielmehr nur „eine psychologische und ethische Einleitung zu einer Lebensanschauung oder eine Theorie der Lebensanschauung" (S. 55). Kierke- gaard ist an seinem Denken nie rein theoretisch, bloss ,, wissenschaftlich" interessiert, sondern immer eudämo- nistisch, ethisch, pädagogisch. Er denkt, auch wo es nicht so auffällig hervortritt, immer nur, um die Methoden zu gewinnen, wonach man leben kann und soll. Dann muss aber die Wahrheit seines Denkens,

Vorwort. V

wenn es solche hat, wesentlich immer darin bestehen, dass er eine brauchbare methodische Anweisung für die Gestaltung des Denkens und Lebens bietet. So betrach- tet scheint mir nun mancher „wissenschaftlich" unhalt- bare Gedanke ,, praktische" Wahrheit zu haben. Ich denke z. ß. an die Unterscheidung der ,, wesentlichen" und ,, unwesentlichen" Erkenntnis. Sie ist wissenschaft- lich kaum durchzuführen; davon hat mich der Verfasser dieser Schrift überzeugt (cf. S. 61 f.). Aber es ist in jedem Augenblick des Lebens für den Menschen eine sittliche Frage, worauf er jetzt sein Denken zuerst richten soll. Darauf giebt Kierkegaard die Antwort: auf das Wesentliche auf das, was du verstehen musst, um als sittliche Persönlichkeit existieren zu können. Und diese Antwort scheint mir auf eine durchaus rich- tige Methode des Lebens, bezw. Philosophierens hinzu- weisen, obgleich Kierkegaards einzelne Regeln für die Benutzung derselben nicht immer brauchbar sein mögen. In seinem nie rein theoretisch, stets eudämonistisch, ethisch, pädagogisch kurz: praktisch interessierten Denken ^eht nun Kierkegaard, wie er nicht anders kann, JB stets von sich aus und auf sich zurück. Das wird ja wiederum in dieser Schrift energisch hervorgehoben. Er suchte immer zuerst eine Existenzweise für sich, eine Lebensmethode, wonach er selbst leben konnte. Dieser Egoismus gehört zum Grossartigsten und Bedeut- samsten an ihm. Dann wird aber die erste Frage zu seiner Beurteilung sein: ob die von ihm entdeckte Me- thode für ihn passte; ob er sich die richtige Brille schliff, die seinem Auge ein Maximum von Sehfähigkeit verlieh; ob er sich die richtige Krücke schnitzte, die ihm das noch erreichbare Maximum von Bewegungs- fähigkeit gewährte. Darüber lässt sich streiten. Ich wäre doch geneigt, diese Frage ohne wesentliche Ein- schränkung zu bejahen. Seine charakteristischen Lebens- bedingungen waren: die „Angst" vor sich selbst, vor

^

VI Vorwort.

der Welt, vor „Gott"; die innere Gebundenheit an das historisch überlieferte Christentum als an die Wahrheit; eine unendlich feine Sensibilität für subjektive Wahr- haftigkeit, und ein brennendes Verlangen nach intensivem Leben, In dieser psychologischen Constitution musste ihm aber die Wahrheit im einzelnen und ihm ganzen, also namentlich ,,Gott*', mit Notwendigkeit als das „Paradox" erscheinen, das er durch den „Sprung" des ,, Glaubens" nicht sowohl erfasste, als nur immer wieder umklammerte. In seiner Verfassung musste ihm nament- lich das ,, ethische Stadium" des Lebens, das er mit so grosser Begeisterung zeichnete, sich mit Notwendigkeit unter den Händen verflüchtigen. Denn in der „Angst", in dieser ,, impertinenten Unruhe", bei dem immer wieder durchbrechenden Gefühl der „Uneinsartigkeit" mit dem Wahren, dem Guten, mit ,,Gott" da kann man un- möglich der ruhigen, liebevollen Ausgestaltung dieses angstvollen Lebens sich hingeben. Aber so seltsam, ja unheimlich uns seine Existenz oft anmutet: er hat sie doch durchgebracht; er ist dem wirklichen Wahnsinn entgangen; er hat sogar noch eine grosse und wertvolle Arbeitsleistung vollbracht. Ich schliesse daraus, dass seine Methode zu existieren für ihn richtig war während z. B. Friedrich Nietzsche die richtige Methode für sich nicht fand, da er sonst nicht wahnsinnig ge- worden wäre. Zudem war Nietzsche von Hause aus, wie mir scheint, bei weitem weniger gefährdet als Kierkegaard.

Gesetzt nun, Kierkegaard habe für sich richtig pliilosophiert, so steht uns noch die Frage aus, ob die von ihm gefundene Methode menschlicher Existenz auf Allgemeingültigkeit Anspruch machen kann. Ist aber seine Philosophie, wie ich annehme, eine im wesentliclien richtige Philosophie der „Angst" (aus der auch seine innerliche Gebundenheit an das Christentum fliesst): so fällt jene Frage mit der anderen zusammen, ob die

Vorwort. Vll

,,Anggt" eine vermeidbare und zu vermeidende Krank- heit des Menschen ist oder die notwendige Existenzform des endlichen Geistes, die dominierende Stimmung des Menschen, der zum intensiven ßewusstsein seiner selbst gekommen ist. Ist sie das Letztere, wie Kierke- gaard annimmt, wie auch ich anzunehmen geneigt bin, so liegt gerade in der Lehre vom ,, Paradox", vom ,, Sprung", vom ,, Glauben" wesentliche Wahrheit; so liegt auch in Kierkegaards höchst bedenklicher Auf- fassung der Ethik wesentliche Wahrheit, obgleich eben diese einer sehr sorgfältigen Revision bedarf. Denn dann wird das Geistesleben zum stäten und stets kriti- schen Kampf ums Dasein ; und für die Ausgestaltung des Lebens fehlt die Zeit, die Kraft, das Interesse. Es ist richtig, was Bröchner einwendet (S. 122): dass Kierkegaard für die Verfolgung der endlichen Ziele eigentlich keine Zeit und Kraft übrig lasse. Aber wenn das Leben des endlichen Geistes ein so kritischer Kampf ums Da- sein ist, wie Kierkegaard meint, ist es eben Thatsache, dass der Geistesmensch die endlichen Angelegenheiten höchstens zum Notbehelf besorgen kann. Ist dagegen die ., Angst" (oder ,, Schwermut") nur eine vermeidbare und zu vermeidende Krankheit des Menschen, oder nur eine begleitende, nicht die dominierende Stimmung des Geisteslebens: so hat Kierkegaards Philosophie wesentlich nur pathologisches Interesse, obgleich sie auch dann (da Kierkegaard unstreitig eine ganz ausser- ordentliche formale Begabung hatte) sehr lehrreich sein mag. Dieses Entweder-Oder lässt sich aber objektiv nie entscheiden. Das letzte Wort meiner Auffassung Kierkegaards kann daher nur sein, dass er an sich ge- glaubt hat und dass er in seiner angstvollen Schwer- mut ein zwar tief schmerzliches, aber bewundernswert reiches Dasein geführt hat, das er auch mit keinem andern vertauscht hätte.

In diesen Bahnen bewegt sich etwa meine kritisch-

Yin Vorwort.

aneignende Betrachtung Kierkegaards. Dass ich dabei unterwegs immer wieder mit dem Verfasser dieser Schrift zusammentreffe, kann ich hier nur anmerken, nicht im einzelnen nachweisen. Doch will ich noch besonders hervorheben, dass auch ich bei meiner Betrachtungsweise auf Bedenken gegen Kierkegaard hingetrieben werde, wie sie in dem Schlusswort dieser Schrift so nach- drücklich ausgesprochen werden.

Ich fürchte nicht, das die vorstehenden kurzen Be- merkungen dem Leser bei dem Studium dieser Abhand- lung hinderlich sein werden. Erschweren könnten sie's allerdings etwas. Aber das ist nach Kierkegaard nur Gewinn. Am Erwünschtesten wäre mir, wenn sie zu- sammen mit der Darstellung des Verfassers den Leser zum Studium der eigenen Schriften Kierkegaards füh- ren würden.

Von diesen wird leider die „Abschliessende unwis- senschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Bissen" (nach der zweiten Ausgabe zitiert) kaum je eine Über- setzung ins Deutsche erleben; wer Kierkegaard als Philosophen gründlich studieren will, muss sich also bequemen, ihn dänisch zu lesen. Nicht übersetzt ist auch „Die Wiederholung' (ebenfalls nach der zweiten Auflage zitiert). Dagegen sind übersetzt: „Entweder- Oder" (von Michelsen und Gleiss, Leipzig, Fr. B,ichter), „Furcht und Zittern" (von Ketels, Erlangen, Deichert). „Der Begriff der Angst" und „Philosophische Bissen" (von mir, Leipzig, Fr. Richter, unter dem Titel: „Zur Psychologie der Sünde, der Bekehrung und des Grlaubens" zusammen herausgegeben), ,, Stadien auf dem Lebenswege" (von A. Bärthold, Leipzig, Fr. Richter), ,,Die Krankheit zum Tode" und die „Einübung im Christentum" (von A. Bärthold, Halle, J. Fricke). Von den erbaulichen Schriften ist ausser einigen Predigten namentlich über- setzt: „Leben und Walten der Liebe" (von A. Dorner, Leipzig, Fr. Richter), sodann „Zur Selbstprüfung

Vorwort. JX

der Gegenwart anbefohlen" (von Hansen, Erlangen, Deichert), das aber eigentlich schon unter die agitato- rischen Schriften gehört. Ferner wird gleichzeitig mit dieser Schrift und im selben Verlag herausgegeben werden : ,,Sören Kierkegaards Angriff auf die Christen- heit", Band I, ,,die Akten". Darin finden sich, über- setzt von A. Dorner und mir, sämtliche, von ihm selbst herausgegebene und nachgelassene Schriften Kierke- gaards aus der letzten Periode seiner Schriftstellerei, also von den im folgenden angezogenen namentlich die letzten Zeitungsartikel, ,,Dies soll gesagt werden, so sei es denn gesagt", ,,Der Augenblick", ,,der Gresichts- punkt für meine schriftstellerische Wirksamkeit", „Richtet selbst". Da ein ernsthaftes Studium Kierke- gaards doch immer auf den dänischen Grundtext zurück- greifen muss und die Uebersetzungen zudem oft ungenau und gekürzt sind (namentlich Entweder-Oder, dessen kunstvoller Aufbau in der Uebersetzung zerstört ist), so wurde in der Regel neben den Uebersetzungen das Ori- ginal zitiert, und zwar von Entweder-Oder die 4., dem „Begriff der Angst", den ,, Bissen", der „Krankheit zum Tode" die 2., den „Stadien" und der ,, Einübung" die 3. Auflage. Die ,,hinterlassenen Papiere" sind ohne Angabe des Titels nach den Jahrgängen zitiert, die die einzelnen Bände enthalten.

Die Interpreten Kierkegaards ergänzen sich insofern auf das Trefflichste, als sie von den verschiedensten Standpunkten ausgehen. Georg Brandes (S. K., ein literarisches Charakterbild) behandelt ihn nach der •Methode moderner, psychologischer Literaturgeschichts- schreibung, wobei sich Kierkegaard oft seltsam genug ausnimmt. A. Bärthold hat in mehreren Schriften*)

*) „S. K., eine Verfasserexistenz eigener Art" ; „Aus und über S. K., Früchte und Blätter" (beide bei Frantz, Halberstadt); „Noten zu S. K.'s Lebensgeschichte"; „Lessing und die objektive Wahrheit,

X Vorwort.

Kierkegaard hauptsächlich als den vorgeführt, der in der bestehenden Christenheit ..Unruhe" weckte „zur Verinnerlichung". Dabei scheint mir aber Kierkegaard als Skeptiker (also als Philosoph) und als „rettender Feind der Christenheit" zu kurz gekommen zu sein. Endlich habe ich in der Einleitung zu den von mir übersetzten Schriften Kierkegaards dessen Lebensan- schauung kurz zu skizzieren versucht und dabei (Seite XLIIfF.) auf einige wesentlichen Schwierigkeiten in seiner Theorie und Darstellungsweise aufmerksam gemacht. Und in dem ersten Bande der „Zeitschrift für Theologie und Kirche'' (Mohr, Freiburg i B.) habe ich speziell Kierkegaards Stellung zu Bibel und Dogma untersucht und den Nachweis angetreten, dass seine pietätsvolle Gläubigkeit durch die Betonung der Gleichzeitigkeit gesprengt wird. Eine ausführliche, genetisch kritische Darlegung der Gedanken und Methoden Kierkegaards möchte ich in dem zweiten Bande des oben genannten Werks bringen: ,,S. K.'s Angriff auf die Christenheit.''

Aber man lese lieber Kierkegaard selbst. Er ge- hört mit Carlyle, Emerson, de Lagarde u. a. zu den Menschen, die man kennen sollte, um die sittliche und religiöse Situation unserer Zeit und sich darin zu ver- stehen. Ins Deutsche ist nun so viel von ihm übersetzt, dass man das merken kann. Und wer es gemerkt hat, wird Sorge tragen, dass er ihn besser kennen lernt, als dies durch Uebersetzungen geschehen kann.

Cannstatt, im September 1895.

Chr. Schrempf.

aos S. K.'s Schriften zasammeugestellt"; „Die Bedeutnug der ästhe- tischen Schriften 8. K.'s"-; „Zur theologischen Bedeutung S. K.'s" (bei J. Fricke, Halle); „S. K.'s Persönlichkeit in ihrer Verwirklichung der Ideale" (Gütersloh, Bertelsmann).

Einleitung.

Es war für Sören Kierkegaard ein schwermütiger Gedanke, dass die Zeit kommen würde, da auch er den ^Dozenten und Professoren" in die Hände fallen und zum Gegenstand der Darstellung gemacht werden sollte. Ja, er sah voraus, dieser wehmütige Gedanke selbst werde dabei mit dociert werden. Was ihm hieran zu- wider war, das war sicher nicht die Aussicht, Gegen- stand der Kritik zu werden, vielmehr etwas, das mit seinem ganzen Gedankengang aufs engste zusammenhing;. Einmal verabscheute er die ^hinterlistige" Bewunderung,, die, wenn der Kampf zu Ende, wenn der Ruhm ge- wonnen ist, hintennachkommt und des Propheten Grab schmückt und dabei vergisst, dass sich vielmehr in dem Verhalten gegen das Grosse, mit dem man wirklich zusammenlebt, erweisen soll, ob und wieweit man ge- sinnt und gewillt ist, das Grosse anzuerkennen. Seines- Lebens That war, dass er den Selbstbetrug entlarvte, worin uns ;,die aus der Geschichte auf Flaschen ge- zogene Idealität" (wie er sich ausdrückte) so leicht gefangen hält. Sodann gehörte es aber auch zu seinen. Hauptgedanken, dass es keine zusammenhängende psy- chologische und historische Entwicklung gebe. Dass man eine Erscheinung auf dem Gebiete des Geistes, die Wirksamkeit eines Denkers oder Schriftstellers als Glied in der Entwicklung darzustellen versuchte, als von bestimmten inneren und äusseren Bedingungen ge- tragen, und die weitere Entwicklung selbst wieder tragend und vermittelnd: das schien ihm das Phänomen herunterzuziehen und seines Wertes zu berauben. Er wollte nicht „auf Paragraphen gezogen werden/

1

2 Einleitung.

Sollte mein Versuch einer Charakterisierung und Würdigung dieses grössten Denkers unseres Volkes einer Rechtfertigung gegenüber seinem eigenen Protest bedürfen, so muss ich fürs erste bemerken, dass ich von einer ganz anderen Auffassung des Verhältnisses zwischen Psychologie und Ethik ausgehe als er. Ich habe die Überzeugung, dass auch die in idealem Licht sich uns präsentierenden Gestalten unter ganz bestimmten psychologischen und historischen Bedingungen auftreten, ebendarum aber auch an ihrem idealen Gehalt, so- weit ihnen ein solcher wirklich zukommt dadurch, dass wir sie innerhalb ihrer bestimmten Begrenzung und Bedingtheit betrachten, nichts verlieren. Im Gegen- teil ist diese Betrachtung ganz notwendig, wenn wir so den bleibenden Gehalt von dem absondern wollen, was etwa vorübergehende und rein individuelle Umstände hinzugethan haben. Und geboten ist dies nicht am wenigsten bei einem Denker von so ausgeprägtem und eigentümlichem Charakter wie Sören Kierkegaard. Wenn die, die von ihm lernen wollen, selbst Persönlichkeiten sind oder sein wollen, so müssen sie seine persönliche Eigentümlichkeit erst in ihrer Bestimmtheit sehen, um dann zu entscheiden, was sie nach ihrer Natur und unter ihren Verhältnissen von ihm sich zueignen können. Also gerade die Rücksicht auf das grosse Gewicht, das wir im Sinne Sören Kierkegaards auf die persönliche Aneignung, die persönliche Wahrheit legen müssen, heisst uns seine Persönlichkeit und sein Wirken einer psychologisch - geschichtlichen und kritischen Unter- suchung unterziehen.

Was sodann die Gefahr betriift, dass wir uns gegen- über Gestalten der Vorzeit gar leicht selbst betrügen, so möge mir das persönliche Bekenntnis gestattet sein, dass ich bei meiner Beschäftigung mit den Schriften Sören Kierkegaards, die ich nach einer Unterbrechung von etlichen zwanzig Jahren in dem letzten Jahre

Einleitang. 3

wieder aufgenommen habe, aufs neue seine Macht er- fahren musste, unsern Blick gegen uns selbst zu kehren und uns durch die Erweckung einer Selbsterkenntnis, -der wir uns sonst so gerne entziehen, zu verwunden. Es steckt in diesen Schriften ein Stachel, den bei ernst- licher Vertiefung in sie jeder empfinden muss, gleich- viel, mit welchen Voraussetzungen er im übrigen daran gehe. Es gilt von ihnen ein Wort aus dem Prediger, das Sören Kierkegaard in seinen Tagebüchern und Reden •()fters benützt: „Bewahre deinen Fuss, wenn du zum Hause des Herrn gehest!'^ Er erklärte dieses Wort so: Du könntest leicht erfahren müssen, dass das Ideal höher, die Forderung strenger ist, als du dir gedacht hattest; hüte dich daher, zu kommen, das Ideal za hören! Die Voraussetzungen, mit denen ich jetzt das Studium dieser Schriften wieder aufnahm, waren •gewiss gar andere als vor bald 30 Jahren, da ich als junger Student der Theologie zum erstenmale mit ihnen bekannt wurde. Sie führten mich dazumal in ein inneres Kämpfen und Ringen hinein, teils praktisch-persönlicher, teils theoretischer Art. Nach langem Widerstreben musste ich seiner strengen Auffassung des Christlichen weit mehr Berechtigung zuerkennen als der gewöhnlichen, idyllischen und harmonischen. Wenn uns das Christen- tum im Leben wie im Glauben wirklich ein und alles :sein soll, so hat Sören Kierkegaard die Folgen daraus gezogen. Ich versuchte mir eine Zeit lang dadurch zu helfen, dass ich zwischen Glauben und Wissen, zwischen Ideal und Wirklichkeit unterschied. Allein ich kam, mehr infolge persönlicher Lebensführung als durch Stu- dium, zu der Erkenntnis, dass man auf diese Weise immöglich durchschlüpfen kann. Die Hauptfrage musste ja doch die sein, ob ich in meinem persönlichen Leben, in meiner geistigen Haushaltung mich wirklich von übernatürlichem Beistand getragen wisse und in meiner Lebensführung wirklich mich von den Idealen und Geboten

1*

4 Einleitaag.

religiöser Ethik Gleiten lasse. Die Selbsterkenntnis- gab mir allmählich nach langer Unruhe und viel Peii* hierauf eine klare Antwort, die mir für mein ganzes Leben bestimmend gewesen ist. Halte ich mich an das, was der OefFentlichkeit zukommt, so muss ich be- merken, dass ich nun darauf geführt wurde, durch Studien in der Geschichte der Pliilosophie und Unter- suchungen auf dem Gebiete der Psychologie und Ethik den Bedingungen, Formen und Gesetzen des mensch- lichen Geistes nachzugehen. Ich erfuhr, dass das „Humane" durchaus nicht nur, wie Sören Kierkegaard in einem seiner Tagebücher sagt, ein verflüchtigtes Christentum ist, sondern eine Lebensanschau ang und Lebensführung bezeichnet, die, von den Griechen be- gründet, durch das Christentum vertieft und verinner- licht und endlich von der theoretischen und praktischen Arbeit der neueren Zeit ausgeweitet und geklärt, sich zwar nicht so leicht in kurze Formen zusammenfassen lässt, aber nichtsdestoweniger ihre Macht selbst auf ihre Gegner ausübt, wie sie auch von vorübergehenden. Verirrungen und Verzerrungen in ihrer weiteren Ent- wicklung nicht aufgehalten werden kann. Von diesent Standpunkt des Humanismus aus (wenn wir einmal einen -ismus haben sollen) blicke ich jetzt auf Kierke- gaards Wirksamkeit zurück. Und da ist es für micli von Bedeutung gewesen, zu sehen, welch ein Wert seinem Auftreten auch von diesem Standpunkt aus zu- erkannt werden muss. Ich habe durchaus nicht in polemischer Absicht auf ihn zurückgegriffen, obgleich verschiedene Betrachtungsweisen, mit denen ich auch sonst zusammengestossen bin, bei ihm mit einer genialen Klarheit und Konsequenz hervortreten, die es besonders lehrreich machen, sie hervorzuheben. Indem ich viel- mehr mit der Verehrung, die ich dem grossen Denker immer noch zolle, ihm meinen Dank abstatte für die Förderung, die er mir für meine persJhiliche Entwicklung.

Einleitung. 5

•gewährt hat, will ich zugleich dafür Zeugnis ablegen, dass er manchen, die ihm im Glauben ferne stehen, viel .sein kann. Er hört in dieser Hinsicht nicht auf unser „Zeitgenosse zu sein. Ich hoffe dafür Entschuldigung '/AI finden, dass ich hier soviel von mir selbst geredet habe. Es war mir darum zu thun, an einem einzelnen, an dem mir zunächstliegenden Beispiele zu zeigen, wie ;Sören Kierkegaard fortwirkt.

I. Die romantisch-spekulative Religionsphilosophie.

1. Beim Eintritt in das neunzehnte Jahrhundert war die Verbindung von Religion, Philosophie und Kunst die Losung in der Welt des Geistes. Man hegte den begeisterten Glauben, dass die Wahrheit Eine sei und dass alles Wertvolle, gleichviel, auf welchem Gebiete und in welcher Form es auch auftrete, in dieser Einem Wahrheit einbegriffen sei, wenn man sich nur offenen Sinnes in sie vertiefe. Keine Schranken für das Denken und doch auch keine Störung der Harmonie mit dem religiösen Gefühle und der künstlerischen Phantasie : das war die grosse Idee, die die leitenden Geister in den ersten Dezennien erfüllte. Sie meinten in der strengen Form des Gedankens nur das zum Ausdruck zu bringen, was unter anderen Formen das Leben und Element des neuerwachenden religiösen Sinnes und des so mächtigen poetischen Dranges bildete. Der Glaube der E-eligionsphilosophen war nach Form und Inhalt nicht sehr verschieden von der Antwort Fausts auf Gretchens bekümmerte Frage, wie es mit seiner Religion stehe, Faust spricht ein Gefühl der Unendlichkeit,. Innigkeit und Fülle aus, das durch das Leben in der Natur und mit den Menschen erweckt wird und das sich in einem endlichen Ausdruck nicht zusammenfassen, in einem Namen nicht erschöpfen lässt „Name ist Schall und Rauch !'^ Und Gretchen meint:

So ungefähr sagt das der Pfarrer auch. Nur mit ein bischen andern Worten.

Diese Worte können zum Motto für die damalige Auffassung des Verhältnisses zwischen Glauben und Wissen dienen, wie sie mit charakteristischen un<l

I. Die romantisch-spekalatiye Religionsphilosophie. J

bedeutungsvollen Unterschieden bei Schleiermacher und Hegel hervortritt.

2. Gerade zum Beginn des Jahrhunderts (1799) gab Friedrich Schleiermacher (1768 1834) seine „Reden über die Religion an die G-ebildeten unter ihren Verächtern" heraus. Er verstand hier die Religion als ein unmittelbares Bewusstsein davon, dass alles Endliche in und von einem Unendlichen, alles Zeitliche in einem Ewigen sein Bestehen hat; und zwar fällt ihm das Ewige und Unendliche nicht ausserhalb des Zeitlichen und Unendlichen, sondern ist vielmehr das innere Wesen und die Seele von diesem. Während wir in unserem Erkennen und Handeln uns mit dem Endlichen, Be- stimmten und Begrenzten zu thun machen, um dieses aufzufassen oder zu verändern, leben wir in unserem Gefühl ein ganzes, ungeteiltes Leben, ein universelles Leben, wo der Gegensatz und die Begrenzung aufgehoben ist und die allem theoretischen und praktischen Streben anklebende Einseitigkeit wegfällt. Das Gefühl ist das Gebiet der Religion, weil es ein Leben im Ganzen und Universellen ist, weil sich in ihm der Instinkt für das Universum kundgiebt, der nichts andres ist als eben die Religion. Jedes Gefühl hat nach Schleiermacher, wenn es nur nicht krankhaft und verderbt ist, einen religiösen Charakter. Und wie sich so das religiöse Gefühl nicht im Gegensatz zum Leben in der Erfahrungswelt, sondern als Vertiefung desselben äussert, so stellt sich auch die Gottheit nicht als ein von dieser Welt ge- sondertes Wesen dar, sondern als deren innere Einheit und beseelende Kraft. Auch die Unsterblichkeit ist nicht eine Existenz, die die gegenwärtige ablösen soll, sondern besteht darin, dass man schon mitten in der Zeit das Ewige in sich fühlt.

Später entwickelte Schleiermacher seine Auffassung der Religion in mehr theologischer Form in dem „christ- lichen Glauben-' (1821). Er bestimmt hier das religiöse

g I. Die romantisch-spekalative Eeligionsphilosopbie.

Oefühl als scUechthiniges Anhängigkeitsgefiihl und bringt damit ein Moment von der grössten Bedeutung für die religiöse Psychologie zur Geltung. Es ist überhaupt der feine psychologische Sinn, der den Arbeiten Schleier- machers bleibende Bedeutung giebt. Sowohl seine frühere Beschreibung des religiösen Gefühls als des universellen Einheitsgefühls, als der Zentralisierung des Gefühlslebens gegenüber dem Dasein, wie die spätere Bestimmung desselben als des Abhängigkeitsgefühls sind wertvolle Beiträge zur Psychologie der Religion, obgleich nähere Bestimmungen notwendig sind.

Das Dogma ist für Schleiermacher stets etwas Abgeleitetes, Sekundäres. Dogmatische Sätze sind ursprünglich als Ausdruck für das religiöse Gefühl ent- standen. Zuerst schafft sich dieses in dichterischer und rhetorischer Weise Luft ; die so entstandenen Ausdrucks- formen entwickeln sich darauf im Gewände der Lehre als Bekenntnisse, Und da die dichterischen Ausdrücke oft in scheinbaren Widerstreit mit einander kommen mussten, auch wo das zu Grund liegende Gefühl in Wirklichkeit dasselbe war, so wurde, um volle Klarheit herzustellen, eine reflektierende und dialektische Be- handlung notwendig. Durch diese Mittelstufe entstanden die dogmatischen Sätze, die darum nach Gültigkeit und Bedeutung sich von solchen Sätzen unterscheiden, die auf rein theoretischem oder philosophischem Wege ge- wonnen sind. Schleiermacher will eine gewisse Scheidung zwischen der Glaubenslehre und der Philosophie durch- führen; er stützt sie auf seine Erkenntnislehre (die wir aus der, nach seinem Tode herausgegebenen, unvollendeten „Dialektik" kennen) und weist darin einerseits kritisch die Grenzen des Erkennens nach, um andrerseits einem unmittelbaren Gefühlsverhältnis zur Gottheit seinen Raum offen zu halten, von deren Wesen nach seiner Auffass- ung das theoretische Denken sich keinen abgeschlossenen Begriff bilden kann.

I. Die romantisch'spekalative Religionspbilosophie. 9

Durch diese feine und geistreiche Auffassung stellte •sich Schleiermacher in bestimmten Gegensatz zu den ■zwei herrschenden Richtungen der Zeit, zu der Ortho- doxie und dem Rationalismus. Er verwarf den äusseren Buchstabenglauben der ersteren und die oberflächlichen Wegdeuteleien der letzteren. Sein Werk hat eine bleibende Bedeutung für die Religionsphilosophie, und •er steht als der grösste Denker da, den die Theologie neben Augustin und Zwingli aufweisen kann.

3. Sehleiermacher wollte nicht bloss ein freier Denker über die Religion sein, er wollte die kirchliche Theologie darstellen und meinte dies von seinem Stand- punkte aus thun zu können eine grosse Selbsttäuschung, mit der er seiner Zeit den Tribut bezahlte ; denn an seiner persönlichen Wahrheitsliebe ist, allen Vorwürfen orthodoxer und radikaler Fanatiker zum Trotz, nicht zu zweifeln. Er war die am meisten sokratische Persönlich- keit unter den Philosophen seiner Zeit. Ein seltener Sinn für Individualitäten und ein entschiedenes Bewusst- sein von dem Recht und der Bedeutung des Individuellen ■charakterisiert sein Leben, das uns in einer reichhaltigen und interessaaiten Sammlung seiner Briefe offen vor Augen liegt, und beseelt sein Denken Dass sich aber ein kirchlicher Theologe auf solch einen Standpunkt nicht stellen kann, das sah er nicht. Die Kirche als historische Gemeinschaft baut auf die Annahme der Offenbarung als einer objek- tiven Thatsache, als des absoluten und adäquaten Aus- drucks für die ewige Wahrheit, und tritt daher gegen- über dem Gefühlsleben der einzelnen Individuen mit dem Anspruch auf unbedingte Autorität auf. Für Schleiermacher wurden die Dogmen in Wirklichkeit nur Symbole, der Massstab ein subjektiver, und es ist von tjeinem Standpunkt aus zu Ludwig Feuerbach, für den die Theologie bloss Psychologie ist, nur noch ein Schritt- Symbole können nicht aufgezwungen werden : sie können mur frei gewählt oder gebildet werden und lassen sich

10 I* Die romantisch-spekalative Religiontphilosophie.

verändern, ohne dass darum das zu Grunde liegende Gefühl sich ändern müsste. Das kann aber die Kirche in Betreff ihrer Dogmen nicht einräumen; es würde ja dann auch der Oifenbarungsbegriff selbst wegfallen. Für Schleiermacher war sogar Gottes Persönlichkeit nur eine symbolische Vorstellung. Wenn aber mit Rück- sicht auf alle religiösen Vorstellungen zwischen Bild und Sache prinzipiell zu unterscheiden ist, so ist da» eine Aufhebung der positiven Religion, die jedenfalls an gewissen Punkten geltend machen muss, dass die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle und in ihrer adäquaten Form in die Welt hereingetreten ist.

Und bei näherem Nachsehen zeigt sich zugleich, dass die Bestimmung des religiösen Gefühls selbst (in beiden Formen, zuerst als eines Einheitsgefühls und später als eines Abhängigkeitsgefühls) auf mehr the- oretischen Voraussetzungen, also auf mehr Philosophie ruht, als Schleiermaclier sich bewusst ist. Das religiöse Gefühl hat nach seiner Voraussetzung einen harmonischen Charakter. Es ist gerade dasjenige Gefühl, durch das alle Disharmonie, Einseitigkeit, Unvollkommenheit und Sünde überwunden wird. Das Abhängigkeitsgefühl be- kommt zuletzt den Charakter des Vertrauens und der Begeisterung. Dies setzt aber eine optimistische und harmonische Weltanschauung voraus ; es darf keine Er- fahrungen geben, die eine ganz andere Totalstimmung gegenüber dem Dasein mit sich bringen könnten oder doch dem religiösen Gefühle ein minder harmonisches- Gepräge geben würden. Schopenhauer und Sören Kierkegaard treten in diesem Punkte zu der roman- tischen, harmonisierenden Auffassung der Welt in den denkbar schroffsten Gegensatz.

Ueberhaupt ist es für die Entwicklung des geistigen, besonders des religiösen Lebens in unserem Jahrliundei*t bezeichnend, dass sich die Gegensätze stetig, je länger je mehr, verschärfen. Das Jahrhundert beginnt mit

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Harmonie und Versöhnung; mit steigendem Nachdruck aber vollzieht sich die Spaltung und Scheidung. Schleier- macher erlebte zwar den Radikalismus eines Strauss und Feuerbach nicht mehr, deren Vorläufer er selbst ist, teils durch seine kritischen Untersuchungen der neutestamentlichen Schriften (infolge deren er z. B. die Echtheit des ersten Briefs an Tiraotheus und die Be- richte über die Kindheitsgeschichte Jesu aus geschicht- lichen Gründen verwarf), teils durch seine psychologische Methode. Dagegen musste er noch die Verschärfung auf dem orthodoxen Flügel bemerken. Im Jahre 1821 schrieb er in der Vorrede zur dritten Ausgabe seiner „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern*', die Zeiten haben sich so auffallend ge- ändert, dass die Personen, an welche diese Reden ge- richtet wurden, gar nicht mehr zu existieren scheinen, und wenn man sich unter den Gebildeten umsehe, so möchte man eher nötig finden, Reden an Frömmelnde- und an Buchstabenknechte zu schreiben, an unwissend- und lieblos verdammende Aber- und Übergläubige. Die Zeiten hatten sich geändert, und sie sollten sich noch mehr verändern.

4. Neben Schleiermacher, und diesem polemisch gegenüberstehend, wirkte in den zwanziger Jahren aa der Berliner Universität ein anderer Religionsphilosoph, der den Wunsch der Zeit nach Harmonie zwischen. Glauben und Wissen noch stärker als er zum Ausdruck bringt. Es war Hegel (1770 1831). Das Charakter- istische an diesem Denker, dessen Schriften*) durch ihre abstrakte Form den meisten unserer Zeit ein tieferes

*) Aosfäbrlich ist Hegels religions-philosophische Anschaanng dargestellt in seiner nach seinem Tod herausgegebenen „Philosophie der Religion"; in kürzerer Form hat er sie schon 1817 in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" ausgesprochen. Am leichtesten ist seine Auffassung des Christentums der „Philosophie der Geschichte" zu entnehmen.

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Eindringen in das, was an seinen Ideen wirklich be- deutend ist, freiJich schwer machen, war ein feines Verständnis für die Einheit des geistigen Lebens in allen seinen verschiedenen Formen und Gebieten. i)a er nun in dem menschlichen Geistesleben eine Form für die Offenbarung eines ewigen Weltgeistes sah, so gelang ihm der Entwurf einer idealistischen Entwick- lungslehre, in deren Rahmen er oft sehr willkürlich <und mit mehr oder weniger geistreicher Umdeutung ^Ues eingliederte, was ihm sein reiches Wissen aus den verschiedenen Gebieten zur Verfügung stellte. Da sich .das Göttliche auf allen Gebieten und in allen Formen des Daseins äussert, so anerkennt Hegel keine absoluten Gegensätze. Alle Unterschiede und Gegensätze sind Momente der Entwicklung, die dazu dienen, dieser Inhaltsfülle und Energie zu geben, selbst aber immer wieder in einer höheren Einheit aufgehoben und ver- einigt werden. Die Weltentwicklung geht durch stetiges Hetzen und Aufheben von Gegensätzen vor sich. Die Kontrastwirkung ist für Hegel gewissermassen das Grundphänomen, das erst Licht ins Dasein bringt. Es zeigt uns ja, wie die Gegensätze einander hervorrufen und nicht getrennt werden können. Ein höheres Gebiet oder eine höhere Form für das Dasein ist nach Hegel- scher Auffassung dadurch angezeigt, dass Gegensätze durchlaufen sind und ihr Resultat in einer neuen Ein- heitsform niedergelegt haben. Die Mediation, die Aus- gleichung und Aufhebung von Gegensätzen (oder von Widersprüchen, wie sie Hegel unrichtig nennt), wurde das Schlagwort der Anhänger Hegels. In einem Gegen- satz stehen zu bleiben war ein Zeichen, dass man in dem Endlichen und Aeusserlichen befangen war ; es ^alt die höhere Einheit zu gewinnen, die Gegensätze in Harmonie zu vereinigen. Eine geniale Idee und -ein grossartiges Ziel! Aber es ist ein langer Weg von der allgemeinen Idee zu der speziellen theoretischen

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und praktischen Durcbfülirnng, und Hegel und dessen Anhänger verwechselten gar zu oft das Programm mit der Ausführung.

Das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion war nach Hegel dies, dass beide einen und denselben Inhalt haben, nur dass die Philosophie diesen Inhalt in der Sprache des abstrakten Denkens ausdrückt, die Religion dagegen in der Sprache des Gefühles und der Phantasie. Es besteht also nur ein formaler Unter- schied, der das Wesentliche nicht berühren soll. Was der Gläubige als historische Thatsachen auffasst, z. B.- die Weltscböpfung, Gottes Menschwerdung in Christus u. s. f., das sind für die Philosophie ewige, für alle Zeiten gültige Wahrheiten und Gesetze. So ist die christliche Lehre von dem leidenden Gott für die Phi- losophie nicht Beschreibung einer einzelnen Reihe liistorischer Vorkommnisse, sondern ihr wesentlicher' Inhalt den nur der Philosoph in seiner klaren, adäquaten Form ergreift ist die Wahrheit, dass das Unendliche und Göttliche in der endlichen Welt lebt, während doch jede endliche Form unvollkommen ist und zerbrochen werden muss. Das Unendliche entfaltet sich also in der Welt nur durch den .stetigen Unter- gang endlicher Formen. Nur in dem ganzen unendlichen Prozess immer neuer und immer wieder untergehender Lebensformen besteht das ewige Leben der Gottheit.

Schon an diesem einen Beispiel wird es klar, dass Hegel so gut wie Schleiermacher die Dogmen in Wirk- lichkeit zu Symbolen macht, nur dass sie bei ihm Symbole für allgemeine Ideen, nicht für subjektive Ge- fühle werden. Wie bei Schleiermacher so war es denn auch bei Hegel eine Selbsttäuschung, dass er Glauben und Wissen versöhnt zu haben meinte. Es war aber Hegels bestimmte Ueberzeugung, dass durch Umgiessung des Glaubensinhalts in philosophische Form nichts von. wesentlicher Bedeutung verloren gehe; er meinte

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vielmehr, er werde erst so recht zum Eigentum des Menschengeistes. Er sah nicht, was erst Strauss und Feuerbach scharf nachwiesen, dass die Uragie.ssung wirklich einen üebergang zu einer ganz andern Lebens- und Weltanschauung bedeutete, als die ist, welche der positiven Religion, besonders dem Christentum, das hier natürlich vor allem in Betracht kommt, wirklich eignet. Das ganze Verhältniss zwischen Christentum lAid Hu- manität fasste Hegel ganz wie Schleiermacher als ein harmonisches auf. Der romantische Optimismus ist für beide charakteristisch.

5. Doch rausste sich schon vom rein philosophischen und humanen Standpunkt aus ein Bedenken gegenüber dem Hegeischen Grundgedanken von der Einheit der ■Gegensätze erheben. Eine höchste Einheit, worin alle Gegensätze des Daseins ihre Versöhnung finden, als wirklich angenommen, so sind doch wir als existierende Wesen, mitten in dieser Welt der Gegensätze, von ihr gar weit entfernt. Im Wogenschlage der Gegensätze schwanken wir auf und ab ; wir sind von der Erfahrung abhängig, stossen mit unserm Denken wie mit unserm Handeln auf Schranken, haben nur einen beschränkten Horizont, und was wir schliesslich erreichen, ist oft problematisch, wenn wir nicht gar mit dem Kopf gegen die Wand laufen! Für uns ist daher jene Einheit ■ein unerreichbares Ideal, und die Versöhnung, die sie enthält, besteht nur für die Phantasie oder für den Glauben. Diesen wesentlichen Punkt den Unterschied ijwischen Methaphysik auf der einen und Psychologie und Ethik auf der andern Seite übersah Hegel, und darin lag sein grösster philosophischer Fehler. Die Folge war, dass er (und seine Anhänger noch mehr) die rein abstrakte und logische Konstatierung des Zu- sammenhanges von Gegensätzen, z. B. entgegengesetzter Standpunkte, mit einer Ueberwindung derselben ver- wechselte, die man nur wirklicher Arbeit verdankt

L Die romantisch-speknlative Religionsphilosophie. 15

oder auf ethischem Gebiet durch wirkliches Durch leben und praktische Versöhnung der wider- strebenden Tendenzen, in denen das Leben sich bewegt, erreichen muss. Hiezu kommt, dass im Verlauf des Lebens stets neue Gregensätze und damit neue Probleme auftauchen; es kann die höhere Einheit also nie ein für allemal gewonnen werden. Die Theorie von der Einheit der Gregensätze stellt also ein Ideal auf, giebt uns aber keinen wirklichen Besitz. Hegel machte den grossen Fehler, dass er, um mit seinen eigenen Worten zu reden, darauf ausging, das Ideal zum System um- zuschreiben. Damit Hess er (wie wir das nicht bloss an seiner Religionsphilosophie, sondern auch an seiner Ethik und Staatslehre sehen) weder die Wirklichkeit noch das Ideal zu ihrem Rechte kommen.

Sören Kierkegaards Opposition gegen Hegel ver- dankt ihre Bedeutung nicht zum geringsten Teil der scharfsinnigen, einschneidenden Art, wie er diesen Hauptpunkt in der Hegeischen Philosophie angriff. Auch ist wohl zu beachten, dass wir hier nicht den Ideen eines einzelnen Philosophen gegenüberstehen; vielmehr ist die Hegelsehe Lehre in diesem Punkt wirklich von typischer Arl Sie repräsentiert nach ihrer besten Deutung das natürliche Bestreben, von dem das menschliche Geistesleben niemals abgehen kann, Zu- sammenhang und Harmonie zu finden, durch eigene Kraft Herrschaft und Überblick über das Leben zu gewinnen. Und in einer oberflächlichen Verwen- dung — stellt sie ein Phantasieverhältnis zum Dasein dar, eine schöngeistig-beschauliche Stellung zu Problemen, Krisen und Gegensätzen, die man als ein interessantes Schauspiel sich entfalten lässt, von deren Konflikten man aber nicht berührt wird, indem man sich selbst als die verwirklichte „höhere Einheit" betrachtet. Mag man diesem System, worin sich die romantische Bewegung seit Beginn des Jahrhunderts in abstrakter

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Form auf- und zusammenfasste, auch die beste Deutung: geben, so musste es doch eine ernstliche Reaktion lier- vorrulen, die in Theorie und Praxis wieder die Wirk- lichkeit in ihrem bestimmten, konkreten und individuellen Charakter betonte. Und indem Sfjren Kierkegaard mit der wünschenswertesten Entschiedenheit diese Reaktion auf dem ethisch-religiösen Gebiete einleitet, bringt er sie- zugleich in eine solche Form, dass sie als stetiger Protest gegen ähnliche Tendenzen in der menschlichen Natur. wie sie auch spätere Zeiten darbieten, fortwirken kann,

Goethe's Faust hatte übrigens bereits ausgesprocheuy um was es sich hier handelte. Wie er in des Nostra- damus Buch das Symbol für das Universum sieht, ruft er anfangs begeistert aus:

Wie alles sich zam Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt! es stimmt ihn aber bald wehmütig, dass diese Ein- heit der Gegensätze nicht in der Form der Wirklich- keit gegeben ist :

Welch Schauspiel! aber ach! ein Schauspiel nur!'

Sören Kierkegaard erkannte es als seine Lebens- aufgabe, einzuschärfen, was das vorangehende romantisch- spekulative Geschlecht vergessen hatte : dass nämlich das Leben etwas anderes und mehr ist als ein Schau- spiel für uns.

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Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark."^)

1. Johann Ludwig Heiberg (1791— 1860) war der Apostel Hegelscher Philosophie in Dänemark. Zum erstenmal e ergriff er das Wort für sie in einer Ab- handlung aus dem Jahre 1825, mit der er sich an dem von Howitz veranlassten deterministischen Streite be- teiligte. Später wandte er sie besonders auf ästhetische und theologische Gegenstände an. Er fand in Hegels Philosophie einen Ausdruck für dasselbe, was Groethe in seiner Lebensanschauung und in seinen Dichtungen an- strebte. „Hegels System", sagt er, ,,ist ganz dasselbe wie das Goethe's. Dass zwei so grosse Geister zu gleicher Zeit zum selben Resultate gekommen sind, kann uns von diesem nur eine günstige Vorstellung erwecken. . . . Um die Hegel'sche Philosophie mit ein paar Worten zu charakterisieren, kann man sagen, sie versöhne gleich der Goethe'schen Poesie das Ideal mit der Wirklichkeit, unsere Ansprüche mit dem, was wir besitzen, unsere Wünsche mit dem, was wir erreicht haben." lieber das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie im besonderen hat sich Heiberg nicht nur in seinen. Abhandlungen und in seiner Zeitschrift „Perseus", sondern auch in seinen grossen philosophischen Gedichten ausgesprochen, die sicher das Trefflichste sind, was unsere Litteratur in dieser Richtung besitzt. Wenn er in der Reformationskantate sagt, dass „das Denken empor zum Höchsten stieg, so oft sich's in sich selbst

*) Zu dem Folgenden vergleiche man Arcbiv für Geschichte der Philosophie, 2. Band, 1889, S. 50 ff: Harald Höffding, die Philosophie in Dänemark im 19. Jahrhnndert.

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vertiefte '^, so spricht er damit Hegels Grundge danken aus. Denn auf dem selbsteigenen Weg des Denkens, indem das Denken sich aus seiner eigenen Natur heraus klar entfaltet, werden ja nach Hegel dieselben Ideen ge- funden, die den wesentlichen Inhalt der Religion ausmachen. Freilich besteht ja wohl ein grosser Unterschied in der Form; die Religion verfügt auf ihrem unmittelbaren Gebiet über Bilder und Symbole, gegen deren Farben- pracht die Denkformen arm und gering erscheinen möchten. Allein Heiberg tröstet sich im „Protestantismus in der Natur", dem Gedichte, worin er sich \'ielleicht zum höchsten Flug erhebt, dass die ganze, dem Vergehen unterworfene Aussenwelt in uns wieder Leben und Wirklichkeit gewinnen soll, wenn wir nur den Blick einwärts wenden wollen. Was uns entschwindet, ist nur die äussere, anschauliche Form, die die kindliche Phantasie schmerzlich vermisst und mit der sie alles verloren glaubt. Für Heiberg aber geht damit so wenig wie für Hegel etwas verloren. Es schien ihm für seine Zeit bezeichnend, dass sie erkennen wollte, was die früheren Zeiten gefühlt und geglaubt hatten. Dieses Erkennen soll aber nach seiner Meinung „Gefühl und Glauben durchaus nicht vernichten, sondern im Gegen- teil befestigen; denn erst wenn wir einmal wissen, dass sie die Wahrheit enthalten, können wir uns ihnen ungestört überlassen." Diese Auffassung erregte bei den Theologen aber doch Bedenken, und so gelang es der spekulativen Religionsphilosophie in dieser klaren und entschiedenen Form bei uns nicht, grösseren Anhang zu gewinnen. Sie musste sich erst einer dogmatischen Modifikation eigentümlicher Art unterziehen.

