i
1
^
SUBSTANZBEGRIFF UND FUNKTIONSBEGRIFF
Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik
von
ERNST CASSIRER
il
VERLAG VON BRUNO CASSIRER BERLIN 1910
Vorwort.
Die erste Anregung zu den Untersuchungen, die dieser Band enthält, ist mir aus Studien zur Philosophie der Mathe- matik erwachsen. Indem ich versuchte, von Seiten der Logik aus einen Zugang zu den Grundbegriffen der Mathematik zu gewinnen, erwies es sich vor allem als notwendig, die Be- griffsfunktion selbst näher zu zergliedern und auf ihre Voraussetzungen zurückzuführen. Hier aber machte sich alsbald eine eigentümliche Schwierigkeit geltend: die her- kömmliche logische Lehre vom Begriff zeigte sich in ihren bekannten Hauptzügen als unzureichend, die Probleme, zu denen die Prinzipienlehre der Mathematik hinführt, auch nur vollständig zu bezeichnen. Die exakte Wissenschaft war hier, wie sich mir immer deutlicher zu ergeben schien, zu Fragen gelangt, für welche die Formensprache der tradi- tionellen Logik kein genaues Correlat besitzt. Der sachliche Gehalt der mathematischen Erkenntnisse wies auf eine Grund- form des Begriffs zurück, die in der Logik selbst nicht zu klarer Bezeichnung und Anerkennung gekommen war. Ins- besondere waren es Untersuchungen über den Reihenbegriff und den Grenzbegriff (deren spezielles Ergebnis übrigens in die allgemeineren Erörterungen dieses Buches nicht aufge- nommen werden konnte), die diese Überzeugung in mir be- festigten und damit zu einer erneuten Analyse der Prinzipien der Begriffsbildung selbst hindrängten.
Allgemeinere Bedeutung gewann das Problem, das hier- durch bezeichnet war, freilich erst dann, als es sich zeigte, daß es sich keineswegs auf das Gebiet der Mathematik beschränkt, sondern von hier aus auf das Ganze der exakten Wissen- schaften übergreift. Die Systematik dieser Wissenschaften
gewinnt eine verschiedene Gestalt, ie nacMem man sie gleich- sam unter verschiedenen logischen Perspektiven betrachtet. So mußte nunmehr der Versuch gemacht werden, von dem einmal gewonnenen Gesichtspunkt aus, den Formen der Begriffsbildung in den einzelnen Disziplinen — in der Arith- metik, wie in der Geometrie, in der Physik, wie in der Chemie — nachzugehen. Hier genügte es für den Gesamtzweck der Untersuchung nicht, einzelne Beispiele aus den besonderen Wissenschaften zur Stütze der logischen Theorie heranzu- ziehen, sondern es mußte versucht werden, sie in der Gesamt- heit ihres prinzipiellen Aufbaus zu verfolgen, um hierbei die einheitliche Grundfunktion, von welcher dieser Aufbau be- herrscht und zusammengehalten wird, immer bestimmter heraustreten zu lassen. Die Schwierigkeiten, die der Durch- führung jedes derartigen Planes entgegentreten, habe /ich mir nicht verhehlt; wenn ich mich dennoch zuletzt entschloß, ihn in Angriff zu nehmen, so tat ich es, weil sich mir immer deutlicher zeigte, eine wie reiche und wichtige Vorarbeit für , ihn in den Einzelwissenschaften selbst bereits geleistet, war \^ Immer bewußter und energischer hat sich insbesondere inner- halb der exakten Wissenschaften das Interesse der Forscher von den besonderen Zielen zu den philosophischen Grundlagen zurückgewandt. Hier gewinnt daher, wie immer man über die Ergebnisse dieser Forschungen im Einzelnen urteilen mag, die logische Aufgabe als solche überall eine reiche und un- mittelbare Förderung, Die folgenden Darlegungen haben dem- gemäß überall gesucht, sich auf die geschichtliche Entwicklung der Wissenschaften selbst und auf die systematische Dar- stellung ihres Gehalts durch die großen Forscher zu stützen. So sehr sie von Anfang an darauf verzichten mußten, die Gesamtheit der Probleme, die sich hier aufdrängen, in ihre Betrachtung aufzunehmen, so sollte doch andererseits der spezielle logische Gesichtspunkt, unter welchem sie stehen, im Einzelnen bewährt und durchgeführt werden. Was der Begriff seiner einheitlichen Leistung nach ist und bedeutet, ließ sich nur aufweisen, wenn diese Leistung durch die wichtigsten wissenschaftlichen Problemgebiete hindurch ver- folgt und in allgemeinen Umrissen dargestellt wurde.
VI
1^
Eine neue und weitere Fassung erhielt die Aufgabe so- dann, sobald von den rein logischen Grundbestimmungen zum Begriff der Wirklichkeitserkenntnis fortge- schritten wurde. Der ursprüngliche Gegensatz entfaltete sich jetzt zu einer Mehrheit verschiedener Probleme, die indes durch den gemeinsamen Ausgangspunkt, von welchem sie ihren Anfang nehmen, auf einander hp'/raen und zu einer gedank- lichen Einheit verknüpft sind. Wo immer in der Geschichte der Philosophie die Frage nach dem Verhältnis des Denkens und Seins, der Erkenntnis und der Wirklichkeit gestellt wird, da ist sie bereits in ihrem ersten Ansatz von bestimmten logischen Voraussetzungen, von einer bestimmten An- sicht über die Natur des Begriffs und des Urteils geleitet und be- herrscht. Jede Änderung in dieser Grundansicht muß daher mittelbar zugleich eine eingreifende Änderung jener allge- meineh~Fragestellung nach sich ziehen. Das System der Erkenntnis duldet keine isolierte „formale" Bestimmung, die nicht im Ganzen der Erkenntnisaufgaben und Lösungen weiterwirkte. Die Auffassung, die man einmal von der Grund- form des Begriffs gewonnen hat, greift daher unmittelbar in die Beurteilung der sachlichen Fragen ein, die "man her- kömmlicher Weise der ,, Erkenntniskritik" oder der „Meta- physik" zuweist. Wie diese Fragen sich vom Standpunkt der allgemeinen Ansicht, die in der Kritik der exakten Wissen- schaft gewonnen wurde, umgestalten und wie damit zugleich ihre Lösung eine neue Richtung nimmt, versucht der zweite Teil des Buches zu zeigen. Beide Teile gehören daher, wiewohl sie ihrem Gehalt nach weit von einander abzustehen scheinen, der philosophischen Grundabsicht nach durchaus zusammen: sie suchen ein und dasselbe Problem darzustellen, das sich von einem festen Mittelpunkt aus immer mehr ausdehnt und immer weitere und konkretere Gebiete in seinen Kreis aufnimmt. "•
Berlin, im Juli 1910.
Ernst Cassirer
VII
INHALTS-VERZEICHNIS.
ERSTER TEIL. DINGBEGRIFFE UND RELATIONSBEGRIFFE.
Erstes Kapitel: Zur Theorie der Begriffsbildimg. Seite
Der Begriff in der Aristotelischen Logik. — Aufgabe und Natxir der Gattungsbegriffe. — Das Problem der Abstraktion. — Die meta- physischen Voraussetzungen der Aristotelischen Logik. — Der Substanzbegriff in der Logik und Metaphysik 3
Die psychologische Kritik des Begriffs (Berkeley). — Die Psychologie der Abstraktion. — Abstraktion und Reproduktion. — Mills Analyse der mathematischen Begriffe. — Mängel der psychologischen Abstraktions- theorie. — Die Formen der Reihenbildving. — Elemente und Funk- tionen. — Die Stellung des Dingbegriffs im System der logischen Grundrelationen 11
Das negative Verfahren der „Abstraktion". — Der mathematische Begriff und seine „konkrete Allgemeinheit". — Die Kritik der Abstraktionstheorien (Lambert u. Lotze). — Gegenstände „erster" und „zweiter Ordnung". — Die Mannigfaltigkeit der gegenständlichen „Intentionen". — Reihenform und Reihenglied 23
Zweites Kapitel: Die Zahlbcgriffe.
I. Die Mängel der sensualistischen Ableitung. — Das System der Arithmetik. — Freges „Grundlagen der Arithmetik". — Die Zahl und die „Vorstellung" — Vorstellungsinlialte und Vorstellungs- akte . 35
II. Die logische Begründung des reinen Zahlbegriffs (Dedekind). — Die Logik der Relationen. — Der Begriff der Progression. — Die Zahl als Ordnungszahl. — Die Theorien von Helmholtz und Kronecker. — Kritik der nominalistischen Ableitungsversuche 46
IX
Seit
III. Zahlbegriff und Klasaenbegi'iff . — Russeis Theorie der Kardinal- zahl. — Mächtigkeit und Äquivalenz. — Ivritik der „Klassen"- Theorien. — Die logische Definition der Null und der Eins. — Die Voraussetzungen des Klassenbegi'iffs. — Gattungsbegriff und Relationsbegriff 57
IV. Die Erweiterungen des Zalilbegriffs. — Gauß' Theorie der nega- tiven und imaginären Zahlen. — Geometrische und arith- metrische Begründung. — Dedekinds Erklärung der Irrational- zahl. — Der Begriff des „Schnitts". — Die Zahl als Ausdruck der Ordnvings- und Reihenform 70
Das Problem der transfiniten Zalilen. — Der Begriff der Mächtigkeit. — Die Erschaffung der transfiniten Ordnungs- zahlen. — Die zwei „Erzeugungsprinzipe" der Zahl (Cjuitor) . 80
Drittes Kapitel: D«r Raumbe^^riff und die Geometrie.
I. Begriff und Gestalt. — Die Methodik der antiken Geometrie. — Raumbegriff und Zahlbegriff. — Formbegriffe und Reihen- begriffe. — Das Grundprinzip der analytischen Geometrie. — Die Infinitesimal- Geometrie. — Größen und Funktionen . . 88 II. Die Geometrie der Lage. — Anschauung und Denken in den Prinzipien der Geometrie der L«kge. — Steiner und Poncelet — Die Abhängigkeit geometrischer Gestalten — Der Begriff der „Korrelation". — Das Prinzip der Kontinuität bei Poncelet und Chasles. — Induktion und Analogie. — Das Imaginäre in der Geometrie. — Seinswert und Verknüpfungswert der geome- trischen Elemente 99
Metrische und projektive Geometrie. — Der Begriff des Doppelverhältnisses. — Die Staudtsche Konstruktion. — Die projektive Metrik (Cayhiy und Klein). — Raumbegi'iff und Ordnungsbegriff. — Geometrie und Gruppentheorie 112
III. Die Kombinatorik als reine „Formenlehre" (Leibniz). — Qualität und Quantität. — Ordnung vmd Maß. — Die Geometrie als reine „Beziehungslehro" (Hilbert). — Die Synthese der erzeugenden Relationen. — Graßmanns Ausdehnungslehre und ihre logischen Prinzipien. — Die Formen des Calculs. — Infinitesimal- Analysis und Relations-Analysis. — Die Logik des Idealismus und das System der Mathematik 119
IV. Das Problem der Metageometrie. — Rationale und empirische Begründung der geometrischen Begriffe. — Pasch's empi- ristisches System. — Idealismus und Empirismus. — Der
I
Seite mathematische imd der sinnliche Raum. — Die begrifflichen Grundbestinimungen des reinen Raumes. — Geometrie und Wirklichkeit 132
Viertes Kapitel: Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung.
I. Naturbegriffe und Konstruktionsbegriffe. — Das Ideal der
reinen Beschreibimg 148
II. Die Voraussetzungen des Zählens und Messens. — Der Begriff des Mechanismus, — Der geometrische Begriff der Bewegung. — Das „Subjekt" der Bewegung. — Die Bewegung als mathe- matische „Idee." 152
Der Grenzbegriff und seine Bedeutimg für die Naturerkenntnis.
— Idealistische und empiristische Deutung der Grenzbegriffe. — P. du Bois Reymonds Theorie. — Das Problem der „Existenz". — Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit 161
III. Das Problem der physikalischen Methode und seine Geschichte. — Der Erfahrungsbegriff des Altertums (Piaton und Protagoras). — Naturbegriff und Zweckbegriff. — Teleologie und Mathematik. — Der Begriff der Hypothese bei Kepler und Newton. — Der Er- fahrungsbegriff der mathematischen Physik. — Die logische und die ontologische „Hypothese" 17.S
IV. Robert Mayers Methodik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis.
— Hypothesen und Naturgesetze. — Die Voraussetzungen der physikalischen „Messung". — Das physikalische „Faktum" und die physikalische „Theorie". — Die Gex<,ännung der Maßeinheiten.
— Das Problem der Zeitmessung. — l')er Begriff der Konstanten.
— Die Bewährung der physikaliscVien Hypothesen 184
Das Motiv der Reihenbildung — Die physikalischen Reihen- begriffe. — Zahlbegriff und Naturbegriff 195
V. Die Entwicklung des Dingbegriffs. — Der Substanzbegriff in der Ionischen Naturphilosophie. — Die Verdinglichung der sinnlichen Qualitäten (Anaxagoras und Aristoteles). — Chemie und Alchymie.
— Das System der Gattungsbegriffe und die Physik der sinn- lichen Qualitäten (Bacon) 200
Das System der Atomistik. — Atomistik und Zahlenlehre. — Galileis Begründung des Atombegriffs. — Der Stoß der Atome und das Postulat der Kontinuität. — Das „einfache" Atom bei Boscovich und Fechner. — Der Atombegriff und die Differential- rechnung. — Die Wandlungen des Atombegriffs 205
XI
Seite Der Begriff der Materie und der Begriff des Äthers. — Die
logische Form der physikalischen Objektbegriffe. — „Wü'k-
Uche" und „nicht wirkliche" Elemente in den physikalischen
Objektbegriffen — Materie und Idee 216
VT. Die Begriffe des Raumes imd der Zeit — Newtons Begriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit. — Das Bezugs- system der reinen Mechanik. — Der Ersatz des absoluten Raumes durch den Fixsternhimmel. — Das Trägheitsgesetz.
— Absoluter und idealer Raum. — Streintz' Begriff des ,,Funda- mentalkörpers". — Ivritik des Streintz'schen Versuches. — Die Theorie C. Neumanns : der Körper Alpha. — Physik und Ontologie.
— Raum und Zeit als mathematische Ideale. — Der absolute und der .intoUigiblo" Raum: Newton und Leibniz. — Heinrich Hertz' Sj-stem der Mecheuiik. — Konstruktionen und Konven- tionen. . , 226
VII. Der Begriff ier Energie. — Der Ener{ ^ obegrif f i'nd die Sinnes- qualitäten. — Energiebegriff und Zahlbe^Tiff. — Der Maßbegriff der Arbeit. — - Die Energie als reiner R^ lationsbegriff. — Die formalen Voraxissetzungon der Energetik. — Die Methode der physikalischen „Abstraktion" (Rankines Ableitung der Ener- getik). — Das Abstraktionsproblom in der modernen Logik. — Der Grundbegri«? der Äquivalenz. — Die Energie als Ding- begriff imd als Oi^Jnungsbegriff. — Energetik und Mechanik. — „Begriffe" und „Bi.>der". — Die Forderung der Homogeneität . 249
VIII. Das Problem der Bej^iffsbildung in der Chemie. — Die Chemie der sinnlichen Qualitativ».; diePhlogistontheorie. — Das Gesetz der bestimmten Proportionen >(J. D. Richter). — Daltons Gesetz der multiplen Proportionen. -^ Die Entwicklung des chemischen Atombegriffs. — Der Atomd jj^iff als Verhältnisbegriff. — Der „regulative" Gebrauch des A;. 'vtnbegrif f s 270
Der Begriff der Valenz und die ^Vypentheorie. — Die logischen Momente des chemischen Typenbegriffs. — „Chemischer" und „molekularer" Typtis. — Der Begriff des „Radikals" und die Theorie der „zusammengesetzten Radikale" 281
Die Umbildung der chemischen Systemform. — Das perio- dische System der Elemente. — Die Pöduktion in der che- mischen Begriffsbildung. — Chemie und Mathematik .... 287
IX. Der naturwissenschaftliche Begriff und die „W^irklichkeit". — Rickerts Theorie der natxirwissenschaftlichen Begriffsbildung. —
XII
Seite Kritik der Rickertschen Theorie. — Begriff und Anschauung. — Wortbedeutungen und mathematische Begriffe. — Der Begriff als Reihenprinzip, — Das Allgemeine und das Besondere. — Der Begriff als Ausdruck von Einzelverhältnissen. — Das Problem der naturwissenschaftlichen Konstanten. — Größen- werte und Größenverhältnisse 292
ZWEITER TEIL.
DAS SYSTEM DER RELATIONSBEGRIFFE UND DAS PROBLEM DER WIRKLICHKEIT.
Fünftes Kapitel: Zum Problem der Induktion.
I. Das Problem des „Einzelfalles". — Der Einzelfall und das Gresetz.
— Das „Gedankenexperiment". — Die Voraussetzung der To- talität der Fälle. — Die Theorie des empirischen Urteils bei Locke und Mach. — - Wahrnehmung oind Urteilsfunktion. — Das Postulat der notwendigen Bestimmtheit. — Das „Ewigkeits- moment" in den empirischen Urteilen. — Die „Integration" des Einzelfalles. — Wahrnehmvmgs- und Erfahrungsurteile. — Diskrete und kontinuierliche „Ganze". — Die Erfahrung als Aggregat und als System. — Induktion mid Invariantentheorie.
— Die begrifflichen Voraussetzungen des „Naturobjekts". ■ — Induktion und Analogie 313
II. Induktion und Analysis, „kompositive" und „resolutive" Methode. — Das Experiment als Mittel der Analyse. — Die Zerlegung in „Relationsschichten". — Das Grundverhältnis der „allgemeinen" und der „besonderen" Relationen. — „Isolation" und „Superposition". — Die Relations- Synthese in der Mathe- matik und in der Erfahrtmgswissenschaft. — Gesetze und Regeln. — Die Konstanz und Eindeutigkeit des Geschehens. • — Der Begriff des „Grundes" und die mathematischen Not- wendigkeits-Relationen. — Die beiden Grundtypen des Wissens . 334 III. Das Problem der Naturgesetze. — Gesetze und Konstanten. — Die Grundform der Erfahrung. — Materiale und formale Konti- nuität der Erfahrungsphasen. — Die „Invariantentheorie der Erfahrung" und der Begriff des „Apriori" 351
XIII
Seite Sechstes Kapitel: Der Begriff der Wirklichkeit
I. Die Scheidung der „subjektiven" und der „objektiven" Wirk- lichkeit. — Die Bedeutung des Objektbegriffs. — Veränderliche und dauernde Erfahrungselemente. — Die Subjektivierung der Sinnesqualitäten. — Die Stufenfolge in den Graden der Objektivität. — Die Forderung der Kontinuität des „Gegen- standes". — Die logische Abstufung der Erfahrungsinlialte. — Die Organisation der Erfahrung. — Das Problem der „Trans- scendenz". — Das „Transscendieren" der sinnlichen Empfindung 359
Der Begriff der „Repräsentation". — Die Theorie der sinn- lichen „Species". — Die „Ähnlichkeit" des Bewußtseins und des Gegenstandes. — Die Umbildung des Repräaentations- begriffs. — Der Fortschritt zUm „Ganzen der Erfahrung". — Ver- hältnis von Wahrheit und Wirklichkeit 373
II. Der Begriff der Objektivität und das Problem des Raumes. — Das Problem der „Lokalisation". — Die Projektionstheorie und ihre Mängel. — Die Entstehiuig der Raumvorstellung. — Begriff und Wahrnehmung bei Helmholtz. — Der Reihenbegriff und der empirische Gegenstand. — Die Gliederung in Ob- jektivitätskreise. — „Projektion" und „Selektion" .... 380 m. Gegenstand und Urteilsfunktion. — Beharrlichkeit und Wieder- holbarkeit. — Dfis Problem des „Transsubjektiven". — Der falsche Begriff der „Subjektivität". — Die „objektiven" Voraus- setzungen des Ichbegriffs. — Die Korrelation des Ichbewußtseins und des Gegenstandsbewußtseins und der „kritische Realismus". — Der Gegenstand und die Denknotwondigkeit. — Der Begriff des Denkens im System des kritischen Idealismus. — Die Gegen- ständlichkeit innerhalb der reinen Mathematik. — Das „Ge- gebene" und die Denkfunktion. — Der Begriff der Materie und
das Transscendenzproblem — 389
IV Die Zeichentheorie. — Zeichen und Bild. — Das Gesetzliche der Erscheinung. — Helmholtz' Theorie der „Relativität". — Logische und ontologische Fassung des Relativitätsgedankens. — Der physikalische Begriff der Wirklichkeit. — Die Einheit des physikalischen Weltbildes 402
Siebentes Kapitel: SubjektiTität und Objektivität der Relationsbegriffe.
Die Funktionsformen der rationalen und empirischen Erkenntnis. — Die Wechselbeziehung der „Form" und der „Materie" der Er-
XIV
Seit« kenntnis. — Der Bestand der „ewigen Wahrheiten". — Leibniz und Bolzano. — Der Wahrheitsbegriff der modernen Mathematik . . 410 Die Relationsbegriffe und die Aktivität des Ich. — Das Problem des Pragmatismus. — Wahrheit und NützHchkeit. — Die UnvoUendbar- keit der Erfahrung und der kritische Wahrheitsbegriff. — Die Wirk- Hchkeit als „projektierte Einheit". — Kontinuität und Konvergenz der Erfahrungsphasen. — Die Doppelform des Begriffs 421
Achtes Kapitel: Zur Psychologie der Relationen.
I. Die logischen Relationen vmd das Problem des Selbstbewußt- seins. — Piatons Psychologie der Relationsbegriffe. — Aristoteles' Lehre vom Koivöv. — Die Psychologie der „Verhältnisgedanken"
bei Leibniz und Tetens 433
Der Begriff des „Einfachen" in der neueren Psychologie. — ■ Die Verdinglichung der „einfachen" Empfindungen. — Das Problem der „Gestaltqualität". — Die psychologische Theorie der Gestaltqualitäten. — „Empfindungen" nnd „Anschau- ungen" 439
IL Meinongs Theorie der „fundierten Inhalte". — „Phänomenale" und „metaphänomenale" Gegenstände. — Die „Gegenstände höherer Ordnung". — Der Streit zwischen Empirismus und Nativismus. — Wahrnehmungsmoment und Urteilsmoment. — Die Psychologie der Raumvorstellung. — Die Funktionen der Zuordnung und Verknüpfung. — Die Psychologie des Denkens. — Logik und Psychologie der Relationen 449
XV
Ernst Cassirer Substanzbegriff und Funktionsbegriff
4
Erster Teil Dingbegriffe und Relationsbegriffe
Erstes Kapitel Zur Theorie der Begriffsbildung
Die neue Stellung, die die Philosophie der Gegenwart allmählich zu den Grundlagen des theoretischen Wissens ge- winnt, bekundet sich nach außen hin vielleicht nirgends deutlicher, als in der Umbildung, die die Hauptlehren der formalen Logik in ihr erfahren haben. In der Logik allein schien die philosophische Gedankenentwicklung endlich zu einem sicheren Halt gelangt zu sein; — in ihr schien ein Gebiet abgegrenzt zu sein, das gegen alle die Zweifel, die sich immer von neuem gegen die verschiedenen erkenntnis- theoretischen Standpunkte und Lehrmeinungen rich- teten, gesichert blieb. Das Urteil Kants, daß hier der stetige und sichere Gang der Wissenschaft endgültig erreicht sei, schien somit bewährt und befestigt. Selbst die weitere Be- trachtung, daß die Logik, wie sie seit Aristoteles keinen Schritt rückwärts tat, so auch keinen Schritt vorwärts zu tun vermochte, mußte unter diesem Gesichtspunkt als eine Bestätigung ihres eigentümlichen Gewißheitscharakters gelten. Von dem eigentlichen Leben, von der steten Umgestaltung alles gegenständlichen Wissens unberührt schien sie allein sich gleichförmig und einförmig zu behaupten.
Verfolgt man indessen genauer den Gang, den die wissen- schaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten genommen hat, so ergibt sich auch für die formale Logik alsbald ein anderes Bild. Überall zeigt sie sich von neuen Fragestellungen erfüllt und von neuen gedanklichen Tendenzen beherrscht. Von der Arbeit, die die Jahrhunderte hier für die Formulierung der Grundlehren geleistet haben, scheint mehr und mehr ab- zubröckeln; — während auf der andern Seite jene neuen
Cassirer, Substanzbegriff 1 1* 3
großen Gebiete von Problemen hervortreten, die sich aus der Berührung mit der allgemeinen mathematischen Mannig- faltigkeitslehre ergeben. Immer mehr erweist sich diese Lehre als der gemeinsame Zielpunkt, dem verschieden- artige logische Fragestellungen, die man zuvor gesondert zu verfolgen pflegte, gleichmäßig zustreben und durch dtn sie ihre ideelle Einheit empfangen. Damit aber wird die Logik zugleich aus ihrer Absonderung befreit und wiederum kon- kreten Aufgaben und Leistungen zugeführt. Denn der Gesichts- kreis der modernen Mannigfaltigkeitslehre bleibt nicht auf die rein mathematischen Probleme beschränkt, sondern er- weitert sich zu einer allgemeinen Betrachtung, die sich bis in die spezielle Methodik der Naturerkenntnis hinein erstreckt und bewährt. Der systematische Zusammenhang, in welchen die Logik auf diese Weise einbezogen wird, aber verlangt zu- gleich eine erneute Prüfung ihrer Voraussetzungen. Der Schein unbedingter Sicherheit schwindet; die Kritik beginnt nunmehr sich auch solchen Lehren zuzuwenden, die selbst gegenüber tiefen prinzipiellen Wandlungen des allgemeinen Erkenntnisideals ihren geschichtlichen Bestand fortdauernd und scheinbar unverändert zu behaupten vermochten. —
Die Aristotelische Logik ist in ihren allgemeinen Prinzipien der getreue Ausdruck und Spiegel der Aristoteli- schen Metaphysik. Erst im Zusammenhang mit den Über- zeugungen, auf welchen diese letztere ruht, läßt auch sie sich in ihren eigentlichen Motiven verstehen. Die Auffassung vom Wesen und von der Gliederung des Seins bedingt die Auffassung der Grundformen des Denkens. In der weiteren Ausbildung der Logik beginnen sich freilich die Beziehungen zu der speziellen Form der Aristotelischen 0 n t o 1 o g i e zu lockern; aber die Verknüpfung mit ihren allgemeinen Grund- anschauungen bleibt nichtsdestoweniger erhalten und tritt an bestimmten Wendepunkten der geschichtlichen Entwicklung immer von neuem in charakteristischer Deutlichkeit hervor. Schon die grundlegende Bedeutung, die der Theorie des Be- griffs im Aufbau der logischen Erkenntnisse zugewiesen wird, weist auf diesen Zusammenhang zurück. Die modernen Bestrebungen zur Reform der Logik haben freilich versucht.
die überlieferte Rangordnung der Probleme an diesem Punkte umzukehren, indem sie der Lehre vom Begriff die Lehre vom Urteil vorangehen lassen. Aber so fruchtbar sich dieser Gesichtspunkt auch erwies, so vermochte er sich doch gegen- über der systematischen Tendenz, von der die alte Einteilung beherrscht war, nicht dauernd in voller Reinheit zu behaupten. Der gedankliche Zwang, unter dem^auch all jene Neuerungs- versuche noch standen, machte sich alsbald darin geltend, daß in die Urteilslehre selbst sich immer wiederum Züge ein- drängten, die nur aus der herkömmlichen Theorie des Gat- tungsbegriffs völlig zu verstehen und zu begründen waren. Die Vorherrschaft des Begriffs, die man zu beseitigen suchte, war somit implicit wiederum anerkannt: nicht der sachliche Schwerpunkt des Systems, sondern nur die äußere Gliederung seiner Elemente hatte sich verschoben. Alle kritischen Ver- suche einer Umformung der Logik müssen sich daher zunächst auf diesen einen Punkt konzentrieren : die Kritik der for- malen Logik faßt sich in eine Kritik der allgemeinen Lehre von der Begriffsbildung zusammen.
Die Hauptzüge dieser Lehre sind bekannt und bedürfen keiner eingehenden Darlegung. So schlicht und klar sind ihre Voraussetzungen, so sehr stimmen sie mit den Grundannahmen überein, die die gewöhnliche Weltansicht durchgehend braucht und betätigt, daß sich für eine kritische Nachprüfung hier kaum irgendwo eine Handhabe darzubieten scheint. • Nichts anderes wird in der Tat vorausgesetzt, als das Dasein der Dinge selbst in ihrer zunächst unübersehbaren Mannigfaltig- keit und das Vermögen des Geistes, aus dieser Fülle der individuellen Einzelexistenzen diejenigen Momente heraus- zuheben, die' einer Mehrheit von ihnen gemeinsam zu- gehören. Indem wir auf diese Weise die Objekte, die durch den gemeinsamen Besitz ein und derselben Eigenschaft ge- kennzeichnet sind, zu Klassen vereinigen und dieses Verfahren fortschreitend auf den höheren Stufen wiederholen, entsteht uns allmählich eine immer festere Ordnung und Gliederung des Seins je nach der Abstufung der sachlichen Ähnlich- keiten, die sich durch die Einzeldinge hindurchziehen. Die wesentlichen Funktionen, die das Denken hierbei betätigt.
*
sind also lediglich die des Vergleichens und Unter- scheidens gegebener sinnlicher Mannigfaltigkeiten. Die Reflexion, die zwischen den besonderen Objekten hin und her geht, um sich der wesentlichen Züge, in denen sie übereinstimmen, zu versichern, führt von selbst zur Ab- straktion, die eben diese verwandten Züge losgelöst von aller Beimischung mit ungleichartigen Bestandteilen rein für sich erfaßt und heraushebt. So wird durch diese Auf- fassung — und dies scheint ihr eigentümlicher Vorzug und ihre Rechtfertigung zu sein — die Einheit des natürlichen Weltbildes nirgends gestört und gefährdet. Der Begriff tritt der sinnlichen Wirklichkeit nicht als ein Fremdartiges gegenüber, sondern er bildet einen Teil eben dieser Wirk- lichkeit selbst; einen Auszug dessen, was in ihr unmittelbar enthalten ist. Die Begriffe der exakten mathematischen Wissenschaft stehen in dieser Hinsicht mit den Begriffen der beschreibenden Wissenschaften, die es lediglich mit der übersichtlichen Ordnung und Klassifikation des Gegebenen zu tun haben, völlig auf gleicher Stufe. Wie wir den Begriff des Baumes bilden, indem wir aus der Gesamtheit der Eichen, Buchen und Birken usw. die Menge der gemeinsamen Merk- male herausheben, so bilden wir in genau derselben Weise etwa den Begriff des ebenen Vierecks, indem wir eine Be- schaffenheit isolieren, die sich im Quadrat und Rechteck, im Rhombus und Rhomboid, im symmetrischen und asymmetri- schen Trapez und Trapezoid tatsächlich vorfindet und die sich hier unmittelbar anschaulich aufweisen läßt*.i Die be- kannten Hauptsätze der Begriffstheorie ergeben sich auf dieser Grundlage von selbst. Jede Reihe vergleichbarer Objekte besitzt einen höchsten Gattungsbegriff, der alle die Be- stimmungen, in welchen diese Objekte übereinkommen, in sich faßt;, während anderseits innerhalb dieser höchsten Gattung durch solche Eigenschaften, die nur einem Teil der verglichenen Elemente zugehören, Artbegriffe verschieden hoher Stufe defini,ert werden. Wie man von einer Art zur höheren Gattung emporsteigt, indem man auf ein bestimmtes
* Vgl. z. B. Drobiöch, Neue Darstellting der Logik, 4. Aufl., Leipzig 1875, § 16ff.;Überweg, System der Logik, Bonn 1857, § 51 ff.
%
Merkmal, das bis dahin festgehalten wurde, verzichtet und damit ein größeres Gebiet von Objekten in den Umkreis der Betrachtung aufnimmt, so vollzieht sich umgekehrt die Besonderung der Gattung durch die fortschreitende Hinzu- fügung neuer inhaltlicher Momente. Nennt man demnach die Anzahl der Merkmale eines Begriffs die Größe seines Inhalts, so wird diese Größe wachsen, wenn man vom höheren Begriff zum niedrigeren herabsteigt und damit die Anzahl der Arten, die man dem Begriff untergeordnet denkt, vermindert; — während sie abnehmen wird, wenn diese Anzahl sich durch den Aufstieg zu einer höheren Gattung vermehrt. . Dem weiteren Umfang entspricht daher eine fortschreitende Beschränkung des Inhalts, so daß schließlich die allgemeinsten Begriffe, zu denen wir gelangen können, keinerlei auszeichnende Eigentümlichkeit und Bestimmtheit mehr besitzen. Die „Begriffspyramide", die wir kraft dieses Verfahrens aufbauen, endet nach oben hin in der abstrakten Vorstellung des „Etwas", einer Vorstellung, die eben in ihrem allumfassenden Sein, kraft dessen jeglicher beliebige Denk- inhalt unter sie fällt, zugleich von jeder spezifischen Be- deutung gänzlich entleert ist. — y^
An diesem Punkte indes, zu dem die traditionelle logische Lehre vom Begriff mit innerer Notwendigkeit hingedrängt wird, muß sich sogleich der erste Zweifel gegen ihre ausnahms- lose Geltung und Anwendbarkeit regen. Wenn das Ziel, auf welches diese Methode der Begriffsbildung schließlich hinausführt, gänzlich ins Leere fällt: so müssen sich auch gegen den gesamten Weg, der hier gewiesen wird, Bedenken erheben. Ein derartiger Abschluß bliebe unverständlich, wenn die einzelnen. Schritte die Forderung erfüllten, die wir an jede fruchtbare, konkret-wissenschaftliche Begriffsbildung zu stellen pflegen. Was wir vom wissenschaftlichen Begriff zunächst verlangen und erwarten, ist dies, daß er an Stelle der ursprünglichen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des Vorstellungsinhalts eine scharfe und eindeutige Bestim- mung setzt, j' während hier umgekehrt die scharfen Grenzen sich zu verwischen scheinen, je weiter wir das angegebene logische Verfahren verfolgen. Und selbst vom immanenten
Standpunkt der formalen Logik aus entsteht sogleich ein neues Problem. Wenn alle Begriffsbildung darin besteht, daß wir von einer Mehrheit von Objekten, die uns vorliegt, nur die übereinstimmenden Merkmale herausheben, während wir alle übrigen fallen lassen, so ist klar, daß durch eine der- artige Reduktion an die Stelle der ursprünglichen anschau- lichen Gesamtheit ein bloßer Teilbestand ge- treten ist. Dieser Teil aber erhebt den Anspruch, das Ganze zu beherrschen und zu erklären. Der Begriff würde jeglichen Wert verlieren, wenn er lediglich die Aufhebung der besonderen Fälle, von deren Betrachtung er ausgeht, und gleichsam die Vernichtung ihrer Eigenart bedeuten wollte.\ Der Akt der Negation soll vielmehr der Ausdruck einer durch- aus positiven Leistung sein: was zurückbleibt, soll nicht nur ein beliebig herausgegriffener Teil, sondern ein ,, wesentliches" Moment sein, durch das das Ganze bestimmt wird. Der höhere Begriff will den niederen verständlich machen, indem er den Grund seiner besonderen Gestaltung auf- deckt und für sich hinstellt. Die herkömmliche Vorschrift für die Bildung der Gattungsbegriffe aber enthält in sich keinerlei Gewähr, daß dieses Ziel wahrhaft erreicht wird. In der Tat verbürgt uns nichts, daß die gemeinsamen Merkmale, die wir aus einem beliebigen Komplex von Objekten herausheben, auch die eigentlich charakteristischen Züge enthalten, die die Gesamtstruktur der Glieder des Komplexes beherrschen und nach sich bestimmen. Wenn wir — um ein drastisches Beispiel L o t z e s zu gebrauchen — Kirschen und Fleisch unter die Merkmalgruppe rötlicher, saftiger, eßbarer Körper unterordnen, so gelangen wir hiermit zu keinem gültigen logischen Begriff, sondern zu einer nichtssagenden Wortverbindung, die für die Erfassung der besonderen Fälle nichts bedeutet und leistet. Somit zeigt es sich, daß die all- gemeine formale Vorschrift für sich allein nicht genügt, daß vielmehr überall zu ihrer Ergänzung stillschweigend auf ein anderes gedankliches Kriterium zurückgegriffen wird. Im System des Aristoteles liegt dieses Kriterium deutlich zutage: die Lücke, die in der Logik zurückbleibt, wird auch hier wiederum durch die Aristotelische Metaphysik
8
alsbald ergänzt und ausgefüllt. ' Die Lehre vom Begriff ist das eigentliche Bindeglied, das beide Gebiete aneinander kettet. Für Aristoteles zum mindesten ist der Begriff kein bloßes sub- jektives Schema, in welchem wir die gemeinsamen Elemente einer beliebigen Gruppe von Dingen zusammenfassen. Diese Heraushebung des Gemeinsamen bliebe ein leeres Spiel der Vor- stellung, wenn nicht der Gedanke zugrunde läge, daß dasjenige, was auf diese Weise gewonnen wird, zugleich die reale Form sei, die den kausalen und teleologischen Zusammenhang der Einzeldinge verbürgt. Die echten und letzten Gemein- samkeiten der Dinge sind zugleich die schöpferischen Kräfte, aus denen sie hervorgehen und denen gemäß sie sich gestalten. Der Prozeß der Vergleichung der Dinge und ihrer Zusammen- fassung nach übereinstimmenden Merkmalen, wie er sich zunächst in der Sprache ausdrückt, führt nicht ins Un- bestimmte, sondern endet, richtig geleitet, in der Feststellung der realen Wesensbegriffe. Das Denken isoliert nur den A r t - t y p u s , der in der einzelnen konkreten Wirklichkeit als tätiger Faktor enthalten ist und der den mannigfaltigen, besonderen Gestaltungen die allgemeine Prägung verleiht, y Die biologische Gattung bezeichnet zugleich das Ziel, nach welchem die einzelne Lebensform hinstrebt, wie die immanente Kraft, von der ihre Entwicklung geleitet ist. Die logische Form der Begriffsbildung und der Definition kann nur im Hinblick auf diese Grundverhältnisse des Realen festgestellt werden. Die Bestimmung des Begriffs durch seine nächst- höhere Gattung und durch die spezifische Differenz gibt den Fortschritt wieder, kraft dessen die reale Substanz sich successiv in ihre besonderen Seinsweisen entfaltet., So ist es dieser Grundbegriff der Substanz, auf den auch die rein logischen Theorien des Aristoteles dauernd bezogen bleiben. Das vollständige System der wissenschaftlichen Definitionen wäre zugleich der vollständige Ausdruck der substanziellen Kräfte, die die Wirklichkeit beherrschen *.
* Zu den metaphysischen Voraussetzungen der Aristotelischen Logik vgl. bos. P r a n 1 1 , Geschichte der Logik im Abendlande I ; Tren- delenburg, Geschichte der Kategorienlohre ; H. M a i e r , Die Syllogistik des Aristoteles, II, 2, Tübingen 1900, S. 183 ff.
Die spezifische Fassung der Aristotelischen Logik ist somit bedingt durch die spezifische Fassung seines Seins- begriffs. Zwar hat Aristoteles selbst verschiedene Arten und Bedeutungen des Seins voneinander klar geschieden: und es ist die wesentliche Aufgabe seiner Kategorien- lehre, diese Sonderung des Seins in seine verschiedenen Unterarten zu verfolgen und deutlich zu machen. So wird denn auch von ihm das Sein, das die bloße Beziehung im Urteil bezeichnet, von der dinglichen Existenz, das Sein der begrifflichen Synthese von dem des konkreten Subjekts ausdrücklich getrennt. Dennoch bleibt in all diesen Versuchen einer schärferen Gliederung der logische Vorrang des Substanz- begriffs unbestritten. Nur an gegebenen und existierenden Substanzen sind die mannigfachen Seinsbestimmungen denkbar. Nur an einem festen dinglichen Substrat, das primär vorhanden sein muß, können die logisch-grammatischen Arten des Seins überhaupt ihren realen Halt und Grund finden. Quantität und Qualität, Raum- und Zeitbestimmungen bestehen nicht an und für sich, sondern lediglich als Eigenschaften an abso- luten, für sich bestehenden Wirklichkeiten.» Vor allem aber ist es die Kategorie der Relation, die durch diese meta- physische Grundlehre des Aristoteles zu einer abhängigen und untergeordneten Stellung herabgedrückt wird. Die Relation bleibt dem eigentlichen Wesensbegriff gegenüber unselbständig; sie kann ihm nur nachträgliche und äußere Modifikationen zufügen, die seine eigentliche ,, Natur" nicht berühren. / Damit aber gewinnt die Aristotelische Lehre von der Begriffsbildung einen charakteristischen Zug, der in all den mannigfachen Wandlungen, die sie erfahren hat, unverändert geblieben ist. Das kategoriale Grundverhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften bleibt fortan der leitende Gesichtspunkt, während alle relativen Be- stimmungen nur insofern in Betracht gezogen werden, als sie sich zuletzt, durch Vermittlungen irgendwelcher Art, in Zustände an einem Subjekt oder an einer Mehrheit von Subjekten umdeuten lassen. In den Handbüchern der for- malen Logik bekundet sich diese Ansicht darin, daß hier in der Regel die Verhältnisse oder Beziehungen zu den ,,außer-
10
wesentlichen" Merkmalen eines Begriffs gerechnet werden, die somit in seiner Definition ohne Schaden fortbleiben können. Hier tritt bereits eine methodische Sonderung von eingreifender Bedeutung hervor: je nach dem verschiedenen Wertverhältnis, das zwischen Dingbegriff und Re- lationsbegriff angenommen wird, unterscheiden sich — wie sich immer deutlicher zeigen wird — die beiden typischen Hauptformen der Logik, die ins- besondere in der modernen wissenschaftlichen Entwicklung einander gegenüberstehen. /
Legt man diesen allgemeinsten Maßstab zugrunde, so erkennt man ferner, daß die wesentliche prinzipielle Voraussetzung, auf die Aristoteles seine Logik gründet, auch die speziellen Grundlehren der Peripatetischen Meta- physik überdauert hat. In der Tat ist aller Kampf gegen den Aristotelischen ,, Begriffsrealismus" gerade an diesem ent- scheidenden Punkte wirkungslos geblieben. Der Streit zwischen Nominalismus und Realismus betrifft nur die Frage nach der metaphysischen Wirklichkeit der Begriffe, während die Frage nach ihrer gültigen logischen Definition außer Betracht bleibt. Die Realität der „Universalien" steht in Frage: was aber ohne allen Zweifel, wie durch ein still- schweigendes Übereinkommen der streitenden Parteien fest- steht, ist eben dies, daß der Begriff als universale Gattung, als gemeinsamer Bestandteil in einer Reihe gleichartiger oder ähnlicher Einzeldinge aufzufassen ist. Ohne diese beider- seitige Grundvoraussetzung wäre aller Streit darüber, ob jenes Gemeinsame eine gesonderte tatsächliche Existenz besitze oder nur in und mit den Sonderdingen, als anschau- liches Moment sich aufweisen lasse, innerlich unverständlich./ Und auch die psychologische Kritik des ,, abstrakten" Begriffs bringt hier, so radikal sie auf den ersten Blick er- scheinen mag, keine wahrhafte Umwandlung. Man kann es bei Berkeley bis ins einzelne verfolgen, wie sehr seine Skepsis gegen den Wert und die Leistungsfähigkeit des abstrakten Begriffs zugleich den dogmatischen Glauben an die Gültigkeit der gewöhnlichen Erklärung des Begriffs in sich schließt. Daß der echte wissenschaftliche Begriff,
11
daß insbesondere die Begriffe der Mathematik und Physik möglicherweise eine andere Aufgabe und Leistung zu erfüllen haben, als sie ihnen in dieser scholastischen Er- klärung zugewiesen wird: dieser Gedanke wird nicht erfaßt*. In der Tat ist in der psychologischen Ableitung des Begriffs das traditionelle Schema nicht sowohl verändert, als vielmehr nur auf ein anderes Gebiet übertragen. . Waren es zuvor die äußeren Dinge, die verglichen und aus denen ein gemein- samer Bestand herausgehoben werden sollte, so wird nunmehr das gleiche Verfahren nur auf die Vorstellungen als ihre seelischen Korrelate übertragen. Der Prozeß ist gleichsam nur in eine andere Dimension versetzt, indem er aus dem Gebiet des Physischen in das des Psychischen übergetreten ist, während sein allgemeiner Ablauf und seine Struktur die gleichen geblieben sind. Wenn mehrere zusammengesetzte Vor- stellungen einen Teil ihres Inhalts gemeinsam haben, so entsteht aus ihnen nach den bekannten psychologischen Gesetzen der Miterregung und Verschmelzung des Gleich- artigen ein Inhalt, in dem lediglich die übereinstimmenden Bestimmungen festgehalten, alle anderen dagegen verdrängt sind**. * Es wird auf diese Weise kein neues Gebilde von selbständiger und eigenartiger Bedeutung geschaffen, sondern lediglich eine bestimmte Einteilung des bereits vorhandenen Vorstellungsbestandes erreicht, indem gewisse Momente in ihm durch einseitige Richtung der- Auf.m. erksamkeit betont und von ihrer Umgebung schärfer abgehoben werden. Den „substantiellen Formen", die bei Aristoteles das letzte Ziel dieser vergleichenden Tätigkeit darstellen, entsprechen nunmehr bestimmte Grundelemente, die sich durch das ge- samte Gebiet der Wahrnehmungen und ,,Perzeptionen*' hindurchziehen.) Und noch schärfer und nachdrücklicher tritt jetzt die Behauptung hervor, daß nur diese ,, absoluten", für sich bestehenden Elemente den eigentlichen Kern des Gegebenen und „Wirklichen" ausmachen. Wiederum wird die
* Näheres liiorüber in meiner Schrift über das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. II, Berlin 1907, S. 219 ff.
** Vgl. z. B. Überweg, a. a. O. § 51.
12
I
Rolle der Relation so weit als möglich beschränkt : gegen Hamilton, der bei aller Anerkennung der Berkeleyschen Theorie dennoch auf die eigentümliche Leistung des be- ziehenden Denkens hinweist, betont J. Stuart Mill ausdrücklich, daß der eigentliche positive Bestand jeder Beziehung doch immer nur in den einzelnen Gliedern liege, die durch sie verknüpft werden, und daß somit, da diese Glieder nur in individueller Besonderung gegeben sein können, auch von einer allgemeinen Bedeutung der Relation keine Rede sein könne*. Der Begriff existiert nicht anders, denn als Teil eines konkreten Vorstellungsbildes und mit allen Merkmalen eines solchen Vorstellungsbildes behaftet; was ihm den Schein selbständigen Wertes und einer unabhängigen psychologischen Eigenart verleiht, ist lediglich der Umstand, daß unsere Aufmerksamkeit, die in ihrer Leistung beschränkt ist, niemals das Ganze dieses Bildes vollständig zu erleuchten vermag und sich notgedrungen auf einen bloßen Auszug beschränken muß. Das Bewußtsein des Begriffs löst sich für die psychologische Analyse in das Bewußtsein einer Vor- stellung oder eines Vorstellungsteils auf, die assoziativ mit irgendeinem Wortbild oder einem anderen sinnlichen Zeichen verbunden sind.
Die ,, Psychologie der Abstraktion" enthält somit den eigentlichen Schlüssel für den logischen Gehalt jeglicher Begriffsform. Die schlichte Fähigkeit der Reproduktion einmal gegebener Vorstellungsinhalte ist es, auf welche dieser Gehalt schließlich zurückgeht. Abstrakte Gegenstände ent- stehen in jedem vorstellenden Wesen, dem sich in wiederholten Wahrnehmungen gleiche Bestimmungen des Wahrgenommenen dargeboten haben**.» Denn diese Bestimmungen bleiben nicht auf den einzelnen Moment der Wahrnehmung beschränkt, sondern hinterlassen irgendwelche Spuren ihres Bestandes in dem physisch-psychischen Subjekt. Indem diese Spuren, die in dem Zeitraum zwischen der wirklichen Wahrnehmung und der Erinnerung als unbewußt anzusehen sind, durch neu
* Mill, An Examination of Sir William Hamiltons Philosophy, London 1865, S. 319.
** Vgl. bes. B. Erdmann, Logik, 2. Aufl., S. 65 ff., 88 ff.
13
auftretende Reize ähnlicher Art wiederum erweckt werden, bildet sich allmählich ein immer festerer Zusammenhang zwischen den gleichartigen Elementen successiver Wahr- nehmungen heraus. . Das Unterscheidende tritt mehr und mehr zurück; es bildet schließlich nur noch einen schatten- haften Hintergrund, von dem sich um so deutlicher die kon- stanten Züge abheben. Die fortschreitende Verdichtung dieser übereinstimmenden Züge, ihre Verschmelzung zu einem einheitlichen untrennbaren Ganzen, macht das psychologische Wesen des Begriffs aus, der somit seinem Ursprung wie seiner Funktion nach nichts anderes als ein Inbegriff von Gedächtnis- residuen ist, die uns von den Wahrnehmungen wirklicher Dinge und Vorgänge zurückgeblieben sind. Die Wirklichkeit dieser Residuen erweist sich darin, daß sie im Wahrnehmungs- akt selbst eine eigentümliche und selbständige Wirksam- keit ausüben, sofern jeder neu auftretende Inhalt ihnen gemäß aufgefaßt und umgedeutet wird. \ So stehen wir hier — wie von den Vertretern dieser Anschauung gelegentlich selbst betont wird — auf einem Standpunkt, der dem des mittelalterlichen „Konzeptualismus" nahe verwandt ist: die sachlichen und sprachlichen Abstrakta können aus den Wahr- nehmungsinhalten abgeleitet werden, weil sie in ihnen als konstante gemeinsame Bestandteile aktuell enthalten sind. Nur darin besteht der Unterschied der ontologischen und der psychologischen Betrachtungsweise, daß die ,, Dinge" der Scholastik das im Denken abgebildete Seiende bedeuten, während die Gegenstände, von denen hier die Rede ist, nicht mehr sein wollen als VorsteUungsinhalte.
So wichtig indessen dieser Unterschied vom Standpunkt der Metaphysik erscheinen mag, so wird doch durch ihn die Fassung und der Inhalt des rein logischen Problems nicht berührt. Bleibt man im Umkreis dieses Pro- blems stehen, so zeigt sich hier in der Tat eine gemeinsame Grundüberzeugung, die in allen Umgestaltungen der Frage unverändert und scheinbar unangreifbar beharrt. Aber gerade an diesem Punkt, der allem Streit der Lehrmeinungen zunächst entzogen scheint, beginnt nunmehr die eigentliche methodische Schwierigkeit. Ist die Theorie des Begriffs, die
14
%
hier entwickelt wurde, ein zureichendes und getreues Abbild des Verfahrens, das in den konkreten Wissenschaften geübt wird? Umfaßt und beherrscht sie alle Einzelzüge dieses Ver- fahrens und vermag sie sie in ihrem Zusammenhang wie in ihrer spezifischen Besonderung darzustellen ? Für die Ari- stotelische Theorie zum mindesten muß diese Frage verneint werden. /Die „Begriffe", die Aristoteles letzten Endes sucht und auf die sein Interesse vornehmlich gerichtet ist, sind die Gattungsbegriffe der beschreibenden und klassi- fizierenden Naturwissenschaft. Die „Form" des Ölbaums, des Pferdes, des Löwen gilt es zu ermitteln und festzusetzen. Wo er das Gebiet der biologischen Betrachtung ver- läßt, da vermag sich seine Theorie des Begriffs alsbald nicht mehr völlig natürlich und zwanglos zu entfalten. Insbesondere sind es die Begriffe der Geometrie, die von Anfang an der Einordnung in das gewöhnliche Schema widerstehen. Der Begriff des Punktes, der Linie, der Fläche läßt sich nicht als unmittelbarer Teilbestand des physisch vorhandenen Körpers aufweisen und sich somit nicht durch einfache ,, Ab- straktion" aus ihm herauslösen. Schon gegenüber diesen ein- fachsten Beispielen, die die exakte Wissenschaft liefert, sieht sich daher die logische Technik vor eine neue Aufgabe gestellt. Die mathematischen Begriffe, die durch genetische Definition, durch die gedankliche Feststellung eines konstruktiven Zusammenhangs entstehen, scheiden sich von den empirischen, die lediglich die Nachbildung irgendwelcher tatsächlicher Züge in der gegebenen Wirklichkeit der Dinge sein wollen. Wenn im letzteren Falle die Mannigfaltigkeit der Dinge an und für sich vorhanden ist und nur auf einen abgekürzten, sprachlichen oder begrifflichen Ausdruck zusammengezogen werden soll, so handelt es sich im ersteren umgekehrt darum, die Mannig- faltigkeit, die den Gegenstand der Betrachtung bildet, erst zu schaffen, indem aus einem einfachen Akt der Setzung durch fortschreitende Synthese eine systematische Ver- knüpfung von Denkgebilden hervorgebracht wird. Der bloßen ,, Abstraktion" tritt daher hier ein eigener Akt des Denkens, eine freie Produktion bestimmter Relations-Zu- sammenhänge gegenüber. Es ist begreiflich, daß die logische
15
Abstraktionstheorie, bis in ihre moderne Gestaltung hinein, immer wieder versucht hat, diesen Gegensatz zu verwischen: denn an diesem Punkt entscheidet sich die Frage nach ihrem Wert und ihrer inneren Einheit. Aber dieser Versuch selbst führt alsbald zu einer Umbildung und Selbstzersetzung der Theorie, zu deren Gunsten er unternommen wird. Die Lehre von der Abstraktion verliert hier entweder ihre universelle Gültigkeit oder den spezifischen, logischen Charakter, der ihr ursprünglich eignete.
So sucht etwa M i 1 1 , um die Einheit des obersten Erklärungsprinzips zu wahren, auch die mathematischen Begriffe und Wahrheiten lediglich als den Ausdruck konkreter physischer Tatbestände zu deuten. Der Satz, daß 1 + 1 = 2 ist, beschreibt lediglich eine Erfahrung, die sich uns in der Zu- sammenfügung von Dingen aufgedrängt hat; er würde in einer anders gearteten Welt von Objekten, in einer Welt etwa, in der durch die Verbindung zweier Dinge jedesmal von selbst ein drittes entstünde, jede Bedeutung und Gültigkeit verlieren. Das gleiche gilt von den Axiomen über räumliche Verhältnisse: ein „rundes Viereck" beißt uns nur darum ein widersprechender Begriff, weil es sich uns in ausnahms- loser Erfahrung gezeigt hat, daß ein Ding in dem Augenblick, in welchem es die Eigenschaft der Rundheit annimmt, die Eigenschaft der Viereckigkeit verliert, so daß der Beginn der einen ,, Impression" mit dem Aufhören der anderen unlöslich verbunden ist. So scheinen kraft dieser Erklärungsweise Geometrie und Arithmetik von neuem in bloße Aussagen über bestimmte Gruppen von Vo.rstellungs- b i 1 d e r n aufgelöst. Aber diese Auffassung versagt, wenn M i 1 1 weiterhin versucht, den Wert und die eigentümliche Bedeutsamkeit zu begründen, die gerade jenen spe- ziellen Erfahrungen des Z ä h 1 e n s und Messens im Ganzen unserer Erkenntnis eignet. Hier wird vorerst auf die Genauigkeit und Treue der Phantasiebilder hingewiesen, die wir von den räumlichen und zahlenmäßigen Verhältnissen bewahren. Die reproduzierte Vorstellung ist in diesem Falle der ursprünglichen, wie uns eine vielfältige Erfahrung gezeigt hat, in allen Stücken ähnlich; das Bild, das der Geometer ent-
16
wirft, entspricht in seinen Einzelheiten vollständig dem ursprünglichen Eindruck, nach welchem es entworfen ist.i So erscheint es begreiflich, daß wir, um zu neuen geometrischen oder arithmetischen Wahrheiten zu gelangen, nicht jedesmal erneuerter Wahrnehmungen physischer Objekte bedürfen: das Gedächtnisbild vermag dank seiner Schärfe und Klarheit den sinnlichen Gegenstand selbst zu ersetzen. Aber diese Erklärung wird alsbald von einer anderen gekreuzt. Die eigenartige „deduktive" Gewißheit, die wir den mathe- matischen Sätzen zuschreiben, wird jetzt darauf zurückgeführt, daß wir es in diesen Sätzen niemals mit Aussagen über kon- krete Tatsachen, sondern nur mit Beziehungen zwischen hypothetischen Gebilden zu tun haben. Es gibt keine realen Dinge, die mit den Definitionen der Geometrie genau übereinstimmen : es gibt keinen Punkt ohne Größe, keine voll- kommen gerade Linie, keinen Kreis, dessen Radien sämtlich gleich sind. Und nicht nur die aktuelle Wirklichkeit, sondern selbst die Möglichkeit derartiger Inhalte muß vom Standpunkt unserer Erfahrung aus bestritten werden: sie ist zum mindesten durch die physische Beschaffenheit unseres Planeten, wenn nicht durch die des Universums ausgeschlossen. Nicht minder aber als die physische ist auch die psychische Existenz den Gegenständen der geometrischen Defini- tionen versagt. Denn auch in unserem Geiste findet sich niemals die Vorstellung eines mathematischen Punktes, sondern immer nur die der kleinsten sinnlichen Ausdehnung; auch hier ,, begreifen" wir niemals eine Linie ohne Breite, da doch jedes geistige Bild, das wir entwerfen können, uns immer nur Linien von bestimmter Breite zeigt*.. Man sieht sogleich, wie diese Doppelerklärung sich selbst aufhebt. Auf der einen Seite wird aller Nachdruck auf die Ähnlichkeit zwischen den mathematischen Ideen und den ursprünglichen Impressionen gelegt; auf der anderen aber zeigt sich sogleich, daß eine der- artige Ähnlichkeit zum mindesten für diejenigen Gebilde, die in der mathematischen Wissenschaft selbst allein als „Begriffe" definiert und ausgezeichnet
* Vgl. M i 1 1 , A System of Logic, 7 th edit., London 1868, Buch II, Cap. 5 und Buch III, Cap. 24.
Cassirer, Substanzbegriff 2 17
werden, nicht besteht und nicht bestehen kann. Diese Gebilde können nicht durch bloße Aussonderung aus den Tatsachen der Natur und der Vorstellung gewonnen sein, weil sie in der Gesamtheit dieser Tatsachen kein konkretes Gegenbild be- sitzen. 1 Die „Abstraktion", wie sie bisher verstanden wurde, verändert in der Tat den Bestand des Bewußtseins und der gegenständlichen Wirklichkeit nicht, sondern setzt in ihm nur bestimmte Grenzlinien und Einteilungen; sie scheidet die Bestandteile des Sinneseindrucks, aber sie fügt ihnen kein neues Datum hinzu. In den Definitionen der reinen Mathematik aber ist, wie Mills eigene Entwicklungen lehren, die Welt der sinnlichen Dinge und Vorstellungen nicht sowohl wiedergegeben, als vielmehr umgestaltet und durch eine anders- artige Ordnung ersetzt. Verfolgt man die Art und den Weg dieser Umbildung, so heben sich hierbei bestimmte Formen der Beziehung, so hebt sich ein gegliedertes System streng unterschiedener gedanklicher Funktionen heraus, die durch das einförmige Schema der ,, Abstraktion" nicht be- zeichnet, geschweige begründet werden, i Und dieses Ergebnis bestätigt sich auch dann, wenn man sich von den rein mathe- matischen Begriffen zu denen der theoretischen Physik hin- überwendet. Denn auch sie weisen in ihrem Ursprung — wie sich im einzelnen verfolgen läßt — den gleichen Prozeß der Umformung der konkret sinnlichen Wirklichkeit auf, den die traditionelle Lehre nicht zu rechtfertigen vermag; auch sie wollen nicht lediglich Abbilder des Wahrnehmungs- bestandes schaffen, sondern an Stelle der. sinnlichen Mannigfaltigkeit eine andere setzen, die bestimmten theoreti- schen Bedingungen entspricht*. —
Aber selbst, wenn man von der Form der exakten Begriffe zunächst absieht, so birgt doch das naive Weltbild selbst, auf das die traditionelle logische Auffassung sich vor- nehmlich beruft und stützt, zuletzt in sich das gleiche Problem. Die Begriffe der mannigfachen Arten und Gattungen sollen uns entstehen, indem die „Ähnlichkeiten" der Dinge allmählich das Übergewicht über ihre Verschiedenheit erlangen ;
* Näheres s. bes. Cap. IV. //
18
— indem sie allein, dank ihres häufigen Auftretens, sich dem v Geiste einprägen, während die individuellen Unterschiede, da sie von Fall zu Fall wechseln, die gleiche Festigkeit und Dauer nicht zu gewinnen vermögen. Die Ähnlichkeit der Dinge aber vermag offenbar nur dann fruchtbar und wirksam zu werden, wenn sie als solche erfaßt und be- urteilt wird. Daß die ,, unbewußten" Spuren, die von einem früheren Wahrnehmungsbild in uns zurückgeblieben sind, einem neuen Eindruck tatsächlich gleichartig sind, bleibt für den Prozeß, um den es sich hier handelt, so lange gleich- gültig, als beide Elemente nicht als ähnlich erkannt sind.« Damit aber ist zunächst als Grundlage aller „Abstraktion" ein Akt der Identifikation anerkannt. Dem Denken wird eine eigentümliche Funktion zugestanden, einen gegen- wärtigen Inhalt auf einen vergangenen zu beziehen und beide in irgendeiner Hinsicht als identisch zu erfassen. Diese Syn- these, die die beiden zeitlich getrennten Zustände mit- einander verknüpft und in eins setzt, besitzt in den ver- glichenen Inhalten selbst kein unmittelbares sinnliches Korrelat. Je nach der verschiedenen Art und Richtung, in der sie sich vollzieht, kann vielmehr der gleiche sinnliche Stoff in sehr ver- schiedene begriffliche Formen gefaßt werden. Auch die Psychologie der Abstraktion muß zunächst die Forderung stellen, daß die Wahrnehmungen sich für die logische Be- trachtung in „Ähnlichkeitsreihen" ordnen lassen. Ohne einen derartigen Prozeß der Aufreihung, ohne das Durchlaufen der verschiedenen Momente könnte das Bewußtsein ihrer generischen Zusammengehörigkeit und somit der abstrakte Gegenstand nicht entstehen. Dieser Übergang von Glied zu Glied aber setzt offenbar ein Prinzip voraus, nach dem er erfolgt, und durch das die Art der Abhängigkeit, die zwischen jedem Glied und dem nächstfolgenden besteht, festgestellt wird. Somit zeigt es sich auch von dieser Seite, daß alle Begriffsbildung an eine bestimmte Form der Reihen- bild u n g gebunden ist. Wir nennen ein Mannigfaltiges der Anschauung begrifflich gefaßt und geordnet, wenn seine Glieder nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern gemäß einer erzeugenden Grundrelation von einem
2* 19
bestimmten Anfangsglied aus in notwendiger Folge hervor- gehen. Die Identität dieser erzeugenden Relation, die bei aller Veränderlichkeit der Einzelinhalte festgehalten wird, ist es, die die spezifische Form des Begriffs ausmacht. Ob aus der Festhaltung dieser Identität der Beziehung da- gegen zuletzt ein abstrakter Gegenstand, ein allgemeines Vorstellungsbild sich entwickelt, in dem die ähnlichen Züge vereint sind, ist lediglich eine psychologische Nebenfrage, die die logische Charakteristik des Begriffs nicht berührt.. Die Entstehung eines derartigen Gemeinbildes kann durch die Art der erzeugenden Relation ausgeschlossen sein, ohne daß damit das entscheidende Moment der eindeutigen Ablei- tung jedes Moments aus dem vorhergehenden aufgehoben wäre. Man erkennt in diesem Zusammenhange, daß der eigentliche Mangel der Abstraktionstheorie in der Einseitigkeit besteht, mit der sie aus der Fülle der möglichen Prinzipien wechselseitiger logischer Zuordnung lediglich das Prinzip der Ähnlichkeit herausgreift. In Wahrheit wird sich zeigen, daß eine Reihe von Inhalten, um begrifflich erfaßt und geordnet zu heißen, nach den verschiedensten Gesichtspunkten ab- gestuft sein kann: sofern nur der leitende Gesichtspunkt selbst in seiner qualitativen Eigenart, im Aufbau der Reihe unverändert festgehalten ist. So können wir etwa neben Ähnlichkeitsreihen, in deren einzelnen Inhalten ein gemein- samer Bestandteil gleichförmig wiederkehrt, Reihen setzen, in denen zwischen jedem Glied und dem darauf folgenden ein bestimmter Grad des Unterschiedes obwaltet; so können wir die Glieder nach Gleichheit oder Ungleichheit, nach Zahl und Größe, nach räumlichen und zeitlichen Be- ziehungen oder nach ihrer kausalen Abhängigkeit geordnet denken. Entscheidend ist in jedem Falle lediglich die Not- wendigkeits-Relation, die damit geschaffen wird, und für die der Begriff nur der Ausdruck und die Hülle ist, nicht die Gattungs Vorstellung, die sich unter beson- deren Umständen nebenher einstellen mag, die aber in die Definition nicht als wirksamer Bestandteil eingeht. /
So führt die Analyse der Abstraktionstheorie selbst auf ein tieferes Problem zurück. Die „Vergleichung" der In-
20
halte, von der hier die Rede ist, ist zunächst nur ein vager und vieldeutiger Ausdruck, der die Schwierigkeit der Frage verdeckt. In Wahrheit sind es sehr verschiedene k a t e - goriale Funktionen, die hier unter einem bloßen Sammelnamen vereinigt sind. Und die eigentliche Aufgabe, die der logischen Theorie gegenüber einem bestimmten Begriff zukommt, besteht eben darin, diese Funktionen in ihrer Eigen- tümlichkeit darzulegen und ihre formalen Grundmomente zu entwickeln. Die Abstraktionstheorie verdunkelt diese Aufgabe, indem sie die kategorialen Formen, auf welchen alle Bestimmt- heit des Wahrnehmungsinhalts beruht, mit Teilen eben dieses Wahrnehmungsinhalts selbst verwechselt. Und doch lehrt schon die einfache psychologische Besinnung, daß die ,, Gleichheit" zwischen irgendwelchen Inhalten nicht selbst wiederum als ein neuer Inhalt gegeben ist; daß Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit nicht als ein eigenes Element der Sinnesempfindung neben Farbe und Ton, Druck- und Tast- empfindungen erscheinen. Das gewöhnliche Schema der Begriffsbildung bedarf daher auch in seiner äußeren Gestalt einer eingreifenden Umformung: denn in ihm sind die dinglichen Eigenschaften und die reinen Momente der Be- ziehung unterschiedslos miteinander verquickt und auf ein und dieselbe Stufe gestellt. » Ist dies einmal geschehen, so kann es freilich scheinen, als beschränke sich die Aufgabe des Denkens darauf, aus einer Reihe von Wahrnehmungen a «, aß, a 7 . . . . das gemeinsame Element a herauszulösen. In Wahrheit aber ist der Zusammenhang der Glieder einer Reihe durch den Besitz einer gemeinsamen ,, Eigenschaft" nur ein sehr spezielles Beispiel der logisch-möglichen Zu- sammenhänge überhaupt. Die Verknüpfung der Glieder wird in jedem Falle durch irgendein allgemeines Gesetz der Zuordnung geschaffen, kraft dessen eine durchgängige Regel der Abfolge festgestellt wird. Was den Elementen der Reihe a, b, c. . . ihren Zusammenhalt verleiht, ist nicht selbst ein neues Element, das mit ihnen sachlich verschmolzen wäre, sondern es ist die Regel des Fortschritts, die als ein und dieselbe festgehalten wird, gleichviel an welchen Gliedern sie sich darstellt. Die Funktion F(a, b), F(b, c) . . . die die Art
21
der Abhängigkeit zwischen den aufeinanderfolgenden Gliedern festsetzt, ist augenscheinlich nicht selbst als Glied der Reihe aufzeigbar, die ihr gemäß entsteht und sich entwickelt. Die Einheit des Begriffsinhalts kann somit aus den besonderen Elementen des Umfangs nur in der Weise ,, abstrahiert" werden, daß wir uns a n ihnen der spezifischen Regel, durch die sie in Beziehung stehen, bewußt werden : nicht aber derart, daß wir diese Regel aus ihnen, durch bloße Summierung oder Fortlassung von Teilen zusammensetzen. » Was der Theorie der Abstraktion Halt verleiht, ist somit lediglich der Umstand, daß sie die Inhalte, aus welchen der Begriff sich entwickeln soll, selbst nicht als unverbundene Be- sonderheiten voraussetzt, sondern sie bereits still- schweigend in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit denkt. Der ,, Begriff" aber ist damit nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen: denn indem wir einer Mannigfaltigkeit eine Ordnung und einen Zusammenhang ihrer Elemente zu- sprechen, haben wir ihn, wenn nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden Funktion bereits voraus- gesetzt.
Zwei verschiedene Richtungen der Betrachtung sind es vor allem, an denen diese logische Vorwegnahme unmittelbar deutlich wird. Es ist einerseits die Kategorie des Ganzen und seiner Teile, anderseits die Kategorie des Dinges und seiner Eigenschaften, die in der gewöhnlichen Lehre von der Entstehung der Gattungsbegriffe zur Anwendung kommen. Daß Objekte als Zusammenfassungen einzelner Merk- male gegeben sind und daß die Gesamtgruppen derartiger Merkmale sich in Teile und Unterteile gliedern, die ver- schiedenen von ihnen gemeinsam sein können: das bildet hier die selbstverständliche Grundannahme. In Wahrheit aber ist damit das „Gegebene" nicht lediglich beschrieben, sondern gemäß einem bestimmten begrifflichen Gegensatz beurteilt und geformt. Sobald dies aber erkannt ist, muß es auch sogleich deutlich werden, daß wir hier bei einem bloßen An- fang stehen, der über sich selbst hinausweist. • Die kategori- alen Akte, die wir durch den Begriff des Ganzen und des Teils, des Dinges und seiner Eigenschaften bezeichnen, stehen
22
nicht isoliert, sondern gehören einem System logischer Kategorien an, das sie indessen keineswegs vollständig aus- messen und erschöpfen. Wir können versuchen, nachdem wir uns, in einer allgemeinen logischen Theorie der Relationen, einen Gesamtplan dieses Systems verschafft haben, von hier aus seine Einzelheiten zu bestimmen; nicht möglich ist es dagegen, unter dem eingeschränkten Gesichtspunkt be- stimmter Beziehungen, die in der naiven Weltansicht bevor- zugt sind, einen Überblick über das Ganze möglicher Weisen der Verknüpfung zu gewinnen. Die Kategorie des Dinges er- weist sich hierzu schon dadurch als untauglich, daß wir in der reinen Mathematik ein Wissensgebiet besitzen, in welchem von Dingen und deren Beschaffenheiten prinzipiell ab- gesehen wird, indessen Grundbegriffen daher auch nicht irgend- welche Gemeinsamkeiten der Dinge festgehalten sein können. An diesem Punkt enthüllt sich zugleich eine neue und allgemeinere Schwierigkeit, die die traditionelle logische Lehre bedroht. Wenn wir lediglich der Vorschrift folgen, die hier für den Aufstieg vom Besonderen zum Allgemeinen gegeben wird, so zeigt sich das paradoxe Ergebnis, daß das Denken, indem es von den niederen Begriffen zu höheren und um- fassenderen aufsteigt, sich hierbei in bloßen Negationen bewegt. Der wesentliche Akt, der hierbei vorausgesetzt wird, soll darin bestehen, daß wir gewisse Bestimmtheiten, an denen wir zunächst festhielten, fallen lassen; daß wir von ihnen absehen und sie als gleichgültig aus dem Kreise der Betrach- tung ausscheiden. Die glückliche Gabe des Vergessens, die unserm Geist eignet, seine Unfähigkeit, die individuellen Unterschiede der Fälle, die tatsächlich immer vorhanden sind, wirklich zu erfassen, ist es, die ihn zur Begriffsbildung befähigt. Wären alle Erinnerungsbilder, die uns von vergangenen Wahrnehmungen zurückgeblieben sind, völlig scharf bestimmt, würden sie uns den entschwundenen Inhalt des Bewußtseins in seiner ganzen konkreten Lebendigkeit zurückrufen, so könnte es niemals dahin kommen, daß die Erinnerungs- vorstellung mit einem neu auftretenden Eindruck als völlig gleichartig aufgefaßt würde und so mit ihm zu einer Einheit verschmelzen könnte. Erst die Unsicherheit der Re-
23
Produktion, die niemals das Ganze des früheren Eindrucks, sondern nur seine verschwimmenden Umrisse festhält, er- möglicht diese Zusammenfassung an und für sich ungleich- artiger Elemente. So beginnt alle Begriffsbildung damit, an Stelle der individuellen Anschauung ein verallgemeinerndes Gesamtbild, an Stelle der wirklichen Wahrnehmung ihre ver- stümmelten und verblaßten Reste zu setzen*. Hält man an dfeser Auffassung fest, so gelangt man demnach zu dem seltsamen Ergebnis, daß alle logische Arbeit, die wir an die gegebene Anschauung wenden, nur dazu dient, sie uns mehr und mehr zu entfremden. Statt zu einer tieferen Erfassung ihres Gehalts und ihrer Struktur würden wir nur zu einem oberflächlichen Schema gelangen, in welchem alle eigentüm- lichen Züge des besonderen Falles ausgelöscht wären.
Gegen eine derartige Konsequenz aber schützt wiederum die Betrachtung derjenigen Wissenschaft, in welcher die Schärfe und Klarheit der Begriffsbildung ihre höchste Stufe erreicht. In der Tat scheidet sich an diesem Punkt aufs deutlichste der mathematische Begriff vom o n t o - logischen Begriff. In dem methodischen Kampf um die Grenzen der Mathematik und Ontologie, der in der Philo- sophie des 18. Jahrhunderts geführt wurde, ist denn auch dieses Verhältnis gelegentlich zu besonders prägnantem und glücklichem Ausdrück gelangt. , In seiner Kritik der Logik der Wolffischen Schule bezeichnet es L a m b e r t als den entscheidenden Vorzug der mathematischen ,, Allgemein- begriffe", daß in ihnen die Bestimmtheit der speziellen Fälle, für die sie angewendet werden sollen, nicht aufgehoben, sondern in aller Strenge aufrecht erhalten wird. Wenn der Mathematiker seine Formeln allgemeiner macht, so hat dies lediglich den Sinn und die Tendenz, die spezielleren Fälle nicht nur alle zu haben, sondern sie aus der allgemeinen Formel herleiten zu können. Diese Möglichkeit der Hecleitimg ~äber ist bei den logischen Schulbegriffen nicht ersichtlich: denn da diese, gemäß der gewöhnlichen Vorschrift, durch
* Man vgl. hierzu z. B. Sigw^art, Logik, 2. Aufl., S. 50 f.; sowie H. M a i e r , Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908, S. 168 ff.
24
Weglassen des Besonderen entstanden sein sollen, so wurde die Wiederherstellung der besonderen Mo- mente und Gesichtspunkte den Gehalt des Begriffs selbst auf- zuheben scheinen. So wird dem ,,P hilosophen" das Abstrahieren freilich sehr leicht, die Bestimmung des Spezialen aus dem Allgemeinen dagegen desto schwerer: denn beim Abstrahieren hat er alle Sondermerkmale derart fortgelassen, daß er sie nicht mehr wiederzufinden und noch weniger die Abwechslungen, deren sie fähig sind, genau abzuzählen ver- mag*. Diese schlichte Bemerkung enthält in der Tat den Keim zu einer tiefen und folgenreichen Unterscheidung. Das Ideal des wissenschaftlichen Begriffs tritt hier der schematischen Gattungsvorstellung, die ihren Ausdruck im bloßen sprachlichen Wortzeichen findet, gegenüber-v Der echte Begriff läßt die Eigentümlichkeiten und Besonder- heiten der Inhalte, die er unter sich faßt, nicht achtlos beiseite, sondern er sucht das Auftreten und den Zusammenhang eben dieser Besonderheiten als notwendig zu erweisen. Was er gibt, ist eine universelle Regel für die Verknüpfung des Besonderen selbst. So können wir von einer allgemeinen mathematischen Formel — etwa von der Formel der Kurven zweiter Ordnung — zu den speziellen geometrischen Gebilden des Kreises, der Ellipse usw. gelangen, indem wir einen be- stimmten Parameter, der in ihr auftritt, als veränderlich be- trachten und ihn eine stetige Reihe von Größenwerten durch- laufen lassen. Der allgemeine Begriff erweist sich hier zugleich als der inhaltsreichere; wer ihn besitzt, der vermag aus ihm alle mathematischen Verhältnisse, die an dem besonderen Problem auftreten, abzuleiten, während er anderseits dieses Problem nicht isoliert, sondern in kontinuierlicher Verknüpfung mit anderen, also in seiner tieferen systematischen Bedeutung erfaßt. Die Einzelfälle sind nicht von der Betrachtung aus- geschieden, sondern als völlig bestimmte Stufen im all- gemeinen Prozeß der Veränderung fixiert und festgehalten.
* S. Lambert, Anlage zur Architektonik oder Theorie des Ein- fachen \ind des Ersten in der philosophischen und mathematischen Er- kenntnis, Riga 1771, § 193 ff. Vgl. m. Schrift über das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. II, S. 422 f.
25
Wiederum zeigt es sich hier von einer neuen Seite, daß nicht die „Allgemeinheit" eines Vorstellungsbildes, sondern die Allgemeingültigkeit eines Reihenprinzips das charakte- ristische Moment des Begriffs bildet. Wir heben aus der Mannigfaltigkeit, die uns vorliegt, nicht irgendwelche ab- strakten Teile heraus, sondern wir schaffen für ihre Glieder eine eindeutige Beziehung, indem wir sie durch ein durchgreifendes Gesetz verbunden denken. Und je weiter wir hierin fortschreiten, je fester dieser Zusammenhang nach Gesetzen sich knüpft, um so deutlicher tritt auch die ein- deutige Bestimmtheit des Besonderen selbst zutage, r So gelangt — um nur ein einzelnes bezeichnendes Beispiel zu gebrauchen — die Anschauung unseres Euklideischen drei- dimensionalen Raumes nur zu um so schärferer Auffassung, indem wir in der modernen Geometrie zu ,, höheren" Raum- formen emporsteigen, da auf diese Weise erst das gesamte axiomatische Gefüge dieses unseres Raumes sich in voller Deutlichkeit heraushebt.
Neuere Darstellungen der formalen Logik haben versucht, diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen, indem sie — im Anschluß an eine bekannte Unterscheidung Hegels — der abstrakten Allgemeinheit des Begriffs die konkrete All- gemeinheit der mathematischen Formel gegenüberstellen.^ Abstrakte Allgemeinheit kommt der Gattung zu, sofern sie, an und für sich gedacht, alle Artunterschiede fallen läßt; konkrete Allgemeinheit dagegen dein Gesamtbegriff, der das Besondere aller Arten in sich aufnimmt und es nach einer Regel entwickelt. „Wenn z. B. die Algebra die Aufgabe, zwei ganze Zahlen zu finden, deren Summe gleich 25, und von denen die eine durch 2, die andere durch 3 teilbar sei, dadurch löst, daß sie die zweite durch die Form 6z-(-3 aus- drückt, wo z nur die Werte 0, 1, 2, 3 haben kann, und woraus von selbst für die erste die Form 22 — 6z folgt, so sind dies Formen von konkreter Allgemeinheit. Denn sie sind allgemein, weil sie das allen gesuchten Zahlen gemeinsame Bildungs- gesetz darstellen, sie sind zugleich konkret, weil, wenn man z successiv die bezeichneten vier Werte gibt, aus diesen Formen die gesuchten Zahlen selbst als Arten derselben folgen. Das-
26
selbe gilt überhaupt von jeder mathematischen Funktion einer oder mehrerer Variablen. Denn jede Funktion stellt ein allgemeines Gesetz dar, das vermöge der successiven Werte, welche die Variable annehmen kann, zugleich alle einzelnen Fälle, für die es gilt, unter sich begfeift*". Wird dies aber einmal anerkannt, so eröffnet sich damit zugleich für die Logik ein völlig neues Gebiet der Untersuchung. Der Logik des Gattungsbegriffs, die, wie wir sahen, unter dem Gesichtspunkt und der Herrschaft des Substanzbegriffs steht, tritt jetzt die Logik des mathematischenFunk- tionsbegriffs gegenüber. Das Anwendungsgebiet dieser Form der Logik aber kann nicht im Gebiet der Mathematik allein gesucht werden. Vielmehr greift hier das Problem sogleich auf das Gebiet der Naturerkenntnis über: (denn der Funktionsbegriff enthält in sich zugleich das all- gemeine Schema und das Vorbild, nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden geschichtlichen Ent- wicklung sich gestaltet hat. —
Ehe wir indessen daran gehen, den Aufbau der Funktionsbegriffe innerhalb der Wissenschaft selbst zu verfolgen und damit die veränderte Auffassung des Begriffs an konkreten Beispielen zu bewähren, läßt sich schließlich die Bedeutung des Problems in einer charakteristischen Wendung aufweisen, die die Theorie derAbstraktion selbst in neuerer Zeit genommen hat.* Überall zeigt sich hier ein neues Motiv, das in konsequenter Durchbildung und Aus- führung dazu führen muß, die Fragestellung über die tradi- tionellen Gesichtspunkte hinauszutreiben. Eine Andeutung dieses Motivs findet sich zunächst in den skeptischen Be- merkungen, die L 0 t z e der gewöhnlichen Lehre von der Abstraktion entgegengehalten hat. Die wirkliche Praxis des Denkens geht — wie er ausführt — in der Bildung der Begriffe keineswegs den Gang, den diese Lehre ihr vorschreibt: denn sie begnügt sich niemals damit, bei dem Fortgang zum All- gemeinbegriff die besonderen Merkmale ohne Ersatz wegzulassen. Wenn wir aus der Zusammenfassung von
Drobisch, Neue Darstellung der Logik, S. 22.
27
Gold, Silber, Kupfer, Blei den Begriff des Metalls bilden, so können wir dem abstrakten Gegenstand, der uns auf diese Weise entsteht, zwar nicht die besondere Farbe des Goldes, nicht den besonderen Glanz des Silbers, noch etwa das Gewicht des Kupfers oder die Dichtigkeit des Bleis zusprechen; nicht minder unzulässig aber wäre es, wenn wir die Gesamtheit aller dieser Einzelbestimmungen einfach von ihm verneinen wollten. Denn zur Charakteristik des Metalls reicht offenbar nicht die Vorstellung aus, daß es weder rot noch gelb sei, weder dieses noch jenes spezifische Gewicht, diese oder jene Härte und Dichtigkeit besitze, sondern es muß der positive Gedanke hinzutreten, daß es in irgend- einer Weise jedenfalls gefärbt, in irgendeinem Grade jedenfalls hart, dicht und glänzend sei. Und analog würden wir den allgemeinen Begriff des Tieres nicht erhalten, wenn wir in ihm jede Erinnerung an die Momente der Fort- pflanzung, der Selbstbewegung und Respiration deshalb fallen ließen, weil sich keine Form der Fortpflanzung, der Atmung usw. angeben läßt, die allen Tierarten gemeinsam wäre. Nicht die einfache Weglassung der Merkmale Pi P2> ^1 ^2' die in den verschiedenen Arten verschieden sind, kann also die Regel bilden, sondern immer müssen an Stelle der weggelassenen besonderen Bestimmungen die allgemeinen Merkmale P und Q eingesetzt werden, deren Einzelarten p^ p^ un d qi qa sind. Das bloß negative Verfahren dagegen würde zuletzt zur Vernichtung aller Bestimmtheit überhaupt führen, so daß unser Denken von dem logischen Nichts, das der Be- griff alsdann bedeutete, keinen Rückweg zu den konkreten Sonderfällen zu finden vermöchte *. » Man sieht, wie L o t z e sich hier dem Problem, das Lambert am Beispiel der mathematischen Begriffe scharf und bestimmt formuliert hatte, von einer neuen Seite her, auf Grund psychologischer Erwägungen, nähert. Denkt man die Vorschrift, die hier gegeben wird, zu Ende, so führt sie ersichtlich auf die Forderung, an Stelle des einzelnen Merkmals, das bei der Begriffsbildung fortfällt, den Inbegriff ins Auge zu fassen, dem jenes
* Lotze, Logik, 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 40 f.
28
Merkmal als vereinzelte Bestimmung angehört.; Wir können von der besonderen Färbung absehen, wenn wir nur die Gesamtreihe der Farben überhaupt als Grund- schema festhalten, in bezug auf welches wir den Begriff, den wir bilden, bestimmt denken. Dieser Inbegriff aber wird uns dargestellt, indem wir an Stelle konstanter Einzel- merkmale variable Termini einsetzen, die uns die ganze Gruppe möglicher Werte, die die verschiedenartigen Merk- male annehmen können, repräsentieren. So zeigt sich hier, daß der Fortfall der Sonderbestimmungen nur scheinbar ein rein negativer Prozeß ist. In Wahrheit wird, was auf diese Weise vernichtet zu werden scheint, in anderer Form und unter einer anderen logischen Kategorie fest- gehalten. Solange man alle Bestimmtheit in konstanten Merk- malen, in Dingen und ihren Eigenschaften erschöpft glaubt, so lange scheint freilich jede begriffliche Verallgemeinerung zugleich eine Verkümmerung des begrifflichen Inhalts zu be- deuten. Aber je mehr der Begriff gleichsam von allem ding- lichen Sein entleert wird, um so mehr tritt auf der andern Seite seine eigentümliche funktionale Leistung hervor. Die festen Eigenschaften werden durch allgemeine Regeln ersetzt, die uns eine Gesamtreihe möglicher Bestimmungen mit einem Blick überschauen lassen. Diese Verwandlung, diese Um- setzung in eine neue Form des logischen „Seins" bildet die eigentlich positive Leistung der Abstraktion. Wir gehen von einer Reihe a ai ßi, a ag ß2» a a^h- • - nicht unmittelbar zu ihrem gemeinsamen Bestandteil a über, sondern denken uns das Ganze der Einzelglieder « durch einen veränderlichen Ausdruck x, das Ganze der Glieder ß durch einen veränder- lichen Ausdruck y gegeben. Auf diese Weise fassen wir das Gesamtsystem in einem Ausdruck a x y ... zusammen, der durch stetige Abwandlung in die konkrete Allheit der Reihen- glieder übergeführt werden kann und uns daher den Aufbau und die logische Gliederung des Inbegriffs vollgültig darstellt. Diese Wendung des Gedankens läßt sich selbst in solchen Darstellungen der Logik verfolgen, die ihrer Grundtendenz nach an der traditionellen Lehre von der Abstraktion fest- halten. Bezeichnend hierfür ist es z. B., wenn E r d m a n n ,
29
nachdem seine psychologische Theorie des Begriffs bereits abgeschlossen vorliegt, bei der Betrachtung der mathemati- schen Mannigfaltigkeiten sich zur Einführung eines neuen Gesichtspunkts und einer neuen terminologischen Festsetzung gedrängt sieht. Die erste Phase jeder Begriffsbildung — so wird jetzt gelehrt — besteht freilich darin, daß irgendein Allgemeines vermöge der Gleichförmigkeit, mit der sein Inhalt in dem wechselnden Besonderen wiederkehrt, selb- ständig herausgehoben wird; — aber diese Gleichförmigkeit des Gegebenseins ist, wenngleich die ursprüngliche, so doch nicht die einzige Bedingung, die uns lehrt, die Gegen- stände unseres Vorstellens gegeneinander zu begrenzen. Im Fortschritt des Denkens wird vielmehr das Bewußtsein der Gleichförmigkeit durch das Bewußtsein der Zusammen- gehörigkeit ergänzt und berichtigt: und so weit geht diese Ergänzung, daß wir scliließlich, um irgendeine begriffliche Fixierung zu treffen, auf die vielfältige Wiederholung des „gleichen" Inhalts in keiner Weise mehr angewiesen sind. „Wo immer im entwickelten Vorstellen ein zusammengesetzter Gegenstand sich in unserer Wahrnehmung einfindet, der sich als wohlbegrenztes Glied in eine Vorstellungsreihe einordnet, eine neue Nuance der Reihe bunter Farben, eine neue che- mische Verbindung der Reihe bekannter Verbindungen von ähnlicher Konstitution: da genügt die einmalige Bildung, um ihn in dieser seiner Bestimmtheit als Glied der Reihe festzuhalten, auch falls er nie wieder zu unserer Wahrnehmung gelangen sollte"*. /Den Gegenständen der Sinneswahrnehmung, die wir als ,, Gegenstände erster Ordnung" bezeichnen können, treten jetzt ,, Gegenstände zweiter Ordnung" gegenüber, deren logische Eigenart lediglich durch die Form derZu- sammenfassung, aus der sie hervorgehen, bestimmt ist. Überall dort, wo wir irgendwelche Gegenstände unseres Denkens zu einem Gegenstand zusammenfassen, haben wir damit einen neuen „Gegenstand zweiter Ordnung" ge- schaffen, dessen gesamter Gehalt sich in den Beziehungen aus- drückt, die durch den Akt der Vereinigung zwischen den
B. Erdmann, Logik, 2. Aufl., S. 158 f.
30
Einzelelementen hergestellt werden. Durch diese Betrach- tungsweise aber, zu der Erdmann, wie er selbst hervorhebt, durch die Probleme der modernen Mengenlehre hin- geführt wird, ist das bisherige Schema der Begriffsbildung bereits durchbrochen: denn an Stelle der Gemeinsamkeit von Merkmalen ist es jetzt der ,, Verflechtungszusammen- hang" von Elementen, der über ihre Vereinigung zu einem Begriff entscheidet. Und dieses Kriterium, das hier nur nach- träglich und als sekundäres Moment eingeführt wird, erweist sich bei näherer Analyse in der Tat als das eigentliche logische Prius: denn wir sahen bereits, daß die „Abstraktion" richtungs- und steuerlos bliebe, wenn sie die Elemente, aus denen sie den Begriff herausliest, nicht von Anfang an durch eine bestimmte Relation verknüpft und kraft ihrer geordnet dächte. — -* Allgemein tritt jetzt, je tiefer das rein logische Wesen der Relations- und Mannigfaltigkeitsbegriffe sich erschließt, zugleich mehr und mehr das Bedürfnis einer neuen psycho- logischen Fundierung hervor. Fallen die Gegenstände, von denen die reine Logik handelt, mit den individuellen Wahrnehmungsinhalten nicht schlechthin zu- sammen, sondern besitzen sie eine eigene Struktur und ,, Wesenheit", so muß notwendig die Frage entstehen, in welcher Art diese Wesenheit uns zum Bewußtsein kommt und durch welche Akte sie erfaßt wird. Es ist klar, daß bloß sinnliche Erlebnisse, wie sehr man sie auch gehäuft und kompliziert denken mag, für diese Leistung niemals zureichen können. Denn das sinnliche Erlebnis betrifft ausschließlich einen bestimmten Einzelgegenstand oder eine Mehrheit solcher Einzelgegenstände: alle Summierung von Sonderfällen aber schafft niemals die spezifische Einheit, die im Begriff gemeint ist. Die Lehre von der Aufmerk- samkeit als dem eigentlichen schöpferischen Vermögen der Begriffsbildung verliert demnach, gegenüber einer tieferen Phänomenologie der reinen Denkvorgänge, jeglichen Halt. Denn die Aufmerksamkeit trennt oder verbindet nur Bestand- teile, die in der Wahrnehmung bereits gegeben sind; sie kann dagegen diesen Bestandteilen keinen neuen Sinn geben und ihnen keine neue logische Funktion verleihen. Ein solcher
31
Wandel der Funktion aber ist es, der Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte erst zu Begriffen im logischen Sinn um- schafft. Es ist, auch vom Standpunkt der rein deskriptiven Analyse der Bewußtseinsvorgänge, etwas anderes, ob ich dieses oder jenes Einzelmerkmal an einem Dinge ergreife, ob ich etwa aus dem Wahrnehmungskomplex eines Hauses seine bestimmte rote Färbung heraushebe, oder aber ob ich auf „das" Rot als Spezies hinblicke. Es ist etwas anderes, ob ich von der Zahl „Vier" mathematisch gültige Urteile fälle und sie dadurch in einen objektiven Zusammenhang von Relationen einreihe, oder ob mein Bewußtsein auf eine kon- krete Ding- oder Vorstellungsgruppe von vier Elementen gerichtet ist. Die logische Bestimmtheit der „Vier" ist durch ihre Einreihung in ein ideelles und somit zeitlos gültiges Ganze von Beziehungen, durch ihre Stelle im mathematisch definierten Zahlsystem gegeben; diese Form der Bestimmtheit aber vermag die sinnliche Vorstellung, die sich notwendig immer auf ein individuelles Jetzt und Hier beschränkt, nicht wiederzugeben. * So drängt die Psychologie des Denkens hier zur Setzung eines neuen Moments. Neken dasjenige, was der Inhalt seinem materialen sinnlichen Gehalt'nach ist, tritt dasjenige, was er im Zusammenhang der Erkenntnis bedeutet; und diese seine Bedeutung erwächst ihm aus den wechselnden logischen „Aktcharakteren", die sich an ihn heften können. Diese Aktcharaktere, die den sinn- lich einheitlichen Inhalt differenzieren, indem sie ihm ver- schiedene gegenständliche „Intentionen" aufprägen, sind auch psychologisch ein völlig ursprüngliches Moment; es sind eigene Weisen des Bewußtseins, die auf das Bewußtsein der Empfindung oder Wahrnehmung in keiner Weise zurück- führbar sind. Will man jetzt noch davon sprechen, daß die „Abstraktion" es ist, det der Begriff sein Dasein verdankt, so besagt dies doch, gegenüber der herkömmlichen sensualisti- schen Lehre, etwas völlig anderes: denn jetzt ist die Ab- straktion nicht mehr ein gleichförmiges und unterschieds- loses Bemerken gegebener Inhalte, sondern sie bezeichnet den einsichtigen Vollzug der verschiedenartigsten, selbst- ständigen Denkakte, deren jeder eine besondere Art der
32
Deutung des Inhalts, eine eigene Richtung der Gegen- standsbeziehung in sich schließt*. /
Somit schließt sich der Kreis der Betrachtung, indem wir nunmehr von selten der „subjektiven" Analyse, von der reinen Phänomenologie des Bewußtseins her auf dieselbe grundlegende Unterscheidung geführt werden, deren Geltung sich uns bereits früher, innerhalb der ,, objektiven" logischen Untersuchung ergeben hatte. Gegenüber der empiristischen Lehre, die die „Gleichheit" bestimmter Vorstellungs- inhalte als eine selbstverständliche psychologische Tatsache hinnimmt und für die Erklärung des Prozesses der Begriffs- bildung verwendet, ist mit Recht darauf verwiesen worden, daß von Gleichheit irgendwelcher Elemente nur dann mit Sinn geredet werden kann, wenn bereits eine bestimmte ,, Hinsicht" festgestellt ist, in welcher die Elemente als gleich oder ungleich bezeichnet sein sollen. Diese Identität der Hinsicht, des Gesichtspunkts, unter welchem die Vergleichung stattfindet, ist jedoch ein Eigenartiges und Neues gegenüber den verglichenen Inhalten selbst. Der Unter- schied zwischen diesen Inhalten einerseits und zwischen den begrifflichen ,, Spezies", durch die wir sie geeint denken, ist ein nicht weiter zurückführbarer Tatbestand; er ist kate- gorial und gehört zur „Form des Bewußtseins". Es ist in der Tat der charakteristische Gegensatz von Reihenglied und Reihenform, der hier eine neue Ausprägung findet. Der Inhalt des Begriffs läßt sich in die Elemente des U m f a n g s nicht auflösen, weil beide nicht in einer Linie liegen, sondern prinzipiell verschiedenen Dimensionen an- gehören. Die Bedeutung des Gesetzes, das die Einzel- glieder verknüpft, ist durch die Aufzählung noch so vieler Fälle des Gesetzes nicht zu erschöpfen; denn bei dieser Aufzählung fiele gerade das erzeugende Prinzip fort, das die einzelnen Glieder zu einem funktionalen Inbegriff verknüpfbar macht. Kenne ich die Relation, durch welche a b c . . . geordnet sind, so kann ich sie durch Reflexion heraus-
* Zwoa Ganzen vgl. bes. H u s s e r 1 , Logische Untersuchungen, Band 2, (Halle 1901), Nr. II: Die ideale Einheit der Species und die neueren Abstraktionstheorien.
Cassirer, Substanzbegriff 3 33
lösen und zum gesonderten Gegenstand des Denkens machen; dagegen ist es unmöglich, aus dem bloßen Beisammensein von a, b, c in der Vorstellung die Eigenart der verknüpfenden Relation zu gewinnen. (S. ob. S. 20 ff.) Der Gefahr, den reinen Begriff zu verdinglichen, ihm eine selbständige Wirklich- keit neben den Einzeldingen anzuweisen, kann diese Auf- fassung nicht unterliegen. Die Reihenform F(a, b, c. . .), die die Glieder einer Mannigfaltigkeit verknüpft, läßt sich offenbar nicht in der Art eines einzelnen a oder b oder c denken, ohne damit ihres eigentlichen Gehalts verlustig zu gehen. Ihr „Sein" besteht ausschließlich in der logischen Bestimmtheit, kraft welcher sie sich von anderen möglichen Reihenformen 0,W. . . in eindeutiger Weise unterscheidet; und diese Bestimmtheit kann immer nur in einem synthetischen Akt der Definition, nicht in einer einfachen Anschauung, ihren Ausdruck finden. — Mit diesen Betrachtungen ist die Richtung der folgenden Untersuchung vorgezeichnet. Die Gesamtheit und die Stufen- folge der reinen ,, Reihenformen" liegt im System der Wissen- schaften, insbesondere im Aufbau der exakten Wissenschaft, vor uns. Hier findet daher die Theorie ein reiches und frucht- bares Gebiet, das unabhängig von jeder metaphysischen oder psychologischen Voraussetzung über das ,, Wesen" des Begriffs, lediglich seinem logischen Gehalt nach untersucht werden kann. Diese Selbständigkeit der reinen Logik aber be- deutet keineswegs ihre Isolierung innerhalb des philosophischen Systems. Schon ein flüchtiger Überblick über die Ent- wicklung der „formalen" Logik konnte uns zeigen, wie hier allmählich die dogmatische Starrheit der traditionellen Formen sich zu lösen beginnt. Und die neue Form, die sich jetzt heraus- zubilden beginnt, bedeutet zugleich die Form für einen neuen Inhalt. Psychologie und Erkenntniskritik, das Problem des Bewußtseins wie das Problem der Wirklichkeit nehmen an diesem Prozeß teil. Denn innerhalb der Grund- probleme gibt es nirgends absolute Trennungen und Grenz- scheiden: jede Umgestaltung eines im echten und fruchtbaren Sinne „formalen" Begriffs zieht hier zugleich eine neue Auf- fassung des gesamten Gebietes nach 'sich, das durch ihn be- herrscht und geordnet wird.
34
Zweites Kapitel: Die Zahlbegriffe. I.
Unter den Grundbegriffen der reinen Wissenschaft steht der Begriff der Zahl historisch wie systematisch an erster Stelle. An ihm entwickelt sich zuerst das Bewußtsein von dem Wert und der Bedeutung der Begriffsbildung überhaupt. Im Gedanken der Zahl scheint alle Kraft des Wissens, alle Möglichkeit der logischen Bestimmung des Sinnlichen be- schlossen. Nichts von den Dingen wäre erfaßbar, weder in ihrem Verhältnis zu sich selbst, noch zu anderen, wenn die Zahl nicht wäre und ihr Wesen. Dieser Pythagoreische Satz bleibt durch alle Wandlungen der philosophischen Frage- stellung hindurch seinem eigentlichen Gehalt nach unverändert. Der Anspruch, in der Zahl die Substanz der Dinge zu er- fassen, tritt freilich allmählich zurück; aber zugleich vertieft und verschärft sich die Einsicht, daß in ihr die Substanz der rationalen Erkenntnis wurzelt. Auch nachdem man auf- gehört hat, in ihm den metaphysischen Kern der Objekte zu sehen, bleibt der Zahlbegriff noch immer der nächste und getreueste Ausdruck der rationalen Methodik überhaupt. In ihm spiegeln sich daher die prinzipiellen Gegensätze in der Grundauffassung der Erkenntnis unmittelbar wider. Das allgemeine Ideal des Erkennens erhält hier eine bestimmtere Formung, in welcher es sich nunmehr erst in voller Klarheit heraushebt und abgrenzt.
So ist es verständlich, wenn uns sogleich an der Schwelle der Algebra derselbe typische Widerstreit entgegentritt, der sich innerhalb des Gebiets der Logik verfolgen ließ. Folgen wir der herkömmlichen logischen Ansicht, so muß erwartet werden, daß es bestimmte Grundeigenschaften der Objekte sind, die sich uns in den Zahlbegriffen offenbaren.
