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Bücher von Otto Julius Bierbaum:

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Im Verlage von Schuſter & Loeffler in Berlin.

Stilpe

Ein Roman aus der Froſchperſpektive

von Otto Julius Bierbaum Mit dem Bildniſſe des Verfaſſers

von Felix Vallotton

Siebente Auflage

Berlin im Verlage von

Schuſter & Loeffler 1909

PT 2603 LS 1909

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herzlicher Verehrung

Alle Rechte vorbehalten.

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Erſtes Buch Der Hnabe Willibald

Eine ſchlechte Kinderſtube wird durch kein Begräb⸗ nis erſter Klaſſe wett gemacht.

Aus Stilpes zerſtreuten Papieren.

Erſtes Kapitel.

Als mein Freund Stilpe geboren worden war, herrſchte, wie das ſo üblich iſt, viel Freude in der Familie. Dies umſomehr, als die Sache anfangs gedroht hatte, bös auszugehn.

Tante Pauline, die nachgezählt hat, will es be⸗ ſchwören, daß Stilpe⸗Vater an jenem ſchweren Tage dreiundachtzig Mal: Umgotteswillen! geſagt hat, wobei er ſich, zornig halb, halb mit der Miene eines zerknirſcht auf alles Gefaßten, in den Achſelausſchnitt der Weſte fuhr und mit ſämmtlichen Fingern, außer den Daumen, die eben hinten ſteckten, auf beide Seiten der Weſtenbruſt trommelte. Und dabei war Stilpe⸗Vater eigentlich ein ſehr ruhiger Mann, ſeines Zeichens Lepidopterologe, und konnte von ſich ſagen, daß er die Welt mit

Gelaſſenheit betrachtete. 5 1*

4 | Stilpe.

Aber dieſer Fall war zu ſehr außerhalb der Erfahrungen ſeines Metiers. Das Kind lag näm⸗ lich ſchief, und Doktor Schatzheber, ſchon durch dieſen Namen zum Geburtshelfer prädeſtiniert, ſah ſich genötigt, mit der Zange einzugreifen.

Umgotteswillen! Mit der Zange! Dem Lepi⸗ dopterologen, der an die gelinde Art dachte, wie ſich die Schmetterlinge auf dieſe Welt bringen, hätte ſich das Haar geſträubt, wenn es nicht ſchweißnaß am Schädel geklebt wäre.

Nu, nu! ſagte Tante Pauline: das iſt das Schlimmſte noch nicht. Die Hebamme hat mir erzählt .

Umgotteswillen, Pauline, verſchone mich! Du biſt nie in der Lage geweſen. Alſo ſollteſt du auch nicht

Tante Pauline rauſchte ab. Es muß geſagt werden, daß die ganze aufregende Geſchichte ihr eine gewiſſe Genugthuung bereitete.

Das Verheiratetſein hat alſo auch ſeine Schatten⸗ ſeiten! Ja, ja, ja!

Das verſöhnte ſie auf eine Weile mit der Welt.

Schließlich lief alſo Alles gut ab, nur daß der kleine Stilpe eine kleine Eindöllung am Hinterkopfe aufwies. Tante Pauline hatte die Güte, fragend

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Erſtes Buch, erſtes Kapitel. 5

zu bemerken, ob derlei nicht Blödſinn zur Folge haben könnte?

Nein! ſchnaubte Doktor Schatzheber, aber, wenn die Wöchnerin nicht bewußtlos wäre, würde ich Sie ... .; dann wuſch er feine Zange in Karbol.

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Tante Paulinens Benehmen iſt ſchuld daran, daß ich vergeſſen habe, den Schauplatz von Stilpes Geburt zu nennen. Es vollzog ſich dieſer Akt in Leißnig, einer kleinen ſächſiſchen Stadt, über die ich in Kürſchners Quartlexikon nichts weiter finde, als daß ſie an der Freiberger Mulde und nicht weit von dem Schloß Muldenſtein liegt. Ich habe auch keinen Anlaß, mich bei dieſem Gemeinweſen länger aufzuhalten, denn, wenn ich auch zu Beginn meiner Geſchichte eine kleine Stilpopädie zu liefern gedenke, ſo bin ich doch weit entfernt, mich nach dem preis⸗ würdigen Muſter des lieben Meiſters Rabelais auch mit den Windelerlebniſſen meines Freundes zu beſchäftigen. Selbſt die erſte Hoſe und die Schulzuckertüte bringt mich nicht von dem Vorſatz ab, erſt in dem Augenblick einzuſetzen, wo mein

6 Stilpe.

Freund in das verſandfähige Alter eintritt, da man ihn von Hauſe weg und in fremde Hände gab, genauer geſprochen, da man ihn aus Leißnig nach Dresden und zwar in die Königliche Er⸗ ziehungsanſtalt für Knaben in Friedrichſtadt⸗Dresden gab, die unter dem Namen Freimaurerinſtitut be⸗ kannt iſt.

Zweites Kapitel.

Das Freimaurerinſtitut in Dresden⸗Friedrich⸗ ſtadt verfolgt nicht, wie man aus dem Namen ſchließen könnte, den Zweck, Freimaurer zu züchten, ſondern es erblickt ſeine Beſtimmung darin, aus jungen Knaben, die zu Hauſe ſchwer zu glätten ſind, wohlpolierte Jünglinge zu machen. Es führt ſie aber nicht bis zu jenen Höhen der Bildung, deren Erklimmung die Thore einer Univerſität öffnet, ſondern es begnügt ſich mit der beſcheideneren, aber zuweilen doch recht mühereichen Aufgabe, ſeine Pflegebefohlenen nur bis zum Vorhofe des Tempels zu bringen. Dort giebt es ihnen einen leiſen Schlag auf die Schulter (ſo, wie es den jungen Fohlen geſchieht, wenn man ſie aus dem Stalle läßt) und befiehlt ſie der fördernden Gnade deſſen, der aus Tertianern nach und nach Primaner

8 Stilpe.

und weiterhin im ſanften Gleisgange Studenten, Doktoren, Paſtoren, Profeſſoren, geheime Räte, wirkliche geheime Räte, kurz allerlei Lichter oder auch wohl blos Leuchter macht.

Mein Freund Stilpe, von dem ich hoffe, daß ich ihn einſt unſern Freund werde nennen dürfen (aber man hofft manchmal verwegen), wurde aus zweierlei Gründen in die Obhut dieſer wiſſenſchaft⸗ lichen und moraliſchen Brutanſtalt gegeben.

Einmal geſchah es deshalb, weil der Vater not⸗ wendig nach Südamerika reiſen mußte, um dort auf irgendwelchen beſonders begnadeten Wieſen irgendwelche Schmetterlinge zu fangen, die ſich darauf kaprizieren, juſt und nur dort ihr Daſein hinzubringen, und die deshalb noch immer nicht in die ihnen gebührende Klaſſe der wiſſenſchaft⸗ lichen Schmetterlingsordnung eingetragen waren. Stilpe⸗Vater hätte aber nicht mit der Seelenruhe, die zu einem ſolchen Geſchäfte nötig iſt, in das ferne Land ziehen können, wenn er ſeinen Sohn nicht in männlicher ſtriegelnden Händen gewußt hätte, als es die der guten Stilpe⸗Mama waren. Denn es muß geſagt werden, daß Mama Stilpe kein eigentliches Talent für Knabenerziehung beſaß. Sie war, eine liebe, nette und hübſche Frau übrigens,

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Erſtes Buch, zweites Kapitel, 9 9

zu ſanftlebig dazu und hatte das, für andere Kinder vielleicht recht paſſende, auf Willibald angewandt aber nicht ganz richtige Prinzip, lediglich mit Bonbons zu erziehen.

Sie handelte dabei nicht nach irgend einer pädagogiſchen Schulmeinung, ſondern ganz in⸗ ſtinktmäßig. Da ſie nämlich ſelber eine Lieb⸗ haberin von Konfitüren aller Art war, ſo hatte ſie die Bemerkung gemacht, daß nichts auf ihre Pſyche jo beruhigend, begütigend, ja im eigent⸗ lichſten Sinne beſſernd und, wenn die Bonbons beſonders auserleſen waren, erhebend wirkte, als die linde ſich löſende Süßigkeit dieſer Konditor⸗ erzeugniſſe, und ſie meinte nun, es müſſe das bei dem noch naiveren Kontakt zwiſchen der kindlichen Zunge und Seele im Kindesalter erſt recht ſo ſein.

In den einzelnen Fällen hatte es auch immer den Anſchein, als ob ſie recht hätte. Der kleine Willi⸗ bald, ſo hatte man ihn in der Taufe benannt, reagierte wie ein Engel auf Bonbons. Aber von der höheren Betrachtungswarte der väterlichen Kritik aus machte es ſich bald bemerkbar, daß das Allge⸗ meinbild der Willibaldſchen Entwickelung ſich nicht völlig ſo ſüß ausnahm wie die einzelnen Reaktions⸗

10 Stilpe.

erſcheinungen. Kurz geſagt: Willibald war außer⸗ halb der jeweiligen Bonbonwirkungen eine beträcht⸗ liche Range.

Der andre Grund zur Überführung des jungen Knaben ins Freimaurerinſtitut lag mehr auf * ſchaftlichem Gebiete.

Wenn jemand einen Sohn bekommen hat, ſo meldet ſich, kaum daß die erſte Windel trocken ge⸗ worden iſt, die ernſte Frage: Was ſoll der Junge werden? Iſt es erſtaunlich, daß Stilpe⸗Vaters Antwort darauf mit der Sicherheit einer Reflex⸗ bewegung lautete: ein Lepidopterologe? Dieſe Ant⸗ wort iſt durchaus begreiflich. Stilpe ſenior empfand wie jeder Vater ſeinen Sohn als eine Fortſetzung ſeiner ſelbſt; was lag da näher, als daß er in ihm auch den zukünftigen Fortſetzer ſeiner Lebensaufgabe ſah? Und nun konnte er ſich zwar ſagen, daß er ſelbſt ſchon manchen Schmetter⸗ ling zur Ehre der Wiſſenſchaft aufgeſpießt hatte, aber die ſattſam bekannte Beſcheidenheit unfrer exakten Wiſſenſchaftler erfüllte ihn doch zu ſehr, als daß er nicht auch hätte hinzufügen müſſen: Es giebt immer noch unaufgeſpießte Schmetterlinge genug, ja übergenug. Welch ein lieblicher Gedanke aber, daß der Sohn die Schmetterlinge einregiſtrieren

Erſtes Buch, zweites Kapitel. 11

wird, die einzuregiſtrieren dem Vater von einem neidiſchen Schickſale verſagt geweſen!

Indeſſen: Stilpe⸗Vater war ein ſtarker Geiſt und wußte die Subjektivität des väterlich Ange⸗ nehmen von der Objektivität der Pflichten zu trennen. Er ſagte ſich: Man muß alle Thüren offen laſſen und bis zu dem Zeitpunkt warten, wo man aus den Schritten des jungen Menſchen ungefähr erſehen kann, zu welchen er ſich am füg⸗ ſamſten leiten laſſen wird. Nur nicht ſchieben und ſtoßen! Er war durch ſeinen Beruf an zartere Hantierung gewöhnt.

Daher gab er denn ſeinen Sohn, als der im lateinfähigen Alter war (ach, wie bald iſt das ein Deutſcher!), nicht mit plumper Haft auf ein Gymnaſium, ſondern richtete ſein Augenmerk auf eine Anſtalt, die beide Wege, den in die Humaniora, und den in die Realiſtika, offen ließ. Eine ſolche Anſtalt war das Freimaurerinſtitut. Im Allge⸗ meinen mehr den realiſtiſchen Disziplinen des menſch⸗ lichen Wiſſens gewidmet, beſaß es doch auch eine Selekta für die unter ſeinen Zöglingen, die es nach den Reizen des klaſſiſchen Altertums oder wenigſtens nach den Laufbahnen gelüſtete, die nur der lateiniſch und griechiſch geaichte Jüngling betreten darf.

12 | Stilpe.

So ward Willibald, als er acht Jahre alt war, in die Zöglingsſchaar des Freimaurerinſtitutes eingereiht.

Acht Jahre alt! Mit Bonbons erzogen! Sehr eigenſinnig! Sehr zart! Sehr blaß! Und nun plötzlich unter dem Glasſturz zärtlichſter Bemutte⸗ rung hervorgezogen und einer Knabenſtriegelungs⸗ anſtalt überantwortet, die ſpartaniſchen Erziehungsgrundſätzen Huldigte .

Oh mein kleiner Willibald, was wirſt du er⸗ leben müſſen! Wehe, die Zeit der Bonbons iſt vorüber.

Willibald erhielt die Nummer 171, als er ins Inſtitut eintrat. Man ſchrieb ſie ihm mit Tinte in die Wäſche, nähte ſie ihm in die Kleider, klebte ſie ihm in Stiefel und Mütze; ſie ſtand auf ſeinem Kleider⸗ und Bücherſchrank, ſie ſtand auf ſeinem Bette, ſie ſtand auf ſeinem Waſchbecken, ſeinem Stiefelwichsplatz, ſeinem Seifenkaſten; und auch auf dem hölzernen Gewehre ſtand ſie, mit dem er exerzierte. Denn es wurde exerziert in dieſem Inſtitute, exerziert unter der Leitung zweier ſchnauz⸗ bärtiger ehemaliger Unteroffiziere, die auch ſonſt als Knabendreſſeure einen wichtigen Platz im Er⸗ ziehungsplane dieſer martialiſchen Anſtalt hatten.

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Erſtes Buch, zweites Kapitel. 13

Man kann daraus erkennen, wie eminent modern die Anlage dieſes pädagogiſchen Inſtitutes war. Sie ging nicht aufs Sentimentale, ſondern aufs Robuſte aus, ſie wollte nicht Romantiker er⸗ ziehen, ſondern Realiſten, ſie wuſch die jungen Häute nicht mit Mandelmilch, ſondern mit Bim⸗ ſteinſeife. Wie in den meiſten dieſer Internate, ſo lebte auch in ihr das bewährte Staffelprinzip des Lebens, das ſich in Kürze ſo darſtellen läßt: Die Unteren ſind die Fußſchemel der Oberen, und keiner kommt ungetreten in die Höhe. So erfüllen dieſe Anſtalten aufs Vollkommenſte den erzieheriſchen Zweck, aufs Leben vorzubereiten. Denn ſie nehmen es in ſeiner ganzen Rohheit vorweg. Der Spalt⸗ pilz des Illuſionismus wird mit kräftiger Hand ausgemerzt, und die bedenkliche Neigung mancher jungen Seelen ins Optimiſtiſche wird durch reichlich und konſequent applizierte Blitzgüſſe weggeſchreckt.

So redet unſere erwachſene Philoſophie. Aber, liebe Leute, ſo ein kleiner Junge von acht Jahren Mein Gott, woher ſoll der erwachſene Philoſophie haben? Er begreift mit nichten die Heilſamkeit des lebensvorbildlichen Getretenwerdens, er verſteht ganz und gar nicht, wie wertvoll es iſt, ſich die junge Haut durch Schinden abhärten zu laſſen,

14 Stllpe. ihm fehlt jeder Sinn für das realiſtiſch Tüchtige dieſer ganzen Methode. Er fühlt ſich einfach kreuzunglücklich. Er denkt an Muttern und weint.

So auch Willibald.

Was hat der arme kleine Kerl geheult unter ſeiner Bettdecke! Und wie hat er manchmal mit den Zähnen geknirſcht vor Ingrimm, wenn ihn die Oberen drangſalten, ihn, den „Battling“. So wurden nämlich die Kleinen genannt.

Die Battlingſchaft war bitter wie die Rekruten⸗ zeit. Ach nein: Wohl bitterer noch. Denn, was ſo eine junge Seele empfindlich iſt, das kann ſich ein erwachſenes Gehirn manchmal gar nicht mehr vorſtellen.

Deshalb wird es gut ſein, ich laſſe den Battling ſelber reden.

1700

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Drittes Kapitel.

Die Briefe des Battlings.

Liebſte Mamma!

Du haſt mir geſagt, das ich Dir gleich ſchreiben ſol, wie mir es gefellt im Inſtitut. Es gefellt mir gar nicht. Die Jungens ſind furchbar grob und haun mich immer und nenen mich Badling. Sie ſagen, ich wär ein dumes Geſcheeche. Ich mag nicht mer dableiben und wil wieder nach Leisnig. Ach, liebſte Mamma, ich weine die ganze Nacht und dan kommen ſie und haun mit einem Rohr⸗ ſtock auf die Bettdecke, die dinne iſt. Und früh läßt mich der Schüſſeloberſt den Zucker karieren beim Kaffe und Mittags der Schiſſelvice den Braten, wen's welchen gibt, aber's giebt blos

16 Stilpe.

einmal welchen. Ach liebſte Mamma kom doch gleich und hol mich ab. Sonſt lauf ich dervon.

Mit herzliche Grüße Dein Dich liebender Sohn Willibald Stilpe.

2

Meine liebe gute Mamma!

Du denkſt, ich liege Dir was for, aber es iſt doch alles war was ich Dir geſchrieben habe. Geſtern haben ſie mich wieder das Fleiſch wollen karieren laſſen. Da hab ich geſagt ich ſags dem Lehrer, da haben ſie mich untern Tiſch geſteckt und geſagt ich ſoll die Wacht am Rhein ſingen und ſie wollen den Takt treten mit den Beinen, und haben mich auch getreten. Aber geſungen hab ich nicht. Ach meine liebe gute beſte Mama, ſchick mir doch eine Kiſte mit Wurſt und Gänſefett, daß ich auch was hab auf die trockenen Dreierbrotchen, die wir zum Frihſtick kriegen, und ich dem Schiſſeloberſt

Erſtes Buch, drittes Kapitel. 17

was abgeben kann, daß er mich nicht immer den Zucker frih karieren läßt. Mit herzlichen Grüßen Dein Dich liebender Sohn Willbald Stilpe.

Ich hab einen Freund, der heißt auch Willi, er ſitzt neben mir in der Klaſſe. Dem wil ich auch Wurſt geben, weil er mir auch Wurſt gibt.

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Meine allerliebſte gute Mamma!

Ich liege Dir ganz gewiß nichts vor. Wenn ich in die Ferien komme will ich Dir ſchon zeigen, was ich für blaue Flecke hab, und einen ganzen Biſchel Haare hat mir Einer ausgeriſſen, wo ich gar nichts gemacht hatte. Blos, weil ich ihm die Stieweln nicht butzen wollte. Und den Lehrern darf man nichts betzen, dann krigt man blos noch mehr Keile, und die Lehrer thun den Großen doch nichts. Wenn ein Battling betzt, miſſen ihn auch die andern Battlinge mit verhauen, und er darf

auch nicht mitſpielen. 2

18 Stilpe.

Die andern Jungens krigen alle Taſchengeld für wenn die Obſtfrau kommt. Die kommt zweimal in der Woche und hat viele ſchöne Sachen, Johannis⸗ brot und Apfel und Birn und Miſpeln, aber Blockzucker darf ſie nicht haben. Du darfſt mir aber das Geld nicht ſelber ſchicken, ſondern dem Herrn Inſpektor Teurig, der giebt mir dann jede Woche zwanzig Fenge.

Es grüßt Dich Dein Dich liebender Sohn Willibald Stilpe.

Mein Freund Rammer läßt Dich auch grüßen. 2

Liebe, gute, allerliebſte Mama!

Ich bedanke mich ſehr ſchön für die große Kiſte. Ich habe der ganzen Schiſſel Leberwurſt und Pfannkuchen gegeben und ſtehe jetzt ſehr gut beim Schiſſeloberſten und den andern. Du ſchreibſt, ich ſoll Dir ſchreiben, was ich den ganzen Tag mache. Das will ich thun. Alſo paß auf: Um fünf Uhr frih klingelt eine Klingel am obern Schlaf⸗ ſaal und dann ſchreien die beiden Herrn Inſpektoren:

Erſtes Buch, drittes Kapitel. 19

Aufſtehn! Aufſtehn! Die erſte Abteilung ſich da zuhalten! Die erſte Abteilung ſind nämlich die Battlinge. Wir ſpringen nun ſchnell aus den Betten raus und rennen in den Stiefelwichsſaal und wichſen unſre Stiefel an den Beinen ohne Ausziehn ſehr blank. Dann rennen wir in den Waſchſaal, wo jeder ſein Waſchbecken hat, aber nicht aus Borzelan, ſondern zum Umkippen aus Blech. Die Herren Inſpektoren paſſen auf, daß wir die Hemden runterziehn und nicht ſo ſpritzen. Das Waſſer iſt wie Eis, und die Seife hat jeder in einem Schiebekaſten bei ſich, wo ſich auch der Waſchlappen und die Kämme aufhalten. Dann rennt jeder in den Kammſaal und kämmt ſeine Haare. Ich hab einen Scheitel machen miſſen links aber ohne Bomade, mit Waſſer. Wenn Einer Läuſe hat, ſo nennen ſie ihn Lauſewenzel. Es kommt beim Haareſchneiden raus und iſt eine große Schande und wird mit Eſſiig gewaſchen. Ich dachte ſchon, ich hätte welche, weil michs immer picken that, aber ich hatte keine. Mein Freund Rammer hat mal welche gehabt, aber dann hat er beim Haareſchneiden immer gebetet Lieber Gott gieb das ich keine Läuſe hab, und dann hat er keine mer gehabt.

2*

20 Stilpe.

Ich muß nun ſchließen, weil es gleich zum Bettegehn klingelt.

Es grüßt und küßt Dich Dein Dich treu liebender Sohn Willibald Stilpe.

=

Meine gute liebe allerbefte Mama!

Der Herr Inſpektor hat mir geſagt, das Du Taſchengeld fir mich geſchickt haſt. Das hat aber der Schiſſelvice gehehrt, und da hat er mir geſagt, ich ſolls keim ſagen und ſoll ihm finf Pfenge borgen. Das iſt aber verboten; aber ich muß ihm doch borgen, weil er mich ſonſt am Sonntag das Apfelmus karieren läßt und ſelber ißt.

Nun will ich fortfahren, was ich thu, wenn ich meine Haare gekämmt hab. Dann gehts nauf in die Arbeitszimmer und wird die Schulſachen noch⸗ mal durchgegangen. Wenn alle Abteilungen mit Wichſen und Waſchen und Kämmen fertig ſind

Erſtes Buch, drittes Kapitel. 21

wird angetreten und die Herren Inſpektoren ſehen Einen an, ob man reine gewaſchen iſt und auch die Stiewelſohlen ganz ſind, beſonders hinter den Ohren, wo ſich manchmal Schmutz befindet und man dann karieren muß. Dann ſingen wir in der Aula Nun danket alle Gott oder andere ſchöne Geſangbuchslieder und ein Herr Lehrer betet ein Gebet, was er grade auswendig kann. Dann gehts zum Kaffetrinken, wo immer jede Schiſſel, welche aus vier jungens beſteht und einen Schiſſeloberſt, Schiſſelvice, Schiſſelterz und Schiſſelſchund hat, eine Kanne Kaffe krigt und jeder drei Eckchen Semmel und zwei Stikchen Zucker. Der Zucker wird gewöhnlich in die Sem⸗ meln nein gebohrt und dann gedunkt, das ſchmeckt wie Kuchen. Die Schiſſelſchunds krigen aber nicht immer alle zwei Stikchen Zucker, weil manchmal welche fehlen. Wenn Kaffe getrunken iſt, iſt eine Arbeitsſtunde, wo Schularbeiten gemacht werden. Ein Herr Lehrer paßt auf, das keiner abſchreibt. Manche Jungen ſchreiben aber doch ab. Ich wage mirs nicht.

Nun lebe wol meine liebe gute Mamma, mein Nachbar ſchubt mich immer, daß ich Meſſerſpießen ſoll mit ihm. Das iſt ein ſehr ſchönes Spiel.

22 Stilpe.

Auch Federtippens wird geſpielt. Ich habe drei Goldhahnfedern gewonn, eine ganz neue dabei. Es grüßt und küßt Dich Dein treuer Sohn Willibald Stilpe.

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Liebe Mama!

Du weißt nicht, was Blockzucker iſt? Ich werde es Dir erklären. Das ſind rote oder gelbe oder weiße Tafeln, und die roten ſchmecken nach Him⸗ beer, die gelben nach Apfelſine und die weißen nach Citrone. Die roten ſchmecken am ſchönſten. Wenn man eine Tafel kauft, das koſtet zehn Pfennige, und jede Tafel hat fünf Abteilungen zum Abrechen. Nicht wahr, jede Abteilung müßte doch blos zwei Pfennige koſten? Koſtet aber einen Dreier. Rammer ſagt, im Biedchen draußen koſtet eine Tafel iberhaupt blos fünf Pfennige. Aber die Jungens, die blos in die Schule kommen hier und zu Hauſe wohnen, die bringen ſie mit und ſagen, ſie koſten zehn Pfennige. Wenn ein Junge kein Geld hat, ſo kann er auch ſeinen Braten der⸗ vor geben. Vor Schweinebraten krigt man zwei

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Erſtes Buch, drittes Kapitel. 23

Stückchen, aber vor Rinderbraten blos eins, das heißt, weißt Du, das iſt blos bei den Battlingen. Die Großen kriegen ſchon mehr. Nun weißt Du, was Blokzucker iſt.

Ich will Dir nun ſchreiben, was nach der Arbeitsſtunde frih kommt. Da kommt die Schule. Rechnen iſt ſehr ſchwer hier, weil der Lehrer, den die Jungens Buſchklepper nennen, ſo ein eklicher Fritze iſt. Das ſagen alle. Bib⸗ liſche Geſchichte iſt ſehr ſchön, aber im Latei⸗ niſchen ſind die Verba ſchwer zum abwandeln. Ich will aber doch in die Selekta. Die Selekta darf abends eine Stunde länger aufbleiben. Geo⸗

graphie iſt ſehr ausgedehnt. In der Geſchichte

gefallen mir die alten Germanen vortrefflich gut. Aber die Römer ſiegen immer. Naturgeſchichte iſt ſehr mies, weil ſie auch der Buſchklepper hat. Nicht wahr, liebe Mama, die Menſchen legen keine Eier. Rammer ſagt, ſie legten welche. Dann kommt das Mittageſſen. Erſt betet einer komm Herr Jeſu ſei unſer Gaſt und ſegne was Du uns beſcheret haſt, und wenns alle iſt, betet wieder einer Wir danken Dir Herr Jeſu Chriſt, das Du

unſer Gaſt geweſen biſt. Aber er iſt natürlich nicht wirklich da, ſondern man muß ſich ihn ſelber

24 Stüpe.

denken. Es giebt meiſtenteils Rindfleiſch mit Ge⸗ mieſe, und Brot kann ſich jeder nachholen, wenn er noch nicht ſatt iſt. Ich hole mir immer welches. Bier giebts keins, blos Waſſer. Wir haben einen neuen Schüſſeloberſt. Das iſt der ſchönſte Junge im ganzen Kaſten und ein Serbe. Er iſt ſehr gut und macht feine Witze. Geſtern ſagt er zu mir: Du, Schund, jetzt laß ich Dichs Waſſer karieren. Da haben wir aber alle gelacht. Er heißt Miokovitſch. Iſt das nicht ein ſchöner Name? Wenn ich groß bin, geh ich mit ihm nach Serbien. Er kann den Ball übern Thurm pritſchen. Auch die Rieſenwelle kann er. Er hat aber auch ſchon beinah einen Schnurbart. Ich hab ihn furchtbar gern. Liebe Mama, die Kiſte iſt ſchon lange alle. Es grüßt und küßt Dich Dein Dich vielmals liebender Sohn Willibald Stilpe No. 171.

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Liebe gute Mamma! Der Schiſſeloberſt hat geſtern dem Terz eine Schelle neingehaun, weil er mich geknufft hat.

Erſtes Buch, drittes Kapitel. 25

Schick mir doch Pfannkuchen in der Kiſte. Er ißt ſie furchtbar gerne. Denke Dir nur: ſein Vater iſt Feldherr der Serbier. Ich hab ſein Bild ge⸗ ſehen. Es iſt keine Sohle. Überhaupt: Mioko⸗ vitſch ſchwindelt nicht. In ſeinem Photographie⸗ album hat er auch viele furchtbar ſchöne Bilder von Mädchens. Die Großen nennen ihn alle den ſchönen Mio. Dem ſeine Muskeln ſollteſt Du mal ſehen, liebe Mamma! Sie ſind ſo dick wie meine Waden. Er braucht ſich auch keinen Scheitel zu machen, weil er Locken hat. Niemals läßt er mich karieren, denn er iſt überhaupt ſehr edelmütig. Seine ſerbiſchen Briefmarken krieg ich alle. Er kann furchtbar turnen. Geſtern iſt er in der Nacht ausgeſtiegen und am Blitzableiter nunter geklettert. Weil ich gerade an dem Fenſter liege, hab ichs geſehen. Daß Du nicht petzt, hat er geſagt, und ich ſolls auch keinem Jungen ſagen; ich ſags gewiß keinem. Er iſt erſt nach einer Stunde wieder gekommen, und da war er ſo luſtig, daß er mir einen Kuß ge⸗ geben hat. Ich weiß auch, warum er nunter geklettert iſt. Er hat ſich einen Strauß geholt. Den ganzen Tag hat er ihn immer in ſeiner Taſche gehabt. Mir gefellts jetz ganz gut

26 Stilpe.

hier. Liebe Mamma, ſchick doch ja recht viele Pfannkuchen. Es grüßt Dich Dein treier Sohn Willibald Stilpe.

Liebe Mamma!

Weil Du ſchreibſt, daß ich Dir nicht geſchrieben habe, was wir nach dem Eſſen thun, ſo will ich es ſchreiben. Da wird exeziert. Das iſt ſehr mühſam und mit Grobheit verbunden, weil die Herren Inſpektoren ſo ſchreien müſſen und ſich ärgern, wenn die Jungens alles falſch machen, was natür⸗ lich iſt, denn wenn man es noch nicht kann, ſo iſt es ſehr ſchwer. Ich möchte lieber bei den Trom⸗ lern ſein, und Miokovitſch will ſchon dafür ſorgen. Dann werden die Kleider ausgekloppt und vorge⸗ zeigt. Der Inſpektor kloppt auf die Hoſen, und wenn Staub kommt, ſo wirds aufgeſchrieben, und wer drei Mal aufgeſchrieben iſt, der darf nicht mit ſpielen ſpäter. Bei manchen kloppt der In⸗ ſpektor aber leiſe und bei manchen derb. Dann iſt wieder Schule. Hernach aber giebts Veſperbrot

Erſtes Buch, drittes Kapitel. 27

und dann dürfen wir drei Stunden ſpielen. Räuber und Dragoner iſt das Schönſte. Ich hab einen Verſteck, den keiner rauskrigt. Da können ſie lange ſuchen, wenn ich durchs Fenſter in den Bade⸗ baſſin krauche. Pritſchball iſt auch ſehr ſchön, aber die Pritſchen ſind ſo lang, daß man oft vorbeihaut, und dann brillen die andern. Die Seite, wo Miokovitſch iſt, gewinnt immer. Er hat die ſchwerſte Pritſche, aber er macht ſelten mit. Über⸗ haupt iſt er oft nicht da, wenn geſpielt wird. Ich hab ihn mal gefragt, warum er immer nicht da iſt. Da hat er geſagt: Du biſt neugierig, Schund, aber wenn du's niemand ſagſt, will ich Dir's verraten. Aber er hat mich blos verulken wollen, denn es iſt doch Unſinn, daß er auf dem Mond ſpazieren geht. Solche Witze macht er immer.

Liebe Mama, warum ſchickſt Du die Pfann⸗ kuchen nicht.

Es grüßt Dich Dein teurer Sohn Williwitſch.

28 Stilpe.

Liebe, gute Mama!

Ich habe furchtbar lachen müſſen, weil Du ſchreibſt, ob es nicht recht wehthut, wenn der Herr Inſpektor auf die Hoſen kloppt. Du denkſt wol, wir haben ſie an, wenn er kloppt? Nein, das ſind die andern, die erſte Garnitur, die ge⸗ kloppt werden. Nun will ich aber endlich ſchreiben, was abends gemacht wird. Da wird erſtens Abendbrot gegeſſen, wobei auch Biertrinken ſtatt⸗ findet. Es iſt aber natürlich blos einfaches. Da⸗ zu giebt es Brot und Butter oder Fett. Fett iſt mir lieber, denn die Butter iſt ſehr häufig ranzig. Viele Jungens ſchmieren ſie dann untern Tiſch oder ſchnippen ſie mit dem Meſſer an die Decke. Dann fällt ſie manchmal nächſten Tag in die Suppe. Weshalb es ein Unfug iſt und man Schellen kriegt, wenns gemerkt wird. Natürlich wagen ſichs blos die Großen. Im Winter ſoll die Butter auch von vielen Jungens geſammelt werden, und ſie machen dann abends auf dem Ofen im Arbeitszimmer Butterbäbe draus mit geriebenen Brot. Das muß fein ſchmecken. Dann gehts wieder naus zum Spielen und dann iſt Arbeitsſtunde oder Selbſt⸗ beſchäftigung, wobei Briefe geſchrieben werden oder ſonſt welcher Unſinn gemacht wird, weil kein In⸗

Erſtes Buch, drittes Kapitel. 29

ſpektor dabei iſt. Dann gehts um Neune ſchlafen, wobei das Schnarchen durch Anſpritzen beſeitigt wird. Miokowitſch klettert jetzt egal zum Fenſter nunter. Mit Rammern bin ich ſchiech, weil er ſagt, Miokowitſch wär ein Schlowake. Ich brauch überhaupt keinen Freund, weil mich Miokowitſch zu ſeinem Leibſchund ernannt hat. Deshalb heiß ich auch Williwitſch. | Dein Dich liebender Sohn W. St.

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Liebe Mama!

Schiech ſein iſt, wenn man mit Einem nicht mehr Freund iſt. Leibſchund iſt kein Schimpfname ſondern ſehr ehrenvoll.

Wie's am Sonntage zugeht, das iſt ſehr lang⸗ weilig, wenn man niemand in der Stadt hat, zu dem man Urlaub kriegt. Weißt Du denn gar niemand, wo ich hingehen kann? Früh gehen wir in die Kirche. Da haben wir einen beſondern Platz und alle Bänke ſind furchtbar bekritzelt, wo

30 Stilpe.

die Freimaurer ſitzen. Die meiſten Jungens nehmen ſich Bücher zum Leſen mit. Ich ſitze aber ſo nahe beim Inſpektor. Zu Mittag gibts Kompot und abends Thee und Käſe. Wenn ſchönes Wetter iſt wird Spaziergang gemacht. Es iſt aber ledern, weil man ſo zwei und zwei in einer Reihe geht. Und ich muß mit Rammern gehn, mit dem ich ſchiech bin. Er will immer zu reden anfangen, aber fällt mir gar nicht ein. Er ſoll erſt ſagen, daß Miokowitſch kein Schlowake iſt.

Liebe Mama, ich danke recht ſchön für die Pfannkuchen, aber es waren ſechs ungefüllte dabei. Es grüßt und küßt Dich Dein teurer Sohn Williwitſch.

&

Viertes Kapitel.

Man hat, denk ich, aus den Briefen des Battlings erſehen, daß Klein⸗Willibald, nicht ohne inſtinktive Lebenskunſt, es verſtanden hat, aus dem ſauren Apfel, in den zu beißen er gezwungen war, nach Möglichkeit Süßes zu ſaugen. Er hat unbe⸗ wußt nach einem Rezept gehandelt, das auch Er⸗ wachſenen häufig probat erſcheint zur Aufhöhung des Lebens: er hat ſich einen kleinen Heroönkult eingerichtet. Und, wie klug der kleine Burſche doch war! Er blieb nicht in der Ferne ſtehen und ſchwärmte platoniſch, ſondern er begab ſich froh⸗ gemut und entſchloſſen in die Klientele ſeines Idols.

Die Gelegenheit, jetzt ſchon zu konſtatieren, wohin ſich das Häkchen krümmen will, wäre günſtig, aber ich möchte dem Leſer auch etwas zu thun

32 | Stilpe.

geben und überlaß es alſo ihm, nachzumeſſen. Nur bitte ich, ſich nicht gleich ein Schema zu machen. Des Menſchen Seele iſt manchmal ſchwankender als der Gang eines Betrunkenen durch einen Sturz⸗ acker. Aber: wie Sie wollen!

An mir iſt es, weiter zu erzählen und zu ſagen, daß Jung⸗Stilpe allmählich aus dem Stande eines Battlings in den nächſt höheren eines Quarks emporrückte. Das heißt: Er wurde nun nicht mehr bloß geſchunden; er durfte auch ſelber ein bischen mitſchinden.

Es wäre nur menſchlich geweſen, wenn er ſich in dieſem Zuſtande wohler befunden hätte, als in dem vorigen. Aber es war nicht ſo. Am Selber⸗ ſchinden fand er wenig Geſchmack, und ſo entging ihm die tröſtliche Genugthuung, die nicht blos im Freimaurerinſtitut in Dresden⸗Friedrichſtadt den meiſten Menſchen das Geſchundenwerden erträg⸗ licher macht. Er hatte keinen Sinn für das Wohl⸗ thuende, das in der Möglichkeit liegt, von oben empfangene Püffe nach unten weiter zu geben.

Es thut mir leid, aber ich muß es feſtſtellen: Er dokumentierte damit einen betrüblichen Mangel an Begabung für realiſtiſchen Lebensverſtand. Die Strafe für dieſen Defekt konnte nicht ausbleiben:

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 33

Er fühlte ſich jetzt elender als früher. Denn, während er ſich die jetzt offenſtehende Gelegenheit der Ableitung nach unten entgehen ließ, verringerte ſich doch nicht ſeine Empfindlichkeit für die Stöße von oben. Im Gegenteil: Er empfand ſie viel peinlicher. Denn er hatte an Kritik zugenommen. Die Großen ſtanden ihm jetzt näher, und ſo er⸗ kannte er, daß allerlei Dinge an ihnen waren, die ſie eigentlich nicht berechtigten, die Kleinen ſtolz und ſchlecht zu behandeln. Er ſah, daß es keines⸗ wegs alle Helden waren wie der geprieſene Mio, es entging ihm vielmehr nicht, daß es unter ihnen Burſchen von unzweifelhaft gemeinen Qualitäten gab. Von dieſen ſich ſchinden zu laſſen, das hielt ſchwer und that ungemein weh.

Es kam für Jung⸗Stilpe die Zeit der erſten Zweifel an der zweckmäßigen und gerechten Ein⸗ richtung dieſer Welt. Zehn Jahre erſt alt, und ſchon mußte er an allerlei Warums nagen.

Warum darf mich Börner knuffen, da er doch unter den Großen als Feigling ver⸗ achtet iſt?

Warum darf mich Roſcher Dummer Quark nen⸗ nen, da es doch allgemein bekannt iſt, daß er der Dümmſte in ſeiner Klaſſe ift?

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34 Stilpe.

Warum darf ich den Bodemann nicht wieder ohrfeigen, da er doch ſchwächer iſt, als ich?

Alles blos, weil ich noch ein Quark bin?

Ja, zum Teufel, warum thun ſich die Quarks nicht zuſammen und wehren ſich? Wenn ſie alle zuſammenſtünden und vielleicht noch die Battlinge heranzögen, ſo müßten ſie die Großen, die ja viel weniger ſind, unterkriegen! ö

Aber auf dieſes Warum wußte er die Antwort. Die Quarks waren, bis auf wenige, zu denen er ge⸗ hörte, Memmen, Geſindel. Sie machten es mit den Battlingen nicht beſſer, als die Großen mit ihnen, und untereinander knufften und pufften ſie ſich noch mehr, als ſie von den Großen geknufft und gepufft wurden. Ganz ſicher, wenn er es ſich etwa einfallen ließe, gegen die Großen aufzumucken: Die meiſten Keile würde er von den Quarks kriegen.

Das war eine böſe Situation für den kleinen Stilpe, um ſo böſer, als Mio ins Land ſeiner Väter zurückgekehrt war.

Die Umſtände, unter denen ſich dieſes Er⸗ eignis vollzogen hatte, waren nicht ganz normaler Natur: Herr Mio war geſchaßt worden.

Warum? Der kleine Stilpe hörte was läuten, aber nicht zuſammenſchlagen. Es ging ein Munkeln

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 35

durch die Jungens, als ob ganz Unerhörtes ſich begeben hätte. Mio hatte etwas völlig Unſagbares gethan, etwas, wofür den Quarks und gar den Battlingen die Begriffe fehlten.

Gewiß etwas Großartiges, dachte ſich Stilpe, und ſein Held erſchien ihm nun im Zauber des Geheimnisvollen noch gewaltiger. Ihn ſelber hatte er wohl gefragt, aber es war ihm wieder die Ant⸗ wort vom Monde geworden:

Die Pauker wollen nicht, daß man auf dem Mond ſpazieren geht und vorzüglich nicht mit ihren Töchtern.

Mit ihren Töchtern? Auf dem Monde? Welche furchtbaren Geheimniſſe! Dem kleinen Stilpe rollte es gruſelig, aber warm übers Rückenmark.

Er fühlte: Der Mond war blos ein Symbol, ſo wie der Herr Jeſus Chriſt als Mittagsgaſt, aber die Töchter der Pauker, die waren reell gemeint. |

Himmel, wer das Symbol vom Monde er⸗ gründen könnte?

Eine Paukerstochter fragen?

Pfui, wer wird ſich mit Mädchen einlaſſen!

Jung⸗Stilpe war noch im Alter des Jungen⸗ ſtolzes, der im Mädchen etwas befleckend unterge⸗

3˙*⁷

36 Stilpe.

ordnetes ſieht. Mädchen! Das kam noch weit hinter den Battlingen. Was das für jämmerliche Dinger ſind! Höchſt feige Geſchöpfe. Alſo kein ſtandesgemäßer Umgang für ritterliche Enkel der alten Germanen.

Aber Mio war trotzdem mit ſolchen Dingern „auf dem Mond ſpazieren gegangen“? Konnte Mio, der Held, etwas Unritterliches thun? Nie! Es mußte vielmehr etwas höchſt Ritterliches ge⸗ weſen ſein.

Wer weiß: Vielleicht war eben das Spazieren⸗ gehen auf dem Monde das einzig Ritterliche, das man mit dieſen Weſen thun konnte.

Wenn man nur erſt wüßte, was es wäre!

Mio hatte, als der kleine Willibald durchaus wiſſen wollte, was unter dem Mondſpazierengehen zu verſtehen ſei, die Schonung ſeines Schnurrbartes geſtrichen und mit einem ſonderbaren Lächeln ge⸗ ſagt: Williwitſch, wenn ich dir das erkläre, ſchaſſen ſie dich auch. Warte noch, bis dir ſo was wächſt, und dann wirſt du's von ſelber erfahren.

Mein Gott, wie geheimnisvoll! Es hing alſo mit dem Schnurrbart zuſammen! Für Quarks war demnach der Mond durchaus unerreichbar, denn ein Quark mit einem Schnurrbart war undenkbar.

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 37

Man mußte mindeſtens ein Strunk werden. Aber auch unter den Strunks war ein Schnurrbart, d. h. die erſte Andeutung eines Anfluges davon, ein unerhörtes Wunder. Fliczek war der einzige unter den Strunks, der ſo etwas wie einen Flaum auf der Oberlippe hatte.

So wurde Fliczek das Idol.

Willibald machte ſich an ihn heran. Er opferte Hekatomben von mütterlichen Pfannkuchen, ihn zu gewinnen. Schließlich gelang es ihm mit einem Oſterfladen. Aber Fliczek war kein Held, kein Mio. Er den Oſterfladen und würdigte Willi⸗ bald ſeines Umgangs, aber es ſtellte ſich heraus, daß dieſer ſchnurrbärtige Strunk vom Monde einſt⸗

weilen nicht viel mehr wußte als der ſchnurrbart⸗

loſe Quark. Alſo hing es vom Schnurrbart allein nicht ab.

2

Da wurde Willibald ſelber ein Strunk. Zwölf Jahre war er nun alt. Die Periode der weſent⸗ lich körperlichen Schindung mit Ohrenlangziehen, Andenhaarenreißen, Schellenkriegen war im allge⸗ meinen vorüber. Die Drangſale fingen an, haupt⸗

38 Stilpe.

ſächlich ſeeliſcher Natur zu werden. Die Strunks, die nur die Großen noch über ſich hatten, wurden von dieſen nicht geprügelt, ſondern verhöhnt.

So ein Strunk, das iſt wohl was! Bildet ſich vielleicht ein, daß er ſchon ein Großer iſt? So ein Jämmerling! Hat noch kurze Hoſen an und thut ſich dicke! Vielleicht, weil er Selektaner iſt? Weil er ſeinen Namen mit griechiſchen Buchſtaben in alle Bücher ſchreibt? Iſt was Rechtes! Iſt doch noch ein kleiner Junge, mit dem man lange noch nicht über Alles reden kann.

Aber immerhin kamen die Selektaner unter den Strunks ſchon mit den Großen in einige Berührung. Da ſie mehr Schularbeiten zu machen hatten, als die übrigen, durften ſie mit den Großen eine Stunde länger aufbleiben. Dieſe Arbeitsſtunde wurde, da die Inſpektoren im Schlafſaal ſein mußten, nicht ſtändig überwacht. Es kam nur zu⸗ weilen der Direktor, um nachzuſehen, ob die Stunde nicht etwa ausgedehnt wurde, und um nachzuriechen, ob nicht geraucht worden war. Aber, wenn der Direktor Kegelabend hatte, war man ſicher. Dann rauchte alles, auch die Strunks. Es gab ſogar eine Waſſerpfeife! Und wer gut turnen konnte, kletterte die Mauer hinan, ließ ſich auf den Brief⸗

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 39

kaſten hinab, ſprang auf die Straße, lief ins Böhmiſche Brauhaus und holte Bier. Ha, was für Gelage! Richtige, große Deckel⸗

gläſer ſchwang man, und Lagerbier war drin!

Da wurden die Großen vertraulicher. Aber Alles durften die Strunks doch nicht mitmachen. So, wenn ein Nachtſcheuern war und die Dienſtmädchen in den Corridors herumkicherten. Dann kicherten die Großen draußen mit, aber die Strunks mußten im Hofe und Garten Poſten ſtehen.

Zweifellos: Das hing mit dem Monde zu⸗ ſammen. Freilich nicht im hohen Sinne des Miokowitſch! Der hätte nie mit Dienſtmädchen gekichert, die den Scheuerlappen in Händen hatten.

25

So kam Jung⸗Stilpe ins dreizehnte Jahr, und ſeine Sehnſucht war vergeblich hinter dem Monde her und was deſſen tiefſter Sinn eigentlich wäre.

In der Schule ging alles paſſabel, bis aufs Rech⸗ nen; ſeine Mitſtrunks achteten ihn als einen, der alles Verbotene kühn und heiter mitmachte und nie petzte, aber enge Freunde hatte er keine, weil er, wie die

40 | Stilpe.

andern ſagten, zu eingebildet war. In der That hielt er ſich für reichlich dreimal ſo geſcheid wie alle übrigen, wenn auch nicht gerade in den Fächern, die auf dem Stundenplane ſtanden.

Daß er ſich auch in die ſpezifiſche Geheimkunſt der Knabeninſtitute einführen ließ, bedarf nicht be⸗ ſonderer Erwähnung. Er übte ſie aber noch ohne jene Perſpektive, die erſt aus der Erkenntnis vom Weſensunterſchiede der Geſchlechter erwächſt. In⸗ deſſen: Es liegt in der Natur dieſer bedenklichen Kunſt, daß ſie den Hunger nach jener bedenklichen Erkennt⸗ nis weckt. Oh, die Augen Willibalds damals! Was wollten ſie nur, daß ſie zuweilen ſo weit offen und ſtarr waren, glühten und gloſten, flackerten und ſich weiteten ...

Wirklich, meine werten Herren Pädagogen, es genügt nicht, menſa abzufragen und den Jungens auf den Zahn zu fühlen, ob der peloponneſiſche Krieg feſt ſitzt, Sie müßten ihnen auch manchmal in die Augen ſehen. Sie, die Sie mit unfehlbarer Sicher⸗ heit jedes Jota ſubſcriptum aufſtöbern, das zuviel geſchrieben wird, ſehen Sie denn nicht, daß da unten in dieſem Auge ein häßlicher Wurm ſitzt? Umgotteswillen, rotten Sie dieſen Wurm aus, Herr Profeſſor, er iſt viel bedenklicher als zehn falſche

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 41

Jota ſubſcripta. Aber es iſt mehr dazu nötig, als rote Tinte, und der Rohrſtock thuts freilich nicht. Denken Sie blos an ſich, und was alles Ihnen der Wurm weggefreſſen hat! Wie? Sie verbitten ſich dieſe Verdächtigung? Ja, dann freilich!

Jung⸗Stilpe alſo, dreizehn Jahre alt, war bereits wurmſtichig. Werden wir uns wundern, daß er in puncto puncti frühreif ward? Nun, es giebt viele ſolche Wunderkinder. Wir wollen uns nicht anſtellen, als fänden wir das ſo verwunderlich. Oder wollen wir doch? Schön, wem es würdig dünkt, der thue ſeinem Herzen keinen Zwang an und entrüſte ſich. Hier ſtehe ich mit meiner ganzen Breitſeite; es haben viele faule Apfel Platz.

Alſo: Jung⸗Stilpe ſuchte mit ſonderbaren Blicken nach jener Perſpektive, die ihm noch fehlte. Da kam das, was wir den Zufall nennen, und was unſre Vorvordern den Teufel genannt haben, riß den Nebel entzwei und ſagte leiſe und mit infam linder Stimme: Bitte, da!

Es kam ſo: Der Direktor hatte wieder einmal Kegelabend, und die Selektaner thaten ſich gütlich an Alkohol und Nikotin. Sie waren alle bei einander, nur Einer fehlte, der mit dem Schnurrbart, Wenzel

Fliczek.

42 Stilpe.

Sie ſitzen alle recht ſorglos und im ſüßen Ge⸗ nuſſe des Verbotenen bei einander, da thut ſich die Thüre auf und Fliczek ſchreit herein: Fenſter auf! Lichter aus! Der Alte kommt übern Hof!

Dann, wie die Lichter ausgelöſcht ſind, flüſtert er leiſe zu jemand Unſichtbarem hinter ihm: Schnell, da 'ein, unters Katheder!

Willibald war gerade daran, als Letzter zum Fenſter hinauszuſpringen. Da, aber, wie eigen das war, drehte es ihn um.

Was denn nur? Unters Katheder!

Er duckte ſich dort in die Ecke.

Da, wie es raſchelt! Und neben ihm, hart

neben ihm drückt ſich was Weiches.

Gott oh Gott! Was mag das ſein! Wie warm! oh, und wenn tauſend Direktoren kämen! Die ſüße Angſt!

Wer biſt denn Du?

Sei doch ſtille! Der Direktor .. .!

Herrgott, wie weich und warm!

Rem! Hm! Rem! Es kommt den Gang herauf. Die Thüre ſchlägt.

Rem! Hm! Rem! Jetzt iſt er wohl im Zimmer? Ja, man hört ihn ja ſchnaufen.

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 43

Willibald fühlte zwei Arme an ſeinem Hals und an ſeiner Seite ein drängendes Klopfen.

Gott, was iſt das! Was iſt das! Er kann nicht anders, er muß ſeinen Mund darauf drücken. Oh, iſt das ſchön!

Rem! Rem! Hm! Rem! Die Thüre wieder zu. Schritte... fort...

Das Warme neben ihm bewegt ſich. Die Arme laſſen ihn los.

Wer biſt Du denn?

Wer biſt denn Du?

Ich bin Stilpe aus der dritten Klaſſe.

Laß mich doch los!

Nein. Wer biſt Du denn?

So laß mich doch!

Nein. Wer biſt Du denn?

Die Joſephine.

Buſchkleppern ſeine?

Ja doch! Laß mich doch!

Du! Du!

Und er hängt ſich feſt an ſie, und es iſt ihm, als wenn er ſchwerer und größer würde.

Aber ſo laß mich doch, ich muß fort.

Nein, er kann nicht loslaſſen. Er wühlt ſich

44 Stilpe.

mit ſeinem Kopf in all das Weiche, Warme, was um ihn iſt.

Da, jetzt hat er ihren Kopf in den Händen und drückt ihn mit aller Kraft.

Du, das thut ja weh!

Aber ſie geht nicht. Sie läßt ſich noch eine Weile ſo halten. Dann kommen auch ihre Hände an ſeinen Kopf, und nun fühlt er ihr Geſicht an ſeinem.

Ach, wie die Lippen weich ſind.

Du beißt mich ja!

Himmel was iſt das! Sie küßt ihn.

Gott! Gott! Gott!

Jetzt iſt ſie fort.

Noch eine Weile liegt er unterm Katheder. Dann taumelt er auf und rennt in den Schlaf⸗ ſaal. In ſeinem Bette weint er. Und ſtammelt ihren Namen. Schläft, naß von Thränen, em.

Wie er am Morgen aufwacht, iſt alles ver⸗ ändert um ihn herum. Er möchte ſchreien vor Ge⸗ fühl. Joſephine! Joſephine! Das iſt der Mond! Das iſt er!

Dann wird ihm angſt. Er möchte fort. Aus⸗ reißen. Nach Hauſe. Sich verſtecken.

Gottlob, daß Sonntag iſt. Er ſingt in der

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 45

Kirche ſo laut, daß der Inſpektor ihn anrüffelt. In ſein Geſangbuch, auf ſeinen Kirchenplatz, über⸗ all hin ſchreibt er Joſephine.

Und das Wort ſchiebt ſich in ihm hin und her, und nach dem Schema von Nun danket alle Gott ſchreibt er in unbeholfenen Verſen die Er⸗ lebniſſe dieſer Nacht.

Das war die erſte Regung.

Denn von nun ab wollte er ein Dichter werden.

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Fünftes Kapitel.

So ein kleiner Junge, der Dichter werden will, iſt ein merkwürdiges Phänomen. Es ver⸗ lohnt ſich wohl, es näher zu betrachten.

Es iſt keineswegs dasſelbe, wie wenn etwa Einer in Prima anfängt, die Papierleyer zu ſchlagen. Da pflegt meiſt Nachahmungstrieb und Ehrgeiz der Hauptgrund zu ſein, und die Fälle ſind ſelten bemerkenswert. Schon, weil ſie, ſelbſt in unſrer Zeit noch, gar zu häufig ſind.

Aber wenn die Verſe ſo früh flügge werden, wie bei unſerm Stilpe, dann liegt die Sache tief und verdient Beachtung. Bloße Nachahmung iſt es nicht, Ehrgeiz ſteckt gar nicht dahinter, was alſo iſt es wohl?

Es wird das Beſte ſein, wir ſtudieren die wunderliche Erſcheinung an dem Knaben Willibald.

Erſtes Buch, fünftes Kapitel, 47

Zuerſt die Bemerkung, daß vor der Szene unter dem Katheder ſich nichts in ihm geregt hat, was als Hinweis auf das plötzliche Versweſen ausgelegt werden könnte. Höchſtens, daß er ſehr gerne im Geſangbuch las, ohne daß ihn Frömmig⸗ keit dazu veranlaßt hätte. Er las, weil es ihm gut klang. Aber es kam ihm dabei durchaus nicht der Gedanke, auch mal ſo was Klingendes zu machen. Er dachte überhaupt nicht daran, daß das etwas gemachtes ſei. Er nahm es wie eine Blume, wie einen Baum und freute ſich dran.

Und nun, nicht wahr, es iſt doch ſonderbar: Kaum, daß er eine kleine Joſephine neben ſich ge⸗ fühlt hat, ſetzt er ſich hin und ſchreibt Verſe. Und nicht dies blos, er empfindet plötzlich, wenn auch verworren und wie aus drängenden Nebeln: Dies, das Verſeſchreiben, iſt ein unerhörtes Glück, ein Ziel über allen Zielen.

Etwas Schwillendes iſt in ihm, etwas, das ſich nur mit dieſem unſagbaren Gefühle unterm Kathe⸗ der vergleichen läßt. Und er hütet das Geheim⸗ nis dieſes Schwillens mit demſelben Gefühle von Scham, wie das Geheimnis ſeines Abenteuers mit Joſephine.

Vielleicht ſind dieſe beiden Geheimniſſe nur

48 Stilpe.

eines? Vielleicht iſt es nur der Biß in den ver⸗ botenen Apfel der Erkenntnis?

Aber er hat an dieſem Apfel doch fürs erſte nur geleckt, wenn auch zugegeben werden muß, daß er eine unbeſtimmte Luſt empfindet, nun auch hineinzubeißen. |

Nein, man kann nicht jagen daß Joſephine und die Verſe ein und dasſelbe ſind. Es ſind zwei Offenbarungen auf einmal, von denen die eine die andre mit ſich gebracht hat, und ſie ſind, obwohl ſie ſcheinbar dieſelben Erſcheinungen zur Folge haben, doch verſchieden von einander. Daß ſie einander auch feindlich ſein können, wird gerade dieſes Leben Stilpes beweiſen.

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Der Teufel zieht gerne Unterröcke an. Das wiſſen wir aus der Geſchichte mancher heiligen Männer. Manchmal hat er aber auch ein „hölzin Röcklin“ an und „liegt beim Wirt im Keller“. Es giebt ein paar lehrreiche Seiten der Literatur⸗ geſchichte, wo ſich Belege dafür finden.

Heilige und Dichter haben mehr mit dem Teufel

Erſtes Buch, fünftes Kapitel. 49

zu thun, als gute Chriſten und ſchwärmeriſche junge Mädchen glauben.

Wer nicht mit allerhand Teufeln den Tanz beſtanden hat, kann weder ein Gloriole noch den Lorbeerkranz erhalten.

Und die Teufel, die allerhand Teufel, es iſt erſtaunlich, was ſie tanzen können. Zu Anfang wiſſen ſie ſo ſanfte zu walzen, und es geht lieblich dahin mit ihnen, aber auf einmal iſt der Wirbel da, der in den Höllentrichter fegt.

Guter Gott, ich ſchreibe doch keine Dämonologie! Aber mein Held will (oh Willibald!) Dichter werden.

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Der kleine Willibald ſchied ſich jetzt von feinen Kameraden noch mehr ab, als früher. Einesteils fühlte er ſich hoch erhaben über ſie, und andern⸗ teils hatte er Furcht vor ihnen. Er empfand, daß es keinen unter ihnen gäbe, dem er ſeine Geheim⸗ niſſe verraten dürfte, ohne furchtbar ausgelacht zu werden, und er hätte auch keinen für würdig ge⸗ halten, ſein Mitwiſſer zu ſein. Auch war er viel

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50 Stilpe.

zu ſehr mit ſich beſchäftigt, als daß er Luſt hätte haben können, ſich an ſie anzuſchließen.

Er fing an, mit ſich zu phantaſieren. In den Schul⸗ und Arbeitsſtunden ſowohl wie in der freien Zeit ließ er ſeine Gedanken nach unbekannten Dingen fliegen und machte groteſke Ungetüme von Verſen daraus. Nebſtbei fing er auch an, auf alles Gedruckte zu fahnden, was kein Schulbuch war. Der Hauptinhalt all ſeiner Phantaſien war aber Buſch⸗ kleppers Joſephine.

Er trug die Wärme von ihr, die er unterm Katheder gefühlt hatte, mit ſich herum, und zu⸗ weilen war es ihm, wie wenn er in einer lauen Wolke ginge. Manchmal mußte er die Augen zumachen, ſo ſtark überkam es ihn.

Wenn er ſie nur einmal ſehen könnte, ihr ein Zeichen geben, dachte er ſich. Aber es ſchien, als ob ſie gar nicht mehr da wäre. Jede Minute, die er allein ſein konnte, verwandte er darauf, ihr aufzulauern.

Es war im Herbſt, und ſo durfte er hoffen, ſie einmal im Lehrergarten zu ſehen, der, in ver⸗ ſchiedene Parzellen geteilt, für jeden Lehrer ein Sondergärtchen enthielt. Aber immer war es nur der alte Buſchklepper in ſeinem grauen Ziegenbarte,

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Erſtes Buch, fünftes Kapitel. 51

den er botanifierend dort wandeln ſah, oder die Frau Buſchklepperin, von der unter den Jungen die

Rede ging, ſie prügele ihren Mann jede Woche

mindeſtens einmal. Das machte ſie unter den Jungens zwar ſehr beliebt, aber für Willibalds Zwecke genügte es doch nicht.

Etwa vier Wochen lang lauerte Willibald auf Joſephine, da kam wieder ſo ein Selektanerabend, der mit des Direktors Kegelvergnügen zuſammenfiel.

Diesmal waren Alkohol und Nikotin in den Hintergrund gedrängt durch ein großes und heroiſches Unternehmen. Einer von den Großen hatte ſich den Schlüſſel zur Küche verſchafft, neben der ein Keller voll Apfel lag. Und es war die Loſung verteilt worden, daß jeder Selektaner ſeinen Reiſekoffer bereit halten ſollte zu einem Raubzuge auf dieſe Apfel. Nur ein paar Strunks waren

ausgewählt, Poſtendienſte zu leiſten. Es war ein

Beweis für das Vertrauen, das man Willibald ent⸗ gegenbrachte, daß auch er der Vorpoſtenkette eingereiht wurde. Der Poſtenkommandant aber war Fliczek. Er hatte ſich zwar dagegen gewehrt und das verantwortungsvolle Amt durchaus nicht annehmen wollen, aber die übrigen Großen hatten ihn beim

Ehrenpunkte gefaßt und erklärt, er, als der 4*

52 Stilpe.

Schlaueſte, müſſe unbedingt die Poſten leiten, wenn er nicht für einen elenden Feigling gehalten ſein wollte.

So rückten die Poſten, Fliczek an der Spitze, aus. Leiſe, auf den Zehenſpitzen, obwohl dies eigentlich nicht nötig war, ſchlich man durch die langen dunkeln Corridore, dann ging es eine enge Treppe hinunter in das Souterrain, und von hier aus ſollte der Küchenbau umſtellt und eine Späh⸗ ſpitze bis vor an das Direktorhaus geſandt werden. Fliczek verteilte die Poſten, Willibald behielt er zurück.

Du mußt bis ans Direktorhaus, Stilpe. Ich geh an Buſchkleppern ſeins. Wenn alles ruhig iſt, pfeifſt Du, daß Rille in die Claſſe läuft und die Andern ruft. Wenn der Direktor kommt, klatſchſt Du und reißt aus.

Was willſt Du denn an Buſchkleppern ſeim Haus? Da kommt doch niemand her!?

Halt'n Rand und mach, was ich Dir ge⸗ ſagt habe.

Willibald ging über den Hof geradeaus und hörte, wie ſich Fliczek nach links entfernte.

Was wollte der zum Teufel denn dort? Willi⸗ bald begriff durchaus nicht, weshalb man ſich gegen

Erſtes Buch, fünftes Kapitel. 53

den alten Buſchklepper durch einen Hauptpoſten ſchützen wollte, vor dieſem alten Mann, der ganz gewiß nicht in der Nacht revidierte.

Aber er ging, doch ein wenig ſtolz darauf, daß er den gefährlichſten Poſten erhalten hatte, bis zum Direktorhauſe und dachte einſtweilen nur an ſeine Pflicht. Als er aber den vorſchriftsmäßigen Pfiff gethan hatte und ringsum nichts Verdächtiges zu bemerken war, da kam ihm plötzlich der Gedanke an Joſephine.

Wenn ich durch den Lehrergarten hinten herum⸗ ginge, dachte er ſich, ſo käme ich an die Hinter⸗ thüre von Buſchkleppers Hauſe. Dort wird mich Fliczek nicht merken, der natürlich an der Vorder⸗ thüre aufpaßt. Vielleicht iſt hinten noch Licht, und ich ſehe ſie.