2. Hans Märten sen (1808—1884) fühlte sich von der Hegeischen Denkweise schon als Jüngling stark angezogen, da sie ihm die Möglichkeit einer Erkenntnis des Göttlichen zu eröffitien schien, während Schleier- macher, der ihn zur selben Zeit stark beeinflusste, die

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•spekulativen Probleme scliliesslich liegen liess. Als Schleiermacher ein Jahr vor seinem Tode bei einem Besuch in Kopenhagen eines Tages mit dem jugend- lichen, liebenswürdigen Kandidaten der Theologie einen Spaziergang machte, fragte ihn dieser „ganz naiv", ob •er eine Erkenntniss des „göttlichen Wesens an sich, •des inneren, ewigen Lebensprozesses in Grott" für mög- lich halte. Schleiermacher erwiderte ruhig : „Ich halte es für eine Täuschung."*) Allein die spekulative Be- geisterung des jungen Theologen liess sich durch die Warnung des alten Meisters nicht dämpfen. Hegels Denkweise lockte ihn, obgleich er bei Hegel, der ihm .zu abstrakt logisch war, nicht stehen bleiben konnte. Er ahnte wohl auch, dass für Hegel wie für Schleier- macher die Dogmen konsequenterweise nur Symbole werden können. Er traute sich die Kraft zu etwas noch ■Grösserem zu, als diese Denker für erreichbar gehalten hatten: er wollte Glauben und Wissen so versöhnen, dass er beider Form beibehielt. Eigentümlich für Mar- tensen war, dass er einem mystischen und phantasie- reichen Schauen das Denken beigesellen wollte, d. h. ein Denken, das unter den Bildern, die vor der vom Gemüt erregten Phantasie aufstiegen, einen gewissen Zusammenhang herzustellen suchte. Sein Ideal waren die alten Mystiker und Philosophen; er wollte in den Fusstapfen Meister Eckarts und Jakob Böhme's wandeln. Von den Denkern seiner Zeit bewunderte er vornehmlich den katholischen Philosophen Franz Baader, der gleichfalls die Philosophie Jakob Böhmes •erneuern wollte. Seine Abweichung von Hegel brachte •er schon frühzeitig (1836) in der Kritik einer Heiberg'- schen Abhandlung und in seiner Disputation über die „Autonomie des Selbstbewusstseins in der christlichen Dogmatik" (1837) zum Ausdruck. Gegen Hegel machte

*) S. Martensen, mein Leben (Karlsrahe u. Leipzig, H. Reuther 1883) I. S. 81 f.

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er besonders die Unmöglichkeit, ohne Voraussetzungen zn denken, geltend. Der Mensch hat sich ja nicht selbst erschaiFen, sondern ist von Gott gesetzt hat also Gott zu seiner Voraussetzung, seiner Autorität. Angesichts des Schöpfungsdogmas darf nicht Selbständigkeit (Auto- nomie), sondern nur die Abhängigkeit von Gott (Tlieo- nomie) die Losung werden. Spekulation auf Grund des Glaubens, das ist die Aufgabe. Es muss mit dem alten Worte Ernst gemacht werden, dass Gottesfurcht der Weisheit Anfang ist. Später, in seiner Dogmatik, formulierte er dies so, dass die Glaubenslehre als Wissenschaft nur für das durch Glauben und Gnade wiedergeborene Selbstbewusstsein möglich sei.

Man kann Martensen die Einsicht, dass seine höhere- Wissenschaft verschiedener Voraussetzungen bedurfte, nicht absprechen, wogegen es einen wohl befremden kann, dass er nicht selbst sich fragte, welchen Wert eine Wissenschaft noch habe, die auf so vielen und so ungeheuren Voraussetzungen ruht. Aber der jugend- liche Theologe hatte Begeisterung, und begeistert wurden die, die ihn hörten. Man datierte von seinem Auftreten ^eine neue Aera" und erwartete ein goldenes Zeitalter für die Theologie. In seinen Vorlesungen über die Ge- schichte der neueren Philosophie führte er seine Zuhörer zuerst zu Hegels Philosophie als dem notwendigen Resultat der Entwicklung des Denkens, und wenn ihnen das hinlänglich imponiert hatte, kam Verwunderung und Bewunderung in zweiter Potenz, wann er die Not- wendigkeit und Möglichkeit eines noch höheren Stand- punkts zeigte fortschreitend über den grössten Denker der Zeit hinaus! In seiner Dogmatik führte er seine Zuhörer wie späterhin seine Leser von Dogma zu Dogma, ohne dass eine wesentliche Schwierigkeit Aufenthalt verursachte. Dreieinigkeit, Inkarnation, Versöhnung werden gleich einer Bildergalerie voll grosser Begeben- heiten im Reiche des Geistes vorgeführt, daneben oft

11. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 2 1

geistvolle und tiefsinnige Bemerkungen, und jeder An- stoss für das Denken ist sorgfältig weggeschafft. Das muss wohl von der Wiedergeburt herrühren. Nur an einem Punkte stutzt der dogmatische Denker; da will es auch dem wiedergeborenen Bewusstsein nicht ge- lingen, Klarheit in die Sache zu bringen : in der Frage nach der ewigen Verdammnis. Hier findet er - zur Ehre für sein Humanitätsgefühl, wenn auch nicht zur Ehre seiner Orthodoxie für das Denken doch eine crux.

Philosophisch betrachtet hat sich Martensen für's erste an der Wahrheit versehen, dass das Denken stets Voraussetzungen braucht. Er hat nicht gesehen, dass man diese Voraussetzungen stets auf ein Minimum be- schränken und sie sodann (in der Erkenntnislehre) durch den Nachweis ihrer Begründung in der menschlichen Natur legitimieren muss. Wir konstruieren nur die Voraussetzungen, die zum Verständnis der für die Er- fahrung gegebenen Wirklichkeit notwendig sind und als in der menschlichen Natur wurzelnd nachgewiesen werden können, Und für's zweite hat er nie eine Aufklärung darüber gegeben, wie es eigentlich zugeht, dass die Schwierigkeiten, welche die Dogmen dem natürlichen Bewusstsein darbieten, für das wieder- geborene Bewusstsein wegfallen. Bekommt man denn mit der Wiedergeburt eine andere Logik ? Und müsste in diesem Falle nicht eine Darstellung dieser höheren Logik von grösster Wichtigkeit sein? Oder sollte der ganze Unterschied darin liegen, dass man nicht mehr denkt? Und geht es immer so leicht, dass man zu denken aufhört, die Vernunft gefangennimmt? Es fehlte jedenfalls nicht an solchen, die hier den schmerz- lichsten Widerspruch, den leidenschaftlichsten Zusammen- stoss zwischen verschiedenen Kräften empfanden und an diesem Versuch einer „höheren" Wissenschaftlichkeit schweres Ärgernis nahmen.

22 II' Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark.

Vom religiösen Gresichtspunkte aus musste sich da» Bedenken erheben, ob man auch noch Zeit, Lust und Kraft zur Spekulation habe, nachdem man die genannten Voraussetzungen gewonnen hatte. Diese konnten ja möglicherweise derart sein, dass man sie stets von neuem erwerben musste, dass die Aneignung nicht ein- für allemal vor sich gehen konnte, und dass diese Auf- gabe der stets wiederkehrenden Aneignung „die höhere Einheit" unmöglich machte, auch in der Form, wie Martensen sie mit seinem übermütigen Versuch, Hegel noch zu überbieten, aufgefasst hatte.

3. Mit Heiberg und Martensen hielt die deutsche- spekulative Philosophie ihren Einzug bei uns. Doch schon ehe Sören Kierkegaard seinen wuchtigen Angriff" auf diese Richtung eröffnete, waren ihr dänische Denker mit energischem und wohlbegründetem Widerspruche entgegengetreten. Wie Treschow zu Anfang des Jahr- hunderts durch sein nüchternes kritisches Denken und seine gesunde Psychologie den Unklarheiten Schelling'- scher Philosophie entgegengewirkt hatte, so trat bereits in den dreissiger Jahren Friedrich Christian Sibbern(l785 1872) mit einschneidender Kritik gegen die Hegel'sche Philosophie auf. Sibbern war nach seiner innersten Natur und nach seiner ganzen Entwicklung unempfönglich für eine Philosophie, die alles aus sich selbst heraus spinnen wollte und durch ihre spekulativen Abstraktionen das wirkliche Leben aus den Augen ver- lor. Charakteristisch ist für ihn in dieser letzteren Hinsicht ein Zug, den er selbst erzählt. „Ich erinnere mich, dass Sören Kierkegaard in seiner Hegerschen Zeit mich einmal auf dem Alten Markte traf und fragte, wie sich die Philosophie zu dem Leben in der Wirk- lichkeit verhalte. Die Frage machte mich stutzig, da all mein Philosophieren auf die Erforschung des Lebens und der Wirklichkeit ausging; später musste ich dann

II. Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 23

freilich gewahr werden, dass diese Frage sich einem Hegelianer ganz natürlich aufdringen musste, da ein solcher die Philosophie ja nicht existenziell studiert.*^ (S. Kierkegaards eft Pap. 1833-43, S. LH f.)

Für Sibbern musste das Denken stets etwas Ge- gebenes, eine faktische Grundlage haben. Die Philo- sophie muss explikativ sein, d.h. sie muss sich den in der gegebenen Erfahrung vorliegenden Inhalt klar und deutlich machen, ehe sie spekulativ werden, d. h. von dieser Grundlage ausgehend weitergehende Hypothesen aufstellen kann. Hiezu kam noch, dass Sibbern in der interessanten Entwicklungsphilosophie, auf die er schon frühzeitig gekommen war, das Dasein als einen grossen Prozess oder als ein System von Prozessen auffasste, die von vielen ungleichartigen Ausgangspunkten aus vor sich gehen. Er legt auf den sporadischen Charakter der Entwicklung besonderes Gewicht. Da nun der forschende Mensch selbst einer von diesen vielen Ausgangspunkten ist und selbst in- mitten eines dieser sporadischen Entwicklungsprozesse steht, so kann er das Ganze unmöglich überschauen. Wiewohl wir Glieder in dem universellen Dasein sind und daher dessen innerstes Wesen sich auch bei uns regen muss, können wir uns doch von unserer Stelle aus kein abgeschlossenes Bild des ganzen Weltlebens entwerfen. Ein philosophisches System im Sinne Hegels ist also für Sibbern überhaupt ein unmögliches Unter- nehmen.

Sibberns religionsphilosophische Gedanken liefen darauf hinaus, dass man die religiöse wie jede andere Erfahrung als gegeben zunächst einfach hinnehmen soll. Dann handle es sich darum, in ihren Inhalt sich hinein- zuleben, um so den wirklichen Gehalt und die Gültig- keit derselben zu entdecken. Er war ebensosehr gegen die rationalistische oder spekulative Umsetzung des lebendigen, persönlichen Glaubens in abstrakte Begriffe,

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wie gegen die orthodoKe Geltendmachung der Dogmen als äusserer, objektiver Wahrheiten. Anfangs Hess sich Sibbern hierin durch seinen Gegensatz gegen die dürre Verständigkeit des Rationalismus leiten. Mit den Jahren aber fühlte er sich mehr und mehr von der orthodoxen Richtung abgestossen und zweifelte nachgerade daran, inwieweit der Inhalt der Religion wirklich in demselben Sinne für gegeben gelten dürfe wie die der Wissen- schaft zu Grunde liegenden Erfahrungen. So kommt denn bei Sibbern in einer Reihe merkwürdiger Uni- versitätsprogramme aus den Jahren 1846 49 eine aus- gesprochen kritische Stellung gegenüber dem positiven religiösen Glauben zum Vorschein. Es war nicht sowohl historische Kritik, was in ihm den Zweifel weckte, wieviel in der Religion wirklich gegeben sei, als vielmehr die psychologische Überzeugung, dass manches, was als ursprünglicher Ausdruck religiöser Bewegung gelte, nicht unmittelbarer Ertrag persönlicher Erfahrung sein könne, sondern vielmehr einer komplizierteren Ent- wicklung entstamme, wobei allerlei Voraussetzungen und Reflexionen bestimmend mitgewirkt haben. Im ganzen wurde er mehr und mehr von der objektiven und historischen Seite an der Religion ab und auf das innere persönliche Leben hingeleitet, das die Quelle ihres Lebens ist. Und indem er hiemit seinen weit- tragenden Gedanken verband, dass alle Entwicklung sporadisch, von einzelnen Ausgangspunkten aus, vor sicli gehe, musste er die Anerkennung des Rechts der Subjektivität fordern. So führte der alternde Denker den Satz konsequent durch, den sein jüngerer Freund, Sören Kierkegaard, bereits etliche Jahre zuvor ent- wickelt hatte: dass nämlich die Subjektivität die Wahr- lieit ist; nur dass er ihn nicht mit Kierkegaard bloss auf die Notwendigkeit persönlicher Aneignung gründet, sondern besonders darauf Gewicht legt, dass das wirk- liche geistige Leben sich in den einzelnen Persönlichkeiten

IL Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 25

je besonders regt, und man durch das gewaltsame Hineinzwängen aller einzelnen in eine gemeinscliaftliche Form der Lebensanschauung eben diese einzelnen Lebens- quellen verstopfe.

Dass Sibberns Einfluss auf seine Zeit kein stärkerer wurde, hängt besonders mit seinem Mangel an leicht- verständlicher Darstellung zusammen. Sein Stil leidet an Breite und mancherlei Sonderbarkeiten, die der rechten Würdigung des Mannes nach seiner besonderen Bedeutung hindernd im Wege standen.

4. Ein jüngerer Freund und Amtsgenosse von Sibbern, der Dichter und Philosoph Paul Möller (1794—1838), verdient in der Besprechung der älteren Zeitgenossen Sören Kierkegaards besondere Erwähnung, da er Kierkegaard persönlich am nächsten stand. Paul Möller war eine Zeit lang für Hegels Philosophie sehr eingenommen gewesen, stellte sich aber später derselben kritisch gegenüber. Als Universitätslehrer wirkte er am meisten durch seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Er hatte, wie seine „Gredankensplitter" zeigen, einen aufgeschlossenen Sinn für die persönliche Seite beim Philosophieren, hielt sich nicht nur an den objektiven Inhalt der philosophischen Theorien, sondern ging von diesem Inhalt zurück auf die philosophierende Persönlichkeit. In seinem Entwurf einer Abhandlung über die Affektation äussert sich Paul Möllers Sinn für die Bedeutung der persönlichen Wahrheit besonders charakteristisch und so, dass er in bedeutsamer Weise als Sören Kierkegaards Vorgänger vor Augen tritt. Dieser Entwurf vermag wohl auch eine ungefähre Vor- stellung davon zu geben, um was sich die häufigen Unterredungen Paul Möllers mit Sören Kierkegaard bewegt haben.

Affektation ist nach Paul Möller eine Mischung von Falschheit und Selbstbetrug. Sie entsteht dadurch, dass man sein will, was man seiner Natur nach nicht

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sein kann, und darum sich selbst und andern einbildet, man sei anders, als man in Wirklichkeit ist, ^.Der Affektierte thut vorsätzlich, was nur Bedeutung hat, wenn es durch Naturgewalt oder Naturantrieb oder höhere Notwendigkeit hervorgerufen ist.'' Paul Möller aber hat einen klaren Blick dafür, dass Affektation in diesem Sinne auf gewissen Stufen der Entwicklung infolge der Natur der Verhältnisse nicht zu vermeiden ist. Denn wenn die Persönlichkeit sich entwickeln und erweitern soll, so muss sie notwendig ihre Grenzen überschreiten und fremden Stoff in sich aufnehmen, ohne dieses Fremde doch sofort zu ihrem wirklichen Eigentum machen zu können. Hiedurch entsteht als Durchgangspunkt eine augenblickliche Affektation. Dauernd wird sie, wenn das aufgenommene fremde Prinzip konsequent durchgeführt wird, obwohl es in der Persönlichkeit nicht Wurzel fassen kann. Moralisches Gefühl, Selbstgefühl, aber auch Immoralität, können so Schalen sein, worin man sich vor sich selbst und andern versteckt, indem man daran Gefallen findet, ohne sie doch wirklich auszufüllen. Eine wissenschaftliche Sprache ohne Einsicht in die entsprechenden Gedanken, und übertriebene Symmetrie in einem wissenschaftlichen System sind mehr theoretische Formen derselben Er- scheinung.

Paul Möller betont die Wichtigkeit der Ueberein- stimmung zwischen dem Innern und Aeussern sogar so stark, dass er erklärt, keine L ebensäusserung habe Wahrheit, in der nicht schöpferische Originalität liege. Er stellt diesen Satz mit dem vollen Bewusstsein seiner Paradoxie auf. Denn wieviel Wahrheit verbleibt wohl in der Welt, wenn wir nur in dem wahr sind, was wir selbst hervorbringen ? Allein er hat die Ueberzeugung, dass in dem, was wir uns falsch angeeignet haben, und in dem objektiven, konventionellen Gepräge, das wir unsrem Leben

II, Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark. 27

^eben, eine grosse Gefahr für dessen Ursprünglichkeit und Keiclitum liegt. ,,AfFektation kommt oft davon her, dass man nicht die Kraft hat, durch Geltend- machen seines wahren Charakters mit der Welt in Kollision zu kommen. . . . Jeder hat von der Natur sein bestimmtes Gepräge, lässt es aber aus falscher Rücksicht auf andere verwischt werden. ... Er will sich nicht mit seiner eigenen Person hervorwagen,, glaubt auch nicht an ihre unendliche Tiefe. Würde jeder Einzelne unbekümmert um den Vorwurf der Ein- fältigkeit über die Dinge urteilen, wie sie sich ihm darstellen, so müsste das herrliche Charaktere ergeben." Auf seinem Sterbebette Hess Paul Möller durch Sibbern Sören Kierkegaard grüssen. Diese drei bilden eine einheitliche Denkerfamilie. Die Idee der persön- lichen Wahrheit und deren Bedeutung haben alle drei erfasst, obwohl es nur einem beschieden war, sie in ihrer ganzen Kraft und Strenge zu entwickeln. Und Sören Kierkegaard hegte auch eine grosse Sympathie für seine zwei Lehrer. In der Einleitung zu den „Hinterlassenen Papieren" wird folgender Vorfall mit- geteilt: Ein etwas jüngerer Mitschüler von Kierkegaard habe einmal, von schweren Gedanken gedrückt, Sören Kierkegaard im Friedrichsberger Parke getroffen. jjOhne- dass im übrigen ein Wort über die mich drückende Stimmung gewechselt wurde", erzählt der Betreffende weiter, ,,trat Sören Kierkegaard plötzlich zu mir heran und fragte mich mit einem Blick und einer Stimme voll Mitleid, ob ich Professor Sibbern kenne? An den soll ich mich wenden, der sei ein ganzer Mann; er sei die Liebenswürdigkeit selbst, und bei ihm finde man Beruhigung!" Was Paul Möller betrifft, so gab Kierkegaard seiner Begeisterung für ihn Ausdruck in der Zueignung zum „Begriff der Angst":*) „Dem

*) Dieselbe ist in der deutschen Uebersetzung weggelassen worden.

^8 II- Sören Kierkegaards ältere Zeitgenossen in Dänemark.

verewigten Professor Paul Martin Möller, dem glücklichen Liebhaber der Griechen, dem Bewunderer Homers, dem Mitwisser des Sokrates, dem Dolmetscher des Aristoteles Dänemarks Freude in seiner Freude über Dänemark ; dem »weit Verreisten«, dessen doch stets »im dänisclien Sommer gedacht wird« dem Gegenstand meiner Bewunderung, meines Sehnens ihm sei diese Schrift gewidmet."

Diese Widmung deutet zugleich an, dass Paul Möller Kierkegaard in das Studium der Griechen, das für ihn so erfolgreich wurde, eingeführt und eingeleitet hat. Es will überhaupt in Kierkegaards Mund viel heissen, wenn er seinen verstorbenen Lehrer einen Mit- wisser des Sokrates nennt. Hierin liegt die xA.ndeutung «iner sehr wesentlichen geistigen Verbindung zwischen den zwei Männern, der man bisher keine Beachtung geschenkt hat.

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

1. Es giebt Gedanken, die nur auf einem bestimmten. Boden und nur in einem gewissen Klima fortkommen können. Und es unterliegt keinem Zweifel, dass Sören Kierkegaards Gedanken zu dieser Art gehören. Sie sind dem Weine gleich, der nur auf Lavagrund gedei- hen kann. Diesen Grund müssen wir zuerst kennen lernen. Und der Grund liegt tief. Wir werden über Hin hinaus auf seine Familie und seine Rasse zurück- gewiesen und auf die Ueberlieferungen, die die geistige Atmosphäre seiner Kindheit bildeten. Für die Gül- tigkeit oder Ungültigkeit der Gedanken ist solch ein Nachweis nicht massgebend. Mögen die Bedingungen, denen sie ihre Entwicklung zu verdanken haben, noch so besondere gewesen sein, so benimmt das ihrem Wert an sich noch durchaus nichts. Es könnte ja sein, dass besonders wertvolle Gedanken gerade nur unter solchen Verhältnissen sich bilden konnten ! Diese Verhält- nisse müssen aber ans Licht gezogen und erkannt wer- den, wenn die Frage entschieden werden soll, ob die Gedanken auch unter anderen Verhältnissen Lebens- kraft haben.

2. Seine Familie stammt aus dem westlichen Jüt- land. In dem westjütischen Stamme findet sich neben zäher Ausdauer, Klugheit und Humor auch ein nicht geringer Hang zu Schwermut und Lebensüberdruss. Selbstmord kommt hier häufig vor.

Auf der Heide in dem Kirchspiel Säding bei Ring- köbing hütete im Jahre 1768 ein zwölfjähriger Hirten- knabe seine Schafe. Er litt Hunger und Kälte, und die Einsamkeit und Verlassenheit drückten ihm schwer aufs

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•Gemüt. Da ging er in seiner Verzweiflung auf einen Hügel und fluchte dem Gott, der ihm dies elende Leben gegeben hatte. Dieser Knabe war Sören Kierkegaard'« Vater. In den „hinterlassenen Papieren" findet sich (aus dem Jahre 1846) folgender Abschnitt, der in der gedruckten Ausgabe nicht mitgeteilt ist :

,,Das entsetzliche Schicksal des Manns, der ein.st .als kleiner Knabe, als er auf der Jütischen Heide Schafe hütete und viel auszustehen hatte, hungerte und fror, auf einen Hügel stieg und Gott fluchte und der Mann vermochte das nicht zu vergessen, als er 82 .Jahre alt geworden war."

Als der Herausgeber des ersten Bandes der hinter- lassenen Papiere dem Bischof P. C. Kierkegaard, dem Bruder Sören Kierkegaards, diese Stelle zeigte, brach der bejahrte Mann in Thränen aus und sagte: ,,Das ist unseres Vaters Geschichte und unsere mit !" In der 'Geschichte der Kierkegaardischen Familie spielt jener Vorfall eine grosse Rolle, als "Wirkung wie als Ursache. Er ist ein Zeugnis von der Macht der Schwermut, die .alles stärker und tiefer fühlte als andere, von der {Leidenschaft, die jede Stimmung und jeden Gedanken auf die höchste Spitze trieb. Er stellt sich aber auch .als drohendes Symbol dar, das den Trübsinn in stets neue Bewegung versetzte und den Gedanken an den 'Gott, der die Sünden der Eltern an den Kindern heim- sucht, wach erhielt.

Der Knabe von der Heide, Michael Pedersen Kierke- gaard, kam nach Kopenhagen zu einem Wollwaren- händler in die Lehre. Er arbeitete sich zu einem reichen Mann empor, konnte aber jenen Augenblick auf der Heide, wo er die Sünde wider den heiligen Geist begangen zu haben glaubte, nie vergessen. Seine schwermutsvolle Angst machte sich oft in verzweifelten Worten Luft und gab seinem häuslichen Leben eine ^düstere Färbung, wiewohl es sonst ein geistesfrischer

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 31

Mann war. der es in Witz und Scharfsinn mit seinen hochbegabten Söhnen aufnehmen konnte. Schon in sei- nem 40. Jahre hatte er sich vom Geschäft zurückge- zogen und lebte seitdem meist mit philosophischen Studien beschäftigt; besonders eifrig studierte er den deutsclien Philosophen WolfF. Zum Verständnis der folgenden Charakteristik Sören Kierkegaards mag be- merkt werden, dass ausser der Belastung von selten des schwermütigen, grübelnden Vaters sich auch noch andere hereditäre Einflüsse geltend machten. Die Mutter wird als eine vortreffliche Frau von einfachem und heiterem Sinn geschildert ein nicht eben seltener Kontrast, der an Goethes Eltern erinnert, wo „des Lebens «rnstes Führen" sich ebenfalls vom Vater, die ;,,Froh- natur'^ von der Mutter herschrieb. Ganz gewiss aber traten bei Sören Kierkegaard die widersprechenden Elemente ganz anders in Gegensatz zu einander als bei jenem Altmeister der Lebensharmonie.

Der jüngere Sohn, Sören Aaby Kierkegaard, wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren. Von seinem äusseren Lebensgange ist nicht viel zu berichten ; und doch liesse sich jetzt, da sämtliche hinterlassenen Papiere vorliegen, eine interessante Biographie von ihm herstellen, so gewiss bei einer Natur wie der seinigen die äusseren Vorkommnisse nicht das Wesent- liche sind. Georg Brandes hat in seiner Schrift über Sören Kierkegaard eineCharakteristik seiner litterarischen Persönlichkeit gegeben, die kaum besser, kaum glän- zender zu denken ist. Ich glaube aber, dass Brandes, gerade weil sein Auge besonders der litterarischen Thätigkeit Sören Kierkegaards zugekehrt war, sich ver- leiten Hess, ein zu grosses Gewicht auf einzelne Vor- kommnisse in seinem Leben zu legen, die zwar sicher- lich Motive und Stoffe für sein Schaffen lieferten, die üichtung seines Geistes aber nicht durchaus bestimmten. Auch kann ich mich darin nicht mit Brandes einver-

32 in> Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

standen erklären, dass Pietät nnd Verachtung die zwei Gnmdleidenscliaften Kierkegaards sein sollen. Nach meiner Aviffassiing nehmen sie eine mehr untergeordnete Stelle in seiner Psychologie ein. Übrigens ist, be- sonders mit Rücksicht auf diesen letzten Punkt, doch zu bemerken, dass Brandes sein Buch schrieb, als erst die zwei ersten Bände der hinterlassenen Papiere ver- (»ffentlicht waren.

3. Der entscheidende Grundzug in Sören Kierkegaards ganzer Persönlichkeit muss in seiner Schwermut gesucht werden. Er lag auch schon in seiner Rasse und in seinem Temperament und wurde durch die Erziehung noch gefördert. „Ich bin nicht Mensch ; ich bin schwer- mütig bis zur Grenze der wirklichen Gemütskrankheit", sagt er an einer Stelle seiner Aufzeichnungen, wo er sich über alle Verhältnisse seines Lebens Rechenschaft ablegt (1849, S. 402). Es war die Schwermut, was seiner grossen Pietät und überhaupt seinem Respekt vor aller Autorität zu Grunde lag. Daher eben sein Bedürfnis für absolute Halt- und Stützpunkte, sowie seine Scheu vor dem verwirrenden Neuen. Er musste etwas haben, das ihn tragen und erheben konnte, wenn sich ihm alles in bodenloses Dunkel aufzulösen schien. Nur auf einer derartigen absolut festen Grundlage konnten andere Seiten seiner Natur, namentlich sein mächtiger dialektischer Drang, sich frei und kräftig entfalten. In religiöser Hinsicht führte sein innerer Druck dazu, dass er seine scharfsinnige Reflexion und Kritik nur auf die Frage der Aneignung des religiösen: Inhalts, nicht aber auf die Prüfung des inneren Zu- sammenhangs und der Gültigkeit dieses Inhalts selbst verwendete. Auch das Gefühl der Verachtung, das sich bei ihm regen konnte, lässt sich leicht aus den Folgen der Schwermut für sein inneres Leben begreifen. Die gewöhnlichen ;,leichtlebigen" Menschen mussten auf ihn, der gewohnt war, zwischen Abgründen und

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 8S

Schrecknissen hinzugehen, einen sonderbaren Eindruck ma- chen, wie ihn auch eben die Schwermut dazu verleitete,, das Benehmen der Menschen und ihre Motive sich in grelleren Farben auszumalen, als sie der wirklichen Erfahrung entsprochen hätten. Dagegen war Verachtung nicht ein ursprttngliclier Grundzug seiner Natur. Eher ein ebenfalls an dem Schwermütigen wohl erklärliche» tiefes Mitgefühl für Mensclien, besonders Leidende oder solche, die er für Leidende hielt. So ist es von meli- reren Seiten her bezeugt, dass er einen merkwürdigen Blick dafür hatte, ob die Leute seiner Umgebung etwas; drückte, und dass er auf so rücksichtsvolle und zarte Weise wie kein anderer zu beruhigen und zu trösten verstand. Es gewährte nicht bloss ihm selbst Trost und Linderung, auf der Strasse umherzugehen und mit Leuten aus dem Volke zu reden, sondern er hatte herzliche Teilnahme für sie und verstand die Kunst^ sich in ihre Lage liineinzuversetzen. Und noch zuletzt, als seine Auffassung des Christentums sich verschärfte und er die Zeit herankommen sah, da das Ideal in seiner vollen Strenge geltend gemacht werden sollte, zögerte er damit eine Zeit lang aus Teilnahme für das. Glück, das er stören, für die Unruhe und das Leiden, das er da und dort, wo bisher eine milde und harmonische Lebensanschauung geherrscht hatte, verursachen müsste.. Es ist natürlich unmöglich, die verschiedenen Eigen- schaften und Neigungen irgend eines, zumal aber eines so reich ausgestatteten Menschen aus einer einzigen Ursache abzuleiten. Derlei Menschen, deren Bedeutung gerade darauf beruht, dass sie geistige Erfahrungen machen müssen, die den meisten andern erspart oder versagt bleiben, werden in ihrer Natur stets mehrere ungleichartige Ausgangspunkte, mehrere Grundrichtungen haben, die erst durch einen Kampf in Harmonie gebracht werden müssen. Die Aufgaben, die sie zu lösen haben, sind ihnen vor allem durch ihre eigene Natur gestellte

Hoff ding, S. Kierkegaard. 3

84 III' Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

Neben der Schwermut als herrschendem Grundzug ist bereits eine grosse Kraft des Denkens, eine Anlage zu dialektischer Arbeit, zu zersetzender Reflexion er- wähnt worden. Er drückt sich selbst hierüljer so aus: ^Gebunden in qualvollem Elend bin ich einem Vogel gleich, dem man die Flügel gestutzt hat, während ich doch im Besitz meiner vollen geistigen Ki'aft, einer ge- wiss aussergewöhnlichen Kraft, geblieben bin" fl849, S. 401). Diese Kraft äusserte sich nicht nur in Re- flexion und Denken, sondern auch in einer Phantasie, die mit jedem Vibrieren, jedem Auf leuchten der Stim- mung Bilder voll Glanzes und sprechender Lebendigkeit entwerfen konnte, und in einer Kunst der Sprache, die man zuvor in der dänischen Litteratur kaum gesehen hatte. In äusserer Hinsicht günstig gestellt, konnte er diese Geistesgaben nach eigener Lust ausbilden. Der •Gebrauch dieser Gaben war wie der Gebrauch jeder natürlichen Kraft mit Wohlbehagen verbunden; sie an- zuwenden war ihm ein Bedürfnis für sich selbst, aucli wenn sie hauptsächlich im Dienste der herrschenden Stimmungen verwendet wurden.

Li seiner Schrift ,,Der Gesichtspunkt für meine schriftstellerische Wirksamkeit" (S. 58) schreibt sich Kierkegaard neben der ,, ungeheuren Schwermut'' eine ,, ebenso ungeheure Fertigkeit" zu, ,, dieselbe unter an- scheinender Munterkeit und Lebenslust zu verdecken." Durch diese Aeusserung bringt er gewiss, wie über- haupt in seinem Rückblick auf seine schriftstellerische Wirksamkeit, mehr System und Willkür in sein Ver- halten, als der Wirklichkeit entsprach. Neben der Schwermut lag in ihm ein Element ganz entgegenge- setzter Art, ein Drang, sich ausgelassenem Spiele hin- zugeben, sich in Witz und andern geistigen Kraft- übungen zu ergehen, ein Drang, der sich natürlich mit dem Drang, seine Geisteskraft zu gebrauchen, verband. Nach der Charakteristik, die ihm nach altem Brauch

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 35

•der Eektor der Schule bei dem Uebergang auf die Universität ausstellte, soll er die Kinderschuhe erst spät ausgetreten haben; auch liatte er gewiss einen :grossen Trieb nach Freiheit und Unabhängigkeit, und «ein Temperament war lebhaft und munter. Denselben Eindruck gewannen späterhin im Leben auch andere von ihm. Dieser Zug kann nicht von Anfang an Verstellung gewesen sein. Er hatte vielmehr einen unwillkürlichen Hang hiezu, einen Hang, der bei anderer Erziehung mit der Zeit vielleicht einen günstigen Einfluss auf meinen Cliarakter gewonnen hätte. Aeusserte er sich .nun, wenn die Schwermut sich in sich selbst zurückzog, oder in natürlicher Reaktion gegen dieselbe,*) so konnte <er thatsächlicli die Verschlossenheit der Schwermut verdecken, aber bloss willkürlich hervorgebracht war .seine Munterkeit sicher nicht. Es verhält sich damit -ohne Frage wie mit seinen eifrigen und regelmässigen Spaziergängen in den Strassen der Stadt, die er später auch als ein Grlied seiner durchdachten Pläne darstellte, die ursprünglich aber auch dem Bedürfnis entstammten, sich Bewegung zu machen, Menschen zu treffen und sicli mit ihnen in Rapport zu setzen.

,,Icli bin ein Janus bifrons mit dem einen Ge- sicht lache [ich, mit dem andern weine ich," schreibt «r mit 24 Jahren. Keines von beiden war blosse Maske, auch wenn er das eine meist vor andern, das andere mehr in der Einsamkeit trug. Denn es ist ja der Schwermut eigentümlich, dass sie sich in Gegenwart .anderer zurückzieht, wie auch die Kobolde beim Auf- gang der Sonne verschwinden. Eben durch diese Eigen- schaft der Schwermut wurde diese zu einem so ver- hängnisvollen Element in der Persönlichkeit Sören

*) „In der verborgenen Tiefe de» Gefühls liegen die Saiden der Traner nnd der Freude so nahe neben einander, dass die letzteren nnr allzn leicht ankliDgen, wenn die ersteren berührt werden." (1836, S. 174.J

3*

36 III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

Kierkegaards. Die Neigung zur Eiiusamkeit, zur Iso- lation, die Unmöglichkeit, sich andern zu öffnen, die sie bewirkt, wurden ausschlaggebend für sein Geschick. Die dumpfe Trauer machte ihn stumm ist es aber nicht sündhaft, sich seiner nächsten Umgebung nicht aufschliessen, sich nicht herzlich hingeben zu können ? und werden nicht jedenfalls, w^o solche isolierende Schwermut herrscht, die innigsten Verhältnisse zwi- schen den Menschen unmöglich gemacht? Wenn erzählt wird, dass Jesus einen Teufel austrieb, „und der war stumm "^, so deutete Sören Kierkegaard dies auf den Dämon der Trauer, der Schwermut, die in ihrem Egois- mus, um ihre Herrschaft über den Menschen nicht zu verlieren, diesen stumm macht, der Verbindung mit andern entzieht (1848, S. 1). Und damit war ihm in seinem Innern ein ungeheures Problem gestellt : ob es Krankheit sei oder Sünde, was ihn so banne ? ;,Es ist und bleibt doch die schwerste Anfechtung, wenn ein Mensch nicht weiss, ob sein Leiden Krankheit des Ge- müts oder Sünde ist** (1844, S. 74). Hier war etwas,. das die grübelnde Dialektik wohl in Bew^egung setzen konnte. Gedankenströmungen und Bilderreihen konnten sich aus dem einen der möglichen Gesichtspunkte ent- wickeln, um dann plötzlich zu verschwinden und neuen, von dem andern Gesichtspunkte aus sich darbietenden Vorstellungsreihen Platz zu machen; und die Bewegung musste um so ruheloser und heftiger werden unter dem Schwergewicht seiner streng orthodoxen Erziehung und dem Drucke der Erinnerung, dass den Vater die Schwer- mut gar zur Gotteslästerung getrieben hatte.

Eine Schilderung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn geben uns die ;, Stadien auf dem Lebenswege" (S. 2ü4) : „Es war einmal ein Vater und ein Sohn. Ein Sohn ist wie ein Spiegel, w^orin der Vater sich selbst .sieht, und für den Sohn ist umgekehrt der Vater gleichsam ein Spiegel, worin er sich selbst .sieht, wie

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 37

•er einst sein wird. Doch betrachteten sie einander selten so, denn ihr täglicher Verkehr zeigte nur die Munterkeit einer lebhaften Unterhaltung. Nur kam es bisweilen vor, dass der Vater stehen blieb, mit seinem traurigen Antlitz vor den Sohn hintrat, ihn betrachtete und sagte : ,, ,, Armes Kind, du gehst in stiller Ver- zweiflung.'"' Weiter wurde nie davon geredet, wie das zu verstehen sei, so wahr es auch war." In den hinterlassenen Papieren spricht sich Kierkegaard weit bestimmter und schärfer darüber aus, wie der Vater ,,die ganze Last seiner Schwermut auf ein armes Kind ■warf"; wie sein Vater ihn unglücklich machte und sei- ner Jugend beraubte. ,,Die Freude, Kind zu sein, habe ich denn nie gehabt" (1847, S. 121: 1849, S. 3). Und sicher beruht es auch auf eigener Erfahrung, wenn er in seiner „Unwissenschaftlichen Nachschrift" (S. 566) sagt: ,, Eines Kindes Dasein in die entscheidenden christlichen Kategorien hineinzuzwängen, ist eine Ver- gewaltigung, und wäre sie auch noch so wohl gemeint." Es gab eine Zeit in seiner Jugend, da er sich we- nigstens in der Phantasie frei machte. Ein Motto, das er in seinem Tagebuch aus dieser Zeit angebracht hat, scheint darauf hinzudeuten, dass es ihm als das Höchste erschien, in Kontemplation zu leben und die Welt, ohne sich persönlich um sie zu kümmern, ihren Gang gehen .zu lassen. Aesthetische und philosophische Interessen hatten ihn ganz gefangen genommen. Erst dass er erfuhr, was seinen Vater drückte, scheint ihn aus die- ser Lebensrichtung herausgerissen zu haben. In seinem Tagebuch schreibt er hierüber (1833—43, S. 4): „Da kam das grosse Erdbeben, die fürchterliche Umwälzung, die mir plötzlich eine neue, unfehlbare Deutung aller Phänomene aufnötigte. Da ahnte ich, dass meines Va- ters hohes Alter nicht göttlicher Segen, vielmehr ein Fluch sei, dass die ausgezeichneten Geistesgaben in unserer Familie nur dazu dienen, uns gegenseitig

38 Iir. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

aufzureiben. , . . Eine Schuld musste auf der ganzen; Familie lasten, eine Strafe Gottes auf ihr liegen: sie- sollte verschwinden, ausgetilgt werden von Gottes gewaltiger Hand, ausgelöscht wie ein missglückter Versuch."

Damit hat er den Schlüssel zu der ,, stillen Ver- zweiflung" gefunden. Seine religiöse Entwicklung hat hiedurch, wie durch sein ganzes Temperament und seine- ganze Erziehung, eine Anfangsgeschwindigkeit erhalten, die seine Bahn hoch über die meist begangenen, be- quemen Wege hinausführte. Auch das innere Brüten, zu dem er angelegt w^ar, bekam nun ein Symbol, an dem es sich halten konnte. Er war praktisch in die alttestamentliche Frömmigkeit auf eine "Weise hinein- geführt worden, wie sie sehr wenigen beschieden ist. Das patriarchalische Gottesverhältnis stand für ihn nicht in dem gewöhnlichen, idyllischen Lichte. Auch gehörte er nicht zu denen, die zwischen dem Alten und Neuen Te- stament einen grossen Unterschied hätten machen können. Sören Kierkegaard fand seine Schwermut selbst mit dem eigentümlichen Gefühlszustand verwandt, der in den Klöstern des Mittelalters nicht ungew^öhnlich war und Acedia genannt wurde. Er äusserte sich als geistige Erschlaffung, Unlust zu religiösen Uebungen,. Sehnsucht nach der Welt und Abscheu vor der Beichte (odium professionis). Kierkegaard meinte darin wieder- zufinden, was sein Vater die „stille Verzweiflung" nannte. In der Abneigung vor der Beichte fand er als- tieferen Grund die Scheu, sich überhaupt gegen andere auszusprechen, und meinte, die Beschreibung mit seiner eigenen Erfahrung belegen zu können. Zugleich fand er, es verrate einen tiefen Blick in die menschliche Natur, wenn die mittelalterlichen Ethiker die Acedia unter die Hauptlaster rechneten (1838, S. 225). Es war eine Klosterkrankheit, und er sagt gelegentlich auch r , Hätte ich im Mittelalter gelebt, so wäre ich wohl ins

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 39

Kloster gegangen." Seine Schwermut untersciiiecl sich von der mittelalterlichen Acedia darin, dass sie weit mehr in seiner Natur begründet war als letztere. Die Acedia trat, wie es scheint, besonders als natürliche Reaktion auf, als eine Erschlaffung nach der starken mystischen Anspannung, als eine Reaktion nach er- zwungener Andacht sie war ein „desenchantement de dien"', wie sie ein französischer Philosoph bezeichnet hat. Doch hat Kierkegaards Gefühlszustand sicher teil- weise auch diesen Charakter gehabt. Infolge der Ver- gewaltigung, die nach seiner eigenen Aussage frülie schon an ihm begangen wurde (zumal gegen die Ele- mente in seiner Natur, die nach anderer Richtung hin- wiesen als die Schwermut), wäre zu einer Reaktion der genannten Art reiche Veranlassung vorhanden gewesen. 4. Aus dieser Schwermut als dem von Hause aus stärksten, durch Erziehung und väterlichen Einfluss noch gesteigerten, zu höherer Anspannung erhitzten Ele- mente seiner Natur erklärt sich nun auch, wenn wir die Aeusserungen in den hinterlassenen Papieren in Be- tracht ziehen, seine Verlobungsgeschichte. Nach einem ästhetisierenden und philosophierenden Jugend- leben, das mehreremale durch gewaltsame, stürmische innere Erregungen, wie durch jenes „Erdbeben" und seines Vaters Tod, war unterbrochen worden, verlobte er sich mit einem ganz jungen Mädchen, hob aber die Verlobung das Jahr darauf zum grossen Leid und Aer- gernis für die beiderseitigen Angehörigen wieder auf. Er hat diese Episode in der dritten Abteilung der „Stadien" geschildert, und in den hinterlassenen Papie- ren kommt er immer wieder darauf zurück. Mir scheint die ganze Erklärung in dem oft variierten Ausruf zu liegen: ^Ach, sie vermochte das Schweigen meiner Schwermut nicht zu brechen!" (1843, S. 137). Er hatte kein Glück mit ihr zu teilen; im Gegenteil, es kam ihm dadurch, dass er ihren lichten, leichten Sinn und

40 HI- Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

ihr unmittelbares Glück kennen lernte, erst reeht zum Bewusstsein, was für ein unglückseliger Mensch er selbst war. ;.Eben ihr unmittelbares, jugendliches Glück neben meiner entsetzlichen Schwermut musste mich, besonders in einem solchen Verhältnis, mich selbst verstehen lehren ; denn ich hatte zuvor nie geahnt, wie schwermütig ich war ; ich hatte eigentlich keinen Massstab dafür, wie glücklich ein Mensch sein kann.'' (1848, S. 117.) Wie seine Ausgelassenheit und sein Denkvermögen gerade durch den Kontrast mit seiner Schwermut gesteigert wurden, so umgekehrt diese, wenn ihr das Glück gegen- übertrat. Wie musste dieses Gewebe von Wirkungen und Gegenwirkungen der verschiedenen Elemente in seinem Innern und seiner inneren und äusseren Erfahr- ungen mit unwiderstehlicher Konsequenz seiner Sinnes- richtung ein immer schärferes Gepräge verleihen !

Aus seiner „Elendigkeit", wie er sich ausdrückt, daraus, dass ihm die einfachsten Bedingungen mensch- lichen Daseins versagt seien, aus seiner isolierenden, ihn dämonisch in sich verschliessenden Schwermut leitet er nicht nur die Unmöglickeit für ihn ab, in ein Ver- hältnis einzugehen, das wie der Ehestand auf Offenheit und Innerlichkeit gegenüber einem anderen beruht, son- dern auch die Unmöglichkeit, in ein Amt einzutreten. ,.Es ist mir stets leicht geworden, mit den Leuten aus- zukommen, und von jeher daran gewohnt, gebunden zu sein, habe ich mir nie einfallen lassen, dass mir dfis eigentlich schwer werden könnte. Aber nun kommt wieder meine Elendigkeit: ich kann nicht, weil ich nicht Mensch bin, weil ich schwermütig bin bis zur Grenze wirklicher Gemütskrankheit. Denn das kann ich wohl verbergen, solange ich unabhängig bin ; aber für einen Dienst, wo ich nicht selbst alles bestimme, bin ich so unbrauchbar.'' (1849, S. 402.)

Mit bewundernswerter Klarheit und Ehrlichkeit giebt Sören Kierkegaard Rechen sciiaft, wie er anders

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 41

;gestellt wurde als andere Menschen. Hätte es bei ihm gestanden, so hätte er die Ehe gewählt und eine ge- sellschaftliche Stellung gesucht wie so viele andere. Nur sein kranker Sinn machte ihm dies unmöglich, wäh- rend es ihm andererseits seine pekuniären Verhältnisse ermöglichten, für eine Zeitlang es wurde aber seine ganze Lebenszeit daraus ohne lohnende Arbeit zu leben. Es war durchaus nicht so, dass ihn streng ide- ale und prinzipielle Bedenken vom Eintritt in irgend eine gesellschaftliche Stellung abgehalten hätten. Dass er der Einzelne wurde, ist den inneren Problemen zu- zuschreiben, mit denen er unter seinen psychologischen Voraussetzungen zu kämpfen hatte. Erst als er aus psychologisch-individuellen Gründen der gewöhnlichen Lebensweise der Menschen entnommen und auf einen ein- samen Posten gestellt war, entdeckte er das, was ihm sonst kaum so zum Bewusstsein gekommen wäre. Was in seinen Augen das höchste Ideal war, zeigte sich ihm mit einer Klarheit und Konsequenz, die für den, der als Glied in das manchfaltige und bedingte Menschen- leben eingereiht ist, nur schwer erreicht wird. So sieht man von einem Leuchtturm draussen im Meere gar mancherlei, was man vom Festlande aus nicht sehen kann; und doch ist damit nicht gesagt, dass die, die es sehen, gerade dazu hinauszogen, das zu sehen. Die Schwermut wurde sozusagen seine Warte, von der aus er das Leben beobachtete. Schon im Altertum meinte man (das ist z. B. in den sogenannten aristotelischen .,Problemen" ausgesprochen), das melancholische Tem- perament sei dem Genie eigentümlich. Verstand man dazumal unter Melancholie auch nicht ganz dasselbe, was wir heutzutage, so kann diese Ansicht doch auf manche Fälle passen. Manche Erfahrungen und Ent- deckungen können nur von solchen gemacht werden, die, das Bleigewicht der Schwermut an den Füssen, ins Meer des Lebens niedertauchen.