3* 35
Die Theorie der ,, Abstraktion" verfügt, streng genommen, über keinen anderen Gesichtspunkt: wie die Gegenstände sich nach Größe und Gestalt, nach Geruch und Geschmack unterscheiden, so müssen sie, ihr zufolge, auch eine bestimmte Beschaffenheit an sich tragen, die ihnen ihren Zahlcharakter aufprägt., Der Begriff der ,,Zwei" oder der „Drei" wäre somit aus einer Mehrheit gegenständlicher Gruppen in derselben Weise abgesondert, wie der Begriff einer bestimmten Farbe aus der Vergleichung der farbigen Wahrnehmungsdinge ent- springt. I Es ist folgerecht, wenn auf diesem Standpunkt der Betrachtung alle Aussagen über Zahlen und Zahlenverhältnisse als der Ausdruck bestimmter physischer Eigenschaften der Objekte angesehen werden. In der modernen Entwicklung des Empirismus ist diese latente Konsequenz zuerst in voller Schärfe zutage getreten. So stellt der Satz, daß 2 + 1=3 ist, nach J. St. M i 1 1 , keine bloße Definition, keine bloße Fixie- rung des Sinnes dar, den wir mit dem Begriff der Zwei und der Drei zu verbinden haben: sondern er berichtet von einem empirischen Tatbestand, den unsere räumliche Wahrnehmung uns bisher stets in derselben Weise dargeboten hat. Immer ist es uns gelungen, sobald wir drei Dinge in einer bestimmten Anordnung — etwa in der Form o " o — vor uns sahen, sie in Teilgruppen von der Art oo, o zu zerlegen. Drei Kiesel- steine machen, wenn sie in zwei getrennten Haufen vor uns liegen, auf unsere Sinne nicht denselben Eindruck, als wenn sie zu einem Haufen vereinigt sind: — die Behauptung, daß das Wahrnehmungsbild, das im ersten Fall entsteht, sich durch eine bloße räumliche Umordnung seiner Teile stets in das zweite Wahrnehmungsbild überführen läßt, ist daher keineswegs ein nichtssagender identischer Satz, sondern eine induktive Wahrheit, die uns durch frühe Erfahrung bekannt geworden und seither beständig befestigt worden ist. Solche Wahrheiten bilden die Grundlage der Wissenschaft von der Zahl. Der Schein der Idealität, der dieser Wissenschaft anhaftet, muß daher schwinden. Die Sätze der Arithmetik verlieren ihre bisherige Ausnahmestellung: sie rücken auf die gleiche Linie mit sonstigen physikalischen Beobachtungen, die wir über Trennungen und Zusammen-
86
Setzungen innerhalb der Körperwelt gemacht haben. Denn wie könnte es auch sinnvolle und gültige Urteile geben, die sich nicht auf sinnfällige Tatsachen bezögen ? Der Begriff der Zehn bedeutet entweder nichts oder er bezeichnet einen bestimmten gleichbleibenden Totaleindruck, der sich immer wieder an Gruppen von zehn Körpern, zehn Tönen, zehn Pulsschlägen wiederfindet. Und daß die verschiedenartigen Eindrücke, die wir auf diese Weise aus der Betrachtung der Gegenstände gewinnen, unter sich ein System bilden, in welchem gewisse konstante Beziehungen obwalten, ist eben- falls ein Satz, der lediglich empirische Gewißheit besitzt: eine anders geartete Wirklichkeit, eine neue physische Um- gebung, in die wir hineinversetzt würden, könnte uns den Satz, daß 2x2 = 5 ist, ebenso geläufig und selbstverständlich machen, als er uns jetzt unbegreiflich und widersinnig er- scheint*. — /
Schon hier beim ersten Schritt in das Gebiet der exakten wissenschaftlichen Probleme zeigt es sich in voller Deutlichkeit, welche sachliche Bedeutung und Tragweite scheinbar bloß formellen logischen Differenzen innezuwohnen vermag. Denn wie immer man Mills Theorie der arithmetischen Grund- prinzipien beurteilen mag: das eine ist anzuerkennen, daß sie mit zwingender Notwendigkeit aus seiner allgemeinen Auffassung des Begriffs hergeleitet ist. Um so bezeichnender ist es, daß diese erste Durchführung des Gedankens alsbald zu einem unmittelbaren Widerstreit gegen das Faktum der wissenschaftlichen Arithmetik selbst hinführt. Wo immer in der neueren Mathematik versucht wurde, dieses Faktum zu zergliedern und zu begründen, da mußte man es zunächst von dem Trugbild unterscheiden, das hier gezeichnet ist; — da mußte man die logische Struktur der reinen Zahlenlehre mit aller Energie und Schärfe von der Mill'schen Arithmetik der „Kieselsteine und Pfeffernüsse" absondern. In der Tat wäre, wenn Mills Ableitung zu Recht bestände, damit den arithmetischen Begriffen gerade jene Bestimmtheit geraubt, die ihren eigentlichen Wert und Gehalt ausmacht.
* Vgl. M i 1 1 , System of Logic, Buch II, Cap. 6 ; An examination of S. WiUiam Hamütons Phüosophy, S. 67 ff.
37
Der logische Unterschied von Zahlen wäre begrenzt und ge- bunden durch die psychologische Unterscheidungsfähigkeit, die wir in der Auffassung gegebener Mengen von Objekten erlangt haben. Daß diese Folgerung einen Widersinn in sich schließt, läßt sich indessen leicht erkennen. Die Zahl 753684 ist von der ihr unmittelbar vorausgehenden oder folgenden Zahl ebenso bestimmt und deutlich unterschieden, wie es die Drei von der Zwei oder Vier ist; aber wer vermöchte den „Eindruck" aufzuweisen, der die Anschauung der entsprechen- den konkreten Mengen voneinander scheidet? Und wie hier der charakteristische Inhalt der Zahlbegriffe verloren geht, so verlieren sie auf der andern Seite die Weite und Freiheit cTer Anwendung, die ihnen wesentlich ist. Die Synthesis des Zählens kann sich nach Mill nur dort betätigen, wo die Verknüpfung oder Trennung, die sie setzt, an den physischen Objekten tatsächlich ausführbar ist; wo die Dinge selbst sich in sinnlich-räumliche Gruppen zusammen- fassen und auseinanderlegen lassen. Die wechselnden Bilder, die von den verschiedenen Gruppen in uns entstehen, bilden das eigentliche und unentbehrliche Substrat aller Aussagen über Zahlenverhältnisse. Außerhalb des Gebiets der räum- lichen Anschauung, in welchem diese aktuellen Verbindungen und Trennungen allein möglich sind, wäre somit den Zahl- begriffen ihr eigentliches Fundament entzogen. In Wahrheit sprechen wir indessen nicht nur von der Zahl der Körner eines Haufens, sondern auch von der Zahl der Kategorien, von der Zahl der Keplerschen Gesetze oder von der Zahl der Energie- faktoren: alles Gegenstände, die sich nicht gleich Kieselsteinen an- und auseinanderlegen lassen. „Es wäre in der Tat wunder- bar," — so bemerkt Frege in seiner drastischen und treffenden Kritik derMill'schen Lehre — ,,wenn eine von äußeren Dingen abstrahierte Eigenschaft auf Ereignisse, auf Vorstellungen, auf Begriffe ohne Änderung des Sinnes übertragen werden könnte. Es wäre gerade so, als ob man von einem schmelz- baren Ereignisse, einer blauen Vorstellung, einem salzigen Begriff, einem zähen Urteile reden wollte. Es ist ungereimt, daß am Unsinnlichen vorkomme, was seiner Natur nach sinnlich ist. Wenn wir eine blaue Fläche sehen, so haben wir
38
einen eigentümlichen Eindruck, der dem Worte „blau" ent- spricht; und diesen erkennen wir wieder, wenn wir eine andere blaue Fläche erblicken. Wollten wir annehmen, daß in der- selben Weise beim Anblick eines Dreiecks etwas Sinnliches dem Worte „Drei" entspräche, so müßten wir dies auch in drei Begriffen wiederfinden; etwas Unsinnliches würde etwas Sinnliches an sich haben. Man kann wohl zugeben, daß dem Worte ,, dreieckig" eine Art sinnlicher Eindrücke entspreche, aber man muß dabei dies Wort als Ganzes nehmen. Die Drei darin sehen wir nicht unmittelbar, sondern wir sehen etwas, woran eine geistige Tätigkeit anknüpfen kann, welche zu einem Urteile führt, in dem die Zahl 3 vorkommt*."
Wenn die Absurditäten, in die die sensualistische Auf- fassung der Zahlbegriffe zuletzt unaufhaltsam verwickelt, nicht sogleich in der ersten Ableitung unmittelbar zutage treten, so liegt der Grund hierfür darin, daß diese geistigen Tätigkeiten, diese Leistungen des Urteils auch hier nicht gänzlich ausgeschaltet, sondern stillschweigend geduldet wer- den. Nur die ersten Wahrheiten der Arithmetik, nur die elementarsten Formeln sollen das Ergebnis unmittelbarer Beobachtung physischer Tatbestände sein, während die wissenschaftliche Form der Algebra nicht auf dem stets erneuten Zufluß von Wahrnehmungstatsachen, sondern auf der „V erallgemeinerung" des primitiven sinnlichen Grundbestands beruhen soll. Dieser Begriff aber schließt wiederum alle Rätsel ein, für die die Theorie eine Lösung ver- sprach. Versucht man, ihm einen scharfen und eindeutigen Sinn zu geben, so müßte er sich alsbald in eine Mehrheit unterschiedener intellektueller Funktionen zer- legen, die beim Aufbau des Zahlenreiches beteiligt sind. Wenn es möglich sein soll, Beobachtungen, die wir an kleineren Komplexen von Objekten gemacht haben, fortschreitend auf größere und immer größere zu übertragen und die „Eigen- schaften" der folgenden nach Analogie der früheren zu be- stimmen: so setzt dies voraus, daß zwischen den verglichenen Fällen irgendeine Form der Beziehung und der A b -
* Prege, Die Grundlagen der Arithmetik. Breslau 1884, S. 31 f; zum Ganzen vgl. bes. S. 9 ff, S. 27 ff.
39
hängigkeit besteht, kraft deren der eine aus dem andern ableitbar ist. Wir hätten nicht das Recht, irgendeine Be- stimmung, die uns an einer individuellen Menge ent- gegengetreten ist, auf Mengen von mehr oder weniger Elementen auszudehnen, wenn wir sie nicht sämtlich als ihrer „Natur" nach gleichartig begriffen : i diese Gleich- artigkeit aber besagt nichts anderes, als daß sie durch eine eindeutige Regel miteinander verknüpft sind, die es ge- stattet, in fortgesetzter identischer Anwendung derselben Grundrelation von der einen Mannig- faltigkeit zur andern zu gelangen. Ohne die Annahme eines derartigen Zusammenhangs müßten wir in der Tat darauf ge- faßt sein, daß jede Einheit, die wir zu einer gegebenen Menge hinzufügen oder die wir von ihr wegnehmen, die gesamte Beschaffenheit der Menge derart ändert, daß von dem Ver- halten der einen kein Schluß auf irgendeine andere mehr zu- lässig wäre. Die neuen Einheiten würden alsdann wie eben- soviele besondere physische Umstände oder Kräfte wirken, die das Gesamtbild völlig umgestalten und in seinen Grundzügen aufheben könnten. Kein überall anwendbares Gesetz, keine durchgehende Beziehung würde mehr die Glieder des Zahlenreiches zusammenschließen; vielmehr wäre jeder arithmetische Satz für jede einzelne Zahl besonders durch Beobachtung und Wahrnehmung zu erweisen. Die sensualistische Theorie vermag dieser Folgerung nur dadurch zu entgehen, daß sie unvermerkt in eine andere Richtung der Betrachtung abbiegt. Die Forderung der Verallgemeine- rung der primitiven Zählerfahrungen enthält wiederum, wenngleich verhüllt, jene Funktion der Allgemeinheit der Zahl- begriffe, die durch die Erklärung beseitigt werden sollte. Der Weg zu einem rein deduktiven Aufbau des Zahlenreiches ist damit wieder frei geworden: es genügt hierfür die Einsicht, daß dieselben gedanklichen Verfahrungsweisen, die sich für jede Theorie im Fortschritt zu den höheren arithmeti- schen Gebilden als unentbehrlich ferweisen, bereits in der Bestimmung der Elemente die notwendige und hinreichende Grundlage bilden. In der Konsequenz, der die sensualistische Lehre zuletzt wider Willen unterliegt, bietet sich der erste
40
Ausblick auf eine einheitliche methodische Ableitung, die die Fundamente und den Aufbau, der sich auf sie gründet, aus einem gemeinsamen Prinzip übersieht und gestaltet. <
Zuvor indessen scheint sich noch ein anderer Weg dar- zubieten, die geforderte Beziehung der Zahlaussagen zum empirischen Dasein der Dinge wiederum herzustellen. Versagt die Ansicht, daß alle arithmetischen Urteile auf physische Gegenstände gehen und in ihrer Geltung an sie geknüpft bleiben: so bleibt dennoch eine andere Klasse von Wirklichkeiten zurück, in denen wir nunmehr erst das wahrhafte Urbild der Zahlbegriffe zu erfassen scheinen. Nicht die Außendinge, sondern das „Bewußtsein" selbst in seiner eigentümlichen und ursprünglichen Daseinsweise bildet den Quell dieser Begriffe; nicht ein materielles, sondern ein geistiges Sein ist es, das sie umspannen und darstellen wollen. Die ganze Weite und Allgemeinheit des Zahlbegriffs scheint sich ihm hier aufs neue zu erschließen. Als Vor- stellung, als psychische Wirklichkeit bleibt die Zahl von all den Beschränkungen frei, die ihr auferlegt werden mußten, solange sie noch als Ausdruck stofflicher Sonderexistenzen und ihrer Verhältnisse galt. Man erkennt, wie sich hier an einem Sonderproblem dieselbe gedankliche Wendung wiederholt, die uns früher innerhalb der allgemeinen logischen Theorie entgegentrat. Der Begriff verzichtet darauf, unmittelbar die äußere Realität in ihrem absoluten Sein nachzubilden; aber an Stelle dieser Realität tritt ihre Er- scheinungsform in unserem Geiste. Der Akt der Zählung gibt nicht die Verhältnisse der Dinge an sich selbst, sondern nur die Art wieder, wie sie sich in der Auffassung durch unser Ich reflektieren.
Aber auch in dieser Umformung bleibt, so sehr sie das Problem weiterführt, zunächst noch ein Moment zurück, das sie mit der sensualistischen Ableitung teilt. Die Zahlen- lehre gelangt auch jetzt nicht zu selbständiger logischer Begründung; sondern sie bildet, wie sie zuvor als Spezialfall der Physik erschien, nunmehr einen Anhang zur Psycho- logie (vgl. oben S. 11 ff.). Für die Psychologie indessen be- deutet die „Vorstellung" zuletzt nichts anderes als einen
41
bestimmten seelischen Inhalt, der in den Einzelsubjekten / je nach besonderen Umständen entsteht und auf dieselbe // Weise wiederum vernichtet wird: einen Inhalt, der in ver- schiedenen Individuen verschieden ist und der auch für ein und dasselbe Subjekt, nachdem er einmal verschwunden, niemals in völlig gleichförmiger Art wiederkehrt. ' Was hier gegeben ist, ist somit immer nur eine zeitlich be- grenzte und determinierte Wirklichkeit, nicht aber ein Bestand, der sich in unveränderlicher logischer Identität festhalten ließe. In der Erfüllung eben dieser letzteren Forderung aber besteht aller Sinn und aller Wert der reinen Zahlbegriffe. Der Satz, daß 7 + 5 = 12 ist, berichtet von keiner Verkettung von Vorstellungserlebnissen, wie sie sich in denkenden Individuen bisher abgespielt haben oder auch künftig ausnahmslos abspielen werden; sondern er stellt einen Zusammenhang fest, der, nach dem Platonischen Aus- druck, die Sieben und Fünf ,,an sich" mit der Zwölf ,,an sich" verbindet. Der Gegenstand, auf den dies Urteil sich richtet, besitzt bei all seiner Idealität eine völlig eindeutige Be- stimmtheit, die ihn von den wandelbaren Inhalten der Vorstellung streng unterscheidet. Das psychologische Bild der Zwei mag sich bei dem einen mit räumlichen Nebenvorstellungen verbinden, bei dem andern von ihnen frei sein; es mag jetzt lebhafter, jetzt matter erfaßt werden: — so wird doch durch all diese Differenzen die arithmetische Bedeutung der Zwei nicht berührt*. Was ein Begriff „ist" und bedeutet: dies kann nicht anders ermittelt werden als dadurch, daß wir ihn als Träger und Ausgangspunkt bestimmter Urteile, als Inbegriff möglicher Relationen auf- fassen. Begriffe sind identisch, wenn sie sich in allen Aussagen, in welche sie eingehen, durch 'einander ersetzen lassen; wenn jede Beziehung, die von dem einen gilt, auch auf den andern übertragbar ist. Wendet man indessen dieses Kriterium an, so tritt sogleich die ganze Divergenz zwischen dem logischen Gehalt des Zahlbegriffs und dem psychologischen Begriff der Vorstellung hervor. Die charakteristischen Grundrelationen,
* Vgl. hierzu wiederum F r e g e , a. a. O. S. 37. 42
die in der Zahlenreihe obwalten, sind als Eigenschaften an gegebenen Vorstellungsinhalten nicht denkbar. Es hat keinen Sinn, von einer ,, Vorstellung" zu sagen, daß sie größer oder kleiner als eine andere, daß sie das Doppelte oder Dreifache von ihr, daß sie durch eine andere teilbar sei usf. Und nicht minder weist die Forderung der Unendlichkeit der Anzahlen über jede derartige Auffassung hinaus: denn alles „Sein" der Vorstellung geht in ihrem unmittelbaren Gegebensein, in ihrem tatsächlichen Vollzug auf. Sind die Zahlen Wirklichkeiten im individuellen Bewußtsein, so können sie nur in endlicher Menge ,, vorhanden", d. h. in diesem Bewußtsein als gesonderte Elemente realisiert sein. —
Indessen scheint diese Kritik in dem Gegensatz, den sie zwischen den reinen Zahlbegriffen und den psychologischen Vorstellungsinhalten feststellt, das Gebiet des psychischen Daseins selbst nicht nach seiner vollen Bedeutung und Weite ergriffen zu haben. Das Charakteristische der Zahl — so ließe sich mit Recht einwenden — läßt sich nur deshalb nicht in irgendeinem besonderen und isolierten Bewußtseinsinhalt aufzeigen, weil hier eine allgemeine Voraussetzung vorliegt, die die Entstehung und Bildung von Inhalten überhaupt beherrscht und leitet. Der Akt, durch den wir irgendeine Einheit abgrenzen und die Synthese, in der wir derartige Einheiten zu neuen Gebilden zusammenfassen, bilden die Bedingung, unter der allein von einer Mannig- faltigkeit von Elementen und ihrem Zusammenhang die Rede sein kann. Die Tätigkeit der Unterscheidung und Ver- knüpfung, nicht irgendein besonderer Inhalt, der aus ihr erst nachträglich resultiert, kann daher allein das gesuchte psycho- logische Korrelat der Zahlbegriffe sein. Nicht Objekte, sei es der äußeren oder der inneren Wirklichkeit, sondern Akte derApperception sind es, an welche die Zahl- bestimmung anknüpft und auf die ihr eigentlicher Sinn zurückgeht. Die „Allgemeinheit", die den reinen Zahlbegriffen eignet, läßt sich von hier aus in einer neuen Richtung ver- stehen und begründen. Auch der Sensualismus erkennt diese Allgemeinheit an; — aber er faßt sie seiner Grundansicht gemäß wie ein dingliches Merkmal, das sich gleichmäßig über
43
einen Kreis von besonderen Objekten verbreitet. „Alle Zahlen," so heißt es bei M i 1 1, „müssen Zahlen von Etwas sein, und es gibt nichts dergleichen, wie eine abstrakte Zahl. Aber obwohl immer Zahlen von Etwas, können sie nichts- destoweniger Zahlen von jedem Beliebigen sein. Sätze über Zahlen haben daher die bemerkenswerte Eigentümlichkeit, daß sie sämtliche Dinge überhaupt betreffen, sofern sie auf alle Gegenstände und alle Arten der Existenz gehen, die uns durch Erfahrung bekannt sind*." Die mathematische Eigenschaft der Zählbarkeit der Dinge wird also hier in der- selben Weise wie irgendeine physische Eigenschaft ermittelt: wie wir in durchgängiger Vergleichung der Einzelfälle lernen, daß alle Körper schwer sind, so finden wir mittels einer analogen Methode die zahlenmäßige Bestimmtheit an ihnen vor. Man erkennt indes, daß die Behauptung der Universalität der Zahl, sofern sie sich auf ein derartiges Verfahren gründet, in Wahr- heit erschlichen ist; denn nichts verbürgt uns, daß diejenigen Fälle, die sich unserer Erfahrung entzogen haben, die gleiche Eigenschaft wie die tatsächlich beobachteten aufweisen und sich somit den arithmetischen Gesetzen fügen. i Erst die tiefere und reifere psychologische Ableitung der Zahlbegriffe aus dem Grundakt der apperzeptiven Verknüpfung und Sonderung überhaupt gewinnt hier einen neuen Gesichtspunkt der Be- gründung. Für sie heißt die Zahl allgemein, nicht weil sie als fertiger Bestandteil in jedwedem Einzelnen enthalten ist, sondern weil sie eine konstante Bedingung für die Beurteilung jedes Einzelnen, als eines solchen, darstellt. DasBewußtsein dieser Allgemeinheit wird nicht durch das Durchlaufen einer unbestimmten Mehrheit von Fällen erworben, sondern ist bereits in der Erfassung jedes einzelnen von ihnen vorausgesetzt: denn die Zuordnung dieses Einzelnen zu einem umfassenden Ganzen ist nur dadurch möglich, daß der Gedanke imstande ist, eine Regel, deren er sich einmal versichert hat, gegenüber allen Verschiedenheiten und Besonde- rungen ihrer Anwendung, wiederzuerkennen und in begriff- licher Identität festzuhalten. —
♦ Mill, A System of Logic, Buch II, Cap. 6, § 2. 44
Auch in diesem Ableitungsversuch, der von den fertigen Vorstellungs inhalten zu den Akten zurückgeht, aus denen sie sich bilden, wird indessen das eigentliche logische Problem der Zahl nicht sowohl gelöst, als vielmehr nur um einen Schritt zurückgeschoben. Denn welchen konstruktiven Wert man den reinen Denkakten immer beilegen mag, so bleiben sie doch, in ihrem rein psychologischen Sinne ge- nommen, stets Geschehnisse, die in der Zeit kommen und gehen. Auch sie gehören somit einem bestimmten indivi- duellen Bewußtseinsverlauf an, wie er hier und jetzt unter den besonderen Bedingungen des jeweiligen Moments von- statten geht. Damit aber wiederholt sich die frühere Frage. Nicht zeitlich begrenzte Wirklichkeiten sind es, deren Ver- hältnis in den arithmetischen Urteilen ausgesprochen und fest- gestellt wird, sondern über das gesamte Gebiet des Denk- geschehens hinaus greift hier der Gedanke zu einem Bereich idealer Gegenstände über, denen er eine dauernde und un- veränderliche Grundform zuerkennt. Diese Grundform ist es, kraft deren jegliches Element der Zahlenreihe mit jedem an- deren nach ein für allemal feststehenden systematischen Regeln zusammenhängt. Wie die Eins sich mit der Zwei, die Zwei mit der Drei verknüpft usf., und wie gemäß dieser Verknüpfung jener gesamte logische Komplex von Sätzen entsteht, die in der reinen Arithmetik vorliegen: dies wird nicht durch eine psychologische Zergliederung der Akte der Vorstellungsbildung ermittelt. Der Aufbau und die objektive Begründung dieses System-Zusammenhangs gehört einer völlig anderen Methode an*. Diese Methode ist freilich zu- nächst eine bloße Forderung, deren Erfüllung noch durchaus problematisch erscheinen muß. Denn welches Mittel der Begründung bleibt uns für einen Begriff, wenn wir ihn weder als Abbild einer äußeren, noch einer inneren, weder als physisches noch als psychisches Sein fassen wollen? Indessen ist diese Frage, die sich unwillkürlich stets aufs neue vordrängt, doch nur der Ausdruck einer bestimmten dogmatischen Ansicht vom Wesen und von der Leistung des Begriffs. Nicht
* Näheres hierüber s. unt., bes. Cap. VIII.
45
nach dieser Grundansicht läßt sich das System der arith- metischen Begriffe und Sätze abschätzen, sondern um- gekehrt findet die formal-logische Betrachtung hier eine Schranke und einen Maßstab an eben diesem System, das sich aus selbständigen inhaltlichen Voraussetzungen entwickelt und allmählich festgestellt hat.
II.
y.
Die Entwicklung, die die wissenschaftliche Arithmetik in den letzten Jahrzehnten genommen hat, ist dadurch charakterisiert, daß schärfer als je zuvor die Forderung hervor- trat, den Zahlbegriff seinem vollständigen Gehalt nach aus rein logischen Prämissen abzuleiten. Die Wissenschaft des Raumes schien der Anschauung, schien bisweilen selbst der empirischen Wahrnehmung anheirnfajlen zu sollen: um so energischer aber kam nunmehr der Gedanke zur Geltung, daß alle Bestimmungen der Zahl sich ohne jede Berufung auf sinnliche Objekte, ohne jede Anlehnung an konkrete meßbare Größen „durch ein endliches System einfacher Denkschritte" begründen lassen müssen. In dieser Herleitung der Arithmetik aus der Logik aber wird diese selbst bereits in einer neuen Gestalt vorausgesetzt. „Verfolgt man genau," so beginnt D e d e k i n d seine Deduktion des Zahlbegriffs, ,,was wir bei dem Zählen der Menge oder Anzahl von Dingen tun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Ding ein Ding entsprechen zu lassen, oder einTDing durch ein Ding abzubilden, ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist./ Auf dieser einzigen, auch sonst ganz unentbehr- lichen Grundlage muß . . die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden*." Hier scheint ganz im Sinne der tradi- tionellen logischen Doktrin von einer Mehrheit von Dingen und von dem Vermögen des Geistes, sie abzubilden, aus- gegangen zu werden — ; aber dennoch zeigt es sich bei tieferem Eindringen sogleich, daß die überlieferten Bezeichnungen
* Dedekind, Was sind iind was sollen die Zahlen ? Bratmschweig 1893, S. VIII.
46
2. Aufl.,
selbst einen neuen Gehalt und eine neue Bedeutung gewonnen haben. Die ,, Dinge", von denen in der weiteren Ableitung die Rede ist, werden nicht als selbständige Existenzen vor jeder Beziehung als vorhanden gesetzt, sondern sie erhalten ihren gesamten Bestand, soweit er für den Arithmetiker in Betracht kommt, erst in und mit den Beziehungen, die von ihnen ausgesagt werden. Sie sind Relationsterme, die niemals losgelöst, sondern nur in idealer Gemeinschaft mit- einander „gegeben" sein können, i Und auch das Verfahren der „Abbildung" hat nunmehr eine charakteristische Wand- lung erfahren. Denn jetzt handelt es sich nicht mehr darum, eine begriffliche Kopie der äußeren Eindrücke zu schaffen, die ihnen in irgendwelchen Einzelzügen entspricht: sondern die Abbildung besagt nichts anderes, als die gedank- liche Zuordnung, durch die wir übrigens ganz ver- schiedenartige Elemente zu einer systematischen Einheit ver- knüpfen. Hier kommt lediglich die Vereinigung von Reihen- gliedern durch ein Reihenprinzip, nicht ihre Übereinstimmung in irgendeinem sachlichen Teilbestand in Frage. Nachdem durch eine ursprüngliche Setzung ein bestimmter Ausgangspunkt fixiert ist, werden alle weiteren Elemente dadurch gegeben, daß eine Beziehung (R) angegeben wird, die in fortgesetzter Anwendung alle Glieder des Komplexes erzeugt. So entstehen Systeme und Systemgruppen in strenger~T)egnfflicher Gliede- rung, ohne daß doch ein Element mit dem andern irgendwie durch sachliche Ähnlichkeit verbunden zu sein braucht. Die ,, Abbildung" schafft kein neues Ding, sondern eine neue notwendige Ordnung zwischen Denkschritten und Denk- gegenständen. —
Dedekind hat in seiner Schrift: ,,Was sind und was sollen die Zahlen" gezeigt, wie auf Grund dieser einfachen Prinzipien der vollständige Aufbau der Arithmetik und die erschöpfende Darstellung ihres wissenschaftlichen Gehalts möglich ist. Wir verfolgen die mathematische Entwicklung dieses Gedankens nicht in ihren Einzelheiten, sondern begnügen uns — da der Zahlbegriff uns hier nicht um seiner selbst willen, sondern nur als Beispiel für die Gestaltung der reinen „Funktionalbegriffe" interessiert — , lediglich ihre wesentliche
47
Tendenz herv^orzuheben. Die Voraussetzungen für die Ableitung des Zahlbegriffs sind in der allgemeinen Logik der Relationen gegeben. Betrachten wir das Ganze der möglichen Beziehungen, nach welchen eine Reihe von Denksetzungen gegliedert sein kann, so treten uns hier zu- nächst gewisse formale Grundbestimmungen entgegen, die bestimmten Klassen von Relationen gleich- mäßig zukommen und sie von anderen Klassen verschiedener Struktur unterscheiden. Ist etwa irgendeine Beziehung zwischen zwei Gliedern a und b gegeben, die wir symbolisch durch den Ausdruck a R b bezeichnen können, so kann sie zunächst derart beschaffen sein, daß sie in gleicher Weise zwischen b und a gilt, so daß aus der Geltung von a R b auch bRa folgt. Wir nennen in diesem Falle die Relation ,, sym- metrisch" und unterscheiden sie einerseits von der nicht- symmetrischen Beziehung, in der die Geltung von aRb die von bRa zwar zuläßt, aber nicht notwendig fordert, ander- seits von der asymmetrischen Beziehung, in der eine derartige Umkehrung nicht möglich ist, also aRb und bRa nicht miteinander bestehen können. Eine Beziehung heißt weiterhin transitiv, wenn daraus, daß sie zwischen je zwei Gliedern, a und b, b und c besteht, ihre Geltung auch für a und c folgt; sie heißt nicht-transitiv, wenn diese Übertragung nicht notwendig und intransitiv, wenn sie durch die Natur der betrachteten- Beziehung ausgeschlossen ist*. Diese Bestimmungen, die im allgemeinen Relations- Kalkül weitreichende Anwendung finden, kommen hier zu- nächst nur insofern in Betracht, als auf ihnen die schärfere Definition dessen beruht, was wir unter der Ordnung eines bestimmten Inbegriffs zu verstehen haben. Es ist in der Tat ein naives Vorurteil, wenn man die Ordnung, die
♦ Russell, auf den diese Unterscheidungen zurückgehen, ver- deutlicht sie an den verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen: die Beziehung, die im Begriff ,, Geschwister" voriiegt, ist symmetrisch und trsmsitiv, die Beziehung „Bruder" nicht symmetrisch tmd transitiv; die Beziehung ,, Vater" asymmetrisch und intransitiv usw. — S. hierzu und zum Folgenden: Russell, The Principles of Mathematics, I, Cam- bridge 1903; vgl. auch meinen Aufsatz: Kant und die moderne Mathe- matik, Kant Studien XII, 1 ff.
48
1
zwischen den Elementen einer Mannigfaltigkeit besteht, wie etwas Selbstverständliches betrachtet, das gleichsam durch das bloße Dasein der Einzelglieder schon unmittelbar gegeben sei. In Wahrheit haftet sie nicht an den Elementen als solchen, sondern an der Reihenrelation, durch die sie ver- knüpft sind, und alle ihre Bestimmtheit und ihre spezifische Eigenart leitet sich aus dieser Reihenrelation her. Die nähere Untersuchung ergibt, daß zuletzt stets irgendeine tran- sitive und asymmetrische Beziehung erfordert wird, um den Gliedern eines Inbegriffs eine bestimmte Ordnung aufzuprägen*.
Betrachten wir nunmehr eine Reihe, die ein erstes Glied besitzt und für die ein bestimmtes Gesetz des Fortschritts derart festgestellt ist, daß zu jedem Glied ein unmittelbar nachfolgendes gehört, mit dem es durch eine eindeutige, transitive und asymmetrische Beziehung verknüpft ist, die im Ganzen der Reihe überall dieselbe bleibt, so haben wir in einer derartigen ,, Progression" bereits den eigentlichen Grundtypus aller Gegenstände erfaßt, mit denen die Arith- metik es zu tun hat. Alle Sätze der Arithmetik, alle Opera- tionen, die sie definiert, beziehen sich lediglich auf die all- gemeinen Eigenschaften der Progressionen; sie gehen daher niemals unmittelbar auf ,, Dinge", sondern auf die ordinalen Beziehungen, die zwischen den Elementen bestimmter In- begriffe obwalten. Die Definitionen der Addition und Sub- traktion, der Multiplikation und Division, die Erklärung der positiven und negativen, der ganzen und gebrochenen Zahlen lassen sich rein auf dieser Grundlage — und ohne daß ins- besondere auf die Verhältnisse konkreter meßbarer Objekte zurückgegangen würde — entwickeln. Der ganze „Bestand" der Zahlen beruht nach dieser Ableitung auf den Verhältnissen, die sie in sich selber aufweisen, nicht auf der Beziehung zu einer äußeren gegenständlichen Wirklichkeit: sie bedürfen keines fremden „Substrats", sondern halten und stützen sich wechselseitig, sofern jedem Glied durch das andere die Stelle im System eindeutig vorgeschrieben ist. „Wenn man,"
* Näheres hierüber bei Russell, a. a. O. Cap. 24 und 25. Cassirer, Substanzbegriff 4 49
so definiert Dedekind — „bei der Betrachtung eines einfach unendlichen durch eine Abbildung 90 geordneten Systems N von der besonderen Beschaffenheit der Elemente gänzlich absieht, lediglich ihre Unterscheidbarkeit festhält und nur die Beziehungen auffaßt, in die sie durch die ordnende Abbildung rp zueinander gesetzt sind, so heißen diese Elemente natürliche Zahlen oder Ordinalzahlen oder auch schlechthin Zahlen und das Grundelement 1 heißt die Grundzahl der Zahlenreihe N. In Rücksicht auf diese Befreiung der Elemente von jedem anderen Inhalt (Abstraktion) kann man die Zahlen mit Recht eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes nennen. Die Beziehungen oder Gesetze, welche ... in allen geordneten einfach unend- lichen Systemen immer dieselben sind, wie auch die den einzelnen Elementen zufällig gegebenen Namen lauten mögen, bilden den nächsten Gegenstand der Wissenschaft von denZahlen oder der Arithmetik "*. • Vom logischen Standpunkt aus ist es von besonderem Interesse, daß hier der Begriff und Terminus der „Abstraktion" offenbar in einer neuen Bedeutung verwendet wird. Der Akt der Abstraktion richtet sich nicht auf die Absonderung eines dinglichen Merk- mals, sondern er zielt darauf ab, daß wir uns den Sinn einer bestimmten Relation unabhängig von allen Einzelfällen der Anwendung rein für sich zum Bewußtsein bringen. Die Funktion der ,,Z a h 1" ist ihrer Bedeutung nach unabhängig von der inhaltlichen Verschiedenheit der Gegenstände, die gezählt werden können; diese Verschiedenheit kann und muß daher außer acht bleiben, wenn es sich darum handelt, lediglich die Bestimmtheit dieser Funktion zu ent- wickeln. Hier wirkt daher die Abstraktion in der Tat als eine Befreiung: sie bezeichnet die logische Konzentration auf den Relationszusammenhang als solchen unter Abweisung aller psychologischen Nebenumstände, die sich im subjektiven Vorstellungsverlauf herandrängen mögen, die aber kein sach- lich-konstitutives Moment dieses Zusammenhangs bilden.i
* D e d e k i n d , a. a. O. § 6. — Über den Begriff der „Abbildung" s. oben S. — ; über die Definition des „einfach unendlichen Systems" siehe Dedekind, a. a. O. § 5 und 6.
60
Man hat gegen Dedekinds Ableitung bisweilen eingewandt, daß hier für die Zahl im Grunde gar kein unterscheidender Inhalt zurückbleibe, der ihre Eigentümlichkeit gegenüber anderen reihenförmig geordneten Gegenständen bezeichnete. Da in ihrer Begriffsbestimmung lediglich die allgemeinen Momente der „Progression" festgehalten sind, so gelte, was hier von der Zahl ausgesagt werde, für jede Progression überhaupt: es sei also einzig die Reihenform selbst, nicht dasjenige, was als M a t e r i a 1 in sie eingeht, was hier definiert werde. Sollen die Ordinalzahlen überhaupt etwas sein, so müssen sie — wie es scheint — irgendeine , »innerliche" Natur und Beschaffenheit besitzen, so müssen sie sich von anderen Wesenheiten durch irgendein absolutes Merkmal unterscheiden, in der Art wie Punkte von Augenblicken oder Farben von Tönen verschieden sind*. Aber dieser Einwand verkennt das eigentliche Ziel und die Grundtendenz von Dedekinds Begriffsbestimmung. Was hier zum Ausdruck kommt, ist eben dies, daß es ein Gefüge idealer Gegenstände gibt, deren gesamter Inhalt in ihren gegenseitigen Beziehungen erschöpft ist. Die „Essenz" der Zahlen geht in ihrem Stellen- wert auf**. Und der Begriff der Stelle selbst muß hier zunächst in größter logischer Allgemeinheit und Weite gefaßt werden. Die Unterscheidbarkeit der Elemente, die zu fordern ist, beruht auf rein begrifflichen, nicht auf sinnlich-anschaulichen Bedingungen. Selbst die Anschauung der reinen Zeit, auf die Kant den Zahlbegriff gründet, ist hier zunächst noch nicht erfordert. Wir denken uns die Glieder der Zahlenreihe allerdings als geordnete Folge; aber dieser Begriff der Folge enthält nichts von der konkreten Bestimmtheit der zeitlichen Succession in sich. Die Drei „folgt" auf die Zwei nicht, wie etwa auf den Blitz der Donner, da beide keine zeitliche Wirk- lichkeit, sondern lediglich idealen logischen Bestand besitzen. Der «Sinn des Folgens beschränkt sich darauf, daß die Zwei
*S. Russell a. a. O., § 242. ** Zur Ableitung der Zahl als reiner „Reihenzahl" vgl. bes. die Darstellung von G. F. L i p p s (Philosoph. Studien, hg. v. Wundt, Bd. III), sowie die neuesten Darlegungen N a t o r p s , die diesen Gedanken mit besonderer Klarheit und Eindringlichkeit durchführen. (Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaft," Lpz. 1910, Kap, 3 u. 4.)
4* 51
als P r ä m i s s e in die Begriffsbestimmung der Drei eingeht; daß die Bedeutung des einen Begriffs erst erhellt, wenn die des anderen feststeht, i Die niedere Zahl ist der höheren „vor- ausgesetzt": aber dies bezeichnet nicht das physische oder psychologische Früher und Später, sondern ein reines Ver- hältnis der begrifflich systematischen Abhängigkeit. Was die „spätere" Stelle kennzeichnet, ist der Umstand, daß sie auf komplexere Weise durch Anwendung der erzeugenden Relation aus der Grundeinheit hervorgeht und somit die Elemente, die ihr vorangehen, als logische Bestandteile und Phasen in sich aufnimmt. « So setzt die Zeit — wenn man darunter die konkrete Form des ,, inneren Sinnes" versteht — zwar die Zahl, aber nicht umgekehrt die Zahl die Zeit voraus. Die Arithmetik kann dann und nur dann als die Wissenschaft der reinen Zeit definiert werden, wenn man zuvor — wie es z. B. Hamilton tut — aus dem Begriff der Zeit selbst alle inhaltlichen Sonderbestimmungen entfernt und lediglich das Moment der „Ordnung im Fortschritt" festgehalten hat *. Gerade dies erweist sich nunmehr als der methodische Vorzug der Zahlwissenschaft, daß in ihr das „Was" der Elemente, die einen bestimmten fortschreitenden Zusammenhang bilden, außer Betracht bleibt und lediglich das „Wie" dieses Zu- sammenhangs berücksichtigt wird. Damit tritt uns zum ersten Male ein allgemeines Verfahren entgegen, das für die gesamte Begriffsbildung der Mathematik von entscheidender Be- deutung ist. Wo immer ein System von Bedin- gungen gegeben ist, das sich in verschiedenen Inhalten erfüllen kann, da können wir, unbekümmert um die Ver- änderlichkeit dieser Inhalte, die Systemform selbst als In- variante festhalten und ihre Gesetze deduktiv ent- wickeln. Wir erschaffen dadurch ein neues ,, objektives" Gebilde, das in seiner Struktur von aller Willkür unabhängig ist: aber unkritische Naivität wäre es, den Gegenstand, der auf diese Weise entsteht, mit den sinnlich wirklichen und
♦ über William Hamiltons Definition der Algebra als „Science of pvire time or order in progression" und ihre Beziehung zum Kantischen Zeitbegriff vgl. m. Aufsatz „Kant und die moderne Mathematik", Kant- Studien XII, 34 f.
wirksamen Dingen zu verwechseln. Diesem Gegenstand können wir nicht empirisch seine „Eigenschaften" ablesen; und wir bedürfen dessen nicht, da er in all seiner Bestimmtheit vor uns steht, sobald wir einmal die Relation, aus der er erwächst, in ihrer Reinheit ergriffen haben. —
So grundlegend indessen das begriffliche Moment der Ordnung auch ist, so ist doch in ihm der gesamte Inhalt des Zahlbegriffs nicht erschöpft. Wir gelangen zu einer neuen gedanklichen Wendung, sobald die Zahl, die bisher als bloße logische Abfolge von Denksetzungen abgeleitet wurde, als Ausdruck der Vielheit verstanden und verwendet werden soll. Dieser Übergang von der reinen Ordnungszahl zur Kardinalzahl wird von den verschiedenen ordinalen Theorien der Arithmetik, wie sie-, neb,eh Dedekind, insbesondere Helmholtz und Kronecker entwickelt haben, im allgemeinen übereinstimmend vollzogen. Ist irgend- ein endliches System gegeben, so können wir es auf den zuvor entwickelten Inbegriff der Zahlen in bestimmter und ein- deutiger Weise beziehen, indem wir jedem Element des Systems eine und nur eine Stelle dieses Inbegriffs entsprechen lassen. Wir gelangen auf diese Weise, indem wir der vor- geschriebenen festen Ordnung der Stellen folgen, schließlich dazu, dem letzten Gliede des Systems eine bestimmte Ordinalzahl, «, zuzuordnen.» Dieser Akt der Zuordnung aber, der das Verfahren abschließt, faßt zugleich alle seine früheren Phasen in sich: denn da der Fortschritt von i zun nur auf eine einzige Art erfolgen kann, so gibt hier das Ziel, zu dem wir gelangen, gleichzeitig die gesamte Operation, durch die hin- durch wir es erreichen, in ihrer spezifischen Bestimmtheit wieder. Die Zahl n, die zunächst als Charakteristik des letzten Elements gewonnen wurde, läßt sich also, in einer anderen Richtung der Betrachtung, zugleich als eine Charakteristik des Gesamtsystems ansehen : wir nennen sie die Kardinalzahl des betrachteten Systems und sagen von diesem nunmehr, daß es aus n Elementen bestehe*, "j
* Vgl. bes. Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen, § 161, S. 54.
53
^-^
»Hierbei ist allerdings vorausgesetzt, daß es eine und nur eine Kardinalzahl der gegebenen Menge geben könne, daß also die Stelle, auf die wir zuletzt treffen, von der Ordnung, in welcher wir die Glieder der Menge nacheinander betrachten und herausheben, unabhängig sei. Diese Voraussetzung kann indessen — wie insbesondere Helmholtz gezeigt hat — ohne die Annahme irgendeines neuen Postulats aus den Prämissen der ordinalen Theorie in aller Strenge bewiesen werden; sobald man nur an der Bedingung festhält, daß die betrachtete Mannigfaltigkeit ein endliches System bildet. Auch die Definitionen der arithmetischen Grund- operationen können nunmehr ohne Schwierigkeit auf die neue Zahlart übertragen werden. So bedeutet etwa innerhalb der reinen Ordnungszahl die Bildung der Summe (a + b), daß wir, von a ausgehend, um b Schritte , .weiterzählen", d. h., daß wir die Stelle der Reihe bestimmen, zu der wir gelangen, indem wir die auf a folgenden Zahlen gliedweise den Elementen der Reihe 1 2 3 .. .b zuordnen. Diese Er- klärung bleibt ohne weiteres in Kraft, wenn wir zur Addition der Kardinalzahlen übergehen; es zeigt sich, daß aus der Zusammenfassung der Elemente zweier Mengen, denen die Kardinalzahl a und b zukommt, eine neue Menge C hervor- geht, in der die Anzahl der Glieder durch die Zahl (a 4- b) in der zuvor bestimmten Bedeutung angegeben wird. Die Betrachtung der „Kardinalzahlen" läßt uns somit keinerlei neue Eigenschaft und keine neue Beziehung entdecken, die sich nicht zuvor aus dem bloßen Moment der Ordnung hätte gewinnen lassen: nur dies wird erreicht, daß die Formeln, die die ordinale Theorie entwickelt hat, eine weitere Anwend- barkeit gewinnen, indem sie nunmehr gleichsam in zwei ver- schiedenen Sprachen gelesen werden können *.
Wenn somit durch den Übergang, der sich hier vollzieht, kein eigentlich neuer mathematischer Inhalt ge- schaffen wird, so ist es nichtsdestoweniger unverkennbar, daß in der Bildung der Kardinalzahl eine neue logische Funktion sich betätigt. Wenn in der Theorie der Ord-
* Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch be- trachtet. (Philosoph. Aufsätze, Ed. Zeller gewidmet, Lpz. 1887, S. 33.)
54
nungszahl die Einzelschritte als solche festgestellt und in eindeutiger Folge entwickelt wurden, so tritt jetzt die Forde- rung ein, die Reihe nicht nur nacheinander in ihren einzelnen Elementen, sondern als ideelles Ganzes zu erfassen. Das vorangehende Moment soll durch das folgende nicht einfach verdrängt werden, sondern seinem gesamten logischen Gehalt nach in ihm aufbehalten bleiben, so daß der letzte Schritt des Verfahrens zugleich alle vorhergehenden und das Gesetz, das sie wechselseitig verknüpft, in sich faßt. Erst in dieser Synthese vollendet sich die bloße Folge der Ordnungs- zahlen zum einheitlichen, in sich geschlossenen System, in welchem jedes Glied nicht nur für sich steht, sondern zu- gleich den Aufbau und das formale Prinzip der Gesamtreihe repräsentiert. ^
• Sind aber diese beiden logischen Grundakte, auf denen alle Unterscheidung und alle Verknüpfung von Zahlen beruht, '•'einmal anerkannt, so bedarf es keiner weiteren speziellen Vor- aussetzung mehr, um das Gebiet und den Operationskreis der Arithmetik zu bestimmen. Die Forderung einer rein rationalen Ableitung, die von aller Anlehnung an die empiri- schen Verhältnisse physischer Objekte absieht, ist daher er- füllt. Freilich ist gerade dieser auszeichnende Grundcharakter in der Beurteilung der ,, ordinalen" Theorie der Zahl häufig verkannt worden. Die Begründung der Theorie, wie sie z. B. von Helmholtz gegeben wurde, muß in der Tat zu der Auffassung führen, daß hier zunächst konkrete Mengen von Gegenständen als gegeben vorausgesetzt werden und daß alle Leistung des Denkens sich darin erschöpfe, für diese Ver- schiedenheit der Dinge eine entsprechende Verschiedenheit von Zeichen einzuführen. „Zeichen" aber sind als solche zunächst selbst nichts anderes, als Gruppen wahrnehmbarer Objekte, die sich durch ihre Gestalt und Stellung sichtbar voneinander unterscheiden. Von der unmittelbaren Be- schaffenheit der Dinge scheinen wir demnach in den Aussagen über Zahlenverhältnisse nur deshalb absehen zu können, weil wir die Wirklichkeit der Objekte zuvor durch die ihrer sinnlichen „Abbilder" ersetzt haben. Nicht ein Absehen von den physischen Gegenständen, sondern umgekehrt eine Ver-
55
dichtung und Konzentration ihres sinnlichen Gehalts wäre somit der echte Anfang der Zahlbildung. Jede derartige Aus- legung, die durch die Darstellung, die die Theorie der Ordinal- zahl bei verschiedenen Mathematikern erfahren hat, bisweilen nahegelegt zu werden scheint, widerspricht indessen in Wahrheit ihrer eigentlichen und tieferen logischen Tendenz. Die „Zeichen", die hier geschaffen werden, würden auf- hören Zeichen zu sein, würden ihre charakteristische Leistung verlieren, wenn sie lediglich nach dem, was sie sinnlich sind, nicht nach dem, was sie gedanklich bedeuten, beurteilt würden. Was auf diese Weise übrig bliebe, wären in der Tat nur gewisse ,, Bilder", die wir auf ihre Form und ihre Größe, ihre Lage und ihre Färbung untersuchen könnten: kein noch so extremer mathematischer „Nominalismus" aber hat jemals tatsächlich versucht, den Gehalt der gültigen Urteile über Zahlen in Aussagen von dieser Art und Beschaffenheit umzudeuten.« Nur die Zweideutigkeit in der Verwendung des Begriffs des Zeichens, nur der Umstand, daß darunter bald das bloße Dasein eines sinnlichen Inhalts verstanden wird, bald der ideale Gegenstand, der durch ihn bezeichnet wird, ermöglicht die Rückführung auf das nominalistische Schema. i L e i b n i z , dessen ganzes Denken doch auf den Plan einer „allgemeinen Charakteristik" konzentriert ist, hat daher gegenüber den formalistischen Theorien seiner Zeit den logischen Sachverhalt, der hier zugrunde liegt, mit aller philosophischen Klarheit bezeichnet. Die „Basis" der Wahrheiten liegt, wie er ausspricht, niemals in den Zeichen, sondern in den ob- jektiven Beziehungen zwischen den Ideen. Wäre es anders, so müßten wir so viele Formen der Wahrheit unterscheiden, als es Weisen der Bezeichnung gibt. Unter den modernen Mathematikern hat sodann vor allem F r e g e in eindringender Einzelkritik dargetan, wie die Arithmetik der Zeichen sich nur dadurch am Leben zu erhalten vermag, daß sie sich selber untreu wird. An die Stelle der leeren Symbole tritt im Ver- lauf der gedanklichen Entwicklung wiederum unvermerkt der Gehalt der arithmetischen Begriffe*.
* F r e g e , Grundgesetze der Arithmetik, Bd. II (Jena 1903), S. 69 ff., S. 139 u. s.
66
{
1
Die nominalistische Darstellung bildet daher auch in der Theorie der reinen Ordnungszahlen nur eine äußere Hülle, die man abstreifen muß, um zum eigentlichen logischen und mathematischen Kern des Gedankens vorzudringen. Ist dies aber einmal geschehen, so sind es rein rationale Momente, die man zurückbehält: denn ,,0 r d n u n g" ist nichts, was sich in den sinnlichen Eindrücken unmittelbar auf- weisen ließe, sondern etwas, das ihnen erst kraft gedanklicher Relationen zukommt. So bedarf denn auch die Theorie in ihrer reinen Durchführung nicht, wie man ihr entgegengehalten hat *, der Voraussetzung einer Menge physisch gegebener Einzeldinge. Die Mannigfaltigkeiten, die sie zugrunde legt, sind nicht empirisch vorhandene, sondern ideell de- finierte Inbegriffe, die nach einer konstanten Regel aus einem einmal festgesetzten Anfang fortschreitend konstruiert werden. In dieser Regel wurzeln auch alle die echten „formalen" Bestimmungen, die die Zahlenreihe auszeichnen und sie zum Grundtypus eines begrifflich erkannten und beherrschten Zu- sammenhangs überhaupt machen.
III.
Blickt man jedoch auf die tatsächliche Entwicklung, die die moderne mathematische Prinzipienlehre genommen hat, so kann es scheinen, als s6i in allen bisherigen Bestim- mungen gerade das wesentliche Moment außer Betracht geblieben, in dem die logische Charakteristik der Zahl sich erst vollendet. Wo immer man versucht hat, den Zahlbegriff in rein „logische Konstanten" aufzulösen, da wurde man auf den Klassenbegriff als seine notwendige und hin- reichende Voraussetzung zurückgeführt. Die Analysis der Zahl schien erst dann abgeschlossen, wenn es gelungen war, allen Sondergehalt der Zahl aus der allgemeinen Funktion des Begriffs überhaupt herzuleiten : — begriffliche Formung aber bedeutete wiederum nach der herrschenden logischen Grundüberzeugung nichts anderes als die Zusammenfassung der Gegenstände in Arten und Gat- tungen vermöge der Subsumption unter generelle Merkmale. )
* Vgl. Couturat,De Tlnfini mathematique, Paris 1896, S. 318 ff.
57
So mußte aus dem Zahlbegriff, um ihn gedanklich zu bewältigen, zuvor alles entfernt werden, was sich diesem Grundschema nicht einfügt. Hier aber entsteht für die Theorie zunächst eine prinzipielle Schwierigkeit. Betrachten wir nicht den Gedanken der Zahl überhaupt, sondern den Begriff dieser und jener bestimmten Zahl, so haben wir es in ihm nicht mit einem logischen Allgemeinbegriff, sondern mit einem Individualbegriff zu tun. Es handelt sich hier nicht um die Angabe einer Gattung, die in beliebig vielen Einzelexemplaren gegeben sein kann, sondern um die Fixierung einer eindeutig bestimmten Stelle innerhalb eines Gesamtsystems. Es gibt nur eine Zwei, nur eine Vier und beiden kommen bestimmte mathematische Eigenschaften und Merkmale zu, die sie mit keinem anderen Gegenstand teilen, i Soll trotzdem die Reduktion des Zahlbegriffs auf den Klassenbegriff möglich sein, so muß hier- für ein anderer Weg eingeschlagen werden. Um zu bestimmen, was die Zahl ihrem reinen Wesen nach ,,ist", suchen wir nicht sie selbst unmittelbar in inhaltlich einfachere Bestandteile zu zerlegen, sondern fragen zunächst, was die Gleichheit von Zahlen bedeutet. Sobald einmal festgestellt ist, unter welchen Bedingungen wir zwei Mengen hinsichtlich ihrer Zahl als gleichwertig betrachten, ist damit zugleich mittelbar die Eigenart des Merkmals bestimmt, das wir in beiden als identisch annehmen. Das Kriterium für die Gleichzahligkeit zweier Mengen aber besteht darin, daß es möglich ist, eine bestimmte Relation anzugeben, durch welche sich die Glieder der beiden Mengen einander wechselseitig eindeutig zuordnen lassen. Kraft dieses Verfahrens der Zuordnung stiften wir unter den unendlich vielen möglichen Klassen von Gegenständen bestimmte Zusammengehörigkeiten, indem wir Gruppen, die sich auf diese Weise miteinander verknüpfen lassen, zu je einem Gesamtkomplex vereinigen. Wir fassen, mit andern Worten, alle Mannigfaltigkeiten, für die ein solches Verhältnis der „Äquivalenz" oder der eindeutigen Zuordnung der Glieder besteht, in eine Gattung zusammen, während wir Mengen, bei denen diese Bedingung nicht er-
58
füllt ist, als verschiedenen Gattungen zugehörig betrachten. Ist dies geschehen, so kann weiterhin jede Einzelmenge hinsichtlich des Merkmals der Äquivalenz als vollständiger Repräsentant ihrer Gesamtgattung betrachtet werden: denn da sich zeigen läßt, daß zwei Mengen, die einer dritten äquivalent sind, es auch untereinander sind, so genügt es, von einem vorgegebenen Inbegriff M nachzuweisen, daß er sich irgendeiner Menge des Gesamtkomplexes Glied für Glied zuordnen läßt, um darin die Gewißheit zu besitzen, daß das Gleiche für alle Mengen des betreffenden Komplexes gilt. Indem wir nun die gemeinsame Beziehung, die alle Inbegriffe eines derartigen Komplexes untereinander be- sitzen, herauslösen und als für sich denkbaren Gegenstand auffassen, haben wir damit dasjenige Moment gewonnen, das wir in gewöhnlicher Ausdrucksweise als die Zahl jedes dieser Inbegriffe bezeichnen. ,,Die Anzahl, welche dem Be- griffe F zukommt" — so definiert demnach F r e g e, auf den diese Ableitung in ihren Grundzügen zurückgeht — , ,,ist der Umfang des Begriffes: gleichzahlig dem Begriffe F." Wir fassen den Gedanken der Anzahl eines Begriffs, indem wir die Gegenstände, die unter ihn fallen, nicht für sich allein be- trachten, sondern zugleich mit ihnen auch alle diejenigen Klassen ins Auge fassen, deren Elemente zu denen des be- trachteten Inbegriffs im Verhältnis der eindeutigen Zuordnung stehen. —
Es ist somit das Charakteristische dieser Auffassung, daß sie dasjenige, was in der gewöhnlichen Ansicht lediglich als das Kriterium der Anzahlgleichheit erscheint, als das eigentlich konstitutive Merkmal heraushebt, auf dem aller Inhalt des Zahlbegriffs selbst beruht. Wenn der her- kömmliche Weg darin besteht, die einzelnen Zahlen als ,, ge- geben", als bekannt vorauszusetzen und dann auf Grund dieser Bekanntschaft über ihre Gleichheit oder Ungleichheit zu entscheiden, so gilt hier das umgekehrte Verfahren. Das Verhältnis, das in der Gleichung ausgesagt wird, ist das allein Bekannte; während die E 1 e m e n t e , die dieses Verhältnis eingehen, in ihrer Bedeutung zunächst noch un- bestimmt sind und erst kraft der Gleichung allmählich be-
59
stimmbar werden. „Unsere Absicht ist," — so schildert Frege das allgemeine Verfahren — „den Inhalt eines Urteils zu bilden, der sich so als eine Gleichung auffassen läßt, daß jede Seite dieser Gleichung eine Zahl ist. Wir wollen also ... mittels des schon bekannten Begriffs der Gleich- heit das gewinnen, was als gleich zu be- trachten is t." Hier ist in der Tat eine methodische Tendenz, die aller mathematischen Begriffsbildung zugrunde liegt, scharf bezeichnet: das „Gebilde" soll seinen gesamten Bestand aus den Relationen erhalten, die es erfüllt (vgl. oben, S.52f.). Nur die eine Frage bleibt zurück, ob in der Beziehung der Äquivalenz zwischen Klassen wirklich eine Relation erfaßt ist, die logisch einfacher ist als das Ganze der Funk- tionen, die in der ordinalen Theorie zur gegliederten Reihe der Ordnungszahlen hinführen. Ein Fortschritt der Analyse wäre offenbar nur dann erreicht, wenn es gelänge, von allen diesen Funktionen gänzlich abzusehen und dennoch auf einem neuen Wege den vollständigen Aufbau des Zahlenreichs und seiner Gesetze zu erreichen. Auf diesen Punkt also muß sich fortan die kritische Untersuchung konzentrieren: ist die Ab- leitung der Zahlenreihe aus dem Klassenbegriff tatsächlich vollzogen oder bewegt diese Ableitung sich in einem Zirkel, indem sie stillschweigend bereits Begriffe aus eben dem Gebiet voraussetzt, das sie zu deduzieren unternimmt * ? / Mit der empiristischen Anschauung vom Wesen der Zahl, die sie aufs schärfste bekämpft, begegnet die Theorie, die hier entwickelt wird, sich dennoch in einem formalen Momertt: auch sie faßt die Zahl als eine ,, gemeinsame Eigen- schaft" gewisser Inhalte und Inhaltsgruppen. Nur sind die Substrate der Zahlaussagen, wie nachdrücklich betont wird, nicht in den sinnlich physischen Dingen selbst, sondern lediglich
* Das Problem, um das es sich hier handelt, ist in der neueren logisch- mathematischen Literatur lebhaft diskutiert worden: ich verweise für die positive Darlegung der Theorie besonders auf die Schriften von Frege, Kussell und Peano; für die Kritik auf B. Kerry, Über An- schauung und ihre psychische Verarbeitung, Viertel jahrsschr. f. wissensch. Philos. XI, 287 ff ; H u s s e r 1 , Philosophie der Arithmetik, I, Halle 1891, S. 129 ff. ; Jonas C o h n , Voraussetzungen tmd Ziele des Erkennens, Leipzig 1908, S. 158 ff.
60
in den Begriffen dieser Dinge zu suchen. Jedes Urteil über Zahlenverhältnisse legt nicht den Objekten, sondern ihren Begriffen bestimmte Merkmale bei, durch die sie in Klassen von eigentümlicher Beschaffenheit geschieden werden. ,,Wenn ich sage: die Venus hat 0 Monde, so ist gar kein Mond oder Aggregat von Monden da, von dem etwas ausgesagt werden könnte; aber dem Begriffe ,, Venusmond" wird dadurch eine Eigenschaft beigelegt, nämlich die, nichts unter sich zu befassen. Wenn ich sage: „der Wagen des Kaisers wird von vier Pferden gezogen," so lege ich die Zahl vier dem Begriffe „Pferd, das den Wagen des Kaisers zieht", bei." Dieser Um- stand allein erklärt denn auch die universelle Anwendbarkeit der Zahlaussage, die sich gleich sehr auf Stoffliches und Un- stoffliches, auf innere und äußere Erscheinungen, auf Dinge, wie auf Ereignisse und Handlungen erstrecken kann. Diese scheinbare Mannigfaltigkeit des Gebiets des Zählbaren erweist sich bei schärferer Betrachtung als strenge Gleichförmigkeit: denn die Zahlangabe geht niemals auf die heterogenen Inhalte selbst, sondern auf die Begriffe, unter die sie gefaßt sind, betrifft somit stets dieselbe logische Wesenheit. Wie dies genauer zu verstehen ist, hat die frühere Entwicklung dar- getan: den Begriffen wird eine gewisse Zahlbestimmung auf- geprägt, wenn sie mit anderen, zu denen sie im Verhältnis der gegenseitig eindeutigen Zuordenbarkeit der Umfangselemente stehen, zu Klassen zusammengefaßt werden.
Diesen Darlegungen gegenüber aber muß sich zunächst ein Einwand aufdrängen. Die Theorie, die hier vertreten wird, will keineswegs einen Allgemeinbegriff der Zahl will- kürlich ersinnen, sondern die eigentliche Funktion aufweisen, die die Zahl im wirklichen Ganzen der Erkenntnis besitzt. Gerade dies wird gegenüber der Auffassung, die von der reinen Ordnungszahl ausgeht, als eigentümlicher Vorzug betont, daß die ,, logischen" Eigenschaften der Zahl, die hier abgeleitet werden, zugleich unmittelbar diejenigen sind, die für ihren ,, Gebrauch im täglichen Lebfen" bestimmend und wesentlich sind. « Der künstlichen Ableitung, die lediglich die Zwecke der arithmetischen Wissenschaft ins Auge faßt, soll gleichsam eine natürliche entgegentreten, die gleichzeitig den
61
konkreten Anwendungen, die wir von der Zahl machen, gerecht wird. Eine schärfere Untersuchung zeigt indessen, daß dieses Ziel nicht erreicht wird: denn was hier logisch de- duziert wird, fällt mit dem eigentlichen Sinn, den wir mit den Zahlurteilen in der tatsächlichen Erkenntnis verbinden, in keiner Weise zusammen. Beschränken wir uns lediglich auf die bisherigen Festsetzungen, so werden wir durch sie zwar in den Stand gesetzt, verschiedene Gruppen von Elementen zusammenzustellen und unter einem bestimmten Gesichts- punkt als gleichartig aufzufassen; aber damit ist einstweilen über ihre ,,Zahr' im gewöhnlichen Sinne des Wortes noch keinerlei zureichende Bestimmung gewonnen. Unser Denken könnte in der Tat beliebig viele „äquivalente" Mengen durch- laufen und in ihrem wechselseitigen Verhältnis betrachten, ohne daß sich ihm in diesem Prozeß irgendwie das charakte- ristische Bewußtsein der reinen Zahlbegriffe ergäbe. Die spezifische Bedeutung der „Vier" oder der ,, Sieben" kann niemals aus der bloßen Nebeneinanderstellung noch so vieler Vierer- oder Siebenergruppen resultieren : es sei denn, daß schon zuvor die einzelnen Gruppen als bestimmt gegliederte Folgen von Elementen, also als Zahlen im Sinne der ordinalen Theorie, erfaßt worden sind. Das „Wieviel" der Elemente im gewöhnlichen Sinne läßt sich durch keine logische Umdeutung in eine bloße Aussage über das ,, Gleich- viel" verwandeln; es bleibt als selbständige Frage und Auf- gabe der Erkenntnis zurück. « Die Betrachtung dieser Aufgabe aber führt zu einem tieferen methodischen Gegensatz zurück, der zwischen den beiden Auffassungen der Zahl besteht. Es ist die Grundeigentümlichkeit der ordinalen Theorie, daß in ihr die Einzelzahl niemals etwas für sich allein bedeutet, daß ihr nur als Stelle im Gesamtsystem ein fester Wert zukommt. Die Definition der einzelnen Zahl bestimmt zugleich und unmittelbar das Verhältnis, in welchem sie zu den übrigen Gliedern des Gebiets steht, und dieses Ver- hältnis läßt sich nicht wegdenken, ohne daß damit zugleich der Gesamtgehalt des besonderen Zahlbegriffs verloren ginge. In der allgemeinen Ableitung der Kardinalzahl, die wir hier betrachten, ist dieser Zusammenhang aufgehoben. Auch sie
62
muß freilich notwendig darauf bedacht sein, ein festes Prinzip der Anordnung der Einzelzahlen aufzustellen und logisch zu deduzieren; aber der Sinn der Elemente soll dennoch vor dieser Ordnung und unabhängig von ihr feststehen. Die Glieder sind als die gemeinsame Eigentümlichkeit gewisser Klassen bestimmt, noch bevor irgendetwas über das Verhält- nis ihrer Abfolge feststeht. In Wahrheit aber ist es eben das Moment, das hier zunächst ausgeschaltet wird, worin der eigentliche Zahl Charakter wurzelt. Die Begriffsbildung, auf welche die Zahl zurückgeht, ist, ihrer eigentlichen Tendenz nach, nicht, wie es nach der herkömmlichen Abstraktions- theorie der Fall sein müßte, auf die Heraushebung des Gleichartigen, sondern auf die Heraushebung und Festhaltung der Verschiedenheit gerichtet. Die Betrachtung von Mengen, die sich einander gegenseitig eindeutig zuordnen lassen, kann zur Absonderung eines identischen Merkmals in ihnen führen; aber dieses Merkmal ist an sich noch nicht ,,Zahr', sondern nur eine nicht näher bestimmte logische Eigenschaft. Es wird zur Zahl erst, indem es sich von anderen Merkmalen desselben logischen Charakters abhebt, indem es zu ihnen in ein Verhältnis des „Früher" oder ,, Später", des „Mehr" oder „Weniger" tritt. Selbst diejenigen Denker, die die Erklärung der Zahl durch äquivalente Klassen am strengsten und folgerichtigsten durchgeführt haben, betonen daher, daß diese Erklärung für die methodischen Zwecke der reinen Mathematik im Grunde unerheblich sei. Was der Mathematiker an der Zahl' betraclitet, das sind lediglich die Eigenschaften, auf denen die Ordnung der Stellen beruht. Die Zahl mag an sich selbst sein, was sie will: für Analysis und Algebra kommt sie einzig dadurch in Betracht, daß sie sich rein und vollständig in der Form einer „Progression" darstellen und entwickeln läßt *. Wird dies aber einmal zu- gestanden, so ist damit streng genommen der Streit über den methodischen Vorrang der Ordnungszahl bereits aufgehoben: denn wo ließe sich eine sicherere Auskunft über das „Wesen" der Zahl im erkenntniskritischen Sinne gewinnen, als in ihrem allgemeinsten wissenschaftlichen Gebrauch?
* Russell, § 230. — Zum Begriff der Progression s. ob. S. 49.
63
Und auch die Berufung auf die Bedeutung, die wir mit dem Zahlbegriff im vorwissenschaftlichen Denken verbinden, hält hier nicht stand. Die psychologische Analyse zum mindesten bietet keine Stütze der Theorie. Jede Re- flexion auf den eigentlichen Tatbestand des Denkens läßt vielmehr sogleich den inneren Unterschied zwischen dem Ge- danken der Äquivalenz und dem der Zahl klar hervor- treten. Wäre die Zahl das, was sie nach dieser Ableitung allein sein soll, so bliebe es noch immer eine eigentümlich verwickelte und schwierige Aufgabe, den Prozeß aufzuweisen, kraft dessen ein derartiger Begriff im Bewußtsein entsteht und festgehalten wird. Denn die Zahl bedeutet hier eine Beziehung zwischen inhaltlich gänzlich heterogenen Klassen, die durch kein weiteres Moment, als eben die Möglichkeit der gegenseitigen Zuordnung, verbunden sind. Welches gedank- liche Motiv bestände aber, derart ungleichartige Gruppen überhaupt aufeinander zu beziehen; welchen Sinn hätte es, etwa die Klasse der Jupitermonde mit der der Jahreszeiten, die Menge der Kegel im Kegelspiel mit der der Musen zusammen- zustellen! Eine derartige Vergleichung ist verständlich, nachdem bereits auf anderem Wege der „Zahlwert" für jede dieser Klassen und dadurch mittelbar eine Überein- stimmung zwischen ihnen festgestellt ist; hier dagegen, wo dieser Wert nicht vorausgesetzt wird, sondern aus der Ver- gleichung erst gewonnen werden soll, entbehrt diese selbst jeder festen Direktive und Richtschnur. Man hat der Theorie der Äquivalenz vorgehalten, daß sie einem ,, extremen Re- lativismus" Vorschub leiste, sofern hier die Bestimmtheit der Zahl eine Beschaffenheit sein soll, die einer Menge nicht an sich selbst, sondern lediglich im Verhältnis zu anderen Mengen zukommen soll. Dieser Vorwurf ist indes zum mindesten zwei- deutig: denn der Zahlbegriff kann in der Tat, in jeder Form der Ableitung, nichts anderes, als einen reinen Relationsbegriff be- deuten. Nur das Gebiet und gleichsam der logische Ort der Rela- tion ist hier verschoben : denn während es sich in der ordinalen Theorie um ideelle Setzungen handelt, die sich wechselseitig aufeinander beziehen, soll hier j ede einzelne dieser Setzungen aus einem Verhältnis gegebener ,,Klassen" abgeleitet werden, r
64
Die Voraussetzungen, die hierbei zugrunde liegen, treten am deutlichsten hervor, sobald dazu übergegangen wird, unter diesem Gesichtspunkt eine strenge logische Definition der einzelnen Zahlwerte zu geben und die Bedingungen festzustellen, unter welchen wir zwei dieser Werte als un- mittelbar aufeinanderfolgend bezeichnen wollen. Schon in der Erklärung der Null zeigen sich erhebliche Schwierigkeiten : denn es hat offenbar keinen Sinn, von der wechselseitigen eindeutigen Zuordnung der Glieder verschiedener Klassen noch in dem Fall zu sprechen, daß diese Klassen, ihrer De- finition nach, keine Glieder besitzen. Aber selbst wenn diese Schwierigkeit durch komplizierte logische Umdeutungen des Begriffs der Äquivalenz gehoben werden könnte*, so tritt der Zirkel in der Erklärung doch alsbald wiederum deutlich hervor, sobald zur Definition der ,,Eins" fortgeschritten wird. Was es heißt, ein Element als ,,eins" aufzufassen, das wurde hier schon von Anfang an als bekannt vorausgesetzt; denn die „Gleichzahligkeit" zweier Klassen wurde lediglich dadurch erkannt, daß wir jedem Element der ersten Klasse eins und nur eins der zweiten zuordneten. Freilich ist diese Bemerkung, so einfach, ja so trivial sie zu sein scheint, vielfach bestritten worden. Es ist etwas anderes — so hat man eingewandt — ob ich die Zahl Eins in ihrer strengen arithmetischen Be- deutung oder ob ich sie nur in dem vagen Sinne nehme, den der unbestimmte Artikel bezeichnet: lediglich dieser letztere Sinn aber wird vorausgesetzt, wenn ich aufgefordert werde, irgendein Glied einer Klasse u herauszugreifen und es auf ein Glied einer andern Klasse v zu beziehen. ,,Daß jedes Individuum oder jedes Glied einer Klasse in gewissem Sinne eins ist," so heißt es z. B. bei Russell, „ist natürlich unbestreitbar, aber es folgt daraus nicht, daß der Begriff der „Eins" vorausgesetzt ist, wenn wir von einem Individuum sprechen, i Wir können vielmehr umgekehrt den Begriff
* Vgl. über diesen Punkt: Frege, Grundlagen der Arithmetik S. 82 ff. ; Russell, S. 113 nebst der Kritik von Kerry, Viertel - jahrsschr. f. wiss. Philos. XI, 287 ff. sowie von Poincar6, Science et Methode, Paris 1908, Livr. II. — Zur Kritik Freges s. jetzt auch Natorp, a. a. O., S. 112 ff.
Cassirer, Substanzbegriff 5 65
des Individuums als den grundlegenden ansehen, von welchem der Begriff Eins abgeleitet ist." Unter diesem Gesichtspunkt wird die Bedeutung der Aussage, daß eine Klasse u „e i n" Glied (in arithmetischem Sinne) besitze, dahin bestimmt, daß diese Klasse nicht Null ist und daß, sobald u und y u's sind, X mit y identisch ist. Eine analoge Bestimmung soll sodann den Begriff der gegenseitig eindeutigen Beziehung zwischen Termen fixieren: R ist eine derartige Beziehung, wenn für den Fall, daß z und x' zu y die Beziehung R haben, und x die Beziehung R zu y und y' besitzt, sowohl x und x' als auch y und y identisch sind *. Es ist jedoch leicht ersichtlich, daß hier die logische Funktion der Zahl nicht sowohl ab- geleitet, als vielmehr lediglich auf kunstvolle Art um- schrieben ist. Denn um die Erklärungen, die hier gegeben werden, zu verstehen, wird zum mindesten erfordert, daß ein Terminus x gedanklich festgehalten und als mit sich selbst identisch erfaßt werde, während er gleichzeitig auf einen anderen Terminus y bezogen und je nach den besonderen Bedingungen mit ihm als übereinstimmend oder als von ihm verschieden beurteilt werden soll. Legen wir indessen dieses Verfahren der Setzung und Unterscheidung zugrunde, so haben wir damit nichts anderes getan, als die Zahl im Sinne der ordinalen Theorie vorweggenommen. So wird z. B. die Klasse von 2 Gegenständen von Russell durch die Be- dingungen definiert, daß sie überhaupt Termini besitzt und daß, wenn x einer ihrer Termini ist, es einen anderen von x verschiedenen Terminus y der Klasse gibt; während weiter- hin, wenn x, y verschiedene Termini der Klasse u sind und z von X und y verschieden ist, jede Klasse, zu der z gehört, sich von u unterscheidet. Man sieht, wie hier, um die Erklärung zu vollenden, die Elemente x, y z in fortschreitender Sonde- rung erschaffen und damit mittelbar bereits als erstes, zweites, drittes... Glied unterschieden werden müssen.
Allgemein müssen wir, um die verschiedenen Zahlen in die Form einer bestimmt geregelten ,, Progression" zu bringen — und erst diese Form ist es, auf der, wie wir sahen, ihre
• Russell, § 124—126, § 496. Frege, Grundlagen S. 40 ff.
66
Bedeutung und ihr wissenschaftlicher Gebrauch beruht — ein Prinzip besitzen, das uns gestattet, wenn irgendeine Zahl n gegeben ist, die nächsthöhere zu definieren. Dieses Verhältnis der „Nachbarschaft" zwischen 2 Zahlen wird nun nach der Theorie dadurch bestimmt, daß wir die entsprechen- den Klassen u und v miteinander vergleichen, indem wir ihre Elemente gliedweise einander zuordnen: findet es sich hierbei, daß in der einen Klasse (v) ein Glied zurückbleibt, das keine entsprechende Abbildung in der anderen (u) besitzt, so werden wir V relativ zu u als nächsthöhere Klasse bezeichnen. Auch hier wird also gefordert, daß wir den Bestandteil von v, der sich den Gliedern von u eindeutig zuordnen läßt, zunächst für sich als ein Ganzes herausheben, um von ihm sodann das- jenige Glied, das bei dieser Form der Beziehung unverbunden bleibt, als ein anderes „zweites" abzuheben. Somit wird im Grunde auf genau dieselbe nintellektuellen Synthesen zurückgegriffen, auf denfen in der Theorie der Ordnungszahl der Fortschritt von einer Einheit zur nächsten beruht: und nur darin liegt der methodische Unterschied, dal3 diese Syn- thesen dort als freie Setzungen erscheinen, während sie hier der Anlehnung an gegebene Klassen von Ele- menten bedürfen *. — /
Daß aber in dieser Auffassung die logische Ordnung der Begriffe in der Tat verkehrt ist, ergibt sich aus einer letzten entscheidenden Erwägung. Die Bestimmung der Zahl durch die Äquivalenz von Klassen setzt voraus, daß diese
* Um die Beziehung zu erklären, in der je zwei benachbarte Glieder der natürUchen Zahlenreihe zueinander stehen, geht z. B. F r e g e von dem Satz aus: ,,e3 gibt einen Begriff F und einen unter ihn fallenden Gegenstand x der Art, daß die Anzahl, welche dem Begriffe F zukommt, n ist und daß die Anzahl, welche dem Begriffe „ „unter F fallend, aber nicht gleich a;" " zukommt, m ist": — dieser Satz wird als gleichbedeutend damit erklärt, daß n in der natürlichen Zahlenreihe unmittelbar auf m folgt. (A. a. O. S. 89.) Hier wird also innerhalb des Inbegriffs F eine Unter- scheidung getroffen, indem ein einzelnes Glied x herausgehoben und den übrigen gegenübergestellt wird: die Gesamtheit dieser übrigen wird dann zur Definition der benachbarten, „nächstniederen" Zahl verwandt. Es handelt sich somit auch hier n\ir um eine Umschreibung der „populären" Begriffsbestimmung, wonach jedes Glied der Zahlenreihe von der benach- barten durch „Hinzufügung" bzw. das Fehlen einer „Einheit" unter- schieden ist.
6* 67
Klassen selbst als eine Mehrheit gegeben sind. Der Begriff der „Ähnlichkeit" von Klassen, auf den die Bedeutung der Kardinalzahlen gegründet wird, verlangt zum mindesten die Betrachtung zweier Inbegriffe, die durch eine bestimmte Relation miteinander verknüpft sind. Man hat betont, daß es zur Herstellung dieser eindeutigen Beziehung nicht er- forderiich sei, daß die Glieder der beiden Mannigfaltigkeiten zuvor einzeln durch Abzahlung bestimmt seien, es genüge vielmehr die Angabe eines allgemeinen Gesetzes, das irgend- e i n Element der ersten Mannigfaltigkeit mit irgend- einem der zweiten in Verbindung setze. Aber selbst, wenn wir diesem Gesichtspunkt gemäß darauf verzichten könnten, die Einzelklassen, die wir miteinander vergleichen, zuvor in sich selbst numerisch zu gliedern, so bliebe doch stets der Umstand zurück, daß wir die Inbegriffe als Ganzes einander entgegensetzen und sie eben damit auch als „zwei" verschiedene auffassen müssen. Man mag entgegnen, daß diese Verschiedenheit durch den rein logischen Unterschied der Klassenbegriffe unmittelbar gegeben und somit keiner weiteren Ableitung fähig und bedürftig sei. Damit aber wären wir von den Klassen selbst zurückgeführt auf die erzeugenden Relationen, auf welchen sie beruhen, und denen sie ihre Abgrenzung und Bestimmtheit verdanken. Der Unterschied in den Inbegriffen reduziert sich auf den Unterschied der begrifflichen Gesetze, aus welchen sie hervor- gegangen sind. Von diesem Punkt aus aber läßt sich, wie sich zeigte, unmittelbar und ohne den Umweg über den Klassenbegriff das System der Zahlen, als reiner Ordnungs- zahlen, ableiten: denn hierzu wird nichts anderes erfordert als die Möglichkeit, eine Folge reiner Denksetzungen durch die verschiedene Beziehung zu einem bestimmten Grundelement, das als Ausgangspunkt dient, zu unterscheiden. Die Theorie der Ordnungszahl stellt also in der Tat gleichsam das prin- zipielle Minimum dar, auf das in keiner logischen Ableitung des Zahlbegriffs verzichtet werden kann; während die Be- trachtung äquivalenter Klassen zwar für die Anwen- dungen dieses Begriffes von größter Bedeutung sind, aber nicht zu seinem ursprünglichen Inhalt gehören. —
68
Zugleich aber mündet hier der Streit der mathematischen Theorien wiederum in die allgemeine logische Prin- zipienfrage ein, die für uns den Ausgangspunkt bildete. In den verschiedenen Deutungen des Zahlbegriffs wiederholt sich noch einmal der allgemeine Kampf zwischen der Logik der Gattungsbegriffe und der Logik der Re- lationsbegriffe. Gelänge es, den Begriff der Zahl aus dem der Klasse abzuleiten, so wäre damit in der Tat die tra- ditionelle Form der Logik von einem neuen Ausgangspunkt her befestigt. Die Einordnung des Einzelnen in die Hierarchie der Gattungen würde nach wie vor das eigentliche Ziel alles Erkennens, des empirischen sowohl wie des exakten, be- zeichnen. In den Versuchen der Begründung der logischen Theorie der Kardinalzahlen ist dieser Zusammenhang bisweilen deutlich sichtbar geworden. Fasse ich etwa den Gedanken „Zwei Menschen", so habe ich damit — nach Russell — das logische Produkt des Begriffs „Mensch" und des Begriffs ,,Paar" (couple) gebildet — und der Satz, daß es zwei Menschen gibt, besagt nichts anderes, als daß ein Komplex gegeben ist, der gleichzeitig der Klasse „Mensch" und der Klasse „Paar" angehört*. An diesem Punkte zeigt es sich, daß die Theorie den kritischen Grundgedanken, von dem sie ausging, nicht zu vollkommener Durchführung gebracht hat. F r e'g e und Russell betrachten es als den entscheidenden Vorzug ihrer Lehre, daß in ihr die Zahl nicht als eine Eigenschaft an physischen Dingen, sondern als Aussage über eine bestimmte Beschaffenheit von Klassen erscheint, daß hier also nicht mehr die Objekte als solche, sondern die Begriffe von diesen Objekten das Fundament des Zahlurteils bilden (s. oben, S. 38 ff.). Daß mit dieser Umwandlung gegenüber der sensua- listischen Auffassung eine außerordentliche Befreiung und Vertiefung gewonnen ist, ist unbestreitbar. Dennoch genügt es nicht, den rein begrifflichen Charakter der Zahl- aussage zu betonen, solange noch Dingbegriffe und Funktionsbegriffe völlig auf eine Stufe gestellt werden. Die Zahl erscheint alsdann nicht als der Ausdruck
* Russell, a.a.O., § 111.
69
der Grundbedingung, die die Setzung jeglicher Mehrheit erst ermöglicht, sondern als ein Merkmal, das an der gegebenen Mehrheit der Klassen haftet und sich aus ihr durch Verglei- chung absondern läßt. So wiederholt sich der Grundmangel aller Abstraktionstheorien : was als rein kategorialer Ge- sichtspunkt die Begriffsbildung leitet und beherrscht, das sucht man irgendwie als inhaltlichenBestand- t e i 1 in den verglichenen Objekten selbst wiederzufinden. (S. ob. S. 31 ff.) Die Theorie erweist sich zuletzt als der subtile und konsequent durchgeführte Versuch, mit dem allgemeinen Schematismus der Gattungsbegriffe ein Problem zu bewältigen, das seiner Bedeutung und seinem Umfang nach einem neuen Gebiete angehört und einen anderen Begriff der Erkenntnis voraussetzt*. —
IV. Die bisherigen Versuche, den Charakter des Zahlbegriffs und das Prinzip der Zahlbildung festzustellen, haben indessen die Frage noch nicht in derjenigen Allgemeinheit und Weite erfaßt, die sie durch die Entwicklung der modernen Mathe- matik gewonnen hat. Es ist die Zahl in ihrer primitivsten
* Freilich sind es nicht ledigUch logische Gesichtspunkte, sondern zugleich speziellere m a t h e m a tische Gründe gewesen, die zu der Erkläning der Zahl durch die Äqmvalenz der Klassen hingeführt haben. Erst auf dieser Grundlage schien es möglich, eine Theorie zu schaffen, die sich nicht von vornherein auf die endlichen Zahlen beschränkt, sondern „endliche" und „vinendliche" Zahlen in einer einzigen Ableitung umfaßt luid beherrscht. Das Moment der gegenseitigen eindeutigen Zuordnung von Mengen erschien von fundamentaler Bedeutvmg, da es auch dann be- stehen bleibt, wenn man die Endlichkeit der Inbegriffe und damit ihre „Abzählbarkeit" — im Sinne der gewöhnlichen Auffassung des Zählakts als des successiven Fortschritts von Einheit zu Einheit — fallen läßt. So fruchtbar sich indessen der allgemeine Gesichtspunkt der „Mächtigkeit", der in diesem Zusammenhange entsteht, gezeigt hat: so ist doch danüt keineswegs erwiesen, daß er mit dem Begriff der Zahl zusammenfällt. Die rein mathematischen Leistungen des Mächtigkeitsbegriffs bleiben offenbar unberülirt davon, ob man in ihm das ursprüngliche Prinzip der Zahl oder nur ein abgeleitetes Ergebnis sieht, das seinerseits eine andere begriffliche Erklärung der Zahl bereits voraussetzt. Die Eigen- schaften, die den endlichen und den transfiniten Zahlen gemeinsam sind, enthalten keineswegs als solche bereits das wesentliche Moment der Zahlbildung überhaupt: das „stmimum genus" im Sinne der Gattungs- logUc ist auch hier mit dem begrifflichen Ursprung der Erkenntnis nicht gleichbedeutend. (Zum Problem des Transfiniten vgl. unten S. 80 ff.)
70
Gestalt und Bedeutung, auf welche der Ableitungsversuch der Klassentheorie wie der ordinalen Theorie sich beziehen. Der Standpunkt der Pythagoreer ist noch nicht prinzipiell verlassen: die „Anzahl" im engeren Sinne als der ganzen Zahl bildet noch immer das eigentliche und ausschließliche Problem. Das wissenschaftliche System der Arithmetik aber schließt sich erst in den Erweiterungen ab, die der Begriff der Zahl durch die Einführung des Gegensatzes der positiven und negativen, der ganzen und gebrochenen, der rationalen und irrationalen Zahlen erfährt. Sind diese Erweiterungen — wie bedeutende Mathematiker behauptet haben — lediglich künstliche Umbildungen, die nur aus dem Gesichtspunkt der Anwendungen erklärt und gerechtfertigt werden können, oder stellen sie Äußerungen derselben logischen Funk- tion dar, die schon die erste Setzung der „Anzahlen" beherrscht ?
Die Schwierigkeiten, denen die Einführung jeglicher neuen Zahlart, denen die Begriffe des Negativen und Irratio- nalen sowohl, wie der des Imaginären immer wieder begegnet sind, erklären sich leicht, wenn man erwägt, daß in all diesen Umbildungen das eigentliche Substrat der Zahlaussagen sich mehr und mehr zu verflüchtigen drohte. Die Anzahlen in ihrem allgemeinsten Grundsinne können unmittelbar durch wahrnehmbare Gegenstände als „real" und somit als gültig aufgewiesen werden. Die Bedeutung der „Zwei" oder „Vier" bildet, wie es scheint, kein ernsthaftes Problem, da doch die empirische Welt der Dinge uns allenthalben Gruppen von zwei und vier Dingen unmittelbar darbietet. Mit der ersten Verallgemeinerung und Weiterführung des Zahlbegriffs aber schwindet dieser dingliche Gehalt, auf den die naive Auf- fassung sich vornehmlich stützt und beruft. Der Begriff und die Bezeichnung der „imaginären" Zahl ist der Ausdruck eines Gedankens, der seinem ersten Ansatz nach bereits in jeder der neuen Zahlarten wirksam ist und der ihr das charakteristische Gepräge gibt. Es sind Urteile und Aussagen über „N icht-Wirkliche s", die hier dennoch einen bestimmten, unentbehrlichen Erkenntnis wert für sich in Anspruch nehmen. Diesen Zusammenhang und damit das
71
allgemeine Prinzip, auf das alle die verschiedenen Methoden der „Z hlerweiterung" überhaupt zurückgehen, hat Gauss in einer Anzeige, in der er sich das Ziel setzt, die echte ,, Meta- physik des Imaginären" zu begründen, in vollster Schärfe und Bestimmtheit ausgesprochen. ,, Positive und negative Zahlen", so heißt es hier, „können nur da eine Anwendung finden, wo das Gezählte ein Entgegengesetztes hat, was mit ihm vereinigt der Vernichtung gleich zu stellen ist. Genau besehen findet diese Voraussetzung nur da statt, wo nicht Substanzen (für sich denkbare Gegenstände), sondern Relationen zwischen je zwei Gegenständen das Gezählte sind. Postuliert wird dabei, daß diese Gegenstände auf eine bestimmte Art in eine Reihe geordnet sind, z. B. A, B, C, D. . ., und daß die Relation des A zu B als der Relation des B zu C usw. gleich betrachtet werden kann. Hier gehört nun zu dem Begriff der Entgegen- setzung nichts weiter als der Umtausch der Relation so daß, wenn die Relation (also der Übergang) von A zu B als + 1 gilt, die Relation von B zu A durch — 1 dargestellt werden muß. Insofern als eine solche Reihe auf beiden Seiten unbegrenzt ist, repräsentiert jede reelle ganze Zahl die Re- lation eines beliebig als Anfang gewählten Gliedes zu einem bestimmten Gliede der Reihe." Die Ableitung der Imaginär- zahl beruht dann weiterhin darauf, daß die Gegenstände, die wir untersuchen, nicht mehr als in einer Reihe geordnet zu denken sind, sondern daß es zu ihrer Ordnung der Be- trachtung einer Reihe von Reihen und damit der Einführung einer neuen Einheit (+ i, — i) bedarf. Hier tritt, abgesehen von allen Einzelheiten der Deduktion, der beherr- schende logische Gesichtspunkt in aller Deutlichkeit hervor. Der Sinn der erweiterten Zahlbegriffe läßt sich nicht fassen, solange man dabei beharrt, das, was sie bedeuten an Sub- stanzen, an für sich denkbaren Gegenständen aufzeigen zu wollen; aber er enthüllt sich sofort, sobald man in ihnen den Ausdruck reiner Beziehungen sieht, durch welche die Verhältnisse in einer konstruktiv erschaffenen Reihe geregelt werden. Eine negative Substanz, die zugleich Sein und Nichtsein bedeuten müßte, wäre eine contradictio in adjecto; eine negative Beziehung ist nur das not-
72
wendige logische Korrelat des Relationsbegriffs überhaupt, da jede Relation von A zu B sich zugleich als eine solche von B zu A darstellen und aussprechen läßt. Betrachtet man daher die erzeugende Relation (R), auf der der Übergang von einem Glied der Zahlenreihe zum nächstfolgenden beruht, so ist gleichzeitig durch sie auch ein Verhältnis des folgenden Gliedes zum vorangehenden gesetzt, also eine zweite Fort- schrittsrichtung definiert, die wir als die Umkehrung der ersten oder als inverse Relation (r) auffassen können. Die posi- tiven und negativen Zahlen(+a, — a) erscheinen jetzt ledig- lich als ein anderer Ausdruck für den Fortgang in diesen beiden Beziehungsrichtungen (r», r^). Aus dieser Grundauffassung leiten sich sodann all die rechnerischen Operationen, innerhalb des auf diese Art erweiterten Zahl- gebiets in einfacher Weise ab: sie alle gründen sich auf den Charakter der reinen Zahl als Beziehungszahl und bringen ihn zu immer deutlicherer Entfaltung *.
Wiederum soll diese Entwicklung nicht in allen ihren be- sonderen Phasen, sondern nur an einzelnen typischen Beispielen verfolgt werden, an denen die logische Tendenz des Gedankens zum besonders klaren Ausdruck gelangt. Es ist vor allem die Ableitung der Irrationalzahl, in welcher das neue Prinzip sich bewährt. Zwei Wege sind es zunächst, auf welchen eine Deduktion des Irrationalen versucht werden kann. Wir können von den Verhältnissen zwischen gegebenen geometri- schen Strecken oder aber von der Forderung der Auflös- barkeit bestimmter algebraischer Gleichungen ausgehen. Die erstere Methode, die bis auf Weierstraß und D e d e - k i n d fast ausschließlich herrschte, gründet die neue Zahl auf den Raum und damit auf Beziehungen, die sich an meßbaren Objekten vorfinden. So scheinen es hier wiederum Erfahrungen an physisch-räumlichen Gegenständen zu sein, die den Prozeß der mathematischen Begriffsbildung beherr- schen und ihm seine Richtung vorschreiben. Indessen zeigt es sich alsbald, daß zum mindesten die Berufung auf die
• * Vgl. hierzu bes. die eingehende Darlegung und Begründxing dieses Zusammenhangs bei Natorp, a. a, O., Cap. 3 u. 4.
73
Verhältnisse konkreter empirischerDinge an diesem Punkte versagen muß. Die Maßverhältnisse von Dingen werden uns nur durch Beobachtung und somit nur innerhalb der Grenzen, die durch die Beobachtungsfehler gesetzt sind, bekannt. Eine völlig exakte Bestimmung in diesem Gebiet zu suchen und zu fordern, hieße die Natur der Frage selbst verkennen. So ist denn offenbar das gewöhnliche System der Bruchzahlen bereits ein in jeder Hinsicht aus- reichendes gedankliches Instrument, um alle Aufgaben, die sich innerhalb dieses Bereiches ergeben können, vollständig zu beherrschen. Da es innerhalb dieses Systems keinen kleinsten Unterschied gibt, vielmehr zwischen zwei noch so nahen Elementen sich stets wieder ein neues Element angeben läßt, das dem Inbegriff angehört, so bietet sich hier eine begriffliche Differenzierung dar, die in den beobachtbaren Ver- hältnissen der Dinge niemals erreicht, geschweige überboten werden kann. Die Maßbeziehungen, auf die die äußere Er- fahrung uns hinleitet, können uns somit niemals den Begriff des Irrationalen in seiner strengen mathematischen Bedeutung aufzwingen: vielmehr muß dieser Begriff von innen heraus aus den Forderungen des systematischen Zusammenhangs der mathematischen Erkenntnisse selbst entstehen und be- gründet werden. Nicht die Körper der physischen Wirklich- keit, sondern allenfalls die rein idealen Strecken der Geo- metrie können somit das gesuchte Substrat für die Ableitung des Irrationalen abgeben. Das neue Problem erwächst nicht an der Auffassung gegebener, tatsächlich vorhandener Größen, sondern aus den Gesetzen bestimmter geometrischer Kon- struktionen. Ist dies aber einmal erkannt, so muß sich die weitere Forderung erheben, die Konstruktion, die sich bei keinem Ableitungsversuch entbehren läßt, rein aus d e m G r u n d p r i n z i p derZahl selbst heraus zu führen und als notwendig zu erweisen. Die Verschiebung der Frage von der Zahl auf den Raum würde die Einheit und Geschlossenheit des Systems der Algebra selbst aufheben.
Die gewöhnliche algebraische Methode, die die irra- tionalen Werte als Lösungen für bestimmte Gleichungen
74
einführt, bleibt freilich unzureichend, da in ihr die Auf- stellung eines Postulats mit dessen Erfüllung ver- wechselt wird. Denn abgesehen davon, daß sich unendlich viele irrationale Werte angeben lassen, die als Wurzeln alge- braischer Gleichungen nicht darstellbar sind — so wird doch durch eine derartige Erklärung jedenfalls nichts darüber entschieden, ob der Gegenstand, der durch sie geschaffen wird, ein eindeutig bestimmter ist, oder ob es mehrere, untereinander verschiedene Werte gibt, die der bezeichneten Bedingung genügen. Die vollkommene De- finition darf daher das ideelle Objekt, auf das sie hinzielt, nicht nur nach irgendeinem einzelnen Merkmal, das ihm zukommt, bezeichnen, sondern muß es in seiner vollen charakteristischen Eigenart, kraft deren es sich von allen andern unterscheidet, erfassen und bestimmen. Diese Eigenart aber ist für jeden Zahlwert vollständig gegeben, wenn zugleich mit seiner Ableitung seine Stelle im Gesamtsystem und somit sein Verhältnis zu den übrigen bekannten Gliedern des Zahlen- reiches fixiert ist. Dieses Stellenverhältnis faßt alle sonstigen Eigenschaften, die der einzelnen Zahl nur immer beigelegt werden können, von Anfang in sich, da alle diese Eigen- schaften erst nachträglich aus ihm hervorgehen und durch es begründet werden. —
Am reinsten tritt dieser logische Leitgedanke der De- duktion in der bekannten Dedekind sehen Erklärung der irrationalen Zahlen als „Schnitte" hervor. Denkt man sich zunächst die Gesamtheit der rationalen Brüche gegeben, wobei der Bruch als Verhältniszahl definiert und ohne Anlehnung an meßbare und teilbare Größen aus der Betrachtung reiner Ordnungsbeziehungen abgeleitet wird*, so wird durch jedes einzelne Element a, das wir aus diesem Inbegriff herausgreifen können, der Inbegriff selbst in zwei Klassen 31 und 33 zerlegt. Die erste dieser Klassen umfaßt alle Zahlen, die kleiner als a sind (d. h. ihm in der systematischen Ordnung des Inbegriffs voran- gehen); die zweite alle Zahlen, die „größer" als o sind
Näheres hierüber z. B. bei RuBsell, § 144 ff., § 230.
75
(d. h. auf a folgen). Wenn indessen die Angabe jeder einzelnen Bruchzahl zugleich implicite eine derartige Scheidung des Gesamtsystems in sich schließt, so gilt doch nicht die Um- kehrung dieses Satzes: denn nicht jeder streng definierten und eindeutigen Scheidung, die sich gedanklich vollziehen läßt, entspricht ein bestimmter rationaler Wert. Betrachtet man etwa irgendeine positive ganze Zahl D, die indessen nicht das Quadrat einer ganzen Zahl sein möge, so wird sie immer zwischen zwei Quadratzahlen liegen, so daß sich also eine positive ganze Zahl A von der Art angeben läßt, daß -r^*< D < (^-f- 1)*. Faßt man jetzt alle Zahlen, deren Qua- drate kleiner als D sind, zu einer Gesamtklasse 9t zusammen, während man sich alle Zahlen, deren Quadrat größer als D ist, zu einer Klasse 33 vereinigt denkt, so gehört jeder nur immer angebbare rationale Wert einer dieser Klassen zu, so daß die Einteilung, die hier vollzogen ist, das System der Rational- zahlen vollständig erschöpft. Dennoch gibt es, wie sich zeigen läßt, innerhalb dieses Systems kein Element, das diese Sonde- rung hervorbringt, das also größer als alle Zahlen der Klasse % und kleiner als alle Zahlen der Klasse S5 wäre. Wir haben somit durch eine begriffliche Vorschrift — der sich übrigens beliebig viele andere an die Seite stellen lassen würden — eine völlig scharfe und klare Beziehung zwischen Zahl- klassen erreicht, für deren Wiedergabe dennoch in der bisher definierten Mannigfaltigkeit kein einzelner Zahlwert zur Ver- fügung steht. Dieser Umstand ist es, der uns nunmehr zur Einführung eines neuen ,, irrationalen" Elements veranlaßt: eines Elements, das keine andere Funktion und Bedeutung hat als den, diese Bestimmtheit der Einteilung selbst begrifflich zu repräsentieren. Die neue Zahl ist somit in dieser Form der Ableitung nicht willkürlich ersonnen, noch wird sie als bloßes „Zeichen" eingeführt; sondern sie er- scheint als der Ausdruck eines komplexen Ganzen von Re- lationen, die zuvor in begrifflicher Strenge abgeleitet wurden. Sie stellt von Anfang an einen bestimmten logischen Be- ziehungsgehalt dar und läßt sich in ihn wiederum auflösen. Man hat gegen die Ableitung Dedekinds von philoso- phischer wie mathematischer Seite häufig den Einwand er-
76
hoben, daß sie eine unerweisliche Forderung in sich schließe. Für den Fall irgendeiner vollständigen Einteilung des Systems der Rationalzahlen werde hier die Existenz eines und nur eines Zahlelements, das diese Einteilung vollzieht, nicht bewiesen, sondern lediglich auf Grund eines allgemeinen Postulats behauptet. In der Tat legt die Darstellung Dedekinds dieses Bedenken nahe, sofern sie zur Verdeut- lichung des Grundgedankens zunächst von geometrischen Analogien ihren Ausgang nimmt. Die Stetigkeit der geraden Linie läßt sich, wie hier ausgeführt wird, durch die Bedingung zum Ausdruck bringen, daß, wenn alle Punkte der Geraden in zwei Klassen zerfallen, derart, daß jeder Punkt der ersten Klasse links von jedem Punkt der zweiten Klasse liegt, ein und nur ein Punkt der Geraden existiert, welcher diese Einteilung aller Punkte, diese Zerschneidung der Geraden in zwei Stücke, hervorbringt*. Die Annahme dieser Eigenschaft der Linie wird von Dedekind selbst als ein Axiom bezeichnet, durch welches wir erst der Linie ihre Stetigkeit zuerkennen, durch welches wir die Stetigkeit in sie ,, hineindenken". ,,Hat überhaupt der Raum eine reale Existenz, so braucht er doch nicht notwendig stetig zu sein; unzählige seiner Eigenschaften würden dieselben bleiben, wenn er auch unstetig wäre. Und wüßten wir gewiß, daß der Raum unstetig wäre, so könnte uns doch wieder nichts hindern, falls es uns beliebte, ihn durch Ausfüllung seiner Lücken in Gedanken zu einem stetigen zu machen; diese Ausfüllung würde aber in einer Schöpfung von neuen Punkt-Individuen bestehen und dem obigen Prinzip gemäß auszuführen sein**." Bei einer derartigen Entgegensetzung des ,, Idealen" und „Realen" kann in der Tat der Gedanke entstehen, daß irgendeine Begriffs- bestimmtheit die sich uns in der Verfassung des Zahlenreiches aufdrängt, darum noch keine Seins-Be- stimmtheit in sich zu schließen brauche. Der Fortschritt von einem ideellen systematischen Zusammenhang zur Existenz eines neuen Elements scheint eine ^ezraßaatj
* Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, 2. Aufl., Braun- schweig 1892, S. 9 ff. ** a. a. O., S. 12.
