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Strauft uud die Evangelien, | oder das Leben Sefn von Dr. Strauß für denkende Lefer aller Stände bearbeitet von einem evangelifhen Theologen.

Erste Abtheilung.

Mit dem Bildniffe von Dr. Strauß.

Burgdorf, 1839.

Druck und Verlag von C. Eangiois! \ |

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Vorrede.

Als vor nunmehr vier Jahren Dr. Strauß ſein Werk: „Das Leben Jeſu“, herausgab, mochte wohl er ſelbſt nicht vermuthen, daß dasſelbe fo große und allgemeine Bewegungen hervorrufen würde, ale dieß befauntlich in allen Kreifen des deutfchen Publikums gefchehen it. Erwarten konnte dieß Strauß vorzüglich darum nicht, weil er fein Werk nur für Männer vom Fache ſchrieb; er fpricht ſich darüber in der Vorrede zur. erften Auflage S. vırı (dritte Aufl. S.x) ganz unzweideutig aud, indem er fagt: „für Richttheologen allerdings it die Sache noch nicht gehörig vorbereitet, und defmwegen . Die gegenwärtige Schrift fo eingerichtet worden, daß wenig« fteng die Ungelehrten unter denfelben bald und oft zu ‚merfen befommen, die Schrift fei nicht für fie. beſtimmt“.

Troß dieſer Abwehr des Verfaffers wurde jedoch fein Werk bald Gegenftand der Iebhafteften, nicht felten fehr leidenfchafts lichen Befprechungen, und wie dieß in folchen Fällen zu ges fihehen pflegt, man fah alsbald vieler Drten die ganze gebildete GSefellfchaft in Gegner und Freunde des eben fo eifrig ver- feßerten, als laut gepriefenen Dr. Strauß fich theilen. Dieß war zunächft eine Folge der eben fo unwürdigen, als unflugen Weiſe, in welcher viele, namentlich die früheften, Gegner des jungen Gelehrten gegen denfelben auftraten.

Strauß war auf dem Wege des Nachdenkens, welcdem kein Chriſt ſich entzichen kann, der fic nicht felbit aller Selbſt⸗ ftändigfeit und feſter, klarer Ueberzeugung verluftig erklären

Die meiften Gegner jedoch ſchlugen einen andern Weg ein, ben ich ſchon oben, ich glaube nicht mit Unrecht, ale einen umwürdigen und unflugen bezeichnete. Sie verließen den Boden der Willenfchaft, und machten die abweichenden Ans fihten ihres Gegners zur Gewiſſensſache, in der fchon - von Schiller fo treffend gezeichneten Weiſe:

„Dacht' ich's doch! Wiſſen fle nichts Vernünft'ges mehr zu

erwiedern,

Schieben ſie's einem geſchwind in das Gewiſſen hinein.“

Mochte es nun das Gefühl fein, daß fie beim Kampfe mit gleichen Waffen dem Gegner nicht gewachfen fein möchten; oder war: ed verfehrter und mißverftandener Glaubenseifer; oder eine Anwandlung geiftlichen Hochmu⸗ thes, der fich von Rechtes wegen jeder unbequemen Mühe der Widerlegung überhoben achtet; kurz, die meiften Geg⸗ ner antworteten mit VBerfegerung und Verdammung. Da dieß ganz vorzüglich in Rezenfionen, wegwerfenden Raifonnements in Zeitfchriften jeder Art, fo wie m zahllofen Fleinen Broſchü⸗ ren gefhah, was Wunder, wenn durch diefes unfluge und keidenfchaftliche Benehmen ein Aufjehen unter dem ganzen | Iefenden Publiftum erregt wurde, das Strauß felbft mit lobens⸗ werther Behutjamfeit zu erregen verfchmäht hatte! Denn ift nicht jede Verfeßerung man verzeihe den etwas harten, aber treffenden Namen gewiffermaßen eine Berufung an die ganze Gemeinde, ber man doc auch ein Urtheil über Glauben und Unglauben zutrauen wird? Da mun überdieß der von feinen Zuhörern gefeierte Lehrer, ehe noch der zweite Band feines „Leben Jeſu“ erfchienen war, von feiner theolo- gifchen Lehrftelle abberufen wurde, fo mußte die allgemeine Aufmerkſamkeit auf diefe Forſchungen in einem für alle Chriften fo wichtigen Gebiete, fie mußte auf ein Merk hingelenft

von dem Berfaffer herrühre, beffen Namen es trägt; in Der Vorrede zur dritten aber gefteht er ein, daß ein ernenerted Stu⸗ dium biefed Evangeliums, an der Hand von Neander’s „Leben Jeſu Chriſti“, ihm Die Unächtheit desfelben wieder zweifelhaft gemacht Habe; und doch ift Neander's Schrift als eine Streit⸗ ſchrift gegen Strauß zu betrachten!

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werben, zu beffen Befämpfung man fo- nsgewöhnliche Mittel in Anwendung bringen zu müflen geglaubt hatte!

Hierzu fommt aber noch Ein Umijtand, den wir und, um ganz unbefangen zu Werke zu gehen, nicht verhehlen dürfen: dieß ift die im unferer Zeit unter den Gebildeten ‚unlaugb..e herrfchende Gleichgültigfeit und Kälte gegen die von den vers fchiedenen chriftlicyen Konfeffionen aufgeftellten Lehrſyſteme. Man verftche mich nicht falſch; id) Elage unfere Zeit keines⸗ wege, wie ed von gewilfen Eeiten her zur Genüge gefchicht, der Kälte gegen Religion, Chriftenthum und Kirche an; fors dern nur gegen Die orthodoxen Kirchenlehren. Sch bale dieſe Erfcheinung allerdings für eine ımerfreuliche, ja betri;s bende, weil damit auch der Nerv alles wahrhaft Firchlichen, die Gemeinde durch und Durch befeligenden, Lebens erlahmt it. Aber es kann in folchen Dingen zu Nichts führen, Tich die Wahrheit zu verhehlen; und Thatfache iſt ed, daß fich die Mehrzahl aller denfenden Chriften mehr oder weniger von fq manchen Lehrfägen ihres Katechismus abgeftoßen fühlt, weil die Bildung unjerer Zeit, deren wir und nun einmal niche entäußern köñnen, denſelben widerftrebt. Der wahrhaft Gebildete freilich wird, wenn and) die äußere Hülle ihn un⸗ befriedigt läßt, den von jedem Zweifel unberührten Kern nicht verjchmähen, und vielleicht mit um fo veincrer Begeiſte— rung zu der heiligen Urquelle zurüditeigen, je weniger der getrübte Abfluß derfelben feinen Durft zu flillen vermag. Smmer aber fühlt er fich allein, verwaist und auf fich ſelbſt zurückgeworfen; der Gemeinfchaft mit Brüdern, die des gleichen Glaubens find, bedarf zu feinem Gedeihen dag glaubende Gemüth aber eben fo fehr, wie die Pflanze ber erwärmenden Sonne und des blauen Himmels. Schlimmer jedoch ſteht es mit den nur halb Gebildeten; nachdem fie ſich losgeſagt von der poftiiven Lehre ihrer Kirche, einem gefihlofs fenen Lehrgebände, und etwa nur einzelne Süße, die ihnen noch aufagen, ad libitum beibehalten haben, ift in ihnen eine Leere entftanden, die fie aus eigenen Mitteln nicht auszus füllen vermögen: fie gehen daher lieber, fo oft fie in devem Nähe kommen, ftill und leife an derfelben vorüber, und finfen unvermerft, da ein Gegengewicht fehlt, . immer weht \n vw,

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Flachheit und Rüchternheit des materiellen Daſeins herab. Hüten wir uns aber wohl, foldye Menjchen, deren es fo zahls los Viele gibt, voreilig zu verdammen! Sie erliegen ben Einflüffen einer allgemeinen Krankheit unferer Zeit; fie haben das Bertrauen auf die zur Heilung berufenen Aerzte verloren, und nicht Jedem ift ed gegeben, fein eigener Arzt zu fein! Treten wir näher zu ihnen heran, fo werben wir bei ben meiften derſelben eine weit größere Empfänglichkeit für hriftliches Xeben und Glauben finden, als ein oberflächlicher Anblick erwarten ließ; file wenden fid gar oft mit warmer Theilnahme einer Belehrung über diefe wichtigen Gegenftände zu, wenn fie nur die mäßigen Forderungen des Berftandes anerkannt und befriedigt finden. |

Unter folchen Umftänden kann es nun wohl nichts Befrems dendes haben, wenn man einen Werfe, von dem aller Welt fo laut verfündet worden war, ed fei auf den Umſturz des pofitiven Chriftenthume gerichtet, eine gedoppelte Aufmerkſam⸗ feit zuwendete; zumal da felbft .Eiferer und Gotthelfe verfichern mußten, ber Berfafler des Werkes fei fehr gelehrt und fcharf« finnig. Männer und Frauen der verfchiebenartigften Gefins nungen und Bildungsftufen langten nad) bemfelben; bie im Glauben an die pofitive Kirchenlehre aus tieferen Gründen wanfend Gewordenen, wie die in ihrer Aufflärung und obers flächlichen Verneinung fich felbit Gefallenden; die entichies denen Gegner des Chriftenthums, wie die, Doch auch zuweilen von heimlichen Zweifeln überrafchten, Frommen Alle er: warteten wenigftens Etwas von dem verfchricenen Buche; Die Meiften jeboch hofften, gründliche und beruhigende Belehrung, und gewiß nicht Wenige auch einen ficheren Wegweiſer in ihm zu finden auf einem Gebiete, das zu durchwandern ihnen zwar unerläßlic,, ohne Führer aber zu gewagt jchien.

Allein wie Viele mußten, wenn fie das Buch zur Hand genommen, ſchon an der Schwelle mit wehmüthigen Gefühlen zum Rückzuge ſich genöthigt fehen! fie mußten geftehen, daß Strauß Recht gehabt, wenn er fagte, bas Bud; fei nur. für Theologen gefchrieben. Denn ein Werk, das Cin der nur wenig erweiterten dritten Auflage) 1572 große Dftavfeiten zahlt, das auf allen Seiten lateinifche, griechifche oder hebräi«

fhe Stellen zitirt, das genaue Kenntniß ber theologifchen Literatur vorausſetzt, das ben angefpormenen Faben ber Unterfuchung von. feinem Anfange an bis in die Fleinften Wins dungen des vorliegenden, oft fo verworrenen, geſchichtlichen Stoffes fortführtz ein ſolches Werk erfordert, da es ein Ergebniß firenger umd ernfter Forſchung ift, ein eben fo ftrens ges Studium bed Leferd, wozu den weitaus meiften Nicht⸗ theologen, wenn auch die nöthigen Kenntniffe vorhanden find, fhon Zeit und Gefchäftsruhe mangelt: es ift Fein Buch zur feftüre.

Man war alfo genöthigt, fich nach andern Schriften oder ausführlichen Anzeigen und Berichten umzufehen, durch Die ſich wenigftend aus zweiter Hand eine genaue, klare und anfchaulihe Kenntmiß der Grundideen, des wiffenfchaftlichen Standpunktes und der auf bemfelben gewonnenen NRefultate gewinnen ließe, durch welches Alles das vielbefprochene Buch eine. fo bedeutende Berühmtheit erlangt hatte. Allein dieſer Berfuch, aus den büftern Nebeln der Gerüchte und Sagen den wahren, -biftorifchen Strauß herauszufinden, mußte wo möglich noch unbefriedigender ausfallen, als das Anklopfen an feiner eigenen, mit Gelehrfamfeit verrammelten Schwelle. Mir wenigitens ift unter dem Vielen, Vielen, das id) über Strauß gelefeir, feine Schrift, noch irgend eine Anzeige, zu Geſicht gefommen, welche geeignet geweſen wäre, dem mit der Sache noch unbekannten oder auch fehon oberflächlich bes kannten Nichttheologen ein getreucd und anfchanlicyes Bild von dem Buche zu geben. Einige, die allerdings mit unbe⸗ fangener Wahrheitsliebe berichteten, waren zu kurz und zu wenig einläßlih, id, rede hier überhanpt nicht von dem was für Gelehrte gefchrieben wurde um eine bis ing Einzelne gehende vollftindige Kenntniß der Straußifchen For⸗ chungen zu gewähren. Die meiften aber, und zum Theil grade die ausführlichiten, verriethen es nur zu deutlich, Daß fie Die Eache mit gefärbter Brille angefchaut, daß fie das Merk von Strauß fchon mit der Abficht, es zu widerlegen, in die Hand genommen hatten, und daß fie, vielleicht ohne es zu willen, nicht im Stande waren, aus ihrer Werfitätte den Farbentopf der Empfindlichkeit und Des Widerwillens fern

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zu halten. Diefe waren. alfo mehr Dazu gemacht, die ſchon halb Belehrten noch zu verwirren, und die noch halb Befan⸗ genen ganz befangen zu machen.

Diefe und Ähnliche Beobachtungen anzuftellen, hatte ich in meiner näheren und. entfernteren Umgebung Gelegenheit genug. Inzwiſchen fegßte ich Das begonnene Studium des Straußifchen Werkes mit allem Eifer, aber ftill und geräufchlos fort. Meine feitherigen theologifchen Studien hatten mich bis zu einem gewiffen Grade, den näher zu bezeichnen mir nicht zus fteht, fähig gemacht, fomohl den Unterfuchungen des Dr. Strauß, wie den Einreden feiner Gegner, mit prüfendem Auge zu fols gen. Strauß zog mich an und ftieß mich ab; ich muß jedoch offen geitehen, daß die Anziehungskraft mehr und mehr das Vebergewicht über das abfteßende Element gewann. Als Schüler des großen Schleiermacher hatte ich wohl gelernt, den Inhalt des Chriftenthums von deffen äußerer Form, die Idee eines Ehriftus von den Thatfachen feines Lebens, die Wunder feiner im Herzen vwohnenden Göttlichfeit von ber in feinen Thaten fich offenbarenden zu trennen. Sch hatte wohl fchon die Anficht gewonnen, daß unfere Evangelien in ihren mit Wundern überfüllten Berichten ung nur einen ſchwachen und theilmeife getrübten Reflex der inneren, wahs ren Größe bes Böttlichen geben; daß gar manche Parthien berfelben mehr Werk der bemundernden Einbildungsfraft, ale Abdruck ungetrübter hiftorifcher Ueberlieferung ſeien. Dennoch überrafchte mid) der kühne Verſuch, die ganze evangelifche Gefchichte vor den Richterſtuhl der hiftorifchen Kritik zu bes rufen, um fi darüber auszumweifen, ob fie nicht vielleicht ganz aus Sagen und Mythen beftehe, und nur das in dem Feuer einer ſolchen Kritif probehaltig Erfundene als reines hiftorifches Metall anzuerfennen. Nähere und fortgefeßte Bes trachtung führte mic) indeß zu der Ueberzeugung, Daß Diefer Verſuch, wie er auch ausfallen möge, gewagt werden müſſe, daß er ber einzige Weg fei, um dem fohmwülen, unheimlichen Schwanken zwiſchen Glauben und Zweifel ein» für allemal ein Ende zu machen, fei es durch diefes oder durch jenes

Reiultat. Sch erfannte, daß die wunden Stellen bed vielfach verlegten Glaubens an die evangelifchen Berichte nicht länger mehr durch Die Immvarmen Umſchlaͤge einer modernen, mit ben Schönpfläfterlein einer neuen Weltweisheit dem Zeitgefihmade angepaßten, NRechtgläubigfeit kurirt werden dürfe, in Mart und Blut müſſen die Heilmittel eindringen, Damit der kräns finde Körper zu erkennen gebe, ob er nur äußerlich, oder in feinem Innern fchadhaft ſei; ob er, ſtatt zu vegetiren, ents weder wahrhaft leben Fünne, oder bei feinen fchon hingegans genen Bätern fich zur ewigen Ruhe einzufinden habe. Ich veritand jett erit ganz, was unfer Zeifing bei einer aͤhn⸗ lichen Gelegenheit ausfprady, und was Strauß in ber Vor⸗ tebe zu dem zweiten Theile feines Buches wiederholte: „Ich bin überzeugt, daß es fchlechterdings zu Nichte hilft, ven Krebs nur halb fchneiden zu wollen; daß dem

Feuer Luft gemacht werden muß, wenn es gelöfcht werden foll.“

Mit folhen Betrachtungen wandte ich, meine Blicke wieder zu den fogenannten Laien zurüd, die ich durch die Strauß’s hen Forfchungen vieliach angeregt, zu vielfachen Erwartuns gen aufgeregt, in ihren Erwartungen aber getäufcht fah: es war ihnen befannt geworden, daß fich eine neue SHeilquelle für die auch fie fohmerzlich berührenden Leiden der gefammten hrütlichen Welt aufgethan habe; aber der Zutritt zu ihr war verfperrt durch Gelehrfamfeit einerjeitd und durch Befangens heit und Borurtheil andererfeits. Sollte man für fie diefe Duelle nicht frei machen? follte man fie nicht unmittelbar zum Baume der Erfenntniß führen, deſſen Früchte fie fchon gefoftet, aber verborben durch unfaubere oder nachläffige Ems ballage? Sollte man ihnen, um es Furz zu fagen, nicht grabezu den ganzen Strauß, nämlich das „Leben Sefu von Dr. ©. F. Strauß“, entfleivet feiner gelehrten Uniform, aber ganz, wie er oder es leibt und lebt, vor Augen legen, damit fie felbft ſchauen, nachſehen und urtheilen können? Warum nicht? Als ich fo Dachte, trat mir aber das ernite Bedenken entgegen, daß die Laien zu jenem Baume der - Erfenntniß nur über das fehaufelnde Meer des Zweifels binüber zu führen feien; foll man fie diefem tückiſchen Elemente

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anheim geben? Nein! wenn ihnen namlich Zweifel noch, ganz unbekannt find; da fie aber, wie ich ſchon früher erzählte, fich “eine gewiffe Befanntfchaft mit denfelben erworben hatten, fo fonnte ich nicht fürchten, daß Diejenigen, welche ihre leichten, nur zu Spazierfahrten eingerichteten, Fahrzeuge ſchon dieſen Bellen anvertraut hatten, bei einer Fahrt auf einem ſoliden, mit Maft, Segeln und Rudern wohl ausgerüfteten Schiffe von der Seekrankheit fonderlich heimgefucht werden würden: es ftand vielmehr zu erwarten, daß die Ausficht anf einen ers fehnten: Landungsplak ihnen die Befchwerden der Neife leicht machen werde.

Es Feimte Daher fehon vor zwei Jahren der Entichluß in mir, Etwas dazu beizutragen, um den denkenden Laien eine gene, . ausführliche und von Feinerlei fremdartigen Bes ftandtheilen getrübte Anficht von dem Inhalt des „Leben Jeſu“ von Strauß zu verfchaffen. Immer aber ward ich, da ich Aergerniß zu geben mich fehr fcheue, durch mancherlei Bedenken Davon zurückgehalten, bie endlich die Berufung des Dr. Strauß nach Zürich und die daran fich Fnüpfenden nur zu befannten Ereigniffe meinen Entfchluß beitimmten. Cine Benrtheilung Diefes ganzen in vielfacher Beziehung fehr merfwürdigen Ers eigniffes liegt außer meiner Abfichtz ich hebe einzig und einfach die Thatfachen hervor, daß nicht nur eine ganze weltliche Behörde, der Große Rath von Zürich, über die gelehrten Korfchungen des Dr. Strauß abgeurtheilt, fondern Die weitaus überwiegende Maffe des zürcherifchen Volkes über diefelben ben Stab gebrochen hat; daß in dem Verlaufe der ganzen Geſchichte bei Freunden und Feinden des alsbald nach feiner Anftellung yenfionirten Zürcher Profeffor Strauß eine übers rajchende Unkenntniß feines mit fo vieler Wichtigkeit behandel- ten Werkes zu Tage kam. Hiermit war auf Einmal das Vers hältniß gänzlich umgeändert worden; Strauß iſt nun nicht mehr als Bürger der gelehrten Welt zu betrachten, er ift gewaltfam vor den Nichterftuhl der öffentlichen Meinung, vor die Schranfen des gefammten Publifums gezogen wors den, und tiber Die Gränzen ded Kantons Zürich, ja weit über Graͤnzen der Schweiz hinaus, find die Morte Straußianer“ und „Antifiraußianer“ Partheinamen geworden, unter

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denen fich gar Mancher eben nur bas benft, was ihm beliebt, ober was er zu begreifen vermag. Wenn aber ein großes, aus fo verſchiedenen Individuen sufammengefeßtes Publikums ſich ein Urtheil über einen Mann und über feine religiöfe und wilfenfchaftliche Ueberzeugung vwindizirt hat, fo wird es für diejenigen, bie ihn zu kennen glauben, Pflicht, der zu Ges richt fißenden Welt den Mann zu zeigen, wie er ift. Auch Strauß fcheint Das Veränderte feiner Stellung anerfannt zu haben, indem er in feinem befannten, offenbar zur Veröffent⸗ lichung beftimmten „Senbfchreiben an die HH. Hirzel, Orelli und Hisig* feine Anfichten in einer, jedem gebildeten Laien verftändlichen Eprache kurz und bündig zu rechtfertigen gefucht bat.

Unter folchen Limftänden fchien es mir ein nicht nur nicht voreiliges, ſondern felbit von der Zeit gefordertes Unternehmen zu fein, aus) das größere Publiftum mit dem Werke des Dr. Strauß befannt zu wachen, ihm eine genaue Einficht in bie Alten zu gewähren, und dadurch ein wirklich begrün⸗ detes und beruhigendeg Urtheil vorzubereiten. Sp viel fah ich indeß bald ein, daß es nicht genügen könne, Einzelnes aus dem Zufammenhange des fo viel befprochenen Werkes heramss zunehmen und nun darüber erläuternd, ergänzend, berichtigend ıc. fichh weitläuftg zu verbreiten. Das Publifum fcheint, und nicht mit Unrecht, mißtrauifch geworden zu fein gegen Alle, die, fei es als Freunde oder als Gegner, ſich zu Referenten über Strauß und zu Beurtheileen desfelben aufgeworfen haben, wobei ihre eigenen Syfteme, Anſichten und Stimmungen immer mehr oder weniger, wenn auch ummillfürlidy, Durchs fchlagen; nicht einen Xobredner oder Anfläger des Mannes möchte man hören, fondern fein Werf felbft fehenz fei es auch nur in einer Gopie, die fich zu ihm verhält, wie Der forgfältige Kupferftich zu dem Gemälde, wie die treue Ueberfeßung zum Driginale.

Eine ſolche Copie it es, eine Ueberfegung gleich fam aus der Sprache des gelehrten Theologen in die Der ges bildeten und denfenden Laien, die wir hiermit dem Publikum

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vorlegen. Der Berfaffer wollte Laien ber bezeichneten Klaffe em Buch in die Hand geben, von welchem Jeder berfelben, dem Das eigene Wert von Strauß verfchloflen ift, mit Zus verficht fagen könnte: „Seht, da haben wir nun endlidy eins mal auch den Achten Strauß, in ein Gewand gekleidet, in welchem auch wir allen feinen Bewegungen folgen können, ohne der gelehrten Brille zu bedürfen“.

Daß ein ſolches Werk für eine vollftändige und allfeitige Kenntniß des ‘von Strauß eingefchlagenen wiffenfchaftlichen Verfahrens genüge, glaube ich allerdings nicht; daß es aber wenigftend eine.nothwendige Grundlage, ein erfter und wefentlicher Schritt zu derfelben fei, davon halte ich mich vollfommen überzeugt. Um dieß näher zu begründen, wird es ımerläßlich fein, mich noch über die Grundfäße, die ich bei disjer Arbeit verfolgte, näher auszujprechen, weil es bei einem Buche, wie das vorliegende, ganz vorzüglich darauf anfommt, zu willen, was man in bemfelben zu erwarten habe.

Für welche Lefer das Buch beftimmt fei, darüber fpridyt ſich ſchon der Titel aus: denkende Tefer hatte ich im Auge, bie, gleichviel auf welchem Wege, fich ſoviel Selbitftändigs teit und Urtheilsfähigfeit erworben haben, daß die Lichtſtrah⸗ len fie nicht bienden und erfchreden; denen die Fragen, um die es ſich hier handelt, nicht mehr ganz fremd find; bie mit der Schriftfprache vertraut genug find, um einer - ernften und faßlichen Entwidlung folcher Ideen und Anfichten, die jedes Gebildeten Intereffe in Anſpruch nehmen, ungeftört und ohne Anftoß folgen zn können: vor Allem aber, lieber Lefer, wünfche ich mir folche Leſer, Die mit reiner, heiliger Liebe zur Wahrheit erfüllt und von dem lebhaften Wuuſche befeelt find, in einer der wichtigften Angelegenheiten bes Les bens eben fo dem Gemüthe wie dem Berftande Befriedigung zit gewähren, und jened Gleichgewicht der Seele zu fins den, ohne welches dieſelbe niemald ein ungetrübter Spiegel des Göttlichen werden kann.

Solchen Leſern dad Werf von Strauß in einer Geftalt vorzulegen, in welcher es ihnen durchaus verftänblich ſei; ed ihnen So zu geben, wie id, glaubte, Daß Strauß felbft ed

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ihnen gegeben haben wide, hätte er für fie geſchrieben; dieß ift der meiner Arbeit zu Grunde liegende, und ich darf verfichern, gewiffenhaft verfolgte Plan. Es erwuchſen mir daraus insbeſondere folgende Aufgaben:

„Die größte Treue; Vollſtändigkeit neben vers „hältnißmäßiger Kürze; Abftreifen der gelehrten Form, „und möglichſt anfchaulicye und lebendige Darftellung“, Wenige Bemerkungen werden hinreichen, um bie hier ans

gegebenen einzelnen Geſichtspunkte näher zu bezeichnen, und dadurch ein ganz beſtimmtes Urtheil über bag, was der Berfaffer wollte, zu begründen.

1) „Größte Treue* dieß Erforberniß fchien mir da⸗ erſte und wichtigſte; es ſollte Strauß ſein, der da redete in anderer Sprache, und nur Strauß bis zu dem kleinſten Zuge herab. Ich mußte mich durchaus in die Ideen und An⸗ ſichten dieſes Gelehrten verſetzen, mir Alles aneignen, was er erzaͤhlt, entwickelt, behauptet, und es alsdann in einer andern, meinem Zwecke entſprechenden Weiſe wiedergeben; ſo ſehr aber machte ich mir ſtrenge Treue zur Pflicht, daß bei jeder Zeile, die ich niederſchrieb, mir die Mahnung leiſe in's Ohr tönte: „Schreibe ſo, daß Strauß zu jedem Worte ſein Ja geben kann!“ Dieſe ununterbrochene Mahnung gab allerdings meiner Arbeit öfters etwas Aengſtliches und Pein⸗ liches; allein ich durfte mich ihr, wollte ich meinen wichtig⸗ ſten Zweck nicht verfehlen, auf keine Weiſe entziehen, wenn auch vielleicht anderen Forderungen dabei nicht ganz ihr volles Recht. widerfahren fein ſollte. In wie weit ich Diele Aufgabe gelöst habe, darüber mögen gründliche Kenner bes Straußifchen Werkes urtheilen; mir bleibt das Bewußts fein, daß ich mit Wiſſen auch nicht die Fleinfte Linie in dere Zeichnung, in fo weit fie den Inhalt des copirten Gemälbes betrifft, aus eigenem Borrathe zugefügt habe. Bei einzelnen Parthien war ich allerdings veranlaßt, für meine Lefer mans ches von Strauß nur Angedeutete etwas anfchanlicher auszu⸗ malen; bei anderen habe ich den Stoff etwas anders geordnet Einiges ift von mir etwas mehr in den Vordergrund geftellt, Anderes in Perfpeftive verkürzt worben. Dieß Alles aber gefchah mit folcher Behutfamkeit und Zurückhaltung, über

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war ich fo jehr bemüht, ganz im Geilte und Sinne meines Driginals zu zeichnen, daß ich auch für Diefe Partbhien jenes Bewußtfein in Anfpruch nehmen darf. Hieraus folgt aber auch, daß ich für den Inhalt meines Buches an fich Durchs aus nicht verantwortlich fein, fondern daß mich in Diefer Bes ziehung nur dann ein Vorwurf treffen kann, wenn fich hier Etwas findet, was mit dem von Strauß Entwidelten nicht übereinftimmt. Ich geftehe fogar, daß ich in manchen Etüden nicht der Anficht von Strauß bin, daß id) überhaupt in vors liegender Schrift mein Glaubensbekenntniß nicht ablegen wollte; nur das Amt eines redlichen Dolmetfcher’s wollte ich nach beiten Kräften verwalten. Diefem Streben nad) möglichiter Treue it es auch zuzufchreiben, daß ic) einzelne wiewohl verhältnißmäßig fehr wenige Stellen ganz wörtlich aus - Strauß abgefchrieben habe; alle diefe Stellen (einzelne Aus⸗ drücke und licbergangsforneln wird man nicht hierher ziehen wollen) find am Anfanze und Ende mit Fleinen Sternchen bezeichnet, übrigens aber fo in den ganzen Guß der Darftels lung verjchmoßen worden, daß man fie ohne dieſe Zeichen wohl nicht erfennen würde.

» 9 „Größte VBollftändigfeit neben verhältnißmäßiger Kürze“: eine fchwere Aufgabe, aber gleichfalls unerläßs liche Forderung! Daß bedeutend abgefürzt werben mußte, war, abgejehen von andern Gründen, ſchon darum nothwen⸗ dig, weil dem Laien nicht zugemuthet werden fonnte, ein voluminöfes Werk zu ftudiren, das weder in feinen eigentlichen Berufskreis einfchlägt, noch auch unter die zur Erholung und Erheiterung beftimmte Lektüre gezählt werden kann, fondern vielmehr eine ernfte Betrachtung in Anſpruch nimmt, wozu man nur die beiten Stunden einer fo mandjem andermeitig Beichäftigten fparfam zugetheilten Muße verwenden kann. Ganz gleihmäßig konnte diefe Abkürzung natürlich nicht vorgenommen werden, ba nicht alle Gegenitände gleiche Bes deutung haben, und überall auch darauf Rüdjicht genommen werden mußte, ob ein verwandter Gegenitand ſchon früher behandelt worden war, oder nicht. Namentlich aber mußte ich der Einleitung eine größere Augführlichkeit widmen, da es von beſonderer Wichtigkeit war, den in ihr dargelegten

wiſſenſchaftlichen Standp unkt möglichft klar hervorzuheben, and dadurch die Soliditaͤt des Bodens, auf weichen die eins "zelnen Forſchungen gegrätbet find, recht anſchaulich zu mar chen :- wirklich iſt and) dieſe Einleitung kaum um die Hälfte verkürzt worden. - In weldyem Maße dieß aber. bei ben eigents Tich hiſtoriſchen Unterfuchungen gefchehen ift, möge ber Leſer aus dem Inhalte dieſer erften Abtheilmug von Seite 72 ‘bis Ende derfelben erſehen; es ift in Diefen Seiten zuſammengefaßt, was Steanß auf 660 Seiten (bis Ende bed erften Bandes) entwidelt hatı:'3c;, hoffe, daß. durch dieſe Kürze die "Deut lichkeit nicht gelitten hatz vielmehr mögen manche ‚Refultate ie diefer Beziehung eher. gewonnen haben, wenn fie in ein⸗

fache, leicht Aberfehbare Umriſſe zufanmengezogen, einen uns fo fchlagenberen Totaleffekt hervorbringen.

Trog ber bedeutenden Abkürzung iſt indeß gewiß fein

irgend wefentlicher Punkt übergangen worben, weil es mir

ebenfalls: fehr um möglichite Vollſtaͤndigkeit in Angabe nicht nur der Reſultate, ſondern auch ber Gründe, auf wel⸗

chen dieſe beruhen, zu thun war. Denn einestheils iſt ohne

die Kenntniß dieſer ein genaues Urtheil über jene kanm

möglich; andererſeits bewährt ſich aber grade in der Entwicke⸗ Img der Gründe und in der Strenge ber Folgerungen ein ausgezeichneter , theilweife glänzender, Scharffinn, ben felbft die Gegner an Strauß rühmen mußten; ed wäre alfo ein wefentlicher Theil der inneren Cigenthüntlichfeit feines Bus ches verwiſcht worden, wenn ich es nicht fo viel ald möglich vermieden hätte, Durch meine Bearbeitung diefe Seite deffels ben in Schatten zu ftellen. Deßhalb hielt ich es auch für nothmwendig, überall die Anfichten derjenigen Theologen, denen

Strauß entgegentritt, beftimmt, wenn auch nur kurz, hinzuftels

len; ohne bieß Berfahren wäre gar Vieles in dem Buche uwerſtaͤndlich geblieben, und es hätte überhaupt fehr oft der ganze Gedanfengang völlig umgeändert oder unkenntlich ges macht werben müfjen. Denn in der. Regel verfährt Strauß fo, daß er zuerit. den buchftäblichen Inhalt einer evangelifchen Erzählung. angibt,; alsdann die feitherigen Erkläärungsverſuche derſelben Der Reihe nach aufzählt und beurtheilt, und endlich ba, wo ihm feines. genugend erfcheint, ben feinigen austinans

berfept. Dieſe Mechode dutſte um fo weniger verlaſen ers

xvin

den, da fie zugleich den Leſer mit den herrſchenden Syſtemen in der Theologie und mit der intereſſanten Thatſache bekannt macht, daß auch auf dieſem Gebiete das goldene Zeitalter des ewigen Friedens noch in weiter Ferne liegt.

Daß es mir bei dieſem ſorgſamen Streben uach einer Vollſtändigkeit, die Nichts von dem Charakter und weſentlichen Inhalte eines Werkes verloren gehen läßt, dennoch möglich war, fo bedeutend abzufürzen, erklärt ſich zunächſt aus der

gewiſſenhaften Anwendung derjenigen Grundfäße, die überhaupt bei einem Auszug aus einem wifjenfchaftlichen Werke beob⸗ achtet werden follen, und. die genauer auseinander zu feßen, mich hier zu weit führen würde. - Wer fie fchon fennt, für ben wäre eine folche Auseinanderſetzung überflüffig, wer fie noch nicht kennt, den muß ic) erfuchen, nachzufragen, wie es der Seographe anfüngt, um aus. feinen trigonometrifchen Bermeflungen eine Landeharte zufammenzufeßen; wie der Maler, um ein menfchliched Antlig in den Rahmen eines kleinen Miniaturbildes zu faffen; wie der Gefchichtsfchreis ber, der in lebendiger Darftellung die Zeiten fchildert, in welche feine Studien ihn verfenft haben. Wenn fchon diefe im Stande find, ein getreues Bild ihrer eigenen Anfchauungen zu geben, P muß ein Auszug aus einem wiflenfchaftlichen Werke, wie er bier vorliegt, ſchon feiner ungleich größeren -Ausführlichkeit wegen um fo mehr ald ein getreued, wenn auch verfürztes, Abbild betrachtet werden, da derjenige, von dem er herrührt, fich vedlich bemüht hat, in der Verkürzung auch nicht den Fleinften wefentlichen Zug des Urbildes unter gehen zu laſſen. Ferner aber erreichte ich den Zweck bes deutender Abkürzung durch

3) „Das Abftreifen der gelehrten Form der Darftels lung.“ Viele Nachweifungen, Berufungen auf ältere Schriften; Erörterungen folcher Stellen aus gelehrten Wers fen, die zu Beweifen oder Gegenbeweifen dienen follen; kurz, der eigentlich gelehrte Apparat, den Strauß natürlich

nicht vorenthalten durfte, konnte und mußte bier entweder wegbleiben oder, wo er zu näherem Berftändniffe des Inhals tes nöthig fchien, fehr in’d Kurze zufammengezogen werben. Wenn ed mir nur gelungen iſt, audy hier bie Treue, bie ich ar überall zur Pflicht machte, dabweh, zu bewähren, dag Ach

den eigentlichen: Peru: and: ber. geichkten:: Gülfe auwerfehen hevandfchhlie ,:- ſo hat weine Darſtellaig · det Sache gewiß nicht geſchadet: vielmehr muß ich glauben, daß ſelbſt Kunſt⸗ verſtaͤndige ein neues Gebaͤude gar gerne auch dann betrach⸗ ten, wenn das Baugerüſte ſchon abgeſchlagen iſt, und die fchönen Flächen nicht mehr verdeckt, ſo daß das Ganze zu bequemerer Ueberſicht vor uns fteht. Daher habe ich auch Alles, was Strauß in ben zahlreihen Anmerfungen, bie ms einmal ein nothwendiges Uebel in gelehrten Schriften find, ‚verhandelt hat, mit dem Texte felbit verfchmolzen; ich gewann. dadurch zugleich den Bortheil, daß ich das Wenige, was ich bier und da hinzugufeßen für nöthig hielt, in Anmerkungen, die alſo ſammtlich Zuſaͤtze von mir find, beifügen konnte.

Ferner mußte ich das gelehrte Gewand auch dadurch abs Rreifen, daß ich alle Stellen aus lateinifchen, griechifchen und hebräifshen Schriftftellern, die ſaͤmmtlich von Strauß in. ber Urfprache angeführt werden, ind Deutfche überfeßte, wo ich nämlich es für nöthig hielt, fie wörtlich mitzutheifen. Bei uensteftamentlichen Stellen hielt ich mich im Allgemeinen am die ‚Intherifche Ueberſetzung, von ber ich. jedoch häufig da, we. es die Genauigkeit zu erfordern fchien, auch abgewichen bin.

. Wenn mir nun audy einerfeits die Rüͤckſicht, daß ich nicht für Gelehrte fchreibe, mannichfache Weglaſſungen rein gelehrs ter Zuthaten möglich machte, fo ſah ich mich andererfeits durch dieſe Rückſicht auch wieder zu vielerlei Zufägen genös _ thigt. Strauß nämlich, der für Theologen fchrieb, mußte bei feinen Lefern Belanntfchaft mit den theologifchen Syftemen, Schriftftellern und Sculausdrinfen, fo wie mit der Kirchens gefchichte worausfegen; bei mir ift diefes anders: ich muß eine folhye Bekanntſchaft dem größeren ‘Theile meiner Lefer erft verfchaffen. Solche Erklärungen durfte ich aber in den Tert fhon darum nicht verweben, weil ich mir zum erften Gefeße gemacht hatte, in Diefem Texte den Strauß, und nur ben Strauß, zu geben, und meine geringe Weisheit gänzlich bins ter den Couliſſen verftect zu halten. Daher fchien es dus Zweckmaͤßigſte, um Zufammengehöriges nicht zu zerfplittern, am Ende des ganzen Werkes eine Reihe alphabetifch geords neter Anmerkungen zuzufügen, in welchen der Leſer widıt wur eine Erflärung aller in bie wiffenfchaftliche Theologie einickilas

ax

genden Ausdrücke, fondern auch furze Nachweifungen über Die im Verlaufe der Unterfuchung genannten Gelehrten finden wird.

Ebenfalls von mir herrührend iſt die intheilung des Buches in Abfchnitte und Kapitel. Strauß hat eine folche zwar auch; allein feine Abfchnitte wie feine Kapitel find im Durchſchnitte von bedeutend größerem Umfange, wogegen er . noch die Unterabtheilung in SS. hat. Diefe Einrichtung ift in feinem Werke gewiß fehr zweckmäßig; für meinen Zweck aber. fchien mir eine befondere Rückſicht auf Symmetrie, und „eine Bertheilung in mehrere, und dadurch Fürzer gewordene, Abfchnitte und Kapitel nothwendig. Denn ein Leſer, von welchem ein ununterbrochenes Studium nicht zu erwarten ift, liebt häufige Nuhepunfte und leicht überfehbare Abfchnitte; deßhalb find auch faſt alle Kapitel noch durch Hleinere und größere Querftriche unterbrochen worden, Die nucht felten den 65. bei Strauß entfprechen.

Unter der Weberfchrift jedes Kapitels habe ich die in dem⸗ felben behandelten evangelifchen Stellen angegeben. - In Bezug auf diefe, fo wie auf die meiften andern zur Sprache gefommenen Bibeljtellen muß ich es bedauern, Daß es mir nicht möglich war, fie mitzutheifen, was natürlich zuviel Raum weggenommen hätte. Dadurch ift nun allerdings eigenes Nachſchlagen vielfach nöthig geworden; allein Die meiften der citirten größeren Parthien find gewiß meinen Lefern hrem wefentlichen Inhalte nach ſchon bekannt, und auch bei ben im Borübergehen angeführten Stellen ift deren Inhalt fo beftimmt aus der Darftellung erfichtlich, daß der Leier, der dem Berfaffer Vertrauen fchenkt, fich das Nachfchlagen er: ſparen kann; fo daß Diefe, theilweife ziemlich gehäuften, Gitate hanptfächlich nur der nothwendigen diplomatischen Treue nnd den Wünfchen derer gewidmet find, die gern überall mit eiges nen Augen fehen *).

4) Möglichft anſchauliche und lebendige Darftellung .— Ein Buch zu unterhaltender Lektüre wollte und Fonnte ich nicht liefern; dazu ift der Gegenftand ein zu wichtiger und bedeus tungsvoller; es mußte daher fchon die ernfte und würdige

*) Da, wo die drei cerften Evangelien übereinftinmen, ift der Kürze wegen nur Matthäus citirt.

Haltımg des Styles Iebem, ber etwas. Anderes, als ruhige und ernite Betrachtung bier zu . finden ‚vermeinte, auf: allem Seiten bed Buches entgegensufen,.baß er fid, verrechnet habe. Aber eben dieſe Beichaffenheit des Stoffes, der vieleicht: Füd Manche etwas Spröded und Schwieriged haben mag, und eben diefe durch ihm gebotene. Nottwendigkeit einer gemeſſenen und körnigen Sprache machten es mir zur Pflicht, der Dar⸗ ſtellung zugleich eine lebendige Friſche und einen moͤglichſt großen Farbenreichthum zu verleihen. Denn nur durch dieſe Eigenſchaften des Styles kann es gelingen, den Leſer zu feſſeln, den Gegenſtand ihm nahe zu bringen, ſeiner eigenen Anſchauung in die Hände zu arbeiten und das Grmübende, das eine im · MWefentlichen etwas gleichförmige Unterfuchung . leicht haben könnte, entfernt zu halten. -Diefe Aufgabe: war aber: in der That Feine leichte; dem Kenner barf idy ed nicht erſt fagen, wie fehr bie freie, bewegliche Lebendigfeit bed Styles gehemmt ift durch den Zwang, den das Gebot der ſtrengſten Trene in Nachbildung ber von einem: Dritten vor⸗ gebildeten‘ Ideen unb Anfichten auferlegt; durch die Rothe wendigfeit, kurz und vollftinbig zugleich zu fen. Die Aufs gabe kann nur dann ganz befriedigend gelingen, wenn es vers gönnt ift, Die erfte Anlage des Werkes immer und immer - wieder in größeren und Fleineren Parthien zu überarbeiten, um alle Unebenheiten auszuglätten, alle noch matten Färbun⸗ gen aufzufrifchen, alle Eintönigfeit zu entfernen, alles Edige abzurunden, und alle noch Klaffenden Fugen auf’ Neue zu überfahren. Hierzu gehört eine längere Zeit, als mir zu Diefer Arbeit vergönnt war, und ich muß daher offen geftehen, daß, fo fehr ich mich auch bemühte, das vorgeftedte Ziel zu erreis chen, mr doc, in Diefer Beziehung mein Werk am wenigften genügt. Eolite e8 ftch einer zweiten Auflage zu erfreuen has ben, fo hoffe ich dem mir vorſchwebenden Ideale um ein Merkliches näher zu kommen.

So übergebe ich denn vertrauensvoll die erfte Abtheilung dDiefer Schrift dem Publiftum. Sie enthält die Einleitung, und das Leben Jeſu, fo weit es Strauß in bem erften Bande feines Werkes geführt hat; die zweite Abtheilung, worldie mfeplbar in wenigen Donaten erfcheinen fol, wird ven Aw -

halt des zweiten Bandes von Strauß wiebergeben; alsdann aber noch eine Ueberſicht derjenigen Thatfachen enthalten, weiche nach den von Strauß angeftellten Unterfuchungen als hiſt oriſch beglaubigt ſich herausftellen: Anmerkungen und Regiſter werden das Ganze beſchließen.

Noch ehe ich dieſe Arbeit unternahm, wußte ich, daß den eutſchiedenen Gegnern des Dr. Strauß dieſelbe ein Aerger⸗ niß ſein werde: ich muß dieſe daher erſuchen, ſich mit aus⸗ führlichen Verſicherungen ihres Unwillens nicht beſonders zu bemühen, da ſie mir nur bekannte Dinge ſagen würden. Von den Freunden des ausgezeichneten Mannes aber, und von ihm ſelbſt wünſche ich ſehr innig, daß ihnen der Gedanke ſo⸗ wohl, von dem meine Arbeit ausging, wie die Ausführung desſelben wohl gefallen möge. Allen aber, den Freunden wie den Gegnern einer Sache, zu deren Weiterbildung ich etwas beizutragen ſuchte, werde ich ſehr dankbar ſein, wenn ſie mich auf Die Mängel meiner Schrift aufmerkſam machen, und mir dadurch die Verbefferung derfelben erleichtern wollen. Denn mit der Berficherung darf ich Diefe Vorrede fchließen, Daß ich diefe Arbeit mit ber reinen, heiligen Abficht unternahm, das wahre, ächte, tiefe Chriftenthum zu fürdern und die Wieders * Belebung desfelben zu befchleunigen. Mögen Andere einen ans deren Weg für ben befferen und Fürzeren halten: ich rechte nicht mit ihnen, fo wie ich wünfchen muß, daß auch mir mein Recht unverfümmert gelaffen werde. So wie aber Baco von Verulam fagt: „Wer den Becher der Forfchung aus⸗ trinkt, wird, wenn auch von Anfang irre gemacht, doch auf dem Grunde desfelben Gott wieder finden“, fo ift es bei mir unerfchütterliche Weberzeugung geworden: Nur der, ber ben Becher biftorifcher Unterſuchung austrinft, wird, werm auch von Anfang irre gemacht, auf dem Grunde desfelben ben wahren Chriſtus, und bie lebendige Gemeinfchaft mit ihm wieder finden!

Gefchrieben im Suli 1839.

Der Verfaffer.

Einleitung.

Erfter Theil.

Darftellung der verfchievenen Auslegungsweifen der bibli fhen Geſchichte.

Erftes Kapitel,

Die Entſtehung verfchiedener Erflärungsverfuche beiliger Gefchiypten.

Bei allen Religionen, die auf gefchriebene Urkunden fich ftügen, wird früher oder fpäter der Fall eintreten müffen, daß der Bildungsftufe ihrer Bekenner jene fchriftlichen Denkmale nicht mehr genügen. Denn bdiefelben find ja mehr oder weniger ans einer gewiſſen Entwidlungsftufe der Zeit und bes Volkes hervorgegangen, in welcher fie entitanden: fie mußten alfo nothwendig auch den Charakter derfelben annehmen, Nun find aber diefe Bücher einmal abgefchloffen; fie bleiben unverändert; der Geift der Völfer und der Zeiten aber ift in beftändigem, wenn auch oft unterbrochenem, Borwärtsfchreiten begriffen, und entfernt ſich alfo mehr und mehr von dem Standpunkte jener alten Bücher. Aus dDiefem Grunde wird ſich ein Widerftreit zwilhen ihnen und den Forderungen der im Laufe der Zeiten gewonnenen Bildung allmählig ers geben. Wie ift nun diefer Widerjtreit aufzulöfen? Die ges fchriebenen Bücher find da; die veränderte Stufe des geijligen Lebens der Bölfer ebenfalls: beide find unläugbare Thatfachen. Der einmal gewonnenen Bildung können wir uns nicht entfchlagen: die heiligen Urkunden wollen und dürfen wir nicht aufgeben. Entfernen Fäßt ſich alfo Keined von Beiden, weder die neuere Bildung, noch die alten Ackunben.

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Es tritt daher unabweisbar das Bedürfniß einer Ver⸗ mittlung ein: dieſes führt und zu mancherlei Verfuchen, durch die Auslegung und Deutung jener fchriftlichen Grund- lagen der Religion den Widerfpruch zu befeitigen. Durch eine uns befriedigende Erflärung berfelben. müffen wir unfere eigene Welt: und Lebensanficht mit ihnen in Einklang zu brin- gen ſuchen. Died wird vorzüglicd, der Fall fein in Bezug auf die in ihnen enthaltene Gefchichte, welche einen wefentlichen Theil aller Neligionsurfunden ausmacht. Dieſe Geſchichte ift vorzugsweife eine heilige, wunderbare; db. h. ein Geſchehen, worin das Göttliche unmittelbar in Das Menfchlichye eintritt, ohne durch die natürlichen Gefeße von Urſache und Wir fung vermittelt zu fein; alſo eine Unterbredyung des inneren Zufammenhangs aller Dinge und Erfcheinungen im Weltall, Denn überall, wo ein Wunder gefchieht, wenn 5. B. durd) ein bloßes Wort ein Todter wieder erwedt, oder ein Kranker - wieder geheilt wird, ftehen die Naturgefeße gleichfam ſtill und “weichen einer fremden Macht. |

Kun führt aber die fortfchreitende Bildung den Menfchen gerade mehr und mehr zu der Einficht, daß alles in Der Außenwelt, wie in ung felbft, Gefchehende nur unter den in der ganzen Natur feſt begründeten VBerhältniffen von Urſache nnd Wirfung gefchehen könne, daß mithin aud) das Göttliche durch diefe Berhältniffe in den Erfcheiningen der Sinnenwelt vermittelt werden müſſe. Daher wird fich jener Wider⸗ fpruch zwifchen der neuen Bildung und dem gefchichtlichen Inhalte der alten heiligen Schriften genauer dahin ausfprechen, daß das wunderbare, unmittelbare Eingreifen des Göttlichen in das Menfchliche, 3. B. wunderbare Heilungen durch götts liche Kraft; gehörte Worte ohne einen menfchlichen Mund, der fie ausipricht ıc., feine Wahrfcheinlichfeit verliert. Es erjcheint und dasjenige, was den Gefegen der Natur widers fpricht, als unmöglich; 3. B. daß ein vierfüßiges Thier fol geredet haben.

Hier beginnt alfo nothwendig der Zweifel an der Wirflichs keit. der erzählten wunderbaren Gefchichten: diefer wird um: fo fkärfer, wenn das Erzählte den Character einer unentwidelten, ja felbft rohen, Bildungsftufe an ſich trägt. Als Folge uns

vollkommener Eittwicklung muß es und 5.8. erfcheinen, wenn erzählt wird, Gott habe in fo und fo viel Tagen die Welt erſchaffen; als roh, wenn er ausdrücklich befohlen haben fol, ein ganzes Bolf zu vertilgen. Diefe Zweifel werden nun im Wefentlichen fich auf zwei verſchiedene Weiſen ausfprechen. Entweder fagen wir: „Das Göttliche kann nicht fo gefchehen fein,“ oder: „Das fo Gefchehene kann nicht Göttlicheg gewefen fein.“

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Im erftern Falle behaupten wir, daß das Erzählte nicht wirkliche Geſchichte fei, fonbern verweifen es in das Gebiet der Dichtung und der Sage. Wir läugnen aber damit noch keineswegs, daß die Schriften einen göttlichen Inhalt haben, und können eine erhabene, ewige Idee, welche fich in jenen Sagen : offenbart, anerkennen: fie können uns erfcheinen alg die Bilberfprache einer mit religiöfer Begeifterung erfülls ten Zeit.

Im andern Falle geben wir zu, daß das Erzählte fo ge⸗ fhehen fei, führen es aber durch nufere Auslegung auf natürliche Gefege zurück, ſuchen es als bie Wirkung naturs gemäßer Urſachen zu erklären, und nehmen ihm dadurch feinen göttlichen Gehalt, das Wunderbare; 3. B. wenn Kran: fenheilungen aus der Anwendung natürlicher, fchnell wirfenber Mittel erflärt werden ıc.

Es kommt hier aber noch Eine mögliche Verfchiedenheit der Auslegung in Betracht, welche wohl zu erwägen ift. Wir fonnen naͤmlich in beiden Fällen entweder befangen zu Werke gehen, oder unbefangen. Befangen find wir, wenn wir die Berfchiedenheit der -Bildungsftufen und Anfchauungsweifen der damaligen und unferer Zeit nicht anerkennen wollen, und behaupten, jene alten Schriftiteller haben die Sache, bie fie erzählen, auch fo angefehen, wie wir. Unbefangen verfahren wir, wenn wir diefe Verfchiedenheit offen zugeben, und geftehen, die Erzähler der Begebenheiten faßten Ddiefelben anders auf, ald wir ed nach der veränderten Weltanficht unferer Zeit thun müſſen. Auf diefem letzteren Standpunft fügen wir uns jedoch keineswegs los von den alten Neligtongs

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begriffen, fondern halten auch hier noch bas Wefetlichen feit, indem wir das Unmwefentliche ungeſcheut Preis geben.

Es ſind alſo vier verſchiedene Auslegungsweiſen möglidy für diejenigen, ‚welche den Widerſpruch zwifchen ihrer Bildung und den alten Urkunden vermitteln wollen.

Erfte. Das Erzählte ift sticht wirklich fo gefchehen, die - Berichterftatter haben .auch ſelbſt ed nicht geglaubt, fondern im eigenen Bewußtfein, daß ed nur Sage und Dichtung fei, es doch fo erzählt, wie fie e8 erfahren oder felbft erdichtet haben, Befangen! Dies ift das Verfahren der Gegner des Ghriftenthums H, welche die Erzählenden ber Tauſchung und des Betruges beſchuldigen.

Zweite. Das Erzählte iſt nicht wirklich fo geſchehen; es ift nur Sage: aber die Berichterftatter haben auf ihrem - Standpunkte es doch für Wahrheit gehalten. Unbefans gen! Bon diefem unbefangen mythifchen ®) Gefi ichtspunkte geht gegenwärtige Unterſuchung aus.

Dritte. Das Erzählte iſt wirklich ſo geſchehen: allein es iſt kin Wunderbares, Göttliches; es ſcheint nur ſo, und die Berichterſtatter haben es auch nicht dafür gehalten, ſondern entweder abſichtlich und gegen ihre eigene Anſicht es nur für etwas Wunderbares ausgegeben; oder ſie haben es auch als etwas ganz Natürliches erzählen wollen. Bes fangen! Den erfteren Fall der abfichtlichen Verfälfchung neh⸗ men bie Deiften 9 an, den Iepteren Die Rationaliften, die Alles natürlich erflären.

>) Mir nehmen die Beifpiele, wiewohl diefe verfchiedenen Erklä—⸗ rungsarten auch im Schooße anderer Religionen vorgefommen find, doch nur aus dem Kreife der chriftlichen Schriftaus⸗ legung.

2 Einftweilen bemerken wir nur, daß Mythe und mythiſch im Allgemeinen fo viel ift, als Sage und fagenhaft; die nähere Begriffsbeftimmung, fowie eine ſtrengere Unterſcheidung zwifchen Sage und Mythe, werben fih im Verlaufe Diefer einleitenden _ Abhandlung ergeben.

> Die Erklärung dieſes, wie aller andern, nicht jedem Lefer bekann⸗ ten oder verfländlichen Namen, findet fich in den alphabetifch ges ordneten Anmerkungen am Ende diefer Schrift.

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Vierte. Das Erzählte ift wirklich fo gefchehen: allein es ift fein Wunderbares, Göttliches; die Berichterftatter haben es aber doch dafür gehalten, und es daher auch old Wunderbares erzählen wollen. Unbefangen! Diefe Anficht findet ſich in mancherlei Schattirungen ebenfalls bei den Nationaliften, nämlich ba, wo fie mit der ald dritte fo eben erwähnten nicht ausreichen.

Diejenigen aber, weldye die Forderungen ber neuen Bils dung und Entwidelung, den heiligen Religionsurfunden gegen⸗ über, nicht anerkennen, alfo auch feinen Widerfpruch zwi⸗ ſchen beiden zugeftehen, halten feſt an ber buchftäblichen Erflärung ber heiligen Bücher und gehen von dem Grund⸗ fabe aus: „Das Erzählte ift wirklich fo gefchehen, und iſt zu⸗ gleich ein Wunderbares und Göttliches; Die Berichterftatter haben e8 als Solches anerkannt und dargeſtellt; wir follen gleichfalls e8 glauben, wie fie es ung erzählen.“ Auf die fem Standpunfte ftehen die fogenannten Drthodoren und Supranaturaliften, die indeffen nicht felten, von ber Vernunft unbemußt überwältigt, and) zu andern Erflärunge> verfuchen ihre Zuflucht nehmen.

Diefe verſchiedenen Auslegungsweifen finden fich mehr oder wertiger bei ben Befennern aller Religionen; namentlich aber der altgriechifchen, der hebräifchen, der chriftlichen, wie aus nachſtehender gefchichtlichen Ueberficht hervorgeht, die wir deß⸗ halb voranjchicen, un unferm Syſteme, dem unbefangen my⸗ thifchen, feine Stelle zwifchen den übrigen, fowohl in Be⸗ zug auf deffen gefchichtliche Entftehung und Ausbildung, wie auch feiner inneren Wahrheit nach, anzımeifen, was um ſo nothmwenbiger ift, da dasfelbe von fo vielen Seiten her ben lebhafteften Widerfpruch erfahren hat.

Zweites Kapitel. Berichiedene Deutungen bei Griechen, Hebräern nnd riftlichen Kirchenvätern. Die alten Griechen hatten zwar feine heiligen Religiong- urfunden in Dem Sinne, wie Juden und Chriften; wohl alter

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eine alte reichhaltige Götterſage, welche füch theils in großen Gefangen, wie die des Homer und Hefiod, theild in mänd« licher Ueberlieferung aus der Zeit des -Eindlichen Glaubens auf die nachfolgenden Gefchlechter forterbte. Auch fie erfuhr, fobald die fortgefchrittene Bildung im Volke ſich nicht mehr mit ihr befreunden Fonnte, die mannigfachiten Erklärungen. Ernfte Weltweifen fahen in ihr entweder nur allegorifche Hüllen fittlicher Wahrheiten, oder fie verftanden die gemaltis gen Kämpfe ber erzürnten Götter ald Sinnbilder von dem Ringen gährender Naturkräfte, deren Einheit ihnen das Gött⸗ liche war, nach feften Geftaltungen und organifchen Bilbuns gen. Beide Erklärungsiweifen ließen zwar einen göttlichen Gehalt beftehen, hoben aber die Form derfelben, Die eigent⸗ liche Geſchichte, völlig auf. (Zweiter Fall.

Andere, befonders die Maffe der mehr oberflächlich gebils beten, vermochten in jenen Sagen gar nicht s Göttliches zu ertennen; fie ließen die Erzählungen zwar als wirkliche Ges fhichte gelten, aber als eine rein menſchliche von Helden und Tyrannen, die ſich durch auffallende Thaten ıc. die Ehre göttlicyer Verehrung erworben oder erzwungen hatten. (Dritter Fall) Noch Andere gingen fo weit, alle Diefe Sefchichten für Fabeln zu erklären, bie in alten Zeiten erſon⸗ nen worden, um bie noch rohe Maſſe zu bändigen und zur Unterwerfung unter die Gefeße der neu gegründeten Staaten zu zwingen. (Erſter Ball.)

Die Hebräer hatten befanntlidh an dem Alten Teſta⸗ mente heilige Religionsbücher; diefe Eonnten fie allerdings nicht mit folcher Freiheit auslegen, wie die Griechen ihre alten Gefänge und mündlichen Ueberlieferungen. Schon aus dem Grunde nicht, weil aus ihrem Inhalte der große Vorzug, das . auserwählte Volk Gottes zu fein, an dem fie in ihrer Ab⸗ gefchloffenheit fo feft hielten, hervorging. Allein dennoch ente widelte fidy auch bei ihnen das Bemühen, Anftöße, die fie in benjelben fanden, durch allegorifche Auslegung zu entfers

*, Siehe bie oben, ©. 4 und 5, aufgezaͤhlten möglichen Bälle ber auf alte Religeonsurfunden anzumendenden Auslegungsweiſen.

nen; dies gefchah fchon in Paläftina von der Zeit an, die un⸗ mittelbar auf das Eril folgte. In größerem Umfange und Zuſam⸗ menhange warb aber diefe Auslegungsmweife erft in Alerans dria audgebildet, namentlich von dem gelehrten Philn. Diefer umterfchied genan zwifchen einem „gemeinen“ unb einem „tieferen“ Sinne der heiligen Schriften; ließ zwar größtentheils beide neben einander beftehen; gab aber doch oft den gemeinen, d. h. buchftäblichen Sinn bes Erzählten auf, md ließ das Dargeftellte nur als bildliche Darftellung gels ten, ohne an die gefchichtliche Wahrheit zu glauben. Cr that Diefes insbefondere bei Erzählungen, welche ihm Gottes umvürbig zu fein fohienen, oder font Widerfprüche enthielten. Sp fagt er 3. B. über das Sechſstage⸗Werk der Schöpfung: „Es ift ganz einfältig, zu glauben, daß in fechs Tagen, oder überhaupt in beftinmter Zeit, die Welt erfchaffen ſei;“ über die Erfchaffung der Eva aus der Rippe des Adam: „dies ift fabelhaft; dem wie fönnte doch Semand annehmen, daß ans der Rippe eines Mannes ein Weib geworben, oder überhaupt ein Menfch? *

Diefe allegorifcye Erflärungsweife bes alten Teitamentes eigneten ſich auch faſt alle chriftlicyen Ausleger in den. ers ften Jahrhunderten an: am entfchiedenften warb fie von dem gelehrten Drigenes audgebildet. Diefer fchrieb der Schrift einen dreifachen Sinn zu: emen buchftäblichen, moralifchen und moyftifchen. Bei den meiiten Etellen läßt er freilich alle drei zu; häufig aber feßt er aud) den buchftäblichen oder Wortſinn tief herunter, 5. B. Da, wo er fagt: „die heilige Schrift wolle ung nicht alte Mähren berichten, fondern Les bensregeln ertheilen“, oder: „die bloß buchſtäbliche Auffafs fung würde oft zum Berderben des Chriſtenthums gereichen.“ 3a oft giebt er den buchftäblichen Sinn ganz auf, namentlidy bei Stellen, in welcher von Männern, denen ſich Gott unmit- telbar geoffenbaret haben fol, anjtößige Dinge erzählt werben, wie 3. B. von Abraham, daß er fein Weib dem Könige Abis melech preisgegeben ıc. ꝛc. Er fpricht über dieſe Auslegungs⸗ weife häufig feine Grundfäße offen aus: „nicht jeder Abfthnitt der Schrift jagt er könne buchitäblik genommen wer:

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eine alte reichhaltige Bötterfage, welche fid, theils im großen Gefängen, wie die des Homer ımd Hefiod, theild in muͤnd⸗ licher Ueberlieferung aus der Zeit bes -Finblichen Glaubens auf die nachfolgenden Gefchlechter forterbte. Auch fie erfuhr fobald die fortgefchrittene Bildung im Volke fidy nicht mehr mit ihr befreunden Eonnte, die mannigfachiten Erflärungen. Ernfte Weltweifen fahen in ihr entweder nur allegorifche Hüllen fittlicher Wahrheiten, oder fie verftanden die gewaltis gen Kämpfe der erzürnten Götter ald Sinnbilder von bem Ringen gährender Naturkräfte, deren Einheit ihnen das Götts liche war, nach feften Geftaltungen und organifchen Bildun⸗ gen. Beide Erklärungsweifen ließen zwar einen göttlichen Gehalt beitehen, hoben aber die Form derfelben, die eigents liche Geſchichte, völlig auf. (Zweiter Fall 9.

Andere, befonders die Mafle der mehr oberflächlich gebils beten, vermochten in jenen Sagen gar nicht s Göttliched zu erkennen; fie ließen die Erzählungen zwar als wirkliche Ges fchichte gelten, aber als eine rein menſchliche von Helden und Tyrannen, die ſich durch auffallende Thaten ꝛc. die Ehre göttlicyer Verehrung erworben ober erzwungen hatten. (Dritter Fall.) Noch Andere gingen fo weit, alle dieſe Geſchichten für Fabeln zu erklären, bie in alten Zeiten erfons nen worden, um bie nody rohe Maſſe zu bändigen und zur Unterwerfung unter die Geſetze der neu gegründeten Staaten zu zwingen. CErfter Fall)

Die Hebräer hatten befanntlidh an dem Alten Teſta⸗ mente heilige Religionsbücher; biefe Fonnten fie allerdings nicht mit folcyer Freiheit auslegen, wie die Griechen ihre alten Gefänge und mündlichen Ueberlieferungen. Schon aus dem Grunde nicht, weil aus ihrem Inhalte Der große Vorzug, das . auserwählte Volk Gottes zu fein, an dem fie in ihrer Abr gefchloffenheit fo feft hielten, hervorging. Allein dennoch ente wickelte fidy auch bei ihnen das Bemühen, Anftöße, die fie in benfelben fanden, durch allegorifche Auslegung zu entfers

Siehe die oben, S. 4 und 5, aufgezählten möglichen Bälle der auf alte Religionsurfunden anzumendenden Auslegungsweiſen.

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nen; Died gefchah ſchon in Paläftina von der Zeit an, die ws mittelbar auf das Eril folgte. In größerem Umfange und Zufants menhange warb aber biefe Auslegungsweife erft in Alerans dria andgebildet, namentlih von dem gelehrten Philo. Diefer unterſchied genan zwifchen einem „gemeinen“ und einem „tieferen“ Sinne der heiligen Schriften; ließ zwar größtentheils beide neben einander beftehen; gab aber doch oft den gemeinen, d. h. buchftäblichen Sinn bes Erzählten auf, und fieß das Dargeftellte nur als bil dliche Darftellung gels ten, ohne an die gefchichtliche Wahrheit zu glauben. Cr that dieſes insbefondere bei Erzählungen, welche ihm Gottes umvürdig zu fein fchienen, oder fonft Widerfprüche enthielten. So fagt er 3. B. über dad Sechſstage⸗Werk ber Schöpfung: „Es ift ganz einfältig, zu glauben, daß in ſechs Tagen, ober überhaupt in beftinnmter Zeit, bie Welt erfchaffen feis“ über die Erichaffung der Eva aus der Rippe des Adam: „dies ift fabelhaftz denn wie fünnte doch Semand annehmen, daß ans der Nippe eines Mannes ein Weib geworben, oder äberhaupt ein Menfch?“

Diefe allegorifche Erflärungsweife bes alten Teſtamentes eigneten ſich auch faſt alle hriftlichen Augleger in: den. er⸗ ften Ssabrhunderten an: am entfchtedenften warb fie von dem gelehrten Drigenes audgebildet. Diefer fchrieb der Schrift einen dreifachen Sinn zu: einen buchftäblichen, moralifchen und myſtiſchen. Dei den meilten Stellen läßt er freilich alle drei zu; häufig aber ſetzt er auch den buchitäblichen oder Wortſinn tief herunter, 3. B. da, wo er fagt: „bie heilige Scyift wolle ung nicht alte Mähren berichten, fondern Les bensregeln ertheilen“, oder: „die bloß buchfläbliche Auffaſ⸗ fung würde oft zum Berderben bes Chriſtenthums gereichen.“ Sa oft giebt er den buchitäblichen Sinn ganz auf, namentlidy bei Stellen, in welcher von Männern, denen fi) Gott unmits tefbar geoffenbaret haben ſoll, anftößige Dinge erzählt werben, wie 3. B. von Abraham, daß er fein Weib dem Könige Abis melech preisgegeben ꝛc. ꝛc. Er fpricht über diefe Auslegungs⸗ weite häufig feine Grundfäte offen aus: „nicht jeder Abfthnitt der Schrift fagt er könne buchftäblik genommen wer-

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den; oft fei Etwas in myſtiſchem (geiftigem) Sinne wahr, was buchitählicd, genommen eine Lüge fei; Vieles fei ald ges ſchehen bargeftellt, was nicht fo ſich ereignet habe.“ sc. ꝛc.

Auch auf das neue Teſtament wendet Drigened biefe allegorifche Deutung an: denn weil es ein Werk „deffelben“ Geiſtes fei, von demfelben Gotte geoffenbart wie das Alte, fo habe auch in ihm jener Gott dem wirklich Gefchehenen Richtgefchehenes eingewebt, was nur in geiftigem Sinn zu nehmen ſei; daher vergleicht er auch manche evangeliſche Er⸗ gählungen fogar mit halb fabelhaften Gefchichten bei heibnis chen Schriftftellern. Er nähert ſich dadurch dem mythis fhen Standpunkte, indem er vor blindem und grundloſem Glauben die Einfichtsvolleren warnt und ihnen Verftand und firenge Prüfung empfiehlt. Es darf aber nicht umbes merft gelaffen werden, daß Drigenes, befonders aus Furcht vor möglihem Anftoße, bei feiner einzelnen Gefcichte bes neuen Teſtament's fo gerade heraus fagt, daß fie nicht wirklich fo gefchehen fein könne, wie fie erzählt werde. Bei einigen jedoch giebt er es nicht undeutlich zu verftehen, und über bie -Berjagung ber Käufer aus dem Tempel (Math. 21, 12.) fagt er geradezu, „daß das Verfahren Sefu, buchitäblich gefaßt, anmaßend und lärmend wäre.“

Nach Drigenes erflärte man zwar auch noch. Einzelned allegorifch, jedoch fo, daß man es zugleich aud) als wirklich gefchehen gelten ließ.

Auch die dritte der oben entwidelten Auslegungsweifen, die nämlich, welche zwar das Erzählte ald wirklich gefchehen gelten Täßt, nicht aber ald göttliche, fondern ald eine rein mienſchliche Gefchichte betrachtet; auch diefe trat fchon in - alter Zeit hervor, jeboch nur bei den Gegnern bes Chriftens thums. Diefe anerkannten zwar vieles Gefchichtliche im Leben Jeſu, erflärten aber das Wunderbare für Erfindungen oder gar für Betrügereien, womit fie auf ben erften ber von und bezeichneten Standpunkte ſich begaben.

Drittes Kapitel. Die Deiften, Nationaliften uud Kant.

Che wir auf die Verſuche der neueren Zeit übergehen, muß noch ein wogfentlicher Unterſchied zwiſchen der heidnifchen und jübifchen Neligion einers, und der chriftlichen andererfeite in Bezug auf die Entitehung und Entwidlung jener Auslegungss weifen hervorgehoben werben. Bei Heiden und Juden traten fie ein, weil die fortgefchrittene Bildung in Widerſpruch ges rieth mit den alten, ftehen gebliebenen Religionsurfunden. Die neue Bildung vertrug ſich nicht mehr mit der alten Religion. Anders war ed bei dem Chriftenthume : dieſes trat in eine fchon abgefchlofiene Bildung hinein; in Die ber Griechen und Römer und in den durch, beide vielfach bes ftimmten und genährten jübifchen Gulturzuftand. Hier trat alfo ein umgefehrtes Verhältniß ein: Die alte Bildung vers trug ſich nody nicht mit der jungen Religion. Daher bes weijen die allegorifchen Auslegungen der chriftlichen Gelehrten (Drigened) und die Angriffe der heidnijchen, daß die Welt, wie fie war, in den neuen, mit ihr in Widerfpruch tretenden, Glauben fich sicht zu finden wußte.

In dem geſchichtlichen Entwicklungsgange des Chriftens thums verſchwand aber fpäter diefer Zwiefpalt, mit ihm alfo auch Die aus ihm hervorgehenden Berfuche einer vermittelnden Erflärung der heil. Schriften, worauf es ſich ſtützte. Das chriſtliche Grundelement erhob fich nämlich allmählig zu einer unbedingten Herrfchaft, theild nad) auffen, indem das Chriftenthum die Religion des römiſchen Weltreiches wurde ) theild nach innen durch Die zum großen Theile gewaltfante Unterdrüdung aller Kebereien, die dem aufftrebenden kirchlichen Prinzipe widerftrebten und faſt ſaͤmmtlich aus den Verfuchen der alten Bildung, mit der neuen Religion fich in Einklang zu fegen, hervorgegangen waren. Dadurch wurde ber Wider⸗

2) Bekanntlich wurde das Chriftenthum feit dem Webertritte bes Kaifers Eonftantin zu Anfange des vierten Jahrhunderts all: mäplig im römiſchen Reiche die herrfchende, und ſchon am Ende Diefes Jahrhunderts die Staats⸗Religion.

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ftand diefer alten Bildung mehr und mehr geſchwächt und derſelbe endlich ganz aufgehoben, da das Chriſtenthum nun auch die Schulen, in weichen heibnifche Weisheit gelehrt wurde, vers nichtete. So erhob ſich die allgemeine chriftliche Kirche fliege reich auf den Trümmern der alten Welt und ihrer Bildung, und fie hatte alle Geifter erobert und im Glauben gefangen genommen. Fernerhin dehnte fi ſich nun das Chriſtenthum auch Aber noch ganz rohe Nationen, zunaͤchſt über die des großen dent ſchen Volksſtammes, aus; endlich verlor ſich im Abend» lande die letzte Spur alt-heibnifcher Bildung unter den ges mwaltigen Fußtritten der basfelbe erobernden und überſchwem⸗ menden urfräftigen, aber noch ungebilbeten deutſchen Völker⸗ fhaften ). So konnte ſich das neue, auf die Bücher bes NR. T. gegründete Religionsſyſtem in völliger Sicherheit entwideln, ohne durch die Wiberfprüdhe einer nicht mehr vor handenen Bildung geftört zu” werben. Durdy lange Jahr⸗ hunderte blieb alſo num die chriftliche Welt mit dem Chriſten⸗ thum nad) Form und Inhalt vollfommen befriedigt; fie war mit ihm aufs innigfte verwachfen. Sebt erſt konnte eine neue Bildung beginnen; mit ihr allmählig aud) wieder ein nener Zwiefpalt derfelben zwifchen ihr und den unverrückt bleibenden geihriebenen heil. Urkunden nicht ſowohl fchon anfangen, ale vielmehr erſt vorbereitet werben.

Während diefes langen Zeitraumes durch dag ganze Mittels alter hindurch zeigte fich alſo faft Feine Spur jener Ausles gungsverficche, weil diefe ja eben nur aus dem erwähnten Zwiefpalte, und auch dann erft, wenn biefer zum Bewußtſein gekommen ift, hervorgehen.

Den erften Stoß erlitt, nach manchen vorangegangenen fruchtloſen Berfucyen, der in dem Boden des Mittelalters feſt⸗ gewurzelte Kirchenglauben: durch die Reformation. Diefe war das erſte folgenreiche Lebenszeichen einer neuen Bildung, die, allmählig im Schonße des Chriſtenthums felbit aufs gewachſen, ſich nun ſtark genug fühlte, mit Demfelben in Kampf zu treten : fie unternahm num Achnliches, wie einft bie alte

*, Während ber fogenannten Völkerwanderung im fünften und jechäten Jahrhnudert. |

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Bildung durch die heidniſchen Gegner des Chriſtenthums. Die Reformation aber erhob fi, als folche, nur gegen bie berrfchende Kirche, und ihr Syitem. Die heil. Bücher, auf welche fie dasfelbe aufgebaut hatte, ließ fie unangefochten.

Lange jedoch währte es nicht, fo wurden auch dieſe ans gegriffen; und ‘damit beginnen denn wieder die verfchiebenen AuslegungssDerfuche ; es beginnt die Zeit der auf mans nigfache Weife angeftellten Verfuche, die neue Bildung mit den alten Urkunden in Einklang zu bringen. Sie gehen alle von bem Bewußtfein aus, daß der Inhalt der heil. Schrift in vielen Punkten mit der gewonnenen Ausbildung der Bernunfte Ideen unverträglidy fei; fie find eine folgerichtige Fortfeßung des Neformationswerfes, durch welches. der Grundſatz Des freien Forſchens aufgeftellt, die Rechte der Vernunft aner⸗ fannt worben, wenn auch nur bis zu einer gewiſſen Grenze. Allein eine feſte Grenze kann es hier eben fo wenig geben, als die Entwicelung ber Vernunft je ftille ftehen kann. Wir wollen alle dieſe Verſuche in ihrer geſchichtlichen Aufeinandere folge kurz betrachten und dadurch zeigen, wie das Lnbefriedis gende aller vorhergegangenen enblicy zu dem hier vorliegenden führte, das Wunderbare und Widerfprechende ald Mythe und Sage zu erklären.

Die erften namhaften Verfuche diefer Art wurden von enge liſchen Deiſten und Naturaliften gemadıt : fie müffen aber im Allgemeinen als frivol, wüſt, gemein und des Gegenſtan⸗ des völlig unwürbig bezeichnet werden. Sie wollten nur das Verhaßte vernichten, und verfchütteten recht eigentlic, Das Kind fammt dem Bade: fie verftecdten ihre Unfähigkeit, auf wiflenfchaftlichem Wege den Streit zu fchliehten, hinter tumul⸗ tuarifchem Niederreißen freilich das gewöhnliche Loos Des rer, bie in einem weitausfehenden Kampfe die erften Streiche zu thun berufen find. Bald greifen fle die Aechtheit der bibliſchen Bücher an und erflären fie für untergefihoben und fabelhaft, bei welcher Annahme man ſich gar nicht zu bemühen hat, deren Inhalt zu widerlegen; bald wird von ihnen Alles aufgebrten, um diefen Inhalt nicht fowohl ing nadte Menichliche, als in Das Gemeine und Tächerliche herabiuichen.

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So nem 3. B. Einer das Geſetz bes Mofes“ „ein elenbes Spftem des Aberglaubens, ber Blindheit und ber Sclaverei“;- ein Anderer läugnet, baß die jüdifche Religion eine geoffen- barte fei, darum, weil Gott fo große Parteilichfeit für das jüdische Volk zeige, und die Kanaaniter auszurotten gebiete; ein Dritter verdächtigt den Charakter Jeſu umb bezeichnet bie Denkart der Apoftel ald eigennügig und gewinnſuchtig; ein Bierter ſchwankt, ob er die Wunder Jeſu für „elende Poflen und gemeine Betrügereien“, oder, ihre gefchichtliche Wahr beit aufgebend, für bloß ſinnbildliche Erzählungen halten ſoll.

In Deutſchland warb eine ähnliche Anſicht über bie Bibel verbreitet durch die berühmten „Wolfenbüttel’fchen Fragmente“. Diefe erfennen gar feinen göttlichen Ins halt der heil. Schriften an, fonbern erflären alles Wunderbare für Täufchung oder Betrug. In Bezug auf das alte Teſta⸗ ment behaupten fie, die Männer, welchen ein unmittelbarer Umgang mit Gott zugefchrieben werde, feien fo fchlecht, ihre angeblich göttlichen Lehren fo kraß und verderblich, daß jener Umgang mit Gott nur erfonnen und vorgegeben fei, um ben Lehren der Priefter und Herrfcher bei ber rohen Menge Eins gang zu verfchaffen; namentlich wird Mofes geradezu ein Betrüger genannt, der die Sehovah-Erfcheinungen erdichtet und die fchändlichften Mittel nicht gefcheut habe, um fich zum Herr⸗ ſcher eines freien Volkes zu machen und verbrecherifche Maps regeln zu göttlichen Befehlen zu flempeln. Was das neue Teftament betrifft, fo wird Yon dem Fragmentiften Jeſu nur ein politifcher Plan zugefchrieben: derfelbe fei mit dem „kei⸗ nedwegs vorausgefehenen“ Tode feines Urhebers unerwartet gefcheitert, und die Sünger des Getödteten haben durch das

„betrügerifche Vorgeben“ einer Auferftchung biefes Miplingen nur zu bemänteln gefucht.

Während diefe Deiften mit ihrer Auslegungsweife dem Ehriftenthum entfchieden feindfelig entgegentraten, und daher mit Necht den lebhafteften Widerſpruch erfuhren, verfuchten die ſogenannten Rationaliften, welche füch von der Kirche

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keineswegs losſagen wollten, eimen anbern Ausweg. Sie erfaunten zwar auch feine wunderbaren Begebenheiten in der heil. Schrift an, und erflärten Alles für ganz natürs liche Borgänge, für Wirkungen der gemeinen Raturgefege : allein fie erblidten darin Feine Betrügereien, und ließen die in ber bibliſchen Erzählung wunderbar fheinenden Handlungen doc als fittlich untadelhafte beftehen. Damit entfleideten fie zwar auch die betreffenden Männer, einen Mofes, Chriftus ıc. der unmittelbaren Göttlichfeit; ließen aber ihren menfhlidhen Charakter unangetaftet, legten ihnen nicht die Abficht, zu täuts ſchen, bei, und erfannten felbft das Edle in vielen ihrer Zwecke und Handlungen an.

Zuerſt entwidelte Eihhorn in feiner Beurtheilung des Wolfenbütteffcyen Fragmentiften diefe Auficht offen und aus⸗ führlih. Er ging von dem Grundſatze aus, entweber müffe man die Wunder und unmittelbaren göttlichen Einwirkungen in den Erzählungen aller Völker des Alterthums anerkennen, ‚oder bei feinen, alfo auch nicht in den heil. Büchern der Ju⸗ den und Chriften. Das Eritere aber habe fehr große Schwies rigfeiten: Denn nicht felten fei der Inhalt der von angeblich Wunder thuenden Männern ausgefprochenen Lehren ein irris ger; fodanıı müffe man doc, einmal an Einem Punkte der Gefchichte dag Aufhören eines unmittelbaren göttlichen Eins fluffes annehmen, da wir ja Alle darüber einig feien, daß ges genwärtig feine Wunder mehr gefchehen. Eichhorn erklärt daher alle biblifchen Erzählungen in oben (Seite 5) angegebe- ner Weife natürlich; für Betrüger dürfe man aber deßhalb die großen Männer, die fo außerordentliche Wirkungen hers vorbrachten, nicht erflären. Vielmehr müffe man die „alten Urkunden im Geifte ihrer Zeit auffaflen“. Diefe, als eine noch durchaus findliche, leitete alles Auffallende, Bedeutfame, Nüßliche von der Dazwiſchenkunft höherer Weſen ab; fie fah überall Wunder, wo wir einen ganz natürlichen Hergang erblickt haben würden. Diefe Auffaffungsweife hatte nicht nur das Bolf, fondern auch Die Männer, durch welche Großes ges fhah, glaubten felbft, daß fie unter dem unmittelbaren Eins fluß der Gottheit jtünden. Sie waren alfo felbft die Getäuſch⸗ ten, nicht die Zänfchenden. So fah Mofes 3.8. den lange

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gehenten Gedanken, fein Volk zu befreien, deſſen ex ſich gar nicht mehr entfchlagen konnte, für göttliche Eingebung an; er betrachtete Träume, Gewitter ıc., die ihn darin beftärften, aufs fallende Naturereigniſſe, weldye die Ausführung begünftigten, als wunderbare Zuffimmung und Hülfe Gotted. Diefe Erflärımgsweife wendet Eichhorn auf das neue Teftament zwar weniger häufig, doch auch an ihm auf einzelne Erzähs lungen an; fo fieht er in den Engelerfcheinungen „unerwartet rettende Zufälle“, die in der bildlidyen Sprache jener Zeit Engel genannt worben feien.

Dem berühmten Dr: Paulus blieb es vorbehalten, dieſe natürliche Erklaͤrnngsweiſe auf die ganze evangelifche Erzähs fing des neuen Teftaments auszudehnen. Er geht dabei übers all von der Unterfcheidung zwifchen Factum und Urtheil aus. Factum ift ihm das, „was den bei einer Begebenheit betheis ligten Perfonen als äußere oder innere Erfahrung gegeben war“, was alfo wirklich in ihnen oder vor ihren Augen vor ging; Urtheil, „die Art, wie fie oder die evangelifchen Be⸗ richterftatter jene Erfahrung deuteten und auf ihre vermeint⸗ lichen Urfachen zurüdführten“. Beides aber vermengt ſich nach feiner Anficht in den Betheillgten, wie in ben Evangeliften, oft fo fehr, daß fie es nicht mehr unterfcheiden können und an die Richtigkeit ihres Urtheiles, daß naͤmlich Die Begebens heit eine wunderbare fei, eben fo feit glauben, als an bad Factum felbit. Hier werde es alfo Aufgabe des Auslegerg, diefe fo verfchiebenartigen Beſtandtheile ftreng zu fondern und auszumitteln, was wirklich Thatfache fei und was dem durch herrfchende VBorftellungen erzeugten Urtheile und der Aufs fafjungsweife der betreffenden Perfonen angehöre. Gr müſſe ſich daher ganz in den Standpunkt der Zeit verfeben, und werde Manches durch Nebenumftände, welche felbit der Erzaͤh⸗ ler überfah, ergänzen können. Manche Thatfachen find aber; sach Paulus, nicht einmal von den Erzählern ald wunders bar erkannt, und alfo auch nicht als ſolche dargeftellt worden ; erft die fpätere Zeit machte fie durch falfche Auslegung und Mißverftand dazu: fo 3. 3. fei das Wunder von Sefu Wane ben auf dem Meere nur durch falfche Ueberſetzung ent⸗ fanden; bie Worte heißen: neben dem Meere gehen.

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Nach diefen Grundfügen verfuchte es Paulus, bie ganze evangelifche Erzählung in einen vollftändigen gefchichtlichen Zufanmenhang zu bringen; er entfernt durch feine Auslegung jedes übernatürliche Einwirfen göttlicher Kräfte, und weist, fo gut es eben gehen will, überall einen ganz natürlichen Her⸗ gang der Begebenheiten nach. Jeſus ift ihm alfo nur em weiter, edler Mann, und was in dem Fichte feiner Zeit als Wunder erfchien, war nur der Ausfluß feiner Menſchenliebe, befonberer Kenntniffe und Kräfte, der natürlichen Einwirkung auf gläubige Gemüther, oder auch wohl dee glücklichen Zufalls.

Bei diefer Auslegungsweife muß vorausgeſetzt werden, daß die biblifchen Bücher ganz getreye und kurz nach den Begeben⸗ heiten felbft abgefaßte Berichte enthalten: denn wenn wir feis nen treuen und urfprünglichen Bericht vor uns haben, fo wird es unmöglich fein, Factum und Urtheil genau von einans der zu unterjcheiden, weil ja aledann die Erzählung durch die mündliche Weberlieferung fo fehr kann umgeftaltet worden fein, daß fich ihre Ächte Form nicht mehr erfennen läßt. Es könnte auch das, was wir für Factum halten, nur dem Urtheile, der Meinung fpäterer Sage angehören. Daher nimmt auch ſchon Eihhorn felbit von den älteften Büchern des alten Teſta⸗ ments an, daß fie kurz nach den erzählten Ereigniffen nieder« gefchrieben worden; die Bücher Moſes 3. B. fehon in der aras bifchen Wüfte. Bei einigen jedoch muß er zugeftehen, daß fie wirflich erſt längere Zeit nachher gefchrieben worden, und daß fie demnach nicht überall die ächte, fondern theilweife auch die Durch verherrlichende Sage und den Glauben, vor Alters fei Alles größer und beffer gemefen, ausgefhmüdte Ge, fhichte enthalten. Bon der Schöpfungsgefchichte und der Er⸗ zählung vom Siündenfalle aber gefteht er geradezu, daß fie feine Geſchichte enthalten, fondern nur mythifch, in das Ges wand einer Erzählung, eingefleidete Verfuche feien, die Ents ftehung der Welt und des Böfen zu erflären.

In den fo eben angeführten Punkten ftreift alfo Eichhorn fhon in das Gebiet der mythifchen Auslegungsmweife hins über. Uebrigens ift noch zu erinnern, daß die nartiirlicye

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Auslegungsweife ber zwei genannten Männer fehr viele Ver⸗ ehrer und Nachahmer fand, befonders gegen Ende des vorigen Sahrhunderts und zu Anfang bed gegenwärtigen.

Einen andern Weg verfuchte der große Philoſoph Im. Kant. Er griff nämlich die allegorifche Erklärung ber Kirchenväter wieder auf; jedoch in der eigenthümlichen Weife, daß er bie biblifchen Erzählungen als gefchichtliche Hüllen moralifcher Ideen betrachtete, gefchaffen nicht von dem Geifte Gottes unmittelbar, worin er_von den alten allegoris fchen Auslegern abweicht, fondern von dem moralifchen Ges fühle und Geifte der Verfaſſer der Schriften. Kant behmuptet nicht, daß dieſe wirffich überall nur dieſe moralifche Tendenz gehabt, daß nicht auch wirkliche Begebenheiten von ihnen erzählt werden, fondern geht nur von der Annahme aus, wir. müßten bei allen biblifcyen Erzählungen über den buchftäbs lichen Sinn hinaus, einen moralifchen Gehalt, eine Beleh⸗ rung über Gegenflände der Eittenlehre, ſuchen; wobei ja. ‚recht wohl beftehen könne, daß vieles Erzählte wirkliche Chats face ſei. Daß 3. 3. Sefus der Sohn Gottes fei, ninmt Kant als bildliche Bezeichnung des Ideales der gottgeweihten Menfchheit. Diefe Kantifche Erflärungsweile hat indeß wenig Eingang gefunden.

Viertes Kapitel Entftehung der mythifchen Auslegungsweiſe.

Je mehr man aber das Unbefriebigenbe der bisher kurz entwidelten Erklaͤrungsweiſen erfannte (der beiftifchen, der natürlichen und der allegorifchen), um fo bringender ward das Bebürfuiß, viele Erzählıngen auch der Bibel eben fo als Mythen oder Sagen zu betrachten, wie Died immer allges meiner mit den wunderbaren Erzählungen aus dem griecdhis ſchen Alterthume gefchah, nachdem man diefe lange Zeit nur für leere Fabeln, von müßigen Köpfen erfunden und ohne ieferen Gehalt, asgefehen hatte. Es traten daher Forfcher

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af, wie Gabler, Schelling u. A., namentlich aber Bauer, bie den Begriff des Mythus als einen allgemein gültigen aufftellten, für alle ältefte Gefchichte, heilige wie profane: warum follte die hebräifche Gefchichte eine Aus: nahme machen ?

Wir befchränfen uns hier darauf, nur ganz im Allgemeis nen anzudeuten, was unter Mythe verftanden wird, und zu zeigen, wie früher andere Gelehrte diefen Begriff faßten und amvenbeten. Alsdann werden wir ausführlicher zeigen, wie von uns beides in vorliegender Prüfung der evangelifchen Er⸗ zählungen gefchieht. -

Unter Mythe oder Sage, die übrigens fpäter genauer unterfchieden werben, verſteht man erftens eine Gefchichte, welche nicht wirklich fo, wie fie erzählt wird, fich zus getragen hat, fondern durch religiöfe Borftellingen und bie leßendige Einbildimgsfraft mehr oder weniger umgeftaltet und ausgebilbet worden ift; fodann aber auch zweitens eine folche, weicher gar Feine Thatfache zu Grunde liegt, die vielmehr aus dem bichtenden Geifte eines ganzen Volkes oder einer Religionggefellfchaft hervorging, um irgend eine höhere Id ee zu verfinnlichen und ſich anfchaulich zu machen. Beide find aljo der Abdruc eines gewiffen geiftigen Lebens, find nicht Erfindungen eines Einzelnen, und werben, wie fie ein treues Abbild des allgemein herrfchenden Geiſtes einer Zeit find, fo auch allgemein geglaubt und fir wirfliche Thats fachen gehalten. Beide find alfo wohl zu unterfcheiden von Fabeln, weldhe immer eine abfichtliche Erdichtung eines Einzelnen enthalten, theild zur Belehrung, theild zu andern Zwecken; dieje find entweder unfchuldige Erfindungen, wenn der Urbeber vorausfest, Andere halten fie auch dafür, oder bes trügerifche, wenn er fie Andern für wahre Gefcjichten aus⸗ geben will.

Es kam nun zunächlt darauf an, feftzuftellen, weldye Er- sählungen im alten Teſtamente Cdenn nur von dieſem war vorerft die Rebe) für Mythen zu halten feien. Als folche bezeichneten jene Männer diejenigen, welche

1) aus einer Zeit heritammen, wo man ben Gebrauch, der Schreibfunft noch nicht Fannte, wo alfo alle Seldyichte buch,

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mündliche Weberlieferung fortgepflanzt werben mußte; was von Mund zu Munde geht, wird aber unvermerft und unwill⸗ führlich durch die gefchäftige Einbildungskraft fowie Durch man⸗ gelhafte Auffaffungsgabe anders geftaltet; ober Erzaͤh⸗ Iungen, welche

2) Dinge berichten, von welchen der Menſch feine Kennt⸗ niß haben kann, theild weil fie einer überfinnlichen Belt an⸗ gehören, thelld weil Niemand Augenzeuge berfelben gewefen fein konnte; oder welche

3) in's Wunderbare »gezogen und in einer Sprache vorgetragen find, die ihren finnbildlichen Character Deuts lich genug verräth.

Zugleich wiefen fie nad), daß Diejenigen, welche nicht zu⸗

geben wollten, im alten Teſtament ſeien ſolche Sagen enthal⸗ ten, entweder von Sage überhaupt einen falſchen Begriff hat ten, und fie mit Fabel und Erdichtung verwechfelten, oder einer irrigen Anficht von den biblifchen Büchern folgten,” ins dem fie biefelben ald von Gott unmittelbar eingegeben be trachteten. Denn eben diefe Borftelung von einer göttlichen Eingebung fei ja auch eine rein mythifche, nur burch Die Sage felbft ausgebildet, ein Beſtandtheil derfelben : könne alſo bei Beurtheilung und Prüfung der Bücher nicht ſchon vors ausgeſetzt werden. Hiermit ſtimmt im Wefentlichen auch) Wegſcheider über ein, welcher in feiner chriftlichen Slaubenslehre behauptet, es fei unmöglich, das ‚göttlihe Anfehen der heil. Schrift gegen die Angriffe ihrer Feinde zu vertheidigen, wenn man in der⸗ felben nicht auch Mythen anerfenne.

Nacıdem durch diefe Männer der Umf ang feftgeftellt worden war, in weldyem man den Begriff der Mythe auf Das alte Teftament anzuwenden habe, unterichieden fie ferner- hin die verfchiedenen Arten berfelben. Sie feien naͤmlich theild hiftorifche Mythen, d.h. Erzählungen wirklicher Bege⸗ benheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche, Göttliches mit Menſchlichem, Natüurliches mit Uebernatürlichem vermen⸗ gende Denkart, und durch die veranſchaulichende phantaſiereiche Redeweiſe des Alterthums; theils

philoſophiſche, ſolche, weiche irgend einen Gedanken, einen Lehrfat oder eine Idee in bag Gewand der Gefchichte einfleiven und baburch gu verfinnlichen ſtreben; theils

poetifche, in welchen durch das freie Spiel der Dich» tung und bas Bedürfniß Fünftlerifcher Einheit und Abrundung bie urfprüngliche, zu Grunde liegende einfache Gefchichte oder Idee fait gänzlich verſchwunden ifl.

Bei vielen Mythen aber ift es, wie biefe Gelehrten felbft zugeftehen, freilich ſchwierig, genau zu beitimmen, welcher: Diefer drei Arten fie angehören, und manche fpielen offenbar aus einer in bie andere hinüber, Nirgends jedoch fol man das Kunftiofe und Unbefangene berfelben außer Acht laſſen, und nie vergeffen, daß in die hiftorifchen Mythen das Une geſchichtliche fich im Laufe der Zeit und ber Lieberlieferung von felbft und ungefucht eingefchlichen habe; und daß in ben philofophifchen „nicht allein zum Behufe eines finnlichen Volkes, fondern auch zu ihrem eigenen Behufe die Alteften Weifen das Gewand der Gefchichte für ihre Ideen gewählt haben“. Dies liegt in der Borftellungsweile einer Zeit be« grünbet, die noch zu fehr in der Anfchauung lebt, als daß fie ben reinen, abftraften Gedanfen fihon ohne diefe Hülle mit Sicherheit fefthalten Fünnte.

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ir haben oben gefehen, daß und warım Die natürliche Auslegung des alten Teſtaments auf die Vorausſetzung, bie Bücher desfelben feien fait ganz gleichzeitig mit den in ihnen berichteten Thatfachen entitanden, ſich ſtützen mußte (ſiehe ©. 15). Diefe Ausleger fonnten aus demfelben Grunde in dem alten Teftamente feine Mythen annehmen, weil ja diefe, als ein Erzeugmiß längerer mundlicher Ueberlieferung, fich nicht bilden Ffönnen, wenn die Gefchichten fehon von Augens zeugen, oder doch von Männern, Die den Begebenheiten jehr nahe ſtanden, niedergefchrieben wurden. Es mußte baher jene natürliche Auslegungsweife nicht wenig eyfchüttert, und Die mpythifche nicht wenig befeftigt werden, als fortgefeßte hiſto⸗ rifche Unterfuchungen zu dem Nefultate führten, daß gerade die altsteftamentlichen Bücher, an welchen am meilten die na

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türkiche Erklaͤrung verjucht wurde, 3.8. die fünf Bücher Mos fee, das Buch Sofa ꝛc. geranme Zeit nadı den barin er⸗ zählten Begebenheiten gefchrieben worden, und daß fie viel jünger feien, ald man bisher angenommen hatte. Indem da⸗ durch das in der Anficht über die Entftehung diefer Bücher liegende Fundament der natürlichen Auslegung umgeftoßen worden war, mußten Diejenigen Theologen, welche durch ihre Korfchungen zu diefer Einficht gelangten, zugleich gur myt hi⸗ ſchen Deutung hingewiefen werden, und dieſe ald das einzige Mittel, das Unglaubliche in den Büchern zu erklären, aners fernen. Dies gefchah denn auch zunächft in Bezug auf bie Mofaifhen Bücher von Vater, ber ſich dahin ausfpricht, daß diefelben nır dann ungezwungen erklärt werben fünnen, wenn man von der Anficht ausgehe, die in ihnen enthaltene Ges fehichte fei erft durch Die mündliche, immer ums und fortbil dende Weberlieferung vieler Menfchengefchlechter hindurch ges gangen, .ehe fie durch den gefchriebenen Buchſtaben in ber .Geftalt feftgehalten worden, in welcher fie zur Kunde bes Schreibenden gelangt war. Ä Weit mehr noch, als Vater, fpricht ſich de Wette, in Folge feiner tiefer gehenden Unterfuchungen über bas Alter der alt=teftamentlichen Schriften, für die mythifche Auffaf ſungsweiſe gewiffer Theile des alten Teftaments ang. Diefer macht namentlich aufmerkſam auf das patriotiſche und ypoetifche Intereffe, welches in dee mündlichen Webers Tieferung fich geltend mache : „je fchöner, ehrenvoller, wunder⸗ barer, defto annehmlicher; und wo die gegebene Gefchichte Lüden gelaffen oder dunkle, unfcheinbare Stellen habe, da trete die Phantafie ſogleich mit ihren Ergänzungen ein.“ hr ift es mehr um den reizenden Anbli eines Bildes zu thun, das eine ihr theuer gewordene Idee verförpert, als um bie gefchichtliche Wahrheit der einzelnen Züge, aus denen es zu⸗ fammengefeßt iſt; fie will ſchauen und des Anblicks fich er⸗ freuen. Die natürliche Erflärungsmeife verwirft aber be Wette fchon darum, weil wir uns bei allen Erzählungen nur- an den Bericht des erzählenden Schriftftellers halten können, und daher bei wunderbaren Gefchichten den übernatürlichen Dergang, fo wie ihn berfelbe gibt, entweder geradezu ans

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uehmen ober einſach verwerfen muͤſſen, nicht aber einen na⸗ tärlichen willführlid; herausdeuten dürfen, für welchen uns ein ficherer Boden abgeht. So üt es nad) de Wette z. 8. unzuläffig, wenn man glaube, einen wirklich gefchloffenen Bund Gottes mit Abraham Ci. 1. Mof. 12, 120.) nicht annehmen zu können, die Erzählungen davon doc auf eine innere Bis fion zurüczuführen; denn darüber können wir ja Nichte wifs fen, da es und Niemand erzählt; es ift eine willführliche Deus tung. Wie konnte auch in Abraham auf natürlichem Wege der Gedanke auffteigen, daß fein Volk einft ganz Canaan bes berrfchen werde? Ehe eine Bifton auf eine ſolche Hoffnung gedeutet werben Tann, müflen doc; fchon äußere Gründe das zu vorhanden fein, woran es aber hier ganz mangelte. Wohl aber konnte fpäter, ald nun wirflich die Inden Canaan zu erobern ſich anfdjidten, in dem Bolfe die Enge entftehen, daß Gott dieſes ſchon Dem Abraham verheißen habe.

Auch Krug erklärt die Verſuche, die natürliche Möglich: feit einer Wundergefchichte ermitteln zu wollen, für fruchtlog, weil in der Regel die Erflärung nod) wunderbarer heraus⸗ fomme, als die Geſchichte ſelbſt; Dagegen hält er die Unter⸗ fuchung über die Frage: Wie mag wohl diefe Erzählung ent: fanden fein? alfo die Frage nadı dem Urfprung der Sage nicht nur für ſehr zuläffig, weil fie dem Terte feine Gewalt anzuthun brauche, fondern auch für fehr fruchtbar, „weil fie Licht über fanmtlidye Wundererzählungen verbreite“.

In ähnlicher Weife ſprachen fih aus: Gabler, Horft und ein Ungenannter in Berthold's Fritifchem Journale. Alle fo eben Genannten ftimmen in folgenden gegen die na⸗ türliche Erklärung gerichteten, und die mythifche cmpfeh: lenden Säben überein:

„Es ift unhiſtoriſch und unerlaubt, Urkunden durch Ver⸗ muthungen zu ergänzen, und eigene Spekulationen für ge- gebenen Buchftaben zu halten;

Es ift ein höchit gezwungenes und undanfhares Bemühen, natürlich dDarzuftellen, was die Urkunde Doch als etwas Wun⸗ derbared geben will;

Durch dieſes Verfahren wird die biblifche Gefchichte von allem Seiligen und Böttlichen entleert;

Der mythifche Geſichtspunkt dagegen laßt das Material ber Erzählung unangefochten, wagt es nicht)! an bem Ein» zelnen zu deuteln, nimmt aber das Ganze nicht für wahre Geſchichte, fondern für heilige Sage;

Durch diefe Auslegung verfchwinden die zahllofen, fonft nie zu löfenden Schwierigkeiten in Bezug auf Harmonie (lieber einſtimmung) und Chronologie (Zeitrechnung) der Evangelien;

Diefelbe wird unterftügt und beftätigt biurch ben Umſtand, baß bie Gefchichte aller Völker und Religionen mit heiligen Sagen beginnt,“

Durch diefe Nefultate über Die Abfaffungszeit unb den In⸗ halt altsteftamentlicher Bücher wurde man, in folgerichtigem Weiterſchreiten, gleichfam unvermerft zu der Annahme hinübers geführt, daß man auch im neuen Teftamente viele Erzähs lungen ald Mythen zu betrachten habe; denn viele derfelben find ihrem ganzen Character nach den altsteilamentlichen Wun⸗ dergefchichten zu auffallend Ahnlich, als daß man nicht für fie biefelben Grunbfäße der Auslegung, welche für bie erfteren gelten, in Anfpruch nehmen müßte. Allein hier hatte man vor allen Dingen Eine Schwierigkeit erſt zu befeitigen. Diefe lag darin, daß man Mythen fonft nur in der Urzeit eines Bols Bes, wo noch nicht gefchrieben wurde, antrifft, das Auftres ten Jeſu aber in eine Zeit fällt, wo das jüdiſche Bolt längft ein fchriftftellerifches gevorden war. Allein fchon mehrere ber oben genannten Gelehrten hatten in biefer Beziehung auf fol« gende fehr wefentliche Punkte hingewiefen :

„Auch diejenige Geſchichte kann im weitern Sinne my⸗ thifch genannt werben, welche, wenn auch in einer fchon fchriftftellernden Zeit, doch lange fihh mer im Munde bes Bolfes fortpflanzt; |

Im neuen Teſtamente ift zwar nicht eine gänzlich my⸗ thifche Geſchichte zu ſuchen; wohl aber fünnen einzelne Mythen in ihm vorkommen, mögen fie nun aus dem alten in basfelbe übergetragen ober in. feinem eigenen Geſchichtskreiſe entſtanden ſein;

Nachdem Jeſus durch ſein Leben ſo berühmt, durch ſeinen Tod ſo glaͤnzend verherrlicht worden, war es ſehr natürlich,

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daß man, wie es in allen ähnlichen Fällen zu gefchehen pflegt, feine im Dunfel verlebte Sugend mit ben wundervolliten Er⸗ zählungen ausfchmüdte,

Der Begriff von alter Zeit if fehr relativ, und in einer Zeit, wo man über die meiften Gegenftände fchon fchrift- liche Urkunden hat, können über andere gar wohl Sagen entftehen, wenn fie, wie es hier im Allgemeinen der Fall ift, lange Zeit nur in mündlicher Ueberlieferung fortleben;

Ueber Manches hatte man gar feine Ueberlieferung, war alfo der eigenen Muthmaßung, einer reichen Quelle vielgeſtal⸗ tiger Sagen, überlafjen.“

Wenn fich dieſe Säge nicht läugnen laffen, warum fol man die Sache nicht bei ihrem wahren Namen nennen, und offen befennen: auch im neuen Teſtamente finden ſich Diythen?

Diefen Grundfägen zufolge wurben nunmehr einzelne Ers sählungen des neuen Teitamentes wirklich mythifch gebeiltet, wie 3. B. die Verfuchungsgefchichte (Matth. 4, 1 20.5 Marc- 1, 12 x; Lucas 4, 1 x.) durch Uſteri. Diefer bemerkte: „wenn einmal eine Aufregung der Gemüther gegeben fei, zus mal eine religiöfe, und unter einem nicht unpoetifchen Volke, fo fei nur furze Zeit dazu nöthig, daß, nicht etwa bloß vers borgene und geheime, fondern jelbft öffentliche und bekannte Zhatfachen einen Schein des Wunderbaren bekommen; nur müſſe man fich die Sache nicht fo denken, als ob hier eine abfichtliche und mit Einem Scjlage fertige Erdichtung ftattgefunden; fondern nach und nad) und auf eine nicht mehr nachweisbare Art fei der Glaube an ben wunderbaren Her⸗ gang in den Gemüthern der Gläubigen entflanden und endlich die fo geftaltete Erzählung niedergefchrieben worden,“

Allein immerhin konnte man, wenn ed auch nach jenen Grundfägen fehr wahrfcheinlich wurde, daß das neue Te⸗ ftament Mythen enthalte, dennoch der mythifchen Deutung in Bezug auf dagfelbe nur eine fehr befchränfte Ausdehnung ge: ftatten, fo lange die Anficht fefigehalten wurde, daß vwhexe

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Evangelien theild von Augenzeugen der erzählten Begebenheiten (den Apofteln Matthäus und Sohannes), theild von Schüs fern und Begleitern einzelner Apoftel (Marcus, dem Doll⸗ meticyer des Petrus, und Lucas, dem Begleiter des Apoſtels Paulus) wirklich herrühren. Denn ift dieſes der Fall, fo fällt die Denkbarfeit mythifcher Ausmalung, und noch mehr bie einer volftändigen Erdichtung, weg, wenn wir nicht die Berichten ftatter der abſichtlichen Taͤuſchung befchuldigen wollen, wozu wir, auch abgefehen von der nicht anzutaftenden Achtbarkeit ihres Characters, durchaus feinen Grund haben.

Indeß haben die neuern gejchichtlichen Forſchungen über bas Alter der Evangelien zu überrafchenden Refultaten geführt, und nach den LUnterfuchungen eins Schulz, Seiffert, Schnedenburg unterliegt es feinem Zweifel mehr, daß wer nigſtens bie drei erſten Evangelien ungleich jünger find, als man bisher angenommen hatte. Wir werden die Nefultate biefer Forſchungen unten genauer angeben, und fahren in uns ferer Darftellung‘ der Gefchichte der mythifchen Auslegung fort, indem wir zeigen, wie Diefelbe von den Theologen nunmehr, da die Annahme eines apoftolifchen Urfprungs der Evan gelien wegftel und ein großes Hinderniß damit befeitigt war, in Anwendung gebracht wurde.

Biele Gelehrte überzeugten ſich nun freilid), daß durch unfere Evangelien nur ein dünner Baden des apoſtoliſch beglaubigten Evangeliums ſich hindurchziehe, und daß mithin ber mythifche Standpunkt für viele ihrer Erzählungen gels tend gemacht werden könne, und auch werden müffe, da wo innere Gründe dazu nöthigen. Nur das Sohanneifche Evangelium wird jetzt noch von den Meiften, ber Anficht Bretfchneider’s gegenüber, für authentiich, d. h. wirklich für das Merk des Apoftels, gehalten: daher die mythifche Auslegungsweife bei diefem nur mit großer Borficht anzus wenden ift.

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Fünftes Kapitel.

Mangelbaftigfeit der biäherigen mythifchen Aus⸗ legungöverfuche.

In Bezug auf die Evangelien überhaupt ift die mythifche Auslegungsweife noch nicht in ihrer Reinheit und in ihrem ganzen Umfange von den Theologen angewendet worben.

Zunächft ließ man fich durch die unbewußt zur Gewohns heit gemorbene Neigung, Gefchichtliches in der heil. Schrift möglichit feitzuhalten, beftimmen, faft nirgends philofophis fche, fondern allzuhäufig hiftorifche Mythen Cfiehe S. 18) anzunehmen, wobei immer noch ein gefchichtliher Kern ges rettet werden konnte. Man beachtete zu wenig, daß bie Ideen, welche fih in dem jüdischen Bolfe von dem fünftigen Meffias gebildet hatten, die unbewußte Veranlaffung wurben, von Sefus, nachdem man ihn als Meſſias anerkannt hatte, manches Berherrlichende zu erdichten, was nad) allgemeinem Glauben ſich zugetragen haben mußte, wenn man auch fein gefchichtliches Zeugniß dafür hatte. Das Nähere hierüber wird weiter unten erörtert werden.

Aus derfelben Neigung zum Gefchichtlichen ging man noch weiter und verftel haufig wieder unvermerft in die natürs liche Erflärungsmweife, d. h. man war nicht zufrieden damit, - anzuerfennen, es liege der Sage irgend eine gefchichtliche Thatfache zu Grunde, fondern man vermeinte auch, noch bes fiimmen zu fünnen, weldyes und von welcher Art dieſelbe ges wefen jei, da wir Doch, wenn nicht zugleich wirklich gefchichte liche Berichte über Diefelbe vorliegen, gar nichts Sicheres darüber wiffen können, wie ſchon ganz richtig von Gegnern der natürlichen Erklärungen, die, wie de Wette, die mythi⸗ ſche Auslegung begründen halfen, bemerft worden war. So legte man 3.3. der Erzählung von ben drei Weifen aus bem Morgenlande eine zufällige Reife srientalifcher Kaufleute zu Grunde, die Engelerſcheinung bei Jeſu Geburt erflärte man burch ein feuriges Phänomen, die Berwandlung des Wafs jers in Wein durch die Annahme, Sefus habe ſich einen men⸗ fchenfreundlichen Scherz erlaubt, u. dgl. Selbſt Männer, die, wie Gabler, gegen diefe Verwechslung der Begrike und ar>

gen bie Abneigung davor, philofophifche Mythen anzuerkennen, eifern, verfallen, wenn fie ſelbſt zu Auslegungen fchreiten, wies der in die gerügten Fehler. Andere waren confequenter, dran⸗ gen darauf, man folle ſich offen befennen, es Taffe fich nicht mehr entjcheiden, wie viel und was Geſchichtliches in ben

. uns überlieferten Sagen enthalten fei, und ſich in Bezug bars

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auf mit bloßer Wahrfcheinlicyfeit begnügen. | -

Die Urſache diefer mangelhaften Handhabung der mythi⸗ ſchen Erffärungsweife lag vorzüglich darin, daß man den Bes griff der Mythe nicht rein und fcharf genug gefaßt, und namentlich den Unterſchied zwifchen den beiden Sauptarten, ber philsfophifchen oder reinen und der hiftorifchen Mythe, nicht genau beftimmt hatte. Diefe Vorarbeit hat ber geiftreihe George auf eine fehr befriedigende Weiſe durchge⸗ führt, weßhalb wir ſolche wejentliche Theile feiner Begriffebes ſtimmungen, mit denen wir übereinftimmen, hier in Kürze wies bergeben. Er nennt die hiftorifche Mythe Sage, und bie

reine Mythe ausſchließlich Mythe worin wir ihm indeſſen

nicht ganz beiſtimmen und unterſcheidet zwiſchen beiben nun folgendermaßen :

„Mythe ift die Bildung einer Thatfache aus einer Idee heraus; Sage die Anſchauung der Idee in und aus der Thatſache.“

Dieſer Unterſchied iſt von großer Wichtigkeit und erklaͤrt ſich naͤher durch Folgendes:

Jede Religionsgemeinſchaft hat gewiſſe Außere Einrichtun⸗ gen und Zuftände, welche der Abdruck der Ideen find, die ſich in ihrem geiftigen Leben allmählig entwidelten. Der Urfprung jener Zuftände iſt in Dunkel gehüllt: fie ftehen als etwas Unerflärtes da. Es ift aber ein angeborned Des dürfniß Des menfchlichen Geiftes, Anfang und Urfprung alles Vorhandenen ſich zu erklären, und dadurch ale ein Lebens diges feiner Anſchauung nahe zu bringen: wo die Gefchichte. ſchweigt, da tritt Die ſchaffende Einbildungsfraft ein und Dichtet ſich einen erften Anfang; diefe Dichtungen werden ganz hafürlich die Karbe der Ideen der Zeit, in welcher fie entitanden find, am fich tragen. So verkörpern füch diefe Ideen zu Erzählıns

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gen; bie bee geftaltet ſich zu Mythe; die in ihr erzählten Thatfachen find nur Sinnbilder berfelben. Je mehr fich aber bie Ideen verflüchtigen, je mehr bie Begeifterung, welche bie Mythe fchuf, erfaltet, deito mehr hält fich der Menſch an biefe, d. h. an bie dichteriiche Einfleidung der Idee: er klammert ſich feft an diefe, und allmählich nimmt er als wirkliche Thatfache, was nur Bild war, weil überall um fo fefter an dem Aeußeren gehalten wird, je bürftiger bas innere Leben geworben ift.

Auf anderem Wege entfleht die Sage. Hier find ges wife Thatfachen gegeben: allein im Laufe der Ueberlieferung haben fich „Die Gefichtöpunfte, aus welchen fie aufzufaffen nd, die Ibeen, bie urfprünglich in denfelben lagen, verlor ven“ ”); fie ftehen allmählich in der mündlichen Ueber⸗ lieferung, von ber bier allein bie Rebe ift, ba, wie vereinzelte, umverfländliche Bruchflüde, Denen der Zufammenhang fehlt. Daher fchafft fi die Einbildungskraft einen neuen Zuſam⸗ menhang; fie geftaltet Die Bruchitüde wieder zu einem lebeus Bigen Ganzen, bildet fid, aus ihnen eme Sage und legt biefen diejenigen Ideen unter, welche in ber Zeit leben, in welcher die Sage entiteht. Diefe Sage tft alio ein Aborud nicht bes Zuftandes und ber Voritellungen derjenigen Zeit, in welcher die ihr zu Grunde liegende Thatjache fich ereignete, fondern vielmehr derjenigen, in welcher die Sage ſich bils dete, und namentlich der Borftellung, welche fie von den Menfchen und den Ereigniffen der Vergangenheit hatte. " Daß Dabei Alles ins Wunderbare gezogen wird, hat feinen Grund in der Eigenthümlichfeit des menfchlichen Geiftes, vers

) Wenn hier und an andern Etellen von Ideen bie Nebe ik, „weiche in gewiſſen Ereigniſſen liegen“, fo verftehe man daruns ter den geiftigen Gehalt, die menfchliche oder göttliche Bes deutung, weiche fie haben oder in der Mythe enthielten. Waren z. B. viele Handlungen Jeſu Ausdrud feiner menfchenfreunde lichen Güte und Herabtaffung , fo ift dies die Idee, die in ihnen urfprünglich Liegt; find dieſe Handlungen in ber fpäteren Sage zu Wundern umgeftaltet worden, fo iſt die unmittelbare wunderbare Aeußerung ber in ihm wohnenden Göttlichkeit die dee, weiche fie erhielten.

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"möge welcher er alle Wirkungen, deren Urſachen ihm nicht durch die Erfahrung gegeben find, geheimen, höheren Kräfs ten zuſchreibt. Wie viel mehr wird dies noch ber Fall fein müfjen, wenn die Sage fid) mit dem Leben eines Religions⸗ Stifters oder eined anderen in der Gefchichte der Religion bedeutungsvollen Mannes, deren Handlungen man fo gerne, fo wie fie ihrem inneren Wefen nach den Charakter bes GBöttlichen in befonderem Grabe an fich tragen, fo auch ben Zauber äußerer wunderbarer Göttlichfeit verleiht! So bil« det ſich die heilige Sage, ald eine Geftaltung mangelhaft überlieferter Thatfachen in dem Lichte ber Ideen einer ges wiflen fpäteren Zeit.

ꝰEs ergiebt ſich aus dem nach George fo eben Entwickel⸗ ten in Bezug auf die Evangelien, daß wir da, wo wir eine reine Mythe (was George vorzugsweiſe Mythe nennt) an⸗ erkennen müſſen, bei welcher alſo keine geſchichtliche Grund⸗ lage anzunehmen iſt, doch ‚den wahren Gehalt der Idee von Ehriftus*, den Glauben ber Gemeinde über fein inneres Weſen, reiner vor uns haben, als da, wo ſich und eine Er⸗ zaͤhlung als Sage Cwas wir hitorifche Mythen nennen) darftellt. Denn dieſe hängt in ihren Bildungen immer mehr oder weniger von dem Gehalte der überlieferten und durch die Meberlieferung oft entftellten Thatfachen ab; es ſpricht fich in ihnen, weil ihnen ein gewiſſer Stoff gegeben ift, Die Hriſtlich⸗meſſi ianiſche Idee, das Urbild von CEhriſtus, wie es in der Gemeinde lebte, nicht ſo frei und rein aus, als in der reinen Mythe.

So wie nun aber einerſeits die Ausleger den Begriff der Mythe nicht rein genug bisher gefaßt haben, fo konnten fie andererfeitö ſich auch nicht dazu entichließen, ihn in feiner vollen Ausdehnung auf das neue Teftament anzınvenden: fie blieben immer nur-, ohne zureichenden Grund, bei wenig einzelnen Erzählungen ftehen. Zwar geftanden fchon mehrere, z. B. Eichhorn, Uſteri ac. ıc. zu, die Kin dheit s⸗Geſchichte Jeſu gehoͤre der Mythe an: denn dieſe koͤnne nicht von Gleich⸗ zeitigen herrühren, weil auf das Kind Jeſu Niemand fo ges

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nau geachtet habe; erſt nachdem fein Leben und fein Enbe ihn auf fo außerordentliche Weiſe verherrlicht, habe man auf jene zurüchliden können; ‚damals aber feien entweder feine Augenzeugen mehr am Leben, oder bei den am Leben Geblier benen fchon Die Erinnerung getrübt gewefen durch ben Anblick der wunderbaren Berherrlichung des Heilandes. Gegen bie geichichtlihe Wahrheit zweier Erzählungen fpricht auch fchon bad, daß Jeſus bei feinem Auftreten als ein völlig Unbe⸗ kannter erfcheintz; wäre bied aber. denkbar, wenn wirflich feine Kindheit von fo glänzenden Wundern umgeben geweien? Konnten Berfündigungen, Engelerfcheinungen, Bethlehemitifcher Kindermord fchon fo ganz vergeflen fein?

Dagegen follen, jenen Auslegern zufolge, alle Erzählungen von dem öffentlichen Leben Jeſu durchaus beglaubigte Geſchichte fein, weil fie von Augenzeugen ober doch Sol⸗ chen herrühren, die fie aus dem Munde von Augenzeugen vernommen. Noch leichter machten es fich biejenigen, welche jene Kinbheitögefchichte geradezu als fpätere Zufäße verwarfen.

Bald fahen ſich andere Ausleger (5. B. Ammon) genös thigt, auch das Ende von Sefu Lebensgefchichte, namentlich die Himmelfahrt, my thiſſch zu erklären, fo daß alfo nun Ans fang und Ende der evangelifchen Erzählungen in’d Miythifche gezogen waren, während ber in ber Mitte liegende Kern unangefochtene Gefchichte bleiben follte. Jedoch auch dieſer fonnte fich nicht lange jener Auffaffungsweife entziehen, indem wert Gabler, nad ihm Bauer und Rofenfranz, aud in dem übrigen Leben Sefu manche Wundergefchichten für Mythen erklärten. Aber auch diefe Männer ftedten eine durch Nichts gerechtfertigte Grenzlinie ab. Sie unterſchieden zwifchen Wundern, die an Sefus, und folchen, die Durch ihn gefchahen; jene erflärten fie mythiſch, Dieje natürlich wie die Rationaliften. (Siehe Seite 14.)

Ein fo willführliches, den evangeliichen Berichten eben fo fehr, wie den Gefetßen des Denfens, Gewalt anthuendes Ber: fahren, fonnte aber die Billigung feiner Partei erhalten und erfuhr mit Recht von allen Seiten her vielfachen Widerfpruch. Wir wollen das Unhaltbare diefes Verfahrens kurz darlegen.

Erfilich find zu einem fo fcharfen Unterjcriede yoiiien der

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Kindheit Jeſu und ſeinem Mannesalter diejenigen Ausleger am wenigſten befugt, welche, wie Tholuck, die Abfaflung der Evangelien moͤglichſt nahe au den Tod Jeſu hinaufrüden: - denn dann mußten ihre Berfafler, insbefondere Matthäus, als fie fchrieben, noch mit folchen Perfonen in Berührung geftans den haben, welche auch über Jeſu Geburt und Kindheit als Augenzeugen reden konnten; man benfe nur an Maris und die Brüder Jeſu. Mag man aber auch immerhin für bie Kindheitögefchichte eine größere Möglichkeit des Mythiſchen zugeben, als für Die übrigen Abfchnitte feines Lebens, fo folgt daraus keineswegs, daß in biefen nichts Mythiſches anges nonmmen werben bürfte, denn viele Erzählungen, aud) aus ber Zeit nach der Taufe, mit weicher Sefu öffentliches Leben beginnt, find denjenigen aus ber Zeit vor ber Taufe ihrer inneren Befcaffenheit nadı fo ähnlich, hier wie dort Wunder, Engelerfcheinungen, Weilfagungen; Geiſt unb Ton ber Erzählungen it fo gleich, daß man entweber auf beiden Seiten, oder auf Feiner Mythifches anerkennen muß. Die Erzählung von der Taufe felbft, welche bie Grenze bes Mythiſchen bilden foll, ald der Anfang von Jeſu öffentlichem Auftreten, ift ja auch noch rein mythifch gehalten, und fo auch die auf diefelbe folgende Verſuchungs⸗ geſchichte. Eben fo auf der andern Seite! Hält man ein mal den Endpunkt der Lebensgefchichte, die Himmelfahrt mit ihren Engeln, für mythiſch, fo wird man ein Gleiches von den Engelerfcheinungen am Grabe, auf Gethjemane und bei der Berflärung befennen müſſen.

Wir fehen uns alfo zu dem Geftändniffe genöthigt, baß, jene willführlichen Orenzmarfen feineswegs beachtend, das Mythiſche auf allen Punkten der Lebensgefchichte Jeſu zum Vorſchein kommt. Jedoch fteht es nicht überall gleich Dicht; namentlich wird fic, in dem öffentlichen Leben Jeſu mehr gefchichtlicher Boden finden laffen, ald in dem Dunkel feines Privat⸗Lebens.

Mit der Aufſtellung des mythiſch en Geſichtspunktes hatte man ſich wieder der alten allegoriſchen Auslegung genäbert. (Siehe Seite 7.) Beide ſtimmen nämlich darin

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überein, daß fie mit Aufopferung ber gefchichtlichen Wahr⸗ heit des Erzählten eine id eelle feithalten, d. b. eine gewiſſe Summe religiöfer Vorſtellungen und Wahrheiten, bie fi in Erzählungen abfpiegelte. Beide gehen von ber Anficht aus, daß der Berichteritatter zwar ein fcheinbar Gefchichtliches gebe, dieſes aber mir die Hülle einer tiefer liegenden Idee, einer religiöfen Borftellung fe. Verſchieden aber find beide Auslegungsweilen darin, daß nach der allegorifchen ber den Schriftiteller leitende höhere Geiſt unmittelbar ber göttliche felbft ift während dies nach der mythifchen fein anderer fein kann, als der Geift eines Volkes oder eis nee Gemeinde, überhaupt einer gewillen von eigenthinnlis hen religisfen Ideen und Borausfesungen geleiteten Zeit, bes ren Einwirkungen der Schriftfteller ſich unbewußt hingiebt. Diefe mythiice Anficht fucht daher vor allen Dingen eben den Geift und die Ideen jener Zeit auf, 3. B. die Meſſias⸗ dee, den Ölauben an die WBunderfraft eines Propheten ıc. ıc., um an ihnen einen ficheren Mapftab für ihre Erklärungen zu gewinnen.

Dbgleich demnach die mythifche Auslegung einen beſtimm⸗ teo göttlihen Gehalt des Erzählten feithält, ohne in dem⸗ jelben eme unmittelbare höhere Einwirfung anzuerkennen, fo fand fie doch bei den beiden fich entgegenftehenden Pars teien, in deren Mitte fie gewiſſermaßen fteht, den lebhafte ften Widerſpruch.

Zunächſt traten gegen fie die Othodoxen auf, namentlidy Heß, der fie mit den flacheften Gründen befämpfte; ex ging von nachftehenden ganz willführlichen Borausfeßungen aus: 1) Mythen find uneigentlich zu verftehenz nun wollen aber die biblifchen Bücher eigentlich verftanden fein, alfo fönnen feine Mythen in ihnen enthalten fein. () 2) Mythologie it etwas KHeidnifches, die Bibel aber ein chritliches Buch, alfo ꝛc. ꝛc. 3) Nicht nur die Alteften biblifchen Bücher enthalten Wunderbares, fondern auch die fpäteren, unläug- bar hitorifchen; folglich Fann das Wunderbare fein Kenn⸗ zeichen bes Mythiſchen fein. Diefem Gelehrten war bie halte natürliche Erklärung lieber, als eine woxbihHe wir

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bunte gefchichtliche Hülle lieber, als ber reichſte ideelle Kern 9. Und ein ſolcher muß doch wahrlich vorhanden fein, wenn bie hriftliche Begeifterung fe bedeutungsvolle Mythen fchuf, wie bie Evangelien fie darbieten; während: die natürliche And legung Alles auf nüchterne, wenn auch moralifche, Zuftänbe zurücdführt, und den hohen Schwung veligiöfer Dichtung nicht anerfennt.

Befonders eifrig erhoben fich viele Gelehrte (Meyer, Fritfche, Kelle, Steudel ıc. *) gegen de Wette's fühne Durchführung des mythiſchen Standpunktes durch die Mofaiihen Bücher. Mehrere fanten aber dabei unvermerkt, indem fie die mythiſche Anficht befämpften, in die natürliche herab. Denn nur um die Wirklichkeit der Gedichte, wenn auch ohne Wunder, aufrecht zu halten, wodurch fie ihrem rechtgläubigen Sy ftem unbewußt nicht wenig vergaben, begingen fie gerade die oben gerügten (fiehe S. 21) Fehler der natürlichen Ausles gung, werm fie 3.3. verlangten, man folle von ber Gefchichte der Sündfluth, wolle man fie nicht als ein Wunder ans fehen, doch wenigftens fo viel gelten laffen, daß bei einer großen Ueberſchwemmung in Borderafien viel böfe Menfchen umgefommen; Noah aber, ein frommer Mamm, mit den Seinen gerettet worden. Allein bier gilt ja eben de Wette Eins wurf gegen die natürlich Anslegenden: „Wollt ihr bie wunderbare Gefchichte nicht gelten Laffen, woher wißt ihr denn überhaupt Etwas über die Sadıje? «

Eben fo unbequem war die mythifche Deutung den rationalifti- fchen Anhängern der oben (ſiehe S. 13) gefchilderten na tür⸗ lichen Auslegung; durch jene wurden die Kunftftüce ihrer natürlichen Auslegung nun mit Einemmale für verlorne Mübe erflärt; denn felbft bei einer hiftorifchen Mythe geben wir ed auf, eine wirkliche Thatfache herauszuffauben, weil wir ftaft ihrer auch eine leere Fabel erhalten fünnten, die, Des religiöfen Inhaltes, des Wunder s Glaubens nämlich beraubt, weit weniger werth ift, als die Mythe felbft. Ueberhaupt aber gilt und dieſer relig iöſe Gehalt mehr, als zweifelhafte Gefchichte.

°) Wir verweifen auf die Schlußbemerfung dieſer Einleitung. *, Siehe Note 3, Seite 4.

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Beſonders entfchieden ſprachen Eichhorn und Paulus in biefem Sinne ſich aus, weld, letzterem Gelchrten die mythifche Auffaſſungsweiſe ald veine Geiftesträgheit vorfommt, welche mit der evangelifchen Gefchichte auf dem leichteften Wege fertig za werben wünſche⸗. Cr überfieht aber dabei, daß man durd) imere und äußere Gründe zu diefer fogenannten Geiftesträgs heit genöthigt ift, die, näher betrachtet, fich ale das fpürfame Beftreben bewährt, aus den Erzählungen einen tiefern Gehalt von Ideen und religiöfen Vorftellungen herauszufinden. Andern Rationaliften, namentlich Greiling, begegnete es, daß fle dem wythifchen Standpunft Vorwürfe machten, den der phantafti- (hen Erdichtung, den der tafchenfpielerifchen Lnterfchiebung eined andern Factums ıc., welche gerade ihre eigene Erflä- rungsweiſe zumeift treffen (wie unten bei einzelnen Erzählungen deutlich werben wird), während ber muthifche Ausleger gar fein Kactum herausdeuten will,

Zweiter Theil. Naͤhere Begründung des mythifchen Standpunftes.

Erftes Kapitel

Möglichkeit von Mythen im neuen Zeftantente nach äußern Gründen.

Nachdem wir nun die Gefchichte (Entftehung und feitherige Ausbildung) der mythifchen Auslegung, ihren Standpunkt zwi⸗ ſchen den verfchiedenen andern Syitemen und die Einwendun⸗ gen gegen fie kurz dargelegt haben, müſſen wir nunmehr Das Weſen verfelben näher betrachten, und damit den Stand⸗ punkt bezeichnen, auf welchem wir bei der nachfolgenden Prüfung der einzelnen ewangelifchen Erzählungen ung befinden.

„Dürfen und können wir im neuen Teftamente Mythen annehmen?“

„Bas verftehen wir unter Mythen, und wie entflan- den fie?“

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„Woran erkennen wir, bad eine Erzählung Mythe it?“ Diefe Fragen werben hier ihre Beantwortung finben müflen . *

Der Annahme, auch vom neuen Teflamente bürfe man annehmen, daß in bemfelben Mythen enthalten feien, ftellt ſich zunächft das Bewußtſein des gläubigen Chriften mit ent- ſchiedenem Nein! entgegen. Weist man ihn auch auf andere Peligionen hin, die unbezweifelt ja auch Mythen enthalten, fo wird er erwiedbern: „Mas Heiden und Muhamebaner von ihren Göttern und Propheten erzählen, it freilich größtentheils erdichtetz nichts aber von dem, was bie Bibel von Gott und den Propheten, noch weniger etwas von bem, das bie Evangelien von Jeſus erzählen, |

Diefer Glaube erfcheint ung aber als gaͤnzlich befangen m dem dem Ehriften zur Gewohnheit anerzogenen G efichtsfreife. Denfen wir und nun in eine andere Neligiong « Gemeinfchaft hinein: herrjcht hier nicht derfelbe alles Fremde ausfchließende Glauben? Der Muhamedaner, der Jude, der Ehinefe ꝛc. alle halten nur die Erzählung ihrer Religionsurfunden für wahr. Würden aber die Chriften, die jegt nur ihren Glauben für den wahren halten, nicht eben fo von dem Muhamedanis fchen denken, wenn fie in Diefem geboren wurden wären? Wer hat hier Recht? Alle zufammen nicht; Eins fchließt das Andere aus; nur eine der Religionen kann göttliche Offen barıng fein, da ihre Lehren fo verfchieden find. Welcher

% Bon hier an glaubte der Verfaſſer vorliegender N3earbeitung des Straußifchen Werkes etwas ausführlicher fein. u müſſen, als in dem Borangegangenen, ja zuweilen ausführlicher, als Strauß felbft; denn es fchien ihm von befonberer Wichtigkeit zu fein, den Standpunft, von welchem aus in der nach⸗ folgenden Prüfung die evangelifchen Berichte ausgelegt werben, fo Elar wie möglich herauszuftellen, und damit den vielen Mißdeutungen, die berfelbe, fei es aus Unkenntniß oder aus welch anderm Grunde, erfahren mußte, nach Kräften zu be geguen. Uebrigens verweife ich auf die in der Vorre de darge⸗ legten, auch hier getrenlich befolgten Grundſätze, non denen ich bei meiner Arbeit ausgehe.

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Einzefne hat Ned? Jeder behauptet ben göttlichen Urs forung feiner Religion, vom Chriften bis zum Heiden herab! Womit fann aber der Chrift die ausfchließliche Wahrheit feiner Religion beweifen?

- Hierauf hat man die Antwort zur Hand: „Bei feiner

Religion ift der göttliche Urfprung fo urfundlich belegt, als bei der jübiichen und chriftlichen; die biblifche Geſchichte ift theild von wirklichen Augenzeugen, theild von Solchen, Die mit Augenzeugen in den naäͤchſten Berhälmiffen fanden, gefchrieben; gefchrieben von Männern, über deren Glaubs würdigfeit Fein Zweifel walten Fanıı.“ . Mlerbings müßten wir fehr bedenklich werben, an der ges ſchichtlichen Wahrheit der Evangelien zu zweifeln, wenn jene Borausfegung über ihren Urfprung richtig wäre, wies wohl auch dann noch einzelne Irrthümer denkbar wären. Allein fie iſt eben nicht richtig; beruht vielmehr auf irrigen Anfichten.

Es kann nämlich jene „Augenzeugenfchaft und Zeitnähe⸗ der Berichteritatter durch Nichts bewiefen werden; vielmehr fpricht fehr viel Dagegen; es muß demnach die Möglich⸗ lichfeit der Miythe in dem neuen Zeftamente, in fo weit änßere Gründe, d. h. folche, die aus der Entſtehung der Evangelien hervorgehen, darüber entfcheiden, zugegeben wers den. Dies wird durch Nachftehendes deutlich werden.

Borerit beruft man fich zum Beweiſe dafür, daß die Bü- cher. von Zeitgenoffen der Begebenheiten herrühren, auf deren Ueberfchriften. Allein tragen z. B. Die Bücher, welche den Auszug der Sfraeliten erzählen, nicht aud) den Namen des Führers derfelben, Moſes, an der Spitze: wer aber wird glauben, daß Moſes wirklich Alles gefchrieben, da fein eigener Tod in ihnen erzählt iſt? Es ift überhaupt eine längft aus- gemachte Sache, daß die Ueberfchriften der heil. Bücher an ſich nichts mehr beweifen, ald entweder eine Angabe der Ver: faffer felbft, oder die Anficht der alten Zeit über den Ur- fprung derfelben. Der erſte Punkt beweist Nichts; in Betreff des zweiten müſſen wir fragen:

36 > 1) Wie alt ift diefe in den Ueberſchriften ausgedruͤckte Ans ficht? Welchen Gewährsmann haben wir dafür? Welches find alfo die äußeren Gründe für die Nechtheit des Buches, d.h. dafür, daß es wirflich von dem Verfaſſer herrührt, Dem es zugefchrieben wird ? | 2) Stimmt die innere Befchaffenheit des Buches mit ber Anficht über feinen Urfprung überein? Frage nach den inneren Gründen der Aechtheit.

u

Sn Bezug auf die Evangelien nun, um bie es fich hier handelt, „haben die bisherigen Unterfuchungen ber Gelehrten folgende Refultate geliefert.

Unfere vier biblifchen Evangelien find durchaus nicht bie einzigen, welche über das Leben Sefu niedergefchrieben wurden; vielmehr hatte man deren fehr viele, und fait jede der zahl reichen Seften in der erften chriftlichen Zeit ihr eigenedg. Spaͤ⸗ ter aber, als Eine Partei im Schooße der Chriftenheit über . die andere triumphirte, und fich zur herrſchenden Kirche erhob, unterdrücte dieſe Kirche alle Evangelien, die fie mit ihrer Lehre im Widerſpruch fand, und erflärte Die vier, welche unter bie heiligen, geoffenbarten Bücher aufgenommen wur⸗ den, für Die einzig gültigen: nur in ihnen erfannten fie ächte apoftolifche Zeugniffe über Jeſum. Wir wollen fie einzeln bes trachten.

Das erite wırde dem Matthäus zugefchrieben, der ans erfannt einer ber zwölf Apoftel geweſen; das zweite dem Markus, dem Dolmetfcher des Petrus; das dritte Dem Lukas, dem Begleiter des Paulus; Das vierte dem Jo⸗ hannes, Apoftel und Lieblingsjünger Jeſu.

Ucber die Aechtheit des Evangeliums Matthäi glaubt man das Ältefte Zeugniß in einer Stelle des Gefchichtfchreis bers Euſebius gefunden zu haben, wo er erzählt, der Biſchof Papias (161 180) bezeuge, daß der Apoftel Matthäus „die Neden (des Herrn)“ gefchrieben habe. NHierunter mag er, da er ein andermal, von Markus redend, die Worte ‚eine Sammlung der Neben des Herrn veranftalten“ und den Ausdruck „die Worte und Thaten Chriſti niederichreiben

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als gleichbebentend gebraucht, allerdings ein vollftändiges Evangelium verftanben haben. Daß er aber damit Dasjenige meine, -welches wir befiben, ift nicht nur unmahrfcheinlich, fondern felbft unmöglich, da er ausdrüdlich fagt, Matthäus habe Sin hebräifcher Sprache“ gefchrieben ; daß unfer Evans gelium eine Ueberſetzung besfelben fei, ift nur eine Vorauss ſetzung fpäterer Kirchenväter, 3.3. ded Hieronymus. Nun finden wir zwar bei andern Kirchenvätern Ausfprüche und Er- zählungen von-Sefu, die große Aehnlichkeit mit Stellen in un: ferm Matthäus haben; allein diefe fünnen unmittelbar aus derfelben mündlichen Ueberlieferung gefchöpft fein, aus wel⸗ her das Evangelium felbft hervorging; mithin rührte dann die Achnlichkeit nur aus der Gleichheit der Quellen her; wo Schriften als Quellen angegeben werden, ift nirgends ges rabe gefagt, daß es apoftolifche feien. Juſtin der Mär- tyrer Ct 168) führt öfters Worte als evangelifche an, die mit Stellen in unferm Matthäus übereinftimmen ; jedoch be- zeichnet er auch wieder Anderes als evangelifch, was fich in : feinem unferer Evangelien findet, und niemald nennt er feine Duellen bei Namen, frndern nur allgemein „Denktwürdigfeis ten der Apoftel“, oder furzweg „Evangelien“. Auch bei Selfus (nach 150), der öfters davon fpricht, „Daß die Schü⸗ fer Sefu deſſen Leben bejchrieben haben“, findet ſich nie ein einzelner Berfafler angegeben.

Durch die neueften weitern Unterfuchungen eines Schul, Seiffert und Schnedenburger ift daher die Aechtheit unfers Matthäus jo fehr erfihüttert worden, daß fie als unrettbar betrachtet werden fann.

In Betreff des Markus befisen wir ebenfalld von Pa⸗ pias eine, ale Zeugniß für Die Aechtheit unſers Marfus- Evangeliums in Anfpruch genommene Angabe; er fagt näm- lich, er wiffe e8 aus dem Munde des Presbyter Sohanneg, daß Markus, der Dolmetfcher des Petrus, „aus der Erinne- rung an deſſen Lehrvorträge, Die Neden und Thaten Jeſu auf: gezeichnet habe“. Allein auch hier fünnen feine Worte, noch weniger wie feine Angaben über Matthäus, von dem ung er- baltenen Evangelium genommen werden. Denn unfer Morbod⸗

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Evangelium ift, wie fchon Griesbach unmiderleglich darges than hat, „aus dem erften und dritten Evangelium- 9%, wenn auch nur nach der Erinnerung, die er davon hatte, zus fammengetragen“. Auch paßt auf dasſelbe durchaus nicht, was Papias weiter fagt: es habe nämlich Markus „nicht in chronologiſchem Zufammenhange* gefchrieben ; benn biefer fins bet ſich allerbings bei Markus vor.

Ueber das Evangelium Lufas haben wir ein Zeugniß eigener Art, nicht gerade darüber, daß es von Lufas, Doc aber, daß es von einem Begleiter des Apofteld Paulus herz rühre. In der Einleitung zur Apoftelgefchichte (1, 1, 2.) gibt ſich nämlich der Verfaſſer derfelben ald den zu erfennen, der auch ein Evangelium gejchrieben habe; e8 muß damit unſer drittes gemeint fein, weil diefes, fowie die Apoftelges fhichte, an einen gewiffen Theophilus gerichtet ift Cvergl. Luk. 1, 3). Nun redet aber unfer Berfaffer an mehreren Stellen ber letztern Schrift von Paulus und von ſich mit Dem Wörthen Wir; 3. B. Cap. 20, 5 ıc., wo von einer Reife des Paulus erzählt wird: „Diefe gingen voraus, und eriwars teten Uns in Troas; Wir aber fegelten ab nach den Ofters tagen ıc.* Gegen diefe Angabe aber, daß ber Verfaſſer ein Begleiter Pauli gewefen, hat man mandherlei Bedenfen ers hoben, namentlich daß fo Manches in der Apoftelgefchichte fich mit den anerkannt ächten Paulinifchen Briefen durchaus nicht verträgt, und daß es unbegreiflich ſcheine, warum der Verfaß fer beider Bücher nirgends eines nähern Verhältniſſes mit dem angefehenften der Apoſtel Erwähnung thut. Deßhalb wird vermuthet, jene Stellen feien aus der Denfichrift eines Drits ten eingefchoben. Allein nimmt man aud) wirflid) an, unfer dritter Evangelift fei ein Begleiter des Apoſtels geweſen, fo war er in feinem Falle es fehr lange, da Paulus in feinen - Briefen deffen nie erwähnt. Es bleibt daher fehr denkbar, daß er feine Bücher erft damals fchrieb, wo er von Paulus

20, D, h. dem des Matthäus und dem des Lukas. Die Bezeiche nung nach der Stelle in der Reihenfolge wird auch fernerhin oft ber andern nad den Namen vorgezogen werben.

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wieder getrennt, diefer gar fchon geftorben war, und wo er feinen Grund fand, bei feinen Berichten der ihm ſich dDarbies tenben, in feinem Kreife herrſchend gewordenen, Lieberlieferung nicht zu folgen. Es ergibt ſich alfo aus jenem Umftande, daß unfer Evangelift Begleiter eines Apofteld geweſen, noch Zeiness wegs, daß er fein Evangelium unter apoftolifchem Einfluffe gefchrieben habe. Denn der Schluß, Lukas habe, da die Apo⸗ ftelgefchichte mit der. zweijährigen römifchen Gefangenfchaft Pauli fchließt, feine Schriften während dieſer Zeit, von 63 bis 65, gefchrieben, entbehrt aller fichern Grundlage.

Das Evangelium des Sohannes finden wir zuerft um’s Jahr 150 bei den beiden chriftlichen Sekten, den Balentinianern und ben Montaniften, die es aber noch nicht ausdruͤcklich als ein Werk des Johannes bezeichnen. AS folches wird eg zuerft genannt, um 172, von Theophilos von Alerandrien ; mit großem Eifer wird fobann die Hechtheit besfelben, als einer Schrift des Apoiteld, von Srenäus gegen die Beftreiter derſelben vertheidigt. Diefen Zeugniffen ftellen fich aber nicht wenig bebenfliche Umſtände entgegen. Vorerſt muß es aufs fallen, daß der eben genannte Srenäus bei feinem Kampfe für Die Aechtheit fich nirgends und er fchrieb fehr um: ſtaͤndlich auf die Autorität feines berühmten Lehrers Po⸗ lykarpus beruft, der doch, im Sahr 167 geftorben, den Evan- geliften noch felbft gekannt und gehört hatte. Sodann fommt hinzu der Widerfpruch, den, fobald die oben genannten Sekten das Evangelium angenommen hatten, eine andere Sefte, Die der Aloger, dagegen erhob, indem fie behauptete, dasfelbe fei ein Werk Gerinth’s, eines verfegerten Mannes, und für Ddiefe Behauptung vorzüglich den Grund geltend machte, dasfelbe fei eine Quelle von Irrlehren, und ſtimme nicht mit den übrigen Evangelien überein. Zu überfehen ift endlich nicht, daß in Epheſus, neben dem Evangeliften, auch ein Press byter Johames lebte, und Daß es mit den Zeugniffen für Die „Sohannei’fche“ Abkunft der Dffenbarung, welche fo Viele dem Apoſtel abzufprechen geneigt find, um Nichts ſchlechter fteht, als mit denen über das Evangelium.

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Wir können alfo von feinem Evangelium ein über das. Jahr 135 hinaufreichendes Zeugniß feines Daſeins nachweifen ; überdies find die früheften noch ganz unbeſtimmt. Beftimms tere, daß nämlich dies oder jenes der nod, vorhandenen Evans gelien wirklich von dem Berfaffer herrühre, deffen Namen es trägt, fangen erft nadı dem Sahre 150 an. Nun waren aber alle Apoftel, den Sohannes, über deffen Alter und Ende frühs zeitig gefabelt worden ift, nicht ausgenommen, fchon vor bem Sahre 100 geftorben. Wie viele Zeit blieb alfo übrig, um ihnen Schriften beizulegen, die fie nicht gefchrieben hatten!

Die Apoftel ftarben alfo fchon in der lebten Hälfte des erften chriftlichen Sahrhunderts dahin, nachdem fie an den vers fehtedenften Orten des unermeßlichen römifchen Reiches das Evangelium” verfündigt hatten. Wie verfchiedenartig mochte diefes von den Bekennern desſelben aufgefaßt worben fein ! und wie ſchwer war e8, wenn einmal Abweichungen von ber apoftolifchen Anficht entflanden waren, diefelben zu berichtigen, da die noch nicht gar zahlreichen Chriften fat über alle Theile des Reiches zerſtreut wohnten. Es darf daher nicht bes fremden, daß die evangelifche Ueberlieferung fich fehr verfchies denartig geftaltete, und daß fich frühzeitig fo viele und fich fo fehr widerfprechende chriftliche Sekten bildeten. Allmählig aber fam in diefe Ueberlieferung größere Einheit; daher fich bei ben älteren chriftlichen Schriftftellern mancherlei Sprüche fins den, ohne Angabe der Quellen, welche mit Stellen unferer Evangelien gleichlautend, und, weil diefe damals fehr wahrs ſcheinlich noch nicht gefchrieben waren, aus der mündlichen Veberlieferung gleich ihnen gefchöpft find, Bald wurde Diefe in Schriften niedergelegt, welche wahrfcheinlich, weil die Sage ſelbſt ſich noch immer weiter geftaltete, noch mancherlei Um⸗ geſtaltungen zu erfahren hatten. Dieſe Schriften wurden nicht nach den Namen der Verfaſſer, ſondern bald nach dem Kreiſe von Chriſten, in welchem ſie entſtanden und zuerſt ge⸗ braucht wurden, genannt, bald nach dem Lehrer, Apoſtel oder Apoſteljünger, deſſen mündliche Vorträge zu Grunde lagen. Auf letzteres ſcheinen die Ueberſchriften zu deuten: „nad“ (den Vorträgen des) Matthäus ꝛc.; Ueberſchriften, welche un⸗ ſere Evangelien noch tragen. Je mehr Zeit aber zwiſchen

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diefem wmünblichen Bortrage und dem Nieberichrieben der Evans gelien verfloß, deſto mehr konnte die durch Die neue Heilslehre jo mächtig aufgeregte Einbildungsfraft die Erzählungen unver⸗ merkt umgeſtalten. Waren bie aus ber urfprünglichen apoftos liſchen Mittheilung entftandenen Sagen aber einmal ſchrift⸗ Lich abgefaßt, jo bildete ſich ganz natürlich die Borausfeßung fehr bald, audy die Schrift felbft fei das Werk eines Apoſtels. Daß aber auch fogar der Name bes befondern Apoftels, auf den man ben Inhalt irgend eines Evangeliums zurüdführte, oft erit fpäter, theild aus mündlicker Ueberlieferung, theild weil er in einer Gemeinde, wo man ſich an dies Evangelium vorzuges weife hielt, befonders in Anfehen ftand, hinzukommen fonnte, mag das HebräersEvangelium beweifen. Dies hatte ans fanglich Diefen Namen, dann hieß ed „Evangelium nach den zwölf Apofteln“, endlich „Evangelium nach Matthäus“.

Zweites Kapitel.

Möglichkeit von Mythen im neuen Teftamente nach innern Gründen,

Iſt es alfo unläugbar, Daß dem Verſuche, unfere Evanges lien als apoftolifche Verichte, auch nur im weitern Sinne, geltend zu machen, unbejiegbare Schwierigfeiten in den Weg treten, fo muß aud) die Möglichkeit, daß mythifche Beftands theile in ihnen enthalten find, infofern ſie auf äußern Grün⸗ den beruht, zugeftanden werden. Wir Dürfen alfo zu näherer Betrachtung ber innern Gründe für diefelbe fohreiten. Hier begegnet ung nun zunächft der Einwurf, es fei undenkbar, daß in einer Zeit, wo fo manche Augenzeugen noch lebten, in Pas läftina, dem Schauplat der Begebenheiten, ſich ungejchicht- liche Sagen über Jeſus, oder gar Sammlungen von folchen, ge⸗ bildet haben follen. Indeß ift e8, was die Sammlungen anlangt, durchaus unerweislich, daß ſolche fchon bei Lebzeiten der Apoſtel follten entftanden, oder gar von denfelben anerkannt worden fein. Die Entftehung der Sagen, felbft in Paläs ftina, ift aber durchaus nicht undenkbar. Mußten fie denn ge- rade da entftehen, wo Jeſus längere Zeit gelebt hatte? Kon

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ten die ehemaligen beftändigen Begleiter Jeſu an allen Drten zugegen fein, um unrichtige Erzählungen fogleich zu bes richtigen ? Diejenigen aber, die ihn nur von Zeit zu Zeit ges. fehen hatten, mußten biefe nicht gerade geneigt fein, durch bie Berichte Anderer ihre eigenen Kenntniffe zu ergänzen? |

Ferner aber muß man nicht glauben, daß, weil.die Zeit, wo Sefus lebte, im Allgemeinen fchon eine gefchichtliche . war, beßwegen gar feine Sagen mehr hätten entitehen kön⸗ nen. Allerdings ftand der gebildete Römer und Grieche diefer Zeit auf einer Stufe, die Died undenfbar machte; und dennoch findet fi; in berfelben Zeit und etwas fpäter unter dem ungebildeten Theile felbft dieſer Völker ein fo herrichens der Wunderglaube, wie die feltfamen Sagen von dem bes rühmten Wunderthäter Apolloniug von Thyana bezeugen, daß mehr ald Ein Schriftfteller fich veranlaßt ſah, dieſem Glauben entgegenzutreten. Und haben fich nicht auch in neues rer Zeit, die doch auch eine gefchichtliche ift, im Volke vieler, lei Sagen, wie die von einem Dr. Fauſt ꝛc. ausgebildet ? Allerdings war auch das jüdifche Volt ſchon lange ein fchriftftellerifches, hatte fchon lange eine Gefchichte ; allein ges rade in ihm fand fich, feinem eigenthümlichen Character ges mäß, fortwährend eine reiche Quelle für mythifche Erzählungen. Dem ein rein gefchichtliches Bewußtſein ift demfelben eigentlich niemals aufgegangen, ba felbit feine fpätern Ges fhichtswerfe, die Bücher dee Maftabäer, und fogar bie Schriften des gHelehrten Sofephus, nicht frei von wunder⸗ . haften und abenthenerlichen Erzählungen find. Und von wels her Wichtigkeit find in diefer Beziehung die unter ihm herr⸗ fhenden meffianifhen Erwartungen, über welche unten das Nähere!

Ueberhaupt aber gibt es Fein reines gefchichtliches Bewußt⸗ fein ohne die Einficht, daß die Kette endlicher Urfachen, das in der Natur und der Menfchengefchichte feflbegründete und von der Vernunft geforderte Verhältniß zwifchen Urfache und Wirkung nicht zerriffen werden kann, daß alfo Wunder uns möglich find; daß es auch mit dem Wefen Gottes unvers einbar fei, anzunehmen, er könne in der endlichen Schöpfung ben natürlichen Faden der Raturgefeße zerreißen, um mit dem

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fünftlichen Weberknoten eines Wunders wieber nachzuhelfen. Diefe unbefangene Einficht aber mangelt noch fo Vielen in unferer, doch wohl auch gebildeten gefchichtlichen Zeit, wenigs ſtens in Beurtheilung der jüdifchen und chriftlichen Vorzeit. Wie viel weniger-fomnte fie im damaligen Paläftina allgemein fen! Vielmehr war die Neigung, Wunder zu glauben, im jübifchen Volke feitgewurzelt : und als dazu eine Begeifterung des Glaubens trat, als diefe weithin fich verbreitete unb der religiöfen Berarmung der Zeit neuen Stoff zuführte, da mußte der ſchlummernde Wunderglaube zu neuer Thätigfeit ermachen, md es wäre ein wirkliches Wunder geweſen, wenn nicht wunberhafte Sagen fich gebildet hätten.

Wir dürfen uns alfo auch burch den Einwand, daß bie Evangelien in einer ſchon gefchichtlichen Zeit abgefaßt feien, richt abhalten Taffen, zu einer unbefangenen Unterfuchung dee Evangelien felbft zu fohreiten, und die innere Beichaffens heit jeber einzelnen in ihnen enthaltenen Erzählung beſtimmt in's Auge zu faſſen.

Indeß könnte doch dieſer Unterſuchung, noch ehe fie ber gonnen wird, gleichham an der Schwelle der Evangelien, fols gende abwehrende Behauptung noch entgegentreten, und uns von unbefangener Prüfung abhalten wollen:

„Es ift überhaupt mit dem Character des Chriftenthung unvereinbar, in ihm Mythen auch nur zu ſuchen; unvers einbar mit der allgemeinen Beichaffenheit der Evangelien, einzelne ihrer Erzählungen für Mythen zu halten.“

Man ſtützt fich für dieſe Behauptung befonders auf fol gende, der ganzen Bibel geltende Sätze:

1) „Die bibliſche Gefchichte unterfcheidet ſich wejentlich das durch von den Götterfagen der Griechen, Indier ıc., daß in diefen eine Menge das fittliche Gefühl beleidigender Ers zählungen enthalten find, in jener dagegen nur Gotteswürdiges und Belehrendes.“ Gibt man dies auch zu, ohne jo manche anftößigen, angeblich von Gott ſelbſt unmittelbar gebotenen, Handlungen alt=teftamentlicher Gottesmänner in Anfchlag zu bringen, fo folgt doch Feineswegs aus diefem Jugend,

44 daß, weil eine umnfittliche Böttergefchichte erbichtet fein muß, eine fittlich untabelhafte Gottesgeſchichte ſchon darum es nicht fein koönne.

2) „Die heidniſchen Erzählungen enthalten gar zu viel Uns Hlaubliches, Abentheuerliches; dergleichen‘ findet fich in -Der biblifchen Geſchichte Nichts, wenn man nur Die unmittelbare Einwirfung Gottes vorausfeßt.“ Aber eben dieſe Voraus⸗ ſetzung ift e8! was berechtigt und dazu? Wollten wir. nur ein Gleiches auch für Die heibnifchen Sagen vorausfegen, und annehmen, daß ihre Halbgötter wirflid Söhne ber Götter gewefen feien, fo ftele auch bier alles Unglaubliche weg. Aller- dings ift die heidnifche Sage viel abentheuerlicher, ale bie biblifche ; Dies beweist aber nicht, Daß dieſe darum wahr fein müſſe, weil jene unwahrfcheinlicher ift, fondern nur, daß ber Glaube, aus dem fie hervorging, ein mehr geläuterter ift, und überhaupt einen andern Character hat.

3) „Bon den meilten Perfonen in der heidnifchen Sage ift gewiß, daß fie nie gelebt haben; die der biblifchen Ges ſchichte, ein Abraham, Moſes ıc., find ausgemacht wirkliche Perfonen geweſen: alſo müffen jene Sagen erdichtet fein, was fich von Diefen nicht fagen läßt.“ Hier ift Irrthum auf beiden Seiten. Nicht nur haben Viele die wirflihe Eris ſtenz eines Adam, Noah ꝛc. mit guten Gründen bezweifelt; fondern von vielen Helden 3. B. der griedhifchen Sagens welt ift es fehr wahrjcheinlich, jo wunderbare Sagen auch von ihnen erzählt werden, daß fie dennoch wirklich gelebt haben.

Zugeftehen müflen wir allerdings, daß ein wefentlicher Unterfchied ftatt findet zwiſchen heidnifchen und biblifchen Ers zählungen. Sene ftehen in fo vielen Stüden mit unferm Glau⸗ ben und unferer Gottesidee in fo grellem Widerfpruche; ihre Götter find fo fehr in’s Zeitliche herabgezogen, fie wer: den fogar geboren, wachen, verheirathen ſich und zeugen Kins der, die gleichfalls Götter werden —, daß dieſe Sagen fchon- von unferm religiöfen Gefühle ald pure Erdichtung vermwors fen werden müffen: fo urtheilten fehon die Gebildeten unter ‘den Griechen felbft. In dem alten Zeftamente dagegen, um von diefem zuerft zu reden, tritt uns erftlich ein Gott ent- gegen, und feine Götter, wiewohl auch noch Spuren vors

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‚kommen, daß dem Glauben an Einen Gott ber an mehrere voranging. Zweitens erſcheint dieſer Gott zwar auch in menfchlidyer Weile, er fpricht, befiehlt mit drohenden Wors ten, übt Rache, begünftigt Ein Volk vor allen andern ꝛc.; als kein er iſt Fein werdender Gott, fein Wefen ift nicht in menfchlicher Bedürftigfeit untergegangen, während die heids - nifchen eſſen, trinfen 2c.; alle Menfchlichkeiten erfcheinen mır als nothwendige Einhüllungen einer noch unentwidelten Vor⸗ ftellungsweife, aus welcher aber eine tiefe, reine Idee ahn⸗ dungsreich hervorſchimmert. Berfteht man alfo unter Mythos logie Göttergefchichte, fo hat das alte Teftament allerdings feine. Allein damit ift noch feineswegs gefagt, Daß die Ers zählungen von den menfchenähnlichen Handlungen Gottes, von feinem wunderbaren Eingreifen in Die Geſetze der Natur, wels - ches Beweiſe unvollkommener Borftellungen find, für wahre Sefchichte zu halten feien.

Bei dem neuen Teftamente ftellt fich die Sache allers dings etwas anders, und, ehrlich geftanden, etwas bedenfficher. Auch hier zwar erfcheint Gott ald ein Einer, umveränderlis her: allein Jeſus ift der Sohn Gottes, und zwar nicht in fo weitem Sinne, wie 3. B. Könige und Patriarchen alten Teſtaments "Söhne Gottes genannt werben ; fondern ganz eigentlich, als erzeugt durch den göttlichen Geift: wir fehen ein göttliches Weſen hier geboren werben, leben, leis den: Jeſus ift weit mehr als Mofes, Elia ıc., die nur von Gott unmittelbar geleitet find, nicht aber feines Geſchlech⸗ tes. Hier alfo ift offenbar mehr Mythifches, ale im alten Zeftamente. Doch ift auch hier eine durchgreifende Verſchie⸗ denheit von den heidnifchen Sagen in die Augen fallend; die Sdeen, welche den evangelifchen Erzählungen zu Grunde liegen, ftehen in feinem Widerfpruche mit der erhabenften Gottes⸗Idee; nur müſſen wir fragen, ob fie fi fo können verwirflicht haben, fo körperlich geworden fein, wie bie Evangelien berichten.

Wir find alfo weit entfernt, die heidnifchen Mythen mit den chriftlichen auf Diefelbe Stufe ftellen zu wollen; erfennen vielmehr den ungleich ebleren, durchaus Gottes wordiokv

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‚Gehalt des letzteren volllommen an. Nur lafien wir und das durch nicht abhalten, Diefelben eben auch für Mythen zu hals ten, und näher auf Die inneren aus unferer BernunftsEnts wicelung hervorgehenden Gründe dafür einzugehen. Wir wers fen daher zunächft Die Frage auf! „Sind die wunderbaren bibliſchen Erzählungen vereinbar mit unferen Borftellungen von dem Zufammenhange Gottes mit der Welt?!“ Zwar die alte Welt, befonders die der Morgenländer, war geneigt, in taufendfältigen Erfcheinungen ein unmittelbares Eins greifen Gottes, mit Umgehung der Naturgefeße, zu erbliden; bei ihr herrichte das religiöüfe Gefühl vor; ihre Kenntniffe von dem endlichen Zufammenhange der Dinge waren fo ges ring, ihre Einfiht in die der fichtbaren Erfcheinung in der Natur zu Grunde liegenden Urfachen fo mangelhaft, und dabei ihre Einbildungsfraft jo lebendig und leicht entzündet, daß fie geneigt ift, in allen, auc den natürlicdyiten, Erfcheinungen ein Wunder, ein unmittelbares Einwirken Gottes anzunehmen. Da wo eine auffallende, unerwartete Wirkung den Menfchen jener Zeit entgegentritt, muß Gott unmittelbar eingefchritten fein; befonders find Menfchen von ungewöhnlicher Kraft des Beiftes Lieblinge des Herrn, der mit ihnen in näherem, wunderbaren Verkehr fteht, und deſſen Eingebungen fie ihre Weisheit und Kraft verdanfen. Auf dem Boden diefed Glaus bens ruht die ganze ifraelitifche Gefchichte; nicht Mofes, Elias, Jeſus felbft verrichteten fo Großes, fondern Gott auf us mittelbare Weife Durch fie; er brachte durch fie Wirkungen hervor, welche der ordentliche Lauf der Dinge niemals hers beigeführt hätte.

| Die neuere Zeit Dagegen ift auf dem Wege der Wiſ⸗

fenfchaft zu der Maren Einficht gefommen, daß in der Welt Alles durch eine ununterbrochene Kette von Urfachen und Wirkungen hervorgebracht werden müßte Die einzelnen Kreife des Weltalls find zwar nicht in fich abgefchloffen und vereinzelt; fie wirken vielfältig auf einander ein, 3. B. der Mond und die Planeten auf die Erde, der Menfc auf die sohe Natur, die Außenwelt auf die freie Entwicklung des Menſchen ꝛc. 2.5 allein alle diefe Kreife zufammen bilden

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ein Ganzes, Das zwar fein Dafein einem höheren Weſen verdankt, auf deſſen unmanbelbare Naturgefege aber feine anderweitige Macht eimwirfen Fann: ed kann nichts Eins zelnes von außenher in dieſelbe hineinfommen. Denn bie Raturgefete bilden ein fo innig verfchlungenes Gewebe, daß jeder Stoß, fei er noch fo Fein, der von Außen her kommt, eine Erfchütterung von Einem Punfte bis zum entfernteften verbreiten würde. Daher fünnen wir und eine Äbernatürs liche Eimwirfung auf die Natur, als einen Widerfpruch in ſich felbft, durchaus nicht denken; es kann, fo müflen wir überall fchließen, Gott nicht in der Welt wirfen mit Umge⸗ hung der von ihm felbft gegründeten Weltgefebe. Diefe Weberzeugung ift fo feſt in und gewurzelt, Daß wir unwill Führlich Den verlachen ober für einen Betrüger halten, ber uns etwas heut zu Tage Gefchehenes für ein Wunder aus⸗ geben will. Sollte aber, jo müflen wir dann weiter fchließen, in früherer Zeit die Natur anders eingerichtet geweſen fein? fo eingerichtet, daß fie eine übernatürliche Einwirkung hätte vertragen Tünnen? Durch diefe Betrachtungen wurde die neuere Aufflärung bis zu der Anficht geführt, daß Gott nur in der Schös pfung der Welt fi) wirkſam erzeigt habe, von da an aber dieſelbe fich ganz felbft überlaffe, fo daß fie ohne feinen weis tern Einfluß ſich mechanisch fortbewege wie ein künſtliches Räderwerk, nachdem es der Meifter bingeftellt, von dieſem fortan auch unabhängig ift. Allein dieſe bis zum Aeußerften getriebene Anerkennung der Naturgefeße können wir eben fo wenig für richtig halten, ald den Wunderglauben, dem fle entgegentritt. Denn fie verfiel, indem fie die Unzerftörbarfeit der Naturgefebe gegen den Wunderglauben retten wollte, in den entgegengefeisten Fehler: fie hob die Wirkſamkeit Gottes ganz auf, machte ihn zu einem todten Gotte, der, wie ein menfchlicher Künftler, nachdem er fein Werk voll» endet, müßig neben demfelben fteht. Damit ift aber der Begriff Gottes aufgehoben und fomit die unferer Vernunft angegebene Idee eines lebendig waltenden Gottes vernich- tet; es ift unferm Gemüthe, das ja in und mit der Welt lebt, jeder Troft im Aufblide zu ihm geraubt.

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Diefer Anficht haben alfo Die neueren Supranaturalis ften mit Recht fich entgegengeftellt, nır aber auf eine Weife, welche die Sache eher noch fchlimmer macht: fie fchlagen nämlich einen Mittelweg ein, mit welcdyem fie die Unmans delbarkeit Der Naturgefebe zugleich mit der Wahrheit der be blifchen Gefchichte gerettet zu haben glauben. Sie fagen: „Allerdings wirft Gott in ber Negel nur mittelbar, näms lich als Urheber, auf die Welt ein, und läßt fie nad) den Geſetzen von natürlichen Urfachen und Wirkungen ſich fort bewegen; allein zuweilen, wenn er befondere höhere

-3wede bat, greift er auch unmittelbar in fie ein, und

wirft aledann Wunder.“

Diefer Standpunkt jedoch vereinigt nur die Fehler ver beiden Seiten, zwifchen die er ſich ftellt. Nicht weniger, als Die altzorthodore Anficht, welche jenen Unterfchied nicht macht, und fic einfach an den Buchftaben der Schrift hält, ohne. ihn weiter erklären zu wollen, nicht weniger verleßt und durchlöchert dieſe modern zugefchnittene Gläubigfeit den Zus fammenhang der Naturgefege einerfeits, und befchränft Dabei andrerfeits, gleich den Aufklärern, die Wirkfamfeit Gottes, indem diefer Doch in den Hauptfachen außer der‘ Schöpfung geftellt wird. Dazu gefellt ſich aber auch noch ein neuer

Irrthum; daß nämlich, Gott hier als ein endliches Weſen

gedacht wird: denn wenn er eg für nöthig erachten muß, um ges wifler höherer Zwede willen den doc von ihm begründeten Gang der Natur zu unterbrechen, fo erfennt er damit fein eigen Werk als ein unvollfommenes an, defien Einrich-

tung nicht zu Erreichung aller feiner Zwecke hinreichend fei.

Er muß nacjhelfen, und hat ſich zu dem Ende noch eine bei der Schöpfung nicht in Anwendung gebrachte Kraft für vor fommende Fälle zurücbehalten.

Es find alfo mit diefer Anficht Die Schwierigfeiten nur vermehrt, und wir müſſen auf anderem Wege den Widerſpruch löfen, der fid) folgendermaßen herausftellt. „Der Begriff der Welt nöthige und durch Die Einheit. ihrer Naturgefebe zur Annahme einer nur mittelbaren Einwirkung Gottes auf fie,

49 nämlich nur inſofern er als Schöpfer dieſe Gefeßmäßigfeit feinem Werke eingehaucht; der Begriff Gottes als eines lebendis gen, ewig gleichmäßig wirkenden und fchaffenden läßt nur Die Annahme einer unmittelbaren, nie unterbrochenen, ftetigen Einwirkung auf die Welt zu.“ Alle Widerſprüche und Schwie, tigfeiten fchwinden, wenn wir und Beides, mittelbare md unmittelbare Einwirkung, ald auf das Innigſte und ſtets wit einander verbunden denken: Gott wirkt zu allen Zeiten mittelbar und unmittelbar auf die Welt ein; d. h. auf die Welt ald Ganzes wirkt Gott in jedem Momente unmits telbar, er lebt und webt in ihm; auf jedes Einzelne aber me mittelbar, d. h. durch Bermitteling der von ihm ges gründeten Raturgefeße. Die Welt, als ein Ganzes, ift ein einiges, ewi⸗ ges, unerklärbares Wunder Gottes ein ewig ſtrömender Ausfluß des Unendlichen; hier verſchwinden die Begriffe des Zeitlichen. Dieſes Wunder wäre ein mangels haftes, alfo nichtsgöttliches, wenn jein großer Zufammenhang geftört und unterbrochen würde durch ein befonderes Eins greifen Gottes, neben welchem ja alle andere Erfcheinungen ald ein unvollftändiges Einwirfen desſelben erfcheinen müßten. Durch Aunahme einzelner Wunderwird das ewige, einige Wunder Gottes Gott im Weltalle aufgehoben. '')

Bon diefem Standpunkte aus können wir alfo die Erzähl: lungen der Bibel, welche und Wunder berichten, nicht für wahre Gefchichte halten; denn wenn von Gott erzählt wird, er habe an und durch Mofes, Jeſus ıc. Wunder gewirkt, fo wären diefes feine unmittelbaren Einwirkungen Gottes auf Das Welt Ganze, fondern auf einzelne Theile desfelben, Die nach Obigem undenkbar, dem Begriffe Gottes nicht weniger, wie dem der Welt widerftrebend find. Wir dürfen diefelben

22, In dieſer Anſicht, allgemein gefaßt, ſtimmen viele Theologen zuſammen, die im Uebrigen verſchiedene Wege wandeln, z. B. Wegſcheider, de Wette, Schleiermacher, Marhein— ecke ꝛc.

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aber in der biblifchen &efchichte eben fo wenig als wirkliche Geſchichte gelten laſſen, wie in allen andern alten Sagens . denn jener Grundfag kann feine Ausnahme leiden, durch welche ja in den Begriff Gotted wiederum die Borftellung -siner Willkührlichkeit gelegt würde, durch die er abers mals zu einem endlichen Weſen herabfünfe. Unſer Staud⸗ punkt verträgt feine Vorausſetzungen: darin bewährt er die von ihm in Anfprudy genommene Borausfegungslofigkeit, daß er feinem Bolfe und keiner Zeit, alfo auch nicht dem jüdifchen Volke und der biblifchen Zeit irgend einen Vorzug zuerkennt; Denn worin wäre Diefer begründet? in der Ber» nunft doch wohl nicht; Diefe muß ihn vielmehr, wie wir ges fehen haben, ald Gottes unwürdig, verwerfen; aus den bibli⸗ fhen Büchern kann er gleichfalls nicht ald Vorausſetzung er⸗ wiefen werden, denn diefe müfjen wir erft vorher unbefangen und ohne Vorausfegung prüfen, ehe wir aus ihnen etwas über fie beweifen fünnen. Wir müffen das Letztere um fo mehr fejthalten, weil wir fonft für alle Wunder-Erzählungen, - auch benen heidnifcher und muhamedanifiher Völker, dieſelbe Borausfeßung müßten gelten laffen; denn auch ihre Religions⸗ bücher geben die wunderbaren Einwirkungen Gottes ald wahre

Geſchichte.

Drittes Kapitel.

Entſtehungsweiſe der hiſtoriſchen und der reinen Mythen,

Indem wir alfo auf die Behauptung wieder zurücgeführt - werden: auch die Bibel, alten und neuen Teftaments, enthält Mythen und Sagen, und fie in diefer Beziehung, aber auch nur in diefer Beziehung, Da es fich hier durchaus nicht um die Lehre und bie religiöfen VBorftellungen derfelben handelt, mit den Urkunden aller andern Religionen. gleich ftellen, müſſen wir und nun zu meiterer Begründung unferes Stand⸗ punktes die Frage beantworten: Wie künnen überhaupt in einer Religion Mythen entftehen?

So wie fi in einem Volke religiöfes Leben entwickelt, ahndet das Gemüth ded Menfchen in den Erfcheinungen der

Si

Einnenwelt den Ausdruck, die Dffenbarmmg eier höheren, unfichtbaren Kraft: es werben in den Gegenftäuben derfelben, in Sonne, Mond, Gebirgen, Thieren, höhere Mächte des Daſeins angefchaut und verehrt. Damit wird ihnen eine höhere Bedeutung beigelegt, und je mehr biefe von ihrer Wirklich⸗ keit verſchieden iR, deſto mehr entjtcht cine Welt ber bloßen Borftellung: es bildet ſich ein Kreis von Götterweſen, die menfchlich handeln und Ieben, aber in höherem Maße, und eben dadurch ſich als höhere, ald Götter⸗Weſen beurfunden. Kur auf ſolche Weiſe vermag ber religiöfe, aber noch nicht zum reinen Bewußtfein des Göttlichen herangebildete Menſch bas in der Borftellung feflzuhalten und ſich nahe gu brin⸗ gen, was er als reine Idee noch nicht zu faſſen vermag.

Aber auch auf der höheren Stufe des Glaubens, wo ſchon das Bewußtſein eined einigen Gottes beftimmt hervor- tritt, wird dennoch Gottes Lebendigkeit und Wirkſamkeit lange Zeit hindurch nur unter ber Form einer Reihe von Thaten betrachtet werben fünnen. Deun ber Gedanfe des Einen, un⸗ endlichen Gottes ift ein zu erhabener, als daß die noch nicht gereifte Bernunft-Entwidelung ihn anders, ale im Bilde er; faffen könnte; fein unfichtbares Wirken wird in ber Bor: ftellung zur fichtbaren That; fein allgegemmärtiges Sein zur wahrnehmbaren Erſcheinung; feine Lenkung der Menfchen und ihrer Schickſale zur ummittelbaren Einwirfung Co waltet auch hier noch anfangs, und überall noch lange, lange . Zeit, das unbewußte Beftreben vor, den an ſich Unerfaßlichen dadurch zu erfaffen, daß man ihn unvermerft in den Kreis des Endlichen hereinzieht, und fein unendliches Sein zu einer zeitlichen, in wunderbaren Einwirkungen fich geitaltenden Ge- fhichte unmvandelt.

Auf ſolche Weife entfiehen die Mythen von den burd Gott gewirkten IBundern, und erft auf Der Stufe, wo ber Menfc die Idee Gottes rein faflen und, wir möchten fagen, ohne Einfleidung ertragen kaun, wird die Eelbftoffenbarung Gottes in dem geſetzmäßigen Verlaufe der Natur und ber Geſchichte Far erkannt, und das Wunderbare nidyt mehr als wirk liche Gefchichte geglaubt, fonbern nur als Thatſache der menfchlichen, befchränften Borftellungs- Reife, als ein Pro-

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zeß der Vermirtelung zwifchen dem Göttlichen und dem zu feiner Anfchauung aufftrebenden Menfchlichen.

Wie aber konnten folche Sagen von Nichtgefchehenem er- funden werben ohne groben Betrug? wie Eonnten fie ge: glaubt werben ohne bie größte Leichtgläubigfeit? wie konnte, was doch von Einzelnen hervorgebracht worden und an einzel» . nen Orten entitand, Eigenthum Bieler und Inhalt des Glau⸗ bens einer ganzen Nation und Religionsgefellichaft werden? '

Diefe Fragen find von Gelehrten, weldye ſich mit Erfor⸗ fhung des griechiſchen Alterthums befchäftigen, bereits auf eine befriedigende Weife gelöst worden, namentlich von Ot⸗ fried Müller; was aber die Entitehung von Mythen bei den Griechen erflärtih macht, muß auch diefelde Wirkung bei den biblifchen thun, da wir, dem oben bezeichneten Stand⸗ punkte gemäß, feinen Unterjchied zwifchen beiden zugeben können, Wir gehen alfo zur Begründung unferes Verfahrens mit den evangelifchen Mythen ebenfalls von den Muller’fchen Anfichten aus, welche kurz in Folgenden enthalten find.

Man konnte fich zunächit darüber wundern, daß die Sa⸗ gen,"die doch fo viel Erdichtetes enthalten und Das Gefchehene fo vielfach ausfchmüden, allgemein für wahr gehalten worden find. Eine folhe Dichtung kann aber doc unmöglich von al den Vielen, welche an ihre Wahrheit glaubten, zugleich gemacht worden fein; wie -follten viele Köpfe in dem freien ‚Spiele der Dichtung fo übereinftimmen fönnen, und in einer einfachen Begebenheit ganz dasfelbe Wunder, das ja nicht wirklich gefchah, fondern nur dazugedacht wurde, erbliden ? Wenn aber mr Einer der Erfinder fein kann, wie fomnıt eg, dag ihm das Voll, dad doc auch um den wahren Hergang der Sache wiffen mußte, fo willig den Glauben ſchenkte? Iſt diefer Einer etwa ein fchlauer Betrüger geweſen, der durch allerlei Blendwerk das Volk zu täufchen wußte, fich mit andern Betrligern in Verbindung feßte und fo feiner Erfindung Eins gang verfchaffte? Dieß Fünnen wir unmöglich annehmen ; denn ſolche Schlauheit und fo Fünftliche Anftalten, um das Volk zu belügen, widerfprechen ganz dem edeln, einfachen Geifte .

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jener alten Zeit, wo bie griechifchen (und biblifchen) Sagen entitanden find. Ueberdieß wird aud) das feinfte Lügengewebe doch früher oder fpäter durchfchaut, und es wäre ein wahres“ Wunder, größer faft, als alle andere, wenn e8 Betrügern gelänge, dem religiüfen Glanben eines Volkes fo ausge: dehnte Erdichtungen unterzufchieben. Oder ſollen wir uns den Erfinder. ald einen außerordentlich reich begabten Geift denten, als ein erhabeneres Weſen, das von allen Uebrigen fo hoch verehrt wurde, Daß fie ihm Alles aufs Wort glaubten, auch wenn fie felbft den Hergang einer durch die Dichtung ansgefchmücten Thatfache beffer wiffen fonnten? Auch dich ft undenfbar. Es würde aber endlich mit jeber der beiden Annahmen, felbft wenn fie richtig wären, durchaus nicht-Allce erfläst, indem ja dabei Doch immer in der Mafle des Volkes ein Hang zum Glauben an das Wunderbare vorausgeſetzt würde; eine Borausfeßung, für welche wir ung immer noch nach einem Grunde umfehen müßten.

Wir werden alfo genöthigt, überhaupt den ganzen Begriff einer Erfindung, „als einer willführlichen und abfichtlichen Handlung“, bier ganz aufzugeben. Vielmehr müffen wir aner: fennen, daß bei der Entſtehung der Sagen eine gewiffe Noth⸗ wendigfeit waltete, die eben in dem ganzen Charafter der Zeit und des Bolfes lag. Das ganze Volk ficht auf eier Stufe der Bildung, nach welcher es fich Die Einwirkung dee Göttlichen auf den Menfchen als eine unmittelbare und wunder bare vorftellen muß; es liegt in feinem Glauben begründet, wenn es in der göttlichen Leitung der menfchlichen Schidfale alle auffallenden, erfolgreichen Creigniffe ald wunderbare betrachtet. Da, mo der gereifte Verftand und die geläuterte religiöfe Vorftellung einer fpätern Zeit eine, vielleicht auffallende, aber doch auf natürlihem Wege bewirkte, Thatfache er⸗ fennen, und ihren, vielleicht nicht gleich in die Augen fallenden Urfachen, nachforfchen würde, da fieht jene ältere Zeit unbedenklich ein Wunder und macht fi) den Hergang des⸗ felben in einer ausſchmückenden und orönenden Erzählung ans ſchaulich Chiftorifche Miythe, fiche oben S. 27). Eine Idee, weldye man in einer mehr denkenden, als frei Dichtenden, Zeit in Haren überzeugenden Sägen ausfprecdyen würde, Welver Kid

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wie von felbft in jener Zeit, Die mehr ſchaut als denkt, in eine Erzählung, eine Gefchichte ein, weil fie nur fo von ihr "gefaßt werben kann (reine Mythe, fiehe &. 26). Es liegt alfo ganz in dem allgemeinen Geiſte berfelben, Thatſache und Vorſtellung (Wirklichkeit und Idee) auf das Innigfte mit einander zu verfchmelzen und als Eins zu benten.

Von diefem Geſichtspunkte aus wird und die Entſtehung der Sagen und Mythen, fo wie der allgemeine Glauben an’ ihre Wahrheit, ohne Zwang erflärbar. Wenn nämlich Eimer bei Erzählung einer wunderbaren Gefchichte nur den Antrie⸗ ben folgt, welche auch die Gemüther der Uebrigen beherr⸗ fchen, wenn er in feiner Anſchauung berfelben ganz in dem Kreiſe der Ideen feiner Zeit fleht, fo it er nur „ver Mund, durch den Alle reden; der gewandte Dariteller, ber dem, was Alle ausfprechen möchten, zu erſt Geſtalt und Aus⸗— druck zu geben das Geſchick hat.“ Wie natürlich alſo, daß Alle ihm glauben, da er nur der Dollmetſch ihres eigenen- Glaubens iſt! Diejenigen aber, durqh welche die Mythen und Sagen entſtanden, verfuhren bei der in denſelben waltenden Verfchmelsung von Thatfachen und Borjtellimgen durchaus nicht willführlich, nicht mit Bewußtſein; vielmehr folgten fie in der Auffaſſung, wie in der Darftellung des Gefchehenen oder Gedachten, ganz und unbewußt den dunkeln Antrieben, die eben in dem Weſen der ganzen Zeitbildung lagen. Hätte bei ihnen eine gewiffe Abficht, anders, als fie die Sache fannten, erzählen zu wollen, obgewaltet, fo hätten fie fich eden als einzelne Perfonen ihrer Zeit gegenüber geftellt und dann nimmermehr den allgemeinen Glauben gefunden. Es haben alfo die Fragen: „find die Sagen von Einzelnen, von Vielen, vom ganzen Bolfe ausgegangen?“ für die Haupts ſache gar Feine Bedeutung, weil fie fich durchaus nicht ſcharf von einander trennen laflen: denn was der Einzelne thut, dag thun Alle, und was Alle, Einer ; weil Ale von Einem Beifte, Einem Zuge des Glaubens und Vorftelleng geleitet werben. Ueberdieß haben an vielen Sagen umvermerlt Mehrere, oft Biele, ges bildet, indem fie von Mund zu Munde gingen und, immer

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ſich fortentwidelnd, einer Lawine gleich anwuchſen, bie fie, fei es durch Dichter, fei es durch einfach erzählende Geſchicht⸗ ſchreiber, erft fpäter felte und bleibende Geftalt gewannen. In dieſer mündlichen, immer beweglichen, Ueberzeugung liegt auch der Grund, weßhalb die Mythen meilt fo wenig einfach find; denn nicht mit Einem Schlage find fie ente ftanden, und Dürfen daher mit dev Allegorie nicht verwechfelt werden, die, weil fie von Einem mit Abficht gedichtet ift, größere Einheit und Einfachheit haben muß. Freilich Fönnte man von dem Einen, der fie nun nicderfchrieb und offenbar anch mehr oder weniger bearbeitete, behaupten, Er wenigs ſtens habe mit Abficht und nach eigenthümlichen Anfichten Manches umgeftaltet. Allein diefe Veränderungen können nur von fehr untergeordneter Bedeutung gewefen fein; denn ſicher⸗ ih waren die Berfafler, 3. B. der Bücher Mofes oder ber Evangelien felbit, jo ganz befangen in dem Glauben und ber Borftellungsmeife, aus welcher die von ihnen niedergefch”iebenen Sagen hervorgegangen waren, daß fie, da fie diefelben als ausgemadhte heilige Wahrheit verehrten, höchftens nur ergänzend, ordnend und veranfchaulichend, aber ganz im Geifte und Sinne der Mythe felbft, verfahren konnten.

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Daß die fo eben entwickelte Anficht für fo Viele noch etwas Befonderes hat, daß, namentlich in Bezug auf das Reue Teftament, dieſelbe ald unzuläßig und den chriüftlichen Glauben verletzend erſcheint, hat vorzüglich darin feinen Grund, daß unfere Betrachtimgsweife der Welt, der Gefchichte und des Göttlichen eine ganz andere tft, als die jener Zeiten, wo die religiöfen Mythen entjtanden find und wo namentlich der. Einzelne, auch der Ausgezeichnetfte, bei weitem nod) nicht fo fehr von allen Andern ſich unterfcheidet, als in unfern Zeiten, wo eine weitaus höhere Bildung auch eine weitaus fhärfere Scheidung zwifchen den einzelnen, fo verſchieden⸗ artig gebildeten, Perfonen herbeiführt. Allein das gerade iſt eine der wichtigſten Aufgaben des Geſchichtsforſchers, ſich in den Geiſt der Zeiten zu verſetzen, und aus ihm das uns Fremdartige herauszufinden und in ſeinem Zuſammenhange zu

56 \ deuten. Soll aber ber Forfcher der evangelifhen Ges

fhichte, bie doch auch Geſchichte ift, anders verfahren, als

der Geſchichtsforſcher?

Wenn man alfo die Möglichkeit einer bewußtlofen Dice tung auch für das Leben Jeſu in Bezug auf ſolche Erzaͤhlun⸗ gen zugeben muß, weldye einen, durch die Sage nur vielfach ausgefchmücten , gefchichtlihen Kern enthalten (hiſtoriſche Mythe), fo feheint diefe Annahme fchwieriger bei denjeni⸗ gen, die durchaus nichts Gefchichtliches enthalten, alfo reine Mythen find. Denn, fo wird man fragen, wie fonnten bie, welche von Jeſu Gefchichten erdichteten, zu Denen gar feine wirfliche Thatfache veranlaßte, denen gar Fein wirkliches Er⸗ eigniß zu Grunde liegt, wie fonnten fie dieß thun, ohne zu wiffen, daß fie eben nur Erdichtetes erzählten? wie konnten ‚fie daran glauben? und wie ed Andern ale Thats fache mittheilen, ohne den Vorwurf der Unredlichfeit auf ſich zu laden? |

Hierauf bietet ſich als Antwort ein bei der Gefchichte Jeſu eintretender, ganz eigenthümlicher Umſtand dar, nämlich die zu feiner Zeit unter den Suden allgemein verbreitete Erwar⸗ tung des Meffias: ein Umftand, der von foldyer Wichtig- keit iſt, und die Entftehung fo vieler wunderbaren Züge in den evangelifchen Erzählungen fo erklaͤrlich macht, daß er befonders genau in's Auge gefaßt werden muß. Erſt hieraus wird es ganz begreiflich, Daß auch reine Mythen über Jeſus entitehen konnten.

Schon lange vor Sefus waren die Meffianifhen Er, wartungen im ifraelitiichen Volke erwachſen, und gerade das mals, als Jeſus auftrat, zu ihrer höchſten Reife gediehen. Ge größer und andauernder der Drud war, unter dem Das Volk fchmachtete, unter fremder, damals unter römifcher

Herrfchaft 2), defto felter wurde das Vertrauen, es werde ber

22) Wir erinnern, vielleicht zum Weberfluffe, daran, daß bie Juden damals, als Jeſus lebte, fchon feit etwa 700 Jahren, mit kurzen

= 897 Meſſias balb, bald erfcheinen, als ein Prophet Gottes, um fein anderwähltes Volk zu retten und zu altem Glanze zurüds zuführen. Denn nach dem feiten Glauben aller Juden war ber Meſſias fchon in den Alteiten Zeiten den Propheten und Ergwätern verheißen worben, und eine Menge von altteftas mentlichen Stellen wurden als foldye Verheißungen gedeutet; Demnach mußte er kommen, fo fchloß man, weil die Weiſſa⸗ gungen des alten Teftaments nicht trügen fünnen; er mußte ericheinen, ald die glänzende Vollendung des Bundes Gottes mit feinen Volle. Ganz allgemein wurde fchon die Stelle 5 Mojes 18, 15: „Einen Propheten will ich ihnen erwecken, aus der Mitte ihrer Brüder, der Dir (dem Mofes) ähnlich ſei; und mein Wort will ich in feinen Mund legen, und er wird zu ihnen reden Alles, was ich ihn heißen werde“ vom Meffias verftanden, wie deutlich aus einer Rede des Petrus im Tempel zu Serufalem (Apoſt. G. 3, 22) unb eines andern des Stephanus vor dem hohen Rathe (daſ. 7, 37) hervorgeht. Aus Diefer Deutung ergab fich aber auch, daß man, veranlaßt durch die Worte jener Stelle: „ver Dir ähm” lich fer“, von dem Meffias Ahnlicyhe wunderbare Thaten, wie Die des Moſes waren, erwartete, und fchon die alten Nabbinen ftellten den Grundfaß auf: „Gleich wie der erfte Prophet CMofes) war, fo muß aud) der lebte fein Cder Meſſias ).“ Ferner erwartete man, der Auslegung anderer altteftamentlichen Stellen gemäß, daß der Meffias den Thron Davids wieder aufrichten würde (ſiehe 3. B. die Anrede des Engels an bie Maria Luk. 1, 33, verglichen mit der altteftamentlichen Stelle 2. Eam. 7, 12. 13), daß er zu Betlehem, dem Stamm⸗ fite des David’fchen Hauſes geboren werde (ſ. Matth. 2, 5, vgl. mit Micha 5, Du. f. w.

Es bildete ficdy) nach diefen und vielen andern, ad Meſ⸗ fianifche Weiffagungen aufgefaßten, Stellen des alten Teftaments nicht nur im Allgemeinen die Erwartung bes

Unterbrechungen und einzelnen Ausnahmen, Unterthanen frems Der Herren waren, ber Aſſyrer, Babylonier, Perſer, Macedonier, Syrer und Römer, bie endlich mit Zerftörung ihrer Hauptſtadt ihre Zerftreuung in alle Welt herbeiführten.

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Meſſias, fondern auch eine ſehr bejtimmte Borftellung vor ihm aus. So und nicht ander mußte er auftreten: ale der größte aller Propheten, fchloß man weiter, muß er auch die herrlichiten Wunder verrichten, und in den Thaten und Schickſalen der alten Propheten erfannte man die Borbilber für die des Meffiad. Die Zeit feines Auftretens wurde übers haupt als eine Zeit ber Wunder und Zeichen betrachtet Sefaias 35,5. 42, 7 ꝛc.).

Sp wurde das Bild bes Meffias ſchon vor dem Erfcheis nen Jeſu immer mehr. in’s Einzelne gezeichnet. Es waren alfo viele Sagen über Jeſu ſchon vorhanden, noch ehe er aufgetreten war, nnd jo wie in feinen Süngern der Glaube Wurzel gefaßt hatte, daß Er der verheißene Meſſias fei, fo mußte ſich auf ihrem jüdischen Standpunkte in ihnen auch die Ueberzeugung befeftigen, daß Alles, was im neuen Teftamente von dem Meſſias geweilfagt worden, in ber Perfon ihres Meifters ſich erfüllt haben müffe. Wenn nun fchon fo früh« zeitig in der Lebensgefchichte Jeſu Lücen ſich vorfanden, Abfchnitte, über welche felbft feine vertrauten Sünger Nichte oder fehr Unbeftimmtes mußten, z. B. feine Geburt, Erziehung, Jugend ꝛc., fo war es höchſt natürlich, Daß jene Lücken durch die Anwendung der Mefjtanifchen Erwartungen und Sagen ausgefüllt und ihnen emtfprechende Mythen, mit voller Ueberzeugung von der Wahrheit derfelben, hinzu⸗ gedichtet worden.

Es ſind daher auch ſolche Züge in dem Leben Jeſu, denen nichts Geſchichtliches zu Grunde liegt, keineswegs abſichtliche, fondern in der That „bewußtlofe“ Dichtungen, die hervor⸗ gingen aus dem feften Glauben einestheils an die Wahrheit ‚der Meffianifchen Berfündigungen, und anderntheild an die Nothwendigfeit, daß Alles von Jeſu oder mit ihm ges fehehen fein müffe, was man von dem Meffiad erwartete; ſonſt wäre er ja, nad) ihren Borftellungen, der Erwartete nicht geweſen. |

Man könnte aber diefen Sal damit angreifen, daß man fragte: Wie konnte man aber, wenn Sefus diefen Erwar⸗ tungen meffianifcher Wunder nicht wirklich entfprach, ihn doch

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für den Meſſias halten, und erft fpäter biefe Wunder ihm anbichten? Allein es gibt allerdings in dem Leben Jeſu ſolche Züge, weldye, wie unten gezeigt wirb, fehr leicht ale Wunder betrachtet werden konnten; hierzu kommt der über mächtige Eindrud feiner Perfönlichkeit ımdb Rede, und ans Beiden erzeugte fich Die begeifterte Bewunderung feiner Süns ger, die, wem fie einmal den feiten Glauben an bie Meffianis nat Jeſu gewonnen hatten, nicht in allen Außern Stücken fo ängfilich und Falt den Maßſtab des in der Erwartung vorge bildeten Meſſias anlegen konnten. Ueberdieß wurde Sefus nur fehr allmählich in weiteren Kreifen als Meſſias anerfannt. Biele mußten alfo, wenn fie ihn nun dafür hielten, unbewußt in die ihnen befannte Lebenszeit besfelben ihre Vorſtellungen vom Meffias binübertragen. Schon während feines Lebens mag man fid) mancherlei Abentheuerliched von ihm erzählt haben: fo hielt ihm nach Marth. 14, 2 Herodes für den aufer⸗ ftandenen Johannes. Nachdem aber fpäter der Glauben ar feine Auferftehung allgemein geworben, fo lag in diefem eine reiche Quelle für die Annahme Meffianifcher- IBunder. Es mögen aber allerdings auch in den evangelifchen Be⸗ richten manche Erzählungen fich finden, welche wirflih abs ſichtliche Erdichtung find. Ganz ähnlich verhält es fich mit: der Gefchichte Daniels, die von dem Verfaſſer diefes Buches wohl nicht ohne Abficht in den erften Gapiteln der Gefchichte Sofephs fo ähnlich gemacht worden ift. 7) Allein wo eine fo unverfennbare vorherrfcht, überhaupt neuere Berhältniffe nach dem Borbilde des geheiligten Alterthumg zu geftalten, da ift folche Dichtung immer noch eine arglofe; um fo mehr, da im ganzen, auch dem heibnifchen Alterthume Poeſie und Proſa keineswegs fo ftreng gefchieden find, als bei und, und demnach Manches auch von einem profaifchen Schriftfteller ers zählt werden kann, wovon er felbft weiß, daß es fich nicht ganz fo zugetragen habe, ohne daß er die Abſicht zu täufchen hat, weil er für die Auffaffungsweife feiner Zeit fchreibt '*).

2, Man vergleiche 3. B. Das zweite Eapitel bed Propheten Daniel mit dem vierzigiten bes erſten Buchs Moſis. , Wir erinnern hier an die griechifchen und römiſchen Gejchichte

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Sind mm wirklich, wie wir zu zeigen ſuchten, fo viele Mythen über Jeſus hervorgegangen aus den ſtehend geworbes nen Meffianifchen Erwartungen, fo fällt auch, damit ein Ein⸗ wand weg, welchen man fo vielfältig gegen die Annahme von Mythifchen im Leben Jeſu gemacht hat, daß nämlidy bie Zeit von feinem Tode bis zur Zerftörung Serufaleme , innerhalb weicher die meilten evangeliichen Erzählungen ſich gebildet haben, zu kurz fei (etwas mehr als 30 Sahre), um die Ents ftehung fo vieler Mythen denkbar zu machen. Die Mythen lagen eben ald Meffianifche fchon vor, und es blieb ber Zeit von Jeſu Tode bis zur Abfaffung der Evangelien nur noch die Uebertragung derfelben auf Jeſum übrig und bie Anbequemung in chriftlichem Sinne an die befonderen Ber; haͤltniſſe Jeſu und feiner Umgebung.

* Aus allem Bisherigen 7°) ergibt fich nun der beſtimmte Sinn, in welchem wir den Ausdruck Mythe für gewiſſe Theile der evangeliſchen Geſchichte gebrauchen; zugleich die

ſchreiber (namentlich Livius), die mit der größten, Argloſigkeit ihren Erzählungen lange Neben einflehten, die fie nicht aus ihren Gefchichtäquellen geichöpft, ſondern im Geifte der Handelns ben Perfonen Hinzugebichtet Haben. Berner befigen wir Fa, bein von Aeſop, Lieder von Anakreon, Sprühe von Py⸗ thagoras, Sentenzen von Syrus, Hymnen von Orpheus, Trauerfpiele von Seneca 2c., welche nicht von ben genannten Maͤnnern herrühren, fondern von andern, die dieſe Fabein, Lie der 2c. in dem Geifte jener Männer erfanden und ihnen unbe deuklich deren Namen vorſehten; ohne Abficht unredlicher Täu⸗ ſchung, fondern nur darum, weil fie und ihre Zeitgenoflen bieß nicht anders verflanden, als wie fie es meinten, nämlich: Babeln, Lieder 2c. gebichtet, gefchrieben im Geifte und nach ber Weiſe Aeſops, Anakreons ꝛc.

15) Die mit Sternchen eingeſchloſſenen Sähe find wörtlich aus Strauß entichnt; ich gab fie darum wörtlich wieder, weil in denfelben gleichfam der Maßſtab niedergelegt ift, den er an bie evangelifche Geſchichte anlegt, und daher bie frengfte nnd ſelbſt buchſtäbliche Treue Hier unerläßtich fchien.

Abſtufungen des Mythiſchen, welchen wir in diefer Gefchichte begegnen werden. *

Evangelifhe Mythe ift eine folche auf Sefus fich bes ziehende Erzählung, welche nicht als wirkliche Thatfache zu bes trachten iſt, fondern als der Ausdrud der Vorftellung, die feine früheften Anhänger von ihm fich gebildet hatten, gleich⸗ fam ale der „Niederjchlag ihrer Ideen von ihm, als Meffias. * Solche Viythen find entweder

reine Mpthen, d. h. foldhe, welchen Feine beftimmten Thatfachen zu Grunde liegen, fondern nur Ideen, die ſich als Erzählung, Gefchicdhte verkörpert haben. Diefe fließen aus zwei verjchiedenen Quellen, die aber bei den meiften derr felben in verichiedenartiger Miſchung fidy vereinigen. Die „eine diefer Quellen ift die fchon vor und unabhängig von Jeſu unter dem jüdischen Bolfe vorhandene Meffias - Ers wartung nad) ihren einzelnen Zügen; die andere der eigenthümliche Eindruck, welchen Jeſus vermöge feiner Pers fönlichkeit, feines Wirkens und Schickſals hinterließ, und durch welchen er die Meſſiasidee feines Volkes theilmeife umgeſtal⸗ tete. * Aus der erften Quelle floß falt ganz die Verklaͤrungs, Gefchichte Matth. 17,1 ff.); aus der zweiten die Erzählung vom Zerreiffen des Vorhangs im Tempel (Matth. 27, 51),

Hiftorifhe Mythen find folche, deren Grundlagen be, ſtimmte einzelne Vorfälle find: „ihrer bemächtigte ſich aber die Begeiterung und umſchlang fie aus der Idee von Chriſtus heraus mit miythifchen Bildungen. * Die Thatfachen, welchen diefe Mythen ihre Entftehung verdanfen, find bald Reden Jeſu, wie die von den Menfchenftichern, dem unfruchtbaren Feigenbaume, „welche jett in WWundergefchichten verwandelt vor uns liegen * bald wirflihe Handlungen oder Bes gebenheiten aus feinem Leben, wie z. B. einzelnen „BBunder- gefchichten natürliche Begebenheiten zum Grunde liegen mögen, welche ſofort die Erzählung theils in eine übernatürliche Be⸗ leuchtung geftellt, theils mit wunderhaften Zügen ausgeſtat⸗ tet hat. *

Neben diefen eigentlichen Mythen, in denen immer eine dee ausgeprägt ift, werden wir aber auch noch

Sagen finden: fo nennen wir folche Erzählungen, „in

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welchen Unbeftimmtheit und Luͤckenhaftigkeit, Mißverſtand und ‚Umbeutung, wie fie beim Hindurchgange durch) längere mund⸗ Liche lleberlieferung einzutreten pflegen, fich bemerken kaflen, * wobei haufig eine ebenfalls durch bie mündliche Leberlieferung bewirkte Anfchaulichkeit und Ausmalung hinzufommt. Hier wältet alfo bei der Bildung der Erzählung nicht fowohl "eine beftimmte Idee, die Meſſias⸗Idee, ald der Zufall, welchem alle mündlicdyen Erzählungen mehr oder weniger Preis geges ben find.

Bon Beiden, ben Mythen und Sagen, it noch das zu unterfcheiden, was ald Zuthat des Schriftftellere er fcheint, dazu dienend, die Erzählımg zu veranfchaulichen, zu verknüpfen, zu fleigern ꝛc. |

Mit der Aufzählung verfchiedener Arten des Unge- fhichtlichen in den ewangelifchen Erzählungen ift dem Ge: fhichtlichen, welches fie Daneben noch in reihem Maße enthalten, Nichts vergeben. *

Viertes Kapitel.

Merkmale woran ſich die Mythen im neuen Zeſte- mente erkennen laſſen.

Es bleibt uns alſo, ehe wir zur Prüfung der einzelnen Erzählungen übergehen, nur noch übrig, die Merkmale feſtzu⸗ ftellen, an welchen fich die Mythe neben dem Geſchichtlichen als foldye erkennen laͤßt; durch welche fie von demſelben ſich unterfcheibet.

Diefe Merkmale find folgende zwei:

I. Mythe ift ein Bericht, wenn das Erzählte nicht fo gefchehen fein kann; Unmöglichkeit der Ge⸗ fhichte.)

1. Diythe ift ferner eine Erzählung, wenn ihre Inhalt, jo wie ihre Form, verräth, daß fie eine aus der Gei- ftesrichtung und der Ideenwelt der Zeit hervorgegans

63 gene Dichtung fein muß. (Nothwendigkeit ber Erdihtung ’‘)

I. Unmöglichkeit der Geſchichte. Diefe ift vorhanden: . 1. Wenn das Erzählte „mit ben befannten und fonft überall geltenden Gefeten bes Gefchehens unvereinbar iſt.“ Eines der wichtigften dieſer Gefeße ift, daß, nach ver nünftigen Begriffen und allen Erfahrungen zufolge, Gott nicht durch einzelte willführliche Akte in den firengen und noth⸗ wendigen Zufammenhang der Naturgefeße unmittelbar, und fomit ftörend, eingreift, fondern daß jcder Wirfung cine nach den Naturgefegen begreifbare, aus ihnen zu erfläs rende Urfache vorangehen muß. Wo alfo einem Bericht zus folge Etwas unmittelbar durch Gott felbft bewirkt fein foll, mit Umgehung der Raturgefeße, z. B. Stimmen vom Himmel, wunderbare Berklärungen ꝛc., oder wo erzählt wird, daß von einzelnen Menfchen in Folge der ihnen von Gott unmittelbar verliehenen übernatürlichen Kräfte Wunder verrichtet worden feiern da haben wir, wenigſtens in Betreff diefes Uebernatürlichen, feine gefchichtlihe Wahrheit, fondern - eine Diythe vor und. Da ferner „die Einmifhung von Weſen einer höhern Geifterwelt in die menfchliche ſich theils nur in unverbürgten Berichten findet, theild mit richtigen Ber griffen unvereinbar ut *, fo können auch die Erzählungen von Engels und Teufels = Erfcheinungen nicht als Gefchichte, fondern nur als Mythe genommen werden.

Ein weiteres Naturgefeß, das wir bei allem Gefchehenen beobachten können, ift Das der ftetigen Folge, welche darin beiteht, daß auch bei den fchnellften und gewaltfamften Ber: änderungen dennoch nirgends ein Sprung ftatt findet, fondern Alles „in eurer gewiffen Ordnung und Folge, in allmäh- lichem Wachsthum und Abnehmen vor ſich geht. * Wird ung aljo von einem großen Manne gefagt, er habe fehon bei feiner Geburt und in feiner Kindheit außerordentliches Aufjehen

) Die Ausdrücke: „Unmöglichkeit der Gefchichte“ und „Nothe wendigfeit der Erdihtung“ nehmen fich allerdings etwas fleif aus; allein fie find der Kürze wegen gewählt und werden wohl nicht mißverfianden werben.

64.

erregt; oder. feine Anhänger haben fchon bei dem erften Anblicke ihn ale Das anerkannt, was er.war; oder wird „ber Aufichwung von tieffter Niedergefchlagenheit zur höchſten Begeifterung als das Werk einer einzigen Stunde * bargeftellt, ſo fünnen wir auch hier feine reine Gefchichte vor uns

en. |

Enblich kommt hier auch die Gefebmäßigfeit des menſch⸗ lihen Geiſtes in Betracht, der fich gleichfalls, wenn auch mit größerer Freiheit, innerhalb . den Grenzen feiner eigens thümlihen Natur bewegt. Nach den Geſetzen derfelben if es unglaublich, daß „ein Menſch gegen alle menſchliche, oder doch gegen feine fonftige Art und Weiſe empfunden, gedacht und gehandelt haben follte*. Daher ift ed 3. B. uns denkbar, daß die jüdifchen Aelteften und SHohenpriefter der Ausfage der an. Jeſu Grab geftellten Wächter, daß er aufs eritanden fei, Glauben geſchenkt, und, ftatt ſie zu befchuls digen, fie werden wohl im Schlafe ſich feinen Leichnam haben ftehlen laffen, fie beftochen haben follen, um eben dies auszu prengen. Auch das gehört hieher, daß, nach allen Geſetzen des menfchlichen ErinnerungssDBermögend, es uns denkbar ijt, daß ein Zuhörer Neden, wie die von Sefu im Evangelium des Johannes, fo ganz wörtlich follte behals ten haben, wie fie geiprochen worden. Weil jedoch bei außers ordentlichen Menfchen oder. in ungewöhnlichen Aufregungen Manches weit rafcher und unermwarteter gefchehen kann, ald es gewöhnlich der, Fall zu fein pflegt, und weil die Menfchen ja oft charafterlos und gegen ihre fonftige Gewohnheit hans dein, fo werden die beiden letzteren Punkte ale Merkmale Des Ungejchichtlichen nur dann in Betracht fommen fünnen, wenn ſich außer ihnen noch andere finden. j

2. Auch dann kann ein Bericht nicht reine Gefchichte enthalten, wenn er mit fich felbft oder mit andern Be- richten in Widerfprudh fteht.

Am entſchiedenſten it der Widerfpruch, wenn Ein Bericht behauptet, was der Andere Täugnet; z. B. Ein Evans gelium erzählt, Sefus fei erſt nad) der Verhaftung Sohannes

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bes Taufers in Galiläa aufgetreten, ein Anderes aber, daß Sohannes noch nicht im Gefängniß geweſen fei, als Chriſtus fon längere Zeit in Galilda und Subäa gewirkt habe.

Wenn hingegen der Eine Bericht ftatt deffen, was ber Andere giebt, nur etwas Anderes hinftellt, ohne geradezu zu läugnen, was dieſer behauptet, ſo betrifft der Wider⸗ ſpruch entweder nur" äußere Beziehungen und Verhältniſſe, wenn Zeit, Drt, Zahl ꝛc. verfchieden angegeben wers den, wo aledann die Ausgleichung leichter möglich ift oder die Sache felbft. Im letzterer Hinficht erfcheinen bald Chas ractere oder Anfichten in zwei Erzählungen ganz verfchieden, wie 3. 3. wenn der Eine Evangelift erzählt, der Täufer habe Jeſum als den zum Leiden beftimmten Meffias erfannt und begrüßt, der Andere aber, er habe an deffen leidenden Ver⸗ halten Anftoß genommen; bald aber: wird ein und berfelbe . Vorfall auf mehrerlei Weife dargeftellt, wovon Doch nur Die Eine der Wirklichkeit gemäß fein kann; fo 3. B., wenn nad dem Einen Berichte Jeſus feine erften Tünger am Galiläiſchen See zu fid) berufen, nach dem Andern in Sudäa und auf dem Wege nad) Galiläa gewonnen haben fol. Hierher gehört auch, wenn Neden oder Begebenheiten als zweimal vorgefommen dargeftellt werden, die einander fo ähnlich fehen, daß wir in den verfchiedenen Berichten die Erzählung einer und der- felben Thatfache erblicken müffen, deren Wiederholung wir ung nicht denfen fünnen. Endlich ift als ein Widerfpruch auch der Umftand anzufehen, wenn der Eine etwas erzählt, wovon der Andere ſchweigt; jedoch hat dieß nur dann Gewicht, wenn fich beweifen läßt, daß der Schweigende die Sache, wenn fie vorgefallen wäre, hätte wiffen, und wenn er fie gewußt, hätte erzählen müffen.

I. Nothwendigkeit der Erdichtung. Diefe erfens nen wir in folgenden Fällen,

1) Wenn die Form eine dichterifche ift, wenn bie Handelnden Reden wechjeln, „die Tanger und begeifterter find, als fic von ihrem Character, ihrer Bildung und gegemmwärtis gen Lage erwarten läßt*, fo find wenigſtens dieſe Neden ald nicht gefchichtlich zu betrachten.