Kaum, daß er ſich das gedacht hatte, war er auch ſchon auf dem Wege. Der war zwar unbe⸗ quem, denn er mußte immer über die Zäune ſteigen, die zwiſchen den einzelnen Lehrergärtchen waren, auch ſtieß er ſich bald an einen Baum, bald kam er in ein Gebüſch, bald ſank er in ein Beet, aber er wäre ja durch Meere geſchwommen, um in Joſephinens Nähe zu kommen.

Er zählte die Stackete ab. Fünf hatte er nun,

54 Stilpe.

nach dem ſechſten war er in Buſchkleppers Garten.

Herrgott, wie ihm das Herz ſchlug!

Da, eben, als er überſteigen wollte, hörte er was flüſtern.

Himmel! Wer iſt das! Er ſchlich ſich nahe an das Stacket, um genau zu hören, wo das Ge⸗ flüſter herkam. Rechts hinten wars, drüben in der Laube. |

Er ſchlich das Stacket entlang nach rechts, der Laube zu. |

Das Geflüſter wurde vernehmlicher. Plötzlich hörte er:

Pſcht!

Was denn?

Da knackte was!

A, nee!

Willibald wurde es ſiedendheiß. War das nicht...

Aber er ging näher. Und er hörte:

Bleib doch noch e bißl!

Nein, nein, ich muß zu den andern, ſonſt merken ſie's.

Ach, Du!

Da, an dieſem Ach Du! merkte Willibald, daß

Erſtes Buch, fünftes Kapitel. 55

die eine Stimme Joſephinens war, und mit einem Male wußte er, daß die andre die Fliczeks ſein mußte.

Eine jagende Wut überkam den kleinen Burſchen. Mit einem Sprunge war er übers Stacket, mitten in die Finſternis hinein.

Ein Aufſchrei rechts vor ihm. Nur ein paar Schritte.

Noch ehe Fliczek davon konnte, war Willibald dort und draſch auf den Fliehenden mit ſeinen kleinen Fäuſten wie raſend los. Dann wandte er ſich um und blieb vor Joſephine ſtehen:

Du, Du, Du Luder, Du, Du Luder!

Ja, Du, was willſt denn Du hier?

Ich, ich, ich ... Und nun heulte der arme Junge los, daß das Mädchen ſeinen Schreck und ſeinen Zorn über ihn vergaß und ihn tröſtete.

Er war ganz beſinnungslos und legte ſeine Hände auf ihre Achſeln und lehnte ſeinen Kopf darauf und ſchluchzte: Du... mußt... mir... nicht böſe fein, ich, ich. .. ach ... Und er heulte wieder.

Nein, nein, ich bin Dir ja nicht böſe, ich .. . ich bin Dir wirklich nicht böſe ... nein, aber nu geh doch, geh!

56 Stilpe.

Da war der kleine Junge wieder ganz ſelig und fiel dem Mädel um den Hals und drückte ſie, preßte ſie, quetſchte ſie, daß ſie ihre Not hatte, ihn von ſich abzuſtreifen. Ihr Geſicht war ganz naß von ſeinen Thränen, und die offenen Haare hingen ihr über die Bruſt vor. Sie ſahen einander nicht, aber ihre Blicke hingen ineinander.

Schließlich verſetzte ihr Willibald einen Kuß, ſo laut und ſchallend, daß ſie nun, ob auch ungern, es für unumgänglich nötig hielt, ein Ende zu machen.

Nu geh, Du, mach, ſonſt kommt noch jemand. Aber ſo geh doch!

Willibald ließ ſie nicht los.

Du, ich ſchreie nu aber! Und wenn mei Vater kommt!

Der Gedanke an den alten Buſchklepper brachte Willibald zur Beſinnung.

Ja, ja, aber nicht mehr mit Fliczekn!

Nee, nee, geh nur!

Willibald ließ ſie los und lief davon. Er lief, als hätte er keinerlei Urſache, leiſe und vorſichtig aufzutreten, er ſprang quer über den Hof, nach dem Claſſenzimmer zu. Plötzlich zwang ihn etwas, ſtehen zu bleiben.

Erſtes Buch, fünftes Kapitel. 57

Herrgott, wenn jetzt die Andern geklappt ſind! Und ich bin ſchuld daran!

Ich? Nee: Fliczek!

Und jetzt kam die Wut nochmals über ihn, und ſtatt durch die Thüre zu gehn, ſprang er durchs Fenſter in den Corridor.

Da roch es wundergut nach Apfeln.

Das beſänftigte ihn. Leiſe ſchlich er ſich hinauf in den Schlafſaal.

Nr. 172, auch ein Selektaner, lag noch wach und kaute an einem Apfel:

Was kommſt Du denn ſo ſpäte?

Ich hab, ich hab gedacht, ich muß noch Poſten ſtehn.

J, Unſinn. Wir ſind ſchon lange oben. Deine Appel und Fliczek'n feine hat der lange Ayrich. Willſt Du een'? Ich habs ganze Bette voll.

Gieb nur!

Und auch der Apfel ſchmeckte gut.

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Sechſtes Kapitel.

Als Willibald am nächſten Morgen erwachte, war ſein erſter Gedanke Joſephine, ſein zweiter Fliczek. Bei dem erſten war ihm linde und gut zu Mute, bei dem zweiten ballte er die Fäuſte.

Er hatte die Empfindung, daß er ſich heute

ſeiner Haut zu wehren haben werde. Aber er hatte keine Furcht. |

Er ſoll nur kommen, der Böhmake, dachte er ſich, und bei dieſer Gelegenheit regte ſich in ihm zum erſten Male der Raufdeutſche. Er ſoll nur kommen und mir was ſagen! Eine Schelle kriegt er! Und er erſchauderte nicht vor dem Gedanken, daß er, der Strunk, einen Großen ohrfeigen wollte! So verrückt das Weib die Standes⸗ unterſchiede.

Aber es kam anders. Der Tag wurde zwar

.

Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 59

reich an Aufregungen im Inſtitute, aber juſt Willibald wurde nicht davon betroffen.

Fliczek wußte offenbar nicht, von wem er ge⸗ prügelt worden war. Er war ſehr niedergeſchlagen und blaß, die einzige Farbe in ſeinem Geſicht war ein blauer Fleck unterm rechten Auge; er ließ den Kopf hängen und ſchien es nicht zu wagen, aufzu⸗ blicken. N

Willibald merkte ſofort, wie es ſtand, und es kitzelte ihn, den gehaßten Böhmen zu reizen.

Du, was haſt Du denn da für einen Fleck im Geſichte?

Was Dich nix angeht, Strunk dummer.

Biſt wohl hingeplautzt bei Buſchkleppern geſtern?

Halt'n Rand, Strunk, oder ich.

Na, was denn? Wenn ich doch blos fra— ge... Überhaupt: Warum biſt Du denn fo gerannt?

Haſt Du mich geſehn, Stilpe? Wo haſt Du mich denn geſehen?

Nu, Du biſt ja im Hofe an mir vorbeige⸗ rannt, wie beſeſſen.

Das war kühn kombiniert von Jung⸗Willibald. Wenn nun Fliczek gar nicht über den Hof gerannt wäre? Aber er hatte richtig kombiniert.

60 Stilpe.

Ich, ich habe was kommen hören, und da hab ich Leine gezogen. Ich dachte ſchon, ich wäre geklappt.

Und da biſt Du wohl hingefallen?

Ja, da, an der Mittelthüre, auf die Treppe hin. Was haſt denn Du aufm Hofe zu ſuchen gehabt? Du Haft doch ſollen durch den Souter⸗ rain zurück?! |

Ich hab Dir was jagen wollen. f

Mir? Was denn? Warum denn? Du: Haſt Du was gehört?

Ja, eben, ich hab was gehört bei Buſch⸗ kleppern hinten, und da hab ich gedacht: Das muß ich Dir ſagen.

Du haſt was gehört. ... Wars laut? Haſt Du auch was geſehn?

Nee, s war ja ganz dunkel, aber ich hab jemand ſchreien gehört.

Du, Strunk, das ſag ich Dir: Daß Du niemand was davon ſagſt. Sonſt ſetzſts Keile!

Was ſoll ich denn ſagen? Ich weiß ja gar nichts. Haſt Du denn etwa geſchrieen, Fliczek?

Ich? Unſinn? Ich hab auch nichts ge⸗ hört. Du haſt wohl geträumt vor Angſt, feiger Strunk.

Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 61

Da hätte ihm Willibald von Herzen gerne Alles durch eine Ohrfeige klargemacht, aber er war doch zu klug dazu. Nur das konnte er ſich nicht verkneifen, daß er ſagte:

Ich weiß beſſer wie Du, wer feige iſt.

Worauf Fliczek nichts zu erwidern wußte, als ein verächtliches: Strunk!

E

Dieſes Geſpräch fand nach dem Frühſtück ſtatt, als ſich die Klaſſen zur Arbeitsſtunde in ihre Zimmer verteilten.

Die Arbeitsſtunde ſelber hatte ein andres Aus⸗ ſehen, als ſonſt. Es war ein merkwürdiges Ge⸗ flüſtere unter den Jungen, zumal in den Ober⸗ klaſſen. Unter den Bänken wurden Apfel herum⸗ gegeben, und häufig hörte man das Schnirpſen, wenn Einer in einen Apfel biß. Dazu ein Ge⸗ kicher und Blicke hin und her. Ein Triumph⸗ gefühl ging durch Alle, und wenn ſie den beauf⸗ ſichtigenden Inſpektor anſahen, ſo konnte man aus den Blicken leſen: Der dumme Kerl weiß von nichts.

62 Stilpe.

Auch während der Andacht hielt dies Weſen an. Alle Hoſentaſchen der Selektaner ſtaken voller Apfel, und man griff ſich gegenſeitig an die Taſchen und kicherte dazu. Als einer, mitten in dem ſehr langen und feierlichen Gebete des Vizedirektors, der mit Vorliebe Sprüche aus Jeſus Sirach ein⸗ flocht, zu ſeinem Nachbar ſagte: Ich hab ſchon Bauchkneipen, da ſetzte ſich dieſe Mitteilung im Flüſtertone durch die ganze erſte Reihe fort, und der Vizedirektor mußte in ſeinen Sirach ein grollendes: Ruhe! einſchieben.

Aber ſchon nach der zweiten Unterrichtſtunde, als die Körbe mit Dreierbrodchen eben an die Thüre geſtellt waren, meldete ſich das Verhängnis. Die dicke Küchenmeiſterin erſchien, ohne angeklopft zu haben, in der 2. Selektaclaſſe, wo der Direktor gerade Cornelius Nepos traktierte.

Entrüſtet blickte der Scholiarch die Frau an, und ein aufgebrachtes Rhm! fuhr ihr entgegen. Sie aber, ohne eine Spur von dem Reſpekte, der ſie ſonſt nie verließ, ſchwappte bis an das Katheder vor und rief mit erregter Stimme: Meine Appel hamſe gemauft! Meine ſcheenen Appel, die niſcht⸗ nutzgen Jungen!

Was behaupten Sie!?

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Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 63

Ich behaupte niſcht, Herr Derekter, ich be⸗ haupte Se gar niſcht, ich ſage blos: Gemauſt ham ſe ſe, alle ham ſe ſe gemauſt!

Mäßigen Sie ſich! Gehen Sie in Ihre Küche! Hier wird Schule gehalten!

Aber, wenn ſe doch meine Appel alle ge⸗ mauſt ham, Herr Derekter!

In dieſem Augenblicke hörte man was fallen, und ein großer rotbackiger Apſel rollte langſam aus der erſten Bankreihe vor das Katheder.

Es war, als ob ſich der Apfel ſeiner Wichtig⸗ keit für dieſen Augenblick bewußt wäre, mit ſo viel Ausdruck, ja Würde rollte er. Als er zuletzt noch ein paar Mal hin und her ſchwankte, war es wie der Schlußappell in der Rede eines Staatsanwalts.

Aber es iſt Staatsanwälten nur ſelten be⸗ ſchieden, ſo überzeugend zu wirken, wie es dieſer ſchweigend beredte Apfel that.

Sämmtliche Selektaner machten eine unbewußte Bewegung, als wollten ſie unter die Bänke kriegen, die Augen des Direktors traten aus ihren Höhlen und hatten ganz offenbar die Tendenz, in aller Körperlichkeit unter die ſchuldbeladene Schülerſchaft zu fahren, die Küchenmeiſterin aber warf ſich mit dem Applomb eines trächtigen Elephantenweibchens

64 Stilpe.

auf den Apfel und ſchrie: Hammr nu den Beweis, Herr Derekter? Hammr dn Beweis? Ob das nich eener von mein Appeln is? Na? Oh die verfluchte Jungens, die Mauſehaken! Nee, ſo e Volk! Fui Teifel, ſag ch, und noch emal: Fui, ſchämt eich!

Und ſie ſetzte den Apfel mit der Wucht des Triumphes auf das Katheder und fixierte bald die Schüler, bald den Direktor.

Der ſprach: RKhm! Hm! Das iſt ... Ich ſage: Das iſt unerhört! Das iſt eine Schmach ohnegleichen! Wer von euch ...! Hm! Geſteht! Ich ſage: Geſteht auf der Stelle, oder ...! Hrm! Ich werde ein Exempel. Rhm ! |

Plötzlich veränderte ſich fein Blick, und er wandte ſich zornesvoll zur Köchin: Gehen Sie in Ihre Küche, ſag ich! In Ihre Küche! In... Ihre ... Küche!!! Hier wird Schule gehalten! Gehen Sie an Ihre Arbeit! Alles andre wird ſich finden. Rhm!

Die Küchenmeiſterin ſah den Direktor erſchrocken an und floh hinaus.

Jetzt aber verließ der Direktor das Katheder.

Niemand durfte zweifeln, daß etwas Fürchter⸗ liches nahe bevorſtand.

Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 65

Es bezweifelte es auch niemand.

Gänſe beim Gewitter ducken ſich nicht ſcheuer, als die braven Selektaner es thaten, während der Direktor ſtampfend und end auf und ab lief.

So that er immer, wenn er Einen am Ohr nehmen wollte.

Man kannte das.

Er hatte eine eigene Art, Einen am Ohr zu nehmen; ſo eine gewiſſe Drehung, als wollte er eine Thüre aufſchließen und der Schlüſſel ging nicht.

Die in der vorderſten Reihe bereiteten ſich ſchon vor, die Ohren zu ſchützen.

Aber es kam anders. Der Fall war zu aus⸗ gedehnt. Denn der Direktor hätte vierzig Ohren drehen müſſen.

Eine Maſchine wäre nötig geweſen.

Er plante Schlimmeres.

Plötzlich donnerte er: Rhm! Sämmtliche Schlüſſel auf die Bank gelegt!

Die Schlüſſel klapperten herauf.

Rhm! Primus, die Schlüſſel einſammeln!

Es geſchah.

5

66 Stilpe.

Rhm! Hat die erſte Selekta auch ge⸗ ſtohlen?

Kein Athemzug im ganzen Raume.

Rhm. Ich frage: Hat...

Ja! (Die guten Jungen liſpelten das wie kleine Mädchen.)

Ach, rhm, das iſt ja wirklich ... ich ſage: Das iſt ... in der That .. . rhm! Primus!

Der Primus erhob ſich und neigte das lilien⸗ blaſſe Haupt.

Geh in die erſte Selekta und bitte den Herrn Doktor Box, er ſoll die Schlüſſel einſammeln laſſen.

Der Primus fegte davon, froh, aus dem Bann⸗ kreis dieſer rollenden Augen zu kommen.

Wir folgen ihm.

Doktor Box, ein Pädagoge voll Humor, hatte eben einen Witz zum Beſten gegeben, und die großen Selektaner wollten ſich vor Lachen aus⸗ ſchütten, als der Abgeſandte des Zorns ſeine Bot⸗ ſchaft ausrichtete.

Rups, wie brach da das fröhliche Ge⸗ lächter ab.

Nur Doktor Box blieb fröhlich, und er ſprach:

Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 67

Die adoleſcentuli ſollen ihre werten Schlüſſel auf die Bank der Wiſſenſchaften und ſchönen Künſte legen! Thuts, meine Lieben, thuts! Mir ſcheint: Es ſtinkt in irgend einem Schranke? Oder in allen? |

Da klingelte es, und ſchon erſchien auch der Direktor auf der Schwelle.

Haben Sie die Schlüſſel, Herr Kollege?

Hier ſind ſie. Was iſt denn geſchehen, Herr Direktor?

Sie haben, rhm, Diebe zu Schülern, Herr Kollege!

Na, ich danke!

Es verläßt niemand das Zimmer! Beide Selekten haben Zimmerarreſt bis auf Weiteres.

&

In der zweiten Selekta wurde der Zimmer⸗ arreſt damit eingeleitet, daß man den Unglücklichen, der den Apfel hatte fallen laſſen, gemeinſchaftlich

durchprügelte. 5*

68 | Stilpe.

Das iſt die Art, wie fich die Verzweiflung des Volkes gerne entlädt.

In der erſten Selekta ging ein Gemunkel von Verrat, und man hatte natürlich die zweite Selekta im Verdacht. Schon war man daran, über die Strafen zu beratſchlagen, die hier am Platze waren, da wurde Fliczek durch den Inſpektor heraus⸗ gerufen. | Der Hund! Die Petze! So ein Schuft! Alſo der Czeche! Natürlich: Der Czeche! |

Die entrüſtete Schaar ahnte nicht, daß ihnen in dem beſchimpften e ein Blitzableiter er⸗ ſtanden war.

2

Die Lehrerconferenz, vor deren Beſchluß die beiden Selekten zitterten, befaßte ſich einſtweilen gar nicht mit dem Raubzug auf die Apfel, ſondern mit einem viel gräulicheren Faktum: Mit „der un⸗ glaublichen ſittlichen Verworfenheit dieſes entarteten Burſchen da“, wie der Direktor ſich in gehobener Rede ausdrückte, indem er auf Fliczek wies.

Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 69

Wir werden uns nachher mit einer Ver⸗ gehung zu befaſſen haben, die leider den beiden Selekten, wie es allen Anſchein hat, ausnahmslos zur Laſt fällt, mit einer Vergehung, die ſchlimm, rhm, ſehr ſchlimm iſt, die wir aber im Vergleich mit der Büberei dieſes Menſchen noch gelinde an⸗ ſehen dürfen. Wir können, vielleicht, rhm, ich ſage: vielleicht, annehmen, daß dieſes Vergehen der Selektaner mehr ein übermütiger Jungenſtreich als ein Beweis für böſe Luſt iſt. Aber hier, rhm, hier, meine Herren Kollegen, hier iſt ſittliche Ver⸗ lumptheit! Hier iſt, rhm, Seuchenſtoff gefährlichſter Art! Hier iſt geil wucherndes Unkraut!

Der Vizedirektor, der die Steigerungstendenz im Stile des Direktors kannte, erlaubte ſich, ein⸗ zuwerfen, ob es nicht wohl angebracht ſei, den Fliczek einſtweilen hinauszuſchicken.

Rhm, ja, ja wohl, hinaus mit dieſem Burſchen! Aber unter Bedeckung! Hinaus, ſag ich, Fliczek!

Fliczek ging.

Es iſt keine Frage, meine Herren, daß wir, ehm, daß wir dieſen gefährlichen Buben entlaſſen müſſen. Dank der Anzeige des Kol⸗ legen Wippe, der nicht blos als echter Vater,

70 Stilpe.

| ſondern auch als pflichtbewußter Pädagoge ge⸗ handelt hat, und von dem wir nie etwas anderes erwartet haben, iſt die Unzucht, rhm, ich ſage die Unzucht

Bitte, Herr Direktor, nicht wol eben dies, denn ſo weit wage ich meine Tochter nicht mit anzuſchuldigen ..., wimmerte Herr Wippe.

Ich ſage doch: Unzucht, ohne daß ich das Gräßlichſte anzunehmen verzweifelt genug wäre. Denn ſchon der Gedanke, nächtlicher Weile aber genug! Wir haben, rhm, die Pflicht, auch den Gedanken zu töten, der ... Aber genug und gleichviel! Wir wiſſen, daß dieſer Bube auf Schleichwegen geweſen iſt, und nicht zum erſten Male, auf Schleichwegen, ſage ich, rhm, die keines⸗ falls unſchuldiger Natur waren. Er ſelbſt hat es nicht zu leugnen gewagt. Sein Auge oh, aber, rhm, genug! Wir müſſen ihn dimittiren. Kollege Wippe hat ſich in rühmenswerter Auf⸗ wallung entſchloſſen, ſeine Tochter, über deren An⸗ teil an dem Entſetzlichen nicht wir zu befinden haben, noch heute aus dem Hauſe zu thun, und es muß auch dieſer Burſche heute noch das Inſtitut verlaſſen. Wir ſchenken unſer ganzes Bedauern dem ſchwer getroffenen Vormund des

Erſtes Buch, ſechſtes Kapitel. 71

Verworfenen, aber, rhm, wir müſſen das In⸗ tereſſe unſerer Anſtalt über Alles ſtellen. Ich zweifle nicht, daß Sie Alle einer Meinung mit mir ſind.

Sie waren alle einer Meinung.

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Für die Entſcheidung über den Raubzug der Selektaner war dieſer Fall Fliczek ungemein günſtig. Zum größten Erſtaunen der Delinquenten erfolgte nur ein vierwöchentlicher Zimmerarreſt und die Beſtimmung, daß die Selektanerarbeits⸗ ſtunden nicht mehr abends, ſondern früh ſtatt⸗ zufinden hätten. Das war freilich recht bitter, aber, da man ſich natürlich auf ſehr viel Schlimmeres gefaßt gemacht hatte, ſo durfte man es mit einem halbwegs angenehmen Gefühle tragen.

Gruſelig und unheimlich wirkte das Ver⸗ ſchwinden Fliczeks. Aber am unheimlichſten auf Willibald. Es muß geſagt werden: Er hatte eine fürchterliche Angſt.

Er war ja der Einzige, der den Zuſammenhang ahnte. Aber: Hing denn nicht er ſelber auch damit zuſammen?

72 Stilpe.

Kein Zweifel: Joſephine war erwiſcht worden und hatte Fliczek genannt.

Und ihn nicht?

Das that ihm einesteils wohl, aber andern⸗ teils hatte er die Empfindung, als ob er da nicht ganz als voll betrachtet worden ſei. Doch das Schlimmſte war: Joſephine war fort.

Und jetzt fing er erſt recht an, Verſe zu machen.

Siebentes Kapitel.

Im Allgemeinen fühlte ſich der kleine Willibald doch recht wichtig mit ſeinen Geheimniſſen, und den alten Buſchklepper ſah er von nun an immer nur ſo mit einem gewiſſen hohen Bedauern an.

Aber fatal war es ihm, daß er gar Niemand hatte, den er ins Vertrauen ziehen konnte.

Auch wie- er mit ſeinen Altersgenoſſen in die Reihe der Großen kam, wo denn ſchon manchmal ein wuchtig Wort geredet wurde, fand er keinen, dem er hätte ſagen mögen, was jetzt ſeine Anſicht vom Monde ſei. Er war ja auch ohne daß mans ihm geſagt hatte dahinter gekommen, was darunter zu verſtehen ſei, wenn Einer dem der Schnurrbart erſchienen iſt, nächtlicher Weile auf dem Monde ſpaziert. Nur fand er, daß es auch ohne Schnurrbart ginge.

74 | Stilpe.

Denn er mit allen ſeinen Erfahrungen bekam ſicherlich noch lange keinen.

Überhaupt, die Natur meinte es nicht gut mit ihm. Er, der nun ſchon konfirmiert werden ſollte, in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen, ſah um drei Jahre jünger aus, als er war; und das will in dieſen Jahren ſehr viel bedeuten, zumal bei Einem, der ſich innerlich etwa drei Jahre älter fühlt, als er in Wirklichkeit zählt, alſo ſechs Jahre älter, als er ausſieht.

Das machte ſeine Stellung unter all den Jungen noch fataler. Die Großen hänſelten ihn, weil er ſie durch ſein kleinjungenhaftes Ausſehen gewiſſer⸗ maßen komprommittierte, die Jüngeren ließen es ihm zuweilen faſt merken, daß ſie ihn nicht ganz für groß anſahen, und er ſelbſt fühlte ſich dabei im Inneren ſehr viel größer, als die größten unter den Großen.

Er zernagte ſich förmlich vor Ingrimm und fing an, ſich gegen alle Welt hochfahrend zu be⸗ tragen. |

Die meiste Zeit las er. Wahllos Alles, was ihm unter die Hände geriet. Die Gedichte des Leſebuchs kannte er auswendig, und es war ſein Triumph, ſich darin auf die Probe ſtellen zu laſſen.

Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel. 75

Sonſt fand er ſeine Luſt in einem wühlenden Fabulieren. Während die Andern ihre Ballſpiele trieben, lief er im Korridor auf und ab und machte ſich zum Helden unmöglicher Ver⸗ hältniſſe. Ein unglaublicher Ritter war er auf einem ganz unglaublichen Pferde. Wenn dies Pferd wieherte, fielen die Wälder um, und wenn er blos ſein Schwert hob, fielen die Köpfe von ganzen Armeen in den Sand. Aber, wenn die Obſthökerin kam, ſo ſchwanden alle Phantaſieen, und ſo lange er was Süßes zwiſchen den Zähnen hatte, waren ihm ſeine Heldenthaten ganz gleich⸗ giltig.

In der Schule taugte er wenig und am wenigſten im Rechnen. Aber Deutſch und Religion, das waren ſeine Gebiete. Er ſchrieb unorthographiſcher, als es den Anſprüchen ſeiner Klaſſe gemäß war, aber in ſeinen Aufſätzen war eine gewiſſe Art von Liebe am Ausdruck.

Ungemein oft kam bei ihm das Wort Gott vor. Gleichviel, was er zu ſchildern hatte: Den Bau des Maikäfers, die Schlacht bei Salamis, die Pflicht, fleißig zu ſein, die Ferienreiſe, immer lief Alles auf Gott hinaus.

Gott, das war ihm jetzt, was ihm Miokovitſch

76 Stilpe.

geweſen war, das ſchlechthin Große, Fabelhafte. Den alten Paſtor, der ihm den Konfirmanden⸗ unterricht erteilte, ſetzte er in ewige Verlegenheiten.

Was iſt Gott? fragte Paſtor Schulze.

Ein koloſſales Weſen.

Nicht doch, Stilpe. Wie heißt es im Kate⸗ chismus?

Nun, das wußte er wol auch. Aber das ge⸗ nügte ihm nicht.

Herr Paſtor: Iſt Gott größer als das Königreich Sachſen?

Gott iſt ſo groß, daß ihn menſchliche Worte nicht ausdrücken können.

Herr Paſtor: Kennt mich Gott?

Freilich, denn er kennt alle Dinge.

Wenn ich bete, hört er mich?

Freilich, freilich, und er freut ſich, wenn Du beteſt.

Wenn nun aber Rammer auch betet, wem hört er denn da zu, Rammern oder mir?

Dir und Rammern und Millionen anderen!

Aber vergißt er denn nicht manchmal was?

Nie, Stilpe, er weiß jeden Laut und jeden Gedanken, ſelbſt das Summen der Biene ver⸗ ſteht er.

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Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel. 77

Merkt er es auch, wenn ich nicht bete?

Er merkt es und zürnt.

Warum denn? |

Weil es Chriſtenpflicht iſt, zu beten. Er⸗ innere Dich doch, was ich euch über das Beten geſagt habe.

Ja, ja, ich weiß. Aber, wenn er mir nun nicht erfüllt, was ich bete?

Schweig endlich und frag nicht unnütz. Du haſt mir ſelber ja vorige Stunde ganz genau und gut geantwortet. Bleibe feſt bei dem, was ich Dich lehre. Gott liebt die unnützen Frager nicht.

Aber Willibald konnte es nicht laſſen, wenigſtens

für ſich zu fragen. Zwar glaubte er felſenfeſt,

was er im Katechismus gelernt hatte, denn es gereichte ihm zu großer Genugthuung, daß er durch ſolchen Glauben fähig werden ſollte, in die Ge⸗ meinde der Gläubigen, was ſo viel wie der Er⸗ wachſenen hieß, aufgenommen zu werden, aber das war eine Sache für ſich, das war etwas Feſt⸗ ſtehendes wie die Katechismusſtunde im Stunden⸗ plan, das ging die Fragen eigentlich gar nicht an.

Er glaubte, weil es ja eine Schande geweſen wäre, nicht zu glauben, und weil er zudem in der

Relligion der Erſte war.

78 Stilpe.

Das Fragen war mehr ein Spiel mit Gott. Es ging ihm keineswegs tief. Es lief nicht auf Zweifel hinaus, wollte nicht etwa dahin kommen, daß plötzlich mal keine Antwort mehr da wäre. Nein, es geſchah in der wunderbaren Zuverſicht, daß man über Gott das Unmöglichſte erfragen dürfe, und es würde doch immer eine Antwort kommen. Überdies war Willibald trotz aller Worte des Paſtors davon überzeugt, daß er gerade durch ſeine Fragen Gott ſehr intereſſant werden müſſe, und er fing einen förmlichen Sport damit an, Alles in Beziehung zu Gott zu ſetzen.

Wenn ich jetzt der Fliege ein Bein ausreiße, ſo ärgert ſich Gott. |

Halt! jetzt werde ich jo thun, als wollte ich ihr ein Bein ausreißen . .. Was für ein Geſicht wird er da machen!

Aber nein: Ich laſſe ſie fliegen. Jetzt freut er ſich. | |

Heute werde ich bei jedem Biſſen, den ich in den Mund ſtecke, inwendig ſagen: Ich danke Dir Gott! Und wenn ichs einmal vergeſſe, ſo will ich nicht weiter eſſen.

Aber er führte es nur bei der Suppe durch. Beim Braten vergaß ers bald und doch weiter:

Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel. 79

Die Andern habens ja nicht einmal bei der Suppe geſagt!

Chriſtus intereſſierte ihn viel weniger, und der Heilige Geiſt gar nicht, obwohl er im Katechismus über ſie ebenſogut beſchlagen war, wie über Gott. Es wäre ihm nie eingefallen, Chriſtus etwa zum Orakel zu machen, wie ers mit Gott unzählige Male that, dem er die Entſcheidung über die gering⸗ fügigſten Dinge ließ.

Soll ich meine lateiniſchen Vocabeln noch einmal durchgehen? Ich zähle bis zwanzig, und wenn der Inſpektor ſich auf dem Katheder rührt, ſagt Gott: Ja.

Aber, wenn ſich der Inſpektor rührte, ſo galt dies doch nicht ſogleich, denn es mußte ein deutliches Rühren ſein, und wenn er etwa bloß eine Hand erhob, ſo hatte Gott ſchon Nein! geſagt, und das Vocabularium wurde zugeklappt.

Es gab unter den Zöglingen auch einige Katholiken. Die verachtete Willibald unſäglich. Der Paſtor hatte durchaus nicht eigentlichen Anſtoß dazu gegeben, aber es genügte ſchon das Wenige, was er geſagt hatte, um Stilpe mit der Über⸗ zeugung zu erfüllen, daß ſie mit ſeinem Gott nichts gemein hatten.

80 | Stilpe.

Unter den Jungen fehlte es nicht an Schimpf⸗ namen gegen die katholiſche Minderheit. Die ge⸗ brauchte Stilpe ſelten oder gar nicht. Aber „fo ein Katholiſcher“ kam ihm innerlich wie aus⸗ ſätzig vor.

Da die meiſten Katholiken unter den Schülern Ausländer waren, ſo erhielt dieſes Gefühl der ſtillen Verachtung noch einen Beiton von Deutſchgefühl. Darin war er auch ſonſt ſehr ſtark. Ein „Barden⸗ lied“ von Willibald begann mit den Worten:

Wir Germanen ſchleudern mit Speeren Nach Römern und nach Bären Und trinken Meth!

Unter Meth ſtellte ſich Stilpe etwas ungemein Süßes vor, das aber doch wie Lagerbier wirkte.

Alles in Allem hatte Gott nebſt den allerlei anfliegenden Idealempfindungen von germaniſchen Urwäldern, Blücher, Kaiſer Wilhelm, Moltke den Sinn Willibalds vom Monde etwas abgelenkt. Es war nur noch ſo etwas wie eine heiße Dehnung in ihm, ein Gefühl, gemiſcht aus unſagbarer Sehn⸗ ſucht und augenirrender Furcht.

Er hätte jetzt nicht mehr den Mut gehabt, wie damals, als er Fliczek davonprügelte. Er fürchtete ſich vor den Mädchen, ſobald er einmal eine zu

Erſtes Buch, ſiebentes Kapitel. 8

ſehen bekam, und empörte ſich dann über dieſe Furcht.

Aber manchmal geſchah es doch noch, daß er an Buſchkleppers Garten ging und ſeine Hände auf das Gartengeländer lehnte, ſtarr nach der Laube hinüberlugend voll heißeſter, wirreſter Wallungen.

Das ſtammelte er dann Alles in Verſen über Thusnelda aus, die Gattin Armins des Befreiers.

=

18 Ar NE Ne

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Sweites Buch

Das Jünglinglein

Ich rate Dir, mein Junge, Bewahre Deine Zunge

Und hüte Deinen Magen Vorm Obſte, wenns noch grün. Schwer iſt es zu vertragen, Es macht Verdauungsmühn Und anderweite Plagen.

Aus Stilpes Maximen und Reflexionen.

Erſtes Kapitel.

Was iſt denn das? Schämt ihr euch nicht? Obertertianer, die ſich wie die Quartaner balgen! Laßt los, ſag ich! Stilpe, wenn Du noch einmal zuſchlägſt!

Der ſtämmige Turnlehrer Stürz kam in muſter⸗ giltigen Sätzen hinter den Kletterſtangen hervorge⸗ ſprungen zum zweiten Reck, wo die Obertertianer der leipziger Thomasſchule mit Kennermiene um einen lebendigen Knäuel herumſtanden, der ſich bei den gellenden Rufen des Turngewaltigen langſam entwickelte und als deſſen Beſtandteile ſich unſer Freund Stilpe nebſt ſeinem Klaſſengenoſſen Gir⸗ linger präſentierten.

Was hats gegeben? In einem Vierteljahr ſoll man euch ſiezen, und jetzt wälzt ihr euch in der Lohe wie die kleinen Jungen. Wollt ihr euch

86 | Stilpe.

nicht wenigſtens gefälligſt entſchuldigen? Wer hat angefangen?

Stilpe. Er hat mich geohrfeigt. Da hab ich ihm einen Magenſtoß verabreicht.

Girlinger ſagte das mit der Ruhe eines Statiſtikers, obwohl ihm die Naſenflügel noch vor Zorn bebten. Es war ein ſchmächtiger, ſchwarz⸗ haariger Burſche mit ungemein lebhaften Augen, einer reichlich großen aber ſchmalrückigen und ſchön geſchwungenen Naſe und einem Anflug von Schnurrbart.

Stilpe machte ſich nicht gut neben ihm. Er war dicker, ſtämmiger und hatte etwas von einem Bulldogg. Seine Lippen waren aufgeworfen wie bei einem Kalmücken, ſeine Naſe hatte gleichfalls die Tendenz nach oben, ſeine Augen waren klein und wäſſerig blau. Dazu ſchwarzes, ſtarres Haar, das zu weit in die Stirn ging und ein paar Wirbel zu viel hatte, und Pockennarben übers ganze Geſicht.

Der kleine Willibald hatte ſich beträchtlich ver⸗ ändert, bis ers zum Obertertianer gebracht hatte. Selbſt ſeine gute Mutter fand, daß er ein bischen „zu charakteriſtiſch“ geworden wäre, wie ſie ſagte.

Zweites Buch, erſtes Kapitel. 87

Auch ohne die Pockennarben wäre er kein Adonis geweſen.

Dazu trug er ſich recht ſonderbar. Etwas wild⸗weſtartig und nicht eben ſorgfältig. Ein ſchwarz karrierter Anzug, deſſen Grundfarbe ein lehmiges Gelb war; dazu ein flatternder grüner Hängeſchlips. Alles in einem liederlichen Zu⸗ ſtande, der jetzt noch beſonders zur Geltung kam, wo die Jacke durch die Balgerei einen Riß be⸗ kommen hatte.

So, Stilpe! Alſo Du ohrfeigſt den Primus Deiner Klaſſe. Natürlich, wer faſt der Letzte iſt, muß ſeinen Zorn an den beſſeren Schülern aus⸗ laſſen. Willſt Du die Güte haben und ſagen, wie Du zu dieſer Lümmelei gekommen biſt?

Stilpe kräuſelte ſeine Oberlippe noch etwas nach oben und ſetzte ein ſehr verächtliches Geſicht auf. Dabei zuckte er die Achſeln und wiſchte ſich die Lohe von den Kleidern.

Alſo wirds bald!?

Ich mag nicht denunzieren.

Was magſt Du nicht? Denunzieren ſagſt Du? Hört mal, leiht euerm Kameraden doch Heyſes Fremdwörterbuch; er ſcheint nicht zu wiſſen, was denunzieren heißt.

88 Stilpe.

Jetzt ſtampfte aber Stilpe mit dem Fuße auf:

Ich weiß ſehr wohl, was Denunzieren be⸗ deutet, und gerade darum ſage ich nicht, weshalb ich den Herrn Primus verdientermaßen geohr⸗ feigt habe.

Höre, Stilpe, jetzt wird mirs zu bunt. Mit Frechheiten kommſt Du bei mir nicht durch. Wenn Du nicht auf der Stelle Antwort giebſt, meld ich die Sache, und dann läuft ſie übel für Dich ab, das weißt Du.

Das weiß ich. Aber ich kann nicht ant⸗ worten ... d. h., wenn Girlinger mich vielleicht ermächtigt?

Ja, zum Donnerwetter, ihr ſeid wohl nicht recht ... Girlinger, was iſts!?

Girlinger machte eine bedeutende Geſte und ſagte mit kühler Gelaſſenheit: Stilpe hat meine Er⸗ mächtigung.

Dieſe ironiſche Ruhe brachte Stilpen ganz außer ſich. Das war es ja überhaupt, was ihm am Primus ſo widerwärtig war, dieſe infame Ruhe und Gleichmütigkeit. Girlinger war der Einzige in der Klaſſe, der ihm imponierte, der Einzige, mit dem er „über Dinge“ ſprach, aber immer endete es auf ſeiner Seite mit Wutausbrüchen, weil dieſer

Zweites Buch, erſtes Kapitel. 89

ſich nie dazu herbeilaſſen wollte, warm zu werden. Er, Stilpe, fuhr immer mit Kanonen auf, und Girlinger that ſo, als könne er alles mit ſeinem Taſchentuch wegwedeln.

Alſo Stilpe brach wütend los:

Gut! Wenn er mir's ſchon geſtattet .. Gut! Ich habe ihn geohrfeigt, weil er Bismarck beleidigt hat!

Ein ſchallendes Gelächter brach los. Auch der rotbärtige Stürz lachte.

Ah, eine politiſche Ohrfeige! Ja dann, meine Herren, bin ich nicht kompetent. Das ge⸗ hört vor den Reichstag. Wir wollen einſtweilen im Klimmzug fortfahren.

Stilpe hätte in die braune Lohe greifen und ſie dem Turnlehrer ins Geſicht ſchmeißen mögen. Jede Strafe wäre ihm willkommen geweſen, aber dieſer Hohn traf ihn ſchmerzlich. Er wurde blaß vor Zorn und ballte die Fäuſte.

Aber auch Girlinger war blaß geworden Dieſes Gelächter traf ihn mit. Er fühlte ſich plötz⸗ lich mit Stilpe auf der einen und alle Andern auf der andern Seite.

Als die Turnſtunde aus war, und die Schüler

truppweiſe nach Hauſe gingen, trat er auf Stilpe zu.

90 Stilpe.

Du, Stilpe, wenn Du wieder mal roh werden willſt, dann ſuch Dir wenigſtens eine Ge⸗ legenheit, wo wir alleine ſind. Oder gefällt Dirs, wenn die Bande ſich über Dich amüſiert? Mir gefällt ſo was nicht.

Mir auch nicht. Ich möchte ihnen Allen in den Bauch treten. Elende Hunde Alle mitein⸗ ander, und zumal dieſer Turnpauker. Herrgott, na .. .! Übrigens, was willſt denn Du bei mir? Ich denke, ich bin ein deſolater Reaktionär?

Ach, laß doch das. Wir können uns doch unterhalten, wenn wir auch verſchiedener Meinung ſind. Wir ſind ja doch die Einzigen, die überhaupt Meinungen haben. Oder willſt Du Dich vielleicht mit Pahlmann über Bismarck unterhalten? Oder mit Schirmern? Oder mit Cohn? Die Drei haben vorhin am lauteſten gewiehert.

Ach was, ich geh kneipen.

So. Ich geh nach Haufe.

Das wußt ich vorher. Du biſt ja der ſolide Knabe Primus. Weißt Du, wie eine Kellnerin ausſieht?

Das intereſſiert mich nicht.

Dafür intereſſiert Dich dieſer RN der Laſſalle.

Zweites Buch, erſtes Kapitel. 91

Gott, Stilpe, der Mann iſt höchſtens ein Schweinehund geweſen. Er iſt nämlich ſchon ſeit einer ganzen Reihe von Jahren tot.

Ach! Willſt Du mir nicht die Jahreszahl nennen? Weißt Du, was Du biſt? Ein Protz biſt Du! Bildſt Dir wunder was ein, daß Du ein bischen mehr von ſolchen Sachen weißt wie ich. Wenn mein Vater Staatsanwalt wäre und ſolche Bücher hätte, könnte ich auch Sozialdemokrat ſein, d. h., wenn mir das nicht zu niederträch⸗ tig wäre.

Ich kann Dir ſie ja zu leſen geben. Das iſt geſcheidter, als mit ſechzehn Jahren in Bums⸗ kneipen zu gehn.

Bumskneipen? Du ſagſt Bumskneipen? Du meinſt alſo, dieſe Mädchen ſind gemeine Frauen⸗ zimmer? Wahrhaftig Du, ich ſage Dir, es giebt nichts Reineres und Schöneres als z. B. Martha.

Was geht mich denn Deine Martha an?

Du haſt doch Bumskneipe geſagt! Wie kommſt Du denn dazu, jemand zu beleidigen, den Du nicht kennſt? Aber Du ziehſt eben alles Edle in den Staub. So machſt Dus mit Bismarck und ſo mit Allem. Du kannſt nichts als kritiſieren und

92 Stilpe.

nörgeln. Alles Ideale iſt für Dich blos dazu da, es ironiſch ſchlecht zu machen. Man könnte Dich für einen Juden halten, und Du lieſt auch blos Juden. Ewig mit Deinem Börne und Laſſalle und dieſen andern Mauſchelmeiern, dieſen ekelhaften Kerlen, die eine Schande für das deutſche Vater⸗ land ſind! Pfui!

Aber Du kennſt ja nicht ein Wort von Börne und Laſſalle! Lies ſie doch mal! Lies doch mal Börne! Schimpf doch nicht über das, was Du nicht kennſt. Das ſind ja alles blos Phraſen.

Haft Du nicht Bumskneipe gejagt? Kennſt Du denn die Martha? Kennſt Du denn das Lokal? .. . Weißt Du was: Komm jetzt mit hin, und dafür will ich dann Börne leſen.

Ach Gott, das iſt mir ſo unangenehm, ganz abgeſehn davon, wenn wir geklappt werden.

Herrlich! Da haben wir den Revolutionär! Feige biſt Du, wie dieſe ganze Judenbande, die auch blos das große Maul haben.

Mach Dich nicht lächerlich. So mutig bin ich ſchließlich auch, abends, wenns dunkel iſt, in ſo ein Loch zu kriegen, wo doch kein Pauker hin⸗ kommt. |

Alſo komm mit!

Zweites Buch, erſtes Kapitel. 93

Blos, damit Du ſiehſt, daß ich nicht feig bin. Aber dann lieſt Du auch Börne!

Mein Ehrenwort, Girlinger, meine rechte Hand! Komm! Es ſind blos ein paar Schritte. Paß auf, Du wirft ein Mädel kennen lernen ...!

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Zweites Kapitel.

Dieſe Martha war eine ſchöne, ſchlank üppige Perſon von etwa zwanzig Jahren mit dunkelblauen Augen, zwei langen blonden Zöpfen und ſehr blaſſer Geſichtsfarbe. Sie hätte zu irgend etwas ſehr Unſchuldigem Modell ſtehen können, und wie ſie ausſah, fo ſtellen ſich ſämmtliche Backfiſche Fauſts Gretchen vor. Dazu hatte ſie eine ſehr liebe, linde Stimme und die allerweichſten, rundeſten Be⸗ wegungen. Profeſſor Thumann hat dieſen Typus in die Seele der deutſchen Bourgeoiſie gemalt, und wir begegnen ihm noch immer auf Wäſchekartons, Cigarrenkiſten und Glaube⸗Liebe⸗Hoffnung⸗Bunt⸗ drucken.

Damit wird es begreiflich erſcheinen, daß der ſechzehneinhalbjährige Stilpe, öffentlicher Ober⸗ tertianer und heimlicher Dichter, Vaterlands⸗

Zweites Buch, zweites Kapitel. 95

ſchwärmer und Idealiſt, unendlich täppiſch ver⸗ liebt in dieſes Mädchen war. Sie erſchien ihm als der Inbegriff deſſen, was er früher in dem Idealbilde der Thusnelda verehrt hatte. Nur kam nun noch das Gretchen aus dem Fauſt, das Käthchen von Heilbronn und die Lindenwirtin, die Feine, dazu. Dies, ſoweit es ſich in ſeinen Verſen ausſprach, die er ausgiebig zum Lobe dieſes Mädchens hervorbrachte, und deren Idealismus ihm bitter ernſt war.

Aber es gab auch noch einen andern Geſichts⸗ winkel, unter dem er dieſe Martha anſah. Jener Idealismus war mehr das Gefühl aus der Ent- fernung, eine Diſtanceſchwärmerei, eine bewegte Andacht hinter blauen Weihrauchnebeln. Zuweilen aber geriet der ſchwämeriſche Beter durch dieſen duftenden Nebel hindurch und kam auf weiches Fleiſch. Und, ſiehe, mit einem Ruck war die Situation verändert. Die Gefühle bekamen ein anderes Tempo und einen anderen Thermometer⸗ grad; irgend etwas in ihm ſchien ſich zu überſchlagen, irgend etwas pochte von innen an die Wände ſeines Leibes, es wurde da etwas lebendig, das nicht Idealismus war. Der gute Junge hatte böſe Tage und böſere Nächte dabei. Es warf ihn ge⸗

96 Stilpe.

waltig hin und her, und durch ſeine ſchwärmeriſchen Verſe quollen zuweilen abſonderliche Töne eines unheimlichen Drängens aus der Tiefe.

Ich glaube, für die Augen der Götter ſah ſeine Seele damals aus wie ein Glas voll Feder⸗ weißem, in dem die Gährſchichten durcheinander⸗ wallen und die Blaſen ſteigen. Vielleicht richten die Götter derlei blos an, weil ihnen dieſer Federweiße der menſchlichen Pubertät beſonders ſchmeckt. Für den Menſchen ſelber aber iſt dieſer Zuſtand keine ungemiſchte Freude.

Stilpe verkam ſichtlich dabei. Er war beim Austragen eines weſentlichen Stückes ſeiner ſelbſt: Er ging mit ſeiner Mannheit ſchwanger. Vielleicht war es zu früh, daß es ihm ſo viel Qualen machte?

Da war es ein großes Glück für ihn, daß er nun als Ablenkung Ludwig Börne kennen lernte. Er ſtürzte ſich auf dieſen vielbeweglichen blendenden Geiſt, wie eine Frau, der es in der Hoffnung nach Dingen gelüſtet, die ihr vielleicht ſchädlich ſind, im Augenblicke aber wohlthun. Es verging kein Monat, und er war ein wütigerer Revolutionär, als ſein Freund Girlinger. Selbſt ſeine deutſchen Aufſätze in der Schule brachten Außerungen zu Tage, die

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über das erlaubte Maaß der Lobpreiſung antiker Freiheitshelden wie Harmodios und Ariſtogeiton hinausgingen.

Aber in ſeinen Tagebüchern rumorte ſich die Empörung ſeines Wortſchatzes am wildeſten aus. Dort fanden ſich in wunderlichem Nebeneinander die Namen von Gajus und Tiberius Gracchus, Catilina, Marat, Danton, Robespiere, Auguſt Bebel und Eugen Richter. Für Majeſtätsbe⸗ leidigungen hatte er ſich eine eigene Geheimſchrift erfunden. Der vor vier Wochen noch angebetete Name Bismarcks war von nun an durch das Zeichen eines Dolches wiedergegeben, wofür die Erklärung lautete: „Man kann das nehmen, wie man will. Entweder als den Dolch, mit dem dieſer hochfahrende Strunkjunker die Freiheit Deutſchlands hingemordet hat, oder als den Dolch, en ne, .*

Die Freiheit Deutſchlands hatte übrigens auch ihr Geheimzeichen („denn ſie iſt ganz und gar verboten“), nämlich ein Epfilon und Gamma, was heißen ſollte: Eleutheria Germanias. Dieſes Epfilon Gamma ſchnitt ſich der entflammte Demokrat ſogar auf ſeinen linken Unterarm ins Fleiſch; aber nicht

ſehr tief.

7

98 Stilpe.

Es verſteht ſich, daß auch der Herrgott übel wegkam in dieſem Tagebuche:

„Was iſt denn Gott? Ein Subſtantivum generis masculini. Oder ein Eigenname? Aber was für ein Weſens damit gemacht wird! Wozu denn nur? Das gute Lumen (das war der Religionslehrer) ſieht nie ſo dumm aus, als wie wenn es Gott ſagt. Liegt das nun an dieſem Subſtantivum oder am Lumen? Ich muß Gir⸗ linger fragen.“ |

E

„Übrigens ſollen ja auch große Leute an Gott geglaubt haben. Girlinger behauptet ſogar, ſie hätten ihn erfunden. Wer weiß, wo er das her hat. Er lieſt jetzt viel Philoſophiſches. Wenn nur Kant nicht ſo dunkel wäre. Dieſe verfluchten langen Perioden. Schopenhauer geht eher. Aber es iſt entſetzlich, wie er über die Weiber ſchimpft. Ich glaube, man muß ein alter Knacks ſein, um dieſe Philoſophen leſen zu können.“

2.

Zweites Buch, zweites Kapitel. 99

„Das Lumen (man ſollte es die Funzel nennen) ſagt, Gott ſei wie die Luft, die man auch nicht ſieht, aber ſpürt, und ohne die man nicht leben könne. Dann iſt die Philoſophie wohl eine Luft⸗ pumpe. Man ſetze die Funzel hinein, und ſie wird verlöſchen. Deshalb hat ſie auch ſo einen Abſcheu vor der Philoſophie.“

4

Zuweilen gab es aber auch Verzweiflungsaus⸗ brüche in dieſem Tagebuch, ſo ſehr Stilpe auch be⸗ müht war, in ihm den ſcharfen Geiſt zu poſieren, deſſen Atheismus über jeden Zweifel und jede Angſt erhaben war. Dann türmte er bedenkliche Jamben⸗ Quadern aufeinander

Ich bin ein Menſch, und, hat mich Gott gemacht, So ſoll er einſtehn auch für das Gemachte Und ſoll nicht Sünde heißen, was ich thu, Und ſeiner Pfaffen ekelhafte Schaar Auf mich loslaſſen wie ein Heer von Geiern. Ich bin voll Wolluſt, und ich ſchreie laut Nach Wolluſt wie der Hirſch nach Waſſer ſchreit. So gebt ſie mir, denn Gott hats ſo gewollt,

7*

100 Stilpe.

Und wenn ihr Sünde ſagt, ſo ſündigt Gott. Nein, nein und nein, ihr kennt ihn nicht, den Gott, Von dem ihr ſprecht; er iſt kein lieber Gott: Ein böſer Gott! Ach Gott, er iſt ja nicht!

&

Jeden Sonntag kam Girlinger zu Stilpe und ließ ſich von ihm das Tagebuch zeigen. Er war, bei aller eigenen Unreife, doch viel reifer, als jener, denn er hatte vielmehr Verſtand und war wirklich fleißig hinter der Literatur her, die er Stilpen zutrug. Vor Allem kam ihm zuſtatten, daß er alle die zu frühe Gedankenkoſt kühl in ſich aufnahm, während ſie Stilpe heiß verſchlang. Auch ließ er ſich, trotz ſeiner Jugend, nicht ſo leicht blenden, und wenn er auch merkwürdig viel Sinn für das Brillante in Stil und Gedanken hatte, ſo nahm er das doch ſchon mit einer Art von Kennerſchnalzen hin, während Stilpe ſofort wie überſchüttet und überglänzt war und Alles am liebſten gleich ſubjektiv für ſich zur That ge⸗ macht hätte.

Der Fleiß fehlte ihm, wie in der Schule, ſo auch hier. Keines der Bücher, die ihn wild be⸗

Zweites Buch, zweites Kapitel. 101

geifterten, las er fertig, und Sitzfleiſch hatte er nur in der Kneipe bei Martha.

*

Eines Tages kam er auf Girlingers Wohnung geſtürzt.

Bift Du allein?

Meine Schweitern find im Wohnzimmer.

Können fie hören, was wir ſprechen?

Wenn ſie nicht horchen: Nein!

Aber ſie werden horchen, natürlich!

Unſinn, ſie machen ihre deutſchen Aufſätze.

Nein, ich kann das hier nicht ſagen.

Was denn?

Es. . . es... Komm nur! Komm! Ins Freie!

Ja, was haſt Du denn nur?

Ach, es iſt ſchrecklich! Schrecklich!

Sie gingen zuſammen in den Garten, den Stilpes Pflegeeltern vor der Stadt hatten.

Alſo, was iſt denn los? Du fiehft ja ganz blaß aus!

Wie? Sieht man mirs an? Nicht wahr,

ich bin furchtbar blaß?

102 Stllpe

Ja, blaß biſt Du... Und außerdem ſtinkſt Du nach Sprit.

Ja, ich habe ſechs Glas Bier getrunken.

Pfui Teufel, und natürlich dieſes gräßliche Lagerbier in der Auſtria.

Ja, aus Verzweiflung Girlinger. Denke Dir nur .. Martha ... Ach Gott!

Ich kann mirs wirklich nicht denken. Daß der Engel einen Bräutigam hat, der Unteroffizier iſt, weißt Du ja ſchon ſeit vier Wochen.

Ach, ich bitte Dich, ſei nicht ſo ſpöttiſch jetzt. Es iſt zu furchtbar. |

Er war wirklich wie zerſchmettert. Girlinger fühlte Mitleiden mit ihm, und wie ſie im Garten angekommen waren, redete er ihm ſehr teilnahms⸗ voll zu, ſich ihm auszuſchütten.

Es war ein kleiner Mietsgarten zwiſchen an⸗ deren von der gleichen quadratiſch angelegten Art. Selbſt in der ſchönen Jahreszeit ſah er troſt⸗ los öde aus mit ſeinen kleinen nach der Schnur gepflanzten Bäumen, den kümmerlichen Sträuchern und den harten gelben Kieswegen. Jetzt, da es Spätherbſt war, die kahlen Bäume wie Beſen aufragten, verfaultes Laub in den ſchwarzen Beeten lag und ein kalter Wind unter grauem Him⸗

Zweites Buch, zweites Kapitel. 103

mel ging, machte er einen völlig jämmerlichen Eindruck.

Da fie keinen Schlüſſel hatten, ſprangen fie über das Stacket. Plötzlich rief Stilpe: Wo iſt denn die Bank?! Nicht einmal eine Bank iſt da! *

Wütend rannte er im Garten herum. Es kam ihm unbewußt ſehr gelegen, daß er Urſache zu einem Wutausbruch fand.

Wir können ja hin⸗ und hergehn!

Nein! Ich will eine Bank! Ich bin wie zerſchlagen! Ich muß ſitzen!

Aber, wenn doch keine da iſt?

In der Baracke ſind ſie. Wart! Ich werde ſie gleich haben!

Und er ſtürzte zum Gartenhaus, rüttelte erſt mit den Händen an der Thür und trat dieſe dann mit den Füßen ein.

Hö! Bänke genug!

Und er ſchleppte eine heraus und ſtellte ſie mitten auf den Weg.

Da, ſetz Dich!

Ich brauche nicht zu ſitzen. Ich bin nicht „zerſchlagen“ wie Du, denn ich bin nicht betrunken. Übrigens werde ich gleich wieder nach Hauſe gehn,

104 Stilpe.

denn ich habe beſſeres zu thun, als Deine Rohheiten mit anzuſehn.

Jetzt wurde Stilpe wieder weinerlich.

Setz Dich doch, ich bitte Dich, ſetz Dich. Ich muß ... ach Gott, ſei mir nicht böfe... Ich bin ja jo...

Girlinger ſetzte ſich auf die Bank und ſah vor ſich auf den Boden. Stilpe ſtellte einen Fuß auf die Bank und ſtützte den Kopf in die rechte Hand. Große Thränen rannen ihm aus den Augen.

Lange konnte er nicht ſprechen. Dann ſagte er ganz leiſe:

Kennſt Du das Haus mit den weißen Fenſterſcheiben gegenüber der Auſtria?

Das Puff?

Stilpe ſchlug ſich mit der Fauſt aufs Knie und ſchrie: Da drin iſt ſie!

Girlinger ſah auf und pfiff durch die Zähne. Dann ſagte er ſehr bedächtig: So, ſo! Ja, ja!

Da packte ihn Stilpe an beiden Schultern und ſchüttelte ihn wütend:

Du biſt ein Vieh! Ein Amphibium! Geh aus dem Garten, oder ich ſchmeiße Dich naus!

Biſt Du denn verrückt geworden? Jetzt hör aber auf! Was fällt Dir denn ein? Glaubſt Du,

Zweites Buch, zweites Kapitel. 105

ich bin für Deine Grobheiten da? Das war das letzte Mal!

Er wollte gehen.

Aber nun hielt ihn Stilpe wieder feſt und drückte ſeine Hände, und indem ihm Thräne auf Thräne über die Backen lief, rief er aus:

Ich weiß ja nicht, was ich ſage, ich weiß ja nicht, was ich thue, ich bin Dir ja ſo dankbar; Du mußt mir alles verzeihen, was ich ſage, ich bin ja ganz zerſchlagen.

Girlinger bekam jetzt Angſt vor ihm. Diefeg Weinen war gräßlich, und all dies Gehaben war ihm ſo fremd. Er glaubte im Ernſte, daß ſein Freund verrückt geworden wäre, und fing an, ihn wie einen Kranken zu behandeln.

Sei nur ruhig, Stilpe, ich bring Dich jetzt nach Hauſe. Du biſt ſo aufgeregt. Du mußt ins Bett gehen. ... Und übrigens: Sit es denn auch ſicher? |

Sie hat mirs ja geſchrieben; fie hat mich ja eingeladen, ich ſoll ſie in ihrer neuen Stellung beſuchen

Girlinger hatte was Ironiſches auf den Lippen, aber er bezwang ſich.

Ach Gott, wer weiß, was dahinter ſteckt.

106 Stilpe.

Es iſt vielleicht gar nicht fo ſchlimm. Überhaupt: Was iſt denn ſchließlich dabei? Erinnere Dich, was Laſſale über die Proſtitution ſagt. Es iſt mehr ein Opfer, als eine Schande. Und die ſchlimmſten Huren ſind nicht in den Bordells.

So, mit vielen Citaten, abgeklärten Sentenzen und ein paar hiſtoriſchen und ethnographiſchen Excurſen ins alte Griechenland und nach Japan, tröſtete er ſeinen zerſchmetterten Freund nach Hauſe.

Drittes Kapitel.

Nicht lange nach dieſer herbſtlichen Gartenſcene wurde Willibald Stilpe, im Alter von 16 Jahren, von ſeiner Mannheit entbunden.

Damit ging eine merkliche Veränderung in ihm vor. Er bekam etwas Renommiſtiſches, Überhobenes und trug eine Verachtung ſeiner Klaſſengenoſſen, Girlinger eingeſchloſſen, zur Schau, die ſich von der, die er ſchon immer gezeigt hatte, deutlich unter⸗ ſchied. Früher war darin etwas Erzwungenes ge⸗ weſen, als ſei er ſich doch nicht völlig klar über ſeine Berechtigung dazu, jetzt hatte ſie etwas ſehr Entſchiedenes, ſehr Selbſtbewußtes. Er trat dieſen Obertertianern gegenüber, wie ein Mann, der von einer Reiſe in unbekannte Länder nach Hauſe zu Leuten kommt, die noch nicht den Aquator über⸗ ſchritten haben:

108 Stilpe.

Iſt es ſehr heiß in den Tropen?

Es macht ſich.

Sind die Schlangen wirklich jo lang und dick und giftig?

Ach ja.

Sie ſind doch nicht gebiſſen worden?

Ein bischen.

Wie? Und wieder kuriert?

So ziemlich.

Schade, daß er nur mit Girlinger darüber reden konnte. Dem ſetzte er aber dafür auch tüchtig zu, und es machte ihm unverhohlenen Spaß, daß dieſer ſo wißbegierig war. Er flunkerte auch ein bischen und gab mehr tropiſche Abenteuer zum beſten, als er erlebt hatte.

Aber auch ohne die Flunkereien hätte er dem Freunde imponiert. Es gab jetzt etwas, worin er dem weiſen Primus über war.

Weißt Du, da helfen Dir alle Deine Bücher nicht hin. Und übrigens: Wie willſt Du denn ohne das Deinen Schopenhauer verſtehen? Und dann die Dichter!

Er dachte dabei vornehmlich an Heine und den Tannhäuſer in Rom, der zu ſeinem Brevier und Muſter wurde.

Zweites Buch, drittes Kapitel. 109

Denn jetzt fing er an, aus dem Vollen zu dichten und zwar mit dem Bewußtſein, ein Dichter werden zu wollen und nichts andres.

Die Schule wurde ihm dabei immer widerlicher, und er ſchwänzte ſie mit großer Frechheit.

Seine Pflegeeltern, denen er von Gtilpe-Vater übergeben worden war, weil dieſer deutlich fühlte, daß jeder andre ein beſſerer Pädagoge ſei, als er, waren gute Leipziger Mittelſtandsleute, die, mit Stilpes Mutter entfernt verwandt, den jungen Gymnaſiaſten aus Gefälligkeit aber nicht mit der Meinung aufgenommen hatten, daß hier beſondere Aufſicht und Wachſamkeit nötig ſei.

Der alte Wiehr hatte einen Porzellanladen am Markte, der ihn ausſchließlich beſchäftigte, und ſeine Frau ging in der Hauswirtſchaft und zahlreichen Kaffeekränzchen auf. Ihr einziger Sohn war ein zarter junger Menſch geweſen, bleichſüchtig und ſolide, nicht ſehr begabt, aber fleißig; er war ge⸗ ſtorben, als er in Stilpes Alter geweſen war. Die Alten ſahen in Willibald deſſen Fortſetzung und behandelten ihn wie jenen, nämlich mit vollendetem Zutrauen und vollkommener Ahnungsloſigkeit. Dies wurde durch Stilpes mimiſche Kunſt, ſich wie ein Lamm zu benehmen, unterſtützt.

110 Stilpe.

So hatte er eigentliche vollkommene Freiheit, und es fehlte ihm, um mit dieſer Freiheit ſo viel anfangen zu können, wie er wünſchte, nur an Gelde.

Leider machte ſich dieſer Mangel, ſeit ſich Martha „verändert hatte,“ viel fühlbarer als früher.

Ein geradezu lächerlicher Gedanke, jetzt mit den fünf Mark monatlichem Taſchengelde auszukommen. Man mußte, da eine regelrechte Erhöhung des Budgets außerhalb jeder Möglichkeit lag, auf Extraordinaria ſinnen.

Da fing denn der junge Mann zunächſt klein und beſcheiden an. Er durchmuſterte ſeine Bib⸗ liothek.