77
eig SXXo -fivog in sich zu schließen. In Wahrheit aber handelt es sich hier um keinen unberechtigten Übergang, weil, zum mindesten innerhalb des Bereichs der Zahl, die gesamte dualistische Trennung von idealem und realem Sein, von ,, Essenz" und ,, Existenz" hinfällig wird. Wenn beim Räume sich eine derartige Sonderung zwischen dem Inhalt der freien geometrischen Konstruktionen und dem, was er in der Natur der Dinge ,,ist", allenfalls festhalten ließe: im Gebiet der reinen Zahl verliert sie jeglichen Sinn. Keine Zahl — die ganze so wenig wie die gebrochene und irrationale — „ist" etwas anderes als das, wozu sie in bestimmten begriff- lichen Definitionen gemacht worden ist. Die Forderung, daß, wenn immer ein vollständiger ,, Schnitt" des rationalen Zahl- systems vorliegt, eine und nur eine Zahl ,, existiert", die ihm entspricht, kann daher keinen fragwürdigen Nebensinn in sich schließen. Was hier völlig unzweideutig gegeben ist, ist zu- nächst die Bestimmtheit derEinteilung selb st: wir können, wenn durch irgendeine begriffliche Regel das rationale System in zwei Klassen Ä und 93 sich sondert, von jedem seiner Elemente mit Sicherheit entscheiden, ob es der einen oder der anderen Klasse zugehört und weiterhin zeigen, daß bei dieser Alternative kein Glied unberücksichtigt bleibt, die getroffene Einteilung also eine vollständige und erschöpfende ist. Der „Schnitt" selbst hat somit als solcher unzweifelhafte logische „Realität", die ihm nicht erst durch ein Postulat gewährleistet zu werden braucht. Ferner aber ist auch die Ordnung, in der die verschiedenen Schnitte sich folgen, keine willkürliche, sondern ihnen durch ihren ursprünglichen Begriff eindeutig vorgeschrieben. Wir nennen von zwei Schnitten (% 93) und (St', 93') den ersten größer als den zweiten, lassen ihn also auf diesen folgen, wenn sich irgend- ein Element a angeben läßt, das der Klasse 91 in der ersten, der Klasse 95' in der zweiten Einteilung angehört. Somit existiert ein festes, allgemein gültiges Kriterium, das über die Reihenfolge der einzelnen Schnitte entscheidet. Damit aber ist zugleich den so erschaffenen Gebilden der reine Z a h 1 - Charakter aufgeprägt. Denn die Zahl besitzt nach ihrer ursprünglichen Erklärung keinerlei spezifisch-inhaltliche Merk-
78
male, sondern ist lediglich der allgemeinste Ausdruck der Ordnungs- und Reihenform überhaupt: wo immer also eine derartige Form sich festhalten läßt, da findet ihr Begriff Auf- nahme und Anwendung. Die Schnitte „sind" Zahlen, weil sie in sich eine streng gegliederte Mannigfaltigkeit bilden, in welcher die relative Stellung der Elemente nach einer begriff- lichen Regel feststeht.
Nicht darum also handelt es sich in der Schöpfung der neuen irrationalen Elemente, daß irgendwie ,, zwischen" den bekannten Gliedern des rationalen Zahlsystems noch das Sein anderer Elemente vermutet oder gefordert werde — diese Fragestellung bliebe in der Tat in sich selbst sinnlos und unverständlich — sondern darum, daß über der Ordnung des anfänglich gegebenen Inbegriffs ein anderes komplexeres System reihenförmig abgestufter Bestimmtheiten sich erhebt. Dieses System umfaßt den früheren Inbegriff und nimmt ihn in sich auf: denn das Kenn- zeichen der Aufeinanderfolge, das für die „Schnitte" angegeben ist, gilt unmittelbar auch für die rationalen Zahlen selbst, die sich ja sämtlich als Schnitte auffassen und darstellen lassen. Somit ist jetzt ein übergreifender Gesichtspunkt gefunden, nach welchem die wechselseitige Stellung aller Glieder des alten wie des neuen Systems sich bestimmt. Man sieht, wie hierin der Grundgedanke der ordinalen Theorie der Zahl sich bewährt. Der Gedanke, die Zahl aus der s u c - cessivenAddition vonEinheiten entstehen zu lassen und in dieser Operation ihre eigentliche begriffliche Wesenheit zu begründen, muß jetzt aufgegeben werden. Ein derartiges Verfahren enthält zwar e i n Prinzip, geordnete Inbegriffe hervorgehen zu lassen, aber keineswegs das Prinzip der Erschaffung solcher Inbegriffe schlechthin. Die Ein- führung des Irrationalen ist zuletzt nichts anderes als der allgemeine Ausdruck dieses Gedankens: sie gibt der Zahl die ganze Freiheit und Weite einer Methode der Ordnungs- bildung überhaupt wieder, ohne sie auf irgendeine inhaltlich bestimmte Einzelrelation zu beschränken, kraft deren sich Glieder in geregelter Folge setzen und entwickeln lassen. Das begriffliche „Sein" der Einzelzahl geht hierbei immer
79
reiner und deutlicher in ihre eigentümliche begriffliche Funk- tion auf: denn wenn nach der gewöhnlichen Auffassung, an die auch die Deduktion Dedekinds zunächst anknüpft, eine gewisse, an sich bereits gegebene und vorhandene Zahl, zugleich einen bestimmten Schnitt im Gesamtsystem ,, be- wirkt", so wird zuletzt umgekehrt eben diese „Wirkung" zur notwendigen und hinreichenden Bedingung, um von der „Existenz" einer Zahl zu sprechen. Das Element kann aus dem Relationszusammenhang nicht herausgelöst werden, da es in sich selbst nichts anderes als eben diesen Zusammenhang bedeutet und ihn gleichsam in verdichteter Form zum Ausdruck bringt.
Eine neue Wendung nimmt der allgemeine Gedanke, auf dem die Bildung der Zahl beruht, wenn man vom Gebiet der endlichen Zahlen zu dem der transfiniten Zahlen übergeht. Zugleich häufen sich nunmehr die eigent- lichen philosophischen Schwierigkeiten : denn der Begriff des Unendlichen, der hier im Mittelpunkt steht, gehört seit jeher nicht minder dem Herrschaftsbereich der Metaphysik, als dem der Mathematik an. So hat denn auch C a n t o r selbst, indem er in seinen grundlegenden Unter- suchungen das System der transfiniten Zahlen schuf, zugleich alle die scholastischen Gegensätze des Potentiell- und Aktuell- Unendlichen, des Infiniten und Indefiniten wiederum herauf- beschworen*. Hier scheinen wir somit endgültig von der Frage nach der reinen Erkenntnisbedeutung der Begriffe zu den Pro- blemen des absoluten Seins und seiner Beschaffenheit hin- übergedrängt zu werden. Der Begriff des Unendlichen scheint die Schranke der Logik und den Grenzpunkt zu bezeichnen, an dem sie sich mit einem anderen Gebiet, das außerhalb ihrer Sphäre liegt, berührt.
Und dennoch gehen die Aufgaben, die zur Schöpfung des transfiniten Zahlenreiches führen, mit zwingender Not- wendigkeit aus rein mathematischen Voraussetzungen hervor.
* Vgl. bes. C a n t o r , Zur Lehre vom Transfiniten. Gesammelte Abhandl. aus der Zeitschr. f. Pliilosophie u. philos. Kritik. Halle a. S. 1890.
80
Sie entstehen, sobald man den Grundbegriff der „Äquivalenz", der schon das Kriterium für die Anzahlgleichheit endlicher Mengen bildete, derart verallgemeinert, daß er zum Vergleich unendlicher Inbegriffe fähig wird. Zwei Inbegriffe heißen uns — gleichviel, ob die Zahl ihrer Elemente begrenzt oder un- begrenzt sein mag — äquivalent oder von gleicher ,, Mächtig- keit", wenn sich ihre Glieder wechselseitig eindeutig einander zuordnen lassen. Die Anwendung dieses Kriteriums kann offenbar bei unendlichen Mengen nicht derart erfolgen, daß wir ihre Elemente einzeln einander gegenüber stellen, sondern setzt voraus, daß sich eine allgemeine Regel angeben läßt, durch welche die durchgängige Korrelation festgestellt und in einem Blick überschaut wird. So sind wir sicher, daß jeder geraden Zahl 2 n eine ungerade 2 n-f 1 ent- spricht und daß, wenn wir hierbei n alle beliebigen ganz- zahligen Werte annehmen lassen, die beiden Mengen der geraden und ungeraden Zahlen erschöpfend dargestellt und eindeutig aufeinander bezogen sind. Der Begriff der Mächtigkeit, der auf diese Weise eingeführt ist, erhält indessen spezielleres mathematisches Interesse erst, sobald sich zeigt, daß er in sich selbst einer Differenzierung und Abstufung fähig ist. Bezeichnet man alle Inbegriffe, deren Elemente den Gliedern der natürlichen Zahlenreihe sich eindeutig zuordnen lassen, als solche ersterMächtigkeit, so entsteht die Frage, ob in ihnen das Ganze möglicher Mannigfaltigkeiten sich er- schöpft, oder aber ob sich Mengen angeben lassen, die in bezug auf das angegebene Merkmal eine andere Stellung einnehmen. Das letztere ist nun, wie bewiesen wird, in der Tat der Fall: während der Fortschritt von den positiven ganzen Zahlen zur Gesamtheit der rationalen Zahlen keine Änderung in der Mächtigkeit bedingt und das gleiche selbst dann gilt, wenn wir das System der rationalen zum System der algebraischen Zahlen erweitern, so nimmt der Inbegriff einen neuen Cha- rakter an, sobald wir ihm weiterhin das Ganze der trans- zendenten Zahlen hinzufügen und ihn damit zu der Mannig- faltigkeit der reellen Zahlen überhaupt ergänzen. Diese Mannigfaltigkeit stellt somit eine neue Stufe dar, die sich über der ersten erhebt; denn sie faßt einerseits Inbegriffe
Cassirer, Substanzbegriff 6 81
erster Mächtigkeit in sich, während sie anderseits über sie hinausgeht, da bei dem Versuch der Zuordnung ihrer Elemente zu denen der natürlichen Zahlenreihe stets eine Unendlichkeit unverbundener Glieder zurückbleibt*. Die Einführung der transfiniten Zahlen «i und «o will lediglich diesen charakte- ristischen Grundunterschied festhalten. Die neue Zahl besagt auch hier nichts anderes als einen neuen Gesichtspunkt, nach welchem unendliche Inbegriffe sich ordnen lassen. Ein komplexerer Gehalt an Unterscheidungsmerkmalen ergibt sich, wenn man den transfiniten Kardinalzahlen, die sich lediglich auf die Angabe der Mächtigkeit unendlicher Mengen beschränken, das System der zugehörigen Ordnungs- zahlen zur Seite stellt, das uns entsteht, sobald wir die be- trachteten Mengen nicht lediglich hinsichtlich der Anzahl der Elemente vergleichen, sondern zugleich die Stellung der Glieder im Inbegriff in Betracht ziehen. Wir sprechen zwei wohlgeordneten Mengen MundN** dieselbe Ordnungszahl oder denselben ,, Ordnungstypus" zu, wenn sich die Elemente beider unter Festhaltung der Abfolge, die für beide Inbegriffe gilt, einander gegenseitig eindeutig zu- ordnen lassen: so daß also, wenn E und F Elemente von M, El und Fl die entsprechenden Elemente von N sind, die Stellung von E und F in der Succession der ersten Menge in Übereinstimmung ist mit der Stellung von Ei und Fi in der Succession der zweiten Menge. Geht, mit anderen Worten, in der ersten Menge E vor F voraus, so muß auch in der zweiten Ej vor Fj vorausgehen***. Während somit bei der Ver- gleichung der Mächtigkeit zweier Mannigfaltigkeiten von jeder beliebigen Anordnung ihrer Glieder Gebrauch gemacht werden konnte, sind wir bei Feststellung ihres Ordnungstypus an eine bestimmt vorgeschriebene Art der Aufeinanderfolge gebunden. Sprechen wir nun allen Reihen, die sich gemäß
* Einige nähere Ausführungen in m. Aufsatz „Kant und die moderne Mathematik" (Kant- Studien XII, 21 ff.); für alle Einzelheiten muß auf die dort angeführte Literatur, sowie bes. auf C a n t o r s eigene Darstellung in den „Mathemat. Annalen" verwiesen werden.
** Zxu" Definition der „wohlgeordneten Menge" s. C a n t o r , Grund- lagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre, § 2.
*** C a n t o r , a. a. O., § 2, S. 5.
82
der angegebenen Bedingung der Folge der natürlichen Zahlen eindeutig zuordnen lassen, den Ordnungstypus w zu, so können wir weiterhin, indem wir solchen Reihen in ihrer Gesamtheit je 1, 2 oder 3 Glieder hinzufügen, Reihen vom Typus w + l, 10 -{- 2, w + 3 bilden, weiterhin aber durch Vereinigung zweier oder mehrerer Inbegriffe vom Typus tu die Ordnungstypen 2 w, 3 w, ... n w erschaffen, um sodann, in immer weiterer Anwendung dieses Verfahrens, zur Kon-
n
struktion der Typen w^, to^, . . . w , ja auch w^, ^ usf. überzugehen. Und es sind keineswegs bloß willkürliche Symbole, die hiermit eingeführt werden, sondern Bezeich- nungen begrifflicher Bestimmtheiten und Unterschiede, die im Gebiet der unendlichen Mannigfaltigkeiten tatsächlich gegeben und unzweideutig aufweisbar sind. Die Form der Zählung ist auch hier nur der Ausdruck einer notwendigen logischen Differenzierung, die erst durch jene Form ihre klare und vollständige Fassung erhält. —
Die metaphysischen Probleme des Aktual-Unendlichen treten bei dieser Form der Ableitung gänzlich zurück. Denn es handelt sich — wie man mit Recht betont hat* — bei den neuen Zahlgebilden nicht sowohl um ,, unendliche Zahlen", als vielmehr um ,, Zahlen von etwas Unendlichem"; — um mathematische Ausdrücke, die wir uns schaffen, um be- stimmte unterscheidende Charaktere an unendlichen In- begriffen aufzufassen und festzuhalten. Die Konflikte, die sich aus der Verknüpfung der Begriffe „Unendlichkeit" und „W i r k 1 i c h k e i t" ergeben, liegen demnach hier, wo wir uns durchaus im Gebiet rein ideeller Setzungen bewegen, noch völlig fern. In zweifacher Form können diese Konflikte sich darstellen, je nachdem sie von der Seite des Objekts oder des Subjekts, von der Welt oder von der Tätigkeit des erkennenden Ich aus betrachtet werden. In der ersteren Hinsicht wird die Unmöglichkeit des Aktual-Unendlichen dadurch erwiesen, daß die Gegenstände, auf die der Zählakt sich richtet und die er, wie es scheint, voraussetzen muß, stets nur in
* S. K e r r y , System einer Theorie der Grenzbegriffe, Leipzig iind Wien 1890, S. 68 f.
6* 83
begrenzter Anzahl gegeben sein können. Gleichviel, welche Weite und welchen Umfang wir der abstrakten Zahl zu- sprechen mögen: das Gezählte muß stets in bestimmten Grenzen eingeschlossen gedacht werden, da es uns nicht anders, als vermöge der Erfahrung, die von Einzelheit zu Einzelheit fortschreitet, zugänglich ist. Auf der andern Seite ist es die psychologische Synthese des Zähl- akts selbst, die das Aktual-Unendliche ausschließen soll: kein „endlicher Verstand" vermag unbegrenzt viele Ein- heiten tatsächlich zu durchlaufen und zueinander successiv hinzuzufügen. Beide Einwände aber verlieren gegenüber dem „Transfiniten", wenn wir es auf seine streng mathematische Bedeutung beschränken, ihr Recht. Die ,, Materie" des Zählens steht hier unbegrenzt zur Verfügung, da sie selbst nicht empirischer, sondern logisch-begrifflicher Natur ist. Nicht Aussagen von Dingen, sondern Urteile über Zahlen und Zahlenbegriffe sind es, die zusammengefaßt werden: so daß der „Stoff", der etwa vorausgesetzt wird, selbst nicht als äußerlich gegeben, sondern als in freier Kon- struktion entstanden zu denken ist. Ebensowenig aber ist der psychologische Vollzug besonderer, isolierter V o r s t e 1 - lungsakte und ihre nachträgliche Summierung hier in irgendeiner Weise erfordert. Der Begriff des Transfiniten dient vielmehr dem umgekehrten Gedanken: er stellt die Unabhängigkeit des reinen logischen Gehalts der Zahl von der ,, Zählung" — im gewöhnlichen Sinne des Wortes — dar. Schon für die Begründung der Irrationalzahl war es un- umgänglich, unendliche Zahlenklassen zu betrachten, die lediglich durch eine allgemeine begriffliche Vorschrift in der Totalität ihrer Elemente dargestellt und überblickt, nicht aber gliedweise abgezählt werden konnten. Die neue Zahl- kategorie bringt diesen fundamentalen Unterschied zu all- gemeinster Anerkennung. Cantor unterscheidet ausdrücklich die „logische Funktion", in der das Transfinite sich begründet, von dem Verfahren der successiven Setzung und Vereinigung von Einheiten. Die Zahl w ist nicht das Ergebnis solchen immer erneuten Hinzutuns einzelner Elemente, sondern sie will lediglich der Ausdruck dafür sein, daß der ganze unbeschränkte
84
Inbegriff der natürlichen Zahlen, in welchem es kein „letztes Glied" gibt, „in seiner natürlichen Succession dem Gesetze nach gegeben sei". ,,Es ist sogar erlaubt, sich die neu ge- schaffene Zahl w als G r e n z e zu denken, welcher die Zahlen 1, 2, 3, . . ., V, .... zustreben, wenn darunter nichts anderes verstanden wird, als daß co die erste ganze Zahl sein soll, welche auf alle Zahlen v folgt, d. h. größer zu nennen ist, als jede der Zahlen v . . . Die logische Funktion, welche uns w geliefert hat, ist offenbar verschieden von dem ersten Erzeugungsprinzip, ich nenne sie das zweite Erzeugungs- prinzip ganzer realer Zahlen und definiere dasselbe näher dahin, daß — wenn irgendeine bestimmte Sukzession definierter ganzer realer Zahlen vorliegt, von denen keine größte existiert — auf Grund dieses zweiten Erzeugungsprinzips eine neue Zahl geschaffen wird, welche als Grenze jener Zahlen gedacht, d. h. als die ihnen allen nächst größere Zahl definiert wird*."
Im Grunde freilich ist dieses „zweite Erzeugungsprinzip" nur deshalb zulässig und fruchtbar, weil es kein völlig neues Verfahren darstellt, sondern nur die Tendenz eines Gedankens weiterführt, der für jede logische Begründung der Zahl überhaupt unerläßlich ist. Die Betrachtung der Eigenschaften äußerer Dinge wie diejenige einzelner psychi- scher Inhalte und Vorstellungsakte erwies sich als unfähig, auch nur die Reihe der ,, natürlichen" Zahlen in ihrer gesetz- lichen Ordnung aufzubauen und zum vollen Verständnis zu bringen. Hier bereits war es nicht das bloße Hinzutun von Einheit zu Einheit, das die Begriffsbildung beherrschte; vielmehr zeigte es sich, daß die einzelnen Glieder der Zahlen- reihe und somit ihr gesamter Umfang nur dadurch zur Ableitung kommen konnte, daß ein und dieselbe erzeu- gende Relation, als inhaltlich identisch erfaßt und durch alle Abwandlungen der besonderen An- wendung hindurch festgehalten wurde. Es ist der gleiche Gedanke, der jetzt nur zu schärferer Ausprägung gelangt. Wie die unendliche Vielheit der natürlichen Zahlen zuletzt durch einen Begriff, durch ein allgemein gültiges Prinzip
* Cantor, Grundlagen § 11, S. 33.
85
gesetzt ist, so läßt sich ihr Gehalt wiederum in einen Begriff zusammenziehen. Für das mathematische Denken wird die fundamentale Beziehung, die die Allheit der Glieder, die aus ihr hervorgehen können, in sich schließt, selbst wiederum zu einem neuen Element, zu einer Art Grund- einheit, von welcher eine neue Form der Zahlbildung ihren Ausgang nimmt. Der gesamte unendliche Inbegriff der natür- lichen Zahlen wird, sofern er „dem Gesetze nach gegeben", d. h. als Einheit zu betrachten und zu behandeln ist, zum Ansatz für einen neuen konstruktiven Aufbau. Über der ersten Ordnung erheben sich andere und komplexere, die jene als Material brauchen und zugrunde legen. Von neuem zeigt sich somit die Befreiung des Begriffs der Zahl von dem Begriff der kollektiven Vielheit. Die ,,Zahr' t« als Aggregat einzelner Einheiten auffassen und darstellen zu wollen, wäre widersinnig und würde ihren eigenen Begriff aufheben. Da- gegen bewährt sich auch hier die ordinale Betrachtungsweise: denn im Begriff einer neuen Setzung, die auf alle Elemente der natürlichen Zahlenreihe folgt, liegt kein Widerspruch, sofern nur daran festgehalten wird, daß diese Allheit logisch in einem einzigen Begriff zu übersehen und zu erschöpfen ist.
Auch das Problem der Unendlichkeit der Zeit kann hier zunächst noch völlig außer Betracht bleiben. Denn der Sinn des „Folgens" in einer Reihe ist von dem der kon- kreten Zeitfolge unabhängig. Wie die Drei auf die Zwei nicht im Sinne des Nacheinander von Ereignissen folgt, sondern mit diesem Verhältnis lediglich der logische Umstand bezeich- net werden soll, daß die Definition der Drei die der Zwei „voraussetzt", so gilt das gleiche in noch strengerer Bedeutung für die Beziehung zwischen den transfiniten und den endlichen Zahlen. Daß die Zahl w „nach" allen endlichen Zahlen der natürlichen Zahlenreihe zu setzen ist, bedeutet zuletzt lediglich eine derartige begriffliche Abhängigkeit in der Folge der Be- gründung. Die Urteile, in welche das Transfinite ein- geht, erweisen sich als komplexe Aussagen, die durch die Analyse auf Verhältnisbestimmungen unendlicher Inbegriffe „natürlicher" Zahlen zurückgeführt werden. In diesem Sinne
86
herrscht denn auch zwischen dem einen und dem anderen Gebiet eine durchgängige begriffliche Kontinuität. Die neuen Gebilde sind „Zahlen", sofern sie einmal in sich selbst eine vorgeschriebene Reihenform besitzen, sodann aber be- stimmten Gesetzen rechnerischer Verknüpfung ge- horchen, die denen der endlichen Zahlen analog sind, wenn- gleich sie nicht in allen Punkten mit ihnen übereinstimmen*. Nicht von außen her werden somit die neuen Gebilde des Negativen, des Irrationalen und Transfiniten dem Zahl- system eingefügt, sondern sie erwachsen aus der stetigen Ent- faltung der logischen Grundfunktion, die schon in der ersten Anlage des Systems sich wirksam erwies. Eine neue prin- zipielle Wendung aber tritt ein, sobald dem in sich selbst fertigen und geschlossenen Inbegriff der reellen Zahlen die komplexen Zahlensysteme gegenübertreten. Jetzt handelt es sich — gemäß der ,, Metaphysik des Imaginären", die Gauss entwickelt und begründet hat — nicht mehr darum, die allgemeinsten Gesetze der Ordnung in einer Reihe fest- zustellen, sondern um die Zusammenfassung einer Mehrheit von Reihen, deren jede durch eine bestimmte erzeugende Relation gegeben ist, zu einer Einheit der Bestimmung. Mit diesem Fortgang zu einer mehrdimensionalen Mannig- faltigkeit treten logische Probleme hervor, die ihre vollständige Ausprägung erst außerhalb der Grenzen der reinen Zahlen- lehre im Gebiet der allgemeinen Geometrie finden.
* Näheres zur Arithmetik des Transfiniten z. B. bei Russell, I 286, § 294 f.
87
Drittes Kapitel: Der Raumbegriff und die Geometrie.
Die Entwicklung des Zahlbegriffs und die fortschreitende logische Umbildung, die er erfuhr, zeigte sich von einem all- gemeinen Grundmotiv beherrscht, das allmählich zu immer bestimmterem Ausdruck gelangte. Der Gehalt des Zahl- begriffs konnte erst vollständig erfaßt werden, nachdem das Denken sich entwöhnt hatte, für jede seiner Bildungen eine Entsprechung im konkreten Dasein zu suchen. Die Zahl erwies sich in ihrer allgemeinsten Bedeutung als eine kom- plexe gedankliche Bestimmtheit, die in der Beschaffenheit der physischen Gegenstände kein unmittelbares sinnliches Abbild besitzt. So notwendig es indessen im Aufbau der mo- dernen Analysis und Algebra wird, diese Entwicklung zu voll- ziehen, so kann es dennoch scheinen, als stelle sich in ihr nur ein künstlicher Umweg des Denkens, nicht aber das ursprüngliche und gleichsam natürliche Prinzip der wissenschaftlichen Begriffsbildung dar. Rein und vollständig scheint dieses Prinzip nur dort zutage zu treten, wo das Denken sich nicht, wie im Bereich der Zahl, lediglich nach selbstgeschaffenen Gesetzen betätigt, sondern seinen Wert und Halt in der Anschauung sucht. Hier allein liegt denn auch für jede logische Theorie des Begriffs die kritische Entscheidung. Ein begriffliches Gebilde mag noch so fein ge- sponnen,- noch so folgerecht und widerspruchslos aus ursprüng- lichen gedanklichen Voraussetzungen aufgebaut sein: es erscheint- dennoch leer und ohne Gehalt, solange es unsere Anschauung nicht vertieft und bereichert. Hält man aber einmal dieses Kriterium fest, so tritt damit der Gegensatz der logischen Grundansichten in ein neues Licht. Das
88
Muster, dem die Theorie zu folgen hat, liegt fortan nicht ausschließlich in der Algebra, sondern reiner und ur- sprünglicher in der Geometrie vor uns. Nicht die Zahl- begriffe, sondern die Raumbegriffe sind es, die kraft ihrer unmittelbaren Beziehung zur konkreten Wirklichkeit als das eigentliche Vorbild zu gelten haben.
In der Tat tritt sogleich in den geschichtlichen Anfängen der Logik dieser sachliche Zusammenhang aufs stärkste hervor. Begriff und Gestalt sind Synonyma : sie fließen in der Wortbedeutung des €ldo<; zu einer unterschiedslosen Einheit zusammen. Das sinnlich Mannigfaltige ordnet und glie- dert sich, indem sich aus ihm bestimmte räumliche Formen herausheben, die durch alle Verschiedenheit hindurchgehen und sich in ihr als gleichbleibende Züge behaupten. In diesen Formen besitzen wir das feste Grundschema, kraft dessen wir mitten im Wandel der sinnlichen Dinge ein Ganzes un- veränderlicher Bestimmtheiten, einen Bereich des „immer Seienden" ergreifen. So wird die geometrische Gestalt zugleich zum Ausdruck und zur Bewährung des logischen Typus. Der Grundgedanke der Gattungslogik ist von einer neuen S^ite her befestigt: und diesmal ist es nicht die populäre Weltansicht, noch der grammatische Bau der Sprache, sondern die Struktur einer fundamentalen mathematischen Wissenschaft, worauf er sich stützt. Wie wir den Umriß der sichtbaren Gestalt als identisch wiedererkennen, gleichviel, an welchem sinnlichen Stoff sie uns entgegen- tritt oder in welchem Maßstab wir sie entworfen denken: so gilt es allgemein, die obersten Gattungen aufzustellen, denen das Seiende seine gleichartige begriffliche Prägung, denen es die konstante Wiederkehr bestimmter Einzelzüge verdankt. —
Der Zusammenhang, der hier hervortritt, ist keineswegs ausschließlich für die Fassung der logischen Probleme be- deutsam geworden; er hat auch in der wissenschaftlichen Entwicklung der Geometrie selbst entscheidend nachgewirkt. Die synthetische Geometrie des Altertums zeigt sich von der Grundanschauung beherrscht, die in der formalen Logik ihren allgemeinen Ausdruck findet. Die ,, Gattungen" des
89
Seienden können nur dann in voller Schärfe erfaßt werden, wenn sie wechselseitig gegeneinander streng geschieden und auf einen bestimmten, ein für allemal fixierten Kreis von Inhalten eingeschränkt werden. Somit bilden auch die ver- schiedenartigen geometrischen Gestalten je einen abgegrenzten Bezirk von unveränderlicher Eigenart. Nicht sowohl auf die Einheit der Grundformen als vielmehr auf ihre strenge Unter- scheidung ist das Interesse der Beweisführung zu- nächst gerichtet. Die Ansicht freilich, daß dem mathemati- schen Geiste der Griechen das Problem der Veränderung überhaupt fremd geblieben sei, ist durch die fortschreitende Erforschung der geschichtlichen Quellen mehr und mehr widerlegt worden. Nicht nur haben sie den Begriff der Zahl bereits in aller Schärfe erfaßt, so daß auch das Irrationale ihm eingefügt und unter ihm befaßt wird, — dasEphodion des Archimedes zeigt auch in voller Klarheit, wie innig das grie- chische Denken dort, wo es frei den Weg der methodischen Entdeckung ging, sich mit dem Begriff der Stetigkeit durch- drungen und damit das Grundverfahren der Analysis des Unendlichen selbst vorweggenommen hat*. Aber gerade, wenn man sich dies gegenwärtig hält, wird um so mehr der Abstand deutlich, der hier zwischen der Methode der Ent- deckung und der Methode der wissenschaftlichen Dar- stellung zurückbleibt. Die Darstellung steht, wie man nunmehr bemerkt, unter dem Druck bestimmter logischer Theorien, von dem sie sich nicht gänzlich zu befreien vermag. Da Kreis und Ellipse, Ellipse und Parabel nicht dem gleichen sichtbar-anschaulichen Typus angehören: so können sie, wie es scheint, im strengen Sinne auch nicht unter die Einheit eines Begriffs fallen. So sehr daher die geometrischen Ur- teile, die wir über beide Gebiete fällen können, sich in- haltlich berühren und einander entsprechen mögen, so handelt es sich doch hier nur um eine sekundäre Ähnlichkeit des Ver- haltens, nicht um eine ursprüngliche logische Identität. Die Begründung für beide Arten von Aussagen ist in jedem
♦ Vgl. hierzu bes. die Darstellung von Max Simon, Geschichte der Mathematik im Altert iim in Verbindung mit antiker Kulturgeschichte, Berlin 1909, bes. S. 256, 274 ff, 373.
90
Falle streng getrennt zu geben: sie erhält ihre Geltung und Notwendigkeit erst, wenn sie einzeln aus dem jeweilig be- trachteten Begriff und seiner spezifischen Struktur heraus gewonnen ist. Jede Verschiedenheit in der Lage und An- ordnung der gegebenen und gesuchten Linien eines Problems stellt somit den Beweis vor eine neue Frage; jeder Differenz im anschaulichen Gesamtverhalten der Figur entspricht eine Differenz der Auffassung und Ableitung. Ein Problem, das die neuere synthetische Geometrie durch eine einzige all- gemein anwendbare Konstruktion löst, -muß bei ApoUonius in mehr als achtzig, ^^ nur durch die Lage unterschie^eiie^älle zerlegt werden*. Die Einheit der konstruktiven Prinzipien der Geometrie tritt zurück hinter der Besonderung ihrer Einzelgestalten, deren jede für sich als eine eigene nicht weiter zurückführbare Wesenheit aufgefaßt und begriffen werden will.
Die Umgestaltung, die die Geometrie in der neueren Zeit erfährt, beginnt mit der Einsicht in den philosophi- schen Grundmangel dieses Verfahrens. Es ist kein Zufall, daß die neue Form der Geometrie, so sehr sie, insbesondere durch Fermat, im einzelnen vorbereitet war, erst durch Descartes ihre endgültige Fixierung erhält. • Die Reform der Geometrie konnte erst zu vollständiger Durchführung gelangen, nachdem ein neues Ideal der Methode in aller Klarheit erfaßt war. Die Methode Descartes' aber ist überall darauf gerichtet, eine eindeutige Ordnung und Verknüpfung zwischen allen Einzeläußerungen des Denkens herzustellen. Nicht der Inhalt eines bestimmten Gedankens entscheidet über seinen reinen Erkenntniswert, sondern die Notwendigkeit, kraft deren er aus letzten ursprünglichen Grundsätzen in lückenloser deduktiver Folge hergeleitet ist. Die erste Vorschrift alles rationalen Wissens muß somit darin bestehen, die Erkenntnisse derart zu gliedern, daß sie eine einzige, in sich ab-
* S. hierzu R e y e , Die sjoithetische Geometrie im Altertum tmd in der Neuzeit. (Jahresberichte der Deutschen Mathematik. - Vereinigung. XI. (1902) S. 343 ff.) — Vgl. auch m. Schrift. Leibniz* System in seinen wissensch. Grundlagen, Marburg 1902, S. 220 ff.
91
geschlossene Reihe bilden, innerhalb deren es keine unvermittelten Übergänge gibt. Kein Glied darf hier als gänzlich neues Element zu den vorangehenden hinzutreten, sondern es muß schrittweise aus den früheren nach einer be- stimmten Regel hervorgehen. Was immer ein Gegenstand menschlicher Erkenntnis werden kann, untersteht notwendig dieser Bedingung der stetigen Verknüpfung, so daß es keine noch so entlegene Frage geben kann, die wir nicht auf diesem Wege im Fortgang von Grad zu Grad zu erreichen und völlig zu beherrschen vermöchten. Dieser schlichte Gedanke, auf den der „Discours de la m^thode" sich aufbaut, fordert und bedingt sogleich eine neue allgemeine Grundkonzeption der Geometrie. Geometrische Erkenntnis im strengen Sinne ist nur dort vorhanden, wo die Einzelobjekte nicht als ge- sonderte Gegenstände der Untersuchung unterbreitet werden, sondern ein Verfahren gegeben ist, nach welchem die All- heit dieser Objekte konstruktiv erzeugbar ist. Die gewöhn- liche synthetische Geometrie aber scheitert gerade an dieser Forderung: denn ihr Gegenstand ist das isolierte Raum- gebilde, dessen Eigenschaften sie in unmittelbarer sinnlicher Anschauung ergreift, dessen systematischen Zusammenhang mit anderen Gebilden sie aber niemals vollständig darzulegen vermag. An dieser Stelle tritt mit innerer philosophischer Notwendigkeit der Gedanke der Ergänzung des Raumbegriffs durch den Zahlbegriff ein. Das Tagebuch Descartes', in dem sich die Entwicklung seines Grundgedankens verfolgen läßt, enthält hierfür einen be- zeichnenden Ausdruck. ,,Die Wissenschaften in ihrem jetzigen Zustand sind maskiert und würden erst, wenn man ihnen die Maske abnimmt, in voller Schönheit erscheinen: wer die Kette derWissenschaften überschaut, dem wird es nicht schwerer fallen, sie im Geiste zu behalten als die Reihe der Zahle n*." Das ist somit das Ziel, das die philosophische Methode sich setzt: daß sie alle Gegenstände, auf die sie sich richtet, in der gleichen Strenge der systemati- schen Verknüpfung wie das Ganze der Zahlen begreift./ Hier
* Descartes, Oeuvres in^dites, publ. par Foucher de Careil, Paris 1859, 8.4.
92
liegt — von dem Standpunkt aus, den die exakten Wissen- schaften zur Zeit Descartes' erreicht haben — die einzige Mannigfaltigkeit vor, die von einem selbstgesetzten Anfang aus nach immanenten logischen Gesetzen aufgebaut ist, die somit für das Denken keine prinzipiell unlösbaren Fragen in sich bergen kann. Die Forderung, die Raumgebilde als Zahlgebilde darzustellen und sie in diesen zum voll- ständigen Ausdruck zu bringen, kann, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Cartesischen Ontologie be- trachtet, befremdlich scheinen: denn in dieser bedeutet die ,, Ausdehnung" die wahrhafte Substanz der Naturdinge, also einen ursprünglichen, nicht weiter zurückführbaren Grundbestand des Seins. Aber die Analyse des Seins muß an dieser Stelle hinter der Analyse der Erkenntnis zurück- treten. Wir können den Raum nur dadurch zu völliger exakter Begreiflichkeit bringen, daß wir ihm den- selben logischen Charakter aufprägen, der bisher allein der Zahl eignete. Nicht als bloß technisches Instrument der Messung wird hier die Zahl ergriffen und angewandt, sondern ihr tieferer Wert liegt darin, daß in ihr allein das oberste methodische Postulat, das alle Erkenntnis erst zur Erkenntnis macht, sich vollkommen erfüllt. Die Um- setzung der Raumbegriffe in Zahlbegriffe erhebt daher zu- gleich das Ganze der geometrischen Forschungen auf ein neues gedankliches Niveau. Die substantiellen F o r m - begriffe der antiken Geometrie, die in starrer Absonderung einander gegenüberstanden, verwandeln sich kraft dieser Übertragung in reine ,,R eihenbegriff e", die nach einem bestimmten Grundprinzip aus einander erzeugbar werden. So ist es in der Tat eine echte philosophische ,, Re- volution der Denkart", auf die die wissenschaftliche Ent- deckung der analytischen Geometrie sich stützt. Die tra- ditionelle Logik schien unangreifbar, solange ihr das Verfahren der antiken synthetischen Geometrie als unmittelbare Be- stätigung und Verkörperung ihrer Grundsätze zur Seite stand; erst die Umbildung des Gehalts der Geometrie schafft Raum für eine neue Logik der Mannigfaltigkeiten, die über die Grenzen der Syllogistik hinausgreift. —
93
Dreser Zusammenhang hebt sich noch schärfer heraus, wenn man die spezielle Ausführung betrachtet, die die analy- tische Geometrie bei Descartes erhält. Auch hier zeigt es sich, daß die scheinbar individuelle Form der Darlegung in Wahrheit Züge von allgemeingültiger Bedeutung in sich faßt, die sich, wenngleich in anderer Fassung und Einkleidung, durch die gesamte philosophische Geschichte der Geometrie hindurch behauptet haben. Der Grundbegriff, auf den Descartes seine Betrachtungen aufbaut, ist der Begriff der Bewegung. Vom Standpunkt der bisherigen Gesamtauffassung liegt schon hierin ein Problem. Denn nur die Einzelfigur, die in festen abgeschlossenen Grenzen vor uns steht, scheint der wahrhaft bestimmten begrifflichen Auffassung zugänglich, während der Übergang einer Gestalt in die andere uns wiederum in das Chaos der bloßen Vorstellung, in das sinnliche Reich des „Werdens" zurückzuwerfen droht. In der Tat kann es zunächst den Anschein haben, als werde durch die Anerkennung des Bewegungsbegriffs in die Cartesische Geo- metrie, entgegen ihrer eigentlichen Grundtendenz, ein rational nicht völlig beherrschbares Element eingeführt. Die Be- wegung führt sofort auf die Frage des sich bewegenden „Sub- jekts" zurück; setzt aber dieses Subjekt nicht den materiellen Körper, also ein rein empirisches Moment voraus? Dieses Bedenken schwindet indessen, sobald man die Funktion, die hier dem Begriff der Bewegung zugewiesen wird, im ein- zelnen verfolgt und analysiert. Die verschiedenen Gestalten der ebenen Kurven entstehen dadurch, daß wir einem be- stimmten Punkt, den wir als Grundelement fixieren, relativ zu einer vertikalen und einer horizontalen Achse verschiedene Arten des Fortschritts vorschreiben. Aus der Festhaltung und Vereinigung dieser Fortschrittsarten muß sich die Bestimmtheit der Linien, die auf diese Weise als ,, Bahnen" von Punkten erzeugt werden, zuletzt vollständig und eindeutig ableiten lassen. Hier bezeichnet, wie man sieht, die Bewegung nicht einen konkreten, sondern einen lediglich idealen Vorgang: sie ist der Ausdruck der Synthese, in welcher eine successive Mannigfaltigkeit von Lagebestim- mungen, die durch irgendein Gesetz zusammenhängen, zur
94
Einheit eines räumlichen Gebildes zusammengefaߣ wird. Wie vorher der Begriff der Zahl, so dient auch hier der Begriff der Bewegung nur als Beispiel des allgemeinen Reihenbegriffs. Der einzelne Punkt der Ebene wird zunächst durch den Abstand bezeichnet, den er von zwei festen Graden hat und erhält hierdurch seine feste systema- tische Stelle innerhalb der Gesamtheit der möglichen Lagen angewiesen.! Die so gewonnenen Punkt- Individualitäten aber, die durch eindeutige Zahlwerte charakterisiert sind, bleiben nicht schlechthin nebeneinander stehen, sondern werden durch irgend welche komplexen Regeln derZuordnung in verschiedener Weise aufeinander bezogen und dadurch zu einheitlichen Gestalten verknüpft. Die Vorstellung der ,, Be- wegung" der Punkte ist nichts anderes als das sinnliche Symbol für diese logischen Akte der Zuordnung. Die anschauliche geometrische Linie löst sich kraft dieses Verfahrens in eine reine Wertfolge von Zahlen auf, die durch eine bestimmte arithmetische Regel miteinander verknüpft sind. Alle sinnlich aufweisbaren Eigenschaften, kraft deren wir die eine Linie von der andern unterscheiden, wie etwa die Konstanz oder der Wechsel in ihrer Richtung und Krümmung, müssen, sofern sie zum exakten begrifflichen Ausdruck gelangen sollen, als Eigentümlichkeiten dieser Wertfolgen aussprechbar sein. Die Vermittlung des Bewegungsbegriffs dient also in Wahrheit nicht den Zwecken der Veranschaulichung, sondern denen der fortschreitenden Rationalisierung: die fertige ge- gebene Form wird gleichsam zerbrochen, um aus einem arith- metischen Reihengesetz von neuem zu entstehen. Wie streng diese allgemeine Forderung aufrecht erhalten wird, zeigt sich in Descartes' Begründung besonder charakteristisch darin, daß sie es ist, die das Gebiet des Geometrischen selbst bestimmt und abgrenzt. Die ,, transzendenten" Kurven werden ausgeschaltet, weil bei ihnen — nach den technischen Hilfsmitteln, über die Descartes verfügt — der geforderte logische Aufbau, die Ableitung aus den Verhältnissen reiner Zahlenregeln, unmöglich scheint. Diese Kurven, die ihrer anschaulichen Bildung nach keinerlei Ausnahmestellung ein- nehmen, werden dennoch aus der Geometrie verwiesen, weil
95
sie sich der neuen Definition des geometrischen Begriffs, durch die er zuletzt auf eine Gesamtheit elementarer Rechnungsoperationen zurückgeführt wird, nicht fügen.
Damit aber zeigt sich freilich zugleich die Schranke der Cartesischen Geometrie, die in der weiteren geschichtlichen Entwicklung überschritten werden mußte. Ein neues Ideal des Begreifens war hier gestellt; aber noch vermochte dieses Ideal nicht die Gesamtheit der wissenschaft- lichen Fragen zu umspannen, die bisher unter dem Namen der Geometrie vereinigt waren. Die Strenge der Begriffsbildung mußte durch den Ausschluß wichtiger und weitreichender Gebiete erkauft werden. Der Weg des logischen Fortschritts ist daher jetzt eindeutig vorgeschrieben. Die Auflösung der Raumbegriffe in Reihenbegriffe bleibt der leitende Gesichtspunkt; aber das System der Reihenbegriffe muß derart vertieft und verfeinert werden, daß dadurch nicht nur, wie bisher, ein enger Ausschnitt, sondern das Gesamt- gebiet der möglichen räumlichen Gestaltungen übersehbar und beherrschbar wird.i Diese Forderung ist es, kraft deren die Cartesische Geometrie sich mit innerer Notwendigkeit zur Infinitesimal-Geometrie erweitert. Hier erst tritt die neue Form der Begriffsbildung, die die analytische Geometrie in ihren allgemeinen Umrissen erkennen ließ, in vollkommener Fassung hervor. Wiederum wird von der Be- trachtung einer Grundreihe x^x^ x„ ausgegangen, der
durch eine bestimmte Regel eine andere Reihe von Werten VxVi • ' 'V n zugeordnet ist. Aber diese Zuordnung beschränkt sich nicht mehr auf die gewöhnlichen algebraischen Ver- fahrungsweisen, auf die Addition und Subtraktion, Multi- plikation und Division von Zahlen oder Zahlenstrecken, sondern sie umfaßt jede mögliche Form gesetzlicher Ab- hängigkeit von Größen überhaupt. Der Zahlbegriff erfüllt und durchdringt sich mit dem allgemeinen Funktionsbegriff: und erst dieses Zusammenwirken beider Begriffe gestattet es, den Gesamtgehalt der Geometrie in logischer Vollendung darzustellen. In dem Fortschritt zur Differential- Geometrie aber tritt zugleich ein neues Moment entscheidend hervor. Es ist eine unendliche Mannigfaltigkeit begrifflicher
96
Zuordnungen, aus deren Vereinigung erst die Kurve als begriffliche Gesamtheit resultiert. Daß diese Unendlichkeit der Bestimmungsstücke nicht zu einer Auflösung jeglicher Bestimmung führt, daß es vielmehr möglich ist, sie wiederum zur Einheit eines geometrischen Begriffs zusammen- zuschließen : das kommt erst in der Methode, deren die Infini- tesimal-Analysis sich bedient, zu voller Klarheit. Wenn in der analytischen Geometrie der einzelne Punkt der Ebene wesent- lich durch die Zahlwerte seiner Koordinaten x und y bestimmt ist, so wird jetzt, kraft der Differentialgleichung f(x, y, y') = 0, jedem derart gegebenen Punkte zugleich eine bestimmte Rich- tung des Fortschritts zugeordnet und die Aufgabe besteht nunmehr darin, aus dem Inbegriff dieser F o r t - Schrittsrichtungen das Ganze einer bestimmten Kurve, mit allen Besonderheiten ihres geometrischen Verlaufs, zu rekonstruieren. Die Integration der Gleichung bedeutet nichts anderes, als die Synthese dieser unendlich vielen Richtungsbestimmtheiten zu einem einheitlichen, zusammen- hängenden Gebilde. Ebenso ordnet eine Differentialgleichung zweiter Ordnung f(x, y, y', y") = 0 jedem Punkt und seiner Fortschreitungsrichtung zugleich einen bestimmten Krüm- mungsradius zu, wobei wiederum die Aufgabe entsteht, aus der Gesamtheit der auf diese Weise gewonnenen Werte der Krümmung die Form der Kurve als Ganzes abzuleiten*. Die Elemente, auf die hierbei zurückgegangen wird, und die geometrisch durch den Begriff der Richtung und Krümmung bezeichnet werden, sind, ihrem allgemeinsten Ausdruck nach, offenbar nichts anderes als einfache Reihen- Prinzipien, die wir in ihrer Gesamtheit und ihrer gesetzlich geregelten Veränderung auffassen. ^
Denken wir etwa, im Sinne der Infinitesimal-Analysis, den Raum, den ein bewegter Körper durchmißt, als Integral seiner Geschwindigkeiten dar^^estellt, so besteht das Ver- fahren, das wir hierbei anwenden, darin, daß wir in jeden Moment der tatsächlich vor sich gehenden Bewegung zugleich ein bestimmtes Gesetz des Fortschritts hineinlegen, durch
* Vgl. hrz. F. Klein. Einleitung in die höhere Geometrie, Autogra- phierte Vorlesung, Göttingen 1893, I, 143 ff.
Cassirer, Substanzbegriff 7 97
welches der Übergang zu den folgenden Raumpunkten ein- deutig bestimmt sein soll. Die ,, Geschwindigkeit", die ein Körper an einem bestimmten Punkte seiner Bahn in einem gegebenen Zeitmoment besitzt, läßt sich begrifflich nicht anders fassen und darstellen als durch die vergleichende Gegenüberstellung und wechselseitige Beziehung je einer Reihe von Raumwerten und Zeitwerten. Sie ist, rein logisch betrachtet, keine absolute Eigen- schaft des bewegten Dinges, sondern lediglich der Ausdruck für dieses wechselseitige Abhängigkeitsverhält- nis. Wir nehmen an, daß der Körper, wenn in dem betrach- teten Punkte jede äußere Einwirkung auf ihn aufhörte, fortan gleichförmig in bestimmt angebbarer Weise fort- schreiten, d. h., daß er nach Ablauf einer gewissen Zeit tj die Strecke Sj, nach Ablauf einer Zeit tj = 2 t^ die Strecke 2 s, usw. durchmessen haben würde. In alledem handelt es sich nicht darum, die wirkliche Bewegung des Körpers durch Angabe der einzelnen Stellen, die er durchläuft, be- grifflich nachzuzeichnen, sondern seine Bahn rein ideell au den verschiedenen Gesetzen der möglichen Zu- ordnung von Raum- und Zeitpunkten zu konstruieren. Die einzelnen Werte innerhalb der mannigfachen Reihen werden niemals tatsächlich angenommen, da die Gleichförmigkeit der Bewegung aktuell niemals verwirklicht ist; aber nichts- destoweniger bedarf der Gedanke notwendig dieser hypo- thetischen Werte und Wertfolgen um sich das komplexe Ganze, der wirklichen Bahn völlig durchsichtig zu machen. Das gleiche gilt von dem Verfahren, dessen sich die Analysis des Unendlichen im Gebiete der Geometrie bedient. Die Kurve wird auch hier zunächst als eine bestimmte Ordnung von Punkten aufgefaßt; aber diese Ordnung, die in ihrer un- mittelbaren Gegebenheit eine sehr verwickelte Reihenform darstellt, wird begrifflich gegliedert, indem sie als eine Mannig- faltigkeit einfacher Reihengesetze aufgefaßt wird, die sich gegenseitig bestimmen. Die konkrete fertige Gestalt zerlegt sich in einen Inbegriff virtueller Bestimmungs- gründe, die von Punkt zu Punkt als verschieden anzusetzen sind. Die geometrische Form, die vom Standpunkt der direkten
98
Anschauung, den auch die elementare synthetische Geometrie noch teilt, als etwas schlechthin Bekanntes und unmittelbar Erfaßbares schien, erscheint hier durchaus als ein vermitteltes Ergebnis. Das Gebilde ist gleichsam aufgelöst in mannig- fache Relationsschichten, die sich übereinander lagern und die sich kraft der bestimmten Form der Abhängigkeit, die zwischen/ ihnen besteht, zuletzt zu einem Ganzen determinieren. Damit aber eröffnet sich zugleich der Ausblick auf ein Problem von umfassender Bedeutung. Die Konstruktion der Kurve aus der Gesamtheit ihrer Tangenten, wie die Infinite- simal-Geometrie sie lehrt, ist nur ein Beispiel für ein Ver- fahren von allgemeinerer Anwendbarkeit. Alle mathematische Begriffsbildung setzt sich in der Tat eine doppelte Aufgabe: die Aufgabe der Analyse eines bestimmten Relations- zusammenhangs in elementare Relationstypen oder aber die Synthese dieser einfachen Typen und Bildungsgesetze zu Relationen höherer Ordnung. Die Analysis des Unendlichen ist logisch bereits eine erste und vollkommene Ausprägung dieser Richtung der Betrachtung. Denn schon in ihr wächst die mathematische Unters-uchung über die bloße Betrachtung der Größen hinaus und wendet sich einer allgemeinen Theorie der Funktionen zu. Die „Elemente", die hier zu neuen Einheiten verknüpft werden, sind selbst nicht extensive Größen, die als ,, Teile" zu einem Ganzen zusammentreten, sondern es sind Funktionsformen, die einan- der gegenseitig bestimmen und sich damit zu einem System von Abhängigkeiten zusammenschließen. Bevor indessen diese Entwicklung, die der modernen Mathematik ihr eigent- liches Gepräge gibt, weiter verfolgt wird, müssen wir uns zu den speziellen Problemen der Geometrie zurückwenden; denn in den philosophischen Kämpfen um die Methode, die hier geführt werden, treten zugleich die Anfänge einer neuen und allgemeingültigen logischen Frage- stellung deutlich hervor. /
IL
Zu einem streng prinzipiellen Aufbau ihres Gebiets und zu wahrhafter Freiheit und Universalität ihrer Methoden
7* 99
ist die neuere Geometrie erst gelangt, indem sie von der Geo- metrie des Maßes zur Geometrie derLage fortschritt. Gegenüber der analytischen Geometrie Descartes' scheint dieser Schritt eine Reaktion zu bedeuten. Die Anschauung tritt nun wieder wie in der antiken synthetischen Geometrie in ihre Rechfe ein. Nicht indem wir sie soviel als möglich beschränken und durch bloße rechnerische Operationen zu ersetzen suchen, sondern indem wir sie in ihrer ganzen Weite und Selbständigkeit wiederherstellen, ergibt sich uns die eigentlich logische, die streng deduktive Gestaltung der Raumwissenschaft. So lenkt die Entwicklung wieder vom ab- strakten Zahlbegriff zum reinen Formbegriff zurück. Daß hierin, im philosophischen Sinne, ein neues Motiv liegt, hat Descartes selbst empfunden und ausgesprochen. Er sieht in den Methoden Desargues', die den ersten Ansatz zur projektiven Behandlung und Auffassung der Raumgebilde enthalten, den Hinweis auf eine allgemeine ,, Metaphysik der Geometrie"*. Verfolgt man diese ,, Metaphysik" indessen weiter, so scheint sie seinen eigenen Tendenzen und Folge- rungen unmittelbar zu widerstreiten. In der Tat vermochte sich die neue Auffassung nur in hartnäckigen Kämpfen gegen das Vorrecht und die Alleinherrschaft der analytischen Methoden allmählich durchzusetzen. Die Kritik dieser Me- thoden setzt bereits bei Leibniz ein und wird in seiner Grund- legung der Analysis der Lage zu einem ersten Abschluß geführt. Schon hier wird der Analysis vorgehalten, daß sie das all- gemeingültige Ordnungsprinzip, dessen sie sich rühmt, nicht innerhalb des Gebiets selbst, das es zu ordnen gilt, zu fixieren vermag, sondern daß sie' hierzu auf einen fremden und dem betrachteten Gegenstand äußerlichen Gesichtspunkt zurückgreifen muß. Die Beziehung eines räumlichen Gebildes auf die beliebig gewählten Koordinatenachsen trägt in die Bestimmung ein Moment subjektiver Willkür hinein; die begriffliche Eigenart der Form wird nicht auf Grund von Merkmalen, die rein in ihr selbst liegen, festgestellt, sondern
* S. Descartes' Brief an Mersenno vom 9. Januar 1639. Correspon- dance^ ed. Adam-Tannery, II, 490.
100
durch eine zufällige Relation ausgedrückt, die je nach der Wahl des angenommenen Bezugssystems, verschieden aus- fallen kann. Ob unter all den verschiedenen jGrleichungen, die gemäß diesem Verfahren zum Ausdruck eines räumlichen Gebildes verwendet werden können, die relativ einfachste ergriffen wird, hängt vom individuellen Geschick des Rechners, also von einem Moment ab, das der strenge und eindeutige Gang der Methode auszuschließen strebte. Soll dieser Mangel beseitigt werden, so muß ein Verfahren gefunden werden, das in begrifflicher Strenge mit den analytischen Methoden ebenbürtig ist, anderseits aber die rationale Vertiefung lediglich in den Grenzen des Geometrischen selbst und mit den Mitteln des reinen Raumes erreicht. Die räumlichen Grundformen sollen wieder als das, was sie „an sich selbst" sind, erfaßt und ohne Umdeutung in abstrakte Zahlverhält- nisse in ihrer eigenen Gesetzlichkeit verstanden werden**, t
Dennoch führt auch von diesem Standpunkt der Frage- stellung aus — und dies ist das philosophisch Charakteristische und Bedeutsame — kein Weg zur Betrachtungsweise der antiken Elementargeometrie zurück. Die Rückkehr zur anschaulichen Erfassung der Figur schafft hier nur ein scheinbares Bindeglied: denn der Inhalt dessen, was jetzt unter der geometrischen ,, Anschauung" verstanden wird, .hat sich vertieft und umgestaltet. Wenn man, um in dem philosophischen Kampf der Meinungen ein festes Kriterium zu gewinnen, den Versuch unternimmt, die wissenschaftlichen Begründer der neueren Geometrie nach dem Sinne zu befra- gen, den sie mit dem Begriff und Terminus der „An- schauung" verbinden — so ergibt sich hier zunächst ein eigentümlich zwiespältiges Verhalten. Während Jakob Steiner, der hierin seinem Lehrer und Vorbild Pesta- lozzi folgt, nicht müde wird, das logische Recht und die Fruchtbarkeit der reinen Anschauung zu preisen, während er und seine Schüler daher den Mangel der gewöhnlichen synthetischen Geometrie eben darin erblicken, daß sie die
** Näheres hierüber in der Darstellung von Leibniz' Entwurf der „Analysis situs", s. Leibniz' System in s. wiss. Grundlagen, Kap. III.
101
Anschauung nur in eingeschränktem Sinne, nicht in der ganzen Freiheit und Weite ihrer Bedeutung brauchen lehrt*, findet sich in dem Grundwerk Poncelets zunächst eine durch- aus entgegengesetzte logische Tendenz ausgeprägt, f Der Wert der neuen Methode wird darin gesucht, daß in ihr die geo- metrische Schlußfolgerung sich völlig ungehindert ergehen kann; daß sie, ohne durch die Schranken der sinn- lichen Darstellbarkeit irgendwie beengt zu werden, ins- besondere auch imaginäre und unendlich ferne Elemente, denen keine individuelle geometrische ,, Existenz" zukommt, in den Kreis ihrer Betrachtungen zieht und erst dadurch zu einer völligen rationalen Geschlossenheit der Ab- leitung gelangt. Der Gegensatz, der hier in der Formulierung des Grundgedankens besteht, schlichtet sich jedoch, sobald man die nähere Ausführung verfolgt, die dieser Gedanke beiderseits erhält. Auch dort, wo die Geometrie der Lage rein und ausschließlich auf die Anschauung gegründet wird, ist darunter nicht das Haften an der einzelnen, sinnlich ge- gebenen Figur, sondern die freie konstruktive Erzeugung von Gestalten nach einem bestimmten einheitlichen Prinzip verstanden. Die verschiedenen sinnlich möglichen Fälle einer Figur werden nicht, wie in der griechischen Geometrie, besonders erfaßt und untersucht, sondern alles Interesse konzentriert sich auf die Art, wie sie wechselseitig auseinander hervorgehen. Sofern eine einzelne Gestalt betrachtet wird, steht sie niemals für sich allein, sondern als Symbol des Ge- samtzusammenhangs, dem sie angehört und als Ausdruck für den gesamten Inbegriff von Gestaltungen, in welche sie, unter Festhaltung bestimmter Regeln der Um- formung, überführbar ist. Die „Anschauung" geht hier also niemals auf die besondere Figur mit ihrem zufälligen Eigengehalt, sondern ist — im Sinne Jakob Steiners — auf die Ermittlung der Abhängigkeit geometrischer Ge- stalten voneinander gerichtet**. Die Einzel terme treten
* S. z. B. Reye, Die synthetische GJeometrie im Altertum und in der Neuzeit, a. a. Ö. S. 347.
** S. die Vorrede zu J. Steiners Schrift: Systemat. Entwicklung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten voneinander, Berün 1832:
102
auch hier zurück gegenüber der systematischen Relation, die sie vereinigt. Schon die Ableitung der Grundgebilde bringt dies zum Ausdruck, sofern etwa die einzelne Grade nicht für sich, sondern als Element eines Strahlenbüschels oder die einzelne Ebene als Element eines Ebenenbüschels definiert wird. Allgemein zeigt es sich jetzt, daß der fundamentale methodische Gesichtspunkt, der zur Entdeckung der analytischen Geometrie hinleitete, hier nicht sowohl beseitigt, als vielmehr festgehalten und im Gebiet des Räumlichen selbst zu neuer fruchtbarer Anwendung gebracht wird. Das Motiv der Zahl ist ausgeschaltet; aber um so reiner tritt jetzt das allgemeine Motiv der Reihe hervor. Wir sahen, wie bei Descartes selbst die Zahl nicht schlechthin um ihres eigenen Gehalts willen als Grundprinzip ausgezeichnet, sondern nur darum festgehalten wurde, weil sie als reinster und vollkommener Typus einer logisch ge- ordneten Mannigfaltigkeit überhaupt galt. Die Strenge des deduktiven Zusammenhangs schien nur durch die Vermittlung der Zahl auf den Raum übertragen werden zu können (s. oben, S. 92f). Man begreift, daß von hier aus eine neue prinzipielle Aufgabe entstehen mußte, die dennoch in strenger Kontinuität an die Leistungen der analytischen Geometrie anknüpft. Der konstruktive Aufbau der räumlichen Gebilde aus ur- sprünglichen Grundbeziehungen bleibt als unverbrüchliche Forderung bestehen, aber dieser Forderung gilt es nunmehr
„Gegenwärtige Schrift hat es versucht, den Organismus aufzudecken, durch welchen die verschiedenartigsten Erscheinungen in der Raumwelt miteinander verbunden sind. Es gibt eine geringe Zahl von ganz einfachen Fundamentalbeziehungen, worin sich der Schematismus ausspricht, nach welchem sich die übrige Masse von Sätzen folgerecht und ohne alle Schwierig- keit entwickelt. Durch gehörige Aneignung der wenigen Grundbeziehungeu macht man sich zum Herrn des ganzen Gegenstands ; es' tritt Ordnung in das Chaos ein, und man sieht, wie alle Teile naturgemäß ineinander greifen, in schönster Ordnung sich in Reihen stellen und verwandte zu wohlbegrenzten Gruppen sich vereinigen. Man gelangt auf diese Weise gleichsam in den Besitz der Elemente, von welchen die Natur ausgeht, um mit möglichster Sparsamkeit und auf die einfachste Weise den Figuren unzählig viele Eigenschaften verleihen zu können. Hierbei macht weder die synthetische noch die analytische Methode den Kern der Sache aus, der darin besteht, daß die Abhängigkeit der Gestalten voneinander und die Art und Weise aufgedeckt wird, wie ihre Eigenschaften von den einfacheren Figuren zu den zusammengesetzteren sich fortpflanzen."
103
mit rein geometrischen Mitteln und ohne den Umweg über die Begriffe des Maßes und der Maßzahl Genüge zu tun.
Die Entwicklung, die hiermit einsetzt, ist bis ins einzelne hinein von logischen Gesichtspunkten beherrscht und geleitet. In besonderer Deutlichkeit tritt dies bei P o n c e 1 e t hervor, der in dem Streit, den er um die Prinzipien seiner Disziplin zu führen hat, mit wachsender Schärfe und Be- stimmtheit auf die philosophischen Fundamente zurückweist. Gegenüber der Kritik, die die Pariser Akademie, die ins- besondere C a u c h y an den philosophischen Voraussetzungen seines Werkes geübt hatte, betont er nachdrücklich, daß es sich in diesen Voraussetzungen nicht um einen Nebenpunkt, sondern um die eigentliche Wurzel der neuen Auffassung handle. Er macht sich das Wort Newtons zu eigen, daß in der Geometrie die Methode der Entdeckung alles bedeute, so daß, wenn diese einmal gefunden und sichergestellt ist, die Ergebnisse sich von selbst als reife Frucht darbieten*. Die Lehre von den projektiven Eigenschaften der Figuren will somit keine bloß materiale Erweiterung des Gebiets der Geometrie sein, sondern sie will ihr ein neues Prinzip der Forschung und Erfindung zuführen**. ( Hierbei gilt es als der erste und notwendige Schritt, das geometrische Denken aus der Enge der sinnlichen Ansicht mit ihrem ängstlichen Haften an den Besonderheiten der gerade gegebenen indivi- duellen Figur, zu befreien. Wenn Descartes der antiken Mathematik vorhielt, daß sie den Geist nicht zu schärfen vermöge, ohne gleichzeitig die Einbildungskraft durch die enge Anlehnung an die sinnliche Gestalt zu ermüden, so hält Poncelet durchaus an diesem Vorwurf fest. Die echte synthetische Methode kann zu diesem Verfahren nicht wieder
*S. Poncelet, Trait^ des propriötös projectives des figures, 2e Edition, Paris 1865, I, S. 356; II, S. 357.
♦* „La doctrine des propriöt^s projectives, celle de la perspective- relief, le principe ou la loi de continuit6, enfin la th6orie des polaires r6ci- proques et la th6orie des transversales ötendue aux lignes et surfaces courbes, ne forment pas simplement des classes plus ou moins öt^ndues de problemes et de theoremes, mais con&tituent proprement, pour la G6om6trie pure des principes, des möthodes d'investigation et d'invention, des moyens d'exten- sion et d'exposition, dans le genre de ceux qu'on a nomm6 principes d'ex- haustion, raöthode des infinirnent petita etc." (A. a. O. II, S. 5.)
104
zurückgreifen. Sie wird sich den analytischen Methoden nur dann als ebenbürtig erweisen, wenn sie sie an Weite und Allgemeingültigkeit erreicht, diese Universalität der Betrachtungsweise dagegen zugleich aus rein geometrischen Voraussetzungen gewinnt. Diese doppelte Aufgabe wird er- füllt, sobald wir die besondere Gestalt, die wir untersuchen, nicht selbst als den konkreten Gegenstand der For- schung betrachten, sondern in ihr nur einen ersten Ansatz- punkt sehen, von dem aus wir kraft einer bestimmten Regel der Variation ein gesamtes System möglicher Gestaltungen deduktiv herleiten. Die Grundrelationen, die dieses System charakterisieren und die in jeder Einzelgestalt gleichmäßig erfüllt sein müssen, bilden erst in ihrer Gesamtheit das wahre geometrische Objekt. Was der Geometer betrachtet, das sind nicht sowohl die Eigenschaften einer gegebenen Figur, als das Netz von Korrelationen, in welchem sie mit anderen verwandten Bildungen steht. Wir nennen eine bestimmte räumliche Gestaltung einer anderen korrelativ zugeordnet, wenn sie durch stetige Umformung eines oder mehrerer ihrer Lageelemente aus ihr ableitbar ist: wobei jedoch die Voraussetzung gilt, daß gewisse räumliche Grund- beziehungen, die als die allgemeinen Bedingungen des Systems anzusehen sind, unverändert bleiben. Die Kraft und Schlüssig- keit des geometrischen Beweises ruht dann stets in jenen Invarianten des betreffenden Inbegriffs, nicht in dem, was den einzelnen Gliedern als solchen eigentümlich ist. Diese Auffassung ist es, die Poncelet philosophisch durch den Ausdruck des Kontinuitätsprinzips bezeichnet, das er weiterhin, schärfer und genauer, als Prinzip der Permanenz dermathematischenRelationen formuliert. Die einzige Forderung, von der wir ausgehen, läßt sich begrifflich dahin aussprechen, daß es möglich ist, die Geltung bestimmter ein für alle Mal definierter Beziehungen auch gegenüber einem Wechsel im Inhalt der einzelnen Be- ziehungsglieder, der besonderen Relata festzuhalten. Wir beginnen damit, die Figur, die wir geometrisch untersuchen, in einer allgemeinen Lage zu betrachten, sie also nicht von Anfang an in all ihren einzelnen Teilen festzulegen, sondern ihr
105
innerhalb eines bestimmten Umkreises, der durch die Be- dingungen des Systems bezeichnet ist, Änderungen ihrer einzelnen Teile zu gestatten. Wenn diese Änderungen von einem bestimmten Anfangspunkt aus stetig verlaufen, so werden die systematischen Eigentümlichkeiten, die wir an der einen Figur entdeckt haben, auf jede folgende „Phase" übertragbar sein, so daß schließlich Bestimmungen, die sich am Einzelfall bewährt haben, fortschreitend auf die Gesamt- heit der aufeinanderfolgenden Glieder ausgedehnt werden können. I
Deutlich zeigt sich in diesen Ausführungen Poncelets das Ringen nach einem exakten und allgemein gültigen Ausdruck des neuen Gedankens. Vor allem ist er bemüht, das Verfahren der Relations-Übertragung, das er zugrunde legt, vor jeder Verwechslung mit einem bloßen Analogie- oder Induktionsschluß zu schützen. Die Induktion geht vom Besonderen aufs Allgemeine; sie sucht eine Mehrheit einzelner Fakta, die sie als einzelne und somit ohne notwendige Verknüpfung beobachtet hat, hypothetisch zu einem Ganzen zu vereinen. Hier aber ist das Gesetz der Ver- knüpfung nicht nachträglich erschlossen, sondern es liegt ursprünglich zugrunde, so daß kraft seiner auch der einzelne Fall erst in seinem Gehalt bestimmbar wird. Die Bedingungen, denen der gesamte Inbegritf unterwerfen wird, stehen vorweg fest, und alle Besonderung ist nur dadurch erreichbar, daß ihnen unter Wahrung ihres Gehalts ein neuer Faktor als einschränkende Bestimmung hinzugefügt wird. Wir be- trachten die metrischen und projektiven Beziehungen von Anfang an nicht in der Art, in der sie sich in irgendeiner besonderen Figur verkörpern, sondern nehmen sie in einer gewissen Weite und Unbestimmtheit, die ihnen einen Spiel- raum der Entwicklung läßt*. Es mag zunächst auffallend und paradox erscheinen, daß diese Unbestimmtheit des Ausgangspunkts den Grund für die Fruchtbarkeit des neuen Verfahrens und für seine Überlegenheit gegenüber den antiken Methoden enthalten soll. Indessen zeigt es sich als-
♦ Trsitö des propriötöa projectives. S. XIII f., XXI f.
106
bald, daß der Ausdruck des Gedankens hier unter den Zwei- deutigkeiten der traditionellen logischen Schul- sprache zu leiden hat, in welcher Begriffsgehalt und Vorstellungsgehalt nicht streng geschieden sind, und in der daher immer von neuem der identische und streng eindeutige Sinn einer begrifflichen Regel in ein abstraktes und schemen- haftes Gattungsbild zu verschwimmen droht. Was vom Standpunkt der Vorstellung als Unbestimmtheit er- scheint, weil es die individuellen Züge des Bildes zurück- tretenläßt, das erscheint vom Standpunkt des Begriff s als Grund jeglicher genauen und scharfen Determination, sofern in ihm die allgemeingültige Vorschrift zur Bildung des Einzelnen enthalten ist. Zwischen dem „Allgemeinen" und „Besonderen" besteht hier in der Tat durchaus dasjenige Verhältnis, das alle echte mathematische Begriffsbildung charakteri- siert: der allgemeine Fall sieht von den besonderen Bestim- mungen nicht schlechthin ab, sondern er bewahrt in sich die Fähigkeit, sie, in ihrer konkreten Totalität vollständig aus einem Prinzip heraus zu entwickeln und zu überschauen. (Vgl. oben, S. 24 f .) Es sind, wie Poncelet betont, niemals bloße Eigenschaften der Art, sondern Eigenschaften der Gattung, von deren Betrachtung die projektive Be- handlung eines Gebildes ihren Ausgang nimmt; die „Gattung" aber bezeichnet hier lediglich einen Bedingungs-Zu- sammenhang, dem alles Einzelne eingeordnet ist, nicht ein losgelöstes Ganzes von Merkmalen, die in ihm gleichmäßig wiederkehren. Der Schluß geht von den Eigen- schaften der Verknüpfung auf die des Verknüpften, von den Reihenprinzipien auf die Reihenglieder. — /
Diese Eigenart der Methode tritt am klarsten an dem Grundverfahren, dessen sie sich bedient, hervor. Die wich- tigste Form der Korrelation, durch welche verschiedenartige Gebilde miteinander verknüpft werden, liegt im Verfahren der Projektion. Die wesentliche Aufgabe besteht in der Heraus- hebung derjenigen „metrischen" und „deskriptiven" Momente einer Figur, die in ihrer Projektion unverändert fortbestehen. Alle Gestalten, die in dieser Weise auseinander hervorgehen können, bilden für die Betrachtung eine unteilbare Einheit;
107
sie sind im Sinne der reinen Geometrie der Lage nur ver- schiedene Ausprägungen ein und desselben Be- griffs, Hier wird es unmittelbar ersichtlich, daß die Zuge- hörigkeit zu einem Begriff nicht von irgendwelchen generischen Ähnlichkeiten der Einzelexemplare abhängig ist, sondern lediglich ein bestimmtes Prinzip der Umformung voraussetzt, das als identisch festgehalten wird. Die Gestalten, die wir auf diese Weise zu einer ,, Gruppe" vereinen, können, in ihrer sinnlich anschaulichen Struktur, einem völlig verschiedenen „Typus" zugehören; ja sie können sich jeder Zuweisung zu einem derartigen Typus entziehen, sofern ihnen überhaupt keine geometrische Existenz im Sinne der direkten Anschaubarkeit mehr entspricht. Das neue Kriterium der geometrischen Begriffsbildung erweist sich hier in seiner allgemeinen Bedeutung: denn dieses Kriterium ist es, auf dem die Zulassung des Imaginären in die Geometrie zuletzt beruht. Allgemein lassen sich, mit Poncelet, drei verschiedene Grundformen des Verfahrens der „Korrelation" unterscheiden. Wir können eine bestimmte Figur, die wir als Ausgangspunkt wählen, in eine andere über- führen, indem wir alle ihre einzelnen Teile sowie deren wechsel- seitige Ordnung festhalten, so daß der Unterschied also aus- schließlich in der absoluten Größe der Bestimmungs- stücke besteht. In diesem Falle werden wir von einer d i - r e k t e n Korrelation sprechen können, während für den Fall, daß die Ordnung der einzelnen Teile sich in der abgeleiteten Figur vertauscht oder umkehrt, nur von einer , .indirekten" Korrelation gesprochen werden soll. Schließlich aber — und dies ist methodisch der interessanteste und wichtigste Fall — kann die Umformung auch in der Weise vor sich gehen, daß gewisse Elemente, die in der anfänglichen Gestalt als reale Bestandteile aufweisbar waren, im Verlauf des Gesamtprozesses völlig verschwinden. Betrachten wir etwa einen Kreis und eine Gerade, die ihn schneidet, so können wir dieses geometrische System durch stetige Ver- schiebungen derart umgestalten, daß die Gerade zuletzt ganz außerhalb des Kreises fällt und somit die Schnittpunkte, sowie die ihnen entsprechende Richtung der Radien durch
108
imaginäre Werte auszudrücken sind. Die Zuordnung der ab- geleiteten Figur zur ursprünglichen verknüpft jetzt nicht mehr tatsächlich vorhandene und für sich aufzeigbare, sondern lediglich gedachte Elemente; sie hat sich in eine rein ideale Korrelation aufgelöst.
Aber eben diese idealen Korrelationen können nicht ent- behrt werden, wenn es sich darum handelt, die Geometrie zu einem einheitlichen und geschlossenen Ganzen zu ge- stalten. Der Mangel der antiken Methoden besteht eben darin, daß sie auf dieses logische Grundmittel verzichten und somit nur Größen von absoluter und gleichsam physi- scher Existenz in den Kreis ihrer Betrachtung ziehen. Die neue Ansicht muß mit diesem Verfahren brechen, weil sie von vornherein nicht die einzelne Gestalt in ihrem sinn- lichen Dasein, sondern die verschiedenen Weisen der Ab- hängigkeit, die zwischen Gestalten bestehen können, als das eigentliche Objekt der geometrischen Untersuchung definiert (s. S. 102). Unter diesem Gesichtspunkt aber stehen reelle und imaginäre Elemente einander wesentlich gleich: denn auch die letzteren sind der Ausdruck vollkommen gültiger und wahrer geometrischer Beziehungen. Dass unter bestimmten Bedingungen gewisse Elemente einer Figur fort- fallen und zu bestehen aufhören : dies ist schon an und für sich keine bloße negative Erkenntnis, sondern enthält eine frucht- bare und durchaus positive geometrische Einsicht. Weiterhin aber dienen die imaginären Zwischenglieder überall dazu, den Einblick in den Zusammenhang reeller geo- metrischer Gestaltungen zu erschließen, die ohne diese Ver- mittlung als heterogen und beziehungslos einander gegenüber- stehen würden. Diese ideelle Kraft der logischen Ver- knüpfung ist es, die ihnen ein volles Recht auf ein ,,Sein" im logisch-geometrischen Sinne sichert. Das Imaginäre hat Bestand, sofern es eine logisch unentbehrliche Funktion im System der geometrischen Sätze erfüllt. Die einzige „Wirklichkeit", die wir sinnvollerweise von ihm erwarten und fordern können, geht in dem Wahrheitsgehalt auf, den es in sich birgt: in dem Gehalt an gültigen Sätzen und Urteilen, den es zum Ausdruck bringt. Es wiederholt
109
sich hier im Bereich der Geometrie derselbe Prozeß, den wir bereits im Bereich der Zahlen verfolgen konnten: aus der Fest- haltung bestimmter Relationen entstehen neue ,, Elemente", die aber den früheren als wesentlich gleichartig und eben- bürtig zur Seite treten, weil auch diese zuletzt keinen tieferen und festeren Grund besitzen, als er in der Wahrheit von Relationen besteht (s. ob. S. 78 ff).
Betrachten wir etwa — um ein einfaches Beispiel der gewöhnlichen Geometrie zu brauchen — zwei Kreise in einer Ebene, so ist für den Fall, daß sie sich schnei- den, in der Geraden, die ihre beiden Schnittpunkte verbindet, ein neues Gebilde von bestimmten Eigen- tümlichkeiten gegeben. Die Punkte dieser Geraden — die wir als „gemeinschaftliche Sehne" der beiden Kreise bezeichnen — sind dadurch ausgezeichnet, daß die Tangenten, die sich von ihnen aus an die Kreise legen lassen, einander gleich sind. Die geometrische Beziehung aber, die damit gesetzt ist, läßt sich auch für den Fall, daß die Kreise einander nicht mehr schneiden, sondern gänzlich auseinanderfallen, verfolgen und zum begrifflichen Ausdruck bringen. Auch in diesem Falle nämlich existiert stets eine Gerade — die sogen. ,, Radikal- achse** der beiden Kreise — , die die zuvor angegebene charakte- ristische Bedingung erfüllt und in diesem Sinne als die ideale gemeinschaftliche Sehne der zwei Kreise bezeichnet werden kann, die ihre beiden ,, imaginären** Durchschnitts- punkte enthält. Hier wird also zunächst ein bestimmtes anschauliches Element durch gewisse begriffliche Eigenschaften, die ihm zukommen, ausgedrückt und vollständig ersetzt: und diese logische Bestimmtheit wird auch dann fest- gehalten, nachdem das Substrat, an dem sie zuerst zur Entdeckung und Auszeichnung kam, geschwunden ist. Wir gehen von dem Fortbestand der Beziehung aus und er- schaffen definitorisch in den imaginären „Punkten** die „Subjekte**, von denen die Beziehung ausgesagt wird. Die Fruchtbarkeit dieses Verfahrens aber bewährt sich darin, daß damit ein systematischer Zusammenhang zwischen Gebilden gestiftet wird, der es erlaubt, Sätze, die an dem einen gefunden und bewiesen sind, auf ein anderes zu über-
110
tragen, an dem sie unmittelbar nicht ersichtlich waren*. Neben den besonderen inhaltlichen Relationen aber sind es vor allen Dingen gewisse allgemeine formalen Bestimmungen, durch welche die „uneigentlichen" Elemente, die die Geometrie erschafft, mit den ,, eigentlichen" Punkten verknüpft sind. Das Prinzip der „Permanenz der formalen Gesetze" ist in der Tat, noch ehe es in der Algebra als Recht- fertigung der verallgemeinerten Zahlbegriffe gebraucht wurde, durch Poncelet von rein geometrischen Gesichtspunkten aus eingeführt und begründet worden. Der unendlich ferne Punkt, in dem, gemäß der projektiven Raumansicht, zwei parallele Gerade, und die unendlich ferne Gerade, in der zwei parallele Ebenen sich schneiden, sind logisch berechtigte Begriffsbildungen, nicht nur weil sie konzentrierte Aussagen über bestimmte Lagebeziehungen darstellen, sondern vor allem, weil sich zeigen läßt, daß auch diese neuen Gebilde den geometrischen Axiomen, soweit sie auf Maßverhält- nisse nicht Bezug nehmen, völlig gehorchen. Damit ist eine übergreifende Wahrheitsinstanz gegeben, der „eigentliche" und „uneigentliche" Punkte in gleicher Weise gemäß sein müssen. Die neuen Elemente sind — wie es Poncelet gelegent- lich scharf und bezeichnend formuliert — paradox in ihrem Objekt, aber sie sind nichtsdestoweniger durchaus logisch in ihrer Struktur, sofern sie zu strengen und unbestreit- baren Wahrheiten hinführen**.
* So läßt sich z. B., wenn irgendwölche drei Kreise in einer Ebene Jen sind und wir für je zwei von ihnen die „Radikalachsen" kon- struieren, leicht zeigen, daß die so entstehenden drei Linien sich in einem Punkte schneiden; daraus aber ergibt sich weiterhin sofort, daß das gleiche auch für den speziellen Fall der drei gemeinschaftlichen Sehnen sich wirklich schneidender Kreise gilt usf. Die reellen Eigenschaften der reellen gemein- schaftlichen Sehnen werden also im Hinblick auf die „idealen" Sehnen entdeckt und begründet. Vgl. hierzu C h a s 1 e s , Apercu historique sur l'origine et le d^veloppement des methodes en G6om6trie, 2. Ausg., Paris 1875, S. 205 ff., S. auch Hankel, Die Elemente der projektivischen Geometrie, Leipzig 1875, S. 7 ff.
** Zum Ganzen vgl. bes. Poncelet, Considörations philosophiques et techniques sur le principe de continuitö dans les lois g6om6triques § III. (Applications d' Analyse et de G6om6trie, Paris 1864, S. 336 ff.), sowie Traite des proprietös projectives I, S. XI ff., 66 ff. — Zur Bezeichnung des Kontinuitätsprinzips als Prinzip der „Permanenz der geometrischen Re-
111
Die Entwicklung der projektiven Geometrie, die hier nicht im einzelnen verfolgt werden kann, hat sodann die philosophischen Grundgedanken, auf denen sie sich gründet, zu immer schärferer Darstellung gebracht. Je mehr es gelang, die Geometrie der Lage aus selbständigen Voraus- setzungen aufzubauen, um so reiner trat auch der allgemeine logische Charakter und die logische Bedeutung des neuen Ver- fahrens hervor. Der konstruktive Fortgang, in welchem wir von den einfachen Begriffen des Punktes und der Geraden aus in strenger Ableitung das Ganze des projektiven Raumes erzeugen, knüpft zunächst an die Betrachtung der harmoni- schen Punktpaare an. Dabei wird in der ersten Phase der projektiven Geometrie die harmonische Lage von vier Punkten auf einer Geraden zunächst noch ausschließlich vermittels des Begriffs des Doppelverhältnisses eingeführt und er- läutert: die Punkte a, b, c, d bilden eine harmonische Folge, wenn das Verhältnis der Strecke a b zu b c demjenigen der Strecke ad zu cd gleich ist. Diese Erklärung setzt indes ersichtlich die Messung und Vergleichung bestimmter Ab- stände voraus und ist somit ihrem Wesen nach selbst rein metrischer Natur; wenn sie dennoch der Geometrie der Lage zugrunde gelegt werden kann, so beruht dies nur darauf, daß sie eine Maßbeziehung darstellt, die sich bei jeder projektiven Umformung der gegebenen Figur unver- ändert erhält. Immerhin ist hier der Maßbegriff nicht aus- geschaltet, sondern als unabgeleiteter Bestandteil in die Grundlagen aufgenommen. Zu einer unabhängigen und streng einheitlichen Darstellung gelangt die projektive Geometrie erst, wenn auch diese letzte Schranke beseitigt ist, wenn also die Bestimmtheit, die sich metrisch als Doppelverhältnis charakterisiert, auf rein deskriptivem Wege gewonnen und festgehalten wird. Das entscheidende Verfahren hierfür ist in der bekannten S t a u d t 'sehen Vierseitskonstruktion gegeben. Wir bestimmen zu drei gegebenen kollinearen
lationen" s. Applicat. S. 319; Traitö II, 357; der gleiche Gedanke ist in anderer Wendung von Chasles in seinem „Principe des relationa con- tingentes" ausgesprochen worden. (Apercu historique S. 204 ff., 357 ff., 368 ff.)
112
Punkten a b c den vierten harmonischen Punkt d, indem wir ein Vierseit derart konstruieren, daß zwei Gegenseiten durch a, eine Diagonale durch b und die beiden anderen Gegenseiten durch c gehen: der Schnittpunkt der zweiten Diagonale des Vierseits mit der Geraden a b c ist der verlangte Punkt d, der durch diese Methode eindeutig bestimmt wird, da sich beweisen läßt, daß die angegebene Konstruktion stets dasselbe Ergebnis liefert, gleichviel welches Vierseit, sofern es nur den angegebenen Bedingungen genügt, man zugrunde legt*. Damit ist ohne jede Anwendung metrischer Hilfs- begriffe durch ein Verfahren, das lediglich das Ziehen gerader Linien benutzt, eine fundamentale Relation der Lage fest- gestellt. Das logische Ideal eines rein projektiven Aufbaus der Geometrie ist somit auf eine einfachere Bedingung zurück- geführt: es wäre erfüllt, sobald sich zeigen ließe, daß es lediglich kraft dieser ersten Grundbeziehung und ihrer wiederholten Anwendung möglich ist, sämtliche Punkte des Raumes zur Ableitung zu bringen und ihnen eine bestimmte eindeutige Ordnung aufzuprägen, die sie zu Gliedern eines syste- matischen Inbegriffs macht.
Der Nachweis hierfür ist in der Ausgestaltung, die die projektive Geometrie durch C a y 1 e y und Klein erfahren hat, in der Tat erbracht worden. Wir gewinnen hier ein all- gemeines Verfahren, das uns gestattet, alle Punkte des Raumes, die sich von einer gegebenen Anfangssetzung aus durch fort- schreitende harmonische Konstruktionen erzeugen lassen, bestimmten Zahl werten zuzuordnen und ihnen auf diese Weise eine feste Stellung innerhalb einer allgemei- nen Reihenordnung zuzuweisen. Gehen wir zunächst von drei Punkten in einer Geraden a, b, c aus, denen wir die Werte 0, 1, <=o zuordnen, so können wir vermöge der Staudtschen Vierseitkonstruktion den vierten harmonischen Punkt zu ihnen finden, dem wir die Zahl 2 entsprechen lassen, weiterhin einen neuen Punkt bestimmen, der mit den Punkten 1, 2, <=> ein harmonisches Quadrupel bildet und diesem den Wert 3 bei- legen, bis wir schließlich vermöge dieses Verfahrens eine un-
*v. Staudt, Geometrie der Lage, Nürnberg 1847, § 8, S. 43 ff. ; R e y e , Die Geometrie der Lage, 4. Aufl., Leipzig 1899, I, S. 5.
Cassirer, Substanzbeg:riff g 113
endliche Mannigfaltigkeit einfacher Lagebestimmungen ge- winnen, deren jede einer ganzen Zahl eindeutig zugeordnet ist. Diese Mannigfaltigkeit läßt sich sodann weiterhin in dem Sinne ergänzen, daß sie zu einer überall dichten Menge wird, in der jedes Element einer bestimmten rationalen, positiven oder negativen Zahl entspricht. Der Übergang zum Punkt- kontinuum vollzieht sich von hier aus auf Grund einer weiteren gedanklichen Forderung, die dem Postulat analog ist, durch welches Dedekind in seiner Theorie die irrationalen Zahlen als „Schnitte" einführt. Wir gelangen damit zu einer vollständigen Skala, auf Grund deren sich eine einheitliche projektive Metrik entwickeln läßt, in welcher die elementaren Operationen, wie Addition und Subtraktion, Multiplikation und Division von Strecken rein geometrisch definiert sind. Auch der Fortgang zu Gebilden von höherer Dimension bietet keine prinzipielle Schwierigkeit; er erfolgt, indem wir die Betrachtung, die sich zunächst auf die Punkte einer Geraden beschränkte, auf zwei oder mehrere Gerade ausdehnen*.
Die Durchführung dieses Gedankens hat vornehmlich technisch-mathematisches Interesse: darüber hinaus aber tritt jetzt auch ein allgemeines philosophisches Ergebnis, auf welches schon die Anfänge der neueren Geometrie vor- ausweisen, deutlich hervor. Die Einfügung der Raumbegriffe in das Schema der reinen Reihenbegriffe ist hier endgültig vollzogen. Die Bezeichnung der einzelnen Raumpunkte durch entsprechende Zahlwerte könnte allerdings zunächst den Anschein erwecken, als wären es dennoch Größenbegriffe, Begriffe von Längen und Abständen, die bei dieser Ableitung verwendet werden. In Wahrheit aber wird die Zahl hier nur in ihrem allgemeinsten logischen Sinne: nicht als Ausdruck der Messung und Vergleichung von Größen, sondern als Ausdruck der Ordnung in der Folge gebraucht.
* Für alle Einzelheiten dieser Betrachtungsweise, deren Prinzip hier nur angedeutet werden sollte, vgl. F. Klein, Vorlesungen über Nicht-Euklid^he Geometrie, 2. Abdruck, Göttingen 1893, S. 315 ff., 338 ff., sowie Math. Annalen IV, 573 ff. — Zur projektivenMetrik 8. auch Weber-Wellstein, Encyklopädie der Elementar-Mathematik, Bd. II, § 18.
114
Es handelt sich nicht um die Zusammensetzung oder Teilung von Strecken- und Winkelgrößen, sondern einzig um die Unter- scheidung und Abstufung der Glieder einer bestimmten Reihe, deren Elemente selbst als reine Lagebestimmungen definiert sind. Hier bewährt es sich, daß in der allgemeinen logischen Grundlegung die Zahl als reine Ordnungszahl entwickelt und von jeder Bindung an meßbare Größen freigehalten wurde. Die Forderung, die bereits Descartes gestellt hatte, ist damit auf einem neuen Wege erfüllt. Die Ordnung der Raumpunkte ist in derselben Weise begriffen wie die der Zahlen. Zwar bleiben beide Gebiete ihrer Wesen- heit nach streng geschieden: die „Essenz" der Figur geht nicht mehr unmittelbar in die der Zahl auf. Aber eben in dieser relativen Selbständigkeit der Elemente wie der Grund- beziehung tritt der Zusammenhang in der allgemein de- duktiven Methodik klar hervor. Wie bei der Zahl lediglich von einer ursprünglichen Einheitssetzung ausgegangen wurde, aus der sich sodann vermöge einer bestimmten er- zeugenden Relation die Allheit der Glieder in fester Ordnung entwickelte, so wird hier zunächst eine Verschiedenheit von Punkten und ein bestimmtes Lageverhältnjis zwischen ihnen postuliert und in diesem ersten Ansatz bereits ein Prinzip ent- deckt, dessen allseitige Anwendung den Inbegriff der möglichen räumlichen Setzungen aus sich hervorgehen läßt. Man hat diesem Zusammenhang gemäß, die projektive Geometrie mit Recht als die allgemeine ,, apriorische" Grundwissenschaft vom Raum erklärt, die an rationaler Strenge und Reinheit der Arithmetik gleichzustellen sei*. Der Raum ist hier in der Tat lediglich in seiner allgemeinsten Form als ,, Möglichkeit des Beisammen" überhaupt abgeleitet, während über seine spezielle axiomatische Struktur, insbesondere über die Geltung des Parallelen-Axioms zunächst noch keine Entscheidung gefällt ist. Vielmehr läßt sich zeigen, daß je nach der Hinzu- nahme besonderer ergänzender Bedingungen die allgemeine projektive Maßbestimmung, die hier entwickelt wurde, sich nacheinander mit den verschiedenen Parallelentheorien in
* Vgl. Russell, The foundations of Geometry, Cambridge 1897, S. 118.
8* 115
Beziehung setzen und sich somit zur speziellen, „parabolischen", „elliptischen" oder „hyperbolischen" Maßbestimmung fort- führen läßt*. —
So hebt sich aus der Mannigfaltigkeit der geo- metrischen Methoden die einheitliche Grundform der geo- metrischen Begriffsbildung immer deutlicher und präziser heraus. Die logischen Kennzeichen dieser Form bleiben bestehen und erhalten sich durch allen Wechsel der besonderen Anwendungen hindurch. Man kann sich diese Kennzeichen nochmals zum Bewußtsein bringen, wenn man die allgemeinste Fassung betrachtet zu der der moderne Begriff der Geometrie gelangt ist. Der Anschluß der Geo- metrie an die Gruppentheorie bildet hier den letzten, für die Gesamtcharakteristik entscheidenden Schritt. Schon die Definition der ,, Gruppe" enthält ein neues und wichtiges logisches Moment, sofern in ihr nicht sowohl ein Ganzes von einzelnen Elementen oder Gebilden als vielmehr ein System von Operationen zu einer gedanklichen Einheit zu- sammengefaßt wird. Ein Inbegriff von Operationen bildet eine Gruppe, wenn mit irgend zwei Operationen immer auch deren Verknüpfung in ihm vorkommt, so daß also die suc- cessive Anwendung verschiedener, dem Inbegriff angehöriger Transformationen immer nur zu Operationen zurückführt, die schon ursprünglich in ihm enthalten waren. In diesem Sinne bilden etwa alle geometrischen Umformungen, die sich dadurch ergeben, daß wir die Elemente, die wir betrachten, irgendwelche Bewegungen in einem gewöhnlichen dreidimensio- nalen Räume ausführen lassen, eine Gruppe: da das Resultat zweier aufeinanderfolgender Bewegungen sich hier stets auch durch eine einzige Bewegung darstellen und erreichen läßt**. In diesem Begriff der Gruppe aber ist nunmehr ein allgemeines Klassifikationsprinzip gewonnen, kraft dessen die verschiedenen möglichen Formen der Geometrie unter einem einheitlichen Gesichtspunkt vereint und in ihrem symmetri- schen Zusammenhang überschaut werden können. Stellen wir uns zunächst die Frage, was überhaupt unter einer „geo-
♦ Vgl. F. Klein, Mathem. Annalen IV, 575 ff. ♦♦ Vgl. F. K I e i n , Einleitung in die höhere Geometrie II, S. 1 ff.
116
metrischen** Eigenschaft zu verstehen ist, so finden wir, daß wir solche und nur solche Eigenschaften als geometrische bezeichnen, die von gewissen räumlichen Transformationen nicht berührt werden. Die Sätze, die die Geometrie von einem bestimmten Gebilde entwickelt, bleiben unverändert, wenn wir dieses Gebilde seine absolute Lage im Raum wechseln, wenn wir die absoluten Größen seiner Bestimmungsstücke im selben Verhältnis wachsen oder abnehmen lassen, oder wenn wir schließlich den Sinn der Anordnung der einzelnen Teile umkehren, indem wir an Stelle der ursprünglichen Figur eine andere treten lassen, die sich zu ihr wie ihr Spiegel- bild verhält. Der Gedanke der Unabhängigkeit gegenüber all diesen Umformungen muß zu der Anschauung der indivi- duellen Einzelgestalt, die uns als Ausgangspunkt, dient, hinzutreten, um dieser Gestalt wahrhafte Allgemeinheit und damit erst eigentlich geometrischen Charakter zu ver- leihen. ,, Geometrie unterscheidet sich eben dadurch von Topographie, daß nur solche Eigenschaften des Raumes geometrisch heißen, welche bei einer gewissen Gruppe von Operationen ungeändert bleiben." Hält man diese Erklärung fest, so bietet sich von hier aus sogleich ein Ausblick auf sehr verschiedenartige Möglichkeiten des Aufbaus geometrischer Systeme, die logisch sämtlich als gleichberechtigt zu gelten haben. Denn da wir in der Wahl der Transformationsgruppe, die wir für die Untersuchung zugrunde legen, nicht von vorn- herein gebunden sind, diese Gruppe vielmehr durch Hinzu- nahme neuer Bedingungen erweitern können, so ist damit ein Weg bezeichnet, von einer bestimmten Form der Geo- metrie durch einen Wechsel des Grundsystems, auf das wir alle Aussagen bezogen denken, zu einer anderen Struktur über- zugehen. Betrachten wir z. B. die gewöhnliche metrische Geometrie durch die zugehörige Hauptgruppe räumlicher Änderungen, also durch die angegebenen Operationen der Bewegung, der Ähnlichkeitstransformation und der Spiegelung charakterisiert, so können wir sie alsbald zur projektivischen Geometrie erweitern, indem wir dieser Hauptgruppe noch den Inbegriff aller projektiven Umformungen hinzufügen und die Eigenschaften betrachten, die sich gegenüber diesem
117
erweiterten Kreis von Änderungen als konstant erweisen. In der gleichen Weise lassen sich sodann — wie F. K 1 e i n im einzelnen dargetan hat — die verschiedensten Arten der Geo- metrie methodisch begründen und ableiten, indem wir von der zunächst betrachteten Hauptgruppe durch irgendeine bestimmte Vorschrift zu einem umfassenderen System über- gehen. Allgemein besteht die Aufgabe jeder dieser Geometrien darin, sobald eine Mannigfaltigkeit und in derselben eine Transformationsgruppe gegeben ist, die auf die Gruppe be- zügliche Invariantentheorie zu entwickeln*.
Diese universelle Betrachtungsweise wirft zugleich auf das prinzipielle Verhältnis, das die Begriffe der Konstanz und der Veränderung in der Grundlegung der Geo- metrie eingehen, helles Licht. Wir sahen, wie seit den An- fängen der griechischen Mathematik die philosophische Frage immer wieder zu diesem Verhältnis zurückkehrte. War einmal die Geometrie, nach dem Platonischen Wort, als die Lehre vom „immer Seienden" bestimmt; stand es fest, daß nur von dem, was stets in der gleichen Weise sich verhält, ein exakter Beweis möglich sei: so konnte fortan die Veränderung zwar als Hilfsbegriff geduldet, aber nicht als selbständiges logisches Prinzip gebraucht werden. Das Gebiet des Wer- dens bezeichnete einen Bezirk, innerhalb dessen der reine mathematische Gedanke keine Kraft mehr besitzt und der somit der Unbestimmtheit der sinnlichen Wahrnehmung preisgegeben schien. Es zeigte sich indes, wie gerade diese Auffassung, die dazu bestimmt war, alle sinnlichen Mo- mente aus der Begründung der reinen mathematischen Er- kenntnis auszuscheiden, innerhalb der Geometrie zuletzt in entgegengesetzter Tendenz wirkte. Die geforderte starre Konstanz der anschaulichen Raumform beengte zugleich die Freiheit der geometrischen Deduktion: die Betrachtung blieb in der Einzelfigur befangen, statt sich zu den letzten Gründen des gesetzlichen Zusammenhangs der besonderen
* Für «die Einzelheiten muß wiederum auf F. K 1 e i n s Erlanger Programm von 1872: Vergleichende Betrachtungen über neuere geome- trische Forschungen (wieder abgedruckt: Math. Annalen 43, 1893, S. 63 ff.) verwiesen werden.
118
Gestalten zu erheben. Erst nachdem der Begriff der Ver- änderung durch die A n a 1 y s i s kritisch geprüft und be- glaubigt war, konnte hier eine neue Entwicklung einsetzen. Diese Entwicklung erhält in der Gruppentheorie 'hren syste- matischen Abschluß : denn hier ist die Veränderung als Grund- begriff anerkannt, während ihr anderseits feste logische Grenzen gezogen sind. Die Platonische Erklärung bewährt sich nunmehr in einem neuen Sinne. Die Geometrie handelt, als Invariantentheorie, von bestimmten unwandelbaren Be- ziehungen: aber diese Unwandelbarkeit läßt sich in keiner Weise bestimmen und festhalten, ohne daß wir, gleichsam als ideellen Hintergrund, den Gedanken bestimmter Grund- änderungen fassen, denen gegenüber sie gilt und sich behauptet. Die unveränderlichen geometrischen Eigenschaften sind dies nicht an und für sich, sondern immer nur mit Bezug auf einen Inbegriff möglicher Transformationen, den wir implicit voraussetzen. Konstanz und Veränderlichkeit erscheinen daher hier als durchaus korrelative Momente : nur durch und miteinander sind beide definierbar. Der geo- metrische ,, Begriff" erhält seinen identischen und eindeutigen Sinn erst durch die Angabe der bestimmten Gruppe von Änderungen, mit Rücksicht auf die er konzipiert ist. Der Bestand, von dem hier die Rede ist, bezeichnet keine absolute Eigenschaft gegebener Objekte, sondern er gilt stets nur relativ zu einer bestimmten gedanklichen Operation, die wir als Bezugssystem wählen. Hier kündigt sich bereits ein Be- deutungswandel in der allgemeinen Kategorie der Substan- tialität an, der im Fortgang der Untersuchung immer deutlicher zutage treten wird : die Beharrlichkeit bezieht sich nicht auf die Fortdauer von Dingen und ding- lichen Beschaffenheiten, sondern sie bezeichnet die relative Selbständigkeit bestimmter Glieder eines funktionalen Zu- sammenhangs, die sich im Vergleich zu anderen als unabhängige Momente erweisen.