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2) Trifft der Inhalt einer Erzählımg auffallend zuſam⸗ men mit gewiffen Ideen und orftellungen, welche in bem Kreife, in welchem die Erzählung entftand, herrfchend fünb, und daher die Erwartung, daß etwas diefen Borjtellingen Ent: forechendes gefchehen müffe, hervorrufen, fo ift es mehr oder weniger wahrfcheinlich, daß jene Erzählung eine Wiythe ift, - weil die herrfchende Erwartung, es müffe etwas fo oder fo ſich zugetragen haben, gar leicht auch den Glauben und die Annahme erwedt, es fei wirklich fo gefchehen. Wir willen z. B., daß die Suden gar gerne große Männer zu Kindern von Müttern machten, die lange unfruchtbar gewefen: dieß muß und ſchon mißtranifch machen gegen die gefchichtliche Wahrheit der Angabe, daß dieß bei Johannes dem Täufer der Fall gewefen ſei. Zu diefen berrfchenden Vorftelluns gen gehören aber in vorzüglichem Grade Die oben näher ent- wickelten meffianifchen Erwartungen, nach welchen ein ganz beftimmtes Vorbild des Meffias in den Gemüthern bes Volkes Tebte. Finden wir alfo in den evangelifchen Berichten wunderhafte Züge, in welchen fich auf eine auffallende Weiſe diefe Erwartungen abfpiegeln, fo Tiegt die Vermuthung fehr nahe, daß Ddiefe Berichte eben aus dieſen in dem Glauben der Anhänger Jeſu fich gebildet haben. Dieß gilt 3. B. von der Geburt Sefu in Bethlehem, dem Stammorte des David’ ſchen Gefchlechtes, dem Gefchlechtsregifter feiner Mutter Maria, wodurd Jeſu Abftammung aus dem Kaufe Davids beurkun⸗ det werden foll, u. f. w.

Zu diefen, in I. und 11. entwidelten, mythifchen Be⸗ ftandtheilen fommt endlich noch das, was ſich ald Sage oder als Zuthat des Schriftftellers anfündigt; hierüber ift fchon in Obigem das Nöthige bemerft worden.

Dieß find, kurz zufammengefaßt, die Merkmale, durch welche eine evangelifche Erzählung fich als Mythe anfündig kann. |

Für die Anwendung aber muß zunächit noch folgender Grundſatz feftgehalten und wohl beachtet werben: findet fid) nur eines jener Merkmale an einem Berichte, fo ift es nur -

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möglich, höchſtens wahrfcheinlich, daß berfelbe eine Mythe enthalte; erſt dann, went fid, mehrere auffinden laſſen, iſt ein ſiche rer Schluß auf den ungefchichtlichen Character ber. Erzählung zuläffig. Daß z. B. die Huldigung der Weifen aus dem Wiorgenlande auffallend übereinftimmt mit der jüdifchen Borftellung von dem durch Bileam geweiffagten Meffias-Sterne, ift noch fein hinreichender Grund, die Erzählung für eine Mothe zu halten: allein es kommt dazu, daß fie den Naturs gefeßen widerfpricht, und daß fie mit dem Berichte eines ans dern Evangeliften ſich durchaus nicht in Uebereinftimmung bringen läßt.

Se größer alfo die Zahl jener Merkmale ift, Die bei einer einzigen Erzählung zufammentreffen, defto größer ift nas türlich auch die Mahrfcheinlichfeit, daß diefelbe eine Mythe fei.

Endlich erfordert die Gewiffenhaftigfeit in Anwendung der von uns aufgeftellten leitenden Grundfäge, daß wir noch über nachftehende, oft vorfommende, Fälle und zuvor in's Klare ſetzen.

1) Wenn zwei Berichte ſich entſchieden widerſprechen, hat man alsdann Beide, oder mir Einen derſelben für um gefchichtlich zu halten? In der Regel wird man fi, für das Letztere entjcheiden müſſen: denn fobald Ein Bericht als mythifch aufgegeben ift, fo hört der Widerfpruch auf, und es fteht, wenn nicht andere Gründe vorhanden find, dem Glaus ben an die gefchichtlihe Wahrheit des Andern nichts mehr im Wege. So kann man z. B. mit Lukas ohne Bedenken Nazareth als den Wohnort der Aeltern Jeſu annehmen, wenn man die Erzählung des Matthäus, der als folchen Bethlehem deutlich bezeichnet, als Mythe erfannt hat. Allein in vielen Källen diefer Art wird Doch der mythifche Charkfter der Einen Erzählung auch die Andere verdächtig machen; denn fo gut jene erdichtet ift, eben fo gut kann es ja auch bei diefer der Fall fein. Ueberhaupt aber ift eine Wiythe über irgend einen Abfchnitt in dem Leben Jeſu immer ein Beweis, „daß die Dichtung in Bezug auf benfelben thätig war*, und e8 werben daher auch andere Berichte über benfelben Ab- ſchnitt mit prüfendem Auge betrachtet werden müflen.

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2) Wenn einzelne Theile einer Erzählung fich ale my⸗ thifch herausftellen, hat man defhalb die ganze Erzählung als mythifch zu betrachten, oder Fünnen dabei die übrigen Theile berfelben Doch als gefchichtlich anerfannt werden? Es gibt allerdings Fälle, wo man, wenn man von einer Erzaͤh⸗ lung das Wunderbare als den mythiſchen Beftandtheil abgelöst hat, den noch übrigen Theil als gefchichtlichen Kern gelten laffen muß: nur daß es dann immer zweifelhaft bleibt, wie denn die Sache eigentlich zugegangen, da ja der wahre Her gang derfelben durch die Mythe in der Erzählung verwiſcht iſt. So fünnen wir bei manchen wunderbaren Kranfenheilungen durch Sefus auch Dam, wenn wir den Hergang berfelben, d. h. die Bewerfftelligung ‚derfelben durch ein Wunder, als Mythe erfannt haben, Doc) eine Heilung an fich als gefchichts liche Thatfache gelten laſſen; nur aber uns befcheiden, nict zu wiflen, wie es dabei zugegangen.

Wenn aber, nad Entfernung des Wunderbaren und Uns denfbaren, fi) für das noch übrig bleibende Natürliche wer der ein Grund noch eine Urfache denken läßt, mithin auch Diefes als ein Undenfbares erfcheint, fo müflen wir die ganze Erzählung für unhiſtoriſch und für religiöfe Dichtung erflären. Wollte 3. B. Semand behaupten, es fei zwar nur Mythe, daß ein Engel der Maria verfündet, fie werde ben Meſſias gebären, allein Maria habe dennoch ſchon vor ber. Geburt Jeſu diefe feſte Hoffnung gehabt, fo müffen wir

erwiedern, Daß Dieß ganz undenfbar fei denn wie follte fie zu einer folhen Erwartung gekommen fein? und dem- nach jedes Vorherwiſſen der Maria in Abrede ftellen.

Eben fo wird eine Erzählıng in allen ihren Theilen, nicht nur in den mythifchen, als gejchichtliche Thatfache nicht Betrachtet werden Fünnen, wenn das Ganze einer meffianifchen Borftellung der damaligen Suden auffallend ähnlich fieht, weil ° wir aledann zu der Annahme berechtigt find, daß dag Ganze a's Dichtung in dem oben entwicelten Sinne aus dieſen Vor⸗ ftellungen entitanden fei. Könnte man 53. B. auch annchmen, der Berflärungsgefchichte liege die Thatfache zu Grunde, daß zwei Männer im Glanze der Morgenröthe bei Sefus fich eins gefunden hätten, fo ift Doch auch dieß noch, abgefehen von

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dem übrigbleibenden Räthfelhaften in der Perfon und dem Benehmen der Männer, fehr unmahrfcheinlih, weil in ber Erzählung zu auffallend das Beſtreben fichtbar ift, Sefum, der ale Meſſias geiftig mit den alten Propheten Miofes und Elias fo genau verbunden gedacht wurde, auch in einen fürs perlichen, fichtbaren Zufammenhang zu bringen. Hier ift alſo der ganze Kern der Erzählung ein rein mythifcher; fie ift die Einfleidung einer meffianiichen Idee, ohne welche der ganze Vorfall, wollte man ihn auch als gefcyichtlich gelten laſſen, alle Bedeutung verliert.

Wo aber nur Einzelnes an der Form einer erzählten Bes gebenheit Merkmale des Ungefchichtlichen an ſich trägt, ber ganze Juhalt aber nicht, alfo nicht ale undenkbar, noch als unverfennbarer Abdrud einer jüdiichen Meffiasidee erfcheint, da kann immer ein gefchichtlicher Kern anerfannt werden.

Es geht aus dem Erörterten hervor, daß eine fcharfe Sränzlinie zwifchen Gefchichtlihem und Ungefchichtlichem bei den evangelischen Berichten fehr ſchwer zu ziehen ift; daß es ſelbſt unmöglich bleiben wird, überall nachzuweifen, was wirflidy gejchehen it, und was nicht. Am wenigften kann man dieß von der nachftehenden Unterfuchung verlangen, da fie al3 der erfte umf aſſende Berfuch zu betrachten iſt, die Evangelien einer firengen Prüfung und Sichtung zu unter; werfen und die miythifchen Beftandtheile in denfelben aufzu: fuchen. Wenn aljo bei vielen einzelnen Erzählungen das offene Befenntniß abgelegt werden muß, daß wir nicht wiffen, was wirklich gefchehen fer, fo it damit keineswegs gejagt, Daß überhaupt Nichts gefchehen fei, daß die ganze Erzählung “eine erdichtete fet.

Es beruht alfo nur auf einer irrthümlichen Anficht von der Sache, wenn man dem Berfahren des mythifchen Auslegers vorwirft, es bleibe bei demfelben gar nichts, oder doch nur fehr wenig Gefchichtlicyhes übrig. Dieß [cheint nur fo; denn wir fliehen mit diefer Unterfuchung erft am Anfange des ganzen Prozeffes, deflen erſtes Geſchäft es iſt, das Unge—⸗ ſchichtliche wegzuräumen, die blendenden Lichter zu entfernen,

Pr

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den Schein von dem Weſen zu trennen. Sein zweites de fhäft wird und muß fein, dieſes Weſentliche felbit und is feiner Neinheit barzuftellen, und dadurch eine, allerdings ew fachere, aber um fo mehr beglaubigte und in ſich ſelbſt m - fammenhängende Gefchichte zu gewinnen. Dieß kann aber mr durch unermüdeted Weiterforfchen und durch das vereinte der mühen Bieler gelingen. Es wird ſich auf unferem Gebiete eben fo verhalten, wie auf dem der NRaturmiffenfchaften: lange begnügte man ſich hier mit der myſtiſchen Vorſtellung, da die Natur durch den unmittelbaren Einfluß höherer, ſowohl guter als böfer, Geifter regiert werde, und daß derjenige, ber fidy ihres Beiftandes erfreue, als Zauberer über ihre Kräfte gebieten könne. Damit hatte man freilich eine befriedigend fcheinende Erklärung des in ftiller Verborgenheit waltenden Naturlebens und feiner äußeren Erfcheinungen; allein als die Wiſſenſchaft mit früher nie geahnter Kraft ſich erhob, da ftanden jene Vorftellungen, mit denen man Alles erflärt zu haben glaubte, in ihrer Nichtigkeit da. Nun fah man fich frei Ich, da man einen ganz neuen, noch nie betretenen Weg, ben der natürlichen Erflärungsweife der Naturerfcheinungen, eingefchlagen hatte, auf einmal genöthigt, zu .geftehen, daß man von vielen dieſer Erfcheinungen eine genügende Erflärung noch nicht geben könne. Die Wiffenfchaft aber, in dem Bes mußtfein, daß ihre Grundfäge und Vorausfegungen die einzig vernünftigen und notwendigen feien, in der barauf.ges bauten Ueberzeugung, daß endlich die Erflärung und Ergrün⸗ dung aller Erfcheinungen gelingen müffe verfolgte muthig und unermüdet ihre Bahn. Und wie viel ift ihr fchon jebt gelingen! Haben ſich die Naturwiffenfchaften nicht zu einer Höhe empor gefchwungen, von welcher felbft unfere nächiten Vorfahren noc, feine Ahnung hatten?

Die Anwendung diefes Vergleichs auf unfere Aufgabe ergibt ſich leicht. Sind wir nur erft von der in der Vernunft begründeten Richtigkeit des eingefchlagenen Verfahrens voll fommen überzeugt, haben wir erft uns vollftändig gerüftet und unfer Auge mehr gefchärft, uud graben wir in dieſem Glaus ben unverdroſſen in dem dunkeln Schachte der Berichte weiter, jo werden ſich und noch manche reiche Goldadern gebiegener

71 un) verbürgter Geſchichte aufthun, von denen freilich der

bier vorliegende erfte Anbau nur eine Vorftellung und bunfle Ahnung erweden kaun. 7)

Ueber dasjenige, was nad, den nunmehr beginnenden, in a8 Einzelne eingehenden, Unterfuchungen für ven Glauben 8 Chrijten übrig bleibt; über den unverwüftlichen Gehalt, ee fich Durch diefelben herausftellt, wird die Schlußabhande ıng Nechenfchaft geben. Wir glauben, darauf fchon hier uweiſen zu müffen, um jedem vorgreifenden Urtheile zu be⸗

guen.

m Es fei uns erlaubt, noch auf zwei ähnliche Erſcheinungen auf benachbarten wiitenfchaftlichen Gebieten aufmerkſam zu machen. Als der berühmte 5. U. Wolf den kühnen Verfuch machte, zu beweifen, bie Homeriſchen Gefänge feien nicht bad Werk Eines Dichters, und ats Niebuhr bie ältere Geſchichte Roms für eine fagenhafte erklärte, da erfchradten Biele ob bes tumultuari⸗ fchen, aller Gefchichte, wie fie vermeinten, Hohn fprechenden Berfahrens. Gegenwärtig aber wirb wohl kein Sachkundiger die Richtigkeit der Worffchen und Niebufr’fchen AUnfichten im Befentlichen, beflreiten wollen, und wenigſtens in Bezug anf die Homerifchen Gedichte haben fortgefehte Unterfuchungen zu Refuttaten geführt, die ung Hoffen laſſen, wir werben noch eine Geſchichte derſelben erhalten, beren Umfang und nachweisbare Sicherheit feibft ben großen, leider! fchon verftorbenen, Meifter überrafchen würde, wenn ihm vergbnnt wäre, bie Früchte feines genialen Unternehmeus zu jchanen.

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erregt; oder. feine Anhänger haben fchon bei dem eriten Anblide ihn ale Das anerkannt, was er.war; oder wird „der Auffchwung von tiefiter Niebergefchlagenheit zur höchſten Begeiiterung als das Werk einer einzigen Stunde * bargeftellt, fo können wir auch hier feine reine Gefchichte vor und haben. Ä |

Endlich kommt hier auch die Gefekmäßigfeit des menſch⸗ lihen Geiſtes in Betracht, der fich gleichfalls, wenn audi mit größerer Freiheit, innerhalb den Grenzen feiner eigen thümlichen Natur bewegt. Nach den Geſetzen bderfelben ik es unglaublich, daß „ein Menſch gegen alle menfchliche, oder doch gegen feine fonftige Art und Weife empfunden, gedacht und gehandelt haben follte*. Daher ift ed 3. B. un⸗ denkbar, daß die jüdifchen Aelteften und Hohenprieſter der Ausfage der an. Jeſu Grab geftellten Wächter, daß er aufs erftanden fei, Glauben gefchenft, und, ftatt ſie zu befchuls digen, fie werden wohl im Sclafe ſich feinen Leichnam haben fehlen laffen, fie beftochen haben follen, um eben dies auszu'prengen. Auch Das gehört hieher, daß, nad) allen Sefeten des menfchlihen ErinnerungssBermögend, es uns denkbar it, daß ein Zuhörer Neden, wie die von Sefu im Evangelium des Johannes, fo ganz wörtlich follte behals . ten haben, wie fie gefprochen worden. Weil jedoch bei außer ordentlichen Menfchen oder. in ungewöhnlichen Aufregungen Manches weit raſcher und unermwarteter gefchehen kann, ala es gewöhnlich der, Fall zu fein pflegt, und weil die Menfchen ja oft charafterlos und gegen ihre fonftige Gewohnheit hans deln, fo werden die beiden leßteren Punkte als Merkmale des Ungeichichtlichen nur dann in Betracht kommen können, wem ſich außer ihnen noch andere finden. "

2. Auch dann kann ein Bericht nicht reine Geſchichte enthalten, wenn er mit ſich felbft oder mit andern Be richten in Widerfprudy fteht.

Am entichiedenften it der Widerfpruch, wenn Ein Bericht behauptet, was der Andere läugnet; 5. B. Ein Evan gelium erzählt, Sefus fei erit nad) ber Verhaftung Sohannes

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es Taufers in Galilaͤa aufgetreten, ein Anberes aber, daß vhannes noch nicht im Gefängniß geweſen fei, als Ehriftus don längere Zeit in Galilaa und Judaäa gewirkt habe.

Wenn hingegen der Eine Bericht ftatt deffen, was ber Inbere giebt, nur etwas Anderes hinftellt, ohne geradezu s läugnen, was bDiefer behauptet, fo betrifft der Wider much entweder nur äußere Beziehungen und Berhältniffe, wenn Zeit, Drt, Zahl ꝛc. verfchieden angegeben wers en, wo alsdann die Ausgleichung leichter möglich ift oder ie Sache felbft. In letzterer Hinficht erfcheinen bald Cha⸗ actere oder Anfichten in zwei Erzählungen ganz verfchieden, ie z. 3. wenn der Eine Evangelift erzählt, der Täufer habe jefum als den zum Leiden beitimmten Meffias erfannt und egrüßt, der Andere aber, er habe an beffen leidenden Ver⸗ alten Anftoß genommen, bald aber: wird ein und berfelbe zorfall auf mehrerlei Weife dargeftellt, wovon doc, nur die Kine der Wirklichkeit gemäß fein kann; fo 3. B., wenn nad) em Einen Berichte Sefus feine erften Sünger am Galiläifchen 5ee zu ſich berufen, nad) dem Andern in Judäa und auf dem Bege nad) Galiläg gewonnen haben fol. Hierher gehört auch, yenn Reden oder Begebenheiten ald zweimal vorgefommen argeftellt werden, bie einander fo ähnlich fehen, daß wir a den verfchiedenen Berichten die Erzählung einer und ders . ben Thatfache erbliden müffen, deren Wiederholung wir ns nicht denken fünnen. Endlich ift ald ein Widerfpruch auch ‚er Umftand anzufehen, wenn der Eine etwas erzählt, wovon er Andere ſchweigt; jedoch hat dieß nur dann Gewicht, venn fich beweifen läßt, daß der Schweigende die Sache, venn fie vorgefallen wäre, hätte wiffen, und wenn er fie jewußt, hätte erzählen müflen.

II. Nothwendigfeit der Erdichtung. Diefe erfens nen wir in folgenden Fällen,

1) Wenn die Form eine bichterifche ift, wenn bie Handelnden Reben wechſeln, „die länger und begeifterter find, als fich von ihrem Character, ihrer Bildung und gegemvärtis gen Lage erwarten laͤßt*, fo find wenigſtens biefe Neden ald nicht gefchichtlich zu betrachten.

1. 5

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M Xeifft der Inhalt einer Erzählımg auffallend zuſam⸗ men mit gewiffen Ideen und Vorſtellungen, welche in dem Kreife, in welchem die Erzählung entftand, herrſchend ſind, und daher die Erwartung, Daß etwas diefen Borftellimgen Ent- forechendes gefchehen müſſe, hervorrufen, fo ift e8 mehr oder weniger wahrfcheinlich, daß jene Erzählung eine Mythe if, . - weil die herrfchende Erwartung, ed müffe etwas fo ober fo ' ſich zugetragen haben, gar leicht aud) den Glauben und die . Annahme erwedt, es fei wirklich fo gefchehen. Wir wiſſen z. B., daß die Juden gar gerne große Männer zu Kinden | von Müttern machten, die lange unfruchtbar gewefen: dieß muß und fchon mißtrauiſch machen gegen die gefchichtliche Wahrheit der Angabe, daß dieß bei Johannes dem Täufer der Fall gewefen fei. Zu diefen berrfchenden Vorftellun: gen gehören aber in vorzüglichem Grade die oben näher ent- widelten meffianifchen Erwartungen, nach welchen ein ganz beftimmtes Borbild des Meffias in den Gemüthern bes Bolfes Tebte. Finden wir alfo in den evangelifchen Berichten wunderhafte Züge, in welchen fich auf eine auffallende Weiſe diefe Erwartungen abfpiegeln, fo liegt die Vermuthung fehr nahe, daß dieſe Berichte eben aus diefen in dem Glauben der Anhänger Jeſu fich gebildet haben. Dieß gilt 3. 3. von der Geburt Sefu in Bethlehem, dem Stammorte des David’ ſchen Geſchlechtes, Dem Gefchlechtsregifter feiner Mutter Maria, wodurd Jeſu Abftammung aus dem Kaufe Davids beurfuns det werden foll, u. f. w.

Zu diefen, in I. und I. entwidelten, mythiſchen Be ftandtheilen kommt endlich nody das, was ſich ald Sage ober als Zuthat des Schriftitellers ankündigt; hierüber ift ſchon im Obigem das Nöthige bemerkt worden.

Died find, kurz zufammengefaßt, die Merkmale, durch welche eine evangelifche Erzählung ſich als Mythe anfündig kann. Für die Anwendung aber. muß zunächſt noch folgender Grundſatz feftgehalten und wohl beachtet werben: findet ſich nur eines jener Merkmale an einem Berichte, fo tft ed mr -

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möglich, hoͤchſtens wahrfcheinlich, daß derfelbe eine Mythe enthalte; erſt dann, wenn ſich mehrere auffinden Iaffen, iſt en fiherer Schluß auf den ungefchichtlichen Character ber. Erzählung zuläffig. Daß z. B. die Huldigung der Weifen aus dem Diorgenlande auffallend übereinftimmt mit der jübifchen Borftellung von dem durch Bileam geweiffagten Meffias-Sterne, it noch Fein hinreichender Grund, die Erzählung für eine Mothe zu halten: allein es kommt dazu, daß fie den Naturs geſetzen widerfpricht, und daß fie mit dem Berichte eines ans dern Evangeliften ſich durchaus nicht in Uebereinftimmung bringen läßt.

Se größer alfo die Zahl jener Merkmale ift, die bei einer einzigen Erzählung zufammentreffen, deito größer ift nas türlich auch Die Mahrfcheinlichkeit, daß Diefelbe eine Mythe fei.

Endlich erfordert die Gewiflenhaftigfeit in Anwendung ber von und aufgeitellten leitenden Grundfäge, daß wir noch über nachitehende, oft vorfommende, Fälle ung zuvor in’d Klare ſetzen.

1) Wenn zwei Berichte ſich entſchieden widerſprechen, bat man alsdann Beide, oder nur Einen derſelben für um geichichtlich zu halten? In der Regel wird man fidy für das Lebtere enticheiden müſſen: denn fobald Ein Bericht als mythifch aufgegeben ift, fo hört der Widerſpruch auf, und es fieht, wenn nicht andere Gründe vorhanden find, dem Glau⸗ ben an die gefchichtliche Wahrheit des Andern nichts mehr im Wege. So kann man 3. B. mit Lufas ohne Bedenken Kazareth ald den Wohnort der Aeltern Sefu annehmen, wenn man die Erzählung des Matthäus, der als foldyen Bethlehem deutlich bezeichnet, als Miythe erfannt hat. Allein in vielen Fällen diefer Art wird Doch der mythiſche Charukter der Einen Erzählung auch die Andere verdächtig machen; denn fo gut jene erdichtet ift, eben fo gut kann es ja audy bei diefer ber Fall fein. Ueberhaupt aber ift eine Miythe über irgend einen Abfchnitt in dem Leben Sefu immer ein Beweis, „daß die Dichtung in Bezug auf denfelben thätig war*, und es werben daher auch andere Berichte über benfelben Ab⸗ ſchnitt mit prüfendem Auge betrachtet werden müflen.

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ferner muß nad den Worten des Berichtes felbit als ein wirfliches Stunmfein, nicht als Wert des Borfaßes ange

- fehen werben; vergl. B. 20. 22. 64. Wie wunderbar aber ift ed nun, daß die Zungenlähmung gerade bei der Beſchnei⸗— dung des Knaben verfchwand (B. 64)! Man fagt, die Freude bewirfte dieß: aber dann hätte es weit cher bei der Geburt —im gefchehen müflen; der erite Anblid des erfehnten Sohnes wirkt —m

erfchütternder auf den Bater ein, ald ein, wenn auch noch fo

feierlicher Akt, der erſt nach achttägigem Beſitze des Neugebor—

nen vorgenommen wird. Daß endlich der alte Zacharias dure

bie in dem Tempel über ihn gefommene Extaſe neubelebt wor den, und fofort bei feinem Weibe mit befferem Erfolge fin

die Erfüllung des gemeinfchaftlichen Wunſches habe wirt

Tonnen, ift denn doch eine gar zu natürliche Erklärung!

Die ganze Deutung bewirkt in der That nicht mehr, al baß wir durch fie ftatt eined Gottes Wunderd ein Wunden des Zufalles erhalten, womit Nichts gewonnen ift; vielmehr verlieren wir dabei, nemlich den tieferen Gehalt gewiſſer religiöfer Vorftelungen. Wir werden und alfo darnadı ums fehen dürfen, ob nicht befriedigender die ganze Erzählung ale eine Mythe zu deuten fei, um fo mehr, ba feit dem Hergange felbft bis zur Ausbildung der Erzählung davon, wie wir fie hier vor uns haben, wenigftens 60 Sahre verflofien fein mußten.

Dieſe mythiſche Deutung iſt ſchon früher von mehrern Theologen verſucht worden; ſie erklärten die Erzählung für eine verherrlichende Dichtung, wollten aber als geſchichtlich dennoch feſthalten die lange Unfruchtbarkeit der Eliſabeth und das plötzliche Verſchwinden und Wiederkommen der Sprache bei Zacharias. Allein beides ohne allen Grund! Denn wird die Wirklichkeit der Engelerſcheinung aufgegeben, ſo fällt auch jede genügende Urſache für das plötzliche Verſtummen weg; ſie wird auch hier ein unerklaͤrtes Wunder des Zufalles; wozu in dieſe Verlegenheit ſich begeben, da der mythiſche Stand⸗ punkt, wenn man einmal zu demſelben im Allgemeinen ſich ge⸗ nöthigt ſieht, von dem Feſthalten an der Treue der Berichte im Einzelnen entbindet. Die lange Kinderloſigkeit aber iſt ſo im Geiſte der hebräifhen Sagen⸗Poeſie, daß bei dieſem

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Zuge: der mythifche Urfprung unverkennbar ift. Wir ers >liden alfo in ber ganzen Erzählıng eine Mythe, welche, a8 Johannes durch fein Leben und Ende fo große Bedeutung mewoniten hatte, entitand; wahrſcheinlich zu einer Zeit, wo es reoch reine Johannis⸗Jünger gab, welchen: diefe Mythe Reigen follte, daß Die eigentliche Beftimmung des Johannes gewefen, bie Erfcheinung Jeſu vorzubereiten (f. V. 17, 76 c.). Die Mythe ift überbieß faft in allen ihren heilen alt⸗teſta⸗ mentlichen Erzählungen nachgebilbet.

Borerit ift ed eine im alten Teitamente öfters wiederfeh- rende Borftellung, daß große Männer Söhne fchon betagter Aeltern feien, und baß ihre Geburt, als ein nicht mehr zu erwartendes Ereigniß, durch Engel verfündet worben; fo bei Sfaaf, Ismael, Samuel, Simfon. Den Grund gibt das Evangelium von der Geburt der Maria”) an: „auf daß er kannt werde, der Geborne fei nicht durch die Luft entftanden, fondern eine Gabe Gottes.“ Daher lag folgender ein- facher Schluß fehr nahe: Johannes war ein großer Prophet, alfo auch ein Spätgeborner.“ Die einzelnen Züge für Die Sage wurden aus verfchiedenen alt=teftamentlichen Erzählun⸗ den einzeln entlehnt; jedoch muß man fid) Dieß nicht fo denken, als ob man fie erſt einzeln zufammengelefen hätte; viel mehr war aus allen einzelnen, wie fie der inneren Anfchauung vorfchwebten, in den Gemüthern ſchon ein Geſammtbild entitanden, aus welchem Die geeignetiten von felbft fich dar⸗ boten, um zur Ausſchmũckung unſerer Erzählung verwendet zu werben. |

So finden wir für den Unglauben des Zachariag (B.18) das Borbild in dem des Abraham (1 Mof. 15, 8); für bie Engelerfcheinung, in der Verfündigung des Simfon Ride tee 13, 3— 9. 11 20); für das dem Knaben auferlegte Ge- bot der Enthaltfamkeit und feine Beftimmung zum Prophe⸗ ten, in dem fait wörtlich gleichen Befehl, den der Engel den Aeltern Simfons gibt (vergl. V. 15 und 80 mit Richter 13, 14.

2) Es gehört diefes zu den fogenannten apofrnphifchen Evangelien, worliber man die Anmerkungen am Ende biefer Schrift nachlefen wolle.

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den Schein von dem Weſen zu trennen. Sein zweites Ge⸗ ſchaͤft wird und muß fein, dieſes Weſentliche ſelbſt und im feiner Reinheit darzuſtellen, und dadurch eine, allerdings ein» fachere, aber um fo mehr beglaubigte und in fich felbft zus . fammenhängende Gefchichte zu gewinnen. Dieß kann aber nur durch unermüdetes Weiterforfchen und durch das vereinte Bes mühen Bieler gelingen. Es wird ſich auf unferem Gebiete eben fo verhalten, wie auf dem der Naturwiſſenſchaften: lange begnügte man fich bier mit der myftifchen Vorſtellung, daß die Natur durch den unmittelbaren Einfluß höherer, ſowohl - guter als böfer, Geifter regiert werde, und daß derjenige, ber fich ihres Beiſtandes erfreue, ald Zauberer über ihre Kräfte gebieten könne. Damit hatte man freilich eine befriedigend fcheinende Erklärung des in ſtiller Verborgenheit waltenden Nacturlebens ımd feiner äußeren Crfcheinungen; allein als die Wiffenfchaft mit früher nie geahnter Kraft fich erhob, da ftanden jene Vorftellungen, mit denen man Alles erklärt zu haben glaubte, in ihrer Nichtigkeit da. Nun fah man ſich frei- li, da man einen. ganz neuen, noch nie betretenen Weg, ben ber natürlichen Erklärungsweiſe der Naturerfcheinungen, . eingefchlagen hatte, auf einmal genöthigt, zu. geftehen, daß ‚man von vielen diefer Erfeheinungen eine genügende Erflärung noch nicht geben könne. Die Wiffenfchaft aber, in dem Be⸗ mwußtfein, daß ihre Grundfäße und Vorausſetzungen die einzig vernünftigen und nothmwendigen feien, in der barauf.ger bauten Ueberzeugung , daß endlich die Erflarung und Ergrüns bung aller Erfcheinungen gelingen müffe verfolgte muthig _ und unermüdet ihre Bahn. Und wie viel ift ihr fchon jebt gelungen! Haben ſich die Naturmwiffenfchaften nicht zu einer Höhe empor gefchwungen, von welcher felbft unfere nächiten Vorfahren noch Feine Ahnung hatten?

Die Anwendung diefes Vergleich! auf unfere Aufgabe ergibt fich leicht. Sind wir nur erft von der in der Vernunft begründeten Nichtigkeit des eingefchlagenen Verfahrens voll- fommen überzeugt, haben wir erft uns vollftändig gerüſtet und unfer Ange mehr gefchärft, uud graben wir in dieſem Glau⸗ ben umverdroffen in dent dunkeln Schachte der Berichte weiter, jo werden fic und noch manche reiche Goldadern gediegener

71 und verbürgter Geſchichte aufthun, won deinen freilich der

hier vorliegende erfte Anbau nur eine Vorftellung und dunfle Ahnung erweden fan. 77) _

Ueber dasjenige, was nach den nunmehr beginnenden, in das Einzelne eingehenden, Unterſuchungen für ben Glauben des Chriften übrig bleibt; über ben unverwüftlichen Gehalt, der fich Durch diefelben herausftellt, wird Die Schlußabhands lung Nechenjchaft geben. Wir glauben, darauf ſchon hier binweilen zu müffen, um jedem vorgreifenden Urtheile zu bes

gegen.

7) Es fei und erlaubt, noch auf zwei ähnliche Erfcheinungen auf benachbarten willenfchaftlichen Gebieten aufmerkfam zu machen. As der berühmte F. U. Wolf ben Fühnen Verſuch machte, zu beweifen, bie Homeriſchen Gefänge feien nicht bag Werk Eines Dichters, und als Niebuhr bie ältere Gefchichte Roms für eine fagenhafte erflärte, ba erfchradten Viele ob des tumultuaris fchen, aller Gefchichte, wie fie vermeinten, Hohn fprechenden Berfahrens. Gegenwärtig aber wird wohl Fein Sachkundiger die Nichtigkeit der Wolf'ſchen und Niebuhr'ſchen Anfichten im MWefentlichen, beflreiten wollen, und wentgftens in Bezug auf die Homerifchen Gedichte haben fortgefehte Unterfuchungen zu Reſultaten geführt, die und hoffen laffen, wir werden noch eine Gefchichte berfelden erhalten, deren Umfang und nachweisbare Sicherheit feibft Ben großen, leider! fehon verftorbenen, Meifter überrafchen würbe, wenn ihm vergönnt wäre, die Krüchte feines genialen Unternehmens zu fchanen.

Erſter Abfchnitt. Geburt und Kindheit Jeſu.

| Erfted Kapitel. Berkfündigung und Geburt Johannes, des Täufers. Auf. 1, 5— 25 und 57— 80.)

„Dem fronmen. jüdischen Priefter Zacharias, ber m vergeblicher Sehnfucht nach, Kindern gealtert ift, erfcheint eines Tages, während des Räudyerns im Tempel, der Engel Gas briel und verfündet ihm die Geburt eined Sohned. Da er beicheidene Zweifel gegen die Verkündigung Außert, macht ihn der Engel ftumm; erſt bei der Befchneidung des fpäter gebors nen Sohnes, der, wie der Engel befohlen hatte, den Namen Sohannes erhält, ehrt ihm die Sprache wieder, und er pros phezeit in begeifterter Rede, Daß fein Sohn der Vorläufer bes Herrn werde.“

Dieß der Inhalt der nur bei Lukas zu leſenden Gefchichte: fie bietet und offenbar eine Reihe wunderbarer Vorgänge, deren buchftäblicher Auffaffung, im Sinne der Orthodoxen, fich nicht wenige Schwierigfeiten entgegenftellen. Zunächft ers fcheint das Berfahren des Engeld, ber den Zacharias für einen fo befcheidenen und fo begründeten Zweifel (V. 18) fos gleich mit Stummheit ftraft CB. 20), eines Engeld unwürdig;

3, Wir geben bei jedem Kapitel die in demfelben behandelten Ab⸗ ſchnitte der Evangelien genau an, und erfuchen den Leſer, Dies feiben jedesmal vorher nachfehen zu wollen, da ed und dei Rau⸗ mes wegen nicht möglich ift, das in ihnen Enthaltene auss führlich zu referiren. Aus bemfelben Grunde werden auch faft alle Beweisftellen nur angezeigt, ohne ihren Inhalt genauer ans augeben. j

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it um fo undenfbarer, da Abraham bei einer ganz ähnlichen Prophezeiung eines Engeld es ungeftraft hingeht, daß er den⸗ feiben geradezu auslacht (1 Moſ. 17, 17); und ift nıcht auch Maria bei der Verkündigung ungläubig, ohne daß Gabriel es rügt (Luk. 1, 34) Daß aber dem Zacharias defhalb die Sprache entzogen worden fei, damit er nicht zu frühe Durch feine Reden auf ven Knaben Sohannes eine ihm Gefahr dros hende allgemeine Aufmerkfamkeit hinlenfe, üt nicht nur gegen den Wortlaut der Erzählung (V. 20), fondern wäre auch eine ganz verkehrte Gabrieliſche Maßregel gewefen. Denn als 3. die Sprache wieder erhielt, bezeichnete er geradezu den Kna⸗ ben als Borläufer des Herrn (V. 76 20.) und zwar fo begeis tert, daß die Gefchichte in der ganzen Gegend ruchbar wurde (3. 65).

Weiterhin muß fchon der Name bes Engels, hier wie anderwärts, Bedenken erregen. Zwar ift der Glauben an Engel im Allgemeinen ſchon den früheften altteftamentlichyen Büchern eigen, allein die Vorftelluing von einer Nangords nung bderfelben, einem fürmlichen Hofſtaate Gottes, in wels chem einzelne Engel vermöge ihrer höheren Würde befondere Namen führen (Tobias 12, 15 nennt deren fieben) wie Gas briel, Raphael ꝛc. findet fich erit in den Büchern, Die nadı dem Eril gefchrieben find; und alte Rabbinen bezeugen aus⸗ drücklich, daß jene Vorftellung aus Babylon ſtamme, ohne Zweifel alfo aus der Zend-Neligion der Perfer ꝛc. Cie kann alfo nicht ald eine geoffenbarte Vorſtellung betrachtet wers den, oder man müßte auch nichtzifraelitiichen Völkern ben Vorzug unmittelbar göttlicher Offenbarung einräumen; oder gar behaupten, eine auf gewöhnlichem Wege entitandene Mei- nung werde zu einer geoffenbarten, fobald das jüdiſche Volk ſich dieſelbe aneigne. Wir müffen alfo fchließen: der Engel Gabriel wenigſtens fann jener Engel nicht geweſen fein; der foll er ſich nur der damaligen Vorftellung, alfo auch der des Zacharias, Gabriel fei der vornehmften Engel einer, ans bequemt haben, um defto mehr Glauben zu finden? Dann hätte er fich geirrt: denn 3. glaubte ihm ja Doch nicht!

Aber Engels Erfcheinungen überhaupt beruhen, wie wir nach unferen Einfichten in Das Wefen der Natur annehmen

+.

74 ' müffen, auf irrigen Vorftellungen; fie find nur ale Dichtun gen der Einbildungsfraft zu betradıten. Denn Engel, wie wir

‚andy über das Dafein berfelben urtheilen mögen, find Weſen,

die einer überfinnlichen Welt angehören, können als foldye son und mit unfern Sinnens Werkzeugen nicht wahrgenoms men werden und demnach auch feinem Menfchen wirflih ers fheinen. Moher follte es ferner wohl kommen, daß fie in der alten Welt aud) bei unwichtigeren Beranlaffungen ſich eins finden, und in der neuen niemals, auch nicht bei den wichtigs ften und verwicdeltiten Umftanden ?

Auch für dad Dafein der Engel laſſen ſich keine erheb⸗ lichen Gründe anführen; denn ſollen ſie nöthig ſein, um eine Stufenleiter der geiſtigen Weſen zwiſchen Gott und den Men⸗ ſchen zu bilden, ſo müſſen wir einwenden, daß, wie vollkom⸗

mien wir uns auch den erhabenſten Engel denken mögen, immer

doch der Abſtand zwiſchen der endlichen Creatur und dem unendlichen Schöpfer unermeßlich bleiben muß. Sie als Diener Gottes nothwendig finden, würde den Allmächtigen, ben wir uns überdieß als ftetd und unmittelbar im Weltall wirkend denken müffen, zu einem endlichen, hülfsbebürftigen Weſen ers niedrigen. Will man aber der Engel Vermittlung in Erfcheis nungen ıc. fich geiftiger Denken, etwa ald vorübergehende Aus⸗ flüffe, gleichſam Lichtblike, des Göttlichen, fo zeritürt man damit gänzlicdy die biblifchen Vorftellungen, welche in jenen Erfcheinungen die Engel ſtets ald ganz leibhaftige pers ſönliche Wefen hinftellen. Es wird daher nichts übrig bleis ben, ald den Urfprung des Glaubens an Engel in dem Bes fireben Trüherer Zeiten zu finden, das dahin ging, ſich Die beiden ‘Seiten der menfchlichen Doppelnatur, dag Gute und Das Böfe, als getrennte perfünliche Weſen zu denfen, ale Engel und Teufel, und dadurch der Anfchauung näher zu bringen. Hiermit find wir zugleich genöthigt, Die dem Zacha⸗ rias zu Theil gewordene, wie jede andere, Engelerſcheinung nicht buchftäblich und als wirflihe Thatfache zu nehmen. Denn zu behaupten, wie gewifle Theologen es thun, ed ges

- hören folche Erfcheinungen zur Verherrlichung einer großen

Zeit, wo der Geift Gottes fo gewaltig in die Menfchenmwelt eingriff, ftreift Doch wohl an das Kindifche; als ob die Bers

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herrlichung nicht gerade in der Menſchwerdung Jeſu felbrt ſchon läge, und in der Herrlichkeit des geiftigen Lebens, das mit ihm und durch ihn in der Menfchheit offenbar wurbe!

Es fragt fih nun, wie follen wir uns denn unfere evan⸗ gelifche Erzählung erflären, da wir fie nicht für buchſtablich wahr halten können? |

Die natürliche Deutung, namentlich die des Dr. Paulus, bemüht ſich, zunächft die Engelerſcheinung als das Werk einer Ertafe des Zacharias im wachen Zuftande darzuftellen. „Er verrichte fein Opfer im NHeiligthume, indem er ganz und gar erfüllt fei mit dem fehnlichen, ſchon fo lange gehegten und immer unerfüllt gebliebenen, Wunſche, einen Sohn zu erhals ten; in der erhöhten Stimmung feines Gemüthes meint der Priefter, in dem aufiteigendeu Opferweihrauche, der Figuren bildet, eine himmliſche Geſtalt zu ſchauen; er glaubt darin eine Bürgfchaft für Erfüllung feines heißen Wunfches zu erblicken; da ſich aber doch Zweifel Dagegen regen, fo erſchrickt er über diefen Uinglauben fo fehr, daß ihm entweder wirklich Die Zunge durch einen Schlagfluß gelähmt wird, oder er fich felbft dazu verurtheilt, eine Seitlang zur Strafe ſich bes Redens zu ents halten.“ Allein wird nicht hier, indem man alle Wunder ent- fernen will, dennoch etwas Wunderbares vorausgeſetzt? Daß nemlid 3. in einen fo ganz ungewöhnlichen Zufland ver⸗ fett wird, der ſich bei unendlich wenigen Menfchen vorfinden wird, daß gar ber alte Priefter Durch das ihm zur Ge⸗ wohnheit gewordene Räuchern an gewohntem Orte in Diefe Ertafe verfeßt worden, iſt Doch in der That mehr, als ein halbes Wunder. Iſt es ferner denfbar, daß die Weiffaguns gen, die er fich felbft machte und recht eigentlich and Dampf nnd Rauch herausdeutete, fo buchftäblich eintrafen? ja, ift es vereinbar mit der geiftigen Freiheit des Menfchen, daß die ganze fittliche Richtung des Menfchen und die Verdienſte, die er fich durch freie Selbſtbeſtimmung erwerben muß, fo buch⸗ ftäblich genau vorherbeftimmt werden können, wie ‚der Gang eined- Uhrwerf8? CB. 14— 17.) Dieß gefchieht aber, wenn dem noch nicht erzeugten Kinde fchon zuvor durch eine MWeiffagung, woher fie aud) fomme, feine Stelle in der Stu⸗ fenleiter fittlicher Veen angewiefen wird. Das Beriinmmen

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ferner muß nach den Worten bed Berichtes felbit als ein wirkliches Stummfein, nicht als Werk des Vorſatzes anges - fehen werden; vergl. V. 20. 22. 64. Wie wunderbar aber ift es nun, baß die Zungenlähmung gerade bei ber Beſchnei⸗ bung des Knaben verſchwand (B. 64)! Man fagt, die Freude bewirkte dieß: aber dann hätte es weit eher bei der Geburt gefchehen müſſen; der erite Anblic des erfehnten Sohnes wirft erfchütternder auf den Vater ein, ald ein, wenn auch nody fo feierlicher Alt, der erft nach achttägigem Befite des Neugebor⸗ nen vorgenommen wird. Daß endlich der alte Zacharias durch die in bem Tempel über ihn gefommene Extafe neubelebt wor⸗ den, und fofort bei feinem Weibe mit beijerem Erfolge für die Erfüllung des gemeinfchaftlichen Wunſches habe wirken können, ift denn Doch eine gar zu natürliche Erklärung!

Die ganze Deutung bewirkt in der That nicht mehr, ale ‚daß wir durch fie ftatt eined Gottes⸗Wunders ein Wunder bes Zufalles erhalten, womit Nichts gewonnen iſt; vielmehr verlieren wir Dabei, nemlich den tieferen Gehalt gewiſſer religiöfer Vorſtellungen. Wir werden uns aljo darnach ums fehen dürfen, ob nicht befriedigender die ganze Erzählung ale eine Mythe zu deuten fei, um fo mehr, da feit dem Hergange felbft bis zur Ausbildung der Erzählung davon, wie wir .fte hier vor uns haben, wenigftens 60 Ssahre verfloffen fein mußten.

Diefe mythiſche Deutung ift fchon früher von mehrern Theologen verfucht worden; fie erklärten die Erzählung für eine verherrlichende Dichtung, wollten aber als gefchichtlich dennoch fefthalten die lange Unfruchtbarfeit der Elifabeth und das yplößlicye Verfchwinden und Wiederfommen der Sprache bei Zacharias. Allein beides ohne allen Grand! Denn wirb die Wirklichkeit der Engelerfcheinung aufgegeben, fo füllt auch jede genügende Urfache für das plötzliche Verftummen weg; fie wird auch bier ein umerflärtes Wunder des Zufalles; wozu in diefe Verlegenheit fich begeben, da der mythiſche Stand⸗ punkt, wenn man einmal zu demfelben im Allgemeinen fich ge⸗ nöthigt fieht, von dem Fefthalten an der Treue der Berichte im Einzelnen entbindet. Die lange Kinderlofigfeit aber ift fo im Geifte der hebräifhen Sagen-Poefie, daß bei dieſem

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Zuge: der mythifche Urfprung umvertennbar if. Wir er⸗ blicken alfo. in der ganzen Erzählıng eine Mythe, weiche, als Johannes durch fein Leben und Ende fo große Bedeutung gewonnen hatte, entſtand; wahrſcheinlich zu einer Zeit, wo es noch reine Johannis⸗Jünger gab, welchen diefe Mythe zeigen follte, Daß Die eigentliche Beftimmung des Sohannes gewefen, die Erjcheinung Sefu vorzubereiten (ſ. V. 17, 76 2). - Die Mythe ift überdieß faft in allen ihren Theilen al tsteftas mentlichen Erzählungen nachgebildet.

Borerjt ift es eine im alten Teſtamente öfters wiederfeh- rende Borftellung, Daß große Männer Söhne fchon betagter Aeltern feien, und daß ihre Geburt, als ein nicht mehr zu erwartended Ereigniß, durch Engel verfündet worden; fo bei Ifaaf, Ismael, Eamuel, Simfon. Den Grund gibt das Evangelium von der Geburt der Maria”) an: „auf daß ers fannt werde, der Geborne fei nicht Durch die Luft entitanden, fondern eine Gabe Gottes.“ Daher lag folgender ein- facher Schluß fehr nahe: Sohannes war ein großer Prophet, alfo auch ein Spätgeborner.“ Die einzelnen Züge für die Sage wurden aus verfchiedenen alt=teftamentlichen Erzählun⸗ gen einzeln entlehnt; jedoch muß man fich dieß nicht fo denken, als ob man fie erft einzeln zufanmmengelefen hätte; viels mehr war aus allen einzelnen, wie fie der inneren Anfchauung vorfchwebten, in den Gemüthern fehon ein Geſammtbild entitanden, aus welchem die geeignetften von felbft fich dar⸗ boten, um zur Ausſchmückung unferer Erzählung verwendet zu werden.

So finden wir für den Unglauben des Zacharias (V. 18) das Vorbild in dem des Abraham (1 Mof. 15, 8); für Die Engelerfheinung, in der Berfündigung des Simfon GRich⸗ ter 13, 3— 9. 11 10); für das dem Kuaben auferlegte Ge⸗ bot der Enthaltfanfeit und feine Beftimmung zum Prophe⸗ ten, in dem fait wörtlich gleichen Befehl, den der Engel den Aeltern Simſons gibt (vergl. V. 15 und 80 mit Richter 13, 14.

2) Es gehört Diefes zu den fogenannten apofrnphifchen Evangelien, worüber man die Annterfungen am Ende biefer Schrift nachlefen wolle.

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5, 24 16.); für die begeifterte Rede des Zacharias CB. 68:1.) in einer ähnlichen, mit welcher Samueld Wutter dieſen dem Hohenpriefter übergibt C1 Sam. 2, 1). Und fo für andere Züge andere Vorbilder in alt=tejtamentlichen Erzählungen!

Als gefhichtlich können wir an dem Berichte nur Das gelten laffen, daß Johannes unter König Herodes geboren worden, und durch feine fpätere Wirkfamfeit fo große Beden⸗ tung gewonnen hat, daß die chriftliche Sage ſich zur Verherr⸗ lichung feiner Geburt getrieben fand.

Zweites Kapitel. Jeſu Abftammung von David, nach zwei Geſchlechts⸗ regiftern.

(Matth. 1, 1— 17. und Luk. 3, 23— 38)

Seder der beiden Evangeliften, welche die. Sugendgefchichte Sefu behandeln, Matthäus und Lufas, fügt ein Gefchlechtes vegüter bei, um die Davidiſche Abkunft defjelben zu beweifen.

Betrachten wir zuvörderſt jedes berfelben für ſich allein, ohne Rückſicht auf Das andere, fo bietet das des Matthäus einige Schwierigfeiten dar. Er rechnet B. 17 die Gefdjlechter zufammen, und zählt 14 von Abraham bie David, 14 von diefem bis zur babylonifchen Gefangenfchaft, 14 von da bie auf Chriſtum: nun finden fich aber in leßterem Abfchnitte nur 13. Indeß Tapt ſich dieſer Widerſpruch dadurch befeitigen, daß man annimmt, er habe den Jechonia (V. 11 und 12), obgleich er noch vor der Gefangenfchaft genannt ift, body ſchon in Die mit ihr beginnende Ickte der drei Abtheilungen gerecdjnet, und dafür den David Doppelt, nemlich auch ale. Anfang des zweiten gezählt, wiewohl er nur am Ende ber eriten genannt iſt; dann find dreimal 14 da.

In wirklichem Widerfpruche aber findet ſich Matthäus mit den Angaben des alten Teftamentes: dieſes gibt und. nemlich, in mehrere Stellen vertheilt, eine vollftändige Ger f&hlechtstafel des Davidiichen Haufes bis auf die Söhne Se⸗ rubabel’8 (®. 12. 13) herab; von diefen an beginnt daflelbe in Dunkelheit fich zu verlieren. Am wichtigften ift hier Die

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Abweichung, daß Matthäus B. 8 den Dfia zum Sohne dee Joram macht, da er Doch nach 1. Chronik 3, 11. 12. deſſen Urenfel ift: es fehlen alfo bei Matthäus drei Glieder, und war bie Könige Ahasja, Goa und Amazia. Diefer Wider⸗ ſpruch läßt fich weder durch Die unerlaubte Ueberſetzung bes griechifchen Wortes in unferm Verſe, das nur „erzeugte heißen fann, entfernen, noch auch als bloße Nachläßigkeit er⸗ Hären, da jene Weglaffung zu auffallend das Beftreben bes Matthäus, drei ganz gleiche Abfchnitte des Stammbaumeg zu erhalten, begünftigt. Diefe Gleichheit fürchte er aber nicht zur Ers feishterung des Behaltens, fondern offenbar nach jüdischen Borftellungen, denen gemäß außerordentliche Heimſuchungen des Herrn nad ganz gleichen Zwifchenräumen eintretend gedacht wurden, wie ſich aus Schriften des alten Teftamentes, der Nabbinen und anderer jübifcher Schriftiteller beweifen läßt. Diefe Willführlichkeit aber, nach Bedürfniß anders zu zählen, um lebereinftimmung der Zahlen zu erhalten, Tann fein Vertrauen zu ber Gejchlesjts- Ableitung im Ganzen ein- flößen.

Sm Stammbaum des Lukas, für fich betrachtet, findet

fidy Fein erheblicher Anftand, vielleicht nur darum, weil er weniger Vergleich nit dem alten Zeftamente zulaßt, indem er von David abwärts fat nur durch unbekannte Gefchlechter herabläuft, von deren Gliedern das alte Teftament feine Nach⸗ richten enthält.

Vergleichen wir aber nun beide Gefchlechtstafen mit einander, fo finden wir unbefiegbare Schwierigfeiten für jeden Verſuch, fie in Uebereinftimmung zu bringen. Die große Berfchiedenheit, daß Lukas zwifchen David und Jeſus einund⸗ vierzig Gefchlechter zählt, Matthäus aber nur fechsundzwanzig, fommt nicht einmal in Anfchlag, da wir offenbar zwei gan; verfchiedene Stammbaume hier vor ung haben; denn von Abraham bis David zwar find fie gleich; von da an weichen. fie aber, mit Ausnahme der beiden Namen Salathiel und Serubabel Matth. 1, 12 und Luf. 3, 27) gänzlich von ein- ander ab. Nach Matthäus ift Salomon, nad) Lukas Nathan, der Sohn Davids, von dem Sofeph abitammt, und nad) dem Erfteren heißt deffen Vater Jakob, nach dem Letzteren Eli.

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Alfo von David an zwei ganz andere Zweige bes Davidiſchen Haufes! Jene Liebereinftimmung in zwei Namen, troß ber fonftigen Verſchiedenheit, macht die Sache noch bedenk⸗ licher.

Dieſen Knoten ſuchte man auf mancherlei Weiſe zu löſen, auch nach Umftänden zu zerhauen. Schon ältere Schriftſteller fuchten fich mit der Annahme einer Adoption zu helfen, wo denn ein Evangelift den natürlichen, der andere den Adoptiv⸗ Bater des Sofeph fefthalte, um feine Davidifche Abkunft zw erweifen; allein wie unmwahrjcheinlich it dieß, da feiner von beiden dieß auf irgend eine Weife bemerkbar macht Cogl: Matth. 16 mit Luk. 23)5 da die Stammbäume in Sernbabel und Salathiel zufammentreffen und dann wieder weit auds einander gehen; bier müßte abermals adoptirt worden fein! Noch unhaltbarer ift die Erklärung durch eine Leviratsehe ber Mutter Joſephs; Denn bier fommt neben den genannten noch die neue Schwierigfeit hinzu, daß ja ihre zwei Männer, Ci und Jakob, dann Brüder gewvefen feien, und folglich beide Stammbäume doc fogleic, in Einen zufammlaufen nrüßten: Man flidt aud) bier, und zwar mit der ganz unmahrfcheinlis chen Ausflucht, Eli und Jakob feien nur Halbbrüder von vers fhiedenen Bätern geweſen, und wiederholt das glsiche Ers periment bei Salathiel (ſ. oben). Da diefe Operationen doch in der That zu halsbrechend oder tafchenfpielerifch erjcheinen mußten, fo entichloffen ſich Neuere lieber dazu, anzunehmen, wir haben in Einem Stammbaum den des Sofephs, in dem Andern den der Maria vor und. Auch diefe Anshülfe können wir nicht gelten laffen.

Zwar machte fich fchon frühe die Anficht geltend, auch Maria müffe aus dem Haufe Davids abſtammen; allein einen Davidifhen Stammbanm als den ihrigen zu betrachten, ift ohne gemaltthätige Auslegung nicht möglich. Die Worte bes

eo Evangeliften lauten zu beftimmt; Matthäus: „Jakob zengte den Sofeph“ 20.5 Lufas: Sefus war, wie man annahm, Sohn des Joſeph, des (Sohnes) des Eli“ *) ıc. Nun könnte

*) Es iſt ein ganz gewöhnlicher griechifcher Sprachgebrauch, bei Angabe des Baterd nach dem Artikel dad Wort Sohn auszu⸗

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man vielleicht nad) „bes“ bei Lukas auch ergänzen: „Schwie⸗ gerfohues * ; allein wie ift bieß zufäffig, da in den 34 obern Sliebern, die wir alle aus dem alten Teftamente fennen, zu „des“ jedesmal „Sohnes“ hinzugedacht werden muß: fo wweideutig fchreibt Fein vernünftiger Schriftiteller! Ferner legen and) hier Salathiel und Serubabel ein fehr bedenkliches Beto ein; und überdieß fcheinen gerade bei Lukas mehrere Stellen gegen die Davidifche Herkunft der Maria zu {pres chen, am meilten 2, 4, wo es heißt: „er (der Joſeph) ging nach Bethlehem, um fid) mit Maria einfchreiben zu Taffen, weil er aus dem Haufe Davids war.“ Wie nahe hätte es hier gelegen, „fie beide“ zu fagen!

Dieſer verwidelten Schwierigkeiten wegen haben ſich fchon viele Theologen entfchließen müflen, den unauflösbaren Widers ſpruch einzugeftehen; in der That find beide Stammtafeln gleich verbächtig,. die des Matthäus aus angegebenen Gründen, bie des Lufas, weil es fehr unmwahrfcheinlich ift, Daß des minder bedeutenden Nathan (V. 31) Stammbaum fich erhalten haben follte; dazu kommen die Zerrüttungen des Erils, in welchem die Familien fo fchr auseinander geriffen wurden, und die Duns felheit des armen Sofeph.

Muß man. in beiden alfo mehr oder weniger freie Bildun⸗ gen erfennen, fo könnte man Doch immer noch die Davidifche Abkunft Jeſu gelten laffen, Allein dafür bleibt, fobald Die Sefchlechtsregifter nicht als Acht zu retten find, Fein Beweis übrig, als bie Reife nach Bethlehem, die aber feineswegs feft fieht. Daß Sefus oft fchlechthin „Eohn Davids“ genannt wird, beweist nur, daß er frühzeitig für den Meffias gehalten wurbe, ber ja von David abftammen mußte (ſ. Einleitung) . und aus demfelben Glauben mochte fpäter das Beftreben entftehen, dieſe Abkunft durch einen förmlichen Stammbaum zu beurkunden. Wir können alſo als gefhichtlich Nichte weiter feithalten, ald daß chen diefer Glauben an die Meffias

laſſen; z. B. flatt: „Joſeph, der Sohn des Eli“ zu fagen: „Joſeph, des Eli“. Das aber in gleicher Weife auch andere eine Berwandtfchaft bezeichnenden Worte ausgelaiten würden, läßt fich nicht erweijen.

I. k

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diejenigen, welche annehmen, Maria habe bie ganze Sache vergeffen gehabt! Iſt man aber zu dem Geftäubniß ges zwungen, Sofeph habe, troß der Mittheilungen ber Maria, fie verlaffen wollen (Matth. 19), fo fällt dadurch nun auf feinen Character ein übles Licht; zum minbeften erſcheint er dann als -ungläubig.

Es dringt ſich uns alfo Die Enticheidung auf, nicht beide | Engelerſcheinungen koönnen wirflih Thatfache fein, ſondern höchftens nur Eine. Allein in Beiden haben wir Engel erfcheinungen, die wir nad) dem, im erſten Kapitel, Entwidels ten für mythifch halten müſſen. Abgejehen noch von Dem, fogleich näher zu betrachtenden, Inhalte der Engelbotichaft, nämlich von der übernatürlichen Erzeugung felbit, müflen wir daher beide Erzählungen für reine Mythen halten, jeden Berfuch, Einzelnes zu deuten, aufgebend. Wir den⸗ fen ung aber die Entſtehung derfelben fo: die geglaubte Thatfache, daß Iefus durch göttliche Kraft in Maria ers zeugt fei, genügte nicht; fie mußte feierlich und zuverläffig ausgefprochen und darum verfündet werden durch hHimmlifche Boten. Schon im alten Teftamente war dieß bei Geringeren gefchehen: konnte es bei dem Meſſias fehlen! So entitanb die Miythe der Verkündigung aus tief gemurzeltem Glauben und an der Hand altsteftamentlicher Borbilder, die zum Theil hier wörtlich benüßt erfcheinen (vgl. Matth. 1, 21 mit 1 Mof. 17, 19 und Richter 13, 55 fo wie Luk. 1, 30 mit 1 Mof. 16, 11 2c.). Die Verfchiedenheit der beiden Mythen tft zu betrachten ald Variation der Sage, wie ed auch in andern Fällen zu gefchehen pflegt; die bei Matthäus ift einfacher und funftlofer, die bei Lukas feiner und Eunftreicher.

Der Inhalt beider Engelöverfündigungen ſtimmt darin überein, daß Maria ein Kind durch die unmittelbare Kraft Gottes empfangen werde, daß fie, wenn es geboren, ihm den Namen Jeſus geben folle, und daß basfelbe ber erwar- tete Meſſias fei. Dem Matthäus aber ift eigenthinmmlich, daß bei ihm ber Engel eine alt=teftamentliche Weiffagung ans führt; hinzufügt: „das Alles gefchah, damit erfüllt werbe

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das vom Herrn Gefagte ꝛc.“ CB. 22) und demnach bie num folgenden Worte aus Sefaias 7, 14 ald meffianifche Weiffagung bezeichnet. Nun aber if durch die neueſten For⸗ ſchungen unwiderſprechlich dargethan, daß Jeſaias die Worte burchaus nicht vom Meſſias meint, ſondern daß dieſelben ledig: lich als Borausfagung politifcher Ereigniffe der nächften Zus funft gemeint waren. *) |

Da wir bier zum eriten Male eine altsteftamentliche Weiſ⸗ fagung vor und haben, deren Eintreffen in oder Durch Jeſus von einem &vangeliften behauptet wird, fo wollen wir bier zugleich die verfchiedenen Anft chten über ſolche im Allgemeinen

zuſammenſtellen.

1) Orthodoxe Anſicht. „Dergleichen altsteftamentliche Stellen hatten ſchon urſprünglich (bei den alt⸗teſtament⸗ lichen Schriftſtellern) nur die prophetiſche Beziehung auf Chriſtus; denn Die neu⸗teſtamentlichen Schriftſteller deuten fie fo, und dieſe müſſen Recht haben, wenn auch der Men- fchenverftand dabei zu Grunde geht.* In der That komme. hier die wunderlichften Deutungen zum VBorfchein, wie gerade die bier in Frage ftehende altsteftamentliche Stelle z. 2. Hengftenberg alfo erklärt: „Das und das nahe Ereigniß (welches nämlich der Prophet vorausſagt) wird in eben fo viel Zeit eintreten, als dereinft zwifchen der Geburt des Meffias von einer Sungfrau big zu feiner erften Entwidelung verfließen wird.“ Welche Wortquälerei, um fo viel Nicht: Sinn heraussupreffen! 9

2) Rationaliftifche Anfiht. „Die neu steftamentlichen Schriftfteller geben den alt=teftamentlichen Weiſſagungen die mefjianifche Deutung nicht, fo wenig wie wir es können.“ Auch hier wird den Worten Gewalt angethan, und zwar Den

2) Die gedrängte Kürze, welche wir ung bei unferer Bearbeitung Des Strauß’fihen Werkes zum Gefeße machen mußten, gebietet ung, bei diefer, wie bei manchen andern untergeordneten Unter- fuhungen, nur bie Ergebniſſe mitzutheilen. Wir thun dieß aber nur da, wo und Diefe Ergebniffe ald ganz unzweifelhaft erfcheinen. ' x

2) Man fehe die angegebene Stelle, Jeſaias 7, 14 18.

| 86’ —neu⸗teſtamentlichen: denn der, bei Matthäus namentlich, faft ftehend gewordene Uebergang bei Anführung folcher Weiſ⸗ fagungen fann gar nichts Anderes heißen, als: „Damit ers füllet werde.“ Sodann leidet diefe Deutung an gänzlicyer Verkennung des jüdifchen Geiſtes, der fo geneigt war, überall im alten Teftamente Drafel vom Meſſias zu erblicken, und fehiebt demfelben unfere VBernunftbildung und unfere daran fließende Anficht von den Weiffagungen des alten Teftamentes unter.

3) Myftifhe Anſicht. „„In den altsteftamentlichen Stellen liegt urfprünglicy fowohl der von den neusteftaments lichen Schriftftellern ihnen gegebene tiefere, ald auch der durch verftändige Anficht uns aufgenöthigte nähere Sinn.“ * Eine Bermittlung, aber eine unglüdliche! Denn welch felts famer Doppelfinn, wenn von dieſer Anficht aus 3. B. unfere Jeſaias⸗Stelle fo gedeutet wird: „Der Prophet weilfagte aller- dinge ein Ereigniß der nächften Zukunft, zugleich aber auch, Daß Sefus von einer Jungfrau geboren werden fol.“

4) Mythiſche Anficht, alfo die unferige. „Die alts teftamentlichen Weiffagungen hatten urfprünglich fehr Häufig mir jene nähere Beziehung auf Zeitverhältniffe; wurden aber von den neuzsteftamentlichen Männern als wirffiche Prophes zeiungen auf Jeſus ald den Meſſias angefehen, weil der Ver⸗ ftand in jenen Männern durch die Denfart ihres Volfes bes schränkt war.*

Diefer ſchon in der Einleitung begründeten Anficht zufolge müffen wir auch von dem hier in Frage fichenden Orakel einräumen, baß ihm die Beziehung auf Jeſus vom Evangeliften aufgebrungen worden ift.

Viertes Kapitel. Jeſu übernatürliche Erzeugung. Diejelben Stellen des Matthäus und Lukas.)

Darin ftimmen alle Ausdrüde in beiden Evangeliften voll Iommen überein, daß Tefus in der Maria einzig durch

87. göttliche Schöpferfraft, ohne Mitwirkung eines Mannes (vgl. Luk. 1, 34; Matt. 1, 18), erzeugt worden fei, durch den „heiligen Geist“ (Matth. 205 Luk. 35). Unter dem heit. Geiſt haben wir und aber nicht, nad Firchlicher Lehre, bie dritte Perſon der Gottheit, fondern nach jüdiicher Boritels Img den „Geift Gottes“ in feiner unmitte:baren Einwir⸗ tung auf die Melt zu denken; ferner ift die Erzeugung ale ene übernatürliche, nicht aber als eine natürliche, wie Die der heidnifchen Götterföhne, zu fallen.

| Diefe Darftellung der Erzeugung Jeſu wird von ben ortho- boren Auslegern als buchftäblich wahr angenommen; wir wollen aber zumädıit die Einwürfe ind Auge faffen, die ſich gegen dieſelbe machen laffen.

Betrachten wir den Hergang felbit, fo ift Die Entitehung eined -menfchlicyen Weſens ohne Zufammenwirfen beider Gefchlechter fo fehr gegen alle Naturgefeße, daß wir Diefelbe geradezu für unmöglich erklären müflen, wenn wir nicht etwa gar mit Drigines in den Worten Pfahn 22, 7: „ich bin ein Wurm und fein Menich“ gleichfalls eine Weiffagumg auf Jeſum erbliden wollen; denn von Würmern wiffen wir, daß fie fi) ohne Begattung fortpflanzen. Wollte man mit dem Engel bei Lufas CB. 37) einwenden, daß „bei Gott fein Ding unmöglich“ fei, fo erwibern wir, daß es mit der Weisheit Gottes unverträglic, it, ohne Zweck und gleichfam unr ans kaune die von ihm felbit gegründeten Naturgeſetze zu umgehen. Denn felbft der einzige Zweck, den man diefer Umgehung uns terichieben Fan, Jeſum als Erlöfer unſündlich zu machen, und durch Entfernung des fündhaften Vaters dem Fluche der Erbfünde zu entnehmen, wäre ja nicht erreicht, da immer noch die gleichfalls die Sünde fortpflanzende Mutter übrig bleibt. Hat aber Gott diefe auf wunderbare Weiſe von ihrer Sind haftigfeit gereinigt; was man nothwendig annehmen müßte, warum nicht auch den Vater, ſtatt „Das Naturgefeß auf fo unerhörte Weile zu durchbrechen*?

Aber auch aus äußeren Gründen muß jene wunderbare Erzeugung Jeſu bezweifelt werden. Dem in feiner Stelle irgend’ eines Evangeliums üt, außer den hier beſprochenen Steffen, auch mir im entfernteiten won derſelben die Mede,

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pielmehr wird Jeſus von feiner Mutter gerabezu als Joſeph— Sohn bezeichnet (Luk. 2, 48), und alle feine Zeitgenoflen halten ihn dafür. Wenn biefe ihm öfter einen Borwurf daraus machten, wie 3. B. Matth. 13, 55, Luk. 4, 22, ja fogar deß⸗ wegen feine Berficherung, er fei vom Himmel herabgefons men, verhöhnten, hätte er nicht irgend einmak auf feine wuns derbare Erzeugung fich berufen follen? hätte ex nicht wenigs ftens feinen Süngern, bie ihn auch nur Joſephs Sohn nennen, fich in Diefer Beziehung entdecken müffen? Wie konnte enblich feine eigene Mutter an ihm irre werden (Mark. 3, 21 31), wenn fie wußte, daß er im firengiten Sinne bes Wortes Gottes Sohn war? Auch in den übrigen Schriften des neuen Teftamentes findet fich Davon keine Spur; wo er als Sohn Gottes bezeichnet wird, find die Worte in geiftigem Sinne gebraucht, ohne Beziehung auf feine leib⸗ liche Abſtammung.

Den grelliten Widerſpruch aber gegen Die Annahme einer übernatürlichen Erzeugung bilden die oben betradıteten Ges fhlechtsregifter, die Sefum, wie fchon von Schriftitellern der chriftlichen Vorzeit bemerft wird, offenbar ald Sohn- Jo⸗ ſephs daritellen; und zwar in der beſtimmten Abjicht, feine Davidifche Abkunft zu beweifen (Matth. 1, 1). Es fünnen alſo unmöglich Gefchlechtsregüter und Geburtsgefchichte von demfelben Verfafler fein, da fie ſich entichieden widerfprer hen. Wollte man auch eine Adoption durch Sojeph an« nehmen, ſo Fünnte diefe nimmermehr hinreichen, um bie mefs fianifhe Würde Jeſu, als eines leiblichen Nachkommen Davids zu begründen, und man würde ſich in Diefem Falle mit den Stammbänmen Joſephs eine vergeblihe Mühe ge« macht haben. Geftehen wir vielmehr ein, daß dieſe aus einer fehr frühen Zeit ſtammen, wo man Sefus noch für einen wirflihen Sohn Sofephs hielt, und daß die Evangeliften, troß ihres Glaubens an eine höhere Abftammung besfelben, die Stammtafeln mit einer biefen Glauben bezeichnenden Wen⸗ bung (M. 1, 165 8.3, 23) dennoch in ihre Darftellung aufs nahmen, weil fie immer noch ein Ssntereffe dabei hatten, ihm

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ald Meſſias mit Davib auf jebe mögliche Weiſe in Verbin⸗ bung zu bringen,

Es könnte nadı dem Gefagten auffallen, daß gerabe bies jenige chriſtliche Sefte, die der Ebioniten, welde Jeſum für einen natürlichen Sohn Joſephs hielt, jene Stammtafeln in ihrem Evangelium nicht hatte, wie ung einige Rirchenväter beitimmt berichten. Allein man muß willen, daß es zwei Klaffen von Ebioniten gab, deren eine Sefum gleichfalls, wie die herrs fchenbe Kirche, für einen wunderbar erzeugten Gottesfohn hielt: biefe konnte alfo Fein Sintereffe haben, das Gefchlechtsregifter Joſe phs in ihr Evangelium aufzunehmen, ja fie mußte es ausftoßen, weil fie zugleich eine große Abneigung gegen David hatte, unb überhaupt alle Propheten nach Joſua verabfcheute. Jene Zeugniffe, daß die Ebioniten Das Gefchlechtsregifter nicht hatten, beweifen aljo nichts über die andere Klaffe der Ebios niten, die dieſer Anficht nicht waren, und von welchen ung in Diefer Beziehung nichts Ausdrücdliches gemeldet wird. Wir dürfen um fo mehr annehmen, daß fie die Stammtafel wirk- lich befaßen, da einigen Gnoftifern, die ſich des Ebionitifchen Evangeliums bedienten, der Borwurf gemacht wird, fie haben eben dieſe Stammtafeln Cdie fie alfo doch in ihrem Evange⸗ um vorfanden) dazu bemüst, um die menfchliche Ers seugung Jeſn zu beweilen. Es muß demnach in der Älteften Zeit unter den Chrilten in Paläftina der Glauben an Diefe natürliche Herkunft Jeſu geberrfcht haben, und es find feine Spuren vorhanden, daß die Apoftel denfelben für umchrift- Sichh gehalten, vielmehr mag die entgegengefeßte Anficht ſich erft fpäter ausgebildet haben.

Den aufgezählten Schwierigfeiten, die ſich der fupranatus raliftifchen Erklärung der Empfängnißgefchichte entgegenftellen, fuchen die Verehrer der natürlichen Auslegung in der ihnen eigenthümlichen Weiſe zu begegnen, wobei fie aber in große Berlegenheiten gerathen. Um früherer Verſuche diefer Art nicht zu gedenken, wollen wir nur die Deutung des Dr. Paulus näher. betrachten. Ten Joſeph für den Vater Sefu zu erfläs ren, verbietet ihm freilich der Wortſinn des 18. Verſes bei

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Matthäus; dagegen glaubt er, daß durch die Ausbrüde -„heilis ger Geift“ und „Kraft des Höchiten“, bei Luk. 1, 35, bie Mitwirkung eines Mamnes keineswegs geläugnet werbe; viels mehr habe man die Verkündigung der Engel fo zu verfichen: „vor der Verehlichung mit Sofeph werde Maria mit reiner Begeifterung für das Heilige ihrerfeits, und durch gottgefällige Wirkfamfeit Cverfteht fih, eines Mannes) auf der andern Seite, Mutter eines Kindes werden, das wegen biefes heilis gen Uriprungs ein Gottesjohn zu nennen fein werbe.“ . Wie dieß zugegangen, dieß wird ung nicht beftimmt gefagt, jedoch durch die Vermuthung angedeutet, ber angebliche Engel fei ein Dann geweien, der Abends oder vielleicht gar bei Nacht () zur Maria gefommen. Es muß alfo, um es gerabe heraus zu fagen, Jemand fid, für den Engel Gabriel ausgegeben und die Maria in ımbewachter Stunde für feine unreinen Wünfche gervonnen haben: und dag foll „gottgefällige Wirk⸗ famfeit“, „reine Begeifterung für das Heilige“, ein „heiliger Urſprung“ fen? Mit weniger Scheu erklärt ſich in demſel⸗ ben Sinne der Berfaffer der „natürlichen Gefchichte des großen Propheten von Nazareth“ dahin: „Maria fei als bie Ver⸗ lobte C!) des ältlichen C!) Joſeph von einem verliebten und fchwärmeriichen Jünglinge getäufcht C!) worden“, ja er weiß fogar, Daß dieß Sofeph von Arimathia ges wefen (1), der von Matthäus (27, 57 ıc.) als der Mann genannt wird, der Jeſum ins Grab legte. Hiermit ftellen fich diefe Callzu) natürlichen Ausleger mit den heibnifchen und jüdischen Gegnern des Chriftenthums, die geradezu behaupten, Jeſus fei im Ehebruche mit einem gewiflen Panthera erzeugt worden, faft in ganz gleiche Linie. Mit Recht deutet ſchon Drigined gegen diefe Erflärung an, daß es ein ganz willführs liches Verfahren fei, die übernatürliche Erzeugung in der Ers zaͤhlung we gzubemonftriren, und einen andern Zug in berfelben, daß Maria von Sofeph unberührt geweſen fei, ftehen zu laſſen: wir aber bringen mit der Strenge der Wiflenfchaft darauf, daß alle Theile auch dieſer Erzählung einer gleich firengen Prüfung unterworfen werden.

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Bon dieſem Stanbpunfte aus werden wir genöthigt, bie wunderbare Erzeugung Jeſu in allen ihren Theilen für mys thifch zu erklären; die Entſtehung diefer Mythe ift unſchwer nachzuweiſen. Jeſus nannte ſelbſt oft Gott feinen Vater, hieß als Meſſias Gottes Sohn; beides freilich nicht in leide lihem Sinne; aber die erite chriftliche Kirche deutete Diefe Ausdrücke bald fo, bezog, wie Matth. 1, 22 ıc. zeigt, bie Stelle Jeſaias 7, 14 (ſ. Matth. 1,23) auf. Sefum, und da man nun annahm, Jeſus mußte von einer Sungfrau durch Gottes Kraft geboren fein, fo ſchloß man, daß es wirklich gefchehen, und es entitand die reine Mythe, die wir nun vor uns haben.

Die Entitehung einer folchen wird fchon dann erflärlich, wenn man -fich der Neigung ber gefammten alten Welt erins nert, große Männer ald Söhne eines Gottes barzuftellen; fo bei den Griechen Herkules, Alerander, Plato ꝛc. Leber diefen Lebteren jagt Hieronymus: „Bon dem größten Weltweifen nehmen fie an, er könne nur von einer Ssungfrau geboren worden fein.“ Freilich wollen die Supranaturaliften dieſen Erflärungsgrund nicht gelten laſſen; ihre Einwendungen find aber unhaltbar. Denn wenn der ine behauptet, bei den Heiden feien jene Sagen von göttlicher Erzeugung großer Männer erſt Jahrhunderte nach den Lebzeiten derſelben entitans den, was bei Jeſus fich ganz anders verhalte, fo ift Dieß 3.8. m Bezug auf Plate unrichtig, da fchon fen Schweſter⸗ john erzählt, es fei in Athen eine allgemeine Cage, Plato jet Apollos Sohn. Wenn ein Anderer die Sache fo dreht, daß Die heidnifchen Eagen nur die Beweiſe einer allgemeinen Ahnung und Sehnfucht nad einer folchen Thatfache enthielten, die, eben wegen diefer Ahnung, bei Einem, nämlich Chriſtus, habe in Erfüllung gehen müffen, fo iſt diefer Schluß eben jo fall, al wenn man aus den Sagen von einem goldenen Zeitalter fchließen wollte, es habe einit wirklich ein folches gegeben.

Wichtiger könnte der Einwand ericheinen, daß die heidnis ſchen Borftellungen Nichts beweilen fir das in feinen äußeren Berhältniffen, fo wie nach feinen religiöfen Borftellungen, völlig abgefchloffene jüdifche Vol. Allein gerade aud in dieſen

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jadifchen Vorſtellungen liegen fruchtbare Wurzeln, aus denen gar wohl die Mythe von einer-übernatürlichen Erzeugung Jeſu hervorgehen konnte. Denn ftand einmal ber Glauben fe, baß auserwaͤhlte Nüftzeuge Gottes durch einen göttlichen Beis fand -erzeugt werben, ber nach Röm. 4, 19 bie bereits ers korbenen Kräfte beider Aeltern wieder erneuerte, cf. &. 77) fo war ed nur ein Schritt weiter in der Ausbildung biefer Borftelung, von dem größten aller Propheten anzunehmen, baß bei feiner Erzeugung die Mitwirkung des Einen Theiles, bes männlichen, ganz gefehlt habe, bei vollkommener Fähigfeit des weiblichen. Daher läßt Lukas ben Engel mit benfelben Wor⸗ ten: „bei Gott ift fein Ding unmöglich“ den Unglauben der Maria niederfchlagen (V. 37), welche der Engel auf den Zweifel der alten verehelichten Sara erwibert (1 Mof. 18, 19. Findet fi) and, in älteren Büchern bes alten Teitamentes nur die Vorftellung, daß der Meſſias ein menſchlich erzeugter Mann fein werde, fo ging doch feit Daniel dieſer die andere von ihm, als einem göttlichen Wefen, zur Seite. Eine noch nähere Veranlaffung zu der Annahme einer übernatürlichen Erzeugung lag in bem für den Meſſias üblich gewordenen Titel: „Sohn Gottes“, „Tenn es ift die Natur folcher zus nächt bildlichen Ausdrücde, daß fie mit der Zeit immer mehr eigentlich und im firengen Sinne genommen werben, und befonders unter den fpätern Suden war eine finnliche Aufs faffung des früher geiftig und bildlid, Gemeinten an der Tas gesordnung. * Mußte nun einerfeits fehon der Zufaß, welchen in Pfalm 2, 7 das mefjtanifch gedeutete „Du bift mein Sohn“ in den Worten : „heute habe ich dich erzeugt“, erhielt, bie Borftellung von der leiblichen Zeugung des Mefftas durch den Geiſt Gottes unterftüßen, fo führte andererfeitd die oben (S. 85) erwähnte gleichfalls auf den Meſſias gebeutete Weiſ⸗ fagung des Sefaind von der gebärenden Sungfrau zu der Ans nahme der Geburt durd; eine fledenlofe Jungfrau %. Beide

65 Daher gebraucht fchon die griechifche Ueberſetzung ded alten Te⸗ ſtamentes, die man die Geptuaginte nennt, in diefer Stelle ein Wort, welches nicht nur ein unverheirathetes, fonbern anch ein teufches Mädchen bezeichnet; keuſch aber blieb die Jungfran, wenn ihr Kind ein Sohn Gottes in oben bezeichnetem Sinne war.

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Borftellungen floſſen num gleichſam von felbft in bem Begriffe eines in einer Jungfrau von Gott felbft erzeugten Sohnes zus fammen. Bon gar feinem Belange aber ift endlich der . Einwand, daß die mythiſche Auffaffung unferer Erzählımg nothwenbig einer gottesläfterlichen Vorſtellung Eingang vers ſchaffe, da ja alsdann Sefus als in unheiligem, unfeufchem Wandel erzeugt betrachtet werden müſſe. Hierin fpricht fidy ja ein völliges Verkennen des mythifchen Standpunftes aus ; benn wer wird behaupten wollen, daß man, wenn bie über, natürliche Erzeugung als Mythe hingeftellt wird, Doch Die Ges burt von einem unvermählten Weibe feitzuhalten habe? Diefes Letztere ift ja offenbar eiu Zug, der nur zur Stüße der Bor ſtellung, daß Sejus von feinem Manne erzeugt worden, dies nen ſoll, mithin von felbft fällt, fobald die gefchichtliche Wahrs heit diefer wunderbaren Erzeugung aufgegeben ift. Die Angabe, daß Sefu Mutter unverehelicht geweſen, muß alfo gleichfalls als Theil der ganzen Mythe betrachtet werden; und vernünfe tiger Weife können wir durch diefe mythifche Behandlung zu feinem andern Refultate uns führen laffen, ald zu ber An- nahme, daß Jeſus in rechtmäßiger Ehe von Sofeph und Maria erzeugt fei. Dieß nehmen wir ale die übrig bleibende ges ſchicht liche Wahrheit an.

Fuͤnftes Kapitel.

Verhältniß zwifchen Joſephh und Maria, und Befuch bei der Elifabeth.

(Matth. 1, 24,25; Luk. 2,5; 1, 39—56.)

Unjere Mythe erzählt weiterhin, ganz im Geiſte jüdiſcher Sage, daß Maria auch nad, der Empfängniß von Feinem Manne berührt worden, bevor fie den Gottesfohn geboren habe. Lukas läßt fie nach 2, 5 bis zu der Geburt desfelben Jo⸗ ſephs Verlobte bleiben; dem Matthäus (1, 24,25) zufolge nahm fie Sofeph als fein Weib zwar zu fich, allein „er erfannte fie nicht, big fie ihren erften Sohn gebar.“ (Ein Gleiches wird auch von den Aeltern PM atos erzählt.) Mit diefer heiligen

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Scheu vor der göttlichen Leibesfrucht begnügte man fich aber nieht, fondern ftsigerte von Stufe zu Stufe die Verehrung für Maria und Sofeph. . Zuerft ward die Anſicht feftgeftellt, ſchon von Drigines, daß Maria auch nicht nach der Ge— burt in ehelichem Umgange mit Sofeph gelebt habe, was mas dadurch flüßte, daß man Lebteren zu einem abgelebten Greife. und die im neuen Teftamente oft genannten „Brüder Jeſu zu feinen Kindern aus einer früheren Ehe machte. Weitere hin nahm man an, Maria fei auch bei der Geburt Selm ihrer Sungferfchaft nicht verluftig gegangen, und endlich er— Härte fchon Hieronymus, um aud für Joſeph unverlegtem Keufchheit zu gewinnen, es ald eine gottlofe Träumerei, daß Joſeph von einer früheren Gattin Kinder gehabt habe, und ed wurden „von jetzt an Die Brüder Sefu zu bloßen Better desfelben degrabirt *. Welcher Abftand von jener, den Ges fehlechtsregiftern (ſ. S. 78 20.) zu Grunde ‚liegenden Borftels lung, daß Sofeph der eheliche Vater Jeſu gewefen, bis zu dieſer letzteren myſtiſchen Anficht!

Allein dieſer kirchlichen, auch von den neueren Orthodoxen verfochtenen, Anſicht ſteht der Wortlaut jener Matthäi'ſchen Stelle eben ſo entgegen, als die neu⸗teſtamentliche Geſchichte, die fo häufig der „Brüder des Herrn“ erwähnt. Denn das Pörtlein „big“ bei Matth. 1, 25 kann, wie man auch da⸗ ran deuten mag, nur den Gedanfen ausdrüden, daß nicht langer, ale während der Zeit der Schwangerichaft, die Ents haltfamfeit der Aeltern Jeſu angedauert habez; und wenn man mit dem Ausdrude „erften Sohn“ wohl auch einen einzis gen bezeichnen kann, fo lange noch Hoffnung zu einem zwei⸗ ten vorhanden it, fo würde er doch in diefer Bedeutung widerfinnig fein, wenn an weitere Nachfommenfchaft nicht mehr gedacht werden kann, was doch bei Abfafjung des Evans geliums, wo Jeſu Aeltern nicht mehr lebten, der Fall war.

Etwas weniger Gewicht hat der aus der häufigen Erwäh- nung ber Brüder Jeſu hergenommene Einwurf gegen jene orthodore Lehre von der unverlegten Keufchheit Joſephs nnd der Maria. Allerdings werden gewiffe Männer und Frauen ald Brüder und Schweftern Jeſn ganz beftimmt "aufgeführt; vergleiche Matth. 12, 46; 13, 59. Marl. 6, 3.

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&il. 8, 19. Joh. 2, 12: Apoſtelg. 1, 145 und baß diefe „Brüder Jeſu“ nach Joh. 7, 5 nicht gleich ans fange an ihn glaubten und ihn nach Mark. 3, 21 unb 31 für einen Berrüdten zu halten ſcheinen, widerſpricht ber Angabe, daß fie feine Brüder von ber Mutter her gewes fen, eben fo wenig, ale der Umitand, daß nicht ihnen, fondern Dem Johannes, Jeſus feine Mutter, che er ftarb, empfahl CJoh. 19, 26 x). Allein das macht mit Recht Bebenfen, Daß außer den vier Brüdern, deren Namen 3. B. bei Matt. 13, 35 zu lefen find, noch andere Männer mit ganz gleichen Namen aufgeführt werden, nämlich im Ganzen die Brüder mitgerechnet vier Jakobus, zwei Joſes Cunter ihnen zwei Bettern Jeſu, Jakobus und Joſes), drei Judas unb drei Simon (die Ramen der Schweſtern werben nirgends genannt). Ferner fcheint aus den ziemlich verworrenen evans gelifchen Berichten über die verfchiedenen Jakobus hervorzu⸗ gehen, baß der Bruder Jeſu, der jüngere Apoftel und der Better Jeſu dieſes Namens eine und dieſelbe Perfon, und zwar der Sohn der Maria, der Schwefter der Mutter Jeſu, gewefen. Man könnte aljo bei Diefem das beigegebene gries difche Wort Cadelphos), das fonft nur „Bruber“ heißt, in dem Sinne von „Better“, „naher YBlutsverwandter“ nehmen, worauf Denn Nichts hinderte, ihm auch in Bezug auf bie drei andern Diefe Bedeutung zu geben. Jedoch hat dieß wiederum anbere nicht zu löfende Schwierigfeiten. Das genannte gries difche Wort hat jene Bedeutung „Better“ fonft nirgends, wiewohl ed, wie unfer „Bruder“ auch den Nächſten bes deutet; die „Brüder des Herrn“ erfcheinen in den Evan⸗

gelien faſt überall in der Begleitung von, Jeſus und feiner

Mutter; Apoftelg. 1, 14 werden fie, nach Aufzähs lung aller Apoftel, noch ganz befonders genannt; —- auch 1 Kor. 9, 5 fcheinen fie von den Apoſteln gefondert zu werden; wie fonderbar wäre es endlich, daß gerade von diefen Männern jene Bezeichnung ftehend geworden fein ſollte, und nicht ein einzigesmal von ihnen wirklich das Wort „Bettern“ gebraucht würde, ein Wort, Das im neuen Teſta⸗ mente fonft öfters verfannt, 3: B. Kol. 4, 10.

Wir werben alfo auf bie Annahme, daß jene Männer

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allerdings Jeſu Brüder geweien, als bie wahrſcheinlichſte, zurückgeworfen, und haben keinen Grund zu läugnen, baß, Maria ihrem Gatten noch mehrere Kinder geboren habe; Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf bie verfchle denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei foldher Gleich⸗

namigkeit nicht feltene, Verwechſelung, zumal bei mänblicen Ueberlieferung, erzeugt worben fein.

An die Verfündigungen des Johannes und Jeſus fchließe ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifaberh an, beffen Daritelung bei Lukas (1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen, wit vielen wunderbaren Zügen burchwebt iſt. Zwar glauben

Die natürlichen Ausleger mit biefen feicht fertig zu werben. „Der Unbefannte, welcher Maria befuchte (ſ. S. 90.), hatte ihr aud) die unerwarteten Hoffnungen der Elifabeth mitgetheilt (DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu befjuchen. Sie thut es, kommt an, und erzählt ihr vorerſt das ihr gu Theil gewordene Glück, wodurch Elifaberh in hobe Bes geiſterung verfeßt wird; dieſe Gemüthsbewegung theift fich Dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches deßhalb eine hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bedeutfames Zeichen erblickt und mit begeifterten Worten die Maria anres det (B. 40 ꝛc.).“ Allein erftlicd hat ja, unferm Berichte zus folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß hin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend einer Erzählung der Maria, die den Worten ber Eliſabeth vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der Bewegung bes Kindes, wenn man den Worten nicht Die größte Gewalt anthun will (vgl. nach V. 44). Eben fo wenig bes friedigt die natürliche Erklärung des Lobgefanges der Maria &. 46 I): „Maria wird durch Elifabeth in ihren meiflanis fihen Erwartungen beftärft, und wird Dadurch gleichfalls bes geiftert.“ Wie ift es Doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei einem Befuche der einen, ſtatt fich zu unterhalten, in begeifterte Gefänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen . Anläffen, natürlichen Gefprächsform entfagen?

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Mir fönnen alfo nichtE Anderes annehmen, ale daß Elifas beth wirklich in der ganzen Erzählımg etwas Wunderbares hat geben wollen; und als folches faßt es auch der orthos doxe Ausleger, und bietet und damit Näthfel anderer Art. Es ift naͤmlich ganz unglaublich, daß die bloße „Stimme* eines Menjchen (B. 44) auf die noch nicht ausgebildete Leibes⸗ frucht irgend einen Eindrud foll machen können. Welchen Zwed follte auch ein fo abenteuerliches YBunder haben? Elis faberh und Maria bedurften ja feiner Beftätigung ihrer Hoffs nungen mehr; und das noc, nicht zur Neife gediehene, noch unbefeelte Kind Sohannes fonnte, wie gefagt, noch keinen Eindrud empfinden, der ihn auf feine fünftige Beftimmung bingewiefen hätte. Soll aber die Rede der Maria Wirkung des heiligen Geiftes geweſen fein, fo ift fchwer zu begreifen, daß berfelbe Nichts bewirkt habe, als eine ziemlich locker zus fanmengefügte Reihe alt⸗teſtamentlicher Sprüche, als welche die Rede, ſelbſt nach einer flüchtigen Vergleichung nur mit 1 Sam. 2, 1 ꝛc. und andern Stellen, erſcheint.

Wir werden alfo nicht anders können, als auch diefen legten Theil der Erzählung für rein mythifch zu erflären, nur nicht in dem Sinne derjenigen mythifchen Ausleger, welche immer noch einen Beſuch der Maria bei Elifaberh als That⸗ ſache fefthalten, nebſt einigen begleitenden Umftänden. Denn eben diefer Befuch, an fid) genommen, verräth am deutlichten, daß das Ganze nur Mythe it. Nach den bei Abfaflung des Evangeliums herrichenden Borftelungen mußte Johannes, als Sefu untergeordnet, zu deffen Verherrlichung beftimmt fein; fie mußten fchon frühzeitig in der innigften Verbindung mit einander geftanden haben; diefe aber fonnte durch Nichts anfchanlicher gemacht werden, als wenn fchon die Mütter der beiden Propheten in eine Berührung mit einander famen, bei welcher fchen die Mutter des Sohannes vor der Mutter Jeſu ihre Haupt demuthsvoll neigte. Daher der Beſuch im Ganzen; einzelne Züge ald hiftorifch fefthalten zu wollen, bieße den Charakter meſſianiſcher Mythen ganz verfennen; viels mehr mußte dieſe gewiſſe Vorausſetzungen machen, deren fie als Grundlage bedurfte. Wir müffen alfo nicht nur den Be⸗ fuch der Maria, fondern auch ihre nahe Verwandtfchaft mit

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Elifabeth, fo wie den Umftand, daß Sohammes um ſechs Mo⸗ nate Alter als Jeſus gewefen, für mythiſch halten. |

Sechstes Kapitel.

Die Geburt Jeſu in Bethlehem, und der Lobgefang der Engel.

(Lufas 1, 1— 21.)

Indem wir und nun zu den Erzählungen von der Geburt Sefu wenden, finden wir die beiden Evangeliften zwar darin übereinftimmend, daß fie Sefum in Bethlehem geboren wer - den Taffen; während aber Matthäus dieß, gleich, als ware eine befannte Sache, nur im Borübergehen (1, 25 und 2, 1), und zwar fo erzählt, daß man glauben muß, Sefu Aeltern haben in Bethlehem gewohnt, ift Lufas ſehr ausführlich über—— die einzelnen Umſtaͤnde und die Zeit der Geburt.

Die Zeit beftinmt er dahin (2, 1. 2), „ale die erſt— Schaßung des römifchen Reiches unter Auguftus aufp | deffen Befehl gefchah, und Quirinus Etatthalter in Syriem war 7).

Diefe Angabe gibt und zum erften Male Anlaß, die Rad richt eines Evangeliſten mit denen heidnifcher Schriftfteller zr vergleichen: für unfern Lukas fällt diefer Vergleidy jehr un günftig aus. Denn ed erweist ſich, daß jene Angabe in alle ihren Theilen unrichtig, wenigftens fehr ungenau if. DC alle neueren Theologen hierüber mehr oder weniger einver— ftanden find, und ſich nur durch fehr gewagte Vermuthunger aus der Verlegenheit zu ziehen wiffen, fo begnügen wir und die Unrichtigkeit im Allgemeinen anzugeben, ohne in die nähe ren Erörterungen derfelben einzugehen.

1) Bon einer Schaßung des ganzen römischen Neiches

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7) Ueber die hier und weiter unten berührten Verhältniffe der Juden '

zu dem damaligen römifchen Reiche werden die Anmerkungen : und Erklärungen Auskunft geben.

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umter Auguſtus willen wir durchaus Nichte; Stellen, bie man dahin hat deuten wollen, beziehen fich nur auf Italien. Chen fo unzuläffig ift es, die Worte, welche das Reich bes jeichnen (wörtlich nach dem Griechifchen: „Das ganze bewohnte dand“) auf das jüdifche Land zu befchränfen, und unter „Befehl“ nur eine Abficht, ein ausgedrüdtes „Beftreben“ zu berftehen.

2 Sn Subäaa inebefondere konnte aber damals, als Jeſus geboren wurde, Feine römifche Schagung vorgenoms men werben; denn nad) Lukas eigenen Berichten regierte das

Mal noch Herodes (1, 5), worin ihm Matth. 2, 1 beis Nimmt, und fein Sohn und Nachfolger ward erft nach zehns X ühriger Regierung von Auguft verbannt, worauf Judäa Cümifch wurde. Nun waren zwar die damaligen jüdifchen Sönige, wie manche andere, den Römern fchon zinsbar: ullein eine Schagung ftellten diefe doch nur in ihren eigenen Drovinzen an. Daß hievon unter Herodes eine Ausnahme DSemacht worden, läßt fid) durchaus nicht ermweifen.

3) Es war damald Quirinus gar nicht Statthalter in Syrien, -fondern erft lange Zeit nach Herodes Tode; diefer ſtellte in Judäa allerdings eine Schatung an, aber erft etwa, zehn Ssahre nach Sefu Geburt.

Diefe Unrichtigkeiten Taffen fi weder durch die ganz wills Tührliche Annahme, Vers 2 fei ein fpäterer Zuſatz, noch durch

gewaltfanie Aenderung der Worte, noch durch fprach- und fachwidrige Erklärungen wegbringen. Wollte man auch, allen übrigen Berichten zum Troße, annehmen, Sefus fei wirklich nicht unter Herodes, fondern zu QDuirinus Zeiten geboren, ſo war ja aud damals nur Judäa, wo Bethlehem lag, nicht auch Galiläa römifche Provinz, und Sofeph von Nas zareth, eines Königs Unterthan, hatte nichts bei der Schatzung in einer Provinz zu thun.

Endlich mußte jeder Jude zwar bei einer jüdifhen Schatzung in feinem Stammorte fi) einfcreiben Iaflen, nicht aber bei einer römifchen, und es war aljo überhaupt fein Grund vorhanden, weßhalb Joſeph, obgleich Davide, hätte nadı Bethlehem wandern follen, wie V. 3 und 4 er zählt wird.

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Scheu vor der göttlichen Leibesfrucht begnügte man ſich aber nieht, fondern fleigerte von Stufe zu Stufe die Verehrung für Maria und Sofeph. . Zuerft ward die Anficht feftgeftellt, fhon von Drigines, daß Maria auch nicht nach der Ger burt in ehelichem Umgange mit Sofeph gelebt habe, was mau dadurch ſtützte, daß man Leßteren zu einem abgelebten Greife, und die im neuen Teftamente oft genannten „Brüder Sefu“ zu feinen Kindern aus einer früheren Ehe machte. Weiters hin nahm man an, Maria fei andy bei der Geburt Jeſu ihrer Sungferfchaft nicht verluftig gegangen, und endlich er⸗ Härte fchon Hieronymus, um auch für Sofeph unverlegte Keufchheit zu gewinnen, es als eine gottlofe Träumerei, daß Joſeph von einer früheren Gattin Kinder gehabt habe, und ed wurden „von jeßt an die Brüder Jeſu zu bloßen Vettern desielben degradirt *. Welcher Abftand von jener, den Ges fchlechtsregiftern (ſ. S. 78 20.) zu Grunde liegenden Vorſtel⸗ lung, daß Sofeph der cheliche Vater Jeſu gemweien, bie zu dieſer letzteren myftifchen Anficht !

Allein diefer Eirchlichen, aud) von den neueren Orthodoxen verfochtenen, Anficht fteht der Wortlaut jener Matthärjchen Stelle eben fo entgegen, als die neu=tejtamentliche Geſchichte, bie fo häufig der „Brüder des Herrn“ erwähnt. Denn das Wörtlein „bis“ bei Matth. 1, 25 kann, wie man auch das ran deuteln mag, nur den Gedanken ausdrüden, daß nicht länger, ald während der Zeit der Schwangerfchaft, die Ents haltfamfeit der Aeltern Jeſu angedauert habe; und wenn man mit dem Ausdrude „erften Sohn“ wohl auch einen einzis gen bezeichnen kann, fo lange noch Hoffnung zu einem zwei⸗ ten vorhanden it, fo würde er Doch in dieſer Bedeutung widerfinnig fein, wenn an weitere Nachfommenfchaft nicht mehr gedacht werden kann, was doc, bei Abfaſſung des Evans geliums, wo Jeſu Aeltern nicht mehr lebten, der Fall war. Etwas weniger Gewicht hat der aus der häufigen Erwähr

nung der Brüder Jeſu hergenoinmene Einwurf gegen jene orthodore Lehre von der unverleßten Keufchheit Joſephs nnd der Maria. Allerdings werden gewifle Männer und Frauen ald Brüder und Schwejtern Jeſu ganz beitimmt "aufgeführt; vergleiche Matth. 12, 46; 13, 59. Mark. 6, 3.

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Luk. 8, 19. Joh. 2, 12. Apoftelg. 1, 14; und daß diefe „Brüder Jeſu“ nad Joh. 7, 5 nicht gleich ans fange an ihn glaubten und ihn nach Mark. 3, 21 und 31 für einen Berrüdten zu halten fcheinen, wiberfpricht ber Augabe, daß fie feine Brüder von der Mutter her gewes fen, eben fo wenig, ald der Umitand, daß nicht ihnen, fonbern dem Johannes, Jeſus feine Mutter, che er farb, empfahl (Soh. 19, 26 ꝛc.). Allein Das macht mit Recht Bedenken, daß außer den vier Brüdern, deren Namen 3. B. bei Matth. 13, 55 zu leſen find, noch andere Männer mit ganz gleichen Kamen aufgeführt werden, nämlich im Ganzen die Brüder mitgerechnet vier Jakobus, zwei Joſes Cunter ihnen wei Vettern Jeſu, Jakobus und Joſes), drei Sudas und drei Simon (die Namen der Schweſtern werden nirgends genannt). Ferner fcheint aus den ziemlich verworrenen evans gelifchen Berichten über die verfchiedenen Jakobus hervorzus gehen, daß der Bruder Jeſu, der jüngere Apoftel und ber Better Jeſu dieſes Namens eme und biefelbe Perfon, und war der Sohn der Maria, der 'Schwefter der Mutter Jeſu, gewefen. Man könnte aljo bei dieſem das beigegebene gries hifche Wort Cadelphos), das fonft nur „Bruder“ heißt, in dem Sinne von „Better“, „naher Blutsverwandter“ nehmen, worauf denn Nichts hinderte, ihm auch in Bezug auf die drei andern dieſe Bedeutung zu geben. Jedoch hat dieß wiederum andere nicht zu löfende Schwierigkeiten. Das genannte grie> chiſche Wort hat jene Bedeutung „Better“ fonft nirgends, wiewohl es, wie unfer „Bruder“ aud den Nächften bes deutet; die „Brüder des Herrn“ erfcheinen in den Evans gelien faft überall in ber Begleitung von, Jeſus und feiner Mutter; Apoſtelg. 1, 14 werden fie, nad, Aufzähs lung aller Apoftel, nody ganz bejonderd genannt; —- auch 1 Kor. 9, 5 fcheinen fie von den Apofteln gefondert zu werden; wie fonderbar wäre es endlich, Daß gerade von diefen Männern jene Bezeichnung ftehend geworden fein follte, und nicht ein einzigesmal von ihnen wirklich das Wort „VBettern“ gebraucht würde, ein Wort, bas im neuen Teſta⸗ mente fonft öfters verkannt, 3. B. Kol. 4, 10.

Wir werden alfo auf die Annahme, daß jene Männer

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allerdings Jeſu Brüder geweien, als die wahrfcheinfichke, zurückgeworfen, und haben feinen Grund zu läugnen, baß, Maria ihrem Gatten noch mehrere Kinber geboren habe; Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf bie verfchler denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei folcher Gleich⸗ namigkeit nicht feltene, Berwechjelung, zumal bei minblichen Ueberlieferung, erzeugt worden fein.

An die Verkündigungen des Johannes und Jeſus fchließe ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifabeth an, beffen Darftellung bei Lufas (1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen, mit vielen wunderbaren Zügen burchwebt iſt. Zwar glauben

bie natürlichen Ausleger mit biefen feicht fertig zu werben. „Der Unbekannte, welcher Maria befuchte Ch. S. 90.), hatte ihr auch die unerwarteten Hoffnungen der Eliſabeth mitgetheilt (DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu befuchen. Sie thut es, kommt an, und erzählt ihr vorerſt das ihr gu Theil gewordene Glüd, wodurch Eliſabeth in hohe Bes geifterung verfegt wird; dieſe Gemüthöbewegung theilt füch dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches beßhalb eine hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bebeutfames Zeichen erblidt und mit begeifterten Worten die Maria anres det (DB. 40 ꝛc.).“ Allein erftlich hat ja, unferm Berichte zus folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß hin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend einer Erzählung der Maria, die den Worten der Eiifabeth vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der Bewegung des Kindes, wenn man den orten nicht die größte Gewalt anthun will (vgl. nad) V. 44). Eben fo wenig bes friedigt die natürliche Erklärung des Lobgefanges der Maria (B. 46 10): „Maria wird durch Elifaberh in ihren mefflanis fhen Erwartungen beftärft, und wird dadurch gleichfalls bes geiſtert.“ Wie ift e8 doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei einem Befuche der einen, flatt ſich zu unterhalten, in begeifterte Geſänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen . Anläffen, natürlichen Geſprächsform entfagen?

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ir fonnen alſo nichts Anderes annehmen, als daß Elifas beih wirflidy in der ganzen Erzählımg etwas Wunderbares hat geben wollen; und als ſolches faßt es auch der ortho⸗ dore Außleger, und bietet und damit Näthfel anderer Art. Es ift naͤmlich ganz unglaublich, daß die bloße „Stimme* eines Menfchen (V. 44) auf die noch nicht ausgebildete Leibes⸗ frucht irgend einen Eindrud fol machen können. Welchen Zweck follte auch ein fo abenteuerliches Wunder haben? Elis fabeth und Maria bedurften ja feiner Beftätigung ihrer Hoffs nungen mehr; und das noc) nicht zur Reife gediehene, noch anbefeelte Kind Sohannes fonnte, wie gefagt, noch feinen Eindrud empfinden, der ihn auf feine künftige Beſtimmung hingewieſen hätte. Soll aber die Rede der Maria Wirkung des heiligen Geiftes gewefen fein, fo ift fchwer zu begreifen, daß derfelbe Nichts bewirkt habe, als eine ziemlich locker zus fammengefügte Reihe altsteftamentlicher Sprüche, als welche die Rede, felbit nach einer flüchtigen Vergleihung nım mit 1 Sam. 2, 1 ıc. und andern Stellen, erfcheint.

Wir werden alfo nicht anders Tonnen, als auch diefen legten Theil der Erzählung für rein mythifch zu erflären, nur nicht in dem Sinne derjenigen mythifchen Ausleger, welche immer noch einen Befuch der Maria bei Elifabeth ale That⸗ fache fefthalten, nebft einigen begleitenden Umftänden. Denn eben diefer Beſuch, an ſich genommen, verräth am beutlichften, daß das Ganze nur Mythe if. Nach den bei Abfaffung des Evangeliums herrfchenden Vorftellungen mußte Sohanneg, als Sefu untergeordnet, zu deſſen Berherrlichung beftimmt fein; fie mußten ſchon frühzeitig in der innigften Verbindung mit einander geftanden haben; diefe aber fonnte durch Nichts anfchaulicher gemacht werden, als wenn fchon die Mütter der beiden Propheten in eine Berührung mit einander kamen, bei welcher fchen die Mutter des Sohannes vor der Mutter Jeſu ihr Haupt demuthsvoll neigte.e Daher der Beſuch im Ganzen; einzelne Züge als hiftorifch fefthalten zu wollen, hieße den Charafter meffianifcher Miythen ganz verfennen; viel mehr mußte dieſe gewilfe VBorausfekungen machen, deren fie als Grundlage bedurfte. Wir müffen alfo nicht nur den Be⸗ fuch der Maria, fondern auch ihre nahe Verwandticaft mit

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allerbings Jeſu Brüber geweien, als die wahrfcheinfichke,

zurückgeworfen, und haben feinen Grund zu läugnen, daß Maria ihrem Gatten nody mehrere Kinder geboren habe;

Die oben angebeutete Verwirrung in Bezug auf die verfchie

denen Jakobus kann gar leicht durch eine, bei folcher Gleich⸗

namigkeit nicht feltene, Verwechſelung, zumal bei münblicher

Ueberlieferung, erzeugt worden fein.

An die Verkündigungen des Johannes und Jeſus ſchließt

ſich noch ein Beſuch der Maria bei der Elifabeth an, deſſer

Darftellung bei Lukas C1, 39 ıc.), wo wir fie allein lefen

mit vielen wunderbaren Zügen durchwebt iſt. Zwar glauberz bie natürlichen Ausleger mit diefen feicht fertig zu werben. „Der linbefannte, welcher Maria befuchte (ſ. S. 90.), hatte ihre auch die unerwarteten Hoffnungen der Elifabeth mitgetheilt (DB. 36); daher treibt es fie, diefe, ihre ältere Verwandte, zu befuchen. Sie thut es, fommt an, und erzählt ihr vorerft das ihr zu Theil gewordene Glück, wodurch Etifabeth in hohe Bes geifterung verjeßt wird; dieſe Gemüthsbewegung theilt ſich dem Kinde unter ihrem Herzen mit, welches deßhalb eine hüpfende Bewegung macht, woran Elifabeth ein bedeutfames Zeichen erblickt und mit begeilterten Worten die Maria anres bet (V. 40 2c.).“ Allein erſtlich hat ja, unferm Berichte zus folge, Maria die Elifabeth nur gegrüßt; auf diefen Gruß bin hüpfte die Frucht ihres Leibes; feine Spur von irgend einer Erzählung der Maria, die den Worten der Eliſabeth vorausgegangen wäre oder fie unterbrochen hätte! Die Ges müthsbewegung aber war nicht Urfache, fondern Folge der Bewegung des Kindes, wenn man den orten nicht Die größte Gewalt anthun will (gl. nach V. 44). Eben fo wenig bes friedigt die natürliche Erflärung des Tobgefanges der Maria (BD. 46 0): „Maria wird durch Elifabeth in ihren meſſiani⸗ ſchen Erwartungen beftärft, und wird dadurch gleichfalld bes geiftert.“ Wie ift es doch denkbar, daß zwei Freundinnen bei einem Befuche der einen, ftatt ſich zu unterhalten, in begeifterte Gefänge ausbrechen? fo ganz der, auch bei außerordentlichen Anläffen, natürlichen Gefprächsform entfagen?

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unter Auguſtus willen wir durchaus Nichts; Stellen, die man dahin hat deuten wollen, beziehen fidy nur auf Stalien. Ehen fo unzuläffig ift eg, Die Worte, welche das Neid, bes zeichnen (wörtlich nach dem Griechifchen: „Das ganze bewohnte Land“) auf das jüdifche Land zu befchränfen, und unter „Befehl“ nur eine Abficht, ein ausgedrüdtes „Beltreben“ zu verftehen.

DD Sn Sudäaa insbefondere Fonnte aber damals) als Jeſus geboren wurde, feine römifche Schakung vorgenoms men werden; denn nad Lukas eigenen Berichten regierte das mals noch Herodeg (1, 5), worin ihm Matth. 2, 1 beis flimmt, und fein Sohn und Nachfolger ward erft nach zehn⸗ jähriger Regierung von Auguft verbannt, worauf Judäa römiſch wurde. Nun waren zwar bie damaligen jübifchen Könige, wie manche andere, den Römern fchon zinsbar: allein eine Schatzung ftellten diefe doch nur in ihren eigenen Provinzen an. Daß hievon unter Herodes eine Ausnahme gemacht worden, läßt fid) durchaus nicht erweifen.

3) Es war damald Quirinus gar nicht Statthalter in Syrien, -fondern erft lange Zeit nad) Herodes Tode; diefer ftelfte in Sudaa allerdings eine Schakung an, aber erft etwa, sehn Sahre nach Sefu Geburt.

Diefe Unrichtigfeiten laſſen fidy weder durch die ganz will führliche Annahme, Berg 2 fer ein fpäterer Zuſatz, noch durch gewaltfanie Aenderung der Worte, noch durch fprach- und fachwidrige Erflärungen wegbringen. Wollte man auch, allen übrigen Berichten zum Troße, annehmen, Jeſus fei wirflich nicht unter Herodes, fondern zu Quirinus Zeiten geboren, ſo war ja auch damals nur Sudäa, wo Bethlehem lag, nicht auch Galiläa römifche Provinz, und Sofeph von Nas zareth, eines Königs Unterthan, hatte nichts bei der Schabung in einer Provinz zu thun.

Endlich mußte jeder Jude zwar bei einer jüdifchen Schakung in feinem Stammorte fich einfchreiben laſſen, nicht aber bei einer römifchen, und es war alfo überhaupt fein Grund vorhanden, weßhalb Joſeph, obgleich Davide, hätte nadı Bethlehem wandern follen, wie V. 3 und 4 er- zählt wird.

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Geftehen wir alfo ein, daß die Reife nad) Bethlehem ein Erzeugniß der Mythe ift, die, der Weiffagung Micha 5, 1 zufolge, Jeſum mußte an jenem Ort geboren werden laſſen: um eine folche Reife wahrfcheinlich zu finden, knüpfte man fle an die berühmt gewordene Schakung des Duirinus an, von welcher man zur Zeit der Abfaffung unferes Evangeliums nur noch unbeftimmte Kunde im Lande hatte, und die Der Zeit nach ohngefähr mit der Geburt Jeſu zufammentraf. ‚Finden wir alfo im weiteren Verlauf der Unterficchung feine weiteren Beweife, fo haben wir in unferer Stelle Feine Bürgfchaft dafür, daß Jeſus in Bethlehem geboren worden.

Unfer Evangelift indeß erzählt, ganz folgerichtig fortfah⸗ rend, in V. 6— 20 die wirfliche Geburt in Bethlehem, und zwar ausgefchmüct mit Dem wunderbaren Zuge, daß Engel - diefelbe den Hirten auf dem Felde angezeigt haben. Noch weiter gehen die apofryphifchen Evangelien, Taut welchen Mas ria ſchon auf dem Mege in der Nähe von Bethlehem unter wunderbaren Unftänden von Geburtswehen überfallen wurde, und in einer Höhle Cwährend unſer Lufas nur eine Krippe in Bethlehem nennt) ohne Verletzung der Sungfraufchaft gebar.

An der buchſtäblichen Erklärung des Berichtes von Lukas mit den Supranaturaliften feftzuhalten, hat mancherlei Echwierigfeiten. Abgefehen von dem, mag fihon oden ©. 73 über Engelerfcheinungen im Allgemeinen bemerkt worden, find wir nicht im Stande, hier in unferm befondern Falle einen gotteswürdigen Zweck dieſes Wunders heranszufinden. Sollte dadurch die Geburt Jeſu allgemein befannt werden? Aber Diefer Zwed wäre ja von Gott verfehlt worden; denn, um nur das Nächite anzuführen, fchon die Magier (ſ. unten) mußten erft in Serufalem nachfragen, wo' Jeſus geboren wor⸗ den. Sollten die Hirten in ihren meffianifchen Hoffnungen keftärft werden? Auch davon, daß dieß wirklich erreicht wor⸗ den, eben fo wenig eine Spur, ald davon, daß gerade fie fo befondere Erwartungen der Art gehegt hätten.

Im Gegenfatse zu diefer Auslegung erklären die Rationaliften Alles für einen ganz natürlichen Vorfall. „Die Hirten

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hatten der Maria gaftfreundliche Aufnahme gewährt, von ihr erfahren, welcher feligen Hoffnung fie fich erfreute, brachten fodann die Nacht auf dem Felde zu, bemerften hier eine im Morgenlande nicht feltene feurige Lufterfcheinung, deuteten dieß als eine Gottesbotichaft, daß die fremde Frau den Meſſias wirflidy geboren, und hielten fofort die glänzenden Lichtftrah- len für Engelfchaaren.“ Allein wie ift e8 benfbar, daß Maria, die früher fo fchweigfam war, und felbft ihrem Ver⸗ Iobten von ihren. Hoffnungen nichts mitteilte, daß fie dieſe Hoffnungen nun fogleich ganz fremden Hirten eröffnet haben ſoll? Wo ift eine Spur davon in unferer Erzählung, daß fie überhaupt von dieſen gaftfreundlich aufgenommen worden? feinen nicht vielmehr die Worte: „Und e8 waren Hirten (ganz unbeftimmt gefagt!) in diefer Gegend“ diefer Annahme ſtillſchweigend zu widerfprechen ?

Andere erklären daher die Engelerfcheinung in unferer Ers zaͤhlung mit Recht für eine aus den Zeitvorftellungen hervors gegangene Mythe; irren aber darin, daß fie als Thatfache fefthalten, Maria habe wirklich in einem Hirtenftalle in Beth- lehein gewohnt, und in einer Hirtenwohnung fei Jeſus geboren, Denn haben wir einmal die Reiſe zur Schatzung nadı Beth lehem als mythiſch erkannt, fo kann das Herbergen in einem Stalle gar nicht mehr als Thatfache betrachtet werden, weil ed fich einzig aus einem ganz ungewöhnlichen Zufammenftrömen bon Fremden erklären laßt. Andererfeits finden fich aber in den Zeitvorftellungen und in altsteftamentlichen Borbildern aud) ‚für dieſen Theil der Erzählung Gründe genug, welche vers anlaffen konnten, denfelben zu erdichten. Sn Berborgenbheit mußte der Mefftas, fo dachte man, geboren werden, um vor den Nachftellungen der Pharifäer ficher zu fein. Kerner läßt die alte Welt überhaupt in ihren Mythen den Hirten und - Randleuten am liebjten göttliche Erfcheinungen zu ‘Theil wer: den; von Hirten werden Götterfühne erzogen, 3. B. Roms lus u. fm. Im Veiondern bot fi noch das Vorbild Dee Mofes dar, der bei den Heerden himmlifche Erfcheinungen hatte (2 Mof. 3, 1 ꝛc.) und David, des Meffias Ahnherr, war von den Neerden weg zum Könige des Volkes berufen worden (Pf. 78, 70 ꝛc.). Die Nadıt aber bildet in tem

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dichterifchen Gemälde den dunfeln Hintergrund, von dem bie . „Herrlichkeit des Herrn“ doppelt glanzvoll zurückſtrahlt.

Wenn man gegen diefe mythifche Auffaflung einwendet, bie Erzählung fei zu einfach und zu wenig dichterifch ausge⸗ fhmüct, fo antworten wir darauf: Die mythifche Poefte legt das Dichterifche in den Stoff der Erzählung, und kann daher in ganz fehlichter Form, ohne allen Aufwand von Kunft, erfcheinen. * Eben fo wenig Gewicht hat die Behauptung, daß die ganze Erzählung doch nicht aus Nichts zufammens gefloffen fein könne; dieß ift fie auch nicht, vielmehr aus den Thatfachen, daß die dee, der Meffias müffe in Bethles hem geboren worden fein, und die Borftellung, die Hirten werben des Verkehrs mit dem Himmel befonders gewürdigt, im jüdifchen Volke herrfchend wareu.

Die kurze Nachricht von der Befchneidung Sefu (2, 21) rührt ohne Zweifel von Semanden her, der, ohne wirkliche Nachricht von derfelben zu haben, fie als ſich von felbit vers ftehend vorausfeßte; „die angebliche Beftimmung des Namens „Jeſus“ (vgl. Luk. 1, 315 Matth. 1, 21), ſchon vor feiner Geburt, gehört auch nur zu der mythifchen Einkleidung der Erzählung *, wie dieß fchon ganz aͤhnlich von Iſaak, Ismael und Sohannes erzählt worden war.

Stebentes Kapitel.

Beſuch der Magier und Bethlehbemitifcher Kinder: mord.

(Matthäus 2.)

Auch Matthäus führt den neugebornen Meffias auf feiers liche und wunderbare Weiſe bei den Menfchen ein, jedoch durch eine ganz andere Erzählung, ald Lukas; nämlich durch die von dem Befuche der Magier aus Dften (Matth. 2, 1—12.) Hier ift ed ein Stern, der fie zu dem Kinde hins führt; und ihre Verehrung fpricht ſich durch koſtbare Ges fhenfe aus ihrer Heimath aus. Während bei Lufas Alles einen heiteren Ausgang gewinnt, endet dieſe Erzählung mit

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dem blutigen Kindermord, dem Sefus nur durch Die Flucht nach Aegypten entgeht. Beide Erzählungen können nicht neben einander beitehen; denn wenn wirflidy Die Engel bei Lukas fo laut die Geburt Jeſu verkündet hatten, fo mußte Diefelbe in dem nur 2— 3 Stunden entfernten Serufalem fchon vor den Magiern befannt fein, was aber nach Matth. 1, 4, 5 nicht der Fall war. Indeß können wir, da wir bereits des Lukas Erzählung als eine Mythe erfannt haben, umgeftört die Des Matthäus nun blos für ſich betrachten, und fragen: „Enthält fie vielleicht wirkliche Thatfachen oder auch nur Mythe?“

Sie ſetzt, um bei dem Allgemeinen zu beginnen, den Glau⸗ ben voraus, daß die Geburt großer Maͤnner und andere wich⸗ tige Ereigniffe in der Menfchenwelt durch Erfcheinungen am Sternenhimmel angezeigt werden (V. 2); eine Borftellung, die wir laͤngſt als Aberglauben anfahen. Wie Fonnte nun hier die Deutung aus den Sternen, gegen alle fonftigen Erfahrungen, zutreffen? Etwa durch wunderbare Beranftals tung Gottes? Aber hätte er dann nicht für lange, lange Zeiten jenen Aberglauben, fomit die Unmwahrheit, auf sehr nachtheilige Weiſe unter den Menſchen felbit befördert? Oder durch Zufall? Dann fällt aber das Wunderbare ganz weg; die Erzählung verdiente feine Stelle im Evangelium. Hierzu fommt noch die offenbar falſche Auslegung der Propheten- Stelle Micha 5, 1 (V. 5 und 6), welche von den Prieftern in Serufalem auf die Geburt des Meffiad gedeutet wird: denn mag auch das hebräifhe Wort,in diefer Stelle, das „Herr fher“ bedeutet, vom Mefftas zu verftchen fein, fo fagt fe doch weiter Nichts, als daß er aus Davids Gefchlecht kom⸗ men werde, deſſen Stammort befanntlic, Bethlchem war. Hat⸗ ten e8 aber die Priefter mit ihrer falfchen Auslegung doch getroffen, fo wäre das wieder ein Zufall.

Auffallend it es ferner, daß Herodes, als die Magier ihm die Geburt des Meffias melden, fie fogleich nach der Zeit fragt, in welcher der Stern erfchienen fei CB. 7): warum dieß? Dffenbar, um des Kindes Alter zu erfahren, und zu wiffen, welche Kinder er zu ermorden habe, wenn er des rechten nicht verfehlen wolle; allein dieſen fcheußlichen Plan, alle Kinder dieſes Alters zu ermorden, faßte er erſt damals,

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- als er fah, daß die Magier nicht wieder kamen (B. 16), wie er ihnen befohlen hatte, und er aljo Feine Kunde von dem Neugebornen erhielt. Iſt ed nun aber nicht undenkbar, daß er überhaupt durch einen folchen, feine Angft verrathens, den, Auftrag, nämlic wieder zu kommen, das Mißtranen gegen ſich rege gemacht haben follte, wodurch fein Plan ger gen das Kind vereitelt werden mußte? Dieß gefchah auch wirklich, und er mußte nun das entfegliche Blutbad unter fo vielen Kindern anrichten. War es nicht einfacher und ſiche⸗ ver, fogleich vertraute Boten heimlich nach Bethlehem zu ſen⸗ den, Die das unter fo außerordentlichen Umftänden °) geborne Kind leicht auffinden und wegräumen fonnten? Ber in dies fer Verblendung des Herodes eine befondere göttliche Fügung zur Rettung des Kindes erblikt, der verfündigt ſich gegen die Weisheit Gottes, die, einmal übernatürlich eingreifend, ein anderes Mittel gewählt haben würde, als das, beffen Dpfer nun viele unfchuldige andere Kinder wurben: konnte er nicht auf wunderbare Weiſe die Magier geräbezu nad) Bethlehem führen?

Die Magier ziehen, ſo geht die Erzählung weiter fort, nach Bethlehem; der Stern erfiheint ihnen wieder (B. 9), geht vor ihnen her und bleibt gerade über dem Haufe ſtehen, worin ſich Sefus befand (V. 10). Zwar bewegt ſich der Sternenhimmel fiheinbar um unfere Erde, aber von Oſten nach Welten, nicht von Norden nadı Süden, welches bie Richtung des Weges von Serufalem nad) Bethlehem ift. Aber auch Diefe fcheindbare Bewegung kann auf einem fo kurzen Wege gar nicht fo genau beobadıtet werden, Wie ein Stern, aber über einem Haufe ftille ftchen könne, da vielmehr alle ftille zu ftehen fcheinen, fobald der Wanderer Halt macht, dieß ift auch dann noch unbegreiflihh, wenn man mit einigen Kirchenvätern an einen ganz befonderen, von Gott eigens zu dieſem Zwecke gefchaffenen, Stern denft. Ein Engel kann ed auch nicht gewefen fein, fonft hätte ed Matthäus ficherlich gefagt, und ein Meteor noch weniger, weil dieſes

8) Wie fie nämlich im zweiten Kapitel des Lukas erzählt werben.

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sicht fo Tange Zeit andauern konnte, als zwifchen bem Aufs brauche der Magier aus ihrer Heimath und ihrer Ankunft in Bethlehem verfloß. Diefes Stilleftehen über einem Haufe iR andy felbft den Supranaturaliften jo fehr im Wege, daß fie auf mancherlei Weife fich Frümmen, um ihm zu entgehen; da es mit verfücchten Sprachverdrehungen nicht gehen will, fo meint 5. 3. Olshauſen, die Magier haben mur Findlich naiv fagen wollen: „die Bewegung, in welche der Stern fie verfeßt, habe nun aufgehört, da fie das Maus gefunden; er fei gleidyjam ftille geſtanden!“

Im Hanfe angelangt, überreichen die Magier dem Kinde föftfiche Gefchenfe, und nehmen fodann, durch einen Traum gewarnt, den Rückweg nicht über Jeruſalem. Wären fie zur auch auf der Hinreife nicht dahin gekommen! denn Heros des erläßt nun den fchändlichen Befehl zur Ermordung der Bethlehemitiichen Knaben (8.16), und Sefus entgeht der drohenden Gefahr nur durch die Flucht feiner Aeltern nad Aegypten; indem dieß Matthäus erzählt, deutet er abermals ganz fälfchlich eine altsteftamentliche Stelle auf Chriſtus (2. 15). Nämlich die Worte im Hofea 11, 1: „aus Aegypten rief ich

. meinen Sohn“ fünnen nur von der Befreiung der Sfraelis ten aus der Sflaverei in Aegypten verftanden werden, und

der Prophet Fann gar nicht, auch nicht einmal nebenbei, an Jeſu Flucht in diefes Land gedacht haben, da in deflen und der Sfraeliten Berhältniffen, außer der zufälligen Gleichheit des Ortes, Alles verfchieden ift. Es kann demnach hier die, Ihon an fich fpielende, Anſicht von der Doppelfinnigfeit einer Prophetenitelle ihre Anwendung nicht finden.

In Bezug auf die Bethlehemitifche Blutjcene felbft muß es ſehr auffallend erfcheinen, daß Fein anderer Schriftfteller ihrer erwähnt; nicht einmal Joſephus, der fo viel von Herodes berichtet. Nur Ein römifcher Schriftfteller aus dem vierten Sahrhundert erzählt von einem Herodiſchen Kindermord, vers mengt aber dabei die chriftliche Ueberlieferung mit dem Morde, den Herodes an feinem eigenen Sohne verübte. Auch hier wieder foll ein altes Drafel, dem Matthäus zufolge, in Er»

- füllung gegangen fein (V. 17, 18): aber auch hier wieder eine

durchaus irrige Auslegung!

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ale er fah, daß die Magier nicht wieder kamen (B. 16), wie er ihnen befohlen hatte, und er alfo feine Kunde von dem Neugebornen erhielt. Iſt es nun aber nicht undenkbar, daß er überhaupt durch einen folchen, feine Angſt verrathen- den, Auftrag, nämlid; wieder zu fommen, das Mißtranen gegen fich rege gemacht haben follte, wodurch fein Plan ges gen das Kind vereitelt werden mußte? Dieß gefchah auch wirflich, und er mußte nun das entfesliche Blutbad unter fo vielen Kindern anrichten. War es nicht einfacher und ſiche⸗ rer, fogleich vertraute Boten heimlich nach Bethlehem zu fens den, Die Das unter jo außerordentlichen Umftänden °) geborne Kind leicht auffinden und wegräumen fonnten? Ber in dies fer Berblendung des Herodes eine befondere göttliche Fügung zur Rettung des Kindes erblidt, der verfündigt fi) gegen die Weisheit Gottes, die, einmal übernatürlich eingreifend, ein anderes Mittel gewählt haben würde, als das, deſſen Dpfer nun viele unfchuldige andere Kinder wurden: konnte er nicht auf wunderbare Weife die Magier geradezu nad Bethlehem führen?

Die Magier ziehen, ſo geht die Erzählung weiter fort, nad; Bethlehem; der Stern erfiheint ihnen wieder (2. 9), geht vor ihnen her und bleibt gerade über dem Haufe ſtehen, worin ſich Sefus befand (B. 10). Zwar bewegt fidy der Sternenhimmel fcheinbar um unfere Erde, aber von Oſten nach Welten, nicht von Norden nach Süden, welches die . Richtung des Weges von Serufalem nach Bethlehem iſt. Aber auch dieſe fcheinbare Bewegung kann auf einem fo kurzen Wege gar nicht fo genau beobachtet werden. Wie ein Stern. aber über einem Hauſe ftille ftchen könne, da vielmehr alle ftile zu ftehen fcheinen, fobald der Wanderer Halt madıt, dieß ift auch dann noch unbegreiflih, wenn man mit einigen Kirchenvätern an einen ganz befonderen, von Gott eigens zu dieſem Zwecke gefchaffenen, Stern denkt. Ein Engel kann ed auch nicht gewefen fein, fonft hätte ed Matthäus ficherlic, gefagt, und ein Meteor noch weniger, weil dieſes

8) Wie fie nämlich im zweiten Kapitel des Lukas erzählt werben.

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siht fo lange Zeit andauern konnte, als zwifchen dem Aufs bruche der Magier aus ihrer Heimath und ihrer Ankunft in Bethlehem verfloß. Diefes Stilleftehen über einem Haufe iſt auch felbft den Supranaturaliften fo fehr im Wege, daß fie auf mancherlei Weiſe fich Frümmen, um ihm zu entgehen; ba es mit verjuchten Sprachverdrehungen nicht gehen will, fo meint 3. B. Olshauſen, die Magier haben nur kindlich naiv fagen wollen: „die Bewegung, in welche der Etern fie verfegt, habe nun aufgehört, da fie das Haug gefunden; er fei gleichſam ftille geftanden!“

Sm Haufe angelangt, überreichen die Magier dem Kinde köftfiche Geſchenke, und nehmen fodanı, durch einen Traum gewarnt, den Rückweg nicht über Serufalem. Wären fie wur auch auf der Hinreife nicht dahin gekommen! denn Heros des erläßt nun den fchändlichen Befehl zur Ermordung ber Bethlehemitiichen Knaben (B.16), und Jeſus entgeht der drohenden Gefahr nur durch die Flucht feiner Aeltern nadı Aegypten; indem dieß Matthäus erzählt, deutet er abermals ganz fälfchlich eine altsteftamentliche Stelle auf Chriſtus (V. 15). Nämlich die Worte im Hofea 11, 1: „aus Aegypten rief ich . meinen Sohn“ fünnen nur von der Befreiung der Sfraclis ten aus der Sflaverei in Aegnpten verftanden werden, nnd der Prophet kann gar nicht, auch nicht einmal nebenbei, an Jeſu Flucht in dieſes Land gedacht haben, da in deffen und der Iſraeliten DBerhältniffen, außer der zufälligen Gleichheit des Ortes, Alles verfchieden tft. Es kann demmach hier die, ſchon an ſich fpielende, Anficht von der Doppelfinnigfeit einer Prophetenitelle ihre Anwendung nicht finden.

In Bezug auf die Bethlehemitijche Blutſcene felbit muß es ſehr auffallend erfcheinen, daß Fein anderer Schriftfteller ihrer erwähnt; nicht einmal Sofephug, der fo viel von Herodes berichtet. Nur Ein römischer Schriftfteller aus dem vierten Sahrhundert erzählt von einem Herodifchen Kindermord, vers mengt aber dabei die chriftliche Ueberlieferung mit dem Morde, den Herodes an feinen eigenen Sohne verübte. Auch hier wieder foll ein altes Drafel, dem Matthäus zufolge, in Ers - füllung gegangen fein (V. 17, 18): aber auch hier wieder eine durchaus irrige Auslegung!

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Nach Herodes Tode Fehrt Joſeph mit dem Kinde zurück; aber nicht nach Bethlehem, fondern nad; Nazareth in Gali⸗ län, weil über Judäa Archelaus, Herodes Sohn, herrfdhte. Zu diefem gedoppelten Entfchluffe treiben ihn abermal zwei Engelerſcheinungen im Traume.

Die ganze Erzählung bietet ung alſo fünf wunderbare gött⸗ liche Anordnungen, einen Stern und vier Traumgefichte, wo⸗ rin wir einen unbegreiflichen Ueberfluß erblidien müffen. Die zwei letzten Traumorakel fonnten gar füglich in Eins zuſam⸗ mengezogen werben, und daß die Magier nicht zugleich mit dem Sterne auch die göttliche Weifung erhielten, Sernfalem nicht zu berühren, erfcheint und fogar ale die eigentliche Vers anlaffung des unmenfchlichen Kindermordes, und macht es und nur um fo fchwerer, an die Wahrheit biefer Traumge; fi ichte zu glauben.

Endlich kann die den Schluß bildende abermalige Hinweis fung aufleine Weiffagung, „er fol Nazarener heißen“, nicht einmal recht verftändlich gemacht werden, fo viel Mühe man ſich auch damit gegeben hat.

Die mancherlei Anftöße, die ein buchftäbliches Fefthalten diefer Gefchichte, als einer wunderbaren, darbietet, wegzu⸗ räumen, haben vorzüglich die natürlichen Ausleger viek fach verfucht, am beften Paulus. Diefer hält, um dem _ Unglaublichen, daß heidnifche Magier etwas von der Ges burt eines jüdifchen Königs follten wiſſen können, aus dem Wege zu gehen, er hält die Magier für Juden, bie in Babylon wohnten, und auf einer Handelsreife auch nad Serufalem kamen; „da fie im Lande von einem neugebors nen Könige fprechen gehört, fällt ihnen eine kürzlich gehabte himmlifche Erfcheinmg ein, und fie wünjchen, gelegentlich das Kind auch zu fehen.“ Allein daß fie Feine Tuben waren, fcheint doc, aus ihrer Frage: „Wo ift der junge König ber Juden?“, daß fie feine Kaufleute waren, aus der bes ftimmten Bezeichnung derfelben ald „Magier“, und daß nicht Dandelsgefchäfte ihre Neife veranlaßten, aus der Eile hervorzugehen, mit der fie in Jerufalem fogleid) nad) dem

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Kinde fragen, und dabei ald VBeranlaffung ihrer Reiſe den ım Morgenlande gefehenen Stern angeben (®. 2). Aber nım weiter: eben dieſer wandernde und ftillftehende Stern, wie der zu deuten? Er foll fein Stern, fondern eine Cons fellation gewejen fein; merhvürdiger Weife fand nach nesern aftronomifchen Berechnungen eine folche wirklich ftatt, allein fieben Sahre vor Dem Sahre, welches als das Geburtsjahr Jeſu angenommen wird, und ebendiefelbe fol nad) der Rech⸗ nımg eines gelehrten Juden auch drei Sahre vor Mofe Geburt eingetreten fein, fo daß ihre Wiederkehr zu Herobes Zeiten wohl zu meffianifchen Erwartungen benüst werden formte. Allein aus vielen Gründen bleibt es fehr zweifelhaft, ob der „Stern“ des Matthäus wirklich jene Conftellation gewefen; um fo mehr, da auf eine folche Das „vorangehen“ und „ftille ftehen über dem Haufe“ eben fo wenig ohne den größten Zwang gedeutet werden kann, als auf einen wirklichen Stern (f. oben ©. 10%).

Was die falfch gedeuteten altsteftamentlichen Stellen ans langt, fo foll eine folche Auslegung dem Matthäus gar nicht zur Laft fallen. Nicht er, fagt man, fondern nur die Schrift- gelehrten in Serufalem, haben Micha 5, 1 auf den Meffiag gedeutet; allein Matthäus flimmt ihnen Doch indirekt bei, ins dem er in feiner weiteren Erzählung dieſe Deutung beftätigt werden läßt. Die Stelle aus Hofea foll der Evangelift nur angeführt haben (f. S. 105) um durch Hinweifung auf das heilige Volk Gottes jedem Anftoße zu begegnen, den man da⸗ ran nchmen fonnte, daß der Meffias einft unter Heiden ges wohnt. Davon ſteht aber in der Erzählung fein Wort, und die Worte: „auf daß erfüllt würde“ (V. 15) heißen auch hier nichts Anderes, ald eben das, was fie heißen! Die mehrfachen Traumgeſchichten endlich werden aus vorangegan⸗ genen Erfundigungen und Gedanken der Wachenden erflärt. Allein auch dagegen fträubt ſich der Text: dieſer läßt Die Nachrichten von der Abficht, und fpäter von dem Tode des Heroded, fo wie den Befehl, nadı Nazareth zu ziehen, den Betreffenden nur im Traume zufommen, und ftellt dieß offen⸗ bar ald eine wunderbare Eröffnung dar, was ja thöricht wäre, wenn die Träumenden es fchon vorher wuften,

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Ehen fo ungeihidt, als diefe natürlichen Erflärungen, find die erften mythifchen Auslegungen, zu denen man ſich hingetrieben fah, ausgefallen, indem fie von jenen fich kaum unterfcheiden, und eine Reife morgenländifcher Kaufleute, eine Blutfcene in Bethlehem und eine Flucht nach Aegypten als wirflihe Facta ftehen laffen, zu denen die Sage fpäter das Wunderbare hinzugedichtet. Allein nimmt man der Erzählung einmal dieſes, alles Einzelne derfelben gar wohl verfnüpfende, Wunderbare, fo gibt fie uns. nur eine Reihe unbegreiflicher Zufälle, die wie zufammengewürfelt erfcheinen. Will man Dagegen mit einem neuern Supranaturaliften Die Reife Der Magier, die durch ihre Sterndeutungen zur Ahnung Des in Sudaa gebornen Erlöfers gelangt waren, den Kindermorb und bie Flucht als gefchichtlichen Kern felthalten, und das Uebrige anf fich beruhen Taffen, fo hat man das Vertrauen auf bie Treue des Erzähler doc fchon aufgegeben, ohne deßhalb auch nur den kleinern Theil der Schwierigfeiten zu entfernen. Soll aber einmal unbefangene Prüfung jtattfinden, fo muß fie eine Richtung einfchlagen, in welcher alle Räthfel ihre Löfung finden.

Diefe Löfung finden wir nur, wenn wir die Erzählung als eine reine Mythe betrachten, hervorgegangen*aus den herrs fhenden meffianifchen Erwartungen. Den erften allges meinen Anhaltspunkt gibt und der Stern der Magier. So wie im Alterthbum überhaupt der Glauben verbreitet war, daß Geburt und Schickſale großer Männer mit Erfcheinungen am Sternenhimmel, Kometen, Gonftellationen ꝛc. in engem Zufams menhange ftünden (noch des Julius Caſar Tod ward mit einem Kometen in Berbindung gebracht), jo war es auch indbefondere rabbinifche Borftellung, ed werde bei der Geburt des Mefs fiad ein Stern im Oſten erfcheinen und lange fichtbar fein. Diefe Vorftellung fand eine ganz eigenthümliche Stüße in der Weiſſagung des heidnifchen Propheten Bileam (4 Mof. 24, 1: „Ein Stern wird aufgehen aus Sfracl.“ Zwar ift hier mit „Stern“ nur bildlich ein großer Fürſt bezeichnet, und dag Drafel bezieht ſich auf irgend einen fiegreichen König Iſraels, wie ältere jüdifche Erklärer die Stelle auch wirklich

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nahmen. Allein fpäterhin, als ſich der Glauben an Aftrologie inmer weiter ausbildete, nahm man jenen Ausdrnd buchftäb- ih und bezog die ganze Stelle auf den Meffias, wie aus Schriften der Rabbinen erhellt; und es mußte deſſen Geburt durch einen Stern voraus verfündet werden. War num aber Jeſus einmal von feinen Jüngern aus andermweitigen Grümden als der Verheißene anerfannt worden, fo mußten fie nach ihren jüdischen VBorftellungen als unzweifelbar annehmen, daß auch Diefes Zeichen an ihm in Erfüllung gegangen; je mehr Die Kindheit Jeſu ind Dunfel zurüctrat, um fo harm⸗ Iofer konnte diefer Glauben zur mythifchen Erzählung fich ges ‚falten. Daß der Stern aber im Dften gefehen wurde von Magiern, mußte man um fo mehr annehmen, da hier die Afteologie recht eigentlich zu Haufe war, und Bileam, ber den Stern fo beftimmt prophezeit haben follte,-ja auch ein Magier war.

Eben fo ergaben fich, nachdem einmal der erfte Keim der Mythe gegeben war, die einzelnen Züge desfelben gleichfalls aus andern auf den Meſſias bezogenen Stellen des alten Teftamentse. In Sof. 60 und Pf. 72 wird bei Schilderung der mefftanifchen Zeit hervorgehoben, daß die entfernteiten Könige nadı Serufalem kommen werden, um dem Mefftas mit glänzenden- Sefchenfen zu huldigen (man vgl. nur 3. B. Matth. 2, 11 mit Sof. 60, 6); hieß es num in Sof. 60, 1 und 3: „Serufalem, dein Licht ift gekommen“, fo Tag ed nahe, anzus nehmen, Magier feien es gewefen, die, von dem Sterne angetrieben, mit herrlichen Gaben zum Mefftas gekommen. Daß der Stern nun auch ihr unmittelbarer Führer wurde, hat feinen Grund in anderweitigen Vorftellungen des Alter: thums, das fo viel von Leitfternen zu erzählen weiß, wie 3. B. dem Abraham ein Stern den Weg zum Moria zeigte. Daß die Magier aber. zunächft nach Serufalem gehen, ergab ſich aus dem Slanze diefer Hauptftadt, und führte auf das Eins fachfte zu Dem bethlehemitifchen Kindermorde hinüber. Denn auch zu dieſem Theile der Mythe fand die urchriftliche Sage Antriebe genug. |

Bon jeher hat die Sage die Kindheit großer Männer durd) Mordverfiche verherrlihtz die wunderbare Nettung aus vet

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Gefahr verkündete ihre künftige Größe. So war, um von Eyrus, Romulus und Anderen zu fchweigen, auch Mofes Leben fchon frühzeitig durch königlichen Mordbefehl bedroht. In der einfachen altsteftamentlichen Erzählung 2 Mof. 1, 2 ift ed das bei zwar nicht insbefondere auf Mofes abgejchen; allein die fpätere Sage half auch in dieſem Punkte nach; denn dem Sofephus zufolge ward Pharao durch die Erflärung feiner Schriftdenter, e8 werde ein ifraelitifches Kind geboren werben, tas feinen Thron gefährbe, dazu veranlaßt; gerade wie Heros bes durch die Eröffnung der Magier. Ein ganz Aehnliches erzählt die rabbinifche Sage von dem Kinde Abraham. Darf es nun Wunder nehmen, dag auch die hriftliche den größten aller Propheten aus den Händen eined anderen Pharao wunderbarer Weife gerettet werden läßt? Weiß doch ein apofryphifches Evangelium eine nody winderbarere Rettung bes Knaben Sohannes zu erzählen! daß nämlich ein Berg ſich geöffnet und vor feinen Berfolgern ihn verſteckt habe.

Daß Sefus gerade durch eine Flucht gerettet wird, mag feinen befonderen Grund in einer wenigftens ähnlichen Flucht des Moſes haben, nach 2 Mof. 4 Kap., deſſen V. 9 auffallend mit Matth. 2, 20 übereinftimmt; ihn gerade nach Aegypten fliehen zu laffen, lag nahe genug, weil diefes Land eine alte Zufluchtsftätte bedrängter Sfraeliten war. Diefer Grumd ift wenigftens haltbarer, als die Berufung des Matthäus auf Hoſea 11, 1, welche Stelle wohl niemals auf den Meffias gedeutet worden ift. .

Wenn man gegen biefe mythifche Auffaffung der Erzählung einwendet, daß Matthäus ja die Weiffagung des Bileam, aus welchem der mythifche Zug von dem Sterne erwuchs, gar nicht erwähne und in den Magiern den Heiden eine zu große Bedeutung beigelegt werde, fo ift damit nicht viel gefagtz mit Letzterem nicht, weil fchon Die alt=teftamentlichen Stellen den Heiden diefe Bedeutung beilegen, die überdieß ja eine Huldi⸗ gung gegen den jüdifchen Meſſias ift. Auf das Erftere kann einfach erwidert werden, daß Matthäus die Mythe nicht felbft aus der Weiffagung des Bileam herausgefponnen, fondern fie nad) der Ueberlieferung, die diefe Wurzel abgeftreift haben konnte, nieberfchrieb.

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Bergleichen wir endlich unfere Erzählung mit ber bei Luk. 2 von dem Lobypreifen der Hirten cf. S. 100), fo müflen wir, wenn wir und nicht in große Widerſprüche verwickeln wollen, augeftehen, daß beide ganz unabhängig von einander entitanden, beide aber ein Beweis find, wie tief der meffianifche Ein- druck war, den Jeſus machte, da felbft der Gefchichte feiner - Kindheit nad) mehrfachen Richtungen hin die meffianifche Form, den vorhandenen Weiffagungen gemäß, gegeben wurde.

Wir bemerften ſchon oben CS. 103), daß, während bie Geburtsgefchichte Jeſu bei Matthäus die fo eben betrachtete ängftliche Wendung nimmt, fie bei Lukas ganz friedlich mit der Darftellung im Tempel enden. Obgleich wir die Er⸗ zählungen des Meſſias als Mythen bezeichnen mußten, fo wollen wir doch nun noch näher das Z eitverhältniß diefer Darftelung zu dem Beſuche der Magier und der Flucht nach Aegypten, alfo das Verhaͤltniß zwifchen beiden Erzählungen, mmterfüchen. °)

Dem Lufas zufolge fand die Darftellung nad) der ges feßlichen Zeit der Reinigung ftatt, alfo vierzig Tage nad) der Geburt; Matthäus feinerfeits beginnt die Erzählung von dem Beſuch der Magier ganz fo CB. 1), als ob zwifchen der Geburt und ihm nichts Bedeutendes vorgefallen wäre. Es ſetzten alfo viele Ausleger diefen Befuch vor die Darftellung; wobei nun die Frage entfteht: gehört auch die Flucht vor diefelbe, oder fteht diefe Darftelung im Tempel zwifchen Beſuch und Flucht? Dieß Lebtere ift unmwahrfcheinlich; denn auch beim Uebergange von dem Beſuche zur Flucht CB. 13) fpricht Matthäus, gerade wie oben V. 1, fo, als ob zwifchen Beiden gar nichts Erhebliches gefchehen wäre. Aber ganz

9. Wir ftellen gleich hier zu Teichterer Weberficht Die einzelnen Er: eigniffe neben einander, wie fie möglicherweife als aufeinander gefolgt, angenommen werden Eünnten:

1) Befuch der Magier, Darftellung im Tempel, Flucht. 2) Befuch der Magier, Flucht, Darftellung im Tempel. 3) Darftellung im Tempel, Beſuch der Magier, Flucht.

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undenkbar ift ed deßwegen, weil alsdann Gott, nachdem durch die Magier das Leben des Kindes der Grauſamkeit des miß⸗ tranifchen Herodes Preis gegeben worden, was ja der Grunb der Flucht war, er ed zugelaffen hätte, daß Joſeph mit ihm nach Serufalem zur Daritellung im Tempel ging; wie ges fährlidy war dieß, zumal da nach Elifabeth der alte Simeon und die Prophetin Hanna durdy begeifterte Lobgefünge (B. 29 und Ausbreiting der beglücenden Nachricht vom erfchienenen Erlöfer (V. 38) alle Welt auf das Kind aufmerkffam machten!

Man ift alfo nothgedrungen, auch die Flucht noch vor die Darftellung zu feßen; allein dieß geht noch weniger. Denn unmöglich konnte fo viel, als hier vorausgefeßt wird, in vierzig Tagen gefchehen: Befuch der Magier, Flucht nad) Aegypten, Kindermord. in Bethlehem, Tod des Herodes, Rückkehr ans Aegypten. Anzunehmen, daß bis zur Darftellung im Tempel mehr, als die gefegliche Zeit verfloffen, ift gegen die Worte Luk. 2, 22: „AB verfloffen waren Die Tage ꝛc. nad) dem Geſetze.“ Ueberhaupt aber durfte Sofeph mit dem Kinde nach der Flucht eben fo wenig, ald vor derfelben, nad Serufalem gehen, da er bei feiner Rückkehr durch einen Traum angewiefen wurde, nicht einmal das Land Judäa zu betreten ( Matth. B. 22), weil and) unter dem Nachfolger des Heros des, feinem Sohn Archelaus, Jeſus daſelbſt nicht ficher war.

Diefer großen Schwierigkeit wegen feßen die meiften Theo⸗ Iogen Beides, den Bejuch und die Flucht, nach der Darftellung im Tempel. Dieß ſcheint auch darum natürlicher, weil Matthäus einen größeren Zwifchenraum zwifchen der Geburt und der Ankunft der Magier andeutet, indem er erzählt, Herodes habe die Kinder bis zu zwei Sahren tüdten laſſen; das Erfcheinen des Sterns ſcheint aber gleichzeitig mit Sefu Geburt gebacht zu fein. Dem gemäß wären Sefu Eltern mit dem neugebornen Kinde von Bethichem zur Darjtellung nach Serufalem gereidt, dann wieder nach Bethlehein, wo die Magier fie fanden; hierauf Flucht, Rückkehr und Niederlaffung in Nazaret. Wie durchaus unwahrſcheinlich es ift, daß fie nochmals nady Bethles hem gegangen, wird weiter unten zur Sprache fommen; aber auch jehon die Worte des Lukas CB. 39) find fo beftimmt, DaB wir fie gar nicht anders auslegen Dürfen, als fo: „uns

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mittelbar von Serufalem gingen fie nad) Nazaret.“ Wäre auch Die Darftellimg dem Befuche der Magier vorangegangen, fo fonnte Jeſu Geburt nicht fo unbekannt fein, daß die Nach⸗ frage berfelben (nach Matth. 2, 3) allgemeine Beftürzung ers

regt hätte.

Es fcheint alfo unmöglich, die hier befprochenen Ers zählungen des Matthäus und Lukas mit einander in ins Hang zu bringen, und Eine wenigftens muß als ungefchichtlich aufgegeben werden. Wollte man, wie 3. B. Neanber thut, fih nur an die Worte des Evangeliften halten, fo könnte man fagen: „Gut; was der Eine erzählt, war allerdings dem Andern unbekannt, was aus den Worten hervorgeht; dars aus folgt aber nicht, daß es auch nicht gefchehen fei.“ Allein damit werben die oben dargelegten Widerfprüche, Die in der Sache felbft liegen, nichts weniger, ald entfernt; und wir müffen vor der Hand Dabei verbleiben: „ine der Er⸗ zäblungen muß eine Mythe fein.“ Die des Matthäus haben wir fchon als folche erfanntz; es bleibt und nun noch eine nähere Betrachtung der des Lukas, für fi; genommen, ohne Rückſicht auf Matthäus, übrig, um nachzufehen, ob nicht auch diefe als Mythe ſich herausſtellt.

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Achtes Kapitel

Jeſu Darftellung im Tempel und Wohnort feiner Eltern.

(Luk. 2, 22—405 vgl. mit Matth. 2.)

Auf den eriten Anblick fcheint diefe Erzählung eine natür- lihe Auslegung gar wohl zuzulaffen. Durch ein zweifaches Gefeß, das der Reinigung der Mutter und das der Loss faufung des erfigebornen Sohnes, werden Jeſu Eltern in den Tempel geführt. Hier treffen fie einen frommen Mann, den Simeon, der, noch in feinem hohen Alter ganz von meffianifchen Hoffnungen durchdrungen, das Bertrauen nährte, vieleicht durd, einen Traum beftärft, er werde vor feinem Ende noch den Berheißenen ſchauen; Die Schönheit des Kuoben

1. 8

AM

mochte ihn anziehen; -er erfuhr von Maria beffen Dawibifche- Herkunft, und diefe erzählte ihm, da fie feine Theilnahme be⸗ merfte, die außerordentlichen Ereigniffe, die fein Eintreten iw die Welt begleitet hatten. Dieß Alles feuert die meffianifchen Erwartungen des Greifen an, und, überzeugt, daß fie an diefem Kinde in Erfüllung gehen werden, ergießt er ſich in begeifterter. Rede. Auf ähnliche Weiſe könnte man fich bie Aufregung der geiftesverwandten Hanna denfen welche ja die Reden Simeond gehört hatte.

Allein näher betrachtet, verräth ſich und der ganze Her gang doch ald ein wunderbarer. Daß Maria dem Simeon irgend eine Eröffnung gemacht, davon finden wir feine Spur; vielmehr verrathen die Worte: „ber heilige Geift war in ihm“, deutlich genug, daß der Erzähler es fo anfah, er habe durch deffen Kraft auf wunderbare Weiſe den Fünftigen Meffias fogleich erkannt. Einem noch weiter ausmalenben apo⸗ kryphiſchen Evangelium zufolge war das Kind in diefem Augens blicke fogar von himmlifchem Glanze umfloffen. Allein ein Wunder überhaupt künnen wir, wäre ein folches auch an ſich zuläffig, fchon deßwegen hier nicht annehmen, weil es durchaus‘ feinen würdigen Zwed hätte. Diefer fönnte boch nur der fein, den Glauben an den Meffias zum Voraus zu begründen; von einem folchen Erfolge verräth aber Die fpätere Geſchichte Nichts; und einzig um die treue Zuverficht zweier frommen alten Leute zu belohnen, oder etwa nur ein- fach, das Jeſuskind zu verherrlicyhen, dieſe Zwede bei einem Wunder können wir unmöglich dem Allweifen zufchreiben.

Es wird demnach auch diefe Erzählung, zumal da fie den Schluß einer gewiffen mythifchen Reihe bildet, für eime Mythe zu halten fein. Diefe Anficht wird ſchon durch die anffallende Aehnlichfeit derfelben mit der oben befprochenen Scene bei des Taufers Befchneidung unterftüßt, hinter welchem der Meffias felbft doch nicht zurückbleiben konnte. Es lag aber überdieß im Intereſſe der Sage, den göttlichen, in dem Meſſias wohnenden Geift ſchon bei dem Kinde gleichfam fo lebhaft durchbrechen zu laffen, daß ein gottbegeifterter Mann ihn erfanntes und wenn ein frommer Mann das Kind ſchon ehrfurchtsvoll in den Armen gewiegt, in ihm feine hohe Bes

|

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ſtimmung (8: 30, 31) erfannt und die Leiden vorher geahnet

hatte (V. 34, 35), die ihm berfelbe bereiten würde, fo lag

- darin ein befeligender Troſt für den Schmerz, den die fpätere

Erniedrigung ihres Meffias in feinen gläubigen Anhängern erweckte.

Wem die Erzählung als Mythe zu einfach erſcheint, der verfennt, was fchon früher entgegnet werden mußte, das We⸗ fen des Mythiſchen; wer in der Beobachtung der gefeßs mäßigen Losfaufung eine Erniedrigung erblicdt, welche bie Mythe nicht würde habe ftehen laflen, der vergißt, welchen Werth auch Paulus (Cal. 4, 4) darauf legt, daß Jeſus uns ter bem Geſetze geboren worden, und daß Ssefus felbft in der Taufe ſich demfelben unterzieht. Daß aber neben ben prophetiichen Simeon noch die Prophetin Hanna geftellt wird, ift ganz im Weſen der Mythe begründet, welche eine gewiſſe Symmetrie liebt; der erfte bewillfommmnet den jungen Meſſias, die zweite breitet die frohe Kunde unter den Gläus bigen ang.

Die Erzählung fchließt damit, daß der Knabe unter dem Segen Gottes im Geifte erftarfte.

*

Nachdem wir bisher die beiden Berichte über die Kindheit Sefu geprüft, fowohl jeden für fi, wie auch beide in ihrem Berhältniffe zu einander, wobei fich mehrfache Widerſprüche ergaben, bleibt und noch Ein Widerfpruch, auf den wir ſchon öfters im Vorübergehen geftoßen, noch näher zu betradhten übrig. Er betrifft den eigentlihen Wohnort der Neltern Jeſu.

Lukas gibt ganz beſtimmt Nazaret als ſolchen an, wie aus 1, 26, 1, 56, 2, 4, 2, 39 deutlich genug her⸗ vorgeht. Matthäus fagt mit aus drücklichen Worten darüber Kichts. Daher erklären die Supranaturalijten fich dahin, daß Matthäus gleichfalls Nazaret als folhen annehme, ihn aber nicht beftimmt bezeichne, weil es ihm um foldye Dertlichfeiten nicht zu thun fei, und er Nazaret und Bethlehem ald Wohns und Geburtsort nur da angebe, wo ſich eine mefltanifche Weiſſagung an denfelben knüpfe (vgl. Matth. 2, 9, 6 ums

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2, 23). Allerdings läge in dem bloßen Schweigen de Matthäus fein Grund, anzunehmen, er fei anderer Meimmm, ; als Lukas; allein eine nähere Betrachtung wird zeigen, bau er vielmehr einen anderen Wohnort, nämlich Bethlehem; wenn auch nicht ausdrücklich nennt, Doch aber beſtimmt vor, ausfegt, und daher allerdings indirect Etwas barüber | ansfagt, und fomit dem Lukas widerfpricht.

Schon aus dem Umftande, daß er Bethlehem als ben Drt angibt, wo Maria geboren habe, ohne irgend eine Ber« anlafjung anzugeben, die fie dahin geführt, wird es wahr fcheinlich, daß er denfelben für ihren Wohnort gehalten habe. Gewiß aber wird dieß dadurch, daß er den Engel dem Jo⸗ feph bei feiner Rückkehr aus Aegypten ausdrücklich befchlen läßt, er folle nicht nach Bethlehem gehen, fondern nach Ga⸗ liläa. Wozu diefe Weifung, wenn Sofepy fchon n Nazaret in Galtlaa zu Haufe war? Was hatte er noch in Bethlehem zu thun? Dffenbar fand ed Matthäus nöthig, noch einen befonderen Grund anzugeben, weßhalb Sofeph nicht nad Bethlehem gehen konnte. Auch lauten feine Worte B. 22 und 23: „Er ging weg in die galtläifchen Bezirke, und ald er Das hin gekommen, fiedelte er ſich in Nazaret an“ fo, daß man sticht verfennen kann, Joſeph wollte zunächſt nur nach Ga- lilaa gehen, ohne den Drt zuvor zu fennen, wo er feine Wohnung nehmen wollte. So erzählt man nur von Jeman⸗ den, der in ein ihm fremdes Land zieht.

Es laſſen fich alfo, beionders aus dem Grunde, daß eb ſich durchaus nicht denken läßt, wie Sefu Aeltern auch nur Neigung haben konnten, von Aegypten nach Bethlehem zurüde zufehren, wenn dieß nicht ihr Wohnort war, Matthäus und Lukas nicht mit einander in Lebereinftimmung bringen. Daher hat man andere Gründe fiir den anfänglichen Plan, wieber nad, Bethlehem zu gehen, gefucht. Juſtin der Märtyrer gibt an, es fei Joſephs Geburtsort geweſen; allein wenn bieß ‚auch richtig ift, wie follte er auf einmal verfucht worden fein, ed auch zu feinem Wohnorte zu machen, da er ja nur ber Schagung wegen dorthin gegangen war? Und hätte Matthäus nicht wenigfteng vorübergehend erwähnen follen, daß Joſeph Jenes im Sinne hatte? Ein apokryphiſches Evangelium

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erzählt, Nazareth fei Wohnort der Maria, Berhichem ber Des Joſeph geweſen: er holte feine VBerlobte nach Bethlehem ab, und dieſe kehrte nad) der Geburt Jeſu wieder nad, Haufe zZurück. Allein nun fommt Lukas zu kurz, indem die Schatung als Grund der Reife wegfüllt, und es unbegreiflich bleibt, wie feiner Erzählung zufolge Maria in einem Stalle gebären mußte, wenn Sofeph in Bethlehem zu Haufe war. Diefe Angabe haben Neuere darauf befchränkt, daß Joſeph die Abficht ge: Habt, ſich mit Maria an feinem Geburtsorte niederzulaffen, Darum alſo von dem Engel befonderd abgemahnt werden mußte, und diefen Plan Darauf wieder aufgegeben habe.

Allein von einem folchen Plane weiß Lukas durchaus Nichte, und Alles, was fid, bei Matthäus auf einen Aufenthalt in Bethlehem bezieht, gehört Erzählungen an, die wir als rein mythifch erfannt haben, die alfo Nichts beweifen. Unter Allen, welche eine Vebereinftimmung beider Evangelien foviel wie möglich zu retten fuchen, ift Neander am reblichiten, indem er eingefteht, daß Matthäus von der Reife nach Beth⸗ Ichem nichts gewußt, und daher irrthümlich Dasfelbe für Den Wohnort gehalten habe. Daß aber die Folgerung, die aus dieſem Zugeftändniß gezogen wird, beide Berichte feien im Mefentlichen, naͤmlich in dem Aufenthalte der Aeltern Jeſu in Bethlehem zur Zeit feiner Geburt einftimmig, irrig fei, wirb Folgendes Flar machen.

Da dem Obigen zufolge die Wohnmgsveränderung bei Matthäus mit unhiftorifchen Angaben zuſammenhängt, und alfo auch mit dem Aufgeben diefer von felbft fällt, fo werden wir dem Lukas beiftimmen müſſen, der Jeſu Aeltern vor und nach deffen Geburt in Nazaret wohnen läßt. Dagegen bietet ung Lukas in der Schatzung ein ganz unhiftorifches Moment, welches Jeſu eltern veranlaßt haben fell, kurz vor veffen Geburt den Wohnort zu verlaffen, was an fich ganz unwahr⸗ fcheinlich iſt. In Diefer Beziehung ftimmen wir licher dem Matthäus bei, der Jeſum am Wohnorte der Acltern ge- boren werden läßt. Es ftellt ſich alfo deutlicher der Widers fpruch fo heraus: Beide Evangeliſten nehmen Bethlehem als Geburtsort Sefu anz danıı müffen feine Aeltern auch hier ge= wohnt haben; beide geben als Wohnort feiner Aeltern

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Razaret anz dann muß er auch hier geboren fein. Dies fer Widerfpruch fcheint unauflöslich; wir müſſen aber nach⸗ fehen, nach welcher Richtung hin und gewichtigere Gründe ziehen, ob nad, Nazaret oder Bethlehem: denn Geburtsort und Wohnort dürfen wir num nicht mehr trennen 79.

Einerſeits ftimmen nicht nur Lukas und Matthäus barin überein, daß Nazaret der Wohnort von Jeſu Neltern ges wefen, fonbern es wird dieß auch durch eine Menge von aus berweitigen Angaben beftätigt. ,„aliläer, Nazarener* find ftehende Beinamen Jeſu; als Nazaretauer wird er kenntlich gemacht (Luk. 18, 37), als folcher gering gefchäßt („Was kann aus Nazaret Gutes kommen?“ Joh. 1, 46); als folder noch am Kreuze bezeichnet (Joh. 19, 19); nach feiner Aufs erftehung verfünden ihn feine Tünger als Jeſum von Nazaret, und thun Wunder im Namen Des Nazareners; Nazaret wird nicht nur als der Drt, „wo er auferzogen worden“ (Luk. 4, 16), fondern geradezu als feine „Vaterſtadt“ bezeich- net (Matth. 13, 345 Mark, 6, 1); Nazarener endlich iſt lange Zeit. der Namen feiner Anhänger. In Nazaret alfo muß er fi lange Zeit aufgehalten haben; da er aber wäh. rend feines öffentlichen Lebens hier nur vorübergehend lebte (Luf. 4, 16), fo kann jener längere Aufenthalt nur in in feine Sugend fallen, wo er bei feinen eltern lebte, bie alfo bier gewohnt haben müffen: und zwar von jeher, ba fein gefchichtlicher Grund zu einer Wohnungsveränderung da ift. Alfo, werden wir fchließen, ift er auch hier geboren.

Andererfeits aber geben beide Evangelien ebenfalls übers einftimmend an, daß Jeſns in Bethlehem geboren fei, eine Angabe, welche überdieß auf die durch eine Prophetens ftelle (Micha 5, 1) veranlaßte Erwartung geftügt iſt. Aber eben diefe Stüße ift fehr unficher! Denn „wo der Nachricht von einen Erfolge eine lange Erwartung deſſelben vorangeht,

20, Da obenftehende Linterfuchung zu den vermwideltften gehört, was auch in unferer Darftellung noch fühlbar fein mag, fo mußte fie etwas ausführlicher behandelt werden.

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da muß fchon- ein ftarfer Verdacht entſtehen, ob nicht die Er⸗ zählung,, daß das Erwartete eingetroffen fei, nur der Voraus⸗ fekung, daß es habe eintreffen müffen, ihre Entilehung vers danten möge. * Dieß ift um fo mehr der Fall, wenn jene Erwartung ungegründet it, bemnad, der Erfolg eine falfche Auslegung einer Weiffagung beftätigt haben müßte; wie wir oben bereits fahen.

Diefe prophetiiche Grundlage benimmt alfo der Erzählung, ftatt ſie zu beitätigen, ihre Wahrfcheinlichkeit, wenn fie nicht durch anderweitige Zeugniffe geſtützt iſt. Dieß ift aber bei der bethlehemitiichen Geburt Jeſu durchaus nicht der Fall. Nirgends font im neuen Teſtament wird deren erwähnt, wir fehen Jeſum nicht in der geringiten Berührung mit Bethlehem; er beruft ſich niemals zum Beweife feiner Meffianität auf feine Geburt daſelbſt; ja fogar auch damals nicht, als das Bolt befwegen ungläubig war, weil er unicht aus Bethlehem ſtammte ob. 7, 42)! So oft audy Johannes erzählt, daß das Volk ihm als Nazarener gering fchäßte, jo fügt er doch nie zur MWiderlegung diefer Anficht Etwas hinzu; auch da nicht, als Rathanael aus demfelben Grunde Anftand nimmt, Jeſu nach⸗ folgen (Joh. 1, 46); auch die Seinigen willen ihm kei⸗ ven andern Namen, als jenen zweidentigen des Nazareners, zu geben. Da alfo Fein gefchichtliches Zeugniß für, ja Mans dies gegen die Geburt in Bethlehem fpricht, da Jeſu Aeltern unbezweifelt in Nazaret wohnten, und wir feinen Grund haben, anzunchmen, daß er nicht an dem Wohnorte feiner Yeltern geboren fei, fo können wir nicht umbin, feine Geburt in Nazaret ald gefchichtliche Thatfache anzunehmen.

Wir finden alfo bei beiden Evangeliften Richtiges und Un- richtiges; Lukas hat darin Recht, daß er die Aeltern Sefu vor und nach der Geburt desfelben an demfelben Orte wohnen läßt, namlich, in Nazaret, irrt aber, daß er ihn an einem andern ald dem Wohnorte der eltern geboren wers den läßt; Matthäus hat darin Recht, daß er den Wohn- ort der Aeltern auch zugleich zum Geburtsort des Kindee macht, irrt aber, indem er als foldyen vor ber Geburt

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Bethlehem annimmt, und erſt nach derfelben Nazaret. Darin aber haben beide Unrecht, baß fie ald Geburtsort Jeſu Beth⸗ lehem angeben. Diefer Irrthum ging aus den jüdifchen Borftellungen, welchen fie nachgaben, hervor: die Wahrheit aber, bie durch Beider Berichte dennoch durchſchimmert, daß. Jeſus namlich feine ganze Tugend in Nazaret zugebracht, floß aus ber feftftehenden Thatfache, daß er überall der Nazaresas ner genannt wird. Indem Matthäus feinem ganzen Weſen nach mehr dem Zuge altsteftamentlicher Weiffagungen folgte, ließ er den vermeintlichen Geburtsort Bethlehem glängender hervors, feinen Wohnort Nazaret mehr in Hintergrumb treten; Lukas dagegen ward mehr von dem hiftorifchen Elemente angezogen, legte das Hauptgewicht auf Razaret, und knüpfte die Geburt in Bethlehem nur an ein zufällig eingetretenes, vorübergehendes Ereigniß an. -

Wir fehen alfo, daß hier eine den Erzählern geftellte Auf⸗ gabe, nämlidy die hiftorifche Thatfache, daß Jeſus ein Nas zaretaner geweſen, mit der Forderung der meffianifchen Ers wartungen, daß er in Bethlehem geboren werden müfle, auf zwei verfchiedene, von einander abweichende Weiſen gelöst worden ift: ein Fall, ber öfters auch im alten Zeflamente vorfommt, wo 3. B. in einem und bemfelben Buche, im erfien Buch Moſis, der Name Iſaak auf dreifache Weiſe abgeleitet wird.

Neuntes Kapitel Erfter TZempelbefuch und Jugendverhältniſſe Jeſu. CLuk. 2, 41— 52.)

Aus der ganzen Jugendzeit Jeſu bis zur Taufe durch Jo⸗ hannes iſt nur Ein Ereigniß zu unferer Kenntniß gefomnten, nämlich fein Auftreten im Tempel zu Serufalem als zwölf⸗ jähriger Knabe, wovon ung Lukas eine anziehende und eins fache Erzählung gibt. Zwar ift diefelbe in mehreren ihrer Theile angegriffen worben, allein, wie wir bald fehen werben, mit Unrecht.

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Zuerft hat man ben Aeltern Jeſu ed als Eorglofigfeit zum Borwurfe gemacht, daß fie von Serufalem abreisten, ohne ihn bei fich zu haben (V. 43, 44). Allein einen zwölfjährigen Knaben, ber im Driente fchon fo viel ift, als ein fünfzehnjähriger bei ung, haben feine Aeltern nicht mehr mit unausgefetter Aengſt⸗ lichleit zu hüten, zumal wenn er von fo ernftem Wefen ift, wie “wie uns Jeſum ſchon in diefem Alter denken müffen. War er alfo feinen Aeltern einmal aus den Augen gefommen, fo war es fehr natürlich, daß fie ihn bei ihren galifäifchen Freunden glaubten, ihn in der überfüllten, Hauptſtadt ed war ja bie Zeit des Dfterfeftes nicht mühfam und vergeblich ſuchten, fondern ihrer Caravane nadhreisten.

Daß fie nach ihrer Rückkehr ihn unter den Lehrern im Tem⸗ gel „ſitzend“ fanden (V. 46), kann nicht befremden, da bie jübifche Weberlieferung, daß damals die Schüler der Nabbinen vor ihren Lehrern noch ftehen mußten, zweifelhaft ift. Auch darin, baß er bdenfelben nicht nur zuhörte, fondern fie auch „fragte“, darf man keinen Anftoß nehmen, wenn man es me nicht fo faßt, wie die Apokryphen, welche ihn feine Leh⸗ rer meiltern und gleichfam in allen Fakultäten ihnen Unterricht ertheilen Iaffen. Denn es war die Lehrweife ber Nabbinen, daß fie nicht nur felbft fragten, fondern auch den Schülern Fragen geftatteten. Ueberdieß wird, wahrfcheinlich nicht ohne Abficht, angedeutet, daß die Lehrer fich vorzüglich über Jeſu Antworten verwunderten (®. 47). Allein wenn auch felbft über feine Fragen die Lehrer in Erftaunen gerathen wären, jo wäre bieß bei einem genialen zwölf» Cfünfzehn=) jährigen Knaben nichts Unerhörtee.

Etwas anffallender ift ed, daß Jeſus „inmitten der Lehrer * faß (V. 46), da doch fonft die Nabbinenfchüler „zu den Füßen“ ihrer Lehrer, d. h. auf Dem Boden faßen (Apo⸗ ttelgefh. 22, 3. Dürfen aber auch die Worte nicht andere genommen werben, als fo, daß er in gleichem Range mit ben Lehrern gefeffen, was indeß nicht fo ausgemacht ift, fo wäre dieß höchſtens ein ganz unmefentlicher verherrlichender Ausdrud.

Auf die vorwurfsvolle Frage der Mutter (®. 48) antwor⸗ tete der Knabe: „Wiffer Ihr nicht, daß ich im Hauſe „mei:

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nes“ Vaters fein muß?“ Damit bezeichnete er. Gott nicht im Allgemeinen als den Bater aller Menſchen, Cfonft hätte er „unferes“ Vaters gefagt), fondern ald ben feinen in ganz befonderem Sinne, weßhalb auch feine Aeltern ihn nicht verftanden (V. 50). Dffenbar deutet er mit dieſem Aus⸗ drucke auf feine Beitinmung zum Meſſias hin, ber in au zeichnendem Sinne „Sohn Gottes“ genannt wird. Daß ſchon der Zwölfjährige diefe Beſtimmung erkannt haben foll, kann und allerdings befremden; denn zwar kann fich das Bewußt⸗ fein eines inneren Berufes, 3. B. zum Dichter ꝛc., ber feinen Grund in ausgezeicneten Anlagen hat, fchon frühzeitig in manchen Knaben regen; die äußere Beftimmung aber, z. B. zum Staatsmann ꝛc., kann fchwerlich fo frühe ſchon auch dem reichbegabten Geifte Mar werden. Allein an eine folhe Außere Beſtimmung, wobei Die Aufgabe bed Meffias in allen ihren Beziehungen zu dem jüdifchen Voll, der mofais ſchen Religion ꝛc. in Betracht kommt, bat hier Jeſus auch wohl nicht gedacht, da ihm hierzu Kenntniſſe und Reife des Verſtandes noch fehlten. Vielmehr verrathen jene Worte nur ein lebendiges Gefühl ſeines inneren Berufes, mit feinem ganzen Weſen ſich Gott zuzuwenden, und das Bewußtſein, daß deßhalb Gott in ganz befonderem Sinne fein Bater fe: er fpricht alfo hier als Vorgefühl aus, was fich fpäter bei dem Manne zum klaren Bewußtfein feiner Stellung zur Welt ale Meſſias geftaltete.

Unbegreiflich muß es für alle diejenigen fein, welche eine andere Anficht, ald wir, von den früheren evangelifchen Er⸗ zählungen haben, daß die Acltern Sefu jene Worte ihres Sohnes nicht verftanden (3.50). Denn der Maria nas mentlich war durch Engelerfcheinungen, prophetifche Neden und andere wunderbare Vorzeichen fo vielfach der meffianifche Be⸗ ruf ihres Sohnes verkündet worden, daß fie hier chen fo wenig, als bei der Begrüßung des alten Simeons (VB. 28), wo fie ebenfalls in Berwunderung geräth, hätte zweifelhaft fein. follen, was die, den Meffias bezeichnenden, Worte bes Deuten wollten. Wir können alfo in dieſem Erftaunen einen neuen Beweis dafür finden, daß all das Außerordentliche, was von der Geburt und früheften Kindheit Sefu erzählt wird,

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nicht vorausgegangen fein kann. Eo denkbar nun auch für uns, nad, unferem mythifchen Standpunkte, Die Verwun⸗ derung der XAeltern ift, fo kann Doc, die gefchichtliche Wahr⸗ heit berjelben noch bezweifelt werden, da es die Sage liebt, ihre Perfonen nicht nur das erfte Dial, fondern auch bei jeder Wiederholung, über das Wunderbare in Erftaunen gerathen zu lafien, weil dadurch das Außerordentliche desſelben um fo

auffallender wird. | "

Wenn wir alfo auch in den einzelnen Theilen unferer Ers jäblung hier und da einige verfchönernde Pinfelftricye wahrs nennen können, fo gibt fie fi) Doch im Ganzen nicht ale mmhiftorifch zu erkennen; wir Dürfen demnach Fein beſonderes Gewicht darauf legen, daß ſich allerdings ein Intereſſe nachs weifen ließe, welches bie chriftliche Sage gehabt, eine ſolche Ecene zu erdichten. Denn bekanntlich werden fehr vielfäls tig von großen Männern auch die Fleinften Züge aus ihrer frühen Jugend, in denen ihr Geift fchon durchblitzte, aufges fucht und verfchönert; ja, wo fich foldye auch nicht finden, hinzugedichtet, wie dieß namentlich in der hebräifchen Gefchichte oft der Fall ift, 5 2. bei Samuel (1 Sam. 3) und vorzügs lich bei Moſes, der fchon als Kuabe weit über fein Alter hinaus entwidelt geweſen fein fol. Da überdieß das zwölfte Sahr, wie bei und etwa das vierzehnte, ald ber Wendepunft betrachtet wurde, wo der Knabe von dem Kindifchen zum männlichen Ernſte ſich hinzumenden beginnt, fo erzählt man gerne von diefem Lebensalter auffallende Proben befonderer Geiftesgaben, wovon bie fyätere jüdifhe Sage Beifpiele in Menge liefert. Man fönnte alfo allerdings behaupten: wußte man fchon in den erften Chriftengemeinden, daß bei Moſes, Samuel, Salomon, Daniel ıc. der göttliche Geift ſchon im zwölften Jahre jelbftthätig hervorgetreten, Eonnten fie fich ges drungen fühlen, auch in Diefem Punkte ihren Chriftus mit gleis chem Blanze- zu umgeben. Erinnert man fih, daß Lukas jeden wichtigen Moment in ber früheften Lebensgefchichte Jeſu, feine Geburt, Befchneidung, Darftellung im Tempel, mit herr: lichen Vorzeichen feiner Fünftigen Größe ausſchmückt, fo könnte wan dich auch von dem Endpunkte feiner Kindheit annehmen.

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Allein da fo auffallende Dffenbarungen des inneren Lebens fchon in früher Jugend bei ausgezeichneten Menfchen wirklich nichts Seltenes find, und da es fehr denkbar ift, daß ber x Jeſu wohnende erhabene Geift nicht plöglich und erft im Dans nesalter zum Durcchbruche gekommen, jondern fchon frühe in eigenthümlicher Weife fich zu erfennen geben Tonnte, fo -haben wir fein Necht, unferer Erzählung die gefchichtliche Geltung abzufprechen.

Diefer Tempelbefuch ift das Lebte, was wir von Jeſu Jugend willen; von da an bis zu feinem öffentlichen Auftreten meldet ung fein Bericht Etwas. Da er nad Matth. 3, 13 und Mark. 1, 9 zur Taufe von Nazaret ber Fam, fo müffen wir annehmen, daß er bis zu derfelben ununterbrochen, einzelne Reiſen abgerechnet, wie zu den Faften nach Serufalem, hier gelebt habe. Sein Vater war ein Handwerker Matth. 13, 55), wahrfcheinlich ein Zimmermann; daß auch Sefus biefes Handwerk betrieben, können wir gleichfalld annehmen. Denn da wir, nach unfern bisherigen Unterfuchungen, Feine gefchichts liche Kenntniß von außerordentlichen Erwartungen haben, welche die Aeltern von ihm hegten, fo haben fie ihn ohne Zweifel feühzeitig zu den Gefchäften des Vaters angehalten, um fo mehr, da es jüdiiche Sitte war, daß auch der zu einer höhern Laufbahn Beftimmte ein Handwerk erlernte, wie ja auch Pans lus, der Rabbinenfchüler, ein Zeltmacher war (Apoftelg. 18, 3). An einer Stelle, Mark.6, 3, wird er geradezu, wie fein Bater, ein Zimmermann genannt, was freilich Spätere laͤug⸗ nen, weil fie glaubten, es fei diefe Befchäftigung des Meffias unwürdig. |

Sonderbar ift es überhaupt, welches Spiel die fpätere Sage mit dieſen Berufsverhältniffen getrieben. Bald fol Jeſus ein Wagner gewefen fein, wobei denn gar großer Werth baranf gelegt wird, daß er Pflüge und Wagfchalen, „Sinn bilder der Thätigfeit und ber Gerechtigkeit“, verfertigt habe; nach andern Nachrichten machte er Melfgefäße, Siebe und Käften, einmal felbft: einen Königsthron. Ein apokryphiſches Evangelium erzählt fogar, daß Jeſus feinen Bater, wenn biefer

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an ben Drten umherging, wo er Arbeit hatte, begleitet, und das, was etwa zu lang oder zu kurz in des Vaters Arbeit ausgefallen war, durch bloßes Ausftreden der Hand in bie rechte Form gebracht habe.

Ueber die Vermögens⸗Umſtände Sefu umd feiner Aeltern haben wir Feine ganz ficheren Nachrichten; daß feine Mutter bei der Reinigung im Tempel Tauben darbrachte (Ruf. 2, 21), das Opfer der Armen, ließe mit Gewißhbeit auf dürfe tige Umftände fchließen, wenn wir ficher wären, daß nicht auch diefer Zug ein mythifcher wäre. Ueberhaupt war man bemüht, feine äußere Lage ald recht niedrig darzuftellen, weil dadurch feine göttliche Größe in um fo helleres Licht geftellt wurde. Daß er aber wirklich arm gemwefen, beruht auf feinem hiftorifchen Zeugniffe: denn feine eigenen Worte: Cich habe nicht) „mo ich mein Haupt hinlegen Fünnte* (Matth. 8, 20), beziehen fich wohl nur auf die Beichwerden feines meffianifchen Manberlebens. Aber auch für das Gegentheil, daß er naͤm⸗ lich wohlhabend gewefen, haben wir feine Zeugniffe.

Noch weniger, als über die früheren äußeren Lebens- verhältniffe, wiffen wir über Sefu geiftige Entwidelung vor feinem öffentlichen Auftreten, und wir müflen uns in diefem Punkte nur mit Bermuthungen begnügen. Aus der fo eben betrachteten Reife laͤßt ſich wenigſtens der Schluß machen, daß Jeſus häufig mit feinen Achern zum Öfterfefte nad) Je⸗ rufalem gereist fein wird, wodurch er Gelegenheit erhielt, feinen Geſichtskreis zu erweitern, mit dem Zuftande bes über alle Länder zerftreuten jüdifchen Volkes befannt zu werden, und frühzeitig ſchon mag er auf dieſem Wege mit defjen Leis den und dem tiefen Berfalle feines religiöfen und fittlichen Zuftandes befannt geworden fein.

Ob er die gelehrte Bildung eines Rabbi genoffen, läßt fi) aus unfern Evangelien nicht ermitteln. Allerdings wird er von feinen Süngern fehr häufig und felbit von dem vors nehmen Phariſäer Niko demus „Rabbi“ genannt GJoh. 3, 2); man geitandb ihm das Recht zu, in der Synagoge Bars

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träge zu halten (Luk. 4, 16); er felbft zeigt in feinen Neben,

z. B. Matth. 5, 6 ꝛc. und 23, eine große Kenntniß Rabbi⸗ niſcher Lehrſätze und Mißbräuce; er felbft ſtellt ſich als einen für das Gottesreich gebildeten Schriftlehrer dar (Matth. 13, 32); allein alles dieß konnte auch ſtattfinden, ohne daß er fürmlich durch die Rabbiniſchen Schulen gegangen wäre- Sm Gegentheil ift es wahrfcheinlicher, daß dieß nicht ber Fall gewefen, da ihm feine Feinde, ohne daß er ihnen wider - ſpraͤche, vorwerfen, er habe die (rabbiniſchen) Wiffenfchaften nicht erlernt (Joh. 7, 15), und feine Landsleute, die Nazare⸗ taner, verwundert fragen: „Woher hat er dieſe Weisheit (Matth. 13, 59%“ Ä

Bei ſolchem Mangel an beftimmten Nachrichten hat mar— von den verfchiedenen Standpunkten aus verfchiedene Muth⸗ maßungen aufgeftellt. Bon Seiten des Supranaturaliftis fhen war man fchon frühzeitig bemüht, alle äußeren Eins flüſſe und Bildungsmittel in der Vorjtellung fern zu halten, und feine. Erhabenheit ald das alleinige Werk feines göttlichen nur von innen heraus fich entwidelnden Geiſtes Darzuftellen. Damit hängt zufammen, daß man feine freie Selbitthätigkeit als ſchon ſehr frühzeitig gereift auszumalen fuchte; nicht nur in Bezug auf feine höheren Kenntniffe und Einfichten den Apokryphen zufolge überfah er fchon lange vor dem zwölften Sahre alle feine Lehrer —; fondern mehr noch von Seiten feiner göttlichen, wunderbaren Kräfte in apokryphiſches Evangelium beginnt die Reihe feiner Wunder fchon mit dem fünften Jahre; ein Anderes gar mit der Flucht nach Agypten, auf welcher der Knabe höchit unchriftliche Strafwunder und kindiſche, wie bie Belebung aus Koth geformier Sperlinge, verrichten muß, und feine Mutter mit Windeln und Waſch⸗ waſſer feltiame Mirafel bewirkt.

Unngefehrt fuchte man von rein natürlichem Stand» punkte aus die Einflüffe feiner äußern Umgebung, und feine Abhängigkeit von der aus ihr fließenden Belehrung und Steir gerung feiner Seelenkräfte möglichit hoch zu ftellen, Damit feis ner eigenen Kraft möglichlt wenig Verdienſt übrig bleibe. Dieß gefchah zunächft von den Gegnern des Chriſtenthums auf

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eine hoͤchſt nmwürbige Weiſe in älterer Zeit. Da man inbeß ‚nach damaliger Weltanficht dem Menſchen allein ohne frem- Den Beiftand wenig zutrauen konnte, fo mußte Jeſus feine höheren Einfichten und Kräfte, für die man die Mitwirkung des Goͤttlichen nicht einräumen wollte, böfen Geiftern und Zaubereien zu verbanfen haben. In Aegypten, bem Lande ‚geheimer Weisheit, follte er fich Zauberfünfte angeeignet, und dann mit beren Hülfe fich für einen Gott ausgegeben haben.

Erit in neuerer Zeit fonnte man ſich unbefangen nach ben Außern Bildungsmitteln, die ſich Jeſu in der Culturſtufe feiner Zeit und den Verhältniffen feiner Umgebung für die Entwidlung feines großen Geiftes darboten, umfehen, was dem auch mit mehr oder weniger Umſicht gefchehen it.

„Die Grundlage feiner Bildung waren jedenfalls Die heiligen Bücher feines Volkes, deren eifriges und tiefbringens des Studium die in den Evangelien und aufbewahrten Reden Jeſu beurtunden*. Seine Erhebung über den befchränften - Gefichtöfreis des alle andern Völker verachtenden gemeis nen Ssudenthums und fein meffianisches Bewußtſein fcheint fi) in ihm insbefondere an der Hand bes Jeſaias und Das niel entwidelt zu haben.

Großen Einfluß auf feine Bildung hat man häufig auch ben damaligen Sekten unter den Juden zugefihrieben. Von ben Pharifäern kam dieß wohl nur in negativer Beziehung behauptet werden, indem ihre Heuchelei und ihre fcheinheiliger Buchftabendienft dazu beigetragen haben mögen, fein höheres, göttliches Bewußtſein zu wecken und zu läutern, vermöge deffen er fpäter fo entfchieden gegen fie auftrat. Den Sadducäern bat man einen größeren Antheil an Jeſu Entwicelung zufihreis- ben wollen, weil er fie weniger in feinen Reden angriff. Dieß Lestere hat aber feinen Grund darin, daß dieſe Sekte nur in den höheren Ständen ihre Anhänger hatte; überdieß konnte ihre Kälte, ihr Unglaube an Fortdauer und - Geiſterwelt, Jeſu wenig zuſagen.

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Eine Zeitlang war ed eine Lieblingsidee, die Effener als die eigentliche Schule anzufehen, aus welcher Jeſus hers ‚vorgegangen; auch glaubte man manches Geheimnißvolle in feinem [eben feine dunkle Sugendzeit, fein Verſchwinden nach der Auferftehung, die räthfelhaften Geftalten bei der Bew klaͤrung ꝛc. am natürlichften aus einem Zufammenhange mit den Ejjenifchen Bundesbrüdern erklären zu können. Allerbinge fimmen manche Lehren Chrifti und Gebräuche feiner erften Jünger auffallend mit Effenifchen zufammen, 3. B. das Bers bot des Eides; dad Dringen auf Treue und Friedfertigkeit; Gütergemeinfchaftz Verachtung des Neichthumd und Reifen ohne Vorräthe; gemeinfame Mahle; Verwerfung der blutigen Dpfer, u. 4. Dagegen weicht Das Chriftliche wieder von dent Wefen der Eſſener ab, deren gefchärfte Sabbathsfeier, Reinigungen, vielfache abergläubifche Gebräuche, Beibehalten der Engelnamen, Geheimthun und befchränfte Drdenseinrich- tungen ꝛc. fo fehr dem Geifte Jeſu widerfprechen, daß mir auch ihnen nicht mehr als mittelbaren und theilweifen Einfluß auf Jeſum zufchreiben können.

Eben fo mag die an den hohen Feften gewonnene Bekannt⸗ fchaft mit gebildeten auswärtigen Suden, frommen Heiben- (Joh. 12, 20) wenigftend zur Erweiterung feines jüdifchen Gefichtsfreifes und zur Vergeiſtigung feiner Anfichten mitgewirkt haben.

Doch alle diefe Unterfuchungen find von untergeorbnete Bedeutung! Jeder hohe, gewaltige Genius nährt den inneren Funken feines geiftigen Lebens an dem Stoffe, ben ihm bie Außenwelt bietet, und zieht ihn mit unmiderftehlicher Kraft in feinen Kreis hinein, um ihn zu eigenthümlichen Geftalten zu verarbeiten, in benen fic doch immer nur fein Geift, fein Weſen abdrüdt. Mag nun Sefus feiner Umgebung viel oder wenig verdanken, dieſes oder jenes; daß er in derfelben ger rade Das geworden, was er war, wird deßhalb nicht begreifs licher, fo wenig wie fein Berdienft dadurch herabgefegt wird. Der Schlüffel zu feinem Wefen liegt immer nur im ihm. Daher follte man jenen Fragen weder ein fo großes Gewicht

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leihen, noch fo Angftlich umgehen, wie Beides von entgegen. geſetzten Seiten fo oft gefchieht.

« Zur Umbildung einer Welt reichte feines der in feiner Zeit liegenden Bilbungselemente auch nur von ferne hin; den dam erforderlichen Gaͤhrungsſtoff konnte er nur aus ber Tiefe kmed eigenen Geiftes nehmen. * '

Eine Erfcheinung jedoch greift unferen Evangelien zufolge bedeutend in bie Thätigfeit Jeſu ein, naͤmlich die des Taufers Sohannes. Da indefien dieſe Einwirkung besfelben fchon in das öffentliche Leben Jeſu hinüber reicht, fo muß mit der Betrachtung, feines Verhältniffes zw Johannes der folgende Wſchnitt eröffnet werben.

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Zweiter Abſchnitt. Das erfte Öffentlihe Auftreten Jeſu.

Erfted Kapitel, Das Verhältniß Jeſu zu Johannes, dem Täufer,

(Matth. 3, 112; Marl. 1, 2—9; &ut. 3, 1-18; Soh 1, 19 31.) |

Daß Johannes, deffen Geburt and Lukas ausführlich er zählt, als ein Täufer m der Wüſte aufgetreten, und auch Jeſus bei ihm fich habe taufen laſſen, erzählen alle Evan geliften; über die Zeit, wann dieß gefchah, fagen Johannes und Markus Nichts, Matthäus hat darüber eine fehr mm beftimmte, Lukas dagegen fehr beftimmte Angaben.

Matthäus jagt, nachdem er fo eben C2, 23) die Ueber: fiedelung Joſephs nach Nazaret erzählt hat, ganz kurz: „Sr jenen Tagen fam Johannes in die Wüſte“ ıc. 3, 1) Wollte man die bezeichneten Worte buchftäblich faffen, fi müßte er noch während der Kindheit Sefu zu taufen angefan gen haben, und man hätte ſich zwifchen feinem Auftreten um 2.13, wo es heißt: „Damals begab ſich Sefus —- zu Se hannes * ꝛc. eine große Zwifchenzeit zu denken. Dieß ftreite aber ganz gegen die Anſicht bes Evangeliſten, der dem Täufe eine fo untergeordnete, nur auf Jeſum hinmweifende Stellun— gibt, feine Wirkſamkeit fo beftimmt ald eine Einleitung das Werf Jeſu hinftellt (V. 3 und 11), daß er ſich nur eine furzen Zwifchenramm zwiſchen Beider öffentlichem Hervortre ten gedacht haben kann. Es ift daher wohl am richtigften jene Worte nicht ftreng, fondern fo allgemein zu nchmen, ba fie, gerade wie bei Mof. 2, 11, etwas erft nach vielen Jah ren Eingetretenes bezeichnen.

Sehr genau und auf mehrfache Weife beftimmt uf. 3, die Zeit, wo Johannes zu taufen begann: alle feine Angabe

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laufen auf das Jahr 28—29 unferer Zeitrechnung hinaus. Kur Eine derſelben it mit allen übrigen völlig unvereinbar, nämlich die: „als Cyſanias in Abilene herrichte“. Nun fennen wir nur Einen Cyfanias als Fürjt von Abilene, und zwar. aus. Joſephus: diefer war aber fchon 34 Sahre vor Ehrifti Geburt ermordet worden. Man hilft fich daher, um bes Lukas Angabe zu retten, theils mit der Annahme, daß cd auch noch einen jüngeren Fürft Cyſanias gegeben habe, was aber nicht nur unerwiefen, ſondern fogar fehr unwahr⸗ fcheinlich ift, da ihn Sofephus ohne Zweifel genannt haben würde, theil® mit einer jener beliebten Wortverdrehungen, bie man fo gerne überall anmendet, wo in den Worten nicht ber Sim liegt, den man nun einmal in ihnen finden will. Wir müffen aljo, um ehrlich zu fein, einräumen, daß Lufas ſich hier geirrt, und, weil noch in fpätern Zeiten Abilene „Das Land des Cyfanias * hieß, angenommen habe, es müfje audı damals, ald Johannes auftrat, ein Eyfanias dort regiert haben.

Ueber die Zeit, wann Sefus zur Taufe an den Jordan gefommen, wie lange vorher alfo ſchon Johannes getauft hatte, fagt Lufas Nichts, fondern gibt nur an, er fei Damals etwa dreißig Jahre alt gewefen. Könnten wir uns nun an Luk. 1, 26 halten, wornach Sohannes ein halbes Jahr alter ald Jeſus war, und wäre ed ausgemacht, daß auch ein Prophet wie Sohannes, gleich den Leviten (4. Mof. 4, 3, 47), erft nit dem dreißigſten Lebensjahre öffentlich, auftreten durfte, fo müßten wir annehmen, Johannes fei höchſtens nur ein halbes Jahr vor Jeſu Taufe als Täufer aufgetreten. Allein jenes Altersverhältniß zwifchen Beiden haben wir ald mythifchen Beitandtheil der Erzählung kennen gelernt, und dieje gefeßliche Beftimmung über die Propheten ift zweifelhaft; es hindert alfo Nichts, eine längere Wirkfamfeit des Zäufers vor Jeſu Ankunft bei ihm anzunehmen. Diefe jedoch ſcheint nicht im Sinne des Lukas zu liegen. Denn von ihm, der jede Zeit fo genau beftimmt (ſ. oben bei Jeſu Geburt), läßt fich nichr erwarten, daß er den Beginn der Wirkjamleit ded Johan⸗ nes fo forgfältig angegeben, den der weit widtigeren des

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Meffias aber umbeitinnmt gelaffen haben ſollte. Er muß. alfo Die Zeitbeftimmung jener auch auf Diefe bezogen, mithin angenommen haben, daß fie bald nadı berfelben eingetres ten fei.

Daß aber Johannes nur fo kurze Zeit gewirkt haben. fo, hat man jehr unmahrfcyeinlich gefunden: Ex hatte, wie wir aus den Evangelien (Matth. 14, 2; 21, 26) und aus Jo⸗ fephus wiflen, fidy ein großes und dauerndes Anfehen erwors ben, hatte eine große Anzahl von Süngern (Soh. 4, 1), umb hinterließ befonders gebildete Schüler (Luk. 11, 1), bie- nach Jeſu Tode ald eigene Partei beftanden (Apoſtelg. 18, 25; 29, 3: alles dieß zu bewirken, reichte doch eine fleine Zeit, die kaum genügend war, große Aufmerkſamleit zu erregen, nicht hin. Dean hat daher nachgefehen, ob. fidh nicht eine längere Wirkſamkeit des Täufer nach Jeſu Aufs treten anbringen laffe. Nun fagt zwar Joh. 3, 24, baß er noch wirkte, ale Jeſus das erfte Paſcha während feines öffent⸗ lichen Lebens befuchte, und Luk. 7, 18 zufolge lehrte er wenig» ſtens noch zu gleicher Zeit mit Jeſu; dagegen ftellen Matthäus (4, 12) und Marfus (1, 14) die Sache fo, daß währenb oder kurz nady dem Aufenthalte Sefu in der Wüſte Johannes ges fangen genommen und Jeſus Dadurch veranlaßt worden, öffent⸗ lich, hervorzutreten. Jedenfalls it er längere Zeit vor Jeſus hingerichtet worden (Luk. 9, 95, Matth. 14, ĩ; Mark. 1, 16), und während des gehramtes Jeſu kann er feinen Anhang nicht fehr vermehrt haben, da diefer ihn fo fehr verdunkelte Goh. 3, 26 ıc., 4, D. Ein anderer Ausweg, anzunehmen, daß Jeſus nach feiner Taufe noch eine Zeitlang im Verborge⸗ nen gelebt, und erft fpäter öffentlich aufgetreten fei, fo daß während dDiefer Zeit Sohannes, von jenem unverbunfelt, habe wirken können, ift noch unzuläffiger. Denn die feine Taufe begleitenden Wunder (vgl. 5. B. Matth. 3, 16) trugen ganz das Gepräge der Einweihung zu feinem Berufe, die Evans gelien geben zu bejtimmt zu erfeımen, baß er diefen fogleich, nach der einzigen, burch das Faften in der Wüſte bewirkten, Paufe angetreten, und Lukas laßt ihn, Apoftelg. 1, 22, von ber Taufe an mit feinen Süngern verfehren.

Wenn aber auch jede diefer Annahmen den Darftelluns

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gen ber Evangelien entgegen ift, fo fragt es ſich noch, ob dieſe Darftellungen auch der wirklichen Gefchichte ganz getreu geblieben find. Denn nachdem einmal der Täufer, wie es in ber erften Gemeinde geſchah, nur ald Vorläufer Sefu bes trachtet wurde, fo lag es nahe, fein Auftreten dem des Herrn felbft, welchem es zur Einleitung dienen follte, jo nahe als möglich zu rücken; noch mehr widerſprach es den herrfchenden Borftellungen, anzunehmen, daß Jeſus fich an Sohannes ans gefchloffen und fein Sünger geweſen wäre; hat es ſich auch wirklich jo verhalten, fo hat die Sage ohne Zweifel diefen Zug mit dem audgefireuten Glanze überdeckt.

Wir müflen alfo es unentfchieden laffen, ob Johannes wirffich in fo kurzer Zeit, als die Evangelien anzunehmen nöthigen, fo Großes gewirkt habe, was keineswegs, nament⸗ fich in einer fo empfänglichen Zeit, undenkbar it, oder ob ‚eine. längere Wirkfamkeit vor oder nach Jeſu Taufe durch die den Lebteren verherrlichende Sage verbunfelt worben ſei.

Dasfelbe gilt von dem Altersverhältniffe zwifchen beide ı Mämern. Da die Angabe des Lufad in diefer Beziehung c1, 26) mythifcher Natur ift, fo fönnen wir uns den So: hannes zwar allerdings ale Alter denfen, eben fo gut aber auch als jünger: denn ein früher Auftretender ‚muß nicht immer der Aeltere fein, und warum follte nicht auch ein Buß⸗ prediger, der die Dreißige (Luk. 3, 23) noch nicht erreicht bat, Eindruf machen fünnen?

Sohannes, nach allen Schilderungen ein Nafiräer (vgl. Matth. 3, 4, 9, 145 11, 18) trat in der Wüſte als Pro⸗ phet auf und taufte im Sordan, worin Matthäus, Markus und Lukas übereinftimmen. Johannes widerfpricht nicht. Daß auch Lukas fich ihn in der Wüſte denft, geht, obgleich 3, 2, 3 zn widerfprechen fcheint, doch aus 7, 24 deutlich hervor. Im Matthäus dagegen finden wir ben Fleinen Verſtoß, daß er die Wüſte als die Judäiſche bezeichnet, welche doc; fern vom Sordan liegt; indeß könnte die Wüfte am Sordan, ale Fortſetzung der Judäiſchen, auch noch dieſen Namen geführt haben.

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Das Taufen des Johannes war nicht and der ohne Zweifel nachchriftlichen ProfelytensZaufe hervorgegangen, fons dern ficherlich, wie ähnliche Wafchungen bei den Effenern, aus der Deutung bildlicher altsteftamentlicher Ausbrüde, in welchen vom jüdifchen Volke, wenn ihm Gott wieder gnäs dig werben folle, „Baden und Abmwafchen der Sünden vers langt wurde, 3. B. Jeſ. 1, 16: „Waſchet euch, werdet rein, entfernt das Böſe eurer Gedanken von meinen Augen.“ Hiezu kam noch die befondere jüdifche Vorftellung, daß die Sfraeliten Buße thun müſſen, ehe der Meffias erfcheine.. Daher ftimmen auch alle Evangelüten darin überein, daß bie Buße ein wefentliches Erforberniß bei der Taufe des Johannes ges wefen. Hiemit verbinden Lukas 3, 3 und Markus 1, 4 noch ganz ansdrüclich die Vergebung der Sünden, indirekt auch Matthäus, der 3, 6 an die Taufe das Betenntniß ber Sünden knüpft; wie auch fchen im alten Zeftament, 3. B. Ezechiel 36, 25, das Abwaſchen zugleich ald Befreiung von den Sünden gefaßt wird, ald Vergebung.

Zugleich aber ftellte Sohannes feine Taufe in Verbindung mit dem Eintreten des „Himmelreiches“, d. h. mit der Erfcheinung des Meffiad. Wenn auch die Darftellumgen ber verfchiedenen Erzähler über diefen Punkt nicht in allen Ausdrücken ganz haarfcharf übereinitimmen, fo ift doch am Dies fer mefflanifchen Beziehung, weldye Johannes der Tanfe ger geben, durchaus nicht zu zweifeln, ba es ihr ohne biefe an rechter Bedeutung und beftimmten Anhaltspunfte gefehlt has ben würde. Daß Johannes das Eintreten bes Meffiasreiches als fo nahe bevorftehend anfünbigt, bürfen wir nicht etwa der fpätern chriftlichen Sage ale Erfindung zufchreiben wols Ien, entitanden aus der damals wirflid eingetretenen Thatſache; vielmehr Fonnte das lebhaft ergriffene Gemäth bes Johannes in vielen Erfcheinungen der fo vielfady beweg⸗ ten Zeit leicht Andeutungen finden, die ihm die Nähe des Meſſiasreiches zu verkünden fchienen.

Er fpricht ſich Daher näher dahin aus, ed werde ein Mann auftreten, ber feine Meſſiaswürde beurkfunden werde burch ein „Taufen mit dem heiligen Geifte und mit Keuer* Matth. 3, 115 ferner werde derfelbe „mit der IBurfichaufel

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feine Zenme fegen“; —. Beides ganz um Geiſte Der meſſiani⸗ ſchen Prophezeiungen.

Hier tritt nun die wichtige Frage ein: Wen bezeichnete er als dieſen Meſſias? Dem erſten und dritten Evangelium zufolge, auf's Beſtimmteſte Jeſum. Wie Lukas den Johan⸗ nes ſchon vor-der Geburt Jeſu huldigen läßt, haben wir oben geſehen; beide werden alſo wohl ſpäter in ihrem gegen⸗ ſeitigen, durch Wunder eingeleiteten Verhaͤltuiſſe einander naͤ⸗ her kennen gelernt haben. Matthäus berichtet über ſolche frühe Familien» Verbindung Nichts; allen da nach feiner Erzählung Sohannes Sejum fogleich erkennt, indem er fich weigert, ihn, den Höheren, zu taufen CB. 14), fo muß er eine frühere Befanntfchaft vorausgeſetzt haben. Markus bes handelt Die Sache zu fur; (1, 9), als daß feine Anficht Har würde; Sohannes dagegen fo, daß der Täufer Jeſum vor ber Taufe gar nicht gekannt, mithin auch nicht, che die himm⸗ liichen Zeichen bei der Taufe ihn darüber belehrten, für den Meſſias gehalten haben kann; der Täufer behauptet dieß näu⸗ lich ausdrücklich 1, 31, 33. Beide widerfprecdyende Angaben hat man auf mancherlei Weiſe mit einander auszugleichen vers ſucht.

Manche Ausleger haben geradezu behauptet, Johannes und Jeſus haben ſich zwar ſchon früher gekamt, allein vor dem Publikum ſich fo angeftellt, als ob fie einander ganz frend wären, um ſich einander deſto beffer in die Hände zu arbeiten. Andere fuchten, um die beiden Männer von dem Borwurfe ber Berftellung ven zu erhalten, durch ihre Erklärung aus dem Worten des Taͤufers einen andern Sinn herauszubringen. Sie legen nämlich feine Behauptung (33): „Und ich Fannte ihn sicht “, fo aus, daß der Täufer Jeſum zwar ald Perfon gefannt, aber nicht gewußt habe, daß er der Meſſias fei. Wenn auch, was bezweifelt werben muß, jene Worte biefen Einn haben können, fo füllt der Widerjprud, damit nicht weg: denn unmöglich Fonnten ihm, went feine Familie mit deu Achtern Jeſu auf die von Lukas erzählte Weiſe befannt war, die Berfündigungen und Wunder unbekannt geblichen fen

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durch welche Sefus fchon fo frühe als Meſſias bezeichnet wurde. Wer aber möchte in ber weiten Entfernung ber beiberfeitigen Wohnorte von einander einen Grund finden wollen, warm "beide junge Männer nicht in nähere Berührung famen? Waͤre dieß nicht die ftrafbarfte Bleichgültigfeit gegen die empfanges nen göttlichen Mittheilungen, deren Zweck durch biefe kalte Adgefchloffenheit gänzlich verfehlt worden wäre? Deutlich genug gibt ja auch bei Matthäns der Täufer zu erfennen, daß ihm die Meffiaswürde Sefu befannt war, indem er 3, 14 fagt: „Mir thut Noth, von Dir getauft zu werden, und Du kommſt zu mir?“ Man hat auch hier die Schwierigkeiten zu ebnen gefucht, indem man biefe Worte nur als Ausdrud der Verehrung für die hohe Vortrefflichfeit Jeſu faßte; allein war er noch fo edel, als fündhafter Menfch konnte er der Taufe fidy nicht entziehen, und zur Taufe berechtigt konnte Jo⸗ hannes nur einen Propheten halten, wie er felbft war, ober den Meifias (vgl. Joh. 1, 19); da er nun Sefu einen höhe⸗ ren Rang zugefteht, als ſich, fo erflärt er damit ihn zugleich für den Meſſias: hatte er ja doch felbft fo eben gefagt, „der nach ihm Kommende werde mit dem heiligen Geifte tau⸗ fen!“ Es könnte, um den unläugbaren Widerfpruch wegzu⸗ raͤumen, noch die Annahme verfucht werben, Matthäus habe, um größern Effeft zu machen, die Weigerung vor bie über Jeſum ergoffenen himmliſchen Erfcheinungen (V. 16, 17) ges ſetzt, da fie body wirklich erft nach denſelben erfolgte, weil dieſe Jeſum fo deutlich als Meffias bezeichneten. Allein dafür hat man durchaus feinen haltbaren Grund; denn ein folcher iſt aus dem Hebräers Evangeliim, das die Sache wirklich fo darſtellt, nicht zu entnehmen, ba dieſes offenbar einen fehr abgeleiteten und gefünftelten Bericht enthält. Ueberdieß laͤßt fih ja auch Lukas, von deffen früheren Erzählungen über Maria, Elifabeth und Zacharias wir auf Augenblide ganz abfahen, durchans nicht mit des Johannes Darftellung verein⸗ baren. Alles erklärt fi ohne Zwang, wenn wir ben Cha⸗ racter populärer Auffaffungsweife überhaupt ins Auge faſſen, alles Weſentliche nämlic, als von jcher Gewefenes zu denken. Wußten alfo die erften Chriftgemeinden, in welche folgenreiche Beziehung der Täufer durch Die Taufe zu Jeſu geftellt war,

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fo mußte dieſe Beziehung ihnen als eine fchon Fräher beftandene erfcheinen; Sohannes mußte ſchon früher Jeſum als Meſſias gekannt haben: dieß drückt Matthäus einfach aus, Lukas aber rückt dieſes geheimnißvolle Berhältniß noch bis in die Zeit vor der Geburt der beiden Männer hinauf. | Warum biefe frühzeitige Beziehung bei Sohannes fehlt, müflen wir unentichieden laſſen; vielleicht darum, weil, wenn beide Männer ſich vorher nicht kannten, Die winderbare Scene, Durch welche Ssefus dem Täufer bei der Taufe desfelben als Meſſtas bezeichnet wurde, um fo größeren Glanz erhielt.

Es knüpft fich hier zunächit die Frage an, was überhaupt Johannes von der Meffianität Sefu hielt? Alle Evanges lien ſtimmen darin überein, baß er in fich den Vorläufer des Meſſias erkannte, daß als folcher ihm Jeſus durch bie Berherrlichung desfelben bei der Taufe (wovon weiter unten) bezeichnet wurde, unb baß er diefem Zeichen Glauben fchenfte: wenn biefes Lettere von Matthäus und Lukas nicht ans⸗ drücklich erzählt wird, fo mag dieß feinen Grund darin haben, daß fie ja, wie wir oben fahen, die Sache fo ftellen, Johan⸗ nes habe ſchon vor der Taufe Jeſum als Meſſias erkannt.

Nun muß ed allerdings befremden, daß Sohannes fpäter an der Mefitanität Jeſu fcheint irre geworden zu fein; denn er ſchickt Junger an ihn ab, mit der Frage: „Biſt du ber, der da kommen fol Cder Meſſias), oder müflen wir einen Andern erwarten?“ (Matth. 11, 2 ıc. und Luf. 7, 18 ıc.) Wie erklären wir uns biefen Widerjpruch? hatte er feinen feiten Glauben an Jeſu Mefftanität nicht oft genug ausge⸗ fprochen? fandte er nicht gerade Damals jene Boten ab, ale er von den „Thaten“ Ssefu hörte, welche eben, nach dem Zufammenhange der Erzählung bei Lukas, feine andere, ale meſſianiſche Wunderthaten waren? Wie konnte Jeſus fpäter auf fein Zeugniß fich berufen (Joh. 5, 33), wenn er wirfs lich fo fehr ein Rohr im Winde war, wofür ihn aber Jeſus nicht hält (Matth. 11, 7)?