Nun, da fanden ſich ja einige Sächelchen, die vom Überfluffe waren: Alle die überwundenen Standpunkte der durchlaufenen Klaſſen, wie ſie ſich in alten Grammatiken, Lehrbüchern, Schulausgaben, Geſangbüchern verkörperten, und dazu des Knaben Willibald Belletriſtik: Der Lederſtrumpf, verſchiedene Walter Scott⸗Romane, „für die Jugend“ bearbeitet, eine „ausgewählter Goethe“ (fahr hin, Caſtrat! rief Willibald) und Anderes mehr.

Dieſe Literatur überlieferte Stilpe einem alten

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Zweites Buch, drittes Kapitel. 111

verwachſenen Antiquar, der in einem Durchgange von der Petersſtraße zum Neumarkt ſeine Bude hatte. 5

Herr Wopf war ein wunderlicher alter Burſche, ausgeſtattet mit einer ſehr ſchönen Meerſchaum⸗ pfeife, einer ſehr großen, üppigen und noch jungen Gattin und einer eminenten Rundſchrift, mit der er die Neuerwerbungen ſeines Lagers in gewaltig großen Zügen auf Pappendeckel ſchrieb, die wie die Ahnentafeln vor chineſiſchen Tempeln rechts und links ſeiner Ladenthüre ſtanden. Außerdem beſaß er noch eine verworrene Menge von Literatur⸗ kenntniſſen und eine erſtaunlich tremolierende Stimme, mit der er Paſſagen aus ſeinen Büchern vorlas, um dieſe ſeinen Kunden begehrenswert erſcheinen zu laſſen. Wegen dieſer Gabe des rollenden Rezitierens nannten ihn Stilpe und

Girlinger den Deklamator.

Stilpe liebte ihn direkt und ſah in ihm den Helden ſeines erſten Dramas. In wiefern Herr Wopf den Anforderungen an einen dramatiſchen Helden entſprach, das war ihm freilich unklar, ging ihm aber auch nicht nahe. Sicher war nur, daß die üppig blühende Gattin, die früher ſcheuern gegangen war, die Rolle der Ehebrecherin haben

112 Stilpe.

mußte. Sich ſelbſt dachte Stilpe als den Galan, doch ſtellte er ſich in dieſer Thätigkeit etwas älter und als berühmten Journaliſten vor. Die Haupt⸗ ſcene, der Drehpunkt des Ganzen, ſtand ſchon feſt, aber nur im Kopfe, denn, und dies gilt für die meiſten dichteriſchen Pläne Stilpes in dieſer und ſpäteren Zeit: Er kam ſelten dazu, ſeine Ent⸗ würfe in Tinte umzuſetzen.

Schade übrigens, daß Stilpe dieſe Szene nicht ausgeführt hat. Sie war höchſt verwegen natu⸗ raliſtiſch gedacht und ſehr geeignet, Argernis zu erregen, ein poetiſcher Zweck, der dem revolu⸗ tionären Obertertianer ziemlich deutlich vorſchwebte, obwohl ſeine Verwegenheit nicht bis zur Phantas⸗ magorie einer Drucklegung ging. Sie ſollte ſich direkt in Wopfs Ehebette abſpielen.

Girlinger hatte Einwendungen dagegen, vor⸗ nehmlich vom Standpunkte der Bühnenmöglichkeit aus. Aber da kam er bei Stilpe übel an:

Bühne!? Du ſagſt Bühne! Was geht mich denn die Bühne an? Ich pfeife auf die Bühne. Glaubſt Du, ich will mich neben Herrn Blumenthal ſtellen?

Nein, aber neben Schiller.

Ach, Schiller!

Zweites Buch, drittes Kapitel. 113

Dieſes „Ach, Schiller!“ iſt um die Zeit, in der Stilpe ſein Wopf⸗Drama plante, auch ſonſt noch manchmal ausgeſprochen worden. Wer es mit dem Phonographen aufgefangen hätte, könnte ſich heute damit auf den Jahrmärkten hören laſſen.

Übrigens war der Deklamator Stilpen in erſter Linie doch nicht als dramatiſcher Held, ſondern als zahlungsfähiger Bücherkäufer wichtig. Zwar, er zahlte niederträchtige Preiſe und verdiente ſchon deshalb, dramatiſch als Hahnrei angemacht zu werden, aber er nahm wenigſtens Alles, und in ſchwierigen Augenblicken gab er auch Vorſchüſſe auf ſpäter zu verkaufende Bücher.

Nächſtes Oſtern brauche ich meinen alten Cicero nicht mehr; können Sie mir 1 Mark 50 drauf geben?

Der Deklamator durchblätterte das dicke Buch und blies ſeinen Tabaksrauch wie desinfizierend hinein.

Quousque tandem, Catilina, abutere patientia nostra! Haben wir auch geleſen! Wie lange noch, Herr Liebknecht, wollen Sie uns mit Ihren Reden mopſen? Fünfundſiebzig Fenge, Herr Stilpe.

—Nee, mein Lieber, eine Mark doch mindeſtens.

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114 Stilpe.

Der Schmöker koſtet neu ja fünfe, und er ſieht doch noch ganz jungfräulich aus.

Fünfundſiebzig Fenge, Herr Stilpe! Und übrigens: Wenn Sie nu ſitzen bleiben und die Catilinariſchen noch ein Jahr leſen müſſen?

Na, hören Sie mal, das find ich ſtark! Sie halten mich wohl für ein Kameel? Alſo gut, her mit den fünfundſiebzig, Sie Jude.

Der Deklamator zog feinen Beutel und fiſchte das Geld heraus. Dann notierte er ſich das Ge⸗ ſchäft in ſein Notizbuch, wo eine Seite in tadel⸗ loſer Rundſchrift überſchrieben war: Herr Stilpe.

Leider hielt die Bibliothek der Jugendzeit nicht lange vor, und es war das Bücherverkaufen über⸗ haupt ein etwas bedenkliches Geſchäft, weil Stilpe dabei doch zuweilen den Deklamationen des Herrn Wopf unterlag und für ſeine alten Bücher andre mit in Zahlung nahm. Zwar verkaufte er die gewöhnlich ein paar Wochen ſpäter zurück, aber es verſteht ſich, daß ihm der Deklamator nicht ſo viel zahlte, wie er ſich hatte zahlen laſſen.

Se machen ze viel Randbemerkungen in ve Bücher, Herr Stilpe. Und, ſehn Se, wenn de Marginalien auch ſehr geiſtreich ſin, wie z. B. hier gleich zweimal hinterenander: Quatſch!

Zweites Buch, drittes Kapitel. 115

Quatſch!, ſo verliern Se de Bücher doch dadurch an Wert.

Was!? Warten Sie nur, Herr Wopf, warten Sie nur! Wenn ich mal berühmt bin, dann verdienen Sie ein Vermögen mit meinen Autogrammen. Ich ſage Ihnen: Heben Sie ſich die Bücher auf!

Sie närrſcher Kunde! Wenn Se nu aber nich berihmt wer'n? —:

Schon Manchen ſah ich mit erhobnem Haupt Im Lenz der Jugend mit den Sternen ſpielen, Der, als das Alter ihm den Kranz entlaubt, Froh war, nach Kegeln auf der Bahn zu zielen.

Schie'm Se Kegel, Herr Stilpe? Das is enne ſehr geſunde Übung!

Nee, aber fünf Mark können Sie mir pumpen.

Der Deklamator zog ſein Notizbuch: Sehn Se mal her, Herr Stilpe: Jetzt ha'm Se ſchon acht Mark und fuffz'g Fenge prae! Jede Nacht treim ich, Se blei'm m'r ſitzen. Nee, pumpen kann ich Se niſcht.

Alſo mußte Stilpe auf Anderes denken. Ein Glück, daß er nicht ohne een, war.

116 Stilpe.

Bald wurde für ein Ehrengeſchenk zum Doktor⸗ jubiläum des Ordinarius geſammelt.

Dann hatte er eine Fenſterſcheibe in der Klaſſe zerſchlagen.

Sehr oft drängte es ihn, eine Klaſſikervorſtellung im Theater zu beſuchen.

Ein Kamerad war geſtorben, ein ſehr guter Freund von ihm: Da mußte ein Kranz her.

Unendlich häufig mußten Bücher gebunden, Hefte gekauft, neue Schulausgaben angeſchafft werden. |

Aus Verſehen hatte er Tinte über den Atlas ‚eines Nachbars gegoſſen. Ein ekliger Kerl, wie der war, wollte er ihn erſetzt haben.

Es war erſtaunlich, wie leicht ihm die Lügen fielen. Er ſchmückte ſie ſogar mit erſichtlichem Vergnügen novelliſtiſch aus. Erzählte z. B. die ganze Lebensgeſchichte des jubilanten Ordinarius, ahmte ihn nach, führte eine ganze Komödie von ihm auf Alles freieſte Erfindung; und das Ehepaar Wiehr wollte ſich ausſchütten vor Lachen.

Aber auch dieſe kleinen Mittel halfen nicht auf die Dauer. Stilpe ſtarrte ins Leere und fand nichts.

Zweites Buch, drittes Kapitel. 117

Da überfiel ihn ein Gedanke, vor dem er ſelber erſchrak: Die Ladenkaſſe

Aber nein, pfui Teufel, das iſt ja eine Gemeinheit! Weg damit! Lieber dieſe Sumpfereien da fein laſſen. Es iſt überhaupt widerlich .. Lieber arbeiten! ... Wieder mehr mit Girlinger disputieren! ... Ja, und endlich das Drama ſchreiben! !...

Und gleich holte er ein Heft aus dem Schub⸗ kaſten und ſchrieb darüber:

Der Hahnrei Sittentragödie Ins.

Ja, wieviel Akte mache ich!? Natürlich nicht fünf! Denn das iſt banal. Vielleicht vier? Vier? Bei dem Stoff? Nein! ſechs Akte! Alſo:

in 6 Akten Und nun die Perſonen: Schopf, ein buckliger Antiquar Clara, ſeine Frau Walter Wild, ein berühmter Journaliſt Wen denn noch? Girlinger? Ja!: Wirlinger, ein Agitator. Das iſt famos! Sozial! Und nun: Volk, Arbeiter, Studenten,

118 Stilpe.

Nein! Erſt noch eine Hauptperſon!: Martha, eine Proſtituierte.

Ah! Das giebt was! Da haben wir den Kon⸗ flikt! Ganz von ſelber kommt immer das Beſte. Natürlich: Martha! Das iſt die Retterin! Sie opfert ſich!l Am Schluß bricht eine Revolu⸗ tion aus! Ä

Er kam ganz ins Fieber. Die Proſtituierte als Retterin! Schopf als Typus des krämeriſchen Bourgeois. Walter Wild der Idealiſt. Clara das verführeriſche Weib. Wirlinger der dämoniſche Volkstribun. Und am Schluß die Revolution!

Er ſchrieb gleich die Schlußſzene; ungeheuer wild und natürlich blos ſo in Umriſſen hinge⸗ klitſcht wie mit der Maurerkelle. Glockeuläuten. Kanonenſchläge. Barrikaden. Brand. Marjeillaife. Carmagnole. Martha im ſchwarzen Hemd mu der roten Fahne.

Aber auf einmal war Alles aus. Der Strom war vorbei geſchoſſen. Es wollte nicht mehr fließen. Fortwährend drängte ſich, ſchon bei dieſem gewaltigen Hinpatzen der Farben, das Gefühl ein: Aber der erſte Akt? Wieſo denn Revolution? Natürlich muß ſie kommen. Freilich! Aber: Wieſo denn? Es muß doch irgendwie motiviert

Zweites Buch, drittes Kapitel. 119

werden?! Und da blieb er ſtecken und kam nicht heraus.

Das Schlimmſte war, daß er ſich in ſeinem dichteriſchen Tumulte zu lebhaft mit Martha be⸗ ſchäftigt hatte.

Ach, hols der Teufel! Ich geh hin!.

Haha! Ich, mit meinen zwanzig Pfen⸗ nigen!

Girlinger anpumpen? .

Ach der! Schöne Redensarten! Und dabei 00 er Geld!.

. ‚Die Ladenkaſſe. n

DE N Es ginge ganz nn Ich brauche blos 'nunter zu gehn ... Wiehr ſitzt auf dem Stuhl an der Thüre ... Hinten auf dem Laden ſteht die Kaſſe, offen .. Ich komme durch die Hinterthüre und ſtelle mich vor den Laden und ſpreche mit dem Alten ... Und, während ich mit ihm ſpreche, halte ich die Hände auf dem Rücken und greife ganz einfach in die Kaffe... Immer, während ich mit ihm ſpreche ... Ich muß blos was Komiſches erzählen ... Oder, nein, ſicherer, ich ſage: Sehen Sie, Vater Wiehr, da wird Einer arretiert drüben, vor Aeckerleins Keller! Da ſtürzt er ſicher gleich vor die Thüre

120 Stilpe.

Es wurde ihm unbehaglich heiß.

Aber das iſt ja doch niederträchtig! Das iſt ja Diebſtahl! Pfui Teufel!

Und, wenn ſie's beim Abrechnen mer⸗

Unſinn! ... Sie rechnen ja gar nicht ab, Philemon und Baucis !

Und ſchließlich, drei oder meinetwegen fünf Mark . .. Das fühlen Sie ja gar nicht

überhaupt: Diebſtahl! Mumpitz! Ich ſolls ja jo mal erben! Lachhaft! .

Ich kann's ja auch ſpäter wiedergeben, wenn ich ſelber Geld habe..

Natürlich: Das verſteht ſich von ſelbſt. Mit Zinſen .

Und er ſtülpte ſich ſeinen Hut auf und rannte hinunter.

*

* 5 ' e III I LI

Viertes Kapitel.

Stilpe war nach Unterſecunda verſetzt worden, aber nur verſuchsweiſe und mit Nachprüfung in der Mathematik nach einem Vierteljahr. Zudem fand ſich in ſeinem Zeugnis eine Bemerkung, für die er nur die Bezeichnung Infam! hatte. Es war da die Rede von „Zerfahrenheit“, „Unaufmerkſam⸗ keit“, „Allotria“.

Wiſchiwaſchi! ſagte Stilpe, kaufte ſich eine Flaſche Eau de Javelle und wiſchte die Bemerkung 1 weg. Er that es in der Hauptſache wegen der 1 alten Wiehrs, denn es lag ihm daran, daß dieſe 4 nicht irre an ihm wurden.

d In ſein Tagebuch ſchrieb er mit Geheimſchrift pathetiſch ein:

„Nachdem ich wöchentlich und konſequent einige Diebſtähle begehe, kommt es auf eine Urkunden⸗

fälſchung nicht mehr an.

122 Stilpe.

Ich bin alſo ein Verbrecher!? Ha! Das iſt ausgezeichnet!

Wenn ich wöchentlich, wie Girlinger, 10 Mark Taſchengeld hätte, brauchte ich nicht zu ſtehlen, und wenn die Pauker keine überflüſſigen Bemerkungen ſchmierten, brauchte ich kein Eau de Javelle.

Alſo? Logik? Schluß? Die Hauptſache iſt: Sich nicht erwiſchen laſſen!“

An Girlinger verriet er von ſeinen Streichen nichts. Er wußte, daß dieſer „unfähig war, derlei zu verſtehen“.

Und doch hätte er gerne Jemand gehen. dem ers jagen könnte.

Einmal hatte er bei Martha den Verſuch ge⸗ macht, indem er ſie fragte, ſehr feierlich, was ſie dazu ſagen würde, wenn Jemand ihretwegen ein Verbrechen beginge. Es gruſelte ihn angenehm, wie er das ſagte.

Sie aber antwortete blos: Den würd'ch an⸗ zeigen.

Das gab ihm einen Stoß, und er fand von jetzt ab, daß „dieſe Perſon ſehr gewöhnlich“ ſei.

D

Zweites Buch, viertes Kapitel. 123

Er war ihrer überhaupt überdrüſſig und warf ſich mehr ins Ideale, Heroiſche. Es kam ihm ein Wulſt Gedanken wie: Neues Leben! Freiheit! Selbſtändigkeit!

Je näher die Mathematiknachprüfung rückte, um ſo dringlicher wurden dieſe Gedanken.

Wenn er nun dieſe Prüfung nicht beſtünde? Die Perſpektive war ſcheußlich, aber das ſcheußlichſte an ihr war der Gedanke, daß er, der jetzt in Unter⸗ ſekunde mit Sie angeredet wurde, in Obertertia wieder gedutzt werden würde. Alſo: Das Symbol der Knechtſchaft!

Aber auch, wenn er beſtünde! Wie gräßlich war dieſe ganze Schule überhaupt! Und ſo noch vier Jahre bis zur Freiheit, bis zur Uni⸗ verſität!

Und in dieſen vier Jahren immer dieſes leere Stroh, das Einem vorgeworfen wurde: Da, driſch, aber im Takt!

Und was waren das für Leute, die die Aufficht dabei führten! Oh, dieſe Druſchmeiſter! Herr⸗ gott, dieſe Profeſſoren!

Ein paar waren ihm ja „intereſſante Knaben“, ein bischen ſteifleinen und ſteifbeinen, aber man konnte ihnen gut ſein, denn, nun ja eben: Sie

124 Stilpe.

waren intereſſant und hatten zuweilen menſchliche Töne.

Aber die Andern! Dieſe kalten Pedanten! Dieſe langweiligen Schablonenmeiſter! Kalbsköpfe alle miteinander!

Er würde einmal eine ariſtophaniſche Komödie ſchreiben: Die Kaulquappen. Dazu, als Modelle, ſeien ſie zu brauchen, ſonſt zu nichts.

Ob wol Einer von dieſen Plärrern eine Ahnung davon hätte, was hinter ihm, dem Stilpe, ſteckte?

Und ſolchen Leuten war er unterthan, er, der Ziele vor ſich hatte, an die ſie ebenſowenig dachten, wie der Igel an ein Himmelbett!

Nein, er mußte fort aus dieſer Sklaverei und fort auch aus dieſem Sumpf mit der Perſon da, die wirklich kein Hetäre war, wie Aſpaſia.

Ja, eine Aſpaſia, das wäre ſeine Retterin! Ein Weib, himmliſch ſchön und von freier Nacktheit Leibes und der Seele, und voll Poeſie! Voll Ideal!

Ah! Hellas! Hellas! HELLAS!

Zweites Buch, viertes Kapitel. 125

Pfui Teufel, was da auf feinem Arme ftand, dieſes blödſinnige Epfilon Gamma!

Was ging ihn dieſes Deutſchland an, ihn, den Kosmopoliten!

Er ſchrieb mit roter Tinte in griechiſchen Lettern Hellas auf eine Papptafel und hing dieſe über ſeinem Bette auf.

Griechenland, ja, das war ein Wort und ein Ruf, und ſein Schrei!

Aber nicht das, was dieſes Lehrergeſindel im Munde führte, ſondern das, von dem Heine ſchrieb als dem Gegenſatz zum Chriſtentum.

Denn mit dem Chriſtentum war er nun auch im Reinen. Er nannte es die Weltmaſern und that ſich auf das Wort nicht wenig zu Gute.

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Eines Tages ging er mit Girlinger ins Roſenthal.

Girlinger war ſehr niedergeſchlagen. Sein Vater war hinter ſeine Lektüre gekommen und hatte ihn vor der ganzen Familie als „unreifen Zuſammenleſer unverſchämter Dummheiten“ lächer⸗

126 Stilpe.

lich gemacht und zugleich Maaßregeln getroffen, die ſeine Lektüre unter eine ſtrenge Aufſicht ſetzten.

Der Herr Staatsanwalt hat ein Ausnahme⸗ geſetz über mich beliebt. Aber er ſoll ſich irren. Ich bin nicht der unreife Knabe, für den er mich hält. Ich habe es deutlich bemerkt, daß er von den Sachen, die er verdammt, ſo viel verſteht, wie ich von ſeinem Büttelamte. Ich laſſe mich nicht knechten! Ich werde es ihm zeigen!

So? Du? Weißt Du, Dein Vater kennt Dich ſehr gut. Der weiß, daß Du wie ein Pudel über den Stock ſpringſt, wenn Du auch vorher bellſt.

Das wirſt Du ſehen! Ich habe zwar nicht das große Maul wie Du, aber ich handle!

Da bin ich geſpannt. Wirſt Du es mir nicht verraten?

Nein! Der Tag wird kommen, wo Dus

ſiehſt. | Dann muß er bald kommen!

Wieſo?

Ich verrate auch nichts.

Sie gingen ſchweigend nebeneinander her, und Stilpe hieb mit ſeinem Spazierſtock in die Büſche. Endlich ſagte er:

Zweites Buch, viertes Kapitel. 127

Nein, und wenn Du mir auch nichts ſagſt, ich will offen ſein! Aber gieb mir Deine rechte Hand, daß Dus niemand ſagſt.

Ja doch.

Nein, die Hand! Und das iſt wie ge⸗ ſchworen!

Ja doch. Hab' ich ſchon was verraten?

Alſo gut!

Und er blieb ſtehen und ſagte leiſe, aber mit feierlichem Tone:

Ich gehe nach Griechenland.

Girlinger ſah ihn groß an:

Ja, kannſt Du denn Neugriechiſch?

Die Frage kam Stilpen unerwartet. Daran hatte er noch nicht gedacht. Er biß die Lippen ärgerlich aufeinander.

Natürlich nicht.

Ja, was für eine Sprache wirft Du denn dort reden?

Es giebt eine deutſche Kolonie in Athen.

Stilpe wußte davon eigentlich nichts, es war eine ſeiner rettenden Improviſationen, aber Gir⸗ linger fand ſie plauſibel.

So, nun ja, aber was willſt Du in dieſer deutſchen Kolonie machen?

128 Stilpe.

Irgend was: Schreiber, Kopiſt, Sekretair, irgend ſo was!

Girlinger ſchwieg eine Weile. Dann meinte er:

Haſt Du denn Geld zur Reiſe?

Stilpe, langſam:

Ja.

Wieviel denn?

Weiß ich noch nicht.

Ach jo... Ich habe hundertunddreiund⸗ fünfzig Mark.

Was? Hundertunddreiundfünfzig! Das iſt ja koloſſal!

Das iſt viel zu wenig. Ich habe gedacht, Du würdeſt mindeſtens tauſend haben.

Ja, woher denn?

Das iſt einerlei.

Girlinger ſagte das etwas im Tone des ent⸗ ſchloſſenen Böſewichts der Bühne, dumpf, tremolo. Nein, ſoviel kann ich nicht .. bekommen.

Was denkſt Du denn, was die Reiſe koſtet?

Ich laufe natürlich.

Da werden ſie Dich bald einhaben.

Ich werde ſie auf eine falſche Spur locken. Natürlich denken ſie Alle: Amerika. Übrigens: Du willſt doch nicht etwa nach Amerika?

Zweites Buch, viertes Kapitel. 129

Girlinger lächelte ſpöttiſch:

Du hältſt mich für ſehr dumm. Nein, ich denke an England.

Und er ſetzte nun ſehr kühl und eingehend auseinander, welche Vorzüge England habe: Keine polizeilichen Anmeldungen, Nachfrage nach deutſchen Kräften für kaufmänniſche Korreſpondentenſtellungen u. ſ. w., u. ſ. w. Er hatte Alles, nach ſeiner Weiſe, prak⸗ tiſch bedacht und ſich über Alles in Büchern Gewißheit verſchafft. Engliſch und die doppelte Buchführung hatte er ſich auch nach Möglichkeit beigebracht.

Aber Stilpe übergoß ihn mit ganz anderen Argumenten für ſeine Idee:

Was? England? Dieſes große Krämerneſt? Dieſes Land des Nebels und der Kommis? Dieſe Inſel der Pfefferſäcke? Wo ſie die Feigenblätter en gros fabrizieren aus Weißblech mit Olfarbenan⸗ ſtrich? Wo man Sonntags nicht nieſen darf? Ja, Menſch, kennſt Du denn Byron nicht? Byron, ſiehſt du, der wollte lieber in Griechenland ſterben, als in England leben. Nur Griechenland! Nur Griechenland! Denke doch: Dieſer Himmel! Dieſe Erinnerungen! Und: Dieſe Weiber! Ich ſage Dir: Ehe dieſe Bande hier ihr Abiturientenexamen ge⸗

macht hat, ſind wir berühmt. 9

130 Stilpe.

Ach was, ich will frei ſein und nicht dichten.

In Griechenland wirſt Du frei ſein! Und warum verſtellſt Du Dich denn? Ich weiß doch, daß Du noch viel ehrgeiziger biſt, als ich. Und dann: Die Schönheit! Die alte Kunſt! Die Akropolis! Denke: Wenn wir da hinaufſchreiten! Und alles das Südliche überhaupt! Olbäume, Orangen, Citronen, Rhododendren!

Girlinger hatte allerlei praktiſche Bedenken, aber ſchließlich legte auch er es ſich zurecht. Seine Phantaſie war nicht ſo ſchnell losgelaſſen, wie die Stilpes, und ſie ſchwärmte nicht ins Blaue, aber gerade dieſe Sehnſucht nach dem Süden war in ihm, und um ſo ſtärker, als er ſich wirklich ein Bild vom Süden machte, während Stilpe nur den Abreiz von Worten ſpürte.

Sie gingen mit dem Verſprechen Girlingers auseinander, daß er am nächſten Sonntag, in zwei Tagen, ſeinen endgiltigen Entſchluß kund thun wolle.

Girlinger benutzte die Zeit, um gründlich über den Plan nachzudenken und nach Möglichkeit zu ſtudieren, was ihm über das Griechenland von Heute zugänglich war. i

Stilpe aber ſchwamm in einem heißen Ent⸗

Zweites Buch, viertes Kapitel. 131

zücken bei dem Gedanken, die große That im Verein mit Girlinger zu vollführen und wei⸗ dete ſich an der Vorſtellung, welchen Eindruck es machen würde, wenn nicht blos er, der „zweifel⸗ hafte Schüler“, durchgebrannt und verſchwunden war, ſondern mit ihm der geprieſene Muſterknabe und Primus. Mit beſonderem Genuſſe ſtiliſierte er ſich im Geiſte die Notizen, die über dieſes Er⸗ eignis in den Blättern ſtehen würden. Er kam ſogar auf die Idee, eine „Rechtfertigung“ abzu⸗ y faſſen, die er auf irgend eine Weiſe (das Wie über⸗ lließ er ſpäterer Überlegung) drei Tage nach ihrer Flucht (Flucht!) von Leipzig aus dem Leipziger Tageblatt zukommen laſſen wollte. Vielleicht durch den Deklamator? Oder durch Martha? Dieſe Frage beſchäftigte ihn am meiſten.

Am Sonntag enthüllte ihm Girlinger in kurzen Worten, aber ſehr ernſt, daß er bereit ſei, mitzugehen, aber nicht vor vierzehn Tagen. Denn es ſei noch viel zu ordnen und zu be⸗ denken. Er könne, Alles in Allem, 250 Mark zuſammenbringen, teils durch Bücherverkauf, teils durch ſeine Schweſtern. Mindeſtens ſo viel müſſe aber Stilpe beſchaffen. Dieſe Summe werde für jeden zur Hinreiſe genügen (er hatte das 9

. ——— u ET NEE EEE T EELLLRERLE GER

N

132 Stllpe.

ſche Kursbuch bei ſich) und außerdem Lebensunter⸗ halt für zwei Wochen ſichern.

Natürlich werden wir in dieſem Klima vegetariſch leben.

Selbſtverſtändlich.

Eine ganze Anzahl praktiſcher Notizen hatte er auf einem Zettel zuſammengeſchrieben, und Stilpe mußte ſich verpflichten, dieſe auch für ſich anzu⸗ erkennen. Da hieß es:

Es ſind mitzunehmen pro Perſon: Ein Koffer mit: Einem Anzug ein paar Stiefeln zwei Hemden drei paar Strümpfen (NB. aus der Wäſche find die Namenzeichen auszutrennen !!) ſechs Taſchentüchern zwei Kragen.

Die Koffer werden in St.'s Gartenhaus in der Verſenkung, wo jetzt das Gartengerät auf⸗ bewahrt iſt, niedergelegt.

Stilpe muß zwei Koffer ſtellen, da es für G. unmöglich iſt, ſich mit einem Koffer aus dem elterlichen Hauſe zu entfernen.

Zweites Buch, viertes Kapitel. 133

Ein Revolver, wenn billig zu haben, iſt wünſchenswert.

Stilpe fand den Revolver in allererſter Linie für notwendig und machte ſich anheiſchig, einen zu beſorgen.

Natürlich einen, den man in die Bruſttaſche ſtecken kann!

Ja, aber doch nicht allzuklein!

Bereits am Dienſtag brachte Stilpe den Re⸗ volver mit in die Schule und zeigte ihn Girlingern auf der Retirade.

Biſt Du verrückt! Steck ihn ſofort ein!

Und er iſt ja viel zu groß!

Ich werde doch kein Spielzeug mitnehmen!

Girlinger entfernte ſich eilig, und als fie nach Hauſe gingen, ſagte er ſehr ſcharf: Wenn Dus ſo machſt, nehme ich mein Wort zurück! Überhaupt, wie benimmſt Du Dich denn? Alle Augenblicke nimmſt Du mich auf die Seite und machſt mir Zeichen. Jeder Menſch muß merken, daß wir was vorhaben.

Bring lieber Deine Wäſche ins Gartenhaus ſtatt daß Du mir Moral ſchwingſt. Meine Sachen ſind alle draußen.

Bei mir geht das nicht ſo wie bei Dir.

134 Stilpe.

Hier (er ſah ſich nach allen Seiten um) ſind zwei Kragen. Ich muß jeden Tag einzeln was bringen. Wenn ich nur wüßte, wie ichs mit dem Anzug mache. Ich kann doch nicht mit ein paar Hoſen überm Arm in die Schule gehn.

Zieh den Mantel an und nimm ſie untern Mantel! Oder, halt: Ich komme und hole ſie!

Nein, nein, ich werde ſchon Alles ſelber bringen.

pP:

Während fo bei Girlinger die Schwierigkeiten mehr ins Einzelne gingen, hatte Stilpe nur ein großes Problem zu bewältigen: Das Geld.

So viel war ſicher: Die Ladenkaſſe reichte nicht. Man konnte ſie höchſtens mit fünfzig Mark anſetzen.

Alſo denn erſtmal alles verkaufen, was in Griechenland überflüſſig war an Kleidern, Wäſche, Büchern.

Geſchah. Von Büchern entgingen nur Börnes Werke, Tannhäuſer in Rom und Byrons Don Juan dem Deklamator. Aber Alles in Allem kamen nur vierzig Mark heraus. |

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Zweites Buch, viertes Kapitel. 135

Wie wär es mit ein paar Anzügen Vater Wiehrs? Ein Gedanke! Der Mann hatte ja ſeine ganze Vergangenheit noch im Kleiderſchranke hängen.

Aber Vorſicht! Vorſicht! Und erſt in den letzten Tagen. Auf fünfzig Mark konnte man das aber immerhin anſetzen.

Fünfzig und fünfzig ſind hundert, und vierzig find hundertundvierzig ... Wenn ihm nur irgend ein Coup einfiele! Das Geplempere mit kleinen Poſten gefiel ihm gar nicht.

Hm. Im Glasſchrank ſtand ſo allerlei herum, auch Schmuckzeug ... Aber da verging ja kein Tag, an dem nicht Mutter Wiehr den Kram be⸗ ſtreichelte.

Halt! ... Aber nein... nein . I. . Frei⸗ lich, wenn gar nichts übrig blieb ... ...: Die Paten⸗ und Konfirmationsgeſchenke des verſtorbenen Filius. . . . I.. Die waren in dem ver⸗ ſchloſſenen Schranke in ſeiner Stube, und die Alten hatten eine große Scheu vor dieſen Erinnerungen. Sie hatten ſie verſchloſſen, um ſie nicht zu ſehen; nie machten ſie den Schrank auf. Da mußten ja wol auch noch Bücher ſein und ſonſt was

Das war aber doch ein verfluchter Coup! Das

136 Stilpe.

war ſchon nicht mehr blos, pfui Teufel, Diebſtahl, das war ſo was wie Frevel. Oder?

Stilpe verſuchte, den Gedanken mit Ge⸗ walt loszuwerden und erging ſich, um ihn bei⸗ ſeite zu ſchieben, dafür in den abenteuerlichſten Plänen.

Sogar der ſchmierige Beutel des Deklamators tauchte auf und eine verbrecheriſche Intrigue mit der roſigen Gattin.

Hatte ſie ihm nicht kürzlich hinter dem Rücken des Alten zugelächelt?

Wie, wenn er mit ihr im Bunde den Alten ... Aber, duliebergott, das war ja eine Kriminalnovelle und kein Coup!

Immer wieder der verſchloſſene, große, braune Schrank

Was da wohl alles drin ſteckte .. Natür⸗ lich zuerſt ſämtliche Hoſen und Höschen, Jacken und Jäckchen des geprieſenen Filius, von der Wiege bis zur Bahre.

Verdammt nochmal: Auch noch Rückſicht auf Sentimentalitäten, wo es ſeine Freiheit und Zu⸗ kunft galt! Da gabs doch kein Beſinnen! Dort der Tod! Hier das Leben! Hie Mottenfraß! Hie Freiheit!

Zweites Buch, viertes Kapitel. 137

Er ging an den Schrank und verſuchte ſeine Schlüſſel am Schloß. Ging nicht.

Alſo: Eintreten! Einfach eintreten!

Er ſchlug mit der Fauſt auf die Schrank⸗ thüre. Aber wie er das Poltern hörte, lief er gleich weit weg und ſah zum Fenſter hinaus.

Wozu überhaupt dieſe Menge Geld? Hundert⸗ fünfzig waren auch genug.

Er ſtellte das Girlingern vor. Aber der protzte ſeine ganze widerliche Konſequenz auf:

Wie wirs ausgemacht haben, ſo bleibts. Du haſt mein Wort, und ich habe Deins.

Stilpe empfand eine kochende Wut über dieſes Benehmen.

Nicht einmal ſagen kann ichs dem Kerl, was ich vorhabe. Natürlich er: Jede ſeiner Schweſtern giebt ihm fünfzig Mark. Und ich muß ſolche Ge⸗ meinheiten aushecken.

Aber wart nur: Dieſe Erfahrungen, dieſe Kämpfe, die werden aus mir was Ganzes, Eigenes machen, wo Du blos eine Molluske biſt und bleibſt! Ich bin der Kämpfende! Ich werde den Sieg haben! Und dann, oben auf der Akropolis will ich Dirs in's Geſicht ſchütteln mit meinen Fäuſten: Ich habe ſtehlen müſſen für

138 Stilpe.

meine Freiheit und unendliche Frevel auf mich ge⸗ laden für meine Ideale! Du aber biſt blos der Pudel, der hinter mir herlief, aufgefüttert und vollgeſtopft, ohne Mark und Entſchluß!

In dieſem Aufſud ſtürmiſcher Gefühle fiel ihm Karl Moor ein, und er fühlte ſich nun nicht blos gerechtfertigt, ſondern geradezu verpflichtet, den Schrank aufzubrechen.

Aber Vorſicht! Vorſicht! Und: Nicht zu früh!

ER

Jetzt waren es noch ſechs Tage bis zu dem Sonnabend, wo ſie ſich nachmittags im Garten⸗ hauſe treffen wollten, um abends abzureiſen.

Von Girlinger fehlte immer noch die Hoſe und ein Hemd im Koffer, aber er konnte ihn nicht einmal mahnen, denn der Primus blieb aus der Schule weg und hatte ihm verboten, ihn zu be⸗ ſuchen.

Er ſtelle ſich krank, hatte er ihm geſchrieben, um nicht unnötig durch ihn aufgeregt zu werden, auch habe er einen beſonderen Tric vor mit dieſer Krankheit. Im Übrigen ſolle er nur Alles genau

an

. BEER ZA

Zweites Buch, viertes Kapitel. 139

nach Verabredung beſorgen und thun. Sonnabend um 3 Uhr am Gartenhauſe!

Stilpe hatte einen grenzenloſen Reſpekt vor Girlingers kühler Klugheit, und er ſtellte ſich irgend etwas unerhört Schlaues vor, das hinter dieſer Krankheit ſteckte.

Wer weiß: Er bringt vielleicht 500 Mark mit!

Wenn mans nur wüßte! Nur wüßte! Dann wäre auch dieſe infame Choſe mit dem Schrank nicht nötig.

Schon das Verkaufen von Vater Wiehrs Garderobe war eine verdammt ſchwierige Sache geweſen, und es war blos Duſel, wenn es nicht zur Unzeit bemerkt wurde.

Nun aber der Schrank! |

Das Heiterſte wäre, wenn mich Mutter Wiehr angeſchwindelt hätte, und es gäbe da drin gar nicht dieſe koſtbaren Konfirmationskleinodien und Tauf⸗ becher.

Ob ich ſie nochmal frage?

Er nahm wirklich einen Anlauf dazu, brachte es ſchließlich aber doch nicht übers Herz. Dafür machte er ſich im Stillen einige moraliſche Kom⸗ plimente über dieſe Feinfühlichkeit und fand, daß

140 Stilpe.

er eigentlich ſein Gewiſſen dadurch für Dr anſehen könnte:

Denn, wäre ich wirklich ein gemeiner Kerl, ſo hätte ich gefragt; aber ich handle eben blos unterm Zwang der Verhältniſſe und ſchone dabei nach Möglichkeit, was zu ſchonen iſt.

Unter dieſen Erwägungen brach er kaltblütig den Schrank auf, nachdem er die Kammerthür ver⸗ ſchloſſen und das Schlüſſelloch verhangen hatte.

Schau, ſchau, gepfropft voll! Aber iſt es nicht ſündhaft, alle dieſe Sachen von den Motten freſſen zu laſſen? Es ſcheint, die guten Wiehrs wiſſen nicht, wieviel arme Jungens keine ganzen Kleider am Leibe haben. Natürlich! Die Sentimentalität geht bei dieſen Bourgeois Allem vor

Der Überzieher da iſt noch wie neu

Herrgott, wieviel Hüte hat denn der Filius gehabt?. N

Sogar feine erſten Hoſen find noch da...

Übrigens: Inſektenpulver haben ſie doch ge⸗ ſtreut ... Donnerwetter: Das kann mich ja ver⸗ raten! Die ganze Kammer wird ſtinken!

Er lief und öffnete die Fenſter. Unten ging gerade ein Schutzmann vorbei. Stilpe machte eine Verbeugung:

\ N 0 50 0 f 4 . N 5 \ N 1 1 10 195 19 1 1 Ir 13 1 a 14 13 199 21 1 10 2 J 0

Zweites Buch, viertes Kapitel. 141

Das Auge des Geſetzes wacht! Sie, Schutz⸗ mann, hier wird geſtohlen! Ja, das möcht er wohl, der Gute, daß ich ihn raufwinkte. Wird nich verzapft!

Nun aber die Kleinodien!

In der Pappſchachtel? Nein: Seidene Tücher. Da könnt ich übrigens eins.. Unſinn!

Aber es ſcheint wirklich kein Edelmetall.

Er holte ſich einen Stuhl und ſtieg darauf, um beſſer ſehen zu können, was auf dem oberen Schrankbrett ſtand.

Siehſtewoll? Der Kaſten iſt ſchwer. Und: Er klappert. |

Er nahm ihn langſam herunter.

Es war eine alte Schatulle aus eingelegtem Mahagoniholze mit zopfigen Ornamenten. Ein kleiner Schlüſſel mit herzförmigem Griff ſteckte im Schloß.

Er trug die Schatulle auf den Tiſch und ſchloß ſie auf.

Donnerwetter, was für ne Menge!

Zwei Uhren! Eine filberne und eine gol⸗ dene! Und ditto zwei Ketten. Dieſer Filius iſt verzogen worden!!

Und goldene Ringe gar dreie! Was? Auch

142 Stilpe.

goldne Manſchettenknöpfe? Das iſt ja blöd⸗ ſinnig!

Am Ende hat der Junge auch noch eine Buſennadel gehabt. Richtig!.

Ekelhaft, das! So einer muß ja ein Protz werden. Und dabei war er dumm wie ein Heuroß.

Gut! Gut! Klappe zu!

Er ſtellte die Schatulle wieder an ihren Platz, lehnte die Schrankthüre feſt an, klemmte ein bischen Pappe ein und hatte eine deutliche Empfindung von Zufriedenheit, wie er ſah, daß äußerlich nichts an dem Schranke zu merken war.

Was aber nun anfangen mit dem Zeug? Er beſchloß, es erſt in Athen zu verkaufen. Trödler giebts dort ſicher auch.

1

Nun kam der große Tag heran. Das letzte, was Stilpe ins Gartenhaus getragen hatte, waren ſeine Tagebücher und Manuſkripte geweſen. Die letzten Worte in ſeinem Tagebuche lauteten ſchwung⸗ voll ſo:

Zweites Buch, viertes Kapitel. 143

Und nun, mein ſtolzes Schiff, ſtich aus ins Meer! Du trägſt mein Alles, und dein Zeichen heißt: Freiheit, Hoffnung und Zukunft.

Meine Hand, Mit der ich nun die Ankerkette ſchnell Aufwinde, iſt beſchmutzt, doch waſch ich ſie Im Meer der Schönheit, und ich ſchwöre: Nie, Bei allen Göttern, die ich ſuche, nie Soll wieder Schmutz an dieſe heiße Hand!

Die letzte Schulſtunde, zu der er ſich herabließ, war Griechiſch. Es wurden unregelmäßige Verba abgefragt, und da er ſich nicht vorbereitet, auch nicht einmal in der Vorpauſe, wie er ſonſt zu thun pflegte, in der Grammatik nachgeleſen hatte, blieb er jede Antwort ſchuldig.

Warum haben Sie Ihr Penſum nicht ge⸗ lernt?

Er lächelte und dachte bei ſich: Freiheit, Hoff⸗ mung und Zulunft!

Wollen Sie wohl antworten? Warum haben Sie Ihr Penſum nicht gelernt?

144 Stilpe.

Es war mir zu langweilig.

Der Profeſſor ſchnappte nach Luft. Das war der Gipfelpunkt der Frechheit. Das war jenſeits aller Bezeichnungsmöglichkeit. Nur das eine Wort: Karzer! wühlte ſich aus dem verſtopften Sprach⸗ ſchatze empor.

Wie viel Stunden, Herr Profeſſor? fragte Stilpe mit unterwürfigem Lächeln.

Iſt der Menſch verrückt geworden?

Die ganze Klaſſe hatte mit dem Profeſſor nur dieſen einen Gedanken und ſtarrte auf den lächelnden Stilpe. Sein Nachbar rückte ein Stück von ihm ab.

Er aber ſetzte ſich gelaſſen und that, als ob die Sache für ihn erledigt wäre.

Der Profeſſor, eben noch violett, wurde weiß wie weicher Käſe und rief, indem er ſein Buch von ſich warf:

Verwegener Bube! Ah! Ah! Am Montag werden Sie erfahren, was Sie ſich zugezogen haben.

Bei dem Worte Montag hätte Stilpe laut auf⸗ lachen mögen, aber es kam ihm der Gedanke, daß man ihn gleich heute am Nachmittag einſperren könnte, und ſo hielt er ſich ſtille.

Zweites Buch, viertes Kapitel. 145

Als die Stunde vorüber war und die Sekun⸗ daner ihre Bücher zum Heimgehen packten, bildete ſich ein Kreis um Stilpe:

Na, die Unverſchämtheit kommt Dir teuer zu ſtehen, mein Söhnchen ... Du haft wohl Luft, geſchwenkt zu werden? ... Du biſt wohl nicht bei Troſte .

Stilpe lächelte blos geringſchätzig. Gerne hätte er jetzt irgend eine kleine Andeutung gemacht. Es wurde ihm ſehr ſchwer, ſie zu verbeißen. Aber er überwand ſich.

Und nun kam er in Aufregung. Wenn er nur nicht noch zu Tiſche zu gehen brauchte! Aber das mußte er natürlich, ganz abgeſehn davon, daß er recht gut bei Appetite war.

&

Kaum aber, daß er ſich vom Tiſche erhoben und geſegnete Mahlzeit gewünſcht hatte, lief er aus dem Hauſe und rannte durch die Straßen.

Es war ein unfreundliches Spät⸗Frühlings⸗

wetter, Regen und Wind. Da er keinen Schirm

hatte, war er bald ganz durchnäßt. oh er lief, 1

146 Stilpe.

ſo unangenehm ihm dieſe eindringende Feuchtigkeit war, immer auf und ab und immer denſelben Weg: Grimmaiſche und Petersſtraße. Er wollte nicht eine Minute früher als Punkt 3 Uhr am Garten⸗ hauſe ſein, aber er wollte auch nirgends vorher einkehren, denn er fühlte, daß er nicht ſitzen könnte.

Sein einziger Gedanke war: Wenn wir nur erſt im Zuge ſitzen. Und dann bis Trieſt in einem Saus! Ah! Nacht und Tag und Nacht! Und dann das Schiff! .

Freilich: Die Seetranfgeit u Unſtun! Wenn erſt die ſchimmernde Küſte Griechenlands auftauchen wird ...! Venus Anadyomene! Und dieſe Hellenen in ihren bunten Trachten; auch Türken, Armenier! Und herrliche Weiber mit Krügen auf den Köpfen! Großäugig! Glutäugig! Und broncene Brüſte ſchimmern durch paphiſche Gewänder ...! Und Marmorpaläſte, ſüdliche Gärten und ſengende Sonne!

Und nun mein ſtolzes Schiff, ſtich aus ins Meer!

Plötzlich kam ihm ſeine Mutter in Sinn. Es kam ſo unvermutet und grell, daß er mitten im Rennen ſtehen blieb. |

Zweites Buch, viertes Kapitel. 147

Herrgott, wie wird fie weinen ... Es iſt doch eigentlich... Ah, aber nein: Wenn ich ſicher bin, ſchreib ich ihr Alles, und wenn ſie ſieht, wie glück⸗ lich ich bin, dann wird ſie ſtolz auf mich ſein! Sie verſteht mich ja! Sie weiß, daß aus mir was Großes werden wird!

Mütterchen weine nicht, weine nicht ſo, Sieh ich bin in der Fremde froh Und denke Dein.

Er hoffte, es würde ein ganzes Gedicht werden, aber es blieb, wie gewöhnlich, beim Anfange. Endlich /3 Uhr! Nun zum Gartenhaus! Er lief im Trabe mitten durch Pfützen und ohne aufzuſehen, wie ein Junge neben dem Reifen. Jetzt am Garten. Nun die Allee hinauf. Ob Girlinger ſchon da iſt? Nun den Seitengang. Gott ſei Dank, daß es regnet und niemand im Garten iſt. Aber der Dreck! Der Dreck! Ganz beſpritzt! Das wird doch auf der Eiſenbahn nicht auf⸗ fallen? So, jetzt bei Kürners Garten vorbei und nun mit Barriereſprung übers Stacket. Teufel! Mitten

in eine Pfütze! So ein Blödſinn! d 10*

148 Stilpe.

Punkt drei!

Aber Girlinger iſt noch nicht da. Natürlich; der macht ſichs bequem und kommt ſicher in Gummi⸗ galloſchen und muß um jede Pfütze einen Bogen machen und womöglich bei jedem Buchladen ſtehen bleiben. Ekelhaft dieſe Hundsſchnauzigkeit.

Er ging zum Gartenhaus und griff in ſeine Taſche nach dem Schlüſſel.

Plötzlich fuhr er zuſammen und ſtarrte auf etwas weißes, das in der Thürſperre klemmte. Sein Geſicht verzerrte ſich: Ah, du Hund, du!

Er riß das eingeklemmte Papier heraus. Her⸗ unter das Couvert. Da ſtand mit den ſchönen, ſo oft in der Schule belobten Schriftzügen unter Einhaltung des Höflichkeitsrandes ꝛc. folgendes:

Lieber Stilpe!

Nachdem ich mir unſern Plan noch vielmals und reiflich überlegt habe, bin ich zu der un⸗ umſtößlichen Überzeugung gelangt, daß es im Grunde blos ein etwas perſönlich drapierter Dummerjungenſtreich wäre. Wenigſtens was mich angeht. Du biſt ja anders, und Dein Temperament berechtigt Dich gewiſſermaßen zu einem ſolchen Schritte, der ins Ungewiſſe führt.

Zweites Buch, viertes Kapitel. 149

Aber ich bin nicht zu dergleichen kühnen Ent⸗ ö ſchlüſſen geeigenſchaftet.

5 Alſo: Ich kann nicht mitthun.

Verachte mich, ſoviel Du willſt und nenne | mich einen Feigling und Wortbrüchigen. Ich = kann nichts dagegen thun. Höchſtens, daß ich 5 auch Dir rate: Stehe auch Du von dem Plane ab. b Selbſtverſtändlich biſt Du ſtrengſter Ge⸗ heimhaltung von meiner Seite aus ſicher. Aber ich erwarte auch von Dir, daß Du nicht etwa in einem Deiner Wutausbrüche mich als Deinen Komplizen nennſt. Das wäre keineswegs ho⸗ norig.

Indem ich Dir, für den Fall, daß Du den Plan zur Ausführung bringſt, alles Glück auf⸗ richtig wünſche, bin ich, auch wenn Du mich verachteſt,

Dein Freund Robert Girlinger.

P. S. Meine Sachen nimm, wenn Du gehſt, mit. Sie werden Dir nützlich ſein.

Stilpe geriet in eine maßloſe Wut. Zuerſt ließ er ſie an dem Briefe aus, den er mit den Zähnen zerriß und in das matſchige Erd⸗

150 | Stilpe.

reich hineinſtampfte. Dann warf er ſeinen Hut auf die Erde und ſchlug mit den geballten Fäuſten an die Gartenhausthür. Er war aſchfahl im Geſicht und biß ſich fortwährend auf die Lippen, als wenn er das Bedürfnis hätte, etwas zu zerfleiſchen.

Dann ſchloß er die Thür auf und ging ins Gartenhaus. Mit einem Fußſtoße öffnete er die Deckthür zu der Verſenkung, wo die Koffer ſtanden und ſpuckte auf dieſe. Dann warf er die Deckthür zu, daß es krachte und ſetzte ſich auf einen Garten⸗ ſtuhl. Ein Windſtoß warf die Thüre zu, und nun war er im Dunkeln allein mit ſeiner kochenden Wut.

Was thun?! Was thun?!

Ah, vor Allem Eins: Rache an dieſem feigen Hund! Hin zu Girlinger und ihm laut ins Ge⸗ ſicht ſchreien, was für ein erbärmliches Subjekt er iſt. Das ganze Haus zuſammenſchrein! Ihm den Koffer vor die Füße, nein, vor den Bauch werfen. Und ihn prügeln!

Prügeln! Unſäglich und lange prügeln!

Ach was, erſchießen müßte man ihn!

Erſchießen! Das iſt ein Gedanke! Ah, und da iſt ja auch der Revolver! Gottſeidank, daß er ſo groß iſt!

Aber das war ſchon mehr blos pathetiſche

Zweites Buch, viertes Kapitel. 151

Zierleiſte. Er merkte das ſelber, und den Ge⸗ danken, ſich hinter her etwa ſelber zu erſchießen, ließ er nur ganz von Ferne vorbeidrohen.

Überhaupt nein: Weder Prügel noch Revolver, nur Verachtung! Ein einziges Wort auf eine Poſt⸗ karte geſchrieben: Lump! und dann fort!

Fort! Fort! Fort! Er rüttelte das Wort in ſich hin und her. Fort! Fort! Aber es geſchah halb mechaniſch, wie er ſich das in plumpen Stößen immer wiederholte.

Fort! Fort! Natürlich: Fort!

Ich werde doch wohl wegen dieſer Kanaille nicht hier bleiben!?

Aber dieſe Beſtie hat ja das Kursbuch! Der ganze Reiſeplan ſtand ja bei ihm!

Ich Wickelkind habe ihm ja Alles überlaſſen!

Sonderbar: Der Gedanke, ſich nun ſelbſt ein Kursbuch anzuſchaffen und einen Reiſeplan zu machen, kam ihm nicht.

Dafür entwarf er bereits den Brief, den e nach ſeiner Ankunft in Athen „dieſem Elenden“ ſchicken wollte: „Hier bin ich, auf der Akropolis, und gottlob ohne den Pintſcher, der mir folgen wollte... Ich habe eine ſehr angenehme Stelle als Sekretär eines deutſchen Privatgelehrten ...

152 Stilpe.

Meine Adreſſe teile ich Dir nicht mit, um vor Deiner Verräterei ſicher zu ſein. Denn es giebt keine Gemeinheit, die ich Dir nicht zutraute ..“ Di.ieſer Brief, den er vielmal in fich hin und her wandte und mit zahlreichen vergifteten Spitzen verſah, beruhigte ihn ungemein.

Als er ihn auswendig wußte, war er ſo weit, die „Jammerhaftigkeit dieſes Staatsanwaltsſpröß⸗ lings“ für ein Glück anzuſehen.

Wäre ich denn in ſeiner Gegenwart frei ge⸗ weſen? Hätte er mich nicht in meinen beſten Ent⸗ ſchlüſſen geſtört? Was für eine unglaubliche Ver⸗ irrung dieſer Gedanke überhaupt geweſen iſt, mit dieſer Hundeſchnauze zuſammen nach Griechenland gehen zu wollen. Aber eine gute Lehre das! Immer und Alles allein! Jedes Vertrauen iſt Wegwurf!

Er ſchrieb ſich dieſe Maxime in ſein Notizbuch und empfand das ganze differenzierte Wohlgefühl des Peſſimiſten.

Er wurde ſogar übermütig. Warte, mein braver Knabe, dachte er ſich und nahm die Girlingerſchen Sachen aus dem Koffer, hing ſie, nachdem er ſie zerriſſen hatte, auf eine Bohnenſtange und ſtellte das Ganze nach Art einer Vogelſcheuche in ein

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Zweites Buch, viertes Kapitel. 153

Beet. Daran befeſtigte er ein Stück Papier mit der Aufſchrift: Siegeszeichen des Wohlver⸗ haltens.

Dann nahm er den Koffer mit ſeinen Hab⸗ ſeligkeiten und ſchlug den Weg zu dem ei ein, in dem Martha waltete.

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Es war felten, daß dort ein Menſch männlichen Geſchlechtes mit einem Koffer erſchien, denn, wenn auch viele Handlungsreiſende in dieſem gaſtfreien Hauſe verkehrten, ſo ließen ſie ihre Muſterpackete doch gewöhnlich im Hotel. Und ſo erregte er ein gelindes Aufſehen.

Ja, Schnutchen, kleines, willſt Du denn verreiſen? rief ihm Martha entgegen, die, mit einem ſchwarzſeidenen Hemde bekleidet, nicht mehr an die Gemälde Profeſſor Thumanns erinnerte.

Ich bin auf dem Wege zum Bahnhofe und will Dir nur Lebewohl ſagen, erwiderte Stilpe etwas ernſter, als es im Stile dieſes Milieus war.

Nanu, doch nich ganz fort, Schnutchen? Dann muß ich ja weinen !?

154 Stilpe.

Ganz fort. Weit weg. Aber frage nicht. Wir wollen noch einmal fröhlich ſein.

Er gab ſich hier ſonſt gerne frivol, weil er fürchtete, im andern Falle ſeine Jugend zu ver⸗ raten, die ihn in dieſem Hauſe immer etwas ge⸗ nierte, aber diesmal konnte er die jugendliche Feierlichkeit nicht verleugnen.

Jetzt wird mirs aber ängſtlich, Schnutchen. Wer ſoll mir denn dann Verſe vorleſen?

Du brauchſt nicht ſo ſpöttiſch zu ſein.

Aber nee, ich mein's ernſt, auf Ehre. Ich kann ſie ja auswendig!

Und ſie deklamierte mit unverſtellter Genug⸗ thuung:

Wie jene Ritter in der alten Zeit, Die für die Liebe ſtritten todbereit, Streit ich für Dich und Deine Edelheit.

Ich liebe Dich und glühe mich Dir an, Vor Deinen Füßen lieg ich, ſieh mich an, Ein Knabe bin ich, küſſe mich zum Mann!

Nein, bin kein Knabe! Denn ich weiß durch Dich, Was Liebe iſt, Dein Blick erweckte mich, Drum ſing ich Dank Dir heut und ewiglich!

Zweites Buch, viertes Kapitel. 155

Siehſt Du, ich kann's ganz auswendig!

Stilpe war ſelig. Seine Verſe klangen ihm aus dieſem Munde wie der Inbegriff aller Poeſie, und er fiel dem Mädchen heiß um den Hals.

Rotwein! Champagner! Und Cigarretten!

Aber Schnutchen, haſt Du denn ſoviel Geld?

Ja, ja, maſſenhaft! Laß nur kommen.

Nee, Schnutchen, laß das doch die alten Onkels machen. Ein paar Glas Bayriſch thuts bei Dir ſchon.

Nein, nein! Heute müſſen wir Wein trinken! Weißt Du, eine Orgie feiern! Eine Orgie! Weißt Du, was das iſt?

Ja, ja, ſo was Verrücktes. Aber wozu denn?

Mach! Mach! Ich habe nicht lange Zeit. Ich muß fort. Beſtelle nur! ... Ach jo, voraus⸗ bezahlen? Da, da iſt Geld.

Er gab ihr ſein ganzes Portemonnaie.

Gehört das ganz meine?

Stilpe erſchrak ſehr. Aber er faßte ſich und ſagte mit edlem Anſtande:

Wie Du willſt. Aber dann kann ich nicht reiſen.

156 Stilpe.

Gott, biſt Du ein anſtändiger Junge! ſagte das Mädchen und gab ihm das Portemonnaie zurück.

Diesmal ärgerte ihn das Wort Junge nicht.

Der Wein nahm ſeiner Stimmung den Reſt von Gedrücktheit. Zwar wollte ſich durchaus nicht das entwickeln, was er eine Orgie nannte, denn das Mädchen bemutterte ihn heute noch mehr als ſonſt, aber wenn er auch nicht tanzte, ſo lief er doch recht lebhaft in dem kleinen Zimmer, ſoweit es nicht Bett war, auf und ab.

Wenn Du wüßteſt, was ich vorhabe! Wenn Du wüßteſt, wohin ich reiſe!

Na, ſo ſags mir doch.

Er blieb ſtehen und ſah ſie ekſtatiſch an.

Ja! Wenn Du mir verſprichſt, mit mir zu reiſen!

Ja, wenn Du bei Mutter Zanken meine Schulden bezahlſt.

Wieviel ſind es!

Na, blos ſo dreihundert Märker.

Herrgott! Dreihundert! Nein, das kann ich nicht. Oder! Halt! Warte mal!

Und er ſtürzte ſich auf ſeinen Koffer und brachte die Uhren und Ringe ans Bett.

Da, was kriegt man dafür?

Erſtes Buch, viertes Kapitel. 157

Martha kniete ſich im Bett auf und breitete die Tauf⸗ und Confirmationsgeſchenke von weiland Wiehr junior vor ſich aus, hübſch eins neben das andere; es gab eine luſtige Reihe, die im Lichte der roten Bettampel verſtohlen blinkte.

Das kann ſchon zweihundert Mark geben, wenn Du Dich nicht beſchummeln läßt.

Sie ſah die Sachen verliebt an, ſteckte ſich die Ringe an die Finger, ſchüttelte die Uhren und hielt ſie ans Ohr und ließ die Diamanten der Buſennadel leuchten.

Plötzlich warf ſie den Kopf zurück, daß die langen blonden Haare von den Brüſten weg über die Schultern fielen und fragte erſtaunt: Ja, wo haſt Du denn die Sachen her?

Stilpe überlegte. Sollte ers ſagen? Hatte ſie ſich damals nicht ſo verdammt moraliſch gehabt? Aber jetzt ſteht die Sache doch anders. Das Zeug liegt auf dem Bette und gehört beinahe ſchon ihr. Ob fie da nicht?

Aber er zögerte doch und ſagte blos: Alte Tauf⸗ und Confirmationsgeſchenke.

Und das willſt Du verkaufen? Das iſt aber nicht ſchön von Dir!

Was? Schon das fand ſie unrecht? Das em⸗

158 Stilpe.

pörte ihn förmlich, es kam ein Gefühl von Zorn über ihn, und zugleich regte ſich etwas wie Furcht. Er wurde mit einemmale irre.

Aber, wart, nun gerade ſoll ſies wiſſen, dieſe elende Duckmäuſerin. Das wird einen Effekt geben!

Ob ſie das Zeug aus dem Bette und mir vor die Füße wirft?

Und er erzählte ihr ganz kühl, daß er die Sachen geſtohlen habe und wem ſie gehörten.

Sie ſah ihn blos erſtaunt an und ſchüttelte den Kopf. Ä

Dann ſagte fie langſam und wie ungläubig: Nein dune dee

Ach mach kein ſolches Gehabe. Es iſt ſo, und ich finde gar nichts dabei.

Jetzt ſprang ſie aus dem Bette und faßte ihn an den Schultern:

Aber, Junge! Was iſt denn mit Dir los? Du biſt doch kein ſo gemeiner Kerl! Herr du mein Gott, wie kommſt Du denn auf ſo was!

Sie ſagte das faſt tonlos und mit einer ganz anderen Stimme, als er an ihr gewöhnt war.

Es ging ihm durch und durch. Mit einemmale fühlte er, daß er etwas Gemeines gethan hatte.

Zweites Buch, viertes Kapitel. 159

Hätte ſie nur im Geringſten was pathetiſches ge⸗ ſagt oder gethan, er würde ihr ins Geſicht gelacht, und, wenn ſie etwa Miene gemacht hätte, Lärm zu ſchlagen, alles geleugnet haben. So aber wars wie ein Urteil, wie eine Verdammung.

Er mußte auf den Boden ſehen und fühlte ſich gedemütigt, ohne ſich dagegen aufzulehnen.

Was ſie nun noch ſagte, war eigentlich über⸗ flüſſig und ſchwächte den Eindruck der erſten Worte eher ab. Aber er ließ Alles über ſich ig und ſagte nichts dazu.

Sie legte durchaus den Hauptton darauf, daß er den alten Leuten das genommen hätte, was ihnen das Liebſte war. Sie ſagte das nicht in feinen und gefühlvollen Worten, ſondern faſt roh und ungeſchickt.

Immer wieder kam das Wort: So eine Sünde, und gar nichts dabei zu fühlen!

Er wagte nicht ein einziges Mal aufzuſehen, und ihre Hände auf ſeinen Schultern fühlte er wie eine unerträgliche heiße Laſt.

Was ſoll ich aber nun thun? ſagte er ganz verzweifelt, wie ſie ſchwieg.

Gleich Alles wieder hintragen! Alles ſagen! Das geht nicht!

160 Stilpe.

Und nun erzählte er ihr, ſchluchzend und un⸗ fähig, ſeine Thränen zurückzuhalten, Alles, was er vorhatte, Alles, was ihm geſchehen war, Alles, was ihn drückte.

Das machte weniger Eindruck auf ſie. Sie

verſtand es nur unklar, aber das Davonlaufen be⸗ griff ſie.

Fahr hin, wo Du willſt, wenn Du nicht mehr in die Schule gehn magſt. Sie erwiſchen Dich doch bald. Aber das Zeug da nimmſt Du nicht mit .. Nein ... So ein Junge! Gottſeidank, daß Du zu mir gekommen biſt! Denke blos: Später! Wenn Dus gefühlt hätteſt, was Du gethan haft... .

Herr du mein Gott, ſo ein Unglück! Du wärſt ja ein Lump geworden, Junge! Gott weiß, was Du noch Alles angerichtet hätteſt! Mord und Todſchlag! Wahrhaftig ein Glück, daß der andere Bengel nicht gekommen iſt. Sonſt hätt ich Dich nicht hier.

Es beleidigte ihn gar nicht, daß ſie ihn ſo in aller Deutlichkeit als Junge ꝛc. traktierte. Er war vollkommen mürbe.

Nach langen Beratungen kamen ſie ſchließlich überein, daß er die Nacht noch hierbleiben ſollte (denn er fühlte ſich nun unfähig zu jedem anderen

Zweites Buch, viertes Kapitel. 161

Vorhaben, als eben hier zu ſein); am nächſten Tage

möge er dann getroſt nach Griechenland oder

Kamerun fahren; ſie aber werde die Sachen ein⸗

packen und mit einem Brief, den er ſchreiben

müſſe, an die Adreſſe der alten Wiehrs ſchicken. Der Brief lautete:

Lieber Vater und liebe Mutter Wiehr!