III. Die Entwicklung der modernen Mathematik hat sich immer genauer und bewußter dem Ideal genähert, das
119
L e i b n i z für sie aufgestellt hat. Innerhalb der reinen Geometrie zeigt sich dies am deutlichsten an dem all- gemeinen Begriff des Raumes, der sich hier allmählich herausbildet. Die Zurückführung der metrischen Verhältnisse auf projektive verwirklicht den Leibnizschen Gedanken, daß der Raum, noch ehe er als Quantum bestimmt wird, in seiner ursprünglichen qualitativen Eigenart als ,, Ordnung im Beisammen" (ordre des coexistences possibles) begriffen werden muß. Die Kette der harmonischen Konstruktionen, durch welche die Punkte des projektiven Raumes erzeugt werden, liefert das Bild dieser Ordnung, deren Wert und deren vollständige Erkennbarkeit eben darin wurzelt, daß sie nicht als sinnlich vorhandene er- griffen, sondern im Fortgang relativer Setzungen durch den Gedanken aufgebaut wird*. Der Anschauung mögen ■wir immerhin die elementaren Inhalte der Geometrie: den Punkt, die Gerade, die Ebene, entnehmen können; aber all das, was sich auf die Verknüpfung dieser Inhalte bezieht, muß rein begrifflich abgeleitet und eingesehen werden können. In diesem Sinne versucht die neuere Geometrie selbst eine Beziehung, wie die allgemeine Relation des
* Eb ist von geschichtlichem Interesse, daß das logische Problem einer Metrik, die sich auf rein projektiven Verhältnissen aufbaut, tatsächlich bereits von Leibniz erfaßt worden ist. Gegen Leibniz' Definitionen des Raumes als einer Ordnung im Nebeneinander, der Zeit als einer Ord- nung im Nacheinander erhebt C 1 a r k e , der für Newtons Erklärung des absoluten RaumoA und der absoluten Zeit eintritt, den Einwand, daß sie gerade den wesentlichen Gehalt beider Begriffe nicht treffe. Raum und Zeit seien vor allen Dingen Quantitäten, was Lage \ind Ordnung nicht sind. Leibniz erwidert hierauf, daß auch innerhalb reiner Ordnungsbeziehungen Größenbestimmungen möglich sind, sofern ein vorangehendes Glied vom folgenden unterschieden und die ,, Ent- fernung" zwischen beiden begrifflich definiert werden kann. „Die relativen Dinge haben, ebensogut wie die absoluten, ihre Größe; so haben z. B. in der Mathematik die Verhältnisse oder Proportionen ihre Größe, die durch die Logarithmen gemessen wird ; dennoch aber sind und bleiben 63 Re- lationen." (Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegvmg der Philosophie, I, Philo?. Bibl. 107, S. 189 f.) Man erkennt hier den Hinweis auf eine Frage, die sich in der modernen Grundlegung der projektiven Metrik wiederholt hat: denn in dieser wird in der Tat die , .Distanz" zwischen zwei Punkten durch den Logarithmus eines bestimmten Doppel ver- hältnisses definiert und gemessen. (Vgl. Klein, Vorlesungen über Nicht-Euklidische Geometrie, S. 65 ff.)
120
„Zwischen", die zunächst ein nicht weiter zerlegbarer sinn- licher Bestand zu sein scheint, von dieser Gebundenheit zu befreien und zu freier logischer Anwendung zu erheben. Was diese Relation bedeutet, muß, abgesehen von dem wechselnden sinnlichen Material, an welchem sie sich dar- stellt, durch bestimmte Axiome der Verknüpfung fest- gelegt werden: und von diesen Axiomen allein empfängt sie denjenigen Gehalt, mit welchem sie in die mathematische Deduktion eingeht. Kraft dieser Erweiterung vermögen wir den Begriff des Zwischen von den anschaulichen Inhalten, an welchen wir ihn zuerst erfaßten, unabhängig zu machen und ihn nunmehr auch auf solche Reihen anzuwenden, in welchen das Verhältnis, das er bezeichnet, kein unmittelbares anschauliches Korrelat mehr besitzt*.
Diese Auffasung aber wirkt nunmehr weiter, indem die spezifische Ordnung des räumlichen Neben- und Auseinander sich einem allgemeinen System der möglichen Ordnungen über- haupt einzugliedern strebt. Wieder ist es die L e i b n i z 'sehe Grundkonzeption der Mathematik, zu der wir uns hierbei zurückgeführt sehen. Die Mathematik ist danach nicht die allgemeine Wissenschaft der Größe, sondern der Form, nicht der Quantität, sondern der Qua- lität. Die Kombinatorik wird damit zur eigentlichen Grundwissenschaft: sofern man unter ihr nicht die Lehre von der Zahl der Verbindungen gegebener Elemente, sondern die universelle Darstellung der möglichen Weisen der Verknüpfung überhaupt und ihrer wechsel- seitigen Abhängigkeit versteht**. Wo immer eine bestimmte Weise der Verknüpfung gegeben ist, die wir in gewissen Grundregeln und Axiomen aussprechen können, da ist im
* Näheres hierüber bei Pasch, Vorles. über neuere Geometrie, § 1 und 9.
** ,,Hinc etiam prodit ignorata hactenus vel neglecta subordinatio Algebrae ad artem Combinatoriam, seu Algebrae Speciosae ad Speciosam generalem, seu scientiae de formulis quantitatem significantibus ad doc- trinam de formulis, seu ordinis similitudinis relationis etc. expressionibus in Universum, vel scientiae generalis de quantitate ad scientiam generalem de qualitate, ut adeo speciosa nostra Mathematica nihil aliud sit quam specimen illustre Artis Combinatoriae seu speciosae generalis. L e i b n i z , Math. Schriften, hg. v. Gerhardt, VII, 61.
121
mathematischen Sinne ein identisches „Objekt** fixiert. Die Relationsstruktur als solche, nicht die absolute Beschaffenheit der Elemente macht den eigentlichen Gegenstand der mathe- matischen Betrachtungs- und Untersuchungsweise aus. Zwei Urteilskomplexe, von denen der eine etwa von Geraden und Ebenen, der andere von Kreisen und Kugeln eines bestimmten Kugelgebüsches handelt, gelten vom Stand- punkt dieser Betrachtungsweise einander als äquivalent, sofern sie denselben Gehalt begrifflicher Abhängigkeiten bei einem bloßen Wechsel der anschaulichen „Subjekte", für welche die Abhängigkeiten ausgesagt werden, in sich schließen. In diesem Sinne lassen sich die „Punkte", von denen die gewöhnliche Enklideische Geometrie handelt, nacheinander mit Kugeln und Kreisen, mit inversen Punkt- paaren eines hyperbolischen oder elliptischen Kugelgebüsches oder auch mit bloßen Zahlentripeln ohne spezifische geo- metrische Bedeutung, vertauschen, ohne daß der deduk- tive Zusammenhang der einzelnen Sätze, die wir für diese Punkte entwickelt haben, dadurch in sich selbst verändert würde*. Dieser Zusammenhang bildet somit eine eigene, rein formale Bestimmtheit, die sich von der materialen Grundlage, an der sie jeweilig auftritt, loslösen und für sich in ihrer Gesetzlichkeit feststellen läßt. Die besonderen Ele- mente werden in der mathematischen Begriffsbildung nicht nach dem, was sie an und für sich sind, sondern stets nur als Beispiele für eine bestimmte, allgemein gültige Form der Ordnung und Verknüpfung erfaßt: die Mathe- matik zum mindesten kennt an ihnen kein anderes ,,Sein" als dasjenige, was ihnen kraft der Teilhabe an dieser Form zukommt. Denn dieses Sein allein ist es, das in die Be- weisführung, in den Prozeß des Folgerns und Schlie- ßens eingeht und das somit der vollen Gewißheit zu- gänglich ist, die die Mathematik ihren Objekten verleiht. Zum schärfsten Ausdruck gelangt diese Auffassung der Methode der reinen Mathematik in dem Verfahren, das H i 1 -
* Vgl. hierzu die sehr instruktiven Beispiele und Erläuterungen bei W e 1 1 8 t e i n , Encyklopädie der Elem. Mathematik, Bd. II, Buch. 1, Abschn. 2.
122
b e r t zur Darstellung und Ableitung der geometrischen Axiome angewandt hat. Gegenüber der Euklidischen Be- griffsbestimmung, die die Begriffe des Punktes oder der Geraden, von denen sie ausgeht, als unmittelbare Ge- gebenheiten der Anschauung nimmt und die ihnen somit von Anfang an einen bestimmten unabänderlichen Inhalt auf- prägt, wird hier der Bestand der ursprünglichen geometrischen Objekte ausschließlich durch die Bedingungen bestimmt, denen sie gehorchen. Den Anfang bildet ein gewisser Kreis von Axiomen, die wir festlegen und deren Verträglichkeit miteinander wir erweisen. Alle Beschaffenheiten, die wir den Elementen zusprechen, fließen lediglich aus diesen Regeln ihrer Zusammengehörigkeit, die wir zugrunde gelegt haben. Der Punkt, die Gerade bedeutet uns nichts anderes, als ein Gebilde, das mit anderen seinesgleichen in Beziehungen steht, wie sie durch gewisse Axiomgruppen definiert sind. Lediglich diese systematische „Komplexion" der Elemente, nicht ihre Einzelbestimmtheit, wird hier als Ausdruck ihrer Wesenheit gebraucht und festgehalten. In diesem Sinne hat man mit Recht die Hilbertsche Geometrie eine reine Beziehungslehre genannt*. Eben hierin aber bildet sie den konsequenten Abschluß einer Denkrichtung, die wir in ihren rein logischen Momenten von den ersten An- fängen der Mathematik her verfolgen konnten. Es kann freilich zunächst wie ein Zirkel erscheinen, wenn der Inhalt der geometrischen Grundbegriffe einzig und allein durch die Axiome, denen sie gemäß sind, bestimmt werden soll: denn setzen diese Axiome zu ihrer Formulierung nicht wiederum bereits irgendwelche Begriffe voraus? Diese Schwierigkeit löst sich indessen, sobald nur zwischen dem psychologischen Anfang und dem logischen Grund völlig scharf unter- schieden wird. Im psychologischen Sinne ist es freilich zu- treffend, daß wir uns den Sinn einer bestimmten Relation immer nur an irgendwelchen gegebenen Relations- termen, die als ,, Fundamente" der Beziehung dienen, vergegenwärtigen können. Aber diese Termini, die wir zu-
* W e 1 1 s t e i n , a. a. O. S. 116.
123
nächst der sinnlichen Anschauung verdanken, bezeichnen keinen absoluten, sondern einen veränderlichen Bestand. Wir legen sie nur als hypothetischen Ansatz fest; alle nähere Bestimmung aber erwarten wir von der Einordnung in die mannigfachen Bedingungskomplexe, in die sie suc- cessiv eintreten. Erst durch diesen gedanklichen Prozeß wird der gleichsam provisorische Inhalt zum festen logischen Gegenstand. Die Gesetze der Verknüpfung bezeichnen daher das eigentliche ixqöxeqov tfj (pvaet^ während die Elemente in ihrer scheinbaren Absolutheit doch nur ein JtqöxeQov ftQoq ^uäz bedeuten. Die Anschauung scheint den Inhalt als los- gelösten, sich selbst genügenden Bestand zu ergreifen; aber sobald wir daran gehen, diesen Bestand im U r t e i 1 zu fixieren, löst es sich in ein Gewebe relativer Setzungen auf, die einander wechselseitig stützen. Begriff und Urteil kennen das Einzelne nur als Glied und gleichsam als Punkt einer systematischen Mannigfaltigkeit, die hier somit, wie im Gebiet der Arithmetik, als das eigentliche logische Prius gegenüber allen besonderen Setzungen erscheint (vgl. oben, S. 88). Die Bestimmung der Individualität der Elemente steht daher nicht am Anfang, sondern am Ende der Begriffsentwicklung; sie ist das logische Ziel, dem wir uns durch die fortschreitende Verknüpfung allgemein gültiger Beziehungen annähern. Das Verfahren der Mathematik weist hier auf ein analoges Verfahren der theoretischen Naturwissenschaft voraus, für welches es den Schlüssel und die Rechtfertigung enthält. (S» Kap. V.)
Von hier aus wird es verständlich, daß der Schwerpunkt des mathematischen Systems sich innerhalb der geschicht- lichen Entwicklung beständig in bestimmter Richtung ver- schiebt. Der Kreis der Objekte, auf die die Betrachtungsweise der Mathematik anwendbar und übertragbar ist, weitet sich: bis es zuletzt völlig deutlich wird, daß die Eigenart der Me- thode an keine besondere Klasse von Gegenständen ge- bunden und in ihr begrenzt ist. Die ,,Mathesis universalis" soll in dem philosophischen Sinn, den sie bei Decartes erhält, das Grundinstrument für alle Aufgaben bilden, die sich auf Ordnung und Maß beziehen. Aber schon bei Leibniz
124
tritt, wie sich zeigte, an die Stelle dieses Nebeneinanders zweier verschiedener Momente ein Verhältnis logischer Über- und Unterordnung: die Lehre von den möglichen, begrifflich verschiedenen Arten der Verknüpfung und Zuordnung wird zur Voraussetzung der Wissenschaften von der meßbaren und teilbaren Größe*. Die neuere Mathematik bringt diesen Gedanken zu immer schärferer Ausprägung. Schon der Fort- schritt der projektiven Geometrie ließ ein Gebiet erkennen, das das Ideal der mathematischen Darstellung unabhängig von allen Hilfsmitteln der Messung und Größenvergleichung in sich verwirklicht. Die Metrik selbst wird hier aus rein qualitativen Beziehungen abgeleitet, die lediglich das Stellen- verhältnis der Raumpunkte betreffen. Noch bezeichnender tritt sodann die Ausdehnung der Mathematik über ihre traditionellen Grenzen in der Gruppentheorie her- vor, deren unmittelbares Objekt nicht Größen- oder Lage- bestimmungen, sondern ein Inbegriff von Ope- rationen bildet, die in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit untersucht werden. Hier erst ist in der Tat das oberste und uni- verselle Prinzip erreicht, von dem aus sich das Gesamtgebiet der Mathematik als Einheit übersehen läßt. Die Aufgabe der mathematischen Betrachtung besteht ihrem allgemeinen Sinne nach nicht darin, gegebene Größen zu vergleichen, zu teilen oder zusammenzusetzen, sondern die erzeugenden Relationen selbst, auf denen die Möglichkeit jeglicher Größensetzung beruht, zu isolieren und ihr Verhältnis gegen- einander zu bestimmen. Die Elemente und alles, was sich aus ihnen aufbaut, erscheinen als Ergebnisse bestimmter ur- sprünglicher Regeln der Verknüpfung, die sowohl für sich in ihrer eigentümlichen Struktur, als in der Bestimmtheit,
* Vgl. ob. S. 121, Anm. 2; s. auch Leibniz' Hauptschriften (Phil. Bibl. Bd. 107), Leipzig 1904, S. 5, S. 50, S. 62. —Für die moderne Auffassung ß. Russell, Principles of Mathematics S. 158 u. 419: „Quantity, in fact, though philosophers appear still to regard it as very essential to Mathe- matics, does not occur in pure Mathematics, and does occur in many cases not at present amenable to mathematical treatment. The notion which does occupy the place traditionally assigned to quantity is o r d e r." Vgl. hierzu Gregor 1 1 e 1 s o n s Definition der Mathematik als Wissenschaft der geordneten Gegenstände". (S. Revue de M^taphysique," XII, 1904.)
125
die sich aus ihrem Zusammentreten und ihrer Durchdringung ergibt, zu untersuchen sind. Die mannigfachen Algorithmen, die die neuere Mathematik ausgebildet hat: die Graßmann- sche Ausdehnungslehre, Hamiltons Theorie der Quater- nionen, die projektive Streckenrechnung, sind nur ver- schiedene Beispiele dieses logisch allgemeingültigen Ver- fahrens. Der methodische Vorzug all dieser Ver- fahrungsweisen besteht eben darin, daß der „Calcul" hier zu völlig freier und selbständiger Betätigung gelangt: daß er nicht mehr auf die Zusammensetzung von Quantitäten beschränkt bleibt, sondern sich unmittelbar der Synthese von Relationen zuwendet.
Daß diese Synthese das eigentliche Ziel der mathemati- schen Operationen bildet, konnten wir im Größengebiet selbst bereits in der Entwicklung der Analysis des Unendlichen ver- folgen. (S. ob. S. 96 f.) Jetzt aber erweitert sich das Gebiet der Betrachtung: denn als Grundlage kann jedes beliebige Element dienen, sofern es nur möglich ist, aus ihm kraft der wiederholten Anwendung einer bestimmten, gedanklich fixier- ten Grundbeziehung ein neues Gebilde hervorgehen zu lassen. Lediglich diese Möglichkeit der Determination ist es, die im Calcul festgehalten wird und die die notwendige und hinreichende Bedingung für ihn bildet. Die Festigkeit und Sicherheit des deduktiven Gefüges ist an kein besonderes Element gebunden. Wir können das eine Mal, wie in Graß- manns geometrischer Charakteristik und der Quaternionen- theorie Produkte von Punkten oder von Vektoren betrachten, wir können, wie in M ö b i u s' baryzentrischem Kalkül die Punkte außer durch ihre verschiedene Lage im Räume, durch verschiedene Massenwerte charakterisiert sein lassen, wir können Strecken oder Dreiecksflächen, Kräfte oder Kräftepaare auf irgendeine Weise miteinander zusammen- fassen und das Resultat, das sich hieraus ergibt, rechnerisch feststellen*. In allen diesen Fällen handelt es sich nicht darum, ein gegebenes „Ganze" in seine, ihm gleichartigen ,, Teile"
* Näheres über diese verschiedenen Rechnungsweisen bei White- head, Universal Algebra I, Cambridge 1898 sowie bei H. Hankel, Theorie der komplexen Zahlensysteme, Leipzig 1867.
126
zu zerlegen oder es aus diesen wiederum zusammenzusetzen, sondern die allgemeine Aufgabe besteht in der Verknüpfung irgendwelcher begrifflicher Bedingungen des Fortschritts in einer Reihe überhaupt zu einem eindeutigen Ergebnis. Ist einmal ein Ausgangselement bestimmt und ein Prinzip an- gegeben, kraft dessen wir von ihm aus in gleichmäßigem Fortgang zu einer Mannigfaltigkeit anderer Elemente ge- langen können, so wird auch die Zusammenfassung mehrerer derartiger Prinzipien eine Operation sein, die sich auf feste systematische Regeln bringen läßt. Wo immer ein derartiger Übergang von einfachen zu komplexen Reihen möglich ist, da ist damit ein neues Gebiet deduktiv-mathematischer Be- stimmung abgegrenzt. —
Dieser allgemeine Grundgedanke, der sich in strenger Abfolge aus Descartes' und Leibniz' philosophischem Ideal der jjMathesis universalis" entwickelt hat, scheint es gewesen zu sein, der auch zu einer der wichtigsten und fruchtbarsten Konzeptionen der neueren Mathematik: zu Hermann G r a ß - m a n n s Ausdehnungslehre hingeleitet hat. Die allgemeinen Erwägungen, die Graßmann seinem Werke vorausgeschickt hat, mögen, als mathematische Definitionen betrachtet, in der Tat bisweilen unzureichend und dunkel erscheinen: aber sie zeichnen dennoch einen in sich klaren methodi- schen Entwurf, dessen Bedeutung durch die weitere Entwicklung der Probleme erläutert und bestätigt worden ist*. Das Ziel, das Graßmann sich stellt, besteht darin, die Wissen- schaft des Raumes zum Range einer allgemeinen F o r m - Wissenschaft zu erheben. Der Charakter der reinen Formwissenschaften aber wird dadurch bestimmt, daß in ihnen der Beweis nicht über das Denken selbst hinaus in eine andere Sphäre übergeht, sondern rein in der Kombination der verschiedenen Denkakte verharrt. Diese Forderung ist in der Wissenschaft der Zahl erfüllt: denn alle Besonderheit innerhalb des Zahlgebiets läßt sich in der Tat aus dem In- begriff geordneter Setzungen, denen die Zahlreihe selbst erst
* S. hierüber bes. V. Schlegel, Die Graßmannsche Aiisdehnungs- lehre. Ztschr. f. Mathem. u. Physik, Bd. 41, 1896.
127
ihre Entstehung verdankt, vollständig ableiten. Es gilt nun- mehr, für die Geometrie einen ebenso ,, unmittelbaren Anfang" zu gewinnen, wie er innerhalb der Arithmetik bereits gegeben und gesichert ist*. Zu diesem Zweck muß auch hier von der gegebenen extensiven Mannigfaltigkeit selbst auf ihre ein- fachen ,, Erzeugungsweisen" zurückgegangen werden, gemäß denen das Mannigfaltige erst vollkommen zu überblicken und zu begreifen ist. Schon innerhalb der gewöhnlichen Darstellung der geometrischen Elemente pflegt man von einer genetischen Erzeugung der Linie aus dem Punkte, der Fläche aus der Linie zu sprechen: aber was hier als bloßes Bild ge- meint ist, das muß nunmehr, um als Ausgangspunkt der neuen Wissenschaft dienen zu können, eine streng begriff- liche Fassung und Deutung erhalten. Die anschaulich räumlichen Verhältnisse mögen den ersten Anlaß bieten, sich zu den rein begrifflichen Beziehungen zu erheben; aber sie erschöpfen nicht deren eigentlichen Gehalt. Statt des Punktes, d. h. des besonderen Ortes setzen wir nunmehr das Element, worunter nur ein Besonderes schlechthin, aufgefaßt als verschieden von anderem Besonderen, verstanden werden soll. Ein eigentümlicher, spezifischer Inhalt ist damit noch nicht gesetzt: „es kann daher hier noch gar nicht davon die Rede sein, was für ein Besonderes dies denn eigentlich sei — denn es ist eben das Besondere schlechthin ohne allen realen Inhalt — oder in welcher Beziehung das eine von dem anderen verschieden sei — denn es ist eben schlechtweg als Verschiedenes bestimmt, ohne daß irgendein realer Inhalt, in bezug auf welchen es verschieden sei, gesetzt wäre**." Ebenso sehen wir bei den Änderungen, denen wir das Grundelement unterworfen denken, von jeder speziellen Charakteristik noch ausdrücklich ab und halten lediglich den abstrakten Gedanken fest, daß aus einem ursprünglichen Anfang durch stete Wiederholung ein und derselben Operation eine Mannigfaltigkeit von Gliedern hervorgeht. Wenngleich
♦ S. Graßraann, Die lineale Ausdehnungslehre: ein neuer Zweig der Mathematik (1844). GeB. mathemat. u. physikal. Werke, Leipzig 1894, I, S. 10, S. 22.
♦* Ausdehnungslehre, a. a. O., S. 47.
128
daher die konkrete Ausführung der Graßmannschen Aus- dehnungslehre sich zunächst auf die Betrachtung ganz be- stimmter Transformationsweisen beschränkt, so greift doch der universelle Entwurf von Anfang an weiter. Hier handelt es sich nur um diejenige Leistung, die uns als die allgemeinste Funktion des mathematischen Begriffs überhaupt entgegen- trat: um die Angabe irgendeiner, qualitativ bestimmten und einheitlichen Regel, die die Form des Übergangs zwischen den Gliedern einer Reihe bestimmt. „Das Verschiedene muß nach einem Gesetze sich entwickeln, wenn das Erzeugnis ein bestimmtes sein soll. Die einfache Ausdehnungsform ist also die Form, welche durch eine nach demselben Gesetze erfolgende Änderung des erzeugenden Elements entsteht; die Gesamtheit aller nach demselben Gesetz erzeugbaren Elemente nennen wir ein System oder ein G e b i e t*." In gleicher Weise entstehen Systeme höherer Stufen, indem wir verschiedene Grundänderungen miteinander verknüpfen in der Art, daß zunächst aus dem Anfangselement durch eine bestimmte Umformung eine gewisse Mannigfaltigkeit ent- wickelt und sodann die Gesamtheit ihrer Glieder einer neuen Umformung unterworfen wird. Da nun die Gebiete, die wir betrachten, uns nicht als anderweitig bereits gegebene gelten, sondern lediglich durch die Regel ihres Aufbaus für uns bekannt und bestimmt sind, so ist klar, daß diese Regel zureichen muß, auch alle ihre Merkmale erschöpfend darzu- stellen und begrifflich zu beherrschen. —
Diese allgemeinen Festsetzungen erhalten sofort eine genauere mathematische Bedeutung, sobald Graßmann daran geht, die verschiedenen möglichen Verknüpfungsarten im einzelnen zu entwickeln und durch die formalen Bedingungen, denen sie gehorchen, gegeneinander abzugrenzen. Es ergibt sich nunmehr eine ausgeführte Lehre über die „Addition" und „Subtraktion" gleichartiger oder ungleichartiger Ände- rungen, über äußere und innere Multiplikation von Strecken und Punkten usf., wobei alle diese Operationen mit den gleich- namigen algebraischen Verfahrungsweisen lediglich in gewissen
♦ Ausdehnungslehre S. 28. Cassirer, Substanzbegriff 9 129
formalen Eigentümlichkeiten, wie in der Unterordnung unter das assoziative oder distributive Gesetz, übereinstimmen, an und für sich aber völlig selbständige Bestimmungsweisen darstellen, durch die aus irgendwelchen Elementen ein neues Gebilde eindeutig determiniert wird. Wir schreiten von den relativ einfachen Formen der „Erzeugung", die wir defini- torisch festgelegt haben, zu immer komplexeren Weisen des Aufbaus eines Mannigfaltigen aus bestimmten Grund- beziehungen fort. Ist ein Anfangsglied % gesetzt und zugleich eine Mehrheit von Operationen R^ Rj R3 . . . bezeichnet, die es successiv in verschiedene Werte a^ a^ a,, a\ a'^ a'^ usf. überführen, so sollen nunmehr das Ergebnis der Zusammen- fassung dieser Operationen und die verschiedenen möglichen Typen dieser Zusammenfassung deduktiv abgeleitet werden. Die Betrachtungen, die Graßmann seinem Werke voraus- schickt, schaffen daher in der Tat ein allgemeines logisches Schema, dem sich auch die verschiedenen Algorithmen, die sich unabhängig von der Ausdehnungslehre entwickelt haben, einordnen lassen: denn sie stellen nur von einer neuen Seite her den Gedanken fest, daß die eigentlichen „Elemente" des mathematischen Calculs nicht sowohl Größen als vielmehr Relationen sind.
Überblickt man nunmehr das Ganze dieser Entwick- lungen, so erkennt man zugleich, wie in ihnen der Grund- gedanke des logischen Idealismus sich fort- schreitend befestigt und vertieft hat. Mehr und mehr ist die Tendenz der neueren Mathematik darauf gerichtet, die ,, ge- gebenen" Elemente als solche zurückzudrängen und ihnen keinen Einfluß auf die allgemeine Form der Beweisführung zuzugestehen. Jeder Begriff und jeder Satz, der im eigent- lichen Beweisgang gebraucht und nicht lediglich zur anschau- lichen Verdeutlichung verwandt wird, muß rein und voll- ständig aus den Gesetzen des konstruktiven Zusammenhangs begründet und eingesehen werden. Die Logik der Mathematik, wie Graßmann sie versteht, ist in der Tat im strengen Sinne ,, Logik des Ursprungs". Cohens Logik der reinen Erkenntnis hat den Gedanken des Ursprungs, auf dem sie sich aufbaut, an den Prinzipien der Infinitesimal-
130
rechnung entwickelt*. Hier ist in der Tat das erste und markanteste Beispiel der allgemeinen Betrachtungsweise gegeben, die vom Größenbegriff zum Funktionsbegriff, von der ,, Quantität" zur ,, Qualität" als dem eigentlichen Funda- ment zurückleitet. Eine erneute Bestätigung gewinnt sodann das logische Prinzip, das hier festgestellt ist, im Fortgang zu den übrigen Problemgebieten der modernen Mathematik. Sie alle, wie verschieden sie ihrem Inhalt nach sein mögen, weisen in ihrem Aufbau auf den Grund- begriff des Ursprungs zurück. Die Forderung, die dieser Begriff stellt, ist überall dort erfüllt, wo die Glieder einer Mannigfaltigkeit aus bestimmten Reihenprinzipien abgeleitet und durch sie erschöpfend dargestellt sind. Die verschieden- artigsten Formen des ,,Calculs" gehören, soweit sie dieser Bedingung genügen, dem gleichen logischen Typus an, wie sie denn auch in ihrer Fruchtbarkeit für die Probleme der mathematischen Naturwissenschaft miteinander übereinkommen. So hat M ö b i u s seinen allgemeinen Cal- cul zu einem streng rationalen Aufbau der Statik ver- wendet, während Maxwell von den Grundbegriffen der Vektorenrechnung aus die Elemente der Mechanik entwickelt hat**. Der systematische Zusammenhang der Operationen bleibt, einmal abgeleitet, in der Tat un- verändert erhalten, wenn wir etwa an Stelle von Geraden- stücken Kräfte, an Stelle bestimmter Streckenprodukte Kräftepaare einsetzen und damit jedem geometrischen Satz, der sich ergeben hat, unmittelbar einen mechanischen zu- ordnen. Die Einordnung der Infinitesimal-Analysis in den umfassenden Zusammenhang der ,,Relations-Analysis" über- haupt dient zugleich der Feststellung und Begrenzung ihres eigenen Problems. Der Begriff des ,, Unendlich-Kleinen" hat — trotz aller Proteste der idealistischen Logik — immer von neuem zu dem Mißverständnis geführt, als solle hier die Größe nicht sowohl aus ihrem begrifflichen Prinzip v e r -
* Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, s. bes. S. 102 ff. ** S. M ö b i u s , Lehrbuch der Statik (T. I, 1837), vgl. bes. H a n k e 1 , Theorie der komplexen Zahlensysteme, Abschn. VII ; M a x w e 1 1 , Substanz u. Bewegixng, dtsch. v. Fleischl, 2. Abdr., Braunschw. 1881.
9* 131
standen als vielmehr aus ihren, wenngleich verschwin- denden Teilen zusammengesetzt werden. Damit aber wird die eigentliche Frage verkannt und verschoben: denn nicht darum handelt es sich, den letzten substantiellen Bestand der Größe aufzuzeigen, sondern lediglich einen neuen logischen Gesichtspunkt ihrer Bestimmung zu finden. Dieser Gesichtspunkt aber tritt scharf hervor, wenn man dem Verfahren der Infinitesimalrechnung die anderen möglichen Formen der mathematischen „Determination** zur Seite stellt. Wenn etwa, wie im baryzentrischen Calcul, einfache Punkte addiert oder die Summe zweier gerichteter Strecken durch die Diagonale des aus ihnen gebildeten Paralle- logramms dargestellt wird, — wenn vom Produkt zweier oder dreier Punkte oder vom Produkt eines Punktes und einer Strecke gesprochen wird: so wäre es widersinnig, all diesen Operationen den gewöhnlichen „arithmetischen** Sinn unter- zulegen. Die Beziehung des „Ganzen** zu den ,, Teilen*', die es zusammensetzen, ist hier ausgeschaltet und durch die allgemeine Beziehung des Bedingten zu den einzelnen Momenten, die es gedanklich konstituieren, ersetzt. Die Scheidung, die schon Leibniz klar und bestimmt hervor- gehoben hat, wird nunmehr unvermeidlich: der ,, Zerlegung in Teile'* tritt allgemein die „Auflösung in Begriffe" gegenüber, die als universelles Grundmittel allenthalben die Sicherheit und den Fortschritt der reinen Deduktion verbürgt. —
IV.
Die Erweiterung, die das System der Euklideischen Geo- metrie durch die metageometrischen Untersuchungen und Spekulationen erfahren hat, fällt, rein inhaltlich be- trachtet, außerhalb des Umkreises unserer Untersuchung. Denn hier handelt es sich nicht darum, die Ergebnisse der Mathematik, so bedeutsam und fruchtbar sie auch vom Standpunkt der Erkenntniskritik sein mögen, darzustellen, sondern lediglich das Prinzip der mathematischen Begriffs- bildung zu bestimmen. Aber auch unter diesem einge- schränkten Gesichtspunkt wird es unumgänglich, auf das Problem der Metageometrie einzugehen: denn eben dies ist
132
das Eigentümliche dieses Problems, daß es nicht lediglich den Gehalt der mathematischen Kenntnisse, sondern die Auffassung von ihrem Grund und ihrem Ursprung umgestaltet hat. Unab weislich drängt sich jetzt die Fra- ge hervor, ob die Ansicht, die bisher vom mathematischen Begriff gewonnen wurde, den neuen Aufgaben gegenüber, die sich von dieser Seite her erschließen, standhält. Daß hier eine berechtigte Ausdehnung des anfänglichen Pro- blemgebiets der Geometrie vorliegt, steht nunmehr, bei Philosophen wie Mathematikern, außer Frage: um so notwendiger aber wird es zu untersuchen, ob der neue Inhalt die logische Form der Geometrie gesprengt oder aber sie bewahrt und gefestigt hat. —
Die Antwort, die die Mathematik selbst hierauf erteilte, schien eine Zeitlang endgültig festzustehen: allgemein war es der empirische Charakter der geometrischen Begriffe, der aus den metageometrischen Untersuchungen gefolgert wurde. Veroneses „Grundzüge der Geometrie von mehreren Dimensionen", die zuerst einen vollständigen ge- schichtlichen Überblick über alle kritischen Versuche zur Er- neuerung der geometrischen Prinzipienlehre enthalten, sprechen es als die gemeinsame Überzeugung der wissenschaftlichen Forscher aus, daß zum mindesten die gewöhnliche Geometrie des dreidimensionalen Raumes lediglich auf die Erfahrung gegründet sei*. Geht man indessen näher auf die Motive und Gründe ein, aus denen heraus die einzelnen Forscher diese Entscheidung gefällt haben, so erkennt man alsbald, daß hier nur eine scheinbare Einheit der Auffassung vorliegt. Es ist, als hätte die Geometrie, sobald sie den Boden der philoso- phischen Spekulation betrat, ihr eigentümliches Vorrecht, die Begriffe, die sie gebraucht, in einem streng eindeutigen Sinn zu verwenden, eingebüßt. Die ganze Unbestimmtheit, die dem Erfahrungsbegriff selbst, in seinem populären Ge- brauch, anhaftet, tritt jetzt alsbald zutage. Eine empirische Begründung der mathematischen Begriffe wäre im strengen
* Veronese, Grundzüge der Geometrie von mehreren Dimen- sionen und mehreren Arten geradliniger Einheiten. Deutsche Aiisg. ; Leipzig 1894, S. VIII, Anm. 1.
133
Sinne nur dort gegeben, wo der Nachweis erbracht würde, daß der gesamte Gehalt, der ihnen eignet, in konkreten Wahr- nehmungen wurzelt und aus ihnen ableitbar ist. Das einzig konsequente empiristische System der Mathematik ist daher von Pasch aufgebaut worden, sofern er versucht, die elemen- taren Gebilde, wie den Punkt und die Gerade, nicht sogleich in exakter begrifflicher Gestaltung einzuführen, sondern sie zunächst lediglich in derjenigen Bedeutung zu nehmen, die sie für die sinnliche Empfindung allein besitzen können. Die erfolgreiche Anwendung, welche die Geometrie fort- während in den Naturwissenschaften und im praktischen Leben erfährt — so führt Pasch aus — kann nur darauf beruhen, daß ihre Begriffe zunächst genau den tatsächlichen, in der Beobachtung gegebenen Objekten entsprechen. Erst nachträglich ist dieser ursprüngliche Inhalt mit einem Netze von künstlichen Abstraktionen übersponnen worden, wodurch zwar ihr theoretischer Ausbau gefördert, dem funda- mentalen Wahrheitsgehalt ihrer Sätze jedoch nichts hinzugefügt wurde. Verzichtet man auf diese Abstraktionen, kehrt man entschlossen wiederum zu den eigentlichen psychologischen Anfängen zurück, so bleibt der Geometrie der Charakter der Naturwissenschaft erhalten, vor deren anderen Teilen sie sich nur dadurch auszeichnet, daß sie eine sehr geringe Anzahl von Begriffen und Gesetzen direkt aus der Erfahrung zu ent- nehmen braucht, alles andere dagegen der Entwicklung dieses einmal aufgenommenen Stoffes überlassen kann. Der ,, Punkt" ist in dieser Auffassung nichts anderes als ein materieller Körper, der sich innerhalb der jeweilig gegebenen Beobach- tungsgrenzen nicht mehr als teilbar erweist, während die Strecke aus einer endlichen Anzahl derartiger Punkte zusammengesetzt ist. Die Geltung der geometrischen Grund- sätze unterliegt demgemäß bestimmten Einschränkungen, die durch die Natur der geometrischen Objekte als bloße Wahrnehmungsgegenstände gefordert sind. So ist dem Satze, daß man zwischen zwei Punkten stets eine gerade Strecke und nur eine ziehen kann, der Vorbehalt hinzuzufügen, daß die betrachteten Punkte nicht zu nahe beieinander liegen dürfen; nur für diesen Fall bleibt auch der Lehrsatz in Kraft,
134
daß sich zwischen zwei gegebenen Punkten stets ein dritter einschalten läßt, während er seine Gültigkeit verliert, sobald wir über eine gewisse Grenze, die sich freilich nicht in voll- kommener Schärfe angeben läßt, hinausgehen*.
Alle diese Ausführungen sind von dem einmal gewähl- ten Ausgangspunkt aus durchaus folgerecht: aber es zeigt sich alsbald, daß es nicht möglich ist, durch sie den Grundriß des Gesamtgebäudes der wissenschaftlichen Geometrie, wie er sich geschichtlich gestaltet hat, wahr- haft zu gewinnen. Von der Annahme der ,, eigentlichen" Punkte, die tatsächliche Objekte der Beobachtung dar- stellen, sieht man sich, um den Beweisen wahrhafte Strenge und Allgemeinheit zu geben, zur Setzung „uneigent- licher" Gebilde gedrängt, die zuletzt nichts anderes sind, als ein Ergebnis eben jener ideellen Konstruktionen, die man ursprünglich auszuschalten versuchte. Die Begriffe vollständig bestimmter Punkte, Geraden und Ebenen werden auch hier gebraucht und dienen zur Grundlage für die Definition derjenigen Elemente, bei denen die geo- metrische Idee nur ungefähr und annähernd realisiert ist. Jede Näherungsgeometrie muß mit Voraussetzungen operie- ren, die sie der „reinen" Geometrie entnimmt; sie kann nicht zur Ableitung von Methoden dienen, von denen sie viel- mehr nur eine spezielle Anwendung ist**.
Der Versuch einer empirischen Begründung der Geo- metrie sieht sich demnach auf einen neuen Weg hingewiesen. Veronese, der an diesem Versuch zunächst festhält, gibt dem Gedanken doch alsbald eine neue Wendung, indem er betont, daß die geometrische „Möglichkeit" nicht allein auf die direkte äußere Beobachtung, sondern ebensowohl auf ,, geistige Tatsachen" zu basieren sei. Die geometrischen Axiome sind nicht Abbilder der wirklichen Verhältnisse der Sinneswahrnehmung, sondern sie sind Forderungen, vermöge deren wir in die ungenaue Anschauung genaue Aus- sagen hineinlegen. Der Rohstoff, den uns die sinnlichen
* Pasch, Vorlesungen über neuere Geometrie, S. 17 f. ** Vgl, hierzu die Kritik des Pasch' sehen Systems bei Veronese, S. 655 ff. und bei W e 1 1 s t e i n , a. a. O., S. 128 f.
136
Eindrücke liefern, muß, um als Ansatz für mathematische Betrachtungen brauchbar zu werden, durch unseren Geist verarbeitet werden: und dieses ,, subjektive" Element ist es, das in der reinen Mathematik, der Geometrie und der rationalen Mechanik den Vorrang vor dem ,, objektiven" behauptet. Wenngleich somit auch hier die Geometrie nach wie vor als exakte Experimentalwissenschaft bestimmt wird, so ist doch die logische Rolle der Erfahrung eine völlig andere geworden. Wir gehen von ,, empirischen Vorbetrach- tungen", von gewissen Grundtatsachen der sinnlichen An- schauung aus: aber diese Tatsachen gelten uns, nach dem Platonischen Wort, nur als das „Sprungbrett", von dem aus wir uns sogleich zur Betrachtung von allgemeinen Bedingungs- zusammenhängen erheben, die im Bereich des Wahrnehm- baren keinerlei Korrelat mehr besitzen. Die sinnlichen Inhalte bilden somit zwar den ersten Anlaß, aber keineswegs die Grenze der mathematischen Begriffsbildung, noch den eigent- lichen Bestand dessen, was in ihr gewonnen wird. Sie dienen als erste Anregung: aber sie gehen als solche in das Ganze der deduktiven Begründung, das gänzlich unabhängig zu gestalten ist, nicht ein. Mit dieser Feststellung aber ist das Problem, vom Standpunkt der Erkenntniskritik, bereits entschieden: denn diese fragt nicht nach den Anfängen der Begriffe, sondern lediglich nach dem, was sie als Elemente der wissenschaftlichen Begründung bedeuten und wert sind. So ist es denn auch eine specifische Leistung des Intellekts, auf die man sich zuletzt zur Ableitung der Geometrien von mehreren Dimensionen berufen muß. In dem System von Pasch ist, wie Veronese bemerkt, die mehrdi- mensionale Geometrie zwar nicht a posteriori, aber doch a pri- ori, d. h. zwar nicht tatsächlich, aber doch methodisch ausge- schlossen. Denn die Daten der Beobachtung versagen sich je- dem Versuch, in ein Gebiet, das jenseit unserer räumlichen An- schauungsmöglichkeiten liegt, vorzudringen. Was hierzu erfor- dert wird, ist stets ein reiner Akt der Konstruktion: eine mög- liche,, geistige Handlung", in der wir über das Gegebene hinaus- greifen, wobei indes das neue erzeugte Element von vornherein dadurch bestimmt ist, daß wir es gewissen allgemeinen Re-
136
lationsgesetzen unterworfen denken. Da die Axiome, Sätze und Beweise der Geometrie von Anfang an der Bedingung gehorchen mußten, kein nicht definiertes Anschauungselement zu enthalten, so muß, auch wenn wir auf die Anschaulichkeit überhaupt verzichten, zum mindesten ein rein hypothetischer Zusammenhang abstrakter Wahrheiten zurückbleiben, der in sich selbst der begrifflichen Untersuchung zugänglich ist. „Will man uns," so fügt Veronese hinzu, ,,der hier ausge- sprochenen Ideen wegen Rationalisten oder Idealisten nennen, so nehmen wir den Titel zum Unterschied von denje- nigen, welche dem mathematischen und geometrischen Geist ungerechtfertigterweise die größtmögliche logische Freiheit verweigern wollen und sich z. B. bei jeder neuen Hypothese fragen, ob sie eine wahrnehmbare Darstellung z. B. in der Geometrie eine wahrnehmbare rein äußere Darstellung besitze oder nicht. Wir nehmen den Titel aber nur unter der Be- dingung an, daß ihm keinerlei eigentlich philosophische Be- deutung beigelegt wird." Die ,, eigentlich philosophische" Bedeutung, die hier abgewehrt wird, soll — wie die Berufung auf P. du Bois Reymond beweist * — lediglich die Hyposta- sierung der mathematischen Ideale zu einer Art absoluter Existenzen bezeichnen: ihr rein begrifflicher Hypothesen- Wert aber wird hiervon nicht berührt**.
Die logische Freiheit, die damit für die geometrischen Begriffe gefordert ist, aber kann sich nicht lediglich auf die- jenigen unter ihnen beziehen, die mit mehr als dreidimensio- nalen Räumen operieren, sondern sie muß — sofern eine wahr- hafte Einheit der Grundlegung erzielt werden soll — bereits in den Methoden der gewöhnlichen Euklideischen Geometrie anerkannt werden. Wäre wirklich der ,, Punkt" dieser Geo- metrie nur das Bild eines außerhalb des Gedankens existieren- den Objekts, ,,weil es äußere Gegenstände gibt, welche uns direkt (!) die Vorstellung des Punktes liefern oder sie in uns erwecken und ohne welche es den eigentlich sogenannten Punkt nicht gibt"***, so wäre die Stetigkeit des Aufbaus der
* Näheres hierzu s. Kap. IV, S. 162 ff. ** S. Veronese, a. a. O., S. VIII ff., XIII ff., S. 658, 687 usw. ♦** Veronese, a. a. O. S. VU, vgl. S. 225 f.
137
Geometrie durchbrochen: denn welche begriffliche Analogie und Verwandtschaft besteht zwischen Elementen, die das Abbild vorhandener Dinge sind, und solchen, die rein aus „geistigen Handlungen" resultieren? Und umgekehrt: wenn jene intellektuellen Verfahrungsweisen ausreichen, das Element einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit zu setzen und zu be- gründen, welche Schwierigkeit hat es noch, kraft ihrer zugleich den speziellen Fall der drei Dimensionen zu gewinnen? In der Tat heben sich gerade dann, wenn man den Euklideischen Raum mit den anderen möglichen ,, Raumformen*' zusammen- hält, seine eigentümlichen begrifflichen Kennzeichen scharf hervor. Wenn er vom Standpunkt der Metageometrie leicht als bloßer Anfang, als gegebenes Material für weiter- gehende Entwicklungen aufgefaßt wird, so bedeutet er vom Standpunkt der Erkenntniskritik nichtsdestoweniger bereits das Ende einer komplizierten gedanklichen Opera- tionsreihe. Die psychologischen Untersuchungen über den Ursprung der Raumvorstellung, — auch diejenigen, die in rein sensualistischer Tendenz unternommen wurden — haben dies mittelbar bestätigt und zur Klarheit gebracht. Sie zeigen unverkennbar, daß der Raum unserer Sinnes- wahrnehmung mit dem Raum unserer Geometrie nicht gleich- bedeutend, sondern gerade in den entscheidenden, konstitu- tiven Merkmalen von ihm getrennt ist. Für die sinnliche Auffassung ist jede Unterscheidung des Ortes notwendig an einen Gegensatz im Inhalt der Empfindung geknüpft. „Oben" und „unten", ,, rechts" und ,, links" sind hier nicht gleichwertige Richtungen, die ohne Änderung miteinander vertauschbar wären, sondern sie bleiben, da ihnen völlig ver- schiedene Gruppen von Organempfindungen entsprechen, qualitativ eigenartige, nicht weiter aufeinander reduzierbare Bestimmtheiten. Im Raum der Geometrie dagegen sind alle diese Gegensätze aufgehoben. Das Element als solches besitzt keinen spezifischen Inhalt mehr, sondern alle Bedeutung er- wächst ihm lediglich aus der relativen Stellung, die es im Gesamtsystem einnimmt. Der Grundsatz der durch- gängigen Homogeneität der Raumpunkte vernichtet alle Unterschiede, die — wie die Differenz des Oben und
138
Unten — lediglich das Verhältnis der äußeren Dinge zu unserem Körper, also zu einem einzelnen, empirisch gegebenen Objekt betreffen*. Die Punkte sind, was sie sind, nur als Ansatz- punkte möglicher Konstruktionen: wobei die Forderung besteht, daß die Identität dieser Konstruktionen sich bei aller Verschiedenheit des Ausgangselementes erkennen und festhalten lasse. Auch die weiteren Momente des geometrischen Raumes, auch seine Stetigkeit und Unendlich- keit beruhen auf der gleichen Grundlage : sie sind in keiner Weise in den räumlichen Empfindungen bereits gegeben, sondern beruhen auf ideellen Ergänzungen, die wir an ihnen vornehmen. Der Schein, als sei die Stetigkeit des Raumes eine sinnlich-phänomenale Eigenschaft, ist durch die tiefere mathematische Analyse des Kontinuums, die durch die moderne Mannigfaltigkeitslehre durchgeführt worden ist, end- gültig beseitigt worden. Der Begriff des Kontinuums, den der Mathematiker voraussetzt und der in seinen Deduktionen ge- braucht wird, ist aus jenem unbestimmten Bilde des Raumes, das die sinnliche Anschauung uns darbietet, in keiner Weise zu gewinnen. Dieses Bild vermag gerade die letzte entschei- dende Differenz, durch die sich stetige Mannigfaltigkeiten von anderen unendlichen Inbegriffen abheben, niemals zur Darstellung zu bringen: keine noch so scharfe sinnliche Unter- scheidungskraft vermöchte noch irgendwelche Verschieden- heiten zwischen einer stetigen und einer diskreten Mannig- faltigkeit zu entdecken, sofern die Elemente der letzteren „überall dicht" liegen, d. h. zwischen je zwei beliebig nahen Gliedern sich immer noch ein Glied angeben läßt, das der Menge selbst angehört**. Wie das Gebiet der rationalen Zahlen sich durch eine Folge von Denkschritten all- mählich zum kontinuierlichen Inbegriff der reellen Zahlen er-
* Näheres über die Unterscheidung des „homogenen" geometrischen Raumes vom inhomogenen und „anisotropen" physiologischen Räume bei Mach, Erkenntnis u. Irrtum, Leipzig 1905, S. 331 ff. ; vgl. hierzu bes. die Darlegungen von Stumpf, Zur Einteilung der Wissenschaften (Abhandl. der Berliner Akademie d. Wiss., 1906, S. 71 ff).
** Erläuterungen und Beispiele hierzu bes. bei Huntington, The Continuum as a type of order, Annais of Mathematics, 2« ser., t.VI.u.VII (vgl. a. m.Aufs. „Kantu. die moderne Mathematik", Kant- Studien XII, 15ff.).
139
weiterte, so geht auch der Raum der Sinnlichkeit erst durch eine Reihe gedanklicher Umprägungen in den unendlichen, homogenen und stetigen Begriffsraum der Geometrie über. —
Es ist somit eine seltsame Anomalie, wenn man aus der Möglichkeit der Metageometrie auf die empirische Bedingtheit des Euklideischen Raumes geschlossen hat. Die Euklideische Geometrie hört nicht auf, ein rein rationales System von Bedingungen und Folgerungen zu sein, wenngleich sich zeigen läßt, daß neben ihr andere Systeme denkbar sind, die der gleichen logischen Strenge der Verknüpfung fähig sind. Gegen die Kantische Auffassung der Geometrie sind auf Grund derselben Prämissen, die aus der meta- geometrischen Betrachtungsweise geschöpft wurden, merk- würdigerweise zwei völlig entgegengesetzte Einwürfe laut geworden. Wenn man auf der einen Seite von diesen Prämissen aus die Reinheit und Apriorität des Raumes bestritt, so wurde anderseits eingewandt, daß in Kants eigener Dar- stellung eben die apriorische Freiheit der mathematischen Begriffe und ihre mögliche Ablösung von jeder sinnlichen Ver- deutlichung nicht genügend zum Ausdruck gekommen sei. Daß Kant die Axiome in der „reinen Anschauung** „gegeben" sein lasse: dies sei nur zu erklären „aus jenem Erdenrest von Sensualismus, der dem Kantschen Idealismus noch anhaftet*". Von diesen beiden entgegengesetzten Einwänden besitzt lediglich der letztere einen völlig konsequenten und klaren Sinn. Nicht der empirische, sondern der logische Charakter der Grundbegriffe ist durch die moderne Erweiterung des Gebiets der Mathematik bestätigt und von einer neuen Seite her beleuchtet worden. Die Rolle, die man jetzt noch der Erfahrung zusprechen mag, liegt niemals in der Be- gründung der einzelnen Systeme, sondern in der Aus- wahl, die wir zwischen ihnen zu treffen haben. Da alle Systeme — so folgert man — der logischen Struktur nach gleichwertig sind, so bedarf es eines Prinzips, das uns in ihrer Anwendung leitet: und dieses Prinzip kann, da es sich hier nicht mehr um bloße Möglichkeiten, sondern um den Begriff und das Problem des Realen selbst handelt, nirgends anders
♦ Wel 1 8 t e i n , a. a. O. S. 146.
140
als in der Beobachtung und dem wissenschaftlichen Ex- periment gesucht werden. Das Experiment dient somit zwar niemals als Beweis oder auch nur als Stütze des mathe- matischen Begründungs-Zusammenhangs, der vielmehr rein aus sich selbst feststehen muß : aber es weist den Weg von der Wahrheit der Begriffe zu ihrer Wirklichkeit. Die Beobachtung schließt die Lücke, die die rein logische Bestimmung zurück- gelassen hatte: sie führt von den vieldeutigen Raumformen der Geometrie zu dem eindeutigen Raum der physischen Gegenstände. —
Diese Auffassung führt indessen bereits über die Grenzen der reinen Mathematik hinaus und endet bei einem Problem, das seine vollständige Bestimmung erst durch die erkenntnis- kritische Zergliederung des Verfahrens der Physik erhalten kann. Es ist die Frage nach der Methode und dem Erkenntnis- wert des physikalischenExperiments selbst, die jetzt in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Wenn man vom Experiment die Bestätigung oder Widerlegung eines bestimmten Inbegriffs mathematischer Hypothesen erwartet, so ist es hierbei wesentlich im Baconischen Sinne des „experimentum crucis" verstanden. Die Erfahrung und die Hypothese gehören danach getrennten Gebieten an: jede steht für sich und kann für sich allein in Funktion treten. Die „reine" Erfahrung, die abgelöst von jeder begrifflichen Voraus- setzung gedacht ist, wird zum Richter über den Wert oder Unwert einer bestimmten theoretischen Annahme aufgerufen. Die kritische Zergliederung des Erfahrungsbegriffs zeigt da- gegen, daß die Trennung, die hier vorausgesetzt wird, einen inneren Widerspruch in sich schließt. Niemals steht auf der einen Seite die abstrakte Theorie, während ihr auf der andern Seite das Beobachtungsmaterial, so wie es an und für sich und ohne jegliche begriffliche Deutung sich ausnimmt, gegenüber- steht. Vielmehr muß dieses Material, wenn anders wir ihm irgendeine Bestimmtheit zusprechen sollen, stets bereits die Züge irgendeiner begrifflichen Formung in sich tragen. Wir können den Begriffen, die es zu prüfen gilt, die Erfahrungs- daten niemals als nakte ,,Fakta" entgegenstellen: sondern es ist zuletzt stets ein bestimmtes logisches System der
141
Verknüpfung des Empirischen, das an einem anderen der- artigen System gemessen und von ihm aus beurteilt wird.* Ist aber das messende Experiment in dieser Weise stets an ein Ganzes von Voraussetzungen gebunden, in welchen sowohl rein geometrische Grundannahmen über den Raum, wie kon- kret physikalische Annahmen über das Verhalten der Körper einbegriffen sind, so ist es klar, daß von ihm innerhalb des Widerstreits der geometrischen Systeme zum mindesten niemals eine eindeutige Entscheidung zu erwarten ist. Wo immer ein experimentell gewonnener Maßwert dem Werte, der auf Grund der deduktiven Theorie zu fordern wäre, widerspricht, da bleibt es uns überlassen, ob wir die geforderte Einstimmigkeit zwischen Begriff und Beobachtung dadurch wiederherstellen, daß wir den mathematischen oder aber den physikalischen Teil unserer abstrakten Hypothese einer Änderung unter- werfen. Und dieses letztere Verfahren ist es, zu dem der Gedanke sich zweifellos zunächst entschließen würde. Die mögliche Variation der Bedingungen folgt selbst bestimmten Regeln und ist an eine gewisse Abfolge gebunden. Ehe wir daran gehen würden, auf Grund der Ergebnisse astronomischer Messungen von der Geometrie Euklids zur Geometrie Lobatschefskis überzugehen, hätten wir zunächst zu versuchen, dem neuen Resultat durch eine veränderte Auffassung der physikalischen Gesetzeszusammenhänge Rechnung zu tragen, indem wir etwa die Annahme der streng geradlinigen Fort- pflanzung des Lichts einer Revision unterziehen. Dieser Sachverhalt ist in den Kämpfen um die Prinzipienlehre der Geometrie von philosophischer Seite immer wieder aufs neue hervorgehoben worden; aber es scheint, daß er erst durch die Darlegungen Poincar6s, die in dieser Hin- sicht in der Tat entscheidend sind, auch innerhalb der Mathe- matik zum Bewußtsein und zu immer allgemeinerer An- erkennung gelangt ist. Alle unsere Erfahrungen — so hebt Poincar6 mit Recht hervor — beziehen sich stets nur auf das Verhältnis der Körper untereinander und ihre wechselseitigen physikalischen Wirkungen, niemals aber auf das Verhältnis,
* Vgl. hier die eingehendere Begründting in Kap. IV, bes. Abachn. IV. 142
das die Körper zum reinen geometrischen Räume, oder das die Teile dieses Raumes unter sich selbst besitzen. Es ist daher vergeblich, Belehrungen über das „Wesen" des Raumes von einem Verfahren zu erwarten, das gemäß seiner gesamten Tendenz und Anlage auf eine völlig andere Fragestellung hin- zielt. Da die Objekte, von welchen die Erfahrung handelt, von gänzlich anderer Art als die Gegenstände sind, von denen die Aussagen der Geometrie gelten wollen — da der Versuch an materiellen Dingen die idealen Kreise oder Geraden niemals unmittelbar berührt und trifft — so gelangen wir auch auf diese Weise niemals zu einer Entscheidung zwischen den verschiedenen Wegen, die die geometrische Begriffsbildung einzuschlagen vermag*. —
Somit sehen wir uns, wenn die Wahl zwischen den mannig- fachen Systemen nicht gänzlich der subjektiven Willkür anheimgegeben bleiben soll, wiederum vor die Aufgabe gestellt, ein rationales Kriterium der Unterscheidung zu ent- decken. Die logische Widerspruchslosigkeit, die all diesen Systemen zukommt, ist lediglich eine negative Be- dingung, die sie sämtlich miteinander teilen. Aber innerhalb der Gemeinsamkeit, die hierdurch begründet ist, sind die Differenzen im prinzipiellen Aufbau und in der relativen Einfachheit dieses Aufbaus nicht ausgelöscht. Vom Standpunkt des Satzes der Identität und des Widerspruchs mag der Gedanke der Heterogeneität des Raumes dem der Homogeneität in der Tat gleich zu stehen scheinen; aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß nichtsdestoweniger innerhalb der rationalen Systematik des Wissens der Begriff der Gleichförmigkeit, in den ver- schiedensten Gebieten, überall dem der Ungleichförmigkeit vorausgeht. Das Ungleichförmige wird im Fortschritt der konstruktiven Synthesen stets aus dem Gleichförmigen durch Hinzufügung einer neuen Bedingung gewonnen und stellt somit eine komplexere gedankliche Bildung dar. Die Form des Euklideischen Raumes ist somit in der Tat in demselben Sinne ,, einfacher" als irgendeine andere
Vgl. Poincarö, La Science et l'Hypothese, Chap. 3 — 5.
143
Raumform, wie innerhalb der Algebra ein Polynom ersten Grades einfacher ist als ein Polynom zweiten Grades*. In der Ordnung des Wissens zum mindesten besteht hier eine notwendige und "eindeutige Abfolge: diese Ordnung des Wissens aber ist es, durch die wir, in der erkenntniskritischen Betrachtung, die Ordnung der Gegenstände bestimmen. Die Differenzen zwischen dem Euklideischen Raum und dem Raum, wie er sich in der Hypothese Lobatschefskis oder Riemanns darstellt, treten erst dann heraus, wenn wir Teile dieser Räume, die eine bestimmte Größe über- schreiten, einander gegenüberstellen. Beschränken wir uns dagegen auf das erzeugende Element all dieser Räume, so ist hier die Unterscheidung aufgehoben. Für die Maßbestimmung im Infinitesimalen gilt somit ohne weiteres die Euklideische Norm, die sich eben damit im prinzipiellen Sinne als die eigentlich grundlegende erweist. Sie stellt das erste und fundamentale Schema auf, an welches alle anderen Konstruktionen anknüpfen und über dem sie sich erheben. Die Gleichförmigkeit des Euklideischen Raumes ist in der Tat nur der Ausdruck dafür, daß er lediglich als reiner Re- lations- und Konstruktionsraum gefaßt ist, alle sonstige inhalt- liche Bestimmtheit aber, die auf einen Unterschied der ab- soluten Größen und der absoluten Richtung führen könnte, von ihm ferngehalten ist**. Sofern in der reinen Geometrie absolute Größenbestimmungen überhaupt setzbar und zulässig sind, so stützen sie sich doch stets auf einen allgemeinen Relationszusammenhang, der zuvor unabhängig entwickelt worden ist und der durch sie nur im einzelnen, durch Hinzufügung besonderer Bedingungen, näher bestimmt wird. —
So bleibt der Euklideische Raum freilich eine begriffliche Hypothese, die sich einem System möglicher Hypo- thesen überhaupt einreiht: aber er besitzt nichtsdestoweniger
* Vfjl. P o i n c a r 6, a. a. O. S. 61. ♦• Vgl. z.B. Graßmann, Ausdehnungslehre von 1844, §22: „Die Einfachheit des Raumes wird ausgeea^ in dem Grundsatze: Der Raum ist an allen Orten und nach allen Richtungen gleich beschaffen, das heißt an allen Orten und nach allen Richtungen können gleiche Konstruktionen vollzogen werde n.*'
144
innerhalb dieses Systems einen eigentümlichen Vorzug des Wertes und der Geltung. Aus einem Inbegriff reiner logisch- mathematischer Formen greifen wir eine Mannigfaltigkeit, die bestimmten rationalen Forderungen entspricht, heraus und versuchen mit ihrer Hilfe die Bestimmtheit des Realen darzustellen und durchsichtig zu machen. Damit aber ist freilich nicht ausgeschlossen, daß neben dem Grund- system auch die komplexeren Systeme eine bestimmte Sphäre der Anwendung besitzen, in der auch sie zu konkreter Be- deutung gelangen. Zunächst nämlich sind die Ergebnisse, zu denen diese Systeme hinleiten, vielfach selbst einer Deutung und Umsetzung fähig, die ihnen, wenigstens mittelbar, zur anschaulichen Darstellung verhilft. Die Verhältnisse der Lobatschefskischen Geometrie finden, wie B e 1 1 r a m i ge- zeigt hat, ihre genaue Entsprechung und Abbildung in der Geometrie der pseudosphärischen Flächen, die selbst einen besonderen Ausschnitt aus der gewöhnlichen Euklideischen Geometrie darstellt; — während der ,, elliptischen Geometrie" der Ebene, wie R i e m a n n sie entwickelt hat, die Geometrie der Kugeloberfläche innerhalb des Euklideischen Raumes von drei Dimensionen entspricht. Und auch dann, wenn wir zu Systemen höherer Dimensionen übergehen, bricht diese Möglichkeit der Rückbeziehung nicht ab. Wir können wiederum innerhalb unseres Anschauungsraumes selbst Gebilde aus- wählen, die in allen ihren gegenseitigen Bestimmungen den abstrakten Regeln gehorchen, die für irgendeine mehrdimen- sionale Mannigfaltigkeit abgeleitet und bewiesen worden sind. So bildet etwa die Mannigfaltigkeit aller Kugeln eine lineare Mannigfaltigkeit von vier Dimensionen, deren Form sich in der allgemeinen Geometrie untersuchen und feststellen läßt*. Aber selbst wenn wir auf diese Zurückführung auf bekannte räumliche Verhältnisse und Probleme verzichten, so ist damit die Möglichkeit, die Sätze der Nicht-Euklideischen Geometrie derart zu interpretieren, daß ihnen ein bestimmter konkreter ,,Sinn" entspricht, nicht ausgeschlossen. Denn alle diese Sätze sprechen nur ein Ganzes von Beziehungen aus.
♦ Näheres bei W e 1 1 s t e i n , a. a. O. S. 102. Cassirer, Substanzbegriff \q X45
während sie über den Charakter der Einzelglieder, die in diese Beziehungen eingehen, keine endgültige Bestimmung treffen. Die Punkte, von denen sie handeln, sind nicht selb- ständige Dinge, denen an und für sich irgendwelche Be- schaffenheit zukäme, sondern sie sind lediglich die vorausgesetzten Termini der Relation selbst und erhalten in ihr und durch sie erst all ihre Eigenart. (Vgl. ob. S. 123 ff.) Wo uns daher irgendein Inbegriff entgegentritt, der den Regeln der Verknüpfung in irgendeiner dieser allgemeinen Beziehungslehren gemäß ist, da ist damit — gleichviel, welche qualitativen Merkmale seine Elemente aufweisen mögen und ob sie sich räumlich veranschaulichen lassen — ein Gebiet der Anwendung der abstrakten Sätze nachgewiesen und abgegrenzt. Sofern die Physik uns Systeme darbietet, die zu ihrer vollständigen Darstellung eine Mehrheit von Bestimmungsstücken erfordern, läßt sich, un- abhängig davon, ob diese Bestimmungsstücke eine räum- liche Deutung zulassen, von einem Mannigfaltigen mehrerer „Dimensionen" sprechen, das gemäß den zuvor entwickelten deduktiven Gesetzen dieser Mannigfaltigkeiten zu beurteilen und zu behandeln ist.
In jedem Fall aber ergibt sich nunmehr, daß die rein rationale Form der geometrischen Begriffsbildung, wie sie sich fortschreitend immer genauer festgestellt hat, durch die metageometrischen Betrachtungen nicht bedroht, sondern vielmehr bestätigt wird. Selbst wenn man allen Zweifeln Eingang verstattet, die durch diese Betrachtungen geweckt werden mögen: so betreffen diese Zweifel doch niemals den eigentlichen Grund der Begriffe, sondern stets nur die Möglichkeit ihrer empirischen Anwendung. Daß die Er- fahrung, in ihrer jetzigen wissenschaftlichen Gestalt, nirgends einen Anlaß darbietet, über die Euklideische ,, Raum- form" hinauszuschreiten, wird hierbei übrigens auch von den radikalsten empiristischen Kritikern ausdrücklich zuge- standen*. Vom Standpunkt unserer heutigen Kenntnisse — so schließen auch sie — sind wir zu dem Urteil berechtigt,
* S. Enriques, Problemi della Scienza, Bologna 1906, S. 293 ff . 146
daß der physische Raum ,, positiv als Euklideisch anzusehen ist". Nur die Möglichkeit sollen wir uns nicht verschließen, in einer entfernten Zukunft vielleicht einmal auch hier einen Wandel eintreten zu lassen. Wenn sich irgendwelche sicher festgestellte Beobachtungen bieten, die mit unserem bisherigen theoretischen System der Natur nicht übereinstimmen und die auch durch keine noch so weitgehende Veränderung in den physikalischen Grundlagen dieses Systems mit ihm in Einklang zu setzen sind, wenn somit alle begrifflichen Ab- änderungen innerhalb eines engeren Bezirks bereits ver- geblich versucht worden sind: dann erst darf der Gedanke eintreten, ob nicht die verlorene Einheit durch einen Wechsel der „Raumform" selbst wieder hergestellt werden könne. Aber selbst wenn man mit derartigen Möglichkeiten rechnet, so würde hierdurch doch nur der Satz bestätigt, daß — sobald man den Boden der Wirklichkeits- bestimmung betritt — keine Setzung, wie zweifellos sie immer erscheinen mag, den Anspruch auf absolute Gewißheit erheben darf. Nur die reinen Bedingungs- zusammenhänge selbst, die die Mathematik aufstellt, gelten unbeschränkt, während die Behauptung, daß es Existenzen gibt, die diesen Bedingungen in allen Stücken ent- sprechen, stets nur relative und somit problematische Be- deutung besitzt. Das System der allgemeinen Geometrie beweist indes, daß diese Problematik den logischen Charakter des mathematischen Wissens als solchen nicht berührt. Es zeigt, daß der reine Begriff für alle nur erdenklichen Änderungen in der empirischen Beschaffenheit der Wahr- nehmungen seinerseits vorbereitet und gerüstet ist; die universellen Reihenformen bieten die Handhabe, jegliche Ordnung des Empirischen zu verstehen und logisch zu be- herrschen.
10* 147
Viertes Kapitel: Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung.
I. Die logische Natur der reinen Funktionsbegriffe findet im System der Mathematik ihre deutlichste Ausprägung und ihren vollkommensten Beleg. Hier ist ein Gebiet freiester und universeller Betätigung erschlossen, in der das Denken über alle Schranken des „Gegebenen" hinauswächst. Die Gegenstände, die wir betrachten und in deren objektive Natur wir einzudringen suchen, haben kein anderes als ein ideales Sein; alle Beschaffenheiten, die wir von ihnen aus- sagen können, fließen einzig und allein aus dem Gesetz ihrer ursprünglichen Konstruktion. Aber gerade an diesem Punkt, an dem die Produktivität des Denkens sich am reinsten ent- faltet, scheint zugleich seine eigentümliche Schranke zutage zu treten. Die mathematischen Konstruktionsbegriffe mögen innerhalb ihres engeren Bereichs fruchtbar und unent- behrlich .sein: aber es fehlt ihnen, wie es scheint, ein wesent- liches Moment, um als Beispiel für den ganzen Umkreis der logischen Aufgaben, um als Typus für die Beschaffenheit des Begriffs überhaupt zu dienen. Denn so sehr die Logik sich im „Formalen" beschränkt, so ist dennoch in ihr der Zusammenhang mit den Problemen des Seins nirgends abgebrochen. Die Struktur und Verfassung des Seins ist es, die der Begriff, die das logisch gültige Urteil und Schluß- verfahren treffen wollen. Die Aristotelische Auffassung und Begründung der Syllogistik setzt diesen Gedanken überall voraus: die Ontologie gibt den Grundplan für den Aufbau der Logik ab. (S. ob. S. 4 ff.) Ist dies aber der Fall, so kann die Mathematik nicht länger als Vorbild und Muster gelten, da gerade ihr, die sich streng innerhalb des Gebiets
US
ihrer selbstgeschaffenen Bildungen hält, die Sorge um das Sein prinzipiell fernbleibt. Die Verschiedenheit zwischen den „Gattungsbegriffen" im Sinne der traditionellen logischen Auffassung und den mathematischen Konstruktionsbegriffen mag somit freilich zugestanden werden: aber man könnte versucht sein, diese Verschiedenheit dadurch zu erklären, daß innerhalb der Mathematik die letzte und ab- schließende Leistung des Begriffs nicht erstrebt und demgemäß nicht erreicht werde. Die freiwillige Beschränkung, die wir uns in ihr auferlegen, ist berechtigt; — aber sie würde zum methodischen Fehler werden, sobald wir versuchen wollten, von dem engen Bezirk aus, den wir uns hier abgesteckt haben, das Ganze der logischen Probleme zu bestimmen. Die Ent- scheidung über Art und Richtung der Logik kann nicht durch eine Betrachtungsweise erfolgen, die einseitig im Ideellen verharrt. Vielmehr sind es die wahrhaften Seinsbegriffe, sind es die Aussagen über die Dinge und ihre wirklichen Be- schaffenheiten, die hier den eigentlichen Maßstab zu bilden haben. Die Frage nach der Bedeutung und der Funktion des Begriffs erhält erst an den Naturbegriffen ihre endgültige und abgeschlossene Formulierung. »
Geht man indessen von dieser Fassung des Problems aus, so scheint sich die Lösung alsbald zugunsten. der traditionellen logischen Auffassung zu verschieben. Die Naturbegriffe kennen keine andere Aufgabe und dürfen keine andere kennen, als die gegebenen Wahrnehmungstatsachen nachzubilden und ihren Gehalt in abgekürzter Form wiederzugeben. Hier ist es die Beobachtung allein, auf der Wahrheit und Gewißheit des Urteils beruhen; hier bleibt keine schöpferische Freiheit und Willkür des Denkens übrig, sondern die Art des Begriffs ist von vornherein durch die Art des Materials bestimmt und vorgeschrieben. Je mehr wir uns von den eigenen Bil- dungen, von den eigenen ,, Idolen" des Geistes freimachen, um so reiner stellt sich uns das Bild der äußeren Wirklichkeit dar. Die passive Hingabe an das Objekt ist es, was hier dem Begriff erst seine Kraft und Wirksamkeit zu sichern scheint. Damit aber stehen wir wiederum gänzlich innerhalb der allgemeinen Grundauffassung, die ihren logischen Ausdruck
149
in der Theorie der Abstraktion gefunden hat. Der Begriff ist nur die Kopie des Gegebenen; er bezeichnet nur gewisse Züge, die in der Wahrnehmung als solcher vor- handen und aufzeigbar sind. (Vgl. ob. S. 6.) Die all- gemeine Auffassung vom Sinn und von der Aufgabe der Naturwissenschaft entspricht denn auch durchaus dieser Anschauung. Der gesamte Gehalt und die Sicherheit des naturwissenschaftlichen Begriffs hängt danach von der Be- dingung ab, daß er kein Element enthält, das nicht innerhalb der Welt der Wirklichkeit sein genaues Gegenstück besitzt. Die Theorie mag freilich, um eine bestimmte Erscheinungs- gruppe vollständig darzustellen, gewisse hypothetische Momente aufnehmen und verwenden; aber auch für diesen Fall gilt die Forderung, daß jeder Bestandteil, der auf diese Weise eingeführt wird, sich zum mindesten in einer möglichen ^//t Wahrnehmung beglaubigen und rechtfertigen lassen muß. Die Hypothese bezeichnet nur eine Lücke unseres Wissens; sie bedeutet die Annahme bestimmter Empfindungsdaten, die uns bisher durch keine direkte Erfahrung zugänglich waren, die aber nichtsdestoweniger ihrer Beschaffenheit nach den wirklich wahrgenommenen Elementen als durchaus gleich- artig angesehen werden. Die vollkommene Er- kenntnis könnte auf dieses asylum ignorantiae verzichten: für sie würde die Wirklichkeit klar und übersichtlich in tat- sächlichen Wahrnehmungen gegeben und erschöpft sein. ♦
Die gesamte moderne Philosophie der Physik stellt sich auf den ersten Blick lediglich als die immer strengere und kon- sequentere Durchbildung dieser Grundansicht dar. In dieser Ansicht allein schien die Möglichkeit gegeben, Erfahrung und naturphilosophische Spekulation scharf gegeneinander ab- zugrenzen, schien somit eine notwendige Bedingung bezeiclmet zu sein, durch die der wissenschaftliche Begriff der Physik erst zur Bestimmtheit und Vollendung gelangt. Dem metaphysischen Ideal der Naturerklärung tritt jetzt die be- scheidenere Aufgabe gegenüber, das Wirkliche vollständig und eindeutig zu beschreiben. Wir greifen nicht mehr über das Gebiet des Empfindbaren hinaus, um die unerfahr- baren absoluten Ursachen und Kräfte zu entdecken, auf denen
160
die Mannigfaltigkeit und die Veränderung unserer Wahr- nehmungswelt beruht. Den Inhalt der Physik bilden vielmehr einzig und allein die Phänomene selbst in der Form, in der sie uns unmittelbar zugänglich sind. Farben- und Toneindrücke, Geruchs- und Geschmacksempfindungen, sinnliche Muskelgefühle und Druck- und Berührungswahr- nehmungen sind das einzige Material, aus welchem auch die Welt des Physikers sich aufbaut. Was diese Welt mehr zu enthalten scheint, was in Begriffen, wie Atom oder Molekül, Äther oder Energie, hinzugebracht wird, das ist in Wahrheit kein prinzipiell neues Element, sondern nur eine eigentümliche Verkleidung, in welcher die Sinnesdaten auftreten. Die durchgeführte logische Analyse führt auch diese Begriffe auf das Maß ihrer Bedeutung zurück, indem sie sie als Symbole für bestimmte Eindrücke und Komplexe von Eindrücken wiedererkennt. Die Einheit der physikalischen Methodik scheint erst hierdurch wahrhaft gesichert zu werden: denn jetzt sind es nicht mehr heterogene Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzt, sondern im Allgemeinbegriff der Empfin- dung ist nunmehr gleichsam der gemeinschaftliche Nenner fixiert, auf den alle Aussagen über die Realität sich zuletzt reduzieren lassen müssen. Was sich dieser Zurückführung ent- zieht, das erweist sich eben damit als ein willkürlich ein- geführter Faktor, der im endgültigen Ergebnis wieder zu verschwinden hat. Das Ziel einer Philosophie der Physik wäre erreicht, wenn wir jeden Begriff, der in eine physikalische Theorie eingeht, in eine Summe von Wahrnehmungen auf- lösen und durch diese Summe ersetzen, wenn wir von den ge- danklichen Abkürzungen, als welche sich alle Begriffe zuletzt erweisen, wieder den Rückweg zur konkreten Fülle der empirischen Einzeltatsachen vollziehen könnten. Die Aus- schaltung aller Elemente, die kein direktes sinnliches Korrelat in der Welt der wahrnehmbaren Dinge und Vorgänge besitzen, wäre demnach das eigentliche logische Ideal der Physik.« Wie immer man indes über die Rechtfertigung- dieses Ideals urteilen mag: schon seine Fassung enthält eine Zweideutigkeit, die es zunächst zu beseitigen gilt. Die Schilde- rung des tatsächlichen Bestandes der physikalischen
161
Theorien verquickt sich mit einer allgemeinen Forderung, die an eben diese Theorien gestellt wird. Welches der beiden Momente ist hier das ursprüngliche und maßgebende? Ist es lediglich das wirkliche Verfahren der Wissenschaft selbst, das hier nur auf seinen einfachsten und kürzesten Ausdruck gebracht wird, oder wird umgekehrt dieses Verfahren an einer all- gemeinen Theorie des Erkennens und der Wirklichkeit ge- messen, die über seinen Wert entscheiden soll? In diesem letzteren Falle wäre, wie immer auch das schließliche Ergebnis lautet, die Methode der Betrachtung nicht prinzipiell geändert. Wieder wäre es jetzt eine bestimmte Metaphysik der Erkenntnis, die der Physik die Wege zu weisen suchte. Die Entscheidung in dieser Frage kann nur gewonnen werden, wenn man dem Gange der physikalischen Forschung selbst folgt und die Leistung des Begriffs, die sich hier betätigt, unmittelbar in ihrer Wirksamkeit betrachtet. Dieselbe Un- befangenheit, die der positivistische Kritiker gegenüber den Tatsachen der Sinneswahrnehmung verlangt, muß auch gegen- über den komplexeren Tatsachen des Wissens gefordert werden. Auch hier besteht die erste Aufgabe darin, das „Faktische" der naturwissenschaftlichen Theorie selbst rein aufzufassen, ehe über den Wert oder Unwert der Wirklichkeits- ansicht, die sie enthält, entschieden wird. Ist diese Theorie in der Art, wie sie geschichtlich vorliegt, in der Tat nur eine Sammlung von Beobachtungen, die sich wie an einem Faden nebeneinander aufreihen, oder enthält sie Momente in sich, die einem anderen logischen Typus angehören und somit eine andere Begründung verlangen? —
II.
Schon das erste und auszeichnende Merkmal, das sich bei der Betrachtung jeder naturwissenschaftlichen Theorie unmittelbar aufdrängt, birgt eine eigentümliche Schwierigkeit, sobald man es vom Standpunkt der allgemeinen logischen Grund- forderung der Beschreibung des Gegebenen betrachtet. Die Theorien der Physik empfangen ihre Bestimmt- heit erst von der m a t h e m a t i s c h e n F o r m , in der sie
152
sich darstellen. Die Funktion des Z ä h 1 e n s und Messens ist unentbehrlich, um auch nur den Rohstoff an „Tatsachen" herbeizuschaffen, die durch die Theorie wiedergegeben und in ihr vereinigt werden sollen. Von ihr absehen hieße zugleich die Sicherheit und Klarheit der Tatsachen selbst aufheben. So selbstverständlich indessen, ja so trivial dieser Zusammen- hang erscheinen mag: so paradox ist er im Grunde, sobald wir auf die allgemeinen Erwägungen über das Prinzip der mathematischen Begriffsbildung zurückblicken. Immer schärfer und deutlicher hatte es sich gezeigt, daß aller Inhalt, der den mathematischen Begriffen eignet, auf einer reinen Kon- struktion beruht. Das Gegebene der Anschauung bildet lediglich den psychologischen Ausgangspunkt: mathematisch erkannt ist es erst, sobald es einer Umdeutung unter- worfen worden ist, durch die es in eine andere Form der Mannigfaltigkeit umgeprägt wird, die wir nach rationalen Gesetzen hervorbringen und beherrschen können. Jede der- artige Umdeutung aber muß offenbar dort verworfen werden, wo es sich lediglich um die Auffassung des Gegebenen als Gegebenen in seiner eigentümlichen individuellen Struktur und Beschaffenheit handelt. Für die Aufgabe der Naturerkenntnis, im positivistischen Sinne des Wortes, also ist der mathematische Begriff nicht sowohl ein rechtmäßiges und notwendiges Instrument, das wir neben Experiment und Beobachtung zur Anwendung bringen können, als vielmehr eine ständige Gefahr. Heißt es nicht das unmittelbare Dasein, das sich uns in der Sinnesempfindung erschließt, verfälschen, wenn wir es dem Schema unserer mathematischen Begriffe unterwerfen und damit die empirische Bestimmtheit und Gebundenheit des Seins wiederum in die Freiheit und Willkür des Denkens aufgehen lassen?
Und dennoch ist diese Gefahr, so klar sie auch durch- schaut werden mag, niemals zu umgehen oder zu beseitigen. Der Physiker mag sie als empiristischer Philosoph noch so eindringlich schildern: er ist ihr unmittelbar von neuem verfallen, sobald er sich als wissenschaftlicher Forscher betätigt. Es gibt keine exakte Konstatierung eines räumlich- zeitlichen Faktums, das nicht die Anwendung bestimmter
153
Zahlen und Maße in sich schließt. Man könnte an G^r Schwierigkeit, die hierin liegt, vorbeisehen, wenn es sich hierbei lediglich um die elementaren Begriffe und Gebilde der Mathe- matik handelte. Wenn das erste Keplersche Gesetz der Planetenbewegung von der reinen geometrischen Definition der Ellipse als Kegelschnitt, das dritte von den arithmetischen Begriffen des Quadrats und des Kubus Gebrauch macht, so mag hierin zunächst kein erkenntnistheoretisches Problem gesehen werden: gilt doch der naiven Auffassung Zahl und Gestalt selbst als eine Art physischer Eigenschaft, die den Dingen ebenso wie ihre Farbe oder ihr Glanz und ihre Härte anhaftet. (Vgl. oben, S. 36.) Je mehr indes im Fort- schritt der mathematischen Begriffsbildung dieser Schein zerstört wird, um so nachdrücklicher tritt die allgemeine Frage hervor. Denn gerade die komplexen mathematischen Begriffe, die keineriei Möglichkeit einer unmittelbaren Realisierung im Sinnlichen mehr besitzen, sind es, die im Aufbau der Mechanik und Physik fortdauernd zur Geltung kommen. Konzeptionen, die sich ihrem Ursprung und ihrer logischen Beschaffenheit nach völlig von der Anschauung trennen und sie prinzipiell überschreiten, führen zu fruchtbaren Anwendungen innerhalb der Anschauung selbst zurück. Dieses Verhältnis, das in der Analysis des Unendlichen seinen prägnantesten Ausdruck findet, bleibt dennoch nicht auf ihr Gebiet beschränkt. Selbst eine so abstrakte gedankliche Schöpfung wie das System der komplexen Zahlen liefert einen neuen Beleg dieses Zusammenhangs: wie denn z. B. K u m m e r den Gedanken durchgeführt hat, daß die Beziehungen, die innerhalb dieses Systems obwalten, in den Verhältnissen chemischer Verbindungen ihr konkretes Substrat besitzen. ,,Der chemischen Verbindung entspricht für die komplexen Zahlen die Multiplikation; den Elementen oder eigentlich den Atomgewichten derselben entsprechen die Primfaktoren; und die chemischen Formeln für die Zerlegung der Körper sind genau dieselben wie die Formeln für die Zerlegung der Zahlen. Auch selbst die idealen Zahlen unserer Theorie finden sich in der Chemie, vielleicht nur allzuoft, als hypothetische Radikale, welche bisher noch nicht dargestellt
154
worden sind, die aber, sowie die idealen Zahlen, in den
Zusammensetzungen ihre Wirklichkit haben Diese
hier angedeftteten Analogien sind nicht etwa als bloße Spiele des Witzes zu betrachten, sondern haben ihren guten Grund darin, daß die Chemie, so wie der hier behandelte Teil der Zahlentheprie, beide denselben Grundbegriff, nämlich den der Zusammensetzung, wenngleich innerhalb verschiedener Sphären des Seins zu ihrem Prinzipe haben*." Eben diese Übertragung von Gebilden, deren ganzer Inhalt aus einer Verknüpfung rein ideeller Konstruktionen stammt, auf die Sphäre des konkret-tatsächlichen Seins aber bildet das eigent- liche Problem.« Es zeigt sich schon hier, daß es eine eigen- tümliche Verflechtung ,, wirklicher" und — ,, nicht-wirklicher" Elemente ist, auf denen jede naturwissenschaftliche Theorie beruht. Sobald wir nur einen Schritt über die erste naive Beobachtung vereinzelter Tatsachen hinaus tun, sobald wir nach der Verknüpfung und dem Gesetz des Wirk- lichen fragen, haben wir damit bereits die strengen Grenzen, die die positivistische Forderung uns vorschreibt, überschritten. Wiederum müssen wir, um diese Verknüpfung auch nur scharf und adäquat bezeichnen zu können, auf ein System zurückgreifen, das nur allgemeine hypothetische Zu- sammenhänge von Gründen und Folgen entwickelt, auf die ,, Wirklichkeit" seiner Elemente dagegen prinzipiell ver- zichtet. Auch diejenige Form der Erkenntnis, der die Aufgabe zufällt, das Wirkliche zu beschreiben und bis in seine feinsten Fasern bloßzulegen, beginnt mit einer Abkehr von eben dieser Wirklichkeit und ihrem Ersatz durch die Symbole des Zahl- und Größengebiets. —
Schon die erste Phase jeglicher wissenschaftlicher Natur- theorie überhaupt bringt dies zum unzweideutigen Ausdruck. Der exakte Begriff der Natur wurzelt im Gedanken des Mechanismus und ist erst auf Grund dieses Gedankens erreichbar. Die Naturerklärung mag in ihrer späteren Ent- wicklung versuchen, sich von diesem ersten Schema zu be-
* Grelles Journal, Bd. 35, S. 360; oit. nach Hankel, Theorie der komplexen Zahlensysteme S. 104.
155
freien und ein weiteres und allgemeineres an seine Stelle zu setzen: dennoch bleibt die Bewegung und ihre Gesetze das eigentliche Grundproblem, an dem zuerst das Wissen zur Klarheit über sich selbst und seine Aufgabe gelangt. Die Wirklichkeit ist vollständig erkannt, sobald sie in ein System von Bewegungen aufgelöst ist. Diese Auflösung aber kann niemals gelingen, solange die Betrachtung im Umkreis der bloßen Wahrnehmungsdaten beharrt. Bewegung im all- gemeinen wissenschaftlichen Sinn ist nichts anderes als ein bestimmtes Verhältnis, das Raum und Zeit eingehen. Raum und Zeit selbst aber werden als Glieder dieses Grund- verhältnisses nicht mehr in ihren unmittelbaren, psychologi- schen und ,, phänomenalen" Eigenschaften, sondern in ihren streng mathematischen Bestimmungen vorausgesetzt. Solange wir unter dem Raum nichts anderes als eine Summe verschiedener Gesichts- und Tasteindrücke verstehen, die sich, je nach den besonderen physiologischen Bedingun- gen, unter denen sie zustande kommt, qualitativ voneinander unterscheiden, solange ist in ihm keine ,, Bewegung" im Sinne der exakten Physik möglich. Diese verlangt als Grundlage den stetigen und homogenen Raum der reinen Geometrie: Stetigkeit und Gleichförmigkeit aber eignen niemals dem Beisammen der sinnlichen Eindrücke selbst sondern nur derjenigen Mannigfaltigkeitsform, zu der wir sie kraft bestimmter gedanklicher Forderungen konstruktiv umschaffen. (S. oben, S. 139.) So wird denn auch die Be- wegung selbst von Anfang an in diesen Kreis einer rein begrifflichen Bedingtheit hineingezogen. Nur scheinbar bildet sie ein direktes Faktum der Wahrnehmung, ja das Grundfaktum, das alle äußere Beobachtung uns zuerst dar- bietet. Der Wechsel der Empfindungen, die qualitative Verschiedenheit successiver Vorstellungsinhalte mag allenfalls auf diese Weise erfaßbar sein: ab^r dieses Moment allein genügt keineswegs, um den strengen Begriff der Bewegung, dessen die Mechanik bedarf, zu begründen. Hier wird neben der Verschiedenheit die Einheit, neben der Veränderung die Identität gefordert: und diese Identität wird niemals durch die bloße Beobachtung verbürgt, sondern schließt eine eigentüm-
156
liehe Leistung des Denkens in sich. Die einzelnen Orte des Mars, die Kepler nach den Beobachtungen Tycho de Brahes zugrunde legt, enthalten für sich allein nicht den Gedanken der Marsbahn: und alle Häufung einzelner Lagebestimmungen ver- möchte zu diesem Gedanken nicht fortzuführen, wenn hier nicht von Anfang an ideelle Voraussetzungen wirksam wären, durch die die Lücken der tatsächlichen Wahrnehmung ergänzt und ausgefüllt werden. Was die Empfindung darbietet, ist und bleibt eine Mehrheit leuchtender Punkte am Himmel : erst der reine mathematische Begriff der Ellipse, der zuvor kon- zipiert sein muß, schafft dieses diskrete Aggregat zum stetigen System um. Jede Aussage über die einheitliche Bahn eines bewegten Körpers schließt die Angabe einer Unendlich- keit möglicher Stellen in sich: das Unendliche aber kann offenbar als solches nicht wahrgenommen werden, sondern entsteht erst in der gedanklichen Synthese und in der Anticipa- tion eines allgemeinen Gesetzes. Erst indem wir kraft dieses Gesetzes eine Bestimmtheit schaffen, die die Allheit der konstruktiv erzeugbaren Raum- und Zeitpunkte umfaßt, sofern sie jedem Moment der stetigen Zeit eine und nur eine Lage des Körpers im Räume zuordnet, ist damit die Bewegung als mathematisches Faktum gewonnen, r
So zeigt es sich hier von einer neuen Seite her, daß schon der erste Zugang zur Mechanik von Voraus- setzungen abhängt, die über das sinnlich Erfahrbare hin- ausgreifen. Die bekannte Kirchhoffsche Definition, die als Aufgabe der Mechanik die vollständige und eindeutige Be- schreibung der in der Natur vor sich gehenden Bewegungs- vorgänge bezeichnet, mag in dem Sinne, den ihr Urheber mit ihr verband, völlig zu Recht bestehen, ohne daß darum doch die philosophischen Folgerungen irgend gerechtfertigt wären, die aus ihr gewöhnlich gezogen werden. Kirchhoff selbst läßt keinen Zweifel darüber, daß die „Be- schreibung", auf die er hinzielt, die exakten mathematischen Grundgleichungen der Bewegung, und in ihnen die Begriffe des materiellen Punktes, der gleichförmigen und veränderlichen Geschwindigkeit sowie der gleichförmigen Beschleunigung zur Voraussetzung hat. Alle diese Begriffe können dem
157
mathematischen Physiker mit gutem Grund als feste und unmittelbare Data gelten; aber sie sind es keineswegs im Sinne der Erkenntnistheorie. Denn für sie gibt es eine „Natur", in welcher Bewegungen als beschreibbare Objekte sich vorfinden, nur als ein Ergebnis einer durchgängigen gedank- lichen Umformung des Gegebenen. Diese mathematische Umformung, die der Physiker als vollzogen voraussetzt, bildet in Wahrheit das eigentliche und ursprüngliche Problem. Ist einmal der Gedanke der Stetigkeit und Gleichförmigkeit des Raumes sowie der exakte Begriff der Geschwindigkeit und Beschleunigung erfaßt und begründet, so läßt sich in der Tat mit Hilfe dieses logischen Materials das Ganze der mög- lichen Bewegungserscheinungen völlig übersehen und seiner Form nach beherrschen: aber um so dringender erhebt sich nunmehr die Frage nach den intellektuellen Mitteln, kraft deren dieses Ergebnis erreicht wird.
Am schärfsten tritt diese ideelle Bedingtheit hervor, sobald man vom Prozeß der Bewegung zur Begriffs- bestimmung des Subjekts derBewegung übergeht. Wieder scheint es, als müsse dieses Subjekt sich direkt in der Wahrnehmung aufweisen lassen: ist es doch der Körper, ist es doch ein Komplex greifbarer und sichtbarer Eigen- schaften, dem die Bewegung als Merkmal zugesprochen wird. Der schärferen begrifflichen Analyse treten indessen schon an diesem Punkt eigentümliche Schwierigkeiten entgegen. Um als Subjekt der Bewegung zu gelten, muß der empirische Körper zuvor selbst eindeutig bestimmt und gegen alle anderen Gebilde unterschieden und abgegrenzt sein. Solange er selbst nicht in feste und unverrückbare Grenzen eingeschlossen ist, durch die er aus seiner Umgebung herausgehoben und als Ganzes von individueller Form erkannt wird — so lange vermag er auch keinen konstanten Bezugspunkt der Ver- änderung abzugeben. Die Körper unserer Wahrnehmungs- welt aber genügen nirgends dieser Bedingung. Sie verdanken ihre Bestimmtheit lediglich einer ersten und oberflächlichen Zusammenfassung, in welcher wir Raumteile, die mit an- nähernd denselben sinnlichen Merkmalen behaftet scheinen, zu einem Ganzen vereinen. Wo eine derartige Zusammen-
158
fassung anfängt und endet, ist mit absoluter Genauigkeit niemals zu bestimmen; ein schärferes sinnliches Unter- scheidungsvermögen würde uns dort, wo zwei verschiedene Körper sich zu berühren scheinen, einen beständigen wechsel- seitigen Austausch von Teilen und somit eine stete Ver- schiebung der Grenzflächen erkennen lassen. Erst indem wir dem Körper eine strenge geometrische Form bei- legen und ihn auf diese Weise aus dem Umkreis des bloß Wahrgenommenen zur Bestimmtheit des Begriffs erheben, hat er diejenige Identität erlangt, die ihn zum „Träger" der Bewegung tauglich macht. Und wie hier der genaue Abschluß des Körpers gegenüber allen Bestandteilen der äußeren Umgebung verlangt wird, so ist auf der anderen Seite zu fordern, daß er in sich selbst eine strenge Einheit darstellt. Sobald wir seine einzelnen Teile gegeneinander verschiebbar denken, ist die oberste Bedingung der Eindeutigkeit des Bezugspunkts wiederum verletzt : an Stelle der einen Bewegung sind so viele verschiedene getreten, als es selb- ständig verschiebbare Partikeln gibt. Somit muß ein System zugrunde gelegt werden, das, wie es nach außen abgeschlossen ist, so auch in sich selbst keiner weitergehenden Differenzierung und Zerfällung in eine Mehrheit unabhängig beweglicher Sub- jekte fähig ist. Der ,, starre" Körper der reinen Geometrie muß an die Stelle des wahrnehmbaren Körpers und seiner schrankenlosen Veränderlichkeit gesetzt werden, wenn die Grundlegung der exakten Bewegungslehre gelingen soll.
In der Tat ist die Notwendigkeit einer derartigen Um- formung des Problems von den Anhängern der Theorie der ,, Beschreibung" selbst ausdrücklich anerkannt und hervor- gehoben worden. Vor allem ist es Karl P e a r s o n , der in seinem Werk über die ,, Grammatik der Wissenschaft" diesen Prozeß mit Klarheit und Nachdruck geschildert hat. Es sind — wie er ausführt — niemals die Inhalte der Per- zeption als solche, die wir als Grundlagen für die Urteile der reinen Mechanik, als Ansatzpunkte für die Aussprache der Bewegungsgesetze brauchen können. Alle diese Gesetze können vielmehr mit Sinn nur von den idealen Grenz- gebilden ausgesagt werden, die wir begrifflich an Stelle
159
der empirischen Daten der Sinneswahrnehmung setzen. Be- wegung ist ein Prädikat, das niemals unmittelbar auf die ,, Dinge" der uns umgebenden Sinnenwelt anwendbar ist, sondern einzig allein von jener anderen Klasse von Ob- jekten gilt, die der Mathematiker ihnen in seiner freien Kon- struktion substituiert. Sie ist ein Faktum nicht der Emp- findung, sondern des Denkens; — nicht der ,,Perzeption", sondern der „Konzeption". „So befremdend es auf den ersten Blick erscheinen mag, so ist es nichtsdestoweniger wahr, daß unser Geist sich vergebens abmüht, die Bewegung von Etwas klar zu denken, wenn dieses Etwas nicht ein geometri- scher Punkt oder ein Körper ist, der von kontinuieriichen Ober- flächen begrenzt ist. Der Geist sträubt sich durchaus gegen den Gedanken jeder anderen Bewegung als die dieser reinen Denkschöpfungen, die nur Grenzen bezeichnen, die sich im Gebiet der Perzeption niemals tatsächlich aufzeigen lassen." Gruppen sinnlicher Eindrücke können sich verändern, können alte Bestandteile verlieren und neue gewinnen, können sich zu neuen Gruppen zusammensetzen: aber alle diese Wand- lungen bezeichnen noch in keiner Weise den eigentlichen Gegenstand der Mechanik. „Nur in der Region des Be- griffs können wir im strikten Sinne von der Bewegung der Körper sprechen: denn hier und nur hier sind es geome- trische Formen, die in der absoluten Zeit ihre Lage wechseln, d. h. sich bewegen." Die Widersprüche, in welche sich die Mechanik häufig verwickelt hat und die insbesondere in den Versuchen zutage getreten sind, die allgemeinen mechanischen Gesetze auf die Bewegungen des Äthers anzuwenden, erklären sich zum größten Teil daraus, daß man die beiden Erkenntnissphären, die hier einander gegenüber- stehen, nicht scharf und bestimmt voneinander schied. Diese Widersprüche schwinden, sobald man gelernt hat, sinnliche und begriffliche Momente nicht unmittelbar ineinander zu wirren, sobald man darauf verzichtet, eine gedankliche Schöpfung, die auf die Herstellung einer wissenschaftlichen Ordnung der Phänomene abzielt, selbst als phänomenalen Einzel- inhalt anschauen zu wollen. Was wir in der Physik allein ver- mögen, ist der Aufbau einer Welt von geometrischen Formen,
160
die in der Mannigfaltigkeit von Bewegungen, die wir ihnen zusprechen, die komplexen Einzelphasen unserer sinnlichen Erfahrung mit wunderbarer Genauigkeit wiedergeben und zur Darstellung bringen. Sobald wir aber diese ganze Gedanken- welt wiederum unmittelbar in die sinnliche Welt hinein- verlegen, sobald wir die logischen Momente, die sie vor- aussetzt, direkt in Bestandteile der Wirklichkeit umdeuten, die als solche durch die Empfindung zu erfassen wären, sind wir damit wiederum all den Antinomien verfallen, die jeder Art des Dogmatismus, dem physikalischen sowohl wie dem metaphysischen, notwendig anhaften*. Alle diese Ausführungen Pearsons sind vortrefflich: aber man fragt sich vergebens, wie unter diesen Voraussetzungen die Mechanik noch länger als rein beschreibende Wissenschaft aufgefaßt werden kann. Kann es noch eine Beschreibung der Wahrnehmungs- inhalte heißen, wenn an ihre Stelle ein Inbegriff geometrischer Ideale gesetzt wird, die als solche der Welt unserer Per- zeptionen notwendig fremd sind? Wenn die Aufgabe einer wahrhaft ,, objektiven" Beschreibung darin besteht, das Ge- gebene so getreu als möglich aufzufassen und keinen Einzelzug hinzuzufügen oder wegzulassen: so ist es hingegen gerade eine derartige Veränderung des anfänglichen Bestandes, was den Charakter und den Wert des begrifflichen Verfahrens der Physik ausmacht. Statt der bloßen passiven Wiedergabe sehen wir hier einen aktiven Prozeß vor uns, der das zunächst Gegebene in eine neue logische Sphäre überführt. Es wäre eine eigen- tümliche Weise, das Vorgefundene zu beschreiben, wenn wir uns zu diesem Zweck in lauter Begriffen bewegten, die selbst auf keine Weise mehr — ,, vorgefunden" werden können. Die Frage nach der Eigenart der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe mündet hier in ein allgemeineres Problem ein. Wir sahen, wie der erste Schritt der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung darin besteht, an Stelle der Glieder einer be- stimmten sinnlichen Mannigfaltigkeit die ideale Grenze einzuführen, die diese Mannigfaltigkeit abschließt. Das Recht einer derartigen Grenzsetzung aber vermag die
* S. Pearson, The Grennmar of Science, Second edition, London 1900, S. 198 ff., S. 239 ff., 282. 325 u. s.