Man bat dieß auffallende Benehmen durdy bie Anficht ers Haren wollen, Johannes habe feine Jünger nur darum geſandt,

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damit fie durch eigene Anſchauuug ber wunderbaren Thaten Jeſu ſich von deffen Meffianität überzeugen follten. Allein woher mußte er, daß fie ihn gerade mitten im Wunderthun treffen würden? was überdieß nach Matthäus nicht einmal ges ſchah. Konnte er ihnen alddann eine folhe Frage au Jeſum auftragen? Denn wenn fie ihrem eigenen Meifter nicht glaubs ten, fo wird das Zeugniß deſſen, um den es fich handelte, noch weniger Gewicht für fie gehabt haben. Berträgt es fich überhanpt mit ber Würde eines prophetifchen Lehrers, Zweifel feiner Schüler in feine eigenen Worte duch fremdes Zeugniß niederzufchlagen? Nein! die aufgetragene Frage muß eine Frage des Tänfers felbft gewefen fein, wie fie auch Je⸗ fus wirklich nahm, indem er antwortete: „DBerfünbet dem Johannes!“ (Matth. 11, 4), und fich indireft über deſſen Zweifel beflagte (V. 6).

Die meiſten jeßigen Ausleger fallen Daher Die Sache fo, daß Johannes mit feiner Frage feinen Zweifel habe ausbrüden wollen, fondern, in feinem Kerker etwas ungeduldig geworben, in diefelbe feine Aufforderung, Doc endlich als Meſſias vor allem Volfe hervorzutreten, eingefleidet habe. Man findet dieß um fo wahrfcheinlicher, da, wenn Sefus einen Haupts ſchlag gegen feine Feinde unternahm, auch er, ber Zäufer, Erlöfung aus feinem Kerfer hoffen konnte. Allein bann bleibt gerade bie Farbe des Zweifels, die feine Frage, wie man auch bie Worte drehen mag, unläugbar hat, ganz unerflärlich: Vertrauen mußte ſich in ihnen abjpiegeln. Aber auch felbit eine folche Aufforderung laßt ſich mit früheren Ausfprüchen bes Täufers nicht vereinigen. Wer, wie er, fo hohe Begriffe von Jeſus, als Meſſias, hatte (vgl. mır Matth. 3, 11), mußte annehmen, diefer werde am beiten die rechte Zeit unb Stunbe finden. Noch mehr hätte er feiner früheren Anficht von Jeſu, Ben er mit den Worten: „Lamm Gottes“ (Joh. 1, 29) als ben leidenden Meffias bezeichnete, miberfprochen, wenn er um von ihm erwartet hätte, derfelbe folle mit einem vernich⸗ senden Schlage gegen feine Feinde auftreten,

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Wir werben alfo auf unfern frühern Standpunkt wieber zurückgeworfen, und müfjen bes Täuferd Frage als Ausdrud des Zweifels gelten laſſen. Als einen vorübergehenden Abfall Des durch die Leiden des Kerferd gebeugten Mannes, laßt ſich derſelbe auch nicht betrachten, Denn hätte dieſer feinen Muth gebrochen, fo würde dieß, in allen ähnlichen Fällen, in einem Widerrufe beffen, was ihn in ben Kerfer gebracht hatte, nämlich der gegen Herodes ausgefprochenen Rüge Auf. 3, 18, 19), ſich fund gegeben haben, nicht aber duch Wanken in einem Glauben, der zu feiner Einferferung Nichts beigetragen hatte. Unverträglich fcheint alfo immer der Zweifel des Johannes mit feinem frühern Glauben zu fein; denn daß hier von dem Wanfen in einem fchon vors handenen Glauben, und nicht von der Unſicherheit eines erſt entftehenden die Rede ift, zeigen Jeſn Worte, ber in ber Frage ein „Srrewerbden“ findet C11, 6). Diefes ift um fo unbegreiflicher, wem es fich auf die Nachricht von Jeſu Wunderthaten foll eingeftellt haben, die ihn gerade im Stauden beftärken muften. Man kann aber Diefer Bedenk⸗ fichfeit ausweichen, wenn man die Darftellung des Lukas, der ausdrüdlich, wie oben bemerft, an Wunder anknüpft, als theifweife unrichtig bei Eeite läßt, und ſich an die Ausdrücke des Matthäus hält, der ung fagt: „nachdem‘er von bem Merten Jeſu gehört“ (Matth. 11, 2), worunter fein Dans dein überhaupt gemeint fein könnte. Somit können wir es allerdings nicht undenkbar finden, daß Johannes zwar früher den feiten Glauben an die Mefftanität Jeſu hatte, daran aber durch das Wirken und Verfahren deffelben irre werden fonnte, indem er ihn anders handeln fah, als er es von dem Meir fiad erwartet hatte. Hier ftehen wir an dem Wendepunkte unferer Unterſuchung.

Penn, wie wir nach den brei erften Evangelien annehmen dürfen, Sohannes von dem Mefjias „Ausgießung ber Geifteds fülle über feine Anhänger, Sichtung des Volks und Ausrots tung feiner unwürdigen Mitglieder erwartete, aber fchleunig ausgeführt und nicht ohne äußere Gemwaltfamfeit *, fo Fonnte er an Jeſu wohl irre werden. Sedoch müflen wir Dabei zweierlei vorausſetzen: erſtens kann es füch mit den Wundern

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der Geburt und Kindheit Jeſu nicht fo verhalten haben, wie Matthäus und Lukas erzählen, und es kann nicht fchon vor der Geburt beider Männer ihr inniges Zufammemvirfen in der von Lukas berichteten wunderbaren Weiſe verkündet wors ben fein. Beides haben wir fchon ald mythifche Züge ers kannt; zweitens können fich bei der Taufe Jeſu die Wunder

nicht zugetragen haben, welche die Evangeliften erzählen; hievon fpäter. .

Wenn aber Johannes von dem Meffias Die Vorftellumgen hatte, welche ihm das vierte Evangelium beilegt (Joh. 1, 15, 27, 29, 30, 36; 3, 31), dann. freilich burfte er nicht irre werden, benn bis jetzt hatte Jeſus ganz in Diefem Sinne gehandelt, wenigftens Nichts gethan, was ihm widers fprochen hätte. Wir haben daher zunaͤchſt diefe Ausfprüche bes Taufers im vierten Evangelium näher zu unterfuchen, und fragen: konnte er eine folche Erwartung vom Meſſias haben? und fonnte er diefe in Jeſu verwirklicht glauben ?

Die erfte Frage betreffend, fo bezeichnet er den Meſſias als ein höheres Weſen, „von dem Himmel herabfommend“ (3, 3D, fodann als „früher, denn er“ (1, 15, 27), womit Die anch bei Rabbinen, und felbit bei Paulus (Kol. 1, 15) ſich findende Vorftellung von der Präeriftenz 1) des Meſſias ausgedrückt fein kann; wenn man nicht den einfachen Gedan⸗ ten darin finden will, ber Meſſias fei mehr, als er, ber Täufer. Ferner wird er in 1, 29, 36 ber Meſſias ald der für die Sünden ber Welt Leidende bargeftellt. - Diefen letzten Augjprüchen hat man vergeblich einen allgemeineren Sinn zu geben verfucht, das „Lamm“ als finnbilbliche Be⸗ zeichnung ber Sanftmuth genommen, und unter dem „Tragen der Sünden der Welt“ das gebuldige Ertragen ber Bosheit der Menfchen verftanden. Da aber biefe Erklaͤrungen nadı ber Ausfage ber beften Erflärer unzuläßig find, und nament⸗ ich „das Lamm Gottes“ ein beitinmtes heiliges Lamm bes zeichnen muß, fo ift es am wahrfcheinlichften, daß dieſe Worte eine Anwendung ber Stelle Jeſaias 33, 4 und 7 find, und Das ftellvertretende Leiden des Meffias bezeichnen.

Siehe die Erklärungen, unter dem Artikel Logos.

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Aber eben das iſt auffallend, daß fchon der Täufer Jeſum als den leidenden Meffias betrachtet haben fol, dieß ift ber herrſchenden Anficht fo zuwider, daß fogar Jeſu Jünger an ihm, als dem Meffias, nach feinem Tobe irre wurden (Luk. 24, 20 x). Wie follte der tiefer (Matth. 11, 11) und fers ner ftehende Täufer eine Einficht gewonnen haben, bie en Juͤnger noch lange Zeit fehlte? Hätte fie nicht auch auf Diefe übergehen müfjen, die zum Theil Sohannes Schüler gewefen ? Ueberdieß weiß feine andere Stelle bes neuen Teſtaments Etwas davon, daß Johannes diefe Vorftellung gehabt; viel mehr hatte er, den andern Evangelien zufolge, wie wir oben fahen, ganz andere vom Meſſias. Wenn wir es aber auch für unmöglich halten können, baß ein tiefer blickender Geiſt über bie berrichende Meinung feiner Zeit fidy erhoben, fo iſt doch die Form jened Ausdrucks fo fehr dem Evangeliften eigenthümlich, daß wir dieſe wenigſtens als beffen Zuthat anfehen müſſen.

Wir haben indeffen Beifpiele, daß unfer Evangelift auch mehr als die bloße Form von dem Seinigen bei Anführung der Worte eines Dritten binzuthut, wie fich gerade in Bezug auf den Zäufer aus 3, 27—36 ergibt. Denn hier find die Worte von B. 31 an ganz bdiefelben, die fonft er felbft oder auch Jeſus in feinen Berichten über Sefum gebraucht; fie find überdieß ein auffallender Nachflang der eben voraudges . gangenen Unterredung mit Nikodemus; man vergleiche 3. B. 2. 11 mit 32, B. 18 mit 36; und endlich enthalten fie fo viele dem Evangeliſten ganz eigenthümliche Ausdrüde und nur bei ihm fich vorfindende Borftellungen über die Perfon Sefu, daß wir ımbedenklich zugeftchen müffen, nicht der Evangelift hat fie vom Täufer entlichen, fondern fie find Diefem von jenem in den Mund gelegt worden.

Dieß ift fo augenfcheinlich, daß viele Theologen, um dieß “nicht an den Evangeliften fommen zu laſſen, behaupten, von jenem V. 31 an nehme er wieder dad Wort. Allein nirgends findet ſich ein folcher Uebergang angezeigt, und wenn er hier fpräche, und nicht der Täufer, fo dürfte er nicht Die Zeit: form der Gegenwart, fondern, wie er es auch fonft thut, Die der Vergangenheit gebrauchen. Wir fünnen alfo für Diefe,

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im Vorübergehen befprochene, Stelle dem Geftänbnifle nicht entgehen, daß der Evangelift feine eigenen Betrachtungen . denen bes Täuferd beimifchte; und haben demnach auch für jene Bezeichnung des Meſſias, als eines leidenden, feine Bürgfchaft dafür, daß nicht auch fie vom Evangeliiten bem Käufer, der fie fonft nirgends augfpricht, geliehen worden.

Diefe Bezeichnung des Meffiad träge nun, um auf bie Zweite unferer Fragen („konnte er Diefe Erwartungen in Jeſu verwirklicht glauben?“ S. 140) zu fommen, der Täufer aud) auf Sefum über. That er biejes fo begeiftert, fo öffent, lich, hatte er fo geläuterte Einfichten in bie Beſtimmung Sefu, ftimmte er mit Sefu fo ſehr überein, fo konnte bie fer ihn nicht aus dem Himmelreiche ausfchließen (Matth. 11, 11), während er den Petrus; der ſich jener Einfichten nicht rühmen fonnte, einen Feld feiner Kirche nennt. Wir ftoßen aber bald auf noch größere Räthſel. Wenn er als Zwed feine Taufe angibt, „Damit er (Jeſus als Meſſias) dem Bolfe offenbar würde“ CB. 31), und ed als göttlihe Ord⸗ nung erfennt, daß Diefed zu⸗, er abnehmen müßte (3, 30), warum feßte er noch da, wo Jeſus ſchon taufte, feine Taufe auch noch fort (3, 23)? warum fchloß er ſich nicht vielmehr an Jeſu an? Neander antwortet: Sohannes Fonnte nicht über feinen altsteftamentlichen Standpunkt hinaus; er, ber gereifte Prophet, konnte nicht in eine Schule treten, welche bildfame Tünglinge verlangte. Wenn er aber fo viel tiefer ftand, wie war es möglich, Daß er doch Jeſum fo richtig ers . kannte, und laut für den Meſſias erklärte? Denn mußte er alsdann nicht auch, fo gut wie feine Schüler, Anitoß daran nehmen, daß Sefus die von ihm fireng beobachteten äußeren Gebräuche des Faftens ꝛc. gering ſchätzte (Matth. 9, 19? Wenn er aber nur Anftand nahm, Sefu Schüler zu werben, fo mußte er, bei Der Ueberzeugung, Die unfer Evangelijt ihm zufchreibt, ganz zurüdtreten; denn durch fortgefeßtes Taufen binderte er deſſen Werk und hielt immer noch Viele in ben Borhallen des Meiftagreiches; und in der That beitanden noch zu den Zeiten des Paulus (Apoftelg. 18, 24) die Jo⸗

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hannisjünger als eine von ben Chriften getrennte Partei, die immer noch des Meſſias Auftreten erwartete, und fich noch Inge Zeit forterhalten haben will. Unmoͤglich kann alfo Ios hannes jene Anficht von Jeſu gehabt haben, wenigſtens vor feiner Berhaftung nicht, bis zu welcher er das Taufen fort feste. Seine Sendung aus den Kerker ſcheint freilich gu beweifen, daß er anf andere .Gedanfen gefommen, und we nigftend die Hoffnung hegte, Jeſus werde als Meſſias ſich erweifen.

Allein die gefchichtliche Wahrheit auch Diefer Sendimg ließe ſich bezweifeln; denn aus dem Kerker kamen die Johannes⸗ fchüler zu Jeſu, wie Matthäus ausdrücklich ſagt; Lukas freis lich nicht, der aber auch hier als fpäterer Bearbeiter erfcheint, und dieſe Drtsangabe verwilcht haben kann. Es iſt nänlich unwahrſcheinlich, daß zu einem Manne, der, wie Sofephus berichtet, hauptfächlich aus Furcht vor einem Aufitande ein« geferfert wurde, feine Schüler freien Zutritt hatten, boch für ganz undenkbar können wir es freilich nicht halten. Wann er aber ind Gefängniß geworfen wurde, darüber fcheint ung Matthäus den beiten Aufjchluß zu geben, der dieß Ereigniß vor das öffentliche Auftreten Sefu fest (Matth. 4, 12). Allein wenn auch, wie dieſer erzählt, jene Verhaftung Jeſum aller- dings veranlaffen Fonnte, nun feine Wirkjamfeit zu beginnen, fo it es doch chen fo möglich, daß, weil Sefus durch diefelbe die des Johannes verdunfelte, die fpätere Sage zu dem Irr⸗ thum verleitet werden fünnte, dieſer fei fchon damals, ale Jeſus auftrat, im Gefaͤngniſſe gewefen.

Mag fich dieß auch verhalten, wie es will, während feines öffentlichen Wirkens Fann der Täufer Sefum nicht für Den Meſſias gehalten haben; wie man aber dazu Fam, Dieß anzu⸗ nehmen, darüber gibt Apoſtelg. 19, 4 Auſſchluß. Hier fagt Paulus, Johannes habe auf den, „der da kommen fol“, ge tauft, und fett hinzu: „das heißt auf Jeſum“; dieß ift eine Deutung aus dem Erfolge. Denn weil nun fchon Jeſus bei fo Bielen als Meſſias anerfannt war, fo lag die Meinung nahe genug, auch Johannes habe ihn als den, „der da kom⸗ men ſoll“, bezeichnet. Hieraus feheint fich auch zu erklären,

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warum das Sohannes» Evangelium fo großes Gewicht auf Diefe Anerkennung legt. Dasfelbe ijt einer alten Sage zufolge in Ephefus gefchrieben, wenigſtens unter griechiichen Chris ften; in biefer Stabt waren aber viele Lente, die nur auf Johannes getauft waren, und Apoftelg. 19 zufolge von Pau⸗ Ins abermals, auf Sefum, getauft wurden. Diefe mußten durch jenes Zeugniß des Täuferd um fo mehr mit dem Chris ftenthume befreundet, Diejenigen unter ihnen aber, welche noch sicht befehrt waren, zu bemfelben hinüber gezogen werben. Ueberhaupt aber hatte der Täufer Sohannes großes Gewicht bei den Juden, und auch das alte Teftament begünftigte bie Annahme eined folchen Zeugniffes. Da nämlih David im Sammel gewiflermaßen einen Vorläufer hatte, ber ihm ſtets ergeben blieb Cl Sam. 16), fo ſchien auch ber Mefflas einen folchen haben zu müſſen, unb diefer war in bem gleichzeitigen, jedenfalls tiefer ſtehenden, Johannes gegeben.

Zweites Kapitel.

urtheile über den Täufer, und letzte Schickſale bei felben.

(S. die Stellen zum eriten Kapitel, und Matth. 14, 3— 12, Marf. 6, 16— 29.)

Gehen wir nun, um zu einem Endreſultate über das Ber haltniß der beiden Männer zu gelangen, noch zu den Urtheis len über, die wir von Sefn und ben Evangeliften über den - Täufer ausgefprochen finden.

Zunächft werden mehrere altsteftamentliche Stellen anf den Täufer angewendet; er thut dieß felbit, dem Joh. 1, 23 zus folge, mit Sef. 40, 73: „die Stimme eined Rufenden in der MWüfte* ꝛc., obgleich diefe Stelle ſich urfprünglich nicht auf den Borläufer des Meſſias bezieht; in den drei erften Evans gelien wird biefe Anwendung von den Evangeliften gemacht. Eine andere Stelle, Maladyia 3, 1, wird von Jeſns, Matth. 11, 10 u. Luk. 7, 27, und fobann von Markus (1, 2), der fle irrigerweife auch dem Jeſaias zufchreibt, auf Johannes

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bezogen; fie ift zwar meiftanifch, aber erft durch eine Worts änderung dem Berhältuiffe des Täuferd zu Jeſu angepaßt. Durd die Anwendung einer britten Stelle, Malach. 4, 5: „ich will Euch den Elias fenden“ ıc., erhielt Johannes eine Beziehung zu Elias, bie fich fchon in der Berfündung feiner Geburt findet. Wenn daher der Täufer die an ihn ergangene Frage, ob er der Elias fei (Joh. 1, 21), verneint, fo ift Das mit nur gemeint, daß er nicht der leibhaftig wiedergefoms mene alte Prophet fei.

Asch für den Meſſias felbit ihn zu halten, war man geneigt: nach Luk. 3, 15 20. äußert das Volk um ihn dieſe Bermuthung, und nach Joh. 1, 19 richten Abgefandte dee Synedriums die Frage an ihn: „Wer bit Du?“ Beibe Malte lehnt Johannes in feiner Antwort ganz beftimmt Die meifianifche Würde von ſich ab; da dieß beide Male faft ganz mit denfelben Worten gefchieht, und aus beiden Erzählungen die unverfennbare Abficht hervorgeht, Durch das eigene Zeugs niß des Zäuferd die Meffianität Jeſu zu begründen, fo liegt ohne Zweifel beiden nur Ein Borfall zu Grunde, und eg fragt fidy nun, welcher Evangelit Diefen getreuer wiedergibt. Beide Darftellungen haben gleich viel innere Wahrfcheinlichs feit; denn es üt eben fo natürlicdy, daß das begeijterte Volk anf jene Vermuthung kommt, wie es denkbar it, daß das Synedrium, dem das Aufjichtsrecht über öffentliche Lehrer zus kam (vgl. Matth. 21, 23), eine folhe Frage an Johannes richtet. Auch kann noch eben fo gut die Daritellung des kukas ein undeutlicher Nachhall des wirklichen Borfalles fen, wie die des Johannes eine Ausſchmückung desfelben; fo daß wir aljo nur aus einer allgemeinen Anficht über das Verhältnig des vierten Evangeliums zu den drei eriten dar⸗ über entjcheiden fünnen, wer hier Necht baben mag, Sobanneg oder Lukas.

Auch von Jeſus ſelbſt haben wir einige Ausſprüche über den Täufer: Joh. 5, 35 nennt er ihn ein „ſtrahlendes Licht“, an deſſen Glanze das Volk ſich nur habe ergötzen mögen; nach der Verklärung (Matth. 17, 12 ꝛc.) bezeugt er, daß Johannes der als Borläufer verbeißene Elias geweienz und

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Matth. 11, 17 ꝛc. ftellt er ihn fogar wegen feines erhabenen Ernſtes über alle Propheten des alten Teſtaments, zugleich aber auch unter Alle, die an dem neuen Bunde Antheil haben; endlich klagt er noch in derfelben Stelle darüber, “daß auch der Täufer, gleich ihm, ein veritodtes Volk gefuns den. Hätte nım Sohannes die Meffiass dee nicht reiner und klarer aufgefaßt, als alle Propheten des alten Teſtaments, fo hätte ihn Sefus nicht Aber Diefelben ftellen können; wenn er aber auf der andern Seite ihn dem legten feine s Reiches nachitellt, fo Fanıı dieß feinen Grund nur darın haben, Daß derfelbe immer noch die Wirkſamkeit des Meſſias als eine mit glänzender Wunderfraft durchgeführte Beflegung feiner Gegner, und nicht ald ein Leiden auffaßte, durch welches . fein Reich von innen heraus, von der Reinigung ber Herzen and, als ein geiftiges ſich entwickeln müfle. Da nun Das Eritere wenigſtens, die Idee des leidenden Meffias, Johan⸗ nes bei unferın vierten Evangeliften (1, 29 u. a.) deutlich genug ausipricht, fo müſſen wir, wenn wir Jeſu LUrtheile nicht zu nahe treten wollen, Die gefchichtliche Wahrheit dieſes Ausſpruches verwerfen, und eingeflehen, daß diefer Evangelift bier feine eigenen Anfichten mit denen des Taäͤufers vermengt - babe, und können überhaupt nicht wilfen, wie viel Wahres an deffen- Reden im vierten Evangelium ift. Auch in Dem Punkte, daß Sohannes noch zu viel Werth auf Faften und andere äußerliche Werke lege, feßt ihn Jeſus den Gliedern des Meifiasreiches nach (Matth. 11, 18; vgl. 9, 16; 17).

Wir haben nım eine Ueberficht gewonnen über den Stu—⸗ fengang, welchen die Sage in Bezug anf das Berhältniß zwifchen beiden Männern durchmachte. Die gefchichtlicdhe Grundlage ift die, „Daß Sefus, angezogen von der vorbereis tenden Zaufe des Johannes, ſich ihr unterwarf; bald aber ſelbſtſtändig als Meffias unter feinen Volksgenoſſen auftrat*. Diefe Wirkſamkeit fcheint den Täufer noch im Kerfer auf den Gedanken gebracht zu haben, Jeſus fei der Meſſias, ohne daß er darüber zur Gewißheit gefommen wäre. Der Chrifts gemeinde aber mochte dieß unbeſtimmte und fpäte Zengniß

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nicht genügen; baher im vierten Evangelium fchon, ftatt der Frage, die feierliche Berficherung der Mefftanität Jeſu, feines leidenden Verhaltens ımd feiner göttlichen Natur. Weiters hin wurde die Taufe Jeſu in eine glänzende Beftätigung diefer Meifianität, und fomit auch in eine Erhebung Jefu über den Täufer, fchon beim Beginnen ber Wirkſamkeit umgeftaltet, und endlich, wie es uns Lufas überliefert, bes Zäuferd untergeordnete Stellung ſchon in bie Berfündigung fener Geburt gelegt.

Alle früheren Ausleger, welche Das Unhiftorifche ber fo eben als mythifche Bertandtheile aufgezählten Züge der evangelifchen Berichte gleichfalls erkannt haben, find barin ohne ficheren Takt bald zu weit, bald nicht weit genug ges gangen, was hier nur im Allgemeinen angebentet wird, weil

im Borhergehenden fchon eine indirefte Beurtheilung dieſer Verſuche enthalten ift.

Gleichſam ald Anhang möge hier noch eine kurze Betradhs tung des traurigen Endes folgen, das Johannes nahm. Mit unfern drei erften Evangelien (Matth. 14, ıc. 35 Mark. 6, 175 Luk. 9, 9 20.) ftimmt Joſephus darin überein, daß der Täufer nach längerer Gefangenfchaft von Herodes IAntipas, Fürften von Galiläa, hingerichtet worden; Dagegen weichen fie im Angabe der Urfachen feiner Verhaftung und Hinrichtung von einander ab. Die Evangelien nennen als Grund der eriten den Tadel, welchen Sohannes über. die Verheirathung des Fürften mit feines Bruderd Frau, der Herodias, ausgefprochen, ale Grund der Hinrichtung die Kit Diefes Weibes während eines Hoffeſtes. Joſephus aber erzählt, derfelbe fei verhaftet worden, weil Herodes von feinem großen Anhange einen Aufruhr gefürchtet habe, und hinge⸗ richtet in Folge einer Niederlage in dem durch Die Heirath der Herodias herbeigeführten Araber» Kriege. Beide laſſen ſich aber gar wohl mit einander vereinigen, wem man nur annimmt, Herodes habe eben feiner gefekwidrigen Heirath und feines feandalöfen Lebens wegen, das Johannes gerügt haben mochte, um fo mehr vor einem Aufjtande Durch die

Johannes⸗Jünger fich fürchten müſſen.

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Auch unfere Evangeliften felbfi ftimmen untereinander nicht ganz überein. Matthäus nämlich, um Nichts zu fagen von der nicht ganz gleichen Form der verfchiedenen Erzählungen, fagt, Herodes habe des Täuferd Tod gewünfcht, das Bolt aber gefürchtet, das denfelben für einen Propheten hielt; Mars fus dagegen, nur Herodias habe ihm Nache gefchworen, und feinen Tod ihrem Gemahle abliften müflen, weil diefer felbft ihn als einen heiligen Mann fcheute. Hier werben wir die leßtere Darftellung ale ſpätere Ausmalung betrachten müſſen, weil in ihr der Zäufer verherrlichter erfcheint, indem felbft der Fürft, den er beleidigt hatte, ihn zu achten nicht umbin konnte. Wenn nun endlich die evangelifchen Erzäh⸗ lungen die Sache fo jtellen, noch während der Tafel, am weldyer des Herodes Tochter. dad Haupt des Sohannes vers langt habe, fei dasfelbe auf einer Schüffel gebracht worden _ (. z. B. Matth. 14, 8 und 11), ſo ſcheint Joſephus zu wider⸗ ſprechen, dem zufolge Johannes in Machärus, eine Tage⸗ reiſe weit von Tiberias, der Reſidenz des Herodes, gefangen ſaß. Allein der Widerſpruch löst ſich, wenn wir annehmen, der Fürſt habe damals, wo er im Kriege mit einem arabi⸗ ſchen Könige begriffen war, in Machärus, der Gränzfeſtung gegen Arabien hin, fich aufgehalten.

Wir fehen alfo, das Leben des Taufers iſt in unfern evangelifchen Berichten „nur an feiner Jeſu zugewenbeten Seite von mythifchem Glanze umfloffen, während die von ber Sache Jeſu abgefehrte Seite mehr noch die gefchichtlichen Umriffe zeigt *.

Drittes Kapitel -Die Taufe Jeſu. (Matth. 3, 13—17; Mark. 1, 9—11; Luk. 3, 21-——235 Joh. 1, 32 34.) Ehe wir die Taufe felbft betrachten, werben wir und erit Die Frage zu beantworten haben: „In welchem Sinne hat

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ſich Jeſus von Johannes taufen laſſen?“ wobei wir allerdings auf mehrere Schwierigkeiten ftoßen.

Schon in der alten Kirche machte es Bedenken, daß Sefus aud, „auf das Bekenntniß feiner Sünden“ (Matth. 3, 6) follte getauft worden fein, und das Hebräer= Evange: lium erzählt, Sefus habe auf die Aufforderung feiner Mutter, ſich taufen zu laffen, geantwortet: „Was habe ich gefündigt, daß ich gehen fol und von ihm getauft werde?“ Sin der That muß man bei der Boransfegung der Sündlofigfeit Jeſu den Schluß ziehen, entweder hätte Jeſus mit diefem Bekenut— niffe eine Unwahrheit gefprochen, oder es hätte ohne das; felbe der Täufer ihn nicht getauft. Mußte aber auch nicht jever ZTäufling das Siündenbefenntniß ablegen, fo hielt doch ficherlich bei Sedem Sohannes eine auf die Buße fich beziehende Anrede; und felbit, Daß dieß nicht immer gefchah, gegeben, behält immer der ganze Aft, das Hinabfteigen in den Fluß mit Geberden bes Büßenden, einen Anftrich, dag Jeſus ohne Heuchelei und ohne die Gefahr, die Gemüther im Glauben an feine Reinheit irre zu machen, demfelben ſich nid,t unterziehen Fonnte.

Wollte man annehmen, Sefus habe, als er mit dem Ve⸗ wußtfein, ebenfalls der Vergebung und Reinigung zu bedürfen, mr Taufe gefommen, fich noch nicht für den Schuldlofen ges halten, fo müßten wir einen fo fchnellen Uebergang von dem Büßenden zu dem felbft Sündenvergebenden, für mehr als unwahrfcheinlich halten. Auch der Ausweg, Jeſus habe eine folche Taufe für ſich felbft zwar nicht nöthig gehabt, fich ihr aber Doch unterzogen, um Andere auf die Nothwendigfeit berfelben hinzumeifen,, befreit Iefum nicht von dem Bormwu f, eıne Unmahrheit begangen zu haben, indem er doch fcheins bar die Handlung auch auf fich bezog: Daher entgehen wir den Schwierigkeiten nur dadurd,, Daß wir die Simdlofigfeit Jeſu nicht, nach orthodoxer Anficht, als eme „AUnmöglichfeit der Sünde“, fondern natürlicyer, menfchlichyer, als eine „Möglich: keit, nicht zu fündigen“, auffaffen, womit es fich denn recht wohl verträgt, daß er einer Handlung fich unterzog, durch welche er fidy in feinem heiligen Willen, dem allein er dieſe

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Sündloſigkeit verbanfte, flärtte, und ſich fortgefette Reinheit gelobte.

Noch aber haben wir mit einem andern Bedenken ung ab> zufinden. Da nämlid Sohannes taufte auf den, der ba kommen follte, wie ift es, fo müffen wir aud) hier wieder fragen, mit der Wahrheitsliebe Jeſu verträglic,- ſich ſelbſt den Anfchein des Erwartens zu geben, dba er doc ber Er- wartete war? wie mit feiner Klugheit, das Volk dadurch offene bar an einen Andern zu weifen® Daß er damals fich noch nicht entfchieden für den Mefftas gehalten habe, Fönnen wir nicht annehmen, da auch hier wieder ein undenfbarer Sprung angenommen werden müßte, von dem Zweifel an ſich felbft zu einer, allen Gefahren des Todes troßenden, Entſchieden⸗ heit. Muß nicht vielmehr ein fo ficheres, Andere unwider⸗ ftehlich mit ſich fortreißendes, Bewußtſein ſich fchon frühe ale der ganze Inhalt und Mittelpunkt feines geiftigen Lebens in ihm entwidelt haben? Doc finden wir eine willfommene Auskunft in einer Nachricht Juſtins, der zufolge es jüdiſche Erwartung war, der Meſſias müffe durd) die Salbung des Elias bei feinem Volke eingeführt werden. Eine folche konnte Ssefus in der Johannes⸗Taufe erbliden, und eben, weil er ſich für den Meffias hielt, derfelben fich unterwerfen, und die Erwartungen Anderer von ihm dadurch nicht verwirren, fondern beftätigen. Eine gleiche Erwartung hatte der Täus fer felbft bei Joh. 1, 32, womit fich freilich Die Weigerung bei Matth. 3, 14 nicht verträgt.

Allen Evangelien zufolge war die Taufe von wunderbaren Borfällen, die fich unmittelbar an fie anfchloffen, begleitet (f. die Stellen); bei Sohannes werden fie nicht in Direkter Erzählung berichtet, fondern der Täufer erzählt fie feinen Schälern; von einer göttlichen Stimme wird jedod) bier Nichts gejagt. Alte apokryphiſche Erzählungen fügen noch feus rige Erfcheinungen hinzu.

Wem diefe Wunder eigentlihh gegolten haben follen, wird nicht von allen Evangeliften gleid) deutlich geſagt; nach Sohannes müſſen fie vorzugsweife für den Täufer beftimmt

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gewejen jein, da er fie als Betätigung der Mefjtanität Jeſu betrachtet. Auch bei Matthäus feßen wir am natürlichften diefe Anficht voraus; wiewohl alsdann feine Worte etwas un⸗ genau find, da man unter „er“ bei „fah“ (V. 16) nicht Ses fus, der eben genannt war, fondern den Täufer fich denken muß; Doc, ſcheint er wirklich das Wort auf Diefen bezogen zu haben, da er fagt: Cer fah, wie der Geift) über ihn Fam, und nicht „über fich“ und bei der Gottesſtimme felbft die Worte „diefer ift“ und nicht „Du bift“ gebraucht. Dem Lukas zufolge muß die Scene vor allem Volke ſich ereignet haben (3, 21), und nad) Markus war es Jeſus, der den Geift herabfonmen fah, und zu ihm werden Die Worte ges ſprochen: „Du dift ꝛc.“.

Die meiſten Audleger faffen mın das Erzählte ganz buch⸗ ſtaͤblich als Außere, fihtbare und hörbare, Vorfälle aufs allein die „gebildete Neflerion * findet hierbei nicht wenige Schwierigkeiten. Erftlich gehört es mır einer zeitlichen Vor⸗ ftellung an, wenn bei Erfiheinung eines göttlichen Weſens ber Himmel fih aufthun muß, ald ob, was wir nicht denkbar ' finden können, Gott über dem Himmelsgewölbe wohne, dems nach von unferer Erde getrennt feiz wie famt ſich ferner ber heilige Geift von einem Orte zum andern bewegen, wie ein endliches Wefen, oder gar m die Geſtalt einer Taube verförpern? Endlich kann man es fogar abeuteuerlich finden, daß Gott in menfchlidyen Lauten, und in der Sprache eines beſtimmten Volkes, geſprochen haben foll.

Es haben daher ſchon alte Kirchenlehrer ſich zu der Anficht flüchten müffen, daß die Stimme Gottes, wo von einer folchen die Nede ift, nicht als eine Reihe aͤußerlich hörbar er, durch Bewegung der Luft bervorgebrachter Töne zu faffen fei, fons dern als ein im Snueren des Menſchen bewirfter Eindrud. Drigines namentlich nennt fie „innere Anfchauungen, nicht Wirklichkeit“, und erflärt, nur die Einfältigen könnten an ein wirkliches Spalten des Himmels Denfen.

Demgemäß haben denn viele neuere Theologen auch Die Stimme bei der Taufe als eine innere, von Gott bewirkte

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Bifion aufgefaßt. Dazu fcheinen die unbeftinmten Ausdrücke in dem erften, zweiten und vierten Evangelium: „ihm öffnete fi der Himmel“ „er jah“ „ich habe gefhaut“ x. allerdings die Hand zu bieten, und ſich auf einen im Innern des Sohannes, dem wir nach Marfus noch Sefum an bie Seite geben müffen, bewirften Eindruc deuten zu laſſen. Die Darftellung des Lukas aber bezeichnet die Sache durch bie Worte: „es gefhah, daß der Himmel fich öffnete“, - „ber Geift flieg herab, in förperlicher Geſtalt“, „eine Stimme Fam (wörtlich: geſchah)“ fo beftimmt ale einen Außeren Vorfall, daß Diejenigen, welche Die Wahrs. heit fäümmtlicher Berichte feithalten, nicht nur des Lukas Erzählung von einem folchen verſtehen müſſen, fondern folges richtig auch alle übrigen, wenn fie auch) nicht mit Derfelben Beltimmtheit fi) ausdrüden. Wie aber nun Dishaufen 3. B. zugeben kann, daß alles Bolf, dem Lukas zufolge, wirk⸗ lich Etwas gehört und gefehen, aber ein Unbeftimmtes, Unvers ftandenes, und dabei doch behauptet, die Taube fei‘ nur dem inneren Auge füchtbar, die Stimme nur dem inneren Dhre hörbar geweſen, dieje „überjinnliche Sinnlichkeit * vermögen wir nicht zu faffen, und wenden ung lieber gu Denen, die Alles für einen äußeren Vorgang halten, diefen aber nas türlich erklären.

Zu diefem Behufe berufen fie fich auf die Vorſtellungsweiſe des Alterthums, vermöge welcher man in bedeutenden Mios menten, wo ein fühner Entjchluß gefaßt werden foll, ein gött⸗ liches Zeichen erwartet, und ganz natürliche Vorgänge ale folche zu betrachten geneigt ift. So habe auch Sefu und Jo⸗ hannes, in der Stimmung, in weldyer fie bei der Taufe ges wefen, „jedes zufällig eintretende Naturphänomen bedentunges vol fein und ihnen ald Zeichen des göttlichen Willens erfcheis ‚nen müfen* Was num diefe natürliche Erfcheinung geweſen fei, darüber find fie nicht einig. Theils nehmen fie, den drei erften Evangelien folgend, etwas Sichtbares und Hörbares an, theils, bei Johannes ftchen bleibend, nur etwas Sichts bares. Diefes Sichtbare war den Einen zufolge ein plößliches Zertheilen der Wolfen, nach andern ein Bliß; die Taube wird als ein wirklicher Vogel dieſer Art, der gerade über

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Jeſu Haupt hinſchwebte, feitgchalten, oder zu einem Blitze eder einem Meteore, das mit einer Taube verglichen werde, verflüchtigt.. Das Hörbare wird zu einem Donnerfchlage gerhacht, oder ganz weg erklärt, und nur für cine Deutung des Sichtbaken gehalten. Mit diefem Letteren tritt man aber offenbar den drei eriten Evangelien zu nahe, die ganz beftinmt auch von etwas Hörbarem, nämlid von Worten, reden; und Diefe ald einen Donner zu fallen, geht doch auch nicht, ohne eine Nachhilfe der Sage anzunehmen, welche Diefe Ausleger bekanntlich nicht einräumen. Daß man ferner ein Zertheifen der Wolfen oder einen Blitz auch ein Eichöffnen des Himmels nennen: kürme, muß zugeftanden werden; wie eines von beiden aber mit einer Taube verglichen werden fnne, und dieſe wird von allen Evangeliften fejtgehalten, ja, wie überhaupt mm mit einem Vogel, dieß ift fchwer zu begreifen. Daher gehen Diejenigen, welche an eine wirffiche Taube denfen, mit dem Terte noch am glimpflichiten um, kön⸗ nen uns aber ſchwer glaublich machen, daß eine Taube fo firre geweien, um zu einem Menfchen heranzufliegen und „über ihm zu verweilen“ (oh. 1, 32).

Sehen wir uns aljo Durch die buchftäbliche Cübernatürliche) und die natürliche Erklaͤrung des Vorfall gleich wenig bes friedigt, fo müffen wir mit den meiften neueren Theologen zu einer füchtenden Prüfung unſerer evangelifchen Berichte ung hinwenden. Hierbei will man denn in dem des Johannes die reinfte Leberlieferung der Thatſache finden, von welcher die übrigen nur getrübte Abflüffe feien, weil jener nur von dem Herabiteigen des Geiſtes, ald einem meffianifchen Zeug⸗ nie, rede; gar wohl können ihm bloße Reden Jeſu als ein folches gegolten haben. Allein bezeichnet nicht auch er dieſes Herabfteigen fo: „ich fah den Geiſt herabfommen, wie eine Taube“? und bildlich, zur Bezeichnung der Sanftmuth Jeſu, kann er den Ausdruck auch nicht gemeint haben, fonft hätte er eher Jeſum felbit, nicht aber das Herabfteigen des Geifteg, mit einer Taube verglichen. Wenn man alfo den drei eriten Evangelien Unrecht thut, indem man ihre Darjtellung als

154 / einen trüben Ausflug der Johanneiſchen betrachtet, wobei doch Manches hinzugefommen fein müßte, namentlidy die gehörte Stimme, wozu ſich in Johannes gar feine Veranlaffung findet, fo werden wir richtiger verfahren, wenn wir lieber für alle vier nad) einer gemeinfchaftlichen Quelle und umfehen. Als folche bietet fich ung zunächft Jeſaia 42, 1 dar, eine Stelle, welche nach Matth. 12, 17, 18 auch fonft auf den Meſſias angewendet wurde; in dem Berichte des Matthäus (3, 17) find die Worte: „an dem ic; Wohlgefallen habe“, faft wört⸗

lich jener Prophetenitelle entlehnt. Hiermit find wir auf bie _

wahre Quelle der vor nnd liegenden Wunbererzählung ges

wiefen, nämlich auf das alte Zeftament mit feinen meffiani- .

fchen Weiffagungen und Vorbildern, was felbft von geiftreichen Theologen, wie Schleiermacher, auch bei andern Theilen der evangeliſchen Berichte, zu fehr verfannt wird.

Es lag ganz im Geifte des fpäteren Judenthums, Aus⸗

fprüche über den Meſſias, weldhe Dichter dem Sehova. in den Mund legten, ald wirklich gehörte Stimmen zu betradh- ten; Diefe Borftellungeweife war nicht allein auch Die ber erften Chriftgemeinde, fondern diefe mußte auch derielben ger mäß die Gefchichte ihres Meffias geftalten, um fich den Juden gegenüber zu Tegitimiren. Ganz natürlich alfo war es, aus jener jefatanifchen, auf den Meffias allgemein gebeuteten, Stelle allmälig eine Scene abzuleiten, wie Die vorliegende; es bot ſich aber auch noch eine andere Beranlaffung dazu dar. Die Worte in Pf. 2, 7: „Du bift mein Sohn, heute habe ich Dich gezeugt“, wurden gleichfalls auf den Meffiag bezogen, umd da hier, wie man annahm, der Meffias perfönlich angerebet wurde, fo gaben dieſe Worte eine noch beftimmtere Beranlafs fung, einen wirflichen göttlichen Zuruf an Sefum anzunehmen; daß Lukas und Markus dieſen wirklich als Anrede ftellen, „Du bift“, beweist, daß in der That dieſe Pfalmftelle we⸗ nigftend mitwirfte, der Erzählung dieſen Zug beizumifchen, wenn fie nicht gar die erfte Beranlaflung war. Denn in

einigen Apokryphen lantet die Gottesftimme ganz fo, wie jene

Pfalmmworte, und in andern ftehen dieſe wenigftens neben den Worten, wie fie unfere Evangelien geben; ja felbft in einigen alten Handfchriften des neuen Teftaments in dem bes

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ee, ——

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treffenden Verſe bei Lukas. Daß aber eine jolche Stimme vom Himmel gerade mit der Taufe in Verbindung gebracht wurbe, lag nahe genug, fobald diefe als Weihe Sefu zu

zu feinem Meffiasberufe aufgefaßt worden war. Ä

Daß aber der Geift Gottes auf Jeſu befonders ruhen werde, mußte man annehmen, ba die Meffiagzeit überhaupt als die der Ausgießung des Geiſtes über alles Fleiſch gefaßt wurde, nad) Anleitung von Soel 3, 1 20.5 und daß es bei dee Taufe gefchehen werde, lag vorgebildet in der Gefchichte Davids, auf welchen aud) bei feiner Salbung der Geift Gottes hernieder fam, 1 Sam. 16, 13. Diefes Herabfonmten ganz finnlich zu faffen, als ein fichtbares Niederſinken und Bers weilen, ging gleichfalld aus alt= teftamentlichen Vorftellungen hervor, bei dem Meſſias aber mußte es auf ausgezeichnete, glänzende und, wenn der Ausdruck erlanbt ift, handgreiflichere Weiſe gefchehen. Es fragte fid) nur, unter welchem finnlichen Bilde der Geiſt Gottes gedacht wurde, wie er fich verkörpern fonnte. Zwar findet fich im alten wie im neuen Teſtamente vorzugsweife das Feuer als Sinnbild des heil. Geiſtes; da⸗ mit aber. find andere nicht ausgeſchloſſen. Als fchwebend - wird fchon 1 Mof. 1, 2 der Geift Gottes dargeitellt; dieß führte auf den Vergleich mit dem Fluge eines Vogels; das Bild bot ſich dar, wurde buchſtäblich genommen, und der Borftellung noch näher gerücdt, indem Der allgemeine Begriff des Vogels in den noch anſchaulicheren einer Taube fich zu⸗ hmmenzog. |

Dem Öriente it die Taube ein heiliger Vogel; die brü- tende ein Sinnbild der belebenden Naturwärme; wie nahe lag ed, wenn einmal Die Sache finnlic gefaßt wurde, den Geift Gotted, der über den noch rohen Elementen fchwebte, fich als Taube vor uftellen! Als daher fpäter die Erde durch Die Sündflurh aufs Neue vom Waſſer bedeckt worden war, bringt eine Taube die erften Zeichen des Lebens. In fpäteren jü- . difchen Schriften wird daher wirklich der über den Waſſern fhwebende Geift Gottes mit einer Taube verglichen, und Die Zaube überhaupt als Sinnbild des heil, Geifteg dargeftellt;

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ja es wird fogar ausdrücklich jener gleich einer Taube ſchwe⸗ bende Geift von dem Geifte des Meſſias verftanden, und mit diefem auch die Noachiſche Taube in Verbindung "gebracht.

Die war Anlaß genug, gerade fo, wie ed gefchehen if, die Sefchichte der Taufe auszumalen; nur muß man Die Sache “nicht wieder verkehren durd; die Annahme, der Täufer habe in einer wirklichen Bifion den Geift ald Taube gefehen; dieß ift um fo unglaublicher, je mehr Gründe wir haben, den Täufer nicht für vollfommen überzeugt von Jeſu Meffianität zu hab ten, wie oben gezeigt worden.

Dbwohl wir alfo alle näheren Umſtände bei der Taufe für mythifch halten müffen, fo ift doch Fein Grund vorhanden, an der Wirklichfeit der Taufe felbft zu zweifeln; denn ed ft nicht unwahrſcheinlich, daß Sefus, feiner meffianifchen Be ftimmung ſich bewußt, der Taufe, ald Einweihung zu. feinem Amte, ſich unterzogen habe.

Faſſen wir endlich noch den Zwed ind Auge, dem bag Wunderbare bei der Taufe dienen follte, fo fan dieſer wohl nur in der, bei der Weihe der Taufe bewirften, Ausrüftung . mit höheren Kräften beftehen, wozu im alten Teftamente bad Borbild gegeben war, indem auch die Könige durch die Sab bung dem Geift Gottes erhalten (1 Sam. 10, 6; 16, 13). Wirklich fagen die drei eriten Evangelien ausdrücklich, nach der Taufe habe der Geiſt Jeſum in die Wüfte geführt; gleiche fam die erſte Wirfung des nım in ihm mohnenden.

Eine ſolche Ausgießung des Geiftes will ſich aber nicht wohl vertragen mit der Erzeugung Sefu durch den heiligen Geiſt, wie fie bei Matthäus umd Lukas erzählt wird, noch weniger mit der Sohanneifchen Anficht, daß der göttliche Logos von Anfang an in ihm Fleiſch geworden (Joh. 1, 1, 14); denn wozu bedurfte ed dann noch einer befonderen Aus⸗ rüftung mit dem heil. Geifte? Mit der Annahme, durch jene Erzeugung habe Sefus'nur die Kraft, gleichfam die Anlage, erhalten, mit diefer Ausrüftung aber erit die Wirffamfeit, die lebendige Thätigfeit des Geiftes in ihm, reicht man nicht and, da ja die letztere aus der Anlage ſich von felbit entwickeln

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mußte. Allerdings könnte man mit Lücke fagen, auch bie gewaltigite Geiſteskraft bedarf der äußeren Anregung; allein je größer jene üt, dejto geringer braucht Diefe zu fein, und das größte Maaß des äußeren Anftoßes, wie wir hier in dem fichtbaren SHerniederjteigen des heil. Geiftes haben, ericheint bei dem größten Maaß der inneren Kraft immers bin wenigftens als Weberfluß.

Es kann alfo in dem Kreife von Ehriften, in welchem ſich unfere Erzählung von den Wundern bei der Taufe aus⸗ bildete, die Borftellung von der Erzeugung Jeſu durch den heil. Geiſt nicht geberricht haben. Und wirklich dachten Dies jnigen Chriften, welche nicht an diefe glaubten, fich bie Mittheilung göttlicher Kräfte an Jeſum als erſt bei der Taufe gefchehen; die Ebioniten nämlich, die deßhalb fo heftig vers folgt wurden, und in ihrem Evangelium die Sache fogar fo daritellten, daß der Geijt in Geitalt der Zaube „in ihn hinein gegangen fei“. Auch die gemein jüdifche Vorftellung war feine andere, ald daß ber Meffias erft bei der Salbung durch den Borläufer Elias den heil. Geift erhalte.

Sehr wahrfcheinlic, bildete fich die Sage von der Aus⸗ gießung des heifigen Geiftes bei der Taufe ſchon damals aus, als man anfing, Jeſum für den Meffias zu halten; denn am ſchicklichſten ſchien es, die Mittheilung der göttlichen Kraft, die er ale Meſſias haben mußte, an die Weihe zu diefem Amte zu knüpfen. Später mochte, befonders als Männer mit höheren Meffiasideen in die Gemeinde traten, diefe nicht mehr genügen; fehon vor feiner Geburt mußte Jeſus von heil. Beifte durchdrungen fein, und fo entftand die Miythe von feis ner übernatürlichen Erzeugung. Vielleicht knüpft ſich auch daran die Umbildung der Himmelsftimme, die, wie wir oben (f. ©. 154) fahen, urfprünglich, nach Bf. 2, 7, fo gelautet haben mag: „heute habe ich dich gezengt “; diefe Vorftellung mochte nun unverträglich fcheinen mit der wirklichen Erzeugung durch den heil. Geift, und fo gab ſich eine Umbildung der Worte nach Sef. 42, 1 an die Hand, wie wir fie jet haben.

. 158 5 Es fchließen ſich alfo die ſo eben befprochenen Erzählungen allerdings gegenfeitig aus; "Daß wir fie aber Dennoch neben einander haben, geht aus dem Character der Sage und ber diefelbe aufzeichnenden Schriftfteller hervor; von den einmal gewonnenen Schäßen wollen Beide, Sage und Schriftfteller, sicht gerne Etwas verlieren.

Viertes Kapitel. Die Berfuchungsgefchichte. (Matth. 4, 1-11; Marf. 1, 12, 13; Luk. 4, 1— 133 °

Betrachten wir zuerft Drt und Zeit der Verfuchung Jeſu, fo kann es in Bezug auf den eriten auffallen, daß alle brei Evangeliften erzählen, Sefus fei „in die“ Wüſte geführt worden, da Doch nach der früheren Erzählung Sohannes, alfo auch Jeſus bei der Taufe, ſchon in derfelben ſich befanden. Indeß mochte die Erinnerung an dieſen Umſtand Teicht Durch die fo eben erzählte Taufe im Sordan, der jedenfalls eine Unterbrechung dev Wüfte bildet, verwiſcht worden fein, und wir dürfen daher höchftens nur eine etwas größere Genauig⸗ keit Des Ausdruckes, etwa: „weiter in bie Müfte hinein“ vermiffen. Wichtiger ift eine Schwierigkeit in Bezug auf bie Zeit der Verfuchung. Alle drei Synoptifer 1°) ftinnen darin überein: daß Jeſus unmittelbar nad) der Taufe ſich in bie Müfte, wo er verſucht ward, begab, dort vierzig Tage laug blieb, und fodann nach Galiläa ging. Betrachtet man aber des Johannes Bericht, fo fihmeigt dieſer nicht nur von der Verſuchung, fondern erzählt auch fo, daß fie gänzlich aus⸗ gefchloffen erſcheint. Der Täufer nämlich autwortet, nad) Soh. 1, 19—28 auf die Fragen des Synedriums; dann ers wähnt er V. 29— 34 zum Erftenmale der Taufe Jeſu; diefe müßte alfo fammt der Verfuchung nach 28 zu fliehen

»2) Unter dieſem Namen begreift man die drei erften Evangeliſten; über die Bedeutung deöfelben vergleiche nıan die Erklärungen.

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fommen; allein V. 29 fängt an: „am andern Tage“; Taufe und Berfuchung aber zu trennen, geht nicht, weil dieß den Synoptifern geradezu widerfpridht, und auch fo Fein Plaß für- leßtere bleibt; denn noch zweimal, V. 35 und 43, heißt ed: „am anderen Tage“, und endlich 3, 1 ift Sefus „am dritten“ Tage auf der Hochzeit zu Cana in Galiläa, weßs halb auch die Aushülfe die Worte „am andern Tage“ in „bald nachher“ umzudrchen, nicht anwendbar it. Wollte man endlich Taufe und vierzigtägigen Aufenthalt gerade vor B. 19, d. h. an die Spite der hier beginnenden Geſchichts⸗Erzählung des Evangeliums fegen, fo würden offenbar die Zeugniffe des Taufers über das bei Sefu Taufe Gefchehene zu ſpät kom⸗ men, nämlich wenigſtens vierzig Tage nachher. Wenn wir alfo vergebens in des Sohannes Darftcllung Trepp auf Trepp ab wandern, um unſere Verſuchungs⸗-Geſchichte unterzubringen, (0 bleibt nur die Annahme übrig, daß Sohannes für fie Feine Stelle hat, mirhin fie nicht ſowohl verfchweigt, fondern viels mehr gar nicht Fennt.

Es ſtimmen aber auch die drei Synoptifer nicht genau mit einander überein: Markus erzählt nur allgemein, während der vierzig Tage fei Jeſus verfucht worden; Matthäus giebt drei beftimmte Verſuchungen an, die aber erft nach jenen vierzig Tagen eintraten (4,2, 3); Lukas hat zuerft, ganz wie Marfus, die allgemeine Angabe (4, 2) und erzählt dann, wie Matthäus, noch die befonderen, nachher eingetretenen Ber: ſuchungen. Hier hat Leßterer offenbar die fpätere, getrübte Ueberlieferung; denn wie follte er dazu kommen, aus einer vierzigtägigen Verſuchung gar Feine einzelne anzuführen, ſon⸗ dern nur die an's Ende diejer Zeit fallenden? Und dahin gehören doch auch feine drei namentlich hervorgehobenen, da fhon die erfte derfelben an den, erft aud langem Aufenthalt in der Wüſte bervorgegangenen Hunger anfnüpft. Wahr⸗ fcheinfidy bildete fich die Erzählung fo aus, daß man zuerft nur von Verſuchungen im Allgemeinen Etwas wußte Marf.), fodann einzelne hervorhob, und diefe, weil die erfte durch den langen Hunger Jeſu motivirt war, an’d Ende des Auf enthaltes ftellte Matth.), endlich aber beide Darftellungen „anf eine kaum erträglihe Weiſe* zufammenfaßte C&uf.).

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Auch feheint die Anordnung der einzelnen Berfuchungen bei Matthäus die urjprüngliche zu fein, da er mit ber ſtärkſten fchließt, der Aufforderung zur Anbetung (4, 9 ꝛc.)

Pas nun weiterhin Marfus mit dem, ihm eigenthümlichen, Veifage: „und er war unter den Thieren“, den er offenbar mit dem „Berfuchtwerden“ in Verbindung feßt (1, 13), meint, it ſchwer zu ſagen; wir müffen cs einftweilen bei dem Ur⸗ theife Schleiermacher's, der den Beifat einen „abens thenerlichen“ nennt, bewenden laffen und ihn aus der Neigung des Marfus erklären, der gern übertreibende Züge, von denen wir, wie oft bei den Apokryphen, weder Zwed uoch Anlaß einfehen können, beifitgt.

Endlich fchließen die beiden erſten Evangeliſten mit einer Berficherung, in welcher liegt, daß der Teufel nun ganz von Jeſu gewichen (Matth. 4, 115 Mark. 1, 13; Lukas laßt ihn aber nur „bis auf eine fpätere Zeit“ ihn verlaffen, offeus bar im SHinblide auf die Anfechtungen Jeſu während feines Leidens; vrgl. Joh. 14, 30.

·

Kaum hat irgend ein Theil der evangeliſchen Geſchichte fo fehr alle möglichen Erflärungsverfuche erfahren, ald dieſer: woran hanptfächlich der Teufel fchuld ift, deffen Teibhaftiges Auftreten dazu einlud, die Sache mit allen Hebeln anzufaffen.

Die erfte, aus umbefangener Anficht der Worte hervor gehende, Auffaffung ift die, daß Jeſus, nachdem der heil. Geiſt über ihn gekommen, von dieſem in die Wüfte geführt worden, um die Verfuchungen des Teufels zu beftehen, daß dieſer ihm fihtbarlich erfchien, dann, als Sefus alle feine Verfuche vereitelt hatte, von ihm wich, und daß nun die Engel erw fchienen, um ihm zu dienen. Wie aber fünnen wir dieß, ale Geſchichte betrachtet, mit unferen Borftellungen und religiös fen Ideen vereinigen ? |

Welchen Zwed fonnte zuvörderſt der Geift Gottes haben, Sefum den Verfuchungen entgegen zu führen, wie Matth.4, 1 ausdrücklich ſagt? Einen ftellvertretenden, erlöfenden Werth derjelben wird man doch wohl nicht behaupten wollen, fo wer ig als daß Gott erſt nöthig hatte, Sejum auf die Probe

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zu ftellen.* Fehlte es body feinem fpäteren Leben an ben bitterften Prüfungen nicht, fo daß er ja ohnehin, wie es Hebr. 4, 15 heißt, in allen Stücen verficht ward, wie wir. Auch Das vierzigtägige Falten erregt nicht geringen Anftoß: denn. vierzig Tage ohne alle Nahrung zu leben, ift für jeden Menſchen unmöglicy; biefe Zahl aber für eine runde zu nehs men, geht nicht wohl an, ba immer noch, auch nach großem Abzuge, eine zu runde, das heißt zu große Anzahl von Tagen, übrig bleibt. Wenn Andere das „Nichteffen“ und „Faſten“ - tiche fo genau nehmen wollen, fondern damit den Genuß von Wurzeln und Kräutern noch vereinbar, oder gar, nadı Hoff⸗ manne fcharffinniger Bemerkung, durch dasfelbe das Trinken nicht ausgefchloffen erachten, fo ift dieß offenbar gegen bie Vorftellung der Evangeliften. Schon ein Vergleich mit dem eben fo langen Faften des Mofes (2 Mof. 34, 28), bes Elias (1 Kön. 19, 8), nöthigt und, die Erzählung von ganz buchftäblichen Kaften zu nehmen. Warum aber, fragen wir weiter, legte der Geift eine ſolche Hebung Sefu auf, da er wiffen konnte, Daß gerade der durch fie entitandene Hunger dem Teufel, den auch der Sicherfte nicht herausfordern fol, die erfte Handhabe zu feinen Verſuchungen gab?

Aber eben diefe perfönliche Erfcheinung des Teufels bildet den größten Anftoß. Schon von dem Dafein degjelben müfs fen wir das Nämliche behaupten, was oben von dem der Engel gejagt worden (f. ©. 73); ja der Glauben an das⸗ felbe verträgt fi mit der Bildung des Jahrhunderts noch weniger, als der an Engel, und wir müflen Schleiermas> her beitreten, wenn er fagt, „die Berufung auf den Teufel koͤnne fortan nur als Ausflucht der Unwiffenheit oder Traͤgheit gelten“. Aber auch, felbft das Borhandenfein zugegeben, ein perfönliches Auftreten des Teufels ift mit unfern Borftel- fungen unvereinbar, und im alten wie im neuen Teflament ohne Beifpiel. Shnehin hätte er, um nüht ein Dumnter Teufel zu fein, in einer geborgten Geftalt erſcheinen müffen, was Doch eine gar abenteuerliche Vorftellung wäre. Aber auch die Berf uch ungen ſelbſt find anſtößig genug. Entweder

I. 11

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kannte er ſchon Jeſu höhere Natur, dann waren fie zwecklos; oder er kannte fie nicht, Dann hatte er nicht nöthig, Jeſu aus⸗ nahmeweife perfünlich zu erfcheinen. Ferner aber hätte er feine glücliche Auswahl getroffen; die erfte zwar, durch den Hun⸗ ger, war wohl motivirt; fonnte aber durch fie Jeſus nicht mwanfend gemacht werden, wie war dieß von der Aufforderung, den halsbrechenden Verfuch, ſich von der Tempelzinne herabs zuftürzen, zu erwarten, oder von dem jeden nicht fchon abges fallenen Ifraeliten empörenden Verlangen, ben leibhaftigen Zeufel kniefällig zu verehren?

Nie aber kam Jeſus, da die Verfuchungen an verfchiebes nen Orten ftatt fanden, fo fchnell mit dem Teufel von einem zum andern? Ein einfaches Wandern Jeſu kann nicht ans genommen werben; denn die Ausdrüde in unfern Berichten; „der Teufel nahm ihn, führte, ftellte 2c. ihn“, deuten zu fehr auf eine Einwirkung besjelben, und zwar, da er ihm (Lu. 4, 5) alle Reiche der Welt „in Einem Augenblicke“ zeigte, auf eine zauberhafte Berfeßung von hier nad) dort, was doch allzufehr gegen die Würde Jeſu verftößr, da ihn ber Teufel offenbar in der Luft mit fidy herumgeführt haben müßte. Dieß haben fchon alte Ausleger mit Recht anftößig gefunden. Wel⸗ ches Auffehen mußte e8 aber machen, Sefum plößlicdy auf dem Tempeldach zu fehen, wenn audy fein Begleiter unfichtbar ' blieb! Wo ift der Berg, auf dem man „alle Reiche der Welt“ überjchauen kann? Es müßte denn der Teufel eine nach der damals noch gangbaren Borftellung, die Erde ſei eine Fläche, gezeichnete Landkarte vorgelegt haben!

Daß endlich „Engel“ zu Sefu gefommen und ihm „gebient“ haben, kann nach dem Zufchnitte der Erzählung, und nadı dem Borbilde von Elias (1 Kön. 19, 5), nur vom Darbrins- gen erquidender Speifen genommen werden. Nun fönnen aber ätherifche Weſen Feine irbifchen Speifen bringen, oder, wenn ätherifche Speifen, fo konnten biefe dem irdifchen Leibe Jeſu nicht zufagen.

Die Erwägung ber furz dargelegten Anftände in den Ver⸗ ſuchungsgeſchichten hat ſchon Kirchenväter veranlaßt, wenig⸗

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tens die Drtöveränderungen ber zweiten und dritten nur ale innere Anſchauung zu nehmen, als ein vom Teufel bewirktes Gefichte. Neuere Erflärer gingen weiter, und betrachteten die ganze Verfuchung, wobei denn das Falten entweder ald Cunglaubliche) Xhatfache, oder als Cdem Wortfinne der Erzählungen widerftreitende) Einbildung gefaßt wurde, ale . en inneres Vorftellen und Aufchauen. Namentlich hält Paulus, fie für eine traumartige Bifion. In der durch bie Taufe erzeugten begeifterten Stimmung foll Jeſus ſich in Die Einfamfeit begeben, fich, das ſchwere Gewicht feines übers nommenen Berufes fühlend, auch die Berfuchungen, denen er ansgejeßt werben könne, lebhaft vorgeftellt haben; diefen_ ans firengenden Betradytungen fei fein feinorganifirter Körper ers legen und er fei in einen traumartigen Zuftand verfunfen, in welchem fein Geift Die vorangegangenen Ideen zu einer wirk⸗ lichen Gejchichte umgebildet habe; wie ja die Cinbildungskraft bei Ermattungen ded Körpers am thätigften ift.

Was nun zunähft die Worte unferer Berichte betrifft, die man für diefe Erflärung in Anſpruch nimmt, fo ließen ſich allenfalls einige derfelben durch Berufung auf ähnliche Aus⸗ drüde- in Offenb. Joh. 1, 105 17, 3 wohl auch auf innere Anſchauungen bezichen; allein immerbin Tiegt bei diefen Aus⸗ drücken die Deutung auf wirklich außerlicdhe Vorgänge fo nahe, daß fie ohne befonderen Zufas nur in fo durch und durch vifionären Büchern, wie die angeführten find, von ins neren Zuftänden genommen werden können; namentlich dürfte in unferer Erzählung bei dem Uebergang zur wirklichen Ges (hichte die Bemerkung nicht fehlen, die ſich aud) Matth. 1, 24; 14, 11 findet, daß namlich nun Jeſus wieder erwacht ſei. Auch finden fich folche Träume und Ertafen im Leben Jeſu fonft nirgends; nirgends legt er Werth auf fie. Wer follte fie auch hier in ihm bewirft haben? am Ende doch wohl der Teufel.

Eben fo wenig wollte der Verſuch gelingen, die Gefchichte der Verſuchung als außeren natürlidyen Vorgang zu betrady- ten; dieſer Anficht gemäß war der Teufel ein gewöhnlicher Menſch, und zwar ein liftiger Pharifaer, den die herrfchende Partei von Serufalen abfandte, um zu verfuchen, ob Jeſus

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wirklich meſſianiſche Kräfte befüße, und, wenn es ſich fo faͤnde, dazu zu gebrauchen wäre, im Intereſſe ber Prieiter eine Uns ternehmung gegen die Römer zu leiten. Neben dieſem natür⸗ fichen Teufel find denn die „Engel“ nichts anderes, als eime Karawane mit Lebensmitteln! Es wäre überflüffig, zur Widerlegung diefer Anficht Etwas hinzuzufügen.

Iſt nun unfere Gefchichte auf Feinerlei Weife denkbar, unbam fcheitern alle Verfuche, fie begreiflich zu machen, drängt ſich⸗ und der Schluß auf, daß diefe nicht fo gefchehen fein fann,_ wie die Evangelien fie erzählen.

Am leichteften fommt man davon, wie es Neuere thun anzunehmen, daß derfelben etwas Thatfächliches zu Grunde liege, was Sefus feinen Jüngern erzählt habe, er fei nämlidy in der Wüfte ober auch anderwärts heftigen Berfuchungen aus⸗ geſetzt geweſen; daß er diefe bildlich als teuflifche bezeich- net, und die Jünger dieſes letztere buchitäblich genommen haben. Allein was müßten wir von Sefu VBerftande denken, wenn er nur jemals ein foldyes Gelüſten, wie das in der zweiten Verſuchung liegende, empfunden haben follte? oder auch nur ein weniger abenteuerliches unter diefer Form dar geftellt hätte (vgl. Matth. 4, 6)2 Ueberdieß würde feine Er- zählung ein mit der Nedlichkeit des Lehrers unvereinbares Ges mifch von Wahrheit und Dichtung enthalten haben; denn bes Satans perſönliches Auftreten wäre ein Zug in dem Bilde, von dem er wiflen konnte, daß er Mißverftand veranlaffen mußte. |

Nach Andern fol Jeſus die Sejchichte als Parabel feinen Jüngern erzählt haben, wobei denn diefen abermald Das Bers dienft, die Sache mißverftanden zu haben, beigelegt wird. Sefus wollte, fo fagt man, feine Jünger durch die Parabel vor gewiſſen Fehlern warnen, in die fie bei ihrem Berufe leicht verfallen fonnten. Allein dagegen ift vorzüglich das einzuwenden, daß die Erzählung gar nicht als Parabel zu er- fennen if, und dennoch Mißverftand veranlaffen mußte; denn in Parabeln müſſen die Perjonen fogleih als bloß fingirte fenntlic fein, entweder nur allgemein bezeichnet,

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wie „der Sämann, der König ıc.“, oder wenn fie die Namen swirklicher Perfonen tragen, fo muß durch irgend einen Zug Das von ihnen Erzählte ald Dichtung deutlic, hingeftellt wers Den, wie z. B. wenn dem Lazarus der „reiche Mann“ in der Parabel gegenüber fieht. So wenig alſo Jeſus etwa den Petrus oder Sohannes zum Träger einer Parabel machen konnte, eben fo wenig ſich ſelbſt; unfere Parabel hat aber nur dann rechten Sinn, wenn der Meffias der Berfuchte ift, weßhalb auch nicht einmal eine fpätere Umbildung berfelben anzunehmen ift.

Es haben daher fchen Andere angefangen, die Erzaͤhlung als eine fpätere, über Jeſus gemachte Dichtung zu betrach⸗ ten, durch welche man die höhere Anficht vom Meſſias, der gemeinen irdifchen Hoffnung gegenüber, habe begründen wollen. St hiermit fchon der Uebergang zur mythifchen Auslegung gegeben, jo wollen wir diefe Nichtung nun weiter verfolgen, und nachforfchen, in welchen altzteftamentlichen Vorbildern die Mythe ihre Quelle haben künute.

Die Juden faßtey den aus der perfifchen Religion herübers genommenen Satan fehr bald als den befonderen Gegner ihrer Nation, und ald Herrfcher über die heidnifchen Völker af. Da nun in der Hand des Meffias die höchflen jüdi—⸗ ſchen Sntereffen lagen, fo mußte dieſer insbeſondere feinen Berfolgungen ausgefetst fein. So wie Jeſus alfo erfchienen war, des Satans Werfe zu zerftören (1. Joh. 3, 8), fo it diefer bemüht, Unfraut unter feinen Samen zu freuen (Matth. 13, 39), fucht über ihn Herr zu werden (Joh. 14, 30) und eben fo feine Gläubigen abzuziehen (Eph. 6, 115 1 Petr. 5, 89. Da aber die Angriffe des Teufels auf die Frommen nichte Anderes, ald Verſuche find, fie in feine Gewalt zu befom- men, und zur Sünde zu verleiten, fo wurde er natürlid) ale der „VBerfucher“ aufgefaßt: er verfucht die Menfchen mit- telbar, durch Leiden und Plagen, wie fchon im Eingange des Buche Hiob, und unmittelbar durch Einflüfterungen fündlicher Gedanken, wie z. ®. der Rathſchlag, den die Schlange den erften Menfchen gab CL Mof. 3, 1 ꝛc.), in Weish. Sal.

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2, 24; Soh. 8, 445 Dffenb. 12, 9 aufgefaßt erſcheint. As Verſucher zum Böfen wird in den Älteren Büchern bes alten Teftamentes Sehova felbft dargeftellt, theild um feine Lieblinge “auf die Probe zu ftellen (1 Mof. 22, 15 2 Mof. 16, 4), theils um fündhafte Menfchen zu verderben (2 Sam. 24, 1); fpäter ward diefes Verfuchen, als Gottes unwürdig, dem Sa⸗ tan zugefchrieben; daher ganz dieſelbe Berfuchung, welche in der zuleßt angeführten Stelle noch Werf Gottes ift, in einem fpäteren Buche geradezu auf Rechnung des Teufels gefebt wird (1 Chron. 22, 13. Ja felbft die gutgemeinten Verſuchun⸗ gen Abrahams und des jüdischen Bolfes (ſ. die oben angeführs ten Stellen) find nad) fpäterer jüdifcher Anficht Werke des perfönlich erfcheinenden Satans. |

Wenn aber fchon die Frommen des alten Bundes, ja das Bolt felbft, den Berfuchungen des Böfen ausgeſetzt waren, wie viel mehr mußte dieß bei dem Meſſias, „dem Haupte aller Gerechten und Borfämpfer des Volkes Gottes *, der Fall fein! Diefe Borftellung findet fich fchon bei Rabbinen, deren Einer z. B. den Satan zu Gott fagen läßt: „Herr, erlaube mir, den Meffias zu verfuchen“. Ag Ort folcher ° Berfuchungen mußte ſich aus mehrfachen Gründen die Wüfte darbieten; hier ift der Wohnfiß der höllifchen Mächte 3 Moſ. 16, 8, 10; Tob. 8, 35 Matth. 12, 43), bier ward auch das Bolf Ifrael geprüft (5 Moſ. 8, BD, in einfame Gegens den zieht Jeſus zu ftiller Betrachtung fich gerne zurück (Matth. 14, 135 Mark. 1, 355 uf. 6, 125 Joh. 6, 15), wozu die Aufforderung nad) feiner Taufe Doppelt groß war. Es fünnte baher ein längerer, und nicht gerade vierzigtägiger, Aufents halt desfelben. in der Wüfte nad). der Taufe allerdings bie gefchichtliche Grundlage unferer Mythe bilden, wiewohl and) ohne diefe Annahme die Verlegung der Verſuchung an diefen Ort und dieſe Zeit fehr denkbar ift.

Das Faften Jefu, und zwar ein vierzigtägiges, lag vor⸗ gebildet in den Erzählungen von Mofes (2 Mof. 34, 38), und Elias (1 Kön. 19, 8), die beide, und zwar jener auf bem Berge Sinai, ebenfalls vierzig Tage fafteten. Ueberdieß

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ſind ohne Zweifel Die vierzig Tage der Berfuchung in verfleir nertem Maßſtabe nichts Anderes, als die vierzig Prüfungs» jahre bes ifraelitiichen Bolfes in der Wüfte, was ſchon darin ſich auffallend bewährt, daß alle vom Satan angeführten Schriftſtellen aus der in 5 Mof. 6 und, 8 enthaltenen kurzen Beichreibung des Zuges entlehnt find; auch ergibt fih aus 8 Kor. 10, 6, 11, daß man überhaupt jene über das ganze Volt verhängten harten Prüfungen ald Vorbilder derjenigen anjah, die über die Anhänger des Meſſias ergehen folkten. Mußten dieſe alfo nicht ihn felbft in verflärktem Maße trefs fen, um von ihm, im Gegenfaß zu dem anderen „Sohn Got⸗ tes“, dem iſraelitiſchen Volke, fiegreich beſtanden au wers ben?

Diefem Vorbilde entſpricht nun zunächft bie erſte Ver⸗ ſuchung (ogl. Matth. 4, HT Hunger war ed, der das Volk in der Würfe am häufigften zum Murren gegen Sehova vers leitet hatte, obgleich es dabei hatte Ternen müſſen, was auch Seins dem Teufel erwidert (B. 4), „daß man nicht vom Brode allein lebt, fondern.2c.* (5 Mof. 8, 3). Der Ausdrud: „Steine in Brod verwandeln“, ald Bezeichnung eigenmäd)- tiger Hilfe, lag nahe gemig, da es ſtehende Formel war, einen mangelnden Gegenftand aus „Steinen“ hervorgehen zu laffen (Matth. 3, 9, und da Stein und Brod häufig als Gegenfäte geftellt werden; ohnehin geht ja Die Verfuchung in der fteinigen Wüfte vor ſich.

Eine Verſuchung jedoch genügte nicht, wie auch Abrahaın deren zehm hatte beftehen müffen; fo wie aber, nach den Rabs binen, mit diefen der Zeufel gleichſam drei Hauptgänge madıt, fo bot fich auch für die Verfuchungen des Meſſias Drei als heilige Zahl dar: drei Mal verfanf Sefus auf Gethjemane in Seelenfampf, dreimal verläugnete ihn Petrus (Matth. 26), dreimal ftellte er Petri Liebe zu ihm in Frage (Joh. 21, 15 ıc.) u. |. w.

Auch die zweite Verſuchung Matth. 4, 5, 6) ift dem Ber nehmen des ifraelitifchen Volkes nadıgebilder, das 5 Moſ. 6, 16 ausdrüdlich ermahnt werden mußte, feinen Gott nicht zu verjuchen, wozu aud) Paulus, ebenfalls im Hinblick auf das Volk m der Wüſte, die Chrijten auffordert, 1 Kor. 10, 9;

168 anch zu dieſer Sünde mußte der Mefflas angereist werben, und zwar zu einer vecht frevelhaften der Art, Gott nämlich “zu verfuchen, ob er auch bei dem tollfühnften Beginnen wun⸗ berbaren Beiltand Teifte. Ein folches bot fich dar in der vom Satan angeführten Stelle Pf. 91, 11, worin verheißen fchien, Daß der unter Sehovas Schuhe Stehende fich ungefährbet von einer fteilen Höhe herabftürzen könne. Daß als foldhe hier die Zinne des Tempels gefegt ift, mag feinen Grund darin haben, daß der Meffias mit dem Tempel in befonderer, ges heimnißvoller Verbindung ſtand.

Die britte Verfuchung die zur Anbetung des Teufels (Matth. 4, 8, M, ging gleichfalls aus jenen mofatfchen Er⸗ sählungen, nämlich aus dem öfteren Rüdfalle der Sfraeliten in Abgötterei, hervor. Auch dieſe wurden, nach der Lehre ber Rabbinen, vom Teufel hierzu verfucht, und nach fpätes ren jüdifhen Vorftelungen warb überhaupt jede Abgötterei als Anbetung des Teufels bezeichnet (Baruch 4, 75 1 Kor. 10, 20). Der Meffias aber fonnte zu einer folchen ganz verfucht werden, da er, ald König der Inden, zugleich die heidnifchen Völfer, die ja, wie wir oben fahen, unter ber Gewalt des Teufels ftanden, beflegen, mithin diefen felbft überwältigen mußte. Konnte es alfo fir ihn nicht einladend fein, fi) den mühevollen Kampf, durd, den er dieß erreichen follte, zu erfparen, indem er den Teufel durch Anbetung des⸗ jelben zn freiwilliger Unterwerfung vermochte? |

Daß nun, nad) dem langen Faften und den ſchweren Ber fuchungen, Engel ihn erquicten (Matth. 4, 11), lag in. dem Vorbilde des Elia, dem ebenfalls Engel Speife reichen (1 Kön. 19, 5, 69; auch wird das Manna in der Wüfte „Brod der Engel“ genannt Pf. 78, 25).

Fuͤnftes Kapitel, Die Lokalität des öffentlichen Lebens Jeſu. Matth. 4, 12 17, 23; 9, 1, 13, 54— 58; Mark. 1, 14, 15; 6, 1—6; Luk. 4, 14— 30; Joh. an vielen einzelnen Stellen '°.)

Jeſus, in Nazaret auferzogen, wählt von der Zeit feines öffentlichen Auftretens an, den Synoptifern zufolge, fein Heimathland Galiläa zum vorzugsweifen Schauplatze feiner Thaͤtigkeit. In Kapernaum, am galiläifchen Sce, läßt er fihh nieder (Matth. 4, 12—17), von da, wie von einem Mit telyunfte aus, macht er häufige Reifen durch ganz Galiläa, um zu lehren (Matth. 4, 23 und 9, 35); befucht auch die Gegend von Bethfaida, fo wie die nördlicher, gegen ben Libanon und Phönikien hin, gelegenen jüdifchen Länder; nies mals aber die füdlichen, Samaria und Judäa, bis zu feiner Reife nach Serufalem (Matt. 20, 17) wo feiner Leiden und Tod am Kreuze warteten. Demnad hat er während feiner eigentlichen Wirkſamkeit fich faft immer in dem Gebiete des Herodes Antipas (Galiläa), felten in dem des Philippus (Zradyenitis), niemals aber in dem unter den Römern ftehenden (Judaa) aufgehalten.

Hiermit fimmt aber nun Sohannes durchaus nicht übers en. Zwar laßt ihn auch diefer nad) feiner Taufe nadı Kas pernaum reifen, über Kana, wo er eine Hochzeit mitfeiert (oh. 2); allein alsbald begibt er fich von da zu dem Pafchas fefte nach Serufalem, und fodann in die Landfchaft Judäa, von wo er nach längerer Wirkfamfeit über Samarien nad) Galiläa zurückkehrt (2, 135 3, 22; 4, 1, 43). Bald darauf folgt eine neue Feitreife nach Jeruſalem, wo er viele Heiluns gen bewirkt, längere Reden hält ıc. (5); hierauf zog er eine Zeitlang in Galiläa umher (6, 7); dann geht er abermals zu

23 Es verfteht fi wohl von ſelbſt, daß wir im ben Lieberfchriften nur Diejenigen evangelifchen Abſchnitte angeben können, welche in dem vorliegenden Kapitel in ihrem ganzen Zuſammenhange und nicht nur im Vorübergehen behandelt werben.

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einen Fefte nadı Serufalem, wo er dießmal befonbers viele Reden hält; auch knüpft fich hieran feine Theilnahme am Fefte der Tempelweihe (Joh. 10, 22). Endlich zog er ſich in bie Gegend von Peräa (10, 40) zurüd, und hielt fich fo Lange bier auf, bis ihn des Lazarus Tod nadı Bethanien bei Serus falem rief (11), von wo er, nach einem kurzen Aufenthalte in der Nähe der judäifchen Wüfte (11, 54), zum lebten Pas fchafefte nach Serufalem fich begab (12 2c.). Demnad; hatte er vor feiner leiten Feitreife fchon an vier Feften in Serufalem Antheil genommen, und hatte fchon längere Zeit und verfdhies dene Male in Judäa gewirkt, im Borübergehen auch in Sas marien. |

Diefen großen Widerfpruc, zwifchen Sohannes und den Spnoptifern hat man lange Zeit überfehen, neuerdings aber fogar läugnen wollen. Man beruft fidy darauf, daß es dem Matthäus mehr um Sachordnung, ald firenge Angabe der Dertlichkeit zu thun fei, und daß er daher gar Manches von Jeſu erzähle, von dem er wohl gewußt, aber nicht ausdrück⸗ lich gefagt habe, es fer in Judäa gefchehen. Allein wenn er fo forgfältig den Anfang und das Ende der Galiläifchen Wirkfamfeit angiebt (4 und 19), wenn er es jedes Mal ges nau fagt, jo oft Sefus aus Galilda und auf furze Zeit und nur in nahegelegene Drte fich begibt; wenn er alſo in den = allgemeinen Drtsbeftimmungen allerdings genau ift; fo kann er fo bedeutende Reifen und längere Entfernungen nicht ftillfchweigend übergangen haben, falls er nämlich etwas das von wußte; mag er auch einzelne Ortäveränderungen ins nerhalb der von ihm angegebenen Provinzen nicht ängftlich genau berichten.

Man bat daher verfuchen müffen, den Unterfchied zwifchen ben bargelegten zwei Berichten anerfennend, ihn aus der vers fchiedenen Abficht der Schreibenden zu erflären. Einige fagen, Matthäus, ein Galiläer, habe ſich nur für das in Galiläa Gefchehene intereffirt, und daher nur dieß erzählt; altein mel: cher Vorwurf engherziger provinzieller Beſchraͤnktheit gegen einen Biographen, der überdieß den Helden feiner Erzählung auch außerhalb feiner eigenen Heimath hatte wirken fehen! Andere haben aus der Annahme, daß Matthäus in Serufalem

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geichrieben habe, ben Plan besfelben, abgeleitet, den dafigen Ehriften nur das zu erzählen, was in dem, ihren eigenen Bes ebachtungen entzogenen, fernen Galilän gefchehen fei; allein wäre auch jene Annahme erwiefen, was fie nicht ift, fo trifft

„der Gefchichtfchreiber and, hier wieder der gleiche Vorwurf der Befchränttheit, indem er doch wenigitens mit ein paar Worten die Ereigniffe in Subäa anerkennen mußte, wenn er fie auch nicht erzählen wollte! Beide fünftliche Verſuche vernichten fich aber gegenjeitig: denn der eine leitet das Schweigen aus der Entfernung, der andere aus der Nähe des jubäifchen Schauplates her! Ueberdieß fträuben Markus md Lukas, die mit Matthäus im Wefentlichen übereinftimmen, fih gegen beide Berfuche, weil bei ihnen die diefen Verſuchen a Grunde liegenden Borausfegungen durchaus nicht anwend⸗ bar find.

Richt beſſer kommen diejenigen Theologen zurecht, welche die Verſchiedenheit ber Berichte aus der Berfchiedenheit des Geiftes und des Zweckes der beiderfeitigen Evangelien herz leiten wollen. Da nämlich, fo fagen fie, die Synoptifer, als die früheren, für Chriften fihrieben, die noch auf einer niedes tm Stufe des chriütlichen Bewußtſeins jtanden, fo mußten fie die für Diefelben noch) nicht verftändlichen jerufalemifchen Reden

eſu noch weglaffen, und erit Sohannes konnte fie den höher gebildeten Chriſten Der Zeit, für welche er ſchrieb, wmittheilen. Alein dieſe Anficht zerfällt, auch abgefehen von der ungefchichts lihen Borausfeßung über die Entftehung der Evangelien, worauf fie beruht, in fich felbft. Wie follte Sefus fo Fünftlich gefpalten, und das Populäre in Galiläa, feine tieferen Ideen in Sudäa vorgetragen haben? Wurde er hier nicht eben fo arg mißverftanden, ald dort? Wenn er, den Synoptifern zufolge, bei feinem fpätern Aufenthalte in Serufalem ganz po⸗ puläre Vorträge hielt, follte er dieß nicht bei dem früheren auch gethban haben? Ueberdieß waren von dieſem Nufent- halte ja auch Thaten zu berichten, und zwar fehr auffallende; die Heilung des Blindgebornen, die Auferwedung des Yas zarus ıc.

E3 mülfen alfo entweder die Synoptifer die wichtigen

Neden und Borfälle, die Sohannes berichtet, richt gemußt

haben, ober biefer bat wenigſtens an einen fallen Dri fo bedeutende Creigniffe verlegt. Allein der Widerſpruch zwi⸗ ſchen Beiden ftellt ſich noch greller heraus. Aus Johannes geht augenfcheinlich hervor, daß Jeſus zum Hauptfchauplag ‚feiner Thätigkeit ſich Ju däa erfehen hatte; aus den Synops tifeern, daß dieß offenbar Galilaäg war, mit Ausnahme der legten Reife nach Serufalem, worin Beide übereinftimmen. Denn bei Johannes verläßt er Sudäa nur, wenn ed Die Borficht gebietet; bei den Synoptifern ebenfo Galiläa nur, wenn er nöthigende Gründe dafür hat. Man vergleiche aus Sohannes: 4, 120.5 6, 1ꝛc., mit Beziehung auf 5,185 7,1; Caudy feine Züge nach Peräa, 10, 40, und nach Ephraim, 11, 54, fcheinen durd, Verfolgungen in Judäa veranlaßt zu fein;) aus Matthäus: 8, 18; 14, 13; 15, 21, wo jedes mal als Gründe feiner Entfernung Nachftellungen angeges ben find.

Demmad; nehmen Johannes und die Synoptifer zwei ganz verſchiedene Lofalitäten ald den Mittelpunkt der Wirkſam⸗ feit Sefu an, und hierin liegt der eigentliche Knoten, den es gilt zu entwirren. Zwar hat man fich zu Diefem Zwede in neuerer Zeit immer für Sohannes entfchieden, und ſelbſt von dieſem Punfte aus die Aechtheit des Matthäus angegrif- fen, wie 3. B. de Wette, Credner, Schnedenburger thun. Allein die Sache bedarf einer nähern Betrachtung; äußere Gründe koönnen hier nicht entfcheiden, da, wie in ber Einleitung fehon gezeigt worden, die Anſprüche der Evan⸗ gelien auf Anerkennung ihrer Nechtheit ſich ziemlich gleich ftehen. Wir müffen die Entfcheidung aus inneren Gründen verſuchen; nämlich nachjehen, welche Darftellung mehr innere Wahrfcheinlichfeit hat.

Hier ftellen fich zunächft zwei Fragen einander gegenüber: „Iſt es wahrfcheinlicher, daß in der Zeit und der Gegend, wo die fynoptifchen Evangelien entftanden, jede Kunde von dem öfteren Aufenthalte in Sudaa fi) verloren habe?“

”), Die Aechtheit eines Evangeliums beficht darin, Daß es wirt: lich von Dem Evangeliften verfaßt ift, deffen Namen es trägt.

173 oder: „mahrfcheinlicher, daß, obgleich ein folcher nicht ſtatt⸗

gefunden, doch in dem Kreife, aus dem das Johannesevange⸗ fm hervorging, Die Sage davon entſtanden fei?“

Die erftere diefer Fragen hat man aus dem Umſtande beiahend beantworten wollen, Daß die Ueberlieferung, welche - de Synoptifer enthalten, ſich vorzugsweile in Galiläd bils

dete: alfo, fo fchloß man, ift hier alles außer Galiläa Bors gefallene, mit Ausnahme wichtiger Creigniffe (Geburt, Taufe, legte Reife) unbekannt geblieben, oder wieder in Vergeffenheit gerathen; in lesterm Falle verlegte man das anderwärts Gefchehene, was der Erinnerung noch geblieben war, aud) nach Galilaa. Hingegen wenden wir ein: unbefannt kann ein früheres Berweilen Sefu in Judäa auch in Galifän. wicht geblieben fein, denn eben Johannes erzählt, daß er auf der eriten Reife zum Pafcha von vielen Galiläern begleitet gewefen fei, und bei vielen derfelden durch feine Thaten Glau⸗ ben gefunden (Joh. 4, 45); überdieß waren ja auch feine Sünger meift Galiläer, und bei feinen Feftreifen um ihn (4, 22; 9, 23. Sollten aber ferner foldye Erinnerungen von Sen Wirken in Judäa fich wieder verloren haben? Gewiß nicht; denn was er dort that und wirkte, Das Auffehen, das er in der mit Fremden angefüllten Hauptftadt erregte, trug fo fehr zu feiner Verherrlichung bei, daß die Sage es nicht verlieren konnte, fondern vielmehr, wäre es auch nicht dort geichehen, fogar hinzu zu Dichten ſich veranlaßt fühlen konnte, da ber Trieb, zu verherrlichen, einer ihrer ſtaͤrkſten iſt. Wir müſſen alfo umgekehrt behaupten: die Sage mußte weit mehr veranlaßt fein, das was bei Einem Aufenthalte in Serufalem fidy ereignete, auf mehrere zu vertheilen, als die Ereigniffe bei mehreren auf Einen zufammenzuziehen. Hieraus ergibt ſich Fein günftiges Borurtheil für die Darjtellung des vierten Evangeliums.

Dieß wird jedoch verfchwinden, wenn wir tiefer blicken nach den Berhältniffen und Abfichten Sefu, und fragen: Iſt es woahrfcheinlicher, daß er in feinem öffentlichen Leben mehrmals oder nur einmal in Sudaa und Serufalem ges wefen fei ?

173 | Leicht ift ber Anftand zu heben, der darin liegen -foll, daß wenn wir nur Eine Feftreife annehmen, ein mwefentlicyes Mits tel zur Bildung Jeſu, wiederholter Aufenthalt in Serus ſaalem wegfiele. Allein würde auch mit einem ſolchen bie Größe Jeſu begreiflicher gemacht? Iſt er nicht ohne Zwei⸗ fel öfters in feinem früheren Leben in Serufalem gervefen cf oben)? und konnte ihm nicht aud; Galiläa genug Stoff Darbieten? Ohne Gewicht ift ferner ein anderer Einwand gegen die Synoptifer, es ſei undenkbar, daß Jeſus fich auf ben kleinen Schauplatz, das entlegene Galiläa, folle befcränft, und Serufalem, wo fo viel mehr Menfcyen lebten und gebils detere, nur einmal betreten habe. Umgekehrt könnte man ſagen: er mußte zuerft unter den fchlichten, fräftigen Gali⸗ läern, die vom Pharifierthum unabhängiger waren, Anhang zu. gewinnen fuchen, ehe er e8 wagen konnte, in dem gefähr« lichen Serujalem aufzutreten. Mehr Bedenken fihon erre⸗ gen die Synoptifer durch den Zug in ihrer Darftellung, daß Sefus mehrere Sahre lang kein hohes Feft in Serufalem befichte, womit fie ihn das mofaifche Gebot ganz (2 Mof. 23, 14, ꝛc.) ganz aus den Augen ſetzen laffen, da er doch fonft fo viel Ehrfurcht dafür ausfpricht (Matth. 5, 17, x) und dieſe Nichtachtung den Juden⸗Chriſten, für welche nament⸗ lich Matthäus gejchrieben ift, fehr anftößig fein mußte. Doc fönnte man aud) dieß Bedenken noch befeitigen, wenn man antwortete, gerade weil jenen Juden⸗Chriſten, die am bes ften willen mußten, was einen frommen Iſraeliten zufam, bie Sache fo erzählt werden fonnte, wie 5. B. Matthäus es thut, ohne Furcht, Aergerniß zu geben; gerade darum follen wir auch bier feinen Anftoß finden wollen. Am fchwierigften aber ift der Umftand, daß man, ohne eis nen mehrmaligen Aufenthalt Sefu in Serufalem, mit Sohan- nes, anzunehmen, nicht begreifen kann, wie er in den wenigen Tagen des Feftes fich fo fehr mit der herrfchenden Parthei der Hauptitadt habe verfeinden fünnen, daß fie ihn gefangen nahmen und hinrichteten. Ließe fich hierauf auch Manches . erwidern, jo machen e8 ja die Spnoptifer felbft unmöglich, - fie gegen diefen Einwand. zu fehüten, da fie felbit das Un⸗ richtige ihrer Darftellung verrathen. Denn die Worte, welche

«

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bei Lukas und Matthäus Iefus über Jernſalem ausfpricht: „Serufalem, Sernfalen, wie oft wollte ich Deine Kinder um mich verfammeln aber Ihr habt nicht gewollt!“, haben durchaus feinen Sinn bei Luk. 13, 34, wo dieſem Evans geliften zufolge, Sefus, ald Lehrer, Serufalem noch nie bes treten hatte; auch nicht einmal bei Mattb. 23, 37, wenn, wie aus feiner Stellung diefer Worte hervorgeht, Jeſus fie ansfprach, nachdem er erſt einige Tage in Serufalenm ges wirft hatte. Jeſus konnte gar nicht fo reden, wenn dieß nicht länger und .öfter gefchehen wäre. Hierfür fpricht auch fein eigenes Berhältniß zu dem Rathsherrn Joſeph von Aris mathia (Matth. 27, 57) und zu der Familie in Bethanien (Lu. 10, 38 ꝛc.), denn aud) bie Annahme, Jeſus fei bei feis nem einmaligen Feſtbeſuche längere Zeit in Serufalem ges wefen, ift unzuläßig, da er fid wohl ſchwerlich allein, ohne die Maffe feiner zum Feſte reifenden Galiläifchen Anhänger, nach der feindlichen Hauptitadt begeben haben wird.

Müflen wir alfo der Daritellung des Sohannes, daß Je⸗ fus mehrmals in Serufalem geweſen, den Vorzug geben, fo fragt fidy nur: warum fchmweigen die Synoptiker davon? Die Sache laßt fich fo denken: Die erfte Leberlieferung bes zeichnete Die Iteden und Thaten nur allgemein ald: „in Gas liläa auf der Reife in Terufalem“ gefchehen; fpäter, als die Evangelien niedergefchrieben wurden, ließ ſich nicht mehr unterfcheiden, auf weldyer Reife, bei weldyem Aufs enthalte ıc. jedes Einzelne fich zutrug, und fo begnügten füch die Synoptifer damit, Alle in die Nubrifen: „Aufenthalt in Galiläa“ „Reife“ „Aufenthalt in Serufalem“ nach Anweifung der Ueberlieferung einzutragen.

Als eigentlicher Wohnort während feines öffentlichen Lebens in Galiläa wird von den Synoptifern Kapernaum anges geben; fie nennen fie „feine Stadt“ (Matth. 9, 1); und hier war dag „Haus“, wo er fich aufzuhalten pflegte (Matth. 13, 1, 36), vielleicht das des Petrus; denn ed wird fehr oft als das genannt, wohin ſich Jeſus begab (Mark. 1, 29, Matth. 8, 14; 17, 25; Luk, 4, 38). Sohannes fcheint mehr

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Kana als den gewöhnlichen "Aufenthaltsort Jeſu anzunehmen, fo oft er in Galilän fic befand (vgl. Joh. 2,1, 125 4, 46 c.); auch find ihm zufolge feine vorzüglichiten Sünger nicht, wie die Synoptifer fagen, aus Kapernaum, fondern aus Kana oder Bethfaide. j

Man fieht fich vergebens nach einem hinreichenden Grunde um, der Sefum bewog, ftatt wie man erwarten follte, in Naza⸗ ret, feinen Wohnfis in Kapernaum zu nehmen; denn Mars tus gibt darüber gar Nichts (1, 21), und Matthäus nur die Erfüllung einer altsteftamentlicdien Stelle un (4, 13 ꝛe.), was natürlich Nichts beweifen kann. Lukas dagegen ſcheint diefen Wohnungsmwechfel wohl zu motiviren: 4, 16—30 erzählt er fehr ausführlich, wie er zuerft in Nazaret in der Synobe “aufgetreten fei, dort durch feinen Vortrag Bewunderung, endlich aber durd, die Weigerung, Wunder zu thun, folche Erbitterung erregt habe, daß er der Verfolgung feiner Landes leute nur durch fchnelle Flucht entging. Nun freilich fonnte er bier nicht gut mehr wohnen! Allein, genauer betrachtet, gibt and) Lukas ung feinen befriedigenden Auffchluß.

Auch die beiden andern Synoptifer nämlich erzählen einen Beſuch Jeſu in Nazaretz verlegen ihn aber in eine weit fpätere Zeit, wo derfelbe fchon lange in Kapernaum gewirkt hatte (Matth. 13, 54 20.5 Mark. 6, 1 20). Nun fehen aber beide Erzählungen einander fo ähnlich, beide Male derfelbe Eindrud, den der „Zimmermanns- Sohn“ macht; beide Diale keine Wunder, und derfelbe Grund dafür, Daß der Prophet in feinem Baterlande Nichts gelte; daß Beiden offenbar derſelbe Vorfall zu Grunde liegt. Dieß muß um fo mehr angenommen werden, da in beiden Erzählungen ber Beſuch auf eine Weife dargeftellt ift, daß ein früherer nicht ftattgefunden haben fannz denn bei Matthäus und Markus vermindern ſich die Nazaretaner, wie bei Lukas, über die unerwartete Weisheit Jeſu; alfo kann der von Lukas ers - zählte Beſuch nicht ftattgefunden haben; bei Lukas eben- falls diefe VBerwunderung und der Ausdrud: „heute ift dieſe Schrift (vom Meſſias; f. unten) vor Eueren Ohren erfüllt worden“; alfo kann das von Matthäus und Marfns berichtete Auftreten in Nazaret Fein früheres gewefen fein.

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Wenn wir nun in beiden, allerdings der Form nach nicht ganz gleichmäßigen Erzählungen benfelben Vorfall vor und haben, fo, ift nur Die Frage, weldye Stellung bes Vorfalles, der Zeit nach, verdient den Vorzug? Hier müffen wir ung, obgleich die Erzählung des Lufas, wie oben gefagt, zu erflären fheint, warum Sefus feinen Aufenthalt nicht in Nazaret nahm, body für die der beiden andern entfcheiden. Denn die Worte der Razaretaner bei Lukas: „mas du, wie wir gehört, in Kas yernaum gethan, thue auch hier in deiner Heimath, bewei⸗ fen, baß der Befuch in Nazaret gar nicht fo frühe ftatt ges funden haben. kann, wie Lukas ihn ſetzt; er erklärt uns alfo feineswegs, warum, doc, offenbar früher, Jeſus grabe in Kapernaum Wunder thuend und wirfend auftrat. Es bleibt ans nur die Vermuthung übrig, daß Sefus diefen Drt, ale Heimathort mehrerer feiner beiten Sünger, unb ald den beleb⸗ teren, vorgezogen habe.

Was die eigentlihe Schilderung betrifft, fo ift ſchwer m fagen, welche Die getreuere it. Zwar it Lukas in jeber Beziehung ausführlicher: zunächft, indem er die altsteftaments liche Stelle, über welche Sefus redet, und die Auslegung derſelben (4, 16— 22): genau angibt; allein da diefe Stelle, von der man nicht recht weiß, wie Jeſus gerade auf fie Fam, sine meffianifche iſt, welche Sefus gewiß öfters auf ſich an⸗ zuwenden pflegte, fo ift es fehr möglich, daß fein Dießmas liger Vortrag über biefelbe der fpäteren Sage angehört. Ferner befchreibt Lufas fehr genau, wie Jeſus den wüthenden Razaretanern entging (4, 28 30); allein doch fo, daß feine Rettung ſich ganz wie eine wunderbare ausnimmt; dennoch trägt diefer Theil der Erzählung noch mehr den Gharafter bei verherrlihenden Sage an fi, wenn auch Verfolgung und Rettung an fich hiftorifch fein mögen.

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Sechsſstes Kapitel, Chronologiſche Anordnung ded Öffentlichen Lebens ef. j (Diele einzelne evangeliihe Stellen, namentlich aus Johannes.)

Wir haben hier zuvörderſt die intereffante Frage zu erör⸗ tern: „Wie lange dauerte die öffentliche Wirkſamkeit Jeſu?“

Zur Beantwortung dieſer Frage bieten ſich uns vorerft die Angaben des Sohannes über die Feftreifen Jeſu nad) Je⸗ rufalem dar. Den Anfangspunft ber Zählung bildet dag erfte Paſcha, welches Jeſus nad) feiner Taufe befuchte (2, 13), und zwar kurze Zeit nach derfelben Cogl.. 1, 29, 35, 44 mit 3, 1, 12, 13); Kay. 6, 4 kommt das zweite Paſcha, von dem aber nicht ausdrücdlich gefagt wird, daß Jeſus es auch : befucht habe. So hätten wir Ein Jahr; nachdem nun nod) die Fefte der Laubhütten und der Tempelweihe erwähnt wers “den, kommen wir zu dem legten Paſcha (12, 1 x) Dem nach hätte Jeſus zwei Jahre öffentlich gewirft. Irrigerweiſe nimmt man, nad) der alten Anficht der Kirchenväter, gewöhns lich drei Sahre an; denn ein weiteres Felt, Das ganz unbe ftimmt „ein Felt der Suden“ (5, 1) genannt wird, kann nicht auch für ein Pafıha gehalten werden, theils eben diefes uns beftimmten Ausdruckes wegen, -theild weil zwifchen ihm und dem bald nachher genannten Pafıha (6, 4 fo gut wie nichts . erwähnt wird, denmach ein ganzes Sahr mit Stillſchweigen übergangen worden wäre.

Durch jene Rechnung jedoch befommen wir nur das Mis nimum der Zeit, während welcher Jeſus öffentlich wirkte; denn es ift keineswegs gejagt, daß Sohannes alle Pafchas fefte angeführt haben müßte, namentlich auch die von Jeſu nicht befuchten. Aus demfelben Grunde ift es falih, aus den Spnoptifern zu fchließen, daß Sefus nur Ein Sahr ges wirft habe: es kann auch ihnen zufolge mehrere Jahre lang gefchehen fein. Wenn aber dennoch einige der Alteften Sekten Ein Jahr annahmen, fo hatte dieß einen ganz andern Grund, nämlich Mißverftand der auf Jeſum bezogenen SProphetenftelle Jeſ. 61, 2, deren Worte „das dem Herrn wohlgefällige Jahr“

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im ftrengen Kalenderfinne genommen murben. Aus einem ans bern Mißveritande ging eine Diefer grabe entgegengefeßte Mei⸗ nung hervor, bie fich ebenfalls fchon fehr frühe bildete, daß naͤmlich Jeſus bei der Kreuzigung ſchon nahe an den Fünfzigen ' gewefen. Die Worte aber, aus denen man dieß fchloß, Joh. 8, 57: „Du haft noch nicht fünfzig Jahre, und Abraham nicht geſehen“, heißen doch nur: du biſt noch viel zu jung Chaft noch nicht das Mannesalter vollendet), um Abraham ıc., was man recht gut auch zu einem Dreißiger fagen Eonnte.

Demmach können wir, wenn wir dem Sohannes folgen, nur fo viel mit Beftimmtheit fagen, daß Jeſus wenigſtens wei Sahre und etwas drüber, Letteres nämlich die Zeit von der Taufe bis zum nächften Pafcha verftanden —, öffente” lich gewirkt habe. - Wenn übrigens die oben befprochenen An, "gaben über das Jahr, in welchem Ssefus ſich taufen ließ (3, 1) richtig find, fo Fönnte feine Wirkſamkeit auch länger ans gedauert haben, da Pontius Pilatus, unter dem Jeſus ges kreuzigt wurde, exit fieben Ssahre nach jenem Zeitpunfte von feiner Statthalterfchaft abberufen wurde: jedoch fol damit Richts behauptet werden, weil wir Feine fichern Anhalte- punkte für eine Rechnung haben.

enden wir uns zweitens zu der Frage, in welcher Zeits folge die einzelnen Begebenheiten im Leben Jeſu fih an einander reihen, fo bieten ſich uns mehrfache Wege zu deren töfung dar. Wie wir oben fahen, fo gibt Johannes meh- tere Feſte in feinem Evangelium an, welche, da wir die Zeit derfelben genau kennen, fichere Haltpunfte zu bieten fcheinen . für Anordnung der Zeitfolge auch der fynoptifchen Berichte, denen, wie wir gleichfalls oben fahen, bis zur letzten Reife Jeſu, ſolche Haltpunfte gänzlich fehlen.

Allein fo wie wir nur den erften Berfuch wagen, auf dieſe Weiſe den Stoff der Synoptifer zwifchen die feſtſtehenden Zeitpunfte der Fefte bei Johannes einzureihen, tritt uns auch die Unmöglichfeit, zu irgend einem Ziele zu gelangen, auf eine, alles angewandten Scharffinnes fpottende, Weile ents gegen. Denn erftens findet fich nirgends in dem winumtere

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brochenen Guſſe galilaͤiſcher Erzählungen ber Synoptiker cf. oben S. 169) irgend eine Fuge, welche die Einfchiebnung einer .Feftreife auc nur möglich machte; fie fträuben fich gegen jede Anwendung dieſes Maßftabes der Zeitbeflimmung. Zweitens ift auch ſchon darum jede Vereinbarung Der Synops tifer und des Johannes unmöglich, weil beide Theile von ber Taufe bis zu ber Leidensgefchichte nur in einer einzigen . Erzählung zufammentreffen, fonft aber ganz verſchiedene Er⸗ eigriffe berichten. Demnach findet ſich auch umgekehrt im Fluffe der johanneifchen Erzählungen feine Stelle, wo die ſy⸗ noptifchen einmünden könnten, weil auch jene ein in fich ges ordnetes Ganze bilden, das Fein fremdes Einfchiebfel duldet. Sene einzige Erzählung, worin beide Theile übereinftimmen, ift die von der Speifung ımd dem Wandeln auf dem Meere (Matth. 14, 14, 365%) Joh. 6, 1—21), welche Johannes in die Zeit unmittelbar vor dem zweiten, von Sefus aber nicht befuchten, Paſcha (ſ. oben S. 178) fest. Allein auch fie ges währt feinen Anhalt fir eine Zeitfolge, weil beide Evangeli⸗ Fen ganz verfchiedene Anfangs» und Endpunkte haben, Nach Matthäus kommt Jeſus zu jener Speiſung von Galiläa, nad Sohannes von Sudaa her; während Matthäus ihn nach ders felben in entferntere Gegenden gehen laßt (V. 34), zieht er dem Sohannes zufolge grade in das ihm fo bekannte Kapernaum: Ein Theil wenigftens hat alfo die Zeit biefer Begebenheit falfch angegeben, und man kann aljo nicht willen, wie viele ber fonoptifchen Erzählungen vor, wie viele nach jenem Paſch zu feßen find. Außer diefer, gleichfalls für eine Vermittlung der beiden Evangelien unbrauhbaren Erzählung, treffen fie in feinem Berichte vor der legten Feftreife zufammen; Denn wenn audı, was aber von den Meiften bezweifelt wird, die Heilung eines föniglichen Diener (oh. 4, 477 mit der eined Hauptmann Knechtes bei Matth. 8, 5 ıc. diefelbe fein follte, fo if auch hier die große Verfchiebenheit, baß bei Johannes Jeſus

5) Der Kürze wegen führen wir überall, wo die trei Synortiker im Weſentlichen übereinflimmen,, immer nur den erſten derſelben, den Matthäus, an.

Ä 184 fo eben vom eriten Pafchafefte kommt, bei Matthäus aber von ber Bergprebigt, ‚neben der die Feftreife durchaus keinen Pag findet. Wir müffen alfo darauf verzichten, Synop⸗ titer und Sohannes in Harmonie zu bringen; beide bewegen ſich zwifchen Zaufe und Leiden Jeſu in. ganz verſchiedenen Sagenfreifen.

Auch. unter fich widerfprechen Die Synoptifer in fo vielen Zeitbeftimmungen fich fo fehr, daß auf jeden Einzelnen Bers Köße genug kommen, um in biefer Beziehung „feine Verläßs lichfeit zu untergraben *. Ueberbieß find ihre Erzählungen augenfcheinlich weit mehr nach Verwandtichaft des Inhaltes und Anklang der Ideen geordnet, als nach gefchichtlicher Zeits folge, obgleich fie auch dDiefe zu geben ſich bemüht, und ges geben zu haben ſich gefchmeichelt haben mögen, wie aus ben oft wiederfehrenden Uebergangsphrafen erhellt: „Als er vom Berge herabgeftiegen, von da weitergehend, Damals, an eben dem Tage, und fiehe ꝛc.“, welche wir als zu allgemein und feine Zeitordnung beglaubigend betrachten müſſen.

Sohannes freilich hat weit mehr Zufammenhang und Forts fehritt; ob er aber der richtige fei, fünnen wir, da er gang eigenthümlicye Erzählungen bringt, nicht aus Vergleich mit andern, fondern einzig aus der inneren Wahrheit jenes von ihm gegebenen Zufanımenhanges in Plan und Leben Sefu bes urtheilen, was erit im weiteren Verlauf unferer LUnterfuchung geichehen muß.

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Dritter Abfchnitt. Die Meffianität Jeſu und feine Juͤnger.

Was fich fpeziell auf die Idee des leidenden, fterbenden und wiederkommen⸗ den Meffias bezieht, bleibt hier ausgefchloffen und der Leidensgefchichte vorbehalten, *

N

Erfted Kapitel. Jeſu eigene Anfichten über feine Perſon. (Sehr viele einzelne Stellen aus allen Evangelien.) .

Wir betrachten zunächit, mit welchem Namen Sefus felbft feine Perfon als den Meffiad bezeichnet.

Am’ hänfigften gebraucht er von fich den Ausdrud: „Der Sohn des Menfchen“. Man könnte Diefen in dem Sinne nehnten, welchen ber gleichbebeutende hebräifche hat, nämlich „Menſch“ ganz allgemein; allein dieß paßt nur in fehr wes nigen Stellen, 3. B. Mark. 2, 275 Matth. 12, 8, wo uns mittelbar vorherging: „Der Sabbath ft um des Menfchen willen da, nicht aber zc.“. Sonſt wird überall ein beſtimm⸗ ter, einzelner Menfch darunter verftanden, nämlich grade er felbft, und fein anderer; 3. B. Matth. 8, 20 vgl. mit ®. 19. Irrig aber ift es, den Ausdruck nur als eine der einfachen Umfchreibungen des Ich zu nehmen, wie fie allerdings bei den Drientalen nicht felten find: Denn wählt man dazu ein fo allgemeines Wort, fo bedarf es noch einer hinzutretenden bes fiimmteren Hindentung, etwa „biefer“, Die freilich der Re⸗ bende felbit durch eine Bewegung ber Hand erfeten kann, ber Berichterftatter aber offenbar beifegen muß, wenn er nicht. zweideutig fchreiben will.

Jeſus muß alfo mit jenen Worten ſich ale ‚den Sohn des Menfchen“ in einem ganz befonderen, nur von ihm geltenden Sinne bezeichnet haben; Einige meinen: als „Men«

- | 183 ſchen im edelften Sime des Wortes“; allein es ift durchaus unerweislich, daß zu Jeſu Zeit die Worte jemals dieſen Sinn gehabt hätten. Eher könnten Die Recht haben, die fie umgekehrt ald Bezeichnung des „niedrigen, verachteten Mens ſchen“ auffaffen; allen diefe Bedeutung paßt doch nur für wenige Stellen, 3. B. Matt. 8, 20; Joh. 1, 52. Im ans dern Stellen bezeichnet ſich Jeſus damit grabezu als ein höher ces Wefen, 3. B. Soh. 3, 13, mo vom „Sohn des Menfchen“ gefagt ift, er fei zum Himmel aufgeftiegen, und 3, 13, wo das Weltgericht abzuhalten als fein Vorrecht bezeichnet ift. Daß er aber grade in feiner Würde ald Meſſias ſich fo nennt, geht deutlich aus Matth. 16, 28 hervor: hier ift vom „Kommen des Menfchenfohnes in fein Reich“ Die Rede, woruns ter nur das des Meffias gemeint fein kann. Woher eine folche Bezeichnung des Meſſias fomme, geht "hervor aus Bergleichung von Matth. 26, 64, wo das Koms _ men bes Menfchenfohnes „auf den Wolfen bes Himmels“ ver: kündet wird, mit Daniel, 7, 13 x. Hier fchildert der Pros phet, wie er in nächtlichen Gefichten den gewaltigen Herrn, nachdem die vier Thiere vernichtet worden, mit den Wolfen des Himmels, „wie eines Menfchen Eohn“, habe herabfonmen fehen. Da bier unter den vier Thieren die Neiche, deren Unterthanen die Juden nad) einander geweſen, verftanden find, fo ward „der vom Himmel Kommende in diefer Stelle als der Meſſias gedeutet, fchon von den Rabbinen. Die Worte: „wie ein Sohn des Menfchen“, bezeichnen ihn als den menfch- lichen, humanen, im Gegenſatze zu der thierähnlichen Rohheit der von ihm geftürzten Herrſcher. Diefen Nebenzug hob man, ganz in jüdifchem Geſchmacke (der ja auch den Mefftas einfach „dern Sprößling“ nannte) zur Bezeichnung des Meſſias überhaupt hervor, und hielt ihn als felche feſt. Es ift alfo Har, daß, wenn auch mit die ſem Namen der Mefitas bezeichnet wurde, Sefus ihn nicht fo oft hätte von fich ges brauchen können, wenn er damit nicht hätte feine meffianifche Würde andeuten wollen.

So verftanden ihn aud) die Juden; Sch. 12, 34 wenden fie das, was Jeſus vom Menfchenfohne gejagt hatte, anf den Meffins an. Allein das ut auffallend, daß außer Jeſus |

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felöft Niemand Cden einzigen Stephanus, Apoftelg. 7, 56, ausgenommen) ihn fo nennt; ja es fcheinen felbft feine Sänger Biefen Ausdruck nicht recht verftanden zu haben; denn auf feine Frage: (Matth. 16, 15) „für wen haltet Shr denn mich (nämlich des Menfchen Sohn, wie er fih V. 13 genannt hatte)? * antwortete Petrus: „Du bift Chriſtus“ was, ja feinen Sinn hätte, wenn diefer ſchon jenen erften von | Jeſu gebrauchten Ausdruck ald Bezeichnung des Meſſias (Chris ſtus) gefaßt hätte.

Den Namen Meffias läßt fich Jeſus zwar auch gefallen, z. B. von der Samariterin Coh. 4, 26), von Petrus (Matth. 16, 16), und auf Fragen, ob er der Meffias fei, autwortet er mit Sa (Soh. 10, 24 .; Matth. 26, 63 ꝛc.); allein nies mals nennt er in feinen Reden felbft fich fo; eben fo wermeis det er den Namen: „Sohn Davids“ Beides wohl aus dem Grunde, weil fie zu fehr an die gewöhnlichen politis fhen Erwartungen, an die Hoffnungen eines irdifch glänzens den Reiches erinnerten, Die ſich an die Perfon des Meſſias anfnüpften. Obgleich zwar auch der Name „des Meitfchen Sohn“ bei Daniel mit der dee einer Weltherrfchaft verbuns den erfcheint, fo ift Diefelbe doch hier weit geiftiger und höher gefaßt, und ſchon das Ungemwöhnliche des Namens ‚war geeignet, ungewöhnliche Vorftellungen zu erwecken. Welche Vorſtellung er mit demfelben verband, ift ſchwer zu fagen; daß er Damit habe erinnerlich machen wollen, wie Er, uners achtet feiner göttlichen Natur, doc wahrer Menſch fei, iſt⸗ barum wicht benkbar, ‘weil die herrfchenden Borftellungen eher dieſe "Seite zum Nachtheile der Göttlichleit des Meſſias hervorhoben, als umgefehrt Die göttliche zum Nachtheile der irdifchen. Bielmehr mochte er wohl im Gegentheil, durch dad Anfnüpfen an jene Daniel’fche Stelle, die Borftellung von feıner göttlichen Natur, die in diefer Stelle ſich mit dieſem Namen verbindet, ftets lebendig erhalten wollen, wie wenn er fagte: „Sch bin diefer Menfchenfohn, der dem Daniel zufolge vom Himmel herabgefommen ift ꝛc.“

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Nichte nur „Menfchenfohn“, fondern auch „Sohn Gottes“ nennt Jeſus fich, und wird von Andern oft fo genannt, Dies fer Ausdrud kommt in der ganz buchftäblichen Bedeutung „von Gottes Geift unmittelbar Erzeugter“ nur bei Luk. 1, 35 vor; fonft wird er in Diefem Sinne niemald von Sefus ges braucht. In der weiteften, moralifchen Bedeutung wird er ſolchen Menfchen beigelegt, die durch Tugend ſich Gott ähnlich - machen; z. B. Matth, 5, 9, 455 Luk. 6, 35.

Am häufigiten aber iſt Diefer Ausdruck Bezeichnung des Meſſias; und in diefem Sinne wird er fo oft von Sefus gebraucht; wie namentlich aus den mit ihn verbundenen Wors ten erhellt, „du bift der Sohn Gottes, der König Iſraels“ (Soh. 1, 50), „du bift Ehriftus, der Sohn des lebendigen Sottes * (Matth. 16, 165 Soh. 6, 695 vgl. Soh. 11, 47; Matth. 26, 63). Da nämlicdy nicht nur das Volk Sfrael der Sohn Gottes genannt wird CHof. 11, 15 2 Mof. 4, 22), Sondern aud) vorzugsweife deffen Könige diefen Namen führen (22 Sam. 7, 145 Pf. 2, 7), weil fie, nach menfchlicher Weiſe, als Mitregenten Jehovas über Das auserwählte Volk gebacht werden, fo war es fo natürlich, daß dieſer Ausdrud Sohn Gottes in ganz befonderem Maße dem Meffias zus fam, als dem geliebteften Eohn Gottes und dem gewaltigften Fürften feines Volkes. Während Diefer mit den Worten „Sohn Davids“ als der Wiederherfteller des irdifchen Reiches der Suden bezeichnet wird, drücden dagegen die Worte Sohn Gottes mehr feine göttliche Würde, feine Theilnahme an der Macht und Ehre Gottes aus. Jeſus aber, indem er fi) diefen Namen beilegte, gab ihm eine noch tiefere, eigen- thümliche Bedeutung, er bezeichnete damit feine Gottegjohn- fchaft, als ein Leben und Sichverfenfen in den Angelegenheiten des Vaters, als ein Aufgehen feiner ganzen Perfönlichkeit in der Semeinfchaft mit Gott, die der Mittelpunft feines ganzen Weſens war, der Breinpunft, mit dem er in ben Seinen das göttliche Feuer entziinden wollte. Vgl. beſonders Matth. 11, 27. Sn diefem Sinue erfcheint jener Ausdrud jo oft im ‚vierten Evangelium, in deſſen Reden der Gedanke vorherrfcht, daß der Sohn mit dem Vater Eins fei, und

186° ohne ihn Nichts weder rebe, noch thue. Vgl. Joh. 5, 19; 10, 30; 12, 49; 14, 28; 17, 21.

Kein Wunder alfo, daß die Tuben fo häufig Anſtoß daran nehmen, was ebenfalls im vierten Evangelium vorzüglich her⸗ vortritt, wenn Sefus fid) den Sohn Gottes nennt, da er diefen Ausdruck von der jüdischen Vorftelung eines glänzenden fichtbaren Herrſchers zu dem Begriffe eines mit Gott in um fichtbarer Gemeinfchaft lebenden Geiftes erhoben hatte. Diefen Anftoß ſucht er nicht nur Dadurch zu entfernen,- daß er auf feine Würde als Meſſias, der ja „Sohn Gottes“ im alten Zeitamente genannt wird, fich beruft, fondern auch durch bie Bemerkung, daß im alten Teftamente Pf. 82, 6) auch andere Menfhen, Fürjten und Obrigfeiten, „Götter“ genannt wurs ben (Joh. 10, 34); offenbar will er alfo auch darauf bins weilen, daß es nicht einmal der Meffianität bebürfe, um fich in ein fo inniges VBerhältniß zu Gott und dem Göttlichen zu feben.

Ueber feine göttliche Sendung und die ihm ertheilte Voll⸗ macht fpricht ſich Sefus in allen Evangelien auf gleiche Weiſe aus: er ift, wie er fagt, von Gott geſendet (Matth. 10, 405. Joh. 3, 23), im ansfchließlichen Befiße der reinen Erkenntniß Gottes (Matth. 11, 275 Joh. 3, 13); ihm ift alle Gewalt gegeben (Matt. 11, 27), nicht nur über fein Neich (Joh. 10, 29; 17, 6), fondern über alle Menfchen (Sch. 17, 2) und bie ganze Welt (Matth. 28, 18); er wird die Todten erweden (oh. 5, 28) und Gericht halten (Matth. 25, 31x; Soh. 5, 22, 29); Alles Befugniffe, die nach jübifchen Bors ftellungen dem Meſſias zufamen.

Dagegen ift es dem Evangeliften Sohannes eigenthümlid,, daß nur in ihm Jeſus von feiner Präeriftenz, feinem Dar fein vor feiner menfchlichen Erſcheinung fpricht, und zwar in den beftimmteften Ausdrüden. Zwar könnten die orte „vom Himmel herabgefommen“ (Soh. 3, 13) und „ic, bin vom Bas ter ausgegangen“ (16, 28) als nur bilbliche Bezeichnungen feines höheren, göttlichen Urfprunges genommen werden, und der Ausdrud: „ehe Abraham war, war ich“ (8, 38), nur von feiner uranfänglichen Beſtimmung zum Meſſias vers

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fanden werben, fo wie auch in 17, 5 biefer allgemeine Sinn gefunden werden könnte. Wenn er aber Soh. 6, 62 von feis

nem „Auffteigen dahin, wo ich ſchon früher war“, fpricht, fo kann dieß, in Verbindung mit den übrigen Stellen, doch nur als eine beitimmte Bezeichnung feines früheren Seins, ſchon vor der Geburt, genommen werden.

Vergleicht man nun die Anfichten, welche ver Evangelift ſelbſſt zu Anfang feines Evangeliums über „den Cin Sefus) Fleifch gewordenen Logos, der von Anfang anbei Gott war“, aus⸗ richt, mit dem, was er Jeſum über feine Präeriftenz fagen Kt, fo könnte man freilicy verfucht werben zu der Annahme, “er babe Jeſum in den Mund gelegt, was er, Johannes, von hm gehalten. Allein wir müſſen Doch zuvor unterfuchen, ob sicht auch Jeſus wirklich diefen -Slauben über fich felbit has ben konnte? Sin einem fo innig religiöfen, in Gott verfenften Gemüthe, wie es fic in Sefus offenbart, Fonnte fich gar wohl, auch ohne durch Die gangbaren Borftellungen vom Mefs fias angeregt zu fein, Das Gefühl der untrennbaren Gemeins fchaft mit Gott zu dem Glauben an ein früheres Sein bei Gott fteigern, Die erregte Einbilbungsfraft geftaltete das Gefühl des gegenwärtigen Berhältniffes zu Gott zu einer Erinnerung an ein früheres, uranfängliches. „Lieber wes nigftens möchte ich die Sache fo faffen, als mich auf die göttliche Natur Chrifti int orthodoren Einne berufen, vermöge welcher ihm eine Erinnerung eingewohnt habe, die freilich blos ßen Menfchen nicht zukommen könne; eine Vorſtellung, welche Sefum zu einem fremdartigen Weſen macht, dergleichen eines weder dem Philofophen und Hiftorifer glaublich, noch bem Gläubigen, wenn er ſich recht verfteht, tröſtlich fein fanıt. *

Weit näher noch lag aber Jeſu eine ſolche Vorſtellung von ſeiner Perſon, wie ſie nach unſerer Anſicht in jenem Ausdrucke enthalten iſt, wenn er, ſobald er ſich als den Meſ⸗ ſias erkannt hätte, Anlaß zu derſelben fand in den Ideen, die ſich zu ſeiner Zeit über den Meſſias gebildet hattten. Und dieß iſt wirktich der Fall. Zwar beweist die oben ©. 183 befprochene Stelle aus Daniel, wo von dem Kommen Des Menſchenſohnes mit den Wolfen die Rede ift, Nichts über

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das Vorhandenfein einer folchen Idee. - Dagegen finden fich ſchon in den Pfalmen, den Spridwörtern ꝛc. Stellen, wo die Weisheit, das Wort Gottes ald eigene Perfonen gedacht werden; hiesaus floß bie fpätere jüdifche Weife, das Wort und die Wohnung Sehovas, anfangs bloße Umfchreibungen feines Namens, ſich ald eigene, verfchiedene und doch mit ihm einige Wefen vorzuftellen. Bon dieſem perfünlichen Got⸗ tesiworte gingen alle Einwirkungen und Dffenbarungen aus, die zu Gunſten des ifraelitifchen Volkes gefchahen; wie natürs lich war es, die leßte und glänzendfte Veranftaltung der Art, das Erfcheinen des Meffias, in befonderem Grade bem Gottesworte zuzufchreiben! Hierdurch kam man zu der Borftellung, daß mit dem Meſſias auch das Wort erfcheinen werde, und was man dieſem zufchrieb, wurde auch vom Meſſias ausgeſagt, wie es fchon Paulus thut. Demnach war der Meſſias ſchon in der Wüfte ber Begleiter des Volles (1 Kor. 10, 4, 9), ja ichon bei den erften Aeltern im Paradiefe, bei der Weltfchöpfung wirkte er mit (Kol. 1, 16), lebte noch vor derfelben bei Gott in herrlichem Zuſtande Phil. 2, ©, bis er in Jeſus Menfch wurde.

Wenn diefe Borftelung von der Präeriftenz des Meffias erweislich in der höhern jübifchen Theologie ſich vorfand, fo ift es allerdings fehr möglich, daß Sefus Diefelbe, nachdem er ſich als Meffias erkannt hatte, auf fich übertrug; ba er aber dieß einzig in ben Reden des vierten Evangeliums, beffen Verfaſſer mit jener Theologie vertraut war, thut, fo muß immer der Zweifel -übrig bleiben, ob berfelbe ung nicht ſtatt der Reden Jeſu feine eigenen Betrachtungen über deſſen Weſen giöt.

Zweites Kapitel.

Jeſu meffinnifcher Wlan im Allgemeinen. (Matth. 16, 15—20; Marl. 8, 39— 31; Luk. 9, 21 24: Joh. 6, 68, 69; einzelne Stellen.

Alle Evangelien ftimmen darin überein, daß Jeſus fchon von ber Taufe an fi als Meſſias dargeftelt, und ale

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folcher Anerkennung nicht nur bei feinen Süngern, fonbern auch im Bolfe gefunden habe. Darin jedoch weicht Sohannes von den übrigen bebeutenb ab, daß bei ihm Jeſus und feine Ans hinger dem Glauben an feine Mefftanität durchaus treu bleis ben, während jenen zufolge Volk und Sünger öfters wieber an Sefu irre werden, ja er felbft zuweilen weniger offen für den Meſſias fich erklärt. Bei dem Bolfe ift ein folches Schwanfen fehr erflärlich, wie es fich 3. B. Darin ausfpricht, daß basfelbe, nachdem er fchon ald Sohn Gottes verehrt (Matth. 14, 33; 8, 29), ald Sohn Davids angerufen wors den (8, 27) doch noch ſchwankt, ob es ihn für den wies dererftanbenen Täufer, oder für den Elias, oder den Seremias halten ſoll; und Alle ihn nur ald Vorläufer des Meſſias betrachten, was felbit Soh. 7, 40 durchfchimmert. Erklaͤrlich iſt dieß Schwanfen, weil wir ja hier theils bie Urtheile vers fhiedener Kreife Des Bolfes haben, theild auch Den Aus⸗ druck einer wieder nüchterner gewordenen Anficht, nachdem bie durch den Eindrud von Jeſu Thaten hervorgebracdhte erfte Begeilterung vorüber war.

-Auffallender ift das verſchiedene Benehmen feiner Juͤnger bei Ssohannes und den Synoptifern. Während fie bei Sohans nes fehon unmittelbar nad) der Taufe ihn als Meſſias bes grüßen (1, 42, 46, 50), wovon das Befenntniß des Petrus nur eine Beftätigung ift (6, 68, 69), erfcheint bei ben Synoptikern dieß Bekenntniß fo fehr. als der erfte Ausdrud ihres Glaubens an die Meffianität Sefu, und zwar erft nad langem Zufammenfein und furz vor deſſen Leiden, daß Jeſus barüber erftaunt, den Petrus glücklich preist und den Jün⸗ gern verbietet, Diefe neue Ueberzeugung weiter zu verbreiten, (S. die oben bezeichneten Stellen.) Auch Sefus felbft benennt fi) bei Johannes anders, als bei den Synoptikern; dort er- Härt er glei von der Taufe an offen feine Meffianität dem Kathanael (1, 51), den Samaritern bei dem erften Feftbefuche (4, 26, 39 ıc.) und bei dem zweiten den Suden (5, 46). Hier aber, bei den Synoptifern, gibt er fich zwar fchon in der Bergpredigt Die Stellung des Meſſias, und fpäter in feis ner Inſtruktion der Junger (Matth. 10, 23); dem widers fpricht aber fo gänzlich fein Benehmen bei jenem Befenntniffe

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des Petrus, daß er offenbar vor. demfelben den Juͤngern fich nicht beftimmt als Meſſias dargeitellt haben konnte. Daher find die neueften Ausleger darüber einig, daß alle Reben und Thaten Jeſu, wodurch er ſich vor jenem Belenntniffe als Meſſias zu erfennen gibt, nur durch einen Verſtoß der Berichts eritatter in der Zeitrechnung vor dasſelbe geſetzt worden find. Man hat alfo zwei Abfchnitte in feinem Leben zu unterfcheis den, deren Wendepunkt eben jenes Belenntniß bildet; in dem erften ftellte er füch nicht ale Meffias, fondern ſetzte nur die Predigt des Täufers fort: „Thut Buße; denn das Himmels reich it nahe“; in dem zweiten aber galt er er den Seinen für den Meſſias. Ä

Hier entiteht nun endlich noch die Frage: Hat auch Jeſus ſelbſt fich erit fpäter für den Mefjias gehalten? oder erfannte er ſich als folchen fchon von Anfang feines Wirkens an, vers mied ed aber, Diefe Ueberzeugung zu verbreiten? Das Leg» tere müflen wir bejahen; denn vielfältige Beweife liegen dar⸗ über vor, daß er wünfchte, der Glaube an feine Meffianität möge fich nicht zu frühe und zu fehr verbreiten; er verbies tet den Geheilten die Ausbreitung der Sache, dem Ausfätigen Matth. 8, 4, dem Blinden 9, 30, vielen Geheilten 12, 16, den eltern bes wieder erwecdten Mäbchens Mark, 5, 43; namentlich legt er den Dämonifchen Schweigen auf Mark. 1, 345 3,12 u. ſ. w.; eben fo verbietet er den Zeugen feiner Berklärung die Bekanntmachung des Ereigniffes (Matth. 17, 9) und den Tüngern Die Verbreitung ihrer Anficht, Daß er der Meſſias fei (16, 20). Diefe Berbote find fo häufig, daß bie, Formel derſelben ftehend geworben und felbit da von ben Evangeliſten angewendet zu fein fcheint, wo fie feinen rechten Sinn hat, wie 5. B. Matth. 8, 4, wo eine Heilung im Ges dränge bes Volfed gefchieht. Ald Grund diefer forgfältigen Vermeidung alles Auffehens gibt Matth. 12, 19 feine Befcheis denheit an, indem er ihn Dem geräufchlos wirkenden Knechte Gottes. bei Jeſ. 42, 1 vergleicht; allein dieſer Grund reicht nicht aus. Vielmehr liegt der wahre Grund bei Soh. 6, 15 zu Tage, wo nach einer wunderbaren Speifung das Volk, das ihn ald den Meſſias erfannt hatte, zum Könige machen will. Er hatte alfo „von der Berbreitung jeder Rede ober

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That, die‘ ihn als den erwarteten Meſſias zu beurfunben fchien, eine Aufregung der fleifchlichen Mefjiashoffnungen feiner Zeitgenoffen zu befürchten, deren Umbildung ins Geiftigegre die Aufgabe feines Lebens war *. Daher auch‘ verbietet er die Bekanntmachung der Verklärung, fo lange er nody lebe, und knüpft an jenes Verbot, das Belenntniß Petri zu vers breiten (Matth. 16, 20), ſogleich die Verkündigung feines Leidens und Sterbens. „Sein Tod nämlich war das einzige Mittel, durdy welche er die Mefftasidee feiner Volfsgenoffen von ihren irdifchen Beftandtheilen zu befreien hoffte*. Jedes entfchiedene Auftreten als Meſſias vor demfelben mußte falſche Hoffnungen erweden; daher jene forgfamen Verbote, daher die Zurückhaltung felbft gegen feine Junger, und feine Freude darüber, daß fie ihn dennoch als Meſſias erkannt hatten; das her endlich vermied er es, ſich Chriſtus zu nennen.

DObgleich aus dem Geſagten ſchon deutlich erhellt, daß Jeſus die weltlichen Meifiashoffnungen feiner Zeit, die einen durchaus politifchen Anſtrich hatten, und namentlich auf Bes freiung von dem Drude der Römer und Begründung eines unvergänglichen Reiches gerichtet waren, durchaus nicht theilte, fo haben Doch von jeher die Gegner des Chriftenthums Jeſu auch einen politifchen Plan beigelegt; am Beſtimmteſten wirft der Wolfenbüttel’fche Fragmentift ihm vor, er habe ſich zum weltlichen Herricher erheben wollen. Die Gründe, welche für dieſe Anficht vorgebracht werden, find folgende: Jeſus kündigt immer nur das nahende Meffiasreich ſchlecht⸗ bin an, ohne ſich deutlicher zu erklären, was er Darunter verftehe, billigt alfo ftillfchweigend die politifchen Hoffnungen feiner Anhänger, die ja Feine andern, als eben dieſe hatten; er fendet feine Apoftel aus, das Meffiagreich zu verfünden (Matth. 10), und doch fannte er deren Erwartungen, Die fo weltlich waren, daß fie fid) um die oberfte Stelle im Reiche . zanften (Matth. 18, 1), ſich Site zur Rechten und Linken Des Thrones ausbaten (Mark. 10, 35 20), und felbft nach feiner Auferftehung noch ein „Aufrichten der Herrichaft Iſraels“ ers warteten; diefe Vorftelungen mußten alfo Die Abgelendeten

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verbreiten; er felbft verheißt in einer Nebe (Matth. 19, 28) feinen Apofteln, daß fie in der Wiedergeburt, wen er feinen herrlichen Thron beftiegen, auf zwölf Stühlen figen und die zwölf Stämme richten werben; ba er die Erwartungen ber Sünger kannte, fo hat er diefe damit offenbar nähren wollen, wenn er fich nicht bloß ihren Vorftellungen anbequemte, was aber unreblich gewefen wäre; er zog bei dem legten Fefte in Serufalem feierlich ein, wie um ben zahlreich verſammelten Juden ald Herrfcher fich zu zeigen, erinnerte durch den Eſel an den Einzug des Königs Zacharias, ließ fich Die Begrüßung des Volkes als König gefallen, und betrug fich mit Herrfchers geberden im Tempel und vor dem hohen Nathe Matth. 23).

Allein alle diefe Gründe blenden nur, ohne Etwas zu bes weißen, und fallen bei näherer Betrachtung in fich zufammen. Daß er ftillfchweigend die irdiſchen Meffiagerwartungen ges billigt und genährt habe, Tann Niemand behaupten, der ſich nur der Bergpredigt ?°) erinnert, wo er „als feine Aufgabe die Bergeiftigung des Gefeßes, die Erhöhung der fittfichen Anforderungen an den Menfhen und die Bereblung feines inneren und äußeren Lebens ausgefprochen*, der bedenft, daß Sefus in feinen Gleichnißreden „Das Meſſiasreich niemals im jüdischen Sinne, fondern immer nur als ein fittlich=religiöfes Gemeinwefen gefchildert hatte*, und daß die Juden ohne Zweifel nur darum an feiner Meffianität irre wurden. Seine ausgefandten Jünger follten nur vorbereitend wirs fen, empfänglich machen für das Meffinsreich; die Läuterung der Vorftellungen von demſelben blieb der eigenen Lehre Jeſu und dem Eindrude feines nahen Todes vorbehalten. Die Rede von Thron und Seffel kann nur bildlich genommen werben; denn in ihr verheißt er auch, daß in feinem Reiche die Jünger mit ihm effen und trinfen werben, daß fie die ver- Iaffenen Güter, Felder, Mütter, Kinder ıc. hundertfältig wieber

26, Richtiger „Bergrede“; allein da der Name Bergprebigt ein- mal fo gewöhnfich geworden, fo haben wir ihn nicht aufgeben wollen.

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erhalten werben, was doch der nicht buchitäblich nehmen tonnte, der früher erklärt hatte, man werde dort weder freien noch ſich freien laſſen. Sein Einzug in Serufalem beweist am allerwenigftenz; nach allem Borausgegangenen fonnte es nicht mehr zweifelhaft fein, in welchem Sinne er die Hub digungen des Volkes aufnahm. Die Tempelreinigung und die ſcharfen Reden gegen bie Schriftgelehrten deuten aber mehr auf einen Neligionsreformator, als auf einen Herrſcher. Nimmt man nun dazu, wie er fid) dem Volke entzog, als. es ihn zum Könige machen wollte (Joh. 6, 15), wie er erflärt, das Mefftagreich komme nicht in fichtbarem Ganze, fondern fei bereits unbemerkt erjchienen (Luk. 17, 20), wie er Gehorfam auch gegen die heidnifche Obrigkeit predigt (Matth. 22, 21), wie er nach dem Einzuge in Serufalem der aufgeregten Menge ausweicht, wie er vor deu Rich⸗

tern erflärt, „fein Reich fei nicht von bier, und nicht von -

diefer Welt“, daß der römifche Landpfleger Pilatus zur Berurtheilung Jeſu von den Suden faft gezwungen wurde, da er doch der Erfte fein mußte, ihn zu firafen, wenn audı nur eine Spur von politiichen Planen vorgelegen hätte, und daß endlich der Haß des Volkes, mit dem es ihn dem Zode überlieferte, grade feinen Grund in getäufchten polis tifchen Hoffnungen haben konnte; fo bleibt in der That Fein Zweifel mehr daran übrig, daß Jeſus von jeher einen rein geiftigen Meffiaspları gehabt habe.

Es bedarf fomit der Verſuch neuerer Theologen, Die in den Evangelien vorliegenden widerfprechenden Anzeichen über den Plan Jeſu durch die Annahme auszugleichen, Daß Sefus anfangs auch einen politifchen Plan gehabt, Diefen aber fpäter ganz aufgegeben habe; es bedarf diefer Vers ſuch Feiner befonderen Widerlegung, weil die Vorausſetzung, auf der er beruht, nemlich der vermeintliche Widerfpruch, gar nicht vorhanden ift. |

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Ä Dritted Kapitel Stellung Jeſu zum mofaifchen Gefege, zu den Heiden und den Samaritern.

(Diele einzelne Stellen und Joh. 4, 5— 43.)

Daß das moſaiſche Geſetz durch die Kirche Jeſu thats fächlich aufgehoben worden, ift befannt; es entfteht nur noch Frage, ob Diefes auch im Plane Jeſu gelegen habe?

Diele feiner Handlungen und Ausfprüche fcheinen biefe Frage zu bejahen. Er verlangt von feinen Anhängern nicht Beobachten der einzeinen mofaifchen Vorſchriften, fondern Feſt⸗ halten an dem inneren Geiſte der Religioſität und Sittlich⸗ keit, ohne welchen Faften, Beten ıc. feinen Werth habe (Matth. 6, 1—18), er verwirft die mofaifchen Speifeverbote durch den befannten Ausſpruch Matth. 15, 11, den Opferdienſt ftellt er hinter die Gefinnung weit zurück, indem er die Ans ficht eines Schriftlehrers, „die Liebe fei mehr als alle Opfer“, fehr billigt, und felbit die Worte Hoſea 6, 6: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“, fo oft anführt (Matth. 9, 135 12, 7); gegen die Sabbatfeier hat er öfters verftoßen, aus⸗ drücklich fi) erklärt (Matth. 12, 1 -13; Marl, 3, 1—55 Joh. 7, 22 20.), und fich, als dem „Menfchenfohn“ die Macht über den Sabbat zuerfannt; mas auch in der jüdifchen Mefs fiagvorftellung gelegen zu haben fcheint; Diefer Sinn mag auch in den Worten liegen: „Brechet dieien Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“ Worte, die bei Soh. 2, 19 Jeſus felbit fagt, bei Marfus und Matthäus aber ‚Zeugen ald Worte Jeſu berichten, und die ihre nähere, Erklärung in Apoftelg. 6, 14 finden, nach welcher Stelle Ste» phanus dasfelbe von Jeſus gefagt und hinzugefebt haben fol: „Er wird die Gebräuche ändern, die Euch Mofes gegeben hat“. Ueberhaupt aber, wer, wie Jeſus, die innere Reinheit ded Herzens über die abgeriffenen äußeren Hands lungen und die ftarre Uebung des Geremonield gefeßt, und die Liebe für das Wefentliche des Geſetzes erklärt hat, der drückt eben damit das Aeußere als Unweſentliches tief berab. Noch entfchiedener fpricht fich wenigftens die Erwars

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tung Sefu, es werde ber mofaifche Kultus fallen, in ben Borherfagungen aus, der Tempel, ber Mittelpunkt dieſes Kultus, werde zerftört (Matth. 24, 2), und Gott aller Orten „im Geift und in der Wahrheit“ verehrt werben (Joh. 4, 1— 23).

Allein auf der andern Seite muß auch Das anerfannt wers den, wie es neuerlich befonders von Frisfche gefchehen ift, daß fich eben fo viele Stellen auffinden laffen, die zu beiweis fen fcheinen, daß Jeſus an einen Umflurz der mofaifchen Res figionsverfaffung nicht gedacht habe. Er beobachtet für feine Herfon die Hauptpunfte des Geſetzes, beſucht Die Synagoge, an hohen Feſten den Tempel in Serufalem, und feiert dag Paſchamahl. Das Heilen und Aehrenlefen am Sabbat, das VBerfaumen des Faftens und bes Waſchens vor dem Effen waren Berftöße nicht gegen das alte mofaische Gefet, fondern gegen fpätere rabbinifche Sabungen. In der Bergpredigt, wo er die ächte Neligiofttät fo hoch über die Beobachtung äußerer Gebräuche ftellt, verfichert er doch auch, er fei nicht gefommen, das Geſetz aufzulöfen, fondern zu erfüllen, und eg werde basfelbe ewig beftehen (Matth. 5, 17). Auch die Apoſtel beobachten noch nach dem Pfingitfefte das Geſetz, gehen zum Gebet in den Tempel, beficchen die Synagoge, und halten fich an die mofaifchen Speifeverbote.

Demnady fcheint fich auch hier em Widerfpruch in Sefu Reden und Handeln herauszuftellenz; ihn zu löfen, hat man verfchiedene Wege eingefchlagen. Einige fagen, Jeſus habe im Herzen die Aufhebung des Geſetzes gewollt, ſich aber den jüdischen Vorftellungen anbequemt, um das Vertrauen des Bolfes nicht zu verlieren. Daß er felbft das Geſetz beobach⸗ tete, ließe fich wohl auf diefe Weiſe erklären, wie ja auch Panlus offen gefteht, daß er nur den Inden zu Liebe Die Gebote des Geſetzes halte (1. Kor. 9, 20), uud wie er e8 auch nach Apoftelg. 16, 3 wirklich thut. Allein daß Jeſus fo feierlich die Unvergänglichfeit des Geſetzes verfichert, kann doch nicht als bloße Anbeguemung genommen werden; ed wäre nicht nur unredlich, fondern auch fehr unflug gewefen! Eben fo wenig ift die Auskunft zuläffig, daß er ftreng gefchie- ben habe zwifchen dem Neinmoralifchen ınd bloß Aeußer⸗

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lichen des Geſetzes; benn eine folhe Scheidung macht er nicht einmal in der Bergpredigt, wu er fo viel für und fo viel gegen das Geſetz redet.

Auf näherem Wege fommen wir zum Ziele, wenn wir u zuvörderſt derjenigen Anſicht anfchließen, die zwifchen altsmos ſaiſchen Borfchriften und fpäteren Zufäßen unterſcheidet, und Sefum jene feithalten, dieſe verwerfen läßt. Daß fee Berftöße gegen die Eabbatfeier nur diefe, nicht jene, betrafen, fahen wir fchon oben. Ganz entjchieden aber unterfcheibet Jeſus (Matth. 15, 3 ꝛc.) zwifchen dem „Gebote Gottes“ um der „Ueberlieferung der Aelteften“, und ermahnt, Beide za halten, wenn ed möglich fei; wo nicht, lieber dieſe Ueberliefe⸗ rung, als jene Gebote aufzugeben. Ferner bezeichnet er bie fpäteren Satzungen ald eine „unerträgliche Bürde“ (Matth. 23, 4), während feine Gebote eine „leichte Laft“ feien (11, 29); daher müffe auch all dieß Satzungsweſen als „menfdhr liches“ zu Grunde gehen (15, 9, 13): der göttliche Kem aber, wie er im ächten, urjprünglichen Mojaismus liegt, gilt ihm als ewig wahr. Wollte man nun aber die Forderung au Sefum dahin fteigern, daß er, um ganz Fonfequent zu fein, auch an dieſem ädıten Moſaismus das bloß Geremonielle, defien er nicht wenig enthalt, hätte verwerfen follen, fo muß man bedenken, wie ſchwer es hält, an dem durch hohes Alter Geheiligten zu rütteln, zumal wenn es jeinem eigenen. Weſen nach fo großartig iſt, und feine Außeren Gebrechen vor bem berzlofen Pedantismus fpäterer Zufäße fo ganz verfchwinden, wie Beides bei dem moſaiſchen Gefeße wirklich der Fall ift.

Allein bringen wir und nun die fchon oben befprochene Erflärungen Jeſu über das Geſetz Mofid (Matth. 5, 18) nod einmal näher vor das Auge, fo finden wir, daß cr auch bie fem feine ewige Daner zuſchrieb, fondern fein Dafein an da des jüdifhen Tempels fnüpfte. Denn aus Matth. 24 fehe wir, daß dem Juden Zerftörung feines Staates nnd Tempel (als deffen Mittelyunft) 27) und Untergang der Welt -ganı

29 Wan jehe die Anmerkung unter „Tempel“.

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Dasfelbe war; und wenn Jeſus in obiger Stelle das Beftchen

des Geſetzes bis zum Ende der Welt verkündet, fo heißt das eben nur, bis zum Ende ‚Eures jüdiſchen Volkslebens. Lukas zwar gibt dieſen Ausſpruch Jeſu in einer Faffung, welche diefe Erklärung weniger zuläßt (16, 16, 17); allein er mag auch hier eben fo ein Spätered, Entitellted geben, wie bieß mit dem von Sefu bezeichneten Verhältniffe des ZTäufers in derfelben Stelle offenbar der Fall ift, wenn wir fie mit Matth. 11, 13 vergleichen.

Muß uns num fchon fo viel Har geworden fein, daß Jeſus jedenfalls von der durch feine Lehre herbeizuführenden Erhebung der Menfchheit zu einem „reineren Leben“ den Untergang des . mofaifchen Geſetzes erwartetete, wie er es in dem Bilde von dem Abbrechen und Wiederaufbauen des Tempels ausfpricht, fo geht doch noch weiter aus anderen Aeußerungen hervor, Daß er diefen Untergang ſchon als nächte Folge feiner Wirk famfeit vorausſah. Denn zur Samariterin fagt er (Joh. 4, 23): „Es fommt die Stunde, und fchon jest ift fie da, wo die wahren Unbeter Gott anbeten werden im Geifte und in der Wahrheit calfo nicht bloß im Tempel zu Serufalem)*, Auch in den Rorten: „Herr über den Sabbat ift des Men⸗ fhen Sohn Matth. 12, 8)“, ift deutlich genug ausgefprochen, daß das Geſetz Mofis fchon jet nicht vor der höheren Kraft feiner auf Reinigung des Herzens gerichteten Lehre beftehen fünme.

Es ſtellt fi alfo ale das Wahrfcheinlichfte die heraus, daß Jeſus, wie Paulus, das Geſetz beobachtete, um ſich von feiner Nation nicht Togzureißen, daß er überhaupt Fein gewalts fames Einreißen desfelben beabfichtigte, fondern, feft überzeugt son der belebenden Wärme feiner neuen fehre, Die dag Wefentliche desſelben heransgehoben und weiter gebildet hatte, des feften Glaubens Iebte, ed werde die mofaifche Hülle, welche er noch beibehalten mußte, bald von felbft abfallen, nnd der überwältigenden Kraft des ihr eingehauchten Geiftes meichen, ohne daß es der Zerſtörung bebürfe.

Hiernach erklärt fich Teicht, warum er im Bezug auf fein Verhältniß zum Geſetze Moſis zurückhaltend war: „Sch habe noch Vieles Euch zu fagen, aber Ihr könnt es jet nicht

- s

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faſſen (Joh. 16, 12). Und wenn er in ber VBergprebigt auch dem Heinften Buchftaben des Gefeges ewigen Beſtand verheißt, fo dürfen wir bei näherer Betrachtung dieß nur fo verftehen, daß der Geift des Gefetes, möge er auch in dem unbebeutendften einzelnen Gebote ſich ausfprechen, wicht untergehen werde: wie ja auch Paulus (Röm. 3, 31) die Kortdauer des Gefeßes nur von dem inneren Geifte und Sinne (möge er auch nur unvollfommen in den Außeren For⸗ men fich ausfprechen) verfteht. Somit erfcheint nicht nur erft bei Paulus, fondern auch fchon bei Sefus, das Geſetz ale eine „verbereitende Erziehungsanftalt (Gal. 3, 24)“, die ein weifer Erzieher nicht wegnimmt, fondern den Zöglingen fo lange läßt, bie er felbft fie, als ein zwar entbehrlicyes, ims mer aber ehrwürdiges Hilfsmittel auf die Seite ftellt, um es als theure Neliquie in frommem Andenfen zu. behalten.

[4

Wenn Jeſus feine Volksgenoſſen von dem ftarr geworbdes nen Gefege zu der geiftigeren Gemeinfchaft eines allen teis nen Herzen zugänglichen Gottesreiches hinüberführen wollte, fo fünnen wir kaum zweifelhaft fein darüber, ob er auch den Heiden Antheil an demfelben geftattet habe. Es finden fidy wirklich ausdrückliche Erklärungen des Göttlichen darüber vor. {in der Synagoge von Nazaret weist er darauf hin, daß ſchon Elia und Elifa ihre Wohlthaten wegen der Unwürbigs feit der Suden den Heiden hätten zuwenden müffen (Luk. 4, 25 ꝛc.); Matth. 8, 11 20. verfichert er, in das Himmels reich würden einſt Viele von Dft und von Welt kommen, während die eigentlichen Kinder desfelben verftoßen würden; noch beftimmter in den Worten: „Bon Eud, wird das Reich Gottes genommen, und den Heiden gegeben werden (Matth. 21, 43); der Wiederfunft des Meſſias foll die Verbreis tung des Evangeliums unter allen Völkern vorangehen (Matth. 24, 19; enblid erhalten feine Sünger von ihm nad) ber Auferftehung die beftimmte Weifung: „Lehret alle Bölfer, und taufet fie 2c. (Matth. 28, 19) *.

Auffallend ift e8 daher, daß an andern Stellen Sefus die Heiden gradezu aus dem Meffinsreiche auszufchließen fcheint.

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So gebietet er Matth. 10, 5 feinen Jüngern bei ihrer Aus⸗ ſendung, „kommet nicht auf Die Straße der Heiden“ ein Bufaß, den Markus und Lukas nicht haben, weil er dem Kreife von Chriften, für den fie fchrieben, ehemaligen Heiden, anftößig fein konnte. Sa fogar die Wohlthat einer einfachen Heilung verweigert er einem kananäiſchen Weibe, weil er „nur zu den verloren Schafen Sfraels gefandt fei (Matth. 15, 24)“, obgleich doch ſchon Elia und Elifa, auf.die er ſich früher berufen hatte, auch Nichtiuden geheilt hatten. In gleihem Sinne benehmen ſich auch die Apoftel noch nad feinem Tode. Den frommen heidnifchen Hauptmann Cors nelius in die Gemeinde aufzunehmen, Tann Petrus nur durch Erfcheinung eines Engels, und ihn zu taufen, nur durch das füchtbare. Herabfommen des heil. Geiftes bewogen werden, und er findet es nothwendig, fein Verfahren durch diefe wum derbaren Zeichen vor der Gemeinde zu rechtfertigen (Apoſtelg. 10, 11). Jedenfalls liefert dieſe Erzählung einen Beweis, wie ſchwer es den erjten Chriften anfam, auch Heiden aufs zunehmen, woraus fich fchließen läßt, daß fie dieß gegen den Willen Jeſu hielten, und weßhalb ſchon hier die Wechtheit des oben erwähnten Taufbefehls bei Matth. 23, 19 einiger, maßen in Zweifel gezogen werben muß.

Wie erflären wir und aber eine fo einfeitig jüdiiche Bes fchränftheit bei einem Sefus, der dadurch ſich unter Die Propheten des alten Teftamentes fielen würde, die der Hoff nung leben, auch die Heiden werden in der Mefjiagzeit zur Religion Sehovas ſich befehren (Jeſ. 2, 2 ıc.; Ser. 3, 17; Amos 9, 12 u. A.)? Sm gleihem Sinne fpricht auch der Täufer fih aus (Matth. 3, 9). Und Jeſus, der eine Aus betung Gottes „im Geilte und in der Wahrheit“ verfins dete, follte gewollt haben, daß die Segnungen diejer allein wahren Anbetung in die engen Gränen Eines Bolfed eins gefchloffen würden?

Wir müſſen alfo zufehen, oh jene flörenden Stellen nicht eine mildere Auslegung zulaffen. Wenn er den Süngern vers bot, fich an die Heiden zu wenden, fo that er dieß wohl nur, weil er wollte, daß vor der Hand erſt unter den, jedenfalls ‚mehr vorbereiteten, Juden feine Lehre Wurzel faffe, und erſt

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fpäter, wenn fein Tod die Borftellungen feiner Anhänger go geläutert hätte, fi) auch weiter verbreite.e Un i bliebe ſeine Härte gegen das fananätfche Weib, da er dem gleichfalld heidniſchen Hauptmann in Kapernaum fogleid bereitwillig half (Math. 8, 5), wenn nicht jenes Weib an der Grenze gegen die Heiden bin ihr Anfinnen an ihn gefickt hätte, weßhalb eine Heilung bei diejem Bolfe mehr Aufichen machen mußte, ald er jest noch wünfchte. Ueberdieß bleibt ja, da er ihm endlich Doch entfprach, mit den Worten: „Selb, dein Glaube it groß!“, unmer noch die Annahme zuläßig, daß er eben diefen Glauben des Weibes habe prüfen wollen. Die Bedenflichfeit der Apoſtel endlich, auch noch nach dem Zaufbefeble, Heiden aufzunehmen, mag darin ihren Grub haben, daß fie glaubten, dieje müßten zuvor durch die Bi \ fchmeidung den Volke Iſraels fich einverleiben laſſen; eim Boritellung,, welche auch Die ältern Propheten hatten, mb über die fich Jeſus niemals deutlich erflürt haben mag.

Einer näheren Unterjuchung bedarf nun noch) Die hier fih anfchliegende Frage: In welches Berhältnip ftellte ſich Jeſus zu den Samaritern? Sm Betracht diefes Punktes bilden die Evangelien eine bemerfenswerthe Etufenleiter.

Bei Matthans lefen wir (10, 5), daß Sefus feinen Schülern den Beſuch Samariens cben fo ftreng verbot, ald den ber heidniſchen Orte; Markus erzählt Nichts von irgend einer Berührung mit den Samaritern; nad) Lukas zieht Jeſus Durch Samaria nad) Serujalem (17, 11), läßt ſich ein andermal dert von feinen Jüngern Herberge beitellen (9, 52); daß fie übel aufgenommen werben, bringt fie in großen Zorn, weßwegen fie aber Sejus zurechtweist; auf fein Urtheil über die Samariter übt dieß feinen nachtheiligen Ein⸗ fluß, vielmehr jtellt er einen folchen in der befannten Gleich—⸗ nißrede 10, 30 ꝛc. ald Mufter der Barmherzigkeit auf. Ein noch weit näheres Verhältniß zu den Samaritern ftellt und Johannes bar, der Jeſus auf einer Reife mehrere Tage in Samarien verweilen, mit einer Samariterin fich angeler gentlih unterbalten, und fehr glücklich als Meſſias wirken

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ſaßt (Kap. 4). Mit dieſer Darſtellung harmonirend, meldet Apoſtelg. 1, 8, daß Jeſus feinen Jüngern vor ber Himmels fahrt befohlen, auch in Samarien ihn zu verfündigen; und nach Apoftelg. 8, 5 ꝛc. erregt der glüdfiche Erfolg, mit wel chem der Diafonus Philipp hier wirklich ypredigte, bei der Gemeinde. in Serufalem fo große Freude, daß fie ſogleich die Apoſtel Sohannes und Petrus dahin fendet, um das Wert der Bekehrung fortzujeben. |

AU diefen, den Samaritern fo günftigen, Zeugniffen fteht um vorzüglid) jenes Verbot bei Matthäus, wie es fcheint, ganz fchroff entgegen, um fo mehr, da es offenbar erft nadı dem von Sohanues erzählten längeren Verweilen Jeſu in Sas marien, welches ziemlich bald nach feiner Taufe ftattfand, ers folgt fein muß. Betrachten wir zuerft die glänzendfte ſamari⸗ tifche Scene, die Gefchichte in Kap. 4 des Sohannes! Hier finden ſich num freilich mancherlei Bedenklichkeiten. Es dringt ſich zuerſt die Frage auf: Warum fordert Jeſus die Frau auf, ſie ſolle ihren Mann rufen (V. 16), da er doch wußte, daß fie feinen rechtmäßigen Mann hatte (V. 18)7 Etwa, um fie zu befchämen und zur Buße zu leiten? Dann hatte er feinen Zwed verfehlt; denn davon zeigte nachmals die Kran feine Spur. Dder, um mit einem für feine Belehrungen Empfänglicyeren anzufnüpfen? Dieß ftreitet gegen feine Kennt⸗ niß von des VBerhältniffen der Frau; denn fie wird nicht ges neigt geweſen fein, Den herbeizubringen, deffen Umganges fie fi) zu Schämen hatte. Dffenbar wollte er füch ihr ald Pros phet zeigen, was ihm auch wirklich gelang (B. 19; und hier müfjen wir geftehen, daß er eine folche Gelegenheit mit einer etwas anftößigen Gewaltfamfeit herbeiführte. Eine ganz ähn⸗ liche Sewaltfamfeit müffen wir auch in der Art finden, wie Jeſus nunmehr durch das, was er über die wahre Gotteds verehrung fagt, ihr ben weiteren Glauben, daß er fogar ber Meſſias fei, gewillermaßen aufbringt (20 26). Denn es fonnte ibm nicht entgehen, daß das befchränfte Weib Die Frage, ob Die Suden oder die Samariter Necht hätten (20), nicht aus höherem Sutereffe vorbradyte, fondern nur, um von dem ihr-empfindlichen Punfte, den Jeſus berührt hatte, abzu- ienfen. Daher mußte auch Jeſus, feiner fonftigen Gewohnheit

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nach, grade die Scham, bie ſich hinter der Frage verftedte, feftzühalten und die Frau zum vollen Bekenntniß ihrer Schuib zu bringen fuchen. Allein dem Evangeliften war es einmal darum zu thun, daß Jeſus ale Meſſias amerfannt werben follte; doch wollen wir deßhalb feine Erzählung noch wicht als ungeichichtlich verdächtigen, da das uns Auffallende auch Daher rühren fanı, daß er Mittelglieder, die die Sache em Härlicher machen, in der Daritellung ausließ.

Eme andere Frage üt die: Woher hatte Jeſus Die Kennt⸗ niß von den Berhältniffen der Frau? Die verſuchte natür⸗ liche Erflärung, er habe aus Mittheilungen Borübergehendber gefchöpft, hat, neben der Unmwahrfcheinlichfeit, auch die offens bare Abficht des Evangeliſten gegen fidy; denn er will Diele Kenntniß als eine übernatürliche darftellen, da fie ja feiner Erzählung zufolge eben der Grund ift, weßhalb nicht nur das Weib felbit (DB. 29), fondern auch viele der Samariter ihn für den Meffias halten (V. 39). Allein daß Jeſus ſelbſt die Außeren Berhältniffe der ihm begegnenden Perfonen überall auf den eriten Blick durchſchaut haben follte, wäre eine feiner unmürdige Alleswifferei, die man um fo weniger annehmen kann, je höhere Borftellimgen man von feinen Weſen hat, dem doch auch Die Orthodoxeu das menfchliche: Bewußtſein nicht rauben wollen. Höchſtens fünnte man alfo eine ſolche Kenntniß in einzelnen Fällen, 3. B. hier, aus ber Gabe erflären wollen, welche fi bei Somnambülen wohl vorfindet, nämlich auf Augenblicke in dem Inneren anmwefender Derfonen auch ihre Beziehungen zu Abwefenden lefen zu küns nen, wiewohl dieß in der Regel nur in franfhaften Zus fanden der Kal iſt. Vermögen wir aber aud) an Diefem letzten Nettungsbalfen die gefdjichtliche Glaubwürdigfeit dieſes Zuges in der Erzählung wirklich feftzuhalten, fo ift Doch das mit für eine höhere Natur Jeſu Nichts bewiefen.

Weniger jchwierig ift Die Beantwortung einer dritten Frage: Wie fam Jeſus Dazu, gegen ein fo unbedeutendes Weib den höchften Grundfag feiner Religion (B. 24) augzufprechen, ba er damit felbft gegen feine Fünger noch zurüdhaltend war?

Borerft konnte Sefus ganz gute Gründe haben, grade bei den Samaritern fchon frühe ale Meſſias anerfannt zu werden,

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weil diefe, gleihfam „ein vom Stamme der Nation abgeriffes ser Aft, weniger flarr an politifchen jüdifchen Sntereffen hingen, und demnach empfänglicher fein mußten für eine Um⸗ bildung der Meifiasidee ins Geiftige, als die Suden, und felbft als bie eigerfen, mit jüdifchen Vorftellungen erfüllten Sünger *. Sodann aber müffen wir, wenn and jene Mittheilungen an ein famaritifches Weib vielleicht nicht ganz richtig berechnet - waren, doch aud) bei Jeſus die Gewalt, welche Zeit und Stunde, Gelegenheit und Stimmung über Eröffnung und Verfchließung des Gemüthes hat*, mit in Anfchlag bringen. Hiermit hängt ganz genau zufammen, was Jeſus, nachdem die Frau ſich wieder in Die Stadt begeben, zu ben Süngern fagt, Die ihm Speife anbieten CB. 31 ꝛc.): er fpricht darin feine Hoffnung auf eine reiche Ernte in Samaria fo ganz der im ihm durch Die Anerfennung des Weibes erregten Stimmung gemäß aus, daß man dieſe Ausſprüche Feineswegs ale eine von der Sage nach dem fpäteren Erfolge hinzugefügte Zus gabe betrachten darf. Wenn die Jünger aber auch hier feine ' bifdfich und geiftig gemeinten Worte buchftäblicy und finnlich auffaffen ®. 33), fo ift dieß nur Wiederholung eines nament⸗ lich bei Sohaunes hundertmal vorfommenden Falles. Ä

Wenn wir aljo, nad, näherer Betrachtung der hier ents fcheidenden johamneischen Erzählung, an der Thatfache eine frühen Verkehres Jeſu mit den Samaritern nicht zweifeln dürfen, fo bleibt ung noch der Widerfpruch zu löfen, in dem die oben ©. 200 erwähnte, feinen Süngern gegebene Bors fhrift, Samaria nicht zu berühren, damit zu ftehen fcheint. Er löst ſich wohl am Einfachlten Durch die Annahme, daß er feine Jünger wegen ber ihnen noch inne wohnenden jüdifchen Borurtbeile, noch nicht für unbefangen genug hielt, um jeßt ſchon, ehe fein Leiden und Sterben fie auf einen höheren Standpunkte befeftigt hatte, vecht fegensreich unter den Sa⸗ maritern zu wirfen; ein Grund, der ihn nicht abhalten Fonnte, ſelbſt fchon, follte er aud, dadurch bei den Juden Anftoß erregen, bei diefem Bolfe eine Saat „auszufüaen, Die Andere (feine Sünger) einft ernten ſollten“ (Joh. 4, 37).

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Viertes Kapitel. Die Berufung mehrerer Sünger durch Zefum.

(Matth. 4, 18 22; Mark. 1, 16— 20; Luf, 5, 1—11; Soh. 1, 35—52; ferner Matth.'9, 9—175; Mark. 2 14— 22; Luk. 5, 27—39 und 19, 1—-10.)

Sowohl Matthäus und Marfus, die in ihren Angaben ganz übereinftimmen, wie Johannes, erzählen, daß Jeſus ſehr bald nach feiner Zaufe mehrere Männer zu fidy berufen habe, um ihm (als feine Sänger) nachzufolgen; allein beide Theile weichen in wefentlihen Punkten von einander ab. Die bes rufenen Perfonen find nicht ganz diefelben (Matthäus: Detrus, Andreas, Sohannes, Jakobus; Johannes: ſtatt Des Jakobus den Philippus und den Nathanael); der Ort der Berufung ift verfchieden angegeben (Matthäus das Ufer des galiläifchen See's, Johannes: Peräa und der Weg von da nach Galiläa); eben jo die Reihenfolge (Matthäus f. oben; Johannes: Andreas, Johannes '°), Petrus, Philips pus, Nathanael); endlich auch die Art der Berufung Matthäus: vom Fifchergefchäfte hinweg, Sohannes: ganz uns beſtimmt ald „Kommende“ und „Gefundene“, ferner nur Dem Philippus von Sefu felbft berufen, alle Andern theils durch den Täufer, theild durch ſchon Berufene an Jeſum gewiefen).

Diefer großen Berfchiedenheiten wegen haben daher mehs rere Ausleger ſich dahin entjchieden, daß beide “Theile zwei verfchiedene Berufungen erzählen, und zwar Matthäus und Marfus eine fpätere, Sohannes eine frühere, weil er bie feine ſchon vor der Rückkehr nad, Galiläa flattfinden läßt, und weil ihm zufolge Andreas und Johannes grade vom Täu⸗ . fer weg Tefu nachfolgen, bei dem fie nicht mehr fein fonnten, wenn fchon Sefus fie zu fich berufen hatte. Allein die Ers zählung zweier verfchiedenen Begebenheiten fönnen wir doch nicht wohl vor uns haben: denn in beiden Erzählungen find die Ausdrüde „folget mir nach“, „fie folgten ihm“ (Matth.

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9, Diefer nämlich ift, wie man allgemein annimmt, der LUingenannte,

welcher mit Andreas zugleich nach V. 40 Jeſu nachfolgt.

4, 19, 20) und „folge mir nah“ (Joh. 1, 43) doch einander zu ähnlich, als daß man fie hier von einer bloß vorüber; gehenden, dort von einer bleibenden Nachfolge verfichen, könnte. Und dieß müßte man doc, wenn Jeſus die ſchon (laut Sohannes) Berufenen noch einmal Claut Matthäus) zu ſich berufen haben fol! Ueberdieß aber fpricht auch der weis. tere Verlauf der evangelifchen Gefchichte entfcieden gegen eine folche Trennung der Erzählungen in zwei Berufungen.

Denn nicht vorübergehende Begleiter fünnen Die nach Johannes Berichte Berufenen geweſen fein (was fie doch, wenn eine zweite Berufung nöthig war, geweſen fein müß« ten), weil auch bei ihm fogleich nach der von ihm erzähle ten Berufung Jeſus, der vorher ohne Begleitung war, überall im Gefolge von „Süngern“ auftritt (Soh. 2, 2, 11, 12, 17; 3, 22; 4, 8, 27). Nicht als fhon früher ihm wohl Bekannte kann Jeſus jene Männer bei Matthäus zu fidy berufen, „weil diefer offenbar großen Werth darauf legt, daß die Berufenen „fogleih“ (Matth. 4, 20, 22) ihm folgten, was ihm ja ganz natürlic, erfcheinen mußte, wenn fie fchon früher an Jeſum ſich angefchloffen hatten. -

Es können alfo Sohannes’ und die Synoptifer nur eine und biefelbe Berufung berichten wollen, und es fragt ficy nun, welcher Bericht, da Einer wenigftensd irrig fein muß, der richtige fei? Hier erfcheint nun zunächit der Theil der ſynop⸗ tischen Darftellung, nach welchem Jeſus die ihm ganz fremden Männer auf der Stelle durchfchaute und für fähig hielt, feine Jünger zu werden, in hohem Grade unwahrſcheinlich; aber auch der Umftand, daß Jeſus fie grade von den Netzen weg (4, 18) berief, und fie ihm ohne Weiteres, „fogleich“, folgten, fiheint der verfchönernden Sage anzugehören, zumal. da ein ganz Gleiches von Elia und Elifa erzählt wird (1 Kön. 19, 19, 21). Sener berief Diefen von Stier und Pflug zu ſich, alſo ebenfalls von niederer Arbeit zu dem geiftigften Be- rufe. Wenn aber Elifa fich vorher noch von -feinen Aeltern verabfchieden darf, die Fifcher aber Sefu auf der Stelle nachfolgen, fo liegt darin eine fehr natürliche Steigerung, ins: dem der Meſſias eine noch entfchiedenere Nachfolge mit Hin⸗ tanſetzung alles Andern verlangen mußte. Daher gewährt

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Jeſus anderwaͤrts, wenn die Berufenen darum bitten, vorher noch Etwas beſorgen zu dürfen, ben Vater zu beerdigen Euk. 9, 59), oder zu Haufe Abſchied zu nehmen (daſ. 61), dieſe Bitten nicht. Es bliebe ung alfo als gefchichtliche Thats fache aus den Synoptifern nur der Umftand übrig, daß mehr

rere vorzügliche Jünger, darunter Petrus, vorher Fifcher ges

wefen, weßwegen fi e Sefus fpäter öfters Menſchenfiſcher“ nennt.

Aber auch die johanneiſche Erzählung leidet an vieler⸗ lei Härten und Unmwahrfcheinlichfeiten. Schon das erregt Bedenfen, daß der Täufer felbft (1, 36) Jeſu die erften Schüs ler zugewiefen haben ſoll, was fich mit der oben entwickelten Stellung: desfelben I. Jeſu nicht wohl vereinigen läßt, und nur einer unvollfommenen Erinnerung oder durch allzugroße Kürze mangelhaft gewordenen Darftellung des - Evangeliften zugefchrieben werden kann. Ferner widerfpricht es der glaubs würdigen Erzählung bei den Synoptifern, daß Petrus erft nad; langem Umgange Jeſum ald den Meſſias erfannte (Matth. 16, 16), wenn Sohannes berichtet, fein Bruder Ans dreas habe fehon anderen Tages ihm denfelben als den Mefs fias bezeichnet. Wie konnte doch Sefus in jener Stelle bei Matthäus fo fehr wegen höherer Erfenntniß den Petrus rühs men, wenn diefer fie einer fchon fo frühen Mittheilung feines Bruders verdanfte? Auch hier muß wenigftens eine Verwechslung der Zeit im Gedäcdhtniffe des Evangeliften ftatts gefunden haben. Ein Aehnliches ift man anzunehmen verfucht, wenn nach V. 42 Jeſus dem Petrus, der eigentlih Simon hieß, ſchon beim erften Anblicke diefen bedeutungsvollen Nas men („Fels“) gibt: offenbar, wie es Matt. 16, 18 deutlicher fagt, um feinen Muth und feine hohe Befähigung zum Apoftels amte zu bezeichnen, die Jeſus doch wohl jeßt noch nicht fo beftimmt ausſprechen konnte, wenn er fich nicht der Gefahr ansjeßen wollte, fpäter das Bekenntniß eines Irrthums ab⸗ legen zu müſſen.

Endlich iſt es die Unterredung mit Nathanael (45—51), welche eine genauere Betrachtung erfordert. Daß dieſer jetzt

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ſchon die Frage an Philippus gerichtet habe: „Was kann as Nazaret Gutes fommen?“, ift nicht denkbar, weil feine Spur vorhanden ift, daß diefe Stadt ſchon früher, ehe die Gegner Jeſu der Heimath des von ihnen verworfenen Meſ—⸗ fiad diefen Schandflef anhängten, in fo üblen Rufe geftans den habe. Galilän im Allgemeinen konnte aber Nathanael, ſelbſt in Galiläa, doc nicht meinen. Wenn ferner Jeſus dem⸗ felben ſogleich fagt, er fei ein wahrer Ssfraelite, in dem feine Falfchheit ftefe, und dem Critaunten mit geheimnißvollen Worten (V. 48) andeutet, woher er die nähere Kenntniß feines Wefens habe, worauf diefer ihn freudig ald den Mefs ſias begrüßt; fo will offenbar der Evangelift damit Jeſu auch bier einen Bli in Das Innere des Menfchen zufchreiben, der auf gewöhnlihem, natürlichem Wege nicht gewonnen werden kann, zumal da er Sefum zuleßt fagen läßt, Nathanael werbe noch viel Größeres erfahren. Es bleibt ung alfo auch hier nur der Ausweg übrig, der ſich und oben bei der Ges fhichte von der Samariterin (ſ. S. 201) ald den einzigen darbot: nämlich die Annahme eines ungewöhnlichen Hellfehens.

Sm Allgemeinen fann alfo die Anfchließung der erften Jünger an Sefu wohl fo erfolgt fein, wie fie und Johannes meldet; obgleich, wie wir fahen, einzelne Züge wenigſtens ihrer Stellung nach als unhijtorifche erfcheinen.

Die Berufung ded Petrus, in Verbindung wit Johannes und Jakobus, wird aber auch von Lukas ausführlich erzählt, und zwar auf eine fo eigenthimliche Weiſe, daß wir hier eine ganz andere Begebenheit vor ung haben. Sie it gefnüpft an einen ganz ungewöhnlid, glücklichen Filchzug des Petrus (Luk. 5, 1— 11), wozu ihm Jeſus verhilft. Diefen Fifchzug auf natürliche Weife erklären zu wollen, wie es 3. B. Paulng verficcht, muß als eine fruchtlofe Bemühung betrachtet werden. Denn wenn Sefus den Fijchern beftehlt, tiefer in den See hineins jufahren und die Nette auszuwerfen, fo mußte er doc, ſchon wiffen, daß dort ein glüdlicher Fang zu machen fei, und er nicht erft auf der Fahrt felbft durch nachträgliche Beobachtung erfahren haben. Wie aber follte er in diefem Punfte eine genauere Kenntniß haben, ald die Männer, bie ihr halbes Leben lang Fifcher gewejen, die jegt an einen günftigen Erfolg

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nicht glauben, und im Vertrauen auf fein Geheiß ben Ver⸗ fuch. wagen? Daß er wirklich gelang, muß daher ale reiner Zufall betrachtet werden; welche Vermeflenheit aber von Je⸗ fus, wenn er ſich der Gefahr ausfegte, durch eine fehr mögs liche Täufchung der durch feine Aufforderung erregten Enwars tungen beſchämt zu werden! Und, da fie nun erfüllt wurben, war es redlich, die fußfällige Verehrung des Petrus anzuneh⸗ men, wenn er nur einem Zufalle den Erfolg verdankte?

Es bleibt alfo wohl Nichts übrig, ald den ganzen Borfall für ein durch Jeſum bewirftes Wunder zu nehmen, wie es ber Evangelift auch gegeben hat. Run könnte man es zunaͤchſt als ein Wunder einer höheren Kraft anſehen, vermöge wel cher Jeſus die Fifche alle grade an den ihm beliebigen Drt zufammengeführt hätte: allein wie it eine foldye Einwirkung eines göttlichen Geiftes auf eine Maſſe vernunftlofer Weſen irgend denkbar, welhen Zweck konnte Sefus bei folhem Wun⸗ ber haben? Etwa, Ueberzeugung an feine Göttlichfeit in Petrus zu erweden? Mußte er nicht vielmehr in ihm aber» gläubifche BVorftellungen erzeugen? deſſen Blid von ber inneren Göttlichkeit Jeſu auf äußere Mirakel hinziehen? Nach einer foldyen Schule fieht aber gar nicht aus, ‚was fpater den Petrus fo eng an Jeſum fefjelte, nämlich ber Glauben, daß Diefer Worte „des ewigen Lebens“ habe (Joh. 6, 68)! Will man aber nur das Wunder eines höheren Wiffens hier finden, d. h. daß Jeſus wußte, es feien fchon fo viele Fifche hier verfammelt? Aber befaß er eine Allwiffens heit von folhem Umfange, daß er die Zahl der Fifche im Meere jederzeit fannte, fo hört alles menfchliche Bewußt⸗ fein bei ihm auf; fonnte er fie aber nur wiſſen, fo oft er wollte, fo 309 dieß feinen Geift Doch in eine gar zu niebere, von feinem göttlichen Berufe eines Menfchenfifchere weit abliegende, Sphäre hinab!

Vergleichen wir nun aber noch diefen Fifchzug des Petrus mit ber fchon früher betrachteten Berufung dieſes Apoftele, fo will er ſich damit durchaus nicht vertragen. Denn früher kann er doch wohl nidjt ftattgefunden haben; wie follten Jeſu Männer auf einen einfachen Wink nachfolgen, die durch ein Wunder, das ihnen fchon früher Staunen abgenöthigt

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hatte, nicht an ihn gefellelt werben konnten? Später, ale jene Berufung, kann der Fiſchzug auch nicht vorgefallen fein, denn es findet ſich bei Matthäus und Iohannes keine Spur davon, daß Petrus und feine Begleiter nach derfelben Jeſum wieber verlaffen hätten, und doch lockt ihn diefer Durch dem Fiſchzug wieder auf's Neue au fich, und zwar augenfcheinlich als einen ihm noch fremden Mann, wie der ganze Ton ber eukas'ſchen Erzählung zu erkennen gibt. Demnach fteht auch hier wieder die Sache eben fo, wie oben bei ber doppelten Berufungsgefchichte: nur Eins, entweder jene einfache Aufs fordberung Jeſu, ihm zu folgen, oder unfer wunderbarer Fiſch⸗ zug, kann gefchichtlich wahr fein. Welches von beiden aber? Für die Beantwortung diefer Frage bietet ſich ung ein wills fommener Anhaltspunkt in der Sentenz dar, die Matth. 4, 19 Jeſu, als er den Petrus berief, in den Mund gelegt wird: „Sch will Euch zu Menfchenfifchern machen“; womit der ganz ähnliche bildliche Ausdrud Matth. 13, 47 zu vergleichen it. Wir haben nämlidy in Lukas offenbar nicht Anderes vor und, als die durch die Tradition zur Wunder geſchichte umgebildete Sentenz, die man ſich von Jeſu zu erzählen wußte: Denn das ift ja grade das eigentlihe Wefen der Sage, daß fie bildliche Reden und Ideen in felte, ftarre Geſchichte unmvanbelt; daß fie darauf ausgeht, „dem flüchtigen Gedans fen einen foliden Leib zu bauen; das leicht mißverftehbare und ſchnell verhallende Wort als allgemein verftändliche und uns vergeßliche Begebenheit * feſtzuhalten. Daher erfcheint une diefe Erzählung vom Fifchzuge als eine reine, aus der ans geführten Sentenz herausgefponnene, Mythe. Es haben aber diejenigen, welche umgefehrt die Berufungsgefchichte für eine fpätere Abkürzung und Vergeiftigung des Fiſchzuges anfehen, alfo auch als ein Werf der Sage den Chas rafter des Mythiſchen gaänzlich mißverfianden.

Diefe Anficht von dem durchaus mythifchen Charakter uns ferer Erzählung gewinnt noch dadurch an Gewicht, daß Jo⸗ hannes, 21, 1—13, einen wunderbaren Fiſchzug Petrus und feiner Begleiter erzählt, der von dem eben erſt auferitans

l. 14

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denen Jeſus angeordnet wird, und mit den bei kLukas fo viel Aehnlichkeit hat, daß beide unverfennbar eine und biejelbe Mythe find. Wir fehen alfo, die Erzählung ſchwebte gewiſſer⸗ maßen fo in der Luft, war fo fehr ohne hiſtoriſchen Boben, daß die Weberlieferung fie bald hier-, bald dorthin verfegte. Ueberdieß ift die Darftellung bei Johannes noch abgerundeter, im Sinne der Mythe, indem er nicht nur bie Zahl_ ber ges fangenen Fifche (153) angibt, fondern auch das Wunderbare noch vervollftändigt, da bei ihm, troß des ungewöhnlidyen Gewichtes, die Nebe nicht zerreißen, während bei Lukas die Tepe, und mit ihnen das Wunder, arge Riſſe bekommen. Wer fieht nicht in diefem Allem das Werk der an dem Stoffe eines ‚gegebenen Gedankens gefchäftig fortbildenden Einbil⸗ dungskraft?

Es bleibt ung noch eine andere fpätere Berufungsgeſchichte zu betrachten, die eines Zöllners unmittelbar von feinem Bes rufe weg; das erfte Evangelium nennt ihn Matthäus, Das zweite und dritte dagegen Levi. Daß alle drei Erzählungen troß der Berfchiedenheit der Namen, doch dieſelbe Begebens heit enthalten, it ihrer großen Aehnlichkeit wegen unzweifels haft; Daher hat man annehmen wollen, aud) die Perfon bes Berufenen fei diefelbe, und Matthäus nur ein Beiname bes Levi gewefen. Allein dieß wiberfpricht den Evangelien Durch” aus; denn Die Evangelien, welche den Zöllner hier Levi nen, nen, erwähnen feiner nie mehr, führen den Matthäus ohne weiteren Zunamen im Apoftelverzeichniffe (Mark. 3, 18; Luk. 6, 15) auf, wo doch Zunamen fonft vorfonmen und laſſen hier felbft den Beifat Zöllner weg, ben bas erfte Evangelium (10, 3) ausdrüdlich hat. Haben wir alfo nur Eine Berufungsgefchichte, aber zwei Berufene, fo muß irgendwo ein Irrthum ſtecken; diefen hat man auf Seiten des Matthäus finden wollen, weil diefer die Gefchichte nach der Bergpredigt verlegt, während nach Lukas ſchon vor berfelben alle Apoſtel, worunter auch Matthäus, auserwählt waren (uf. 6, 13). Allein das wäre nur Irrthum in der Zeit, mit deſſen Ans erennung der in der Sache liegende Widerſvruch nicht weg⸗

211 geräumt wird. Da dieß auch auf andere Weiſe nicht gelingen will, fo wollen wir lieber die hiftorifche Glaubwürdigkeit beis ber, bis auf die Namen fo ähnlichen, Berichte näher in's Auge fafien.

Eben jo ylöglidy und gewaltſam, wie früher Die Fiſcher vom Rebe (f. oben S. 205),-wird hier der Zöllner von der Zollftätte durch ein einfaches „folge mir“ wmeggeriffen; ba auch hier dieſer Aufforderung fogleich entiprochen wird, bieß zwar iſt weniger unmwahrfcheinlich, da jet Jeſus fchon längere Zeit gewirkt hatte. Um fo unerflärlicher aber ift Jeſu plötz⸗ liche Abberufung des Mannes mitten aus ber Ausübung des ‚Amtes heraus, da er ja eben jenes längeren Wirkens wegen Gelegenheit genug haben fonnte, den Mann allmälig an ſich zu ziehen. Es wird daher fehr wahrfcheinlich, daß hier bie Sage geichäftig war, die Bereitwilligfeit und Hingebung, mit welcher, der gefchichtlichen Ueberlieferung zufolge, der Zöllner ſich wirklich Jeſu angefchloffen hatte, zu einer folchen Scene recht anſchaulich auszumalen. Denn die natürliche Erklärung bderfelden, daß die Worte Iefu „folge mir“ nur eine Einladımg, zu der vom Zöllner bereiteten Mahlzeit her⸗ einzutreten, geweſen feien, verdient faum der Erwähnung, da ja überdieß die Mahlzeit nur eine Folge der Berufung des Zöllners war (Luk. 5, 28, 29), ein Ausdrud feiner Freude barüber. _ |

"Auffallend muß es ferner erfcheinen, daß Matthäus, der ja der Berfaffer des erften Evangeliums fein foll, bier alfo- felbft die Hauptperſon wäre, die ganze Sache nicht nur weniger anfchaulid, erzählt, als Lukas, fondern aud) fo ganz fremb thut, indem er fagt: „ein Menfc, Namens Matthäus“ ; da jedoch ſchon in der Einleitung die Anficht durchgeführt wors den ift, Daß das Evangelium nicht von ihm herrühre, fo ann diefes Bedenken hier nur furz berührt werden.

Wichtiger ift ein anderer Zug, der fidy ganz wie ein ebene falls fagenhafter ausnimmt, nämlicy die Art, wie die Phas rifäer in die Scene hereingezogen werden. Diefe machen nämlich Jeſu Vorwürfe, „da fie fahen, wie er mit Zöllnern und Sündern aB* (Mark. 2, 16): allein wie follen fie dieß gefehen haben, da ja die Mahlzeit „in dem Hawie“ gehalten

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wurde? Hereingegangen werben fie wohl nicht fein, denn font hätten fie denfelben Fehler Damit begangen, den fie Luk. 19, 7 an Sefu rügten; vor Dem Haufe gewartet haben fie wohl auch nicht. Nun war e8 aber eine befannte Thatfache, daß die Pharifäer fih an Jeſu Umgange mit diefer Menfchens Haffe ärgerten; die Antwort, welche ihm bier in den Mund gelegt wird (Matth. 10, 12), it fo körnig zugefpißt und Leicht behaltbar, daß fie faft als thatfächlich betrachtet werben muß. Konnte nun nicht die Sage durch Diefe zwei gegebenen Punkte gar leicht zu dem weiteren Zuge ihres Gemäldes veranlaßt werden: „Grabe da, wo Jeſus mit einem fo eben zum Apoſtel erhobenen Zöllner fpeifete, traten fie mit ihrem Vorwurfe zudringlicy hervor, und wurden mit der fAjlagenden Antwort abgefertigt“? Es fanden fid, aber auch noch andere Zus fhauer ein, naͤmlich Sohannesjünger, die an Jeſu das Vers ſaäumen des Faftens tadeln; ift diefer Befuch während des Eſſens fchon an fich eben fo ummahrfcheinlich, als der fo eben kefprochene, fo wird er es Doppelt Durch das Zufanmentreffen mit diefem, und wir dürfen auch hier die Thätigfeit der Sage annehmen, die foldye Gruppirungen liebte, und mit einem feſt⸗ lichen Mahle einen, ebenfalls an fich gefchichtlich wahren, weiteren Vorwurf zu Tnüpfen geneigt fein konnte. Wollte man auch mit Schleiermacher die Darftellung des Lukas (5, 33), der diefen Borwurf auch noch den Pharifäern in den Mund legt, für -die richtigere halten, fo wäre damit für bie gefhichtliche Wahrheit der ganzen Scene Nichts ges wonnen; denn aledann hätten wir nur flatt eines felbititän, digen fagenhaften Zuges einen Theil des früheren, ebenfalls als fagenhaft ſich anfündigenden, von dem Hinzukommen der Pharifäer. |

Wir können bier füglich noch einer verwandten Erzählung gedenken, nad, welcher Jeſus bei dem Zöllner Zadyäug, der bei feinem Einzug in Sericho auf einen Baum gefliegen war, um ihn deutlicher fehen zu können, einkehrte. Müflen wir auch hier annehmen, daß der Mann vorher Sefu ganz unbes kannt war, fo berechtigt dieß Doch zu feinem Zweifel an der Wahrheit der Erzählung, da ja der Eifer, der den feinen Mann auf den Baum geführt hatte, in Jeſu ein günftiges

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vorurtheil gar wohl erwecken konnte; auch iſt es durchaus nicht ohne Beiſpiel, daß nur Ein Evangeliſt, hier Lukas (19, 4—10), die Geſchichte aufbewahrt hat.

Fuͤnftes Kapitel. Die zwölf Apoſtel und ſiebenzig Jünger. Matth. 10, 2—4; Mark. 3, 13—19; Luk. 6, 12— 16 und 10, 1.)

Daß Jeſus einen auserwählten engeren Kreis von Süns gen um fich hatte, die zwölf Apoftel, wird von allen Evans geliften berichtet, und diefe Zahl hat fich fchon während Jeſu Leben fo feltgeitellt, daß fogleich nad, der Himmelfahrt die Apoftel zufammentreten, um durch eine neue Wahl Cdie des Matthias) die durch Judas Tod entitandene Lücke wieder auszufüllen. Wir haben auch feinen Grund zu bezweifeln, daß Sefus felbft diefe Zahl feftgeftellt habe, vielleicht ohne daß fie gleich Anfangs in feinem Plane lag; fie ift, verglichen mit den zwölf Stämmen des Bolfes, mit welcher Jeſus fie auch wirklich Matth. 19, 28 in Verbindung bringt, zu bedelts tungsvoll, ale daß er, der „ja zu den verloren Schafen Iſraels gefandt war“, e8 nicht hätte angemeſſen finden fünnen, grade zwölf Hirten zu den zwölf Stämmen der verlornen Heerde zu fenden. Daß er fie aber in einem feierlichen Afte dazu geweiht, ift unmwahrfcheinlih; Matthäus und Johannes wiffen davon gar Nichts, fondern laſſen ohne Weiteres auf ‚einmal „die Zwölfe“ auftreten. Lukas (6, 13) und Marfus (3, 13 fagen zwar, Sefus habe nad, einer im Gebete durchs wachten Nacht die Zwölfe erwählt, allein fie bringen dieſen Akt in eine fo fonderbare Verbindung mit der Bergpredigt, bei der die Zwölfe doch eben nichts Vefonderes weder zu thun noch mehr als Andere zu erfahren hatten, daß man bie Slaubwürbigfeit ihrer Erzahlungen wohl in Zweiſel ziehen

darf.

218

Ten Zwed, für welchen Jeſus fie berief, gibt am ges naueften Mark. 3, 14 an, und zwar als einen doppelten:

1) „Damit fie um ihn feien“: nicht nur, um auf feinen Reifen ihm Beiftand zu gewähren, 3. B. Quartier zu beftellen (Luk. 9, 52), Lebensmittel zu verfchaffen (Joh. 4, 8), und andere Dienfte (Matth. 21, 1 2.) zu leiten; fondern auch, um durch den beftändigen Umgang mit ihm zu den eigentlichen Berbreitern feiner Lehre herangebildet zu werden, weßhalb fie ihn oft um befonderen Aufjcyluß bitten (Matth. 13, 10) und von Jeſu felbft freundlich und ernit zurechtgewiefen werben (Matth. 8, 26; 18, 1 u. f. wo.

2) Damit er fie ausfende, zu prebigen“: von diefer wichtigften Seite ihres Berufes erhielten fie auch den Namen - Apoftel, das heißt Abgefandte; einen Namen, der ihnen ohne Zweifel Sefus felbft gegeben hat, da er fchon während . feines Lebens fie zur Verkündigung des Meſſiasreiches aus⸗ fandte (Matth. 10, 59. Daß fie auch fchon bei Sefu Lebzeiten tauften, wie Sohannes (4, 2) berichtet, kann eben fo wenig in Zweifel ge;ogen werden, weil ja fchon der Qäufer bie Taufe als Vorbereitung auf das Meſſiasreich angeordnet hatte, und diefelbe fogleich nach Jeſu Tode als Weihe für die Auf nahme zum Chriftenthume erfcheint.

Es blieben alfo die Apoftel, mit Ausnahme der fo eben angeführten Ausfendung, ſtets um Jeſu; wenn man aber es un⸗ wahrfcheinlich finden will, daß fo viele Mänıter haben leben fonnen, ohne irgend ein Gewerbe zu treiben, fo hat man Das bei mancherlei eigenthümliche Umftände außer Acht gelaffen: bie große Gaftfreundlichfeit des Miorgenlandes , befonders ger gen Rabbinenz die Begleitung vermöglicher Weiber, die Sefum mit ihrer Habe unterftüßten (Luk. 8, 35 die von Judas vers waltete Gefellfchaftsfaffe, aus der noch Arme unterftüßt wers den konnten (ob. 12, 6); endlich die geringen Bebdürfniffe des Drientalen. Ihrem Stande nach gehörten wohl alle den niedern Volksklaſſen an, was ſich theild ans ihrer Bils dungsftufe, theild aus. Jeſu Vorliebe für die Armen und durch fogenannte Bildung noch nicht Verhärteten abnehmen läßt, wie wir ja auch von Vieren wirklich wiſſen, baß fie

215 Fifher gewefen, und einen Zöltner unter ihnen fennen gelernt haben.

In jedem der vier Namensverzeichniſſe der Apoſtel, die wir haben (Matth. 10, 2; Mark. 3, 16; Luk. 6, 14; Apo⸗ ſtelg. 1, 13; bei Johannes fehlt es), ſtehen Petrus, An⸗ dreas, Jakobus, Johannes voran; Andreas offenbar nur als Bruder des Petrus, die drei andern aber, weil ſie Jeſus durch beſonderes Vertrauen auszeichnete; daß dieß aber auch mit Andreas der Fall geweſen ſei, fünnte höchſtens aus Mar⸗ kus erwieſen werden, der alle Vier zweimal beſonders auf⸗ treten laͤßt (1, 29 und 13, 3); allein aus Vergleichung mit mit andern Evangeliften geht hervor, daß dieß eine bloße auf Mißverſtand beruhende Vorausſetzung if. Die übrigen drei . aber werben allerdings bei mehreren Anläffen, gleichjam ale engerer Ausſchuß, von Jeſu befonders zugezogen, z. B. Matth. 17, 15 Mark. 9, 2; namentlid) bei der Berflärung (Matth. 17, 1), bei dem Kampfe auf Gethjemane (Matth. 26, 36, 37) und bei der Auferwedung der Tochter des Jarrus (Mark. 3, 37), wenn nicht dieſes Keßtere ein abermaliger Irrthum des Markus ift.

Insbeſondere ausgezeichnet werden die beiden Brüder Sohannes und Jakobus in vielen Stellen; Jeſus nennt fie „Söhne ded Donners“* (Marl. 3, 18), wahrjcheinlich we⸗ gen ihrer feurigen Gemüthsart (Luk. 9, 54); ja fie fanden fo hoch, daß fie glaubten, auf die erften Stellen in Jeſu Reiche Anfpruch machen zu könneun (Mark. 10, 355 Matth. 20, 20). Auffallend aber ift ed, daß überall, wo Beide ges nannt werden, Jakobus voranfteht, in den Berzeichniffen felbft und an zwölf andern Stellen, wogegen nur zweimal Sohannes vor Safobus genannt ift, und Johannes gerne ganz einfach, ald „Bruder des Jakobus bezeichnet wird.

Den entfchiedenften Vorzug aber hat Petrus, was nur übertrieben proteftantifcher Eifer hat in Abrede ftellen können: fein Name fteht in allen Verzeichniffen voran, und Matthäus nennt ihn ganz beftimmt den „erften“. Ueberall ift er mit dem Eifer feiner fenrigen Rede den Andern voran G. B. Matth.

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16, 22; 18, 21; 26, 33) ,-wie mit entfchlofiener That (Matth. 14, 28; 26, 58; Sob. 18, 10); er üt es, der guerf die Meffianität Jeſu erkannte. Auch in ber Apoftelgefchichte und den Briefen bed Paulus wird ihm ein entſchiedener Vorrang zuerkannt.

Anders aber ſtellt ſich dieſes Verhaͤltniß der von Jeſu ausgezeichneten Apoſtel in dem Evangelium des Johannes heraus, auf welches wir in Obigem noch Feine Rüdficht nahe men. Zwar widerfährt auch hier an mehreren Stellen dem Petrus fein Recht; fein ehrender Beiname (1, 43), fein glaubensvolles Bekenntniß (6, 68) werden nicht verfchwiegen; bei dem Gange zum Grabe Jeſu (20, 3) und bei der Erſchei⸗ nung des Auferftandenen am galiläifchen See (21) ſteht er mit Sohannes wenigftens auf gleicher Stufe. Doc, ift in am dern Stellen ein Borzug des Sohannes vor ihm unverfenn- bar. Johannes muß ihm den Eintritt in den Palaft des Hohenpriefterd verfchaffen (18, 15), und nur durch Sohannes fann er beim letzten Mahle Jeſum nad) der Perfon des Vers rätherd fragen (13, 23). Am entfchiedenften aber wird in diefem Evangelium Sohannes über alle Sünger, demnach auch über Petrus, geftellt durch Die ftehende Benennung: „der Sünger, den Jeſus lieb hatte“; daß hiermit wirklich Sos hannes gemeint fei, könnte zwar noch bezweifelt werben, ba ber Evangelift niemald neben jener Bezeichnung auch den Ras men des Johannes nennt, und die übrigen Evangelien Nichte von diefem erzählen, was im vierten dem Lieblingsjünger zus geichrieben wird. Allein in den Kreife, in welchem dieſes Evangelium entitand, war außer Sohannes fein Apoſtel fo befannt, daß er durch eine nur fo allgemeine Bezeichnung, wie „der von Jeſus geliebte“, oder „der andere“ ımd „ein anderer Sünger“, was ebenfalls oft vorkommt, hätte Fenntlich gemacht werden fünnen. Will nun aber der Evangelift mit Diefen allgemeinen Ausdrüden auch feine, bed Berfaffers, Pers fon, als den Apoftel Sohannes hinftellen? So fcheint es; zwar bie Worte 21, 24: „dieß ift der Jünger, der davon Zengniß gibt, und dieß gefchrieben hat“, beweifen Nichte, da biefer Zufag bekanntlich, unächt iſt; dagegen lauten bie

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Worte: „wir fahen feine Herrlichkeit“ (1, 14), und „aus feiner Külle nahmen wir“ (1, 16), doch fo, daß fie, zufams mengehalten mit 19, 35, wo es heißt: „der dieß gefehen, bezeugte es, uud er weiß, daß er die Wahrheit rebet“, die Abficht des Berfaffers verrathen, ſich als Augenzengen, und zwar, wie der Zufammenhang lehrt (den wir nachzufehen bitten), grade ald den Sohannes, den vom Herrn Geliebten. Ob der Verfaſſer aber wirklich Johannes gewefen, oder ob er nur als ſolcher erfcheinen wollte, dieß ift damit noch nicht entfchieden. Wir wollen zwar die fchon früher befprochenen Unwahrfcheinlichfeiten in feinen Erzählungen von Jeſu Vers haͤltniß zum Täufer, von beffen Unterredung mit der, Sama⸗ titerin, u. 9. gerne auf Rechnung des im hohen Alter ges ſchwaächten Gedächtniffes feßen, gerne die -fichtbare Umge⸗ faltung der Reden Jeſu zu eigenen Herzendergießungen und aus ber Innigkeit des Gemüthes erflären, durch welche fein Weſen mit Jeſu gleichjam Eins geworden war. Allein daß biefer Sohannes, wenn er wirklich das Evangelium fchrieb, feines Jeiblichen Bruders, des Jakobus, den alle andern Eyangeliften zu den ausgezeichneten Süngern zählen, mit eis ner Sylbe befonders gedacht haben follte, können wir und Doch nicht wohl denken. Denn zu der Annahme, daß eine erſt fpäter dem Jakobus zu Theil gewordene Bedeutfamfeit den Anlaß zu der Sage von einem näheren Verhältniffe zu Jeſu, wie wir es bei den Eynoptifern finden, gegeben habe, find wir nicht berechtigt, da dieſer Jakobus ſchon frühzeitig getöd⸗ tet worden ift (Apoftelg. 12, 2). Es muß demnach diefe, - wie wir dafür halten müffen, ungefchichtliche Zurückſetzung desfelben im vierten Evangelium immerhin zu den Bedenken gezählt werden, die gegen die Heberlieferung, daß Sohannes der Berfaffer diefes Evangeliums fei, fich erheben.

Wir wenden ung nun noch zu den übrigen acht Apofteln, ohne befonderen Werth auf die Stelle zu legen, die ihnen in ben vier Namensverzeichniffen angewiefen wird, ba diefe hierin nicht übereinftimmen.

Philippus war, dem Sohannes zufolge, der ihn auch mehrmals vedend auftreten laßt, aus Bethfaida gebürtig.

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Daß fich Juden aus griechiſchen Ländern, welche Iefum zu ſehen wünſchen, an ihn wenden (Joh. 12, 20), ſcheint ihm eine ſonſt nicht bemerkbare Bedeutung beizulegen.

Bartholomäus iſt und nur aus dem Apoſtelverzeichniſe befannt: da er bei Johannes niemals genannt wird, und da gegen der Rathanael hier in einigen Verbindungen vors fommt, wo die Synoptifer den Bartholomäus nennen, fo hat man geglaubt, beide Namen bezeichnen diefelbe Perfon, jedoch ohne zureichenden Grund, wiewohl der Name Nathanael in keinem Apoftelverzeichniffe vorkommt.

Thomas erfiheint in der Auferſtehungsgeſchichte des Las zarus Soh. 11, 16 als treuer Günger ded Herrn; dann * nach deſſen Auferſtehung als der Ungläubige (20, 24), ift auch bei einer der Erfcheinungen Jeſu vor der mehr gegenwärtig (21, 2).

Bon Matthäus kennen wir nur bie oben befprochene Berufungsgeichichte.

Jakobus, Alphäus Sohn, wird in ber Apoſtelgeſchichte mehrmals mit Auszeichnung erwähnt.

Simon, der Eiferer genannt, feheint früher der, erft ſpaͤt entitandenen, jüdiſchen Sefte der Neligiondeiferer ange hört zu haben. .

Sudas Iſcharioth, der berüchtigte Verräther, wird weiter unten befprochen werden; er fteht in allen Verzeich⸗ niffen am Ende.

Die vorlegte Stelle nimmt bei Lukas ein Jubas, Jako⸗ bus Sohn, ein; bei Markus ein Thaddäus; bei Matthäus ein Lebbäus; eine Berfchiedenheit, die fich, wenn man auch bie beiden letzten Namen als Bezeichnnng derfelben Perfon nehmen will, nicht ausgleichen, und nur aus der wahrfjcheins lich erft fpätern Entitehung der Verzeichniſſe erklären läßt.

Der einzige Lukas erzählt und 10, 1, daß Jeſus außer diefen Apofteln auch noch einen weitern Kreis von fiebenzig Süngern um fich gehabt habe, die ihm beftändig nachfolg« ten. Allein diefe Nachricht hat Vieles gegen fih. Nicht nur werben dieſe fiebenzig fonft nirgends erwähnt, ſondern es

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laſſen fich auch leicht Grunde finden, welche bie Sage ver anlaffen konnten, Line ſolche Zugabe zur Gefchichte zu liefern: fiebenzig war eine heilige Zahl; fiebenzig Aeltefte wählte Moe fe8 (4 Moſ. 11, 16, 25), fiebenzig Mitglieder hatte das Sys nedrium, fiebenzig griechifche Dolmeticher das alte Teftament. Bebeutender noch iſt ed, daß nach jüdifcher Anficht es ſieben⸗ sig verfchiedene Völfer und eben fo viele Sprachen auf Erben gab. Wußte man nun einmal, daß Sefus nach ber Zahl der jüdifchen Stämme ſich zwölf Apoftel auserlefen hatte, wie leicht Eonnte man dadurch zu dem Schluffe gelangen, er werde auch für jedes der, wenn auch in einiger Ferne, auf ihn harrenden, übrigen Völker der Erbe einen Boten aufgeftellt, daraus einen ihm etwas ferner ftehenden Kreis gebildet, und ſomit die Berufung aller Völker fchon bei feinen Lebzeiten finnbüblich angedeutet haben?

Mag nun auch Jeſus allerdings außer den Apoiteln noch _ andere Männer zu beftänbigen Begleitesn gehabt haben, wie auch Apoftelg. 1, 21 zu beweifen fcheint, fo müflen wir doch annehmen, er werbe wohl Wichtigeres zu thun gehabt haben, „als alle möglichen bedeutfamen Zahlen zufammen zu fuchen, und ſich nach Maßgabe berfelben mit verjchiedenen Süngers freifen zu umgeben *.

Vierter Abfchnitt. | Die Reden Zefu, und die widtigften natür: lichen Begebenheiten aus feinem Leben,

s Wos auf Leiden, Tob und Wiederfunft ſich beziehf, bleibt auch bier aufgefrart. *

Erfies Kapitel.

Die Bergpredigt und die Nede bei Ausfendung der Zwölfe.

(Matth. 5—7; Luk. 6, 20—49.) 2

Indem wir zumächft zu den Reden Jeſu übergehen, feheis ben wir nur folche für diefe abgefonberte Betrachtung aus, weiche, ohne mit Begebenheiten in einem Zufammenhange zu ftehen, für fich felbftftändige Ganze ausmachen. Fer ner müffen hierbei die von den Synoptifern mitgetheilten ges ſchieden werden von denen bei Johannes, da zwifchen Beiden auch in dieſer Beziehung eine große DVerfchiedenheit obwaltet. Unter ſich charafterifiren fi) Die Synoptifer wieder fo, daß Markus fehr wenige Reden liefert, Lukas bedeutend mehr, aber zerftreut und vereinzelt, und Matthäus gewöhnlich in größeren Maffen; weßhalb wir am fchidlichften dieſen mit feinen größeren Neben zu Grunde legen, und überall die beis Den Andern da zuziehen, wo fie etwas Verwandtes und Ents fprechendes darbieten.

19 Da in allen Kapiteln dieſes WUbfchnitted mehrere, ganz vers fchiedbene Parthien der evangelifchen Berichte befprochen werben müffen, fo fchien es zwedmäßig, am Anfange eines Kapitels nme die Stellen anzugeben, welche fich auf den erften Gegen ftand desſelben beziehen, die übrigen aber erft dann in befonberer Ueberfchrift, wenn ihr Juhalt zur Sprache kommt.

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Wir beginnen mit ber erſten größeren Rebe bei Matthäus, der fogenammten Bergpredigt (5, 1 ıc.), welcher eine Rede Jeſu bei Lukas in vielen Punkten auffallend ähnlich ift (Luk. 6, 20 2c.). Beide haben denfelben Anfang und Schluß, eine fer verwandte Anordnung der Gedanfen, unb bei beiden Evangeliften begibt ſich nach der Rede Jeſus nach Kapers naum, wo er den Knecht des Hauptmauns heilt (Matth. 8, 5 x.; Luk. 7, 1 ꝛc.). Es iſt alſo unverkennbar, daß Beide ung die ſelbe Rede geben; denn wenn namentlich ältere Aus⸗ leger dieß mit der Behauptung läugnen, Jeſus habe gar wohl wichtige Lehren mehrmals vortragen können, fo ift dieß mar von einzelnen furzen Sätzen gar wohl benfbar; eine Nede aber in fo gleicher Stellung der Säge und ganz mit demfelben Anfange und Schluſſe zu wiederholen, die ß fünnte doch nur einem befchränften Kopfe, einem Lehrer, dem es an mannigfachen und neuen Wendungen gebricht, begegnen. Man hat aber auch zu Diefer Annahme nur darım feine Zuflucht genommen, weil beide Evangeliften auch wieder in mehreren Punkten von einander abweichen.

Zunächft nämlich könnte es fo fcheinen, ale ob, dem Lukas folge, Jeſus feiner Nede eine befondere Beziehung zu den fo eben erwählten Jüngern gebe, da er hier beim Beginne derfelben feine Augen „anf fene Jünger“ richtet (6, 20), während Matthäus Jeſum beitimmt zu den „Volksmaſſen“ (5, 1) reden laßt; allein da doch auch Lukas fagt, Jeſus habe „zu den Ohren des Bolfes“ geredet (7, 1), fo darf auf diefe Kleine Berfchiedenheit fein Gewicht gelegt werden. Auch ber Widerfpruch, daß Lukas Mehrere von Jeſus vor der Nede erzählt, was Matthäus nach derfelben gefchehen läßt, mag als weniger bedeutend überfehen werden.

Daß aber nach Matthäus Jeſus „auf den Berg ging“, und „fisend“ fpradı (5, 1), während er bei Lukas „herabs ftieg und auf einem ebenen Orte ftand“ (6, 17), läßt fich nicht fo Teicht mit einander vereinigen. Könnte man auch fagen, Jeſus fei, laut Matthäng, erft auf eine Anhöhe ges fliegen, dann aber, um einen bequemeren Plab zu finden, wieder etwas herabgegangen, näher zum Volke: fo hätte doch wenigitens Jeder Etwas ausgelaflen, Lukas das vorausgedov⸗

gene Auf⸗, Matthäus bas nachfolgende Niederſteigen. Aber wein! Jeder nimme eine wirflih andere Stellung Jeſu an; Denn des Matthäus „Sigen“ paßt nur zu feinem „Berg“, unb des Lufas „Stehen“ nur zu feiner „Ebene“: was alſo der Eine fagt, paßt nicht zu der Angabe des Andern. _

Am wichtigiten ift die Differenz, daß die Rede bei Lukas nur den vierten Theil fo groß ift, als bei Matthäus,. und dennoch Manches enthält, was hier fehlt. Dieß fünnte man fi) auf zweifache Weiſe erlären.

1) „Lukas giebt nur einen Auszug“ fo bie meiiten Drthoboren, weil fie annehmen, Matthäus gebe ein gefchlofs fenes, fchön georbneteds Ganze. Allein eben bieß ift fo um wahrfcheinlich, da fi fchon von 6, 19 an mehr oder minder vereinzelte Sentenzen finden, von denen manche ficherlich nicht bei dDiefer Gelegenheit von Jeſu gefprochen morden find. Daher hat man ſich neuerdings (Sieffert, Fritfche ꝛc.) der wahrfcheinlicheren umgefehrten Anficht zugemwendet.