Seien Sie mir nicht böſe, daß ich ohne Abſchied von Ihnen fortgegangen bin und nahe daran war, eine große Schlechtigkeit zu begehen. Ich hoffe, Alles gut machen zu können, und bitte Sie, meinen Eltern nichts von dem zu ſagen, was ich beinahe begangen hätte. Laſſen Sie mich nicht verfolgen und melden Sie mich in der Schule ab. Es dankt Ihnen für alles Gute, was Sie ihm, dem Unwürdigen, gethan haben,

Ihr Pflegeſohn W. St.

Die Schlußſätze des Briefes waren eigenſte Hinzufügung Stilpes. Sonſt war der Brief nicht eigentlich nach ſeinen Intentionen. Er hatte ihn

zerknirſchter und umfangreicher angelegt, Au, einer

162 Stilpe.

großen Diatribe gegen das Geſchlecht der Gymna⸗ ſiallehrer als Mittelſtück, aber das Mädchen wollte nichts davon wiſſen.

Als aber der Brief geſchrieben war, fingen beide an, vergnügter zu werden, als vielleicht die Leute glauben, die da nicht wiſſen, zwiſchen welch fernen Gegenden die Schaukel in der Seele mancher Menſchen hin und her ſchwingt.

Denn Himmel und Hölle, Reue und Wolluſt liegen zuweilen nicht weiter von einander entfernt, als die Lippen zweier Menſchen, die ſich küſſen.

4

Fünftes Kapitel.

Die Oberprima des Königlichen Gymnaſiums einer kleinen ſächſiſchen Induſtrieſtadt war aus⸗ nahmsweiſe Sonnabend Nachmittag in die Schule berufen worden, weil der Geheimrat Ammer, der als Königlicher Kommiſſarius die bevorſtehende Abiturientenprüfung zu überwachen hatte, mit dem Wunſche hervorgetreten war, die Kandidaten ſchon zuvor perſönlich kennen zu lernen. Er hatte ſich mit ihnen in einer ſehr freundlichen und ſchmeichel⸗ haften Art unterhalten, nämlich gar nicht ſo, wie es die Art der Lehrer war, ſondern in der ge⸗ winnenden Manier eines älteren Freundes etwa, der ſeinen Vorſprung an Jahren und Reife als nebenſächlich behandelt und ein Verhältnis von Vertraulichkeit zu ſchaffen oder wenigſtens vorzutäuſchen ſucht, ſoweit dies mant iſt. Er

164 Stilpe.

hatte ſogar „Meine Herren!“ geſagt. Und ſtatt der Vorprüfung, die man befürchtet hatte, war es wirklich blos eine Art Unterhaltung geweſen, bei der der Geheimrat jeden Anſchein von Examinieren vermieden hatte.

Die Oberprimaner verließen das Schulgebäude alſo mit ſtolz erhobenen Häuptern, auf denen hell⸗ rote Mützen meiſt ſehr weit nach hinten gerückt ſaßen. Dieſe Mützen hatten die Form von um⸗ gedrehten kleinen niedrigen Näpfchen, nur drei der jungen Leute trugen ſolche von anderer Facon, nämlich breite, hinten etwas nach abwärts gedrückte Deckel. |

Dieſe drei Schlappdeckel, wie die anderen fie nach ihren Mützen nannten, gingen in ſehr eifrigem Geſpräche abgeſondert.

Eigentlich wars etwas gewagt von Schau⸗ nard, ausgerechnet die beiden Gracchen als ſeine Lieblings⸗Römer zu nennen, nachdem der Hohe Rat ihn wegen Sozialismus und Atheismus ſchon mal hat ſchwenken wollen, ſagte der Eine, ein unter⸗ ſetzter Burſch mit ſchläfrigen, aber nicht geiſtloſen Augen und einem bereits ſehr dichten Schnurrbart.

Aber mein ſüßer Rodolphe! Du geruhſt immer noch, Dich um drei Gramm dümmer zu

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 165

ſtellen, als wofür Du uns hältſt. Du weißt ſo gut wie wir, daß Schaunard ein Pſychologe von vielen Graden iſt. Er hat dieſen fürtrefflichen Geheimrat blos ſehr gut erkannt. Denn ſiehe da: Schon iſt er zu einer Privataudienz zurückbehalten worden!

Der das ſagte, war ein dürrer brünetter Menſch mit einer ſehr ſchönen Naſe und wunderſchönen braunen Augen, die leider hinter ſehr ſtarken Klemmergläſern ſaßen. Er ging etwas gebückt, aber nicht aus irgend einem körperlichen Grunde, ſondern aus philoſophiſcher Koketterie. Es wäre ihm ein Vergnügen geweſen, buckelig zu ſein.

Marcel hat Recht. Schläue und abermals Schläue! Heute hat Schaunard ſeinen Abitur ge⸗ macht, ſag ich! Das Backpflaumenmännchen hat ſich in ihn verliebt und wird ihn trotz allen kon⸗ rektoralen Gekrähes und Geheules durchſchleppen. Wetten? |

Der jo ſprach, war ein ſehr jung und zart ausſehender Jüngling, der ſich aber ein bischen renommiſtiſch geberdete und damit den knabenhaften Eindruck ſeiner Perſon zu verwiſchen ſuchte. Auf⸗ fällig an ihm war ſeine Haarfriſur, die etwas an die napoleoniſche Zeit erinnerte, wo man es

166 Stilpe.

liebte, nach dem Vorbilde des Cäſaren die Haare ins Geſicht und über die Ohren zu ſtreichen.

Wer Mürgers Boheme-Buch kennt, wird, nach⸗ dem die Namen Rodolphe, Marcel und Schau⸗ nard gefallen ſind, ohne weiteres wiſſen, daß ſich dieſer Jüngling des Spitznamens Colline erfreute.

Dieſe Spitznamen waren übrigens in der Schule nicht allgemein gültig, ſondern ein Reſervatrecht des „Cénacles“ oder der Vereinigung der vier Schlappdeckel unter ſich, die, als zukünftige Dichter und Künſtler, wie fie ſich fühlten, ſich das Cénacle in Mürgers Vie de Bohème zum Muſter genommen hatten und ſogar nach Möglichkeit die Ausdrucks⸗ weiſe ihrer Vorbilder nachahmten. Sie hielten ſich, im Gefühle ihrer Zukunft, ſehr exkluſiv gegenüber den anderen Primanern, die eingeſtandenermaßen blos Paſtoren, Lehrer, Arzte, Juriſten, Offiziere werden wollten, und wurden dafür wieder von dieſen als überſpannt und lächerlich abgethan. Ihre bürgerliche Nomenclatur war dieſe:

Rodolphe: Bruno Wippert, Marcel: Max Stöſſel,

Colline: Ludwig Barmann, Schaunard: Willibald Stilpe.

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 167

Stilpe war der Gründer des Cénacles und ſein anerkanntes Haupt.

.

Er war damals, nachdem er ſich von Martha getrennt hatte, nicht gar weit gekommen. In Halle, das doch nicht auf der Route Leipzig⸗Athen liegt, hatte man ihn in einem Tingeltangel feſtgenommen, weil er in der Betrunkenheit unabläſſig laut und rhythmiſch geſchrieen hatte:

(a b) = a 2 ab b?

Auf die Polizei gebracht und nach dem Grunde dieſer mathematiſchen Rezitation gefragt, hatte er auf die ihm drohende Nachprüfung in der Mathe⸗ matik als einen höchſt triftigen Grund hingewieſen und überdies gebeten, man möge ihm ſeine Loga⸗ rithmentafel holen, die in der Unterſekunda der Leipziger Thomasſchule Cötus B auf ſeinem Platze liege, unten auf der letzten Bank rechts. Damit hatte er ſich zur Genüge als der durchge⸗ brannte Gymnaſiaſt aus Leipzig legitimiert, deſſen Signalement auch auf der halliſchen Polizei ein⸗ getroffen war.

168 Stilpe.

Was ſich dann begeben hat, bleibe im Schatten der Vergeſſenheit, wie auch Stilpe ſelbſt nie mehr daran dachte. Denn er liebte unangenehme Er⸗ innerungen wenig und beſaß ein ausgeſprochenes Talent dafür, fatale Dinge zu vergeſſen.

Es fehlte nicht viel, daß er damals wirklich, aber nicht in Athen, die Stelle eines Sekretärs, aber nicht bei einem Privatgelehrten, erhalten hätte. Der verzweifelte Lepidopterologe wollte ihn durch⸗ aus als Schreibgehülfe bei der Magiſtratskanzlei in Leißnig anketten. Aber den Bitten der Mutter und den guten Urteilen über Willibalds Begabung, die einer ſeiner Leipziger Lehrer abgab, gelang es, den Vater zu einem letzten Verſuche zu bewegen. So kam Stilpe an das eben begründete Königliche Gymnaſium der kleinen Stadt, in dem er es jetzt wirklich bis zum Oberprimaner gebracht hatte.

72

Auch hier war ſein Studiengang nicht ohne Fährlichkeiten abgelaufen, denn die Lehrerkonferenz bedachte ihn mit ausgezeichnetem Mißtrauen, indem ſie ihn bald für einen Freund wüſter Zechgelage

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 169

und bedenklicher Mädchen, bald für einen Pro⸗ pagandiſten gemeingefährlicher Ideen anſah.

Aber er war klug geworden. Ohne nach dem Ruhme eines Muſterſchülers zu geizen, aber auch ohne ſich irgend etwas abgehen zu laſſen, was er zu ſeinem Wohlbefinden für nötig hielt, lenkte er das ſcharf beobachtete Schiff ſeiner Schülerexiſtenz geſchickt zwiſchen allen Praezeptorenklippen hindurch, indem er aufs Genaueſte die Taktik befolgte, ſich aller offenkundigen Manifeſtationen ſeiner Privatvergnügen zu enthalten. Er war, wie er es ſelber einmal in ſeinem immer üppiger werden⸗ den Tagebuch ausdrückte, „zur Höhe eines vor⸗ fichtigen Eynikers emporgeſtiegen“. Was er feine Orgien nannte, feierte er in Leipzig, und den ver⸗ botenen Ideen fröhnte er ſtill für ſich, ohne etwa in deutſchen Aufſätzen, wie damals als „biederer Sekundaner“, davon etwas merken zu laſſen. Viel⸗ mehr kultivierte er jetzt in ſeinem Schul⸗Aufſätzen, deren Gewandtheit und Schwung ſogar anerkannt wurde, eine virtuoſenhafte Jongleurkunſt mit wohl⸗ gebauten Phraſen, in die er nur die beſtakkreditierten Meinungen ſilbern und golden einſpann.

Zum Glück lernte er in den drei bereits ge⸗ nannten Kameraden Leute von ähnlichen Neigungen

170 Stilpe.

kennen. Zwar achtete er ſie nicht für ſeiner eben⸗ bürtig, ja er hatte ſogar ein ſtilles Mitleid mit ihnen, weil ſie, wie er bemerkte, noch „einige biedere Züge von Wohllöblichkeit“ hatten, aber er fühlte es doch als einen ſehr angenehmen Zufall, daß er in ihnen „Inſtrumente fand, auf denen er ſpielen konnte“. Colline⸗Barmann war ſeine Baßgeige, Marcel⸗Stöſſel ſein Fagott, Rodolphe⸗ Wippert ſeine Trommel. Natürlich empfanden ſich die Drei ſelber a ‚beträchtlich mehr, und er feiner- ſeits ließ es ihnen nur ſelten merken, daß er „auf ihnen ſpielte“. Auch liebte er ſie in einem gewiſſen Sinne wirklich. Einer ganz hingebenden Freund⸗ ſchaft war er zwar nicht fähig, aber die Frivolität ſeines zur Schau getragenen Cynismus gegenüber dieſen Freunden war doch zum guten Teile be⸗ wußt angeſchminkt.

EN

Zuerſt begann die Vereinigung der Vier mit einem litterariſchen Zirkel, „Lenz“ genannt.

Dieſer Titel galt in zweierlei Bedeutung. Ein⸗ mal in der, wie ihn die Lyriker als Synonym für

Zweites Buch, fünftes Kapitel 17¹

Frühling verbrauchen, und dann in der des Namens ihres literariſchen Hauptheiligen. Denn ſie laſen damals ausschließlich Dichtungen der Sturm⸗ und Drangperiode.

Dann ſchoben ſich Ibſen und die Ruſſen, dann Zola und der Naturalismus ein, und nun wurde aus dem Leſezirkel, wo man mit verteilten Rollen „Die Kindermörderin“, „Sturm und Drang“, „Der Hofmeiſter“ geleſen hatte, ein Debattierklub, wo man vor allem „Herrn Schillinger“, den Dichter „des pp. Wallenſtein“, vernichtete und Vorträge fol⸗ gender Art hielt: „Die Wahrheit als einziges Prin⸗ zip der Kunſt“, „Inwiefern Naturalismus und So⸗ zialdemokratie Parallelerſcheinungen ſind“, „Emile Zola und Henrik Ibſen: Die Trageſäulen der neuen Literatur“, „Worin liegt die Gemeingefährlichkeit des ſogenannten Idealismus?“

Zu dieſer Zeit waren die Vier ſehr rabiat.

Ihr zweites Wort war: Konſequenz. Gewiſſe Namen durften, bei hohen Strafen, bis zu zwanzig Pfennigen, unter ihnen nicht genannt werden, ſo Paul Heyſe und Julius Wolf. Wer es wagte, „Schiller und Goethe“ zu ſagen, ſtatt „Goethe und Schiller“, mußte, da gab es kein Erbarmen, Tabak für alle Vier auf einen Monat kaufen. Aber auch

172 Stilpe.

Goethe galt nur für voll, „inſoweit er nicht Ge⸗ heimrat war“. Das war ſogar ſtatutenmäßig feſt⸗ gelegt. Shakeſpeare wurde fortwährend und mit beſonderer Ehrerbietung genannt, aber doch mehr als „merkwürdiges Phänomen eines frühen Naturalis⸗ mus.“ Denn es ſtand ihnen feſt, daß die eigentliche Litteratur jetzt erſt begänne, und Stilpe führte den Gedanken mit Vorliebe aus, daß man jetzt in dem wirklichen Sturm und Drang ſtehe, aus dem der „neue und ganze Goethe“ hervor⸗ gehen werde.

Wenn man ihn dann höhniſch fragte, ob er viel⸗ leicht Luſt habe, dieſe Rolle zu übernehmen, ſo grinſte er mit ſichtlicher Anſtrengung und ſagte: Vor der Hand ſind wir Alle blos Teig. Das Leben wird uns erſt kneten und backen.

Du aber haſt die großen Roſinen, ent⸗ gegnete ihm darauf Stöſſel. |

Und Dir fehlt es an Salz, revanchierte ſich Stilpe.

Barmann aber ließ etwas von „zukünftigen Dreierbroten“ vernehmen, und Wippert meinte, auch Hundekuchen ſei ein Backwerk.

In dieſem Stile bewegten ſich die Verhand⸗ lungen des Debattierklubs, wenn man aufs Perſön⸗

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 173

liche kam. Sonſt war die Ausdrucksweiſe trotz der naturaliſtiſchen Tendenz mehr auf höhere Tropen bedacht.

D

Aber eines Tages, es war ganz zu Anfang des Oberprima⸗Jahres, begann Stilpe in einem neuen Stile und von anderen Dingen zu reden. Er baute fürchterliche und ſchnöde Hyperbeln, fand den „Naturalismus in Worten“ lachhaft, fragte, ob es „in dieſem Neſte“ nicht ein Trictrac gebe und er⸗ klärte, die famoſeſte Mädchenfigur der Weltliteratur ſei Mamſell Müſette. Dazu kamen die Worte: Naſenwärmer, Boheme, Cöénacle und eine große Menge franzöſiſcher Flüche. Auch trug er fort⸗ während ein kleines Buch aus der Reclambibliothek mit ſich herum, das er ſein Brevier nannte. Eine Woche ſpäter ſah man aber an deſſen Stelle ein anderes, franzöſiſches. Er ſagte: Ich leſe jetzt meine Bibel im Urtext.

Durch dieſe Geheimthuerei voll herablaſſend abgegebener Andeutungen fühlten ſich die Anderen beleidigt, und es wäre faſt zu einem Bruch ge⸗

174 Stilpe.

kommen, denn Stilpe behandelte ſie im Grunde wie kleine Knaben, die nicht wiſſen, was ein Mädchen iſt, da rückte der Adept endlich mit ſeinem Myſterium heraus, indem er eine Verſamm⸗ lung mit einem Schreiben einberief, das folgenden Wortlaut hatte: Die ehrenfeſten und rühmlichſt bekannten Säulen des königlich ſächſiſchen Gymnaſial⸗ naturalismus zu ... werden hiermit jo höf⸗ lich wie dringend eingeladen, in der be⸗ ſcheidenen Behauſung des unterzeichneten Rene⸗ gaten und Müſettiſten Schaunard, weiland Stilpe, zu erſcheinen und außer zwei Stein⸗ guttellern mit Zwiebelwurſt und Muldecaviar einen Vortrag entgegenzunehmen, deſſen Titel und Thema iſt:

Der Müſettismus als einzige und eigentliche Künſtler⸗ religion, nachgewieſen an dem claſ⸗ ſiſchen Werke wahrer Künſtlerfreiheit und Laune: Scenes de la Vie de Bohème par Henry Murger.

Zweites Buch, fünftes Kapitel. | 175

(NB.! Das Werk wird auch in einer Über- ſetzung herumgereicht, und im Urtext ſind die ſchwierigeren Vokabeln in deut⸗

ſcher Überſetzung beigeſchrieben.)

Nach beendigtem Vortrag wird der Unter⸗ zeichnete ſich die Freiheit nehmen, zu ee was folgt:

Der naturaliſtiſche Debattirklub wird aufgehoben, und an ſeine Stelle tritt

Das Côénacle der vier Schlappdeckel.

Zur Leitung der unausbleiblichen Debatte wird der ehrenwerte Naturaliſt Barmann be⸗ rufen, falls er ſich für die Dauer dieſes Ehrenamtes ſeiner ihm angeborenen Grobheit zu enthalten verſpricht, die vielleicht einem

Naturaliſten, nicht aber einem zukünftigen Cé⸗ naclier angemeſſen iſt.

NB.! Vier pariſer Naſenwärmer find heute eingetroffen und ſtehen, aber erſt nach Conſtituierung des Cénacles, zur Ver⸗ fügung.

176

Stilpe.

NB.

NB.!

Der Unterzeichnete hat ſich in Anbe⸗ tracht des ungewöhnlichen und wichtigen Ereigniſſes in Unkoſten geſtürzt und vier Flaſchen Pontet Canet (Marke: Le pe- tit bleu) herbeigeſchleift. Doch wird man gebeten, Weingläſer mitzubringen, da es ſtilwidrig wäre, Rotwein aus Bierſeideln oder Kaffeetaſſen zu trinken.

Petita Molinarina wird die Honneurs der Schaunardſchen Hütte machen, falls der gute Zufall, der Gott des künf⸗ tigen Cénacles, es jo einrichten ſollte, daß die ſchauderhafte Mutter des er⸗ freulichen Mädchens zur Zeit der Feier⸗

lichkeit nicht zu Hauſe wäre.

Da die Schildkröte des Unterfertigten, deren Intelligenz ſo häufig als über⸗ legenes Gegenſtück zu der des Hüh⸗Wüh⸗ Konrektors anerkannt worden iſt, ſich leider entſchloſſen hat, ſeit vergangener Nacht als Leiche zu exiſtieren, ſo er⸗ ſcheint es angemeſſen, ſie künftig als

Symbol des verewigten naturaliſtiſchen

Debattierklubs in pietätvollen Ehren zu

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 177

halten. Sie wird in einer roſa aus⸗ wattierten Cigarrenkiſte als Tafelſchmuck funktionieren. NB.! Man ſpanne feine Erwartungen hoch! Schaunard.

Da man das Muſter dieſer Einladung nicht kannte und überhaupt lauter Rätſeln gegenüber⸗ ſtand, ſo wirkte das Schriftſtück auf die Drei un⸗ gewöhnlich ſtark.

Völlig verblüfft war man aber, als man, der Einladung folgend, Stilpe erblickte. Er präſentierte ſich nämlich in Unterhoſen und Frack. Im Munde hatte er eine kurzgebiſſene rotbraune Thonpfeife, und ſein ganzes Benehmen war ungemein zeremo⸗ niell und feierlich.

Petita Molinarina kann leider nicht gereicht werden. Dieſe beklagenswerte Bourgeoiſe hat ſich an meinen Unterhoſen geſtoßen und war nicht dahin zu bringen, zu begreifen, daß dieſe nur als Surrogat für weiße Nangkingpantalons anzuſehen und damit nicht nur entſchuldigt, ſondern geradezu in die Sphäre des Schönen und Wohlanſtändigen

erhoben find. Dafür iſt die Schildkröte mit der a 12

178 Stilpe.

ganzen Würde eines amphibiſchen Leichnams zur Stelle. Sie darf betrachtet werden, und ich bitte zu bemerken, wie ſie im Tode noch mehr den rührenden Zug einer Familien⸗ und In⸗ telligenzverwandtſchaft mit Sr. Brüllenz Hüh⸗ Wüh hat.

Da auch der Rotwein keine Fiktion war, ſo ſtand einer fröhlichen Sitzungseröffnung nichts im Wege.

Barmann übernahm mit einem geharniſchten Proteſte gegen den Vorwurf der Grobheit den Vor⸗ ſitz. Seine Eröffnungsanſprache, die er ohne Zweifel auswendig gelernt hatte, ſchloß ſchwung⸗ voll ſo:

Und nun möge Stilpe, den wir einſtweilen noch ſo und nicht anders nennen wollen, ſeinen Vortrag halten, an den ſich ein ſo wichtiger An⸗ trag knüpfen ſoll. Ich bin beauftragt, ihm zu er⸗ klären, daß wir ernſtlich indigniert ſein werden, wenn ſich feine Machination (Stilpe: Oho!) als Frivolität entpuppen ſollte. Wir ſind bereit, uns überzeugen zu laſſen, aber wir werden entſchieden und ſcharf Front machen gegen jeden Verſuch, unſre augenblicklichen Prinzipien (Stilpe: Sehr gut!) nur mit den billigen Waffen ſeichten Witzes (Stilpe:

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 179

Tautologiel) anzugreifen. (Stöſſel und Wippert: Bravo!) Stilpe hat das Wort!

Stilpe erhob ſich und machte jedem Einzelnen, zuerſt dem Vorſitzenden, eine tiefe Verbeugung, wobei er beide Hände auf den Bauch legte. Dann fuhr er ſich mit entſchloſſenen Fingerkammſtrichen durch die Haare, ſchleuderte ſeinen Zwicker (ſämt⸗ liche Schlappdeckel trugen ſchwarze Hornzwicker mit ſehr breiten Bändern) wie etwas überaus Läſtiges von ſich und begann:

Meine Herren Naturaliſten!

Gleich vier Edelauſtern unter unzähligen Maſſen niedrigen Kümmelkäſes, harter Picklinge, zer⸗ krümmter Sardellen und andrer Mobdelikateſſen verwandter Art befinden wir uns in dieſer ſchäbigen Induſtrieſtadt und verſuchen es, wenigſtens unter uns den Sinn für Geiſtiges zu kultivieren.

Wir haben zuerſt das denkwürdige Leſekränzchen „Lenz“ gegründet und unterhalten, indem wir uns an den kühnen, wenn auch künſtleriſch mangelhaften Beſtrebungen der Sturm⸗ und Drang ⸗0Dichter er⸗ bauten, die unter dem Rouſſeaurufe „retournons & la nature“ den Limonadenteich der damaligen Modelitteratur mit rieſigen e Edel⸗

180 Stilpe.

metalls aus dem Schachte ihrer Seelen ausfüllten und damit beſeitigten. (Wippert: Iſt das Bild von Dir? Stilpe: Ich gebe nur eigene Münze aus und verbitte mir im Übrigen Zwiſchenrufe von beleidigender Fraglichkeit. Barmann: Die Kritik der Zwiſchenrufe ſteht bei mir. Stilpe macht drei Verbeugungen vor der Perſon des Vor⸗ ſitzenden.)

Nachdem wir damit zu Ende waren und keine Luſt verſpürten, die deutſchen Klaſſiker, die im Pennal ohnehin genug maltraitiert und zu Popanzen der Langeweile mumifiziert werden, auch unſrerſeits privatim zu traktieren, haben wir uns, mitgeriſſen von der modernen Sturm⸗ und Drangbewegung, entſchloſſen, den Leſezirkel Lenz durch einen naturaliſtiſchen Debattierklub abzulöſen. Wir haben die Hauptwerke der nordiſchen, franzö⸗ ſiſchen, ruſſiſchen und deutſchen Naturaliſten nicht allein geleſen, ſondern auch in heißen Debatten eingehend beſprochen, und wir haben ſo, während unſere biedere Lehrerſchaft von der Exiſtenz einer ſolchen Litteraturbewegung nicht viel mehr weiß, als eine Hebamme von unſer lieben Frau Aſpaſia (Allgemeines Bravo! Ausgezeichnet! Famos !), in uns Alles aufgenommen, was heute in der Litteratur

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 181

aller Völker bewegend iſt. Wir können, wenn uns auch bei dieſer Gelegenheit einige unregelmäßige Verba im Griechiſchen entfallen ſein ſollten (Stöſſel: Man denke!), auf dieſe Thatſache ſtolz fein, denn wir haben nach dem ewig citierten, aber ſonſt nie befolgten Satze gehandelt: Non scholae, sed vitae discimus (Barmann, ſehr laut: Jawohl! Haben wir auch! Stilpe: Gewiß, haben wir!)

Wem aber ſoll unſer Leben dienen?

Irgend einem dieſer ſackleinenen „wiſſenſchaft⸗ lichen“ Broterwerbe, als da ſind: Die Lehre, den Menſchen juriſtiſch zu verblöden, die Lehre, den Menſchen theologiſch zu kaſtrieren, die Lehre, den Menſchen mediziniſch zu vergiften, die Lehre, den Menſchen philoſophiſch zu benebeln, die Lehre, den Menſchen philologiſch zu verſchweinsledern?

Bei allen ſchönen Mädchen und guten Geiſtern, wir rufen: Nein! Sapriſti! Nein! (Toſender Beifall. Barmann ſchwingt die Arme.)

Unſer Leben ſoll der Kunſt dienen! Wir wollen Dichter werden! (Gläſerklingen. Hörbare tiefe Schlucke. Stilpe lächelt.) |

Aber eben darum, meine lieben Debattier- naturaliſten, müſſen wir jetzt unſern Debattier⸗

182 Stilpe.

klub auflöſen, dem Naturalismus Lebewohl ſagen und den Müſettismus proklamieren! (Alle mög⸗ lichen Rufe durcheinander: Wieſol? Was iſt das!? Nur nicht jo firl? Wo Haft Du denn das her?)

Und nun erging ſich Stilpe in einer Schil⸗ derung der Mürgerſchen Boheme, als eines Muſters für alle künſtleriſchen Seelen, die nicht blos von Kunſt reden, ſondern Kunſt leben wollten. |

Natürlich ſei „dieſer Haufen Steine hier“ nicht Paris, und ſie ſelber ſeien ja noch für elf Monate „Geiſteigene verſchiedener patentierter Knaben⸗ erzieher“, aber der Grundgedanke dieſes vorbild⸗ lichen Lebens: Die Verbindung von Kunſt und Genuß, von revolutionärem Streben und „Lache⸗ ſinn“ (das Wort wurde beanſtandet), kurz das, was er Müſettismus nenne, der müſſe und könne ge⸗ pflegt werden.

Um praktiſch zu reden: Man müſſe, ſtatt über Naturalismus zu debattieren, in fröhlichen Zuſammenkünften brav trinken und eigene Lieder ſingen, man müſſe ſich entſprechende Mädchen bei⸗ legen, kurz man müſſe nicht blos in Worten, ſondern in Werken „bald zwanzig“ ſein. So erſt werde

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 183

man ſich dem zukünftigen Berufe recht vor⸗ bilden:

Et nous chanterons à la ronde, Si vous voulez, Que je l’adore, et qu'elle est blonde Comme les bleés!

Stilpes glutvolle Rede und zumal die Citate aus dem Zigeunerleben wirkten abſolut überzeugend, und der Antrag auf Gründung des Cénacles wurde mit ungewöhnlicher Begeiſterung durch Acclamation angenommen.

Vive le cönacle! Vive le cenacle!

Stilpe konnte die eigentliche Sitzung mit der Verteilung der „Naſenwärmer“ ſchließen, aus denen innerhalb einer Viertelſtunde ſolche Maſſen von Tabakrauch produziert wurden, daß man die Not⸗ wendigkeit einſah, morgen in die Schule andere Röcke anzuziehen.

Vive le cénacle! Vive le cenaclel

A

184 Stilpe.

Das Cénacle ſchloß die vier Schlappdeckel noch viel enger aneinander, als es die früheren Ver⸗ einigungen gethan hatten. a

In dieſem Müſettiſtenklub lagen denn doch noch ganz andere Reize und Hilfsmittel der Freundſchaft als in jenen Deklamier⸗ und De⸗ battier⸗Zirkeln.

Zwar waren auch jene unerlaubter und daher verführeriſcher Natur geweſen, aber ihr Fehler war Einſeitigkeit. Sie hatten die ſtrotzende Fülle des Unerlaubten nicht kühn genug erſchöpft. Stilpe hatte das ſehr klar erkannt und mit den an ſeine Lektüre von Büchners Kraft und Stoff erinnernden Worten ausgedrückt: Wir haben an einer Hyper⸗ trophie der Cerebralbedürfniſſe gelitten; beſinnen wir uns auf die Niederlande, (hier hatte er gewartet, ob man ſeinen Witz verſtünde; da es nicht den Anſchein hatte, fügte er erklärend hin⸗ zu) —: Wir müſſen unſern werten Sinnen auch was zukommen laſſen. |

Aber das war es nicht allein.

Eine Hauptſuggeſtion lag in dem Worte: Paris.

Die vier Oberprimaner ſpürten das Komiſche, das in ihrer Imitation lag, nur wenig (bisweilen

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 185

nämlich doch, anflugweiſe), aber ſie empfanden es als etwas verteufelt Keckes und Unverſchämtes, den Ausbund der franzöſiſchen Künſtlerſchaft zu ko⸗ pieren. Natürlich konnte die Kopie nicht ſehr treu ſein, aber das war ein Reiz mehr, daß ſie ihre Muſter in vielen Beziehungen wenden und drehen mußten.

Sie trieben den verrückteſten Unfug.

Die tote Schildkröte wurde allmählich ihr Wahr⸗ zeichen, indem ſie ſich daran erinnerten, daß eine Schildkrötenſchale das Urmaterial zur griechiſchen Lyra abgegeben hatte.

Da ſie, was Tric⸗trac ſei, nicht ausfindig machen konnten, und es ihnen höchſt notwendig erſchien, auch ihrerſeits etwas zu ſpielen, das nicht an den üblichen Skat der deutſchen Primaner er⸗ innerte, ſo legten ſie ſich ein japaniſches Bretſpiel bei, das „die Gabe hatte, Jeden, der im Verdauen war, unfehlbar und höchſt angenehm zu idiotiſieren“, wie Stilpe behauptete.

Mit Eifer frequentierte man die ſonntägigen Tanzvergnügungen auf den benachbarten Dörfern, die „Kuhſchwöfe“, doch ſtellte es ſich bald heraus, daß ſich dort nichts fände, was auch nur mit „Phemie Teinturière“ verglichen werden konnte,

186 | Stilpe.

geſchweige denn mit Mimi oder der völlig gögen- dieneriſch verehrten Müſette.

Dafür verliebte ſich Stöſſel in die Tochter eines Gerbers, Wippert in die eines Viktualienhändlers und Barmann, der immer was ganz Ausge⸗ fallenes haben mußte, in das boshafteſte und häßlichſte Mädchen der Stadt, die Tochter eines Arztes.

Dieſe Liebſchaften fand Stilpe alleſammt bla⸗ mabel, denn, ſo ſagte er, ſelbſt ein blindes Huhn ſieht, daß ſie irreparabel platoniſcher Na⸗ tur ſind.

Dafür ging er ſelber ein vollkommen und zielbewußt unplatoniſches Verhältnis mit dem Dienſtmädchen ſeiner Wirtsleute ein, einem ſtämmig liebenswürdigen Weſen, das ſich für ihn hätte vierteilen laſſen, ſo verliebt war es in ihn.

Er machte ganz heilloſe Gedichte auf dieſes Verhältnis, und es gehörte zu den ſtürmiſchſten Augenblicken der Cénaclezuſammenkünfte, wenn er dieſe freien Rhythmen losließ, die an Über⸗ ſchwänglichkeit Alles in den Schatten ſtellten, was den Schlappdeckeln an erotiſcher Lyrik be⸗ kannt war. Im Übrigen wurden die Cönacle-

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 187

zuſammenkünfte mit Theetrinken (doch war viel Rum dabei) und den ungeheuerlichſten Geſprächen ausgefüllt.

Es durfte von Allem geſprochen werden, nur nicht von der Schule. Hauptſächlich ſprach man von zukünftigen dichteriſchen Plänen. Stöſſel, der zugleich Muſiker war, wollte Opern dichten und komponieren: Wißt ihr, Opern moderner Art, voll fabelhafter Sinnenfreudigkeit, ungeheuer um⸗ faſſend, allegoriſch, aber lebendig!

Mehr war darüber nicht zu erfahren, und wenn er am Klavier ſaß, kams immer auf die ungari⸗ ſchen Rhapſodien von Liszt heraus.

Wippert hatte vornehmlich ſatiriſche Pläne. „Juvenalia“ ſollte ſein erſtes Werk heißen mit dem Untertitel: Ein Hechelepos in ſieben Zinken. Jede Zinke ſollte „einen Hauptſtand der gegenwärtigen Ordnung zerſtrählen“. Die erſte Zinke, in ge⸗ reimten Hexametern, behandelte die Sippe der Eymnaſtallehrer und begann ſo:

Ga mir, Zinke, den Mann, der ſchwitzend auf dem Katheder

Mit e Hand verteilt ſein eigenes Leder!

188 Stilpe.

Barmann hatte noch viel vom alten und neuen Sturm und Drang. Obwohl er am wenigſten von der wirklichen Welt wußte (wie denn Alle, mit Aus⸗ nahme Stilpes, ziemlich unwiſſend in dieſem Punkte waren), haßte er dieſe Welt doch mit einem ſehr grimmigen Haſſe und wollte ihr „in machtvoll wahren, meinethalben kraſſen Dramen einen Spiegel vorhalten, daß ſie ſich vor Selbſtekel übergeben ſollte.“

Stilpe aber hatte ſo viel Pläne, daß niemand recht wußte, was er eigentlich vorhatte.

Manchmal fühlten ſie ihm höhniſch auf den Zahn: Ob er vielleicht immer blos ſeine jeweiligen Betthaſen beſingen wolle?

Er aber antwortete gelaſſen: Wohl möglich! Jedenfalls wird immer mein Prinzip ſein: Erſt leben und dann dichten! Ich heiße doch nicht Müller von der Werra, ſapriſti! Ich bin doch nicht blos zum Skandieren da! Das Dichten iſt blos Wiederkäuen des Genuſſes. Aber um wiederkäuen zu können, muß man vorgekäut haben. Verlaßt euch drauf: Ich werde enorm vorkäuen!

Die andern fühlten inſtinktiv, daß er der Einzige unter ihnen war, der ſein Programm ſicher durchführen würde, und ſie hatten deshalb viel

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 189

Reſpekt vor ihm, obwohl ſie auch nicht ohne Neid waren.

ER

So rollte das Jahr bis an die Schwelle der Abiturientenprüfung. |

Bis auf Stilpe waren die Schlappdeckel fo ziemlich ſicher, daß ſie das Examen beſtehen würden. Was aber ihn anging, ſo hatte Barmann recht gehabt, als er ſagte, daß auch er jetzt ſo gut wie durchgekommen ſei, da der Königliche Kommiſſarius ein ſo auffälliges Intereſſe für ihn an den Tag legte.

Der alte Geheimrat Ammer hatte ſchon aus den deutſchen Aufſätzen dieſes „zwar begabten, aber ſonſt in mehr als einer Beziehung bedenklichen Schülers“, wie er ihm bezeichnet worden war, geſehen, daß Stilpe in der That ein merkwürdig

frühreifer Kopf und überhaupt ein ungewöhnlich angelegter Jüngling ſei. Die Probeſtunde mit den Abiturienten hatte ihm das noch deutlicher gezeigt. Er hatte die Primaner aufgefordert, ihm zu ſagen, welche Männergeſtalten ihnen aus dem

190 Stilpe.

Altertum am nächſten ſtünden. Die Antworten lauteten durchgängig ſo, daß er ſich über die völlige Gleichgültigkeit, die die jungen Herren gegenüber den antiken Männern empfanden, ſehr klar wurde.

Wie oft war Odyſſeus genannt worden, ſogar Cicero dreimal! Nur dieſer Stilpe hatte die Kuraſche gehabt, die beiden Gracchen zu nennen und „mit ſchöner Offenheit“, wie der Commiſſarius meinte, zu erklären, ſie ſeien ihm deshalb beſonders lieb, weil ſie ihn „faſt modern anmuteten in ihren ſozialpolitiſchen Forderungen“.

Der Geheimrat machte ſich ſogleich ein Bild von der Entwickelung dieſes ungewöhnlichen Jüng⸗ lings, wie ſie ſich geſtalten würde, wenn man ihn rechtzeitig und früh auf die richtigen Bahnen lenkte. Unzweifelhaft: Ein zukünftiger Publiziſt! Jetzt natürlich noch unreif und verworren, eines Tages wahrſcheinlich ſozialdemokratiſcher Idealiſt, aber dann, immer eine geſchickte Beeinfluſſung vor⸗ ausgeſetzt, wahrſcheinlich einmal eine glänzende und feſte Stütze der ſtaatserhaltenden Inſtitu⸗ tionen!

Dieſer alte Geheimrat war ein ſehr kluger Herr und ärgerte ſich im Stillen rechtſchaffen über die

Zweites Buch, fünftes Kapitel. | 191

Plumpheit, mit der ſich die Lehrerſchaften der verſchiedenen Gymnaſien die Gelegenheit entgehen ließen, Talente für den Staat zu erziehen, die den ſtaatsfeindlichen Gewalten in der Hauptſache des⸗ halb zum Opfer fielen, weil ſie ſich ſchon auf der Schulbank zu Revolutionären geſtempelt ſahen. Sein Beſtreben war, wenigſtens im letzten Augen⸗ blicke gut zu machen, was noch gut zu machen war. Daher auch ſein Verhalten Stilpen gegen⸗ über.

Er behielt ihn, als die anderen Schüler fort⸗ gingen, zurück und machte den Weg in ſein Hotel mit ihm zuſammen. Dabei verhehlte er ihm nicht, daß ſeine Ausſichten, das Examen zu beſtehen, nicht eben glänzend wären, aber er ließ auch deut⸗ lich durchblicken, daß mancherlei zu ſeinen Gunſten in die Wagſchale fiele.

Nehmen Sie beim deutſchen Aufſatz alle Kräfte zuſammen! Gelingt der Ihnen ſo gut wie die häuslichen Aufſätze, jo haben Sie viel ge⸗ wonnen. In der mündlichen Prüfung hoffe ich mir eine gute Leiſtung im Überſetzen aus dem Griechiſchen und Lateiniſchen ins Deutſche. Zeigen Sie, daß Sie den Geiſt der Alten ſchnell erfaſſen können! Daß Sie ſo manches, zumal Mathe⸗

192 Stitpe.

matik und alles Grammatikaliſche, jo vernachläſſigt haben, iſt ſchlimm, ſehr ſchlimm, aber, wenn Sie zeigen, daß Sie dafür anderen Dingen um ſo mehr Liebe entgegenbringen, dann wird ſich das gelinder anſehen laſſen. Und nun noch dies: Was Sie auf der Schule in Hinſicht der ſittlichen Führung gefehlt haben, machen Sie das auf der Univerſität gut! Wenn Sie, wie ich hoffe, auf unſrer Landesuniverſität ſtudieren werden, ſo wird es mir eine liebe Aufgabe ſein, Sie in den Augen zu behalten. Vergeſſen Sie das nicht!

Stilpe antwortete mit edler Offenheit und in gut zu Tage geförderten Sätzen, die eine heiße Dankbarkeit und tiefe Vorſatznahme alles Guten ſchön erkennen ließen.

Der Kommiſſarius: So ſei es! Ich hoffe, wir werden uns auch in veränderten Verhältniſſen noch ſehen und ſprechen. Meine Anteilnahme für Sie gründet ſich auf eine gute Meinung und wird ſo lange andauern wie dieſe. Denken Sie immer daran! Es handelt ſich um mehr als die Reife⸗ prüfung.

Stilpe (ſehr leiſe und mit einer faſt zärtlichen Tonfärbung): Ich werde immer an dieſe gütigen

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 193

Worte denken und beſtrebt ſein, mich ihrer würdig zu erweiſen. Händedruck und ein tiefer Abwärtsſchwung der

Schlappmütze.

Als der Geheimrat verſchwunden war, ſetzte Stilpe ſeine Mütze nicht wie ſonſt auf den Hinter⸗ kopf, ſondern tief in die Stirne. Er kam ſich un⸗ endlich brav vor und ſtieß ſeine Vergangenheit energiſch von ſich.

Kein Zweifel: Er würde das Examen be⸗ ſtehen! Und mehr noch: Seine Zukunft war ge⸗ macht.

Dieſer Geheimrat hatte erkannt, was in ihm ſteckte, und es wäre ein Frevel, ſein Vertrauen zu täuſchen. Wer weiß, was er mit ihm vor hatte! Offenbar ganz hohe Poſten!

So etwa als litterariſcher Regierungsſekretär oder ... aber gleichviel: Irgend etwas ſehr An⸗ geſehenes. Natürlich: Erſt ſtudieren, und zwar neben Kunſtgeſchichte und Litteratur auch Juris⸗ prudenz!

Seine alten Pläne waren durchaus ver⸗ ſunken. Hier winkte Außerordentliches! War

13

194 Stilpe.

nicht auch Goethe Geheimzel und Minifter ge⸗ weſen?

Das wars, was winkte! Die Verbindung von Staatsmann und Poet.

Sollte er etwa wie Lenz untergehn? Nein: Seine Sturm⸗ und Drangperiode war vorüber. Endgiltig.

Hinter ihm Nebel des Wüſtſeins, vor ihm die breite, ſonnenhelle Marmortreppe zu Einfluß und Ruhm und Reichtum.

Oh dieſe Eſelhaftigkeit, zu vergeſſen, daß ohne Reichtum Genuß undenkbar iſt.

Was wär ich geworden? Ein genialer Lump! Eine hungrige Berühmtheit, nein, pfui Teufel, ein Litterat!

Was hätt ich gehabt? Nichts zu eſſen und mediokre Weiber, Nähmädchen, höchſtens Chori⸗ ſtinnen.

Nun aber! Stellung und Anſehen! Mitten in den höchſten Kreiſen! |

Ach, dieſe ariſtokratiſchen Damen! Alles an ihnen Schönheit und Eleganz, le Seide, feinſter Geiſt!

Er ſah einen ganzen Hofball vor ſich von nackten Schultern und Brüſten, Diademe in duf⸗

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Zweites Buch, fünftes Kapitel. 195

tenden Haaren, heiße Blicke hinter Straußfeder⸗ fächern. Und er fing gleich zu dialogiſieren an:

Ah, Exzellenz, Ihr letztes Drama, wie herrlich!

Hat es Ew. Hoheit Beifall?

Ach, ich bin hingeriſſen!

Und die Herzogin ſah ihn glühend an, dieſe Herzogin, die geiſtreichſte Frau des Hofes, und ſo jung und ſchön! Ahl

Ein ganzer Roman entzündete ſich in ihm. Zuletzt lag er der Herzogin zu Füßen und küßte ihr die Kniee, und ſie neigte ſich über ihn, und er küßte ſie auf die

Höh! Schaunard! Muſterknabe! Favorit! Prima⸗Nota⸗Jüngling!

Die drei Schlappdeckel! Ekelhaft!

Er machte ein ärgerliches Geſicht:

Was wollt ihr!!!

Na! Na! Na! Stolz und grob wie ein Günſtling!

Ich verbitte mir dieſe Albernheiten.

Köſtlich! Er verbittet ſich!

Er ver bittet ſich!

Unglaublich! Weil ihm der Geheimrat die Hand gedrückt hat, iſt er nn.

196 Stilpe.

Das iſt ein Zeichen von ſchwacher Cerebral⸗ konſtitution.

Affen!

Hahahaa!

Er ſieht förmlich friſiert aus.

Guckt nur, wie er die Mütze aufhat!

Er hat ja einen Heiligenſchein!

Sogar zweie, einen um den Kopf und einen um den Hintern.

Aber ein bischen verblödet ſieht er aus.

Man könnte faſt ſtupid ſagen.

Stilpe machte ein Zeichen der Verachtung, und zwar ſo: Er fuhr über die dünn ſtehenden ſchwarzen Haare ſeines Schnurrbartes und huſtete dann in die Hand.

Der reine Geſandtſchaftsattaché!

Ich glaube, der Geheimrat hat ihm einen Schwur abgenommen, Juriſt zu werden. |

Habe wenigſtens die Gnade, uns zu jagen, ob Du noch mit uns verkehren willſt. |

Das ſagte Stöſſel. Aber Barmann fuhr Hinter- drein:

Was! Er! Ob er will! Ob wir wollen! Das iſt die Frage! Ein Menſch, der offenbar zu Kreuze gekrochen iſt! Ein Renegat!

Zweites Buch, fünftes Kapitel. 197

Wippert: Ein Feigling!

Barmann: Pater peccavi hat er gemacht!

Stöſſel: Höre mal, mein Lieber, Du haſt wohl die beiden Gracchen zurückgenommen?

Barmann: Ja, und Cicero als Lieblings⸗ römer proklamiert, wie dieſes Stint, der brave Müller⸗Emil! |

Das war Stilpen zuviel. Dieſer Vergleich wühlte ſeine ganze Natur auf, und er ſprach:

So! Alſo bis zu dieſer Niederträchtigkeit depraviert euch ein jämmerlicher Neid! Wißt ihr, was ich gethan habe? Ich habe dieſem Bieder⸗ mann geſagt: Nicht die beiden Gracchen verehre ich am höchſten, denn das ſind die National⸗ liberalen des alten Rom, und ſie kommen mir vor, wie zwei rot angemalte Zuckerſtengel .

Das haſt Du nicht geſagt!

Beim Momus, das hab ich geſagt! Und noch was hab ich geſagt: Mir imponiert überhaupt gar keiner in der ganzen alten Toga⸗Geſellſchaft mit Ausnahme von

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Von Catilina!

Donnerwetter! Iſt der Kerl nicht in Ohn⸗ macht gefallen?

198 Stilpe.

Ach Der! So ein Amphibium! Habt ihr nicht bemerkt, daß er ausſieht, als wenn er einem Aquarium entſprungen wäre? Wenn man ihn grün anſtriche, könnte man ihn von einem Laub⸗ froſch nicht mehr unterſcheiden.

So ſprach Schaunard.

4

Sechſtes Kapitel.

Stilpe kam, während er ſich auf das Abitu⸗ rientenexamen vorbereitete, noch manchmal auf ſeine Hofdichterphantaſieen, wie er es nun nannte, zurück. Die Vorſtellung, einmal eine Rolle in der großen Welt zu ſpielen und dabei Verhältniſſe mit Her⸗ zoginnen anzuknüpfen, that ihm zu wohl, als daß er endgiltig auf ſie verzichten ſollte. Aber im Ganzen erwies ſich Henri Mürger doch ſtärker, als Geheimrat Ammer.

Wenn ſich beides vereinigen ließe! war ſein Lieblingsgedanke. Und er verfabulierte ſich auch dieſen Gedanken.

Warum ſollte es nicht möglich ſein? Es kam lediglich auf den Potentaten an, mit dem er es zu thun haben würde.

War nicht Karl Auguſt anfangs ein ſehr fideler

200 Stilpe.

Bruder geweſen? Hatte er nicht auch mit der Reit⸗ peitſche geknallt? Daß er ſchließlich ſo gräßlich ernſthaft geworden iſt, wer war daran ſchuld, wenn nicht Goethe ſelber, der eben in ſich den Geheimratskeim ſchon geerbt hatte von ſeinem Vater? |

Goethe und Lenz in einer Perſon zu fein, das war das Problem, das war das Ideal! In⸗ deſſen dachte er dabei doch mehr an Lenz, als an Goethe.

Auch Günther, dem „ſein Leben wie ſein Dichten zerrann“, fiel ihm zuweilen ein, doch kannte er von dieſem nichts. Aber er verehrte ihn ſehr und nannte ihn oft, nur eben, weil Goethe ſo von ihm geſprochen hatte.

Ein fabelhafter Kerl, dieſer Günther! dachte er bei ſich, und er las oft, was Goethe über ihn geſchrieben hat. Man ſollte ihn eigent⸗ lich leſen. Na, ſpäter!

Überhaupt, er ſchob jetzt noch mehr auf, als es ohnehin ſeine Art war.

Das Examen bedrückte ihn doch, obwohl er nicht mehr daran zweifelte, daß er durchkommen würde. Aber es blieb eine unangenehme Perſpek⸗ tive und fatal wie alles Unvermeidliche.

Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. 201

Sein Haupttroſt war Bertha, das Dienſt⸗ mädchen.

In Deinen blauen Augen, Schatz, Sind keine Wolken,

Alſo ſage ich: Es giebt

Keine Wolken.

Stöſſel machte eine Parodie ii dieſe freien Rhythmen: Unter Deinen tümpelbraunen Augen, Schaunard, Sind ſchwarz⸗grüne Wolken, Alſo ſage ich: Du biſt Eine ſchwarz⸗grüne Wolke.

Und das war richtig: Stilpe ſah ſehr ſchlecht aus, ſo ſchlecht, daß man wirklich glauben konnte, er überarbeite ſich wegen des Examens.

Er fand das rieſig intereſſant und gewöhnte ſich überdies an, die Lippen nach unten zu ziehen, um das Anſehen beſtändiger Weltverachtung zu haben. Freilich ſtimmte das nicht zur Heiterkeits⸗ deviſe des Cénacles, aber eben das war wieder paradox, und das Paradoxe hielt Stilpe damals

für die Hauptſache.

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202 Stilpe.

Das Examen kam heran. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Die Überſetzung ins Griechische abonnierte er bei Wippert, die ins Lateiniſche bei Barmann, die Mathematikaufgabe bei Stöſſel. Es war ſehr gut, daß für jedes Manco ſeiner Schul⸗ tüchtigkeit im Cénacle Rat geſchafft werden konnte.

Rir find die reinen Freimaurer, ſagte Stilpe, wir laſſen keinen „, Bruder bankerott gehen. Es lebe Müſette! Es lebe der Kommunismus der überflüſſigen Kenntniſſe! Schade, daß ich euch gar nichts dagegenbieten kann. Höchſtens, daß Bar⸗ mann von meinem franzöſiſchen Stile zehren könnte. |

Aber Barmann verzichtete und meinte, er könne ſeine grammatikaliſchen Fehler alleine machen.

Und es ging Alles gut vorüber, obwohl Stilpe die Mathematikaufgabe ſogar falſch abſchrieb. Da⸗ für errang er einen Triumph im deutſchen Auf⸗ ſatz, der das tiefe Thema behandelte: Wie befreite ſich Goethe von den Fehlern der Sturm⸗ und Drangperiode?

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Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. 203

Hei, wie da Stilpe ins Zeug ging! Er war ganz Hofpoet, ganz Harmonie, ganz „Welt⸗ auge“. Ohne es ſich merken zu laſſen, natürlich, identifizierte er ſich während der fünf Stunden, da er ſeine Perioden baute, völlig mit Goethe und endete mit einem feierlichen Panegyrikus auf Karl Auguſt, der gleichfalls „aus Sturm und Drang emporgedieh zur fürſtlichen Ruhe ſchönheitbeſchir⸗ mender Macht“.

So gut hatte er den königlichen Kommiſſarius verſtanden.

Auch im mündlichen Examen ging Alles vor⸗ trefflich, und das Ende war, daß Stilpe mit Note 2b das Zeugnis der hi zum Univerſitäts⸗ ſtudium erhielt.

Eine große Cénaclefeier ſchloß ſich der Ver⸗ kündigung der Examenergebniſſe an.

Man trank lediglich deutſchen Schaumwein, und Stilpe verwahrte ſich gegen alle literariſchen Geſpräche. Dafür wurde lebhaft darüber debattiert, ob ein Eönaclier in ein Corps oder in eine Burſchen⸗ ſchaft einſpringen müſſe. Man kam aber zu keinem

204 Stilpe.

Entſchluß, ſondern ſetzte feſt, daß darüber endgiltig in einer letzten Cénacleſitzung zu befinden ſei, die man im Freien, draußen an den Ufern der Mulde, abhalten wollte.

Im Übrigen waren alle Vier vollkommen be⸗ trunken, als dieſer Beſchluß gefaßt wurde, Stilpe aber immerhin noch mehr als die anderen. Er wollte durchaus ein Corps „Bertha“ gründen und rief beharrlich mit lallender Stimme: Bertha ſeis Panier!

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Der Abiturientenball war vorüber, der Abi⸗ turientenkommers war vorüber. Nun kam am letzten Tage ihres Aufenthaltes in der Gymnaſial⸗ ſtadt die Schlußſitzung des Cénacles.

Bedeckt mit großen ſchwarzen weichen Filz⸗ hüten (aber Stilpes Hut war der breiteſte) wan⸗ derten ſie zu einem an der Mulde gelegenen Dorfe. Jeder trug einen dicken Spazierſtock, jeder trug ein rotes Klemmerband. Jeder lächelte

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Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. 205

ſouverän, wenn Bürgerin und Bürgersmann maul⸗ offen ſtehen blieb. Aber Stilpe lächelte am ſouve⸗ ränſten, denn er trug in der linken Hand die Schildkröte.

Als ſie dem Poliziſten begegneten, der ſie einmal abends beinahe arretiert hätte, lüftete Stilpe mit großem Schwunge ſeinen Hut und fragte ihn:

Sagen Sie, Bürger Nationalgardiſt, iſt das der Weg ins Bois de Boulogne?

Quatſch! antwortete der Polizeidiener, worauf Stilpe den Kopf ſchüttelte und bemerkte:

Dieſer Funktionär ſpricht ein ungewöhn⸗ liches Franzöſiſch. Er ſcheint das hieſige Gym⸗ naſium frequentiert zu haben.

Der Frühling ſcheint mir noch nicht ganz fertig zu ſein, ſagte Stöſſel, als ſie außerhalb der Stadt waren.

Es iſt der richtige Mulus⸗Frühling, er⸗

widerte Wippert.

Der Religionslehrer an der höheren Bil⸗ dungsanſtalt dieſer Stadt würde ſagen: Mit ein wenig mehr Eifer hätte der Schüler ſein Ziel vollkommener erreichen können! fügte Wippert hinzu.

206 Stilpe.

Stilpe aber ſang, indem er Fechthiebe phan⸗ taſtiſcher Natur in die Luft ſchlug:

Der Frühling iſt ein Mädchen, Das Bertha Linke heißt,

Oh weh, daß aus dem Städtchen Schaunard, der Knabe, reiſt, Ein Knabe ſonder Makel,

Der Knabe Schaunard,

Der treu dem Cénacle

Und Fräulein Bertha war. Oheh! Oheh!

Das Leben iſt ein Kuhſchwof, Und Scheiden thut nicht weh.

Sofort ſchwangen die Drei gleichfalls ihre Stöcke

und ſangen mit Überzeugung:

Oheh! Oheh! Das Leben iſt ein Kuhſchwof, Und Scheiden thut nicht weh.

Stilpe aber ſang weiter (es hatte den Anſchein

einer ſorgſamen Vorbereitung):

Der Tacitus Iſt kein Genuß,

7

Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. 207

Wenn man ihn präparieren muß, Dagegen lieb ich ſehr

Den Vater Homer,

Denn ich leſe, denn ich leſe, Denn ich les ihn nimmermehr!

Stürmiſcher Kehrgeſang der drei, ſechsmal wiederholt.

Und wieder Stilpe:

Und die Mathematik

Hatt ich lange ſchon dick,

Faſt wärs ihr gelungen, und ſie brach mirs Genick.

Da ſangen die Drei nicht mit, denn in dieſem Punkte fühlten ſie ſich Stilpen überlegen. Aber das hielt ihn keineswegs ab, weiter zu ſingen: Wer weiß mir zu raten, Wo finde ich, wo, In Schobern und Schwaden Das trockenſte Stroh? Liebwerte Kameraden, Ach, ſagt es mir: Wo?

208 Stilpe.

Als wenn er auf Antwort wartete, ſchwieg er einen Augenblick, dann gellte er in höchſter Fiſtel:

Im Ci —cero!

Und alle Kehlen ſtimmten krähend bei:

Im Ci —cero! Im Ci —cero!

Stilpe aber, in der Melodie des Poſtillons von Lonjumeau:

Hoho! Hoho! Das ſteifſte Stroh Verzapft Herr Konſul Cicero!

Unter dieſen und ähnlichen anmutigen Ge⸗ ſängen erreichten ſie das Dorf an der Mulde, das das Cénacle für würdig gefunden hatte, zum Schauplatz ſeiner letzten Sitzung zu er⸗ nennen.

Nun, es ging hoch her, und vorzüglich in Verſen. Eigentlich hatte man vorgehabt, hier, mit freier Benutzung des Hambacher Feſtes als Vor⸗ bild, ſämtliche Schulbücher zu verbrennen, aber Stilpe hatte ſich rechtzeitig des Deklamators in

Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. 209

Leipzig erinnert, wo man dieſe nichtswürdigen Schwarten gewinnbringender anlegen könnte, und ſo unterblieb dieſer Teil des urſprünglichen Pro⸗ grammes. Dafür wurde die Schildkröte des Cénacles, „in ihrer Eigenſchaft als Symbol einer in Unfreiheit befangenen Vereinigung und um ihrer nachgerade ſtörend wirkenden Ahnlichkeit mit jenem pp. Pädagogen willen“, in die Mulde geworfen, wozu man ſang:

Lebewohl! Lebewohl, Niederträchtiges Symbol! Schwimm vorbei! Schwimm vorbei, Schauderhaftes Conterfei!

Dann aber hub Stilpe ſeine große Schlußrede an, die mit den beifallumtoſten Worten endete: Le cénacle est mort! Vive le cönacle!

Und man ſchwur ſich, in Leipzig „keinesfalls den ataviſtiſchen Farbenblödſinn jener kläglichen Jünglinge mitzumachen, die einer bunten Mütze bedürfen, um ſich als Studenten und freie Bürger einer Univerſität zu fühlen, ſondern ſofort ein neues, das eigentliche Cénacle zu gründen als die erſte künſtleriſche Studentenverbindung mit neuen

Bräuchen und neuen Zielen!“

14

210 SErtllpe.

Eine unendliche Debatte knüpfte ſich an dieſen Schwur. Stilpe entwickelte das größte Pro⸗ gramm:

1) Jeder muß ein Mädchen haben (aber rich⸗ tig haben, nicht etwa blos in dieſer knabenhaft blümeranten Manier!) .

2) Jede Ahnlichkeit mit beſtehenden Verbin⸗ dungen muß vermieden werden. Keine Mützen! Sondern graue Cylinderhüte!

3) Man geht nur auf Säbel los! Die Schläger ſind pur enfantillage. (Das Wort war ihm aus der Vorrede zur deutſchen Überſetzung der Vie de Bohème geläufig.)

4) Man muß eine Zeitſchrift gründen.

5) Man muß ſich einen Barbemuche zu ver⸗ ſchaffen ſuchen, d. h. einen ehrgeizigen Eſel, der für „beſſere Bowlen“ ſorgt. |

Dieſes Programm wurde im Allgemeinen an⸗ genommen, eine ſehr genaue Beratung und Aus⸗ arbeitung jedoch vorbehalten.

Als man ſich dann zum Heimgehen anſchicken mußte, weil das Dorf eine „geradezu mittelalterliche“ Polizeiſtunde hatte, war Stilpe ſo betrunken, daß die Drei ihn ſchleppen mußten. Unaufhörlich ſtellte

Zweites Buch, ſechſtes Kapitel. 211

er den Antrag, für Cénacle künftig Berthacle zu ſagen und ihn zum Geheimrat Ammer zu bringen, wo er ſich durchaus vorſtellen müſſe. Die Anderen aber ſangen unabläſſig, faſt pauſenlos: Auf in den Kampf Tore —e—e—ero!

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Drittes Buch

VIR IVVENIS DOMINVS STILPE

In Gottes Apotheke gährt Ein Stoff, der iſt mir herzlich wert, Ihm hab ich mich ergeben. Wär er nicht da, die Welt wär hohl; Oh Du viel lieber Alkohol, Von Dir lernt ich das Schweben. Jawohl! Jawohl!

Das Schweben zwiſchen den Polen, Das lehrte mich der Alkohol; Will mir einmal der Teufel wohl, Soll er mich alkoholen.

Aus Stilpes zerſtreuten Verſen.

Erſtes Kapitel.

Wenn ein neues Semeſter begonnen hat, pflegen die farbentragenden Studentenkorporationen in Leipzig mit beſonderem Eifer das zu kultivieren, was ſie den Grimmſchen Bummel nennen. Es iſt das eine Art ſtolz geſchrittenen Corſos auf der Grimmaiſchen Straße, wobei ſich die zu einem größeren Geſammtverbande gehörigen Verbindungen ſehr feierlich nach der gerade im Schwange befind⸗ lichen Mode begrüßen.

Denn die Art, die Mütze abzunehmen, iſt unter Couleurſtudenten gewiſſen cykliſchen Schwankungen unterworfen.

Auch hier iſt das Walten harmoniſcher Geſetze erkennbar. Alte Semeſter haben darüber kultur⸗ hiſtoriſch bedeutſame Aufzeichnungen gemacht, aber das Verdienſt, das Geſetz des Cyklus erkannt zu

216 Stilpe.

haben, gebührt der kleinen Anna, einem Mädchen von ſehr ausgedehnten Bekanntſchaften in corps⸗ ſtudentiſchen Kreiſen.

Wie die Muſe der Geſchichte hat ſie die Se⸗ meſter an ſich vorüber ſtreifen (ja, ſtreifen) ſehen und dabei dies beobachtet:

Als Beginn eines Cyklus iſt allemal die pri⸗ mitive Zeit zu betrachten, wo man die Mütze ganz einfach vorn beim Schild ergreift und ſie in leichtem Bogen ziemlich ſenkrecht nach unten ſchwingt. Dann folgt:

Die Periode des rechten Randgriffs, die in zwei Unterabteilungen zerfällt:

a) man ergreift die Mütze am rechten Rande und führt ſie mit gebogenem Arm langſam nach vorn,

b) man ergreift ſie wie unter a, führt ſie aber nicht nach vorn, ſondern ſtößt ſie rechtsſeitig ſteif nach oben.

Sodann folgt die Periode des hinteren Randgriffs, bei der die Mütze alſo am hinteren Rande ergriffen wird.

Sie hat drei Unterabteilungen:

a) weiter Bogen nach vorn,

b) ſteifer Stoß nach oben,

Drittes Buch, erſtes Kapitel. 217

c) ganz kurze Lüpfung, wobei das Schild und der vordere Rand feſt aufliegen bleiben. Dieſe Phaſe, als gewöhnlich letzte des Cyklus, hat etwas marode Decadentes. |

Zuweilen fügt ſich als vierte Periode noch der vordere Randgriff an, der ſich als Pendant zu 36% kennzeichnet. Gewöhnlich indeſſen beginnt der Cyklus nach der kurzen Lüpfung aufs Neue.