Cassirer, Substanzbegriff U 161
Naturwissenschaft, solange sie sich rein innerhalb ihres Bezirks hält, nicht mehr vollständig zu erweisen: sondern es ruht auf allgemeinen logischen Prinzipien. Der Gewinn, der aus dieser Zurückführung der Frage gezogen werden kann, ist indessen gering, solange die Logik und die Erkenntnistheorie selbst an diesem Punkte nicht zur Klarheit durchgedrungen sind. Mehr als irgendwo aber scheinen beide hier in unlöslichen Schwierigkeiten befangen: und der einzige Ausweg, der dem klaren Denken bleibt, scheint darin zu bestehen, die Anti- nomien, die sich an diesem Punkte aufdrängen, nicht sowohl zu lösen, als sie vielmehr in ihrer Unlösbarkeit zu verstehen und anzuerkennen. In der Tat ist diese Entscheidung in neuerer Zeit von einem namhaften Mathematiker ausdrücklich vertreten worden. Die Betrachtung der mathematischen Grenz- begriffe führt nach ihm zu einem metaphysischen Grundproblem zurück, das, wie alle Probleme dieser Gattung, nicht mehr nach strengen objektiven Kriterien, sondern nur nach der subjektiven Neigung des einzelnen Forschers zu ent- scheiden ist. Die „allgemeine Funklioncntheorie", wie Paul d u B o i s-R e y m o n d sie entwickelt hat, beleuchtet diesen Dualismus allseitig; aber sie verzichtet von Anfang an darauf, ihn zu schlichten. Wenn wir uns die Frage stellen, ob zu be- stimmten gegebenen Vorstellungsfolgen, wie etwa zu den einzelnen Ziffern eines Dezimalbruchs, eine genaue Grenze existiert, die denselben Bestand besitzt, wie die Glieder der Folge selbst, so ist die Antwort, die wir auf sie geben, nicht mehr allein durch logische und mathematische Erwägungen eindeutig zu bestimmen. Das schlichte mathematische Problem führt uns mitten hinein in den Streit zweier allgemeiner Weltanschauungen, die sich unversöhnlich gegen- überstehen. Es gilt zwischen diesen beiden Weltanschauungen zu wählen: es gilt, entweder mit dem Empirismus nur dasjenige als vorhanden zu setzen, was sich einzeln in der wirk- lichen Vorstellung aufweisen läßt oder aber mit dem Idea- lismus die Existenz von Gebilden zu behaupten, die den gedachten Abschluß bestimmter Vorstellungsreihen bilden, aber niemals selbst unmittelbar vorzustellen sind. Der Mathe- matiker ist außer stände, für eine dieser beiden Grundansichten
162
den Sieg herbeizuführen; alles was er tun kann und tun muß, um Klarheit in die Grundlagen der Analysis zu bringen, ist, ihn bis in seine letzten gedanklichen Wurzeln zu verfolgen. Die Lösung des Rätsels ist, daß es ein Rätsel bleibt und bleiben wird. „Die ausdauerndste Beobachtung unseres Denkvorgangs — so heißt es bei d u B o i s-R e y m o n d — und seiner Beziehungen zur Wahrnehmung führt eben nicht darüber hinaus, daß es zwei durchaus verschiedene Auffassungsweisen gibt, welche gleiches Anrecht darauf haben, als Grund- anschauungen der strengen Wissenschaft zu gelten, weil keine von ihnen ungereimte Ergebnisse liefert, wenigstens solange es sich um reine Mathematik handelt... Immerhin bleibt es eine höchst befremdliche Erscheinung, daß, nachdem alles, was die Wahrheit verbergen konnte, hinweggeräumt, und man erwarten durfte, endlich ihr Bild klar und unzweideutig zu erblicken, sie unter zweierlei Gestalt vor uns erscheint. Der, welcher zuerst durch wasserhellen Kristall das doppelte Bild des einfachen Gegenstandes bemerkte, mag es nicht ergriffener seinen Freunden gezeigt haben, als ich heute am Ende sorg- fältigsten und unverdrossensten Überlegens die doppelte Anschauungsweise über die Grundlagen unserer Wissenschaft vor dem Leser zu entwickeln mich entschließen muß*."
Es verlohnt sich in der Tat dem Ursprung dieses eigen- tümlichen Ergebnisses nachzuspüren; denn hier stehen wir an einem Punkte, der zugleich einen entscheidenden Wende- punkt aller Erkenntniskritik darstellt. Die alte Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Existenz, von Idee und Wirklichkeit tritt uns hier noch einmal in einer eigentümlichen und originellen Fassung entgegen. Freilich muß sich sogleich das Bedenken erheben, ob der Gegensatz, der hier zwischen „Empirismus" und „Idealismus" konstruiert wird, auf einer vollständigenEinteilung beruht, ob er das Ganze der möglichen Denkweisen umspannt und in sich befaßt. Nur in diesem Falle wäre die Antinomie unlösbar; während sie sogleich an Schärfe verlieren würde, wenn sich zeigen ließe, daß es Problemgebiete gibt, die dem
* Paul du Bois-Reymond, Die allgemeine Funktionentheorie, Tübingen 1882, S. 2 f.
11* 163
Gegensatz, von dem hier ausgegangen wird, völlig entrückt und daher in ihrer logischen Struktur und Gültigkeit von seiner Auflösung unabhängig sind. In Wahrheit zeigt es sich schon in den ersten Entwicklungen du Bois-Reymonds, daß es nicht der Mathematiker, sondern der Philosoph und Psycho- loge ist, der hier zu Wort kommt. Was in aller Welt könnte auch „die ausdauernde Beobachtung unseres Denkvorgangs und seiner Beziehungen zur Wahrnehmung" für die Lösung irgendeines besonderen, spezifisch mathematischen Problems fruchten? Ist doch die reine Mathematik eben da- durch charakterisiert, daß sie von allen derartigen Unter- suchungen über den Denkvorgang und seine subjektiven Bedingungen vollständig absieht und sich lediglich den Denk- gegenständen als solchen und ihrem objektiv-logischen Zusammenhang zuwendet. Die Art, in der der Begriff der Existenz innerhalb der Mathematik allein auftritt, be- stätigt diese ausschließende Richtung des Interesses. Der Algebraiker, der von der ,, Existenz" der Zahlen e und it spricht, will damit zweifellos kein Faktum der äußeren, physischen Wirklichkeit bezeichnen; aber ebensowenig ist es das Vorkommen bestimmter Vorstellungsinhalte in irgend- welchen wahrnehmenden und denkenden Subjekten, was damit behauptet werden soll. Wäre dies der Sinn der Aussage, so fehlte vom mathematischen Standpunkte aus jedes Mittel, sie nachzuprüfen und zu bewähren: denn nur das Experiment und die verallgemeinernde Induktion gestatten es, über reale Vorkommnisse im psychischen Leben der Individuen eine Entscheidung zu treffen. Die Existenz der Zahl e besagt nichts anderes, als daß durch die Reihe, die wir zu ihrer Definition verwenden, eine und nur eine Stelle innerhalb des idealen Zahlensystems objektiv notwendig und eindeutig festgelegt
^ 1 1
wird. Denken wir uns die allgemeine Vorschrift 1+— -f-— -f.
1
... (in inf.) gegeben, so wird durch sie das Ganze
1 ^-S '
der rationalen Zahlen in zwei streng geschiedene Klassen zerlegt, deren eine alle Elemente umfaßt, die von der Reihe, wenn sie genügend weit fortgesetzt wird, irgend einmal über-
164
schritten werden, während die andere diejenigen Elemente enthält, bei denen dies nicht der Fall ist. Durch diese voll- ständige Einteilung, die sie im Gebiet der Rationalzahlen bewirkt, gewinnt die Reihe zu den Gliedern dieses Gebiets ein bestimmtes Verhältnis, indem sie selbst sich zu ihnen in die Beziehung des „Vor" oder „Nach" und somit des „Kleiner" und „Größer" setzt. Die Gültigkeit all dieser Beziehungen ist es allein, was uns berechtigt, von einer „Zahl" e zu sprechen und was das gesamte „Sein", den vollständigen und in sich abgeschlossenen Bestand dieser Zahl ausmacht. (Vgl. ob. S. 79f.) Die Bestimmtheit, die auf diese Weise entsteht, ist, wenngleich rein ideell, so doch im Prinzip von keiner anderen Art, als sie auch den ganzen und gebrochenen Zahlen eignet: wie denn der Wert von e von dem jeder anderen Zahl, so nahe sie e immer liegen mag, genau so streng und scharf unterschieden ist, als es die Werte von 1 und 1000 sind. Auf das Vermögen, Vorstellungen auseinanderzuhalten und einander ähnliche Einzelinhalte der Perzeption im Bewußtsein zu unterscheiden, wird hier in keiner Weise zurückgegangen; es handelt sich auf beiden Seiten um reine Begriffe, die durch die logischen Bedingungen, die ihnen ihre Definition auferlegt, hinlänglich gegeneinander abgegrenzt sind.
Anders scheint es freilich zu liegen, sobald wir uns von dem algebraischen Sinn der Grenze zu ihrer geometrischen Be- deutung wenden. Die Existenz eines Punktes scheint in der Tat nicht anders gesichert werden zu können, als durch ein Verfahren, das uns erlaubt, ihn in der Anschauung aufzuweisen und von anderen Lageelementen zu unterscheiden. Hier aber machen sich sogleich, auf Grund des psychologischen Prinzips der Unterschiedsschwelle, bestimmte Schranken des weiteren Fortschritts fühlbar. Bleiben wir auf dem Stand- punkt des „Empiristen" stehen, halten wir also daran fest, daß wir nur dort berechtigt sind, ein besonderes ,,Ding" anzunehmen, wo uns zu seiner Darstellung eine besondere Vorstellung zur Verfügung steht, so sehen wir, daß unter dieser Voraussetzung das Dasein eines Grenzpunktes für irgendeine bestimmte konvergente Punktfolge aus der Be-
165
trachtung der Folge selbst niemals erwiesen werden kann. Denken wir uns etwa die einzelnen Zahlwerte einer konver- genten Reihe durch Punkte auf der Abscissenachse dargestellt, so werden alle diese Punkte, je weiter wir in der Reihe fort- schreiten, einander immer näher und näher rücken, bis schließ- lich unsere Anschauung kein Mittel mehr besitzt, sie noch weiterhin voneinander zu sondern. Die verschiedenen Termini werden von einem bestimmten Gliede an ununterscheidbar und fließen ineinander über; wir sind demnach auch außer Stande, endgültig zu entscheiden, ob derjenige Punkt, der dem algebraischen Grenzwert der Reihe entspricht, als be- sonderes geometrisches Individuum existiert, oder aber nur diejenigen Lagebestimmungen Realität besitzen, die sich algebraisch durch die Glieder der Reihe selbst zum Ausdruck bringen lassen. „Man fordert auch", so bemerkt du Bois- Reymond, „in der Tat Unmögliches, wenn eine aus den ge- gebenen Punkten herausgegriffene Punktfolge einen zu den gegebenen nicht gehörigen Punkt bestimmen soll. Für so undenkbar halte ich dies, daß ich behaupte, keine Denkarbeit werde einen solchen Beweis für das Dasein des Grenzpunktes je einem Gehirn abfoltern und vereinigte es Newtons Divi- nationsgabe. Eulers Klarheit und die zermalmende Gewalt Gaussischen Geistes*."
Es ist völlig zutreffend, daß all diese Mächte nicht genügen würden, den geforderten Beweis zu erbringen: denn mit der bloßen Fragestellung, die hier versucht wird, haben wir uns bereits außerhalb des Bereichs der reinen Mathematik gestellt. Das Dasein von Punkten in dem Sinne, in dem es hier genommen wird, zu „beweisen", wird niemand ver- suchen, der sich jemals auch nur die kritischen Widerlegungen des ontologischen Arguments völlig deutlich gemacht hat. Der tiefere Grund aller Mißverständnisse und Widersprüche aber liegt auch hier in der Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit, in der der Seinsbegriff selbst genommen wird. Das „Sein" der geometrischen Punkte ist prinzipiell nicht von anderer Art und gehört keinem anderen logischen Bereich an,
* Allgemeine Funktionentheorie S. 66 f.
166
als das der reinen Zahlen. Der Aufbau der geometrischen Mannigfaltigkeit vollzieht sich, wie sich zeigte, nach durchaus analogen Gesetzen, wie die systematische Entwicklung des Inbegriffs der Zahlen. Hier wie dort wird von einer ideellen Einheitssetzung ausgegangen und hier wie dort vollzieht sich der gedankliche Fortschritt derart, daß wir alle Elemente, die mit dem ursprünglichen durch eine eindeutige begriffliche Beziehung oder durch eine Kette solcher Beziehungen ver- knüpft sind, in das System aufnehmen. Wir sahen, wie von diesem Standpunkt aus auch das Paradoxon der imaginären und unendlich-fernen Punkte sich löste: so wenig diese Punkte irgendeine geheimnisvolle „Wirklichkeit" im Räume für sich in Anspruch nehmen konnten, so sehr erwiesen sie sich anderer- seits als Ausdruck gültiger räumlicher Relationen*. Ihr Sein erschöpfte sich in ihrer geometrischen Bedeutung und Not- wendigkeit. (Vgl. ob. S. 109 ff.) Diese Notwendigkeit ist es denn auch, die der echte „Idealismus" allein für die Gebilde der reinen Mathematik fordern und in Anspruch nehmen kann. Der Idealist im Sinne du Bois-Reymonds hingegen geht über eine derartige Forderung weit hinaus. ,,Die grundlegende Anschauungsweise des idealistischen Systems," so heißt es hier, ,,ist also die wirkliche Existenz nicht allein des Vorgestellten, sondern der aus den Vor- stellungen unwillkürlich folgenden Anschauungen. . . Der Idealist glaubt an das irgendwie beschaffene Vorhandensein unwahrnehmbarer, unvorstellbarer, durch unseren Denk- vorgang erzeugter Wortabschlüsse von Vorstellungsfolgen**." Hier spricht, wie man leicht erkennt, ein „Idealist", der sich von dem Gegner, dem ,, Empiristen", das Konzept hat verrücken lassen, indem er, wie dieser, nur das „Vorhandene" als wahr anerkennt. Die gesamte Antinomie, die die „Allgemeine Funktionentheorie" aufrollt, löst sich, sobald man diese Verwechslung vonWahrheit undWirklich-
* Vgl. hierzu noch die treffende Kritik, die B. K e r r y an der Lehre P. du Bois Reymonds geübt hat: System einer Theorie der Grenzbegriffe, Lpz. u. Wien, 1900, S. 175 ff.
** Allgemeine Funktionentheorie S. 87. vgl. die Schrift du Bois-Rey- monds „Über die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten Wissen- schaften, Tübingen 1890, S. 91.
167
k e i t aufhebt, die den Verfechtern beider Thesen ge- meinsam ist. —
Die Folgen dieser Verwechslung treten noch schärfer als in der rein mathematischen Diskussion, in der Auf- fassung der naturwissenschaftlichen Grundbegriffe hervor. Auch diese Begriffe sind in den gleichen Widerstreit hinein- gezogen; auch sie schreiten beständig über das Gegebene hinweg, ohne daß dieser unvermeidliche Fortgang sich kritisch rechtfertigen und begründen ließe. Wir können auf die Be- griffe des absolut starren Körpers, auf die Begriffe des Atoms oder der Fernkraft nicht verzichten, wenngleich wir anderer- seits jede Hoffnung aufgeben müssen, in irgendwelchen Bestandteilen der äußeren Wahrnehmungswelt einen un- mittelbaren Beleg für sie zu finden. Noch eindringlicher macht sich daher hier das Bewußtsein der Schranke geltend, die allem unseren Erkennen kraft seiner Natur und Wesenheit gesetzt ist. Immer von neuem sehen wir uns auf unvor- stellbare Elemente geführt, die hinter der bekannten und uns zugänglichen Welt der sinnlichen Erscheinung liegen, und immer wieder zeigt es sich zugleich, daß wir ihnen, sobald wir sie zu fassen und zu zergliedern suchen, keinen verständ- lichen Sinn abzugewinnen vermögen. „Unser Denken, das in nebelhaft gleichförmigem Vordringen sich abmüht, kommt dabei, wie gelähmt, nicht von der Stelle". Das Organ für die Wirklichkeit ist und bleibt uns versagt. „Wir sind im Gehäuse unserer Wahrnehmungen eingeschlossen und für das, was außerhalb ist, wie blindgeboren. Nicht einen Schimmer können wir davon haben, denn der Schimmer gleicht doch schon dem Licht: „was aber entspricht im Wirklichen dem Licht"?* Diese radikale Skepsis, in die hier die Darstellung der Grundlagen der exakten Erkenntnis ausmündet, ist eine folgerechte und bezeichnende Konsequenz. Auf dem Boden dieser Anschauung besitzen wir in der Tat kein „Organ" mehr für das Wirkliche: denn die notwendigen Begriffe, die die eigentlichen Organe für die logische Auffassung und
* P. du Bois-Reymond Über »iie Gnindlagen der Erkenntnis in den exakten Wissenschaften, Abschn. Vm.
168
Beherrschung der Mannigfaltigkeit der Empfindungen bilden, sind jetzt selbst in geheimnisvolle Realitäten jenseits der Phänomene verwandelt.
Ist indessen diese Verwandlung einmal durchschaut, so lichten sich wiederum die Nebel, die sich hier immer dichter um das reine Bild der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit zu legen drohten. Dieses Bild entsteht freilich erst durch einen Prozeß der Idealisierung, in welchem die unbestimmten Daten der Empfindung durch ihre strengen begrifflichen Grenzen ersetzt werden. Aber die Behauptung der objektiven Geltung dieses Prozesses ist nicht mit der Behauptung einer neuen Klasse von Objekten einerlei. ,, Unser Denkgebiet," so behauptet du Bois-Reymonds „Idealist", ,, enthält nicht allein die Mosaik des Wahrnehmbaren und die daraus durch den Denkprozeß, also durch Deformation und Kombination ab- geleiteten Vorstellungen und Begriffe, sondern es wohnt uns die unerschütterliche Überzeugung inne. . . vom Vorhanden- sein gewisser Dinge außerhalb des Vorstellungssystems*." Dieser Satz ist zweifellos zutreffend, sofern unter dem „Vor- stellungssystem" nichts anderes als die Masse gegebener Perzeptionen, als der Inbegriff der Farben und Töne, der Ge- schmäcke und Gerüche, der Druck- und Berührungsempfin- dungen verstanden wird. Aber die Ergänzung dieses ,, Mosaik des Wahrnehmbaren" kann nicht in der Art geschehen, daß wir neue ,, unsinnliche" Dinge in diese erste empirische Wirklichkeit einfach einschieben: denn dadurch würden die Teile des Mosaik zwar enger und dichter aneinander heran- rücken, aber trotzdem keine andere Form des Zu- sammenhangs, keine tiefere Verknüpfung gewinnen. Das Aggregat sinnlicher Dinge muß auf ein System notwendiger Begriffe und Gesetze bezogen und in dieser Beziehung zur Einheit zusammengeschlossen werden. Dieser Prozeß des Denkens aber erfordert freilich mehr als die bloße Kom- bination und Deformation von Vorstellungsbestandteilen; er setzt eine selbständige und konstruktive Betätigung voraus, wie sie sich in der Schöpfung der Grenzgebilde am deutlichsten
* Allgemeine Funktionen theorie, S. 110 f.
169
bekundet. Diese Form der Idealisierung aber muß auch der ,, Empirist" zugestehen; denn ohne sie würde die Wahr- nehmungswelt nicht nur ein Mosaik, sondern ein wahrhaftes Chaos sein. Es ist ein bloßes Mißverständnis, wenn er be- hauptet, er erkenne nicht die absolut genaue Gerade, die absolut genaue Ebene, sondern immer nur mehr oder weniger genaue Gerade, mehr oder weniger genaue Ebenen als be- stehend an. Denn schon diese Unterscheidung verschiedener Stufen der Genauigkeit setzt die Vergleichung mit der exakten Idee voraus, deren grundlegende Funktion hier somit durchaus bestätigt wird. Das „Sein" der Idee aber geht in dieser ihrer Funktion auf und bedarf keiner anderen Stütze und keines anderen Beweises. Auch die naturwissen- schaftlichen Idealbegriffe behaupten nichts über ein neues Reich getrennter absoluter Objekte, sondern sie wollen die unentbehrlichen logischen Richtlinien festsetzen, vermöge deren allein die vollständige Orientierung innerhalb der Mannigfaltigkeit der Phänomene selbst gelingt. Sie gehen über das Gegebene nur hinaus, um die gesetzlichen Strukturverhältnisse des Gegebenen um so schärfer zu er- fassen.
Sobald daher der Empirist, wie bei du Bois-Reymond, das Idealisieren als durchaus berechtigt bezeichnet und nur erklärt, vor dem Ideal selbst Kehrt zu machen*, ist damit aller Streit im Grunde geschlichtet. Denn der Bestand des Ideals, der kritisch allein behauptet und vertreten werden kann, besagt nicht mehr als die objektiv logische Notwendigkeit des Idealisierens. Daß es sich hier aber um eine derartige Notwendigkeit, nicht um ein will- kürliches Spiel der Phantasie handelt, tritt um so schärfer hervor, je tiefer der Begriff des Gegenstandes selbst analysiert und in seine Bedingungen zerlegt wird. Es ist vergeblich, die ideellen Grenzen, die wir bestimmten Folgen auf Grund bestimmter begrifflicher Kriterien zuordnen, als bloße Wortabschlüsse zu deuten, denen kein reeller oder logischer Gehalt entspricht. „Das Vollkommene", so
* Allgemeine Funktionen theorie S. 118. 170
wird behauptet — „kann auf keine Weise als bildliche Vor- stellung aufgefaßt werden. Da es jedoch in unser Denken ein- geht und darin Verwendung findet . . . und da unser Denken nun einmal in der Succession von Vorstellungen besteht, so muß es doch irgendwie Vorstellung sein und ist es auch, nämlich — als W o r t. Die Folge der gegenständlichen Vor- stellungen des Genauen hat also als Abschluß ein Wort für etwas Unvorstellbares*." Dieser Nominalismus aber ver- sagt für die Deutung der Grenzbegriffe, wie er schon für die Erklärung der reinen Zahlbegriffe versagte. (S. ob. S. 55 ff.) Denn gerade die charakteristische Bedeutung und die eigent- liche Leistung des Grenzbegriffs ist hier offenbar aus- geschaltet. Zwischen dem Grenzglied und den Reihengliedern bestehen bestimmte Beziehungen, die als solche mathe- matisch feststehen und sich nicht nach Belieben umwandeln lassen. Die ,,Zahr' e steht zu den andern Zahlen, die aus den Partialsummen der definierenden Reihe gewonnen werden, in gewissen numerischen Verhältnissen; sie ordnet sich mit ihnen in eine Reihe, in der jedem Element seine Stellung, sein Früher oder Später unabänderlich zugewiesen ist. Hat es einen Sinn, derartige Relationen der Ordnung in der Folge, des Größer und Kleiner von Elementen auszusagen, deren eines als aktuelles und somit psychologisch bedeutungsvolles Vorstellungsbild genommen werden soll, während sein Korrelat in einem bloßen Wortklange bestehen soll? Vollgültige mathematische Beziehungen kann es nur zwischen Ideen und Ideen, nicht zwischen Ideen und Worten geben. — Aus diesem Zusammenhang mit der Logik der Mathematik läßt es sich nunmehr schärfer begründen und verstehen, warum jeder Versuch, die naturwissenschaftlichen Begriffe als bloße Aggregate von Wahrnehmungstatsachen zu deuten, notwendig mißlingen muß. Keine naturwissenschaftliche Theorie bezieht sich unmittelbar auf diese Tatsachen selbst, sondern auf die ideellen Grenzen, die wir gedanklich an ihre Stelle setzen. Wir untersuchen den Stoß der Körper, indem wir die Massen, die aufeinander einwirken, als v o 1 1 -
* Grundlagen der Erkenntnis, S. 80; vgl. Allgemeine Funktionen- theorie S. 95.
171
kommen elastisch oder unelastisch betrachten; wir stellen das Gesetz der Fortpflanzung des Druckes in Flüssigkeiten fest, indem wir den Begriff eines vollkommenen Flüssigkeits- zustandes fassen, wir prüfen die Beziehungen, die zwischen dem Druck, der Temperatur und dem Volumen der Gase bestehen, indem wir von den ,, idealen" Gasen ausgehen und somit gleichsam ein hypothetisch ersonnenes Modell den direkten Empfindungsdaten entgegenhalten. ,, Solche Extra- polationen auf den Idealfall," — so gesteht selbst ein so über- zeugter „Positivist", wie Wilhelm Ostwald zu — „sind ein ganz allgemein angewandtes Verfahren in der Wissenschaft, und ein sehr großer Teil der Naturgesetze, insbesondere alle quantitativen Gesetze, d. h. solche, welche eine Be- ziehung zwischen meßbaren Werten ausdrucken, haben nur für den Idealfall genaue Geltung. Wir stehen somit hier vor der Tatsache, daß viele, und unter ihnen die wichtigsten Naturgesetze, für Bedingungen ausgesprochen sind und gelten, die in der Wirklichkeit überhaupt nicht vorkomme n*." Das Problem, das hier gestellt ist, greift indessen weiter, als es in dieser ersten Formulierung den Anschein hat. Bestände das Verfahren der Naturwissenschaft nur darin, für die direkt beobachtbaren Erscheinungen ihre ideellen Grenzfälle einzusetzen, so könnte man versuchen, dieser Methode durch eine einfache Erweiterung des positivisti- schen Schemas gerecht zu werden. Denn die Objekte, mit denen es die theoretische Naturbetrachtung zu tun hat, scheinen danach, wenngleich sie außerhalb des eigentlichen Gebiets der empirischen Wahrnehmung fallen, dennoch mit den Gliedern dieses Gebiets in derselben Linie zu liegen; die Gesetze, die wir aussprechen, scheinen nicht sowohl eine Umformung, als eine bloße Weiterführung bestimmter wahr- nehmbarer Verhältnisse darzustellen. In Wahrheit indessen läßt sich das Verhältnis zwischen den theoretischen und den faktischen Grundelementen, auf denen die Physik ruht, nicht in dieser einfachen Weise beschreiben. Es ist eine weit komplexere Beziehung, es ist eine eigen-
♦ Ostwald, Grundriß der Naturphilosophie (Reclam), S. 55. 172
tümliche Verschlingung und wechselseitige Durchdringung der beiden Momente, die im tatsächlichen Aufbau der Wissen- schaft obwaltet, die daher auch logisch einen schärferen Aus- druck für das Verhältnis zwischen Prinzip und Tatsache verlangt.
III.
A In der erkenntnistheoretischen Diskussion über die Grund- lagen der Naturwissenschaft begegnet man häufig der Ansicht, daß das Ideal der reinen Beschreibung der" Tatsachen eine spezifisch moderne Errungenschaft bedeute. Hier erst, so meint man, sei die Physik zu wahrhafter Klarheit über ihr eigentümliches Ziel und über ihre intellektuellen Mittel gelangt, während zuvor, bei allem Reichtum der Ergebnisse, dennoch der Weg, der zu diesen Ergebnissen hinführte, im Dunkeln lag. Die Scheidung der ,, Physik" und ,, Meta- physik", die prinzipielle Ausschaltung aller Faktoren, die keiner empirischen Beglaubigung fähig sind, gilt als das ent- scheidende Werk der kritisch-philosophischen Arbeit, die die neuere und neueste Forschung geleistet hat. Diese Ansicht bedeutet indessen eine Verkennung des stetigen Ganges, in dem die Physik ihre heutige Gestalt erreicht hat. Das Problem der Methode hat ihr von ihren ersten wissen- schaftlichen Anfängen an dauernd lebendig vor Augen ge- standen und nur in dem Ringen um dieses Problem erwuchs ihr zugleich die volle Herrschaft über das Tatsachengebiet, auf das sie sie richtet. Die Reflexion und die produktive wissenschaftliche Arbeit sind hier niemals streng voneinander geschieden gewesen, sondern haben einander wechselseitig gefördert und erleuchtet. Und je weiter man diese Reflexion zurückverfolgt, um so deutlicher tritt in ihr ein grundlegender Gegensatz von Betrachtungsweisen hervor. Dieser Gegen- satz besteht in den modernen Erörterungen noch ungeschwächt fort; aber er erhält seine volle Schärfe und Bestimmtheit erst, wenn man ihn auf seine allgemeinen systematischen und geschichtlichen Quellen zurückverfolgt.
Wie die neuere Forschung das Vorurteil, daß den Griechen der wissenschaftliche Gebrauch des Experiments ver-
173
schlössen geblieben sei, mehr und mehr zerstört hat, so läßt sich auch der theoretische Kampf um die Prinzipien des Erfahrungswissens mit voller Sicherheit bereits in der antiken Philosophie erkennen. Der Widerstreit, der hier einsetzt, wirkt überall auf das Ganze der spekulativen Grundauffassung zurück. Es wird in einem unvergleichlichen und unvergeß- lichen Bilde im Platonischen Höhlengleichnis festgehalten. Es gibt für den menschlichen Geist gegenüber den Phänomenen der Sinnenwelt, die gleich Schatten an ihm vorüberschweben, zwei Arten der Betrachtung und Beurteilung. Die eine begnügt sich damit, lediglich die F o 1 g e der Schatten- bilder selbst aufzufassen; ihr Vor und Nach, ihr Früher oder Später festzuhalten. Gewohnheit und Übung befähigen uns allmählich, in der Abfolge der Erscheinungen gewisse Regel- mäßigkeiten zu unterscheiden und bestimmte Verbindungen zwischen ihnen als gleichmäßig wiederkehrend zu erkennen, ohne daß dieser Zusammenhang uns in seinen Gründen irgend verständlich würde. Der gemeine Verstand und die Weltansicht, die sich auf ihn stützt, bedarf dieser Gründe nicht: beiden ist es genug, wenn sie kraft der empirischen Routine, die sie sich angeeignet haben, im Stande sind, beim Auftreten des einen Ereignisses das kommende vorauszusehen und es in den Kreis der praktischen Berechnung zu bannen. Die philosophische Einsicht aber beginnt mit der Abkehr von jeder derartigen Betrachtungsweise: sie setzt die ,,Um- wendung" der Seele selbst zu einem anderen Ideal der Er- kenntnis voraus. Nicht die Erscheinungen in der bloßen Folge ihres Abfließens, sondern die ewigen und unveränder- lichen Vernunftgründe, aus denen sie hervorgehen, sind der alleinige Gegenstand des Wissens. Diese Vernunftgründe, dieses Reich der \6{oi in den Erscheinungen selbst rein und unverfälscht zu erfassen, bleibt freilich, nach Piaton, dem Denken versagt. Wer einmal, wie im Gebiete der Mathe- matik, das Wesen der Einsicht in das Notwendige er- faßt hat, der kehrt daher nur gezwungen und widerstrebend zur Betrachtung eines Gebiets zurück, in dem die gleiche Strenge der Verknüpfung, infolge des fließenden und unbe- stimmten Charakters der Objekte selbst, niemals erreichbar
174
ist. Die empirische Kenntnis der Abfolge der Phänomene ist in diesem Sinne nicht die Ergänzung und Erfüllung der reinen Ideenerkenntnis, sondern sie dient gleichsam nur als der dunkle Hintergrund, von welchem die Klarheit des rein begrifflichen Forschens und Wissens sich um so schärfer ab- heben soll.
Daß diese Gegenüberstellung übrigens keine bloße ge- dankliche Konstruktion bedeutet, sondern daß in ihr zugleich ein konkreter geschichtlicher Gegensatz, der zu Pia- tons Zeiten bereits ausgebildet vorlag, in prinzipieller Schärfe dargestellt und festgehalten wird, ist äußerst wahrscheinlich*. In jedem Falle ist die gesamte spätere Entwicklung der naturwissenschaftlichen Forschung im Altertum von dieser Pla- tonischen Scheidung beherrscht. Sie ist es, die in dem Kampf zwischen den ,, empirischen" und den „rationalen" Ärzten, der die griechische Heilkunde durchzieht, allenthalben nach- klingt. Aber je weiter die Forschung sich nunmehr der Er- kundung und Sicherung der Einzeltatsachen zuwendet, um so mehr verschiebt sich damit das Wertverhältnis und die Rangordnung des Wissens. Die wissenschaftliche Empirie schafft sich ihren Ausdruck in der skeptischen Er- kenntnislehre, in welcher eben derjenige Zug, der für Piaton als der dauernde Mangel alles Erfahrungs- wissens galt, als seine grundlegende positive Bedeutung und Eigenart behauptet wird. Das Wesen der Dinge zu durch- schauen und aus einem allgemeingültigen Vernunftprinzip zu verstehen, ist dem Wissen freilich nicht gegeben. Was uns übrig bleibt, ist einzig und allein die Beobachtung des gewöhn- lichen Ablaufs der Erscheinungen, die es uns ermöglicht, das eine Phänomen als Z e i c h e n für ein anderes zu brauchen. Die Aufgabe der Wissenschaft erfüllt sich in der Gruppierung und Sichtung derartiger Zeichen, deren jedes eine bestimmte Erinnerung in uns weckt und somit unsere Erwartung des Künftigen in feste Bahnen lenkt. Die realen Ursachen des Geschehens bleiben uns daher freilich verschlossen; aber wir bedürfen ihrer nicht, da das eigentliche und endgültige Ziel
* Vgl. hrz. N a t o r p , Forschungen zur Geschichte des Erkenntnis- problems im Altertum, Berlin 1884, S. 146 ff.
175
aller Theorie in den praktischen Folgen für unser Handeln liegt. Diese Folgen aber bleiben wesentlich dieselben, gleich- viel, ob wir die Art, in der ein Ereignis aus dem andern hervor- geht, logisch begreifen oder nur die Tatsache eines bestimmten empirischen Beisammen oder einer bestimmten empirischen Folge als solche hinnehmen und uns bei ihr beruhigen. —
Indessen läßt es sich bei Piaton selbst bereits erkennen, daß der „Schnitt", den er zwischen dem rationalen und empirischen Wissen vollzieht*, keine eindeutige und voll- ständige Disjunktion für das Gesamtgebiet der Erkenntnis schafft. Das empirische Wissen, das sich mit der Reihenfolge der „Schatten" genügen läßt, ist in äußerster Schärfe charakte- risiert; in der Charakteristik seines idealen Widerspiels dagegen bleibt eine Unbestimmtheit zurück. Dieser Umstand ist um so bedeutsamer, als er in der geschichtlichen Fortbildung des Problems immer von neuem zutage getreten ist. Die sachliche Ausgleichung und Entscheidung wurde erschwert, solange nur das eine Glied sicher bestimmt war, das andere dagegen in zwei verschiedene Bedeutungen, zwischen denen die Be- trachtung wechselte, auseinanderfiel. Was Piaton dem Wissen um die bloße Abfolge der Erscheinungen ent- gegensetzt, das ist zunächst der Einblick in ihren teleolo- gischen Zusammenhang. Wahrhafte Erkenntnis des Naturgeschehens besitzen wir nicht, solange wir es nur als gleichgültige Zuschauer vor uns einfach abrollen lassen, sondern sie erschließt sich uns erst, wenn wir den Gesamt- verlauf des Geschehens als ein zweckmäßig gegliedertes Ganze überschauen. Wir müssen verstehen, wie ein Moment das andere fordert; wie alle Fäden sich wechselseitig in- einanderschlingen, um sich schließlich zu einem Gewebe, zu einer einzigen Ordnung der Naturerscheinungen zusammen- zuknüpfen. Es ist der ethische Idealismus des Sokrates, der in dieser Anschauung der Natur lebendig bleibt. So wenig das Verharren des Sokrates im Kerker erklärt werden kann, wenn man die Lage und Stellung seiner Muskeln und Sehnen beschreibt, ohne die sittlichen Vernunftgründe zu betrachten.
* Vgl. bes. Republik, 509 D ü. 176
die ihn dazu bestimmen, dem Gesetz zu gehorchen: — so wenig kann ein einzelnes Ereignis wahrhaft begriffen werden, solange seine Stelle im Gesamtplan der Wirklichkeit nicht klar bezeichnet ist. Versuchen wir etwa den Umstand, daß die Erde im Mittelpunkt der Welt sich frei schwebend erhält zu erklären, so kann uns hierfür kein sinnliches Binde- mittel, kein körperlich-mechanischer Wirbel oder irgendeine andere Ursache derselben Art genügen; sondern „das Gute und Richtige" allein ist es, was als der letzte und entscheidende Grund des Zusammenhalts aufzuweisen ist*. Das sinnliche Sein muß auf seine idealen Gründe zurückgeführt werden; den Abschluß des Ideenreiches aber bildet die Idee des Guten, in die somit all unser Begreifen zuletzt notwendig einmündet. Dieser Ableitung der Naturerscheinungen aus Zwecken steht dagegen bei Piaton selbst zugleich eine andere Anschauung gegenüber. Sie wurzelt in Piatons Auf- fassung der Mathematik, die ihm als das „Mittlere" zwischen den Ideen und den Sinnendingen gilt. Die Umbildung der empirischen Zusammenhänge in ideale kann dieses Mittel- glied nicht entbehren. Der erste und notwendige Schritt besteht überall darin, das sinnlich Unbestimmte, das als solches nicht zu fassen und in feste Grenzen einzuschließen ist, in ein quantitativ Bestimmtes, durch Maß und Zahl Beherrschbares zu verwandeln. Es sind vor allem die späteren Platonischen Dialoge, wie etwa der Philebus, die diese Forderung am klarsten entwickeln. Das Chaos der sinn- lichen Wahrnehmung muß durch die Anwendung der reinen Quantitätsbegriffe in feste Grenzen gebannt wer- den, ehe es zum Objekt der Erkenntnis werden kann. Wir dürfen nicht bei dem unbestimmten „Mehr" oder , »Weniger", bei dem „Stärker" und ,, Schwächer", das wir in der Empfin- dung zu verspüren meinen, stehen bleiben, sondern müssen überall zu exakten Maßen des Seins und des Geschehens vorzudringen streben. In diesen Maßen ist uns das Sein be- griffen und erklärt**. Hier stehen wir somit vor einem neuen Wissensideal, das freilich für Piaton selbst mit seinem teleolo-«
* Vgl. Phaedon 99 f., 109. ** Vgl. PhilebuB 16, 24 f.
Cissirer, Substanzbegriff 12 177
gischen Gedanken in unmittelbarem Einklang steht und sich mit ihm zu einer einheitlichen Grundauffassung verbindet. Das Sein ist nur insoweit ein Kosmos, ein zweckmäßig gegliedertes Ganze, als es in seinem Bau von strengen mathe- matischen Gesetzen beherrscht wird. Die mathematische Ordnung ist zugleich die Bedingung und der Urgrund des Bestandes der Wirklichkeit; die zahlenmäßige Bestimmtheit des Universums ist es, die die sichere Bürgschaft für seine innere Selbsterhaltung enthält. —
Schon bei Aristoteles indessen scheiden sich die beiden Gedankenreihen, die für Piaton unlöslich verbunden sind. Das mathematische Motiv tritt nunmehr in den Hinter- grund; und so ist es einzig die Teleologie, die Lehre von den Zweckursachen, die als begriffliches Fundament der Physik zurückbleibt. Das äußere Geschehen und seine quantitative Gesetzesordnung spiegelt nur den dynamischen Prozeß wieder, kraft dessen die absoluten Substanzen sich erhalten und sich entwickeln. Das empirisch-physikalische Verhalten der Körper folgt im letzten Grunde aus ihrem Wesensbegriff, aus dem immanenten Zweck, der ihnen durch ihre Natur gesetzt ist und den sie fortschreitend zu erfüllen streben. So ordnen sich die Elemente im Weltall nach dem Grade ihrer Ver- wandtschaft, indem diejenigen, die in irgendeiner Qualität miteinander übereinstimmen, sich nebeneinander lagern; so behält jeder Körper die Tendenz nach seinem ,, natürlichen Orte", der ihm durch seine Beschaffenheit vorgeschrieben ist, auch nachdem er gewaltsam von ihm getrennt worden ist. Hier enthüllen sich die wahrhaften und inneren Ursachen jeglichen physischen Zusammenhangs, während die mathe- matische Betrachtungsweise, die nicht bis zu den Gründen, sondern nur bis zu den Maßen des Seins gelangt, nur die „Accidentien" trifft und auf ihren Umkreis beschränkt bleibt. Damit aber ist ein neuer Gegensatz geschaffen, der fortan in der Geschichte weiterwirkt. Die Einheit der teleolo- gischen und mathematischen Betrachtungsweise, die noch in Piatons Natursystem bestand, ist aufgehoben und an ihre Stelle ist ein Verhältnis der Über- und Unterordnung getreten. Die Grenzlinie hat sich nunmehr verschoben: denn jetzt ist
178
es nicht nur die sinnliche Beobachtung zufälliger empirischer Regelmäßigkeiten, sondern selbst die exakte Darstellung des Geschehens in reinen Größenbegriffen, die von der höchsten idealen Erkenntnis aus den obersten Ursachen ausgeschlossen wird. Jetzt erst gewinnt daher der Kampf zwischen empiri- scher und spekulativer Naturbetrachtung seine ganze Schärfe. Die mathematische Physik der neueren Zeit versucht zunächst ihr Recht und ihre Selbständigkeit dadurch zu erweisen, daß sie in der philosophischen Grundlegung von Aristoteles wieder auf Piaton zurückgeht. Es ist vor allem Kepler, für den diese Wendung charakteristisch ist*. Mit aller Energie und Klarheit wendet er sich gegen eine Auffassung, die den Mathematiker zum bloßen Rechner erniedrigen und ihn von der Gemeinschaft der Philosophen, von der Entscheidung über die Gesamt- struktur des Universums ausschließen will. Die absoluten Substanzen und ihre inneren Kräfte bleiben dem mathemati- schen Physiker freilich unbekannt und müssen ihm unbekannt bleiben, sofern er, frei von allen fremdartigen Interessen, lediglich seiner eigenen Aufgabe nachgeht: aber die Ab- wendung von diesem Problem bedeutet keineswegs das Ver- harren in der gewöhnlichen empirischen Betrachtungsweise, die sich mit der bloßen Ansammlung vereinzelter Tatsachen begnügt. Die mathematische Hypothese knüpft zwischen diesen Tatsachen ein ideelles Band; sie schafft eine neue Einheit, die nur durch das Denken geprüft und beglaubigt, nicht aber unmittelbar durch die Empfindung gegeben werden kann. So grenzt die wahrhafte Hypothese das Gebiet der mathematischen Physik nach zwei verschiedenen Richtungen ab. Sie erweitert die unmittelbare Erfahrung zur Theorie, indem sie die Lücken, die die direkte Beobachtung läßt, ergänzt und an Stelle vereinzelter sinnlicher Daten einen stetigen Zusammenhang begrifflicher Folgen setzt. Aber sie verharrt anderseits dabei, diesen Zusammenhang von Folgen lediglich als einen Zusammenhang und eine systematische Abhängigkeit von Größen darzustellen. Der mathematische
* Die genaueren Belege für die folgende geschichtliche Darstellung sind in m. Schrift über daa „Erkenntnisproblem in der Philosophie u. Wissenschaft der neuen Zeit", I 258 ff, 308 ff, II 322 ff. gegeben.
12* 179
Ausdruck der Hypothese, die algebraisch-geometrische Gestalt, in der sie sich darstellt, macht zugleich das Ganze ihrer Bedeutung aus. Wenn Kepler für das Recht der Hypo- these eintritt, so geschieht es, weil er ihre entscheidende Leistung an eine andere Stelle als die gewöhnliche spekulative Natur- philosophie verlegt. Nicht um den Übergang vom mathema- tisch fixierten Phänomen zu seinen absoluten Ursachen handelt es sich; sondern um den Übergang von den ersten, begrifflich noch unbearbeiteten Wahrnehmungstatsachen zum quantitativen „Verständnis" der Wirklichkeit. Der wissen- schaftliche Physiker kann die Frage nach den letzten ,, Kräften", aus denen das Sein sich gestaltet hat, auf sich beruhen lassen; aber um so mehr muß sein Streben darauf gerichtet sein, von einer bloßen Sammlung von Beobachtungen zu einer all- gemeinen ,, Statik des Universum s", zu einer Be- herrschung der durchgreifenden harmonischen Ordnung, die in ihm waltet, zu gelangen. Diese Ordnung ist es, die nicht unmittelbar von den Sinnen, sondern allein vom mathemati- schen Intellekt ergriffen und begriffen wird. Der rechtmäßige Anteil des Begriffs besteht nach dieser Grundauffassung nicht darin, daß er den Zugang zu einer neuen unsinnlichen Wirklichkeit erschließt, sondern daß er an der Wirklichkeits- konzeption der mathematischen Empirie selbst an seinem Teile mitarbeitet und ihr die bestimmte logische Form gibt.
Nicht ohne vielfältige Schwankungen und ohne innere Schwierigkeiten vermochte indessen die Physik selbst in ihrer Geschichte zu dieser Fassung des Grundproblems vor- zudringen. Die besonderen historischen Bedingungen, unter denen sich die neuere Naturwissenschaft entwickelt hat, machen es verständlich, daß zunächst weniger der positive als der negative Teil der neuen Aufgabe in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Die Abwehr der metaphysischen Ansprüche ist es, die die Theorie zunächst zu leisten hat: und diese Abwehr kann nur dadurch geführt werden, daß die empirischen Grundlagen der exakten Wissenschaft immer genauer und deutlicher bloßgelegt werden. Die logischen Faktoren treten zurück, solange das Bemühen, die reine
180
Erfahrung gegen das Eindringen der Metaphysik zu schützen, alle philosophischen Kräfte in Anspruch nimmt. Man begreift unter diesem Gesichtspunkt den Umschwung in der allgemeinen Grundanschauung, der sich beim Über- gang von Kepler zu Newton vollzieht. Kepler greift, so nachdrücklich er gegenüber der Metaphysik der substan- tiellen Formen die Rechte der empirischen Forschung verficht, in der endgültigen Konzeption seines Weltbildes dennoch wiederum auf die mathematische Teleologie Piatons zurück. Die mathematischen Ideen sind die ewigen Vorbilder und „Archetypen", nach welchen der göttliche Weltbaumeister das All geordnet hat. So droht hier, je tiefer wir uns in die exakte Struktur und in die exakten Voraussetzungen der Physik versetzen, die strenge Grenzlinie zwischen Erfahrung und Spekulation sich wiederum zu verwischen. Dieser Gefahr vor allem suchen Newtons „Regulae philosophandi" zu be- gegnen. Die Induktion wird nunmehr in voller Bestimmt- heit als die einzige Quelle der physikalischen Gewißheit bezeichnet. Diejenigen Eigenschaften der Körper, die — wie die Beobachtung und der wissenschaftliche Versuch uns lehren — weder vermehrt noch vermindert werden können und die allen Körpern gemeinsam zukommen, sind es, die in ihrer Gesamtheit für uns das Wesen der Körper aus- machen. Dieser Ausdruck besagt also nichts weiter und kann nichts anderes besagen, als eine empirische Verallgemeinerung bestimmter Wahrnehmungstatsachen. In diesem Sinne, aber auch nur in diesem, können wir die Schwere als eine „wesentliche" Eigenschaft der Materie auffassen: sofern wir kein Experiment kennen, das uns veranlassen könnte, ihr empirisch allgemeines Vorkommen zu bezweifeln. Die Frage nach dem Grunde der wechselseitigen Anziehung der kosmi- schen Massen darf dagegen den Physiker als solchen nicht beschäftigen und zu spekulativen Hypothesen verlocken: denn für ihn ist die Attraktion nichts anderes als ein bestimmter Zahlwert, der das Maß der Beschleunigung enthält, die der Körper in jedem Punkte seiner Bahn erfährt. Das Gesetz, nach welchem dieser Wert sich von Punkt zu Punkt ändert, enthält die Antwort auf alle Fragen, die in bezug auf die
181
„Natur" der Schwere mit wissenschaftlichem Recht gestellt werden können. Newtons erste Anhänger und Schüler sind es, die diese Erklärungen verallgemeinern und auf das Gesamt- gebiet der Naturwissenschaft übertragen. Bei ihnen tritt zum erstenmal die Forderung einer Physik ohncHypo- t h e s e n in prinzipieller Schärfe hervor, wie denn hier auch der technische Ausdruck der Beschreibung der Phänomene zuerst geprägt wird. Als Grundfehler der Methodik wird es jetzt bezeichnet, wenn man versucht, physikalische Er- klärungen nach dem Muster logischer Definitionen zu gestalten; wenn man statt von der Beobachtung und Sammlung von Einzelfällen von der Hierarchie der Begriffe und Gattungen ausgeht. Definitionen, die den Anspruch erheben, den Grund und das Wesen irgendeines Naturvorganges aufzudecken, müssen der Physik fern bleiben; sie bilden kein Instrument der Erkenntnis, sondern stellen lediglich ein Hemmnis für die unbefangene Erfassung der Erscheinungen dar, auf welcher der ganze Wert der Physik als Wissenschaft beruht.
Die weitere geschichtliche Entwicklung läßt indessen, schon innerhalb der Newtonischen Schule selbst, das Pro- blematische dieses scheinbaren Abschlusses der Methodenlehre klar hervortreten. Wenn der Physik der Gebrauch der Hypo- these in jedem Sinne verwehrt sein soll, so müssen aus ihr alle Elemente, die im Gebiet der Wahrnehmung kein un- mittelbares Abbild besitzen, entfernt werden. Die Ver- wirklichung dieser Forderung aber würde, wie sich im weiteren Fortgang immer deutlicher zeigt, nichts Geringeres bedeuten, als die Auflösung der Newtonischen Mechanik selbst und ihrer systematischen Verfassung. Die Begriffe des abso- luten Raumes und der absoluten Zeit, die Newton an die Spitze seiner Deduktionen stellt, verlieren jegliche rechtmäßige Bedeutung, wenn man sie mit den logischen Maßen und Kriterien mißt, die Newtons Methoden- lehre allein zuläßt und zur Verfügung stellt. Und doch sollen es eben diese Begriffe sein, auf denen die Möglichkeit zwischen wirklicher und scheinbarer Bewegung zu unter- scheiden, auf denen somit der Begriff der empirisch-physika- lischen Realität selbst beruht. Der tiefere Grund dieser
182
Antinomie, die innerhalb der Grenzen des Newtonischen Systems unlösbar ist, liegt in der Unbestimmtheit, in der der Begriff der Hypothese selbst hier genommen wird. Ari- stoteles und Descartes, die Metaphysik der sub- stantiellen Ursachen wie der erste, wenngleich unvollkommene Entwurf einer vollständigen mechanischen Welterklärung sollten hier gemeinsam getroffen werden. So werden die An- nahmen über irgendwelche ,, dunklen Qualitäten" der Dinge nicht mit voller Sicherheit von den theoretischen Grund gedanken getrennt, auf denen die Abgrenzung des Problems der Physik und die Definition ihres empirischen Gebiets und Umfangs selbst beruht. Eben diese Zweideutigkeit aber ist es, die trotz aller Versuche zu schärferer erkenntnis- theoretischer Fassung der Frage auch in der modernen Dis- kussion noch keineswegs überwunden ist. Sie findet ihren schlagenden Ausdruck im Begriff der Beschreibung selbst. Denn unter diesem Losungswort vereinigen sich physikalische Forscher, die lediglich in dem Widerspruch gegen die spekula- tive Metaphysik miteinander übereinstimmen, in der positiven Auffassung von der logischen Struktur der Physik aber völlig voneinander abweichen. Ein Forscher wie D u h e m , der mit größter Energie und Schärfe den Gedanken durchführt, daß jede bloße Konstatierung eines physikalischen Faktums bestimmte theoretische Voraussetzungen und somit einen Inbegriff physikalischer Hypothesen in sich schließt, tritt hier unmittelbar an die Seite eines ,, Empirismus", der gerade auf der Verkennung dieses fundamentalen Doppelverhältnisses beruht. So wirkt die Schwierigkeit, die der Physik von ihrer geschichtlichen Entwicklung her anhaftet, noch ungeschwächt weiter. Der berechtigte und notwendige Kampf gegen die Ontologie führt zu einer Verdunklung des schlichten logischen Tatbestandes. Die philosophische Kritik der Grundlagen muß hier vor allem auf eine strenge Scheidung der beiden sachlich heterogenen Fragen dringen, die die Ge- schichte zusammengeführt und auf lange Zeit unlöslich mit- einander verbunden hat. Noch immer wird von hervorragenden wissenschaftlichen Forschern das Verhältnis von Physik und Logik in einer Weise beschrieben und formuliert,
183
als ständen wir noch mitten in dem Streite zwischen Newton und W o 1 f f , der der Philosophie des achtzehnten Jahr- hunderts sein Gepräge gegeben hat. Dieser Streit darf in- dessen als erledigt gelten: denn die L o g i k selbst hat sich in ihrer Erneuerung und kritischen Gestaltung der metaphysischen Ansprüche begeben. Gerade vom Standpunkt dieser Erneuerung aber zeigt es sich zugleich deutlich, daß der „Phänomena- lismus" eines Newton mit demjenigen, den die antike Skepsis entwickelt und vertreten hat, begrifflich nicht auf derselben Stufe steht. Es entsteht die Aufgabe, genauer zu untersuchen, auf welchen Momenten die Unterscheidung der beiden An- sichten beruht, die doch beide in der Einschränkung der Physik auf das Gebiet der ,, Erscheinungen" übereinkommen. Der Begriff der Erscheinung selbst ist ein anderer, je nachdem er auf den unbestimmten Gegenstand der Sinneswahrnehmung oder auf das theoretisch konstruierte Objekt der mathemati- schen Physik angewandt wird: und eben die Bedingungen dieser Konstruktion sind es, die die erkenntnistheoretische Frage immer von neuem herbeirufen.
IV.
Der Entdecker des Grundgesetzes der neueren Natur- wissenschaft fügt sich in seinen methodischen Ansichten durchaus der Reihe der großen Forscher ein, die mit der Renaissance ihren Anfang nimmt. Robert Mayer be- ginnt mit der gleichen theoretischen Fixierung der Aufgabe der Physik, die sich in den verschiedensten Wendungen bei Galilei und Newton findet. Es zeigt sich, daß bei aller sachlichen Erneuerung der Physik, die das Energieprinzip mit sich bringt, die logische Stetigkeit nicht unterbrochen wird. ,,Die wich- tigste, um nicht zu sagen einzige Regel für die echte Natur- forschung ist die: eingedenk zu bleiben, daß es unsere Aufgabe ist, die Erscheinungen kennen zu lernen, bevor wir nach Erklärungen suchen oder nach höheren Ursachen fragen mögen. Ist einmal eine Tatsache nach allen ihren Seiten hin bekannt, so ist sie eben damit erklärt und die Aufgabe der Wissenschaft ist beendigt. Mag auch dieser Ausspruch von einigen für trivial erklärt, von anderen mit noch so vielen
184
Gründen bekämpft werden, so bleibt doch gewiß, daß diese Grundregel bis auf die neueste Zeit herab nur allzuoft ver- nachlässigt wird, daß aber alle spekulativen Operationen selbst der glänzendsten geistigen Kapazitäten, die statt von den Tatsachen als solchen Besitz zu ergreifen, sich über dieselben erheben wollen, bis jetzt nur taube Früchte getragen haben*." Es ist genau dieselbe Sprache, die Kepler gegen die Alchymisten und Mystiker seiner Zeit, die Galilei gegen die Peripatetische Schulphilosophie geführt hatte. Wie aus der verschwindenden Bewegung Wärme entsteht oder wie Wärme sich wiederum in Bewegung wandelt: diese Frage lehnt Robert Mayer ebenso ab, wie Galilei die Frage nach der Ursache der Schwere von sich gewiesen hatte. „Was Wärme, was Elektrizität usw. dem inneren Wesen nach sei, weiß ich nicht, so wenig als ich das innere Wesen einer Materie oder irgend eines Dinges überhaupt kenne; das weiß ich aber, daß ich den Zusammenhang vieler Erscheinungen viel klarer sehe, als man bisher gesehen hat, und daß ich über das, was eine Kraft ist, helle und gute Begriffe geben kann." Dies aber ist alles, was von der empirischen Forschung irgend zu verlangen ist. „Die scharfe Bezeichnung der natürlichen Grenzen menschlicher Forschung ist für die Wissenschaft eine Aufgabe von praktischem Wert, während die Versuche, in die Tiefen der Weltordnung durch Hypothesen einzudringen, ein Seitenstück bilden zu dem Streben der Adepten." Im Lichte dieser Auffassung sind es zuletzt lediglich Zahlen, sind es die quantitativen Grundbestimmungen des Seins und Geschehens, die als unerschütterlicher Bestand der Forschung zurückbleiben. Eine Tatsache ist verstanden, wenn sie ge- messen ist: „eine einzige Zahl hat mehr wahren und blei- benden Wert als eine kostbare Bibliothek von Hypothesen**." Hier ist neben der Abweisung falscher Problemstellungen zugleich ein neues Problem von bleibender Bedeutung
* Robert Mayer, Bemerkungen über das mechanische Aequivalent, der Wärme, (Mechanik der Wärme, hg. von Weyrauch, 3 Aufl., Stuttgart 1893, S. 236.
** S. Mayers Briefe an Griesinger (Kleinere Schriften u. Briefe, hg. von Weyrauch, Stuttgart 1893, S. 180, 226 u. f.).
185
bezeichnet. Eine Erscheinung soll als erklärt gelten, wenn sie vollständig und nach allen Seiten bekannt ist. Diese Definition muß in der Tat ohne Einschränkung zu- gestanden werden: aber hinter ihr erhebt sich alsbald die weitere Frage, unter welchen Bedingungen ein Phä- nomen als bekannt im Sinne der Physik zu gelten hat. Die „Bekanntschaft" mit einer Erscheinung, die die exakte Wissen- schaft vermittelt, ist offenbar mit der bloßen sinnlichen Kenntnisnahme eines isolierten sinnlichen Tatbestandes nicht einerlei. Ein Vorgang ist erst dann erkannt, wenn er der Gesamtheit des physikalischen Wissens widerspruchslos eingefügt ist; wenn sein Verhältnis zu verwandten Gruppen von Phänomenen und schließlich zum Inbegriff der Er- fahrungstatsachen überhaupt eindeutig festgestellt ist. Jede assertorische Behauptung einer Wirklichkeit schließt daher hier zugleich eine Aussage über bestimmte gesetzliche Re- lationen, schließt die Geltung allgemeiner Regeln der Ver- knüpfung ein. Indem die Erscheinung auf einen festen Zahlausdruck gebracht wird, gelangt dadurch diese lo- gische Relativität nur zur klarsten Bezeichnung. Die konstanten Zahlwerte, durch welche wir einen physikalischen Gegenstand oder ein physikalisches Ereignis bestimmen, besagen nichts anderes als seine Einordnung in einen allgemeinen Reihen- Zusammenhang. Die einzelne Konstante bedeutet nichts für sich selbst; ihr Sinn wird erst durch die Vergleichung und unterscheidende Verknüpfung mit anderen Werten festgestellt. Damit aber ist zugleich auf bestimmte logische Voraus- setzungen hingewiesen, die aller physikalischen Zählung und Messung zugrunde liegen — und diese Voraussetzungen bilden die echten „Hypothesen", die von keinem naturwissenschaft- lichen Phänomenalismus mehr bestritten werden können. Die ,, wahre Hypothese" bedeutet nichts anderes als ein Prinzip und ein Mittel der Messung selbst. Sie tritt nicht ein, nach- dem die Erscheinungen bereits als Größen erkannt und geordnet sind, um ihnen nachträglich eine Vermutung über ihre absoluten Gründe hinzuzufügen, sondern sie dient der Ermöglichung dieser Ordnung selbst; sie überspringt das Gebiet des Faktischen nicht, um in ein transzendentes Jen-
186
seits überzugreifen, sondern sie bezeichnet den Weg, auf dem wir von der sinnlichen Mannigfaltigkeit der Empfindungen zur intellektuellen der Maße und Zahlen gelangen.
0 s t w a 1 d hat in seiner Polemik gegen den Gebrauch der Hypothese allen Nachdruck auf den Unterschied zwischen der Hypothese als Formel und der Hypothese als Bild gelegt. Formeln enthalten lediglich algebraische Ausdrücke; sie sprechen nur Verhältnisse zwischen Größen aus, die der direkten Messung und somit der unmittelbaren Verifikation durch die Beobachtung fähig sind. Bei den physikalischen Bildern dagegen fehlt jedes Mittel einer derartigen Nach- prüfung. Freilich erscheinen auch diese Bilder selbst oft im Gewände mathematischer Darstellung, so daß das angegebene Merkmal der Unterscheidung auf den ersten Blick nicht zureichend scheint. Aber es gibt in jedem Falle ein einfaches logisches Verfahren, das stets zu einer klaren Sonderung führt. „Wenn jede in der Formel auftretende Größe für sich meßbar ist, so handelt es sich um eine dauernde Formel oder ein Naturgesetz...., treten dagegen in der Formel Größen auf, welche nicht meßbar sind, so handelt es sich um eine Hypothese in mathematischer Gestalt und in der Frucht sitzt der Wurm*." So berechtigt indessen die Forderung der Meßbarkeit ist, die hier erhoben wird, so irrig ist es, die Messung selbst als ein rein empirisches Verfahren anzusehen, das in der bloßen Wahrnehmung und mit ihren Mitteln zu vollenden wäre. Die Antwort, die hier gegeben ist, bedeutet nur die Wiederholung der eigentlichen Frage: denn das ge- zählte und gemessene Phänomen ist nicht der selbstverständ- liche, unmittelbar gewisse und gegebene Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis bestimmter begrifflicher Operationen, die es im einzelnen zu verfolgen gilt. In der Tat zeigt es sich sogleich, daß der bloße Versuch der Messung Postulate in sich schließt, die innerhalb des Gebiets unserer Sinneseindrücke niemals erfüllt sind. Wir messen niemals Empfindungen als solche; sondern stets nur die Objekte, auf die wir sie beziehen. Selbst wenn man der Psychophysik die Meßbarkeit
* Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie, Lpz. 1902, S. 213 f.
187
der Empfindung zugestehen wollte, so bliebe dennoch diese Einsicht unberührt, denn auch unter dieser Voraussetzung ist es deutlich, daß der Physiker zum mindesten es niemals mit den Farben oder Tönen als sinnlichen Erlebnissen und Inhalten, sondern einzig und allein mit Schwingungen, daß er es nicht mit der Wärme- oder Berührungsempfindung, sondern mit Temperatur und Druck zu tun hat. Keiner dieser Begriffe aber läßt sich als einfache Kopie von Tatsachen der Wahrnehmung verstehen. Blickt man auf diejenigen Faktoren, die bei der Messung der Bewegung beteiligt sind, so ist hier die allgemeine Entscheidung bereits gegeben: denn es zeigte sich bereits, daß die physikalische Definition der Bewegung selbst nicht festgestellt werden konnte, ohne den sinnlichen Körper durch den geometrischen Körper, die sinnliche Ausdehnung durch die ,,intelligible" stetige Ausdehnung des Mathematikers zu ersetzen. Von den Inhalten der Perception mußte zu ihren begrifflichen Grenzen übergegangen werden, ehe von Bewegung und ihren exakten Maßen im strengen Sinne überhaupt die Rede sein konnte. (S. oben S. 158 ff.) Nicht minder ist es eine reine begriffliche Konstruktion, wenn wir einem ungleichförmig bewegten Körper in jedem Punkte seiner Bahn eine eindeutig bestimmte Geschwindigkeit zusprechen: eine Konstruktion, die zu ihrer Begründung nichts Geringeres als die gesamte logische Theorie der Infinitesimal-Analysis voraussetzt. Aber auch dort, wo wir der direkten Empfindung näher zu stehen, wo wir von keinem anderen Interesse beherrscht scheinen, als die Unterschiede, die sie uns darbietet, in einer festen Skala zu verzeichnen, treten die theoretischen Grundmomente, die hierbei erfordert werden, deutlich hervor. Es ist ein weiter Weg von der unmittelbaren Empfindung der Wärme zum exakten Begriff der Temperatur. Das unbestimmte Stärker und Schwächer des Eindrucks bietet nirgends eine Handhabe und einen Ansatz zur Gewinnung fester Zahlwerte. Wir müssen von der subjektiven Wahrnehmung zu einem objektiven funktionalen Zusammenhang zwischen Wärme und Ausdehnung übergehen, um auch nur das Grundschema der Messung festzustellen. Lassen wir etwa einer bestimmten
188
Ausdehnung des Quecksilbers den Wert von 0 Grad, einer anderen den Wert von 100 Grad entsprechen, so müssen wir, um die Strecke, die zwischen den beiden auf diese Weise bezeichneten Punkten liegt, in weitere Teile und Unter- teile zu zerlegen, die Voraussetzung machen, daß die Unter- schiede der Temperatur denen der Ausdehnung des Queck- silbers direkt proportional zu setzen sind. Diese Annahme aber ist zunächst nichts als eine Hypothese, die durch die empirische Beobachtung nahe gelegt, aber uns keineswegs durch sie allein gebieterisch aufgedrängt wird. Gehen wir von den festen Körpern zu den flüssigen, vom Quecksilberthermometer zum Wasserthermometer über, so wäre hier zum Zweck der Messung die einfache Formel der Proportionalität durch eine komplexere Formel zu ersetzen, gemäß welcher sodann die Zuordnung bestimmter Temperatur- werte und bestimmter Volumenwerte zu erfolgen hätte*. Man erkennt bereits an diesem Beispiel, wie selbst die ein- fachste quantitative Fixierung eines physischen Tat- bestandes diesen alsbald in ein Netzwerk theoretischer Vor- aussetzungen einbezieht, außerhalb deren nicht einmal die Frage nach der Meßbarkeit des Vorgangs gestellt werden könnte.
Es ist die philosophische Arbeit der physikalischen Forscher selbst, die diese erkenntnistheoretische Einsicht zu immer größerer Klarheit erhoben hat. Vor allem ist es D u h e m , der diese Wechselbeziehung, die zwischen dem physikalischen Faktum und der physikalischen Theorie ob- waltet, auf den einfachsten und schärfsten Ausdruck gebracht hat. Der Gegensatz zwischen der naiven sinnlichen Beob- achtung, die sich lediglich im Gebiet der konkreten Wahr- nehmungstatsachen hält und dem wissenschaftlich geleiteten und kontrollierten Experiment erfährt bei ihm eine über- zeugende und lebendige Schilderung. Verfolgen wir in Ge- danken den Gang einer experimentellen Untersuchung, denken wir uns z. B. in das Laboratorium versetzt, in welchem Regnault seine bekannten Versuche zur Prüfung des Mariotte-
* Vgl. hierüber die treffenden Ausführungen von G. Milhaud, La Rationnel, Paris 1898, S. 47 ff.
189
sehen Gesetzes anstellt, so sehen wir uns hier zunächst freilich einer Summe direkter Beobachtungen gegenüber, die wir ein- fach wiederholen können. Aber die Erzählung dieser Be- obachtungen ist es keineswegs, was den Kern und den eigent- lichen Sinn der physikalischen Ergebnisse Regnaults aus- macht. Was der physikalische Forscher objektiv vor sich sieht, sind gewisse Zustände und Veränderungen in seinen Meßinstrumenten. Aber die Urteile, die er fällt, beziehen sich nicht auf diese Instrumente, sondern auf die Gegenstände, die durch sie gemessen werden sollen. Nicht vom Stand einer bestimmten Quecksilbersäule wird berichtet, sondern ein Wert der „Temperatur" wird festgestellt; nicht eine Änderung, die im Manometer vor sich ging, sondern eine Variation des Drucks, unter dem das beobachtete Gas steht, wird ver- . zeichnet. Dieser Übergang von dem, was die Wahrnehmung des individuellen Moments unmittelbar darbietet zu der Form, die die Elemente in der physikalischen Aussage schließlich erhalten, macht die eigentümliche und charakteristische Leistung des naturwissenschaftlichen Begriffs aus. Der Wert des Volumens, das ein Gas einnimmt, der Wert des Druckes, unter dem es steht, und der Grad der Temperatur, den es besitzt, sind sämtlich keine konkreten Objekte und Eigen- schaften, die wir etwa den Farben und Tönen an die Seite stellen könnten: sondern es sind „abstrakte Symbole", die lediglich die physikalische Theorie wieder mit den wirklich beobachteten Tatsachen verknüpft. Der Apparat, kraft dessen das Volumen des Gases festgestellt wird, setzt nicht nur die Prinzipien der Arithmetik und Geometrie, sondern auch die abstrakten Grundsätze der allgemeinen Mechanik und der Himmelsmechanik voraus; die exakte Definition des Druckes fordert zu ihrem vollen Verständnis das Eindringen in die tiefsten und schwierigsten Theorien der Hydrostatik, der Elektrizitätslehre usw. Zwischen den Phänomenen, die im Verlauf eines Experiments wirklich beobachtet werden und dem endgültigen Ergebnis dieses Experiments, wie der Physiker es formuliert, liegt also eine äußerst komplexe intellektuelle Arbeit: und diese ist es erst, die aus einem Bericht über ein- malige Geschehnisse ein Urteil über Naturgesetze macht.
190
Noch deutlicher tritt diese Abhängigkeit jeder praktischen Messung von bestimmten prinzipiellen Grundannahmen, die als allgemeingültig hingestellt werden, hervor, wenn man erwägt, daß das eigentliche Fazit des Versuches niemals direkt zutage liegt, sondern erst durch eine kritische Diskussion, die auf die Ausschaltung der Beobachtungsfehler gerichtet ist, ermittelt werden kann. Kein Physiker experimentiert und mißt in Wahrheit mit dem Einzelinstrument, das er sinnlich vor Augen hat; sondern er schiebt ihm in Gedanken ein ideales Instrument unter, in dem alle zufälligen Mängel, die dem besonderen Werkzeug notwendig anhaften, aus- geschaltet sind. Messen wir etwa die Intensität eines elektri- schen Stromes durch die Tangentenbussole, so müssen die Beobachtungen, die wir zunächst an einem konkreten Einzel- apparat machen, ehe sie physikalisch verwendbar sind, zuvor auf ein allgemeines geometrisches Modell bezogen und über- tragen werden. An die Stelle eines Kupferdrahtes von be- stimmter Stärke setzen wir eine strenge geometrische Kreis- linie ohne Dicke, an die Stelle des Stahls der Magnetnadel, der eine bestimmte Größe und Form aufweist, setzen wir eine unendlich kleine, horizontale magnetische Achse, die ohne Reibung um eine vertikale Achse beweglich ist: und erst die Gesamtheit dieser Umformungen erlaubt es uns, die beobach- tete Abweichung der Magnetnadel in die allgemeine theoretische Formel der Stromintensität einzutragen und damit den Wert der letzteren zu bestimmen. Die Korrekturen, die wir beim Gebrauch jedes physikalischen Instruments vornehmen und notwendig vornehmen müssen, sind also selbst ein Werk der mathematischen Theorie: diese letztere ausschalten, hieße die Beobachtung selbst um ihren Sinn und ihren Wert bringen.* Von einer anderen Seite her tritt uns diese Verknüpfung entgegen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß jede kon- krete Messung zuvor die Fixierung bestimmter Einheiten verlangt, die sie als konstant zugrunde legt. Die Konstanz,
* Vgl. hierzu die ausgezeichnete Darstellung von Duhem, in der dieser Zusammenhang bis ins Einzelne aufgedeckt und nach allen Seiten hin beleuchtet wird (La Theorie Physique, son objet et sa structure, Paris 1906.)
191
die hier gefordert wird, aber ist niemals eine Eigenschaft, die dem Wahrnehmbaren als solchem anhaftet, sondern sie wird ihm erst auf Grund begrifflicher Postulate und Defini- tionen verliehen. Die Notwendigkeit derartiger Setzungen tritt besonders an dem fundamentalen physikalischen Maß- problem, am Problem der Zeitmessung, hervor. Die Zeitmessung muß von Anfang an auf all die sinnlichen Hilfen verzichten, die der räumlichen Messung zur Verfügung zu stehen scheinen. Wir können nicht eine Zeitstrecke zu einer anderen hinbewegen und beide in direkter Anschauung miteinander vergleichen, da gerade das charakteristische Grundmoment der Zeit darin besteht, daß zwei Teile von ihr niemals zugleich gegeben sind. So bleibt uns nur die begriffliche Vermittlung, die durch den Rückgang auf die Bewegungserscheinungen ermöglicht wird. Für die abstrakte Mechanik heißen die- jenigen Zeiten gleich, in denen ein sich selbst überlassener materieller Punkt gleiche Weglängen beschreibt. Wieder finden wir uns hier dem Begriff des Massen p u n k t e s , also einem rein ideellen Grenzbegriff gegenüber und wieder ist es die hypothetische Annahme eines allgemeingültigen Prinzips, das die Setzung des Grundmaßes erst er- möglicht. Das Trägheitsgesetz geht als begrifflicher Bestand in die Erklärung der Zeiteinheit ein. Man könnte versuchen, diese Bedingtheit abzustreifen, indem man von der rationalen Mechanik zu ihren empirischen Anwendungen übergeht und hier, im Gebiet der konkreten Phänomene selbst, eine streng gleichförmige Bewegung festzuhalten sucht. Die tägliche Umdrehung der Erde bietet, wie es scheint, die verlangte Gleichförmigkeit in aller Vollkommenheit, die für die Ziele der Messung nur immer in Betracht kommt, dar. Die Einheit wird uns hier durch das Intervall, das zwischen zwei aufein- anderfolgenden Kulminationen desselben Sternes liegt, direkt gegeben. Die genauere Betrachtung läßt indessen die Differenz, die zwischen idealem und empirischem Zeitmaß jederzeit zurückbleibt, sogleich klar hervortreten. Die Ungleich- heit der Sterntage ist es, die jetzt vielmehr auf Grund theoretischer Erwägungen gefordert und durch empirische Gründe bestätigt wird. Schon die Reibung, die durch den
192
beständigen Wechsel von Ebbe und Flut entsteht, bedingt eine allmähliche Verminderung der Rotationsgeschwindigkeit der Erde und somit eine Verlängerung der Sterntage. Von neuem entgleitet uns das gesuchte genaue Maß und wir sehen uns zu weiter zurückliegenden begrifflichen Festsetzungen gedrängt. Sie alle aber erhalten ihren Sinn nur durch die Beziehung auf irgendein physikalisches Gesetz, das wir still- schweigend in ihnen mitdenken. So hat man neuerdings als exakte Einheit der Messung die Zeit vorgeschlagen, in welcher die Emanation des Radiums ihre Radioaktivität verliert, wobei das Exponentialgesetz, nach welchem die Abnahme der Wirkung erfolgt, als Grundlage dient. Analog sind es die Prinzipien und Theoreme der Optik, die man voraussetzt, um etwa die Wellenlänge bestimmter Lichtstrahlen als Funda- ment der Längenmessung einzuführen. Immer ist es somit der Versuch, gewisse Gesetze als allgemeingültig festzuhalten, der uns in der Wahl der Einheiten leitet. Wir setzen die empirisch zunächst völlig ,, gleichen" Sterntage als ungleich, um das Prinzip der Erhaltung der Energie auf- recht zu erhalten. Die wahrhaften Konstanten sind daher im Grunde — wie man mit Recht betont hat — nicht die dinglichen Maßstäbe und Maßeinheiten selbst, sondern eben diese Gesetze, auf die sie bezogen und nach derem Vorbild sie konstruiert sind*. —
Die naive Auffassung, daß die Maße der physischen Dinge und Vorgänge ihnen gleich sinnlichen Eigenschaften anhaften und gleichsam von ihnen nur abgelesen zu werden brauchen, wird daher mit dem Fortschritt der theoretischen Physik mehr und mehr zurückgedrängt. Damit aber ändert sich zugleich das Verhältnis von Gesetz und Tatsache. Denn die Erklärung, daß wir zu Gesetzen gelangen, indem wir einzelne Fakta vergleichen und messen, enthüllt sich jetzt als ein logischer Zirkel. Das Gesetz kann nur darum aus der
* Vgl. Henri P o i n c a r 6 , La mesure du temps, Revue de M6taphysique et de Morale VI, 1898. Über die theoretischen Voraussetzungen der Be- stimmung der Maßeinheiten vgl. bes. Lucien Poinoar6, Die moderne Physik dtsch. v. Brahn, Lpz. 1908, sowie Wilbois, L'Esprit positif, Revue de M6taph, IX (1901.)
Cassirer, Substanzbegriff 13 193
Messung hervorgehen, weil wir es in hypothetischer Form in die Messung selbst hineingelegt haben. So paradox dieses Wechselverhältnis erscheinen mag, so genau bezeichnet es das logische Kernproblem der Physik. Die begriffliche Vor- wegnahme des Gesetzes ist nicht widersprechend, weil sie nicht in der Form einer dogmatischen Behauptung, sondern lediglich als ein erster gedanklicher Ansatz erfolgt; weil sie nicht eine endgültige Antwort, sondern lediglich eine Frage in sich schließt. Erst wenn es auf Grund dieses Ansatzes gelingt, das Ganze der Erfahrungen zu einer lückenlosen Einheit zu verknüpfen, ist sein Wert und sein Recht erwiesen. Aber dieses Recht kann andererseits freilich nicht dadurch gesichert werden, daß wir jede Hypothese, jede theoretische Konstruktion unmittelbar in einer einzelnen Erfahrung, in einem besonderen sinnlichen Eindruck bewähren. Auch die Gültigkeit des physikalischen Begriffs beruht nicht auf seinem Gehalt an wirklichen, direkt aufzeigbaren Daseins- elementen, sondern auf der Strenge der Ver- knüpfung, die er ermöglicht. In diesem Grundcharakter bildet er die Erweiterung und Fortsetzung des mathema- tischen Begriffs. (Vgl. oben S. 109 f.) Der einzelne Begriff kann daher niemals für sich allein an der Erfahrung gemessen und beglaubigt werden, sondern er erhält diese Bestätigung stets nur als Glied eines theoretischen Ge- samtkomplexes. Seine „Wahrheit" bekundet sich zunächst in den Folgerungen, zu denen er hinführt; in dem Zu- sammenhang und der systematischen Geschlossenheit der Erklärungen, die er ermöglicht. Jedes Element bedarf hier des anderen zu seiner Stütze und Rechtfertigung; keines läßt sich aus dem Gesamtorganismus herauslösen und in dieser Sonderung darstellen und prüfen. Wir besitzen nicht physi- kalische Begriffe und physikalische Tatsachen in reinlicher Scheidung, so daß wir aus dem ersteren Gebiet ein Glied herausheben und versuchen könnten, ob ihm ein Abbild im zweiten entspricht: sondern wir besitzen die ,, Tatsachen" nur kraft der Gesamtheit der Begriffe, wie wir die Begriffe anderseits nur mit Rücksicht auf die Totalität der möglichen Erfahrung konzipieren. Es ist der Grundfehler des
194
Baconischen Empirismus, daß er diese Korrelation nicht begriff; daß er die „Fakta" gleichsam als abgelöste, für sich bestehende Wesenheiten dachte, die unser Denken nur so getreu als möglich nachzubilden hätte. Die Leistung des Begriffs erstreckt sich hier nur auf die nachträgliche Zusammenfassung und Darstellung des empirischen Materials; nicht auf die Sicherung und Nachprüfung dieses Materials selbst*. So hartnäckig diese Auffassung sich innerhalb der Erkenntnistheorie der Naturwissenschaft erhalten hat: so viele Zeichen weisen doch darauf hin, daß die Physik selbst in ihrer modernen Gestalt sie endgültig überwunden hat. Auch diejenigen Denker, die mit allem Nachdruck betonen, daß die Erfahrung in ihrer Gesamtheit die höchste und letzte Kontrolle aller physikalischen Theorien bildet, ver- werfen den naiven Baconischen Gedanken des „experimentum crucis". Die „reine" Erfahrung im Sinne einer bloßen in- duktiven Sammlung vereinzelter Beobachtungen vermag nie- mals das Grundgerüst der Physik abzugeben: denn ihr ist die Kraft der mathematischen Formgebung versagt. Erst wenn das rohe Faktum durch ein mathematisches Symbol dargestellt und ersetzt ist, beginnt die intellektuelle Arbeit des Begreifens, die es mit der Gesamtheit der Phänomene systematisch verknüpft**.
Faßt man jedoch das Endergebnis, zu dem die Analyse der physikalischen Theorie notwendig hindrängt, in dieser Form, so bleibt nichtsdestoweniger eine Paradoxie zurück. Wozu dient alle Begriffs arbeit der Physik, wenn wir zuletzt erkennen müssen, daß alle Komplikation der Untersuchungs- methoden uns von dem konkreten Faktum der Anschauung in seiner sinnlichen Lebendigkeit nur mehr und mehr ent- fernt? Verlohnt sich dieser ganze Aufwand wissenschaftlicher Mittel, wenn das endgültige Ziel kein anderes ist und sein kann, als Tatsachen in Symbole zu verwandeln? Der Vorwurf, den die moderne Physik in ihrer Entstehung gegen die Scholastik erhob, daß sie die Betrachtung der Sachen
* Näheres hierüber s. Erkenntnisproblem II, 125 ff. ** Vgl. hrz. bes. Duhem, La Th6orie Physique S. 308 ff.
13* 195
durch die der Namen ersetze, droht jetzt auf sie selbst zurückzufallen. Nur eine neue Namengebung scheint hier erreicht, durch die wir uns der wahren Wirklichkeit der Empfindung mehr und mehr entfremden. Man hat diese Konsequenz in der Tat bisweilen gezogen: man hat die Not- wendigkeit, zu der die physikalische Theorie uns hin- führt, in Gegensatz zu der Evidenz und Wahrheit gestellt, die uns im Erleben individueller Einzeltatsachen zum Be- wußtsein kommt. Diese Trennung beruht indessen selbst auf einer falschen Abstraktion: sie versucht, zwei Momente gegeneinander zu isolieren, die durch die Voraussetzun- gen der Begriffsbildung selbst unlöslich auf- einander hingewiesen sind. Der Weg der mathemati- schen Begriffsbildung war — wie sich im Gegensatz zu der traditionellen logischen Lehre zeigte — durch das Verfahren der Reihenbildung bestimmt. Nicht darum handelte es sich, aus einer Mehrheit gleichartiger Eindrücke das Ge- meinsame herauszuschälen, sondern ein Prinzip fest- zustellen, kraft dessen das Verschiedene auseinander hervorgeht. Die Einheit des Begriffs bekundete sich nicht in einem festen Bestand an Merkmalen, sondern in der Regel, durch welche die bloße Verschiedenheit als eine gesetzliche Abfolge von Elementen dargestellt wurde. (Vgl. oben S. 18 ff.) Die Betrachtung der physikalischen Grundbegriffe bestätigt und erweitert diese Auffassung. Alle diese Begriffe erscheinen nunmehr als ebensoviele Mittel, das „Gegebene" in Reihen zu fassen und ihm innerhalb dieser Reihen seine feste Stelle anzuweisen. Der wissenschaftliche Versuch leistet diese letzte endgültige Fixierung; aber damit sie möglich ist, müssen die Reihenprinzipien selbst, müssen die Ge- sichtspunkte, unter denen die Vergleichung und Zu- ordnung der Elemente erfolgt, theoretisch festgestellt und begründet sein. Das einzelne Ding ist für den Physiker nichts anderes, als ein Inbegriff physikalischer Konstanten: außer- halb dieser Konstanten besitzt er keine Möglichkeit und keine Handhabe, die Besonderheit eines Objekts zu bezeichnen. Wir müssen dem Gegenstand ein bestimmtes Volumen und eine bestimmte Masse, ein bestimmtes spezifisches Gewicht,
196
eine bestimmte Wärmekapazität, eine bestimmte elektrische Leistungsfähigkeit usf. zusprechen, um ihn von anderen Objekten zu unterscheiden und ihn einer festen begrifflichen Klasse einzuordnen. Die Messungen, die hierzu erforderlich sind, aber setzen voraus, daß das Moment, unter dem die Vergleichung erfolgt, zuvor in begrifflicher Strenge und Genauigkeit erfaßt ist. Dieses Moment ist niemals in dem anfänglichen Eindruck mitgegeben, sondern es muß theo- retisch erarbeitet werden, um sodann auf das Mannigfaltige der Wahrnehmung angewandt zu werden. Die physikalische Zerlegung des Gegenstandes in die Gesamtheit seiner numeri- schen Konstanten ist somit keineswegs gleichbedeutend mit der Zerfällung eines sinnlichen Dinges in die Schar seiner sinnlichen Merkmale: sondern es sind neue und eigenartige Kategorien der Beurteilung, die hinzugebracht werden müssen, um diese Gliederung zu vollziehen. Erst in dieser Beurteilung wandelt sich der konkrete Eindruck zum physi- kalisch bestimmten Objekt. Die sinnlich dingliche Qualität wird zum physikalischen Gegenstand, indem sie sich in eine reihenförmige Bestimmtheit umsetzt. Aus einer Summe von Eigenschaften wird das,, Ding" jetzt zu einem mathematischen Inbegriff von Werten, die im Hinblick auf irgendeine Ver- gleichsskala fixiert sind. Die verschiedenen physikalischen Begriffe bestimmen jeder für sich eine derartige Skala und er- möglichen somit eine immer innigere Verknüpfung und Zuord- nung der Elemente des Gegebenen. Das Chaos der Eindrücke formt sich in ein System von Zahlen: aber diese Zahlen er- halten ihre Benennung und somit ihre spezifische Bedeutung erst aus dem Inhalt der Grundbegriffe, die als allgemeingültige Maßstäbe theoretisch festgelegt sind. Man begreift erst in diesem logischen Zusammenhang den ,, objektiven" Wert, der der Umbildung des Eindrucks in das mathematische ,, Symbol" zukommt. In der symbolischen Bezeichnung ist freilich die besondere Beschaffenheit des sinnlichen Eindrucks ab- gestreift; aber es ist alles dasjenige festgehalten und für sich herausgehoben, was ihn als Systemglied kennzeichnet. Das Symbol besitzt sein vollgültiges Korrelat nicht in irgend- welchen Bestandteilen der Wahrnehmung selbst, wohl
197
aber in dem gesetzlichen Zusammenhang, der zwischen ihren einzelnen Gliedern besteht: dieser Zusammenhang aber ist es, der sich immer deutlicher als der eigentliche Kern des Gedankens der empirischen ,, Wirklichkeit" selbst enthüllen wird. —
Von einem anderen Standpunkt läßt sich das Verhältnis, das hier zugrunde liegt, beleuchten, wenn man an die gewöhn- liche psychologische Fassung der Begriffstheorie anknüpft. In der Sprache dieser Theorie löst sich das Problem des Begriffs in das Problem der ,,apperzeptiven Verknüpfung" auf. Der neu auftretende Eindruck, der zunächst als Einzelnes erfaßt wird, gelangt zu begrifflichem Verständnis erst kraft der apperzeptiven Deutung und Einordnung, die er erfährt. Fehlte diese Bezogenheit des Einzelnen auf die Gesamtheit der Erfahrung, so wäre damit die „Einheit des Bewußtseins" selbst aufgehoben — so würde der Eindruck nicht länger zu ,, unserer" Welt der Wirklichkeit gehören. Man kann im Sinne dieser Auffassung die verschiedenen physikalischen M a ß - begriffe, die die naturwissenschaftliche Theorie ent- wickelt, als die eigentlichen und notwendigen Apperzep- tionsbegriffe für jede empirische Kenntnis überhaupt bezeichnen. Ohne sie gäbe es in der Tat, wie sich gezeigt hat, keine Einstellung des Tatsächlichen in Reihen und somit keine durchgängige wechselseitige Bestimmung zwischen seinen einzelnen Gliedern. Wir besäßen alsdann das Faktum immer nur als einzelnes Subjekt, ohne irgendein Prädikat angeben zu können, durch das wir es näher zu umgrenzen vermöchten. Erst indem wir das Gegebene unter irgend- einen Leitgedanken der Messung stellen, gewinnt es feste Gestalt und Prägung, gewinnt es klar umgrenzte physikalische ,, Eigenschaften". Selbst bevor noch sein Einzel wert innerhalb jeder der möglichen Vergleichungs- reihen empirisch festgestellt ist, ist jetzt doch seine not- wendige Zugehörigkeit zu irgendwelchen von diesen Grund- reihen erkannt und damit bereits das vorbereitende Schema zu seiner näheren Bestimmung geschaffen. Die deduktive Vorarbeit schafft eine Übersicht über die möglichen Weisen der exakten Zuordnung; während die Erfahrung bestimmt,
198
welcher von den möglichen Arten der Verbindung für den vorliegenden Fall anwendbar ist. Das wissen- schaftliche Experiment findet stets eine Mehrheit von Wegen vor, die die Theorie gebahnt hat und zwischen denen es nunmehr eine Auswahl zu treffen gilt. Kein Inhalt der Erfahrung kann uns daher jemals als etwas schlechthin Fremdartiges gegenübertreten: denn schon indem wir ihn zum Inhalt unseres Denkens machen, indem wir ihn in räumliche und zeitliche Beziehungen mit anderen Inhalten setzen, haben wir ihm damit das Siegel unserer allgemeinen Verknüpfungsbegriffe, insbesondere der mathematischen Re- lationen, aufgedrückt. Die Materie der Wahrnehmung wird nicht erst nachträglich in irgendeine begriffliche Form ge- gossen; sondern der Gedanke dieser Form bildet die not- wendige Voraussetzung, um auch nur irgendeine Gestalt der Materie selbst, um irgendwelche konkrete Bestimmungen und Prädikate von ihr aussagen zu können. Jetzt kann es daher nicht mehr befremden, daß auch die wissenschaftliche Physik, je weiter sie in das „Sein" ihrer Objekte vorzudringen strebt, immer nur gleichsam auf neue Schichten von Zahlen und Zahlenwerten stößt. Sie entdeckt keine absoluten meta- physischen Qualitäten; sondern sie sucht die Beschaffenheit des Körpers oder des Vorgangs, den sie untersucht, dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß sie immer neue ,, Parameter" in seine Bestimmung aufnimmt. Ein solcher Parameter ist die Masse, die wir einem einzelnen Körper beilegen, um uns das Ganze seiner möglichen Veränderungen und sein Ver- halten gegenüber äußeren Bewegungsantrieben rational ver- ständlich zu machen, oder die E i g e n e n e r g i e , die wir als charakteristisch für den augenblicklichen Zustand eines gegebenen physikalischen Systems ansehen. Das Gleiche aber gilt für alle die verschiedenen Größen, durch welche Physik und Chemie fortschreitend den Körper der Wirklichkeit bestimmen*. Je tiefer man sich in dieses Verfahren versenkt, um so reiner tritt hierbei die Eigenart der naturwissenschaft- lichen Dingbegriffe und ihr Unterschied von den metaphysi-
* Vgl. hrz. die treffenden Ausführungen von G. F. Lipps. Mythen- bildung und Erkenntnis, Lpz. 1907, S. 211 ff.
199
sehen Substanzbegriffen hervor. Die Naturwissenschaft hat in ihrer Entwicklung überall an die Form dieser letzteren angeknüpft; aber sie hat zugleich in ihrem eigenen Fortschritt diese Form mit einem neuen Gehalt erfüllt und sie auf eine andere Stufe der Begründung emporgehoben.
V.
Der logische Gedanke der Substanz steht an der Spitze der wissenschaftlichen Weltbetrachtung überhaupt; er ist es, der geschichtlich die Grenzscheide zwischen Forschung und Mythos vollzieht. Erst in dieser Leistung gewinnt die Philo- sophie ihren eigenen Anfang. Der Versuch, die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Wirklichkeit aus einem einzigen Urstoff ab- zuleiten, enthält eine allgemeingültige Forderung in sich, die, wie unvollkommen sie zunächst auch erfüllt werden mag, dennoch der charakteristische Ausdruck einer neuen Denk- weise und einer neuen Fragestellung ist. Das Sein wird erst jetzt zum geordneten Ganzen, das nicht von außen durch fremde Willkür gelenkt wird, sondern in sich selbst die Gewähr seines Bestandes trägt. Der neue Gedanke aber kann zunächst seine Bestätigung nirgend anders suchen, als in dem Umkreis der sinnlichen Dinge selbst, die allein den festen, positiven Inhalt der Wirklichkeit auszumachen scheinen. Die Wahr- nehmung bietet hier — da die begriffliche und kritische Arbeit der Forschung noch nirgends eingesetzt hat — die einzige feste Grenze, die zwischen der Realität und den mythisch-poetischen Erdichtungen scheidet. So ist es irgendein empirisch aufweisbarer Einzelstoff, dem jetzt die Bedeutung der „Substanz" aufgeprägt wird. Aber schon innerhalb der Jonischen Naturphilosophie selbst beginnen sich Tendenzen zu regen, die über diese Auffassung hinausdrängen. Das Anaximandrische Prinzip des oTteiQov erhebt sich bereits in logischer Freiheit über den Kreis der unmittelbaren Wahr- nehmungswirklichkeit. Es enthält den Hinweis auf den Gedanken, daß dasjenige, was den Ursprung des sinnlichen Seins bilden soll, mit ihm nicht von gleicher Beschaffenheit sein kann. Es kann mit keiner einzelnen stofflichen Qualität behaftet sein, da alle Einzelqualitäten sich erst aus ihm
200
entwickeln sollen. So wird es zu einem Sein ohne bestimmte sinnliche Unterscheidungsmerkmale, in dessen gleichartiger Struktur die Gegensätze des Warmen und Kalten, des Feuchten und Trocknen noch ungesondert nebeneinander liegen. Das Gebiet des Stofflichen überhaupt ist damit indes nicht ver- lassen; vielmehr ist es gerade die reine Abstraktion des Stoffes selbst, die in dem unendlichen und bestimmungslosen Urstoff Anaximanders zur ersten deutlichen Ausprägung gelangt. — Das Problem der besonderen Qualitäten und Eigenschaften ist jedoch in diesem ersten Lösungsversuch nicht überwunden, sondern erst gestellt. Wenn die Gegensätze sich durch ,, Ausscheidung" aus dem gleichartigen Urprinzip entwickeln sollen, so bleibt die Art, in der diese Differenzierung erfolgt und der Anstoß, der zu ihr hinführt, zunächst völlig im Dunkeln. Die Frage, die hierin liegt, bildet den Antrieb für die weitere Entwicklung der spekulativen Naturphilo- sophie. Die Einheit, die Anaximander in seinem Prinzip des Unendlichen gesetzt hatte, stellt sich lediglich als eine logische Vorwegnahme dar, die der genauen Begründung entbehrt. So muß der Gedanke nunmehr, um an diesem Punkt zur Klarheit durchzudringen, scheinbar den entgegen- gesetzten Weg einschlagen. Die wahrhafte Unendlichkeit des Urstoffes bekundet sich nicht sowohl in seiner gleich- förmigen und unterschiedslosen Struktur, als vielmehr in der unbegrenzten Fülle und Mannigfaltigkeit an qualitativen Unterschieden, die er in sich birgt. Es ist das Natursystem des Anaxagoras, das diese Tendenz zum Abschluß bringt. Hier tritt zugleich mit der ersten Festsetzung eines allgemeinen bewegenden Prinzips auch die physikalische Er- klärung der Einzelqualitäten in eine neue Phase der Be- trachtung ein. Es ist vergeblich, das Besondere aus dem Allgemeinen ableiten zu wollen, wenn es nicht in irgendeiner Form in ihm bereits gesetzt und enthalten ist. So werden die mannigfachen erscheinenden Beschaffenheiten der Körper, von deren Dasein und deren Unterschieden die Sinne uns Kunde geben, nunmehr auf dauernde und absolute Eigen- schaften der Materie als auf ihren eigentlichen Ursprung zurückgedeutet. Das Feuchte und das Trockene, das Helle
201
und Dunkle, das Warme und Kalte, das Dichte und Dünne sind sämtlich Grundeigenschaften der Dinge selbst: und auf der Art und dem quantitativen Verhältnis, in denen diese Eigenschaften sich mischen, beruhen alle Verschiedenheiten und Gegensätze der zusammengesetzten sinnlichen Sub- stanzen, wie der Luft und des Wassers, des Äthers und der Erde. Hierbei sind es stets alle elementaren Grundbeschaffen- heiten, die in ihrer Gesamtheit in jegliche Zusammensetzung eingehen und die auch in den kleinsten stofflichen Teilen, so weit wir die Zerlegung auch fortsetzen mögen, noch als enthalten zu denken sind. Was den besonderen Stoffen ihr unterscheidendes Gepräge gibt, ist nicht dies, daß sie irgend- eines der qualitativen Elemente isoliert enthalten, sondern daß es in der Zusammensetzung vorherrscht, so daß in der gewöhnlichen populären Betrachtung die übrigen Faktoren, die in Wahrheit niemals fehlen können, praktisch außer Betracht bleiben dürfen. In diesem Sinne ist ,, Alles in Allem": jedes noch so kleine Partikel, jeder physische Punkt selbst stellt einen Inbegriff unendlich vieler Qualitäten dar, die sich in ihm durchdringen. Die spezielle Ausführung dieser Lehre bietet lediglich geschichtliches Interesse: aber auch abgesehen hiervon enthält sie ein Moment von typischer Bedeutung, das denn auch seither im Fortgang der Physik immer wieder zutage'getreten ist. Die Analyse des Anaxagoras bezweckt, hinter die konkreten sinnlichen Objekte, wie sie sich der Anschauung zunächst darbieten, zu ihren begrifflichen Prinzipien zurückzugehen: aber sie fixiert den Gehalt dieser Prinzipien in Ausdrücken, die selbst durchaus der sinnlichen Wahrnehmung entnommen sind. Beschaffenheiten und Gegensätzlichkeiten der Empfindung werden hier unmittelbar zu dinglichen Gründen umgedeutet, die an sich bestehen und für sich, wenngleich in Gemeinschaft mit anderen Ur- sachen derselben Art, zu wirken vermögen. Die bunte Viel- heit der empfindbaren Qualitäten wird also beibehalten; ja sie wird bewußt zur Unendlichkeit gesteigert. Jeder dieser Beschaffenheiten, die in der Erscheinung hin und her zu gehen, zu entstehen und zu vergehen scheinen, entspricht in Wahr- heit ein unveränderliches substantielles Sein. Daß irgendeine
202
sinnliche Grundeigenschaft an einem Subjekt neu entsteht oder an ihm verschwindet, ist eine bloße Täuschung, die die oberflächliche Betrachtung der Dinge uns vorspiegelt: jede dieser Eigenschaften b e h a r r t vielmehr und wird nur zeitweilig durch andere, die hinzutreten, für unseren Blick gleichsam verdeckt. So liegt hier in der Tat der charakte- ristische Versuch vor, das beharrende Sein, das der Gedanke fordert, zu konstruieren, ohne aus dem Umkreis des „Ge- gebenen" herauszutreten. Es ist nicht mehr, wie in der Jonischen Naturphilosophie, ein einzelner empirischer Stoff, wie die Luft oder das Wasser, der den dauernden Bestand der Dinge darstellt; wohl aber geht dieser Wert auf die Gesamt- heit der Eigenschaften über, aus denen jene Körper resultieren, und die an ihnen kraft der Wahrnehmung aufzeigbar sind. Die Hypostase dieser Eigenschaften läßt ihre Natur dennoch ungeändert; sie erhalten dadurch zwar eine veränderte metaphysische Bedeutung, treten aber aus dem Cha- rakter des Sinnlichen prinzipiell nicht heraus. —
Auch die Aristotelische Physik stellt in dieser Hinsicht keine innere Wandlung dar. Die Grundqualitäten sind hier wiederum auf eine kleine Anzahl zusammengezogen: statt der unendlich vielfältigen „Samen" der Dinge sind es nunmehr lediglich die Eigenschaften des Warmen und Kalten, des Feuchten und Trockenen, aus deren Zusammensetzung die vier Elemente: Wasser und Erde, Luft und Feuer ent- stehen sollen. Die Natur dieser Elemente bestimmt die Eigenart der Bewegungen, die sie ausführen, und damit den Gesamtplan und die Ordnung des Weltalls. So ruht auch der Bau dieser Physik auf dem gleichen Ver- fahren der Umsetzung relativer Eigenschaften der Empfin- dungen in absolute Eigenschaften der Dinge. Mit besonderer Schärfe und Deutlichkeit tritt die Anschauung, die hier zu- grunde liegt, in ihren geschichtlichen Folgen hervor. Die ge- samte Naturwissenschaft, insbesondere die gesamte Chemie und A 1 c h y m i e des Mittelalters werden erst verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit den logischen Vor- aussetzungen des Aristotelischen Systems betrachtet. Die Erhebung der Qualitäten zu gesonderten Wesenheiten,
203
die vom Sein des Körpers verschieden und somit wenigstens im Prinzip von einem Körper auf den anderen übertragbar sind, bildet hier die herrschende Grundanschauung. Die Eigenschaften, die einer Klasse von Dingen gemeinsam sind und die somit die Grundlage für die Bildung eines bestimmten Gattungsbegriffs abgeben, werden zugleich als p h y - s i s c h e Bestandteile abgesondert und zu selbständiger Existenz erhoben. Die festen Körper unterscheiden sich von den flüssigen und flüchtigen durch die Anwesenheit einer bestimmten absoluten und ablösbaren Eigenschaft, die ihnen innewohnt: der Übergang in einen anderen Aggregatzustand bedeutet den Verlust dieser Qualität und die Aufnahme einer neuen dinglichen Einzelnatur. So läßt sich etwa Quecksilber in Gold verwandeln, indem wir ihm successiv die beiden ,, Elemente", auf denen seine Flüssigkeit und seine Flüchtigkeit beruhen, entziehen und sie durch andere Beschaffenheiten ersetzen. Allgemein genügt es, um irgendeinen Körper in einen anderen überzuführen, die verschiedenen ,, Naturen" derart zu beherrschen, daß man imstande ist, sie nacheinander der Materie aufzuprägen. Die Umwandlung der Metalle in- einander wird gemäß dieser Grundanschauung gedacht und dargestellt. Man beraubt den Einzelkörper seiner individuellen Merkmale, die als ebensoviele selbständige Substanzen in ihm gedacht werden; man löst etwa von dem Zinn sein Knir- schen, seine Schmelzbarkeit, seine Weichheit los, um es da- durch dem Silber, von dem es durch all diese Eigenschaften zunächst getrennt ist, zu nähern. Die Gesamtansicht, auf der diese Naturauffassung beruht, tritt noch in der neueren Zeit in der Physik B a c o n s deutlich hervor. Bacons Formen- lehre geht auf das Axiom zurück, daß dasjenige, was die generische Gemeinsamkeit einer Gruppe von Körpern aus- macht, als abtrennbarer Bestandteil in ihnen irgendwie vor- handen und nachweisbar sein muß. Die Form der Wärme besteht als ein eigentümliches Etwas und sie ist es, die allen warmen Dingen innewohnt und durch ihre Anwesenheit bestimmte Wirkungen in ihnen hervorruft. Die Aufgabe der Physik erschöpft sich darin, die komplexen sinnlichen Einzeldinge in eine Schar abstrakter und einfacher Qualitäten
204
aufzulösen und aus ihnen zu erklären. Die Hypothesen des Wärmestoffes, wie die Annahme der besonderen elektrischen oder magnetischen Fluida zeigen, wie langsam auch in der modernen Naturwissenschaft diese Auffassung zurückgedrängt worden ist*. Insbesondere ist es die Begriffsbildung der Chemie, in welcher sie immer von neuem in verschiedenen Formen hervortrat. Jedes Element der älteren Chemie ist zugleich der Träger und gleichsam der Typus einer be- stimmten hervorstechenden Eigenschaft. So ist der Schwefel der Ausdruck der Verbrennbarkeit der Körper, das Salz der Ausdruck ihrer Löslichkeit, während das Quecksilber die Gesamtheit der metallischen Eigenschaften in sich faßt und darstellt. Immer sind es hier gewisse gesetzliche Re- aktionen, für die unmittelbar ein dingliches Substrat eingesetzt wird. Die Eigenschaft der Brennbarkeit, die wir an einer Anzahl von Körpern sinnlich zu erfassen und wahr- zunehmen scheinen, verdichtet sich in der Annahme des Phlogistons zu einem besonderen Stoff, der den Körpern beigemischt ist: und diese Annahme ist es, aus welcher der gesamte Aufbau der Chemie vor Lavoisier mit innerer Not- wendigkeit folgt. —
Neben der Entwicklung, die hier in ihren allgemeinen Zügen verfolgt wurde, aber steht von Anfang an eine andere Grundauffassung des physischen Seins und Geschehens. Schon die antike Wissenschaft hat dieser Auffassung im System derAtomistik einen vollendeten Ausdruck gegeben. Die Atomistik geht in ihren geschichtlichen Voraus- setzungen — durch Vermittlung des Eleatischen Systems — auf die Grundform der Pythagoreischen Lehre zurück. Der Grundbegriff des leeren Raumes, von dem Demokrit ausgeht, ist direkt dem xevöv der Pythagoreer entnommen. Hier stehen wir daher bereits vor einer veränderten Richtung der Denkart. Das Sein wird nicht mehr unmittelbar in den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten gesucht noch in dem, was ihnen etwa als absolutes Korrelat und Gegenbild ent-
* Vgl. hrz. die vortreffliche Darstellung bei E. Meyerson, Identit^ et R6alit6, Paris 1908, S. 300 ff.; s. auch Berthelot, Les origines de P Alchimie, Paris 1885, S. 206 ff., 279 ff. u. s.