2) „Lukas hat die urfprüngliche, einfache Rede, und Mats thaͤus fie mit Zufägen erweitert“, dieß wird dadurch gewiß, daß allerdings in der Rede bei Matthäus Stellen enthalten find, welche bei Lukas und Markus an verfchiedenen Drten zers fireut vorfommen. Hiemit ift nun aber zugleich auch anerfannt, bad Matthäus im Srrthume- befangen ift und falfch bes richtet; denn daß er Ein Ganges hat geben wollen, und nicht mit Abficht Manches, das nicht grade jeßt gefprochen worden, noch gelegentlich beigefügt, geht Daraus hervor, daß er ja vor der ganzen Rede Jeſus auf den Berg und nach ber ganzen von bemfelben herabfteigen läßt; daß er ans giebt, welchen Eindrud jekt das Ganze auf das Boll machte. Indeß auch bei Lukas finden fich unverfennbar Lücken, Zufäge und Unrichtigfeiten in der Stellung des @inzelten, fo baß er in diefer Beziehung vor Matthäus Nichts voraus hat, wie aus näherer Betrachtung des Einzelnen deutlicher wers den wird.

Die Rede beginnt mit dem bekannten „Seligpreijen“ ber

und der Menfchen; bei Lukas aber find der aufgezählten Fälle nicht nur weniger, fondern es find aud) einige anders gefärbt,

\

223:

als bei Matthäus; während bei biefem die „Armen am Geifte* 5, 3), die „nach der Gerechtigkeit Hungernden“ (®. 6) felig gepriefen werben, nennt Lukas nur allgemein die „jest Armen“ (6, 20) und die „jest Hungernden“. Bei Matthäus alfo find es die jet unbefriedigten, leidenden Frommen; bei eukas alle gegenwärtig Dürftigen überhaupt, die einft felig werben follen. In lettterer Faärbung Des Ausdrucks tritt bie Anficht der Ebioniten hervor, nach welcher, ohne Rückſicht anf den innern Werth ded Menfchen, Jeder, der fich in diefer Zeit fein Theil nimmt, in der künftigen leer ausgeht; der Darbende aber ſchon als foldyer Anfprüche auf ewige Seligfeit hat.

Lukas hat fodann nach den „Selig, felig“ eben fo viele „Wehe, wehe“, die bei Markus ganz fehlen: fie bilden bie Gegenfäte zu jenen, und fprechen als folche, indem den „Reis hen, Gefättigten ꝛc.“ (®. 24, 25) ohne Weiteres ewiges . Wehe zuerfannt wird, die oben berührte Ebionitifche Anficht noch fchärfer aus. Diefe Weherufe bei Lukas find unverfenns bar aus jüdiſchen Vorftellungen gefloffene, Jeſu fremde, Zus füte. Denn aud) Moſes gefellte überall dem Segen auch den Fluch bei, worauf die NRabbinen, die noch weiterhin den zwans ig Eeligfeiten in den Pfalmen eben fo viele Wehe aus Ies ſaias entgegenftellen, befonderen Werth legen. Es fchien alfo der überall Parallele zwiſchen Mofes und dem Meſſias fuchen- den chriftlichen Sage fich von felbit zu verftehen, daß auch Jeſus feinem „Selig“ das „Wehe“ entgegenftellte.

An die Geligpreifungen fchließt ſich bei Matthäus ganz angemefjen der Ausſpruch, die Jünger feien „das Salz der Erde“ (V. 13) und „Das Licht der Welt“ (14). Beides fehlt bei Lukas, der diefelben Gedanken an andern Stellen einfügt, und zwar „das Salz ıc.“ 14, 34 ebenfalls ganz paſſend, weß⸗ halb wir annehmen dürfen, es ſei eine fo bezeichnende, eigen« genthümliche Sentenz von Jeſu mehrmals ausgefprochen wors den. Markus freilidy gibt fie in ganz ungehöriger Verbin⸗ dung 9, 50, wo fo eben das Feuer der Hölle, alfo etwas ganz Anderes, mit dem Salze verglichen wurde, weßhalb wir annehmen müſſen, daß diefer nur durch die Webereinftimmung in dem gebrauchten Außern Worte, nicht durch die Verbin

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dung der Gedanken geleitet worden. Das Bilb vom „Lichte der Welt“ aber bringt Lukas zweimal an ganz uns fchicflicher Stelle vor. Einmal 8, 16, nad) der Parabel vor bem Shemann, mit welcyer ed zwar einigen Zufammenhang zu haben fcheinen könnte; jedoch wird jeder befonnene Red⸗ ner nad, einem durchgeführten Gleicyniffe nicht fogleich. wies ber, ohne dem Zuhörer einen Ruhepunkt zu gönnen, en neues Bild anfügen. Uebrigens folgten hier unmittelbar noch zwei andere Sentenzen (17, 18), die vollends gar feinen inneren Zufammenhang mit den früheren und unter ſich haben: fo daß wir auch hier wieder ben Lukas in feiner Manier antrefs fen, die Lücke zwifchen zwei Erzählungen durch Fleine Sentew zen Jeſu, die ihm bekannt waren, auszufüllen, weil er an fie durch irgend eine entfernte Beziehung erinnert wurde. Auf⸗ fallender iſt dieß noch an der zweiten Stelle, 11, 33, wo uw fer Bild angeführt wird.

Mit Vers 17 geht Jeſus zu dem Hauptthema der Rebe über, durch den Ausſpruch, daß er nicht zur Auflöfung, ſon⸗ dern zur Erfüllung des Geſetzes gefommen ſei; Worte, welche Lukas (16, 17) abermals an ganz ungehöriger Stelle zwifchen zwei größeren Parabeln hat; fie hier gerade eim zufügen, fonnte er fidy nur durch das im vorhergehenden Berfe, der aber gerade das Gegentheil fagt, ebenfalls vorfonmende Wort „Geſetz“ veranlaßt finden, |

Jeſus fahrt fodann V. 20 fort, daB er noch ftrengere Achtung vor dem Gefeg, ald die Schriftlehrer und Pharifüer, verlange, und zeigt in einer Reihe von Beifpielen, daß er, ftatt der blos buchftäblichen todten Werkdienerei, eine Reinheit des Gemüthes und ein Handeln im Geiſte und Sinne der Gebote des Gefeßed verlange. Diefer vortreffliche Abfchnitt, 20—48, zeigt eine fehr gefchloffene und wohl geordnete Eins heit, während die entiprechende Stelle bei Lukas, 27—36, auffallend Tücenhaft und ohne verbindende Grundgedanfen daftehet; einige Ausfprüche Jeſu, die Matthäus bier offenbar an richtiger Stelle gibt, finden fich bei Lukas an andere Drte hin verfchlagen, wie 3. DB. Das ſtrenge Verbot der Ehes

ſcheidung (Matth. 5, 32), welches Lufad wiederum in eine

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Spalte zwifchen zwei größere Erzählungen gefchoben hat (16, 18). Zu Anfang des Kap. 6 warnt Sefus vor pharifäifcher Henchelei; aledann fommt das befannte „Vater unfer“, welches enlas nicht hier in der Bergpredigt, fondern an einer ganz andern Stelle hat. Er erzählt nämlich 11, 1, daß, als eben Jeſus gebetet hatte, feine Tünger ihn um eine Anweifung zu beten verfuchen, worauf er fogleich ihre Bitten erfüllt. Lukas mußte alfo erftlich gar nichts davon willen, daß Sefus ſchon früher feinen Süngern ein Wiuftergebet gegeben hatte, fonft wäre ihre Bitte ja thöricht geweſen; aber er gibt zweitend mich ficherlich Zeit und Veranlaſſung irrig an. Denn ift es glaublich, daß die Sünger erſt bei der letzten Reife Jeſu um ein folches Mufter gebeten, daß Jeſus überhaupt auf eine olche Bitte gewartet haben fol, und nicht fehon oft in ihrem Rreife gebetet habe? worauf er fie ja nad) ihrer Frage bins veifen mußte. Lufas fcheint die Darftellung nad) bloßer Vers nuthung gemacht, und da er eine Gelegenheit, bei der Jeſus zas Gebet mittheilte, nicht Fannte, eine folche erfunden zu yaben; wiewohl es nicht außer Zweifel liegt, ob nicht auch Matthäus in einem unrichtigen Zufammenhange das Vater mier gibt. Das aber, daß dasjelbe von Jeſu herrühre, dür⸗ ea wir nicht bezweifeln; wenn Gelehrte behaupten, ed „ſei janz aus Gebetformeln der Hebräer zufammengefeßt“, fo mag xeß fein, immerhin „ift ihre Auswahl und Zufammenftellung ner durchaus eigenthümlich und ein genauer Abdruck desjenigen eigiöfen Bewußtfeing, welches Jeſus hatte und den Seinigen nittheilen wollte *.

B.14 und 15 find am Schluffe ganz ungehörig; 16— 18 ber fchließen fich ganz gut an den Gedanken an G. 8), der zeſum zur Mittheilung des Gebetes veranlaßt hatte.

Dagegen beginnt mit V. 19 nun ein Abfchnitt, von dem ie neueren Ausleger mit Recht behaupten, daß er eine Zus mmenftellung verfchiedenzeitiger Ausſprüche Sefu fei, die er Evangelift hier nur einer gewiffen Vollftändigfeit zu Liebe gehängt habe. Der Spruch; von irbifchen und himmlifchen ichätzen (19 21) fteht bei Luk. 12, 33 wahrfcheinlic an richtigeren Stelle. Dann folgen ohne inneren Zufammens mg: die Sentenz vom Auge, ale bes Leibes Lichte (22 und

1. 15

226

23), von den zwei Herren (24), Abmahnung vom irdiichen Sorgen durch Hinweifen auf das fröhliche Gedeihen der Natur (25 - 34). Diefe letztere fcheint Lukas 12, 22 richtiger an eine Parabel anzufchließen. Die nun folgende Warnung vor dem Splitterrichter (7, 1—5) paßt zu der, wenn wir 6, 19 34 als Einfchiebfel betrachten, vorausgegangenen Schil⸗ derung der Scheinheiligfeit der Pharifüer gang gut; auch findet fie fich bei Lukas in der Bergpredigt, 37, 41, aber in ſchlech⸗ ter Ordnung. V. 6 fodanıı ift Dagegen ohne Zuſammen⸗ hang, und das über den Nußen des Gebetes 7, 11 Sefagte fteht ebenfalls an befferer Stelle Luk. 11, 9. Und fo finden wir bis zu Ende der Rede nur abgebrochene Säge und Ge danken, die theild an fich, theild Durch Vergleichungen vers rathen, daß Jeſus fie hier nicht gefprochen haben fan. Der Schluß ift bei beiden Evangeliften gleich (Matth. 7, 26; Luk. 6, 49).

Wir fehen alfo, „daß die fürnigen Reden Sefu durch bie Fluth der mündlichen Ueberlieferung zwar nicht aufgelöst wers den fonnten, wohl aber nicht jelten aus ihrem natürlichen -Zus fammenhange Iosgeriffen, von ihrem urfprünglichen Lager weg⸗ geſchwemmt, und ald Gerölle an Orten abgefeßt worden find, wohin fie eigentlich nicht gehörten*. Hier hat nun Matthäus das Verwandte finnig zufammengereiht, während Lukas mehr zufällige, öfters in Fünftlichen Zufammenhang gebrachte, Aus einanderfügungen gibt.

Eine andere größere Rebe theilt Matthäus mit bei Aus⸗ fendung der Zwölfe zu Berfündigung des Meſſiasreiches (Kap. 10)5 Markus und Lufas geben von biefer Rede bei diefer Gelegenheit gar Nichts, ald einige wenige Vorfchriften, wie bie Jünger reifen follen 2c.; dagegen gibt Lufas den größ⸗ ten Theil der in ihr enthaltenen Gedanken theild bei einer viel fpätern Gelegenheit (12, 1 2c.), theild bei Ausfendung der Siebenzig (10, 2 x.). Läßt ſich nun zunächft nicht vers

227

fennen, baß auch hier wieder Matthäus Gleichartiges aus verfchiedenen Zeiten zufammengeftellt babe, fo muß man alsdann audy das noch zugeftehen, daß Matthäus dennoch die Abficht hatte, alles Zufammengeftellte ald damalige Worte Jeſu feinen .Lefern zu geben, wie aus dem beftimmten Anfange (V. 5): „er gebot ihnen“ und aus dem noch bes ſtimmteren Schluffe (11, 1): „als Jeſus feine Gebote ıc. ges endet hatte“ deutlich genug hervorgeht. Daß aber Sefus Manches, was ihm hier Matthäus in den Mund legt, damals noch nicht geiprochen haben Fann, wird eine furze Betrachtung zeigen. Eigenthümlich ift der Rede des Matthäus der Aufs trag Jeſu an feine Tünger, auch Todte zu erwecken; daß bieß zu Jeſu Lebzeiten wirklich gefchehen fei, wird nirgende gejagt, und tt fehr unmahrfcheinlich; Daher die Sage ohne Zweifel es war, die ſchon hier die Sünger zu dem, was fie fpäterhin wirklich gethan haben follen, von Jeſu ermächtigt werden ließ. Daß nun aber Die Darftellung des Lukas grade die richtige fer, wird mit den Ausftellungen an Matthäus noch mdyt behauptet. Zwar iſt ein großer Theil der Vorfchriften, weiche Sefus bei Lukas den Siebenzigen gibt, eben fo wohl geordnet und augführlich, als die entfprechenden, bei Matthäus den Zwölfen gegebenen; allein wenn eben dieſer Lukas nun den Zmölfen fo gar kümmerliche Aufträge geben läßt, wie wir, oben fahen; den Giebenzigen dagegen, die doch Jeſu ferner itanden, weit ausführlichere und zu Vielem ermächtigende, fo ijt dieß Doch fehr wenig glaubhaft; vielmehr mag hier Matthäus Recht haben, der das, was Lukas den Siebenzigen gejagt werden läßt, zu Jeſu Weifungen an die Zwölfe madıt. Anders aber verhält es ſich mit Dem Theile der Rede bei Matthäus, den Lukas erft auf der lebten Reiſe von Jeſu gegen die Sünger ausgefprochen werden läßt. Denn Anwei⸗ lungen an fie, wie fie vor Gericht fich zu benehmen haben 8. 19, Ermahnungen, ſich vor denen nicht zu fürchten, die nur den Leib tödten fünnen (23), Jeſum nicht zu verläugnen 32), fondern fein Kreuz auf ſich zu nehmen (38), und Aehn⸗ liches dieß paßt doch zu einer erften Ausfendung nicht, die nur erfreulichen Erfolg hatte (Ruf. 9, 10). Vielmehr feßs ten jene Worte fchon die getrübteren Verhältniſſe Seit woraus,

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wie. fie höchſtens erſt bei der lebten Reife nach Terufalem, wohin Lukas die Ausfprüche verlegt, fich herausſtellen moch⸗ ten; allein ed wäre felbft das fehr möglich, daß erft nad Seft Tode, als die Apoftel wirklich fo vieles Ungemach ers dulden mußten, ſich dergleichen Schilderungen desſelben, als Prophezeihungen nach dem Erfolge, allmälig geftalteten, die ſchon von Jeſu den Seinen mitgetheilt fein ſollten; wenigftend fieht das Auffichnehmen des „Kreuzes“ ganz darnach ans.

Eine folgende größere Rede Sefu bei Matthäus (Kap. 17) ift ihrem größeren, auf Johannes fich beziehenden, Theile nach ſchon früher betrachtet worden. Sie fchließt von B. 20 an mit einer Verwünfchung der Städte, die Jeſum unglänbig von ſich geftoßen. Dieſe Berwünfchung hängt mit dem Bors bergehenden ganz wohl zufammen; bei Lukas aber, der fie 10, 13 der Ermahnung an Die abgefendeten Siebenzig (ſ. S. 227) einwebt, fo wenig gut, daß hier offenbar der Erzähler nr durch die äußere Aehnlichfeit des Borausgegangen veranlaßt wurde, die Worte hier einzufchieben. Das hierauf fols gende Frohlocen über die „den Unmündigen“ zu Theil gewors dene Einficht, fteht bei Matth. 25 ꝛc. ganz ifolirt, während es bei Lukas B. 21 durch die mit guten Nachrichten zurüds fehrenden Siebenzig (V. 17) ganz wohl motivirt erfcheint. Da aber freilich fchon die Auswahl diefer Siebenzig fo un gewiß iſt (ſ. ©. 218), fo könnte man am ſchicklichſten jene Worte an die Rückkehr der Zwölfe anfchließen.

weites Kapitel Die Parabeln Zefn. (Matth. 13, 1— 52; Marf. 4, 1— 34; Luk. 8, 5— 15; 13, 18 21.)

Wir betraditen nun die befannten Parabeln Jeſu; Mate - thaus gibt und die erften im Kap. 13, und zwar fogleich fieben auf einmal, Es handeln zwar alle vom „Himmelreiche“,

229

bringen aber von dieſem fo wefentlich verfchiebene Seiten zur Anfhauung, daß Jeſus das Lob der Lehrweisheit nicht vers dienen würbe, wenn er alle, fo ohne Ruhepunft, in Einem Zuge vorgetragen hätte, wie Matthäus es darſtellt. Denn baß er diefe Anficht geben und nicht bloß Gleichartiges von ſich aus zufammenordnen will, geht aus den Anfangss und Schlußformeln, V. 3 und 53, deutlich hervor. Die Unrich⸗ tigfeit dieſer Daritellung ergibt ſich aber noch mehr aus näher ser Betrachtung derfelben. Nachdem Jeſus die erfte Parabel dem Volke vorgetragen, gibt er den Süngern, auf ihr Anſuchen, privatim eine ausführliche Erklärung derfelben

- (10— 22); wie er das begierig harrende Volt fo lange müßig

laſſen konnte, ift unbegreiflich. Sodann folgen noch drei Pas rabeln, 24— 33, worauf Iefus mit feinen Süngern in dag Haus geht, 36, und ihnen auch die zweite Parabel auslegt, und endlich noch drei neue hinzufügt, 44 52. Diefes Letz⸗ tere ift aus doppeltem Grunde undenkbar: denn nach B. 11 redete Jeſus ja nur zu dem Bolfe, nicht zu den Jüngern in

Gleichniſſen; und wie mochte er hier für dieſelben fogleich

drei neue noch dreingeben, ftatt fich zu überzeugen, ob fie

"die alten auch recht verfianden, woran er wohl zweifeln mußte?

Alen man fieht leicht, wie die Berwirrung entftanden ift. Matthäus wollte hier Die vielen Parabeln in Einem uffe geben, und überbieß die Erklärung der zwei wichtigften; da er Die der zweiten nicht much, wie die der erften, unmittelbar nach deren Bortrage den Jüngern vor allem Bolfe wollte geben laſſen, jo hieß er nach der vierten Jeſum nach Haufe gehen; num war aber der Zufammenhang zerriffen, und die noch rückſtäändigen Parabeln, Die er noch zu erzählen fich vor; geſetzt hatte, traten nun iſolirt an’d Ende. Matthäus mag abweichende Leberlieferungen vor ſich gehabt haben, aus denen er ſich zurecht fand, fo gut ed gehen wollte, ohne daran zu meifeln, daß Sefus alles dieß bei einer und derfelben Ges legenheit gefprochen habe, worin wir aber, wie oben bemerkt, ihm nicht beiftimmen fünnen, aus Achtung vor Jeſu Weisheit.

Markus Laßt gleichfalls (4, 1 x.) Jeſum am See dem Volke Parabeln vortragen, allein Doc, nur drei, von welcher . die erfte CB. 3) und dritte (B. 31) der erften und Deitten Ki

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Matthäus entſprechen CB. 3 und 31); die mittlere aber, vom Säen und Ernten (®. 26), iR dem Markus ganz -eigenthüm- lich. Lukas hat ebenfalls nur drei diefer Parabeln, fo baß dem Matthäus die vom vergrabenen Schatze (V. 44), von der Perle (B. 45), dem Netze (B. 47), und die vom Un⸗ traute im Ader (V. 24), eigenthümlich bleiben. Lukas aber gibt die gemeinfchaftlichen an andern Stellen, ald Matthäus; die vom Säemann bringt er früher an, 8, 45 bie vom Senfforn und Sauerteige fpäter, 13, 18 ıc., unb zwar diefe leßteren offenbar ganz zur Unzeit, da mit V. 17 bie Scene in der Synagoge, an die er fie anreiht, auf bas Ent fchiedenfte abgefchloffen ift.

2

(Matth. 18, 23—35; 20, 1—16; 21, 28- 323; Luk.7, 41—43; 10, 30—37; 11, 5—9; 12, 16—21; 15, 4—32; 16, 1—9 und 19—31; 18, 2—7 und 9—14.)

Weiterhin findet fidy noch bei Matthäus allein das Gleichge⸗ wicht von dem hartherzigen Knechte, welches 18, 23 ſich fehr paſſend an die Ermahnung zur Verföhnlichfeit (V. 15 x.) an fchließt; eben fo paflend fteht das vom Weinberge-20, 1; dagegen hängt die ihm angefügte Sentenz: „Biele find berus fen 2c.“, weit weniger damit zufammen, ald mit der Parabel vom föniglihen Gaftmahle, wo fie Matthäus auch wirffich wiederholt, 22, 14. Endlich ift noch die Parabel von den zwei in den Weinberg gefandten Söhnen dem Matthäus (21, 28) eigenthümlidy.

Dem Lufas allein eigen find die von den zwei Schuld» nern (7, 41), vom barmherzigen Samariter (10, 30), von dem im Sammeln irdifcher Schäße fterbenden Manne (12, 16); zwei, welde in etwas auffallenden Bildern Die Wirkſamkeit des Gebetes verfinnlichen (11, 5 und 18, 2), und ferner die fchöne vom Pharifäer und dem Zöllner (18, 9), die eben fo entfchieden gegen die Pharifäer gerichtet ift, als die drei vom verlornen Schafe (15, 3), Groſchen B. 8) und Sohne (B. 11), welche drei gar wohl hintereinans ber gefprochen fein fünnen, Da ihr Inhalt ein fehr verwandter

.

231

iſt. Dieß iſt aber nicht der Fall mit der nun folgenden vom ungerechten Daushalter (16, 1), die von jeher den Aus⸗ legern fo viel zu fchaffen gemacht hat. Allein fie gibt doch bei näherer Betrachtung einen ganz einfachen Sinn, nämlich den: „der Menfch, der Gott gegenüber doch immer „„ein ummüßer Knecht“ ift, ann biefe ihm anklebende mangelhafte Verwaltung der ihm anvertrauten Geiltesgaben am Beſten durch NRachficht gegen feine Mitmenfchen wieder gut machen“ ; daß in der Parabel diefe Nachſicht in Form cined Betruges ericheint, davon muß man abfehen, da die Parabel gar häufig mr den Einen Grundgedanken, bier den der Nachſicht, verfolgend, die daran fich knüpfenden Nebenvorftellungen außer Acht läßt 2%. Dieſe unfere Erflärung ift aber freilich nur dann zuläffig, wenn wir Die Parabel als mit B. 9 abgeichloffen betrachten. Denn was von V. 10 an noch von der Treue im Kleinen, und von den zwei Herren, denen man nicht zugleich dienen fünne, folgt, das freilidy will zum Borausgegange- nen gar nicht paffen, verwirrt vielmehr den bis dahin ganz _ flaren Sinn fo fehr, daß Ausleger, die wie Schleiermacher md Dishaufen dasfelbe noch mit hinzunehmen, zu den felts famften Erflärungen fich flüchten müflen. Allein it es denn bei Lukas etwas fo Unerhörteg, daß er, durch gewifle Worte an andere Ausfprüche Jeſu erinnert, diefe anfügt, wenn fie auch in feinem inneren Zufammenhange mit dem fo chen

Dargeftellten ftchen? Wir fehen auch hier, welche Worte ihn dazu verleiteten: B. 9 war von dem „ungerechten Mans mon“ die Nede, da fiel ihm ein, daß Jeſus auch noch Ande⸗ res über den Mammon gefagt hatte, und er feßte Daher diefes V. 10— 13 auch noch hinzu, weil er Feine ſchicklichere Stelle dafür wußte. Zum Theil wenigſtens flimmen mit bier

22, Es mag hier die Bemerkung eine Stelle finden, daß in den Ge⸗ Dichten des alten Homer die fo zahlreichen Bilder ganz denfel- ben Charakter haben ; viele derſelben müßten und ganz anftößig erfheinen, wenn wir nicht wüßten, daß der Dichter nur ben eigentlichen Bergleichungepuntt im Auge hat, unbefümmert um andere Gigenthümlichkeiten bes zum Bilde benüsten Ges genftandes.

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fer Anfiht u Schnedenburger und De Wette über- ein. Man follte überhaupt noch mehr, als ed bereits gefchehen ift, anerkennen, daß die Evangeliften in Abfaffung ihrer Bes. richte mehr von dem Beitreben ausgingen, das, was ihnen die mündliche, den inneren Zufammenhang bed von Jeſu Gefprochenen vielfältig auflöfende Ueberlieferung an die Hand gab, möglichft getren wiederzugeben; der Verſuch, Diefen zerriffenen Zufammenhang wieder herzuftelen, lag ber fchlichten, von Ehrfurcht für Das Leberlieferte befeelten Mäns nern weniger nahe. Wo aljo „der Gleichklang gewiſſer Schlag⸗ worte * dazu einlud, da gaben fie, was fie hatten, einzig. darauf bedacht, daß Nichts verloren gehe.

Es bedarf nad) dem Gefagten Feiner befonderen Nachwei⸗ fung mehr, daß unfere Parabel vom ungerechten Hausvater mit der unmittelbar vorhergehenden vom verlornen Sohne (15, 11) in feinem Zufammenhange fteht, und Lukas hier in das dem Metthäus ſchon nachgewiefene Verfehen, mehrere nicht zu gleicher Zeit von Jeſu vorgetragene Parabeln doch in unmittelbarem Zufammenhange zu geben, verfallen ift.

enden wir nun wieder den Blick norwärts, fo bringt Lufas nach den fo eben, und andern früher befprochenen Eins ſchiebſeln, Die abermals nur eine Spalte zwifchen größeren Erzählungen ausfüllen, die befannte Parabel von Lazarus und dem reihen Wanne (16, 19. Dffenbar fol Lazarus als der Belohnte, der reiche Mann ald der Beſtrafte darges ftellt werden, das Ganze alſo im Gleichniſſe Die göttliche Strafgerechtigkeit veranſchaulichen; gerade aber in diefer aus genfcheinlichen Tendenz liegt für unfere Begriffe die größte Schwierigfeit. Denn weder beffer in diefem Leben, ale der reiche Mann, erfcheint Lazarus, noch fchlechter, als Lazarus, der Reiche; der Berdienft des Erften liegt einzig in feiner Armuth, das Verbrechen des Andern in feinem Reichthume. . Anzunehmen aus V. 19, daß der Neiche auch ausfchweifend geweien, oder aus 20—21, daß er Lazarus Fieblos behandelt habe, dazu bieten und die Worte felbit gar feinen Grund bar, die offenbar nur beabfichtigen, uns den großen Unterſchied

233

zwiſchen ber glänzenden Lage des Neichen, und dem Jammer des Lazarıs recht anfchaulich zu machen; von befonderen Bers dienften. des Lazarus ift überdieß in diefer Befchreibung ihres beiberfeitigen irbijchen Lebens gar feine Rebe. Auch weiß ja Abraham (V. 25) dem in der Hölle ſchmachtenden Reichen RNichts weiter zu fagen, ale er habe fein Gutes ſchon empfan⸗ gen. Wir müffen alfo anerfennen, daß fich auch hier die Ebionitifche Vorftellung von den Anfprüchen des in Diefem Leben Unglücklichen an Seligfeit im ewigen ausfpricıt, Die wir oben (ſ. ©. 223) in Behandlung der Stellen Luk. 6, 20 x. uachwiefen. Da, wie dort gezeigt worden, Lukas in dieſen Stellen eine getrübte, Matthäus aber (5, 3) die Achte Ueber⸗ keferung ber Ausfprüche Sefu gibt, fo können wir auch bei diefer Parabel nicht anftehen, zu behaupten, daß des Lulas Darftellung durch Ideen getrübt ift, Die Jeſu frend waren, und vielleicht auf Rechnung. effenifcher Anfichten zu feßen find. Achnliches finden wir z. B. Matth. 19, 16 20.5 Mark. 10, 17 20.5 Luk. 18, 18 ıc.

Die Parabeln von den rebellifchen Weingärtnern (Matth. 21, 3—4; Mar. 12, 1—12; uf. 20, 9I—16) bedarf feiner befonderen Behandlung, da ihr Sinn einfach und klar ft. Mir haben nur noch zwei bisher nicht befprochene näher zu betrachten.

(Matth. 22, 2—14; 25, 14— 30; Luk. 14, 16 245 19, 12 26.)

Zunächſt die Parabel von den anvertrauten Talenten (Matth. 25, 14), oder wie Luk. 19, 12 fagt, Minen. Daß beide Evangeliften, troß einiger Abweichungen, doc, im We⸗ fentlichen die ſelbe Parabel erzählen, muß nach genauer Bers gleichung Jedem einleuchtend fein. Nur Eine wichtige Vers fchiedenheit tritt hervor, daß naͤmlich Lukas ein Berhältniß dee abweiſenden Herrn zu rebellifihen Bürgern einmifcht, von dem Matthäus gar Nichts weiß; daher macht er auch den einfachen „Menfchen“ bei Matthäus zu einem „vornehmen (d. h. regierenden) Herrn“. Kaum aber läßt ſich eine Diiies

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renz leichter auflöfen, als diefe; während nämlich, Matthäng eine. ganz einfache, in fich volllommen abgerundete Parabel

giebt, hat offenbar Lukas zwei verſchiedene in einander ges

ſchoben, wozu er ober die Sage burch_ben gemeinfamen Zug, ben beide haben, nämlich Abreiſe und Wiederkunft des Herrn (8. 12 und 15), verleitet wurde. Die Nichtigfeit Die fer Anficht geht Daraus hervor, daß wir, wenn wir bie Berfe 12, 14, 15, 27 herausheben, die Parabel von ben rebellr fhen Bürgern, freilich etwas verfürzt, aber doch ganz rein vor und haben. Daß aber nicht Jeſus felbft die beiden Pas rabeln fo mit einander verbunden haben kann, geht eben daraus hervor, daß fie fo loder zufammenhängen und, wie wir faben, bei der erften Berührumg ‚wieber auseinander fallen. Ueberdieß müßte er fie auch in ber Fünftlicheren Form, wie fie Lulas giebt, früher, als in ber einfachen bei Watthäus vorgetragen haben, da jener fie vor, diefer nadı dem Ein zuge in Serufalem fett; ein ganz wunderbares Verfahren !

Ein ganz ähnliches Verhältniß findet ftatt bei ber num noch übrig bleibenden Parabel von dem Gaftmahle und den nicht erfcheinenden Gäften Matth. 22, 2, Luk. 14, 16); welche indeß bei Lukas in ihrer einfachen, Achten Geftalt erfcheint, nicht wie jene bei Matthäus. Diefer nämlich miſcht noch die Züge bei: „ein König, deffen Sohn Hochzeit hält, ladet ein; die Gelädenen tödten, als fie zum zweitenmale ermahnt werden, feine Knechte (®. 6); der König fendet dann Heere ans und zerftört ihre Städte ®. 7); endlich muftert der Kö⸗ nig die von der Straße aufgelefenen Säfte, und verftößt einen, ber fein hochzeitlich Kleid hat, in die dichte Finſterniß“ (V 11—14). Bon dem Allem Nichts bei Lufas! Schon ber Zug, daß die Seladenen die Knechte erfchlagen, ift ein ganz ummatürlicher, den Jeſus wohl nicht beifügen fonnte, wohl aber ber Evangelift, dem ein ganz ähnlicher Zug aus der fo eben erzählten Parabel vom Weingärtner (21, 33 20.) noch im Sinne lag (®. 35), der aber dabei überfah, daß hier ein ganz anderes Berhältniß obſchwebte, indem hier der Herr feine Steuern eintreiben wollte! Daß der König num ihre Städte

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zerſtörte, ergab ſich freilid, von felbft, ſobald jener erſte Zug aufgenommen worden war. Endlich fchemt der Zufab am Ende, 11—14, doch gar nicht hieher zu gehören; denn, um Anderes zu übergehen, ‚bringt er einen ganz neuen, fremden Gedanken in die Parabel. Diefe will doch anſchaulich machen, wie zum SHimmelreiche bie Heiden berufen werben, ba bie Suden die Einladung verfchmäht hätten; jener Zufat gibt aber einen ganz andern Gegenfa hinzu, den moralifchen zwiſchen den Würdigen und Umvürdigen, wovon bie erfte Idee der Parabel Nichts weiß; es konnte aber in der Erinnerung fidy leicht ein folcher Zufag hier anhängen, wenn man nicht mehr recht wußte, wohin er eigentlich gehörte.

Sonach hätten wir hier eine noch komplizirtere Parabel⸗ maſſe vor uns: 1) als Stamm die bei Lukas rein erhaltene vom Gaſtmahle, 2) ein Streifen aus der von dem. rebellifchen Meingärtnern, 3) den Schluß aus einer fonft nicht befannten

vom bochzeitlichen Kleide; „eine Erfcheinung, welche ung.

einen folgereichen Bid in die Art und Weife geftattet, wie die evangelifche Tradition mit ihrem Stoffe zu verfahren yflegte *.

Dritte? Kapitel, Andere Neden Zefu in den drei erften Evangelien. Matth. 18, 1— 20; 19, 3— 12; Mark. 9, 35 48; 10, 2—12; Luk. 9, 46— 50.)

Die nächfte Rede, die fich uns darbietet (Matth. 18, 1), bildet ein eben fo auffallendes Beifpiel von dieſem Berfahren der Tradition; fie ift augenfcheinlich aus vielen einzelnen Stüden, ganz an den Faden einer nur durch verwandte Worte und Ausdrüde in Thätigfeit verfeßten Erinnerung zufanımengefügt.

Nachdem Jeſus den im Nangftreit begeiterten Jüngern ein Kind ald Mufter aufgejtellt CB. 2), knüpft er die ganz angemeffene Ermahnung au, fich wie dieſes zu erniedrigen (3, 4); der weitere Gedanfe aber, daß wer ein Kind ig

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Jeſu Namen aufnehme, dieſen ſelbſt aufnehme, ſteht doch dem Zwecke, zu welchem das Kind aufgeſtellt ward, ganz ferne, was noch auffallender bei Mark. 9, 37 und Luk. 9, 48 it, wo Sefus nur diefe Worte über das Kind ſpricht. Doc führen diefe beiden grade auf den richtigen Weg; da Jeſus nämlich fonft nur von feinen Süngern fagt, daß, wer fie aufnehme ıc. (Matth. 10, 40 u. a.), von den Kindern aber gerne, wer das Himmelreich nicht aufnehme wie fie, ber werde es nicht gewinnen (Mark. 10, 15), fo liegt die Bers muthung nahe, daß hier die zwei ähnlich klingenden Redens⸗ arten verwechſelt worden.

Bei Markus und Lukas (V. 38 und 49) giebt Johan⸗ nes, als Antwort auf jene Worte, die Nachricht, daß bie - Zünger Einem, der „in Iefü Namen“ böfe Geifter ausgetries ben, ohne ſich an fie anzufchließen, dieß unterfagt hätten. Hier liegt, wie Schleiermacher richtig bemerkt, das Band in den orten „in Jeſu Namen“; allein daß ber fchlichte Jo⸗ hannes durch die Betrachtung, ed genüge alfo mır im Näs men Sefu zu handeln, an eine ganz ferne liegende Begebens heit erinnert worden fei, dieß fünnen wir doch nicht anneh⸗ men; „das ſetzt Schleiermacher’fche Denffertigfeit voraus.* Bielmehr die Sage war es, bie durch jene Schlagworte „in Jeſu Namen“ an eine andere Anekdote 29) mit bemfelben Schlagworte, erinnerte.

Matthäus, bei dem dieſes Einfchiebfel fehlt, fährt dann B. 6 fort mit Weheruf über den, der eines diefer Kleinen ärgere: ganz gut! Aber wenn er nun Jeſu hinzufegen läßt, daß der, den Auge und Hand ärgere, fie von fi werfen - folle (8, 9), fo kann dieß doch nicht richtig fein, denn uns möglich konnte Jeſus nun auf einmal auf eine Warnung, ſich

2), Man möge feinen Anftoß nehmen an diefem Ausdrucke, ber ges: wählt wurde, weil wir nun einmal Feinen andern haben, um einen charakteriftifchen, hiftorifchen Ing .zu bezeichnen, der zu Fein ift, um Gefchichte, Erzählung 2c. genannt zu werden; von den üblen Nebenbegriffen, bie fich allenfalls mit dem Worte ver⸗ binden ließen, fehen wir sänztie ab, und Hoffentlich auch ber unbefangene Leſer.

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sicht durch Sinnlichkeit verführen zu laſſen, überfpringen! Die Brüde ift auch. hier ein Stichwort, nämlich das „Aergern“. —. Sodann wiederholt fich die gewaltfam abgebrochene Ers mahnung, man folle die Kieinen nicht verachten (V. 10), und dann folgt die Sentenz, daß Jeſus gefommen, „das Verlorne zu vetten“; zu dieſer, welche bei Luk. 19, 10 ganz am rechs ten Drte fteht, konnte doch unjer Evangelift hier auch nur durch eine Äußerliche Gedanfenverbindung, „Sefu Milde wendet ſich zu dem, was Flein und verloren ift“, geführt wers ben. Daher kann die nun (V. 12 14) folgende Parabel vom verloren Schaf (die Lukas ebenfalls richtiger anbringt 15, 3), auch nicht hieher gehören. Ohne inneren Zufammens bang mit ihr ift weiterhin ebenfalls die Anweifung zur Bers föhnung mit dem Bruder, wenn er uns beleidigt hat (V. 15—17). Wenn hier Sefus von der „Gemeinde“ fpricht, fo kann dieß nicht als Beweis betrachtet werben, daß er eine Gemeinde oder Kirche habe ftiften wollen denn wie von einer ſchon beftehenden Einrichtung fpricht er, vielmehr beweist diefe Wendung nur, daß die Lieberlieferung auch fpätere Berhältniffe in die Reden Jeſu übertrug. End⸗ lich veranlaßte die obige Erwähnung der Gemeinde nod) das Anfügen einiger anderer auf fie.bezüglichen Sprüdye (118—20); und fo fichtlich ift in Diefer Rede die Gefchäjtigfeit der Sage, Einzelnes auch ohne einen belebenden Grundgedanfen an eins ander zu reihen, daß die Schlußworte Sefu V. 18 ganz geeigs net fcheinen Eünnen, die hochfahrenden Gedanken, denen er im Anfange der Rede begegnen wollte, wieder hervorzurufen, alfo den Eindrud des Anfangs am Ende wieder zu vers nichten ! J

Die nächſte und entgegenkommende Rebe iſt die Matth. 19, 3 Mark. 10, 2), in welcher Jeſus auf vorgelegte Fra⸗ gen der Phariſäer über Ehefcheidung und Chelofigfeit ſich ausfpricht. Leber dieſe Rede ift nur zu erinnern, daß man fi) vor gezwungenen Auslegungen hüten muß, mit welchen man ihren Inhalt mit unfern Einrichtungen und Anfichten in Uebereinftimmung hat bringen wollen. Denn daß Jeſus nur die damals übliche willfürliche Chefcheidung vers werfe (B. 4—6), nicht aber unfere gerichtliche, davon fins

nn 238 Ä :

det fich doch feine Spur. Eben fo wenig befchränft er bie aledann folgende Empfehlung ber Ehelofigkeit (7 —12) durch irgend eine Hinweiſung auf die apoftolifchen Vers hältniffe, fondern empfiehlt fie fo allgemein, daß auch hier, wie an andern Stellen der Synoptiker, eflenifche Grundſaͤtze firenger Enthaltfamfeit in den Worten Jeſu durchfchimmern.

Matth. 21, 23—27; 22, 15—46; Mark. 12, 12 —44; Luft. 10, 25— 30.)

Es folgen nun die Streitreden, welche Jeſus nad feinem Einzuge in Serufalem zu halten veranlaßt ift, und welche Matth. 21, 23—27; 22, 15—46 faft ganz einftimmig mit den übrigen Synoptifern wiebergibt. Diefe „find gewiß- vorzüglich Achte Stüde, weil fie fo ganz im Geift und Ton damaliger rabbinifcher Disputirkunſt find*. Wir betrachten zuerft die beiden unter ihnen, wo Jeſus alt= teftamentliche Stellen auslegt.

Wenn er Matth, 22, 31—33 aus dem mofaifchen Aus⸗ drude: „der Bott Abrahams, Iſaaks und Jakobs“ Die Aufers ftehung der Todten beweifen will, da ja Gott ein. „Bott der Lebenden und nicht der Todten“ fei, fo müflen wir doch wollen wir unbefangen fein einräumen, daß Jeſus hier rabbinifch fpisfindig if. Diefe nämlich fuchten aus älteren altsteftamentlichen Stellen, wo es nur anging, den erft fpäter unter den Juden verbreiteten Glauben an Unfterblichfeit hers auszulefen, mochte auch die Stelle davon Nichts enthalten; und daß auch mit der hier vorliegenden fo verfahren wird, muß doch wohl jeder unbeflochene Betrachter zugeſtehen. Warum fi) deſſen weigern? Machen wir nicht Sefüm zu einem Weſen ohne Fleifch und Blut, gleichfam zum Gejpenfte, wenn er von der Auffafjungsweife und Bildungsftufe feiner Zeit fo gänz⸗ lich fern gewefen fein foll, daß er, ohne auf ihrem Boden zu ftehen, nur wie in den Lüften fchwebte? Ehren wir die, eine ganze Welt umgeftaltende, Größe und Hoheit feines inneren Weſens nicht weit mehr, wenn wir anerkennen, daß auch er nicht ganz frei war von den Einfeitigfeiten einer Welt, die er

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überwinden ſollte? Iſt es ein Ruhm, ben Irrthum vernichtet zu haben, wenn man felbft bemfelben völlig unzugänglich war?

Nicht anders können wir über die zweite oben bezeichnete Stelle, B. 41—46, urteilen, wo Sefus den Pharifäern die " Frage vorlegt: wie Doch der Meſſias zugleich der Sohn und der Herr Davids fein fünne? denn beides wird im alten Zeitament von ihm ausgefagt. Nun meint ed Paulus zwar recht gut, wenn er annimmt, Jeſus fei der Anficht geweſen, daß der Pfalm 110, wo der Dichter von feinem Herrn fpricht, weder von David herrühre, noch auf den Meſſias gehe. Allein wenn wir wiflen, daß die entgegengefette Anficht damals die herrſchende war, daß die Apoftel diefen Pſalm ald einen Davidiichen anfahen und auf den Meffiad bezogen (Apoſtelg. 2, 34), daß Jeſus ja felbft in den Worten V. 43 augenfcheinlich dasfelbe thut; warım wollen wir ihm eine.Anficht, die wir für die richtige halten müflen, aufs dringen? warum nicht zugeftiehen, daß er die Vorftellungen feiner Zeit getheilt habe? Das eben iſt der erite Grund⸗ fehler dieſer Art von Schriftauslegung, von der fidy auch die Rationaliſten nicht freimachen fünnen, „zu meinen, was an fich, oder näher für ung, wahr iſt, das müſſe bis auf das Einzelnfte hinaus auch fehon für Sefum und die Apoftel das Wahre gewefen fein*. Bei unferer Anficht aber gewinnt Jeſus nur, indem er offenbar hier die Pharifäer mit ihrer irdifchen Anficht vom Meſſias in Verwirrung bringen, und die höhere, geiftige, wie fie oben gefchildert worden, hervors heben wollte. Daß er e8 gerade auf Diefe Weife that, war eine verdiente Züchtigung für die Art, wie fie früher ihn hatten in’d Gedränge bringen wollen; weßhalb fie auch von da an ihn Nichts mehr fragten, wie Matthäus ganz richtig hier bemerkt. |

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Diefer. Schrifterflärung geht bei Matthäus unmittelbar die Belehrung über das „höchite Gebot“ voraus (34—40), und zwar wird Jeſus durch die Frage eines Phariſäers, der die fo eben erfolgte Abfertigung des Sadducäers rächen will, dazu veranlaßt. Diefe Zufammenftellung ift fchon darum fehr unmwahrfcheinlich, weil beide Seften keineswegs ſo befreundet

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waren, um fich gegenfeitig zu ſekundiren; vielmehr freute fich ‚die eine über die Niederlage der andern (Apoftelg. 23, 7). Aber es ift überhaupt fchon als ein Irrthum zu betrachten, den auch Marfus (Kor. 12) begeht, von der Anficht auszu⸗ gehen, alle diefe Streitreden müffen eben fo in der Zeit auf einander gefolgt fein, wie fie ihrer inneren Verwandtſchaft nach in der Ueberlieferung zufanmengeftellt fein mochten. In⸗ deß auch in der Darftellung der Verhandlung felbft finden ſich nicht wenige Bedenflichfeiten, wenn wir Die drei Evangelien mit einander vergleichen. Da Lukas von den beiden andern fhon darin abweicht, daß er (10, 25) diefen Paffus bei einer ganz andern Gelegenheit gibt, überdieß nicht Jeſum, ſondern den Fragefteller felbft das höchite Gebot ausfprechen, und fodann noch eine weitere verfängliche Frage ftellen läßt; fo hat man, faft allgemein angenommen, er erzähle einen ganz andern Borfal. Allein mit gleichem Rechte fünnte man Dann weiter gehen, und auch des Matthäus und Markus Berichte von zwei verfchiedenen Verhandlungen veritehen; denn and) fie weichen in wefentlichen Punkten von einander ab; bei Matthäus will der Phariſäer Sefum verfuchen, bei Markus it er ein harmlos Fragender; dort wird er verblüfft heimges fehjieft, bier fcheidet er daufbar und von Sefu noch belobt von ihm. Aber Drei verfchiedene Borfälle, die im Wefentlichen fo viele Aehnlichkeit mit einander haben, anzunehmen, geht doch auch nicht an; müffen wir alfo dabei bleiben, daß den Drei, fo vielfach von einander abweichenden, Erzählungen doch nur Ein Vorfall zu Grunde liegt, fo haben wir auch hier wieder ein Beijpiel Davon, wie die Sage das gleiche Thema in freien Bariationen zu behandeln pflegte. Welche Variation hier die richtige fei, bleibt dahin geftellt, und nur dag Thema, daß Jeſus die beiden Gebote der Gotted- und der Menfchenliebe als die vornehmften des Gefebes herausgehoben habe, bleibt uns als hiftorifch= gewiß ftehen.

Die übrigen Streitreden dieſes Abjchnittes, über Jeſu Befugniß zu lehren (Matth. 21, 23), über die Entrichtung des Zinſes an den Kaifer (22,16) und über das Weſen des ewigen Lebens (V. 23), bedürfen Feiner befondern Betrachtung ; nur muß nochmald darauf aufmerffanm gemacht werden, wie

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unwahrfcheinlicd; es it, daß Jeſus zu ben von 22, 15 an unmittelbar auf einander folgenden Neben über fünf verfchies deue Gegenftände gerade an einem Tage foll veranlaßt wor⸗ den fein.

(Matth. 235 Mark. 12, 38 405 Luf. 11, 37—53; 14, 1—14; 20, 45—47.)

Es folgt nun auf dieſe Borfpiele der Disputationen der HauptsAngriff Jeſu auf die Pharifüer in der großen Rede Kap. 23 des Matthäus. Obgleich Markus und Lukas ftatt derfelben nur einige wenige, auch bei Mattthäus mitgetheilte, Berfe geben, fo foheint Doch dieſer wenigſtens in fo fern das Richtige zu haben, als er Jeſum bier eine längere Rebe halten läßt. Denn nicht nur ift es fehr wahrfcheinlich, daß der bintigen Verfolgung durch die Pharifäer und Schriftges Iehrten heftige Angriffe Seju auf Diefe Leute voraus gingen, fjondern es hat auch . die vorliegende Rede einen fehr guten Zufammenhang. Schon dieß muß und mißtrauifch gegen Lukas machen, der einen großen Theil der in ihr enthaltenen Aus⸗ prüche Sefu bei zwei Oaftmahlen unterbringt, zu welchen diefer von Pharifaern eingeladen war; betrachten wir feine Erzählungen aber näher, fo erfcheinen fie aufs Beſtimmteſte als Produkte der Sage.

Bei dem einen derfelben, Luk. 11, 37—53, antwortet er den Pharifaern auf ihre Frage, warum er vor dem Eſſen ſich nicht wafche, in fo foharfen Worten, fchilt nicht nur ihren „Raub“ und ihre ‚Ruchloſigkeit“, fondern ruft auch ein Wehe über das andere fo leidenfchaftlich aus, daß wir es für uns möglich halten müffen, Jeſus habe gegen feine Wirthe das Gaſtrecht fo grob verlegen fünnen. Die Auskunft der Vers theidiger des Lukas, diefe Rede fei von Jeſu erſt nach beens digter Mahlzeit, etwa vor der Thüre, gehalten worden, macht die Sache nicht viel beffer, und iſt eine Gewaltthätigfeit gegen den Haren Buchſtaben des Terted, wo die Worte: „er Geſus) ging hinein, feste fi, der Phariſäer vermunderte fich ıc., dee Herr ſprach zu ihm 20.“ eine ganz ungerreißbare Aufs

I. 16

2m

einanberfolge ohne alle Lücke bilden. Wie kam aber nun Lukas gi einer folchen offenbar getrübten Darftellung ? Dem Matthän zufolge (15, 1) richteten die Pharifier jene verwundernd Frage an Jeſum, da fie „gehört“, bei Markus (7, 1) da fie „gefehen“ hatten, daß Jeſu Jünger das Wafche: unterließen; bei Lufas fehen fie es an Sefu felbft, da e mit ihnen ißt. Hier haben wir in „Hören, Sehen, Miteſſen ein der Eage eigenthümliches Auffteigen vom Unbeftimmte zum Beftimmteren, vom Allgemeinen zum Anſchaulichen and es erklärt fic gar leicht, wie auch hier einer von be Ueberlieferung erhaltenen Rede Jeſu dadurch gewiſſermaße ein lebendiger Leib verliehen wurde, daß man unvermerft fl in eine Geſchichte verflocht und fomit in Scene febte. Die Auffteigen vom Mittelbaren zum Unmittelbaren, vom bloße: Hörenfagen zum Sehen, tft im Charakter der ausmalenbei Sage; nicht aber das verwifchende Abfteigen zum bloßen nadten Gedanken. Daher ift die Darftellung des Lukas ober derjenigen Tradition, ber er folgte, bag Spätere, Un gefchichtlichere; nicht aber die der andern Evangeliften.

Dadurch wird aber auch feine Erzählung von dem zweiten Gaftmahle (14, 1— 14), wo Jeſus Die in unferer matthäi fchen Nede enthaltene Warnung vor dem Obenanfigen be Mahlzeiten ausführlich angebracht haben fol, verdächtig; zu mal da nur bei Lufas Jeſu die Ehre einer Einladung von Seiten der Pharifäer widerfährt.

Mag nun auch Matthäus in Die Rede Jeſu Kap. 23 manch Ausſprüche desfelben aus früherer Zeit eingemwoben haben, ſi ift dieß Verfahren lange nicht fo unhiftorifch, ale Die dem Lufas (oder dem Sagenfreife, an ben er fich hielt) eigen thümliche „Gefchäftigfeit, zu überlieferten Reden Jeſu paffen fcheinende Rahmen zu verfertigen *.

: Somit haben wir alle bei den Synoptifern fich vorfinden den Reben Jeſu in dem Anfangs beitimmten Umfange betrad: tet; eben fo die Zufammenftellungen berfelben: letztere freific nur, wie fie bei Matthäus ſich finden, was wir aber

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zureichend hielten, ba die größeren Maflen auch bei Lukas und Markus wenigſtens gelegentlich zur Sprache kamen. Wir gehen alfo zu den Reben Sefu bei Sohannes über.

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Biertes Kapitel.

Größere Neden und einzelne Ausſprüche Jeſu im vierten Evangelium. (Sch. 3, 1— 21.)

. Schon das erfte größere Nebeftüd, Jeſu Unterredung mit Nikodemus, muß und davon überzeugen, daß wir in ben Som vierten Evangelinm mitgetheilten Neben Jeſu nur zum Yleineren Theile die wirklichen Ausſprüche und Geſpraͤchs⸗ weiſe Jeſu, zum größeren aber diejenigen haben, welche der Evangelift ihm aus feiner Vorftellungs = und Denfweife lich.

Da, fo erzählt Johannes, Jeſus ſchon bei feinem eriten Auftreten in Serufalem fo großen Eindruck gemacht hatte (2, 23), fo begab fidy ein angefehener Pharifäer, Nikodemus, des Nachts heimlich zu Sefu, um fich mit ihm zu unterreben. Diefer Nifodemus „wird von Sohannes fpäter auch als Vers theidiger Jeſu (7, 50) und felbft ald derjenige genannt, der Sofeph von Arimathia bei der Beftattung des Gefreuzigten Hilfe Teiftete; bei den drei übrigen Evangeliſten wird feiner mit feiner Silbe gedacht. Auffallend ift dieß allerdings; um fo mehr, da alle Evangeliften den Perfonen, welche dem .gemordeten Meifter noch bis zur legten Chrenbezeigung treu blieben, ein wohlverdientes Denkmal in ihren Berichten feßen, alfo ficherlich von Nifodemus, der doch bei Johannes übers dieß als ein gewichtiger Anhänger Jeſu erfcheint, nicht ges ſchwiegen hätten, wenn er ihnen befannt gewefen wäre. Allein undenfbar ift ein folches Berfchwinden aus der fpätgren Meberlieferung nicht, und wir laſſen diefen Punft auf fich bes ruhen. Eben fo wenig wollen wir uns an einzelnen Kleinig⸗ feiten im Gefpräche felbft ftoßen; 3. B. daran, daß der Evans gelift, ald ein Dritter, fo genaue Kenntmiß von einer ganz

244 geheimen Unterrebung gehabt; daß ber noch ganz fremde Nikodemus Sefum fo vertrauensvoll angeredet und. Jeſus ihm fo allgemein geantwortet haben fol. Wir wenden und fieber fogleich zu den Hauptparthien bes Gefpräches ſelbſt.

B.3— 10. Jeſus verlangt von den Tuben, welche in das Meffiasreich eintreten wollen, daß fie „neu geboren“ werben follen; dieſen Ausdrud nimmt Nifodemus ganz buch- ſtaͤblich und meint, fo Etwas fei ja nicht möglid. Doch aber war das Bild der „Wiedergeburt“ ein den Juden fo ges laufiges, um die geiftige Umwandlung eines Menfchen zu bes zeichnen, wie 5. B. die Belehrung eines Heiden zum Jehova⸗ dienfte, daß ein „Lehrer in Iſrael“ den Sinn besfelben auf der Stelle verftehen mußte, und höchitens fragen konnte: ‚wie denn bei einem Juden diefe Wiedergeburt nothwendig fei? Daß er nur fich fo angeftellt habe, wie einige Ausleger bes haupten, ift auch nicht denkbar, da alsdann Sefus ihm, wie einem Heuchler, antworten mußte, was er nicht thutz ja, als ihm Jeſus die nöthige Ausfunft gegeben, fragt er .nody mals: „Wie Fann dieß gefchehen?“ Der unbegreifliche Miß⸗ verftand ift alfo vorhanden; wir fünnen ihn und nur aus einer gewiſſen Eigenthümlichfeit des Darftellers erklären, und müffen in ihm demnach einen unhiftorifchen Zug -erfennen. Liegt es nämlich fchon überhaupt in der Neigung jedes Bios graphen, feinen Helden und in augenfälliger Erhabenheit über feine Umgebung binzuftellen, fo ift dieß Beſtreben unferm Evangeliften ganz beſonders eigenthümlich, wie wir bald noch näher fehen werden. Welche Befriedigung liegt für ein chrifts liches Gemüth damaliger Zeit fihon darin, einen hochgebildes ten Lehrer in Sfrael fo tief unter Sefu ftehen zu fehen!

V. 11—13. Die zweite Antwort Jeſu fieht dem Worten des Evangeliften in feiner Einleitung (1, 18, 11) zwar ſehr ähnlich; doch, dürfen wir darin nicht fowohl eine Unterfchiebung des Inhaltes, da fich Aehnliches auch. bei andern Evangeliften findet, erbliden wollen, ale vielmehr nur eine nach gewohnter Rebeweife gemachte Umbildung der Form und Des Ausdruckes.

245 ,

2. 14 und 15. Jeſus eröffnet nun dem Nikodemns feine GJeſu) eigentliche, höchfte Beſtimmung, daß er naͤmlich müffe „erhöhet“ werden, damit Alle, die an ihn glauben, das ewige Leben gewinnen. Mit diefem „Erhöhtwerden“ Jeſu verbindet Johannes überall ben Doppelfinn, daß er werbe gefreuziget umd damit eben zu feiner wahren Herrlichkeit erhoben werben. Nun aber müffen wir fragen: Wußte bamals Jeſus feinen Tod fchon fo gewiß zum Voraus, und ganz fpeziell feinen Tod am Kreuze? Und wenn er biefe Wendung feines Schickſals ſchon Fannte, warum entdect er fie einem Fremden, einem Pharifäer, fo viel früher, ale feinen eigenen Jingern? Und wenn er, wie man hier ante mortet, die Erwartung feines Todes fo früh wie möglich all⸗ gemein machen wollte, um alle irdifchen Erwartungen nieders zuhalten, warum thut er dieß in fo überaus dunkler Andeutung, wie fie in der Anfpielung auf die eherne Schlange enthalten it? Und wenn er burch Diefes Dımfel zum eigenen Wachs denken reizen wollte, wie fonnte er ſich hier von diefer Mer thode den geringften Erfolg verfprechen, da Nifodemus fi

ſelbſt in leichter faßlichen Punften, wie der einer nothwendigen Wiedergeburt ift, fo ungelehrig gezeigt hatte? Er konnte durch Diefen rafchen Sprung, dem der gute Mann zu folgen offen> bar nicht im Stande war, ihn nur verwirren und entmuthigen, nicht aber anreizen. Ueberdieß verführt Sefus in den andern Evangelien weit gründlicher, und geht von einem Gegenſtande der Belehrung nicht früher, als bis er gehörig erfaßt worden, zu einem andern über. Bol. Matth. 13, 10 ꝛc.; 13, 36 ꝛe. 15, 16; 16, 8 ꝛc. Wir fehen daher auch hier den Erzähler in dem Beftreben befangen, den Contraſt zwifchen der Weisheit Sefu und dem Unverftande Des Schülers immer greller hervor⸗ treten zu laſſen.

Von V. 16 an nimmt die Rede eine ſolche Wendung, daß alle Ausleger geſtehen müſſen, dieß können Jeſu eigene Worte nicht mehr ſein. Denn alle Beziehung auf Nikodemus verſchwindet vor den ganz allgemeinen Betrachtungen über die Beſtimmung des Menſchenſohnes; dieſe Gedanken haben auffallende Aehnlichkeit

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mit den eigenen Worten des Johannes an andern. Steffen (man vgl. B. 16 mit 1. Brief des Joh. 4, 9 und B. 19 mit Joh. 1, 9, wo der Berfaffer fpriht); ben Ausdruck: „der eingeborne Sohn“, gebraucht Sefus ſonſt nirgends, wohl aber Sohannes fehr oft; manches ift ald vergangen dargeſtellt, was erft weit fpäter gefchah; namentlich konnte Jeſus jetzt noch nicht fagen: „die Menfchen liebten die Fins ſterniß“ CB. 19), da er damit ihre Verhärtung gegen feine Lehre meint, von welcher er am Beginn feiner Laufbahn noch nicht reden konnte. Ueberhaupt enthält das Ganze fo viele ruhige, gegenftändliche Betrachtungen, die Jeſus über feine eigene Perfon, wie über eine dritte, nicht wohl felbft ans ftellen fonnte. Kann man dieß Alles nicht läugnen, fo hilft man fich auch hier wieder damit, daß der Evangelift audy nur feine Betrachtungen hier habe anhangsweife geben wollen. Allein davon feine Spur! was bei einem hiftorifchen Schrift fteller unverzeihlich wäre; vielmehr Fündigt das „denn“ 2% zu Anfang des 16. Verſes augenfcheinlic; die innigfte Anfnüpfung desjelben an das Vorhergehende an. Daß endlich Johannes recht wohl weiß, wie ein Erzähler fich auszudrücken habe, wenn er feine eigenen Betrachtungen in die Erzählung eins mifchen will, zeigen 3. B. 7, 39; 11, 51 ⁊c.; 12, 16.

Wir haben vielmehr in der ganzen Nede eine Probe von der Beichaffenheit der Neben Jeſu in diefem Evangelium übers haupt. Sie haben bie zu einem gewiffen Punfte Die Gefpräches form, wobei gewöhnlich Sefu Ausfprüche von den Anbern ftatt in geiftigem, vielmehr in grob irdiſchem Sinne gefaßt wers den; dann aber verliert fich der Evangelift unvermerft in eigene Betrachtungen, welche nicht Sefn Worte, fondern des Erzäblers Anfichten über Jeſum enthalten.

22, Diefes wichtige „denn“ fehlt fünderbarer Weife in der Tutheri« ſchen Ueberfesung ; vielleicht legte der Ueberſetzer deßwegen Keinen Werth darauf, weil ihm nicht in den Sinn kam, baf fpätere Austeger auf den Einfall gerathen würden, diefe Worte gehören nicht mehr zur Rede Jeſu.

nn nn 2

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(Ssoh. 5,19 —47; 6, 26— 715 Kap. 7 und 8 an vielen Stellen; 10, 1—18 und 26—30; 12, 44— 50.)

(

Eine weitere, größere Rede findet fich 5, 19, zu welcher Jeſus durch die Vorwürfe über feine Sabbathheilungen vers anlaßt wird. Obgleich er Diefe nur fehr kurz und mit gang. andern Gründen, ale bei den Synoptikern, vertheidigt, und fodann fogfeich auf das Grumdthema des Evangeliums, auf die Perfon Chrifti und fein Verhältniß zum Vater * übergeht, fo ift Doc der Inhalt der Rede ganz fo, daß er wohl von Jeſu Herrühren Fünnte. Dagegen bietet Die Form bers ſelben den größten Anftoß dar. Es kommen nämlich eine ganze Menge von Ausfprüchen und Wendungen vor, welche faft wörtlich theild in dem erſten Briefe des Evangeliften, theils in feinen und Des Taͤufers Neden im Evangelium fich wiederfinden. Wir geben. alle betreffenden Stellen dem Leſer zu einer jedenfalld ſehr intereffanten Bergleichung hier an, Man vergleiche:

Soh. 5,20 mit Ev. Joh. 3, 35 (der Täufer ſpricht);

2.24 mit 1. Br. Joh. 3, 145 3. 32 mit Soh. 19,

35 (der Evangelift fpriht); 2. 34, 36 und 37 mit

1 Joh. 3, 95 2. 37 mit Joh. 1, 18 (der Evangelift);

238 mit, 1 Joh. 1, 105 3.40 mit 1 Joh. 5, 12;

8.42 mit 1 50h. 2, 15; V. 44 mit Soh. 12, 43.

Wie erflären wir ung diefe auffallende Erfcheinung? Sol der Evangelift ſich die Ausdrucksweiſe Jeſu jo fehr angeeignet haben, daß er von derfelben fich nicht mehr Iosmachen wollte oder fonnte, fo oft er feine eigenen Tsdeen ausſprach? Dann müßte er weniger felbftftändig und originell gewejen fein, als er fonft fich zeigt. Soll nun auch gar der Täufer ganz wie Jeſus ſich ausgedrüdt haben? Dieß ift bei einem Kanne, der fchon vor der Verbindung mit Jeſu ale ein fo feharf abs gegränzter Charakter auftritt, noch weniger denkbar. Oder fol endlich gar Jeſus in feiner Redeweiſe ein fo Fnechtifcher Nachahmer des Täufers gewefen fein? Am allerwenigften! Es bleibt alfo Nichts, als die Annahme übrig, Sohannes habe auch hier die beiden genannten Männer in dem ihm eigenthümlichen Tone reden laffen, was ja überhaupt den Ges

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fchichtfchreibeen, zumal älteren, fo leicht begegnet, wenn fie ihre Perfonen redend einführen... Diefe Annahme wird Durch die Leichtigfeit, mit welcher er den Nedeftoff beherricht, wähs rend feine Kollegen darin ſich meift jo fchwerfällig zeigen, zur Gewißheit erhoben. Hiermit entfteht nun aber auch ein nicht unbedeutended Bebenfen gegen die Aechtheit des Inhaltes: denn wie vielfach fließen in jeder Rede Inhalt und Korm fo in einander über, daß man beide zu trennen und zu fcheiden ſich außer Stande ſieht!

Penn, um zu den nächftfolgenden Reben, denen bes Kap. 6 überzugehen, Jeſus fich hier „das Brod des Lebens, das vom Himmel hernieder gekommen“ nennt (V. 35), fo erflärt ſich dieß freilich aus der jüdifchen Erwartung, daß der Meffias, wie Moſes einft, dem Volle Manna vom Himmel bringen werde. Wenn er aber nun von B. 51 an als das Himmels, brod fein Fleiſch darftellt, das er der Welt zum Heile bins geben werde, und das Eſſen feines Fleifches und das Trinfen feines Blutes für das einzige Mittel, das ewige Leben zu ers langen, erklärt, fo ftimmen diefe Worte auf eine zu übers rafchenbe „Weife mit den von ihm bei Einfegung des Abends mahles "gebrauchten überein, als daß man eine Hinweiſung auf Dasfelbe hier verfennen dürfte Nur aber muß man ben Gedanken ferne halten, daß Jeſus diefe Anfpielung habe machen fünnen. Denn abgefehen von der großen Unwahr⸗ foheinlichfeit, die darin liegt, daß ihm fchon jebt jener, aus der ficheren Erwartung feines nahen Opfertodes hervorgegans gene Akt vorgefchwebt haben follte, fo wäre es ja gänzlich zwecklos geweien, eine fo völlig dunkele Andeutung laut werden zu lafien. Sa, ed wäre verkehrt geweien, da ſchon an dem viel verftändlicheren Ausdrudfe vom Himmels brode Diele einen Anftoß genommen hatten, den er auch wirklich durch den noch dunflern Ausfpruc vom Fleifche in ſolchem Grade vermehrte, daß, wie Sohannes B. 60 und 66 erzählt, ein Theil feiner Tünger ihn verließ. Daß Jeſus aber einen folchen, wohl vorauszufehenden Erfolg felbft herbeigeführt habe, ift mit feiner Lehrweisheit unvereinbar; vielmehr trägt auch hier Sohannes feine Anſicht und feine nad). dem Abends mahl gewonnenen Borftellungen in die Rebe Jeſu über.

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Auf unferem weiteren Wege muß uns vor Allem das auffallen, wie oft diefelben Gedanken und Ausdrüde ſich wieberholen; ſonach, ben bis hierher gemachten Beobach⸗ tungen zufolge, fich als Lieblingsideen des Evangeliften berausftellen, wie dieß befonders bei ben Reden Kay. 7 und 8 der Kal if. Man vergleiche:

Kap. 7, 17, 28 1.5 8, 28 10.5 38, 40, 42 mit 5, 30, 43; 6, 385 8, 23 mit 3, 315 8, 13—19 mit 5, 31 —37; 8, 15 ıc. mit 5, 305 8, 12 mit 3, 19. Und was nicht fchon früher da gewefen, wie oft wiederholt es fich in dieſen Kapiteln felbit, wie 5. B. eine Bergleichung von Kap. 7, 17 ıe. mit 8, 50—545 7, 28 mit 8, 14, 19, 545 8, 21 mit 8, 24, 51 und zugleich mit 3, 36, 6,0. zeigt! Die Reden des Kap. I geben feinen Anlaß zu bes fonderen Bemerkungen.

Die zu Anfange des zehnten Kapitels mitgetheilte bilbliche Rebe von dem Hirten und den Schafen beweist allerdings, daß auch unferm Evangeliften Die Gewohnheit Sefu, in Gleich niffen zu reden, befannt war; allein er gibt uns doch fein reines Gleichniß, weil er auch hier feine Neigung, eigene Betrachtimgen einzuflechten, nicht verläugnen kann. Diefe, alfo nur gleihnißartige Reden, V. 1 18, find von Jeſu zur Zeit des Laubhüttenfeſtes gefprochen; hierauf folgen andere, von B. 26 an, welche in die Zeit des Tempelweih⸗ feftes, drei Monate fpäter, fallen. Diefe fpielen wieberumt in das Gleichniß vom Hirten hinüber, und zwar öfters in fo wörtlichen Wiederholungen, daß man wohl fragen darf: Konnte Jeſus das vor Monaten Gefprochene noch fo buchitäblich im Gedächtnifie haben? Gewiß nicht; wohl aber der Evangelift; denn er hatte wohl fo eben erſt die früheren Neden Sefu niedergefchrieben, und mas er nod im Gedächtniſſe hatte, floß auch in feine Feder, die ſich fehon daran gewöhnt hatte, die Ideen ihres Meifters in Worte Sefu einzufleiden.

Dieß wird uns endlich noch in Der Rebe, mit welcher Jeſus feine öffentliche Wirffamfeit befchließt (12, 44), recht anfchaulich gemacht; Tiefe nämlich ift fo durchaus nur eine Wiederholung der Kanptfächlichften,, früher fon erfreut

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ansgefprochenen Ideen Jeſu, Daß wir unmoͤglich glauben Ihnen, derſelbe fei mit einem bloßen Regiſter des bereits Geſagten vom Schauplage abgetreten. Hierin find aud alle ändern Ausleger mit und einveritanden; allein fie vermeinen babei, Johannes Habe auch nur von ſich aus dieſe Necapitulation für den Lefer geben wollen; und doch leitet er fie mit Den Werten ein: „Sefus rief md fprah“ (V. 4431: Zwar hatte er ſchon in V. 37 gejagt, Jeſus habe fich nun zurüds, gezogen und fid; verborgen; allein da er fich bewogen fand, son DB. 38 noch einige eigene Schlußbemerkungen. zuzufügen, wie leicht‘ konnte es ihm einfallen, noch einmal, gleichfam als fchlagenden Schluß des Schluffes, Jeſum felbfl. alles Ges fagte befräftigen zu laſſen! Daß es ihm damit Ernft gemefen, zeigt aud) der gefteigerte Ausdrud: „Jeſus rief und ſprach“. Hatte er es ja auch feither nicht fo genau Damit genommen, Sefu Worte und feine Anfichten und Tendenzen ſcharf von einander zu ſcheiden!

(Joh. 4, 44; 13, 20; 14, 31.)

Alle bis hieher betrachteten längeren Reden find dem vierten Evangelium eigenthümlich; nur einige wenige fürzere Ans⸗ fprüche Jeſu finden ſich aud) bei den übrigen Evangeliften; wir heben nur diejenigen hervor, welche von dieſen in einen andern Zufammenhang geftellt find, ald von jenen; es find deren drei.

Die Worte 4, 44: „ber Prophet werde in feinem Vater⸗ Iande nicht geehrt“, finden fich bei Matth. 13, 57 in der natürlichften Verbindung: Jeſus fpricht fie aus, als ihn bie fchlechte Aufnahme in Nazaret veranlaßt, diefen Ort zu vers Taffen. Bei Sohannes dagegen fcheinen fie ganz verkehrt angebracht; denn hier fpricht fie Jeſus aus, als er im Bes griffe fteht, von Samarien nach Galiläa zu gehen, und werben überdieß, da es heißt: „denn Jeſus bezeugte, daß ꝛc.“, ale der Grund hingeftellt, weßhalb er gerade dahin ging, wo er Nichts galt, was in der That abfurd klingt. Wie zu helfen? Zunächſt mußte Das Heine Wörtchen „Denn“ herhalten; es

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ſoll auf einmal hier fo viel, wie „obgleich, fein; dieß heißt aber doc weiß für fchwarz erflären. Andere verftehen unter Vaterland nur Nazaret, und nehmen die Worte als Grund davon, daß Jeſus nicht fpeciel in diefe Stadt, fondern allges mein nur nad) Galiläa ging; allein war es fo gemeint, fo mußte doch offenbar der Evangelift von diefer Unterfcheibung und wenigitend einen Wink geben. Aber, fo fagen Andere, er wollte ja den, Grund angeben, weßhalb Jeſus erk jest sach Galiläa ging; auch dieß ift nicht zuläffig, ba fich die Worte nicht an die Nachricht von Jeſu längerer Abwefens heit anknüpfen, fondern lediglich an bie zwei Tage, die er m Samarien zugebradyt hatte. Noch Andere Hammern ſich an das Wort „Baterland“, und fagen: Aus Matthäus und kukas wiſſen wir, daß ja nicht Nazaret, fondern Bethlehem in Sudäca Jeſu eigentliche Heimath ift, und fomit haben wir bier den Grund, weßhalb er jet dieſes Fand verließ. Auch damit kommen wir nicht aus; denn von der bethlehemitifchen Geburt Seju weiß, wie wir oben ſahen, Sohannes gar Nichte; überdieß hatte Jeſus in Judad fo ftarfen Anhang gefunden, daß die Pharifäer ihn fchon jest deßhalb verfolgten C4, 1; vgl. mit 2, 23; 3, 26 ꝛc.); endlich geht ja Jeſus jest nicht aus Judäa, fondern aus Samarien weg, wo er ebenfalls ſehr günftig aufgenommen worden war. Wir fünnen, wenn wir die johanneifche Stellung der Worte retten wollen, ung nur durch die Annahme helfen, Johannes babe freilich nicht deutlich genug den Grund angeben wollen, weßhalb Jeſus nicht fogleich nach der Taufe nad) Oaliläa ſich ges wandt habe: er konnte nämlid) es für nothwendig halten, vors ber fich erft auswärts Anfehen zu verfchaffen, um in Gas liläa Boden zu gewinnen.

Der Ausspruch Jeſu 13,20: „Wer Einen aufnimmt, ben ich fende, der nimmt mich auf“ ꝛc., finder fi Matth. 10, 40 in der Anweifung, die Jeſus feinen Juͤngern vor ihrer Ausfendung gibt; Sohannes aber ftellt ihn mitten in die Borherverfündigung des Verrathes durch Judas hinein, wohin er ficherlich nicht gehört. Denn daß Jeſus durch den⸗

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ſelben nad) ber niederſchlagenden Nachricht von dem Berrathe feine Sünger habe wieder aufrichten wollen, wäre nur denk⸗ bar, wenn er nicht unmittelbar nach diefen Worten wieder in ganz gleichen Tone von jenem geſprochen hätte. Es fcheint vielmehr, daß auch Sohannes hier einmal, wie ed den Synop⸗ tifern fo oft begegnet, einen Ausſpruch Sefn Da anbrachte, wo ihn eine zufällige Gedanfenverbindung grade daran erinnerte: denn ®. 16 hatte er einige Worte aus der Rebe an bie Apoftel angeführt, in welchen ebenfalls von „Abgefanbten“ Jeſu gefprochen wurde, und fo fiel ihm nachträglich anch noch Diefer Ausſpruch aus berfelben Rebe ein.

V. 31 des Kap. 14 ruft Jeſus feinen Süngern zu: „ers hebet ench; laßt uns von hier weggehen“; und dennoch vers laffen fie erft 18, 1 den Saal, wo diefe Worte gefprodgen wurden. Daß, wie die meiften Ausleger annehmen, Jeſus nad biefen Worten mit feinen Jüngern zwar aufgeftanden, aber vor dem wirflihen Weggehen ihnen noch Manches habe fagen müflen, was ihm am Herzen gelegen habe, wäre gar wohl denkbar, wenn ber Evangelift nur den geringften Wink von dieſem Hergange der Sache zur Erflärung eines fonft ımbegreiflichen Verweilend gegeben hätte. Wahrfcheinlicher ‚ift es, daß er auch hier durch die Erwähnung der feindlichen Macht (3. 30) die Jeſum bedrohte, unb welcher er freudig entgegenging, an jenen Ausfpruch erinnert wurde, ben die Ueberlieferung aus den Augenbliden der Verhaftung Jeſu erhalten hatte (Matth. 26, 46), und fo mochte er ihm auch hier nicht ganz am unrechten Orte zu ftehen fcheinen, um ben Muth, mit dem Jeſus der Gefahr entgegen ging, ans ſchanlich zu machen; ohne zu bebenfen, daß die Rede dadurch für einen Augenblid unterbrocdyen wurde.

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Fuͤnftes Kapitel Die Glaubwürdigkeit der Heden Zefa im vierten Evangelium.

(Ueberblid aller bisher behandelten Stellen.)

Nach der bisherigen Prüfung aller einzelnen Neben des Evangeliums werden wir nun im Stande fein, über die Glaubwürdigkeit derfelben im Allgemeinen ung ein Urtheil zu bilden und über dieſen fo vielfach befprochenen Begenftand auch unfere Stimme abzugeben.

Es kommt biebei zunächit die innere Befchaffenheit dieſer Reden in Betracht, aljo die Fragen nach der Wahrfcheitts a und der Behaltbarfeit derjelben.

ahrfcheinlicd kann es doch wohl nicht genannt wers den, daß Jeſus gegen alle Perfonen fo ganz diefelbe Sprache, gegen den Lehrer, wie gegen den gemeinen Öaliläer, geführt; daß er falt nur Ein Thema, die Lehre von feiner Pers ſon befprochen; in fo dunfeln Worten und Wendungen, als ob er abfichtlidy feine Zuhörer irre führen wolle, ſich bewegt habe; wahrſcheinlich ift es endlich gewiß nicht, daß alle Perfonen, mit denen Jeſus ſich unterredet, in dem ganz gleichen Irrthume, feine bildlichen Reden grob buchitäblich zu nehmen, befangen gemwefen fein follen. Daß einige Wedhs felreden, 5. B. in Kap. 9 und 11, weniger an diefen Fehlern leiden, darf nicht verfchwiegen werden; jedoch reichen dieſe lange nicht hin, um die johanneifchen Reden Sefu im Allges meinen wahrfcheinlich zu finden.

Behaltbar ferner können foldye Neden nicht genannt - werben, die nicht, wie bei den andern Cyangeliften, aus Fürs nigen Sinnfprüden und anfchaulichen Parabeln zufammengefegt find, fondern vielmehr zufammenhängende, oft weitläufige Aus⸗ einanderfeßungen und völlige Gefpräche bilden; diefe fünnen, ohne daß fie ſogleich nachgefchrieben worden find, durchaus nicht treu wiedergegeben werden. Es war daher von Paulus ernftlich gemeint, wiewohl es nicht darnach ausfieht, wenn er vermuthet, man habe Damals bei dem Tempel und den Synas gogen eine Art von Schnellichreibern gehabt, deren Protofolle

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fpäter von ben Ehriften ausgebeutet worben -(; "Allein koͤnnte man auch überhaupt eine augenblickliche Aufzeichnung des von Jeſu Gefprochenen, etwa durch Johannes felbft, wahrſcheinlich machen, fo wäre damit Nichts gewonnen. Denn daß dieſe Reden nicht ganz friſch vom Munde weg aufgezeichnet worden find, fondern lange im Gemüthe des Referenten geruht haben, darüber find alle Theologen einig. Aber doc; follen 28 die ganz Achten Neben fein; was man durch die Tiefe der erften Jugendeindrücke, durch die Wärme und Innigfeit, mit welcher Der Jeſu fo vertraute Sohannes alle feine Worte im Herzen bewahrte, fich erklären will. Allein dieß zerftreut die Bedenk⸗ fichfeiten eines unbefangen Prüfenden nicht. Muß doch ſelbſt Tholuck, einer der neueften Vertheidiger dieſer Auffaffung, geftehen, daß die Eindliche Einfalt, die Einfürmigfeit und Zer⸗ flofjenheit diefer Reden auf Rechnung des Evangeliften zu fegen fei: ift aber einmal die Form fo flarf von der Eigen, thümlichkeit des Darſtellers gefärbt, fo haben wir, abgefehen von allem Andern, fchon feine Bürgfchaft mehr für die Aecht⸗ heit des In haltes; denn wie hundertfältig fließen Form und Inhalt einer Rede in einander über? wer will hier eine fcharfe Graͤnze ziehen? Wie wenig aber endlid, die Berufung auf den übernatürlichen Beiftand des heiligen Geiſtes ausreicht, kraft deffen Jeſu Sünger Alles genau behalten mußten, haben die, welche fie zu Hilfe nehmen, unmwillfürlich felbit eingeftehen müflen, indem fie die Möglichfeit einräumen, daß manche Reden nur durch den über bie Sünger gekommenen höheren Geiſt des Meifterd erzeugt fein mögen: demnach nur Jeſu Geiſt in ihnen, wie wenn er geredet hätte, die Rede her vorgebracht habe!

Um weiterhin das Außere Verhältniß diefer Reden zu unterfuchen,. müffen wir fie zunächft mit den Neben Jeſu bei den Sprioptifern, dann mit der eigenen Redeweiſe ded Evans geliſten felbft vergleichen.

Schon der Form nad find die johanneifchen Neden-fehr verfchieden von denen in den Synoptifern, wo Jeſu Vortrag ſich meift in Parabeln, die bei Johannes ganz fehlen, und in

25. | farzen, ſchlagenden Sprächen, die er nur felten gibt, bewegen; und wer wird läugnen, daß diefe weit mehr für einen Volks⸗ iehrer paffen, ald die Fünftlichen und Dunkeln Drafelfprüche

bei SSohannes? Und follte Sohannes, felbft wenn er Die Wies derholung des von den Andern ſchon Mitgetheilten vermeiden

- wollte, nicht eine reiche Nachlefe noch haben anftellen koͤnnen?

Aber diefe Verfchiedenheit erſtreckt fichh auch auf den Ins halt der Reden. Daß dieſe Berfchiedenheit Feine totale iſt,, verfteht ſich von felbft; aber vorherrfchend ift doch unläug⸗ bar in den Synoptifern das Beltreben Jeſu, das Volk grade aber Das Zunächitliegende zu belehren, über den wahren Ges halt des Geſetzes, über die bösartigen Sabungen der Pharis füer, über die wahre Beſtimmung des Meſſias m. f. w., während feine Neben bei Johannes ſich faft nur um feine Perſon und fein Verhältniß in fpißfindigen und umfruchtbaren Unterfuchungen drehen. Man fagt daher, Sohannes habe ben beftimmten Zwed gehabt, nadyzutragen, was feine Vorgänger übergangen hatten; aber wie fonderbar, wenn dieſe grade nur folche Reden, wie Sohannes fie gibt, übergangen, und grabe alle von dem Gharafter, wie die von ihnen mitgetheilten, aufgezeichnet hätten! ebenfalls hatte unfer Johannes eine befondere Vorliebe für dergleichen Reden, wie wir bet ihm fie lefenz; und wenn er auch manche ganz wahrhafte Züge, welche den Synoptikern fehlen, treu wiedergibt, fo ift doch bei ihm eine einfeitige, aus eigenen Zuthaten verfertigte, Ausfchmüdung der Reden Jeſu unverkennbar.

Gegen den Vorwurf diefer, freilich fehr harmlofen, Untreue hat man ihn auf mehrfache Weife zu verwahren gefucht. Als Beweis feiner Gewiffenhaftigfeit fieht man es an, daß er die von ihm in der Einleitung behandelte Lehre vom Logos Sefu fo gar nicht in den Mund legt. Allein diefe iſt fo feharf und förmlich ausgeprägt, daß er es nie vergeffen fonnte, woher er diefe dee habe, und daher nie in DVerfuchung fommen fonnte, fie Sefum zu leihen. Wenn man weiterhin ald güns ftiges Zeichen anführt, daß bei Johannes Jeſus weit unbes ftimmter feinen Tod vorausfage, ald bei den Spynoptifern,

die offenbar Manches aus dem fpäteren Erfolge in deſſen

Reden übergetragen; fo ift Dieß höchftene nur halbwahr. Dem

L

238

feinen gewaltfamen Tod, näher ald Kreuzestod bezeichnet, ſagt auch hier Jeſus ſehr mumwunden, und den Verrath bed Ju⸗ das weit früher, als bei den Synoptifern, voraus.

Daß, um eigentlich nod) in der eigenen Redeweiſe bes Evangeliften die von ihm referirten Reden Jeſu zu vergleichen, beide fo große Aehnlichkeit mit einander haben, will man durch die Behauptung erklären, daß Sohannes ſich ganz in bie Denkweiſe Jeſu hineingefühlt und gelebt habe. Allein dann müßten ja die übrigen Eyangeliften den Charakter der Neden Jeſu ganz verändert haben; dieß ift aber durchaus undenkbar. Denn wir haben gefehen, daß der Kreis der Ueberlieferung, aus dem Diefe fchöpften, die Neden zwar in Fleinere Stüde zerbrödelte; diefe zerriffenen Theile lösten aber die erften Evangeliften nicht auf, fondern fie gaben diefelben fo getreu wieder, daß fie lieber fie fpröde und fchroff neben einander ftellten, ald erweichten, um fie zu fließender Maffe zu ges ftalten. Dieſes Legte ift aber ganz bei Sohannes der Fall: er verarbeitete die auseinander gefallenen Theile der Reden fo, daß er fie in feinem eigenen Gemüthe gleichfam aufgehen, zerfließen ließ, nnd fie nachher in freiem Guffe zu einer neuen Einheit umgeftaltete. An den Neben, die auf ſolche Weife zu Tage gefördert wurden, hat er demnach felbft überwiegenden Antheil.

Darin ftimmen jest alle forfcyenden Ausleger überein, was Bretfchneider ausfpricht: „Sohannes Tieß Jeſum weniger Iprechen, wie diefer jedesmal wirflih im Einzelnen gefpros chen, als wie es jedesmal dem Eindrude, den er von Der ganzen Erfcheinung und Lehre Jeſu hatte, gemäß war“. Ueber die Frage aber, ob mit dieſer Anſicht die Abfaffung des vierten Evangeliums durch den Apoftel Sohannes beftehen könne? „getraue ich mir nicht *, abzuurtheilen, da fich die Geftaltung jener Reden immer noch aus der Eigenthümlichkeit des Johannes, wie aus der Abfaffung des Evangeliums in - feinem fpäten Alter erklären läßt.

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Sechstes Kapitel, Einige Begebenheiten aus dem Leben Jeſu, befons ders ber Befuch feiner Verwandten. ?°)

(Matt. 9, 32—34; 12, 22—455 16, 145 ul. 8,

Ehe wir auf die einzelnen Begebenheiten eingehen, müffen wir den allgemeinen Charakter und Ton der Gefcichtserzähs hing in den verfchiedenen Evangelien näher betrachten.

Matthäus ift es, der in diefer Beziehung am meiften. Borwürfe hat erfahren müflen; man wirft ihm vor, es fehle ihm an Anfchaulichfeit, an dem lebendigen Ausmalen ins Eins zeine und Beflimmte; dagegen verwifche er Alles ind Allgemeine und Unbeftimmte, fo daß feine Erzählungen ſich wie trockene Umriſſe ausnehmen, denen Farbe und Frifche fehlen. Allerdings ift e8 fo: Zeit, Drt, Perfonen gibt er meift ganz unbeitimmt an mit einem allgemeinen: „damals, von da weggehend, ein Menſch“ꝛc.; oft faßt er Alles in Baufch und Bogen zufams men: „alle Flecken Durchzog Sefus, alle Kranke wurden gebracht und von ihm geheilt “5 dann aber find viele wirkliche Ers zählungen ganz kurz und troden. Dagegen find die drei ans dern allerdings weit lebendiger, anfchaulicher, ausmalender. Johannes zuvörderft hat zwar aud, mehrmals nur allgemeine Angaben; meiſt aber fpinnt er feine Darftellung ganz in's Eins zelne aus, gibt die Namen der Perfonen, den Ort und bie Zeit der Begebenheiten fehr genau an, und viele Erzählungen, wie die vom Blindgebornen, der Erwedung des Lazarus ıc., haben eine dem Matthäus ganz fehlende Frifche und Anfchaus lichkeit. Eben fo verhält es fich bei Marfus und Luͤkas, die der größeren Berwandtfchaft Des Inhalte wegen eine nähere Bergleichung zulaffen; was Matthäus nur oberflächlid,) angibt,

23, Nur natürliche, nicht wunderbare, Begebenheiten werben in den folgenden zwei Kapiteln behandelt, da bie zahlreichen Wunder⸗ gefchichten eine gefonderte Betrachtung in Anfpruch nehmen.

J. 17

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malen fie aus, 3. ®. die nähere Veramlaffung vieler Neben Jeſu, Namen oder Amt der von Matthäus nur unbeitimmt _ bezeichneten Perfonen (Matth. 9, 185 Mark, 5, 22; Luk. 8, 41 u. fe w.); vor Allem aber find Lukas und Markus in den meiften Erzählungen an anfchaulicher Schilderung dem Matthäus weit überlegen; vgl. 3. B. Matth. 14, 3 ıc. mit Mark. 6, 17 x. Matth. 8, 28 ıc. mit Mark. 5, 1— 20.

Aus diefer Verjchiedenheit hat man den Schluß gezogen, es könne der fo unbeftimmt erzählende Matthäus: wohl nicht Augenzeuge geweſen fein, fondern feine Darftelung trage das Gepräge der das Beſtimmte verwifchenden Ueberliefe— rung; wogegen die übrigen Evangelien, die Alles fo lebendig anſchaulich hinftellen, ſicherlich dadurch als Augenzeugen ſich zu erkennen geben. Dieſer Schluß iſt nur halbwahr; daß ein Geſchichtſchreiber, der ſo trocken und farblos, wie Matthäus, erzählt, nicht als Augenzeuge erzählen könne, iſt, wenn auch nicht ganz ausgemacht, doch wenigſtens ſehr wahrſcheinlich; daß aber umgekehrt Jeder, der anſchaulich erzähle, ſich daduͤrch als Augenzeuge zu erkennen gebe, iſt ein übereilter Schluß. Er könnte nur dann als richtig gelten, wenn wir Berichte hätten, die ganz erwieſen von Augenzengen herrühren, an denen wir alſo den anſchaulich Erzählenden, wie an einem Maßſtabe, prüfen könnten; allein ſchon in der Einleitung ſahen wir, daß wir durchaus kein Evangelium beſitzen, das erwie⸗ ſen von einem Augenzeugen herrührt, ſondern daß wir bei allen, ehe ihre innere Beſchaffenheit uns ein ſicheres Urtheil an die Hand gibt, das Gegentheil vorausſetzen müſſen.

2

Da uns alſo ein ſolcher Maßſtab fehlt, fo müſſen wir es für eben ſo möglich halten, daß das anſchauliche Ausmalen der drei Evangelien neben dem trockeneren Matthäus ein Werk der ſpäteren, verſchönernden Sage ſei, die ja bekanntlich es liebt, an die Stelle der verloren gegangenen geſchichtlichen Farben und Bilder ſelbſtgemachte Ausmalungen zu ſetzen, nit denen fie den matt gewordenen Grund des Gemäldes wieder auffrifcht und die Lücken wieder ausfüllt. Ob dieß bei

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den bezeichneten Evangelien fich wirklich fo verhalte, wird eine ‚nähere Betrachtung der von ihnen aufgeftellten Gemälde zeigen. Zuvörderſt Markus und Lukas! Schon früher ſahen wir bei mancher Gelegenheit, daß die beſtimmteren Veranlaſſungen u Reden Jeſu, wie fie Lukas gibt, fpätere Zuthat ſeien, und daß Die Nennung beſtimmter Namen bei Markus nur auf Bermuthung des veranfchaulichenden Erzähler beruhe. Noch beftimmtere Belehrung ader muß uns der allgemeine Charakter ihrer Ausmalungen geben. Wenn neben den ganz allgemeinen Angaben des Matthäus (8, 16 0.) 3. B. Markus (1, 32) erzählt, Die ganze Stadt habe vor dem Haufe Jeſu ſich vers fammelt; oder (2, 2), die Bolfsmaffe habe das ganze Vorhaus gefperrt; oder, das Getümmel habe Sefum nicht zum Effen fommen laſſen (3, 20); wenn Lukas fo viel Volfes herbeiftrös men läßt, daß fie einander niedertraten (12, 1)5 wenn Beide felbft den Blick befchreiben können, mit dem Sefus feine Worte begleitete (Mark, 3, 55 Luk. 6, 1095 fo ift das Alles freilich fehr anfchaulich, aber wir können doch auch vor der Betrachtung des Einzelnen fihon ahnen, daß wir hier das Merk der ausmalenden Sage haben. Wie viel davon auch auf Nechnung des Evangeliften fomme, ift ſchwer zu entjcheis den; das aber fcheint gewiß, daß die Sage anfangs nur Die Hauptmomente, Neden und Thaten, fefthielt, und fomit den Zufammenhang verlor, welchen dann Die fpätere Sage wieder herzujtellen fichte. Demnach finde Matthäus immer noch der Wahrheit näher, als Markus und Lufas,

Zwifchen fämmtlichen Synoptifern und Sohannes ftellt ſich ein anderer Unterfchied in Bezug auf die Schluß formeln ber Erzählungen heraus. Die meiften derjelben bei jenen laufen auf eine Berherrlichung Jeſu, bei dieſem auf eine Erbitterung gegen denfelben hinaus **). So erzählen jene, wiewohl fie von manchen Anfchlägen der Feinde Sefu ummittels

>, Die hierher gehörigen Etellen laffen wir weg, da nur durch ihre große Maſſe, zu welcher und der Raum gebricht, etwas bewieſen werden ann.

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bar nach deſſen Thaten berichten, doch fo fehr oft, wie Jeſu

Ruf weit und breit erfchollen fei, wie das Volk feine Lehre bewundert, feine Wunderthaten angeftaunt. und ihm deßhalb überall nachgezogen ſei. Bei Johannes dagegen finden ſich eben fo häufig die Bemerfungen, die Juden haben Jeſu nad) dem Leben getrachtet; die Pharifäer haben ihn greifen wollen ; Steine feien gegen ihn aufgehoben worden; und wenn auch einmal von günftiger Stimmung des Volkes die Rede ift, fo gilt dieß meift nur von einem Theile desfelben, während der andere voll Erbitterung if. Welche Idee den Berfaffer dabei leitete, ift daraus Far, daß er-Sefum allen diefen Nach⸗ ftellungen ungekraͤnkt, oft wunderbarer Weife, entgehen läßt, „weil feine Stunde noch nicht gekommen ſei“; dadurch entfteht

|

ein ähnlicher Contraft zwifchen Sefu-und ber Welt, wie er

bei feinen Reden ſich herausftellt. Wie hier fein hoher Geift hoch über dem rohen Unverftande fchwebt, der ihn überall mißverfteht, fo geht bei jenen Verfolgungen die wunderbare Kraft feines Weſens fiegreid) durch alle Anfchläge der Bosheit hindurch, neben welcher feine Güte nur um fo rührender er foheint, und ‚welcher er erit dann erliegt, als er felbft es will. Die Synoptifer dagegen halten die Sache natürlicher, indem fie öfters erzählen, die Pharifüer hätten gerne Hand an Sefum gelegt, haben fich aber vor dem Volfe, das ihm ans hing, gefürchtet.

Es fommen nun die einzelnen Erzählungen in Betracht, jedoch nur folche, bei denen ein Einfluß der Sage ſich nad’ weifen läßt; und zwar, da und eine chronologiſche Drdnung fehlt, nach ihrer inneren Verwandtichaft.

Matthäus erzählt, 9, 32—34, daß die Pharifäer Jeſu, nachdem er aus einem ſtummen Befeffenen ?°) einen Teufel auggetrieben, den Vorwurf machten, er treibe Teufel durch den oberjten ber Teufel aus; Sefus fcheint den Vorwurf

29 Man fehe die Anmerkungen am Ende der zweiten Abtheilung.

ob |

\

| 281 . ganz unbeachtet zu laſſen. Derſelbe Vorwurf aber wird ihm

12, 22 ꝛc., nachdem er einen Beſeſſenen, der ſtumm und blind war, geheilt hatte, abermals gemacht; worauf er dieß⸗

‚mal eine ſcharfe Strafpredigt hält. Dieſe Wiederholung des

Vorwurfs iſt an ſich gar wohl denkbar: bedenklich iſt aber ſchon, daß es beide Male nach der Heilung eines Stummen ge⸗ ſchehen ſein ſoll, und nach keiner andern, da doch die Juden alle Arten von Krankheiten dem Einfluſſe böſer Geiſter zus ſchrieben, alfo faft jede Heilung als eine Augtreibung erfcheis nen konnte. Das Bedenken wächst, wenn wir des Lukas Darftellung der Sache vergleichen, 11, 14 ꝛc.: Diefer erzählt sämtlich diefelbe ganz fo, wie Matthäus den erften Vorfall diefer Art, fügt aber Diefelben Reden bei, welche Sefus in der zweiten Erzählung des Matthäus hielt (vgl. Matth. 12, 22 —25 mit Luk. 11, 17— 26). Alfo müßte Sefus bei zwei Gelegenheiten faft ganz dasfelbe gejagt haben; das Unwahrs fcheinlichfte von Allem. Wir dürfen alfo nur Einen Vorfall annehmen, der aber in der Sage ſich verdoppelt hatz und wie? darüber gibt Matthäus Auffchluß. Auffallend war jene Heilung gewiß geweſen; der Sage mochte aber die einfache Stummheit des Kranken nicht genügen, fie machte ihn auch noch zu einem Blinden, und nun hatte man zwei Variationen Eines Borfalls; beide fannte Matthäus, und mehr um ges wiffenhafte Treue, als prüfende Sichtung, befümmert, gab er beide, ließ aber, um Wiederholungen zu vermeiden, das eine Mal die Reden Jeſu weg.

In der zweiten Stelle fügt. Matthäus noch eine weitere Rede bei, welche Jeſus auf die Aufforderung, „ein Zeichen“ Wunder, das fein Prophetenthum beftätige) zu thun, in eben- falls fcharfem Zone hält (12, 383 45); Lukas hat diefelbe (11, 29 36) in der Hauptfache ganz eben fo. Doch findet der weſentliche Unterfchied ftatt, daß bei Matthäus die Pha- rifäer erft nachdem fie Jeſus wegen ihres Vorwurfes fo heftig abgewiefen hatte, ein Zeichen von ihm fordern (2. 38), bei Lukas aber diefe Forderung fchon mit jenem Vorwurfe vor Sefu Strafrede verbinden. Wer das Rechte hat, tft fehmwer - zu enticheiden; bei Matthäus erfcheint das Benehmen ber fo

s

262

derb abgewiefenen Pharifaer unmahrfcheinlich, bei Lukas

die Ruhe, mit der Jeſu nad, der Strafrede noch auf Das Bes gehren eines Zeichens eingehen Fonnte.

Matthäus aber erzählt eine zweite Zeichenforderung der Pharifaer, und zwar nad) der zweiten wunderbaren Spei⸗ fung (16, 1—4), an welcher Stelle fie auch Marfus hat (8, 11, 12); Jeſus ertheilt dieſes Mal eine Antwort, die faft ganz buchftäblich Worte enthält, die er fchon in der ers ften gefprochen hatte, namentlich wieder die dunkle Anfpielung auf Sonas (vgl. 12, 39 mit 16, 4); überdieß find Die beiden erften Verſe derjelben (2, 3) an diefer Stelle ganz ohne Sinn; an einer etwas geeigneteren theilt diefe beiden Berfe Luk. 12, 54 —56 mit. Wie aber fam Matthäus zu diefer offenbar verfälfchten Darftelung? Auch hier mochte eine Bas riation durch die Sage gegeben fein; eine, daß die Pharifüer nur einfach ein Zeichen begehrt (12, 38), die andere, daß fie ein folched vom Himmel verlangt hätten (16, 1). Hatte er nun die erfte fchon bei der Erzählung von dem Befeffenen angebracht, fo ward er an Die zweite erinnert durch die Rede Jeſu von der Unterfcheidung der Zeihen am Himmel und der auf der Erde; er beging hier den, dem Lukas fonft eigens thbümlichen Fehler, gewiffe Ausfprüche nur nad) der außeren Gleichheit der Worte aneinander zu fnüpfen; fo daß fich hier Sieffert's Sab bewährt, ed liege in der Natur ber tradis tionellen Berichte, Daß der eine Zug von. biefem Erzähler, der andere von jenem beffer erhalten fei, und feiner fehr viel vor dem andern voraus habe.

(Matth. 12, 46— 50; Mark. 3, 31—35; Luk. 8, 19—21.)

Ale drei Synoptifer erzählen von einem Befuche ber Mutter uud der Brüder Sefu bei ihm, und alle flimmen darin überein, daß diefer, als man fie ihm anmeldete, fie mit hars ten, barfchen Worten abgewiefen habe. Se unbegreiflicher diefe abftoßende Härte Jeſu fein mußte, befto willfommener war der Grund, den Markus, 3, 21, dafür darzubieten fchien,

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Hier erzählt er, Jeſu Verwandte ſeien auf die Nachricht, er fei verrüdt geworden, gefommen, um ihn in Familiens Gewahrſam zu nehmen °%); nachdem er noch, etwas berich- tet, woran er hier leicht erinnert werden konnte CB. 22—30,, meldet er die wirkliche Anfunft der Verwandten. Allein nüher betrachtet, müſſen wir jene Notiz des Markus fehr bezweifeln, fie fteht Dicht neben der augenfcheinlichiten Uebertreibung (B. 20); fieht ganz abgebrochen da, ganz ohne im Borhergehenden zu wurzeln; und dem Markus ift ed eigen, zu Erklärung uner- flärlicher Vorfälle hier der Beſuch der Verwandten aus eigenen Mitteln veranjchaulichende Schilderungen beizufügen. leberdieß ward ſchon früher bemerkt, daß nad) den Erzähluns gen von Jeſu übernatürlicher Geburt es fehr undenkbar it, wie feine Mutter in jo hohem Grade au ihm irre werben fonnte.

Gehen wir alfo von des Markus Löſungsverſuch ab, und wenden ung wieder zur Sache ſelbſt. Matthäus und Marku laffen den Befuch grade nach der Vertheidigung Jeſu gegen ben Vorwurf wegen ded Zeufelg folgen; Lukas Dagegen ftellt den Befuch ziemlich lange vor diefe Bertheidigung. Merk mwürdiger Weife aber knüpft aud) er an dieſelbe eine ähnliche Anekdote anz einer Frau, welche feine Mutter felig preist, gibt er eine Antwort, die dem fehr ähnlich it, wag er bei . Anmeldung des Befuches fagt: „Nein; ſelig find die, welche Gottes Wort hören und bewahren“ (Luk. 11, 23). Daß bieß zur Stelle beſſer paſſe, ald der beiden Andern Erzählung. vom Beſuche, muß deßhalb in Abrede geftellt werden, weil gar fein Grund gefunden werden kann, weßhalb die Frau ihre Seligpreifung grade an jene Neden über Austreibung der Zeufel gefnüpft haben fol. Vieimehr mag die Sache fo zu⸗ famntenhängen:- Die Ueberlieferung hatte den fchönen Ausſpruch Jeſu, „daß feine geiftigen Verwandten ihm näher ſtehen, als feine leiblichen“, aufbewahrt; dieſen umfleidete Die Sage, viel: leicht durch einen wirklich hijtorifchen Zug veranlaßt, auf

26, &p nämlich muß diefer Vers verftanden werden, was aus der Intherifchen Ueberſetzung ‚freilich nicht herauszufinden ift:

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doppelte Weiſe mit dem Rahmen einer Gedichte: „Sefus fpradı die Worte, als feine Verwandte ꝛc.“; „er ſprach fie, als jene Frau feine Mutter 20.*). Matthäus und Markus feinen nur die eine diefer Anekdoten gefannt zu haben; Lukas aber, dem fie beide befannt waren, hatte den Befuch einmal ſchon früher gemeldet, fügte alſo hier die zweite Einfleibung bes Ausipruches Jeſu ein.

Siebentes Kapitel. Fortfekung: Die Nangftreitigfeiten unter den Tüngern die Tempelreinigung und die Salbung durch ein Weib.

(Matth. 18, 1—11; 20, 20- 28; Mark. 9, 33 - 37;

Wir kennen mehrere Rangſtreitigkeiten unter den Jüngern welche Jeſus ſchlichten mußte. Eine derſelben iſt allen dreẽ Synoptikern gemein; ſie brach unter ihnen kurz nach der Ver⸗ klaͤrung und der Verkündigung des Leidens aus, und bei dieſer ftellte Sejus den Süngern ein Kind als Muſter (Matth. 18; Mark. 9; Luk. N; eine andere, durch die etwas unbefcheidene Bitte der beiden Brüder Sohannes und Jakobus, um bie erſten Stellen im Neiche angeregte, erzählen Matth. 20, Mark. 105 eine dritte läßt Luk. 22 noch nad) dem Iettten Abends . mahle ausbrechen. Die Gründe, mit welchen Sefus ihre Zäntes reien niederfchlägt , find jedesmal im Wefentlichen fich fehr ähnlich; bemerfenswerth ift e8 befonders, daß der Spruch: „wer unter euch der Größte fein will, fei Aller Diener“ bei allen drei Beranlaffungen in feinen Reden vorkommt, überdieß auch noch von Matthäus (23, 11) in eine große Rede einges

flochten if. Daß nun Sefus viermal ganz Dasfelbe mit faft ganz gleichen Worten gefagt haben fol, wird wohl Niemand glauben fünnen. Vielmehr ift hier eine Verwirrung durch die Sage anzuerfennen; entweder hat fie Diefelben Worte mehreren

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wirklich en Borfällen beigemifcht,, ober aber mehrere Anläffe erdichtet, um fie als Rahmen für diefe Worte zu benußen. Welches von Beiden das Wahre fei, muß fich aus einer Bes teachtung der genannten Facta herausftellen. Nun ift aber Das Aufitellen eines Kindes etwas fo Treffendes und Eigens thũmliches; Die Bitte der beiden Brüder Jakobus und Sohannes fo characteriftifch, daß wir Beides als rein hiftos rifche Facta anerkennen müffen, wenn auch nur Ein Theil des von Sefu dabei Gefprochenen- ganz zu demifelben yaßt. Dagegen nimmt fidy der Rangftreit bei Lukas nad) dem Abends mahle ganz ald eine grundlos eingelegte Scene aus; fie fteht nicht nur ganz ohne Verbindung, fondern uͤnmittelbar nach der niederbeugenden Mittheilung, daß ein Verräther unter den Jüngern ſei, fogar als ſehr unwahrſcheinlich da. Vielmehr verleitete der (22, 23) erzählte Streit unter den Jüngern, wer wohl der Verräther fein möge, aud) hier unfern Lufas dazu, an einen andern Streit zu denken, und biefen ohne Meiteres hier einzufchieben; hatte er ja bei der früheren Ers wähnung des Rangftreites noch nicht alle ihm befannten Antworts reden Sefu erfchöpft, demnach eine feiner Manier zufagende Gelegenheit, Etwas, das er noch im Gedädhtniß hatte, anzu⸗ bringen. Aber auch die Stellung der beiden andern Rangftreitigkeiten ift ohne Zweifel ungefchichtlich, da beide gerade nach einer Leidensverkündung Jeſu, die doch am wenigiten geeignet fein Fonnte, in den Süngern Hochmuthsgedanfen zu erweden, vorgefallen fein ſollen. Vielmehr foheint auch hier Die Verknüpfung der Ideen eine falfche Stellung der Begeben⸗ heit veranlaßt zu haben: weil nämlich das Einemal Jeſu in feiner Antwort an die beiden Brüder Coder nach Matthäus ihre Mutter) auf fein Leiden hingewiefen hatte, jo fiel dem -&vangeliften diefe Anekdote gerade da ein, wo er eben von einer Berfündigung des Leidens gefprochen hatte (Miatth. 20, 18, 21). Eine ähnlicye Sdeenverbindung erzeugte auch die unrichtige Einordnung der andern Begebenheit (Mark. 9, 32—39.

Das Aufftellen Des Kindes ale Diuiter der Demuth erinnert uns an die Erzählung, daß Jeſus einft Kinder, obwohl die Sänger fie abweifen wollten, zu fich rief CMatth. 19, 13 u. A.); obgleich diefe Erzählung mit der vorigen mehrfache Achnlichkeit bat, namentlich darin, daß auch hier die Kinder als Muſter aufgeftellt werben, fo hat fie doch wieder fo viel Eigenthüms liches, und es it das, was Jeſus dabei fpricht, fo ganz in feinem Geiſte, daß an ihrer Aechtheit nicht zu zweifeln ift, wenn aud) die Sage thätig geweien fein mag, beiden etwas verwandten Erzählungen noch mehr Aehnlichkeit zu geben, ale fie urfprünglicy mit einander hatten.

(Matth. 21, 12, 135 Mark. 12, 15—17; Luk. 19, 45, 36;

Bon einer gewaltfamen Tempelreinigung Sefu erzählen und die Synoptifer ſowohl wie Sohannes: jedoch weichen ihre, Erzählungen bedeutend von einander ab; nicht nur in Bezug auf die Zeit, da Johames die Sache bei dem erften, bie . Spnoptifer bei dem legten Aufenthalte in Serufalem gefchehen

laſſen, fondern auch in einzelnen Umftänden, wie in den Reden - Sefu und dem Erfolge feines Verfahrens (vgl. Soh. 2, 18 mit Matth. 21, 23). Manche Ausleger nehmen daher hier wirklich zwei verfchiedene Begebenheiten an, was ihnen um jo. fichyerer erfcheint, da, wie fie fagen, auf die erjte Vertreibung der Krämer zc. der Unfug wohl noch nicht werde aufgehört haben.

Diefe Verjchiedenheiten werden indeß überwogen durd, Die unverkenubare Aehnlichkeit, die andere Züge mit einander haben; Züge, theild der Begebenheit felbft, theild der Neben Jeſu. Wir Dürfen daher au zwei Vorfälle dieſer Art um fo weniger denfen, da offenbar jeder Evangelift nur von Einem etwas weiß, und da die allerdings ftarfe Abweichung in der Zeitbeftimmung bei einer durch, die mündliche Ueberlieferung erhaltenen Gefchichte nicht entfcheidet. In Bezug auf das

J

207

Factum ſelbſt geben die meiften Ausleger der Darftellung des Johannes, ald der anfchaulicheren, den Vorzug; alleius folche Anfchaulichkeit finder fich dei Markus z. B. nicht minder; will man ihn befchuldigen, er habe diefelbe aus eigenen Mits ten zugethan, fo muß auch gegen Sohannes ftrenges Necht geübt werden, deſſen Augenzeugenfchaft nicht vorausgefegt werden darf, und hier befonders zweifelhaft erfcheint. Denn der nur von ihm beigebradıte Zug, Jeſus habe mit einer Peitfche Alle zum Tempel hinausgetrieben, erfcheint doch fo gewaltthätig und felbft unfchicklich, daß fchon Drigenes daran Anſtoß genommen hat.

Auch was Die Zeit der Handlung betrifft, fo hat die Aus gabe des Johannes (ſ. oben) fehr viel gegen fich, indem es doc wohl gar nicht denkbar ift, daß Jeſus ſchon fo frühe, wo er fonft nur in Güte zu wirfen fucht, auf. einmal fo ges waltfam eingefchritten fein follte. Daß er aber nach feinem meſſianiſchen Einzuge in Serufalem dieß gethan, ift weit wahrs fcheinlicher: demm damals mußte er es darauf anlegen, feinen Feinden zum Troße, fich in Allem als Meffias zu zeigen; „das mals ftand Alles ſchon fo fehr auf der Spitze, daß durch einen folhen Schritt nichts mehr zu verlieren war* Doc, fünnen wir über diefen Punkt nicht beftinunt entfcheiden, da genau genommen die Synoptifer gar feine Zeitbejtimmung enthalten, indem fie weder von einer erften, noch von einer letzten, fons dern nur von Einer Reife Sefu nach Serufalem etwas willen, wie wir fchon früher fahen.

Kann aber-das ganze Factum, daß Ein Mann, fo ohne äußere Macht, wie Jeſus, eine ganze Maffe in Schreden ge⸗ jaat habe, glaubhaft gefunden werden? Man erklärt Die Sache einfach für ein Wunder; wir auch, „nämlich für ein Wun⸗ Der der religiöfen Begeifterung, gewirkt durch die umwiders ftehliche Macht, mit welcher das lange verlete Heilige fich oft ‚mit Einem Male gegen feine Verächter Eehrt. *

208

‘oh. 12, 1—8.)

Sämmtliche Evangeliſten erzählen von einer Salbung Jeſu durch ein Weib, jedoch mit bedeutenden Variationen, die ung aber doc, nicht abhalten dürfen, auch hier die verſchieden geftalteten Erzählungen nur Eines Kreigniffes zu erbliden. Weil beſonders Lukas von allen übrigen bedeutend abs weicht, namentlich in der Zeitbeftimmung, indem er Die Bes gebenheit weit früher ftellt, und in der falbenden Perjon, da nur er fie eine „Sünderin“ nennt, während fie bei den - andern eine ganz unbejcholtene Perfon ift, fo nehmen Die meis = ften Exflärer zwei Salbungen an; eine von Lukas, die zweite von den andern Evangeliften erzählt.

Allein will man einmal fcheiden, fo muß man weiter gehen, und auch in den Berichten der brei andern zwei verfchiedene

= Begebenheiten annehmen, da zwifchen dem Des Sohannes, einer—

und denen des Markus und Matthäus andererfeitö eine eben- fo große Differenz ftattfindet, als zwifchen allen dreien zufam- men und dem Lukas. Nach Matthäus und Markus geht die Sache im Haufe eined ausfäsigen Simons vor, höchſtens

zwei Tage vor dem Pafcha, ferner wird die Frau nur

allgemein ald „ein Weib“ bezeichnet; fie gehört nicht zum

Haufe; fie gießt ihre Salbe über das Haupt Jeſu aus;

und allgemein die Sünger find es, die fie tadeln. Alles ans

ders bei Johannes! hier ift das Haus des Lazarus deutlich

als Schauplaß bezeichnet; der Zeit nach gefchieht Die Sache

wenigftend ſechs Tage vor dem Paſcha; die Salbende

ift Die bethanifhe Maria; fie gehört zur Familie;

fie ſalbt Jeſu die Füße; und Sfchariot it es, der ihre

Verſchwendung tabelt.

Sehen wir und alfo durch die Gonfequenz genöthigt, nicht zwei, wenn wir einmal trennen wollen, fondern Drei verfchies dene Salbungen anzunehmen, fo werden wir beffer thun, ums . gekehrt ung zu bemühen, das Factum, das allen, wenn auch fehr abweichenden, Erzählungen zu Grunde liegt, als eins und

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daſſelbe herzuftellen. Denn es it doch ſehr unwahrſcheinlich, daß Jeſus dreimal ſoll geſalbt worden ſein, und zwar ſo, daß jedesmal bei allen Verſchiedenheiten doch auch wieder viele Umſtände ganz dieſelben waren; wie konnten beſonders bie Sünger Jeſu noch zweimal an der Salbung der Frau Anftoß nehmen, wenn er fie ſchon einmal ſo ernſt zurecht⸗ gewieſen hatte?

Zu einer Ausgleichung zeigen ſich Matthäus und Markus zunächit mit Johannes am geneigteften, ba fie beiberfeits Bethanien, als den Drt, die letzte Woche ald die Zeit der Handlung angeben. Ueberrafchend ift aber befonders dag, daß der ferner fichende Lukas hier ben Vermittler machen muß, indem er in vielen Stüden mit Matthäus und Markus, in vielen mit Sohannes übereinftimmt; mit Matthäus und Markus darin, Daß der Saftgeber Simon geheißen, daß die Salbenbe nicht zum Haufe gehörte, ein Foftbares alabafternes Gefäß hatte 20.5 mit Sohannes in der Art, wie die Frau Sefu Füße falbt, was beide faft mit den gleichen Worten erzählen.

Da alfo die Varietäten fo fehr aus allen Erzählungen in alle hinüberfließen, fo haben wir ohne Zweifel nur Ein Factum vor uns, das in mehrfache Formen von der bildenden Sage umgeftaltet wurde. Es fragt ſich nun nody, ob die verfchiedenen Evangeliften in ihren Abweichungen einander wirklich oder nur fcheinbar widerfprechen? Das Lebtere haben viele Theologen umſonſt zu erweifen gefuchtz zunädyft in Bezug auf Johannes und die beiden erften Evangeliſten. Denn erſtens läßt ſich die chronologifche Differenz nicht dadurch wegdemionftriren, Daß man annimmt, obgleich Matthäus, ehe er 26, 6 die Ers zählung beginnt, fchon V. 2 fage, es fei noch zwei Tage bie zum Pafcha, fo behaupte er gar nicht, daß erft jeßt Die Salbung gefchehe, fondern trage fie lediglich nach, um Die Urfache des nun zu erzählenden Verrathes von Judas ans ſchaulich zu machen; allein dann hätte er Sefum viel ftärfer und ganz beftimmt den Judas müſſen tadeln laffen, nicht aber alle feine Sünger, und zwar fehr fanft und milde. Noch

‚270 \ '

ungfücficher ift der .Berfuch ausgefallen, Die Angaben über die Derfon des Gaftgebers in Lebereinftimmung zu bringen; dem von Matthäus und Marfus genannten Simon fol nur das Haus gehört haben, in welchem der eigentliche Gaftgeber Lazarıd zur Miethe gewohnt habe! Seit wann bezeichnet man ein Gaftmahl durch den Namen des Hauseigenthümers? Eben fo hinkt die Annahme, Martha fei des verftorbenen Simon Fran gewefen, und bei ihr habe fich ihr Bruder Lazarus auch

: aufgehalten; dann aber mußte doc, wohl Martha ale Wirthin _ bezeichnet werden. Die Ausgleichung der verfchiedenen = Arten der Salbung, bald des Fußes, bald des Haupted ftreift gar in's Komifche, indem man, die ältere Anficht, es S fei beides gefchehen, aufgebend, annimmt, die Frau habe zwar nur die Füße falben wollen, allein da fie das Gefaäͤß— gebrochen habe, fei ein Theil der Salbe auch an das Haupt Jeſu gefo.nmenz; nun mußte diefe Salbe, wenn wir die Frau - nicht gar zu ungeſchickt denfen wollen, wie ein ſchäumendes Getränk nach oben zu gefprigt fein! Daß bei Matthäus und - Markus die Sünger im Allgemeinen die Frau tadeln, nicht aber Judas allein, wie bei Johannes, will man dahin be= richtigen, daß alle durch Gebärden, Judas allein aber durch Worte Unwillen auggefprochen haben; wenn aber die beiden erften, die unmittelbar darauf den Berrath des Sudag ers zählen, irgend etwas von einem folchen Dervorbrängen des⸗ felben gewußt hätten, fie hätten es ficher gefagt. Eben fo wenig hätten fie den Namen ber falbenden Frau verfchwiegen, wenn er ihnen befannt gewefen wäre; denn gerade bei. ihnen ftellt Jefus ihre That in rühmenden Worten fo hoch (Matth. 26, 13).

Nicht minder fehwierig ift eine Vereinigung des Lukas mit den übrigen; namentlicy macht, um Anderes zu übergehen, der Umftand, daß Lukas allein die Frau eine Sünderin nennt, da e8 bei Johannes fogar die edle Maria von Bethanien gewefen, es unmöglich, Frieden zu ftiften. Mit der Behaups tung, weil Jeſus der Frau gefagt: „dir find deine Sünder- vergeben (Luf. 7, 48)“, was fich auf eine ung unbekannte leichte Verſchuldung beziehe, fo habe dieß der Berichterftatter

mißverſtanden, und bie Frau für eine Sünberkt in gemeinem Sinne gehalten, reichen wir nicht aus. Denn alebann hat er geradezu Alles entſtellt; duch Jeſus fpricht ja von vielen Sünden (®. 47) und feine ganze Rede dreht ſich um ben Gedanken, „wer viel liebe, dem werde viel vergeben“.

- Rein, es müfjen alle oder mehrere unferer Erzählungen in det Sage bedeutende Umbildungen erfahren haben, und es fragt ſich nur, welche berfelben fteht der Wahrheit noch am nächften? Die neueren Ausleger geben faft fänmtlich dem vierten Evangelium in diefer Hinficyt den Vorzug, weil fie vonder erft zu erweifenden Vorausſetzung aus⸗ gehen, fein Berfaffer fei der Apoftel, demnad, ein Augenzeuge. Damit reicht man eben fo wenig aus, ald mit der gerühmten Anfchaulichfeit feiner Darftelung; denn dieſe zeigt ſich öfters als baare Unmwahrfcheinlichfeit, Die man einem andern nicht hingehen laffen würde; wie übertrieben ift fein „Pfund Narden“ die Schätung des Werthed auf 300 Denare und auch die Fußfalbung mit foftbaren Salben ift gegen bie gewöhnliche Eitte.

Schon oben fahen wir, daß den Synoptifern die Namen weder der falbenden Frau, noch bes tadelnden Jüngers bes kannt gewefen fein fünnen, weil fie dann allen Grund hatten, diefelben anzugeben; find es aber dem Johannes zufolge Maria und Judas gewefen, fo muß man es fehr auffallend finden, daß fie in der Ueberlieferung fick fo ganz follen vers Ioren haben. Denn beide Perfonen find auch fonft befannt genug; was fie hier thun, ift fo ganz in ihrem Charafter, daß man fchwer begreift, wie Die Sage ihre Namen nicht aud) hier feitgehalten hat. Man fünnte daher verfucht fein, ums gefehrt die Namensbezeichnung des Sohannes als ausjchmücens den Zufab zu betrachten, gemacht nach innerer Wahrfcheinlichkeit, und auf feiner Seite die geringere hiftorifche Wahrheit zu finden. Dieß ift jedody, wenigſtens in Bezug auf die ber thanifhe Maria nicht rathfam; denn aus dem ganzen vierten Evangelium geht hervor, daß feinem Verfafler das Berhältniß

u

Jeſu zur bethanifchen Familie des Lazarus gang befonbers be- fannt war. Auch überliefern uns die andern Evangeliten ges _ wiffe Züge aus dieſem Verhältmffe (3. B. Matth. 21, 175 Mark. 11, 112.5 Luk. 10, 38 ꝛc. u. A.), die ung eine Hul⸗ Digung, wie die hier erzählte, grade von jener Maria fehr glaublich machen. Unerflärlich bleibt es freilich, wie Die Ueber— lieferung in unſerer Erzählung die Namen verlieren Fonnte Daß aber Lufas die Salbende zur Sünderin macht, kan— nur aus einer Bermenguug zweier, ganz getrennter, Be— gebenheiten erklärt werden; vielleicht daß hier die, Soh. 8__

1 x. erzählte, Gefihichte von der Ehebrecherii zu Grunde liegt.

Drucfebler und Verbefferungen.

Da der Verfaffer die Correctur nicht felbft beforgen Fonnte, fo haben ſich, troß der fehr danfenswerthen Sorgfalt, welche die Berlagshandlung auf den Druck diefer Schrift verwendet bat, dennoch mehrere Fehler eingefhlichen, was bei der fehwierigen Bes ſchaffenheit des Manuferiptes kaum anderd zu erwarten war. Ich bebe für jebt nur aus den erſten eilf Bogen, mit Uebergehung Heinerer Verftöße, nachfolgende Drudfebler heraus, die zum Theile . zugleich auch Schreibfehler fein mögen, und die ich vor dem Ges brauche zu verbeffern bitte. Die etwa noch übrigen werden am Ende der zweiten Abtheilung verzeichnet werden. 6. 13, 3. 18 lies: Beinem, flatt: Beinen. » 27 u Tv u. l. erhielten, fl. enthielten. 239 TI diefer, fl. zweier. 34 ,, 4 1. Behanptung, fl. Annahme. vr 36 ,, 37 1. andern, ft. andere. „36 ,, 21 1. erkannte, ft. erkannten. » 42 ,, 44 1. Iyana, fl. Ihyäna.

I. der, fl. des.

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46 ,„ 1

» 846 6v. u. l. müſſe, ft. müßte.

47,, 41. basfelbe, ft. diefelbe.

» 47 m 3». u. l. angeborne, fl. angegebene.

»„ 52 Tv. u. if „den“ vor „Glauben“ zu tilgen.

55 44 v. u. I. Befrembdendes, ft. Befonderes.

‚59 ,, 12 von unten iſt nach „unverkennbare“ einzufchalten: Neigung “.

80 sv u. l. der, fl. de.

83 TE Empfängniß, ft. Schwangerfchaft.

» 95 2». m. I. vorkommt, fl. verkannt.

97m 11. Lukas, ft. Elifabeth.

„, 403 ,, 4% I. anfehen, fl. anfahen.

11 ,, 42 1. endet, fl. enden.

ML ,, iſt „er“ zu tilgen.

‚„ 115 ,, 21. dieſelbe, ft. derfelbe.

115 ,„, iv. n. l. diefelben, fl. denſelben.

S. 124, 8. 14 1. Feſten, ft. Faſten. 128 ,, 16 v. u. ift an die Etelle des , dad Wort „uni zn feßen.

vr A 7, 3 und fonft l. Lyſanias, ft. Eyfanias. 432 u. l. tragen, fl. trugen. . „» 339 ,, 6 if vor „in“ noch „wie“ zu feben. „» 4140 ,„, 413 dv. u. iſt „er“ zu tilgen. 140 u. 1. Heiliges Lamm, fl. heilige Lam 142 ,, ATI. feiner, ft. feine. | „143 31 fol, ft. will. „343 ,, 18 v. u. l. Eonnte, ft. könnte. „164 ,, 8 iſt vor „drängt“ noch „fo“ zu fepen. 16% ,„ 39. u. l. demnach, ft. dennoch. „4166, IL nur, fl. und. 2

168 ,, 12 ift vpr „verfucht“ noch „beſonders zu ſetzen. „171, 7v. u. l. den, fl. dem.

„» 473 , 121. Hiegegen, ſt. Hingegen.

„» 17% ,, 49 ift „ganz“ nach „Gebot“ zu tilgen.

„» 376 ,, 43 1. „Jeſus zuerft“, ft. „er zuerft“.

[3

Strang und die Coangelien, 3weite Abtheilung. Dein - Zen , . i *

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283

ver Engel, des Meffias ıc.), biefelben aus dem Körper des keidenden zu entfernen; hierfür hatte man gewilfe ftehende Sormeln, die von Salomon herrühren follten. Da auch der Rranfe in der Regel einen feiten Glauben an die Wirkfamfeit tiefer Heilmethode hatte, und da die Urfachen folcher Kranfs yeiten oft im Nervenſyſteme lag, auf welches Vorftellungen md Stimmungen unverfennbaren Einfluß haben, fo wurden ohne Zweifel viele derfelben, ohne alles Wunder, auf folchem Wege wirklich geheilt. Auch Jeſus fol durch fein bloßes Wort böſe Geiſter ausgetrieben haben; wir wollen bie bes merfenswertheften Heilungen diefer Art furz in Betrachtung iehen.

@inzelne Heilungen.

(Mark. 1, 23—28;5 Luk. 4, 33 37; fodann Matth. 8, 28 34; Marf. 5, 1—10; Luk. 8, 26— 39; endlic) Matth. 17, 14— 215 Mark. 9, 14— 29; Luk. 9,

37— 44.)

Die erfte der Art, welcher wir begegnen, ift zugleidy, dem kukas und Markus zufolge, das erfte Wunder überhaupt, das Jeſus nach feiner Taufe verrichtet: die Heilung eines Befeffenen in der Synagoge zu Kapernaum. Bei diefer ift das Auffallendfte, daß der im Kranken wohnende böfe Geift (sder Dämon) Iefum fogleich nad) Deffen gewaltiger Predigt als den Meſſias erfennt und vor ihm, ale feinem Verderber, nsittern beginnt. Mit den natürlichen Auslegern anzunehmen, er Kranfe habe von den Anmefenden vernommen, daß Jeſus er Meſſias fei, und habe nun diefe Kunde mit feiner Vor⸗ tellung in Zufammenhang gebracht ꝛc., dieß iſt unftatthaft, ndem es nicht nur den Worten bed Tertes widerfpricht, fondern uch fogar unmöglich ift, da gewiß nod Niemand damals jefum für den Meffias hielt. Vielmehr geht aus der Antwort jefir deutlich hervor, daß er jene Kenntniß des Leidenden von ner Mefftanität einzig auf Rechnung des in ihm wohnenden Yamon feßte; denn er gebietet Diefem zu fchmweigen, wie r and) anderwärts die böfen Geifter, die er austrieb, bes

276 F u 42* ur Per)

biefes verhärtete, verderbte Gefchlecht, das neben der ganzen, eine Mahnung an alles Volk enthaltenden, Erfcheinung Sefu, wie eimft Jona den Niniviten war, noch einzelne Wunder verlangte, oder gar Zeichen vom Himmel herab (Ruf. 11, 16). Daß er aber dennoch unaufgefordert vielfache Wunder vers richtete, dieß muß als unzweifelhaft angenommen werben. Wenn aud, in der Apoftelgefchichte und in den apoftolifchen Briefen fehr wenig von ihnen die Rebe ift, und nur auf die Auferftehung überall das größte Gewicht gelegt wird, fo bes weist dieß nichts gegen die Fülle von Wundererzählungen in der evangelifchen Ueberlieferung; und waren fie durch diefe einmal der Vergeſſenheit entzogen, wozu ihrer noch häufig gedenfen? Hierzu kommt, daß die Apoftel Doch wenigftens in der erften Zeit nad, Jeſu Tode das Volk an alle „Thaten, Zeichen und Wunder“ erinnerten, die ed von ibm gefehen hatte (Apoftelg. 2, 22). Endlich ſchreibt ja der Apoftel Pau⸗ lus ſich felbft eine von Chriſtus verliehene Wunderkraft zu (GRöm. 15, 19; 2 Kor. 12, 12) und rechnet die Kraft, Wun⸗ der zu thun, unter die verfchiedenen in der Gemeinde ver- theilten Gaben. Wie viel mehr mußte von Chriſtus der Glauben feftftehen, daß er viele und große Wunder verrichtet habe:

Es entfteht aber, ehe wir die einzelnen Nachrichten über diejelben näher prüfen, ſchon im Allgemeinen hier die Frage: Widerfprechen dieſe Wundererzählungen nicht geradezu den in der Einleitung (ſ. ©. 49 der erften Abtheilung) entwickelten Grundfägen? Allerdings, infofern man nämlich unter Wun⸗ dern folche Eimwirfungen auf Menfchen und finnliche Gegens fände verfteht,, bei Denen alle natürlichen Gefeße von Urfache und Wirfung umgangen werden, die nur durch den einfachen Willen Jeſu hervorgebradjt worden; wir müffen daher ſchon bier folche wirkliche, reine Wunder, wie die Erwedung eines Todten, bie Vermehrung der Brode, Verwandlung des Waſ⸗ fers ꝛc. für fchlehthin undenfbar erflären. Viele andere Wunder aber find von Der Art, daß fie bei genauer Betrach⸗ tung vielleicht gar nicht ald wirkliche Wunder erfcheinen, vielmehr nur Ausflüffe folcher ganz natürlichen Kräfte find, bie in tiefer DBerborgenheit wirten, daher im gewöhnlidyen

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Leben weit weniger beobachtet, und berem Wirkungen, weil fie .fo überrafchenbe fi find, gar gerne ald Wunder betrachtet werden. So hat in neuerer Zeit ber thieriihe Magnetis⸗ mus ums wirkende Kräfte in dem Menfchen kennen lehren, Die wir vorher nicht geahnet hatten; im magnetifchen Zuftande vermag das bloße Auflegen der Hand zu heilen, ja das Wort und felbft auch nur der bloße Wille des Magnetifivenden reis ‚hen bin, um eine Wirkung in dem Andern Made: ebenfalld bewirkt der Magnetismus in dem Hells und Fernſehen eine uns noch unbegreifliche Steigerung des Er⸗ Tenntnißvermögeng,

Dieß Alles halten wir aber, auch wenn wir ed und nicht erflären können, doch für nichts Uebernatürliches; ja, je mehr wir in fonft verborgene Naturkraͤfte eindringen, befto weniger find wir geneigt, am eigenfliche Wunder zu glauben: dem immer mehr erfcheint ung dann die Natur als ein unendlich fein gegliederte Ganze, in welches Gott von außen her nicht

ſtörend eingreifen wird, weil ed dadurch wirklich zerflört würde. Inwiefern nım aus diefen neueren Beobachtungen ſich manche für Wunder gehaltene Thaten Jeſu erflären Iaffen, wird bei der nun beginnenden Betrachtung der einzelnen zur Sprache fommenz für jest haben wir nur folgende allge⸗ meine Bemerkung voranzuſchicken.

Sollten wir auch viele der Wunder Jeſu als Ausflüſſe ſolcher tiefer liegenden natürlichen Fähigkeiten uns denken und ſomit als wirklich geſchehen annehmen können, ſo würde uns dies doch fein Beweis für das Alleinwahre feiner Lehre und das Göttliche feines Charakters fein, denn die Kraft magnetifcher Einwirkung ift, wie die Erfahrung lehrt, keines⸗ wegs eine Folge befonderer Froͤmmigkeit oder nothwendig mit höherer fittlicher Kraft verbunden; das fogenannte Hellſehen ift fogar immer Folge einer gewiffen Bemwußtlofigfeit. Auch dba, wo folche Erfcheinungen fonft noch vorkommen, wie in Zuftänden ungewöhnlicher, z. B. religiöfer Begeifterung, find fie niemals Kennzeichen höherer Wahrheit, fondern hoͤchſtens nur der lebhafteren Bewegung aller Seelenkraͤfte.

Wenn es alſo auch nahe liegt, zu erwarten, Jeſus, der ſo Außerordentliches in dem geiſtigen Leben der Meinen

s

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bewirfte, werde auch einer ungewöhnlichen Einwirfung auf das leibliche fähig geweſen jein, fo kann doch weder das Borhandenfein einer folchen Wirfungsfraft großen Werth für uns haben, noch auch könnte das Mangeln berfelben unfern fonftigen Glauben an Jeſum ftören oder beeinträchtigen.

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Zweites Kapitel. Die Austreibungen böſer Geiſter.

Wir eröffnen die Betrachtung der einzelnen Wunderthaten mit den Heilungen der Dämoniſchen oder Beſeſſenen, welche in den drei erſten Evangelien eine ſo wichtige Rolle ſpielen, und daher da, wo von vielen Heilungen ſchlechthin die Rede iſt (Matth. 8, 16; Mark. 1, 39; Luk. 6, 18 u. A.), gewiß niemals fehlen.

Ad Beſeſſene werden vorzüglich ſolche Leidende bezeichs net, welche wahnſinnig oder mondſüchtig geworden ſind; die gadareniſchen Beſeſſenen ſind es bis zur wüthenden Tobſucht, und bei Andern tritt noch Fallſucht mit wildem Geſchrei hinzu. Seltener iſt es, daß auch Stumme (Matth. 9, 32 u. A.) und durch Gicht Gekrümmte (Luk. 13, 11) Beſeſſene genannt werden.

Nach der herrſchenden Vorſtellung beſteht das Leiden dieſer Unglücklichen darin, daß ein unreiner Geiſt ſich ihrer bemädh- tigt hat, «daher der Ausdrud „fie haben den böfen Geift“) und nun aus ihnen redet (Matth. 8, 31) und ihre Glieds maßen in Bewegung ſetzt; wenn daher der Kranfe geheilt wird, fo heißt ed: „der böfe Geift wird ausgetrieben und verläßt den Menfchen.“ Diefe Anficht ift auch die der Evangeliten, und, wie fich nicht augen läßt, die von Jeſu felöft; denn er felbft fordert feine Fünger auf, „böſe Geifter auszınreiben (Matth. 10, 8)* ohne ihnen auch nur einen Wink zu geben, daß er dad uneigentlich meine; ja Matth. 12, 43 45, um von andern Stellen zu fchweigen, gibt er eine fo genaue und buchftäbliche Befchreibung von dem „Aug fahren böfer Seifter“, daB man durch Feine der Windungen,

279 die mit dieſer entfcheidenden Stelle verfucht worden find, Der Röthigung entgehen kann, auch Jeſu bie zu feiner Zeit herrs fhenden Borftellungen zuzufchreiben. Denn als bloß bildlich kann man dieſe Ausfprüche Jeſu fchon dem Wortfinne nadı nicht nehmen; noch weniger aber, wenn man bedenkt, daß fie in der Darftellung des Lukas (11, 24) in unmittelbare Vers bindung wit wirklichen Geijteraustreibungen gefeßt find. leberhaupt aber bejchreibt Jeſus mehrmals das Reich des Teufels und die ihm dienenden Geifter fehr beftimmt und deutlich (Matth. 12, 25 u. A.), und bezeichnet das Austreis ben böfer Geifter durch feine Tünger ald einen Sieg über die Macht des Feindes“ (Luk. 10, 19; vgl. mit V. 17). Es iſt alfo wohl nicht zu bezweifeln, daß Sefus ebenfalls, wie feine Zeitgenoffen, gewiffe leidende Zuftände als ein wirkliches Weſeſſenſein des Menfchen von irgend einem freindartigen, & öfen Geifte betrachtete, der im Dienfte des Satans ftehe. Barum aber auch daran Anftoß nehmen, daß Jeſus diefe, Mmach unferer Anfiht irrige, Borftellung hatte? Es be- merkt ja ſchon Paulus ganz richtig, daß auch der ausge⸗ Zeichnetſte Geift dieſe und jene unrichtige Zeitborftellung gar »zvohl theilen fünne, wenn er fie nicht zum befondern Gegens ſtande feined Nachdenfend gemacht habe.

Fragen wir nun nach dem Urfprunge diefer Vorftellung, Daß böfe Geifter von dem Leibe des Menfchen fürmlich Bes fig nehmen, fo werden wir, wie früher bei Der Lehre von den Engeln Ci. ©. 73), auf den Einfluß gewiefen, den das perfiiche Religionsſyſtem auch auf das der Hebraer ausübte. Dort fand ſich die Vorftelung von gemiffen, fchon vor ber Menfchenwelt entftandenen, von Haufe aus böfen Geiftern; ein Glauben, den auch die Suden annahmen, jedoch mit der Befchranfung, daß fie diefe Geifter nicht als urfprünglich böfe, fondern als anfänglich gute, dann aber gefallene Engel betrachteten; dieſes find die böfen Geifter, die dem ober ften derfelben, dem Satane, dienen, und eine Freude daran haben, von dem Körper irgend eines Menfchen Beſitz zu neh⸗ men, um ihn zu plagen. Die jüdifche Voritellung fügte ihnen ferner noch die Seelen der, mit den Töchtern der Menfchen

erzeugten, Söhne jener gefallenen Engel, ſo wie Die Ver

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großen Verbrecher vor ber Eunbdfinth bei. Anch bie nen⸗te⸗ flamentlichen Schriftfteller werden wohl dieſe Anficht von den böfen Geiftern gehabt haben; dem überall, wo fein Grund zum Gegentheil vorliegt, müflen wir annehmen, daß die jüdis ſche Denkweiſe ihrer Zeit auch die ihrige war. Deßhalb ift es auch ohne Zweifel falih, was einige Theologen behaup⸗ ten, daß nämlid im neuen Zeitament die böfen Geifter für Seelen verftorbener böjer Menſchen überbaupt gehalten werden. Erſtlich findet fid) dafür im neuen Teſtament felbit fein Beweis; denn die Erzählung, dag Herodes „Sefum für den (doch wohl leiblich!) wieder auferitandenen (wir wollen hoffen, guten!) Täufer gehalten habe (Matth. 14, 2)“ be; weist doch wohl fait weniger, ald Nichts. Zweitens treffen wir dieſe Anficht allerdings bei fpäteren jüdiichen und chriſtlichen Schriftitellern (Joſephus, Juſtin 20.35 fo wie fie bie gewöhnliche der Heiden iſt, die auch bafe Geiſter ald Plage⸗ geifter der Menichen annahmen, fie aber nur für die Seelen abgeftorbener böjer Menſchen fchon darım halten mußten, weil ihren religiöfen Vorftellungen der Teufel nebft fammtlis hem Hofſtaate von gefallenen Engeln ꝛc. des Gänzlichen mangelte, Allein, um zu unjerer Behauptung zurüdzufehren, zu der Zeit, in welche die Begebenheiten des neuen Teitamen; tes fallen, war den Juden, und demnach auch Sefu und den erften Chriften, nur jene frühere Vorſtellung geläufig, nicht dieſe fpätere jüdiſch-heidniſche.

Sp betraditete aud) die ältere Theologie die Sache; fchlicht und einfach machte fie jene Vorftellung Jeſu und des neuen Teftamentes überhaupt auch zu der ihrigen; aus Scheu, biefen zu widerfprechen, und zu ehrlich, um an den Worten bes Evangeliums heimlich zu drehen. Neuere Theologen jes doch, die ihre Drthodorie retten, und fie aber auch wit ben durch die Wiffenfchaften gewonnenen Wahrheiten in Einklang bringen möchten, fehen, wie dieß namentlich bei Olshauſen der Fall it, ſich zu den feltfamften Onerzügen genöthigt, wie ſich fogleich zeigen wird.

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aben, leicht die Sage bilden, fie ſeien wieber in andere Kör⸗ ne gefahren, und zwar, ihrem Gefchmade entfprechend, in he unveiner Thiere. Ferner aber war es nichts Seltenes, 8 jüdifche und heidniſche Befchwörer den anszutreibenden . Beiftern befahlen, bei ihrem Ausfahren nahe ftehende Gegen- linde, 3. B. Waflergefäffe, Standbilder ıc. umzumwerfen, m die Zufchauer durch die That zu überzeugen, daß fie aus em Körper des Kranken in die weite Welt hinausgefahren en. Ein folcher Beweis der wirklich vollführten Austreis ung konnte nun gar leicht auch bei Jeſus nothwendig erſchei⸗ en, und da einmal von der Sage die Schweine in fo nahe jerbindung mit dem Alte gebracht waren, fo lag ja nichte über, als fie auch zum Zeugniß der wirklich erfolgten Aus⸗ reibung zu benugen. Dieß gaben fie aber dadurch am aufs alendften ab, wenn fie durch die Gewalt der ausgetriebenen, ſinſauſenden, böfen Geifter in das ihnen fonft verhaßte Ele- went Des Waſſers hinabgefchleudert wurden.

Wir kommen alfo zu dem Refultate, daß zwar die Heilung eines oder zweier Befeflenen von bejonders fchmwieriger Krank: beitsforın nicht bezweifelt werden kann, daß aber viele einzelne Züge in der Erzählung als Zuthaten der Sage zu betrachten ſind.

Die dritte umſtändliche Austreibungsgeſchichte (Matth. 17, 14 u.f.w.) hat das Beſondere, daß vorher die Sünger Jeſu vergeblich die Heilung des Kranken verfucht hatten. In en wesentlichen Punkten ftimmen allerdings die drei Synop⸗ ifer überein; in Einzelnheiten aber weichen fie von einander b, und zwar in der Art, daß Matthäus den einfachften, Rarfus aber den ausführlichften und anfchaulichften, alfo ich ohne Zweifel den von fpäterer Sage am meiften gefärbe- n Bericht hat. Dieß zeigt fich nantentlich in dem verfchie- nartigen Verhalten des Volkes: nach Matthäus (DB. 14) tritt Jeſu nur zufällig in den Weg, ald er vom Verklärungs⸗ xg herabfam; nach Lufas (DB. 37) fam es ihm abfichtlich itgegen; bei Markus (VB. 15) flürzt es ihm entgegen und egrüßt ihn, nachdem es fich vor ihm „entfeßt“ hatte. Jieß Letztere kann wohl nur fo erklärt werben, daß Jeſus

11, 19

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erften Aderlaffe noch die beklemmende Schwierigkeit übrig, glaub: lich zu machen, daß wirflicy ein fremder böfer Geift, wenn auch nur bei Wenigen, zwifchen Seele und Körper hineinges fchlüpft fein fole. Daher hilft man nun weiter damit ang, daß der böfe Geift, der in die Menfchen fahre, nicht als- ein beftimmter, einzelner Geift, ald abgefchloffenes Weſen, fon: dern nur allgemein als Ausflug und Wirkung des böfen Prin- zips zu betrachten, demnach ganz unperſönlich fei. Allein Damit wird Die Sache nur noch fchlunmer. Denn nicht nur fteht Diefe Erklärung im geraden Miderfpruche mit dem neuen ZTeftamente Corgl. 3. B. Marf. 3, 9; fondern fie führt auch zu wahren Ungereimtheiten. Es müßte ihr zufolge ja der Schlechtefte am meiften von böfen Geiftern befeffen fein, wenn diefe nur Ausflüffe des Böſen fein follen; dem ift aber nicht fo, und ein Judas Sfcharioth geht ganz frei Durch, wäh- rend er gewiß fchlechter war, als alle Befeffene im neuen Teftamente zufammengenommen. Soll aber nur etwa der vom böfen Geifte ergriffen werden, der zmifchen Gut und Bös noch ſchwankt? Dann müßten Alle, die diefen Kampf durchmach⸗ ten, einmal beſeſſen geweſen fein! Soll ein geſchwächtes Ners venſyſtem erforderlich fein, um diefen Zuftand hervorzubringen? allein Leute mit ſchwachen Nerven find doch wohl nicht auch immer fchlechter, als folche, die ftarfe haben? Es müßte aber doch das böfe Prinzip, wenn man es fidy einmal als eine felbitftändige Kraft denfen will, entweder mit feinen Ausflüf- fen nothwendig bei Den Menfchen am meilten ausrichten, Die am empfänglichiten dafür, d. h. fehon an fich fihlechter als Andere find; und dieß ift, wie wir fahen, nicht der Fall; oder es muß bier eine Willfür und Zufälligfeit anges nommen werden, die unferen Gefühlen eben fo fehr, wie Dem Verſtande Hohn fpricht. Erkennen wir vielmehr an, daß wir num einmal die neusteftamentlichen Borftelungen in diefem Punkte nicht zu den unfrigen machen können; daß fie aber dennoch vorhanden find !

Diefen Vorftellungen gemäß war auch das Heilverfahren, das man einzufchlagen pflegte; man fuchte duch Worte, durch Beſchwörungen bei dem Namen derjenigen Wefen, denen man Gewalt über die böfen Geifter zufchrieb (3. B. Gottes,

*

Bu ⁊* vu. D - "5" —F .. F \ u 285 j 1

‚der Eugel, des Meſſias 1.) :biefelben end. dem ‚Körper bes

Beibenben zu entfernen; hierfür hatte-:mam gewiſſe -ftehenbe Formeln, die von Salomon herrühren follten. Da auch ber

Kreauke in der, Regel einen fefteri Glauben an die Wirkfamteit

biefer Heilmethode hatte, und ba die. Urſachen ſolcher Krank⸗ heiten oft im Nervenſyſteme lag, auf welches Vorſtellungen und Stimmungen unverkennbaren Einfluß haben, ſo wurden ohne Zweifel viele derſelben, ohne alles Wunder, auf ſolchem Wege wirklich geheilt. Auch Jeſus ſoll durch ſein bloßes Wort böſe Geiſter ausgetrieben haben; wir wollen bie bes mertenswertheften Deilungen Diele | Art t kurz in Betrachtung ram. nn ;

| Einzelne Heilungen.

Hart. 1, 23—28; Luk. 4, 33 37; ſodann Matth. 8, 83; Mark. 5, 1—10; Luk. 8, 6 39; endlich Matth. 17, 14—21; Mark, 9, 14—29; Eur. d, 3744.) J

Die erſte der Art, welcher wir begegnen, iſt zugleich, dem Lukas und Markus zufolge, das erfte Wunder überhaupt, das Jeſus nach feiner Taufe verrichtet: die Heilung eines Befeffenen in der Synagoge zu Kapernaum. Bei diefer iſt das Auffallendite, daß der im Kranken wohnende böfe Geiſt {sder Dämon) Jeſum fogleich nach deffen gewaltiger Predigt als den Meſſias erkennt und vor ihm, als feinem Verberber, zu zittern beginnt. Mit den natürlichen Auslegern anzunehmen; der Kranke habe von den Anmefenden: vernommen, daß Jeſus ber Meſſias fei, und habe nun diefe Kımde mit feiner Bors ſtellung in Zufammenhang gebracht ꝛc., dieß iſt unftatthaft, indem es nicht nur den Worten bes Tertes widerfpricht, ſondern auch fogar unmöglich ift, da gewiß noch Niemand damals Sefum für den Meffias hielt. Vielmehr geht aus der Antwort Jeſn deutlich hervor, daß. er jene Kenntniß des Leidenden von feiner Meffianität einzig auf Rechnung des in ihm wohnenden Dämon ſetzte; denn er gebietet Diefem zu ſchweigen, wie er auch auberwärts: Die böfen Geiſter, die. er austeiwb , de⸗

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drohete, daß „fie ihn nicht offenbar machten (Mark. 3, 12 u. A)“: „denn, feßt Marfus (1, 39 hinzu, fie fannten ihn.“ |

Daß nun aber wirklich der böfe Geift hier, oder anders wärts, die Mefftanität Jeſu erfannt haben follte, dieß können wir natürlicy nicht glauben, da wir ja weder ein Beſeſſen⸗ fein, noch überhaupt die Eriftenz böfer Geifter annehmen können. Wohl aber ift es denkbar, daß ein in krankhafter Ertafe ſich befindender Menfch auf eine Weife, wie fie an. Magnetifchen und Somnambülen oft betrachtet worden ift, an den Empfins dungen und Gedanken eined Andern durch lebhaftes Hineins fühlen in deffen Inneres Theil nehmen fünnen; und auf folchem Wege mag denn auch in unferm Falle, wo Ief fo chen aus dem vollen Gefühle feiner Mefftanität gefprochen hatte, ber Kranfe eine Wahrnehmung von berfelben erhalten haben. War aber diefed der Fall, „fo ging auch Wort und Wille Jeſu, den Dämon anszutreiben, in unmittelbarer Stärfe und Wirkſamkeit auf den NHellfehenden über*. Man ift alfo nicht zu der Annahme genöthigt, daß jene auffallende Kenntniß des Kranfen reine Zuthat der den Mefftad nad) jüdiichen Borftellungen verherrlichenden chriltlichen Leberlieferung fei.

Eine andere Heilung Befelfener, die der beiden Gadare⸗ ner, deren böfe Geifter in Die Schweine fahren (f. die Stellen), bietet fchon darum größere Schwierigfeiten dar, weil die einzelnen evangelifchen Berichte fo jehr von einander abweichen, namentlich die des Markus und Lufas von dem ded Matthäus, dag nur einer von beiden der richtige fein fan. Nach Matthäus waren ed zwei Beſeſſene; nad) Lukas und Markus nur Einer, diefee Eine aber von vielen Dämonen befeffen; wer hier Precht hat, ift kaum zu entfcheiden. Wenn es auch felten der Kal ift, daß zwei Nafende, bejonders fo mwüthende, wie die Gadarener, mit einander Ichen, fo beweist dieß doch noch nicht, daß Matthäus das Faliche hat; es Fonnte aus der urfprünglichen Ueberlieferung von mehreren böfen Geiftern in Einem Menfchen allerdings Leicht die fpätere Annahme, es feien audy mehrere Beſeſſene geweſen, ſich bilden; eben fo

. möglich aber ift ed, daß bie ſpaͤtere Umbiſdung ber Sage aus \ zwei Befeflenen einen machte, um bad Ungewoͤhnliche bes

Zuſtandes, viele Damönen naͤmlich in Einem Menichen,. um fo mehr hervorzuheben. Gleichfalls muͤſſen wir es unentichieben

laſſen, 06 bie einfache und kurze Schilberung ber ober bes

Befeffenen bei Matthäus (8, 28) oder bie weit ausführlichere in Mark. 5, 3—5 und Lu. 8, 27, 29 die urfprüngliche fei: denn Ausmalung gegebener kurzer Züge: it eben fo Geichäft ber Sage, ald ungenaue Zufammenziehung ausgeführter Er⸗ Ablungen; eritered jebody das gemöhnlichere, weil die Sage .

wehr im Dienite der verjchwenberiichen Phantafle, ale des

frarfamen Berftanbes ſteht. Auch hier, wie bei der erften Erzählung, wird Jeſus fogleich

von ben böfen Geiltern erfaunt; allein ba wohl Riemanb den

oder dem Kafenden, melden Niemand zu nahen wagte, gejagt hahen wird, wer ber eben an's Land Geftiegene (Matth. 8, 28) war; und da ferner an einen magnetifchen Rapport aus fo weiter Ferne (denn ſogleich nad, Jeſu Ankunft wird er von den Dämonen Meffiad genannt ) nicht gedacht werden Tann, fo wird man hier diefen Zug als fpäteren, aus jüdifchen Borftellungen entnommenen, Zuſatz anerfennen müffen. Ueber: dieß weichen die Berichte in Bezug auf denfelben fehr von einander ab; und die Öteigerung, bie fie bilden, verräth deutlich den Trieb der Sage, zu verherrlichen. Bei Matthäus entfeßen die -böfen Geifter ſich vor der Nähe des fie vers zichtenden Meſſias (V. 29), bei Lukas fleht ihn der Beſeſſene fußfallig an, ihm nicht zu plagen (V. 28), und bei Markus laͤnſt er ihm gar fchon von Weiten entgegen (B. 6). Daß tegteres bei dem menfchenfcheuen Wahnfinnigen das Unmwahrs ſcheinlichſte ift, leuchtet von felbft ein; davon aber, was Einige in des Markus Erzählung finden wollten, daß nämlich der Arme einige lichte Augenblide gehabt und in diefen ſich Jeſu genähert habe, kann feine Nede fein, da des Evangeliſten Worte V. 6 zu enge zufanmmenhängen, als daß man Etwas hinein fchieben fünnte, ohne es ihm aufzuzwingen. Am natürlichiten und einfachſten klingt noch die Darftellung des Matthäus, die den Schreden der böfen Geiſter recht lebhaft und ſcharf zeichnet,

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Noch anitößiger und wahrhaft ftorend it in den Berichten ded Markus und Lukas der nachträgliche Zuſatz, Seins habe dem böfen Geiſte jchon vor der Anrede geboten, auszu⸗ fahren (f. Marf. B. 8, wo Luther jtatt des „denn“ im Terte ein unrichtiges, die Eache entitellendes „aber“ ſetzte; und Luf. V. 23, wo cd heifen muß: „er hatte geboten“). Schon das Nachträgliche iſt bier verdächtig, und man fieht feinen Punkt in der früheren Erzählung, wo es eingefchoben werden könnte; überdies müßte ja nach Marfus (B. 6) Jeſus fchon aus weiter Ferne dem böjen Geilte zugerufen haben. Bielmehr fcheint ed ganz fo, daß dem Erzähler (denn das Evangelium Markus ift bekanntlich Auszug aus Lufas oder Matthäus) erſt hinterher einftel, die flchentliche Bitte dei böfen Geiites fei Folge einer harten Drohung Sefu gewefenz er fügte diefe aljo noch bei, gab aber damit feiner eigener Darftelung, die offenbar auf ein wunderbares, Seju vers herrlichendes, Erkennen desſelben durch die Dämonen angeleg 1 war, eine ganz andere Wendung, die nur dazu dienen kann, unfer Mißtranen gegen dieſe ganze Parthie in der Gefchichte zu fchärfen.

Dad Unglaubliche aber häuft ſich bei jedem Schritte Den beiden mittleren Evangelien zufolge antworten die böfer Geifter auf Sefu Frage: „Welchen Namen trägit du?“ mi den Worten: „Mein Name ift Legion (d. h. eine große Menge)“ Diefer, bei Matthäus fehlende, Zufag hat fcher an fich viel Unwahrfcheinliches, und feheint den folgenden, wc erzählt wird, daß die Geifter in eine ganze Heerde vor Schweinen gefahren, zur Einleitung dienen zu follen, Damis wir ſchon zum Voraus mwiffen, daß etwa eben fo viel böfe Seifter in dem Menfchen, ald Schweine in der Heerde vor handen gewefen feien. Aber abgejehen von diefer Antwort. fo iſt die Sache felbft, daß nämlich viele Geilter von Einen Menſchen Beſitz genommen haben follen, ganz undenkbar. Denn da der Wittelpunft des Geiftes, oder beffer, die Spitze desfelben doc, immer das Bewußtfein ift und die daraus her⸗ vorgehende Einheit des Denfend und Handelns, da im Einem Körper nicht mehrere Berftande, nicht mehrere Willen, nicht getrennte Perfönlicykeiten ſtecken können, fo ift eine ſolche

‚287 Lielheit einzelner, vollftändiger Geiſter in Einem Leibe etwas sein Unmögliches, wenn wir auch nicht, wie oben: gezeigt; das Eindringen eines fremben Geifted in einen: menfchlichen Körper fchon an fi unglaublich finden müßten

Das Bedenklichite it aber der Schluß ber Erzählung, Imt welchem Jeſus die böfen. Geiſter auf ihre Bitte in eine Heerde Schweine fahren läßt, worauf diefe dann fammt und ſeuders im See umgelommen: fein follen (Matth. V. 30 ꝛc.; Nark. 2. 11; Luk. 3. 32). Eine ſolche Bitte könnte allens falls ein jübifcher MWahnfinniger thun,. bem aus feinem ger - Auben Zuftande die jüdiſche Borftellung geblieben, daß böfe Geiſter nothwendig in einem Leibe wohnen müflen, weil fie shne denſelben ‚ihre finnlichen Lüfte nicht befriedigen können; wie aber Dämonen, angenommen auch, fie wohnen in einem Menſchen und werden daraus vertrieben, den gaͤnzlich unver Rünftigen Wunſch hegen können, in Thiere zu fahren, bieß iſt ſchwer zu begreifen. Und daß es nun gar wirflich ale gefchehen fei, wie die Evangelien berichten, ift doch wohl als ganz unmöglic, zu betrachten: Geifter in Schweine fahren! Selbft orthodore Theologen nennen fo Etwas. Skandal und Aergerniß“; durch gezwungene Erflärung es zu entfernen, will ihnen aber nicht gelingen; die Worte lauten zu beſtimmt Dahin, daß die Geifter aus dem Menfchen und in die Schweine gefahren feien G. B. Luf. 8, 33). Eben fo wenig befriedigt

Die natürliche Erklärung, welche die Sache fo faßt, daß wicht Die Dämonen, fondern die Befeffenen auf die Schweine

Yosgerannt feien und diefe in fo heillofe Verwirrung gebracht

haben; auch hier ftoßen wir an ber fatalen harten Wand des .

unläugbaren Wortfinnes an! Mit einem Neueren an eine

magifche Ableitung der Krankheit in die Schweineheerde zu denfen, geht auch nicht an, da wir noch gar Feine Beifpiele dafür aufweifen Fünnen, daß krankhafte Seelen» Zuftände eined Menfchen auf magifche Weile in Thierfürper übergehen konnen. Doc, gefebt, ed wäre möglich, wie anftößig wäre in unferem Falle die Wirkung eines folchen Uebergehens ges weien! alle Schweine nämlih ertrinfen! Was half es um bie böfen Geifter, in Schweine gefahzen zu fein, wenn fie ſelb ſt dieſelben ins Waſſer jagten, wid Ienadıy ide ol:

De. \

L_ 7 en

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balb der eben erft gewonnenen eblen leiblichen Hülle wieder beraubten ? Die Ausflucht, daß der mit Gefchrei auf die Schweine losſtürzende Bejeflene diefelben nur ſchen gemacht, und daß nur ein Theil ertrunken fei, it ganz gegen die Worte des Tertes (3. B. Mark. V. 13). Wie anflößig iſt es ferner, daß Jeſus durch diefen Ausgang ber Heilung bie Eigenthümer der Schweine in fo großen Schaden gebracht haben fol! Wenn die Orthodoxen fagen, Sefus habe wohl; um die Menfchen zu retten, Thiere opfern dürfen, fo bedenken fie nicht, daß fie Damit die von ihnen behauptete unbegrängte Macht Jeſu über die böfen Geiiter wieder beichränfen, indem fie ung zur Frage nöthigen: Konnte. denn Jeſus feine andere Herberge für die Dämonen finden, ald die Schweine, bie num durch feine Schuld den Eigenthümern entzogen wurden? Daß er aber, wie Andere darauf entgegnen, als ein göttliches Weſen nicht verantwortlich fein folle für die Mittel, die er zu feinem Zwede gebraucht, dag heißt ihn, gegen die apoitolifche Lehre (Sal. 4, 4; Phil. 2, 7), gänzlic, dem Kreife Des Menſch⸗ lihyen entheben und ung entfremden. Eben fo fehr widers fireitet der biblifchen Anficht ein anderer Ausweg, den man hat ergreifen wollen, daß nämlidh für Jeſu der Erfolg feiner Heilung unerwartet geweſen fei.

Diefe vielfachen Anjtöße und die Unmöglichfeit, durch ftichhaltige Erklärungen fie zu entfernen, bat fchon frühe manche Theologen genöthigt, an der gefchichtlichen Treue der Erzählung zu zweifeln, und namentlich den Untergang ber Schweine aus andern, mit der Geiiteraustreibung nicht im Verbindung ftehenden Urfachen abzuleiten. Hingegen ijt aber mit Recht ‘erinnert worden, dieſer Zug hänge fo genau mit der ganzen Erzählung zufammen, daß man entweder ihm dieſen Zufammenhang laſſen, oder ihn für ganz erdichter erklären müffe. Diefes Lestere, mas wir nad) allem Dbigen noths wendig anzınchmen genöthigt find, wird durch folgende Er⸗ wägungen fehr wahrjcheinlich.

Da, wie wir oben fahen, die böſen Geiſter nad) jüdifcher Borftellung eines Leibes zu ihrem unbeiligen Leben bedürfen, jo konnte ſich ans der Boranefekung, auch hier werden bie vertriebenen Dämonen wieder eine neue Wohnung gefucht

haben, leicht Die Sage bilden, fie ſeien wieder in andere wir yer gefahren, und zwar, ihrem Gefchmade entfprechend, bie unreiner Thiere, Ferner aber war es nichts Seltenes, daß jüdifche und heidnifche Beſchwörer den auszutreibenden . Geiſtern befahlen, bei ihrem Ansfahren nahe ftehende Gegen» Rinde, 3. B. Waffergefälle, Standbilder sc. umzumwerfen, mm die Zufchauer durch Die That zu überzeugen, daß fie aus dem Körper des Kranfen in die weite Welt hinausgefahren fin. Ein folcher Beweis der wirklich vollführten Austreis bung konnte nun gar leicht auch bei Jeſus nothwendig erfchei- wen, und da einmal von der Sage die Schweine in fo nahe Berbindung mit dem Akte gebracht waren, fo lag ja nichts söher, ald fie auch zum Zeugniß der wirflich erfolgten Auss teibung zu benugen. Dieß gaben fie aber dadurch am aufs fallendſten ab, wenn fie durd) die Gewalt der ausgetriebenen, hinfaufenden, böfen Geifter in das ihnen fonft verhaßte Ele⸗ ment des Waſſers hinabgefchleudert wurden.

Wir kommen alfo zu dem Refultate, daß zwar die Heilung. eined oder zweier Befeflenen von befonders fchmieriger Krank⸗ heitsform nicht bezweifelt werben kann, daß aber viele einzelne Züge in der Erzählung als Zuthaten der Sage zu betrachten iind.

Die dritte umſtändliche Austreibungsgefchichte (Matth. 1 17, 14 u. ſ. w.) hat das Befondere, daß vorher die Sünger Jeſu vergeblich die Heilung des Kranken verfucht hatten. In den wefentlichen Punkten ſtimmen allerdings die drei Synop⸗ tifer überein; in Einzelnheiten aber weichen fie von einander ab, und zwar in der Art, daß Matthäus den einfachiten, Markus aber den ansführlichften und anfchanlichften, alfo auch ohne Zweifel den von fpäterer Sage am meilten gefärb- ten Bericht hat. Dieß zeigt fich namentlich in Dem verfchies denartigen Verhalten des Volkes: nach Matthäus (B. 14) tritt 8 Jeſu nur zufällig in den Weg, ale er vom Verklärungs- berg herabkam; nadı Lukas (V. 37) kam es ihm abfichtlid, entgegen; bei Markus (V. 15) ftürzt es ihm entgegen und begrüßt ihn, nachdem es fich vor ihm „entfeßt“ hatte. Dieß Letztere kann wohl mur fo erklärt. werden, DAR Send u. 49 -

noch eben jo von dem Glanze der Verklärung, von weicher fo eben zurückkehrte, umleuchtet war, wie Mofes nach feinem: Herabfteigen vom Sinai, und ift daher als reine Zuthat der Sage zu betrachten, was gleicfalld von dem, auch nur dem Markus eigenthümlichen Zuge, daß Schriftgelehrte, ald Je⸗ fus anfam, grade befchäftigt waren, die Jünger über das Mißlingen ihrer Heilungeverfuche „auszufragen ®. 1, au genommen werden muß, da er. eine offenbare.. Rachbilbung deffen ift, was Markus an anderer Stelle (8, 11) Jeſu ſelbſt begegnen läßt. Dagegen mögen andere Ausmalungen deö Markus, die ebenfalls bei den Andern fehlen, daß z. B. der Knabe ftumm und taub gewefen (®: 17 u. 25), daß er nad ber Heilung wie todt bagelegen und Sefus ihn aufgerichtet babe (V. 26 u. 27), ganz gefchichtlich und wahr fein.

0 Eine .befondere Betrachtung. verdienen noch die Worte Sefu, die er ausfprach, als er von. der verunglücten Kur feiner Zünger hörte: „OD du ungläubiges und verfchrtes Ges ſchlecht!“ (Matth. 17, 170.4.) Diefe Worte bezieht Markus offenbar auf das Volk, namentlich die Schriftgelehrs ten, und ganz bejonders auf den Bater des Kranfen, ber fpäter Sefum feinen Unglauben unter Thränen gefteht. Daß der Unglauben des Kranfen oder auch des Heilenden der Heis lung ftörend entgegentreten Fünne, müffen wir zugeben; wie aber der eines Dritten in diefer Beziehung nachtheilig fein fünnte, ift doch in der That unbegreiflih. Daher verdient auch hier Matthäus den Borzug, dem zufolge Jeſus mit jenen Morten ohne Zweifel feine Sünger meint, deren fchwacher Glauben ihnen folcye. Heilungen unmöglich mache; denn als fie ihn fpäter um’ die Urfache des Mißlingens befragen, gibt er ihnen als folche ganz beftimmt ihren Unglauben an und preist die Kraft. des Glaubens (17, 19, 20): und grade diefe orte fehlen in der Antwort Sefu bei Marfus und Lukas “ganz. Darin aber fimmt wenigftens Markus mit Matthäus überein, daß Sefus feinen Süngern gefagt habe, durch Beten und Faſten müſſe die Kraft des Glaubens geftärkt werben (Mattb. B. 21, Mark. B. 29): was Jeſus gewiß and) von den Heilenden verftcht. Denn diefen Ausfpruch mit Paus Ins fo zu deuten, daß Jeſus dem Gcheilten noch Beten

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amd Faſten empfohlen habe, damit bie Kur volkftändig werde, verftößt nicht mur ‚gegen den Wortlaut biefed Ausſpruches und der ganzen Erzählung C vergl. Matth. V. 18), fondern auch gegen ben.Charafter aller evangelifchen Berichte von ben Heilungen Jeſu, die fanmtlich plögliche und augenblidliche, nicht aber allmaͤlige find,

Die übrigen, nur ganz kurz erzählten, Heilungen Beſeſſener bedürfen nach dem, was oben über ſolche Geiſteraustreibungen im Allgemeinen ſchon gefagt ift,. feiner befondern Beſprechung.

Dagegen: mögen noch zwei, die Dämonenaustreibungen überhaupt betreffenden Fragen hier kurz ‚behandelt werben. „Iſt es denkbar, daß Jeſus im Stande war, folche Hei⸗ lungen ohne alle Heilmittel, nur durch die Kraft feines Geis ſtes, zu bewirken?“ Allerdings; bei foldyen Fällen nämlich, wo die Krankheit einzig oder doch überwiegend Geiſtes⸗ kanfheit, alfo reine Verrücktheit, war, wie bei Dem Befeffenen in Der Synagoge zu Kapernaum (ſ. ©. 283); denn .Sefug hatte als Prophet und fpäterhin als Meffias fo großes Ans fehen, und feine großartige Perfünlichkeit mochte oft einen fo

- überwältigenden Eindruck bewirken, daß dieſer Eindrud bei Geijtesfranfen wohl eine Heilung herbeiführen konnte. In Fällen aber, wo. in Folge der Geiſteskrankheit fchon eine bes deutende Zerrüttung des Nervenfyitemd eingetreten und mit rein körperlichen Gebrechen (Fallfucht, Stummheit ıc.) vers bunden war, wie in den beiden andern Erzählungen: in ſolchen Fällen können wir eine fihnelle Heilung nur Durch . geiftigen Einfluß und durch die bloßen Worte Sefu nicht wohl annehmen; um fo weniger, da bier nicht einmal eine Berührung mit der Hand jtattfand, alfo auch nicht von . Einwirkung magnetijcher Kraft die Nede fein kann. Auch der Umftand, daß Jeſu alle Heilverfuche der Art gelungen fein follen, führt und darauf, daß, wie in fo. vielen Stüden, ſo auch bei den Erzählungen von Oeiteraustreibungen die Sage nicht müßig war; daß fie verherrlichte und vergrößerte, und das dem Wunderglauben Auftößige in der Geſchichte allmälig verwiſchte. Bei manchem Kranfen mochte wieleicht au wu

202 ein augenblidlicher Stillſtand, eine vorübergehende Nüdfehr zum Berfiande eingetreten fein, ohne daß er dadurch vor ſpaͤ⸗ teren Rüdfällen bewahrt worden wäre.

„Barum berichtet Sohannes fo gar nichtd von irgend einer Geifteraustreibung?* Ein Zeichen größerer Aufklaͤ⸗ rung des Evangeliften follte man, wie Einige es thun, doch nicht darin erbliden wollen; denn woher follte er fie haben, da die Anficht, daß die von uns befprochenen Krankheiten Wir: ‚hungen böfee Geifter feien, ganz allgemein in Paläftina, und auch die von Sefu, des Sohannes Vorbild, war? Hatte er aber wirflidy eine ricdjtigere, fo war es ja Pflicht, den ges teübteren Darftellungen der Synoptifer durch die ächtere ents gegen zu treten. Wenn Andere fein Schweigen dadurch erklären, daß er feinem Zwede gemäß nur die noch nicht aus ‘den andern Evangelien bekannten Ereigniſſe erzähle, jo muß - man eine folche Ausflucht eine rein veraltete nennen; denn— wie Vieles erzählt Sohannes, was auch die Andern haben, und ſchon die bedeutenden Abweichungen der Synoptifer im diefen Heilungsgefchichten mußten ihn veranlaflen, den eigente= lichen Hergang berichtigend zu erzählen. Sol Johannes wie Andere fagen, diefe Gefchichten verfchwiegen haben, un bei den griechifchen Chriſten, für die er vorzüglich ſchrieb⸗— feinen Anftoß zu erregen? Damit hätte er offenbar gegen— feine apoftolifchhe Pflicht gehandelt. Wenn wir alfo jene Frage auf Leine befriedigende Weife löfen, und aud die Berichte der Synoptifer nicht als ganz ungefcyichtlich verwers= fen fönnen, fo muß das Schweigen ded Evangeliums gegen - die Aechtheit desfelben bedeutende Zweifel in und erregen; felbft Neander gefteht: „daß auf den Gründen dieſer Aus⸗ laffung ein gewiſſes Dunfel ruhe“, und „für mid) gehört fein Stillfchweigen zu den bedenflichiten Eigenthümlichfeiten des vierten Evangeliums *.

203 , Drittes Kapitel Seilungen yon Gelähmten, Ansfäkigen und

Blinden.

Nach den Geiſteraustreibungen nehmen die nächte Stelle isr den wunderbaren Heilungen Jeſu die ber Gliederfrans E en ein, ber Lahmen, Verdörrten und Gichtbrüchigen; denn eruf foldye beruft ſich Jeſus ganz namentlich (Matth. 11, 5), aund fie erregen ganz befonders das Staunen bei dem Volke C Matth. 15, 31). Unter Gichtbrüchigen, Die von Lahmen rusdrüdlich unterfchieden werden, verftehen die Evangeliften maberhaupt Kranfe, die durch gichtifche Zufälle gelähmt Kind, wenn auch nur theilweife, und zwar fowohl ſchmerzlos Matth. 9, 2), ald unter quälenden Schmerzen (Matth. 8, 6) Selähmte 7).

Die Heilung Eines berfelben (von ben übrigen wird bei anderer Gelegenheit die Rede fein) wird von allen drei Sys noptifern erzählt, und zwar fo, daß auch hier wieder M. die einfachite, Markus die anfchaulichite, und, wie wir auch hier ung enticheiden müffen, M. die glaubwürdigfte, Markus die fagenhaftefte Darftellung gibt. Laut des M. fchlichtem Berichte bringt man den Kranken auf einem Tragbette zu Jeſu und er heilt ihn; Lufas aber läßt fchon dieſes Tragbett „durch die Ziegel“ des Hauſes, worin Sefus fich befand, zu Diefem gelangen, weil der Andrang der ihm nachflrömenden Menge zu groß war, ald daß man dem gewöhnlichen Ein⸗ gange ſich hätte nähern fünnen. Die Häufer im Morgenlande hatten nämlich auch in dem platten Dache eine Thüre, und durch dieſe ließ man, dem Lufas zufolge, den Kranken auf dem Bette, wahrfcheinlich mit Striden, in das Haus hinab. Sn Markus indeffen fteigert fich die Darftellung noch höher, indem hier fogar das Dach eingefchlagen wird, um den Kranken zu Sefu hinab zu bringen (®. 4). Ein foldyes Vers fahren, das ſich durch gezwungene Deutung der Worte nicht

7, Der fo oft citirte Matthäus möge fortan einfad) ı mit M. be zeichnet werden,

| | 284 N wegerklaren läßt, iſt nun doch wohl gewagt. unb abentenerlich genug, um zu dem Urtheile zu berechtigen, daß, wie oben ſchon angedentet worden, des Markus Bericht ein von der

Sage theilweife umgeftalteter ſei. Dazu konnte fie veranlaßt werden durch das Beftreben, den ſchon in des Lukas Dar

| ſtellung fichtbaren Eifer des Volkes, durch alle Hinderniſſe hindurch zu Jeſu zu gelangen, in’ das hellſte Licht zu ſetzen.

‚Aber eben deßwegen erfcheint ung auch ſchon des Lukas Dars ſtellung als eine durch das gleiche Beftreben getrübte, wenn wir fie mit dem fchlichten M. vergleichen, der ganz einfach erzählt, Sefus habe den „Glauben“ der Leite gefehen.

In der Erzählung von ber eigentlichen. Heilung weichen die Evangeliften nicht von einander ab, und es fragt ſich ums nur, wie wie. und dei Erfolg, den Jeſu Verfahren hatte . (M. 9, 6 u. 7), zu erflären haben. Da Jeſus gar wohl „eine der magnetiſchen ähnliche Heilfraft *, der Kranfe das gegen eine Glaubenskraft befeffen haben kann, die ihn ber

höchſten Gemüthserregung fähig machte, fo find wir „nicht bes

vechtigt, diefe Erzählung ohne Weiteres aus dem Kreife bes Sefchichtlichen auszufchließen +. Das aber die, ſchon in Je⸗ faia 35, 6 enthaltene, Erwartung von der meffianifchen Zeit, es werbe in berfelben eine Menge von Wundern gefchehen, und namentlich „der’Lahme fpringen wie ein Hirfch“ Daß biefe fo beftimmt misgeprägte Borftelung wenigftens auf Die Geftaltung unferer Erzählung eingewirkt habe, bieß anzu⸗ nehmen, liegt allerdings nahe genug.

Noch Ein Zug unferer Gefchichte bedarf einer näheren Betrachtung. - Sefus fagt nämlidy dem Kranken: „Deine Süns

den find Dir vergeben!“ und als. die Pharifäer fich daran

ärgern, beweist er ihnen feine Macht, Sünden zu vergeben, durch Die noch höhere Heilkraft, die er fofort an dem Krans fen bewährt. Dadurch gibt Jeſus offenbar zu erfennen, daß er die ſchon im alten Teſtamente angedeutete und fpäter fehr ausgebildete jüdifche Vorſtellung, Uebel und Krankheiten feien überall Folge von Sünden, daß er dieje Borftelling auch zu der feinigen gemadht hat. Denn daß er fih. nur ber Anficht des Kranfen anbequemt habe, um. die Heilung zu fördern, dürften wir höchſtens nur dann annehmen, wenn

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293

wir ans andern Stellen wüßten, daß es Jeſu mit dieſer Meinung nicht Ernft war; allein dieß läßt fich durchaus nicht erweiſen. Zwar erflärt er Luk. 13, 1 2c., die Unfälle, weld;e gewiffe Galiläer ‚betroffen hätten, feien Fein Beweis, daß dieſe größere Sünder geweſen, als die andern; allein, wenn er -

num hinzufegt: „Auch Euch, wenn She Euch nicht beffert, wird gleiches Unglück treffen“, fo beffätigt er ja grade bie.

berrfchende Meinung, daß Sünde unfehlbar äußeres Unglüd berbeiführe, nur bei dem Einen früher, als bei dem Andern. Eben. fo wenig beweist die Stelle, Soh. 9, 1—3, no ‚er, über einen Blindgebornen befragt, antwortet, deffen Leiden rühre weder von feinen Sünden (denn nad) der Lehre dır Rabbinen konnte man fchon im Mutterleibe. fündigen), noch von denen feiner Aeltern her; denn nur über dieſen einzelnen Fall ſpricht er fich hier aus, und hätte er jene. jüdifche Ans

ficht überhaupt beftreiten wollen, fo würde er ohne Zweifel .

ſich ganz anderd ausgedrüdt haben. . Aber Sohannes felbit, . der und dieſen Borfall- erzählt, beftätigt e&, daß Jeſus diefe- Vorſtellung wirflich hatte; denn 5, 14 läßt er ihn zu einem fo eben geheilten Kranken fagen: „Sündige fernerhin nicht mehr, damit es Die nicht noch fchlimmer ergehe!“ "Da die verfuchte Deutung diefer Worte, ale habe Jeſus gewußt, des Mannes Krankheit fei Folge gewiffer Ausfchweifungen, in’ der Erzählung nicht den geringiten Haltpunft hat, fo ift doch wohl die natürlichite Auslegung audy hier Die, anzuerkennen, Sefus habe ebenfalls Krankheiten für unmittelbare Folge der Sünden gehalten. Denn eine unbefangene und redliche Erfläs . rungsweiſe darf. feinen Anftoß daran nehmen, wenn fie zu Tage bringt, daß Sefus BVorftellungen gehabt habt, die wir nicht zu den unferigen machen können; Wahrheit geht auch bier über Alles. Daher dürfen wir endlich auch Das -ung nicht bergen, daß diefe Anficht von Krankheit und Uebel mit der 3. B. im Eingange der Bergpredigt ausgefprochenen ebio⸗ nitiſchen: der Gerechte müffe auf Erden viel leiden Cfiche Th. 1, ©. 223), im Widerfprud, ficht. „Aber wir können ja doch nicht wiffen, ob er den Widerſtreit zweter ihm von verfchiedenen Seiten der damaligen jüdischen Bildung her gebotes nen Weltanfchauungen nicht irgendwie in-fic, geloſt hatte *.

tt

2906

(M. 8, 1243 Mark. 1, 40 45; Luk. 5, 12— 15; ſodann , 17, 1219.)

Auch die Ausfägigen fpielen unter den von Jeſu Ge⸗ heilten eine nicht unbedeutende Rolle; außer allgemeinen Er⸗ waͤhnungen ſolcher Heilungen werden zwei derſelben ausführ⸗ lich erwähnt.

Die erite diefer Erzählungen CM. 8, 1) gibt uns Anlaß, das Verfahren der natürlichen Erflärungsweife recht genau fennen zu lernen. Die Evangeliften erzählen: „ein Kranker habe Jeſum angefleht, ihn vom Ausfage zu reinigen; Darauf habe diefer ihn berührt, und gefagt: „„Ich will ed; werbe gereinigt! *“ und fogleich fei der Ausfägige gereinigt wors den“ (M.8, 2,3). Dieß erklärt Paulus fo: „Der Kranke, der fchon auf dem Wege der Genefung war, bat Sefum, ihn für rein zu erflären °9). Jeſus fagte: „„Sch will es““ befühlte dann zu genauer Unterfuchung, jedoch vorfichtig, Den Ausſätzigen, fand, daB er nicht mehr. anfteddend fei, und ſprach dann weiter: „„Du bit für rein erflärt““; wirklich ward der Ausfägige bald und leicht ganz rein.“ Vergleichen wir dieſe wirklich unnatürliche natürliche Erklärung mit dem fo eben dargelegten ganz buchftäblicyen Inhalte der evangelis fhen Berichte, fo ergeben ſich folgende nicht unbedeutende Berftöße gegen den Wortlaut: 1) Davon, daß der Kranfe fhon der Heilung entgegen ging, findet ſich nirgends eine Spur; 2) das Wort, das wir mit „reinigen“ überfeßten, fönnte zwar auch wohl „für rein erklären“ heißen; allein dann müßte ed in dem ganzen Abfchnitte diefe Bedeutung beis behalten, oder die verfchiedene Bedeutung bier Fenntlich ges macht fein; 3) daß zwifchen die fo innig verbundenen Worte: „Sch will e8; werde rein“ die umfländliche Handlung des Befühlens u. A. hineingezwängt wird, iſt fehr gewaltfam; überdieß wird das Wort „berühren“ ftets nur von der heis lenden, nicht von der unterfuchenden Hand gebraucht;

22, Dem Gefebe gemäß (3 Mof. 14, 2) durfte Fein Ausfähiger in die Gefellichaft zurückehren, ehe er von einem Priefter oder Rabbi Für rein erklärt worden war.

305

Viertes Kapitel Nnwilltürliche Seilungen, SDeilungen in bie Gerne und Sabbat: Seilungen.

CM. 9, 20—22; Marl. 5, 33—34; Put. 8, 4348.)

Es bleiben uns zunäcft noch zwei merhvürdige :Arten son Heilungen zu betrachten übrig: Die unmillfürlichen und die aus der Kerne. Die erfteren, deren Jeſus eine große Menge bewirkt haben fol (Matth. 14, 35, 36. u. 4.) beftehen darin, daß Kranfe jeder Art nur durch die, Berühs tung von Sefu Leib oder Gewand gefund wurden; ohne: feinen Willen, oft ohne fein Vorherwiſſen, ſtrömt eine heilende Kraft von ihm aus; er gibt fie nicht, fondern fie wird ihm abge⸗ onmen; denn fie liegt nicht in feinem Willen, fonbern in ſeinem Leibe und deſſen Umhüllung.

Eine dieſer Heilungen wird uns von allen Synoptikein wöihrlich erzählt, Die einer blutflüſſigen Frau; jedoch wei⸗ dm fie von einander,. namentlich M. von den beiden andern, bedeutend ab; ihre Erzählungen für die zwei verfchiedener Borfalle zu halten, geht aber ſchon darum nicht an, weil bei allen dreien diefe Heilung in unmittelbare Verbindung mit ber Wiedererweckung von des Jairus Tochter gefebt if. Vielmehr if die Darftellung des M. unverkennbar die ältere und eins fahere, und bie Abweichungen der beiden andern erfcheinen als fpätere Ausfchmücdungen. Laut M. war die Frau 12 Jahre lang krank (V. 20); Lukas (V. 43) läßt fie all ihre Gut an Aerzte wenden, ohne daß es geholfen, und Markus gar läßt fe Vieles von vielen Aerzten erleiden (B.26); bei M. iR Jeſus nur von feinen Süngern umgeben, als die Frau ihn rührt, er ſchaut ſich um, erkennt fie nnd rühmt ihren Glau⸗ en; in ben beiden anbern fteht die Frau mitten im Gedränge es Bolfes, er fühlt, daß bei dem Berühren der Frau eine eraft von ihm aueftrömt, und ſucht Daher die, welche durch zerührung ihm dieſelbe entloct hat. Hier ift doch wohl ein erjchönerndes Ausmalen unverfennbar; bei Markus und vnlas t Alles ſeltſamer, grandioſer, wunderbarer.

Halten wir aber nun aber den Allen gemeinſamen Inhalt

1l. 20

208

(2 Moſ. 4, 6, 7; 4 Mof. 12, 10) und‘ Euſa (2 Kin. : 5; vgl. Luk. 4, 27) erzählt werben, fo fchien ‚hinter Diefen ber

größte aller Propheten wicht zuruckbleiben zu dürfen.

Die zw eite der. ausfthelcher erzählten Seilungen von Ausfägigen findet. ſich nur bei Lukas (17, 12); da bier nicht ausdtücklich gefagt wird, daß Jeſus die Kranken -geheilt habe, fondern er nur zu ihnen fagt: Zeiget Euch den Prieftern*, fo hat man. hier. mit aller .Sicherheit annehmen zu fönnen geglaubt, es ſei nur von einer Reinerflärung die Rede. Allein dein wiberfpricht das fußfältige Danfen B. 16, mehr noch die Worte V. 15: „Da er fah, daß er rein geworden“, am meiften aber ®. 14: „Und es geſchah, daß fie im Weggehen gefund wurden“. Wir haben alfo aud) hier eine wunderbare Heilung, über welche wir dasfelbe behaupten müfjen, wie über bie erſte. Da indeß als die Hauptfache die Danfbarfeit bes Samariters &. 15—19) hervorgehoben. wird, fo fünnte es auch wohl möglich fein, daß mit der Sage von irgend einer wunderbaren Heilung fich eine ähnliche Parabel, wie bie ebenfall® nur dem Lufas eigenthümliche vom barmherzigen Samariter, verſchmolzen haͤtte.

(WM. 20, 29-34; Mark. 10, 46—52; Luk. 18, 35 —43; fobann Mark. 8, 22—26 u. 7, 32—37; endlich Joh. 9.)

Nicht minder wichtig find die Blindenheilungen; auch ‚von bdiefen ift theils öfters im Allgemeinen die Rede (Matth. 11, 5, 15, 30), theils werden einzelne derfelben ausführlicher erzählt; dieſe legtern haben wir nachher zu betrachten. |

Alle Synoptifer berichten : eine folche in der Nähe von Jericho vorgenommene, weichen aber in ſo weſentlichen Punkten von einander ab, daß es unmöglich iſt, ſie in Ueber⸗ einſtimmung zu bringen; dem M. zufolge wurden Cum - des Unwichtigeren nicht zu gedenken) zwei Blinde (B. 30) geheilt; Markus (®. 46) und Lukas (®. 35) wiffen nur von Einem; Lukas läßt die Sache vor, dem Einzuge Sefu in

oo: 200 | | bie Stabt gefchehen.; die beiden andern (M. V. 29, Marf. V. 29) erzählen, daß die Heilung erft nach der Abreife von Sericho ftattgefunden habe. Da reichen num alle Berfuche, zu vermitteln, wie 3. B.: wer nur von Einer vede, laͤugne "damit nicht, daß es zwei geweſen, ober: M..habe wohl den Begleiter des Blinden für einen zweiten Blinden gehal⸗ ten 2c., gar nicht ans, um von ber unheilbaren Berjdjieden« heit -der Ortsangabe nicht zu reden. Es haben ſich Daher ſchon ältere Theologen dazu verftehen müflen, zwei Heilungen anzunehmen, ‚die eine bei'm Einzuge in, die andere bei'm Auszuge aus Jericho. Allein damit ift die Differenz zwi⸗ ſchen einem. und zwei Blinden nicht gehoben, und will: man einmal ſcheiden, fo muß man folgerichtig drei Heilungen ans nehmen: Ein Blinder bei'm Einzuge, Einer beim Auszuge, Zwei beim Auszuge. Wer. aber wird es für wahrſcheinlich halten können, daß. auch nur zweis, gefchweige breimal. fo viele einzelne Umftände ?°) bei einer Heilung ganz auf die gleiche Weiſe eingetreten fein ſollen? Konnten insbeſondere die Bes gleiter Jeſu bilfefuchende Kranfe noch eins ober gar zweimal abweifen (M. V. 31), nachdem fie aus Jeſu Benehmen ers Fannt hatten, daß er eine ſolche Zurüdweifung mißbillige ?

Es bleibt alfo nur der Ausweg übrig, auch hier die Thätige keit der Sage anzuerfennen, und anzunchmen, entweder, daß biefe mehreren Vorfällen allmälig eine ganz ähnliche Geftalt gegeben, oder, daß fie aus Einem Borfalle mehrere Varias tionen gebildet habe. Diefes Letztere ift offenbar das Natürlich, fte, weil es auch fonft jo häufig gefchieht. Ob nun aber die Heilung vor.oder hinter Jericho ftatt hatte, müffen wir unents fehieden laffen; dagegen ift es mwahrfcheinlich, daß nur Einer geheilt wurde. Dem M., der allein von Zweien redet, konnte leicht durd, die Erinnerung an eine nur ihm eigenthümliche Heilung von zwei Blinden (9, 27—31) veranlaßt werden, auch bei Sericho zwei anzunehmen; überhaupt fehen diefe beiden Erzählungen des M. (Kap. 9 und 20) einander jo ähnlich, daß unverlennbar Züge der einen in die andere übergegangen find:

> Wir müffen den Lefer erfuchen, bie betreffenden Stellen in den . Evangelien nachzulefen.

Treten wir nun näher zu der Sache felbfl, der plößlichen Heilung, heran, fo wird uns eine folche noch unglaublicher, ald die des Ausſatzes. Denn ein fo rein fürperfiches Uebel, wie die Blindheit iſt, kann fo wenig dem Glauben an einen großen Mann und rein geiftigen Anregungen weichen, daß wir defien Heilung durch bloßes Berühren mit ber Hand nur magnetifchen Einflüffen zufchreiben könnten. Allen ba fid bisher von einer folchen Kraft bes Magnetismus, auch Blinds beit zu heilen, noch fein Beifpiel ergeben hat, jo muß es ers laubt fein, auch diefe Blindenheilung einzig auf Rechnung der Mythe zu feßen. Denn die Verfuche der Rationaliſten, Die Sache natürlich zu erflären, durch Amvendnng eines fcharfen Waſſers ıc. find zu gewaltfam, ald daß fie hier näher bes fprochen werben dürften. Daß aber bie gefchäftige Sage folch wunderbare Heilungen erbichten konnte, wird dadurch fehr glaublich, daß, wie aus M. 11, 5 und befonders aus Jeſaia 35, 5, welche Stelle bekanntlich als meffianifche Weiſſa⸗ gung gebeutet wurde, hervorgeht, vorzüglich Blin de nheilun⸗ gen vom Meiftad erwartet wurben, um fo mehr, da folche auch dem Propheten Elifa zugefchrieben wurden (2 Kön. 17—20). Fa, was merkwürdig ift, wunderbare Blindenheilungen galten dem Alterthume überhaupt als Zeichen, daß ein Mann Lieb⸗ ling der Gottheit feiz fo wird von einem der größten römifchen Geſchichtſchreiber, Tacitus, großer Werth darauf gelegt, daß der Kaiſer Bespafian einen Blinden nur durch Benetzung der Augen mit feinem Speichel wieder fehend gemacht habe.

Eine andere, nur von Marfus erzählte Blindenheilung ift, fo wie eine ebenfalld nur bei diefem Evangeliſten fich findende Heilung eines Taubſtummen, ein eigentlicyes Labfal für die natürlichen Crflärer; in beiden Erzählungen geht nämlich die Kur nicht fo plößlich von Statten, wie in ben übrigen, fondern faft ſucceſſive, und it von näheren Umftänden begleitet, die einen ganz natürlichen Hergang wie von felbft anzudenten fcheinen. Sefus nimmt die Kranken auf die Seite (8, 235; 7, 33) „ohne Zweifel, fagen jene rationaliftifchen Ausleger, um zu unterfuchen, ob fie heilbar ſeien“ —; dem

en - 801 Tauben ſteckt er die Finger in die Ohren und rührt an feine Zunge. (7, 33); den Augen des Blinden legt er die Hände: auf (8, 23); „augenfcheinlich alfo chirurgiſche Opera⸗ tionen“; bei beiden wendet er Speichel an; „unter . den Speichel, der an fich fchon heilende Kraft hat, mifchte Jeſus ficherlich irgend ein Medifament, ohne daß die Kranfen es bemerften“; endlid; wird der Blinde nicht mit Einem⸗ male ganz fehend, fondern erft nach abermaligem Auflegen der Hände (8, 24 2c.); „offenbar war die Operation bei dem erften Verſuche noch nicht vollftändig gelungen, und es mußte noch in Etwas nachgeholfen werden“. Die Leichtigkeit, mit der fich die beigefügten natürlichen Erklärungen aus den Ans gaben des Evangeliften zu ergeben fcheinen, erregt in den _ Berehrern diefer Erflärungsweife den Wunſch, daß doch alle Berichte von Heilungen fo in’d Einzelne gehen möchten; dann würde es von felbit, glauben ‚fie, um die Wunderkuren im neuen Zeftamente geſchehen fein. Aber leider! haben die Ers flärer ſelbſt gerade das in die Erzählung hineingetragen, was die Erklärung fo leicht macht; das in den Speichel ges mifchte Heilmittel ift ihr Werk; fie machen aus dem einfachen „Händeauflegen, Berühren ꝛc.“ eine „chirurgifche Operation“ und fie fchieben dem Beifeitnehmen der Kranfen die Abs ficht, fie zu unterfuchen, unter, da doch Jeſus offenbar Feine andere hat, ald die, Aufjehen zu vermeiden (7, 365 8, 26). Die orthodore Anfiht hat alfo infofern Recht, ale fie, um das Wunder in diefer Gefchichte feitzuhalten, alle Anwen⸗ dung natürlicher Mittel in Abrede flellt; wenn fie nur nicht ebenfalls, um den Schein eines folchen natürlichen - Heilverfahrens wegzuläugnen, auf etwas unerlaubte Weiſe verführe! Denn den Gebrauch des Speichels für bloße Hers ablaffung, und das Allmälige des Heilens für eine bloße Glaubensprobe des Kranfen zu erklären, heißt doch auch wie- der den Tert durch Einfchiebfel verfälfchen. Wenn aber Die Drthodoren (3. B. Olshauſen) diefe fucceffive Heilung gar damit erflären wollen, daß eine plößliche dem Kranken hätte ſchädlich fein können, fo widerfprechen fie ſich felbft: ein Wunderthaͤter, wie Sefus nad) ihrer Anficht ift, wäre ja nur ein halber Wunderthaͤter, wenn ee nicht mit feiner wunets

302 vollen Heilung auch alle möglichen ſchädlichen Folgen derſelben hinwegränmen fünnte. Wir- fürmen aljo in dieſem Zuge der Markus'ſchen Erzählung, da ung die beiden genannten .. Erflärungsverfuche nicht befriedigen, nur das Qeitreben des Evangeliiten nach größerer Anfchaulichfeit erbliden; denn „ein fohneller Erfolg wird nur dann recht vorjtellbar, wenn ihn der Erzähler durch alle Momente hindurchfübrt*, und auch an dem plößlichen Effekte die verfihiedenen Stadien nady weist. Ald etwas Wunderbares hat alfo Markus die Heilung fiherlich jich vorgeitellt, wie er fich überhaupt zum Wunder⸗ glauben durchaus hinneigt, und auf das Lob der rationalijtis ſchen Ausleger feinen Anſpruch macht.

Diep zeigt ſich bei näherer Betrachtung auch in ben Theis fen 'unjerer beiden Erzählungen, worin Marfus Händeauflegen und Speichel als Anwendung natürlicher Mittel darzuſtellen fheint (&, 23 x). Man fünnte allerdings in Beidem eine Art von Feitern (Eondufteren) magnetiſcher Kraft erblicken wollen, welche bekanntlich vielfach mittelſt ſolcher äͤußerer Bes rührungen ausſtroͤmt; allein aus der Farbe der ganzen Er⸗ zählung gebt unverkennbar hervor, daß auch mit dieſen Zi gen Marfus (d. b. die Cage, welcher er folgt) Die Geſchichte nur in's Gebeimnißvolle, Myſteriöſe zu ziehen jrrebt. Denn Speichel galt den Alten nicht als natürlich, ſondern als zaus berhaft, magisch wirfendes Mittel; Kandauflegen und Berüb⸗ ren war myſtiſches Zeichen übernarärlicer Cimwirfungen; alles dieß konnte Daher nur bei Wunderthätern wirfen und diente dazu, ihre Kraft den Zuſchauern anſchaulich zu machen. Eomit erhebt der Evangeliſt Die Sache nur in ein bellered

. Licht des Wunderbaren, ſtatt fie in den Kreis natürlicher

Birfungen berabzuzieben. Nehmen wir dazu noch Die übrigen grellen, wmoiterisien Zuge der Erzäblungen das Beſonder⸗ nehmen der Kranken; die übermärige Verwunderung Des Volkes (7, 37), das ſtrenge Gebet des Schweigens (8, 26), Die ausdrückliche Anführung des bebräiſchen Worte, womit Jeſus ten Zaubitummen heilt (7, 34), Te jehen wir Die ganze Regebenbeit jo ſehr ur das Gebiet Des Zauberbaften gezogen, das wir nicht umbin kennen, in ihr ein Erzengniß der Sage zu erblifen, die nicht mide wurde, der jeſaia ſchen Weijſagung

* ® 303 ht "

. von ben Wunderheilungen des Meſſias Seſeias 35, 5 und 11, getuhrend. nachzutoumen.

Die einig von n Sohannes erzählte Heilung eineg Blind» gebornen trägt fo fehr ben Charakter des Wunberbaren an fi), daß man nur mit einem gewiffen Erſtaunen den kühnen Verſuchen der Rationaliften, auch fie natürlich zu erflären, ſchauen kann. Da fid, nicht läugnen läßt, daß es V. 1 heißt: „blind von Geburt an“, fo muß das griechifche Wort, welches „blind“ bedeutet, für dieſes Mal fo viel, als beis

mahe blind“ fein; eine baare Wilfür! Wenn Jeſus 2. 4 tagt, er müffe wirken, „fo lange es Tag iſt 2c.“, ſo will Je⸗ Bus, meinen fie, damit ſagen, er dürfe bie vorhabenbe Ope⸗ ration nicht bis zur Nacht verſchieben; als ob. nicht V. 5 auf Das Deutlichite bewiefe,. daß Jeſus hier von feinem ganzen irdischen Wirken ſpricht! Da nad) V. 6 Tefus mit feinem - Speichel einen Ffeinen Lehm bereitet, fo muß auch hier -ein Medikament eingemifcht worden fein, was ber faft Blinde nicht bemerfte; aber ed maren ja Sünger zugegen W. ! . Wenn erzählt wird, der Kranfe fei auf Jeſu Befehl zum Teiche Siloam gegangen und geheilt zurücgefommen, fo kann ja das mit auch gemeint ſein, er habe dort eine längere Badekur gemacht; allein wer die Worte V. 7: „Er ging.weg, wuſch ſich und Fam fehend wieder“, fo erklärt, der muß auch die berühmten Worte des Julius Cäfar, in denen er fo fchlagend die Gefchichte eines ganzen Feldzuges zuſammenfaßt: „Ich kam, ſah (den Feind) und ſiegte“, fo wiedergeben: „Nach meiner Ankunft rekognoszirte ich mehrere Tage, lieferte hierauf in gehörigen Zwiſchenzeiten unterſchiedliche Schlachten und blieb endlich Sieger“!

Alſo es bleibt dabei, daß wir hier eine wund erbare Heilung vor uns haben. Wenn wir aber fchon oben geftehen . mußten, daß uns Heilungen einfacher Blindheit ohne Ans

. wendung äußerer Mittel unglaublich feien, fo ift dieß noch

weit mehr dei der eines Blind gebornen der Fall. Vielmehr

ſcheint die ganze Erzählung aus dem Beftrebeu, das überhaupt . in biefem Evaygelium fihtbar ft, zwar wevige, aber deheo

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färfere Wunder zu erzählen, hervorgegangen zu fein. So wie nur dieſes Evangelium von der Heilung eines feit 33 Fahren Gelähmten und von der Auferwedung eines fchon vier Zage im Grabe gelegenen Todten etwas weiß, fo ift auch nur in ihm diefe Heilung eines Blindgebornen ald das größte under diefer Art zu lejen. Grabe diefer Umftaud, daß fein anderer Evangelift derfelben Erwähnung thut, muß dop⸗ pelt mißtrauifh machen. Denn fann auch nicht erwartet werben, daß irgend ein Evangelift alle Wunder, die ihm befannt geworden, auch erzähle, fo darf doch Feiner, wenn er nicht ganz ohne Verſtand ausmwählt, eines der auffallendften und von fo merfwürdigen Reden ımd Verhandlungen begleites ten Wunder, zu weldyen das vorliegende offenbar gehört, ganz mit Stillſchweigen übergehen; überdieß ging dasſelbe, wie Sohannes berichtet, mitten in Serufalem vor, und erregte felbit bet der Obrigfeit großes. Auffehen !

Müffen wir alfo nothwendig auf die Bermuthung kommen, dasſelbe fei gar nicht vorgefallen, und die Erzählung davon vieleicht nur Ausfchmüdung einer andern und auch fonft bes fannten, fo fann ung der Einwand, daß ja Doch der Apoftel Johannes ber Gewährsmann fei, nicht zurücchreden. Denn nicht nur ift ja, wie wir oben fahen, dieß fchon im Allgemeis nen wenigitens noch zweifelhaft, fondern es findet fich insbes fondere in unferer Erzählung etwas, was wir dem Sohannes kaum zutrauen fünnen. Es wird nämlid) der Name des Tei- ches Silvam (V. 7), der „Wafferguß bedeutet, mit „ges fandt* verdollmetſcht; eine offenbare Anfpielung auf den dahin „Hefandten“ Blinden; zugleich aber eine Spielerei, die wir eines von dem eigenen Anfchauen des Wunders ergriffenen Apoftels wohl nicht würdig halten können; ed mag daher auch diefer Punkt zu den Merkmalen des nicht apoftolifchen Urfprungs dieſes Evangeliums gezählt werden.

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dem Sinne der erften, noch ganz von, jüdiſchen Borftellungen geträntten Chriſten. Co wurde fehr wahrfcheinlich jene alts teftamentliche Erzählung Vorbild unferer neusteftamentlichen.

Ein Gleiches gilt von einer weiteren und überlieferten Fernheilung, nämlich von ber Heilung eined Madchens, deſſen Mutter, ein fananäifches Weib, Jeſum um Hüfe angegangen hatte; wir haben dieſe Erzählung ſchon anderwärts in’d Auge gefaßt; nämlich Th. I, S. 199, wo die Frage erörtert wurde, ob Jeſus den Heiden feine Hilfe verweigert habe.

(M. 12, 1— 14; Mark. 3, 1—6; Luk. 6, 6— 115 fodann Luft. 14, 1—5; 13, 10— 17; endlid Soh. 5, 1— 16.)

Ein befonderes Intereffe nehmen noch die Heilungen in Anſpruch, welche Jeſus am Sabbat verrichtete, weil er da⸗ wit jedesmal bei Pharifäern u. dgl. Anſtoß erregt. Eine ders felben wird von den drei Synoptifern erzählt; bei Allen ſteht fie mit dem ebenfalld ärgerlichen Aehrenausraufen der Sünger im Verbindung; während aber M. und Markus Beides an demſelben Sabbat gefchehen laffen (M. 12, 95; Marf.3, 1) verlegt Lukas ausdrücklich die Heilung auf einen andern (6, 6) und hat darin gewiß das Nichtige, indem offenbar beide Ers zjahlungen urfprünglich nur des verwandten Suhaltes wegen neben einander geftellt wurden. Die fonfligen Abweichungen in den verjchiedenen Erzählungen find fehr unbedeutend. Im ‚allen leidet der Kranfe an einer „vertrockneten“‘ Hand; damit iſt nun feineswegs, wie Rationaliften, um mit der natürlichen Erflärung defto leichtere Spiel zu haben, annchmen, eine nur verftauchte, fondern, wie aus Vergleich mit 1 Kön. 13, 4 hervorgeht, eine völlig gelähmte und erftarrte Hand gemeint.

Ehe wir darnach fragen, wie es möglich fei, ein ſolches Uebel durch ein bloßes Wort (M. 12, 13) zu heilen, wollen wir, da die Spige der Erzählung doch in dem Umſtande liegt, daß es am Sabbat gefchehen, noch zwei andere Heilungen der - Art in unfere Betrachtung ziehen, die beide nur bei Lukas zu lefen find. Die erfte ift die eines Waſſerſüchtigen (14, 1); die andere die einer feit 18 Jahren gefrümmten Frau (13,

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feſt, nämlid) die unwillfürliche Heilung durd) bloßes Berüher- . werden, fo fehen wir beide theologiſchen Haupipartheien glei abgeneigt, benjelben. anzuerkennen; es fheint ihnen Jeſus zu fehr in ein rein körperliches Gebiet herabgezogen, und di einer Art von Magnetiſeur gemacht, der durch elektriſche E wer ladungen wirke. Allein beide find gleich unglüdlich it Den Berfuche, dieſes Anftößige aus der Erzählung‘ herauszubringen, weil fie beiberjeitd den Worten die größte Gewalt anthun mal

„Senn erftlich die: Dethodoren,. 3 B. Dishaufen, ber haunten, das chriftliche: Bewußtſein verbiete, fo etwas von Jeſu anzunehmen, jo muß.sparauf ermidert werden, daß dieſes fügenandte -,, chriſtliche Beruußtfein Doch eigentlich .nichte. Anz deres iſt, als das Bekenntniß ber vorgeſchrittenen religiöſen Bildimg::unferer Zeit,. Daß fie fich nicht niehr mit:allen Vor⸗ ftellungen befreunden fan, die num. einmal doch in den Evan gelien wirklich enthalten find. Denn:um diefe Borftellungen - in unſerem Falle wegzuerflären, werden von dem chriftlichen - Bewußtſein die gezwungenſten Auslegungen. verfucht. So re z. B. Jeſus die Frage: „Wer hat mid berührt?“ mr zum Scheine gethan haben, um die Fran nicht zu beſchämen; und = doch geht felbit aus M. Deutlich‘ genug hervor, daß.er dieſelbe var ber Heilung wirklich nicht gekannt, noch je gefehen hatte; Jeſus ſoll wohlbedacht feine heilende Kraft. ın fie haben überſtrömen laſſen; daß aber davon gar keine Rede ſei, fons dern das Ueberſtrömen als ein ganz unwillkürliches, rein ma⸗ terielles dargeſtellt wird, dafür bedarf es keines weitern Be⸗ weites, als einfach auf Dark. V. 30 md Luk. V. 46 zu ver⸗ weiſen.

Nicht beſſer ergryt es ferner den Rationaliten, die gleich— falls mit dem Erzählten ſich nicht vertragen können und daher gleichfalls Das Anſtößige durch Erklärung. zu entfernen firchen, Dieſer ‚zufolge fragte Jeſus: „wer hat mich berührt 2: darum, mei er fi) im Gehen Aufgeljalten fühlte; die franfe, der müthige Frau hätte Jefum fo herzhaft gezupft;. daß: er am chen: verhindert wurde?! Die: Frau. foll ‚nicht wunders barer Weife, fondern. durch: dad .eraltirte Bertrauten, das ſie bei ver Berührung Yan; Sefwi$tletbung, . ufammenfchauern

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machte, geheilt worden fein: welch' zügellofes Vertrauen zur Macht des Vertrauens, anzunehmen, durch dasfelbe habe ein zwölfjähriger Blutfluß geheilt werden fünnen! Da aber äberbieß dieſe Erflärer felbft die Angabe einer plöglichen Hei⸗ Img in Abrede ftellen, und fogar. bie Worte Jeſu, Luk. 8, 46 fir eine Erfindung des Evangeliften halten, fo fieht. man nicht en, warum fie nicht lieber die gefchichtliche Wahrheit ber ganzen. Erzählung in Abrede ſtellen.

Zu dieſem Refultate fühlen auch wir und geneigt, allein mt aus dem Grunde, weil ein fo ganz Tinnliches Ausſtrö⸗ men von Kräften aus dem Körper Sefu- ung deſſen unwürdig erfheint, wodurch wir und auf den Standpunkt der Supra⸗ naturaliſten fielen würden: fondern weil die Sache an ſich mmvahrfcheinlich if. Denn faffen wir bie zahllvfek Wunder firen durch die Neliquien und Heiligen der Katholiken, duch bie Windeln des Jeſukindes in einem. apofryphifchen Erangelium, durch den: Schatten und die Schweißtücher des Apoſtels Paulus in der Apoftelgefchichte (19, 11) in's Auge, fe it doc; von dieſen bis zu unferer Heilung durch den Saum von Jeſu Kleide kaum ein halber Schritt; wer alfo jene . läugnet, wird auch diefe verwerfen müffen. Inzwiſchen bürfen wir dieß Dennoch nicht unbedingt thun, indem ' mmläugbare Beiſpiele vorhanden find, daß wirklich theils - magnetifche Kräfte von der einen, theils unbegrängter Glauben von ber andern Seite foldye wunderbar fcheinenden Handlungen hers vorgebracht haben. Wir laſſen es alfo auch hier dahin geftellt, ob nur Einzelneg oder das Ganze unferer Erzählung das Wert der Sage ki.