42 III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

Die grossen Männer, deren Leben und Denken durch ihre Kraft anzuziehen oder abzustossen entschei- dende und typische Bedeutung gewinnt, haben immer grosse innere Probleme zu lösen gehabt und dieselben auf eine "Weise gelöst, die auch für andere von Wert wird. Treten sie aktiv und angreifend auf, so wird die Hauptursache darin liegen, dass die innere Arbeit an sich selbst sie zu einer Wendung nach aussen drängt. In ihrem inneren Leben haben sie den scharfen Blick für das Ideal und das, was dem Ideale im Wege steht, erworben. Es spielte sich ein inneres Drama ab, bevor das äussere zur Aufführung kommt. Was für die Zeit- genossen sich oft wie Eitelkeit, Anmassung, Kritisier- sucht, Menschenverachtung ausnimmt oder von ihnen so ausgelegt wird, das ist bei den wirklich grossen Männern die Frucht teuer erkaufter Erfahrungen, die sie nicht für sich allein behalten können, ohne sich selbst aufzugeben, Sören Kierkegaard gehört unstreitig zu dieser Klasse. Dass sein inneres Leben durch die Klar- heit, die er über einige der wichtigsten Lebensfragen bringen konnte, für andere von Bedeutung werden würde, war seine eigene Ueberzeugung. Hierin bestand eigentlich der Glaube, den er an seine Mission hatte. „Weit zurück in meiner Erinnerung", sagt er, „geht der Gedanke, dass in jeder Generation zwei oder drei seien, die für die andern geopfert, die dazu verwendet wür- den, in schrecklichen Leiden zu entdecken, was den andern zugute kommt; und schwermütig fand ich das Verständnis meiner selbst darin, dass ich hiezu auser- sehen sei."

5. Wenn Kierkegaard sich seine Schwermut mit ihren Wirkungen bald als Krankheit bald als Schuld darstellte, so rührte das sicher zum Teil davon her, dass die Schwermut eine besondere Macht hat, den Sinn bei Möglichkeiten, die er sonst nicht ans Licht ziehen würde, sich aufhalten zu lassen und diesen

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 4^

Möglichkeiteniiicht bloss ein düsteresG-epräge zu verleihen, sondern sie als Wirklichkeit erscheinen zu lassen. Dies geschieht natürlich um so leichter, wo schon eine leben- dige Phantasie und eine subtile Dialektik darauf war- ten, die Möglichkeiten zu entfalten und zu verarbeiten. Jedes starke Gefühl hat die Neigung, sich im Sinne auszubreiten und allen auftauchenden Vorstellungen teils einen absoluten Charakter, teils eine ihnen sonst abgehende Wirklichkeit zu verleihen, wie dasselbe auch die Vergangenheit zurückruft und die Zukunft vorweg- nimmt, um sich Klarheit und Deutlichkeit über sich selbst zu verschaffen.*) Die Schwermut neigt zu einem Leben in Möglichkeiten bald in der Anticipation, bald in der Erinnerung. Dass Kierkegaard mit beidem^ wohlvertraut war, sieht man nicht bloss aus seinen Schriften, wo er die grosse Bedeutung des Lebens in der Möglichkeit für die Erkenntnis seiner selbst ein- schärft und zugleich vor der Verwechselung der Mög- lichkeit mit der Wirklichkeit warnt, sondern auch aus seinen hinterlassenen Papieren, die zugleich zeigen, wie- er auch hier aus seiner persönlichen Erfahrung schöpfte, was er in seinen Schriften entwickelte. Mit der' Schwermut verband sich hier natürlich der Drang des Dichters, Bilder zu schaffen, die Vorstellungen in kon- kreter Entwicklung vorzuführen, und so seiner Stim- mung bald direkt Ausdruck zu geben, bald indirekt, durch scharfe Aussprache ihres geraden Gegenteils, Folgende Aeusserungen zeigen, welche Macht das Vor- wegnehmen der Zukunft wie die Erinnerung an die Vergangenheit über ihn selbst hatte, und welche Gefahr er darin sah.

Im Jahre 1839 (25. Juli) schreibt er in sein Tage- buch : ,,Darum finde ich so wenig Freude am Dasein,

*) Man vergleiche, was in meiner Psychologie (2. deutsche Aus- gabe, Leipzig 1892, S. 417—423) über die „Expansion des Gefühls" gesagt wird.

44 in. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

weil jeder in meiner Seele erwachende Gredanke sofort mit solcher Energie in einer so übernatürlichen Grösse auftritt, dass ich mich recht eigentlich an ihm verhebe, und die ideale Anticipation giebt mir so wenig eine Aufklärung über das Dasein, dass ich auf sie hin im Gegenteil zu unmächtig bin, das der Idee Entsprechende zu finden, zu unruhig und sozusagen zu nervös, um darin zur Ruhe zu kommen.'^ (1833—43, S. 230 ff.) Es ist leicht verständlich, dass die Schwermut in derlei stets wiederkehrenden Erfahrungen des Missverhältnis- ses zwischen dem Vorausgedachten und dem, was die Wirklichkeit brachte, nur weitere Nahrung finden musste. „Für mich", heisst es in einer Notiz etwa aus dersel- Iben Zeit (1833-43, S. 336) „ist nichts so gefährlich wie die Erinnerung. Habe ich mir erst ein Leben.s- verhältnis in die Erinnerung aufgenommen, so ist es mir unmöglich, wieder Interesse dafür zu gewinnen . . . Bekomme ich erst Zeit, die schon so oft gemachte Er- fahrung wieder zu machen, dass Erinnerung mehr denn alle Wirklichkeit sättigt so ist's vorbei." Hier ge- winnt wieder das Leben in der Vorstellung das Ueber- gewicht über das Leben in der Wirklichkeit. Eben- dahin deutet eine Notiz, die der zwanzigjährige Kier- kegaard beim Tode eines Bruders machte : „Ich habe ♦bemerkt, dass meine Trauer nicht eine mich momentan ergreifende, sondern eine mit der Zeit zunehmende ist, ►und ich bin sicher, wenn ich einmal alt werden sollte, .so werde ich des Verstorbenen erst recht gedenken . , . Was meinen nun verstorbenen Bruder betrifft, so bin ich gewiss, dass die Trauer nach langer Zeit erst recht aufwachen wird." (1833—43. S. 16.)

Während die Schwermut durch ihren Hang, Mög- lichkeiten und Vorstellungen zu erzeugen und festzu- halten, dem dichterischen Drang und dem dialektischen Trieb die Schleusen öffnete, wurde sie hiedurch andei'erseits auch wieder abgeleitet; unter der Denk-

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 45-

und Phantasiearbeit, die alle innere Kraft und Aufmerk- samkeit in Anspruch nahm, wurde sie niedergehalten. Die ganze erste, grossartige Periode seines Schaffens (1843 1846), in die seine genialsten Werke fallen, hat sich Kierkegaard selbst von diesem Gresichtspunkt aus erklärt. „Gleich jener Prinzessin in 1001 Nacht fristete ich mir das Leben durch Erzählen, d. h. Produzieren. Produzieren war mein Leben. Eine ungeheure Schwer- mut, innere Leiden sympathetischer Art, alles, alles konnte ich bezwingen wenn ich produzieren durfte." (Hint. Pap. 1849, S. 245; vgl. schon 1847, S. 148.) Ohne diesen tiefen Drang zu Denk- und Phantasiearbeit wäre er geistig zu Grunde gegangen.*) Es war ein selbstständiges Element in seiner Natur, das unter andern Verhältnissen sich in anderer Weise hätte ent- wickeln können, als es so der Fall war. Dieses suchte einen Abüuss, und dessen Richtung wurde durch das, was sich sonst in seinem Sinne regte, bestimmt. Die ganze schriftstellerische Thätigkeit war aber kaum von Anfang an so klar und bestimmt, wie er später meinte,

*} Dies stätig wiederkehrende, rhythmische Spiel von Schwermut nnd Denkbewegung ist in folgender Aufzeichnung aus dem Jahre 1843 geschildert: „Es ist sonderbar, wie streng ich in einer Hinsicht erzogen wurde. Ab und zu werde ich in die düstre Höhle versetzt ; - da krieche ich umher in Qual und Schmerz, sehe nichts, keinen Aus- weg. Dann erwacht plötzlich ein Gedanke in meiner Seele, so leben- dig, als hätte ich ihn zuvor nie gehabt, wiewohl er mir nicht fremd ist, aber ich war ihm vorher gleichsam nur zur linken Hand ange- traut, jetzt werde ich das zur rechten. Hat er sich nun in mir festgesetzt, so werde ich etwas liebkost und auf die Arme genommen, und ich, der wie eine Heuschrecke zusammengeschrumpft war, ich lebe nr.n wieder auf, bin gesund und frisch, froh, blutwarm und geschmeidig wie ein neugeborenes Kind. Dann muss ich gleichsam mein Wort darauf geben, dass ich diesen Gedanken bis zur letzten Konsequenz verfolgen will; ich setze mein Leben zum Pfand, und nun schwellt der Wind die Segel. Anhalten kann ich nicht, und die Kräfte halten aus. Dann werde ich fertig, und nun beginnt alles von vorne." (1833—43, S. 417.)

46 III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

in einer Richtung angelegt oder einem Ziele zugekehrt. Es war von Anfang an weit mehr Unwillkürliches hei ihm, als er bei seinem späteren Rückblick auf seine Wirksamkeit einräumen wollte.

6. Blieben wir bei den bisher besprochenen Ele- menten seines Wesens stehen, so dürften wir in ihm nicht mehr (und damit freilich auch schon nichts Ge- ringes) zu finden hofi^en, als eine Dichternatur und zu- gleich vielleicht einen tüchtigen Psychologen. Sören Kierkegaard hat in dieser Beziehung auch oft genug vor sich selbst gewarnt. War es seine Ueberzeugung, dass die Menschen, zumal in seiner Zeit, gar zu oft ein blosses Gedanken- und Phantasieverhältnis zum Leber .und zu des Lebens grossen Vorbildern mit einer wirk- lichen Beziehung zu ihnen verwechseln, so kannte er, wie wir schon wissen, diese Gefahr von sich selbst au.s. Er kannte aber auch das Gegengewicht. Denn ebenso bezeichnend für ihn, wie das hochgespannte Stimmungs- leben, die unermüdliche Dialektik und die gegen alle Gefühlsnüancen und Gedankenübergänge gefügige Phan- tasie, war der energische, thatkräftige Wille, mit dem er sich zu konzentrieren, die Elemente seines Wesens zusammenzuhalten und alle Ströme seines reichen Innen- lebens auf ein Ziel hinzuleiten suchte. Mit vollem Rechte hat er geltend gemacht, dass er auf keiner .Stufe bloss Dichter oder Denker gewesen sei. Schon als 22j ähriger Jüngling schrieb er Folgendes in sein Tagebuch: „Was ich eigentlich brauche, ist das, dass ich mit mir selbst darüber ins Klare komme, was ich thun soll. Nicht, was ich erkennen soll, ist für mich die Frage ausser sofern jedem Handeln ein Erken- ^nen vorausgehen muss , vielmehr handelt es sich für mich um das Verständnis meiner Bestimmung : dass ich sehe, was die Gottheit eigentlich von mir will; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, .die Idee zu finden, für die ich leben und

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 47

sterben will. Und was nützte mir liiezu, dass ich eine sogenannte objektive Wahrheit ausfindig machte . . . wenn sie für mich selbst und mein Leben iieine tiefere Bedeutung hätte? . . . Was ich brauchte, wäre das, dass ich ein volles menschliches Leben führte anstatt eines blossen Erkenntnislebens, so dass ich meine Gedankenentwicklungen nicht auf ein sogenanntes Objektives basieren würde, auf etwas, das doch jedenfalls nicht mein eigen ist, sondern auf etwas gründen würde, das mit den tiefsten Wurzeln meines Daseins, wodurch ich sozusagen mit dem Gött- lichen verwachsen bin, fest zusammenhängt, und ob auch die ganze Welt in Trümmer stürzte. Sieh, dasbrauche ich und danach strebe ich."*)

Der mächtige Drang zu denken ist also von Hause aus ein Drang, existenziell zu denken, so zu denken, dass die innerste Persönlichkeit dabei ist und in ihrem Kern und ihrer Richtung dadurch bestimmt wird. Er wollte so denken, wie er einmal ein Buch (Görres' Athanasius) gelesen zu haben bekennt: „Mit Leib und Seele, niit der Herzgrube." Aber dieser Drang, alles in sich einem Ziele zuzuleiten, die geson- derten, widerstrebenden Bestandteile in seinem Wesen zur Einheit zusammenzufassen, hatte einen starken Wider- stand zu überwinden. Und doch schien die zur Zeit herrsehende Denkweise den Weg dazu gebahnt zu haben. Die höhere Einheit, die Harmonie der Gegen- sätze war ja die Losung der Zeit, und in seiner Um- gebung hörte er jugendliche spekulative Virtuosen diese Schlagworte in der vollen Ueberzeugung wiederholen, dass sie ihnen Genüge thun könnten. Es galt ja zu mediieren, die Mediation zu finden; in einem Entweder- Oder, in einem Extrem oder einem unversöhnten

*) 1833-43, y. 45—47. Der Sperrdruck rührt von Kierke- gaard her.

48 II^> Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

gegensätzlichen Verhältnis stecken zu bleiben, war das Zeichen eines schwachen Kopfes oder des bornierten Fest- haltens an einem „überwundenen Standpunkte'^ Diese Phrasen mochten Sören Kierkegaard um die Ohren schwirren, wenn er von seinen einsamen Betrachtungen oder von seinen inneren Kämpfen kam, die ihn genug- sam lehrten, dass es sich hier nicht um eine Methode, einen Kunstgriff handle, der ein für allemal gelernt werden könnte, dass vielmehr die „Vermittlung", die Versöhnung, wenn sie in der Wirklichkeit des Lebens, nicht nur in phantastischer Abstraktion oder auf dem Papier versucht werde, den angestrengtesten Willen^ die peinlichste Ausdauer fordere und eine Aufgabe sei, die stets von neuem gelöst werden müsse. Allein wie er 1837 in sein Tagebuch schrieb „es giebt manche, die zu einem Lebensresultat kommen wie die Schulbuben; sie hintergehen die Lehrer und schreiben das Facit aus dem Rechenbuch ab, ohne selbst die Aufgabe gerechnet zu haben. ^ (1833 43, S. llL) Kier- kegaard war hier der strenge Revisor vor allem bei sich selbst. Er durchlebte die Elemente des Lebens und lernte aus eigener Erfahrung, welch schwere Arbeit es sein kann, aus ihnen eine Totalität herzustellen. Ein oberflächlicher Aufputz verdeckt so oft das elende Machwerk. Er erklärte denn der „höheren Einheit" mit ihrem Sowohl Als - auch den Kampf auf Tod und Leben. Der Distinktion, der Disjunktion, dem Entweder- Oder gab er einen Ehrenplatz, und der „Wiederholung'' wurde die Stelle der Mediation zugewiesen. ..Alles Reden von einer höheren Einheit, die absolute Gegen- sätze vereinigen soll, ist ein metaphysisches Attentat auf die Ethik." (1844, S. 150.) Man setzt ohneweiteres voraus, es sei alles in Ordnung und die Elemente fügen sich wie von selbst zusammen, sodass kein besonderer Anspannungsakt, kein neuer Einsatz notwendig oder stets zu wiederholen sei. Oft rührt es aber auch davon

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 4&

her, dass man keinen wirkliclien Naturgrund in sieb hat. Mit Beziehung auf sich selbst sagt er: „Ich sitze und lausche den Tönen in meinem Innern, dem froherb Locken der Musik und dem tiefen Ernste der Orgel;, sie in einander zu verarbeiten ist eine Aufgabe nicht fiir einen Komponisten, sondern für einen Menschen. der in Ermangelung grösserer Anforderungen an das Leben sich auf die einfache beschränkt, sich selbst verstehen zu wollen. Mediieren ist keine Kunst,, wenn man keine Momente in sich hat." (1833—43, S. 418.)

Mit der Zeit wurden die Gegensätze für ihn stär- ker und stärker, die Momente immer streitlustiger, ob- gleich seine Kraft in gleichem Schritte damit wuchs,. oder vielleicht richtiger, weil seine Kraft wuchs : denn wäre sie nicht gewachsen (ob auch zu krankhafter- TJeberspannung), so hätte er so grosse Disharmonien, nicht festhalten und mit ihnen operieren können. Aller rationale und natürliche Zusammenhang im Leben wurde- zuletzt für ihn gesprengt, und er verdammte endlich das- natürliche Menschenleben überhaupt als in seiner inner- sten Wurzel verpfuscht und verderbt.

Es ist nämlich wohl zu beachten und wird im Fol- genden seinen näheren Nachweis finden, dass Sören Kierkegaards Entrüstung und Polemik wohl zunächst durch die romantisch-spekulative Abschwächung der Gegensätze des Lebens veranlasst wurde, eine Ab- schwächung, die besonders im Munde der Epigonen und Nachschwätzer fad und oberflächlich wurde ; dass es; aber doch nicht bloss eine derartige vorübergehende Zeit und Moderichtung war, der er ans Leben gehen wollte. Er zielte höher. Was er bekämpfen wollte,, war eigentlich jede humane und natürliche Lebens- anschauung und Lebensführung, der Glaube an des Le- bens ungebrochene Kraft, an dessen Vermögen, auf seinen eigenen, natürlichen Wegen die Probleme zu. lösen, die seine eigene Entfaltung mit sich bringt. Ani

Hoff ding, S. Kierkegaard. 4

50 ^^^- Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

sich selbst ist ja die Idee von ,,der höheren Einheit" auch nur ein modernisierter Ausdruck für die Harmonie, die das griechische Denken auf seine Weise suchte und fand und der jedes menschliche Denken immer wieder nachgehen muss, von so grosser Bedeutung für den Reichtum und die Tiefe des Lebens es auch ist, dass die Gegensätze nicht abgeschwächt werden, und dass man nicht zu früh und auf unsicherem Grunde der ,, Mediation" Feste feiert.

Kierkegaard wurde sich auch stets klarer bewusst, gegen welche Macht er eigentlich kämpfte. Als die Zeit des „Systems" dahin war, war sein Kampf nicht zu Ende. Er sah klar, dass die naturwissenschaftliche Welt- anschauung auf ihrem naturalistischen Wege dieselbe Kontinuität und denselben inneren Zusammenhang im Leben festhalten wollte, den die spekulative Auffassung auf ihrem idealistischen Wege gefunden haben wollte. Es war derselbe Feind in neuer Gestalt. Doch war es Schade, dass Kierkegaard keine grösseren Repräsen- tanten des Humanismus als die spekulativen Epigonen gegenüberstanden. Er hatte nicht Widerstand genug zu überwinden. Sein Werk wurde daher nicht so be- deutungsvoll, wie es sonst hätte werden können.

Die höhere Einheit war nach Kierkegaard nicht bloss deshalb so schwer zu erreichen, weil es scharfe Gegensätze, widerstrebende Momente zu überwinden giebt, sondern auch weil alle menschliche Existenz im Werden ist. Existenz bedeutet nach seiner Definition ausdrücklich, dass man in derZeit ist, und auf dieses letztere legt er (wie wir bei seiner Erkenntnislehre ausführlicher zeigen werden) ein sehr grosses Gewicht. Solange wir in der Zeit sind, stehen wir stets neuen Möglichkeiten und neuen Aufgaben gegenüber, deren Lösung problematisch ist. All unser Wissen und unsere Harmonie ist darauf gegründet, dass wir hinterdrein klug sind. „Das Leben muss r ü c k w ä r t s verstanden

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 51

werden. Dagegen muss man . . . vorwärts leben. Ein Satz^, der, jemehr er durchdacht wird, gerade damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verständlich wird, weil ich ja keinen Augenblick volle Ruhe gewinnen kann, um die Stellung des Rück- schauers einzunehmen." (1843, S. 441.) Jedes ge- wonnene Resultat muss aufs neue als Einsatz gewagt, •aufs neue debattiert werden, um unter der stätigen Entwicklung und der stätigen Arbeit womöglich aufs neue gewonnen zu w-erden. Hier zeigt sich der Begriff der Wiederholung in seiner Bedeutung für Kierke- gaards Denken. Er hängt mit seiner Betonung der Wirklichkeit, der Existenz als des Seins in der Zeit ■enge zusammen. Was in der Vergangenheit gewonnen wurde, hat in der Zukunft nur einen möglichen Wert. Eis gilt eine Umsetzung dieser Möglichkeit in die Wirklichkeit; jede derartige Umsetzung ist aber eine Wiederholung, da ja das zu Verwirklichende für die Vorstellung, ak Möglichkeit, zum voraus existierte. (Auf den BegriiF der Wiederholung werden wir bei Kierke- gaards Etliik zurückkommen). ^^_ 7. Noch ist das Verhältnis der dichterischen Be-^J .gabung Sören Kierkegaards zu seiner Begabung als Denker zu berühren. Diese zwei Seiten in seiner Na- tur arbeiten stets zusammen. Dadurch wird ihm ein besonderer Platz in der Litteratur angewiesen, ausser- halb der gewöhnlichen Rubriken, Einesteils hätte er vielleicht grössere Wirkung erzielt, wenn er hätte Dichterwerke geben können, die kein Verständnis pliilo- -sophischer Gedanken forderten, und theoretische Werke mit weniger Parenthesen, Ausmalungen und Bildern. Viele, die eine Dichtung für sich gemessen möchten oder reinem und strengem Denken folgen wollen, gehen nun an ihm vorüber. Allein das innige Zusammenwirken seines Dichtens und Denkens kam von der innigen Verbindung des einen wie des andern mit seiner eigenen,

4*

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52 m* Sören Kierkegaards Persöalichkeit.

innersten Natur. Sie arbeiten beide im Dienste seiner- Persönlichkeit. Sein Drang zum Denken war ein Drang, im Zusammenhang mit Lebenserfahrungen and Stim- mungen zu denken ; daher bedurfte er stets konkreter Situationen und Beispiele. Und die Stimmung, die stets mit dabei ist, erlaubt sich dann ihre kleinen Ausflüge, hat ihre Nebenwirkungen, zu deren Entfaltung und Klärung die allezeit willige und blitzschnelle Phantasie- ihren Beistand leiht. Daher die reiche Fülle von Poesie, wie sie uns in kurzen Wendungen und Ausdrücken, oder in parenthetischen Expektorationen oder in ausmalenden Bildern überall in seinen Schriften entgegentritt.

„Mein Denken'', sagt er selbst (1848, S. 147), „ist präsentisch; ich habe soviel Phantasie als Dialektik." Dass er sich nicht in Abstraktionen verlor, die dem Leben und der Gegenwart ferne stehen, bringt er hier treffend in Verbindung damit, dass bei ihm Phantasie und Denken zusammenarbeiten. Da uns wirkliche Er- fahrung selten oder nie einen Charakter, eine Leiden- schaft oder einen Seelenzustand in voller und durchge- führter Konsequenz darstellt, so nimmt er die Phantasie zu Hilfe und konstruiert durch ein Denkexperiment, das sich streng an die entscheidenden Begriffsbestim- mungen hält, die eingeübt werden sollen, Gestalten und Situationen zur Veranschaulichung und Vergegen- wärtigung der geistigen Verhältnisse vind Probleme, mit denen er sich beschäftigt. Seine berühmtesten Werke:. „Entweder-Oder", „Stadien auf dem Lebenswege, „die Wiederholung^, sind solche „Versuche in experimentie- render Psychologie". Doch glaube ich, dass auch in dieser Beziehung mehr Unwillkürliches und weniger systematische Anlage in seiner schriftstellerischen Wirk- samkeit ist, als er .sich oft den Anschein giebt. Die Bilder haben .sich sicher her vorgedrängt, ehe er sie brauchte, und er hat jedenfalls sehr oft erst hin- tennach gesehen, wozu sie verwendet werden konnten.

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 53

Und WO die konstruierende Absichtlichkeit stärker ein- gegriffen hat, da geschah es nicht selten auf Kosten des dichterischen und (wie wir in einem späteren Ab- schnitt zeigen werden) des philosophischen Gehalts seiner Produkte.

Kierkegaard legt grossen Wert darauf, dass man sich seihst durch Möglichkeiten prüfe, da die Wirklich- keit des Lebens zur Erziehung des Charakters nicht hinreiche.*) Es ist aber bezeichnend für ihn, dass er nur eine Misslichkeit an dieser Methode der Möglich- keiten hervorhebt, nämlich die, dass man sich leicht grössere Tüchtigkeit erschleichen kann, als man wirk- lich besitzt. ,,In der Möglichkeit kann man schwer sich selbst prüfen; es ist wie wenn einer, ohne die Stimme zu brauchen, probieren wollte, ob er eine starke Stimme habe. Ich habe seither vergeblich ein Mittel ausfindig zu machen gesucht, sich selbst in der Möglichkeit zu kon- trollieren".**) Dagegen übersieht er die andere denkbare Misslichkeit : dass die konstruierten Möglichkeiten so trübe und abnorm seien, dass man Kraft und Mut jzu einem Kampf mit Schatten verbrauchte, ohne dass einen das Leben in der Welt der Möglichkeiten

*) „Erst wer durch die Möglichkeit gebildet wird, wird nach «einer Unendlichkeit gebildet . . . Die Endlichkeit und die endlichen Verhältnisse, in welchen einem Individaum sein Platz angewiesen ist, mögen sie nun klein und alltäglich sein oder welthistorisch wichtig, bilden nur endlich, und man kann sie allezeit betragen, allezeit etwas anderes aus ihnen machen, allezeit etwas abfeilschen, allezeit ihnen irgendwie entschlüpfen, allezeit sie sich etwas vom Leib halten, allezeit verhindern, dass man absolut von ihnen lerne." (Begriff der Angst S. 157f. [165f.]) Hält man diese Aeusserung mit der oben im Text genannten aus den „Stadien" zusammen, so ergiebt sich, dass weder Möglichkeit noch Wirklichkeit den erziehen können, der sich selbst betrügen will. Keine der beiden Methoden hat einen absoluten Vorzug, An und für sich aber liegt in Kierkegaards Betonung der Möglickeiten etwas sehr Treffendes (vergl. meine EthikS. 127 133).

**) Stadien auf dem Lebenswege, S. 298 [271,].

54 IIL Sören Kierkegaards Persönlichkeit.

für den Kampf mit der Wirklichkeit fähiger machte. Sodann kann man mit der Wirklichkeit mitunter doch fertig werden ; allein die Möglichkeit ist wie ein Schat- ten oder Nebel, der sich immer wieder bildet, so oft er auch zerhauen wurde. Der Kampf mit den Möglich- keiten wird daher leicht zu einem Schöpfen in das Fass der Danaiden. Kierkegaard hat hier weit mehr, als er wünschte und wollte, als Romantiker gewirkt. Er hat manchen eine eingebildete Welt vorgezaubert, die der wirklichen alle Kraft und allen Saft auszog. Für nicht wenige sind seine Schriften gleich der Höhle des- Löwen gewesen, in die alle Spuren hineinführten, aber keine wieder heraus. Andere haben sich durch einen resoluten „Ruck der Entscheidung", den er in anderem Zusammenhang selbst empfiehlt, gewaltsam von seiner Welt der Möglichkeiten losreissen müssen.

So gross war sein Eifer für persönliche Wahrheit^ dass er ausdrücklich konstatiert haben wollte, diese Gedankenexperimente decken sich nicht mit seiner eige- nen Anschauung. Daher dichtete er nicht bloss Charak- tere und Situationen, sondern auch Verfasser. Die Pseudonymen Verfasser, denen die meisten seiner Schriften zugeschrieben werden, bilden einen ganzen Kreis von Individualitäten, die auf verschiedenem Standpunkte stehen. Eben sein Streben, ,,existenziell zu denken", führt ihn zu diesen Pseudonymen. Mit wel- cher Virtuosität er sich so psychologisch-dichterisch in allerlei mögliche Schriftstellerindividualitäteu hinein- zuversetzen wusste, kann man aus dem Schriftchen „Vorworte" ersehen, das eine Sammlung von Vor- reden zu verschiedenen fingierten Schriften fingierter Verfasser ist.

Sein Denken ist aber nicht bloss präsent, an an- schauliche Verhältnisse und Situationen gebunden ; es ist auch, was übrigens eng damit zusammenhängt, sub- jektiv, d.h. ein Denken, wie es aus dem persilnlichen

III. Sören Kierkegaards Persönlichkeit. 55

Leben, der Lebensanschauung und Lebensführung des einzelnen Individuums, dem praktischen Verhalten in den Verhältnissen und Möglichkeiten des Lebens, her- vorgeht und in ihm verbraucht wird. Solch ein sub- jektives Denken ist mit Leidenschaft verbunden; denn zu existieren ist ein ungeheurer Widerspruch. Der subjektive Denker darf sich nicht in Abstraktion über die Existenz hinwegschwingen ; seine Aufgabe ist vielmehr, dass er das Abstrakte und Allgemeine konkret verstehe, worin er doch als dieser einzelne Mensch existiert. In der Phantasie oder auf dem Katheder kann einer leicht das Ideal sein; dagegen ist es eine äusserst an- strengende Lebensaufgabe, als Idealist existieren zu sollen. Der subjektive Denker ist Künstler, nicht Mann der Wissenschaft; denn sein Denken geht Hand in Hand mit seinem Willen.*) Als solche subjektiven Denker bewunderte Kierkegaard besonders Sokrates und Lessing, auch Jakobi und Hamann. Seine Doktordisser- tation handelte von Sokrates.**) Sokrates und Lessing hat er glänzend, aber auch höchst einseitig charakteri- siert; namentlich hat er sie sicher ,, subjektiver" ge- macht, als sie in der Wirklichkeit waren.

Kierkegaard hat mit seiner Forderung subjektiven Denkens eine wichtige Idee aufgestellt. Sie enthält nicht nur die Mahnung, die Wege der spekulativen Abstraktion zu verlassen und zur kritischen Besinnung über die Voraussetzungen und Schranken zurückzugehen, innerhalb deren unser Denken zu arbeiten hat. Sie ver- anlasst ihn vielmehr auch, eine psychologische und ethische Einleitung zu einer Lebensanschauung oder eine Theorie von der Kunst der Lebensanschauung zu geben. Sören Kierkegaards Philosophie ist eine solche

*) Ueber Aufgabe und Stil des subjektiven Denkers vergl. „Nachschrift" S. 267ff.

**) „Ueber den Begriff der Ironie mit besonderer Rücksicht auf Sokrates." 1841.

■^

56 ni, Sören Kierkegaards Persöulichkeit.

Theorie. Sie will wohl vor allem die christliche Le- bensanschauung beleuchten, ist aber in einer Weise an- gelegt und durchgeführt, dass sie für jede Lebens- anschauung Bedeutung gewinnen kann.

Sören Kierkegaards schriftstellerische Wirksamkeit 2;erfällt wesentlich in zwei Perioden. In der ersten (1843 46) ist er beschäftigt mit dem Kampfe gegen die spekulativ-ästhetische Verflüchtigung der Existenz mit dem Nachweis der Gegensätze, Uebergangs- verhältnisse und Bedingungen auf dem Gebiete der Lebensanschauungen. Er giebt hier eine Art ver- gleichende Lebensphilosophie. In der zweiten Periode (1849 55) führt er seinen grossen Kampf gegen die abschwächende Auffassung und Behandlung des Christen- tums durch die Kirche. Auch diese letzte Periode hat philosophische Bedeutung, da Kierkegaard hier seine letzten Konsequenzen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Religion und Humanität zieht.

Bei der Charakteristik der ersten Periode können natürlich doch ab und zu sehr wohl Aeusserungen aus späterer Zeit benutzt werden, wenn sie nur Gedanken zum AvTsdruck bringen, die bereits in früherer Zeit entwickelt waren.

IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

Die Aufgabe, die sich Kierkegaard als Denker :stellte, war nach seiner eigenen Aussage die : Schwierig- keiten zu machen. Heutzutage, meint er, werde alles nur immer leichter gemacht. In der äusseren Welt erleichtern Eisenbahnen und Telegraphen das Zusammen- kommen und den Verkehr ; und in der Welt des Geistes stellte man die Versöhnung aller Gegensätze, die har- monische Einheit aller widerstrebenden Elemente in Aussicht. So setzte er sich denn vor, wieder etwas schwierig zu machen ; sonst müsste ja auch denen, die alles leicht machen wollten, zuletzt der StoiF aus- gehen. („Nachschrift" S. 137.)

Von den heimischen Denkern, die ihn während seiner Entwicklung beeinflussten, ist bereits im Vorher- gehenden die Rede gewesen. Hier sei nur erwähnt, dass besonders Martensens Vorlesungen über spekulative Philosophie seine Kritik herausforderten. Schon in seiner Dissertation über Sokrates fanden sich Andeutungen einer mehr kritischen, subjektiven und existenziellen Auf- fassung des Denkens, sowie Zweifel an der möglichen Herstellung eines so glatten und kontinuierlichen Zu- sammenhangs unserer Erkenntnis, wie ihn die spekulative Philosophie erreicht zu haben glaubte. Als Schelling im Jahre 1841 seine Aufsehen erregenden Vorlesungen laegann, in denen er Hegels Philosophie durch eine neue, höhere und positivere ersetzen wollte, da war Kierke- gaard unter den vielen, die von überall her nach Berlin eilten, um die neue Weisheit kennen zu lernen. Anfangs schienen seine Erwartungen, mit denen er gekommen

58 IV. Suren Kierkegaards Philosophie.

war, sich erfüllen zu wollen. Er schrieb in sein Tage- buch: „Ich bin so froh, so unbeschreiblich froh, Schellings zweite Vorlesung gehört zu haben. So habe ich denn lange genug geseufzt, und die Gedanken haben in mir lange genug geseufzt; wie er das Wort "Wirklichkeit aussprach, „„Verhältnis der Philosophie zur Wirklich- keit^'", da hüpfte die Frucht des Gedankens vor Freude in mir, wie in Elisabet. Ich erinnere mich fast jedes Wortes, das er von diesem Augenblick an sagte. Hier giebt's vielleicht Klarheit. Dieses einzige Wort, es erinnerte mich an alle meine philosophischen Leiden und Qualen". (1833—43, S. 297.) Die erwartete grössere Klarheit blieb aus ; denn etliche Monate darauf schrieb Kierkegaard an seinen Bruder : „Lieber Peter, Schelling ist ein ganz erschrecklicher Schwätzer", und er reiste noch vor Schluss der Vorlesungen heim. Doch wurde jene Regung der Frucht des Gedankens der Beginn seines folgenden Gedankenlebens. Schelling betonte nämlich sehr .stark, dass die spekulative Philosophie nicht über das Mögliche und das Abstrakte, Allgemeine hinauskommen könne, und dass die Beziehung zur absoluten Wirklichkeit, besonders wie der religiöse Glaube sie auffasse, nur durch einen der Sehnsucht und dem praktischen, per- sönlichen Bedürfnis entspringenden Willensakt (also nach Kierkegaards späterem Ausdruck : durch einen Sprung) gesetzt werden könne. Der Gegensatz zwischen dem Denken und der Existenz, zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen, und die Unmöglichkeit eines stä- tigen Uebergangs von einem zum andern befestigte sich hier für Kierkegaard so, dass er ihn nicht wieder ver- gass. Mit Recht wurde er durch die willkürliche und phantastische Weise abgestossen, wie Schelling weiter- philosophierte, nachdem er jenen Bruch mit der Kon- tinuität des Denkens festgestellt hatte ; und die einzelnen genialen Gedankenblitze, von denen seine Phantastereien hin und wieder unterbrochen wurden, konnten ihn nicht

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 59*

blenden. Ancli hätte ihn Schellings Endresultat kaum angesprochen : der Versuch einer Heilung des Bruchs durch Aufzeigung eines neuen Zusammenhangs und die Verheissung einer künftigen Religion, eines „dritten Reiches" (worauf schon früher Lessing hingewiesen hat und heutzutage wieder Henrik Ibsen) einer neuen Religion, zu der das Christentum nur eine Einleitung sein sollte und die in ihrer höheren Form über den Gegensatz zwischen Mythologie und Offenbarung durch freies religiöses Selbstverständnis hinausführen sollte. Kierkegaard blieb bei dem von Schelling nachgewiesenen Bruche stehen. Man kann in seinen philosophischen- Schriften (besonders im „Begriff der Angst") Schellings Einfluss, zum Teil auch dessen Terminologie, deutliche erkennen.

Ein jüngerer deutscher Philosoph, dem Kierkegaard viel verdankt, ist Adolf Trendelenburg. Während seines erwähnten Aufenthalts in Berlin vrar er von- Schelling und den Hegelianern so hingenommen, dass er zu seinem späteren Bedauern nicht dazu kam, Tren-- delenburg zu hören. Dieser war der erste, der eine erkenntnistheoretische Kritik der spekulativen Methode gab und in seinen ,, logischen Untersuchungen" (1840) eine mehr kritische Erkenntnislehre entwickelte, die nicht geringen Einfluss auf Kierkegaards Gedankengang aus- übte. Kierkegaard spricht in der Unwissenschaftlichen Nachschrift" (S. 96) von Trendelenburg als „einem Manne, der gesund denkt und vom griechischen Geiste- günstig beeinliusst ist", und in seinen hinterlassenen Papieren (1847, S. 22) sagt er sogar: „Es giebt doch keinen Philosophen der Neuzeit, von dem ich soviel Förderung gehabt habe, wie von Trendelenburg."

Soviel er aber auch andern verdanken mochte, so lag doch der wesentliche Grund seiner Philosophie in- seiner eigenen Persönlichkeit und der ursprünglichen. Natur und Richtung seines Denkens. Durch einsame-

ißO IV« Sören Kierkegaards Philosophie.

JTorschung und Reflexion entwickelten sicli seine Ge- danken bald zur vollkommenen Keife. Nach seiner Heimkehr von Berlin lebte er seinen Studien und sei- ner ausserordentlich fruchtbaren schriftstellerischen Thätigkeit, die nur durch Spazierfahrten, durch Aus- flüge nach den Wäldern Nordseelands und einmal durch eine zweite Reise nach Berlin unterbrochen wurde. Durch sein Umherschlendern auf den Strassen und •brassen wurde er bald eine bekannte Kopenhagener Fi- gur, wie Sokrates es in Athen war, und er fand auch .seinen Aristophanes. Bewegung war ihm gesundheits- halber Bedürfnis. Es brachte ihm aber auch eine Lin- derung seiner Schwermut und Trauer, mit dem gemei- •nen Mann aus dem Volk zu reden, sich in seine Verhält- nisse hineinzuversetzen und Hilfe und Trost zu bringen. .Sodann war es für ihn als Psychologen wie als Schrift- steller lehrreich, das einfache Volk zu hören, wie es sich gegen seinesgleichen ausspricht : ,, Worüber man vergeblich in Büchern Aufklärung suchte, darüber be- kommt man plötzlich Licht, wenn man ein Dienstmäd- chen mit dem andern reden hört; einen Ausdruck, den man vergeblich seinem eigenen Hirn auspressen wollte, in Wörterbüchern, selbst in der Gesellschaft Gelehrter vergeblich gesucht hat, bekommt man im A^orbeigehen aus dem Munde eines gemeinen Soldaten zu hören, der nicht einmal weiss, wie reich er ist. Und wie einer, ►der in dem grossen Wald geht, mit Staunen über dem Ganzen bald einen Zweig, bald ein Blatt sich bricht, dann wieder einem Vogelschrei lauscht, so geht es einem, wenn man sich unter die Menge mischt : da sieht man jetzt eine Aeusserung eines Seelenzustandes, dann wieder eine andere, man lernt und wird nur immer noch lernbegieriger. So lässt man sich nicht von Bü- chern betrügen, als käme das Menschliche so selten vor; so wendet man sich auch nicht an die Zeitungen: das Beste an der Aeusserung, das Liebenswürdigste, der

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 611

psychologische kleine Zug wird docli manchmal nicht wiedergegeben".*) - Wie das Willkürliche immer erst nach dem Unwillkürlichen kommt, so fasste er auch erst später diese Gänge auf den Strassen und Gassen als ein taktisches Mittel auf: er habe den Eindruck seiner Person abschwächen wollen, damit seine religiöse Schriftstellerei, die seine eigentliche Aufgabe gebildet habe, nur durch ihre wirkliche eigene Kraft habe wirken können. Die Technik der indirekten Mitteilung habe das so verlangt! Wir brauchen uns auf diese Künstelei hier nicht näher einzulassen. Ich wollte nur seine- Lebensverhältnisse in der Zeit seiner eigentlichen phi- losophischen Schriftstellerei (1843 46) etwas veran- schaulichen.

A. Sören Kierkegaards Erkenntnistheorie.

1. Wenn Kierkegaard die Frage erörtert, welche Erkenntnis ein existierender Mensch gewinnen könne, so denkt er nicht an alle mögliche Erkenntnis, sondern nur an die von ihm so genannte ,,w es ent liehe" Er- kenntnis, d.h. an die Erkenntnis, die sich wesentlich auf das erkennende Individuum selbst in seinen Exi- stenzverhältnissen bezieht, an die ethisch-religiöse Er- kenntnis, Alles andere Wissen das empirische, mathematische und historische Wissen ist ihm gleich- gültig, weil es mit der Existenz nichts zu thun hat, (,, Nachschrift" S. 176.) Schon hier macht er eine sehr wesentliche Unterscheidung und bringt ein Entweder Oder an. Denn es ist doch sehr fraglich, ob nicht vieles von jenem angeblich gleichgültigen Wissen ein- greifende Bedeutung für die ethisch-religiöse Erkennt- nis hat und gehabt hat. Wenn diese nicht zu aller Zeit dieselbe ist, so rührt dies teilweise von jenem

*) Stadien anf dem Lebenswege, S. [458].

•^2 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

scheinbar „gleichgültigen" Wissen her, das auch auf die Gebiete des geistigen Lebens, die man ihm ver- schliessen möchte, bewussten oder unbewussten Einfluss hat.*) Kierkegaard jedoch nimmt die Richtigkeit jener Unterscheidung ein für allemal als gegeben an und •steckt sich damit die Grenze für seine Untersuchung ab. 2. Der Gedankengang in Kierkegaards Erkenntnis- theorie richtet sich polemisch gegen Hegel und die andern, die (wie Martensen) meinten, wenn man sich •nur auf den Grund des Glaubens stelle und ein wieder- geborenes Bewusstsein bekommen habe, so habe man auch die Bedingungen für eine höhere, zuvor unerreich- bare Erkenntnis erhalten. Hegel gegenüber wird bemerkt, dass er auf Kants Einwendungen gegen eine Erkenntnis der absoluten Wirklichkeit eigentlich gar nicht geantwortet habe. Das Denken kann die Wirklich- keit nicht erreichen : denn sowie es dieselbe erreicht ,haben wollte, hat es sie in ge dachte Wirklichkeit oder in Möglichkeit umgesetzt; das Denken kann über sich selbst nicht hinauskommen. Gegen die spekulative Theo- logie aber wird bemerkt, der Glaube habe kein Interesse, sich selbst auf andere Weise als durcli stätes Verbleiben in der Leidenschaft des Glaubens zu verstehen. Man_ könne vom Höchsten in der Welt nur als glücklich oder unglücklich Verliebter ein Bewusstsein haben ; wer mit

spekulativem Vorwitz auftrete, bekomme in Wirklichkeit

nichts zu erfahren. Nehme man die Leidenschaft hinweg,

*) Von der entgegengesetzten Seite aas kritisierte Bröchner (Glauben und Wissen, Kopenh. 1868, S. 219) die genannte Kierke- gaard'sche Unterscheidung, indem er zeigte, dass der Widersprach, der durch das Paradox sich in der „wesentlichen" Erkenntnis geltend macht, wegen des Zusammenhangs im bewassten Leben auch die „unwesentliche'' Erkenntnis beeintlussen muss, so dass Kierkegaard in Wirklichkeit dieser nicht einmal die für sie geltendgemachte relative 'Gültigkeit zuschreiben kann. Es ist im Grund auch eine Inkon- sequenz, dass Kierkegaard der „unwesentlichen" Erkenntnis über- haupt irgendeinen Wert beimisst.

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 63

die von der Ungewissheit als einem heilsamen Zucht- meister stets neu erweckt werde, so sei eben damit auch der Glaube dahin. Der Existierende sei stets im Werden, und die Zeit sei nie abgeschlossen; daher könne nie.. volle G-ewissheit erreicht werden, und unser Wissen könne über Annäherungen und Vermutungen nie hinaus- kommen,' womit wir auf den Gebieten der unwesentlichen Erkenntnis uns anch gar wohl begnügen lassen können. Solle aber das Ewige und Unbedingte ergriffen und festgehalten werden, so sei dies, weil der Abschluss nicht gewonnen werden könne, nur in Leidenschaft möglich. Es sei nur verwerfliche Bequemlichkeit oder Ungeduld, wenn man etwas Fertiges und Abgeschlossenes haben zu müssen glaube. Ueber das ewige Streben nach Wahrheit kommen wir nicht hinaus. Kierkegaard nimmt mit Begeisterung Lessings berühmtes Wort auf: wenn Gott in der Rechten alle Wahrheit und in der Linken das stets lebende Streben nach Wahrheit hielte, so würde er ihm in die Linke fallen, da die ewige Wahrheit nicht für ein endliches Wesen sei. Doch ist Lessings Begründung dieser seiner Wahl eine etwas andere als die Kierkegaards. Lessing geht davon aus,fH dass nicht der Besitz, sondern nur das Erwerben dem Menschen Wert giebt, indem durch das Suchen seine Kräfte sich erweitern und er so an Vollkommenheit wächst. Dies ist eine mehr positive und psychologische Begründung als die, welche wir im Folgenden bei Kierke- gaard finden werden ; dieser ist zu sehr Asket und zu sehr mit der Vorbereitung seiner Lehre vom Paradox beschäftigt, um Lessing auf seinem natürlichen Wege zu folgen.

Die genauere Entwicklung von Kierkegaards Erkennt- nistheorie wird durch die Begründung der zwei Sätze gegeben: dass ein logisches System gegeben werden könne, ein_ System des Daseins aber nicht gegeben werden könne.

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Q4 ^V. Sören Kierkegaards Philosophie.

3. Ein logisches System kann gegeben« werden. Wir können eine znsammenhängende Reihe allgemeiner Bestimmungen entwickeln, die für unser Denken Gültigkeit haben. Hier muss man sich aber hüten, von der Wirklichkeit hergenommene Begriffe einzuschmuggeln. Das logische System ist eine Hypo- these, deren Grültigkeit für die Wirklichkeit fraglich ist. Und es ist besonders zu untersuchen, ob wir diese Hypothese bilden, nachdem wir die Wirklichkeit durch Erfahrung kennen gelernt haben, also als eine Art Abbreviatur für diese, oder ob wir sie unabhängig von der Erfahrung bilden, Kierkegaard äussert den Wunsch, diese letzte Frage bei einer andern Gelegen- heit ausführlicher zu behandeln ; was er jedoch nie gethan hat. Es ist, wie man leicht sieht, die Frage, ob die empirische oder die rationalistische Auffassung der Grundvoraussetzungen des Denkens die richtige sei.

Eine besondere Schwierigkeit bei Aufstellung des logischen Systems liegt für Kierkegaard darin, wie man dazu kommen könne, mit ihm zu beginnen, d. h. irgendwo' als an einem Ausgangspunkte einzusetzen. Denn die einfachsten Voraussetzungen entdecken wir ja erst durch Reflexionen, indem wir von den abgeleiteten Annahmen zu Annahmen zurückgehen, worauf sie sich gründen wann sind wir aber weit genug zurückgegangen? und wie können wir die Reflexion zum Stillstand bringen? Diese hat ja auf dem einen Punkte so wenig Grund Halt zu machen, wie auf dem andern, und wird also, sich selbst überlassen, ins Unendliche fortgehen. Oder wie man auch sagen kann : Der Zweifel kann sich nicht selbst zum Stehen bringen. Es muss zu einem Bruch, zu einem gewollten Abbrechen kommen. Man muss einen Ent- schluss fassen, die rückwärtsgehende Gedankenreihe abzubrechen, und den Punkt, bis zu dem man gekommen ist, als Prinzip und Ausgangspunkt für das System festsetzen. Was wird dann aber aus der Voraus-

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 65

setzungslosigkeit ? Denn dass man mit dem logischen System beginnt, wird ja so darch etwas Nichtlogische^ bewirkt, durch das, was mich zum Beschluss bewegt.