Natürlich ſind in dieſem kurzen Abriß alle Nuancen, deren es ſehr feine giebt, beijeite gelaſſen worden.

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Man befand ſich wieder einmal in der Periode 3b, als das weiland Wurzener Cönacle die Leip⸗ ziger Univerſität bezog, und es gab keinen Fuchs, der die Mütze ſo energiſch nach oben ſtieß, wie der ſtud. phil. et jur. Willibald Stilpe oder, wie er auf der Matrikel feierlich und lateiniſch hieß: vir iuvenis dominus Stilpe leissnigensis.

Die Mütze, die er in dieſer Weiſe handhabte, ſah gelb aus, genauer geſagt: Kanariengelb, und

218 Stilpe.

zeigte außerdem einen weißen und einen ſchwarzen Streifen.

Stilpe war, uneingedenk des Schwurs an der Mulde, einer Verbindung beigetreten, einer Ver⸗ bindung ſchlechthin, die nicht Corps, nicht Burſchen ſchaft, nicht Landsmannſchaft war.

Das Kanariengelb war ſchuld daran.

Stilpes koloriſtiſcher Blick hatte ſofort bemerkt, daß dieſe Farbe zu ſeinen glänzend ſchwarzen Haaren eminent (das Wort liebte er jetzt) ſtehen müſſe, und es lag überhaupt etwas Schmetterndes, Ver⸗ wegenes in ihr, etwas, das zu ſeiner augenblicklichen Stimmung genau paßte.

Bitte, was koſtet dieſe Handelsſtadt? Nur keine Bange! Nur den Preis genannt! Ich zahle ohne Feilſchen.

Ein Triumphatoren⸗, ein Sankt Georgsge⸗ fühl! Hinter ihm, ein widerlich geſchwollenes Grau, lag der überwundene Drache Gymnaſium, vor ihm breiteten tauſend junge ſchöne Mädchen glänzende Teppiche aus, weit ins Land hinein, wo rechts und links die angenehmſten Dinge als rot⸗ goldene Ahren auf gelbgoldenen Halmen ſchau⸗ kelten.

Blos mitnehmen! Blos einſcheuern! Sklaven

Drittes Buch, erſtes Kapitel. 219

wimmeln ringsum und ſchielen aus tiefer Ver⸗ beugung nach Seiner Herrlichkeit gelaſſenen Win⸗ Br Und dieſe vielen Reſtaurants! Und keins ver- boten! Kühn darf man mitten in Damenbedienung ſitzen und das Taſchentuch behaglicher Paſchah⸗ wünſche werfen.

In dieſer Stimmung hatte er ſich ohne viel Beſinnen die kanariengelbe Mütze aufgeſetzt. Und nun ſaß ſie feſt und ſah gut aus.

Nachdem er ſich für ſie einmal entſchieden hatte, erbaute er ſich aber auch ein Syſtem von Gründen dafür, daß er juſt in eine ſimple Verbin⸗ dung, nicht in ein Corps, nicht in eine Burſchen⸗ ſchaft, nicht in eine Landsmannſchaft eingetreten war:

Das Corps: Rückſtändige Inſtitution aus un⸗ freien Zeiten, daher Fuchſenſklaverei, Burſchen⸗ tyrannis, ſtarrer Formelnkram; die Burſchenſchaft: Entweder rückſtändige Romantik, Tugendbund und Keuſchheit bis zum Ehebette oder Form ohne In⸗ halt; die Landsmannſchaft: Traditionsloſe Neu⸗ gründung, bemäntelt mit einem alten Namen, ohne Wurzeln im Alten, ohne Greifranken ins Neue: Zwitter. Die bloße Verbindung dagegen, nun ja:

220 Stilpe.

Das war eben eine Sache für ſich, etwas mehr Improviſiertes, das daher auch nicht ſo um⸗ klammerte und abſorbierte. Zweifellos bot ſich hier auch die leichtere Möglichkeit, eine beeinfluſſende Stellung zu erhalten. Und das iſt doch wohl das Wichtigſte!

So verteidigte ſich Stilpe vor ſich ſelber. Erſt hinterher kam ihm der Gedanke: Aber warum denn überhaupt eine farbige Mütze? Das war ja doch wohl eigentlich eine Kinderei, wie? Ein Atavismus? Ein teſtimonium paupertatis animi? Hatte er nicht das Wort geſchliffen: Ein freier Kopf braucht keine bunte Mütze? |

Gewiß, gewiß! Aber: Si duo faciunt idem, non eſt idem! (Seitdem er nicht mehr Latein treiben mußte, zitierte er viel Lateiniſches.) Für jene anderen iſt die Mütze eine gewiſſe Not⸗ wendigkeit und ein Ziel; für ihn aber nichts als ein in ſouveräner Laune frei gewähltes Mittel.

Mittel, wozu?

Erſtens zur Erzielung gewiſſer landsknechthafter Empfindungen! Denn es ſteckt Hiſtorie in dieſer Inſtitution des wehrhaften deutſchen Rauf⸗ und Sauf⸗Studenten und ein rechter Kerl zeigt ſeine Raſſe; und zweitens zur Kenntnis eben dieſes

Drittes Buch, erſtes Kapitel. 221

Milieus für ſeine zukünftige künſtleriſche Ver⸗ wertung, denn: Wie ſollte er einmal den deutſchen Studenten darſtellen, wenn er nicht auch dieſe Spezies ſtudiert hatte?

So rechtfertigte er, der nicht gerne etwas be⸗ reute, aber noch weniger gerne etwas unterließ, was ihm luſtig dünkte, vor ſich ſelber den improviſierten Schritt, und er legte ſich damit auch gleich die Sätze zurecht, mit denen er den Cénacliers ent⸗ gegentreten wollte, wenn ſie ihm mit den Ein⸗ wendungen kommen würden, die ja eigentlich aus der Rüſtkammer ſeines Intellekts ſtammten. Er hatte ſogar vor, ſie für ſeine Verbindung zu keilen.

Indeß: Er kam zu ſpät.

Eines Tages, als er mit ſeiner Mütze und ſeinen Verbindungsbrüdern leuchtend den Grimm⸗ ſchen Bummel abſolvierte, gewahrte er, obwohl er regelrecht und ſtolz geradeaus ging und ſcheinbar kein Auge für andre Couleuren hatte, unter den fünf Mitgliedern eines rotmützigen Corps Stöffel.

Es gab ihm einen Ruck, und ſchon wollte die Hand zum hinteren Rande der gelben Mütze zucken, da kam ihm noch rechtzeitig die Kluft zum Bewußtſein, die zwiſchen dieſem ſchmetternden Gelb und jenem trüben Rot lag.

222 Stilpe.

Und er lächelte nur ein wenig und dachte bei ſich:

Schau, ſchau, Corpſier! Dieſer Knabe Marcel war immer ein bischen eitel. Nun, mögen ſie ihn biſaken, die Herren C. B. C. B. Übrigens ſah er ſchon verbiſakt genug aus. Natürlich wird er mich verachten.. Wie? Er? Mich? Er möge ſichs gefälligſt unterſtehen! Dieſes Knickebein! Sah er nicht aus wie ein friſiertes Meerſchweinchen? Welch ein üppiger Knabe!

Im Grunde war es ihm höchſt ärgerlich, daß Stöſſel Corpsſtudent geworden war, und er be⸗ merkte plötzlich, daß ſeine Verbindungsbrüder an äußerer Eleganz einiges zu wünſchen übrig ließen. Er nahm ſich vor, da Wandel zu ſchaffen.

Kaum, daß er ſeinen Arger ein bischen ver⸗ wunden hatte, ſah er Barmann als hellrotmützigen Burſchenſchafter vorüberziehen.

Diesmal dachte er ſchon nicht mehr ans Grüßen und verfolgte mit innerlichſtem Wohlgefühl die Hand des wackeren Colline, die ſchon an der Mütze ſaß, um dann freilich ſchüchtern herab⸗ zuſinken.

Und Stilpe dachte dies:

Was man nicht Alles erlebt! Dieſer Colline,

Drittes Buch, erſtes Kapitel. 223

der einen Vortrag im Cônacle hielt über „die Epoche der patriotiſchen Phraſe“, als Fahnenſchwinger für Ehre! Freiheit! Vaterland! ...! Gut! Gut! Allerliebſt und ſehr niedlich! Die Haare haben ſie ihm aber ſchon nach hinten gekämmt. Und wie er errötötöte! Jetzt ſieht er ſich ſicher nach mir um. Nein, mein Lamm, ich nicht! Ich habe ſchon genug geſehn.

Über dieſen Fall ärgerte er ſich übrigens weniger. Burſchenſchaft bah! Aber geſpannt war er nun, „in welcher Couleur der tüchtige Ro⸗ dolphe eidbrüchig geworden ſein möchte“. Er taxierte ihn voll Zorn auf Akademiſchen Turn⸗ verein: 5

Wir recken den Arm, wir ſtrecken das Bein,

Wir ſind der akademiſche Turnverein.

Aber nein: Wippert war Landsmannſchafter geworden und trug eine dunkelblaue Mütze ſtolz an Stilpes gelber vorüber.

So wären wir denn alſo glücklich nach allen Windrichtungen auseinandergefahren. Das iſt eigent⸗ lich eine Direktionsloſigkeit. Warum haben es dieſe Knaben denn nicht für nötig gehalten, mich auf⸗ zuſuchen, ehe ſie ſo weitgehende Entſchlüſſe faßten? Kein Zweifel: Sie wollten ſich meinem Einfluſſe

224 Stilpe.

entziehen! Sie wußten, daß ihr Wille ver⸗ loren war, ſobald ſie ſich in die Zerreibungszone meiner Beredtſamkeit begaben, und feig flohen ſie davon. Crapüle! Dabei trug dieſer Rodolphe eine Art von naſenſteifem Selbſtbewußtſein zur Schau, die mir nicht gefallen hat. Nun, im Walde pfeifen die Handwerksburſchen, wenn ihnen die Hoſen ſchlottern ... Eine erſtaunliche Sippſchaft. Wie bring ich ſie zur Raiſon?

Es war ihm doch fatal, daß die Drei ſich ſo ohne weiteres von ihm emanzipiert hatten. Hätte er nur nicht ſelber ſchon die gelbe Mütze aufgehabt! Das komplizierte ſeine Stellung den Abtrünnlingen gegenüber ſtark. Es war, als wenn er mit ver⸗ nagelten Kanonen ſchießen ſollte.

Aber es dauerte nicht lange, und er hatte ſeine volle Sicherheit wiedergewonnen. Er ſchrieb in drei gleichlautenden Stücken folgenden Brief und ſandte ihn an die Drei.

Landerirette!

Farben ſind ſtärker als Eide, und was die Mulde gehört hat, braucht die Pleiße nicht zu wiſſen. Sela.

Drittes Buch, erſtes Kapitel. 225

Indeſſen: Soll gelb oder blau oder dunkel⸗ oder hellrot auch ſtärker ſein, als Herz und Intelligenz? Soll die Pleiße völlig ent⸗ behren müſſen, was die Mulde füllereich ge⸗ noß?

1 Nein! Unſre Mützen ſind gelb, blau,

d dunkel⸗ oder hellrot, aber unſre Herzen ſchlagen

noch im Takte des momiſchen Alexandriners:

| O Amour! ö l’Amour! prince de la jeunesse!

Oder? Schmach dem Fragezeichen!

Wir haben nicht aufgehört, Menſchen zu ſein, indem wir unſre reſpektiven Mützen aufſetzten, und jo haben wir auch nicht aufgehört, Cénacliers zu ſein.

Und alſo darum ſage ich euch, ich, der ich Schaunard war, bin und ſein werde: Wir müſſen die farbigen Schranken und Planken, hinter die wir uns, jeder nach freier Wahl und geiſtvoller Erwägung, begeben haben, wenigſtens aller zwei Wochen einmal mit dem Elan unſrer Cénacleherzen überſpringen und ein⸗ ander in die Arme eilen! Eine Jammerlende, die dieſen Sprung nicht wagt, eine Groſchen⸗ ſeele, die ſich vor dem Comment mehr fürchtet

15

226 Stilpe.

als ehemals vor dem Konrektor, ein Caſtrat des Herzens, wer nicht wenigſtens aller zwei Wochen einmal ſingen will:

Der Freiheit Tabernakel, Ja ⸗nakel!

Der Freude Heiligenſchrein

Iſt einzig das Cénacle

Und wird es ewig ſein. Landerirette!

Man trifft mich Sonntag Abend in meiner Wohnung, die den Kopf dieſes Briefes ziert.

Schaunard.

7

Zweites Kapitel.

Stilpe hatte ſich nicht getäuſcht: Die Gründung des „Geheim⸗Cénacles“, jo ſehr fie gegen den Ver⸗ bindungscomment der Einzelnen war, geſchah, und die vier Cénacliers, die ſich, wenn fie ihre Mützen aufhatten, nicht einmal grüßen durften, fanden ſich zweimal des Monats an Sonntagen zu Ver⸗ gnügungen zuſammen, die jedem viel lieber waren, als die Pflichten ihrer Verbindung. Zwar, keiner geſtand das zu, denn jeder bemühte ſich aufs höchſte, den Anſchein zu erwecken, als fühle er ſich unter ſeiner bunten Mütze über die Maaßen wohl. In Wahrheit fühlten ſich Alle ſehr elend darunter, bis auf Stilpe, der auch in dieſem Verhältniſſe mit Hingabe aufging.

Er war faſt nie nüchtern und wurde von

15*

jeinen Verbindungsbrüdern ſehr bald als eine phäno⸗

228 Stilpe.

menale Kraft ſowohl auf der Kneipe wie auf dem Fechtboden erkannt. Seine Zügelloſigkeit, die ihn in einer Korporation von feſterem Gefüge unmög⸗ lich gemacht hätte, war ihm hier, wo er ſehr bald anfing, die Rolle des Überlegenen zu ſpielen, nur wenig hinderlich.

Schon im zweiten Semeſter hatte er „ſeine Leute“ ungefähr auf ſeinen Ton geſtimmt. Er pflegte zu den Cénacliers zu jagen: Die Bären tanzen ſchon ganz wacker die ſchwierigſten Sachen; nächſtens werde ich ihnen das Dichten beibringen.

Aber er dachte ſelber nur wenig ans Dichten. Nur „was er fo für die Liebe und das Cöénacle brauchte“, ſonſt:

Wie kann ich ſingen, da ich ſaufen muß? Die heikle Muſe meidet meinen Kuß, Pfui, ſagt ſie, pfui, Du ſtinkſt nach Spiritus!

Das war Selbſterkenntnis, aber keineswegs Selbſtanklage. Im Gegenteil, er that ſich innerlich ſehr viel darauf zu gute, daß er „in den Wolken des Alkohols taumelte wie nur ein Erkorener der neun Grundräuſche taumeln kann“. Die neun Grundräuſche waren |

Drittes Buch, zweites Kapitel. 229

1) das braune Bier,

2) die blonden Mädchen,

3) der rote Wein,

4) die braunen Mädchen,

5) der weiße Wein,

6) die ſchwarzen Mädchen,

7) die Schnäpſe jeglicher Obſervanz,

8) die edle Kunſt raſender Reime,

9) die große Ewigkeit gewaltigen Ruhmes.

Er pflegte zu ſagen:

Hütet euch vor Dichtern, die nicht ſaufen! Sie bedeuten für die Litteratur dasſelbe, was die alten Jungfern für die Fortpflanzung des Menſchengeſchlechtes bedeuten. Sie ſind ein Greuel und eine große Gefahr. Wehe, wenn ſie die Welt mit ihrem Laſter ſtrohtrockener Verſe anſtecken. Dann iſt das Ende nahe herbei⸗ gekommen. Selbſt Schiller trank Likör, aber, wenn er nicht trank, ſchrieb er dieſe bedenklichen Sachen, an denen heute noch ſämmtliche Gymnaſiallehrer leiden. Shakeſpeare dagegen ſoff wie ein Loch. Wie? Ihr fragt nach den Belegen? Ja, wenn ihrs nicht fühlt! Ich mache mich anheiſchig, bei jedem ſeiner Stücke zu ſagen, was er damals ge⸗ rade getrunken hat. Im Hamlet ſteckt viel Porter.

230 Stilpe.

Daher dieſe etwas ſchwermütige, aber immerhin ſublim betrunkene Grundſtimmung. Voll Whisky⸗ Brandy iſt Othello, doch mit einem Schuß Sherry. Ale, Ale und abermals Ale iſt King Lear. Es iſt das hohe Lied des Ales. Immer, wenn ichs ge⸗ leſen habe, muß ich zum alten Krauſe gehen, der dieſes blondeſte aller Biere am beſten ſchänkt. Ein paar Sommerſproſſen Porter auf dieſen weißen Teint geſpritzt, und man verſteht die Lieder des Narren und weint in großer Seligkeit. Auch Knickebein hat Shakeſpeare getrunken, und zwar viel. Seine Komödien ſind der Beweis dafür. Wie vermählt ſich da überall das Ei dem ſeimigen Liköre! Und da hat irgend ſo ein Fünfgroſchen⸗ phantaſt behauptet, Andreas Hofer habe den Knicke⸗ bein erfunden. Wie kümmerlich! Schon die alten Juden kannten ihn. Das Prinzip der Parallelität der Verſe in den Pſalmen iſt geradezu ein Symbol des Knickebeins ... Die ganze Litteraturgeſchichte, wohl gemerkt, ſo weit es ſich um Verſe handelt, iſt nichts als eine große Tafel der Getränke. Ich werde meine Doktordiſſertation über dieſes Thema ſchreiben.

In dieſem Stile ſprach er überhaupt oft, und manche ſeiner Dikta gingen in den Schatz der ge⸗

4

rr LEERE TEE:

Drittes Buch, zweites Kapitel. 231

flügelten Worte der Studentenfneipen über. Auch war er der fruchtbarſte Vermehrer jener un⸗ geſchriebenen Litteratur, die ſich um die Figur der Wirtin an der Lahn gebildet hat. Er konnte ſich ſtundenlang damit abgeben, aus einer Zote einen Reim oder aus einem Reim eine Zote zu locken. Herauskitzeln nannte er das.

Zuweilen, aber keineswegs oft, kam ihm der Gedanke, daß er eigentlich etwas Beſſeres thun ſollte. Dann gruppierte er ſeine Gedanken um die Worte „ſchaal und unerquicklich“ und bewarf ſich „mit den faulen Eiern des moraliſchen Katzen⸗

jammers“. Aber es war auch nur eine Art Stil⸗

übung.

Einmal empfing er die Ccénacliers in ſolcher Stimmung und hielt zehn Minuten einen Monolog in Jamben an

Dieſes Lotterfleiſch voll Alkohol

Und niederträchtiger Verſe, die wie Schmeer Von trichinöſen Schweinen blau geädert ſind Und übel riechen wie die Peſtilenz

Des ganz bedreckten Neſts des Wiedehopfs.

Aber als er zu Ende war, ganz aufgeregt und wie es ſchien direkt vor einem ſtürzenden Thränen⸗

232 Stilpe.

ausbruch, ſo daß niemand im ſtande war, zu

entſcheiden, ob hinter dieſen burleſken Selbſtanklagen nicht doch eine Spur von Ernſt ſteckte, da rief er: Aber das kommt von der Abſtinenz! Seit 75 Mi⸗ nuten habe ich keinen Alkohol geſehen. Auf! Laßt uns in ein Gebärhaus tröſtlicher Gedanken wallen, und wenn es eine Goſenſtube wäre. Kennt ihr mein Ritornell ?:

Molkige Goſe! Bezeugte nicht Dein Rauſch ſehr hohen Rang, Nännt ich dich Sauce.

Mit einziger Ausnahme des Brechweines gab es kein alkoholiſches Getränk, dem ſich Stilpe nicht mit Hingabe widmete.

Aber die „ſchweren Sachen“ bevorzugte er. Das Leipziger Lagerbier war bald nicht mehr im ſtande, ihm irgend etwas anzuhaben. Er nannte es „ſchlechterdings Waſſer“ und konnte es durch⸗ aus nicht begreifen, daß man „es noch immer in Brauereien herſtellt; man ſollte doch merken, daß es aus dem Schoße der Erde quillt, denn es iſt im eigentlichen Sinne culturlos.“ Dagegen zollte er direkt Ehrerbietung der oſtpreußiſchen Bowle, die aus Burgunder, Porterbier, Sekt und Cognac

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Drittes Buch, zweites Kapitel. 233

beſteht. Dieſes Getränk, ſo ſagte er, hat die Kraft und das heilige Rauſchen des germaniſchen Urwaldes. Man fühlt direkt Speere in der Fauſt, wenn man es trinkt. Seine Hauptgnade aber beſteht darin, daß es wunſchlos macht. Es iſt das Katholikon der Getränke. Auserwählten iſt es gegeben, zu ſehen, daß dieſe Bowle eine tief⸗ goldene Gloriole hat.

In dieſer Weiſe charakteriſierte er im Kreiſe des Cönacles „die geſammte Ariſtokratie der Spirituoſen“, und er lehnte es durchaus nicht ab, wenn man ihn den Homer des Alkohols nannte.

Aber die Getränke, die er liebte, waren koſt⸗ ſpielig, und weder er noch die anderen drei Céna⸗ cliers waren auf die Dauer im ſtande, das Geld dafür aufzubringen. Deshalb beſchloß man, einen „Barbemuche zu etablieren“, d. h. nach dem Muſter des Mürgerſchen Cénacles jemand ausfindig zu machen, der „alſo geeigenſchaftet wäre:

Ehrfürchtig vor dem Geiſte, Sehnſüchtig zur Kunſt, Wohlausgeſtattet mit Gelde,

234 Stilpe.

Ein bischen dumm und deſſen dumpf bewußt, Demütigen Herzens

und |

Angenehm lächerlich.“

Stilpe war es, der einen ſolchen Jüngling entdeckte: Herrn ſtud. phil. Lehmann aus Liegnitz.

Er hatte ihn in „ſo einem“ Hauſe der Magazin⸗ gaſſe aufgeleſen. Dort, in einem Salon, war ihm der blaſſe, etwas angefettete junge Mann durch eine ſehr dicke Brieftaſche und ſchwermütiges Be⸗ tragen aufgefallen.

Sie fühlen ſich nicht wohl in dieſer Um⸗ gebung, hatte Stilpe zu ihm geſagt, als ſie ſich ein⸗ ander vorgeſtellt hatten. Ich begreife das. Man geht hierher, um ſich nicht wohlzufühlen. Man will ſich kaſteien. Sie peitſchen ſich lieber mit blonden Ruten, ich lieber mit braunen. Das iſt der ganze Unterſchied. Temperamentsſache.

Ach ja, es iſt ſchrecklich, antwortete der Philologe Lehmann; ich verabſcheue dieſe Häuſer, aber, ſehen Sie, ich finde ja draußen nichts, und dabei bin ich doch jo... ſo . . . fo ſinnlich. Ach, leider!

——

Drittes Buch, zweites Kapitel. | 235

Wie? Leider? Sie ſagen: Leider? Sie haben doch leider geſagt? Hm. Hm. Hm!

Aber natürlich: Leider! Es iſt doch ſchreck⸗ lich, ſo direktionslos zu ſein!

Direktionslos nennen Sie das, wenn Alles ſo deutlich ins Schwarze zielt? Das nennen Sie di .. aber Herr Lehmann! Sie find beneidens⸗ wert um dieſe gerade Tendenz Ihres Weſens! Seien Sie fröhlich, Herr Lehmann! Es fehlt Ihnen blos die rechte Geſellſchaft. Sie ſind ein Einſiedel⸗Lehmann, und das iſt für ſolche Naturen eine Gefahr.

Freilich iſt es das. Ich fühle es ſelber. Aber ich ſchließe mich ſchwer an. Wiſſen Sie, die meiſten Studenten ſind ſo banauſiſch, ſo entſetz⸗ lich intereſſelos, und ich möchte doch Jemand haben, der auch noch etwas mehr will, als Doktor werden. Sechs Tage ochſen und einen Tag ſumpfen, das

mag ich nicht mitmachen!

Das ehrt Sie, Herr Lehmann! Sie ſuchen den Einklang von Lebenskunſt und Wiſſenſchaft. Sie wollen Streben und Genuß vereinen. Sie wollen, mit einem Worte, aber verſtehen Sie mich recht und nehmen Sie das nicht etwa als einen Witz: Sie wollen ein runder Menſch werden!

236 Stilpe.

Ich ahne, was Sie meinen, und es iſt wahr, das deckt ſich wohl mit dem, was ich ſuche.

Rund ſein iſt alles, Herr Lehmann! Wiſſen Sie, wie dieſe indiſchen Götter: Rund um den Leib herum tauſend Arme, und immer zwiſchen zwei Armen eine Göttin. Aber Gott bleiben! Ein runder Gott bleiben mit tauſend Armen und fünf⸗ hundert Göttinnen dazwiſchen! Oder, weniger exotiſch geſprochen: Goethehaft!

Herr Lehmann lächelte höchſt bitter:

Sie wollen mich wohl verſpotten. Goethe und ich! Ich mit meiner klaſſiſchen Philologie. Ich ſtudiere nämlich klaſſiſche Philologie. Aber Sie müſſen da nicht gleich denken, daß ich Gym⸗ naſiallehrer werden möchte. Nein, ich möchte mich der akademiſchen Carrière fürs Griechiſche widmen. Es iſt da noch viel zu holen, ſag ich Ihnen! Mein Fach iſt im Niedergange. Es fehlt an Kapazitäten. Ein neues Alexandrinertum iſt ein⸗ geriſſen!

So reißen Sie es um, Herr Lehmann!

Schmeißen Sie die Perrücken zum Tempel hinaus!

Der Moder ſtinkt! Hygiene thut not! Fort mit den Schwartenſchwenkern! Das reine Hellas ziehe ein! Und was iſt der Hellene des Altertums?

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Drittes Buch, zweites Kapitel. 237

Der runde Menſch! Was iſt Hellas? Die Syntheſe von Genuß und Erkenntnis! ... Kürzlich ſtellte ich für einen kleinen Kreis von Freunden, der ſich, ganz in Ihrem Sinne, Herr Lehmann, zu einem Zirkel der Lebenskunſt und Kunſtliebe ver⸗ einigt hat, eine Namenstafel der Spezialheiligen unſrer Religion auf. Sie iſt noch unvollſtändig, aber es fiel mir gleich auf, wie viel Hellenen dabei ſind.

Ach, das intereſſiert mich, der ganze Zirkel ſowohl, als die Namenstafel. Ich möchte nicht aufdringlich erſcheinen, aber vielleicht darf ich Sie bitten, mir Näheres darüber zu ſagen?

Herr Lehmann ſagte das mit dem Tone ernſteſter Anteilnahme und zog die Augen⸗ brauen hoch. |

Stilpe lachte wieder einmal „mit den Ein⸗ geweiden“ und zog ſein Notizbuch.

Über den Zirkel iſt nichts weiter zu ſagen, als was ich ſchon andeutete. Zur Kunſt erhöhtes Leben in jedem Betracht. Die Namenstafel aber, nun, wie geſagt, ſie iſt noch unvollſtändig, aber ich kann Ihnen das Fragment ſchon mitteilen. Alſo:

238 Stilpe.

L Männlichen Geſchlechts:

Anakreon, Ariſtophanes, Alkibiades, (es geht gleich griechiſch an, wie Sie ſehen) Georg Büchner (um Gotteswillen: Georg, nicht Ludwig!) Bizet, Gottfried Auguſt Bürger, Cervantes, Catull, (aber der hat ein Fragezeichen) Michael Georg Conrad.

Iſt das der preußiſche Prinz, der die Dra⸗ men ſchreibt? fragte Herr Lehmann beſcheidenen Tones.

Gott behüte und Gott bewahre! Machen Sie immer ſolche Witze? rief Stilpe. Dafür müßten Sie ſchon eine Bowle ſchmeißen, Herr Lehmann. Sind Sie bereit?

Der Philologe Lehmann errötete und ſagte: Es wird mir ein Vergnügen ſein, denn damit werde ich

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Drittes Buch, zweites Kapitel. 239

ja das Vergnügen haben, auch die andren Herren kennen zu lernen.

Gut! ſagte Stilpe ſchon im Tone des Cöénacle⸗Präſidenten. Dafür werden Sie dann auch erfahren, welches unſer Conrad iſt. Weder Prinz noch Preuße. Alſo nun in der Liſte der Heiligen weiter:

Danton, Demokritos, (ſchon wieder ein Grieche!) | Devrient (Sie wiſſen: Lutter und Wegeners Weinſtube in ; Berlin!) ; Fiſchart, Franz der Erſte von Frankreich, Warum Der? fragte Herr Lehmann. Leſen Sie im Rabelais nach! 1 Grabbe, 9 Meiſter Gottfried von Straßburg, 1 Der junge Goethe, | (Sie wiſſen doch, daß es drei verſchiedene Goethes 4 giebt?) f | Eduard Griſebach, Johann Chriſtian Günther,

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240 Stilpe.

Horaz,

(hat aber zwei Fragezeichen) Theodor Amadeus Hoffmann, Heinrich Heine,

Mozart, Mirabeau, Momus, (unſer Wirt mit der langen Kreide) Müſſet, Mürger, Marat.

Pardon, ſagte Herr Lehmann, deſſen Vater Fabrikbeſitzer war, warum eigentlich dieſe Revo⸗ lutionsmänner?

Sie tranken ſämmtlich gerne und waren ſehr verliebte Leute. Daß wir keine Sozialdemo⸗ kraten ſind, ſehen Sie an Franz dem Erſten.

Rabelais, Rembrandt, Sokrates, Sullivan, | Tſchang⸗hſien⸗iſchung.

Wer iſt das?

Das iſt ein chineſiſcher Pelzhändler, ſpäter Gegenkaiſer, der einmal an einem Tage 50 000 Ge⸗

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Drittes Buch, zweites Kapitel. 241

lehrte hat köpfen laſſen. Ich werde ein Epos auf ihn machen.

Aceh, dichten Sie? rief Herr Lehmann eifrig.

In der That, bisweilen. Sie natürlich auch ?

Ach . . . nein ... ich . .. nen... id kann nicht ſagen, daß ich.. Aber

Sie möchten gerne?

Ich . .. weiß ... nicht

Dieſe Schüchternheit iſt ein ſchönes Zeichen. Übrigens: Dichten, na ja. Das is nu fo ne Sache. Notwendig iſt es nicht, Herr Lehmann. Es . . . aber: Genug!! Wir find mit dem männ⸗ lichen Geſchlechte fertig und es folgt

II. Weiblichen Geſchlechts:

Aſpaſia, (alſo auch hier Griechenland an der Tete!) Die kleine Anna, Anna mit den gewürfelten Strümpfen, Anna Ach —gehn—Se— weg. Ja. . . aber .. . . .. ſagte Herr Leh⸗

mann. 16

242 Stilpe.

Ich verſtehe: Sie kennen dieſe drei Annas nicht. Es ſind vorderhand noch Privatperſonen, und ſie kommen auf mein Konto. Die mit den gewürfelten Strümpfen ſchlägt, glaub ich, in Ihren Geſchmack. Ich ſchenke ſie Ihnen.

Herr Lehmann war ganz verblüfft.

Na, wollen ſie nicht wenigſtens Danke! ſagen? Das Mädchen kommt noch in die Littera⸗ turgeſchichte! Ich habe ſogar ein Sonett auf ihre Strümpfe gemacht! Aber weiter!

Bertha, (Hat zwei Ausrufezeichen. Es iſt aber nicht jene Bertha mit den großen Füßen, die Uhland be⸗ ſungen hat, ſondern auch dieſes Mädchen geht mich an. Ich habe ſie immens geliebt. Und ſie liebt mich heute noch, obwohl ſie einen Gelbgießer ge⸗ heiratet hat. Achten Sie die Treue des weiblichen Geſchlechtes, Herr Lehmann, aber ſehen Sie zu, daß der Andre der Lackierte iſt. Übrigens werde ich jetzt die Privatmädchen weglaſſen, weil ich Ihnen ſonſt fortwährend Kommentare geben müßte; ich werde alſo nur die hiſtoriſchen Damen nennen, nämlich): Mimi Pinſon, Die Königin Pomare,

Drittes Buch, zweites Kapitel. 243

Müſette, Lais, Ninon de l'Enclos, George Sand, Berangers Liſette, Päbſtin Johanna, Fränzchen mit dem Muff, Margarethe von Navarra, La belle heaulmiere, Marion Delorme, Die ſchöne Seilerin, Roswitha von Gentersheim.

Die Liſte iſt noch ſchrecklich lückenhaft. Viel⸗ leicht könnten Sie uns noch ein paar tüchtige Griechinnen empfehlen. Wie hieß doch gleich die, die ſich auszog?

Sie meinen Phryne?

Richtig! Phryne! Dieſes ganz vorzügliche Mädchen! Warten Sie, ich werde ſie gleich ein⸗ fügen. Es iſt eine Schande, daß ich ſie vergeſſen habe. Aber Sie ſehen, wie gut wir Sie brauchen können. Im klaſſiſchen Altertum ſind wir doch ein bischen ſchwach.

Herrn Lehmann war es gar ſonderbar zumute. 165

244 8 Stilpe.

Dieſe Welt war ihm neu, aber er hatte die Em⸗ pfindung, daß es ſehr luſtig in ihr zugehen müſſe. Vor allem fühlte er, daß er im Cénacle Anſchluß an „Weiber“ finden würde, und daran lag ihm viel, denn er hatte es nachgerade bemerkt, daß er von ſich allein aus dieſen Anſchluß nie erreichen würde. Und bei alledem doch dieſe vielen littera⸗ riſchen Aſpirationen, alſo die Gewähr des Höheren! Kein bloßer Sumpf! Sondern, wenn ſchon Sumpf, ſo doch von ganz ungewöhnlicher Art! Ein origineller Sumpf. Ach, darnach hatte er ſich ja geſehnt! Er wollte originell, geiſt⸗ reich ſumpfen. Da bot ſich die Möglichkeit! Alſo zugegriffen!

Er verließ am Arme Stilpes das Haus in der

Magazingaſſe mit dem angenehmen Gefühl, es

fürder nicht mehr nötig zu haben.

Als er am nächſten Morgen erwachte, lag er auf ſeinem Sopha und Stilpe in ſeinem Bette. Da dieſer ihn duzte, mußten ſie wohl Brüder⸗ ſchaft getrunken haben.

Auch einen anderen Namen hatte er erhalten:

Barbemuche, und auf ſeinem Nachttiſch lag ein

völlig mit Porterbierflecken bedeckter Zettel Ya Inhaltes:

. Dr u A

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Drittes Buch, zweites Kapitel. 245

Quittung.

Für weiland Herrn Lehmanns Aufnahme ins niedere Barbemuchiat 50 Mark erhalten zu haben, beſtätigt

i. N. d. C. Schaunard.

N. aner

Drittes Kapitel.

Obwohl das Cöénacle keine moraliſche Anſtalt war, ſo bedeutete es für Stilpe doch einen Halte⸗ punkt und eine Verbindung wenigſtens mit der Fiktion „extra⸗alkoholiſcher Tendenzen“.

Stilpe führte damals kein Tagebuch mehr, denn er hatte überhaupt das „unzüchtige Verhältnis mit Büchern“ aufgegeben, aber zuweilen, wenn er ſich übel fühlte, ergriff er, wiederum in ſeinem Stile von damals zu reden, den „Stecken und Stab des Bleiſtiftes und wanderte gedankenvoll über die ausgebleichte Wüſte weißen Papieres '.

Einige dieſer Notizen ſind geeignet, ein Stück ſeiner Seele von damals erkennen zu laſſen:

Die Gelbmützelei iſt ein ſcheußlicher Unſinn und meiner unwürdig. Aber ich ſelbſt bin

Drittes Buch, drittes Kapitel. 247

meiner unwürdig, denn ich werfe die gelbe Mütze dieſen Idioten nicht vor die Füße, ſondern ich trage ſie noch immer mit einer lachhaften Würde. Heiße jetzt Erſter Chargierter gar. Kann man tiefer ſinken?

6

Ich tyranniſiere dieſe gelbmützigen Banauſen mit vollendeter Kunſt und einigem Genuß, und keiner von ihnen erfreut ſich mehr eines intakten Magens. Nie wurde ſo geſoffen wie unter meiner Agide. Was ſoll man auch mit dieſen Knaben anderes anfangen? Fröſche muß man in den Sumpf treiben.

5

Ich fange an, unzufrieden mit mir zu werden und erwäge den Plan, dieſe gelbe Blaſe zu ſprengen. Wenn ich ſie nur nicht alle ſo tief gründig angepumpt hätte

Und außerdem: Was ſoll ich denn ſonſt an⸗

fangen? Noch ſcheint die Zeit nicht erfüllt zu

248 Stilpe.

ſein, wo ich mich dieſem Herrn Geheimrat Ammer, falls er ſich nicht ſchon zu ſeinen Vätern ver⸗ ſammelt hat, als Stütze des Staates anbieten kann. Oder ſollte ich thatſächlich ſtudieren? Welch eine Idee!

&

Nicht mal für Liebe habe ich genügend Zeit. Wann, frage ich, wann kann ich mit Hingabe und Hinnahme lieben?

Um zehn Uhr zerrt mich der Leibfuchs aus dem Bett und kredenzt mir das Antidotum gegen den Datterich, die liebliche Laſe voll Culmbacher Biers.

Bis zwölf Uhr pauke ich der Füchſe ſummende Herde für die Menſuren ein.

Dann ſalbt mich der Friſeur, und bis um drei Uhr treib ich die braven Knaben in die Lichten⸗ heiner Schwemme.

Hol ſie der Teufel, ich beneide ſie! Denn ſelbſt dieſes Lehmwaſſer macht fie betrunken.

Auch mein Mittagsmahl erledige ich um dieſe Zeit. Es iſt erſtaunlich, wie mäßig ich darin bin.

Drittes Buch, drittes Kapitel. 249

Rohes Fleiſch und Caviar, etliche Eier und Bouillon erhalten dieſen ſchwachen Leib.

Von drei bis fünf der Kaffeelachs; doch iſt das ein leerer Name, denn ich habe längſt den Kaffee durch Liköre erſetzt, und ſtatt des Skates herrſcht der Lederbecher mit den Knobelknochen. Das iſt meine palaeſtra muſarum, denn erſtens erfinde ich neue Knobeltouren und zweitens muß ich beim Mogeln immerhin aufpaſſen. |

Das erſchöpft mich jehr, und ich begebe mich nun auf das ſchwarze Lederſopha in der Kneipe, wo ich der Ruhe pflege, bis das Gas angebrannt wird und die werten Knaben anrücken, um bis früh zwei, drei Uhr von mir vollgeplumpt zu werden. |

Mir ſcheint, das iſt kein Leben nach dem Ge⸗ ſchmacke Apollos und der neun Muſen, oder find es zwölf? Ewig verwechſle ich die Apoſtel mit den Muſen.

Und die Liebe! Sie muß hungern!

Liebe und Alkohol ſind feindliche Mächte. Tra⸗ giſches Geſchick, beiden hold zu ſein.

D

250 Stilpe.

Zuweilen giebt es Menſuren. Ich leugne nicht, daß dieſe kleine Aufregung mich amüſiert.

Trinkt man vorher fünf Cognacs, ſo iſt man erſtaunlich wacker und ließe ſich mit Heroismus den Schädel ſpalten. Nein: Lieber blos die Backe, denn das iſts ja, was den Menſchen ziert, und dazu ward ihm der Verſtand: Der Durchzieher.

Ich glaube, jetzt etwa einſchockmal gefochten zu haben, wenn man dieſen mathematiſchen Wechſel von Schlag und Parade fechten nennen kann. Man gewöhnt ſich daran wie der Pudel ans Baden.

Das Schönſte dabei iſt der Geruch, dieſe aller⸗ liebſte Miſchung von Jodoform, Carbol, Cognac und ein bischen Schweiß. Es wirkt wie ein Aphro⸗ diſiacum auf mich. Aber es iſt möglich, daß ich ein bischen pervers bin. Blutdurſt und Wolluſt! Gieb mir dein Herz zu ſaufen, Laura: Ich liebe Dich! Ä

Die ſchweren Sachen meid ich. Meine Säbel⸗ menſur war nicht eigentlich prima nota. Ich hatte den Cognac überſchätzt. Man muß entſchieden Porter dabei zur Hand haben. Porter und Cognac zuſammen macht ſicher ſehr ſäbelmutig. Man muß nur auch die Doſis richtig bemeſſen.

Ich halte es nicht für ausgeſchloſſen, daß ich

Drittes Buch, drittes Kapitel. 251

ohne Alkohol mehr horaziſchen als achilleiſchen Mut bewähren würde. Dies unter uns geſagt.

ER

Kürzlich focht ein Jüngling auf unfre Waffen, der entſetzliche Angſt hatte, ſich aber doch nicht eher umdrehen ließ, als bis er einen ausgewachſenen Durchzieher hatte. Später geſtand er mir, daß er „aus Liebe“ gefochten hätte.

Wie? rief ich, hat Ihr Gegner ſich erfrecht, Ihr Fräulein Braut zu betaſten?

Aceh nein, ſagte er, meine Braut wünſcht nur, daß ich einen ſchönen Schmiß habe.

So heroiſch ſind die Töchter Thusneldas an⸗ gelegt.

Hörſt du nicht den Eichwald rauſchen?

Be

Als ich noch Bücher las, habe ich irgendwo das Diktum gefunden, daß der Menſch nie ver⸗ zweifeln könne, denn es bleibe ihm auch beim

252 Stilpe.

ſchlimmſten Zahnweh immer die tröſtliche Möglich⸗ keit des Selbſtmordes. |

Ich habe ein Analogon dazu; ich ſage mir: Du kannſt zwar verſumpfen, aber es bleibt Dir immer noch die Möglichkeit, Journaliſt zu werden.

*

Dieſe Verachtung des Journalismus gehörte zum Repertoire des Cénacles, aber Stilpe fing doch bereits an, ſich mit dem Gedanken ſehr vertraut zu machen, daß ihm ſchließlich die Laufbahn des Zeitungslitteraten blühen möchte.

Zwar war er keineswegs an ſeiner dichteriſchen Bedeutung irre geworden; der Nagel ſaß feſt. Aber der Umſtand, daß er jetzt im Grunde nicht einmal mehr Pläne zu künftigen Werken machte, kam ihm doch manchmal zum Bewußtſein, und dann ſagte er ſich: Ich bin eine zerſplitterte Natur, der Fluch des modernen Menſchen laſtet auf mir, daß wir uns nicht ſammeln können; gut alſo, ſo ziehe ich ohne Wehleidigkeit den Schluß daraus und ſchlage mich zu jenen, die ihre Goldbarren täglich ſtückweiſe und halb ausgeprägt vor die Maſſe werfen müſſen.

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r iin

Drittes Buch, drittes Kapitel. 253

Und ſofort malte er ſich eine vollkommene Um⸗ wälzung der deutſchen Zeitungslitteratur aus, die vor ſich gehen würde, wenn er zu ihr gehörte.

Aber, als ihm ein Artikel, den er einmal in den Ferien geſchrieben hatte, zurückgeſchickt wurde, erfaßte ihn gleich wieder der große Ekel vor dieſen „öffentlichen Männern, die ſich zeilenweiſe proſti⸗ tuieren und ſich von ihren weiblichen Berufs⸗ genoſſinnen nur dadurch unterſcheiden, daß ſie nicht gutmütig wie jene ſind.“ Und die Zeitungen nannte er nun wieder „Holzpapierbordells“.

25

Um dieſe Zeit war es, daß Girlinger wieder vor ihm auftauchte.

Girlinger hatte in Zürich und Genf ſtudiert, trug ſchwarze Coteletten, einen Cylinder und immer Handſchuhe. Er war ſehr geſetzt und durchaus ſolide. Sein Plan war eigentlich geweſen, roma⸗ niſche Philologie zu ſtudieren, und er hatte dieſem Fach, wofür er Fleiß und Talent in ſehr hohem Grade beſaß, auch wirklich mit Eifer obgelegen, aber, da ſein Vater darauf beſtand, er müſſe ſich der Juris⸗

254 Stllpe.

prudenz widmen, ſo hatte er ſich ſchließlich dazu verſtanden und trieb nun auch Jurisprudenz mit Eifer und Zielbewußtſein. Ein gewiſſer Zug von echter Reſignation ſtand ihm dabei ſehr gut. Außerlich erlebt hatte er ſo gut wie nichts, aber er hatte viel an ſich gearbeitet.

Als er Stilpen zum erſten Mal in ſeiner gelben Mütze ſah, nahm er ſeinen Cylinder ſehr tief und zeremoniell ab und machte ſogar eine Ver⸗ beugung dabei.

Stilpe empfand das als Hohn und ſtürzte ſich auf ihn:

Ach, der Herr Referendar! Welch ein Cylinder! Wo haſt Du die Sametbürſte, Freund meiner Jugend?

Girlinger erwiderte: Ich ſchlage einen anderen Stil vor, wenn wir uns unterhalten wollen. Übrigens bin ich meinem Examen ferner als Du, denn ich ſtehe im erſten juriſtiſchen Semeſter.

Ich ſchlage vor, daß wir weder von Se⸗ meſtern noch von Examen reden, wenn wir uns unterhalten wollen. Ich ſpreche nicht gerne von gleichgültigen Dingen. Nur zu Deiner Orien⸗ tierung bemerke ich, daß ich immer noch als ſtud. jur. et phil. immatrikuliert bin, ohne indeß

Drittes Buch, drittes Kapitel. 255

von dieſen Würden Gebrauch zu machen. Ich fahre noch immer fort, mir das Leben anzuſehen. Auch trinke ich gerne Spirituoſiſches. Du ſcheinſt mir dagegen ein buveur d'eau zu ſein.

So, Mürger kennſt Du auch?

Es giebt keinen beſſeren Kenner dieſes Klaſſikers. Schade übrigens, daß die Stelle eines Barbemuche in unſerm Côénacle ſchon beſetzt iſt, ich würde ſonſt Dir meine Fürſprache nicht vor⸗ enthalten. Ä

Danke. Ich bin nicht für gelbe Mützen.

Köſtlich! Nein, dieſe Biermütze hat mit dem Cénacle nichts zu thun. Dein Cylinderhut läuft keine Gefahr, wenn Du uns die Ehre und das Vergnügen machen willſt, der definitiven Auf⸗ nahme des Herrn Lehmann in das höhere Bar⸗ bemuchiat beizuwohnen. Morgen Abend um acht auf meiner Bude, wenn ich bitten darf. Oder fürchteſt Du Dich vor oſtpreußiſchen Bowlen

Herr Lehmann iſt wohl ein Idiot?

Nein, ein Idealiſt, aber mit Baarmitteln. Du wirſt Deine Menſchenkenntnis bereichern, wenn Du kommſt, und außerdem einige Chorgeſänge vernehmen, die ſich meiner Verfaſſerſchaft rühmen. Wenn Du aber nicht kommſt, ſo werde ich mich

256 Stilpe.

aus Gram betrinken und in der Betrunkenheit dem Cénacle Deine Flucht nach Griechenland er⸗ zählen.

Warum ſoll ich nicht kommen? Da Herr Lehmann die Bowle bezahlt, bin ich ja ſicher.

Schön, aber Cigarren kannſt Du wenig⸗ ſtens mitbringen.

Ich rauche nicht.

Um ſo beſſer, ſo wirſt Du uns nicht be⸗ rauben. Aber merke Dir die Marke: Henry Clay. Schreib Dirs ins Notizbuch. Eine Kiſte genügt. Schreib aber Clay richtig, nicht wie das Kuh⸗ futter, ſondern fo: C— . I.. . a. . . . So iſts richtig. Du wirft wohl empfangen fein!

Sind Weiber dabei?

Pfui! So einer biſt Du? Daher der Cylinderhut und die Koteletten? Kalipſichore ver⸗ hüllt ihr Haupt.

Wer?

Kalipſichore, die Muſe der epiſchen Tanz⸗ kunſt, wenns gefällig iſt. Sie wird perſönlich da ſein. Im Civil heißt ſie Hulda Ranker. Du kennſt doch das Zeitwort rankern?

Ich glaube, Du biſt betrunken.

Bleibe feſt und glaube getroſt, Du wirft

Drittes Buch, drittes Kapitel. 257

nicht irre gehn. Aber vergiß die Cigarren nicht! Du kannſt auch Huldan ein Corſett mitbringen. Ich habs ihr ſchon lange verſprochen. Doch von Seide muß es ſein!

Girlinger hielt es für gut, ſich nun zu verab⸗ ſchieden.

Total verſumpft! dachte er bei ſich. Und wie der Menſch ausſah! Dieſes angeſchwemmte Fett unter faſt gelber Haut! Dieſe unſtäten, ſchwimmenden Augen! Und ſalopp! In einem Corps ſcheint er nicht zu ſein. Sogar die Wäſche nicht ſauber. Und die Hand feucht. Wie er dahin geht, der richtige Gewohnheitsſäufer, der zwar nicht direkt ſchwankt, aber doch auch nicht richtig gradeaus gehen kann. Natürlich auch Gedanken⸗ flucht. Er kann ſicherlich keine zehn Zeilen logiſch ſchreiben. Delirantenphantaſie. Ein Ragout im Hirnkaſten. Wie viel Schulden mag der Menſch haben!

Girlinger hatte ein ſchönes pſchologiſches Thema für ſein Tagebuch.

&

17

258 | Stilpe.

Stilpes Wohnung lag im Durchgang der großen Feuerkugel (Einſt wohnte Goethe hier jetzt Wir!) drei Treppen hoch und beſtand aus einem mäßig großen Zimmer und einem Alkoven.

Der einzige Fehler dieſer Bude iſt, pflegte Stilpe zu ſagen, daß ſie gerade Wände hat. Schiefe Wände wären ſtimmungsvoller. Aber man beachte die charaktervolle Schäbigkeit der Ausſtattung! Wer angeſichts dieſes pöbelhaften Sophas, dieſer kontrakten Stühle, dieſes ewig wackelnden Tiſches und dieſes immer aufklaffenden Kleiderſargs, von dem infamen „Napoleon in der Schlacht bei Leipzig“ ganz zu ſchweigen, daran dächte, hier die Miete nicht ſchuldig zu bleiben, müßte ein gefühlloſer Barbar genannt werden. Was aber das Bett anlangt, meine Lieben, ſo giebt es keine vorlautere Beſtie als dies. Es quietſcht ſchon, wenn man es an⸗ ſieht, geſchweige denn ... aber das iſt ein rein muſikaliſches Thema.

In dieſer Wohnung alſo, die wirklich abſcheu⸗ lich war, verſammelte ſich am folgenden Sonntage das Cénacle zur Feier der endgiltigen Aufnahme des Philologen Lehmann, der ſoviel Geſchmack am Cénacle genommen hatte, daß er ſich ſelber an den gröbſten Verhöhnungen ſeiner Perſon beteiligte.

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Drittes Buch, drittes Kapitel. 259

Stilpe erſchien eine halbe Stunde vor Be⸗ ginn der Feſtlichkeit. Mit ihm betrat Hulda Ranker das Zimmer. Sie that es mit der Sicher⸗ heit einer Perſon, die mit den Lokalitäten ver⸗ traut iſt. Hübſch war ſie eigentlich nicht, aber ſie hatte das gewiſſe Puſſelig⸗Graziöſe der Leipzigerin, an der der Kenner noch heute die Erbreſte aus jener galanten Zeit bemerkt, in der, wie die Kultur⸗ hiſtoriker ſagen, „die Leipzigerinnen an lockerer Moral mit den Pariſerinnen um die Palme rangen.“

Die Moral Huldas war wohl nie ſehr feſt ge⸗ weſen, aber Stilpe hatte ſie, obwohl er erſt vor vier Wochen dem Mädchen „das Taſchentuch zu⸗ geworfen“ hatte, derart gelockert, daß ſie voll⸗ kommen durchſichtig geworden war. Aber das ſtand Fräulein Hulda gerade gut. Sie gehörte zu den Mädchen, die an Charakter gewinnen, indem ſie an Moral verlieren.

Im Übrigen war ſie ſchlank, von guter Taille, brünett und paſſabel angezogen. Tagüber ver⸗ kaufte ſie Cravatten. Dieſem Umſtand verdankte die geiſtſprühende Scherzfrage Stilpes ihr Daſein: Welcher Unterſchied beſteht zwiſchen Hogarth und mir? Antwort: Jener malte ein Crevettenmädchen,

ich bedichte ein Cravattenmädchen. 17¹

260 Stilpe.

Aber mit dem Dichten ſah es auch in dieſem Falle windig aus. Außer dem verwegenen Ritornell:

O holde Hulda! Ganz ohne Makel wärſt Du, reimteſt Du Dich nicht Auf Ludwig Fulda

exiſtierte keine Zeile, zu der Fräulein Ranker Pathe geſtanden hätte, und auch dieſes zierliche Stachel⸗ poem verdankte ſeine Entſtehung mehr Stilpes Antipathie gegen „dieſen ſchreibenden Kapitaliſten“, als ſeiner Liebe zu der braunen Verkäuferin, ganz abgeſehen davon, daß es eine von den auch ſonſt nicht ſeltenen Improviſationen ſeiner Skandier⸗ kunſt war, die ſich auf einen Reimzufall zurück⸗ führen ließen. |

Laß die Rollfahnen runter, Mädchen, und mach Licht! kommandierte Stilpe. Es giebt hier in der Umgegend keuſche Augen, die ſehr lüſtern ſind. So! Die Beleuchtung iſt mangelhaft, aber das kommt Deinem Teint zugute. Im Schumme⸗ rigen wirken die Weiber überhaupt am beſten. Daher die vielen Rendez⸗vous bei der Gaslaterne. Das elektriſche Licht wird die Rendez⸗vous ſtark

Drittes Buch, drittes Kapitel. 261

reduzieren, und Herr Siemens iſt für die Moral ſehr viel wichtiger, als der Sittlichkeitsverein.

Quatſch nich, Käfer. Heute wird ſo wie ſo wieder furchtbar geredet werden.

Sehr richtig! Aber auch getrunken, meine braune Taube, ja ſogar gegeſſen, und zwar keines⸗ wegs Schweinsknochen mit Klößen, ſondern fabel⸗ hafte Sachen. Außerdem wirſt Du drei neue Männer kennen lernen und zwar 1) jenen Leh⸗ mann, 2) einen Herrn im Cylinder und 3) einen Cylinder mit einem Herrn.

Mit Deim närrſchen Zeig! (Huldas Aus⸗ ſprüche müſſen immer Leipzigeriſch geleſen werden, auch wenn ſie deutſch wiedergegeben ſind.)

Ich rede ernſt wie immer. Der dritte Mann iſt nämlich der kleine Auguſt, den Kenner trotzdem Auguſt den Starken heißen.

Warum denn?

Nicht blos im Biceps liegt die Kraft des Manns

Komm, ſag mir, warum er Auguſt der Starke heißt!

Ich werde mich hüten, denn ich liebe Dich. Nur ſoviel: Dieſer kleine Mann, der ſich durch einen hohen Cylinder zu recken trachtet, iſt ein

262 Stilpe.

fulminanter Muſikus und würde ſchon viele Opern geſchrieben haben, wenn er nicht immer trinken müßte. Zwar behauptet er, ich wäre ſchuld daran, weil ich ihm den Text nicht ſchreibe, den ich ihm verſprochen habe. Aber das iſt eben jene Schlange, die ſich in den werten Schwanz beißt: Ich dichte nicht, weil er nicht komponiert, und er komponiert nicht, weil ich nicht dichte. Ergo müſſen wir beide ſaufen.

Gag doch nicht ſaufen, das klingt fo ruppig.

Kann ich dafür, daß die Wahrheit ein Raubbein iſt?

Du biſt eins!

Und dennoch liebt mich Deine Sanftheit! Aber es klingelt! Schwing Dich hinaus, Mädchen!

Es war Herr Lehmann mit drei Packträgern. Er machte eine tiefe Verbeugung, der man die Tanzſtunde anſah, vor Hulda und begrüßte Stilpen ehrerbietig.

Schön, mein Engel, ſprach dieser, ich ſehe, Du haſt Alles gut in die Wege geleitet. Nun laß mich das Auspacken überwachen. Setz Dich zu dieſem ſchlanken Mädchen, aber halte Dich in den Grenzen der Wohlanſtändigkeit. Noch biſt

Drittes Buch, drittes Kapitel. 263

Du nicht in der Gemeinde derer, denen Alles er⸗ laubt iſt.

Und nun kommandierte er:

Der die Flaſchen hat, vortreten! ... Ah! Sie! Gut gewählt, der Mann. Er iſt würdig, volle Flaſchen zu tragen! Lieben Sie Nordhäuſer? Schon gut! ... Nun packen Sie aus! Vorne ran die dicken Flaſchen! Gut! ... Wieviel? Sechs? Gut! . . . Jetzt die kleinen ſtämmigen! Das müſſen vierundzwanzig ſein! Stimmts? Gut! Sehr gut! . .. Jetzt die rothalſigen! Süße Kerlchen, was? ... Zehne? Da fehlen zweie! Menſch, Sie werden doch nicht? Ah, da ſtrecken ſie ja die roten Hälſe vor. Zu den anderen! Schön ausrichten! Gut! Ganz gut und wacker! ... Sie waren gewiß Unteroffizier. Natürlich! Es lebe der Reſerve⸗ mann! ... Aber jetzt die Gelbkapſeln, die feier⸗ lichen und ſteifen Gelbkapſeln! ... Drei! Ja, ja, es werden nicht mehr. Aber reichen Sie mir mal eine. Schön. Ich bin zufrieden. Laſſen Sie ſich auszahlen bei dem Herrn dort. Er wird Ihnen auch ein paar Cigarren geben.

Jetzt der zweite mit dem Freßkober und dem Geſchirr! ... Umgotteswillen vorſichtig! Den Bowlenbauch mitten auf den Tiſch. Die Gläſer

264 Stilpe.

wie ein Kranz herum.... So! Sie haben Talent, alter Herr... Nun die Teller. Aber da ſoll dieſes Fräulein helfen ... Hulda, arrangiere das Tellerweſen. Und nimm Dich auch der Meſſer und Gabeln an. Und nun: Was ruht im werten Schrein!? Gut! ... Gut! . .. Es iſt Alles in rechtem Verhältnis, ſowohl das, was dem Meere entſtammt, wie das vom feſten Lande. Die ganze Geographie iſt vertreten, von der Adria bis zum ſchwarzen Meere ... Ja, die Eiſenbahnen find ein rechter Segen, nicht wahr, Miſter? ... Und nun laſſen Sie ſich gleichfalls von dem verehrten Gaſtgeber auslohnen. Auch Sie haben drei Cigarren extra verdient.

Und nun der Düſtere in der Ecke mit dem ſchwarzen Sarg! Heran und ausgepackt! Wie? Ein Cello? Seit wann zählt das zu den Viktualien? ... Ah, Du willſt kniegeigen? Schön! Placet! So kann ich mir mein Bettduo ſparen.

Die Packträger traten ab.

Kaum waren ſie draußen, ſo hörte man in einer Art Baßfiſtel kreiſchen: Infames Rindvieh! Haben Sie keine Augen? Das Luder hat mir die Galloſchen abgetreten!

Und herein ſtürmte ein kleiner Menſch mit

a

Drittes Buch, drittes Kapitel. 265

kurzem weißen Stoppelbarte, kaum einen Meter hoch, aber mit einem hohen Röhrenhute bedeckt. Er ſchrie immer noch und fuchtelte dabei mit ſeinem Regenſchirm herum: Meine rechte Galloſche! Dieſes Trampeltier! Wie? Ochſe! Direkt auf die Galloſche! Ich gehe ſofort!

Aber Auguſt! Siehſt Du die Dame nicht? klagte Stilpe. Und ſofort war der kleine Mann friedlich.

Hehe! Warten Sie, mein Fräulein, gleich komm ich und lege mich Ihnen zu Füßen. Blos den Hut und Schirm und Mantel, puh, dieſen zentnerſchweren Mantel, dieſe Rüſtung, Luder, 3

Herr Lehmann ſtürzte herbei und nahm dem Kleinen die Garderobe ab.

Sehr nett, Herr ...

Leh. .. Barbe . . . (Herr Lehmann wußte im Cénacle bis jetzt noch nicht, wie er hieß).

Sehr freundlich, Herr Lehbarb!

Stilpe wieherte vor Entzücken.

Gottverdammich, was heulſt Du wie eine Lokomotive! Willſt Du mich wahnſinnig machen? Kennſt Du keine en Ich gehe ſofort!

266 Stilpe.

Aber Auguſt! Du haſt Dich dem Mädchen unmer noch nicht zu Füßen gelegt.

Oh, oh, oh, oh, Dein Geſchrei! Dein Ge⸗ ſchrei! Aber jetzt liege ich ſchon!

Und er fuhr auf Hulda los und ergriff ihre Hände und machte dabei eine Verbeugung, ſo daß er ſie niederzog wie einen Plumpenſchwengel.

Ach, die reizenden warmen Händchen! Uh, uh, uh, ti, ti, ti, ſo warme kleine wan Mm, mm, mm! Heißen? 5

Hulda heißt das Mädchen, bemerkte Stilpe.

Hab ich Dich gefragt? Weg! Weg! Kommen Sie, Huldachen, zu mir aufs Kanapee, u dachen.

Er ſchleppte ſie förmlich zum Sopha, auf das er ſich nach türkiſcher Art ſetzte, weil er europäiſch ſitzend mit den Fißen nicht zum Boden dan hätte.

Das Zimmer war jezt eigentlich Pe voll, aber es kamen noch ſieben Perſonen, nämlich:

1) Girlinger, der ſich überaus ſchüchtern und mit der ganzen Ratloſigkeit eines ſtark kurz⸗ ſichtigen Menſchen benahm, dem die Brille angelaufen iſt. Die Cigarren hatte er mit⸗ gebracht; 1

Drittes Buch, drittes Kapitel. 267

2) Stöſſel, der diskret den Corpsſtudenten zu markieren bemüht war und übrigens etwas blaſiert ausſah. Mit ihm

3) Fräulein Grete Gramm, genannt das allitte⸗ rierende Mädchen, eine etwas üppige Blondine, phlegmatiſch, aber unendlich verliebt. Übrigens eine „Bürgerstochter“; |

4) Wippert, der jetzt einen ſehr ſchönen dichten Schnurrbart hatte und nicht ganz geſchickt den ungezwungenen Weltmann ſpielte. Mit ihm

5) Fräulein Clara Winkler, ein ſehr lebhaftes rotblondes Ding, das draußen am Carola⸗ theater Choriſtin war und den braven Wippert ein bischen tyranniſierte;

6) Barmann, der immer noch wie ein Knabe aus⸗ ſah, obwohl er eine Menge Schmiſſe auf der linken Backe hatte und ungemein ſelbſtbewußt auftrat. Dieſer mit

7) Fräulein Anna Obersdorfer. Das war eine ſehr kleine, flinke Perſon mit großen lebhaften ſchwarzen Augen und braunen, lockigen Haaren, die die Stirne ganz verdeckten. Sie hatte etwas ſpätzinnenhaftes in ihrer hupfigen Hurtigkeit. Auch „Bürgerstochter“, aber ſchon eigentlich nicht mehr ganz.

268 Stilpe.

Die elf Perſonen wurden folgendermaßen plaziert:

Sopha: Linke Lehne: Stöſſel. Rechte Lehne: Barmann. Neben Stöſſel das allitterierende Mädchen. Neben Barmann die kleine Anna. Mittelplatz: Der kleine Auguſt mit Hulda.

Dem Sopha gegenüber, auf Stilpes Koffer (einſt war er, mit Schmetterlingen angefüllt, in Südamerika geweſen), Wippert und die rote Clara.

An der linken Schmalſeite des Tiſches Girlinger, an der rechten Stilpe. 6

Herr Lehmann ſtand, gelehnt an ſein Cello⸗ gehäuſe, zwiſchen Tiſch und Alkoventhür.