M. 8, 5—13; Luk. 7, 1—10; Joh. 4, 46 —54.).

Die Heilungen aus der Ferne find eigentlich Das Gegen: theil von den umwillfürlichen, indem dieſe ganz förperlic, ohne allen. Willensaft, jene nur durch den Willen ohne leibliche Nähe gefchehen; fo fehr das Gegentheil, daß mar fchon um Voraus zu der Behauptung verfucht iſt, es haben beide rc) denfelben Marin unmöglic, ftatthaben können. Betrach⸗ en wir aber die Sache näher. -

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Eine ſolche Fernheilung finden wir bei M., Lufas und Sohannes, wo Jeſus von einem Manne angegangen wird, einen ihm Angehörigen zu heilen; die Berichterftatter weichen aber fo fehr von einander ab, daß man in große Berlegenheit geräth. Die größte VBerfchiedenheit findet ſich allerdings zwi⸗ fchen Sohannes und den beiden Eynoptifern; verſchieden geben fie an: den Drt, mo Jeſus fid befand, Sohannes (B. 46) Kana, M. (V. 5) Kapernaum; die Zeit, Joh. (8: 43) nad) der Rückkehr aus Samarien, M. (B. 1) nad der Heimfehr ‚von der Bergpredigt; die Perfon des Ger heilten, Joh. (47) ein Sohn, M. (6) ein Sklave; bie Perfon. des Bittenden, Joh. (46) ein Hofbeamteter Calfo wahrfcheinlich Jude) und von ſchwachem Glauben (48), M. (5) ein Hauptmann Calfo wahrfcheinlich Heide) °9) und voll bins gebenden Vertrauens. Allerdings ftarfe Differenzen! Deß⸗ halb haben viele Gelehrten auch angenommen, es feien zwei verfchiedene Vorfälle zu unterfcheiden; den einen erzähle os hannes, den andern M. und Lufas, Allein dieß geht nicht anz denn eritend weichen die Synoptifer auch unter fich wies = der in manchen Stüden von einander ab; zweitens flimmt = Johames bald mit diefem, bald mit jenem überein. Wir wollen dieß an wenigen Beifpielen zeigen. 1. Bei Lufas (B. 2) iſt ein Sklave der Kranfe, bei M. (B. 6) wahr: fcheinlidh der Sohn des Bittenden °’); hier ftimmt Johannes (47) mit M. überein. 2. Nach M. (6) leidet der Kranfe an Lähmung, nad Lukas (2) ift er am Sterben, was bei bloßen Lähmungen nicht einzutreten pflegt; Sohannes (47) ftimmt zu Lukas. 3. Bei M. (5) fommt der Hauptmann felbft zu Jeſu, nad Lukas (3) ſchickt er Boten an ihn; Sohannes (47) ſtimmt zu M. 4. Dem Lukas (6) zufolge fommen Sefu aus dem Haufe des Hauptmanng Freunde des⸗

>, War es ein Hofbeamteter, fo war er Diener des jüdiſchen Für- ften von Galiläa; war e3 ein Hauptmann, fo fland er wahr: (heintih in Dienften der SZudäa beherrichenden heidnijchen Römer.

2, Das griechifhe Wort des Terted nämlich bedeutet zwar eigent- sh „Kind, Sohn“; jedoch werden auch Eflaven, bie zur näheren Umgebung des Seren gehirten, G genanut. °

Welten entgegen wevon M. wide ‚meißinüuh. CHR; Finnas —— darin, daß air 'zulegentng Teile aus dem Haufe treten 51 ticdB) zB Tefus und | Witterhen nerfichert,ider: Kranke feiraehelie, Js Yutde par Khneigag: oh :(50) fun eich ln nl dan Ra; alfo: alle dyei Erzahluugen fo m —— —— |

Kuh, daR -jebei berfelben baldizir einen / bald site anbern hin⸗ iüberneigt, ſo muͤſſen wir bri ver Scheibnug in uch Vorfaͤli⸗ nicht ſteher bleiben ;;: ſondern entweber Adein annchinen, ober bei. allen Variationen nus:seimem?: Das: Erftebe: wird” ung Riemand znvnthen; denw wer kann es glanben, daß Jeſus Rreimak-in: Eapernaum den Angehörigenneines vornehmen Mannes auf deſſen Bitten aus. ber Kerne: I: Einem Magens Blicke geſund genricht /habelr Wir neffen daher!r bei: Einem MWorfalle ſtehen bieiben, Dürfen: über dabei nicht; wie manche

Theologen ſehr gewaltthaͤtig · es vrrſuchen, in Abrehe ſtellen / "maß die Erzählungen awirllith ſehr: bedeutend. 00H Rhaunder ab⸗ Weichen; wir: mitſſen une vielmehrdie Frage verlegen: Wee

unier den Berichtenbenchak: nun Recht ud : "0 Eine unbefangene Prüfung ergibt, daß auch hier wieber

M. Das: Einfachere und Urfprünglichere hat, und. daß bie abweichenden Schilderungen: der beiden Andern meiſt verjchd« nernpe, übertreibende. Zufäge find. Faſſen wir zuerſt Lukas im’ 8 Auge. Der: arg geplägte Kranke des M. wird’ bei ihm ſchon ein dem Tode Raher, wodurch das Wunder der DE

lung um ſo größer wird;: während bei M. der Hauptmamii ſelbſſt zu Jeſus kommt, ‚aber wohl erfennt, ex fei nicht werth⸗ daß Jeſus unter ſein Dach komme (V. 8), wird dieſe Demuth bei Lukas fo weit gefteigert, daß er jüdiſche Aelteſte (V. 3) an Jeſum abſchickt, Die ihm ein gutes Zeugniß geben müffen 5). Durch die zweite Gefandtfchaft aber. (6). geräth Lukas gar in Widerfpruch mit fich felbft: denn durch dieſe laͤßt nun der Hauptmann Sefum erfuchen, nicht in fein Haus zu foms men! Als ein fo verfehrter wanfelmüthiger Mann erfcheint aber diefer Hauptmann fonft gar nicht, vielmehr als ein wades rer und verfländiger. Hier ift wohl die -Ausfchmüdung der Sage unverfennbar! Ein Gleiches bei Johannes anzu⸗ erfenuen, duͤrfen wir und durch Die Furcht, einen veoxeoxeo.

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den Apoſtel, angugreifen, nicht abhalten laſſen; dem "eben diefe Augenzeugenfchaft ſteht ja noch dahin, und Fam nur durch unbefangene Prüfung ermittelt werden.

Schon feine :.beffimmte Angabe, daß ber Kranfe ber Sohn gewefen, fieht nicht Danach aus, das Urfprängliche zu fein; vielmehr iſt es weit wahrfcheinlicher, daß des M. unbeftimmtes Wort (f. oben Anmerf. 31) nad) zwei Seiten hin beftimmmt gedeutet wurde, nadı der des Lukas als Sflave, und von Johannes ad Sohn. Wem nun ferner bei Sohanr nes die Fernheilimg von Kana, und nicht von dem Wohnorte des Kranken aus geſchieht, fo iſt Dieß Doch wohl auch ſagen⸗ hafte Verherrlichung; denn je größer Die Entfernung, deſto größer das Wunder. Wie ängftlidy genau ift weiterhin bie beitimmte Angabe, grabe in berfelben: Stunde, wo Jeſus bag teöftende Wort (B. 50) gefprochen, fei der Kranke genefen (52 u. 53)! Auch bier fehen wir das Bemühen diefes Evans geliums, alle Wunder als vecht glänzend und .beglaubigt hins zuftellen. Endlich muß auch Charakter und Benehmen bes. Bittftellerd dazu dienen, Jeſum in um fo herrlicherem Fichte zu zeigen. Er ift von ſchwachem Glauben, während dieß bei M. und Lufas fich anders verhält; es tritt in diefem Ges genfaße die Herrlichkeit Set um fo mehr hervor, wie es ja Sohannes überhaupt befonders licht, denfelben als weit ers haben über feine Umgebung ung erfcheinen zu laffen. Er bittet Sefum augdrüdlich darum, in fein Haus zu kommen, und Diefer ift bei den beiden andern: Evangeliften anfangs auch entfchloffen, ihm zu entfprechen; Sohannes aber ftellt die Sache fo, daß Jeſus auf jene Bitte gar nicht eingeht, fondern fos gleich die aus der, Ferne ſchon bewirkte Heilung anfindigt; daburd entgeht Jeſus dem Verdachte, fidy in feinen Entfchlüfs fen von Andern beftimmen zu laſſen. Alles doch wohl

Spuren einer an der einfachen Thatſache geſchäftig umarbei⸗ tenden Sage!

| Halten wir uns nun aber an die Hauptfache, die in allen Berichten und überliefert wird, nämlich an die Fernheilung ſelbſt; iſt eine ſoldhe denkbar? Ehe wir auf Diefe Frage

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eher, müflen wir die Verſuche ber Rational, die Fern⸗ ung wegzuerflären, kurz beleuchten. .::- -

Am bereitwilligften feheint für Diefe: natürliche Erlärung ſannes ſich herzugeben; zwar merkt: biefer felbfl. das e Ereigniß das zweite it Balilia von Sefu errichtete ichen“; dieß ſoll -aber nichts Weiteres heißen; als: zum ten Male (vergl. 2,11) gab Jeſus den Beweis von einer er nicht offenbar gewordenen Kraft“; durchaus gegen neu = teftamentlichen Gebrauch dieſes Wortes, verntöge nes mit „Wunder“ gleicybedeutend ift. Ferner fol Jeſus ar nicht geheilt, fondern nur gefagt haben, derfelbe bes » fich wieder außer Gefahr CB. 50), weil er aus ber men Erzählung des Bittenden erfannt: hatte, die Krankheit chon im Abnehmen. Abgefehen von dem wahrhaften Ein uggeln einer folhen, nirgends angedeuteten,- "Erzählung, dadurch Jeſus zu einem, man verzeihe ben Ausdruck, tfinnigen Gharlatan gemacht, ber feinen. ganzen Kredit auf Spiel fett, indem er auf den Bericht eines gewiß nicht hfundigen bin ein fo beſtimmtes Verfprechen gibt. Ein ıe8 ließe fich nur rechtfertigen, wenn man, wie es von ren Auslegern auch wirklich gefchteht, aber gleichfalls ohne nd, es als Ausflug einer höheren Erkenntniß Jeſu bes ten, alfo darin ein Wunder des Wiffeng erbliden will. awiderſpricht ja aber fehon das, daß gerade in bemfelben enblide, als Jeſus jene Worte ſprach, der Kranke gefund de; das it Doch ficherlich ein Wunder der That, das heißt, wunderbaren Kraft des gejprochenen Wortes.

Bei den Synoptifern it jo beftimmt von der Bitte um lung (M. 3. 8) und von deren Gewährung (3. 13) Rede, daß man zu einem. andern Mittel feine Zuflucht nen muß; dieß finden die ftets rüftigen Erflärer in dem, bei M. (V. 9) der Hauptmann gleichnißmweife von den imtergebenen Dienern fagt, natürlidy um daran zu erins |, welche Kräfte und höhere Geilter Jeſu zu Gebote ſtün⸗ am auch ohne perjünliche Gegenwart wirfen zu tönen. ı aber fol er Jeſu verblümt zu verftchen gegeben haben, ürfe ja nur einen feiner Jünger abfenden, was Jeſus rt auch that. Wenu nur von dieſer Abfendung auch nur

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mr eine Silbe in dem Terte flünde! Wenn wirnur andere - Beifpiele davon hätten, daß Jeſus feine Juͤnger ald wunder⸗ verrichtende Ordonnanz abordnetel Wenn nur nicht die Freunde des Hauptmanns ſogleich bei ihrer Ankunft ſchon den Kranfen. wieder gefund gefunden hätten! Aber, fagt man, fie hatten ja noch bei Jeſu ſich verweilt, während Die Sünger ſchon weggeeilt waren.. Wenn wir nur nicht auch hier fagen müßten, daß bavon- abermals kein Wörtchen im Texte zu leſen iſt!

Es muß alſo wohl doch fein Verbleiben dabei haben, daß uns hier eine wunderbare Heilung aus der Ferne geboten 2 wird, beren Glaubwürdigkeit wir nun fchließlich zu unterfuchen = haben. Sp ganz abweichend von allen andern mwohlthätigen m Aeußerungen der Heilkraft Jeſu ift dieſes Fernheilen, daß wir = ung wohl darnadı umfehen bürfen, ob wir fonft wo ähnliche Erfcheinungen finden. Nun ift ed zwar erwiefen, daB auf Somnambülen von Magnetifeuren oder anderen in magneti— fchem Rapport mit ihnen flehenden Perfonen auch in die Ferne— hin gewirkt werden kann, aber doch nur nad) vorausgega⸗— gener unmittelbarer Berührung. Eine folhe nun hat in Denwmm vorliegenden Fall nicht flattgefunden, ‘und wir reichen mi diefem Erklaͤrungsgrunde nicht aus. Es bliebe uns nichts übrig, ale Jeſum für ein übernatürliches Wefen zu halten, deffen Wirklichfeit wir uns aber nicht denfen können. Allein wir dürfen um fo mehr die Frage aufmwerfen: Iſt auch das erzählte Factum gegründet? da wir ja fchon früher im Eins zelnen unjerer Erzählung unverfennbare Spuren von dem Ein: fluß der Sage fanden.

Erinnern wir uns, wie Sefus Kranke durch bloßes Bes rühren (Matth. 8, 3), dann wieder einzig durch ein Wort (Cuk. 17, 19 geheilt haben fol, fo liegt die Steigerung, daß fein Wort auch in die Ferne gewirkt habe, der Sage wohl nicht allzu ferne. Hierzu fommt noch, daß fchon der Prophet Eliſa den Syrer Naeman durch fein bloßes Wort heilte, was allerdings ald Zeichen ausgezeichneter Prophetengabe ers jcheint (2 Kön. 5, 9 ꝛc.); allein, war nun einmal durch eine folche Elifa berühmt geworden, durfte der größte Prophet, ber Meffias, hinter ihm. zurüdbleiben? Gewiß nicht, in

are Clan aan noch Hans var Bühl orkilkungen N Detrantten Cheiten, So wurhe fehr. wahuiheinlicksäeme, alle Erſtawemtliche Zrzählng Vorbild unferer meusellameuluken,, > / re Gleiches :pilk.;nonneinen: write: und übenlieferuen ° Suberuheilung,, winslich non. ben. Heilung: aines Mäbihend , Arkien AMaotbe, ‚ein! kaunniſches Waibeſinn wu Sulfe: ARSCH Maotte;: wir hahe dieſe; Crzaͤhlung ſche Mderwara ive Yyge ee namlich Th. I, ©1199 ;:wo: —— —— ee ben „Heiden, ſene Die verweinen habe. a

u u! KR Fe | u 33* 2.

= oo. Er . . F en le - a i . 5 N J es, Ss —W 1,7 sic

- ‚AR: 12, Mär. 3; T 6; ii. 17 113 fobani Euf. 14, 1- 5; 13, 10,173, enbii Ih. 5, I), |

> ‚: Ein befonberes- Inereſe nehmen. ach bie Hrilungen in > Ynfprucy, welche Jeſns am Sab bat verrichtetg, weiß;er. hau weit jedesmal bei Phariſaern :n. dgl. Anſtoß erregt, ‚Eingibep .

ſechen wird von den drei Synoptikern erzählt; bei Allen Sicht

Be mis dem ebenfalls aͤrgerlichen Achrenausraufen Dee. Iüngen in Verbindung; ‚während aber. M. und Markus Beides demſelben Sabbat geſchehen laſſen (M. 12, 95 Mark. 3, 1. verlegt Lukas ausdrücklich die Heilung auf einen andern (6,.6) und hat darin ‚gewiß das Nichtige, indem offenbar heibe Er⸗ zählungen urfprünglich nur des, verwandten Inhalts: wegen neben - einander geftellt wurben.. Die ſonſtigen Abweichungen in den verjchiedenen Erzählungen: find fehr unbedeutend, : JM, ‚allen leidet bey, Kranke an einer „vertrodueten“ Hand; damit ift. nun keineswegs, wie Rationaliften, um mit ber. natürlichen Erklärung defto leichteres Spiel zu haben, annehmen, eine nur verſtauchte, fonbern, wie aug Vergleich mit 1 Kön. 13, 4 hervorgeht, eine völlig gelähmte und erftarrte Hand gemeint, Ehe wir darnach fragen, wie ed möglich fei, ein ſolches Uebel durch ein bloßes Wort (M. 12, 13) zu heilen, wollen wir, da die Spitze der Erzaͤhlung doch in dem Umſtande liegt/ daß es am Sabbat geſchehen, noch zwei andere Heilungen der Art. ia unſere Betrachtung ziehen, die beide nur bei Lukas N. leſen find. Die. erite üft die eines Wafferfücjtigen (14, i da big, andere. bie. einer feit 18 Jahren gelriemwten Kun

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19). Hier iſt nun zmächft.die große Achnlichkeit Diefer beiden mit einander auffallend, und zwar ift fie jo groß, daß ſchon Schleiermacher behauptet, wenn biefelben von Einem Ver⸗ faſſer zum erften Male aufgezeichnet worden wären, fo habe berfelbe nothwendig ſich wegen Wiederholung -entfchufdigen müſſen; nun aber müſſe man annehmen, Lukas habe: fie aus zwei verfchiedenen fchriftlichen Quellen eingefügt. Indeß fehen beide auch jener erften in manchen Stüden gar ähnlich; auf beiden Seiten diefelbe fchöne und bezeichnende Eentenz vom Thiere, dad in den Brunnen gefallen CM. 12, 115 Luk. 14, 3); das Anflauern der Pharifüer Mark. 3, 2; uf. 14, 1); die Fragen Sefu, ob man am Sabbat ein Leben retten (Mark. 3, 4) oder heilen bürfe (Luk. 14, 3); endlich, das Verſtummen der Pharifaer (Mark. 3, 45 Luk. 14, 4).

* Da min, wie gefagt, in allen Erzählungen dag Sabbat⸗ heilet die Hauptfache ift, fo wird es, trotz der Verfchiedenheit - in Angabe der Krankheiten, wohl erlaubt fein, zu fragen, ob ihnen nicht etwa nur Ein Vorfall zu Grunde liege? Zmar ift e8 bei den vielen Heilungen Sefu wohl denfbar, daß er mehr ald Eine am Sabbat vorgenommen, mehr ald eins mal Gelegenheit fand, jenes ſchöne Gleichniß anzuwenden; Aber eben fo denkbar, daß dieſem, ficherlich aächten, Gleich: niffe mehr ale eine, an fich ſchon befannte Heilung zum Rah⸗ men dienen, und Daß jenes Aergerniß am Sabbat bald bei biefer, bald bei jener gegeben und abgemiefen worden fein mußte, fo daß man bald eine verfrümmte Frau, bald eitten MWafferfüchtigen, bald einen Menfchen mit gelähmter Hand als die Veranlaffıng angab. Diefe VBermuthung gewinnt an Gewicht, wenn es fich ergibt, daß eine oder die andere diefer Heilungen ſich als unglaublich herausftellt. Dieß ift zunächft der Fall mit der des Wafferfühtigen; denn ein fo mates rieller Rranfheitsftoff, wie das unter der Haut angefammelte MWaffer, läßt fich unmöglich durch ein bloßes Zauberwort ent- fernen. Die Heilung eines 18 Sahre lang gefrümmten Weis bes durch dieſes Mittel it ebenfalls wenigftens ſehr nmwahr- fheinlih. Einer nähern Betrachtung bedarf in diefer Beziehung die erfte Erzählung, die von der geheilten Hand.

Die Rationaliften freilicdy ind andy hier bold fertig. Bald

as

Tagen. fie, das Wort, weiches nur heißen kann: „Ste wurde zeheilt“, ‚heiße: „fie war ſchon geheilt“, umb Jeſus heilte alfo nicht am Sabbat, fondern erfannte nur, daß früher an⸗ gewandte Mittel guten Erfolg gehabt hatten (1). Bald fagen fie: Da die Pharifäer an der Sabbatheilung Anftoß nahmen, ſo muß damit: eme Merkthätigfeit, etwas Geräufcwolles ıc. berbumben geweſen fein; alſo eine natürliche Kur! Aber es it befammt, daß die"bamaligen Rabbinen nody fehr ſtreng im Yunfte des Sabbats waren, baß fie felbit Befchwörungeit, ja viele fogar Trdjtungen in Krankheiten an demfelben für nnerlaubt hielten. Da alſo das Heilen durch bloße Worte siht in Abrede geftellt werden darf, fo könnte man allenfalls ach: hier eine Art magnetifcher Kır annehmen. Natürlicher aber ſcheint es, bie: ganze Ezählung als Mythe zu fallen. Denn ed findet fich in einer oben angeführten altsteftaments lichen Stelle, 1 Kön. 13, die eine unverfennbare Mythe ent hält, ein zu einlabendes Vorbild, ald daß man es nicht für Wahrfcheinlich halten müßte, die Sefus nach folchen Prophe- teworbildern verherrlichende Sage habe auch dieſes Wunder als ein Gegenſtück felbft gebildet und zu einer Einfleidung fin

cs mehrmals ermühnte Gleichniß von den Sabbatheilungen enutzt.

Auch das johanneif he Evangelium erzählt zwei Sabs Atheilungen; die ſchon früher befprochene des Blindgebornen, Ind die noch näher zu betrachtende des am Teiche Bethesda Arch bloße Worte: von Jeſu geheilten feit 38 Jahren Ges Shmten (Joh. 5, 1—18). Der Evangelift fpricht fo bes Ammt aus, der Menfch -fei wirklich lange krank gewefen V. 5); ſo beftimmt, Jeſus habe ihn geheilt (V. 14), daß sie. Behauptung der rationaliftifchen Erftärer, Jeſus habe mit einen Worten V. 8 nur einen Betrüger, der fich krank anges tellt, entlarven wollen, in Nichts zufammenfällt; wir haben yier vielmehr wirklich ein Wunder vor und, und zwar ein recht auffallendes; 38 Sahre ift Jemand gelähmt,' und mit an paar Worten wird er wieder frifch und gefund!

Gegen bie geſchichtliche Wahrheit der Erzählung muß ſchon der Umftand etwas mißtrauiſch machen, daß kein gleich⸗

a

zeitiger. jübifchey. Schriftſteller der "som unſerem Evangeliſten

als fo bedeutend geſchilderten Heilanſtalt ( V. 2—4) erwähnt.

Entſcheidend aber iſt das, daß das Wunder dieſer Heilung

über: alle. andern hinausgeht, da hier ein fo tief eingewurzel⸗

tes Hebel nur durch. das Wort eines Unbelannten (®. 13)

plöglich ‚entfernt wird. .. Wir, haben. nämlicdyıier eine abermas

fige- @peigerung des MWunderbaren, wie wir fie bei Johannes

fo, oft im Gegenſatze zu den Synoptikern finden (man vergl.

die Heilung des Blindgebornen,. die Erweckung des Lazarus 2c.); 5 mir ſehen auch hier das Wunder auf einen glänzenden =

Schauplag verlegt; fo Daß wir annehmen dürfen, es liege

unferer Erzählung eine dunkle Kunde irgend einer von den

Synoptikern erzählten Heilung (etwa Mark. 2, 3) zu Orunde

die dann weiter ausgefchmüct und zu einer Sabbatheilungggenn

gemacht wurde, weil mit dem DBettwegtragen B. 9. ein at

ftößiges Geräufch verurfacht zu fein fcheinen komme, welches

die Jeſu gemachten Vorwürfe veranlaßte.

Fuͤnftes Kapitel. Todtenerwedungen. EM. 9, 185 23—26; Marf. 5, 22—43; Luk. 8, 41—56=- 5

ſodann &uf. 7, 11—17, und Soh. 11, 1—46.)

Sm Ganzen finden fid, drei Todtenerweckungen in bee! Evangeliften; wir betrachten zuerit den befonderen Inhalt einer jeden Erzählung, um fodann alle drei in Bezug uf Wahr— fheinlichfeit und Möglichfeit des Erzählten in's Ange faffen.

Die Erwedung von des Jairus Töchterlein findet fich bei allen Synoptifern (M. 9 ⁊c.). Zwar weichen Diefelben in mehreren Umftänden von einander ab, namentlich in Dem fehr wichtigen, daß nad) Marfus und Lukas das Mädchen noch lebte, als der Bater Sefum um Hilfe anflehte, und es ; erft ftarb, als Jeſus auf den Wege nach dem Haufe fi für | die Sterbende befand (Mark. DB. 23 u. 35), während bei M. der Vater gleich Anfangs fein Kind als geitorben bezeichnet

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(B. 18); allein dennoch haben bie neueren Ausleger gegen sıanche ältere Recht, wenn fie daran feſthalten, daß wir in zIlen Berichten fur Einer Begebenheit Erzählung vor une yaben. Denn wie wunderbar wäre fchon das, daß mit allen seiben, an fich fehon fo ähnlichen, Ermedungen die Heilung einer blutflüffigen Frau in Verbindung geflanden haben ſoll, wie: bei allen drei Evangeliſten zu Iefen iſt. Wir mälfen Das yer auch hier, mit Befeitigung aller weichlichen Berfuche, Durch Berbrehung der Worte Einftinmigfeit erzielen zu wollen, ſo⸗ Deich zu der Frage und wenden: Welcher Evängelift hat das Richtigere, Urfprünglichere? Wir entfcheiden und, wie in fo wielen früheren Fällen, zu Gunften des M., da die beiden Andern unverfennbare Spuren fpäterer, ausfchmüdender Sage aur Schau tragen. Dahin zählen wir, daß fie den Namen Des Bittftellers (Mar. B. 22) angeben, den M. (V. 18) nicht ennt; denn Namen find auch fonft Zuthaten der .Sage, wid 3.2. erft weit fpätere Schriften die Namen der blutflüffigen Frau, der beiden mit Sefu Gekreuzigten 2c. vorzubringen wifs fen; ferner andere genauere Angaben, daß das Mädchen eine zwölfiährige einzige Tochter gewefen fei (Kuk. V. 12); befonders aber die oben ſchon hervorgehobene Abweichung. in Bezug auf den Zuftand des Mädchens. In der Erzählung des Markus und Lukas liegt nämlich eine fichtliche Steiges rung des Wunders: ihr gemäß leiſtet Jeſus nicht nur mehr als von ihm erbeten wird, ja mehr, ald man für möglid) hält; Luk. B. 49 fagen die Todesboten: „bemühe. ben Meifter nicht Cumjonft) *, während das Wunder bei M. weit weniger frappant erfcheint, da man gleich Anfangs nichts. Anderes von Sefu erwartete. Endlich wird auch in’d Myſteriöſe bei jenen Beiden die Sache dadurch gezogen, daß fie die erwedenden Morte Sefu in der Urfprache,. die er redete ?°),: gleichfam als Zauberworte wiedergeben (Mark. B. 41), daß Jeſus bei ihnen nur drei erlefene Sünger zum Schauſpiele herbeizieht (®. 37), und daß er den eltern das firengfte Stillſchweigen auferlegt (B. 43); Mles Dinge, von welchen der fihlichtere M. nichts weiß: Ä Ä ae Ä

. . . 0. o. ef 223Siehe Anmerkung HOT 6250

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Schreiten wir num zu den bisherigen :Erflärungsum fuchen,- fo finden wir. Diefed Mal Rationaliften und Drthodere |" im Ganzen einig: Beide nehmen an, es babe gar: feine Tod tenerwecung ftatt gehabt; Sefus fage ja felbft: „Das Maͤd⸗ chen ift nicht geftorben, fondern fchläft“, (das heißt, if.nr fcheintodt) (M. V. 39). Vergleichen wir aber Joh. 11,11, |" wo Jeſus ganz basfelbe -von dem doch wirklich gefforbenen 1 Lazarus (B. 39) fagt, und. erwägen wir den ganzen Zufchnikt der Srzählungen, namentlich das außerordentliche Auflehen, das die Sache! erregte (M. V. 26), fo können jene. Worte gar feinen andern Sinn haben, ald: „Sehet das "Mäbihen nicht als todt, fondern nur als ſchlafend an, da eg bald ins Leben zurückkehren wird“, wie auch fchon Frigfche die Stelle richtig. erflärt. Ueberdieß, wie leichtfinnig und. vermefien "hätte Jeſus gehandelt, wenn er auf die bloße Erzählung der Leute bin, auch wenn der Vater ihm die Kranfheitsumftände nech fo genau erzählt hatte, fogleich das Mädchen für nur ſchein⸗ tobt erklärte! Wie leicht konnte er fich irren, wenn er nicht ein übernatürliches Wiffen befaß, das ihm doch die Ratio⸗ naliften wenigſtens nicht einräumen wollen! Auch der Text ber Erzählung muß fchließlih noch herhalten: denn, obgleich die Worte „er berührte das Mädchen ıc. und fogleich ıc- (Mark. V. 41, 42) fo freng zufammenhängen, daß fie feirt | Einfchiebfel vertragen, fo foll doch zwiſchen den Zeilen zu Iefert | fein, Sefus habe erſt Mittel angewandt, um das Mädhert | aus dem Scheintode zu erwecken. Unbefangener Weite müffen wir vielmehr anerkennen, daß die Evangeliſten uns das Wund er einer Todtenerwecung geben wollten.

in

Wir gehen zur ‚weiten | der und > erhaltenen Todtener- = wedungen, die nur bei Lukas EXap. 7) zu Iefen ift, über” Wiewohl die Umftände hier etwas ſchwieriger find, fo ver zweifeln die Rationaliſten doch nicht an einer natürlichen Er" Härung.. „Jeſus mit feinen Begleitern, fagen fie, ſtieß unter dem Thore auf einen Leichenzug, und da die Träger ftanden, fo ließ er fich in ein Geſpräch mit ihnen ein Callein Das GStilffteben erfolgte ja erft fpäter, ald Jeſus den Sarg

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enfaßte, V. 14) 5: gerührt: durch - bie,» Erzählung derſelben, #röftete er die Mutter (8. 13); ex erfannte Lebenszeichen an Mem Ssünglinge (noch ehe der Surg geöffnet warb? !); ließ Den, <DBarg öffnen, wandte zweckmäßige Mittel an (von dem. Allem Steht ‚natürlich fein Wort im Texte); und der Süngling;genag; = oDt kann er nicht geweſen fein, da Sefus ihn anredet (V. 14), =vas min. doc, gegen Todte. nicht: thut Cdamm müſſen aber: Ile, die. Sefus am jüngften- Tage erwecken wird, auch. num <5 chyeintodte fein, da fie ja nady Joh. 5, 28 „feine Stimme Myören werben“). Abgeſehen von den in Diefer Aus deutung, Der Erzählung zu Tage liegenden puren: Erbichtungen,. wirb: Durch diefelbe Sefus in ein zweideutiges Licht geftellt, indem. Er die lauten Lobfprüche B. 16 ohne nähere Belehrung hinnahın, vbgleich er fie nicht verdient hatte, wenn er nur als’ Arzt einem : Scheintodten wieber :Bemußtfein verfchafft hatte. Wir haben auch hier eine wunbexbare Todte nmerweckung.

Die dritte, nämlich die des Lazarus bei Joh. Kap. 11. iſt die wunderbarſte von allen. Dennoch hat man verfucht, ſie entweder ganz oder theilweiſe als geſchichtliches Ereigniß feſtzuhalten. Zwar den Vorderſatz: Lazarus könne, da die Juden ſo ſchnell beerdigten, nur ſcheintodt geweſen, er könne in der kühlen Gruft (V. 17) wieder zum Leben gekommen ſein, muß man zugeben; allein die nachfolgenden Beweiſe dafür, daß es wirklich fo geſchehen ſei, ſind durchaus une ſtichhaltig. Jeſu Worte: „dieſe Krankheit iſt nicht zum Tode“ ſollen beweiſen, daß er die Krankheit nach der erhaltenen Nachricht V. 3 nicht für tödtlich gehalten habe, weßhalb er auch noch zwei Tage in Peräa blieb CB. 6). Gut; woher aber plötzlich die beftimmte. Verfiherung, Lazarus ſei tobt (V. 14) und der daraus abgeleitete Entfchluß, zu- ihm hinzu⸗ gehen DB. HI? Man weiß fich zu helfen; „es Fam ein zweiten, Bote, der des Lazarus Tod meldete, worauf aber Jeſus fogleich erkannte, daß er nur fiheintgdt fei* CB. 11) alfein von. jenem zweiten Boten ijt nirgends eine Spur zu finden, und auch hier wäre Seju Zuverſicht: „ich will ihn erweden“, eine wahre Bermefjenheit; überdieß bezeichnet jert (don Sein

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bie befchloffene Wiebererwedung ald ein willfommenes Mittel, die Jünger in ihrem Glauben zu flärfen (V. 15). As er nun in Bethanien angelommen, fpricht ihm bes Lazarus Schweſter Martha zwar befcheiden, aber unzweibentig die Er⸗ wartung and, dap er ihren Bruder erwedfen werde (B. 21, 22) und Jeſus verbeißt es ihr; Daß dieß in dem etwas. ımbe- flimmten Ausdrude: „er fol auferftehen* (23) gefchieht, daß Martha darauf wieber in ihrem Vertrauen wanfend wird (2, und daß Jeſus fodann nur allgemein von dem Lohne des Glanbens fpricht (25); dieß Alles greifen nun abermals die natürlichen Erflärer zur Stüge ihrer Anjicht auf, Sefus denfe an feine wirkliche Erwedung. Allein offenbar beruft ſich V. 40 Sefus auf fein Verſprechen DB. 23; offenbar hatte re V. 11 ſchon zuverfichtlich von der Wiederermedung gefprochen er und wäre alfo jebt irre geworden; und daß Martha fo bald wieder ſchwankt, fann bei einem Weibe fo beweglicher Natur nicht auffallen. Eben fo wenig will ed gelingen, die hierauf” erzählte Rührung Jeſn CP. 35) für jene Erklärungsweiſe zu benügen; denn nicht fowohl der Schmerz über den vermeint— lihen Tod des Lazarus fpricht fich in feinen Thränen aus fondern vielmehr die Wehmuth über den Unglauben der— Weiber. Denn nur diefer fann den innern „Grimm“ (ein—t Wort, welches man fprachmidrig von Unterdrüdung des Schmerzedö hat nehmen wollen), von dem V. 33 die Rede war, und der ſich nun zur Wehmuth herabſtimmt, in ihm et erregt haben. Daß die Juden (V. 36) die Thränen See - feiner Liebe zum Scheintodten, deffen Wiederbelebung ihm noch EI nicht gewiß gewefen fein foll, zufchreiben, beweist Nichte, da Nichts bei Johannes gewöhnlicher iſt, als daß dieſe Juden ihn gaänzlich mißverſtanden. Endlich darf man ſich auch über die

Härte, die in dem Unwillen über die Glaubensfchwäche der

jammernden Weiber liegt, in der Erzählung eines Evangeliſten

Klum, u 5

nicht wundern, ber Jeſum einen Wunderſuchenden (4, 48), ,; feine Zünger (6, 61), ja feine eigene Mutter (2, 4) hart ;;, anfahren, überhaupt jedesmal entrüftet werden läßt, wenn :n

oder begehrlich zeigen.

Menfchen, fein höheres Wefen verfennend, ſich kleinmüthig x Hat ſonach Jeſus unbeitreitbor, wacı ber Darſtellung bes

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vangeliften, fchon ehe er nach Bethanien fam, bie Abficht habt, Lazarus zu erweden, fo fragt fi nun, wie die Er⸗ ihlung von der Ausführung derfelben fich der rationafiftis ben Annahme eines von Jeſu geheilten Scheintodes fügt. war geben wir zu, daß die Berficherung, Lazarus rieche hon, Nichts beweist, da fie nur Anficht der Martha fein iochte (39); aber daß Sefus, als auf fein Verlangen das zrab geöffnet wurde (41), fo beftimmt verfichert: „du ſollſt ir Herrlichkeit Gottes fchauen“ (40), dieß kann doch nur von er Auferftehung des Lazarus gemeint fein. Wie matt vaͤren die Worte, wenn fie, der natürlichen Erklärung zufolge, mr ganz flach hießen, man werde eine herrliche Aeußerung wer Gottheit erleben! wie matt gerade nad) der Berficherung von dem Beginne der Verwefung! ja, wie verfehrt wäre es, a diefelben Worte B. 4 offenbar auf eine Wiebererwedung ſindeuten, fie. hier in anderem Sinne zu wiederholen! Daß Jeſus ferner dem Zodten erit dann das „komme heraus 43) zugerufen, nachdem er Gott gebanft für die Erhörung 41), fol ein deutlicher Beweis fein, daß nicht erft dieſe Worte a8 Wunder bewirkt, fondern daß Jeſus fehon vorher bemerft abe, der Scheintodte fei wieder erwacht. Allein einestheils cheinen diefe Erflärer nicht zu wilfen, wie oft bei Sohanneg olche feierliche Dankfagungen noch vor dem fichtbar ausges ührten Wunder vorfommen; anderntheils ftreitet ihre Annahme jegen den ganzen Zufammenhang. Waren die Zeichen bes ebens ſo auffallend, fo mußten ja auch andere Zufchauer es jewahr werden; waren fie fo unfcheinbar, daß nur Sefus fie emerkte, wie vermeflen abermals die fefte Zufage, die in ber ufforderung an Lazarus lag: „Eomme heraus“! Endlich. war 8 aber auch Jeſu ganz unwürdig, die Huldigungen des Bols e8 anzunehmen (45), wenn er nichts .gethan, als die Wieder⸗ rwachung des Scheintodten zuerft bemerkt hatte! Der Ans 08, der in jenem Vorherfagen Jeſu liegt, it fo groß, daß elbft unfere natürlichen Erflärer ihn zu entfernen fuchen. Raulus behauptet daher, die Verkündung V. 11 fei erft ad) dem Erfolge von dem Erzähler zugefegt worden; bie- :lbe Behauptimg dehnt Gabler auch über V. 4, 15, 22 us, und ein Anderer erklärt diefe Stellen gar fire. Inltere

N, a

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Einſchiebſel von einer fremden Kant. Mollte man aber eben fo mit allen andern Stellen verfahren, welche nad un ferer Audeinanderiekung als der natürlichen Erflärungsweile= ungünſtig fich erwieien haben, fo bliebe am Ende fein Steir auf dem andern; überhaupt darf ein Ausleger fich nie erlan— ben, ohne andere Grunde, einzelne Stellen nır darum übe Bord zu werfen, weil fie feiner Erflärungsweife nicht zufagerz Es haben aljo jtillicdiweigend die Rationaliiten hier zugeltare- den, was wir zu beweiſen fuchten, daß auch dieſe Erweckungs⸗ gefchichte ald eine wunderbare geglaubt, oder ihre gejchicht- liche Wahrheit gelaugnet werden muß.

Hiermit find wir an Der oben angefundigten Frage ange langt: Sind bie erzählten Todtenerweckungen glaublich, oder nicht? Schauen wir zurüd! Daß Geitesfranfe oder ſolche Kranke, bei denen nur das. dem Geilte zunächit angehörige Nervenfpitem fich angegriffen zeigte, „auch theils »*2) auf bem geütigen Wege des bloßen Wortes, Anblidd, Eindrucks Jeſu, theils durch magnetifhe Ginwirfung auf die Franken Nerven, gebeilt worden fein mochten, auch Die Heilung ven Lähmungen, Blutfluß, auf demjelben Wege, fanden mir weder an ſich undenkbar, noch ohne Beilpiel; zweifelhafter waren wir fchon in Bezug auf die Blindenheilungen; bei Ausjägigen, Waſſerſüchtigen, fonnten wir die Heilung ung wenigftend nicht als eine plöbliche denken; die Geichichten von Heilungen Ents fernter mußten ‘wir geradezu abweiien. Und doch war hier immer nody Etwas vorhanden, woran die Wunderfraft Jeſu fich wenden konnte; es war doch noch ein Bewußtfen ın den Menfchen, auf welches Eindrud zu machen, ein Nervenleben, welches anzuregen war. Run aber bei Todten it das anders. Der Geftorbene, welchem Leben und Bewußtſein ents flohen ift, hat den legten Anfnüpfungspunft für die Eumvirkung des Wunderthäters verloren: ee nimmt ihn nicht mchr wahr,

3, Ich Bann nicht umhin, dieſe ganze höchit charakteriftifche Stelle aus Strauß (5. 166) wörtlich hier einzuſchieben, da Berrũrzung derſelben faſt unmöglich if.

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befommt keinen Eindrud mehr von ihm, da ihm felbit die Faͤ⸗ higkeit, Eindrüde zu befommen, aufs Neue verliehen werben muß. Diefe aber zu verleihen, oder beleben im eigentlichen Eine, it. eine ſchöpferiſche Thaͤtigkeit, welche von einem Menſchen ausgeübt zu benfen, wir unfere Unfähigkeit befennen müffen. *

Bilden ſonach alle jene Wunder mit diefen Todtenerweckun⸗ gen eine leicht bemerkbare Stufenleiter, fo iſt dieſes zugleich auch der Fall mit den drei einzelnen Todtenerweckungen: jede derfelben fügt noch etwas Wunderbares hinzu. Der Tob der Jairuss Tochter wirb nur mit einem Worte angezeigt; auf dem Bette wird der noch warme Leichnam wieder belebt; der Tüngling von Nain, fchon gänzlich erfaltet, wird im Sarge wieder erwedt; Lazarus liegt fchon Tage lang in der Gruft, ift der Verweſung ſchon anheim gefallen, und auch

. er kehrt durch einfachen Machtipruch in’s Leben zurüd. Alſo immer Eins undenfbarer, ald das Andere, wenn es überhaupt | im Undentbaren Stufen geben kann.

Aber auch ganz von dem Wunderbaren abgefehen, fo iſt von den drei Gefchichten jede folgende theild in fi unwahrs fheinficher, theild äußerlih unverbürgter. -

Unwahrfcheinlich it bei allen dreien die Wahl der auf

erweckten Perfonen: warum gerade dieſe Drei, an ſich doch unbedeutende? warum nicht Männer, die, wie 5. B. Sohans nes der Täufer, der Welt noch fo viel hätten nüsen können? War vielleicht ihr Seelenzuftand von der Art geweien, daß grade für fie ein längeres Leben wünfchbar war? Davon feine Spur! Das einfache Mitleiden, das bei der zweiten, Freundfchaft, die bei der dritten Erzählung deutlich) als Grund hervortreten, find doc; gewiß feine hinreichenden Gründe. Wie Biele mögen damals geftorben fein, die vielleicht noch größere Anfprüce daranf hatten, wieder erwedt zu werben!

In hohem Maße aber häuft fich das Unwahrſcheinliche

befonders in der dritten Erzählung, der von Lazarus. Un⸗ begreiflich ift zunächft das Benehmen von Jeſus in mehreren Stüden. Warum bleibt er auf die Nachricht von Logoxvð

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Krankheit nody zwei Tage fern von ihm? und body fah er den Tod (DB. 11) des geliebten Freundes (5) voraus. Wollte er vielleicht einen fruchtbaren Wirkungskreis nicht fogleich ver laffen? Aber dann durfte ey ja nur einige feiner Sünger zus rüdlafflen, oder mit feiner Wunderfraft den Krauken aus der Ferne heilen. Aber nein! Der Evangeliſt gibt ja felbit den Grund deutlich genug an; abfichtlich ließ er ihn fterben, Damit feine Erwedung die Sünger im Glauben jtärfe (15) und er, Sefus, in feiner Glorie ale Meſſias um fo mehr ver herrlicht werde (4). Ein ſolches willfürliches Verfahren, eine foihe Freude an dem Prunfen mit Wundern verträgt ſich aber doch mit dem edlen, großartigen Tharafter eines Jeſu nicht! Dieß haben auch andere Theologen eingefehen; nur hätten fie deßhalb nicht läugnen follen, daß Sohannes die Sache fo darftelle, was fich doch nicht Täugnen läßt, fondern eingeftehen müſſen, derfelbe erzähle und wirflid, Unglaubliches. Befremdend ift gleichfalls das Gebet Sefu vor der Er⸗ weckung des Lazarus: denn kaum hat er ed V. 41 gefprochen, fo fegt er wie entfchuldigend V. 42 hinzu, nur um des Volkes willen bete er, da fein Verhältnig zum Vater keines Gebetes bebürfe. Wer aber auch nur vorzugsweije zur Erbauung Anz derer betet, ſoll doch und wird ganz in Mitgefühl und in der Stimmung dieſer aufgeben, oder fein Gebet entbehrt der inneren Wahrheit; follte er e8 für nöthig halten, durch Ueberlegung fich den Gedanken nahe zu bringen, daß er fo zu beten nicht nöthig habe, fo wird er dieß wenigftens leife thun, weil er fonft Die Andacht der Zuhörer gänzlich vernich⸗ ten würde. Gewiß kann aljo jener erfältende Zuſatz (V. 42) nicht von Jeſu felbft fein; vielmehr ift er demfelben nur von dem Cvangeliften geliehen worden. Warum ? ift leicht einzus fehen: die Lefer, für welche er ſchrieb, fonnten an dem Ges bete Jeſu Anftoß nehmen, da fie fchon, bei weiterer Ent» wicelung des chriftlichen Glaubens, ſich ein ftetiges, gleiches Berhältniß des Sohnes zum Vater dachten, und daher an einem folchen Gebete Anſtoß nehmen konnten; diefen Anftoß zu vermeiden, fchien der Zuſatz nöthig. Vielleicht ift aber auch fchon das Gebet Erfindung des Evangeliften, da ders

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Felbe, wie wir bereits Th. I, ©. 243 ıc. fahen, es liebt, ganze Neben Sefu’in den Mund zu legen.

Befremdend ift endlich auch das Benehmen der Jünger und der Juden. Gene fonnten, da ihnen ja fchon früher Sefus den Tod der Sairustochter unter dem Bilde des Schla⸗ fes vorgeftellt hatte, Sefu Worte V. 12 „er ift entichlafen“, unmöglich buchftäblich nehmen: aber es ift ja des Evangeliſten Keblingsmanier, überall die Sache fo zu ftelen, daß Sefus von feiner Umgebung ganz oberflächlid) mißverftanden wird! Diefe, die Suden, fügen ®. 37 ihre Erwartung, Jeſu babe des Lazarus Tod hindern fünnen, auf die Heilung bes Blinds gebornen; lag es ihnen nicht viel näher, aus ben „durch's ganze Land befannt gewordenen * (M. 9, 26) galilätfchen Todtenerwedungen die Hoffnung zu fchöpfen, Sefus werde auch den Lazarus wieder auferweden? Aber auch bier verräth ſich die einfchiebende Hand des Evangeliften: ihm lag die fo eben (Kap. 9 erit erzählte Heilung des Blindgebornen noch im Sinne, darum führt er diefe an und von jenen Tods tenerwedtungen fcheint er nichts gewußt zu haben.

Unverbürgt ferner it jede der drei Erzählungen in dem Grade, in welchem fie wunderbarer ift. Die einfachfte, die von bes Jairus Töchterlein, findet fich in drei Evangelien; jede der andern nur bei Einem. Daß die Gefchichte vom Süngling von Nain nicht auch von M. und Markus erzählt wird, ift unbegreiflih. War fie ihnen befannt, fo mußten fie felbige aud) erzählen, denn fie enthält ein weit auffallens deres Wunder, ald die von ihnen berichtete Erweckung des eben erit geftorbenen Mädchens. Wollten fie diefe aber nicht gerne weglaffen, fo hatte jene eben fo gut noch Plaß, wie 3. 3. bei M. noch zwei Blindenheilungen neben einem fchon erzählten Wunder der Art. Wir müffen aljo fchließeu, daß wenigftens M. die Gefchichte des Sünglinge von Nain nicht fannte, was und cben fo undenfbar erfcheint; denn viele Jünger jollen ja hier zugegen geweſen fein (uf. 7, 11) und Die Kunde des Gefchehenen durch's ganze Land fich verbreitet häben (3. 17). Diefe räthjelhafte Unkenntniß erxregt voWroeo⸗

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dig großes Mißtrauen gegen das wirkliche Vorgefallenfein ber Sache. Denn Schleiermacher's Bemerkung, die Evanges lüften haben wohl alle von ihnen erzählten Begebenheiten an Drt und Stelle aufgezeichnet, und da feien M. und Markus nicht grabe in das weniger bekannte Nain gekommen, beruht auf der ganz irrigen Anficht, daß folche Gefchichten an dem Drte, wo fie fich zugetragen, gleichfam wie todte Klumpen zu Boden gefallen, fo daß man fie nur grade da auflefen könne; während fie doch leicht und lebendig von Ort zu Drt fliegen, nach allen Richtungen hin fo flüchtig umherfchmeifen, und.das Band mit Dem Orte, wo fie vorgefallen, fo zerreißt, Daß fie von der Sage oft an einen ganz andern verlegt werben, wie wir das auch täglich erleben können.

Noch weit auffallender aber ift ed, daß die Erweckung bes Lazarus von feinem Synoptifer erzählt wird. Auch hier müffen wir behaupten, wenn diefe fie wußten, fo mußten fie fie auch erzählen; denn ihre Auswahl wäre ja ganz verftands [08 gewefen, wenn fie das größte aller Wunder übergangen hätten: ein Wunder, das überdieß fo genau mıt der Entwides lung des Schickſales Jeſu zufanmenhing, indem es CSoh. 11 , 47) den erften Anlaß zu den blutigen Anfchlägen auf ihn gab, was doch ebenfalld den übrigen Evangeliten fein Geheimniß fein konnte. Doch wiffen die Theologen auch diefes Schwei⸗ gen auf mancherlei Weife zu erflären. Die Einen fagen, der Borfall fei noch zu befannt gewefen, ald daß die Synoptifer nöthig gehabt, ihm aufzuzeichnen; allein aledann durften fie noch weit weniger die allbefannten Vorfälle, Taufe, Tod und Aufs erftehung, aufzeichnen; ift es denn überhaupt die einzige Aufs gabe des Sefchichtfchreibers, nur Unbekanntes zu erzählen ? und nicht auch die, Bekanntes der Vergeffenheit zu entreißen? Andere vermeinen dagegen, die Evangeliften haben die Sache nicht zu fehr befannt machen wollen, um dem Lazarus, der wegen derfelben fchon ſtark genug angefochten worden (Joh. 12, 10), nicht zu fchaden: allen, wenn auch Lazarus bei Abfaffung der Evangelien noch lebte, wie konnte ihm, der ohne Zweifel Chrijt geworden, die fehriftliche Erzählung eines ohnehin fehon allgemein befannten Ereigniffes ſchaden?! und gefest auch, durfte man ihm wicht gatranen, ex werde gerne

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den wöllen um ber allgemeineren Verherrlichung Jeſu willen? Koch fonderbarer ift die Bemerfung, daß die Syuoptifer die sertrauten Verhaͤltniſſe Sefu zur bethanifchen Familie (das heißt m Lazarus md feinen Schweftern!) nicht haben in bie gemeine Tradition bringen wollen: eine bedenklich feine Bemerkung ! Am fonderbarften nimmt es ſich aus, Daß nas aentlich M. die Gefchichte darum nicht vorgetragen haben ſoll, weil er fich außer Stand gefehen, fie fo rührend zu er- fühlen, -ald fie es verdiente!

Nein! wir müffen ehrlich geftehen , ba die Synoptifer bie Gefchichte nicht berichten, fo können fie unmöglich fie ges kannt haben. Aber auch dieſes Nichtwiſſen erfcheint uns nun unerklaͤrlich. Manche erklären es daraus, daß ja die. Synop⸗ er feine Apoftel gewefen: wenn wir auch Diefe zugeben, ſo folgt daraus noch nichts; denn das Ereigniß war zu aufs fallend, ale daß es nicht hätte in bie allgemeine Zrabition übergehen müffen. Auch der Einwand, daß die Synoptifer wr das in Galiläa Bekannte aufseichneten ift gehaltlos; wie kemte hier die Erwedung des Lazarus unbefannt bleiben, dabei ihr die, meift galiläifchen, Jünger zugegen waren, und fehr bald nach ihr das Pafchafeft eintrat, zu welchem fo viele Galiläer zur Hauptftadt famen, wo die Sache allgemein bes kannt war!

Kir können daher nicht umhin, das Schweigen der Sy⸗ noptiker, trotz der Bannſtrahlen mancher Theologen, zu Un⸗ gunſten des Johannes zu deuten, und dieſe Erweckungsge⸗ chichte für Die wie innerlich unwahrſcheinlichſte, fo äußerlich im wenigiten beglaubigte * zu halten. |

Um nun das Endrefultat auszufprechen, fo erfcheinen ung le drei Todtenerweckungen als reine Mythen, deren Ents tehung wir und fo erklären. Vom Meffiad wurde die Aufs rweckung ber Todten erwartet (Joh. 5, 28 ıc.; 1 Kor. 155 Theſſ. 4,.16): nun war aber die Erfcheinung Sefu als Mefs as nach der Anficht der erften Gemeinde in zwei Hälften ebrochen durch Zod und. Auferftehung; er mußte Dereinft am zweiten Male wiederfommen, und zwar in aller feiner Blorie, und alsdann die Todten erweden. Allein für dieſe Ugenieine Todfenerwedung mußte er ſchon bei feinem eriten

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Erſcheinen durch einzelne eine gewiffe Bürgfchaft gegeben ha⸗ ben, als Borfpiel davon, daß einft Alle in ben Gräbern feine Stimme hören werden (Joh. 5, 28 ıc.). Ueberdieß lagen dafür auch im alten Teftamente Vorbilder vor. Wie Sefus die Sairustochter, fo hatten auch Elias (1 Kön. 17, 17) und Elifa (2 Kön. 4, 18) Kinder erweckt; fogar ein bereite im Grabe Liegender wurde, wie Lazarus von Sefu, durch Elifa erwedt (2 Kön. 13, 21). Endlich dürfen wir nicht uns bemerft laffen, daß auch von Ayollonius von Tyana eine ber Erzählung vom nainitifchen Sünglinge auffallend ähnliche Tod⸗ ‚tenerwedung erzählt wird. Erklären wir dieſe ganz unbebents lich für eine Nachbildung der evangelifchen, wie es ja Jeder⸗ mann thut, fo wäre ed ja Die größte Befangenheit, nicht auch die evangelifche für Nachbildung der alt-teftamentlichen zu hals ten, die in letzter inftanz ihren Urfprung in dem, dem ganzen Alterthum gemeinfamen Glauben an die den Tod bezwingende Kraft gottgeliebter Männer, (wie bei den Griechen Herfuleg, Aeskulap 2.) haben.

Sechstes Kapitel, Seewunder. (M. 8, 23 27; Mark. 4, 35 - 41; Luk. 8, 22 26; ſodann M.14, 22—33; Mark. 6, 45—51; Joh. 6, 16 26.)

Da die Umgebung des galiläifchen See’s, den Synoptifern zufolge, der gewöhnliche Aufenthalt Jeſu war, fo kann es nicht befremden, daß mehrere feiner Wunder auf diefem See fi) ereignen. Eines derfelben, den Fiſchzug Petri, haben wir fchon Th. I, ©. 207 betrachtet; e8 folgen noch mehrere andere.

Das erfte, die wunderbare Befänftigung dedg Sturmes, wird von allen Synoptifern erzählt (M. 8, 23 u. a). Die natürlichen Erflärer fuchen umfonft das Wunder wegzufchaffen, wenn fie behaupten, die Worte (M. 8, 26): „er drohete ben Stürmen * hießen nur: „er fprad) zuverfichtlichh aus, daß fie fofort aufhören würden“. Wein dos eigen Te wicht; und

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wie follte auch Jeſus größere Kenntniffe von Wind und Wet⸗ ter haben, als die auf dem See gleichfam aufgewachfenen Petrus, Johannes u. A.? Ueberdieß hätte Sefus auch ımrebs lich gehandelt, wenn er Die Meinung, weldye das Aufhören des Sturmed in den Degleitern erregte, daß nämlic, Jeſu „Wind und Meer gehorchen“ (®. 27), nicht berichtigt hätte. Müffen wir alfo daran fefthalten, daß ung die Evange⸗ litten ein Wunder erzählen, fo find wir damit auf einer noch höheren Sproffe der Wunderftufenleiter angelommen, als bei der Todtenerwedungen (f. ©. 322). Denn wir fehen bier, daß Jeſus nicht nur auf Seele und Leib der Mienfchen, fons dern auch auf Die leblofe Natur unmittelbar eingewirft haben fol: hier reißt der Faden der Möglichkeit gänzlich ent⸗ zwei; „hier ſpaͤteſtens Cfofern bei Todtenerweckungen immer noch die Annahme des Scheintodes an fich möglich bleibt) hören die Wunder in dem früher bezeichneten Sinne auf und fangen die Mirafel an*. Da eine ſolche Gewalt Sefu über die äußere Natur mit feinem Erlöfungswerfe unmittelbar nichts gemein hat, fo haben ihr die Supranatüraliften auf anderm Wege eine Beziehung zu demfelben zu geben verfucht, indem fie die Stürme in der Ratur ale Folgen ver Sünde anfahen. Sind fie denn aber nicht, wie Gewitter u. dergl., wenn man fle im Zufammenhange des Ganzen betrachtet, wieder von den wohlthätigften Wirfungen? „und eine- Welt anficht, welche im Ernſte der Meinung ift, vor und ohne den Sündenfall würde es feine Stürme und Gewitter gegeben haben, ftreift man weiß nicht, fol man fagen, an das Schwärmeriſche oder an das Kindifhe* Wozu aber fonft ſoll Sefu folhe Macht über die Natur gehabt haben? etwa um allgemeinen Glauben zu finden? dieſen fand er aber ja doch nicht! Soll fie Sinnbild der äußeren Herrfchaft fein, die der Menſch über die Natur auszuüben berufen ift? Aber ift nicht eine ſolche um fo größer, je mehr fie durch Nach⸗ denfen und Anftrengung vermittelt ift? fo daß Kompaß und Dampfſchiff diefelbe weit mehr beurfunden, als eine magifche Bändigung durch ein paar Worte. Und weiter: ift nicht jene innere Herrichaft, welche der allen Gefahren trotzende Muth über die Natur ausübt, iſt fie nicht die ebelite wor allen one

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dern? und wirb grabe biefe nicht ganz unmöglich und zu einem bloßen Gaufelipiel herabgewürbigt bei einem Weſen, das die wunderbare Kraft in ſich trägt, der Natur mit Zauberworten zu gebieten? Kür ein folches gibt es feine Gefahr!

Halten wir von Jeſu derlei Dinge fern und fragen viel mehr, wie entitand wohl unfere ganz fiher fagenhafte Ers zählung? Möglicher Weife kann Jeſus - allerdings einmal während eines Sturmes gefchlafen, und, nachdem er. geweckt worden, feine Sünger ermuthigt haben, jo Daß dann die Sage, getrieben durch die Vorftellung von Jeſu Weſen, und durch das Vorbild, welches in der von Moſes über dag (rothe) Meer ausgeübten Herrfchaft (2 Moſ. 14, 16, 21) lag, noch die folgenden Züge von dem Bedrohen des Sturmes.ıc. (die Mark. V. 39 am genaueften ausmalt) binzudichtete. Allein es: ift ohne Beifpiel, Daß die Sage, wenn fie einmal einer Erzählung ſich bemächtigte, den Stamm bderfelben fo ganz unverändert ließe; ‚daher liegt e8 näher, nur Das, daß Jeſus einmal bei dem Toben der Wellen den Glaubensmuth feiner Jünger aufs gerichtet habe, als Faktum feflzuhalten, woraus denn bie Sage das fchöne Bild des in Sturmesnötben fchlummernden Jeſu ſchuf. Am nächſten aber ſcheint ed und zu liegen, Die ganze Erzählung ald eine zur Mythe ausgefponnene Gleichs nißrede Sefu zu nehmen. So wie er dem Glauben’ finnbilds lich die Kraft zufchrieb, Berge zu verfegen (M. 21, 21) oder Bäume in den Meeresgrund zu pflanzen (Ruf. 17, 6), eben fo fonnte er einmal im gleichen Sinne gefagt haben: „durch ' den Glauben vermögt ihr den Stürmen zu gebieten“. Dieß mochte zu unferer Erzählung umgedichtet worden fein; um fo mehr, da man gerne die Kämpfe des Gottesreiches mit der Welt einer Fahrt durch den flurmbewegten See verglich, wobei Jeſus als der Lenker des fturmbewegten Schiffleing, als der, ber Wind und Wellen bändigte, gedacht wurde.

Die zweite hierher gehörige Erzählung gibt und ein eben fo wunberbared Wandeln Jeſa auf dem See, um in bas

- 331 gefährdete Schiff, worin feine Tünger faßen, zu gelangen AM.14, 22 u 2%.) Paulus macht den kühnen Verſuch, bie Worte B. 25: „und Jeſus ging auf dem Meer“ zu ers klaͤren: „ging über dem Meer“, das heißt, an dem erhabes sen Ufer desfelben. Den Worten nach wäre dieſe Erflärung allenfalls zuläffig; dem Zufammenhange nach aber durchaus nicht. Zefus kam ja dem Schiffe fo nahe, daß er mit dem - Süngern redete (V. 27), und doch befand fich jenes mitten auf dem See, oder, wie Joh. 6, 19 genauer fagt, gegen 1%, Stunden vom Ufer entfernt; wie fonnte da-Sefus von diefem aus mit den Jüngern reden? Und tritt nicht. auch Petrus zu Sefu auf das Waffer hinaus (V. 29)? kam er nicht in Gefahr, unterzufinfen (V. 30)2 was doch wohl auf: dem Ufer nicjt möglich war. Andere benfen bei dem Wan⸗ dein ıc. an Schwimmen; allein bei'm Sturme 1%, Stunden weit zu ſchwimmen, iſt Doch gewiß unmöglich, und ein Schwim⸗ mer kann nicht. wohl wie ein Geſpenſt (V. 26) ausſehen! Paulus entſchuldigt feine gezwungene Deutung dadurch, daß ein ungewöhnlicher oder falfcher Gebrauch von Worten immer moch denfbarer fei, als ein fo unerhörtes Wunder. Ganz recht! allein diefer Gegenſatz ift falfch geſtellt; denn Daraus, Dad ein Wunder erzählt wird, folgt nod) nicht, daß es auc gefchehen fei. Richtiger ohne Zweifel fehren wir den Sat um, und fagen: „Es ift weit denkbarer, daß Menfchen, wie fo fehr zum Wunderglauben geneigt find, in einem Fake. tum ein Wunder erbliden, ale daß ſie ganz widerſi nnig ſich ausgedrückt haben ſollen“.

Ehe wir nun die ganze Erzählung beurtheilen , müffen wir in jedem einzelnen Berichte die Unwahrſcheinlichkeiten auf⸗ ſuchen. Eine ſehr auffallende findet ſich bei Markus, indem er ſagt, Jeſus habe auf dem Meere „an dem Schiffe vor⸗ übergehen wollen“ (6, 49): alfo wollte er den Bebrängten nicht helfen, fondern nur vermöge feiner göttlichen Kraft über den See gehen, wie über’ feften Boden. Gibt es, fagt fchon Paulus, etwas Zweckloſeres und Abenteuerlicheres, als ein folches Wunder zu thun, ohne gefehen zu werden? In der That fchimmert hier Die Vorftellung hindurch, daß Jeſus, auch ‘ohne weiteren Zwed, fchon gewohnt war, der Kocye wegen

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über Wafler, wie über feften Boden hin, feinen Weg zu ne» men: doch wohl eine der ftärfften Uebertreibungen, die in diefem Epangelium ſich finden! Nicht minder ſeltſam it bei M. der Zug, daß auch Petrus auf Jeſu Geheiß einm ähnlichen, -nicdyt gut gerathenen Verſuch macht, im Glauben an Jeſu Hilfe (V. 29, 30). Konnte Sefus auch Andern de ‚nur ihm inmohnende Kraft ohne Weiteres mittheilen, fo hört er auf, Menſch zu fein; unterbrach er aber Die Naturgefee fo ganz unnüß, nur um ein Gelüften ;u befriedigen, fo flimmt dieß zur Weisheit Gottes fehr wenig. Doch können wir leicht auffinden, wie diefer offenbar mythifche Zufaß entſtand. Bekannt war ed, daß Petrus vor der Verläugnung fich eine größere Glaubensſtärke zutraute, ale er wirklich befaß, daß er ganz gefunfen wäre, hätte Jeſus feinem Glauben nicht aufgeholfen uf. 22, 31 ꝛc.); wie leicht konnte die Erzählung von diefer Glaubensprobe in das Bild vom muthigen, gläubis gen Wandeln auf der See, welche ja, wie wir oben fahen, ein Sinnbild der argen Welt war, fich einfleiden; wie leicht dieſes Bild wieder zur Erzählung eines wirklichen Fak⸗ tums verfnöchern !

Auch des Tohannes Bericht bietet ung einige unbegreifs liche Eigenthümlichfeiten dar. : Statt daß bei den andern Evangelien Jeſus wirklich in das Schiff fteigt, wollten ihn bei Sohannes die Sünger zwar hereinnehmen, allein es unters blieb, weil dag Schiff ſchon zu nahe dem Lande war (6, 21). Man hätte diefe Wendung durch falfche Worterflärung wegzu⸗ deuten nicht verfuchen, vielmehr anerkennen follen, daß hier Sohannes das Wunder noch mehr fteigerte, ald Markus; denn während diefer ſchon Sefu die Abficht zufchreibt, daß Schiff nicht zu befteigen, läßt Johannes dieß wirklich auch fo ge: ſchehen! Weiterhin fucht er das Wunder noch mehr zu beglaubigen, indem er es vor allem Volke gefchehen läßt (22). Das Bolf nämlich, welches von Sefu an dem einen Tage diesfeitd des Sees gefpeist worden war (26), fand ihn ander Tages ſchon jenfeits des Sees, und konnte nicht begreifen (V. 25), wie er dahin gefommen; denn in das Yahrzeug der Jünger war er nicht gefliegen, ein anderes war nicht da gewefen (8. 22) und zu Lande konnte er in der kurzen Zeit nicht an's jenfeitige

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Ufer gekommen fein.: Wir unfererfeits koͤnnen nicht begreifen, wie das Bolt dahin gekommen; denn wäre von dem Volke, das aus fünftaufend Menfchen beftand CB. 10), auch nur ber fünfte Theil über den See gefahren, fo hätte es, falls es ſich gewöhnlicher Fifcherfühne bediente, eine ganze Flotte ‚nöthig gehabt, oder wenn es größere Fahrzeuge benuße;: fb mußten dieſe ſaͤmmtlich, was undenkbar ift, ihre Richtung nad) Ka⸗ pernaum (17) genommen haben. Es ift daher kaum zweifel⸗ haft, daß dieſe Volksüberfahrt nur hinzugedichtet wurde, um eine bedeutende Controle zu gewinnen, bie das Wunder dee Seewandelns beglaubigen ſollte.

Geben wir aber auch alle dieſe einzelnen Auswüchſe bes Wunderhaften auf, fo bleibt immer der Stamm ſelbſt übrig, das Gehen auf dem Meere. Sit ein folches irgend denkbar? Dem Olshaufen darauf antwortet, „an einer höheren tehlichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höhern Welt, bürfe ine ſolche Erfcheinung nicht auffallen“, fo find das Worte, bei denen man fic Nichts denken farm. Daß die Alles ver- Märende Kraft eines höheren Geiftes fich an dem Körper nur ſo äußere, daß derfelbe den natürlichen Gefeßen der Schwere entzogen werde, und nicht vielmehr durch völlige Herrſchaft über irdiſche Begierden, iſt eine offenbar viel zu ſumliche, um Richt zu fagen unwürdige, Vorftellung. Wenn aber Jefu Körs Per dieſe Eigenfchaft wirklich befaß, warum zeigte er fie noch licht bei der Taufe im Jordan, wo er untertauchte, wie ein ge Döhnlicher Menſch? Wie Vieles ließe fich noch frägen , um as Berfehrte jener abenteuerlichen Anficht in's Licht zu fegen!

Es ift indeß nicht ſchwer einzufehen, wie unfere Mythe enn etwas Anderes ift ed doch wohl nicht entitehen Eonnte. Bir haben darin nur eine andere Variation des beliebten zildes, daß die Gewalt, die Gott-und die mit ihm Einigen ber die Welt ausüben, . gleich fei der Uebermacht über ‚die ſenden Meeregwellen. Daher das Verjagen des rothen Reeres durch einen: Winf des Mofes bei dem Durchzuge der fraeliten; daher das noch größere YBunder des Meerwandelns uch Sefum, mag es num aus einem zur Geſchichte, umge⸗

33%

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Es bliebe u md utrz die Geikichte ven dem Fiſch

wir tem Stater (TR 17): dieeibe bar ibre eigentbümlicher Echwier gketcen. ih Tich Meralle x. in dem Mager⸗ eines Fries iher werıermter baben, jo iſt dech ein Geh ſtück in tem Munde des Faches, zmul wem er nach der Augel ſchucevt V. 77), enmas Unerhoertes; uw jo wunderbarer”

baber, daß eins es voraus mußte. Und Dame wozu dieſes jehfame Wunder? War auch vielleicht Damals Bein Gelb in

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3er gemeinfchaftlichen Kaffe, fo hatte ja Jeſus grade im zrapernaum fo viele Freunde. Daher find die natürlichen Aus⸗ ‚eger eifrig bemüht, das: Wunder zu entfernen; fie verfuchen auch hier ihre Kunft in Verdrehung der Worte. Dadurch bringen fle ftatt des fonnenklaren Sinnes von V. 27, wo es heißt: „wenn du ihm (dem Fifche) den Mund geöffnet, wirft du einen Stater finden“, heraus: „öffnen ihm fogleidy Das Maul, nachdem du ihn aus. der Angel genommen, bamit er om Leben bleibe, und dann wirft du einen Stater für ihn loͤſen“; gleich als hätte der Fiſcher Petrus ſolche An⸗ weiſung nöthig gehabt!. Da es nun ferner unglaublich iſt, daß in dem fifchreichen Kapernaum Ein Fifch um fo hohen Preis follte verkauft werden können, fo werden die Worte:

„den erften Fisch, den du aufhebit, nimm heraus“, fo ges wendet: „nimm allemal den Fifch, der dir zuerſt aufſtößt, und fo fort, bis du genug haft“!

Es muß alfo beim Wunder bleiben! da es aber fo chenteuerlich ift, fo fönnen wir um fo weniger baran glauben. Bahrfcheinlich ift es ein Ausfluß des beliebten Themas von Petri Fifchzug: Petrus war in der Sage einmal der Fifcher; manch’ glücklichen Yang that er, manchen, in bildlihem Einne, follte er noch thun; in unferer Erzählung verkörpert bie, diefe Vorftellung umfpielende, Sage die erhafchte Koftbars tet zu baarem Gelbe, und zwar als leichte Beute in dem Munde des Fiſches. Daß es gerade eine jur Tempelfteuer othwenbige Münze war (B. 24), mag feinen Grund vielleicht in irgend einer Aeußerung Jeſu haben. „In dieſen mährs Senhaften Ausläufer endigen die Seeaneldoten*.

Siebentes Kapitel Die Speifung der Tauſende. M. 14, 13— 21; Mark. 6, 30 —44; Luk. 9, 10— 17; Joh. 6, 1—15; fodann M. 15, 3239; Mark. 8, 1140.)

In den nun. folgenden Erzählungen wirkt Jeſus nicht nur Tuf die lebloſe Natur, ſondern fogar auf künſtlich verarbei⸗ wie Raturprobufte ein: alſo eine abermalige Steigerung!

2‘

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„Jeſus vermehrt zubereitete Nahrungsmittel auf wunder, bare Weife, um eine übergroße Menſchenmenge fättigen u fünnen“: fo erzählen alle Evangeliiten „mit feltener &w | ftimmigfeit * (f. oben); und zwar gefchah es nach dem.Zeuguiß | der beiden erſten zweimal (f. oben). Diefe letztere Erzählung weicht aber von der eriten in vielen einzelnen Zügen ab, na mentlich in dem Verhältniß zwifchen dem Speifevorrath und der gefpeifeten .Menfchenmenge, das erfte Dial werden 5000 . mit I Broden und 2 Fifchen CM. 14, 17, 21), das zweite Mat 4000 mit 7 Broden und wenigen Fifchen (15, 34, 38) gefpeist; jedoch flimmen beide Erzählungen nicht nur im Ve fentlichen, .fondern auch in fo vielen einzelnen Zügen mit eins ander. überein, Daß fie offenbar Darftellungen nur Eines Faktums find. Beide Male dasfelbe Lokal, dieſelbe Veran laffung des Wunderg, diefelben Speifenz beide Dale ift Sefus troß der Einrede der Tünger zur Speifung geneigt; gleich it endlich der Hergang und das Nefultat, daß weit mehr übrig bleibt, als Anfangs da war. Hierzu kommt, daß cs, wen zwei wunderbare Speifungen vorgefallen wären, unbegreiflid fein würde, wie auch dad zweite Mal die Sünger an ber Möglichkeit derfelben zweifeln konnten (15, 33), mochte auch fchon lange Zeit feit der erften verfloffen fein. Man Eönnte etwa einwenden, es feien in der Ueberlieferung manche Züge aus der einen in Die andere. übergegangen, wodurch fie denn einander fo ähnlich geworden; allein auch bei diefer, noch unerwiefenen, Annahme bleibt die Aehnlichkeit zu groß, um eine zweimalige Speifung wahrfcheinlich zu finden, zumal da von einer zweiten nur M. und Marfus etwas. wiffen.

Daß fie aber dennoch fo beſtimmt von zweien erzählen, erflärt ficy) am einfachften fo. Don dieſer Einen Speifung waren einmal abweichende Erzählungen im Umlaufe; beide fand M. (denn ‚von Marfus kann nicht weiter die Rede fein, dA er befanntlic das Meifte aus M. und Lukas fchöpfte) vor; bemüht, fein ihm befannt gewordene Wunder verloren gehen zu laffen, nahm er beide Erzählungen auf, ohne eine firenge vergleichende Prüfung vorzunehmen. Bei dieſer Annahme fällt auch der wiederholte Zweifel der Sünger nicht mehr auf, da jede Ueberlieferung diefen Zug ‚beibehalten hatte. Wert

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dagegen Olshauſen einwendet, die zweite Erzählung fei ja nicht wunderbarer und ausgefchmüdter, als Die erfte, während doch dieß fonft überall bei einer fpäteren Sage ber Fall fii; der Evangelift wäre ja aud) unredlich geweſen, wenn er Eine Gefchichte für zwei ausgegeben hätte: fo beweist dieß mr, Daß jener Theolog das Wefen der mythiichen Auslegung wicht begriffen hat. Wer behauptet denn, die zweite Erzähr lung fei auch Die fpätere Sage, weil M. fie erft nadı der erften vorbringt? Konnte ihn nicht die in der Ueberlieferung gegebene Berbindung mit andern Borfällen beftimmen;, : fie grade dahin zu ftellen, wohin er fie ftellte? Der Evangelift mredlich? Ald wenn Er Die Doppelte Daritelling Eines Borfalles gemacht, und nicht vielmehr mit fchlichter Gewiffen« baftigkeit nur darum zwei Erzählungen gegeben hätte, weil er fie eben in der Sage vorfand und fchon wegen der abwei⸗ chenden Zahlenverhältniffe ganz ehrlidy glauben mochte, es haben wirklich, zwei Speifungen ftattgefimden! Kommt doch ch im alten Teſtamente der Fall vor; daß z. 3. die Ges ſchihte von der Tränfung aus dem Felfen zweimal erzählt wird (2 Mof. 17 und 4 Mof. 20), nur mit einigen Berändes rungen.

Wir ſchreiten nun zu der Unterſuchung, ob die wunderbare Speiſung nach den in beiden Darſtellungen wiederkehrenden Zügen möglich und denkbar ſei? Um dieß bejahen zu kön⸗ um, behaupten die Supranaturaliften, es ſei dieſes Wunder ch, wie Kranfenheilungen, „vermittelt“ worden durch den Slauben ber Gefpeistenz; das fönnte doch wohl nur fo- viel reißen: wie Die Kranken durch den Glauben gefund, fo wur⸗ en hier die Hungrigen durch denfelben gefättigt.. Demnach mißte alſo Jeſus auch ohne Äußere Mittel, nur durch un⸗ tittelbare Einwirkung auf den Magen der Hungrigen das Bunber der Speifung verrichtet. haben! Allein es wurden ja irklich Speifen vertheilt; Jeder genoß, fo viel er wollte, nd es blieb noch mehr übrig, ald vor dem Eſſen vorhanden ar. Iſt dieſe Vermehrung auch durch den Glauben der 'efättigten bewirkt oder „vermittelt“ worden? Solche nebels ufloffene Sprache kann ung nicht hindern, in der ganzen eichichte ein Wunder: zu erbliclen, durch welches unmittelbar

11. 272

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auf die vernunftlofe Natur eingewirft worden fen fell; 1. _ Dieß üt aber befouberd darum jo unbenfbar, weil bavurh |" Iete eine Dermebrung von tedten Gegenitänden bis in's Unge⸗ beure bewirft worden ware. Zwar jeben wir eine ſolche and in der Natur vor jich geben, aber nur in Folge eines regel⸗ mäßigen Naturprozeiled von Keimen, Blüthen und Früchte tragen.

Ein jolcher Naturprozeß ſoll nun auch vorliegendes Wun⸗ der jein, nur ein jehr beichleunigter, mas ja nicht zum Un⸗ denkbaren gehöre. Allein nur dann konnte von einem beſchlen⸗ nigten Raturprozefle Die Rede jein, wenn in Stein Hand em Korn ſchnell taujendfültige Fruchte getragen hätte, und dieſe tchnell gereift wären; wenn er mit immer vollen Händen bie Koörner den Hungrigen zu weiterer Zubereitung bingejchüttet hätte: oder wenn eben fo in jeinen Händen die Eier in Dem Xeibe eines lebenden Fiſches plotzlich ausgegangen umd de Heinen Fiſchchen ſchnell herangewachſen wären. Allein was hier vermehrt wurde, war ja nicht mehr reined Natur pres Duft, kein lebendiges, jondern ein tedtes, zu einem Kunfls produkt umgewandeltes! Wenn alje ein beichleimigter wirkli⸗ ıher Naturprozeß bier hätte vorgeben jellen, was mußte Alles geſchehen? Zuerit mußte Jeſus Das unerhörte Mirakel verrichten, und aus dem Brode wieder Komer machen, dam in aller Eile aus ihnen Halm und nene Körner hervorwachſen laſſen und endlich die getrennten mechanifchen Berrichtungert des Muller und Bäders in einen Ru verrichten! Das ware etwa theilweije „befchleunigter Naturprozeß * geweſen. Wie man doch fo mit den Morten jpielen mag! Und nım wei⸗ ter: in weiten. Hand ſoll denn diejer Bermehrungsprozeß vor ſich gegangen fein? In der Hand des empfangenden Bolfe Pit welcher, fait fomijcher, Behutſamkeit hätten dann Jeſue und jeine Sünger Brod und Füche in die allerfleiniten Krim chen und Bröckchen tbeilen müſſen, Damit ja Seder eins erhielt um es in feiner Hand zu großen Stüden anſchwellen zu laſ⸗ fen! In der Hand Sein? um von den Süngern zu fchweigen = dann könnte es auf zwiefache Weiſe zugegangen jein. Ent weder theilte er ganze Brode und Fiſche aus, wobei ſogleich⸗ wieder andere nachwuchſen; dem it aber der Tert entgeger®

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(Joh. 6, 13). Ober er brach Stüde von beiden ab, die ſich fofort wieder ergänzten; ‚wer vermöchte fich aber Brode su denken, die wie Schwänme immer wieder aufichwellen, ober Bratfiiche, denen, wie den Krebfen die Scheeren, die Fleiſch⸗ | ſtücke wieder nachwachſen?

Wir wollen nun ſehen, ob wir uns mit den Rationaliſten

beſſer vertragen können. Dieſe faſſen die Sache fo: „Aus Joh. 6, 4 wird es wahrſcheinlich, daß der größere Theil der Menge aus einer Feſtkarawane beftand und Daher Speifevor- väthe bei fich hatte; viele Andere aber hatten nichts, und darum fing Jeſus an, von dem Seinen dag Entbehrliche. zu sertheilen; fein Beifpiel fand Nachahmung, und fo war er ‚mit dem Wenigen, was er hatte, die Urfache, daß Alle fatt wurden. * Allein diefer Erklärung fehlen doch gar zu viele Vittelglieder, die man fich geradezu hinzudenfen muß: nicht Feſus allein vertheilt damı, auch Leute des Volkes; nicht nur ku, auch Anderer Borrath füttigt die Bedürftigen, wovon der Tert nichts weiß. Zwar wird auch die wunderbare Ver⸗ mehrung nicht ausdrücklich gemeldet, aber fie ergibt ſich doch aus dem Erfolge, dem großen Ueberrefte, von felbft. Aber eben dieſen Leberreft erklärt diefe Erklärung auch hinweg durch gewaltiame Behandlung der Worte. Es wird genügen, in diefer Beziehung nur anzuführen, daß die Worte Soh. 6, 13, die aufs allerunzweideutigfte ausfprechen, man habe das, was don den fünf Broden übrig geblieben fei, gefammelt, damit nichts umfonıme, fo gedreht werden, als ob das Sammeln dor der Mahlzeit gefchehen wäre! ben fo fträuben fich die Worte der andern Evangelien, 3. B. M. 14, 20, gegen ſolche Sewaltthat.. Nein, das Wunder bleibt!

Für Die gefchichtliche Wahrheit der ganzen Erzählung,‘ wo- Ion wir nun reden müffen, führt man man zunächft die feltene Ichereinftimmung aller vier Evangelien an; allein dieſer Srund iſt fehr ſchwach. Denn, um von Geringerem zu ſchwei⸗ Jen, das ‚vierte Evangelium ftellt einen wichtigen Punft ganz widerd dar, als die übrigen. Es ift bei ihm Jeſus fihon Alsbald bei dem Anblicke des Volkes entfchloffen, eine wun⸗

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über Waſſer, wie über feften Boden hin, feinen Weg zu nehs men: body wohl eine der flärffien Lebertreibungen, die in diefem Evangelium ſich finden! Nicht minder ſeltſam ift bei M. der Zug, daß aud Petrus auf Sefu Geheiß einen ähnlichen, nicht gut gerathenen Verſuch macht, im Glauben an Sefu Hilfe (V. 29, 30). Konnte Sefus auch Andern bie ‚nur ihm inwohnende Kraft ohne Weiteres mittheilen, fo hört er auf, Menſch zu fein; unterbrad, er aber die Naturgefeße fo ganz unnütz, nur um ein Öelüften ‚u befriedigen, fo ftimmt dieß zur Weisheit Gottes fehr wenig. Doc, können wir leicht auffinden, wie diefer offenbar mythifche Zufaß entitand. Bekannt war ed, daß Petrus vor der Verläugmung ſich eine größere Glaubensſtärke zutraute, als er wirklich befaß, daß er ganz gefunfen wäre, hätte Jeſus feinem Glauben nicht aufgeholfen Auf. 22, 31 ꝛc.); wie leicht konnte die Erzählung von diefer Glaubensprobe in Das Bild vom muthigen, gläubis gen Wandeln auf der See, welche ja, wie wir oben fahen, ein Sinnbild der argen Welt war, ſich einfleiven; wie leicht diejes Bild wieder zur Erzählung eines wirklichen Fak⸗ tums verfnöchern !

Auch des Sohannes Bericht bietet und einige unbegreifs lihe igenthümlichfeiten dar. Statt daß bei den andern Evangelien Sefus wirklich in das Schiff fteigt, wollten ihn bei Sohannes die Jünger zwar hereinnehmen, allein ed unters blieb, weil das Schiff ichen zu nahe dem Lande war (6, 21). Man hätte dieſe Wendung durch faliche Worterflärung wegzus deuten nicht verjuchen, vielmehr anerkennen jollen, daß bier Johannes das Wunder noch mehr jteigerte, ald Markus; denn während biefer jchon Jeſu die Abjicht zujchreibt, daß Schiff nicht zu beiteigen, lüßt Sohannes dieß wirklich audı jo ges ſchehen! Weiterhin jucht er das Wunder noch mehr zu beglaubigen, indem er es vor allem Bolfe gejchehen lapt (22). Das Volk nämlich, weldyes von Seju an dem einen Tage diegjeitd Des Sees geipeist worden war (26), fand ibn andern Tages fchon jenjeits des Sees, und konnte nicht begreifen (V. 25), wie er babin gefommen; denn in das fahrzeug der Jünger war er nicht geftiegen, ein anderes war nicht Da geweien (B. 22) und zu Lande konnte er in der turen Zex vicht au's jenjeitige

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Ufer gefommen fein. Wir unfererfeits können nicht begreifen, wie das Bolt dahin gefommen; denn wäre von dem Bolfe, das aus fünftaufend Menfchen beftand V. 10), audy nur ber fünfte Theil über den See gefahren, fo hätte es, falls es ſich gewöhnlicher Fiicherfähne bediente, eine ganze Flotte nöthig gehabt, oder wenn es größere Fahrzeuge benuße;: ſo mußten diefe fümmtlih, was undenkbar ift, ihre Richtung nach Ka⸗ pernaum (17) genommen haben. Es ift daher kaum zweifel- haft, daß dieſe Volksüberfahrt nur hinzugedichtet wurde, um eine bedeutende Gontrofe zu gewinnen, bie das Wunder des Seewandelns beglaubigen follte.

Geben wir aber auch alle dieſe einzelnen Auswüchſe bes Wunderhaften auf, fo bleibt immer der Stamm ſelbſt übrig, das Gehen auf dem Meere. ft ein folches irgend denkbar? Wenn Dishaufen darauf antwortet, „an einer höheren Leiblichfeit, gefchwängert mit Kräften einer höhern Welt, dürfe eine ſolche Erſcheinung nicht auffallen“, fo find das Worte, bei denen man fich Nichts denken kann. Daß die Alles ver flärende Kraft eines höheren Geiltes fi an dem Körper nur fo äußere, daß derfelbe den natürlichen Gefeßen ber Schwere entzogen werde, und nicht vielmehr Durch völlige Herrſchaft über irdiſche Begierden, iſt eine offenbar viel zu ſinnliche, um nicht zu ſagen unwürdige, Vorſtellung. Wenn aber Jefu Körs per diefe Eigenfchaft wirflic, befaß, warum zeigte er fie noch sicht bei der Taufe im Jordan, wo er untertauchte, wie ein ges wöhnlicher Menfh? Wie Vieles ließe ſich noch fragen, um das Berfehrte jener abenteuerlichen Anſicht in's Licht zu fegen!

Es ift indeß nicht fchwer einzufehen, wie unfere Miythe denn etwas Anderes ift ed doc; wohl nicht entitehen Eonnte. Wir haben darin nur eine andere Variation des beliebten Bildes, daß die Gewalt, die Gott und die mit ihm Einigen über die Welt ausüben, gleich fei der Uebermacht über ‚Die tofenden Meeregwellen. Daher das Berjagen des rothen Meeres durch einen Winf des Mofes bei dem Durchzuge der Sfraeliten; daher Das nod) größere Wunder des Meerwandeind durch Jeſum, mag ed nun aus einem zur Geidiigte ware

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ftalteten Gleicjniffe, oder aus Nachbildungen altsteftamentlicher Erzählungen entftanden fein; etwa der in 2 Kim. 2, 14 u. .2 Kön. 6, 6 enthaltenen. Ueberdieß willen auch andere morgens laͤndiſche Sagen von Wunderthätern zu erzählen, die über das Waſſer fchritten, wovon griechiſche Schrifiſteller mehrere Bei⸗ ſpiele anführen.

(Joh. 21. u. M. 17, 24—27.)

Die dritte Seeanekdote findet fi in dem anerkannt unächten 21 Kap. bed Johannes, wo Jeſus nach ber Aufers ftehung feinen Süngern zum dritten Male erfcheint; fie ift unverkennbar nur aus Bruchſtücken der fo eben betrachteten Erzählungen und der von dem Fifchzuge Petri zufammengefegt, aber in abenteuerlicyer Verwirrung. Auch hier wird Sefus in nächtlihem Dunkel vom See aus erblidt (®. 4), und zwar am Ufer; eben fo Furcht vor ihm (12); ein Entgegen fommen Petri (7); ein wunderbarer Fifchzug Desfelben (8 x.) und Anderes. Zwar find alle diefe Züge natürlicher, wie in den größeren Gefchichten, als deren Bruchftüce mir fie betrachten; allein dafür ift die Zufammenftellung um fo räthfelhafter, und das Ganze überdieß ein Nachklang des größten Wunders, der Auferftehung.

Alle bisher behandelten Erzählungen berühren vielfältig, bei aller Verfchiedenheit der Handlungen, fi in einzelnen Zügen, und beftätigen dadurch unfere Anficht, daß fie fehr wahrfcheinlich ihren Urfprung gewiffen finnbildlichen Neben verbanfen, denen allen der Gedanke zu Grunde lag, daß ber Glauben über die Gewalt der Natur und die Macht der dem Reiche Gottes widerfirebenben Welt den Sieg davon trage.

Es bleibt und noch übrig die Gefchichte von dem Fiſch mit dem Stater CM. 17): dieſelbe hat ihre eigenthümlichen Schwierigkeiten. Wenn ſich auch Metalle 2c. in dem Magen eines Fifches fchon vorgefunden haben, fo iſt doch ein Geld» ſtück in dem Munde bes Fifches, zumal wenn er nach .der Angel ſchnappt V. 27), etwas Unerhörtes; um fo wunderbarer baher, daß Jeſus es voraus wußte. Und dann wozu dieſes feltfame Wunder? War auch wieleict bamals kein Gelb in

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der gemeinfchaftlicyhen Kaffe, fo hatte ja Jeſus grabe in Kapernaum fo viele Freunde. Daher find die natürlichen Auss leger eifrig bemüht, das: Wunder zu entfernen; fie verjuchen auch hier ihre Kunft in Berbrehung der Worte. Daburd) bringen fie ftatt des fonnenflaren Sinne von V. 27, wo es heißt: „wenn bu ihm (dem Fifche) den Mund geöffnet, wirft . du einen Stater finden“, heraus: „öffnen ihm fogleich das Maul, nachdem du ihn aus: ber Angel genommen, bamit er am Leben bleibe, und dann wirft bu einen Stater für ihn löfen“; gleich ald hätte der Fifcher Petrus ſolche Ans weifung nöthig gehabt!. Da es nun ferner unglaublich iſt, daß in dem fijchreichen Stapernaum Ein Fiſch um fo hohen Preis follte verkauft werben können, fo werben die Worte: „den eriten Fifch, den du aufhebſt, nimm heraus“, fo ges menbet: „nimm allemal den Fifch, der bir zuerft aufftößt;, und fo fort, bis du genug haft“! | Es muß alfo beim Wunder bleiben! da es aber fo abenteuerlich ift, fo fünnen wir um fo weniger baran glauben. MWahrfcheinlich ift es ein Ausfluß des beliebter Themas von Petri Fiſchzug: Petrus war in der Sage einmal der Fifcher; manch’ glücdlichen Fang that er, manchen, in bildlihem Sinne, follte er noch thunz in unferer Erzählung verförpert die, dieſe Vorftellung umfpielende, Sage die erhafchte Koftbars teit zu baarem Gelde, und zwar als Teichte Beute in dem Munde bes Fiſches. Daß es gerade eine zur QTempelfteuer nothwendige Münze war (B. 24), mag feinen Grund vieleicht Un irgend einer Aeußerung Jeſu haben. „In dieſen mährs <henhaften Ausläufer endigen Die Seeanefdoten*.

Siebentes Kapitel. Die Speifung der Tanfende, AM. 14, 13— 21; Mark, 6, 30 44; Luk. 9, 10— 17; oh. 6, 1—15; fodann M. 15, 3239; Mark, 8, 1— 10.) In den nun folgenden Erzaͤhlungen wirkt Jeſus nicht nur auf die lebloſe Natur, ſondern ſogar auf künſtlich verarbei⸗ tete Raturprobufte ein: alſo eine abermalige Steigeruna. °

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„Jeſus vermehrt zubereitete Rabrungsmirtel auf wınder; bare Weiſe, um eine übergroße Menichenmenge jattigen zu können“: fo erzählen alle Evangelüten „mit jeltener Eins flinmmigfeit * (f. oben); und zwar geichab es nach bem Zeugniß der beiden erſten zweimal (ij. oben). Dieſe legtere Erzählung weicht aber von ber eriten in vielen einzelnen Zügen ab, nas mentlid in dem Berhältmiß zwiſchen dem Speiſevorrath und der geipeileten Menjchenmenge; das erjie Dial werden 5000 mit 5 Broden und 2 Fiichen CM. 14, 17, 21), das zweite Mal 4000 mit 7 Broden und wenigen Füchen (15, 34, 38) gefpeist; jedoch flimmen beide Erzählungen nicht nur im We⸗ fentlichen, fondern auch in fo vielen einzelnen Zügen mit eins ander überein, daß fie offenbar Daritellungen nır Eines Zaftums find. Beide Male dasjelbe Lokal, diejelbe Veran⸗ lafjung des Wunderg, diefelben Speiſen; beide Male it Jeſus troß der Einrede der Jünger zur Speijung geneigt; gleich iſt endlich der Hergang und das Reſultat, daß weit mehr übrig bleibt, als Anfangs da war. Hierzu fommt, daß cd, wenn zwei wunderbare Epeifungen vorgefallen mären, unbegreiflich fein würde, wie aud) das zweite Mal die Sünger an der Möglichkeit derfelben zweifeln konnten (15, 33), mochte auch ſchon lange Zeit feit der erjien verflojien fein. Man Fönnte etwa einwenden, es feien in der Lieberlieferung manche Züge aus der einen in Die andere. übergegangen, wodurch fie denn einander fo ähnlich geworden; allein auch bei diefer, noch unerwiefenen, Annahme bleibt die Achnlichkeit zu groß, um eine zweimalige Speifung wahrſcheinlich zu finden, zumal Da von einer zweiten nur M. und Marfud etwas. willen.

Daß fie aber dennoch fo beftimmt von zweien erzählen, erflärt fi) am einfachften fo. Don Diefer Einen Speifung waren einmal abweichende Erzählungen im Umlaufe; beide fand M. (denn von Marfus kann nicht weiter die Nede fein, da er befanntlic das Meifte aus M. und Lukas fchöpfte) vor; bemüht, Fein ihm befannt gewordenes Wunder verloren gehen zu lafien, nahm er beide Erzählungen auf, ohne eine firenge vergleihende Prüfung vorzunehmen. Bei biefer Annahme fällt aud) der wiederholte Zweifel der Sünger nicht mehr auf, da jebe Ueberlieferung diefen Zug beibehalten hatte. Wenn

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dagegen Olshauſen einmendet, ‚Die zweite Erzählung fei ja nicht wunderbarer und ausgeſchmückter, als die erfte, während doch dieß fonft überall bei einer fpäteren Sage ber Fall fei; der Evangelift wäre ja auch unreblich geweſen, wenn er Eine Gefcichte für zwei ausgegeben hätte: fo beweist dieß nur, daß jener Theolog das Wefen der mythiſchen Auslegung nicht begriffen hat. Wer behauptet denn, die zweite Erzähs lung fei auch die fpätere Sage, weil M. fie erft nach der erften vorbringt? Konnte ihn nicht die in der Ueberlieferung gegebene Berbindung mit andern Borfällen beftimmen;, : fie grade dahin zu ftellen, wohin er fie ſtellte? Der Evangelift umredlich? Als wenn Er die doppelte Darftelling Eines Borfalles gemacht, und nicht vielmehr mit fchlichter Gewiſſen⸗ haftigfeit nur darum zwei Erzählungen gegeben hätte, weil er fie eben in der Sage vorfand und fchon wegen der abmeis chenden Zahlenverhältniffe ganz ehrlich glauben mochte, «8 haben wirklich zwei Speifungen flattgefunden! Kommt doch auc im alten Zejtamente der Fall vor; daß z. B. die Ges fehichte von der Tränfung aus dem Felfen zweimal erzählt wird (2 Mof. 17 und 4 Mof. 20), nur mit einigen Verändes

rungen. Wir fchreiten nun zu der Unterfuchung, ob die wunderbare Speifung nach den in beiden Darftellungen wiederkehrenden Zügen möglich und denkbar ſei? Um dieß bejahen zu füns nen, behaupten die Supranaturaliften, es fei diefes Wunder auch, wie Kranfenheilungen, „vermittelt“ worden durch den Glauben der Gefpeisten; das könnte doch wohl nur fo- viel heißen: wie die Kranken durch den Glauben gefund, fo wur⸗ ben bier die Hungrigen durch denfelben gefättigt.- Demnach müßte alfo Sefus auch ohne Außere Mittel, nur durch un⸗ mittelbare Einwirkung auf den Magen der Hungrigen das under der Speifung verrichtet. haben! Allein es wurden ja wirklich Speifen vertheilt; Jeder genoß, fo viel er wollte, und es blieb noch mehr übrig, als vor dem Eifen vorhanden war. Iſt diefe Vermehrung auch durch den Glauben der Sefättigten bewirkt oder „vermittelt“ worden? Colche nebels aımflofjene Sprache fann ung nicht hindern, in ber ganzen Geſchichte ein Wunder zu erbliclen, durch) weldyed vmmittelber

Jı. 22

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auf Die vernunftlofe Natur eingewirft. worden’ fein fol. Dieß ift aber beſonders darum fo ımdenfbar, weil dadurdy eine Bermehrung von todten Gegenitänden bis in’d Unge⸗ heure bewirkt worden wäre. Zwar fehen wir eine ſolche anch in der Natur vor fid) gehen, aber nur in. Folge eines regel- mäßigen Naturprozefles von Keimen, Blüthen und Früdıtes fragen. - . Zr

Ein ſolcher Naturprogeß fol nun auch vorfiegendes Wun- der fein, nur ein fehr befchleunigter, was ja nicht zum Un⸗ denfbaren gehöre. Allein nur dann fönnte von einem befchleu- nigten Naturprozeſſe die Rede fein, wenn in Jeſu Hand ein Korn ſchnell taufendfältige Früchte getragen hätte, und Diefe ſchnell gereift wären; wenn er mit immer vollen Händen bie Sörner den Hungrigen zu weiterer Zubereitung bingefchüttet hätte: oder wenn eben fo in feinen Händen die Eier in dem Leibe eines lebenden Fiſches yplöklicyh ausgegangen und die Beinen Filchchen fchnell herangewachfen wären. Allein was bier vermehrt wurde, war ja nicht mehr reines Natur pro⸗ dukt, fein lebendiges, fondern ein todtes, zu einem Kunfts produkt umgewandeltes! Wenn aljo ein beſchleunigter wirflis cher Naturprozeß bier hätte vorgehen follen, was "mußte Altes geſchehen? Zuerft mußte Jeſus das unerhörte Mirakel verrichten, und aus dem Brode wieder Körner machen, bann in alter Eile aus ihnen Halm und neue Körner hervorwachſen laſſen und endlich die getrennten mechanifchen Verrichtungen des. Müllers und Bäderd in einem Nu verrichten! Das wäre etwa theilweife „befchleuntgter Naturprozeß * gemwefen. Wie man doch fp mit den Worten fpielen mag! Und num weis ter: in weſſen Hand fol denn diefer Bermehrungsprozeß vor ſich gegangen fein? Im der Hand. des empfangenden Volkes? Mit welcher, faft Fomifcher, Behutfamfeit hätten dann Jeſus und feine Jünger Brod und Fifche in die allerkleinften Kruüm⸗ en und Bröddyen theilen müſſeu, damit ja Jeder eins erhielt, um es in. feiner Hand zu großen Stüden anfchwellen zu lafs fen! In der Hand Sefu? um von den Jüngern zu ſchweigen: dann könnte es auf.zwiefache Weiſe zugegangen fein. Ent—⸗ weder theilte er ganze Brode und. Fiihe aus, wobei ſogleich wieber andere nachwuchſen; dem it ober ber Tert entgegen

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(Soh. 6, 13). Ober er brach Stüde von beiben ab, die ſich fofort wieder ergänzten; ‚wer vermöchte fid) aber Brode zu. denken, die wie Schwänme immer wieder aufichwellen, oder Bratfiiche, denen, wie den Krebfen die Scheeren, die Fleiſch⸗ ftücfe wieder nachmachen?!

Wir wollen nın fehen, ob wir ung mit den Rationaliſten beffer vertragen können. Diefe faffen die Sache fo: „Aus oh. 6, 4 wird es mahrfcheinlich, daß der größere Theil ber Menge aus einer Feftfaramane beftand und daher Speiſevor⸗ räthe bei fid) ‚hatte; viele Andere aber hatten nichts, und darum fing Sefus an, von dem Seinen das Entbehrliche:. zu vertheilen; fein Beilpiel fand Nachahmung, und fo war er mit dem Menigen, was er hatte, die Urfache, daß Alle fatt wurden. * Allein diefer Erklärung fehlen doch gar zu viele Mittelglieder, die man ſich geradezu hinzudenfen muß: nicht Jeſus allein vertheilt dann, auch Leute des Volkes; nicht nur fein, auch Anderer Borrath füttigt die Bedürftigen, wovon der Tert nichts weiß. Zwar wird auch Die wunderbare Ver⸗ wmehrung nicht ausdrüdlich gemeldet, aber fie ergibt fid) Doc aus dem Erfolge, dem großen Leberrefte, von felbft. Aber eben diefen Ueberreſt erklärt diefe Erklärung auch himveg durd) gewaltjame Behandlung der Worte. Es wird genügen, in Diefer Beziehung nur anzuführen, daß die Worte Joh. 6, 13, die auf's allerunzweideutigfte ausfprechen, man habe das, mag von ben fünf Broden übrig geblieben fei, gefammelt, damit nichtd umkomme, fo gedreht werden, als ob das Sammeln vor der Mahlzeit gefchehen wäre! Eben fo fträuben fich die Worte der andern Evangelien, 3. B. M. 14, 20, gegen folchye Gewaltthat. Nein, das Wunder bleibt!

Für Die gefchichtliche Wahrheit der ganzen Erzählung,’ wo⸗ von wir nun reden müfjen, führt man man zunäcdhft die feltene Uebereinjtimmung aller vier Evangelien anz allein dieſer Grund ift ſehr ſchwach. Denn, um von Geringerem zu ſchwei⸗ gen, das vierte Evangelium ftellt einen wichtigen Punkt ganz andere dar, ald die übrigen. Es ift bei ihm Jeſus fihon alebald bei dem Anblide des Volkes ent{cyloffen, cur wu

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derbare Speifung vorzunehmen (Joh. 6, 5 1c.); die andern ' geben ald weit natürlichern Grund die Verfpätung des Volles an. Wie abenteuerlic nämlich, wenn Sefus fo ohme alle Roth ein Wunder thun wollte, nur. um es zu thun! „sch fann es nicht ftarf genug ausjprechen, wie unmöglich hier dag Eſſen Sefu erfter Gedanke fein, wie unmöglich er dem Bolfe - fein Speifungswunder in diefer Weife aufbringen fonnte!* Ueberhaupt aber müflen wir nachfehen, da ung feine Erflärung irgend befriedigen fann, ob nicht eine unhiftorifche Entfiehung unferer Erzählung denkbar fer.

Zunächſt könnten die finnbildlichen Reden vom Himmels⸗ brode, welche bei Joh. 6, 26 ꝛc. unmittelbar durch die Spei— ſung veranlaßt werden, zu der Vermuthung führen, daß um⸗ gekehrt die Reden ſich zu einer wunderbaren Speiſungsgeſchichte verkörpert hätten; allein dem widerſprechen die Synoptiker, die zwar auch bildliche Reden dieſer Art, z. B. vom Sauer⸗ teige der Phariſaer, haben, dieſe jedoch in fo beſtimmte Ver⸗ bindung mit einer ſchon vergangenen Speiſung bringen, daß man nicht zweifeln kann, von jenen Reden iſt dieſe Ges ſchichte ganz unabhängig. Weit näher liegt es, dieſelbe als Nachbildung alt⸗teſtamentlicher Erzaͤhlungen zu betrachten. Die bekannte Geſchichte von dem Manna in der Wüſte (2 Moſ. 16), die wunderbare Sendung der Wachteln (4 Moſ. 4) führten leicht zu dem Glauben, auch der Meſſias werde ſich durch Aehnliches und Größeres als ſolcher erweiſen: wirk⸗ lich war es rabbiniſche Vorſtellung, daß auch dieſer Himmels⸗ brod verleihen werde. Selbſt in einzelnen Zügen treffen die alt⸗ teſtamentliche und neu⸗teſtamentliche Speiſung zuſammen: beide in der Wüſte, beide Folgen des Mangels; beide werden dort von dem Volke, hier von den Jüngern, für unmöglich gehalten. Allein die nächſten Vorbilder liegen doch wohl in den prophetifchen Erzählungen, wo gleichfall8 von Bermehs rung des Speifevorrathed die Rede it: fo vermehrt Elias wunderbarer Weife den Delvorrath der Wittwe (1 Kön. 17, 8 ıc.); Elifa fpeist mit wenigen Broden 100 Menfchen, wo: bei auch noch viel übrig bleibt (2 Kön. 4, 42 20.) nur daß, wie dieß ſich fait von felbft veriteht, das Speifewunder Sefu ungleich auffallender it, als die genannten. Endlich

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erzählten auch jüdische Schriftteller fpäterer Zeit von heiligen . Männern, die mit wenigen Schaubroden zur Sättigung der Priefter bis zum Ueberfluß ausreichten: betrachtet man aber ſolche Erzählungen einftimnig als Miythen, warum. nicht auch die evangeliſche ? |

Achtes Kapitel, Die Verwandlung des Waſſers und die Berwänfchung des Feigenbauntes.

(Joh. 2, 1—11,)

Jener Speifungsgefchichte fehließt fich die Verwandlung des Waſſers als ein wieder um einen Grab höher ftehendes under an. Dem es ift immer noch denkbarer, daß ein Borhandenes auch bis in's Ungeheure vermehrt, ale daß es in eine anz anbere Subſtanz verwanbelt werde, wie bieß in unferm Wunder der Fall ift. Denn hätte Sefus urplötzlich aus Most Wein gemacht, fo fünnte dieß noch der Vorftellung nahe gebracht werden, weil die Verwandlung nur Befchleunis gung des natürlichen Ganges, nicht, aber gänzliche Umwand⸗ Jung des Stoffes wäre: wie aber Waffer zu Wein werden Tonne, der einem ganz andern Naturreiche angehört, Dieß überfteigt alle Gränzen des Denkbaren. Demohngeachtet neh« men auch hier die Supranaturaliften. einen „befchleunigten Nas turprozeß“ an. Sa, wenn: Sefus ‚einer Nebe geboten hätte, fchnell zu blühen und Trauben zur Reife zu bringen, dann wohl; und aud, dann müßte noch eine unfichtbare Fünftliche Berrichtung, das Keltern, hinzukommen: allein hier wird aus Waſſer Wein entwidell. Wohl, fagt man, fo ift ed ja auf langfamerem Wege in der Natur auch; denn Waſſer, das ale Regen, Than, Feuchtigkeit der Erde ıc. auf die Nebe einwirft, ift es, was die Traube, aljo den Wein, zur ‚Entwidelung bringt. Hier aber ftedt eine arge, arge Verwechslung von Urfache und Beranlaffung im Hintergründe. Allerdings fann die Zraube ohne den Einfluß des Waſſers und anderer Elemente fid) nicht entwideln, dieſe find die bewegende Ber: anlafjung, welche die Bildung hervorruft; allen in der dan

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thümlichen Natur ber Rebe liegt die eigentliche, nethwendige Urfache, daß durch jenen Einfluß grade die Traube und nichts Anderes zum Borfchein fommt: in der Rebe ift die Traube gleihfam ſchon als Keim vorhanden, daher fann das Waſ⸗ fer, je nad) dem Gegenitand, auf welchen es günftig einwirkt, unendlich Vielerlei zur Entwidelung und Reife bringen, die Rebe aber fann, wenn alle Einflüffe günftig einwirken, nur Trauben ald Frucht and fich erzeugen. Wer alſo bloß aus Waſſer Wein madıt, läßt, mit Umgehung der nothwendi⸗ gen Urſache, nur aus der Beranlaffung die Wirfung bervors gehen, was anzunehmen widerfinnig wäre, da es ohne Urfache feine Wirkung geben kann; eben fo widerfinnig, wie wenn man behauptete, and bloßer Erde Brod machen zu fünnen.

Sollen aljo die Worte „befchleunigter Raturproseß eints gen Sinn haben, will man ſich die Sache einigermaßen zurecht legen, fo müßte man folgende Turchgangsftufen annehmen: 1. Jeſus muß außer Wafler auch die übrigen einwirfender ‚Elemente (alle Beranlaffungen), 2. er muß unfihtbar Rebe Cals nothwendige Urfache) herbeigefchafftz fedann 3. den na— türlichen Entwidelungsprozeß der Traube ımgemein befchleunigt 4. die Fünftliche Verrichtung des Kelterns ſchnell vorgenom men, und endlich 5. abermals einen Naturprozeß, das Gaͤh— ren, befchleunigt haben: dann erjt hätten wir den Wunder— wein! Wer aber könnte fih einen folchen Prozeß audi nur dunkel denfen!

Zu dieſer totalen Undenfbarfeit kommen noch mehrere ein zelne, die wir fofort kurz betrachten. Erſtlich hatte Dag— under feinen Sefu würdigen Zweck: wenn auch der Vor⸗— wurf, daß er der Trunfenheit damit Vorſchub gethan, unbes= gründet ift, fo bleibt doch immer der Anftoß, daß fein PBuns— der nur der finnlichen Luft diente, gleichſam ein Luxuswunder war. Dadurdy aber den Glauben feiner Sünger befördern zu wollen, kann nicht als zureichender Zweck betrachtet werden, da fich dieſer fo vielfältig, ohne etwas zu verlieren, auch mit einem wohlthätigen verbinden ließ. Hatte ja doch Jeſus eben erft den Satan (bei der Verfuchung) zürnend abgewmiefen, als er ein bloßes STanzmunder von ihm verlangte! Um die, fen Vorwurf abzulehnen, haben dohee wonde Theologen

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behauptet, Jeſus habe einen Zweck gehabt, den er chen mır durch Diefes Wander erreichen konnte; nämlich ſinnbildlich durch Waſſer und Wein den Gegenfaß feiner Taufe, derZaufe des Geiſtes, zu ber: Waflertaufe des Täufers anfchaulich zu machen :und.zugleidy feinen neuen Süngern, die zum Theil. von Sohannes herfamen, zeigen wollen, daß er die alle Lebens- freuden verdammenden Anfichten desfelben nicht theile. Allein dann hätte er dieß mit einigen Worten andeuten und. erläutern müſſen; wie nothwendig dieß war, geht ſchon daraus’ hervor, daß der Evangelift. gar nichts daven gemerft hat, fonbern dag Wunder einfach ale „Offenbarung feiner Herrlichkeit“ (V. 11) >etrachtet. Zweitens war. mif diefer Bermandlung doch des Buten etwas zu viel gefchehen: denn die 2—.3 Maaß, bie ieber der 6 Krüge enthielt (V. 6), betragen zufammen ‚wenn man das griechifche Wort „Metrete“, in feiner wahren Bes Deutung nimmt, etwa 250 375 unferer Maaß: und zudem war die Gejellfchaft.nicht mehr beim erften Glas.(®B. 10).

Auch das Verhältniß zwifchen Jeſus und feiner Mutter hat, wie es fich hier zeigt, manches Anffallende. Die erftewe zählt augenfcheinlich darauf, daß ihr Sohn. hier ein Wunder werrichten werde (B. 3, 5), und Doch war e8 das erfte, wo⸗ zmit er öffentlich auftrat (11). Woher diefe Erwartung? Hatte Jeſus ſchon im Stillen, vor der Taufe, under ger han? Dieſe Annahme könnte uns leicht in bie mißlichen Kindeswunder der apofryphifchen Evangelien verwideln. Ober Hatte Maria von den bei Sefu Geburt gefchehenen Zeichen her die Ueberzeugung, er fei der Mefitas, und müſſe demnad; auch Wunder thun? Allein eben Diefe .Zeichen find ja, wie wir früher fahen, jo wenig verbürgt. Oder hatte Jeſus der Mutter fchon vorher verfprochen, dieß Wunder zu verrichten ? Aber auf dem Wege nach dem Felte kann dieß nicht gefchehen fein, weil er da noch nicht willen fonnte, daß Mangel an ein eintreten werde. Auf dem Feſte ebenfalls nicht, da er ja vielmehr der Mutter auf ihre leife Aufforderung (V. 3) eine ablehnende Antwort gibt; oder fol er neben dieſer laut gefprochenen eine andere, grade entgegengefeßte, ihr in's Chr gefagt haben? Es bleibt ‚demnach unerflärt, wie beharrlich (5) Maria bier ein Wunder erwarten Tonnte. Aufallend

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hart ift endlich Ssefu Antwort (4): wie mochte er doch ber liebevollen, leifen Anfrage der Mutter ſo begegnen, dba er fo - oft felbft zubringliche Anfpracdyen um wunderbare Heilung x. _ freundlicy aufnahm? Er durfte ed hier um fo weniger, Dom er ja wirklich alsbald der Bitte der Mutter entfprady!

Um allen diefen Anftänden zu entgehen, fucht die natür = liche Deutung alles Wunderbare wegzufchaffen: „Nach her⸗ gebradhter Sitte, fagt fie, brachte and) Jeſus zur Hochzeit ein Geſchenk an Wein; dieß will er zum Scherze auf geheimnißs volle Reife anbringen; die Mutter wußte darum, mahnt ihn, er aber erinnert fie fcherzend, ihm den Spaß nicht zu ver- derben (!). Das Waflereingießen (V. 7) mochte zum Scherz gehört haben; wie nun aber auf einmal der Wein zum Bors ſchein fam, läßt fich nicht genau mehr fagen, aber in fpäter -Radıtftunde, wo fchon viel getrunfen worden, mochte eine folchye Ueberraichung leicht zu machen fein; die Herrlichkeit und der Glaube, den er fich Dadurch verfchaffte C 11), find nichts Anderes, ald die bewundernde Anerfennung feiner harm⸗ Iofen Menſchenfreundlichkeit; wie er aber die Sache angeftellt, durfte er, um bie fcherzhafte Täuſchung beftehen zu laſſen, nicht jagen.“ Aber grade hier liegt die verwundbare Stelle der artigen natürlichen Gefchichte! Seinen Süngern doch we⸗ nigfteng mußte er die Täuſchung benehmen! und Dieß geichah nicht, denn unfer Evangelift ftellt die Sache ganz wie ein Wunder hin, nennt fie ein Zeichen, das Jeſu Herrlichkeit a8 heißt in feiner Sprache feine meffianifche Würde) offens barte, und wiederholt nody gar 4, 46 ganz beftimmt, in Kana habe Sefus „Wafler zu Wein gemacht“. Wie es aber eigents lich mit dem fogenannten Scherze zugegangen, willen die nas türlichen Erflärer felbft nicht zu fagen, und derjenige, ber vermuthet, Jeſus habe heimlich eine Art Liqueur in’s Waſſer gegoffen, erklärt den Spaß noch am fpaßhafteften!

Beiderlei Erflärungsverfuche löfen alfo das Raͤthſel nichts der einzige Ausweg bleibt, die Erzählung für eine Mytbe zu halten, wozu wir um fo mehr veranlaßt find, da fidy nur bei Johannes diefelbe findet, deun enthielte fie wirklich das

erſte Wunder Sein, fo bleibt es .unbegreiflich, wie ſie ben andern: unbelannt geblieben fein kann. Weit erflärlicher ift ihr Urfprung als Mythe. Wafferverwandlungen finden fidy auch in ber altshebräifchen Sage von Moſes (2 Wof: 17, 120.35 7, 17 x.; 14, 23), von Simfon (Richt. 15, 18), von Elia (2 Kön. 2, 19 ıc.), und wurden aud) ganz beftimmt vom Meſſias erwartet, wie aus rabbinifchen Schriften hervorgeht. Daß nun daraus grade eine Verwandlung des Waſſers in Wein fid) herausbildete, mag daher kommen, daß man dem Meiftas zwar aud) eine totale Veränderung der Subſtanz, aber doc zum Guten, zufchreiben mußte, wo fich dann Wein von felbft darbot. Diefe Miythe nun erzählt Johannes ganz in feinem Geiſte; ihm ift es eigen, wie er es auch hier thut, Jeſu Erhabenheit über alle Bittenden (B. 3, vergl. 4, 48) recht grell hinzuftellen, fo wie den unerfchütterlichen Glauben derfelben an feine Wunderfraft (V. 5). |

(M. 21, 18 - 22; Mark. 11, 12 —14 u. 20 23.)

Die Geſchichte vom unfruchtbaren Feigenbaume wird von M. und Marfus (ſ. oben) erzählt, jedoch mit manchen Abweichungen, wobei die Darftellung des Markus einer natürlichen Erflärung befonderd günftig zu fein ſcheint. Während nämlih M. den Feigenbaum ,fogleich" nach Jeſu Berwünfchung CB. 19) verdorren läßt, ift dieß bei Marfus erft am andern Morgen gefchehen (®. 2075 daher halten fich die rationaliftiihen Ausleger mit vorzüglicher Zuneigung an ihn, und erklären alſo: „Jeſus fah, daß der Baum bald abr fterben müffe, fagte daher, von Dem werde auch wohl Niemand mehr Früchte leſen; 5i8 zum andern Tage war er wirklich durch Einfluß der Hige ıc. verdorrt; die Sünger, bieß bes merfend, erinnern ſich der Worte Sefu und deuten diefe nuns mehr ald Verwünſchung (21), was übrigens diefer nicht billige, wielmehr gebe er der Sache eine andere Wendung (22).* Aber diefe Auslegung ift, auch wenn wir den Markus allein im Auge behalten, unzuläßig. Sefu Worte laffen fich gar nicht anders, wie als Befehl faffen, demnad als Berwünfchung (nody ftärker bei M. V. 19), was auch ſchon Das geraitiar

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„in Ewigkeit* anbeutet. Ueberbieß fagt er ja andy zu feinen Süngern, er habe Etwas an dem Baume „gethan“, und vers gleicht fein Thum: mit dem Bergeverfeten (MM. B. 21); hätte er ihn: aber nicht verflücht, fo mußte er, falls er nicht täufchen wollte ;’ nothwendig feine Sünger, die die Sache boch fo nahmen (Mark. V. 21), eines Befjeren ‚belehren, oder er hätte die Täufchung der Sünger mißbraucht.

Es bleibt und alfo nichts übrig, als den Hergang als ein wirkliches Wunder feſtzuhalten, deſſen äußere Unmöglich⸗ keit wir gar nicht beſonders herausheben dürfen, da es auch von einer andern Seite her, von Seiten des Charakters Jeſu, durchaus undenkbar if. Er hätte hier nämlich ein Strafmwunder verrichtet, wie wir fie fo häufig in den apos kryphiſchen Evangelien finden; in unfern aber findet. ſich hicht- nur nirgends ein foldyes, fondern es fpricht fich auch Sefus Luk. 9, 55 auf das Bellimmtefle Dagegen aus; da nämlicy, als feine Jünger von ihm verlangen, er möge auf das Dorf, das ihnen Aufnahme verweigerte, Feuer herabregnen laffen. Und nun follte er an einem Baume Rache nehmen! Strafen können ja bei leblofen Gegenftänden nicht allein einen moralifchen, den der Beflerung, fondern nicht einmal den niederen Zwed, den der Vergeltung, haben, da diefe Gegen: fände nicht zurecdinungsfähig find; gegen ſolche, wenn fie und nicht befriedigen, zu eifern, oder gar im Zorn fie zu zerftören, wird mit Necht für roh und unmürdig gehalten. Sind fie gänzlich unbraudhbar, fo fchafft man fie zwar hinweg, um Befleren Platz zu machen; allein nur, wenn Nichts mehr von ihnen. zu hoffen ift, was ja bei einem Baume, der Ein Jahr ohne .Früchte bleibt, nicht der Fall iſt; und überdieß fommt dieß nur dem Eigenthümer zu. Noch mißlicher wird die Sache durch den Zufab bei Marf. B. 13: „denn ed war nod) nicht die Zeit der Feigen“ (d. h. ihrer Reife); aljo wäre der Baum ganz unfchuldig gemefen, und wir müffen uns nur mundern, wie Sefus über das Fehlichlagen einer widerfinnigen Erwartung fich fo fehr ereifern fonnte. Diefen Anftoß haben alle Ausleger gefühlt, und daher die mannichfachiten Berfuche gemacht, denfelben durch Fünftliche Wendungen zu entfernen. Einige fagen, die Worte ſeien (päterer, unächter Zuſatz; Das

——&& nunerlaubieſtr · Afitlel No See Rey venfen:Wefelben ſo Kite, bisnſle vem Sut hercncbriutraiſ ho er ( Jeſus) ſich damals befand, ba waren die Feigen “| ober machen aus den Worten eine Frage „Barum EP Wiederum Andere nehmen bie" Warte, EN Meifer” Cf’obeit) in dem Simme Zeit der Ernte, %, rben weil die Ernte noch nicht’ Horüber War! w aim Baume Feigen erwaren Allxin dieſe Worte werden richt ale: Grund ſeiner Erwartung angeführt, föhbetrt feiner uſch ang, und der’ Satz enthlete min“ nach dieſet Ertla⸗ K den‘ Bnfim: Et · fand Nächte, als Slätter denn die mer Erilte war nöd richt vorüber· 1 Beer æere ibs zu machen iwenn fie. das griechiſche Wort, d Wer bedeutet, tm Sinne von ——— ei nehmen % 98h" günfliger Boden’ da“ "piep Epic" wi rr viel beſſer endlich die ae, es war kein F h? gürfkiger Tahrgärge,) Märe Lestere‘ (CHEIAHIHE $; fo Kitnte man wicht begreifen, wie dieß Jeſus nicht vbiwiſſen follen, oder wie er, benn er 68 mußte, jtch über Bdum' ereifern konnte "5 "Allein wir "bitfen, ſtatt e: ‚geidaltfämen ' Erklaͤrimgen nur daran erihnehn, ‚dag irkus diefen Zufag hat, der in’ ſeinem Beſtreben zu vers Yanfichen bekanntlich nicht immer glucklich ift, So fest er Vans dieTem Beftreben hier die fraglichen Morte ir, 6:zu bebenfen‘, wie ſchwierig es "andererfeits dadurch Das ſtaͤndniß von Jeſu Benehmen 'mbcht. Und daher werden "nicht umhin können, auch die oben beſprochene Eigenthumi feit, daß er den Baum erſt über Kacıt verborten Taßt; "eben fo zu erflärett:‘ babe; "baß’'er. Die Sidje weht aälig geſche hen Täßt, / macht er fie” fahriäher hub "einge fe Anſchauung näher." -Uebrigend’ bat e “darin daß bea "hart

an Hatte," grade uur feine Xufi —* in den Wetu finden zu wollen. NEN

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Ganzen Recht; wiewohl nach Sofephus zehn Monate lang in Daläftina reife Feigen an den Bäumen gefunden wurden.

Kehren wir num zur Hauptfache, dem aud; dem M. zum folge unbegreiflihen Benehmen Jeſu zurüf, um die richtiges Erklärung der ganzen Erzählung zu finden. Schon ältere Ausleger glaubten den Anftoß am leichteften zu entfernen, wenn fie Jeſu Handlung als eine fymbolifche faßtenz; als ein Sinnbild, in welchem feine Jünger gleichfam mit eigenen Augen fchauen, und deutlicher, ale aus Worten, ed erfennen follten, daß. ein von guten Werfen entblößter Menſch gleich diefem Baume dem Strafgerichte Gottes nicht entgehen werbe; vielleicht follte auch insbefondere die Wahrheit verfinnlicht werden, „daß das jüdifche Boll, welches fo beharrlich Feine Gott und Meſſias wohlgefälligen Früchte bringe, zu Grunde gehen müfje*. Indeß iſt gegen diefe Auffaffung mit Necht erinnert worden, daß aledann Jeſus nothwendig mit einigen Morten auf diefen Zwed feines Wunderd hinmweifen mußte, um nicht mißverftanden zu werben; davon fagen und aber Die Evangeliften gar nichts. Hätten fie nun gar feine an die Handlung ſich anfnüpfenden Worte Sefu gemeldet, fo fünnte man annehmen, fie haben das, was er gefprochen, nur weg⸗ gelaffen; allein fie Iaffen Jeſum allerdings über fein Wunder fidy näher erklären, aber auf eine Weife, die deutlich zeigt, daß er jenen Zwed dabei nicht hatte. Sm Gegentheil hebt er M. 2. 21) fein Thun, als folches, gerade dad Wunder an fich, recht hervor, und verfichert, wer den rechten Glauben habe, könne noch größere, als diefes verrichten. Die Auss flucht, die hier Einige. anbringen, Jeſus werde wohl vor der Handlung den beabfichtigten Gefichtspunft auseinandergefegt haben, reicht nicht hin, da er wohl wiflen fonnte, daß er bei der Borliebe der Sünger für alles Mirakulöfe jenen erften Eindrud durch Die lebte Nede wieder ganz verwilchen würde. - Wir müffen daher dabei bleiben, daß die Evangeliften nur die Anficht hatten, Sefus habe ganz einfach feinen Unmwillen zur Berrichtung eines Wunders benußt, um ſich abermals in feinem Glanze ald Meffias zu zeigen. IK dieß nun auch unzweifels

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haft die Anficht der Evangeliften, fo folgt daraus noch nicht, daß auch wir biefe Anficht hinnehmen müßten, da eine folche Wunderthuerei, wie wir fie hier hätten, Jeſu fonftigem Weſen ganz widerfpricht. Wir müſſen alfo das wirklich Ges fchehenfein eines Jeſu unwürdigen Wunders in Abrede fellen, und die Entftehung der Erzählung, auf anderem, als gefchichts lichem, Wege ung zu erflären fuchen.

Dhne Zweifel floß diefelbe aus einer Sentenz, der vom Baume, welcher niedergehauen wird, weil er nicht gute Früchte trug; einer Sentenz, die wir in des Täufers (M. 3, 10), fo wie in Sefu eigenem Munde (7, 19 finden. Weiterhin ward dieſe Sentenz zu einer ganzen Parabel, der vom Herrn, welcher den unnügen Feigenbaum niederhauen wollte, fortges bildet, und endlich verförperte fie fich zu einer fürmlichen Ges fhichte, der vom verfluchten Feigenbaume. Daß dabei die Art der Vernichtung eine andere wurde, ald in der urfprängs lichen Sentenz, darf nicht befremden, da ja die Vernichtung, wenn die Geſchichte überhaupt Bedeutung haben follte, noths wendig eine wunderbare werden mußte, bewirkt durch em paar Worte Sefu. Eher könnte ed auffallen, daß fic hier Reden ans Mmüpfen (Mark. 10, 22 ıc.), welche Feine Spur mehr von dem urfprünglichen finnbildlichen Kern, aus dem bie Gefchichte erwachjen, an ſich tragen; allein da einmal durch bie fo eben entwidelte Berförperung der Sentenz das Gefchehenfein eines Wunders zur Hauptfache wurde, jo mußte ganz naturgemäß in den daran gefnüpften Neden diefes auch als die Hauptfache hervorgehoben werden. Und zwar geſchah dieß m einem Gleichs niffe, dem vom Bergeverfegen, an welches man bei der Ers zählung vom verfluchten Feigenbaume um fo eher erinnert werden fonnte, ald man ein anderes ihm fehr ähnliches hatte, das von dem durch den Glauben in das Meer verfeßten Fei⸗ genbaume, welches Lufas (17, 6) ung erhalten hat.

Sechster Abfchnitt. | Die lebten Zage Jeſu, fein Leiden und Sterben,

Erfted Kapitel. Zefu-Berflärung und legte Reife nach Jeruſalem. CM. 17, 1—13; Marl. 9, 2—13; Luk. 9, 28— 36.)

Faft unmittelbar vor dem Beginne feines Leidens wird Se fus noch. auf wunderbare Weife verflärt, wie ung Die drei Synoptifer einftimmig berichten, . Es gehört dieſes Wunder zu den hellften Glanzpunkten in dem irdijchen Leben Sefn.

Die evangelifchen Berichte erregen aber fo viele Bedenfen, daß ung der gefcjichtliche Hergang fo, wie fie ihn ung erzäh- len, ganz unglaublid) wird; wir fönnen von den Haupt: punften desfelben: Glanz, Zodtenerfcheinung, Stimme, une weder Möglichfeit, noch Zweck denken. Der Glanz rührte von einer Verwandlung Jeſu her (M. V. 2), war alfo ein Leuchten von innen heraus; dieſes Durchleuchten der Göttlichkeit- enthebt aber Jeſum völlig aus dem Gebiete des Menfchlichen in's Zauberhafte, und wie war es möglich, daß auch feine Kleider von demfelben erfüllt wurden? An ein Beleuchten von außen zu. denken, verbietet die Darftellung der Evangeliften. War aber jenes Berflärtwerden auch mög: lich, ſo fragt fich weiter, wozu follte es dienen? Einer Ber: berrlihung bedurfte Jeſus, der duch Rede und Thal fo fehr verherrlichte, nicht; war fie Andern zu Stärfung des Glaubens nöthig, fo mußte fie vor Vielen, nicht in dem engen Kreife vertrauter Schüler gefcheben (M. V. 1). Undenfbar ift weiterhin die Erfcheinung der Berftorbener (3): woher nahmen fie, wenigftens Miofes, der im Grabı ruhte, den verklärten Leib vor der allgemeinen Auferftehung‘

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Ind zw welchem: Zwecke? Moſes ımb Elias: ſprachen mit zeſu: was hatten fie ihm mitzutheilen ? ‚dem Lukas zufolge 8; 31) feinen nahen Tod. Aber diefen kannte ja Jeſus ſchon orher und zwar mit falt allen einzelnen Nebenumftänden Matth. 16, 21 ꝛc.). Sollte er zu feinem bevorſtehenden Lei⸗ en durch jene Unterrebung geftärft werden? Jeſu Stim⸗ ung verräth. aber nicht, Daß er jetzt ſolches Troftes beburft ftte; für Fünftige Tage wäre er ohnehin: wirkungslos ger weien, da fpäter auf Gethfemane ein.abermaliger:näthig. wurde. Anf die Beftärfung der Sünger im Glauben kann die Er⸗— ſcheinung auch nicht berechnet gewefen fein, da Jeſus in ber Parabel vom reichen Manne ausbrüdlich fagt, Gott werbe feine Todten für Die erwecken, welche den Propheten. nicht

ten; wie viel weniger für. die, welche dem lebendigen Ekriftus nicht glauben wollen! Ueber die Stimme endlidy, de aus den Wolfen kam, gilt ganz basfelbe, was früher über die ganz ähnliche, bei ber Taufe gehörte geſagt w wor⸗ ben it. (©. Th. I, &. 144.1.) °

Es ift daher nicht zu verwimbern, daß bie natürliche. Er⸗ Mrung vielfache Verfuche gemacht hat, das Wunderbare: zu entfernen. Zu dieſem Zwede. nehmen Einige ein inneres Wunder an, eine Bifion, in welder die drei: Apoftel.und auch wohl Jeſus felbit bis zur Extafe, und durch fie zur Ans ſchauung einer höhern Welt, gefteigert: wurden.. Allein. es ift beiſpiellos, daß. drei oder vier Perfonen an demſelben, fehr ausführlichen Gefichte Antheil gehabt hätten; an einem Ges Kchte,, für welches man überdieß feinen Gottes wärbigen zweck. auffinden. kann.

Daher benfen Andere lieber an einen andern Hergang im Imern, den natürlichen eines Traumes. Dieſer ſoll in den chlafenden .Süngern entſtanden fein, nachdem vor demſelben jefus mit ihnen gebetet,. wobei des Mofes und Elias, ale einer. Borläufer, gedacht wurde: e8 mochten dieſe Ramen noch n: ihre fchlaftrimkenen Ohren hineintönen, und als fie erwach⸗ en, ſchwebten ilmen noch die Beitalten der beiden Propheten or Augen. Diefe Erflärung lehnt: ſich befonders an Lukas

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an, der fagt, bie Tünger feien voll Schlaf gewefen unb wies - der aufgewacht CB. 32): man fieht dephalb feine Darſtelluug wie ald die natürlichere, fo auch ale die urſprüngliche anr— allein mit Unrecht. Denn diefer Zug vom Schlafe der Jin— ger findet ſich in der allgemeinen Tradition auch bei Deu Todeskampfe Jeſn auf Gethfemane CM. 26, 40); und aus diefer Scene ift er von Lukas offenbar in unfere hinüber getragen, weil audy hier, wie dort, das Schlafen der Jünger während eines für den Meifter fo bebeutungsvollen Momentes recht dazu geeignet ift, den großen Abfland zwiſchen Diefem und jenen hervorzuheben. Sonach hat Lufas durch Beimifchung Diefes Zuges die Sache nicht ſowohl in dad Natürlichere, ale in das Myſtiſche hinübergefpielt: der große Prophet erjcheint unter gewöhnlichen Menjchen, wie der Wachende unter Schlafs trunfenen. Aber auch ganz hiervon abgefehen, fo hat bie Annahme eines Traumed auch noch viele andere Schwierigs keiten. Es follen Doch nur die Jünger geträumt haben, und doch läßt die Erzählung aud) Sefum diefelbe Erfcheinung, wie diefe, haben. Träumten aber audy nur fie allein, wie wun⸗ berbar, daß alle drei den ganz gleichen Traum hatten! Das gegen wird gejagt, nur Petrus allein habe ihn gehabt, weil nur er fpricht: allein das ift ja fo oft der Fall, daß der feu⸗ rige Mann für Alle redet, und ihn allein zum Sofeph der Gefchichte zu machen, dafür laßt fich nicht der mindeite Grund in der Erzählung finden. Indeß befennt diefer ganze Erfläs rungsverfuch noch deutlicher feine Blößen. Um die Täufchung ° der träumenden und wiedererwachenden Sünger zu erflären, wird nämlich noch weiter angenommen, Jeſus habe die Namen Mofes ınd Elias mehrere Male laut ausgerufen, es habe Donner laut gerollt, und DBlige weit geleuchtet, es feien wirklich im Nebel zwei Männer zu Sefu herangetreten. Aber das Alles konnten die Jünger nur in vollem Wachen wahrnehmen; und wenn mit diefer Erklärung das Ganze ſchon fehr ſtark ın das Gebiet äußerer Erfcheinungen beraustritt, fo thun offenbar die noch am beften, welcdye die Traumhülle gradezu abitreis fen und das Ganze zu einer bloß Außeren Erſcheinung mas chen; fo erflärt fich wenigftens das, daß alle Sünger basfelbe fahen. Im Uebrigen bringt uns diefer Ausweg nicht weiter,

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als die andern. Es foll nämlic, Jeſus auf dem Berge eine geheime Zufammenkunft gehabt haben, entweder mit Effenern oder andern geheimen Anhängern; während der Verhandlung fchlafen die Sünger, beim Erwachen fehen fie Sefum in uns gewöhnlichem Glanze, der von den erften Morgenftrahlen bers rührte; fie erbliden zwei Männer, die fie für Mofes und Elias halten; mit Stumen fehen fie Ddiefelben in leichtem Morgennebel verfchwinden und hören noch die.lauten Worte des Einen: „Diefer it ıc.* Die Stüße, welche diefe Ans ſicht gleichfalls in Lukas findet, weil er zuerft allgemein fagt: „Zwei Männer ꝛc.“ und dann erft genauer: „welche waren Mofes und Elias ꝛc.“ ift zu ſchwach, um eine Widerlegung zu verdienen, ba überdieß die ganze Anficht fehr viel gegen fih hat. Die grelle Morgenbeleuchtung der Berge fonnte die damit lange bekannten Sünger nicht täufchen; für die Vers muthung derfelben, die Männer feien Mofes und Elias, kann gar fein Grund angegeben werden; die Annahme geheimer Verbündeten von Jeſu iſt mit Recht Fängft verfchollen; und ba Petrus in feinem Staunen über das Wunder augrief: „Hier laß ung drei Hütten bauen ıc.“ (Auf. V. 33), fo durfte Jeſus redlicher Weife ihn nicht in feinem Wahne laffen, wenn ganz andere Leute, ald Moſes und Elias, da geweien waren.

Da und demnach feine Auslegungsweije genügen fann, fo haben wir nun, wie überall, wo diefer Fall eintritt, die ge⸗ fchichtliche Glaubwürdigkeit der Erzählung zu unterfuchen. Zwar ftimmen die drei Synoptifer in zwei wichtigen Punkten, in der Zeitbeftimmung „feche Tage nachher“ (M. V. 1, Mark. V. 2), fo wie darin, daß bei allen die Heilung des dämoniſchen Knaben unmittelbar auf die Verklärung folgt (M. 14 u. A.), ganz überein; allein dieß darf nicht auffallen, da gewiß bei Abfaffung der Evangelien nicht wenige Punkte der Ueberliefes zung fchon ganz ftehend geworden waren. Sm Gegentheile ift der Umſtand weit wichtiger, daß Johannes von der ganzen Gefchichte nichts erzählt. Warum er fie nicht erzählte, wenn er fie fannte, iſt um fo weniger einzufehen, da fie ſo ſehr zur Beftätigung feiner Anficht von Jeſu gaöttlihem Keen

II. 23

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(1, 14) dienen konnte; der abgenukte Einwand, daß er Be kanntes nicht wieder erzählen wolle, paßt hier um fo weniger, da er ja Augenzeuge geweien. Man fagt aber, er. habe bie Verflärung nicht erzählen wollen, um den von ihm in ben Briefen befämpften Dofeten, die Sefu nur einen Scheins förper liehen, feinen Vorſchub zu leiſten; allein alsdann durfte er auch das Mandeln Sein auf dem Meere hicht erzählen,

was er weit cher hätte weglaffen können, ald die in jeder

Beziehung fo bedeutungsvolle Verklärung. Uebrigens ſtreitet ein fo partheiifches Auslaffen gegen die apoftolifche Redlichkeit.

Wir müffen alfo zu feiner Ehre annchmen, daß er die Ge= fehichte nicht Fannte, und ſchon darin einen Grund zu Zwei— feln an ihrer geichichtlichen Wahtheit herleiten. Das angeb= liche Zeugniß des Petrus, in 2 Petr. 1, 17, entfcheidet hiewe

nichts, Da diefer Brief anerfanntermaßen unächt ift.

Fin ebenfalls wichtiges Bedenken liegt in der Unterredung

die Jeſus unmittelbar nad) der Verklärung mit den Süngerzt gehabt haben fol CM. 8.10). Es fällt nämlidy fehr auf , daß dieſe, als fie eben von einer Ericheinung bes Elias zar- rücfehrten, noch fragen fonnten, ob denn wirklich Elias wies der erfcheinen müffe? „Hätten fie nur das vermißt, ware

Seins von dem wieder erfcheinenden Elias ihnen verfihert, .

daß er Alles zuvor auch ordnen (DB. 11) müffe, was Fir allerdings an feiner Erjcheinung vermiffen Fonnten, ſo durften fie audy nur dieß in Frage flellen. Nuffallender noch iſt

Jeſu Antwort, indem er das Auftreten des Täufers als Die Erſcheinung des (zweiten) Elias bezeichnet, gleich als wilfe er felbft nichts von dem fo eben gefehenen (wahren) Elias! Die Anknüpfung diefer Rede an die Verklärung kann alfo nır äußerlich durch den Namen des Eliad bewirft worden fein; oder vielmehr, beide vertragen fich gar nicht miteinander! Denn nicht nur unmittelbar nach der Erſcheinung des Elias fonnten die Sünger diefe Frage nicht thun, fondern überhaupt gar nicht, weil fie fich jener ja ftets erinnern mußten; audı nicht vorher kann ihnen Jeſus die oben genannte Antwort gegeben haben; denn er erflärt darin ja ausdrücklich, daß Johannes der Elias fer, deffen Ericheinung man erwarte, und dann hätte die Vertlürungdaddndte iin tes Terthume

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überwiefen. Eins von beiden, die Verklärung oder jene Us Berredung, Fann nicht flattgefunden haben; und hier nehmen wir fein Bedenken, uns für die Unterredung zu entfcheis ben. Der Suhalt derfelben ift durch M. 11, 14 und Luk. 1, 17 ganz beftätige, während Die Perflärungsgefdjichte Alles gegen fih hat. Es find alfo zwei ganz verfihiedene Erzähs lungsſtücke, und zwar aus verfchiedenen Zeiten, hier unges ſchickt an einander gereiht worden: bag frühere, die Unters zebung enthaltende, und das fpätere, Die Verflärungsgefchichte. Die frühere Anficht nämlich begnügte ſich damit, Die Verfüns Digung von dem Wiederaufftchen des Eliad vor dem Wirken bes Meſſias in dem Täufer erfüllt zu ſehen; der fpäteren ges nügte dieß nicht; er mußte auch perfünlich und eigentlich erfchienen fein, und fo entftand unfere Erzählung, die ſchon mit dem Gefagten ald Mythe bezeichnet ift.

Wie aber konnte eine folche Mythe entftehen? Hier bietet ſich ung als nächite Erklärung der fonnenartige Glanz dar: dem Drientalen ift nämlicdy das Leuchten Sinnbild alles Gros fen. und Herrlichen; DBeifpiele: die Frommen werden der Sonne verglihen (Richt. 5, 31), das Loos der Gerechten it gleich dem Glanze der Sterne (Dan. 12, 3); Gott ers fcheint in ftrahlendem Lichte (Pf. 50, 2, 3); die Engel mit glänzendem Angeficht und leuchtenden Gewanden (Dan. 7,9; Dffenb. 1, 13); felbft in fpäteren Sagen erfcheinen Rabbinen von überirdifchem Glanze umfloffen. Zunächſt aber lag für unfere Mythe das leuchtende Antlig des Mofes vor, nnd es war rabbinifche Borftellung, die auch 2 Kor. 3, 7 ꝛc. ans gedeutet ift, daß auch der Meſſias in folhem Ganze fid, zeigen müffe; wenn mın gar von fpäteren jüdifchen Schrift⸗ ftellern der Mangel desfelben bei Jeſu ald ein Beweis dafür angeführt wurde, Daß er der Meſſias nicht geweſen fein Fönne, wie nahe lag es da der chriftlihen Sage, nach jenem Bor: bilde auch Jeſu eine erhöhten Außeren Glanz zu leihen? einen Glanz, der ſich ſelbſt über fein Gewand erftredte! Aber felbft die einzelnen Züge unferer Mythe fanden ſich in der Sage von Moſes vorgebildet: dieſer ward ebenfalls auf einem Berge, dem Sinai, von Glanz umleuchtetz auch ihm folgen drei Bertraute (2 Miof. 24,1, - 1V, vn anypheren‘,

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auch hier ein leichtes Gewölle und eine Stimme des Herm (2.15 18). Der Inhalt übrigene der über Jeſum ergangenen Stimme iſt theils, wie bei ber Taufe, aus Pi. 2, 8, theild aus 5 Mof. 18, 15 entiehnt.

Ehen fo lag in uralten Vorftellungen das Erfcheinen des Moſes und Elias begründet: mehrere Vorläufer ſollte fchen nach Sef. 52, 9 20. der Meffias haben, namentlich den Elias Dial. 3, 23), und nad) fpäteren Deutungen auch den Moſes: wo aber konnten fie fchicflicher erfcheinen, als bei der höchſten Berherrlichung des Meſſias? Daß fie ſich mit demjelben uns terredeten, verſtand fich nun von ſelbſt; und worüber wohl eher, als über das eigentliche meifianiihe Geheimniß des neuen Teftamentes, das Leiden und Sterben Jeſu? Es hatte alfo unfer Mythus und dafür halten die meiften jetigen Theologen unfere Erzählung einen gedoppelten Zwed: Jeſum aufs Höchfte zu verflüren, ihn mit feinen bei den Borläufern, dem Gründer und dem Wiederheriteller des Sottesreiches, zujammen zu bringen, und dadurch ale den Bollender diejes Reiches Darzuitellen.

An unjerem Beifpiele laßt fich recht deutlich nachweifen, wie fehr die natürliche Erklärung den höheren Inhalt der Erzählungen aufopfert, um eine äußere gefchichtliche Form feftzuhalten: wie bedeutungslos wäre doch das Ganze, wenn der Glanz nur optiſche Täuſchung war, wenn die Erfchienes nen unbekannte Menjchen waren, wie wenig des Erzählend werth! Faffen wir die Sache aber mythifch, fo retten wir eine höhere Idee, die ſich und als mwefentlichen Inhalt der altschriftlihen Borftellungen offenbart, und erft dann Fünnen wir begreifen, warum die Evangelien diefer Erzählung eine fo wichtige Stelle einräumen. Ä

(M. 19, 15 Mark. 10, 1; Luk. 9, 51, 525 17, 11; Soh. 12, 1 und andere Stellen.) Ueber Sefu lebte, verhängnißvolle Reife nadı Serufalem, welche bald auf die Verklärung folgte, fimmen die Synoptiker zunächft unter ſich, und fodann ale uiammen genommen mit

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Johannes nicht überein, und zwar fo wenig, daß alle Vers sche einer Ausgleihung fcheitern mußten. Darin find die Spnoptifer einftimmig, daß Sefus von Galiläa aus nad terufalem reiste; allein mährend aus des M. freilich fehr vunkler, von Markus aber deutlicher wiedergegebener Dar⸗ tellung unverkennbar hervorgeht, daß er feinen Weg durch ie Randfchaft Peraͤa nahm, läßt ihn Lukas den Tängeren urch Samarien emfchlagen (9, 52), wiewohl auch Diefer, B. 51, die Sache nicht ganz Far und ausdrücklich hinftellt. Erft gegen Ende des Weges ftimmen fie wieder überein, ins yem alle. Jeſum nach Serufalem von Jericho her (M. 20, 29) kommen laffen; einer Stadt, die mehr nad) Peräa, als nach Samarien hin lag. Ganz abweichend von diefer Dars ſtellung ift die des Johannes; ihm zufolge hat Jeſus fchon por dem Laubhüttenfefte des vorigen Sahres Galiläa vers faffen (7, 1—10); nadı dem Fefte der Tempelweihe diefes Jahres war er nadı Peräa gegangen, von wo ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien, in die Nähe Serufalems, rief (11, 8); aus Furcht vor den Nachſtellungen der Pharifäer entwich er nad; Ephraim, nahe der Wüſte; und von hier aus ging er, ohne Sericho zu berühren, auf das Felt nad, Jeru⸗ ſalem, und zwar ebenfalls über Bethanien.

Dieſe Widerfprüche verſuchte man, obgleich, Lukas aus⸗ drücklich ſagt, Jeſus ſei abgereist, um feinem Leiden entges gen (9, 51), demnach zum letzten Paſcha, zu gehen, durch die Annahme aufzulöfen, fein Aufbruch aus Galiläa habe dem von Sohannes erwähnten Tempelfeſte gegolten: Allein dann müßten die Eynoptifer alles zwifchen dieſer Abreife und der legten Ankunft in Ierufalem Liegende, Jeſu erfte Anwefens heit in diefer Stadt, das Feſt felbft, die Reife nach Peräa, dag Hineilen nad) Bethanien und die Flucht nach Ephraim, gradezu überfprungen haben. Diefe gewaltfame, halsbrechende Erflärung findet nicht einmal einen Anhalt in der allerdings feltfamen Notiz des Lukas, der, nachdem er 9, 51 ganz bes ftinemt die Abreife ans Galilda zum Pafcha gemeldet hatte, Sefum 17, 11 abermals nach Serufalem reifen und „mitten durch Samaria und Galiläa“ ziehen läßt. Diefe vereinzelte Angabe, ohne allen Zufammenhang, beweist nur, daß Lukas

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feine firenge Zeitfolge And Anordnung ber. Begebenheiten ein⸗ hält; höchftend, daß er zwei verfchiedene Neifeberichte vor ſich hatte, die er ‚beide beuugen zu müffen meinte, ohne den Wi— berfpruch zu bedenfen, in den er ſich dadurch verwidelte Aus der Beichaffenheit aller dieſer Berichte aber geht unzivei= beutig hervor, daß ſich ſchon frühe abweichende. Nachrichten über jene letzte Reife bildeten, weßhalb auch ihre Ausgleichung zu einem ficheren Nefultate als unmöglid) aufzugeben it...

AM. 21, 1—115 Mark. 11, 1—10; ul. 19, 29 40;

Joh. 12, 1, 12— 19; ſodann M. 26, 6, 7; Marl.

14, 35; Joh. 12, 1.)

Aber auch über den Ausgangspunft der Reife, über bie legte Station vor Serufalem, find die Synoptiker mit Tohannes nicht einig; den eriteren zufolge jcheint ed, Daß Jeſus in Einem Zage von Jericho nadı Serufalen reiste; bei Johannes übernachtet er vorher noch in Bethanien. Man nimmt nun gewöhnlich an, die Synoptifer haben zwar von jenem Nachtlager auch gewußt, die Erzählung. jedocd) durch Angabe desjelben nicht unterbrechen wollen; allein fo lautet ihre Darftellung doch nicht, daß fich ein Nachtlager dazwiſchen ſchieben ließe; ja, fie fchließt es fogar gänzlich aus. Denn fie erzählen, Jeſus habe noch vor jeiner Ankunft in Berhanien zwei Jünger voraus gejchict, un einen Eſel zu holen, den er zum Reiten nad) Serufalem gebrauchen wollte (M. 21, 1; Mark 11, 1 20); hatte er aber im Sinne, in jenem Dorfe zu übernachten, ſo war das Beſchicken des Ejels für jest nod) fehr überflüffig; ed war fogar widerfinnig, wenn er denfelben, wie ed nach M. allen Aufchein hat, gar aus dem noch jen⸗ ſeits Bethanien gelegenen Bethphage holen liep. . Ferner erzählt Markus wenigftens, daß Jeſus erit gegen Abend nadı Serufalem kam, und daher einitweilen Tempel und Anderes nur befeben fonnte (Mark. 11, 12), worauf er nad) Bethanien wieder zurüdging. Ein fo fpäted Kommen wäre ja unerflärs lich, wenn er in diefem fo nahen Dorfe übernachtet hätte; ſcheint auch M., der Jeſum an demjelben Tage noch vielerlei in ber Stadt verrichten laßt C21, 12), ihn früher dajelbit

aufemmen. zu laſſen, ſo hangt doch bei allen Dreien bie‘ Dans ſtellnug fo euge zufammen,. daß in Der fortlaufenden -Exjähs Aung von dem Hinkommen ‚gegen, jenes Dorf, ber Sendung der. Jünger, der Ankunft des Eſels uud dem Einzuge in. Jeru⸗ falem ein dazwiſchenliegendes Nachtlager nixgends Platz ſir der Da. alſo dieſe bedeutende Differenz zwiſchen Spnoptikern und Zohannes nicht auszugleichen iſt, ſo nehmen Andere einen. dDoppelten. Einzug Jeſu an, und ſtellen bie Sache fo: Jeſus zog zuerſt mit der Feſtkarawane durch Bethanien gerade nach - Serufalem und wurde mit Jubel empfangen; am Abende ging er nach Bethanien zurück (Spnoptifer), und ed erfolgte nın anderen Tages ber zweite Einzug, wobei ihm viel Volkes entgegen.tam (Johannes)“. Aber warum erzählt doch jeder Evangelift nur Einen. Einzug ?.- „Es mag wehl, fagt man dem Johannes. zu Liebe, dieſ er waͤhrend des erſten Einzuges iigendwohin verſchickt worden ſein allein alsdann en wir für M. biefelbe Ehrenrettung - in Anfpruc; nehmen, bes men aber damit ein fehr mißliches Verdoppeln eines ſchou in ſeinem einmaligen Eintreffen ganz unwahrſcheinlichen Um⸗ ſtandes. Doch es iſt ja mit des Johannes Erzählung wenig⸗ ſtens ein dem ſeinigen vorausgegangener Einzug ganz unver⸗ traglich. Er ſagt nämlich, Tage zuvor, alſo an dem Tage, an welchem der ſynoptiſche Einzug erfolgt ſein müßte, ſeien viele Juden aus der Stadt nach Bethanien heransgekommen, um Jeſum zu ſehen (12, 11); wenn er ſchon in Serufalem eingezogen war fo.wäre dieß ganz unnöthig, .ja es wäre Fogar .thöricht geweſen, da Jeſus erſt in der Nacht nach Bethanien wieder. zurückgekehrt ſein konnte. Ferner hat ein weiter ſeierlicher Empfang gar keinen rechten Sinn nach einem erſten; Jeſus würde ihn ficher abgelehnt oder vermieden Haben; und wie unwahrſcheinlich, daß beide ‚unter fo ganz gleichen Umftänden .flatt. gehabt: haben follen! Lie Scywierigfeit wächst, wenn wir die Mahlzeit in Bethaniin bedenfen, bei welcher Jeſus gefalbt wurde, und wovon alle Evangeliften erzählen (Stellen |. oben); Johannes verfegt fie vor den Einzug (11, 2 ıc.), die Synoptifer nach demielben EN. 26, 6). Kun könnte man freilich fagen, ‚gerade das be⸗

ſtatigt hen doppelten Einzug; bie Mahlzeit fiel:zwiihen mn

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der Synoptifer und den des Iohannes; allein die johanneifche Mahlzeit fällt fech8, die fynoptifhe nur zwei Tage vor bas Pafcha, und es mußte alfo diefe Doch, dem Johannes ganz entgegen, auch nad dem johanneifchen Einzuge ge halten worden fein. Soll man nun gar auch zwei Mahlzeiten, ebenfalls unter ganz gleichen Umitänden, annehmen? Dieß wird und Niemand zumuthen, und es bleibt dabei, Daß auch in Bezug auf den Einzug, wie bei der Reife, die gefchichtliche Wahrheit durch die Sage verwifcht, getrübt oder verwirrt wurde.

Indem wir nun den näheren Hergang bes Einzuges felbft betrachten, haben wir zunaͤchſt bei einem charafterifchen Zuge, bem Reiten Jeſu auf einem Efel, zu verweilen. Die Synops tifer erzählen ganz aueführlid), wie und woher dag Thier herbeigefchafft worden (ſ. oben). Am auffallendften ift die Angabe des M., daß Jeſus zwei, eine Efelin mit ihrem Füllen, habe holen laffen, und zwar in der Abficht, um auf beiden zu reiten. Wenn es ſchon fehr zweifelhaft ift, daß ein Eigens thümer ein nod) an der Mutter faugendes Thier zum Iteiten hergeben follte, fo fünnen wir ung gar nicht denfen, wie Jeſus bei dem kurzen Wege zwei Efel nöthig hatte, um auf beiden abwechfelnd reiten. Manche fuchen daher diefe Sonderbarfeit zu entfernen, theild durch unerlaubte Aenderung der Worte, theils durch unzuläßige Erklärungen, womit ung überdieß dag noch nicht erflärt wird, wozu zwei Thiere beftellt wurden, wenn nur Eins zum Reiten dienen follte. Allein man erfennt leicht, wie M. zu diefer irrthümlichen Angabe fam. Er fah nämlich das Reiten auf einem Efel als Erfüllung einer WWeiffagung (Zach. 9, 9) anz nun wird in diefer Stelle nur Ein Thier, aber mit zwei Namen genannt; das beide vers bindende Wörtchen, Das fo viel heißt, als „näntlich“*, nahm M. in der Bedeutung von „und“, glaubte aber in der Pros phetenitelle zwei Thiere zu finden, und hielt es nun für Pflicht, auch in feiner Erzählung ſtets von zweien zu ſprechen. Andere Eigenheiten finden füch bei Marfus und Lukas; naments lich, um von ihren fchleppenden Wiederholungen zu fchweigen,

Se eitten' Wiek‘ Wenige „ai Bei Ai geriten hatte (V. DH "Bi woche oa noch nicht zugerittenes Thier verlangen, das ihm die "größte Mühe machen, und unfehlbar ben ganzen Feſtzug ſtoͤren uußtet? Her min ſieht wohl, woher diefer Ing in ber Erzähhintg Ä ſtammt; es war jüdifche Verftellung, daß Thiere, die von Menſchen noch nicht gebraucht worden, heilig waren. Dip aber Jeſus darauf, als etwas Eitles, Aeußerliches, von den Begleitern überdieß ſchwerlich Wahrgenommenes Werth gelegt haben ſollte, iſt undenkbar, weil feiner unwuͤrdig; feht bes greiflich aber, daß ſchon frühe die chriſtliche Sage ihn’ ai verherrlichen glaubte, wenn fie, wie er ja auch fpäter in ein noch nie gebrauchtes Grab gelegt worden ſein ſollte, ihm ein ſolches Thier lieh; die Evangeliften ſchrieben dieß ohne Be - benfen ‚nach, „weil ihnen freilich bei'm Schreiben der nicht zigerittene Eſel nicht die Unbequemlichkeit verurfachte, ; welche er Sefu bei'm Reiten verurfacht haben müßte*. Eine andere Bedenflichkeit erregt der Allen gemeinfame Zug, daß Jeſus fo genau vorherfagt, wo die Jünger das Thier finden, "und daß ber Eigenthümer es ohne Weigerung hergeben wůrde AM. V. 2, 3). Auf eine Verabredung konnte fich bieß nicht gründen, da ja Jeſus eben erft aus den fernen Galilän fam; " andy nicht auf feine Vermuthung, daß des Feſtes wegen ba und da Laftthiere zu finden fein werden, weil ber Auftrag auf ein ganz beftimmtes lautet. Nein! es wollte daburdy bie Sage einestheild die magiſche Gewalt, welche der Namen dei „Herrn“ überall ausübte, anderntheils fein wunderbares Vorher⸗ wiſſen abermals ſchlagend herausheben, wie z. B. früher bei Berufung der Juͤnger ꝛc.

Warum aber die Sage gerade ſo dieſes Vorherwiſſen ge⸗ ſtaltete, davon finden wir den Grund in einer alt⸗ teſtament⸗ lichen Stelle, nämlich 1 Moſ. 49, 11, wo von dem anger bundenen &fel des „Friedensfürften *: die Rede ift; ſchon frühe wurde nicht nur diefer Friedensfürſt auf den Meiftag, fondern auch die ganze Stelle meffianifch gedeutet. Daß fie von unfern Evangeliſten nicht auch angeführt wird, erflärt fih nur dadurch „daß fie, obgleich fie den Grund der Sage bildete, doch allmälig wieder aus der wmnitteluoxren Srumes

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gung verſchwunden war, wie dieß ofters gu geſcheben pfleat; auch verräth fi) die mehrfache Umbildung ber Erzählung ſchon dadurdı, daß bie Umitände hier ſchon etwas anders bau geftellt find, als in ber altsteitamentlichen Stelle jelbit fie ſich verhalten. Jobannes übrigens weiß von dieſem Allem nichts, und erzählt ganz einfach, Jeſus habe einen Eſel ge funden und jei Darauf geritten.

Alle Berichte erzählen ferner von einer lauten, Jeſu dar: gebrachten, Huldigung beim Einzuge (CM. 8 2c.). Zwar die Worte: „Gelobt fei der ıc.“, und „Hoſianna“ waren auch fonft gewöhnliche Feſtgrüße, Dagegen bemeist das: „dem Sohne Davids, dem Könige in Ssjrael“, dag man Jeſum bier in ganz bejonderem Sinne willfommen bie. Und zwar ges ſchah dieß nad M. und Marfus von einem großen Bolfes haufen, womit ſich Lukas leicht vereinigen läßt mit jeinen Worten: „die ganze Menge feiner Sünger“, weil damit eben in weiterem Sinne feine Anhänger gemeint find. Dagegen wird des Johannes Angabe, daß viele aus Jeruſalem ihm Entgegenfommende ®. 12, 13) in den Willkomm eingejtimmt haben, dadurch verdächtig, daß fich dieſes Entgegenfommen auf die Erweckung des Lazarus jtügt, die, wie wir jahen, ale ungefchichtlichh zu betrachten ijt.. Endlich jtimmen alle Evangelien darin überein, daß die Pharijäer großes Aerger: niß an diefem feitlichen Empfange nahmen, was fie bei Jo—⸗ hannes (B. 19) unter einander, bei Lufas (V. 39) gegen Sefum fogleih, nad) M. (3. 15, 16) erit im Tempel aus: fpredhen.

Was nun ſchließlich den Anlaß zur Ausbildung unſerer Erzählung "gab, "wird und hinfänglich durch die Evangeliſten feloft fund gethan, die darin die Erfüllung einer altsteffament- lichen Weifjagung CM. V. 5) erbliden. Wenn übrigens auch Jeſus in der angezogenen Stelle eine meifianijche Weil fagung erblidte, fo hat er geirrt; denn dieſe Stelle bezieht ſich, wenn auch nicht auf einen geſchichtlichen Fürſten, doch wenigſtens auf einen Fürſten, der in friedlichem Beſitze von Jeruſalem gedacht werden muß. Er konnte aber doch nicht

| Zweites aepitel Im Nieten son. feinem: Tode, feiner inferkehung oo Bu und Wiederkuuft zu Gerichte. Rus D 5 Schr viele pereinzelte Stellen.

"g Evangelien berichten, daß Jeſus ſein Leiden und ſeinen Tod nicht nur allgemein, ſondern in allen ‚näheren Umſtaͤnden noransgefagt ‚habe; ben Dxt, bie Zeit, bie Urheber, ‚die Art und Weile (nämlid, Kreuzigung in Folge. eines fürmlichen Nrtheild) und die‘ vielen Damit. ‚verbundenen Schmaͤhungen (M..16, 21; 20, 18, 19). Es findet auch in dieſer Bezie hung wiſchen den Synoptikern und Johannes ein mehrfacher Unterſchied ſtatt. Letzterer laßt Jeſum Alles. nur. unbeſtimmt zund in dunkler Bilderrede vortragen und ‚gefteht felöft,. daß Dieles deu Juͤngern erſt nach Jeſu Tode. deutlich geworden fti (2, 22); befonders. oft. kommt. der bildfiche Ausdrud „ers Höht: werden vor, der ſowohl von Verherrlichung, wie vom Kreuzestod verſtanden wird; gerne vergleicht daher hier

Jeſus dieſen Tod mit ber Erhöhung. der Schlange in der 3—

Wüuͤſte; oder ſpricht von einem Weggehen, , wohin man. ihm nicht folgen fünne (7, 33 16). Ferner gehen ſolche Vorauss fagungen bei Sohannes durch das ganze ‚öffentliche Leben Sefu, während fie‘ bei den Synoptikern ſich nur in den letzten Zeiten desſelben finden; endlich ſpricht er ſie dort‘ por ‚allen Volle, hier nur.gegen vertraute Jünger aus. Mir müflen nun, in nähere . Unterſuchung eintretend, zunaͤchſt die Glaub⸗

wuͤrdigkeit der ganz ſpeziellen Vorausſagungen, und alsdann

die Denkbarkeit ſolcher FVoraucſagungen im "gemeinen, väter veifen.,

a ! .,% En une

364

Jeſus konnte bie einzelnen Umftände feines Leidens entweber, wie die Supranaturaliiten annehmen, vermöge feines götts lichen, prophetifchen Geiſtes vorherwiffen, oder, den Ratio⸗ naliften zufolge, diefe Kenntniß auf dem Wege natürlicher, menfchlicher ‚Berechnung erlangt haben. Belennt man fid zur eriteren Anficht, fo muß man zugleich annehmen, daß Ges fus fein göttliches Wiffen vorzüglich aus Prophezeihungen des alten Teſtamentes, auf die er ſich fo oft beruft, fchöpfte. Die Zeit ded Todes könnte er aledann nach Daniel beredıs net, den Drt, naͤmlich Jeruſalem, durdy die Betrachtung, daß bier fo viele Propheten fchon geblutet hatten (Luk. 13, 33), gefunden haben; auf eine förmlich Verurtheilung konnte ihn Sef. 53, 8, auf eine foldye durch die Priefter des eiges nen Volkes das Gleichniß vom verworfenen Baufteine (Pfalm 118, 22; Apoftelg. 4, 11) geführt haben; daß Heiden ihn plagen würden, fchien aus manchen altsteftamentlichen Stellen hervorzugehen; und die Kreuzigung könnte er von der Schlange in der Wüfte (4 Mof. 21, 8 ıc.), fo wie von dem Durchbohren der Hände in Pf. 22, 17 hergenommen haben. Allein auf folche Deutungen konnte ihn der göttliche Geiſt nicht geführt haben, da nad) neueren Forfchungen alle jene Stellen durchaus nicht auf den Mefftas zu beziehen find: fo ift 3.8. Sef. 50, 6 nur von den am Propheten felbft vers übten Mißhandlungen die Rede; ef. 53 von den Drangfalen des Prophetenitandes; Pf. 118 handelt von der unerwarteten Rettung des Volkes; Pf. 22 enthält die Klagen eines bedräng- ten Berbannten; und fo ift durchweg in allen jenen und andern früher für mefftanifch gehaltenen Stellen von etwas Anderem die Rede. Jeſus muß alfo, da doc; unmöglich der göttliche Geift in ihm ein „Lügengeift * geweſen fein fann, auf anderem, alfo auf natürlihem Wege zu jener Kennts niß feines Fünftigen Schickſals gelangt fein. Er fünnte nämlich durch Nachdenken die Heberzeugung erlangt haben, Die Priefter werden ihn flürzen, weil diefe Neigung und Madıt genug dazu hatten, und zwar m Serufalem, wo fie am mächtigften waren; daß er den Römern überantwortet, daß er arg mißhandelt werden, daß er am Kreuze den Tod bes ‚Dochveerräthers fierben würde, ging leicht aus den damaligen

Berhäktnigen mb Gebränden, wie and. bem barbariſchen Ver⸗ fahren bei. Kriminalverhandlungen hervor. Jedoch auch dieſe Gelfärungämeife - hat die größten. Schwierigkeiten Woher konnte Jeſus denn willen, daß nicht fein Landesherr, Herodes

der. ben Täufer ‚getödtet hatte, auch ihn verderben, ober daß

sicht einer von ben vielen. Mordverſuchen des. Volkes auf ihn. (3 2. oh. 8, 59) einmal gelingen werde? und endlich; wie. mochte er: fo zuverläßig behaupten, daß gerabe bei feiner

Jetzten Reife nach Jeruſalem die Aufıhläge feiner Feinde .zus Ausfuhrung kommen werben? - Eine Berufung auf eine it.

teftamentliche Stelle iſt diefer natürlichen Auslegung noch un⸗ günftiger als der eriten, weil es fehr zweifelhaft:üt, ob übers haupt das alte: Zeftament die bee eines leidenden unb Ken benden Meſſias fennt.

v Muß man, alfo alle angeblichen VBorherfagungen Jeſu von den beſonderen Umſtänden ſeines Todes als Weiſſagungen

nach dem Erfolge betrachten, fo verdient. Johannes allerdings

Rob, daß er Jeſu Ausdrücke über dieſen Punkt fo allgemein, ubeitimmt hält, und die fpätere Deutung davon ſcheidet,

wiewohl er doch an Einer Stelle, 8, 28, zu beflimmt. den .

Tod durch feine Feinde vorherfagt, um. hier einen großen Vorzug in Anſpruch nehmen zu können. Ueberhaupt aber liebt Der Evangelift ja das Dunfle, Räthfelhafte und Myſterioͤſe. Wie die urchriſtliche Sage auf folche Vorherfagumgen nad bem Erfolge kommen konnte, fieht man bald: Die Krenzigung Des Meſſias erregte bei allen Gegnern des Chriftentkums den größten Anftoß (1 Kor. 1, 233: diefer wurde zwar glänzend befeitigt durch die Auferfiehung; aber. ed fchien doch auch fchon eine dem Tode vorausgegangene Aufhebung besfelben nöthig. Wodurch anders konnte dieſe bewirkt werben, . ald durch Bas ausgeſprochene Vorherwiſſen des Leidenden felbft? Dadurch erſchien der Tod als ein nothwendiges Glied der großen Heilsordnung, dem ſich der Erzähler nicht nur mit vollem Bewußtſeiu, fondern auch mit freiem Willen fügte, da er, im Befige jenes. Vorherwiſſens (Joh. 10, 17 .; M: 26, 53), ihn auch hätte umgehen Tonnen. So wurde das ſcheinbar Sohmachvoue zum größten wre. 3

u

366

Sehen wir num aber and) von allen in Jeſn Reden liegen, ben Borausfagungen über die einzelnen Umftänbe feines Todes ab, fo bleiben noch viele über denfelben im Allges meinen übrig. Da er auch diefe aus alt=teftamentlichen Stellen ableitet, welche durchaus feine foldye Vorherverkün⸗ digung enthalten, fo müjfen wir auch hier von vornherein laugnen, daß feine hierher gehörigen Reden Ausflüffe eines göttlichen Geiltes fein. Durch eine natürlich verftändige Berechnung aber Tonnte er allerdings feinen gemaltfamen Tod mit großer Wahrfcheinlichfeit vorherfehen: die herrfchende Pries fterparthei hatte. er fich zur unverföhnlichen Feindin gemacht (Joh. 10, 11 ꝛc) und das Beiſpiel früherer Propheten mußte ihn ahnen laffen, was auch er zu fürchten habe (M. 5, 12; 21, 33 ꝛc.)

Dennoch müffen wir die Frage aufwerfen, ob er feinen Tod wirklich aucd voraus gefagt haben fünme, weil diefer Annahme das Benehmen feiner Jünger gänzlich widerftreitet. Denn nit nur fonnten fie ihn, wenn er von feinem Tode fprach, gar nicht begreifen (M. 16, 22); fondern öfters vers ftanden fie ihm nicht einmal (Mark. 9, 32; Luk. 9, 45; 18, 34): und ald er num wirflich am Kreuze endete, da was ren alle ihre Hoffnungen wie vernichtet (Ruf. 24, 20 x. ), ihr Glaube an Sefu Mefftanität erfehüttert; was ja nicht hätte fein fünnen, wenn Jeſus, namentlih an der Hand altsteftas mentlicher Stellen, ihnen diefes Ende fo beftimmt. verfündet hatte. Entweder alfo hat Jeſus dieß nicht gethan, oder die Jünger wurden nicht fo muthlos, wie uns erzählt wird Beides konnte von der Sage erdichtet werden, die Vorherver— fündung aus fchon oben angeführten Gründen, die Muthlofiger feit, um den Abftand der Tünger (vor Ausgießung des heil Geiftes) von Jeſu recht‘ grell herworzuheben. Melches aber” iſt nun das Wahrfcheinlichere® Um darüber zu entfcheiden müffen wir die Frage in Betracht ziehen: lag die Erwartung von dem Leiden und Sterben des Meſſias fchon in den das maligen Zeitvorftelungen? War dieß der Fall, fo mußten die Jünger um fo mehr Jeſu Borherfagungen verftehen, und um fo weniger fpäter an ihm irre werden.

Allein kaum ift eine andere thenlogiiche Frage (0 ſchwer m

entfcheibeii;,: als biefe, well 68 "und: am genanen RNachrichten Ä über biefen Punkt durchaus. fehlt. - Dem alten Teſtamente iſt die Anſicht von des Meſſias gewaltſamem Tode fremd, wen

ſich auch darin bie Lehre von einer in ber meſſianiſchen Zeit vorzunehmenden Sühne des Volkes findet (Ezech. 36,255 - Sach. 13,15 1 Dan. 9,24). Aus den apokryphiſchen Bir chern des alten Teftanientes, ſo wie aus den fpäteren jäbifchen Schriftitellern Philo und Joſephus [&ßt ſich nichts entnehs men; wir find alſo nur auf Bas nene Teitament und anf bie fPäteren Rabbinen verwiefen. Aus dem neuen Teſtamente fcheint mit Gewißheit hervorzugehen, daß damals Niemand an . einen leidenden und fterbenden Meſſias dachte; den meiften Iuden war derfelbe ein Aergerniß, ſie hatten and bem Geſetze ‚gelernt, „daß der Meſſias (Ehrifins) in alle Ewigkeit bleibe“ Gob. 12, 34); und wie hätten fonft die Sänger fo fchwer in beit Kreuzestod ihres Jeſu fich finden Fönnen ?- Daß aber einzelne erleuchtete und höher gebildete Juden dennoch jene Anficht hats ten, wi man and zwei Stellen: beweifen: aus Luk. 2, 35, mo der begeifterte Simeon dem Jeſuskinde bittere geiben vers findet, und aus. oh. 1, 29, wo ber Täufer Jeſus als „das Lamm Gottes, dad ꝛc.“ bezeichnet: allein beide Stellen bewei⸗ fen nichts, ba fie, wie wir. fhon früher geſehen haben, der Mythe angehören. Eben fo wenig Gewicht haben die Auss fprüche der Apoftel, durch welche fie lange nach Jeſu Tode die Nothwendigkeit desſelben aus dem alten Teſtamente zu be⸗ weiſen ſuchen, wie Petrus: (Apoſtelg. 3, 18; 1Petr. 1, 11 ꝛc) | Paulus (1 Kor. 15, 3). und Philippus (&tpoftelg. :8, 35): denn wie. leicht können folche Deutungen erſt aus dem Erfolge heraus gemacht worden fen!

Auch in den fpäteren Rabbinen laͤßt fi. die Idee des fterbenden Meſſias ſchwerlich nachweiſen. Zwar bezieht Hillel ber Aeltere Jeſ. 52, 13— 53, wo von Leiden und Tode die Rede ift, auf den Meffias, it aber überall geneigt, dieſe Ausſprüche der Stelle wieder vom Volke Iſrael zu verftchen: eben fo ungewiß ift ed, ob Rabbinen jemals im Ernfte Jeſ. 53, wo eine leidende Perfon geſchildert wird, vom Meſſias ver⸗ ſtanden haben. Allerdings finden ſich bei. dieſen Rabbinen Hinweiſungen auf große Drangſale, welche det metiiiiteen

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Zeit vorausgehen würden; allein eben dieſe jollte der Meſſias vernidhten, fammt dem lirheber berjelben, dem Antichriſt: wenn auch hier und da von einem Leiden des Meſſias bie Rede it, fo iſt dieß nody fein Sterben, und trifft ibn höch⸗ ftiene vor feinem meifianifchen Auftreten. Endlich ſprechen bedeutend fpätere Rabbinen zwar auch von einem ſterbenden Meſſias, aber dieß ift nicht der eigentliche, der Eohn Davids; fondern der ihm untergeordnete, der Sohn Sojephs, der in der Schlacht fallen follte. Es iſt alſo jehr wahrjcheinlich, daß ſich vor Jeſu Auftreten nirgends jene Vorſtellung vom fterbenden Meifias vorfand. Su Seju jelbit aber fonnte jie fi gar wohl entwidelt haben, nidyt nur aus Betrachtung bes alten Teſtamentes, fondern weit mehr noch aus dem Bes wußtjein jeines erhabenen, den Bolfsideen vom Meſſias nicht entiprechenden Planes: ja, ed mußte fait die Ueberzeugung in ihm fich befeitigen, daß die fonft unuberwindlichen finnlichen Borilellungen feiner Sünger vom dem Meſſiasreiche, ald einem irdiichen, nur durch feinen Tod zu vernichten jeien. Allein wohl mag er denjelben jparjum und nur dunfel angedeutet haben (wie 5.8. M. 9, 155 Luk. 13, 32), weil fie ihn doch nicht verjtanden. Daher erklärt fid) denn das Erſtaunen der Jünger nad) jeiner Kreuzigung: daher aber auch dag Bemühen ber fpäteren Sage, die unbejtimmten Andeutungen Jeſu zu bejtimnieren Borausjagungen umzubilden, wie wir fie nun in den Evangelien vor und haben.

Auch über Zweck und Wirkungen feines Todes foll es fus öfters ficy geäußert haben. Bon der moralijchen Noth⸗ wendigfeit desjelben handelt dad Gleichniß vom guten Hirten (Joh. 10, 11, 15); die moraliihe Wirkjamfeit, ald Stärkung der Giemüther, madıt das vom Samenforn, das in Der Erde eriters ben mine Goh. 12, 24, anfchaulich, und wenn er bei Johannes fo oft fagt, er müffe zum Vater geben, um den Seinen den „Zröjter“ zu fenden, jo beißt das eben, ohne jeinen Tod werden bie grob finnlichen Meifiasideen fih nicht vergeiſtigen fonnen. Bei dem legten Abendmahle nennt er jein Blur das Blut Des „neuen Bundes“, Das heißt, die Bejiegelung des böheren, geis ffigeren Vereines mit Gott, wie blutige Opfer am Sinai einft einen äußeren Bund wit Jebovo befcäftiat hatten. Dieß

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Alles. kann und mag Jeſus gar wohl’ aus ber Fülle. feines tiefen, begeifterten Gemüthes gejprochen haben haben; was. er aber von einem :Tode:ald Sühnopfer „zur Vergebung ber Sünden“ (Luf. 26, 285 vergl. M. 20, 28) gejagt haben fol, dieß mag wohl „mehr bem nach Jeſu Tode ausgebülberen Ey: ſteme. angehören.

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| Auch feine Auferſtehung ſoll Jeſus nicht minder: deutlich feinen SZüngern vorausgefagt haben: fo oft er von: feinem Kreuzestod fpricht, laffen die Evangelien ihn hinzufegen: „und am dritten Tage wird. er (des Menſchen Sohn) wieder. aufs erftehen“ (M. 16, 21; 17, 23 u. 4)... .Diefe Vorherverkün⸗ digung müfjen aber feine Sünger uoch weniger gefaßt habeu, als die feines Todes, wie nicht nur ihr Streiten über. folche Worte (Mark. 9, 10), ſondern weit mehr noch ihr Benehmen nach feinem Tode beweist. Nach der .Grablegung beginnen Goh. 19, 40) oder befchliegen fie wenigftens (Marf. 16,1) die Einbalſamirung des. Leichnam, wie wenn er der Berwes fung anheim gefallen wäre, die Weiber, die am dritten Zage, wo aljo die Auferftehung gefchehen fein mußte, ‚zum Grabe gehen, find um die Wegwälzung des Steines beforgt (Mark. 16, 3); ald Maria den Leichnam nicht findet, tt ihr eriter Gedanfe, er möge geitohlen worden fein (Sob. 20, 2); die Kunde von der Auferftehung erregt großen Schreden (Luk. 24, 21 20.), ober wird gar für leeres Geſchwaͤtz der Weiber gehalten (Luk, 24, 11); der Verficherung felbit .der Apoſtel ſchenkt Thomas feinen Glauben (Joh. 20, 25); endlich zweifeln die Sünger fogar noch bei des Auferfiandenen Erſcheinung in Oalilia daran, daß er wirklich Jeſus ſei Mark. 25, 17). Wie reimt ſich das Alles mit einer klaren Borausgerfündigung? Eins von beiden aljo, dad Benehmen der Jünger oder die Vorherfagungen, muß erdichtet fein. Um dieſem firengen Schluffe zu entgehen, nehmen nun Mandye an, Sefus habe nicht buchitäblich von feiner leiblichen Auferftehung gefprochen, fondern nur bildlich von dem neuen Aufſchwunge feiner unterdrücdten Lehre, was nachmald Die Jünger eigentlich genommen hätten. Allerbingd Wi. im

Hl. 2A

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alten Teſtamente die Wieberheritellung des ifraelitifchen Volles unter dem. Bilde einer Auferfiehung ber Todten bargeftellt Geſ. 26, 19); allerdings find die Worte „drei Tage“ aud allgemeine Bezeichnung .einer furzen Zeit (Hof. 6, 2; Luk. 13, 32): aber in jo bildlihem Sinne fünmen Worte überhaupt doch nur in einer Rede gebraudyt werden, die in ihren gans zen Zujammenbange einen ſinnbildlichen Anitrichh hat. Wen fie aber in gleicher Reihe mit ganz buchftäblichen Nedeweifen, wie in umjerm Falle, „überantwortet, verurtbeilt, gefreuzigt, getödtet werden“, ftchen, fo müſſen ſie nothwendig auch buch⸗ ſtäblich gefaßt werden: und fagt nicht Jeſus ganz unzweidens tig M. 26, 32: „Nach meinem Wiedererwachen gebe ich vor euch her nach Galiläa“? Will fidy aber eine fo buchſtäb⸗ liche Propbezeihbung mit dem fpäteren Betragen der Jünger durchaus nicht vereinigen lajfen, fo müllen wir den, von Anbern eingefchlagenen Ausweg ergreifen, daß die in ihrer achten Geftalt ganz bildlichen oder Dunklen Aeußerungen Jeſu fpäter von den Anhängern desſelben nad dem Erfolge fo umges formt worden, dap fie, wie fie und nun die Evangelien geben, ſich allerdings als ganz eigentliche Verfündigungen auss nehmen. Wir betrachten zu dieſem Zwede die vorzüglid» jten bierher gehörigen Reden Sefu.

Als die Suden einft Jeſum, nachdem er den Tempel vom Marktunfuge gereinigt hatte, um ein Zeichen angingen, - wos burch er jene Befugniß zu folchem Handelt beweiien könnte, ſprach er die befannten Worte: „Brechet diefen Tempel ab, nach drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen“ (Joh. 2, 19 ıc.). Die Juden verftauden dieß von dem wirflicyen Tempel und nahmen großen Anitog an den Worten; der Evangelift aber belehrt und, Jeſus habe hier von feiner Auferftebung ges ſprochen (3. 21). Indeß dieſe Deutung Fünnen wir nicht annehmen: wenn es auch denkbar jein mag, daß Jeſus das Volk auf jene umwiderlegliche Berherrlichung zu ſeiner Legiti⸗ mation einitweilen binwies, fo mußte er dieß doch weit Deuts licher thun, und jo, daß man ibn andy begriff. Anzunchmen, er. babe den Worten duch Hindeutung auf feinen Leib nach-

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371 geholfen, Klingt faft lächerlich, und dann konnten ihn ja auch die Juden nicht mißverfiehen, und feine Jünger noch weniger! Daher wird neuerdings jene Auslegung der Worte durch Jos hannes mit Recht verworfen, und man nimmt gewiß weit richtiger dieſelben als finnbildliche Bezeichnung feines höheren Berufes an, vermöge deſſen der alte mofaifche Geremonialdienft, deffen Mittelpunkt der Tempel war, fallen müſſe, um einer geläuterten Gottesverehrung Plab zu machen. Diefe Auffafs fung der Worte wird beftätigt durch Marf. 14, 57 ıc., wo die Zeugen gegen Jeſu diejelben Morte, ald von ihm gefpros hen, und mit dem Zufaße, er habe gejagt, fein Tempel werde „nicht mit Händen gemacht fein“, wiederholen; beftätigt durch die Erflärung, welche ihnen Stephanus gegeben haben fol (Apoſtelg. 6, 14); und endlich durch Sefu Aeußerungen gegen die Samariterin (Soh, 4, 21 ꝛc.). Dennoch hat man Bedenken getragen, den Ausſpruch wirklich fo zu fallen, weil die Worte „am dritten Tage“ nur in Zufammenftellung mit dem erften und zweiten Tage (Luk. 13, 32) eine allgemeine Zeitbeitimmung zu enthalten fcheinen. Daher ziehen andere Theologen ed vor, der Stelle einen Dopyelfinn zu leihen, und entweder anzunehmen, Jeſus deute zmar auf eine freilich unmögliche Zerftörung des Tempels hin, denfe aber zugleic auch an den Untergang des alten Kultus; oder er ſpreche zwar von der Vernichtung und Wiederbelebung feines Leibes, habe aber auch die höheren Ideen eines auf den Trümmern Des alten zu erwedenden neuen Lebens im Auge. Allein ſolch' fchielender Doppelfinn geziemt feinem verftändigen und redlis hen Menfchen, gefchweige Jeſu. Bretfchneider vers zweifelt fogar ganz an jeder möglichen Erklärung, und hält eine folche überbieß für überflüffig, da die Zeugen, welche Jeſu vorwerfen, diefe Worte gefprochen zu haben, als falſche bezeichnet werden, weßhalb die Worte ald von den Feinden erdichtet zu betrachten feien. Allein dieß folgt daraus gar nicht, fondern nur, daß bdiefelben von den Zeugen verdreht wurden, wie wir deutlich bei Stephanus fehen, dem gleichfallg falfche Zeugen nachfagten, er habe, indem er jene Worte Jeſu wiederholte, von einer gewaltfamen Aufhebung der Reli-

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gionsverfaſſung gefprochen. Nein! wir haben feinen Grund, jene finnbildliche Auffaffıng der Worte, ald Bezeichnung einer Reformation des Judenthums, nicht feftzuhalten: das Allein ftcehen der Zahl Drei ift Fein weſentliches Hinderniß. Dem war fie einmal in Verbindung mit Eins und Zwei Ausdrud einer unbejtimmten Anzahl geworden, fo fonnte fie ed aud obne dieſe Verbindung bleiben, wie fie aud) wirklich Sirach 25, 1, 3, gebraucht iſt; und zwar bald um eine verhäftmißs mäßig lange, bald, wie bier, eine verhaͤltnißmaßig kurze Zeit zu bezeichnen.

Noch weniger, als der fo eben beſprochene Ansſpruch Jeſu, kann ein anderer, M. 12, 39 u. A., wo Jeſus ſagt, dem verdorbenen Geſchlechte werde Fein andered Zeichen gegeben werben, als dad des Jon as, anf Jeſu Auferitebung bezogen werden, wie es freilich M. thut, wenn er binzujeßt, „wie Jonas drei Tage und drei Nächte im Wallfiſche zugebract babe, fo werde auch Jeſus eben fo lange im Grabe verwei- Ion“. An der ungenauen Zeitbeitimmung in Bezug auf Jeſu Aufenthalt im Grabe dürfen wir nun wohl. feinen Anſtoß nchmen, da eimmal „Drei Tage“ ſtehende Bezeichnung dieſer Zeit geworden war, und deßhalb „Drei Nächte“ leicht das zugejest werden fonnte. Weit wichtiger it Die Erwägung, daß mit eier jo ausdrüdlichen Berfündigung der Anferſte⸗ hung Das jpürere Benehmen der Jünger durchaus unverein⸗ bar it; jo wie, daß Jeſus, wenn er wirflich jenen Sum mit den Worten verband, ſie ganz gewiß den Seinen noch näher ‘erflärt haben würde. Mit Recht -fieht man Daher auch dieſe evangeliiche Deutung als eine aus dem Cr- folge. beransgeiponnene Erflärung an, und hält ſich Tieber an den Winf, den Lukas gibt, indem er Jeſu nach dieſen orten noch hinzufügen läßt, Jeſus werde Diefem Gejchlechte fein, was Sonas den Niniviten (11, 29 2c.), das beißt: „ie wie Diejen die. bloße Gegenwart des Propheten gemügte, auch ohne Wunder, jo follen auch die Anden, obne nach Wundern zu baichen, Seht Lehre und Perſon alauben“. ‚Se richtig diefe Deutung üt, jo beweist ung doch wenigſtens M. jo .viel, daß ſchon frühzeitig dem Schdjale des Jonas eine

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Beziehung, wenn auch eine irrige, auf. Jeſu Tod und. Auf⸗ erſtehung gegeben wurde.

Auch in den Abſchiedsreden Jeſu bei Johannes finden ſich viele Ausdrücke, welche auf ſeine Auferſtehung gedeutet worden ſind; wenn Jeſus ſagt: „ich werde euch nicht ver⸗ waist laſſen“, „über ein Kleines werdet. ihr mich nicht fehen, und über ein Kleines wieder fehen“ u. A. (Joh. 14; 185.16, 16), fo ſcheint dieß allerdings jene Deutung zu rechtfertigen. Allein es finden fich wieder fo viele andere Stellen in diefen Reden, die ſich dagegen fträuben, daß wir | eine Erflärung vorerft noch verjchieben müffen, um fpäter darauf zurücdzufommen; einſtweilen aber mag daran erinnert werben, daß jene Abfchiedsreden Seju mehr, als alle andern Reden, mit eigenen Zuthaten bes Evangelijten durchwebt ſind.

Sind wir ſomit an dem Reſultate angelangt, daß Jeſus feine Auferſtehung niemals vorausgeſagt bat, ſo fünnte man immer noch daran feſthalten, daß er ſie doch für ſich vorher gewußt habe. Allein auch dafür fehlt alle Stütze. Zwar ſoll er nach Luk. 18, 31 dieſelbe aus dem alten Teſtamente vermöge feines göttlichen Geiſtes abgeleitet haben; vergleichen wir aber die Stellen, welche die Apoftel fpäter als Vorher⸗ fagungen der Auferitehung anführten (Pf. 16, 85 Jeſ. 53, 55; 3 Hof. 6, 2 u. A.), fo müflen wir, wenn wir nicht be> fangen find, geitehen, daß dieſe nody weit weniger die ihnen gelichene Beziehung enthalten, als die auf den Tod Jeſu bes zogenen diefen wirklich vorherfagten. Daß aber Sefus nur nad einfach menſchlicher Vorausſicht feine Auferſtehung vorher gewußt haben ſoll, überſteigt vollends allen Glauben.

Nachdem aber einmal die Auferſtehung ein ſo wichtiger. Glaubensſatz der erſten Sünger geworden war, deutete hin⸗ tennach die Sage viele feiner Ausſprüche, die eine ſolche Deu— tung zuzulaffen fchienen, auf dieſes wunderbare Ereigniß; und fo fanden die erften Ehriften denn auch leicht in dem alten Teftamente vielfache Berfündigungen derjelben. Dieß geichah nicht mit fchlauer Abfichtlichkeit,. fondern lag ganz m Dem Geifte und Glauben der erſten Gemeinde. „ie es dem, der in die Sonne gefehen, ergeht, Daß er noch linarte Zt,

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wo er hinfieht, ihr Bild erblidt, fo fahen die Tünger, durch ihre Begeijterung für den neuen Meſſias geblendet, in dem einzigen Buche, das fie lafen, dem alten Teitamente, ihn überall, und ihre, in. dem wahren Gefühle der Befriedigung tieffter Bedürfniffe gegründete Ueberzeugung, weldye aud wir noch ehren, griff nach Stüßen, die längft gebrochen find, und ſelbſt durch das eifrigfte Bemühen einer hinter der Zeit zurückgeblie⸗ benen Schrifterflärung nicht mehr haltbar gemacht werben Fonnen. *

Außer den vielfachen vereinzelten VBorherfagungen Jeſu von feinem Tode und feiner Auferftehung befißen wir in den Evan gelien noch einige fehr bedeutungsnolle Neben, worin er fein Wiederfommen zum Weltgerichte vorherverfündet. Als er, fo erzählt wenigftend M. Cf. oben), zum lebten Male ben Tempel befucht hatte, veranlaßte ihn die von feinen Jüngern ausgefprocdyene Bewunderung des prachtvollen Gebäudes zu einer langen prophetifchen Rede, worin er fie darüber befehrte, daß in fehwerer Drangfalgzeit diefer herrliche Tempel ſammt der ganzen Stabt zerflört werben, daß aledann er, der Me ſias, in den Wolfen bed Himmels fommen würde, um bie jegige Weltperiode zu fchließen, und die neue mit dem allge meinen Berichte zu eröffnen: dieß Alles folle das gegenwärtige Menfchengefchleht noch erleben. Am ausführlichiten gibt M- diefe Nede wieder, und es Täßt fich, wenn wir an ihn md halten, der Inhalt derfelben am einfachften in folgender Lieber fiht darftellen::

1. Vorzeichen des Weltendes, 24, 4—14; 2. Das Weltende felbft: a. defien Beginn mit der Zerftörung Serufalems, 15 28; b. deffen Mitte mit der Ankunft des Meſſias, 24, 29; 25, 30; c. defien Ende mit dem Weltgericht, 31— 46.

Es find alſo drei Hauptpunfte, an weldyen die Darftels

lung ſich hinzieht: Zerftörung Terufalems, Ankunft

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des. Meffiad, Weltgericht;z und feltgehalten wird überall, daß bag Lebende Geſchlecht das Alles noch erleben werde (M. 24, 34). Br

. "Diefe merfwürbige Prophezeihung fpielt in der ganzen. es ſchichte des chriſtlichen Glaubens eine ſehr wichtige Rolle: Der eine Theil, die Zerſtörung Jeruſalems, iſt ſchon lange in Erfüllung gegangen; der andere aber, Ankunft des Meſ— fias und Weltgericht, ift bis jett noch, nach 1800 Jahren, nnerfüllt geblieben, wiewohl die Zeitgenoffen bes Pros pheten es noch erleben follten. Schon in der früheften Zeit haben daher Feinde des Chriſtenthums nicht ermangelt, über die verunglüdte MWeiffagung zu fpotten: in neuerer Zeit hat beſonders der in der. Einleitung erwähnte Wolfenbüttler Frag⸗ mentiſt Daraus den Bormurf abfichtlichen Betruges, ben fidy ‘bie Apoſtel erlaubt hätten, hergeleitet. . Soldye Vorwürfe muß⸗ ten natürlich alle Freunde des. Chriftenthung zur Abwehr in Bewegung feßen: e8 wurde Alles verfucht, um bie: vorliegende Weiffagung in bürgerlichen Ehren zu erhalten; es. wurden alle Federn der ErHärungsfunft in Bewegung gefekt, und man fand zunächſt drei. Auswege aus dem Labyrinthe. Mau firchte zu beweifen, 1) daß Jeſus nur etwas jest noch Zus künftiges, das Weltgericht; 2) daß er nur etwas fchon Eingetroffenes, bie Zerftörung Jeruſalems; oder 3) daß er Beides, jedoch mit genauer Sonderung der Zeiten, prophe- zeiht habe. Wir wollen allen drei Heildwegen folgen!.

Anf das Weltgericht allein bezogen die älteren Kirchens väter die Weiſſagung; da fie aber felbft zugefichen, daß Jeſus in Schilderung derfelben feine Bilder von der Zerftörung Ie- rufalems entlehnt habe, fo geben fe ftillfchweigend oder uns bewußt zu, daß diefelben ganz auf diefe Zerftörung paſſen, mithin, da diefe, als. fie fehrieben, fehon vorüber war, daß man die Weiffagung weit natürlicher gradezu auch auf ſie beziehe.

Dagegen faſſen die neueren Rationaliſten die ganze Rede als Vorherſagung der Zerſtörung Jeruſalems: was als Weltende bezeichnet iſt, fol ihnen zufolge von dem Ende des jübifchen Staates, die Erfcheinung des Meffias von fiegreicher Berbreitung feiner Lehre zu verftchen fein x. Wein olauoma

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hätte Iefus ſich eine Freiheit im Gebrauche der Bilder erlaubt, die :an fid) ſchon unerhört,- den Juden aber gegenüber wirfs lich unerlaubt gewefen wäre, da er wußte, wie geneigt fie waren, das von der Anfunft des Meffias in den Wolken Gefagte buchſtäblich zu nehmen.

Da 'alfo die fragliche Rede ald Ganzes weder allein von dem Weltgerichte, nody allein von Jeruſalem verftanden werden kann, fondern einzelne Ausdrüde unzmweidentig auf das erite (3.8. M. 25, 31), andere eben fo ungmweibentig auf das zweite (24, 2, 3) gehen, fo haben diejenigen noch das beffere Theil erwählt, welche zu beweifen fuchen, daß Ses fus beide Ereigniffe vorausverfünde, jedoch fo, daß der eine Theil feiner Weiffagung nur dem Einen, ber andere nur dem Andern gelte. Dieß fchien um fo einladender, weil in dee: That gegen das Ende der Nede die Verkündigung des MWeltgerichtes, zu Anfange die des Untergangs von Serufalem vorherrfchend if. Bei diefer Annahme muß nun aber vor allen Dingen die Fuge nachgewiefen werden, wo beide Theile der Weiffagung follen an einander geftoßen worden fein; und eben über dieſe Fuge find die Ausleger, Die wir auf Diefer Straße antreffen, fehr verfchiedener Anficht, was fchon von vornherein fein gutes Borurtheil erwedt. Die Einen finden nämlich, die Fuge M. 25, 30, und verftehen Alles bis dahın von der Zerftörung Jeruſalems, das Folgende von dem Welt⸗ gericht. Allein abgefehen von dem leichtfinnigen „aber“, B.31, welches unmöglidy) zwei der Zeit nad) fo weit aus einander liegende Creigniffe verbinden fann, fo werden nad) diefer Trennung fo viele Ausdrücke auf die blos Serufalem betreffende Geite, das heißt die vordere, gefchoben, die nur mit großer Ges waltfamfeit für bildliche erklärt werden fünnen (3. B. M. 24, 31). Nicht glüdlicher find diejenigen Ausleger, welche einen Einfchnitt möglichft bald nad) dem Anfange fuchen: die meis ften finden denfelben nach M. 24, 28, fo daß alfo mit V. 29 die Schilderung des Weltgerichted anfinge. Allein diefe würde dann mit dem verdächtigen Wörtchen „fogleich“ beginnen, was zufammen gehalten mit der Uebergangsformel des Markus „in jenen: Zagen“ (13, 24), auf einen unmittelbaren Anſchluß des Weltgerichts an Jeruſalems Zerftörung, der befanntlich

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nicht erfolgt ift, hinwieſe. Ueberdieß fällt ja nun V. 34 des M., der, wie oben bemerft, verkündet, das „jetzt lebende . Menſchengeſchlecht“ werde noch Alles erleben, aud in bie Prophezeihung vom Weltgerichte hinein, und macht diefe ges rabezu zu einer. falſchen: denn alle Berfuche, den Worten, welche wir mit „jett lebendes Menfchengefchleche * überſetzen, einen andern Sinn: unterzufcjieben, fcheitern fchon an dem vorhergehenden V. 33, wo in: gang gleicher Verbindung: „Ihr“ fteht. Daher helfen .fich wieder Andere mit der Ausrede, Jeſus meine im B. 34 nur den Anfang.des durch Jahrhun⸗ derte fich durchziehenden WWeltgerichtes; allein zu beſtimmt ift B. 8 ſchon der Anfang, und fodann B. 34 das völlige Ges fchehen verkündet. Ein anderer Verſuch, den Einfchnitt zwifchen Zerftörung Serufalems und Weltende etivad weiter unten zu feben, etwa V. 35 ober 42, ift eben fo unfeuchtbar, weil dann wieder vor diefe Bere Schilderungen fallen, die nur von dem Weltgerichte verftanden werden können. Das Berzmeifeltfte von Allem iſt endlich die Annahme noch Anderer, daß Jeſus zwar V. 26 auf das Weltgericht über» gegangen, dann aber B. 32 wieder auf die Zerflörung Serus falems gefommen fei: das heißt den Tert zerhaden und Jeſu zumuthen, er habe fpringend und unordentlich geredet.

. Weil man nun der Rede, fo wie fie vor ung liegt, auf feine Weiſe beifommen kann, fo hat man von andern Seiten her den Evangeliften die Schuld beigemeffen und ihnen vorgeworfen, fie haben die Ausfprüche Jeſu fo regellos durchs einander geworfen. Namentlich glaubt Schleiermader gefunden zu haben, daß zwar Lufas an verfchiedenen Stellen die wirklichen Reden Jeſu, die vom Meltgerichte (17, 22 ıc.) und die von Zerftörung des Tempeld (21, 5 ıc.), recht gut auseinander gehalten, M. aber in feinem Beftreben, zu ver- binden, fie ungehörig an einander, gereiht habe: allein dieſer Ruhm des Lukas ſchwindet, wenn wir auch in feiner Schils derung des Unterganges von Serufalem lefen (21, 27), daß man „alsdann des Menfchen Sohn in den Wolfen werde kommen fehen“. Wir werben vielmehr geftchen wien, wu

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feinem der Evangeliften Unrecht zu thım, daß zwar vielleicht auch in diefer Rede Jeſu, wie in andern, die fie mittheilen, manches zu verfchiebenen Zeiten Gefprochene zuſammengeſtellt fen mag; aber zu der Annahme hat man fein Recht, daß grade das auf jene beiden nach unferer Borftellung fo weit auseinander liegenden Begebenheiten fich Beziehende das Nichts zufammengehörige fei, zumal wir aus der übereinftimmenden Darſtellung ber übrigen nensteftamentlichen Schriften erfehen, baß die erfte Gemeinde die Wiederkunft Ehrifti fammt dem Ende der gegemwärtigen Weltperiode als nahe bevorftehend erwartete (1 Kor. 10, 115 15, 31; 1 Joh. 2, 185 Offenb. 1,1, 35 3, 110. 9.)

Es haben endlich noch die Supranaturaliften der Sache dadurch aufzuhelfen gefucht, daß fie die modernen Borftelluns gen, bie fit) aus Schiller's berühmten Ausfpruche: „bie Meltgefchichte ift das Weltgericht“ ergeben, auch in's neue Teftament übertragen, indem fic behaupten, es fei hier von einem, durch die Zerflörung von Serufalem eingeleiteten immerwährenden Weltgerichte die Nede; von einem Durch bie ganze chriftliche Gefchichte fortlaufenden Wiederfommen Jeſu. Allein dieſe Vorftelung ift der fchärffte Gegenfat gegen bie Anfchauungsweife ded neuen Teftamentes überhaupt, und wis berfpricht namentlid, einer Menge von Ausdrüden in der vors liegenden Rebe, aus welchen wir nur hervorheben wollen, daß Sefus fein Kommen mit einem Blite CM. 24, 27) nnd mit dem Hereinbrechen des Diebes in der Nacht (M. V. 43) vergleicht, demnach als ein einmaliges und ylößliches bes zeichnet.

Wir können alfo dem Geftändniffe nicht ausweichen, da auch die von Mehreren verfuchte, allegorifche Auslegung im fich felbft zufammenfällt, daß Jeſus allerdings bag, was durch eine Kluft von Sahrtaufenden getrennt ift, die Zerftörung Jeruſalems und das Weltende, ſich ald eng vers bunden gedadıt hat, indem er nad) jüdiicher Vorftellung das Heiligthum des Tempeld als den Mittelpunkt der jeßigen Welt betrachtete, die mit dem Einfturze diefes Mittelpunftes gleichfalls in Trümmer zufammenftürzen müffe.

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Diefes Nefultat aber, daß Jeſus, wie uns bie Erfahrung lehrt, geirrt habe, ein Nefultat, zu weldyem eine unbe⸗ fangene Auslegung nothwendig gelangen muß, ift ben foges nannten Rechtgläubigen ein fo großes Aergerniß, daß fie ihm auf jede Weife auszuweichen fuchen. Hengftenberg nimmt an, baß ſich hier dem -geiftigen Auge Jeſu, wie der Prophe⸗ tem überhaupt, die Zufunft wie ein Gemälde bargeftellt habe, im welchem der ferne Hintergrund mit. dem nahen Borders grunde troß des großen Zwifchenraumes doch in der .engften Verbindung zu ftehen fcheine: allein dann hat Sefus "grade eben fo, wie Semand, der bei einem wirklichen Gemälde jene optifche Täufchung für Wahrheit hält, offenbar- auch fich ges iert. Dishaufen will uns überreden, theild habe es bie moralifche Bedeutſamkeit der Wiederkunft Jeſu erfordert, Dies felbe als jeden Augenblick bevorftehend darzuftellen, theils ſei wirklich die ganze Weltgefchichte ein Kommen Chrifti: aber da ja das leibhaftige Wiederfommmen Sefu, welches er doch fo ganz beftimmt als ein baldiges verfündete, erwiefenermaßen noch nicht erfolgt ift, fo hat er auch nach diefer Auffaſſungs⸗ weife entweder geirrt, oder einen „frommen Betrug“ fich ers laubt. Sieffert gefteht nun gradezu, Jeſu einen Irrthum zuzuſchreiben, ſtreite gegen das „chriftfiche Bewußtſein“, und es bleibe daher, wenn wir eine Rede, die Irrthümer enthalte, als von ihm ausgegangen im neuen Teſtamente leſen, nichts übrig, als dieſelbe für unächt zu erflären. Dieſer Anſicht je⸗ doch muß der Orthodoxe entgegnen, nicht das ſei die Frage, „was einem heutigen chriſtlichen Bewußtſein beliebe, von Chriſto anzunehmen oder nicht, ſondern was von Chriſto geſchrieben ſtehe, worein ſich dann das Bewußtſein wird zu ſchicken ſuchen müſſen, ſo gut es geht*; die Sache aber vom Standpunkte der unbefangenen vernünftigen Betrachtung aus gefaßt, müffen wir erklären, daß ein „folches auf Vorausſetzungen ruhendes Gefühl, wie das fogenannte chriftliche Bewußtſein it, in wiffenfhaftlichen Verhandlungen feine Stimme habe, und fo oft es ſich in folche mifchen will, durch ein eins faches: „das Weib fchweige in der Verfummlung * zur Ord⸗ nung zu weifen fei*.

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Andere Theologen find Darum, weil Jefus unmöglich fo viele außerordentliche Begebenheiten, wie 3. B. die bis zur Raferei getriebene Widerfeglicyfeit der Iuden gegen die Rö⸗ mer; die vielen wirflid, eingetroffenen Umſtaͤnde bei der Zer⸗ ſtörung Serufaleme, Seuchen, Erbbeben, das Auftreten falfcher Propheten, das Einſchließen der Stadt durch eine Wagens burg ꝛc.; weil er, fage ich, ſolche Dinge habe unmöglich vorausfehen koͤnnen, find andere Theologen geneigt, die ganze Weiſſagung als eine nach dem Erfolge gemachte zu betrach⸗ trachten,. und ihre Abfaffımg in die nächite Zeit nach Der Zers ſtörung Serufalems, wo man nun auch das Weltende als nahe bevorſtehend anfehen konnte, zu verlegen. Allerdings Tonnte auf übernatürliciem Wege Jeſus zu einer. foldhen Vorauss fagung nicht gelangen, weil er alddann nicht nur die alt⸗teſta⸗ mentlichen Stellen Dan. 9, 27; 11, 31. ıc., auf die er fidy ausdrücklich M. 24, 15 beruft, falfch gedeutet hätte, ins dem: fie nicht auf Jeruſalems Untergang, fondern auf bie Entweihung des Heiligthums durch Antiochus fich bes ziehen, fondern weil auch feine Prophezeihung bis jett nur zur Hälfte eingetroffen iſt. Ob er aber nicht auf nas türlichem Wege, durch rein menfchliche Berechnungen, wos bei etwaiger Irrthum immer vorbehalten bleibt, zu jenen Borausfagungen habe gelangen können, ift eine andere Frage, die wir vorerft noch zu erwägen haben, ehe wir unſer Ends urtheil ausiprechen. Hier fällt und -zunäcft in die Augen, daß in der That -vieles in der Weiffagung Enthaltene bei Sernfalemd Vernichtung nicht eingetroffen ift; die Stadt wurde nicht ringsum eingefchloffen, falſche Meſſiaſſe find nicht aufs getreten und Die Naturerfcheinungen diefer Zeit waren lange nicht. fo bedeutend, als die prophezeiten. Was aber wirk⸗ Lich zugesroffen it, Fonnte Jeſus gar wohl aus Betrachtung der Vergangenheit und Ermägung alt stejtamentlicher. Vorftels lungen vorausfehen. Zu den le&teren gehören namentlidy die Erwartungen gräßlicher Ereigniffe, die der Ankunft des Mefs ſias vorangehen follten, Krieg, Theurung, Seuchen, Erdbes ben ꝛc. (Jeſ. 13, 95 Joel 1, 15 u. v. A.); Erwartungen, die in fpäteren jüdifchen Schriften auf eine unferer Weiffagung

sl

auffallend ähnliche Weife -ausgemalt find. Es fonnte felbft Die Danielifche Weiffagung, wiewohl fle, wie oben bemerkt, einem andern Ereigniffe galt, doch auf die Zerftörung Serur falems bezogen werden, da Vieles, was fie verkündete, noch nicht wirklich eingetroffen war; um fo mehr, da ja ſchon ein⸗ mal, vor dem babylonifchen Eril, das Heiligthum Des Tem⸗ peld umgeſtürzt worden war: „es konnte mithin von da an jeder begeijterte Iſraelite, dem der religiöfe und ſittliche Zus ftand feiner Landsleute verwerflich und unverbefferlich erſchien, die Wiederholung jenes früheren Strafgerichtes erwarten und sorherverfündigen*. Der einzige Zug, der. ald Zuthat Jeſn ericheint, die Erwartung, ed werbe Das gegenmärtige. Gefchlecht Dieß Alles noch .erleben,. war ebenfalls in Zeitvorftellungen begründet: denn fobald er fich einmal für den Meſſias hielt, mupte er auch zu dem Glauben gelangen, er werbe bereinft, wie Daniel und andere Propheten es verkündet hatten: Tach feinem Tode) in den Wolfen des Himmels erfcheinen., :und wie. nahe bevorftehend. diefe Erfcheinung gedacht wurde, : geht fchon daraus hervor, daß die Apoſtel dieſelbe noch zu erleben hofften a Kor. 15, 51 u.

Wir find alſo durch das fo eben Ausgeführte zu der Ber hauptung wieder zurüdgeführt, daß wir feinen Grund haben, jene Weiſſagungen von dem naben, an Jeruſalems Untergang ſich anfchließenden Weltgerihte Jeſu abzuſprechen, und: es fragt fich nur, woher es komme, daß das vierte Evangelium von demfelben nichts meldet. Die Grundgedanken derſelben finden ficg, allerdings auch hier; dereinftige Auferwedung der Todten durch Jeſus (5, 2130), Eröffnung des Weltger gerichted (9, 39), welches durch Jeſu Berficherung, er fei nicht gefommen, um zu richten, nicht geläugnet wird, indem er dabei nur fein erſtes Erfcheinen ald Lehrer des Heils im Auge hat,. Jeden, der nad, dem Weltende gerichtet werde, ſchon als durch ſich ſelbſt (3, 18) gerichtet betrachtet, und überhaupt das Abhalten des feierlichen Weltgerichtes nicht ſo⸗ wohl als einen Aft feiner Perfon, wie als einen des in ihm

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wohnenden göttlichen Wortes Cd. i. Geiftes) (12, 48) anfieht. Allein von feiner bevorfiehenden perfünlidhen Wiederkunft fpricht er doch nirgends bei Johannes; denn wo er hier von feinem Wiederfommen redet, Tann dieß nur in rein geiftis gem Einne verftanden werben, da er ausdrüdlich hinzufügt, er werde alsdann nur feinen Süngern, nicht der Welt ſich ofr fenbaren (14, 19): von einer ausführlichen finnlihen Schil⸗ berung des äußeren Herganges bei feiner Wiederfunft, wie wir fie in den Eynoptifern Iefen, findet fidy vollends nichte bei Sohanned. Die gewöhnliche Ausflucht, er habe auch hier das ſchon Bekannte nicht wieder erzählen wollen, paßt grade bier am allerwenigiten, indem theils die Sache viel zu wichtig ift, theild der Eoangelift, wenn er wirflidy der Apoftel Sohan, nes ift, allen Grund hatte, genau zu berichten, weil Sohannes von Dark. 13, 3 als derjenige Sünger hervorgehoben wird, der bei Jeſu Reden über diefen Gegenftand zugegen war: da aber überdieß das Evangelium erft nach Serufalems Zer⸗ flörung gefchrieben wurbe, fo war die Aufforderung, Sefu PWeiffagungen von diefer Begebenheit, deren Nichteintreffen in vielen Punkten nothwendig Anftand erregen mußte, berichtigend mitzutheilen, doppelt groß und dringend. Wenn dagegen mandye Theologen fagen, Sohannes habe Ddiefelben nicht mittheilen wollen, weil fie bei den nichtindifchen Chriften, für die er vorzugsweife fhrieb, und die Jeſu Wirkfamfeit weit geiſtiger auffaßten, als fie in feiner perfünlichen Wiederkunft zum Ge richte ſich darftellt, Leicht hätten Anftoß erregen können, for muß dieſen ‘Theologen erwidert werden, daß grade folder Lefern gegenüber es eine pflichtwidrige Nachgiebigfeit gerwefere wäre, eine Beftärfung in ihrer alle äußere Gefchichte verflüch⸗ tigenden Richtung, wenn Sohannes ihnen zulieb die pofitive Ceite an der Wiederkunft Chrifti hätte zurüdtreten Laffen *- Ueberdieß enthält das befprochene Evangelium Stellen genug, in welchen dieſe äußere Seite des Wirkens Jeſu hinreichend hervorgehoben iſt. Es kann daher das Mangeln der frag⸗ lichen Weiſſagung bei Johannes nicht als Grund, an ihrer Aechtheit zu zweifeln, geltend gemacht, es muß vielmehr zu den Gründen gezählt werden, die. und zu Zweifeln an ber

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lechtheit des Evangeliums, ale einer Schrift bes Apoſtels, exechtigen ?°).