,,Wie, wenn wir so, anstatt des Geredes oder Träumens von einem absoluten Anfang, von einem Sprung redeten?" („Nachschrift" S. 100.)

Gegenüber dem Hegeischen absoluten Gedanken- system, das sich wie ein Zirkel ganz in sich selbst abschloss, ist diese Beweisführung Kierkegaards schla- gend. Vergleicht man sie mit der oberflächlichen Katechismusrede, mit der Martensen ,,über Hegel hinausging", so hat man den Unterschied zwischen den beiden Denkern an einem einzelnen Beispiele klar vor Augen. Doch ist es eine Frage, ob das Anfangen hier mit einer so grossen Schwierigkeit behaftet ist^ wie Kierkegaard meint. Wir finden allerdings unsere letzten Voraussetzungen durch E-eflexion oder, wie Cartesius es nennt, durch Zweifeln, oder, wie man gewiss am allerbesten sich ausdrückt, durch Analyse. Allein in unserem Suchen nach Voraussetzungen haben wir stets eine bestimmte Aufgabe vor Augen, die mit Hilfe der gesuchten Voraussetzungen gelöst werden soll. Die- Aufgabe ist, dass wir zum Verständnis des in der Er- fahrung gegebenen Daseins oder eines Teils davon gelangen. Wir haben daher einen bestimmten Massstab, wie weit wir zu gehen brauchen soweit nämlich, bis wir gefunden haben, was zur Lösung jener Aufgabe nötig ist. Können wir noch weiter gehen, so entdecken wir noch fernerliegende Voraussetzungen, die sich mit derselben logischen Notwendigkeit, wie die erstgefun- denen darbieten ; vorläufig aber werden wir von diesen Voraussetzungen keinen Gebrauch machen. Fortschrei- tende Erfahrung kann vielleicht dazu führen, dass wir auch sie verwenden. Es ist also nicht die Willkür, die den Anfang der Logik bestimmt, und ihre ersterL Grundsätze haben mehr als rein arbiträre Giltigkeit.

Hoff ding, S. Kierkegaard. B

€6 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

4. Ein System des Daseins aber kann nicht gegeben werden. Dies kommt fürs erste davon her, dass alle Existenz, weil in der Zeit, nie ab- geschlossen ist. Sowohl das Existierende, das erkannt wird, als das Existierende, das erkennt, sind in der Zeit^ iin Werden. Besonders das Letztere darf nicht vergessen werden. Die spekulative Philosophie, die alles zu. erklären wähnte, hat vergessen, dass der Urheber des Systems, so unbedeutend er auch sein mag (,,so «ine wirkliche Bagatelle, wie der existierende Herr Professor, der das System schreibt"), selbst doch auch mit zu dem Dasein gehört, das erklärt werden soll, und dass er ja mit seiner Existenz nie fertig ist. An das System könnte man erst denken, wenn man auf die abgeschlossene Existenz zurückblicken könnte das würde aber voraussetzen, dass man nicht mehr existierte ! Wie wir schon gehört haben, lebt man das Leben vor- wärts, versteht es aber rückwärts. Und selbst das nachträgliche Verständnis von rückwärts, die Einsicht in die Notwendigkeit der Entwicklung in der Ver- gangenheit, dürfte auf einer Illusion beruhen: denn wie kann, was als zukünftig nur möglich ist, dadurch, dass es zur Vergangenheit gehört, notwendig werden? Sollte das Vergangene notwendiger sein, als das Zu- künftige? Wir verstehen ja doch die Vergangenheit erst recht, wenn wir uns in sie als Zeitgenossen des Geschehenen hineindenken dann sehen wir sie ja ^ber als werdend, nicht abgeschlossen, also noch grossen- teils bloss möglich! („Philosophische Bissen" S. 236 ff.)

Für den Existierenden sind ausserdem Denken und Sein nicht eins, sondern zwei gesonderte Dinge. Wir denken entweder rückwärts an das, was gewesen ist, oder vorwärts an das, was kommen wird. Gleichzeitig- keit, absolute Einheit des Denkens und des Seins ist für ein existierendes Wesen unmöglich und existiert nur als Phantasterei. In unser Denken kann keine Konti-

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aiuität kommen, da dieses stets von der Aufgabe in der Existenz unterbroclien wird. Jegliche Einheit und Kontinuität ist nur Abstraktion.

Und endlich : nur das Einzelne, Konkrete existiert ; ■existieren heisst etwas Einzelnes sein. Gegenstand des Denkens ist aber nur das Allgemeine und Abstrakte. Auch liierin liegt ein Missverhältnis zwischen Denken und Existenz.

Dass ein System des Daseins von unserem Denken sich nicht bilden lässt, hat gleichwohl für Kierkegaard nicht die Folgerung, dass ein solches System nicht existiert. Es giebt ein System des Daseins doch nur für „den, der selbst ausserhalb des Daseins und doch

im Dasein ist der in seiner Ewigkeit für immer ab-

... . . 1

U('S(]il()ss(Mi ist und doch das Dasein in sich einschliesst, j

für Gott." *j Für den Menschen aber ist das Dasein \ irrational, ein Paradox. Das Paradox, das Widersinnige und Widersprechende ist nach Kierkegaard kein Zu- geständnis, es ist vielmehr, wie er sich ausdrückt, eine .„ontologische Bestimmung'^ (1847, S. 18), es bezeichnet das Verhältnis zwischen einem existierenden erkennenden Geiste und der ewigen Wahrheit.

Es ist auch zuzugeben, dass durch den scharfen Widerspruch zwischen der ewigen Wahrheit (der ewigen Abgeschlossenheit des Daseins in Gott) und der in stätem Werden begriffenen Existenz sich ein Paradox ergiebt. Denn wie kann von irgend einem Gesichtspunkt .aus und für irgend einen Gedanken, von dem wir uns einen Begriff bilden können, das, was stets wird, .als abgeschlossen sich darstellen? Kierheo^aard macht

*) „Nachschrift" S. 104. Einige Seiten nachher sagt Kierke- .gaard: „Jedes System muss pantheistisch sein, eben weil es ab- geschlossen sein will" (S. 107). Die eigentümliche Konsequenz hievon ist, dass Gott Pantheist ist. Andererseits zieht Kierkegaard selbst jtus dem Satz, dass Existieren = Werden ist, die befremdende Folgerung: „Gott existiert nicht, da er ewig ist." (8. 178. 807).

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bestimmt geltend, dass „Bewegung sich nicht sub specie- aeterni denken lässt", d. h. nicht vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus, unter Absehen von der Zeit („Nach- schrift", S. 283); wie kann dann aber Gott von der Existenz, von dem ganzen im Werden begriffenen Dasein wissen, da sich ja „Existenz ohne Bewegung nicht denken. lässt?" Es sind liier zwei Gedanken gewaltsam ver- bunden, die Kierkegaard beide festgehalten wissen will.. Die Erkenntnistheorie aber muss hier gewiss sein Lieb- lingswort Entweder Oder gegen ihn selbst kehren und sagen: entweder muss der Begriff des absoluten Systems in Gott eine Illusion sein, oder muss das stäte Werden; ein Schein sein. Kierkegaard hätte bei der Wahl, der ersten Alternative seine theistischen Voraussetzungen noch nicht aufzugeben gebraucht. Er konnte mit andern philosophischen Theisten den Schluss ziehen, dass Gott selbst im Werden begriffen sein muss, dass Gottes Wesen nicht abgeschlossen ist. (Damit wäre er auch dem eigentümlichen Schluss, dass Gott Pantheist sein miisste^ entgangen.) Diese Idee wurde gleichzeitig mit Kierke- gaards philosophischer Schriftstellerei von dem eigent- lichen Begründer des modernen philosophischen Theismus,. C. H. Weisse, entwickelt.*) Damit wäre der scharfe Gegensatz aufgehoben das absolut Abgeschlossene- in der Gottesidee aber ebendamit ganz gewiss hinfällig.. Wenn man sich daran hält, dass das Dasein, das wir kennen, sich in der Zeit entfaltet, und dass wir* uns von keiner anderen Form des Daseins eine Vor- stellung bilden können, so kann von einem abgeschlossenen System keine Rede sein. Das Dasein wird dann aber- auch zu keinem Paradox. Es wird irrational in mathe- matischem Sinne, indem nur eine approxi- mative Erkenntnis desselben möglich wird. Es steht

*) Das philosophische Problem der Gegenwart. 1842. (Vgl. auch H. Böffding, „Lotzes Lehren über Raum and Zeit", Philosv Monatshefte XXIV, S. 433—39).

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vor uns wie VT", was wir ja mit beliebig vielen Dezi- malen bestimmen können, olme je den exakten Wert angeben zu können. Das Dasein könnte ja so reich und vielseitig sein, dass es für den mächtigsten und umfassendsten Gedanken, den wir uns vorstellen können, .vStofF genug in sich hätte. Das ist aber etwas ganz anderes, als dass es für uns paradox sei, d. h. für uns unüberwindliche Widersprüche enthalte. Die Unerschöpf- lichkeit des Daseins für das Denken entspricht genau der Lessingschen Idee des ewigen Strebens nach Wahr- heit. Wenn wir diese Idee festhalten, so müssen wir als objektives Gegenstück ein stätig werdendes und in :seinem Werden unüberschaubares Dasein annehmen.

Kierkegaard geht davon aus, dass wir, auch in Be- ziehung auf die „wesentliche" Erkenntnis, uns nicht mit Annäherungen und Hypothesen begnügen können. Warum -denn nicht? Wenn es nur wirkliche Annäherungen sind imd Hypothesen, die durch die Erfahrung immer mehr verifiziert werden? Dann haben wir Grund genug, unsere Hoffnung nicht aufzugeben, dass wir ein immer klareres Verständnis gewinnen werden und im Kampfe mit derWelt bestehen können. Und von einer solchen Hoffnung ist ja unser Trieb nach Erkenntnis durchaus getragen. Es wird sich jedoch im Eolgenden zeigen, dass Kierkegaard den Begriff der Annäherung auf eine ganz merkwürdige Weise behandelt.

5. Dass die wesentliche Wahrheit paradox ist, hat bei Kierkegaard seinen Grund darin, dass der Gedanke Gottes als des absolut Ewigen mitten in dem ununter- brochenen Werden des Daseins festgehalten werden soll. Darauf beruht es auch, dass die wesentliche Wahrheit nur mit der Leidenschaft des Glaubens festgehalten werden kann.

Frau't man, wie die Gottesidee für Kierkegaard in die Erscheinung tritt, so ist seine Antwort, dass Gott ein Postulat, eine Notwehr ist, ohne die

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wir das Leben nicht aushalten können (,, Nachschrift"^ S. 178). Ein Bild, das seinen Gedanken gut zum Aus- druck bringen möchte, wäre etwa folgendes: Gott ist ein Notanker, dessen wir auf dem wilden Meere der Existenz bedürfen und an welchem unter dem Wogen- gange stets gerüttelt wird. Wir bedürfen eines absolut festen Halts, eines Hakens, woran die Kette des Dar. s'eins befestigt werden, eines Punkts, wo die unendliche^ K,eflexion E.uhe finden kann. Was aber postuliert wif^T" ist von dem postulierenden Wesen qualitativ ver- schieden: selbst der Begriff Existenz soll ja auf Gott nicht passen! ^ott_ ist_ nach Kierkegaard nicht etwa die höchste Steigerung, das höchste Ideal des Mensfihep- „Zwischen Gott und Mensch l)est('ht ein absoluter Unter- schied*'; die ,, Qualitäten sind absolut verschieden" („Nachschrift" S. 383). Dann geht es aber so, dass- die Notwehr, wozu der Mensch in der Angst des Da- seins flüchtet, selbst neue Schwierigkeiten macht und das Leiden verschärft: denn nun gilt es, die absolut, verschiedenen Qualitäten zu vereinigen, sie zusammen- zudenken! — Der Glaube an Gott entsteht dadurch, dass der Mensch ,,in unendlichem Interesse nach einer andern Wirklichkeit als seiner eigenen fragt" woraus, dann aber sofort neue Probleme sich ergeben.

Es ist einleuchtend, dass Kierkegaard nach seiner Anschauung es nicht so leicht hatte wie Martensen, auf dem Grunde des Glaubens eine spekulative Theologie aufzubauen. Dieser Grund war vulkanischer Natur, in stäter Bewegung, wie er ja seine Entstehung selbst einer Revolution verdankte. Hier war weder Ort noch Zeit zu bauen; die einzige Aufgabe konnte hier sein, in. leidenschaftlicher Bekümmernis für die Bewahrung dessen, zu kämpfen, was man hatte.

Eine objektive Gewissheit, eine Bekräftigung durck die [Erfahrung kann nie gewonnen werden^ Nicht _nur ist die Zukunft, wie oft bemerkt, stets gleich ungewiss-

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auch wenn man die Natur betrachtet, um in ihr eine^ Bestätigung für Gottes Allmacht und Weisheit zu finden, ^ entdeckt man neben Spuren dieser Art auch Spuren ent- gegengesetzter Richtung. (,,Nachschrift" S. 182.) Aus der_ objektiven Ungewissheit kommen wir also nicht heraus^ und da es doch Leben und Todfgilt, wird diese objektive Ungewissheit mit unendlicher Leidenschaft umfasst. Die Wahrlieit kann nur in der Form der Subjektivität, als. Gegenstand des persönlichen Gefühls und der Leiden- schaft, festgehalten werden,

6. Nachdem Kierkegaard so entwickelt hat, dass die Wahrheit nur auf subjektive, persönliche Weise ergrifi'en und festgehalten werden kann dass die Wahrheit die Subjektivität ist, kehrt er den Satz um und stellt fest: die Subjektivität ist die Wahrheit. Denn nur was mit subjektiver Energie und Leidenschaft ergriffen wird, nur das kann die Wahrheit sein. Wenn von zwei Menschen der eine in persönlicher Unwahrheit zu dem wahren Gotte betet, der andere „mit der ganzen Leidenschaft der Unendlichkeit" zu einem Götzen, so betet der erstere in Wirklickheit zu einem Götzen, während der andere in Wahrheit zu Gott betet. ^^flH kommt zu allererst auf ein Wie, nicht auf ein Was an, auf die persönliche Innerlichkeit und Energie, nicht auf den Inhalt, an den diese Innerlichkeit sich anknüpft. Und je grösser die objektive Ungewissheit, je wider- sprechender der Inhalt für den ist, der ihn in persön- licher Existenz festhalten soll, desto höher steigt die Innerlichkeit und Leidenschaft. Die Wahrheit ist ein Wagestück. Dem Satze, dass die Subjektivität die Wahr- heit ist, entspricht der andere Satz, dass die Wahrheit (objektiv gesehen) das Paradox ist. („Nachschrift" S. 1 79 ff.)

Mit diesem seinem berühmten Satz, dass die Sub- jektivität die Wahrheit ist, hat Kierkegaard den Lessing- schen Satz noch verschärft, dass unser Verhältnis zur Wahrheit nur in einem ewigen Suchen nach ihr bestehen

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könne. Der ganzeWert wird von dem objektiven (dogmati- schen) nack dem subjektiven (psychologischen) Pol ver- legt. Der Sinn ist eigentlich: die Wahrheit hat nur dann Wert, wenn sie in persönlichem Fühlen und Streben angeeignet und festgehalten wird. Der persön- liche Nährwert der Wahrheit ist das Entscheidende. Der Massstab liegt in der Bewegung, die im inneren Leben der Persönlichkeit geweckt wird.

Eigentlich hat Sören Kierkegaard hiemit auf seine Weise dasselbe ausgesprochen, was Ludwig Feuerbach einige Jahre zuvor im ,, Wesen des Christentums'" mit dem Satze geltend machte, dass Theologie Psychologie sei.*) Nur infolge einer Inkonsequenz kann Kierkegaard von der Subjektivität einen bestimmten Inhalt, einen bestimmten objektiven Glauben verlangen: die Haupt- sache ist, dass diese im Zustande des Strebens nach Wahrheit ist; zu was sie in Beziehung steht, muss gleichgültig sein. Es muss auf die Fülle und Höhe des persönlichen Lebens ankommen, und es muss vor- läufig eine offene Frage bleiben, ob für die Entwicklung eines solchen Lebens ein bestimmter dogmatischer Glaubensinhalt notwendig ist.

Allein er zieht nicht die vollkommene Konsequenz seines Satzes. Sonst hätte er sich darauf führen lassen, das Prinzip der freien Persönlichkeit zu proklamieren. Er giebt die Annahme eines von der Persönlichkeit selbst verschiedenen Massstabes für die Wahrheit, die für ihn in dem kirchlichen Dogma gegeben ist, nicht auf. Und doch wird eine genauere Untersuchung (die wir vornehmen wollen, wenn wir erst seine Ethik kennen gelernt haben) zeigen, dass diese dogmatische Richt- schnur nicht die letzte ist. Er ist zu sehr Denker, um

*) Das „Wesen des Christentums" erschien 1841, die „Unwissenssch. Nachschrift" 1846. Kierkegaard weist in diesem Bache und bereits in den „Stadien auf dem Lebenswege" ausdrück- lich auf Fenerbachs Auffassung des Christentums hin.

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sich bei ilir beruhigen zu können. Sein letzter Mässstab ist formeller Natur : die Aneignung des dogmatischkirch- lichen Glaubensinhalts ist ihm d arum die höchste Form persönlichen Lebens, weil sieden stärksten Widerspruch, das grösste Leiden und die höchste Leidenschaft in der Subjektivität hervorruft. Der letzte und entschei- dende Vorwurf gegen ihn wird darum dahin lauten, dass •er die Persönlichkeit von dem realen, natürlichen und sozialen Zusammenhang, worin ihr Leben allein positiven Inhalt gewinnen kann, losgerissen hat. Denn nur in der freien, mit der Wirklichkeit kämpfenden und von der Wirklichkeit lernenden Subjektivität kann die Wahrheit wohnen nicht aber in der Subjektivität, die durch formelle,, asketische Uebungen sich in den Gehorsam gegen einen naturwidrigen, lebensfeindlichen Inhalt hineinzwängt. Doch kann dieser Punkt nur durch die Untersuchung von Kierkegaards Ethik klarer be- leuchtet werden.

Das Grosse an Kierkegaards Erkenntnistheorie ist der Ernst, womit er den Zusammenhang des Denkens mit dem persönlichen Leben erfasst. Es ist etwas Grie- •chisches an ihm. Er will von dem abstrakten Denken und Kontemplieren zum persönlichen, existenziellen Denken zurückkehren.

Unsere Ideen werden nur allzu leicht Soldaten in .der Friedenszeit. Sören Kierkegaard hat die Ideen aus dem Frieden der Kontemplation hinausgeführt in den Kampf und in die Unruhe des Lebens und ihnen die Wahlstatt angewiesen, wo die Gültigkeit der ,, wesent- lichen" Erkenntnis ihre Probe bestehen soll. Wäre der •dogmatische Hemmschuh nicht gewesen, so hätten seine Gedanken weit mehr direkt universelle Bedeutung ge- wonnen. Nun ist erst eine Uebersetzung, ein Ausschei- dungsprozess vorzunehmen, ehe sie die Rolle für die Menschheit spielen können, die ihnen zukommt.

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B. Sören Kierkegaards Ethik.

a. Der Sprung. 1. In der Geschichte des Denkens ist die wichtige- Thatsache zu beachten, dass sich zwei Arten von Den- kern gegenüberstehen. Der einen Art ist es um Auf- findung der Einheit, des Zusammenhangs, der Kontinuität zu thun, um die Aufzeigung von allmählichen Ueber- gängen und Zwischengliedern zwischen den scheinbar entgegengesetztesten Formen des Daseins,, um den Nach- weis, dass die scheinbar qualitativ verschiedenen Phänomene aus denselben Elementen bestehen,, nur das* diese verschiedenartig gemischt und ungleich zusammen- gesetzt seien. Die andere Art richtet gerade umgekehrt ihr Hauptinteresse auf die Fixierung der bestimmten Unterschiede, auf den Nachweis, dass an gewissen Punkten im Dasein ein qualitativ Neues auftrete, auf Betonung der jähen Uebergänge, der plötzlichen Wen- dungen, der scharfen Grenzen zwischen verschiedenen Gebieten. Für die Denker der ersteren Art wird der HauptbegrifF der kontinuierliche, allmähliche Uebergang, derblos graduelleUnterschied,die quantitativ eVerschie- denheit; für die letzteren die Distinktion, die Disjunktion, die qualitative Verschiedenheit. Die beiden Arten und Richtungen stossen bei einer Reihe grosser Probleme- auf dem Gebiete der Natur- \\n.e der Geisteswissenschaft zusammen. So bei der Frage nach der Einheit oder der ursprünglichen Verschiedenartigkeit der Naturkräfte, nach der Einheit der Materie oder der qualitativeni Verschiedenheit der Grundstoife, nach der Entstehung- des Lebens, der Entstehung der Arten, nach dem Ver- hältnis des bewussten Lebens zum Materiellen, nach der gegenseitigen Beziehung der höheren und niedereren Bewusstseinserscheinungen zu einander, nach dem Ver- hältnis der Willensentscheidung zuan Kausalgesetz u. s. f.

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"VVo sich nicht quantitativ feststellen lässt, wie gross die Annäherung ist, wieweit die Kontinuität reicht,- odcr wie gross der Abstand zwischen den in der Er- fcihrung auftretenden Gegensätzen ist, da wird sich der Unterschied der beiden Denkweisen besonders geltend machen; also in der Wissenschaft des Organischen stärker als in der Wissenschaft des Unorganischen, in der Wissenschaft des Geistes stärker als in der Natur- wissenschaft. Und von besonderer Bedeutung wird er in der Philosophie werden, da es sich ja hier um die Feststellung der Voraussetzungen und Gesichtspunkte für die Betrachtung des Ganzen handelt.

Beide Arten haben ihre wissenschaftliche Berechtig-- ung. Sie stellen die zwei Grundfaktoren unseres Erkennens dar, die Synthese und die Analyse, die sich, wie Goethe bemerkt hat, wie Ein- und Ausatmung zu einander verhalten. Man könnte vielleicht meinen,, die erstere müsse die eigentlich wissenschaftliche Richtung sein, da ja die Synthese die Grundform unseres Geistes und unseres Denkens ist, und da jede Wissenschaft darauf ausgeht, Zusammenhang und Einheit im Dasein zu finden. Es ist aber doch nicht minder wesentlich^, dass wir uns des ganzen qualitativen Reichtums, den das Dasein in sich begreift, bewusst bleiben. Auch gewinnt die Synthese selbst erst dann wirkliche Be- deutung, wann der Inhalt der Erfahrung in seiner ganzen Verschiedenartigkeit vor uns ausgebreitet ist, mit allen seinen qualitativen Nuancen und Gegensätzen; nur dann hat die Synthese etwas zu verarbeiten. Sören Kierke- gaard hat uns gelehrt, dass es keine Kunst sei, eine Einheit zu proklamieren, wenn es keine gegensätzlichen Elemente zu überwinden giebt.

Dass Sören Kierkegaard entschieden zu der zweiten Klasse von Denkern gehört, ist kein Zweifel. Er ist einer der ersten in der Reihe von Denkern, die die Rückkehr zu der kritischen Philosophie einleitete, die-

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der letzten Greneration eigentümlich ist. Er selbst be- zeiclmete sein Denken im Gegensatz zu dem Hegels als qualitative Dialektik. („Nachschrift" S. 360.) Damit wollte er als sein Hauptbestreben kennzeichnen, dass er der qualitativen Distinktion Geltung verschaffe imd die festen Grenzen zwischen den verschiedenen Gebieten aufzeige, während die vorhergehende, roman- tisch-spekulative Periode bis zum Uebermass in der Einheit und Kontinuität schwelgte. Sein Schlagwort Avar Entweder-Oder. Diesen Titel gab er seinem -ersten bedeutungsvollen Werke ; das war die Kategorie, die er als die entscheidende betonte; unter diesem Namen war er den Gassenjungen bekannt. Er erklärte ^er Kontinuität und dem allmählichen Uebergang den Krieg; sie sind für ihn nur die Kategorien der Ober- flächlichkeit und der Weichlichkeit. Das Leben und die Wirklichkeit führt nach seiner Behauptung immer wieder an Kreuzwege, gebt durch stets wiederholte Sprünge vorwärts. Etwas Entscheidendes tritt immer nur durch .einen Ruck ein, durch eine plötzliche Schwenkung, die .sich weder aus dem, was vorausgeht, vorhersehen lässt, noch dadurch bestimmt wird.

Das Geistesleben unterliegt in dieser Hinsicht nach Kierkegaard ganz andern Bedingungen als das Natur- leben. Er bestreitet auf das bestimmteste das Bestehen jeder Analogie zwischen geistiger Entwicklung und organischer Entwicklung.*) Qualitative Metamorphose, in der das neue Stadium, der höhere Zustand infolge eines entscheidenden Bucks oder Sprungs in Kraft tritt, ist .das für die Entwicklung des Geisteslebens Eigentüm- liche, während die organische Entwicklung, z. B. das Wachstum einer Pflanze, in einer successiven Entfaltung vdes bereits im KJeime wesentlich Vorhandenen ist. Indem der Uebergang ein Sprung ist, wird der innere natürliche Zusammenhang, ,,die Immanenz" abgebrochen,

*) Vgl. besonders „Nachschrift" 8. 620.

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es wird ein absolut Neues gesetzt, „eine Transcendenz" etabliert. („Nachsclirift" S. 271.) Die Kontinuität, die das Denken zu stände bringen kann, ist rein abstrakt und in der Wirklichkeit illusorisch; der wirkliche Zu- sammenhang muss im Geistesleben durch stets neue Anspannung hergestellt werden, durch die Arbeit der Wiederholung, die in der neuen Wirklichkeit das früher Gewonnene, das durchaus nicht von selbst fortbesteht, festhält. („Nächschrift" S. 287, „Wiederholung" S.33f 92.)-

2. Diese Eigentümlichkeit an Sören Kierkegaards Denken tritt in seiner Auffassung des Verhältnisses zwischen Psychologie und Ethik besonders deutlich zu Tage, wie ja überhaupt die Eigentümlichkeit eines Denkers in der Regel an diesem Punkte sich am deut- lichsten offenbart.

Was die Fähigkeit betrifft, die grössten Gegensätze- und die feinsten Nuancen, die gewaltsamsten Krisen und die leisesten Regungen innerhalb des Seelenlebens zu erfassen, so war er ein Psychologe ersten Rangs.- Er war auf dem Gebiet des inneren Lebens heimisch, und er hatte dichterische Kraft, was er geschaut, auch darzustellen. Allein er hatte nicht bloss das Interesse des Beobachters. Er hatte auch einen leidenschaftlichen Trieb, zu verstehen. Sein ganzes kräftiges Hervorheben des Paradoxen, des Irrationalen, des plötzlichen Ruckes, der den Zusammenhang aufhebt, würde ja unverständlich sein, wenn er nicht selbst das Bedürfnis nach Fest- haltung der Kontinuität gehabt hätte. Die Lehre von der Wahrheit als dem Paradoxe ist der Ausdruck dafür, . dass dieses Verlangen getäuscht worden ist. Wer keinen- lebhaften Erkenntnistrieb hat, dem bleibt diese Täusch- ung erspart, er entdeckt das Irrationale nicht und wird durchaus kein Verständnis für die Leidenschaft haben, die einen Geist wie Kierkegaard beim Anprall gegen die Grenze des Erkennens ergreift. Nur wer mit vollem Dampfe einherfährt, empfindet den Schmerz, anhalten, zu sollen. „Das Paradox", sagt Kierkegaard, (Philos.-

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Bissen, S. 210 [52]), „ist des Gedankens Leidenschaft, und der Denker, der das Paradox meidet, ist wie der Liebende, der die Leidenscliaft fern halten will ein mittelmässiger Patron. Jeder Leidenschaft höchste Potenz ist aber, dass sie ihren eigenen Untergang will, und so ist es auch des Verstandes höchste Leidenschaft, dass er den Anstoss will, obgleich der Anstoss auf die eine oder andere Weise sein Untergang werden muss. Dies ist also die höchste Leidenschaft des Denkens, etwas zu entdecken, das es selbst nicht denken kann."

Hieraus kann man ersehen, dass auch bei der Ein- teilung der Denker in zwei Klassen innerhalb seiner eigenen Klasse nur der gross sein kann, bei dem sich ein starker Trieb in der Richtung der anderen Klasse regt. Nur ein starkes Bedürfnis nach Zusammenhang entdeckt und empfindet den Bruch, den Ruck.

Als Psychologe hält Kierkegaard den Zusammenhang fest, solange er kann; als Ethiker aber setzt er den Sprung, den Ruck der Entscheidung. Nach ihm ist es die Aufgabe der Psychologie, die Möglichkeiten für die neuen Zustände, die successiven und quantitativen An- näherungen an sie aufzusuchen. Sie hat es mit den Anläufen, Motiven und Vorbereitungen zu thun. Soweit sie aber auch in ihrer „Berechnung des Möglichkeits- winkels'' kommt, wenn der Punkt kommt, wo die eigentliche, ethisch bedeutungsvolle Entscheidung statt- findet, so erfolgt ein qualitativer Ruck, der das Neue setzt ; es geht eine radikale Aenderung vor sich, die in dem Vorausgehenden ihre Erklärung in keiner Weise .finden kann.

3. Kierkegaard entwickelt dieses Verhältnis zwischen der psychologischen und der ethischen Betrachtungsweise in der genialen Abhandlung ,,der Begriff der Angst." Er behandelt hier die Willensentscheidung beim „FalP' nach dem Bericht im ersten Buch Mosis. Man .möchte denken, es wäre der Klarheit förderlicher ge-

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wesen, wenn er liiezu eines seiner gewöhnlichen psycho- logischen Experimente verwendet hätte. Doch ist der Unterschied nicht gross; denn wiewohl er gegen die mythische Fassung jenes alten Berichts protestiert, be- handelt er ihn faktisch doch als Mythus, und zwar mit aller wünschenswerten Freiheit. Es gilt zu schildern, ■wie der Mensch, der doch im Stande der Unschuld ge- dacht ist, fallen konnte.

Zuerst versucht es die Psychologie, Möglichkeiten und Annäherungen aufzufinden. Die Angst giebt eine .•solche an die Hand. Während die Furcht sich auf eine bestimmte Möglichkeit bezieht, richtet sich die Angst auf eine unbestimmte Möglichkeit, einen Traum, der in •der Phantasie der Unschuld auftaucht, der an sich selbst «in Nichts ist und doch vor den Menschen hintritt, als wäre er etwas. Und ausser diesem Wechselspiel des Kommens und Verschwindens macht sich bei der Angst noch ein anderes geltend, das Wechselspiel der An- ziehung und Abstossung, der Sympathie und Antipathie, des Anlaufens und Zurückweichens. Der Gregenstand der Angst übt eine Macht über den Sinn aus, zieht diesen an sich und stösst ihn doch weg. So ist es bei der Schamhaftigkeit. Wessen schämt sich der Schamhafte? Es wurde ja nichts gesagt und nichts gethan; es ging nur eine Möglichkeit an ihm vorüber, ohne dass sie auch nur in einen bestimmten Gedanken gefasst worden wäre und diese Möglichkeit wurde abgewiesen, obwohl sie kaum beachtet wurde. Wessen hat er da sich zu schämen, worüber zu erröten? So ist es auch beim Schwindel. Die Möglichkeit, man könnte sich fallen lassen, sein Gleichgewicht verlieren, bietet sich dar, wenn der Blick den Abgrund misst; sie be- kommt keine Zeit, sich zu befestigen, sie wird abge- wiesen, immer wieder abgewiesen und doch ängstet sie, weil sie zieht.

Hier ist eine Möglichkeit, eine Annäherung die

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aber nach Kierkegaard doch nichts erklärt, wenn die Entscheidung kommt, wenn der Fall wirklich eintritt. Dieser kommt mit einem Ruck, oder wie ein Sprung durch alles Vorausgehende nicht zu begreifen, noch zu begründen. Ebenso plötzlich, wie so alle Möglich- keit und Annäherung weggefegt wird, tritt die Ethik an Stelle der Psychologie. Sie fragt nach dem Qualitäts- unterschiede, nach dem Gegensatz zwischen gut und böse und kümmert sich um alles, was die Psychologie- mühsam über „die Winkel der Möglichkeit" ausgerechnet hat, nicht im mindesten. Die Wirklichkeit steht in keinerlei Beziehung zur Möglichkeit. Diese Auf- fassung soll dann auch allgemein für das Verhältnis der einzelnen Handlungen zu dem erworbenen Charakter und für das Verhältnis des Einzelnen zu der vom Ge- schlecht ererbten Natur gelten: das von der Vergangen- heit (von der des Geschlechts und der eigenen des Indi- viduums) Gegebene sind Möglichkeiten, Annäherungen, die in dem Augenblicke der wirklichen Entschei- dung nichts bedeuten. Und das obschon Kierkegaard einräumt, dass durch Gewohnheit und Übung die Mög- lichkeiten und Dispositionen im Charakter des Einzelnen sich summieren, wie dies mit Stammes- und Geschlechts- eigenschaften in der Entwicklung des ganzen Geschlechts geschieht. Die quantitative Steigerung soll die neue, durch die Entscheidung gesetzte Qualität in keiner Weise erklären können! Das kontinuierliche Wachsen der Möglichkeiten wird durch den Ruck der Verwirk- lichung abgebrochen.

Kierkegaard gerät, soviel ich sehen kann, mit dieser Auffassung in einen sehr grossen Widerspruch mit sich selbst. Seine Anerkennung der Psychologie in dieser ihrer Unabhängigkeit von der Ethik muss auf der Be- deutung beruhen, die den von der Psychologie nach- weisbaren Möglichkeiten und Annäherungen beigemessen werden kann. Nun sollen diese aber, soweit sie auch.

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. gl

wohl gehen, zuletzt doch nicht das allermindeste zu bedeuten haben! Wir bekommen also Möglichkeiten, die keine Möglichkeiten für etwas sind, Annäherungen, die keine Annäherungen an etwas sind! Das psycho- logische Verständnis und mit ihm nicht bloss die theoretische Psychologie, sondern auch die praktische Menschenkenntnis wird damit nutzlos, ja illusorisch. Kierkegaard ist im „BegriiF der Angst" seinem Schlagwort „Entweder -Oder" untreu geworden und hat die Durchführung eines Sowohl Als-auch probieren wollen. Ja, genau genommen, hat er beides, ein „Entweder Oder" und ein „Sowohl Als-auch" haben wollen. Er hat nicht zwischen Sprung und Kontinuität wählen, sondern beide verbinden wollen ! Damit erreichte er aber nur, dass er in die Scylla geriet, ohne der Charybdis zu entrinnen. Er hat durch die Lösung des- Bandes zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit das- Interesse der Ethik wie der Psychologie verletzt.. Denn wenn die Psychologie sich nicht darein finden kann, dass die von ihr nachgewiesenen Möglichkeiten (die ja freilich nicht alle sind, da sie nicht alle ent- decken kann) die wirkliche Entscheidung nicht bloss;^J| zum Teil nicht, sondern gar nicht sollen begründen können, ebenso wenig kann die Ethik sich darein finden, dass das ethische Urteil nur das fertige Resultat, die scharfe Wendung und nicht auch die Anläufe, Dis- positionen, Motive treffen soll. Für die praktische ethische Betrachtung ist es gerade von Wert, dass mani die Möglichkeiten zu fassen bekomme, damit die ver- derbliche Wirklichkeit im Wachstum aufgehalten und die guten Keime geschirmt und gepflegt werden.

Bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass Kierkegaard das sittliche Urteil wirklich auch auf das dem Ruck der Entscheidung Vorangehende, auf die Anläufe vor dem Sprung ausdehnt. Wohl macht er bestimmt geltend, dass die Angst nicht eine Unvollkommenheit am.

Hoff ding, S. Elierkegaard. 6

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32 ^^- Sören Kierkegaards Philosophie.

Menschen sei; später aber erklärt er doch die Angst ,.für so selbstisch als möglich" und redet davon, wie die unbestimmte Möglichkeit mit ihrer süssen Beäng- stigung beschwerend ängste und wie die Angst mit ihrem Gregenstande eine „geheime Kommunikation unterhalte". („Angst" S. 49. 58 f. 103 [48. 58. 106].) Hier ist die Schätzung zurückverlegt, oder es ist eine Entscheidung vor der Entscheidung angenommen; d. h. die Möglichkeit ist (wie sie das auch ist) als eine teilweise Wirklichkeit behandelt. Kierkegaard hat die souveräne Verachtung für das Approximative und Hypothetische, die seiner Unterscheidung zwischen , wesentlichem" und „unwesentlichem Erkennen" zu •Grunde lag, nicht durchführen können. Er protestiert •dagegen, dass man „den Kreis des Sprungs in eine gerade Linie auseinanderlege", allein er hat nicht daran .gedacht, dass der Kreisbogen, je grösser der Radius des Kreises ist, sich um so mehr einer geraden Linie nähert, oder dass man sich eine Kreisperipherie als eine unendliche Zahl unendlich kleiner gerader Linien denken kann. Die Kontinuität im Denken und in der Natur lässt sich nicht so leicht vertreiben, wie Kierke- gaard meinte.

4. Wir haben bisher den Sprung oder Ruck nur von der negativen Seite besprochen, die Entscheidung nur als ein Abbrechen aufgefasst. Kann man aber nicht auch eine positive Beschreibung oder Bestimmung davon geben? Es ist für Kierkegaard als Denker bezeichnend, dass er zwar mit der Kategorie des Sprungs die Brücke hinter sich abbrechen will, sich aber doch nicht ent- halten kann, mit seinem Denken immer wieder die Stelle, wo der Bruch geschieht, zu umkreisen. Er möchte •dem unbegreiflichen Sprung so nahe als möglich zu Leibe rücken. Er ist meines Wissens der einzige indeterministische Denker, der den Sprung zu beschreiben versucht hat. Dieser Versuch ist, philosophisch be-

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trachtet, eine der merkwürdigsten Gedankenentwick- Inngen, die sicli bei ihm finden.

„Die Geschichte des individuellen Lebens^, sagt er, „schreitet in einer Bewegung von Zustand zu Zustand fort. Jeder Zustand wird durch einen Sprung gesetzt .... Jedem derartigen Sprunge geht ein Zustand als nächste psychologische Approximation voraus. Dieser Zustand ist Gegenstand der Psychologie." („Angst" S. 113 [117].) Der Sprung liegt also zwischen zwei Zuständen. Oder, wie es an einer andern Stelle genauer heisst, er liegt zwischen zwei Augenblicken: ,,Die Angst kann man mit dem Schwindel vergleichen. Wessen Auge veranlasst wird, in eine gähnende Tiefe hinunter- zuschauen, der wird schwindlig ... In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zu Boden. Weiter kann die Psy- chologie nicht kommen, und will es auch nicht. Im selben Augenblicke ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder erhebt, sieht sie, dass sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat, noch er- klären kann." (ib. S. 58 [58].)

Es scheint klar zu sein, dass, wenn der Sprung zwischen zwei Zuständen oder zwischen zwei Augen- blicken liegt, ihn kein Auge beobachten kann. Die Beschreibung desselben wird dann also eigentlich keine Beschreibung, da er nie Phänomen werden kann. Was Kierkegaard mit seiner Beschreibung erfassen will, gleitet ihm zwischen den Fingern durch. Er beschreibt eine Aufeinanderfolge von zwei Augenblicken oder Zuständen (und was kann hier wohl auch anderes beob- achtet oder beschrieben werden ?) ; was aber dazwischen liegt, bekommt er nicht mit und kann er nicht mit- iDekommen. Und doch redet er so dogmatisch davon als nur möglich. Ich habe auf die angeführten Stellen im „Begriff der Angst" viel Nachdenken verwendet und war zuerst der Auffassung geneigt, dass Kierkegaard

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meine, der Sprung lasse sich nicht beobachten. Danm wäre seine Entwicklung ein Seitenstück zu Humes berühmtem Nachweis, dass die Kausalität sich nicht beobachten lasse, da, was wir beol)achten, stets nur Succession sei. Sowenig sich Kausalität oder Kontinui- tät beobachten lässt, so wenig der Bruch der Kontin,ui- tät. Die Augenblicke lösen einander ab wie ver- halten sich aber zwei Augenblicke zu einander? Hier ist das grosse Problem, das die zwei im Vorangehenden gezeichneten Klassen von Denkern scheidet, von denen; die eine durch das Kausalitätsverhältnis die Kontinuität geltend macht, die andere durch das indeterminierte Auftreten neuer Qualitäten die Diskontinuität festhält.. Könnte die Sache durch Beobachtung entschieden wer- den, so wäre der Streit leicht beizulegen. Allein selbst durch die genaueste, ins Minutiöseste gehende Beob- achtung kommen wir nur dazu, dass wir die Augenblicke in kleinere Avigenblicke zerteilen, und das Problem, das Grundproblem in allem unserem Erkennen kehrt immer wieder zurück. Ich kann aber bei genauerer Er- wägung Kierkegaard einen klaren Blick für das Prin- zipielle in der Frage nicht zuerkennen. Seine dog- matischen Voraussetzungen und seine Neigung zu dichterischen Bildern haben ihm hier den Blick für das Problem in seiner Schärfe getrübt. Sonst hätte er wohl [auch darauf aufmerksam werden müssen, dass er- ja eigentlich die ganze Entscheidung (die Willens- entscheidung!) unbe wusst vor sich gehen lässt. Denn was zwischen zwei Bewusstseinszuständen oder zwei Bewusstseinsaugenblicken liegt, das geschieht unbewusst, tritt nicht über die Schwelle des Bewusstseins. Eine Willensentscheidung von der Art, mit der Kierkegaard zu thun hat, sollte nun doch wohl ein Wollen in höchster Form, eine Wahl im eigentlichen Sinne, ein Entschluss, ein willkürlicher Akt sein. AVie kann aber ein Ent- schluss zwischen zwei Augenblicken liegen ? Das können

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mur jene Entschliessungen, zu denen man im Schlafe kommt. Nur unwillkürliclie Akte können unbewusst sein. Kierkegaard hat sich aber den ,, Sprung" doch schwerlich als eine Reflexbewegung gedacht!

Sehen wir genauer hin, so schiebt Kierkegaard a,uch schliesslich die Entscheidung unwillkürlich dem «rsten der zwei Augenblicke zu, zwischen denen sie nach seiner Behauptung liegen soll. Denn die Ent- ■scheidung liegt doch eigentlich in dem Augenblick, da „das Individuum in der Ohnmacht der Angst zu Boden .sinkt" (ib. S. 71 [72]). Wir bekommen dann eine Kau- .salitätsreihe : Angst Schwindel Hinsinken Fall, und was ist nun aus dem Sprung geworden? Wer hinsinkt, springt nicht; das Hinsinken ist (selbst wenn man in dem Hinsinken vielmehr sich zu Boden sinken las st) nichts anderes als ein beginnendes Fallen, ein Fallen, das verhindert werden könnte wenn man nicht gerade an einem Abgrund stünde. Noch deutlicher tritt dieses Zurückverlegen der Entscheidung in einer zum Teil schon angeführten Stelle hervor: „Wessen Auge veranlasst wird, in eine gähnende Tiefe hinunter zu .schauen, der wird schwindlig. Worin liegt aber die Ursache hievon? Ebenso sehr in seinem Auge wie in dem Abgrund; wenn er nur nicht hinunterstierte!" („Angst" S.58[58]). Die Schuld liegt also nur teilweise am Auge ; Kierkegaard giebt auch hier sein Entweder— Oder auf. Was aber die Haupt- sache ist: hat das Auge hier eine Schuld? Es ist ein unwillkürlicher Trieb, das Auge umherschweifen zu lassen, ein Trieb, den man nicht böse nennen kann. Dass das Auge bei diesem seinem unwillkürlichen Um- herschweifen, das der Weg zu allen bedeutungsvollen Erfahrungen und damit zu jeder höheren Entwicklung ist, nun unter anderem auch an den Abgrund gerät und diesen mit unwillkürlicher Aufmerksamkeit betrachtet, kann nicht seine eigene Schuld sein; es wusste ja nicht

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zum voraus, dass der Abgrund da sei, wusste auch nicht, was ein Abgrund ist. Und wenn der Schwindel dadurch erwacht, dass die Vorstellung von dem mög^- lichen Fall entsteht und auf den Sinn einwirkt, so ist darin wohl ein Übergang vom Unwillkürlichen zum Willkürlichen (insoweit man unter Willkür ein Ver- halten versteht, das durch vorausgehende Vorstellungen bestimmt wird) ; dieser Übergang selbst geht ja aber unwillkürlich vorsieh, kraft des Gesetzes der Ideen- assoziation. Selbst wenn der Fall vorsätzlich geschieht, so ist ja (wie uns Shakespere und Spinoza gelehrt haben) ein Vorsatz ohne Erinnerung nicht möglich, und die Erinnerung kann sich ebenso unwillkürlich darbieten, wie sich der Abgrund dem umherschweifenden Auge darbietet.*)

Es ist also möglich, die psychologische Kontinuität noch weiter durchzuführen als Kierkegaard es gethan hat, und durch sein Vorausdatieren des Punkts, auf den er die entscheidende Schuld verlegt, räumt er im Grrunde ein, dass die Ethik mit dem ^Sprung" nicht steht und fällt.

Kierkegaard hat also im „Begriff der Angst'' der Psychologie weit mehr gegeben, als er konsequenterweise darf. Es waren aber nur vorübergehende Zugeständnisse. Sein Hauptbegriif ist und bleibt Entweder— Oder, der Ruck oder Sprung der qualitativen Entscheidung; mit ihm operiert er in seiner Ethik überall. Auch in seinen streng religiösen Schriften, besonders später- hin, als seine Auffassung des Christlichen sich ver- schärfte, ist keine Spur, dass die Entscheidung zwischen zwei Bewusstseinaugenblicken liegen soll. Da schiebt er alle Psychologie beiseite, indem er z. B. behauptet: ;,Auszusagen, dass einer mit Wissen das Unrecht

*) Näheres über die hier berührte psychologische Frage in meiner Psychologie S. 445 ff. und in meiner Abhandlang in der Vierteljahrs- schrift für wissenschaftl. Philosophie XIV, 204 f.; 301—305.

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thue, dass er das Unrecht thue, während er das Rechte weiss, dazu hat das Grriechentum nicht den Mut". (Krankheit zum Tode S. 103 f. [96]. Was mit Wissen geschieht, muss einen Augenblick oder einen Zustand ausfüllen, den man beobachten kann. Kierkegaard hat uns freilich diese Beobachtung nicht gegeben. Er hat nicht gewollt. Aber er hat auch nicht gekonnt.

b. Die Stadien.

Der wichtigste Beitrag zur Ethik aus Sören Kierke- gaards Feder ist seine Darstellung der von ihm so genannten „Stadien des Lebens*'. Jedes Stadium ist ein Lebenszustand, eine Lebensanschauung, die Kierke- gaard teils in dichterischer Form, teils mit begriiFs- mässiger Strenge dargestellt hat, ohne dass, wie wir im Folgenden sehen werden, die dichterische und die philosophische Darstellung gegenseitig immer mit einander übereinstimmen. Doch tritt seine glänzende dichterisch- psychologische Begabung nirgends so klar wie hier hervor. Eine vergleichende Lebensphilosophie zu geben war er ausgerüstet wie wenige, und was er in seiner Weise und von seinem Standpunkte aus in dieser Richtung geleistet hat, wird unter andern Formen und von andern Gesichtspunkten aus sicher fortgesetzt werden. Der Drang zu ^^subjektivem Denken", zum Denken über das Leben im engeren Anschluss an das Leben, scheint sich immer mehr geltend zu machen; und es liegt hier eine Aufgabe vor, die von blossen Novellisten nicht befriedigend gelöst werden kann. Es muss tiefer als nur so gegraben werden.