EN

Wenn vier Leipzigerinnen mit ſechs jungen Männern und einem alten Herrn von der Art des kleinen Auguſt zuſammen ſind, ſo geht es nicht leiſe zu, ſondern ſehr ſchnabellaut wie in einem Spatzenſchwarme, der ſich auf einem vollen Kirſch⸗ baume niedergelaſſen hat. Als ob ſie vier Wochen in ein Trapiſtenkloſter eingeſperrt geweſen wären, ſchwatzten die Mädchen, und die Cénacliers thaten das

Drittes Buch, drittes Kapitel. 269

Gleiche. Aber der Quetſchdiſkant des kleinen Auguſt dominierte deutlich. Allen Mädchen gleichzeitig galante Komplimente zu ſagen, aber zugleich die jungen Herren mit Grobheiten zu regalieren, ſchien ſein Programm zu ſein. Die andern ſpielten nur ihr Inſtrument, er, der Kapellmeiſter, beherrſchte die Partitur. Es war wirklich eine Leiſtung. Gir⸗ linger, neben Herrn Lehmann der einzig Schwei⸗ gende, duckte ſich unwillkürlich etwas in dieſem Geſtöber von Worten.

Da erhob ſich Stilpe mit der gelaſſenen Ele⸗ ganz eines Hofmarſchalls und ſprach:

Mädchen und Freunde! Der Wohllaut eurer Stimmen iſt lieblich, und ich möchte ihm gerne noch ſtundenlang lauſchen. Aber die Pflicht hebt ihren ernſten Zeigefinger. Wir haben heute eine Sache von Wucht und Wichtigkeit vor; laßt uns ſogleich daran gehn! Es gilt, dieſen Herrn (treten Sie vor, Novize !), der ſich in den niederen Probe⸗ graden nicht ganz übel benommen hat, nun endlich und formell zu entlehmannen. Seht ihn euch noch einmal prüfend an und laßt euch nicht den Blick durch dieſe Flaſchen und Viktualien trüben, indem ihr euch die Frage vorlegt: Darf er der Schwelle bittend nahen?

270 Stilpe.

Er darf! riefen die Dreie dumpf.

Aber natürlich! ſagte die kleine Anna. Warum ſoll er denn nicht dürfen? S is ja n ganz netter Herr!

Colline, bind Deiner Göttin das Gehege der Zähne zuſammen; ſie macht den Novizen eitel. Wir aber wollen beginnen!

Novize! Beherrſchen Sie die glänzenden Verſe, in denen Sie zu uns zu reden haben?

Herr Lehmann verbeugte ſich und ſagte: Ja!

Novize! Schwören Sie, demütig und ohne Murren Alles zu vernehmen, was man Ihnen jetzt ſagen wird?

Herr Lehmann verbeugte ſich und ſagte Ja!

Novize! Fangen Sie an!

Herr Lehmann trat einen Schritt vor, legte beide Hände kreuzweis über die Bruſt, machte in dieſer türkiſchen Haltung eine ganz tiefe Verbeugung, ließ dann die Hände an den Seiten herabſinken und deklamierte, wirklich nicht übel, was folgt:

Wie Runkelrübenzuckernachgeſchmack Liegt mir im Innern ſchlammig ſchwappelig

Drittes Buch, drittes Kapitel. 271

Ein ekelhaftes je ne ſais quoi. Oh welch ein Bandwurm quält mich Unglücks⸗ wurm?

Ich frug herum in manchem braven Haus, Deß Fenſter aus beſtrichenem Glaſe ſind Und deſſen Hausflur rot beleuchtet iſt,

Ich.

Da rief die kleine Anna: Schämen Sie ſich, Herr Lehmann!

Stilpe war empört:

Colline! Wenn Dein Ideal nicht den Schnabel hält, mußt Du die Bowle . .. aber ich will nicht vorgreifen. Weiter, Novize!

Herr Lehmann fuhr fort:

Ich fragte manche blonde Pythia

(Auch manche braune, wie es grade kam):

Setz auf den Dreifuß Dich und ſage mir

Wie heißt der Bandwurm, der mich ſo zerſtört?

Doch da kein Dreifuß gegenwärtig war, Ward kein Orakel mir. Ich zahlt und ging.

Barmann mußte, während Herr Lehmann eine Pauſe machte, der kleinen Anna eine Serviette um

272 Stilpe.

den Mund binden. Aber der kleine Auguſt war außer ſich vor Vergnügen, und er ſchrie: Er zahlte und ging! Hehehe! Warum war auch kein Drei⸗ fuß gegenwärtig!? Hulda! Warum?

Stilpe machte: Pit!

Herr Lehmann fuhr fort:

Da fuhr aus grauer Wolke breit und ſchräg Ein Balken Licht in mein gequältes Herz,

Und eine linde Stimme ſprach: Kameel!

Zu viel des Leders fraßeſt Du, darum

Biſt Du ſo ledern ſelber ganz und gar —: Geh hin, purgiere Dich des Pergaments,

Stoß aus den Wuſt von Chi und Phi und Pfi Und zähle fürder keine Kommas mehr

In alten Schwarten, denn ich ſage Dir,

Das iſt der Wurm, der Dich zum Wurme macht.

Und ich purgierte mich. Das Seminar Mied ich wie böſer Gaſe üblen Stank Und wälzte keine Folianten mehr Und lauſchte nicht mehr mit gedehntem Ohr Dem Oberkommazähler, und ich ward Beinah ein Menſch.

| So ſteh ich hier am Thor Und klopfe mit gekrümmtem Finger an:

Drittes Buch, drittes Kapitel. 273

Laßt mich, nicht in den Tempel, ſag ich, oh, Nein laßt mich in den Vorhof blos hinein, Daß, ein beſcheidner Wandler, rund herum Um des Cénacles wunderbaren Bau

Ich leiſe ſchreiten darf und hie und da Hinlegen auf der Schwelle Marmorweiß Ein kleines Opfer der Ergebenheit.

Herr Lehmann ſchwieg und machte wieder eine ganz tiefe Verbeugung.

Stilpe erhob ſich mit Prieſterwürde und ſkan⸗ dierte:

Die ihr Adepten ſeid, ſprecht euern Doppelvers!

Und Barmann brummte: Ein ſehr verwegener Knabe, in der That! Weinreben nehmt und ſchlagt ihn auf den Steiß!

Herr Lehmann erſchrak und trat einen Schritt zurück. (Denn er hielt Alles für möglich.)

Wippert aber rief:

Legt mir den Jüngling in ein Lexikon

Als Leſezeichen, klappt das Buch dann zu!

Herr Lehmann ſchüttelte betroffen das Haupt. 18

274 | Stilpe.

Und Stöſſel im A⸗bäh⸗Tone:

Es müfft der Menſch. Er riecht nach Waſſerfleck. Desinfiziert ihn mir mit Bibergeil! |

Herr Lehmann wollte beinahe ärgerlich werden, er erhob ſchon die Arme. Aber Stilpe jah ihn durchdringend und zornig an. |

Dann Sprach er jelbit:

Zu ſtrenge ſeid ihr, und ich tadle euch.

Seht ihr die Flaſchen nicht, das Roaſtbeef nicht?

Oh lenkt von dieſer bangen Menſchlichkeit

Den ſtrengen Blick zu dieſem Caviar |

Und ſeht der Sprotten goldne Enge an,

Der Flundern breite Liebenswürdigkeit, Und ach, den Rollmops, wie er zärtlich blinkt

Im Zwiebelkranze, pfeffereingekörnt.

Seid milde, milde, milde, ſag ich euch,

Wie dieſer Thunfiſch, der im Ole ſchwimmt,

Denn wiſſet, was in Silber rundlich hier

Priapiſch leuchtet, iſt kein leerer Wahn,

Nein: Echt Straßburger Gänſeleberwurſt!

Und alſo ſag ich: Wer kein Unmenſch iſt, Entlehmannt dieſen Lehmann, und mein Wort

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Drittes Buch, drittes Kapitel. 275

Heißt: Heil Barbemuche, tritt in den Vorhof ein, Und nimm aus Deiner Weſtentaſche das Recept, Wie man die Bowle, die Imanuel

Der große Kant erfunden, weislich miſcht!

Bei dieſen Worten erhoben ſich die drei Cena⸗ cliers mit ihren drei Mädchen und riefen ſelbſechſt ſehr laut und ſtürmiſch:

Es lebe Barbemuche! Er mache die Bowle! Heil! Hurrah! Landerirette!

Der kleine Auguſt aber ſchrie: Komm Se her, Herr Barbemuche, gäm Se mir n Kuß! Nee, warten Se mal, lieber nich! Gäm Se Huldan n Kuß! Und Hulda giebt mirn wieder, wenn Stilpe niſcht drwider hat.

Und jetzt gings los. Stilpe ſang mit ſeiner grauſamen Stimme das Lied von der Königsberger Bowle:

Braun, braun, braun,

Braun iſt die Bowle, wie was? Wie was? Wie was?

Ach, Kinder, ſeid moraliſch,

Die Bowle, die iſt naß,

Die Bowle, die iſt naß. 18*

276 Stilpe.

Heda, rief Wippert, die Mädchen beengen uns. Sie ſollen hinter den Stühlen ſtehn und uns bedienen. Wir ſind die Herren mit dem Peitſchenſtiel!

Du biſt wohl verrückt, rief ſeine rote Clara, wie er ſich mauſig macht!

Nein, er hat recht! ſchrie der kleine Auguſt. Alle Mädchen raus! Raus! Mädchen ſind gut, aber erſt trinken! Dann könn ſe wieder rein! Zu enge! Zu enge! |

Er hatte ſchon fünf Glas getrunken.

Stilpe ſchlichtete das Problem ſalomoniſch:

Es iſt zu enge, das iſt klar. Aber die Mädchen in den Alkoven zu ſperren, wäre grauſam und gefährlich. Ich ſchlage dies Arrangement vor: Barbemuche und mein Freund Girlinger ſchieben dieſen köſtlich beladenen Tiſch in die Ecke, und wir legen uns in den Lichtkreis dieſer Petroleumampel auf die Erde. Hulda, hol die Kiſſen rein! So wollen wir ſchlemmen und ſchlampampen nach griechiſcher Art, lang liegend wie Schläuche, immer ein männlicher neben einem weiblichen.

Ja, liegen, liegen! rief der kleine Auguſt. Hulda, kennſte Hamletn?

Und ſie lagerten ſich griechiſch, wie Schläuche.

Drittes Buch, drittes Kapitel. 277

Das allitterierende Mädchen nahm ſich beſonders gut aus.

Sie ſind das ſchönſte Kanapee im Möbel⸗ magazine des Herrn, ſagte der kleine Auguſt.

Herr Lehmann mußte anſtatt eines Mädchens ſein Cello neben ſich legen und die wichtigſten Reden, zumal, wenn ſie rhythmiſch wurden, mit leiſem Saitenrupfen begleiten.

Es entwickelte ſich ein unbeſchreiblicher Lärm, zumal dann, als die Delikateſſen, von denen Stilpe übrigens einige beiſeite gebracht hatte, aufgezehrt waren und die Henry Clays dampften.

Der kleine Auguſt wälzte ſich von Mädchen zu Mädchen und ächzte nur noch, wenn er nicht trank. Achzend entwarf er verführeriſche Schilderungen ſeines Schlafrockes, den ihm Richard Wagner geſchenkt haben ſollte: Beſucht mich doch mal, Kinder, mein Schlafrock iſt aus Seide, hehe, ſo mollig, und meine Badewanne iſt auch nicht aus Pappe, nee!

Wenn aber jemand zur Unzeit lachte, wurde er ungeheuer wild und brüllte Schimpfworte der un⸗ erhörteſten Art. Manchmal ſang er auch Melodieen aus ſeinen vielen ungeſchriebenen Opern, die alle höchſt erotiſcher Natur waren und im Oriente ſpielten. '

278 Stilpe.

Hehe, was hat der Meiſter geſagt? Gottſei⸗ dank, hat er gejagt, daß der kleine Auguſt ſäuft, ſonſt müßten wir uns einpacken laſſen.

Und deshalb ſäufſt Du ja blos, Auguſt, ſagte Stilpe. Er ſäuft aus Liebe zu Wagner, weil er den nicht umbringen will. Es lebe Auguſt der Großmütige!

Halts Maul, Stilpe, ächzte Auguſt, Du biſt die frechſte Canaille, die ich kenne, aber ich liebe Dich, ich liebe alle frechen Canaillen. Hulda, klopf mir den Buckel ab!

Es dauerte nicht lange, und Alle waren be⸗ trunken, ſogar Girlinger, der ſich abwechſelnd einen Rabuliſten nannte und provengaliſche Minnelieder ſang.

Barmann hielt Volksreden, wobei er fortwährend wiederholte, nicht Bebel ſei Präſident, ſondern Bismarck. |

Auch der kleine Auguſt ſchrie, daß er Bismarck liebte, nur wäre es ſchade, daß er kein Sachſe wäre.

Wippert lag ſehr lange auf den Knieen und küßte der roten Clara die Schuhe. Dazu ſang er:

Lang, lang iſts her.

Drittes Buch, drittes Kapitel. 279

Stöſſel entwickelte Ideen über das Salondrama, das nur geflüſtert werden dürfte und wobei man, wie jetzt Operngucker, Hörröhren im Theater ver⸗ leihen würde.

Das Flüſtertheater iſt das Theater der modernen Nerven, das Theater der intimſten Seelendüfte. Seelengeſäuſel! Wolluſtgewiſper! Sanft! Ganz ſanft! Hauch!

Und er flüſterte ſelber nur noch ſo leiſe, daß ihn ein Menſch mehr verſtand.

Aus reiner Oppoſition ſtellte Stilpe das Ideal eines „Schmettertheaters“ auf.

Nur noch Verſe, lang hinhallende Verſe wie Fanfaren, Poſaunenſtöße, die wie lange Donner machtvoll ausrollen. Z. B. ſo, und er brüllte mit voller Lungenkraft:

Ein Meer von Bowle, Dir, Natur, gebracht, in langen, langen, langen Zügen, ohhh!

Sonſt ſprach man mehr von unlitterariſchen Dingen, und Stilpe ſtellte ſogar die Behauptung auf, es ſei eine Schande, an Litteratur auch nur zu denken, fo lange der Magen noch geſund ſei.

Nur Magenkranke dichten. Wer geſund iſt ſäuft. Und das iſt der Grund unſres Saufens:

280 Stilpe.

Wir ſaufen, um auf dem Umwege über eine Magen⸗ krankheit einmal Dichter werden zu können.

Unendlich oft ſank man ſich in die Arme, zu⸗ mal, als die Mädchen eingeſchlafen waren. Die dicke Grete hatte ſich mit Hulda direkt ins Bett gelegt, und die kleine Anna glaubte offenbar, ſie wäre zu Hauſe, denn ſie zog ſich bis aufs Hemd aus und legte ſich aufs Sopha. Herr Lehmann durfte ihr ein Schlummerlied auf dem Cello geigen, und ſie küßte ihn dafür recht herzlich, wenn auch im Schlafe. Die rote Clara hatte ſich nur die Haare aufgemacht und lag dem kleinen Auguſt im Schoße, der aber keinen Sinn mehr dafür hatte und ein paar mal rief: Nehmt doch die Apfelſine weg!

2

Früh um drei ſchlief Alles. Nur Stilpe ſtieg zwiſchen den Schlafenden hin und her und trank die Bowle leer. Die Betrunkenheit hob und ſenkte ſich in ihm. Ihm war, als führe ihn etwas im Kreiſe herum. Zuweilen lallte er:

Wie dieſer Lehmann ſchnarcht!

Drittes Buch, drittes Kapitel. 281

Dieſer Adiot iſt ganz fi. Warum? Er hat feine Kniegeige.

Und dieſer laſterhafte Greis! Glücklich ift der Halunke. Warum? Er glaubt an Richard Wagner.

Und dieſe lieben Knaben, eingeſchloſſen Gir⸗ linger. Unbeſchreiblich zufriedene Burſchen! Warum? Sie haben ihre Frauenzimmer oder ihren Cylinder.

Dahingegen ich!

Ich muß über ihre ſchnarchenden Leichen ſteigen und kann nicht ſchlafen.

Ach, was bin ich elend! Ach! Ach! Ach! Heulen! Heulen! |

Warum iſt mir jo übel? Warum geht Alles in mir auseinander?

Die Schulden! Die Schulden! Überall Schul⸗ den! Und, äh, ich weiß nicht recht, verlohnt ſich denn das Alles? Ich. .. rutſche ja... ich rutſche ja

Plötzlich gab er Girlingern einen Stoß mit dem Fuße.

Girlinger lallte: Drück mich nicht ſo, Johanna!

Stilpen erfaßte ein wütender Zorn: Alſo auch dieſer Häring ſeufzt! Und er ſtieß ihn ** einmal: Girlinger!

Was denn?

282 Stilpe.

Was hältſt Du eigentlich von mir! He? Nicht wahr, ich bin ein Lump und kuhdumm!?

Verſumpft, ganz verſumpft, total.

So, ſo? Reizend! Haſt Du gar keinen Reſpekt vor mir mehr? Wie?

Laß mich ſchlafen, ich muß ſchlafen. Die Cigarren ſind ſehr teuer.

Ob Du mich für dumm hältſt!

Ja, ja doch, meinetwegen, Du biſt ja natür⸗ lich dumm. Das ewige Saufen... Du mußt ja verblöden. Und außerdem... geſchmacklos Ah . .. Ich muß ſchlafen.

Natürlich: Dumm! . . . Ja, ja, das Saufen! Geſchmacklos ... Freilich. Blöde. Hm... Mir iſt ſelber ſo ... Ah, wie die Mädchen ſchnarchen | | |

Er ſtellte ſich vor die kleine Anna hin: Wie rund ſie iſt. Hm. Feſt. Warm. Und ich ſtehe da wie ein Klotz. SH... ih... habe nicht mal mehr Luft an dem. Ich... Gott! Gott!.

Er ſah ſich ſcheu um und fuhr ihr mit der Hand über die Bruſt, aber wie Rn zog er die Hand ſchnell zurück.

Plötzlich warf er ſich mitten ins Zimmer.

Ein Sauleben! Ein Sauleben! Alles hin!

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Drittes Buch, drittes Kapitel. 283 Alles leer! Fertig! Fertig! Jetzt ſchon fer⸗ !

Er lachte laut auf und trank den Reſt der Bowle aus dem Löffel.

Und was für eine Art Beſoffenheit das iſt. Ich werde jetzt moraliſch, wenn ich bezecht bin. Köſtlich! Über alle Begriffe köſtlich! Das ift der Finger Gottes! Ich ſoll in mich gehen! Ein aus⸗ gezeichneter Fingerwink! Eine ſublime Ironie!:

Halt ein mit dem Suff, ſonſt kriegſt Du die Moral!

Man kann nicht deutlicher ſein. Oh ja, es giebt eine Vorſehung, meine Herrſchaften!

Ah, pfui Teufel

ID

Viertes Kapitel.

Eine kalte Märznacht; Regen, Wind und zer⸗ fetzt jagende Wolken. Das Theater iſt aus. Karl Häuſſer aus München hat den Falſtaff gegeben, und trotz des abſcheulichen Wetters iſt es den Leuten, die aus dem Theater kommen, behaglich zu Mute. Auch Girlinger iſt darunter. Eben ſpannt er den Regenſchirm auf, um ſeinen Cylinder und den neuen langen engliſchen Überzieher zu ſchützen, da tritt Stilpe an ihn heran. Er hat keinen Über⸗ zieher, und ſtatt der gelben Mütze ſitzt ihm ein alter Schlapphut auf dem Kopfe. Seine Hoſen find unten ausgefranzt, ſeine Stiefel zerriſſen, ſtatt Kragen und Shlips trägt er ein wollenes Hals⸗ tuch.

Girlinger erſchrickt, wie er ihn ſieht, und macht eine Bewegung, als wolle er davon.

Drittes Buch, viertes Kapitel. 285

Aber es iſt ja dunkel, Herr Referendar! Du wirſt Dich nicht kompromittieren, und ich werde Dich nicht einmal anpumpen, denn die zwei Mark, die Du mir ſpenden würdeſt, helfen mir nichts. Aber reden möcht ichen bischen mit Dir. Mir iſt, als hätten wir uns eine gute Weile nicht geſehen.

Ich wußte nicht, daß Du noch hier biſt. Ich glaubte... |

Was glaubteſt Du? Geniere Dich nicht!

Nun, ich dachte, Du wäreſt vielleicht...

Nach Amerika? Oder zur Schutztruppe?

Ich meinte, Du wäreſt fort.

Fort! Sehr gut! Aber ſiehe, noch iſt er da! Ja: Bleibe im Lande und nähre dich redlich, wenn Du kein Reiſegeld Haft, mein Sohn.. Wo gehſt Du hin?

Nach Hauſe.

Ah ſo! Nach Hauſe. Das klingt unge⸗ mein nett. Sag mal, Du haſt doch einen Haus⸗ ſchlüſſel?

Gewiß.

Schön. Dann kannſt Du mir wohl ein paar Viertelſtunden ſchenken?

Eigentlich habe ich keine Zeit, da ich morgen

286 Siilpe.

Sitzung habe und mich noch etwas in den Akten umſehen muß.

Sitzung! Akten! Nein, daß ich mit ſolchen Würdenträgern umgehen darf! Wenn Leipzig ruſſiſch wäre, wärſt Du ſicher ſchon Beamter der achten Rangklaſſe.

Ja, wenn Du mich verhöhnen willit...

Nein, Girlinger, wirklich nicht. Nee. Ich bin fo matſch .. Weißt Du, meine Stiefeln haben nur noch nominell Sohlen, und Abendbrot hab ich auch noch nicht gegeſſen. Da ſollte ich höhnen? Nein, ich höhne nicht.

Aber, Menſch, wovon lebſt Du eigentlich!

Sei unbeſorgt: Louis bin ich nicht, obwohl . . . na, gleichviel. Du warſt im Theater?

Ja.

Ich auch.

Wie? Obwohl Du kein Geld zum Abend⸗ brot

Ja, die Kunſt, mein Lieber! Die Kunſt! Ich bin nämlich Aushilfsſtatiſt. Haft Du mich nicht bemerkt? Gelbe Schlappſtiefel und einen grünen Buſch. Ho! Wenn nur die Wämmſer nicht jo ſtänken ... Aber, was: Der Häuſſer, das iſt ein Kerl! Wie? Es iſt gemein von Heinrich,

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3

Drittes Buch, viertes Kapitel. 287

dieſen Falſtaff am Schluſſe jo zu behandeln... man könnte heulen! Überhaupt: Das ganze Stück wird zur Tragödie durch dieſen Schluß. Und dieſe Parkett⸗ und Galleriewanzen fühlen das gar nicht. Oder etwa Du? Oh nein! Welch eine Genugthuung,

daß das fette Laſter ſein Teil kriegt. Widerlich.

Auch Shakeſpeare war ein kluger Herr und ver⸗ ſtand das Geſchäft wie Ludwig Fulda. Ah! Mich hats gejuckt, laut aufzuſchreien und dieſem grünen Tugendprotz von Heinrich meine . ee an den Kopf zu werfen.

Ein angenehmer Effekt.

Ja, aber er hätte mich meine künſtleriſche Poſition gekoſtet. Nein, ich darf Shakeſpearen keine Gemeinheit vorwerfen. Ich bin auch ein rechnendes Schwein. Mangelnde Abendbrote demoraliſieren.

Girlinger fing an, einen pſychologiſchen Biſſen zu ahnen. Es mußte wohl intereſſant ſein, das Problem der Verlumptheit an einem konkreten und dabei einigermaßen vertrauten Fall zu ſtudieren. Er liebte ſolche Studien, wenn ſie bequem gemacht werden konnten. Alſo lud er Stilpen ein, mit ihm in ein Lokal zu gehen und Abendbrot zu eſſen.

Stilpe nahm dieſe Einladung mit Lebhaftig⸗ keit an:

288 Stilpe.

Menſch, wie ſchön ſind Deine Gedanken! Und ich hielt Dich keines Schwungs für fähig! Ver⸗ zeihe mir! Aber Du mußt das Lokal mich be⸗ ſtimmen laſſen. Nur iſt es ſchwer, denn Dein Cylinder paßt nicht in meine Milieus... Aber es geht ſchon. Die Goſenſtube in der Kloſtergaſſe iſt ein Rahmen, der für Dich und mich paßt. Auch giebt es dort wunderbare Sooleier und einen Nordhäuſer, der die Seele mit feurigem Beſen fegt. Du haſt das ja nicht nötig; Deine Seele iſt rein; dafür kannſt Du Dich ja an die milde Goſe halten. Ich aber werde mich auf Deine Koſten gewaltig ausfegen.

Sie gingen in die Goſenſtube und fanden einen leeren Tiſch. Stilpe mit Heißhunger und ſehr viel, die Goſe aber benutzte er nur als Vorwand für eine große Anzahl von Nordhäuſern, die er

t „Kutſcherſchwung“ zu ſich nahm, wobei es ſtets den Anſchein hatte, als wolle er das Glas mit verſchlingen.

Im Lichte der Gasflammen ſah Girlinger, wie ihm die letzten drei Jahre zugeſetzt hatten. Das unraſierte Geſicht fahl und aufgedunſen, die Lippen bläulich, die Augen ſcheinbar kleiner geworden und ſehr unſtät. Eine zuckende Unruhe im ganzen

Drittes Buch, viertes Kapitel. 289

Weſen, zumal in der Bewegung der Hände etwas ziellos Fahriges. Aber der Nordhäuſer ſchien zu beruhigen. Zuletzt bekam Stilpe ſogar ſeinen alten Zug von ſouveräner Ironie und die gewiſſe, etwas zu deutlich markierte vornehme Läſſigkeit der Geſten. Zumal den Rauch der Cigarre blies er ganz wie früher ſo grandios und dabei mit Genußmiene von ſich. Auch ſeinen alten Stil gab ihm der Nordhäuſer ungefähr wieder. |

Ja, mein Teurer, bis auf dieſe etwas kleckerige Bank da habe ich mich glücklich hinabavan⸗ ciert, ſeitdem dieſe lieblichen Idioten mit den gelben Mützen mich hinausgethan haben. Wie heißt es doch: c. i, das iſt cum infamia. Nun ja: Eine reizende Phraſe. Ich hätte die ganze Sache mehr von dieſem äſthetiſchen Standpunkte anſehen ſollen. Und wie nett das eigentlich war, ich meine, wie gut es dieſes brave Schickſal eigentlich gedeichſelt hat, wie mütterlich vorbereitend. Erſt dieſe Jüng⸗ linge mit ihrem Mikrokosmos von Bierjudikatur, und drei Monate ſpäter dieſer Makrokosmos des Senats der freundlichen Alma mater. Nochmal c. i. So ſind die Naturgeſetze. Du verſtehſt mich doch?

Ja, aber ſag mal: Haſt Du denn wirk⸗

lich.. 2 19

290 Stilpe.

In der That: Ich habe wirklich. |

Aber Menſch, Du mußteſt doch be⸗ denken |

Was mußte ich bedenken? Daß die Kaffe der gelben Mützen nicht meine Kaſſe war? In der That! Dieſer Umſtand war mir nicht ver⸗ borgen. Aber ad 1: Eine andre Kaſſe hatt ich leider nicht und ad 2 ſchwang mich die Wiege der Zuverſicht, das biedere Cénacle, incluſive die beiden kapitalkräftigen Barbemuches, würden mich mo⸗ mento quo (das iſt mein Privatlatein) nicht in der Galläpfelſauce ſitzen laſſen. Ein falſches Cal⸗ cul, mein Holder, und wenn Du ein bischen in der Weltgeſchichte blätterſt, wirſt Du die Erfahrung machen, daß ſo was ſchon manchmal mehr als eine gelbe Mütze und eine Matrikel gekoſtet hat. Übrigens wäre ich wirklich beinahe der honorigen Studentenſchaft erhalten blieben. Aber nicht immer vermögen die Unterröcke zu retten, was die Hoſen verſehen haben.

Das verſtehe ich nicht.

Tröſte Dich: Ich werde es Dir gleich er⸗ zählen. Erinnerſt Du Dich an meine erſte Liebe? ö

Welche?!

Drittes Buch, viertes Kapitel. 291

Die chronologiſch erſte ... Ich habe es Dir wie jedem Andern damals unfehlbar erzählt. Joſephine hieß ſie.

Ach jo, die, wo Du erſt acht Jahre al. warſt, in dem Dresdener Inſtitut?

Präzis die. Joſephine. Buſchkleppern ſeine. Dieſer Engel hat mich retten wollen. Es iſt zweifellos rührend.

Aber wieſo denn?

Sehr einfach. Du erinnerſt Dich, wie ich euch damals die ganze Sache klar machte. Nicht wahr? Ich ſprach doch, wie Cicero und Catilina in einer Perſon. Es war einer meiner Höhe⸗ punkte. Ein paar Anakoluthe hab ich noch in der Erinnerung. Nun, ihr wart mit Talg gepanzert. Es rollte Alles ruhig ab. Beſonders Du warſt ein großes Achſelzucken. Hehe, famos haſt Du das gemacht, mein Liebling! Proſt! Dafür ſollſt Du heute noch viele Nordhäuſer bezahlen. Alſo ſchön. Ich raſte ab. Du mußt Dich daran erinnern. Ich habe in meinem Leben das Wort Schweine⸗ hunde! nie wieder ſo ſchön tremoliert. Und über⸗ dies warf ich Dir ja ein Bierſeidel an den Bauch. Nicht wahr, Du erinnerſt Dich deutlich?

Ja, Du warſt noch unfläthiger, als ſonſt.

19*

292 Stilpe.

Das iſt mir lieb, zu hören. Aber ſela! Als ich draußen war, ſagte ich mir: So, die Sache iſt nun fix; wo tröſt ich meine Seele? Und da beſuchte ich denn, aber Du darfſt nicht rot werden, Referendar, jene Hausbeſitzerin, von der wir manchmal geſungen haben:

Warum iſt Deine Laterne wie Blut ſo rot, Amalie?

Du haſt das ſehr ſchön ſingen können, mein Engel, und oft habe ich Dich im Scheine dieſer Laterne ſtehen ſehen, überglüht wie von der Morgenröte. So magiſch wirſt Du nie wieder ausſehen, nie! Und darum proſt und ſela! Apropos: Du biſt doch verlobt?

Das gehört wol nicht hierher.

Nein, es fiel mir in dieſem Zuſammen⸗ hange blos ſo ein. Weißt Du, mir fällt immer das Ungehörige ein, hehe. Übrigens fange ich an, in Stimmung zu kommen, und da rutſchen mir immer die Gedanken aus. Wart mal, wovon ſprach ich doch. Richtig: Von Deiner Braut! Iſt ſie wieder geſund?

Sei nicht albern. Du ſprachſt von dem Hauſe dieſer alten Vettel, dieſer Amalie. |

Drittes Buch, viertes Kapitel. 293

Ama li—eh! Richtig! Und, daß ich damals hinging, wie ihr mich verſtoßen hattet. Richtig! Ich bin im Gleiſe wie die Pferdebahn. Nun gerade aus! Hüh! Brr! Ulrichsgaſſe! Alles ausſteigen! Ah! Was giebts Neues, Mutter der Houris? Wa—as? Wer iſt denn das da? Ruhe! Na ja, is gut

Menſch, Du phantaſierſt ja.

Roll mir ein paar Sooleier her, und ich ſteige auf die Erde.

Er ein paar Sooleier und kam zu ſich.

Alſo denke Dir: Ich gehe mit einem Mäd⸗ chen hinauf und unterhalte mich mit ihr. Sie gefiel mir nicht etwa. Nein, ſie gefiel mir gar nicht. Sie war ſo, ich weiß nicht, ſo fatal dürr und, ja: Gläſern. Sie hatte entſchieden grüne Augen und unendlich viel Sommerſproſſen. Aber um den Mund rum hatte ſie ſo was Verächtliches, als ob er ſchon oft vor Ekel ausgeſpuckt hätte. Weißt Du, wer ſo einen Mund gehabt hat? Unſer alter Freund Börne.

Alſo, ſie ſetzt ſich aufs Bett und ſagt: Na?

Hm, ſag ich, ſchenken wir uns das! Sie guckt mich groß an.

294 | Stilpe.

Weißt Du was, ſage ich, Du kannſt mir dafür Deine erſte Liebe erzählen.

Ich? ſagt fie, ich habe gar keine erſte Liebe gehabt. Gerade, wies anfing, wars aus!

Nee, ſage ich, ſo was! Das mußt Du mir nun grade erzählen.

Sie wollte durchaus nicht, aber ich hatte die Gabe der Eindringlichkeit, weißt Du, mit ein bischen Schauſpielerei und ein bischen Gefühl neben dran. Denn ich war ja immer gefühlvoll neben dran, hehe. Und jo erzählt fie mir denn ... aber das war wirklich . .. hol mich der Teufel noch einmal!

. ich dachte, ich wäre endlich wieder mal be⸗ trunken .. . ja, denke Dir: Sie erzählt mir meine Geſchichte von damals! Ganz genau! Unterm Katheder und dann im Garten! |

Ich kriegte direkt Angſt. Ich packte fie an den Handgelenken und ſah ſie ſo fürchterlich an, daß ſie aufſchrie. Und da nannte ich ihren Namen, den richtigen, und dann meinen.

Nordhäuſer! Nordhäuſer!

Er war ganz aufgeregt.

Wie ſie mich da anſah! Die grünen Augen wurden tiefblau und ſtrahlig. Und mit einem Male lag ſie mir am Halſe und heulte, daß ich

Drittes Buch, viertes Kapitel. 295

denke, ſie läuft aus. Und ſtammelt und ſtottert und klappert mit den Zähnen. Herrgott! In meinem Leben habe ich ein fremdes Leben nie wieder ſo gefühlt. Mir wars, als hätte ich ihr Herz leibhaftig und blutend und ſtoßend in meiner Hand, und es rönne mir über die Finger.

Du Windelband! Glotze geſcheidter. Hehe! Dieſer Referendar iſt ergriffen!

Er lehnte ſich zurück und blies den Cigarren⸗ rauch lachend von ſich.

Komiſch! Furchtbar komiſch! Was? Das Leben iſt talentvoll. Es macht die ſchwierigſten Sachen ohne allen Apparat. Schmeißt da zwei Zerſchmiſſene aufeinander und ſagt: Da habt ihr euch! \

Er ſah Girlingern blinzelnd an:

Nicht wahr, die Geſchichte iſt ein paar Nordhäuſer mit Sooleiern wert? Aber mir wird ſie langweilig. Was kam auch noch? Ich hatte das Stichwort und goß nun meine Geſchichte von mir: So, na und dann biſt Du alſo gefälligſt bald dorthin gekommen, wo Du jetzt biſt, mein teures Mädchen; bon! Des Herrn Wege ſind un⸗ erforſchlich, und: Wer weiß, wozu es gut iſt, ſagt der Chriſt. Ich aber ... Ach, ich mag nicht mehr

296 Stilpe.

erzählen! Kurz und gut, wie ſie erfuhr, was mir bevorſtand, wollte ſie das Geld aufbringen. Viel Geſuche in allen Kaſten, dann Geſchrei und Ge⸗ bettel bei Madame Amalie ... Satis ſuperque, es langte nicht.

Die Beiden ſchwiegen eine Weile.

Dann Girlinger: Und, was haſt Du dann eigentlich getrieben?

Ich? Getrieben? Welch ein Tropus! 800 habe mich treiben laſſen. Ach ſo, Du willſt wiſſen, was ich „geweſen“ bin? Höh! Reichs⸗ kanzler nicht!

Haben denn Deine Eltern ...

Ich habe eine Schmetterlingsſammlung ge⸗ erbt. Es waren ein paar reizende Kerle da⸗ runter. Das andre hat beinah für die Schulden gelangt.

Warum biſt Du nicht unter die Journa⸗ liſten

Du ſiehſt doch, daß ich noch unter die Journaliſten gegangen bin.

Aber, Menſch, Du haſt doch Talent!

Aber das Leben hat noch mehr, wie ich

Drittes Buch, viertes Kapitel. 297

mir ſchon ein Mal zu bemerken erlaubte. Übrigens, mein Sohn, irrſt Du Dich, wenn Du denkſt, ich bin unter den Rädern. Ich bin blos zwiſchen dem Roßmiſt. Du brauchſt mir nur das Reiſegeld nach Berlin zu leihen, und ich ſtürze Herrn Bleib⸗ treu. Oh, es kommt ſchon noch die Zeit, wo ihr mit einigem Stolze ſagen werdet: Den berühmten Stilpe kenn ich! Das iſt ein Freund von mir.

Deinen Nordhäuſern von heute wirſt Du es zu verdanken haben, wenn ich Dich dann nicht verleugne.

F?

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Viertes Buch

Ecce poeta

Reich mir einen Lorbeerkranz, Schickſal, oder aber Einen Bund voll Haber.

Aus Stilpes zerſtreuten Weisheiten.

Erſtes Kapitel.

Ein junger Lyriker und ein noch jüngerer Dramatiker ſaßen im Café Kaiſerhof in Berlin und erörterten die Zukunft der deutſchen Litteratur. Da ging ein Herr an ihrem Tiſch vorüber, und der Lyriker hielt mitten in der Bemerkung, daß erſt nach völliger Austilgung der Tagespreſſe wieder an eine anſtändige Litteratur zu denken ſei, inne, um dieſen Herrn, der ſehr elegant gekleidet war und ein etwas blaſiertes Weſen zur Schau trug, mit tiefer Verbeugung zu begrüßen. Der Herr, an dem eine Fülle ſchwarzer, weit in die Stirn ge⸗ kämmter Haare und ein Klemmer mit ſehr breitem ſchwarzem Bande beſonders auffiel, ſagte mit einem ſchiefen Lächeln: Nächſte Woche kommen Sie dran! Die freien Rhythmen habe ich schon klein gehackt Man thut, was man kann.

302 8 Stilpe.

Der Lyriker machte noch eine Verbeugung und wollte etwas ſagen, aber da war der Herr mit dem ſchwarzen Klemmerbande ſchon weiter ge⸗ gangen. An einem Ecktiſch, wo der Kellner bereits den Abſinth filterte, ließ er ſich nieder.

Wer war denn das? fragte eifrig der Dramatiker.

Kennſt Du denn den nicht! antwortete er⸗ ſtaunt der Lyriker: Stilpe!

Was? Den Kerl grüßt Du? Dem ſchickſt Du Deine Bücher? Das iſt ja der infamſte Hund, der je kritiſch gebellt hat!

Schrei doch nicht ſo! Mit dem iſt Freund⸗ ſchaft beſſer als Feindſchaft. Übrigens hat er wirk⸗ lich Geiſt.

Ach was: Geiſt! Ein Molch iſt er! Eine niederträchtige Beſtie! Ein impotenter Neidbold, der ſich einbildet, mit Schnoddrigkeit alles totmachen zu können. Die Reitpeitſche gehört ihm! Eine Witzwanze iſt er!

Was hat er Dir denn gethan?

Mir wird er erſt noch was thun, aber ich haſſe ihn ſchon vorher. Dieſes Gezücht muß aus⸗ gerottet werden, Du haſt es ja vorhin ſelber geſagt! |

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 303

Bitte recht ſehr! Ich war noch nicht fertig! Leute wie Stilpe nehme ich aus. Er iſt freilich ein Pamphletiſt, aber, zum Teufel, er hat einen alten Hut voll Talent.

Ich pfeife auf dieſe Art von Talent, hinter dem kein Charakter ſteckt. Galle, Neid und Größen⸗ wahn, nichts weiter! Den alten Hut haben hier Viele auf.

Du irrſt Dich, es ſteckt mehr dahinter. Stilpe iſt eine der intereſſanteſten Erſcheinungen in der Berliner Litteratur. Ein giftiges Aas, meinet⸗ wegen! Aber: Unerſchrocken! Kennſt Du denn feine Karriere?

Ach was! Er wird ſich durchgebohrt haben wie alle dieſe Holzpapierwürmer.

Urteile doch nicht ſo ins Blaue! Ich ſage Dir offen: Ich habe Reſpekt vor dem Mann!

Oder Angſt.

Unſinn! Reſpekt ſage ich.

Auch Hochachtung?

Ach! Hochachtung. Vor einem Kritiker hat man nie Hochachtung. Aber er imponiert mir. Die Art wie er ſich durchgeſetzt hat, gefällt mir, weil ſie beweiſt, daß ihm der ganze Journalismus nur eine Gelegenheit zu Stilübungen iſt. Vor drei

304 Stilpe.

bis vier Jahren iſt er hier in einem Coupce vierter Klaſſe angekommen, ganz abgeriſſen, ohne die geringſten Verbindungen. Als Reporter hat er angefangen, d. h. eigentlich blos als Hilfsreporter, und bei was für Blättern! Es heißt übrigens, daß er damals in verſchollenen modernen Revüen Ge⸗ dichte veröffentlicht hat. Jedenfalls hat er, während er hier beim literarariſchen Troß mitſchuftete, nach auswärts in Litteraturblättern die unerhörteſten Brandartikel geſchrieben, als wäre er der heimliche Kaiſer der deutſchen Litteratur. Ich ſage Dir: Dreck und Feuer, aber angemacht mit Flammpunſch! Durch eine Serie von Ohrfeigen, die er von einem Schauſpieler kriegte, wurde er berühmt.

In der That: Impoſant!

Iſt es auch! Denn dieſe Ohrfeigenſerie war nichts weiter als ein abgekarteter Coup, wie ſich ſpäter herausſtellte. Er und der Schauſpieler prügelten ſich programmmäßig nach gemeinſam aufgeſtelltem Regieplan und zwar mit nachdrück⸗ lichſter Naturtreue. Wie der Streich geglückt und ihr Name in allen Zeitungen war, fuhren ſie zu⸗ ſammen in einer offenen Droſchke durch die Friedrichſtraße und Stilpe ließ eine höchſt amüſante Ehrenerklärung, die von Witz ſprühte, durch die

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 305

Blätter laufen, und die Aufmerkſamkeit der Redak⸗ tionen galt nun nicht mehr ſeinen Ohrfeigen, ſondern ſeinem offenbar großen journaliſtiſchen Talent. Er kam an einem konſervativ⸗antiſemitiſchen Blatte an und ſchrieb nun das boshafteſte Zeug, was ſich nur denken läßt, gegen die „koſchere Litteratur“. Er hat geradezu den antiſemitiſchen Knüppelſtil erfunden. Und auf einmal, wie mit einem Krach, ſaß er auf der anderen Seite und draſch auf die Antiſemiten los, daß es nur ſo knackte.

Na, das iſt doch der Cynismus der Cha⸗ rakterloſigkeit in frechſter Form!

Aber es hat Stil, mein Junge, und, übrigens: Denkſt Du heute noch über Arminius ſo, wie in Sexta?

Erlaube mal, damit läßt ſich jede Käuflich⸗ keit entſchuldigen.

Ich behaupte ja nicht, daß er ein mora⸗ liſches Exempel iſt. Er iſt ein Landsknecht der Feder, jedem zu Dienſten und in jedem Dienſte ein Draufgänger. Wie ein General zur Zeit der italieniſchen Renaiſſance, der ſeinem Feldherrnſtab bald das, bald jenes Wappen als Knauf aufſetzte, ſo ſchwang er bald dieſe, bald jene Fahne. Aus

dem Raddau⸗Antiſemiten und fortſchrittlichen Los⸗ 20

306 Stilpe.

gänger wurde erſt noch eine Art litterariſcher Volkstribun der Sozialdemokratie, und es ſchien, als würde er dabei ſtehen bleiben. Er ſchrieb da⸗ mals mit einer merkwürdigen nüchternen Härte und hieb beſonders auf den „Bourgeois⸗Anarchis⸗ mus“ der jungen Litteratur los. Aber plötzlich ein wilder Querſprung, und er enthüllte die Kunſt⸗ feindlichkeit der Sozialdemokratie mit einer ſolchen Unerbittlichkeit und bekannte ſo flammend ſeinen Irrtum, daß man wirklich glauben mußte, er ſei vom Geiſte aller freien Künſte apolliniſch beſeſſen. Seitdem datiert ſein Ruf als litterariſcher Kritiker. Er verließ die Politik und wurde der Schrecken der Belletriſten. Er fing an, fein zu werden, Du verſtehſt mich: Fein im Berliner Sinne, alſo witzig und ſcharf. Natürlich muß er infolgedeſſen mehr verreißen, als loben. Kritik iſt Scheidekunſt ſagt er; alſo: Scheidewaſſer her! Aber gerade deshalb liebt ihn ſein Leſerkreis.

Und das findeſt Du alſo impoſant!

Nein, das gerade nicht, aber dieſe ganze Schamloſigkeit, mit ſoviel Witz und frechem Mute vertreten, zwingt mir ſehr viel mehr Reſpekt ab, als die langweilige Leiſetreterei der furchtbar ernſt⸗ haften Leute, die konſequent und reputierlich ſind,

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 307

weil ihre Beſchränktheit es nicht anders geſtattet. Sie ſchulmeiſtern die Literatur, er macht ſich über ſie luſtig. Nenne ihn einen Lump, aber iſt er es in Groß⸗ folio, und wenn Du etwa ſagen willſt, daß er Schaden anrichtet, ſo behaupte ich, daß er das Intereſſe für Litteratur hundertmal ſtärker anregt, als die anſtändigſten kritiſchen Regiſtratoren. Übrigens intereſſiert er mich im Grunde als Menſch. Ich bin zwar blos Lyriker, aber ich wittere hier einen tragiſchen Fall.

Köſtlich! Wenn ein Lyriker es mit der Phychologie hält! Jaja! Ich ſage Dir, dieſer Menſch fühlt ſich in ſeinem Salonrocke unendlich wohl und verachtet die geſammte ſchöpferiſche Litteratur, wenn er nur immer genügend hohes Zeilenhonorar kriegt, um gut eſſen und trinken zu können. Die Abſinth⸗Flaſche hat er ſchon bald leer.

Ja, man jagt, daß er ſäuft, und das ſtützt wieder meine Meinung von der Tragik, die hinter dieſem Menſchen ſteckt.

Du biſt wirklich ein Lyriker.

Dann ſprachen ſie wieder von der Zukunft der deutſchen Litteratur.

RR

308 Stilpe.

Der pſychologiſche Lyriker hatte recht: Stilpe fühlte ſich in ſeiner bevorzugten Lage ſehr un⸗ glücklich.

Er lebte allerdings ſehr gut, ſeitdem er „in der Feuilletonmanege die Pauſen durch ſchwierige Scherze ausfüllte“, wie er ſein kritiſches Amt um⸗ ſchrieb. Er bei Kempinsky, ließ bei einem engliſchen Schneider arbeiten, trank nur ausgeſuchte Spirituoſen und hatte, wenn auch kein ſtändiges, jo doch eine Art von Wanderharem, „wohlaſſortiert“.

Daß darunter keine eigentliche Geliebte war, empfand er nicht als Mangel. Dieſes Bedürfnis hatte er nicht, wenn ihn auch manchmal ſo etwas wie Sehnſucht darnach anwandelte.

Vielleicht wäre es gut, wenn ich mich ein⸗ mal richtig verliebte, ſagte er ſich; das wäre doch wenigſtens ein Surrogat für das Andere. Aber es gelang ihm nicht.

Was aber war „das Andere“?

Ein paar Stellen ſeines „Heftes der Aufrich⸗ tigkeiten“ geben darüber Aufſchluß.

Dieſes Heft legte er zu dem Zeitpunkte an, als ſeine Stellung anfing, geſichert zu werden; und das war dieſelbe Zeit, um die er begann, ſich un⸗ zufrieden zu fühlen.

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Viertes Buch, erſtes Kapitel. 309

Auf der erſten Seite ſtand dies:

„Jede Pflichtgewohnheit iſt gemein, alſo auch das Lügen, als welche Kunſt ich jetzt gewerbsmäßig und, wie ich mir ſagen darf, nicht ohne Be⸗ gabung, aber ich will ja hier ehrlich ſein, alſo: Mit ungewöhnlichem Talente betreibe. Deshalb will ich wenigſtens zuweilen dieſe Gewohnheit brechen und auf dieſen Blättern die Wahrheit ſagen.

Daß ich auch dabei lügen werde, verſteht ſich am Rande. Aber dieſe Lügen werden eine eigene und amüſante Nitance haben.

Ich ſtelle es mir ſehr anmutig differenziert vor: Lügen, die Wahrheiten ſein wollen, aber nicht daran glauben, und Wahrheiten, die ſich ſelber keineswegs trauen, aber ihrer Lügenhaftigkeit immer⸗ hin nicht ganz ſicher ſind und ſich manchmal im Stillen zweifelnd ſagen: Wer weiß, am Ende ſind wir wirklich wahr?

Eine liebliche Sorte Schlinggewächs alſo, mein Gehirn mag eine ähnliche Struktur haben.“

310 Stilpe.

„Es ſcheint wirklich: Der Menſch lebt nicht von Brot allein und auch nicht von dem, was beſſer ſchmeckt; er braucht ein Ziel, was er lieb hat, um „glücklich“ zu ſein. Aber er muß dran glauben.

Beiſpiel: Ich war glücklich, als ich das Ziel lieb hatte, ein Dichter zu werden, obwohl ich damals lauter Schulden und keine Ausſicht . ſie zu zahlen.

Oder: Ich war glücklich, als ich das Ziel lieb hatte, ganze Stiefeln zu bekommen. Und ich hatte doch nichts zu eſſen.

Nun aber: Bitte, wo iſt das Ziel, das ich lieb hätte? Ganze Stiefeln hab ich, und ein Dichter mag ich einſtweilen nicht werden ... Alles wüſte und leer.

Das Ziel, einen Rauſch zu bekommen ......

Ach, wie erbärmlich ſind jetzt meine Räuſche! Ich trinke, weils ſchmeckt, und das iſt niedrig neben dem eigentlichen Ziel des Trinkens, dem großen Rauſch.

Vielleicht Morphium? Aber ich fürchte vn Selbſtmord ... Meine Krankheit heißt überhaupt Feigheit Sch habe mich zu ſehr an Kempinsky gewöhnt

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 311

Halt! Ich werde nach Dreſſel ſtreben! Jede Woche zwei Feuilletons mehr, und es geht!.

Ach, wie kümmerlich und einfältig! Bin ich denn ſchon ganz verblödet? Jeder Tag Dreſſel, das wäre ja eine Rohheit und unſagbar ſtümper⸗ haft. Ich würde mir ja ſelbſt die Möglichkeit zu Magenidealen rauben

Alſo: Ideale fehlen mir? Schau, jchau, wie tugendhaft ich bin.

Unſinn: Ideale! Schon das Wort iſt die ver⸗ körperte Maulſperre: J... e. . . a! Pfeifen wir lieber darauf.

Aber das ſchweiß⸗ und luſtlockende Ziel. Sollte es die Liebe fein, die Li- a— bee? Oh nee!

Indeſſen manchmal? hm

Kürzlich liebte ich ſehr ſtark in der Gegend des Weddings. Ich zog mich ſchlecht an (wie ſchade, daß ich meine letzte Leipziger Garderobe nicht mehr habe!) und entzündete den Scharlachfeuerbrand bei einem recht ſüßen Ding von Mantelnäherin.

Oh ja, es hatte was. Die Armeleutliebe hat ihre Reize wie die Armeleutmalerei, und ich kam mir vor wie der dicke Commerzienrat Katz, der einen Uhde in ſeinem Speiſezimmer hängen hat.

312 | Stilpe,

Er vertritt ihm die Stelle des Tiſchgebets. Aber ich bin wohl nicht ſo chriſtlich veranlagt wie der Commerzienrat. Ich zog mich wieder in die Nähe des Wintergartens zurück

Nein, die Liebe iſt es nicht... Zur Liebe bin ich jetzt entſchieden zu äſthetiſch geworden .. Oder zu niederträchtig? Nur keine Gene, werter Freund! Den Sport will ich mir wenigſtens bewahren, daß ich mich ſelber beim rechten Namen nenne.

Und jetzt will ich zu Emmy gehn, die mich „Caviarbrödchen“ nennt.“

AA

„Ich nähre mich jetzt hauptſächlich von Lyrikern, und was ich dann von mir gebe, iſt das Entzücken meines reizenden Publikums. Nichts erfreut es ſo von Grund aus, als wenn man ihm einen ge⸗ rupften Dichter vorſetzt.

Es beſteht alſo in dieſer deutſchen Welt von heute immer noch eine Art Neid gegen dieſe Pro⸗ feſſion?

Und, wenn ich mir ſelber auf die Plombe fühle: Beneide ich das Geflügel nicht auch im Grunde

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 313

ein bischen? Zumal die, die ſich ſo verdorben ſtellen und ſo ſelig in der Einbildung ſind, ge⸗ waltige und verruchte Sünder zu ſein, ſind ſie nicht wirklich beneidenswert? Kerls, die ſich noch geißeln können, muß man die nicht beneiden?

Und überhaupt dieſes Behagen, ſich in Verſen auszuſchwemmen. Es iſt ganz ſicher eine dee tive Wolluſt.

Und der Rhythmus iſt das Leben | Und die Proſa ift der Tod...

Hol fie der Teufel! Sie genieren mich. Sie erinnern mich an Zeiten, da ich gerade ſo dumm und pueril war wie ſie, und ich finde, es iſt ungerecht, daß ich leiden muß, weil ich klüger wurde

Alſo: Ich leide? Sehr ſchön geſagt. Ein dekoratives Wörtchen. Schon die Stimmgabel zum lyriſchen Geſang.

Ich werde mir auch ſo eine dicke ſchwarze Hals⸗ binde kaufen, die Einem ſo was Biedermeieriſch⸗ halbabgewürgtes giebt und zur lyriſchen Livrée von heute gehört.“

*

314 Stilpe.

„Im Grunde genommen, werter Herr, ſind Sie den Idealen Ihrer Jugend ein wenig untreu ge⸗ worden. Fanden Sie nicht dermaleinſten, daß es die Gemeinheit der Gemeinheiten ſei, ein Dichter ſein zu können und um der beſſeren Speiſe⸗ und Weinkarte willen ein Journaliſt zu werden?

Ganz richtig. Nur erlaubt ſich irgend wer die Frage: Kann ich denn ein Dichter ſein?

Lächerlich! Höchſt lächerlich! Sind Sie ein Lump, daß Sie ſich verſtellen? Wiſſen Sie nicht ganz genau, daß Sie ein Dichter wären, wenn Sie nicht, leider, es für bequemer hielten, ein Schubiak zu ſein? | |

Hm; vielleicht nehmen wir blos ein Schlamm⸗ bad! .. . So zur Austreibung böſer Säfte, wiſſen Sie Be Aber wer hat es Ihnen denn verſchrieben?

Meine Natur, meine ſchlechte, niederträchtige, ge⸗ meine Natur. Durch Schlamm zum Roſenöl! ſagt ſie.

Reizend, in was für Tropen Ihre Natur lügt. Aber: Sie glauben ihr doch nicht?

Ih wo! Ich kenne ſie ja.“ 5

ER

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 315

„Es fängt an, geſchmacklos zu werden, wie un⸗ wohl ich mich fühle.

Mein Ruhm ſtinkt zum Himmel, daß Pietro Arretino vor Neid ſemmelblond wird, meine Hono⸗ rare könnten einem Cirkusklown den Schlaf rauben, mein Stil, dieſes Gemächte aus Sprachnotzucht und Drehkrankheit, wird mehr kopiert, als die ſix⸗ tiniſche Madonna, und ich bin der Gelbſucht nahe.

Was, zum Teufel, ſitzt mir in der Leber!?

Oh, ich fühls! Es iſt ein Ekel an dieſer Comödie, die ich aus mir gemacht habe mit dem Vorſatz, ſie vom Repertoire zu ſtreichen, ſobald ich genug an ihr hätte, und die ich nun Tag für Tag ſeit Jahren ſpielen muß, weil ich ſonſt hinter die Couliſſen geſchmiſſen würde.

Ein ſchundgemeines Kaſſenſtück, aber wehe, wenn ich ein anderes gäbe!

Es gilt nur die Frage: Verlohnt die Ein⸗ nahme wirklich den Ekel? Wäre es nicht beſſer, ich träte endlich einmal vor und ſpiee dem werten Publikum ins Geſicht?

Hollah! Amende gäbe das erſt recht einen

316 | Stülpe.

Erfolg, und ich wäre obendrein die Efelplage los? Wie, wenn ich Va— banque ſpielte?“

&

„Ich ſehne mich nach Unordnung, nach Verrückt⸗ heit, nach dem Gelächter derer, die nichts zu ver⸗ lieren haben.

Ah, Du altes, treues Wort: Boheme! Ein ge⸗ langweilter Lump zu ſein, ein Lump in Wohlſein und Angſten vor dem bischen Daſeinsgefahr, wie ſchaal und ſchäbig! Aber ein lachender Lump, ein königlich ſelbſtherrlicher Lump mit leerem Beutel und den Taſchen voll Hoffnung, ein dich⸗ tender Lump, ein Lump voll Laune und närriſchen Plänen, ein freier Lump mit der Grazie des ſelbſt⸗ bewegten Lebens, wie köſtlich und groß!

Boheme! Boheme! Der Gedanke läßt mich nicht mehr los: Heraus aus dieſem behäbigen Lumpentum und hinein in freche Abenteuer!

Ich muß mich wieder n können und nicht blos trinken.

Ich muß wieder einen Kreis um mich haben, in dem man betrunken wird an ſich ſelber.

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 317

Dieſe ſchweren Weine machen faul, dieſe Cham⸗ pagner lügen blos von Räuſchen, dieſe koſtbaren Liköre ſind wie Seidenpolſter, in denen man ver⸗ ſinkt, ohne daß man glaubt, Houri⸗Arme ſchlängen ſich um Nacken und Bruſt.

Was iſt das für ein Leben! Kein Ruck und Zuck, kein Taumeln und Drehen. Geradehin, auf Gummirädern, hinter verſchloſſenen Kaleſchenfenſtern, allein.

Dieſe „Collegen“! Wie ernſt! Wie bedeutend! „Beamte der öffentlichen Meinung. Richter im Reiche des Schönen. Staatsanwälte des Geiſtes. Pioniere des Fortſchritts. Enkel Leſſings. Ver⸗ antwortliche Redakteure der Moral.“ Oh, ihr ...!

Na! Ich kenne euch doch? Ihr habt doch aller⸗ hand Reſpekt vor mir? Ich unterſtehe doch annoch makellos eurem Ehrengerichte? Wißt ihr denn nicht, daß ich täglich Unzucht mit allen Laſtern des Witzes treibe? Warum werft ihr mich denn nicht hinaus?

Solltet ihr >. ..? Blos nicht mit ſoviel Frechheit |

Wie, wenn ich a meine Combdie die ja ein Stück der euren iſt, ohne Schminke auf eure Papierbühne brächte? Wenn ich die litterariſchen

318 Stilpe.

Hungerleider, die von Gnaden des Elends noch an⸗ ſtändig find, aufriefe gegen die gewürdeten litterariſchen Beutelſchneider und Gaudiebe? Wenn ich zeigte, was für Wäſche unter den ſchönen Röcken der Würden⸗ träger der öffentlichen Meinung ſteckt? ..

Halt! Das iſt Stil für die Offentlichkeit; ich kann die Paſſage in meiner Brochüre verwenden, die ich wie einen Klotz in den Tintenſumpf werfen will.

Ah! Da haben wir ja ſchon Plan und Titel: Eine Brochüre: Der Tintenſumpf. % bin ich inſpiriert!

Aber hier wollen wir doch lieber nach Mög⸗ lichkeit ehrlich ſein, was habe ich alſo vor!? Wenn ich es mir recht überlege: Ich will mir, da ich von dieſer Bühne abzutreten geſonnen bin (bin ichs wirklich?) einen guten und womöglich prak⸗ tiſchen Abgang verſchaffen. Ich will ſenſationell abtreten, um drüben ein anderes gutes Engage⸗ ment zu bekommen?

Nein, das nicht.

Aber es wäre vielleicht möglich, daß mir dieſer Abgang die Möglichkeit gäbe, eine eigene Bühne, eine Proteſtbühne zu gründen .?.. Hm. Die Perſpektive iſt gut... Geht die Brochüre, jo findet

Viertes Buch, erſtes Kapitel. 319

ſich wohl ein ſpekulativer Herr, der mir meine eigene Zeitung gründet: Die Zeitung der Zurück⸗ gewieſenen, das Blatt der Bohemes auf jedem Gebiete.

Und: Kein Zweifel, daß die Brochüre gehen wird! Welcher Skandal ginge nicht? Aber ich muß rückſichtslos ſein, wie ein Wilder und bos⸗

haft wie ein Affe.

Sagen wir ruhig: Es muß ein braves Pam⸗ phlet ſein. »

Machen wir! Iſt nicht der Tintenſumpf un⸗ leugbar? Bin ich mir nicht das ſchönſte Modell? Hat mich dieſer Sumpf nicht ruiniert?

Der Teufel, ich komme immer in den Stil für die Offentlichkeit. Ich bin wirklich allerliebſt ein- geſeucht; es ſcheint, ich kann mir ſchon ſelber nicht mehr die Wahrheit ſagen. Aber für dieſen Zweck iſt das eigentlich ausgezeichnet! Ich werde teilweiſe unbewußt lügen, und eine unbewußte Lüge knattert viel ſtärker als zehn bewußte Wahrheiten.

Eben rieb ich mir die Hände. Es ſcheint, die Böſewichter auf dem Theater ſind echter, als wir glauben. |

Böſewicht! Ich möchte jetzt mal in den Spiegel ſehn.

320 Stilpe.

Wie ſonderbar aufgeregt ich bin. Rein wie betrunken. Oh, ich ahne Räuſche! Wenn ich jetzt ſchon ſo außer mir gerate!

Und nun hab ich endlich das Wort für mich: Ich will wieder außer mir geraten können!

Komme, was will: Ich muß aus mir heraus, heraus aus dieſem meinen Sumpf, und ich will mit gewaltigem Spektakel ans Land ſpringen! Platſchen ſoll es.“

GE

Zweites Kapitel.

Gleich nach dem Erſcheinen des Tintenſumpfs hatte Stilpe ſein Quartier aus dem Karlsbad, das ihm längſt zu ſtill geweſen war, in die Nähe der Weidendammer Brücke verlegt. Da hauſte er nun vier Treppen hoch nach ſeinem Geſchmack wie ein Student, nur, daß es keine kümmerliche Bude nach dem Hof hinaus war, ſondern groß, hell, mit dem Blick nach der Spree und weithin über einen guten Teil Berlin. Und laut war ſie, um⸗ brodelt vom Lärm der Friedrichſtraße, den man wie ein rollendes Rauſchen hörte. Dazu das Rattern der Züge, die in den Bahnhof Friedrich⸗ ſtraße einfuhren, und von den Arbeiten am Neu⸗ bau der Weidendammer Brücke her die dröhnenden Schläge des Rammwolfs, der die Notpfeiler in das Flußbett trieb. A

322 Stilpe.

Da aber gefiel es Stilpen gut. Hier fühlte er ſich zu Hauſe. Das war nach ſeinem Ge⸗ ſchmack: Ein ſchmuckloſes Zimmer mit abgenutzten Möbeln, die er nicht mit beſonderer Schonung zu behandeln brauchte; zu Nachbarn Gargons wie er, Studenten, Künſtler und ein „beſſeres Mädchen“; die Hausordnung dementſprechend liberal, die Wirtin desgleichen.

Ein guter Dunſtkreis, hatte er geſagt, wie er die Wohnung bezog; hier laßt uns die Götter locken mit Pfeifen und klingenden Gläſern.

Er hatte gleich ſeine alte Frechheit wieder, die er ſo lange unter einer anderen hatte verbergen müſſen. Es fehlten ihm nur noch die Genoſſen.