Drittes Kapitel.

Die Feinde Jeſu, der Verräther Judas und das legte Abendmahl.

(Viele zerftreute Stellen.)

Don den drei Synoptifern werden einflimmmig als Die einde Jeſu bezeichnet zunächft die „Pharifaer und Schriftges ehrten“, neben diefen die „Priefter und Yelteften“ ; dann wohl uch die Sadduzäer (M. 16, 15 22, 23) und. die Parthei es Heroded (Mark. 3, 6): das vierte Evangelium benennt ewoöhnlich alle diefe Gegner mit dem allgemeinen Namen die Juden“, was vom fpäteren chriftlichen Standpunkt aus efprochen if. Als erften Anlaß zur Feindfchaft gegen Sefum jeben alle Evangelien feine Sabbatheilungen an CM. 12, 4; Soh. 4, 16), womit er gegen die herrfchenden engherzigen Infichten verftieß. . Ueber die weitere Entwidelung dieſes Yaffes aber berichten die Synoptifer Anderes, als Sohannes: yährend jene die harten Reden. Sefu über den Heinlichen Saßungsgeift der Pharifäer, die er ihrem Tadel wegen. der 3ernadhläffigung des Waſchens vor der Mahlzeit entgegens tellte (Luk. 11, 37), als den Anlaß zu Berfolgungen im Als jemeinen, und den Nerger über die vom Bolfe beim Einzuge u Serufalem dargebrachten Huldigungen ald Grund zu bes timmteren Nacheplanen angeben, find es bei Sohannes feine Ausſagen über feine göttliche Natur (5, 18), welche die größte Srbitterung in feinen Feinden erregen, und die vom Volfe bes vunderte Auferweckung des Lazarus bringt den Entſchluß, ihn a.verderben, hier zur Reife.

ss, Ich habe diefen Abfchnitt, den Strauß S. 362—8397 des zweiten Theiles behandelt, mit größerer Ausführlichkeit wiedergegeben, theils weil er an ſich von befonderer Wichtigkeit ift, theils weil fih in der Behandlung desſelben die Unbefangenheit und Schärfe der Straußiſchen Forſchungen ganz befonderd beurtuntet.

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Semöhnlich gibt man der Tarftellung bes. Sohannes ben Borzug, weil nur er „einen Blid in die ſtufenweiſe Steiges rung der Spannung zwifchen ber hierarchiichen Partei und Jeſu eröffne*; allein diefes Lob iſt unbegründet, da fehon zu Anfang des Evangeliums der höchfte Grad des Haſſes und die gefährlichften Plane (5, 18) berichtet werden. Eher noch läßt ſich eine ſtufenweiſe Entwickelung bes feindfeligen Verhältniffesg aus den Synoptikern nachweijen, die uns das⸗ felbe Anfangs hinter der Anhänglichfeit des Volkes in Galiläa veriteden, dann von allgemeinen Anfchlägen auf fein Leben (Mark: 3, 6) und endlich von dem beftinmten Plane, ihn mit Lift nach dem Pafchafefte zu verderben (M. 26, 4, berichten; wogegen im Sohannes bie bitteren Verfolgungen der „Suben“ fchon gleich nach feinem erften Auftreten beginnen. Auffallender noch iſt ‚bei Johannes die falfche Angabe über Kaiphas, daß berfelbe in „jenem Sahre* (in welchem Jeſus getötet wurde) Hohepriefter gemejen C11, 49); falſch deßwegen, weil fie ganz fo Tautet, ale ob er eben nur in diefem Einen Sahre jene Würde beffeider hätte, da er doch befanntlich viele Sahre hintereinander Hohepriefter, und überhaupt diefes Amt nicht einem Wechjel von Sahr zu Jahr unterworfen war. Denjenigen Theologen, welche die Worte „in jenem Jahre“ in den. Ausdrud „zu jener Zeit“ umdeuten, mißgönnen wir diefen derben Sprachfehler durchaus nicht; müſſen vielmehr geitehen, daß jene falfche Angabe dem Johannes, der nodı überdieß als ein „Bekannter des Hohenpriefterd“ (18, 15) bezeichnet wird, kaum zugetraut werden kann, und daher bie Zweifel an dem johanneiichen Urfprung des Evangeliums be färkt. Eben fo befremdend iſt es, daß bei Johannes Die bes rathenden Priefter Jeſu eine politifche, revolutionäre Tendenz unterfchieben (11, 48), an welche wicht einmal der römifce Landoogt Pilatus glauben kann. Somit hätten wir‘ über diefen Einen, die Gegner Jeſu betreffenden, Punkt drei wrige Angaben in Johannes entdeckt: ben frühzeitigen Beginn offen: barer Feindfeligkeit gegen "Sejum, das Aergerniß durch bie Erwedung des Lazarıd (die, wie wir weiter oben fühen, eine reine Mythe it!) und die Furcht vor politiſchen Plauen Jeſu; drei bedenkliche Irrthümer!

7 HE . ı 47 .. Pu . 1 ara . . 2 * J ·N *

R,%6, 41416, 1 —2355- Marl. 14,10, 11,825

Ruf, 22, 4—6,.21 3; Joh. 13, 26-315: fodamn | ‘oh. 6, 70, 71.)

‚De Untergang Sefu wurde dadurch beſchlennigt daR ein Anger „Judas Ifchariot, den Synoptikern zufolge wenige Tage ve dem Paſcha zu ben Borftchern ber Priefterichaft: ging, nd gegen einen veriprochenen Lohn ihnen feinen Meiſter ds

lliefern verſprach. Johannes Dagegen läßt:ihn dieſen Entfchluß .-

of :bei-ber lebten Mahlzeit .faffen, indem er fagt, „der Satan 4 jet. in ihn gefahren“ (43, 27). Bei dieſem Widerſpruche E.die Wahrfcheinlichteit durchaus mehr auf Stiten.ber Synop⸗ Ber, da die Sache bei Johannes doch? gar. zu. ehr Knall und

uf geht.und Judas wie befeffen davon rennt. Wenn übrigend .

phames ſchon B. 2, alſo vor jenem. Mahle fagt; „ber Teufel abe dem Judas in's Herz gegeben, Jeſum zu .verratken“, v.Täßt fich dieß nur fo erflären,. daß jet zum :eriten Male

m böfe Gedanfe in ihm aufſtieg, wenn er r auch noch nicht

* feſten Entſchluß faßte.

Auch in dem Vorherwiſſen Jeſu von des Indes Ber, —* weichen die Evangeliſten/ von einander ab; bei ben zynoptikern ſpricht er dieſes Wiſſen erſt am lebten Mahle

ns, und ſcheint früher Feine Ahnung davon gehabt zu haben

M. 19, 28); bei Sohannes kennt er fchon länger, als ein ahr vorher, feinen Verräther (6, 64, 70), und mußte bems sch als Herzensfundiger (2, 25) auch wiſſen, daß Habſucht e Quelle des Verrathes fein würde. Damit .aber fteht num 5 höchſten Widerfpruch, daß Jeſus den Judas doch zum 'affeführer gemacht haben foll; wer vertraut dem Habfüchtigiten m Gefellfchaft eine Kaffe an? wer ftellt den Schwachen an ne Stelle, wo er jeden Augenblid ‚dem Reiz zur Sünde ers gen kann? Hätte dann Jeſus nicht grade das Gegentheil m dem gethan, was er ung felbit beten lehrte: „führe ung cht in Verſuchung“? Aber aud, abgefehen von dem affenamte, ift jenes Vorherwiſſen für ſich ſchon unwahrſchein⸗ 4; eritlich hätte ja Jeſus, wenn er bei diefem Vorherwiſſen n Judas noc unter den Jüngern behielt, ihn .abfichtlich in se Sünde des Verrathes hineingezogen; und daß er fich eat beffern würde, wußte er ja auch cyan nocher, won ch IL 25

v

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wäre daher eine Graufamfeit gewefen, ihn auf dem Wege zum ſchändlichſten Verbrechen fortwandeln zu Laffen. Wie fonnte ferner Sefus es nur in feinem Gemüthe ertragen, im Kreie der Seinen Jahre lang einen ſchwarzen Verräther zu wiffen? Nothwendig zur Erfüllung feines Schickſals war- e8 aber, was Einige behaupten wollen, nicht; denn nur feinem Tod konnte er ald nothwendig anfehen,. keineswegs aber grade den auf Dem Wiege des Berrathed. Endlich kann auch Die Ausflucht nicht gelten, daß Jeſus feine Sünger mehr habe freiwillig fich ihm anfchließen laſſen, ald daß er fie förmlich gewählt habe; denn wenn er auch nicht bei Sohannes felbit das grade Gegentheil davon ausfpräche (15, 16), fo müßten wir fchon das als ganz natürlic, vorausſetzen, daß er ſich doc; wenigſtens Erlaubniß und Beftätigung des Eintretend in den Kreis. feiner Apoſtel vorbehielt. | Müffen wir alſo jenes Vorherwiffen Jeſu als ein undenfs bares durchaus in Abrede ftellen, fo können wir zugleich leicht einfehen, wie die Erzählung von einem folchen fich bildete, Schon frühzeitig wirde der an Jeſu durch einen Sünger begangene Berrath von feinen Gegnern zu Spott und Hohn auf ihn benutzt; diefer konnte durch Nichts fo Leicht unterdrüdt werden, als durch die Angabe: Jeſus babe jchon Tange feinen Verräther durchſchaut, allein aus höheren Rüdfichten habe er fich freiwillig feiner Treulofigfeit blog geftellt. Dadurch verlor der Verrath alles, was Jeſu etwa zum Vorwurfe gemacht werden fonnte, wie fein gewaltfamer Tod alles Demütbigende durch ein gleiches Vorherwiſſen; ja es wurde dadurch jene höbere Natur in um fo jtärferes Licht geſetzt, je länger vorher Seins ſchon den Frevel vorausſah; daher erzählt ein apo⸗ fryphifches Evangelium, daß Judas fchon ald Knabe den kleinen Jeſus mipbandelt habe. Noch Fünnte man fragen, ob nicht Jeſus auf ganz natürlihem Wege, aus Beobachtung des Judas, fein Verbrechen vorber willen fonnte? Beftimmt gewiß nicht, da er fonft den Böjewicht unmöglidy um fich dulden konnte; wohl aber fünnte er ein gewiffes allgemeines Mißtrauen gegen ibn aejchöpft, dieſes bier und Da geäußert haben, woranf denn fpäter, nad) wirklich ausgeführtem Bere rathe, jeine allgemeinen Aengerungen in beitimmte Borherfa-

gungen umgebildet wurden. Aber and. mit einem nur noch unbeſtimmten Mißtrauen vertrug es ſich nicht, Judas Die Kaffe zu. laſſen, was wir denmaqh as ganz ange chictuis verwerfen mäffen: en. es %. . Be! to. Dogleich te newteftamenttichen Scriftflefier ein. entfcier denes Verdammungsurtheil über die That des Judas, als einen and: Habſucht begangenen.Berrath, ausfprechen, fo haben body - viele. ältere und nenere Theologen weit milber über. ihn geurtheilt.. Orthodoxe behaupten, Indas habe nur deu goͤtt⸗ lichen Rathichluß, die :Menfchen. durch Jeſn Tod zu exlöfen, befördern wollen, da er ein hoͤheres Wilfen um denſelben ger habt habe; Andere räumen. zwar: ein, daß Habſucht ihn vers feitet, glauben aber, er fei zugleich.der Erwartung geweſen, . Gefus werde vermöge feiner göttlichen Wunderkraft ſich allen Befahren wieder entziehen koͤnnen. Andere, als biefe-äbers trieben fupranaturaliftifchen Grünbe: find es, welche neueren

Rationaliften, die überhaupt fo gerne die in der: Bibel tief

‚geftellten Perfonen zu erheben ſuchen, das Beſtreben eingeben, ben Judas zu entfchuldigen. .: Während einige derfelben feine That aus dem Aerger über den. beim bethanifchen Mahle ers baltenen Verweis (Soh. 12; 4 ıc.) herleiten, fchreiben. Andere Deu Judas, der die finnlichen Meſſiaserwartungen aller Jünger getheilt habe, einen burchbachten politifchen Plan zu. Er habe, fagt man, ficher darauf gerechnet, die Verhaftung Jeſu werde in der überfüllten Hauptftanb ‘einen Aufftand des Bolfes vers anlaffen, Sefus befreit, und dadurch genöthigt. werden, fich endlich den Bolfe in die Arme zu werfen und fein neues ‚Reich wirklich aufzurichten; Geld habe er für die Leberliefe- rung feines Meifterd angenommen, weil man es ihm ange: boten, und er durch Annahme desfelben feine Plane habe vers decken wollen; diefe aber feien gefcheitert, weil Jeſus fchneller, als er es habe denken können, ben Römern übergeben worden fei. Daß er. feine böfe Abficht gehabt habe, gehe fchon ang feiner Verzweiflung nach der Uebergabe Sefu an die Römer hervor u. ſ. w. So fchön dieß Alles Mingt, fo fteht es Body rein in ber Luft, weil unfere Evangelien nicht Die ges

riugſte Andentung davdn geben; mit Ausnahme de& Veroocked

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auf den man ſich beruft, ber aber, befonders im Pergleiche mit dem ungleich härteren, dem Petrus CM. 16, 23) zu _ Theil gewordenen, feinen Verrath begründen kamm. Die vr zweifelnde Neue nach der That beweist ebenfalls Nichte denn wie mancher Mörder it fchon durch den Anblid dee Gemordeten in einen ähnlichen entſetzlichen Zuftand verfeßt worden !

Mir werden alfo doch wieder auf die evangelifche Bor; ftellung, daß Habfucht die Triebfeder des Judas geweſen, zurüdgeführt; die weitere Eimmwendung, der Lohn des Berris thers, 30 Silberlinge (etwa 20—25 Thaler) fei doch zu gering, ald daß er zu foldyem Verbrechen habe reizen können, macht und nicht irre. Denn vorerft iſt es der einzige M., ber von dieſen 30 Silberlingen etwas weiß; alle Anden reden nur allgemein von „Geld, Lohn“ ıc.; und auch M. fheint die Summe nur einer Weiffagung (Zac. 11, 12) zu Liebe grade auf 30 zu ftellen. Auch der Umftand, daß für den Sündenlohn ein Kleiner Ader gekauft worden (M. 27,7 xc.), beweist für die Geringfügigfeit desfelben gewiß nichts, zumal da dieſer Acer, feiner Beftimmung wegen, nicht Fein gewefen jein kann. Räumen wir endlidy noch den Borwand, Sohan- nes habe feinen Vorwurf der Habjucht (12, 6) mehr nad dem Erfolge, ald der Wahrheit gemäß gemacht, mit der Ber merfung hinweg, daß alsdann Johannes verläumder haben müßte, jo werden wir gezwungen, Gewinnfucht bei Sudas ald die einzige beglaubigte Zriebfeder feftzuhalten, wenn auch damit allein die fchwarze That nicht ganz erklärt it.

AM. 26, 17— 19; Mark. 14, 12 —16; Luk. 22, 7—13; ſodann Soh. 13, 1, 2.)

Am Tage des Pafchafeites fendet Sefus einige Sünger ab, um für die Feſtmahlzeit ein Lokal zu beftellen: und zwar nemt Lukas den Petrus und Sohannes ald die Abgefandten; Mars fus und Lukas geben ferner genau an, welches Zimmer bie Sünger in Anſpruch nehmen follen, fo wie auch, daß fie das Daus durdy einen ihnen begegnenden Waflerträger finden

wi a Let 27 Se . - .

würdeng: +-' ales / natere Umfbände,,r wache bei M. mangeln. Miher. auch von dieſer Verſchiadenheit abgeſehen, ſo erregt hie ganze Erzählung vielfache Anſtͤße. Wie konunte, fragt mon Sefug weit. Anordnung des nothwendigen Poſchamahles ſo lange ſaͤumen? erſt durch. feine Juͤnger ſich daran erinnern. Iafien? Ar wußte ja wohl, welch' nageheure Menſchemnenge in: bp Hegel vr dyei Millionen) zur Feſtzeit in Jeruſalem zuſammen⸗ ſedmnte; und. nun weiter: cz. ſoll Dennoch ſogleich ein paſ⸗ ſendes botal gefunden, und dieß ſchon vorher gewußt haben ‚sublich das faſt abenteuerliche Merkgeichen,: ein grade . in: bag gefuchte Haus eingehender Waſſertraͤger! Freilich Die watiwp fichen Erflärer find bald im Reinen, indem ſſe auch hien-zime Sorausgegangene Verabredung annehmen; allein darnach ſicht doch Die ganze Darſtellung gar nicht aus; vielmehr dentet Alles, hier noch. mehr, als bei dem ſonſt ähnlichen Falle van dem abgeholten Reitthiere, auf ein munderbares. ‚göttlicheg Vorherwiſſen Jeſu hin. Es ift daher unbegreiflich, wie ſupra⸗ naturaliſtiſche Ausleger ihren Vortheil verkennen, und. hier «ine natürliche Verabredung aunehmen moͤgen, da doch: vffen⸗ bar die vorliegende Erzählung mit der fo eben erwähnten vom Meitthiere in-ganz gleiche Kategorie. fällt, und eben ſo beſtiinmt um ein Wunder ſich dreht. in: folches ift aber quch in un⸗ feem Falle, ſchon als ein eines würdigen Zwedes -ermangelns des, ‚ganz undenkbar, und ficherlich nur aus Vorbildern. des alten Teftamentes erwachſen, wo Propheten hänfig.:ihr. Pros phetenthum durch Vorausſagen Heinlicher- Umftände beurfunden, wie z. B. Samuel. dem Saul vorherſagt, wer ihm auf feinem Rückwege begegnen werde (1 Sam. 10, 1 3c.). Uebrigens müffen wir, fchließlich noch die drei verfchiedenen Berichte. in’s Auge faffend, auch hier dem des M., ald dem einfacyern und Daher ohne Zweifel älteren, den Vorzug geben, während die der beiden andern, mit ihren. fpezielen Angaben, 3.8, ‚der zwei Ssünger, bes oberen Saales, des IBafferträgers, ganz Bas. Sepräge fpäterer Ausfchmüdung an fic tragen,

Its. j u u tn * p In der Erzählung vom letzten Mahle ſelbſt finden ſich nicht wenige unaufloösbare Schwierigkeiten; zunächſt va Bererk, Ver

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Zeit. Daß es zwei Tage vor dem Sabbat, alfo am Dons nerftage unferer Woche, gehalten worden: darin flimmen alle - Evangelien überein; allein den Synoptifern zufolge war dieſer Tag der „erfte der ungefänerten Brode, an dem man dac— Paſchalamm opfern mußte“ (M. 26, 17 u. U), mithin wax= dieſes legte Mahl eben das feſtliche Paſcha mahl: Johan nes dagegen gibt den Tag „als einen vor dem Fefte“ art (13, 1); bei ihm ift alfo jenes legte Mahl nicht. das Paſcha⸗ mahl, vielmehr fand diefes erft am folgenden Tage, d. h. am Todestage Sefu ftatt (18, 28), der daher aud, der „Nüfttag des Paſchafeſtes“ (19, 14) genannt wird, fo daß der af diefen Todestag folgende Tag nicht nur der erfte Felttag, fondern auch zugleicy ein Sabbat war, oder wie Sohanned fagt: „es war der Tag jenes Sabbats ein großer“ (19, 31): nach den Synoptifern dagegen ftel fchon auf diefen erften Fefttag die Kreuzigung Jeſu.

Diefer Widerfpruch ift fo ftarf und fo beftimmt ausgedrüdt, daß alle Verfuche, ihn hinwegzuräumen, fcheitern mußten; wir wollen fie ung zu einer kurzen Betrachtung der Reihe nad vorführen.

„Die Cvangeliften erzählen von zwei verfchiedenen Mahlzeiten“, fo Heß, Venturini ꝛc. Allein alle Erzäh: lungen ftimmen in einzelnen Punften fo fehr überein, und Sohannes bezeichnet auch fein Mahl ald das lekte, Das Sefus mit den Jüngern hielt, und fchließt fo unmittelbar den Gang nad; Gethfemane an dasfelbe an (18, 1), daß offenbar beide Theile das lebte Mahl Jeſu fchildern, und demnach der Widerſpruch bleibt.

„Auch Sohannes bezeichnet dieſes letzte Mahl als das Pafhamahl “; eine fehr unbegründete Behauptung! Sein Ausdruck „vor dem Feſte“ (13, 1) fol im Sinne der Gries chen, die den Tag mit Aufgang, nicht wie die Suden mit Untergang der Sonne, anfingen, gemeint fein: dann mußte aber Johannes vielmehr jagen: „am Feſte felbft*, weil ja doc), wenn er vom Pafcha redet, fchon der Abend Diefeg Tages ein feftlicher war. Ueberdieß fagt er vom folgenden Tage zu beftimmt (ſ. oben), daß hier das Paſcha genoffen

wurbe, was eben: mur::som Paſcha lamm des Bonabends ner - landen werden kann. > mi Aa sr moin

ji Das Paſchalamm wurde allgewein-nicht. aut: 44. Rifan, fondern am Donnerflage unſerer Rechmung: (13. Niſaudige⸗ geſſen, fo. daß Spnoptiker und Johannes einig find“; a die Zuden haben damals dad Paſchamahl Eif. den Freitag ver⸗ legt; daher des Johannes Angabe, daß ‚fie. am Todestag ieh das Paſcholanmm effen wollten (18,.28): Jeſus aber. blichıder ten. Sitte ‚treu; daher mr ber fcheinbare Widerſpruch "3 zn Jeſus hat das Paſchamahl auf. einen frühern Tag, als es eigentlich fiel, verlegt“. ‚Drei fich unter. einander felbR Yernichtende, ‚gleich ‚grundlofe Behatiptungen! indem ſie ſanunt⸗ Hich: gegen ganz erwieſene geſchichtliche Thatſachen amd feſt⸗ ſtehende jüdiſche Einrichtungen verſtoßen; Gdaher nur u Borübergeben angeführt werben bürfen..:: . ::-

. Mit Recht. haben,. diefen verfehlten Verſuchen Gegenüber, neuere Forſcher nachdruckſamſt hervorgehoben, daß es ſich ‚hier nicht darum handele, bei ſonſtiger Uebereinſtimmung cine zelne Widerfprüche auszugleichen, fondern „alle Zeitbeftisununs gen der Synoptifer find von der Art, daß nach ihnen Jeſus noch das Pafcha mitgefeiert haben müßtez alle johanneiſchen dagegen: ſo, daß er ed nicht mitgefeiert haben kann*“. Es muß alfo eingeflanden werden, daß nur Ein Theil Recht ha⸗ ben fann, und ber andere Theil eine irrthümliche Angabe ent- halt; ed fragt ſich nur noch, welcher? Hier ftellt fich nun ‚ollerdings die Sache für die Synoptifer am wenigſten günftig heraus: ihnen zufolge war der erfte. Tag, an welchen Sefus gefreuzigt wurde, der erfte Paſchatag und daher ein hoher Feſttag; und doc, ‚nimmt ſich Alles an Demfelben fo werfel- täglich aus: Jeſus verläßt am Abende vorher gegen das Ge⸗ fe die Stadt; feine Freunde beſtatten ihn eilig, und lafen Die Beitattung nur aus Furcht vor dem anbrechenden:. Sab⸗ . bat unvollendet; die Mitglieder :ded Synedriums feiern den Feſttag gar nicht, indem fie Gerichtefigung mit Verhör' und Urtheil abhalten, ihre Diener zur Verhaftung ausfenden ıc. "Zwar gefchah es nicht :felten, daß anf die Zeit. eines hoben Feſtes ſogar fchon befchloffene Hinrichtungen verſchoben wur⸗ den; daß aber etwas der Art am edſten. vnd: Leuten αÑ

Burn

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tage, welche beide einem Sabbat gleich geachtet wurden, ges fchehen fei, ift ohne alles Beifpiel.

Allerdings aber konnte die urdhriftlihe Sage leicht beſtimmt werben, die Krenzigung Sefu auf den hoben Feſttag zu vers legen, da fein Tod und das darauf vorbereitende Abendmahl in geheimnißvolle Beziehung zu dem jüdifchen Pafcha geſetzt wurden: ed lag eine folche Berlegung der Einſetzung des Abendmahles auf den Paſchaabend um fo näher, weil in ben judenchriftlichen Gemeinden noch lange Zeit das Pajchamahl nach jüdiſcher Weiſe gefeiert wurde, und dasfelbe nun durdy jene Sage eine chriftliche Bedeutung erhielt. Es hätte aber freilich auch dad vierte Evangelium zu der irrigen Anſicht, Jeſus fei am Tage des Pafchamahles gefrenzigt worden, fommen können, da es in dem Umſtande, daß ihm die Beine nicht zerfchlagen wurden, die Erfüllung einer Weiffagung (2 Mof. 12, 46) erblidt: diefe Stelle jedoch bezieht fich einzig auf das Schlachten ber Pafchalänmmer, und die Beziehung auf Jeſu Tod feheint nur mit der irrigen Anficht, Jeſus fei um biefelbe Stunde getödtet worden, wo man die Pafchaläms mer fchlachtete, entitanden zu fein.

Indeſſen ift „vor der Hand nur der unauflösliche Widers ftreit der beiderfeitigen Darftellungen anzuerfennen, eine Ents ſcheidung aber, welche die richtige fei, noch nicht zu wagen*.

(M. 26, 20— 305 Marf. 14, 17— 31; uf. 22, 14— 38; ‘oh. 13.)

Aber auch in Bezug auf die einzelnen Borgänge bei’m legten Mahle find die Berichte fehr verjchieden; und zwar in der Art, daß im Ganzen die Synoptifer unter ſich genauer übereinftimmen, als mit Sohannes; Lukas jedoch auch wieder von den zwei erften Evangeliten in Manchem abweicht; Diefe legteren Berfchiedenheiten, die Berfündigung des Verrathe, die Anordnung der einzelnen Stüde, den NRangftreit u. 9. betreffend, find von geringer Erheblichfeit. Dagegen ift ber MWiderfpruch, in welchen Sohannes mit allen Synoptis fern ſteht, darin fchr auffallend, daß ihm zufolge Jeſus eine

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Sußwafchung bei jenem letzten Mahle vornimmt, nach ben Synoptifern aber das Abendmahl einfeßt, wovon Johannes jar nichts erzählt.

Diefes gänzliche Schweigen hat man vergebens zu erklären gefucht. Zuvörderſt kommt auch hier der nichtige Grund wies der, Sohannes wolle nur die übrigen Evangeliften ergänzen, md könne daher recht gut über das fchon von diefen erzählte Abendmahl fchweigen; allein wäre Senes fein Zweck, fo mußte ee auch 3. B. über das weit unmwichtigere Speifungswunder, das bereits erzählt war, ſchweigen; das Abendmahl durfte er aber nicht übergehen, weil in deſſen Darftellung ſich Manches fanb, was er für falfch halten mußte, 3. B. die Angabe der Zeit. Andere meinen, er habe für unnöthig gehalten, daß nies derzufchreiben, was ſchon in der gewöhnlichen mündlichen Ueberlieferung verbreitet genug gewefen fei; allein das wäre fehr unverftändig; denn fchriftliche Aufzeichnung wird ja überall defwegen vorgenommen, weil man der Zuverläßigfeit münd- licher Meberlieferung nicht traut, und wo follte man jene für nothwendiger halten, als bei der fo feierlichen Stiftung eines lirchlichen Gebrauches, über deffen Einfegungsworte man ſchon damals Cf. unten) verfchiedene Angaben hatte? Und gab es überhaupt eine Handlung Sefu, die fo deutlich ihn als den göttlichen Stifter eines „neuen Bundes“ bezeichnete, wie diefe ? welche Reden Jeſu find ergreifender, tiefer und eigens thümlicher, als jene Einfeßungsworte? und tieffinnige Reden find es ja gerade, die Johannes mit Vorliebe gefammelt hat!

Am ungünftigften für alle diefe Verſuche ift es aber, daß die Ausleger, die fie anftellen, nirgends in der Darftelung des Johannes eine Fuge finden können, wo fich die, nadı ihrer Anficht, auch ihm befannte Einfegung des Abendmahs leg unterbringen ließe, weßhalb man vieler Orten im Kap. 13, wo vom legten Mahle die Rede ift, angeklopft hat. Einige Rüden die Fuge am Ende des Kapitels; allein deffen letzte Worte vom Hingange Jeſu hängen mit dem Kap. 14, wo Sefus die bewegten Jünger deßhalb tröftet, auf's engfte zu- ſaumen. Eben fo wenig paßt eine fo ernfte Handlung zwi: Ihen V. 30 und 31: denn die Worte des leßteren Verſes be- jiehen ſich unverkennbar noch auf den fo eben erzählten Weggang

._

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des Verräthers. Nach B. 33 laͤßt fich gleichfalls nichts hinein⸗ denfen: denn bes Petrus Frage B. 36 bezicht fih auf B. 33, und hätte inzwifchen die Einſetzung ftattgefunden, fo hätte ficherlicd; Diefe des Petrus, wie aller Andern, Gemüth ganz allein befchäftigt. Gleichfalls zerreißt den Zufammenhang, wer bie fragliche Sache. nach V. 32 einfchieben will. Das her glaubte ein. nenerer Ausleger, nach V. 1 die fehicklichfte Stelle zu finden, da ja V.2 fage: „ald das Mahl vorüber war 2c.“, fo erkläre damit Sohannes, daß er von dem wähs rend des Mahles Vorgefallenen, alfo auch von der Ein, fegungsfcene, die er wohl gefannt habe, nichts berichten wollte Allein wenn eg nım V. 12 von Sefus heißt: „er. feßte fi, wieder nieder“, fo war doch bei V. 2, wo die Fußwaſchung begann, die Mahlzeit noch nicht vorüber; ‘und wirklich heißen die angeführten Worte diefes Verſes nad) richtiger Ueberſetzung °°) nichts Anderes, als: „nachdem Das Mahl angefangen hatte“. Johannes wollte alfo "auch dag während bdegfelben Gefchehene erzählen, und mußte die Einfekung erzählen, wenn er fie kannte.

Daß Sohannes fie aber nicht fannte, müffen wir ale Ergebniß der fo eben angeftellten Prüfung beftimmt ausfpre chen: nur. muß man ung nicht vorwerfen, daß wir damit be; haupten, er habe das Abendmahl felbft, ald allgemeinen fird; lichen Ritus nicht gekannt; dieß wäre ſinnlos. Allein gar ‘wohl tonnten ihm entweder die einzelnen Umftände der Eir fesung desſelben unbekannt geblieben fein; oder er konnte and es vorziehen, feiner Vorliebe gemäß für myfteriöfe, erſt fpäter klar gewordene Ausfprüche Sefu, nur foldye über die Entfte hung des Abendmahles feinem Evangelium einzuverleiben, wie ſich wirflicy viele zerftreute Andeutungen bei ihm vor ‚finden von der Nothwendigfeit, Jeſu Leib zu offen und fein "Blut zu trinken.

Andererfeitd könnte es ums nun auch befremden, Daß die Synoptifer von der bei Johannes zu lefenden Fußwaſchung

3) Die freilich au Auther wicht aikt.

nichts —* dieſe iſt jrvoch "as" ſo Antergtrvrdtietes, "DAR jene vrei Evcingeliſten / die auf Vollſtandigkeit keinen: Anſpruch machen,/ ſie leicht, auch wenn fie irren befanne war, übers - eben: konnten. Näher aber liegt die Annahme⸗ daß die ganze Erzaͤhlung des Johannes eine reine Mythe: ſei, die ſich ans beridet M. (20, 26) mir allgemein, bei. Lukas (27, 27) ſchon finnbilbficher durch Hirweiſung auf: Das Verhaltniß zwiſchen Jeſu und feinen ärgern ausgeſprochenen Ermahnling zur Demuth zu einer Parabel, und von der Parabel” zu . nee: Gefchichtserzählung Tönwte entwickelt haben, die men ſodann grade auf das Atſchledemahr Jeſu ans guten Gründeh Ä verlegt hätte. 5”. i "Die Rede “über die wolf· Throue, auf welchen die west Apoftel als: ſolche, dis⸗bei ihrem Meifter': ausgeharrt Haben, einft die zwoͤlf Stannme Iſraels richten ſollen; ſo wie die über die Nothwendigkeit/ fi ſich ein Schwert zu kaufenʒ Reden, die ſich nur bei Lukas finden CB: 28—30,:36), paffen zur ganzen Scene fo wenig, daß fie Lukas mir nach einer ganz äußeren Gedankenverknupfung hierher verlegt haben kann; wie ihm’ dieß auch‘ mit andern einmal überlieferten Aus⸗ | . ſprũchen Jeſu begegnet if. |

Eine andere wichtige Frage i in Betreff des letzten Mahles iſt die, welche die Verkündigung des: Verrathes betrifft. M. und Marks laffen fie vor, Lukas nach der Stiftung des Abendmahles, Johannes während der Fußwaſchung aus⸗ geſprochen werben. Hier nun haben fi. die Drihodoren fehr beeilt,; fih an M. und Markus anzufchließen und dazu aus dem Johannes zu beweifen, daß der BVerräther bei Stiftung des Abendmahles fchon fortgegangen war; es fchien nämlich mit der Barmherzigkeit des Heren :unverträglich, daß er den Verbrecher durch Zuziehung zum Abendmahle noch ſchuldiger machen’ follte. Aber die Abweſenheit des Judas während des⸗ felben läßt fich, wenn auch M. und Markus Recht haben, durchaus nicht beweiſen; denn fie wiflen nichts davon, daß er nad} Verkündung bed Verrathes ſich fogleich entfernt habe; nur Johannes ſagt es; md: Dafür, we vei. einer TON,

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zugegen gewefen und wer nicht, wird man doch den nicht zum Zeugen nehmen wollen, der von der ganzen Handlung Nichts weiß? Auch in Erzählung der Art und Weiſe, wie der Berräther bezeichnet wurbe, ftimmen die Evangelien nicht überein; bei Lukas nennt Jeſus deſſen Name gar nicht (22, 21); bei M. und Markus fpricht er ebenfalls erft im Allgemeinen von einem Verräther und bezeichnet ihn Dann ale den, der mit ihm in die Schüffel tauche, worauf M. nod ben Judas felbft fragen läßt (M. 26, 21 2.3; auf ähnliche Meife fteigt bei Sohannes (13, 18 ꝛc.) die Bezeichnung vom Unbeftimmten zum Beltimmteren auf.

Diefe verfchiedenen Berichte Iaffen fich durchaus nicht vers einigen; man müßte denn, wie Einige wollen, annehmen, Jeſus habe erft auf die leifen Fragen des Sohannes (Soh. 13, 25) und bes Judas leife geantwortet, und dann laut zu Allen gefprochen; eine wahre Spielerei! Und dann müßte ja aud der Berräther dicht neben Jeſu gefeffen haben, gleich dem Lieblinge Johannes! Es find daher alle befonnenen Theologen genöthigt, die Berfchiedenheit der Berichte anzuerkennen, nur darin nicht einig, welcher ald der zuverläßigere zu betrachten ſei; unfere Anficht ift diefe. Urſprünglich mochte man nur willen, daß Jeſus überhaupt nur Einen der am Tiſche Sitzenden als Berräther bezeichnet habe (Luk.); fpäter bildete ſich dafür der, das Schwarze der That mehr ausmalende Ausdrud: „einer, der mit mir in die Schüffel taucht“ CM. u. Mark), was man nun fofort im engften Sinne nahm: „der, der eben jest mit und ꝛc.“, dieß mußte denn dem Erfolge nach der Judas geweſen fein; und endlich follte Jeſus ihm fogar den Biffen felbit gereicht haben (Joh.). Nach diefer Anficht hätte alfo Jeſus den Verräther gar nicht bei Namen genannt, was fchon darum fehr wahrjcheinlich ift, weil die übrigen Sünger den Judas fo ganz ruhig ziehen und das Verbrechen voll führen lafien.

Ob aber Jeſus den Judas als feinen Verrather auch nicht gefannt habe? kann immer nod) gefragt werden. Zwar aus Pfalm 41, 10, wie Joh. B. 18 ihn behanpten läßt, kann er dieſe Kenntniß ficherlicy nicht gefchöpft haben, da diefer Berd auf nichts weniger, als auf den Meſſias ſich bezicht,

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und gewiß auch por dem Berrathe von Niemanden auf ihn bezogen wurde. Dagegen könnte Jeſus gar wohl durch ents fernter ftehende Freunde unbeftimmte Kunde von einem im Kreife der Sünger brütenden Berrathe erhalten haben; in welchem Falle er aber Fein Menſchenkenner hätte fein müffen, wenn fein Verdacht nicht auf Judas gefallen wäre.

Auffallend hat man es ferner gefunden, daß die, gleichfalls bei jenem Mahle (bei M. jedoch erft auf dem Wege nady Gethfemane) ausgefprochene Verfündigung von des Petrus Berläugnung fo genau eingetroffen fein fol; man könnte baher geneigt fein, fie, als eine Weiffagung nach dem Er- folge, Jeſu abzufprechen. Allein wahrfcheinlicher ift es Doch, daß Jeſus etwas der Art vorausfagte, was aber fpäter buch⸗ ftäblicher gedeutet wurde, ald er es gemeint hatte. Denn wenn er, was alle Berichte einftimmig angeben, wirflich einen Angriff in der eingebrochenen Nacht erwartete, fo fonnte er bei dem aufmwallenden Feuereifer (M. 26, 33) des Petrus, Den er gewiß genau fannte, wohl ein augenblidliches Straucheln voraugfehen; wenn er dann fagt: „ehe der Hahn kräht“, fo heißt es in der Sprache jener Zeit nichts weiter, als: „vor Anbruch des Tages“; „dreimal“ ift unbeftimmter Ausdruck für etwas Wiederholtes; „verlängnen“ kann leicht aus einen etwas allgemeineren Ausdrud: „ftraucheln, an mir irre werden ꝛc.“, umgebildet worden fein. Es hat alfo eher den Anfchein, daß die Erzählung von dem wirklichen Benchmen Des Petrus der zu enge gedeuteten Warnung Jeſu nachges bildet, als daß eine folhe Warnung nie gefprochen worden.

Wir haben nun nod) die Einfeßung des Abendmahles, als eines Firchlichen Gebrauches, näher in's Auge zu ſaſſen; die feierlichen Worte, mit welchen dieß gefchah, werden von ben Synoptifern (M. 26, 26; Mark. 14, 22; Luk. 22,19, 9) und von Paulus, der fie 1 Kor. 11, 23 wiederholt, nicht ganz gleichförmig gemeldet, wie wir fogleich fehen werben. Die Eonfeffionellen Streitigfeiten über die Bedeutung Ver:

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felben berühren und hier nicht; nur bemerfen wir, daß in denfelben die Worte: „das ift mein Leib ıc.“, von allen Partheien nicht im Sinne des phantaftereichen Morgenländers genommen werden, der noch nicht fo haaricharf fpaltete, wie der fältere, mehr denfende Abendländer der neuen Zeit. Bu dürfen behaupten, mit feiner Konfeffion wären bie Evange Üi litten zufrieden; die einen würden ihnen zu viel, die andern zu wenig in ben geheimnißreichen Wörtchen: „das ijt“ m lefen fcheinen. Doch kehren wir von den Konfeffionen zu unfern Evangelin zurüd! In allen Berichten ftellt Jeſus feinen Tod als Bundes | opfer dar, demnach ale höheres Gegenbild der blutigen Thier opfer des alten moſaiſchen Bundes; bei dem einzigen M. fügt er noch hinzu: „zur Vergebung der Sünden“, wodurch fein Sterben zugleich ald ein Sühnopfer bezeichnet wird. Bei Vorſtellungen vertragen ſich wohl mit einander, wie fie aud ſchon im Hebräerbrief (9, 15) in einander fliegen. Yerne haben nur Lufas und Paulus die Anweifung Jeſu, dieſes Mahl fortwährend als „Gedächtnißmahl“ zu wiederholen (Xuf. 22, 19. In Bezug auf dDieje Anordnung haben freilich Drthodore ei übertriebened Gewicht auf die Worte des Paulus (V. 23): „Sch habe ed vom Herrn empfangen“, gelegt, als beziehen ſich diefelben auf eine unmittelbare Offenbarung aus Jeſu Munde, da fie doch nichts Weiteres, als eine unmittelbare Ueberlieferung bedeuten. Dagegen follte man aber auch jene Anordnung Jeſu nicht bezweifeln, „weil fie gegen die Demuth verftoße (1)*; vielmehr fünnen wir diefelbe fehr denkbar finden, obgleid, M. und Marfus davon nichts erzählen. Weiterhin hat man die Frage aufgeworfen: ob Jeſus von jeher den Plan gehabt, eine ſolche Gedächtnißfeier für feine Kirche zu ftiften? oder ob erft fur; vor feinem Ende biefer Plan in ihm entitanden ſei? Das Eritere mit den Ortho⸗ doren anzunehmen, fünnen wir und nicht entfchließen, da fid davon feine fichere Spur in den Evangelien findet, und da e3 „überhaupt die Wahrheit der menfchlihen Natur in Sefu aufzuheben fcheint, in ihm von jeher, oder wenigſtens vom Anfange des reifen Alters an, Alles fchon fertig und vorge jehen fich zu denfen*. Wenn er auch, fehon einige Zeit vorher

ie.. der Borahnang feined.gewaltfamen: Kobes:.at -ein ſolches Gedaͤchtnißmahl gedacht haben mag, - fo iſt doch wohl. der bes

ſtimmte Entſchluß dazu an jenem Abende, erft, wo nach allen

Aeichen: er ſeine Leiden als ſehr uahe bevorſtehend anfah,;

und wo er völlig emtichloffen war, denſelben auf: feine: Weiſe ſich zu entziehen, und wo ihm das gebrochene Brod und der. ausgegoſſene Wein. als Sinnbilder feines . bad hinzurich⸗ tenden Körpers: erſchienen, an jenem Abende. erft feik- tm hm gewurzelt; üft:cdfo theild eine Erzeugniß des verhängnißs sollen Augenblickes, theils einer Icon: länger aubauernben Derracnung | B

. 3 .

J Viertes Kapitel‘ \ Bern. Weclenfampf ‚feine: Ab ſchiedsreden und feine BE VBerbaftung:

ew. 26, 30—46; Mart. 14, 32—42; eut. 29, ai | Sob. 14— 18,, 2...

Nach den. Spnoptifern ging Jeſus ſogleich nach Einſetzung

Ses Abendmahles nach Gethſemane (M. 26, 36); dort Segann die Scene, welche man den Seelenkampf Jeſu rrennt (V. 37), worauf er denn verhaftet wurde (V. 47). Bei Sohannes folgen auf die. Mahlzeit noch die großen: Ab- Kchiebsreden Kay. 14—17, wogegen aber der Seelentampf ganz fehlt.

In Schilderung Dief es weichen die drei Spnoptifer in |

Den wefentlichen Punkten von einander ab, dag M. und Markus wir Drei Sünger mitgehen (M. 3. 37), und Sefum drei Mal in Zagen gerathen (®. 44) laſſen; Lufas aber von biefen beiden Dreijahlen nidyts hat, wogegen von ihm allein noch eine Engelerfcheinung (V. 43) und ein Schweiß von Bluts⸗ tropfen (DB. 44) erzählt wird. An diefem Geelenfampfe bat man von. jeher großen Anftoß genommen; Feinde des Ehrütenthums benugen ihn zu Angriffen auf Jeſu Perſon; falfche Evangelien hielten ihn nur für Berftellung, um ben

Teufel u. täufshen; Kirchenvater fahen ihn wur. 0% TR

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der menfchlichen Natur in Sefu an, während feine ‚göttliche Davon ungerührt geblieben; Spätere betrachten fein Zagen nur als mitfühlenden Schmerz über die feinen Süngern und dem Volke bevorſtehenden Leiden; die Kirchenlehre endlich faßt die Sache fo, „daß Jeſus in das Mitgefühl der Süns denfchuld der ganzen Menfchheit verfeßt geweſen fei, und Gottes Zorn über diefelbe ftellvertretend empfunden habe“. Bon diefem leßteren Grunde findet ſich nun gar nichts in der Erzählung jener Scene, vielmehr widerjpricht er der ganzen

evangelifchen Vorftellung, vermöge welcher Jeſus allerdings auch für die Sünden der Welt leidet, aber ganz unmittel- bar; demnach, fo wie er am Kreuze wirklich litt und fchmachtete, jo beherrfchte in Gethfemane ihn dag wirkliche qualvolle Borgefühl diefes Leidens.

Man griff alfo zu andern, zum Theile grobfinnlichen Er- Härungen, wie 3. B., daß man Sefu eine körperliche Webelfeit zuftoßen ließ; oder zu überfpannt empfindfamen, wie, daß es nur der Schmerz um die nahe Trennung gemwefen u. dgl. Andere nehmen daher weit richtiger an, daß hier wirflich die Schauer der finnlihen Natur vor ihrer Vernichtung fich zeigen; bie fchleunige Unterdrüdung derfelben aber jeden Schein der Sündhaftigfeit entferne; daß übrigens das Leben der finnlihen Natur vor ihrer Vernichtung zu ihren wefentlichen Lebensäußerungen gehöre; ja daß, je reiner die menfchliche Natur in Jemand fei, defto empfindlicher fie gegen Schmerz nnd Vernichtung ſich verhalte, und daß die Heberwindung eines ſolchen durchempfundenen Schmerzes größer fei, ald eine ftarre Unempfindlichfeit gegen benfelben.

Betrachten wir num die von den Synoptifern verfchieden erzählten Einzelnheiten, fo fällt ung zunächft die Engelerfcheis nung bei Lufas auf: die Orthodoxen wiſſen fich die Stärkung Sefu, als des Gottmenfchen, nur dadurch annehmbar zu machen, daß fie auf den noch andauernden Stand feiner Ers niedrigung hinweiſen; Rationalijten dagegen durch Die Annahme, der Engel werde wohl ein Sefum tröftender, unbefannter Mann geweſen fein. Allein diefe Bemühungen find unnöthig, weil

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Die ganze Engelerfcheinung, auch abgefehen davon, daß fie nur von Lukas erwähnt wird, ganz ıumbeglaubigt ift; denn wer follte fie bemerft haben, da ja alle Begleiter Jeſu fchlaftrunfen waren? Daß aber Jeſus fie feinen Süngern noch foll- erzählt haben, ift wegen des unmittelbar darauf folgenden Leidens fehr umvahrfcheinlich, wo nicht unmöglich. Bielmehr haben wir Darin einen mythifchen Zug zu erfennen, durch welchen ber fehnelle Uebergang Jeſu von tiefem Schmerze zu hoher Seelen⸗ ftärfe Ddichterifch verflärt wurde. Auf ähnliche Weife mag es fih mit den, auch nur von Lufas angeführten blutigen Schweißtropfen, die Sefus vergoffen Haben foll, verhalten. Daß fo etwas möglid, fei, Tann nicht geläugnet werden; allein es ereignet fich doch nur in fehr feltenen Fällen und bei ganz befonderen frankhaften Zuftänden. Könnte man aber auch die falfche Erklärung gelten laffen, daß hier nur von Schweiß⸗ tropfen, die fo fchwer und Dicht gewefen, wie Blutstropfen, Die Rede fer, fo Fehrt doch auch hier die Frage wieder: wer konnte, da Alle, außer Sefu, fchieden, fie bemerkt haben? Denn Daß fie nicht bloß auf feiner Stirne ftanden, fondern „zur Erde herab fielen“, wird doch deutlich genug gefagt. Nehmen wir aljo doch auch diefen Zug ale einen mythifchen, der Daher entflanden fein mag, daß man jenes Borfpiel bes blutigen Keidens Jeſu am Kreuze nicht nur geiftig, fondern auch ganz leiblich und finnlich in fchon jetzt wirklich vergoffene Bluts⸗ tropfen ausmalte.

Andere Eigenthümlichfeiten finden fich hinmwiederum, im Gegenfage zu Lukas, nur bei M. und Marfus. Daß grade nur die drei befannten Jünger zugegen gewefen, dieß läßt ſich nach Früherem wohl denfen; auch daß Sefus drei Mal bei feinen Süngern Troſt gefucht, könnte in dem bewegten Seelenzujtande degfelben auch feine Erflärung zu finden fcheinen. Allein theils ift doc das Hafchen nach der geheimnißvollen Dreizahl hier eben fo unverkennbar, wie bei der Verſuchungs⸗ geſchichte; theild vwerräth der Umftand, daß Sefus drei Mal faft ganz dasfelbe betet (M. V. 39, 42, 44), deutlich genug auch hier die Nachhilfe der Sage, Denken wir ung nun aber diefe undenkbaren einzelnen Züge hinweg, fo bleiben uns als gefchichtlicher Kern die Thatfachen ‚eines heftigen Ser

IL. Ä %

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ſchmerzes in Sen, des inbrünftigen Gebete und der wieder⸗ gewonmenen Stärfe zurüd; jedoch haben wir noch den auf: fallenden Umftand, daß Johannes nichts von Diefer Scene erzählt, wogegen er Reden mittheilt, die mit berfelben in Widerfpruch ſtehen, näher zu betrachten.

Was das Erftere, fen Schweigen von dem Seelen: fampfe, betrifft, fo ift dieß fchwer zu begreifen, wenn ber Berfafler des vierten Evangeliums wirklich der Johannes ift, der ja doch auch zugegen war, und wohl nicht fchlaftrunfener geweſen fein wird, als die übrigen Jünger. Daß er bie Sahe übergangen habe, weil ſchon die andern Evangelien fie berichtet hätten, oder wenigſtens Die allgemeine Ueberliefe- rung fie enthielte; dieß Fann hier bei fo großen Abweichungen in jenen Evangelien, die auch in dieſer Ueberlieferung, als der Duelle der Evangelien, nicht gefehlt haben werden, man denfe nur an die Engelerfcheinung bei Lufas! gewiß nicht angenommen werden. Nein, fagen Andere, er wollte eine Engelerſcheinung nicht erzählen, um gewiſſen Geften, bie das Höhere in Chrifto für einen Engel hielten, feinen Bor: ſchub zu thun; aber, um das fchon oben über einen ähnlichen Auslegungsverfuc Bemerkte nicht zu wiederholen, mußte er denn darum Die ganze Gefchichte weglaffen? und warım redet er denn doch 1, 52 von den über Jeſu aufs und ab- fteigenden Engeln?

Schwieriger aber wird die Sache, wenn wir bedenken, welch” greller Unterfchied zwifchen den Abfchiedsreden bei Sohannes, von denen weg Jeſus unmittelbar zu der befpro- chenen Ecene in Gethſemane abgeht (Joh. 14— 17), md zwifchen feiner Stimmung bei diefer flattfindet. Nachdem er in jenen Reden den Schmerz über feinen Tod völlig über: wunden und mit göftlicher Ruhe gefprochen, feine zagenden Freunde voll Heiterkeit beruhigt, die Nothwendigkeit feines Todes Far und feſt dargelegt hatz welch' ganz andere Stimmung dann ſogleich Darauf in Gethfemane! Hier bie vollefte, zagendite Todesbetrübniß! der frühere Tröſter fucht ſeinerſeits Troſt bei den fchlafenden Süngern; er zweifelt, ob

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fein Tod des Vaters Wille fei und nur mit bitterm Schmeize fügt er ſich demfelben! Das ift mehr, als MWechfel der Stim⸗ mung; es ift ein bebenflicher Rückfall, zumal wenn man das Gebet Kap. 17 in's Auge faßt. Hier hat er.fein eigenes Lei- den ganz in Hintergrund geftellt, feine Rechnung mit dem - Bater völlig abgefchloffen, und die Herrlichkeit, in welche er fofort eingehen werde, und die Geligfeit, die er den Seinen erworben habe, bildet den Hauptgegenftand feiner Rede mit Gott: er ift-Steger über fein fchon überwundenes Leiden! Auf Gethfemane finft er dagegen wieder in den heißeften Kampf zurüd! Darf man da nicht fragen: „warum haft du Triumph gerufen, ehe du gekämpft hatteft, um dann bei Annäherung des Kampfes mit Befchämung um Hilfe zu rufen? * Eine folche voreilige hohe Meinung von feinem inneren. Zus ftande, Die an Vermeffenheit gränzt, ift aber mit bem groß- artigen und befonnenen Charafter Jeſu ganz unverträglic. Es ift daher die auch fonft verwerfliche Auskunft hier unzu⸗ laͤßig, daß im Leben gläubiger Perfonen nicht felten ein Zu⸗ ftand völliger Gottverlaffenheit eintrete, in welchem ihre ſchwache menfchliche Natur rathlos zufammenfinfe: dieß heißt Das Leben des Menſchen in und mit Gott fehr ſinnlich und oder auffaflen, als ob Gott nur äußerlich in den Menfchen und aus dem Menfchen herausgehe! Wie demüthigend bliebe es ferner für Jeſum, daß nur ein Engel feine ſchwache Kraft wieder aufrichten Eonnte !

Wir fühlen uns alfo aud) hier zu dem Ausfpruche gezwun⸗ gen, daß nur Eins von Beiden, Seelenfampf oder Abfchiedes reden, gefchichtlich wahr fein kann: welches? darüber fünnen wir, um nicht in die Befangenheit anderer Theologen in Dies fer Frage zu verfallen, und erft nach folgenden Betrachtungen entfcheiden. Eine ganz ähnliche Scene, wie die in Geth- femane, hat auch Sohannes, nur bei ganz anderer Gelegen- heit: als nämlich einige griechiſche Juden mit Jeſu zu reden wünfchten (12, 20), brach er ebenfalls in ein heftiges Zagen aus (B.27 ıc.), wobei zum Theile diefelben Worte vorkom⸗ men. Deßhalb. glauben einige Theologen, Synoptifer und Johannes erzählen einen und denfelben Vorfall; nur habe ein Theil ihn am die unrechte Stelle geſetzt, auch Iier wort der

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Irrthum den Synoptifern aufgebürdet »7). Man hat nämlid) die Veranlaffung zu jenem Seclenfampfe aus Johannes Ers zählung fehr fein herausgewittert. Sene Juden follen Jeſum aufgefordert haben, Paläftina zu verlaffen und unter den aud- wärtigen Juden zu wirken; Jeſus fei verfucht geweſen, dem Antrage nachzugeben, um der drohenden Gefahr zu entgehen; der Gedanfe an diefelbe habe ihn Denn bis zu inneren Käm⸗ pfen erfchüttert. Dieß heißt aber mit den Evangelien fpielen; denn, um von Anderem zu fchweigen, von einem foldyen Ans trage findet ſich in unferer Stelle auch nicht die leifefte An- deutung; ja ed hat an diefer Stelle dad Zagen Jeſu etwas wirklich Unmwürdigee. Hier fteht fein Tod in dem Hinter grunde noch ferner Zeiten; er redet am hellen Tage, vor vies len Zuhörern: wie viel erflärlicher dagegen ift alles in Geth⸗ femane! Hier fleht er an der Schwelle feiner Leiden; ſchauer⸗ liche Nacht umgibt und nur wenige: Sünger begleiten ihn!

Es wird daher das Nichtigere fein, von dem vierten Evans gelium zu behaupten, daß es, vielleicht verleitet durch eine vers wandte Aeußerung in jener Unterredung Jeſu über die grie- chifchen Suden (etwa 12, 23 ıc.) hier irriger Weife den auch ihm befannten Seelenfampf einfügte. Nur muß man alsdann auch befennen, daß der Verfaſſer wohl faum der bei Diefer Scene gegenwärtig gewefene Johannes fein fannz denn war ihm einmal diefelbe noch erinnerlic,, fo fonnte fich feine Erinnerung, troß feiner damaligen Schlaftrunfenheit, nicht fo verwifcht haben, daß er die Sache von dunkler Nacht in den hellen Tag, und von den letzten Tagen Sefu in das Sahr vorher verlegte. Es wollen Daher Andere lieber annehmen, daß das Evangelium eine ganz andere, nur verwandte Scene

>, Es mag hier die Bemerfung nachgetragen werden, daß fo viele Theologen nur darum fo geneigt find, überall den Berichten des vierten Evangeliums den Vorzug zu geben, weil jie an der Anficht fefthalten, Dasfelbe fei wirklich das Werk des Johannes, alfo eines Augenzeugen. Ueber die Anfiht von Strauß vergl. man Ih. I, ©. 39. '

fchildere. Allerdings hat es mehrere Züge, die den Synop⸗

tifern fehlen, namentlich das Gebet Sefu um Verflärung, und ,

bie diefelbe verheißende Himmelsſtimme (V. 28); während ans dere ganz mit der Schilderung ber Begebenheit in Gethjemane übereinflimmen. Da nun das ihm Eigenthümliche in ber oben ſchon betrachteten Berflärungsgefchichte vorkommt, fo tft es fehr wahrfcheinlich, daß unfer Sohannes beide, dieſe Vers klaͤrung und bie Scene in Gethfemane, aus ungenauer Kennts niß in Eins verfchmolen, und Alles, was ihm die fchon ziemlich unficher gewordene Sage davon zugeführt hatte, an ähnliche Erinnerungen aus der Gefchichte von den griechiichen Juden angefnüpft hat, fo daß Jenes bei ihm nun mit biefer

zuſammengefloſſen iſt. Daß er nicht Das Urfprüngfiche, ſon⸗

dern nur zufammengefchwenmte Theile aufgelöster Sagen has ben kann, geht ſchon aus dem fehr Iodern Sufammenhange derfelben hervor. .

Wir kehren mın aber zu der Frage zurück: welches Stüg,

die Erzählung des Seelenfampfes bei den Synoptifern, oder

Die langen Abfchiedsreden bei Johannes, ift, da beide fich nicht mit einander vertragen, ungeſchichtlich? Dffenbar die leg teren. Schon das: follte ein Apoflel im Stande geweſen

fein, fie fogleich aufzuzeichnen? in den Tagen bes tiefftem .

Schmerzes? nachdem die von Jeſu erwecdten Hoffnungen in feiner Sünger Augen fo ganz vernichtet waren? Längere Zeit aber im Gebächtniffe behalten Tieß fich fo etwas nicht. Und wie wenig paßt der Inhalt jener Neben zu der Stimmung - Sefu in der Zeit, wo er fie gefprochen haben fol! Biel na⸗ türlicher erflärt fich der gan,e Ton berfelben, „wenn fie das

Wert eines Solchen find, welchem der Tod Jeſu bereits ein .

Vergangenes war, deſſen Schredlichkeit in den fegensreichen Folgen und der andächtigen Betrachtungsweife der Gemeinde fi, gelind aufgelöst hatte +. Auch find manche Verkündigun⸗ gen, 3. 3. die von der Sendung bes heil. Geiftes (14, 16 u. A.) fo beftimmt, daß fie wie nach dem Erfolge gemacht ausfehen. Borzüglich aber ift das Schlußgebet, Kap. 17, ges wiß weit mehr eine Nede über Sefum, als von Jeſu felbft, der auf unerflärliche Weife in den letzten Momenten nod mit Gott weitläuftg von feiner Perfon und feinen biäherigen Ar

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ftungen fich unterhalten hätte: gemacht fcheinen die Reden das für, um über das Hinfcheiden Sefu eine göttliche Glorie zu verbreiten, und damit die Sdeen über ihn, als das fleilch- gewordene „Wort“ (Joh. 1), weldye ſich allmälig in der Ge- meinde gebildet hatten, auch ſchon von ihm, ald dem Gründer derfelben, ausgefprochen würden.

Aber audy bei den Synoptifern findet ſich ein Borausfagen Jeſu, näamlicy neben Anderem das über Stunde und Augens bli der Ankunft des DVerrätherd (M. 26, 45 ıc.), das wir fo, wie die Evangelien ed und geben, nämlich ald ein wun⸗ derbares, aus früher ſchon entwicelten Gründen, .nicht für geſchichtlich wahr halten können. Ein natürliches Vorher wiffen des ihn in den nächlten Stunden Bebrohenden: mochte er. allerdings haben; fei e8 num durch Schlüffe aus Außeren Beobachtungen hervorgerufen, oder, was mwahrfcheinlicher. ift, durch eine unmittelbare Ahnung, und ein in folchen Verhält niffen nicht feltenes, ummwiderftehlich fich aufdrängendes Bor: gefühl.

(M. 26, 47— 56; Mark. 14, 43—52; uf. 22, 47— 54;

Eobald Jeſus im Gebete auf Gethfemane ſich wieder ge ftärft ‚hatte, trat Sudas mit den Bewaffneten herein, um ihn gefangen zu nehmen M. V. 47): an die Hauptfchaar, wahr: ſcheinlich Tempelfoldaten (Luk. 22, 52), ſchloß ſich noch ſchlecht⸗ bewaffnetes Volk (M.) und dem Johannes (V. 12) zufolge auch eine Abtheilung römiſcher Soldaten an. Ueber die Art der Verhaftung hat Johannes das Eigenthümliche, daß Je ſus dem Haufen entgegentritt, und ſich felbft mit den Worten: „Sch bin’s“ ihm überliefert (B. 5), während bei den Synop⸗ tifern Sudas ihn durch einen Kuß ald den zu Fangenden be seichnet. Beide Angaben laffen ſich nicht miteinander vereinis gen: denn hatte ſich Jeſus felbft ſchon als den Gefuchten feuntlich gemacht, fo war der Kuß unnöthig; oder hatte ums gekehrt ſchon Diefer VBerrätherfuß ihn bezeichnet, fo. durfte Jeſus nicht erft feierlich fich zu erfennen geben, wenn man nicht etwa die ungereimte Aushilfe nehmen will, Judas fei, ald er jenes

Zeichen gab, der Wache weit voran geweſen. lieberbieß wäre Zeſu Benehmen bei Johannes eine ihm .übel anftehende Eil⸗ fertigkeit. Aber leicht ſieht man, wie Die Sage dazu kommen fonnte, eine folche ihm zuzuſchreiben. Fruhe fchon hatten Geg⸗ ner ihm feinen Weggang aus ber Stadt als fchimpfliche Flucht vorgeworfen; durch des Johannes Erzaͤhlung wird dieſer Vor⸗ wurf aber vernichtet, indem Jeſus in ihr als ein ſich ſelbſt Ueberliefernder erſcheint, der aus höherem , freiem Willen fein Leiden auf fich ninmt. ..

Eben fo fonderbar ift ein anderer Zug bei Johannes daß nämlich, als Jeſus vor die. Schaar hintrat, dieſelbe vor feinem Machtworte zurückwich und. zu Boden fiel (V. 6). Läßt ſich “aud) aus der ſouſtigen Geſchichte bier und da ein Beiſpiel nachweiſen, daß bie ergreifende Perſonlichkeit eines Yon allge⸗ meiner Scheu umgebenen Mannes die mörderiſchen Haͤnde Einzelner gelaͤhmt hat, ſo klingt es doch ganz unglaublich, daß eine ganze Schaar durch den Anblick eines den Meiſten wenig bekannten Mannes ſoll zu Boden geworfen. worden fein. Auch hier haben wir nicht den hiftorifchen, fondern ben Chriſtus ver urchriftlichen Einbildungskraft, den die Sage fo gern in Alles überwältigender Hoheit hinftellte, und hier namentlidy ald den Mann verherrlicht, der. Macht genug hatte, feinen Feinden zu entgehen, und ihnen daher nur. mit voller Freiheit des Willens felbft ſich hingibs, indem er unterliegt. Ä

Alle Evangelien. flimmen nody am "Ende ber Erzählung darin überein, daß ein Juünger einem Knechte das Ohr abs gehauen habe (M. V. 51); Johannes fagt genauer, Pes teus habe es gethan, und jener Knecht habe Malchus, ger heißen CB. 10), was ohne Zweifel fpätere Ausmalımg ift; Lukas ſetzt noch hinzu, Jeſus habe das Ohr fogleicy wieder angeheilt (V. 51). Dieß Lebtere hätte man nicht natürlich erklären follen; namlich fo, daß Jeſus die Winde umterfischt babe u. |. w.: denn, abgefehen von dem völligen Alleinftehen des Lukas, ging biefer lettte Zug wohl nur aus dem Gebans fen hesoor, Jeſus, der fo viele Leiden wunderbar geheilt hatte, werbe wohl ein von ihm, wenigſtens mittelbar, veranlaßtes nicht ungeheilt gelaffen haben. .

"Endlich. macht noch Jeſns den teinden den: Weriist, —X

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fie ihn heimlich fangen, da er doch alle Tage öffentlich unter fie getreten fei (M. V. 53); was aber Johannes ihn nicht bier, fondern erft fpäter (18, 20 2c.) zum Hohenprieiter fagen laßt. Hierauf fliehen, wie die beiden eriten &vangeliften erzählen, alle Sünger, wobei Markus den abenteuerlichen Zu fag hat, ein mit Leinwand umhüllter Süngling fei mit Zurüd lafjung derfelben nackt geflohen ®. 51); ein fagenhafter Pins ſelſtrich, mit dem die große Eile der allgemeinen Flucht recht anſchaulich gemacht werden follte.

Fünftes Rapitel. Jeſu Berurtheilung, VBerläugnung des Petrus und Tod des Verräthers.

(M. 26, 57—75;5 Mark. 14, 53—72; Luk. 22, 54—71;

Joh. 18, 12—27.) ,

Sogleich nad) feiner Verhaftung, alfo noch in der Nadıt, wird Jeſus, laut dem Berichte der Synoptifer, zum Hohen priefter Kaiphas gebracht; Johannes aber läßt ihn vorher zu deflen Schwiegervater Annas geführt werden (2. 13), worauf er ſogleich, V. 15, das mit ihm aufgenommene Vers hör anfnüpft: es ſcheint alfo hier ganz, daß Annas dasfelbe anftellte, was den Synoptifern gradezu widerfpräde. Es ift dieg um fo auffallender, da hier gar fein Urtheil gefällt wird, und von einem weiteren Berhöre vor Kaiphas Feine Rede mehr ift; daß Johannes dieſes, als bereits hinlänglich befannt, foll übergangen haben, ift rein undenkbar, da es ja den eigentlichen Wendepunkt von Jeſu Schidfal bildet, und die von und fchon oft befämpfte Ausflucht, Johannes trage vorzüglich nur weniger Befanntes nach, hier, wenn irgendwo, unftatthaft if. Daher liegt der Verfuch fehr nahe, genauer nachzufehen, ob nicht auch, bei aller Verfchiedenheit im Eins zelnen, Johannes dag Verhör bei Kaiphas berichten wolle, und in der That ift dieß der Fall. Schon der Umftand führt uns darauf, daß auch bei Sohannes, wie bei den Synoptifern, die Berläugnung des Petrus aufs engfle mit dem Berhöre

verfchlungen. iſt (V. 15— 18) und daß auch er einfach ben Hohenpriefter*, was Annas nicht war, als: den Berhörens Ben neitnt: V. 19)5 im Wege zu ſtehen fcheint nur B;24; wo ed heißt: „Annas alfo fandte Jefum gebunden zu Katphas“} und doch iſt das Verhör ſchon erzählt. Allein wir muͤſſen bedenken, baß wir einen Schriftfteller vor uns haben, ber keineswegs ganz regelmäßig griechifch fchreibt, and daher mit einer im neuen Teſtamente ohnehin nicht -feltenen Unger nauigfeit „fandte* ftatt „hatte gefanbt* geſchrieben, und ſtatt des deutlichen „Denn“ in jenem Satze ein zweideutigeres

„alfo * gefegt haben mag. Demnach verhält ſich mun bie Sache fo, daß die nähere Bezeichnung des Kaiphas B. 14 ihn’ verleitete, nachdem er von ber erften Verlaͤugnung bes Petrus geiprochen, fogleich das Verhör des Hohenprieſters zu erzählen, wie wenn er fchon gefagt hätte, daß Jeſus von Annas zu diefem geführt worden feiz was er ſodann V. 24, freilid; etwas ungenau, nachholt. Das bleibt immer übrig, Daß fein Bericht, namentlich weil ihm jede Nachricht von den Urtheile fehlt, unvollſtaͤndig iſt.

An den Angaben ber Synoptiker findet ſich die Berichtes denheit, daß laut M. und Mark. dag Synedrium noch im der Nacht zu Gerichte fist und das Urtheil fällt (M. 8.57), während es bei Lufas (22, 66) erft mit Tagesanbruch ſich verfammelt. Hier liegt eine Verwechslung zu Grunde; denn auch in jenen erften Evangelien wird am Morgen eine Sigung, alfo eine zweite, gehalten CM. 27, 1) um Jeſum den Rös mern zu überliefern (ſ. unten); und dieſe fcheint Lukas für die einzige gehalten zu haben. Eben fo hat er darin Unrecht, daß .er von den falfchen Zeugen gegen Iefum nichts fagt (M. 26, 60): denn da der von biefen vorgebradjte, aber. bögwillig verdrehte Ausſpruch Jeſu vom Abbrechen des Tems pels gewiß von ihm einmal gethan worden, fo ift wohl fein Zweifel daran, daß man ihn vor Gericht benubte ‚und Zeu⸗ gen bafür brachte.

&

Die einzelnen Vorfälle vor Gericht fünnen wir kurz .an uns worüber führen. Jeſus wirb vorzüglic, deſſen heikpiiing,

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daß er der Meſſias zu fein behaupte, was er fofort mit aller Ruhe eingefteht, und wobei er verfichert, daß er alsbald nad) feinem Tode „zur Rechten Gottes figen werde“ und, was aber nur M, erzählt, „Cbald) auf den Wolken des Himmels kommen“. Darauf wird er verurtheilt, des Todes fchuldig erfannt, und muß die gröbften Mißhandlungen, Badkenftreiche, Schläge auf den Kopf und Spuden in das Angeficht erdulden: als die Mißhandelnden werden von M. und Markus gewiß ungenan die Mitglieder des Synedriums felbft, richtiger ohne Zweifel von Lukas und Sohannes (Joh. B. 22 u. A.) die Diener des Gerichte angegeben. Dbgleich nun alle diefe Rohheiten ge gen einen Berurtheilten in jener Zeit nicht befremben bürfen, fo find fie doch offenbar in der fpäteren Sage wohl noch ges fleigert worden, weil man bald viele altsteftamentlicye Stellen auf fein Leiden ganz fpeziell bezog, und nach diefen Weiſſagun⸗ gen die wirflich überlieferten Tihatfachen allmälig umbildete. Eben fo, wie angemeflen aud) dem Charakter Sefu feine ruhige Haltung und das würbevolle Schweigen ift, jo wird Doch na mentlich dieſes Ießtere von den Evangeliften darum fo oft wiederholt, weil‘ fie auch Darin Erfüllung altsteitamentlicher

Drafel fahen. |

Obgleich nad, Jeſu Verhaftung alle Sünger auseinander ftoben,, fo folgte ihm doch Petrus von ferne und drang in den Hof des Hohenpriefters, um ungekannt den Ausgang ber Sache zu beobadjten; nad) dem vierten Evangelium verjchaffte ihm Sohannes den Zutritt dahin. In diefem Borhofe nun war ed, wo Petrus feinen Herrn dreimal verläugnete (ſ. die Stellen). Daß ed nur fo fcheint, ald ob in dem johannei- ſchen Evangelium diefe Scene in den Palaft des Annas verlegt würde, geht aus der fo eben angeftellten Unterfuchung über das Verhör Sefu hervor, mit welchem die Berläugnung enge verfnüpft it; denn, wie wir fahen, audy von Johannes wird jenes Berhör in das Haus bes Kaiphas verlegt, und fomit auch die Berläugnung. Wir können alfo über dieſen ſcheinbaren Widerſpruch Fur; hinweg gehen.

- Dagegen: finden fich in Bezug auf die einzelnen Alte der

FR _ 4 ..ı, . . 3 * » 4

41 rt Berläugnung viele wirkliche Verſchiedenheiten in ben Berichten ia Bezug auf den Drt (vor dem Palafte, am Feuer, im Bors hofe), auf die. Perfonen. (eine. Pförtuerin, eine Magd, ein Mann, mehrere Männer‘ ıc.), auf Anreden an Petrus, feine Antworten, Betheuerungen ıc. Will man jebe diefer ber fonderen Angaben fo genau: feſthalten, daß kein Evangeliſt ir⸗ gend eine Unrichtigkeit habe, ſo erhaͤlt man nicht nur drei, ſondern 8—9 Verlaͤugnungen, welche auch wirflih. Paulus berausgerechnet hat. Indem man auf folche Weiſe die Glaubs wärdigfeit der Evangeliften fireng fefthält, muß man aber, um bie. von Jeſu nicht in Verdacht zu bringen, annehmen, daß fein „dreimal“ in der Weiſſagung jener Verlängnung nur eine runde Zahl für eine mehrmalige fei, und. glaubt mım im _ Ernfte, während der. furzen Zeit habe Petrus Serum SI Male verläugnet! Aber welch' verworrenes Durcheinander von Fras gen ‚und Antworten ans allen Eden. und nad allen Eden " bin müßte das geweien fein!. Wenn daher die. Erklaͤrer bie Stimmung ded Petrus als eine völlige Betäubung bezeichnen, fo könnte man vielmehr damit die Stimmung des Leſers ber zeichnet glauben, „der in ein ſolches Gebränge von immer ſich wiederholenden Fragen und Antworten gleichen Inhaltes, dem finns und endlofen Kortfchlagen einer in Unordnung: ges rathenen Uhr vergleichbar, ſich hineinverfegen foll*. Wir können zwar nur annehmen, daß Petrus die Verlängnung mehrmals wiederholte,. aber nur nicht 8-9 Male; daß bie Zahl drei feitgeftellt wurde, damit Jeſu buchftäblich verftans bene Weiſſagung ganz in Erfüllung, ginge, und daß die Heinen Abweichungen in den Eingelnheiten eine ganz natürliche Folge der von Mund zu Mund gehenden Veberlieferung find.

Ald Ends und Wendepunkt des Ganzen. geben alle Evans gelien das Krähen des Hahnes, welches den Petrus ſchnell zur Befinnung bringt; Lukas fügt noch hinzu, bei diefem Krä- ben habe Jeſus ſich umgewandt und den Petrus angefehen, worauf biefer tief erfchüttert worden. Könnte min auch Jeſus nach des Lukas Darftellung ſich gleichfalls im Hofe. befunden haben, da diefer das Verhör erft am Morgen beginnen läßt, fo. findet. fi) doch andy bei. ihm Feine Spur davon, daß Jeſus bisher in.der Naͤhe des Petrus geweſen; überbieß haben ui

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ja fchon oben gefehen, daß Luk. über die Zeit des Verhöres irrigen Bericht hat, und Sefus alfo nicht im Hofe fein konnte, Doc, wer kann hier den mythifchen Zug verfennen? War

durch das Krähen bes Hahnes plötzlich der verläugnete Mei: -

fter mit feiner Vorherfagung (ſ. oben) vor das innere Auge des Gefallenen getreten, fo ſchuf allmälig daraus die Sage ein leibliches Hervortreten Sefu aus dem dunfeln Hinter: grunde der Scene, deſſen Bli den Petrus doppelt erfchüttern mußte.

(M. 27, 3—10; Apoftelg. 1, 15 21.)

- Nur das erfte Evangelium berichtet den fchauerlichen Tod bed Verräthers; neben ihm aber auch Petrus in ber Apos ftelgefchichte, ald an Jenes Stelle ein anderer Apoftel gewählt werden follte. Beide flimmen darin überein, daß für das Geld, welches Judas erhalten, ein Grundſtück, der Blutader, angefauft worden; daß er eined gewaltfamen Todes ges ſtorben; daß durch dieß Alles alt-teftamentliche Weiffaguns

gen in Erfüllung gegangen: in allem Einzelnen Diefer drei '

Punkte gehen fie dagegen fehr weit auseinander.

Der gewaltfame Tod des Verräthers ift bei M. (27, 5) Selbftmord durch den Strick; in der Apoftelgefchichte (1, 18) trifft ihn die Strafe des Himmels , indem er von einer Höhe herabftürzte und fein Leib auseinander barft. Biel hat man es verfucht,, die beiden Ausdrüde „er erhängte ſich“ und „er flürzte herab“ gleichbedeutend zu finden: am erträglichften ift noch die Deutung, das „Herabſtürzen“ fei fo viel ald (nach dem Aufhängen) „Herabhängen“; immer aber fehr gewaltfam ! Andere laſſen die Worte unangetaftet, und wollen die Gas hen mit einander verfchmelzen, indem fie 3.2. fagen, Judas habe fidy auf einer Höhe an einem Baume erhängt, und, da der Strid zerriffen, fei er in den Abgrund herabgeftürzt. Aber jeder Unbefangene merkt doch leicht den Berichterftattern an, daß jeder den ganzen Tod erzählen will, und nicht etwa bloß die eine Hälfte, fo daß er die andere für fich behielte.

Der Ankauf des Grundftüdes gefchieht bei M. fo, daß Judas voll Reue den Hohenprieftern das Sündengeld wieder

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binwirft, worauf dieſe den Ader kaufen; in der Apoſtelge⸗ fchichte aber fo, daß Judas ſelbſt ſich einen Adler Fauft, dort wohnt und fpäter auch feinen gewaltfamen Tod findet; daher denn der Name „Blutader“ nach der beiderfeitigen Darftellung einen ganz verfchiedenen Urfprung hätte. Auch hier fol aus den Worten Uebereinftimmumg erpreßt werden, und in der Nede bed Petrus das Wort „(er) erwarb“ (nämlich für ſich) &. 18) fo viel heißen, ald „erwarb“ (nämlich, für einen * Andern); fo daß er dasfelbe fagte, was M.; aber dann müßte allem Sprachgebrauche zufolge nothwendig die Perfon, für welche erworben wird, dabei ftehen.

Mupte alfo jeder Verſuch einer Vereinbarung aufgegeben werden, fo blieb andern Theologen nichts übrig, ale eine Vers fchiedenheit zuzugeben; jedoch fo, daß bei einem ber Referenten ein fehr leicht erflärlicher Kleiner Verſtoß ftattgehabt. Andere gingen weiter, und erkannten einen Bericht, und zwar den des M., als den entjchieden unrichtigen an, um an dem andern, dem der Apoftelgeichichte, um fo ficherer feitzuhalten. „Doch wie es immer ift bei zwei ſich widerfprechenden Berichten, daß ber eine den andern nicht nur durch fein Stehen ausſchließt, jondern auch durch fein Ballen miterfchüttert*5 fo haben wir auch bier nachzufehen, ob nicht vielleicht beide mythiſchen Urſprunges ſind.

Als hiſtoriſche Grundlage bieten ſich in der Erzählung ung zwei Thatfachen an. Es muß bei Serufalem ein ödes Feld gewefen fein, das den Namen „Blutader“ man mochte wohl nicht mehr wiffen, woher? führte, und welchem die altchriftliche Sage frühzeitig eine Beziehung auf den Berräther gab. Zweitens wurden ſchon fehr bald nach Sefu Tode viele altsteftamentlichen Stellen auf den für die Gemeinde fo ers fchütternden Verrath des Judas gedeutet. Aus beiden Ele⸗ menten floffen die zwei mythifchen vor uns liegenden Ers zählungen zufammen, deren Entftehung wir nur mit leijen Zügen andeuten wollen.

Petrus ftüst fi) auf zwei Pfalmen, Pf. 69 und 109; beide, namentlich der leßtere, waren wie Dazu gemacht, vW

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als Judaspſalmen von den Iudenchriften aufgefaßt zu werden; in Apoftelg. 1, 20 wird vorzüglich der Fluch der Pf. 69 ger weiffagten „Deröbung des Befisthums“* hervorgehoben. Einmal den Pfalm auf Judas bezogen, mußte dieſem ebenfalls ein Beſitzthum zugefchrieben werben; daß er dieß aus dem Lohne bes Verrathes erworben, lag nahe genug; daß er verödet worden, fagte die. Prophetenftelle; und daß es grade jener „Blutacker“ fei, fonnte man um fo eher annehmen, je weniger der Urfprung feines Namens befannt war. So bildete ſich bie Mythe, wie fie die Apoftelgefchichte und gibt.

M. dagegen ftellt Die von ihm gegebene Erzählung als Erfüllung einer Prophetenftelle dar; er nennt Jeremias, meint aber, im Namen irrend, Zach. 11, 12. Es muß alfo biefe Stelle gleichfalls fehr frühe auf Judas gedeutet worden fein. Hier ift ebenfalls von einem ſchmaͤhlich geringen Preife, um welchen Semand angefchlagen wird, naͤmlich von 30 Silbers Iingen die Rede; waren diefe Worte einmal auf den Verrath des Judas bezogen worden, wie wir fchon oben fahen, fo wurden auch alle andern Züge der Stelle fo gedeutet, und aus ihnen das weitere Schickſal des Judas mythifch entwickelt. Bei Zacharias wurde das Geld in den Tempel geworfen (2. 13); es wird, wenn aud) nach falfcher Erklärung, Er⸗ wähnung eines Töpfers gethan; an Diefen Zügen wurde fo lange gerüttelt, bis das Werfen des Geldes in den Tempel und ein Töpfer auch in die fpäteren Schidfale des Verräthers hineingebracht waren: Sollte nın einmal Judas das Geld weggeworfen haben, fo mußte er es wohl den Prieftern hin- geworfen haben, wofür diefe denn von bem Töpfer ein Grund⸗ ſtück erhandelten ıc. Das Zurückgeben des Geldes fonnte nun Folge der Reue fein; diefe Fonnte aber bei einem Judas fich nur als Verzweiflung zeigen, und fo war denn als Schlußftein des Mythus der Selbftmord von felbft gegeben. So mag bie ganze matthäifche Erzählung aus einer alt» »teftamentlichen Stelle herausgefponnen worden fein ?°).

Soviel ift gewiß, daß bes Judas Ende in der fpäteren , Sage vielfady ausgemalt wurde. Der Apoftelgefchichte folgend,

„22 | Ä 0)

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wo erzählt wird, daß fein Leib geborften fei, fagt eine weitere Ueberlieferung, .er fei fo ungeheuer angefchwollen, daß er breiter wurde, ald ein Wagen; andere, er fei von entfeblicher Waſſerſucht geplagt worden; ja fogar, er habe wegen unges heuern Anſchwellens der Augen das Tageslicht nicht mehr fehen können ıc. Miöglidy wäre es allerdings, daß Judas eines gewaltfamen Todes geftorben, allein wiffen können wir darüber nichts: denn gewiß ift er nach feinem Austritte aus dem Kreife der Sünger für dieſe fo fehr in die Dunkelheit zurüdgetreten, daß ihnen Feine fi ichere Kunde von ſeinem Ende zukommen konnte.

Sechstes Kapitel Jeſus vor Pilatus und Serodes und die Kreuzigung. (M. 27, 1, 2, 11— 30; Marf. 15, 1—19; &uf. 23, 1— 25; Joh. 18, 29; 19, 15.)

Jeſus ward, nachdem er von dem jüdifchen Gerichte ver⸗ urtheilt worden war, fogleidy zum römifchen Landpfleger Pi- latus geführt, weil ohne deffen Beftätigung Fein Sude hin⸗ gerichtet werden burfte, wie wenigftens Johannes (18, 31) angibt. Pilatus tritt fofort auf den Richterftuhl (M. 27, 9); da diejer, wie wir wiffen, im Freien ftand, fo muß die ganze Verhandlung in dem Borhofe des Palaftes, den der Landpfles ger bewohnte, vor fidy gegangen fein. Bei den Synoptifern find ſowohl Jeſus, wie die ihn verflagenden Hohenprieiter und Aelteften zugegen; Johannes aber läßt Jeſum in dag Innere des Gebäudes gebracht werden, fo daß hier Pilatus jedesmal, wenn. er ihn befragen wollte, ſich entfernen mußte. Seine erfte Frage an ihn ift die, „ob er der Juden König (der Meffias) ſei?“ bei M., Markus und Johannes muß dieß auffallen, da gar Feine Anflage über diefen Punkt von Seiten der Juden vorausgegangen ift CM. V. 11): erflärlich macht und nur Lukas diefe Frage, bei welchem die Ankläger - Sefum fogleich befchuldigen, daß er, als angebliher Kunig, Od

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Bolf gegen die Römer aufwiegle. Da Sefus auch bei Lufas, wie in den übrigen Evangelien, jene Frage ganz eins fach bejaht, fo ift es unerflärlih, wie Lukas hinzuſetzen fan, Pilatus habe, ohne die geringfte Unterfuchung anzuftels len, den fo hart Berflagten unfchuldig befunden. Eine ähn- liche Anficht laͤßt auch bei M. und Marfus Pilatus, ebenfalld ohne vorausgegangene nähere Befragung, bliden, indem er fidy erbietet, Sefum ftatt ded Barrabas (. unten) Ioszugeben. Hier gibt und nun Johannes den Schlüffel zum Näthfel, indem er ein genaues Verhör des Landpflegers mit Jeſu bes richtet (B. 33 20.): in dieſem erflärt Sefus, er fei allerdings ein König, fein Reich aber nicht von diefer Welt, und er fei nur zum Zeugniß der Wahrheit geboren, weßhalb auch feine Jünger ihn nicht gegen Die Gewalt feiner Feinde vertheidigt hätten. Dieß konnte nun allerdings den Pilatus von Sefu Unfchuld überzeugen. Wenn man über diefes Verhör das Be- benfen aufgeworfen hat, woher denn der Evangeliſt feinen Bericht darüber gefchöpft habe, da ihm zufolge Sefus ja im Inneren des Palaftes, gefondert von den Klägern und Zus fchauern, ſich befand? fo ift unter allen Antworten die die annehmbarfte, daß Die nähere Umgebung des Pilatus fpäter- hin Mittheilungen darüber gemacht haben kann. „Leicht könm⸗ ten wir indeß hier ein Gefpräch haben, das nur der eigenen Bermuthung des Evangeliften feinen Urfprung verdanfte *. In dem weiteren Verlauf der Verhandlung fchiebt num der einzige Lufas ein eigenthümliches Zwifchenipiel ein: Pilatus fendet nämlidy Jeſum, da er von den Suden gehört hatte, er fei ein Salilier (V. 5— 12), zu dem Damals gerade an⸗ weſenden Fürſten Galtläa’s, Dem Herodes, damit diefer ihn richte. Hier angekommen und befragt, gibt Sefus gar Feine Antwort, und wird fofort unter fchmählichen Mißhandlungen zu Pilatus zurücgefandt. Diefe vereinzelte Erzählung des Lufas hat aber manches Bedenklihe. Daß Sefus feinem Fürften nicht, wie er doc follte, Nede ftand, darf man nicht daraus erflären wollen, daß er ja, als in Bethlehem geboren, fein Galiläer geweſen; denn wäre auch diefe bethlehemitische Geburt mehr als hriftliche Sage, fo bliebe Jeſus, dort nur auf der Muts ter Reife geboren, immer ein Galiläer. Biel eher könnte man

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»en Grund feines Schweigens in dem eined Richters unwür⸗ digen Benehmen des Herodes (V. 8) finden; und feine Zu⸗ rücfendung an Pilatus daraus erflären, daß er doch auch anf römifchsjüdifchem Gebiete viel gewirkt hatte, und hier ers griffen worden war. Unerklärlicher ift es, weßhalb Fein ans derer Evangeliſt von dieſer Zwifchenfcene ung etwas meldet, namentlich. der vierte nicht, der doch der Apoftel Johannes fein foll; denn die Behauptung, diefer habe die Wegführung

Jeſu wohl darum nicht bemerkt, weil fie durch eine Hinter⸗ " thüre gefchehen, ift eben aud; eine Hinterthüre. Wenn nun aud) Schriftfteller, die bald nad) den Evangeliften lebten, 3 B. Juſtin, dieſes Abführeng gedenfen, fo ift doch das Schweigen der übrigen Evangelien bedenklich genug, um zu der Bermuthung zu berechtigen, die Erzählung gehöre dem Gebiete der Sage an. Es fonnte in ihrem Beftreben liegen, Jeſum vor allen. möglichen Richterftühlen in Sernfalem aufs- - treten und vor allen feine unerfchütterte Würde und Haltung behaupten zu laſſen.

Da nun Pilatus ſieht, daß die Juden ihm die Verurthei⸗ lung des von ihm unſchuldig Befundenen nicht erlaſſen wollen, bietet er ihnen an, er wolle Jeſum ſtatt des Barrabas (M. V. 17) ihnen losgeben, weil ed Sitte war, während des Feſtes einen Berurtheilten frei zu laffen (Luf. B. 17). Einen folhen konnte das Volk ſich erbitten; daher mochte Pilatus hoffen, diefes werde Jeſum verlangen, weßhalb er auch abs fichtlich ihn ihren König nannte, um fie anzureizen; er hoffte es um fo mehr, weil er wußte, daß ihn nur der Neid der herrfchenden Priefter verfolgte CM. V. 17, 18), und weil Barrabas ein gemeiner Verbrecher war. Allein das wüthend gemachte Volf verlangte lieber dieſen!

M. erzählt, daß Pilatus zw feinen Verſuchen, Sefum zu retten, ganz vorzüglich noch ermuntert wurde durch einen bes ängftigenden Traum, den fein Weib gehabt hatte (27, 19). Diefer Traum könnte allerdings gar wohl durdy die Ereig- niffe der Nacht in der Frau auf ganz natürliche Weiſe her- vorgerufen worden fein, allein da namentlich im M. Träume

II. 97

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als wunderbare Erfcheinungen betrachtet werben, fo wird andı wohl diefen der Evangelift für eine folche angefehen haben. Wir aber müflen fragen: wozu follte dieſes Wunder dienen? Für Pilatus konnte es nur eine um fo größere Strafbarteit bewirfen, da er nicht mehr zurüd konnte; .auf die Fran konnte ed auch nicht berechnet fein; denn Daß fie fpäter zum Chriften- thum übergetreten fei, ift eine reine Sage; mit ben alten Orthodoxen aber, die den Traum für einen Verſuch Des Teu⸗ feld halten, das Erlöfungswerf Jeſu, wozu defien Tod noth- wendig war, zu hintertreiben, werden wir wohl nicht gemein fchaftliche Sache machen wollen. Vielmehr ift diefer bei M. vereinzelt ftehende Zug gewiß nur ein Werk der Sage, die ſich, ganz im Geifte des Alterthums, bemühte, bintigen Ereig- niſſen auch hier einen warnenden Traum vorausgehen zu kaffen; auch hier dem vom eigenen Volke vermorfenen Heilande ein Zengniß aus dem Munde der Ungläubigen und Schwachen zu bereiten. Eben fo fagenhaft lautet eine andere, gleichfalle dem M. eigenthümliche Nachricht, daß Pilatus, nachdem er Alles vergebens verfücht, feine Hände wufch, zum Zeichen feiner Unfchuld (V. 24). Ein ſolches Händemwafchen ift ein rein jüdifcher Gebrauch, den ein Römer ſchwerlich nachgemacht haben wird; vollende unmahrfcheinlich ift es, daß ein Land: pfleger einen Mann, den er Doc zum Tode führen ließ, feier lid) einen Gerechten genannt haben fol. Die chriftliche Sage aber mochte leicht fich bewogen finden, ein ganz feierliches Zeugniß über die Unfchuld des Meffias feinem gezmungenen Bertheidiger felbft in den Mund zu legen. Und wenn nun bie Suden ihm erwidern, „Sefu Blut möge über fie und ihre Kinder fommen“, fo Klingt dieß doc ganz wie vom Stand: punkte der fpäteren Chriften aus gefprochen, die das alsbald über das jüdifche Wolf hereinbrechende Unglück ald eine Strafe für den an Jeſu begangenen Mord betrachteten.

Pilatus läßt nun Sefum geißeln; bei M. und Marfus ger ſchieht dieß als Einleitung zur Kreuzigung, dem bei den Rös mern gewöhnlichen barbarifchen Gebrauche gemäß (M. B. 26); Lukas und Sohannes ftellen Die Sache andere. Der er; ftere läßt den Pilatus die Geißelung den Suden uur anbies ten, um ihn dann frei zu geben (®. 16), ohne daß es wirklich

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geichieht, weil fie fich Damit nicht begnügen wollen. Bei Johannes wirb dieſes Vorhaben. wirffich von Pilatus audges führt, ofme daß der Pöbel durch den Anbli des Mißhandel⸗ ten fich rühren läßt (19, 5). Ohne Zweifel haben die beiden Ießteren eine fagenhafte Umbildung des von den erfteren Evans geliften getreu berichteten Faktums, um das Beftreben des Pilatus, Iefum zu -retten, auf das Höchite zu fteigern. Weiterhin wird Jeſus von den Kriegsfnechten verfpottet, ins dem fie ihn mit Purpurmantel und Dornenkrone ſchmücken AM. B. 28, 29): der Moment, in welchem dieß gefchah, wird verfchieden angegeben; bei M. und Markus gefchieht es nach der DBerurtheilung, bei Lukas beim Wegführen von Herodes 3. 11), bei Sohanned vor dem nachgebenden Urtheile des Pilatus (19, 5). Diefe verfchiedenen Angaben laſſen fich nicht mit einander vereinbaren, und man fieht, daß die Ueberliefe⸗ rung die fihere Kunde von dem Zufammenhange diefer Miß⸗ handlung mit allen übrigen - Vorgängen verloren hatte. Johannes berichtet und endlich noch den wahrfcheinlic, ganz

richtigen Schluß diefer tumultwarifchen Gerichtöfeene: da Pis |

latus flandhaft darauf beharren will, Sefum frei zu fprecdhen, fo laffen die Juden die Drohung bliden, ihn bei dem Kaifer verflagen zu wollen (19, 12 ıc.); und dieſer gewaltfame Be⸗ weisgrund mochte allerdings bei dem offenbar ſchwachen und charafterlofen Pilatus am fchlagenöften wirfen.

CM. 27, 31 —56; Mark. 15, 20—41; Luk. 233, 1649; Joh. 19, 16—37.)

| Indem wir zur Gefchichte der KRreuzigung felbft übers

gehen, faffen wir uur diejenigen Punkte in’d Auge, worin Die Evangeliften nicht übereinftimmen. Schon über den Hingang zum Orte der Hinrichtung weichen die Synoptifer von Jo⸗ hannes ab: während jene berichten, daß ein gewiffer Simon aus Kyrene (nach Mark. V. 21 war er der Bater ded Rufus und Alerander, zweier in der fpäteren Chriftengemeinde ges achteter Männer) Jeſu das Kreuz tragen mußte M. V. 32), läßt Sohannes es ihn felbft tragen, und zwar bis er nach Gols

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gatha kam (B. 17), demnach auf dem ganzen Wege. Dies fer offenbare Widerſpruch erklärt füh am einfachften fo, Daß die Synoptifer das Richtige haben, dem Johannes aber diefer bejondere Zug unbefannt blieb, und er alfo annahm, eg werde auch Jeſu nach "dem herfümmlichen Brauche fein Kreuz felbit getragen haben. Nur Lukas erzählt, Daß eine wehlflagende Volksmaſſe Jeſu nachgefolgt fei, welder er ihr eigenes Fünftiges Elend verfündet (23, 27 ꝛc.); und zwar in Worten, die offenbar aus feinen früheren Reden über das Weltende CM. 24 u. 25) entlehnt, und wohl irriger Weiſe hierher verfegt find. Der Drt ber Hinrichtung wird von allen Evangeliften „Solgatha“, d. h. Schäbdelftätte (M. V. 33), genannt: ohne Zweifel ftammt der Name von der traurigen

Beſtimmung des Ortes her. Die Folge der einzelnen

Handlungen auf dem Richtplatze erzählt M. offenbar unrich⸗ tiger, als die andern, indem er die Verloofung der Kleider von Sefu der Kreuzigung der beiden Mifjethäter vorausgehen läßt, da doc, ohne Zweifel jene Handlung der Soldaten erft nach Vollendung der ganzen Henferarbeit gefchehen konnte. In Bezug auf die Art der Kreuzigung kann man zweifels' haft fein, ob Sefus nur an den Händen, oder auch an ben Füßen angenagelt worden fei: für beide Anfichten laſſen ſich gute Gründe aufbringen; nur muß man fid) bei der Entfcheis dung nicht von vorgefaßten Meinungen leiten laffen, wie die Drthodoren und die Rationaliften.. Jene beftehen auf der Durchbohrung der Füße, weil fie darin die Erfüllung einer Weiffagung, Pf. 22, 17, die ſich Doch gar nicht auf den Meſ⸗ ſias bezieht, erbliden; Diefe protefliren gegen dad Annageln der Füße, weil der nad) ihrer Borausfeßung nur [cheintodte Jeſus (ſ. unten) dann unmöglich fo bald wieder hätte einher gehen künnen. Gegen bie Fußannagelung kann man anfühs ren, daß die Evangeliften nirgends. jene Pfalmftelle auf Jeſum anwenden, was ihnen fonft fo nahe gelegen hätte; und daß nach der Auferftehung nur den Wunden an den Händen umd . in der Seite, nirgends einer foldyen an den Füßen gedacht wird. Für die Durchbohrung der Füße läßt fich aber Ge⸗ wichtigere anführen, weßhalb Diefelbe als wirklich erfolgt zu betrachten ift: denn wie follte ſonſt Jeſus dazu kommen,

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Lut. 24, 39 zu fagen: „fehet meine Hände und meine Füße an“? Da ferner die Krengigung eine eigenthümlich römis ſche Strafe ift, fo muß als entfcheidend angefehen werben, daß die gewöhnliche Kreuzigung von einem alten römiſchen Dichter nach der vwahrfcheinlichften Erklärung als eine an Händen und Füßen bezeichnet if. Wenn nun Kirchenväter von der „ungewöhnlichen Bitterfeit der Kreuzigung reden, fo. muß man dieß alfo nicht von einer ungewöhnlichen Art derjelben, fondern nur einfach von Diefer Strafe überhaupt, die im alten Teſtamente unerhört ift, verftehen.

Allen Evangeliften zufolge wird Sefu, ald er am Kreuze hing, ein Getränfe angeboten; bei M. und Markus gefchieht dieß auch ſchon vor der Kreuzigung, fo daß Diefe von zwei⸗ ‚maligem Tränfen reden (CM. V. 34, 48). Alle die verfchie- denen Angaben weichen aber fehr von einander ab; fchon jene erfte Tränfung ift bei Markus (V. 23) eine mit Myrr⸗ henwein, bei M. mit Effig und Galle (V. 34), worin dieſer Evangelift ohne Zweifel die Erfüllung einer Weiffagung, Pſ. 69, 22, erblidt. Die fpätere Tränfung gejchieht zwar bei Allen mit bloßem Effig, in den befonderen Umftänden herrfcht ‘aber große Verfchiedenheit: nad, Lukas war fie eine Verhöh⸗ nung durch die Soldaten (V. 36); nad) Marfus Verfpottung eines anderen Menfchen, und viel fpäter, als bei Lukas (®. 36) 5 bei M. gefchieht es in guter Abficht (®. 48); bei Johannes geht ein ansdrüdliches Begehren Jeſu voran CB. 29). Man erhält alfo, will man alle diefe Darftellungen als vollfommen richtig ftehen Taffen, etwa 5—6 verfchiedene Tränfungen, was doch eine zu große Unmahrfcheinlichfeit wäre. Wahricheinlich iſt Vielmehr nur das gefchichtlich, daß Sefu am Kreuze Myrr⸗ henmwein gereicht wurde, den man nach jüdifcher Sitte den Hinzurichtenden zur Betäubung des Schmerzes zu geben pflegte; nun bezog man aber fchon frühe jene Pfalmftelle auf Jeſum (vergl. Joh. V. 28), wonach die Sage diefe Tränfung frühs zeitig in eine mit Effig, dann wohl, um die Weiffagung ganz in Erfüllung gehen zu laffen, noch buchftäblicher in eine mit untermifchter Galle umdichtete. So entitanden die verfchiedes nen Variationen, wie wir fie jegt noch leſen; die beiden erften Evangelien melden von zwei Zränfungen, weil fie die weist

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Formen derfelben Erzählung für zwei verfchiedene Tihatfachen hielten. Sedoch könnte es auch.wohl der Fall gewefen fein, dag man nach jenem Myrrhenwein Jeſu auch noch Eifig ges reicht hätte. ü Mit der Angabe, daß Sefus am Kreuze gerufen habe: „Bater, vergib ihnen, denn fie wiffen nicht, was fie thun“, ſteht Lukas ganz allein (V. 34); aus diefem Grunde darf derſelbe, obgleidy er ganz der edlen Feindedliebe Jeſu anges meſſen ift, in Zweifel geftellt werden; um fo mehr, ba er gar leicht aus den für meffianifch gehaltenen Kay. 52 des Jeſaias, beflen letzter Vers ganz ähnliche Worte enthält, fommen konnte.

Allen Evangelien zufolge wurden mit Sefu auch zwei „Miſſethäter“ gefreuzigt; ein Umftand, ber an ſich nicht bezweifelt werden darf: dagegen verdienen die -verfchiebenen Darftellungen desfelben nähere Erwägung. Bei Johannes &. 18) verhalten dieſe Miffethäter fi) ganz tumm; bei. und Markus (M. B. 44) läftern fie beide Jeſum; bei Lukas CB. 39) nur der Eine, der dafür von dem andern zurecht gewiefen wird.; leßterem verheißt Sefus, daß er noch heute mit ihm in's Paradies kommen werde. Diefe Widerfprüche laffen fid) nicht ausgleichen; es entſteht daher die Frage, wer am richtigften die Sache erzähle? Daß jene Unglücdlichen Sefum, wie die drei Synoptifer berichten, für den Meffias gehalten haben, ift durchaus unmöglich; denn die ganze Idee eines fterbenden Meffias war, wie wir früher fahen, ben Juden ganz fremd; und da felbft die Sünger diefe Idee erft nach Jeſu Auferftehung zu faffen vermochten, fo müßte ein Ränber, oder, wie Andere wollen, ein Aufrührer, der fichers lich doch nur irdifche Hoffnungen von einem Meffiagreiche hegte, den Apoſteln in Erfenntniß vorangeeilt fein. Wir können daher als Thatfache nur den einfachen Umftand, daß Sefus zwei Leidensgenoſſen hatte, feithalten: die Sage war ‚8, die diefe in die Schmähungen auf Jeſum einftimmen ließ. + Doc, die Mitgefreuzigten ließen ſich von diefer noch beffer benügen*: es mußte weiterhin ihn wenigftens Einer, wie früs her Pilatus, und fpäter ein heidnifcher Hauptmann (f. unten)

N) | Zeugniß für Iefum ablegen, unb dafür von dieſem eine Zufidyerung erhalten, die. ganz den jüdifchen Borftellungen anpemeffen war, vermöge welcher bie Frommen von ihrem Tode an bis zur Auferftehung in dem Paradiefe verweilten, und. nach welcher in dieſes Paradies auch die bei bem Tode eines Frommen Anwefenden gelangen fonnten. Nach der Krenzigung warb über Jeſu eine ſeine Schuld mit den Wor⸗ ten „Jeſus, der Suden König“ ansfprechende Ueberſchrift auf⸗ gehängt, der römischen Sitte gemäß; nur Sohannes G. 21) meldet, daß . die jüdifchen Dbern darin einen Spott über ihr Volk erblickten.

Hierauf ſollen die Kriegsknechte die Gewande Jeſu unter ſich vertheilt haben; auch dieſes iſt ganz dem Gebrauche der Römer entſprechend, der den Vollſtreckern des Urtheils Die . Kleider des Getödteten überließ. Bedenklich ift- inzwiichen ſchon das, daß bie Evangeliften auch hierin. Die Erfüllung einer Weiffagung, Pf. 22, 19, erblicdten (M. B. 35), die-fie wohl nad) ihren jüdischen Vorftellungen -für mefftanifch halten konn⸗ ten, die aber die Gelehrten der neueren Zeit doch endlich als ſolche aufgeben follten. Bedenklicher noch ift es, daß bie Evangeliften in ihren befonderen Angaben von einander abs weichen;. bei den drei erften loofen die Soldaten um alle Kleivungsftüde, was namentlid Markus ®. 24 mit unzwei⸗ fefhafter Deutlichfeit fagt, während Sohannes fie nur um das Linterffeid looſen läßt (V. 23 ıc.). Nun darf man aber: nicht annehmen, daß bie eriteren die Sache nur unbeftimmt, der leßtere dagegen beftimmter angebe; fondern diefer hat die Pfalmftelle, welche erfüllt worden fein fol, falfch verftanden; bier nämlidy ift von einem „DBertheilen und Berloofen der Kleider die Nede, was aber im Geifte der poetifchen Sprache der Hebräer ?% nichts anderes ift, ald doppelter Ansdrad für eine und Diefelbe Handlung. Der Berfafler des vierten Evangeliums fah jedoch hierin auch eine doppelte Handkung geweiffagt, nahm alfo an, es müffe nur ein Theil, der Gewande verloost worden fein, und theilte dieſes Loos dem Linterfleide zu; mahrfcheinlich weil er in dem Umſtande,

3) Siehe die Anmerkung.

Daß dasfelbe aus Einem Stüde ohne Nath beſtand, einen be, fondern Grund dafür zu finden glaubte. Diefe an fich unbe- bentende Barietät iſt doch darum von Gewicht, weil: fie den Verdacht erregt, die ganze Berloofungsgefchichte möge ans dem Beftreben entſtanden fein, alle Züge des für meſſiauiſch gehaltenen Pfalms in Erfüllung gehen zu laſſen.

Bon. dem Benehmen ber bei'm Kreuze anweſenden Juden weiß Johannes nichts: bei den übrigen Dreien verſpotten ſie, namentlich die Volksobern (Luk. V. 35), Jeſum auf mannig⸗ fache Weiſe. Dieß mag von dem haßerfüllten vornehmen Poͤbel wohl geſchehen fein; nur nicht mit den Worten, wie - ed und berichtet wird. Denn andy dieſe find zu fichtlich einer Stelle jenes Pfalmed 22 (V. 8) nachgebildet, und biefe Stelle war den Suden fo heilig, daß die Schriftgelehrten fie nicht hätten fpottweife in ben Mund nehmen fünnen, ohne ſich als Gottloſe darzuftellen, wovor ſich ein Pharifäer wohl wird gehütet haben; fie ihnen aber in den Mund zu legen, mußte der chrütlichen Sage nahe genug liegen.

. Daß einer der Zwölfe bei Jeſu Kreuze gegemmwärtig ges weien, davon melden M. und Markus nichts; vielmehr fcheis nen fie bier von ihrer Flucht bei Sefu -Gefangennehmung fich noch nicht wieder gefammelt zu haben; bei Lufas find fie zu⸗ gegen (V. 49), und das vierte Evangelium nennt ald gegens wärtig ausdrüdlich den Sohannes, dem Jeſus noch vom Kreuze herab feine Mutter empftehlt (B. 25). Daß dieſe rührende Scene in allen andern Evangelien fehlt, ift unbes greiflich; wie konnte eine folche in der Leberlieferung, welcher diefe folgten, fo ganz verloren gehen? oder wie konnte fie von ihnen, wenn fie ihnen befannt war, fo ganz übergangen wers den? Weit begreiflicher ift e8, wie eine folche in dem Kreife, woraus das vierte Evangelium hervorging, erdichtet wer den konnte: hier genoß Johannes ganz befondere Verehrung; hier galt er vorzugsweiſe ald der „Liebling des Herrn“, und

wie konnte dieſes beffer bethätigt werden, ald wenn ihm Jeſus die theuerſte Hinterlaffenfchaft, feine Mutter, übergab und ihn dadurch gleichjam zum Stellvertreter Chrifti machte?

| I a Dagegen haben nur M. und Markus den fchmerzlichen - Ansruf Ten: am Kreuzer: „Eli, Eli, lama ıc. (M. V. 36): Dieſer, der den Gegnern bes Chriſtenthums ähnliche: Waffen in.bie Hand gab, wie der Seelenkampf auf. Gethfemane, wird von ‚der. Kirchenlehre. ald Ausbrud eines inneren Zuftandes betrachtet, der zu dem ftellvertretenden Leiden Jeſu ges bört. habe:. fein Schmerz fei entſtanden aus dem Zurückweichen Gottes von feinem Innern, wobei er den, von den Mens. fchen verdienten, göttlihen Zorn empfimben habe. : Aber, ſelbſt die kirchliche Anficht von Jeſu Perfon feftgehälten, ift ein folched „Zurudweicdhen Gottes“ ganz undenkbar; betraf. es Jeſu menfchliche Natur? fo. wäre fie von der göttlichen. Iosgeriffien worden; feine göttliche? fo wären die Perfonen Gottes in fich entzweit geweſen; ihn, den Gottmenſchen? dann :wäre bie Unzertrennlichkeit des Gottinenfchlichen aufger “hoben worben.. Man hat daher die Sache milder genommen: Sefus habe in feinem Leiden fic, jenes Pfalmes erinnert, bei . auch er auf den Meffias, d. h. auf ſich bezog, und nun befs fen Anfangsworte (Pf. 22, 1) laut ausgefprochen, wobei ihm die weiteshin folgenden (V. 10, 12) freudig erhabenen Stellen desfelben im Sinne gelegen. Allein dann mußte er auch nur diefe laut ausfprechen, wenn er nicht feine Umge⸗ sung über feine innere Stimmung irre führen wollte. Indeſ⸗ fen eben der Umftand, daß jene Worte den Anfang eines Pfalmes Hilden, den man als die klarſte Vorherverfündigung von dem leidenden Meffias betrachtete, führt und von felbft zur richtigen Erklärung. Grade diefe Anfangsworte mußten, wenn fie auch nicht von Jeſus gefprochen worben,; „Dem ges freuzigten Meſſias in den Mund gelegt werben*: denn fie drücken die tiefite Tiefe Des mefjianifchen Leidens aus.

Die legten Worte, welche Sefus vor feinem Ende ſprach, werben von M. und Markus (M. B. 50) nur eine „Tante Stimme“ genannt; bei Lukas fagt er: „Vater, in Deine Häns de ıc.“ (V. 46); bei Johannes: „es ift vollbradıt* (V. 30). Beide Ausrufe kann Jeſus nicht nacheinander gethan haben, da jeder der zwei Evangeliften Anfpruch darauf macht, den vollen lebten Ruf Jeſu zu melden. Vielmehr hat wahrs

ſcheinlich Johannes das Richtige, und Lukas hat nur den von

| Ä are Schi Hintritt gebräuchlichen Ausdruck: „er befahl Gott feine Seele“ zu einem unmittelbaren Stoßgebete Jeſu ungewandelt. Halten wir überhaupt alle Ausſprüche, welche und bie Eomgeliften von dem: Gefrezigten angeben, bie fogenannten Sieben Worte, prüfehd- neben einander, fo finden wir, baß er fie unmoͤglich alle gethan haben kann; ſondern nur einige berfelben, und daß Jeder eben nur das melbet, was ihm bie Sage oder feine eigenen Schlüffe aus ben vorliegenden Weiſ⸗

fagungen an die Hand gaben... et us Endlich hat noch die Zeitbeſt immung ber Kreuzigung einige Schwierigkeit. Nach den brei Synoptikern verſchied Jeſus um die „neunte“ Stunde, d. i. um drei. Uhr Nach⸗ mittags; nach Markus ward er um die „dritte“ (alſo 9 Uhr Vormittags) gekreuzigt (V. 25); nach Johannes aber faß Pilatus noch um die „ſechsſste“ (12 Uhr Mittags) zu Ges richt; ein Widerfpruch, bee fic nur durch die Annahme Löfen laäßt, daß Johannes von einer andern Stundenzählung aus⸗

gegangen fei.

| Siebentes Kapitel. Naturwunder bei Iefu Tude, der Lanzenftih in - Jeſu Seite und fein Begräbniß.

Siehe die zuletzt angegebenen Stellen. )

Von anßerordentlihen Naturerfcheinungen, die bei Jeſu Tode fich ereignet haben follen, erzählt Sohannes durchaus nichts; Markus und Lukas berichten von einer plößlich ein; getretenen Finfterniß und bem Zerreißen ded Tempelvors hanges; wozu M. noch ein Erdbeben und die Auferftehung ber Leiber vieler Frommen fügt. Was zuerft die Berfins ſterung der Sonne betrifft, fo kann dieß feine gewöhnliche Sonnenfinſterniß gewefen fein, da eine folhe am Paſcha, d. h. zur Zeit des Vollmonds, unmöglich if. Man müßte alſo an eine Verdunkelung durch Lufterfcheinungen denken, Die allerdings, namentlich bei Erdbeben, ftattfinden kann; jedoch nicht fo, ‘daß fie ſich „über die ganze Erde" erſtreckt (MR.

. 8. 45): und überbieß acht aus dem gangen Zufeumenhane ‚hervor, daß bie Evangeliften bie Erſcheinung als ein. Wunder betrachten, beiten Zwechnäßigfeit wir aber nicht einfehen kon⸗ nen. Allein wenn wir und erinnern, wie in faſt allen Theilen der alten Geſchichte Finfterniffe beim Tode berühmter Männer (Romulus, Julius Caͤſar ıc.) eintreten, wie in altsteflaments

lichen Stellen ef. 50, 3 u. A.) die Verfinfterung des Tages⸗

lichtes als Zeichen göttlicher Trauer betrachtet. wird; wie nach Rabbinen die Sonne. fi verfinftert bei dem Tode: hoheprie⸗ ſterlicher Perfonen: können wir da wohl zweifelhaft. barüber fein, daß wir auch bier mur eine aus Zeitworftellungen her⸗ vorgegangene chriftliche Sage haben, welche die ganze Natur bei dem Tode bes Meſſias mittrauern ließ? .

Ganz dasfelbe muß nun auch, im Zufammenhange mit - der Finſterniß, von dem Erdbeben gelten.

Vollends undenkbar iſt das Zerreißen des Tempeloorr

hanges, (ohne Zweifel it es der das Allerheiligfie abſon⸗ dernde gemeint); denn fest man auch, was bie Evangeliften aber nirgends thun (vergl. Mark. B. 38), damit das Erdbeben in Berbindung, fo ift doch das Zerbrechen eines vielfach nach⸗ gebenden Gegenftandes bei einer Erberfchütterung etwas Ins erhörtes, was nicht einmal durch willfürliche Annahmen, 5. B. der Vorhang. fei auf beiden Seiten befeftigt, er fei fchon mürbe geweſen 2c., glaulbich gemacht werben fann. Als Wun⸗ Der fünnen wir den Borfall fchon darum nicht gelten laſſen, weil der einzig denkbare Zweck besfelben, ben Glauben an Jeſum zu befördern, nicht erreicht worden wäre, indem nirs gende mehr von ihm die Rede ift:. alfo kann die Sache

gar nicht gefchehen fein. Wohl aber ift die Entſtehung

eines folhen Mythus vom zerriffenen Vorhange leicht nach- zuweiſen. Schon im Hebräerbriefe G. B, 6, 19; 9, 6-19 heißt es, Chriftus fei ald ewiger Hoherpriefter „in das Ins nere bed Vorhanges“, in das Allerheiligfte bes Himmels, eins gegangen, und habe auch ben Ghriften den Eingang bahin eröffnet, während vor ihm nur ber Hohepriefter es einmal im Sahre betreten durfte. Wie Leicht konnten folche finnbilbs

liche Reden noch weiter dahin ausgeführt werden: „Jeſus hat-

durch feinen Tod den Vorhang bes Tempels zerriſſen“! und

2

28 wie bald mußte: ſich in ‚dem Geifie ber Zeit dieſes Sild einer Erklaͤrung verförpern, wie wir fie hier vor une haben!

um fo mehr, da eine folche den ehemaligen Heiden recht au⸗ ſchaulich machen konnte, daß fie nicht nöthig hatten, in das Judenthum einzutreten, bevor fie Chriſten wurden!

Am fchwierigften it Das nur von M. berichtete Wunder⸗ zeichen, baß die Gräber fich öffneten, viele Todte hervor⸗ fliegen und fich nach Jeſu Auferftehung (warum nicht fogleich?) in Serufalem oͤffentlich zeigten; ein begrünbeter. Zweck läßt fih andy von diefem Wunder nicht nachweifen, ba basfelbe feinen Eindruck gemacht zu haben fcheint, und man ſich nir⸗ gende im neuen Teftamente auf basjelbe beruft. Die natürs liche Erklärung kann und auch nicht befriedigen: daß naͤmlich durch das Erdbeben mehrere Grabmäler verfchüttet, Daß bie Leichname in denſelben nicht mehr vorgefunden worben; daß dieſe Thatfache, verbunden wit ben nach Jeſn Auferftehung erregten Auferweckungsgedanken, Bifionen und Träume erzengt habe, in denen man die Tobten aus den Gräbern hervorſtei⸗ gen zu fehen glaubte ꝛc. Weit natürlicher ift es, biefe Er⸗ zählıng als eine Sage, hervorgegangen aus der verbreiteten jüdifchen Erwartung, der Meſſias werde die verftorbenen frommen Siraeliten auferweden, zu betrachten: wobei wir denn weder Träume noch Ieergeworbene Gräber, Beides gleich umwahrfcheinlich, in Anfpruc, zu nehmen haben.

Mit der Entitehung diefes Mythus mochte es fich aber fo verhalten haben: die. Chriften freilich hatten jene jüdifche Erwartung dahin. umgebildet, daß ihr Meffias, Jeſus, bei feiner erſten Wiederkimft mm die Frommen erweden, mit ihnen tanfend Jahre herrfchen, und aledann aud) alle Todten aus den Gräbern rufen werde. Diefe von Paulus (1 Ker. 15, 22 0.) mehrmals audgefprochene Anficht liegt aber unferm Mythus noch ferne, der, wahrfcheinlich unter Subenchriften ent ftanden, fich noch enger an die jübifche Borftellung anfchließt, and bie Auferftehung der Frommen noch in die erfte Ans weſenheit Iefu auf Erden verlegt. Sie grade mit feinem Tode in Verbindung zu bringen, dazu Fonnte ihn theils ber

m äußere Grund, daß in der Ueberkieferung von einem damals

eingetretenen Erdbeben, Tas auch die Gräber erichütterte, bie Rede war; theild der innere Grund veranlaflen,. baß

grade der Tod Jeſu "ald der eigentlich ‚entfcheidende Augen _

blick der Erlöfung betrachtet wurde, weßhalb Jeſu ja nach 1 Petr. 3, 19 fogleich nach demfelben in die Unterwelt gehen mußte, um bie früher Verftorbenen zu befreien. Ä :Den Schluß ber Krenzigungsgefchichte macht ‚bei deu: Sy, noptifern der bewundernde Ausruf des römifhen Haupt manns; daß er. dazu durch bas laute Schreien Jeſu, wie Marl: B. 29 fagt, bewogen worden fein fol, it fehr un⸗ PO ‚da dieß fein Zeichen ruhiger, göttlicher Faſſung wahrfcheinliher ift der Zufammenhang bei Lukas = 47), wo die Bewunderung bes Hauptmanns ſich nah dem lebten Gebete Jeſu ausfpricht; am meiften begründet wäre fie bei M. (®. 54), wo fie durch das Erbbeben unb Anderes bei Jeſn Tode hervorgerufen wird, wenn nur nicht dieſe Erzählungen ſo wenig gefcichtlichen Boden hätten! Auch das ift bei M. fehr unwahrſcheinlich, daß der heibnis ſche Hauptmann Zefum als Meffias („Sohn Gottes“) er⸗ kannt haben foll; eher könnte er ihn nad) Lukas einen „ges rechten Mann genannt haben: aber auch diefer Zug muß, - als Schlußftein einer Reihe ſagenhafter Büge, in Zweifel geftellt werben.

Der einzige Sohannes ift ed, der ung erzählt, baß die: Juden, um nicht durdy das Hängenbleiben "der Gefreuzigten den bevorftehenden hohen Sabbat entmeiht zu fehen, den Pilas. tus baten, denfelben die Beine zerfchlagen und fie dann herabs nehmen zu laſſen; ben beiden Mitgefreuzigten gefchah dieß; Jeſu aber, den man fchon für todt hielt, gab ein Soldat nur einen Tanzenftic in die Seite, worauf Blut und Waſſer floß (Soh. 19, 31 - 37). | .. Sn diefem Lanzenſtiche fieht ‚man. gewöhnlich den Haupt⸗ beweis für den wirklichen Tod Jeſu, den man ſonſt be⸗ zweifeln könne, da er nur kurze Zeit am Kreuze hing; nach Markus ſechs Stunden, von 9 bis 3 Uhr, nach M. und:

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Lakas wahrfcheinlich mr drei, von 12 bis 3 Uhr, mad Johames gar (|. oben) nır 2—3 Stunden. So fdmell tödtet fonft Die Kreuzigung nicht; Manche lebten nach derſelben noch mehrere Tage. Während daher alte Kirdyemoäter in dem fihnellen Ende Jeſu ein Wunder fehen, leiten Neuere es von den großen vorausgegangenen Leiden Jeſu ber, wobei fie zum Theile es umbeflimmt laſſen, ob nicht erft jener Lanzen⸗ Rich den nur Ohmmächtigen vollends getöbtet habe. Aber eben diefer Lanzenſtich war von jeher ein Krenz für die Aus leger; weder das Werkzeug ift und genau befaunt; denn bie „Lanze“ kann eben fo gut die große, ſchwere geweſen fein, wie der leichte Wurfipieß; das von Luther mit „öffnen“ überfette Wort kann eben fowohl von einem bloßen Riten oder unblutigen Stoßen, ald vou tieferem Einbohren gebraucht werben; als Stelle der Verwundung ift allgemein ur bie Seite angegeben, worunter die rechte, wie bie linfe, von ber Schulter bis zur Hüfte, verftanden: fein kann. Dürfte man freilich annehmen, der Soldat habe Jeſum vollends tödten “wollen, fo wäre man leichter im Reinen; allein dieſe Abficht hatte der Soldat gewiß nicht; fonft hätte er Jeſu andy bie Beine zerfchlagen, und ſich nidıt mit dem Beweife für Set Tod begnügt, den er in dem Waſſer und Blut, das aus ber Wunde floß, erblidte.

Daß aber Blut und Wafler herausflog, muß nach dem Urtheile berühmter Aerzte durchaus in Abrede geftellt werben; denn daß, wie Einige glauben, das Waſſer aus dem Herz beutel gefommen fei, in welchem bei manchen Zodesarten fich (namlich fehr wenig) Waſſer anfammle, bedarf femer Wider; legung. Nun verhält fich aber Die Sache bei den Leichnamen fo: höchftens eine Stunde nad) dem Tode fließt noch aus einer gemachten Wunde Blut; außer nach befonderen Krank heiten, Exitiden, Rervenfiebern ıc., in welchem Falle das But länger flüffig bleibt. Iſt es aber einmal gerommen, fo fließt Nichts mehr aus der Wunde, weder Blut noh Waffer. Demmach fünnte nach dem Lanzenftiche höchſtens nur Blut geflofien fein; nämlich wenn entweder Jeſus erfticht wäre, was aber bei Iemanden, der noch bis zum fetten Augenblicke redet, nicht gefchehen fein kann, oder wenn er erft vor einer Stunde

geſtorben war, was gegen alle. Berichte ‚geht, nach welchen die Kreuzabnahme um 6, der. Tod um.3 Uhr: erfolgte „Schwerlich alfo hat der Urheber dieſes Zuges. im vierten Evangelium Blut und Waffer felbft aus ber Seite Sefu ale Zeichen bed erfolgten Todes kommen ſehen; fonbern weil er bei Blutlaͤſſen fchon jene Scheidung im erfterbenden Blute gefehen hatte, und ihm anlag, eine fichere Probe für den Tob Jeſu zu bekommen, ließ er aus deſſen verwundetem keichname jene geſchiedenen Beſtandtheile fließen*.

Dennoch verſichert der Verfaſſer bes Evangeliums auf Angelegentlichite (V. 35), daß fich dieß wirklich mit Jeſu jugetragen habe; ohne Zweifel, um dadurch den wirklichen Tod Jeſu zu bezeugen, der gewiß fchon damals von Vielen bezweifelt wurde. Eine ähnliche Todesprobe gibt, fehr wahrs fcheinlich aus -Demfelben Grunde, auch Markus, indem er den Pilatus ſich wundern laßt, daß Jeſus ſchon geftorben fein folle, worauf ein Hauptmann Die Sache unterſuchen mußte, und meldete: „ber Gekreuzigte fei längft fchon todt“ (V. 44,45). Als Schluß feiner Erzählung führt Sohannes noch zwei ultsteftamentliche Weiffagungen an, die an Sefu in Erfüllung gegangen fein follen, die eine (2 Mof. 12, 42) dadurch, daß ihm nicht die Beine zerfchlagen worden; bie andere (Zach. 12, 10) durdy den Lanzenſtich (V. 36, 37); Stellen, welche von nichts weniger reden, ald vom Meſſias, aber allerdings fehon frühe von den Chriften, wie fo mancher Unglückspſalm, auf Jeſum gedeutet worden fein mögen.

Fragen wir nun nach der Glaubwürdigkeit diefer ganzen johammeifchen Erzählung, fo beruht zunächft grade das, worauf ber Erzähler am meilten Werth legt, das Blut und Waffer, auf einer Tänfchung, Die doch auch der Soldat getheilt haben müßte; denn hätte er nur Blut zu fehen geglaubt, fo würde er, dieß als Zeichen bes noch nicht erfolgten Todes betrach⸗ tend, auch Jeſu die Beine zerfchlagen haben. Ueberdieß tft dieſes Beinezerfchlagen bei Gefrenzigten fonft ganz ohne Bei⸗ fpiel; und es bleibt daher unfere Erzählung, wenn auch nicht gradezu erdichtet, doch immer fehr unficher; nur das Fam als ausgemacht angefehen werben, daß wirklich die Leichname

2 noch vor Eonnuenmntergang herabgenonnnen wurben, weil dieß dem jũdiſchen Geſetze (5 Mof. 21, 22) ganz gemäß ift.

M. 9, 57-61; Mark. 15, 42, 16, 2; Lut. 23, 50-56; " | Soh. 19, 38 42.)

Nach jüdifchem Brauche hätte num Jeſu Leichnam auf ber Kichtftätte felbft verfcharrt werben follen; allein Sofeph von Arimathäa, ein angefehener Dann (Ratheherr, Luf.) und heimlicher Anhänger Sefu, erbat fich die Leiche von Pilatus, erhielt diefelbe, und beftattete fie fofort noch am Abende in einem anftändigen Grabe, wobei ihm mehrere galiläifche Weiber, und nach Sohannes auch Nifodemus, hüffreiche Hand Teilteten, Ueber die Art dieſes Begräbniß gehen aber mın die Evan geliſten fo fehr auseinander, daß es bei allen angeftellten Berfuchen unmöglidy erfcheint, fie zu vereinigen. Laut M. (f. die Stellen) wird der Leichnam ohne Weiteres nur in Linnen gewicelt in die Gruft gelegt; nach Sohannes zugleich einbalfamirt, und zwar von Nifodemus mit hundert Pfund Spezereien, was eine unerhörte, übertriebene Maffe ift; bei Lufas faufen die Weiber Spegereien, verſchieben aber das Einbalfamiren bis nach dem Sabbat; bei Markus wird von ihnen auch noch der Einfauf bie dahin verfchoben. Vorerſt wollte man bie beiden letteren Evangeliften mit einander ausgleichen, indem Einige des Marfus Worte (16, 9: „Da der Sabbat vorüber war, Fauften Markus ıe., auf daß fie ihn falbten“, umdrehen wollten in: „ba ber Sabbat ıc., hatten Markus gefauft (nämlich ſchon vors her!), auf daß fie ꝛc.“, andere dagegen dem Lukas feine Angabe (B. 56): „fie Fehrten heim, und bereiteten Speges rei ıc., und über den Sabbat waren fie fille ꝛc.“, gleichfam im Munde umwandeln in: „fie Eehrten heim und befchloffen, Spezereien zu Faufen; thaten es aber erft nad) dem Sabbat“. Seder fühlt, wie unerlaubt diefe Gewaltthätigfeiten find! Nicht glüdlicher ift eine andere Auslegung, dahin gehend: „die vor dem Sabbat bereiteten Spezereien waren nicht hins reichend, und die Frauen lieferten noch weitere nach dem

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Sabbate Hi“ Will man’ aber einmal allgemeinen” Frieden Kiften, fo .muß man baun auch ben Johannes mit feinen hundert Pfund. binzunehmen, und biefe Maffe hätte roch nicht bingereicht? Daher fagen Andere, es fehlte nur. noch an ber rechten. Zubereitung des Leichnams; dieſe ſollte nach dem Sabbat noch vollendet werden; aber fagt denn nicht Johannes auodrücklich V. 40: „fie nahmen. den Leichnam und banden ihn in Tücher mit Spezerein, wie bie-Inben m beſtatten pflegen“! alfo war fchon Alles in befter Ord⸗ nung! Am übeliten ift noch eine letzte Austumfe: . die Weiber haben von der Einbalfamirung nichts gewußt“; als wenn fie nicht mit Augen angefehen hätten, „wo? * (Mark. DB. 47) und „wie?“ Ruf. V. 55) man ben Leichnam hins gelegt hatte!

ft demnach das Zugeftäandniß unvermeidlich, daß die Bes richte fehr verſchieden find, fo erflärt man fich die Verichies denheit vielleicht am beiten fo. In allen Evangelien lefen wir von einer Salbung am bethanifchen Mahle (Th. I, S. 268), wobei Jeſus ausdrücklich bemerft (M. 26, 12), . das Weib habe ihn zum Tode gejalbt.e Daraus fcheint hers vorzugehen, daß die ältefte Sage von einer Einbalfamirung (Salbung) des geftorbenen Jeſu nidyts wußte; und daher, weil ihrem Meifter die letzte Ehre mangelte, mit befonderem Wohlgefallen auf jeder gleichfam vorgreifenden Ehrenbezeugung verweilte. M. kannte auch nur fie, und erzählt deßwegen von einer folchen, dem Todten widerfahrenen, nichts: fpätere Sage (Marfus und Lukas) weiß gleichfalld von diefer legten Salbung noch nichts, Fennt aber ſchon den Vorſatz frommer Weiber, fie zu vollbringen; bis endlich die legte Stufe dieſer Sage auch den Leichnam aus vollen Händen mit der Aug. zeichnung eines anftändigen, der Sitte vollig genugthuenden Begräbniffes befchenft.

Darin find alle Evangeliften einig, daß Jeſu Leichnam in einer noch ungebrauchten Felfengruft beftattet wird, bie. man mit einem großen Steine verfchloß. Bei M. (2. 60) wird es beftimmt ausgefprochen; bei Markus und Lukas (8. 46 und V. 53) aber, wie es. fcheint, als befannt- vors

Il. | 28

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ansgefebt, daß diefes Grab dem Sofeph von Arimathaa ge hörte: nach Johannes Darftellung kann dieß nicht der Fall gewefen fein, da es hier heißt, Sofeph habe den Leichnam in ein Grab gelegt, das fidy in einem Garten in der Nähe Des Nichtplages befunden habe: damit kann nicht das Grab bes Eigenthümers gemeint fein, weil er in ein fol des jedenfalls den ihm anvertrauten Leichnam gelegt hätte, mochte «8 nahe ober ferne fein. Diefen unbedeuten⸗ den Widerfpruch in ben Berichten bermögen wir nicht mehr zu löſen.

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Siebenter Abfchnitt. Auferftehung und Himmelfahrt Jeſu.

3

Erfted Kapitel. Die Wache am Grabe und erfte Kunde von der Auferftehung. (M. 27, 62-66.)

Der Auferftehungsgefchichte geht bei M. eine‘ merhvlrdige und gleichfam einleitende Erzählung voraus; die von der an Sefu Grabe aufgeftellten Wache (ſ. die Stellen M. 27, 62 ꝛc.), welche die Suden, aus Beforgniß, daß Sefu Leichnam entwens det werden möge, von Pilatus fich ansgebeten hatten. Im - diefer Erzählung hat man von jeher die vielfältigften Bedenfen gefunden; fowohl in Bezug auf das Ganze, wie auf bie Einzelnheiten derfelben,

Unbegreiflich erfcheint in erfterer Beziehmg, woher die Spnebdriften wußten, daß Jeſus nach drei Tagen auferftehen wolle (27, 63)? Selbſt gefagt wird er es feinen Feinden nicht haben, da er nicht einmal feinen Süngern ſich beftimmt darüber ausſprach; bildliche Andeutungen darüber hätten aber jene ficherlich noch weniger verftanden, als biefe: die Sünger können die Erwartung der Auferftehung auch nicht verbreiter haben, da fie ihnen, wie wir oben ſchon fahen, höchſt uner⸗ wartet fam. Eben fo unerflärlidy ift, wie von Diefer That⸗ fache, die ein fchlagender Beweis für die wirfliche Auferftehung fein mußte, ſich alle Kunde aus der ewangelifchen Ueberlieſe⸗ rung fo. ganz verlieren fonnte, daß wir nirgends, außer bei M., auch nur eine leiſe Andeutung derſelben finden. Die groben, vermittelt der beftöchenen Wächter (28, 13) ausges fireuten Lügen würden die Sünger nicht abgehalten haben

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auf die Wache am Grabe fich zu berufen, und fobalb fie von dDiefer etwas erfuhren, fo mußten fie nadı ihren Erfahrungen zu jehr wiffen, was hinter dem Mährchen von ber entwende: ten Leiche verftekt lag und ſich kühn auf die beftochenen Pächter berufen. Sehr auffallend ift ferner, daß die am frühen Morgen des Sonntage zum Grabe gehenden Frauen von der Wache an demfelben nichts willen: denn wußten fie davon, fo durften fie nicht fo beforgt Darum fein, wer ihnen wohl den Stein.vom Grabe wälzen werde (Mark. 16, 3), fondern ihre einzige Sorge mußte die fein, ob die Wade dieß wohl erlauben würde, die ihnen fofort ficherlich auch gehols fen hätte. Shre Unmiffenheit ift aber darum fo auffallend, weil ganz Serufalem von den Ereigniffen ber lebten Tage vol war (Ruf. 24, 8).

Aber auch im Einzelnen häufen fich Die Schwierigkeiten fo jehr, daß man das Benehmen vieler Perfonen bei der Sache nicht begreift. Mußte nicht Pilatus fich zum Spotte verfucht fühlen, wenn heute Cam Sabbat, 27, 62) diefelben Männer vol Angſt find, der von ihnen geftern als Miffethä- ter Verurtheilte werde ald Sohn Gottes auferitanden zu fein fcheinen können? War e8 nicht im höchften Grade verwe⸗ gen von den Soldaten, die am Grabe Wache gehalten, fich zu einem Geftändniffe, daß fie gefchlafen, alfo den Dienft gröblich verfäumt hätten: (28, 13), was ihnen bei der firengen Kriegszucht der Römer übel befommen fonnte, verleiten zu . laſſen? Am räthfelhafteften ift das Benehmen der Synes driften: zwar daß fie am Sabbat fi) Durch Betreten der beidnifchen Statthalterwohnung und des Grabes verunreinigen mochten, kann man fich aus ihrem Eifer erklären. Unerklaͤr⸗ lich aber ift es, daß fie den zitternden Soldaten fogleich: auf's Wort glaubten, Sefus fei auferftanden, da fie doch zum Theile (die Sadducäer) an gar feine Auferfichiug glaubten, und Alle eine fo geringe Meinung von Sefu hatten, daß fie an feine Auferftehung nicht denfen konnten! Statt daß fie alſo den Soldaten erwidern mußten: Ihr lügt, ihr habt euch ben Leichnam ftehlen laſſen! geben fie ihnen noch Geld, um Das als eine Lüge auszubreiten, was fie von ihrem Stand» punkte aus fir den wahren Hergang der Sache halten muß⸗

| LE) Zu ten! Unglaublich endlich iſt es, daß ein ganzes Kollegium fih fo fehr vergeflen könnte, um in Gefammtheit eine fo nie⸗ dertraͤchtige Beftechung zu befchließen: dieß konnte doch wohl nur die Erbitterung der erften Chriften, nnter welchen diefe Erzählung entitand, für möglich halten! zu Diefen großen Schwierigkeiten hat man auf mancherfet Weile aus dem Wege zır gehen gefucht: eine unerlaubte Weife ift die Annahme, die ganze Erzählung fei fpäter in das Evan⸗ gelium hineingefchoben, oder wenigſtens von dem griechifchen Ueberfeßer zugefügt worden: eine umzulängliche, nur Eins jenes, 3. B. den Befchluß des Synedriums, für unächt zu halten, weil damit nur Ein Anftand gehoben wird. Den rich: tigen Weg gibt und M. felbft an, wenn er 28, 15 fagt, „dieſes Gerücht fei allgemein verbreitet big auf feine Zeit“: Damit meint er nur das von Jeſu Gegnern ausgefprengte Ges rücht von dem entwendeten Leichnam. Dem die Sage von einer Wache am Grabe werden fie wohl nicht erfunden haben, weil dieſe ja wieder fehr den Glauben an jene vors gebliche Entwendung fchwächen mußte. Vielmehr „bildete ſich unter den Ehriften die Sage von einer am Grabe Jeſu aufgeſtellten Wache, und nun fonnten fie jener Verläumdung dreift durch Die Frage entgegentreten: wie kann der Leichnam geftohlen worben fein, da ihr ja eine Wade am Grabe aufgeftelt und den Stein verfiegelt habt *? Daß num aber troß bdiefer Wache die Lüge von der Entwendung habe ent> ftehen können, fuchte man dadurch erflärlich zu machen, daß man fie aus eimer von dem Synedrium vorgenommenen Be: ftechung herleitete.

CM. 285 Marf. 16, 1—18; Lut. 24, 1— 49; Joh. 20 Ä | und 21.) Ä

Darin ftimmen alle Evangelien überein, daß durch Franvn die erfte Kunde von der Auferftchung zu den Jüngern gelangt fei; allein in allen näheren Umftänden weichen fie auf bes denfliche Weife von einander ab. Wir wollen die bemerkens⸗ wertheften Berfchiedenheiten der Berichte kurz in's Auge faſſen.

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Die Zahl der zum Grabe wandelnden und Dasfelbe leer findenden Weiber ift bei Lufas CB. 10) unbeſtimmt; bei Mars tus (B. 1.) find es deren drei; .M. (V. 1) nennt nur die beiden Marien; Sohannes (B. 1) nur Maria Magdalena. Als Zeit ihres Bejuches geben Johannes und Lukas (B. 1) die frühefte Morgendämmerung, Marfus (V. 2) Sonmen⸗ anfgang an; M. (V. 1) iſt unflar. Den Stein finden fie bei den drei letzten Evangelien (B. 4, 2, 1) fehon abges waͤlzt; nad) M. (2) fcheint Dieß noch vor ihren Augen zu gefchehen. Sm Grabe, das fie ſaͤmmtlich leer antreffen, erblicken fie bei Lufas (4) zwei Männer in glänzenden Ger wanden; bei Markus (5) nur Einen Jüngling in weißem Kleide, nicht ftehen, ſondern fißen; bei M. (2) finden fie einen Engel vor dem Grabe auf dem Steine figend; nad) Johan⸗ nes (1) findet Maria Magdalena bei'm erften Befuche (demn bier geht fie bald nachher zum zweiten Male an das Grab, B. 11) nur die Schweißtücher in dem leeren Grabe. Die Jünger erfahren bei Markus (8) von den Frauen, die vor Schrecken fchweigen, gar nichts; nach Sohannes (2) Petrus und Sohannes nur, daß Jeſus nicht mehr im Grabe ſei; bei Lukas (9) erzählen die Weiber allen Süngern die gehabte Erfcheinung; bei M. (9) können fie ihnen auch noch berichten, daß Sefus felbft ihnen erjchienen fei. Bon einem Gange der Sünger nad) dem Grabe auf die erhaltene Kunde wiſſen Markus und M. nichts; bei Lukas (12) begibt ſich Petrus und mit ihm mehrere andere Jünger (24) dahin; bei Johan⸗ ned (3) ift er nur von Sohannes begleitet. Diefen Gang macht Petrus bei Lukas, nachdem er bereits die Engelerfcheis nung erfahren hatte; laut dem vierten Evangelium gingen jene beiden SGünger nach dem Grabe, ehe fie etwas von der Engelerfcheinung wiffen konnten, weil Maria Magdalena, bie fie dahin gerufen, erft nad) ihrem zweiten Gange, nachdem die Jünger fich fehon wieder entfernt hatten, zwei Engel und Jeſum fah (V. 10— 17).

Hier finden fich fo viele widerſprechende Angaben, daß jeder unbefangene Leſer ſelbſt einen Verſuch, ſie mit einan⸗ der zu vereinigen, für unmöglich halten ſollte. Allein dennoch find von jeher viele ſolcher Berfuche gemacht worden: wie fie

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ausfallen mußten, laßt. fi errathen. Nicht nur mußte die Sprache vielfach mißhandelt werben, fondern es famen auch die feltfamften, oft unwürdigen Spielereien zum Borfcheine. Sp müßten nad) diefen Nefultaten Petrus und Andere mehrmals zum Grabe gerannt fein (Joh., Luk.); es müßte zuerft Ein Engel dem Einen Trupp der Weiber fich gezeigt haben (Mark); dann deren zwei andern Weibern (Luf.); vor den Süngern hätten fie hierauf fich verborgen, um nachher beide wieder zum Borfchein zu kommen (Joh.); Jeſus wäre dann zuerit der Maria Magdalena allein hart am Grabe (Joh.), hierauf ihr wiederum in Gefellfchaft einer andern Frau auf dem Wege erſchienen (M.) u. ſ. w.

Um diefem, einen leeren Spiele gleichfehenden Kommen und Gehen auszumweichen, muß jeder Evangelift für fich bes tradhtet werben, um jeden für fich zu prüfen, nicht um fie in einander zu fihieben. „Dann befommen wir von jedem ein ruhiges Bild in einfachen, würdigen Zügen: Einen Gang ° ber Frauen oder nad, Sohannes zwei: Eine Engelerfcheinung: Eine Eſcheinung Jeſu (Joh., M.), and Einen Gang Eines oder zweier Jünger (Luk., Joh.) *.

Zu den ſo eben berührten Schwierigkeiten kommt noch die, daß man nicht begreifen kann, warum fein Evangeliſt dag ganze ſich wiederholende Kommen und Gehen erzählt, fons dern jeder aus diefer Fülle des Gefchehenen nı:r einzelne Stücke hervorhebt? Man fagt, jeder melde die erfte Kunde von ber Auferftehung grade fo, wie er fie zuerft erfahrem habe: Johannes alfo, wie fie ihm Maria Magdalena, M., wie fie ihm die heimfehrenden Weiber erzählt haben ıc. Allein hier deckt fich fchon das Unrichtige dieſer Erklärung von felkft auf; denn unter den Weibern bei M. ift ja cben jene Mage dalena auch CB. 1); folglich mußte aud) er Alles ſogleich erfahren haben, mas Sohannes weiß. Weberhaupt aber ift es unbegreiflich, wie jeder der Evangeliften fo zähe grade an bem Ffleben mochte, was er zuerft gehört hatte, da dech über die fo bedeutungsoolle Auferſtehung gewiß jeder Sün,er Den andern mittheilte, was er nur davon wußte. Das Tes mühen, Durch felbft aus erfter Quelle Gchörtes ficheren Beweis für die Wahrheit der Thatfache zu gebeny konnte fie

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auch nicht leiten, da, nachdem einmal Jeſus allen Jüngern ers fchienen war, es einen folchen Beweiſes nicht mehr bedurfte.

enden wir uns nun zu ben einzelnen Cvangelien, den Verſuch, fie zu vereinbaren, aufgebend, und vielmehr unterfuchend, welcher unter ihnen die glaubwürdigfte Dars ſtellung der erſten Kunde von der Auferftehung gebe! Den apoftolifchen Urfprung dürfen wir bei feinem vorausfeßen, ba wir wiffen, daß überhaupt nur aus dem Inhalte der Berichte über benjelben entfchieden werben fann. _ |

Matthäus, bei dem wir in vielen früheren Källen die Altes ften und ächteften Berichte fanden, hat grade hier unverfeunbar fpätere Zufäte. Daß der Engel felbft vor den Frauen deu Stein weggewälzt habe (V. 2), konnte, wenn einmal gegeben, aus ber Ueberlieferung fich nicht fo leicht verlieren, daß Fein anderer Evangelift ed mehr wußte; vielmehr fieht ed ganz einem fpäter gemachten Berfuche, die Art des Wegmwälzeng ſich zu erflären und anſchaulich zu machen, ähnlich. Das Erdbeben ift ebenfalls fpäteren Urſprungs. Endlich müſſen wir die Erfcheinung Jeſu CB. 9) für einen Ueberfluß des Wunderbaren halten, da er den Frauen ganz biefelben Aufs träge ertheilt, die ihnen ſchon der Engel ertheilt hatte: einer Stärkung des Glaubens bedurften jene nicht, da fie ſchon den Worten des Engeld vertrauten (V. 8), und bei den Jün⸗ gern erweckte nicht einmal die Erzählung von Jeſu perfünlicher Erfcheinung Glauben (Lauf. B. 11), war für diefe alfo unnütz. Wahrfcheinlich Tiefen zwei verſchiedene Ueberlieferungen um, die M. hier vereinigt: fein Zuſatz von Jeſu Reden ift offens bar die fpätere. B

Auch dem vierten Evangelium kann man das Lob, nur die unverfälfchten Thatſachen zu geben, nicht zugeſtehen. Es tritt naͤmlich auch in feiner Erzählung das fichtbare Beftreben hervor, den Johannes dem Petrus mwenigftens gleich, wenn nicht voran zu ftellen, wie ein Vergleich mit Lufas lehrt. Hier it es Petrus allein, der fogleich zum Grabe eilt und fid) von der Leere desfelben überzeugt (®. 12); im vierten Evangelium, läuft nicht nur Johannes mit, fondern kommt ihm auch zuvor

PT (3, 4), ſchaut zuerſt in das leere Grab (5), und glaubt zu er ſt an die Auferftehung. Daß: es fich wirklich ſo vers halten habe, fünnte man deßwegen ‚anzunehmen geneigt fein, weil fein Name fpäter von dem alle Andern überragenden Anfehen des Petrus bier verdrängt fein fonnte. Allein eben jene Eigenheit des vierten Evangeliums muß Bedenken erregen, und wenn fpäter in Emaus (Luk. 24, 24) davon die Rebe ift, daß mehrere Jünger, alfo auch Sohannes, zum Grabe gegangen, fo ift bier fiher em fpäterer Gang gemeint. Ja felbft, daß gleich Anfangs nur Petrus Kufas) zum Grabe geeift, kann bezweifelt werden, da Markus und M. ganz das von fchweigen. Wir vermuthen, daß auch hier bie Sage eine allmälige Steigerung. madıte; Anfangs waren für bie Entfernung des Leichnams aus dem Grabe nur die Frauen M., Mark.) ald Zeugen befannt; fpäter auch Jünger (Zuf.), dann genauer Petrus (Luf.) und Sohannes Goh.): ımb Diefer war ed nun, der zuerft den Glauben an die Aufers ftehung gewann, was im vierten Evangelium noch dadurch glänzend hervorgehoben wird, daß erft nachher die überzen⸗ genden Engelerjcheinungen eintraten. Gegen bie fchöne und rührende Ecene zwifchen Magdalena und den Engeln und Jeſu (V. 11— 18) laßt fich nur das bemerfen, daß, wie bei

M. (. oben) Sefug, fo bier die Engel eine müßige Noe |

fpielen, indem fie nur die Erfcheinung Sefu einleiten und dann ganz verfchwinden.

Der Bericht des Markus ermeist ſich vollends als aus ungehörigen Beſtandtheilen zuſammengeſetzt; nachdem er die Auferſtehung V. 1— 8 ausführlich erzählt hat, fährt er, wie wenn er nichts gefagt hätte, V. 9 fort: „Als Sefus in der Frühe nad) dem Eabbat auferfianden war, erſchien er zuerſt der Maria Magdalena“. Dießt paßt fchon darum nicht zu der erften Erzählung, weil hier die Magdalena nicht allein war, und überdieß eine Erfiheinung Sefu nicht ftattfand. Man hat daher angenommen, der Schluß des Markus von B. 9 an fei fpäterer Zuſatz; allein dafür fehlen alle Grünbe. Bielmehr haben. wir hier einen Bericht, den der Verfaſſer aus verfchiedenartigen Ueberlieferungen zufammenfebte, ohne fi zu bemühen, fie gehörig mit einander zu verfchmelzen.

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Sn der Erzählung des Lukas it nichts Verbächtiges, als - Die, auch bei den andern Evangeliften vorfommende Engelerichei- nung, von der wir uns, wie fchon früher bemerkt, feinen rechten Zweck denken fünnen; denn ber einzige, den fie zu. has ben fcheint, nämlich Jeſu Aufträge an die Tünger gelangen zu laſſen, fällt ja dadurch weg, daß Ssefus felbft dieſelben alsbald wiederholt.

. Man hat ſich aus diefem Grunde bemüht, überhaupt bie Engelerfcheinung aus der Erzählung durch natürliche Ers klaͤrung hinwegzubringen. Einige Theologen fehen darin eine Raturerfcheinung; entweder einen glänzenden, mit heftigem Schlage den Stein wegwälzenden Blig (f. M.), oder: ein mit Flammen verbundenes Erdbeben. Allein die Bemerkung: in den Berichten, daß der Engel auf dem Steine gefeffen, und Daß Er geredet, ftößt diefe Erflärung um. Andere glauben, die Weiber haben den hohen, ihre Zweifel plöglich befiegens den Gedanken: „Sefus ift auferftanden *, nach orientalifcher Weiſe für einen Engel gehalten: allein fo orientalifch ift auch der Drientale nicht, baß er einem folden, nur in inneren Wirkungen erfannten Engel fofort auch „weiße, frahlende Gewande * Leihen follte. Wieder Andere nehmen an, die Weiber haben die weißen Leintücher im Grabe bei ihrem er: ften Scyreden für überirdifche Wefen gehalten; waren aber die Weiber nicht fchon auf den Anblick eines in weiße Tücher gehüllten Leichnames gefaßt? Noch Andere endlich glauben in den Bezeichnungen der Engel ald eines „Sünglings“ (Marf.) und ald „zwei Männer“ (Luk.) den ſicheren Fingerzeig dahin zu fehen, daß die vermeintlichen Engel wirkliche Menfchen ges weſen feien; natürlicy geheime Anhänger Jeſu, etwa Effes ner, welche weiße Gewande trugen, ober die Männer, bie bei der Berflärung gegenwärtig waren!

Alle diefe verfehlten Deutungen führen und vielmehr dahin, zu fagen: „Die Engel gehörten zur Verherrlichung der großen Scene, als Dienerfchaft, welche dem Meffias die Thüre zu öffnen hatte, durch welche er ausgehen wollte; als Ehren, wache an der Stelle, welche ber Getöbtete jo eben lebendig verlaffen hatte *. 5

Da wir. nun ſolche Engelerfcheinungen durchaus für mythiſ ch

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halten müſſen, ſo ergibt es ſich, daß wir in den Evangelien, andy. jedes für ſich betrachtet, über die erſte Kunde. von: der Auferftehung durchaus feine Acht dei chichtlichen Verichte haben.

Zweites Kapitel. Die Erſcheinungen Jeſu und die Beſchaffenheit ſeines Leibes nach der Auferſtehung.

(Die Stellen fiehe ©. 437.)

Die ſtärkſten Widerfprüche in der Auferficehungegefchichte finden ſich in Bezug auf den Drt, welchen Jeſus zum Haupt⸗ ſchauplatz ſeiner Erfceheinungen nad) der Auferfiehung bes fiimmte. Nah M. und Markus befcjied er fie noch vor feinem Tode (M. 26, 32) und nad) der Auferfiehung (M. 28, 7; Mark. 16, 7) nadı Galiläa: bei M. findet hier auch wirklich die Erfcheinung Jeſu ftatt (V. 16 ꝛc.); Markus aber ſcheint dieſen Befehl jo ganz vergeffen zu haben, daß er. nad) der eriten Erfcheinung, die unmittelbar nach der Auferftehung, _ alfo noch in Jeruſalem erfolgte (V. 9), ohne irgendeine Orts⸗ veränderung zu melden, fofort die übrigen anreiht (V. 12, 14). Johannes fagt von einem Befehle, nach Galiläa zu ziehen, nichts, und läßt Jeſum den Süngern zweimal in Serufalem erfcheinen (20, 19, 26), und nur anhangsweife fpäter in Gas Iläa (21, 1). Lukas endlich erzählt in völligem- Widers fpruche mit M., daß Jeſus den Jüngern befohlen habe, vor Empfang des heil. Geiftes Serufalem, wo er ihnen erfchien (24, 13),. nicht zu verlaflen (2.49). Wir fragen alſo: 1) wie konnte Jeſus den Süngern den Befehl geben, nadı Galiläa zu reifen, und zugleich auch, in Serufalem zu blei- ben? 2) Wie fonnte er fie darauf verweifen, in Galiläa feiner Erfcheinung zu harren, wenn er im Sinne hatte, nod) an demfelben Tage ihnen in Serufalem fi) zu zeigen?

Die erfte Frage beantworten die Drthodoren dahin: „Die Weiſung, feinen Wohnort nicht zu verändern, fließt Spa⸗ ziergänge und Nebenreifen nicht aus“. Allein von ſolchen Dingen ift hier nicht die Rede, fondern es handelte fich hier

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um die Rädreife nad, ber Heimath Galiläa, md die Sache fieht fo, daß Jeſus dieſe Rüdreife befohlen und zugleich verboten haben fol: bag ift ein reiner Widerfpruch, der noch dadurch um fo auffallender wird, daß jeber Berichterftatter nur Einen Befehl Jeſu meldet, ohne auch nur anzubenten, berfelbe widerfpreche einem andermweitigen nicht. Cinen Ausweg aus dieſer VBerlegenheit fchien die Apoftelgefchichte (1, 4, 9) darzubieten, die beridıtet, daß Jeſus die Weiſung, in Serufalem zu bleiben, erft 40 Tage nach feiner Anferftehung gab; inzwifchen fönnen, fagt man, die Jünger gar wohl in Galilaͤa gewefen fein, und erft, ald fie wiederum in Sern- falem waren, erbielten fie den Befehl, Serufalem nicht zu verlafien. Da nun der Evangelift Lukas zugleich audy der Verfaſſer der Apoftelgefchichte ift, fo wird er fo ſchloß man weiter auch in feinem Evangelium fagen wollen, Daß Jeſus diefen Befehl erft nach 40 Tagen erlaffen habe. Allein davon fleht nun hier feine Silbe, und die Annahme, daß zwifchen 43: „er aß“, und 44: „und er fprady“, eine Panfe von 40 Tagen einzufchieben fei, ift eine baare Willkür.

Indeß, wenn auch Lukas gar feinen Befehl Sefu hätte, fo widerfprechen fchon die Thatfachen, die er erzählt, der galtläifchen Weifung des M. entfchieden. Denn wie mochte Doch Jeſus, wenn er, wie Lufas erzählt, am Abende feinen Süngern in Serufalem felbft zu zwei Malen erfcheinen wollte, (®. 23, 36), ihnen am Morgen (M.) fagen, fie werden ihn in Galiläa fehen? oder gar ihnen dieß durch Engel fagen koffen? Wer weist auf ein Fernes, wenn das Gleiche in der Nähe liegt? Mer beftellt Freunde an einen entfernten Ort durch eine dritte Perfon, wenn er fie an demfelben, wo er ift, heute noch ſelbſt zu fehen hofft? Aber, erwidert man, Jefus war allerdings entichloffen, nach Galiläa fogleid, zu gehen; jeboch der Uinglaube, den er bei den Süngern auf dem - Wege nadı Emaus fand (V. 13), änderte feinen Plan. Allein nicht im Unglauben, fendern im frifch und Ichendig aufglimmenden Glauben (B. 31, 32) verließ er fie, und er durfte ihnen ruhig nach Salilaa vorangehen. Ueberdieß findet ſich Feine Spur von verändertem Plane angegeben, des gänzlichen Widerſpruches zwifchen dem Befehle und den Erſcheinungen,

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wie fie bei Markus, der theild dem M., theild dem Lukas folgt, neben einander ſtehen, nicht zu gedenken.

Steht alfo ein unauflösbarer Widerftreit zwifchen M. und Lukas über die Dertlichfeit der Erfcheinungen Jeſu feft, fo fragt ſich nun: wer gibt den urfprünglicheren, ächteren Bes richt? Hier fällt uns vorerft ein Eleines, nidyt unbedeutendes Zufammentreffen Beider in die Augen. Auch bei Lukas er⸗ wähnen die Sefu Auftrag ausrichtenden Engel Galiläa’s, aber nur fo, daß Sefus dort feine Auferftehung verkündet habe. Nun iſt e8 aber Doch weit natürlicher, daß ein Drt als Ort der Zufammenfunft nach der Auferftehimg genannt, als daß feiner ald eines, wo Etwas vorhergefagt worden, erwähnt werde. Daher fcheint. die Engelsrede bei M. Die urfprüngliche zu fein, und erſt fpäter, ald die Kunde von den galtläischen Erfcheinungen mehr und mehr in Hintergrumd trat, mochte das „Gallän“ in jener Rede nur noch als Drt, wo die Auferfiehung verfündet wurde, ftehen geblieben fein. Doch wichtiger ift die Betrachtung der Sache ſelbſt. Daß die Kunde von den jerufalemifchen Erfheinungen (Luk), wenn fie einmal vorhanden war, ſich in gewiſſen Kreifen der Ueber⸗ lieferung (M.) ganz foll verloren haben, ift fehr unwahrs ſcheinlich; theils waren diefe Erfcheinungen fehr wichtig, theils waren fie fchon durch des Thomas Befehrung die ficherften Zeugniffe für die Auferſtehung, theils erſtreckte ſich der Ein- fluß der Gemeinde in Serufalen fehr weit. Wahrfcheinlicher iſt es, daß umgekehrt mehr und mehr jerufalemifche Erſchei⸗ nungen in der Lieberlieferung hinzutraten; je näher der Aufer« ſtehung, deſto überzeugender waren die Erfcheinungen; je näher ‚den Zodfeinden Jeſu in der Hanptftadt, deſto fchlagender ihre Beweiskraft. Traten aber einmal Diefe fo glänzend hervor, fo mochten fie allmälig die galiläifchen verbunfeln; und fomit fonnten fie, wie bei Sohannes, nur noch als Nachklange erſcheinen, oder gar, wie bei Lukas, ſich ganz verlieren. Da⸗ ber erkennen wir des M. Nachrichten, der nur von galiläis fhen Erfcheinungen weiß, als die älteften an, wofür auch ihre Einfachheit ſpricht; die des Lukas für die ſpateren, und des Marfus fir die verworrenſten.

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Nach diefem allgemeinen Nefultate fann das Verhältniß der einzelnen, in ben verfchiebenen Berichten ung übers. lieferten Erfcheinungen zu einander und nur von untergeord> neter Bedeutung fein. M. hat deren zwei: 28,9; 28, 16. Markus drei: 16, 95 16, 12; 16, 14. Lukas zwei: 24, 13; 24, 36, erwähnt aber noch einer im Vorübergehen 24, 34; im Ganzen alfo drei; Iohannes erzählt von vieren: 20, 145 20, 19; 20, 26; 21, 1. Dazu fommen noch fünf, deren Paulus .1 Kor. 15, 5 Erwähnung thut; eine vor Petrus, Die zweite vor den Zwölfen, die dritte vor fünfhunbert Brüdern, die vierte vor Jakobus, die fünfte vor den Apoiteln.

.Demnad hätten wir im Ganzen ficbenzehn Erſcheinumgen | Jeſu nach feiner Auferftehung. Wenn wir nun audy offenbar - manche derfelben, auch troß der abweichenden Darftellung, ald eine und diefelbe zu betrachten haben, fo bleiben immer noch genug übrig; und immer noch find die Verſchiedenheiten und Widerfprüche in den Berichten zu groß, um es möglich zu machen, fie alle neben und nad, einander ſich denfen zu fünnen. Wir heben nur Einiges hervor.

Bei M. V. 9 wird einigen Weibern, unter denen auch Magdalena ift, eine Erfcheinung zu Theil, ohne eine Spur davon, daß diefe Magdalena ſchon Mark. B. 9 eine foldhe allein gehabt hatte. Dffenbar müffen, die Berichte feftges halten, die von Joh. 20, 19 unb die von Ruf. 24, 36 er zählten eine und diefelbe gewefen fein; und doch läßt Sohannes Einiges, 3. DB. das Betaften, Fifcheeflen 2c., was Lukas ers wähnt (V. 39, 43), erſt fpäter gefchehen (V. 27 u. 21, 13). Markus legt dem in Serufalem erfchienenen Sefus ganz Diefelben Worte in den Mund, die er bei M. erft in Galiläa ſprach (28, 19. Da ferner bei M. Jeſus die Jünger nad Galilaͤa befcheidet (B. 10), fo könnten ihm zufolge die früheren jerufalemifchen Erſcheinungen des Sohannes (20, 19, 26) gar nicht flattgehabt haben. Eben fo wenig fünnte Paulus Recht haben, wenn er die Erfcheinung vor den Fünfhundert der vor den Zwölf vorangehen läßt, weil jene in Galiläa, dieſe in Serufalem gefchehen fein müßte, was der Zeitfolge bei den Evangeliften widerftreitet. Ferner geben alle Evangeliften

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ine von ihnen erzählte als die legte an, wie wenn Die ber indern gar nicht gefchähen wären; Markus (®. 19) und Lufas V. 51), indem jeder die feine, jo verfchieben fie find, an die Him⸗ nelfahrt anfchließt; M. (B. 18) und Sohannes (21, 22) ebens als, da bei ihnen Jeſus von feinen Jüngern Abfchied nimmt; ben fo behauptet die Apoftelgefchichte (1, 3), bie lebte zu zählen. Und doch kann nur Eine bie legte gewefen fein! Sohannes zählt nur drei. Erfcheinungen (21, 14), weil r nur drei berichtet; alle andern fcheint er alfo nicht zu ennen. Am allerwenigften laffen- fich die verfchiedenen Ers ahlungen in Bezug Auf die Dertlichfeiten vereinigen; yollte man dieß gewaltfamer Weife thun, fo müßte Die bes iohannes (20, 19) in Serufalem, die des M. fodann in Galis ta; hierauf die bei Joh. 20, 26 wieder in Serufalem, ferner ie don ihm Kap. 21 erzählte abermals in Galiläa, und ends ch die legte, worauf die Himmelfahrt erfolgte, wieder in Jeru⸗ Uem fich ereignet haben! Daran wird doc, Niemand denfen Innen!

Daher müßte man „abfichtlich blind fein wollen, wenn man icht anerfennen würde, daß feiner der Berichterftatter dag, a8 der andere berichtete, Fannte und vorausſetzte; daß jeder ie Sache wieder anders gehört hatte; daß fomit über die. rſcheinungen des auferftandenen Sefus frühzeitig nur ſchwan⸗ mde und vielfach variirte Gerüchte im Umlauf waren*. So⸗ iel bleibt indeß gewiß, daß viele Glieder der erften Gemeinde, amentlich die Apoftel, überzeugt waren, "Erfcheinungen iefir gehabt zu haben. Ob daraus auch die Wirklichkeit er Auferftehung folge, wird fpäter zur Sprache kommen; fos iel bleibt für jegt gewiß, daß fich über die Dertlichkeit er Erfcheinungen des Anferftandenen nichts Gewiſſes ſa⸗ en laͤßt.

Ehe wir jedoch zur Beantwortung jener wichtigen Frage: »Jeſus wirklich auferſtanden ſei, ſchreiten, müſſen wir zus se unterſuchen, wie wir ung das Leben und den Leib Jeſu ach der Auferftehung zu denken hätten. Es können dar⸗ yer nur zweierlei Vorftellungsweifen möglich, fein. Entweder

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war fein Leben ein ganz natürliches, rein menſchliches, umb

fein Leib .alfo ein finnlicher, allen Gefeßen der. Kürperwelt unterworfener und mit allen ihren Beſchraͤnkungen behafteter; oder fein Leben war ſchon ein höheres, übermenfchlicheg, und demgemäß auch fein Leib ein verflärter, den Geſetzen bet Simnmenwelt bereits entrückter.

Es entfteht nun aber die Frage, in welcher diefer beiben Werfen haben die Evangeliften den Leib Jeſu ſich gedacht? als ganz menfchlichen, oder als verflärten? Für beide Bor ſtellungsweiſen finden fidy in ihren Berichten Belege, die wir kurz zuſammenſtellen wollen, wobei wir den Lefer bitten, fic nochmals alle Einzeluheiten der bereits beleuchteten Erzähluns gen wieder zu vergegenmwärtigen.

Daß ſich die chriftliche Ueberlieferung den Leib des Aufer⸗ ftandenen als einen ganz. natürlichen dachte, dafür fcheinen siele Züge zu fprechen. Sein Ausfehen ift ein ganz menſch⸗ liches; man erkennt ihn an feinen Bewegungen (Luk: V. 31) an feiner Stimme (Joh. 2. 16), feinen Wundmalen (V. 20); er redet, geht wie ein Menſch; ja, er läßt fich betaften (®. 27) und genießt Speife (Luk. V. 42); Alles Dinge, die ſich min bei einem rein wmenfchlichen Weſen finden. Daher erklären auch viele Ausleger beider Partheien, daß man fid) Jeſu Leib und Leben auch, nach der Auferftehung als durchaus natürlich and menfchlich denken müſſe.

- Dagegen finden fich nicht wenige Züge, welche nur einen ſchon verflärten, überfinnlichen Leibe zufommen fönnen; was ſchon die oft gebrauchten unbeftimmten Ausdrüde: „er erfchien, ward offenbar“, anzudenten feheinen. Beſtimmter aber fpricht für Sefu übernatürliched Leben nad) der Auferftehung die ausdrückliche Erwähnung, daß er „eine andere Geftalt“ gehabt (Mark. B. 12) und öfters nicht erfannt wurde (ob: B. 14); fein plötzliches Erfcheinen und Wiederverfchwinden (Luk. V. 15, 16, 31); am meilten aber, Daß er bei ver fchloffenen Thüren plöglicy in der Mitte der Anweſenden fteht (Joh. V. 19, 26). Iene Ausleger, ‚welche ein durchaus leibliche Sein des Auferftandenen annehmen, find daher fehr bemüht gewefen, dieſe Beweife für das übermenfchliche Leben Jeſu zu entfräften; wir wollen fehen, wie es ihnen gelungen it!

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Daß die nadı Emaus Waudernden Sefum nicht erfannten, obgleich er neben ihnen ging, und ihn auch nicht Fannten, als er bei ihnen am Tiſche faß (Luk. V. 13 ıc.), will mai aus dem ſtummen Brüten der Sünger und Jeſu, von den Qualen des Todes noch entiteltem Angefichte deuten; allein die ganze Erzählung hat den unverfennbaren Anftrich des’ Wunderbaren. Eben fo verhält es fich mit der Magdalena Goh.), die ihn nicht darum für den Gärtner hielt, weil er, wie. man meint, wahrſcheinlich nach der Auferftehung- deffen Kleider angezogen hatte; ſondern weil fie ihn feiner wunderbar veränderten Geftalt wegen nicht fannte, lag ihr nichts näher, als zu glauben, er werde eben der Befiter des Gartens fein. Daß er den Süngern zn Emaus fo plößlich verſchwand Ruf. V. 31), fol daher fommen, daß die von freudiger -Bes- ſtürtzung Ueberrafchten fein ſchnelles Weggehen nicht bemerften ; allein wie Einer von nur zwei Andern fo unbemerkt fol entfchlüpfen können, ift nicht zu begreifen. Auch der Um⸗ fand, daß Sefus bei verfchloffenen Thüren plößlich inmitten ber Schüler ftand, fol nichts Uebernatürliches enthalten; das überrafchende Erfcheinen Jeſu fei die plögliche Ankunft Eines, von dem man fo eben gejprochen, und den man für ein Ges fpenft hielt, weil man an fein wirfliches Wiedererwachen nicht glauben kann. Das Kommen bei verſchloſſenen Thüren heiße nichts weiter, als daß die Jünger grade bei aus Furcht ver: fchloffener Thüren verfammelt gewefen feien; und daß Sefu, ehe er eingetreten, vorher von Semanden die Thüre geöffnet worden, verftehe ſich fo von felbft, Daß man nicht nöthig ges habt, es befonders zu erzählen.

Allein auffallend iſt ſchon, daß beide Male, wo Jeſus fo eintritt (V. 19, 26), die verſchloſſenen Thüren erwähnt werden; beide Male ift fein Kommen mit denfelben in genaue Verbindung geſetzt; beide Male heißt ed, daß er plötzlich „in Die Mitte getreten ſei‘. Darans geht Doch wohl deutlich genug hervor, daß der Erzähler fich dad unerwartete Kommen als .ein unvermitteltes, mithin wunderbares, gedadıt hat. Es fragt ſich nur, wie er fich den wunderbaren Hergang dachte; daß vor Jeſu wunderbarer Weife die verfchloffenen Thüren, wie vor Paulus im Gefängniffe (Avoſtelg. 12,58),

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ſich geöffnet haben, wird er. eben fo wenig geglaubt haben, als daß deffen Leib zwifchen den feinen Fafern des Holzes an der Thüre hindurch gebrungen ſei; Dieſes wäre abenteuerlich, und Senes hätte er ficher nicht verfchweigen, weil das plötzliche Auffahren der Thüre Allen bemerkbar werden mußte und die fhönfte Anfchauung und Erflärung des Wunderd abgegeben haben würde. Des Evangeliften Meinung ift offenbar die, daß dem verflärten Leibe Sefu Thüre und Wände, und was fonft noch, fein Hinderniß gewefen, plötzlich bereinzutreten.

. Für das rein körperliche Leben Jeſu nach dem Tode fügen die Erflärer noch das ald Beweiſe hinzu, daß in allen Zügen fih -ein allmäliges Fortſchreiten zu vollem Erftarfen nad fo großen Qualen zeige. „Anfangs hielt. er fich nahe bei, dem Grabe, dann wagte er einen Gang nach Emaus, endlich bie Reife nach Galiläa“. Diefer Schluß ift rein aus der Luft gegriffen. „Am Auferflehungsmorgen darf ihn Magdalena noch nicht berühren (Joh. B. 17), weil fein Leib noch zu leidend war; nach adıt Tagen legt er felbft des Thomas Hand in feine Wunden (Joh.)“. Woher jenes Verbot Sefu rührte, wiffen wir freilidy nichtz ficherlich aber nicht von feiner Körper ſchwäche; denn an demfelben Morgen erlaubt er, daß die Weiber bei M. CB. 9) feine Füße berühren, und am Abende fordert er gar feine Sünger auf, ihn zu befühlen (Cuk. B. 39). Auch das feltene Auftreten Jeſu unter feinen Jüngeren muß Zeichen feiner Schwäche fein, die ihm längeres Ausruhen- in ftiller Zurücdgezogenheit nothwendig mache. Diefe Behauptung jedoch ift die wunderlichſte Verfehrtheit. Wenn Jeſus der Ruhe bedurfte, wo konnte: er fie beffer finden, als im Schooße feiner : treuen Sünger? "und wo follte er inzwifchen geblieben fein? in der Wüfte? auf Bergen?! Etwa bei geheimen Verbündeten, von denen felbit die Sünger nichts wußten? Das wäre aber ein Sefu durchaus unwürdiges Verfteckipielen gewefen! „Die Anficht der Evangeliften ift Feine andere, ald daß Der Aufer- ftandene nad) jenen Furzen Erfcheinungen unter den Seinigen ſich wie ein höheres Wefen in die Unfichtbarfeit zurückge,ogen babe, und aus diefer, wo und wann er es zwedmäßig fand, hervorgetreten fei*.

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Endlich bleibt noch zu fragen, wie hat man fidy Jeſu Lebensende zu denfen, wenn er einen wirklich natürlichen Leib hatte? Er müßte dann auch eines natürlichen Todes geftorben: fein; wie denn wirklich Paulus annimmt, er fei in Folge der Krenzigung an einem fchleichenden Fieber ge-- ftorben, und ein Anderer ihn noch fiebenundzmanzig Sahre zum Wohle der Menfchen im Stillen fortleben läßt. Dieß ift aber bekanntlich gradezu gegen die Anficht der Evangeliften, die ihn fichtbar zum Himmel aufiteigen laffen. Allein alsdann müßte fein natürlicher Leib exit verflärt worden, er müßte die Schaden des Sinnlichen abgeftreift und nur einen unend- lich feinen Anhauch des Körperlichen beibehalten haben. Da⸗ son wird aber nichts gemeldet; man müßte denn mit jenen wuuderlichen Theologen annehmen, die Wolfe, die ihn bei der Himmelfahrt umgab, fei eine Auflöfung der von ihm abge⸗ ftreiften Leiblichkeit geweſen!

Wir werden alſo durch Alles darauf geführt, daß die Evangeliſten Jeſu Leib und Leben nach der Auferſtehung ſich nicht als körperlich und natürlich, ſondern als verklärt und übernatürlich gedacht haben. Dieſer Vorſtellung widerſprechen aber auf dem Standpunkte der Evangeliften die oben be- rührten natürlichen Züge in dem Leben Jeſu keineswegs. Sein Effen war eben fo wenig ein Effenmüffen und Bedürfniß, als bei Jehova, der 1 Moſ. 18, 8 mit zwei Engeln bei Abra- ham fpeiste; und betaftbar war ebenfalls der Gott, der einft wit Safob rang (1 Mof. 32, 24 2c.). Es wurden fogar folche an's Natürliche freifende Züge für wefentlich gehalten, um göttliche Perfonen von bloßen Gefpenftern zu unterfcheiden.

Es ift aber eine andere Frage, ab auch wir auf uns fern gebildeten Standpunfte eine folche Bereinbarfeit von Natürlichem und Uebernatürlichem annehmen fönnen ? Dieß müfjen wir dahin beantworten:

Ein Leib, der fihtbare Speife genießt, muß ſelbſt fihtbar fein; der Genuß von Speifen febt einen Körper voraus; jeder Körper ift Stoff, der nicht in beliebigem Wechfel verfchwinden und wie- der fihtbar werden kann. Ferner: Jeder Körper, der ſich betaften läßt, und Fleifch und Kuoken wu

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fühlen gibt, befigt die Widerftandefraft, wie jeder andere fefte Stoff; und ein folder Körper kann wegen dDiefer Kraft nicht ungehindert durch Wände nnd verfchloffene Thüren hindurch bringen. Demnach müſſen wir nun geftehen: „ES zeigt fich die evangelifche Darftellung der FeiblichFeit Jeſu nad der Auferftehung als eine in fich widerfprechende*. Und zwar läßt ſich eine Steigerung diefes Widerſpruchs in den verfchiedenen Evangelien nachweifen. Bei M. zeigt fi) Sefns noch am natürlichften; er wird gefehen und betaftet; bei Martus tritt mit der „andern Geftaft“ CD. 12) ſchon das Webernatürliche hinzu; bei Lukas fteht das natürliche Betaftetwwerden und Effen neben dem übernatürlichen Erfcheinen und Verſchwinden; bei Sohannes fteht beides in- grellem Gegenſatze, indem der oben wunderbar in Das vers fchlofiene Gemach Getretene von Thomas betaftet wird.

Drittes KRapitel Endurtheit über Sein Tod und Auferftehing. (Die Stellen fiehe voriges Kapitel.)

„Ser Sap: ein Zodter ift wieder belebt worden, it ans zwei jo widerfprechenden Beftandtheilen zufammengefeßt, daß immer, wenn man ben einen fejthalten will, der andere zu verjchwinden droht. Iſt er wirklich wieder zum Leben gekom⸗ men, fo liegt es nahe, zu denfen, er werde nicht ganz todt gewefen fein; war er aber wirklich tobt, fo hält es ſchwer, zu glauben, daß er wirklich lebendig geworden fei*.

Es fommt hiebei Alles auf eine richtige Anficht von Dem Berhältniffe zwifchen Seele und Leib an. Man muß nämlich beide in ihrer Tebendigen gegemfeitigen Durchdringung aufs faffen, Die Seele als die Sunerlichfeit des Leibes und den Leib als die Aenßerlichfeit der Seele. Bei dieſer Anffaffung kann man ſich denn die Wiederbelebung eines Todten durch⸗ aus nicht vorftellen, denn haben die Kräfte des Leibes ein⸗ mal aufgehört, . in denjenigen regierenden Mittelpunkt zuſam⸗

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menzulaufen, welchen wir -Seele nennen und welcher fie zur Einheit zufammenhält; dann treten alle Theile des Körpers auseinander, es entſteht eine Auflöfung, Die weiterhin zur Berwefung wird. In dieſe aufgelösten Theile kann fodann die Seele nicht wieder zurückehren, weil fie, abgefehen von der Unfterblichfeit des Geiftes, mit diefer Auflöfung aufges hört hat, zu fein: ed müßte daher bei Wiederbelebung des Leibes doch wenigftend erft eine nene Seele gefchaffen wers den; dann iſt e8 aber der vorige Menfch nicht mehr, der wieder lebt. |

Aber auch bei der niedern Auficht von dem Verhältniffe bed Leibe und der Seele, nad) welcher fie nur fo äußerlich mit einander verbunden fein follen, .daß Die Seele in dem Leibe gleich einem Vogel im Käfige wohne, kann man fi) eine Wiederbelebung des geftorbenen Leibes nicht wohl vor- ftellen. Denn im Leibe bringt doch die Seele gewiffe Wir- ungen hervor, und zwar burch befondere Werkzeuge, die fie in Thätigfeit verfeht, Gehirn, Blut ıc.: diefe müffen, fobald die Seele den Körper verlaffen hat, ftillftehen und erftarren. Wollte oder müßte fie in denfelben zurückfehren, fo würde fie daher die edelften Theile desſelben für fich unbewohnbar fins ben; herftellen könnte fie dieſelben nicht, da fie eben nur burch diefe Theile etwas im Körper zu wirfen vermag: es . müßte alfo mit bem Wunder ihrer Zurücführung zugleich and das einer Wiederherftellung ihrer abgeftorbenen Werkzeuge im Körper. eintreten; dieß wäre „ein unmittelbares Eingreifen Gottes in den gefeglichen Berlauf des Naturlebeng, wie es geläuterten Anfichten von Gottes Verhältniß zur Welt widerfpricht *.

Die Bildung unferer Zeit hat fich daher fehr beftimmt da⸗ hin ausgefprochen: entweder war Sefus wirklich todt, der er ift nicht wieder auferftanden.

Das Erftere anzunehmen, find befonders die Rationa⸗ liften geneigt; fie ftüßen fich auf die furze Zeit, die Jeſus am Kreuze hing, und auf bie zweidentige Wirkung des Tanz zenftiches; daß Jeſu Freunde und die Diener des Gerichtes ihn dennoch für todt hielten, „erkläre fich, glauben (le, ans

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der bei dem mangelhaften medizinifchen Kenntniffen bamafiger Zeit doppelt große Schwierigkeit, tiefe Ohnmachten vom Tobe zu unterfcheiden. Ferner wird zum Beweiſe der Möglichkeit eines folchen Wiedererwachens ein Beifpiel aus Sofephne angeführt, wo ein vom Kreuze Genommener wieder genas; dieß Beifpiel beweist indeß nicht viel; denn der Wiederbelebte ding wenigſtens nicht längere Zeit, ald Sefus, am Kreuze, und war unter dreien der einzige, deſſen Herftellung nach den forgfältigiten ärztlichen Bemühungen gelang. Daß noch nicht alles Leben in Jeſu erlofchen war, fucht man auf mancherlei Art zu beweifen: fehr verwerflich ift zuvörderſt die Annahme, Sefus habe Alles mit feinen geheimen Anhängern Cabermald Geheimnißkrämerei!) verabredet gehabt, und dem⸗

“gemäß fein Haupt fchon vor dem Tobe geneigt. Andere be haupten, feine Sünger haben ihn abfichtlich mit betaubendem Teanke fcheintodt gemacht, um ihn zu frühe vom Kreuze nehs men und "fofort wiederbeleben zu können. Von allem bem wiffen die Evangelien rein Nichte. Berftändiger find Diejenigen, welche annehmen, auch nach dem Schwinden des Bewußtfeind fei in Jeſu Fräftigem Körper noch nicht alle Lebenskraft er⸗ Iofchen, und fpäter durch die flärfenden, gewürzhaften Spes zereien, die zugleich wohlthtig auf feine Wunden gemirft hätten, durch die Fühle Luft des Grabes und die Erfchütterung des Bligftrahles wieder hervorgerufen worden. Allein biefer Blitz iſt ja fehr unbeglaubigt, die Kühle des Grabes hätte eher erflarrend, und die Spezereien eher betäubend, als bes lebend auf einen Scheintodten wirfen müffen !

- Dennoch würden wim mit Abweilung jedoch aller beſtimm⸗ teren Vermuthungen, diefer Anficht, Daß Jeſus fcheintodt ges wefen, beitreten, wenn nur die Wiederbelebung desfelben ficher verbürgt wäre. Gie wäre ed, wenn wir von unpartheiis fhen Zeugen beftimmte und widerſpruchsloſe Nadıs

richten hätten. Für unpartheiifch müffen wir nun die Sünger, obgleich nur ihnen, und, was freilich auffallen muß, nicht aud) feinen Gegnern und dem Volke, Jeſus erfchienen fein fol, allerdings halten; denn fie waren nadı Jeſu Tode völlig hoffnungslos, erwarteten nichts weniger, als deffen Auferſte⸗ "Yung, und find daher von dem Berdachte abfichtlicher oder

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auch unmwillfürlicher Selbfttäufchung frei zu fprechen. . Allein widerſpruchslos ift unter allen Zeugniffen nur dag gewichtige Des Apoſtels Paulus, zugleich aber auch das unbeftimmtefte von allen, indem es und. nur Die Thatfache gibt, daß die Sünger von der Auferftehung Jeſu überzeugt, waren, ohne deren äußere Wirklichkeit zu vwerbürgen. Dagegen find. bie beitimmten Zeugnife der Evangeliften fo voller Widerfprüche, daß fie und mehr eine Reihe von Vifionen, als eine fortlaus. fende Gefchichte darbieten. Weil mın aber neben allen Diefen unſichern Berichten über die Auferftehung die über Sefu Tod fo einftimmig und beftimmt find, müflen wir ung auf die Seite derjenigen jtellen, welche die Wirklichfeit der Aufer⸗ ſtehung in Zweifel ziehen.

Schon die älteſten Gegner des Chriſtenthums thaten dieß, indem ſie die Auferſtehung theils als eine Träumerei der Anhänger Jeſu, namentlich der Weiber, betrachteten, theils als abſichtlichen Betrug; das letztere ſuchten Neuere dadurch zu begründen, daß ſie an das von M. (28, 15) überlieferte Gerücht, Jeſu Leichnam ſei geſtohlen worden, erinnerten. Allein dieſe Anſchuldigung wird durch die Begeiſterung, mit welcher die Jünger, aus tiefer Niedergeſchlagenheit ſich em⸗ porhebend, die Auferſtehung Jeſu aller Welt verkündeten, ſiegreich widerlegt: eine ſelbſterfundene Lüge predigt niemand mit ſolcher Standhaftigkeit, daß er ſich dafür kreuzigen oder ſteinigen ließe. Die Auferſtehung Jeſu muß alſo wahrhafte Ueberzeugung geweſen fein: daß fie aber auch eine äußere Thatſache geweſen, ift damit noch, keineswegs bewiefen. Man könnte fie zunächſt für eine im Innern der Sünger - anf wunderbare Weife bewirkte Viſion halten, weldhe den Zweck gehabt hätte, ihnen anfchaulich zu machen, daß Jeſus durch fein tugendhaftes Leben vom geiftigen Tode auferſtan⸗ den ſei; oder man könnte auf Diefem Standpunkte aud) annehmen, ber abgefchiedene Geift Jeſu habe, etwa ald eine Art Geiftererfcheinung, wirflic auf die zurücgebliebenen Jün⸗ ger gewirft. Andere, die diefe Erflärung zu unnatürlich fins den, nehmen eine äußere Veranlaffung an, welche die Mei⸗

a6.

nung erregt habe, Jeſus fei auferftanden: da fell denn das Grab leer gefunden worden fein, man wußte nicht, wo der Leichnam hingefommen, oder der Eigenthümer des Grabes hatte ihn entfernen laffen, und was. dergleichen Spielereien mehr find.

Auf näherem Wege gelangt man zum Ziele, wenn ‚man die Erſcheinung Sefu, welche dem Apoſtel Paulus zu Theil wurde, zur Srundlage macht: Paulus nämlich ftellt dieſelbe in ganz gleiche Reihe mit allen andern Erfcheinungen des Auferftandenen (1 Kor. 15, 9. Nun wird fie aber Apoftelg. 9 1 x; 22, 3 ꝛc. auf eine Weile erzählt, die feinen Zweifel darüber läßt, daß fie Feine äußere, fondern nur eine innere, im Gemüthe des Apofteld vorgegangene Bifion war. Er hatte bei feinen heftigen Berfolgungen der Ehriften ohne Zweifel oft Gelegenheit gehabt, ihren ftandhaften Glauben zu bewun⸗ dern; nad) und nad) mußte fich in feinem Gemüthe eine An⸗ ficht über den Gefreuzigten, von feinen Anhängern fo begeiftert Berkündigten, bilden, welche er durch verdoppeltes Eifern ges gen die neue Sekte vergeblich zu unterdrüden ftrebte, bis fie endlich in einem entfcheidenden Momente zur fiegreichen Herr⸗ fchaft in ihm gelangte: daß diefer Moment ficy zu einer Erfcheinung des Auferftandenen geftaltete, darf ung bei einem feurigen, phantafiereichen Morgenländer nicht wundern. Konnte aber zu einer folchen Bifion das Gemüth eines Geg⸗ ners Jeſu entzündet werden, „fo wird wohl auch der gewals tige Eindrud der großartigen Perfünlichfeit Sefu im Stande geweien fein, feine unmittelbaren Schüler im Kampfe mit den Zweifel an feiner Meffianität, welche fein Tod in ihnen erregt hatte, zu ähnlichen Gefichten zu begeiftern +. Daß in den evangelifchen Erzählungen Jeſus ganz leiblich wieder ers fcheint, daß er redet, ißt, fich betaften und Proben feiner Leiblichkeit anftellen läßt, darf und in diefer Auffaffung der Sache nicht irre machen, weil einestheils folche grob finnliche Züge nur bei den beiden legten Eoangeliften vorfommen, ans derntheils aber es fehr natürlich ift, daß in der Leberlieferung die rein geiftigen Erfcheinungen ſich mehr und mehr verförper: ten und gleichfam verfnöcherten; Daß der ſtumm Erfchienene

—⸗

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zu einem Redenden, der Geiſterhafte zu einem Eſſenden, ‚ber Sichtbäre zum Handgreiflichen wurde.

Man könnte ums min aber entgegenhalten, dem Apoſtel Paulus fei durch den Glauben der von ihm Berfolgten bie Idee der Auferitehung Jeſu fchon gegeben gewefen, weßhalb er leichter zu einer an Diefe Idee ſich anfnüpfenden Viſion

des Auferfiandenen habe kommen fönnen, ald die älteren

Sünger, in welchen ſich Die Idee der Auferftehung erft er⸗ zeugen mußte, ehe fie glauben Fonnten, daß der Auferftans dene ihnen wirklich erfchienen fei. Allein wir Dürfen nur. den

"Standpunkt und die Berhältniffe diefer Jünger Har in's Auge

faffen, um es fehr erflärlich zu finden, wie jener Glauben in ihnen fich erzeugen Fonnte, ja mußte. Sefu Tod hatte das bei ihnen fo tief gewurzelte Vertrauen, er fei wirklich ber Meffias, für den Augenblid vernichtet: als fich aber ihr verwirrted Gemüth wieder gefammelt hatte, mußte in ihnen das Bedürfniß entitehen, die frühern Eindrüde mit den fpäs. tern erjchütternden Erfahrungen in Einklang zu bringen; ihr Nachdenfen mußte fie zu dem Begriffe eines leidenden unb fterbenden Meſſias erheben. „Da aber Begreifen- bei ben Juden jener Zeit eben nur hieß, etwas aus den heil. Schrifs ten ableiten, fo waren fie an diefe gewiefen, ob nicht in ihnen vielleicht Andeutungen eines leidenden und fterbenden Meſſias fich fänden*. Diefe mußten fie nun faſt ungefucht in Stellen finden, die, wie Sef. 53, Pf. 22, die Männer Gottes ale verfolgt und bis zum Tode niedergebeugt darftellen. Daher erzählt uns auch Lukas, daß Jeſus nach feiner Auferftehung nichts Angelegentlicheres zu thun hatte, als den Jüngern die gefammte Schrift auszulegen (24, 26; 44 ı0.). Nun war ihnen der ſchmachvoll getödtete Jeſus nicht verloren, fondern geblieben: er war nur wieder eingegangen in feine uran⸗ fänglichye Herrlichkeit; er blieb unfichtbar bei ihnen bis an der Welt Ende (M. 28, 20). Aus diefer Herrlichkeit mußte er ja den Seimigen, die ihm fo innig verbunden waren, Kunde zufommen laffen: und diefe Kunde erhielten fie eben durch die Begeifterung, die das wahre Verftändniß der Schrift, ber

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Glauben an den nicht verlornen, fondern jetzt erft umverlierbar gewordenen Sefus in ihnen erwedt hatte. In ſolcher Begei⸗ fterung mußten fie nicht mir den in ihnen lebendig geworde - nen Geiſt Jeſu erfennen; fie erfchien ihrem bewegten Gemüthe als ein ummittelbares Neden,. als eine Stimme des fie un fihtbar Lmfchwebenden. Solche Gefühle mochten denn, na mentlich bei einzelnen Frauen, fich bis zu wirflichen Bifionen fteigern; fie fonnten ganze Berfammlungen fo ergreifen und erfchüttern, daß Jeder glaubte, wenn überbieß noch irgend eine unerwartete Erfcheinung der Einbildimgsfraft zu Hilfe fam, den Gefreuzigten wirklich vor fich zu fehen: folche Er: tafen find bei Neligionsgefellfchaften, befonders bei verfolgten, nichts Seltenes: Wenn aber, fo mußten die Sünger weiter fchließen, ihrem Meffias die reinfte Eeligfeit zu Theil gewors den war, fo konnte fein Leib nicht im Grab geblieben fein; eine Borftellung, welche auch in alt=teftamentlichen Stellen, 48. Pf. 16, 10; ef. 53, 10, eine Stüße fand. Nunmehr gewann ihr früherer, noch jüdischer Glauben, „Chriftus bleibt

im alle Ewigkeit“ (Joh. 12, 34) einen höhern Gehalt: der

leiblich Getödtete war auch Feiblich wieder auferfianden. Wie konnte es auch anders fein, da ja eine der dem Meſſias zus fommenden Wunderfräfte in der Auferweckung der Todten beſtand?

Gegen dieſe Anſicht ließe ſich nun einwenden: wie war es möglich, daß die Jünger ſchon wenige Tage nach Jeſu Tode und an demſelben Orte, wo er beerdigt worden war, - an feine Auferſtehung glauben und fie verkünden konnten, ba doch der Augenfchein am Grabe fie zu jeder Stunde wibders legen fonnte? Auf diefen Einwand gibt und M. eine befries Digende Antwort. Zwar erzählt auch er eine Erſcheinung Jeſu in Serufalem; aber er erfchien nur den Weibern, und bereitete damit nur eine Zufammenfunft in Saliläa vor: zudem ift dieſe Erfcheinung neben der des Engels eine fo überflüffige, daß wir ſchon oben die Erzählung davon ald eine durch die Sage hervorgerufene Umgeftaltung bezweifeln mußten. Es verbirgt fich dahinter offenbar nur die Thatfache, daß die eins gejchüichterten Sünger eiligft nach Galiläa zurückkehrten; hier

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erſt fonnten fie wieder freier, aufathmen, hier ihre Gedanken zu dem Gekreuzigten ungeftört erheben. Hier aber war es ihnen erft möglich, ſich allmälig die Vorſtellung von der Aufs erftehung besfelben zu bilden, ohne daß der im Grabe nach⸗ zumweifende Leichnam ihre kühnen Vorausfegungen widerlegte: „und bis diefe Ueberzengung den Muth und Die Begeifterung feiner Anhänger fo weit gehoben hatte, daß fie es wagten, in der Hanptitadt mit derfelben aufzutreten, war es nicht mehr möglich, durch den Leichnam Jeſu fich felbft zu überfühs ren, oder von andern überführt zu werden *.

Diefe Anficht wird durch Die Erzählung der Apoftelgefchichte, die Jünger feien ſchon am nächſten Pfingfifefte in Jeruſalem öffentlich hervorgetreten, nicht widerlegt: denn dieſe Nachricht iſt ſchon längft aus vielen Gründen, namentlich auch wegen des Umſtandes, daß dieſes Auftreten mit der Verkündigung der neuen Lehre grade auf das Feſt der Berfündigung des alten Gefeßes verlegt ift, mit Recht in Zweifel gezogen wors den. Daß aber Sefus ſchon am dritten Tage nach feinem _ Tode als der Auferftandene erfchienen fei, ift als eine gang ungefchichtliche Sage zu betrachten, Die nur in der Vorftellung ihren Grund hat, er werde wohl nur furze Zeit im Grabe zugebracht haben, und mit dem Beftreben zufammenhängt, überall die feierliche, bedeutungsvolle Dreizahl anzubringen.

Hatte ſich nun einmal die Vorftellung von der Auferftehumg gebildet, fo lag es nahe genug, Diefelbe mit allenı Gepränge aus dem Borrathe jüdischer Ideen zu umgeben: Engel waren es vor Allem, die das Grab Jeſu eröffner, an demſelben Pace gehalten und den Weibern die erfte Kunde gebracht - haben mußten: da Jeſus fpäter den Seinen zuerft in Gas liläa erfchien, fo mußte die eilige Reife der Singer dahin von den Engeln, ja von Jeſus felbft geboten worden fein. Je weiter ſich diefe Erzählungen entwickelten, defto mehr mußte es auffallen, daß Jeſus nicht auch da erſchienen fei, wo er auferftanden fein follte; die Sage fügte mın auch noch Ers fcheinungen in Serufalem felbft hinzu, welches überdicß „ale Der glänzendere Schauplas und als Sitz der erften chriftlichen Gemeinde befonders dazu geeignet war *.

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460 Bierted Kapitel Jeſu legte Anordnungen.

(Biele zerftreute Stellen.)

Den drei Synoptifern zufolge ertheifte Jeſus bei feiner fetten (M. 28, 18), nad) Johannes bei feiner erften Zu ſammenkunft nad; der Auferftehung (20, 21), den Süngern feine letztwilligen Verordnungen. Bemerfenswerth ift hier be: fonderd die Anweifung, die fich bei dem einzigen M. findet (V. 19, fie follen alle Völfer „im Namen des Vaters, des Sohnes und des heil. Geiftes taufen“. Dieſe Zufammen- ftelung ber brei Perfonen in Gott fommt in apoftolifchen Schriften fonft nur als Grußesformel vor (2 Kor. 13, 13); Die Taufe dagegen wird überall einfach nur als ein Taufen „auf Chriftus Jeſus“, „auf den Namen des Herrn Sefu“ Göm. 6, 3; Salat. 3, 27 u. U.) bezeichnet, und erft fpäter, 3. B. bei Juſtin, erfcheint jene dreifache Bezeichnung der Taufe auf Gott. Daher ift nicht daran zu zweifeln, daß jene An: weifung nicht von Jeſus fo ausgefprochen wurde, wie wir fie bei M. leſen; deßwegen aber zu erflären, fie fei fpäter in unfer Evangelium eingefchoben, fteht uns nicht zu; denn wie Vieles müßten wir and den Evangelien verbannen, wenn Alles, was Jeſus nicht gefagt haben kann, für eingefchoben gehalten werden follte!

- Die Berheißungen, welche Sefus. feinen Juͤngern nod) ertheilt, lauten ebenfalld nicht ganz gleich bei den verfchiebe- nen Svangeliften. Bei M. verfichert er fie, Daß er unfichtbar bei ihnen fein werde, bis an der Welt Ende (28, 20): Worte, weldye ganz aus der Stimmung heraus gefprochen find, vie erſt Dann unter den Jüngern zu herrfchen begaun, als der Glauben an Jeſu Auferftehung allgemein geworden war. Merktwürdig find die bei Markus (16, 17) den Süngern ges gebenen Verheißungen: denn es find in ihnen die befondern Gaben, welche die Chriften vor Andern wirklich hatten, aber auch folche enthalten, die ihnen nur eine abergläubifche Volks⸗ meinung zufchreiben Tonnte, wie Das Schlangenvertreiben n. A.,

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was Jeſus feinen Sängern gewiß nicht als befondere Aus: zeichnung verheißen hat! Bei Lukas verſichert Sefus feine Sünger, fie werden bald den heil. Geift empfangen (24, 49): hier widerfpricht Sufas dem Sohannes, nach deffen Erzählung fhon bei der erften Zufammenkunft mit den Jüngern Jeſus . biefen den heil, Geiſt mittheilt (20, 22); und zwar gefdjieht dieß fo beftimmt mit der finnbildlichen Handlung des Anblafeng, daß die Meinung mancher Theologen, Sefus verheiße auch bier nur das zufünftige Austheilen des @eiftes, in fich felbft zufammenfällt. Allein wir treffen Lukas hier auch im Widerſpruche mit M., bei dem ſchon vor feinem Tode Jeſus den Apofteln den. heil. Geift .fpendet (10, 20). Diefe drei verfchiedenen Angaben laſſen ſich durch die ganz woillfürliche Behauptung, Jeſus habe wirklich zu drei Malen den heil. Geiſt feinen Süngern mitgetheilt, jedesmal in höherem Maße, nicht vereinigen : denn was follten fie doch die früheren Mits theilungen genügt haben, wenn fie noch unmittelbar vor der Himmelfahrt wähnen fonnten, mit der Geiftesmittheilung werde auch Das Reich Iſrael wieder hergeftellt werden (Apoſtelg. 1, 6)? DVielmehr ift anzunehmen, nur von einer Mittheilung des Geiſtes habe die Ueberlieferung zu erzählen gewußt, diefe aber in verfihiedene Zeiten verlegt, fo daß jeder Evangelift der ihm grade befannt gewordenen Sage in diefer Beziehung folgt. |

Zwifchen diefen dreifachen Angaben findet ein eigenes Vers hältniß ftatt. Sehen wir auf die Zeit, in welcher die Apo⸗ ftel den Geift empfangen: haben follen, fo verdient Lukas, der diefe Mittheilung erft längere Zeit nach der Auferftehung fett, offenbar den Borzug. Denn etwas Anderes, ald die bes geifternde Kraft des geläuterten, von irdiſchen Erwartun⸗ gen gereinigten Meffiasglaubens kann doch der heil. Geiſt nicht gewefen fein; und diefen Fonnten fie erft einige Zeit nach Sefu Tode erlangen; überdieß willen wir ja, daß fie wirflich noch bis in die lebten Lebenstage ihres Meifterd hinein an ihren jüdifchen Vorftellungen Flebten. Sehen wir aber auf die Art der Mittheilung, fo hat Lukas offenbar das Spätere und Sagenhaftere, da bei ihm der Geift mit Sturmeswehen hereinbricht, während bei M. zu feinem Erfcheinen die Worte

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Jeſu hinreichen. Se finnlicher nämlich und mirafulöfer die Mittheilung einer geiftigen Kraft und je plößlicher die Ent ftehung einer Tüchtigkeit, die ſich nur allmälig entwicdelt haben - fan, uns bargeftellt wird, defto weiter liegt eine foldye Dar: ftellung von der Wahrheit entfernt: und diefer Vorwurf trifft - bier eben ben Lukas. Wenn er alfo in Bezug auf die Zeit doch das Nichtigere hat, fo ift dieß ohne feine Schuld gefche - den: denn auch hierin mochte ihn nur die Sage leiten, bie es für angemefien fand, Diefen Aft in den Stand der Ber berrlichung Sefu zu verlegen. Werfen wir fchließlich noch einen Blick auf Sohannes, fo finden wir Darin, daß er jene Seiftesmittheilung an die erfte Erfcheinung Sefu nach der Auferitehung Mnüpft, einen genauen Zufammenhang mit den Abfchiedsreden Jeſu, in welchen die Verfündigung ber Wie⸗ derfunft und Die des mitzutheilenden heiligen Geiſtes vielfad in einander verfchlungen find.

suauftes Kapitel. Die Himmelfahrt Sen. (Mark. 16, 14—20; Luf. 24, 50 - 53; Apoftelg. 1, 1—12.)

Die Himmelfahrt Jeſn wird und von Marfus (16, 19) und Lukas (24, 50) ganz einfach und kurz als ein Aufgehoben: werden zum Himmel erzählt; wir Die Apoftelg. (1, 1 —12) weiß dieſelbe mit anfchaulichen Zügen, einer Wolfe und zwei Männern in weißen Gewanden, auszumalen. Dieje Tettere Erzählung ift ee befonders, welche ganz den Charalter bes Wunderbaren trägt, und Dadurch unfer Bedenfen erregen muß. Iſt es nämlich denfbar, daß Jeſu Leib mit Kleifch und Kochen in überirdifche Regionen eingehen? daß er dem Ges fege der Schwere fich bis zum Auffliegen entziehen Fonnte? Hätte er vorher erft allen irdifch groben Stoff abgelegt, was Einige annehmen, fo mußten doch feine Sünger auch etwas davon merken; und war, wie Neuere behaupten wollen, ber Laͤuterungsprozeß feines Körpers grade fo weit gediehen, daß er in die Lüfte aufſchweben Fonnte, fo müßten wir ung Darüber

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wundern; wie derfelbe in dem getränmten Lauterungsprozeſe ſolche Ruͤckfälle haben konnte, daß er z. B., nachdem er eben erſt ganz wie aͤtheriſch durch verſchloſſene Thuren eingedrungen iſt, wieder plößlich fo ganz ſtoffartig wurde, daß Thomas ihn befühlen Fonnte (Joh. 20). Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß der obere Himmel nur nach der befchränften kindlichen Weltanficht der alten Weit, feineswegs aber in Wahrheit der Sig Gotted und der Seligen iftz fo daß der, ber in den Kreis der Eeligen eingehen will, einen Lmmeg

- macht, wenn er zum Himmel auffteigt. Soll aber Jeſus fidy nur jener unvollfonmenen Borftellungsweife gefügt haben, um feine Jünger von feinem Nüdgange zu überzeugen, fo wäre dieß ein Gottes völlig unwürdiges Speftatelftüd ger weſen.

Nicht mindere Schwierigkeiten ftellen der natürlichen Erflärungeweife fi) entgegen. Denn befonders in der Apo⸗ ftelgefchichte find die Ausdrüde: er ward aufgehoben vor ihren Augen, und eine Wolfe nahm ihn auf“ (V. 9), fo beftunmt und deutlich, daß von einem Erheben auf_eine Fleine Anhöhe, moran die natürlichen Augleger denken, feine Rebe fein kann. Die weitere Erklärung ftreift vollends in's Laͤch er⸗ liche; eine Wolfe foll Sefum nur, mit Hilfe der vielen Del bäume, den Jüngern unfichtbar gemacht haben, worauf zwei

- Männer hervorgetreten feien, natürlicy wieder geheime An⸗ hänger, und den Süngern verfichert haben, Jeſus fei zum Hinmel eingegangen. Bon dba an gehen die Erflärungsweifen auseinander: die Einen fagen, Sefus fei wirflich alsbald ges florben, was aber ganz unglaublidy iſt; die Andern, er habe fih in die Einfamfeit zu einer geheimen Gefellfehaft zurückge⸗ zogen, deren Mitglieder den Jüngern, um ihn verftedt zu halten, eingerebet haben, er fei gen Himmel gefahren. Dieß iſt nun gar „eine Vorftellung, von welcher fich auch hier, wie immer, der gefunde Sinn mit Widerwillen abwendet *.

Allein grade hier hätte man fich diefe Künfteleien der Aus⸗ legung erfparen können, da kaum eine andere Wundererzählung des neuen Teftamentes jo wenig beglaubigt ift, ald Die Himmels

j 464 fahrt; denn außer von Markus und Lukas wird ihrer von feinem andern Schriftfteller Erwähnung gethan. Zwar wollen die orthodoren Ausleger in vielen Stellen Hinweifungen auf diefelbe erblidlen: allein wenn auch Sejus fagt: man werde ihn zur. Rechten Gottes fisen ‚fehen CM. 26, 64); oder, Kei⸗ ner fei in den Himmel geftiegen, außer dem vom Himmel ge fommenen Menfchenfohne (Soh. 3, 13)5 wenn er audy die Sünger darauf verweist, fie werben ihn einft dahin aufiteigen fehen, wo er vorher geweſen (Joh. 6, 62); fo ift in Dielen, wie in andern Stellen (Soh. 20, 17; Apoftelg. 2, 33; Eph. 4, 10; 2 Petri 3, 22), doc, immer nur überhaupt von der Erhebung Sefu in den Himmel die Rede, ohne daß fie als eine äußere, fihtbare Thatfache dargeftellt würde. Fer: ner ift es nach der Erzählung des Paulus, 1 Kor. 15, 5, mehr als wahrfcheinlich, daß er nicht nur die ihm zu Theil gewordene, fondern alle Erfcheinungen des Anferftandenen nad der Himmelfahrt fett; d. h. alfo, Daß er von eier folchen, als einer wirklich den irdiichen Wandel Sefu be= fchließenden Thatfache nichts wußte. Wenn alfo Johannes von einem wirflichen Gefchautwerden des Auffteigens Tem zum Himmel zu fprechen fcheint, fo haben wir hierin lediglich “eine, Diefem Evangelium eigenthümfiche, Bilderſprache zu ers fennen.

Es haben daher andere Ausleger fich alle Mühe geben müffen, das Schweigen des M. und Sohamies über die Him—⸗ melfahrt erflärlich zu machen; jedoch ohne Erfolg. Wenn M. und Johannes diefelbe Fannten, fo mußten fie, war fie and ſchon ohne fie befannt genug, Ddiefelbe doch erzählen, damit ihre Evangelien, wie es nun wirflich der Fall iſt, nicht das ftünden, wie ein Haus ohne Dach: denn fie ift ein nothwen⸗ diger Schlußpunft für das rärhfelhafte Leben, das Sefus nad) ber Rückkehr ans bem Grabe geführt haben fol. Was Ans dere annehmen, es fei jenen Evangelien nicht möglich ges weien, die Himmelfahrt zu erzählen, da alle Augenzcugen Ja doch nur das Auffahren in einer Wolfe fehen konnten: bieß beurfundet eine Verfennung der morgenländifchen Vorſtel⸗ lungsweife, der ein Auffteigen in die Wolfen und eine Him⸗ melfahrt ganz gleichbedeutend war.

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Zu dieſem unlaͤugbaren Nichtwiſſen zweier Evangelien fome men nun noch die Widerſprüche in den Nachrichten der ans bern.. Während Markus (V. 14 und 19) die Himmielfahrt in dem Zimmer gefchehen läßt, wo Iefus zum legten Male den Elfen erſchien, verlegt Lukas fie natürlicher in's Freie, nad) Bethanien (B. 50). Bedeutender ift der Widerfpruch, in dem Lukas mit ſich ſelbſt feht: im Evangelium fleigt Jeſus fhon am Tage der Auferftehung gen Himmel; in ber Apo⸗ ſtelgeſchichte erft vierzig Tage nachher. Offenbar hat Lukas keßtere Nachricht erſt fpäter, nachdem fein Evangelium fchon geichrieben war, erhalten: denn biefe Geftalt mußte die Sage annehmen, nachdem fo viele Erfcheinungen des Auferftandenen - erzählt. wurden, daß man fie unmöglidy in dem furzen Zeit raum weniger Tage unterbringen konnte. Daß diefer aber grade auf vierzig Tage ausgebehnt wurde, hatte feinen Grund in der Heiligfeit, die in jüdifchen und chriftlichen Sagen der Zahl 40 beigelegt wurde; 40 Tage war Mofes auf dein Sir nai, 40 Jahre war das Volt Sfrael in der Wüfte, und 40 Tage hatten Moſes, Elias und Jeſus gefaftet. Bemerkens⸗ werth ift ferner noch, daß Lufas auch nur in der Apoftelge- fhichte den mit Wolfe und Engeln ausgefchmückten Bericht gibt, der ebenfalls fpätere Zuthaten enthält. Diefe bildeten ſich aus, „um auch diefem letzten Punkte des Lebens Sefu feine Ehre anzuthun, und das unzulängliche menfchliche Zengniß über feine Erhebung in den Himmel durch zweier himmlischen Zeus gen Mund befräftigt werden zu laffen *.

Wir find alfo bei dem Nefultate angelangt, daß es über das Ende zwei verfchiedene Vorftellungsweifen gab. Diejenige, nach welcher man fich die Himmelfahrt nicht als eine fichts bare, feierliche dachte, findet fich noch am reinften bei M.; hier fagt Jeſus zwar feine Erhebung zur Rechten Gottes vor: aus (26, 64); er verfichert, nach der Auferftehung, es fei ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben (28, 18), und verheißt, ohne daß vorher etwas von feiner fichtbaren Himmelfahrt gefagt worden wäre, ben Seinen, „er werde bei ihnen fein alle Tage bis an der Welt Ende“ CR, AU).