Der Übergang zwischen den verschiedenen Stadien vollzieht sich nach Kierkegaard durch einen Sprung, wie wir ihn soeben erörtert haben. Innerhalb jedes Stadiums entfalten sich die Konsequenzen des durch den Sprung gesetzten Standpunkts. Es werden drei Hauptstadien unterschieden: das ästhetische, ethische

S3 I^> Sören Kierkegaards Philosophie.

und religiöse. Zwischen dem ästhetischen und dem ethischen Stadium bildet die Ironie eine Übergangsform, wie der Humor eine Zwischenform zwischen dem ethischen und dem religiösen Stadium bildet.

a. Die ästhetische Lebensanschauung.

1. Das erste Stadium ist das ästhetische. Es ist im ersten Teil von „Entweder Oder*' und in der ersten Abteilung der „Stadien auf dem Lebenswege" geschildert. Was die allgemeinen Begriffsbestimmungen betrifft, so tritt das für dieses Stadium Entscheidende in der Ab- handlung ^Die Wechselwirtschaft, Versuch einer sozialen Klugheitslehre'' (im ersten Teile von Entweder— Oder) am deutlichsten hervor.

Diese Art, das Leben zu nehmen, sucht das Leben in blosse Möglichkeiten zu verwandeln, mit denen man die Phantasie ihr freies Spiel treiben lässt. Alles wird zum Gregenstand des Geniessens gemacht. Dabei ist aber nicht sowohl an unmittelbaren, sinnlichen Genuss zu denken, wiewohl dieser mit dazu gehört, als vielmehr an die Willkür, womit alles aufgefasst und behandelt wird. ;,In der Willkür liegt das ganze Geheimnis. Man meint, willkürlich zu sein sei keine Kunst; und doch gehört ein tiefes Studium dazu, so willkürlich zu sein, dass man sich nicht selbst darin verirrt, dass man vielmehr selbst Vergnügen davon hat." (Entweder Oder S. 237 [I, 299 f.]). Die Hauptsache ist, dass man sich das ganze Dasein in ein Kaleidoskop verwandelt, das man stets schüttelt, um an den verschiedenen zufälligen Kombinationen, die so nach Willkür geschaffen werden können, sein Vergnügen zu haben.

Damit man dieses freie Spiel nach Belieben treiben kann, darf man sich nicht persönlich in einem Lebens- verhältnis binden, nicht an einem Punkt im Dasein sich so niederlassen, dass man festgebunden würde. Denn dann würde der Hervorbringung neuer kaleido-

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;skopischer Situationen die Fortsetzung und Wiederholung des begonnenen Lebens in den Weg treten. Man muss sich „in vollständiger Schwebe" halten. Daher ist wohl Berührung mit Menschen, oft auch eine kurze ge- meinsame Wanderung rätlich immer aber sichere man sich eine solche Geschwindigkeit, dass man das Zusam- mengehen abbrechen kann, wenn man will.*) Freundschaft ist ein zu festes und solides Verhältnis. Und selbst wenn ein notwendiger Bruch unbehagliche Erinnerungen zurücklassen sollte, so kann das Unbehagliche ja einen pikanten Beigeschmack geben, den der Virtuose des

*) Die ästhetische Lebensanschanang nach Kierkegaards Schil- derung erinnert, besonders in diesem Zuge, an Aristippus von Cyrene. "Was er als das Höchste geltend machte, war allerdings der Genuss des Augenblicks; dieser aber war nach ihm gerade durch die voll- kommene Freiheit bedingt, die sich nie binden und gefangen nehmen lässt. Daher wollte er \\fie er nach Xenophons Memorabilien II, 1 lim Gespräche mit Sokrates sagt) in keine öffentliche Stellung ein- treten, sondern überall Fremdling oder Gast sein. (Ovd slg nohTslav sf-iauTOV xuTuy.Xdo), ccXXa ^svoi; Tcavraxov el/iU.) Er will frei sein, weder Herr noch Sklave. Nach den sonst von ihm berichteten Zügen wusste er mit besonderem Geschick gegenüber •dem Bestrickenden im Genüsse selbst sich seine Freiheit zu wahren. In dieser Kunst war er ein wahrer Virtuos. Der Widerspruch in seiner Lßbensanschauung bestand darin, dass sie soviel Kunst und Vorbereitung verlangte, mit Benutzung schon gemachter Erfahrungen und Vorausberechnnng der Zukunft, dass mancher Augenblick ohne unmittelbaren Genuss hingehen mnsste. Genau genommen •musste für Aristippus das Höchste die Virtuosität selbst sein und so ist es auch bei dem moderneu Hedonismus, wie ihn Kierkegaard beschreibt. Bezeichnend für den Unterschied zwischen der modernen und der antiken Lebensauffassung ist es gerade, dass in dem heutigen Hedonismus ein ganz besonderes Gewicht auf die Willkür, auf das aktive Experimentieren, das bewnsste Schaffen von Situationen ge- legt wird. Bei Aristippus äussert sich die Willkür bloss in der Kunst, sich die Freiheit der Wahl zwischen dem, was sich darbietet, nicht nehmen zu lassen; es fehlt das etwas romantische Arrangieren, 'Welches das grössere Selbstbewusstsein unserer Zeit und zugleich ihr weniger naives und zuversichtliches Verhältnis zum Leben mit sich bringt.

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Genusses gerne mitnimmt. Ahnlicli ist es mit der Ehe^ Die Liebe hat ihre Zeit; gelobt man aber, dass sie ewig währen soll, so gelobt man mehr, als man halten kann. Und zudem ist bei der Ehe die Gefahr, dass man seine Freiheit verliert : „man kann sieh nicht Reise- stiefel bestellen, wann man will, man kann nicht unstät umherflanieren." („Wohl hat man Beispiele, dass eine Zigeunerin ihren Mann auf dem Rücken durch's Leben getragen hat; das ist aber einerseits eine Seltenheit,, andererseits auf die Länge ermüdend für den Mann.") Endlich wird man durch den Eintritt in den Ehestand genötigt, sich unter die Herrschaft von Sitte und Brauch zu beugen; eine ganze Schar von Rücksichten und Pflichten schliesst das willkürliche TJmhertummeln aus.. Also wohl Erotik, aber keine Ehe. Und ebenso wenig eine Berufsarbeit: damit würde man sich zu einem Zapfen in der grossen Gesellschaftsmaschine machen; und hörte auf, selbst Herr des Betriebs zu sein. Man soll natürlich nicht unthätig sein, sondern allerlei brot- lose Künste treiben und dafür sorgen, dass die Be- schäftigung stets das Gepräge des Müssiggangs behält. 2. Am deutlichsten zeigt sich der Charakter dieses Stadiums in dem Verhältnis von Mann und Weib. Es ist ja in diesem Verhältnis Gelegenheit genug für die Verwertung der Wechselwirtschaft oder des Kaleido- skops, da es eine ganze Skala durchlaufen, in sehr verschiedenen Richtungen vibrieren, in den mancherlei abgeleiteten Verhältnissen sich verzweigen kann. Hier- ist die Möglichkeit für eine ganze Reihe der entgegen- gesetztesten Stimmungen und Leidenschaften geboten : vom frechen Spott zum tiefen Ernst, von leichtfertiger Liebelei zu herzlicher Hingebung, von aufschäumender Begeisterung zu besonnener Treue, von brutaler Regung eines reinen Naturtriebs zu dem sublimen Gefühl gei- stiger Zusammengehörigkeit. Durch seine Konsequenzen führt das Geschlechtsverhältnis ausserdem über die-

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gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Individuen hinaus and verkettet sie mit dem Leben der Gresellschaft,. des Geschlechts; es greift in dieses ein, wie andrerseits dieses sein Geschick und seinen Charakter bestimmt. Hier ist also ein weiter Spielraum. Wird eine der vielen Saiten mit der nötigen Kunst angeschlagen, so kann man eine grössere oder geringere Anzahl der andern- mitanklingen lassen, ohne doch überwältigt zu werden.- Kein Wunder, dass die Dichter hier zu allen Zeiten einen Hauptvorwurf für ihre Arbeit gefunden haben. Und eben darum hat Kierkegaard sein „ästhetisches Stadium" hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus geschildert. Hier ist einer der Punkte, wo er mit vollen Händen seine glänzendsten Bilder und Darstel- lungen ausgeschüttet hat, und viele kennen ihn nur als Verfasser dieses Teils seiner Werke.*) Hier, wo es sich nicht um Untersuchung seiner litterarischen Kunst und Grösse handelt eine solche würde meine Kraft übersteigen und ist ohnedies schon in Georg Brandes' Schrift so glänzend durchgeführt worden, dass ich nur auf diese hinzuweisen brauche , sondern um die philo- sophische Bedeutung seiner Darstellung, kann ich mich damit begnügen, einige der besonders charakteristischen Punkte hervorzuheben.

„Der junge Mensch", der dem ,,Gastmahl" an- wohnt, hält sich über den komischen Widerspruch an dem Verhältnis der Liebe auf, dass es anschei- nend die höchste Lust der Individuen gilt und doch durch die erweckten Triebe nur die Fort- pflanzung der Art gesichert werden sali. „Die Lie- benden wollen einander für alle Ewigkeit angehören.- Das drücken sie in jener sonderbaren Weise aus, dass sie einander in der Innigkeit des Augenblicks um-

*) Johanues des Verführers Tagebuch im ersten Teil von „Entweder-Oder". Das Gastmahl in der ersten Abteilung der „Stadien." 18

r92 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

;schliessen, und alle selige Lust der Liebe soll darin

liegen Und doch sind sie betrogen ; denn im selben

Augenblick triumphiert die Art über die Individuen ; ^ie Art siegt, während die Individuen dazu herabgesetzt ^ind, in ihrem Dienste zu stehen . . . Wenn sich nun die Liebenden gefunden haben, sollte man doch glauben, sie wären ein Ganzes, und darin sollte ja die Wahrheit dessen liegen, dass sie für einander leben wollten in alle Ewigkeit Aber sieh, statt für einander zu leben, leben sie für das Geschlecht und ahnen es nicht." Ob dieser Irrationalität in der Liebe ist der junge Mensch IbetrofFen. Er versteht wohl, wie man dazu kommen, wie man davon ganz überwältigt sein kann aber die Konsequenz versteht er nicht.*)

Johannes der Verführer, der letzte in der Reihe der glänzenden Redner des Gastmahls, giebt die prin- :zipielle Stellung der „ästhetischen Lebensanschauung" zu dem von dem jungen Menschen vorgebrachten Problem ;an. Er erzählt, wie die Götter fürchteten, der Mann, der ursprüngliche Mensch, möchte sich ihr Joch viel- leicht nicht gefallen lassen und vielleicht gar den Himmel zum Wanken bringen wollen. Mit Gewalt konnte er nicht bezwungen werden ; da schufen sie das Weib, um ihn zu bezaubern und ,,ihn in alle Weitläufig- ikeiten der Endlichkeit zu verstricken." Und die Lock- speise wirkte doch nicht immer. ,,Zu allen Zeiten ;gab es etliche Männer, Einzelne, die den Betrug merkten, Sie sahen die Anmut des Weibes wohl, mehr als irgend jemand, allein sie ahnten den Zusammenhang. Die heisse ich Erotiker und zähle mich selbst zu ihnen : die Männer

*) Vgl. „Stadiea" S. 44 f. [31 f.] Der ia der Rede des jongeu Menschen ansgesprochene Gedanke wurde zur selben Zeit (1841, ein Jahr nach dem Erscheinen von Eutweder-Oder) in mehr natar- ^eschichtlicber Form von Schopenhauer entwickelt, in seiner ,,Meta- j)hysik der Geschlechtsliebe". („Welt als Wille und Vorstellung", i.. Teil, Kap. 44). V^l. meine Psychologie S. 349-351.

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heissen sie Verführer; das "Weib hat keinen Namen für sie ; so einer ist für sie unnennbar. Diese Erotiker sind die Glücklichen. Sie leben üppiger als die Götter ; denn sie geniessen immer nur, was köstlicher ist als Ambrosia^, und trinken, was süsser ist als Nektar ; sie geniessen den reizendsten Einfall, den die Götter in ihrer List- ersinnen konnten; sie geniessen immer nur Lockspeise o Wollust ohne gleichen, o seliges Leben ; sie ge- niessen immer nur die Lockspeise und lassen sich nie fangen. Die andern Männer greifen zu und geniessen die Lockspeise wie der Bauer den Gurkensalat, und werden gefangen." (Stadien auf dem Lebenswege- S. 80f [62f].)

3. Für die ästhetische Lebensanschauung ist das- Höchste, eine Tangente an dem Kreise des Lebens zu- sein, die momentane Berührung zu erhaschen, dann aber vermittelst der ,,centrifugalen'' Kraft sich beizeiten davon zu machen. Der ,,Aesthetiker" wird nicht zum Planeten. Höchstens lässt er sich der ,, Wechsel- wirtschaft" zulieb dazu herbei, als Komet den Kreis ein zweitesmal zu berühren an einem anderen Punkte. Das Liebesverhältnis ist gerade ein Verhältnis, wo die- I momentane Berührung, wie der junge Mensch mit Recht- befürchtete, ganz neue, unerprobte Lebensbeziehungen und Aufgaben veranlassen kann. Soll aber das Schweben der Willkür gewahrt bleiben, so muss man beizeiten abbrechen. Ob grössere Lebensfülle, tieferes Lebens- verständnis und Lebensgefühl entstehen würde, wenn „man sich fangen Hesse"? Das weiss „der Aesthetiker" nicht, er will und kann es nicht wissen. Könnte er eine Ahnung hievon haben, so wäre ja der Uebergang vom ästhetischen zum folgenden Stadium nicht ein Sprung, sondern könnte das Endresultat einer voran- gehenden Entwicklung sein. Es ist bezeichnend, was Kierkegaard in sein Handexemplar von Entweder-Oder eingeschrieben hat: „Ein eigentliches Liebesverhältnis-

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.ging im ersten Teile nicht an; denn es ergreift einen Menschen immer so tief, dass er ins Ethische hinein- gezogen wird. Was ich brauchen konnte, war nur eine Manchfaltigkeit erotischer Stimmungen"(1833— 43, S.356J. Kierkegaard lässt unter dem „ästhetischen Stadium** Gestalten auftreten, die über das Unmittelbare, Unwill- kürliche, Naturwüchsige schon weit hinaus sind und in der Kunst, je nach Willkür zu pointieren, so eingeübt sind, dass sie das Pikante nicht bloss zu ergreifen, son- dern auch da, wo es sich nicht von selbst darbietet, zu schaffen wissen. Dies ist ein Standpunkt, auf den die Menschen nicht leicht kommen. Er liegt, wie schon bemerkt, ziemlich weiter draussen in der Reflexion als ^er antike Hedonismus,

Hier erhebt sich vom Standpunkt einer vergleichenden Lebensphilosophie aus der Einwand, dass wir nicht er- fahren, wie dieses Stadium entsteht. Wie Kierkegaard selbst gesehen hat, kann in dem Naturtriebe eine ziehende Macht liegen, die über das ästhetische Stadium hinaus- führt, und unter deren Einfluss „das Aesthetische" nur ein mitwirkender Faktor ist. Woher denn also das Hemm- mis, das Abbiegen, infolge dessen das Individuum, statt die Bewegung um den Mittelpunkt fortzusetzen, unter dessen Einfluss es momentan geraten war, in der Richtung der berührenden Geraden weiterging? Das '^kindliche Vergessen des einen Augenblicks über dem andern ist etwas ganz anderes als diese künstliche oder ■erkünstelte Wechselwirtschaft. Es fehlt eben die gene- tische oder evolutionistische Anschauung in der Kierke- gaard sehen Darstellung vollständig. Er hält sogar ab- sichtlich die Kräfte fern, die auf dem einen Stadium •eine Ankündigung des nächsten enthalten könnten. Dadurch erscheint (allerdings der Theorie vom Sprung ganz entsprechend) jedes einzelne Stadium als etwas vollständig Fertiges, Abgeschlossenes, das weder vor- noch rückwärts weist. Es sind fertige Gestalten, die

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«r zeichnet. Sie haben „sich festgefahren'-'^ nicht in •eine bestimmte Lebensstellung, sondern in die Weise, wie sie das Leben nehmen. Sie haben alle Möglich- keiten abgethan. Selbst die letzte Möglichkeit, die auf dem Gesetz der Reaktion, auf der Tendenz eines stark gespannten seelischen Zustandes beruht, in sein Gegen- teil umzuschlagen, eine Möglichkeit von sehr grosser Bedeutung in der Entwicklung des Seelenlebens, selbst sie scheint für diese „Aesthetiker'' nicht länger zu bestehen, bei denen Genuss und Reflexion die Kraft eingeschläfert oder ausgebrannt hat, ohne die auch die blosse Reaktion (die ja eigentlich ein Erschlaffangs- symptom ist) sich nicht denken lässt. Das psycho- logische Denkexperiment hat hier so extreme Gestalten geschaffen, wie sie der wahrscheinliche Gang des Lebens nicht aufweist. Es ist daher ein wenig treffender Name, wenn Kierkegaard das, was er schildert, als Stadien bezeichnet. Unter Stadium denkt man sich ein Glied in einer Entwicklung; von Kierkegaards Stadien aber erfährt man nicht, woher sie kommen, und im Grunde (denn der „Sprung" ist keine Antwort) auch nicht, wohin sie gehen. Seine Schilderung erinnert am ehesten an Dante's göttliche Komödie mit ihren drei Abteilungen und das ästhetische Stadium entspricht dann der Hölle, über deren Eingang geschrieben steht: „Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren!"

Kierkegaard hat sich hiedurch unleugbar ohne ■dass wir das in anderer Hinsicht Meisterhafte in seiner Schilderung verkennen wollten die Aufgabe leichter gemacht, als sie ist. Wie doch jede Weise zu denken wieder ihre besonderen Gefahren mit sich bringt! Es war für die quantitative Dialektik (die Aufsuchung der Einheit der Gegensätze) eine Gefahr, die Dinge für •einfacher zu nehmen als sie sind; aber der qualitativen Dialektik, der Philosophie des Sprungs, droht, wie wir sehen, ganz dieselbe Gefahr.

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Wo irgend eine Entwicklung möglicli ist, da geht sie nicht von den vollständig fertigen Gestaltungen aus^ in die das Leben sich gleichsam verrannt hat, sondern von den mehr unbestimmten, fiiessenden, nur wenig difFerentiierten Formen. Es ist nur das populäre Miss- verständnis der Entwicklungslehre, das die eine der Arten, die wir jetzt haben, von der andern {z. B. den Menschen vom Affen) abstammen lässt. Nach der Ent- wicklungslehre stammen die heute existierenden Arten von Formen ab, die mit den von ihnen im Laufe der Entwicklung entstandenen nur eine „allgemeine Ähn- lichkeit" hatten,*) Dies liegt einfach darin, dass alle Entwicklung eine Differenziierung, eine Entstehung von Verschiedenheiten ist. Wo alles im voraus pointiert, ausgebildet und auf die äusserste Spitze hinausgetrieben ist, da ist ein derartiger Prozess unmöglich. Die Spitze kann abgebrochen werden, es geht aber keine neue Form daraus hervor.

Will man daher verstehen, wie aus einem gegebenen Stadium sich ein neues entwickeln kann, so darf man sich an dasselbe nicht in seiner vollständig fertigen Form halten, man muss vielmehr auf eine frühere Ent- wicklungsstufe zurückgehen, wo das jetzt fertige defini- tive Stadium in seinem Werden war und noch eine weniger bestimmte Form hatte. Möglichkeiten giebt es nur, wo Werden und Unbestimmtheit ist. Das hat uns Kierkegaard selbst gelehrt; er will nun aber einmal, wenn es sich um die Entscheidung handelt, von Mög- lichkeiten gar nichts wissen. Man muss auf den Punkt zurückgehen, wo sich der Weg teilte, wie ein Bahn- zug, der auf eine falsche Linie geraten ist, zur Weichen- stelle zurückkehren muss. Am Scheideweg findet die eigentliche Entscheidung statt. Sie tritt aber nicht immer ins Bewusstsein, sie kann halb bewusst oder unbewusst vor sich gehen. Wir sind infolge einer

*) Vrgl. Darwin, origin of species, chapt. 9.

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natürlichen psychologischen Täuschung geneigt, unsere Entscheidungen später anzusetzen und überhaupt un- serer hewussten Wahl grössere Bedeutung beizulegen, als sie hat. Sie ist oft nur der bewusste Schlussstein.

Hier zeigen sich das psychologische und ethische Interesse in ihrer Harmonie. Dem unmotivierten und unvorbereiteten Sprung würden wir ganz hilflos gegen- überstehen und die ethischen Urteile wären blosse (xefühlsausbrüche ohne praktische Bedeutung, da sie nur hinterdrein kämen und auf den nächsten Sprung gar keinen Einfluss ausüben könnten. Nur indem wir zu den Entwicklungsmöglichkeiten, also zu den unfer- tigen Stadien zurückgehen, können wir etwas zur Bestimmung der Zukunft thun, soviel oder so wenig dies nun sein mag.

ß. Die ethische Lebens anschauung. 1. In der Auffassung der ethischen Lebensanschau- ung ist eine Differenz zwischen den dichterischen Darstellungen im zweiten Teil von „Entweder-Oder", im zweiten Abschnitt der ,, Stadien auf dem Lebens- wege" u^nd in „Furcht und Zittern'^ einerseits und der philosophischen Charakteristik in der „Unwissenschaft- lichen Nachschrift'' andererseits; eine Differenz, die sich als ein Widerspruch erweist, der auf eine ent- scheidende Aenderung in Kierkegaards Ideen hindeutet..

Wir halten uns vorerst an die dichterischen Schil- derungen, und namentlich an die zwei zuerst genannten, da „Furcht und Zittern" sich besser bei der religiösen Lebensanschauung besprechen lässt.

Während das ästhetische Stadium alle wirklichen Verhältnisse in blosse Möglichkeiten auflöst, mit denen Phantasie und Stimmung ihr willkürliches Spiel treiben können, sind im ethischen Stadium Wirklichkeit, Ernst und Verantwortlichkeit die Hauptbestimmungen. Und indem nun auch hier das Verhältnis zwischen Mann

Höffding, S. Kierkegaard. 7

9B ^^' Sören Kierkegaards Philosophie.

und "Weib zur dichterischen Beleuchtung der Lebens- anschaunng verwendet wird, tritt die Ehe als Ausdruck für das Ethische auf. Die Ehe unterscheidet sich von dem bloss erotischen Verhältnis dadurch, dass zur Liebe ein Entschluss hinzu kommt. Im Entschluss liegt, ethisch betrachtet, des Menschen ganze Idealität. Die Frage ist aber nun die : wie können Ueberlegung und Entschluss da Anwendung finden, wo unmittelbares Ge- fühl und Leidenschaft scheinbar allein das Wort führen können? Kierkegaards Antwort hierauf ist fein und hübsch. Ueberlegung und Entschluss, sagt er, haben mit dem Liebesverhältnis selbst nichts zu schaffen : „Die heilige Stätte der Liebe und den geweihten Boden der Unmittelbarkeit dürfen sie nicht betreten." Was sie angeht, das ist nur „das Verhältnis der Liebe zur Wirklichkeit" („Stadien" S. 164 [142]). Es handelt .sich darum, ob man aus dem Liebesverhältnis that- sächlichen Ernst zu machen und dasselbe gegenüber jeder Gefahr und Anfechtung und mit dem Bewusstsein des Allgemeinmenschlichen in dem Bunde, der gestiftet wird, in die Wirklichkeit einzuführen wagt. Die Liebe wird also als gegeben, als das Konstituierende vorausgesetzt, und der Entschluss tritt als die be- schützende Macht auf, die innere und äussere Gefahren abwehrt.

Während die Entwicklung, die diesen Gedanken zu teil wird, schön und reich ist (am gelungensten in den „Stadien" , im zweiten Teile von ,, Entweder-Oder" ist sie ziemlich breit ausgesponnen), fehlen, wie mir vorkommen will, verschiedene psychologische Bestimmungen. Kierke- gaard hat einen zu starren, dogmatischen Begriff von dem „Entschluss". Er tritt wie ein deus ex machina auf und steht zu der „Liebe", mit der er doch zum Zustandekommen der Ehe die innigste Verbindung ein- gehen und von der er, was besonders hervorgehoben werden muss, ursprünglich hervorgerufen und bestimmt

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 99

sein soll, in einer ziemlich äusserlichen Beziehung. Der hfitrelFende Entschluss muss aus der Persönlichkeit des Individuums, seinem realen Selbst hervorgegangen sein, und zwar in der Weise, wie dieses Zentrale im Indivi- duum durch die neu erwachte Leidenschaft bestimmt wird. Eine ganze Reihe von Fällen ist hier möglich : die Liebe kann das innerste Ich in mannigfacher, ver- schiedener "Weise beeinflussen. Sie kann dasselbe um- schliessen und decken, oder aber auch nur in derPeripherie berühren : sie kann ganz neue Elemente in ihm ins Leben rufen, es ergänzen und erweitern, kann es aber auch o:leich einer dämonischen Macht einengen und isolieren. Und diese verschiedenen Wirkungsweisen können bei dem- selben Individuum in demselben Liebesverhältnis successiv auftreten. Die Grundlage aber, worauf der genannte Entschluss ruht, nämlich das Verhältnis zwischen dem neuen Gefühl und dem Zentralen im Ich, kann daher unbestimmt und wechselnd sein; in den motivierenden Voraussetzungen des Entschlusses laufen vielleicht ver- schiedene Illusionen und Anticipationen mit unter. Und hiezu kommt noch (was ich S. 204f meiner Ethik be- sonders hervorgehoben habe), dass die Charaktere in der Lebensperiode, worin der Eintritt in die Ehe am häufigsten erfolgt, noch nicht vollständig entwickelt sind. Selbst die Uebereinstimmung oder den ergänzenden Gegensatz, die die Ehe möglich und glücklich machen, vorausgesetzt, so ist damit nicht gesagt, dass die fort- gesetzte Entwicklung der zwei Charaktere in derselben Richtung weiter gehe ; sie können beide sich tüchtig und gesund entwickeln und doch können sich ihre Wege scheiden. Auf die Probleme, die hiedurch ent- stehen, und auf die Tragödien, die sich da ergeben können, geht Kierkegaard nicht ein. Es hängt das zusammen mit dem psychologischen Dogmatismus in .seinem BegriiF des Entschlusses, nicht minder aber auch mit einem Dogmatismus in seinem Begriff der Ehe.

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Er sieht sie bloss in ihrer idealen Gestalt als etwa» vollkommen Fertiges und erklärt dann : alles oder nichts. Endlich hängt es auch damit zusammen, dass ihm die Ehe eine religiöse Institution ist. Jener Entschluss wird in seinen Augen ohne religiöse Sanktion nicht mög- lich. Und was das Weib betrifft, so ist bezeichnend für seine Autfassung des Weibes bei ihr von Ent- schluss nicht die Rede: „Eine weibliehe Seele hat nicht die Reflexion, die der Mann hat, und soll sie nicht haben. Sie soll daher auch nicht zum Entschluss- kommen, vielmehr gelangt sie, hurtig wie der Vogel, von der ästhetischen Unmittelbarkeit direkt zur religi- ösen." (Stadien" S. 170 [148].) Für das Weib fällt also, das ethische Stadium weg ! Und für den Mann eigentlich auch, da der ,, Entschluss'' nicht ohne religiöse Voraus- setzungen denkbar sein soll. Es wird auch im Fol- genden sich von mehreren Seiten zeigen, wie in Kierke- gaards Darstellung die ethische Lebensanschauung zu kurz kommt.

2. Beim Übergang vom ästhetischen zum ethischen Stadium spielt der Begriff der Wiederholung eine wichtige Rolle. Er ist mit dem Entschluss verwandt, fällt aber mit ihm doch nicht zusammen. Er bildet,, wie der Entschluss, eine Grrenzscheide zwischen dem Ästhetischen und dem Ethischen. Es ist ästhetisch,, sich in Stimmungen und Eindrücken zu wiegen, nur sollten diese dann womöglich neu und wechselnd sein. Ethisch ist es, dass man mit Innigkeit und Treue zu derselben Sache zurückkehrt ; die Wiederholung ist ge- wissermassen die ethische Kunst: „die Losung in jeder ethischen Anschauung". Die Wiederholung spielt aber nicht bloss beim Zustandekommen des Entschlusses eine Rolle, sie tritt beim Übergang des Entschlusses zur Handlung wieder auf. Im Entschlüsse habe ich der Handlung vorgegriffen; der Entschluss ist eine ideelle, eine mögliche Handlung ; nun aber gilt es, ob ick

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wiederholen kann, d. h. ob ich das Mögliche in Wirk- lichkeit umsetzen kann, obgleich die Wirklichkeit hier ja nur eine Wiederholung des in der Möglichkeit Enthaltenen ist. Und nochmals tritt die Wiederholung auf, wenn ich meinen Entschluss siegreich durchgeführt, meine Sache gewonnen habe. Denn im Siegesrausch gilt es, die Aufgabe nicht zu vergessen, dass man das Gre- •wonnene geltend mache, das Ausgeführte fortsetze. „Charakter besteht nicht sowohl darin, dass man siegt, als darin, dass man standhält, nachdem man gesiegt liat, dass man sich im Charakter hält." („Die Wieder- holung, ein Versuch in der experimentierenden Psycho- logie", S. 34. 1833—43, S. 439; 1849, S. 243.)

Der Begriff der Wiederholung stellt Kierkegaards Philosophie in bezeichnenden Gegensatz zu Hegels Lehre von der „Vermittlung", von der Versöhnung der Gegen- .sätze in einer höheren Einheit. „Die Wiederholung", .sagt Kierkegaard, „ist eigentlich das, was man fälsch- lich die Mediation genannt hat." (Die Wiederholung S. 33.) Der Fehler bestand darin, dass man die Ver- .söhnung der Gegensätze als selbstverständlich ansah, als wäre sie schon durch die Natur der gegensätzlichen Glieder selbst hervorgerufen. Dies ist auf dem Gebiete des Willenslebens nach Kierkegaard nicht der Fall. Es gehört ein psychologisch unerklärlicher Willensakt her, um die streitenden Elemente zu verbinden; es kommt also zu diesen ein neuer Faktor hinzu. Dies macht, dass Kierkegaard, wie schon gesagt, die Analogie zwischen geistiger und organischer Entwicklung leugnet. Nach Hegels Auffassung entsteht die höhere Einheit dadurch, dass man von dem zweiten Gliede des Gegensatzes zu dem ersten zurückkehrt; aber eben dieses Zurückkehren ist für Kierkegaard das grosse Problem, das, was die Grenzscheide zwischen der ästhetischen und der ethi- schen Lebensanschauung bezeichnet. Es giebt den Punkt an, wo das Eingreifen des Willens, also, nach

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Kierkegaard, der Ruck, der Sprung, stattfinden muss. Aesthetiscli geht man ja in der Richtung der Tangente ; es muss eine besondere Kraft postuliert werden, die den Planeten in der Bewegung um dasselbe Zentrum festhalten kann.

In der „Wiederholung" hat Kierkegaard die Be- deutung dieses Begriffs unter einer verschwenderischen Fülle dichterischer Ausstattung entwickelt, die sie zu einer Perle in der reichen Schatzkammer seiner Werke macht, obwohl sich dieser dichterische Apparat unver- kennbar auf Kosten des Begriffs und des Gedankens, breit macht, Kierkegaard beklagte sich höchlich über Heiberg, dass er seine Meinung missverstanden habe; allein er hatte nicht genug gethan, um sich ein klares Verständnis zu sichern. Ich kann nicht umhin, einen Passus (S. 4 6) der genannten Schrift, der des Ver- fassers Idee auf's schönste zum Ausdruck bringt, an- zuführen.

„Die Hoffnung ist ein neues Gewand, steif und stramm und glänzend; doch man hat es noch nie ge- tragen und weiss daher nicht, wie es einen kleiden wird oder wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abge- legtes Gewand, das, so schön es auch ist, doch nicht passt, weil man ihm entwachsen ist. Die Wiederholung ist ein unzerreissbares Gewand, das fest und weich anschliesst, nicht drückt, noch Falten wirft. Die Hoff- nung ist ein anmutiges Mädchen, das einem zwischen den Händen entschlüpft ; die Erinnerung ist eine schöne Matrone, mit der einem im Augenblick doch nie gedient ist ; die Wiederholung ist eine liebe Hausfrau, die einem nie entleidet .... Man muss jung sein, um in der Hoffnung, jung um in der Erinnerung zu leben; aber es gehört Mut dazu, die Wiederholung zu wollen. Wer nur hoffen will, ist feige; wer bloss sich erinnern will, ist wollüstig; wer aber die Wiederholung will, der ist ein Mann, und je gründlicher er sie sich klar zu

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machen gewusst hat, ein um so tieferer Mensch ist er. Wer aber nicht fasst, dass das Leben eine Wiederholung ist und dass dies des Lebens Schönheit ist, der hat sich selbst gerichtet und verdient nichts Besseres als dass er umkommt, was auch geschehen wird; denn die Hoffnung ist eine winkende Frucht, die nicht sättigt, die Erinnerung ein kümmerlicher Zehrpfennig, der nicht sättigt; die Wiederholung aber ist das tägliche Brot, das mit Segen sättigt. Wenn man das Dasein umsegelt hat, so soll sich's weisen, ob man Mut hat, zu verstehen, dass das Leben eine Wiederholung ist, ob man Lust hat, sich ihrer zu freuen. Ja, was wäre denn auch das Leben, wenn keine Wiederholung wäre? Wer könnte wünschen, eine Tafel zu sein, worauf die Zeit jeden Augenblick eine neue Schrift schriebe oder nur die Erinnerung an das Vergangene aufzeichnete? Wer könnte wünschen, von allem dem Flüchtigen, dem Neuen sich bewegen zu lassen, das der Seele immer nur eine weichliche Ergötz ung bietet?"

Es zeigt sich doch auch bei dem Begriff der Wieder- holung, dass das ethische und das religiöse Stadium nicht auseinander gehalten werden. Denn die Wieder- holung, die bei Kierkegaard ja eigentlich Wollen, Handeln, aktives Eingreifen bedeutet und die er daher die Losung der ethischen Anschauung nennt, ist für ihn doch eigentlich eine religiöse Kategorie. Dem jungen Mann, der in der ,, Wiederholung" geschildert wii'd, gelingt es nur durch eine religiöse Bewegung, das Leben zu wiederholen, es wirklich zu leben. Wiederholung bedeutet überhaupt Konzentration, Einkehr und Ver- tiefung in sich selbst und da nun nach Kierkegaard das tiefste Selbstverständnis in dem Religiösen erreicht wird, so ist es erklärlich, wie die Wiederholung, die zuerst die Grenzscheide zwischen dem Aesthetischen und dem Ethischen bezeichnet, auch als religiöser Begriff auftreten kann.

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Die Wiederholung ist jedoch, mag sie nun ethisch oder religiös aufgefasst werden, nach Kierkegaard psy- chologisch nicht zu begründen. Sie ist „transcendent", setzt einerseits einen „Ruck der Entscheidung", anderer- seits eine Beziehung auf ein übernatürliches Prinzip voraus. Auch hier ist er sicher von der Psychologie selbst zu bald abgesprungen. Was die Gefühle betrifft, die mit einem reicheren Gedankeninhalt verbunden sind und von der Art sind besonders die, die dem Verhältnis zu andern Persönlichkeiten entspringen, so ist ihre Wiederholung kraft der allgemeinen psychologischen Gesetze sehr wohl verständlich. Da ich mich jedoch anderwärts (Psychologie, S. 388— 392) eingehender hier- über ausgesprochen habe, und zwar mit besonderer Rück- sicht auf Kierkegaard, so will ich mich hier nicht weiter darauf einlassen.

3. Während Kierkegaard in seinen dichterischen Werken als bezeichnendsten Ausdruck des ethischen Stadiums die Ehe benutzte, wird ihm später (in der „unwissenschaftlichen Nachschrift) ein ganz anderer Begriff der ethische Hauptbegriff, nämlich der Begriff des Einzelnen. Ethisch angesehen hat das Indivi- duum nur mit sich selbst zu thun, ist hier seine These. ,.Die eigene ethische Wirklichkeit des Individuums ist die einzige Wirklichkeit" (S. 301). „Ethisch betrachtet giebt es kein direktes Verhältnis zwischen Subjekt und Subjekt" (S. 296). Das Innere des Andern kenne ick nur als Möglichkeit; unmittelbar wirklich ist mir nur mein eigenes Innere: hier also ist die Welt für mein Handeln.

Zwischen der dichterischen und der philosophischen Darstellung besteht ein Widerspruch, auf den Kierke- gaard nicht aufmerksam geworden ist Wenn ein un- geheurer Abstand zwischen Individuum und Individuum angenommen wird und jeder nur mit sich selbst zu thun hat: wie kann dann das Zusammenleben zweier

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Individuen ohne weiteres den Typus für das Ethische abgeben? Dass er jetzt das Gemeinschaftsleben im Verhältnis gegen die Betonung des für sich existierenden Einzelnen zurücktreten lässt : diese Veränderung markiert das Auftreten eines der bedeutungsvollsten Gedanken Kierkegaards, auch stimmt sie zu seiner Grundanschau- .ung ; durch die weiteren Entwicklungen aber, die sich daran knüpfen, bildet sie zugleich den Übergang zu •einer religiös-asketischen Ethik. Er kommt von dem Gemeinschaftsleben so ab, dass er sich später nicht wieder zu ihm zurückfindet.

,,Der Einzelne" tritt meines Wissens zum erstenmal im Vorwort zu den ,,Zwei erbaulichen Eeden" auf, die im Frühling 1843, einige Monate nach ,, Entweder— Oder", erschienen. Kierkegaard berichtet hier, wie er mit seinem Auge das Schriftchen auf seiner Wanderung ^begleitete „Ich sah denn, wie es auf einsamen Pfaden •oder einsam auf den vielbetretenen dahin ging. Nach 'dem einen oder andern kleinen Missverständnis traf es -endlich jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dank meinen Leser nenne, jenen Einzelnen, den es sucht, nach dem es gleichsam seine Arme ausstreckt." Kierkegaard erzählt (1833—43, S. 410), er habe sich vorgenommen gehabt, dieses Vorwort zu streichen, und sei daher in die Druckerei gegangen, wo es bereits gesetzt war ; der Setzer aber, den es gerührt hatte, bat ihn, es doch stehen zu lassen, und Kierkegaard dachte 'einen Augenblick daran, nur zwei Exemplare drucken .zu lassen und dem Setzer das eine zu schenken: dann könnte ja er der Einzelne sein! So buchstäblich ^nahm ers nun mit seinem „einzelnen" Leser doch nicht. In seiner Ethik aber machte er mit diesem Begriff um so mehr Ernst. Beachtet man, was er in seinen Schriften lund hinterlassenen Papieren da und dort sagt, um die Bedeutung zu erklären, die er diesem Begriff beimisst, so .erweisen sich folgende Gesichtspunkte als die wichtigsten.

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a) In dem einzelnen Individuum spielen sich die- Vorkommnisse ab, die dem geistigen Leben Wert ver- leihen ; hier liegen die Aufgaben, und hier haben die Entscheidungen vor sich zu gehen. Das Greschlecht ist ein Phantom, ein phantastisches Medium; nur die ein- zelnen Individuen sind Realitäten, und zwar i.st jeder nur für sich selbst unmittelbare Realität. Wenn das Geschlecht je ein Ziel hat, so geht das jedenfalls den. Einzelnen nichts an. (,, Nachschrift" S. 135 f.)

b) Was andere für mich thun können, ist nur dies, dass sie aufweckend auf mich einwirken; und dies ge- schieht mehr indirekt als direkt und ist eine schwierige Kunst, die Kunst, die Sokrates übte, die nur wenige gleich ihm zu üben verstehen. Der Einzelne ist die ,, Kategorie für die geistige Weckung", der Engpass, den das Geschlecht passieren muss, um das Höchste zu erreichen. (Der Gesichtspunkt für meine schriftstellerische Wirksamkeit S. 105, 108.) Der eine Mensch kann den. andern nicht beurteilen, weil er ihn in seiner Wirklich- keit nicht kennen kann (Unwissensch. Nachschrift S. 29 7); andererseits aber kann ein Mensch auch nur sehr wenig für den andern sein und thun, und Kierkegaard sagt von sich selbst : „Soweit meine Erinnerung zurückreicht, war ich über eines mit mir im Reinen: dass für mich bei andern kein Trost und keine Hilfe zu suchen sei." (Gesichtspunkt, S. 61.)

c) Und es handelt sich ethisch betrachtet nicht bloss im grossen Ganzen nur um Selbstthätigkeit ; son- dern auch in Betreff dessen, wie weit und hoch es jeder Einzelne je in seinem Wollen und Handeln bringen soll, ist er auf sich selbst angewiesen. Des Manneswillens- Quantum-satis (um einen Ausdruck aus Henrik Ibsens „Brand^ zu benutzen, der hier wie an mehreren Punkten ein poetischer Kommentar zu Sören Kierkegaard ist) kann nur der Einzelne selbst finden. Kein anderer kann, ihm sagen, wo die Grenze liegt zwischen Mangel an.

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Willen und Mangel an Kraft, zwischen Thorheit oder Selbstsucht und der allem Endlichen anhaftenden Be- schränktheit. („Nachschrift" S. 458.) Andere werden ihn am liebsten daran hindern, dass er sich zu weit hinaus wage, werden zu ihm sagen: ,,Schone dich! das^ widerfahre dir ja nicht!" „Ein Mensch kann von sich selbst Anstrengungen verlangen, von denen ihm der wohlwollendste Freund, wenn er darum wüsste, abratem würde . . . Jeder, der in Wahrheit sein Leben gewagt, hat den Massstab benützt, den man nur schweigend für sich haben kann." („Nachschrift" S. 514; vgl. „Ein- übung" S. 143 [129].) Und das ist um so viel wichtiger, als man erst durch das Wagen recht aufmerksam auf sich selbst wird, hinter sein innerstes Wesen kommt! (Krank- heit zum Tode S. 29 [30].)

d) Es ist wichtig, dass man sofort handle, sobald- man die rechte Erkenntnis gewonnen hat. Lässt man' erst eine Zeit drüber hingehen, so ,, kommt die Erkennt- nis aus dem Kochen". So wird es aber leicht gehen^ wenn ich mit ihrer Anwendung warte, bis ich die Welt umschafFen kann, statt dass ich mit dem beginne, was- mir zunächst liegt: mit mir selbst. Daher kommt es, dass unsere Handlungen sich zu unserem Verständnis verhalten nicht wie der treue Abdruck zu dem Urbild, sondern jjwie das Löschpapier zur Schrift, auf der es gelegen !" (Krankheit zum Tode S.102f [95] ; Richtet selbst S. 32.)

e) „Jeder Mensch ist herrlich angelegt, was aber so viele zu Grunde richtet, das ist unter anderem auch diese unselige Schwatzhaftigkeit unter den Menscheni über das, was man leiden, aber auch erst in der Stille heran reifen lassen soll." (,, Nachschrift" S. 457.) Der Einzelne ,, nicht ein einzelner Ausgezeichneter, sondern jeder Einzelne" steht über dem Geschlecht. Hierim liegt das eigentlich Menschliche, das, was den Menschen, vom Tiere unterscheidet. (Gesichtspunkt, S. 68.) Iclv

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habe daher kein Recht, vom Höchsten in mir mit andern Menschen zu reden. (1850, S. 343.) Dadurch wird auch verständlich, was schon berührt wurde, dass die Ironie eine Uebergangsstufe zwischen dem Aesthe- ^ischen und dem Ethischen ist. Der Ironiker kann (wie Sokratea) von der ethischen Forderung ergriffen sein, •er steht aber unter dem Eindruck des Gegensatzes zwischen dem, was so in seinem Innern ist, und der äusseren Wirklichkeit; die Inkommensurabilität zwischen dem Inneren und Aeusseren drückt er damit aus, dass •er sich selbst als etwas Endliches und Gleichgültiges unter dem vielen Endlichen und Gleichgültigen im Dasein behandelt. Ein Ethik er kann die Ironie als Inkognito benutzen, um nicht durch das Missverhältnis zwischen dem, was ihn, und dem, was die Welt begei- stert, komisch zu werden. Hiedurch unterscheidet er sich von einem ,, unmittelbar Begeisterten, der früh *md spät in die Welt hinausschreit und jederzeit vom Kothurn herab die Leute mit seiner Begeisterung plagt, ohne zu merken, dass das diese keineswegs begeistert." Der Ironiker muss aber nicht notwendig Ethiker sein ; .er kann auch die blosse Eorm einstudiert haben.*)

Die hohe Bedeutung des Begriffs des „Einzelnen" •für die Verwirklichung, wie für die Verinnerlichung des Ethischen bedarf keines näheren Nachweises. Kierkegaard hat durch diesen Begriff mit sicherer Energie auf das hingewiesen, was das erste und wichtigste Gebiet des Ethischen und zugleich seine Quelle und ■ewige Heimat ist und bleibt : auf die Einzelpersönlich- keit und das Verhältnis zwischen dem Ideal, das sich hier gebildet hat, und dem Willen, der in ihr sich regt. Der „Einzelne" ist die erste ethische Idee, und er ist

*) „Nachschrift" S. 472, wo Kierkegaard seine eigene frühere, negativere Auifassnng der sokratischen Ironie berichtigt, die er in ^seiner Doktordissertation ansgesprocheu hatte.

IV. Söran Kierkegaards Philosophie. 10&'

bei Kierkegaard betont teils gegenüber der Verflüch- tigung, wozu die kontemplative und ästhetische Richtung; leicht führt, die den Willen ausser Betracht lässt und das Ideal zum Gegenstand blossen Schauens macht, teils gegenüber der Neigung, sich in der sozialen und historischen Betrachtungsweise zu verlieren, die sich, um die Vorgänge im einzelnen Inneren nicht kümmert, wenn nur das Greschlecht im Ganzen oder im Durch- schnitt in der oder der Richtung sich bewegt. Für Kierkegaard verlöre das Dasein allen Sinn, wenn man nicht im Einzelnen den höchsten Wert sehen würde ; denn wie will sich sonst die ,, göttliche Verschwendung" erklären, „die eine Unzahl von Individuen in einer Generation nach der andern braucht, um die welt- geschichtliche Entwicklung in Gang zu bringen?" Wie trostlos, wenn das Höchste das „bunte Farbenspiel der aufeinanderfolgenden Generationen" sein sollte,- das dem einer ,,Heringsscliaar im Meere" zu vergleichen ist, die ja auch einen grossartigen Anblick darbietet, „während die einzelnen Heringe nicht viel wert sind." Ganz anders, wenn die höchste Aufgabe auf und in der einzelnen Subjektivität liegt: sind die Individuen auch zahlreich wie der Sand am Meere, so ist doch jedem von ihnen die Aufgabe gestellt, eine Persönlichkeit zu werden. Die Weltgeschichte muss man denn Gott über- lassen, ,,dem königlichen Dichter", der sie allein über- schauen kann („Nachschrift", S. 139.) „Meine etwaige ethische Bedeutung", sagt Kierkegaard mit Recht in seinem „Rapport an die Geschichte" (Gesichtspunkt, S. 106) ,,ist unbedingt an die Kategorie des Einzelnen geknüpft."