Aber ſein Aufruf am Schluß des Tintenſumpfs: An das bischen Boheme in Berlin! hatte bald gezogen. Es kamen ſogar ſehr viel mehr, als er gewünſcht hatte, und vor Allem kamen ſehr viele falſche Bohemeleute, unglaubliches Volk voll inner- licher Philiſtroſität, Theorieenaushecker, Weltver⸗ beſſerer, Pſeudoanarchiſten, auch einige lebendige Beiſpiele aus Krafft⸗Ebings Pſychopathia ſexu⸗ alis: Alles, was irgendwie in der Welt nicht zurechtkam, glaubte zur Boheme zu gehören und im Verfaſſer des Tintenſumpfs den Mann ge⸗

Viertes Buch, zweites Kapitel. 323

funden zu haben, der ihnen in einer neuen Zeit⸗ ſchrift weißes Papier bogenweiſe zur Verfügung ſtellen würde.

Dagegen blieben anfangs die aus, an die allein er gedacht hatte: Die Dichter und Künſtler. Nur einige Jünglinge, denen der Dilettantismus mit jenem bekannten Strohfeuer aus den Augen leuch⸗ tete, waren als Vertreter der Kunſt bei dieſer erſten Flutwelle.

Erſt nach ein paar Wochen, wie Stilpe von der geſamten Preſſe mit Einmütigkeit und ganz kurz als Schandfleck des Journalismus abgethan worden war, fanden ſich die Rechten ein. Stilpe merkte es ſogleich daran, daß ſie ihn unverzüglich anpumpten, und dann beim „Orakel der Buttelje“. Sie tranken ungefähr mit derſelben Technik wie er.

Nach etwa vier Wochen hatte er wieder ein „Cenacle“ beiſammen, und diesmal war es ein echtes.

Eine Maskerade mit franzöſiſchem Namen war hier nicht mehr am Platze. Seine neuen Freunde waren ſelber Originale, kantig geblieben in der großen Rührbüchſe eines derb zugreifenden Lebens, und gaben den Freunden Mürgers nichts nach. Es waren köſtliche Kumpane für ihn und dabei

21

324 Stilpe.

entſchiedene Talente für feinſte Kunſt und freieſtes Leben. Nur ein paar von ihnen waren ſchon mit Werken an die Offentlichkeit getreten, und es war nun eine Quelle gemeinſamer herzlicher Freude, wenn ſie und Stilpe die niederträchtigen Kritiken zitierten, mit denen „der gefürchtete Kritiker W. St.“ ſie einſt an den Pranger geſtellt hatte. Die Mehrzahl war ſo gut wie ungedruckt, denn es gab kein Blatt, das excentriſch genug für ſie ge⸗ weſen wäre.

Nun ſollte Stilpe natürlich dieſes Blatt gründen

Bei allen Zuſammenkünften, ſoweit ſie nicht blos mit Trinken oder Rezitationen der „neueſten Sachen von Rang“ ausgefüllt wurden, war dieſe Gründung das Hauptthema. Aber nun waren ſchon zwei Monate ſeit dem Erſcheinen des Tinten⸗ ſumpfes verſtrichen, das Intereſſe für dieſe Brochüre ebbte nach der Provinz hin ab, und man war noch zu keinem Entſchluſſe gekommen.

Da erlies Stilpe an den „inneren Kreis der Eigentlichen“ eine Einladung, die unter dem Hin⸗ weis darauf, daß „mit den ſchwindenden Monden auch die Moneten verrollten“, zu einer letzten und endgiltigen Sitzung „in punkto Blatt“ zuſammen⸗ rief. Poſtſkriptum: „Um nüchternes Erſcheinen

Viertes Buch, zweites Kapitel. 325

wird gebeten .. Der Peripathetiker ſoll die unmündige Tochter des Regenſchirmhändlers zu Hauſe laſſen.“

ER

Stilpe erwartete die Geſellſchaft ganz mit der Heiterkeit, die ihn immer leiſe hob, wenn ihm Ge⸗ legenheit zu Trinken und Reden in Ausſicht ſtand.

Das hatte ihm in ſeiner „fundierten Periode“ vornehmlich gefehlt: Geſprächweiſe trinken zu können. Im Rauſche die Welt mit Worten aus den Angeln zu heben, das war ihm immer Bedürfnis geweſen, und das war ihm nicht erfüllt worden, als er das Daſein des gefürchteten Kritikers führte. Denn damals fehlten die rechten Geburtshelfer für ſeine Worte. Dieſe Art, ſich dem Rauſche des improviſierten Wortes hinzugeben, war ſein Teil Produktivität, und er hatte ſich im Grunde deswegen ſo un⸗ glücklich damals gefühlt, weil er zur Unfruchtbar⸗ keit verurteilt war, weil ihm die Wolluſt, ſich aus⸗ zugeben, nicht wurde.

Hätte er die Fähigkeit und Freiheit beſeſſen, ſo

326 Stilpe.

zu ſchreiben, wie er ſprach, hätte er nicht im Grunde wider ſein Weſen und wider ſeinen Stil ſchreiben müſſen, ſo wäre die Gewaltaktion des Tintenſumpfes kaum in dieſer brückenabbrecheriſchen Art vor ſich gegangen.

Er ſelber ahnte dies nur dunkel, in den ſeltenen Stimmungen, wo er ſich einmal vor die Seele führte, was er eigentlich gethan hatte mit ſeinem Schritt, den niemand begriff, und hinter dem man in den betroffenen Kreiſen allerlei weitgehende Ab⸗ ſichten vermutete, weil man es ſich nicht vorſtellen konnte, daß ein ſo „geriſſener Kunde“ wie Stilpe, der bisher ein Lager immer nur verlaſſen hatte, weil in einem anderen weichere Polſter winkten, ſich ohne beſtimmte Ausſichten eine ausgezeichnete Poſi⸗ tion verſcherzt haben ſollte.

Gerade jetzt, wie er die neuen Freunde erwartete, bedachte er einmal ſeine Lage. |

Die Hände unterm Kopf zuſammengeſchlagen, die kurze engliſche Pfeife mit Old Judge im Munde, lag er auf dem breiten Lederdivan und betrachtete ein großes, rot, grün und ſchwarz ge⸗ haltenes Plakat, das an der Wand gegenüber be⸗ feſtigt war. Die Worte darauf, in rieſigen ziegel⸗ roten Buchſtaben, lauteten:

Viertes Buch, zweites Kapitel. 327

1! Senſationell !!

Der Tintenſumpf

Enthüllungen und Selbſtbekenntniſſe

von Willibald Stilpe

Dazu ſah man in ſtiliſierten ſchwarzen Wellen einen aufgeregten Tümpel, aus dem höchſt ent⸗ ſetzte grüne Froſchgeſichter und die Schwimmfüße nach unten tauchender Fröſche herausragten, wäh⸗ rend ein herkuliſch gebauter Froſch, von dem das ſchwarze Sumpfwaſſer abfloß, große Ziegelſteine mit Aufſchriften, wie: Heuchelei, Proſtitution, Be⸗ ſtechlichkeit, Plagiat, Feigheit in den Tümpel warf. Eine große, rote, aufgehende Sonne fehlte nicht.

Stilpe lächelte. Der herkuliſche Froſch war alſo er, und die andern ſaßen in der Tinte.

Gut ſoweit! Aber was nun?

Wenn die Zeitſchrift den Erfolg hätte, wie die Brochüre, ſo wäre die Sache glatt. Aber: Wenn nicht?

898 Stilp:

Er war ja ausgeſperrt, und es war kaum Ausſicht vorhanden, daß man ihn ım Gnaden wieder aufnehmen würde. Denn er hatte ſie alle beſchimpft, von rechts nach links, ausnahmslos:

„Aber es giebt doch auch anſtändige Elemente in der Preſſe! rufen Sie, mein werter Mitbürger Ei ja wohl. Man hört es ſagen. Aber das Ele⸗ ment ſelber iſt unanſtändig.“

Stilpe überlegte: Da iſt eine Redefigur mit mir durchgegangen, ſcheint mir. Hm. Das war wohl ein taktiſcher Fehler ... Aber es klang..

Ach was! Wenn nur die Figur gut war Das liegt ſo in der Technik des Pamphlets. Man muß Stil haben

Das Pamphlet liegt mir überhaupt. Jedes Jahr blos eins, und ich kann auf alle Redaktionen pfeifen

Ah, was für Ideen! Das wäre eine neue Schweinerei ... Bin ich denn ganz verkommen? Warum denk ich immer wieder an fo was! Warum denk ich nicht wie meine vier Eigentlichen? Warum hab ich nicht blos Verſe, Phantaſien, Burlesken, Träume im Kopfes

Es iſt ſchauerlich, wie zerfahren ich bin. Da ſteckt nun was in mir; ich hoffe doch,

Viertes Buch, zweites Kapitel. 329

oder ...? Nein, es ſteckt ſchon was irgendwo, aber immer wieder hundsföttiſche Anwandlungen.

Zwei Seelen, ach? Aber die andern haben ja zwei Dutzend! Nur fahren ſie nicht ſo ausein⸗ ander

Ein Ziel! Ein Ziel! Herrgott nochmal, end⸗ lich ein Ziel!. |

Alſo die Zeitſchrift! Ja, ja, ja! Iſt das nicht eine That? He? Die neue Litteratur machen? Die freie Kunſt zum erſten Male rückſichtslos pro⸗ klamieren! Zum erſten Male ſagen: Wir ſind die Herren, kuſcht euch, Geſin dell.

Ah, im Grunde iſt mir das wohl auch nicht grade „Herzblut“... Dieſe ganze Schreiberei überhaupt: Geplärr

Kann man zeitlebens ſeine Freude daran haben, Leſefraß zu kneten? ... Iſt denn Schreiben Leben? Handlangerei für den beſſeren Mob! Kellnergewerbe..

Er lächelte nicht mehr. Eine ſcharfe, ſteile Falte teilte ſeine Stirne. Seine Heiterkeit war verſchwunden.

So ging es ihm immer, wenn er allein über ſich nachdachte. Deshalb brauchte er Leute um ſich, die das wegſchwemmten.

330 Stilpe.

Kommt denn die Bande nicht? |

Die Dämmerung kroch ins Zimmer, fie, die der „Bärenführer“ den „Teppich der behaglichen Lyriker“ nannte. Dazu dröhnten von unten her die Dampframmen. |

Der Bärenführer iſt der glücklichſte aller Menſchen. Zwar hat er kein Portemonnaie, aber er hat Weisheit. Zwar liebt er die Weiber nicht, aber er liebt ſeinen lieben Gott, der ihm täglich von 10—12 Uhr zwanzig Quartſeiten Phantaſien ſchenkt. Hat er die niedergelegt, und hat ihm ſein Kochbär ein tüchtiges Mittageſſen mit Gröbheiten gewürzt, ſo wandert er los wie ein tanzender Derwiſch, und die Welt iſt ihm eine Crémeſtange mit Cognacfüllung. Er macht ſich ſelbſt zum Narren und lacht doch Alle aus, denn ſeine Narr⸗ heit iſt ihm ſein Spiel. Er will nichts; das iſt ſein Geheimnis und ſeine Heiterkeit.

Stilpe dachte das nicht ohne Neid.

Der „Bärenführer“ war der „Erſte der Eigent⸗ lichen“, ein wunderlicher Menſch, der mitten in Berlin mit dem Gleichmut eines orientaliſchen Weiſen lebte und, arm wie ein perſiſcher Bettel⸗ mönch, ſich mit einer köſtlichen Grazie des Geiſtes aushalten ließ. Sein Reich war nicht von dieſer

Viertes Buch, zweites Kapitel. 331

Welt, aber wer ſein Reich kannte, dieſe weiten kosmiſchen Räume voll unerhörter Phantaſien und dieſe bunten Fabelſtädte mit den intimſten Winkeln genießender Ruhe nach raſenden Räuſchen, der wußte, daß ſeine Welt beträchtlich ſchöner war, als unſere. Ein Fakir mit Humor. In der Heimat ſeines Geiſtes, in Indien, wäre er wohl auch ohne Alkohol weiſe und heiter geweſen; in Berlin aber mußte er ſehr viel trinken. Doch ſelbſt im Alkohol blieb er harmoniſch. Es ſchien, als ob er wirklich die Fakirkunſt beſäße, ſich durch ſeeliſche Kräfte gegen alles Giftige immun zu machen.

Beſonders darum beneidete ihn Stilpe, der zu⸗ weilen ſelber merkte, wie der Alkohol an ihm zehrte, und wie er immer abhängiger von ihm wurde.

Der zweite der Eigentlichen war der „Peri⸗ pathetiker“. Auch er repräſentierte Weisheit in einem ganz unmodernen Sinne. Stilpe behauptete, er ſei die Reincarnation des alten Diogenes, und dieſe Meinung traf das Weſen des Peripathetikers im Ganzen wohl. Nur kam ein gut Teil weicher Verträumtheit hinzu. Er übertraf den Bären⸗ führer noch an ſozialer Untergrundsloſigkeit, denn er beſaß keinen weiblichen Bären, der ihm kochte.

332 Stilpe.

Es kam vor, daß er im Tiergarten übernachtete. Sonſt wohnte er bei Freunden herum. Dabei war er von ſehr edlem Anſtande und fühlte die Würde ſeines Geiſtes. Traf es ſich, daß er in „bürgerlicher Geſellſchaft“ war, ſo trug er ſofort, doch ohne Poſe, ganz aus einem inneren Über⸗ legenheitsgefühl, den Propheten zur Schau, der die Gewöhnlichen milde zum Handkuß zuläßt. Er hätte einen guten, feinen Mönch abgegeben, wenn er nicht etwas Vagantenhaftes gehabt hätte. Sein ganzes Leben war ein unausgeſetztes Denken und Dichten. Wo auch immer er war: Er ſchrieb, und ſtets trug er Manuffripte mit ſich herum, reich genug, fünf Nummern der Times zu füllen. Nur konnten ſie nicht abgedruckt werden, da ſie niemand außer ihm leſen konnte. In ſchwierigen Fällen war er ſelber nicht dazu imſtande. Stilpe beſaß ein Manuffript von ihm, einen Concept⸗ bogen in Quart, der außer den erſten Scenen zu einem Drama zwei Kapitel aus verſchiedenen Ro⸗ manen, ſechs Gedichte in Proſa, drei in Verſen und außerdem etwa fünf Dutzend Aphorismen und verſchiedene Eſſay⸗Brouillons enthielt, alles durch⸗ einander geſchrieben, erſt wagerecht, dann in ſenk⸗ rechten, dann in diagonalen Zeilen dazu. Und

Viertes Buch, zweites Kapitel. 333

man durfte mit Recht und ohne Übertreibung ſagen, daß ein geordneter, ökonomiſch diſponierender Litterat von dieſem einen Bogen gut ein Jahr ſeine geiſtigen Ausgabebedürfniſſe hätte beſtreiten können.

Leidenſchaften kannte der Peripathetiker nicht, doch liebte er kleine Mädchen, ſo bis zum 10. Jahre etwa, ſehr. Für die Seele des Kindes war er geradezu hellſeheriſch begabt, und man konnte Kleinodien an Kinderſcenen von ihm vernehmen.

Er konnte übrigens ohne Alkohol auskommen.

Nicht ſo der dritte der Eigentlichen: Kaſimir, der Fugenorgler. Es war ein gar wilder Pole voll von Dämonie und allen Künſten der Blague. Er hatte als Dichter nur ein Thema, Stilpe nannte es die mediziniſch⸗katholiſche Abgrundweis, aber dieſes beherrſchte er mit der Meiſterſchaft bornierter Genies. Sein Dichten war eine Art verzückter Drehkrankheit, und man wußte nicht, ob er ſich drehte, um zu dichten, oder ob er dichtete, um ſich zu drehen. Doch konnte ſich keiner der Macht dieſer grandios wirren Eintönigkeit ent⸗ ziehen. Es war ſchöpferiſche Beſeſſenheit, die in⸗ deſſen manchmal mehr Beängſtigung als künſtle⸗ riſchen Genuß hervorrief. Er wäre als Geſell⸗

334 Stilpe.

ſchafter unmöglich geweſen, wenn er nicht gleich⸗ zeitig ein unübertrefflicher Blagueur, geradezu ein Meiſter der Blague geweſen wäre. Stilpen, der ſelber in dieſer Kunſt viel vermochte, konnte er dadurch manchmal raſend machen. Nur der Bären⸗ führer und der Peripathetiker ließen ſich nie beirren, der Bärenführer, weil er überhaupt aus Allem nur inwendige Heiterkeit ſchöpfte, und der Peripathetiker, weil ſein Geiſt doch immer noch ſchneller lief, als die Blague des Polen.

Dagegen ließ ſich der vierte der Eigentlichen, den ſie den Zungenſchnalzer nannten, nicht ſelten verführen, Kaſimirn auf das polniſche Glatteis my⸗ ſtiſcher Schnoddrigkeiten zu folgen. Er liebte das Myſtiſche gar nicht, er war ganz auf das Aſthe⸗ tiſche und Erotiſche gerichtet. Stilpe nannte ihn Doktor der Erotologie. Er beſtritt der Menſchheit das Recht, in erotiſchen Dingen irgend etwas pervers zu nennen und machte aus dem, was er nun nicht pervers, ſondern kultiviert nannte, ein eifriges praktiſches Studium. Er wäre gerne ein Don Juan der Perverſität geweſen, indeſſen ent⸗ gleiſte ſeine Don Juanſchaft ſchon auf dem ge⸗ wöhnlichen Gebiete der Erotik recht häufig. Aber er nahm Alles für genoſſen und ſchnalzte mit der

Viertes Buch, zweites Kapitel. 335

Zunge. Als Dichter pflegte er das Gebiet des Undruckbaren mit anerkannter feiner Meiſterſchaft. Und: Einen ſachkundigeren Cirkuskritiker als ihn

gab es nicht. Als Geſellſchafter war er unter den

Vieren weitaus der angenehmſte, denn er war von

einer entzückenden echten Liebenswürdigkeit, voller

Geiſt und Laune. Nur mußte man früh um fünf

Uhr nicht ſchon nach Hauſe gehen wollen. Doch

trat dieſer Wunſch unter den Eigentlichen nie auf.

Es kann eine ganze nette Zeitſchrift geben mit den Vieren, dachte ſich Stilpe, aber es iſt mir unklar, ob irgend eine Nummer davon unverboten bleiben wird. Man wird ſie als Brief verſenden müſſen und von vornherein darauf ſchreiben: Nicht für die Offentlichkeit.

Hollah! Ein neuer Tric. Ein unöffentliches Blatt! Das iſt eine unbezahlbare Idee!

Er war Feuer und Flamme dafür und ent⸗ wickelte ſie ſofort mit Leidenſchaft, als die Viere

bei einander waren.

Köſtlich ſahen der Bärenführer und der Peri⸗ pathetiker aus, die Stilpes abgelegte Kleider aus ſeiner Kritikerzeit anhatten. Er ſelber trug ſich wieder mit einem Stich ins Salopp⸗xünſtleriſche. Die eleganten Koſtüme aus dem engliſchen Atelier

336 Stilpe.

waren ihm nie ſehr zu paſſe geweſen. Jetzt nahm ſich der Bärenführer in einem braunen, unendlich langſchößigen Gehrock mit hohem, breitem, ge⸗ ſchwungen geſchnittenem ſchwarzem Sammetkragen, eine ſeidene, beſtickte Weſte dazu, ſehr drollig aus, und der Peripatethiker in einem ſeidenkragigen ſchwarzen Smoking nebſt viereckig ausgeſchnittener Weſte war ein grotesker Anblick. Der Pole ſuchte eine halbe Stunde lang in den weiten grauen Hoſen nach den diogeniſchen dünnen Beinen.

2

Dann begann aber die Debatte. Die Idee mit der Unöffentlichkeit ſchlug ein, doch hielt das nicht ab, ſie ſofort auch ein bischen lächerlich zu machen.

Der Bärenführer wollte, daß das Blatt in einer Geheimſchrift von arabiſchem Charakter und natürlich von rechts nach links gedruckt würde.

Kaſimir ſchlug vor, die Beiträge des Peri⸗ pathetikers als Autogramme drucken zu laſſen, um

Viertes Buch, zweites Kapitel. 337

jede Gefahr auszuſchließen, daß ſie Futen werden könnten.

Der Peripathetiker ſchüttelte langſam den Kopf: Aber ich möchte ſie doch leſen!

Stilpe wurde ärgerlich und erklärte, er würde nicht eher etwas zu trinken geben, als bis man anfinge, ernſthaft zu reden. Er fühlte ſich beinahe ſchon als dekretierenden Redakteur.

Es wurde die parlamentariſche Form beſtimmt, damit man doch zu einem Beſchluſſe käme.

Alſo, gut, wie geſagt, ſelbſtverſtändlich: Eugen Richter; wie geſagt: Ich bitte ums Wort! rief der Bärenführer.

Stilpe, der natürlich präſidierte, erklärte, daß er ihn vormerken wolle; zuvörderſt aber müſſe die Geſellſchaft ein paar Worte von ihm entgegen⸗ nehmen:

Erſtens, meine Freunde, wollen wir uns geloben, heute zu einem Entſchluß zu kommen. Ich ſchlage vor, daß wir dies nicht ohne Feierlichkeit thun. Laſſet uns ſymboliſch vorgehen! Wer ſich verpflichtet, mitzuwirken zu einem endgiltigen Ent⸗ ſchluſſe und wer zu erklären bereit iſt, daß er ſich jeder Entſcheidung, die heute fällt, unterwerfen will, auch wenn ſie gegen ſeine etwaigen Anträge

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338 Stilpe.

ſein ſollte, der wähle mit mir aus dieſen Flaſchen eine gelbgekapſelte. Es iſt Cognac. Die Weiß⸗ kapſeln enthalten Gin.

Ich proteſtiere gegen dieſen Wahlmodus! erklärte zum größten Erſtaunen Aller der Peri⸗ pathetiker. Ich habe noch nie Gin getrunken und möchte deshalb eine weiße Kapſel wählen, obwohl ich zu jeder Verpflichtung bereit bin.

Alſo gut; die Erklärung wird zu Protokoll genommen, und Deine weiße Kapſel gilt für gelb, erklärte Stilpe. Im Übrigen ſehe ich, daß das Skrutinium allgemein für gelb entſchieden hat. Wir können alſo beginnen. Um zu verhüten, daß wie bei allen vorigen Sitzungen ein Chaos der Meinungen durcheinander gährt, ſchlage ich vor, daß jeder nur einmal das Wort erhält. Damit iſt geſagt, daß jeder ſich genau überlegen muß, was er vorbringt, denn er wird keine Gelegenheit haben, ſich ſpäter zu korrigieren.

Wie geſagt, ich bitte ums Wort! rief der Bärenführer.

Du wirſt es gleich bekommen. Ich will nur noch das ſagen: Die Reden ſollen ſich an folgende Punkte halten: 1) Welcher Art ſoll die Zeitſchrift

Viertes Buch, zweites Kapitel. 339

ſein? 2) Wie ſoll ſie heißen? Ich denke, dieſes Verlangen iſt billig. Wollen wir es ſo halten?

Ich bitte ums Wort, rief Kaſimir.

Bitte!

Sehr ſchön! Ausgezeichnet! Aber: Muß man ſo feierlich ſein, wie Stilpe, wenn man redet? d

Das wird ſich finden, aber ich bitte aller⸗ dings um eine ernſte Behandlung des Gegenſtandes. Wenn wir uns dazu zwingen, werden wir auch ſchnell zum Ziele kommen, denn es iſt freilich nicht amüſant, Reden zu halten, wie in einer General⸗ verſammlung. Wenn nichts gegen meine Vor⸗ ſchläge eingewandt wird, können wir wohl an⸗ fangen.

Es wurde nichts eingewendet. Alle hatten das Bedürfnis, dieſer ernſten Sitzung bald ein Ende zu machen. Man rauchte ſtark und trank Toddy dazu.

Der Bärenführer begann:

Wie geſagt, ſelbſtverſtändlich bin ich für eine in— de pen dente Zeitſchrift, wie gejagt. Sie muß anders ſein. Wie geſagt: Anders. Ganz anders. Selbſtverſtändlich, wie geſagt, muß fie Honorare zahlen. Aber ſchließlich, wie geſagt, iſt das einerlei. Wenn

2

340 | Stilpe.

ſie nur viel Raum hat. Plakatformat, wie geſagt, gelbes Papier und zinnoberrote Lettern, von rechts nach links gedruckt, wie geſagt, in Lederrollen verſandt.

Stilpe runzelte die Stirne und bemerkte: Ich muß Dich wirklich bitten, ernſthafte Vorſchläge zu machen.

Aber er iſt doch ganz ernſt, Bruder! rief Kaſimir. Ich finde das entzöckend!

Wie geſagt, natürlich, das iſt mein Ernſt, ſelbſtverſtändlich, wie geſagt. Das iſt doch ſehr fein und, wie geſagt: Praktiſch! Die erſte Nummer laſſen wir an die Littfaßſäulen kleben, wie ge⸗ ſagt.

Hehe, und ſolche nette kleine Sandwich⸗ männer laſſen wir laufen, die ſie auf dem Rücken herumtragen, hehe, und ſo werden ſie dazu immer ſchreien und rufen, hehe: Meine Herren Berliner, hehe, leſen Sie blos, was der Bärenführer wieder gemacht hat! Der reine Joethe! Hehe! Sie kennen doch Herrn Joethe, den Verfaſſer der Farbenlehre? Hehe! Er iſt auch ein bischen pervers geweſen, der gute Mann, hehe; ſo ein paar niedliche Epi⸗ grämmlein hat er gemacht ... ah! er war nicht ohne Begabung!

Ziertes Buch, zweites Kapitel. 341

Was verſtehen Sie denn von Goethe mein werter Pole, bemerkte der Zungenſchnalzer. Sie ſollen erſt einmal an die Ahnungsgrenze der Erotik kommen

Ich bitte, keine Privatgeſpräche zu führen rief Stilpe. Goethe und die Erotik beiſeite: Was will der Bärenführer noch?

Wie geſagt, ich bin für das Sittfoßfänfen- plakatformat und rot auf gelb, wie gejagt, und als Titel, wie geſagt, ſchlage ich vor: Die geſprenkelte Nachtigall.

Pſchakreff, kikeriki, wallahei, Bruder, Du haſt recht: Ausgezeichnet! Kaſimir ſtürzte ein Glas Toddy hinunter.

Die andern, außer dem Peripathetiker, lachten. Der Bärenführer miſchte Gin in ſeinen Cognac.

Der Peripathetiker aber erhob ſich im Tumulte des Lachens, ſah gerade vor ſich hin und begann ganz leiſe:

Unſere Zeitſchrift ſollte: Das Prisma heißen. Damit iſt für Alle Alles geſagt. Wie ein Prisma, das Strahlen fängt und Farben ſtrahlt. Nicht Spiegel des Körperlichen, ſondern Lichtſammler und Scheinwerfer. Nicht willkürlich in Kanten und Flächen, nicht roh und rauh, nicht

342 Stilpe.

zufallſchön oder zufallwahr, ſondern nach Geſetzen geſchliffen, in reinen Linien verbunden und ab⸗ gegränzt; nicht irgendwo liegend, nicht mit irgend einer Seite flach auf dem Boden, ſondern an goldenem Faden aufgehängt in freier Luft, ſchwebend aus ſich bewegt in einem langſamen Schaukel⸗ ſchwunge oder einen Kreis ſcheibend, da einen roten, da einen grünen, da einen gelben Strahl fangend und wieder von ſich gebend, aber im Innern Alles ſammelnd, kernreich, keimheiß, in der Tiefe das Auge Gottes, auf den Flächen der Schein der durchſchwebten Lichtwelt .

Plötzlich zog er ein Stück Zeitungspapier aus ſeinem herrlichen Smoking und ſchrieb emſig auf den Rand, ſo weit er noch unbeſchrieben war.

Die Andern lächelten innig und tranken.

Stilpe erklärte, daß ihm der Titel Das Prisma gut gefiele.

Oh, rief Kaſimir, mir gefällt beſonders der goldene Faden. Das iſt das Symbol des Hono⸗ rars. Und dann: Wie es im Kreiſe ſchwebt: Ausgezeichnet. Hehe: So angenehm idiotiſch, immer im Kreiſe, hehe, mit dem Auge Gottes.

Er ſtürzte wieder ein Glas Toddy hinunter.

Der Bärenführer fand Das Prisma auch gut,

Viertes Buch, zweites Kapitel. 343

aber er meinte, als Untertitel müſſe Die geſprenkelte Nachtigall ſtehen: Wie geſagt: Das Prisma, eine geſprenkelte Nachtigall! Aber natürlich, wie geſagt, in Lederrollen verſandt!

Jetzt lehnte ſich der Zungenſchnalzer in ſeinen Stuhl zurück und lächelte Stilpen überaus höflich mit einem fragenden Ausdruck in den ſchönen großen dunkelblauen Augen an.

Stilpe machte eine einladende Bewegung, und der Zungenſchnalzer begann:

Meine Herren! Sie werden (er war der einzige, der ſich mit Niemand duzte) von mir nicht erwarten, daß ich Pläne und Titel vorbringen werde, die an Originalität und Erhabenheit mit denen meiner Herren Vorredner zu wetteifern ver⸗ möchten. Ich bin der Meinung, daß wir in erſter Linie volkstümlich ſein müſſen.

In dieſem Augenblicke ſchlug Kaſimir eine gräß⸗ liche Lache auf und trank mit einer ungemeinen Schnelligkeit zwei Glas Toddy aus, dann kniete er vor dem Zungenſchnalzer nieder und küßte deſſen Stiefel.

Der Zungenſchnalzer leckte ſich den Schnurr⸗ bart, grinſte und fuhr fort:

Wir müſſen eine Kunſt haben, die auf den

344 Stilpe.

Mittelpunkt alles Empfindens geht, auf das Ge⸗ ſchlecht. Nur eine Geſchlechtskunſt iſt echt it Inſtinkt, iſt Genuß, iſt Leben, iſt Volkskunſt. Eine ejakulative Kunſt, orgaſtiſch, brünſtig. Ein Hinem knieen in die Uraccorde der Animalität, aber in allen Fineſſen raffiniert, differenziert bis in die äußerſten Nervenenden. (Er ſchien ſeinen Schnurrbart ver⸗ ſchlucken zu wollen, ſo verzückt bearbeitete er ihn mit ſeiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend, peitſchenknallend, fieberiſch! Tanzmelodien und Hengſtwiehern. Corſettkrachen und die Melancholie des Leierkaſtens. Blechmuſik und das Rauſchen von ſeidenen Unterröcken. Pubertätswimmern und das Schollern von Eisplatten in breiten, wäl⸗ zenden Strömen. Einen Titel dafür weiß ich nicht. Das Unſagbare kann man wohl ſtammeln aber nicht benennen.

Hehe, ſo ſagen Sie doch: Der Stammler, werter Herr, oder: Stimmwechſel. Das ſind aus⸗ gezeichnete Titel. Hehe, oder: Der Hengſt des Volkes. Das iſt noch entzöckender! Oder: Der rote Faden! Oder: Das Nadelör der Welt. Hehe! Ausgezeichnete Titel!

Der Pole ſchien ſich ein bischen zu ärgern.

Der Zungenſchnalzer lächelte verbindlich:

Viertes Buch, zweites Kapitel. 345

Dann würde ich ſchon lieber gleich Phallus oder Priapus vorſchlagen, wenn es nicht fürs Volk unverſtändliche Fremdworte wären, und die deutſchen Ausdrücke ſind leider zu Rohheiten geſtempelt worden. Es verſteht ſich, daß ſie dadurch für mich unmög⸗ lich werden, denn das Rohe ſchließe ich ja aus.

Er lehnte ſich wieder vor und lächelte mit einem Ausdruck wie: Ich bin fertig, Herr Präſident! Stilpen an.

Stilpe war mittlerweile betrunken worden und konnte nicht mehr an ſich halten; nun mußte er reden.

Er ſtand auf, ſetzte ſeinen Hornklemmer ab und ließ ihn an dem breiten Bande ſchwingen. Dann begann er ſehr laut:

Die geſprenkelte Nachtigall! Gut! Bunt! Ornithologiſch! Alſo: Deutſch! Wir würden ſämmt⸗ liche Mädchen damit verführen. Oder wie? Es iſt kein Zweifel erlaubt! Denn es iſt ein befiederter Titel. .. Jawohl! ... Indeſſen! Ah!: Das Prisma! ... Streng! Keuſch! Gläſern! Ideal! Mathematiſch! Die Welt der Gymnaſiallehrer würde zu uns ftrömen!... Sehr gut! In⸗ deſſen, mir ſcheint, . .. aber nein: Sehr gut! Nur .. . es blendet, es ſticht in die Augen, und:

346 Stilpe.

es iſt kalt, ſehr kalt! Überaus kalt! Außerdem weiß kein Menſch, was ein Prisma iſt. Der Titel erfordert ein Converſationslexicon. Auch kann man keine Lyrik unterbringen. Oder? Nein, man kann nicht, durchaus nicht! ... Dagegen: Phallus! Ja: Hier iſt Lyrik, ausgeſprochen Lyrik. Sehr warm. Winkend. Kraft und Saft und Sinndeute der Welt. .. . Aber warum nicht: Der Phalluswald? Hört doch nur: Der Phalluswald! In ihm ſingt die geſprenkelte Nachtigall mit ſüßem Geſchluchz, in ihm auch kann man irgendwo das Prisma aufhängen! Sinnend wandelt hier der Peripa⸗ thetiker, anmutig lehnt hier der Bärenführer und läßt aus ſeiner großen Zehe eine neue Welt wachſen, neue Tänze übt zwiſchen den ſäuligen Stämmen der Zungenſchnalzer nach der Melodie des Bauchtanzes von Hawai, tief bohrt ſich ins Wurzelgeflecht die blutige Seelenſuchekralle Kaſimirs, und auch ich werde in dieſem Schattenhain der Urgefühle die Lieder finden, die, wie ich mit Be⸗ ſtimmtheit behaupten darf, irgendwo in mir ſchlummern.

Lieben Freunde, trinkt Cognac und Gin, machet ein Feuer in euch an, daß eure Augen glühende Kugeln werden, groß wie die Uhrſcheiben am Rat⸗

Viertes Buch, zweites Kapitel. 347

hausturm, und eure Fäuſte ſtark wie die Dampf⸗ rammen der Weidendammerbrücke, trinket Gin und Cognac, Freunde, lieben Freunde und Genies, trinkt und glaubt an meine ſchlafenden Lieder, dieſe feiſten Murmeltiere, aus deren Fett ich Elender Feuilletons gebacken habe, trinkt, trinkt, trinkt, ſchlagt euch rotgeränderte Wolken um die Schultern als Regenmäntel und kommt mit mir in den Phalluswald!

Kommt, o kommt und ſeid nicht träge, Sind auch glitſcherig die Wege:

Rot wie Roſen lacht das Ziel,

Und wir wollen ins Behagen

Milde, gütig jeden tragen,

Der in eine Pfütze fiel!

Er war unmäßig gerührt und legte ſich neben den Polen, der ſich mitten im Zimmer nieder⸗ gelaſſen hatte und nichts ſagte als: Der Seelen⸗ krebs, Bruder, der Seelenkrebs, hehe, das iſt der Titel, das iſt das Programm!

Der Peripathetiker ſtand ſchweigend am Plakate des Tintenſumpfs und bedeckte deſſen unbedruckte Flächen mit Hieroglyphen, der Bärenführer ordnete die Cognac⸗ und Ginflaſchen und kommandierte:

348 Stilpe.

Leibgarde des Sultans! Prääääſentiert! Präääſen⸗ tiert! Der Zungenſchnalzer leckte ſich den Schnurr⸗ bart und trank weiter.

Da klingelte es, und kurz darauf öffnete ſich die Thüre. Herein trat mit einem leichten Aufſchrei eine üppig ſchlanke, theatermäßig geſchminkte Dame mit einem weiten blauen Theatermantel und einem rieſigen Federhut.

Der Zungenſchnalzer ging ihr mit Anſtand entgegen, Stilpe drehte ſich blos um und rief: Süße Kamelie, leg Dich an meine Seite, wir haben Großes geleiſtet!

Das ſeh ich. Sag mal, wie findeſt Du das eigentlich? Eine halbe Stunde hab ich am Winter⸗ garten gewartet. Is das nett?

Sie ſprach mit einem Anflug von Hamburger Dialekt. Wie ſie ſich im Lichte der Lampe auf Stilpes leeren Stuhl niedergelaſſen hatte, ſah der Zungenſchnalzer, daß ſie ſehr hübſch, wenn auch nicht mehr ganz jung war. Man hätte ſie wohl für eine Dänin halten können: Ganz hellblaue Augen mit großem Stern, flachsblonde Haare, die Naſe ein klein wenig, aber ſehr anmutig abgeſtumpft; dazu ein ſehr kleiner, ſchön geſchwungener Mund, der ganz beſonders zu dem kindlichen Ausdruck

Viertes Buch, zweites Kapitel. 349

dieſes Geſichtes beitrug. Die Haare trug ſie in der Mitte geſcheitelt und, die Schläfen wie einen großen Teil der Stirne ganz bedeckend, glatt über die Ohren gelegt; hinten bildete ihre dichte Fülle einen üppigen Zopfkranz. Dieſe Friſur gab ihr etwas ſüß Frauliches zu dem Kindlichen. Wenn man ihr aber genauer in die Augen ſah, ſo ſpürte man, daß eine heitere Energie der Grundzug dieſes Weſens war.

Sie war, eine geborene Holſteinerin, däniſch⸗ deutſche Liederſängerin und trat jetzt im Winter⸗ garten auf. Stilpen hatte ſie ſehr gerne, aber ſie war nicht eigentlich ſein Fall. Er liebte „die Weiber nicht ſehr, vor denen man Reſpekt haben muß“, und vor ihr hatte er Reſpekt.

Ach Gott, Du wärſt ſo reizend, wenn Du nicht im Grunde ſo anſtändig wärſt, hatte er oft zu ihr geſagt. Man kommt ſich mit Dir immer verheiratet vor.

Der Reſpekt, den er vor ihr hatte, brachte es jetzt auch zuſtande, daß er ſich erhob und ein bischen nüchtern wurde.

Siehſt Du, mein blondes Gewiſſen, ich konnte nicht kommen. Erſt die Litteratur, dann die Liebe. Wir haben ſoeben die deutſche Litteratur

350 Stilpe

mit einer neuen Zeitſchrift begnadet: Der Maſten⸗ wald oder ſo ähnlich, Organ für geſprenkelte Nachtigallen und Seelenkrebs. Ja! Das wird eine Nummer, Madame!

Ich kann mir den Unſinn ſchon vorſtellen. „Du biſt nicht mein erſter Dichter. Ich kenne das mit euren Zeitſchriften. Snak! Dich hätt' ich eigentlich für klüger gehalten. Fällt euch denn gar nichts Neues ein?

Der Bärenführer, der auch darin Orientale war, daß er die Weiber nur ſexuell nahm, und auch das nicht eben mit Leidenſchaft, wurde ärger⸗ lich. Er warf drei Flaſchen um und rief:

Kattarattazambu! Plokjo tratuzupina! Pſchattul Pſchattu! Pſchattu!

Dazu machte er ein ſehr zorniges Geſicht.

Mein Gott, was hat denn der Herr? fragte lachend die Sängerin.

Ich ſpreche, wie geſagt, die Affenſprache, mein Fräulein, ſelbſtverſtändlich platt, wie ge- ſagt.

Gott, iſt der aber komiſch! Was hat denn das geheißen?

Wie geſagt, ſelbſtverſtändlich gar nichts, das heißt, natürlich: Sehr viel, wie geſagt, nämlich:

Viertes Buch, zweites Kapitel. 351

Was verſtehen denn die Weiber von der Wort⸗ kochkunſt, wie geſagt.

Aber ich verliebe mich doch fortwährend in Dichter, wie geſagt, da gehöre ich doch mit dazu. Nich? Ä

Jetzt drehte ſich der Peripathetiker um und ſchritt langſam auf die Sängerin zu:

Guten Abend, Mathilde!

Er ſagte das ſehr zärtlich.

Die Sängerin ſah ihn groß mit lachenden Augen an:

Ich heiße aber Martha!

Nein: Mathilde. Ihre Stimme klingt wie Mathilde. Ganz ſeraphimflügelblau mit einem Kern von willefrohem Ultraviolett. Auch Ihre Hände flüſtern Mathilde. So lilienblattſchmal und immer betend mit leis durchbluteten Adern.

Er nahm ihre rechte Hand und hielt ſie vor das Lampenlicht:

Kinderpatſcheken! Sie find ein guter Menſch, Mathilde!

Die Sängerin ſchüttelte ganz ernſthaft den Kopf:

Nein, ſo was! Sind Sie der liebe Gott, Sie freundlicher Herr?

Dann lachte ſie beluſtigt:

352 Stilpe.

Nein, was haſt Du denn da wieder für eine Menagerie? Jetzt weiß ich ſchon gar nicht mehr, in wen ich mich verlieben muß.

Bitte, in mich! ſagte der Zungenſchnalzer in einem zärtlich dringenden ernſten Tone. Sehen Sie: Ich könnte auf Ihnen ſpielen! Seien Sie meine Liebesgambe! Sehen Sie in meine Augen! Was ſehen Sie!

Sie haben ſehr ſchöne Augen, wirklich.

Blos ſchön? Nicht auch tief? Sehen Sie noch einmal hinein!

Es ſah aus, als wollte er die Sängerin wie eine Auſter mit den Augen verſchlucken.

Aber Sie müſſen meine Kniee in Ruhe laſſen. Wirklich: Sehr ſchöne Augen! Sind Ihre Gedichte auch ſo ſchön?

Ach, laſſen Sie meine Gedichte! Meine Gedichte ſind nichts, aber meine Liebe iſt wie eine tigerbunte Orchidee. Kennen Sie die Orchideeen mit den gekrümmten Piſtillen, die wie gelbgepuderte Schlangen find?

Die Sängerin ſchob ein zweites Mal die Hände des Zungenſchnalzers von ihren Knieen, dann lachte ſie:

Jetzt thut mirs blos leid, daß der da unten ſchläft. Das is gewiß auch ein Netter!

Viertes Buch, zweites Kapitel. 353

Stilpe bemühte ſich ſogleich, Kaſimirn zu wecken aber der war endgiltig fertig und konnte blos noch: Seelenkrebs! ſchluchzen.

Die andern aber ſetzten ſich um die Sängerin herum und vereinigten ſich, den Bärenführer nicht ausgeſchloſſen, in wohlausgeſuchten Reden zu ihrem Preiſe. Die Sängerin amüſierte ſich ſehr und that auch jedem in Toddy Beſcheid.

Das rührte den Bärenführer, der nun immer betrunkener wurde, ungemein, und er flüſterte:

Wie geſagt, Martha, ſelbſtverſtändlich: Sie ſind ſchön, ſchön wie mein Bär, wie geſagt. Ich umarme Sie mit meiner Seele. Ich liebe Sie fabelhaft! Wie geſagt: Sie ſind wie ein Bündel roſengelber Schlangen! Sie müſſen die geſprenkelte Nachtigall abonnieren!

Und das Prisma! flüſterte der Peripathetiker.

Und den Phallus! ſtöhnte der Zungen⸗ ſchnalzer.

Und den Phalluswald! rief Stilpe.

Machen wir! ſagte die Sängerin.

Da ſchrie Stilpe laut auf:

Eine Idee! Gründen wir vier, nein fünf Zeitſchriften! Auch Kaſimir muß ſeine haben. Und

jeder ſchreibt immer ſeine allein! Wie? Iſt das 23

354 Stilpe.

nicht die Löſung? Jeder fein eigener Redakteur! Iſt das nicht, ja, iſt das nicht.. Wie?

Selbſtverſtändlich, wie geſagt: Fünf Zeit⸗ ſchriften in Plakatformat!

Die Sängerin ſchüttelte den Kopf:

Aber, Kinder, ſeid ihr denn wirklich verrückt? Vorhin wart ihr doch blos duhn. Wenn ihr durch⸗ aus was gründen wollt, ſo gründet doch ein an⸗ ſtändiges Tingeltangel!

Hu hu hu! lachte der Bärenführer; aber die andern ſaßen da, als hätte ſie jemand von oben fallen laſſen.

Ernſthaft! Ein literariſches Tingeltangel. Wirklich! So was fehlt! Wo gute Sachen ge⸗ ſungen werden. Sie können ja auch verrückt ſein. Aber Sachen von Dichtern. Und dann überhaupt Alles geſchmackvoll, ſo, wie die engliſchen Ballets; überhaupt: Was Schönes!

Stilpe und der Zungenſchnalzer erhoben ſich gleichzeitig wie zwei Ergriffene und riefen durch⸗ einander:

Herrgott! Donnerwetter! Natürlich! Das iſt es! Das müſſen wir thun!

Selbſtverſtändlich, wie geſagt: Ein äſthe⸗ tiſches Tingeltangel! Ach, Martha, Sie ſind das

Viertes Buch, zweites Kapitel. 355

Sternbild des großen Bären! Wie geſagt, natür⸗ lich, ſelbſtverſtändlich ein Tingeltangel, wie geſagt!

Auch der Peripathetiker war, in ſeiner patri⸗ archenhaften Weiſe, von dem Gedanken ergriffen:

Eine Renaiſſance der Kunſt, aller Künſte! Leiſe Singetänze in blauem Lichte. Die verruchte Holdheit der Bajadere. Der Rhythmus griechen⸗ meerplätſchernder Oden im Schmiegeſchwunge nackter Brüſte. Sehen Sie, wie recht ich hatte, daß Sie Mathilde heißen?

Am lebhafteſten aber waren Stilpe und der Zungenſchnalzer; Stilpe war durch die Idee nüch⸗ tern geworden, der Zungenſchnalzer berauſcht.

Der Abend endete mit dem feſten Beſchluſſe, keine Zeitſchrift, ſondern das Literatur⸗Variété⸗Theater

MOMUS zu gründen.

GN

23*

Drittes Kapitel.

Stilpe ſaß an feinem Schreibtifch und arbeitete. Er machte dazu ein Geſicht wie der lachende Zola, unendlich zufrieden und mit einem Blick, der auch noch im Lachen ein Ziel im Auge hat.

Die Pfeife ſaß im rechten Mundwinkel, von den Zähnen nach oben geſtemmt, ſo daß es gar verwegen ausſah. Die Dampfwolken fuhren mit Kraft aus dem vollen Munde mit den aufgeworfenen Lippen.

Rechts und links türmten ſich neben verſchie⸗ denen Liqueurflaſchen Papiere, Briefe, Druckproben zu Programmen, Zeitungen, Zeichnungen, Manu⸗ ſtripte, Notenſtöße. Große offene Körbe ſtanden im Zimmer, aus denen blumig bedruckte Muſſelin⸗ ſtoffe, dünne indiſche Seidengewebe in hellen ſchönen Farben, ſchwere dunkle Samte, Spitzen, Gold⸗

Viertes Buch, drittes Kapitel. 357

franzen hervorquollen. An den Wänden hingen große bunte Koſtümbilder im Geſchmacke der eng⸗ liſchen Aſtheten, aber heiterer, frecher. Mit dem Geruch des Old Judge miſchten ſich Parfüms von der reſoluten Art, wie man ſie in den Garde⸗ roben von Variétédivas einatmet.

Stilpe war von Grund der Seele aus ver⸗ gnügt. Wenn er einmal die Feder weglegte, rieb er ſich die Hände und pfiff vor ſich hin. Ja, er murmelte ſogar zuweilen Worte erregter Befrie⸗ digung: Hop! So! Tja, tja, tja, tja! Höh! Das reißt!

Und doch war der erſte Momus⸗Rauſch, der Rauſch der Pläne und Phantaſieen vorüber, der Rauſch der Tage und Nächte, als ſie in täglichen Zuſammenkünften die Idee der Sängerin im Verein mit ihr genauer durchgeſprochen hatten.

Wie hatten fie da über die Zeitſchrift gelacht, wie hatten ſie die Sängerin gefeiert als Retterin aus dem ſchlimmſten aller Tintenſümpfe; wie war da Stilpe von Tag zu Tag lebhafter, luſtiger ge⸗ worden.

Ha: Die Renaiſſance aller Künſte und des ganzen Lebens vom Tingeltangel her! Oh, das ingeniöſe Mädchen aus Holſtein! Man wird fie

358 | Stilpe.

preiſen wie eine neue und größere Neuberin, als die moderne Muſe in Perſon. Unter ihrem Zeichen werden wir das neue, echte, ganze, das lachende Heidentum heraufführen mit Bockſprüngen und höchſt edlen Faltenwürfen zärtlicher Gewänder. In unſerm Schlepptau wird Alles hängen: Ma⸗ lerei, Poeterei, Muſikerei und Alles überhaupt, was Schönheit und genießendes Leben will. Was iſt die Kunſt jetzt? Eine bunte, ein bischen glitzernde Spinnwebe im Winkel des Lebens. Wir wollen ſie wie ein goldenes Netz über das ganze Volk, das ganze Leben werfen. Denn zu uns, ins Tingeltangel, werden Alle kommen, die Theater und Muſeen ebenſo ängſtlich fliehen, wie die Kirche. Und bei uns werden ſie, die blos ein bischen bunte Unterhaltung ſuchen, das finden, was ihnen Allen fehlt: Den heiteren Geiſt, das Leben zu verklären, die Kunſt des Tanzes in Worten, Tönen, Farben, Linien, Bewegungen. Die nackte Luſt am Schönen, der Humor, der die Welt am Ohre nimmt, die Phantaſie, die mit den Sternen jongliert und auf des Weltgeiſts Schnurrbartenden Seil tanzt, die Philoſophie des harmoniſchen Lachens, das Jauchzen ſchmerzlicher Seelenbrunſt, ah, werft mir ein paar Feigenkränze voll Worten zu, blaſt mir Aſſo⸗

e

Viertes Buch, drittes Kapitel. 359

ziationen ein, laßt mich in Inkohärenzen lallen, laßt mich farbige Wortflutſäulen ausnüſtern, groß wie die Waſſerwürfe aus den Naſen verzückter Walfiſche! Wir werden ins Leben wirken wie die Troubadours! Wir werden eine neue Cultur herbei⸗ tanzen! Wir werden den Übermenſchen auf dem Brettl gebären! Wir werden dieſe alberne Welt umſchmeißen! Das Unanſtändige werden wir zum einzig Anſtändigen krönen! Das Nackte werden wir in ſeiner ganzen Schönheit neu aufrichten vor allem Volke! Luſtig und lüſtig werden wir dieſe infame, moralklapprige Welt wieder machen, luſtig und himmliſch frech! Leichtſinnig ſoll die Bande wieder werden und ſoll bauchtanzen lernen! Ah, wir ahnen vielleicht gar nicht, was für raffinierte Sachen die Biedermänner Germaniens leiſten wer⸗ den, wenn unſer Geiſt über fie gekommen ift!.... Kinder, küßt unſern blonden Engel hier und um⸗ armt mich, denn wir haben die Welt im Sacke! In dieſem Stile und toller noch geberdete ſich die Wolluſt Stilpes, endlich einmal ein Ziel ge⸗ funden zu haben, das ſeinem Weſen gemäß war. Und die andern, der Zungenſchnalzer voran, waren nicht weniger außer ſich. Dabei entwickelte Stilpe aber auch eine wirk⸗

360 Stilpe.

liche Thätigkeit, und, kaum, daß ein Monat ver⸗ gangen war ſeit dem erſten Auftauchen der Momus⸗ Idee, da hatte er auch ſchon „Kapital am Bändel“, und die Aktiengeſellſchaft Momus war gegründet, ein verkrachtes kleines Theater gemietet und er „artiſtiſcher Direktor“ des Ganzen.

Seine Gabe, ſich auch klug zu benehmen, wenn es not that, kam ihm dabei ſehr zu ſtatten. Es war ein Schauſpiel, ihn zu ſehen, wie er in ſeinem Staatsrocke und mit ſeinen läſſigen Geſten des ſicheren Geſchäftsmannes bei „Leuten von Gelde“ am Werke war, die ausſichtsreiche neue Idee mit einem großen Aufwande von Zahlen aus dem Ge⸗ ſchäftsberichte der Londoner Empire⸗Geſellſchaft zu entwickeln, und wer ihn anzuhörte, wie er in geſetzter Rede, aber mit einem Grundton tiefer künſtleriſcher Überzeugung und dabei geſtützt auf entwickelungsge⸗ ſchichtliche Ideen origineller Art nachwies, daß das Unternehmen eines „künſtleriſch⸗literariſch bedeut⸗ ſamen Kunſtinſtitutes mit Variété⸗Prinzip“ geradezu eine Forderung des Zeitgeiſtes ſei, der zweifelte nicht, daß hier eine „Sache“ im Entſtehen war.

Sehen Sie die Theater an! Sie ſind leer! Gehen Sie in den Wintergarten! Er iſt voll! Dort Ableben, hier Aufleben! Wer die Kunſt liebt,

Viertes Buch, drittes Kapitel. 361

muß von Schmerz ergriffen werden bei dieſem Anblicke, und Sie wiſſen, wie ſehr ſich kunſt⸗ freundliche Kreiſe bemühen, durch Gründung bil⸗ liger Theater ꝛc. das Publikum, zumal der breiteren Volksſchichten, dem Variété zu entziehen. Ein lobenswerter Plan, aber eine falſche Methode, ein verhängnisvoller Irrtum, entſprungen einem Mangel an Zeitpſychologie und an Verſtändnis für ent⸗ wickelungsgeſchichtliche Reſultate! Die Zeit des Theaters iſt im Ganzen vorbei! In dieſen alten Schlauch füllt nur der Unverſtand neuen Wein! Nein, wie das Theater, ehedem ein Appendix der Kirche, ſich von dieſer losmachte und ſich ſelber eine neue, damals zeitgemäße Form gab, ſo muß ſich die Kunſt heute vom Theater emanzipieren und entſchloſſen die Form annehmen, für die ſich der Zeitgeſchmack entſchieden hat: Die Form des Variétés! Beides iſt reif zum Untergange: Das Theater, weil ſeine ganze Struktur zu klotzig, ſchwer und unbeweglich iſt für die Genäſchigkeit des mo⸗ dernen Kunſttriebs, und das jetzige Variété, weil es ſeine überaus günſtige, allen Wünſchen einer nervöſen Zeit gemäße Form nicht mit wahrhaft künſtleriſchem Inhalt zu erfüllen verſteht. Laſſen Sie uns ein Variété gründen als äſthetiſche An⸗

362 Stilpe.

ſtalt im weiteſten Sinne, als Trägerin und Ver⸗ körperung all der heute ſo üppig ſich entfaltenden Richtungen in den Künſten, als Schaubühne des Schönen für Auge, Ohr und Gemüt, und Sie werden ſehen, daß Sie ſich an einer wahrhaft kulturellen und zugleich eminent praktiſchen That beteiligt haben!

Mit dieſer Anrichtung ſeiner Ideen für den Geſchmack von Leuten, die in Kunſt ſpekulieren wollten, hatte er umſomehr Erfolg, als er ſich gleichzeitig den Anſchein des vorſichtig bedachten Geſchäftsmannes zu geben wußte, der es fürs Erſte ablehnte, ein Rieſeninſtitut ins Leben zu rufen. Ganz von ſelbſt werde ſich aus beſcheidenen Anfängen das große Etabliſſement der Zukunftsbühne entwickeln.

Sein bekannter Name, mit dem ſich die Em⸗ pfindung von „geiſtreicher Schriftſteller“ verband, that das Übrige dazu, auch wirkte es beſonders überzeugend, daß er ſelbſt als Erſter fünftauſend Mark allein zeichnete. So erfolgte die Gründung der Geſellſchaft ſchnell, und er erhielt einen Kon⸗ trakt als artiſtiſcher Direktor mit vollkommener Selbſtändigkeit.

Da er ſo klug war, bei den erſten Ankündigungen des entſtehenden Unternehmens ſeinen Namen, ob⸗

Viertes Buch, drittes Kapitel. 363

wohl ihm das ſehr ſchwer fiel, beiſeite zu laſſen, ſo nahm ſich auch die Preſſe, wenn auch mit den üblichen Vorbehalten, der Sache an, und der Name Momus tauchte in kurzen Zwiſchenräumen halb geheimnisvoll immer wieder in den Blättern auf. Es konnte kein Zweifel mehr ſein, daß das Berliner Publikum, in erſter Linie die literariſch und künſtleriſch intereſſierten Kreiſe, der neuen Sache mit Spannung entgegenſahen. Der Umſtand, daß die Witzblätter das Schlagwort vom poetiſchen Tingeltangel aufbrachten, allerlei literariſche Chan⸗ ſons vorſchlugen, Ernſt von Wildenbruch als Haus⸗ dichter des Momus, Menzel als Koſtümzeichner und Karl Frenzel als Tanzmeiſter namhaft machten, trug dazu bei, das Intereſſe wachzuhalten. Indeſſen arbeitete Stilpe mit heiterer Ausdauer unausgeſetzt an der Ausgeſtaltung des Unternehmens bis ins Einzelne. Der Bärenführer und der Peri⸗ pathetiker ſchleppten täglich die unerhörteſten Chan⸗ ſons herbei, der Zungenſchnalzer entwarf erotiſche Szenen von trikotloſer Kühnheit, Kaſimir röchelte im Pſalmenſtile ſchauerlich ſchöne Seelenmonologe voll krebsgeſchwürigen Abendröten und ſataniſchen Ab⸗ ſynthismen, geſtimmt und berechnet auf die Maul⸗ trommelbegleitung aztekiſcher Urmelodieen, die ge⸗

364 Stiſpe. ſammte junge Lyrik aller Schattierungen ſandte nach Berlin NW. 32, „poſtlagernd Momus“, Lieder jeder erdenklichen Art, die Componiſten waren auch nicht faul, und die jungen Maler und Zeichner ebenſowenig. Dazu wimmelten Chanſonetten und Komiker, Reckturner und Jongleure, Tierbändiger und Zauberkünſtler, Knockabouts, Clowns, Gedanken⸗

leſer, Schlangenmenſchen, plaſtiſche Poſeuſen, Schnell⸗

maler, Schnelldichter, Schnellmodelleure, Schnell⸗ rechner, Mimiker, Negertänzer, Skandalfürſtinnen, Antiſpiritiſten, Bauchredner, Zwerg⸗ und Rieſen⸗

menſchen, kurz alles herbei, was nur auf den

Namen Variété hörte und das Literariſch⸗Künſt⸗ leriſche für Nebenſache erachtete. Sogar Herr Ahl⸗ wardt kam.

All das bereitete Stilpen ein herzliches Ver⸗ gnügen, und er bedauerte faſt, daß das Programm des Momus ſo enge Grenzen hatte. Dabei war

er in Auslegung des Begriffes Aſthetiſch keines⸗

wegs engherzig und legte es im Grunde mit „irgendwie angenehm“ aus. Nur mit Aufgebot von außerordentlicher Energie ließ er zumal weib⸗ liche Artiſten ziehen, wenn ſie irgendwie angenehm auf ihn wirkten, und gewaltig groß war die „Liſte

der für ſpäter notierten Mädchen“, die er zwar

er ee en en

Viertes Buch, drittes Kapitel. 365

nicht ſogleich brauchen konnte, denen er aber mit väterlichem Wohlwollen erklärte: Später peutötre!

Seine Haupthelfer waren der Zungenſchnalzer und Martha die Muſe. Dieſe beiden beſaßen die eingehende Fachkenntnis, die ihm, dem Organiſator und Neuſchöpfer, doch abging.

Der Zungenſchnalzer wurde als „Choreograph“, Martha als „Direktrice für Chanſon und verwandte Gebiete“ engagiert. Der Bärenführer, der Peri⸗ pathetiker und Kaſimir konnten in feſten Stellungen nicht verwandt werden, doch übten ſie das Amt lyriſcher Lektoren aus.

Kaſimir ſtöhnte am lauteſten unter dieſer Bürde:

Lauter Joethes, Bacillenſchwärme von Joe⸗ thes; es iſt ſehr ſcheußlich.

Und fortwährend zitierte er die ihm verfallenen Lyriker mit dem Tone ironiſcher Ergriffenheit.

Der Peripathetiker mißbrauchte die ihm anver⸗

trauten Gedichtblätter zu Manuſkripten, und der

Bärenführer erklärte, daß er nur über ſolche Lyrik objektiv urteilen könnte, der deutſche Briefmarken als Rückporto beigelegt ſeien. Im Übrigen inter⸗ eſſierte der ganze Momus dieſe Drei nur inſofern, als ſie durchaus wünſchten, auf dem Programm der Premiere zu ſtehen. Stilpe war auch ganz

366 Stilpe.

damit einverftanden, nur waren die bis jetzt von ihnen vorgelegten poetiſchen Erzeugniſſe nach ſeiner Meinung noch nicht momusreif.

Druckreif und momusreif iſt ein Unterſchied, meine Süßen! Ihr ſeid noch nicht auf der Höhe des Brettls, ihr ſeid noch zu papieren! rief er ihnen immer wieder zu.

Übrigens entſchied er nicht allein darüber; Martha die Muſe hatte das Hauptwort dabei.

Wie er mitten im vergnügteſten Correſpondieren war, trat ſie ein:

Na, haben wir endlich ein paar Dichter?

Nee, ich glaube nicht. Wir müſſen den Stil erſt erfinden. Entweder fehlt ihnen der Mut oder der Geſchmack zum Gaſſenhauer. Blos der Zungenſchnalzer hat ein paar gute Sachen produ⸗ ziert, und das Schönſte iſt, daß er ſie auch ſelber ſingen kann. Er iſt überhaupt unbezahlbar, und ich werde ihn zum Conrektor des Momus ernennen. Er kann direkt Alles, nur muß man ihn eigentlich erſt ein bischen kaſtrieren. Himmelſchreiend dieſe Erotik! Die vier Tanzmädchen hat er ſchon voll⸗ ſtändig verdorben, und ſie wollen nun ſchon gar nichts mehr anziehn. Er übt jetzt ein Literatur⸗ ballet mit ihnen ein und iſt ſchon bei den Roman⸗

Viertes Buch, drittes Kapitel. 367

tikern: Pas de Tieck. Dann hat er mit den drei Poſeuſen eine herrliche Nummer ausgeheckt: Das Heinedenkmal. Die Idee iſt von mir, aber ich muß ſagen: Er hat ſie direkt mit Diamanten überſät. Er wird Heine ſelber darſtellen, im Bett liegend, von anmutigen weiblichen Viſionen ergötzt. Auch einen dreſſierten Bären hat er als Atta Troll aufgetrieben. Na, Du wirſt ja ſehen! Es iſt eine unbeſchreibliche Nummer! Damit die Antiſemiten nicht Spektakel machen, laſſen wir darauf das „Journaliſtiſche Trio“ folgen mit den drei jüdiſchen Komikern. Sie ſind zwar ein bischen ruppig, aber ohne Ruppigkeiten gehts nicht. Übrigens iſt mein Text dazu um ſo feiner. Die Bande ſolls ſpüren! Jetzt, wo ſie wiſſen, daß ich die Sache mache, druckt kein Menſch unſre Waſchzettel mehr. Na, dafür haben wir die Litfaßſäulen! Totſchweigen giebts nicht! Nur: Dieſe verfluchten Lyriker! Schließlich muß ich alle Couplets alleine machen. Wenn ich nur mehr Zeit hätte! Und dieſer Bären⸗ führer, auf den ich ſo viel Hoffnung geſetzt hatte! Der Menſch weigert ſich, regelmäßige Strophen zu bauen und ſteift ſich fortwährend auf das, was er „Fineſſe“ nennt. Der Peripathetiker thut auch nicht, was man will, und Kaſimir kennt ſeit zwei

368 Stilpe.

Wochen blos noch ein Thema: Die Blutſchande. Was ſoll man mit ſolchen Leuten machen? Die Literatur ſitzt ihnen im Schädel wie eine Rieſen⸗ trichine. Keiner begreift, daß wir die Bühne der Zukunft gründen wollen! Sie werden heute wieder anrücken und Vorſchuß verlangen. Ich zahle jetzt aber nicht mehr in baar, ſondern in Viktualien. Dabei hat ſich Kaſimir in die zweite Poſeuſe ver⸗ liebt und will für ſie einen Seelenrhythmus dichten, natürlich ohne Worte, blos „Geberden einer pro⸗ funden Idiotie des Geſchlechtszentrums“. Das geht noch über den Zungenſchnalzer! Dafür verlangt der Bärenführer den antierotiſchen Bauchtanz! Nächſtens ſchmeiße ich alle Drei die Treppe hin⸗ unter. Sie haben keinen Ernſt, weil ſie keine Verantwortung haben!