205
spricht, sondern es geht in dem reinen Begriff derZahl auf. Die Zahl, auf der alle Verknüpfung und alle innere Harmonie der Dinge beruht, ist eben darum zugleich als die Substanz der Dinge zu bezeichnen : denn sie ist es, die ihnen allein eine bestimmt erkennbare Wesenheit verleiht. Der mystische Überschwang, mit dem dieser Gedanke in seiner ersten Konzeption ergriffen wird, tritt in der Fortbildung der griechischen Wissenschaft mehr und mehr zurück, um zuletzt einer rein methodischen und rationalen Begründung zu weichen. Im atomistischen System ist diese Wendung vollzogen: was für die Pythagoreer als abstrakte Forderung feststand, ist hier in einem konkreten Aufbau der Mechanik verkörpert. Die sinnlichen Eigenschaften der Dinge werden nunmehr aus dem wissenschaftlichen Weltbild verwiesen; nur der „Satzung" nach, nur in der ungeprüften „subjektiven" Auffassung gibt es ein Süßes und Bitteres, ein Farbiges und Farbloses, ein Warmes und Kaltes. Für die Darstellung der objektiven Wirklichkeit dagegen sind alle diese Beschaffen- heiten zu verwerfen, da keine von ihnen einer exakten M a ß - bestimmung und damit einer wahrhaft eindeutigen Fixierung fähig ist. So bleiben als die ,, wirklichen" Merkmale der Dinge nur diejenigen zurück, die im Sinne der reinen Mathematik bestimmbar sind. Das abstrakte Zahlschema der Pythagoreer aber wird jetzt durch ein neues Moment ergänzt, kraft dessen es erst seine volle Fruchtbarkeit zu entfalten vermag. Um von der Zahl zum stofflich physischen Dasein zu gelangen bedürfen wir der Vermittlung und des Durchgangs durch den Raumbegriff. Der Raum selbst ist indes hier in einem Sinne genommen, der ihn gleichsam zum reinen Sinnbild der Zahl stempelt. Er bietet sich all ihren Bestimmungen dar und erfüllt alle ihre wesentlichen Be- dingungen. Sein charakteristischer Grundzug ist demnach die unbedingte Gleichförmigkeit seiner Teile: alle inneren Unterschiede haben sich in einen bloßen Stellen- Unterschied aufgelöst. Die Differenzen, die im unmittelbaren Wahrnehmungsraum bestehen, sind völlig abgestreift, so daß jeder Einzelpunkt nur noch den gleichwertigen Ausgangs- punkt für geometrische Beziehungen und Konstruktionen
206
bedeutet. Wird nunmehr das Wirkliche unter diesen Gesichts- punkten bestimmt, so bleibt von ihm nur dasjenige zurück, was es zu einer numerischen Ordnung, zu einem quantitativ gegliederten Ganzen macht. Eben hierin wurzelt das Recht und die Bedeutung des Atombegriffs: die Welt der Atome ist nichts anderes, als die abstrakte Darstellung der physischen Wirklichkeit, sofern an dieser nichts anderes als reine Größenbestimmungen festgehalten werden. In diesem Sinne hat, noch an der Schwelle der modernen Physik, Galilei die Atomistik verstanden und begründet. Im Begriff der Materie — so führt er aus — liegt nichts anderes, als daß sie von dieser oder jener Gestalt, in diesem oder jenem Ort, daß sie groß oder klein, in Bewegung oder in R u h e begriffen ist. Von allen sonstigen Merkmalen dagegen können wir absehen, ohne dadurch den Gedanken der Materie selbst aufzuheben. Keine logische Notwendigkeit zwingt uns, sie weiß oder rot, süß oder bitter, wohl- oder übel- riechend zu denken; vielmehr sind alle diese Bezeichnungen bloße Namen, denen, da sie sich nicht auf exakte Zahlen- werte zurückführen lassen, auch kein festes objektives Korrelat entspricht. Die Substanz des physikalischen Körpers er- schöpft sich in dem Inbegriff der Eigenschaften, die Arithmetik und Geometrie, sowie die reine Bewegungslehre, die auf beide zurückgeht, an ihm entdecken und feststellen. —
Mit dieser Hinwendung zur Atomistik ist indessen das Problem nur in allgemeinen Ausdrücken gestellt, aber noch keineswegs vollständig gelöst. Denn das Atom selbst be- zeichnet keinen festen physischen Tatbestand, sondern eine logische Forderung; es ist daher selbst kein unveränderlicher, sondern vielmehr ein variabler Ausdruck. Es ist interessant zu verfolgen, wie in den Wandlungen, die der Atombegriff selbst im Laufe der Zeiten erfährt, das gedankliche Motiv, dem er seine Entstehung verdankt, weiterwirkt und sich zu immer größerer Klarheit durchringt. Im Atom Demokrits ist die Auflösung der sinnlichen Bestimmungen noch nicht zur vollen Durchführung gelangt. Die Atome unterscheiden sich hier — wenn man den bekannten Bericht des Aristoteles zugrunde legt — nicht nur ihrer Stellung und Lage, sondern
207
auch ihrer Größe und Gestalt nach: sie besitzen somit selbst verschiedene Ausdehnung und verschiedene Form, ohne daß ein Grund dieses Unterschiedes aufweisbar wäre. Vor allem aber tritt in dem Maße, als die dynamische Wechsel- wirkung der Atome zum eigentlichen Problem wird, die logische Notwendigkeit hervor, jedes Atom mit einer absoluten Härte zu begaben, kraft deren es alle anderen von seiner räumlichen Sphäre ausschließt. Die Gegensätze des Harten und Weichen wie des Leichten und Schweren werden somit wieder unmittelbar in die objektive Natur- betrachtung aufgenommen: ein Rest der wahrnehmbaren Merkmale des Körpers ist erhalten und mit den Bestimmungen, die das mathematische Denken aussondert, auf eine Stufe gestellt. Die Folgen dieses Dualismus treten im Fortgang der Lehre alsbald deutlich hervor. Sie verdichten sich zu einer eigentlichen Antinomie, sobald man das Verhältnis betrachtet, das sich nunmehr zwischen dem physikalischen Grundbegriff des Seins und dem physikalischen Grundgesetz des Ge- schehens ergibt. Dieses Gesetz fordert, wenn wir es ledig- lich in seinen Anwendungen auf die Mechanik betrachten, für jeden Übergang der Bewegung von einem Körper auf einen anderen, daß die Gesamtsumme der lebendigen Kraft unver- ändert bleibt. Versucht man indessen diesen Gesichtspunkt auf die Darstellung des Stoßes der Atome anzuwenden, so ergibt sich alsbald eine eigentümliche Schwierigkeit. Be- trachtet man die Atome als vollkommen harte Körper, so sind ihre Eigenschaften und Wirkungsweisen nach dem Verhalten zu bestimmen, das wir empirisch unmittelbar an unelastischen Massen beobachten können: bei jedem Zu- sammenstoß vollkommen oder zum Teil unelastischer Körper aber zeigt sich ein bestimmter Verlust an lebendiger Kraft. Die Theorie muß, um diesen Widerspruch gegen das Er- haltungsgesetz auszugleichen, die Annahme machen, daß ein Teil der lebendigen Kraft von den Gesamtmassen auf ihre Teile übergegangen ist, daß die „molare" Energie sich in „molekulare" umgesetzt hat. Diese Erklärung aber versagt ersichtlich für die Atome selbst, da diese ihrem Begriff nach als streng einfache Subjekte der Bewegung zu denken sind,
208
bei denen jede Möglichkeit einer weiteren Zerlegung in Teile und Unterteile fehlt.
Die kinetische Atomistik hat auf verschiedene Weise ver- sucht, diesen Widerspruch in den Grundlagen selbst zu be- seitigen, ohne daß ihr dies jemals in völliger Strenge gelungen wäre*. Und ein zweites, nicht minder schwerwiegendes Bedenken ergibt sich, wenn man die Forderungen, die sich aus dem Postulat der Kontinuität des Geschehens er- geben, der Mechanik der Atome entgegenhält. Die Änderung der Geschwindigkeit, die zwei absolut harte Körper im Moment ihres Zusammenstoßes erfahren, kann nur in einem plötzlichen Übergang bestehen, in einem Sprung von einem Größenwert zu einem anderen, der von ihm um einen festen, endlichen Betrag verschieden ist. Wird etwa ein langsamerer Körper von einem schnelleren eingeholt und schreiten beide nach dem Stoß mit einer gemeinsamen Geschwindigkeit fort, die durch den Satz der Erhaltung der algebraischen Summe der Bewegungsgrößen bestimmt wird, so läßt sich dieses Ergebnis nur dadurch darstellen, daß wir dem einen Körper eine unvermittelte Abnahme, dem anderen eine unvermittelte Zunahme der Geschwindigkeit zusprechen. Diese Annahme aber führt dahin, daß wir im Moment des Stoßes selbst keinen eindeutigen Wert der Geschwindigkeit mehr für beide Massen zu fixieren vermögen und daß somit hier eine Lücke der mathematischen Bestimmung des Gesamtvorgangs zurück- bleibt**. Die Verteidiger der extensiven Atome haben auf Ein- wände dieser Art bisweilen erwidert, daß hier an das hypo- thetische Bild, auf welches die Mechanik gestützt werden soll, ein falscher Maßstab angelegt werde. Der Widerspruch stamme lediglich daher, daß den Atomen, die nichts als rationale Setzungen des Denkens sein wollen, gewisse Eigen-
* Zur Kritik des S e c c h i ' sehen Lösungsversuches, wonach der Ver- lust an lebendiger Kraft, der beim Stoß absolut harter Körper eintreten muß, dadurch aufgewogen wird, daß ein Teil der Rotationsbewegung der Atome sich in fortschreitende Bewegung umsetzt vgl. S t a 1 1 o , Die Begriffe u. Theorien der modernen Physik, deutsche Ausg. Lpz. 1901, S.34 ff. ; zur allgemeinen Kritik des Atombegriffs vgl. bes. Otto Buek, Die Atomistik und Faradays Begriff der Materie, Berlin 1905.
** Näheres hierüber s. Erkenntnisproblem II, 394 ff.
Cassirer, Substanzbegriff 14 209
Schäften zugesprochen werden, die einzig uud allein aus der Analogie der sinnlichen Körper unserer Wahrnehmungswelt ge- folgert sind. Eben diese Analogie aber sei vom Standpunkt der erkenntnistheoretischen Betrachtung zu verwerfen. Nicht das Verhalten der empirischen Körper unserer Umgebung, sondern die allgemeinen Gesetze und Prinzipien der Mechanik seien die Norm, nach welcher der Inhalt des Atombegriffs zu gestalten sei. Für ihn sind wir somit nicht auf bloße vage Vergleiche mit direkt beobachtbaren Erscheinungen an- gewiesen, sondern wir bestimmen auf Grund begrifflicher Forderungen die Bedingungen, denen das eigentliche ,, Sub- jekt** der Bewegung zu genügen hat. Wir dürfen daher nicht fragen, ob es für absolut starre Körper möglich oder un- möglich sei, beim Zusammenstoß dem Gesetz der Erhaltung der Energie zu genügen, sondern wir setzen umgekehrt die Gültigkeit dieses Gesetzes als Axiom fest, an welches wir in der theoretischen Konstruktion der Atome und ihrer Bewegungen gebunden bleiben. Die Vereinbarkeit dieser Konstruktion mit den sonstigen Grundannahmen der ratio- nellen Mechanik, nicht aber die Gleichartigkeit der Atom- bewegungen mit irgendwelchen Vorgängen der uns bekannten physischen Wirklichkeit hat die Regel zu bilden, die uns allein leiten darf*. Diese Entgegnung ist prinzipiell durchaus zutreffend: aber gerade wenn man sie völlig zu Ende denkt, sieht man sich auch von der logischen Seite her zu derjenigen Umbildung des Atombegriffs gedrängt, die die Naturwissen- schaft seit Boscovich vollzogen hat. An Stelle der ausgedehnten, wenngleich unteilbaren Partikel tritt jetzt der schlechthin einfache Kraftpunkt. Man sieht, wie die Reduktion der anschaulichen Eigenschaften, die bereits für Demokrit charakteristisch war, hier einen weiteren Schritt vorwärts getan hat. Auch die Größe und Gestalt der Atome sind nunmehr geschwunden: was sie unterscheidet, ist lediglich die Stelle, die sie sich wechselseitig im System der dynamischen Wirkungen und Gegenwirkungen anweisen. Zur Negation der sinnlichen Qualitäten gesellt sich die Ne-
* S. Lasswitz, Geschichte der Atomistik II, 380 ff. 210
gation der Ausdehnung, damit aber überhaupt jeglicher inhalt- lichen Bestimmtheit, durch die sich ein empirisches „Ding'* noch von einem andern unterscheidet. Alle selbständigen, für sich bestehenden Eigenschaften sind jetzt völlig aus- gelöscht; was zurückbleibt, ist lediglich die Relation eines dynamischen Beisammen im Gesetz der gegenseitigen An- ziehung und Abstoßung der Kraftpunkte. Denn daß die Kraft selbst, wie sie hier verstanden wird, sich in den Begriff des Gesetzes auflöst, daß sie lediglich der Ausdruck einer funktionalen Größenabhängigkeit sein will, wird von Boscovich und nach ihm von F e c h n e r energisch betont. Das Atom, das in seiner Entstehung auf den reinen Zahlbegriff zurückgeht, ist hier nach mannigfachen Um- formungen wieder zu seinem Ursprung zurückgekehrt: es bedeutet nichts anderes als ein Glied in einer systematischen Mannigfaltigkeit überhaupt. Aller Inhalt, der ihm zu- gesprochen werden kann, stammt aus den Beziehungen, deren gedachter Mittelpunkt es ist.
Die wissenschaftliche Entwicklung, die der Begriff des Atoms in der neueren und neuesten Physik erfahren hat, bestätigt durchaus diese Auffassung. In dem Kampf zwischen Atomistik und Energetik hat Boltzmann die Notwendigkeit der atomistischen Hypothese aus dem Grundverfahren der theoretischen Naturwissenschaft selbst, aus dem Verfahren des Ansatzes der Differentialgleichungen, abzuleiten versucht. Will man sich keiner Illusion über die Bedeutung einer Differentialgleichung hingeben, so kann man — wie er ausführt — nicht im Zweifel sein, daß das Weltbild, das hiermit gesetzt ist, in seinem Wesen und seiner Struktur wiederum ein atomistisches sein muß. ,,Bei näherem Zusehen ist die Differentialgleichung nur der Ausdruck dafür, daß man sich zuerst eine endliche Zahl zu denken hat; dies ist die erste Vorbedingung, dann erst muß die Zahl wachsen, bis ihr weiteres Wachstum nicht mehr von Einfluß ist. Was nützt es, die Forderung, sich eine große Zahl von Einzelwesen zu denken, jetzt zu verschweigen, wenn man bei Erklärung der Differentialgleichung den durch dieselbe ausgedrückten Wert durch jene Forderung definiert hat?" Wer also glaube,
U* 211
die Atomistik durch Differentialgleichungen los zu werden, der sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht*. Diese Form der Begründung ist vom Standpunkt der Erkenntniskritik von höchstem Interesse: denn nicht aus den Tatsachen der empirischen Naturbetrachtung, sondern aus den Be- dingungen der Methodik der exakten Physik selbst soll hier die Notwendigkeit des Atombegriffs abgeleitet werden. Ist dies aber der Fall, so wird damit freilich zugleich deutlich, daß der ,, Bestand", der auf diesem Wege für das Atom ge- sichert wird, kein anderer sein kann, als er allgemein den reinen mathematischen Grundbegriffen eignet. So verwahrt sich denn auch Boltzmann ausdrücklich gegen die Annahme, als solle durch seine Deduktion die absolute Existenz der Atome erwiesen werden: nur als Bilder für die exakte Darstellung der Phänomene seien sie zu ver- stehen und anzuwenden**. Gerade unter dieser Voraussetzung aber tritt zuletzt wiederum die Notwendigkeit hervor, wenn anders das „Büd" seine völlige Schärfe und Genauigkeit gewinnen soll, vom extensiven Korpuskel zum ein- fachen Massenpunkt überzugehen. Das Verfahren der Infinitesimalrechnung, auf das Boltzmann sich stützt, drängt selbst auf diesen Übergang hin. Geht man zunächst von der Vorstellung bestimmter endlicher Größen aus und läßt diese alsdann, um zum Ansatz der Differentialgleichungen zu gelangen, stetig abnehmen, so findet dieser Prozeß seinen mathematischen Abschluß erst dann, wenn wir die Größen, die wir betrachten, gegen den Grenzwert Null konvergieren lassen, während im Sinne der Atomistik stets ein konstanter Wert angebbar wäre, über den das ideelle Verfahren nicht hinauszugehen vermöchte, ohne sich in Widersprüche mit der Wirklichkeit der Erscheinungen zu verwickeln. Solange man bei Größen bestimmter Ausdehnung stehen bleibt, ist damit, so klein man sie auch wählen mag, noch keine ein-
* Boltzmann, Über die Unentbehrlichkeit der Atomistik. Anna- len der Physik und Chemie N. F. Bd. 60, S. 231 ff. (Populäre Schriften, Lpz. 1905, S. 141 ff.)
** Vgl. Boltzmann, Ein Wort der Mathematik an [die Energetik (Pop. Schriften S. 129 ff.).
212
deutige logische Bestimmung getroffen; es besteht bei aller physischen Unteilbarkeit, die man annimmt, doch stets die gedankliche Möglichkeit, den Körper weiter zu zerlegen und den mannigfachen, an sich unterscheidbaren Unter- gruppen verschiedene Geschwindigkeiten beizulegen. Erst wenn man zum materiellen Punkt fortschreitet, ist diese Unbestimmtheit gehoben und damit ein festes Subjekt der Bewegung geschaffen. (Vgl. ob. S. 158 ff.)
Von Seiten der Energetik hat man daher gegen Boltzmann eingewandt, daß der Begriff des materiellen Punktes, wie ihn die Mechanik zugrunde legt, nicht dadurch aus dem Körper hervorgehe, daß von der Ausdehnung tunlichst oder selbst gänzlich abgesehen wird, sondern dadurch, daß man von der drehenden Bewegung absieht. „Haben wir andere als rein fortschreitende Bewegungen zu berücksichtigen, so zerlegen wir die Körper in Teile, die . . . mit Atomen gar nichts zu tun haben, in Volumelemente, mit denen wir uns dem nur fortschreitend bewegten materiellen Punkte in beliebiger Annäherung zu nähern vermögen*." Hier ist in der Tat ein wichtiges logisches Moment bezeichnet: die Ein- fachheit des Punktes wird um der Einfachheit der Bewegung willen angenommen. Die Annahme des einfachen, in sich nicht weiter zerlegbaren Körpers ist nur ein methodischer Umweg, um zur Abstraktion der einfachen Bewegung vorzudringen. In diesem Sinne ist das ,,Atom" seiner physikalischen Grundbedeutung nach nicht als Teil des Stoffes, sondern als Subjekt für bestimmte Veränderungen definiert und gefordert. Nur als gedachter Ansatzpunkt für mögliche Relationen geht es in die Betrachtung ein. Wir zerlegen die komplexen Bewegungen in elementare Vorgänge, für welch letztere wir sodann die Atome als hypothetische Sub- strate einführen. Demnach handelt es sich in erster Linie nicht um die Herauslösung letzter Grund bestandteile der Dinge, sondern um die Festlegung bestimmter einfacher Grund prozesse, aus denen die Mannigfaltigkeit des Geschehens abgeleitet werden soll. Man versteht es daher,
* S. Helm, Die Energetik und ihre geschichtl. Entwicklung. Leipzig 1898, S. 215.
213
wenn das Atom in seiner modernen physikalischen Anwendung mehr und mehr das Moment der Stofflichkeit abstreift; wenn es sich in Wirbelbewegungen im Äther auflöst, die aber vermöge ihrer Eigenart die Bedingungen der Unzerstörlichkeit und der physischen Unteilbarkeit erfüllen. Der Forderung der Identität, die allerdings unausweichlich ist, wird hier nicht mehr durch irgendwelche materiellen Substrate, sondern durch dauernde Bewegungsformen genügt. All- gemein zeigt es sich, daß, sobald irgendein physikalischer Vorgang, der bisher als einfach galt, unter einen neuen Gesichts- punkt gestellt wird, kraft dessen er als Ergebnis einer Mehrheit von Bedingungen erscheint, auch das Substrat, das man ihm zugrunde legte, sich alsbald spaltet. Sobald die Trägheit uns nicht mehr als eine schlechthin absolute Eigenschaft der Körper erscheint, sondern sich ein Weg darbietet, sie kraft der Gesetze der Elektrodynamik abzuleiten, zerfällt damit das bisherige materielle Atom und löst sich in ein System von Elektronen auf. Die neue Einheit, die auf diese Weise gewonnen wird, kann indessen selbst wieder nur als relative und somit im Prinzip veränderliche gedacht werden. Die schärfere Zergliederung der physikalischen Beziehungen führt zu immer neuen Bestimmungen und Differenzierungen innerhalb ihrer Subjekte. So kann man sagen, daß der Inhalt des Atombegriffs als veränderlich zu gelten hat, während die Funktion, die ihm zukommt, den jeweiligen Stand der Erkenntnis zu fixieren und auf seinen prägnantesten ge- danklichen Ausdruck zu bringen, allerdings beharrt. Nur der Ansatzpunkt der Anwendung verschiebt sich: das Verfahren der Einheitssetzung selbst aber bleibt konstant. Die „Ein- fachheit" der Atome ist im Grunde selbst ein rein logisches Prädikat: sie wird bestimmt nicht durch die Beziehung auf unsere sinnliche Unterscheidungsfähigkeit, noch mit Rücksicht auf die physikalisch-technischen Mittel der Zerlegung, sondern im Hinblick auf die gedankliche Analyse der Naturerscheinungen. Jeder Fortschritt dieser Analyse, jede Einordnung großer Gesamtgebiete in einen neuen Zusammen- hang — wie sie in der modernen Physik insbesondere auf Grund der Erscheinungen der Radioaktivität ermöglicht
214
worden ist — verändert zugleich unsere Anschauung von der „Konstitution" der Materie und von den Elementen, aus denen sie sich aufbaut. Die neue inhaltliche Einheit, die wir fixieren, ist stets nur der Ausdruck des relativ höchsten und umfassendsten Gesichtspunktes der Be- urteilung für den Inbegriff der physikalischen Dinge und Vorgänge überhaupt.
Eine analoge Entwicklung bietet sich dar, wenn man vom Begriff der Materie zu dem zweiten Grund- und Hauptbegriff der Naturwissenschaft, zum Begriff des Äthers übergeht. Die Schwierigkeiten, die sich hier zunächst ergeben, stammen ebenfalls daher, daß man in diesen Begriff, um ihm einen bestimmten Gehalt zu geben, gewisse Grund- merkmale aufnehmen muß, die anfangs unmittelbar aus dem Vergleich mit den Gegenständen der Sinneswahrnehmung gewonnen sind. Der Äther erscheint demnach als eine voll- kommene Flüssigkeit, die aber anderseits mit gewissen Eigenschaften der vollkommen elastischen Körper ausgestattet ist. Aus der Verbindung dieser beiden Momente aber ergibt sich zunächst kein völlig einheitliches Bild: der Grenzfall selbst zeigt ein verschiedenes Ansehen, je nachdem wir uns ihm in der einen oder anderen Richtung nähern, je nachdem wir ihn also von verschiedenen empirischen Ausgangspunkten her durch fortschreitende Idealisierung zu erreichen suchen. Der Widerstreit, der hier entsteht, findet erst dann seine prinzipielle Lösung, wenn man sich entschließt, auf jede unmittelbare sinnliche Veranschaulichung des Äthers zu verzichten und ihn lediglich als begriffliches Symbol für bestimmte physikalische Grundbeziehungen zu brauchen*. Wir finden eine physikalische Erscheinung, wie etwa eine bestimmte Lichtwirkung an einem gewissen Punkte des Raumes vor, während wir ihre ,, Ursache" an einen davon entfernten Raumpunkt zu verlegen haben. Um einen stetigen Zusammenhang zwischen diesen beiden Zuständlich- keiten herzustellen, fordern wir nunmehr für sie eine Ver- mittlung, indem wir den Zwischenraum stetig mit bestimmten
* Vgl. hierüber z. B. Pearson, The Grammar of Science, S. 178 ff., 262 ff.
215
Qualitäten, die durch reine Zahlwerte ausdrückbar sind, erfüllt sein lassen. Der Inbegriff derartiger numerischer Bestimmtheiten ist die eigentliche Grundkonzeption, die wir im Gedanken des Äthers festhalten. Der einheitliche und streng homogene Raum wird hier fortschreitend differenziert, indem wir in ihn gleichsam ein Gewebe von Zahlen ein- zeichnen. Diese Abstufung der einzelnen Lage - Elemente und ihre Einreihung in verschiedene mathematisch - physi- kalische Grundreihen ist es, die ihnen einen neuen Inhalt verleiht. Der „leere" Raum, der nur ein einzelnes Prinzip der Anordnung darstellt, wird jetzt gewissermaßen überdeckt von einer Fülle anderer Bestimmungen, die aber sämtlich dadurch zusammengehalten sind, daß zwischen ihnen be- stimmte funktionale Abhängigkeiten bestehen. Alles was die Physik vom „Sein" des Äthers lehrt, läßt sich in der Tat zuletzt auf Urteile über derartige Verknüpfungen zurück- führen. Wenn gemäß der elektromagnetischen Theorie des Lichtes die Identität des Lichtäthers mit demjenigen Äther, in dem sich die elektromagnetischen Wirkungen fortpflanzen, behauptet wird, so geschieht dies, weil die Gleichungen, auf die man in der Untersuchung der Lichtschwingungen geführt wird, mit denjenigen, die sich für die dielektrische Polarisation ergeben, in ihrer Form identisch sind, und weil ferner die numerischen Konstanten, vor allem die Konstante für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit, beiderseits überein- stimmen*. Die Annahme des gleichen Substrats ist auch hier nur eine andere Bezeichnung für die durchgängige Analogie der mathematischen Verhältnisse: für die Zu- sammenhänge, die zwischen den Werten der optischen und elektrischen Konstanten bestehen. Je umfassender und be- wußter daher der Gebrauch wird, den die Physik vom Begriff des Äthers macht, um so klarer zeigt sich auch hier, daß der Gegenstand, der damit bezeichnet werden soll, nicht als gesondertes, für sich wahrnehmbares Einzelding, sondern nur als die Vereinigung und Konzentration objektiv gültiger, meßbarer Beziehungen gemeint sein kann.
♦ S. Henri Poincarö, Elektrizität und Optik, Deutache Ausgabe, Berlin 1891, S. 159 ff.
216
überblickt man jetzt nochmals die Wandlungen, die der naturwissenschaftliche Substanzbegriff von seinen ersten spekulativen Anfängen an erfahren hat, so tritt in voller Deutlichkeit das einheitliche Ziel heraus, dem er zustrebt. Es muß zunächst wie eine wahrhafte Verarmung der Wirklichkeit erscheinen, wenn man sieht, wie hier dem Gegen- stand mehr und mehr alle Daseins- Qualitäten abgestreift werden; wie er nicht nur seine Farbe, seinen Geschmack, seinen Geruch, sondern allmählich auch seine Gestalt und Ausdehnung verliert, und zum bloßen ,, Punkt" zusammen- schrumpft*. Das „Stück Wachs", das Descartes seiner bekannten Analyse des Gegenstandsbegriffs zugrunde legt, wandelt sich aus einem festen warmen, hellen, duftenden Ding in eine bloße geometrische Figur von bestimmten Umrissen und Dimensionen. Und auch bei dieser Rückführung bleibt der gedankliche Prozeß nicht stehen: er gelangt nicht eher zur Ruhe, als bis auch die Ausdehnung selbst sich in die bloße Erscheinung der einfachen und unteilbaren Kraftzentren aufgelöst hat. Diese fortschreitende Umbildung muß un- verständlich scheinen, sobald man das Ziel der Naturwissen- schaft darein setzt, eine möglichst vollkommene Kopie der äußeren Wirklichkeit zu gewinnen. Jede neue theoretische Konzeption, die sie einführt, würde die Wissenschaft alsdann immer weiter von ihrer eigentlichen Aufgabe entfernen: das empirische Dasein, das sie festhalten und unverfälscht bewahren soll, droht ihr umgekehrt, kraft der eigentümlichen
* Vgl. z. B. die Charakteristik des „Elektrons", also des Grtind- elements der „Materie", bei Lucien Poincarö, Die moderne Physik, S. 249: „Somit muß das Elektron als eine der Materie entbehrende einfache elektrische Ladung betrachtet werden. Unsere ersten Untersuchungen hatten uns veranlaßt, ihm eine tausendmal geringere Masse zuzuschreiben, als die eines Wasserstoffatoms ist, ein sorgfältigeres Studium zeigt uns nun, daß diese Masse nur eine Fiktion war; die elektromagnetischen Erschei- nungen, die eintreten, wenn man das Elektron in Bewegung setzen oder seine Geschwindigkeit wechseln lassen will, haben die Wirkung, gewisser- maßen die Trägheit vorzutäuschen, und diese auf seiner Ladung beruhende Trägheit hatte uns irregeführt. Das Elektron ist also einfach ein kleines bestimmtes Volurpen an einem Punkt des Äthers, das besondere Eigen- schaften besitzt, und dieser Punkt pflanzt sich mit einer Geschwindigkeit fort, die die Geschwindigkeit des Lichtes nicht übersteigen kann. — Vgl. auch E. Meyerson, Identitö et Röalitö, S. 228 ff.
217
Methode, deren sie nicht entraten kann, unter den Händen zu zerrinnen. Hier ist in der Tat kein Ausgleich möglich; die Schärfe und die vollkommene rationale Durchsichtigkeit der Zusammenhänge, die sie entwickelt, wird nur mit dem Verlust der unmittelbaren dinglichen Realität erkauft. Dieses Wechselverhältnis aber enthält zugleich die eigentliche Lösung des Problems. Erst dadurch, daß die Wissenschaft darauf verzichtet, ein direktes sinnliches Abbild der Wirklichkeit zu geben, vermag sie eben diese Wirklichkeit selbst als eine notwendigeVerknüpfung von Gründen und Folgen darzustellen. Nur indem sie aus dem Kreise des Gegebenen heraustritt, schafft sie sich die gedanklichen Mittel, die Gesetzlichkeit des Gegebenen darzustellen. Denn die Mo- mente, auf denen die gesetzliche Ordnung der Wahrneh- mungen beruht, liegen niemals als Einzelbestandteile in den Wahrnehmungen selbst. Bestände der Sinn der Natur- wissenschaft darin, die Wirklichkeit, die in konkreten Empfin- dungen gegeben ist, nur einfach zu wiederholen, so wäre dies in der Tat ein vergebliches und nutzloses Bemühen: denn welches noch so vollkommene Bild vermöchte das Original an Schärfe und Genauigkeit zu erreichen? Die Erkenntnis bedarf einer derartigen Verdoppelung nicht, die doch die logi- sche Form, in der sich uns die Wahrnehmungen darbieten, unverändert lassen würde. Statt hinter der Welt der Perzeptionen ein neues Dasein zu erdichten, das doch immer nur aus den Materialien der Empfindung aufgebaut sein könnte, begnügt sie sich damit, die allgemeingültigen intellektuellen Schemata zu entwerfen, in welchen die Be- ziehungen und Zusammenhänge der Perzeptionen sich voll- ständig darstellen lassen müssen. Atom und Äther, Masse und Kraft sind nichts anderes als Beispiele derartiger Schemata, die ihre Aufgabe um so genauer erfüllen, je weniger sie in sich selbst von direktem Wahrnehmungsgehalt bewahrt haben. So erhalten wir zwei gesonderte Gebiete und gleichsam zwei verschiedene Dimensionen des Begriffs: den Begriffen, die ein Dasein bezeichnen, stehen die Begriffe entgegen, die lediglich eine mögliche Form der Verknüpfung zum Aus- druck bringen. Dennoch ist es kein metaphysischer Dua-
218
lismus, der hier entsteht, denn so wenig zwischen den Gebilden beider Gebiete irgendeine direkte Ähnlichkeit besteht, so notwendig sind sie wechselweise aufeinander bezogen. Die Ordnungsbegriffe der mathematischen Physik haben keinen anderen Sinn und keine andere Funktion, als dem vollkommenen gedanklichen Überblick über die Beziehungen des empirischen Seins zu dienen. Wird dieser Zusammenhang zerrissen, so entsteht eine doppelte Antinomie. Hinter der Welt unserer Erfahrungen erhebt sich ein Reich absoluter Substanzen, die, selbst eine Art von Dingen, dennoch allen Erkenntnismitteln, mit denen wir sonst die Dinge der Er- fahrung erfassen, unzugänglich bleiben. Das ,, wahrhaft Wirkliche" der Physik: das System der Atome und Fernkräfte, bleibt prinzipiell unverständlich. Es drängt sich uns die unabweisliche Vorstellung auf von etwas ewig unvorstellbar Vorhandenem, das wir doch, da wir in dieses „extraphänome- nale Jenseits" nicht übergreifen können, niemals zu erreichen vermögen. So verblaßt die Welt der unmittelbaren Erfahrung zum Schatten; während andererseits das, was wir für sie ein- tauschen, als ewig unbegreifliches Rätsel vor uns stehen bleibt. „Die mannigfaltigen Formen des Absoluten sind nicht etwa Fenster unseres Vorstellungssystems, welche einen Ausblick in die extraphänomenale Welt gestatten, sie lehren nur, wie undurchdringlich die Mauern unseres intraphänomenalen Gefängnisses sind." Die Physik selbst führt in ihrem stetigen und notwendigen Fortschritt auf ein dauernd unerforschliches Gebiet: auf eine ,, terra nunc et in aeternum incognita"*. Auf der andern Seite wird es unbegreiflich, wie wir mit unseren physikalischen Begriffen, die lediglich durch ein Überschreiten des ,, Vorstellungssystems" entstanden sind, zu eben diesem System wieder zurückkehren, wie wir hoffen können, es auf Grund von Gedanken zu beherrschen, die im bewußten Wider- spruch zu seinem eigentlichen Inhalt geschaffen worden sind. Alle diese Zweifel lösen sich indessen, sobald man die physikali- schen Begriffe nicht mehr für sich, sondern gleichsam in ihrer natürlichen Genealogie, also im Zusammenhang mit den
* S. P. du Bois-Reymond, Über die Grundlagen der Er- kenntnis in den exakten Wissenschaften, S. 112 ff. (Vgl. oben, S. 162 ff.)
' 219
mathematischen Begriffen betrachtet. In der Tat führen sie nur den Prozeß fort, der in diesen letzteren angelegt ist und der hier zur vollen Klarheit gelangt. Der Sinn des mathematischen Begriffs ließ sich nicht fassen, solange man für ihn noch irgendein Vorstellungs-Korrelat im Gegebenen suchte; er trat erst hervor, sobald man ihn als Ausdruck einer reinen Beziehung erkannte, auf der die Einheit und die kontinuierliche Verknüpfung der Glieder einer Mannig- faltigkeit beruht. Auch die Funktion des physikalischen Begriffs wird erst in dieser Umwendung deutlich. Je mehr er auf jeden selbständig perzipierbaren Inhalt verzichtet, je mehr er alles Bildliche von sich abstreift, um so schärfer hebt sich seine logisch-systematische Leistung heraus. (Vgl. oben, S. 195 ff.) Was das ,,Ding" des populären Weltbildes an Eigenschaften verliert, das wächst ihm an Beziehungen zu: denn jetzt steht es nicht mehr isoliert und ruht auf sich allein, sondern ist mit der Gesamtheit der Erfahrung durch logische Fäden unlöslich verknüpft. Jeder Einzelbegriff ist gleichsam einer dieser Fäden, an dem wir die wirklichen Erfahrungen aufreihen und mit künftigen möglichen verknüpfen. Die Gegenstände der Physik: die Masse wie die Kraft, das Atom wie der Äther, können nicht mehr als ebensoviele neue Realitäten, die es zu erforschen und in deren Inneres es einzudringen gilt, mißverstanden werden, sobald sie einmal als die Instrumente erkannt sind, die der Gedanke sich schaffen muß, um das Gewirr der Erscheinungen selbst als gegliedertes und meßbares Ganze zu überschauen. So ist es nur eine Wirklichkeit, die uns gegeben ist, die uns aber in verschiedener Weise zum Bewußtsein kommt, indem wir sie das eine Mal in ihrer sinnlichen Anschaulichkeit, aber zugleich in ihrer sinnlichen Vereinzelung betrachten, während wir auf dem Standpunkt der Wissenschaft nur diejenigen Momente an ihr festhalten, auf denen ihre intellektuelle Verknüpfung und „Harmonie" beruht. —
Die Geschichte der Physik läßt erkennen, wie diese eigentümliche Durchdringung des Sinnlichen mit dem Ge- danklichen auch von den großen empirischen Forschern selbst allmählich immer klarer als bewußte logische Einsicht erfaßt
220
und ausgesprochen wird. Demokrit, der zuerst ein all- gemeines Grundschema der wissenschaftlichen Naturerklärung erschafft, ergreift auch alsbald das philosophische Problem, das in ihm latent ist. Die Bewegung verlangt zu ihrer Dar- stellung das Leere: der leere Raum selbst aber ist kein sinnlich Gegebenes, keine dingliche Wirklichkeit. Somit wird es unmöglich, das wissenschaftliche Denken, wie der Eleatische Idealismus es versucht hatte, lediglich auf das Sein zu beziehen und an das Sein zu ketten : sondern das Nicht- S e i n wird ein ebenso notwendiger und unumgänglicher Begriff. Die gedankliche Beherrschung der empirischen Wirklichkeit selbst ist ohne diesen Begriff nicht zu erreichen. Die Eleaten haben mit ihrer Abweisung dieses Begriffs nicht nur das Denken eines fundamentalen Hilfsmittels beraubt: sie haben die Phänomene selbst zerstört, indem sie sich die Möglichkeit nahmen, sie in ihrer Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit zu verstehen und anzuerkennen. Der Gedanke des Nicht- Seins bedeutet somit keine dialektische Erdichtung: sondern er wird umgekehrt als einziges Mittel ergriffen, um das Recht der Physik gegenüber den Übergriffen eines spekulativen Idealismus zu schützen. Gerade dann, wenn man in den Tatsachen selbst den höchsten Maß- stab für alle begrifflichen Konzeptionen sieht, wenn man kein anderes Ziel der Begriffe anerkennt, als das Faktum der Bewegung und somit der Natur verständlich zu machen, muß man zugestehen, daß in diesem Faktum ein Moment ein- geschlossen liegt, das sich der direkten Anschauung ent- zieht. Der leere Raum ist für die Phänomene notwendig, wenngleich er nicht die gleiche sinnliche Form des Daseins wie die konkreten Einzelerscheinungen besitzt. Im Begreifen des Wirklichen kommt diesem sinnlichen „Nichts" dieselbe Stelle und dieselbe unverbrüchliche Gültigkeit wie dem ,, Etwas" zu: firj fiälXov rb dkv ij xo f^rjöev*. Das Sein, das dem
* Vgl. Aristoteles de generatione et corruptione A 8, 325 a: iiloig yaQ tiov aQxaliov eöo^e xo ov i^ aväyxijq ^'v flvai xal axtvTjZOV. xo fj,6v yaQ xsvov ovx ov, xivTj&Tjvai d'ovx av övvaoS-at fXT] ovxog xevov xexiOQio/nevov . . . ix fikv ovv xovxcav xwv Xoyatv wtsgßävxsq x^v alad-TjOiv xal naQiöovxe^ avx^v
221
wissenschaftlichen Prinzip im Unterschied von irgend- welcher konkreter Gegebenheit eignet, gelangt hier geschichtlich zum ersten Male zu klarer Absonderung*. Der physikalischeBegriff grenzt sich in einer doppelten Entgegensetzung: sowohl gegenüber der metaphysischen Spe- kulation, wie gegenüber der unmethodischen sinnlichen Wahr- nehmung seine Sphäre ab. Der geometrische Raum dient hierbei als Beispiel und Typus der reinen Relationsbegriffe überhaupt. Wie er es ist, der die Atome erst zur Einheit zusammenschließt und Bewegung und Wechselwirkung zwi- schen ihnen ermöglicht, so kann er allgemein als Sinnbild für diejenigen Grundsätze gelten, auf denen der Zusammen- hang des Wirklichen und Gegebenen beruht, ohne daß sie selbst Teile der anschaulichen Wirklichkeit bilden. Die Sinne, die in den „konventionellen" und subjektiven Gegen- sätzen des Warmen und Kalten, des Süßen und Bittern befangen sind, vermögen das Ganze der Objektivität nicht zu erschöpfen. Denn dieses Ganze vollendet sich erst in den mathematisch funktionalen Abhängigkeiten, die ihnen, da sie am Einzelnen haften, unzugänglich bleiben. —
Die Physik der neueren Zeit hat diese Grundgedanken unverändert bewahrt; denn wie Galilei als experimenteller Forscher direkt wiederum an Archimedes anknüpft, so geht er in seiner philosophischen Gesamtansicht auf D e m o - k r i t zurück. Er beschreibt und ergänzt wie Demokrit den Gedanken der Natur durch den Gedanken der Notwendig- keit: in den Umkreis der naturwissenschaftlichen Forschung gehören nur ,,die wahren und notwendigen Dinge, die sich unmöglich anders verhalten können". Der Begriff der Wahr-
cuc X(p Xoycj) Siov caioXov^elv %v xal axhrjxov ro nav elval <pttai xal aneigov fvioi . . . Afvxinnoq S't/siv o'itjS^t] Xöyovg oltiveg ngog t^v aiad-r]aiv ofxoXo- yoifxeva Xiyovxeq oix avatg^aovoiv ovre yivsaiv ovxe (pS-OQav oine xlvrjaiv xal t6 nXrjS^og rä>v ovxwv. o/noXoyTjoai 6h tavra /xev xoiq «paivofievotg, xoTq da ro ?v xaraaxevcctiOvaiv wq ovx av xIvtjoiv ovaav avev xevov, z6 xe xfvbv /ütj ov xal xov ovxoq ov&hv fii] 6v tpjjaiv elvai. xo yag xvgltüq ov naßnX.rjQEg ov. ♦ Zur geschichtlichen und systematischen Bedeutiing des Begriffs des /XT] ov 8. C o h e n , Piatons Ideenlehre und die Mathematik, Marburg 1879; Logik der reinen Erkenntnis, S. 70 u. s.
222
heit aber bleibt auch ihm vom Begriff der Wirklichkeit ge- schieden. Wie die Sätze des Archimedes über die Spirale richtig bleiben, auch wenn es keinen Körper in der Natur gibt, der sich spiralförmig bewegt, so dürfen wir in der Grund- legung der Dynamik von der Voraussetzung einer gleichförmig beschleunigten Bewegung gegen einen bestimmten Punkt hin ausgehen und alle Folgerungen, die sich hieraus ergeben, begrifflich ableiten. Stimmt sodann die empirische Beobachtung mit diesen Folgerungen überein, so daß also in der Bewegung der schweren Körper dieselben Verhältnisse sich wiederfinden, die die Theorie aus der hypothetischen Annahme entwickelt hat, so können wir ohne Gefahr des Irrtums die Bedingungen, die zunächst rein gedanklich fixiert wurden, in der Natur als erfüllt ansehen; aber selbst, wenn dies Letztere nicht der Fall wäre, würden unsere Sätze nichts von ihrer Geltung verlieren, da sie an und für sich keine Aus- sagen über Existenz enthalten, sondern nur an gewisse ideelle Prämissen bestimmte ideelle Schlußfolgerungen knüpfen. In Galileis Darstellung und Verteidigung seines obersten dynamischen Prinzips kommt dieser allgemeine Gedanke sogleich zu bezeichnender Anwendung. Das Trägheits- gesetz besitzt für ihn durchaus den Charakter eines mathe- matischen Grundsatzes, der, wenngleich seine Folgen auf Verhältnisse der äußeren Wirklichkeit anwendbar sind, doch keineswegs selbst eine direkte Abbildung eines empirisch irgendwie gegebenen Sachverhalts bedeutet. Die Bedingungen, von denen er spricht, sind aktuell niemals ver- wirklicht; sie sind nur kraft der ,,resolutiven Methode" gewonnen und festgesetzt. Wenn daher Simplicio — in einer Stelle des ,, Dialogs über die beiden Weltsysteme" — bereit ist, die unbeschränkte Fortdauer der Bewegung eines sich selbst überlassenen Körpers auf der Horizontalebene zuzugestehen, sofern nur der Körper selbst von genügend dauer- haftem Stoff ist, so wird ihm von Salviati- Galilei bedeutet, daß diese Voraussetzung für den eigentlichen Gehalt des Beharrungsprinzips ohne Belang ist: die stoffliche Beschaffen- heit des besonderen Körpers selbst ist lediglich ein zufälliger und äußerer Umstand, der bei der Ableitung und dem Beweis
223
des Prinzips in keiner Weise benutzt wird. Wie für Demokrit der leere Raum, so ist für Galilei die Trägheitsbewegung zwar ein Postulat, das wir für die wissenschaftliche Dar- stellung der Erscheinungen nicht entbehren können, aber nicht selbst ein konkreter, sinnlich aufweisbarer Vorgang der äußeren Wirklichkeit. Sie bezeichnet eine Idee, die zum Zwecke der Ordnung der Erscheinungen konzipiert ist, aber mit diesen Erscheinungen selbst methodisch nicht auf der gleichen Stufe steht. Daher bedarf diese Bewegung denn auch keines wirklichen, sondern lediglich eines gedachten Substrats: die ,, materiellen Punkte" der Mechanik, nicht die empirischen Körper unserer Wahrnehmungswelt bilden die eigentlichen Subjekte für die exakte Aussprache des Prinzips. Wir sehen, wie hier die neuere Wissenschaft Demokrits Grundgedanken festgehalten hat, um dennoch in bestimmtem Sinne über ihn hinauszuschreiten: denn was dort für den Begriff des Leeren ausgeführt wurde, das überträgt sich auf den Begriff der Materie selbst, auf das Tta^utk^QBi ov. Auch die Materie im Sinne der reinen Physik ist kein Gegenstand der Wahrnehmung, sondern der Konstruktion. Die festen Umrisse und die geo- metrische Bestimmtheit, die wir ihr geben müssen, sind allein dadurch möglich, daß wir über das Gebiet der Empfindungen zu deren ideellen Grenzen fortschreiten. Die Materie, mit der die exakte Wissenschaft es allein zu tun hat, existiert somit niemals als „Perzeption", sondern stets nur als „Kon- zeption". „Wenn wir den Raum als objektiv und die Materie als dasjenige ansehen, was ihn erfüllt — so heißt es bei einem modernen physikalischen Schriftsteller streng „empiristischer" Richtung — so haben wir damit eine Konstruktion geschaffen, die in der Hauptsache auf geometrischen Symbolen ruht. Wir projizieren die Begriffe der Form und des Volumens vom Gebiet des Denkens in das der Wahrnehmung und wir sind so sehr an diese Begriffselemente gewöhnt, daß wir sie mit Realitäten der Wahrnehmung selbst verwechseln. In Wahrheit ist es das begriffliche Volumen und die begriffliche Form, die den Raum erfüllt: und ihr allein, nicht aber den sinnlichen Eindrücken, können wir Bewegung zusprechen*." * Pearson, The Grammar of Science, S. 250 f.
224
So folgt der Begriff der Materie dem gleichen Gesetz, das all- gemein die logische Entwicklung der naturwissenschaftlichen Prinzipien beherrscht. Die sinnlichen Merkmale, die ihm anhaften, bilden jetzt keinen wesentlichen Bestand seiner Bedeutung mehr. Selbst das Moment der ,, Schwere", das zunächst einen unentbehrlichen Bestandteil auszumachen scheint, tritt zurück und wird in dem Übergang, der sich vom Begriff der Materie zum reinen Begriff der Masse vollzieht, ausgeschaltet. Von der Masse aber gelangen wir weiter zum bloßen Massenpunkt, der nur noch durch einen bestimmten Zahlenwert, durch einen bestimmten Koeffizienten gekenn- zeichnet und unterschieden ist. Die Materie selbst wird zur — Idee, indem sie sich immer deutlicher auf die idealen Kon- zeptionen einschränkt, die durch die Mathematik geschaffen und beglaubigt werden.
VI.
Der Aufbau des Systems der reinen Mechanik kann sich logisch auf verschiedene Weise vollziehen, je nach der Art und Anzahl der Grundbegriffe, von denen man ausgeht. Während die klassische Mechanik, die in Newtons Prinzipien zum ersten Abschluß gelangt, sich auf den Begriffen von Raum und Zeit, Masse und Kraft aufbaut, ist in modernen Darstellungen an Stelle dieses letzteren Begriffs der Begriff der Energie getreten. Die Prinzipien der Mechanik von Heinrich Hertz haben schließlich eine neue Anschauung durch- geführt, indem sie sich lediglich auf die Festsetzung dreier unabhängiger Grundbegriffe: des Raumes, der Zeit und der Masse stützen und von hier aus, indem neben den sinnlich wahrnehmbaren Massen unsichtbare Massen eingeführt werden, den Inbegriff der Bewegungserscheinungen als ver- ständliches und gesetzmäßiges Ganzes abzuleiten suchen. Schon in dieser Mehrheit möglicher Ausgangspunkte bekundet es sich, daß das ,,Bild*', das wir uns von der Naturwirklichkeit entwerfen, nicht von den Daten der Sinneswahrnehmung allein, sondern von gedanklichen Gesichtspunkten und Forde- rungen abhängt, die wir an sie heranbringen. Unter ihnen sind es insbesondere Raum und Zeit, die in den verschieden-
Cassirer, Substanzbegriff 15 225
artigen Systemen gleichmäßig wiederkehren und die daher den unveränderlichen Bestandteil, die eigentliche Invariante für jede theoretische Grundlegung der Physik bilden. Diese Unveränderlichkeit ist es, vermöge deren beide Begriffe der ersten Betrachtung selbst wie sinnliche Inhalte erscheinen: da die Empfindung niemals außerhalb dieser Formen erscheint und umgekehrt diese Formen selbst niemals abgetrennt von ihr gegeben sind, so führt die psychologische Vereinigung und Durchdringung beider Momente zunächst notwendig auch zu ihrer logischen Gleichsetzung. Schon die Anfänge der theoretischen Physik bei Newton führen indes zu einer Aufhebung dieser scheinbaren Einheit. Raum und Zeit — so wird jetzt ausdrücklich hervorgehoben — sind etwas anderes, wenn wir sie in der Art der unmittelbaren Empfindung und wenn wir sie in der Art mathematischer Begriffe fassen. Und lediglich dieser letzten Auffassung wird eigentlicher Wahrheitswert zugestanden. Der absolute unbeweg- liche Raum und die absolute streng gleichförmig verfließende Zeit sind die wahrhafte Wirklichkeit, während der relative Raum und die relative Zeit, die die äußere und innere Wahr- nehmung uns darbieten, nur sinnliche und daher ungenaue Maße für die empirischen Bewegungsvorgänge bedeuten. Aufgabe der physikalischen Forschung ist es, von diesen sinn- lichen Maßen, die für praktische Zwecke genügen, wieder zu den Realitäten, die durch sie bezeichnet und aus- gedrückt werden sollen, vorzudringen. Gibt es objektive Naturerkenntnis, so muß sie uns die zeitlich-räumliche Ordnung des Alls nicht nur in der Art darstellen, wie sie einem empfin- denden Individuum von seinem relativen Standort aus er- scheint, sondern wie sie an sich und in schlechthin allgemein- gültiger Weise besteht. Der reine Begriff allein verbürgt diese Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, weil er von aller Verschiedenheit, die in der physiologischen Beschaffenheit und in der besonderen Stellung der Einzelsubjekte begründet ist, abstrahiert.
In der Definition des Raumes und der Zeit und in der Entgegensetzung des sinnlichen und des mathematischen Gehalts beider Begriffe liegt daher erkenntnistheoretisch
226
nichts Geringeres als die erste wissenschaftliche Fixierung des Problems der Objektivität überhaupt. Freilich läßt sich dieses Problem hier noch nicht in seiner ganzen Ausdehnung überblicken: aber die entscheidende Vorbereitung dafür wird an diesem Punkt getroffen*. Man begreift es daher, daß an dieser Frage, stärker als an jeder anderen, die philo- sophischen Gegensätze in der Grundauffassung der Physik zur Ausprägung und zur Aussprache gelangen müssen. Der Streit um die Prinzipien hat immer wieder auf die New- tonische Gestaltung der Raum- und Zeitlehre zurückgegriffen, um hier zugleich die Entscheidung für den allgemeinen Weg der Begründung zu finden. Was bedeuten die Begriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, wenn die Er- fahrung uns doch niemals sichere Beispiele dieser Begriffe zu geben vermag? Kann ein Gedanke irgendeinen physikali- schen Wert beanspruchen, wenn wir prinzipiell darauf ver- zichten müssen, ihm eine unzweideutige Anwendung in der uns zugänglichen Wirklichkeit zu geben? Daß wir in der reinen Mechanik Gesetze für absolute Bewegungen ent- wickeln, muß als ein unfruchtbares gedankliches Spiel er- scheinen, solange kein untrügliches Kennzeichen angegeben wird, das uns gestattet, über den absoluten oder relativen Charakter einer tatsächlichen Bewegung zu ent- scheiden. Die abstrakte Regel besagt für sich allein nichts, wenn nicht zugleich die Bedingungen bekannt sind, unter denen wir sie konkret anwenden können, indem wir ihr be- stimmte empirische Einzelfälle subsumieren. In der New- tonischen Formulierung aber bleibt hier in der Tat ein Wider- streit zurück. Die Gesetze der Naturwissenschaft, die samt und sonders als Induktionen aus gegebenen Tatsachen verstanden werden sollen, beziehen sich zuletzt auf Gegen- stände, die, wie der absolute Raum und die absolute Zeit, einer anderen Welt als der der Erfahrung angehören, da sie als die ewigen Attribute der unendlichen göttlichen Substanz gedacht sind. Diese metaphysische Bestimmung tritt im weiteren Fortgang der Naturwissenschaft zurück:
* Näheres zum Problem der „Objektivität" s. später bes. Kap VI und VII.
15* 227
aber der logische Gegensatz, auf den sie sich gründet, ist damit nicht geschlichtet. Immer von neuem entsteht die Frage, ob wir in die Grundlegung der Mechanik nur solche Begriffe aufzunehmen haben, die direkt von den empirischen Körpern und ihren wahrnehmbaren Beziehungen ent- lehnt sind, oder ob wir über diesen Umkreis des empirischen Daseins in irgendeiner Richtung hinausschreiten müssen, um die Gesetze dieses Seins als vollständige und geschlossene Einheit zu begreifen.
In diesem Problem konzentriert sich fortan die eigentliche Schwierigkeit. Die erkenntnistheoretische Diskussion der mechanischen Begriffe hat diese Schwierigkeit nicht prägnant und scharf genug bezeichnet, indem sie, dem Gange der Ge- schichte folgend, ausschließlich den Gegensatz des ,, Ab- soluten" und ,, Relativen" in den Mittelpunkt der Betrachtung rückte. Dieser Gegensatz, der dem Gebiet der 0 n t o 1 o g i e entstammt, bringt die methodischen Fragen, die hier zur Entscheidung drängen, nicht zum adäquaten Ausdruck. Zunächst nämlich ist leicht zu ersehen, daß auch der „ab- solute" Raum und die ,, absolute" Zeit, wenn anders sie mit Newton als mathematische Konzeptionen gedacht werden sollen, nicht jede Art der Beziehung von sich aus- schließen können. Gerade dies ist ja der eigentliche Charakter aller mathematischen Setzungen, daß keine von ihnen etwas für sich selbst bedeutet, sondern jede einzelne nur im Zu- sammenhang und in durchgängiger Verknüpfung mit der Gesamtheit der übrigen zu verstehen ist. So ist es denn in der Tat widersinnig, einen ,,Ort" begreifen zu wollen, ohne ihn zugleich auf einen anderen von ihm verschiedenen zu beziehen — * einen Zeitmoment fixieren zu wollen, ohne ihn als Punkt innerhalb einer geordneten Mannigfaltig- keit zu denken. Das „Hier" erhält seinen Sinn stets nur mit Bezug auf ein ,,Da" und „Dort", das ,, Jetzt" nur im Hin- blick auf ein Früher oder Später, das wir ihm entgegenstellen. Keine physikalische Bestimmung, die wir nachträglich in unsere Begriffe des Raumes und der Zeit aufnehmen, kann diesen ihren logischen Grundcharakter antasten. Sie sind und bleiben Relationssysteme in dem Sinne, daß
228
jede besondere Setzung in ihnen stets nur eine einzelne Stelle bezeichnet, die ihren vollen Gehalt erst durch die Verknüpfung erhält, in welcher sie mit der Allheit der Reihenglieder steht. Auch der Gedanke der absoluten Bewegung widerspricht nur scheinbar dieser Grundforderung. Kein physikalischer Denker hat jemals diesen Begriff in einem Sinne genommen, daß dadurch die Rücksicht auf jedesBezugssystem überhaupt ausgeschaltet werden sollte. Nur über die Art dieses Bezugssystems, nur darüber, ob es als materiell oder immateriell, als empirisch gegeben oder als ideelle Kon- struktion zu gelten habe, bestand Streit. Die Forderung der absoluten Bewegung bedeutet nicht den Ausschluß jeglichen Korrelats, sondern enthält vielmehr eine Annahme über die Natur diesesKorrelats selbst, das hier als der „reine" Raum, losgelöst von jedem stofflichen Inhalt, be- stimmt wird. Damit erst tritt das Problem aus seiner vagen, dialektischen Fassung heraus und gewinnt einen festen physi- kalischen Gehalt. Diejenige ,, Relativität", die mit jeder wissen- schaftlichen Setzung überhaupt unzertrennlich verbunden ist, kann jetzt völlig außer Betracht bleiben: sie bildet die all- gemeine und selbstverständliche Voraussetzung, die aber eben darum für die Lösung irgend einer besonderen Frage ohne Belang ist. Solche Sonderfragen aber sind es, die hier zur Entscheidung stehen. Vor allem gilt es, Klarheit darüber zu gewinnen, ob Raum und Zeit in der Bedeutung, in welcher die Physik sie nimmt, nur Aggregate aus sinnlichen Eindrücken oder aber selbständige gedankliche ,, Formen" sind; ob das System, auf welches die Grundgleichungen der Newtonischen Mechanik sich beziehen, als empirischer Körper aufweisbar ist, oder aber nur ein ,, gedachtes" Sein besitzt. Sobald wir uns für das letztere entscheiden, tritt ferner die weitere Aufgabe hervor, eine Vermittlung zwischen den idealen Anfängen der Physik und ihren realen Endergebnissen zu suchen. Die sinnlichen und gedanklichen Momente, die zu- nächst in der Abstraktion einander gegenüberstehen, bedürfen wiederum der Vereinigung unter einem allgemeinen Gesichts- punkt, kraft dessen ihr Anteil an dem einheitlichen Begriff der Objektivität sich bestimmt.
229
Auf den ersten Blick kann es freilich scheinen, als bedürfe es, um alle diese Fragen zu beantworten, keiner komplizierten logischen Mittelglieder. Die Antwort, die der Empirismus bereit hält, entgeht allen Schwierigkeiten, indem sie die Probleme, um die es sich hier handelt, in bloße Täuschungen auflöst. Das Beharrungsprinzip wird freilich sinnlos, sobald wir in ihm nicht stillschweigend die Beziehung auf irgend ein Koordinatensystem mitdenken, an dem die Fortdauer der gleichförmigen und geradlinigen Bewegung nachweisbar wird. Aber dieses unentbehrliche Substrat brauchen wir nicht in mühsamen begrifflichen Deduktionen erst festzustellen, da die Erfahrung es uns von selbst unzweideutig aufdrängt. Der Fixsternhimmel bietet uns ein Bezugssystem, an welchem das Phänomen der Trägheitsbewegung jederzeit in derjenigen Genauigkeit, deren Erfahrungsurteile überhaupt fähig sind, demonstriert werden kann. Es ist ein verfehltes Verlangen, hierüber hinauszufragen; es ist müßig, sich eine Vorstellung darüber machen zu wollen, welche Gestalt der Trägheitssatz annehmen würde, wenn wir die Beziehung auf die Fixsterne ausschalten und ein anderes System an deren Stelle setzen wollten. Welche Bewegungsgesetze gelten würden, wenn die Fixsterne nicht beständen oder wenn wir der Möglich- keit beraubt wären, unsere Beobachtungen an ihnen zu orientieren, darüber fehlt uns jede Möglichkeit des Urteils, weil es sich hier um einen Fall handelt, der in der tatsächlichen Erfahrung niemals verwirklicht war. Die Welt ist uns nicht zweimal: das eine Mal in Wirklichkeit, das andere Mal in Gedanken gegeben; sondern wir haben sie so hinzunehmen, wie sie sich uns in der sinnlichen Wahrnehmung darbietet, ohne danach zu forschen, wie sie uns unter anderen Bedin- gungen, die wir logisch fingieren, erscheinen würde*. In dieser Lösung des Problems, die Mach gibt, ist in der Tat die Konsequenz, zu der die empiristische Grundanschauung hin- drängt, mit aller Entschiedenheit gezogen. Jedes wissenschaft- lich-gültige Urteil erhält demnach seinen Sinn nur als
* S. hierzu Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung ; Die Ge- schichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit, S. 47 ff.
230
Aussage über ein konkretes, tatsächlich vorliegendes Da- sein. Der Gedanke vermag lediglich den Anzeigen der Empfindung, die uns dieses Dasein erschließen, nachzugehen; aber er vermag an keiner Stelle über sie hinauszugreifen und bloß mögliche, bisher nicht gegebene Fälle in den Kreis seiner Betrachtung zu ziehen. Diese Folgerung aber, die von der angenommenen Voraussetzung aus unabweislich ist, widerstreitet — wie sich bereits allseitig gezeigt hat — dem an- erkannten Tatbestand des wissenschaftlichen Verfahrens selbst. Die theoretischen Grundgesetze der Physik sprechen durchweg von Fällen, die in der Erfahrung niemals gegeben waren, noch auch in ihr gegeben sein können: denn in der Formel des Gesetzes ist das eigentliche Wahrnehmungsobjekt durch seine ideale Grenze ersetzt und vertreten (s. oben, S. 171 f.). Die Einsicht, die hier gewonnen wird, geht somit niemals allein aus der Betrachtung der wirklichen, sondern auch der mög- lichen Bedingungen und Umstände hervor; sie umfaßt nicht nur das aktuelle, sondern zugleich das ,, virtuelle" Geschehen. Im Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten, das seit Lagrange die eigentliche Grundlage der analyti- schen Mechanik bildet, ist dies zum schärfsten Ausdruck gekommen. Die Verschiebungen eines materiellen Systems, die hier ins Auge gefaßt werden, brauchen keineswegs tat- sächlich ausführbar zu sein; ihre „Möglichkeit" bedeutet lediglich, daß wir sie gedanklich in Ansatz bringen können, ohne dadurch zu einem Widerspruch gegen die Bedingungen des Systems geführt zu werden. Die Weiterbildung, die das Prinzip innerhalb der Physik erfahren hat, hat auch dieses methodische Moment immer deutlicher hervortreten lassen. In der Entwicklung der modernen Thermodynamik ist das Prinzip der virtuellen Veränderungen von seiner anfänglichen Einschränkung auf mechanische Vorgänge befreit und zu einem allgemeineren Grundsatz umgestaltet worden, der alle Gebiete der Physik gleichmäßig umfassen soll. Unter einer virtuellen Änderung eines Systems wird jetzt nicht nur eine infinitesimale räumliche Verschiebung seiner einzelnen Teile, sondern auch eine unendlich kleine Erhöhung oder Erniedri- gung der Temperatur, eine unendlich kleine Umwandlung
231
in der Verteilung der Elektrizität auf der Oberfläche eines leitenden Körpers, kurz jede elementare Zu- oder Abnahme einer der variablen Größen verstanden, die den Gesamt- zustand des Systems charakterisieren, sofern sie gemäß den allgemeinen Bedingungen, die das System zu erfüllen hat, zulässig ist. Ob die betreffende Umwandlung physisch vollziehbar ist, ist hierbei gleichgültig; denn der Wahrheitswert unserer theoretischen Folgerungen besteht völlig unabhängig von dieser Möglichkeit einer unmittelbaren Realisierung unserer gedanklichen Operationen. ,,Wenn man im Verlauf der Deduktionen'*, so bemerkt D u h e m , ,,die Größen, auf welche sich die Theorie bezieht, bestimmten algebraischen Umformungen unterwirft, so hat man sich hierbei nicht zu fragen, ob diese Rechnungen einen physi- schen Sinn haben, ob also die einzelnen Maßmethoden sich direkt in die Sprache der konkreten Anschauung übersetzen lassen und in dieser Übersetzung wirklichen oder möglichen Tatsachen entsprechen. Sich eine derartige Frage zu stellen, hieße vielmehr sich einen völlig irrigen Begriff vom Wesen einer physikalischen Theorie machen*." Die Entdeckung und die erste Formulierung des Beharrungsprinzips bestätigt durchaus diese Auffassung. Galilei zum min- desten läßt keinen Zweifel darüber, daß das Prinzip in dem Sinne, in welchem er es nimmt, nicht aus der Betrachtung einer besonderen Klasse empirisch wirklicher Bewegungen hervorgegangen ist. Er würde auf den Einwand, daß für den Bestand des Trägheitsgesetzes die dauernde Existenz der Fixsterne vorausgesetzt werde, sicherlich die gleiche Antwort erteilt haben, die er in einem ähnlichen Fall dem Simplicio gibt: die Wirklichkeit der Fixsterne gehört, ebenso wie die des bewegten Körpers selbst, nur zu den ,, zufälligen und äußerlichen" Bedingungen des Versuchs, von denen die eigentliche theoretische Entscheidung nicht abhängt. In jenes „mente concipio", mit welchem Galilei seine allge- meinen Erörterungen beginnt, geht das Dasein der Fix- sterne nirgends ein. Der Begriff der geradlinigen und
* S. Duhem, L'övolution de la M6caiüque, Paris 1903, S. 211 ff. 232
gleichförmigen Bewegung wird hier rein in abstrakt-phorono- mischer Bedeutung eingeführt: er ist nicht auf irgendwelche materielle Körper, sondern lediglich auf die ideellen Schemata bezogen, wie Geometrie und Arithmetik sie darbieten. Ob die Gesetze, die wir aus derartigen idealen Konzeptionen folgern, auf die Wahrnehmungswelt anwendbar sind, darüber muß freilich in letzter Linie das Experiment ent- scheiden: der logische und mathematische Sinn der hypo- thetischen Gesetze selbst aber steht unabhängig von dieser Form der Bewährung im Aktuell- Gegebenen fest*.
Um die Form der Ableitung, die hier von Galilei tat- sächlich angewandt wird, logisch zu rechtfertigen, braucht man sich übrigens zuletzt nur auf Mach selbst zu berufen. In seiner Entwicklung der allgemeinen Methoden der Physik nimmt das ,, Gedankenexperiment" eine bedeutsame Stellung ein. Alle wirklich fruchtbaren physischen Versuche haben, wie er betont, Gedankenexperimente zu ihrer notwendigen Vor- bedingung. Wir müssen den Erfolg, den eine bestimmte An- ordnung des Versuchs verspricht, wenigstens in allgemeinen Zügen voraussehen, wir müssen die möglichen bestimmenden Umstände gegeneinander abwägen und begrifflich abwandeln, um der Beobachtung selbst eine bestimmte Richtung zu geben. Dieses Verfahren der gedanklichen Variation der für ein gewisses Ergebnis mitbestimmenden Faktoren ist es vor allem, das uns erst eine völlig klare Übersicht über das Gesamtgebiet der Tatsachen selbst verschafft. Hier erst tritt die Bedeutung jedes einzelnen Moments klar hervor; hier erst gliedert sich der Wahrnehmungsbestand zu einem geordneten Komplex, in welchem wir die Bedeutung, die jeder Teil für den Aufbau des Ganzen besitzt, klar erfassen. Die wesentlichen Züge, von denen sein gesetzliches Verhalten abhängt, sondern sich von den zufälligen, die beliebig wechseln können, ohne daß unsere eigentliche physikalische Schluß- folgerung dadurch berührt würde**. Man braucht alle diese
* S. hierzu oben, S. 163 ff. ; zum Ganzen vgl. jetzt bes. die Aus- führungen Natorps (a. a. O. S. 356 ff.).
** Vgl. Mach, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, „Über Gedanken- experimente", S. 180 ff.
233
Erwägungen nur auf die Entdeckung und Aussprache des Trägheitsprinzips anzuwenden, um sofort zu erkennen, daß die eigentümliche Geltung dieses Prinzips an irgend ein be- stimmtes materielles Bezugssystem nicht gebunden ist. Selbst wenn wir das Gesetz zunächst für den Fixsternhimmel bewährt gefunden hätten, so stünde nichts im Wege, es von dieser Bedingtheit loszulösen, indem wir uns zum Bewußtsein bringen, daß wir das ursprüngliche Substrat beliebig variieren lassen können, ohne daß dadurch Sinn und Inhalt des Gesetzes selbst irgendwie berührt würde. Denn die Voraussetzung, auf der Machs anfänglicher Einwand beruht, daß nämlich das Denken niemals über den Kreis der gegebenen Einzeltatsachen hinauszublicken vermöge, ist jetzt verlassen: die Methode des ,, Gedankenexperiments" erschließt uns eine eigentümliche Aktivität des Denkens, die von den wirklichen Fällen zu den möglichen übergreift und auch von ihnen eine Bestirrlmung zu geben unternimmt. In der Tat würde offenbar der logische Gehalt des Beharrungsgesetzes ungeändert bleiben, auch wenn sich im Laufe der Erfahrung Gründe fänden, die uns veranlassen würden, den Fixsternen selbst bestimmte Bewegungen zuzuschreiben. Die Sätze der reinen Mechanik würden mit dieser Einsicht nichts von ihrer Geltung verlieren, sondern wären in dem neuen System der Orientierung, das wir alsdann zu suchen hätten, vollständig aufbehalten. Eine solche Übertragung aber wäre, selbst in Gedanken, unmöglich, wenn diese Sätze nur die Verhältnisse wiedergäben, die den bewegten Körpern relativ zu einem besonderen empiri- schen Bezugssystem zukommen. Mach selbst muß, seiner ganzen Voraussetzung nach, den Fixsternhimmel nicht nur als einen Bestandteil ansehen, der in die begriffliche For- mulierung des Trägheitsgesetzes eingeht, sondern ihn geradezu als einen der kausalenFaktoren auffassen, von denen die Beharrungsbewegung abhängig ist*. In einer
* „Ein freier Körper von einem Momentankräftepsiar angegriffen, bewegt sich derart, daß sein Zentralellipsoid bei festgehaltenem Mittel- punkt an der zur Kräftepaarebene parallelen Tangentialebene ohne zu gleiten abrollt. Dies ist eine Bewegung infolge der Trägheit. Hierbei macht nun der Körper die sonderbarsten Wendungen gegen die Himmelskörper.
234
Formel, die lediglich die Beziehung und Wechselwirkung zwischen bestimmten physischen Objekten zum Ausdruck bringt, aber ließe sich offenbar der eine der beiden Faktoren nicht durch einen anderen ersetzen, ohne daß dadurch die Relation selbst eine völlig neue Gestalt erhielte. Hinge die Wahrheit des Beharrungsgesetzes von den Fixsternen als diesen bestimmten, physischen Individuen ab, so wäre es logisch unverständlich, wie wir jemals daran denken könnten, diese Anknüpfung fallen zu lassen und zu anderen Bezugssystemen überzugehen. Das Trägheitsprinzip wäre in diesem Falle nicht sowohl ein allgemeiner Grundsatz für die Bewegungserscheinungen überhaupt, als vielmehr die Aus- sage über bestimmte Eigenschaften und „Reaktionen" eines gegebenen empirischen Inbegriffs von Gegenständen — und wie sollten wir erwarten dürfen, daß die physischen Beschaffen- heiten, die wir an einem konkreten Einzelding aufgefunden haben, von ihrem eigentlichen ,, Subjekt" losgelöst werden und auf ein anderes übergehen könnten? In jedem Falle erkennt man aus diesem Beispiel, daß auch hier Empirismus und Empirie auseinander gehen: der Sinn, den das Trägheits- prinzip nach den empiristischen Voraussetzungen allein haben könnte, entspricht in keiner Weise der Bedeutung, die es in der wissenschaftlichen Mechanik seit deren Anfängen gehabt und der Funktion, die es hier tatsächlich erfüllt hat. Die logische Grundform der Mechanik ist hier nicht begriffen und erklärt, sondern vielmehr verworfen.
Den gleichen prinzipiellen Einwänden unterliegt jeder Versuch, dem Beharrungsgesetz dadurch eine feste Stütze zu geben, daß man das Bezugssystem, auf das es hinweist, irgendwie in dinglicher Wirklichkeit als vorhanden aufzeigt. Eine bekannte Erklärung, die S t r e i n t z im einzelnen durchzuführen gesucht hat, bestimmt als dieses Bezugssystem
Meint man nun, diese Körper, ohne welche man die gedachte Bewegung gar nicht beschreiben kann, seien ohne Einfluß auf dieselbe ? Gehört das, was man offen oder versteckt mit nennen muß, wenn man eine Erscheinung beschreiben will, nicht zu den wesentlichen Bedingungen, zu dem Kausal- nexus derselben ? Die fernen Himmelskörper haben in unserem Beispiel keinen Einfluß mehr auf die Beschleunigung, wohl aber auf die Geschwindig- keit." (Mach, Erhaltung der Arbeit, S. 49.)
235
jeden beliebigen, empirisch gegebenen Körper, sofern der- selbe die doppelte Bedingung erfüllt, keine Drehbewegung zu vollführen und keiner Einwirkung einer äußeren Kraft unter- worfen zu sein. Die Abwesenheit der Drehbewegung läßt sich stets an bestimmten Maßinstrumenten, die Streintz mit dem Namen eines ,, gyroskopischen Kompasses" bezeichnet, un- zweideutig nachweisen; denn jede „absolute" Rotation eines Körpers setzt sich in irgendwelche physikalische Wirkungen um, die direkt wahrgenommen und gemessen werden können. Was das zweite Moment, die Abwesenheit von äußeren Kraft- wirkungen betrifft, so ist hier freilich niemals eine gleich unmittelbare und positive Entscheidung möglich: wir müssen uns einfach mit der Feststellung begnügen, daß, so oft in der Bewegung eines Punktes bezüglich eines Körpers von un- veränderlicher Richtung eine Abweichung von der Gerad- linigkeit oder Gleichförmigkeit beobachtet wurde, es bisher stets gelungen ist, irgendwelche äußere Körper anzugeben, die durch das Lageverhältnis, in welchem sie zu dem bewegten Punkt selbst oder zu dem angenommenen Bezugssystem stehen, als Ursache dieser Abweichung erscheinen. Bezeichnen wir nun einen Körper, der durch die beiden angegebenen Grund- bestimmungen, durch die Abwesenheit der Drehbewegung und durch die vollkommene Unabhängigkeit von allen um- gebenden Massen charakterisiert ist, als Fundamental- Körper (FK), so besitzen wir in jedem derartigen Körper ein geeignetes System, in bezug auf welches die dynamischen Differentialgleichungen, die die Physik zugrunde legt, erfüllt sind. Diese Gleichungen, die in der Art, in der sie gewöhnlich formuliert werden, eine logische Unbestimmtheit in sich schließen, haben jetzt einen festen und eindeutigen Sinn erhalten; das Trägheitsprinzip insbesondere läßt sich nunmehr in der Form aussprechen, daß jeder sich selbst überlassene Punkt sich hinsichtlich eines Fundamentalkörpers in gerader Linie und mit konstanter Geschwindigkeit bewegt*. Auch dieser Ableitungsversuch beruht indessen, wie sich leicht ergibt,
* Vgl. die näheren Ausführungen bei Streintz, Die physikalischen Grundlagen der Mechanik, Leipzig 1883, S. 13 ff., 22 ff.
236
auf einer Umkehrung des eigentlichen logischen und geschicht- lichen Verhältnisses. Bestände Streintz' Erklärung zu Recht, so wären die mechanischen Grundsätze lediglich Induktionen, die wir an einzelnen Körpern mit bestimmten physikalischen Eigenschaften bewährt gefunden, und die wir sodann für alle Körper derselben Art als wahrscheinlich angenommen haben. Der Anspruch auf strenge Allgemeingültigkeit, den diese Grundsätze erheben, bliebe alsdann völlig unverständ- lich. Es ließe sich nicht begreifen, mit welchem Rechte wir sie den beobachteten Tatsachen, als Forderungen ent- gegenhalten, die unserer Erklärung die Richtung vor- schreiben, statt umgekehrt die Prinzipien, die ja nur kraft bestimmter Einzelbeobachtungen gewonnen sind, alsbald um- zugestalten, sobald sie mit den neuen Erfahrungen nicht mehr im Einklang stehen. Aber auch wenn man hiervon absieht, wäre die Erwägung entscheidend, daß der Fundamental- körper selbst und das Fundamental-Koordinatensystem als empirische Fakta niemals vorgefunden werden könnten, wenn die Bedeutung beider nicht zuvor in ideeller Kon- struktion festgestellt worden wäre. Die scheinbar reinen Induktionen, die Streintz an die Spitze seiner Er- örterungen stellt, sind bereits geleitet und beherrscht von den Grundgedanken der analytischen Mechanik selbst. Nur unter der Voraussetzung dieser Gedanken leuchtet die Be- deutung ein, die den beiden Momenten, durch welche der Fundamentalkörper bestimmt ist, zukommt: die Abwesen- heit der Drehbewegung, sowie die Unabhängigkeit von jeder äußeren Kraftwirkung bilden die empirischen Kriterien, an denen wir erkennen, ob ein bestimmter gegebener Körper den Voraussetzungen der Theorie, die wir zuvor selbständig entwickelt haben, gemäß ist. Das Merkmal, kraft dessen wir feststellen, ob ein Einzelfall unter ein bestimmtes Gesetz subsumierbar ist, ist aber von den Bedingungen, auf denen die Gültigkeit des Gesetzes selbst beruht, logisch streng geschieden. Nicht aus Beobachtungen an bestimmten Körpern, denen wir die Eigenschaft, keiner fremden Einwirkung zu unterliegen, gleichsam sinnlich ablesen konnten, ist die Idee der Beharrung entstanden; sondern umgekehrt erklärt es sich
237
erst auf Grund dieser Idee, daß wir nach Körpern dieser Art suchen und ihnen eine bevorzugte Stellung im Aufbau unserer empirischen Wirklichkeit zuweisen. So schließt der Streintzsche Versuch, sofern er eine wahrhafte Grund- legung der Mechanik sein will, in der Tat einen Zirkel ein, denn in den Experimenten und in den empirischen Lehr- sätzen selbst, die hier an die Spitze treten, liegt bereits die stillschweigende Anerkennung der Grundsätze, die erst de- duziert werden sollen. Die analytische Mechanik ist, wie die Geschichte lehrt, ohne diese Experimente zustande gekommen, während umgekehrt der bloße Gedanke dieser Experi- mente nur auf dem Boden dieser Mechanik entstehen konnte*. Hält man also an der Forderung fest, daß das Trägheits- gesetz notwendig an irgend ein materielles Bezugssytem angelehnt werden müsse, so bleibt schließlich, wenn man zu- gleich die rationale Gestalt der Mechanik erklären will, in der Tat nur der Ausweg zurück, einen unbekannten, in der Er- fahrung nicht gegebenen Körper anzunehmen, und im Hin- blick auf ihn die dynamischen Grundgleichungen zu erklären. Die Durchführung dieses Gedankens ist zuerst von C. N e u - mann in seiner Schrift über die Prinzipien der Galilei- Newtonschen Theorie versucht worden, in der neben der Erörterung des physikalischen Grundproblems auch die methodische Hauptfrage zu besonders deutlicher Aus- prägung gelangt ist. Das Galileische Prinzip bedarf nach Neu- mann, um in seinem begrifflichen Sinn erfaßt zu werden, notwendig der Setzung eines bestimmten Daseins-Hinter- grundes. Nur in einer Welt, in welcher an irgend einer uns unbekannten Stelle des Raumes ein absolut starrer, in seiner Gestalt und seinen Dimensionen für alle Zeiten unveränder- licher Körper existiert, sind die Sätze unserer Mechanik ver- ständlich. „Jene Worte des Galilei, daß ein sich selber über- lassener materieller Punkt in geraderLinie dahingeht, treten uns entgegen als ein Satz ohne Inhalt, als ein in der Luft schwebender Satz, der (um verständlich zu sein) noch eines
* Vgl. hierzu bes. die Kritik des Streintzschen Versuches bei H ö f 1 e r , Studien zur gegenw. Philosophie der Mechanik, Leipzig 1900, S. 136 f.
238
bestimmten Hintergrundes bedarf. Irgendein spezieller Körper im Weltall muß uns gegeben sein, als Basis unserer Beurteilung, als derjenige Gegenstand, mit Bezug auf welchen alle Bewe- gungen zu taxieren sind — nur dann erst werden wir mit jenen Worten einen bestimmten Inhalt zu verbinden imstande sein. Welcher Körper ist es nun, dem wir diese bevorzugte Stellung einräumen sollen ? . . . Leider erhalten wir auf diese Frage weder bei Galilei noch bei Newton eine bestimmte Antwort. Wenn wir aber das von ihnen begründete und bis auf die heutige Zeit mehr und mehr erweiterte theoretische Gebäude aufmerksam durchmustern, so können uns seine Fundamente nicht länger verborgen bleiben. Wir erkennen alsdann leicht, daß sämtliche im Universum vorhandene oder überhaupt denkbare Bewegungen zu beziehen sind auf ein und denselben Körper. W o dieser Körper sich befindet, welche Gründe vorhanden sind, einem einzigen Körper eine so hervorragende, gleichsam souveräne Stellung einzuräumen, — hierauf allerdings erhalten wir keine Antwort*." Man sollte nicht erwarten, die Beweisart, kraft deren hier die Existenz dieses einzigartigen Körpers dargetan wird, der von Neumann als ,, Körper Alpha" bezeichnet wird, mitten in der Physik anzutreffen. Denn sie ist in der Tat rein o n t o - logischer Art: die Forderung eines einheitlichen logischen Bezugspunktes verdichtet sich zur Behauptung eines empirisch unerkennbaren Daseins. Und diesem Dasein kommen, obwohl es selbst materieller Natur sein soll, wiederum alle diejenigen Prädikate zu, die auch sonst das ontologische Argument zu verleihen pflegte: es ist unveränderlich, ewig und unzerstörbar. Wenn aber hier aus bloßem Denken ein Sein mit absoluten Eigenschaften gefolgert wird, so zeigt sich anderseits zugleich der umgekehrte Zug, daß die Begreiflichkeit unserer ideellen Konzeptionen von bestimmten Beschaffen- heiten des Seins abhängig gemacht ist. Man denke sich den Körper Alpha durch irgendeine Naturmacht vernichtet: und die Sätze der Mechanik müßten aufhören, für uns nicht
* Carl N e u m a n n , Über die Prinzipien der Galilei-Newtonschen Theorie, Leipzig 1870, S. 14f.
239
nur anwendbar, sondern sogar — verständlich zu sein. Der Begriff der strengen Unveränderlichkeit der Richtung, der Begriff der gleichförmigen Bewegung von bestimmter Geschwindigkeit, den die mathematische Theorie uns geliefert hat, wäre nunmehr mit einem Schlage um all seinen Sinn gebracht. So würden sich hier an ein Geschehen in der äußeren Welt nicht nur bestimmte physische, sondern auch die merk- würdigsten logischen Folgen anknüpfen; so hinge es vom Sein oder Nichtsein eines aktuellen räumlichen Dinges ab, ob unsere grundlegenden mathematischen Hypothesen in sich selbst irgendeine Bedeutung besitzen. Wie aber sollten wir jemals zu einem begründeten Urteil über eine physi- kalische Wirklichkeit gelangen, wenn nicht zuvor der Sinn dieser allgemeinen mathematischen Grundprädikate feststeht? Auf alle diese Fragen könnte es zuletzt nur eine Antwort geben. Nicht die Existenz des Körpers Alpha — so könnte man erwidern — wohl aber die Annahme dieser Existenz ist es, woran die Geltung unserer mechanischen Begriffe hängt. Diese Annahme aber kann uns niemals ver- wehrt werden: sie ist ein reines Postulat unseres wissenschaft- lichen Denkens, das hierin allein seinen eigenen Normen und Regeln gehorcht. Eine derartige Antwort aber würde das Problem sogleich auf einen völlig neuen Boden stellen. Steht es in unserer Macht, mit ideellen Annahmen zu schalten, so begreift man nicht, warum dieses Verfahren auf die Setzung physischer Dinge eingeschränkt sein soll. Statt des Körpers Alpha könnten wir alsdann — in logisch allein einwandfreier und verständlicher Weise — den reinen Raum selbst setzen und ihn mit bestimmten Eigenschaften und Be- ziehungen ausstatten. So haben wir uns auch hier im Kreise bewegt: die innere Konsequenz des Gedankens führt genau zu demjenigen Ausgangspunkt zurück, an dem die ersten Zweifel und Bedenken gegenüber der Formulierung der mechanischen Prinzipien einsetzten.
Man entgeht in der Tat dem Dilemma erst dann, wenn man sich entschließt, die gedanklichen Forderungen, statt sie im Verlauf der Deduktion in verhüllter Form irgendwie ein- zuführen, in voller Klarheit an den Anfang zu stellen.
240
Der absolute Raum und die absolute Zeit der Mechanik schließen sowenig irgendwelche Daseinsrätsel in sich, als dies bei der reinen Zahl der Arithmetik oder bei der reinen Geraden der Geometrie der Fall ist. Sie entstehen in genauer und stetiger Fortführung dieser Grundbegriffe: wie denn Galilei stets aufs schärfste betont, daß die allgemeine Bewegungslehre ihm keinen Zweig der angewandten, sondern der reinen Mathematik bedeute. Die phoronomischen Begriffe der gleichförmigen und der gleichförmig beschleunigten Bewegung enthalten ursprünglich nichts von der sinnlichen Beschaffenheit materieller Körper, sondern fixieren lediglich eine bestimmte Beziehung zwischen Raum- und Zeitgrößen, die gemäß einem ideellen Konstruktionsprinzip erzeugt und aufeinander bezogen sind. So können wir uns denn auch für die Aussprache des Trägheitsprinzips zunächst lediglich auf ein gedachtes Bezugssystem stützen, dem wir alle jene Bestimmungen zuschreiben, die hier erfordert sind. Wir erschaffen kraft begrifflicher Definitionen ein räumliches ,,Inertialsystem" und eine „Inertialzeitskala", und legen beide aller weiteren Betrachtung der Bewegungserscheinungen und ihrer wechselseitigen Beziehungen zugrunde*. So entfällt die Hypostasierung des absoluten Raumes und der absoluten Zeit zu transzendenten Dingen; zugleich aber bleiben beide als reine Funktionen bestehen, kraft deren erst eine exakte Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit möglich wird**. Die Festigkeit, die wir dem ursprünglichen und ein- heitlichen Bezugssystem zuschreiben müssen, ist keine sinnliche, sondern eine logische Eigenschaft; sie bedeutet, daß wir sie im Begriff festgelegt haben, um sie durch alle Umformungen der Rechnung hindurch als identisch und unveränderlich an- zusehen. Das ideelle Achsensystem, auf das wir hinblicken, genügt somit in der Tat der Grundforderung, die für das „Fundamental-Koordinatensystem" die Unabhängigkeit von
* Näheres über die mathematische Konstruktion des „Inertial- systems" bei Ludwig Lange, Die geschichthche Entwicklung des Bewegungsbegriffs, Wundts Phüos. Studien III, (1886), S. 390 ff., 677 ff. ** S. Erkenntnisproblem II, 344, 356 f., 559 ff. ; vgl. jetzt hierzu beson- ders die vortrefflichen Ausführungen von E d m. König, Kant xmd die Naturwissenschaft, Braunschweig 1907, S. 129 ff.
Cassirer, Substanzbeg^iff 16 241
allen äußeren Kräften verlangt: denn wie vermöchten Kräfte auf — Linien, auf rein geometrische Gebilde zu wirken? Indem wir diese Linien in unserer gedanklichen Abstraktion als schlechthin konstant betrachten, entwickeln wir hieraus ein allgemeines gesetzliches Schema für mögliche räumliche Veränderungen überhaupt. Ob dieses Schema auf die Wirk- lichkeit der physischen Dinge und Vorgänge anwendbar ist, vermag freilich zuletzt nur die Erfahrung zu lehren. Aber auch hier ist es niemals möglich, die Grundhypothesen zu isolieren und sie einzeln in konkreten Wahrnehmungen als gültig aufzuzeigen, sondern wir können immer nur mittelbar in dem gesamten Verknüpfungszusammenhang, den sie zwischen den Phänomenen herstellen, ihr Recht aufweisen. (S. oben, S. 193 ff.) Wir entwickeln rein theoretisch die Bestimmungen der „Inertialsysteme", und die mathematischen Folgerungen, die sich an sie anschließen. Soweit irgendein empirisch ge- gebener Körper sich diesen Bestimmungen gemäß zu verhalten scheint, sprechen wir auch ihm „absolute!' Ruhe und absolute Festigkeit zu: d. h. wir behaupten, daß ein sich selbst über- lassener materieller Punkt sich in bezug auf ihn geradlinig und gleichförmig bewegen müsse. Aber wir sind uns zugleich darüber klar, daß diese Forderung in der Erfahrung niemals exakt, sondern stets nur in bestimmter Annäherung erfüllt sein kann. So wenig es eine wirkliche Gerade gibt, die alle Eigenschaften des reinen geometrischen Begriffs erfüllt, so wenig gibt es einen wirklichen Körper, der in allen Stücken der mechanischen Definition des Inertialsystems entspricht. So bleibt stets die Möglichkeit offen, durch die Wahl eines neuen Bezugspunktes eine nähere und genauere Überein- stimmung zwischen dem System der Beobachtungen und dem System der deduktiven Schlußfolgerungen herzustellen. Diese Relativität ist es, die freilich unabweislich ist: denn sie liegt im Begriff des Erfahrungs- Gegenstands selbst. Sie ist der Ausdruck des notwendigen Abstandes, der zwischen den exakten gedanklichen Gesetzen, die wir formulieren, und ihrer empirischen Erfüllung bestehen bleibt. Daß irgendein System gegebener Körper — wie etwa das System der Fixsterne — in Ruhe ist, das bedeutet somit nicht eine Tatsache, die sich
242
direkt durch Wahrnehmung oder Messung feststellen läßt, sondern es besagt, daß hier in der Körperwelt ein Paradigma für bestimmte Grund- und Lehrsätze der reinen Mechanik gefunden ist, an welchem sie sich gleichsam anschaulich demonstrieren und darstellen lassen. Der Fixsternhimmel steht mit den bewegten Körpern der Wirklichkeit in Be- ziehungen, die sich dem Zusammenhang dieser Sätze völlig einordnen und in ihm einen erschöpfenden Ausdruck finden. Der einzelne materielle Anknüpfungspunkt, an den wir gleichsam unsere Bewegungsgleichungen heften, mag sich daher verändern: die Grundrelation auf einen bestimmten Inbegriff von Gesetzen der Mechanik und Physik aber bleibt konstant. Analog ersetzen wir das nicht völlig genaue Zeit- maß, das die Sterntage uns darbieten, durch ein genaueres, indem wir uns auf das Gesetz der Erhaltung der Kraft, wie auf das Gravitationsgesetz stützen: als ,, absolut" exakt gilt uns diejenige Zeiteinheit, deren Anwendung uns gestattet, einerseits den Widerspruch gegen die theoretischen Forde- rungen des Energieprinzips, anderseits den Gegensatz zwischen dem nach dem Newtonschen Gesetz berechneten und dem tatsächlich beobachteten Wert der säkularen Beschleunigung des Mondes zu beseitigen*. So bleibt freilich auch den physi- kalischen Begriffen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit eine Beziehung anhaften. Die Bedeutung dieser Begriffe besteht nicht darin, daß sie jegliche Relation abstreifen, sondern darin, daß sie den notwendig geforderten Bezugs- punkt vom Materiellen ins Ideelle verlegen. Das System, auf das wir hinblicken und an dem wir unsere gedankliche Orientierung suchen, ist kein einzelner, wahrnehmbarer Körper, sondern ein Inbegriff theoretischer und empiri- scher Regeln, von dem die konkrete Gesamtheit der Phänomene als abhängig gedacht wird.
Diese Bedeutung der Grundbegriffe des absoluten Raumes und der absoluten Zeit ist bereits von Leibniz in ihren all- gemeinen Zügen festgestellt worden. Ihm sind beide Begriffe nur ein anderer Ausdruck für die durchgängige örtliche und
* S. H. Poincare, La mesiire du temps (vgl. oben, S. 192 f.).
16* 243
zeitliche Bestimmtheit, die wir für alles Sein und Geschehen fordern müssen. Diese Bestimmtheit muß ver- langt werden, auch wenn es keinen streng gleichförmigen Ablauf irgendeines tatsächlichen Naturereignisses, noch irgend- einen festen und unbeweglichen Körper im Weltall gibt. Sie ist theoretisch stets erreichbar: denn man kann stets die ungleichförmigen Bewegungen, deren Gesetz man kennt, auf gedachte gleichförmige Bewegungen beziehen und auf Grund dieses Verfahrens die Folgen der Verknüpfung ver- schiedener Bewegungen vorausberechnen*. Das Verhältnis zwischen Theorie und Erfahrung, das hier angenommen wird, hat in der neueren Zeit seine prägnanteste Ausprägung in Heinrich Hertz' System der Mechanik gefunden. Die Darstellung von Hertz nimmt Raum und Zeit zunächst lediglich in dem Sinne, in dem sie sich der „innerenAnschauung** darbieten. Die Aussagen, die von ihnen gemacht werden, sind ,, Urteile a priori im Sinne Kants"; jede Berufung auf die Erfahrung an sinnlich wahrnehmbaren Körpern bleibt ihnen fremd. Erst im zweiten 'Buch, in welchem von der Geometrie und Kinematik zur Mechanik der materiellen Systeme übergegangen wird, werden die Zeiten, Räume und Massen als Zeichen äußerer empirischer Gegenstände gedacht, deren Eigenschaften indessen den Eigenschaften nicht widersprechen dürfen, die wir zuvor den gleichbenannten Größen als Formen unserer inneren Anschauung oder durch Definition beigelegt hatten. „Unsere Aussagen über die Be- ziehungen zwischen Zeiten, Räumen und Massen sollen daher nicht mehr allein den Ansprüchen unseres Geistes genügen, sondern sie sollen zugleich auch möglichen, insbesondere zu- künftigen Erfahrungen entsprechen. Diese Aussagen stützen sich daher auch nicht mehr allein auf die Gesetze unserer An- schauung und unseres Denkens, sondern außerdem auf vor- angegangene Erfahrung." Indem wir nämlich innerhalb jedes Gebiets feste Maßeinheiten zugrunde legen, nach denen wir die empirischen Räume, Zeiten und Massen miteinander ver- gleichen, gewinnen wir damit ein allgemeines Prinzip der Zu-
* Leibniz, Nouveaux Essais, Livr. II, chap. 1 4.
844
Ordnung, kraft dessen wir nunmehr den konkreten sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen bestimmte mathema- tische Symbole eindeutig entsprechen lassen und damit die gegebenen Eindrücke in die Zeichensprache unseres inneren gedanklichen Bildes übertragen. Die Unbestimmtheiten, die diesen Festsetzungen der letzten Einheitsmaße notwendig anhaften, sind nicht Unbestimmtheiten unserer Bilder, auch nicht unserer Abbildungs- und Korrelationsgesetze, sondern es sind Unbestimmtheiten der abzubildenden äußeren Erfahrung selbst. „Wir wollen damit sagen, daß wir durch tatsächliche Bestimmung mit Hilfe unserer Sinne doch keine Zeit genauer festlegen können, als sie sich messen läßt mit Hilfe der besten Chronometer, keine Lage genauer, als sie sich beziehen läßt auf ein mit dem entfernteren Fixsternhimmel ruhendes Koordinatensystem, keine Masse genauer, als die besten Wagen sie uns liefern*." Während also bei den Gebilden, die aus den Gesetzen der Anschauung und des Denkens von uns er- zeugt sind, die vollkommene Fixierung aller Elemente erreicht ist, ist sie im Gebiet der empirischen Erscheinungen lediglich gefordert. Wir messen die ,, Wirklichkeit" unserer Erfahrungen beständig an der ,, Wahrheit" unserer abstrakten dynamischen Begriffe und Grundsätze. Die Weltordnung, die wir unter der Voraussetzung der Ruhe des Fixsternhimmels konstruieren, ist uns die wahre Ordnung der Dinge, sofern alle tatsächlich beobachtbaren Bewegungen in bezug auf dieses Grundsystem bisher stets in höchster Annäherung den Axiomen entsprachen, durch welche die Mechanik den Begriff der ,, absoluten Be- wegung" charakterisiert. Sollte einmal diese Bedingung sich nicht mehr erfüllt zeigen, was wir durchaus als möglichen Fall in den Kreis unserer Berechnungen und Voraussetzungen aufnehmen müssen, so würden diese Axiome, so würde also das Ideal, nach welchem die Konstruktion erfolgt ist, in seinem Sinn völlig unversehrt bleiben; nur seine empirische Ver- wirklichung wäre an eine andere Stelle gerückt.
Der absolute Raum ist daher — wenn darunter nicht der abstrakte Raum der Mechanik, sondern die eindeutig be-
* Heinrich Hertz, Die Prinzipien der Mechanik, S. 53 ff., S. 157 ff.