4. Der Begriff des Einzelnen als Hauptbegriff der Ethik entspricht dem Satze: „Die Subjektivität ist die Wahrheit" als dem Hauptsatze in der Erkenntnistheorie. In Analogie mit diesem Satze könnte man denn sagen: die Subjektivität ist das Gute. Es kommt nicht auf

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den Inhalt, den Gegenstand an, zu dem man sich in iseinem Handeln oder in seiner Erkenntnis verhält, sondern auf die innere, subjektive Bewegung. Und Kierkegaard hat diesen Satz eigentlich auch aufgestellt, indem er ausdrücklich erklärt, das Gute lasse sich nicht «definieren, da es nicht etwas von der Freiheit (dem Wollen, der Subjektivität) Verschiedenes sei. (,, Angst" S. 111 [115]). Allein derselbe formale und innere Wille liesse sich ja mit dem verschiedenartigsten Inhalte denken I Hätte Kierkegaard mit seinem Subjektivitätsprinzip in der Ethik Ernst machen wollen, so durfte er den Ein- ;zelnen nicht von allen Verhältnissen der Wirklichkeit, von allen Verhältnissen mit anderen Menschen isolieren; denn nur in diesen kann die ethische Subjektivität einen -wirklichen Inhalt bekommen. Eine ausschliessliche Be- lischäftigung mit sich selbst ist nur in einem Kloster möglich, wo es keine realen Aufgaben giebt, wo viel- mehr die vorgenommenen Arbeiten nur zur formalen Übung dienen. Hier zeigt es sich wieder, dass das ethische Stadium bei Kierkegaard keine Selbstständig- keit gewinnt. Alle und jede Ethik, die er anerkennt, ist in der Wirklichkeit religiös and asketisch. Der .einzige Inhalt ist der Gehorsam des Einzelnen gegen Gott. Das Ethische steht für ihn in absolutem Gegen- ,satz zu allem, was in die Erscheinung treten und für andere Menschen oder in der Geschichte Bedeutung ge- winnen kann. Er konnte sich denken, „Gott schüfe, ohne Unrecht zu thun und ohne die Liebe, die sein Wesen ist, zu verleugnen, einen Menschen mit Gaben wie kein zweiter ausgerüstet, setzte ihn an einen ent- legenen Ort und sagte zu ihm : durchlebe jetzt mit einer Anstrengung, wie kein anderer sie kennt, das mensch- liche Dasein, arbeite so, dass die Hälfte zur Umschaffang .einer ganzen Zeit genügen würde ; aber du und ich .sind darüber im Reinen, dass all dein Streben gar Jkeine Bedeutung für irgend einen andern

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. Hl

Menschen haben soll, und gleichwohl sollst du, verstehe wohl, du sollst das Ethische wollen und du sollst, verstehe wohl, du sollst begeistert sein, weil dies das Höchste ist." („Nachschrift" S. 119.) Wenn Kierkegaard die soziale und historische Betrachtungs- weise anklagt, dass sie eine unbegreifliche Verschwen- dung in der Welt statuiere, so lässt e r sich nach meiner Meinung eine noch viel grössere Vergeudung mensch- licher Kräfte zu Schulden kommen, vor lauter Eifer in der Betonung des formalen Gehorsams, der subjektiven Spannung im Innern, die für ihn eigentlich das Höchste ist. Um ein Bild, das ich schon früher (in der ,, Grund- lage der humanen Ethik") gebraucht habe, hier noch- mals zu verwenden : Kierkegaards Ethik wird in diesem Stück von den ägyptischen Mönchen realisiert, die ihr Leben damit zubrachten, dass sie Stöcke, die sie in den Sand gepflanzt hatten, bewässerten. Das war eine Be- schäftigung, die absolut nichts Soziales oder „Welt- geschichtliches" an sich hatte und bei der die „Wieder- holung" und subjektive Anspannung reichlich zu verwenden war, wenn sie ein ganzes Leben hindurch fortgetrieben werden sollte. Wenn der Gehorsam, n gleichviel, in was, das Höchste ist, so ist hier das Höchste geleistet. Allein das ist Verschwendung, denn es wird damit kein reales Gut, kein Zweck erreicht.

Die rein subjektive Ethik, der Kierkegaard das Wort redet, übersieht, dass die einzelne Persönlichkeit gerade erst durch das Leben in den wirklichen mensch- lichen Verhältnissen und durch die Arbeit an Aufgaben von wirklicher realer Bedeutung entwickelt wird, ab- gesehen von der durch die Arbeit selbst gewonnenen Übung. Die sozialen ethischen Aufgaben sind ja sämt- lich derart, dass sie darauf ausgehen, das persönliche Leben bei möglichst vielen zu fördern; es ist nicht Aeusserlichkeit, nicht Nachgiebigkeit gegen die „For- derung der Zeit", noch auch weltgeschichtliche Wichtig-

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thuerei, sondern ein gesundes menschliches Grefühl, das- will, dass unser Thun mehr Bedeutung habe, als eim blosses Übungspensum für uns zu sein.*) Wenn Kierke- gaard selbst meinte, seine ,,ethische Bedeutung" sei an die Kategorie des Einzelnen geknüpft, so meinte er doch wohl nicht bloss, die Beschäftigung mit diesem Gedanken sei für ihn selbst förderlich gewesen d. h. er hätte hier doch wohl ,,liistorische Bedeutung" statt „ethische" Bedeutung schreiben können. Nur auf die Absicht kommt es nach Kierkegaard beim Handeln an; die Wirkungen des Handelns sind gleich- gültig. Die Ethik hat nur mit der Absicht, die Welt- geschichte mit den Wirkungen zu thun. Und die Ethik hat sich nicht um die Weltgeschichte zu kümmern. (,, Nachschrift", S. 112.) Allein diese Scheidung zwischen Absicht und Wirkung ist unhaltbar. Es muss meine Aufgabe sein, möglichst viele Wirkungen meines Handelns vorauszusehen, und treten sie nicht ein, oder treten ganz andere ein, so kann das meine Schuld sein. Alle Ethik beruht darauf, dass sich die Wirkungen unserer Handlungen bis zu einem gewissen Grade, in einer ge- wissen Ausdehnung voraussehen lassen. Und wir geben (wenn wir nicht Asketen sind) Handlungen, deren Wirkungen ohne Wert sind, auf.

Kierkegaards forcierte Einseitigkeit in diesem Punkt tritt darin zu Tage, dass er über menschliche Gemein- schaftsverhältnisse nur auf eine spöttische und hämische Weise reden kann. Es kann ja, sagt er einmal („Nach- schrift", S. 372), von dem einzelnen Individuum sehr

*) In meiner Ethik (S. lOOj habe ich dies etwas weiter ans- geführt. Ich erlaube mir überhaupt auf Kapitel III und VIII diese» ßuchs hinzuweisen, wo ich den Grundgedanken zu entwickeln snchtCr dass man wohl von dem Begriff des Geschlechts oder der Gesellschaft ausgehend, also auf dem Boden der sozialen Kthik, die Idee des- Einzelnen begründen kann, nicht aber umgekehrt von dieser Ide& allein aus eine soziale Ethik.

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löblich sein, dass er Kammerrat, flinker Arbeiter im Kontor, erster Liebhaber im dramatischen Verein, beinahe Virtuose auf der Flöte, Schützenkönig, Asyldirektor, würdiger Herr Vater, kurz ein Hauptkerl ist, der das „Sowohl— Als auch" versteht und Zeit zu allem findet." So treffend sein Spott über die Eitelkeit und Aeusserlichkeit in der menschlichen Geschäftigkeit ist,, so ist es doch sonderbar, dass ein Schriftsteller, der das ethische Stadium als eine besondere Lebensform schildern will, von dem menschlichen Gesellschaftsleben in keinem andern Tone reden kann. Das ist falsch verstandener Idealismus. Das ist die Unfähigkeit des Romantikers, in dem anscheinend Prosaischen und All- täglichen die Idealität zu finden. Es ist auch eine Unfähigkeit, die Bedeutung zu entdecken, welche Verhält- nisse und Bestrebungen, die in den Augen eines vor- nehmen Romantikers scheinbar niedrig und komisch sind, doch für die Entwicklung der Persönlichkeit haben können. Indem Kierkegaard bei seiner Schilderung des ethischen Stadiums dem religiösen Stadium zueilt, hat er zugleich nicht so wenig von dem Aesthetischen bei sich behalten. In dieser Hinsicht ist besonders folgende Tagebuchnotiz (1849, S. 242) bezeichnend: ,,Die Alters- stufen, wovon man für die Idealität lernen kann, sind das Kind, der Jüngling, das junge Mädchen, der Greis. von dem thätigen Mann, der geschäftigen Hausmutter kann man in dieser Beziehung nichts lernen. Und warum nicht? Weil sie wesentlich mit den Zielen der Endlichkeit beschäftigt sind." Hier zeigt sich, dass Kierkegaard seine eigene Schrift über die „Wiederholung'' vergessen hat; er preist ja nunmehr die Hoffnung und die Erinnerung als die einzigen Formen der Idealität; die Wirklichkeit selbst fällt für ihn weg. Denn hat er darin recht, dass immer von Einzelnen gestrebt und gewirkt werden muss, so ist es nicht minder wahr, dass es stets einzelne bestimmte und daher endliche

Hoff ding, S. Kierkegaard. 8

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Aufgaben sind, woran und wofür man wirken und arbeiten muss. Hier bedarf der Ethiker des psycho- logischen und historischen Blicks, der das Grosse im Kleinen, das Bedeutungsvolle im Unscheinbaren zu sehen versteht. Eaerkegaard aber betrachtet die Psychologie wie die Geschichte als Feinde der Ethik.

Endlich kann ich die Bemerkung nicht zurückhalten, dass Kierkegaards absolute Abweisung aller sozialen Ethik auch mit seiner konservativen Gesinnung und seinem absoluten Respekt vor allen Autoritäten zusammen- hängt. Er gewann es in einer Audienz bei Christian VIII. über sich, zum Könige zu sagen (1849, S. 19): ,,Euer Majestät einziges Unglück ist, dass Ihre Weisheit und Klugheit zu gross und das Land zu klein ist; es ist ein Unglück, Genie in einer Kleinstadt zu sein" ach, das Ländchen hätte die ganze, volle königliche Weisheit sehr wohl brauchen können -~ und noch mehr dazu. Er konnte in dem Stock des Polizisten ein Symbol des absoluten Autoritätsprinzips sehen. Denn im Grunde war seine Ansicht, für alles, was die Gesellschaft angehe, habe die Regierung zu sorgen, und es sei nur Wichtig- thuerei und Aeusserlichkeit, wenn die Einzelnen daran denken wollen. Der Einzelne habe das Gemeinwesen sich selbst zu überlassen und seine eigenen Privatubungen in der Ethik zu besorgen. Als das Jahr 1848 kam, war der einzige Gesichtspunkt, den er hatte, der, dass eine allgemeine Auflösung eingetreten sei und dass Dänemark der Untergang drohe nicht von Seiten Deutschlands aus, wie man sich nach seiner Meinung fälschlich einbildete, sondern von der politischen Freiheit.

5. Genau genommen tritt bei Sören Kierkegaard das Ethischefnur auf, um im selben Augenblick wieder abgerufen zuj,werden. Es geht dem Ethischen, um mit «inem Bilde Kierkegaards selbst zu reden, wie dem Kinde, das den Kopf in die Welt hereinstreckte, ihn aber »gleich wieder zurückzog, da es sah, wie böse die

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Welt ist. Das Ethische stellt ein unbedingtes Ideal auf, das in die Wirklichkeit eingeführt werden soll, wogegen es nicht seine Aufgabe ist, die Wirklichkeit zum Ideal emporzuführen. Das Ethische feilscht nicht, hält seine Forderungen (die der Mensch unmöglich erfüllen kann) fest, ,,ohne diu-ch das Geschwätz, es helfe nichts, wenn man das Unmögliche fordere, sich irgend stören zu lassen." Die Ethik scheitert denn auch und durch die Reue vollzieht sich dann der Uebergang zum Reli- giösen. (,, Angst", S. 13 [9 f.]) ,,I^ie ethische Sphäre ist nur Durchgangssphäre, und darum ist ihr höchster Ausdruck die Reue." („Stadien", S. 483 [447].)

Die Ethik steht also von Anfang an in einem rein negativen Verhältnis zu des Menschen Kraft und Trieb. Die griechische Ethik, die eine positive Entwicklung der menschlichen Kräfte und Triebe wollte, erkennt Kierkegaard nicht als wirkliche Ethik an. Das ist ja nur konsequent: die Möglichkeiten hat er der Psycho- logie, die Wirkungen der Weltgeschichte zugewiesen; die Ethik behält nur die Unmöglichkeiten zurück, Es findet sich deshalb bei Kierkegaard auch eine Ten- denz, das Ethische als ein besonderes Stadium aus- zuscheiden. Dies gilt von Anfang an hinsichtlich des Weibes : da ihr die Fähigkeit der Ueberlegung und des Entschlusses [! !] fehle, so müsse sie sofort von der ästhetischen Unmittelbarkeit zu der religiösen übergehen. Dasselbe ergiebt sich aber eigentlich auch für den Mann. ,, Zwischen Poesie und Religiosität'', heisst es S. 426 in der „Unwissenschaftlichen Nachschrift", ,, führt die welt- liche Lebensweisheit ihr Vaudeville auf. Jedes Indi- viduum, das nicht entweder poetisch oder religiös lebt, ist dumm". Hier ist das ethische Stadium in bester Form ausgeschieden. Kierkegaards Unfähigkeit, die Idealität in dem wirklichen Leben zu entdecken, zeigt sich auch hier wieder. Allerdings ist dem Ethischen das Urteil gesprochen, wenn es die Poesie ausschliesst.

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Es giebt aber auch eine Lebenspoesie, die nur mitten unter der Arbeit selbst erlebt und empfunden wird, die nur bei dem Zusammenstoss des Willens mit dem harten Feuerstein des Lebens Funken giebt, und die der zwischen Aesthetik und Askese oscillierende Ein- siedler nicht kennt. Er redet hier wie der Blinde von den Farben. Uebrigens ist noch zu bemerken, dass der Gregensatz zwischen Poesie und Religion dem Gregen- satz zwischen Kierkegaards ästhetischem und religiösem Stadium nicht entspricht. Poetisch zu leben muss für ihn etwas anderes heissen, als zu leben wie seine Aesthetiker oder Hedoniker. Dies deutet auf den schon, früher nachgewiesenen Mangel an der Schilderung der ästhetischen Lebensanschauung hin.

y. Die religiöse Lebensanschauung.

1. Erst durch religiöse Voraussetzungen gewinnt Kierkegaards Ethik einen Inhalt oder, wie man viel- leicht besser sagen könnte, einen Gegenstand. Was dem ethischen Streben zu Grunde liegt, ist das Verhältni» zu Gott, dem ewigen, von dem Menschen qualitativ ver- schiedenen Wesen, und zu der ewigen Seligkeit, die von dem Einzelnen durch das Gottesverhältnis gewonnen werden kann. Kierkegaard kennt daher das Ethische eigentlich nicht; er kennt nur das Ethisch-Religiöse, Dies hängt sehr enge damit zusammen, dass das Religiöse für ihn in religiöser Ethik aufgeht. Das Dogmatische setzt er wohl voraus, allein es schaiFt kein besonderes Verhältnis; der Wille wird stracks in Beschlag ge- nommen, und für Kontemplation oder Mystik bleibt keine Zeit übrig. Er anerkennt das Religiöse auch nicht als Trost oder richtiger, er anerkennt den Trost in der Religion nur so, dass er sofort beifügt: dieser Trost hat ein bisher ungekanntes Leiden zm' Folge.

Auch hier ist wie bei der ethischen Lebens- anschauung — eine Aenderung in Kierkegaards Auf-

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 117

fassung zu bemerken. Früher hatte er in der Schrift ^Furcht und Zittern'' das Verhältnis zwischen dem Ethischen und dem eigentlich Religiösen als ein gegen- isätzliches geschildert, sofern infolge des persönlichen Verhältnisses des Menschen zu Gott ein Bruch des all- gemeinen ethischen Gebots stattfände. Dies wird in einer von mächtigem Pathos getragenen Darstellung an dem Beispiele Abrahams nachgewiesen: er ist bereit, auf Gottes Geheiss Isaak zu opfern, obwohl das ethische Gebot sagt: da sollst nicht töten. Der religiöse Glaube ist Sache des Einzelnen; denn die möglicherweise ge- forderte Aufhebung des Ethischen lässt sich für andere nicht verständlich machen, da sie nur durch das eigene persönliche Gottesverhältnis des Individuums bedingt und erklärlich ist. Das Ethische hingegen ist das All- gemeine, über das die Menschen sich unter einander Terständigen können. Mit dieser Auffassung des Ethischen als des Allgemeinen steht Kierkegaard hier, wie in , Entweder Oder" und in den „Stadien", Hegel noch näher als in der rein philosophischen Abrechnung in der „Unwissenschaftlichen Nachschrift", wo, wie schon früher erwähnt, „der Einzelne" und seine persönliche, isolierte Existenz ein HauptbegrifF auch für die ethische Lebensanschauung wird. Nach Hegel war die Ethik wesentlich sozial; die ethischen Lebenssphären waren ■die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat, wo allgemeine Regeln gelten und wo das einzelne Indi- viduum nur ein Moment ist. Mit dieser Auffassung bricht Kierkegaard zuerst aus religiösen Gründen, um das persönliche Gottesverhältnis in seine absolute Gel- tung einzusetzen; aber der Bruch, der mit der Hervor- kehrung des Begriffs des Einzelnen sich vollzieht, ge- winnt für die Auffassung des Ethischen rückwirkende Bedeutung. Nach seiner in der ,, Unwissenschaftlichen Nachschrift" gegebenen Auffassung bekommt das Ethische seinen eigentlichen Gegenstand, sein absolutes Ziel erst

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durch das Religiöse, wie dieses andererseits wesentlich ethischer Art, ein Leben im Streben, Wollen, Handeln ist. Dass ein Uebergang vom ethischen zum religiösen Stadium stattfinden muss, gewinnt nun eigentlich den Sinn, dass alle Ethik, näher besehen, religiöse Ethik sein muss, um nicht blosse Aeusserlichkeit und Verloren- heit im Relativen zu sein. Es zeigt sich, dass der Einzelne seine eigene persönliche Wirklichkeit nur durch das Verhältnis zu einer absoluten Persönlichkeit fest- halten kann.

Durch das Verhältnis zu Gott und einer ewigen Seligkeit wird dem Einzelnen ein absolutes Ziel, ein absoluter Gregenstand gegeben. Das Religiöse unter- scheidet sich von dem Ethischen dadurch, dass der Einzelne, ethisch betrachtet, nur mit sich selbst, seiner eigenen Wirklichkeit zu thun hat, religiös betrachtet aber von einer andern Wirklichkeit als seiner eigenen unendlich in Anspruch genommen ist. (,,Nachschrift", S. 296 ff".) Wie zu dem absoluten Gegenstand und dem absoluten Ziel steht der Einzelne aber auch in einem Verhältnis zu einer umgebenden endlichen Welt und einem Kreis relativer Zwecke, die ihr entstammen. Und nun gilt es, das absolute Ziel als absolutes, und die relativen Ziele als relative zu behandeln. Denn es ist ja ein Widerspruch in sich selbst, einem relativen, end- lichen Ziele unbedingt zu leben, ihm alles zu opfern. Allein die so gestellte Aufgabe ist sehr schwierig, da zwischen dem absoluten Ziele und den relativen ein gähnender Abgrund liegt, und da im Menschen zugleich ein unmittelbarer Trieb lebt, in den relativen Zielen aufzugehen, sich ihnen absolut hinzugeben. Hiezu kommt noch das weitere, dass für den Menschen der Gebrauch seiner eigenen Kraft mit Wohlbehagen und Befriedigung verbunden ist: vor Gott und dem höchsten Ziele aber ist seine Arbeit nichts ; hier gilt es gerade, dass er sich in seinem Nichts sehe. Dass man den Willen von den

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endlichen, in der Welt der Erfahrung gegebenen Zielen und Verhältnissen losreisse, dass man der Unmittelbarkeit absterben lerne, erfordert eine schmerzliche Anstrengung, die nicht ein- für allemal abgemacht werden kann, son- dern immer und immer wiederholt werden muss; und wenn nun dies dazu kommt, dass man trotz aller Anstrengung lernen soll, zu sein, als wäre man nichts, so erhellt, dass das religiöse Leben bedeutet, dem Leiden und der Selb st Vernichtung geweiht zu sein. ,,Was Wunder, dass der Jude annahm, das Schauen Gottes sei der Tod, und der Heide, zu Gott in ein Verhältnis zu treten, sei der Beginn des Wähnsinns." („Nach- schrift'', S. 376 ff. 430. 452.)

Das religiöse Leiden unterscheidet sich von anderem Leiden dadurch, dass es nicht zufällig, nicht durch äussere Ursachen, die auch weggedacht werden könnten, hervorgerufen ist, sondern durch die Natur des religiösen Verhältnisses selbst notwendig ist. Das Verhältnis zu Gott ist das Verhältnis zu einem von dem Menschen absolut verschiedenen Wesen, das dem Menschen nicht als Superlativ oder Ideal gegenüber stehen kann und doch in seinem Innern herrschen soll! Hieraus ergiebt sich ein notwendiger Zwiespalt in dem Menschen, der stets neue Schmerzen schafft, wenn er darin aushalten soll. („Nachschrift" S. 380 ff.; vgl. 1850, S. 216.) Von dem Religiösen wie dem Ethischen gilt also: die Auf- gabe ist nicht die Entwicklung, Erhöhung und Veredlung der menschlichen Natur, nicht, dass ,,die Wirklichkeit zur Idealität", sondern vielmehr, dass die „Idealität in die Wirklichkeit eingeführt werde" („Angst S, 12 [9]), dass ein absolut neues Element in die Natur eingepflanzt werde ein Element, das gegen die Natur ebenso feindlich ist, wie das Absolute (das alle Kraft verlangt) gegen das Relative (das doch einige Kraft verlangt)! Das Absolute ist grausam (1849, S. 44), weil es alles verlangt.

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IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

Es ist ein ganz neues, seiner Natur widerstreiten- des Medium, in dem der Mensch, sobald er in das religiöse Verhältnis eintritt, leben soll; obgleich ein endliches Wesen, soll er doch in dem Unendlichen und Absoluten leben. Es ist ihm hier, wie einem Fisch auf dem Lande (Unwissensch. Nachschrift S. 452} : er ist in eine Welt hineingeraten, wo ganz andere Instinkte als die in seiner Natur liegenden verlangt werden. Er soll ein naturwidriges Leben führen. In Henrik Ibsens ,, Brand" findet sich ein Bild, das ausserordentlich nahe verwandt mit dem ist, womit Kierkegaard die religiöse Existenz beschreibt:

Ich stellte vor mir eine Eale, Die sehen vor Nacht and Dunkel bangte, Und in dem Wasser einen Fisch, Der wasserscheu aufs Land verlangte; Ich lachte laut, bezwang's 'ne Weile, Dann griff es mich von neuem frisch. Wo lag der Reiz zum Lachen nur? Ich fühlte dunkel die Natur Des Zwiespalts zwischen der Erscheinung Und dem, zu dem das Ding bestimmt ; Den Widerspruch in der Verneinung Der Last, die doch den Rücken krümmt.*) Ein wasserscheuer Fisch, der doch im Wasser leben muss, oder ein Fisch, dessen Natur allein zum Leben im Wasser passt, auf dem Lande das kommt auf eines hinaus. Wenn Brand erzählt, dass er als Knabe bei diesem Gedanken lachte, so ist auch Kierkegaard darauf aufmerksam geworden, dass in dem Missverhält- nis, dem Widerspruch, der dem Religiösen eigentümlich ist, etwas Komisches liegen könnte; er meint aber doch, das Religiöse sei durch die bewusste Uebernahme des Widerspruchs und des Leidens über diese Komik erhaben. Wie die Ironie eine Uebergangsform zum Ethischen war und als Inkognito für dieses dienen

*) S. 9 der Uebersetzung von L. Passarge (Leipzig, Ph. Rec- lam jun.)

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konnte, so ist der Humor eine Uebergangsform zum Religiösen und kann sein Inkognito sein. Der Humor sieht das Endliche in seiner Nichtigkeit und Gleich- gültigkeit gegenüber dem Unendlichen; der Humorist braucht aber nicht selbst positiv ein Gottesverhältnis zu haben; er benützt vielleicht den Humor nur als eine Form, Der Religiöse thut dasselbe, um die starke Be- wegung seines Innern zu verbergen, die sich in einer positiven Aeusserung nie einen direkten und vollstän- digen Ausdruck geben kann. Er tritt als ,, Ritter der verborgenen Innerlichkeitt" auf so lange, bis das religiöse Verhältnis für ihn eine solche Macht gewinnt, dass es äusseres Auftreten und den Bruch mit der Welt verlangt. („Nachschrift" S. 469 ff.)

2. Durch diese Auffassung des Religiösen hat Kierkegaard von vorn herein das Band zwischen ihm und der Menschennatur durchschnitten. Es kommt als etwas Fremdes in die Welt herein und soll nun mit der Natur zusammengezwungen werden, ohne doch mit dieser •eins werden zu können. Kierkegaard geht von einer Idee der Vollkommenheit aus, die er ohne irgend welche Rücksicht auf die wirkliche Menschennatur sich gebildet hat. Für die historische Auffassung hingegen sind die religiösen Ideen Anticipationen und Idealisationen dessen, was in der Erfahrung gegeben ist und im Menschengeiste sich bewegt. Unter dem Einfluss des innig und mächtig erregten Gefühls bilden sich für Phantasie und Denken Ideen und Vorbilder, die auf den Erdboden, dem sie entstammen, eine Rückwirkung auszuüben vermögen. Schneidet man aber die Möglichkeit ab, dass die höch- sten Ideale des Menschenlebens aus dem Leben selbst, aus dem durch die Lebenserfahrungen erregten Sinne sich entwickelt haben, so schneidet man eben damit auch •die Möglichkeit einer Einwirkung der Ideale auf die Natur ab. Die qualitative oder absolute Verschieden- heit hebt die Möglichkeit eines positiven Verhältnisses

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auf. Die gewaltige Macht der Religion über Sinn und "Willen beruht darauf, dass sie die grossen Schatz- kammern sind, worin der Menschengeist einige seiner tiefsten Erfahrungen niedergelegt hat. Wenn aber das religiöse Streben in seinem Eifer, den Gegenstand der Religion in die höchste Höhe hinaufzuschrauben, einen gähnenden Abgrund zwischen ihm und dem Leben be- festigt, dessen Vorbild er doch sein soll, so widerspricht es sich selbst. Ein Gott, der nicht Ideal und Vorbild ist, ist kein Gott. Die Behauptung, das Wesen der Gottheit müsse von dem des Menschen qualitativ ver- schieden sein, hat daher auch stets wieder ethisch-religiöse Bedenken gegen sich wach gerufen.*) Hier, wo die religiöse Leidenschaft den absoluten Unterschied zwischen dem Göttlichen und Menschlichen behauptet, vollzieht sich der Bruch zwischen der religiösen und humanen Ethik : denn eine Ethik, die auf ein von der menschlichen Natur absolut verschiedenes Prinzip begründet wird, muss notwendigerweise wenn sie konsequent ist zu einer gegen das Leben und den Menschen feindseligen Lehre werden. Sie ist aber zugleich eine in sich selbst widerspruchsvolle Ethik; denn wenn das absolute Ver- hältnis alle KJraft in Beschlag nimmt, wie kann da noch einige Kraft übrig bleiben, um in den relativen Verhältnissen zu leben?**) Hier geht selbst der grosse Vertreter der qualitativen Dialektik auf einen Kom-

*) Eine interessante Erörterung dieser Frage findet sich in Berkeleys Alciphron, 4. Dialog. § 16 21. Später wurde sie in Stuart Mills Untersuchung von Sir "William Hamiltons Philosophie gründlich behandelt. Vgl. meine Schrift: Einleitung in die englische Philosophie unserer Zeit, deutsch von Euralla, S. 62 (vergl. S. 136ff.)

**) Vgl. was schon Bröchner in seiner scharfsinnigen Kritik der Kierkegaardschen Auffassung hierüber bemerkt hat. Das Problem des Glaubens und Wissens, S. 221: „Das absolute Ziel, wie es Kierkegaard fasst, muss die ganze Kraft des Menschengeistes in An- spruch nehmen und kann für die relativen Verhältnisse keine Kraft mehr übrig lassen."

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promiss, ein ,, Sowohl Als aucf ein, und nur damit- entgeht er der vollkommenen Selbstvernichtung.

Eigentlich war Kierkegaard auf demselben "Wege wie Schopenhauer: auf dem Wege zum Nirwana. Wie Schopenhauer inmitten der Kultur des 1 9. Jahrhunderts die buddhistische Verneinung des Lebens für die höchste Wahrheit erklärte, so verkündete Kierkegaard, der in; mehrfacher Hinsicht sein Geistesverwandter war, das strenge, asketische Christentum als das Höchste in. letzter Instanz als das Einzige. Es ist in ethischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht von dem allergrössten Interesse, zu sehen, wie zwei der begabtesten Denker unserer Zeit ein derartiges Verdammungsurteil über unsere ganze, so hochgepriesene Kulturentwicklung fällen,- Dies deutet darauf hin, dass derselben Mängel und Grebrechen anhaften müssen, die wir mit leichtsinnigem Optimismus zu übersehen pflegen. Bei Leo Tolstoi tritt in neuester Zeit ein zum Teil verwandter Gedanken- gang hervor ; doch steht er dem Natürlichen und'. Menschlichen näher.

Von Schopenhauer unterscheidet sich Kierkegaard durch seine ethisch-praktische Tendenz. Schopenhauer' verneigt sich vor dem asketischen Ideal, zieht aber- selbst die intellektuelle und ästhetische Willensbefreiung vor. Kierkegaard arbeitet sich Schritt für Schritt vor- wärts, um womöglich einer von denen zu werden, auf die die höchsten Bestimmungen Anwendung finden können. Er setzt seine Persönlichkeit ganz anders ein, sucht das praktische Kämpfen und Leiden als eine Ehre und findet sie auch. In seinen letzten Jahren beschäftigte sich Kierkegaard mit dem Studium der Schopenhouerschen Schriften und fühlte sich von ihnen sehr angesprochen. (Vgl. 1854 55, S. 48 und 68.) Seine Anschauuiig war damals aber schon voll entwickelt, und er hatte bloss zu notieren, worin er mit dem deutschen. Denker übereinstimmte und von ihm abwich.

124 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

3. Die religi()se Lebensanschauung tritt in zwei .Hauptformen auf, die in ihrem Cliarakter so verschieden sind, dass der Uebergang von der einen zur andern nur durch einen Sprung, eine qualitative Veränderung möglich ist. Der Unterschied zwischen ihnen bezieht sich besonders darauf, was Gegenstand des Glaubens ist. Die erste Form der Religiosität (Kierkegaard nennt sie die Religiosität A) verhält sich zu dem Ewigen als dem allgemeinen Hintergrund des Lebens und Daseins. Ein Leiden verursachender Widerspruch liegt hier nur darin, dass das Ewigkeitsbewusstsein und das Verhältnis zum absoluten Ziele inmitten der Welt der Endlichkeit und der Zeit festgehalten werden soll. Der Einzelne empfindet zugleich, je tiefer er das Verhältnis auffasst, den Abstand, der ihn vom Höchsten trennt, um so schärfer und bemerkt zudem den Widerstand, den er ; selbst ihm entgegensetzt. Denn je näher man dem Höchsten kommt, desto mehr bemerkt man seinen Ab- rstand von ihm! Der Fortschritt wird also insofern zu einem Rückschritt. (1850, S. 301; „Nachschrift", S. 516.) Es entsteht ein Schuldbewusstsein, wodurch das für diesen religiösen Standpunkt eigentümliche Pathos ver- stärkt wird. Gleichwohl aber hält sich diese Art der Religiosität innerhalb des für den natürlichen Menschen Erreichbaren. Sie liegt innerhalb der ,, Immanenz", setzt keinen entscheidenden Bruch mit der natürlichen Weltordnung voraus und ist auf dem Boden des Heiden- tums möglich. („Nachschrift", S. 522 ff.) In den „philo- sophischen Bissen" hatte Kierkegaard auf Sokrates als den Vertreter dieser Form der Religiosität hingewiesen. Dies ist historisch kaum zu rechtfertigen. Eine Lebens- anschauung wie die von Kierkegaard als Religiosität A geschilderte kommt auf dem Boden der griechischen Welt erst g(;gen den Schluss. im NeupltTtonismus vor. Erst hier wird ein entscheidendes Gewicht auf das Verhältnis zu dem Ewigen im bestimmten Gegensatz

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zu allen äusseren und menschliclien Zielen gelegt. Die griechische Weltanschauung war eine ruhige Harmonie; die natürlichen Elemente des Lebens wurden zu einem ethischen Kunstwerk geformt, das Jenseitige aber wurde nicht als das höchste oder (dnzige Ziel aufgestellt, so tief auch die Schattenseiten des Lebens und der Wider- stand der Sinnlichkeit gegen Gredankenklarheit und Willensreinheit von Dichtern und Philosophen gefühlt und ausgesprochen wurden.

Von dieser humanen oder immanenten Religiosität scheidet sich die paradoxe, ' ransscendente Religiosität ab, die Religiosität B. Hier "verschärfen sich alle Be- stimmungen dadurch, dass die Widersprüche grösser werden. Der Einzelne steht nicht bloss zu dem überall gegenwärtigen ewigen Grund des Daseins in Beziehung. Das Ewige und Görtliche ist in der Zeit, in geschicht- licher Gestalt erschienen, als einzelner Mensch, der gelitten hat und gestorben ist. Dass die wesentliche Offenbarung sich nicht im Dasein ausbreitet, sondern auf eine bestimmte Zeit und Stätte sich beschränkt, das bringt eben zum Ausdruck, dass das Dasein im übrigen geistverlassen ist: nichts hat Wert, nichts hat ent- scheidende Bedeutung als diese eine Gestalt und auf das Verhältnis zu ihr, zu „dem Gott in der Zeit" kommt alles an. Der Gegenstand des Glaubens ist das Paradox im höchsten Sinne, der Widerspruch in sich selbst, das Absurde. (,, Nachschrift", S. 536.) Zu dem höchsten Paradox in ein Glaubensverhältnis zu treten, giebt es nur einen Weg: dass nämlich das Schuld- bewusstsein zum Sündenbewusstsein sich steigert, d. h. dass der Einzelne in sich nicht bloss einen Widerstand gegen das Ewige, sondern eine vollständige und selbst- gewoUte Aenderung in seiner Natur entdeckt. Das Bewusstsein hievon wird gerade durch das Auftreten des göttlichen Paradoxes hervorgerufen und bedingt- nur durch eine Offenbarung kann der Mensch die totale

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Aenderung seiner Natur und der Menschennatur über- haupt entdecken. („Nachschrift", S. 548 f.) Durch das Paradox als Gegenstand des Glaubens und durch das ^Sündenbewusstsein als dessen Voraussetzung ist die grösste Vertiefung in die Existenz, die grösste Inner- lichkeit und das grösste Leiden erreicht. Das ist der .Standpunkt, der mit dem Christentum in die Erschei- ,nung tritt.

Als ein Moment, wodurch das Leiden auf dem höchsten religiösen Standpunkt verschärft wird, nennt Kierkegaard den Schmerz der Sympathie, der dadurch entsteht, dass der Einzelne nicht länger mit jedem Menschen als Menschen, sondern wesentlich nur mit den Christen sympathisieren kann. Seine Nächsten sogar muss er vielleicht hassen: ,,denn ist es nicht, als hasste ■er sie, wenn er seine Seligkeit an eine Bedingung ge- knüpft hat, die sie, wie er weiss, nicht annehmen?'' (ib. S. 551.) Nicht immer hat Kierkegaard der Sym- pathie das Recht dazu gegeben, ein Wort des Schmerzes mitzureden. In seinen Tagebüchern (1844 46, S. 171) führt er mit eigener Zustimmung eine muhammedanische Legende an, wonach Adam ausruft: ,,Acli Herr, rette nur meine Seele; ich kümmere mich weder um Eva noch um Abel." Das Wort „Sehet auf euch selbst" '(Marci, 13, 9) erklärt er in ähnlicher Richtung. Und auch wo er den Schmerz der Sympathie hervortreten lässt, gestattet er ihm doch keinen Einfluss auf den Glauben; er zieht nicht wie Schleiermacher die Konsequenz, dass bei diesem Schmerz des Mitgefühls ieine ewige Seligkeit möglich sei. Psychologisch und .ethisch betrachtet liegt hier vielleicht der grösste und schreiendste, um nicht zu sagen empörendste der Wider- sprüche in der paradoxen Religiosität. Kierkegaard hat auch diesen Widerspruch genannt aber er giebt ihm doch nur die letzte Stelle. Es ist eine Konsequenz aus dem Prinzip des Einzelnen: was

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 127

geht es schliesslich mich an, ob die andern auch selig werden oder nicht!

Die romantisch- spekulative Harmonie, die durch den qualitativen Ruck je zwischen den einzelnen Stadien bereits in ihren Grundfesten erschüttert worden war, scheitert nun zuletzt vollständig an der scharfen und steilen Klippe des Paradoxes. Von Kierkegaards Auffassung des Christentums überhaupt zu reden, werden wir Veranlassung haben, wenn wir an sein letztes Auftreten kommen.

c. Der Massstab. 1. In seiner Darstellung und Schätzung der ,, Stadien" bringt Kierkegaard einen bestimmten Massstab zur An- wendung. Worin er besteht, hebt er einmal selbst ausdrücklich hervor, indem er zu zeigen sucht, dass ,,die Rangordnung aller Lebensanschauungen sich nach der dialektischen Verinnerlichung des Individuums in ihnen richtet." (,, Nachschrift", S 537.) Die Verinner- lichung aber wächst wiederum je mit den qualitativen und quantitativen Gregensätzen oder Widersprüchen, die sich im Innern des Individuums geltend machen. Es ist der Grrad der Spannung, der über die Höhe des Standpunkts entscheidet. Die wachsende Spannung führt ohne dass doch die höheren Spännungsgrade successiv aus den niederen entstanden sein könnten von Stadium zu Stadium und zuletzt (wenn das Indi- viduum nicht an dem Ideal abdingt oder sich abstumpft) zu der paradoxen Religiosität, indem das Leben ohne übernatürliche Hilfe zur Verzweiflung wird. Kierkegaard konstruiert mit Hilfe dieses formalen Massstabes eine Reihe Lebensstufen, die an bestimmten Knotenpunkten abgebrochen werden. Das gegensätzliche Verhältnis tritt so in zwei Formen auf: als Gegensatz successiver Zustände bei dem Sprung, der Krisis, die den Ueber- gang von einem Stadium zum andern bewirkt; und als

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VI. Sören Kierkegaard Philosophie.

Gegensatz gleichzeitiger Momente innerhalb eines; und desselben Stadiums bei den streitenden Elementen, die zusammen gehalten werden sollen.

Man wird kaum fehlgehen, wenn man vermutet, dass wir in diesem formalen Massstabe eine Nachwirkung der Hegeischen Methode vor uns haben, die das Denken durch stätes Setzen von Gegensätzen, die dann zu ver- söhnen waren, vorwärts trieb. Der Unterschied ist nur der, dass für Kierkegaard die Gegensätze sich nicht je einer aus dem andern entfalten, wie deren Versöhnung für ihn auch nicht von selbst erfolgt. Er vertauscht daher den Begriff der Mediation mit dem der Wieder- holung. Gleichwohl hat er einen Rest von der Methode beibehalten, wenn er ihn auch weit vorsichtiger an- wendet. Mit seiner Hilfe konstruiert er mögliche Stand- punkte und sieht dann nach, ob sie sich in der Wirk- lichkeit vorfinden. Gegen dies Verfahren lässt sich an sich nichts einwenden; es bezeichnet vielmehr einen grossen Fortschritt gegenüber der spekulativen Methode, die zwischen den konstruierten Möglichkeiten und den gegebenen Wirklichkeiten nicht unterschied. Die Frage ist aber, ob der Massstab selbst eine Berechtigung hat? Von der Beantwortung dieser Frage hängt die schliess- liche Bedeutung ab, die man dem ethisch-religiösen Standpunkte Kierkegaards beilegen kann.

2. Vom Sprung war schon die Rede. Ich komme hier zu dem Gegensatz auf einander folgender Zustände zurück, um zu untersuchen, ob Kierkegaard ein Recht hat, ihm eine so entscheidende Bedeutung für das per- sönliche Leben beizumessen, wie er es thut.

Ein Uebergang ist für ihn jederzeit ein Bruch, (,, Nachschrift'* S. 271 ff.) ,, Innerhalb der Immanenz", d. h. innerhalb einer Lebensanschauung, die eine natürliche und stätig fortlaufende Entwicklung auf dem geistigen Gebiete annimmt, kann nach seiner Auffassung von Krisen eigentlich keine Rede sein. (1844— 46; S. 48.)

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. ]^29

Hier liat sich Kierkegaard in seiner Polemik gegen die glatten Uebergänge der spekulativen Philosophie, die nur in der Phantasie oder auf dem Papier vor sick gingen, entschieden zu weit führen lassen. Allerdings- brachte er und das ist ein grosses Verdienst die Bedeutung der wirklichen Uebergänge zur Geltung im Gegensatz zu den nur gedachten, worin man schwelgte, indem man über seinem historischen Wissen von verschiedenen möglichen historischen Standpunkten zu untersuchen vergass, auf welchem man nun selbst in Wirklichkeit stand. Allein der Unterschied zwischen den gedachten und den wirklichen Uebergängen braucht nicht darin zu bestehen, dass jene kontinuierlich sind, diese aber nicht. Ein Uebergang, durch den man ein für das persönliche Leben wichtiges Ziel erreicht, kann sehr wohl kontinuierlich vor sich gehen. Das Wasser bewegt sich doch im dahinfliessenden Strome so gut vor- wärts wie in dem niederstürzenden Wasserfall, und die letztere Bewegung hat nur für die äussere, sinnliche Auf- fassung mehr Realität als die erstere. So eifrig Kierke- gaard auch für das Leben kämpft, so lässt er hier doch das Leben nicht zu seinem Rechte kommen; er hat kein Auge für die kleinen Dinge, für den kleinen Zuwachs, der sich still immer wieder anfügt und oft unvermerkt, das vollbringt, was als gross und hoch gepriesen wird. Nur wer anerkennt, dass das Leben viele Wege und, Arten für seine Entfaltung hat, nur der giebt ihm sein, Recht. Warum es in die Zwangsjacke einer Methode einschnüren? Ein Ruck, ein Sturz, eine Krisis kann notwendig sein, wo ein Widerstand überwunden, eine entscheidende Wendung vorgenommen werden soll. Aber auch hier sogar wird bei genauerem Zusehen die Kon- tinuität nicht abgebrochen. Die Stille vor der Kata- strophe (wenn z. B., um eines der prächtigen Bilder Kierkegaards zu brauchen, das Raubtier vor dem ent- scheidenden Sprung ganz stille liegt) bedeutet gerade,

Hoff ding, S. Kierkegaard. 9

130 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

dass die Kraft gesammelt wird, die im entscheidenden Augenblick ausgelöst wird. So staut man das Wasser, damit es, wenn das hemmende Brett hinweggezogen wird, mit gesammelter Kraft dahinschiesse. Es ist auf dem geistigen Gebiete, wie überall, die Aufgabe der Erkenntnis, zu untersuchen, ob der scheinbare Sprung nicht als Auslösung einer lange im Stillen angesammelten Energie zu erklären ist. Zurück bleibt dann immer noch der grosse und bedeutungsvolle Unterschied zwi- schen einer geistigen Entwicklung, die mehr dem stätig dahinströmenden Flusse gleicht, und einer solchen, die mehr an den Sturz des Wasserfalls gemahnt. Hier muss man, wenn man selbst auf dem Boden des Lebens stehen will, anerkennen, dass die inneren und äusseren Bedingungen nicht bei allen dieselben sind, daher auch die Entwicklung bei den einen so, bei den andern wieder anders verläuft. Diese Thatsache ist eigentlich in dem Satze anerkannt, dass die Subjektivität die Wahrheit ist. Kierkegaard aber hat, wie schon gezeigt, die grossen Konsequenzen dieses Satzes nicht ziehen können, noch wollen.

3. Noch mehr versündigt er sich am Leben dadurch, dass er Spannung und Leiden zu Kriterien für die Höhe eines Standpunkts macht. Hier gilt etwas Aehnliches wie bei der Krisis oder dem Sprung. Die Spannung kann für die Wahrheit und Kraft des Lebens notwendig sein: ein Zeichen dafür, dass es die Aufgabe nicht von sich wegschiebt, die es lösen soll und muss. So oft ein neues Element, ein neues Verhältnis in Kraft tritt und in den Zusammenhang des Lebens aufgenommen werden soll, kann es, bevor die Aufnahme geglückt ist, zu einer Spannung kommen. Die Spannung ist aber an sich selbst doch ein Zeichen für ein Uebergangsstadium, und der Massstab kann nicht in ihr gesucht werden. Reich- tum und Fülle fehlt einem Leben damit noch nicht, dass ^s seine Elemente beherrscht und seine Einheit zu

IV. Sören Kierkegaards Philosophie. 131

erhalten vermag; selbst wenn Gegensätze sich geltend machen, können sie bereichern, ohne zu zersplittern und zu schmerzen. Es liegt in der allgemeinen Natur des Bewusstseins als einer Synthese, einer zusammenfassenden Einheit, dass nicht nur der Gegensatz, sondern auch die Konzentration sich geltend machen muss, solange das Bewusstseins leben dauert. Wenn man den Massstab für das Leben vom Leben selbst herholt, so kann man das Entscheidende nicht einseitig in der Spannung sehen.

Für die humane Ethik, die den Massstab vom Leben selbst herholt und für die die ethische Entwicklung nur in einer höheren, harmonischen Entfaltung des wirklichen Lebens bestehen kann, bedeutet es keine Abschwäcliung des Ideals und der Anforderung, wenn man anerkennt, dass diese nach der Natur des Einzelnen bestimmt werden müssen. Wozu sich trotz alles Suchens und Weckens in der Natur des Einzelnen keine Keime oder Möglichkeiten auffinden lassen, das kann nicht ethisches Gesetz für ihn sein.*) Und wenn auch eine Spannung und Unruhe geweckt werden könnte, so wäre das nur dann zu verantworten, wenn auch Kräfte zur Ueber- windung der Spannung vorhanden wären. Die Ver- antwortung trifft den, der die sichere Harmonie aufhebt, ohne zu einer neuen Harmonie weiterführen zu können. Die von Kierkegaard nicht anerkannte griechische Ethik enthält in der That die Grundgedanken, womit alle Ethik, die nicht lebensfeindlich ist, steht und fällt. Das ethische Gute ist die harmonische Entfaltung der Lebens- kräfte in den einzelnen Persönlichkeiten, die wieder verlangt, dass auch zwischen der Entwicklung der einzelnen Persönlichkeiten Harmonie hergestellt werde.

Kierkegaard aber will gar keine Definition des Guten geben. Der einzige Massstab, dessen er sich bedienen kann, bleibt daher formal und wird durch

*) Vgl. H. Höffding: The law of relativity ia Ethics (Inter- national Journal of Ethics, Vol. I).