Gott, vorhin Haft Du ſo'n fideles Geſicht gemacht, und jetzt biſt Du der richtige Direktor!

Ach, ja, freilich! Weißt Du: Die ganze Ge⸗ ſchichte wäre herrlich, wenn blos nicht dieſe ver⸗ dammte Literatur dabei wäre. Natürlich bin ich fidel! Ich habe ja was zu thun! Aber, wie geſagt: Die Literatur! Wenn wir blos keine Literatur brauchten!

In dieſem Augenblicke ſchoben ſich die Drei zur

3 ar r

Viertes Buch, drittes Kapitel. 369

Thüre herein, und der Bärenführer rief, indem er Miene machte, ſich in einen Dufthaufen hellblauen Muſſelins zu ſetzen:

Berzeihe mir, Stilpe, verzeihe mir, wie gejagt, ich bin betrunken, und Du mußt mein Couplet nehmen! Es iſt ja ſo ſchön! Der Droſchkenkutſcher Nr. 8715 hat mich dafür gratis fahren wollen! Wirklich, wie geſagt, Du mußt es als Prolog von mir deklamieren laſſen!

Und er ſchrie ganz wild, faſt ſchäumend: Rum will ich! Uranusbraunen Rum will ich! Keinen Thee!

Denn ich will betrunken fen! Gleich den tiefen Unken ſein! Fröhlich wie ein Schnee⸗ König will ich ſein!

Der Peripathetiker ſang kindlichen Tones im

Refrain: Fröhlich wie ein Schnee⸗ König will ich ſein. Der Bärenführer fuhr mit rollenden Augen fort:

Arak will ich! Sehnſuchtblonden Arak will ich!

Keinen Thee! 24

370 | Stilpe.

Denn ich will beſeſſen ſein!

Gleich den rauchenden Eſſen ſein! Fröhlich wie ein Schnee⸗

König will ich ſein.

Der Peripathetiker ſäuſelte den Refrain drei⸗ mal nach. Der Bärenführer aber, mit plötzlich ver⸗ änderter, ſanft flehender Stimme ſprach:

Ach, Stilpe, ſieh doch nur: Wie regelmäßig dieſe Strophe iſt! Siehſt du, ich folge dir, ich thue was du willſt! Ich mache, wie geſagt, regelmäßige Strophen.

Und nun wieder mit dem knurrenden Zorn eines Ebers:

Gin will ich! Gletſcherweißen Gin will ich! Keinen Thee!

Denn ich will betümpelt ſein!

Lilagrün bewimpelt ſein!

Fröhlich wie ein Schnee⸗

König will ich ſein.

Wie geſagt, ſelbſtverſtändlich führe ich die Strophe regelmäßig durch alle Schnäpſe fort:

wg will e Qualwolkigen Abſynth will 1 00 Keinen

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Viertes Buch, drittes Kapitel. 371

Genug! ſchrie Stilpe. Biſt Du verrückt!? Denkſt Du, ich will mir mein Publikum mit hoher Literatur verjagen? Du biſt ganz unbrauchbar! Du kannſt beim Momus die Lichter putzen!

Der Bärenführer war tief betrübt und ſetzte ſich in die Sophaecke. |

Der Peripathetiker aber ſchüttelte den Kopf:

Ja, aber, was willſt Du denn haben? Dieſes Schneeköniglied iſt doch eſſenzhaft tief und dabei heiter wie eine weiße, ſegelnde Wolke über Fabrik⸗ ſchlöten. Es hat etwas modern⸗goliardiſches. Nicht wahr, Mathilde: Es iſt ein ſchönes Lied !?

Die Muſe lächelte:

Ach ja, es iſt ganz nett, und man könnte es ſpäter ſchon mal ſingen laſſen, als Alkoholiſten⸗ intermezzo, aber für den Anfang .. .? nein: Ihr müßt euch mehr an den Brettlſtil anlehnen vorder⸗ hand. Habt ihr denn gar nichts Verliebtes?

Der Peripathetiker machte ein mild⸗ernſtes Ge⸗ ſicht und ließ ſeine rechte Hand in der linken Bruſttaſche des Smokings verſchwinden, der jetzt ſchon ein bischen ſpeckig geworden war. Dann entfaltete er eine Nummer der Kreuz⸗Zeitung und las aus dieſer, aber nicht aus ihrem gedruckten Texte, dies:

24”

372 I Stilpe.

Gieb mir Deine Hände, Kind, Deine kleinen weichen Hände, Die wie Blütenblätter ſind, Kühl und feucht.

Gieb mir Deine Hände leis,

Deine kühlen, feuchten Hände, Denn die meinen ſind ſo heiß Wie mein Herz.

Gieb mir Deine Hände, gieb Still ſie mir in meine Hände, Kleines Mädchen, hab mich lieb, Hab mich lieb!

Er las das mit einem ſeltſamen Flüſtertone, flehend.

Stilpe ſchüttelte den Kopf:

Aber wer ſoll denn das ſingen! Das iſt ja Lyrik! Himmliſche Mächte: Was ſoll ich mit Lyrik anfangen? Das geht ja nicht! Das iſt ja viel zu zart! Ein Tingeltangel iſt doch kein Leſekränzchen!

Der Peripathetiker ſteckte die Kreuzzeitung ruhig in die Hoſentaſche und ſagte blos:

Ich dachte, es paßte. Ich fände das Gedicht ſehr paſſend, wenn es ein junger müder Mann an ein kleines Mädchen hinſänge, und er nähme ihre

Viertes Buch, drittes Kapitel. 373

Hand und küßte ihr dann die Füße. Aber ich habe auch komiſche Geſänge. Ein Lied vom geſchorenen Pintſcher habe ich einmal gemacht. Ich werde es ſuchen.

Er ſetzte ſich neben den Bärenführer und ſtrich mit ſeinen ſchönen ſchmalen Händen den langen Apoſtelbart. |

Kaſimir grinfte:

Hehe, Du haft wohl genug, Direktor. Weißt Du, meine polniſche Rhapſodie werde ich Dir auch hier laſſen. Auf dieſem ſehr umfangreichen Schreib⸗ tiſch da. Hehe, ſie wird auch nicht paſſen. Du willſt natürlich, hehe, Humor! Und ſo mußt Du Herrn Stinde engagieren oder dieſen, äh, wie heißt doch der Herr, dieſen dicken deutſchen Biertrinker, hehe, richtig: Hartleben, hehe; dieſer Pilſener⸗Bier⸗ Joethe paßt für Dich ſehr gut. Das iſt ein her⸗ vorragender Dichter, hehe, geradezu der Onkel der deutſchen Poeſie. Ich liebe ihn, hehe! Er hat gerade ſo einen ſchönen Hornkneifer wie Du.

Stilpe lächelte. Gegen dieſe Manier fühlte er ſich gewappnet.

Aber wütend war er doch. Sie fingen alſo ſchon an, ihn zu verachten. Blos, weil er klug war. Weil er langſam vorgehen wollte. Nicht

374 Stilpe.

mit dieſer tolpatſchigen Haſt junger Jagdhunde, ſondern mit der Ruhe bewußter Verantwortlichkeit.

Unter ſeiner Freude an der bewegten Arbeit

eines Sprechſtunde abhaltenden Theaterdirektors hob ſich mehr und mehr ein Ingrimm gegen die Leute, mit denen zuſammen er eigentlich gedacht hatte, das Momus⸗Theater zu machen. Ihre Unfähigkeit, für die Zwecke dieſes Theaters zu arbeiten, empfand er nicht als einen Mangel ihrer Begabung, ſondern er ärgerte ſich darüber, daß ſie auch in dieſem Falle keinerlei Konzeſſionen an den Begriff des Zweckes in der Kunſt machten, und er beneidete ſie im Grunde darum. Zwar ſagte er ſich manchmal, daß ſich darin auch Schwäche und Zügelloſigkeit offenbarte, aber ſeine eigene Fähigkeit, gerade für das Momus⸗Theater zu arbeiten, erſchien ihm als ein Anzeichen ſeiner künſtleriſchen Inferiorität.

Er fing mit einemmale an, die „Dichterei“ zu haſſen, und es war ganz ehrlich, wenn er der Muſe gegenüber es verwünſchte, daß die „Lite⸗ ratur“ ein Hauptprogrammpunkt ihrer Gründung war. Und dabei hätte er doch auch um Alles nicht ein bloßer Tingeltangeldirektor ſein wollen. Der Gedanke, auf ſo paradoxe Weiſe der Kunſt zu dienen, kitzelte ihn angenehm.

Viertes Buch, drittes Kapitel. 375

Aber gerade für das Eigentliche des Unter⸗ nehmens, gerade für die Verbindung des wertvoll künſtleriſchen mit dem Tingeltangelhaften, that er am wenigſten. Dafür mußten der Zungenſchnalzer und die Muſe die Hauptarbeit leiſten. Er warf nur zu⸗ weilen „Ideen hinter die Kuliſſen“, ſchrieb ein paar Couplets von geiſtreicher Frechheit und entfaltete im Übrigen eine mehr fahrige als zielbewußte Thätigkeit.

Beſonders groß war er in der Anſchaffung ſchön bedruckter Stoffe aus England und Belgien. Auch ließ er ausgezeichnete Plakate lithographieren und drucken. In Paris und London engagierte er brillante Tänzerinnen und Sängerinnen zu ſehr hohen Gagen; das Beſte, was das Ausland an Variété⸗Theaterkunſt hervorbrachte, verpflichtete er dem Momus⸗Theater. In gewiſſen Außerlichkeiten war er ſehr erfinderiſch und originell. So ſtellte er anſtelle von Logenſchließern hübſche junge Mädchen in allerliebſt dekolettierten Kleidern an, ſorgte für ſchöne Blumenverkäuferinnen und be⸗ nutzte ſeine vorzüglichen Verbindungen in der beſſeren Berliner Halbwelt zu einer auf das Prinzip der Auswahl des Beſten hin ſyſtematiſierten Ver⸗ teilung der Freibillets.

376 Stilpe.

Der Pole karakteriſierte das Ganze in feiner Weiſe ſo: |

O Herr Direktor, Du biſt geradezu dſchenial! Du eröffneſt Ausblicke in geradezu orientaliſche Kul⸗ turen! Du ſollteſt direkt ein literariſches Bordell gründen! Weißt Du, hehe, wo die Mädchen auch gleich dichten oder Joethe deklamieren. Hehe, was Du da für reizende Divänchen in die Logen geſtellt haſt! Und dieſe köſtlichen Roſa⸗Ampeln! Hehe, und daß man die Logenthüren von innen verriegeln und an der Brüſtung die Vorhänge zuziehen kann, daran erkenn ich den Meiſter! Und ſo ſollſt Du überhaupt gar keine Vorſtellungen geben laſſen, ſondern blos, hehe, Eintrittspreiſe verlangen; hehe: „Damen zahlen die Hälfte.“

Na, und wenn es ſo wäre! entgegnete Stilpe unerſchrocken, wäre das nicht auch ſchon Ver⸗ dienſt genug? So ein bischen angewandte Erotik iſt genau ſo wichtig, wie eure ganze Schreiberei. Und deshalb ärgert ihr euch eben: Weil Ihr ſeht, daß ich ins Leben wirken will mit dem Momus und nicht blos in die Literatur. Ihr ſeid die großen Geiſter; gut, ſchön, eminent: Ich laß euch eure Lorberkränze. Ich bin ein einfacher Pionier des neuen Lebens Nur der Zungenſchnalzer verſteht mich, weil er den

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Viertes Buch, drittes Kapitel. 377

Willen der Zeit verſteht. Und denkt ihr denn, ich habe den alten Hut voll Geld gekriegt, um eine Bouillonkultur Seelenkrebs anzulegen? Ich habe das Amt erhalten, die Berliner in ein künſtleriſches Leben hinüber zu amüſieren, nicht aber, ſie mit Literatur zu mopſen. Der Zweck des Momus iſt direkt, eurer ganzen Literatur den Reſt von In⸗ tereſſe zu nehmen, den ſie etwa noch hat. Wir wollen die Berliner äſthetiſch machen. Es giebt hier immer noch Menſchen, die Bücher leſen. Das muß aufhören. In den Spitzenunterhöschen meiner kleinen Mädchen ſteckt mehr Lyrik, als in euren ſämtlichen Werken, und wenn die Zeit erſt ſo weit iſt, daß ich ohne Unter⸗ höschen tanzen laſſen kann, dann werdet ſogar ihr begreifen, daß es überflüſſig iſt, andere Verſe zu machen, als ſolche, die bei mir geſungen werden. Umgotteswillen, begreift doch die Situation! Schöne Kleider, ſchöne Friſuren, ſchöne Arme, Brüſte, Beine, Bewegungen darauf kommts an. Erfindet mir Tänze, dichtet Pantomimen, löſt mir das Problem der Emancipation vom Tricot, das ſind Sachen, die ich brauchen kann. Und wenn ihr ſchon durchaus Verſe machen müßt, ſo vergeßt doch nicht, daß ſie von ſchönen Mädchen geſungen werden, die nicht mit leeren Corſetts auftreten. Und ſeht euch

378 Stilpe.

mal die bunten, feinen Stoffe da an! Was müſſen das für Verſe ſein, die mit ſolchen Farben, ſolchen Muſtern konkurrieren wollen! Zieht doch eure Verſe endlich mal aus! Ich laſſe Rops tanzen, habt ihr doch die Kuraſche, Rops zu dichten! Unſer Theater heißt doch Momus und nicht Stöcker. Seid ihr denn Predigtamtskandidaten? Mein Gott, was thät ich, wenn ich auf euch angewieſen wäre!

So polterte er ſich aus und genügte ſeinem Bedürfniſſe, ab und an verwegene Worte zu ballen. Aus dieſem Grunde waren ihm die renitenten Dichter, obwohl er ſich herzhaft über ſie ärgerte, doch unentbehrlich. Er konnte „an ſie hin reden“ und ſich bei dieſer Gelegenheit klar machen, worauf hinaus er eigentlich wollte. Dieſe Art, ſich in Feuer zu reiben, that ihm gute Dienſte. Er fand ſich mit ſeinem literariſchen Gewiſſen ab, indem er ſich mit den ungebärdigen Poeten abraufte. Wären ſie nicht immer wieder aufgetaucht, ſo hätte er die Literatur überhaupt vergeſſen und wäre ganz in Mußlin und Seide aufgegangen.

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Viertes Kapitel.

Das leipziger Cénacle, das durch die „fatale Stilpe⸗Sache“ damals geſprengt worden war, hatte ſich ſchließlich doch wieder zuſammengefunden. Freilich ohne Stilpe. Dieſer war um die Zeit der neuen Vereinigung gerade in den Vollgenuß ſeiner kritiſchen Berühmtheit getreten und hatte auf die Einladung, der erſten Sitzung in Leipzig beizu⸗ wohnen, eine ſchnöde Abſage erteilt. Es war darin von Kinderſchuhen die Rede, die er den Herren gerne zur Verfügung ſtellen würde, wenn er nicht befürchten müßte, daß auch ſie ihnen noch zu groß ſeien; im übrigen ſei er bereit, die poetiſchen Werke der erlauchten Cénacliers mit derſelben Objektivität zu tranchieren, mit der er die übrigen Erzeugniſſe des dichteriſchen Germaniens der öffentlichen Meinung vorſetzte.

380 Stilpe.

Dieſe Bemerkung war das Boshafteſte in dem Briefe, denn die Herren Barmann, Stöſſel, Wippert und Girlinger hatten ihren künſtleriſchen und dichteriſchen Jugendplänen längſt den Abſchied ge⸗ geben. Barmann war Gymnaſiallehrer geworden, Stöſſel hatte reich geheiratet und gab vor, muſik⸗ geſchichtliche Studien zu treiben, Wippert war auf dem Umwege über orientaliſche Philologie langſam zur Medizin gelangt und hatte eine Klinik für Frauenkrankheiten, Girlinger ſteuerte auf die Lauf⸗ bahn eines königlichen Staatsanwalts zu. Wenn fie ſich trotzdem zu einem neuen Aufguß des Ce- nacles vereinigten, ſo geſchah es in einer gewiſſen melancholiſchen Stimmung und in der Hoffnung, unter ſich wenigſtens eine Art Abglanz jenes ein⸗ bildungsvollen Übermutes zu erzeugen, an den fie ſich nicht ohne ein leiſes Hochgefühl erinnerten. Es war ihnen im Grunde doch leid, daß jene über⸗ ſchwänglichen Einbildungen einer künſtleriſchen Zu⸗ kunft nicht zur Wahrheit geworden waren. Sie geſtanden ſich das zwar nicht ein, konſtruierten ſich vielmehr ein Gefühl von ernſter Zufriedenheit dar⸗ über, daß ſie ſich in bürgerlich gefeſtete Zuſtände und in einen praktiſchen Wirkungskreis hinüber⸗ gerettet hätten, aber es gewährte ihnen doch Genug⸗

Viertes Buch, viertes Kapitel. 381

thuung, daß ſie auf ſo etwas wie eine geiſtige Sturm⸗ und Drangperiode zurückſchauen konnten. Auch hegten ſie die ſtille Hoffnung, daß ſie viel⸗ leicht viribus unitis doch noch die Fähigkeit beſitzen möchten, wenigſtens unter ſich ein bischen über die Stränge zu ſchlagen.

Da war nun die Abſage Stilpes, vor deſſen literariſcher Stellung ſie doch etwelchen Reſpekt hatten und in dem ſie den durchgedrungenen Cé⸗ naclier verehrten, ſehr fatal geweſen. Ohne ihn entwickelte ſich das Cénacle ſtark ins hausbacken Solide, und eigentlich gabs eine Wiedergeburt jenes Debattierklubs auf dem Gymnaſium, nur daß mit der Unreife auch der Enthusiasmus fehlte. |

Es wurde aus dem Cönacle eines der kritiſchen Konventikel, wie ſie ſich jetzt gerne um die Lite⸗ ratur und Kunſt herumgruppieren, wo man ſich über das Neue unterhält, die Entwickelung mit bald wärmerer, bald kühlerer Anteilnahme verfolgt, und wo der heimliche Leſſing dieſer kritiſch noch immer nicht unter einen Hut gebrachten Zeit in vielen Exemplaren wächſt, blüht und gedeiht.

Ein Hauptſport dieſes zeitgemäß gewordenen Cénacles war die Piychologie, dieſe Lieblings⸗ neigung aller unproduktiven Köpfe, die zu klug und

382 Stilpe.

zu ſtolz ſind, um zu dilettänteln. An Stoff ge⸗ bricht es dieſem Sporte niemals, aber hier war er beſonders üppig und intereſſant, weil die Cena- cliers in ihrem ehemaligen Freunde, dem Ex⸗ Schaunard Stilpe, ein beſonders ergiebiges Objekt hatten.

Die Debatte drehte ſich recht häufig um ihn, und beſonders Girlinger ward nicht müde, ihn zu viviſecieren. Er ſprach es direkt aus, daß Stilpe für ihn das intereſſanteſte Schauſpiel ſei, und daß er ihn ganz ſicher niemals aus den Augen ver⸗ lieren werde. Er hatte natürlich auch ſchon eine Prognoſe bis ins Letzte in Bereitſchaft, hütete ſich aber doch, ſie mit Beſtimmtheit verlauten zu laſſen. Die Kühnheit Wipperts, der im Geiſte ſchon das Sterbebett Stilpes in der Charité mit der Aufſchrift del. trem. ſah, beſaß er doch nicht. Dafür dachte er ſeinem Metier zufolge mehr an Plötzenſee. Barmann, der in Secunda deutſche Literaturgeſchichte traktierte, huldigte höheren Per⸗ ſpektiven; er konſtruierte ſich einen modernen Fall Günther. Stöſſel war im Grunde voll phan⸗ taſtiſcher Erwartungen:

Paßt auf: Plötzlich tritt er mit einem Werke hervor. Jetzt iſt alles Schutt und Scherben. Aber

Viertes Buch, viertes Kapitel. 383

mit einem Male wird er ſich zuſammenfaſſen und aufraffen, und dann zeigt er erſt ſeine wahre Ge⸗ ſtalt, ſeine innerliche Kraft. Vielleicht muß er blos erſt heiraten!

So piychologifierte jeder nach ſeinen Erfahrungen, und Stilpe ward nicht müde, in bunter Folge jeder Anſicht neue Nahrung zu geben.

Zu einer konkreten Zuſammenfaſſung reeller Unterlagen für dieſe pſychologiſchen Bemühungen kam es aber erſt als Girlinger nach Berlin ver⸗ ſetzt wurde.

a.

Es war etwa über ein Jahr nach der Grün⸗ dung des Momus, da ſandte Girlinger folgenden

Bericht quoad Stilpe an das Leipziger Cénacle: Endlich iſt es mir gelungen, nicht blos Authen⸗

tiſches über den Fall Stilpe⸗Momus zu erfahren, ſondern auch unſern ehemaligen Schaunard ſelber

384 Stilpe.

aufzufinden. Ich hätte euch ſchon früher allerler mitteilen können, aber ich wollte mit Thatſachen aufwarten und nicht blos referieren, was ihr aus den Zeitungen von damals ebenſogut wißt, wie ich, und was doch durchweg mehr oder weniger feindliche Preßmache war.

Ich verkehre hier ab und zu mit Journaliſten und habe in dieſer Geſellſchaft zuweilen verſucht, das Geſpräch auf Stilpe zu bringen, aber es iſt mir nicht gelungen, von dort her mehr zu vernehmen als Außerungen einer fertigen Verachtung, die ſich nicht zur Darlegung von Gründen herbeilaſſen wollte. Stilpe gilt in dieſen Kreiſen einfach als böte noire, und ſchon aus Korpsgeiſt vereinigt man ſich zu einſtimmiger Verdammung des räudigen Schafes. Nur einige geben noch zu, daß der „Menſch“ ein „ſtarkes pamphletiſtiſches Talent be⸗ ſeſſen habe“, aber auch ſie fügen die Bemerkung daran, daß er „nicht einmal für einen Schmäh⸗ ſchreiber genug Charakter beſitze“. Den Momus⸗ Krach ſtellen ſie als wohlverdiente Strafe hin 1) für die Frivolität, die das Gepräge dieſer ganzen Gründung geweſen ſei und 2) für das „ans Gaunerhafte grenzende Gebahren, das Stilpe in der ganzen Angelegenheit gezeigt haben ſoll und

Viertes Buch, viertes Kapitel. 385

zwar ſowohl bei Aufbringung wie bei Vermeidung der Momusgelder.

Durch Zufall lernte ich dann eine Gruppe von Dichtern kennen, die über jedem Verdachte journaliſtiſcher Verbindungen ſtehen, weil ſie es ſchon längſt aufgegeben haben, ihre Erzeugniſſe durch die periodiſche Preſſe zu verbreiten, und die gerade über den Momusfall mitreden können, weil ſie an ihm beteiligt geweſen ſind. Da ſie trotzdem im Grunde von Stilpe nicht viel wiſſen wollen (weil er, wie ſie ſagen, den Momusgedanken proſtituiert hat), ſo iſt es erlaubt, ihre Ausſagen wenigſtens für inſoweit objektiv zu halten, als die Herren überhaupt einer objektiven Betrachtung der Dinge dieſer Welt fähig ſind.

Von dieſen Herren habe ich nun dies erfahren: Das Momustheater erlitt ein vollkommenes Fiasko, weil es als Tingeltangel „immerhin“ zu künſt⸗ leriſch, als Kunſtinſtitut aber viel zu ſehr Tingel⸗ tangel geweſen ſei. Das Publikum lehnte „das bischen Literatur und Kunſt“, was dabei mit⸗ ſpielte, ſchon als zu viel ab, und die Preſſe, die im Verein mit dem „Schock Berliner Kunſt⸗ und Literaturfreunde“ ſich „wenigſtens den Anſchein gab, etwas Künſtleriſches erwartet zu haben“, er⸗

25

386 Stilpe.

klärte mit „der ganzen Entrüſtung lackierter Elite⸗ menſchen“, daß ſie von Literatur und Kunſt im Momus nicht mehr zu finden vermöchten, als im „Malepartus“. Das ſei nun freilich zuviel geſagt, meinten meine „Dichter“, und ſie führten zum Beweis der „Nüance von reeller Litteratur im Momus“ jeder eine Programmnummer an, die den Citierenden zum Verfaſſer hatte. Ich muß geſtehen, daß ſchon die Titel dieſer Programmnummern mich in Staunen verſetzten, und als mir eine Probe „interpunktions⸗ loſer Lyrik“ vorgetragen wurde, die im Momus unter „Pizzicatobegleitung von acht Bratſchen“ dekla⸗ miert worden iſt, da begriff ich, daß das dem Publi⸗ kum zu viel geweſen war. Dieſe merkwürdigen Dichter amüſierten ſich übrigens ſelber am meiſten über ihre Programmnummern, und ich vermochte mir nicht darüber klar zu werden, ob ſie dieſe Produkte ernſt oder als einen Ulk nahmen, den ſie ſich mit Stilpe erlaubt hatten. 5

Es war bei der Premiere ſehr lärmhaft zu⸗ gegangen, und zwar hatten, wie meine Dichter behaupten, zwei Parteien „um die Palme des Radaus gerungen“: In erſter Linie die journa⸗ liſtiſchen Feinde Stilpes und dann ein Aufgebot der chriſtlichen Jünglingsvereine. Nach Allem,

Viertes Buch, viertes Kapitel. 387

was ich zumal über die Balletleiſtungen des Momus vernommen habe, muß ich erklären, daß ich die Oppoſition derart inkorporierter Jünglinge verſtehe. Es iſt auch ſehr bald die Polizei gegen den Schnitt der Balletgewänder im Momustheater eingeſchritten.

Dieſer Umſtand in Verbindung mit dem ein⸗ mütigen Verdikte der Preſſe, daß der Momus durchaus kein Kunſtinſtitut im höheren Sinne ſei, hat den Aufſichtsrat der Momus⸗MGeſellſchaft, alſo die Geldgeber, veranlaßt, ſich den Paragraphen in Stilpes Kontrakt zunutze zu machen, der es ge⸗ ſtattete, den „artiſtiſchen Direktor“ zu entlaſſen, freilich unter Zahlung einer ſehr beträchtlichen Ent⸗ ſchädigungsſumme für dieſen. Der leiſe unter⸗ nommene Verſuch, dieſe Entſchädigung durch allerlei Anſchuldigungen bedenklicher Natur in punkto Geſchäftsgebahrung zu umgehen, iſt ſchließlich nicht gemacht worden, aber ſchon der Anſatz dazu hat genügt, jenes von mir bereits erwähnte Gerücht von „Gaunereien“ ꝛc. zu erzeugen.

Das Momustheater iſt ſehr bald an einen regelrechten Tingeltangeldirektor übergegangen, und man hat eine Weile geglaubt, daß Stilpe ſelbſt

mit ſeiner Entſchädigungsſumme der Hintermann | 25*

388 Stilpe.

dieſes Variéts⸗Mannes geweſen ſei. Der Um⸗ ſtand, daß ſeine damalige Geliebte, eine Ham⸗ burger Chantantſängerin, die Diva des neuen Momustheaters wurde, deutete wohl darauf hin, aber die Stellung eines Hintermannes ſcheint mir nicht im Charakter Stilpes zu liegen.

Zweifellos und leider in Stilpes Charakter ſehr erſichtlich begründet iſt dagegen die Thatſache, daß er ſich nach ſeiner Entlaſſung einem völlig ver⸗ rückten Lotterleben hingegeben hat. In ſeiner Eigen⸗ ſchaft als „Direktor“ hatte er eine unendliche Schaar von Artiſten und Artiſtinnen kennen gelernt, und er umgab ſich nun mit einem wahren Heer⸗ bann von ſtellenloſen Sängerinnen und Tänzerinnen. Es wird euch genügen, das Faktum zu vernehmen, um euch ein Bild davon zu machen, in welchem Stile er eine Weile gelebt hat.

Meine dichteriſchen Gewährsmänner machen ihm nicht ſowohl dieſes Faktum, als den Umſtand zum Vorwurf, daß er jede Beziehung mit ihnen und überhaupt mit dem, was ſie Literatur und Kunſt nennen, abgebrochen habe. Sie ſagen in ihrem Stile ſo: „Er ſumpfte wie ein Kapitaliſt, der ſich eine Leibgarde von Mitſumpfern aushalten muß, weil es ihm an Geiſt und Größe gebricht,

Viertes Buch, viertes Kapitel. 389

allein oder mit erlauchten Leuten congenial zu ſumpfen. Er fing wieder an, ſchwere Getränke nötig zu haben, wo dem Erleſenen ſchon Gilka ge⸗ nügt, um den Kontakt mit dem Weltgeiſte zu finden. Auch bei ihm war es die Verzweifelung der Impotenz, die ihn zwang, für teures Geld wertloſe Räuſche zu kaufen. Man brauchte ſich ſchließlich kein Gewiſſen daraus zu machen, ihn anzupumpen wie einen Kunſtfreund von hoher Steuerklaſſe.“

Dieſe Verachtung von dieſer Seite her beſagte für mich eigentlich den tiefſten Stand der Stil⸗ piſchen Dinge.

Unſer ehemaliger Schaunard, ſo ſagte ich mir, hat alſo den brutal ſinnlichen Zug ſeines Weſens vollkommen Herr über ſich werden laſſen und iſt, da ihm mehr Geld zur Verfügung ſtand, als für ihn gut war, in gemeiner und geiſtloſer Schwel⸗ gerei untergegangen. Der andere Zug ſeines Weſens, und wenn es auch blos eine untergrundloſe Ver⸗ blendung war: Das Hinaufbegehren in freie, ſchöpferiſche Geiſtigkeit, die Zuverſicht, aus ſich etwas Großes, einen Poeten zu machen, das hat er ganz verloren. Aber ich fügte in mir den Ge⸗ danken bei: Er muß, wenigſtens in vorüber wehen⸗

390 | Stilpe.

den Augenblicken der Klarheit, wenn der Alkohol verſagt, ſehr unglücklich dabei ſein.

Deshalb gab ich mir Mühe, ſeiner habhaft zu werden. Aber es gelang mir lange Zeit nicht. So lange er Geld hatte, wohnte er, wenn er in Berlin war, bald in dieſem, bald in jenem Hötel, und häufig war er offenbar von Berlin abweſend, viel⸗ leicht an den Orten, wo die eine oder andere ſeiner Favoritinnen gerade ein Engagement an einem Tingeltangel hatte. Jetzt aber haben ihn die Fa⸗ voritinnen ganz ausgezogen, und er hat ſelber ein Engagement an einem Tingeltangel hier.

Ich erfuhr, daß er in einem der kleinen Chantants draußen in Berlin N., wo die Chauſſeeſtraße an⸗ fängt, als Komiker auftrete, und ich beſchloß ſofort, den nächſten Abend zu einem Beſuche in dieſem Lokal, das ſich Zum Nordlicht nennt, zu be⸗ nutzen.

Das Milieu brauche ich euch nicht zu ſchildern; ihr kennt es aus eigener Erfahrung und aus den Novellen der erſten Periode unſres deutſchen Naturalismus. Ich muß ſagen: Mit einer wahren Angſt ſah ich dem Auftreten Stilpes auf dieſer Bühne entgegen, auf der ſich im Übrigen nur Chanſonetten letzten Ranges produzierten. Auf

Viertes Buch, viertes Kapitel. 391

dem Programm ſtand er als „Rudolph Schonaar“ verzeichnet. Iſt das nun ein Stück Selbſtironie? dacht ich mir; hat er wirklich noch den Humor, ſich über ſich ſelbſt luſtig zu machen? Wie wird er blos ausſehen!? Und, mein Gott, wie wird er fingen?!

Ich war auf alles mögliche gefaßt, aber nicht auf das, was kam.

Daß ich es kurz ſage: Es war eine Leiſtung! Ich bin ja freilich kein Kenner auf dieſem Gebiete, aber das getraue ich mir zu ſagen: In ſeiner Art war die Charge, die unſer Schaunard von ehedem darſtellte, ein brillantes Stück grotesk-realiſtiſcher Tingeltangelkunſt. Es war im Grunde nieder⸗ drückend für mich, was ich ſah, und doch ging ein Gefühl nebenher, das ich ſo ausdrücken möchte: Der Kerl imponiert mir doch! So ſich über ſich ſelber zu ſtellen mit den Mitteln einer zwar niedrigen, aber in ihrem ganzen Stile fabelhaft erfaßten Kunſt, ſo das ganze traurige Ergebnis ſeines Lebens mit grotesker Laune tragikomiſch dem Pöbel vor die Füße zu werfen, ſo von oben herab auf ſich ſelber herumzutreten und doch den Ein⸗ druck eines Mannes zu machen, der ſich dabei amüſiert, wißt ihr: Das iſt kein gewöhnliches

392 Stilpe.

Stück, da ſteckt trotz Allem eine künſtleriſche Per⸗ ſönlichkeit dahinter.

Alſo ſtellt euch vor: Stilpe trat als verlumpter, verſoffener alter Dichter auf. Lange graue Haare, zerknüllter Cylinder, Bratenrock, flatternder Künſtler⸗ ſhlips, dies alſo die alte ſchablonenhafte Figur des idealiſtiſchen Dichters in übler Vermögenslage. Aber nun hättet ihr ſehen ſollen, wie das Geſicht, die Bewegungen, die Worte dazu paßten. Zum Geſicht hatte er freilich keine Kunſt nötig gehabt: Dieſe aufgedunſenen Züge, dieſe alkoholiſch poröſe, kupferige Naſe, dieſe ſchwimmenden, unſtäten Augen, das war leider Alles Natur. Auch die Be⸗ wegungen, dieſes Fallenlaſſen der Arme, die dann an den Schenkeln herumſuchten und taſteten, dieſes nervöſe Zucken der Schultern, dieſes zitternde Auf⸗ legen der rechten Hand auf die Stirne, dieſes langſame Auf⸗ und Niederneigen des Kopfes, dieſes Nachſchleifen der Füße beim ſchwankenden Gange, auch dies war im Grunde Natur, nur unter⸗ ſtrichen, perſpektiviſch berechnet. Aber nun: Was er ſprach und ſang!

Es war jo eine Soloſzene, wißt ihr: Monologe mit Geſangseinlagen wechſelnd; man kennt das ja; dieſe Geſchichten ſind eigentlich nicht mehr modern;

Viertes Buch, viertes Kapitel. 393

ein paar haben ſich indeſſen ſogar auf der großen Bühne erhalten. Aber Stilpe hat, ich ſage es ohne Überſchwänglichkeit, ein Kunſtwerk daraus gemacht. Ich wäre auch ergriffen zwiſchen Lachen und Grauſen hin⸗ und hergeworfen worden, wenn kein perſön⸗ liches Intereſſe mitgewirkt hätte.

Er kam langſam, ruckweiſe ſchwankend aus der linken Couliſſe und bewegte ſich im Zickzack, ſcheu ſich umſehend, nach einer Bank rechts. Wie er ſich auf die hinfallen ließ, wie er den Cylinder müde abnahm, ſich durch die Haare fuhr und nun mit einem leeren, ängſtlichen Blick rund im Zu⸗ ſchauerraum herumſah, das war für mich ſchon ein Eindruck, wie ich ihn ſelten von einer Bühne herab gehabt habe. Plötzlich kicherte er, bückte ſich und hob einen Zigarrenſtummel auf, griff dann läſſig an ſich herum, fuhr ſuchend in die Taſchen, zog die Hände reſigniert heraus und ſagte dann leiſe vor ſich hin: Ja, Feuer! Is nich!

Wieder ein paar Blicke im Kreiſe. Dann plötzliches Aufrichten und im Vorwärtsſchreiten das Bemühen, nicht zu ſchwanken, ſondern anſtändig, mit Würde zu gehen. Und nun, an der Rampe, eine höfliche Verbeugung vor dem Baßgeiger und im Tone vollendeter Höflichkeit mit gebrochener Stimme:

394 Stitpe.

Dürfte ich Sie um etwas Feuer bitten, werter Herr?

Er erhält ein Streichholz, verbeugt ſich wieder⸗ um ſehr höflich und zündet ſich den Stummel an; ſtößt die Tabakwolken mit Genuß von ſich, betrachtet den Stummel mit Zärtlichkeit, lächelt und ſagt: Sie müſſen nämlich wiſſen: Ich bin auch Künſtler!

Der Baßgeiger ſieht ihn fragend an.

Ach nein, ſo ſchön geigen kann ich nicht. Nein. Aber dichten! Haben Sie keine Kindtaufe in Ausſicht? Ich machs billig. Wenn nur vom Eſſen was übrig bleibt ... Dies ſehr demütig, traurig.

Aber auf einmal wird er wild und fängt an zu ſchimpfen: Auf das Geſindel, das Geld und kein Talent hat, auf alle, die ihn verachten, weil ſie Kameele ſind, während er ein Genie iſt u. ſ. w. Ich ſage euch: Ein fabelhafter Ausbruch mitten in den johlenden Mob hinein, der ſich königlich zu amüſieren anfängt, während der Dichter, an der Rampe hin⸗ und herrennend wie ein Eisbär im Käfig, Zorn, Wut, Verachtung nach allen Rich⸗ tungen ſchleudert.

Ich hatte die Empfindung, daß Sülpe dies alles improviſierte.

Dann fiel er wieder in den demütigen Ton und

Viertes Buch, viertes Kapitel. 395

bat um Verzeihung und ein Glas Gilka. Nachdem ihm dies hinaufgereicht worden war und er es mit der Haſt eines Verdurſtenden hinuntergeſtürzt hatte, er⸗ klärte er, nun wolle er auch nicht ſo ſein und ſeinerſeits etwas zum Beſten geben. Und er be⸗ gann im Schauerballadenſtil ſein Leben, das Leben des verkommenen Genies, herunterzuſingen.

Es war einfach grauſig, ſag ich euch, wie er immer ſich ſelber als zweite Perſon behandelte und gleichſam mit dem Stocke auf ſich wies, wie die alten Jahrmarktsmorithatenſänger auf die warnenden Exempel. Dabei ſtellte er in großen Zügen wirk⸗ lich ſein eigenes Leben dar, natürlich grotesk ver⸗ zerrt und mit burlesken Beigaben. Aber ich habe dieſes ſein Leben nie mit ſo greller Deutlichkeit erkannt, wie während dieſer Ballade, die überdies als parodiſtiſche Leiſtung ein Leckerbiſſen zu nennen iſt. Am Schluſſe immer der Kehrreim:

O lockert eure ſteinernen Geberden!

Ich bin ein Lump und ihr könnt Lumpe werden. Seht dieſes Fleiſch und ſchlotternde Gebein, Jetzt ſauf ich Gilka und einſt ſoff ich Wein.

Nachdem er die Ballade zu Ende geſungen hatte, trat er unter johlendem Beifall ab. Der

396 Stilpe.

Beifall hielt an, und er erſchien wieder, trat ganz an die Rampe vor und ſagte: „Übrigens haben Sie mich vorhin geſtört. Ich bin nicht hier her⸗ gekommen, Ihnen was vorzuflöten.“ Dann ganz leiſe: „Es iſt doch kein Schutzmann unter Ihnen ... 2. .. Rufe aus dem Publikum: Ih wo! Stilpe: „Ich ... ich ... möchte mich nämlich erhängen.“

Ihr werdet es kaum glauben, aber das wurde in einem Tone geſagt, daß ſelbſt dieſes Publikum erſchrak. Aber nun ſchlug Stilpe eine Lache auf: Sie denken wohl, das iſt unangenehm? Im Gögenteil! Ich habe mir ſagen laſſen, man erlebt da ſeine ſchönſten Sachen alle noch einmal. Jotte nee, was ick mir auf Laura'n freue!

Und jetzt folgte ein bockiges Herumſtolzieren mit vorgeſtrecktem Bauche, eine laszive Szene ohne Worte, die in mir direkt den Staatsanwalt wachrief. Ge⸗ mein! Gemein!

Das Publikum wand ſich vor Entzücken. Stilpe aber hielt plötzlich inne und rief: Aber wiſſen Sie denn auch, warum ich mich erhängen will?

Und nun folgte, ich kann es nicht anders nennen, eine Diſſertation über den Selbſtmord.

Viertes Buch, viertes Kapitel. 397

Und zwar ſo, daß er erſt alle möglichen gewöhn⸗ lichen Selbſtmordgründe ablehnte, um ſchließlich als einzig zwingenden und berechtigten Grund den anzuführen: Es giebt kein Getränk mehr, das mich umbringen könnte, drum muß ick mir ſelber umbringen.

Nun zog er den Strick hervor und ſang ihn als „Schnaps der Schnäpſe“ an. Während der Schluß⸗ ſtrophe warf er den Strick um einen Laternen⸗ haken, und während der Vorhang fiel, legt er ſich den Strick um den Hals.

Ich atmete auf, wie der Vorhang unten war. Das Publikum aber klatſchte wie beſeſſen. Nach einer Weile hob ſich der Vorhang wieder, und ich ſah, daß die Originalität unſeres verfloſſenen Freundes auch als Tingeltangelſänger keine Grenzen kennt: Der Dichter hing an der Laterne und ſang, ungeachtet des Einſpruchs der Naturgeſetze, in dieſer Situation, röchelnd und nach Luft ſchnappend, ſein Schwanenlied, eine ſchauerliche Miſchung von Grauſen, grotesker Komik und Cynismus. Dann ein letztes Schlenkern mit den Beinen, die Zunge weit heraus, dem Publikum entgegengeſtreckt, der Vorhang fiel. So oft er ſich wieder unter dem Beifallgewieher des Publikums hob, ſah man

398 Stilpe.

den Dichter am Laternenpfahl hängen und mit herausgeſtreckter Zunge den grinſenden Kopf dankend verneigen.

Scheußlich! Scheußlich! werdet ihr ſagen, und ihr habt ganz gewiß recht, aber ich wiederhole es: Was in meiner Darſtellung blos widerlich wirken kann, machte von der Bühne herab, ich muß es bekennen, in der Hauptſache auf mich doch den Eindruck von ergreifender Kunſt, ſchauderhaft ver⸗ irrter, gottſträflicher, infamer Kunſt zwar, aber ich wäre nicht im Stande geweſen, etwa inmitten dieſer ſchauerlichen Frivolitäten aufzuſtehen und fortzu⸗ gehen. Alles in mir empörte ſich, aber ich war gefeſſelt.

In jedem anderen Falle wäre ich nun freilich jetzt weggegangen, zumal, da auf dieſe piece de reſiſtance des Nordlichtes nur noch die ausge⸗ ſungenſte aller Chanteuſen folgte, aber mich ver⸗ langte es, Stilpe nun auch „in Civil“ zu ſehen.

Wie muß der Menſch, der aus ſeinem Leben einen ſolchen grauſigen Clownwitz zu machen im Stande iſt, ausſehen, wie muß er ſich benehmen, wenn er mir gegenüber ſteht, der ihn aus Zeiten her kennt, wo es trotz Allem doch eine ſolche Per⸗ ſpektive auf das Ende nicht gab!

Viertes Buch, viertes Kapitel. 399

Ich ſchickte ihm meine Karte hinter die Bühne. Nach einer Viertelſtunde erſchien er, die Vorſtellung war mittlerweile durch den üblichen Galopp ge⸗ ſchloſſen, an meinem Tiſche.

Unglaublich! Er geberdete ſich wenigſtens ganz wie früher.

Willſt Du mich verhaften, Staatsanwalt meiner Seele? Wieviel Jahre ſtehen auf den Bauchtanz meiner Prägung? |

Ich hatte Mühe, ihn von dieſem Stil abzu⸗ bringen. Ganz hat er ihn überhaupt nicht auf⸗ gegeben. Das Endreſultat, was ich euch zu ver⸗ melden habe, iſt dies: Stilpe erklärt, ſich recht wohl zu fühlen, wenngleich es ihm nur in den ſeltenſten Fällen noch gelingt, ſich zu betrinken. Als Ent⸗ ſchädigung für dieſen beklagenswerten Umſtand be⸗ zeichnet er die „glorreiche Thatſache“, daß er end- giltig darauf verzichtet habe, in die Literaturgeſchichte zu kommen.

Literatur? Pf! Das Tingeltangel iſt die Kunſt der Zukunft. Übrigens hat meine Orgel blos noch eine Pfeife. Sonſt? .. . Na, mein Junge, wenn alle Pfeifen ſchweigen, die Heilsarmee leckt alle Finger nach mir. Ein bischen religiös komm ich mir überhaupt manchmal vor. Wer

400

Stilpe.

weiß. Wer kaun ſoſſſen

Überhaupt .. der liebe Gott.. Na. weilen halten wir mal die Fahne hoch. nicht wahr: Meine Nummer is gut!?

2

. einft=

Aber

Tu EEE ON

Schlußkapitel.

Etwa drei Wochen nach dem Geſpräche Gir⸗ lingers mit Stilpe erhielten die Berliner neben anderen Frühſtücksbeilagen auch dieſe Notiz vor⸗ geſetzt:

(Selbſtmord eines Chantantkomi⸗ kers.) Die Beſucher der Variétébühne „Zum Nordlicht“ waren geſtern Abend Zeugen eines grauſigen Schauſpiels. Der Komiker Schonaar hat ſich auf offener Bühne vor den Augen des Publikums erhängt. Da der Schlußtric in der Nummer dieſes Komikers () darin beſtand, daß er ſich an einem Laternenpfahl aufhängte, ſo gewahrte das Publikum es anfangs nicht, daß diesmal das an ſich ſcheußliche Schauſpiel ent⸗ ſetzliche Wirklichkeit war. Es applaudierte, die ſcheinbare Naturwahrheit der Darſtellung be⸗

26

402 Stilpe.

wundernd, anhaltend, ſo daß ſich der Vorhang dreimal über dem zuckenden Körper des Hän⸗ genden erheben mußte. Da erſt fiel es den „Habitués“ dieſer Schauſtellung auf, daß der Darſteller nicht wie ſonſt ſeinen Kopf in der Schlinge gegen das Publikum verneigte. Man eilte über die Rampe weg auf die Bühne und ſchnitt den Erhängten ab. Da es nicht möglich war, ihn wieder ins Leben zu bringen, ſo muß mit Beſtimmtheit angenommen werden, daß Schonaar, um ganz ſicher zu gehen, ſich vorher vergiftet hat. Die polizeiärztliche Unterſuchung wird zweifellos die Richtigkeit dieſer Mut⸗ maßung ergeben. In den Taſchen des Selbſt⸗ mörders fand man ein Packet mit der Auf⸗ ſchrift: An den Staatsanwalt Girlinger. Dies erweckt die Vermutung, daß dieſer Selbſtmord vielleicht noch anderweites kriminelles Inter⸗ eſſe hat. Wir kommen auf den kraſſen Fall zurück. Schon zum Abendbrot hatten die Berliner volle Aufklärung über den Fall Schonaar. Sie laſen: (Zum Selbſtmord im „Nordlicht“.) Der ſcheußliche Selbſtmord auf offener Bühne, von dem wir heute früh berichtet haben, hat

* 7 u

Viertes Buch, Schlußkapitel. 403

kein weiteres kriminelles Intereſſe, wohl aber eine pſychologiſches traurigſter Natur. Der Selbſtmörder, der unter dem Namen Schonaar ein elendes Daſein als Komiker niederſter Gattung gefriſtet hat, war der ehemals viel genannte und gefürchtete Kritiker Willibald Stilpe, derſelbe, der ſich in der Literatur durch das berüchtigte Pamphlet „Der Tinten⸗ ſumpf“ unmöglich gemacht und dann das bald verkrachte „Literatur » Tingeltangll Momus“ gegründet hat. Wieder einmal ein Talent, das an ſeiner eigenen Charakterloſigkeit zu Grunde gegangen iſt! Über die direkten Motive zu dieſem in ſo ſchauerlicher Weiſe in Szene ge⸗ ſetzten Selbſtmord haben wir vom Herrn Staats⸗ anwalt Girlinger, an den der Selbſtmörder ein Bündel Manuffripte geſchickt hat, nichts er⸗ fahren können. Man kann ſie wohl in das eine Wort zuſammenfaſſen: Delirium.

4

Das war das Amen⸗Wort der Offentlichkeit zum Lebensabſchluß Stilpes.

26*

404 Stilpe.

Das Leipziger Cénacle hatte den Vorzug, Stil⸗ pes eigene Meinung darüber zu vernehmen. Gir⸗ linger ſchrieb den Freunden:

. . . Nous allons, si tu veux, chanter le dernier psaume

Hier ſind die letzten Worte Schaunards. Seine Leiche iſt, wie er wünſchte, in der Anatomie. Ich habe ſie geſehen und fürchte, daß ich den Anblick nie mehr los werde. Seid froh, daß ihr das nicht geſehen habt.

Stilpes Brief an Girlinger lautete ſo:

Landerirette!

Wie ſchreiben die kleinen Mädchen (ach, ach, ach, wie nett das klingt, Mädchen iſt ein liebes Wort), die kleinen Mädchen, wenn ſie ſich vergiften? So ſchreiben die kleinen Mädchen:

„Lieber Emil! Wenn Du dieſe Zeilen lieſt, dann bin ich tot!“

T O T

Das Wort hat rechts und links eine Peitſche und in der Mitte ein Loch.

Graphologie! Graphologie!

Iſt es nicht tiefſinnig? Peitſche Loch Peitſche. Wie witzig! Profund!

r

Viertes Buch, Schlußkapitel. 405

Und dann der Ton, wenn mans ein bischen dumpf und gedehnt ſagt, das O iſt ſublim. Wie wenn man über einen Flaſchenhals hinpfeift. Heiſere Sirenen.

Indeſſen! Höre mich! Höre mich! Ich ſage Dir: Sterben iſt ein dummes Wort. Man ſollte Schtärben ſchreiben. Da käme die ganze breit hin⸗ geſchmierte Gemeinheit des Wortes zu Tage. Ekel. Würgen. Fuſelaufſtoßen.

Und quoad Fuſel, ich weiß nicht recht: Iſt der Fuſel von heute ſchuld oder die oſtpreußiſche Bowle von damals ...?

Schuld? Schuld? Das Wort macht mir Wut. Wie ein Brummer rennts an mich an. Bin ich eine Fenſterſcheibe? Fliegenklatſche her! Fliegen⸗ klatſche!

Sei ruhig! Ich bin nicht betrunken. Wirklich nicht. Das iſt es ja eben! Ich bin nicht betrunken, und ich werde es niemals mehr ſein. Blos manch⸗ mal verrückt. Entſchieden, Alter! Verrückt, das heißt: Geſchüttelt, gezerrt, geſtoßen, an die Wand geworfen, und dazu lacht Einer.

Das Lachen legt ſich Dir um den Hals wie eine Peitſchenſchnur um den Kreiſel, einmal, zwei⸗ mal, dreimal, viermal, fünfmal, immer nochmal.

406 Stilpe.

immer noch, immer noch, immer nochmal; laß los! laß los! Jetzt: Wwwt! und Du drehſt Dich wie ein Kreiſelchen, Kreiſelchen, drehſt Dich wie ein Kreiſelchen auf einem Nagelkopf, ſcheibum, ſcheibum, lalalala, lalalala, ſcheib um ... Hund! Hund! Lache nicht, Peitſche, lache nicht! Wwwt! Wwwt! Scheib um!

Unwürdig, Staatsanwalt, unwürdig! Ein homo ſapiens! Wie kann man nur!

Aber das iſt es nicht. Auch nicht die roten Mäuſe und die weißen Männerchen, und die lieben kleinen Drehdingerchen, die immer ſo hin und her und hin und her, und oben an der Decke und unten an der Diele, tritt doch! tritt doch! rufen ſie —, du lieber Gott, an die Menagerie bin ich gewöhnt. Wie lange denn ſchon?

Du, weißt Du noch, meine gelbe Mütze? Oh, Jugendzeit! Oh, Porterbier!

Läſtig, wie ſie kribbeln, die Gedanken; laufen mir über die Bruſt wie Ameiſen. Und die Spring⸗ prozeſſion der Flöhe: Meine Ideale.

In der That! J de ale!

Mit Deiner gütigen Erlaubnis: Ich habe wirk⸗ lich welche.

Sie laſſen ſich nicht wegſaufen, die höheren

Viertes Buch, Schlußkapitel. 407

Ziele. Wie lange ſchon bemüh ich mich, durchaus ein Lump zu werden, und es iſt mir immer noch nicht gelungen.

Wenn ich doch nur klar denken könnte! Ich möchte Dirs ſo gerne auseinanderſetzen, Juriſt, der Du biſt.

Aber: Dieſe Blaſen im Gehirn. Verſchlammter Grund. Gurgelgaſe, Fuſelgaſe. Ich weiß ſchon nicht mehr, was ich Dir auseinanderſetzen wollte. Es wird wohl eine Lüge geweſen ſein.

Daran darf nicht gezweifelt werden! Immer hab ich gelogen! Immer! Sieh nur meine Tage⸗ bücher durch.

Die Verſe! Die Verſe! Am liebſten hab ich mich ſelber belogen, und rhythmiſch.

Wenn ich nur die Kraft gehabt hätte, das immer ſo zu fühlen, wie jetzt. Wenn ich mir nur über mein Talent nicht erſt jetzt klar würde, wo es zu ſpät iſt, wo ich nicht mehr die Kraft habe, es ſyſtematiſch auszunutzen! Ich hätte nie was wollen ſollen. Das Wollen war für mich eine ungeſunde Lüge.

Dichter wollte ich werden, weil ich Verſe machen konnte. Das war die Heckeratte, die infame. Wenn ich „Kritiker“ geblieben wäre, Du, was wäre ich da für ein ganzer Kerl geblieben, in Samet

408 | | Stilpe.

und in Seide, rund und aus einem Stücke, gar wohlgethan.

Ein Lump von einem Kritiker meinſt Du und beſchwörſt jenen Gotthold Ephraim. Was thuts? Das ſind Nüancen. Sag Feuilletoniſt ſtatt Kritiker, ſag Pickelhäring, Clown, Hanswurſt der öffentlichen Meinung. Meinethalben. Aber das war mein Feld. Da hätt ich weiter ackern müſſen. Aber das behagte mir nicht. Wollte oben hinaus. Die Hure, die Gouvernante ſein möchte. Hol dich der Teufel! Huren iſt auch ein Talent. Bleib im Bette und nähre dich redlich!

Jetzt iſts wieder ſo. Ich habe Dich letzthin belogen. Mich dichterts immer noch. Immer noch möcht ich auf den Poetenberg. Immer noch hebt ſichs da drin und klingt und will. Verſe überfallen mich und tönen mir gut. Oh, ſie ſind

gut! Höre!

Und hinter mir, dem ſchwarzen Adler gleich, Dem ſeine Schwingen feucht ſind, weil er in Wolken war, Schwebt ſchwer die Nacht Fühlſt Du, fühlſt Du, daß das Poeſie iſt? Von mir! Von mir!

Viertes Buch, Schlußkapitel. 409

Bin ich ein Hund?! Nein: Dieſe Verſe find von mir! Ah! Höre!

Lau, ein Bad von Roſenblättern,

Legt ſich Sehnſucht um mich, Sehnſucht; Sinke, Haupt, ertrinke, Seele,

Stirb in dieſen lauen Düften

Und genieße die Erfüllung.

Wie? Hat das nicht was? Der Teufel auch: Das iſt ausgezeichnet, ſag ich Dir, mi fili!

Dann:

Um mein Haus herum

Schwirren die Fledermäuſe des Grams.

Zwei, ſieh, hängen am Drachenbalken,

Grau am Grau,

Und blinzeln in den roten Lichtdunſt meiner Lampe. |

Ode heißt die eine,

Gier heißt die andre;

Die Schwirrenden pfeifen

Ich leſe mir das vor, mit leiſer Stimme ſprech ichs den Buchſtaben nach; mir iſt es, als hörte ichs von tief unten wo her aus Glockenmunde mit meiner Stimme, und ich fühle: Das iſt gut.

410 Stilpe.

Nein, ich bin keiner von den Schweren, Kleben⸗ den, in mir ſind Stimmen aus der Tiefe, es iſt ein Reichtum in mir. Ich habe mehr als ihr Almoſenempfänger. Ich bin einer von den grands aumöniers des Herrgotts. Ich kann mich aufthun, und es fließt Leben in die Welt. In meiner Seele umſchließen ſich Zeugung und Empfängnis. Wie jene Blume bin ich, die Phallus und Vulva iſt; ſo ſteh ich da im Garten des eee und be⸗ gatte mich:

Liebe dich und loſe Dich, Löſe dich auf und gebier dich der Welt Aus der bebenden Lotosblume deiner Fülle!

Ich höre Dich lachen, Staatsanwalt! Lache! Lache! Spei mir Dein Lachen ins Geſicht! Ich will mich nicht einmal abwiſchen.

Ich weiß es ja, jede Zelle meines Weſens fühlt

es ja: Das Alles iſt krüppelhaft. Ich, die erſtaun⸗ liche Lilie im Garten des Herrn, ſtoße nichts als Halbgeburten aus, ich wälze mich in Zeugungs⸗ wolluſt und kann nichts austragen. Und die frag⸗ mentariſchen Bankerte verrecken unter dem Hohn⸗

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Viertes Buch, Schlußkapitel. 411

gelächter meiner Erkenntnis, daß ich fürs Ganze impotent bin.

„Es fehlt dem Schüler an der rechten Aus⸗ dauer, ſeiner Begabung alles das abzugewinnen, was ſie zu leiſten vermöchte, wenn ſie von Fleiß, Beharrlichkeit, Mäßigung unterſtützt würde“. Dieſe Worte, nebſt einigen andern, habe ich ein⸗ mal von einem Schulzeugnis weggewiſcht, aber, als wenn ich ſie auswendig gelernt hätte, ſtehen ſie in mir feſt und knarren ſich heute mir vor.

Sehr gut, Herr Doktor! Sie ſind ein guter Pſychologe geweſen. Aber, weiß Gott, ein ſchlechter Pädagoge. Warum haben Sie mir alle die guten Dinge nicht beigebracht, Magiſter Sie? Warum haben Sie mich ſchon auf der Schule verlumpen laſſen? War ich ein Talent, oh, Sie Halunke, warum haben Sie mich nicht gehütet? Warum haben Sie mich verhöhnt, von ſich weggetrieben, meinem Zorn und Trotz in die Arme, daß ich nun erſt recht auf mir beſtand? Warum habt ihr mich überhaupt gequält mit eurer Rohheit, eurem Dünkel, eurer Gleichgültigkeit? Warum habt ihr meine Seele, da ſie jung war, wundgeſcheuert, daß ſie ewig ſchmerzende Narben davontrug und immer zuckender, unſtäter wurde? Freilich, die meiſten

412 Stilpe.

unter euch waren nicht einmal Pſychologen, höchſtens, daß ſie inſtinktmäßig ahnten, daß in mir mehr war, als in ihnen, und dafür mußte ich geduckt werden. Geduckt, ich! In mich hinein fraß ich einen Haß gegen Alles, das nicht ich war, meine ganze Jugend wurde ein Eitergeſchwür, all mein Blut verdarb, weil ihr mich drücktet!

Wie das Alles auf einmal vor mir ſteht. Wie ein ſchwefelgelber, brunſtrot geäderter Sonnen⸗ untergang.

Nie, ſeit Jahren nicht, ſah ich ſo klar. Nie, ſeit Jahren nicht, war ich ſo bewegt. Nie, ſeit Jahren nicht, fühlte ich mich ſo frei wie in en jetzigen Augenblicke.

Wird man hellſeheriſch durch einen großen Entſchluß? Oder bin ich endlich, endlich wieder einmal betrunken? Dann könnte ich ja den großen Entſchluß wieder auf⸗ geben?

Denn, Ruhe! Ruhe! nur noch einen Augen⸗ blick Ruhe! warum hat ſichs in mir eingeniftet, eingegraben wie mit tauſend feuchten Klauen, daß ich ein Ende machen muß? Lauf mir nicht fort, Bewußtſein! Bleib, daß ich mirs ſage, klar, glatt, hell, daß ich es wenigſtens einen Augenblick lang

Viertes Buch, Schlußkapitel. 413

weiß. So! So! Ich habs! Nur deshalb Nein! Nebel! Kopfſchütteln. Müde. Trinken!

Ich laufe den ganzen Tag im Zimmer herum wie ein Tier im Käfig. Und ich merke, daß mich das hypnotiſiert, wie einen Fakir das Kopfdrehen. Jetzt bin ich wunderbar ruhig. Das iſt ſehr ſchön. Nun weiß ich auch, warum

Siehſt Du, Robert (hab ich Dich je Robert ge⸗ nannt, Du Schäker ?), jo iſts: Ich fühle, daß ich auch im Sumpf nicht ganz aufgehe. Nein, nicht einmal im Sumpf. Und doch iſt Aufgehen Alles. Worin, das bleibt ſich gleich ... |

Eine Weile jchien Alles gut. Ich fühlte mich wohl und akklimatiſierte mich. Aber von dem Tage an, wo Du mit mir ſprachſt, begann das Ziehen wieder, das Hinaufwollen. Ein Taumel erſt. Verſe ſprudelten auf, Fragment auf Fragment. Hohes Entzücken! Phönix aus der Aſche! Dann aus allen Höhen herunter. Wirre Verzweiflung ... Zuckende Erkenntnis. ... Hin und her. Ich will! Ich kann! ... Nein! Nein! Hund! Lump! Mach ein Ende! ... Nein! Ich habe ja die volle Seele! Ich muß nur ein

414 Stilpe.

einziges Mal mit aller Kraft mich ganz faſſen .. Ach! Ich bin mit dem Schädel gegen die Wand gerannt und habe mir, ganz bibliſch, die Haare aus⸗ geriſſen. Geheult und gekreiſcht in Weinen und Lachen! Unſinn! Unſinn! Noch mehr ſaufen! Ecce medicamentum. Vergeblich. Ich reagiere nicht mehr.

Ich habe nur noch das Ekelgefühl und eine marode Sehnſucht. Fertig, weißt Du, was man ſo fertig nennt. Hin und wieder angenehm ver⸗ rückte Anſtöße, aber ich fühle: Die verdanke ich auch blos dem .. . Entſchluß. |

Der macht mir überhaupt viele Freude. Ja. Ich finde doch, daß ich nicht übel abgehe.

Über den Geſchmack der letzten Szene kann man ja ſtreiten. Natürlich. Aber was geht das mich an? Ich finde, daß ſie ausdrucksvoll iſt. Dem Leben die Zunge herausſtrecken, eurem Leben, meine Lieben, das Plaiſier müßt ihr mir ſchon gönnen.

Ich bin nun mal auf die böſe Seite hinüber⸗ gerutſcht, wo die Reſpektloſen, die Giftigen ſtehn. Wie kann da mein Geſchmack der eure ſein, ihr Leute von der Harmonie? Wenn ich Bomben würfe, würde die Geſchmacksdivergenz noch mehr klaffen.

Viertes Buch, Schlußkapitel. 415

Genug! Kommen wir zu meinem Vermächtnis:

Meinen werten Leichnam, bitte, der Anatomie. Den Befund über das Gehirn mögt ihr dem Cenacle⸗ archiv einverleiben.

Meinen werten Feinden von der Preſſe wende ich Stoff für mindeſtens zwei Notizen zu. Wer ſein Handwerk verſteht, kann am Ende gar ein Feuilleton herausſchlagen.

Dir gehören meine ſämmtlichen Werke. Wenn Du zu den Verſen immer einen Anfang und ein Ende ſchmiedeſt, ſo kommt ein ganz netter Band Lyrik und Spruchweisheit heraus.

Sonſt hab ich wohl nichts zu vermachen.

Qualis poeta pereo!

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