245
stimmte Ordnung der Körperwelt selbst bezeichnet wird — allerdings niemals endgültig gegeben, sondern stets nur ge- sucht. Aber hierin liegt keine Minderung seiner objektiven Bedeutung für unsere Erkenntnis: denn auch der relative Raum bedeutet, wie sich bei schärferer Analyse zeigt, niemals eine Gegebenheit im Sinne eines dogmatischen ,, Positivismus". Auch wenn wir irgendwelche körperliche Massen in ihren wechselseitigen Lagen und ihren relativen Abständen betrachten, sind wir damit über die Grenzen der sinnlichen Eindrücke bereits hinausgeschritten. Wenn wir von „Distanz" sprechen, so meinen wir damit streng genommen kein Ver- hältnis zwischen sinnlichen Körpern, da diese, je nachdem man den einen oder anderen Punkt ihres Volumens zum Ausgangspunkt der Messung nimmt, ja sehr verschiedene Entfernungen untereinander besitzen können. Um hier zu einem eindeutigen geometrischen Sinne zu gelangen, müssen wir vielmehr an die Stelle einer Beziehung von Körpern eine Beziehung zwischen Punkten setzen, indem wir etwa die Gesamtmasse der Körper auf die Schwerpunkte reduziert denken. Wir müssen somit die direkte empirische Anschauung bereits vermittels der reinen geometrischen Grenzbegriffe geformt und umgestaltet haben, um auch nur über die relative Lage zweier materieller Systeme eine völlig sichere Aussage machen zu können. Die positivistischen Bedenken gegen den , .reinen" Raum und die „reine" Zeit der Mechanik beweisen daher nichts, weil sie zu viel beweisen würden: sie müßten, konsequent zu Ende gedacht, auch jede Darstellung physisch gegebener Körper in einem geometrischen System, in welchem es feste Lagen und Entfernungen gibt, verwehren. Der physische Raum der Körper bedeutet eben keine getrennte Wesenheit, sondern ist erst kraft des geometrischen Raumes der Linien und Abstände möglich. Auch für dieses Verhältnis hat L e i b n i z ein besonders treffendes und prägnantes Wort geprägt. Es ist freilich richtig — so führt er aus — daß im Begriff des Körpers mehr gesetzt ist, als im Begriff des bloßen Raumes; aber es folgt hieraus nicht, daß die Ausdehnung, die wir an den Körpern wahrnehmen, von der idealen Aus- dehnung der Geometrie in irgendwelchen Bestimmungen ver-
246
schieden sei. Auch die Zahl ist etwas anderes als der Inbegriff gezählter Dinge, während doch die Vielheit als solche stets ein und dasselbe bedeutet, gleichviel ob wir sie rein begrifflich definieren oder sie uns in irgendeinem konkreten Beispiel ver- anschaulichen. ,,In demselben Sinne kann man auch sagen, daß man sich nicht zwei Arten der Ausdehnung: die abstrakte des Raumes und die konkrete der Körper vorzustellen hat: denn das Konkrete empfängt seine Beschaffenheit erst durch das Abstrakte*." Wir zeichnen die Daten der Erfahrung in unser konstruktives Schema ein und gewinnen damit ein Bild der physischen Wirklichkeit: aber dieses Bild bleibt dennoch immer Entwurf, nicht Kopie des Seins und erhält sich daher beständig wandlungsfähig, wenngleich seine Hauptzüge durch die Begriffe der Geometrie und Phoronomie feststehen.
Freilich scheint, wenn wir in dieser Weise unsere Aussagen über Wirklichkeit auf vorangegangene Kon- struktionen begründen, damit zugleich ein Moment der Willkür in unsere wissenschaftliche Betrachtung zu- gelassen. Man hat diesen Schluß tatsächlich gezogen, indem man die Begriffe des ,,Inertialsystems" und der „Inertial- zeitskala" als bloße Konventionen bezeichnet hat, die wir zum Zweck der leichteren Übersicht über die Tat- sachen einführen, die aber in keinem empirischen Faktum selbst ein unmittelbar objektives Korrelat besitzen**. In einer Untersuchung über die Bedingungen der Zeitmessung hat sodann P o i n c a r 6 die allgemeine Folgerung hieraus in aller Entschiedenheit gezogen. Wenn wir irgendeine Natur- erscheinung als absolut gleichförmig erklären und alle anderen an ihr messen, so sind wir in unserer Wahl niemals von außen schlechthin bestimmt und gezwungen: kein Zeitmaß ist wahrer als irgendein beliebiges andere, sondern alles, was wir zu seiner Begründung anführen können, beschränkt sich darauf, daß es bequemer ist. Die Frage, die hiermit aufgeworfen ist, läßt indes im Zusammenhang der bisherigen Untersuchung
* S. Leibniz, Nouveaux Essais, Livr. II, Chap. 4. ** Vgl. Ludwig Lange , a. a. O.; s. auch den Aufs.: Das Inertial- Bystem vor dem Forum der Naturforschung, Philoe. Studien, Bd. II.
247
noch keine endgültige Antwort zu; denn sie greift vom Bereich der Wissenschaft in ein methodisch fremdes Gebiet über. Die Wissenschaft besitzt kein höheres Kriterium der Wahrheit und kann kein anderes besitzen, als die Einheit und Geschlossen- heit im systematischen Aufbau der Gesamterfahrung. Jede andere Fassung des Gegenstandsbegriffs liegt außerhalb ihres Bereichs; sie müßte sich selbst ,,transzendieren", um auch nur das Problem einer andersartigen Gegenständlichkeit in Gedanken fassen zu können. Die Scheidung zwischen einer „absoluten" Wahrheit des Seins und einer „relativen" Wahr- heit der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Trennung zwischen dem, was vom Standpunkt unserer Begriffe und dem, was an sich selbst durch die Natur der Sache notwendig ist, bedeutet selbst bereits eine metaphysische Satzung, die, ehe sie als Maßstab gebraucht werden kann, auf ihr Recht und ihre Geltung zu prüfen ist. Die Bezeichnung der ideellen begrifflichen Schöpfungen als ,, Konventionen" hat somit zu- nächst nur eine verständliche Bedeutung: sie enthält den Hinweis und die Anerkennung, daß der Gedanke sich in ihnen nicht lediglich aufnehmend und nachbildend verhält, sondern eine eigentümliche und ursprüngliche Selbsttätigkeit entfaltet. Diese Selbsttätigkeit ist indessen keineswegs unbeschränkt und zügellos: denn ihre Bindung ist, wenngleich nicht in einer einzelnen Wahrnehmung, so doch im System der Wahrnehmungen, in ihrer Ordnung und ihrem Zusammenhang, gegeben. Diese Ordnung ist freilich niemals in einem einzigen Begriffssystem, das jede andere Wahl aus- schließt, festzulegen, sondern läßt stets verschiedenen Möglich- keiten der Darstellung Raum: aber eben indem unsere ge- dankliche Konstruktion sich erweitert und neue Momente in sich aufnimmt, zeigt es sich, daß sie hierbei nicht nach Willkür verfährt, sondern ein bestimmtes Gesetz des Fortschritts befolgt. Dieses Gesetz bleibt das letzte erreichbare Kriterium der ,, Objektivität"; denn es verbürgt uns, daß in dem Weltbild der Physik, dem wir auf diesem Wege zustreben, alle Zufällig- keiten der Beurteilung, wie sie sich vom subjektiven Stand- punkt des einzelnen Beobachters aus unausweichlich ergeben, mehr und mehr ausgeschaltet werden, und daß an ihre Stelle
248
diejenige Notwendigkeit tritt, die allgemein den Kern des Objektbegriffs selbst ausmacht*.
VIT.
Raum und Zeit, so unentbehrlich sie zum Aufbau der empirischen Wirklichkeit sind, gelten dennoch nur als die allgemeinen Formen, in denen diese sich darstellt. Sie sind die fundamentalen Ordnungen, in welche sich das Reale einfügt, aber sie bestimmen nicht den Begriff des Realen selbst. Um die an und für sich leeren Formen mit konkretem Inhalt zu erfüllen, bedarf es eines neuen Prinzips. Von Demo- krits Begriff der Materie an, die als das 7tafj.7tXrJQEi ov dem leeren Raum entgegengesetzt ist, ist dieses Prinzip in ver- schiedene Bezeichnungen zu fassen versucht worden, bis es seine abschließende logische Fixierung in dem modernen Ge- danken der Energie gefunden hat. Hier scheinen wir zum ersten Mal auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen; hier tritt uns ein Sein entgegen, das alle Bedingungen wahrhafter und unabhängiger Existenz erfüllt, indem es sich unzerstörlich und ewig erhält. So ist es denn in der Tat, neben allen spezifisch physikalischen Gründen, ein erkenntnistheoreti- scher Vorzug, den die Energetik für sich in Anspruch nimmt. Das Atom und die Materie, die für die ältere Naturwissenschaft den eigentlichen Typus des Objektiven aus- machen, gehen dennoch bei schärferer Zergliederung der Daten und Bedingungen unserer Erkenntnis in bloßen Abstraktionen auf. Sie sind Begriffsmarken, die wir unseren Eindrücken an- heften, die sich aber an realer Bedeutung niemals mit der unmittelbaren Empfindung selbst messen können. In der Energie erst erfassen wir das Wirkliche, weil das Wir- kende selbst. Hier schiebt sich kein bloßes Symbol mehr zwischen uns und die physischen Dinge; hier befinden wir uns nicht mehr im Gebiet des bloßen Denkens, sondern im Gebiet des Seins. Und wir brauchen, um dieses letzte Sein zu ergreifen, keinen Umweg über komplizierte mathematische Hypothesen mehr, sondern es offenbart sich uns direkt und un-
Vgl. hierzu später Kap, VI und VII.
249
gesucht in der Wahrnehmung selbst. Was wir empfinden, ist ja in Wahrheit nicht die rätselhafte, an sich völlig un- bestimmte Materie, die wir als „Träger" der sinnlichen Eigen- schaften voraussetzen, sondern es sind die konkreten Ein- wirkungen, die von den Außendingen auf uns geübt werden. „Was wir sehen, ist nichts als die strahlende Energie, welche auf der Netzhaut unseres Auges chemische Arbeiten bewirkt, die als Licht empfunden werden. Wenn wir einen festen Körper tasten, so empfinden wir die mechanische Arbeit, die bei der Zusammendrückung unserer Fingerspitzen und gegebenenfalls auch der des getasteten Körpers verbraucht wird. Riechen und Schmecken beruhen auf chemi- schen Arbeitsleistungen, die in den Organen der Nase und des Mundes stattfinden. Überall sind es Energien oder Arbeiten, deren Betätigung uns davon Kunde gibt, wie die Außenwelt geordnet ist, und welche Eigenschaften sie hat, und die Ge- samtheit der Natur erscheint uns unter diesem Gesichtspunkte als eine Austeilung räumlich und zeitlich veränderlicher Energieen in Raum und Zeit, von der wir in dem Maße Kenntnis erhalten, als diese Energieen auf unsern Körper, insbesondere auf die für den Empfang bestimmter Energieen ausgebildeten Sinnesorgane übergehen.*" Das „Ding" als ein passives und gleichgültiges Substrat der Eigenschaften ist somit jetzt be- seitigt. Der Gegenstand i s t das, als was er sich uns allein gibt: eine Summe tatsächlicher und möglicher Wirkungsweisen. Mit diesem Gedanken ist allerdings eine Bestimmung, die rein der philosophischen Reflexion angehört, in die Grundlagen des naturwissenschaftlichen Denkens aufgenommen; aber damit ist zugleich deren Leistung begrenzt und erschöpft. Fortan können alle bloß spekulativen Gesichtspunkte um so strenger ausgeschlossen und die Betrachtung lediglich auf die Wieder- gabe des empirisch Tatsächlichen beschränkt werden. Je reiner diese Aufgabe erfüllt wird, um so klarer erblicken wir, ohne alle abstrakten und begrifflichen Hüllen, nunmehr die Urrealität selbst.
Ein Bedenken freilich muß sich sogleich gegen diese Auffassung erheben. Gleichviel welche physikalischen Vorzüge
* Ostwald, Vorles. über Naturphilosophie, S. 159 f.
250
der Begriff der Energie vor dem der Materie und des Atoms besitzen mag: logisch stehen jedenfalls beide auf derselben Stufe und gehören der gleichen Sphäre der Betrachtung an. Dies bekundet sich vor allem negativ in dem gleichen Abstand, den beide gegenüber dem Sinnlich- Gegebenen bewahren. Daß „Energieen" gesehen oder gehört werden können: dieser Ge- danke ist offenbar nicht weniger naiv, als der Gedanke, daß die „Materie" der theoretischen Physik sich direkt tasten und mit Händen greifen lasse. Was uns gegeben ist, sind qualitative Unterschiede des Empfindungsinhalts: des Warmen und Kalten, des Hellen und Dunkeln, des Süßen und Bittern; nicht aber die numerischen Differenzen von Arbeitsgrößen. Indem wir die Empfindungen auf derartige Größen und ihren wechselseitigen Ausgleich zurückdeuten, haben wir daher an ihnen genau die gleiche Umsetzung in eine, ihnen fremde Sprache vollzogen, die die Energetik der mechanischen Weltanschauung zum Vorwurf macht. Eine Wahrnehmung messen heißt bereits sie in eine andere Form des Seins um- prägen; heißt bereits, mit bestimmten theoretischen Voraus- setzungen des Urteils an sie herantreten (s. S. 187 ff.). Der Vorzug, den die Energetik hier vor der Mechanik behaupten könnte, kann also niemals darin bestehen, daß sie sich dieser Voraussetzungen enthält, sondern daß sie sie klarer und schärfer in ihrer logischen Bedingtheit durchschaut. Nicht darum kann es sich handeln, die „Hypothese" gänzlich auszuschalten, sondern nur darum, sie nicht mehr — gleich dem dogmatischen Materialismus — in eine absolute Beschaffenheit der Dinge umzudeuten.
Faßt man die Aufgabe in dieser Weise, so zeigt es sich in der Tat, daß die Energetik von Anfang an ein Motiv in sich enthält, das sie, mehr als jede andere physikalische An- schauung, vor der Gefahr der unmittelbaren Verdinglichung der abstrakten Prinzipien zu bewahren vermag. Ihr Grund- gedanke geht, erkenntnistheoretisch betrachtet, nicht in erster Linie auf den Begriff des Raumes, sondern auf den der Zahl zurück. Zahlenwerte und Zahlenverhältnisse sind es, auf die hier die theoretische wie die experimentelle Beobachtung gleichmäßig eingestellt sind und in denen der
251
eigentliche Kern des Grundgesetzes besteht. Die Zahl aber kann, wenn man nicht zur Mystik des Pythagoreismus zurück- kehren will, nicht wohl als Substanz mißverstanden werden, sondern sie bezeichnet lediglich einen allgemeinen Gesichtspunkt, durch welchen wir das sinnlich Mannigfaltige im B e g r i f f als einheitlich und gleichartig setzen. Die Entwicklung des Energiegedankens bietet ein konkretes physikalisches Beispiel für diesen allgemeinen Erkenntnis- prozeß. Wir sahen, daß der erste Schritt der mathematischen Objektivierung des Gegebenen darin bestand, es unter be- stimmte Reihenbegriffe zu fassen. Erst indem es in diesem Sinne „festgestellt** wird, indem ihm ein eindeutiger Platz in einer nach irgendeinem Gesichtspunkt geordneten und ab- gestuften Mannigfaltigkeit zugewiesen wird, wird das Ge- gebene damit zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung. Aber die eigentliche Aufgabe der Naturerkenntnis ist damit noch nicht erschöpft, ja prinzipiell noch nicht in Angriff ge- nommen. Die Einbeziehung des Sinnlich-Mannigfaltigen in Reihen von rein mathematischem Aufbau bleibt solange unzureichend, als diese Reihen selbst noch gesondert nebeneinander stehen. Solange dies der Fall ist, ist das ,,Ding** der populären Erfahrung selbst noch nicht vollständig in seinem logischen Bestand begriffen. Es ist nicht genug, wenn wir jede einzelne physikalische und chemische Eigen- schaft in einem reinen Zahlenwert zum Ausdruck bringen und den Gegenstand als ein Ganzes derartiger „Parameter" dar- stellen. Denn das Objekt will mehr sein, als eine bloße Summe von Eigenschaften; es will die Einheit der Eigenschaften und somit ihre wechselseitige Bedingtheit und Abhängigkeit bedeuten. Soll diese Forderung in der Wissenschaft ihren adäquaten Ausdruck finden, so muß nach einem Prinzip gefragt werden, das uns gestattet, die verschiedenen Gesamt- reihen, in die wir den Inhalt des Gegebenen zunächst geordnet haben, wiederum untereinander durch ein einheitliches Gesetz zu verknüpfen. Wärme, Bewegung, Elektrizität, chemische Verwandtschaft bezeichnen zunächst nur gewisse abstrakte Typen, auf die wir das Ganze unserer Wahrneh- mungen beziehen. Um von ihnen wiederum zu einer Dar-
252 f
Stellung des realen Vorgangs selbst zu gelangen, bedarf es einer durchgängigen Vermittlung, kraft deren alle diese ver- schiedenen Gebiete wiederum zu Gliedern eines übergeordneten Systems werden.
Von diesem Punkte aus läßt sich sogleich die allgemeine Bedeutung und Leistung des Grundgedankens der Energetik überblicken. Der Aufbau der mathematischen Physik ist im Prinzip vollendet, wenn es gelingt, ebenso wie wir die Glieder der Einzelreihen gemäß einer exakten numerischen Skala geordnet haben, auch eine konstante zahlenmäßige Beziehung zu entdecken, die den Übergang von einer Reihe zur andern regelt. Erst wenn dies geschehen, ist der Weg von jedem Glied zu jedem andern, gleichviel welcher Reihe es an- gehören mag, bestimmt und durch feste Regeln der Ab- leitung vorgeschrieben. Nun erst zeigt es sich, wie in der Tat die Fäden des mathematischen Zusammenhangs des Ge- schehens allseitig geknüpft sind, so daß kein Element ohne Ver- bindung bleibt. Diese Beziehung wird empirisch zunächst an dem Verhältnis der Äquivalenz von Bewegung und Wärme festgestellt; aber sie greift, einmal ermittelt, sogleich über diesen ersten Ansatz hinaus. Der Gedanke erstreckt sich als allgemeine Forderung alsbald auf die Allheit der mög- lichen physischen Mannigfaltigkeiten überhaupt. Das Energie- gesetz enthält die Anweisung, jedem Glied einer Mannig- faltigkeit ein und nur ein Glied in einer beliebigen anderen zuzuordnen, sofern jedem ,, Quantum" der Bewegung ein Quantum der Wärme, jedem Quantum der Elektrizität ein Quantum chemischer Verwandtschaft entspricht usf. Im Maßbegriff der Arbeit sind alle diese Größenbestimmungen auf einen gemeinsamen Nenner bezogen. Ist aber einmal ein derartiger Zusammenhang festgestellt, so läßt sich nun- mehr jeder numerische Unterschied, den wir innerhalb der einen Reihe finden, in den zugehörigen Werten irgendeiner anderen Reihe vollständig ausdrücken und wiedergeben. Die Vergleichseinheit, die wir hierfür zugrunde legen, kann beliebig wechseln, ohne daß das Ergebnis dadurch berührt würde. Sind zwei Elemente eines Gebiets insofern einander gleich, als ihnen in irgendeiner Reihe physischer Quali-
253
täten derselbe Betrag der Wirkung entspricht, so muß diese Gleichheit aufrecht erhalten bleiben, auch wenn man zum Zweck ihrer zahlenmäßigen Vergleichung auf eine beliebige andere Reihe übergeht. In dieser Forderung erschöpft sich bereits der wesentliche Inhalt des Erhaltungsprin- zips: denn jede Arbeitsgröße, die „aus Nichts" entstände, würde das Prinzip der wechselseitig eindeutigen Zu- ordnung aller Reihen durchbrechen. Will man den Zu- sammenhang schematisch darstellen, so haben wir hier eine Anzahl von Reihen A, B, C, deren Glieder aia^^z- - - ^n» bj bj b, ... bn, Ci Cj Cj ... Cn in einem bestimmten physikali- schen Austauschverhältnis stehen, derart, daß irgendein Glied von A durch ein bestimmtes anderes in B oder C ersetzt werden kann, ohne daß die Wirkungs- fähigkeit des betreffenden physikalischen Systems, in dem dieser Ersatz vorgenommen wurde, dadurch geändert wird. Dieses Verhältnis der möglichen Substitution be- zeichnen wir kurz damit, daß wir nicht jedem Einzelglied stets die ganze Fülle der entsprechenden Äquivalente zu- ordnen, sondern daß wir ihm ein für allemal einen bestimmten Wert ,,der" Energie zusprechen, der alle diese Zuordnungen in einen einzigen prägnanten Ausdruck zusammenfaßt. Wir messen die verschiedenen Systeme nicht direkt an und in- einander, sondern erschaffen zu diesem Zwecke eine ge- meinsame Vergleichsreihe, auf die sie gleich- mäßig bezogen werden. Daß wir für diese Vergleichsreihe herkömmlicher Weise die mechanische Arbeit wählen, ist vor allem in technischen Umständen begründet, da die Um- setzung der verschiedenen ,, Energiearten" in diese Grundform relativ leicht ausführbar und exakt meßbar ist; an und für sich aber könnte jede beliebige Einzelreihe als Ausdruck für die Gesamtheit der möglichen Relationen zugrunde gelegt werden. In jedem Falle zeigt es sich, daß die Energie in dieser Form der Ableitung nirgends als ein neues Ding, sondern als ein einheitliches Bezugssystem erscheint, daß wir der Messung zugrunde legen. Alles was sich von ihr mit wissenschaftlichem Grund und Recht aussagen läßt, erschöpft sich in den quantitativen Beziehungen der Äquivalenz, die
254
zwischen den verschiedenen Gebieten der Physik obwalten. Die Energie tritt nicht als ein neues gegenständliches Etwas den schon bekannten physischen Inhalten, wie Licht und Wärme, Elektrizität und Magnetismus, zur Seite, sondern sie bedeutet lediglich eine objektiv gesetzmäßige Korrelation, in welcher alle diese Inhalte stehen. Ihr eigentlicher Sinn und ihre Funktion liegt in den Gleichungen, die sie zwischen verschiedenartigen Gruppen von Vorgängen herstellen lehrt. Es wäre die gleiche dogmatische Verwechslung, die die Energe- tik dem Materialismus vorwirft, wenn man das Prinzip, das die eindeutige quantitative Zuordnung der Gesamtheit der Phä- nomene fordert, selbst in die Form eines Einzeldinges, ja in die Form ,,des" Dinges, der einen allumfassenden Substanz kleiden wollte. Die Wissenschaft zum mindesten weiß von einer solchen substantiellen Umformung nichts und vermag sie nicht zu verstehen. Die I d e n t i t ät , zu der auch sie hinstrebt und zu der sie die verstreuten Einzel- phänomene verknüpft, hat ihr stets die Form eines obersten mathematischen Gesetzes, nicht aber eines allumfassenden und somit im letzten Grunde eigenschafts- und bestimmungs- losen Gegenstandes, Die Energie als Einzelding gefaßt, wäre ein Etwas, das zugleich Bewegung und Wärme, Magnetismus und Elektrizität und doch auch nichts von dem allen wäre; während sie als Prinzip nichts anderes als einen gedanklichen Gesichtspunkt bezeichnet, nach welchem alle diese Phänomene meßbar werden und sich somit bei aller sinnlichen Verschiedenheit ein und demselben Verknüpfungs- zusammenhang einfügen.
An diesem Punkte, an welchem wir mitten in den natur- philosophischen Streitfragen der Gegenwart stehen, drängt sich indessen zugleich eine allgemeine logische Be- merkung auf. So paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag, so macht sich selbst hier, wo die Betrachtung völlig den Tatsachen hingegeben scheint, die Nachwirkung all- gemeiner logischer Theorien geltend. Ob man die Energie als Substanz oder aber als den Ausdruck einer kausalen Relation begreift, das hängt schließlich von der allge- meinen Vorstellung ab, die man sich vom Wesen der natur-
255
wissenschaftlichen Begriffsbildung überhaupt macht. So frei der physikalische Forscher hier der Natur selbst gegenüberzustehen meint, so läßt sich dennoch zeigen, daß auch im Aufbau und in der Fassung der Energetik Motive wirksam gewesen sind, die ihren eigentlichen Ursprung in bestimmten ,, formalen" Grundüberzeugungen haben. Man erkennt an dieser Stelle von neuem, wie tief die Probleme der „Form" in die der „Materie" eindringen und wie nachhaltig hier ihr Einfluß bleibt. Zwei verschiedene Grundansichten waren es, die am Problem des Begriffs einander gegen- überstanden. Die eine, die in der traditionellen Logik herr- schend geblieben ist, stützt den Begriff auf das Verfahren der Abstraktion: d. h. auf die Herauslösung eines identischen oder ähnlichen Bestandteils aus einer Mehrheit gleichartiger Wahr- nehmungen. Der Inhalt, der auf diese Weise gewonnen wird, ist streng genommen von der gleichen Beschaffenheit und Natur, wie die Gegenstände selbst, von denen er abgelöst ist: er bezeichnet eine Eigenschaft, die zwar im allgemeinen nicht isoliert besteht, die aber doch an diesen Gegenständen stets als ein Teilmoment von ihnen aufweisbar ist und somit hier ein konkretes Dasein besitzt. Der Begriff ist danach die „Vorstellung vom Gemeinsamen" : er ist die Zusammenfassung derjenigen Einzelzüge, die bestimmten Klassen von Objekten gleichmäßig zukommen. Dieser Auffassung trat indessen eine andere gegenüber, die sich vor allem auf die Analyse der mathematischen Begriffe stützte. Hier wurde nicht darauf ausgegangen, das Gegebene durch Vergleichung in Klassen zu scheiden, deren einzelne Exemplare sämtlich in bestimmten Merkmalen übereinkommen, sondern es durch ein gesetzliches Verfahren aus einer ursprünglichen Einheits- setzung erst aufzubauen; hier wurden nicht sowohl einzelne seiner Teile abgetrennt und herausgehoben, als vielmehr die Zusammenhänge und Beziehungen, auf denen seine systematische Verknüpfung beruht, in ihrer eigentüm- lichen Relations-Struktur untersucht. (Vgl. oben bes. S. 18 ff. und 107 ff.) Die Bedeutung dieses Gegensatzes zeigt sich jetzt von einer neuen Seite: denn er ist es, der sich noch in der modernen Diskussion über den Sinn und die Formulierung des
256
Energieprinzips deutlich bemerkbar macht. R a n k i n e , der zuerst den Namen und den Begriff einer allgemeinen „Energetik" geschaffen hat, geht in der Abhandlung, die der ersten Begründung des neuen Gedankens gewidmet ist, von rein methodischen Betrachtungen aus. Die Physik ist, wie er ausführt, von den rein abstrakten Wissen- schaften, wie etwa der Geometrie, dadurch charakteristisch unterschieden, daß die Definitionen, die wir der Entwicklung einer abstrakten Wissenschaft zugrunde legen, nicht not- wendig irgend welchen existierenden Dingen entsprechen und die Theoreme, die wir aus ihnen ableiten, somit nicht notwendig Gesetze realer Vorgänge und Phänomene sein müssen, während der echte naturwissenschaftliche Begriff nichts anderes sein will, als die Bezeichnung bestimmterEigenschaften, die einer Klasse wirklicher Objekte gemeinsam sind. Um solche Eigenschaften herauszulösen, gibt es im all- gemeinen einen doppelten Weg. Wir können einmal kraft einer rein ,,abstraktiven Methode" aus einer Mannigfaltigkeit gegebener Dinge oder Phänomene denjenigen Inbegriff von Bestimmungen absondern, der allen Gliedern der Klasse ge- meinsam ist und der ihnen in ihrer sinnlichen Erscheinung unmittelbar zukommt — oder aber hinter die Erscheinung selbst zu bestimmten Hypothesen zurückgehen, die uns die Erklärungsgründe für das betreffende physikalische Tatsachengebiet liefern sollen. Nur das erste Verfahren ent- spricht indes in aller Strenge den Forderungen der wissenschaft- lichen und philosophischen Kritik. Denn nur hier sind wir sicher, daß wir die Beobachtungen durch keine willkürliche Deutung verfälschen; nur hier bleiben wir rein im Gebiet der Tatsachen selbst stehen, die wir zwar in bestimmte Klassen gliedern und einteilen, denen wir aber keinen fremden Zug hinzufügen. Es ist der prinzipielle Vorzug der neuen Wissen- schaft der Energetik, daß sie sich von Anfang an lediglich dieses reinen abstraktiven Verfahrens bedient. Sie deutet die Erscheinung der Wärme nicht auf molekulare Bewegungen, die Erscheinung des Magnetismus nicht auf irgend ein hypo- thetisches Fluidum zurück, sondern sie faßt beide lediglich in die schlichte Form, in welcher sie sich der Wahrnehmung
Cassirer, Substanzbegriff 17 257
darbieten. „Statt die verschiedenen Klassen physikalischer Vorgänge in irgend einer dunklen Weise aus Bewegungen und Kräften zusammenzusetzen, wollen wir lediglich die Eigen- schaften hervorheben, die diese Klassen gemeinsam besitzen und auf diese Weise umfangreichere Klassen definieren, die wir durch passende Termini bezeichnen. Auf diese Weise werden wir schließlich zu einem Inbegriff von Prinzipien ge- langen, die auf alle physischen Erscheinungen überhaupt anwendbar sind und die, da sie lediglich induktiv aus den Tatsachen selbst abgeleitet sind, frei von der Ungewißheit sind, die selbst solchen mechanischen Hypothesen, deren Folge- rungen durch die Erfahrung bereits vollständig bestätigt erscheinen, beständig anhaftet."
Das erste Ergebnis, dem wir auf diesem Wege der Unter- suchung begegnen, ist der allgemeine Begriff der Energie selbst. Er bezeichnet nichts anderes, als die Fähigkeit, Veränderungen hervorzubringen: und diese Fähigkeit ist die allgemeinste Be- stimmung, die wir an den Körpern unserer Wahrnehmungs- welt noch unterscheiden können und ohne welche sie aufhören würden, für uns physische Phänomene zu sein. Gelingt es uns daher, bestimmte universelle Gesetze über diese Eigen- schaft zu entdecken, so müssen diese unter gehöriger Berück- sichtigung der besonderen Umstände anwendbar sein auf jeden Zweig der Physik überhaupt und ein System von Regeln darstellen, denen jedes Naturgeschehen als solches gehorcht*. Die Art, in der Rankine zur Aufstellung und Begründung dieser Regeln gelangt, geht lediglich die geschichtliche Ent- wicklung der Physik selbst an**: von allgemeinstem philoso- phischem Interesse aber ist die logische Form und Einkleidung, die er für seinen Gedanken wählt. Die Gesetze der Energie verdanken, wie man sieht, ihre Allgemeingültigkeit dem Um- stand, daß die dingliche Eigenschaft, die wir mit diesem Namen bezeichnet haben, überall im physischen
* Rankine, Outlines of the Science of Energetics. Proceedings of the Philosophical Society of Glasgow. Vol. III, London und Gleisgow 1855, S. 381 ff.
** Vgl. über Rankine bes. Helm, Die Energetik, S. 110 ff., sowie A. R e y , La Theorie de la Physique chez les Physiciens contemporains. Paris 1907, S. 49ff.
258
Universum verbreitet ist und jedem Körper als solchem irgendwie anhängt. Kein Teil der Realität vermag sich diesen Gesetzen zu entziehen, weil er als real nur durch eben dieses auszeichnende Merkmal gekennzeichnet ist. Diese Form der Ableitung bedingt somit bereits die allgemeine gedankliche Kategorie, unter welche hier die Energie gefaßt wird. Sie steht mit den wahrnehmbaren Dingen, deren wesentlichen Bestand sie ausmacht, prinzipiell auf der- selben Stufe; sie ist gleichsam die konkrete Dinglichkeit selbst: das eine unzerstörliche und ewige Sein. —
Vom Standpunkt der Erkenntnistheorie läßt sich freilich sogleich die Lücke aufweisen, die nicht sowohl in Rankines Physik, wie in seiner Methodenlehre zurückbleibt. Die all- gemeinste Eigenschaft, durch die nach ihm die Gegenstände der physischen Wirklichkeit ausgezeichnet sind, besteht in der Fähigkeit, Wirkungen zu erzeugen und Wirkungen zu empfangen. Die Dinge erhalten ihren eigentlich objektiven Charakter erst, indem sie zugleich als Glieder aktueller oder möglicher Kausalverhältnisse aufgefaßt werden. Gerade die vorurteilslose „abstraktive" Analyse aber, die Rankine als Ideal der echten Wissenschaft ansieht, lehrt zweifellos, daß Kausalität kein Merkmal ist, das an den Wahrnehmungen selbst als unmittelbarer Bestandteil auf- weisbar ist. Die rationalistische wie die empiristische Kritik kommen zum mindesten in dem einen Ergebnis überein, daß es keine direkten Impressionen gibt, die den Begriffen Ursache und Wirkung entsprechen. Ist somit die Abstraktion, wie sie hier verstanden wird, nur eine Sonderung und Gruppierung im Wahrnehmungsstoff selbst, so ist es klar, daß ihr gerade dasjenige Moment entgehen müßte, auf welches hier der Begriff der Energie gegründet wird. Und selbst wenn man zugestehen wollte, daß die „Wirkungsfähigkeit" der Körper eine Qualität an ihnen ist, die ihnen, wie jede andere sinnliche Beschaffenheit, wie ihre Farbe oder ihr Geruch anhaftet, so wäre damit das eigentliche Problem noch nicht bewältigt. Für den Aufbau der Energetik handelt es sich nicht darum, daß diese Wirkungsfähigkeit überhaupt kon- statierbar, sondern daß sie in exaktem Sinne meßbar
17* 259
ist. Sobald wir aber wiederum nach den Methoden fragen, durch die die zahlenmäßige Bestimmung dieser Fähig- keit ermöglicht wird, sehen wir uns damit wiederum auf einen Inbegriff gedanklicher Konzeptionen und Bedingungen zurückgewiesen, die, wie sich allseitig gezeigt hat, in dem rein abstraktiven Verfahren keine hinreichende Stütze finden. Die mathematische Grundlegung der Energetik schließt bereits wiederum alle jene Methoden der „Reihenbildung" in sich, die sich aus dem gewöhnlichen Gesichtspunkt der Abstraktion niemals erschöpfend begründen lassen.
Die moderne Logik hat allerdings an die Stelle des alten Abstraktionsprinzips ein neues gesetzt, das hier als geeignete formale Anknüpfung dienen könnte. Sie geht hierbei charakte- ristischer Weise nicht von Dingen und ihren gemeinsamen Eigenschaften, sondern von Beziehungen zwischen Begriffsgegenständen aus. Ist irgend eine symmetrische und transitive Relation R für eine Anzahl von Gliedern a, b, c ... definiert (so daß also aus der Beziehung a R b und b R c auch die Beziehungen b R a, c R b und a R c folgen*), so läßt sich der Zusammenhang, der auf diese Weise geschaffen ist, stets auch in der Art zum Ausdruck bringen, daß wir eine neue Wesenheit x einführen, die zu jedem Glied unserer an- fänglichen Reihe in einer bestimmten Beziehung R' steht. Die möglichen Verhältnisse zwischen den Reihengliedern lassen sich jetzt dadurch bezeichnen und darstellen, daß wir, statt die Glieder unmittelbar untereinander zu vergleichen, von jedem die Beziehung zu diesem x feststellen, also die Relationen aR'x, bR'x, cR'x .. bilden. Die Relation R' ist hierbei eine asymmetrische, viel-eindeutige Beziehung, so daß die Glieder a, b, c zu keinem anderen Term als x in der bezeichneten Relation stehen können, während x um- gekehrt mit mehreren Gliedern in der entsprechenden Be- ziehung R' stehen kann**. Ein Beispiel für dieses Verfahren besitzen wir etwa an demjenigen Verhältnis zwischen Reihen,
* Zum Begriff der transitiven und S3Tnmetri8chen Relation, s. oben, Cap. II.
* * Näheres hierüber bei Russell, Principles of Mathematics, S. 166, 219 ff. usw.
260
das wir als ihre „Ähnlichkeit" bezeichnen. Zwei Reihen 8 und s' heißen im ordinalen Sinne einander ähnlich, wenn zwischen ihnen eine gegenseitig eindeutige Beziehung derart besteht, daß zu jedem Glied von s ein Glied von s' gehört (und umgekehrt), und daß, wenn in der Folge s ein Glied x einem Glied y vorangeht, auch das Korrelat von x in s' (x') dem Korrelat von y (y') vorangeht. Hier besitzen wir eine symmetrische und transitive Relation, durch die eine Mehrheit von Reihen s, s' s" ... s^**^ usf. verbunden sein kann. Auf Grund dieser Relation erschaffen wir nunmehr, kraft des Prinzips der Abstraktion, einen neuen Begriff, den wir als den gemeinsamen Ordnungstypus aller dieser Reihen bezeichnen. Wir sprechen sämtlichen Reihen, die auf diese Weise miteinander verbunden sind, ein und dieselbe begriffliche Eigenschaft zu; wir ersetzen den Inbegriff der Zuordnungen durch die Annahme eines identi- schen Merkmals, das allen Reihen gleichmäßig anhaftet. Es ist indessen klar, daß wir damit nicht den Anspruch erheben, ein neues, an und für sich bestehendes Ding entdeckt zu haben, sondern daß damit nur ein gemeinsamer ideeller Bezugspunkt geschaffen ist, in Hinblick auf den wir nunmehr unsere Aussagen über die Verhältnisse der gegebenen Reihen prägnanter fassen und gleichsam zu einem einzigen, konzentrierten Urteilsausdruck verdichten können. Wenden wir nunmehr dieses Ergebnis auf die physika- lische Begriffsbildung an, so tritt einer der wesentlichen Züge des modernen Energiebegriffs sogleich deutlich hervor. Auch hier gehen wir zunächst von der Feststellung bestimmter Abhängigkeiten zwischen empirisch-physikalischen Reihen aus. Wir entdecken, daß Mannigfaltigkeiten, die zunächst ab- gesondert und unabhängig nebeneinander zu stehen scheinen, durch eine Beziehung der „Äquivalenz" miteinander ver- bunden sind, kraft deren einem Wert in der einen Reihe ein und nur ein Wert der anderen entspricht. Wir erweitern diesen Zusammenhang, indem wir immer mehr Gebiete des physischen Geschehens in den Kreis unserer Betrachtung ziehen, bis wir schließlich, auf Grund der Beobachtung und allgemeiner deduktiver Erwägungen, den Schluß ziehen,
261
daß immer, wenn irgendwelche beliebige Gruppen physika- lischer Erscheinungen gegeben sind, zwischen ihnen bestimmte Äquivalenzverhältnisse obwalten müssen. Hier ist also in der Tat eine durchgängige, transitive und symmetrische Re- lation zwischen physischen Inhalten gegeben*: und die Geltung dieser allgemein anwendbaren Beziehung ist es erst, die dazu führt, ein neues Sein einzuführen, indem wir jedem einzelnen Glied der verglichenen Reihen einen bestimmten Arbeitswert, einen gewissen Betrag der Energie eindeutig zuordnen. Dieses Sein aber würde offenbar um jede Bedeutung gebracht, sobald wir es von dem gesamten Urteilszusammenhang loslösen wollten, in dem es entstanden ist. Der Bestand, der in ihm gesetzt ist, ist nicht der einer isolierten sinnlichen Eigenschaft, die wir für sich wahr- nehmen können, sondern er ist der Bestand bestimmter Verbindungsgesetze. Man erkennt indessen an dieser Stelle von neuem, wie tiefdringende sachliche Gegensätze sich hinter den Kämpfen um den logischen Schematismus verbergen können. Folgt man der traditionellen Abstraktionslehre, so wird man, wie das Beispiel Rankines zeigt, fast notwendig zu einer substantiellen Auffassung der Energie gedrängt, während die funktionale Theorie des Begriffs ihr natür- liches Korrelat in einer funktionalen Bestimmung der obersten physikalischen „Realität" selbst findet. Die Betrachtung, die in dem einen Falle in der Setzung einer dinglichen Be- schaffenheit endet, die allen Körpern gemeinsam sein soll, endet im anderen Falle in der Schöpfung eines höchsten ge- meinsamen Maßbegriffes für alle Veränderungen über- haupt. —
Die Energetik hat in einigen ihrer Vertreter die letztere logische Wendung bereits vollzogen. Hier muß vor allem an Robert Mayer selbst erinnert werden, der dem neuen Begriff, den er einführt, zugleich auch seine allgemeine theo- retische Stelle bestimmt hat. Die Verwandlung der
♦ Bezeichnet man die Relation der Äquivalenz mit A, so folgt er- sichtlich aus aAb, auch bAa, wie andererseits die Geltung von a Ab und bAc auch die von aAc in sich schließt; die Bedingung der Symmetrie und Transitivität ist also erfüllt.
262
Kraft in Bewegung, der Bewegung in Wärme, bedeutet ihm, wie er ausdrücklich betont, nichts anderes als die Fixierung der Tatsache, daß hier zwischen je zwei verschiedenen Gruppen vom Phänomenen hin und her bestimmte quantitative Bezie- hungen stattfinden. ,,Wie aus der verschwindenden Bewegung Wärme entstehe, oder nach meiner Sprechweise, w i e die Bewe- gung in Wärme übergehe, darüber Aufschluß zu verlangen, wäre von dem menschlichen Geiste zu viel verlangt. Wie das verschwindende O und H Wasser gebe, warum nicht etwa eine Materie von andern Eigenschaften daraus entstehe, darüber wird sich wohl kein Chemiker den Kopf zerbrechen; ob er aber den J Gesetzen, denen seine Objekte, die Materien unter- worfen sind, nicht näher kommt, wenn er einsieht, daß die ent- stehende Wassermenge sich präzis aus der verschwindenden Menge von O und H finden lasse, als wenn er sich keines solchen Zusammenhangs bewußt ist, dies wird keine Frage sein*." ,,Im Sinne ihres Begründers", so bemerkt Helm mit Recht zu dieser Stelle, „ist die Energetik ein reines ,,Beziehungstum" und will nicht ein neues Absolutes in die Welt setzen. Wenn Veränderungen eintreten, so besteht doch zwischen ihnen diese bestimmte mathematische Beziehung — das ist die Formel der Energetik, und gewißlich ist das auch die einzige Formel aller wahren Naturerkenntnis." ,,So oft sich der Forschergeist beruhigt auf das Faulbett irgend eines Ab- soluten gelegt hat, so war es gleich um ihn getan. Es mag ein behaglicher Traum sein, daß in den Atomen unser Fragen Ruhe finden könne, aber es bleibt ein Traum. Und ein Traum wäre es nicht minder, wollten wir in der Energie ein Absolutes sehen und nicht vielmehr den zurzeit schlagendsten Ausdruck quanti- tativer Beziehungen zwischen den Naturerscheinungen**." So wird die Energie, je weiter der Fortschritt der Erkenntnis geht, gleich dem Atom um so mehr jedes sinnlichen S a c h - g e h a 1 1 s entkleidet (vgl. ob. S. 217 ff). Am deutlichsten
* Mayer an Griesinger (Kleinere Schriften und Briefe, S. 187). ** Helm, Die Energetik, S. 20, 362. Die gleiche Definition der Energie als eines bloßen „Kausalmaßes" besonders bei H. Driesch, Naturbegriffe und Natururteile, Leipzig 1904, sowie bei H ö f 1 e r , Zur gegenwärtigen Naturphilosophie. Berlin 1904. (Abh. zur Didaktik u. Philos. der Naturwiss., Heft 2.)
263
tritt diese Entwicklung am Begriff der potentiellen Energie hervor, der schon in seiner allgemeinen Benennung auf ein eigentümliches logisches Problem hinweist. Es liegt, wie Heinrich Hertz betont hat, bereits eine besondere Schwierigkeit in der Annahme, daß die angeblich substanz- artige Energie in so verschiedenen Daseinsweisen, wie es die kinetische und potentielle Form sind, existieren soll. Zudem aber widerstrebt die potentielle Energie in der Art, in der sie gewöhnlich gefaßt wird, jeder Definition, welche ihr die Eigenschaften einer Substanz beilegt: denn die Menge einer Substanz müßte notwendig eine positive Größe sein, während die Gesamtheit der in einem System enthaltenen potentiellen Energie unter Umständen auch durch einen negativen Wert auszudrücken ist*. Ein derartiges Verhältnis erklärt sich in der Tat nach der Gaus s'schen Theorie des Negativen nur dort, wo das Gezählte ein Entgegengesetztes hat, d. h. aber „wo nicht Substanzen (für sich denkbare Gegenstände), sondern Relationen zwischen je zwei Gegenständen das Ge- zählte sind." (S. oben, S. 72.)
Selbst dort, wo die Energie — wie es auch bei Robert Mayer der Fall ist — zunächst als ein einheitliches und unzerstörliches Objekt eingeführt wird, nimmt daher eben diese Kategorie des Objekts allmählich eine neue Be- deutung an, um dem neuen Inhalt, der ja in einer doppelten Seinsform auftritt, gerecht werden zu können. ,,Das Erhoben- sein eines Kilogramms auf 5 Meter," so erläutert nunmehr R. Mayer seinen Gedanken, ,,die Bewegung eines solchen Ge- wichtes mit einer Geschwindigkeit von 10 Meter in einer Sekunde, sind ein und dasselbe Objekt; eine solche Bewegung kann auch wieder in die Gewichtserhebung übergehen, hört dann aber natürlich auf, Bewegung zu sein, wie die Gewichts- erhebung nicht mehr Gewichtserhebung ist, wenn sie in Be- wegung übergegangen ist**." Wenn hier das bloße Erhobensein über eine gewisse Niveaufläche mit dem Fall über eine be- stimmte Distanz, wenn also ein bloßer Zustand mit einem
* S. H. H e r t z , Die Prinzipien der Mechanik, S. 26. ♦* Mayer, Kleinere Schriften und Briefe, S. 178.
264
zeitlichen Prozeß identisch gesetzt wird, so zeigt sich darin nur um so deutlicher, daß an beide kein unmittelbarer dinglicher Maßstab angelegt wird, daß sie nicht nach irgend- welcher Ähnlichkeit der sachlichen Beschaffenheit, sondern lediglich als abstrakte Maßwerte miteinander verglichen werden. Die beiden Momente sind „dieselben", nicht weil sie irgend ein gegenständliches Merkmal miteinander teilen, son- dern weil sie als Glieder derselben Kausalgleichung auftreten können, also unter dem Gesichtspunkt der reinen Größen- bestimmung einander substituierbar sind. Wir beginnen mit der Entdeckung eines exakten zahlenmäßigen Verhältnisses und setzen als Ausdruck dieses Verhältnisses jenen neuen ,, Gegenstand", den wir Energie nennen. Damit ist gegenüber der Atomistik in der Tat eine neue prinzipielle Wendung voll- zogen. Der eigentliche Vorzug der Energetik vor den ,, mecha- nischen" Hypothesen wird von ihren Anhängern gewöhnlich darin gesehen, daß sie in größerer Nähe der gegebenen Wahr- nehmungstatsachen verbleibt, sofern sie gestattet, zwei quali- tativ verschiedene Gebiete von Naturerscheinungen zuein- ander in Beziehung zu setzen, ohne sie zuvor in Bewegungs- vorgänge aufgelöst, damit aber ihrer spezifischen Besonderheit entkleidet zu haben. Die Vorgänge bleiben in ihrer Beschaffen- heit unberührt, da all unsere Aussagen lediglich auf ihren kausalen Zusammenhang abzielen. Aber gerade dieser aus- schließliche Rückgang auf die numerische Regel der Beziehung schließt andererseits ein neues gedankliches Moment in sich. Das Atom erscheint, wenngleich seine rein begriffliche Bedeutung sich allmählich immer schärfer abhebt, zuletzt doch immer noch als das Analogon und gleichsam als das verkleinerte Modell des empirisch-sinnlichen Körpers, während die Energie ihrem Ursprung nach bereits einem anderen Gebiet angehört. Sie vermag die Ordnung zwischen der Allheit der Phänomene zu stiften, weil sie selbst mit keinem einzelnen von ihnen auf gleicher Stufe steht; weil sie, von jedem konkreten Dasein entlastet, nur ein reines Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zum Ausdruck bringt. Der Anspruch der Energetik, die verschiedenen Gruppen physikalischer Vorgänge in ihrer Eigenart zu verstehen,
265
statt sie in mechanische Vorgänge umzudeuten, in denen all ihre individuellen Züge ausgelöscht sind, erscheint jetzt vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus zugleich be- grenzt, wie innerhalb eines bestimmten Umkreises gerecht- fertigt. In der Tat eröffnet sich hier die allgemeine logische Möglichkeit, die Natur zum System zu gestalten, ohne daß wir für dieses System prinzipiell die Darstellung in einem einheitlichen anschaulichen Bilde, wie es der Mechanismus darbietet, fordern müßten. Aber es ist ein Irrtum, wenn man in dieser Tendenz zu einer ,, qualitativen" Physik zugleich eine Umwendung zur allgemeinen Aristotelischen Weltansicht zu erkennen geglaubt hat. „Wir sind gezwungen," so schildert ein hervorragender moderner Vertreter der Energetik diese Wandlung, ,,in unsere Physik andere Züge als die rein quan- titativen Elemente, von denen der Geometer handelt, auf- zunehmen und somit zuzugestehen, daß die Materie Quali- täten hat; wir müssen auf die Gefahr hin, daß man uns der Rückkehr zu den verborgenen Vermögen der Scholastik beschuldigt, dasjenige, wodurch ein Körper warm oder hell, elektrisch oder magnetisch ist, als eine ursprüngliche und nicht weiter zurückführbare Eigenschaft in ihm anerkennen; wir müssen mit anderen Worten auf alle Versuche, die seit der Zeit Descartes', unaufhörlich erneuert worden sind, ver- zichten und unsere Theorien wiederum an die wesentlichsten Begriffe der Peripatetischen Physik anknüpfen." Aber die weitere Ausführung des Gedankens beseitigt sogleich den Schein eines tieferen Zusammenhangs. Die Qualitäten des Aristoteles sind etw^as völlig anderes, als die Qualitäten der modernen Physik: denn wenn jene nur hypostasierte sinnliche Eigenschaften bezeichnen, so sind diese bereits durch das gesamte Begriffssystem der Mathematik hin- durchgegangen und haben hierdurch eine neue logische Form und Beschaffenheit erhalten. Worauf die Energetik verzichtet, ist nur die „Erklärung" der einzelnen Qualitätsart aus be- stimmten mechanischen Bewegungen; woran sie dagegen festhält und was für sie die Bedingung ihres eigenen Anfangs ist, ist der Ausdruck der Qualität in einer bestimmten Zahl, die sie vollständig repräsentiert und für unsere Betrachtung
266
ersetzt. Die Frage, ob Wärme Bewegung ist, kann daher in der Tat zurücktreten, sofern nur gleichzeitig die un- bestimmte Empfindung des Wärmer und Kälter durch den Begriff des exakten Grades derTemperatur ersetzt und in ihm erst objektiviert wird. Was hier von der Qualität zurückbehalten ist, ist daher nicht ihre sinnliche Bestimmtheit, sondern lediglich die Eigentümlichkeit ihrer mathematischen Reihenform. Wir können — so betont D u h e m selbst, dem das Urteil über den Zusammenhang zwischen der energetischen und der Peripatetischen Physik entnommen ist* — eine Theorie der Wärme entwickeln, wir können den Ausdruck „Quantität der Wärme" definieren, ohne hierbei den spezifi- schen Wahrnehmungen des Kalten und Warmen irgend etwas zu entlehnen**. In dem Schema der theoretischen Physik ist das bestimmte empirische System, das wir unter- suchen, durch einen Inbegriff von Zahlwerten ersetzt, die seine verschiedenen quantitativen Elemente zum Ausdruck bringen. (S. ob. S. 198 f.) Die Energetik zeigt, daß diese Form der zahlenmäßigen Ordnung nicht not- wendig daran geknüpft ist, daß die Dinge und Vorgänge, die wir betrachten, zuvor in letzte anschauliche Teil- elemente zerlegt und aus ihnen wieder zusammengesetzt worden sind. Die allgemeine Aufgabe der mathematischen Fixierung läßt sich durchführen, ohne daß diese Art der konkreten Zusammenfügung eines Ganzen aus seinen Einzelteilen erforderlich wäre.
In dieser Auffassung aber bringt die Physik nur einen Gedanken zum Abschluß und zur Anwendung, der zuvor bereits in der allgemeinen Prinzipienlehre der Mathematik zur Anerkennung gelangt war. Es gibt eine „Physik der Qualitäten" und kann eine solche geben, weil und sofern es eine Mathematik der Qualitäten gibt. Die allmähliche Aus- bildung dieser letzteren ließ sich bereits in den allgemeinen Hauptzügen verfolgen. Von L e i b n i z an, der zuerst das Wesen der Mathematik in einer Lehre von den möglichen
* Duhem, L'6volution de la Möcanique, S. 197 f., ebenso urteilt H. Driesch, Naturbegriffe und Natururteile, S. 51 ff. ** D u h e m , a. a. O., S. 233 f.
267
deduktiven Verknüpfungsformen überhaupt sieht und der daher eine Ergänzung der gewöhnlichen Algebra, als der Wissenschaft der Quantität, durch eine allgemeine Wissen- schaft von der Qualität (scientia generalis de qualitate) fordert, bis zur modernen projektiven Geometrie und zur Gruppentheorie führt hier ein durchaus stetiger Weg. Deutlich tritt in dieser gesamten Entwicklung hervor, daß es weite und fruchtbare Gebiete gibt, die der mathematischen Be- stimmung vollkommen zugänglich sind, ohne daß ihre Objekte extensive Größen sind, die durch wiederholte additive Setzung ein und derselben Maßeinheit entstanden sind. Schon die projektive Streckenlehre zeigt, wie es möglich ist, die Elemente einer räumlichen Mannigfaltigkeit in eindeutige Beziehung zu festen Zahlwerten zu setzen und ihnen kraft dieser Korrelation eine bestimmte Ordnung aufzuprägen, ohne doch den gewöhnlichen metrischen Begriff der Distanz zur Anwendung zu bringen. (S. oben, S. 111 ff.) Dieser Gedanke wird von der allgemeinen Energetik nunmehr auf die Gesamt- heit der physikalischen Mannigfaltigkeiten übertragen. Es genügt zur zahlenmäßigen Fassung des Geschehens, wenn für die einzelnen Qualitäten je eine bestimmte Skala der Ver- gleichung geschaffen wird und wenn ferner die Werte innerhalb dieser verschiedenen Skalen durch ein objektives Gesetz einander wechselseitig zugeordnet werden. Diese Beziehung aber läßt sich unabhängig von jeder mechanischen Deutung der einzelnen Erscheinungsgruppen erreichen und festhalten. Der Vorwurf, der häufig gegen die Energetik erhoben worden ist, daß sie die H o m o g e n e i t ä t des Geschehens ver- nichte, sofern in ihr die Natur in gesonderte Klassen von Phänomenen zerfalle, ist daher nicht zutreffend. Denn „gleichartig" sind — wenn wir die mathematischen Artbegriffe als Ausgangspunkt und Muster der Beurteilung wählen — nicht nur solche Inhalte, die irgendwelche, für sich angebbare anschauliche Merkmale miteinander teilen, sondern es fallen unter diese Bezeichnung alle Gebilde, die nach irgend einer feststehenden begrifflichen Regel auseinander ab- leitbar sind. (Vgl. bes. ob. S. 106 ff.) Diesem Kriterium aber wird hier genügt: der Zusammenhang nach Begriffen,
268
der durch die Äquivalenzwerte zwischen den verschiedenen Rei- hen geschaffen wird, gibt eine nicht minder feste logische Ver- knüpfung, als die Zurückf ührung auf ein gemeinsames mechani- sches Modell. Die gedankliche Forderung der Homogeneitätist somit sowohl in der energetischen wie in der mechanischen Auffassung der Naturvorgänge wirksam: nur darin besteht der Unterschied, daß sie sich das eine Mal zu ihrer Durch- führung rein auf den Begriff der Zahl stützt, während sie das andere Mal zugleich den Begriff des Raumes fordert. Der Streit zwischen diesen beiden Auffassungen kann end- gültig nur durch die Geschichte der Physik selbst entschieden werden; denn nur hier kann es sich zeigen, welche Betrach- tungsweise schließlich den konkreten Aufgaben und Pro- blemen am besten gerecht zu werden vermag. Abgesehen hiervon aber behält die Energetik in jedem Falle ein hervor- ragendes erkenntnistheoretisches Interesse, sofern hier ver- sucht ist, gleichsam das Minimum derBedingungen festzustellen, unter denen von einer „Meßbarkeit" der Er- scheinungen überhaupt noch gesprochen werden kann*. Wahrhaft allgemein sind nur diejenigen Prinzipien und Regeln, auf denen die zahlenmäßige Fixierung eines Einzelgeschehens überhaupt und seine zahlenmäßige Vergleichung mit jedem anderen Geschehen beruht. Die Vergleichung aber setzt nicht voraus, daß wir zuvor irgend eine Einheit des,, Wesens" — etwa zwischen Wärme und Bewegung — entdeckt hätten; sondern
* Man hat gegen die logische Möglichkeit des Zieles, das die allgemeine Energetik sich stellt, bisweilen eingewandt, daß jede Messung irgend- welcher Dinge oder Vorgänge die Voraussetzung in sich schließe, daß sie sich aus gleichartigen Teilen zusammensetzen und sich daher durch wieder- holte Addition ein und derselben Grundeinheit darstellen lassen. Jedes Maß sei notwendig eine Bestimmung der Ausdehnung; die Beziehung auf die Maßeinheit enthalte daher bereits die Umsetzung aller qualitativen Unterschiede in extensive Streckendifferenzen und somit die Reduktion auf ein räumlich - mechanisches Bild. (Vgl. R e y , La Theorie de la Physique chez les Physiciens contemporains, S. 264, 286 u. s.) Der Begriff des „Maßes" selbst ist indessen hier offenbar zu eng gefaßt. Versteht man unter der „Messung" einer Mannigfaltigkeit nur ihre mathematische Be- stimimung überhaupt, d. h. die Zuordnung ihrer Elemente zu den einzelnen Gliedern der Zahlenreihe, so zeigt die Mathematik selbst, daß eine derartige Zuordnung auch dort möglich ist, wo die Gegenstände des betreffenden Inbegriffs sich nicht aus räumlichen Teilen zusammensetzen und auf- bauen lassen.
269
umgekehrt beginnt die mathematische Physik damit, sich der exakten numerischen Beziehung zu versichern, um auf Grund davon die Gleichartigkeit auch solcher Vorgänge zu behaupten, die sinnlich aufeinander in keiner Weise zurück- führbar sind. Daß die verschiedenen Formen der Energie „an sich", kinetischer Natur sind, ist daher ein Satz, den die Erkenntnistheorie, die lediglich auf die Grundmomente des Wissens, nicht auf die des absoluten Seins gerichtet ist, nicht zu vertreten vermag; ihren Forderungen ist vielmehr genug getan, sobald ein Weg gezeigt ist, jedes physikalische Geschehen auf mechanische Arbeitswerte zu beziehen und somit einen Komplex von Zuordnungen zu schaffen, in welchem jeder Einzel Vorgang nunmehr seine bestimmte Stelle erhalten kann. Zu einer schlechthin „hypo- thesenfreien" Darstellung des Naturgeschehens kann es freilich auch auf diesem Wege nicht kommen: denn die Übertragung in die Sprache der abstrakten Zahlbegriffe schließt nicht minder wie diejenige in die Sprache der Raumbegriffe eine theoretische Umbildung des empirischen Wahrnehmungs- stoffes in sich. Aber es bleibt von logischem Wert, hier die allgemeinen Voraussetzungen in aller Strenge von den be- sonderen Annahmen zu scheiden, und die „metaphysischen", weil mathematischen Anfangsgründe der Natur- erkenntnis von denjenigen speziellen Hypothesen zu sondern, die nur der Bearbeitung irgend eines Einzelgebiets dienen.
VIII. Die Darstellung der Begriffsbildung innerhalb der exakten Naturwissenschaft bleibt auch nach der logischen Seite hin so lange unabgeschlossen, als sie nicht neben den physikali- schen Begriffen die Grundbegriffe der Chemie in den Kreis ihrer Betrachtung zieht. Das erkenntnistheore- tische Interesse, das diese Grundbegriffe darbieten, beruht vor allem auf der eigentümlichen Mittelstellung, die sie ein- nehmen. Die Chemie scheint zunächst mit rein empirischen Beschreibungen der einzelnen Stoffe und ihrer Zusammen- setzung zu beginnen; aber je weiter sie fortschreitet, um so mehr strebt auch sie zu konstruktiven Begriffs-
270
bildungen hin. In der physikalischen Chemie ist dieses Ziel sodann in der Tat erreicht: ein bedeutender Vertreter dieser Disziplin kann es geradezu als den verbindenden Grundzug von Physik und Chemie bezeichnen, daß beide sich die Systeme, die sie untersuchen, auf Grund der empirischen Daten selbst schaffe n*. Sofern die Chemie diese ihre moderne Form bereits erreicht hat, steht sie daher logisch auf keinem anderen Boden, als die Physik selbst. Ihre Grundgesetze, wie etwa die Gibbs'sche Phasenregel oder das Gesetz der chemischen Massenwirkung, gehören demselben rein mathematischen Typus an, wie irgendwelche Sätze der theoretischen Physik. Es gewährt indessen ein besonderes Interesse zu verfolgen, wie das Ideal, das in dieser letzteren schon von ihren ersten Anfängen an, schon in Galilei und Newton verwirklicht ist, hier nur allmählich und schrittweise erreicht wird. Die Grenzen des rein empirischen und des rationalen Wissens treten gerade in der stetigen Verschiebung, die sie in diesem Fortgang der chemischen Erkenntnis erfahren, mit besonderer Deutlichkeit hervor. Die Mittelglieder und damit die Bedin- gungen des exakten Verstehens heben sich nunmehr immer schärfer ab. Die Kraft der wissenschaftlichen Formgebung wird besonders eindringlich an dem gleichsam spröderen Material, mit welchem die Chemie arbeitet. Die Physik hat es zuletzt doch nur scheinbar mit Dingbegriffen zu tun; denn ihr Ziel und ihr eigentliches Gebiet bilden die reinen Gesetzesbegriffe. Die Chemie erst stellt das Problem des Einzeldings in aller Entschiedenheit in den Vordergrund. Die besonderen Stoffe der empiri- schen Wirklichkeit und ihre besonderen Eigenschaften sind es, die hier den Gegenstand der Frage bilden. Der „Begriff" aber enthält gerade in der spezifischen Bedeutung, die er in Mathematik und Physik besitzt, keine Handhabe für dieses neue Problem. Denn er ist hier nur das Symbol für eine bestimmte Form der Verknüpfung, das jeden materialen Sonderinhalt mehr und mehr von sich abgestreift hat; er bezeichnet nur die Art einer möglichen Zuordnung, nicht das
* S. Nernst, Die Ziele der physikalischen Chemie. Göttingen 1896.
271
„Was" der Elemente, die einander zugeordnet werden sollen. Handelt es sich hier lediglich um eine Lücke, die durch neu hinzutretende Bestimmungen, welche indes der gleichen logischen Richtung des Denkens angehören, ausgefüllt werden kann oder muß an dieser Stelle eine prinzipiell andere Grund- form der Erkenntnis überhaupt anerkannt und eingeführt werden ?
Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man dem konkreten geschichtlichen Gang der chemischen Lehren selbst folgt; nicht um im einzelnen den unübersehbaren Reichtum ihres Inhalts zu erfassen, sondern um sich die großen logischen Richtlinien deutlich zu machen, nach welchen sie fortschreiten. In der Tat heben sich hier alsbald von selbst wenige allgemeine Hauptzüge heraus, nach welchen die Ent- wicklung sich bei all ihrer Mannigfaltigkeit gliedern und über- sehen läßt. Die ältere Form der chemischen Elementenlehre, die bis auf Lavoisier vorherrscht und die ihren letzten charakteristischen Ausdruck noch in der Phlogiston-Theorie gefunden hat, faßt das Element als eine Gattungseigenschaft auf, die allen Gliedern einer bestimmten Gruppe gemeinsam anhaftet und ihren wahrnehmbaren Typus bestimmt. Die Elemente sind hierbei nur die Bezeichnung und Hypostase der besonders hervorstechenden sinnlichen Qualitäten. So verleiht der Schwefel durch seine Anwesenheit in einem beliebigen Körper diesem die Grundeigenschaft der Ver- brennbarkeit, das Salz die Eigenschaft der Löslichkeit, während das Quecksilber der Träger der metallischen Eigenschaften ist, die wir empirisch an irgendwelchen Stoffen vorfinden*. Diese Auffassung wird erst dort prinzipiell über- wunden, wo neben die Aufgabe, die Körper nach ihren gattungsmäßigen Beschaffenheiten zu sondern und in Klassen zu scheiden, die andere tritt, zu exakten quantitativen Aussagen über ihre gegenseitigen Reaktionen zu gelangen. Die Forderung strenger Zahlbestimmungen bildet auch hier den entscheidenden Wendepunkt. Das Gesetz der bestimmten Proportionen, in welchen die verschiedenen Elemente
* S. Ostwald, Leitlinien der Chemie, S. 4 ff ; vgl. auch Meyerson, Identit^ et R6alit6, S. 213 ff.
272
sich mit einander verbinden, bildet den ersten Ausgangspunkt der modernen chemischen Theorie. Es ist interessant, daß dieses Gesetz zunächst völlig unabhängig von jeder Auffassung über die Konstitution der Materie, insbesondere unabhängig von der atomistischen Hypothese, konzipiert wird. In der ersten, noch unfertigen Form, in welcher es zuerst von J. D. R i c h t e r ausgesprochen wird, besagt es zunächst nichts anderes als die Geltung bestimmter harmonischer Be- ziehungen, die zwischen verschiedenen Reihen von Körpern gelten. Betrachten wir eine Reihe von Säuren A^ Ag A3 ... und eine Reihe von Basen B^ B2 B3, so waltet zwischen beiden ein bestimmtes Verhältnis ob, das sich dadurch ausdrücken läßt, daß wir jedem Glied der ersten Reihe eine bestimmte Zahl mi m2 mg ... zuordnen, während wir den Gliedern der zweiten Reihe andere konstante, durch die Beobachtung zu ermittelnde Zahlwerte Uj n^ n.^ entsprechen lassen. Die Art, in der sich irgend ein Element der ersten Reihe mit einem Element der zweiten verbindet, ist durch diese Zahlen ein- deutig bestimmt: die beiderseitigen Massen, nach welchen irgend eine Säure Ap mit irgend einer Basis Bq zusammen- tritt, verhalten sich wie die entsprechenden Zahlwerte mp und nq. Näher versucht Richter nachzuweisen, daß die Massenreihe der Basen eine arithmetische, die der Säuren eine geometrische Reihe bilde, und daß somit hier eine Gesetz- lichkeit stattfinde, wie sie analog für die Entfernungen der Planeten von der Sonne angenommen worden ist*. Dieser Gedanke hat sich empirisch nicht als zutreffend erwiesen; aber er ist nichtsdestoweniger in seiner allgemeinen Tendenz bezeichnend und bedeutungsvoll. Es ist, wie man sieht, die allgemeine Pythagoreische Grundansicht von der ,, Har- monie" des Alls, die hier an der Wiege der neueren Chemie steht, wie sie an der Wiege der neueren Physik stand. In dieser
* Zu den folgenden Daten aus der Geschichte der Chemie vgl. neben den bekannten allgemeinen Geschichtswerken besonders W u r t z , La Theorie atomique, Paris 1879; Duhem, Le Mixte et la combinaison chimique. Paris 1902, Lothar Meyer, Die modernen Theorien der Chemie, 5. Aufl., Breslau 1884; Ladenburg, Vorträge über die Ent- wicklungsgeschichte der Chemie, 3. Aufl. ; Bratmschweig 1902. — Über Richter s. bes. Duhem, S. 69 ff., L a d e n b u r g , S. 53 ff.
Cassirer, Substanzbegriff 28 273
Hinsicht ist Richter — wenn man nicht auf das Ganze der Leistungen, sondern lediglich auf die allgemeine Geistes- richtung sieht — in der Tat mit Kepler zu vergleichen, mit dem er den Grundgedanken der durchgängigen zahlen- mäßigen Verfassung des Universums teilt, die sich bis in alle Einzelgebiete des Geschehens fortsetzt. —
Die Fassung, die das Gesetz der konstanten Verbindungs- zahlen bei seinem eigentlichen wissenschaftlichen Begründer erhält, fügt allerdings dieser allgemeinen Grundanschauung sogleich einen neuen konkreten Zug hinzu. Sachlich ist auch hier zunächst nur ausgesprochen, daß es für jedes Element eine charakteristische Äquivalenzzahl gibt und daß, wenn je zwei oder mehrere Elemente in eine Verbindung eingehen, ihre Massen sich wie ganze Vielfache dieser Grundzahlen verhalten. Aber diese Regel der „multiplen Proportionen" ver- schmilzt bei D a 1 1 o n sogleich mit einer bestimmten Deutung, die ihr gegeben wird und geht nur in der besonderen Gestalt, die sie hierdurch empfängt, in das Ganze der chemischen Lehren ein. Der Begriff des Verbindungsgewichts wandelt sich zu dem des Atomgewichts. Das Gesetz der multiplen Pro- portionen bedeutet nunmehr, daß die Atome der verschiedenen einfachen Körper durch ihre Massen unterschieden sind, während innerhalb derselben chemischen Gattung das Atom stets unwandelbar ein und dieselbe konstante Masse auf- weist, die somit hinreicht, um einen bestimmten einfachen Grundstoff in seiner Eigenart zu charakterisieren. An die Stelle der empirisch ermittelten Proportionalzahlen der einzelnen Körper sind Aussagen über eine wesentliche Beschaffenheit ihrer letzten konstitutiven Bestandteile getreten. Da indessen all unser Wissen stets nur die Verhältnisse betrifft, nach welchen die Elemente in die Verbindungen eingehen, so ist von hier aus noch kein unzweideutiger Rückschluß auf die absoluten Zahlen der Atomgewichte möglich. Wir könnten, wenn wir das Atomgewicht des Wasserstoffs als Vergleichseinheit wählen, ohne den bekannten Tatsachen der Zusammensetzung zu widersprechen, das des Sauerstoffs, statt durch den Wert 0= 16, durch den Wert 0=8 be- stimmen, wobei wir nur in all unseren Formeln die Zahl der
274
Sauerstoff atome zu verdoppeln hätten; wir könnten successiv die Werte S = 8, 16, 32 . . . als Atomgewicht des Schwefels ansetzen, sofern wir nur die chemischen Formeln überein- stimmend nach einer dieser Grundannahmen gestalten, also etwa den Schwefelwasserstoff je nach der Wahl, die wir treffen, bald durch den Ausdruck H S^, bald durch H S oder Hg S bezeichnen würden. Die Entscheidung zwischen all diesen zunächst möglichen Ansätzen erfolgt auf Grund mannig- facher Kriterien, die in der Geschichte der Chemie selbst erst allmählich erarbeitet werden. Eines der wichtigsten Kennzeichen bietet hier die Avogadrosche Regel, nach welcher gleiche molekulare Massen verschiedener Verbindungen, im vollkommenen Gaszustand unter denselben Bedingungen des Drucks und der Temperatur, das gleiche Volumen ein- nehmen. Neben die Bestimmung der Atomgewichte aus der Dampfdichte, die hierdurch ermöglicht wird, tritt sodann ihre Bestimmung aus der Wärmekapazität, die sich auf das Dulong-Petitsche Gesetz, sowie diejenige aus dem Isomorphismus, die sich auf den Mitscherlichschen Satz stützt, daß die gleiche Krystallform, die verschiedene Verbindungen besitzt, auf eine gleiche Anzahl auf gleiche Art verbundener Atome in ihnen zurückweist. Erst die Gesamtheit aller dieser verschiedenen Gesichtspunkte, die sich wechselseitig bestätigen oder korrigieren, ergibt schließlich nach mannigfachen Versuchen eine einheitliche Tabelle der Atomgewichte und legt damit den Grund zu einer eindeutigen chemischen Formelsprache*.
Die Entwicklung, die hierin zum Abschluß gelangt, bietet, abgesehen von ihren Einzelheiten, auch logisch ein all- gemeines Problem dar. Würde man lediglich die einzelnen Forscher befragen, die an ihr mitwirken, so scheint sie freilich für sie alle zunächst nur einen, völlig eindeutigen und klar bestimmten, Sinn zu besitzen. Die objektive Existenz der ver- schiedenen Arten von Atomen wird vorausgesetzt: nur ihre Eigenschaften gilt es noch zu ermitteln und quan- titativ schärfer zu umgrenzen. Je weiter wir fortschreiten
* Näheres hierüber bes. bei Lothar Meyer, Buch I, Abschn. II — IV ; cf . O s t w a 1 d , Gnindriss der allgemeinen Chemie, 4. Aufl. Lpz. 1909.
18* 275
und um so mehr verschiedene Gruppen von Phänomenen wir in den Kreis unserer Betrachtung ziehen, um so deutlicher tritt der Reichtum und die Bestimmtheit dieser Eigenschaften heraus. Das substantielle „Innere" der Atome enthüllt sich und gewinnt für uns feste und greifbare Gestalt. Wir ver- folgen, insbesondere in der entwickelten chemischen Kon- stitutionsformel, wie die Atome sich nebeneinander lagern und sich wechselseitig zu einem einheitlichen Aufbau des Moleküls verknüpfen; wir sehen, wie sie in ihrem Zusammen- treten durch ihre Zahl und ihre relative Lage einen bestimmten Grundriß der Gestaltung erzeugen, der sich z. B. in der Krystall- form ausprägt. Geht man indessen der näheren empirischen Begründung all dieser Aussagen nach, so verschiebt sich als- bald das allgemeine Bild. Das Atom ist, wie jetzt sogleich deutlich wird, niemals der gegebene Ausgangspunkt, sondern immer nur der Endpunkt unserer wissenschaft- lichen Aussagen. Der inhaltliche Reichtum, den es im Fortgang der wissenschaftlichen Forschung gewinnt, geht daher im Grunde niemals es selbst an, sondern bezieht sich auf ein andersartiges empirisches ,, Subjekt". Indem wir scheinbar das Atom selbst in seinen mannigfachen Bestim- mungen und Zuständen erforschen, haben wir damit zugleich eben diese verschiedenen Gruppen von Zuständen zueinander in ein neues Verhältnis gesetzt. Wir sprechen von der Anzahl der Atome, die in einem bestimmten Volum einer gas- förmigen Substanz enthalten sind und drücken damit in Wahrheit eine Beziehung aus, die nach dem Gesetz von Gay Lussac zwischen dem numerischen Wert der Dichtigkeit der Gase und dem Wert ihrer Verbindungsgewichte besteht; wir sprechen den Atomen aller einfachen Körper dieselbe Wärmekapazität zu und bezeichnen damit die Tatsache, daß, wenn wir die Verbindungsgewichte der chemischen Elemente in eine Reihe a a' a" . . an, die Zahlen für ihre spezifische Wärme in eine andere Reihe b b' b" . . . b n ordnen, zwischen diesen beiden Reihen eine eindeutige Zu- ordnung besteht, sofern die Produkte a b, a' b', a" b" usf. denselben konstanten Wert besitzen. Die eigentümliche logische Funktion, die der Atombegriff, abgesehen
276
von allen metaphysischen Behauptungen über die Existenz der Atome besitzt, tritt in diesen Beispielen deutlich hervor. Das Atom fungiert hier gleichsam als der gedachte einheitliche Mittelpunkt eines Koordinaten-Systems, dem wir alle Aus- sagen über die mannigfachen Gruppen chemischer Eigen- schaften eingeordnet denken. Die verschiedenen und an- fänglich heterogenen Mannigfaltigkeiten von Bestimmungen gewinnen einen festen Zusammenhang, indem wir jede von ihnen auf dieses gemeinsame Zentrum zurückbeziehen. Nur scheinbar wird daher hier die einzelne Eigenschaft an das Atom als ihren absoluten „Träger" angeknüpft, so daß damit das Ganze der Relation als abgeschlossen und vollendet gelten könnte. In Wahrheit handelt es sich darum, die verschiedenen Reihen nicht sowohl auf das Atom, als vielmehr, durch den Mittelbegriff des Atoms hindurch, wechselseitig auf einander zu beziehen. Wieder zeigt sich hier der gleiche gedankliche Prozeß, der uns bereits früher entgegen- trat: die komplizierten Verhältnisse zwischen bestimmten Inbegriffen werden, statt daß wir jeden Inbegriff einzeln mit allen übrigen vergleichen, dadurch zum Ausdruck ge- bracht, daß wir sie sämtlich in Beziehung zu ein und dem- selben identischen Terminus setzen. (Vgl. ob. S. 260 ff.) Der Versuch, das Atomgewicht der einzelnen Elemente eindeutig zu bestimmen, nötigt dazu, immer neue Gebiete chemisch-physikalischer Phänomene als Kriterien heranzu- ziehen. In dem Maße als diese Bestimmung fortschreitet, weitet sich daher auch der Kreis der empirischen Relationen selbst. Denken wir uns diesen Fortschritt vollendet, so wäre somit gerade in den ,, absoluten" Atomgewichten das Ganze der möglichen Verhältnisse, die die Sonderreihen unter sich eingehen können, befaßt und ausgedrückt. Der eigentlich positive Ertrag, den die chemische Erkenntnis hier gewinnt, besteht in der systematischen Gliederung eben dieser Verhältnisse selbst. Das zunächst verstreute Tatsachen- material organisiert sich nunmehr; es steht nicht mehr be- ziehungslos nebeneinander, sondern ordnet sich um einen festen Mittelpunkt. Indem wir die Beobachtungen über die Dampfdichte, über die Wärmekapazität, über den Isomor-
277
phismus usf. sämtlich an ein und dasselbe Subjekt an- heften, treten sie damit selbst erst in wahrhafte begriffliche Wechselwirkung. Aber freilich ist es nicht der einzige logische Wert dieses „Subjekts", daß es nur nachträglich die ge- wonnenen Erfahrungen beschreibt und zusammenfaßt. Die Vereinigung, die hier geschaffen ist, wirkt vielmehr zugleich unmittelbar produktiv; sie schafft ein allgemeines Schema auch für die künftigen Beobachtungen und weist diesen eine bestimmte Richtung an. Der Gang der Wissenschaft würde schleppend, ihre Darstellung würde um- ständlich und mühsam werden, wenn sie jedesmal, ehe sie an ein neues Tatsachengebiet herantritt, sich die Fülle des bereits gewonnenen empirischen Materials explizit wieder- holen und in all seinen Einzelzügen vergegenwärtigen müßte. Indem der Atombegriff hier eine gedankliche Konzentra- tion aller dieser Züge schafft, bewahrt er ihren wesentlichen Gehalt, während doch andererseits alle Kräfte des Denkens nunmehr für die Erfassung des neuen Erfahrungsinhalts frei werden. Der Inbegriff des empirisch Bekannten verdichtet sich gleichsam in einem einzigen Punkt, und von diesem Punkt gehen nun all die verschiedenen Richtlinien aus, nach denen unsere Erkenntnis ins Unbekannte weiterschreitet. Gegen- über den neu zu entdeckenden Mannigfaltigkeiten fungieren die bereits gefundenen und gesetzlich fixierten als eine feste logische Einheit: und diese Einheit des prinzipiellen An- knüpfungspunkts ist es, die unsere Setzung eines letzten identischen Subjekts für die Allheit der möglichen Eigen- schaften erklärt und ermöglicht.
Die Bedeutung, die der allgemeine Substanzbegriff inner- halb des tatsächlichen Prozesses der Erfahrung besitzt, tritt an diesem Beispiel klar hervor. Die empirische Er- kenntnis kann diesen Begriff nicht entbehren; wenngleich ihr eigentlich philosophischer Fortschritt darin be- steht, ihn als Begriff zu verstehen uiid zu würdigen. Die lebendige und unmittelbare Arbeit der Forschung selbst steht hier freilich von Anfang an auf einem anderen Stand- punkt, und erfaßt das Problem gleichsam von einer anderen Seite als die rein erkenntnistheoretische Betrachtung. Worauf
278
sie hinblickt und was ihr Interesse fesselt, sind die neuen Tatsachengebiete, die es zu erschließen gilt, während sie die bekannten Tatsachen als einen gegebenen Bestand nehmen darf, der als solcher keiner weiteren Analyse bedarf. Der In- begriff des „Faktischen" in diesem Sinne steht als solcher fest; er bildet ein ruhendes Substrat, das fortan den Grund- stock für alle weiteren Beobachtungen abgibt. Das jeweilig Erreichte, das eben erst Gewonnene, muß der Forschung alsbald wiederum als ein Gesichertes und Vorhandenes gelten; denn nur dadurch schafft sie sich die Möglichkeit, das Gebiet des Problematischen an eine andere Stelle zu verlegen, es gleichsam immer weiter fortzurücken, so daß stets neue Fragen in den Kreis ihrer Betrachtung eintreten. Der passive Bestand, den die Wissenschaft an einzelnen Stellen fixiert, ist daher ein Moment in ihrer eigenen Aktivität. Somit ist es in der Tat berechtigt und unvermeidlich, wenn sie eine Fülle erfahrungsmäßiger Relationen in einen einzigen Ausdruck, in die Annahme eines einzelnen dinglichen „Trägers", zusammenfaßt. Die kritische Selbstbestimmung des Denkens muß indessen dieses Produkt, wenngleich sie es für bestimmte Zwecke der Erkenntnis als notwendig begreift, dennoch wiederum in seine einzelnen Faktoren zerlegen: denn ihr Blick ist nicht nach vorwärts auf die Gewinnung neuer objek- tiver Erfahrungen, sondern nach rückwärts auf den Ursprung und die Gründe der Erkenntnis gerichtet. Beide Richtungen lassen sich niemals unmittelbar vereinen: die Bedingungen der wissenschaftlichen Produktion sind andere, als es die der kritischen Reflexion sind. Wir können die Funktionen zum Aufbau der Erfahrungswirklichkeit nicht zu- gleich betätigen und sie zur selben Zeit als solche betrachten und beschreiben. Dennoch aber sind beide Gesichtspunkte, ist somit der bewußte Wechsel des Standpunktes der Betrachtung erforderlich, um die Erkenntnis als Ganzes in den Motiven ihres Fortschrittes wie in den dauernden logischen Bedingungen ihres Bestandes zu beurteilen. Auf der Spannung und dem Gegensatz, der hier zurückbleibt, beruht doch zugleich die eigentümliche Bestimmtheit, die der Erkenntnis zukommt. So läßt es sich verstehen,
279
daß auch der chemische Begriff des Atoms, je nach dem Wege, auf welchem man sich ihm nähert, eine verschiedene Gestalt zeigt. Für die erste naive Betrachtung erscheint das Atom als ein fester substantieller Kern, an dem sich nacheinander für uns verschiedene Eigenschaften unterscheiden und aus- sondern lassen; während umgekehrt vom Standpunkt der Erfahrungskritik aus eben jene „Eigenschaften" und ihre wechselseitigen Verhältnisse die eigentlichen empirischen Daten bilden, zu deren Ausdruck der Begriff des Atoms erschaffen wird. Das gegebene Tatsachenmaterial wird zugleich mit dem noch zu erforschenden, das begrifflich vorweggenommen wird, in einem einzigen Brennpunkt vereinigt, der jedoch, gemäß einer natürlichen Täuschung, statt als bloß ,, virtueller" Punkt, alsbald als ein einheitliches reelles Objekt erscheint. So ist das Atom der Chemie eine „Idee" in dem strengen Sinne, den Kant diesem Terminus gegeben hat — sofern es in der Tat ,, einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch" besitzt, „nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien all seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe nicht wirklich ausgehen, indem er ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen*." Diese Leistung bleibt dem Atombegriff als dauerndes Charakteristikum er- halten, auch wenn sein Inhalt sich vollkommen wandelt, also z. B., wie in der neueren Physik, das Atom der Materie zum Atom der Elektrizität, zum Elektron wird. Gerade eine derartige Wandlung bestätigt, daß das Wesentliche des Be- griffs nicht in irgendwelchen materialen Eigenschaften besteht, sondern daß er ein Formbegriff ist, der sich je nach dem Stande unserer Erfahrung mit mannigfachem konkreten Inhalt zu erfüllen vermag.
• Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 672. 280
Der zweite wichtige Schritt der chemischen Begriffs- bildung, nachdem der allgemeine Gedanke des Atoms kon- zipiert und die Werte für die Atomgewichte der einzelnen Elemente im allgemeinen festgestellt sind, besteht darin, die mannigfachen, zunächst völlig getrennten Bestimmungen, die hierdurch gewonnen sind, nach gedanklichen Gesichts- punkten zu verknüpfen und zu Klassen bestimmter Eigenart zusammenzustellen. Die empirischen Tatsachen, die zunächst zu derartigen relativen Unterscheidungen und Zusammen- fassungen innerhalb des Gesamtsystems hinführen, sind in den Verhältnissen der chemischen Substitution gegeben. Verfolgt man, wie die Atome verschiedener einfacher Körper sich in den Verbindungen ersetzen und wechselweise für ein- ander eintreten können, so ergeben sich hierbei bestimmte Grundregeln, die diese Form der Beziehung regeln. Die Form des Austausches läßt sich durch gewisse Zahlwerte, die wir jedem Element beilegen und die nunmehr zu der Zahl seines Verbindungsgewichts hinzutreten, ein für allemal fest- halten und ausdrücken. Nimmt man das Atom des Wasser- stoffs als Einheit, so zeigt sich etwa, daß ein Chloratom in bestimmten Verbindungen je ein Atom des Wasserstoffs zu ersetzen vermag, während ein Sauerstoffatom stets an die Stelle von 2, ein Stickstoffatom an die Stelle von 3, ein Kohlen- stoffatom an die Stelle von 4 Atomen Wasserstoff tritt. Damit ist ein weiterer Gesichtspunkt der Zuordnung der ein- zelnen Elemente zu einander, eine neue charakteristische Kon- stante für jeden einfachen Körper geschaffen. Die ,, Valenz" der Elemente ist der Ausdruck einer bestimmten Grund- beschaffenheit in ihnen, die ihnen unabhängig von ihrer chemischen Verwandtschaft zukommt. Ordnen wir nunmehr die chemischen Verbindungen gemäß dem neuen Prinzip, das sich uns hier darbietet, so treten sie in verschiedene Haupttypen auseinander, wobei die Glieder, die dem- selben Typus angehören, dadurch charakterisiert sind, daß sie sämtlich aus einer bestimmten Grundform durch fort- schreitende Substitutionen ableitbar sind, die sich gemäß den Regeln über die Wertigkeit der einzelnen Atome voll- ziehen. —
281
Der Begriff des „Typus" kommt hier wiederum nicht in seiner Bedeutung für die speziellen Aufgaben der Chemie, sondern nur als Paradigma für bestimmte logische Ver- hältnisse in Betracht. Er weist in der Tat in voller Deutlichkeit die charakteristischen Grundzüge auf, die die Analyse des exakten naturwissenschaftlichen Begriffs bereits im allgemeinen festgestellt hat. Auch der chemische Typenbegriff ist nicht nach dem Muster der Gattungsbegriffe, sondern nach dem der Reihenbegriffe gestaltet. Die verschiedenen Verbindungen, die unter einem Haupttypus befaßt werden, verdanken diese Zusammenstellung weder der äußeren Ähnlichkeit in ihren sinnlichen Eigenschaften, noch der unmittelbaren Verwandt- schaft in ihren chemischen Funktionen. Sie gehören zu- sammen, sofern sie kraft der Beziehung, die zwischen der Valenz der einzelnen Atome besteht, ineinander übergeführt werden können, wobei indes die entfernteren Glieder der Reihe zu den näheren keine andere Analogie mehr dar- zubieten brauchen, als sie eben durch dieses Ableitungsgesetz selbst hergestellt wird. Nur allmählich hat sich in der Ge- schichte der Chemie der Typenbegriff vom Begriff der chemi- schen Analogie losgelöst*. Der erste Schritt zu dieser Trennung liegt schon in dem Grundverhältnis der Substitution selbst vor, sofern hier Elemente, die ihrer Natur und Eigenart nach völlig verschieden scheinen, sich einander ersetzen können. Der Gedanke der Substitution, wie er zuerst von Dumas formuliert wird, wird daher unter diesem Gesichtspunkt zunächst von Berzelius als paradox und widerspruchs- voll zurückgewiesen : das Chlor kann nicht in irgend einer Ver- bindung für den Wasserstoff eintreten, da es, nach der Theorie des elektrochemischen Dualismus, die Berzelius vertritt, negativ elektrisch ist, während dem Wasserstoff positive Elektrizität zukommt. Je mehr indessen die Theorie der Substitution sich Bahn bricht, um so mehr gewinnt umgekehrt die Anschauung Raum, daß auch völlig unähnliche Körper sich in gewissen Verbindungen ohne Änderung der Natur
* Näheres hierüber bes. bei D u h e m , Le Mixte, S. 97 ff., W u r t z , a. a. O, S. 189 ff.
282
der Verbindung vertreten können. Noch schärfer treten die Konsequenzen dieser Ansicht hervor, sobald nicht allein die Elemente, die sich einander substituieren lassen, einzeln ein- ander gegenübergestellt, sondern die ganze Gruppe von Körpern, die aus wiederholten Substitutionen hervorgehen können, näher betrachtet wird. Auch hier wird anfangs die Forderung der Analogie aufrecht erhalten, bis weitere Unter- suchungen zu dem Schluß drängen, daß die Reihen, die auf diese Weise entstehen, Glieder enthalten können, die in all ihren wahrnehmbaren Eigenschaften und ihren wesentlichen chemischen Bestimmungen voneinander völlig abweichen. Dem ,, chemischen Typus", wie Dumas ihn aufgestellt und für den er ähnliche Haupteigenschaften aller Glieder gefordert hatte, tritt jetzt der „molekulare Typus" Regnaults entgegen, der Körper sehr verschiedener Eigenschaften, die man sich durch Substitution auseinander entstehend denken kann, in sich faßt. Die Bedingungen, auf denen nunmehr die Einheit des Typus beruht, ent- sprechen also durchaus denjenigen, die wir im Gebiet der mathematischen Begriffsbildung verwirklicht fanden. Wie sich hier geometrische Systeme und Gruppen von Systemen ergaben, deren Glieder nicht durch irgend welche anschauliche Einzelzüge, die ihnen gemeinsam sind, sondern lediglich durch die eindeutige Regel der Relation, die von Glied zu Glied obwaltet, miteinander zusammengehalten wer- den, so gilt das gleiche auch hier. Die „Valenz" der einzelnen Elemente stiftet unter ihnen eine derartige Beziehung, die in ihrer fortgesetzten Anwendung bestimmte Inbegriffe von charakteristischem Reihen-Typus erschafft. Die gesetzliche Abwandlung dieses ,, Parameters" erzeugt und begründet die Form des Begriffs, die somit ebenfalls nicht auf einer Gleich- artigkeit im Inhalt des Verknüpften, sondern in der Art der Verknüpfung beruht.
Der chemische Begriff unterscheidet sich hierbei vom mathematischen freilich darin, daß die Relation, kraft deren von einem Glied zum andern fortgegangen wird, bei dem letzteren rein konstruktiv festgestellt ist, während das Verhält- nis der Äquivalenz als eine empirische Beziehung zwischen
283
den verschiedenen Elementen entdeckt wird. Sieht man hin- gegen von diesem Unterschied des Ursprungs ab, so erkennt man, daß, nachdem einmal das entscheidende Merkmal der Vergleichung gewonnen ist, die weitere Begriffsbildung nun- mehr auf beiden Seiten genau die gleiche Richtung einschlägt. Auch hier gilt es, nachdem erst ein allgemeines Moment der Zuordnung fixiert ist, dieses Moment durch die gesamte Mannigfaltigkeit der durch die Beobachtung gegebenen Stoffe hindurchzuführen und diese somit aus einem Aggregat zu einem System zu gestalten, innerhalb dessen wir das In- einandergreifen und die Zusammengehörigkeit der einzelnen Glieder nach festen Regeln begreifen. Die Typentheorie bildet in dieser Hinsicht den ersten Ansatz zur chemischen Deduktion, sofern sie lehrt, die Mannigfaltigkeit der Körper, unter Festhaltung weniger allgemeiner Grundprin- zipien, von gewissen Anfangspunkten an aufzubauen und um gewisse Mittelpunkte zu gruppieren. Das sinnlich Hetero- gene gestaltet sich jetzt homogen, indem wir es mit bestimmten Zahl-Verhältnissen durchdringen. Dieses letztere Moment ist auch hier entscheidend; denn es bildet das eigentlich aus- zeichnende Merkmal der wissenschaftlichen Fassung der chemischen Grundbegriffe. Die „Valenz", die den einzelnen Atomen zugesprochen wird, muß zunächst, wenn sie als eine dingliche Qualität in ihnen aufgefaßt wird, wie eine wahrhafte qualitas occulta erscheinen. Wir kennen die eigentümliche Beschaffenheit des Chloratoms nicht, kraft deren es sich nur mit einem Atom Wasserstoff zu verbinden vermag, wir wissen nicht, durch welchen Zwang getrieben das Sauerstoff- atom mit 2, das Kohlenstoffatom mit 4 Atomen des Wasser- stoffs zusammentritt. Und dieses Rätsel wird nicht gelöst, wenn man zur Erklärung der verschiedenen relativen Wertig- keiten auf die Bewegungszustände der einzelnen Atome zurückgreift, die einander derart angepaßt oder derart entgegengesetzt sein sollen, daß sie stets nur in einem ganz bestimmten Verhältnis miteinander verschmelzen können*. Denn auch hier wird ein schlechthin Unbekanntes und empirisch
♦ Cf. W u r t z , La Theorie atomique, S. 175.
284
in keiner Weise Nachweisbares an Stelle der allein bekannten Austauschverhältnisse gesetzt. Was jedoch den Valenzbegriff der Chemie von allen scholastischen Qualitäten scheidet, ist eben der gedankliche Verzicht, den er in sich schließt. Er will nicht in die substantielle Natur der Verbindung von Atom und Atom eindringen, sondern lediglich die Tat- sachen dieser Verbindung nach allgemeingültigen quantitativen Ordnungsprinzipien darstellen. Die chemische Konstitutions- formel scheint freilich zunächst ein direktes anschauliches Bild der Reihenfolge und Stellung darzubieten, die die Atome selbst gegeneinander einnehmen; aber was sie zuletzt leistet, ist in Wahrheit nicht eine derartige Erkenntnis der letzten absoluten Elemente der Wirklichkeit, sondern vielmehr die all- seitige Gliederung der Körper und Stoffe der Erfahrung. Die Formel einer bestimmten Verbindung lehrt uns nicht nur diese selbst in ihrer Zusammensetzung kennen, sondern ordnet sie verschiedenen typischen Grundreihen ein und weist damit auf das Ganze derjenigen Gebilde voraus, die durch Substitution aus der gegebenen Verbindung entstehen können. Das einzelne Glied wird zum Repräsentanten der Gesamt- gruppen, denen es angehört und die aus ihm durch die gesetz- liche Variation bestimmter Grundbestandteile hervorgehen können. Indem die Konstitutionsformel diese Verbindung herstellt, ist sie freilich eben dadurch zugleich der echte wissenschaftliche Ausdruck der empirischen Realität des Körpers: denn diese besagt nichts anderes, als die durch- gängige objektive Verknüpfung, in welcher ein individuelles „Ding" oder ein besonderes Ereignis mit dem Inbegriff der wirklichen und möglichen Erfahrungen überhaupt steht. (Vgl. hierzu bes. Kap. 6.)
Von besonderer Wichtigkeit wird der Gedanke der Sub- stitution, wenn er nicht mehr allein auf einzelne Atome, sondern auf ganze Atomgruppen angewandt wird. Die Theorie der „zusammengesetzten Radikale", die jetzt entsteht, wird zur eigentlichen Grundlage der organischen Chemie. Als Radikal wird hierbei — gemäß der Definition L i e b i g s — der nicht wechselnde Bestandteil in einer Reihe von Verbindungen betrachtet, sofern er sich in diesen ersetzen
285
läßt durch andere einfache Körper, oder sofern sich in seinen Verbindungen mit einem einfachen Körper dieser letztere aus- scheiden und durch Äquivalente von anderen einfachen Körpern vertreten läßt. Über die Art, in welcher die Radikale in den Verbindungen ,, existieren", aber herrscht anfangs Streit. In der „Kerntheorie" Laurents wird das Ver- hältnis zunächst in einem durchaus realistischen Sinne auf- gefaßt und beschrieben. Die Kerne sind als solche in einer Mehrheit von Körpern, die aus ihnen durch Verbindung mit anderen Atomen entstehen, vorhanden; sie präexistieren den komplexeren Gebilden. Durch die weitere Fortbildung der Theorie aber wird diese Anschauung mehr und mehr zurückgedrängt. Indem insbesondere Gerhardt darauf hinweist, daß es möglich ist, zwei Radikale in einer Ver- bindung anzunehmen, wird damit der Gedanke an die reale Existenz abgesonderter Gruppen zunichte. Da die Formeln der Chemie nur bestimmte Struktur- und Reaktionsverhält- nisse in Gleichungen ausdrücken sollen, da sie also nicht dar- stellen sollen, was die Körper an und für sich sind, sondern nur was sie waren oder werden können, so steht — wie nunmehr betont wird — nichts im Wege, mehrere rationelle Formeln für ein und denselben Körper aufzustellen, je nachdem man seinen Zusammenhang mit der einen oder der anderen Gruppe von Verbindungen zum Ausdruck bringen will. Der Streit über die Natur und die absolute Beschaffenheit der Radikale ist damit geschlichtet; denn sie erscheinen nun- mehr nur noch als Ergebnisse gewisser ideeller Zerlegungen, die wir vornehmen und die je nach dem herrschenden Ge- sichtspunkt der Vergleichung, den wir zugrunde legen, verschieden ausfallen können. Das Radikal besitzt jetzt keine selbständige Wirklichkeit mehr, sondern soll nur, wie Gerhardt selbst ausdrücklich hervorhebt, „die Beziehungen ausdrücken, in denen sich Elemente oder Atomgruppen ersetzen"*. Wir stehen damit am Beginn einer Auffassung, die allgemein darauf verzichtet, die Frage zu beantworten.
♦ Gerhardt, Trait6 de Chimie organique ; zit. nach Ladenburg, O., S. 235. (Vgl. S. 194 ff.)
286
ob und wie die Elemente in den Verbindungen, die sie eingehen, als solche fortexistieren, um statt dessen lediglich die meß- baren Relationen, die zwischen dem Anfangs- und Endzustand eines chemischen Umwandlungsprozesses bestehen, zu ent- decken und gemäß allgemeinen Regeln darzustellen. Sobald aber diese Phase erreicht ist ordnet sich die Chemie dem allgemeinen Grundplan der Energetik ein*, und tritt damit aus dem Kreise der empirisch beschreibenden Wissen- schaften in das Gebiet der mathematischen Natur- wissenschaft hinüber.
Ehe indessen diese Einreihung der Chemie in ein all- gemeineres wissenschaftliches Problem sich vollzieht, treten schon innerhalb ihrer selbst bestimmte Gesichtspunkte und Tendenzen hervor, die auf diese Umbildung der System- form hindeuten. Die erste Phase der Bestimmung der stoff- lichen Mannigfaltigkeit war dadurch gekennzeichnet, daß jedes Element durch den Wert seines Atomgewichts charakterisiert wurde. Jedem einfachen Körper kommt nunmehr — nach dem Leibniz'schen Ausdruck — eine bestimmte ,, charakte- ristische Zahl" zu: und diese Zahl gilt implicit als dasjenige, was die gesamte Fülle seiner empirischen Eigenschaften begrifflich zum vollkommenen Ausdruck bringt. Diese Dar- stellung der stofflichen Mannigfaltigkeit in einer Mannigfaltig- keit von Zahlen aber enthält bereits den Hinweis auf ein neues Problem. Wie es der eigentliche methodische Vorzug des Zahlgebiets ist, daß jedes Glied in ihm aus einer ursprünglichen Anfangssetzung nach bestimmten einheitlichen Regeln her- geleitet und konstruktiv entwickelt ist, so greift diese Forderung nunmehr auch auf alle die physikalischen und chemischen Bestimmungen über, die als abhängig von be- stimmten Zahlwerten erkannt sind. Auch sie dürfen nicht länger als ein regelloses Beisammen gedacht werden, sondern
* Über die „energetische" AuffassTing und Behandlung der Chemie s. bes. O s t w a 1 d , Elemente und Verbindungen, Faraday- Vorlesung, Leipzig 1904; sowie D u h e m , Le Mixte, Kap. IX und X,
287
müssen in ihrer Abfolge und ihrer allmählichen Veränderung durch ein exaktes Gesetz darstellbar sein.