IL 30

466 ur

Hier liegt offenbar die Borftellung zu Grunde, „daß Jeſus, ohne. Zweifel fchon bei feiner Auferſtehung unſichtbar zum Bater aufgeftiegen, zugleich unfichfbar immer um die Seinigen fei, und aus dieſer Berborgenheit heraus fich, fo oft er es nöthig finde, feinen Anhängern offenbare*. In ähnlicher All⸗ gemeinheit halten fich Die oben befprochenen Darftellungen des "Paulus und Johannes. Der Einbildungsfraft der Chriſten mußte es jedoch fehr nahe liegen, allmälig das Aufſteigen Jeſu zum Vater auch zum glänzenden Schaufpiel auszumalen: beſonders feitdem man, nadı Daniel, feine Wiederkunft vom. Himmel als fichtbares Herabfommen in den Wolfen fich vor- ftellte, mußte man von felbft zu dem Schluffe gelangen: „wie Jeſus bdereinft vom Himmel wieder fommen wird, eben ſo wird er wohl auch dahin gegangen ſein*.

Endlidy mögen auch noch altsteftamentliche Vorbilder zur beftinmteren Geftaltung diefer chriftlichen Mythe mitgewirkt haben; die Hinwegnahme des Henoch (1 Mof. 5, 24), mehr. noch die Himmelfahrt des Elias (2 Kön. 2, 11), der eben fo, wie Jeſus CApoftelg. 1,9 den Jüngern, dem Elifa feinen Geift zurückließ, in dem Augenblicke, wo biefer ihn mit eiges nen Augen zum Himmel aufiteigen fah (2 Kön. 2, 9).

167.

Schluß⸗Abhandlung. Das Verhaͤltniß Der verſtaͤndigen Geſchichts— Forſchung zum chriſtlichen Glauben.

Erſtes Kapitel, Glauben und Wiſſen.

Durch die Ergebniſſe der bisherigen Unterſuchung iſt num, vie es ſcheint, der größte und wichtigfte Theil von dem, a8 der Chrift von feinem Jeſu glaubt, vernichtet; alle Er- aunterungen, die er ans dieſem Glauben fchöpft, find ihm ntzogen, alle Tröſtungen geraubt. Der unendliche Schaß on Wahrheit und Leben, an welchem feit achtzehn Jahrhun⸗ erten die Menfchheit ſich groß genährt, fcheint Damit ver: gäftet, das Erhabenfte in den Staub geftürzt; Gott feine Snade, dem Menfchen feine Würde genommen, das Band wifhen Himmel und Erde zerriffen zu fein. Mit Abſcheu dendet ſich von fo ungeheurem Frevel die Frömmigfeit ab, md aus der unendlichen Gelbftgewißheit ihres Glaubens her⸗ ms thut fie den Machtfpruch: eine freche Forfchung möge rerfuchen, was fie wolle, dennoch bleibe Alles, was von Chrifto ie Schrift ausfage und die Kirche glaube, ewig wahr, und 8 Dürfe fein Jota Davon fallen gelaffen werden. *

Diefe Vorwürfe fcheinen aus vorliegender ftreng wiſſen⸗ haftlichen Prüfung der evangelifchen Berichte auf den eriten inblick ſich ergeben zu müffen, und wirklich find fie vielfach ber diefelbe audgefprochen worden, jedoch mit Unrecht. Es t baher nun noch unfere legte Aufgabe, nachzumeifen, wie ih auch mit dieſer wiffenfchaftlichen Auficht ein, Glauben erträgt, dem ber innere, unfterbliche Gehalt des Chriſtenthums

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heilig iſt: wie durch diefelbe die. hriftlichen Ideen, welde mit ihrer belebenden Kraft eine ganze Welt erfchütterten, wer der bedroht noch angegriffen find *%. Ausführlich könnte dieſer Beweis nur in einem eigenen Werke geführt werden, daher müffen wir uns hier darauf befchränfen, anzubeuten, daß auch anf dem von uns eingefchlagenen Weg des Zweifeld an den Veberlieferungen der Gefchichtsbücher die Brücke zum chriftlichen Glauben uns offen geblieben it.

Glauben und Wiffen find zwei Gebiete im menfchlichen Geifte, gleich heilig und ehrwürdig; durchaus verfchieden, aber nicht entgegengefeßt: was dem Glauben gehört, fol dem Wiſſen unantaſtbar fein, und das Wiffen vom Glauben nid geſtört werden; je freier, ungehemmter beide in der menſch⸗ lichen Seele gedeihen, defto befreundeter werden fie neben einander wohnen: wer dem unerbittlichen Feinde aller Einmis ‚fchung des Glaubens in das Gebiet des Wiſſens vorwirft, er achte den Glauben nicht, der Fennt beide nicht, und kann fie Daher auch nicht wahrhaft Tieben und umfaffen.

Unfere Unterfuchung ber evangelifchen Gefchichte ging nicht von einem Standpunfte aus, den fie außerhalb des chriſt⸗ lichen Glaubens genommen hatte, wie die feindfeligen Angriffe des vorigen Sahrhunderts (f. S. 11 ꝛc.) auf das Chriften thum; fondern von dem Mittelpunfte degfelben, in welchem unfer Glauben unvermwüftlich wurzelt. Auch wir haben die heilbringenden Ideen der Erlöfung, der durch Sefum bewirften Berfühnung des Menfchlichen mit dem Göttlichen in unfer Bermußtfein aufgenommen; der Gottmenfch, der in der ganzen chriftlichen Gefchichte lebt, muß in jedem Gemüthe Ieben,

) Ich halte es hier am Orte, basjenige wiebergugeben, was Strank fhon in der Vorrede zur erften Ausgabe feines Werkes ©. VIL ausfprach (dritte Aufl. S. IX): „Den inneren Kern bes dhrifl lichen Glaubens weiß der Verf. von feinen Linterfuchungen völlig unabhängig. Chrifti übernatürlihe Geburt, feine Wunder, feine Auferftehung und Himmelfahrt bleiben ewige Wahrbeiten, fo fehr ihre Wirklichkeit als hiftorifche Thatſachen angezweifelt werden mag.“

| . 469 das in der neuen, d. h. in der hriftlichen Zeit mit feinen ebleren Kräften wurzelt. Aber fo wie wir aus diefer Weit des Glaubens, des in ung Iebendigen Chriftenthums, in das Gebiet der Außenwelt, der äußeren Erfcheinung, in die ges wordene Gefchichte Sefu hinüber getreten waren, fo ſtanden wir auf Dem Gebiete der Wiffenfchaft, wo nur der ſcharfe, Klare, an. der Hand der Vernunft vorwärts fchreitende Vers ftand uns. den richtigen Weg zeigen kann. Wir haben urs im vorliegenden Kalle feiner Leitung ganz überlaffen, und fird Dadurch zu Nefultaten gelangt, die den Anfchein haben, dın chriſtlichen Glauben an Sefum ganz zu vernichten, weil die Zhatfachen feiner äußeren Sefchichte in den meiften Fällen in Zweifel oder gar in Abrede geftellt wurden. Es ift. alfo, nunmehr genauer gefaßt, unfere Aufgabe, nadızumweifen, daß auch mit. Diefen Nefultaten der chriftlihe Glauben fi friedlich und ungeftört verträgt. | ir müffen, um die Lehre von der Perfon Jeſu, wie fie ſich nach vorliegender Unterfuchung berausftellt, vers ftändlich zu machen, vorher die von der unfrigen abweichenden in kurzer Ueberficht darftellen: es wird dadurch zugleich Har werben, welche Stellung die gegenwärtige Wiffenfchaft zum chriftlichen Glauben einnimmt.

Zweites Kapitel,

Die Lehre der Kirche über Chrifti Perfon und Wirken.

Indem die erften Chriften an der buchftäblichen Walrs heit der evangelifchen Ueberlieferungen fefthielten, bildete ſich die orthodoxe Lehre von Chriftus, deren Grundzüge fehon im neuen Teftamente ſich finden. Die Wurzel derfelben if der Slaube an die Auferftehung Jeſu: diefe war ber Bes weis feiner Meffianitätz fie hatte ihn über die. Schranfen “der Menfchheit und zur unmittelbaren Gemeinfchaft mit dem himmlifchen Vater erhoben (Apoſtelg. 2, 32 2c.; 3, 15 ı.. u. A.). Nun erfchien fein Tod als Hanpttheil feiner meſſianiſchen Beſtimmung; Jeſus batte ihm erlitten für bie Sünden ber

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Welt &poftelg. 8, 32 ꝛc.; 1 Joh. 2, 2),. durch ihn war er der ewige, fündlofe Hoheprieiter geworden, deffen Blut mit Einem Male bewirkte, was der Jüdiſche mit allen Thieropfern nicht vermocht hatte CHebr. 10, 10 ꝛc.); er war das reine Lamm, durch deffen Blut die Gläubigen losgefauft find (1 Petr. 1,18 ꝛc.). Es mußte aber weiterhin der zur Rechten Gottes Erhöhte von jeher mit göttlihem Geifte gefalbt (Apoftelg. 4, 27), mit der Gabe des Wunderthuns ausgerä- ftet (Apoftelg. 2, 22), er mußte fogar übernatürlich durch den heil. Geift erzeugt worden fein (M. 1). Da er alfo fchon "vor feinem menfchlichen Dafein in göttlicher Majeftät gewer fen, fo war fein Herabfommen unter die Menfchen und fein Zod eine Erniedrigung, welcher er freiwillig zum Beften derfelben fich unterzogen hätte Phil. 2, 5). So wie er aber nach feiner Wiedererhöhung einft zur Auferweckung der Todten wiederkommen wird (Apoftelg. 1, 11), fo nimmt er auch fchon jeßt an der Weltregierung Antheil (M. 28, 18), und fhügt unfichtbar feine Gemeinde (Röm. 8, 34); ja er bat auch ſchon an der Weltfhöpfung Theil genommen (Soh. 1, 35 Kol. 1, 16 ꝛc.). ie unendlic, viel befeligende und beruhigende Gedanken fhöpfte die erſte Chriftengemeinde aus dieſem Glauben an ihren Chriftus! Durch fein Hingeben in den Tod für die Menfchen ward Himmel und Erde verfühnt (2 Kor. 5, 18 2c.); die Liebe Gottes den Menfchen verbürgt (Röm. 5, 8 2c.); Die Menfchen, deren Bruder der Sohn Gottes gewors den, find nun gleichfalld Kinder Gotted und Miterben Chriſti (Rom. 8, 16 ıc.). Das fnechtifche Verhältniß unter dem Gefete hat aufgehört; an die Stelle der Furcht ift die Liebe getreten (Röm. 8, 15): denn nicht mehr haben die Menſchen das Unmögliche, welches das Geſetz verkıngt (Sal. 30, 10 ꝛc., Röm. 5, 12 ꝛc.), zu erfüllen; fondern wer an Ehriftum glanbt, der verfühnenden Kraft feines Todes vertraut, der ift von Gott begnadigt, nicht durch eigenes Berdienft, fondern durch die freie Gnade Gottes (Nöm. 3, 31 10). Nunmehr ift dad mofaifche Gefeß nicht mehr bindend (Röm. 7, 1.2x0.); auch die Heiden find zum Reiche Gottes berufen, und die Scheidewand, welche die Menſchheit feind-

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wideln läßt,. ald .Außere Thatfachen, die überall dem prü- fenden Zmeifel anheim fallen. Wir faſſen fein intereffantes Lehrgebäude über Jeſu Perfon in Folgendem kurz zufammien.

„As Glied der chriftlichen Gemeinde bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigfeit bewußt; id, fühle die Eins flüffe eines heiligen von Sünden reinigenden Elementes, dag‘ in diefer Gemeinfchaft als der chriftliche Mittelpunkt lebt und wirft. Aus der Gemeinde an fich kann dieſes Clement nicht hervorgegangen fein, da fie aus fiindhaften Menjchen beſteht; ed muß der Einfluß eines Höhern fein, ber in ſich ſelbſt ſündlos, in einem folchen Verhältniffe mit der Gemeinde fteht, daß er ihr Diefe Eigenſchaft mittheilen kann; diefer Höhere muß der Stifter derjelben fein, aus deſſen Geifte fie hervors' ging. Seine Wirkung alfo ift der von mir gefühlte Geift der Sündiofigfeit; die Urfache diefer Wirkung kann nur beffen eigene Heiligfeit fein; Ehriftus, der ohne Sünde war, lebt in der Gemeinde. Er ift eg, ber in mir durch jene Eindrüde die ftete Gemeinfchaft mit Gott erhält, und dadurch mich fähig macht, die Uebermacht der Sinnlichkeit zu brechen, fo daß ich Alles auf das Iebendige Bewußtſein Gottes, der in und mit mir lebt, beziehen fannı. Darum hat Ehriftus mich von der Kuechtfchaft-der Sünde erlöst. Diefe Erlöfung bewirft aber auch in mir, daß die Störungen des äußeren’ Lebens nicht die Seligfeit meines Gottesbemußtfeins unters brechen; Uebel und göttliche Strafen gibt es für mich nicht mehr. Darum hat Chriftus mic auch mit Gott verfühnt. In diefen Gefühlen erhalten die drei Aemter Sefu erſt ihre: innere wahre Bedeutung: er ift Prophet, weil er durd fein lebendiges Wort die Menfchheit an fi} 309; Hohes priefter und Opfer, da er, der Sündlofe und darum Selige, in Die Niedrigfeit des fündlichen Lebens der Menfchheit herabs ftieg, um ihre Uebel zu theilen, damit er ung zu Neiligfeit und Seligfeit in feine Gemeinfchaft aufnehme; König ift- er als Stifter und Lenker diefer Gemeinde“.

„Aus diefen Wirkungen Chriſti erfennen wir, was er ges: wefen.. Sn ihm muß als ungetrübtes, unmandelbared Bes wußtfein Gott gelebt: haben; daher fagt die Kirche, in Chriftus fei Gott Menfch geworden. Er muß die Sinnlichkeit fo ganz

. 72 Abrede geftellt. Sekten, welche, wie die Ebioniten, die Gott heit, oder umgekehrt, wie die Doketen, die Menfchheit durch⸗

- aus aufhoben, mußten von ber chriftlihen Gemeinfchaft, die

zur Dermittlung die Gottmenfchheit für unerlaͤßlich hielt, ganz

- ausgefchloffen werben. Aber man mußte auch fchon die Bolls

ftändigfeit beider Naturen durch fehärfere Bekenntniſſe feſt⸗ halten, wenn nicht ihre Bereinigung gefährdet werben follte: daher wurde Arius verdammt, weil er ein zwar göttliche, aber gefchaffenes und dem höchften Gotte untergeorbnetes Weſen in Sefu für Menſch geworden hielt; denn auf biefe Weiſe wäre Jeſus nicht vollftändiger Gott geweſen. Andere wurden als Srriehrer verftoßen, weil fie annahmen, daß in Jeſu das göttliche Weſen die menſchliche Seele vertreten habe ; hiernach wäre er nicht vollftändiger Menfch geweien. Andererfeitd fonnte auch durch abweichende Borftellungen über die Art der Bereinigung beider Naturen gefehlt werben. Einige unterfchieden diefe Naturen in Chrifto gar nicht mehr, und erfannten in ihm, wie er ald Eine Perſon erſchienen war, fo auch nur Eine Natur, die bes fleifchgewordenen Gottesſohnes an: hier war eine Vermifchung, aber nicht eine Bereinigung felbitftändiger Weſen geſetzt. Andere ers Härten, e8 feien in Chrifto zwei Naturen zwar der Verehrung nad) verfnüpft, aber dem Wefen nach noch immer verfchies den, und nicht vollfommen Cine Perſon; damit fchien der Lebenspunft des Chriftenthums, die Bereinigung des Gött— Iihen und Menfchlichen zerftört. Daher fügte die Kirche, biefen beiderlei Ketereien gegenüber, noch hinzu: „wir lehren, daß Sefus wahrer Gott und wahrer Menſch gewefen, von gleichem Wefen mit dem Vater vermöge feiner Gottheit, und von gleichem Weſen mit und vermöge feiner Menſchheit; daß Feineswegs der Unterfchied der Naturen durch ihre Einheit aufgehoben, daß vielmehr die Eigenthümlichfeit beider Naturen beibehalten worden ſei; daß beide aber ein und berfelbe Ehriflus feien, aus zwei Naturen untrennbar, ums theilbar zu Einer Perfon verbunden ſeien“. Weiterhin wurde auch noch feltgefeßt, er habe zwei Willen gehabt, aber nicht uneins, fondern der menfchlicye dem göttlichen untergeordnet.

473

Ohne durch Streitigkeiten beunruhigt zu werben, entwickelte fidy Die Lehre von Gefu Thun und Wirken ebenfalld weiter. Im Allgemeinen ftellte man ſich dasfelbe vor: der Cohn Gottes habe durch Annahme der Menfchennatur Diefe geheiligt und vergöttlicht, namentlich unfterblich gemacht: Dabei wurbe auch noch auf feine heilfame Lehre, fein erhabenes Beifpiel hingewiefen, und auf feinen verfühnenden Tod. Ten ſchon im neuen Teftamente enthaltenen Begriff der Stellvertres tung,. wodurch; von der Menfchheit die Strafen der Sünde genommen wurden, führte man mehr und mehr aus, bie Anfelm daraus die fünftliche Lehre von der ftellvertretenden Genugthuung fchuf, die fich durch folgende Säge hinzieht : „Der Sünder (und alle Menfhen find Sünder) entzieht Gott die fchuldige Ehre; diefe Beleidigung kann Gott nicht duls den: freiwillig kann der Menfch Gott nicht wiedergeben, - was er ihm entzogen hat; denn dba er alles Gute, was er thun kann, Gott ſchuldig ift, fo kann er nichts Gutes übrig haben, um durch dieſen Ueberfchuß die begangene Sünde zu deden: alfo muß Gott dem Menfchen zur Strafe bie ihm verliehene Glückſeligkeit entziehen, und fich Genugthuung vers ſchaffen; dieß aber widerftreitet feiner Güte: nun aber muß doch feine Gerechtigkeit Genugthuung haben; ed muß ihm nach Maßgabe deffen, was ihm entzogen worden, Etwas gegeben werden, das größer ift, als Alles, außer Gott: bieß aber ift nur Gott felbft, und da andrerfeits für den Mens fehen nur der Menſch felbft genug thun kann, fo muß ein Gottmenſch diefe Genugthuung leiften: dieſe Fann aber nicht in thätigem Gehorfame, in fündlofem Leben beftehen, weil dieß jedes vernünftige Wefen Gott ohnehin ſchuldig iſt; aber den Tod, der Sünden Sold, auf fich zu nehmen, tft ber Schuldloſe nicht fehuldig: alfo befteht, da der Gotts menſch Dennoc dem Tode fidy unterzogen hat, eben die Ges nugthuung Gottes in dieſem Tode des Gottmenfchen, deſſen Belohnung, weil er als Eins mit Gott nicht belohnt werden fann, der Menfchheit zu Gute kommt.

Diefe alten Kirchenlehren gingen auch in die Intherifche Konfeffion über, wo fie noch feiner ausgebildet wurden. Hier wird namentlich noch hinzugefügt, Daß der menfchlichen

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Natur in Chriſto vermöge ihrer Verbindung mit der göttlichen gewiſſe eigenthümliche Vorzüge zufommen; zumädt Sündlofig- feit. und die Möglicyfeit, nicht zu fterben. Außerdem aber erhielt die menſchliche Ratur noch gewiffe andere Vorzüge, Die ihre von der göttlichen gelichen wurden: denn da die Bereinigung beider nicht eine äußere, todte, fondern eine in⸗ nere, lebendige ift, wie 3. B. im glühenden Eifen euer und Metall ſich durchdringen, fo gehen auch die Eigenthümlichkeiten beider in einander über: Daher nimmt die menfchliche Natur Antheil an den Vorzügen der göttlichen, Die göttliche an den die Erlöfung betreffenden Thätigfeiten der menfchlichen.

‚Die alſo gedachte Perfon des Gottmenfchen trat auf Erden zuerft in den Zuftand der Erniedrigung, indem feine menfchliche Natur troß ihrer Vereinigung mit der göttlichen bei der Empfängniß, doc bis zum Tode feinen fortwähren- den Gebrauch von den erhaltenen göttlichen Cigenfchaften machte: mit der Auferftehung aber begann der Stand der Erhöhung, der mit dem Sitzen zur Rechten Gottes feine Vollendung gewann.

In Bezug auf ſein Werk ſchreibt dieſe Kirche Jeſu ein dreifaches Amt zu; das des Propheten, inſofern er die höchſte Wahrheit verkündete und durch Wunder bekräftigte; als Hoheprieſter hat er an unſerer Statt das Geſetz er füllt und unſerer Sünden Strafen getragen: und als König zegiert er die Kirche, deren NHerrfchaft über alle Welt er durch Auferfiehung und WWeltgericht vollenden wird.

Diefe, ferenge, ſtarre Kirchenlehre fand frühzeitig mehr fachen Widerfpruch. Schon die Reformirten konnten ſich zu Dem Theile derfelben, demgemäß die beiden Naturen in Sefus ihre Eigenfchaften ſich gegenjeitig mitgetheitt haben follen, nicht bequemen. Denn fie behaupteten mit Recht, daß eine ‚unendliche Natur gar keine Eigenfchaft einer endlichen in ſich aufnehmen könne, ohne in ihrem Weſen aufgehoben zu werden; und fo umgefehrt auch die endliche. Diefe Lehre ift daher heut zu Tage felbft von ftreng lutheriſchen NRechtgläubigen auf: gegeben worden. Aber: auch der zu Grunde liegende Haupt:

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fag von der Bereinigung der beiden Naturen zu Einer Perſon komte nicht unangetaftet bleiben: ſchon die Socinianer erklaͤrten, daß zwei Naturen, deren jede ja ſchon eine Per⸗ ſon ausmache, unmöglich zu Einer Perſon vereinigt werden könnten, zumal wenn ſie einander entgegengeſetzte, eine ſterb⸗ liche und eine unſterbliche, ſeien. Mit Recht ſchloſſen die Rationaliſten ſich dieſen an, mit den Bemerkungen, felbft die fcharffinnigften Theologen haben nie diefe Lehre dem gefunden Berftande anſchaulich machen Fünnen: und ferner, wenn Chriftug mit Hilfe einer göttlichen Natur das Böfe überwunden habe, fo fei er für den ſolcher Hilfe entbehrenden Menſchen kein Vorbild.

Mit ausgezeichnetem Scharfſinne hat Schleiermacher in neuerer Zeit dieſe Kirchenlehre angegriffen und vernichtet, etwa in folgenden Sägen: „Ein Göttliches kann nie Natur genannt werden, weil „Natur“ nur ein befchränftes, abgeſchloſ⸗ fenes Sein. bedeutet: überall im Weltalle ift Eine Natur als Ssubegriff gewiſſer Gefeße (z. B. die menſchliche, vegetas bilifche 2c.) mehreren Perfonen oder Engelnweſen gemeinfam (allen Menfchen, Pflanzen zc.); nirgends aber fchließt Cine Derfon mehrere Naturen (die der Menſchen und bie ber Pflanzen) in ſich ein: ja dieß kann nicht geſchehen; denn eine Perfon als eine beftimmte Einheit des Dafeins kann nicht zwei Naturen, als Inbegriffe verfchtedenartiger Gefeke, zu Einem Mittelpinfte in ſich veremen. Zwei Willen cf. ©. 472) in Einer Perfon find. nun vollends undenkbar; denn -aledann müßte diefe auch einen doppelten VBerftand haben, und darum in zwei Perfonen zerfallen; endlich Tann ein götilicher Wille, der ſtets auf das mnendliche Ganze ges richtet ift, nie Dasfelbe wollen, was ein immer. nur auf. ein Endliches, Einzelnes gerichteter menfchlicher ‚will; fo wenig wie menfchlicher Verſtand göttliche Gedanken faſſen kann.“

Nicht mindere Widerjprüche mußte die Lehre von dem drei⸗ fachen Amte Jeſu erfahren (ſ. S. 474), Gegen. fein prophe⸗

rl

tiſches wurde vorzüglich das ‚geltenb gemacht, was wir ſchon in der Einleitung (5.46 ıc.) über die Wunder auseinander gefetst haben. Es muß hier aber namentlich noch der Punkt beroorgehoben werden, ob nämlid, under zur Grundlage einer Glaubenslehre gemacht werden fünnen. Da ein Wun⸗ der doch nichts Anderes ift, als etwas. durch Unterbrechung

der Naturgefete Bewirktes, fo kann man ein foldyes erft dann mit Sicherheit annehmen, wenn man die Raturgefeße fchon nach allen Seiten bin kennt, wovon wir bekanntlich noch weit entfernt find: ein Glauben alfo, der. fi, auf Wunder gründet, ruht auf einer fchwachen Stüge. Nicht nur ſchwach bes gründet, fondern in der That anftößig erfchien aber Vielen die Lehre von ber ftellvertretenden Genugthuung (S. 473), Wenn es nämlicd, fchon Menfchen wohl anfteht, mit Verzicht: leiftung auf Rache, Beleidigungen zu verzeihen, wie viel mehr müflen wir dieß von Gott vorausfegen! Daß es mit der re gierenden Gerechtigkeit desſelben unverträglich fei, die Sünden ohne Genugthuung zu verzeihen, hätten die Bertheis diger dieſer Lehre gar nicht einmal behaupten follen: denn eine vollftändige Genugthuung hat Gott ja doch nicht erhals ten. Diefe konnte er nicht in dem leiblichen Tode eines Eins zigen, ber überdieß nad) demfelben zur ewigen Herrlichkeit eingingz nicht in dem Tode einer menfchlichen Natur (denn nur dieſe litt in Jeſu, nach der Lehre felbft, den Tod) finden: eben fo viele Stellvertreter, ald Sünder, muß⸗ ten fterben, oder, wo nicht, alddann das Göttliche in Sen Natur. Hatte aber, wie man erwidert, Gott aus freier Gnade die unzureichende Genugthuung für zureichend anges nommen, fo folgt ja daraus von felbft, daß Gott auch alle Genugthunng erlaffen konnte. Doch, abgefehen von dem Allem, fhon die Grundvorſtellung, auf welcher diefe ganze Lehre ruht, ift eine befchränfte, Gottes unwürdige; eine rohe Ueber; tragung niederer VBerhältniffe auf die höchften. -Bei Geld» und anderen Schulden kann es dem Gläubiger am Ende einerlei fein, wer ihn bezahlt, wenn ihm nur genug gefchieht; Süns denftrafen für moralifche Verſchuldungen kann fein Vers nünftiger, gefchweige Gott, auf einen Unfchuldigen übertragen wollen. Rod) weniger kann Jeſus durch thätigen Gehors

U | 47 | fam, buch Sündloſigkeit, ben Menfchen Berbienfte ers worben haben, da er für fich fchon dazu verbunden war,

und fittliches Verdienſt nicht wie äußered Eigenthum auf Ans dere übergehen kann.

Dritte Rapitel Die Lehren der Nationaliften und Schleier; macher’8 über Chriftus.

Nachdem die Ratiovnaliften die Kirchenlehre von. der Perſon Sefu verworfen hatten, ald unbegründet und ber fitts Iihen Bildung nachtheilig, ftellten fie eine andere auf, von welcher fie Gedeihlicheres verfprachen. Sie erfennen Jeſum als göttlichen Gefandten an, der ſich als einen befonderen Liebling Gottes beurfunde, indem er, mit den herrlichiten Gaben ausgerüftet, in Verhältniffe verjeßt wurde, die der Entwidlung derfelben fo überaus günftig waren; namentlich wurde eine Todesart über ihn verhängt, die eine Wiederbelebung, von ber das ganze Gedeihen feines Werkes abhing, möglich machte. Auch nach ihrer Lehre ift Jeſus der erhabenfte Menfch, der auf Erden wandelte; er fteht, wie fie glauben, in ihrer Lehre höher da, als in der. Kirchenlehre, wo er nur ein willenlofes Werkzeug des Göttlichen fei, ohne fittliches, durch freie Thätigs _ feit erworbenes, Verdienſt; während in diefer rationaliftifchen Lehre Alles, was er war, er durch fich felbft wurde; feine Weisheit war Folge unermüdeten Strebens nad) der Wahrheit; feine fittliche Größe hatte er fich Durch angeftrengten. Kampf mit der auch ihn bedrohenden Sinnlichfeit errungen. Sein Yauptverdienft um bie Menfchheit befteht demgemäß in der Mittheilung einer reinen Lehre vol göttlicher Kraft und Würde; in dem leuchtenden Borbilde, das feine erhabene Sittlichkeit für und bildet; in dem Tode, den er. für die Menfchheit ftarb, um fie zur Todesverachtung zu begeiftern, und ihr den ermunterndften Beweis ber göttlichen Liebe zu geben.

478 j

Gegen dieſe Lehre von Jeſu Perfon iſt mit Recht einge wendet worden, daß fie nicht mehr in die chriftliche Glaubens: Ichre gehöre; denn fie ftellt ung Jeſum dar, zwar als würdig ften Gegenftand menfchlicher Verehrung und Bewunderung, aber er hört auf, Segenftand des Glaubeng zu fein. Jeſus wird uns allerdings durch diefe Darftelung begreiflid; aber er ift ans aller lebendigen Beziehung zu der frommen Verehrung der Gemeinde... gebradyt, wenn fie feinen Namen auch mit Verehrung nennt. Vom Chriftus, der mit dem Glauben der Ehriften auf's Engfte verflochten fein muß, wenn er ein chriftlicher fein fol, it Nichte mehr geblieben; der Ehrift aber kann Beides, Chriftum und chriftlichen Glauben, nicht von einander trennen. Es haben daher befonnene Rationas liſten auch zugeftanden, daß ihre Chriſtuslehre nicht mehr Sadıe des Glaubens, fondern der Neligionsgefchichte fei; Dieß tt vollkommen richtig. Denn wenn ich 3. B. das Syſtem eines Kant oder Schelling darftelle, fo gehört ed gar nicht hieher, audeihander zu feßen, was wir von der Perfönlichfeit Diefer Männer zu halten haben; fie ftehen ganz außer demfelben, abgelöst von ihrer Lehre, und gehören nur der Gefchichte der Wilfenfchaft an, wie Sefus nach jener Lehre von ihm einzig der Gefchichte der Religion, fo gut, wie Mofes und Mahomed, anheim gefallen ift.

ER ———

Dieſer ungenügenden rationaliſtiſchen Glaubenslehre trat in nenerer Zeit Schleiermacher mit einer Lehre von Chriſtus entgegen, in welcher er ed verſuchte, die Anſprüche der Wiffen- fhaft fo mit ‘dem eigenthümlich chriftlichen Glauben in Ueber: einftimmung zu bringen, daß beide friedlich neben einander beftehen könnten. Er ging dabei weder von der Kirchenlehre, noch der gefchichtlichen Weberlieferung aus, die beide den Wider⸗ ſpruch der Wiffenfchaft zu fürchten hatten und den Zweifel rege machen mußten; fordern von dem „chriftlichen Be: wußtfein“, von der inneren Erfahrung, die Jedem fagt, was ihm das Chriftenthum iſt. Die Grundlage feiner Lehre ift alfo ein Gefühltes, das fih, da ed aus inneren, unbe: zweifelten Thatſachen hervorgeht, . immer unangefochtener ent:

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wickeln laͤßt, als aä;ußere Thatſachen, D’e überall dem prü⸗ fenden Zweifel anheim fallen. Wir faſſen fein intereſſantes Lehrgebäude über Jeſu Perſon in Folgendem kurz zuſammen.

„Als Glied der chriſtlichen Gemeinde bin ich mir der Aufhebung meiner Sündhaftigkeit bewußt; ich fühle die Ein⸗ flüſſe eines heiligen von Sünden reinigenden Elementes, das in dieſer Gemeinſchaft als der chriſtliche Mittelpunkt lebt und wirkt. Aus der Gemeinde an ſich kann dieſes Element nicht hervorgegangen ſein, da ſie aus ſündhaften Menſchen beſteht; es muß der Einfluß eines Höhern ſein, der in ſich ſelbſt ſündlos, in einem ſolchen Verhältniſſe mit der Gemeinde ſteht, daß er ihr dieſe Eigenſchaft mittheilen kann; dieſer Höhere muß der Stifter derſelben ſein, aus deſſen Geiſte ſie hervor⸗ ging. Seine Wirkung alſo iſt der von mir gefühlte Geiſt der Sündloſigkeit; die Urſache dieſer Wirkung kann nur deſſen eigene Heiligkeit fein; Chriſtus, der ohne Sünde war, lebt in der Gemeinde. Er ift es, der in mir Durch jene Eindrüde die ftete Gemeinfchaft mit Gott erhält, und Dadurch mich fähig macht, die Uebermacht der Sinnlichkeit zu brechen, fo daß ich Alles auf das lebendige Bewußtſein Gottes, der in und mit mir lebt, beziehen fann. Darum hat Ehriftus mich von der Kuechtichaft der Sünde erlöst. Diefe Erlöfung bewirft aber auch in mir, daß die Störungen Des Äußeren Lebens nicht die Seligfeit meines Gottesbewußtſeins unters brechen; Uebel und göttliche Strafen gibt es für mich nicht mehr. Darum hat Chriftus mich auch mit Gott verfühnt. Sn diefen Gefühlen erhalten die drei Aemter Jeſu erft ihre: innere wahre Bedeutung: er ift Prophet, weil er durch fein lebendiges Wort die. Menfchheit an ſich 309; Hohes priefter und Opfer, da er, der Sündlofe und darum Selige, in die Niebrigfeit des fündlichen Lebens der Menjchheit herabs ftieg, um ihre Uebel zu theilen, damit er ung zu Heiligkeit und Geligfeit in feine Gemeinfchaft aufnehme; König iſt er als Stifter und Lenfer diefer Gemeinde“.

„Aus diefen Wirkungen Ehrifti erfennen wir, wag er ges- wefen.. In ihm muß als ungetrübtes, unmandelbares Bes wußtfein Gott gelebt haben; daher fagt Die Kirche, in Chriftus jet Gott Menfch geworden. Er muß die Sinnlichfeit fo ganz

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überwunden haben, daß nie ein Kampf mehr in ihm ftattfand, daß er nicht mehr- fündigen fonnte; dadurch warb er das Urbild feiner Gemeinde. Sollte er aber als folches auch nnfer Vorbild fein, fo muß er ganz unter den gewöhnlichen Bedingungen des Lebens zu jener heiligen Höhe ſich erhoben haben; er muß alle Verfuchungen, die und drohen, wirklich überwunden, alle Stufen bid zur höchften durchlaufen haben; daher fagt die Kirche, in ihm fei die göttliche und Die menſch⸗ liche Natur vereint gewefen. Alles biefes leitet ber Chrift nur aus feinem inneren Bewußtfein her; die äußere Ger fchichte, welche von der Wiffenfhaft angefochten werben kann, beftimmt und flört feinen Glauben nicht. Derjenige,

ber Solches in mir wirken fann, muß Chriſtus geweſen

fein, mag er übernatürlich erzeugt, auferftanden fein x. oder nicht; wir glauben dieſe außeren Thatſachen, wenn wir fie glauben, nur darum, weil die Gefchichte, nicht unfer Bewußtſein, fie uns lehrt.“

So ſchon und eigenthümlich auch diefe Entwickelung ift, fo kann doch auch fie weder der Wiflenfchaft, noch dem Glaus ben vollitändig genügen. Die erftere fann es nicht zugeben, daß in Chriftus das Vollkommene, Heilige wirflich, oder, wie Schleiermacher fagt, „das Urbildliche gefchichtlich“ ges wefen fei: denn vollfommen Tann Fein einzelnes Wefen, heilig fein Menſch fein; beides kann ſich nur in unferm Geifte zum Sdeale eines folchen Einzelweſens geftalten, von dem wir aber wohl willen, daß es wirklich niemals fein wird. Auch wenn wir abfehen von allen andern Beziehungen, von MWiffenfchaft, Kunft, und ung nur, wie Schl., an die Res ligion halten, fo fünnen wir ung feinen Menfchen ale wirt Lich denken, in weldem das Gottesbemußtfein ganz volls kommen gelebt hätte; ed wäre dieß immerhin, wenn aud) nur auf Einem Gebiete, ein Bollfommened, was dem Begriffe des Menfchlichen widerfpricht. Daher muß Sch!. wirklich einlenfen und es für das einzige Wunder, das die Glaubends Ichre annehmen dürfe, erflären, daß ein ſolcher, rein fünds Iofer Chriftus entftehen konnte. Allein felbft mit diefem eins zigen Wunder ift, wenn auch in feinem eigentlichen Leben

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Reine weiteren anerkannt werden, ein Riß in bie wiſſenſchaft⸗ liche Weltanficht gemacht worden, der nicht wieder geheilt werben fann, und von dem man mir nicht begreift, warum er fo allein ficht.

Ferner ift es den Geſetzen aller menfchlichen Entwide, lung, die, wie die der Natur, vom Kleinen zum Großen, vom Keime zur reifen Frucht aufiteigt, zuwider, daß in der chriftlichen Gemeinde mit Chriftus das Größte fogleich, als Anfang dageftanden habe, von weldyem Das fpätere Leben

ber Gemeinde nur ein ſchwacher Nachklang war, der in -

fi) das als unentwicelt darftellt, was in Chriftus vollkom⸗ men entwicelt daftand. Nun fagt zwar Schl., das Zeitliche und Aeußerliche an Chriftus, feine Redeweiſe, feine einzelnen Borftellungen und Anfichten 2c., feien allerdings einer Vervoll⸗ fommnung im Leben der Gemeinde fähig; nur nicht deffen inneres Wefen, der Kern. feines Lebende. Allein wenn wir jenes Zeitliche von Sefu trennen wollen, fo behalten wir nicht ben Kern feines Lebens und feiner Perſon; wir haben den Chriftus nicht mehr, der da lebte, dachte, wirkte, Denn alle jene Aeußerlichfeiten gehören ja auch zur Perfon, ja, fie mas chen fie erft zu einer befonderen und eigenthümlichen. Wir behalten vielmehr mit jener Scheidung nur ein allgemein Menfchliches, eine Idee, ein Ideal, und nicht, worauf Doch Schl. fo viel Gewicht legt, einen. Menfchen, in welchem vollfommenes Gottbewußtfein wirkliche, bie in's Kleinfte herab vollendete Thatfache war. Faſſen wir die Sache noch näher in's Auge, fo ift die Unmöglichkeit, zu fündigen, eine mit der menfchlichen Natur, die ja nicht nur aus vernünftigen, fondern auch aus finnlichen Antrieben zufammengefegt ift, un⸗ vereinbare Eigenſchaft; und vollends ein Weſen, das nicht einmal im Guten fchmwanfte, feinen Kampf beitand, war fein Menfch, weil e8 feine Freiheit des Willens hatte.

Aber auch dem chriftlichen Glauben thut die Lehre Schl. nicht genug, indem er behauptet, Auferftchung und Himmel⸗ fahrt feien für denfelben unmefentlich: es ift ja ber Glauben an biefe der eigentliche Grundſtein, anf welchen die Gemeinde

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462 errichtet wurde; ohne fie könnte der geſtorbene Chriſtus ihe nicht Quelle der Seligfeit fein, und endlich würde bie äußere Daritellung des chriftlichen Glaubens, welche im der Reihe der Kirchenfefte liegt, durd) Entfernung des Ofter feftes tödtlich verlegt werden.

Doch es muß die ganze Grundlage, auf welche Sl. feine Lehre von ber Perfon Jeſu baut, für ungenügend gehal- ten werden; er fchließt nämlich, wie wir fahen, von der Wir tung, die ſich in dem chriftlichen Bewußtſein der Gemeinde vorfinder, auf die Perfon Jeſu, ald deren Urfache. Allein es kann nicht bewiefen werden, daß jene Wirfung ohne Die ges fhichtliche Wirklichkeit - eines ſolchen Chriftus unmöglich gewe⸗ fen wäre: feine hohe Bortrefflichfeit fonnte gar wohl Anlaß fein, feine Perfon zu einem bloßen Ideale zu fleigern, deſſen Unfündlichfeit man nur auf den gefchichtlichen Chriftus über: trug. Wenn Sch!. dagegen bemerkt, die fündhafte Menfch« heit habe ein folches Ideal, ein fleckenloſes Urbild, nicht für fich erzeugen können, fo iſt dieß unrichtig: denn fo gut wir als unvollkommene Wefen und dennoch die Vorftellung eines Bolfommenen, ald endlidye die eines Unendlichen bilden füns nen; eben fo gut erheben wir uns als fündhafte Menfchen anch zur Vorftellung "eines unfündlichen Ideals: ja wir würs den von unvollfommen und findhaft gar nicht reden, wenn wir nicht die Idee des Vollkommenen und Heiligen in ung trugen. Wenn wir aber auch aus ung das Ideal bes fünd« lofen Chriftus nicht bilden Fonnten, warum bewirfte Gott nicht das viel geiftigere Wunder, es in der Menfchheit überna- türlich zu erzeugen, ald das von Schl. angenommene weit feiblichere eines wirflich lebendig gewordenen übermenfchlichen Ideales, wie feiner Lehre nach Sefus war?

Obgleich nun Schl. für feine Perfon feft überzeugt war, daß der Chrütus, den er ſich in feiner Vorftellung gebildet hatte, wirklich auch gelebt habe, fo bleibt ed Doch gewiß, daß nach dem vorliegenden gefchichtlichen Thatbeftand ein ſolcher nie gelebt hat; daß fein Chriftus nicht wirklich geweſen fein fann, fondern nur Ideal iftz und daß ein folcher ISdeal-Ehriftus gar nicht nöthig war, um dad in der Ge meinde zu bewirfen, was er chrütliches Bewußtſein nennt.

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Schl. hat allerdings in feiner Lehre ein hohes, feltenes Ges mütly bewährt; aber was, wie dieſe, nur Ergebniß der innes ren Erfahrung eines Einzelnen ift, kann niemald allgemeine Grundlage für Glauben und Wiffen Aller werden: am wer nigften koͤnnen wir einem Chriſtus, wie er in dem Ideale eines Einzelnen lebt, gefchichtliche Wirklichkeit zugeftehen.

Viertes Kapitel

Die Kehren Kant's, (de Wette’s, Sort 8), und Hegel's über Chriſtus.

Wir fehen ung alfo dahin wieder zurüdgeführt,. daß „ges ſchichtlich Jeſus nichts Anderes gewefen fein fann, als eine zwar fehr ausgezeichnete, aber darum der Befchränftheit alles Endlichen unterworfene Perfönlichfeit: vermöge Diefer ansge⸗ zeichneten Perfönlichfeit aber regte er das religiöfe Gefühl fo mächtig an, daß biefes in ihm eig Ideal der Frömmigfeit anerfannte*. Als ſolches Ideal allein konnte er fähig fein, Stifter einer pofitiven Neligion zu werden. Daher haben Andere es verfucht, Chriftus als Ideal, ald Sinnbild hös. herer Wahrheiten, mit dem Chriftus der Kirchenlehre, ale einem gefchichtlichen wunderbaren Wefen. in Einklang zu brin- gen: dieß geſchah zunächſt ausführlich von Kant. Er geht von dem Sabe aus: „Es ift nicht Bedingung zur Seligkeit, zu glauben, ed habe einmal ein Menfch gelebt, deffen Heilig: feit und Verdienft für fich und Andere genug gethan habe; wohl aber ift es Pflicht, ſich zu dem in der Vernunft liegen- den Ideale fittlicher Bollfommenheit zu erheben.“ Auf dieſes Ideal num bezieht Kant die Lehre von Chriftus in ihren ein- zelnen Zügen, und verfährt dabei folgendermaßen :

„Die Idee fittlicher Vollkommenheit ift das Höchfte, zu dem der endliche Menfch füch zu erheben vermag: fie wohnt in Gott von Ewigfeit ber: von. ihm geht fie ewig aus, und kann Daher der eingeborne Sohn Gottes genannt werben, Dad Wort, durch weldyes und Daher auch für welches die _ Welt gemacht ift. Diefe Idee hat alfo der Menſch nicht ſelbſt

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erzeugt;. fie iſt ald ein göttliches Lrbild in den Menfchen ge kommen, hat fomit gleichfam die Menfchheit angenommen; und in der Vereinigung mit und ift fie in den Stand der Ernie: drigung bes Gottesfohnes getreten. Da aber das Ideal fittlicher Bollfommenheit in der Umhüllung menfchlicher Bedürf- niffe und Neigungen nur durch Kampf verwirklicht werben fann, fo müffen wir fie in dem Bilde eines Menfchen un denken, der, verſucht durch finnliche Antriebe, mit dieſen ringt, fie überwindet, in fich das Ideal der Vollfommenheit in mög. lichfter Reinheit darftellt, und dennoch bereit ift, obgleich ohne Schuld, zum Beften der Menfchheit in Leiden und Tod zu gehen.

„Diefe Idee trägt ihre Wirklichkeit und Wahrheit in ſich felbft, und um fie zum perpflichtenden Vorbilde zu machen, bedarf fie Feines Beifpieles in einem einzelnen Menfchen: auch wird ſich unferer Erfahrung nie ein Einzelnwefen als der vollfommene Abdruck diefes Urbildes darftellen fünnen, da wir immer nur das Aeußere des Menfchen unmittelbar, fein Inne⸗ res aber nur durch dieſes erfennen. Indeß foll Doch der Menfc dem Urbilde entfprechen; folglich muß es auch mög: lich fein, und es ift daher wohl denfbar, daß dieß durch Einen gefchehen fei: aber auch alsdann würde diefer Eine nur dadurch, daß wir in ihm das Ideal fittlicher Bollfommenheit erblictten, Gegenftand unferes befeligenden Glaubens werben; was er fonft erlebt oder gethan, läge ganz außer demfelben. Weil aber alle Menfchen dazu berufen find, folche Beifpiele zu werden, fo haben wir feinen Grund, jenen, der es gewor⸗ den, für einen übernatürlich Erzeugten zu halten: eben fo wenig bedarf er zu feiner Beglaubigung der Wunder, da unſer Glauben an feine reine Gottwohlgefälligfeit zu unferer Berehrung hinreicht.

„Mit dieſer in ihm zur Erfcheinung gefommenen Idee fitt- cher Bollfommenheit ift der alte Menſch in ihm erftorben; fein Fleifch ift gefreuzigt, und was der alte, fündhafte Menſch verſchuldet, hat der neue in ihm gelitten, der aus der Sünde zum Urbilde aufftrebende.“

Auf diefe Weife nimmt Kant in feine finnbildlich und ideal gewendete Lehre von der Perfon Chrifti die alte

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Kircheniehre auch nur, wie Schleiermader, bis zum Tode Sefu auf, woran er noch auf allzu fpibfindige Weile die Lehre von der Stellvertretung anzufchließen verfucht hat. Die Auferftehung und Himmelfahrt ſchließt auch er aus, ale nicht zu feiner Entwidelung eines Ideales fittlicher Volllom⸗ menheit gehörig: doc, laßt er fie ald Sinnbilder von Vermunft⸗ ideen, ald Bilder. des Eingangs in den Sitz der Seligfeit, d. h. in die Gemeinfchaft mit allen Guten, gelten.

- Sin anderer Weiſe hat de Wette die evangelifche Gefchichte von Jeſu, feiner Perfon und feinen Schidfalen, in eine finns bildliche, in eine Gefchichte des Idealen umzuwandeln vers ſucht. Nach ihm ſtellt die Gefchichte von der wunderbaren Erzeugung Jeſu den göttlichen Urfprung der Religion dar; feine Wunderthaten die felbftftändige Kraft des Menfchengeis ftes; feine Auferftehung ift das Bild des Sieges der Wahrs heit, das Vorzeichen eines künftigen Triumphes des Guten über das Böſe; feine Himmelfahrt das Sinnbild ewiger Herrs lichkeit der Religion. Was Jeſus gelehrt, das fpricht ſich eben fo Elar in feiner Gefchichte aus, vorzüglich in feinem Tode: Chriftus am Kreuze ift das Sinnbild der durd, Aufs opferung geläuterten Menjchheit.

Klarer und fehöner noch hat Horft diefe ideale, finnbild- liche Auffaffung des Chriftenthums entwicdelt.

„Ob Alles, was von Sefu erzählt wird, wirflich fich fo ers eignet habe, läßt fich nicht mehr ganz ermitteln, und kann une auch jetzt ziemlidy gleichgültig fen: ja Vieles müſſen wir von dem Standpunkte unferer Bildung aus als fabelhaft und den Gefeten unferes Denkens widerfpredyend verwerfen. Faſ⸗ fen wir Dagegen diefe Erzählungen nicht ſowohl ald Gefchichte, wie als Dichtung auf, fo wird ſich uns ein Schab bedeus tungsvoller Dffenbarungen aus der geheimnißvollen Tiefe des religiöfen Gemüthes darftellen: Alles fnüpft ſich dann an bie shriftliche Gefchichte an, was für unfer Gottvertrauen wichtig, für den reinen Sinn befebend, für das zarte Gefühl anziehend

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iſt. Jene Gefchichte ift eine heilig fchöne Dichtung des Men- fchengefchlechtes, die Gefchichte der höheren Menfchennatur; fie zeigt und in dem Leben des Einzigen, was alle Die ſchen follen, und werden können: darin eben liege Die höchſte Ehre und der ftärkite Beweis für die allgemeine Gültigkeit bes Ghriftenthums. Allerdings haben die Evangeliften bag, was fie erzählen, für wirkliche Gefchichte gehalten: aber fie fanden auf einem andern Standpunkte, ald wir, bei gleichem innerem Bebürfniffe; denn die menfchliche Natur, namentlic der ihr inwohnende religiöfe Trieb, bleibt immer derfelbe.*

Gegen diefe Umwandlung der Gefchichte in bloße Sinn: bilder des Göttlichen erhob fich zunächft der kirchliche Glau⸗ den mit allem Eifer. Sie raube, warf ihr Diefer vor, dem Menfchen allen Troft, der in den Thatjachen ber Auferftehung, Himmelfahrt ıc. liegt; für die Gewißheit, daß Gott wirt fich einmal Menfch geworden, biete fie in der Anmahnung, daß der Menfch göttlichen Sinnes werben folle, ſchlechten Erſatz; and ber verfühnten Welt werde der Menfch in ine unverföhnte zurücigeworfen, um die verlorne aus eigenen Kräften wieder zu erringen; es könne aber ber Menſch durch fich allein nie zur Verführung mit dem Unendlichen fd erheben.

Auch die nenefte Wiffenfchaft hat jene Anſicht verworfen, indem fie behauptet, das Endliche dürfe nicht nur als Sinn bild des Unendlichen aufgefaßt werden, weil dadurch beide ale getrennt auseinander gehalten würden; vielmehr feien beide fo ungertrennlich verbunden, daß das Endliche als die ewige Verwirklichung des Unendlichen, das zeitliche Leben als eine unmmterbrochene Offenbarung des ewigen betrachtet werden müſſe.

Bon diefem Standpunkte aus, den ſchon Schelling am wies, indem er fagte: „Die Menſchwerdung Gottes ift eine Menſchwerdung von Ewigkeit her“, hat neneftens Hegel die Grundlage zu einer neuen, von manchen Theologen in’s Einzelne ausgebildeten Lehre von Chriftus gelegt: wir geben feine Lehrfäte fo allgemein verftändlich, wie möglich, wieber.

Der oberfte Satz diefer Entwideling if: „Alles Ber;

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nünftige Cin ber Vernunft Begründete) muß auch wirklich fein.“ Daraus wird folgendes abgeleitet:

„Da Gott ein Geift, und aud der Menſch Geift it, fo folgt daraus, daß beide an fidy nicht verfchieden fein Fonnen: denn es iſt das Wefentliche des Geiftes, ein Einiges und _ Untheilbares zu fein. Es darf daher Gott nicht als ein ſtarr in ſich felbft abgefchloffenes Weſen gedacht werden, foudern als das Unendliche geht er ewig in das Endliche ein, und ewig fehrt er in fich felbft wieder zurüd: in Diefer fletigen Selbftoffenbarung Gottes befteht alles Leben; in ihr liegt Die lebendige, innerfie Gemeinfchaft des Menſchen mit Gott. Daher ift der unendliche Gott nur darin wirflicd, daß er in den endlichen Geiftern lebt; und der endliche Menſchengeiſt iſt nur dann wahrer Geiſt, wenn er in dem unendlichen Gotte lebt. Der Geift ale folder ift alfo weder allein Bett, noch allein Menſch, fondern er lebt nur ald Gottmenfch: Gott in dem Menfchen und der Menſch in Gott. Dieß ewige Wechſelverhaͤltniß ift von Seiten Gottes verwirklicht durch. feine Dffenbarung, durch die er fi) dem Menfchen ewig Funp gibt; von Seiten des Menfchen durch feinen Glauben, dur den er ungertrennbar mit Gott verbunden if,

„Die Einheit Gottes und des Menfchen kann alſo von dem Menfchen verwirklicht werden nur durch ädhte Religion; d. h. nur durch den Glauben, in welchen er fid) wahrhaft als Eins mit Gott fühlt: er in Gott und Gott in ihm. Eine tiefer ftehende Religion faßt Gott entweder nur als Na- turkraft, die unter dem Geiſte, alfo aud) unter den Mens (chen ſteht; oder als tedten Gefeggeber auf, der über dem Menfchen fteht: in beiden Fällen fteht Gott außer dem Menfhen. So wie aber die Menfchheit dieß erkennt, daß weder der unter ihr ftehende Naturgott, noch der über ihr fiehende Geſetzesgott ihrem religiöfen Verlangen genug tbut, fo muß fie erfennen, daß Gott im Menfchen leben muß, daß Gott und Menſch Eins fein müffen. Diefe Erfenntniß kann ihr aber nach ihrer Entzweiung mit Gott nur dadurch zu Theil werden, daß eine menſchliche Perfon auftritt, in der wir beides, Gott und Menfch, als finnliche, wirkliche, wahrnehns bare Einheit fchauen. Ssufofern nun dieſer Gottmenfc das

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göttliche und wmenfchliche Weſen zugleich in r ich einſchließt, iſt Gott fein Vater und feine Mutter eine menſchliche: da er nur für Gott lebt, in welchem er ganz aufgeht, fo ift er der Sündlofe; ald Menſch von göttlichen Weſen hat er Gewalt über die Natur und it Wunderthäter; e lebt im Stande der Erniedrigung, weil er Gott in menſch⸗ lichem Weſen ift; ja er muß bis zu den lebten Tiefen ber Enbdlichkeit, bis zu dem Tode hinabfteigen, weil er auch im der änßerften Entäußerung Gott im Menfchen bleibt. Auf diefer lebten Gränze der Einheit mit dem Endlichen mußte aber das Linendliche im Sottmenfchen wieder zu fich felbft ben eg finden; die Auferftehung und Himmelfahrt mußte offenbar machen, daß fein Tod nur Rückkehr zu Gott war, und daß durch die völlige Abftreifung der Natürlichkeit ewig die VBerföhnung zu Stande gebracht wird.“ „Nachdem diefer Gottmenſch durch den Tod der finnlichen Anfchauung des Menfchen entrüdt worden, ging er in ihre Erinnerung und Borftellung über; die in ihm enthaltene Einheit des Götts lichen und Menfchlicyen wird allgemeines Bewußtfein, und ewig muß die Gemeinde fein Leben innerlich wiederholen: wie er äußerlich, muß der Gläubige fich geiftig tüdten, damit durch die geiftige Auferftehung Gott und Menfch in feinem Geiſte völlig Eins werden.“ *')

An der Hand diefer neuen Heilslehre find nun viele Theos logen wieder zur alten Rechtgläubigfeit zurückgekehrt, aber auf umgefehrtem Wege. Während nämlich die Kirche aus ber Richtigkeit der Geſchichte das Gebäude ihrer Lehre hers . leitete, beweist dieſe neusorthodore Schule die Richtigfeit der Geſchichte aus der Wahrheit ber aufgeftellten Begriffe:

2, Wenn der Lefer in Obigem Leinen rechten Sinn finden kann,

fo möge er fi mit dem Verfaſſer tröften, dem es eben fo er: geht. Obgleich von fehr wahren Sätzen ausgehend, läuft Doc dieſe Lehre von Chriftus in einen Punkt aus, daß man glau⸗ ben möchte, Sefus habe Leben, Tod und Anferftehung nur fo durchgemacht, um der Welt auf prattifchem Wege Heerſqhe Philoſophie beizubringen! -

2%

denn in dieſen Satz laͤuft ihre Lehre wieder zurüd: „alles Bernünftige muß ja wirklich fen“! Daher 5. 8. folgende Säte: Jeſus konnte nicht andere, als wunderbar wirken, weil ihm das Wunderthun natürlic, war; die Auferſtehung ift fo wenig befrembdend, daß es befremben müßte, wenn Chriftus nicht auferftanden wäre; u. f. w.

Allein Niemand wird fich überreden laffen, daß durch Diefe kuͤnſtlich verfchlungenen Säte die Wirklichkeit der von der Kirchenlehre vorausgefegten Wundergeſchichten bewiefen fei. Denn wenn auch Göttliches und Menfchliches Eins find, folgt daraus, daß diefe Einheit in einem einzelnen Menfchen ſich verkörperte? daß göttliche und menfchliche Natur in Einer ges fchichtlihen Perfon vereinigt geweſen? Wenn fid, der götts fiche Geift in der Menfchheit durch immer größere Herrfchaft Aber die endliche Natur offenbart, muß deßwegen ein einzelner Menſch dieſe Herrichaft im vollften Maße ausgeübt haben? Endlich wer wird aus dem Satze, baß die Ertöbtung des Sinnlichen im Menſchen eine Auferftehung des Geiftes fei, bie leibliche Auferftehung eines Menfchen beweifen wollen!

Nein! halten wir die hohe Idee einer Einheit.des Götts lichen und Menfchlichen feſt; fuchen wir aber ihre Verwirkli⸗ chung nicht in Einem endlichen Weſen, wobei alle andern leer ausgingen, fondern in ber ganzen Menfchheit: in der Mans nigfaltigfeit von Einzelweſen, die ſich gegenfeitig‘ ergänzen, und zufammen ein Ganzes bilden, hier wird jene Eins heit auf eine unendlic, höhere Weife wirflich, als. wenn wir fie in Einem eingefchloffen und ab gefchloffen denfen: in ber Menfchheit ift Gott nicht einmal, fondern von Ewigfeit her Menfch geworden; in ihr lebt er in der reichiten Fülle feiner Kraft.

Fünfted Kapitel. VBermittlungsverfuch und Schluß.

Hierin haben wir den Schlüffel zur ganzen Lehre von Chriftus gefunden, daß wir das, was die Kirche von Dem Einen Jeſus ausfagt, als Wefen und Eigenfchaften der ganzen

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Menfchheit uichteiben: Die Menſchheit iR Chriſtus. Zu dam einzelnen Menſchen wärben Menichliches und Goͤttliches nie zur vollen Einheit gelangen: in ber ganzen Gattung ver ſchelzen fie zur innigſten Bereinigung. Die Menfchheit iR die Bereinigung der beiben NRaturen, des unendlichen Geiftes, der fic feiner Unendlichkeit ewig bewußt bleibt; fie ift ber

i - menfihgewordene Gott, das Kind ber fihtbaren Mutter,

der Natur, und bed unfichtbaren Vaters, bed göttlichen Seiſtes. Sie ift der Wunderthäter, indem Durch bie Menſchengeſchichte hindurch ber Geift immer vollftändiger ber Natur in und außer dem Menfchen ſich bemächtigt und fie überwindet: fie ift ber Unſündliche, infofern ihr Eut wicklungsgang ein tabellofer it, und das Unreine immer wmır an dem Einzelnen haftet; fie ift der Sterbende, Aufs srfichende, gen Himmel fahrende, indem durch bie ſteigende Vernichtung ber Raturgewalt, burch bie Ueberwindung aller Trennungen in Perfonen, Bölfer und Zeiten ber umend» liche Geiſt des Himmels fich ſtets höher erhebt. Durch dies fen Glauben wird der Menſch gerecht vor Gott, indem er dadurch fich feiner Abgefchloffenheit entäußert, in und für die Menfchheit Lebt und Eins mit dieſer zu dem Anſchauen "der ewigen Liebe ſich aufſchwingt: ber Menfc is ber Menfchheit lebend, ift der Erlögte,: ber mit dem himm⸗ Dicen Bater Berföhnte: in dieſer lebendigen Gemeinfchaft

- in der Hingebung au die Menfchheit wird der Menfch in Ehrift.

- Daß diefe allein wahre Lehre von Ehriftus an die Perfon eines Einzelnen, an Jeſum, angefnüpft worden, gehört nur zu ihrer äußeren Form, ift unmefentlich, und bat nur dazu gedient, den Menfchen. diefelbe anfchaulidy zu machen. Denn der noch unmündige Glauben des Menſchen hält fich

überall an äußere Thatfachen, an finnliche Sefchichte: er klam⸗ mert fich an diefelben an, weil er noch nicht zur Reife, zur inneren Stärfe und Freiheit gelangt ifl. Sobald dieſes ges ſchehen it, ſobald die äußere Geſchichte in Dem Gemüthe das Bewußtſein ber mit Gott einigen Menichheit entwidelt bet, muß auch Der Glauben im Menichen eine audere Gral

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annehmen: er flreift die Hülle .der äußeren Geſchichte ale eine unweſentliche, ihm überfläffig gewordene ab, und lebt und webt nun mit mündig gewordener Freiheit und Selbftftändigs keit in dem feligen Befiße der Ideen, welche die Gefchichte in ihm groß gezogen hat. Diefe Gefchichte Iebt in ihm aber als theure Erinnerung fort, wie auch der gereifte Mann ſtets die Lehrer feiner noch nicht erftarften Jugend verehrt, obgleich er ihrem nicht mehr bedarf. Wenden wir. dieß auf die Lehre von Chriftus an, fo zeigt. und fchon der alte Luther den richtigen Weg, wenn er fagt, die geiſtlichen Mirakel feien die rechten hohen: follten wir nun, nach 300 Sahren, ein größeres Gewicht auf einige Kranfenheilungen in Galilaͤa legen, als auf die Wunder, durch welche die Welt der Geis - fer erfchüttert wird, die in der Weltgefchichte zu Tage liegen, die täglich in der hohen Gewalt, mit welcher der Menſch die Natur bemeiftert, offenbar werden? Es foll ten einzelne, in unbeftimmtes Onnfel gehüllte, und. darum wig Mirakel ausfehende Ereigniffe unfern Glauben an die Einheit Gottes mit der Welt auf eine folche Weiſe in Anfpruch nehs men fünnen, daß wir darum das einzig hohe, ewig Flare und doc, geheimnißuolle Wunder, Gott in der Welt, in Schats ten fiellen wollten? Bielmehr hat Schleiermadjer hierin ganz das Rechte, wenn er behauptet, unfere Zeit fünne nie mehr das Bedürfniß empfinden, einzelne Thatſachen ald wuns berbare aufzufaffen, weil fie auf einem Standpunkte ftehe, auf dem ihr der ewige Kreislauf des göttlichen Lebens, in feinem ewigen Sterben und Wiederauferftehen mehr gelte, ald äußere Begebenheiten, die ung der Spürfinn prüfender Belehrfamfeit jeden Augenblid ans den Händen winden Fann.

Muß alfo eine wiffenfchaftliche Ehriftuslehre über die Pers fon Sefu hinausgehen, fo wird fie dennoch in Einer Hinfücht immer wieder auf diefelbe zurüdgeführt. Denn alles Große in Leben, Kunft und Wiflenfchaft, am meiſten aber in ber Religion ift von Einzelnen, als einer überfchwenglich reichen Duelle, ausgegangen; erhält daher die Perfon eines Einzelnen in unfterblicher Wirkung ftetö lebendig: follte es mit der ge-

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waltigſten geifligen Schöpfung, dem Ehriſtenthume, ſich am ders verhalten kͤnmen? Auch dieſe muß das unſterbliche Wert eines Einzelnen fein: fie iſt Die Schöpfung Jefu Chriſti. Dieſe Betrachtung verſetzt uns Jeſum in die Reihe der hoch⸗ begabten Geiſter, die berufen waren, die Entwickelung des Geiſtes zu höheren Stufen zu erheben; der Geiſter, welche in andern Gebieten als Genie's bezeichnet werden. Scheint es, als wenn Jeſus, der neben einem Mofedp Homer, Alexan⸗ Der, Raphael, Mozart, nach dieſer Anſicht zu ſtehen kommt, nicht hoch genng geſtellt ſei, ſo muß man folgendes wohl er⸗ waͤgen. Erſtens iſt das Gebiet, auf welchem Jeſus fo ſtrah⸗ lend emporragt, nicht nur das höchſte aller Gebiete des gei⸗ ſtigen Lebens, ſondern vielmehr der eigentliche Mittelpunkt, das Herz aller andern, das alle andern mit Lebensfriſche durch⸗ dringt; Religion ift bie. Seele der Seele. Zweitens fteht grade auf dieſem erhabenften Gebiete Jeſus fo zinzig und merreicht da, daß er mit vollem Rechte der Erſte unter ben Erften genannt werben kann.

Jedoch kann dieß nur mil einer gewiffen, durch wiffens fhaftlihe Erwägung gebotenen Beſchraͤnkung behauptet werben: Menn auch Sefus auf eben erörterte Weife auf die höchfte - Stufe menfchlicher Größe geftellt werden muß, fo kann bieß nur von ber Vergangenheit gelten: für die Zukunft bürs fen wir die Möglichkeit nicht in Abrede ftellen, daß fie einen noch Srößeren hervorbringen könne. Er felbft war ja nad fo vielen Großen auf dem Gebiete der Religion der Größere: Jeſus trat nach Mofes auf. Wenn auch von einzelnen Böls tern mit Gewißheit behauptet werden fan, baß fie ihren Höhepunkt bereit erreicht haben, fo wird dieß nie von der gefammten Menfchheit, am wenigiten von dem höchiten Gemeingute berfelben, der Religion, gefagt werben konnen. Allerdings wird ein nachfolgender höher ftehender Genius gar oft darum der Höhere fein, nicht weil er feinem inneren Werthe, feinem reinen Gehalte nach größer ift, fondern weil er, ges tragen durch die Errungenfchaft langer Zeiten, mehr Ieiftet, Größeres thut; weil er auf den Schultern der Borgänger ſteht. Immer aber ſteht er doch Höher, er ſteht der Ents widelungeftufe feiner Zeit näher, als ein: früherer, wenn

. 403 | auch eben fo großer Mann. So fünnte es alfo um fo mehr möglich fein, daß auch nach Jeſus auf dem Gebiete der Res ligion ein Mann aufftünde, der mit höherer Einfidyt begabt, der Bildungeftufe feiner Zeit näher verwandt, eine größere Anziehungskraft auf deren Religion ausübte, als der, nicht minder große Jeſus von Nazaret. Könnte es. auch fo fcheis- nen, ald ob der in neuerer. Zeit fo hoch hervorragende Vers ftand die freie und fruchtbare Beweglichfeit des Gefühle und der Einbildimgsfraft, aus deren feurigem Zuſammenwirken alle Religion hervorblüht, in ſolchem Grade hemme, daß ein zweiter Chriftus nicht wieder erftehen könne, fo müflen wir ung doch fehr hüten, über das eigentliche Lebenselement ber Menfchheit durch eine aus diefer Erfahrung abgeleitete Behaup⸗ tung abzufprechen.

Bielmehr müffen wir die beunruhigende Möglichkeit, daß ein Größerer, als Sefus, erfcheinen könne, dadurd, in Zweifel. zu feßen fuchen, daß wir nachweifen, theild aus der Perfüns lichkeit Sefu, theild aus der Natur der Sache, daß dieß nicht denkbar fei.

Weil die Religion wefentlich in der vollendeten Einheit bes Gemüthes mit Gott, alfo in der vollendeten Vernichtung des Zwiefpaltes zwifchen dem Endlichen nnd Unendlichen, dem Menſchlichen und Göttlichen befteht, fo kann, wenn auch in entwidelter Einſicht, doch niemals in religiöfer Beziehung Jemand fich über Sefum erheben. Denn er war fich bewußt, den Bater im Himmel vollfommen zu erfennen; er ließ voll« fommen feinen Willen in dem Willen Gottes aufgehen: ‚nach Johannes fprach er ausdrüdlic feine Einheit mit dem Bater aus, und ftellte fich als die fichtbare Dffenbarung desſelben bar *. Und zwar war biefe Stimmung nicht ein vorübers gehender Auffchwung feines Gemüthes, fondern der in allen feinen Reden, Handlungen, in Thun und Leiden gleichmäßig und immer rein burchflingende Grundton feines ganzen Weſens.

Es ließe fic) dagegen einwenden, daß Doc, auch die durch das Denken ausgebildeten Borftellungen nicht unwichtigen

Einfuß anf dad Gefühl, als eigentliche Quelle der Religion, ausüben; und baß alſo, je reiner bie religiöfen Vorſtellungen werden, je gelätiterfer durch, die ſtets fortichreitende Verſtan⸗ desbildung bie Begriffe werden, auch die Kraft umd Fälle des Glaubens ſich um fo freier und ungehemmter bewegen möüfle. Aus die ſem Grunde, fo fcheint es, könne gar wohl mich nach Jeſu ein noch Höherer auf dem Felde der Religion erwartet werden. Allein da. doch das vollendete Bewußtſein der Einheit ded Gemüthes Die eigentliche Seele der —— keit ift, über welche fie ſich nicht weiter erheben kann; da dieſe Einheit erſt durch Jeſus errungen worden ift, fo fönnen von nım an bie religiöfen Kortfchritte immer nur Einzelnes und Aeußeres betreffen, niemals aber ſich wieder Dem Rie⸗ fenfchritte- an die Seite ftellen, um welchen Jeſus bie Menſch⸗ beit auf der Bahn ihrer religidfen Entwidelung vorwärts ges bracht hat. „Auch ift feitdem die Einheit Gottes und des Menſchen in feinem menfcjlichen Bewußtſein mehr in folder . fhöpferifchen Urfräftigfeit aufgetreten, daß fie, wie bei ihm, fein ganzes Leben gleichmäßig und ohne bemerfbare Trübung durchdrimgen und verflärt hätte *.

Sollte aber, wenn auch fein Höherer nach Sefu zu er warten fteht, nicht Doch ein ihm Gleicher auftreten können; ihm darum gleich, weil er fich zu derfelben Höhe der Fröm⸗ migkeit erhoben hätte, wie er? Allerdings; und was man gegen diefe Behauptung vorbringt, beruht auf ZTäufchung oder umnflaren Begriffen: jedoch „Angftigt man ſich hier mit Träumen ab und ſchlaͤgt fi) mit Schatten herum, fofern ja üserall von Feiner wirklich gegebenen Erfahrung, fondern nur von gedachten Möglichkeiten die Nebe ift. Auf dergleichen Grübeleien des Berftandes braucht die Religion fich fo wenig einzniefien, ale em vernünftiger Mann durch die Möglichkeit eines Zuſammenſtoßens ber Erde mit einem vorüberwanbelnden Kometen ſich ſchrecken Täßt *.

Wir faffen alſo unfere kehre von Chriſtus in folgende . &Säte zuſammen:

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Chrifius ift derjenige, „in beffen Selbfibetunfsts fein die Einheit des Göttlichen und Menfchlichen zuerft und mit einer Kraft aufgetreten ift, welche in des ganzen Umfange feines Gemüthes und Lebens alle Senmungen diefer Einbeit bis zum verſchwin⸗ denden Eleinften Neſte zurückdrängte; obne daß jes boch das von ihm zuerft errungene religidfe Bewußt⸗ fein fi im Einzelnen der Läuterung und Weiter⸗ bildung durch die fortichreitende Entwidelunug des menfchlichen Geiftes entziehen dürfte *.

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Beilagen.

I. Die evangelifche Gefchichte.

Es ift den Forfchungen von Dr. Strauß häufig der Vor⸗ wurf gemacht worden, daß fie Die ganze evangelifche Gefchichte zu vernichten bemüht ſeien; es haben fogar Viele, ich will nicht entfcheiden, aus weldyen Gründen, ‚mit Entrüftung der Melt verfündet, Strauß laſſe nicht einmal die einfache Eris ftenz eines Jefu unangefochten, und ihm zufolge zerfließe felbft der Stifter des Chriftenthums in das Nebelgebilde unbeglau- bigtee Sage. Aus einer aufmerffamen Betrachtung der vors liegenden Forſchungen muß fich zwar das Grundloſe folcher unverftändigen Vorwürfe von felbft ergeben: indeffen mag ee doch nicht überflüffig fein, aus den vielfachen Windungen wiffenfchaftlicher Prüfung Die gewonnenen Ergebniffe gefchicht- licher Wahrheit zu einfacher und beruhigender Weberficht zufammenzuftellen, und dadurch den unlängbaren Beweis zu liefern, Daß auch bei der tief einfchneidenden, zum erften Male mit aller Schärfe angewandten mythifchen Auslegungsweiſe ein feiter, unangefochtener gefchichtliher Kern übrig bleibt.

Wir müffen zu diefem Zwede vorerft Die Hauptgrundfäße, von welcher diefe Unterfuchung ausging, in aller Kürze zus fammenjtellen.

Die Welt, ald ein Ganzes, ift ein einiges, ewiges, uns erflärbares Wunder Gottes: dieſes Wunder wäre ein mans gelhaftes, alfo nicht» göttliched, wenn fein großer Zufammens bang geftört und unterbrochen würde durch ein befonderes Eingreifen Gotted. Daher können Erzählungen, welche ein- zelne abgeriffene Wunder, wodurch die von Gott gegründeten Naturgeſetze zerftört werden, keine wahre Gefchichte enthalten

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(S. 49); fie fünnen nur ald Mythen oder Sagen (©. 26) betrachtet werden. Diefen Grundfaß müflen wir auf die evan⸗ geliſchen Berichte mit derfelben Strenge und Unbefangenheit anwenden (©. 34), wie wir es ſchon fängft in Bezug auf alle andern WVeberlieferungen ans der Vergangenheit zu thun gewohnt find CS. 523. Dabei aber vergeffen wir niemals, daß Mythen, da ſie aus der BVorftellungsweife einer ganzen Zeit hervorgehen, da fie Dichtungen gläubiger Gemüther find CS. 53), durchaus nicht mit Fabeln, weldye immer ab- fichtliche Erdichtungen eines Einzelnen find (S. 17), verwech⸗ felt werden dürfen. Wir vergeffen niemals, daß die Mythen der Ehriften einen ungleich edleren, der Frömmigkeit ungleich mehr zufagenden Gehalt haben, als die heidnifchen (©. 45): ganz vorzüglich ift es die im alten Zeftamente begründete Erwartung eines das jüdifche Volt wieder anfrichtenden Mefs fias, welche die einfache Gefchichte Jeſn mit fo vielen my⸗ thiſchen Zuthaten durchwebte (S. 56). Wir nennen alfo evangelifche Mythe jede auf Jeſum fich beziehende Erzählung, welche nicht als wirkliche Thatfache zu betrachten ift, fonts dern als der Ausdrud der. Borftellung, die feine früheften Anhänger von ihm fich gebildet hatten, gleichſam ale ber Niederichlag ihrer Ideen von ihm, ald Meffias (©. 61): zu biefen mythifchen Beftandtheilen fommt ferner noch mans cherlei, was fi) ald Sage oder als Zuthat des Schriftftel- lers anfündigt CS. 66). Hiermit aber ift dem Geſchicht⸗ lichen in ben Evangelien, welches fie noch in reichem Maße enithalten, nichts vergeben (S. 62): ferner ift, wenn bei vielen einzelnen Erzählungen das Befenntniß abgelegt werben muß, daß wir nicht wiffen, was wirklich gefchehen ift, damit feineswegs gefagt, daß überhaupt Nichts gefchehen, daß die ganze Erzählung eine erdichtete fei (©. 69).

Zu diefem Berfahren find wir auch ans dem äußeren Grunde berechtigt, daß von feinem unferer Evangelien erwie⸗ fen werden fann, es fei Werk eines Apoftels oder auch nur eines unmittelbaren Schülers der Apoftel (S. 36): vielmehr gehen die beftimmten Zeugniffe, welche wir über das Vorhan⸗ benfein Diefer Evangelien haben, nicht über das Jahr 150

nach. Ehriſti hinauf (S. 40). | 11. 32

| 298 Aus genauer Erwägung aller Verhaͤltniſſe geht hervor, daß eine fcharfe Gränzlinie ziwifchen Gefchichtlichem und Uns ‚gefchichtlihem bei den. evangelifchen Berichten fehr ſchwer zu ‘ziehen iſt; daß es felbft unmöglich bleiben wird, überall nachzuweiſen, was wirklich gefchehen ift, und was nicht (S. 69).

Als gefchichtlich beglaubigte Ereigniffe glauben wir nach

angeftellter forgfältiger Präfung Nachſte hendes feſthalten zu ſollen. .

Die Geſchlecht sregiſter, die wir von Jeſu beſitzen, und die es ſich zur Aufgabe gemacht haben, ſeine Abkunft yon David gu beweiſen, haben ihren alleinigen Werth Darin, daß fie bie fefte Veberzeugung beurfunden, Jeſus fei wirklich der Meſſias, ber nach allgemeinem Glauben von Davib ab- ftammen mußte, geweien (©. 81). Sie find eben. fo gewiß bloß erdichtet, ald die Erzählungen von feiner wunderbaren Erzeugung und feiner von Wundern verherrlichten Geburt in Bethlehem (S. 91, 100, 101, 108); vielmehr war er ein Sohn Joſephs und der Maria, erzeugt in rechtmäßiger Che (©. 93) und geboren in Nazaret, wo feine Aeltern wohn ten (S. 117): ohne Zweifel hatte er auch Brüder und Schweſtern, die theild älter, theild jünger als er gewefen fein mögen (S. 96). Alle Sagen, durch weldye Jeſu Geburt verherrlicht wurde, beweilen nur, wie tief der meffianifche Eindruck war, den er machte, weil man fo. frühe bemüht war, nachzuweifen, daß alle auf den Meffias bezogenen Weiffagune gen an ihm in Erfüllung gegangen feien (S. 111). Aus der Erzählung von den bei feiner Darftellung im Tempel vors gefallenen Ereigniffen (S.. 114) fünnen wir nur das fefthals ten, daß von da an fein Geift unter dem Segen Gottes er ftarfte (CS. 115). Seine Sugendzeit brachte er in Nazaret, dem Wohnorte feiner Neltern, zu: Nazaret wirb öfters feine Baterftadt genannt (S. 118). Sein Bater war ein Hands werfer, wahrfcheinlich ein Zimmermann; daß auch Jeſus das Handwerk betrieben, fünnen wir gleichfall8 annehmen (S. 129: in welchen Bermögensumftänden er- lebte, läßt fich nicht mit Sicherheit ermitteln (S. 125). Schon frühzeitig begleitete er feine Aeltern bei ihren Reifen nach Serufalem zur Feier der

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jüdifchen Feſte: die früheite fiel in fein zwölftes Sahr, und gab ihm Gelegenheit, die Schriftgelehrten im Tempel durch die ungewöhnliche Neife feines Geiftes ın Erftaunen zu ſetzen (S. 121); bei diefer Gelegenheit fam er feinen eltern: aug den Augen (S. 121); fie mußten wieder umfehren, um ihn zu fiihen, und fanden ihn mitten unter den Lehrern; feine Antwort auf ihre Vorwürfe verrathen, daß ſchon damald das Bewußtfein von feiner innigen Gemeinfchaft mit Gott in ihm ' aufzublühen begann (S. 122).

Wiederholte Feftreifen nach Serufalem trugen nicht wenig - dazu bei, ihn zu feiner künftigen Beſtimmung vorzubereiten, feinen Gefichtöfreis zu erweitern und mit dem Zuftande des über alle Länder zerftreuten jüdifchen Volkes ihn befannt zu wachen; frühzeitig ſchon mag er auf dieſem Wege mit deffen Leiden und dem ‘tiefen Berfalle des religiöfen und fittlichen Lebens befannt geworben fein (S. 125). Ob er die gelehrte, Bildung eines Rabbi genoffen, Täßt fich aus unfern Evange- lien nicht ermitteln (©. 125): obgleich er tiefe-Kenntniß der heil. Schriften häufig beurfundet, fo ift es doch wahrfchein- lich, daß er die Nabbinenfchulen nicht förmlich durchgemacht bat, da man ſich mehrmals über feine ‘Weisheit vermunderte (S. 126). Seine Erhebung über den befchränften Gefichte- kreis des alle andern Völker verachtenden gemeinen Juden⸗ thums und fein meſſianiſches Bewußtfein ſcheint ſich in ihm insbefondere an der Hand bes Jeſaias und Daniel entwidelt zu haben. Die Heuchelei und der fcheinheilige Buchftabendienft der Pharifäer mag fchon frühe dazu beigetragen haben, frin höheres Bewußtfein zu weden und. zu läutern, vermöge defien er fpäter fo entfchieden gegen diefe auftrat (CS. 127); den Effenern können wir ebenfalls einen nicht unbedeutens den, aber doch wohl nur mittelbaren Einfluß auf feine Bildung zufchreiben (S. 128): weitaus das Meifte hatte er ſich ſelbſt zu verdanken (S. 129).

Seine öffentliche Wirkſamkeit begann er damit, daß er von Johannes ſich taufen ließ (S. 130). Dieſer Mann war unter Herodes geboren, und gewann durch feine (näs

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tere Wirkſamkeit fo große Bedeutung, daß bie chriftliche Sage zur Berherrlichung feiner Geburt fich angetrieben fand (S. 78). Db er mit Sefu verwandt, ob er älter war, als diefer, oder nicht, muß unentfchieben gelaffen werden. Wahrfcheinlich wirfte er als Prophet ſchon längere Zeit vor dem öffentlichen Auftreten Jeſu (S. 131) und gehörte zu der Selte der Naſi⸗ vier (S. 133): er hatte fich ein großes Anfehen erworben und hinterließ eine große Anzahl von Schülern. Dem Fürften von Galilän, Herodes Antipas, machte er fid) durch die Freis müthigfeit, mit welcher er defien unerlaubte Heirath getabelt hatte, verhaßt; diefer ließ ihn einferfern und, überliftet durch - fein ränfevolled Weib, hinrichten (147), und zwar lange vor Jeſu Tode (S. 132). Jeſus ſcheint einige Zeit lang auch - fein Sünger gewefen, und erſt nadı deſſen Hinrichtung öffent - Lich aufgetreten zu fein (S. 143).

Das Taufen des Johannes war nicht aus ber ohne Zweifel fpäter erft entitandenen. Profelytentaufe hervorgegatis gen, fondern ficherlich, wie ähnliche Wafchungen bei den Ele nern, aus der Deutung bildlicher, altsteftamentlicher Ausdrüde, in welchen vom jüdifchen Bolfe, wenn ihm Gott wieder gnäs dig werden folle, Baden und Abwaſchen der Sünden verlangt wurde. Denn Sohannes wollte auf die mefftanifche Zeit vors bereiten, und ſah fich als Borläufer des bald zu envartenden Meifias an (S. 134); daß Jeſus dieſer Meſſias fei, Davon hatte er bei feinem Auftreten wohl noch Feine Ahnung (S. 13735 allerdings aber muß aus näherer Befanntfchaft mit Jeſu diefer Gedanke allmälig ſich in ihm entwidelt haben (S. 143). Je⸗ doch wurde er, da er noch ganz jüdiſche Meſſſashoffnungen hatte, fpäter im Gefängniffe wieder an ihm irre; Denn ale leidenden und durch -den Tod erlöfenden Meſſias vermochte er ihn nad) feinen Borftellungen nicht aufzufaflen (S. 139). Uebrigens wurde der Täufer felbit von Vielen für den Meſ⸗ ſias gehalten, von Andern für Elias (S. 145) x. : Jeſus ſtellt ihn zwar über die Propheten des alten Teſtamentes, doch aber den Gliedern des Meifiasreiches nicht glei (S. 116).

u Jeſus unterzog fid) der Taufe, weil er darin Die Erfüllung einer altsteitamentlichen Weifung, daß der Meffias bar

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Salbung und. Weihe in feinen Beruf eingeführt werden. müffe, rblicte (S. 150): für den Sündlofen aber kann er fi yamals noch nicht gehalten haben (S.149). Nach der Taufe, yon welcher wir nur mythiſche Erzählungen befiten, zog er ich eine Zeit lang zu flillen Betrachtungen in bie Einfamfeit mrüd (©. 166), wo er fidy für feinen hohen und: fchweren Beruf vorbereitete (S. 159). Denn mit der Ueberzeugung, er der Meffias fei, trat er auf; allein er hatte Feine pos itifchen Plane, wie aus vielen Umftänden und Neben hers orgeht; vielmehr erklärte er fehr beftimmt, daß fein Reich zicht von diefer Welt fei (S. 193). Den Namen „Meffias“ Aßt er fich zwar öfterd gefallen, er felbft nennt fich aber aiemals fo, eben fo wenig „Sohn Davids“, weil er beforgte, yadurc die ihm fremden Erwartungen eines mit irdifchem Glanze umgebenen Meffiagreiches zu nähren CS. 184). : Ges möhnlich bezeichnete er ferne Perfon mit dem Namen „Mens [chenfohn“ (S. 182), oder ald „Sottesfohn“ (S. 184); zwei Bezeichnungen, weldye ganz dazu geeignet waren, die Vorftels ungen von der auf das Weberfinnliche gerichteten Beſtimmung des Meſſias zu nähren: er wollte damit fagen, daß er in ber innigften Gemeinfchaft mit Gott ftehe, in welche der Menfch ſich verfeken fünne (S. 185); daß er von Gott zu den Men: ſchen gefandt fei (S. 186); daß er von Anfang an mit ihm in der innigften Gemeinfchaft geftanden habe (S. 187). Nur darum, weil er feinen meffianifchen Beruf weit über die herr- fchenden finnlichen Erwartungen des jüdifchen Volkes hinaus erweiterte, wurde er ſo oft von diefem Volke verläftert und verfolgt (S. 186).

Auch feine nächften Schüler und Freunde, die Apoftel, waren nicht fähig, fidy zu der Höhe des mefftanifchen Bewußt⸗ feins, auf der Sefus ftand, zu erheben: fie konnten ſich, fo lange ihr Herr und Meifter lebte, von ihren irdifchen Erwar⸗ tungen nicht losreißen (S. 189. Daher erkannte Jeſus frühe ſchon die Nothwendigkeit feines Todes: dieſer war bas eins ige Mittel, durch welche er die Meffinsidee femer Volksge⸗ noffen von ihren irdifchen Beftandtheilen zu reinigen vermochte (S. 191). Aus diefem Grunde wies er auch feine Junger nicht fogleich und nicht mit ganz beſtimmten Worten auf feine

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Peifianität hin; er if von dem Bekenntniſſe des Petrus, daß er der Meſſias ſei, überrafcht (S. 189), und verbietet ſehr häufig den von ihm Geheilten, etwad von ber Heilung be⸗ kaunt werben zu laflen (S. 190).

Seins wirkte zuerft und wahrſcheinlich andy die laͤngſte Zeit in Saliläa (S. 169), und zwar fcheint das volfreiche Ras yernaum am See vorzugsweife fein Wohnort gewefen zu fein (S. 175). Jedoch iſt er ohne Zweifel mehrmald and, in Judäa, und namentlich in Serufalem, bei den hohen Feſten lehrend aufgetreten (S. 174), wofür fchon feine genauen Ber hältniffe zu Mehreren, die in oder bei der Hauptſtadt wohns ten, Beweife find (S. 175). Wie lange er wirkte, von der Taufe bis zum Tode, ift nicht mit Sicherheit zu ermitteln (S. 179), wahrfjcheinlic, jedoch zwei bis drei Sahre (S. 178) lang. Auch ift es nicht möglich, Die genaue gefchichtliche Zeits folge der Begebenheiten mit Sicherheit zu ermitteln (S. 181); woran befonderd die Eigenthümlichfeit der drei eriten Evans gelien Schuld ift, die ihre Erzählungen weit mehr nad, innes rer Verwandtſchaft (S. 181) und nad) der Dertlichkeit (S. 175), ale nad) der Zeitfolge ordneten.

Belanntlidy it das mofaifche Geſetz durch bie Etiftung Jeſu thatfächlich aufgehoben worden, und ohne Zweifel war das auch fein Plan (S. 194). Zwar beobachtet er für feine Perſon die Hauptpunfte des Geſetzes; eben fo feine Sünger (S. 195); allein er that dieß wohl nur deßwegen, weil er ſich von feinem Volke nicht losreißen, dag Geſetz nicht gewalt⸗ ſam umftoßen wollte, vielmehr die Ueberzeugung hatte, vor-

ber belebenden Wärme feiner Lehre werde die Hülle des In⸗ denthums von felbft verſchwinden (S. 197). Zwar verfichert er, er wolle das Geſetz nicht auflöfen, fonbern erfüllen (S. 195); allein dieß verftcht er nur von dem reinen, ewig wahren Kern der alten Moſeslehre CS. 196); dem häufig ſpricht er aus, daß die Form des Judenthums nicht beftchen könne (S. 197)5 daß der Tempel, der Mittelpunkt derfelben, werde

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jeeftort „werben, und daß ſchon jetzt bie Zeit erſchienen fei, wo man Gott im Geiſte und in der Wahrheit aubete (&. 196), - . Daher ift auch nicht Daran zu zweifeln, daß Jeſus auch den_Heiden in fein neues Gottesreich den Zutritt öffnen wollte (S. 198), wenn er auch im Anfange feiner Wirkfams feit diefelben noch ferne hielt CS. 199); dieß Lebtere that er . offenbar nur darum, weil er wollte, daß vor. der Hand erft unter den, jedenfall mehr vorbereiteten, Tuben feine Lehre Wurzel faffe, und erft fpäter, wenn fein Tod bie Vorftelluns gen feiner Anhänger geläutert hätte, fich auch - weiter verbreite. Die. Bedenflichkeit der Apoſtel, Heiben aufzunehmen, mag darin ihren Grund haben, daß fie glaubten, dieſe müßten zus vor durch die Beſchneidung dem Bolfe Iſraels ſich einverlei, ben laſſen; eine Vorſtellung, welche auch die aͤlteren Propheten hatten, und über bie ſich Jeſus niemals Deutlich erklärt haben mag (S. 200).

Gewiß iſt es ferner, daß Jeſus mehrfachen Verkehr mit den Samaritern hatte; ja fie ganz beſonders fähig hielt für Auffaflung feiner reineren Meffiasidee, weil fie nicht fo ftarr an den politifchen jüdifchen Intereſſen hingen, als die übrigen Juden (5.203): er felbft verkündete feine Heils⸗ Ichre mehrmals unter denfelben, wie z. B. die Unterrebung mit dem famaritifchen Weibe zeigt (S. 200), welches in ihm freudige Hoffnung auf eine reiche Ernte in Samarien erregte ( S. 203); eine Hoffnung, die auch fpäter wirklich in Erfüls ung ging (S. 201). Wenn er dennoc, feinen Süngern eitt- mal gebot, Samarien nicht zu berühren, fo mag dieß feinen Grund darin haben, daß er fie, wegen der ihnen noch innes wohnenden jüdifchen Vorurtheile, noch nicht für unbefangen genug hielt, um jett fihon, ehe fein Leiden und Sterben fie auf einem höheren Standpunkte befeftigt hatte, recht ſegens⸗ reich unter den Samaritern zu wirken (©. 203).

Schon fehr bald nach dem erften Auftreten Sefu fchloffen ſich zu ungertrennlicher Gemeinfchaft einzelne Männer ale Schüler und Jünger an ihn an (S. 209; fie waren fänmts lich Leute niederen Standes, einige unter ihnen z. B. Fiſcher

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(S. 206): daher der ſchöne Ausſpruch Jeſu: „sch will euch zu Menfchenfifchern machen“ (S. 209). Auch ein Zölls ner befand ſich unter ihnen, der ihm mit großer Bereitwillig⸗ keit nachfolgte (S. 211); überhaupt näherte er fich Diefer vers achteten Menſchenklaſſe zum Aerger feiner Feinde mit unbefans gener Herzlichkeit, wovon wir mehrfache Beweife in einzelnen Ausſprüchen (S. 212) und. Erzählungen, 3. B. von dem Sol ser Zahäaus (daf.), haben.

Aus der Mitte feiner Jünger wählte er als engeren Kreis die zwölf Apoftel aus; dieſe Zahl, wahrfcheinlicd, eine. Hins weifung auf die zwölf Stämme des Volkes, hatte ſich fo feſt⸗ geftelt, daß fogleich nach der Himmelfahrt- durch die Wahl des Matthias die mit dem Verrathe des Judas entftandene Lücke wieder ausgefüllt wurde (S. 213). Die Beftimmung, welche er diefen zwölf Männern gab, war im Weſentlichen folgende: fie follten in unzertrennlichem Umgange mit ihm zu Berbreitern feiner Lehre herangebildet werben, und vorzuges weife durch Taufe neue Jünger aufnehmen (©. 214). Sie hatten alfo die früheren Gewerbe ganz aufgegeben; daß fie dennoch ſich ernähren konnten, erflärt ſich aus der großen Saftfreundfchaft im Morgenlande, aus der Begieitung vers möglicher Weiber, die Jeſum und die Seinen mit ihrer Habe unterftüßten; endlich hatte die Geſellſchaft eine eigene Kaffe, aus welcher man noch Arme unterftüßen konnte (S. 214).

Unter diefen Zwölfen werden Einige mit befonderer Aus⸗ zeichnung genannt; Jakobus, Sohannes und Petrus biß ben gewiffermaßen einen engeren Ausfchuß, den bei manchen Gelegenheiten Sefus insbefondere um fich verfanmelte. Den entfchiedenften Borzug hatte Petrus, wegen feines klaren Geis fies, der ihn zuerft unter Allen Sefum ald den Mefflad er; fennen ließ, und wegen feines feurigen Gemüthes, mit welchem er ſtets zu muthiger That entfchloffen it CS. 215). Bon den Uebrigen ift ung nicht viel mehr als ihre Namen, deren Verzeichniß und die Evangelien geben (S. 217), bekannt.

——

Diele Reden und einzelne Ausſprüche Jeſu haben. uns feine Lebensbefchreiber überliefert; die föftlichfte Hinterlaſſen⸗

03 fchaft, deren Werth den der erzählten Begebenheiten aus feinem Leben weit überwiegt. Wenn auch Vieles, was Jens gefpros - chen, nicht immer in dem wahren. Zufammenhange und an der rechten Stelle von den Evangeliften erzählt wirb, fo ift doch, namentlich das von den drei erften Leberlieferte, zum allergrößten Theile aͤcht und von Jeſu wirklich fo geſprochen worden. Die herrlichſten Schäge find enthalten in der foges nannten Bergpredigt (S. 220) und in den unvergleichlichen Parabeln (©. 228). Die erftere gibt ung Lukas wohl am richtigften wieder, während Matthäus nad) feiner Weiſe Vie⸗ lerlei in fie eingeftreut hat, was Jeſus bei andern Gelegens heiten geiprochen haben muß (S. 222): am meiften ale ächte Reden Jeſu find die kurzen Sentenzen, Bilder und leicht⸗ behaltbaren inhaltfchweren Stüde, wie z. 3. die Seligfeiten ‚im Anfange der Bergprebigt und das Baterımfer, zu betrach⸗ ten (S. 223, 225). Wir denfen und die Sache am einfach ſten fo, daß die fürnigen Reben Jeſu durch die Fluth der mündlichen Ueberlieferung zwar nicht aufgelöst werden konn⸗ ten, wohl aber nicht felten aus ihrem natürlichen Zufanmens hange losgeriſſen, von ihrem urfprünglichen Lager wegges ſchwemmt, und als Gerölle an Orten abgefeßt worden find, wohin fie eigentlich nicht gehörten (©. 226). Vorzüglich ächte Stüde find auch die Streitreden, welche Sefus nadh feinem Einzuge in Serufalem zu halten veranlaßt ift: denn fie find ganz im Geiſte und Zone damaliger rabbinifcher Dies putirfunft (S. 238). Wenn wir darin auch Manches finden, was wir nicht für vollflommen richtig halten können, fo fcheuen wir und nicht, dieß offen zu befennen. Denn chren wir Die, eine ganze Welt umgeftaltende Größe und Hoheit feines inneren Wefens nicht weit mehr, wenn wir anerfennen, daß auch er nicht ganz frei war von den Einfeitigfeiten einer Welt, die er überwinden follte? Bewundernswürdig ift nas mentlich der Muth, mit welchem er in diefen Reben die mächs tigen und gefährlichen Pharifäer angriff (S. 241).

Weit weniger verbürgt find viele Neben Jeſu im Johan⸗ nes⸗Evangelium, weil deſſen Verfaſſer unverkennbar Vieles aus feinen eigenen Betrachtungen über Sefum in das von ihm. Gefprochene eingeflochten hat (©. 243). Sie haben meift

bis zu einem gewiffen Punkte die Geſpraͤchsform, wobei ges wöhnlich. Jeſu Ausſpruͤche von den Andern ftatt in geifligem, viehnehe in grob. irdiſchem Sinne gefaßt werden; Dann ‚aber verliert fi der Evangeliſt unvermerft in eigene Betrachtun⸗ gen CS. 246); gewöhnlicd über das bei ihm vorherrſchende Grundthema von dem -Verhältniffe Jeſu zum Bater (©. 247): daher „wiederholen ſich hier diefelben Gedanken fo oft (©. 249):

- Bon eigentlihen Begebenheiten aus. bem Leben Jeſu,

welche nicht wunderbare find, und nicht. in Die Tage. feines Leidens und Sterben fallen, find nur wenige von den Evangeliften aufbes wahrt worben: feine Lehren, feine Wunder umd fein aufopfernder Tod waren ihnen. das Wichtigfte. Einzelnes hat fich allerdings ers halten, an deſſen Wahrheit wir nicht zweifeln dürfen; 3. B. bie Rangftreitigleiten der Sünger, wobei Iefus ein. Kind ihnen ald Mufter aufftelt (S. 265); die Freundlichkeit, mit welcher. er bie Kinder zu. ſich rief (S. 266); die Reinigung bes Tempels von dem Unfuge ber Berfäufer, wobei ſich der - überwältigende. Eindrud, den Jeſus hervorzubringen wußte, befonders deutlich zeigte (S. 267); die Huldigung, weldye eine fromme Fran ihm darbrachte, indem fie während eines Mahles ihn falbte (S. 269); und Anderes, was zu unbebeus tend ift, um hervorgehoben zu werben.

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Viele Wunder ſoll Jeſus verrichtet haben, obgleich; er die Sucht nach Wundern oft tadelte, und ſo oft er ausdrück⸗ lich um ein ſolches angegangen wurde, ablehnend antwortete, und zwar aus Wehmuth über das verhärtete Geſchlecht, das neben feinem geiftigen Wirken noch Wunder zur Beglaus bigung feines meffianifchen Berufes verlangte (5.275). Den uoch verrichtete er auch unaufgefordert viele wunderbare Heis lungen; nämlich folche, die bei genauer Betrachtung nicht als wirkliche Wunder erjcheinen, vielmehr nur Ausflüffe folcher ganz natürlichen Kräfte find, die in tiefer Verborgenheit wirs fen, daher im gewöhnlichen Leben weit weniger beobadys tet, und beren Wirkungen, weil fie fo überrafchende find,

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gar gerne ale Wunder betrachtet, werden (S. 276). Eins wirfungen Jeſu, die fich aus folhen tief waltenden Kräften, 3. B. magnetifcher Kraft, erflären laffen, haben wir zu bes zweifeln feinen Grund: folche aber, bei denen alle Naturs gefete hätten ftille ftehen müfjen, können wir nicht ald wahr und wirflich gefchehen annehmen. Wie viel oder wie wenig ans den Wundererzählungen wir für wahr halten können, ift übrigens fir den Glauben an Jeſu Lehre von keiner Bedeu⸗ tung (5. 277).

Nach obiger Scheidung halten wir auf diefem Gebiete Folgendes für wahr und im Allgemeinen beglaubigt: Geiſtes⸗ franfe, die Sefus, wie feine Zeitgenoffen, auch. für Befeffene hielt (CS. 278), hat er öfters durch den mächtigen Eindruck feiner Perfon und feiner Rede wieder geheilt, da die Kranken . den feiten Glauben an die von Jeſu angewandte Methode, die böfen Geifter zu befchmwören, hatten (S. 283). Dahin ges hört die Heilung eines Befeffenen in der Synagoge zu Kapers naum nach einer erfchütternden Nede Jeſu (S. 283); die eines oder zweier beſonders ſtark affizirter Kranfen der Art, des oder der Gadarener, am galiläifchen See (©. 239; die eines geiftesfranfen ftmmen Knaben (S. 290), und vieler anderen (S. 291): jedoch nur folcher, wo die Kranfheit eins jig oder doch überwiegend Geiftesfrankfheit war. Wo aber ſchon eine bedeutende Zerrüttung des Nervenfyftemes eingetreten war und mit rein fürperlichen Gebrechen verbunden war, da läßt fich eine Heilung durch bloße Worte Jeſu nicht annehmen (S. 291). Ein Gliederfranfer wurde von ihm, wahrfcheinlich durch eine ber magnetifchen ähnliche Heils fraft, wieder hergeftellt (S. 299.

Die Heilungen von Ausſätzigen durch bloße Worte (S. 297, 298); die von Blinden (S. 300), oder gar die eines Blindgebornen (S. 303) ſind als Sagen zu betrach⸗ ten. Möglich iſt es allerdings, daß Kranke auch nur durch feine Berührung geheilt wurden, wenn fie unbedingten Glau⸗ ben an feine Heilkraft befaßen CS. 307); baß er aber auch and der Ferne durch bloßen Befehl Kranfe wieder gefund gemacht habe, kann nicht für möglich gehalten werden (S. 312);

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eben fe wenig bie lie Wieberferfeiung eines feit 38 Jah⸗ ren Gelähmten (S. 315).

Ohne Zweifel hat Sefus mehrmals auch am Sabbat Heilungen vorgenommen und ſich dadurch Borwürfe zugezogen, die er durch fchlagende Gründe widerlegte (S. 314).

Todtenerwedungen, wie die der Tochter des Jairus

(S. 316), des Tünglings zu Rain (S. 318) und des Lazarıd (5. 319), find meffianifche Mythen (S. 322): die Erzählungen von allen dreien find auch fonft vol Unwahrfcheinlichkeiten und wenig verbürgt (S. 323). Die Seewunder: die Beichwichtigung eines _Sturmes (S. 328), das Wandeln auf dem See (S. 330), das Fangen eines Fifches mit einem Geldſtücke im Munde (S. 334), find gleichfalls Miythen, die vieleicht finnbilblichen Neden ihren Urſprung verbanfen.

Bon. den wunderbaren Speifungen mit wenigen Broben (©. 335) gilt dasfelbe (S. 340); fo wie von der Verwand- lung des Waffers in Wein (S. 341) und von der Bers wänfhung bes Feigenbaumes (©. 345).

- Bei feinem lebten Feltbefuche in Serufalem ward Jeſus von feinen Feinden gefangen und zum Tode verurtheilt. Wels hen Weg er aus Galilaͤa dahin einfchlug, laͤßt fich nicht mehr mit Sicherheit ermitteln (CS. 358). Bei feinem Cinzuge in die Hauptitabt wurde er von vielem Bolfe mit Subel begrüßt (S. 360), und zwar ald Meſſias, woran feine Keinde, bes fonders die Pharifäer, großes Aergerniß nahmen (S. 362).

Es entfteht zuwörderft die Frage, ob Sefus vorher wußte, daß er jest feinen Tod durch die Hände feiner Feinde finden - würde? und zwar den Tod am Kreuze (S. 383)? Durd

-eine verfländige Berechnung konnte er allerdings feinen ges ‚waltfamen Tod mit großer Wahrfcheinfichkeit vorherfehen: die berrichende Priefterpartei hatte er ſich zur unverfühnlichen Feindin gemacht, und das Beifpiel früherer Propheten mußte ihn ahnen laffen, was auch er zu fürchten habe (S. 366): er

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erkannte benfelben ald eine Nothwendigkeit, weil ohne .ihn feine Ideen von einem rein geiftigen Gottesreiche nie erfaßt. worden wären (©. 368). Borausgefagt hat er ihn aber audy feinen Süngern nicht, weil Diefen fein Kreuzestob fo völlig unerwartet fam (daf.); überhaupt glaubte außer Jeſus damals wahrfcheins lidy Niemand an einen leidenden und fterbenden Meffias (S. 367). Daß er aber mit Beftimmtheit habe wiffen können, er werde grade jest und auf Diefe Weife enden, muß vers neint werden (S. 365); noch weniger fanıı er feine Aufers ftehung vorhergewußt, oder gar vorhergefagt haben (©. 369, 373).

Dagegen unterliegt es Feinem Zweifel, daß er den Unters Ä gang des jüdifchen Staates, fo wie des Tempels in Jeru⸗ ſalem mit feierlicher Beſtimmtheit vorausgeſagt hat, und zwar als nahe bevorſtehend; ferner glaubte er, daß die Zerſtö⸗ rung Jeruſalems auch das Weltende herbeiführen werde, indem er nach jüdiſcher Vorſtellung das Heiligthum des Tem⸗ pels als den Mittelpunkt der jetigen Welt betrachtete, die mit dem Einfturze dieſes Mittelpunftes gleichfalls in Trümmer zufammenftürzen müfle (S. 378). Zu diefer Vorausfagung fonnte er gar wohl durd, Betrachtung der Vergangenheit fos wohl, wie des damaligen unverbefferlichen Zuftandes der ftarren Juden in religiöfer und fittlicher Beziehung gelangen (S. 381).

Als erbitterte Feinde Jeſu erfcheinen in allen evangelis fchen Berichten die Pharifäer und Schriftgelehrten: neben ihnen die Priefter und Aelteften des Volkes (S. 383). Am frühes ften gaben feine Sabbatheilungen Anftoß; der Haß wuchs, je mehr er dem falten Geremoniendienft entgegenwirfte, und fi) als den zur Erlöfung des Volkes aus biefen Fefjeln Bes rufenen darftellte; der Plan zu feinem Sturze reifte, ald dag Volk bei feinem letzten Einzuge in Sernfalem ihn mit fo laus tem Subel begrüßte (S. 383). Sein Untergang ward befchleus nigt durch den ſchwarzen Verrath eines feiner Jünger, des Judas Ifchariot (S. 385), der ihn wenige Tage vor dem Pafcha feinen Feinden überantwortete; Gewinnſucht ‚fcheint die Hanpttriebfeber zu biefer fchändlichen Handlung gewejen

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m fein (S. 388). "Lange vorher kann Jeſns bie ſchwarze . That des Judas nicht gewußt, höchſtens ein gewiſſes Miß⸗ trauen gegen ihn gehabt haben, weil ex ihn ſonſt in dem Kreiſe feiner Jünger nicht geduldet hätte (S. 386).

Unmittelbar vor feiner Verhaftung nahm Jeſus bei ber letzten Abendmahlzeit von feinen Süngern Abſchied: wahr, fcheinlich war Diefe aber nicht das jüdifche Paſchamahl, ſondern fand am Abende vorher, jedenfalls aber am Donners⸗ tage unſerer Woche, zwei Tage vor dem Sabbat, ſtatt (S. 392). Hier war es, wo er das Abendmahl als ein von feinen Süngern fortwährend zu feierndes Gedächtnißmahl einfeßte, wobei er feinen Tod als Bunbesopfer, als höheres Gegenbild der blutigen Thieropfer des alten mofaifchen Bundes darſtellte (S. 398). Wahrfcheinlich fchwebte ihm in der. Bors ahnung feines gewaltfamen Todes fchon längere Zeit eine ſolche Gedächtnißfeier vor der Seele; der beftimmte Entfchluß zur Stiftung derfelben aber mag erft an jenem Abende, wo er feinen Tod als ganz nahe bevorftchend anfah, zur Neife gefommen fein (S. 399). Daß Judas ihn verrathen, und Detrus in feiner Treue wanken werde, hat er an dieſem feier lichen Abende in allgemeinen Ausdrüden feinen Jüngern vors hergefagt (S. 397).

Bon dem Mahle weg, das in einem Haufe in Jeruſalem gehalten wurde, begab er ſich noch in ber Nacht nadı Geth⸗ femane, einem Garten in der Nähe der Stadt (S. 399). Hier war ed, wo er, erfchüttert durch die Vorausſicht feines nahen martervollen Todes, auf Augenblide zu zagen begann, feine Angft aber im Gebete fchnell überwand, und nun mit heiterer Seelenruhe feinem Schidfale entgegenging (S. 400). Bald nachher Fam, was Jeſus richtig vorausgefehen hatte (S. 406), Iudas in Begleitung von bewaffneten Schaaren, um Sefum zu verhaften; diefer gab ſich ohne Gegenwehr feis nen Feinden hin; einer feiner Sünger aber zog das Schwert und verwundete einen Knecht (S. 407). Als Sefus gefangen genommen und hierauf hinweg geführt wurde, flohen feine Jünger vol Angſt davon. Bon den fpäteren Scyidfalen des Verräthers haben wir Feine zuverläßige Kunde (S. 415). _

Iefus ward zum Hobenpriefter Kaiphas gebracht und

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daſelbſt fogleich von dem verfanmelten Synedrium in Verhoͤr genommen, wobei ihm vorzüglicy zum Vorwurfe gemacht wurde, er behaupte der Meſſias zu fein: dieß -gefteht er: mit aller Ruhe ein (S. 410); zu feiner Verurtheilung, die nach kurzer Zeit über ihn ausgefprochen wurde, trugen am meiften falfche Zeugen bei, welche behaupteten, Jeſus habe ben Vorſatz ges äußert: das Heiligthum des Tempeld gewaltfant. zu zerftören (S. 409). Nach feiner Verurtheilung wird er von den Dies

nern des Gerichted auf das Schmählichite mißhandelt, was .

er mit würdevollem Schweigen erbuldet (S. 410). Inzwis fhen hatte Petrus, begierig den Ausgang der traurigen Angelegenheit zu erfahren, fich heimlich in den Hof des Ho: henpriefterö begeben, wo man ihn als einen Anhänger Jeſu

erfannte, was er aber mehrmals entjchieden abläugnete; bald -

jeboch bereute er feine augenblickliche Schwäche (©. 411). Am frühen Morgen fam das jüdifche Gericht nochmals zufammen, um über die Vollziehung des Urtheild zu berath: fchlagen (S. 409): Jeſus wird hierauf zu dem Landpfleger Pontius Pilatus mit dem Begehren geführt, an. ihm .die - Hinrichtung zu vollziehen. Nachdem Pilatus die von den Sur den vorgebradhte Anklage, Jeſus gebe ſich für den König ber Suden ans (S. 415), vernommen hat, befragt er Jeſum dars über und erflärt denfelben fodann für unfchuldig, da er erfahs ren, in welchem rein geiftigen Sinne Jeſus jene Benennung feiner Perfon verftehe. Daher -erbietet er fich, Jeſum frei zu laffen; allein der wüthende Haufen der Suden will davon nichts. wiffen (S. 417), und droht fogar dem Statthalter, ihn bei'm Kaifer zu verflagen (S. 419). Dieß wirkte, und Pilatus übergibt nun Sefum den Soldaten, um ihn zu kreuzigen; vors her aber wird er noch nach römifcher Unfitte gegeißelt (S. 418), und fodann auf empörende Weife verfpottet, indem man ihn mit Krone und Königsmantel ausſchmückt (S. 419). Das Kreuz muß ein Anderer, ein gewifler Simon, tragen, da Jeſus zu fchwach dazu ift CS. 420); auf Golgatha anges fommen, wird er gefreizigt, und mit ihm noch zwei andere; fehr wahrfcheinlich wurden auch feine Füße mit Nägeln durch⸗ bohrt: darauf verloofen die Kriegsknechte feine Kleider unter ſich (S. 420), und man heftet am Kreuze eine Snfchrift

sı2 an, worauf fein vermeintliches Vergehen bezeichnet war (©. 423). ‚Während er am Kreuze fhmachtete, ward ihm gereicht, den man nad jüdifcher Sitte den Hinzurichtenden zur Betäubung des Schmerzes zu geben pflegte; Jeſus ver⸗ fchmähte ihn (S. 421). Im feinen Schmerzen mußte er noch die Spottreben roher Feinde vernehmen (S. 424). Er ver ſchied mit. ftiller Ruhe, die felbft ein römiſcher Mi bewundern mußte (S. 429), nachdem er Gott- feinen Geift im Gebete empfohlen hatte; feine legten Worte waren: „Es if vollbracht!“ (S. 425). Wahrfcheinlic, war er um 9 Uhr Vormittags gefrenzigt worden, ftarb um 3 Uhr bes Nachmit⸗ tags, und warb um 6 Uhr vom Kreuze ‚herabgenomnten (S. 426). Daß man ihm vorher die Seite mit einer Lanze durchſtoßen, kann nicht mit Gewißheit ‚behauptet werden (8.431. Nach jüdiſchem Gebrauche Hätte nun Jeſu veichnam auf der Richtſtaͤtte ſelbſt verſcharrt werden ſollen; allein Joſeph von Arimathaͤa, ein angeſehener Mann und geheimer Anhaͤn⸗ ger Jeſu, erbat ſich die Leiche von Pilatus, erhielt dieſelbe und beftattete fie ſofort noch am Abende in einem anftändigen Grabe, wobei ihm mehrere galiläifche Weiber behilflich waren (S. 432).

Alle Evangelien berichten, daß Jeſus aus dem Grabe wieder auferſtanden (S. 437), und vielen feiner Anhaͤn⸗ ger erfchienen fei CS. 443). Da wir aber ed für durch⸗ aus unmöglic; halten müffen, daß die Seele eined wirklich Seftorbenen in den Leichnam wieder zurückkehren könne (S.452), _ fo müffen wir eind von Beiden, den Tod oder die Aufers ftehung, in Abrede ftellen: d. h. wenn Sefus wirklich tobt war, fo fann er nicht auferftanden fein, ober wenn er wieder aus dem Grabe fih erhob, fo kann er nicht wirklich todt geweien. fein (S. 453) *2). Obgleich man in neuerer Zeit mehr dahin neigt, den Tod Sefu zu läugnen und einen bloßen Scheintod anzunehmen (S. 453), fo halten wir es

Ich muß den geneigten Leſer dringend erfuchen, ©. 453, 8.720. u. durch Einfchiebung des Wörtchens „nicht“ vor „wirklich“ einen ganz ſinnſtörenden Druckfehler zu verbeſſern.

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boch für wahrfcheinlicher, daß er wirklich geftorben, aber nicht wieder auferftanden fei. Denn die Zeugniffe für feinen Tod find zu beftimmt; die für feine Auferſtehnng bagegen fehr unbeſtimmt und voller Widerſprüche (S. 454); namentlich Iaffen fich die Nachrichten über die einzelnen Erfcheinungen Jeſu nadı dem Tode durchaus nicht mit einander vereinigen (S. 446) und die evangelifchen Vorftellungen von der Be- Ichaffenheit des Leibes Jeſu nach der Auferftehung find mit den Geſetzen eined vernünftigen Denfens durchaus umver- träglich (S. 451). Das aber bleibt unläugbare Thatfache, daß die Jünger Jeſu die vollfommene Ueberzeugung von feiner Auferftehung gewonnen hatten (S. 455), daß dieſe Ueberzeugung ſich erft einige Zeit nach feinem Tode unter ihnen entwidelte, und daß nur fie ihnen den unbezwinglichen Muth, einflößte, mit welchem fie aller Welt verfündeten, ihr Sefus, der Gefreuzigte, fei der Welterlöfer Meffias (©. 458). Auf welche Weife diefe Ueberzengung ſich allınälig gebildet und befeftigt haben mag, ift ©. 456 ıc. auseinander gefebt worden.

Es verſteht ſich hernach von felbft, daß aud) die Himmels fahrt Jeſu, die überdieß nur von Markus und Lukas erzählt wird (©. 462), in das Gebiet der chriftlichen Sage gehört (S. 465).

Indem wir nad) dieſem, eine gebrängte Darſtellung des geſchichtlichen Inhaltes der evangeliſchen Berichte enthal⸗ tenden, Auszuge wieder bei der Frage nach dem Verhältniß der Geſchichts forſchung zum Glauben, welche den Inhalt der Schlußabhandlung bildet, angelangt ſind, können wir nicht umhin, das Endreſultat derſelben als beruhigenden Schluß- ſtein mit den eigenen Worten des Dr. Strauß auszuſprechen. Sein Aufſatz: „Vergängliches und Bleibendes im Chriſtenthum“, der in der kleinen Schrift: „Zwei friedliche Blätter von Dr. D. F. Strauß, Altona 1839“ enthalten ift, und den wir dem Lefer nicht genug empfehlen fünnen, fchließt mit den Worten:

„So wenig alfo die Menfchheit jemals ohne Religion fein „wird, fo wenig wird fie je ohne Chriftum fein; denn Religion haben wollen ohne Chriftun, wäre nicht minder wide Kwhd

II. - 33

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als der Poefie ſich erfreuen wollen ohne Bezugnahme anf Homer, Shakespeare u. f. f. Und diefer Chriſtus, fofern er unzertrennlich ift von der höchſten Geftaltung der Religion, ift ein hiftorifcher, Fein mythifcher; ein Individnum, fein bloßes Symbol. Zu diefem gefchichtlich perjönlichen Chriftus gehört nur dasjenige aus feinem Leben, worin ſich feine religiöfe Bollendung darftellte: feine Reden, fein fittlicheg Handeln und Dulden. Was in feinem Handeln mit dem Sittlichen nicht unmittelbar zufammenhängt, wie feine Wunder; noch mehr, was, flatt aus feinem Innern hervorgegangen zu fein, nur aͤußerlich an ihn herantrat, wie fein Tod als äußere Chats fache und abgefehen von der an demfelben erprobten Geſinnung Jeſu; wie ferner feine Auferftehung, Himmelfahrt, kann einen relisiöfen Werth nur durch fombolifche Deutung gewinnen, weldye auf verfchiedenen Entwidlungsftufen der Arömmigfeit und des Denfend verfchieden ausfallen wird. Alfo feine Furcht, ed möchte Chriftus uns verloren gehen, wenn wir Manche von dem, was man bisher Chriftenthum nannte, preiszugeben uns genöthigt finden! Es bleibt ung und Allen um fo ficherer, je weniger wir Lehren und Meinungen ängftlich feithalten, welche dem Denfer ein Anftoß zum Abfall von Ehrifto werden können. Bleibt uns aber Chriſtus, und bleibt er und ald das Höchſte, was 'wir in religiöfer Beziehung fennen und zu denfen vermögen, ald derjenige, ohne deſſen Gegenwart im Gemüthe feine vollfommene Frömmigkeit möglich it; nun, fo bleibt ung in ihm doch wohl das Wefentlice des Chriſtenthums!“ |

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II. Anmerkungen in olphabetifcher Orb: nung. |

Borbemerfungen.

Es fcheint mir nöthig, einige Bemerkungen voranzuſchicken, Damit der Lefer zum Voraus wiffe, was und wie viel er in Diefen Aumerfungen zu erwarten habe. |

Sch mußte mich einzig darauf befchränfen, über Punkte, welche in das Gebiet der Theologie einfchlagen, gang furze und gedrängte Nacweifungen und Belehrungen zu geben, weil ich mich fonft zu weit hätte ausbreiten müflen. Innerhalb diefer Begränzung meines Planes aber wird man hoffentlich feinen Artifel vermiffen. In Bezug auf neutsteftamentliche Ge⸗ genftände machte ich mir zum Gefeße, alles dasjenige aus⸗ zufchließen, was aus dem Werfe felbft, wenn auch an ver- fehiedenen Stellen, ſchon hinlänglich erfannt und erklärt wer- ‚den kann: daher bficben auch die Namen foldyer Sachen und Perſonen ansgefchkoffen, über welche wir, außer der zufälligen Erwähnung im neuen Teſtamente, nichts Weiteres wiffen. Wenn alfo der Lefer 3. B. die im Borübergehen genapkıten Rufus und Alerander u. A. unter den Anmerkungen nicht fin⸗ det, fo möge er dieß nicht für ein Verſehen halten, fondern den Grund davon eben darin finden, daß und von Diefen Männern nichts al& ihre Namen befannt find. Alle übrigen Artifel, 3. B. altsteftamentliche Gegenftände betreffende, muß- ten mit möglichfter Kürze, und zwar immer nur mit fleter. Berüdfichtigung des einzigen Zwedes diefer Anmerfungen behandelt werden, der darin beftand, Nichttheologen mit dem: jenigen befannt zu machen, was zum Berftändniffe nur des vorliegenden Buches nöthig if. Eine eigentliche, abfolute Volftändigkeit wird man alfo hier nicht erwarten dürfen. Das her find auch von den angeführten Gelehrten nur Veen

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Schriften genannt, welche von dem Strauß’fchen Werke be- rückfichtigt worden find.

Uebrigend bedarf ed der Erinnerung wohl nicht, Daß ich feinen Anfpruch Darauf mache, hier Neues geliefert zu haben: aus den beiten Hilfsmitteln das Bekannte einfach und faßlich zufammenzuftellen, Tag einzig in meiner Abficht. Mit befons derem Danke anerfenne ich Die wefentlichen Dienfte, Die mir Winer's vortreffliches biblifches Realwoͤrterbuch Dabei ge leiftet hat.

Abendmahl. Sn der Lehre vom Abendmahle weichen die drei Hanptkonfeffionen in der Art von einander ab, baß die Fatholifche Kirche Iehrt, Brod und Wein werde in den Leib und das Blut Chrifti verwandelt; die Intherifche, Leib und Blut Chrifti feien mit und unter jenen Elementen vorhans den; die reformirte Dagegen, daß Brod und Wein den Leib und das Blut Ehrifti bedeuten follen.

Abilene, eine Eleine Landfchaft, nördlich von Paläftina, in der Gegend des Libanon: ihre Gefchichte ift fehr dunkel; zu Sefn Zeiten muß fie noch eigene Fürften gehabt haben,

‚fpäter ward fie Eigenthum der römischen Kaifer.

Abraham C1800 vor Chrifti [%]) wird in der altshe bräifchen Ueberlieferung ald Stammvater des Volkes und ale Begründer des Sehovadienftes dDargeftellt: er war aus öftlichen Gegenden nach Kanaan eingewandert, wo er ein Nomabens leben führte. Die Erzählungen aus feinem Leben find zwar aͤußerſt fagenhaft; jedoch gehen diejenigen zu weit, welche felbft feine Eriftenz in Zweifel ziehen.

Aegypten, das bekannte Land ſüdöſtlich von Paläftina, wird hier nur Darum genannt, um zu bemerfen, Daß es durch die ganze jüdiſche Gefchichte hindurd, häufig einzelnen in ihrem Baterlande bedrängten Juden zur Zufluchtsftätte diente.

Aehrenleſen. Während das reife Getreide noch auf dem Halme ftand, durfte jeder Vorübergehende fo viel. aus⸗ raufen, ald er wollte; dieß hatten Jeſu Zünger auch einmal am Sabbate gethan.

Ahasja (885 v. Ehr.), ein Jahr lang König in Juda; Sohn des Joram und Vater des Joa.

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Aeltefte. - Unter den jüdischen Königen beftand cin Kol legium verfaffungsmäßiger Bolfsvertreter, welche „Die Aclteften“ genammt wurden, wenn fie Dieß auch nicht immer den Jahren nad) waren. Im neuen Teftamente erfcheinen fie als Beiſitzer des großen Synedriums (ſ. d. Anm.).

Alexandria, die von Alexander di Gr. gegründete Re⸗ ſidenz der fpäteren aͤgyptiſchen Könige: fie war von ſehr vielen Juden bewohnt, die hier. volle Religionsfreiheit genoffen. Das durch, daß Die gebildeten Juden hier auch mit. griechifcher Sprache und Wiffenfchaft vertraut wurden, hat dieſe Stadt auf die Entwicelung der jüdifchen, und fomit auch der chrift- lichen Religionsbegriffe bedeutenden Einfluß gervonnen. |

Aloger, eine nicht bedeutende altchriftliche Sekte, welche den Ebioniten verwandt, bie schre vom Logos (|. d. Anm.) in Chriftus verwarf.-

Amazia (838 —809 9. Ch.), König in Juda, des Joa Sohn; er führte fehr unglückliche Kriege mit dem Könige von Sfrael.

Annas, ein fehr angefehener Mann, ward von den Rös mern zum Hohenpriefter eingefegt, mußte fpäter aber dieſe Würde an feinen Sohn, dem bald wieder ein Anderer nach⸗ folgte, abtreten, behielt jedoch fortwährend großes Anfehen; als Sefus hingerichtet wurde, war fein Schwiegerfohn Kaiphas Hoherpriefter.

Anfelm, Erzbifhoff von Eanterbury, einer der berühmteften Scholajtifer, deren Weisheit in den legten Sahrhunderten des Mittelalters blühte.

Antichrift, nad) jüdischer Darftellung ein boͤſer Geiſt, der zugleich mit dem Meſſias auftreten und deſſen ſegensreiches Wirken ſtören werde; im neuen Teſtament werden die falſchen Propheten ſo genannt, die vor der Wiederkunft Jeſu (S. d. A.) auftreten und für den Meſſias ſich ausgeben werden. Was fpäterhin vielfach von einem Antichriſt geträumt . wurde, gehört nicht hierher.

Antiochus Epiphanes (175 v. Chr.), König von Sys rien, und als folcher Dberherr der Juden cf. d. Anm.), iſt berüchtigt durch die Mißhandlungen derſelben; er wollte fie zur Annahme der griechifchen Religion zwingen, plünderte den

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Tempel, verbot den mofaiichen Kultus. und flellte im’ Tempel heidnifche Götterbilder auf. Die Wuth, mit welcher er dieſe Maßregeln durchführte, begeifterte das Volk zum muthigften Miderftande, in welchem es fi die Freiheit erfämpfte.

Antipas, ſ. Herobes.

Apokryphen nennt man diejenigen bibliſchen Bücher, welchen man keinen goͤttlichen Urſprung beilegt, obwohl ſie einen heilſamen Inhalt haben mögen: die jüdiſchen ſtehen in unſerer Bibel hinter den ächten, die chriſtlichen aber, nämlich die von der Kirche. verworfenen, meift fpäteren Evangelien werben gar nicht der Bibel beigegeben. Viele derjelben find ganz verloren gegangen.

Apollonins von Tyana, ein griechifcher, durch feine firengen Kaſteiungen und unzählige Wunderkuren befannter Philoſoph, der kurz nach Jeſu geboren wurde; fogar fol er in Nom eine todte Frau wieder erwedt, den Tod bes Kaiſers Lomitian in großer Entfernung fogleicy gewußt haben. Cr galt noch lange Zeit nach feinem Tode für einen Gott.

Apoftel, d. h. Gefandte. Zu dem im Buche ſelbſt fchon Enthaltenen nur noch Folgendes: Sie waren zum Theil mit Jeſu verwandt und feine Sugendgenoffen, einige fchon Schüler Sohannes geweſen; mehrere waren verheirathet und haben ihre Berufsgeſchaͤfte nie ganz aufgegeben; alle aber folg— ten öfters Jeſu in. die Einſamkeit nach zu ungeflörter Beleh— rung. Sie hatten jedoch Die hohen Zwecke Jeſu während feines Lebens nie recht begriffen; feir Tod hatte fie völlig zu Boden gefchlagen, und erſt der tief wurzelnde Glauben an feine Auferftehung ihre Einficht und ihren Muth in die Höhe erhoben, auf welcher fie fo Großes für Jeſu Lehre wirkten. Ihre weitere Gefchichte gehört nicht hierher.

Apoftolifches Bekenntniß, das ältefte der chriftlichen Kirche, das feinen Namen davon trägt, daß es fchon in ber apoftolifchen Zeit entworfen wurde; fpäter wurde ed mehr und mehr erweitert, zur Abwehr fegerifcher Lehren.

Araberfrieg, f. Heroded Antipas.

Arius, Presbyter in Alerandria, veranlaßte um's Jahr 320 nach Chriſtus durch feine Lehre, Chriſtus fei zwar göttlicher Natur, aber nicht gleichen Weſens mit Gott, eine Reihe der

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‚bitterften Streitigkeiten in der Rica, die fo leidenfchaftlich betrieben wurden, daß die Heiden ihrer in den Theatern fpotteten. Als Artus, der für einen Keber erflärt worden war, durch Gonftantin wieder in bie Kirche aufgenommen werben follte, ftarb er ylößlich, wahrfcheinlich Feines natürlichen Todes.

Archelaus, Sohn Herodes db. Gr., wurde nach feines Baterd Tode Fürft von Sudäa, Sdumda und Samaria, wurbe im Sahr 6 n. Chr. wegen feiner Tirannei von dem römijchen Kaifer abgeſetzt, worauf feine Länder dem römifchen Reiche einverleibt wurden (ſ. Römer).

Auguſtus, römifcher Kaifer zur Zeit, ald Chriſtus gebos ven ward; nämlich von etwa 30 v. Chr. bie 14 n. Ehr.

Ausſatz, eine fürchterlicye Landplage der Juden; eine Krankheit; welche zunächft die Dberhaut, dann aber auch den ganzen Körper ergriff, oft völlige Auflöfung herbeiführte, fehr anſteckend war und felbit bis auf die Nachkommen bes vierten Gliedes forterbte. Daher hatte das mofaifche Gefek fehr fcharfe Beftimmungen über die Ausfägigen feftgeftellt: fie wurden alsbald für unrein erklärt, vom allem Umgange mit reinen Menfchen ausgefchloffen, und durften zu. diefen erft dann wieder zurücfehren, wenn ein Priefter fie auf feierliche Weiſe für rein erflärt hatte,

Babylon, die ungeheure Hauptſtadt des babylonifchen Reiches, öftlihh von Paläftina, das um 8—600 v. Chr. blühte; die Juden lebten hier lange im Exile (f. d. Anm.); die Sprache der Babylonier war der der Juden nahe ver- wandt, nnd dieſe entlehnten Manches aus den religiöfen Vor⸗ ſtellungen Jener.

Barabbas, der berüchtigte Raubmörder, den die Juden am Paſcha ſtatt Jeſu von Pilatus losbaten; er ſoll gleichfalls den Namen Jeſus geführt haben.

Bartholomäus, Apoſtel, ſoll ſpaͤter das Chriſtenthum in Indien gepredigt und ein Evangelium geſchrieben haben, das wir noch beſitzen.

Baur, Profeſſor der Theologie in Tübingen; ſchrieb: 1) Symbolik und Mythologie, oder die Naturreligion des Al⸗ terthums. 2) Hebräiſche Mythologie des alten und neuen Teſtamentes. 3) Geſchichte der hebräiſchen Nation.

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4) Die hriftliche Gnoſis, oder. Die chriſtliche Religionsphiloſo⸗ phie in ihrer gefchichtlichen Entwidelung. 5) Eine Regen ſion der Schriften über Strauß in-den Berliner Sahrbüchern ıc.; 1837, März.

Befhneidung, die Wegfchneidung der Vorhaut, womit alle neugebornen iſraelitiſchen Knaben 8 Tage nach ihrer Ge⸗ burt, eben fo alle Heiden, die zum Judenthume übertraten, dem Sehova geweiht und zu Sfraeliten erhoben wurden; mit der Befchneidung war die Namengebung verbunden. Zwar ſoll ſchon Abrahanı fie angeorönet haben; allgemein eingeführt wurde fie erft durch Joſua: feitdem waren alle Unbefchnittene tief verabfcheut.

Befeffene (S. 278). Es mag noch erinnert werben, daß mit den evangeliſchen Schilderungen des Zuſtandes der Beſeſſenen die anderen Schriftſteller, griechiſcher wie orientas lifcher, ganz übereinftimmen.

Bethanien, ein Fleden, eine halbe Stunde firböftlich von Sserufalem, am Delberge: hier wohnte die Jeſu fehr bes freundete Familie des Lazarus.

Bethesda, ein mit Hallen umgebener Teich vor einem Thore Serufalems, deffen Becken noch jett zu fehen ift. Sein Waſſer hatte eine bei Lähmungen ꝛc. fehr bedeutende Heilkraft, weßhalb er viel befucht wurde.

Bethlehem, ein Kleden im Stamme Suda, 2 Stunden füblich von Serufalem, auf felfiger Anhöhe in fehr fruchtbarer Gegend; Stammort Davids, übrigens ganz unbedeutend.

Bethphage, am Delberge, zwifchen Serufalem und Bes thanien.

Bileam, ein Prophet aus dem oberen Chaldäa, öſtlich von Paläftina, der von einem heidnifchen Fürften zur Verflu⸗ hung der in Paläftina eindringenden Sfraeliten abgefenbet wurde: auf Befehl Jehova's aber mußte er, auch wider feinen Willen, fie ſegnen; auf Diefen Segen eines ausländifchen Ses hers Tegten die fpäteren Inden großen Werth.

Bretſchneider, 8. G., Öeneralfuperintendent in Gotha; er fchrieb: 1) in Tateinifcher Sprache: Vermuthungen über Charakter und Urfprung des Evangeliums und der Briefe des Johannes. 2) Erflärung über die mythiſche Auffaſſung des

Ä 521: hiftorifchen Chriſtus Cin der allgemeinen Kirchenzeitung, Juli 1837). 3) Handbuch der Dogmatil. 4) Ueber den ans geblichen Scheintod Jeſu (in dem Journal von Ullmann).

Brod. Die Juden kannten fo gut, wie wir, den Gebrauch des Sauerteiged; wenn man aber eilig baden mußte, fo blieb diefer weg. Da dieß vor dem Auszuge aus Aegypten geſche⸗ ben fein follte, fo durften die Suden am Pafcha, als ber Feier. dieſes Auszuges, auch nur ungefänerted Brod genießen: ed war rund und platt, daher es gebrochen, nicht gefchnitten wurde.

Bund, der alte, fo heißt das mofaifche Geſetz, weil in ihm das Verhäftniß des jüdiſchen Volkes als ein unauflösbarer Bund dargeſtellt iſt, der jährlich durch feierliche Sühnopfer (f. d. A.) erneuert werben mußte. Ihm gegenüber nannten ſchon die Apoftel das Ehriftenthum den neuen Bund, weil Chriſtus ald das einzige ſtellvertretende Bundesopfer betrach⸗ tet wurde.

Celſus (um 125 n. Chr.), ein heibnifcher Philofoph aus der Schule der Epifuräer, fchrieb ein verloren gegangenes Perf gegen die Chriften, defjen Inhalt wir durch eine Ges genfchrift des Drigenes kennen.

Seremoniendienft wird das fpätere Judenthum im Ge genfaß zu dem alten, reinen Moſaismus (|. d. Anm.) genannt, weil ſich in ihm alle Religion in äußere Gebräudye vollkom⸗ men aufgelöst hatte.

Gerinth, ein Ketzer, ber noch Zeitgenoffe des Johannes geweſen fein ſoll: er lehrte, daß Jeſus ein natürlich erzeugter Menſch gewefen, mit dem fic aber bei der Taufe ein höheres Weſen, Chriftus genannt, verbunden habe; auch foll er ein taufendjähriged Neich (f. d. Anm.) erwartet haben, weßhalb ihn Manche als Berfaffer der Offenbarung Johannis anfahen.

Ehriftus, der „Geſalbte“, das griechifche Wort für Meffi a6 -

cf. d. A).

Cornelius, ein heidnifcher Hauptmann, deſſen von Wunderun begleitete Bekehrung und merkwürdige Taufe durch Petrus, Apoſtelg. 10, erzählt wird.

Erebuer, Profeffor der Theologie in Gießen; ſchrieb:

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1) Sinteiing in's neue Teſtament. 2) Ueber ‚Eifener und Ebioniten (in Winer's Zeitfchrift). .

Cyrus (540 v. Chr.) erhob feinen Stamm, bie Perſer, zur Herrſchaft über ganz Aſien bis an den Indus, eroberte auch Babylonien, und geſtattete den dort im Exile lebenden Juden, wieder in ihre Heimath zurückzukehren und den zerſtör⸗ ten Tempel wieder anfzubauen.

Daniel, Prophet, wurde mit feinen Lanbeleuten, den Juden, in’s Eril (f. d. Anm.) gefchleppt, unb gelangte hier, ald ein durch Talent und vornehme Geburt ausgezeichneter Mann, zu den höchften Staatswürden; feine Gefchichte iſt je⸗ doch fehr mit Sagen durchwebt, und das nad) ihm benannte Prophetenbuch nicht von ihm verfaßt.

-David Cum 1050 v. Chr.). Die Gefchichte dieſes bes rühmten Königs ift befannt genug; da unter feiner Regierung Das Reich auf der hödhften Stufe der Madıt ftand, fo Enüpfte an feinen Namen fich die Vorftellung des herrlichiten Ganzes, und als fich die Idee des Meſſias (ſ. d. Anm.) ausbildete, verftand es fi) von felbft, daß dieſer aus dem Gefchlechte Davids fein müffe.

Dämon, ein griechifches Wort, das urfprünglich „Gott, göttliches Weſen, Geift“ bedeutet, dann aber befonderd zur Bezeichnung der Seelen abgefchiedener Menfchen, und vorzuges weife der gefpenftifch böfen Geilter gebraucht wurde.

Dämonifche, die von einem böfen Geifte Befeffenen.

Deift ift derjenige, der zwar an das Dafein Gottes glaubt, aber alle unmittelbare Dffenbarung desfelben verwirft, und die Vernunft als die einzige Duelle des Glaubens be⸗ trachtet.

Denar, eine römiſche Münze, welche zu Jeſu Zeiten etwa 22°, Kreuzer galt.

De Wette, -Profeffor in Bafel, einer der gelehrteften und freifinnigften Theologen unferer Zeit, deffen Forfchungen vor- züglich in Bezug auf das alte Teſtament von großer Bedeu⸗ tung find. Er fehrieb: 1) Kommentar über den Pentateudh. 2) Einleitung in die Bibel alten und neuen Teſtamentes. 3) Biblifche Dogmatif. 4) Archäologie. 5) Ueber Religion und Theologie. 6) Kommentar zu den Pfalmen.

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7) Eregetifches Handbuch. 8 Viele einzelne "hand: lungen. \

Diakonus, Diener. In der einfachen Kirchenverfaffung der erften Chriften hatte man neben den Presbytern (f. d. Anm.) auch Diakont, welche urfprünglic, die Sorge für bie Armen, , ſpaͤter aber auch ähnliche Gefchäfte u verrichten hatten, wie bie Diener in den jüdifchen Synagogen; ein befouberes Sehr: amt befaßen fie urfprünglich. nicht.

Diener, königliche. Wo in der Krbensgefchichte Jeſu von folchen die Rede ift, find immer Beamtete bes jübifchen Fürſten in Galilia, demnach $uden gemeint.

Doketen, eine alte chriftliche Sekte, welche glaubte, daß Jeſus nur einen Scheinkörper gehabt habe, demnach nicht wirklicher Menſch geweſen fei: gegen fle fcheint ber erite Brief des Tohannes gerichtet zu fein. '

Dreieinigfeit Gottes; fie iſt nach kirchlicher Lehre die Eigenſchaft Gottes, daß er gwar ein einziges Weſen ifſt, aber aus drei in verfchiedenen Richtungen wirkffamen Perfonen bes fteht. |

Ebioniten, eine hriftfiche Sekte, welche aus den Suse - denchriften (f. d. Anm.) hervorging und lehrte, daß Jeſus ein bloßer, wiewohl mit Wunderfraft ausgerüfteter Menfch geweſen ſei: in Bezug auf deſſen Erzeugung waren ſie nicht einig unter einander.

Eheloſigkeit galt im Allgemeinen bei den Juden als etwas Schimpfliches; nur die Eſſener (ſ. d. Anm.) legten einen beſondern Werth daranf.

Ehefheidung war den Männern bei den Juden geftats tet, wenn fie mit der Fran unzufrieden waren; nur mußten fie ihr einen Scheidebrief geben; indeß wurden die betreffen, ' den Geſetzesſtellen verfchieden auögelegt; Jeſus erklärte ſich für ſtrenge Heilighaltung der Ehe.

Eichhorn, ein berühmter Theologe und Geſchichtsforſcher,

der als Profeſſor in Göttingen 1833 ſtarb. Er ſchrieb: 1) Allgemeine Bibliothe k(1788 1801). 2) Einleitung in Das alte Zeftament.. 3) Urgefchichte, herausgegeben von Gabler. 4) Einleitung in das neue Teftament. 5) Viele zerſtreute Aufjäße.

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Eli, Eli Lamah ꝛc.; der Anfang des berühmten, auf das Reiden Jeſu bezogenen 2. Dfalmes: „Mein Gott, mein Gott, warum haft du mich verlaffen?“

Elias, einer der berühmteften Propheten, um 900 v. Chr., der mit außerorbentlicher Freimüthigfeit den Abfall vom reinen. Jehovadienſt rügte; deßhalb häufigen Verfolgungen ausgefegt war, fpäter aber nur um fo mehr verehrt wurbe, weßhalb feine Gefchichte mehr, als die aller andern Propheten, wit Wandern ausgefchmücdt ift.

Elifa, der Schüler und Nachfolger bes Elias, weit mil det und humaner, ale dieſer, jedoch nicht minder geehrt, weßs wegen auch feine -Lebensgefchichte reich an Wundern ift, Die zum Theil eine große Aehnlichkeit mit denen des Elias haben, Emaus (Emmaus), ein zwei und eine halbe Stunde von Serufalem entfernter Flecken in norbweftlicher Richtung; heuts zutage Cubeibi genannt.

Engel, d. h. Bote (Gottes), waren nadı dem Glauben der Suden höhere, von Gott erfchaffene, durch Weisheit und Gerechtigkeit ausgezeichnete Wefen, welche in großer „Zahl ben Thron Jehova's umgaben, und von ihm als Verkündi⸗ ger und Vollftrecker feines Willens, vorzüglich aber zum Beis ftande der Frommen oder des auserwählten Volkes häufig auf die Erde gefandt wurden: daher Die vielen Engelerfchei- nungen im alten Zeftamente. Während des Erild wurde diefe einfache Lehre mehr in's Bilderreiche und Phantaftifche umgeftaltet, und namentlich eine Rangordnung der Engel, ger fchaffen.

Ephefus, Hanptitadt Kleinafiend, am griechifchen Meere gelegen; da hier viele Suden wohnten, fo bildete ſchon Pau⸗ Ins in diefer Stadt eine Chriftengemeinde, welche fpäter an Sohannes, der hier ganz befonders verehrt wurde, eine bes deutende Stüße fand.

Ephraim, eine Stadt, 3—4 Stunden (?) norböftlid von Serufalem.

Effener, eine Sefte unter den Suden, die einen förm⸗ lichen, fchon etwa 100 Sahre v. Chr. geftifteten Bund bildeten; einfames Leben, Gütergemeinfchaft , vielfältige Kajteiungen - amd einfach ſtreuger Gottesdienft zeichneten fie aus.

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Enfebiws, feit 314 n. Chr. Biſchof zu Säfarea in Pa⸗ laͤſtina; er ift Verfaffer der älteften Kirchengefchichte, die wir befigen.

Evangelium- heißt fo viel, ald „frohe Borfhaft: jo sannten die Chriften die ihnen zugekommene Nachricht von Jeſu Tod und Auferftehung; fpäter auch das, was fidy baran

knüpfte, die Gefchichte feined Lebens und feiner Lehren.

| Eril, Verbannung; fo nennt man den Aufenthalt in-frems den Ländern, zu welchen die Sfraeliten und Tuben zu verfchies denen. Zeiten genöthigt wurden. Seit 741 v. Chr. wurden die meiften Einwohner Iſraels durch affyrifche Könige nach Medien tief im Inneren Aſiens) verfeßtz; die Juden aber vom Jahre 606 an zu verfchiedenen Malen durch babylonifche Könige nad) Babylon, von wo fie 536, ohne Zweifel in Ver, bindung mit vielen Sfraeliten, wieder in ihre Heimath zurück⸗ fehrten.

Fäſten, ein uralter orientaliſcher Religionsgebrauch. Die allgemeinen Faften waren theild regelmäßige, theils außerors dentlicye, bei eingetretenen Landesplagen; außerdem wurben befonders in fpäterer Zeit häufiges Privatfaften angefteht, als Bußübungen, mit ‚denen namentlich die Pharifäer prunften. Auch die Apoftel beobachteten noch die jüdifchen Fafttage. |

Fritzſche, Profeffor der Theologie in Roſtock. Er ſchrieb, in lateinifcher Sprahe: Kommentare über Matthäus und Markus. | |

Fußwafchung war in dem Morgenlande, wo man ges wöhnlich nur Eohlen, feine Schuhe trug, allgemeiner Gebrauch, befonders mußten einem anfommenden Gafte die Diener bed Hauſes vor allem Andern diefen Dienft erweifen.

Gabler, Soh. Phil., ein Außerft verbienftvoller Gelehrter, der 1826 in hohem Alter als Profeffor der Theologie in Sena geftorben ift. Werfe: 1) Einleitung zu Eichhorns Urgefchichte. 2) Sehr viele vortreffliche Aufſätze in feinem theologifchen Ssonrnale von 1796 1811.

Gabriel, einer der fieben Erzengel, namentlich der To⸗ desengel der Sfraeliten, deren Seelen nach dem Tode alle an ihn abgeliefert werden mußten; beſonders thätig iſt er im Buch Tobia und in Daniel.

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Gadarener, Bewohner der Stadt Gadara, der Haupt: ſtadt von Peräa (ſ. d. Anm.), weiche ohmmeit des galilätichen See's lag.

Galiläa, die nördlichite Landichaft Paläſtina's, ein Alpen: land, von vielen Bergen durchichnitten und fehr gut bevölkert. Die Galilaer werden ale fleißige und tapfere Leute gerühmt, wurden aber von ben übrigen Juden verachtet, weil fie wenis ger rechtgläubig waren und einen ſchlechtern Dialekt fprachen.

Galiläifher Eee, auch See Genezareth genannt, ein 2 Stunden breiter und 7 Stunden langer Landfee in der füd- lichen Hälfte Galtlän’s, deſſen Ufer fehr- bevölkert waren.

George, ein junger Gelehrter in Berlin, der fchrieb: Mythus und Sage, Berfuch einer wiffenfchaftlichen Entwides lung diefer Begriffe und ihres Verhältniſſes zum chriftlichen Glauben.

Geſetz, das mofaifche; eine politifchsreligiöfe Verfaſſung, "die in den Büchern Mofis enthalten, und deren Grundidee ift: „Sehova ift ald der alleinige Gott und zugleich ald König des Volkes zu verehren, dieſes Volk alfo fein Eigenthum. * Unftreitig rührt die Grundlage, die manches Aegyptiſche ent- hält, von Moſes her; vieles Einzelue.aber ift fpäteren Urfprunge.

Gethfemane, ein Garten bei Iernfalem, der jet Dſches⸗ manije heißt, und durch äußerft alte Delbäume ſich bemerkbar macht.

Gnoſtiker, eine verfeßerte chriftliche Sefte der erften Sahrhunderte, welche griechifche und morgenländiiche Lehrfäße mit Dem Chriftenthume in Harmonie zu bringen fürchten, und Daher jehr abenteuerliche Sätze aufftellten, mit welchen fie befonders den Urſprung des Böfen und Die Art, wie Sefug, der ihnen fein wirflidyer Menfch war, dasſelbe vernichtet habe, zu erflären ſuchten.

Götterfohn it nach griechifcher Mythologie ein Mann, der von einem Gotte mit einem menfchlichen Weibe auf fleifch- liche Weife erzeugt if.

Golgatha, der Richtplag außerhalb Serufalem. Irriger⸗ weife hält man den, jet den Kalvarienberg genannten, inners halb der Stadt gelegenen Hügel für denfelben.

Greiling, ein mir nicht weiter befannter Gelehrter, der ein Leben Jeſu gefchrieben hat.

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Grieche uch riſten find foldye Glieder in Jernſalem, welche, weil fie fremde Suden waren, griechiſch rebeten: fyäter nannte man diejenigen fo, welche zugleich auch früherhin Hei⸗ den geweſen waren.

Griechiſche Sprade: fie ift die, in welcher alle Büs ‚cher des nenen Teſtamentes gefchrieben find, weil feit Alexan⸗ ders Eroberungen (330 v. Ehr.) diefelbe in ganz Vorberafien die Umgangsſprache war.

Griesbach, ob. Saf., ein berühmter, in Jena 1812 verfiorbener Theologe, der ſich durch die Textesreinigung des neuen Teſtamentes unſterbliche Verdienſte erworben hat.

Hanna, eine Prophetin; der Name iſt kananäiſch.

Hafe, Profefior in Jena, fchried „das Leben Sefu“.

Hanptmannz wo im neuen Teflamente eines ſolchen Erwähnung gefchieht, hat man fich immer einen römiſchen, alfo heidnifchen, zu denken. (S. Römer.)

Hebräer, fo nannten fid) die Juden im alter Zeit, fo oft fie von fi) im Gegenfage zu andern Völkern fprachen; fpäter, wo der Name „Jude“ ganz allgemein Bezeichnung des Volkes wurde, blieb „Hebräer" der befondere Namen der in Paläftina wohnenden Suden. Daher nannte man denn in der erften chriftlichen Zeit diejenigen Judenchriſten, die in Paläftina wohnten, und hebräifch fprachen, ebenfalls Hebraͤer; an dieſe ift der Hebräerbrief im neuen Teſtamente gerichtet; und „Sebräerevangelium“ nennt man dasjenige apofcyphifche Evangelium, an welches diefe, mit mannigfachen Borurtheilen behafteten Chriften fich hielten.

Hegel (8. W. F.), der in Berlin 1831 veritorbene be- rühmte Begründer der nach ihm benannten Hegelifchen Philos fophie, die als eine weitere Durchführung der Schelling’jchen Raturphilofophie betrachtet werden kann. Schrieb (außer vielem Andern) 1). „Phänomenologie des Geiftes“, 2) „Vor⸗ lefungen über die Philofophie der Religion“; 3) „Rechts⸗ philoſophie“.

Heide; Jeder, der weder Chriſt, noch Jude, noch Muſel⸗ mann iſt; das Wort iſt Ueberſetzung des Lateiniſchen pagonus, d. h. Dorfbewohner; ſo nannte man naͤmlich die Nichtchriſten, ſeitdem Conſtantin fie aus den Städten verbannt hatte. Die

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Inden nannten die Heiden fchlechthin „die Völfer“, in dem ſtolzen Glauben, daß nur ſie das eigentliche, einzige Bolt Gottes feien.

Heilige Thiere waren den Juden folche, welche, 3. 8. als erfigeborne, dem Herrn geweiht waren, und baher zu feinerlei Dienften gebraucht werden durften.

Hengftenberg, Profeflor der Theologie in Berlin, ein bekannter Wortführer der überfpannten orthoboren Parthei: „Ehriftologie (Meffinslehre) des alten Teftamentes“.

Henoch, Vater des durch fein hohes Alter berühmten Methufaleme, wurde wegen feiner hohen Frömmigkeit lebendig in den Himmel zu Gott erhoben:

Her odes, aus Sdumda, wurde von Dem Römer Antonius

zum Fürſten, und nachmals (40 v. Chr.) vom Kaiſer Auguſtus Fam Könige der Suden ernamt. Er ftarb, von Allen wegen feiner Grauſamkeit gehaßt, kurz nach der. Geburt Sefu.

Herodes Antipas, des vorigen Sohn, erhielt nach beö Vaters Tode die Herrfchaft über Galilia und Peräa, wurde aber von dem römifchen Kaifer im Sahre 38 nach Chriftug ents fett und in die Verbannung gefchidt. Er ließ den Täufer Johannes hinrichten, der ihn wegen feiner ungefeglicdyen Vers heirathung mit Herodias, feines Bruders Kran, ſcharf ge tabelt hatte. Dieſe Heirath war auch der Anlaß zu dem Kriege mit dem arabifchen Fürjten Aretad, dem Vater feiner früheren, verftoßenen Fran.

Herodias, f. den vorhergehenden Artifel.

Heß, ein im Zürich 1819 in hohem Alter verſtorbener, fehr ehrmwürdiger Theologe, ſchrieb 1) „das Leben Jeſu“; 2) „Bibliothek der heil. Geſchichte“.

Hieronymus, ein Außerit gelehrter Kirchenvater,, Der 331 in Dalmatien geboren, in reifem Mannesalter zu Rom getauft wurde, und 420 in einem von ihm geftifteten Kloſter zu Bethlehem ftarb.

Hillel, ein berühmter Rabbine der pharifäifchen Secte, der nicht lange vor Jeſu lebte, und eine eigene Schule fliftete.

Himmelsbrod, f. Manna.

Nofbeamte, f. Diener, Föniglicher.

Hoherprieſter, der oberfte Prieiter der Juden, ımd fo

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inge das Volk feine Körige hatte, der. erite Mann im State, e mußte vom Gefchlechte Aarons fein, und. gewöhnlich folgte er Sohn dem Bater nach. Er. war in der Regel Borfiger ed Synedriums, und Daher auch unter den Römern eine olitifch wichtige Perfon (ſ. jedoch „Priefter“).

Hoher Rath, dasfelbe, was Synebrium. (S. d. A.) Horſt, ein ſchon vor längerer Zeit verfiorbener Geiſtlicher n Heflens Darmftädtifchen. 1) „Ueber die beiden erften kapitel des Lukas“ Cin Henke's Muſeum). 2) Ideen über Rpthologie“ (Daſ.).

Jairus, ein Synagogenvorſteher, deſſen Tochter Zeſus jieberbelebt haben ſoll.

Jakobus der Ältere, Apoftel, Bruder des Johannes, zurde im Sahre 44 in Serufalem hingerichtet.

Jakobus der jüngere, Bruder Jeſu, wurde 62 n. Chr. a Serufalem durch den Hohenpriefter Ananus gefteinigt.

Sdpumäa, eine füdöftlich von Paläftina nach Arabien in fehr bergige Landfchaft, deren Bewohner, die Ebomiten, on Eſau abſtammen ſollten.

Jehova, d. h. „der Unveraͤnderliche“, der Namen des udiſchen Nationalgotteg, größer und gewaltiger als alle andern.

Jeremias, ein augdgezeichneter Prophet, der im fiebenten sahrh. v. Chr. ange in Serufalem auf's fräftigfte wirfte, bie g durch die Siege Nebukadnezard, des babylonifchen Könige, egwungen wurde, nach Aegypten zu flieben, wo er wahr heinlich auch geitorben iſt.

Jericho, eine Stadt in Sudäa, an der Grenze gegen Jeräa bin, norböftlid von Serufalen, und etwa 7 Stunden on diefer Stadt entfernt.

Serufalem, „die Stadt Gottes“, faft in der Mitte Jalaftina’s; erft David fonute fie erobern, und madıte fie zur Yauptftadtz Salomon erbaute fodann den prachtvollen Tempel, yodurdy fie Mittelpunft des Sehovadienftes wurde. In der eften Zeit betrug ihr Umfang 1%, Stunden, und ihre Eins yohnerzahl 120,000. Nachdem fon früher mand)e Stürme ber fie ergangen waren, wurde fie 70 n. Chr. von den tömern gänzlich zerſtört; erſt 136 baute an der Stelle der

II. 3x

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verödeten Stadt Kater Hadrian eine neue, bie er Aelia Capitolina nannte.

Jeſaias trat im Sahre-759 v. hr als jübifcher Prophet aufs; feine weiteren Lebensſchickſale find fehr in Dunkel gehült; auch find nicht .alle Theile der unter feinem Namen erhaltenen Weiffagungen von ihm.

Jeſus, die griechiſche Form des Namens Sofua, d. h. „Jehovas Hülfe“.

Joa, jüdiſcher König um WO v. Chr., Sohn des Apasja und Vater des Amazia.

Johannes, der Apoſtel, war nach Jeſu Tode für das Chriſtenthum thätig zuerſt in Jeruſalem, dann in Kleinaſien, wo er ſich in Epheſus niederließ. Er ward in ſchon hohem Alter auf die Inſel Patmos verwieſen, ſpäter aber wieder befreit; er kam nach Epheſus zurück, wo er auch ſtarb.

Johannes jünger, Anhänger des Täufers, Die ſich noch lange nach deſſen Tode als beſondere Secte erhielten, bis fie allmaͤlig unter den Chriſten ſich verloren.

Jonas, ein bekannter israelitifcher Prophet, um 800 v. Chr., deffen Gefchichte fehr durch Sagen entſtellt ift; er fol den Einwohnern der großen aſſyriſchen. Stadt Ninive Bekeh—⸗ rungsreden gehalten und vielen Glauben gefunden haben.

Sordan, der Hauptfluß Paläftina’s, entipringt an ber Kordgränze Galiläa's, durchftrömt das ganze Fand von Norden nad; Süden, und ergießt fid) in das todte Meer, einen Land fee, der die Dftgränze von Judäa bildet.

Joſeph von Arimathäa, der befannte heimliche Anhänger Sefu, fol fpäter offen zum Chrijtenthume übergetreten fein; daher zählt ihn die Sage zu den fiebenzig Süngern, und weiß fogar, daß er dad Evangelium in England gepredigt habe.

Joſephus, ein jüdifcher Schriftiteller des eriten Jahr⸗ hunderts, der ſich der Gunft mehrerer römiſcher Kaifer ers freute, unter Titus bei der Belagerung Jeruſalems thätig war, und nad) der Eroberung feinen befiegten Landsleuten fehr große Dienfte erwies. Späterhin fchrieb er in Nom mehrere Ge fhichtöwerke, von denen die „Gefchichte der Zerfiörung Jeruſa⸗ lems“ und die .„jüdifche Gefchichte von befonderer Wichtig. feit find. |

Iſaak, der befannte Sohn Abraham's, deſſen Geſchichte, mit Ausnahme der Verkündigung feiner, Geburt., auffallend wenig Wunderbares enthält. .

Ismael, des Abrahams und der Hagar Sohn, fol durch feine zwölf Söhne Stammvater mehrerer arabiſchen Volkerſchaften geworben fein. .

Israel, der alte heilige Namen bes jüdifchen Bolfes. Später, als das Reich fich theilte, ging dieſer Namen vors zugsweife auf die zehn Stämme über, welche ſich vom Davidi⸗ fchen Haufe trennten; Sauptitadt des Reiches Jsrael war Samaria. (5. „Suden“.)

Sudbäa, bie ſüdlichſte Provinz Paläftna’s, in welcher Jeruſalem lag, norböftlid, ftieß fie an Samaria. Der Namen rührt daher, daß hier die eigentlichen Juden (S. d. U.) wohnten, weßwegen wohl auch ganz Paläftina fo genannt wurde. Ä

Subäifche Wüſte, ein felfiger Strid, Landes im Dften, der Provinz Sudäa, länge des todten Meeres; hier trat Johannes, der Täufer, auf.

Judas, des Safobug Bruder, ein Apoſtel, deſſen fpätere Lebensgefchichte ganz im Dunkel liegt.

Judas, der Berräther, hatte den Beinamen „Iſcharioth“ von feinem Geburtsorte Karioth; mit Unrecht wird er ges - wöhnlich als ein vollendeter Böſewicht betrachtet.

Suden. Es möge hier eine kurze Ueberſicht der jüdifchen Geſchichte Plas finden. Das Volk Israel, nachdem es von Mofes aus Aegypten weggeführt worden, und unter Sofua (1500 1400) Paläftina erobert hatte, lebte mehrere Sahr- hunderte lang, ohne feite Einheit, unter feinen Prieftern, bie es auf fein Verlangen in Saul den eriten König erhielt, deſſen Nachfolger, David, das Reich zur Blüthe feiner Macht erhob. Aber fchon unter Davids Enkel, Nehabeam, zerftel dasſelbe, indem zehn Stämme fich Tostrennten, und unter dem Namen Jsrael ein eigenes Reich bildeten; die zwei andern, Juda und Benjamin, nannten fich nun das Neid) Juda. Beide Reiche wurben ein Raub fremder Bölfer; Serael, 722 v. Chr., warb durch Aſſyrien, Inda, 987 v. Chr., durch Babylonien vers- nichtet, und die Mehrzahl des Volkes in's innere Aſiens ge⸗ ſchleppt (ſ. Exil.). Nachdem 536 die meiſten Verbannten

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wieder zurücgefehrt waren, nnd auf's Neue ihren Tempel in Jeruſalem aufgebaut hatten, erhielt das Volk den allgemeinen Namen „Suden“, weil die KHeimgefehrten vorzugsweife dem ehemaligen Neiche Juda angehörten. Sie waren von da an Untertbanen der Perjer, nad) dem Sturze derfelben der Mate donier (333 v. Ehr.), und als das riefenhafte Reich diefer ſich in einzelne Staaten auflöste, der Syrer. Die (um 290 v. Shr.) Bedrückungen des fyrifchen Königs Antiochus (ſ. d. %.) veranlaßten eine Empörung, in welcer das Bolt fich frei machte (160) und eine Zeit lang unter Hohenprieftern aus dem Gefchlechte der Maffabaer glücklich lebte, bie innere Zwifte fle allmälig in die Hände der Römer brachten; von etwa 50 v. Chr. an. (S. Römer.)

JIndenchriſten find folche Chriften, welche, ber befonders von Paulus eingeleiteten Aufnahme der Heiden in's Chriſten⸗ thum entgegentretend, die Beobachtung des mofaifchen Geſetzes für nothwendig hielten; fie treten von der Zerftörung Serufas lems an jehr in's Dunkel zurüd und verfchwinden allmälig. (5. Ebioniten.)

Suftin, der Märtyrer, um die Mitte des zweiten Jahr hunderts; ein Schriftiteller, der zu den erften gehört, welde mit gelehrten Kenntniſſen zur Vertheidigung des Chriften thums auftreten Fonnten.

Kaiphas, Hoberpriefter während der ganzen öffentlichen Wirkſamkeit Jeſu; wurde im Jahre 36 diefer Würde entfegt; Daß er fpäter Chriſt geworden, ift ein Mährchen.

Kana, kleiner Flecken in Galiläa, etwa in der Mitte zwifchen Kapernaum und Nazaret.

Kanaan, ein ſchönes, meiſt ſehr fruchtbares Land Border: aſiens, dag ſich in nicht ganz feit beflimmten Gränzen zwifchen Arabien, Babylonien, Syrien nud dem mittelländifchen Meere angbreitete.

Kanaaniter, die alten beidnifchen Einwohner des Landes Kanaan, von welchen Paläftina einen Theil bildete, aus welchem fie indeß nie völlig verdrängt wurden; mit den nordweſtlich von Bälilia Wohnenden ſtanden die Juden in vielfachem Verkehre.

Kant, Im., der große Schöpfer Der neueren Philoſophie,

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in Königeberg 1804 geſtorben. Hieher gehört feine „Religion innerhalb der Gränzen der bloßen Vernunft“. "Kapernaum, eine fehr volfreiche Stadt am galiläifchen See und an der großen aus Syrien zum mittellänbifchen Meere führenden Handelsftraße; Heimath des Petrus und Andreas, in deren Haufe. Jefus ſich oft und lange aufzuhalten pflegte. Ketzer, ober Häretifer Cd. h. einer, der eigener Wahl folgt), ift nad) der Kirchenfpradje derjenige, der in chriftlichen Dingen anders denkt und lehrt, ald bie herrfchende Kirche will, und daher von dieſer verdammt wird. Berfeßerungen fiengen unter den Chriften an, fobald man nad) herrfchender : Einheit des Glaubens ſtrebte. . Kirhenväter find Diejenigen Schriftteller der alten ' Kirche, welche an die Apoftel und-deren unmittelbare Schüler Capoftolifche Väter) ſich anfchließen; Diejenigen, welche erft . nad bem fechsten Sahrhundert blühten, werden gewöhnlich nicht mehr fo genannt.

König, der, der Suden hieß der Geſalbte“, weil nach alter Sitte derſelbe von den Prieſtern durch Salbung geweiht werden mußte; der Namen blieb, obgleich die Sitte fich verlor. (S. Meſſias.)

Kreuzigung, eine höchſt qualvolle Todesſtrafe, welche von den Römern früherhin nur gegen Sklaven und fchwere Verbrecher, fpäterhin aber auch gegen aufrührerifche Unter⸗ thanen in Anwendung ‚gebracht wurde, weßhalb fi fie in Paläftina häufig vorfam.

Krug fchrieb: „Verſuch über die genetifche oder formelle |

Erflärungsart der Wunder“ (in Henke's Mufeum). .. Kyrene, eine wichtige Stadt in Afrifa, weftlicd von Aegypten; zu Sefu Zeiten beftand faft ein Viertel der Eins wohner aus Juden; die Fyreneifchen Juden hatten in Serufas lem eine eigene Synode.

Laubhüttenfeft, eins der drei hohen Feſte, zu deren Feier man nach Jerufalem reiſen mußte; gewidmet dem An⸗ denken an dad Wohnen der Seraeliten in den Hütten auf ‚dem Zuge durch die Wüfte; zugleich auch Erntefeſt; denn es fiel in die erften Tage des Oktobers.

Lazarus, der Bruder der bethanifchen Maria, foll nadı

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feiner Auferwedung noch dreißig Jahre gelebt haben; feine Gebeine will man auf der Inſel Kypern gefunden haben.

Legion, eine Abtheilung des roͤmiſchen Fußvolkes, etwa 4 6000 Mann ſtark; fpridywörtlich, wie unfer „Regiment“, von einer großen Zahl.

Levirathsehe. Wenn ein verheiratheter Seraelite ſtarb ohne männliche Nachkommen, fo mußte fein älterer Bruder (Levi) die Wittwe heirathen, und den mit ihr erzeugten Erſt⸗ gebornen ald Sohn des Berftorbenen m das Gefdjlechteregifter einfchreiben laſſen. Diefes Geſetz, von dem ed inbeß auch Befreiungen gab, hatte feinen Grund in dem Wunfche, fein Geſchlecht und den Güterbefit desfelben fortzuerben.

Leviten, Nachkommen Lewis, eined Sohnes’ Jakobs, ein israelitiicher Stamm; im engeren gewöhnliden Sinne hießen aber nur die fo, welche nicht vom Geſchlechte Aarons, das ja Diefem Stamme gehörte, ber eigentlichen Priefterkafte waren, und diefen bei ihren Berrichtungen Dienfte leiften mußten.

Libanon, ein großes Gebirge, das nörblid, von Paläftina ſich Tänge des mittelländifchen Meeres hinzieht, und eigentlich aus zwei parallel laufenden Zügen befteht, deren öftlicher ben befonderen Namen Antilibanon trägt.

Logos, Wort, nennt das Evangelium Johannes den in Jeſu fleifchgewordenen göttlichen Geift, wie fehon die Juden die von Gott ausftrömenden Wirkungen das „Wort Gottes“ nannten. Ob man ficd, diefen Logos in Sefus ald Wirkung bes ewigen Gottes (rein göttlich) oder als ein Wefen göttlis her Art (rein perfünlich) zu denfen habe, darüber warb viel geftritten, bis die Kirche entfchied, er fei göttlich und perſon⸗ ih. (CS. Präeriftenz.)

Lücke, Pr. d. Theol. in Göttingen, fchrieb: „Commentar zu den Evangelien des Johannes“.

Lukas, Evangelift, wahrfcheinlich Arzt und fein geborner Sude, fol als Martyrer umgelommen fein.

Machärus, Feftung am nördlichen Ufer des todten Meeres.

Magier nannte man zunächft bei den Medern und Pers fern, dann aber auch bei den Babyloniern den Drden, welchem die Ausübung der heiligen Gebräuche und die Bewahrung ber Wiflenfchaften anvertraut war; die babylonifchen Magier

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waren bejonderd in der Sternkunde- und Aſtrologie fehr bes wandert. Daher nannte man zu. Jeſu Zeiten alle Diejenigen, welche als Sterndeuter, Wahrſager, Zauberer ꝛc. umherzogen, Magier: folhe waren es wohl, von denen Matthäus erzählt.

Manna, ein füßes, weißlihes Harz, das befonders im Drient von mehreren Sträucdyen und Bäumen gewonnen, und ganz fo gefammelt wird, wie es im alten Teftamente erzählt iſt; naͤmlich wie eine Art Mehlthan findet man es am früheften Morgen auf Blättern und Zweigen. Da es häufig die Israe⸗ liten in der Wüſte aus großer DVerlegenheit rettete, fo bildeten ſich wunderhafte Sagen über dasſelbe; es fei vom Himmel gefallen ıc., daher es and, „Himmelsbrod“ genannt wurde.

- Marbeinede, ber Theol. Prof. in Berlin, ift Schüler Hegels, deſſen Lehre über Ehriftus er weiter ausbildete. „Chriftliche Dogmatif*.

Maria 1) Die bekannte Mutter Sefu, fol in dem Haufe des Apofteld Johannes in Serufalem geftorben fein; ihr Leben warb fpäter durch die bunteften Sagen verherrlicht, die großentheils in dem apofryphifchen Evangelium der Maria enthalten find. Schade, daß wir gar nicht wiffen, welchen Einfluß fie von früh an auf Sefum ausübte! 2) Die Mutter des jüngeren Jakobus, des Klepas Frau, Schweiter der Mutter. Jeſu. 3) Maria (v. Magdala) Magdalena, folgte Jeſu nah, nachdem er fie geheilt hatte; die Erzählungen von ihren Sünden und ihrer Neue find reine Sagen. 4 Die bethas nifche Maria, Schweſter des Lazarus; man hat Andeutungen - finden wollen, fie habe zu Sefu in befonders nahem Verhaͤlt⸗ niffe geftanden.

Marfus, mwahrfceinlic; durch Petrus befehrt, begleitete den Paulus auf mehreren Reifen; aus den Sagen über fein fpäteres Leben ſcheint als gewiß hervorzugehen, daß er in Alerandria eine chriftliche Gemeinde ftiftete.

Martha, Schwefter der Maria 9.

-Martyrer, nennt die ältere chriftliche Sefchichte diejeni- gen, welche wegen ihres jtandhaften Bekenntniffes Jeſu Ehrifti den Tod fanden, und daher ald „Zeugen“ für die Wahrheit - dieſes Glaubens verehrt wurden.

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Marıhäus, weder das neue Tekament, nech die jpätere Geſchichte weiß irgend etwas Zwerlaͤßiges über ibn.

Meſſias, ber „Sefalbte*, alfo der „König“ (f. d. A.) vorzugsweife. Unter dem Drucke fremder Despoten ſah das jüdiiche Volk mehr und mehr feine alte Derrlidykeit ſchwin⸗ den, und da ed von Jehova verlajjen zu jein nicht glauben fonnte, jo entwickelte jich in ihm allmälig die Hoffumg, es werbe bereinjt ein König unter ibm anfiieben, der ein König aller Könige, ein anderer David (ſ. d. A), fein, und alle Heiden unterwerfen werde. An diefe Erwartung eines Rett ers fnüpfte Jeſu an, faßte aber die Aufgabe desſelben ganz anders, als bie im Drucde am meiſten ftolgen Tuben. (S. Wiederkunft.)

Metrete, das gewöhnliche griechiiche Trap für Flüſſig⸗ feiten 33 Berliner Quart.

Mine, urſprünglich ein Gewicht, dann eingebildete Münze, an Werth etwa GO rhein. Gulden.

Montaniiten, eine feit 150 fehr bedeutende Secte unter den Chriſten, Anhänger eines gewiffen Montans, der behaups tete, der von Jeſu verheißene Tröſter zu fein; durch eine fehr firenge Eittenlehre wußte er ſich Glauben zu verichaffen, und hielt, wie die Sudenchrijten, ftreng am Buchſtaben feit.

Moria, der Hügel in Serujalem, auf welchem der Ca Iomonijche Tempel ftand, jchon in der frühften Sage geheiligt, weil hier Abraham den Iſaak opfern wollte.

Mofes, der unfterblidye Gefetgeber und Begründer bed judiichen Staates; da er der größte Prophet war, fo war fein Leben auch das wunderbarftes da er der erfte „Netter“ bed Volkes war, der Meffias aber der noch geößer zweite fein follte, fo erwartete man von die ſem noch größere Wunder, aber Wunder nad) dem Borbilde der Mofaifchen.

Moſais mus, die Verfaffung, das Geſetz Moſes. (S. d A.)

Müller, Profeſſor der alten Sprachen in Göttingen, machte in feinem Buche „Prolegomena zu einer wiſſenſchaftlichen Mythologie“ einen fehr glücklichen Verſuch, die alten Miythen nach wiffenfchaftlichen Prinzipien zu erklären. |

Nain, ein galilätfches Städtchen unweit Kapernaum.

Narde, die Salbe, weldhe aus den Wurzeln der in Dftindien wachfenden Nardenpflanze gewonnen wurde, gehörte

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zu den foftbariten im Alterthume, und war recht eigentlich Ge⸗ genſtand des Luxus.

Naſiräer hieß derjenige Israelite, der, entweder ſchon vor der Geburt auf Lebenszeit durch Gelübde der Eltern, oder ſpaͤter auf eine beſtimmte Zeit durch eigenen Entſchluß, Jehova geweiht war; er war zur Enthaltſamkeit, namentlich von allen berauſchenden Getraͤnken, ‚verpflichtet, und fein Haar durfte von feinem Scheermeifer berührt werden.

Nazaret, galiläifche Stadt, acht Stunden weſtlich von dem galiläifchen See, und drei Tagereifen von Jeruſalem entfernt; fie ift noch heutzutage eine artige, beliebte Stadt ‚mit 3000 Einwohnern. |

Keander, f. VBorrede ©. V. '

Kifodemus fol nad Jeſu Tode von. Petrus getauft und hierauf aus Jeruſalem verwieſen worden ſein.

Niniviten, die, Einwohner der ſehr großen Hauptſtadt des aſſyriſchen Reiches; ſeit dee Zerſtörung im Jahre 625 durch den König der Meder blühte fie nie wieder auf.

Niſan, der erfte Monat der Hebräer; März April.

Delberg, ein bedeutend hoher Berg, eine Biertelftunde nordöftlich von Serufalem, mit großen Delpflanzungen; Jeſus Hhielt ſich auf und an demfelben gerne auf.

Olshauſen, Profeffor der Theologie in Königsberg;

1) „Gommentar über fänmtliche Schriften bes neuen Teſta⸗ ments“. „Ein Wort über tieferen Schriftfinn“. . - Drigened, einer der gelehrteften Kirchenväter, wegen feines. Fleißes „der Diamantene“ genannt, lebte im zweiten und dritten Sahrhundert in Alerandria, und zog ſich durch feinen glühenden Eifer für Ausbreitung und Ausbildung des Chriſten⸗ thums große Verfolgungen zu.

Drthodor wird derjenige genannt, der fich einfach und fireng an den Lehrbegriff feiner Kirche hält. Vgl. „Supras naturalijt“.

Dfia, König in Suda, Sohn des Amazia, um 850 v. Shr.

Paläftina, der von den Israeliten bewohnte Theil Kanaans (f. d. A.); der Flächeninhalt kann, obgleich bie Gränzen öfters wechfelten, auf 450 Quadratmeilen angegeben ‚werben... Es beftand aus den Landfchaften Galilda, Samaria,

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Subaa, Peraa, woran fid, onlich ech einige Diftricte ſchloſſen, die, obgleich nicht eigentlich judijch, doch im Regel mit Palajiina gleiches Schichſal hatten.

Papias, Biſchoff von Hierapelis (160 m. 3 ), meite in vielen Schriſten Rachrichten uber Jeſu und Apoſtel, wobei ihn großes Mißtrauen gegen die ſchon vor⸗ handenen fchriftlichen Rachrichten leitete.

Paradies (Hebr. Eden) heißt in der in 1 Moſ. 2 ent holtenen, wahrſcheinlich während ber babylouiſchen Periede entſtandenen, Mythe die herrliche Gegend, worin die erſten Menſchen wohnten; wan glaubt in der Schilderung die Hoch⸗ ebene Rorbindiens, Kajchemir, zu erfennen. Spüter war der Rame Bezeichnung des Aufenthaltes der Frommen nadı Dem Tode bis zur Auferftehung.

Paſcha, eins der drei hohen judifchen Fefle, bie nur im Jeruſalem ſelhſt gefeiert werben konnten; geweiht dem Audenken an den fegenbringenden Auszug aus Aegypten: ed dauerte fieben Tage lang; der erite Tag war befonders heilig, mehr noch, wenn er, wie es bei Jeſu Tode der Fall war, zugleich auf einen Sabbat fiel. Am Borabende diejed erften Felttages wußte jeder Bater mit den Seinen oder andern Gäften em männliches Lamm (Paſchalamm) verzehren, wozu ungefäuertee Brod genoſſen wurde, und wobei Alle in Reifefleidern waren; beides zum Andenfen an ben ſchnellen Abzug der Sseraeliten, vor welchem ebenfalls jede Familie ein Lamm fchlachten mußte, am auf den erfien Ruf zur Reiſe die Iette Mahlzeit fchon bereit zu halten.

Paſchalamm, f. Pafcha.

Paſchamahl, ſ. Paſcha.

Paulus, Apoſtel, ein in Tarſus (Cilicien in Kleinaſien geborner Jude, und römiſcher Bürger; trat in Jeruſalem nach vollendeten Studien in Die Secte ber Phariſäer ein, verfolgte dort mit glühendem Eifer die auffeimende chriftliche Gemeinde, und reiste felbft nach Damask, um fie auch Dort zu erbrüden. Auf der Neife dahin war ed, wo ein himmlifches Geſichte ihn zum Ghriftenthume befehrte, von wo an er der feurigfte Anhänger, der muthuollfte Verbreiter besfelben und der geiſt⸗ sollte Fortbildner des chriftlichen "Glaubens wurde, bie er

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nach vielen und weiten Reifen in Rom Sahre lang im Kerler ſchmachtete; hier fol er auch hingerichtet worben fein.

Paulus, Profeffor der Theologie in Heidelberg, bag Haupt ber Rationaliften, ein faſt 8Ojähriger Greis; Werke: 1) Eregetifhes Handbuch über die drei erften Evangelien “. 2) „Ueber das Leben Jeſu“. 3). Eommentar zum Evangelium Sohannes“.

Perferz fie wurden durch den gewaltigen Cyrus zur Herrfchaft über faft das ganze befannte Aften erhoben. Ihre Religion, ein reiner Fenercultus, wurde fpäter zu Der Lehre von einem höchften guten und einem böfen Wefen, die beide eine Menge von Dienern, Enge und Teufel hatten, aus⸗ ‚gebildet.

Peträa, „fteiniged Land“, eine Provinz Palaͤſtina's, noͤrd⸗ lich vom todten Meere, zwiſchen Judäa und Galiläa.

Petrus, der berühmte Apoſtel, ſteht alsbald nach Jeſu Tode an der Spitze der Gemeinde Jeruſalem, wo er mit der größten Unerſchrockenheit lehrt; nach mehreren Reiſen wird er gefangen und wieder befreit. Ueber feine fpäteren Reiſen and fein Ende fehlen ganz zuverläßige Nadjrichten; in Nom foll er hingerichtet worden fein.

Pfingiten, dasjenige der drei Hauptfefte (ſ. Paſcha), ‚welches fünfzig Tage nad) dem Pafcha als Erntedanffeit und zur Erinnerung an die auf dem Sinai gefchehene Mittheilung des Geſetzes gefeiert wurde; es beftand vorzüglich in einem großen Brands und Sündopfer.

Pfund; im neuen Teftamente ift immer das römische zu verftehen, das etwa 22 unferer Loth fchwer war.

Pharao, der gemeinfchaftliche Namen aller früheren :Agyptifchen Könige.

Pharifäer, „Abgefonderte, Fromme“, eine politiſch- religiöſe Secte, welche wahrſcheinlich erſt hundert Jahre v. Ehr. entſtanden; fie machte ſich zur Aufgabe, Das ſeit der Rückkehr aus dem Exile ſich immer mehr ausbreitende, ſtarre, abgeſchloſſene Judenthum zu befeſtigen und weiter zu bilden, weßhalb ſie an allen Satzungen (ſ. d. A.) feſthielten. Durch dieſes Streben und durch ihre ſtrenge, aber heuchleriſche Be⸗ vbachtung der aͤußeren Religionspflichten erwarben fie ſich

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aid nur großes Anfchen, fondern auch ein bebeutendes poli⸗ tiſches Gewicht, befonders feit dem fie den größten Tbeil des Synebriums ausmachten. Sie erfannten außer den altsteitas meutlichen Urkunden auch die mündliche Weberlieferung ale bindende Rorm an, und lehrten eine Vergeltung nach dem Tode.

Philippus, der Apoitel, foll in Phrygien (Kleinaſien) das Evangelium gepredigt haben, und verheiratbet gewefen fein.

Philippus, der Diakon, foll ald Biſchoff von Cäſarea m Samaria geitorben fein.

Philo, ein fehr gelehrter Jude, der im erften Sahrhundert m. Ehr. in Alerandria lehrte, und ein genauer Kenner der platoniſchen Philofophie war, aus welcher er viele VBorftellun gen in fein ideal-jübiiches Syftem übertrug, welches er in vielen Schriften entwickelte.

Phönikien, derjenige Theil Kanaans, der ſich nördlich

von Samaria und Galiläa an der Küfte des mittelländifchen Meeres hin als eine fhmale Ebene ausbreitete.

Pilatus, Pontius, zehn Jahre lang Landpfleger in Sudäa, unter dem Statthalter von Eyrien, warb wenig Jahre nad, Jeſu Tode wegen angeblidyer Bedrüdungen abgefett; fol fpäterhin hingerichtet worben fein.

Doefie der Hebräerz fie hat weder Reims noch Bere maß, fondern den fogenannten Parallelismus, der darin bes fieht, daß derfelbe Grundgedanfen in zwei aufeinander folgenden Sägen, mit etwas verfdjiedener Wendung, auds gedrüdt ift.

Polikarpus, Biihoff von Smyrna, Schüler des Apoſtel Johannes, ftarb als Martyrer 167.

Präeriftenz, d. h. Dafein vor ber Geburt, mußte Jeſu zugefchrieben werden, fobald man in ihm ben menfchgerwordenen Logos, der von Anfang an bei Gott war, erfannte.

Presbyter, „Aeltefte“, hießen in der apoftolifchen Zeit die Borfteher der Gemeinden, welche die Aufficht über Lehre und Sitten führten, daher auch Epiffopen, Bifchöffe, „Wächter“ genannt wurden; fie leiteten den Gottesdienft und ware meiſt aud) Lehrer. . Späterhin wurde dieſes Verhaͤltniß ein - ganz anderes, und von Presbyter ſtammt unfer „Priefter“ !

Priefter, Vollzieher der gottesdienſtlichen Gebräudye; Die

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jüdifchen mußten aus dem Gefchlechte Aarons, des Bruders Mojes, fein. Sie waren in vierumndzwanzig Claſſen getheilt, deren jede ihren Oberprieiter hatte. Diefe find auch ge meint, wenn im neuen Zeflamente von mehreren Hohen prieftern die Stede ift. -

Propheten, von Saul bis zu den nädhften Zeiten nah dem Erile, gottbegeifterte Männer, welche, ohne einen befonberen Drden zu bilden, zu allen Zeiten öffentlich warnend und lehrend auftraten, wo e3 galt, Abgötterei und Sittenlofigfeit des Bolfes, oder falfche Politif der Könige zu befämpfen. Se drohender die Gegenwart ward, defto mehr richtete fich ihre Blick in die Zukunft, die fie häufig mit dei lebhafteften Farben malen (daher ihr Name „Vorherfager“), meift Unheil vers fündend, oft aber auch hinweifend auf den rettenden Glanz des Meſſias.

Profelyten, diejenigen Heiden, welche zum Sudenthume übergegangen waren; fie wurden natürlich befchnitten; ſpaͤter kam auch noch eine einweihende Taufe hinzu.

Quirinus, wurde römifcher Statthalter in Syrien, nicht vor dem Sahre 4 n. Chr., und hielt fpäter eine Schatzung in Sudäa, weil biefe Landichaft inzwiſchen römiſch geworden war. (S. Römer.)

Rabbi, Ehrentitel der jüdiſchen Geſetzlehrer (ſ. Schrift⸗ gelehrte), womit man fie ſtets anredete, weil man es für unſchicklich hielt, fie bei ihrem Eigennamen zu nennen.

Raphael, einer der fieben Erzengel, der im Buche To⸗ bias vorfommt.

Rationaliſt ift der, welcher als Anhänger der Vernunfts religion, des Nationalismus, die Vernunft ald einzige Quelle und Richtſchnur des Glaubens betrachtet; daher müfjen ftreng genommen ſchon die heidnifchen Philofophen, namentlich feit Sofrateds, fo genannt werden. Allein man verſteht unter Rationalismus nur die Richtung der Vernunftreligion, Die im Schooße der chriftlichen Kirche fich dem Glauben an uns_ mittelbare, poſitive Dffenbarung, dem Supranaturaliemug, entgegenftellt.. Diefe Richtung war von je unter. einzelnen Chriften bemerkbar, bildete ſich jedoch erſt feit Dem vorigen Sahrhundert ald eigene Schule, die daher: vorzugsweife Den

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Namen „Rationaliften“ führt, aus. Es ift von felbft Mar, daß diefelbe alle Wunder in der bibliſchen Gefchichte laͤugnen muß.

Rüſttag heiß bei den Tuben der Tag, der einem Sabbate oder einem hohen Fefktage, z. B. dem Pafcha, voranging; der Tag alfo, an deffen Abende das Pafchalamm verzehrt wurde, war der Rüfltag des Pafcha.

Römer. Die Römer kamen dadurch mit den Juden zw exit in nähere Verbindung, daß fie während ihren Eroberungen in Aflen von ſchwachen jüdifchen Königen um Schuß, und bald ald Schiedsrichter in ihren Zwiftigfeiten angerufen wurden von 64 v. Ehr. an); dadurch bradıten fie Paläftina unter ihre Vormundſchaft. Anfangs gab man dem Hohenprieſter Gmb Kürften) einen Ausländer zum Gehülfen, bald aber machte won einen andern, Herodes (ſ. d. A.), gar zum Könige, Nach defien Tode ward das Reich von den Römern zwifchen feine zwei Söhne getheilt; ſchon im Sahre 6 n. Chr. wurde der eine, Archelaug, der Judäa, Samaria ıc. beherrichte,- entfernt, und feine Ränder zur Provinz Syrien gefchlagen; ein Gleiches gefchah 38 n. Ehr. dem zweiten Sohne, H. Antis pas. Hierauf erhielt zwar ein Enfel des Herodes, H.Agrippa, noch einmal eine Art Scheinherrfchaft über Paläftina; allein feit 44 ward dasfelbe auf immer ganz römifd).

Roſenkranz, Profeflor in Königsberg: „Encykläpodie der theologiſchen Wiſſenſchaften“.

Sabbat, ber ſiebente Tag ber Woche, Ruhe» umd Freudentag, den man durch Brandopfer und Gebete feierte; Arbeit jeder Art war fireng verboten, am meiften in ben fpäteren Zeiten.

Sadducäer, eine jüdifhe Secte, deren Urfprung dunkel iſt. Im Oegenfage zu dem immer greller überwiegenden Say zungsweſen legten die Sabducäer das größte Gewicht auf- Tugend und innere Bereblung, und hielten fid) daher nur an ‚bie gefchriebenen Geſetze; dabei verläugneten fie eine Vergel⸗ tung nach dem Tode, und fomit auch die Auferftehung. Dbs gleich fie in allen diefen Punkten den mächtigen Pharifäern (f. d. A.) entfcjieden entgegen traten, fo waren fie Doc, nicht ohne Anfehen, befonderd bei den Gebildeten, faßen auch im Synedrium, und gelangten felbft zur Hohenpriefterwürde.

543

Salathiel, der fonft unbekannte Sater Sernbabels. S. d. A.)

- Salbungen waren im Morgenlaude ſehr haͤufig, theils us Gewohnheit des täglichen Lebens, theils als Ceremonie bei zewiſſen Alten. «S. König.)

Samaria, eine große und fefle Stadt in Mittelpaläfkina,

dauptſtadt der israelitifchen Könige, gab der Landſchaft dem Ramen, die fich, in der Mitte zwifchen Judäa und Perän ger egen, bis an das mittelländifche Meer hin erftreckte. " Samariter, die Einwohner Samariad nach dem Exile; fe waren eine Mifchung zurüctgebliebener Israeliten und einges wangener heibnifcher Eoloniften, und wurden daher, obgleich ie das moſaiſche Geſetz befolgten, von den zurückgekehrten Juden fo verachtet, daß diefe ihnen die Theilnahme an dem Tempeldienſt zu Serufalem verweigerten. Sie errichteten daher men eigenen auf dem Berge Garizim, und wurden von dem suden mehr, ale bie Heiden, veradhtet. |

Samuel, der bekannte Prophet, um 1100 v. Chr., ber en Juden ben erſten König geben mußte, Saul, gegen ben r die Rechte der Priefterichaft mit Bitterfeit vertheidigte. Fr war zum Nafträer cf. d. A.) beftimmt gewefen, und feine Seburt fchon ift durch Mythen verherrlicht.

Sara, Frau des Abraham, gebahr erft im hohen Alter, a neunzigſten Sahre (9), den Iſaak.

Saßungen nennt man alle diejenigen religiöfen Vor⸗ chriften und Lehren der Juden, die nicht im geſchriebenen Heſetze enthalten find, ſondern auf mündlicher Ueberlieferung eruhen. Saul, erſter König der Juden, nach 1100 v. Chr.; ſein eben iſt bekannt, ſo wie ſein unglückliches Ende.

Schatzung. Wenn von einer jüdiſchen die Rede iſt,

kann dabei nur an Einſchreibung in die Geſchlechtsregiſter, am Stammorte geſchehen mußte, gedacht werben.

Schatzung, römiſche; m den Kaiferzeiten (das rühere gehört nicht hierher) wurden zuweilen in den Pros inzen genaue VBerzeichniffe aller Unterthanen nach Kopfzahl, ermögen und Gewerbe aufgenommen, was die Römer Eenfus

343

nannten; Luther überſetzte das griechifche Wort dafür nicht ganz richtig mit „Schabung“.

Schaubrode nannte man die zwölf ungefäuerten Brode, weiche, mit Weihrauch und Salz beftreut, im Heiligen bes Tempels auf einem Tiſche lagen, ald Sinnbild der täglıchen Speife Sehova’s; fie wurden an jedem Sabbat erneuert. Die alten Echaubrode wurden von den Prieftern im Heiligthume felbft verzehrt. "

Scelling, Fr. Wilh., der berühmte Begründer der fogenannten Naturphilofophie. Hierher gehören: 1) „Ueber Mythen, hiftorifche Sagen und Philofophen der älteften Belt“. 2) DBorlefungen über die Methode des afademifchen Studiums“.

Schlange; im Driente gibt ed viele giftige Schlangen: ale in der Wüfte Viele, die von ſolchen gebiffen worden, ftarben, hieng Mofes eine eherne Schlange an einer Stange anf, bei deren Anblicke jeder Gebiffene genas.

Schleiermacher, Fried., einer der größten Theologen

neuerer Zeit, ftarb 1834 in Berlin als Profeſſor der Thee⸗ logie: 1) „Reden über die Religion“. 2) „Chriftliche Slaubenslehre“. 3) „Ueber die Schriften des Lukas“. 4) „Zwei Sendfchreiben an Lücke über feine Glaubenslehre“. Strauß hat ihm in feiner neuften Schrift: „Charafteriftifen und Kritifen“ ein fchönes Denkmal geſetzt. w Schnedenburger, Profeffor der Theologie in Bern. 1) „Ueber den Urjprung des’ erften Fanonifchen Evans geliums“. 2) „Ueber Das Evangelium der Aegypter“. 3) „Beiträge zur Einleitung in’d neue Teftament“. 4) „Leber das Alter der jüdifchen Proſelytentaufe“. |

Schriftgelehrte; die eigentlich gelehrte Kafte unter den Juden, und, da das Geſetz (die Schrift) den Mittel punkt aller Gelehrſamkeit bildete, Die zünftigen Ausleger des⸗ felben. Sie waren über das ganze Land verbreitet, übten eine Art von Polizei in Tempel und Synagogen aus, und theilten ſich wahrſcheinlich in drei Claſſen: privatifirende (denn jeder mußte noch ein anderes Gewerbe treiben), die gelegent⸗ lich Rath ertheilten, lehrende und Beifiter des Syne⸗ driums. (©. A)

| 545 | Schulz, Profeflor in Breslau. „Die chriftliche Lehre _ - vom heiligen Abendmahle“.,

- Serubabel, aus David's Gefchlechte, der Anführer der eriten aus dem Erile heimfehrenden Schaar der Suden (536 v. Ehr.); er betrieb eifrigft den Wiederaufbau des Tempels.

Semler, ein berühmter Theologe des vorigen Sahrhuns ° dertg, eigentlicher Bahnbrecher; ſtarb 1791 als Profeſſor der Theologie in Halle. 1) „Von freier Unterſuchung des Kanon“. 2) „Umſtändliche Unterſuchung der daͤmoniſchen Leute“.

Sieffert (9. „Ueber den Urfprung des erften Evans geliums“.

Silberling, auch Sedel genannt, eine jüdifche Münze,

im Werthe von etwa 19— 20 Basen.

Silvam, eine Duelle in einem Thale, nahe bei Serufas lem, deren Waffer in einem beträchtlichen Teiche gefammelt war. | Simon, ber Apoftel, fol fpäter Bifchoff in Serufalem

gewefen, und unter Trajan gefreuzigt worden fein.

Simfon, der große Heros der israelitifchen Heldenzeit (12 1100), deffen Leben und Thaten von der Sage bie in's Abenthenerliche gefteigert wurden; erhielt ald Sohn einer fange unfruchtbar gewefenen Mutter die Weihe eines Nafis raͤers. (©. d. A.)

Sinai, der durch die Gefeßgebung berühmt gewordene Berg, liegt faft in der Mitte der beiden Meerbufen, welche Das rothe Meer an feinem nördlichen Ende bildet; er theilt ſich in zwei Spigen, deren eine 7047, bie andere 8092 Fuß hoch if.

Spcinianer, eine in ber Reformationszeit entſtandene chriſtliche Secte, die ihren Namen von zwei merkwürdigen italieniſchen Gelehrten, Laͤlius und Fauſtus Socin, erhielt, anfangs weit verbreitet war, jetzt aber unter dem Namen „Unitarier“ nur noch in Siebenbürgen beſteht. Sie glauben nicht an die Göttlichfeit Chrifti, und fomit auch nicht an die Dreieinigfeit.

Speichel. Die Rabbinen zu Jeſu Zeit bedienten ſ ich desſelben häufig bei Augenkrankheiten.

II. | 35

546

Stater, eine griechiiche Münze, nach umferm Gelbe etwa 23 Baken.

Stephanug, einer ber erften ſieben Dialonen (S. d. A.) in Jeruſalem, wurde bei dem Synebrimm verklagt, wahrſchein⸗ lich 37 n. Chr., und ehe er noch feine Vertheidigung geendigt hatte, von dem Bolfe gefteinigt; daher der erſte Martyrer (S. d. 9.) genannt.

Steudel, ein kürzlich in Tübingen verftorbener Profeflor der Theologie; fchrieb mit großer Leidenfchaftlichkeit gegen Strauß, ohne irgend Etwas zu widerlegen.

Stunde, f. Tag.

Sündfluth. Die Sagen vieler alten Völker wiflen von einer großen allverheerenden Waflerfluth zu erzählen, daher die-Wirffichfeit einer folchen nicht zu bezweifeln iſt; eben fo gewiß aber ift es, daß fich Die Ueberlieferung davon, wie fie im alten Teftamente zu leſen ift, nadı eigenthuͤmlich jüdifchen Vorſtellungen geftaltet hat.

Sündopfer, Sühnopfer, fpielen in dem mofaifchen Cultus eine große Rolle; ed gab deren fehr viele; alle waren blutige Thieropfer; das wichtigfte war Das an den Neumonden ıc. für das ganze Volk dargebrachte. Solche Opfer follten den . Zorn Sehova’s über die Sünden des Volkes verfühnen, und fehienen nöthig, da das ganze Gefeg (S. d. U.) ald ein Bund Jehova's mit dem Bolfe betrachtet wurde, und jede Sünde desſelben dieſen verletzte.

Supranaturaliſten ſind diejenigen, welche Religion ohne den Glauben an eine höhere, unmittelbare Offenbarung Gottes durch Wunder für unmöglich, und Die Offenbarung Gottes, wie fie die heil. Schrift enthält, für die einzig wahre halten. Sie ftehen den Nationaliften (f. d. U.) fchroff entgegen; von den Drthodoren unterfcheiden fie ſich dadurch, daß fie nicht einfach bei dem WWunderglauben der Kirche fchlecht und recht ftehen bleiben, fondern denfelben durch myſti⸗ fche Ideen und fogenannte wiſſenſchaftliche Beweiſe zu ftügen und mit der Bildung der Zeit in Einklang zu bringen fuchen.

Synagogen waren Berjammlungshäufer zu gemeinfchaft- licher, an jedem Sabbat vorgenommener- Andacht, zu Gebet und zum Anhören religiöfer Vorträge, jedoch ohne allen Opfers

537

dienft, der allein im Tempel ci. d. A.) ftatthaben konnte. Zu Jeſu Zeit hatte faft jede Stadt eine Synagoge.

Synedrium, der oberfte Gerichtshof der Juden in Jeru⸗ falem, beftehend aus eimmmbfiebenzig Mitgliedern, theild Ober: prieftern CHohenprieftern), theild Aelteſten, theild Schriftges Ichrten (Pharifäern und Sabducäern), unter dem Vorfike des Hohenpriefterd. Es urtheilte in erfter und letzter Inſtanz ab über Stammangelegenheiten, über falfche Propheten, über Vergehen gegen die Religion und Cwahrfcheinlich) auch über Die gegen den Staat. ©. die betr. Art.

Synode, jede Berfammlung in firchlichen Angelegenheiten; in den früheren chriftlichen Sahrhunderten dienten die Synoden aller Bifchöffe ꝛc. befonders zur Entfcheidung über ftreitige

Punkte der Kirchenlehre. | Synoptifer nennt man die drei erften Evangelien; der Name heißt „Ueberfichtliche“, und wird ihnen Darum beigelegt, weil fie im WWefentlichen fo übereinftimmen, daß fich der Ins halt fammtlicher zu faßlicher Ueberficht zufammenftellen läßt, während Sohannes für fich weit mehr allein fteht.

Tag. Der bürgerliche Tag (von 24 Stunden) fteng bei den Juden mit Sonnenuntergang anz der wirkliche Tag (von Anfang bis Untergang der Sonne) war das’ ganze Sahr über in 12 Stunden eingetheilt, weßhalb natürlich die Stunden im Sommer beträchtlich größer waren, als im Winter; Die fechste Stunde ift alfo immer Mittag 12 Uhr nad) unferer Rechnung.

Talent, griechiſche Bezeichnung einer gewiffen Summe, deren Größe aber nad) Zeit und Ort fehr verfchieden war;

von 2000 bis 800° rhein. Gulden. Zanfendjähriges Neid; von Cerinth Cf. d. A.) bis auf die neuere Zeit herab träumten chriſtliche Schwärmer Davon, daß Sefus nach feiner Wiederfunft (ſ. d. A.) zunächft die auserwählten Frommen auferweden, mit Diefen taufend Sahre in Herrlichkeit leben, und fodann auch alle Andern zum Weltgerichte auferftehen laffen werde.

Tempel, das eigentliche Nationalheiligthum der Juden, in welchem allein dem Jehova Dpfer gebracht werden durften, weil er im Tempel unfichtbar wohnte unter feinem auser⸗

548

wählten Bolfe. In früherer Zeit hatten die Juden flatt dee Tempels bie fogenannte Stiftshütte, eine Reliquie ihres Romas denlebens; David zuerft faßte den von Salomon ausgeführten Pan, ein feſtes, prachtvolles Zempelgebäude zu errichten, Bor dem Erile ward dieſes zerftört; nach bemfelben noch prachtooller wieder aufgebaut; und diefen zweiten Tempel ließ Herobes zu noch größerem Glanze erweitern und ums bauen. Der Tempel beitand aus Borhalle, Tempelhaus, Heiliges, Allerheiligftes.

Tempelweihe; das Feft der Tempel, zur Erinnerung

an die durch Salomon vollgogene Einweihung des eriten Tempels. Teufel. Obgleich ſchon der früheſte Glauben der Juden böfe Geiſter, als abgefallene Engel, kannte, fo warb doch bie Borftellung von einem mächtigen, Jehova gegenüberfichenden, Zürften derfelben, „Zeufel, Satan“, dem perfonifizirten böfen Prinzipe, erft nach dem Exile allmälig unter den Juden herrfchend.

Theophilos, Bifhoff von Antiochien (nicht von „Ale xandria“, wie ed S. 39 irrigerweife heißt), ein bedeutender hriftlicher Schriftiteller, der, ald würdiger Nachfolger Juſtin's (S. d. A.), mit Waffen der Gelehrfamfeit das Chriſtenthum zu vertheidigen fuchte.

Tholuck, Profeffor der Theokogie in Halle: 1) „Eom- mentar zu dem Evangelium Johannes“. 2) „Die Lehre von der Simde und vom Berfühner“.

Tiberias, eine der wichtigften Städte Galilän’s, am weftlichen Ufer des See's gelegen, und auch noch in ber chriftlichen Zeit von Bedeutung.

Trachantis, eine Heine, Landfchaft, welche an das nord: öftliche Galiläa angränzend, zu Paläftina in weiterem Sinne gezählt wird.

Troas, Stadt am Hellespont (den heutigen Dardanelien), welche von Paulus zweimal befucht wurde.

Unterfleid; ein fehr einfaches, siemlich eng anfchließendes Kleidungsftüd, unter welchem VBornehmere noch ein feines Hemd trugen; ed war gewöhnlich ohne Aermel. Das darüber

549 geworfene Oberkleid war fowohl nach den Völkern, wie nach den Geſchlechtern verſchieden.

Vater, als Profeſſor der Theologie in Koͤnigsberg 1826 geſtorben; ein ſehr gelehrter Sprachforfcher! Commentar

über den Pentateuch“. Valentinianer, eine ber vielen Fractionen. der Gno⸗ ftifer (f. d. A.); fie tragen ihren Namen von einem gewiffen Balentin, deffen Syſtem und wenig befannt ift.

Venturini, ein Hiftorifer, der unter Anderm fchrieb, ohne feinen Namen zu nennen: 1) „Die Wunder des neuen Teftamentes in ihrer wahren Seftalt“. 2) „Die natürliche Gefchichte des Propheten von Nazaret“. Er ift ein gläubiger Kachbeter des denfgläubigen Dr. Paulus.

Borläufer des Meſſias; als folcher wird Johannes der Täufer bezeichnet, der allerdings viel dazu beitrug, das Volk für die höheren Ideen Jeſu empfänglich zu machen; ihn dafür zu halten, war man um fo eher geneigt, weil nach gemeinem Glauben dem Meſſias der wieder erwachte Elias voranges hen follte.

Waſchungen waren im Morgenlande ungleich häufiger als bei ung; im Allgemeinen ſchon wegen der durch die grös Bere Hitze bewirkten größeren Ausbünftung; im Befonderen wegen eigenthümlicher Gewohnheiten. Die Füße mußte man öfters waſchen, weil man feine gefchloffene Schuhe trug; die Hände, weil man ohne Werkzeuge mit bloßer Hand die Spei⸗ fen aus der Schäffel nahm.

MWegfcheider, Profeffor der Theologie in Halle, berühmt geworben durch feinen Verſuch, in einer chriftlichen Glaubens: lehre den Nationalismus zu einem gefcjloffenen Syftem zu er- heben : 1) ‚‚Institutiones theol.“ ıc. (der Iateinifche Titel feiner Slaubenslehre). 2) „Einleitung in das Evangelium Johannes.“

MWeltgericht, f. Wiederkunft.

Wiedergeburt, f. Wiederkunft.

Wiederkunft. Nach Jeſu Tode, der alle irdifchen Mef- fiaghoffnungen feiner Sünger vernichtet hatte, bildete fich fehr bald der Glaube unter ihnen, daß des Meffias Beitimmung nur durch Leiden und Sterben habe erreicht werden können.

550

Da fie jedoch die Vorftellung von einem Alles übertreffenden Glanze deffelben nicht aufgeben konnten, fo wurbe zugleich der Glauben herrſchend, er werbe, nachdem er bei feinem erften Kommen ſich felbft erniedrigt hatte, bereinft in all feiner eins gebornen Herrlichkeit wieberfommen, und alsdann -ein Gottesreich gründen, defien Glanz alle denkbare irdifche Größe übertreffe und in alle Ewigfeit fortdaure.

MWolfenbüttler Fragmentift. Unter diefem Namen gab der berühmte ©. E. Leſſing eine Reihe von Abhands lungen heraus, die er auf der Bibliothek in Wolfenbüttel, welcher er damals, von 1769 an, vorftand, aufgefunden zu haben verficherte. Diefe Fragmente erregten durch die Kühn⸗ ‚heit, mit weldyer fie im Sinne der englifchen Deiften (f. d. A.) die Wahrheit der evangelifchen Erzählungen befämpften, uns glaubliches Auffehen. Lange Zeit kannte man den Berfaffer derfelben nicht; jebt ift ed ausgemacht, daß es der 1768 in ' Hamburg verftorbene Profeffor Neimarus war.

Wort Gottes, |. Logos.

Wüſte; nach biblifhem Sprachgebrauche nicht eine völlig wüfte, fondern nur eine nicht regelmäßig angebaute Gegend, die deßhalb Doch gar wohl der Viehzucht dienen konnten. Des ren gab ed mehrere in Paläftina, nämlich: 1) die Sudäifche; 2) die von Jericho, zwifchen dieſer Stadt und Bethanien; 3 die Wüfte bei Bethfaida am Galiläifchen See (f. d. betrefs fenden Artife), u. U.

Zacharias, ifraelitifcher König, 772 vor Chriſtus, ber nur ſechs Monate regierte.

Zachäus, der aus Lukas bekannte Meine Oberzöllner, ein geborner Jude, der ald Bifchof von Cäfaren geftorben fein fol.

Zeichen; dieſes Wort wird im Neuen Teſtamente fehr oft als gleichbedeutend mit „Wunder“ gebraucht, weil nadı jüdifchen Vorftelungen Wunder ald ein nothmwendiges und untrügliches Zeichen betrachtet wurden, an welchen man gottgefandte Propheten erfannte,

. Zendreligion, die Religion der Perſer (ſ. d. 4), deren heilige Bücher den Namen: „Senbeätbefta”, d.h. „leben diges Wort“ trugen.

. Zöllner, die Lintereinnehmer der indireften Abgaben.

551 . , Die Römer hatten das Syſtem, die indireften Einfünfte in den Provinzen an einzelne Unternehmer zu verpachten,, dieſe gaben fie wieder an einzelne Eingieher ıc. in Pacht. Bei Die: fem Spyfteme mußten die Unterbeamten durch das VBeftreben, aus ihrem Pacht den möglichften Vortheil zu ziehen, zu viel- fältigen Bedrüdungen verleitet werben, die den ganzen Stand dem zahlenden Volke verhaßt machten.

Zollifofer, ein berühmter, in Leipzig 1788 verftorbener Kanzelredner; geboren in St. allen.

77}

Nachwort.

Die Erſcheinung dieſer zweiten Abtheilung hat ſich etwas laͤnger verzögert, als ich bei Abfaſſung der Vorrede voraus⸗ ſehen konnte, und ich halte es für Pflicht, zu erklaͤren, daß mein werther Herr Verleger nicht im Mindeften daran fchuld ift. Unerwartete Störungen, welche durch meine amtlichen Berhältniffe herbeigeführt wurden, raubten mir nur zu oft bie zu einer folchen Arbeit erforderliche Ruhe und Muße. Sch wollte aber lieber dieſe Abtheilung etwas fpäter an's Licht treten laffen, als ihr ben Stempel der Eile aufbrüden; in der That darf ich auch verfichern, daß fie hinter der erften auch nicht zurücteht, vielmehr, wenn mir darüber ein Urtheil vergönnt ift, es verdienen wird, derjelben in Bezug auf Ges biegenheit und Klarheit vorgezogen zu werden, weil bei fort gefeter Bemühung die Methode einer folchen Bearbeitung ſich mit zuwachjender Sicherheit wie von felbft entwideln mußte. Daher darf ich hoffen, daß fie den Beifall, welchen zu meiner Freude die erfte Abtheilung bereits gefunden hat, wenigſtens nicht fchwächen werde.

Während ich an dieſer Abtheilung arbeitete, erfchienen die „Charakteriftifen und Kritifen von Dr. D. F. Strauß“. Ich erfehe aus der Vorrede zu Denfelben, daß Strauß es bedauert, in dem erften Theile der dritten Auflage feines Lebens Jeſu, welche meiner Bearbeitung zu Grunde liegt, zu viel Gewicht auf die neuerlich wieder vorgebrachten Beweife für Die Aecht⸗ heit des Tohannes-Evangeliumsd gelegt zu haben, und darum in der Kritif der in ihm enthaltenen Berichte und Erzähluns gen zu lar und nachfichtig gewefen zu fein. - Dieß beurfundet . fich allerdings in einigen Abfchnitten, 3. B. über Die Samaris terin (S. 200), über die Reden Jeſu (S. 243) u. A. bemerf:

553: |

bar genng, und ich freue mich deßhalb, daß Strauß zu feiner firengen Gonfequenz zurüdgelehrt if.

* Mit derfelben Zuverficht, die ich in der Vorrede ausſprach, ſchließe ich dieſes Nachwort: daß nämlich die, unbefangene Prüfung der Geſchichte dem wahren Glauben keinen Eintrag thun Tonne, fo wie fie es nicht thun will. In ben inzwi⸗ fchen über den Kanton Zürich. herangebrochenen Stürnen, die als eine Fortſetzung (Endpunkt wage ich nicht zu fagen!) der Strauß’jchen VBerufungsgefchichte zu betrachten. find, hat fi) die ganze Maffe des im Inneren des Fanatismus gähs - renden vultanifchen Stoffes entladen. Kaum beginnt aber der Lavaſtrom fi abzufühlen, fo fangen auch fchon aller Drter die Unbefangenen an, ſich wieder zu befinnen, und Iefen aus den rauchenden Trünimern die ewige Wahrheit heraus: „jo wie das blinde Eifern gegen ächte Wiffenichaftlichfeit nicht von Gott fommt, fo kam es auch nicht zu Gott führen!“ Die Zukunft wird richten!

Im November 1839. Der Verfaſſer.

Borrede

554

Inbaltsverzeichniß.

Cinleitung (S. 1—17). Grfter Theil. Darftellung ber verfchiedenen Aus⸗

legungsweifen ber biblifchen Gefchichte (1— 33).