9*

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IV. Söreu Kierkegaards Philosophie.

seinen religiösen Standpunkt bestimmt. In seiner Kon- struktion der Stadien lässt er sich (wie in seiner Er- kenntnistheorie) von der Absicht leiten, die paradoxe Religiosität vorzubereiten, die psychologischen Beding- ungen für die leidenschaftliche Hingebung an das Absurde herbeizuschaffen. Deshalb operiert er beständig mit dem Zustande der Spannung und lässt die Peit- schenhiebe des sich steigernden Leidens immer wuch- tiger auf den Rücken „des Einzelnen" fallen. Was an einer solchen Ethik, falls sie realisiert würde, zu bewundern bliebe, das wäre die leidenschaftliche Ener- gie, die Willenskraft, womit aller Anspannung zum Trotz ausgehalten wurde. Aber solche Eigenschaften kann man auch im Dienste ganz anderer Ziele bethä- tigen, wie wenn der Goldmacher ,,das Absolute*', das auch hier grausam ist, auf seine Weise sucht, früh und spät, mit steigender Leidenschaft und steigendem Schmerze, um seinetwillen Weib und Kind „hassend'^ und aufopfernd.*) Der humane Ethiker verhält sich zu dem Asketen, wie der Chemiker zum Alchymisten. Er bewundert die Energie, die Ausdauer, die Leidenschaft und die vielen neuen und tiefen Gedanken, die unter der einsamen Arbeit produziert werden; er wünscht aber, dass alle diese edlen Kräfte lieber im Dienste anderer Ziele verwendet würden.

4. Die rein formale Betrachtungsweise, die Kierke- gaard bei der Darstellung und Beurteilung der Stadien beobachtet, führt ihn zu Konsequenzen, wovon er selbst zurückschreckt. Wenn Widerspruch und Leiden die Kennzeichen des Höchsten wären, so müsste ja notwen- digerweise, wie es scheint, das absolute Paradox darin bestehen, dass Gott nicht bloss Mensch würde, sondern es auch so würde, dass er unkenntlich wäre, indem er ganz wie andere Menschen und in den gewöhnlichen

*) Vgl. Balzac, Die Jagd nach dem Absoluten.

ly. Sören Kierkegaards Philosophie. 133

menschlichen Verhältnissen lebte, ohne dass seine Lebensweise oder übernatürliche Vorkommnisse und Handlungen die Aufmerksamkeit auf ihn hinlenkten! Und müsste er nicht zugleich in dem versucht werden, was in den Augen Kierkegaards nach seiner eigenen Erfahrung das drückendste Leiden war, in der Schwer- mut, in Krankheit des Gemüts? Diese Gedanken sind Kierkegaard durch den Sinn gegangen und haben in den „Philosophischen Bissen" und mehrfach in den Tagebüchern der Jahre 1843 und 1849 ihren Ausdruck gefunden. „Gott helfe dem armen Kopf, der mit der Art Zweifel zu thun hat!" ruft er aus. Hierauf ist zu •erwidern, dass nur grosse und starke Geister, die von ihren einmal angenommenen Voraussetzungen aus kon- sequent denken und ihre Gedanken nicht halbieren, mit der Art Zweifel zu thun bekommen.

Für Kierkegaard lag die Lösung in der Unter- scheidung des absoluten Paradoxes und des gött- lichen Paradoxes. Da Gott die Liebe ist, hätte er sich nicht in der Form des absoluten Paradoxes offen- baren können; es wäre das keine wirkliche Offenbarung gewesen, da so die Verbindung zwischen Gott und Mensch nicht zu Stande gebracht werden könnte. Diese Lösung hier am Schlüsse der Kierkegaardschen Gedankreihen ist von derselben Wirkung, wie wenn am Schlüsse von Henrik Ibsens ,, Brand'' durch das Rollen des Donners hindurch der Ruf ertönt: ,,Er ist deus caritatis!" Dieser Appell an die Liebe zieht der ganzen vorausgehenden formalen Konstruktion und Beurteilung der Lebensstadien den Grund unter den Füssen weg und deutet auf ein Lebensgesetz hin, des- sen erste Forderung nicht ist, dass die eigenen Kräfte und Triebe des Lebens gebrochen werden. Wenn die Liebe, an die hier appelliert wird, von dem, was Men- schen allein als Liebe kennen und verstehen können, nicht ,, qualitativ absolut verschieden'' wäre, so müsste

134 IV. Sören Kierkegaards Philosophie.

die Verinnerlich ung und Vertiefung des Lebens auf einem anderen Wege zu erreichen sein, als den Kierke- gaard uns wies. Jedenfalls aber giebt er jenem Appell keine rückwirkende Kraft. Vielmehr gewinnen das Leiden und die Disharmonie als Lebensgesetze eine immer schärfere und umfassendere Bedeutung in seiner Betrachtung. Das Leiden ist wie eine fatalistische Notwendigkeit, unter die gar der göttliche Wille sich beugen muss, und die eben weil die Gottheit doch als Liebe aufgefasst wird ihre dunkeln Schatten in die Lichtwelt der Ewigkeit hineinwirft. Es heisst in einer Tagbuchsnotiz aus Kierkegaards letzten Jahren: ,,Als Kind hörte ich viel davon, dass im Himmel grosse Freude, eitel Freude sei; ich glaubte es auch, und ich dachte mir Gott selig in eitel Freude. Aber ach, je mehr ich darüber nachdenke, muss ich mir Gott eher in Trauer thronend vorstellen als einen, der am aller- besten weiss, was Trauer ist." (1854 55, S. 169.) Hier zieht Kierkegaard die Konsequenz, die er in einem anderen Zusammenhang nicht ziehen wollte. Das menschliche Mitgefühl, das er an dem Dogma von der ewigen Unseligkeit der Menschen nicht rütteln lassen wollte, ist hier so herangewachsen, dass es sogar das Dogma von der Seligkeit der Gottheit selbst antasten darf. Die Stimme der Natur lässt sich auch noch in dem höchsten theologischen Ideenkreise vernehmen: eine Bestätigung des Satzes, dass die Theologie Psychologie ist. Nach den Resultaten der Erfahrungen des inneren Lebens bestimmt sich der Inhalt der Gottesidee.

I

V.

Sören Kierkegaard und das Christentum.

A. Persönlicher Durchbruch.

1. Nach der ausserordentlich reichen Produktion, welche die Jahre 1843—46 ausfüllte, hatte Sören Kier- kegaard das Gefühl, dass er das, was ihm vorläufig im Sinne lag, zum Ausdruck gebracht hatte. „Nun bin ich mit den Büchern fertig", schrieb er im Sommer 1847 in sein Tagebuch. Im selben Jahre erschien noch „Leben und Walten der Liebe", eine seiner treff- lichsten rein religiösen Schriften; sie enthält aber keine neuen Gedanken, die von entscheidender Bedeutung für das Verständnis seiner Anschauung wären. Hingegen sind in den Aufzeichnungen aus diesem Jahre Andeu- tungen einer wichtigen und eingreifenden Aenderung in seinem persönlichen Leben zu bemerken. Schon bisher war das Christentum für ihn wohl das Höchste gewesen, und in seinen religiösen Reden hatte er christliche Gedanken entwickelt. Doch hatte er in seiner Dar- stellung und Einschärfung der christlichen Lebensan- schauung sich vorherrschend der indirekten Methode bedient; er hatte sie durch einen Pseudonym (Johannes Climacus) vertreten lassen, der selbst erklärte, er sei nicht Christ. Er konnte noch nicht im strengen Sinne finden, dass sein persönliches Leben und der christliche Glaube sich decken. Seine Schwermut, die ihm beson- ders Kämpfe verursachte, hatte er bisher niedergehalten, nicht indem er sie direkt durch die Freudigkeit des Glaubens bekämpfen Hess, sondern indem er sie durch seine schriftstellerische, alle Kraft in Anspruch nehmende Thätigkeit ableitete. Solange er produzieren konnte, wurde die Schwermut gebannt. Das rhythmische Ver-

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y. Sören Kierkegaard nnd das Christentam.

hältnis zwischen diesen zwei Elementen seiner Natur haben wir schon früher hervorgehoben. Nun aber fühlte er den Drang zu einer tieferen, direkteren Abrechnung mit der finstern Macht in seinem Innern: „Ich fühle nun'', schreibt er im August 1847, „einen Drang, zu einem tieferen Verständnis meiner selbst zu kommen, indem ich im Verständnis meiner selbst Gott näher komme .... Ich muss sehen, wie ich meiner Schwer- mut besser beikomme. Sie hat seither im tiefsten Grunde geruht, und die ungeheure geistige Anstreng- ung hat mir geholfen, sie niederzuhalten . . . Nun will es Gott anders. Es regt sich etwas in mir, das auf eine Metamorphose deutet . . . Ich will mich daher jetzt still verhalten . . . sehen, dass ich zu mir selbst komme, dass ich meine Schwermutsgedanken auf der Stelle recht mit Gott zusammendenke. Auf die Weise muss meine Schwermut gehoben werden und das Christ- liche mir näher kommen.''

Die Metamorphose, die er kommen sah, scheint für ihn auf einen bestimmten Zeitpunkt, nämlich an Ostern 1848, eingetreten zu sein. Die Tagebücher von 1848 und 1849 weisen häufig auf diese Zeit als auf einen entscheidenden Wendepunkt zurück. „Ich glaube nun, dass Christus mir zum Sieg über meine Schwer- mut verhelfen wird, und dann werde ich Pfarrer", schreibt er am 19. April 1848. Bisher hatte er „dem Grundschaden seines Wesens" gegenüber sich in Resig- nation verhalten, und sein schriftstellerisches Schaffen hatte durch seine ableitende Wirkung ihm dazu ge- holfen. Aber kurz nach jenem Durchbruch schreibt er nunmehr: „Jetzt bin ich am Glauben im tiefsten Sinne.. . Bei Gott ist alles möglich; dieser Gedanke ist nun im tiefsten Sinne meine Lösung; er hat eine Bedeutung für mich gewonnen, wie ich mir's nie gedacht hatte." ^ Jetzt erst, jetzt, in meinem 34. Jahre, habe ich viel- leicht soviel gelernt, der Welt abgestorben zu sein,

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dass für mich die Rede davon sein kann, mein ganzes Leben und meine ganze Seligkeit im Glauben an die Vergebung der Sünden zu finden." (1848, S. 61 f. 388.)

Was er mehreremale seine Pseudonymen über den Unterschied zwischen Resignation und dem christlichen Glauben (man vgl. z. B. „die Wiederholung" und die Schilderung des Unterschieds zwischen der ».Reli- giosität -7" und der „Religiosität B " in der „Nach- schrift") hatte entwickeln lassen, das konnte er nun «rst in seinem eigenen persönlichen Leben als innere wirkliche Erfahrung wieder finden und wiedererkennen. Wie schlagend tritt hier nicht des Mannes grosse Ehr- lichkeit gegen sich selbst hervor ! Und wie meisterhaft hat er es verstanden, in der Form der Phantasie und Reflexion Standpunkte und Lebensanschauungen in vol- ler, konkreter Beleuchtung zu entwerfen, ohne doch der Versuchung zu erliegen, für persönliche Erfahrung zu nehmen, was er auf diese Weise konstruieren konnte! Er ist in Wahrheit ein kritischer Philosoph, wenn die Xritik vor allem in einer scharfen Sonderung des bloss Hypothetischen und Spekulativen von der gegebenen Wirklichkeit besteht. Kaum hat er in solcher Kritik auf dem Gebiete der subjektiven Welt, die seine Welt war, seinesgleichen neben sich. Und wie trefflich ver- steht er sich auf sein Programm : Schwierigkeiten auf- zufinden. Denn die simpelsten christlichen Sätze, die so manche leicht und frischweg zu erreichen meinen, gewinnt er nur in langer Entwicklung und angestreng- tester Arbeit. Er konnte mit Recht sagen, es sei Redlichkeit, was er wollte. Er verlangte sie von sich selbst, ehe er sie von andern verlangte.

2. Es mochte jetzt scheinen, dass er seine öffent- liche Wirksamkeit abschliessen und sich auf eine Land- pfarrei zurückziehen könnte. Auch mussten ihn seine ökonomischen Verhältnisse auffordern, eine besoldete Stellung zu suchen, da sein Vermögen in wenigen

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Jahren aufgebraucht sein musste. Allein der persönliche Durchbruch führte zu einer neuen, religiösen Produktion mehr positiver und zugleich polemischer Art als die frühere. Und noch andere Verhältnisse wirkten dabei mit, dass er seine schriftstellerische Thätigkeit nicht aufgeben zu dürfen glaubte.

Entrüstet darüber, dass das von M. A, Goldschmidt herausgegebene Witzblatt „I)er Korsar" so vieles und so viele unverdienterweise, wie er meinte, verspottete und karikierte, während es sich häufig in bewundernden und ehrenden Worten über ihn aussprach, verlangte er (in einem Artikel des „Vaterlands") von diesem Blatte künftig nicht mehr gerühmt, sondern lächerlich gemacht zu werden. Von da an wurde er im ,, Korsar" eine stehende Figur mit seinen dünnen Beinen und kurzen Beinkleidern. Da er viel auf der Strasse erschien und wohl bekannt war, steigerte sich hiedurch die öfi'ent- liehe Aufmerksamkeit auf ihn in einer vielleicht wenig angenehmen Weise, der er in seiner schwermütigen Art die allerschlimmste Deutung gab. Er grollte in seinem Innersten über diese ,, Verhöhnung" und legte ihr weit grössere Bedeutung bei, als sie in Wirklichkeit hatte. Es schmerzte ihn tief, dass die einfachen Leute, die er herzlich liebte und unter denen er so gerne weilte, ihn nun wie er glaubte als eine komische Figur betrachteten oder vielleicht gar beargwöhnten. Am meisten aber grollte er darüber, dass die angesehenen und vornehmen Männer in den litterarischen Kreisen, die gleich ihm schon lange über das Unwesen der Presse entrüstet waren, ihn nun ihm Stiche Hessen oder, wie er meinte, an der ihm zugefügten Behandlung, zur Befriedigung ihrer Missgunst sich sogar weideten. Es wurde, meinte er, ein eigentliches Nationalverbrechen an ihm begangen, und er hatte in dieser ganzen Sache einen Beweis von der Erbärmlichkeit der niederen und der Charakterlosigkeit der höheren Kreise bekommen.

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Zum Abscheu vor der Menge kam nun die Verstimmung gegen die Autoritäten. Es kam etwas ins Wanken^ was ihm bisher festgestanden hatte. Wenn Kierke- gaard in der Weise, wie der Stadtklatsch mit seiner Person sich beschäftigte, mit Recht einen Beweis für das Kleinstädtische in unseren Verhältnissen sah, so kann man freilich mit gleichem Recht sagen, dass er selbst diese Geschichte mit kleinstädtischem Sinne aufnahm. Es mutet einen sonderbar an, wenn zahlreiche Blätter seines Tagebuchs dieser Sache gewidmet sind. In seiner Einsiedlerstille lässt er für sich selbst seinen Grimm darüber aus, dass man gesagt habe, sein eines Hosen- bein sei länger als das andere, und diese höchst gra- vierende Verleumdung dementiert er dann auch sofort im Tagebuch als .,Lüge''. Kennten wir nicht seine Schwermut und die subjektive Expansion, wodurch kleine Vorfälle in seinem Leben zu prinzipiellen Ent- scheidungen potenziert wurden, so möchte man seine- Weise, diese Sache aufzunehmen, kleinlich und unwürdig nennen. Sie gewann nun nicht geringe Bedeutung für ihn; sie trug dazu bei, dass er auf seinem Posten ver- blieb, da er nicht wollte, dass es so aussehe, als flüchtete er sich vor dem Geschwätz der Leute.

Hiezu kam noch die starke politische Bewegung, die in seinen Augen eine gänzliche Auflösung herbei- führte, und der gegenüber die Autoritäten, besonder» Bischof Mynster, an dem er bisher hinaufgesehen hatte, nach seiner Meinung es an der gebührenden Festigkeit und Bestimmtheit fehlen Hessen. Es sieht sich sonder- bar an, wie unberührt er von allem blieb, was im Jahre 1848 sich ereignete. Zu Beginn dieses Jahres schreibt er in sein Tagebuch: „Und so sitze ich hier. Draussen ist alles in Bewegung, die Idee der Nationalität durch- wogt sie alle . . . Und ich sitze in meinem stiUen Zimmer (ich werde wohl bald wegen meiner Gleich- gültigkeit gegen die nationale Sache in Verruf kommen}*

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ich kenne nur eine Gefahr, die der Religiosität." (1848, S. 45.) Wie er die äusseren politischen Verhältnisse betrachtete, zeigt folgende Aeusserung aus derselben Zeit: ,,Die ganze Furcht vor Deutschland ist eine Ein- bildung, ein Spiel, ein neuer Versuch, dem Nationalstolz zu schmeicheln."

Was ihn in diesen Jahren am mächtigsten bewegte, das waren nicht die äussern Vorgänge in der Welt, sondern die in seinem Innern. Und diese waren denn auch der wesentlichste Grund, dass er seine schrift- .stellerische Wirksamkeit nicht aufgab, sich nicht zu einem stillen Leben aufs Land zurückzog. Durch den Durchbruch, der in religiöser Hinsicht in ihm vor sich gegangen war, hatte das Christentum für ihn die Be- deutung einer persönlichen Wirklichkeit gewonnen, die ■es bisher nicht gehabt hatte. Das stärker erwachte religiöse Bewusstsein erweckte wiederum eine scharfe Kritik an der bestehenden Christenheit, die ihren Aus- druck in den religiösen Schriften fand, die er im Jahre 1848 verfasste, in einer Zeit, wo die Unruhen in den äusseren Verhältnissen und persönliche Schwierigkeiten ■ökonomischer i\.rt ihn manchfach quälten. Diese „neue Produktion" stellte er selbst über die frühere. Die Hauptschriften waren ,, Einübung im Christentum" und ,,Die Krankheit zum Tode", w^ozu noch ,,Zur Selbst- prüfung" kam.*) In diesen Schriften wird das christliche Ideal in seiner ganzen Strenge mit einem scharfen Gericht über den herrschenden religiösen Zustand und seine Vertreter ausgesprochen.

Die Frage war nun für ihn vorerst die : sollten diese Schriften herausgegeben werden, ehe er sich um eine kirchliche Anstellung bewarb, oder erst später? Würde er sich als Bewerber nicht unmöglich machen,

♦) Ein zweiter Teil dieser letzteren Schrift wurde erst lange nach seinem Tode verö0'entlicht.

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wenn er sie vorher herausgab, und wäre es nicht- unehrlich, sie später herauszugeben? Diese Frage trat jedoch bald in den Hintergrund gegen eine für ihn weit grössere Frage: Sollten sie unter seinem eigenen Namen oder pseudonym erscheinen? Das erstere würde ja bedeuten, dass er sich selbst persönlich anheischig mache, der in diesen Schriften vertretenen Vorstellung von einem Christen zu entsprechen. Und war dies nicht seine Pflicht? Musste er jetzt nicht alle- Konsequenzen auf sich nehmen? Wieweit seine Erwä- gungen in dieser Hinsicht gegangen sind, kann man daraus entnehmen, dass er sich sogar gedacht hat, es könnte ihn das gewöhnliche Los der Wahrheitszeugen treffen, dass er vom Pöbel unter heimlicher Mitwirkung der Missgunst der Vornehmen totgeschlagen würde ! (1849, S. 16lf.) Er untersuchte so in einer eigenen Abhandlung (der ersten der „Zwei ethisch-religiösen Abhandlungen von H. H."), ob sich ein Mensch von andern für die Wahrheit dürfe totschlagen lassen, und kam zu dem Schlüsse, hiezu habe nur der Gottmensch und der Apostel ein Recht; ein gewöhnlicher Mensch dürfe die Sache nicht auf diese Spitze hinaustreiben. Später betrachtete er diese ganze Furcht für seine eigene Person als Hypochondrie. Man sieht aber hier- aus, wie hoch in diesen Jahren die Wogen in ihm gingen. Besonders das Tagebuch aus dem Jahre 1849 ist in dieser Beziehung ausserordentlich interessant. Bald schilt er sich selbst aus ob seiner Schwachheit, dass er nicht das Aeusserste wagen wolle, bald ob' seines Stolzes oder seiner Hypochondrie, dass er sich in der schwersten Prüfung zu befinden glaube. Diese letzte Auffassung gewann in ihm die Oberhand. Wohl kam er davon ab, um eine kirchliche Anstellung sich zu bewerben (nachdem er doch einen Besuch bei dem Minister und dem Bischof gemacht hatte ohne sie zu Hause zu treffen). Die genannten Schriften aber gab-

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er Pseudonym heraus, indem er diesmal einen Namen (Anticlimacus) wählte, der ausdrücken sollte, dass hier «ine Auffassung des Christlichen dargestellt werde, für die er persönlich noch nicht haften könne, weil sie ihm zu hoch sei; wie sein früherer Hauptpseudonymus (Johannes Climacus) einen Standpunkt bezeichnet hatte, ■der noch nicht das erreichte, zu was er sich selbst bekannte. „Im Gegensatz z.u Climacus, der sich selbst das Christentum absprach, ist Anticlimacus das entge- gengesetzte Extrem: ein Christ in aussergewöhnlicheni Grade während ich selbst wohl zufrieden sein muss, es zu einem ganz einfältigen Christen zu bringen.*' (1849, S. 291.) Es war eine „Ideenschlacht", die in seinem Innern geliefert worden war. Es war in Wirk- lichkeit ein Wahrheitszeugenstreit, den er hier mit sich selbst ausfocht, lange bevor der grosse öffent- liche Wahrheitszeugenstreit losbrach. Das Ergebnis lautete: „Ich gestehe, dass ich nicht im streng- sten Sinne ein Wahrheitszeuge bin.'' (1848, S. 168.) Hier stossen wir sogar in seinem inneren Streite auf das Wort selbst, das Wort, das ihm denn auch später so hässlich in seinem Ohre klang, als es von den Vertretern des offiziellen Christentums gebraucht wurde. Der äussere Streit zeigt sich hier deutlich als die Fortsetzung des inneren. So ist es stets, wo ein Streit mit Nachdruck und Ernst geführt wird. Er fühlte als eine tiefe Demütigung, was geschehen war : „Ich würde in einem Sinne so gerne wagen ; meine Phantasie winkt mir und treibt mich ; ich soll aber gerade lernen, es mir gefallen zu lassen und in einer niedreren Form zu wagen. Es ist ganz gewiss das Vollkommenste und Wahrste, was ich geschrieben habe ; das Verhältnis soll sich aber nicht so stellen, dass ich es wäre, der fast verurteilend auf andere sich losstürzt, nein, ich muss durch diese Gedanken erst selbst erzogen werden; vielleicht darf sich keiner so tief darunter demütigen,

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wie ich es thuii muss, bevor ich es herausgeben darf." (1849, S. 405.)

3. Der Grundgedanke in der „neuen Produktion" ist der, dass das Christentum dadurch, dass es bloss als Religion der Milde und des Trostes aufgefasst werde, eigentlich abgeschafft worden sei. Man hat sich allmä- lich das Verständnis abhanden kommen lassen, dass das Mitleid und die Liebe, die sich im Christentum äussert, ganz anderer Art ist als was wir Menschen unter die- sen Worten zu verstehen pflegen. Um diese einzu- schärfen, setzt er in meisterhafter Darstellung ausein- ander, wie Christus in den Augen der Zeitgenossen sich ausnehmen musste und was für eine bedenkliche Sache es, menschlich gesprochen, sein konnte, sich von ihm helfen zu lassen. In strengster, einschneidendster Weise wird geltend gemacht, dass im Christentum eine ganz andere Vorstellung von Elend und Hilfe herrscht, als die gewöhnliche, menschliche ist. Hinterdrein aber meint man jetzt erfahren zu haben, dass Christus Gott wäre, und mit Hilfe dieses erschlichenen Resultats er- reicht man das Gleichzeitigkeitsverhältnis nicht, während man doch die tröstenden und milden Worte sich zueignet.

Hier kann nur Strenge helfen. Die wahre Autorität hat die Kirche verlassen: ,,Die, die befehlen sollten, wurden feige; die, die gehorchen sollten, wurden frech. So wurde das Christentum in der Christenheit abge- schafft — durch die Milde. Und nun lebt in der be- stehenden Christenheit, wo freilich niemals von Strenge die Rede ist, ein verzärteltes, stolzes und doch feiges, trotziges und doch weichliches Geschlecht, das gelegent- lich diese milden Trostgründe vortragen hört, das aber kaum weiss, ob es von ihnen Gebrauch machen will, selbst wenn das Leben am schönsten lächelt, und das in der Stunde der Not, wenn es sich zeigt, dass sie eigentlich doch nicht so milde sind, sich ärgert." (Ein- übung im Christentum, S. 272. [240. 244].)

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Was jedenfalls von jedem Einzelnen wie von der bestehenden Kirche gefordert werden muss, das ist Aufrichtigkeit, dass man eingesteht, in wie grossem Abstand vom Ideal man sich befindet. Dass man sich nicht in eine Idealität hineinlüge, die man entfernt nicht besitzt, ist doch das Geringste, was man ver- langen kann. (Vgl. „Die Moral" in „Einübung im Christentum" 8. 83 f. [75].)

„Das Strengste soll gehört werden: man soll nicht ganz und gar einen Strich dadurch ziehen und es igno- rieren dürfen; man soll es hören, dass man sich darunter demütigen kann; es soll jedoch nicht so verkündet werden, dass man grausam die Leute zwingen will, nach einem so entsetzlichen Massstabe Geist sein zu wollen. Hier weiche ich von Mynster ab : er will es rein verschwiegen haben. Ich will, es soll gesagt wer- den, und will dann im übrigen gerne erklären, dass ich es, wenn ich es sage, nur als Dichter sage, da mein Leben entfernt nicht so geistlich ist. Ueberhaupt meine ich, ist es der ethische Respekt, der eingeführt werden soll." (1849, S. 410.)

Wenn von seiten der bestehenden Kirche nur der Abstand vom Ideale zugestanden würde, so wollte Kierkegaard keinen Streit erregen. Die persönliche Wahrheit will er anerkannt haben; für sie konnte er sich zum Kampf erheben, auch wenn er nicht selbst al& Verfechter des Ideals auftreten durfte. Allein das Zugeständnis erfolgte nicht, wogegen Bischof Mjmster durch eine Mittelsperson Kierkegaard wissen Hess, „dass er die »Einübung im Christentum« durchaus missbillige. - Ein Wort von Mynster hätte den Streit verhindern können. „Kollidiere ich mit dem Bestehenden", heisst es in den Tagebüchern einige Jahre später, „so ist es Mynsters Schuld." (1851—53, S. 77.) Aus Pietät für den alten Bischof hielt er doch zui'ück bis die Herausforderung kam.

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4. Doch darf man zum rechten Verständnis von Sören Kierkegaards Persönlichkeit nicht vergessen, dass es etwas anderes als der Zweifel an seiner eigenen Machtvollkommenheit und die Pietät gegen Mynster war, was ihn vom schärfsten Auftreten gegen die gewöhnliche Auffassung des Christentums zurückhielt. Es wirkte hiebei auch ein inniges Mitgefühl für solche mit, denen sein Auftreten Leiden bereiten würde für die Unglücklichen, die in ihrem Trost beeinträchtigt^ für die Glücklichen, die in ihrer Freude gestört würden.

„Das Dasein nötigt einen, acht zu haben auf die vielen, vielen weniger begabten, schwachen, einfältigen Menschen, Frauen, Kinder, Kranke und Bekümmerte u. s. w., in deren Mitte man lebt. Und da sagt denn das Dasein zu dem Religiösen : kannst du es angesichts dieser über dich gewinnen, die Religiosität, den Preis der Seligkeit so hoch hinaufzuschrauben, wie du es thust, du Grausamer ? Und wenn der Religiöse in Wahrheit der Religiöse ist, und also Liebe hat, so macht dieser Einwand einen tiefen Eindruck auf ihn, der so gern bei den Leidenden weilt, dem es im Grunde einzig sein Trost und seine Freude ist, die Leidenden zu trösten.'' (1849, S. 44.) Wohl wird dieser Ein- wand in dem Folgenden damit abgewiesen, dass er die Sprache des menschlichen Mitleids rede Christus aber das Absolute sei, und dass das Absolute grausam sei und nicht einmal erlaube, dass man seinen Vater begrabe. Doch der Einwand erhebt sich in Kierke- gaards Sinn immer wieder. Er lautet einige Zeit dar- auf so : „Nun aber die Menschen, die grosse Menge der Menschen, die ihre meiste Zeit, um ihren Lebensunter- halt zu verdienen, in untergeordneten Geschäften hin- bringen müssen: angesichts dieser wäre es doch eine Grausamkeit, den Preis hinaufzuschrauben. Hier erfor- dert es ja doch die Menschlichkeit, dass man einen Trost schafft und die Milde verkündet, weil in derlei,

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Menschen eben das ihr Kummer und es bei ihnen Wahrheit sein kann, dass sie schmerzlich empfinden, nicht für etwas Höheres leben zu können . . . Nein, auf die gebildete und wohlhabende Klasse derer, die, wenn nicht den Vornehmen, so doch der vornehmen Bourgeoisie angehören: auf die soll der Schlag zielen, denen im Salon soll der Preis hinaufgeschraubt werden." (1849, S, 79 f.) Doch auch für die Glücklichen regt sich das Mitgefühl: ,, Sollte ich das Christentum in Wahrheit verkünden, so müsste ich also dieses ganze glückliche Dasein stören, das dort sein kann, wo man mit dem Geist nicht in Berührung kommt . . . Mitunter ist es mir, als ginge ich dahin und trüge mit diesem meinem Wissen vom Christentum ein Verbrechen mit jnir herum.« (1850, S. 161.) Und er hatte die Empfin- -dung, dass die Strenge den glücklichen Naturen noch ,schwerer fallen müsste als ihm selbst, der ja sein ganzes Leben in inneren Leiden gestanden war: „Ich lebe nun einmal in der besonderen Kajüte der Schwer- mut — darf mich aber am Anblick der Freude anderer ergötzen . . . Gesund und stark zu sein, ein kompleter Mensch, der ein langes Leben erwarten darf nun, dies war mir nie vergönnt. Wenn ich dann aber von meinen schrecklichen Schmerzen hinaus unter die Fröh- Jichen trete ich glaubte mir die wehmütige Freude verstatten zu dürfen, dass ich sie in dieser ihrer Freude am Leben bestärke. Soll es aber verkündet werden, dass man absterben soll, dass von Gott geliebt zu sein Leiden ist, und Liebe zu Gott Leiden ist, ach, dann muss ich ja allen andern ihr Glück gleich- sam stören . . . durch diese Schwierigkeit werde ich zurückgehalten." (1851—53, S. 284.)

Ich habe diese Auslassungen so ausführlich wieder- gegeben, weil ich nicht glaube, dass man Kierkegaard versteht, wenn man von dem ganzen hierin zu Tage tretenden Zuge in seiner Natur, von seinem milden und

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liebreichen Sinne nicht einen möglichst vollständigen Eindruck bekommt. In seinen Schriften scheint mir diese Seite nicht mit der Innigkeit und Wärme hervor- zutreten wie in seiner einsamen Abrechnung mit sich selbst,

5. Dass die Zurückhaltung, die das Mitgefühl ihm auferlegte, eine nur vorläufige war, rührte davon her, dass Kierkegaards ganze AuiFassung des Christentums und der Kirche seit dem persönlichen Durchbruch und unter der veränderten, durch die Zeitereignisse herbei- geführten Stellung zu den Autoritäten eine erheblich schroffere wurde. Hand in Hand mit dem, dass er in seiner Auffassung des Ideals sich sicherer fühlte, schärfte sich auch sein Blick für die Mängel am Bestehenden. Es war jetzt seine Überzeugung, dass von selten der Menschen ein grossartiger Verrat am Christentum begangen worden war. Es war ihnen zu hoch und zu streng zwar möchten sie sich mit dem Hohen gern verwandt wissen und seine Hilfe und seinen Trost annehmen, aber um einen möglichst billigen Preis. Die erste Herabstimmung des Christentums geschah, als man im Mittelalter die, die in ihrem Leben mit der Nach- folge Christi Ernst machten, als ausserordentliche Chri- sten zu betrachten begann. ,,Da hörte das Christentum auf, Sinn zu haben !" Luther ging auf der eingeschla- genen Bahn weiter. Er bekämpfte das Mittelalter zu sehr, verliess das Kloster zu frühe. Hatte man früher in Christo einseitig nur das Vorbild gesehen, so vergass Luther jetzt das Vorbild über dem Versöhner. Er stimmte das Christentum herab, ohne es bemerklich genug zu machen, dass er es herabstimmte. „Luther, Luther, Luther, du hast eine grosse Verantwortung!" Die Reformation wurde nicht eine Rückkehr zum ursprünglichen Christentum, sondern eine Modifi- kation des Christlichen. Luthers Auftreten be- zeichnet eine Reaktion des Menschlichen gegen das

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Christliche : es ist seine Erfindung, dass das Christentum wesentlich dazu da ist, zu beruhigen und zu trösten. Und dann war er ein verwirrter Kopf, der es zu eilig damit hatte, Lasten abzuwerfen und Autoritäten anzu- greifen — wie unselig ist z. B. nur diese Einmengung der Politik, dass er den Papst stürzen wollte! Und doch kann Luther noch Achtung ansprechen: er kam von einer zwanzigjährigen Bussübung und Seelenangst her. Wieviele Protestanten können aber das aufweisen? Und gleichwohl nivelliert der Protestantismus alles; er ist eine plebeische Richtung, die den Unterschied zwi- schen dem Grossen und Geringen nicht anerkennt, son- dern sich trotz des ganzen Gegensatzes in der Exi- stenz — auf eine Linie mit den Aposteln und Wahr- heitszeugen stellt. Es war Kierkegaards Anschauung, so tief wie der Protestantismus könne der Katholizismus nie sinken, da er doch jedenfalls immer wieder Ver- treter der strengen, idealen Auffassung des Christentums aufzuweisen habe. Der Protestantismus zehrt von der christlichen Heldenzeit, den drei ersten Jahrhunderten der Kirche, ohne neue Helden hervorzubringen; aber: „das in den 300 Jahren mühsam errungene Betriebs- kapital ist verbraucht, meine Damen und Herren: es lässt sich auch mit neuem Betrug nichts mehr heraus- pressen."

Ja, vielleicht muss man sogar noch weiter zurück- gehen. Die Misslichkeit begann schon mit dem Anfange der Kirche selbst. Denn es konnte unmöglich mit rechten Dingen zugehen, wenn die Apostel an einem Tage 3000 zu Christen machten. Es muss ihnen in ihrer Freude und Begeisterung etwas Menschliches be- gegnet sein: sie haben vergessen, was eigentlich Chri- stentum sei. Und selbst im Leben des Vorbildes kann man Züge finden, wo er dem Menschlichen zu viel nachgegeben hat. Er ging ja zu der Hochzeit in Kana, nahm hier an der Lebensfreude teil und bestärkte so

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die Menschen darin! Dies that er aber auch nur im Anfang seiner öffentlichen Laufbahn, ehe . er gesehen hatte, wie schlimm die Welt ist. Später ging er zu keiner Hochzeit, und sein Apostel, der nichts anderes wusste als Jesus Christus, und ihn als den Gekreuzig- ten, er ging nicht zur Hochzeit.

Man hat das Christentum zu milde und weichlich gemacht, zu einem Ausweg, einem Trost für die schlimm- sten Fälle. Man verliert sich in das „süssliche" Ge- schwätz, wie das Christentum das tiefste Sehnen befrie- dige u. s. w. Gott ist ein alter, guter Grossvater ge- worden, nicht ein Vater, der seine Kinder mit Strenge erzieht. In der kirchlichen Weihnachtsfeier findet Kierkegaard besonders ein Symbol für den veränderten Charakter der Christenheit. Es ist das reine Heidentum, das man in ihr aufgenommen hat. Das Christentum ist zu. einem Weihnachtsspass geworden ! *)

6. Die Milderung und Verweichlichung, die das Christentum verderbt hatte, leitete Kierkegaard her von dem Weibe, dem Weibe, das ja der Protestan- tismus durch seine Verherrlichung des Ehestandes und Familienlebens besonders bevorzugt hatte. Früher hatte er Luthers Ehe als eine heroische That gepriesen, die den Zeitgenossen das Paradox, die Ehe des Mönches mit der Nonne vor Augen zu führen wagte. Jetzt meinte er, Luther habe auch hier etwas zu grosse Eile gehabt. Das Weib eben macht es dem Manne unmög- lich, für den Geist, für ein Unbedingtes zu leben. Ist der Mann erst mit einem Weibe verbunden, das in der Liebe zu dem Ihrigen und den Ihrigen sich selbst liebt, ja, dann mag die Idee an ihm ziehen und zerren : der Egoismus der „Mutter'' hält ihn fest! (1854—55, S. 45 f.) „Das Christentum weiss sehr wohl, dass mit dem Weib

*) Dieser Znsammenfassang liegt eine ganze Reihe von Aens- serungen in den Tagebüchern 1849 55 zn Grande; vgl. auch den zweiten Teil von „Zur Selbstprufung" („Richtet selbst!").

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und der Liebe und dergl. alles dieses Schwächere und Weichliche in einem Menschen aufkommt, und dass es, insoweit der Mann nicht selbst darauf verfällt, von der Hausfrau in der Regel mit einer Ungeniertheit reprä- sentiert wird, die für den Mann äusserst gefährlich ist, besonders wenn er im strengeren Verstände dem Chri- stentum dienen soll." (Einübung, S. 142 [128.]) Das Weib repräsentiert die Lebenslust: der Mann ist weit mehr darauf angelegt, Geist zu sein. Das Weib ist eine Lockspeise wie Johannes der Verführer gesagt hatl (1854-55, S. 64.)

Wie bezeichnend, dass hier von dem strengsten religiösen Standpunkte aus auf den ästhetischen zurück- gewiesen wdrd; beide kommen von ganz entgegenge- setzten Kichtungen auf ein und dasselbe hinaus! Die ganze ethische Betrachtung wird ausgeschieden oder behandelt, als wäre sie nicht da. Man wird sich aus dem Abschnitt über die ethische Lebensanschauung erinnern, dass diese für die Frau eigentlich nicht mög- lich sei, dass sie vielmehr unmittelbar von dem poeti- schen Stadium zur Religiosität übergehen sollte. Nun kommt die weitere Bestimmung hinzu, dass sie zum Religiösen erst auf indirektem Wege Zugang habe; denn die auf Widersprüche gestellte Existenz, die die christliche ist, kann sie eigentlich nicht ertragen: sie kommt erst durch den Mann zur Religiosität, indem sie Zeuge dessen ist, wie er an der grossen Aufgabe sich abarbeitet. (1854—55, S. 330.) Kierkegaard freut sich, dass er mit seiner AuiFassung des Weibes Schopen- hauer auf seiner Seite hat ; er meint, sich auch auf das Neue Testament stützen zu können.

Von dem Weibe und der Familie kommt er aber konsequent auf den Naturtrieb, der zur Bildung der Familie führt. Die Fortpflanzung des Geschlechts ist selbst vom Uebel. Das Neue Testament setzt voraus, dass Christen nicht in die Ehe treten. Und wie sollten

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sie eigentlich auch dazu kommen können und Kinder in die Welt setzen wollen, wenn sie wissen, dass diese in Sünde und zum Elend geboren werden? Das Chri- stentum will der Fortpflanzung des Geschlechts wehren, es will das Personal der Geschichte nicht erneut haben. Und wenn die Sache so steht, wie gründlich hat dann der Protestantismus durch seine Verherrlichung des Familienlebens das Christentum verderbt! (1854 55, S. 304 ff., 338 ff.)

Hier ist also die Konsequenz gezogen. Das Leben wird sogar in seinem Drang und Streben nach Bestand und Erneuerung, in dem Grundtrieb, der direkt und indirekt die Quelle alles menschlichen Wirkens ist, für böse erklärt. Es widerstrebt ja der Einpflanzung des übernatürlichen Elements, so muss es faul sein, und das Brenneisen brandmarkt es als verderbt bis ins innerste Mark. Schon in dem Abschnitt von der religiösen Lebensanschauung stellte sich uns die Selbstvernichti- gung als das Höchste dar. Was hier neu entwickelt wurde, ist eigentlich nur ein genauerer Ausdruck für denselben Gedanken.

7. Wenn nun diese ganze Auffassung des Christen- tums und der Welt geltend gemacht werden sollte, so ist leicht vorauszusehen, wie das Urteil über die beste- hende Kirche lauten musste. Kierkegaard hat die beiden Hauptsätze, um die sich seine spätere öffentliche Polemik drehte, schon in den Tagebüchern formuliert. Schon hier findet sich der Gedanke: „Luther hatte 95 Thesen; ich hätte nur eine: das Christentum ist nicht da" ; und der andere : ,,Der ganze Gottesdienst ist ein grossartiger Versuch, Gott für Narren zu halten, Wenn man sich dessen auch nicht bewusst ist . . . Kann man es verantworten, an derartigem sich zu beteiligen?" (1851—53, S. 54. 313.)

Wir haben vernommen, was ihn lange zurückhielt. Da kam die Situation, worin ihn nichts mehr

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zurückhalten konnte, die in der Einsamkeit bei ihm herangereiften Gedanken laut auszusprechen.

B. Dasjetzte Wort.

1. Den Anlass zum Streit gab eine Predigt Mar- tensens, worin er etliche Tage nach Bischof Mynsters Tod den Verstorbenen als Glied „der heiligen Kette von Wahrheitszeugen'' hinstellte, ,,die von den Tagen der Apostel her durch die Zeiten sich erstreckt". An die- ser Äusserung nahm Sören Kierkegaard den schwersten Anstoss. Er schrieb sofort einen kräftigen Protest nieder, den er drei Vierteljahre später, am 18. Dez. 1854, im „Vaterland" veröifentlichte, nachdem Martensen inzwischen als Mynsters Nachfolger glücklich Bischof von Seeland geworden war. Ich mache keinen Versuch, im einzelnen den Streit zu schildern, der nunmehr ent- brannte, und dem unsre Litteratur hinsichtlich der Wichtigkeit der Sache, um die es sich handelte, wie hinsichtlich der Leidenschaftlichkeit, womit er von Seiten seines Urhebers geführt wurde, nichts Ahnliches an die Seite zu stellen hat. Er wäre eines eigenen Geschichtsschreibers wert, der mit dramatischer Leben- digkeit die behandelnden Personen einander gegenüber- zustellen wüsste und der entscheiden könnte, inwieweit die grosse Anklage, die Sören Kierkegaard gegen die Christenheit erhoben hat, die dänische Staatskirche und ihre damaligen Vertreter besonders trifft. Die Ausein- andersetzung erinnert etwa an die zwischen Plato und den Sophisten und zwischen Pascal und den Jesuiten. Nur historisches Wissen und die Kunst eines Historiker.'^ kann die Sache ausmachen. Hier habe ich mit dem Streit nur nach dessen allgemein menschlicher Seite zu thun. Und ganz abgesehen von dem Resultat des Streits haben Kierkegaards Streitschriften, so gut wie Piatons Dialoge und Pascals Provinzialbriefe, ein

y. Sören Kierkegaard und das Christentam. \Q^

l^leibendes Interesse. Es wird sich einer kaum in die stürmischen Auslassungen von seiten Kierkegaards ver- tiefen können, ohne dass er ihren Einfluss als ,,der Einzelne" erfährt. Höchst verkehrt wäre es, wollte man sie bloss mit ästhetischem Interesse für die schnei- dige Polemik lesen; es fallen gewichtige Worte über das Verhältnis zwischen Ideal und Selbstbetrug, die an jeden sich wenden, welches sonst auch sein Standpunkt sein mag. Was Kierkegaard selbst betrilFt, so erwies er sich als kräftigen Agitator, der kein Mittel scheute, um seinen Worten Nachdruck zu geben. Es war ihm darum zu thun, dass keine Vertiefung in Nebenumstände und kein weitläufiges Aufspüren von etwaigen Ent- schuldigungen und Ausnahmen die Aufmerksamkeit von dem grossen Hauptsatze ableite, den er einprägen wollte. Er meinte zugleich, dass seine Gegner sich ja zu einem absoluten Massstabe bekannt haben und dass ihre Motive wie ihr Charakter gegen ihn gehalten einen bedenklich weltlichen Sinn verraten. Gleichwohl ist es sonderbar, wenn wir diesen Vertreter der Idealität, diesen Ritter des Gedankens gleich zur Einleitung seiner Polemik mit Wendungen auftreten sehen wie der: die Predigt Martensens über Mynster könnte auch insofern eine Erinnerungsrede heissen, als sie Martensen für den erledigten Bischofsstuhl in Erinnerung gebracht habe. Und an Seitenstücken hiezu fehlte es im Verlauf der Polemik nicht. Bei solcher geistigen Ueberlegenheit und derartiger Kunst, die Waffen der Satire und des Spotts zu handhaben, wie sie hier sich findet, müssen derlei Insinuationen zweimal als ungehörig bezeichnet werden. Kierkegaards Schild wäre ohne sie blanker geblieben,

2. Der Streit über den ,, Wahrheitszeugen" drehte sich eigentlich um einen der Hauptgedanken, um die Kier- kegaard von jeher sich bewegt hatte, um die Frage : Kontinuität oder Bruch, „Sowohl als auch" oder ,, Ent- weder — Oder" ? Von seiten derbestehendenKirche wurde

154 ^' Sören Kierkegaard and das Christentnm.

geltend gemacht und lag auch, der Würdigung Mynsters durch Martensen zu Grunde, dass ein ununterbrochener Zussammenhang zwischen den derzeitigen kirchlichen Vertretern und den Aposteln, den Vertretern des ueu- testamentlichen Christentums, bestehe. Eine heilige Kette verbinde sie. Und zugleich wurde damit eine Auffassung des Christentums geltend gemacht, wonach das Christliche mit der rein humanen Bildung einen Bund teils geschlossen hätte, teils schliessen könnte, so dass also eine höhere Einheit beider erreicht werden könnte wie man meinte, auf dem eigenen Grund und Boden des Christentums. Christlicher Staat, christliches Familienleben, christliche Kunst, christliche Wissenschaft: das war eine Reihe von Begriffen, deren blosse Aufstellung schon charakteristisch ist für die kirchliche Lehre von der Harmonie des Christlichen und Humanen. Für Kierkegaard bezeichnen diese Begriffe ebenso viel Sin- nestäuschung und Selbstbetrug, ebenso viele Lügen. Er behauptet, der Zusammenhang zwischen der nun be- stehenden Christenheit und dem Christentum des Neuen Testaments sei unterbrochen, weil er geltend macht, dass das Christliche im Sinne des Neuen Testaments „der tiefste, unheilbarste Bruch mit dieser Welt ist."' (Zeitungsartikel S. 73.) So wenig Mynsters Predigt das Christliche in diesem Sinne zum Ausdruck brachte oder einen derartigen Bruch mit der Welt herbeiführte, so wenig war in Mynsters Persönlichkeit und Lebens- führung eine Spur hievon zu entdecken. Hat man ihn nun gleichwohl den rechten Wahrheitszeugen im christ- lichen Sinne zugezählt, so verriet dies in Kierkegaards Augen eine unzulässige Begriffsverwirrung und, wenn man dies nicht zugestehen wollte, eine freche Verfäl- schung des Ideals. Die bestehende Kirche konnte nach seiner Meinung nur in der Weise verteidigt werden, wie er es in seiner „Einübung im Christentum" versucht hatte : indem man den grossen Abstand zwischen Ideal und

V. Sören Kierkegaard und das Christentum. ISO»

Wirklichkeit zugesteht und dann, nach diesem Zugeständ- nis, zu der göttlichen Gnade seine Zuflucht nimmt. Will man aber von kirchlicher Seite aus dieses Zugeständnis nicht machen, so wird die bestehende Kirche zu einer „frechen Unanständigkeit'^, zu einem „Yersuca, Gott für Narren zu halten" (Zeitungsartikel S. 75), und es wird, notwendig, die These, die eine These aufzustellen, dass das Christentum des Neuen Testaments nicht da sei. (Zeitungsartikel S. 73, „Das Vaterland" vom 28. März 1855.) Der Zusammenhang mit dem Neuen» Testament ist unterbrochen, weil der Zusammenhang mit „der Welt" nicht abgebrochen ist: das war Kierke- gaards Standpunkt in dem Streite.