Die Entftehung verfchiedener Erklärnugsverſuche heiliger Geſchichten

Berfchiebene Deutungenbei®riehen, Hebräern und chriftlichen Kirchenvätern

Die Deiften, Rationaliften und Kant Entftehung der mythiſchen Auslegungsweife Mangelhaftigkeit dee bisherigen mythiſchen Auslegungsverfuche

Zweiter Theil. Nähere Begründung des mythifchen

Standpunktes (33 71).

Möglichkeit von Mythen im neuen Teſtamente nach außeren Gründen

Möglichkeit von Mythen im neuen Teſtamente nach inneren Gründen

Entftehungsweife der Hiftorifchen und ber reinen Mythen

Merkmale, woran fih die Mythen im neuen Zeftamente erkennen laffen

Erfter Abſchnitt. Geburt und Kindheit Jeſu [72

bis 129). Verkündigung und Geburt Johannes, bed Täufers Jeſu Abflammung von David, nach zwei Ge⸗ fhledtsregiftern Jeſu Verkündigung Jeſu übernatürliche Erzeugung

Seite

25

88

41

50

62

72

78 82 86

Kay. V.

IX

68

Berhaͤltniß zwiſchen Jofeph und Ma⸗ ria und Beſuch bei der Eliſabeth Die Geburt Jeſu in Bethlehem und ber Lobgeſang der Engel - . Befuch der Magier und Bethlehemi« tifher Kindermord

Jeſu Darftellung im Tempel und Wohnort feiner Eltern

Erfter Temperbefuch und Jugend: verhältniffe Jeſu

Zweiter Abfchnitt. Das erfte öffentliche Auftreten Jeſu (S. 130 181).

Kar. 1.

Das Verhältnig Jeſu zu Johannes, dem Täufer

Urtheileüber den Täufer, und lebte Schickſale beöfelben

Die Taufe Jeſu

Die Berfuchungsgefchichte

Die Lokalität des Öffentlichen Lebens Jeſu | Chronologiſche Anordnung bes dfe fentlichen Lebens Jeſu

Dritter Abſchnitt. Die Meffianität Jeſu und feiner Sünger (©. 182 219).

Kap. I.

Jeſu eigene Anfichten über feine Perſon

. Sefu meſſianiſcher Plan im Allge⸗

meinen

Stellung Jeſu zum moſaiſchen Geſetz, zu den Heiden und den Samaritern Die Berufung mehrerer Jünger durch Jeſum

Die zwoͤlf Apoſtel und bie ſiebenzig

Sünger

Vierter Abichnitt. Die Reden Jeſu und die wichtigften natürlichen Begebenheiten aus feinem Leben CS. 220 272).

Kay. IL

Die Bergpredigt und bie Rebe bei Ausfendung ber Swölfe

Seite 23. * 98. 100 108 418. 145

1230. 124

194. 198. 200

2230. 226

V. VI. VIE VIII.

556 Die Parabeln Jeſu Andere Reben Jeſu in den drei erften

. Evangelien

Größere Reden und einzelne Ausfprüche Sefu im vierten Evangelium

Die Staubwürbigfeit der Reben Sefu im vierten Evangelium

Einige Begebenheiten aus dem Le ben Jeſu, befonders ber Befuch feiner Berwandten

Die Rangſtreitigkeiten unter den Jüngern, die Tempelreinigung und die Satbung durch ein Weib

Abſchnitt. Die Wunder Jeſu Die Wunder im Allgemeinen be trachtet

Die Austreibung böſer Beifter Heilungnvon®elähmten, Ausſäz⸗ zigen und Blinden

Unwillkürliche Heilungen, Heilun- -

gen in die Ferne und Sabbatheili« gung

Todtenerwedungen

Seewunder

Die Speifung der Tauſende

Die Berwandlung bes Waffers und bie Berwünfchung des Feigenbaumes

Schdter Abfchnitt. Die letzten Tage Jeſu, fein Leiden und Sterben (S. 350 434).

Kay. IL - u - m. - W.,

Jeſu Berflärung und lebte Reife nach Jeruſalem

Jeſu Reden von feinem Tode, feiner Auferſtehung und Wiederkunft zum Gerichte

Die Feinde Jefu, der Berräther Judas und das lebte Abendmahl Jeſu Seelentampf, feine Ab: fhiedsreden und feine Verhaf: tung -

2357. 262

264. 266. 268

275 278, 283

293. 2396. 298 305. 307. 313 316 328 3335

341. 345

350. 356

363. 369, 374

983. 385. 388

899, 402. 406

557

Kay. V. Jeſu Berurtheilung, Verläugnung

des Petrns u. Tod ded Verräthers 408,

VI. Jeſus vor Pilatus und Herodes; bie Krenzigung 415.

VO. NRaturmwunder bei Jeſu Tode, ber Lanzeuſtich in Jeſu Seite und ſein

Begräbniß 436.

Siebenter Mbfchnitt. Auferſtehung und Himmelfahrt Jefu (S. 435 466). Kap. I Die Wache am Grabe und erfte Kunde von der Auferftehung 485, DI. Die Erfheinungen Jeſu und bie Beichaffenheit feines Leibes nah ber

Auferflehung 443, I Endurtheil über Jeſu Tod und Auferſtehung 452 IV. Jeſu letzte Anoroͤnungen 460 V. Die Himmelfahrt Jen 462 Schluß-⸗Abhandlung. Das Verhaͤltniß der verſtaͤndigen Geſchichts⸗ Forſchung zum chriſtlichen Glauben (S. 467— 495). Kap J. Glauben und Wiffen . 467 1. Die Lehre der Kirche über Chriſti Derfon und Wirken 469 IN. Die Lehre der Nationaliften und Schleiermacher's über Chriftus 477.

IV. Die Lehren Kants (de Wette's,

Horſt's), Hegel's über Ehriſtus 488.

V. Vermittlungsverfuh und Schluß 489 Beilagen.

1. Die evangeliſche Geſchichte 496

II. Anmerkungen in alphabetiſcher Ordnung 515

Nachwort 552

——— 7 ___

437

447

478

485. 486

var

Schluß des Drudfehlerverzeichnifies.

"177,

178 187 187 190

8. 4 v. u. lies: demnach, ft. dennoch.

DD n

15 1. worden, ft. werden.

91. an bei, ft. anbei.

5 v. u. 1. hatte, ft. hätte. .

9.ift nach „Meſſlas“ einzufchalten : „bar“.

91. welches, ff. welche.

6 iſt nach „nach“ einzufchalten: „die“. 42 1, dem Zöglinge, ft. den Söglingen. 43 v. u. l. lebten, ft. leben.

10 iſt nach „habe“ einzuſchalten: „ie“.

7 1. ein Gatifäer, ft. in. Galilda.

Sv.ml. es, fl. er 44 I. ben, ff. der,

44 I. Matthäus, ft. Markus.

5 1. Splitterrichten, ft. Spiitterrichter. 16 1. Gleichniß, ft. Gleichgewicht.

4 v. u. I. abreifenden, ft. abweifenden. 43 v. u. l. ber, fl. dem.

50.0. 1. Jeſu, ft. Jeſum.

41. endlich, ft. eigentlich.

18 iſt nach „Mufter“ einzufchalten: „vor“,

50. u. 1. Jeſus, ft. Jeſu.

5». u. if „und“ zu tilgen.

6 1. Tagen, ft. lag.

-10 1. beobachtet, ft. betrachtet. 42 ift nad) „Inneres“ einzufcalten: „habe“.

11 0. u. I. Hiergegen, ft. Hingegen.

10 v. u. l. Haben, ft. habt.

8. u. I. näher, ft. nachher.

4 1. Einem, ſt. Einer.

44 1. der Kranke, ft. derfelbe.

8 v. u. 1. ber Sterbenden ſich, ft. fih für die Gtı

bende.

1 v. u iſt ganz zu tilgen.

14 1. dieſes, ft. dieſe.

12 1. jegt, ſt. ja-

449 450

!

„20

3. 4 v. u. iſt ſturmbewegten? zu tilgen.

iſt vor „verknbchern“ einzuſchalten „li“.

„» TI. Öffne, fl. Öffnen. °

„13

l. keinen, ſt. einen.

v. u. l. er, fl. es.

v. u. I. einen, ft. eine.

v. u. ift vor „weiten“ einzufchalten „au“. v. u. l. daher, fl. aber.

v. u. l. Hauptftadt, ft. Hauptſtand.

v. u. 1. mittelbare, fl. unmittelbare.

v. u. I. benusten, ft. benugen.

v. u. I. Beben, fl. Leben,

\ ſchliefen, ft. ſchieden.

v. u. l. der, ſt. den.

l. dieſer Ausruf, ſt. derſelbe. v. u. iſt „ihn“ zu tilgen.

iſt „es“ zu tilgen.

l. Erzählung, ſt. Erklärung.

T. erſtarrenden, ft. erſterbenden.

v. u. l. jener, ft. jeder.

„14 v. u. l. verſchloſſenen, fl. verſchloſſener.

„12

v. u. l. machte, ſt. mache.

—— S. 453 3. 7 v. u. iſt vor „wirklich“ einzuſchalten „nicht“.

S.

2

454 460 463 475 480 486 486

3. 2 „16 „12 „16 ‚4 45 2

-

I. großen, fl. große.

I. Beziehung, ft. Bezeichnung.

l. Hingange, ft. Rüdgange.

v. u. I. Einzelnwefen, ft. Engelnwefen.

I. mußte, fl. muß.

l. liege, fl. liegt.

v. u. ift nach „Wunder“ einzufchalten: „berichten“,

Einzelne Bleinere Verfehen wolle der geneigte Leſer gefälligit felbft verbeſſern.

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Dr. Strauß

D EM; Sürcher Sirhe.

Stimme aus Norddeutſchland.

Mit einer Vorrede

von

Dr. W. M. 8 de Wette.

Druck und Verlag der Schweighauſer'ſchen Buchhandlung. 1839.

Anklam:

IE

Borwort.

Obgleich ein naher und nichts weniger ale gleichgültiger Zufchauer der Eirchlichen Bewegung in unferer Nachbarfchaft, hielt. ich mich Doch nicht für berufen, dabei irgendwie thätigen Antheil zu nehmen; und auch Diefe „Stimme aus Nord—⸗ deutfchland“ Hätte ich Fieber unter dem bei allen Barteien mohlflingenden Namen ihres Verfaffers als unter dem meinigen erfcheinen fehen; indeffen, da mein Freund einmal die Anonymität vorge- zogen und meine Einführung gemwünfcht Hatte, fo wollte ich meinen Dienft nicht verfagen. Ge wig verdienen diefe Worte der DVerftändigung Gehör und Beherzigung, und die Wiſſenſchaft, die in der fo lärmenden Abweifung der Straußi- fchen Kritik vom theologifchen Lehrftuhle einen Widerſpruch von Seiten des Firchlichen Volkes und feiner Führer erfahren hat, wodurch Teicht ein Verdacht auf fie feldft geworfen werden könnte, bedarf eines ſchützenden Fürwortes. Beſonders iſt zu wünſchen, daß das junge theologiſche Ge⸗ ſchlecht, aus welchem die künftigen Führer der Gemeinde und die Pfleger der theologiſchen Wiſ⸗ fenfchaft hervorgehen, vor leidenfchaftlicher Bartei-

A

nahme bewahrt bleibe, und nicht die Beute einer Reaction werde, welche uns um die. Früchte lang- wieriger, ernfter und gründlicher Studien zu brin⸗ gen droht. Die fchlimmften Feinde der Miffen- fchaft, die Cwie mein Freund gezeigt hat) der . Kirche nicht fremd bleiben darf, deren Ergebniffe nach und nach ins Volk eingeführt werden ſollen, find ihre unfähigen, faulen oder verftodten Jün⸗ ger,. die fich den ächten Geift derfelben nicht an- eignen können oder wollen, und die, wenn fie ins praftifche Leben treten, fich auf die ©eite der Unwiffenfchaftlichkeit fchlagen und in der Gemeinde den Verdacht gegen die Miffenfchaft ausftreuen und unterhalten. Die wahre Vermittelung zwifchen ihr und der Kirche follte durch die Geiftlichen gefchehen, welche der Natur der Sache nad mit- ten inne ftehen, und die das in der Schule aus- gebeutete reine Gold in umlaufende Münze aus- prägen follten. Es ift wahr, nicht immer und überall ift in theologifchen Hörfälen reines Gold geboten worden; aber wer felbftftändigen Geift und das Vermögen felbftftändiger Denfarbeit gewon⸗ nen hat, kann es, wenigftens in reifern Jahren, felbft finden. Aus der tiefften, heiligften Sehn- fucht meines Herzens fpreche ich den Wunfch aus, daß der Herr der Kirche ihr mehr und mehr folche Arbeiter, wie fie bedarf, fenden möge! Bafel, am 15 April 1839,

Dr. De Wette.

Die Berufung des Dr. Strauß ald Profeffor der Theologie sach Zürich, noch mehr aber die Entwicklung des damit begonnenen Drama’s, bat auch in Deutfchland überall die größte Aufmerkſamkeit erregt: Wer könnte auch gleichgültig breiben bei Erfcheinungen, welche den Anfang zu den er⸗ fchütterndften Lebensentfcheidungen enthalten! Bei Zürich wie bei Coln möchte man gleichermweife ausrufen: Sehet auf und Ihebet eure Häupter empor! aber nicht, mie es dort heißt, weil die Erlöfung nahet, fondern der heiße Kampf einer ſchweren Zeit.

Die Urtheile des augenblicklichen Eindrucks, auch das Parteigeſchrei zur linken und zur rechten, abgerechnet, ſind wohl alle ruhigen Beobachter darin einverſtanden, daß in Zürich ein längſt in der evangeliſchen Kirche bald heim- fich, bald offen fortgeführter Streit zwiſchen der freien MWiffenfchaft und der Kirche ald chriftlicher Glaubensgemeinde zu einem Fritifchen Ausbruch gefommen ift, deffen erfchüt« ternde Macht noch Niemand berechnen Tann. Die Bewegung wird nicht auf Zürich befchränft breiben, fie wird unauf- haltſam ihren Lauf durch die ganze evangelifche Kirche nehmen, und früher oder fpäter entweder in einer neuen Firchlichen Spaltung oder einer neuen Fräftigern Einigung. ihr Ende finden. Gott mende jenes und ſchaffe dieſes!

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Die Zürcher Wirren geben zunächſt einen Maaßſtab, bis zu welchem Grade die neuere Theologie mit der Kirche in Widerfpruch geratben iſt. Das Erfreufiche ift, daß doch noch MWiderfpruch da ift von Seiten der Kirche, daß dieſe wirk lich noch vorhanden, ia im neuer Lebenskraft erfianden if. Denken wir und unter Strauß und feiner Partei die then- logische Wiffenfchaft in der reinen Form der Bewegung, der negativen Kritik, fo haben wir das Schaufpiel, daß die Kirche von derfelben angegriffen: auf Leben und Tod ſich entfchieden wehrt, die Wiffenfchaft aber zurückgefchlagen mit fchmer verhaltenem Groll zu neuem troßigem Angriff fich augenblicklich zurückzieht. Wenn nun jene Wiſſenſchaftlichen fagen, fie gehörten felbft zur Kirche, und, was ihnen entgegen ftebe, fen nicht die Kirche, fondern eine Partei in derſelben, die fogenannten Frommen, die Kirchlichen aber fich mit glei- chem Nechte gar nicht der Wiffenfchaft als folcher feindlich gegenüber geitellt denken, fondern nur einer wiffenfchaftlichen Sekte, der fogenannten abfolut Liberalen, fo ficht man frei- lich, daß der Streit im Bewußtfeyn der Gtreitenden noch fein allgemeiner Krieg zwifchen der Kirche und der Wiſſen⸗ fchaft überhaupt ift, fondern ein Parteiftreit, mehr ein etwas ausgedehntes Duell, als ein ordentlicher Krieg. Allein im Hintergrumde des Schlachtfeldes flieht man deutlich genug den Anfang jenes univerfelleren Kampfes, in welchem fich Kirche und Wiſſenſchaft gegenfeitig meſſen und beide auf die letzte Frage mit einander losgehen, ob und wie weit die eine die Grenze der andern ſey. Wir find der feiten Weber- zeugung, daß wirflich die eine das Maag der andern iſt und. ſeyn fol, und daß in ihrer wahren Allgemeinheit jede an der andern ihre Wahrheit und ihr Leben bat. Dieß wird Das

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Ende ſeyn und der wahre Friede in Zürich, wie überall, wo der Kampf fich erheben wird, Wir behaupten dieß um ſo zupverfichtlicher, da mir in dem erften Aft des Zürcher Drama’s Fein anderes Nefultat finden, als dieß, daß die Kirche, wenn fie in ihrem innerfien Herzen und Gewiſſen angegriffen ift, von Gottes und Nechts wegen die Wiſſen⸗ fchaft in ihre Grenzen zurüdmeist.

Die Abficht diefer Zeilen iſt nicht, die Sache bis zu ihren legten Gründen zu verfolgen, fondern nur, von dem bezeichneten Standpunft aus auf einiges aufmerffam zu ma⸗ chen, mas in und außer Zürich zur Verfländigung und zum Srieden dienen Tann. In weiter Ferne von dem Schauplatze des Streites, find wir auch ohne alle perfünlichen Verhält⸗ niffe zu den handelnden Perfonen, und Tonnen Taum anders parteiifch ſeyn, als für die Sache. Es fehlt und allerdings die anfchauliche Kenntnig des Einzelnen und Perfönlichen; wir wiſſen nicht, wie viel politifches Parteiweſen ſich einge- mifcht hat, nur daß wir es auf beiden Seiten gefchäftig finden. Aber indem die bunten Farben und Nüancen für den fernen Beobachter erblaffen, treten die allgemeineren Momente und Grundzüge des Streites Flarer und einfacher hervor, und unfer Urtheil kann um fo ruhiger und unparteiifcher werden,

Wir wollen nicht unterfuchen, was zur Berufung des Dr. Strauß beivogen hat, ob fein ausgezeichnetes Talent feine geiftreiche Eritifche Gabe, die Kunft der Darſtellung', die umfaſſende, fertige, reinliche Gelehrſamkeit, oder die befondere Art feiner theologischen Richtung, fein ſpekula⸗ tiver fritifcher Nationalismus, oder eben beides zugleich. In der That würde fein Ruf in der vollen Blüthe der Ju⸗ gend und der Publicität jeder Univerfität einen bedeutenden

Glanz verleihen, und es mag fich ihn ſchon manche alte und neue Hochfchufe als neue Zierde gewünicht haben. Die Ta- delloſigkeit feines Wandels, feine liebenswürdige Perſönlich- feit, von der man hört, wären dabei feine geringe Zugabe. Und wenn er eben fo fchon zu reden und zu Ichren weiß, wie er fchreibt, fo möchte es fchmwerlich einen vollkommneren Profeſſor geben. Auch ſteht ed einem Freiſtaate, der fich eben von Neuem frei gemacht bat, wohl an, einmal zu ver- fuchen, was in dem alten Europa bei der modernen Nord- amerifanifchen Lehrfreiheit auf Kathedern und Kanzeln für Staat und Kirche herauskomme. Iſt die. evangelifche Kirche auch wirklich nichts weiter, ald der Gemeinde der abfoluten individuellen Freiheit, fo Tann man ihr noch mehr zumuthen, als die Lehre von Strauß, Wer nun vollends diefe Lehre für ausgemachte Wahrheit hält, für die längſt im Stillen gehegte Ueberzeugung aller Bebildeten, dem Tann es kaum anders ald ein Verrath der evangelifchen Kirche an fich felber - erfcheinen, wenn fie iene Wahrheit zumal in fo goldenen Gefäſſen nicht annehmen will, Von diefen Gefichtspunften mögen die Bolitifer, meinetiwegen auch die Philologen und Philoſophen, welche auf Straußend Berufung antrugen, aus⸗ gegangen fenn. Allein wenn nun doch die Kirche von Zürich etwas anders zu fenn erflärte, als jene reine Negation aller Gebundenheit durch einen gemeinfamen pofitiven Glauben, wenn fich fand, daß die religiöfe Gemeinde in Zürich chem fo entfchieden glaubt, was die neue Lehre entfchieden Fäug- net, ſo mußten die Berufenden Anftand nehmen. Nachdem dann die Kirche durch die theologifche Fakultät, denn an diefer bat die Kirche ein unveräußerliches Recht, ent⸗ fchiedener noch durch das eigentliche Kirchenresiment in edler

Befcheidenheit auf die Gefahren aufmerkſam gemacht hatte, welche für die chriftliche Gemeinde daraus entiichen müßten, wenn die theslogifche Tugend auf das urfprüngliche Straufi- fche Dilemma geftellt würde, entweder den Glauben der Ge meinde gradesu aufzuheben, und flatt des einigen hiltorifchen Chriſtus einen halb mythiſchen, halb fpefulativen offen zu predigen, oder vor der Gemeinde Verſteck und Heuchelei zu treiben, mar es durchaus Pflicht in eine genauere Debatte mit der Kirche einzugeben. Die Kirche als religiöfe Ge meinde hatte ein unbedingtes Recht gegen eine Lehre der Art zu protefliren, es ift das Recht der Selbfterhaltung, nicht der Herrfchaft. Oder hätte chen mur der Staat das Recht, fich Theorien zu verbitten, welche ihn von Grund ans zu zerfiören drohen? Oder ift der Staat fo fehr der einige Vormund der Kirche, daß fie nur von ihm fchweigend und gehorfam zu erfahren und zu empfangen bat, mas ihr heilfam ift? Oder denken wir die miffenfchaftliche Schufe außer der Kirche wie dem Staate, find diefe beiden fo fehr nichts von fich felber weder miffend, noch habend, daß fie nur von jener ald einer abfoluten Herrin Wahrheit, Leben und Tod, Wiſſen und Gewiſſen empfangen ? Die Wilfenfchaft ift uns ein hohes But, wir Finnen fie nur mit dem Leben ferbft aufgeben. Aber das höchſte Gut ift fie nicht, ſelbſt wenn fie irgendwo vollender wäre und die Wahrheit vollfommen erfannt hätte. Als weſentlicher Theil des höchſten Gutes hat fie an der Religion, an der Kunft, am Staate, an der Kirche, an der Familie ihre nothwendige Ergänzung, und am Leben wie an der Natur nicht ihr Produft oder ihre Erfindung, fondern ihren Grund und Inhalt. Hätte die Wiſſenſchaft, und zwar vorzugsmweife bie abſolute/ die Phi-

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Yofophie, den chriftlichen Glauben erzeugt, erfunden, fo möchte fie mit ihm fchalten und malten, zerſtören oder be- wahren. Aber dieß wird ſelbſt Dr. Strauß nicht behaupten, And fo bleibt's dabei, daß Kirche und Wiſſenſchaft menig- fiens zu gleichen TIheilen gehen und aneinander ihre Grenze, ihre Wahrheit, ihr Leben haben. Wir verwerfen und ver abfchenen alles Pabſtthum und Pfaffenthum, allen Fanatis- mus, aber nicht bloß in der Kirche, Es giebt ein Pabll- und Pfaffenthum der Gelehrſamkeit und Wiffenfchaft, eine fanatifche Tyrannei der Wiffenden. Ihr Motto iſt, fiat scientia et pereat mundus! Wir verwerfen und verabfchenen auch diefe Tyrannei. Iſt davon im Zürcher Handel Feine Spur? Wir wollen nicht richten, aber das wiffen wir, jene Unholde find gleich verderblich in der Willenfchaft wie in der Kirche,

Hatte die Kirche ein angebornes echt, eine genauere Debatte über ihr Verhältniß zur Straußifchen Lehre zu ver- langen, fo hatte fie auch ihrerfeits die Pflicht, anzuerkennen, daß Dr. Strauß nach feinen neueſten Erflärungen nicht mehr in jenem Dilemma zmifchen offener Vernichtung und Heuchelei des Firchlichen Glaubens -fiehe,, fondern einen mittlern Punkt ausfindig gemacht habe, mo jene entfesliche Wahl aufhöre. Mag die file Macht der Kirche, der fih Niemand ganz entziehen kann, oder die wiffenfchaftliche Verhandlung, oder beides zugleich, den ftrebfamen Dann genstbigt haben, genug, in der dritten Ausgabe feined Lebens Fein giebt er der hi— ftorifchen Wirflichfeit Chrifti wieder mehr Umfang und Ehre; Chriſtus, zwar nicht der fündlofe und fchlechthin vollfommene, aber das ausgezeichnete religiöfe Genie habe die Kirche wir. lich geftifter, nicht mehr bloß als mythiſcher Exponens einer

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fpefnlativen Idee; die Spekulation geftatte zwar, fich einen noch vollfommenern zu denken, aber wie die Gefchichte Feinen böhern wife und die Kirche fich in dem biftorifchen befrie- digt finde, fo Fonne man darüber unbefümmert feyn. Nach diefen Erflärungen fragt fich nun, iſt dieß der richtige Sinn und Ausdruck des Glaubens der Kirche? Es Tönnte ſeyn, daß die Kirche darin die wahre Subſtanz ihres Glaubens ausgedrüdt fände, nur moderner, heller und beflimmter in der Art der neuern Bildung. In diefem Falle wäre der Friede gefchloffen. Die ariftofratifche Gemeinde der foge- nannten Geiftreichen möchte vielleicht fo urtheilen, obwohl ein Hauptpresbyter derfelben, der Verftorbene und nachherige Semilaſſo, und die vielgefeierte jüdifche oder vielmehr uni- verfelle Brophetin in Berlin kaum damit einverflanden fenn würden. Diefer Fraction nämlich der neuen Kirche fcheint die Macht des religiöfen Genies Chriftus nicht weniger er⸗ loſchen zu ſeyn, ald die des Mofes und Muhammed, fo daß entweder ein neues Genie der Art zuferwarten ifl, oder eben Feines weiter. Aber die Kirche ſowohl im Durchfchnitt als in ihrem tiefften Grunde wird fich Doch diefen chrift- lichen Geniekultus in allem Ernft verbitten müffen, fchon deßwegen, meil vderfelbe eben nur ein interimiftifcher ſeyn fol, der ihrige aber dad ewige Evangelium zum Inhalt hat, noch mehr aber deßhalb, weil jenes religiöfe Genie im Zu— fammenhang der neuen Lehre Doch nichts anderes ift, als eine von den vielen Perſönlichkeiten, durch welche der ewig werdende Welt- und Menfchengeift hindurchgegangen, und die er auf die Schädelflätte der Gefchichte niedergelegt hat als ein Moment feines Selbſtbewußtſeyns und feiner Selbft- verfühnung. Zn diefem unendlichen Prozeß laſſen fich noch

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unzählige Chriftus denfen, und Niemand kann willen, ob nicht allernächft ein neuer, höherer erfieht. Die Kirche aber weiß nicht anders, als daß die ewige, perfönliche Liebe und Weisheit Gottes, die ewig felbitbewußte Providenz über der Welt, einmal für immer jenen Mann aus Nazareth mit feinem Kreuz gefendet hat, nicht ald Produft der natura naturans, fondern ald Werf freier, fchöpferifcher Gnade, als wahrhaft Heiligen, als wirklichen zweiten Adam ohne Sünde, nicht ald einen von den Biclen, von denen die unvermeidliche Sünde ald Durchgangspunft abfällt, wie der Wagen der Weltgefchichte meiterrollt, und die Exemplare des allgemeinen Geiſtes in ihrer Vollfommenheit und Unvoll- fommenheit einander ergänzen. Hier find einfache Verglei— chungspunfte, und fo Fann die Entfcheidung, felbft dem Volke verftändlich und fehr einfach, Feine andere als die feun, daß die Lehre von Dr. Strauß auch in diefer neuen Ausgabe, und der Glaube der Ehriftenheit auf dem Grunde der Schrift und in allen Ausgaben des Firchlichen Lchrbe- griffs wefentlich verfchieden find und einander aufheben. Wir geben zu, daß die freie evangelifche Kirche einer un— endlichen Expanſion fähig ift, und ihr Glaube ſelbſt auf verfchiedenen Stufen und in den mannigfaltigften Formen feine fubitantielle Einheit behalten Fann. Aber dieſe Er- yanfion hat ihre Grenzen, und wenn man der Kirche zu- muthen wollte, das Widerfprechendfle ald Momente ihrer Wahrheit anzırerfennen, fo würde fie freilich eine fehr al gemeine, Atberifche werden, aber-auch in diefer Iuftigen Allgemeinheit als chriftliche Kirche ihren Tod finden; und es wäre nicht abzufehen, warum fie nicht neben dem pofitiv chriftfichen Lehrfiupt auch einen muhammedaniſchen, jüdi—

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fchen, meinetwegen auch indifchen, zu gegenfeitiger Ergän- zung aufrichten ſollte.

‚Die evangelifche Kirche verdammt und verbannt einen, auf welcher Stufe der Erkenntniß im Glauben er fteht. Und wer der Kirche riethe, den Verfaffer des Lebens Fein auszuſchließen, wäre ihr ärgfter Feind und ich fein ent- fchiedenfter Gegner. Sie hat Kraft genug, um auch die fen muthigen und fcharfen Geiſt in fich zu halten und mis fich zu verfühnen in Liebe und Geduld. Sie bat fchon fchär- fere ertragen und bewahrt. Aber ein anderes ift, in der Kirche feyn mit freier, gelehrter Debatte, mit Zweifeln und Fragen der Schule, und ein anderes, die künftigen Prediger des Evangeliums im Glauben und im Wiſſen zu unterrichten.

So war es nicht gut gethan, wider Willen der Kirche Dr. Strauß zu berufen, und die warnende Stimme des all⸗ gemeinen chriftlichen Glaubens nur für das felbitfüchtige Angfigeichrei einiger Frömmlinge zu halten.

Die evangelifche Kirche hat zu ihrem unmandelbaren Prinzip die fortfchreitende Neformation, Sie hat dasfelbe nie verläugnet, fo oft es auch verdunfelt, aefchmälert zu feyn ſchien; recht darauf angewendet, hat fie fich immer wieder darauf befonnen und jede wahre Neformation aufge- nommen. Aber ed gicht auch eine falfche, eine Schein- reformation, es ift eben die, welche rein negativ den pofi- tiven Glaubensgrund der Kirche aufhebt. Niemand wird verlangen, daß die Kirche ungeprüft jeden reformatorifchen Geiſt, der fich dafür ausgiebt, aufnehme, und die unberufe- nen wie die wohlberufenen, die englifchen Deiften z. B. und Luther und Spener, mit gleicher Bereitwilligfeit über fich fchalten und walten Taffe.

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Aber man bat in Zürich wiederholt gefagt; Strauß fen eben ein wahrer Neformator, wie einſt Meifter Huldreich. Man bat im Namen von diefem die Zulaffung von jenem unbedingt gefordert. Und damit die Parallele vollſtändig fen, bat man den widerfircbenden Kirchlichen die fanatifchen Dunkler des fechszehnten Jahrhunderts als Ebenbild und Schredbild vorgehalten. Es find wohl Manche erfchroden, als Bürgermeifter Hirzel die großen Schatten der Reforma- toren beraufbefchwor, ihm zu beiten. Aber cd war mebr als unerwartet und traurig, daß Dr. Strauß, der es doch befier verfteben mußte, nicht befcheiden genug war, fich jene Barallele zu verbitten. So wird er ed auch nicht übel nehmen, wenn man nun in allem Ernfte fragt, ob wohl Luther und Zwingli, Melanchtbon und Calvin, wenn fie, auch verflärt durch die Cultur und Milde des neunzehnten Jahrhunderts, wieder erfchienen, Dr. Strauß als ihren Benoffen und wahren Nachfolger anerfennen würden? Gewiß würden fie ihn als einen ehrlichen und cifrigen Sorfcher ehren und ſchätzen, aber auch bei der dritten Ausgabe ſeines Lebens Jeſu wohl mehr als den Kopf fehütteln. Luthers namentlich und auch Zwingli's Nede würde fcharf und ſchwer ſeyn. Nach ihren befondern Lehrformeln würden fie ihn nicht fragen, aber nach dem Chriflus, der ihre ganze Seele durchdrang, und nach der Glaubensſubſtanz, worauf fie ihre Gemeinden baueten. Oder follte die Reformation des ſechs⸗ zehnten Jahrhunderts wirklich und mwefentlich Feinen andern Inhalt haben, als die Zerſtörung alles deſſen, was den Helden jener Zeit als unzerſtörbarer Fels galt? Oder wäre ihr Weſen eben kein anderes, als die formelle Negation jeder gegenwärtigen Kirche? Denn eine jede wirkliche Kirche hat

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an Ehrifto mehr, ald Strauß gelten läßt. Es gab damals Geifter, in ihrer Art edle Beifter, welche ſelbſt an der erften Ausgabe des Lebens Jeſu ihre Freude und Wahrheit ge- funden haben würden. Aber wir finden fie nicht unter den Reformatoren, fondern theild unter den Scholaftifern, welche einen ſpekulativen Chrifius hatten, ohne den entfprechenden biftorifchen , theild unter jenen italienifchen Männern, welche von der Fabel von Chriſto fprachen und denen Plato am Ende mehr mar, als Chriftus fammt den Apofieln. Die Lestern würde ſich Dr. Strauß felbft verbitten ald Genoſſen. Er bat und weiß mehr von Chriſto. Aber es follte von ihm und feinen Freunden wohl bedacht werden, daß die Reformation zugleich die Zerfiörung jener Scholaftif war, welche den biftorifchen Chriftus verdunfelte., Diejenigen, welche wirklich und bleibend reformirten, waren überall folche, welche fich Fieber verbrennen ließen, als fich den biftoriichen Chrifius, den ewigen Erlöfer und Heiland aller Zeiten und Gefchlechter, nehmen. Diefen Männern war es gegeben, als die römifche Kirche fie ausfchloß, eine neue chriftliche Gemeinde zu gründen, eine bleibende, aber auf das Wort Gottes, worin fie ihr Recht und ihre Kraft hatten. Wir wünfchen nicht, daß über die neue Reformation jene ſchwere Probe verhängt werde, durch eine neue Gemeinde oder Kirche ihr Recht gegen die alte cvangelifche Kirche zu bewahren. Der Zulauf würde anfangs bie und da nicht gering fenn, aber der Verlauf? Wir haben weiffagende Vorbilder genug, alte und neue, Wohlan, es werde verfucht, Dad Gottes. urtheil der Erfahrung wird nicht ausbleiben!

Die Geſchichte ſowohl der Stiftungsreformation ald der fortfchreitenden in unferer Kirche lehrt, daß obwohl die

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Schule der Wiſſenſchaft immer ihren Theil daran bat, dic Schule des chrifllichen Glaubens, des rcligisfen Lebens, doch die eigentliche pofitive Krafı umd Macht derſelben if. Diefeb Leben aber bat von jcher Feinen andern Grund ge- - babt und gewußt, als Chrikum den eingebornen, der wicht wiederfommt, als zum Gericht.

Wäre es im Zürcher Streit wirklich nur um einige Lehrformeln der Kirche zu thun, ob fe bleiben oder der einfichtigern Wiffenfchaft weichen follten, fo wäre es eben fo frevelbaft als laͤcherlich zu widerſtreben. Die Kirche, welche dagegen proteftirt, iR Feine wahrhaft proteftantifche. Aber die Hand auf's Herz! gilt es nur dieß? Die Rede it von dem inneren Kern des chriflichen Glanbens, und die Frage iſt, ob auch diefer zur Schaale werden foll, die man auffchlägt und wegwirft. Was man dann als weißen Kern finder, ich weiß nicht, ob es nicht ein Stein ill, den man den Leuten giebt, welche nach Brod verlangen. Gott, Unfterblichfeit und Freiheit, viele beilige Trias, das fei, fast man, der wahre Kern, der ewige, unvergängliche. Das find allerdings die Schemata der chriftlichen Wahrheit. Aber ihr Inhalt, auf den ed anfommt? Es wird, bis beſſere Beweife vom Gegentheil kommen, erlaubt fenn immer von Neuem miß- trauiſch zu fragen, lehrt die Kirche denfelbigen Bott und die felbige Freiheit und Unfterblichkeit, wie die neue Lehre? Wer tiefer blickt, fan die Frage nicht beiaben. Wie nun, foll die Kirche der neuern Biffenfchaft, ald wäre fie die Wahr- beit fchlechtbin, unbedingt und unbewußt nachgeben, bis fie in der endlofen Bewegung zu jener feinen neuen Welt gelangt, von der Lichtenberg einft weiffagte, wo dem Glauben der Athem ausgeht in der höchſten Gletſcherluft des abſoluten Wiſſens?

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Die Straußifche Lehre ift Fein Sprung, Fein abfolnter Anfang. Ihre Anfangsgründe, ihre Grundfäden Tiegen in der Gefchichte der mächften Vergangenheit klar genug vor, Und wenn man in Zürich gefagt hat, fie fei eben nur die Spitze, die Vollendung des neuern Rationalidmus, der doch überall auf den Kathedern und Kanzeln geduldet, ja gefor- dert werde, fo hat man nicht ganz Unrecht. Allein jener frühere Nationalismus, der den Supranaturalismus gegen- über hatte, nicht bloß als Gegenſatz, fondern auch ald Cor- reftur und Ergänzung, ift doch genauer betrachtet ein an- derer, ald derjenige, welcher diefen Gegenſatz, kraft der abfoluten Philoſophie, in fich aufgehoben hat, Der Haupt- unterfchied Liegt weniger in der hiftorifchen Kritif, als in dem philofophifchen Hintergrunde. Der frühere Rationa- lismus hatte zu feinem Hintergrumde immer die entfchieden antipantheiſtiſche, chriftliche Glaubensſubſtanz, wenn auch

vielfach geſchwächt, und ſo oft er bis an die äußerſte Grenze kam, wo dieſe zu verſchwinden drohete, hat er ſich immer von Neuem darauf beſonnen und ſich von Neuem überzeugt, dag Chriſtus einmal für immer die Kirche, als die Gemein. fchaft der fchlechthin wahren Religion, wirklich geftiftet habe. Wir können dahin geitellt ſeyn Taffen, ob diefer Ra- tionalismus confequent auf Strauß führe. Es fey, was folgt daraus? Doch nur dich, daß Dad Necht, welches der Nationalismus in feiner erften Geſtalt und als Eorreftur des Supranaturalismus gehabt, mit dem Eintritt in Das Straußifche Stadium erlifcht, dag er, um fein Recht zu behalten, umfchren muß, und daß die wahre Auflöfung des Gegenſatzes, welche die Wiffenfchaft und Kirche verlangen, nicht da liegt, mo Strauß fie gefunden, fondern darüber hinaus.

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Kurz, wie wir es auch betrachten mögen, die Kirche von Zürich har nicht fanatifch, nicht als frömmelnde Bar- thei, fondern wirklich ald ewangelifche Kirche gehandelt, als fie ich anf dem theofogifchen Katheder die Straußifche Lehre verbat. Sie kann und wird die wiflenichaftliche Debatte nicht aufheben. Es wäre ein Unglück auch für die Kirche, fe gewaltfam abzubrechen. Aber eine andere Frage if, ob die felbe auf dem theologiſchen Katheder vor der theologifchen Jugend zu führen if? Auch die gebildetſte Jugend if Feine berufene Kampfrichterin in diefem Streit; fie it nicht ein- mal jene Zubörerin, welche aufmerffam alles prüft und das beſte behält. Wir haben einen guten Glauben an die Ju⸗ gend, wir Ichen darin und werden ibn nie Taffen; aber den unbedingten Glauben halten wir für Aberglauben, für ein Stüd aus Tiecks verfchrter Welt. Nur vor einem Senat, einer Fury erfahrener Häupter der Wiffenfchaft und des religiöfen Lebens werde die Sache in voller Freiheit verban- delt und zum Spruch gebracht. Diefe Jury iſt vorhanden, nur zerfirent durch die ganze Kirche, aber fie ift längſt zu- fammengetreten in dem Titterarifchen Sprechfaal, und ihr Spruch wird nicht allzufang ausbleiben. Es ift freilich un- möglich vor der afademifchen Tugend den Streit zu verber- gen. Aber ein anderes ift, fie vom Katheder herab zur Bartei machen, zum Nath der Fungen dem Rath der Alten zur abſoluten Oppofition, ein anderes, ihr davon Kunde geben ans einer ruhigen Mitte, im Intereſſe für die Kirche, und ihr dabei einprägen gleiche Ehrfurcht vor der Kirche, wie vor der Wiflenfchaft, daß fie Yerne befcheiden und de- müthig fenn in diefer, und frifch und auten Muthes in jener. Hat die Kirche von Zürich eben nur dieß gemollt, wer

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kann ihr Unrecht geben? Aber ihr Recht würde fich in iin. recht verfehren, wenn fie den erregten Streit fich zu etwas anderm dienen ließe, als dazu, das Verhältniß zwifchen Kirche, Schule und Staat Flarer zu fallen, und friedlicher zu ordnen, Wehe ihr, wenn die Flägliche Leidenfchaft fich einmifcht, und der Streit nicht eher ruhet, als bis die Hoch- fchufe von Zürich von ihr Fnechtifch gebunden wäre, oder, was andere verſchuldet haben, ihr mit ihrem Untergang be- zahlen müßte! die Nache würde nicht ausbleiben. Es if gleich fanatifch, die wiffenfchaftliche Schule der Kirche, wie diefe jener zum Opfer bringen.- Vor beiderlei Fanatismus bewahre dad edle Zürich die Gnade Gottes!

/

Laienworte Hans Georg Nägeli |

Dr. Strauß Schen Feſu

j | und 0 :

Anfichten gegen deffen Berufung

an die Nniverfität Zürich.

Zweite Auflage.

3 ür i_ eb N Drell, Füßli und Sompagnie. 1839.

Wie der Laie feine Stellung anfieht.

„Die Religion ift feine Wiffenfchaft,” wohl aber gift die Theologie dafür. Die Theologen find ihre berufenen Be⸗ rather und Pfleger... Wie fie aber oft ducch ihre Berathun⸗ gen die Religion bevormundend zur Pflegetochter dev Theologie machen wollen, gerathen fie in Streit; und wo fie unter fich den Streit nicht fchlichten können, da mag etwa auch einmal die Einfprache eines Laien nicht Überfläffig fein. - Sie kann nach Umftänden zuläffig, nach Umſtänden fogar nothwendig werden zuläffig, wenn die Theologen die Philofophie zu Hülfe nehmen, um ihr Pofitives oder ihre Porirtes mit dem Abfoluten zu beleuchten, indem fie ihre Dogmen durch Philo⸗ fopbeme zu behaupten oder zu beftreiten verfuchen ; wo dann jeder der Philofophie befliffene Laie, weil die. Philofophie, als folche an kein Fach gebunden, über allen flieht, auch mitfprechen darf nothwendig, wenn die Theologen fich ſo hoch verfiiegen haben, daß fie eine Sprache fprechen, die als Schriftauslegung dem Volke, felbft ben Sprachgebilbeten im Volke, unverftändlich ift, und .fo feinen anderen Eindrud machen kann, als einen verderblichen, indem fie die Volks—⸗ fprache verwirrt und den Volksbegriffen andere dem Wolle fremde Begriffe täufchend ünterfchiebt; wo dann der Laie als Dann des Volkes im Namen des Volkes dag Sprachrecht als Dienfchenrecht vollends gegen die praftifchen Theologen: zu behaupten bat, welche durch ſolcherlei Sprachmißbrauch fogar ihre amtliche Stellung, fei ed mittelbar, vom- Ka- theder aus, oder unmittelbar, von der Kanzel aus, miß brauchen.

4 Wie der Laie zum Worte kommt. |

Der Laie bat im Volke Freunde, gemwichtige; es jind Volksfreunde. Die famen, kommen wiederholt, und fpredyen ihm von einer Bollsbewegung, nicht zwar von einer vorban- denen, aber von einer nahe bevorfiehenten, die fich von oben herab mitzutheilen drobe. Die über dem Volke Stehenten feien uneins, die einen froßig, die andern beſtürzt. Cs handle fi) darum, unfern, auch wiſſenſchaftlich vegenerirten, durch die Regeneration höher potenzirten Zürcherifchen Grei- ſtaat an feiner höchften Stelle, an der Hochfchule, mit einem neuen Lichte zu beglüden,, das wirklich nach den Einen Alles überftrablen werde, nach den Andern ein trügliches Irrlicht ſei. Es handle ſich um die Berufung des durch fein neues Bud, „Leben Sefu” in kurzer Zeit nach den Einen ſehr be rühmt, nad) den Undern fehr berüchtigt gewordenen Strauß. Deſſen Berufung würde Folgen haben für die Landeskirche. Das Volk könne nicht gleichgüffig bleiben, die Landgeiftlichen feien es ſchon jekt nicht.

Man dringt in den Laien, das Bud) zu lefen. Er ſträubt fih; er bedarf für feine Perfon feiner Schriftausfegung, weil die Darlegung in den Evangelien ihm fo Elar vorliegt, daß die Kenntnißnahme einer neuverfuchten Zurechtlegung ihn nur zerſtreuen würde. Da fommt aber ein Brief aus Württemberg, worin beiläufig gefchrieben ſteht: Der Neffe des großen Philofophen S—g, ein hoffnungsvoller Süngling, ift wahnfinnig geworden, und ruft in feinem Wahnfinn aus: „Hegel und Strauß haben mir meinen Gott geftohlen, „erbarme dich meiner, Jehovah Zebaoth!“ Das ftimmt den Laien ernfihaft. Er ift geneigt, da den Zufall am aller: mwenigften für bloßen Zufall zu halten, wo ihm etwas fo ganz Eigenes unter fo ganz eigenen Umſtänden zufällt, und muß fo das Faktiſche faktifch nehmen, als eines der vielen Zeichen der Zeit, auf die man zu merken hat. Er merkt auf, und geht ein.

Wie der Laie den Autor auffaßt.

Es giebt eine Kunft, zu lefen, wie e8 eine Kunft giebt, fidy lesbar zu machen. Sene ift der Laie auf folgende Weiſt zu praktiziren gewohnt:

Indem er einen Autow zur Hand nimmt, trachtet er vorerſt die Individualität aufzufaſſen, dann die Leiſtung darnach zu bemeffen, mithin zu prüfen, wie das Subiekt fich fchriftftellerifch objeftivire. Oft giebt ſich fchon im Vor: mort oder in der Einfeitung die Individualität nach ihren - Hauptzügen kund, oft abfichtlich, oft unabfichtlih. Manch⸗ mal auch fpricht der Autor eine Abſicht aus, um eine andere, die er nebenbei bat, hinter: die ausgefpeochene zu verftecden. Gewöhnlich beabfichtigt ee mit der Bevorwortung zweierlei, . erfteng zu feinem Vortheil den Leſer zu orientiren, zweitens - ihn_gut zu ſtimmen, ihn menigftens lefebegierig zu machen, und bemüht fi, ihn mit gefchmeidigen Wendungen als einen „geneigten“ zu begrüßen. Mitunter giebt es auch Judas» küſſe. Häufig bedient fi der Autor auch eines erlaubten pſychologiſchen Kunftgriffs: Er läßt aus den Prämiffen, die er ‘fo einleuchtend und einladend ale möglich darftellt, die Refultate ahnen.

Nachdem der Laie jo den Autor individuell in’8 Auge gefaßt, prüft er ihn im Verhältnig zu den andern, bauptfäch-- lich den zeitgenoffenfchaftlichen Autoren feines Faches. Er prüft deffen Selbftftändigfeit oder Mitftändigkeit, prüft, ob- der Autor fid) an fremde Autorfchaft oder Autorität anlehne, oder, ob ihm eigenthümliche zuzufprechen fei vermöge der- Eigenthümlichfeit feiner fchriftftelerifchen Leiftung.

- Hier fommt nunmehr noch die-befondere Prüfungsauf- gabe hinzu, ob diefer Autor zum Hochſchullehrer fi eignen möge. Ergäbe ſich bald, daß er fich dazu nicht eignet, fo hätte die Prüfung ihr nächftes Intereſſe für ung verloren, und das weiter liegende wire dann mehr ein bloß litteratis fches. Weil nun jenes Nächfte und auch für die Prüfung

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am nächfien liegen muß, jo muß auch Der Laie von born berein bei aller ihm inmwohnenden Laienbeicheidenheit ſich molens volens fo body ſtellen, als erforderlich iR, um die Sequifite, wo möglich das Hauptrequiſit eines Hochſchul lehrers, ald die conditio sine qua, non, ind Wort zu faflen.

Des Laien Anſicht von der Hochſchule.

Es liegt Shen im Begriff dev Dochichule, daB fie, we . nicht eine erhabene, doc) eine erhobene fei, daß fie gehörige Höhe gewonnen haben müſſe, fich nicht blog in die Breite ausbreite. Die Ausbreitung nach vier Geiten genügt, auch noch fo weit und breit, nicht; die DBierzahl, wornach das Hochſchulgebäude konftruirt iſt, giebt hier ein unvofllomme nes Symbol der Vollkommenheit. Es entfpricht der Idee um fo minder, ald das Regiment der darin baufenden vier fürftlihen Mächte nicht gehörig, ja nach einem unzureichen⸗ den Drganifationg » Princip vertheilt if. Schon Kant bat bemerkt, und richtig, wie unbillig es fei, dag die Philofophie der Theologie ald der gnädigen Frau bloß die Gchleppe nadyzutragen, flatt den Leuchter vorzutragen babe. Noch ganz anders muß der Laie der Philofopbie das Wort reden. Sie, fie allein, gebört ins obere Stockwerk; die drei andern Fakultäten haben das untere einzunehmen; und wo ſich's bei diefen um die Anftellung eines Minifters, oder bloß eined untergeordneten Kammerheren handelt, da bat Gie vorerſt das Ereditiv zu ertbeilen, bat überhaupt Alles, was in den drei Departementen des untern Stockwerks vor» geht, zu vigiliven und zu controlliven. Sie hat das Wefen, den wefentlihen Beftand es fei erlaubt zu fagen, die Fakul⸗ tätität jeder Fakultät zu gewährleiften. Dieſer GSprachge brauch fol gleich am Sachverhalt gerechtfertigt werden. Der Scyhulmann potenzirt fi) dadurch, allein dadurch zum Hochſchulmann, daß er über fein Fach fich erhebt, und er erhebte fich fo, indem er über dasfelbe philofopbhirt.

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So, nur fo, verfährt er fakultätiſch. Die bloße Ver⸗ mittlung, Mittheilung der im Entwidelungsgang der Cultur objektiv gewordenen Fachwiſſenſchaft geht im Gymnaſium vor, und voraus. Die Ergänzung bes Fachwiſſens if auf der Ssochfchule das Untergeordnete. SHE Werfen unterfcheidet fi) dom Wefen des Gymnaſiums fo: Der Gyhmnäaſial⸗Lehrer geht ad hominem, der Hochſchullehrer hingegen geht ad Femi; jener unterrichtet berichtend über den Thatbeſtand, diefer Be

feuchtet erweiſend den Sachverhalt. Er fragt nach ber urſprͤng⸗

lichen Natur der Sache, und antwortet dus. dein urſptung⸗ lichen Wefen der Mienfchennatur, dem Organismus des Men⸗ ſchen. Er erklärt die Wiflenfchaft aus ihrem Urſprung, die Cultur aus der ratur. Indem er dieß thut, ſtellt er dir Entwidelangsgang der Eultur als einer naturnothwendigen dar. So ericheint dem LKehtling, wenn der Lehrer eonſequent verfährt,, das Natürliche eulturgemäß, das Cultürliche na- turgemäß; und fo gelangt die Vernunft des Hochſchülers zur Erkenntniß, er lernt das im Gymnafluni bloß faktiſch Ver⸗ nommene auf der Hochſchule wiſſenſchaftlich erkennen. "Der Laie proteftirt gegen die Unphilofopbie.

Dad Hauptrequifitdes Hochſchulmannes beſteht mithin dariıt; daß er über feine Fachwiffenfchaft (wenn .er an der philoſophi— ſchen Fakultät ſteht, Über jeden gewählten Gegenftand) zu . philofophiren vermöge. Dadurch ift er ein theoretif ch⸗ tüchtiger Fakultäts Mann. Dem Vermögen muß aber die Kraft beiwohnen, bier die Sprach kraft, und dieſe Sprach⸗ kraft muß als Spradykunft ausgeübt werden. Erſt dadurch wird der Fakultäts-Mann ein praktiſch- tüchtiger. Die Sprach kunſt muß hinwiederum ihre @efege haben; diefe find nur durch Wiffenfchaft auszumitteln. Die Ausmit⸗ telung führte auf eine Logik und Dialektik: beide zuſam⸗ men find ald Sprachphiloſophie die Halfewiſſenſchaften der allgemeinen MPiloſophie.

- MWeil alle Philofophie eine gedachte, eine durch das Wort vermittelte ift,-fo gerieth, feit man philoſophirt, die allgemeine Pbilofophie mit dee Sprachpbilofophie immer in Conflikt. Die allgemeine Philofopbie umfaßt die Weſen⸗ beit, umfaßt den Gefimmtorganismus des Menfchen. . Die Sprach philoſophie fert das bloße Drgan an die Stelle des Sefammtorganismus,-und ſetzt fich fo an die Stelle der allgemeinen Philofopbie.

- Unter den deutfchen Philofopben, feit Kant durch Aus⸗ mittfung der Grenzen des Erfenntnißvermögens die Denker frei gemacht und fo in erhöhte und geregelte Thätigkeit gefegt bat, feit der Periode des „Eriticismus”, wurde jener Con⸗ flilt bis auf's Höchfte gefteigert, und erfcheint heut zu Tage fo, daß die Sprachphilofophie über die Weſensphiloſophie beinahe zu triumphiren fcheint. Hegel hat duch feine eben fo £unftreiche als trugvolle Logik und Dialektik den Entwide lungsproceß der Philofophie fo geführt, daß der Lehrling den Gegenſtand des Procefies, die Wahrheit, als eine ob» jeftive, aus den Augen verliert, und ſubjektiv den formellen Gewinn für einen realen hält. Die bloße Geiftesthätigkeit ift ihm der Beift felbft, und das in feinem Geifte durch den Gedanken vefleftirte Bewußtfein des. Lebens ift ihm das Leben ſelbſt. Weil diefer Philofophie diefes ihr Bewußtſein Alles ift, fo erfcheint fie wirklich als eine befonnene. Sie verfteigt ih nicht. Statt zu transcendiren zieht fie das Göttliche, die Gottheit felbft, in. ihren Iogifchen Begriff berab. Um das Wefen der Gottheit fo zu erkennen, mußte fie zuvor das Ebenbild Gottes, den Menfchen felbft, verfennen, und damit auch fein Dafein in einer Iebenvollen Schöpfung.

Gegen dieſe Unphilofophie, das heißt bier, gegen deren Einfhmärzung in unfere von jener Verderbniß bisher freige: bliebene Schweiz, muß nun der Laie, ſchon als Schweizer, proteftiven und feine Proteftation gehörig durchführen. Un⸗ fere Schmweizerjünglinge follen, fo Gott will, nicht in der

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Einbildung, fie feien Philoſpphen, verdummen. Hat Hegel eine von Haus aus fo gefunde, Träftige Natur, mie den jungen Strauß, zuc Verdummung in philoſophiſchen Din- gen gebradht, fo find wir nicht fiher, daß nicht unfern Schweizerjünglingen gleich Arges wiederführe,

J Der verunglüdte Hegelianer.

Ehe der Laie das Buch zur Hand nahm, hörte er von verſchiedenen Seiten die Wiſſenſchaftlichkeit des Autors und feines Buches rühmen; ſtreng wiſſenſchaftlich, rein wiſſen⸗ ſchaftlich ſei es gehalten; dabei durchaus würdig, gar nicht frivol. Auch Letzteres werden wir ſehen. Daß es rein - wif- fenfchaftlich fei, konnte der Laie freilich nicht erwarten, wohlwiſſend, daß die Fachmänner, zumal die Eregeten, ſchon das Fach mwiffenfchaftliche, ſo bald es fie, von Fachgelehrfam- keit zeugend, befriediget, vein wiffenfchaftlich zu nennen pflegen.- Rein-wiflenfchaftlich ift dem Laien nur die Philofophie, und auch fie nur, fo lange fie eine theorvetifche bleibt; wie fie. aber von der Theorie aus- und übergeht in's Praktifche und Saktifche,. ift fie angewandt - wiffenfchaftlich. Seder fchrift- fteleende Fachmann , der fich einer gemwiffen Vollſtaͤndigkeit feiner Fachbikdung bemußt ift, meint, er fei als ein Mann der Wiflenfchaft auch ein wiffenfchaftlicher Mann, Philofoph, verniengt daher auch beliebig. die Philofophie mit feiner Fach» wiffenfchäft; und wo vollends die Fachwiffenfchaft zugleich Sach wiſſenſchaft iſt, das heißt, wo fie im Hiftorifchen wurzelt, da wird ‚häufig das Sadı > und Sachwiſſenſchaftliche mit Philofophemen fo bunt vermengt, daß der Schriftfteller, als ein philofophirender, muß verunglüden. Denn fo wie der Fachmann philofophiren will, entrückt er fich- feinem Standpunft, Ddesorientirt fih, wird ungründiich, weil er weder zu ergründen, noch zu begründen vermag. Er nimmt feine Zuflucht zu VBorausfeßungen. Weil er nichts von Innen herauszuholen hat, fo holt er von Außen herein, fett

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fo irgendwie Gefchichtlihhes voraus, und damit zugleich (bei'm Leſer) Einverſtändniß über dieſes Geſchichtliche oder Glauben an dasſelbe, weil er, der Autor, es ſagt.

Unter allen ſolchen Vorausſetzern erſcheint Strauß als der allerkühnſte, er ſetzt in ſeiner Vorrede feine perfönkiche Vorausſetzungsloſigkeit ſelbſt voraus, und zwar als Philo⸗ ſoph, dem die Vorausſetzungsloſigkeit ſchon frühe durch ſeine philoſophiſchen Studien zu Theil geworden.

Der Vorausſetzungsloſe ſetzt zuvörderſt in der „Vor— rede” als hiſtoriſch ausgemacht voraus:

Die zweifache, ſowohl die ſupranaturaliſtiſche als die natür⸗ liche Betrachtungsweiſe der Geſchichte Jeſu iſt veraltet: Schon früher als die naturaliſtiſche Anſicht hat die orthobere ſich überlebt. Die gelefenften Evangelien » Comntentare find jegt diejenigen, welche die fupranaturaliftifche Auffaffung der heiligen Gefchichte für den neuern Geſchmack zuzubereiten wiffen. (Die Auffaffung der heiligen Geſchichte wäre mithin Geſchmacksſache geworden.) Die neueren Verſuche, mit Hülfe einer myſtiſchen Philoſophie ſich in die fupranaturali» ftifhe Anfchauungsmeife zurückzuverfegen, find letzte verjmei- felte Unternehmungen, das DBergangene gegenwärtig, das Undenkbare denkbar zu machen. (Es hätten alfo die Supra naturuliften unferer Zeit lauter Undenkbares gedacht; hät ten lauter Undenkbares gedanfenlos. denfbar zu machen gefucht.) j

In der „Einleitung“ ſetzt der Verfaffer von vorn herein voraus: Jede auf fehriftliche Denkmale ſich ftügende Religion treffe das unvermeidliche Loos, früher oder fpäte zu veralten; fie Fönne ſich nur fo lange halten, als die Bil dung und Entwicdelung noch nicht fo weit gedieben fei, um eine völlige Losfagung (von ihren Urkunden als. heiligen) herbeizuführen. Damit läugnet er, daß es im Gebiet der Religion etwas Abfolutes, unmittelbar Böttliches, Geoffen⸗ - bartes gebe; was früher für folches gegeben oder hingenom⸗

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men wurde, wird nach feiner Behauptung Durch die fleigende Bildung und dadurch nothwendig -eintretende Vermittelungs⸗ proceſſe modifiziet, verändert, und zuletzt befeitigt. So ift ihm nur der Bermittlungsproceh das Nothwendige, hin» gegen das Urfprünglichgegebene, die fchriftlichen Dentmale, das Zufälige und Hinfällige. Diefe feine Unficht und Dar» ſtellung nennt er genetifch, will fogar damit feine „Geneſis „des mythiſchen Standpunkts für die ebangeliſche Geſchichte begründen.”

Nun folgt (&. 2) eine andere Begeündung. Jene ging vom biftorifchen Standpunkt aus, diefe verlegt nunmehr dag hiſtoriſch Gefundene, und von ihm gefchichterflärend Vorge— brachte auf den pfychologifchen: „Ein Hauptbeftandtheil aller „Religionsurkunden ift heilige Gefchichte, ein Gefchehen, in welchen das Göttliche unvermittelt in das Menfchliche herein- „teitt, die Ideen unmittelbar fidy verkörpert zeigen.” Vermöge diefeu neuen Vorausſetzung will er wiffen, beftimmt wiffen, wie, auf welche beftimmte Weife, das Göttliche unvermittelt in das Menfchliche hereintritt, nämlich fo, daß die Ideen fich verkörpert zeigen: Hier haben wir zugleich ein Müfter- chen von’ feiner Logik. Das. Göttliche bedarf der Verkör⸗ perung, mithin der Bermittelung, um unvermittelt ein- zutreten.. Das wäre aljo eine unmittelbare Vermittelung oder vermittelte Unmittelbarkeit! Iſt es mit einem Schriftſteller fo weit gekommen, daß er mit einer folchen Logik eine folche Pbilofophie geltend zu machen fucht, fo darf ihn wenigſtens Niemand der GSophifterei befchuldigen; wohl aber mag man errathen, wie diefer auf eine ſolche Begriffsverwirrung ges rathen if. Das Wort Idee ift das bequeme Wort, das in feiner. vieldeutigen Unbeftimmtbeit Jedem dienen muß, mo ihm die Philoſophie ausgeht.

Heidenthum und Chriſtenthum. Das Wort Idee ſpielt in der Mythologie, ſeit Plato,

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bie Hauptrolle, und fol fie auch hier fpielen. Dadurch wird aber Straußens „Genefis des mythiſchen Standpunkte für „die evangeliſche Gefchichte” zu einem Teichtfertigen Spiel, das nicht bloß ein Sprach - und Begriffsfpiel bleibt. Strauß fpielt fo den Standpunkt, aus welchem die evangelifche Ge- fchichte erklärt werden fol, aus dem jüdifchen auf den griech: fchen hinüber; verfekt und, vorausfekend, daß die Unmittel: barfeit des Böttlidyen in Verkörperung von Sdeen beftehe, aus dem Chriftenthum in's Heidenthbum. Dort fprach man wirklich von verförperten Ideen, und man ſprach fprachrid- tig: Ohne der Sprache die mindefte Gewalt anzuthun konnte man die Gottheiten der griechifhen Mythologie verkörperte Sdeen, ja den ganzen griechifchen Bötterfreis einen verkörper⸗ ten Sdeenfreis nennen. Auch wir können-obne Sprachaus: ſchweifung füglich fagen, Minerva, die aus dem Haupte Jupiters entfprang, fei, zumal plaſtiſch dargeſtellt, die verkörperte Idee der Weisheit. Solche Sdeologie Hat fid auch) für ung durch die griechifche Eulturgefchichte vollſtandig | und verftändlich beurfundet.

Dennoch ift diefe Urkunde feineswegs eine allgemein menfchlich-genetifche, ift nicht aus dem Menfchen als dem Ebenbilde Gottes abgeleitet; fie ift auch feine menfchheitlich genetifche Urkunde ,- fondern nur die Urkunde von den religiö— fen Grundanfihten und Borftelungsweifen Eines Volkes, des griechifhen. Die Hebräer haben eine andere Urkunde, die nicht bloß aus Sagen und Sagendeutungen, nicht blof aus Mythen und Mythendeutungen befteht, woraus nunmehr wir verkörperte Sdeen berauszudeuten hätten, fondern wirt ih Geſchichte, Gefhichtsbegründung enthält, und fi daher mit Recht Genefis nennt, mit vollem Recht, denn es ift die mwefentliche Ururfunde für die gefammte Menfchheit. Der Urkundsmann ift Mofes. -

Man mird im Mofaismus fo wenig eine Sdeenverkör- perung, als in Mofes bloß eine mythifche Figur finden kün-

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nen; eben fo wenig wird man finden können, der Stamm: vater Abraham fei ald Stammbalter der Gläubigen von Mofes fo figurirt; um „vermittelnd” eine Idee zu verkör⸗ pern. Um ſolcherlei Umdeutung zu Stande zu bringen, muß man fo lange an der Geſchichte, ſelbſt wo fie thatſächlich "Sndividualifivtes enthält, drehen und .verdrehen, bis man als Sprachdrehlünftler ein Kunftftüd zurechtgedreht bat, dag, von flüchtigen Leſern hingenommen, den Schein der Sründlichkeit und Conſequenz trägt. Solche Confequenz- macherei ift das eigentliche Gewerbe diefes Schriftftelers. Wie überfchmenglich er darin ift, und mit dem Leſer, fo bald er ibn aufgegriffen, davon Täuft, ergiebt fich gleich aus den Säßen, die er auf den ſchon angeführten folgen läßt. Wir führen diefen zur Verdeutlichung noch einmal, mit den folgen- den im Zufammenhang an.

Ein Hauptbeftandtheil aller- Refigionsurtunden it heilige „Geſchichte, ein Geſchehen, in welchem das Göttliche unver- „mittelt in das Menſchliche hereintritt, die Ideen unmittelbar „fich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung überhaupt Ver—⸗ „mittlung ift: fo wird die fortfchreitende Bildung der Völker „auch der VBermittlungen fich immer deutlicher bewußt, welche „die Idee zu ihrer Vermittlung bedarf, und fo erfcheint jene „Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkun: „den in Bezug auf deren .gefchichtartigen Theil namentlich - „fo, daß jenes unmittelbare Eingreifen des Göttlichen in ° „das Menfchliche feine Wahrfäyeinlichfeit- verliert. Wozu, „da das Menfchliche jener Urkunden ein Menfchliches der „Borzeit, alfo ein relativ Unentwiceltes, nad) Umftänden „felbft Rohes ift, auch ein unbehagliches Sichabwenden von „diefem insbefondere fich ‚gefellen kann. Das Göttliche „ann nicht fo (theils überhaupt unmittelbar, theild noch „dazu roh) gefchehen fein, oder das fo Geſchehene kann „nicht Göttliches geweſen fein.”

Jedem Leſer muß auffallen, welch einen gewaltigen Sprung

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der Eonfequenzenmacher vom erfken Perioden zum zeiten macht. Hier ſchiebt er den Begriff „Bildung” willkürlich ein , und definirt das Wort fcheinbar mit dem Wort „Ber mittlung.” Daran hängt er ein eben jo willfärliches Phre fengefpinnfi, woraus er das Refultat zieht, daß in und wit der fortfchreitenden Bildung der Bölfer das unmittelbare Eingreifen des Göttlichen in dag Menſchliche feine Wahr⸗ fcheinfichkeit verliere. Daraus würde folgen, daß das Bölt- liche den Bölfern nur fo lange wahrfcheinlich bleibt, als fe ungebildet find, und immer unmwahrfcheinlicher wird, je ge bildeter fie werden. Das Böttlihe wäre alfo nur Gchein (Scheinwabrheit) und wäre es nur für die LUngebildeten. Weldyen Bortbeil ziehen dagegen die Gebildeten aus ihren Bildungsfortfchritten? Strauß fagt’d: Sie kommen endlich zuc vollen Weberzeugung, jenes Göttliche könne in ber Vor⸗ zeit nicht fo gefcheben fein, oder fo Gefchehenes fünne nicht göttlich fein. Daraus ergiebt ſich weiter, welches Refultat Etrauß für fi gewonnen hat: Er verfieht, fennt die nothwendigen Bedingungen der Geſchehbarkeit des Böttlihen; er will willen, wie das Göttliche befchaffen fein mußte, um gefcheben fein zu fönnen.

Griehen und Hebräer.

Nachdem der Verf. im zweiten $. darthat, wie der „ernfien „griehifchen Phifofophie frühzeitig das Bewußtſein aufging, „daß das Göttliche ſich nicht in ſolcher menfdhlichen Ummit- „telbarkeit und Rohheit verwirklichen könne”, wie ed z. 3. beim Homer vortomme, daher denn verfchiedene Deutun- „gen der Völkerſagen“ entftehen mußten, beginnt er den: dritten $. mit folgenden Worten: „Die Gtabilität des „bebräifchen Volkes, fein ſtarres Feſthalten am fupranatu- „taliftifchen Standpunft” und will diefer Stabilität bei- meſſen, daB eine. ähnliche „Interpretationd- Methode” , wie bei den Griechen, fih nur da „ausbilden konnte, wo am

| 45 „entfchiedenften die jüdifche Bildung, durch Berührung na- „mentlid mit der griechifchen, über fich ſelbſt hinausgegan-· „an war, in Ulerandrien”, und zwar hauptfächlich ducch Philo. Hier kann er aber nur fo viel hiftorifch nachweifen, daß „nicht felten die Form des hiftorifchen Geſchehenſeins „aufgegeben wurde”, daß hingegen, „nicht auch die entgegen- „gefebte (ich ausbildete, die Gefchichte zwar ftehen zu Laffen, „fie aber zu einer gemein-menfchlichen zu entgöttern”, erkläre fi) eben „aus dem fupranaturaliftifchen Stantpunft, welchen‘ „die Suden immer feftgehalten haben.” |

Wirklich haben die Hebräer an ihrem fupranaturaliftifchen Standpyntt (wie Strauß findet, „flarr”) feftgehalten. Hielten die Griechen an dem ihrigen nicht feft, fo rührt ee ohne Zweifel daher, daß fie einen anderen hatten. Suprqna⸗ turaliſtiſch war indeß der ihrige auch; Fein Volk der Erde tonnte je einen anderen haben, denn es ift ja alle Religion im Begriff fuprangturaliftifch , fie veiht über die Natur hinaus Kind dennoch die Standpunkte verfchie- den, fo muß aus den verfchiedenen Standpunften (Religionen) einerfeits die Mobilität der Griechen, anderfeits die. Stabilität der Hebräer erklärt werden. Der Standpunft felpft liegt bei - den Einen und bei den Andern ganz offen vor: Das Wanken und Wechfelg erklärt fich bei-den Griechen aus ihrem Poly⸗ theismus, das Sefthalten bei den Hebräern aus ihren Mo > nofbeismus: Dort ein fagen= und mythenreicher Götter: Eyclug, verwoben in eine Gefchichte, wornach die Bötter unter ſich und mit den Dienfchen, felbft mit den Schidfalen der Völker, ein buntes Spiel treiben, fo bunt, als die ausſchwei⸗ fendfte, Phantafie, fowohl die vohe als die Fünftlerifche, es zu gefalten vermag. . Hier der „Einige Bott”, bier die Unmit- telbarkeit des Göttlichen, nicht etwa durch einen Gedanken, durch keinerlei Lehre vermittelt, fondern intuitiv, als eingewurzelter,, unverwüftlich,, durch keinerlei Irrthum oder Serfal zu vertilgender Glaube, welcher, in feinem Ur

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416 fprunge keineswegs „Dentglaube”, feine Beſtätigung jeboch fand in der Erfahrung, und zum allgemeinen fich bemwußten Volksglauben wurde in einem Volke, welches in feinen wun- derbaren Schickſalen eben die Unmittelbarkeit des Göttlichen (das Walten der Borfehung) erkennen lernte, fich dasſelbe immer von neuem beurfundet, fich immer näher gelegt fand, die zunehmende Herannäherung immer lebendiger ahnte, bis es endlich in dem Sahrhunderte lang geahnten Meſſias das "Göttliche vor feine Anfchauung, in feine Mitte treten fah. Will der Rationalift, oder auch der Pantheift, hier zwar zugeben, wie er unftreitig nicht anders kann, eine folde Blaubens» und Denkweiſe fei zwar bei den Hebräern aller: dings gefchichtlich, jedoch fortbehaupten, fie berube nichts defto minder auf Irrthum (einem Irrthum, den Strauf als Starrfinn bezeichnet): fo bleibt dennoh, rein bifterifd genommen, der Gegenfak zwifchen den Griechen und de Hebräern gleich unverrüct, unausgeglichen ſtehen. Wer dir Erfcheinungen der Eulturgefchichte fo auffaßt, mer die fo fehr und fo wefenhaft verfchiedenen Gefchichten jener zwei Völker paralleliftrend auszugleichen unternimmt, verrätb nicht den „Scharfſinn“, den man hin und wieder Strau fen hat bei meffen wollen, fondern einen Blödſinn, welcher in der Aus führung zum völligen Unfinn wird, indem er ein völlig ver: kehrtes Endrefultat herausbringt. . Und fo ſtellt fich wirklich das Endrefultat heraus. Was bei Strauß vefultirt, ift gerade das Gegentheil, das fich dem fhlichten Verſtande, der nur auch Hiftorifches einfach auf zufaffen vermag, wie ed gegeben ift, als die allgemeine cultur- gefhichtliche Tchatfache darftelt. Der fchlichte Verſtand findet in der Fabelhaftigkeit des Polytheismugs und in der Wahr: baftigkeit des Monotheismus den Grund von der Unhaltbarkeit. des erftern und der Haltbarkeit des Iektern ; der fchlichte Der: ftand findet ed daher ganz natürlich, daß im Lauf der Zeil die griechifchen Philofophen in ihrem Polytheismus immer

47 mehr Widerfprüche entdecken mußten, während die hebräifchan Philoſophen (Propheten) ihren Monotheismus in immer vollerer Harmonie erlannten; und nebenbei findet der fchlichte Berfiand, der Geſchichtsphiloſohh Strauß habe, indem er den Monstheismus der. Hebräer ald Grund ihrer Erftarrung angiebt, von feiner Seite die Eukturgefchichte ebeu fo unge: ſchickt aufgefaßt ale grob verfälfht.

Des Laien &oleranz.

Es giebt bekanntlich unter den allerlei menfchlichen In⸗ dividualitäten negative Naturen. Unter diefen giebt’s ſolche, die, weil ihnen ſo vieles anftößig ift, erſt abftöfig, dann angriffig werden. Auch folche find zu Etwas gut. Obme ſchöpferiſche Kraft, find fie manchmal noch ziemlich kräftig. Sie bringen Leben in’d Leben hinein, der, Stoß provoeitt den Gegenftof. Iſt der Widerftand hartnädig, fo wird am Ende das Zurückſtoßen vecht und rechtlich. Jedoch verſtoßen darf man Keinen. Wohl aber darf man ihn hinausſtoßen aus einer guten Gefellfchaft, wenn er zuvor das hochzeitliche Kleid der Humanität ausgezogen bat. So ganz entblößt er- fcheint dieſer Gaſt dem Laien zwar nicht, jedoch in einem rohen, theilweife gefleckten, theilweife geflickten Kittel; auch ift er nicht ganz ohne Haltung, fchlägt jedoch bisweilen mit bengelartigen Waffen um fih. Das alles hinderte den Laien nicht, Toleranz zu üben. Er übt fie bier fogar auf Unkoſten des Concepts diefer feiner Laienſchrift, und will lieber Die ſchlimmſten Blößen erft dann aufdecken, nachdem er an diefer Erfcheinung als Zeiterfheinung nachgewiefen haben wird, daß umd wie fie, durch die Zeitcultur felbft herbeigeführt, fommen | mußte und kommen durfte.

Der Laie nimmt feine Toleranzgründe für Heren Strang . nicht zunächft von deflen Perfon ber, an welcher er zwar auch welche findet, fondern von der Sache felbft.

Das Evangelium ift ein unmittelbarer Ausflug und eine

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mittelbare Veranftaltung des großen Dienfchenerzieberd. Wie er verfönlich die Mienfchen anzog und anziehen wollte, fo will er fie binfort geiftig erziehen durch fein Wort, das, urfprünglich ein geiftiger Ausfluß, nunmehr als ein gefchrie: benes auf und gekommen if. Immerfort hat er zweierlei Zöglinge, bat nebft denjenigen, die als Unerzogene, als Rin- der von Ehriftenfamilien,, in die chriftliche Schule und Kirche - gebracht werden, auch Berzogene, die ald Kinder der Welt in der Zerfireuung der Welt vom Chriſtenthum abgezogen wurden, oder denen ſchon zur Zeit ihrer Unmündigfeit durch Serlebrer das Ehriftenthum entzogen wurde. Alle aber, bie im Chriftenglauben erzogen wurden, und Alle, denen er entzogen wurde, wofern diefen nur auch nody Etwas bon reli- giöſem Sinne blieb, haben nebft dem eingebornen Blan- benselement ein eben fo eingebornes Beglaubigungk- bedürfniß defien, des bier Weſentlichen, dag ihnen im Wort von Außen dargeboten wird, ein Beglaubigungsbedürf: niß, das bei den erſtern zwar leicht, bei den Iektern oft ſchwer zu befriedigen iſt. Neben diefen gemeinfamen menſch⸗ lichen Anlagen hat jeder Menfch feine befondern individuellen; Dabei hat jeder feine äußere Lage; feiner hat fie fo wie der andere, jedem wird fein Verhältniß zu feinen Mitmenfchen, die auf ihn abfichtlich oder zufällig einwirken, auf eigene Weife individualifirt.

Sol nun das Chriftenthum die Univerfal- Religion fein, und ift es fie wirklich, fo muß die Urkunde im Wort (das Evangelium) fo befchaffen fein, daß fie für jederlei Indivi— dualität Anziehendes, mithin das Wort des Evangeliums für Jeden etwas Anfprechendes hat. Und hat diefes Wort einen veichen Inhalt, fo muß es nicht allein feine Anziehungs kraft am menfchlichen Gemüthe immer neu bewähren, fon- dern es muß, als Wort, audy den Sprachverftand immerfort veigen. Es muß unzählige Glaubens » und Beglaubigungs:

49 worte, dazwifchen auch Bezweifelungs - und Beftceitungswortg, erzeugen, und das um fo kaufendfacher, als die. Darlegung und die Auslegung des Evangeliums einen Stand, einen Theologen» und Predigerftand, längft hervorgerufen bat, deffen

Berufes ift, das Wort Gottes in feiner ganzen Fülle zu be⸗

fprechen, und öffentlich fo auszufprechen (zu predigen), daß es in's Leben übergetragen,, praktifches Ehriftenthun werde.

Während nun Diele ihe Beglaubigungsbedürfniß ſchon durch die Perſon Chriſti, durch das geſchichtlich von ihr und über ſie Vorliegende, mithin durch die Dar legung völlig befriedigt finden, und daher in wiederholten Darlegungen (der Predigt) nicht eigentlich Belehrung, ſondern Erbauung ſuchen, bedürfen Andere der Aus legung; fie wollen durch das Mittel der Spracherörterung und einer logiſchen Beweis⸗ führung überzeugt fein; nur die Beglaubigung durch. Leber- jeugung genügt ihnen. Diefe Anforderung ift der menfch- lichen Natur, auch dem veligiöfen Sinn, keineswegs unange- meſſen. Das Wort Gottes bietet fich felbft dem Sprachgeift ‚des Dienfchen zur Kraftübung, dem Sprachverftand zur Ver⸗ ftändigung dat; das Evangelium felbft verſchreibt fich fo an den Menfchen, es verbeißt unmittelbar „den Beift, ber „da lebendig macht,” verfpricht mittelbar vertraut zu machen mit „dem Geift, der in alle Wahrheit leitet.”

Dergeftalt ift jeder hier Sprachfähige auch ſprachberech⸗ tigt; der Ruf, „prüfet Alles, behaltet das Gute,” will offen⸗ bar zur Prüfung ermuntern, läßt ſogar dem Prüfungsgeiſt und der Urtheilskraft noch Wahl offen. Indem nun aber der Schriftausleger, aus dem Wort Gottes ſchöpfend, es beſpricht, kann er nicht anders als „menfchlich reden von „göttlichen Dingen”, und fo wird feine Rede, auch die be⸗ redtefte, das Gepräge menfchlicher Unvollkommenheit, mithin auch fprachlicher Unzulänglichkeit tragen, und er wird bei

‚dem veinften Willen, das Wort Gottes klar vorzutragen und

90 wahr auszulegen, es nie ganz vermeiden können dazu oder „davon zu thun.”,

Sf nun unter den unzähligen Prüfeen und Befprechern, von den Kirchenvätern bis auf die jüngften Söhne unferer

proteftantifchen Kirche, deren überſchwengliche Redfeligkeit in den theologifchen Zeitſchriften u. a. namentlich die Kunft der Exegetik fo weit treibt, und fo überlaut wird, daß die ein- fache Stimme des Hirten kaum noch ihren natürlichen Wie derhalt findet, fo mancher Dreifte aufgetreten, deffen Hinzu: thun oft nur ein Hinwegthun war: fo haben wir uns in der That weder zu wundern noch ju ärgern, daß jeht Einer ge kommen iſt, deffen- Dreiftigkeit im Hinzuthun und Hinweg thun die Vorgänger und Mitläufer ale überbietet. Nur baben wir um fo genauer in's Auge zu faſſen, was er uns nehmen, und was er und dafür geben will.

Zuvor aber hat der Laie noch einen weitern Toleranz grund in Unfchlag zu bringen. Wer heut zu Lage unter ung Deutfchen in irgend einer Wiffenfchaft Eigenthümfliches leiften will, der muß philofophiren können; er muß es wollen. Iſt der Schriftftellee noch jung, als Philofoph noch unreif, unfeldftftändig, fo fchließt er fi an eins der vorhandenen philofophifchen Syſteme an, und gewöhnlich am liebſten an das newefte. Nur allzuleicht büßt er dabei feine ſchriftſtelle⸗ rifche Eigenthümlichkeit ein. Iſt das neue Syſtem ein fal- fhes, fo wird er ihm irrthümlich und ungeſchickt nachphi⸗ Tofophiren. SA die falfhe Philoſophie noch dazu eine vor- herrſchend dialektifche, und nimmt fie fo feinen Sprachver⸗ Rand gefangen, fo wird ihm fein philofophifches Willen ‘zu eifiem leeren Formalismus. Auf Formalismus führt jede Philoſophie (auch die fogenannte mathematifhe, fo meit fie nur dieß ift), welche die bloße Beiftesthätigkeit zu ihrem Princip (zum Grundprineip) macht. Soll das Princip durchgeführt, bis zum Syſtem ausgeführt werden, fo erhebt fi) die Philofophie auf ihrem Gipfel zue Religion sphilo—

* 24 fophie. Und worin beftebt diefe ihre Erhebung? Darin, daß fie ihr Princip auf die Gottheit überträgt und fiehe da den Hegelfchen Begriffsgott, deſſen Bolllommenheit in einem vollkommenen Selbſtbewußtſein beſteht. Solchergeſtalt bat aber der Philoſoph nicht einmal vollſtändig fein Menſch⸗ liches an die Stelle des Böttlichen gefeßt; er hat das „Eben- „bild Gottes,” das Ab bild zum Trugbild gemacht, hat fo das Trugbild trüglich auf dag Urbild übergetragen; indem er den menfchlihen Organismus unvollfiändig auffaßte, bat er den Menfchen, den Normalmenfchen, desorganifirt. Wie follte ein folder die Offenbarungsreligion begreifen können? Hie⸗ für fehlt ihm das Organ gänzlich. Die ganze „heilige Schrift” ift ihm ein Objekt feiner Geiftesthätigkeit, und was ſich ihm in und mit diefer auf das Wort Gottes gerichteten Geiſtes⸗ thätigfeit offenbart, das macht er zu feinem eigenen Selbſt⸗ offenbarungsproceß, den Proceß aber, feine Dialektik, zur Wiſſenſchaft felbft, wo nicht gar .zur Religiongurlunde. Die Auslegung eines jeden Theils der heiligen Schrift muß ibm. mißlingen, weil er zur culturgefchichtlichen Auffaſſung bes Drientalismus überhaupt untüchtig, weil ihm der eigen⸗ thümliche Sprach geift und Sprach aus druck der Orientalen gänzlich fremd if. Wie dennoch die Hegelianer mit jener Dialektit auf eine Chriftologie kommen Bönnen, ift allein aus der Zügellofigkeit ihres philofophifchen Sprachgebrauhs zu . erklären. So fprechen fie viel vom „fleifchgewordenen Wort”, das fie in der That zuerſt zerfleifchen, dann entfleifchen, gleichmwie ſie die menfchliche Natur, das Ebenbild Gottes ſelbſt, entfleifchen. Im Hebräismus (Mofaismus) bietet ſich das Göttliche nicht zunächft dem Dentvermögen dar, (mern auch das und nunmehr in Schrift dargebotene ſprachlich heraus; gelefen, und infoweit durch Denken vermittelt werden muß), fondern der Anfchauung, und au dem Gefühl („mi „fillen fanften Säufeln kommt Sehevah”), und vollends der Logos des Evangeliums wird Fleifch, indem er vor die An⸗

fhauung tritt, („wir haben es gefehen voller Bnade und Wahrheit”). | So hat der Menſch, wie ihn die Bibel auffaßt und dar⸗ ftelit, nicht bloß Ein Drgan für das Göttliche (viel weniger ein bioßes Vehikel, wie der Hegeliche Sprachverfiand), er bat deren mehrere; im Compiler diefee mehreren befteht erſt der Organismus; in diefem wurzelt die Empfängfichkeit für das Göttliche, dad Glaubens element; aus diefer Wurzel wächst der Glaube als ein lebendiger hervor, und daraus gefaltet fih der Charakter des Chriſtgläubigen, der ſich das Göttliche, auch für fein Individualleben concretirt, nahe als möglich gelegt findet („er ift nabe allen denen, „die ihn anrufen”), fo daß er diefes Göttliche in feiner Un⸗ mittelbarkeit gleichwefenhaft und gleichzeitig zu denken, zu [hauen und zu fühlen vermag (dad „dreifache Leben” Satob Böhme). . |

Wer diefe organifche Kebensfülle mißfennt, der kann, wenn er philofophiren will, nur negiren. Diefe Negativität bes ftebt im Hegelianismus darin, daß er an die Stelle des voll: ftändig Organologiſchen nur das Rogifche, das Denkvermögen, feßt, in dasfelbe eine befchräntte und befchräntende Denk⸗ weife bineinlegt, und fo die bloße Disfurfivität des Sprachgeiftes zum Wefen madht, in dieſem Wefen aber weder eine abfolute Immanenz nocy eine abfolute Transcen⸗ denz zu unterfcheiden vermag; daher er auch durchaus umd durchein nur Relativität hat, und darin feinen Forma- lismus vollendet, daß er aus lauter Relationen, Denkfor- men, das Wefen erfennen und erkennbar machen will.

Diefem Formalismus anheimgefallen, befikt Strauß in nicht geringem Grade, was man dabei noch haben kann. Seine Discurfivität des Geiftes ift eine lebendige zu nennen. Sein Spiel mit Verhältnigbegriffen ift ein Eunftreiches, ift meiftens ein mebrfaches zugleich; er miſcht Wort - und Sach⸗ begriffe (Formelles und Faktifches) gewandt unter einander,

23 und weiß im Eonereten bald das Faktum durch das Diktum, bald diefes durch jenes in's Licht oder in Schatten zu ſtellen.

Peſtalozzi pflegte ſich über eine folche_Indivibualität fo nuszufprechen: „Der hat einen guten Bickerli⸗Ver⸗ fand.” Was mit einem guten Bickerli⸗Verſtand geleifiet. werden kann, mag er wirklich geleiftet haben. Geine bis⸗ berigen Gegner, Efhenmayer, Hoffmann, Klaiber

und Steüdel, nebft mehreren Recenfenten in den Zeitfchriften, |

feßen zwar auch dieß, und zwar aus dem eregetifchen Stand- punkt, in Zweifel, und ‚mehrere treffen in dem Vorwurf zu⸗ ſammen, wie culturgefchichtlich ungereimt die Annahme, wie unerweislich es fei, daß in einem Zeitraum von dreißig Jah» ren ſich nach dem Tod einer gefchichtlichen Perfon, in wel- hen Strauß die Niederfchreibung der Evangelien febt, ein Sagen » und Mythenkreis, wozu derfelbe den Inhalt der Evans. gelien ftempelt, in folcher Reichhaltigkeit um diefelbe habe herum: fpinnen können, während das Wenige, was Strauß im Leben Sefu als gefchichtlich wahr fteben läßt, auf einer Oetavſeite Raum fände. Wenn aber auch fo das Hauptrefultat Straußeng, daß die nicht von den Evangeliften gefchriebenen Evangelien eine lange nach Sefu Tod zufammengetragene Sagen- und Mothenfammlung feien, in ihr Nichts zerfällt, fo muß man dennoch anerkennen, Strauß hat in und mit feiner miß- Iungenen Ausführung wenigftens in zwei Richtungen ein nega⸗ tived Verdienſt fih erworben: er hat dem Unverſtand bem.

Garaus gemacht; einerfeits dem Unverftand des Stocdortho- doren, welche bibliolatrifch die freie Unterfuchung abfchneiden wollen, und fo den Beift als Forfchungsgeift tödten; ander⸗ feitö dem Unverftand der Rationaliften, welche mit ihrer er- bärmlichen Definition des Wunders, es fei etwas den Natur⸗ gefegen Zumwiderlaufendes, (ald ob fie die Naturgefege voll- ftändig kennten), an die Stelle einer idealen Naturanſchauung eine mechanifche Auffaffung und Anwendung einzelner ihnen befannten Naturfräfte feßen; woneben er jedoch jene läppiſche

DR.

negative Teleologie mit den Rationalifien gemein bat, die ein Wunder unglaubli findet, weil fie basdfelbe „unnsthig” oder „unwürtig” ſindet.

Immerhin bat alfe Strauß, wenn er auch Böſes be wirkte, doch auch Böſes unwirkſam gemacht. Wir haben ibn zu tolericen, denn er bat auf eigene Weiſe unfer Schweiger- fprichevort wahrgemacht: Bittered muß Bitteres vertreiben.”

Des Laien Intoleranz.

Mag ſolch ein Berfiandesmenfch auch noch fo ſehr fich in Berhättnißbegriffen reutiniren, vermag er auch noch fo ſprach⸗ gewandt ſich auszufprechen, ec taugt damit um fein Haar befier, taugt nur um fo minder zum Philofopben, taugt: am allerwenigfien zum fpeculativen; ja es if merkwürdig, wie bettelarm diefer Schriftfieller, bei feiner Sucht, wo es fich immer thun läßt, in feine Schriftauslegung Philoſopheme einzuſtreuen, an philofopbifchen Gedanken if. Sucht man unter diefen die Hauptgedanten heraus, fo find es eigentlich bloß zwei oder drei, und es find die nämlichen, womit die Hegelianer ihren Hauptſpuck treiben.

Der Eine (bei Hegel felbft ein Hauptunfug) befteht darin, daß fie den Hiftorifchen Wahrheiten yfyhologifche unterfcbieben, und zwar concvet= biftorifchen allgemein⸗pſycho⸗ logiſche. So behandelt Strauß dag Leben Sefu und führt es fo duch. Dasfelbe foll in feinen gefchichtlichen Haupt: momenten (Mienfchwerdung, Wunderwirkung, Opfertod, Auf⸗ erſtehung, Himmelfahrt) bloß fumbolifch den Entwickelungs⸗ gang der Mienfchheit darftellen, und fo als Mythe aller dings objective Wahrheit enthalten, nicht aber als Reihen: folge concreter Ereigniffe und Ergebniſſe eines fubjectiven Lebenslaufs, ſoll mithin nicht Perfönlichkeit eines Individual⸗ lebend, fondern nur Perfonifilation einer Idee enthalten, deren Verwirklichung im Geſammtleben der Menſchheit all⸗ maͤhlig vor ſich gehe.

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Wenn fo die neuen Mythiker, was fchon die alten My⸗ ſtiker thaten, die zuäleich auch Mythiker waren, aus den wichtigſten, und gefchichtlich überlieferten Erſcheinungen des Lebens Sefu vielfach mythifche Bedeutung herausfinden, fo iR dagegen an ſich nichts einzuwenden; wir, die wir die Ge⸗ fchichte für Geſchichte nehmen, finden folcherlei Bedeutung auch heraus; nur künnen wir nicht finden, daß die Mythe (die mythiſche Bedeutſamkeit des Gefchichtlichen) die Gefchichte aufbebe. Hegel bebt diefe vermittelft jener wirklich auf. Strauß hingegen will vermittelt der verfuchten Beweisfüh⸗ rung der Lüdenhaftigleit und Unzuverläffigkeit der Gefchichte (aus den Widerfprüchen, welche in den Evangelien enthalten feien), ihre Unwabrhaftigleit darthun, jedoch darin mythiſche Wahrbaftigleit finden. Mit den Zheologen fpricht ev zwar als Schriftausleger die übliche Eregetenfprache, vermengt diefe aber mit Hegelfchen Philofophemen -fo, daß die Exegetik in eine ganz neue Hermeneutik, und durch diefe die Gefchichte in Mythe verwandelt, dadurch aber das Evangelium zu einer traditionellen Scription geftempelt wird, die völlig fo unzu⸗ verläffig wäre, wie eine nichtniedergefchriebene Tradition.

Ein zweiter Sprachunfug der Hegelianer befteht darin, daß fie relative Wahrheiten für abfolute geben. Diefe Seeiheit, welche den Poeten zufteht, haben die modernen Philoſophen in ihr. Gebiet hinübergezogen. Wenn Jean Paul, nicht bloß da, mo er Humor treibt, oder wo der Humor ihn treibt, fogar in der Aeſthetik und Pädagogik („Borfchule” und „Levana”) es ſo macht, fo weiß jeder Lefer, wie er's zu nehmen bat; und wenn Göthe fagt „Bes „fühl ift Alles, Name it Schall und Rau,” fo ift er als Dichter dazu völig befugt. Wenn aber Hegel als Phi- loſoph fagt „Begriff it Alles”, alles Wefenhafte, ſo können wir andern menfchlichen Wefen unfere Wefenhaftig- feit, wie wir fie uns in den Augen Hegels bloß träu«

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men, an feine Philofophie unmöglich verfaufchen; denn wir würden gerade für unfer Abfolutes bloß Relatives eintaufchen.

Einen folhen Tauſch muthet uns Strauß wirkich m, und zwar in der allerwichtigfien religiöfen Beziehung; er mißt dem inmwohnenden Glaubenselement bloße Relativität bei, er fagt: „Mit dem Glauben ift auch der Zweifel ge „ſetzt.“ Wirklich! In der Eulturgefchichte kommen häufig Zweiflee vor, ſogar foldye, Die ganze Zweifelſyſteme aufm: ftellen verfuchten, die Skeptiker; und im menfchlichen &e müthe fieigen überhaupt allerlei Zweifel auf. Was Strauf fagt, ift alſo eine pfuchologifche Wahrheit, die fich gefchicht lich herausgeftellt, erwahrt bat, aber nur eine velative, feineswegs eine abfolute, die fih an jedem Individuum, in jedem Sndividualleben, erwahren müßte. In Millionen Chri⸗ fienfeelen flieg während ihres ganzen Lebenslaufs, vom erſten Zag an, wo fie beten lernten, bis zum Sterbebette, fein Zweifel auf an der Unmittelbarkeit des Göttlichen, noch an den Hauptwahrheiten der Dffenbarungsreligion. Der Menſch, das Ebenbild Gottes, muß zuvor einer falfchen Cultur an beimgefallen fein, ehe er, was Strauß auch für abfolut ausgibt, einer „NRegeneration’’ feines Glaubens bedarf.

Ein dritter Unfug befteht darin, daß fie Wahrheiten, die fie als allgemeine felbft anerkennen, nicht als conerete gelten laffen wollen. Strauß fagt (B. J. S. 175.): „As „lerdings muß einer allgemeinen Ahnung und Vorſtellung „Wahrheit zum Grunde liegen, nur daß diefe nicht in einer „einzelnen, jener Vorftelung genau entfprechenden Thatfache „beftehen wird, fondern in einer Sdee, welche fich in einer „Reihe jener Vorſtellung oft fehr unähnlichen Thatſachen „verwirklicht.“ ine einfältigere und anmaßlichere Behaup⸗ tung wird man noch kaum bei einem Philofophen gelefen haben. Das Ahnungsvermögen fol zwar in dev menfchlichen Natur liegen, Allgemeines fol geahnt werden können, Con eretes aber nicht. Er gibt hier zugleich ein Müfterchen von

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feiner Pſychologie. Die Erfahrung lehrt, daß den Ahnenden ihre Ahnungen gemöhnlidy als concrete (nady der Bibelſprache als „Befichte”) zum Bewußtſein kommen; und wie oft hätte die Geſchichte gelogen, mo fie von Ahnungen fpricht, die völlig eoncret, nach Perfon, Drt und Zeit, in Erfüllung gingen ?: Kür feine tolle Behauptung hatte Strauß feinen geringes ren Grund, als, die Weisfagungen auf den Meffiad zu ents träften; und fo fol diefe allgemeine Ahnung, ja die uni- verfelle Ahnung der Erlöfung des gefallenen Menſchenge⸗ ſchlechts, nur deshalb wegphilofophict werden, weil fie einen conereten Anhaltspunkt, den perfünlichen Meſſias, hat; es fott alfo felbft nach dee Hegel - Straußifchen Philofophie die Eriöfung zwar geahnt werden (geahnt worden fein) können, _ der Erlöfer aber nicht. Bei foldyerlei Beiftesvericrungen und Verwirrungen, wo die Sprache duch die Philofophie und die Philofophie durch die Sprache verhunzt wird, muß: wirklich jedem vernünftigen Menſchen die Geduld ausgehen, und hier hat denn auch die Toleranz der Laien ein Ende. Soldy eine philofophifche Sprache 0 ihr armen Sünglinge auf den Hegelianifhen Hochfchulen! verwirrt nicht allein den Sprachgeift,, fie verwüftet mehr oder minder den ganzen innern Menfchen. Wo in einem willtürlichen und ſchwanken⸗ den Begriffsfpiel feine ontologifchen Wahrheiten Wurzel faffen können, da iftauch an ein ethiſches und an ein äfthe- tiſches Fundament gar nicht zu denken; mit dem Sinne für das Wahre wird. auch der Sinn für das Gute und für das Schöne getrübt, und es wird vollends in höchfter Beziehung der Sinn für das Heilige erflidt.

Als fol ein Unheiliger, der den Sinn für das Heilige. auch an feinen Mitmenfchen nicht achtet, der mit dem von feinen Mitmenfchen Heiliggeachteten und zugleich mit dem Heiligen ſelbſt ein Spiel treibt, wie es mit der Miene des Exnftes noch Keiner trieb, erfcheint Strauß. Er, der die. Ebendürtigkeit des „Eingebornen” mit einer Fäfterlichen Ausführlichkeit in

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Zweifel ftellt; ee, der die „@ebenebdeite” ald eine Gefallene dar⸗ ſtellt, und den hierfür zufammengetragenen Eitaten der vatio- nafiftifchen Schriftausieger von fi aus keineswegs wider⸗ ſpricht, fondern nur hintennach eine mythifche Auffaffung be liebt; er, der Wunderläugner,, der in den Wundern Cbhrifi nichts als eine „Stufenleiter ded Undenkbaren“ erblidt diefer freche Menſch darf in der Vorrede dennoch fagen: „Ehrifti übernatürlihe Geburt ift eine ewige Wahrheit.” So fehr fonft allerdings in vielen langen Stellen der Ernft des Critikers vorherrſcht hinter diefen noch fo weiten und breiten Mantel den eingefleifchten Satyr zu verfteden, gelang ihm ſchlecht. Man müßte jedem Leſer, der diefen nicht 3.9. aus dem: durch acht volle Seiten bindurchgefponnenen eregeti« ſchen Gaukelſpiel über die Zubereitungen zum Einzug Sefu in Serufalem berausfände, alle Menfchentenntniß,, alle Fähig- feit, am Schriftfteler den Menfchen zu prüfen, abfprechen. Aber auch viele einzelne Wendungen und Ausdrücke verrathen den Heiligtbumsfchänder. Mit Widerwillen fertigt der Laie ſolch ein Sündenregifter an, dabei mit dem Wunfche, daf der hriftliche Xefer es überfchlage, hingegen diejenigen, welche ein ſolches Subjekt zur Berufung an die Hochfchule haben empfeh- fen wollen, e8 leſen und fich fchämen”). *) Band IL. S.70 Bei der Heilung eines Blinden: „Es wird ver: „muthet, Jeſus babe den Speichel nur gebraucht, „um ein Arzneimittel, wahrſcheinlich ein äßendes „Pulver, anzufeuchten, wovon der Blinde nur das „Ausſ puden gehört, von den „eingemifhten Mes „dikamenten aber nichts gefehen !” S. 95 Bei der Heilung der blutflüßigen Frau: „Jeſus „erſcheine wie ein Magnetiſeur, welcher bei der hei⸗ „lenden Berührung nervenſchwacher Perſonen einen „Abgang von Kraft verſpürt; wie eine geladene „elektriſche Batterie, die beim Betaſten ſich „entladet.“ S.172 Bei der Todtenerweckung: „— nur brauchte wie „billig der Meffias die mühfemen Manipulationen „nicht vorzunehmen, durch welche die Propheten zu „ihrem Zweck zu M ngen fuchten.” 6.195 Bei der zuletzt erflärten „Fifchgefhichte”» „In

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Wie der fromme, ehrwürdige Neander, von ber Preufi- ſchen EenfursBehörde befragt, ob das Buch zu verbieten fei, von „mwiffenfchaftlichem Ernft” zeugen fonnte, weiß der Laie ſich nur fo zu erklären: Neander hält vieleicht dad moderne

Band II. S. 230

S. 349

©. 464

S. 569

S. 688

‚„dieſen märchenhaften Ausläufer endigen die See: „und Fiſch-Anekdoten.“

Bei der Verwandlung des Waſſers in Wein: „iſt hiernach nur ſeine Humanität, welche gehörigen „Ortes auch einen Spaß zu machen nicht ver: „ſchmähte er aber erinnerte ſie ſcherzend, ihm „nicht durch Vorſchnelligkeit den Spaß zu ver: „erben daß, als auf Einmal Waffer flatt. „des Meines in den Krügen fich fand, dieß für eine „tmunderbare Verwandlung gehalten wurde, ift leicht 3 begreiflich in einee fpäten Nachtfiunde, wo „man fhon ziemlich gerennfen hatte „warum richtete er die Darbringung des Geſchenks „mit raffinirtem Fleiße fo ein, daß fie als „munderbare Befcherung erfcheinen mußte?”

Bei der Verklärung: „— fo ift in keinem Fall zu „begreifen, wie an einem folden Berflärungs: „prozeß auch feine Kleider Theil nehmen Ponnten.” Beim Einzug in Ierufalem: „das Auffallendfte iſt, „daß Jeſus nicht bloß, da doch nur er allein rei: „ten wollte, zwei Efel requirirt, fondern daß „er auch wirklich auf beide ſich geſetzt haben „fol. Den Efel konnte man ed nicht anfehen, „daß er noch nicht geritten war, außer an der Un „gebärdigkeit, mit welcher er den ruhigen Fort- a AN des feierlichen Zuges geftört haben „, würde.’

Bei der Vorherfagung der Wiederkunft: „— die „ale Völker Zufammentrompetenden follen „die predigenden Apoftel ſein.“

Bei der Verſuchungsgeſchichte: „— daß die drei⸗ „malige Wiederholung des Angriffs ihren objektiven » Grund in einer verborgenen Geſetzmäßigkeit des „„Öeifterreiche gehabt habe, wie etwa Mephiſto⸗ „pheles dreimal Elopfen und hereingerufen „werden muß.”

Bei dem Lanzenflih: „Ohne Zweifel geht vielmehr „der Evangelift von der Hei jeder Aderläffe zu machenden Erfahrung aus.”

Dei der „fogenannten” Himmelfahrt: Freilich „iſt eine Himmelfahrt vom Zimmer aus „nicht gut ſich vorzuftelen, daher läßt fie Lucas „im Zreien vor fich gehen.”

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Inſtitut der Cenſur nicht durchaus für ein chriſtliches; vielleicht ſteht nach feinem chriſtlichen Begriff von der „Freiheit der „Kinder Gottes” den ausgearteten Kindern der Welt ned imnier dag freie Wort zu. Go mußte ihn die Abforderung des Gutachtens ernfthaft ſtimmen, und fo trug er den Ernft in dag Buch über, und las ihn wieder heraus. .

Der unfhuldige VBerratb.

Kaum war Straufens Buch bier in Zürich im Bud) bandel verbreitet, und ohne Zweifel noch von Wenigen gele- fen, fo erfchien ſchon in unfern Zeitungen jenes Neander- ſche Gutachten. Man hielt dasſelbe mit der Wegweiſung Straußens von der Tübinger-Hochſchule zuſammen, und ſo entſtand ein gewiſſes Intereſſe für den in Deutſchland von der einen Seite tolerirten, von der andern nicht tolerirten Verfaſſer. Es entſtand gerade in den Tagen, wo ein durch Todesfall erledigter Lehrſtuhl an der theologiſchen Fakultät neu beſetzt werden ſollte. So war natürlich auch von Strauß die Rede. Mehr als das Buch wurde die Perſon hin und her beſprochen, und man fand es recht und billig, einem Gelehrten, dem ſein freies Wort in Königreichen verkümmert werden ſollte, in einem cenſurfreien Freiſtaat dasſelbe zu ſichern. Und weil es hier in unſerm Zürcheriſchen Freiſtaate, wie allwärts, Orthodoxen und Rationaliſten, Gläubige und Freidenker giebt, die Freidenker aber auch frei wollen, mehr Freiheit, mehr Spielraum für dieſelbe wollen, als die Gläubigen, die ihr Wichtigſtes ſchon haben; weil ferner die Freiheitsbeftrebun- gen zum Handeln antreiben, fo wurde auch Straußens An- ftelung von jenen um fo eifriger betrieben, deſſen Perfon vorzüglich hervorgehoben und ausdrücklich dag „eminente „Lehrtalent.“ So glaubte man fich einer genauen Prüfung des Buches um fo eher überhoben, Daß es . von feinem einzigen der vielen Stimmgeber in unfern verfchiedenen kirch⸗ lihen und politifchen Zeitungen eigentlich gelefen, das beißt,

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kritiſch geprüft wurde (ed mwenigftens von den Eregeten bloß eregetifch wurde), macht fhon die Oberflächlichkeit aller jener Beitungsartitel wahrfcheinlich.. Der Laie kennt die Mehrzahl der Stimmgeber hinlänglich, um verfichern zu können, daß fie genug Lnbefangenheit, Urtheilskraft und MWiffenfchaftlichleit befiken, um das Buch, wenn fie’d recht gelefen,, nicht bloß darin herumgeblättert hätten, als ein zwar reichlich von Erudition und Spracdhgewandtheit zeugendes, aber ärmlich und mißlich mit Pbilofophie ausgeftatteted, im Ganzen unmwiffenfchaftliches qualifijiven, und vollends die Darftellungsweife, was man den Ton zu nennen pflegt, an vielen Stellen verwerflich finden müßten.

Daß übrigens diefe Erfcheinung im Allgemeinen auch bei unferm Publilum bin und wieder Anklang findet-, ift aus der. allgemeinen Zeit: Eultur zu erklären, worin wir Zür- her eben auch mitleben und mitfchweben. Vom Strudel diefer Zeit⸗Cultur mitfortgeriffen, der Zerftreuung der Welt mitpreisgegeben,, die durch unfere nach allen Seiten aus- geartete Zageslitteratur tagtäglich genäbrt und gemehrt wird, find den Zerſtreuten diejenigen Cultur- und Lebensanfichten vorzüglich willfommen, welche von jeder Art Autorität, auch der Autorität der. Weltgefchichte, möglichft freimachen, den Ernſt binwegfpielen, und im „flott Teben” beftärken. Es find daher im Gebiet des Religiöfen die pantheiftifchen Anfichten die willkommenſten. Weil dem Zoͤgling einer fal- fhen Eultur, dem die Offenbarungsreligion und mit ihr.der Dffenbarungsglaube verloren gegangen ift, noch immer etwas von einem gewiffen veligiöfen Gemeingefühl übrig bleibt, fo ift ihm der Pantheismus dasjenige, mas ihn am wenigften genirt; weil ihm die „AUnmittelbarkeit des Böttlichen” Tand und Wahn ift, fo hat er -den „Born Gottes” (ein göttliches Strafverhängniß) fo mwenig zu fürchten, als fih um die »Gnadenwirkung des Erlöfers’’ zu kümmern. Ja es find. einen folchen veligiöfen Gemeingefühl,,. wo e8 noch regſam

ift, gerade die mittelbaren Anklänge an etwas Ideelles noch lieber, als die unmittelbaren. So fprechen die pantheifl- fen Idealiſten die Ideale der griechifchen Mythologie , ald „verkörperte Ideen,” gerade wie Strauß fie auftifcht, weit mehr an, als die heilige Befhichte in ihrer Unmittd- barkeit. Sie gewinnen damit wenigftens einen griechtfchen "Himmel; nur ift diefer nicht fo ſchön und gang, wie der umd in der Eufturgefchichte der Griedjen überlieferte. Es fehlt namentlich dem gräcificenden Hegelianismus, der höchfiens an die Phantafie gelangt, um das Gemüth zu negiren,

das Hauptideal: die Liebe. Eolchergeftalt bilden die dürcm

Hegelianer in unſerer Beit-Eultur ein merkwürdiges Seiten- füd zu den brünftigen Gutzkovianern: Sene haben den - Himmel ohne die Venus, diefe die Venus ohne den Himmel. An fidy betrachtet, ift der Antrag auf Berufung eines „eminenten Lehrtalents” nicht nur zu entfchuldigen,, er tft recht und Löblich, ift auch fihon durch die Klugheit geboten. Man weiß, dag alle florivenden Hochfchulen nur durch große Sndividualitäten in Flor gelommen find, und nur durch ſolche fich darin erhalten. Damit ift auch die Aufgabe für eine neu⸗ gegründete, ſich erft noch vollftändig geftaltende, geftellt. Große Sndividualitäten find aber nicht bloß die Stützen und 3ierden einer Hochfchule. Sft der unmittelbare Einbrud, den fie machen, ſchon wichtig, fo ift ihr mittelbarer Einfluß kaum zu berechnen. An einer großen Individualität richtet der Süngling fiy auf; indem er Großes perfonifizirt anfchaut, lernt er großartig denken, fühlen und wollen; er wird geneigt, die Menfchengröße und Menſchenwürde, welche ſich ihm in einer Derfon rvepräfentirt, in der Menſchheit, feinem Zeitalter, feiner Nation überall und in jeder Beftalt zu fuchen und zu fhäßen, fie auch individuell mir eigener Kraftanftrengung zu ‚erfteeben, und eben fo in feinen Umgebungen verwirklichen zu helfen. So nützt ein großer Lehrer feinem Lehrling nicht :allein durch das, was er ihn lehrt, ſondern durch das,

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| 33 was er ihm iſt, wie er ihm erfcheint, wie feine. Erfchei- nung auf ihn einwirkt. Darum Heil unfern Schweizer: jünglingen! Die Menſchengröße erfcheint ihnen wirklich und wahrhaft auf unferer Hochfchule. Unter einem ehrenmwertben, vielfach ausgezeichneten Perfonal. von würdigen Hochfchufs lehrern, die zugleich faft alle Schriftfteler find, und fo duch das doppelte Mittel der Lehre und Schrift unfere vaterländi« fhe Bildung befördern, haben wir hervorragend große In— dividualitäten, ja wirflich große Männer, wie Keller, Oken, ‚Drelli, Schönlein; wir können wirklich von „eminenten „Talenten“ fprechen; yperfönlich und litterarifch, in der Wiffenfchaft und im Leben, ift Kellers organifatori- fhe8:Zalent, Okens ſchöpferiſches Talent, Drellig cultui-vermittelndes Talent, Schoͤnleins conſer⸗ vatives Talent beurkundet.

Haben wir wirklich die Hülfsmittel, und gerade jetzt die Ge⸗ legenheit, mit noch eine m fo entſchiedenen Talent das Inſtitut unſerer Hochſchule zu vervollkommnen, ſo wäre das Talent Straußens, auch wenn kein Mackel an der Perſon haftete, noch unreif, und auch fo noch unbewährt; vollends von „Eminenz” kann nicht die Rede fein, die Wißlofigkeit, welche Strauß mit den Philologen von gewöhnlichem Schlag gemein bat, zeugt eher von Zalentlofigkeit; wer, wißelnd, ftatt Witzge⸗ danken nur Witzworte, meiftens ftatt Wigworten nur Witz⸗ wörter vorzubringen hat, die eigentlich. nur Wortfpäffe find, der erfcheint damit als ein ganz ordinärer Menich.

Iſt gegenwärtig die Gewinnung eines entfchiedenen Talents für unfere Hochſchule auch nur möglich, fo ift die leichtfer- tige Verfcherzung diefes Gewinns ein Qulturverbrechen. Die Hochſchule ift dem Laien unter allen menſchlich⸗geſellſchaftli⸗ chen. Stiftungen das höchſte Heilighum der Eultur. Shre Beftimmung ift nicht bloß auf icdifche, nicht bloß auf weltliche Dinge beſchränkt. Sft die sheologifche Fakultät mit ächten Theologen beſetzt, fo heißt es von diefen: „Ihr aber feid

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„nicht weltlich, fondern geiſtlich!“ ift die pbilofophifche mit äckten Philoſophen befekt, fo bieten diefe jenen die Hand, lehren das Weltliche geiſtig auffaffen, dag Irdiſche himmliſch beziehen; ihre Pbilofopbie wird Religionsphilofophie, ver schmilzt fich fo mit der Theologie und lehrt himmliſche Weisheit, fo weit dem Erdenfohne ein Wiffen um göttliche Dinge vergömnt ift.

Der ſchudige Verrath.

Daß ebenfowobl als die Schreib: und Lefefreibeit auch die Lehr» und Hörfreiheit bei uns ungefchmälert fein fol, verfiebt fi. Keineswegs aber verfteht ſich's, daß, wie ges wifle zudringliche Leute dem Erziehbungsrathe haben infinuiren wollen, der Staat berufen fei, den Strauß zu berufen, weil diefer eine eigentbümlihe Richtung genommm babe, die durch feinen unferer jetzigen Sochfchullehrer reprä- fentirt fei. Die Richtung könnte eine verkehrte, ja gerade nur in der Verkehrtheit eine eigenthümtliche fein; der junge Mann könnte erft neulich begonnen haben, feine Kräfte in diefer Richtung zu verfuchen; er könnte, fie an Studenten ver- ſuchend, diefelben nur irveleiten, ja wirklich in Berfuchung führen. Inzwiſchen müßte der Staat das fehlgefchlagene Erperiment nody bezahlen, und hätte bintendrein « einen Irr⸗ lehrer bleibend auf dem Hals.

Will man hier von Richtung fprechen, fo ift es paffend, dag man’s im Plural thue. Der Staat hat wirklich bei An- flelung eines Profeffors der Theologie zwei Richtungen zu⸗ gleich in's Auge zu faffen, die fpekulative und die praßtifche. Nach der erfiern follen die Hochichüler Herren der Wiſ— fenfhaft, nach der lehtern Diener der Kirche werden. Handelt ed fidy aber um die Anftellung eines Mannes, der mit feiner Religionsanficht,, und wäre fie auch noch fo begrün- det, gegen die Landeskirche in den Kampf träte, würde er mit feinem Efoterifhen das vorhandene Eproterifche aus

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dem Wege räumen wollen, oder würde ſeine Lehre auch ohne ſeine Abſicht auf die Hinwegräumung führen, ſo wäre die Anſtellung eines ſolchen ein offenbarer Verrath, zwar kei— neswegs vaterlandsverrätheriſch, aber ein Mißrath, der, ohne Böſes zu beabſichtigen, unvermeidlich und unabſehbar Boͤſes bewirken müßte.

Jedoch iſt unter den Rathgebern noch eine Unterſcheidung zu machen. Die bisher lautgewordenen find einerſeits Ges lehrte, anderfeits Politiker. Unter den erſtern haben manche in unfern beiden Kirchenzeitungen fich ausgefprochen, und einer von diefen bat den Strauß ald Hegelianer in.Schuß ges nommen, bat defjen Berufung an diephilofophifche Fakultät gewünfcht, „indem die bisherige Abfperrung unſers Baterlandes „vom Studium diefer tieffinnigen Philofophie nicht in Ewigkeit „fortbeftehen könne.” Abgefeben von der Vorausſetzung, wie die Hegelianifhen Großſprecher fich folche erlauben, daß jene Philofopbie in Ewigkeit dauern werde, müffen wir bemerken, daß der troßige Kivchenzeitungsfchreiber fich in der Seit, und zwar an der Zeit, an unferer Zürcherifchen Zeiteultur, ivrt, - daß er fich fo ziwar feines Verrathes fchuldig macht, aber einer Unmwahrheit. Eine Unmahrbeit ifts, daß, „vor kurzer Zeit „noc eine mit Unkenntniß dieſer Philoſophie verbundene, alfo „borurtheifende Berdammung derfelben herrſchende Marime „war.” Der Laie ftehtden Zürcherifchen Schul: und. Rittera- turverhältniffen nabe genug, um bezeugen zu fünnen, daß einerfeits in dem feit fünf Sahren beftehenden Erziehungs» rathe feine fo unwürdige Maxime berrfchte, vielmehr alle herr- fchenden (oder concurrirenden) pbilofophifchen Syfteme in diefer Behörde ihre angemeffene Würdigung finden, und anderfeits auf unferer Stadtbibliothek richtig auch Hegels fämmtliche Werke aufgeftellt find und fo ift am Vorgeben einer Sperre, die von jenem Kirchenzeitunggfchreiber ſogar, dreiſt genug, als eine unfittliche bezeichnet wurde, fein wahres Wort. Uebrigens .ift von diefer Seite wohl feine weitere Zudringlich- feit zu befürchten. Kaum bat jener Kivchenzeitungsfchreiber

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ſich fo ausgefprochen, fo fommt von Berlin her (Jahrbücher

für wiffenfchaftliche Eritit Nro. 86, 87, 88) alfo vom eigentfi« chen Forum des Hegelianigmus aus, ein Ausfpruch als Endur- theil, in welchem durch einen capitelfeften Hegelianer der arme Strauß fo unbarmherzig durchgebechelt und durchgehegelt wird, daß nun er faum mehr für einen Hegelianer paffiren fann; der unreife „.Sürihegel” aber, betroffen, ſich ſelbſt fa- gen dürfte: si tacuisses„ hegelianus mansisses.

Anders als mit den gelehrten Rathgebern verhäft es ſich mit den politifchen. Hier ift wirklicher VBerrath (Mißrath in obigem Sinne), jedoch fein heimlicher, fondern ein offen aus- gefprochener, ein Rath, zu dem die Rathgeber ftehen. Seit Sahren her ward in den politifchen Zeitungen oft und unter allerlei Wendungen und Anwendungen dem Staat der Rath ertheilt, fich von der Landeskirche loszufagen, den Gemeinden die Befoldung der Pfarrherren zu überlaffen, deren „perio „difche Erneuerung” ihnen anheimzuftellen ꝛc. 20.5; wobei man nicht ermangelte, Nordamerika ald Mufterftaat und Muftervolt anzuführen. So dringt man nun confequent auf die Unftelung eines Religionslehrers, der da lehrt: Die heilige Gefchichte fei keine Geſchichte, - die Evangelien feien nicht von den Evangeliften, fie feien nur ein zufanmenge: tragener Sagen: und Mythenkfreis; jeder aufgeflärte Pre: diger, welcher den Inhalt der Evangelien für biftorifche Wahrheit ausgebe, fei ein Lügner, dem fein Gewiffen eigent- li) gebiete, feine Stelle niederzulegen und fo ift aud) das confequent, dag man folcher Lehre durch ein „eminentes „Lehrtalent“ Eingang zu verfchaffen fich getraut.

Es treten aber hiermit gemwiffe Inconſequenzen hervor, wodurch die Verrätber an der Kirche in einer andern Be jiehung zu Selbftverräthern werden, indem fie ihr wahres Inneres verratben, nämlicdy ihren zweideutigen Liberalismus, gerade indem fie deffen Eindeutigkeit und Confequenz zu be» haupten vermeinen. Sie wollen aus lauter Sreifinnigfeit ihrer Ueberzeugung folgen, wollen dad Volk, wie fie meinen,

87 vom Aberglauben, und daber von der Kirche, frei machen. Zu diefem Behufe wollen fie, daß das Chriſtenthum an der Hochſchule nicht bloß pofitiv, fondern auch negativ vorgetra—⸗ gen werde, wollen ihr daher, politifch Tieberal, aber kirchlich ufurpatorifch und dag ift eben der zweideutige Liberalismus einen Lehrer aufdringen, der da lehrt, daß die Evangelien als Urkunden nichtig, daß fie unhiſtoriſch ſeien, daß fomit die auf unbiftorifchen, daher unhaltbaren Grund gebaute Landeskirche für vernünftige Leute nicht länger tauge. Zwar bevormundet wücden dadurch die Theologie:Studierenden nicht, würden viel⸗ mehr ermuntert, zur Beit ihrer vollen Mündigkeit vecht frei zu fprechen. Sie würden aber planmäßig zum Boraus mit fich felbft fo in Widerfpruch geſetzt, , daß fie dereinft, als angeftellte Prediger der Landeskirche, entweder heuchlerifch für, oder rebellifch -ge= . gen diefelbe predigen müßten, in jedem Sallaber der „Mißbrauch „der-Zunge” fo verderblich wäre, wie Jacobus ihn ſchildert.

Daß auf folhe Weife die Liberalen Reformatoren ihre Ueberzeugung unberechtigt- in einem ihnen fremden Gebiet würden geltend machen wollen, fann, ihnen freilich nicht zu Sinne fommen. Sie glauben alled zu thun und alles ein zurdumen, wenn fie die Gewiſſens freiheit eines Seden ans erfennen, worunter fie die fubjective Glaubens freiheit eines Seden verfiehben. Daß aber der Glaube, der Ehriftenglaube, ein Objekt fei, worüber man übereinfommen fünne, daß es einen Volksglauben gebe, daß die darin Übereingefömmene Mehrheit des Volks ſich eines freien Rechts bewußt fei, diefes fein Glaubensobjekt fih objektiv zu fihern, das heißt hier, in ebendemfelben Glauben fein kirchliches Leben fortzuleben, in ebendemfelben Glauben feine Kinder zu erzie⸗ ben, und zu diefem Behuf die Gewährleiftung der Firchlichen Einrichtungen, gleichwie der damit übereinftimmenden Schul: einrichtungen, vom Staat zu fordern dad alles fann ihnen nicht beifallen; es widerfpricht ihrer Ueberzeugung, und diefe ift abgefchloffen. Hier aber iſt jedoch die aa ſchloſſene Ueberzeugtheit noch naͤher zu prüfen.

Das Bolt und feine Repräfentanten.

Die Repräfentanten-im Volke find von den Repräfentanten des Volkes zuvörderſt zu unterfcheiden. Unter ketztern find bei uns die vom Wolke hingeftellten Großräthe, unter den erftern theils die Schriftfteller, welche fich felbft hinſtellen, theild die vom Staat angeftellten Beamten zu verfiehen. An diefen allen haben wir vielerlei Wortführer und Sachwalter, fowohl für die Aufgaben der Wiffenfchaft, als für die Ange legenheiten des Lebens.

Sollen nun von der Willenfchaft Aufgahen gelöfet wer⸗ den, die fir die Angelegenheiten des Lebens von vorzüglicher Wichtigkeit find, fo it es nicht genug, daß Einer, in öffent licher Stellung auftretend, feiner Weberzeugung folge, und nicht genug, daß er ſich deffen bewußt fei, fondern er muß fih bewußt fein, eine vollſtändige Kunde und Kenntniß von dem Begenftande feiner Ueberzeugung gewonnen zu haben; und ift vollends diefer Gegenftand der wichtigfie, der allge: meinfte, ift er nämlich das Volk felbft, fo entftehen daraus ecnfte und ſtrenge Anforderungen, zumal in einem Freiſtaat. Der Volkswille iſt zu reſpektiren nicht nur dieß, es ift dem Bollswillen zu entfprechen in allem, was nicht unrechtlich und nicht unfittlich if. Was das Volk in feiner Mehrbeit wollen würde, wenn e8 in feiner Mehrheit die er- forderliche Einficht hätte, das haben feine amtlichen Wort- führer und Sachwalter, denen es feine Intereflen anvertraut bat, zu verwirklichen, felbft wo fie e8 auch nicht gerade für das Beſte hielten. Will daher Einer ein rechter Volksmann fein, fo muß er ſich's zur ernften Aufgabe machen, den Volks⸗ willen allfeitig zu erforfchen; er muß fich in das Volk hin: einleben, um fo vom Bolt aus für das Wolf zu wirken.

Wie fteht es nun um eure Stellung und um eure Ueber: geugung, ihr unvolfsthümlichen Volksmänner, die ihr euch in das religiöfe und kirchliche Leben des Volkes folche Ein⸗ griffe erlaubt? She mögt wirklich glauben, aus voller Ueberzeugung, ja fogar als von der Ueberzeugung des Volks

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überzeugt , deffen Intereffen zu wahren und zu fördern aber welcdyerlei Intereffen? -offenbar die materiellen! Euer eigener Materialismus ift’s, der euch glauben macht, die materiellen Interefien feien, wie euch, fo auch dem Volke die höchften. Nein! fo iſt's nicht! Ihr entehrt hierin das Volt, indem ihr eure niedrige Gefinnung auf die feinige überträgt. Unfer Bolt ift, Gottlob! in feiner großen Mehrheit ihr babt das weibliche Gefchlecht auch dazu zu zählen ein reli- giöfed, ein hriftgläubiges Volk, dem feine Kirche fein höchftes Erdenheiligthum ift und bleibt. Als ein folches könnt ihre es freilich weder in den Wirtbshäufern, noch auf den Märkten, noch auf den Schüßenpläßen,, nody auch vor den Gerichtsfchranten kennen lernen. So dringt der Volksmund nicht ale cin chriftlicher zu euern Ohren, und dennoch ift er es in That und Wahrheit. Unfer Volk if ein Voll, dag beten kann, ein Volk, das da glaubt, „alle guten Gaben kom⸗ „men von Dben”; der Landmann ift gewohnt, dem Geber. für die guten Gaben, wie auch für das Gelingen feiner Ars beit, zu danfen, und fo ift feine Arbeitſamkeit mit Frömmig⸗ feit verbunden, und mit beiden ‚die Genügſamkeit. Zaufend Familien finden in einem befcheidenen Familienglüc auch fchon ihe Lebensglück. Was aber die Religiofität unferes Volkes am fchönften beurfundet, das ift dag gangbarſte Sprichwort, oder vielmehr Lofungswort, welches die Stillen im Lande, und die Armen im Lande, und die Frommen im Lande am liebſten im Munde führen: „Wenn ich nur mit Gott und „Ehren durch die Welt fommen kann!” Das ift ein vrühren- des Wort, denn es ift ein heiliges Wort, ein Wort, nad deſſen Inhalt das Volk in liebenswürdiger Demuth bemeifet, wie es feine irdifche und feine himmlifche Beftimmung erkennt, und zu erfüllen trachtet. She aber, ihre Uebermüthigen! kommt nicht mit Gott und Ehren durch die Welt, wenn ihr nicht ablaßt von dem fo übel berechneten Wagniß. Erkennet endlich eure Selbftbetbörung! Ihr habt das Volk, Viele im Volk, ſchon genug beunruhigt; ihr habt die ehrwürdigen Geift- lichen fhon genug geärgert; ihr habt manchem ehrbaren Land- mann, manchem frommen Vater und mancher frommen Mutter ihre fehönfte Lebenshoffnung zerftöct, die mit Verzichtung ak

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Lebensgenuß, durch vieljähriges „Haufen und Sparen” es dahin gebracht hätten, und fo gern als ihr höchſtes Erdenglück hätten erleben mögen, wie ihr Sohn por allem Volk von heiliger Stätte aus „den Herrn befenne”; und aus manchem hoffnungsvollen Sohn des Landes, den der Vater für den Beruf des Geiftlichen nicht. zu beftimmen wagen darf, weil durch euch die Landes: firche gefährdet ift, wird vielleicht, wenn er einem induftriellen Beruf anheimfällt, ftatt eines Gottbegeifterten eine Krämer: feele. Soldye Dinge habt ihr ſchon verfchuldet, und es ift nicht zu früh, daß man's euch öffentlich fage!

Schlußwort.

Iſt dem Laien wenigſtens die Beweisführung gelungen, daß man fidy in Beurtheilung jenes Buches und der Würdigung des Autors fehr übereilt hat, und fehr unüberlegt ihn an unfere Hochſchule hat berufen wollen, fo ergibt fidh leicht, was nun vernünftiger Weife zu thun und zu laffen fei. Rettig, durch deffen Tod die Stelle erledigt war, hat befriedigt... Seine Rich. tung war, der fehr prononcirten rationaliftifchen wenigſtens zweier andern Profefforen gegenüber, die fupranaturaliftifce. Empfand man Rettigs Verluſt fo fchmerzlich, fo ift der Schmerz ganz natürlich zu heilen durch einen Nachfolger in feinem Sinn und Geiſt, einen Nachfolger, der fein Glaubens» befenntnig im einfachen Sinne des Ehriftenvolfed in die ein: fahen Worte faßt, die Rettig feinem Schriftwerk „die freie „proteſtantiſche Kirche” vorfeßte: „Ich glaube an den „Sohn Gottes.”

Ferner find bei Orell Füßli und Comp. in Zürich zu haben: Doftor Strauß- und feine Lehre. in freies Wort an die freien Zürcher. „Prüfet Alles, und das Gute behaltet“. 8.

geheftet hf. If Strauß uns zum Heil oder Unheil berufen? DBeant: wortet aus deffen Leben und Lehre. 8. geb. 38.

Strauß ift ein Chriſt. Sendſchreiben eines Geifklichen an einen Laien. 8. geh. 28.

[3 “Rn ——

ur

Yoh. Raspar Orelli’s

YAurede

an die Studirenden der Hochichule Bürid über die Berufung des Hrn. Profeflor Strauß.

Den 17. März 1839.

Nebſt der Adreſſe der Studirenden an den Profeſſor Orelli.

en 2 nn nn an nn nn nn Züri, bei Drell, Füßli und Compagnie 1889.

Meine Serren!

Mi inniger Rührung hat mid Ihr Gedanke erfüllt, es Taut zu bezeugen, daß mein neuliches Wirken als Mitglied des Er- ziehungsrathes Ihnen nicht unſinnig oder ketzeriſch, meine Beharr- Fichfeit im Behaupten einer beftimmten Weberzeugung nicht als unbegreifliher Starrfinn erfcheint.

Aus Gründen, deren Gewicht ohne Zweifel von Ihnen allen gefühlt wird, mußte ic) nothwendig jede öffentliche Anerfennung meines Strebend von Ihrer Seite ablehnen. Aber falfches Zart- gefühl, ja Zeighelt wäre es gewefen, Hätte ichs nicht gewagt, Shnen in diefen Hallen der Wiffenfchaft für Ihren mich für viel Widriges tröftenden, ja neu ermuthigenden Beichluß zu banfen.

Hiezu erfah ich diefe Stunde. An einem Feiertage darf Feine Leibenfchaft ihre tobende Stimme erheben, um in der Kirche bie Maffe zur Verkeherung anders Denfender, zur Verlegung der Geiche Anfzufordern, hier in der Aula, irgend einen disharmoni⸗ ſchen Wiederhall aus der Zünglinge Bruſt hervorzulocken; wohl &ber darf ruhige ernſte Wahrheit dort iind hier ſich eben fo ruhiges Gehör erbitten.

Damit wir und weihfelfeitig über ben eigentlichen Grand der unfeligen Wirren verftäubigeh, in welche Die bedauernswurdige

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Mehrzahl unferd vor kurzem noch fo glüdfichen Volkes fich hat | hineinführen lafjen; damit wir uns in diefer Feierftunde in Got⸗ tes Gegenwart wahrhaft erbauen, fo theile ich mit MWeglaffung einer einzigen mich perfönlich betreffenden Stelle, ein Eendfchreiben des Hrn. Profeffor Strauß an Hirzel, Hitig und mich mit, wel- ches erſt morgen ausgegeben werden darf.

Zu weiterer Verftändigung muß ich Ihnen mit zwei Worten meine Anficht über die Schule an fidy darlegen.

Nämlich die Schule von den erften Glementen an bis zur Mittheilung der abftracteften Wiffenfchaft ift durchaus Feine eigene, eben fo in fich abgefchloffene, ihre eigenthümlichen Zwecke verfol- gende Intelligenz oder Potenz, oder wenn man will, myſtiſche Berfon, wie es der Staat und die Kirche find. Denn welches wäre doch ihr Zweck? Wiffenfchaft und Kunft find einmal Thätig- feiten des Menfchengeiftes, welche ihren Wirkungsfreis weit über die Sphäre der Schule ausdehnen, ja ihre genialften Schöpfungen ‚gehen nicht aus der Schule hervor, wirfen meift nicht unmittelbar auf Diefelbe ein. | An ſich Fönnte der von Staat und Kirdye abgefonderten Schule Zweck am Ende nur der fein, bloß um des Lehrend und Lernens felbft willen an einem fort zu lehren und zu lernen; etwa auch der, fih neue Lehrer nachzubilden, die wiederum raſtlos fortlehrten bi8 and Ende der Tage.

Nein, meine Herren, in dem idealen Leben eined wahrhaft gefitteten Volkes iſt Die Schule vielmehr eine aus dem innern Pflichtgefühl und nothwendigen Erhaktungstrieb diefes Volkes her- -sorgehende, von ihm feſt begründete Volksanſtalt. Ihre Aufgabe iſt es, mit klarem Bewußtſein des Erforderlichen und Zwedmäßigen, ‚mit den geeignetften Mitteln, jede nächſte Generation für gefeb- liche Ordnung, Wiffenfhaft, Kunft, Religion zu bilden, damit Staat und Kirche in völliger Einheit fich forterhalten zum irdifchen und ewigen Heil jedes Bürgers, jedes Gläubigen, und dieſe Harmonie das Reich Gottes auf Erden ald eine Wahrheit darſtelle.

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Allerdings iſt es eine unerläßliche Bedingung der heilfamen Wirkſamkeit der idealen Schule, daß Staat und Kirche fie ver- nunftgemäß geftalten, mit den nothwendigen Kräften fie freigebig. ansftatten, aber fie dann nicht ſtets hemmen und ftören, fondern unter dem Grziehungsgefege zutrauensvoll mit geiftiger Freiheit walten und wirfen laffen; dieß heiße ich Die ideale, die freie Schule. _

Sn die arme Wirklichkeit freilich tritt Die erhabene, heilige Idee der Schule wegen der Beichränftheit und der Leidenfchaften. der Maſſe meiſt nur getrübt und beengt ein.

Seit dem Mittelalter bis 1830 war es bei uns ausſchließlich die Kirche, welche die Schule gründete und erhielt, deßhalb natür⸗ lich auch ihr Gefege vorfchrieb, fie leitete, und zur Dienerin ihrer, der Kirche, Zwecke machte.

Die Folge hievon war im Ganzen genommen wie allenthalben, fo aud) bei und mechanifche Geiftesabrichtung, todted Auswendigs lernen der fogenannten Hauptftüde der Religion, das heißt, nicht verftandener Formeln und Slaubensfäge, jüdifcher und chriſt⸗ licher Mythen und Gefchichten, unpoetifcher Lieder. Kurz, alles vereinte fich in der frühern Volksſchule, um Geiftesträgheit und Verdumpfung des Volkes methodisch zu erzielen. Etwas Rechnen, etwas bdeutfche Grammatif wurde auch getrieben, alles jedoch nur fpärlic und oberfläcdhlid) ; höchft geringen Gewinn, felbit fürs Berufsleben, zog der Schüler aus feiner Kirchenfchule; der Schul- meifter aber war der folgfame Diener des Pfarrers.

Bor allem Fonnten die Bewohner unferer Landfchaft, wel: chen mit Ausnahme der Medizin alles übrige Studiren unterfagt war, zu eigentliher Bildung nur durch ganz fonderbare, ja abenteuerliche Lebensſchickſale gelangen, wie die beiden berühmten Hope, andere nur, wenn fie nächtliher Weiſe und gleichfam ver- ftohlen ſich etwas von menfchlicher Cultur aneigneten. Manchmal, borgte ihnen irgend ein wohlwollender Landvogt oder Pfarrer gute Bücher; geiftiger no wurden fie gehoben, wenn edle Män- ner, wie Hirzel, Lavater, Beftalozzi, Nägeli, Schultheß gleich Apofteln der Cultur die Gauen unferd Landes, namentlich,

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die Seegegend, durchwanderten und fih den Untertbanen ber Stadı ald Menfchenfreunde mittheilten.

Wenn nun aud) der eine oder andere Sohn der Landſchaft fpäterhin die Aargauiſche Kantonsſchule oder unfre ſtädtiſchen An- ftalten befuchte, jo wollte Doch der Grziehungsrath von 1831 nicht länger jenem Zammerzuftande des Volkes zufehn: darum ſchuf er die freie Staatsſchule. Hauptfächlich durch des talentreichen Scherr’sKEinficht, raftlofe Anftrengung, Ausdauer gegen alle Op⸗ pofition erhielt fie eine Geſtaltung, die ſich ruhig mit jeder andern Guropäifchen meſſen darf, Allerdings harrte fie von 1832 an auf immer weitere Entwidelung durch die Bildung neuer Lehrer, durch neue Lehrmittel, Durch allmälige Srhebung und Begeifterung des Volkes für Achte Bildung. Vor allem aber bedurfte dieſe neue zarte Schöpfung harmoniſcher Mitwirkung von Seite des Staates und ber Kirche. Jede Hemmung, jeder rohe Angriff von ber Ieptern ber, mußte ihr, wie wir es jegt leider nur allzu deutlich ſehn, nachtheilig, vielleicht ſogar verderblich werden. Aber ſie wird den⸗ noch nicht untergehn die dem Volke wohlthätige, einem Theile des Klerus ohne Grund fo verhaßte freie Staatsſchule.

Als höhere Anftalt ftand wiederum ein kirchlicher Bau da, aber eine traurig verwitterte Ruine, das Carolinum. Wir muß- ten es bis auf den Grund abtragen und eine neue unfrer Zeit und unfern Bedürfnifien genügende Anftalt gründen.

Eine Kantonsfchule in zwiefacher Richtung für Wiffenfchaft und Snduftrie verftand ſich von felbft, und ich will Sie Damit nicht länger aufhalten,

Aber fo genügend diefe Schule für ihren Zwed mochte ge- flaltet fein, wahrhaftig es lag doch in dem alten Garolinum, dem jungen politifchen Smftitute, eben fo in dem mebizinifchen, der wiewohl fehr verfümmerte Keim einer dee, welche unfern, Vätern dunkel vorfchwebte, aber von taufend Bedenklichkeiten zurüdgedrängt, nie ſich organifch entwideln Tonnte.

Hier nun erhob fich die wichtige Frage, follen wir noch einen Schritt weiter gehn als fie und eine Hochſchule ftiften ?

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Meine Herren, von bier an Tann ich nur meine individuellen Anfichten ausfprechen, da ich mich nicht mehr erinnere, ob ale meine Collegen in der Behörde damit einverftanden waren, nicht weiß, ob ſie Diefelben ‚gegenwärtig noch billigen Der Menfchen. Sinn ift fo wandelbar. &leichviel, dad Grgebniß, an dem mir alles lag, die Thatfache, unfre Hochfchule ſteht da,

Meine finnmtlichen Anträge gingen aus folgenden Erwägungen. hervor und fehrten ftets auf die nämlihen Anſichten zurüch; fie bleiben noch jest diefelben und fönnen mir nicht entriffen werden, ſo lange ich noch athme.

Ja, der Freiſtaat Zürich bedarf einer Hochſchule zur Sicherung feiner innerften Sdeen, feines höhern Selbftbewußtfeing. Ohne eine Hochfchule wird Die Wiffenichaft eingefchürhtert; fie entweicht, unferer Heimath fehneller vielleicht ald wir Denfen, eine andere Sreiftätte fuchend vor all dem raftlofen Geld- und Genußtreihen diefer Zeit, gleichwie nad dem finnnollen helleniſchen Mythos, Afträa, von ber frevelbefledten Erde zu ihren ewigen Genoflen, den Herrfchern. des Olympos, entfloh. Führwahr ein Staat ohne alle Wiffenfchaft ift ein höchft trauriges Mifigebilde, etwag wahr« haft unmenfchlicyes, die Utopia irgend einer Thierart. Selbſt der Kirhenftaat, felht Spanien und Bortugal, wie entfeglih auch diefer beiden Staaten Elend fein mag, fie befigen Doch noch Unis . verfitäten, fie haben wohl Klöfter vernichtet, auf eine graufame ſcheußliche Weife, aber noch Feine Hochſchule. An dieſe reine ee, der Rothwendigfeit einer höhern wiſſenſchaftlichen Anflakk für Die Ehre, die Würde, das geiftige Wohl Zuͤrichs reihten ſich auch andere. Oft dachte ich in den feligen Momenten des Schafs fens an die urfprüngliche, der äußern Form nach bis 1648, fogar- politifch bewahrten, Einheit des fhweizerifchen und. des. beutfchen, Volkes. Geiftig beſtand fie immerfort und fie bleibt Durch Die. gemeinfame Rationalliteratur unvertilglich, bis entweder wir, ober aber die Deutfchen Barbaren werden ohne Poefie, ohne Philofophie ohne doch wozu follte ich Ihnen, die ührigen Richtungen des göttlichen Gedankens in der Meufchheit anfzählen, welche alle

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ſich organifch gliedern und deren belebenden Mittelpunft bie dee der Wiſſenſchaft bildet. |

-Zerner wußte ich, wie im fechzehnten Sahrhundert Züri eine Freiftätte war für fo manchen von den Brieftern verfolgten Denker und Glaubensheld; und ich fah im Geiſte diefelbe Erfchei- nung wiederfehren, wenn ich auch damals nicht ahnen Tonnte, wie weit es hierin noch Fommen könne. Allein das Unerhörte if gefchehen, in Göttingen.

Dagegen lag das Grundübel unferer frühern Anſtalten feit dem fiebzehnten Jahrhundert darin, daß Fein anderer Lehrer als Züricher und in immer mehr verengerten ‚Kreifen Feine andere als Stadtbürger, feine andere als Geiſtliche angeftellt wurden. Sa hätten wir je durch irgend einen Wunderfall Herven, wie Galilei, Leibnig, Newton, Bentley, Boerhave, Haller, Lin neus, Sant, Zeffing, Herder gewinnen können nein dieſer erhabene Geifterhor wäre aus unfern engen Mauern fehleunigft weggemiefen worden. Bon dem göttlihen Denker Spinoza, der fein irdiſches Dafein fo erhaben rührend durch mechanifche Arbeit friftete, Darf ich vollends gar nicht fpredjen.

Alfo um die Würde der Wiffenfhaft auch nur anftreben zu fönnen, um und aus dem frühern Zuftande der geiftigen Lähmung herauszureißen, beburften wir nothwendig der thatfräftigen Bei- hülfe deutfcher Männer der Wiffenfchaft.

Wir fanden fie, und ich freute mich fo innig, fie unter unfäglichen Anftrengungen zu Mitftreitern gegen Unwiſſenheit und Finfterniß, zu Mitverbreitern höherer Ideen und pofitiven Wiffend gefunden zu haben,

Run, meine Herren, hat die Gefammtheit Diefer meiner neuen Collegen unferm Yreiftaate irgend einen Nachtheil, irgend eine Unehre gebracht? Hat diefe Gefammthelt, hat irgend ein einzelnes Mitglied derfelben uns in politifhe oder Firchliche Wirren hinein geführt?

Sch will hier feinen Lebenden nennen: aber ein deutfcher Leh⸗ rer tft allzufrühe für uns in Die Wohnungen des ewigen Friedens

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hingegangen; deiner darf ich wohl an diefer Stätte gedenken, du freifinniger, edler Rettig, du mein geliebter Freund in alle Ewigkeit, bätteft du es je verdient, wieder von beinem Süric angegriffen und ausgeftoßen zu werden?

| Fürwahr jeder irgendwie Gebildete unter ung ſollte doch im Zahr 1839 unumwunden eingeftehen, daß e8 nichts. engherzigeres, unverftändigeres und zugleich traurigeres giebt, ald den von Uns- fundigen angeregten, blinden Haß gegen Denfer, Borfcher, Förderer der Willenfchaft, bloß weil fie nicht Landesfinder find.

Meine Herren, ich fhäme mid, wahrhaftig Diefes neulich wieder: gebrauchten, niedrigen Ausdruds, von dem ich wähnte, er ſei fchon (ängft aus unferm Sprachgebraudhe verbannt. Sch Ferne nur einen noch verwerflicheren, wenn mitten unter und Broteftanten der Bräfident des Kirchenrathes unglaublicher Weife das Ober- haupt der Landesfirche genannt wird, und fich fo nennen läßt.

Rein, wir find zürcherifche Bürger, nicht Landeskinder!

Nur noch einige Worte über den zunächft Tiegenden Fall:

Sie alle kennen jett den Mann, durch deffen angefeindeten Namen unfer Volf in eine fo unerhörte Bewegung gebracht wor⸗ den ift, gewiß weit befier als vor Einer Stunde und begreifen es auch nun weit eher, warım die Majorität des Erziehungs⸗— rathes, unzugänglich für alle Drohungen und Berlodungen fo feft auf feiner Berufung beharrte.

Keiner von allen unfern Geiſtlichen, fo viele derfelben auch wiffenichaftlihe Theologie hier, in Berlin oder anderswo mehrere Jahre hindurch ftudirt haben, meldete fidy für dieſen Lehrſtuhl. Alfo war ed allgemein anerkannt, ed müfje entweder ein Fremder gewählt werden oder die Stelle unbeſetzt bleiben.

Deutfche Bewerber traten fieben auf: einflimmig urtheilte unfre theologifhe Facultät, Feiner derfelben fei geeignet unfern - Bedürfniffen volles Genüge zu leiften; eben fo verhielt es fich mit einem und von Tübingen her empfohlenen, gewiß wadern,

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aber noch durch Feine wißlenfchaftliche Leiſtungen dazu befähigten Repetenten.

Dagegen begte ich Die moralifche Ueberzeugung, ‘Doktor Strauf fei ein eminenter Denker, ein wahrhaft gründliher Theologe, ein durch feine Meiſterſchaſt über die Sprache und die Anmuth- feines Vortrages höchft ausgezeichneter Lehrer; er befige alfo drei felten in folhem Grade vereinte Eigenjchaften eines vorzüglichen Brofeflors an einer Hochichule,

In kirchlicher Hinficht trug ich nicht das. geringfte Bebenfen, weil ih aus der ganzen Haltung feiner Schriften Die völlige Sicherheit geichöpft hatte, er fei Feiner Frivolitaͤt fähig, fondern er werde als gewifienhafter Mann die Dogmatik wirflich fo lehren, wie er fich felbft Darüber ausgeſprochen hat:

„Es bildete ſich in mir und meinen gleichftrebenden Freunden der Gedanfe einer Dogmatif. Es follte, meinten wir, zuerſt die biblifhe Vorftellung dargelegt werden; dieſe hierauf Durch Die häretiihen Einjeitigfeiten hindurd. fi zum kirchlichen Dogma fort beftimmen; das Dogma fofort in der Polemif des Deismus und Rationalismus ſich auflöfen, um, geläutert, durch den Begriff fich wieder herzuftellen.” Nun dieß, Dächte ich, ift Doch des Poſitiven genug, nicht rein negativ, wie gewiſſe Sacultäten vermeint haben,

Jh fagte: „feine Fritifche Methode felbft fteht dem Autori⸗ tätöglauben an die Worte des Lehrers fehnurftrads entgegen und muß in den Zuhörern den Geilt der Prüfung werden; fürchtet doch nicht, daß fie unbedingt auf des Meifterd Worte ſchwören werden: im Gegentheil eben fo gute Drthodoren werden aus feiner Schule hervorgehen, als aus derjenigen unjerd ehrwürdigen, allerfrei- finnigften Schultheß vor euern Augen herummwandeln.”

Doc, der übrige Verlauf dieſes Trauerfpiels ift Ihnen allzu befannt, ald daß ich weiter Dabei verweilen möchte.

Nur einen Grundirrthum vieler unferer Mitbürger möchte ich beſeitigen. Mancher wirklich redlihe Mann fpricht etwa: „wie edel wäre ed doch geweien, wenn Strauß zu rechter Zeit ein Ent⸗ Iaffungsbegehren eingefandt; wie Hug und zeitgemäß, wenn ir- gend einer feiner Zürichercollegen ihn dafür beichworen hätte!”

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Meine Freunde, wer diefe Meinung. begt, hat offenbar feinen richtigen Begriff von wiſſenſchaftlicher Ehre. Strauß iſt geſetz⸗ maͤßig berufener Profeſſor an einer Hochſchule ; er iſt zugleich der. Träger einer heiligen Idee; diefe darf er nicht verrathen, er muß fein guted Recht und feine Idee um jeden Preis verfechten.

Oder glauben Sie, wenn eine Rotte flarentiniſchen Stadt- poͤbels einſt dem fuͤrſtlichen Kaufmann Lorenzo de' Medici zugemu⸗ thet hätte, er ſolle ſich ihr zu Gefallen zahlungsunfaͤhig erflären;. wenn eine Rebellenſchaar Bayard, den Ritter ohne Furcht und ohne Tadel, erfucht hätte, ihr eine von ihn befehfigte Feſtung unver⸗ zuͤglich zu übergeben, Lorenzo und Bayard hätten der Bande, der Rotte alſobald entſprochen?

Wie mancher Züricher mag unſern Zwingli fußfällig gebeten haben, er ſolle doch. mit feiner Predigt Des göttlichen Wortes inne: halten und verftummen; bann, von jenem kurz abgewieſen, ſich nachher gewaltig verwundert haben, wie doch der gelehrte Meiſter Ulrich ſo „ſtarrſinnig,“ ja fo „unedel” fein könne, ein. ſo nar- türliches Geſuch nicht auf der Stelle zu erfüllen.

Durch den letzten Beichluß des hohen Regierungsrathes iſt nun, die Sache der Entſcheidung der oberſten Landeshehörde an— heimgeſtelli worden.

Nicht wahr, meine Freunde, Sie theilen mit mir die Anſicht, daß mit dem Augenblicke der Abſtimmung des großen Rathes, ſie mag ausfallen wie ſie will, aller Streit über die Stellung des Herrn Profeſſor Strauß zu unſerer Hochſchule aufhören, muß, daß die weitere Fortſetzung derfelben eitel, ja gefegmwidrig, wäre? Uns aber, den Lehrern wie den Studirenden, kommt es vor allen übrigen Buͤrgern zu, dem ſchlimmen, von Andern gege⸗ benen Beiſpiele der Verletzung des Geſetzes, des Ungehorſams gegen Die Kundmachungen der Regierung nimmermehr zu folgen, jondern unferer heiligen Bürgerpflicht Genüge zu leiſten. Unfere, individuellen Anfichten, Meinungen, Leidenſchaften, muͤſſen wir der Willenserklaͤrung des großen Rathes unbedingt unterwerfen.

Natürlich aber Tann über die von Strauß ausgefprochenen Ideen ſelbſt keine menſchliche Behörde zu Gericht figen, noch weniger

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ein Endurtheil darüber fällen. Nein, ein Tangwieriger, auf Tod und Leben (wohlverftanden im geiftigen Sinne) durchgeführter Kampf dazu befähigter Geiſter, ein Kampf, deſſen Aus- gang - die jeßt von irdiſchen Gewalten unterftügten Theologen nody nicht abzufehn vermögen, wird es entfcheiden, ob die religiö- fen Ideen, zu welchen auch ich mich frei und offen befenne, ber- einft das unveräußerlihe Eigenthum des fortfchreitenden Pro- teftantismus, der wahrhaft freien Kirche fein und bleiben werden, ober ob fie der rüdfchreitende Proteftantismus (wenn er dann noch diefen Namen verdient) verwerfen wird, fo daB man ihrer dereinft nur als einer biftorifchen Sonderbarfeit, einer Heinen Hä- tefis, in der Kirchengefchichte kurze Erwähnung thun wird?

Den thatfächlichen Entfcheid diefer geiftigen Lebensfrage und defien Einwirfung auf ein veredeltes, wahrhaft religiöfes Dafein der Menfchheit, werde ich ficherlich nicht erleben, wahrfcheinlic felbft Sie nicht, meine Freunde, obgleich fo begabt mit aller Fülle jugendlicher Lebenskraft. Allein mit ruhigem Blicke fehe ich in bie ferne Zufunft hinaus. Der Geiſt ift frei von den Feffeln der Zeit und des Raumes.

Sch gedachte noch, mich über Die theologische Lehrfreiheit auszu— ſprechen. Allein ich wüßte in der That nichts bündigeres hierüber zu fagen, ald Sie nächſtens in einem ganz trefflihen Send: fchreiben des ehrwürdigen Paulus finden werden. Möchte dieſe Zufchrift Hauptfächlich auch von unferm Klerus beherzigt werden und ihm zu einiger Belehrung dienen. Bei uns handelt es ſich nun um dieſe Frage: |

Sol die theofogifhe Fakultät wie bisanhiu, wie an den deutfchen Univerfttäten, Lehrfreiheit behalten? oder foll fie unter die Vormundſchaft eines, abgerechnet eine rühmliche Ausnahme, mit der Wiſſenſchaft und ihrem jetzigen Standpunfte nicht fonderlich vertrauten Kirchenrathes gefeßt werden? Mit andern Worten, foll fie eine theologifche Facultät bleiben, oder zum bloßen Prediger- feninar werden ?

Glaubt die Kirche, durch die Facultät in der Predigerbildung

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gefährdet zu werden (was aber ein eitler Wahn, wohl eigentlich ‚nur ein hierarchiſcher Vorwand ift) nun, fo gründe fie aus ihren ‚Mitteln noch ein theologifches Seminar ; ja fie faffe den Beſchluß, feiner könne fernerhin Diener des „Oberhauptes der Landeskirche? werden, welcher nicht dieſe Firchliche Anftalt ein oder zwei Jahre befucht habe.

Doch eine noch wichtigere Frage beängſtigt jetzt unſer aller Gemüth, meine Freunde, unſre geſammte Hochſchule; ihr Sein oder Nichtſein. Schon vorher habe ich zu zeigen verſucht, daß Zürich einer Hochſchule bedürfe: gerne ſetzte ich noch Hinzu, fo lange bis feine freie Eidgenöffifche begründet wird. Doch damit hat es noch gute Weile. Ganz überflüffig wäre es offenbar, Ih— nen al das DBerfehrte und Unfinnige, das Schändliche, das Gräßliche einer Zerftörung der Hochjchule vor Augen zu legen.

Meiner Anficht nach wäre dieß nichts anderes als ein geis ftiger Selbſtmord.

Alles zwar ift möglich geworden: denn wer vermag es Der ſcheuß⸗ Tichften aller Erinnyen, der Wuth des Fanatismus, Zaum und Gebiß anzulegen? Nicht einmal Der, welcher fie unbefonnen und ruchlos aus den düftern Tiefen des Tartarus emporbeſchworen und auf unfre früher fo glüdliche Heimath losgelaſſen hat.

Geſchieht das Unglaubliche, fo werden wir und wiederum ‚dem Ausſpruche der oberften Landesbehörde, mit Trauer zwar, aber der Bürgerpflicht gemäß, unterziehen. Lehrer und Schüler gehen auseinander: die Wiffenfhaft wandert aus; die Hörfäle ftehen einfam und verödet da; eine traurige Ruine nicht Der Vor- zeit, fondern einer im Toben aller geiftigen Kräfte jammervoll wo⸗ genden, ſchiffbruchigen Gegenwart.

Doc wie würde ſich eine ſolche Verlegung, ja Bernichtung der Staatsehre vor der Eidgenoffenfchaft, vor dem gefammten gefitteten Guropa, in den fünftigen Fahrbüchern unferer Gefchichte ausnehmen? Denkt denn feiner der Gegner unferer Hochfchule mehr an die Nachwelt? an den inhaltsfchweren Denkſpruch: Die MWeltgefhichte ift das Weltgericht. Fürchtet Feiner mehr

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einen zweiten Johannes von Müller? Zn diefem Kalle der Zerftörung ber höchſten Zierde unſers Kantond, bliebe mir außer der Frefftätte der Religion imd der Wiffenfchaft, fürwahr m Ein Troft: Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor! Daß heift, meine Frennde: Vielleicht find unter Ihnen ſetzt ſchon einer oder meh⸗ tere, oder ed kommen nach Ihnen ſolche Zünglinge, welche es fi ‚mit reiner Begeifterung zur ernften Lebensaufgabe machen werben, die ungehenre Schmach barbarifcher Zerſtörungswuth wieder von ' unferm Sreiftante abzuwälzen, und eine neue, noch vollfomimnere, jedenfalls dauerhaftere Hochfchule zu ftiften. In der Hoffnung, das Unglaubliche werde nicht gefchehen, wollen wir heute von ‘einander fcheiden. Meine Freunde, ich danfe Ihnen noch einmal herzlich für alle Ihre Liebe!

Da das folgende Schreiben ver Stuventenichaft mir unmittelbar vor dem Vortrage überreicht wurde, jo lautete in demſelben ©. 3. 9. 8. folgendermaßen:

„ber falfches Zartgefühl wäre es geivefen, hätte ich nicht von Ihnen ein Schreiben angenommen, deſſen Inhalt und Form mich gleich fehr erfreut, für viel Widriges tröftet, ja neu ermu⸗ thigt, von meiner bald zurüdgelegten Bahn nimmermehr abzu⸗ irren.

Sochgeachteter Serr Profeſſor!

Zurichs freie Studierende glaubten ſchon mit feſter Zuverſicht, daß ſie in unſerm freien Lande bald den Tag ſehen, an dem unſere Hochſchule endlich dem Wahne trotzen fönnte, daß in Re- publiken fein Boden zu finden ſei, auf welchem die Wiſſenſchaften

gedeihen, und ihre Tempel errichten können. |

Sie freuten ſich als ächte, geiftig geftärfte Republifaner, unferer Anftalt als einer Stätte des reinften, höchften, freiften Allkampfes, wo Wahrheit gegen Wahrheit zieht, und fich aneinander erprobt, wo Jeder ohne Schen und Furcht Zeugniß gibt von dem, was in ihm lebt, utid wenn er and) neu und bfigend ift, doch Den Funken fprüben läßt.

Unfer Vaterland vermag und zu begeiftern für die Idee des Sreiftaats, und was wir in und felbft erlebt, und Männer, bie ſich⸗ der Wiffenfchaft geweiht, fie weifen uns Hin, wo die freie Wiſſenſchaft blüht; aber hier in Zürich follte e8 eine Wahr- heit werden, wie diefe von jenem getragen, jener durch dieſe ge⸗ krönt wird, wie eine republifanifche Hochfchnfe die Stimmen Des freien Geiſtes alle zum freien Kampfe in fich emporziehen, das Leben des freien Volkes nad) feinem geiftigen Gehalte noch ein- mal erzeugen foll.

Aber es iR eine Zeit gefommien, wo dieſer Anſtalt die fchärf- ften Angriffe drohen, wo ihr Lebensprincip, ja geradezu ihre Exiſtenz wieder in die Frage kömmt, eine Zeit, die ihr um fo gefährlicher ift, da Alles feine Bahnen zu verlaflen und in Ge- biete überzugreifen fcheint, Die der anderd gewöhnte Geift nicht zu umfaffen, nicht zu begreifen vermag.

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In folder Zeit der Verwirrung, da wirb es heilige Pflicht, feft zu ftehen in der reinen Idee des zu erhaltenden Gutes; wer für die Hochſchule Fämpft, muß für die freie Wiſſenſchaft kaͤm⸗ pfen, und wer für fie mit Begeiflerung lämpft, wird nicht von Zweden der Parteien gefpornt.

In dieſem Sinne hat ſich die Studentenfchaft gegen unfere vberfte Landesbehörde ausgefprochen, in dieſem Sinne, Herr Pros feffor, haben wir auch Ihre Stimme im Erziehungsrathe gehört; und wir hielten Shre Stimme für eine der erften, die mit Diefer Begeifterung in der obfchwebenden Frage gegeben worden, und wir fönnen Sie feierlich verfichern, wir glaubten uns nicht mehr ehren zu können, ald wenn wir ebenfo republifanifch, ebenfo rein wiſſenſchaftlich uns ausfprächen.

Empfangen Sie alfo unfern innigften Danf, es fpricht zu: gleich das Vaterland, die Wiſſenſchaft, fo wie fie in uns leben⸗ ‚dig geworden. Nicht weil Sie für den Herrn Profeffor Strauß Ihre Stimme gegeben, denn darüber wären auch die Stubie- renden nicht einig fondern weil Sie ihn rein um der Willen- fchaft willen berufen, empfangen Sie ihn! Denn ed bat den Süngling gefreut, daß Sie ihm freie Wahrheit bieten wollen, und faft noch mehr, daß Sie ihm felbft zugetraut haben, eben- falls frei zu fein, fo daß er zu prüfen und auch zu verwerfen vermöge.

Verehrter Herr Profefior, die Studentenfchaft erkennt Ihren Sinn; möge dieß Ihnen ein geringer Erſatz dafür fein, daß Die mei- fien Andern ihn nicht begreifen; wir wollen fuchen, in unferm Streben Ihnen zu folgen, und Sie und uns dadurch zu ehren.

Die allgemeine Berfammlung der Studenten.

——

Bwingli vordem Örofen Rathe

in dem Jahre 1522.

Dramatifche Scenen aus dem Leben des Reformators.

+

Mit einem Nacdhfpiele: Zwingli vor dem Großen Natbe

en indem Sabre 1839.

1839.

Vorwort.

„Ich übergebe hier einige Scenen aus Zwingli's Leben dem leſenden Publikum. Für Behörden find fie beſonders beſtimmt, denen in dieſen ſtürmiſchen Tagen das Steuer der öffentlichen Ordnung und der gemeinfamen Intereſſen anver⸗ traut if. Mögen fie in dem Spiegel' der Vergangenheit die Gegenwart erbliden! Die Gefchichte gibt den Völkern und ihren Führern ernfte Lehren. Wer die Ereigniffe der jüngften Zeit in unferem Vaterlande beobachtet bat und zu würdigen verfieht, weiß, mad auf dem Spiele ftebt. Volk, laß. dich be- lehren, laß dich warnen und führen! Führer, geht uner— fhroden die Bahn der Pflicht und Ehre voran. Mit Weig- heit und begeifterter Kraft leitet ein freies Volk!

Meine Leſer werden frappante Aehnlichkeit zwifchen

Zwingli’s Zeit und der unfrigen finden. Sch babe fie nicht:

gefucht, fie hat fih von felbft dargeboten. Ich ging mit Ausnahme der Scene des Bolksauflaufes, der eigentlich in Luzern ftattfand, vein gefchichtlich zu Werke. Selbft die Na⸗ men der handelnden Perfonen find faft ſämmtlich hiſtoriſch und nicht ohne Abficht beibehalten worden. Diejenigen, welche immer die Gefahr der Landestirhe im Munde führen und Straußens Lehre mit Abfcheu betrachten, bitte ich, wenn fie noch Vernunft hören können, doch mit ruhiger Befonnenheit Zwingli’s eigene Ausfprüche, befonders feine Predigt im Grof-

münfter zu lefen. Sch babe fie hauptfächlich zu ihrer Beru⸗

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higung bier aufgenommen. Dadurch hat zwar die Lebhaftig- keit der Darftelung gelitten, doch will ich gerne das Lob des Schriftſtellers hingeben, wenn ich einige von ihnen für die Wahrheit gewinnen kann. Sie müſſen ſich daraus über— zeugen, daß Zwingli nie eine Landeskirche in dem Sinne grün: den wollte, in welchem ſie dieſelben verſtanden wiſſen wollen. Sie werden ferner einſehen, mit welchem Abſcheu Zwingli jede Auflehnung des Volkes und beſonders der Geiſtlichen gegen rechtmäßige wackere Regierungen betrachtet habe. Auf meine Treue in der Mittheilung feiner Lehre dürfen fie ſich verlaffen; Äh war infoferne nur Kopiſt, Hottingers Reformationgge- fhichte meine Duelle. Der vollftändige. Titel jenes Werkes ift: Geſchichte der Eidgenoffen während der Zeiten der Kicchen: trennung, erfle Abtheilung, Zürich, bei Orell, Füßli und Compagnie, 1825.

Möge auch dieſer dramatiſche Verſuch beitragen, die Ruhe, die ſeit dem 29. Jenner aus ſo mancher Bruſt dahin geſchwun⸗ den, wieder in fie zurück zu führen! Möge er unter unſern Stellvertretern im Großen Rathe die Läffigen fpornen, die Wankenden befeftigen, die Unerfchütterlichen mit froher Zuver⸗ ficht begeiftern! Mitbürger, wir ‚haben .eine gute Sache! ſie muß ſiegen, wenn wir es werth ſind.

J

|

Zwingli

vor dem Großen Rathe

im Jahr 1522.

Berfonen:

Felix Schmied, erſter Bürgermeifter.

Marfus Rönſt, zweiter Bürgermeifter.

Diethelm Röuſt,

Grebel,

Edlibach,

Schweizer,

Hürlimaun, Laudvogt.

Eſcher, Statthalter.

Faber, Geueralbikar des Bischofs von Konſtanz.

Wagner, Seſaudter von Schaffhauſen.

Vadian, Geſandter von St. Gallen.

Ufteri, Prob uud Ehorherr.

Hofmaun,

Göldli, Chorherren.

Myfonius,

Zmwingli.

Leo Judä—.

"Schmied, Komthur der Johanniter.

Jakob von Shwerzenbadh, Pfarrer.

Wilhelm Röubli, Vikar von Wiedifon.

Adelheid Lemann, feine Braut.

Haller von Bern, , un

Bernhard Weiß, | ihre Beiftände.

Mutter der Braut. et

Ein Zleifcher. Gerichfsperfonen. Bürger. Landleute. Die Handlung fpielt im Kanton Zürich.

2 Zeit der Handlung: 1519 bie 1524.

Räthe.

Erſte Scene. (Shorheren in Zurich.)

uſteri, Probſt, Hofmann, Göldli, Myfonius, Die übrigen Chorherrn.

Probſt. Hochehrwürdige Väter! Cs kann Euch nicht mehr un⸗ bekannt ſein, in welcher Abſicht wir uns in dieſer Stunde hier verfam⸗ melt Haben. Es handelt fh um bie Wahl eines neuen Leutprieſters am Sroßmünfſter. Mehrere achtbare Kompetenten haben ſich für die Stelle gemeldet. Ihe kennet ihre Namen amd die Verdienſte der Ein⸗ zelnen. Wir wollen nun den Würdigften aus ihnen waͤhlen. Euch, Hochehrwürdiger Peter Konrad, will ich zuerft in Anfrage feßen: wen - fhlaget Ihr uns vor ?

Hofmann. Pater Fabula! Er iſt zivar ein Fremder, betet aber fleißig das Brevier, iſt dabei ein. eifriger Anhänger des Papfies und hat durch feinen frommen Eifer ſchon drei Ketzer auf den Scheiterhaufen gebradht.

Mykonius. Entſetzlicher Eifer, der mit Tigergrimm gegen Schulölofe wüthe. Ich. trage. auf: Wermerfung hei. Unmenſchen am. Mir bedürfen in unferer freien Stadt Peiner Inquiſitoren. Ich empfehle dagegen. einen andern. fehr würdigen Mann: Huldreich Srolngf von Wildhaus.

Göldli. Wie, den Heterodoxen, der den Nonnen zu heirathen und Fleiſch zu genießen erlaubt?

Mykonius. Eden darum. Uns fehle ein, fedfinniger Heildenn kender Daun as unferer Kirche. und: der ift Zwingli. „Dabei fi er ein ei gebildeter Tchesloge, welcher den alten: Sprachen mädtig ift.

Hofmann. Er liest den heidniſchen Pindar.

Mykonius. Was ihm nur zur Ehre gereicht. Bon: den hohen Muſtern der Humanitat, die wie. in, den altem Griechen aufgeſtellt fin: den, mülfen wir lernen.

Hofmann, Auch gegen den Ablaß und die Ohrenbeichte had ® von r der Kanzel in Einſiedeln geſprochen.

Mykonius. Hat er Unrecht getan, warum wies man ihn nicht zurecht? Im Gegentheil, er genoß an jenem MWallfahrtsorte der ausge: zeihnetfien Achtung; fein Ruf verbreitete fih in und außer dem Baterlande.

Göldli. Wird er für unfere Stiftseinkünfte Sorge tragen?

Mykonius Das weiß ich nicht, allein, daß er in feiner Amts: führung gewiffenhaft fein wird, davon bin ich überzeugt. Hört ihn nur erft fprechen, den begeifterten Redner. Gr ift Feine tönende Schelle; fein Vortrag ſchwebt nicht in den Wolfen; er ift klar, wohl geordnet, dem Volke durchaus verftändlich, vol Kraft und Salbung. Was den andern betrifft, der zuerft in Vorſchlag kam, fo weiß ich nichts anders von ihm zu urtHeilen, ale: ich Fenne den Mann nicht, Ich trage darauf an, daß man Zwingli zum Leutpriefter wähle. (Paufe.)

Prälat. Wenn Niemand weiter das Wort verlangt, fo laſſet uns abfiimmen. Denket Eures Eides, dem Wägſten und Beſten gebe jeder feine Stimme.

F (Stimmen werden abgefammelt und gezählt.)

. Hochehrwürdige Väter, es ergibt fich aus der Zählung der Stim⸗ men, daß von 24 17 auf Zwingli gefallen (ind. Huldreich Zwingli ift alfo unfer Zeutpriefter. Cr lebe!

Zweite Scene.

(Sroßmünfter.) Z wingli auf der Kanzel. Zwei Bürger.

Erſter Bürger (im Hintergrunde der Kirche, halblaut). Horche mit mir auf Alles, was der Ketzer predigt, damit wir dem. Pater Sam: fon recht viel erzählen Fönnen. Gr fpendet uns dafür reichlich Ablaß.

Zweiter Bürger. Führt dir gar wunderfame Reden. Erfi ‚ließ er fich „ganz deutlicy merken, die Päpfte könnten auch irren, wie andre Menfchen, ja fie Hätten fchon oft in den wichtigftien Dingen geirrt.

Zwingli (predigt). Zum Schluffe unferer heutigen Betrachtung Iaffet uns noch die Hauptpuntte derfelben zufammen faffen.

Ich ſprach zuerfi von der wahren Religion, dann von der wahren Kirche, endlich vom theuren WBaterlande.

Erfier Bürger. Was will uns der Fremdling vom Daterlande ſchwätzen? u

Zweiter Bürger. Horch!

Zwingli. Gott ſpricht nicht nur durch die heiligen Schriften zu uns, fondeen auch durch die Wunder und Gefeke der Natur, durch die Erfahrungen des. chend, durch die Schriften der gricchifchen und romi⸗

E J

ſchen Weiſen, denn auch Plato, Pythagoras und Seneka haben aus göttlichen Quellen getrunfen; und wir werden jenfeits neben Moſes und Johannes auch Sokrates, Ariſtides, Kamillus, die Katone und Scipionen finden.

Erſter Bürger. Hörſt du, er läßt die Heiden ſelig werden. Durch Abgöttrer, ſagt er, hätte ſich Gott den Menſchen offenbart. Wollen wir länger ſchweigen?

Zweiter Bürger. Geduld!

Zwingli. Was iſt die Kirche? Sie iſt die ächte Gemein⸗ fame aller Frommen, von Gott allein gekannt. Unter allem Volke, wer ihn verehrt, yehört zu derfelben als Mitglied.

Exrſter Bürger. Er glaubt an feine Fatholifche Kirche. Die Landeskirche ſchwebt in Gefahr!

Zwingli. Daß keiner fpreche: der einfältige Menfch mag das göttliche Wort nicht verfichen. Der Meifter, der ihn ſolches lehrt, Heißt weder Papft, noch Koncilium, noch Doktores, noch Väter. Es iſt der Vater Jeſu EhHrifti feld. Er gibt die Weisheit denen, die ihn bitten.

Erfier Bürger. - Pater Samfon lehrt es anders. Cr fagt, Niemand als die Gelftlichen verfichen die Bibel auszulegen; darum hät: ten fie Audirt. Der Unverfchämte !

Zwingli. Der Beruf des Predigers fordert vielfache Sorge, Wachſamkeit, Entſagung; auch alle Süßigkeit des Herrſchens, ſelbſt in geiſt lichen Dingen muß den Geiſtlichen fremd bleiben. Sie aber find größtentheile dem Miüffiggang und der Sinnenluſt ergeben. Ihre Serefchfucht kennt keine Grenzen. Ich rede befonders von den Mönchen.

—Erſter Bürger. Länger Halt ich nicht zurüd. Unſere feommen, wohlehrwürdigen Väter öffentlich beſchimpfen! Ä

Beide (rufen laut). Der Zwingenmacher, fchlagt ihn todt, den Keper !

(Unwille unter dem Volk; die nähft Stehenden ergreifen bie Beiden unb

führen fie hinaus. Es berrfcht wieder Ruhe.)

Zwingli. Laſſet Euch in Eure Andacht nicht ſtören. Die Wahrheit kann ohne Kampf und Widerſpruch nicht ſiegen. Noch ein Wort Über die Liche zum Waterlande. Sie fordert vor allen Dingen Gehorſam gegen dieLandesohrigfeit, denn iſt fie niht von Gott geordnet? So fällt ihr denn auch über - die Landeskirche die Auffiht zu. Ich kann nirgends finden, daß je bei den Alten zweierlei Herrfchaft gewefen, eine weltliche und eine geiftliche. Sie hätten auch nie fich vertragen können. Chriſtliche Lehe ver, laſſet es Euch daher nicht verdrießen, wenn eine Gewalt, die Ihr mit Unrecht befeffen, von Euch genommen wird. Geht voran mit dem Beifpiel der Bürgertugenden, des Schorfams gegen

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40 - die Obrigkeit! Gefühle ein Jeber aus und feine Pflichten, mb | das Wohl des. MWaterlandes wird feft wie die Felſen unferer Ulpen ſtehen. Amen.

Dritte Scene. (Marftplas in Wädenfchweil.)

Hürlimann. Fleiſcher. Ein Bürger. Bolt. (Wildes Gefcbrei.)

Bürger. Wen fchleppen fie dort einher ?

Landvogt. Einen Popanz, der den Zwingli vorfiellt. Den rechten aber haben fie nicht. Sie führen ihn zum Gcheiterhaufen.

(Tumult nähert fich.)

Bürger: Was bat aber Zwingli verbrochen, daß man ibm an das Leben wii?

Landvogt. Er iſt ein Ketzer. Er iſt Schuld, daß meine beiden Wchter das- Kloſter verlaffen Haben. Er hat auch ‚gepredigt, daß der Bauer nicht fehuldig fei,_ den Jehnten zu geben. Jetzt hat er wider: rufen, darum, weil er ein Chorherr ift werden, und werm ich es- thäte, hätte man midy ſchon längft ertränft. Ich weiß, er wird einft neh meiner Serren von Zürich und der Gidgenofienfchaft Leib und Seele verführen. Wenn man ihn längft verbrannt hätte, wäre ihm Recht voideffahren.

Fleiſcher. Er widerfeht fich aud) dem Bündniſſe unferer Stadt mit dem Könige von Franfreich, was unferer Zunft Nachtheil bringt.

Bürger: Ihe folltet ihm vielmehr Dank wiffen‘, weil er gegen die Fafttage eifert. Die Leute effen nun öfter Fleiſch.

(Der Arfgug ift bei den Sprechenden angelangt. Man errichtet in Haſt einen Scheiterhaufen, zündet ihn an, und wirft den Popanz in die Slammen.)

Bürger. Was für eine feltfame Mütze das Bild auf dem Kopfe trägt, roth mit Feuerflammen und mit: Teufen, welche die ‚Zunge her: vorſtrecken, bemablt.

Zandvogt. Go bringt es die Sitte der Religion mit fich.

Bürger. in folches Treiben nennt Ihe Religion ?

Landvogt. Welt Ihr ſchweigen? Ihr feid auch einer von der neuen Lehre.

Bürger. Darf man für Rede und Wahrheit feine Stimme sticht erheben ?

Zandvogt. Ihr feid ein Schelm! Kin. Lutheramer !

Mehrere. Schlagt ihn todt! Ins Feuer mit. ihm!

Bürger. Daß Ihr es nur wiſſet, Herr Landvogt, Euch Achte es

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- Befonderd übel an, alſo gegen einen Maun zu wüthen, der vechtmäßig, mit Vorwiſſen und Einwilligung unfereer Regierung zum Prediger if geroählt worden. (Volk ruft: Greift ihn, in die Flammen mie ihm! Mehrere wollen fich feiner bemächfigen. Er entflieht.)

Vierte Scene. Saal im Rathhaus.

Felix Schmied, erſter Bürgermeifter. Marfusföuf, zweiter Bür⸗ germeiſter. Diethelm Röuſt. Grebel. Edlibach. Schweizer. Andere Räthe.

Erſter Bürgermeiſter. Es iſt euch, hochgeachtete Hemen, be⸗ kannt, was für eine Zweiung über die Lehre unſers Zwingli Stadt und Land ergriffen hat. Der Biſchof von Konſtanz hat über die Ver⸗ letzung der Kirchengebräuche Klage erhoben, und die Geſandten, die er in Folge derſelben abgeordnet hat, vernahmen bereits Zwingli. Allein vergebens. Zwingli macht ſie verſtummen. Sie brachten ihre Beſchwerde vor den Kleinen Rath, und da ſie auch hier nicht durchdringen konnten, wollen ſie heute in unſerer Verſammlung vor der höchſten Behörde ihre Klage zum letztenmal erheben. Der heutige Tag iſt entſcheidend; Sieg oder Niederlage iſt fein Loos. Zwingli ſammt dem ganzen Klerus iſt einberufen. Obſchon die Hifchöflichen Geſandten allein vernommen fein wollten, Eonnte ich doch nicht dazu eimwilligen : dem Beflagten werde fein Kläger gegenüber geftellt. Bedenket nun und überlegt mit allem Ernſte, was Ihe zu thım gefonnen feld. Wollt Ihr den Huldreich fahren laffen oder ihn gegen feine Widerfacher nach beften Kräften fchligen : dieß ift die große Frage, dieß der Gegenſtand unferer heutigen außeror⸗ dentlichen Berathung, die ich hiemit für eröffnet erkläre. |

Diethelm Röufl. Mir haben Zwingli mit weifem Vorbedacht in unſere Stadt berufen. Daß Mißbräuche im unſerer Kirche vorhanden ſeien, leidet keinen Zweifel. Dieſe Ohrenbeichte, dieſe Meſſen, dieſes Wallfahrten, Faſten, und fo viele Auswüchſe an dem lebendigen Baume des Chriſtenthums, können wir ſie länger dulden? Von unſern Mönchen erwartet kein Heil, fie Eennen ihr Antereffe zu gut, um fi zu einer Öurchgreifenden Religionsverbefferung hergeben zu wollen. Sie zittern für ihre Klöfter und Pfründen. Sie haben auch den Muth, den das Bewußtſein der Tugend gibt, nicht. Der Papft ift ihe Abgott. Zwingli dagegen ift freifinnig, Bat uns fchon Beweiſe von feiner Entichloffenheit, für die Wahrheit Alles zu opfern, gegeben, und wird fürder zue gutem Sache fiehen, Dabei verbindet er Klugheit und Borfiht mit Muth und

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Eutſchloſſenheit. Wenn ihn aber etwas mir teuer gemacht bat, fe iſt es fein unbefcheltener Lebenswandel und feine .Befcheldene Sitte. Bir haben ihn gerufen, er hat feine Verbindlichkeiten erfüllt, wir ' Können wicht anders, wir müffen ihn aufrecht halten. .

Grebel. Die Menge ift gegen ihn eingenommen ; fie iſt taub gegen die Stimme der Bernunft.

Diethelm Röuft. Die Menge ift verführt. Sie fürchte ich nicht. Die Geiftlichen follen die Herzen des Volkes umflinimen.

Grebel. Eben die Geiſtlichen find Zwingli's gefährlichſten Feinde. Diethelm Röufl: Nicht ale. Würdige Amtsbrüder, wie Les

Judä und Bullinger ſtehn ihm helfend zur Seite. Nur die dummen Möõnche und einige liederliche Chorherrn find feine Feinde darum, weil er fie Lügner, Müßiggänger, Schlemmer, und zwar mit Recht fehalt; weit er ihre Falkenjagden und Kurtifanen nicht dulden will.

Zweiter Bürgermeifter. Aud von uns find einige, daß ich es offen ‚geftehe, an diefem großen Zwiefpalt Schuld, diejenigen näm: lich, die fletd Abends und Morgens in den Klöftern effen und trinken. Diefe ſtärken die Bonzen und ermuntern fie zum Widerfland gegen uns. Solche find es ferner, die ihe Blut fire franzöfifche Jahresgelder ver: kauft haben. Wahren fie aber ihres Hauptes! Das Geſetz iſt für al Mitglieder des Staates gegeben! In keinem Falle fürchten wir die träge Mönchsarmee. Eind wir niht Männer ? Haben wir nicht in Schlachten unfee Blut verfprißt ?

Edlibach. Die Gedichte wird mit ehernem Griffel unfere Thaten aufzeichnen; Ruhm oder Verachtung erwartet und vor der Nachwelt.

Schweizer. Ich will licher mein Leben ald von Meifter Zwingli lafien *).

Erſter Bürgermeifter. Uebereilen wir au nichts! Hören wir ion zuerfi, und Finnen ihn feine Ankläger nicht überführen, dann ifl Mahrheit in dem Manne. Dann ifl es aber auch unfere Pflicht, für ihn entfchloffen einzuftehn. Hochgeachtete Herrn! as ift nun Euer letzter Entſchluß?

Die Räthe. Wenn er Wahrheit ſpricht, wollen wir, müſſen wir ihn in feinem Rechte ſchützen.

Erſter Bürgermeifter. So bolet ihn denn herbei!

(Rathediener ab.)

*) Der Edle hielt Wert. Er fiel bei Kappel.

43 Fünfte Scene.

Generalvifar Faber. Wagner. Badian. Zwingli. Leo Zudd.

"Hofmann. Komthur Schmid. Prälaten. Achte. Doftoren.

N

Der Übrige Klerus.

Erſter Bürgermeifter. Es ift euch bekannt, Hochgelehrte, edle und würdige Herren! welche Zwietracht fich in neuern Zeiten bei und in geiftlichen Dingen erhoben hat. Bon Vielen wird unfer, bier anweſende Prediger, Huloͤreich Zwingli, ein Ketzer gefcholten. Oft Hat er uns um ' Veranftaltung eines öffentlichen Geſpräches mit feinen Gegnern gebeten, der Rath ihm durch Ginberufung diefer Verſammlung willfahrt. Wer ihn von fchriftwidrigee Lehre überzeugen kann, ift eingeladen, diefes un⸗ verholen und furchtlos zu thun; denn wir wünſchen einmal auf ben Grund der Wahrheit zu fommen, und find der Unruhe müde.

Zwingli. Wehlan denn,-in dem Namen Gottes, bier bin ich!

(Allgemeines Stifffchtveigen.)

Bürgermeiſter. Wer etwas anzubringen weiß oder wünſcht, der trete hervor!

(Stillſchweigen.)

Zwingli. Um der chriſtlichen Liebe willen bitte ich Jeden, der meine Lehre für irrig hält, ſeine Bedenken auszuſprechen. Ich weiß, daß mehrere hier ſind, die mich der Ketzerei beſchuldigt haben; ich wäre ge⸗ zwungen, ſie mit Namen aufzurufen.

(Need Slillſchweigen, endlich)

Sine Stimme aus dem hinterſten Raum. Wo find nun die Helden, die auf den Straßen und beim Wein tapfer pochen? Hier

iſt ihr Mann!

(Allgemeines Gelächter.)

General vikar. Ihr verwerfet die Anrufung der Mutter Gottes und der Heiligen.

Zwingli. Ich beſchwore Euch, die Schriftftellen anzuführen, welche für ſie ſprechen.

Generalvikar. Ich bin nicht hergekommen mit Euch zu freiten , ſondern Zeuge eueres Widerrufs zu ſein.

Zwingli. Wenn Ihr mich meines Jrrthums überführet.

Hofmann. Papft Leo und Kaiſer Karl haben jüngſt Lehren, wie die Eurigen find, verdammt, und fo follten dieſelben auch nicht ge:

‚predigt werden. Warten wir die Entfcheidung über diefelben von einer

fünftigen Kirchenverſammlung ab. Ich bin zehn Jahre zu Heidelberg geweſen, oder dreizehn, und babe bei einem feommen, fiudirten Mann gewohnt, ‚mit ihm gegeflen und getzunfen fo manches mal aber nie gehoͤrt,

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daß man von ſolchen Sachen disputiren fol. Darum will ich wicht disputiren, fondeen gehorfam fein, erſt dem Bifchof, dann dem Probſt, dies ſollt auch Ihr als Leutpriefler thun.

(Gelächter.)

Zwingli. Daß unſere Lehre falſch und verführeriſch ſei, das ſoll Meiſter Konrad beweiſen; wenn er aber ſagt, daß keine Irrthümer ſollen abgethan werden bis auf Verordnung einer Kirchenverſammlung, ſo er⸗ Höre ich öffentlich: Nicht der jüngſtgeborne Sohn eines der Anweſenden wird. ein Konzilium erleben, wo das Wort Gottes Recht behält.

Hofmann. Ich werde Öffentlich gegen Euch predigen.

Zwingli. Und ih wid Euch öffentlich darein reden, fo gewiß Ihr mir einen einzigen Satz bringet, der mir das Wolf verführen Eönnte. -Deffentlih müßt Ihe mir Mechenfchaft geben, oder aus der Kirche ent: rinnen.

Hofmann. In alten Zeiten hat man es fo gehalten:

Erſter Bürgermeiſter (ihn unterbrechend). Ihr kommet von der Sache ab.

Komthur. Wir ſollen die Bilder und Statuen jetzt nicht anfechten, fondern fo lange mit ihrer Abfchaffung warten, bis fein Aergerniß da: . durch mehr entfiände. |

Zwingli. Wollte man fo lange damit warten, fo fäme man gar nie dazu. - | .

Komthur. No bleibt ein wichtiger Punkt übrig, die Meſſe.

Zwingli. Es ift wahr, ich habe mie gegen fie harte Ausdrüde erlaubt, getraue mir aber dies zu verantworten, Diele find, die allein das Bittere van mir auffaffen; wer mich näher Fennt, weiß auch, daß ih nachgeben kann. So Habe ich von Anrufung der Heiligen gefagt: Klaget das Gurige wen Ihr wollt; ich will das Meinige Gott Flagen. Meine Pflicht aber Heifcht nach meiner Weberzeugung zu reden. Es ge: falle oder nicht. . -

Komthur. Mit diefer Erklärung bin ich wohl zufrieden.

Bürgermeifter. Wünſcht weiter Niemand mehr das Wort zu ergreifen ?

(Paufe. Er fährt forf.)

Da Meifter Huldreich Zwingli von Niemand ift widerlegt worden, fo haben Bürgermeifter, Räthe und der Große Rath für diefen Fall be: ſchloſſen, und iſt ihre ernftliche Meinung, daß Huldreich fortfahren folle, - wie bisher, das Evangelium zu verfünden.

Zwingli. Der Allmächtige fei gelobet! Er will, daß fein heiliges ort herriche. Euch, meine Herren von Zürich, bitte ich dringend feft daran zu halten. Wohl mag auf Euch, wohl aucd auf mich noch viel Ditteres warten ; aber wir follen nicht zaghaft werden. Gott wird Guch,

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darauf vertrauet, Keaft geben, fein Evangelium im eurer Landſchaft zu handhaben, und was Ihr je darum erleiden moͤchtet, das wird ce durch andere Gaben Euch reichlich vergelten. Amen.

Schste Scene.

Kirche in Wiedikon. Man ſieht den Altar mit Blumengewinden geziert. Darauf liege. ziwei goldene Ringe.

Jakob von Schwerzenbadh, Pfarrer. Wilhelm Nöubli. Adel: heid Leemann. Haller von Bern. Bernhard Weiß. Die Mutter dee Braut. Zwei Bürger. Volk.

Erſter Bürger. Kür wen ift der Traualtar feſtlich geſchmückt ?

Zweiter Bürger. Du weißt nicht, daß der Bilar von Wiedlkon ſich heute verehlicht?

Erſter Bürger. Was, gegen das päpſtliche Verbot? Segen uns auffösfiche Gelübde?

Zweiter Bürger. Hat ſich was zu löſen! Was Menſchen knupfen, können Menſchen auch wieder löſen. Iſt dee Papſt ein Herrgott? Der Kaplan ſhut nach meiner Anſicht recht daran, daß er heirathet. Haben doch andere fchon vor ihm das Nämliche gethan. So diefer Haller von Bern, der heute ald DBeiftand erfcheinen wird. So andere mehr, nur heimlich, mas ich nicht billigen kann. Offen gehandelt, wenn man vor Gott und der Welt das Hecht auf feiner Seite Hat.

(Zug nahf, voran die Braufleute, dann ihre Beiſtände und Freunde, das Volk befchließt ihn.) Da kommen fi! Erfter Bürger. Schon ift die Braut. Zweiter Bürger. Und ehrbar. Der hat gut gewählt. Erfier Bürger. Woher ift das Mädchen, und wie heißt fie? Zweiter Bürger. Adelheid Leemann von Hirslanden. Erfter Bürger. Ein muthiges Mädchen ! Zweiter Bürger. Ihr Name fol verewigt werden.

(Pfarrer tritt zum Altar und winkt dem Paare; fie fiellen fich vor ihn.)

Pfarrer. Tretet herbei, ihe Liebenden, zum Zraualtar. Ihr dürfet es, sie ungleich aud die Welt von eurem Schritte denken mag. Seit Jahrhunderten feid ihr das erfie Paar, das in der Eidgenoffenfchaft bes geht, was den Prieftern von Päpften und Biſchöfen verhalten geweſen. Doch unfere Religion verwirft nieht die füßeften Triebe der Nutur, fie heiligt ſie nur. Hat fie doch Gott in das Menſchenweſen gepflanzt:

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ein ift auch das Gebot des Liebenden : „Water und Mutter foll ver Loffen der Menſch, daB Mann und Weib fich vereinen.“ Hinweg mit den Sakungen paäpſtlicher, Willkühr! Geh’ denn in Frieden, Blühende Tochter. Sei dem Manne ein fruchtbarer Weinftod um fein Haus; die Kinder um Guern Tifch wie des Delbaums Sprößlinge. So wird gefegnet ein Mann, der dem Herrn vertraut! Lieblid und ſchön fein ift nichts; ein gottesfürdhtiges Ehweib bringet Lob und Segen! denn bauet der Herr das Haus nicht, dann arbeiten umfonft die Bauenden! So laffet und denn den Bund der Ehe würdig fchliegen! Wilhelm Roubli, ich frage vor Gott und diefer Verfammlung : Wählt Ihr mit ernſtem Bedacht zur chlihen Gattin die Jungfrau Adelpeid Leemann! Verſprecht Ihr als chriftliher Ehmann Freude mit ihr und Kummer, wie Gott in diefen Zeiten es fügt, zu ertragen, und fie troß Papft und Bannſtrahl nicht zu verlaffen, bis Gott Euch väter: lich fcheidet ?

Vikar. Ja!

Pfarrer. Adelheid Lemann, ich frage Euch auch vor Gott und dieſer Berfammlung : Wählt Ihe mit ernſtem Bedacht zum ehlichen Gatten den Vikar Wilhelm Röoͤubli? Verſprecht Ihr als chriflliched Ehweib Freude und Kummer, wie Gott es fügt, zu erfragen und ihn nicht zu verlaffen, was auch die Welt davon urtheile, bis Gott Euch väterlich fcheidet ?

Adelheid (weinend). Ja! |

Pfarrer. So gebt Euch die Hände und wechfelt die Ringe, fie binden Euch jtärker als Papft und Kloftee! Ich fegne hiemit als Diener des göttlichen Wortes fo gut ald Bifchof und Papft, fegne mit allem Segen des allbarmherzigen Gottes Euren ehlichen Bund! Euch hat der Vater im Himmel beide zufammengefügt; Fein Kaifer noch Papſt vermag Euch zu fcheiden. Segn’ und behüt' Euch der Herr! der Herr laß Leuchten fein Antlitz gnädig über Euch; es erhebe ‚der Here fein Antlig und geb’ Euch feinen Frieden allhier und dort in Ewigkeit! Amen.

Erfter Bürger. Schön war die Handlung! Hat fie mich alten Mann doch faft zu Thränen gerührt.

Zweiter Bürger. Noch unfere Kindeskinder werden davon reden.

Erfier Bürger. Warum heirathet doch auch der Urheber aller diefer Reformen, unfer Zwingli, nicht ?

‚Zweiter Bürger. Das wird fich finden. Die Klugheit hat es Bisher noch nicht geftattet. Doch weiß ich von fücherer Hand, daß er im Stillen um Anna Reinhard wirbt.

Erſter Bürger. Um die fchöne, reiche Reinhard, die junge Witwe?

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Zweiter Bürger. Eben diefe meine ich. Und fie fol ihm bes reits recht gut fein.

Erfter Bürger. Wer Fönnte den Mann baffen, der uns allen zum Segen ins Land gekommen iſt. Wohin geht nun der Zug?.

Zweiter Bürger. Dorthin in den blühenden Baumgarten. Dort in Gottes freiem, heiteren Tempel, wo die Bäume ihre Aeſte zum grü⸗ nenden Dome wölben, dort werden die Liebenden mit ihren theuern Angehörigen ein fröhliches Mahl halten.

Erſter Bürger. Glück und Segen dem ſeltenen Hunde!

(Sie frennen fich.)

Letzte Scene. Kirche zu Wädenfchiveit. " .

Eſcher, Statthalter. Aktuar. Zwei Bürger. Doll.

Statthalter. Mitbürger! Ich Habe Euch im Namen der Re: gierung eine Verordnung vorzutragen. Ihr wiſſet, daß zu wiederholten . Malen die Lehre Zwingli's von Geiftlihen und Weltlihen im Angefichte der Megierung ift geprüft und nichts als Wahrheit darin erfunden worden. Der Rath der Zweihunderte bat Hierauf Wereinfachung des Kultus befchloffen. Er Bat aber zugleich verheißen, diefelbe noch ein halbes Jahr anftehen zu. laffen, damit in der Zwifchenzeit von Jeder: mann, der dazu Beruf fände, Gegengründe eingefendet werden Fönnten. Dies Alles it Euch bekannt. Seitdem ift die gefammte Geifilichkeit- nochmals einberufen worden, doch Eonnte ſich auch da Niemand ale Gegner erheben. Nun iſt die anberaumte Friſt abgelaufen, ohne daß von irgend einer Seite her Gegengründe wären geltend gemacht worden. Darum hat der Große Rath am Pfingfitage folgende Verordnung ges teoffen, die Hiemit verlefen werden fol.

Aftuar (liest). „Mir Bürgermeifter, Klein und große Räthe zu ‚Zürich verorönen wie folgt : Der ganzen Gemeinde fol der entzogene Gebrauch des Kelches wieder geftattet fein. Täglich foll Morgens eine ' Predigt flattfinden. Die Sakramente follen von nun an in der Mutter: fprache gefpendet werden. Wir haben uns ferner entfchloffen die Bilder abzufchaffen. Was bisher für Zierrathen derfelden verwendet worden ift, fol den Armen zum Beften kommen. Die Lehrer dürfen nichts anders als das göttliche Wort, frei von päpfilihen Zuſätzen, predigen. Indeß ift nicht unfere Abfiht Jemanden mit Gewalt in Slaubensfachen zu zivingen. Darum Hat Zwingli den Auftrag empfangen, eine kurze Ans leitung der gereinigten Glaubensichre zu verfaffen, welche euch wird be⸗ fannt gemacht werden. Endlich follen ale Schimpfreden aufhören, denn

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wie find zum Frieden berufen. So fei denn das Werk im Namen Gottes und mit der Hoffnung begonnen, ee werde mit feiner Hand das Schiff felder führen.“

Statthalter. Ihr feht, daß die Regierung jedem billigen Wunſche Remung trägt. Seid Ihr es nun zufrieden ?

Bolt. Mir find es! wir find es!

Erfter Bürger. Wir haben vernommen, - daß fich mit verfdie denen Kantonen feindliche Verhältniffe angefponnen Haben. Wir wünfchen, daß diefelben ausgeglichen werden.

Statthalter. Zweifelt nicht, daß die Regierung ihre Pflichten erfüllen werde. Bereits find Bern, Schaffhaufen und einige andere Kan: tone gewonnen, den übrigen follen zweckmäßige Borftellungen gemacht werden. _

Erfter Bürger. Beſonders mit Schwyz und Zug wollen wir nachbarliche Freundſchaft erhalten wiffen. Wir wären dem Anfall diefer Kantone zuerſt ausgefckt.

Statthalter. Die Regierung wird Euch fehügen.

Zweiter Bürger. Mir mwünfchten auch, daß die fetten Kloſter⸗ mahlzeiten abgefchafft würden. Mancher Müßiggänger findet dadurch Vorſchub. Beſſer, die Gemeindearmen werden dafür gefpeist. Gefchähe dies nicht, fo würden auch wir kommen, um von ſolchem Sen und Trinken unfern Theil zu nehmen.

Mehrere. Mir danken der Megierung für ihr freundliches Gehör, für ihre Rathsbotſchaften und für die zur veligiöfen Belehrung uns zu: gefendeten Druckſchriften.

Statthalter. Freuen wird es die Behörden, «ure geänderten Ge⸗ finnungen Eennen zu lernen. Und fo fei uns ihre Verordnung willfommen, wofür fie noch den Segen fpäter Jahrhunderte empfangen werden. Ruhm und Ehre folge ihren Befchlüffen nad.

Nahfpiel

Zwingli vor dem Großen NHathe

im Jahr 1839.

Perfonen.

Erſter Bürgermeiſter. Zweiter Bürgermeiſter.

H...... S...... Regierungsräthe. St... ) H...... Präfident bed Glaubenskomites. E...... Aftuar desſelben. Regierungerätpe. Kantonsräthe. Kirchenräthe. Deputirte der Gemeinden.

Volk. Schauplatz: Kantou Zürich. Zeit: 1839.

Erfte Scene.

® Humanitäfögebäude.

Zwingli (anfangs unter dem Volke). H., Präfident des Glaubens: fomite's. Aktuar E. Pfarrer 3. Abgeordnete der Gemeinden. Volk.

Präfident. Eo find wir denn einig diefe Adreſſe an den Re gierungsrath zu überreichen? Herr Altuar, leſen Sie diefelbe den An: wefenden vor.

Aktuar. Das Glaubensfomite des Kantons Zürich hat im Namen des Volkes befchloffen, folgende Adreſſe an den Regierungsrath zu er: laſſen: „Dr. Strauß von Ludwigsburg darf und ſoll nicht kommen. Ja er darf niemals an irgend einer Xchranftalt unfers Kantons eine Anftellung erhalten. Bisher hat das Wolf die Stellung feiner Stellvertreter gefhont, länger aber prüfe man feine Geduld nicht mehr, es befindet fihb im höchſten Grade der Kraft und in der höchſten Spannung. Gefährlich wäre der Widerftand der Regierung. Sie hat ihren Pakt mit uns gebrodhen. Sie Hat den Artikel der Verfaffung, wel: cher den Beſtand der Landeskirche garantirt, verlest. Sie muß nachgeben. Und wenn der Große Rath nicht willig ift, fo werden wir auf einer Landesgemeinde unfere Forderungen erzwingen.

Präfident. Sind Sie mit diefer Adreffe einverfkanden ?

Deputirte Mir find ee.

Präfident. So wollen wir fie noch heute der hohen Behörde be: bändigen. Noch heute muß uns Antwort werden. (Leife zu Pfarrer 3.) Wir Haben gewonnen. Die bisherige Stellung Ihrer Heren Amtsbrüder ift gefichert.

- Pfarrer. 3. (eben fo zum Präfidenten). Ich wünſche Glück zum Miniſterſtuhl.

Präſident (laut). So laſſet uns denn Gott danken, daß er uns dieſen Weg geleitet Hat, um feine heilige Religion zu beſchützen. Bwingl i friff hervor. Schrecken und Staunen ift auf allen Gefihfern zu

fefen.)

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Zwingli (ergreift, zum Zifche teetend, die Adreſſe). Dieß die Urkunde eurer fchändlichen Umtriebe! Eure Regierung foll und muß euerer Glaubenswuth weichen? (zerreißt das Blatt und wirft es bei Seite.) Da liege, Infteument des Aufruhrs, Denkmal der Verführung eines guten, doc, leicht zu bethörenden Volkes. Gehorſam feid Ihr Eurer höchſten Behörde fchuldig.

Pröfident. Sie Hat ihre Vollmacht überfchritten, indem fie die Landeskirche angriff.

Zwingli. Das lügft Du in Deine Eeele. Die Landesficche ſteht feft, und wird beſtehen, fo lange es Gott gefällt. Was hat die Wiſ— fenfchaft bei der Kirche anzufeagen, wenn es fih um Anſichten und Lehrmeinungen handelt? Glaubensfreiheit ift gewährleiſtet; ihrer darf der Lehrer an der Hochſchule um ſo weniger beraubt werden, da Ih mit derfelben einen fo argen Mißbraud) treibt.

Pfarrer 3. Wir gedachten nur Deiner Worte, wenn wir für "die Kirche firitten.

Zmwingli. Leſet meine Schriften : wo babe ich einer flabilen Kirche das Wort geredet; wo die Ausſprüche der Vernunft verhöhnt; wo Aufs ruhe gegen die Obrigkeit gepredigt? Binnen drei Stunden fordert Ihr Antwort auf Eure revolutionäre Adreſſe! Go ehret Ahr die Behörde, die Euch Gott nah Eurem Willen gegeben hat ?

Präfident. Die Gemeinden verlangen nad) ſchneller Entfcheidung.

Zwingli. Die Gemeinden haben Euch den Auftrag gegeben, ihnen die DBefchlüffe eures Winkelkonziliums früher zur Einficht vorzulegen. Ihr betrüget fie fhbändlih und Euch ſelbſt. Solche Willkühr wird den

Getäuſchten zuerft die Augen öffnen. _ Pfarrer 3. Wir Haben die Gemeinden redfich ermahnt zu wachen

und zu beten, und übrigens Alles dem Heren anheim zu ftellen.

Zwingli. Nein! Ihr Geiſtlichen habt das Feuer der Zwietracht zu Stadt und Land angefacht. Ihr ſeid noch jetzt geſchäftig, Oel in die Flammen zu gießen. Auf Euch fällt die ſchwerſte Verantwortung zurück. Hinweg mit Euch Barbaren von dieſer Stätte, wo einſt Huma⸗ nität gelehrt wurde. Hinweg, im Namen des Herrn befehl' ich Euch, oder Ihr ſollt Zwingli's Grimm erfahren hinweg!

(Oas Comite zerſtreut ſich.)

Zweite Bceme. (Rathefaal.) Beide Blrgermeifter. Regierungsräthe. D.... Sch..... Re... G.... Kirchenrath. F..... Kantonsräthe.

Erfter Bürgermeifter. Hochgeachtete Herren! Der heutige Tag tuft uns auf eime außerordentliche Weiſe hieher. Die Straußiſche Sache ift es, die uns befchäftigen ſoll. Schon der Umftand ihrer Voll: zaͤhligkeit beweist das Intereſſe welches Sit daran. nehmen. ie fol heute zur Entſcheidung! Gteauß iſt zum Profeffor an der Hochſchule gewählt. Das Volk will ihn nicht. Was iſt nun unter folchen Um⸗ Ränden zu: befchliegen? Dieß Die Frage, deren Beantwortung und nun obliegt.

Zweiter Bürgermeifter. Das Boll will Doktor Stranß niht? Das Wolf ift getheilt. Gin Theil, ich Hoffe, der beffere, der gebildetere, will Doktor Strauß Haben; ein anderer will ihn nidyt, ein deittee iſt unentfchieden. Zu weldhem Theile gehören wir? Auch zu Zwingli’s Zeiten, war Parteiung zwiſchen Stadt und Land. Dennod fhüßte ihn die Behörde mit Nahdrud. Ich trage darauf an: Doktor Strauß foll kommen und lehren.

R. R. 9. Meine Anfiht geht dahin, man fol Doltor Strauß ſeinen Ruhegehalt ausſetzen.

R. R. Sch. Einem rüſtigen Manne von 32 Fahren?

Doftor K. Man möchte fih Billig wundern, wie ganz andere die Sprache einiger Volksmänner Hier, als einft auf den Gefilden Uftere lautet.

RR. H. Tempora mutantur, et nos mulamur in ipsis.

F. Ih finde es nöthig, daß die Landesbehörde dem Glaubens: Fomite aufrichtiges Bedauern ihrer bisherigen Uebereilung bezeuge, denn, geftehen wir es uns offen, die Souveränetät des Volkes ift verletzt wor⸗ den: wie find ihm Genugthuung ſchuldig.

(unwillen und Gelächter in der WBerfammlang.)

Doktor 8. Wenn man Recht und Verfaffung nicht mehr reſpek⸗ tiven will, wenn unferer Hochfchule ihre fchönfte ‚Zierde fehlen foll: fo falle mit Strauß auch fie: ih trage auf die Aufbebung der Hoch⸗ fhule an.

(Lebhafte Bewegung unfer den Anivefenden.)

Zweiter Bürgermeifter. Here Präfident! Hochgeachtete Herren! Wohin follen alle diefe Ertreme führen? In unfere Mitte ſelbſt herrſcht Uneinigkeit. O daß nun Zwingli's Geiſt Euch beſeelte! Daß der Treffliche ſelbſt unter Euch ſtünde!

23 Dritte Scene.

Zwingli. Die Vorigen.

Zwingli (tritt plötzlich ein). Hier ſteht er und wird nicht wei⸗ chen, bis er der Wahrheit Zeugniß gegeben. Soll Strauß kommen oder nicht, dieß ift die Frage. Nichts Hat Eure Vorgänger im Amte gehin⸗ Bert, meine Perfon gegen Papft und Reich zu fehlten. Wen fürchtet Ihr jeht? Ihr Habt den Mann gewählt: könnet Ihr nod zurück? Die ganze Schweiz ſieht in dieſer Stunde auf Eure Entſcheidung, die Geſchichte iſt bereit, ſie in ihre Annalen aufzuzeichnen. Ihr wollt Strauß mit einer Penſion abfertigen? Iſt es dem begeiſterten Religions⸗ freunde um klingend Gold zu thun?- Er hat Eure Wahl angenommen ; er will ihe gemäß dem Rufe der Vorfehung folgen, feine eigenthlimliche Lebensbeftimmung erfüllen: und Ihr wollt zurück? Sind Euch Verttäge nicht Heiliger? Ihe wolltet ernöten, allein die Ausfaat koſtet einige. Müpe: darum Habt Ihr die Hände in den Schooß gelegt. Noch ift nicht Alles verloren! Aber nur Entjchloffenheit, Kraft, Beharrlichkeit führt zum ſchönen Ziele.

Erſter Bürgermeiſter. Dieſer Rath ſcheint denn doch be⸗ denklich. u

Zwingli. WBor drei "Jahrhunderten waren die Vorſtände des Rathes nicht fo bedenfenvol. Sie traten entfchieden feft auf.”

R. R. S. Damald war eine Reformation nöthig; nicht aber in unfer® Tagen.

Zwingli. Der Mißbräuche gibt es auch unter Euch vollauf. Kaum erkenne ich meine Kirche mehr. Klagt ja das Glaubenskomite über religiöſe Leerheit, über vorherrſchende Sinnlichkeit und Ueppigkeit.

F. Wir wollen ſelbſt die nöthigen Reformen einleiten, haben auch damit bereits begonnen. |

Zwingli. Wohl hat Euch die Landesbehörde lange genug die Initiative gelaffen. Allein was iſt gefchehen? Die Laufe Habt Ihe feei gegeben, ein neues Chorhemd verfertigt, und den Teufel aus dem Katechismus gefirichen. Die Reformen aber, die Ihr weiter im Sinne haben möget, drohen der geiftig = religiöfen Freiheit neue Gefahren und flimmen durchaus nicht zu dem Begriffe meiner Kirche.

% Wir glauben doch eben die Landeskirche, wie du fie gefchaffen, verbiete uns die Berufung des Doktor Strauß.

Zwingli. Meine Kiecche ift eine mit der „Zeit fortfchreitende, Ihr aber Habt fie fiabil gemacht, fie ift feit drei hundert Jahren Stilftänderin.

Zweiter Bürgermeifter. Was ratheft du uns alfo?

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Z wingli. Strauß ſoll kommen, doch nicht in dieſen Tagen der Unruhe. Den Schwachen im Glauben Rechnung zu fragen, ſtellt ihm einen zweiten Lehrer an die Seite. Im Uebrigen nehmt das Verfahren Eurer Vorgänger zum Vorbilde. Wahret die Glaubensfreiheit! In Betreff der Landeskirche ſpreche ich heute wie vor drei hundert Jahren: „Euch fällt die Aufſicht über ſie zu. Ich kann nirgends finden, daß je bei den Alten zweierlei Herrſchaft iſt geweſen, eine geiſtliche und eine weltliche. Sie hätten auch nie ſich vertragen können. Ihr aber, theure Amtsbrüder in Chriſto, geht voran mit dem Beiſpiele aller Bürger⸗ tugenden, des Gehorſams gegen die Obrigkeit!“ So ſprach ich im Jahre 1519. Nicht anders kann ich heute reden.

Zweiter Bürgermeiſter. Es iſt alſo unſere heiligſte Amts- pflicht, zu kräftigen Maßregeln zu ſchreiten. Recht, Verfaſſung und Freiheit ſtehen auf dem Spiel.

Rathsdiener (mit Depeſchen, tritt fehnel ein). Die Vorigen.

Erxfter Bürgermeifter (nachdem er gelefen). So eben meldet man vom rechten Seeufer, ein Gewalthaufen Habe fi) gegen das Ge: minar in Bewegung gefeßt.

Augemeine Unruhe.)

Unter ſolchen Umftänden erkläre ich die Sitzung für aufgehoben. Meine Herren, Sie ſind entlaſſen.

Zweiter Bürgermeiſter. Vergeſſen Sie nicht, Hochgeachtete, meines letzten Wortes. Alles für Recht und Verfaſſung!

(Verſammlung geht raſch auseinander.)

Druck von Orell, Füßli u. Comp

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