Dass er eine strengere Auffassung des Christentums vertrete, Mynster und Martensen (wie auch Grundtvig, den er gelegentlich auch mitnimmt) eine mildere, damit wollte er sich nicht abspeisen lassen. Es ist hier gar nicht von Strenge oder Milde die Rede. Vielmehr handelt es sich um einfache menschliche Redlich- keit gegenüber der Frage, ob wir heutzutage nach den im Christentum des Neuen Testaments vorausgesetzten Bedingungen leben oder nicht: „Für diese Redlichkeit will ich wagen. Hingegen sage ich nicht, dass ich für das Christentum wage. Nimm es an, nimm an, dass ich ganz buchstäblich ein Opfer werde, so würde ich doch nicht ein Opfer für das Christentum, sondern dafür, dass ich Red] ichkeit wollte. . . . Ich getraue mir nicht, mich einen Christen zu nennen; aber Redlichkeit will ich, und dafür will ich wagen." (Zeitungsartikel S. 103.)

3. Nachdem der Streit ein halbes Jahr lang (De- zember 1854- -Mai 1855) als ein Zeitungszwist geführt worden war, nahm er von Kierkegaards Seite einen noch leidenschaftlicheren Charakter an, indem ersieh jetzt durch Flugblätter an grössere Kreise wandte, mit der offen und bestimmt ausgesprochenen Aufforderung, die Verbindung mit der Kirche abzubrechen. Diese-

156 ^' Sören Kierkegaard nnd das GbristeDtom.

Aufforderung wurde in einem Flugblatt vom Mai 1 855 : ,,Dies muss gesagt werden, so sei es denn gesagt", so formuliert :

„Wer du auch seist, mein Freund, wie im übrigen dein Leben auch sei, dadurch, dass du nicht mehr (wenn du es anders bis jetzt gethan hast) an dem öffentlichen Gottesdienste teilnimmst, wie er jetzt ist (mit dem Anspruch, das neutestamentliche Christentum zu sein): dadurch hast du beständig eine und zwar eine grosse Schuld weniger: du nimmst nicht daran "Teil, Gott dadurch für Narren zu halten, dass man für neutestamentliches Christentum ausgiebt, was es doch nicht ist."

Darauf folgten im Laufe des Sommers die neun Hefte des „Augenblicks" (Mai September 1855) mit steigender Heftigkeit in Angriff und Agitation. Aus meinen Knabenjahren erinnere ich mich noch der weissen Hefte und der Erregung, die sie in Sinn und Rede der Erwachsenen hervorriefen. Erst später sollte ich selbst •erfahren, was für ernste Kunde sie brachten. Kierkegaards Sprache erreicht hier mitunter eine Kraft lund zugleich eine ätzende Schärfe, durch die etliche Hefte des „Augenblicks" in der Geschichte unserer Sprache einzig dastehen.

Die Kirche soll weg es bleibt nichts anderes übrig; denn sie liegt das Christentum zu tot. Sie hat seinen Gegensatz zur Welt, zu den Gütern der Welt .und den Aufgaben der Welt abgeschafft und hat damit das Christentum abgeschafft. Infolge einer Empörung, die nicht in offenem Trotz, sondern still, unter der Hand, in Heuchelei vor sich ging, hat man aus dem ■Christentum etwas ganz anderes gemacht, als es eigent- lich ist. Die Verkehrung begann frühe genug : vielleicht bereits mit den Aposteln. Ja, ist das Cliristentum -eigentlich überhaupt in die Welt hereingetreten'? Man iat mit Hilfe der Dogmen (Kierkegaard denkt besonders

y. Sören Kierkegaard und das Christentam. 157

an die Versölmungslehre) das Vorbild auf die Seite geschoben; man hat in dem grossen Trauermarsch des ursprünglichen Christentums einige wenige mildklingende Rhythmen gefunden und sie als Anlass benutzt, das ganze Christentum zvi einem Id^ll umzukomponieren. (Augenbl. No. 5.)

Die Sache ist die : „Der Christ im Sinne des Neuen Testaments steht genau so hoch über dem Menschen, wie das Tier unter dem Menschen steht." Sind aber die Menschen heutzutage einer der.irtigen geistigen Exi- stenz noch fähig, für die eigent ich religiöse Leiden- schaft noch empfänglich? Es ist eine Schwächung des Charakters vor sich gtigangen, die wesentlich dem. Ehestand und dem Familienleben zuzuschreiben ist. (Augenbl. No. 7.)

Soviel ist gewiss; ist der derzeitige Zustand der Kirche christlich, so kann das Neue Testament für Christen nicht länger Wegweisung sein; denn die Vor- aussetzung, worauf es ruht, das bewusste gegensätz- liche Verhältnis zur Welt, ist weggefallen. (Augenblick. No. 2 und 4.)

Die ganze Frage hat eine weittragende Bedeutung;, sie beschränkt sich nicht auf den Augenblick: ,,Was ich will, ist nicht etwas Ephemeres, so wenig es etwas Ephemeres ist, was ich wollte; nein, es war und ist etwas Ewiges: mit den Idealen gegen die Sinnestäu- schungen." Denn die Ideale sollen verkündet werden, wie es auch gehen mag; sonst siegt die Mittelmässigkeit. Die Menschen haben ja doch von jeher einen Ausweg zu finden gewusst, um sich beschwerliche Probleme vom Halse zu schaiFen, den einfachen Weg: „Sei ein Schwätzer und sieh, alle Schwierigkeiten verschwinden!"*)

*) Augenblick No. 1 und 9, 2. und 4. Stück. Das letztgenannte Stück mnss jeder selbst lesen, der wissen will, was Kierkegaard wollte und wie er dem Ausdruck zu geben verstand.

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V. Sören Kierkegaard und das Christentam.

4. Kurz nach dem Erscheinen der letzten Nummer „des Augenblicks'^ erkrankte Sören Kierkegaard auf -der Strasse; er fiel in Ohnmacht und wurde ins Frede- jiks-Hospital gebracht. Schon lange war er kränklich gewesen; er hatte ein Rückenleiden, das er von einem Fall in seiner Jugend herschrieb. „Ich komme, um hier zu sterben", sagte er beim Eintritt ins Hospital, ^ach dem Zeugnis derer, die ihn während seines letzten Krankenlagers sahen, lag eine aussergewöhnliche Klar- heit und Ruhe über ihm, und seine Augen strahlten -mit noch grösserem Glänze als zuvor, wenn nicht etwa die Schmerzen ihn ganz übermannten.

So merkwürdig stimmte hier alles zusammen! Nach- dem sein letztes Wort gesagt war, das Wort, zu dem er gleichsam sein ganzes Leben hindurch ausgeholt hatte, und das letzte Wort, das er sagen konnte : da war auch seine körperliche Kraft gebrochen. Und gleichzeitig waren auch seine äusseren Subsistenzmittel erschöpft : kurz zuvor hatte er sein letztes Geld erhoben. Dieser äussere Abschluss war wie ein Sinnbild dafür, dass er die Konsequenz seines Geistes und seines Denkens erschöpft hatte.

Und nun war's ihm wie dem, dessen Kampf zu Ende war. Das Leben war ja für ihn auch ein langer .Streit gewesen. Er hatte redlich ^mit sich selbst ge- kämpft, ehe er mit andern kämpfte, und er verlangte von ihnen nur dieselbe Redlichkeit, die er zuerst von .sich selbst verlangt hatte. Jetzt hatte dieser innere und äussere Streit sein Ende erreicht. Wie man sich erinnern wird, bestand nach seinem Glauben ein abso- luter Gegensatz zwischen dem Ewigen und dem Mensch- lichen ; nur in vorübergehenden Inkonsequenzen Hess er, wie wir sahen, die Schatten des letzteren auch auf das andere Gebiet hinüberfallen. Und so war es auch jetzt sein Glaube, dass der Streit für ihn nunmehr durch den Frieden abgelöst werden würde, wie es in einigen

y. Sören Kierkegaard nnd das Christentam. 159

Zeilen von Brorson heisst, die er sich als Aufschrift auf sein Grab wünschte :

Noch eine kleine Zeit,

So ist's gewonnen,

So ist der ganze Streit

Mit eins zerronnen.

Am Schluss des letzten Bandes der „hinterlassenen Papiere" finden sich einige interessante Gespräche, die er in seinen letzten Tagen mit seinem Jugendfreunde, Pastor Boesen hatte. Man sieht hieraus, dass er das heilige Abendmahl nicht empfing, weil er es nicht von einem Pfarrer, sondern nur von einem Laien annehmen wollte. Er starb den 11. November 1855.

S c h I u s s.

1. „Der Rest ist Schweigen!" Mit diesem letz- ten Worte Hamlets möchte ich am liebsten schliessen, nachdem ich Sören Kierkegaards letztes Wort berichtet habe. Denn hierauf noch das Wort zu ergreifen, kann anmassend scheinen. Das letzte Wort eines grossen Geistes über die allergrösste Frage der Geschichte und des Lebens kann einen wohl zum Schweigen bringen. Schweigen hat aber nur Wert, wenn es bedeutet, dass man denkt, und so breche ich das Schweigen, um zu sagen, welche Gedanken seit der Zeit, da ich zum erstenmal unter dem Eindruck »der einzigen These« Sören Kierkegaards gestanden bin sich bei mir befestigt haben.

Nicht als ob es zur Würdigung seiner Bedeutung einer bestimmten Stellungnahme zu seinem letzten Worte bedürfte. Sein grosses Verdienst liegt vornehmlich in seiner wunderbaren Gabe zu fragen, Schwierigkeiten zu finden, so zu verwunden, dass bei denen, die sich in seine Schriften vertiefen, nicht bloss das Gedankenleben, sondern das persönliche Leben überhaupt in innerliche und dauernde Bewegung kommt. Und sein Satz, dass die Subjektivität die Wahrheit ist, begreift in sich, dass alles auf die persönliche Linerlichkeit, die schöpferische Selbstthätigkeit ankommt, die nach seiner wie der Ueberzeugung seines Lehrers Paul Möller bei jedem Menschen möglich ist. Keine überlieferte, von aussen kommende Kenntnis kann genügen. Nur das ist für den Menschen Wahrheit, was er selbst produziert, oder doch reproduziert. Dieser Satz ist von so grosser und weittragender praktischer Bedeutung, dassj er Konse-

Schlnss. 161

quenzen iu sieh schliesst, die (wie wir schon früher andeuteten) weiter gehen, als Kierkegaard sich selbst gestelien wollte.

Wir sind es jedoch uns selbst schuldig, zu erörtern, •ob das Menschengeschlecht sich wirklich, wie er urteilt, vom Christentum weggeschlichen, aus Weichlichkeit (und in Heuchelei dem Ideale den Rücken gekehrt hat. Hätte er damit Recht, so hätte dies nicht bloss religiöse Bedeutung. Mag man über die bleibende Bedeutung des Christentums so oder so denken das Eine ist doch klar, dass es traurig wäre, wenn das Geschlecht :seine altehrwürdigen Ideale auf solche Weise verlassen liätte. Ideale kann man in würdiger Weise nur ver- lassen, wenn man ihnen entweder entwachsen ist, oder -wenn die Lebensverhältnisse aus andern Gründen andere geworden sind und neue Vorbilder verlangen. Es sind also rein humane Gründe, die uns eine möglichst voU- ;ständige Klarstellung der von Kierkegaard erhobenen Erage empfeblen, in welchem Verhältnis die Menschheit .zu der Lebensanschauung des Neuen Testaments stehe.

2. Kierkegaard macht einmal („Nachschrift'' S. 569) die Bemerkung, das Neue Testament enthalte hinsicht- lich der Probleme, die sich für uns, die wir von Ju- ,gend auf im Christentum erzogen sind, erheben können, keine Anweisung. Und im ,, Augenblick" kommt er auf anderem Wege auf den Gedanken zurück, dass das N^eue Testament der heutigen Christenheit den Weg jedenfalls nicht zeigen könne. Verfolgt man den hier .angeregten Gedanken weiter, so muss man natürlich untersuchen, inwiefern die Voraussetzungen der neu- lestamentlichen Lebensanschauung andere sind als die, wovon ein Mensch heutiger Zeit ausgehen muss, dem daran gelegen ist, von dieser Lebensanschauung so viel als möglich anzunehmen. Stellt man die Frage so, so fällt ein Umstand, je tiefer man in den Vorstellungskreis Äes Neuen Testaments eindringt, um so entscheidender

JHöffding, B. Xierkegaard. 11

162

Schlnss.

ins Grewicht: das Neue Testament geht durchweg davoi? aus, dass die Geschichte bald noch für die ebei> lebende Generation durch die Wiederkunft Christi ihren Abschluss finden werde. Zieht man diesen Um- stand nicht mit in Betracht, so versteht man die Ethik des Neuen Testaments nicht. Er bildet den stäten Hintergrund. Das Himmelreich ist nahe! das Ende- aller Dinge ist nahe ! das ist der stets wieder- kehrende Refrain, der sich für den Aufmerksamen ver- nehmlich macht, auch wo er nicht ausdrücklich wieder- holt ist. Da man so mit begrenztem Horizonte arbeitete, keinen Ausblick auf unübersehbare Entwicklungsperioden, auf eine lange Wanderung für das Geschlecht hatte, so mussten alle umfassenden Bestrebungen, jede eigent- liche Kulturarbeit, alles gesellschaftliche Leben bedeu- tungslos werden, wie man alles, was die Aufmerksamkeit von dem einen, grossen und nahen Ziele ablenken konnte^ beiseite liegen lassen musste. „Das Ende aller Dinge ist nahe, darum seid nüchtern und wachet", schreibt der Apostel Petrus (1 Petri 4, 7), und aus demselben Grunde rät Paulus den Christen vom Heiraten und von der Vertauschung des Sklavenstandes mit dem freien Stande ab (1 Kor. 7). Was hatten solche Güter und Freuden auch zu sagen gegenüber der Herrlichkeit, die sich offenbaren sollte? Sie konnten Sinn und Ge- danken, die man jetzt, bei der nahe bevorstehenden! grossen Entscheidung, gerade gesammelt haben sollte, ja nur zerstreuen.

Fällt diese Voraussetzung weg, so muss die christ- liche Ethik eine ganz andere Gestalt gewinnen. Ihre Forderung bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man bei der Arbeit den Horizont ferne hat, als solange er ein enger war. Die Unklarheiten in der späteren Stellungnahme der Kirche zu dem ursprünglichen Chri- stentum finden ihre einfache Erklärung darin, dass man diesem grossen Unterschied nicht die genügende

Schlnss. 163

Beachtung geschenkt hat. Als die lange geschichtliche Wanderung begann, drängten sich Aufgaben und Ziele her- vor, denen man früher keine Bedeutung beigelegt hatte. Auf der langen Reise hat man andere Bedürfnisse, als wenn man nur ein paar Schritte zu gehen hat. Es machten sich Verhältnisse geltend, wofür das Neue Testament keine wirkliche Vorschrift enthalten konnte; es entwickelte sich ein selbständiges Menschenleben in Familie und Staat, Wissenschaft und Kunst oder richtiger: das auf diesen Gebieten schon zur Entwick- lung gelangte Leben musste sich nunmehr in der christ- lichen Welt entfalten. Da regte sich dann aber auch das Bedürfnis anderer Vorbilder und einer Ethik, die •diesem Leben eine positive Bedeutung geben, das Leben als eine Entwicklung und nicht bloss als eine Übungs- zeit bis zu dem nah bevorstehenden Abschluss be- trachten konnte. Frühzeitig beginnt man denn die griechische Ethik mit der christlichen zu verbinden, sehr oft in rein äusserlicher Weise.

Hat Kierkegaard mit seinem Satze, das neutesta- mentliche Christentum sei nicht da. Recht, so liegt die Erklärung darin, dass die Voraussetzung der neutesta- mentlichen Ethik den Sinn nicht länger ebenso beherrscht. Denn dass man in aller Unbestimmtheit noch von dem jüngsten Tage redet, will in dieser Beziehung nicht viel sagen; wie man sich ja vorläufig auch recht gemütlich einzurichten weiss.

Es hat mich in hohem Grade interessiert, zu sehen, wie Kierkegaard diesen Punkt einmal berührt. Er sagt in einer Notiz aus dem Jahre 1849:

„Die ganze Schwierigkeit, dass Christi Wiederkunft als nahe bevorstehend vorausgesagt wird und doch noch nicht eingetreten ist, wird dadurch erledigt, dass man auf die subjektive Wahrheit des Wiederkunftglaubens aufmerksam macht. Und in diesem Sinne muss nicht nur Christus seine baldige Wiederkunft behaupten und

11*

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Schlass.

darauf, wie es ja faktisch auch der Fall ist, die Apostel, sondern so muss sie jeder wahre Christ aussagen. Das heisst: der wahre Clirist zu sein ist mit solchen Qualen verbunden, dass es nicht zum Aushalten wäre, wenn man nicht beständig Christi Wiederkunft als unmittelbar bevorstehend erwarten würde. Die Qual, das Leiden erzeugt eine notwendige Illusion .... Man ist kein wahrer Christ, wenn man sich nicht in der Pein und Qual befindet, die sich für den wahren Christen in. dieser Welt gehört; und ist man in der Pein und Qual, so ist diese Illusion eine Notwendigkeit.'' (1849, S. 247.)

Diese Erklärung ist dem ganzen Standpunkt Kier- kegaards durchaus entsprechend und ist zugleich die einzige, wobei sich die Voraussetzung der neutestament- lichen Ethik aufrecht erhalten lässt. Wer weiss, ob es- nicht solche giebt, die das wirklich thun? Giebt es solche, so haben sie was Kierkegaard nicht hervor- gehoben hat einen Widerspruch weiter zu tragen: den Widerspruch zwischen dem vorhergesagten nahen Abschluss und der Jahrhunderte langen Geschichte nebst allem dem, was sie gebracht hat. Dies ist eine Ver- schärfung des Paradoxes, die Kierkegaard, wenn er darauf aufmerksam geworden wäre, mit Nachdruck und Kraft hätte entwickeln können. Ich glaube aber, er stellt die Sache gerade auf den Kopf. Nicht die Span- nung hat ursprünglich die Erwartung hervorgerufen, nein, die Verheissung hat die Spannung erzeugt. Die Nähe fldes Reiches'' gehört mit zur ursprüng- lichen christlichen Verkündigung und liegt im Neuen Testament der Würdigung aller Lebens- verhältnisse und Aufgaben zu Grunde. In Ver- bindung damit ist Kierkegaards Auffassung des ursprüng- lichen Christentums nach einer wesentlichen Seite hin zu berichtigen. Das Christentum war nicht, wie er sagt, ein Trauermarsch. (Augenbl. No. 5.) Es war ein

Schloss. 165

Siegesmär sch. Die Freude und der Jubel ob der nah. bevorstehenden Herrlichkeit hat das Gefühl des Leidens weit überwogen. Das ursprüngliche Christentum war nicht so schwindsüchtig, wie es in Kierkegaards Dar- stellung oft erscheint.*) Es lebte in grossartigen Bil- dern, in grossen und lebhaften Erwartungen, und schöpfte daraus Kraft und Mut für die Opfer und Anstrengungen, die späterhin, als sie unter ganz andern Voraussetzungen nachgeahmt werden sollten, den Charakter spiritualisti- scher Askese annahmen. Das ursprüngliche Christentum ist durchaus nicht spiritualistisch. Die Zeit des Spiri- tualismus kam erst, als die Erwartung erstorben oder doch verblasst war.

Wer auf die hier von mir geltend gemachte Auf- fassung eingehen kann, mag in dem Satze, das neu- testamentliche Christentum sei nicht da, mit Kierkegaard wohl einverstanden sein; er wird sich davon jedoch eine andere Erklärung geben als er. Er wird sehen, dass die veränderte Stellung zum Christentum einfach von der Thatsache herrührt, dass eine lange geschicht- liche Entwicklung stattgefunden hat. Nimmt man nun nicht an, dass die Ideale des Menschengeschlechts die- sem ein- für allemal vorgeschrieben werden können (was

*) Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass Kierkegaard keine nähere Bestimmung geben will, was „die Seligkeit", das „absolute Endziel" eigentlich sei. Jede Beschreibung des Zieles mass in seinen Augen die Aufmerksamkeit von dem Wege abziehen und „der Weg ist das Entscheidende, sonst haben wir Aesthetik.* Ueber die ewige Seligkeit will er daher nichts weiter sagen, als sie sei das Gute, das man erreicht, indem man alles wagt („Nachschrift" S. 397f.) Das Neue Testament hat dieses Bedenken nicht. Die begei- sterte Erwartung der Herrlichkeit und Vollkommenheit des Zieles ist hier gerade auch die Bedingung dafür, dass man auf dem Wege vorwärts kommt. Vgl. besonders die Offenbarung Johannis, die ii» ihrer eingehenden Schilderung des „Zieles" nur dem Grade nach, nicht der Art nach sich von dem unterscheidet, was in den andera neutestamentlichen Schriften als Voraussetzung zu Grunde liegt.

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anzunehmen besonders unmöglich ist, wenn so entschei- dende Voraussetzungen, wie die vorhin genannte, sich vollständig ändern können), so gelangt man zu der Überzeugung, nicht, dass die Zeit des Christenturas <dahin ist (denn das wird gewissermassen nie der Fall sein), sondern dass die Bedeutung des Christenturas gleich der jeder grossen geistigen Bewegung darin be- steht, dass es unter gewissen historischen Bedingungen •Gefühle und Ideen erweckt hat, die zwar, wenn die Verhältnisse sich ändern, sich nicht unverändert zu -erhalten vermögen, die aber doch der idealen Welt, deren die Menschheit nie entbehren kann, als wesent- liche Bestandteile einverleibt werden können. Das Christentum hat die Ideale der Liebe, der Innerlichkeit und Reinheit mit einer Kraft des Gefühls geltend gemacht, wie das nie vorgekommen ist, weder vorher noch seither. Es hat das Gefühl für die Leidenden und Schwachen, wenn auch nicht erst erweckt, so doch ge- schärft und die Ungültigkeit der äussern Unterschiede gegenüber dem gemeinsam Menschlichen (obwohl hierin der konfessionelle Unterschied frülizeitig ein Hindernis wurde) geltend gemacht. Diese Elemente nimmt das Geschlecht auf seinen ferneren Weg mit. Ein edler Lebenstypus geht nicht verloren, wenn auch die Beding- ungen für seine volle Verwirklichung wi^gfallen mögen. Er lebt weiter als Element in dem fortschreitenden Leben, das stets neue Bildungen sucht.

Die humane Lebensanschauung steht dem Christen- tum gegenüber, wie sie der griechischen Welt gegen- über steht. Wir können die griechische Männlichkeit, Gedankenklarheit und Harmonie so wenig entbehren als die Liebe und Innerlichkeit, die im Cliristentum das Grösste war und das Bleibende sein wird. Diese Ideale und Eigenschaften haben sich unter bestimmten ge- schichtlichen Bedingungen aus dem menschlichen Geiste entwickelt; und derselbe Menschengeist nimmt sie auf

Schlnss. 167

seiner ferneren "Wanderung mit sich, um sie, sofern sie von ihren ursprünglichen Voraussetzungen losgelöst werden können, mit den neuen Eigenschaften und Vor- bildern zusammenzuarbeiten, die durch die neuen Lebens- bedingungen notwendig werden. Wir nehmen das Gute, wo wir es finden können.*)

3. Diese fortgehende Entwicklung des Lebens, sowie seine Berechtigung und Fähigkeit, unter den neuen Verhältnissen neue Ideale zu bilden, bestritt Kierkegaard aufs bestimmteste. Er hatte einen ganzen Vorrat von spöttischen Wendungen zur Verfügung gegenüber einer derartigen Betrachtungsweise, die, wie er meinte, ihre Überzeugung vom Höchsten nur „den Forderungen der Zeit, des Publikums und des Eigennutzes anpasste^ ; niemand vermag so wie er zu karikieren, was er ver- wirft oder nicht versteht. Und doch herrscht in seiner Auffassung ein offenbarer innerer Widerspruch, der eng damit zusammenhängt, dass er der Subjektivität der Persönlichkeit das Wort redet und zugleich eine, Grundlage fixer Dogmen als absolute Bedingung des Geisteslebens festhält.

In seiner Erkenntnislehre macht Kierkegaard geltend, dass das Dasein sich von der Erkenntnis nicht erschöpfen oder umspannen lässt, dass vielmehr stets neue Arbeit zu thun ist dass in der Welt des Den- kens stets aufs neue gewagt werden muss. Und in seiner Auffassung des religiösen Glaubens ist eine Hauptsache, dass das Entscheidende die Gleichzeitigkeit mit dem kämpfenden und leidenden Ideal ist. Er be- zeichnete es in seinen letzten Tagen als seines Lebens Gedanken: „Was du in Gleichzeitigkeit thust, ist das Entscheidende." (Augenblick, No. 8.) Und früher hatte er eingeschärft, dass weltgeschichtliche Gestalten sich

*) lieber die griechischen und christlichen Elemente in der humanen Ethik vgl. meine Ethik S. 117 119, und über die ethische Bedeutung des Christentums überhaupt Kap. 32 und 34.

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Schlass.

nicht zu Idealen eignen, da sie eine Abgeschlossenheit haben, wodurch die Betrachtung in Sicherheit gewiegt werde: ,.die Idealität kann man nicht historisch auf Flaschen ziehen.« („Stadien", S.349.448 [318. 412].) Macht man damit Ernst, so wird jede dogmatische Religion unmöglich. Denn im Dogma liegt gerade der Abschluss : das Dogma ist eine endgültige Erklärung über die Be- deutung einer historischen Person oder Begebenheit, die definitive Konstatierung eines gewonnenen Resultats. Jede positive oder dogmatische Religion giebt in Wirklich- keit die Idealität historisch auf Flaschen gezogen und daher bedurfte es der ungeheuren geistigen An- strengung und grossartigen Darstellungskunst eines Sören Kierkegaard, um die grosse Bedeutung einer per- sönlichen Versetzung in die Gleichzeitigkeit wieder ans Licht zu ziehen. Aller Unterricht in dogmatischer Religion ist ein Unterricht in Facitlisten; die Rechnung ist abgeschlossen, und es ist in hohem Grade schwierig, so nachzurechnen, dass man sein Wissen vom Resultat nicht benutzt. Schlechte Romanleser schauen gern im Buche hinten nach, wie es endlich geht man bringt sich aber damit um die Spannung, die der Stimmung während des Lesens allein eine Ähnlichkeit mit der Stimmung während des Erlebens giebt. Kierkegaard sah zuletzt selbst, dass die Dogmen das Unheil ange- richtet hatten; mit ihrer Hilfe hatte man das Vorbild beiseite geschoben. (Augenblick No. 5.)

Im Ernst gleichzeitig kann man nur mit dem sein, was nicht abgeschlossen ist und dessen Resultat nicht garantiert vorliegt. Und das ist nur bei dem wirklichen Menschenleben selbst der Fall mit seinen Zielen und Auf- gaben, seinem Kampf, seiner Lust und seinem Schmerz. Kierkegaards Lehre vom Paradox enthält die grosse Wahrheit, die auch oder: die gerade die humane Lebensanschauung sich ganz zu nutze macht: dass das Grosse und Bedeutungsvolle sich so oft inmitten geringer

ächlass. 169

und imsclicinbarer Umgebung entwickelt. Seine Keime sind oft schwer zu entdecken und werden leicht miss- verstanden. Da bedarf es denn eines offenen Auges und eines starken Glaubens an den Wert von etwas, das vielleicht langsam and erst spät sich zur Anerken- nung durchringen kann. Das Urteil über uns beruht besonders auf unserem persönlichen Verhalten zu den idealen Kräften, die noch in der Hülle lagen oder dafür kämpften, sich in unserer Zeit entfalten zu können. Eine dogmatische Richtschnur giebt es nicht; das Ideal kann nicht ein- für allemal gebildet werden; es muss sich neu formen, neue Gestalten annehmen, und stellt dann unter jeder dieser Gestalten seine Forderung an uns.^ ' So etwa mag Kierkegaards Lehre vom Paradox und von der ])ersönlichen Gleichzeitigkeit zurechtgelegt werden, wenn sie bleibende und allgemeine Bedeutung haben soll. So scharf er als Denker und Ethiker gegen die schädlichen Wirkungen der Dogmen auftrat, so brach er doch mit ihnen nicht; er goss seinen edlen Wein in die alten Schläuche.*) Soll der Wein erhalten bleiben, so muss er in neue Schläuche kommen.

Es wäre müssig, wollte man darüber sich den Kopf zerbrechen, welche Stellung Sören Kierkegaard bei längerem Leben wohl eingenommen haben würde. Seine Sympathie mit dem Katholizismus einerseits, seine An- erkennung für die Auffassung des Christentums bei freien Forschern wie Feuerbach andererseits lässt ent- gegengesetzte Möglichkeiten offen. Und eine neue Mög- lichkeit kommt hinzu, wenn wir an eine Entwicklung wie die Leo Tolstois denken, der verschiedene Berüh- rungspunkte mit Kierkegaard darbietet. Man könnte

*) Vrgl. hierüber die Abhandlung von Chr. Schrempf: Kierkegaards Stellung zu Bibel u. Dogma (Zeitschrift für Theologie u. Kirche, I, 1891, S. 179—229), welche leider erst nach Erscheinen meines Buches (das im Jahre 1891 ausgearbeitet wurde) in meine Hände kam. (Note zur deutschen Ausgabe.)

170 Schluss.

denken, er wäre in der Nachfolge ,,des Vorbildes" dabei geblieben, als der Einzelne zu wirken, aber mit stei- gender Geringschätzung ,,der Dogmen." Doch wer kann die Möglichkeiten für den weiteren Gang eines grossen Geistes, zumal eines solchen, für den ,,der Sprung" ein Lieblingsgedanke war, alle aufzählen? Und ebenso schwer sind die Möglichkeiten für seinen Einfluss zu berechnen. Hauptsächlich hat er als Strom- teiler gewirkt, hat unklare Vermengungen zur Scheidung getrieben, in der geistigen Welt Klärung geschafft. Einige hat er zu tieferer Versenkung ins Christentum (wie sie es auffassen) getrieben, andere hat er durch das Prinzip der persönlichen Wahrheit über dasselbe hinausgeführt. Auch auf indirekte Wirkungen und Folgerungen seiner Gedanken stossen wir bei uns im Norden allenthalben in den wichtigsten geistigen Be- wegungen der letzten Generation.

Berichtigungen und Zusätze. S. 17, letzte Zeile v. u. (im Text) lies statt „oft": „bald". S. 19, Zeile 10 v. u. lies statt „Philosophen": „Theosophen". Zu S. 28, Zeile 5 und 6: die zitierten Ausdrucke finden sich in einem Jugendgedicht von Paul Möller: „Freude über Dänemark", worin er auf einer Seereise nach Ostindien seine Sehn- sucht nach dem Vaterland ausgedrückt hatte. Zu S. 38, Z. 11 V. u.: „odium professionis" ist doch richtiger durch „Hass gegen das Klostergel&bde" zu übersetzen.

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Fr. Frommanns Verlag" (E. Hauff) in Stuttg^art.

Baiiniauu, Julius, Die Grundlriigc der Relig^ion. Versuch einer auf den realen Wissenschaften ruhenden Gotteslehre. 1895. 72 S. 8".

Brosch. M. 1.20.

Inhalt: 1. Religion im Allgemeinen. 2. Ist Religion subjektiv oder objektivV 3. Die christliche Religion in Harnacks Dogmengeschichte. 4. Versneh einer auf den realen Wissenschaften ruhenden, also objektiven Gotteslehre.

Bauuianu, Julius, Christus. Etwa 90 S. 8«. (Herbst 1896.)

Diez, Max, Theorie des Gefühls zur Begründung der Aesthetik.

1892. 172 S. gr. 8". Brosch. M. 2.70.

Kxsul, Psychische Kraftübertragung. 189(3. 23 S. 8».

Brosch. M. —.50.

Froniniann, Hermann, Arthur Schopenhauer. 3 Vorlesungen. 9G S. 8'\ Brosch. M. 1.80.

1. Schopenhauers Jugend. 2. Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. Schopen- hauers Kinsiedlerleben.

Schlegel, Emil, Das Bewusstsein. G-rundzüge naturwissenschaftlicher und philosophischer Deutung. Mit Geleitsworten von Prof. Th. Mey- nert in Wien. 1891. 128 S. 8". Brosch. M. 2.—.

Kierkegaard, S., Angriff auf die Christenheit. Uebersetzt von

A. Dorner und Chr. Schrempf. 1895. XXIV und 632 S. 8».

In 2 Teile brosch. M. 8.50.

I. Kierkegaards letzte Schriften (1851—55) entlialtend. Inhalt: I. Ueber meine Wirksamkeit als Schriftsteller. II. Zur Selbstprüfung der Gegenwart an- befohlen. III. S. Kierkegaards letzte Aufsätze in Zeitungen und Flugschriften. A. Artikel im Vaterland. B. Dies soll gesagt werden so sei es denn gesagt. C. Der Augenblick.

II. Anliang. Inhalt: I. Eine erste und letzte Erklärung. II. Aus Anlass einer mich betrefltenden Aeusserung Dr. A. G. Rndelbachs. III. Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller. IV. Richtet selbst. V. Der Augenblick. VI. Gottes UnVeränderlichkeit.

Daraus Sonderdruck:

Richtet selbst. Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen. Zweite Reihe. 1895. 112 S. 8°. M. 1.50.

Kierkegaard, S., Lehen und Walten der Liehe. Uebersetzt von

A. Dorner. 1890. XV, 278 und 241 S. 8".

Brosch, ]\L 5, ; geb. M. 6.—.

Finckh, Martin, Kritik und Christentum. 1893. 234 S. 8».

Brosch. M. 2.50. Graue, Paul, Deutsch-evangelisch. 1894. 96 S. 8°. Brosch. M. 1.50.

Inhalt: I. Einführung. II. Der Inhalt des Glaubens an Jesus Christus.

III. Glaube und Rationalismus. IV. Unsere wahre Autorität. V. Deutschtum. VI. Konfession, Partei, Gemeinde.

Graue, Paul, Die freie christliche Persönlichkeit. In „Die Wahrheit" 1896, 1. u. 2. Juniheft. M. —.80.

Schriften von Christoph Schrempf:

Drei Religiöse Reden. 1893. 76 S. 8*». Zweite und dritte Auflage.

Brosch. M. 1.20.

Inhalt: I. Unser .jUnglaube". II. Ueber Religion. III. Ueber religiöse Ge- meinschaft und die gegenwärtige evang. Landeskirche Württembergs.

Natürliches Christentum. Vier neue religiöse Reden. 1893. 112 S. 8».

Brosch. M. 1.50.

Inhalt: I. Von Gott. II. Von Jesus Christus. III. Von dem heiligen Geist.

IV. Wie man das IJekenntnis verteidigt.

Fr. Frommanns Verlag" (E. Hauff) in Stuttgart.

T

Uelier die A^erkündiguiig- des Evaiigeliums an die neue Zeit.

1893. 40 S. 1. u. 2. Aufl. Brosch. M. —.60.

In der christlichen Welt 1893, Nr. 7, nennt Professor W. Herr mann die „Pfarrersfrage" „eine kraftvolle Streitschrift" und schreibt über die „Religiösen Reden" ; Die beiden ersten aber beweisen, dass er eine unvergleiehliche Gabe hat, zu den Gebildeten unserer Zeit von dem Höchsten zu reden. Eines der grössten Hindernisse der christlichen Verkündigung ist hier gründlich abgethan. Was dem Menschen dazu dienen soll, ihn zu Gott zu führen, wird hier wirklich als Mittel dazu verwertet und nicht als Mittel dagegen.

Obige 3 Schriften von Schrempf zusammengebunden in einem Ganzleinwandband M. 3.30.

Zur Pfarrersfrage. 1893. 52 S. 8». Brosch. M. —.80.

An die Studenten der Theologie zu Tübingen. Noch ein Wort zur Pfarrersfrage. 1893. 30 S. 8". 1. u. 2. Aufl. Brosch. M. —. 50.

Eine Nottaufe. 1894. 56 S. 8°. Brosch. M. —.75.

Toleranz. Rede geh. i. d. Berl. Gesellschaft f. Eth. Kultur. 1895. 32 S. 8».

Geh. M. —.50. Zur kirchlichen Lage. Rede geh. 2. Februar 1896. 18 S. 8«. M. .30.

Weizsäcker, Carl, Ferd. Chr. Baur. Rede geh. 21. Juni 1892. 1892, 22 S. 8". Brosch. M. —.40.

Frommann, F. J., Das Frommannsche Haus und seine Freunde.

Dritte durch einen Lebensabriss F. J. Frommanns vermehrte Ausgabe. 1889. 191 S. 8". Brosch. :\I. 3.—.

Weithrecht, C, Diesseits von Weimar. Auch ein Buch über

GrOethe. 1895. 313 S. 8". Brosch. M. 3.60, eleg. geb. M. 4.50.

N. Zürcher Zeitung: Frisch von der Leber weg stellt der Verfasser im Gegensatz zu einem verhimmelnden Goethekultns, der jeden Wisch und Waschzettel, auf den der Dichter einmal eine Notiz geschrieben, zu einem tiefsinnigen Litteratnr- Dokument aufbauscht, Goethe so dar, wie er sich ihm spiegelt, wie er ihn mit seinen Sympathien erfasst hat. . . . Bin verständnisinniger Dichter schreibt über den Dichter aus der ganzen Fülle eines für den jungen Goethe begeistt-rten Herzens, so dass man selber in eine unmittelbare, ans der Darstellung fliessende Bewunderung für das Goethesche Leben, für seine erste Dichterzeit gerät.

Diez, Max, Julius Klaiber. Ein Lebensbild. IVIit 4 Bildern. 1893. 40 S. 8". Brosch. M. —.60.

V. Westenholz, Fr., Ueber Byrons historische Dramen. Ein

Beitrag zu ihrer ästhetischen Würdigung. 1890. 64 S. 8".

Brosch. M. 1.20. „— Die Tragik in Shakspeares Coriolan. Eine Studie. 189,5.

32 S. 8". Brosch. M. —.50.

Sarrazin, Joseph, Das moderne Drama der Franzosen in seinen

Hauptvertretern. ]\Iit zahlreichen Textproben aus hervorragenden

Werken von Äugier, Dumas, Sardou und Pailleron. 2. Aufl. 1893.

325 S. 8«. Brosch. M. 2.—, geb. M. 8.—.

Saul, D., Schiller im Dichtermund. 1896. 72 S. 8«.

Brosch. M. 1.-. Ludwig, Hermann, Strassburg vor liundert Jaliren. Ein Bei- trag zur Kulturgeschichte. 1888. XII u. 348 S. 8". Brosch. M. 5.—.

Stüve, J. C. B., Geschichte des Hochstifts Osnabrück bis zum

Jahre 1508. 480 S. 8". Brosch. M. 7.—.

_^_ „— II. Bd. 1508—1623, nebst einem Lebensabriss Stüves.

1296 S. 8**. Brosch. M. 12.—.

_,— „— III. Bd. bis 1648. 356 S. 8«. Brosch. M. 4.—.

Fp. Frommanns Verlag" (E. Hauff) in Stuttgart.

Die Wahrheit.

Halbmonatschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens.

Herausgeber: Christoph Schrempf.

Erseheint seit Oktober 1893. Vierteljährlich M. 1.80.

Allgem. Ztg.: Die von dem bekannten Lic. Chr. Sclirempf herausgegebene „Wahrheit" verfolgt in jugendlicher Frische und rastloser Energie die Aufgabe, für eine grössere Wahrliaftigkeit und Innerlichkeit in unsern religiösen, moralischen, sozialen Verhältnissen zu wirken. Eine solche Aufgabe ist schwierig genug. Einmal kann leicht bei der Behandlung solcher inneren Fragen zu viel Reflexion aufkommen und auch der Ton ein zu lehrhaftes oder vielmehr pastorales Gepräge annehmen, andrerseits drängt die Notwendigkeit der Kritik und des Kampfes leicht mehr das Negative als das Positive der eigenen Behauptung in den Vordergrund. Aber den Kampf gegen solche Gefahren sehen wir mit Nachdruck und Geschick aufgenommen und finden überhaupt das Unter- nehmen in erfreulichem Fortschreiten. Die Arbeit tritt unverkennbar in ein immer engeres Verhältnis zu den Bewegungen der Zeit und gewinnt damit an Anschaulichkeit

und Eindringlichkeit Auch der Kreis der Mitarbeiter ist sichtlich im "Wachsen begriffen.

So entwickelt sich das Unternehmen mehr und mehr zu einem Sammelpunkt idealer Bestrebungen in der angegebenen Richtung. Wer immer daher für diese Bestrebungen Sympathie hat und von der Notwendigkeit einer Vertiefung des modernen Lebens über- zeugt ist, der sollte sieh verpflichtet fühlen, der „Wahrheit" ein thätiges Interesse zuzuwenden. (Professor Dr. Eucken in Jena.)

Aus dem Inhaltsverzeichnis:

Die Kulturbedeutung der Gegenwart. Von Prof. Dr. Ä. Riehl.

Friedrich Nietzsche. Von demselben.

Religion und Transcendenz. Von Prof. Dr. Paul Natorp.

Mein Skepticismus. Von Chr. Schrempf.

Autorität. Von demselben.

Die religiöse Aufgabe der Gegenwart. Von demselben,

Tolstoi als Profet. Von demselben.

Schleiernlachers sittlicher Genius. Von Oberlehrer A. Heubaum.

Das Sittlichkeitsideal der Reformationszeit. Von demselben.

Richard Wagner als Erzieher. Von Lic. Paul Schubring.

Der Individualismus Goethe's. Von Dr. Fr. Brass.

Ein Dichter der Sehnsucht. Von Carl Busse.

Künstlerin und Kunstrichter. Von Dr. Rud. Krauss.

Die Naturalisten und Gerhart Hauptmann. Von S. Binder.

Wie Familienjournale gemacht werden. Von Korrektor.

Heimlichkeit im öffentlichen Leben. Von Gustav Pfizer.

Worauf es bei uns dem Volke gegenüber gerade ankäme. Von Prof. Dr. J. Baumann.

Die Monarchie und die Parteien. Ein Vorwort zu künftigen Um- sturzvorlagen. Von Prof. Dr. Friedrich Paulsen.

Nationalgefühl. Von Prof. Dr. F. Tönnies.

Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur. Von Prof. Dr. Max Weber.

Religion und Wirtschaftsordnung. Nach einem Vortrage von Friedrich Naumann.

Zur Entwicklungsgeschichte des Sozialismus. Von Friedrich Naumann.

Moderne Heimatlosigkeit. Von Dr. H. Losch.

Der gegenwärtige Stand der christlich-sozialen Bewegung. Von Prof. Dr. A. Titius.

Die Reform der sozialen Versicherung. Von E. Lautenschlager,

Der unlautere Wettbewerb. Von Prof. Dr. K. Th. Eheberg.

Soziale Pädagogik. Von Prof. Dr. T7i. Ziegler.

Die soziale Reform eine Kulturfrage. Von Prof Dr. H. Herkner. Ö^~ Preis für Band I— IV brosch. ä M. 3.20, geb. ä M. 3.75,

für Band V u. ff. brosch. ä M. 3.60, geb. ä M. 4.15.

Fr. Frommanns Verlag* (E. Hauff) in Stuttgart.

Frommanns Ulassiker der Philosophie

herausgegeben von

Richard Falckenberg*

Dr. u. o. Professor der Philosophie an der Universität Erlangen.

Plan und Mitarbeiter des Unternehmens.

Die reiche philosophiegeschichtliche Arbeit Deutschlands hat mit Glück die verschiedensten Formen der Darstellung angewendet. Weder an umfangreichen und eingehenden Gresamtdarstellungen fehlt es, noch an knappen Uebersichten, und neben der Geschichte der einzelnen Fächer hat die der Begriffe uud Probleme kundige Bearbeiter gefunden. Nur die monographische Behandlung bedeutender Philosophen, zumal in populär- wissenschaftlicher Haltung, ist bei uns nicht in dem Umfange gepflegt worden, wie es im Auslande mit Erfolg geschehen ist und wie es ihrem Werte entsprechen würde. Denn gerade sie ist besonders geeignet, sowohl die Teilnahme weiterer Kreise für die grossen Denker zu gewinnen, als auch den Lernenden in die Gedankengänge der Meister philosophischer Forschung einzuführen. Diese Lücke auszufüllen setzt sich die hiermit angekündigte Sammlung zum Ziel. Sie soll den Gebildeten und den Studierenden die hervorragendsten Denker zunächst der Xenzeit, später auch des Altertums und des Mittelalters in ihren Lebens- und Weltanschauungen in gründlichen und lesbaren Einzeldarstellungen aus der Feder der für die jeweilige Aufgabe geeignetsten Kräfte vorführen.

Mit Genugthuung erfüllt uns die sympathische Aufnahme, welcher unser Plan in dem Kreise der Gelehrten begegnete, denen wir ihn vorlegten und die das Unternehmen einstimmig als ein sehr nützliches Werkzeug philosophischer Studien begrüssten; mit Dankbarkeit die Bereitwilligkeit, mit welcher namhafte Forscher der Einladung zur Mitarbeit Folge geleistet haben.

Erschienen sind: G. Tli. Fechner. Von Prof. Dr. K. Lasswitz in Gotha. 214 S. 8».

Brosch. M. 1.75. Gebd. M. 2.25. Hobbes. Von Prof. Dr. Ferd. Tönnies in Kiel. 246 S. 8°.

Brosch. M. 2.—. Gebd. M. 2.50. Kierkegaard. Von Prof. Dr. H. Höffding in Kopenhagen. 186 S. 8".

Brosch. M. 1.50. Gebd. M. 2.—. Daran werden sich anschliessen : Galilei. Von Prof. Dr. Natorp in Marburg. Spinoza. Von Prof. Dr. Freudenthal in Breslau. Bayle. Von Prof. Dr. Kucken in Jena. Hume. Von Prof. Dr. A. Riehl in Kiel. Kant. Von Prof. Dr. Fr. Paulsen in Berlin. Rousseau. Von Prof. Dr. H. Höffding in Kopenhagen. Hegel. Von Prof, Dr. Lasson in Berlin. Schleiermacher. Von A. Heubaum in Berlin. Herbart. Von Prof. Dr. Siebeck in Giessen. Lotze. Von Prof. Dr. Falckenberg in Erlangen. Feuerbach. Von Prof. Dr. Jodl in Wien. A. Comte. Von Prof. Dr. Windelband in Strassburg. D. F. Strauss. Von Prof. Dr. Th. Ziegler in Strassburg. Herbert Spencer. Von Dr. Otto Gaupp in London. Fr. Nietzsche. Von Prof. Dr. Volkelt in Leipzig. Locke, Lessing, Herder als Philosoph, Fichte, Schopenhauer, F. A. Lange, Helniholtz u. a. werden gleichfalls später erscheinen. Es sollen jährlich 3 4 Bände ausgegeben werden.

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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY

B H7

H/ffding, Harald

Sören Kierkegaard als Philosoph