Diese allgemeine Forderung findet ihre erste Erfüllung in der Aufstellung des periodischen Systems der Elemente. Die verschiedenen Eigenschaften der einfachen Körper, ihre Härte und Dehnbarkeit, ihre Schmelzbarkeit und Flüchtigkeit, ihre Leitungsfähigkeit für Wärme und Elektrizität usf. erscheinen jetzt als periodische Funktionen ihrer Atomgewichte. Denkt man sich die Gesamtheit der Elemente in eine Reihe geordnet, so findet sich, daß beim Fortgang in dieser Reihe die Eigenschaften der einzelnen Elemente sich von Glied zu Glied ändern, daß aber nach dem Durchlaufen einer bestimmten Periode die gleichen Eigen- schaften wiederkehren. Der Ort jedes Elements in dieser systematischen Grundreihe ist es also, wovon sein physikalisch- chemisches „Wesen", seine Beschaffenheit bis ins Einzelne abhängig ist. Einer der Hauptbegründer des periodischen Systems, Lothar Meyer, hat zugleich die neue prin- zipielle Wendung, die in ihm vorliegt, klar bezeichnet. Der „Stoff* ist jetzt aus dem Gebiet der naturwissenschaft- lichen Konstanten in das Gebiet der Variablen übergegangen. „Bis jetzt wurden in der Physik als variable Größen, von denen die Erscheinungen abhängen, besonders Ort und Zeit, ferner unter Umständen Wärme, Temperatur, Elektrizität und einige andere Größen in die Rechnung ein- geführt; der Stoff erschien, in Maß und Zahl ausgedrückt, in den Gleichungen nur als Masse, seine Qualität machte sich nur dadurch geltend, daß die in den Differential- oder den Bedingungsgleichungen auftretenden Konstanten für jede Art des Stoffes einen anderen Wert erhielten. Diese von der s t o f f 1 i c h e n N a t u r d e r S u b s t a n z e n ab- hängigen Größen als Variable zu behan- deln, war bisher nicht üblich geworden; aber dieser Fort- schritt ist jetzt gemacht worden. Man hat zwar auch bisher schon in den physikalischen Erscheinungen den Einfluß der stofflichen Natur der Materie berücksichtigt, indem man die physikalischen Konstanten für die verschiedensten Sub- stanzen bestimmte. Aber diese stoffliche Natur blieb stets
288
etwas Qualitatives; es fehlte die Möglichkeit, diese funda- mentale Variable in Zahl und Maß ausgedrückt in die Rech- nung einzuführen. Zu dieser Einführung ist jetzt ein, wenn auch noch sehr primitiver Anfang gemacht worden, indem der Nachweis geführt wurde, daß der Zahlenwert des Atom- gewichts die Variable ist, durch welche die substantielle Natur und die von ihr abhängigen Eigenschaften bestimmt werden*." Das Qualitative der einzelnen Stoffe wird mathematisch faßbar und beherrschbar, indem ein Gesichtspunkt entdeckt wird, nach welchem es sich in Reihen von bestimmtem Fort- schreitungsgesetz ordnet. Die Bedeutung dieses Gesichts- punkts tritt vor allem darin hervor, daß nunmehr Glieder der Mannigfaltigkeit, . die empirisch bisher nicht bekannt waren, auf Grund des allgemeinen systematischen Prinzips ge- fordert und vorausgesagt werden können und daß die fortschreitende Erfahrung diese Forderung bestätigt. —
Das deduktive Moment, das damit in die Chemie eintritt, läßt sich am deutlichsten in seiner Eigenart erfassen, wenn man es mit dem Ideal der Deduktion vergleicht, wie es einerseits in der spekulativ-metaphysischen Naturbetrachtung, andererseits in der mathematischen Physik ausgeprägt ist. In der Geschichte der Philosophie ist es gerade das Stoff- p r 0 b 1 e m , dem, abgesehen von seiner naturphilosophischen Seite, wiederholt eine wichtige erkenntnistheoretische Rolle zufiel. So entwickelt etwa Locke am Beispiel der chemischen Erkenntnis der Grundstoffe und ihrer Eigenschaften seine gesamte Auffassung von den Aufgaben wie von den Grenzen der naturwissenschaftlichen Forschung. Wahrhaftes Wissen gilt ihm nur dort als erreichbar, wo es möglich ist, allgemein- gültige Einsichten in notwendigeVerknüpfungen zu gewinnen. Nur dort, wo alle Eigenschaften des Gegen- standes aus seiner ursprünglichen Natur vollkommen ver- ständlich und gewiß sind, wo es also möglich ist, aus der Bekanntschaft mit dem Gegenstand alle seine Beschaffen- heiten unmittelbar zu erschließen und a priori zu bestimmen, kann von eigentlicher Erkenntnis, im strengen Sinne des
* L o t h a r M e y e r , a. a. O., S. 176. Cassirer Substanzbegriff 19 289
Wortes, geredet werden. Dieser Forderung aber, die in all unsern „intuitiven" Urteilen über mathematische Verhältnisse erfüllt ist, versagt sich unser naturwissenschaftliches Wissen. Hier, wo wir es lediglich mit der Sammlung und Beschreibung verschiedener Wahrnehmungstatsachen zu tun haben, bleibt es auf immer unmöglich, jene Abhängigkeit der Einzel- glieder voneinander herzustellen, durch die sie allein zu einem rational verbundenen und begriffenen Ganzen werden könnten. So viele Eigenschaften irgend einer Substanz man auch durch Beobachtung und Versuch entdecken mag, so ist doch damit die Frage nach ihrem inneren Zusammenhang um keinen Schritt weitergeführt. Wenn wir noch so viele Merkmale des Goldes, seine Dehnbarkeit, seine Härte, seine Feuer- beständigkeit usf. zusammenstellen, so können wir doch von ihnen aus keine einzige neue Bestimmung entdecken, so können wir niemals die Form der Verknüpfung ver- stehen, kraft deren bestimmten Merkmalen der einen Art stets bestimmte andere einer anderen Art entsprechen. Eine derartige Einsicht, die unsere Kenntnis der Natur erst zu echter Wissenschaft, wie sie in der Mathematik vorliegt, erheben würde, wäre nur dann möglich, wenn wir, statt lediglich Beobachtungen über das empirische Beisammen oder die empirische Unverträglichkeit von Merkmalen zu sammeln, das Problem „am andern Ende" anfassen könnten; wenn wir von irgendeiner Wesensbestimmung des Goldes aus- gehen könnten, um aus ihr die Gesamtheit der sekundären Eigenschaften deduktiv abzuleiten*. Die moderne Wissen- schaft hat das Ideal, das Locke hier entwirft, zum Teil erfüllt; aber sie mußte freilich zuvor diesem Ideal selbst einen neuen Sinn verleihen. Sie stimmt mit Locke darin überein, daß die Ableitung der Einzelmerkmale eines Stoffes aus seiner „sub- stantiellen Wesenheit" die Aufgabe des exakten und empiri- schen Wissens übersteigt; aber sie verzichtet darum nicht auf jeden begrifflichen Zusammenhang der empirischen Daten selbst. Sie faßt die Vielheit der Elemente in eine Grundreihe zusammen, deren Glieder
* Locke, Essay on human understanding, Buch IV, Kap. 6. 290
tSI
nach einem bestimmten Prinzip aufeinanderfolgen und be- stimmt sodann die einzelnen Eigenschaften der Körper als Funktionen ihrer Stellung in dieser Reihe. Wie aus der an- genommenen Grundeigenschaft die weiteren Merkmale folgen, wie aus einem bestimmten Atomgewicht sich eine bestimmte Dehnbarkeit und Härte, Schmelzbarkeit und Flüchtigkeit er- gibt, das bleibt freilich auch hier unbeantwortet; nichts- destoweniger aber wird das Faktum dieser Abhängigkeit selbst zu dem Versuch benutzt, auf Grund bestimmter allgemeiner Daten gewisse spezielle Beschaffenheiten zu berechnen und vorherzusagen. Die funktionale Verknüpfung, die hier geschaffen wird, enthält daher freilich weniger, als die meta- physische Einsicht aus den letzten Wesensgründen, aber sie bietet zugleich mehr als eine bloß empirische Zusammen- stellung unverbundener Einzelheiten. Die Ordnung der Elemente, die nunmehr entsteht, bietet wenigstens ein A n a - logon der Mathematik,, also ein Analogon der exakten und ,, intuitiven" Erkenntnis. In das absolute Sein der Körper dringen wir dadurch freilich nicht tiefer ein; aber wir erfassen jetzt schärfer die Regeln ihres systematischen Zusammenhangs. (Vgl. oben, S. 276 ff.) Zugleich aber führt diese Lösung alsbald zu einer neuen Frage. Es entsteht das Problem, die Atomgewichte, die zunächst nur als diskrete Werte eingeführt waren, durch stetige Abwandlung aus- einander hervorgehen zu lassen und das Gesetz zu bestimmen, nach welchem bei einer derartigen Variation die abhängigen Eigenschaften sich ändern müßten. Denken wir uns diese Aufgabe gelöst, so wären wir damit logisch in eine andere Form der Begriffsbildung eingetreten: statt einer Anzahl von Regeln über das Zusammenbestehen von Eigenschaften be- säßen wir nunmehr ein einheitliches, mathematisch dar- stellbares Gesetz der kausalen Abhängigkeit zwischen den Änderungen verschiedenartiger Größen. Die Atomgewichte, in denen wir die Eigenart und die Besonderheit der Elemente ausdrücken, ständen jetzt nicht mehr als gegebene starre Einzelwerte nebeneinander, sondern ließen sich in ihrer Ent- stehung auseinander verfolgen. Der chemische Begriff wäre damit in den physikalischen Begriff übergegangen. Die neueste
19* 291
Phase der Naturwissenschaft, die aus der Betrachtung der Erscheinungen der Radioaktivität hervorgegangen ist, scheint diese Wendung bereits unmittelbar zu bezeugen: denn für sie, die eine stetige Umwandlung der Elemente ineinander annimmt, ist der einzelne Stoff in all seiner sinnlichen Abgeschlossen- heit dennoch nur der Durchgangspunkt in einem bestimmten dynamischen Prozeß. Indem das chemische Atom sich in ein System von Elektronen auflöst, verliert es damit die ab- solute Festigkeit und Unveränderlichkeit, die ihm bisher zu- gesprochen wurde und erscheint als ein bloß relativer Ruhe- punkt — als ein Einschnitt, den der Gedanke im stetigen Fluß des Geschehens setzt. Wie immer man über das positive Recht derartiger Annahmen urteilen mag: in jedem Falle zeigen sie in charakteristischer Deutlichkeit den Weg, auf dem der wissenschaftliche Begriff fortschreitet. Die chemische Forschung beginnt damit, eine Mehrheit tatsächlicher Beobach- tungen, die zunächst noch unverbunden nebeneinander stehen, in festen Zahl- und Maßbestimmungen zu fixieren. Aber diese durch die Beobachtung gewonnenen Zahlwerte ordnen sich alsbald zu Reihen, die nach einer Regel fortschreiten und in denen daher die folgenden Glieder aus den vorangehenden bestimmbar sind. Indem aber auf diese Weise die empirischen Mannigfaltigkeiten sich in rationale umgestalten, entsteht dadurch zugleich die Aufgabe, die Gesetzlichkeit der Struk- turverhältnisse auf ein tiefer liegendes kausales Gesetz des Geschehens zurückzuführen und in ihm erschöpfend zu begründen. In dieser fortschreitenden Be- wältigung des empirischen Materials tritt zugleich die Eigenart des logischen Prozesses hervor, kraft dessen der Begriff, indem er den Tatsachen gehorcht, zugleich die intellektuelle Herr- schaft über die Tatsachen gewinnt.
IX.
Das eigentlich methodische Interesse der chemi- schen Begriffsbildung liegt darin, daß in ihr das Verhältnis desAllgemeinen zumBesonderen in eine neue Beleuchtung gerückt wird. Die Betrachtung der physika- lischen Begriffe und Methoden läßt zunächst nur eine
292
Seite dieses fundamentalen Verhältnisses klar hervortreten. Das Ziel der theoretischen Physik sind und bleiben die all- gemeinen Gesetze des Geschehens. Die besonderen Fälle wollen, sofern sie in den Kreis der Betrachtung gezogen werden, nur als Paradigmen gelten, an denen diese Gesetze darzustellen und zu erläutern sind. Je weiter indessen diese wissenschaft- liche Aufgabe verfolgt wird, um so schärfer wird nunmehr die Trennung, die zwischen dem System unserer Begriffe und dem System des Wirklichen entsteht. Denn alle ,, Wirklichkeit" bietet sich uns in individueller Gestalt und Formung und somit in einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Einzelzügen dar, während alles Begreifen, gemäß seiner Grundfunktion eben in der Abwendung von dieser konkreten Totalität der Einzelzüge besteht. Wiederum tritt unverhüllt jene Antinomie hervor, die bereits im Natursystem des Aristoteles ihren ersten bezeichnenden Ausdruck ge- funden hat. Alles Wissen will Wissen vom Allgemeinen sein und vollendet sich erst in diesem Ziele, während das wahrhafte und ursprüngliche Sein nicht dem Allgemeinen, sondern den individuellen Substanzen in der dynamischen Stufenfolge ihrer Verwirklichung zukommt. Die geschichtlichen Kämpfe, die während des Mittelalters und bis weit in die neuere Zeit hin um das Aristotelische System geführt werden, erklären sich größtenteils aus diesem Gesichtspunkt: der Widerstreit des ,, Nominalismus" und „Realismus" stellt nur eine Weiter- bildung des Problems dar, das bereits in den ersten Anfängen der Aristotelischen Metaphysik und Erkenntnislehre latent ist. In der Philosophie der Gegenwart hat der Gegensatz, der hier zugrunde liegt, seine schärfste Ausprägung in Rickerts Theorie der naturwissenschaftlichen Begriffs- bildung gefunden. Die Richtung des Denkens auf den „Be- griff" hin und die Richtung auf das Wirkliche schließen hier wechselweise einander aus. Denn in dem Maße, als der Begriff seine Aufgabe fortschreitend erfüllt, weicht das Gebiet der anschaulichen Einzeltatsachen mehr und mehr zurück. Die Vereinfachung, die er gegenüber der intensiven und extensiven Mannigfaltigkeit der Dinge vornimmt, be- deutet zugleich eine ständige Verarmung ihres Wirk-
293
lichkeitsgehalts. Das Endziel, dem die Körperwissenschaften ebenso wie alle anderen Naturwissenschaften zustreben, besteht in einer Entfernung der empirischen Anschauung aus dem Inhalt ihrer Begriffe. Die Wissenschaft schließt somit nicht die Kluft zwischen den „Gedanken" und den „Tatsachen", sondern sie selbst ist es, die diese Kluft erst schafft und die sie ständig erweitert. „Welches auch immer der Inhalt der Begriffe sein mag, zur empirischen Welt des
Anschaulichen steht er im entschiedensten Gegensatz
Das Individuelle im strengen Sinne verschwindet bereits durch die primitivste Begriffsbildung, und schließlich kommt die Naturwissenschaft darauf hinaus, daß alle Wirklichkeit im Grunde genommen immer und überall dieselbe ist, also gar
nichts Individuelles mehr enthält Dies aber ist durchaus
nicht der Fall, und sobald wir nur daran denken, daß jedes Stück der Wirklichkeit sich in seiner anschaulichen Gestaltung von jedem andern unterscheidet, und daß ferner das Einzelne, Anschauliche und Individuelle die einzige Wirklichkeit bildet, die wir kennen, so muß uns auch die Tragweite der Tatsache, daß alle Begriffsbildung die Individualität der Wirklichkeit vernichtet, zum Bewußtsein kommen. Wenn nämlich nichts Individuelles und Anschauliches in den Inhalt der natur- wissenschaftlichen Begriffe eingeht, ' so folgt daraus, daß nichts Wirkliches in sie eingeht. Die Kluft zwischen den Begriffen und den Individuen, die durch die Naturwissenschaft hervorgebracht werden muß, ist also eine Kluft zwischen den Begriffen und der Wirklichkeit überhaupt*."
Besteht indessen diese logische Folgerung zu Recht: so ist die wissenschaftliche Forschung selbst über das Ziel, dem sie zustrebt, bisher in einer seltsamen Selbsttäuschung befangen gewesen. Denn alle die großen exakten und empirischen Forscher glaubten und glauben noch, daß die Aufgabe ihrer Wissenschaft darin besteht, das Wirkliche selbst mehr und mehr mit der Erkenntnis zu durchdringen und zu immer bestimmterer Anschauung zu erheben. An Stelle
• Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs- bildung, Tübingen und Leipzig 1902, S. 235 ff.
294
einer zufälligen und fragmentarischen Betrachtung der Dinge, die sich für jeden individuellen Beobachter anders darstellt, sollte ein vollständiger Überblick über sie, an Stelle des eng- begrenzten naiven Weltbildes eine umfassende Einsicht ge- wonnen werden, die uns die feineren Strukturverhältnisse des Wirklichen erst erschließt und sie bis ins einzelne verfolgen läßt. Wie aber ließe sich dieser Forderung genügen, wenn das logische Instrument, dessen die Forschung sich bedient, wenn der naturwissenschaftliche Begriff ihr unmittelbar widerstreitet? Was unseren Blick für die Einzelheiten der empirischen Anschauung schärfen sollte, das stumpft ihn, wie wir jetzt erkennen müssen, vielmehr ab; was unsere Kenntnis der Tatsachen zu befestigen und zu erweitern schien, das entfernt uns vielmehr immer weiter von dem eigentlichen Kern des ,, Tatsächlichen" selbst. Das begriffliche Verständnis der Wirklichkeit kommt der Vernichtung ihres charakte- ristischen Grundgehalts gleich. So eigentümlich dieses Ergeb- nis indessen berühren mag: so zwingend folgt es in der Tat aus den Prämissen, die Rickerts Theorie zugrunde legt. Ist der Begriff, gemäß der herrschenden logischen Lehre nichts anderes als eine „Vorstellung vom Gemeinsamen", so ist und bleibt er unfähig, das Besondere als Besonderes zu erfassen. Seine Funktion ist alsdann nicht wesentlich von der des Wortes verschieden, mit der sie denn auch von Rickert, der hierin S i g w a r t folgt, zunächst völlig auf eine Stufe gestellt wird. Alles Vorgestellte wird — wie Sigwart ausführt — entweder als einzeln existierend oder aber abgesehen von den Bedingungen seiner Einzelexistenz vorgestellt und heißt alsdann insofern allgemein, als das Vorgestellte, wie es rein innerlich gegenwärtig ist, in einer beliebigen Menge von einzelnen Dingen oder Fällen existierend gedacht werden kann. Der Ausdruck für diesen innerlich gegenwärtigen Gehalt des Vorgestellten ist d a s W o r t als solches. Wie nun etwa dem Wort ,, Vogel" kein völlig bestimmter anschau- licher Gehalt entspricht, vielmehr darin nur gewisse unsichere Umrisse der Gestalt zugleich mit der vagen Vorstellung der Flugbewegung festgehalten sind, so daß ein Kind auch den fliegenden Käfer oder Schmetterling als Vogel bezeichnen
295
kann: so gilt das gleiche ursprünglich für alle unsere All- gemeinvorstellungen. Auch sie sind nur möglich, weil wir neben den konkreten und in sich vollendeten Sinneswahr- nehmungen auch über unvollständigere und weniger genaue Bewußtseinsinhalte verfügen. Die Unsicherheit der Erinne- rungsbilder, die wir von unseren tatsächlichen Empfindungen zurückbehalten, bringt es mit sich, daß sich im wirklichen Prozeß des Bewußtseins neben den lebendigen und unmittelbar gegenwärtigen sinnlichen Anschauungen stets abgeblaßte Reste von ihnen finden, die nur den einen oder anderen Zug von ihnen aufbewahrt haben: und diese letzteren sind es, die das eigentliche psychologische Material zum Aufbau der begrifflichen Allgemeinvorstellungen enthalten. Die Fähigkeit einer Vorstellung, auf nicht bloß räumlich und zeitlich, sondern inhaltlich Verschiedenes angewendet zu werden, ist zunächst mit ihrer Unbestimmtheit ge- geben: ,,je unbestimmter, desto leichter die Anwendung". Der scheinbare Reichtum der Begriffsfunktion, die immer neue und immer entlegenere Elemente in den Kreis der Ver- gleichung hineinzuziehen vermag, beruht also vielmehr auf der Armut des psychologischen Substrats, an welches sie anknüpft. Auch der wissenschaftliche Begriff entsteht auf dem gleichen Wege und unter den gleichen Bedingungen. Sein Unterschied von den naiven Begriffen der Sprache und der populären Weltansicht besteht nur darin, daß das Verfahren, das dort unbewußt wirksam ist, hier mit kritischem Bewußtsein geübt wird. Wenn die Wege der natürlichen, sich selbst überlassenen Abstraktion sich vielfältig ver- schlingen und kreuzen, wenn somit hier niemals zu einem völlig festen und eindeutigen Ergebnis zu gelangen ist, so besteht die Leistung der Wissenschaft darin, diese Viel- deutigkeit aufzuheben, indem sie für die Auswahl des Wahr- nehmungsmaterials bestimmte Vorschriften aufstellt, die sie in allgemeingültigen Definitionen fixiert. Die verschiedenen Abstraktionsgebilde erhalten damit gegeneinander eine sichere Abgrenzung, indem jedes von ihnen einen einzigen Kreis von Merkmalen umfaßt: und diese Konstanz und allseitige Unterscheidung eines mit einem bestimmten Worte be-
296
zeichneten Vorstellungsgehalts ist es, was das Wesen des Be- griffs ausmacht*. Die Entfernung von der lebendigen An- schauung der Einzeltatsachen aber ist jetzt noch größer geworden als zuvor. Denn bei den Wortbedeutungen steht die konkrete Vorstellung der Inhalte, die sie bezeichnen sollen, doch immer noch im Hintergrund des Bewußtseins, wenn- gleich sie sich nicht zu ausdrücklicher Klarheit zu erheben braucht, während der wissenschaftliche Begriff, je reiner er sich gestaltet, sich um so mehr von diesem letzten Rest der Anschauung befreit. Er wird dadurch zu einem völlig übersehbaren und für unser Denken beherrschbaren Ganzen, aber er muß freilich andererseits darauf verzichten, die Wirklichkeit, die stets nur in individueller Form vor- handen und erfaßbar ist, zu ergreifen und wiederzugeben. — Was in dieser Deduktion zunächst auffällt, ist der Um- stand, daß sie den naturwissenschaftlichen Begriff, den sie kritisiert, zuvor von dem Zusammenhang loslöst, in welchem er logisch entsteht und aus dem er fortdauernd seine eigentliche Kraft schöpft. Die exakten naturwissen- schaftlichen Begriffe setzen nur einen gedanklichen Prozeß fort, der bereits innerhalb der reinen mathematischen Erkenntnis wirksam ist. Die Kritik der populären Wort- bedeutungen trifft daher diese Begriffe nicht, da sie von Anfang an auf einem anderen Boden stehen und in völlig anderen Voraussetzungen wurzeln. Die theoretischen Begriffe der Naturwissenschaft sind keineswegs bloß gereinigte und idealisierte Wortbedeutungen; denn ihnen allen haftet ein Moment an, das demWort als solchem völlig fremd ist. Sie ent- halten, wie sich gezeigt hat, durchgehend den Hinweis auf ein exaktes Reihenprinzip, das uns anweist, das Mannigfaltige der Anschauung in bestimmter Weise zu ver- knüpfen und gemäß einem vorgeschriebenen Gesetz zu durch- laufen. Für den „Begriff" in diesem Sinne aber besteht die Antinomie nicht, auf die Rickert seine Beweisführung stützt. Hier kann keine unüberbrückbare Kluft zwischen dem „AU-
* S. hierzu S i g w a r t , Logik^ I, 45 ff., I, 325 u. s. ; vgl. Rickert, a. a. O., S. 32 ff., 47 ff. (S. auch Kap. I.)
297
gemeinen" und dem „Besonderen" entstehen, da das All- gemeine selbst keine andere Bedeutung und keine andere Funktion hat, als eben den Zusammenhang und die Ordnung des Besonderen selbst zu er- möglichen und zur Darstellung zu bringen. Denkt man das Besondere als Reihenglied, das Allgemeine als R e i h e n- p r i n z i p , so ist alsbald deutlich, daß beide Momente, ohne ineinander überzugchen und sich inhaltlich irgendwie miteinander zu vermischen, doch in ihrer Leistung durch- gehend aufeinander angewiesen sind. Es ist nicht einzusehen, daß irgend ein konkreter Inhalt seiner Besonderheit und An- schaulichkeit verlustig gehen müßte, sobald er mit anderen gleichartigen Inhalten in verschiedene Reihen-Zusammen- hänge gestellt und insofern ,, begrifflich" gefaßt und geformt wird. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: je weiter diese Formung fortschreitet und je mehr Beziehungskreise es sind, in die das Besondere eintritt, um so schärfer hebt sich auch seine Eigenart ab. Jeder neue Gesichtspunkt der Relation — und der Begriff ist nicht mehr als ein solcher Gesichtspunkt — läßt zugleich an ihm eine neue Seite, eine neue spezifische Beschaffenheit hervortreten. Hier trifft somit die Logik mit der Auffassung der konkreten Wissenschaft selbst wiederum zusammen. Jeder echte naturwissenschaft- liche Begriff beweist in der Tat seine Fruchtbarkeit eben darin, daß er einen Weg zu neuen, bisher nicht bekannten Gebieten von ,, Tatsachen" weist. Er wendet sich nicht von dem besonderen Material der Anschauung ab, um es zu- letzt gänzlich aus den Augen zu verlieren, sondern er bezeichnet stets eine Richtung, die uns, weiter verfolgt, immer neue Besonderheiten im Mannigfaltigen der Anschauung kennen lehrt. So ist etwa der chemische „Begriff" eines bestimmten Körpers durch seine Konstitutionsformel gegeben, in der er als besonderer Stoff in seiner eigentümlichen Struktur aufgefaßt, zugleich aber den verschiedenen chemischen ,, Typen" eingeordnet und damit in ein bestimmtes Ver- hältnis zu der Gesamtheit der übrigen Körper gerückt wird. Die gewöhnliche chemische Formel, die nur im allgemeinen seine Zusammensetzung, nicht aber die Art des Aufbaus der
298
einzelnen Elemente wiedergibt, wird hier durch eine Fülle neuer Beziehungen bereichert. Die allgemeine Regel, die wir jetzt besitzen, gestattet zugleich zu verfolgen, in welcher Weise und nach welchem Gesetz der gegebene Stoff in andere über- geht: sie schließt nicht nur die Form seines Daseins in einem bestimmten Moment, sondern die Allheit seiner möglichen räumlich-zeitlichen Phasen in sich. Je weiter die chemische Begriffsbildung fortgeht, um so schärfer prägt sich somit die Fähigkeit der Unterscheidung des Besonderen aus. Stoffe, die vom Standpunkt des unentwickelten Begriffs als gleichartig — weil als , .isomer" — zu bezeichnen waren, treten vom Standpunkt des entwickelten Begriffs deutlich auseinander und grenzen sich bestimmt in ihrer Eigentümlich- keit ab. So treffen wir hier nirgends auf jene vage „All- gemeinheit", die den populären Wortbedeutungen anhaftet. Das besondere Reihenglied, dessen Stellung im Ganzen des Systems bestimmt werden soll, kann als solches durchaus er- halten bleiben; — zugleich aber besitzt die Relation, kraft deren es mit anderen zu einer Gesamtgruppe zusammengefaßt wird, eine scharf ausgeprägte Bedeutung, in welcher sie sich von anderen Beziehungsformen unterscheidet. Nur die Allgemeinheit des verschwommenen Gattungsbildes bedroht das Einzelne in seiner Eigenart, während die All- gemeinheit des bestimmten Relationsgesetzes diese Eigen- art festigt und allseitig kenntlich macht. —
Die Kritik R i c k e r t s trifft somit zuletzt nur eine Form der Begriffsbildung, die er selbst als ungenügend erkennt und zurückweist. Sie steht unter dem Gesichtspunkt der ,,Subsumtionstheorie"*, die doch andererseits für die positive Begründung der exakten Begriffe abgelehnt wird. Erkennt man mit Rickert an, daß alle Dingbegriffe der Naturwissenschaft die Tendenz in sich tragen, sich mehr und mehr in reine Beziehungsbegriffe umzu- gestalten, so ist damit zugleich implicit zugestanden, daß der eigentliche logische Wert der Begriffe nicht an der Form der
* Vgl. hierzu die treffenden kritischen Bemerkungen von M. Frisch- eisen-Köhler, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs- büdung, Arch. f. System. Phüosophie XII (1906), S. 225 ff.
299
abstrakten „Allgemeinheit" haftet. „Ein wertvolles Glied in den auf die Erkenntnis des Ganzen der Körperwelt ge- richteten Bestrebungen," so heißt es bei Rickert selbst, „kann eine Wissenschaft nur sein, wenn sie schon in den ersten An- sätzen zu den Bildungen ihrer Begriffe das endgültige Ziel aller Naturwissenschaft im Auge hat, die Einsicht in die naturgesetzliche Notwendigkeit der Dinge. Hat sie aber dieses Ziel im Auge, dann wird sie überall die rein klassifikatorische Begriffsbildung sobald wie möglich zu verlassen streben, d. h. sie wird sich niemals bei Begriffen begnügen, die bloße Merkmalskomplexe sind, sondern es wird jede Zusammen- fassung von irgend welchen Elementen zu einem Begriff immer unter der Voraussetzung geschehen, daß die zusammen- gefaßten Elemente entweder direkt in einem naturgesetzlich notwendigen, d. h. unbedingt allgemeingültigen Zusammen- hange stehen, oder in ihrer Zusammenstellung wenigstens Vorstufen zu solchen Begriffen abgeben, in denen ein natur- gesetzlich notwendiger Zusammenhang zum Ausdruck kommt. Gewiß bildet die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen unser Erkennen, wenigstens soweit es sich um ein Erkennen im Sinne der Naturwissenschaften handelt, aber gerade darum können die Bedeutungen nicht Vorstellungen, sondern müssen ihrem logischen Wert nach Urteile sein, die Gesetze entweder enthalten oder vorbereiten*." Gegenüber diesen klaren Ausführungen läßt sich der kritische Punkt in Rickerts Theorie alsbald bezeichnen: der Schwer- punkt der Betrachtung wird hier fälschlich von der Not- wendigkeit der begrifflichen ,, Bedeutungen" in die Allgemein- heit der Gattungsvorstellungen verschoben. Nur von ,, Vor- stellungen" kann gesagt werden, daß sie, je allgemeiner sie werden, um so mehr an anschaulicher Schärfe und Klarheit einbüßen, bis sie schließlich zu bloßen Schemen ohne eigent- lichen Wirklichkeitsgehalt verkümmern. Urteile dagegen bestimmen das Einzelne um so genauer, in einen je weiteren Umkreis der Vergleichung und Zuordnung sie es einbeziehen. Das Wachstum des Umfangs geht hier mit der Bestimmung
* a. a. O., S. 71, 73. 300
des Inhalts parallel (s. oben, Kap. I). Die Allgemeingültigkeit eines Urteils bezeichnet ja nicht eine Quantität des Urteils- subjekts, sondern eine Qualität der Urteilsverknüpfung, so daß auch Urteile über Einzelnes durchaus allgemeingültig sein können. Der Satz S ist P besagt in diesem Falle nicht, daß die Eigenschaft P in einer Mehrheit von Subjekten gleich- mäßig enthalten ist, sondern daß sie diesem besonderen Subjekt, ihm aber unbedingt und mit objektiver Notwendig- keit zukomme. Indem wir also das Gegebene der Sinnes- empfindung kraft der naturwissenschaftlichen Gesetze in ein Notwendiges umdenken, haben wir damit an seinem materialen Inhalt nichts geändert, sondern es lediglich unter einen neuen Gesichtspunkt der Beurteilung gestellt. Nicht ein Ganzes ,, individueller" Dinge geht hier in ein Ganzes ,, all- gemeiner" Dinge über: sondern ein relativ loses Nebeneinander empirischer Bestimmungen fügt sich zu einem System objektiv gültiger Verknüpfungen zusammen. Nicht eine eigene Art von Gegenständen wird erschaffen; sondern ein und derselben Erfahrungswirklichkeit wird eine neue kategoriale Form aufgeprägt. Der Übergang zur ,, Allgemeinheit" ist daher gleichsam ein sekundäres Moment, das nicht die eigentliche Grundtendenz der Begriffsbildung trifft; er ist, sofern er eintritt, nur ein Symptom und Ausdruck für jenen Über- gang zur Notwendigkeit, der durch die Aufgabe der natur- wissenschaftlichen Erkenntnis selbst gesetzt und gefordert ist*.
* Eine mittelbare Bestätigting dieser Ansicht finde ich nachträgUch in der neuesten Darstellung der Rickertschen Theorie, die die soeben er- schienene Schrift von Sergius Hessen, ,, Individuelle Kausalität" enthält (Ergänzungshefte der Kantstudien, Nr. 15, Berlin 1909). Hessen imter- scheidet, um den Gegensatz zwischen der naturwissenschaftlichen und der historischen Begriffsbildung scharf hervortreten zu lassen, zwei verschiedene Formen der Kausalität. Die Kausalität, wie die Naturwissenschaft sie behauptet und für ihre Erklärungen zugrunde legt, geht in dem Gedanken der allgemeinen Gesetzmäßigkeit auf. Ein Ereignis kausal begreifen, heißt im Sinne dieser Auffassung es unter allgemeine Gesetze substimieren : was auf diese Weise erkannt wird, wird somit niemals in seiner schlechthin einmaligen und unwiederholbaren Eigenart, sondern immer nur als Exemplar eines Gattungsbegriffs erfaßt und dargestellt. Der Gehalt des Kausal- gedankens überhaupt aber ist durch dieses einseitige naturwissen- schaftliche Schema nicht erschöpft. Denn Ursächlichkeit bedeutet ihrem letzten Grunde nach nichts anderes als die „Notwendigkeit der zeitlichen
301
In einer Hinsicht freilich bleibt die Trennung zwischen dem naturwissenschaftlichen Begriff und der „Wirk- lichkeit", wie sie uns in den sinnlichen Eindrücken gegeben ist, bestehen. Keiner der Grundbegriffe der Naturwissenschaft läßt sich als Bestandteil der sinnlichen Wahrnehmung
Aufeinanderfolge der Wirklichkeitsstücke**: eine solche Notwendigkeit aber müssen wir auch dort postulieren, wo wir es mit der Abfolge rein individueller Ereignisse zu tun haben, die somit niemals in genau derselben Weise wiederkehren können. Die spezifisch ,, historische Kau- salität*' gründet sich auf die Anwendung dieses Gesichtspunktes; ihr Bogriff entspringt, sobald wir in ein einmaliges zeitlich determiniertes Geschelien, ohne es als einen Sonderfall allgemeiner Gesetze begreifen zu wollen, dennoch den Gedanken der Notwendigkeit imd Eindeutigkeit des Verlaufs hinein- legen. (Vgl. H e 8 8 e n , a. a. O., bes. S. 32 ff., S. 73 ff., u. s.) Hier zeigt sich jedenfalls, daß für den naturwissenschaftlichen und den historischen „Be- griff** dennoch eine übergreifende Einheit besteht, aus welcher beide sich ableiten : und diese Einheit wird durch den Gedanken der Not- wendigkeit konstituiert. Bei Hessen selbst wird diese Notwendigkeit zvmächst in die „objektive Wirklichkeit*' verlegt, die als solche von jeder Form der begriffliclien Deutung, gleichviel ob sie in der Richtung der naturwissenschaftliclien oder der geschichtlichen Begriffe erfolgt, prinzipiell frei gedacht werden soll. Eine genauere erkenntnistheoretische Analyse ergibt indes, daß eben diese Wirklichkeit nicht im Sinne einer absoluten metaphysischen Existenz zu nehmen, sondern als eine regulative Idee aufzufassen ist, die unsere verschiedenen, methodisch auseinander- gehenden Konzeptionen auf ein gemeinsames Ziel hin dirigiert. (Vgl. bes. S. 88 ff.) Es zeigt sich somit, mit anderen Worten, daß die methodologische Unterscheidung der „allgemeinen** Naturbegriffe von den „individuellen" Gescliichtsbegriffen einen Zusammenhang zwischen beiden nicht ausschließt, sondern vielmehr fordert: was vom Standpunkt der „All- gemeinheit" logisch auseinanderfällt, das strebt wiederum zusammen, sobald wir diesen Standpunkt mit dem der Notwendigkeit vertauschen. Halten wir diesen letzteren Gedanken als den eigentlich ursprünglichen und entscheidenden fest, so wird ferner deutlich, daß auch der Unter- schied im Grade der „Allgemeinheit" selbst sich niemals zu einem un- bedingten Gegensatz zu steigern vermag. Sofern wir die Idee der Notwendigkeit auf ein besonderes zeitliches Geschehen anwenden, sofern wir also behaupten, daß dieses individuelle A dieses individuelle B notwendig foraert und nach sich zieht, so ist eben in dieser Feststelliuig eines einmaligen Sachverhalts ziigleich ein Moment des Allgemeinen implicit mitgesetzt. Denn in diesem Urteil ist zwar der Fall, daß der Gesamtkomplex A jemals in genau derselben Bestimmtheit wiederkehrt, ausgeschlossen ; zugleich aber ist in ihm ausgesagt, daß, w e n n A sich in dieser Weise wiederholte, damit B und nur B als wirklich gefordert wäre. Wer also in der Geschichte mehr sieht als eine bloße positivistische „Be- schreibung** des Nacheinander verschiedener Ereignisse, wer auch ihr eine besondere Art des kausalen Urteils zugesteht : der hat diese Form des „Allgemeinen" in ihr bereits anerkannt. Die Allgemeinheit haftet nicht an dem kategorischen, sondern an dem hypothetischen Teil der
302
aufweisen und durch einen unmittelbar entsprechenden Ein- druck belegen. Immer deutlicher hat es sich vielmehr gezeigt, daß das naturwissenschaftliche Denken, je weiter es seine Herrschaft ausdehnt, um so mehr zu begrifflichen Konzep- tionen gedrängt wird, die im Gebiet der konkreten Empfin- dungen kein Analogon mehr besitzen. Nicht nur hypothetische
je : die Form des Zusammenhangs von A und B wird ideell ins Allgemeine projiziert, wenngleich die einzelnen Elemente nur eine einmalige Wirklichkeit besitzen mögen. Der historische Begriff, der diese Wirklichkeit zu fassen versucht, bezieht sich mittelbar auf die universelle Form der Notwendigkeit, wie andererseits der exakte natur- wissenschaftliche Begriff, der zunächst der Ausdruck eines allgemein gültigen Relationszusammenhangs sein will, eine Bewährung und Anwendung im zeitlich bestimmten Einzelfalle sucht. Nur die Richtung der Be- ziehung des ,, Besonderen" auf das ,, Allgemeine" ist somit verschieden, während die Korrelation der beiden Momente sich in beiden Fällen als notwendig erweist.
Hier handelt es sich also nicht um einen Gegensatz zwischen dem ,, Begriff" schlechthin und der absoluten ,, Wirklichkeit", sondern um eine Unterscheidung, die sich rein innerhalb des Systems der Begriffe selbst hält. Hessen selbst hebt diesen Umstand und damit den begrifflichen Cha- rakter, der auch der Geschichte eignet, nachdrücklich hervor. ,,Die entgegengesetzte Meinung, welche die Geschichte zu einer anschaulichen Wissenschaft machen und sie mit der Wirklichkeit verknüpfen will, macht sich eines historischen Begriffsrealismus schuldig, der ebenso gefährlich ist, wie der naturwissenschaftliche." Auch die historischen Begriffe sind ,,im allgemeinen Produkte einer mehr oder weniger starken Abstraktion" und somit als solche ebensowenig anschaulich wie die Begriffe der Natvirwissenschaften. ,,Als individualisierende Kulturwissen- schaft bedeutet Geschichte eine Entfermuig von der Wirklichkeit ; prinzipiell steht sie der letzteren ebenso nah wie die Naturwissenschaften, auch sie arbeitet mit Begriffen, vmd zwar — mit individuellen Begriffen. Dem historischen Begriffsrealismus gegenüber muß das besonders betont werden." ( S. 2 7 f f . ) Hier zeigt es sich von einer anderen Seite her, daß die Trennung des naturwissenschaftlichen Begriffs vom historischen auf der anderen Seite eine bestimmte Verknüpfung zwischen beiden voraussetzt : die Begriffsfunktion als solche muß in ihrer einheitlichen Grundform verstanden und abgeleitet sein, ehe die Differenzierung in verschiedene Begriffsarten einsetzen kann. Diese Grundform aber liegt nicht im^ Gattungs- begriff, sondern im Reihenbegriff, der für jegliche Art der ,, For- mung" des anschaulich Gegebenen unentbehrlich ist. Die Einordnung des Einzelnen in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang, die sich immer deutlicher als das eigentliche Ziel der natiirwissenschaf tlichen Begriffsbildung herausgestellt hat, bildet eine wesentliche Aufgabe auch der geschichtlichen Begriffe. Diese ,, Einordnung" kann unter mannigfachen Gesichtspunkten und gemäß verschiedenen Motiven erfolgen: sie besitzt nichtsdestoweniger logisch übereinstimmende Züge, die sich als das Wesen „des" Begriffs be- stimmen und herausheben lassen.
303
Begriffe, wie das Atom oder derAether, sondern rein empirische Begriffe, wie Materie oder Bewegung, lieferten den Beleg dafür, daß die wissenschaftliche Forschung neben den ,, gegebenen" Elementen der Wahrnehmung die rein idealen und in keiner direkten Erfahrung aufzeigbaren Grenzbegriffe, daß sie neben dem „Wirklichen" das ,, Nicht-Wirkliche" nicht zu entbehren vermag. (S. oben, S. 159 ff.) Aber es wäre nichts- destoweniger ein Mißverständnis, wenn man annähme, daß die exakte Wissenschaft sich durch diesen eigentümlichen Grundzug ihrer Begriffsbildung den Aufgaben, die das empi- risch-konkrete Dasein ihr stellt, mehr und mehr entfremdet. Gerade in dieser scheinbaren Abkehr von der Wirklichkeit der Dinge strebt sie ihr vielmehr auf einem neuen Wege zu. Eben jenen Begriffen, die keinen direkt aufweisbaren an- schaulichen Gehalt mehr besitzen, kommt dennoch eine unentbehrliche Funktion für die Gestaltung und den Aufbau der anschaulichen Wirklichkeit zu. Die Bestimmungen, zu deren Ausdruck die naturwissenschaftlichen Grundbegriffe geschaffen sind, haften den empirischen Gegenständen freilich nicht wie wahrnehmbare Eigenschaften, wie ihre Farbe oder ihr Geschmack an; aber sie sind andererseits Verhältnisse eben dieser empirischen Gegenstände selbst. Die Urteile, die hier geprägt werden, sind daher, so wenig sie selbst sich ihrem Inhalt nach in bloße Aggre- gate von Sinneseindrücken auflösen lassen, in ihrem Ge- brauch doch wiederum auf das Ganze dieser Eindrücke, dem sie systematische Form zu geben suchen, bezogen. Der methodische Gegensatz steigert sich daher niemals zum metaphysischen: denn das Denken trennt sich von der An- schauung nur, um mit neuen selbständigen Hilfsmitteln zu ihr zurückzukehren und sie dadurch in sich selbst zu be- reichern. Jede Beziehung, die die Theorie entdeckt und in mathematischer Form ausgeprägt hat, weist jetzt zugleich einen neuen Weg vom Gegebenen zum noch nicht Gegebenen, von den wirklichen zu den ,, möglichen" Erfahrungen. Es ist somit freilich zutreffend, daß die Relationsbegriffe der Natur- wissenschaft kein unmittelbares Abbild in den Einzeldingen besitzen: aber was ihnen widerstrebt, ist nicht sowohl das
304
Moment der Einzelheit, als vielmehr das Moment der Dinglichkeit. Sie ermöglichen und verbürgen die Einsicht in Einzel Verhältnisse, wenngleich sie sich niemals in der Art isolierter Objekte anschauen lassen. So bedeutet etwa die „Energie*' nicht ein gleichartiges Ding, in dem alle inneren Unterschiede der verschiedenen Energiearten aufgehoben wären, sondern ein einheitliches Prinzip der Verknüpfung, das sich als solches nur am qualitativ Verschiedenen selbst bewähren kann. Die Identität der Reihenform — und diese ist es, die sich hinter jeder Annahme identischer Objekte in der Naturwissenschaft verbirgt — ist nur an der Mannigfaltigkeit der Reihenglieder, die als solche bewahrt werden muß, aufzeigbar. Zwischen der all- gemeinen Geltung der Prinzipien und dem besonderen Dasein der Dinge besteht somit kein Widerspruch: weil zwischen beiden im letzten Grunde kein Wettstreit stattfindet. Sie gehören verschiedenen logischen Dimensionen an, so daß keines versuchen kann, sich unmittelbar an die Stelle des anderen zu setzen.
Wiederum erhält das Problem, um das es sich hier handelt, eine schärfere Fassung, sobald man es auf den Boden der Mathematik zurückversetzt*. Man hat gegenüber
* Die „konkrete Allgemeinheit", die den mathematischen Begriffen zukommt (vgl. oben, Kap. I), ist gelegentlich auch vom Standpunkt der Rickertschen Grundanschauung aus ausclrücklich anerkaiuit luid hervor- gehoben worden. „Die für die begriffliche Erkenntnis bestehende Kluft zwischen Allgemeinem und Besonderem" — so heißtes in L a s k s Schrift „Fichtes Idealismus und die Geschichte" — mithin die Irrationalität, wird in der mathematischen Anschauung überbrückt durch die Möglichkeit der Konstruktion. Die einzelnen Verwirklichungsfälle des mathematischen Begriffs können durch den Begriff selbst erzeugt werden. Vom Begriff des Kreises gelangt man durch Konstruktion zur mathematischen Individualität des einzelnen Kreises, dringt also vom Allgemeinen her bis zum letzten Rest des Individuellen vor . . . Auch in der Mathematik ist das anschauliche Objekt ein Einzelnes, Konkretes, Gegebenes, aber ein apriori, nicht ein aposteriori Gegebenes, wie das Materiale der Empfindtmg ; es ist — ein logisches Unikum! — individuell einmalig und doch zugleich apriori konstruierbar." (S. 40 f.) Man sieht auch hier, daß die Kritik Rickerts eine andere Gestalt erhalten hätte, wenn sie von Anfang an und mit voller Entschiedenheit die naturwissenschaftlichen Begriffe statt als Ergebnisse der „abstraktiven" Begriffsbildung, als Erzeugnisse der konstruk- tiven mathematischen Begriffsbildung gefaßt hätte. Die Einsicht,
Cassirer Substanzbegriff 20 305
Rickerts Auffassung mit Recht auf die bedeutsame Rolle hingewiesen, die der Feststellung bestimmter Größentatsachen, bestimmter numerischer Konstanten im Aufbau der Naturwissenschaft zukommt*. Erst wenn die Werte dieser Konstanten in die Formeln der allgemeinen Gesetze eingesetzt werden, erhält damit die Mannigfaltigkeit der Erfahrungen jenes feste und eindeutige Gefüge, das sie zur „Natur*' stempelt. Der wissenschaftliche Bau der Wirklichkeit ist erst vollendet, wenn neben die allgemeinen Kausal- gleichungen bestimmte empirisch festgestellte Größenwerte für besondere Gruppen von Vorgängen treten; wenn also etwa das allgemeine Prinzip der Erhaltung der Energie durch die Angabe der festen Äquivalenzzahlen ergänzt wird, nach welchen der Energieaustausch zwischen zwei verschiedenen Gebieten erfolgt. Diese Zahlen sind, wie Robert Mayer es ausgesprochen hat, die gesuchten Fundamente einer exakten Naturforschung**. Die bestimmte Zahl aber durchbricht das herkömmliche logische Schema, das den Begriff nur als allgemeinen Gattungsbegriff kennt, der eine Mehrheit von Exemplaren unter sich faßt. Die „Zwei", die „Vier" existiert nicht als Gattung, die in allen konkreten Zwei- oder Vierheiten von Gegenständen verwirklicht ist, sondern sie ist als festes Glied in der Folge der Einheitssetzungen nur einmal da, wenngleich andererseits kein Zweifel darüber bestehen kann, daß sie kein sinnliches, sondern ein rein begriffliches ,,Sein*' besitzt. (S. hierzu Kap. II.) Auch von dieser Seite her zeigt es sich somit, daß dem Wissenschaftlichen Begriff als solchem
die hier für die Mathematik gewonnen ist, hätte sich dann notwendig auf die Physik übertragen müssen: denn eben darin hegt das eigen tUche Problem, daß^ie Mathematik keineswegs ein „logisches Unücimn" ist und bleibt, sondern daß sie mit der ihr eigentümlichen Begriffsform fortschreitend auch die ,, besonderen" Naturwissenschaften erfüllt. In der Form der physika- lischen „Indtiktion", durch die wir das empirisch Wirkliche erfassen, ist bereits die Form der mathematischen ,, Deduktion" enthalten und wirksam, ist somit die gleiche methodische Bewältigung des Besonderen durch das Allgemeine geleistet. (Vgl. bes. Kap. 5.)
* S. R i e h 1 , Logik und Erkenntnistheorie (,,Die Kultur der Gegen- wart", I, 6, S. lOlf.); vgl. bes. Frischeisen-Köhler, a.a.O. S. 255.
** R. M a y e r , Bemerkungen über das mechanische Äquivalent der Wärme (1851) (Die Mechanik der Wärme, S. 237.)
306
die Feststellung des Einzelnen keineswegs versagt ist; wenn- gleich er andererseits das Einzelne niemals isoliert, sondern nur als besonderes Element einer geordneten Mannigfaltigkeit erfaßt. Statt zu abstrakten und leeren Gattungen des Seins und Geschehens aufzusteigen, sucht die Forschung die empiri- schen Konstanten, die sie gefunden und die durchaus ein- deutige Zahlen- Individualitäten darstellen, kraft notwendiger Gesetze zu Reihen zu verknüpfen*. Die ,, Strukturverhält- nisse", die neben den Gesetzen der kausalen Abhängigkeit das wesentliche Objekt der naturwissenschaftlichen Betrach- tung ausmachen, werden schließlich, wie insbesondere das Beispiel der chemischen Erkenntnis lehrt, auf bestimmte Zahlen zusammengezogen, die ihrerseits wieder als geregelte Folgen zu verstehen gesucht werden. Die Theorie betrachtet und umgrenzt die möglichen Formen des Reihenzusammen- hangs überhaupt, während die Erfahrung die bestimmte Stelle bezeichnet, die ein empirisch „wirkliches" Sein oder ein empirisch wirklicher Vorgang innerhalb dieses Zu- sammenhangs einnimmt. Im entwickelten naturwissenschaft- lichen Weltbild sind beide Momente untrennbar miteinander vereint: das Allgemeine der Funktionsregel stellt sich hier nur in der Besonderheit konstanter Zahlwerte, die Be- sonderheit der konstanten Zahlen nur in der Allgemeinheit eines Gesetzes dar, das sie wechselseitig verknüpft. Auch innerhalb der besonderen Wissenschaften wiederholt und bestätigt sich diese Wechselbeziehung. Keine naturwissen- schaftliche Disziplin verzichtet auf die Feststellung einzelner Tatsachen; und keine kann diese Feststellung ohne ent- scheidende Mitwirkung des Gesetzesgedankens vollziehen. Auch dort, wo von dem Gegensatz der historischen Individual- begriffe und der naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffe ausgegangen wird, muß daher ausdrücklich zugestanden werden, daß dieser gedanklichen Sonderung keine reale Trennung in den Wissenschaften selbst entspricht. Überall greifen die beiden Motive ineinander über: und nur nach der
* Vgl- hrz. jetzt besonders A. Görland, Aristoteles und Kant be- züglich der Idee der theoretischen Erkenntnis untersucht. Gießen 1909. (Pliilos. Arbeiten hrg. von Cohen u. Natorp II, 2.) S. 433 ff.
20* 307
Vorherrschaft des einen oder anderen läßt sich die Stellung einer besonderen Wissenschaft im allgemeinen System der Erkenntnis bemessen und feststellen. Ist dem aber so, so wird es fraglich, mit welchem Rechte wir eine Art der Problemstellung und Problembehandlung, die sich als solche auf die mannigfachsten Disziplinen verteilt, noch durch den Namen einer von ihnen bezeichnen und charakterisieren können. Wenn wir alle jene Verfahrungsweisen der Wissen- schaft, die auf die Gewinnung des rein , .Tatsächlichen" gerichtet sind, unter dem einen Gattungsbegriff des ,, Histori- schen" zusammenfassen: so ist damit noch keineswegs erwiesen, daß der so entstandene Begriff eine wahrhafte metho- dische Einheit darstellt. Denn die Feststellung des Tatsächlichen erfolgt in den verschiedenen Sonderwissen- schaften unter sehr verschiedenen Bedingungen. Immer ist es die allgemeine Theorie der betreffenden Sonder- disziplin, die hierbei notwendig vorausgesetzt wird und die auch dem Tatsachenurteil erst sein bestimmtes Gepräge gibt. So schließt jedes astronomische „Faktum" in seiner Formulie- rung und Aussprache den gesamten Begriffsapparat der Mechanik des Himmels, weiterhin aber die Grundlehren der Optik, ja alle wesentlichen Teile der theoretischen Physik überhaupt in sich ein (s. oben, S. 189 ff.). Methodisch ist somit der „historische" Teil jeder Wissenschaft mit ihrem „theoreti- schen" Teil kraft einer wahrhaften innerlichen Abhängigkeit verknüpft, während andererseits zwischen den beschreibenden Teilen zweier verschiedener Disziplinen nur ein loser Zusammenhang besteht. Die Einheit ist hier nicht prinzipieller, sondern lediglich klassifikatorischer Art. Das Verfahren, kraft dessen die Astronomie ihre Tatsachen gewinnt, gehört begrifflich zusammen mit dem Verfahren, in welchem sie ihre allgemeinen theoretischen Grundkonzeptionen entwirft: — aber es scheidet sich scharf und bestimmt von dem Wege, auf welchem beispielsweise die Biologie zur Bestimmung und Sichtung ihres empirischen Materials gelangt. Auch hier erweist es sich als unmöglich, den Schnitt, den wir durch unsere Erkenntnisse legen, in der Weise zu führen, daß auf die eine Seite rein das Allgemeine, auf die andere rein das Be-
308
sondere zu stehen käme: nur das Verhältnis der beiden Mo- mente, nur die Funktion, die das Allgemeine am Besonderen erfüllt, ergibt einen wahrhaften Einteilungsgrund. —
Daß diese Funktion in keiner ihrer Betätigungen zu Ende gelangt, daß sie vielmehr hinter jeder Lösung, die sie zu geben vermag, eine neue Aufgabe entstehen sieht, ist freilich zweifellos. Hier bewährt in der Tat die ,, individuelle" Wirk- lichkeit den Grundcharakter der Unerschöpflichkeit. Aber es bildet zugleich den charakteristischen Vorzug der echten wissenschaftlichen Relationsbegriffe, daß sie diese Aufgabe •trotz ihrer prinzipiellen Unabschließbarkeit in Angriff nehmen. Jede neue Setzung bildet, indem sie sich mit den voran- gegangenen verknüpft, einen neuen Schritt zur Deter- mination des Seins und Geschehens. Das Einzelne bestimmt als unendlich ferner Punkt die Richtung der Er- kenntnis. Dieses letzte und höchste Einheitsziel weist freilich über den Kreis der naturwissenschaftlichen Begriffe und Methoden hinaus. Das „Individuum" der Naturwissenschaft umfaßt und erschöpft weder das Individuum der ästhetischen Betrachtung noch die sittlichen Persönlichkeiten, die die Subjekte der Geschichte bilden. Denn alle Besonderheit der Naturwissenschaft geht in der Entdeckung eindeutig be- stimmter Größenwerte und Größenverhält- nisse auf, während die Eigenart und der Eigenwert, den der Gegenstand in der künstlerischen Betrachtung und in der ethischen Beurteilung gewinnt, außerhalb ihres Gesichts- kreises liegen. Aber diese Abgrenzung der verschiedenen Methoden des Urteils schafft dennoch keinen dualistischen Gegensatz zwischen ihnen. Der naturwissenschaftliche Begriff leugnet und vernichtet das Objekt der Ethik und Ästhetik nicht, wenngleich er es mit seinen Mitteln nicht aufzubauen vermag; er verfälscht die Anschauung nicht, wenngleich er sie mit Bewußtsein unter einem vorherrschenden Gesichts- punkt betrachtet und eine einzelne Form der Bestimmung an ihr heraushebt. Die weiteren Betrachtungsweisen, die sich über ihm erheben, stehen daher zu ihm nicht sowohl im» Widerspruch, als in einem Verhältnis der gedanklichen Ergänzung. Auch sie gehen nicht auf das Einzelne
309
als losgelöstes und isoliertes Element, sondern sie schaffen neue und inhaltsvolle Gesichtspunkte der Verknüpfung. Es ist eine neue Zweckordnung des Wirklichen, die jetzt neben die bloße Größenordnung tritt und in der das In- dividuum erst seine volle Bedeutung gewinnt. So sind es, logisch gesprochen, verschiedene Beziehungsformen, in die hier das Einzelne aufgenommen und kraft deren es gestaltet wird: der Widerstreit des „Allgemeinen" und „Be- sonderen" löst sich in einen Fortschritt komplemen- tärer Bedingungen auf, die erst in ihrer Gesamtheit und ihrem Zusammenschluß das Problem des Wirklichen zu fassen vermögen.
310
Zweiter Teil
Das System der Relationsbegriffe und das Problem der Wirklichkeit
A Fünftes Kapitel. Zum Problem der Induktion.
I.
Der eigentliche Ertrag der methodischen Analyse der naturwissenschaftlichen Erkenntnis liegt darin, daß sie dem Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen seine meta- physische Schärfe nimmt. Das Gesetz und die Tatsache erscheinen nun nicht mehr als die beiden für immer getrennten Gegenpole des Wissens; sondern sie stehen in lebendigem funktionalen Zusammenhang, indem sie sich zueinander wie Mittel und Zweck verhalten. Es gibt kein empirisches Gesetz, das nicht auf die Verknüpfung der gegebenen, wie auf die Erschließung nicht gegebener Gruppen von Tatsachen ginge; wie auf der anderen Seite jede „Tatsache" bereits im Hinblick auf ein hypothetisches Gesetz festgestellt ist und durch diese Rücksicht erst ihre Bestimmtheit erhält. Die empirische Naturwissenschaft selbst hat daher, seit sie zuerst in den „stetigen Gang einer Wissenschaft" eingelenkt ist, an dem Streit, den die philosophischen Parteien um die Rechte der ,, Induktion" und ,, Deduktion" führten, keinen erheblichen Anteil mehr genommen. Sie mußte, sobald sie ihr eigenes Verfahren prüfte, begreifen, daß es sich hier um eine falsche und künstliche Trennung von Erkenntnisweisen und Erkenntnis- wegen handePt, die ihr beide schon in der Festsetzung ihres ursprünglichen Bestandes gleich unentbehrlich sind. Das Grundmotiv, das aller Metaphysik derErkenntnis eigen ist, tritt hier wiederum deutlich hervor. Was im Er- kenntnisprozeß selbst als unlösliche Einheit von Bedingungen erscheint und wirksam ist, das wird in der Betrachtungsweise
313
der Metaphysik zu einem Widerstreit von Dingen hypostasiert. Dauer und Veränderung, Sein und Werden, Einheit und Vielheit, die sämtlich nur Teilmomente bestimmter fundamentaler Erkenntnisweisen bezeichnen, treten auf diese Weise in unbedingte Gegensätze auseinander. So steht denn auch in der Philosophie der Natur dicht neben der Metaphysik des Allgemeinen eine Metaphysik des Be- sonderen. Wenn dort Begriffe, die als Ausdruck des not- wendigen Zusammenhangs der Erfahrungen dienen, zu selb- ständigen Wirklichkeiten erhoben werden, so wird hier die einfache Empfindung in ihrer individuellen Eigenart zum Träger und Inhalt der echten Wirklichkeit. Der reale Gehalt des Daseins, der jeder Analyse stand hält, wird allein in den isolierten Eindrücken und ihrer qualitativen Beschaffenheit gesucht: die fortschreitende begriffliche Einsicht dient nur dazu, diesen Grundbestand immer reiner herauszuheben und alle Aussagen über das Sein immer vollkommener in ihn aufgehen zu lassen.
Soll dieser Forderung in aUer Strenge genügt werden, so muß vor allem das Motiv der Vereinzelung scharf und klar durchgeführt werden. Alle Urteile, die wir fällen, können und dürfen nunmehr nichts anderes bedeuten, als die Feststellung eines hier und jetzt gegebenen Tat- bestandes, der lediglich in dieser seiner räumlich-zeitlichen Besonderung ergriffen wird. Eine Behauptung, die diesen Kreis durchbricht, fiele damit wiederum dem Gebiet der bloßen Fiktion anheim. Die Geltung, die irgendein wahres Urteil für sich in Anspruch nehmen darf, muß somit in strengem Sinne auf den Zeitpunkt der Urteilsfällung eingeschränkt werden: denn wie die Wahrnehmung als realer Vorgang über diesen Zeitpunkt nicht hinausdringt, so muß auch der Begriff, wenn er sich nicht von ihrer Bestimmtheit entfernen will, diese ihre natürliche Schranke anerkennen. Gegenwärtige und vergangene Empfindungen sind es, die den Kern aller unserer Urteile, der rationalen wie der Tatsachenurteile, aus- machen. Schon das letztere Moment droht freilich bereits das allgemeine Grundschema zu durchbrechen: denn auch die Vergangenheit „ist" für das Bewußtsein nicht mehr in
314
dem gleichen Sinne, in dem hier der Begriff der Wirklichkeit genommen wird. Wenn wir einen zeitlich gegenwärtigen Ein- druck mit anderen zusammenhalten, die in einem früheren Zeitpunkt das Bewußtsein erfüllt haben, so haben wir damit bereits den ersten Schritt vom „Gegebenen" ins „Nicht- Gegebene" getan. Immerhin mag dieser Schritt noch als gefahrlos gelten, sofern nur angenommen wird, daß die er- innerte Wahrnehmung der tatsächlichen in allen sachlichen Bestandteilen durchaus ähnlich ist. Das Vergangene, das hier vor uns hintritt, wird alsdann trotz seiner zeitlichen Ferne dennoch als gegenwärtig und in aller Be- stimmtheit des unmittelbaren Eindrucks erfaßt. Es sind tatsächliche und reproduzierte Wahrnehmungsinhalte, auf deren Vergleichung der alleinige Bestand des Urteils beruht. Der konsequente ,, Empirismus" muß diese Folgerung gleichmäßig auf alle Gebiete des Wissens ausdehnen. Mathe- matik und Physik, Physik und Biologie, stehen unter diesem Gesichtspunkt gleichwertig nebeneinander: denn es ist nicht die Analyse des Gegenstands, sondern die psychologische Zergliederung des Urteilsaktes selbst, die zu dieser Erklärung hingeführt hat. Die Form des Urteils muß überall die gleiche sein, weil das Material der Vorstellungen, auf dem diese Form wesentlich und ausschließlich beruht, für die verschiedenen Disziplinen der Erkenntnis stets ein und dasselbe bleibt. Die Methode der Beobachtung und des Versuches ist un- abhängig davon, ob wir mit den Dingen selbst oder aber mit unseren Vorstellungen und Erinnerungen der Dinge experi- mentieren. Ist etwa — um ein Beispiel M a c h s zu brauchen — die geometrische Aufgabe gestellt, in ein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten a und b und der Hypotenuse c ein Quadrat einzuschreiben, dessen einer Eckpunkt mit dem Scheitel des rechten Winkels zusammenfällt, während die drei übrigen Ecken auf den Seiten a, b und c liegen sollen: so wird der Gedanke, um die Lösung dieser Aufgabe zu finden, die gegebenen Bedingungen zunächst einem Versuch unter- werfen. Denken wir uns etwa, vom Scheitel des rechten Winkels aus, auf einer der beiden Katheten irgendeine beliebige, willkürlich angenommene Strecke abgetragen und zu ihr
315
das entsprechende Quadrat konstruiert, so wird dessen Eckpunkt im allgemeinen nicht auf die Hypotenuse, son- dern rechts oder links von ihr, außerhalb oder innerhalb der Dreiecksfläche zu liegen kommen. Zwischen diesen beiden an und für sich möglichen Fällen besteht, wie sich ferner zeigt, ein stetiger Übergang, sofern wir durch kontinuierliche Ver- größerung der anfangs gewählten Strecke den Endpunkt aus der einen Lage im Innern des Dreiecks in die andere, außerhalb des Dreiecks, überführen können. Diese Ver- schiebung aber kann wiederum, wie die Anschauung un- mittelbar lehrt, nicht anders vor sich gehen, als daß hierbei die Hypotenuse als die Grenzlinie, die die beiden Teile der Dreiecksebene sondert, einmal berührt, also auf ihr ein Punkt bezeichnet wird, der nunmehr den durch die Aufgabe ge- forderten Punkt darstellt. „Solche tatonnierende Son- dierungen der Vorstellungsgebiete, in welchen wir die Lösung der Aufgabe zu suchen haben, gehen naturgemäß der voll- kommenen Lösung voraus. Das vulgäre Denken mag sich auch mit einer praktisch zureichenden annähernden Lösung begnügen. Die Wissenschaft fordert die allgemeinste, kürzeste und übersichtlichste Lösung. Diese erhalten wir, indem wir uns erinnern, daß alle eingeschriebenen Quadrate die von dem Durchschnittspunkt der a und b ausgehende Winkelhalbierende als Diagonale gemein haben. Zieht man also von diesem bekannten Punkt aus diese Winkel- halbierende, so kann man von deren gefundenem Durchschnitts- punkt mit c aus ohne weiteres das gesuchte Quadrat ergänzen. So simpel auch dieses mit Absicht gewählte . . . Beispiel ist, so bringt es doch das Wesentliche jeder Problemlösung, das Experimentieren mit Gedanken, mit Er- innerungen ...zu klarem Bewußtsein*."
Zugleich indessen deckt freilich eben dieses Beispiel eine latente Voraussetzung auf, auf der der gesamte Gedanken- gang beruht. Die „Erinnerung" im strengen psychologischen Sinne vermag keine neuen Inhalte zu produzieren; — sie ver- mag nur zu wiederholen, was die sinnliche Vorstellung als
* Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. 39 f. 316
solche einmal dargeboten hat. Sie kann somit diejenigen Fälle, die wir uns anschaulich vergegenwärtigt haben, wieder ins Bewußtsein zurückrufen — aber völlig unverständlich bleibt es, wie sie irgendeine Aussage über eine Allheit von Gestalten wagen kann, ohne zuvor die besonderen Exem- plare einzeln durchlaufen zu haben. Gerade dies aber ist in dem vorliegenden Falle durch die Natur der Aufgabe selbst ausgeschlossen: die Zahl der möglichen Quadrate ist unendlich und somit für die konkrete sinnliche Einbildungs- kraft schlechthin unerschöpflich. Das Erinnerungsurteil als solches vermag niemals die unendliche Allheit möglicher, sondern stets nur die begrenzte Vielheit wirklicher Fälle zu überblicken. Soviel Punkte der Winkelhalbierenden wir immer untersucht haben mögen, so können wir doch, wenn wir uns allein der geschilderten Methode des Experimentierens mit Vorstellungen und Erinnerungen überlassen, niemals ent- scheiden, ob auch der nächste Punkt, den wir herausgreifen, die gleiche Eigentümlichkeit, wie die zuvor beobachteten auf- weisen werde. Nichts vermag, auf diesem Standpunkt der Betrachtung, die Annahme zu hindern, daß sich in weiterem Fortschritt Punkte der Winkelhalbierenden finden werden, die der gestellten Bedingung nicht genügen oder aber, daß es umgekehrt Punkte gibt, die die Bedingung erfüllen, ohne darum dieser Linie anzugehören. Den Charakter der Notwendigkeit und Eindeutigkeit erhält somit die Lösung erst dann, wenn wir über die einzelnen Beispiele auf das Verfahren der Kon- struktion zurückgreifen, in welcher die Winkelhalbie- rende entsteht und in dem sie all ihre mathematischen Eigen- schaften ein für allemal gewinnt. Indem wir uns dieser ein- heitlichen Regel der Konstruktion bewußt werden, ergreifen wir damit zugleich die Gesamtheit der Bestimmungen des fertigen Gebildes, da diese Bestimmungen erst kraft des erzeugenden Gesetzes bestehen und aus ihm in voller Strenge beweisbar sind. Hier geht der Weg nicht von der Mehrheit der Einzelfälle zum verknüpfenden Gesetz, sondern von der Einheit des geometrischen Verfahrens zu den Besonderheiten der Anwendung. Erst damit wird eine Beziehung gesetzt, die nicht nur für das gegenwärtige Vorstellungsbild, wie es
317
sich im Bewußtsein vorfindet, gelten will, sondern darüber hinaus einen dauernden idealen Verknüpfungszusammenhang behauptet; es wird ein Satz festgestellt, der nicht von diesem oder jenem individuellen Dreieck mit den besonderen Be- schaffenheiten seiner Gestalt und Lage, sondern von ,,dem Dreieck" schlechthin gelten will. Gleichviel, wie dieser An- spruch sich schließlich rechtfertigen mag: schon als bloßes psychologisches Phänomen durchbricht er das Schema der Erkenntnis, über welches die konsequente sensualistische Ansicht allein verfügt.
So mußten denn gerade solche Denker, die innerhalb der Psychologie die Forderung des „radikalen Empirismus" am entschiedensten verkünden, eben von diesem Stand- punkt aus den logischen und methodischen Unterschied, der hier vorliegt, unumwunden anerkennen. Der unbefangene Ausspruch der ,, reinen Erfahrung" lehnt sich in diesem Punkte immer wieder gegen die dogmatischen Folgerungen des Sen- sualismus auf. Die vorurteilslose Analyse der Tatsachen der Erkenntnis zeigt in aller Deutlichkeit, daß die Zurück- führung der mathematischen und logischen Relationen auf Aussagen über das häufige empirische Beisammen einzelner Vorstellungsinhalte ein vergebliches Bemühen bleibt. Diese Relationen berichten nichts darüber, ob und wie oft be- stimmte Erfahrungsinhalte in Raum und Zeit sich nebenein- ander vorgefunden haben, sondern stellen einen notwendigen Zusammenhang zwischen idealen Gebilden fest, dessen Geltung von allen Änderungen in der Welt der existierenden sinnlichen Objekte unberührt bleiben soll. Einen logischen oder mathe- matischen Satz als bloße Wiedergabe einzelner aktueller „Eindrücke" und ihrer empirischen Verhältnisse deuten, heißt daher, in dem Bestreben, seinen Ursprung auf- zudecken, seine eigentliche Meinung und Bedeutung ver- fälschen: heißt ihm einen Sinn zuschreiben, den er gemäß der Natur des Subjekts, auf das er sich bezieht, weder besitzt noch besitzen kann. Keine metaphysische Konstruktion ver- mag das psychologische und logische Phänomen dieses Unterschiedes zu beseitigen: die „Relationen zwischen Ideen" bleiben von rein tatsächlichen Feststellungen über das Bei-
318
sammen und die Folge einzelner empirischer Merkmale prinzipiell getrennt*.
Je schärfer indessen diese Trennung durchgeführt wird, um so mehr tritt andererseits die Eigenart des rein empirischen Urteils hervor : und diese Eigenart scheint nunmehr in der Tat in nichts anderem zu bestehen, als in der bewußten Einschränkung der Geltung der Urteilsverknüpfung auf den zeitlichen Moment der Urteilsfällung. In diesem Sinne ist das Verhältnis der beiden Arten von Wahrheiten bereits von Locke gefaßt worden. Der Grundsatz der Un- veränderlichkeit derselben Beziehungen zwischen den gleichen intellektuellen Gegenständen ist es, worauf, nach ihm, die Gültigkeit der mathematischen Erkenntnisse beruht. Was von einem Dreieck bewiesen ist, das ist sogleich und ohne weitere Vermittlung auf alle Dreiecke übertragbar: denn die einzelne anschauliche Vorstellung des Dreiecks steht im Beweis nicht für sich selbst, sondern will nur ein zufällig herausgegriffenes besonderes Sinnbild für einen allgemein- gültigen und dauernden Sachverhalt sein. Bei allen Urteilen, die über das Gebiet unserer intellektuellen Vor- stellungen auf die Existenz der Dinge hinaus- gehen, aber ist uns dieser Ausblick versagt. Die äußeren Dinge künden sich uns nicht anders an und bringen sich auf keinem anderen Wege zum Bewußtsein, als in den sinnlichen Eindrücken, die sie in uns erregen: ihre Gewißheit kann daher auch von keiner anderen Art sein, als die dieser Ein- drücke selbst. Der Bestand der Sinnesempfindung aber reicht nicht weiter als ihre unmittelbare Gegenwart. Ist sie einmal entschwunden, so ist uns damit zugleich das einzige Kriterium, das wir für die Existenz des Dinges besaßen, genommen und damit allen Aussagen über die näheren Be- schaffenheiten und Merkmale dieser Existenz der Boden ent- zogen. Urteile über das Dasein der Dinge besitzen daher
* Daß gerade die echte psychologische „Empirie" diese Trennung durchaus bestätigt und aufrecht erhält, geht mit besonderer Deutlichkeit aus der Polemik hervor, die James an diesem Punkt gegen Spencer und M i 1 1 richtet. (The Principles of Psychology, London 1901, bes. Vol. II, 645, 654, 661 u. s.)
319
stets nur relative und eingeschränkte Wahrheit; denn so überzeugend und evident sie uns erscheinen mögen, solange wir der direkten Empfindung hingegeben sind, so wenig haben wir eine sichere Gewähr, daß das momentane Zeugnis der Empfindung sich jemals streng in derselben Weise wieder- holen werde. Notwendige Erkenntnis gibt es demnach nur von solchen Gegenständen, die, gleich den Objekten der reinen Mathematik, auf jede konkrete Wirklichkeit verzichten; während in dem gleichen Augenblick, in welchem diese Wirk- lichkeit in den Kreis unserer Betrachtung einbezogen wird, auch der Charakter des Wissens eine völlige Umbildung er- fährt. —
So einleuchtend jedoch diese Unterscheidung ist, wenn man sie lediglich vom abstrakten Standpunkt der Erkenntnis- theorie erwägt, so bietet sie dennoch ein schwieriges Problem dar, sobald man ihr das konkrete Verfahren der Naturwissen- schaft gegenüberstellt. Die Schilderung, die Locke hier ent- wirft und die seither mit geringen Abwandlungen häufig wiederholt worden ist, könnte allenfalls als ein richtiger Aus- druck für dasjenige erscheinen, was die rein empirisch-induk- tiven Sätze der Naturwissenschaft sein sollten: aber sie trifft sicherlich nicht das, was sie in Wirklichkeit sind. Kein Urteil der Naturwissenschaft beschränkt sich darauf, zu konstatieren, welche sinnlichen Eindrücke sich im Bewußt- sein eines einzelnen Beobachters in einem bestimmten, streng begrenzten Zeitpunkt zusammengefunden haben. Gibt es Urteile, die hiervon sprechen, so sind sie den erzählenden Urteilen der Psychologie, nicht den theoretischen und be- schreibenden Urteilen der allgemeinen Naturwissenschaften zuzurechnen. Wie der Mathematiker, der von den Relationen zwischen geometrischen Gestalten oder zwischen reinen Zahlen handelt, in seine Aussagen nichts über die Beschaffenheit der besonderen Vorstellungsbilder einfließen läßt, in welchen er sich diese Verhältnisse sinnlich darstellt, so geht auch der Forscher, der das Ergebnis einer experimentellen Unter- suchung ausspricht, über einen einfachen Bericht seiner besonderen individuellen Wahrnehmungserlebnisse beständig hinaus. Was er feststellt, ist nicht die Abfolge und das Spiel
320
gewisser Sinneseindrücke, die in ihm aufgetaucht sind, um wiederum in Nichts zu verschwinden, sondern die konstanten J.Eigenschaften" konstanter Dinge und Vorgänge. Freilich liegt bei diesem Fortgang von dem bloßen Prozeß der Sinnes- empfindung zu bestimmten ,, objektiven" Behauptungen der metaphysische Begriff der ,, Transzendenz" noch völlig fern. Die Umformung, die sich hier vollzieht und die erst das naturwissenschaftliche Urteil erschafft und ermöglicht, gibt den Sinnesdaten nur insofern eine neue Seinsform, als sie ihnen eine neue Erkenntnisform aufprägt. Dieses letztere Moment läßt sich völlig unabhängig von allen weitergehenden metaphysischen Behauptungen, die man nach- träglich daran knüpfen mag, heraussondern und festhalten. Es ist in erster Linie eine neue Art der zeitlichen Gel- tung, die jetzt dem Urteil zugesprochen wird. Auch das einfachste Urteil über irgendeinen empirischen Sachverhalt spricht diesem einen Bestand und eine Dauer zu, die das flüchtige sinnliche Erlebnis als solches nicht zu erreichen und nicht zu gewährleisten vermag. Der Satz, daß Schwefel bei einer bestimmten Temperatur schmilzt, daß Wasser bei einer bestimmten Temperatur gefriert, bedeutet — abgesehen von den mannigfachen theroetischen Voraussetzungen, die im bloßen Begriff der „Temperatur" eingeschlossen sind — schon in seiner schlichten Aussprache eine Feststellung, die auf keinen isolierten zeitlichen Moment beschränkt sein will. Er enthält die Behauptung, daß, so oft auch immer die Bedingungen, die im Subjektsbegriff zusammengefaßt sind, sich verwirklicht finden, die Folgen, die der Prädikatsbegriff aussagt, stets und notwendig an sie geknüpft sein werden. Der Augenblick der unmittelbaren Wahr- nehmung erweitert sich für den Gedanken zum Ganzen des Zeitverlaufs, der nunmehr in seiner Gesamtheit wie mit einem Blicke überschaut wird. Diese logische Funktion ist es, die jeglichem Experiment erst seine eigentümliche Beweis- kraft verleiht. Jede wissenschaftliche Entscheidung, die wir auf ein Experiment gründen, stützt sich auf die latente Voraussetzung, daß das, was hier und jetzt als gültig befunden wird, auch für alle Orte und alle Zeiten gültig bleibt, sofern
Cassirer. Substanzbegriff 21 321
die sonstigen Bedingungen des Versuchs ungeändert bleiben. Erst kraft dieses Prinzips wandelt sich die „subjektive" Tatsache der sinnlichen Wahrnehmung in die „objektive" Tatsache des wissenschaftlichen Urteils. So bestätigt es sich von einer neuen Seite her, wie sehr — nach dem Goetheschen Wort — alles Faktische schon Theorie ist: denn erst der Gedanke der notwendigen Bestimmtheit des Geschehens ist es, der dazu führt, eine einzelne vor- überrauschende Beobachtung gleichsam zum Stehen zu bringen und sie als Faktum „festzustellen". —
Auch solche Forscher, die ausschließlich auf dem Boden der empirischen , .Tatsachen" zu stehen glauben und die jede Selbständigkeit des Intellekts gegenüber den Daten der un- mittelbaren Wahrnehmung verwerfen, haben daher die Eigenart dieser gedanklichen Funktion ausdrücklich bezeugt. Durch alle vermeintliche Skepsis hindurch dringt bei ihnen bis- weilen der Ausdruck dieser einheitlichen Grundüberzeugung. „Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Erscheinungen", so heißt es etwa bei O s t w a 1 d, „die einmal erkannt worden sind, bleiben als unzerstörbare Bestandteile aller künftigen Wissenschaft bestehen. Es kann vorkommen, und kommt sogar sehr häufig vor, daß die Form, in welcher jene Be- ziehungen zuerst ausgesprochen worden waren, sich als un- vollkommen erweist, daß die Beziehungen nicht als ganz allgemein aufrecht zu erhalten sind, sondern sich anderen Einflüssen, die sie ändern, unterworfen erweisen, an die man bei ihrer Entdeckung und ersten Formulierung nicht hat denken können, weil sie unbekannt waren. Aber wie sich die Wissenschaft auch umgestalten möge, ein bestimmter unver- lierbarer Rest jener ersten Erkenntnis bleibt bestehen, und eine einmal von der Wissenschaft erworbene Wahrheit hat in solchem Sinne ein ewiges Leben, d. h. sie besteht so lange, als menschliche Wissenschaft bestehen wird*." Dieses Moment der „Ewigkeit" ist auch den empirischen Urteilen über Tat- sachen eigen. Kein Zusammenhang zwischen Beobachtungen, der einmal objektiv festgestellt ist, kann im weiteren Fortgang
* Ofltwald, Gnindriß der Naturphilosophie, S. 15.
322
1
der Untersuchung schlechthin vernichtet werden. Die neuen Tatsachen, die wir auffinden, verdrängen die früheren Er- fahrungen nicht in jedem Sinne, sondern fügen ihnen nur bestimmte begriffliche Determinationen hinzu. Und diese Umwandlung betrifft im Grunde nicht sowohl die Urteilsverknüpfung als solche, als vielmehr das Subjekt, auf das sie sich bezieht. Denken wir uns etwa einen gewissen Stoff durch die Angabe seiner physikalischen und chemischen Merkmale und Reaktionen bestimmt, so wird durch irgend- welche Gegeninstanzen, die sich im Laufe der fortschreitenden Beobachtung einstellen, durch irgendeine Änderung, die er in seinem Verhalten zeigt, der zuvor behauptete Zusammen- hang von Bestimmungen noch keineswegs als solcher auf- gelöst. Wäre das empirische Urteil auf den Zeitmoment be- zogen und an ihn gebunden, so müßte hier ein einfaches Ver- hältnis der Vernichtung und Neuschöpfung gelten : der spätere Augenblick würde den früheren und mit ihm alle die „Wahr- heiten", die ja nur für ihn fixiert und ausgesprochen waren, aufheben. Wie er sich im realen Verlauf des Geschehens an seine Stelle setzt, so würde er auch eine innere Veränderung der empirischen Gesetzlichkeit der Dinge in sich schließen. In Wahrheit aber besitzt für uns jeder Körper eine identische Struktur und Beschaffenheit, die wir ihm ein für allemal zusprechen. Die abweichenden Ergebnisse bringen wir daher niemals dadurch zum Ausdruck, daß wir annehmen, ein und derselbe Körper habe sich in seinen Grundeigenschaften gewandelt, sondern dadurch, daß wir eben die Identität des beobachteten Gegenstands selbst in Frage stellen. Was wir jetzt vor uns sehen, das ist uns nicht mehr dasselbe empirische Objekt, das sich uns zuvor darbot, sondern es gilt uns durch irgendwelche Bedingungen, die es zu ermitteln und festzustellen gilt, modifiziert. So wird nicht die Wahrheit des früheren Urteils ,,S ist P" bestritten und durch den Gegensatz ,,S ist nicht P" entkräftet: sondern es wird, unter Aufrechterhaltung des ersten Satzes, die Umwandlung ver- folgt, die das Urteil erfahren muß, wenn S in S' übergeht. Der Fortschritt der Beobachtungen birgt daher zugleich einen steten Fortschritt der Analyse in sich: er scheidet Fälle, die
21* 323
der ersten vagen Betrachtung als völlig gleichartig erscheinen, immer schärfer und genauer und hebt die charakteristischen Differenzen jedes Einzelfalls heraus. Denkt man sich diese Arbeit der Analyse abgeschlossen und damit völlig bestimmte Subjekte gewonnen, so würde diese Eindeutigkeit des Subjekts auch die Eindeutigkeit und Notwendigkeit des Urteilszusammenhangs in sich schließen. Das Moment der Ungewißheit, das die empirischen Urteile gegenüber den rationalen enthalten, betrifft daher immer nur die Subsumption des gegebenen unter den ideal bestimmten Fall. Nicht dies ist fraglich, ob einem streng umgrenzten Inhalt a das Prä- dikat b zukommt oder nicht, sondern ob ein gegebener Inhalt alle Bedingungen des Begriffs a erfüllt oder etwa durch einen davon verschiedenen Begriff a' zu bestimmen ist. Nicht ob a wahrhaft 6, sondern ob das x, das die bloße Wahrnehmung uns liefert, wahrhaft a ist, bildet das Problem. Hier liegt der eigentliche Vorrang der mathematischen Begriffsbildung: denn die Gegenstände dieser Begriffsbildung sind nichts anderes, als das, wozu unsere ideale Konstruktion sie gemacht hat, während jeder empirische Inhalt unbekannte Bestim- mungen in sich birgt, von ihm also niemals mit voller Sicher- heit zu entscheiden ist, welchem der verschiedenen hypotheti- schen Begriffe, die wir zuvor konzipiert und in ihre Folgerungen entwickelt haben, er einzuordnen ist. —
Die Analyse des empirischen Urteils, die Locke versucht hat, erweist sich damit als innerlich unzureichend: denn sie verhüllt jenes Moment der Notwendigkeit derVer- knüpfung, das auch der Aussage über Tatsachen eigen ist und ihr erst ihren wahrhaften Halt verleiht. Kant, für den diese Notwendigkeit zum eigentlichen Grundproblem geworden ist, zeigt sich in der ersten Einführung seiner kritischen Frage dennoch in einem Punkte noch von Locke abhängig. Die Unterscheidung der Wahrneh- mung s - und Erfahrungsurteile, auf die er sich stützt, hat nicht sowohl unmittelbar sachliche, als didaktische Bedeutung: sie knüpft an die sensualistische Auffassung des Urteils an, um ihr einen neuen Sinn und eine tiefere Deutung abzugewinnen. Empirische Urteile, sofern sie objektive
324
Gültigkeit haben, sollen Erfahrungsurteile, diejenigen aber, die nur subjektiv gültig sind, bloße Wahrnehmungsurteile heißen. Der letztere Begriff deckt und umfaßt somit alles das, was der dogmatische Empirismus als das eigentliche Kenn- zeichen und den Charakter der Erfahrung selbst ansieht. Das ,,Wahrnehmungsurteir' zum mindesten ist nichts anderes und will nichts anderes sein als ein Bericht über ein momentanes und individuelles Erlebnis: es verknüpft Subjekt und Prä- dikat nicht nach irgendeinem Gesichtspunkt der gedanklichen Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit, sondern greift beide nur derart auf, wie sie sich zufällig in einem einzelnen Be- wußtsein nach den „subjektiven" Regeln der Assoziation zusammenfinden. Wir konstatieren in ihm nur das Bei- sammen zweier Inhalte, ohne sie in irgendein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zu setzen. Je weiter in- dessen die Kantische Unterscheidung fortschreitet, um so mehr zeigt es sich, daß das Wahrnehmungsurteil in dieser Fassung nur ein methodisch konstruierter Grenzfall sein will, der den neu gewonnenen Begriff der wissenschaft- lichen Objektivität durch seinen Gegensatz beleuchten soll, der aber keine reale Trennung der Urteile selbst in zwei heterogene Klassen mit sich führt. Jedes Urteil beansprucht, so sehr es seinen Subjektsbegriff einschränkt, innerhalb dieses selbstgewählten engeren Umkreises ein bestimmtes Maß objektiver Geltung. Es begnügt sich niemals mit der Fest- stellung eines bloßen Nebeneinander von Vorstellungen, sondern stiftet zwischen ihnen eine funktionale Zuordnung, so daß immer, wenn der eine Inhalt gegeben ist, der andere uns als gefordert gilt. Das ,,Ist" der Kopula ist der Ausdruck dieser Verknüpfung, die somit als unentbehrlicher Faktor auch in jede Aussage über einen empirisch einzelnen Gegen- stand eingeht. Der Satz, daß der Körper schwer ist, will nicht sagen, daß, so oft ich bisher einen Körper getragen habe, eine bestimmte Tast- und Druckempfindung sich eingestellt habe, sondern er will einen Zusammenhang feststellen, der im Objekt gegründet ist und ihm unabhängig vom Zustand dieses oder jenes empfindenden Individuums zukommt. Auch das einzelne, „aposteriorische" Urteil enthält daher in der
325
Notwendigkeit des Zusammenhangs, die es behauptet, jederzeit einen „apriorischen" Einschlag*. In der endgültigen Fassung des Systems der Erfahrung ist demnach der Hilfsbegriff des bloßen Wahrnehmungsurteils überwunden und aus- geschaltet. Zwar kann auch das Einzelne alsEinzelnes Gegenstand einer wissenschaftlichen Aussage sein, so daß ein hier und jetzt gegebener Zustand des Seins den Inhalt des Urteils ausmacht. Aber auch in diesem Falle treten wir nicht aus dem Gebiet der objektiven Notwendigkeit in das der bloßen ,, Zufälligkeit" über, sondern wir versuchen umgekehrt, das Besondere selbst als notwendig zu begreifen, indem wir ihm innerhalb des kausalen Geschehens, das von eindeutigen Gesetzen beherrscht wird, seine feste Stelle anweisen. Der Kreis des Notwendigen selbst verengt sich und zieht sich zu- sammen, bis er zu immer näherer Bestimmung des scheinbar ,, Zufälligen" zureichend wird. In diesem Sinne bestimmen wir etwa die astronomische Lage und Stellung der Himmelskörper für einen gegebenen einmaligen Zeitpunkt, indem wir hierbei die allgemeingültigen Relationen, die die Prinzipien der Mechanik sowie das Gravitationsgesetz uns darbieten, zugrunde legen. Nicht die schlechthin isolierte zeitliche Setzung als solche, sondern die Einordnung eben dieser Setzung in den Gesamtverlauf des Geschehens bildet auch hier das eigentliche Ziel der „Induktion". —
Das „Geheimnis der Induktion", von dem man oft gesprochen hat, beginnt daher nicht erst dort, wo wir aus einer Mehrheit von Beobachtungen einen Schluß auf die Allheit der Fälle ziehen, sondern es ist bereits in der Fest- stellung irgendeines Einzelfalles vollständig und un- geteilt enthalten. Die Lösung des Problems der Induktion kann nur in dieser Erweiterung seines Inhalts gesucht werden. In der Tat wäre es nicht zu verstehen, wie die bloße Wieder- holung und Nebeneinanderreihung von Einzelbeobachtungen dem Besonderen irgendeine neue logische Würde verleihen sollte. Die bloße Anhäufung von Elementen vermag diesen keine völlig veränderte begriffliche Bedeutung zu geben;
* Vgl. Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 141 f. 326
sie vermag nur die Bestimmungen, die im Element selbst bereits gesetzt sind, zu größerer Deutlichkeit zu erheben. Schon im einzelnen Fall muß ein Moment verborgen liegen, das ihn über seine Begrenzung und Isolierung hinaushebt. Die Funktion, kraft deren wir einen empirischen Inhalt über die Grenzen, in denen er uns zeitlich gegeben ist, weiter- verfolgen und ihn für alle Punkte der Zeitreihe in seiner Bestimmtheit festhalten, bildet somit den eigentlichen Kern des induktiven Verfahrens. Die Beziehung, die sich uns zunächst nur für einen einzigen, unteilbaren Moment kund tut, wächst über ihre anfängliche Sphäre hinaus, bis sie die Ge- samtheit der künftigen Zeitpunkte in irgendeiner Weise bestimmt. So schließt bereits jegliches Einzelurteil ein Motiv der Unendlichkeit in sich, sofern der Inhalt, der in ihm gesetzt ist, sich auf die Totalität der Zeiten überträgt und gleichsam in beständiger identischer Neuerzeugung durch diese Totalität hin sich fortsetzt. Das dauernde empirische Objekt samt seinen konstanten empirischen Eigenschaften ist, mathematisch ausgedrückt, immer erst das Integral der momentanen Beschaffenheiten, von denen der einzelne Versuch uns Kunde gibt. Der logische Prozeß der Integration aber wäre nicht möglich, wenn nicht auch hier im Element bereits die Beziehung auf das Ganze läge, d. h. wenn nicht der wechselnde Inhalt der Erfahrung, so zersplittert und vereinzelt er sich scheinbar darbieten mag, doch stets den Hinweis auf ihre gleichbleibende gesetzliche Form in sich schlösse. Kraft dieses Hinweises erweitert sich der beschränkte räumlich-zeitliche Umkreis der Erfahrungen, der uns allein zu Gebote steht, zur Probe und zum Sinnbild für die syste- matische Verfassung der Wirklichkeit überhaupt. Nur wenn wir uns alle Glieder des Geschehens durch not- wendige Relationen verknüpft denken, können wir irgendeine einzelne Phase, die wir herausheben, als Darstellung und Symbol des Gesamtprozesses und seiner durchgehenden Regel brauchen. Diese symbolische Bedeutung aber ist es, die jeder Induktionsschluß für sich in Anspruch nimmt: die einzelne Bestimmung selbst, die der sinnliche Eindruck darbietet, wird ihm zur Norm, die in dem gedanklichen Aufbau
327
der empirischen Wirklichkeit als dauernder Grundzug er- halten bleiben muß. Jede besondere Erfahrung, die nach den objektiven Verfahrungsweisen und Kriterien der Wissenschaft festgestellt ist, setzt sich zunächst gleichsam absolut: was das methodisch geleitete und gepriifte Experiment einmal gelehrt hat, kann nie wieder völlig der logischen Vernichtung anheim- fallen. Die Aufgabe der Induktion besteht darin, alle diese verschiedenen Aussagen, die sich vielfältig zu kreuzen und einander zu widersprechen scheinen, insofern zu vereinen, als jeder von ihr eine ganz bestimmte Geltungssphäre zu- gewiesen wird. Was für die gewöhnliche sinnliche Auffassung ein identischer Bestand von Bedingungen ist, an die jedoch bald der eine, bald der andere Erfolg geknüpft ist, das tritt hier in bestimmt geschiedene Sonderfälle auseinander, die in irgendeinem theoretisch aufzeigbaren Umstand variieren und deren Abweichung voneinander daher selbst als notwendig begriffen wird. —
Im Verhältnis des induktiven Einzelfalles zur Gesamtheit der wissenschaftlichen Erfahrung wiederholt sich daher eine Bestimmung, die sich überall dort feststellen läßt, wo das Problem vorliegt, ein ,, Ganzes" zu definieren, das nicht lediglich die Summe seiner Teile, sondern ein syste- matischer Inbegriff ist, der aus den Beziehungen zwischen ihnen hervorgeht. Die Logik scheidet von alters her zwischen „diskreten" und ,, kontinuierlichen" Ganzen. In den ersteren gehen die Teile voran und sind, unabhängig von der Verknüpfung, die sie nachträglich eingehen, als isolierte und selbständige Bestandstücke möglich und auf- zeigbar. Das ,, Element" des Kontinuums dagegen widerstrebt einer derartigen Vereinzelung: es erhält seinen Inhalt erst von der Beziehung zu der Gesamtheit des Systems, dem es angehört und büßt, abgetrennt von ihm, jede Bedeutung ein. So läßt sich etwa eine Linie als eine unendliche Mannigfaltig- keit von Punkten definieren; aber diese Definition ist nur dadurch möglich, daß der „Punkt" selbst zuvor als Ausdruck einer reinen Lage-Relation gefaßt, die Beziehung des räum- lichen ,, Beisammen" mit anderen gleichartigen Elementen also fertig in ihn hineingelegt wird. Im gleichen Sinne läßt sich
328
sagen, daß das Gesetz der Erfahrung nur darum aus den einzelnen Fällen „resultiert", weil es in jedem von ihnen bereits stillschweigend mitgesetzt ist. Das einzelne empirische Urteil enthält als unentwickelte Forderung bereits den Ge- danken der durchgängigen Bestimmtheit des Naturgeschehens, der im vollendeten System der Erfahrung als abgeschlossenes Ergebnis vorliegt. Jede Aussage über ein bloßes Beisammen von empirischen Bestimmungen zielt schon auf den Gedanken hin, daß diese Bestimmungen irgendwie ineinander gegründet sind, wenngleich die Form dieser Abhängigkeit nicht unmittelbar bekannt, sondern erst fortschreitend zu er- mitteln ist. Wie dem einzelnen Punkt der allgemeine Relationscharakter der Lage und der Distanz anhaftet, so haftet daher der einzelnen Erfahrung bereits der universelle Gesetzescharakter an. Das Einzelne ist nicht anders als im Zusammenhang mit anderen örtlichen und zeitlichen, näheren oder entfernteren Elementen erfahrbar; und diese Art des Zusammenhangs setzt ein System der Raum- und Zeitstellen, sowie ein einheitliches Ganzes der kausalen Zu- ordnungen voraus. Der Tatbestand a ist uns nur in funktio- naler Form als f (a), rp (ß), ^ (•() zugänglich, wobei f, cp, \p die verschiedensten Weisen der räumlich - zeitlichen, sowie der ursächlichen Verknüpfung bezeichnen. Der logische Akt der ,, Integration", der, wie sich zeigte, bereits in jedem echten Induktionsurteil mitwirkt, enthält daher jetzt keine Paradoxie und keine innere Schwierigkeit mehr: die Erweiterung des Einzelnen zum Ganzen, die hierin zu liegen scheint, ist möglich, weil die Beziehung zum Ganzen von Anfang an im Einzelfall nicht ausgeschaltet, sondern fest- gehalten ist und nur der gesonderten begrifflichen Heraus- hebung bedarf.
Die Tendenz auf einen unveränderlichen Bestand, der im Kommen und Gehen der sinnlichen Phänomene festzu- halten ist, eignet daher dem induktiven Denken nicht minder, als dem mathematischen Denken: beide sind nicht ihrem Ziele nach, sondern durch die Mittel, deren sie sich in der Verfolgung dieses Zieles bedienen, voneinander geschieden. Wir konnten in der Entwicklung der geometrischen Methoden
329
verfolgen, wie alle die mannigfachen Richtungen, in denen das moderne geometrische Denken sich bewegt, sich zur Einheit zusammenschließen, sofern sie unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der „Invariantentheorie" gestellt und von ihm aus charakterisiert werden. Jede spezielle Ausprägung der Geometrie ist jetzt einer bestimmten Gruppe von Trans- formationen, die sich streng bezeichnen und gegeneinander abgrenzen lassen, als zugehörige Invariantentheorie zugeordnet. Der Gedanke der Konstanz und der der Verände- rung zeigten sich schon hier wechselweise durcheinander bedingt: nur im Hinblick auf mögliche Veränderungen ließen sich die dauernden Zusammenhänge, die die Geometrie behauptet, aussprechen und formulieren. (S. ob. S. 116 ff.) Jetzt erscheint dieses fundamentale logische Verhältnis in einem neuen Licht. Auch jegliche Aussage über eine empirische Zusammengehörigkeit von Elementen stellt eine Behauptung dar, die unabhängig vom jeweiligen absoluten Raum- oder Zeitpunkt gelten soll. Maxwell hat gelegentlich dem allgemeinen „Kausalgesetz" eine Wendung gegeben, in welcher es diese Forderung zum Ausdruck bringt. Der Satz, daß gleiche Ursachen immer gleiche Wirkungen her- vorbringen, hat, wie er ausführt, solange keinen scharf aus- geprägten Sinn, als nicht feststeht, was unter gleichen Ur- sachen und gleichen Wirkungen zu verstehen ist. Da jedes Ereignis nur einmal stattfindet und daher schon durch den Zeitpunkt seines Auftretens völlig individualisiert und von allen anderen unterschieden ist, so kann die Gleichheit, von der hier die Rede ist, niemals im Sinne einer absoluten Identität, sondern nur relativ zu einem bestimmten Gesichts- punkt gemeint sein, der der ausdrücklichen Hervorhebung und Formulierung bedarf. Der eigentliche Kern des Kausal- prinzips liegt in der Behauptung, daß, wenn die Ursachen sich voneinander bloß hinsichtlich des absoluten Raumes und der absoluten Zeit unterscheiden, dasselbe auch für die Wirkungen gilt: ,,der Unterschied zwischen zwei Ereignissen hängt nicht ab von dem reinen Unterschiede der Zeiten oder der Orte, in denen und an denen sie stattfinden, sondern nur von Unterschieden in dem Wesen, der Konfiguration oder der
330
Bewegung der betreffenden Körper"*. Hier tritt deutlich hervor, daß auch der Inhalt, auf den das physikalische Urteil sich richtet, zunächst in Gedanken einer bestimmten Änderung unterworfen wird, und daß das Urteil darauf geht, diejenigen Momente an ihm herauszuheben und abzulösen, die durch diese Veränderung nicht berührt werden, sondern sich gleich- artig behaupten. Wie wir als geometrische Eigenschaften eines bestimmten Gebildes alle diejenigen Merkmale seiner Gestalt bezeichnen, die ihm unabhängig von seiner absoluten Lage im Räume und von der absoluten Größe der Bestimmungs- stücke zukommen, so greift eine analoge Betrachtungsweise hier auf die Zeit über. Ein funktionales Verhältnis f (a, b), das nur für einen Zeitpunkt t^ oder für eine Mehrheit diskreter Zeitwerte tj, tg, tg . . . direkt festgestellt ist, wird von dieser Einschränkung losgelöst und der Abhängigkeit von irgendeinem einzelnen Zeitpunkt der Beobachtung entrückt. Jeder beliebige Zeitmoment gilt uns, sofern die übrigen Bedingungen ungeändert bleiben, mit demjenigen, der uns zunächst gegeben ist, als äquivalent, so daß der jetzige Moment zugleich eine Entscheidung für die ver- gangenen und künftigen enthält. Auch alle Erfahrung ist demnach auf die Gewinnung bestimmter ,, invarianter" Be- ziehungen gerichtet und gelangt erst in ihnen zu ihrem eigent- lichen Abschluß. Der Gedanke des empirischen Natur - Objekts entsteht und begründet sich erst in diesem Ver- fahren: denn es gehört zum Begriff dieses Objekts, daß es sich im Fortschritt der Zeit „mit sich selbst identisch" erhält. Wir müssen freilich jeden Naturgegenstand prinzipiell be- stimmten physischen Änderungen, die durch äußere Kräfte an ihm hervorgerufen werden, unterworfen denken: aber die Reaktion auf diese Einwirkungen selbst ließe sich nicht in gesetzlicher Form darstellen, wenn wir ihn nicht logisch als gleichbleibend, als ausgestattet mit denselben Grundeigenschaften und Merkmalen festhalten und gleichsam rekognoszieren könnten. Mitten in dem zeitlichen Chaos der Empfindungen schaffen wir, über die Zeit hinwegblickend.
♦ Maxwell, Substanz und Bewegung, Artikel XIX.
331
feste Verbindungen und Zuordnungen, und diese sind es, die das Grundgerüst der empirischen Tatsächlichkeit aus- machen.
Somit ist es stets eine Funktion des Urteils, die uns der Beständigkeit des empirischen Seins versichert. Und dieser Sachverhalt findet seinen Ausdruck nicht nur in den In- duktionen der mathematischen Physik, sondern tritt auch innerhalb der beschreibenden Naturwissenschaft deutlich hervor. Auch hier zeigt die tiefere Analyse, wie sehr die bloße, scheinbar rein rezeptive Klassifikation des Einzelnen von ideellen Voraussetzungen, die sich auf die Struktur des Ganzen beziehen, durchsetzt und beherrscht ist. Für die Physiologie und für das Gesamtgebiet der „experimentellen Medizin" hat insbesondere Claude B e r n a r d dieses Wechselverhältnis von Idee und Beobachtung allseitig beleuchtet. Ohne einen ideellen Gesichtspunkt der Vergleichung, ohne die begriffliche Anticipation einer möglichen Ordnung läßt sich die Ordnung des „Wirklichen" und Tatsächlichen nicht gewinnen. So zweifellos es ist, daß die endgültige Feststellung dieser Ordnung der Erfahrung zu danken ist, so ist es doch auch hier der Gedanke, der das Schema der Erfahrung zuvor ent- worfen haben muß. Auch die Induktion der beschreibenden Wissenschaften ist daher stets eine ,, provisorische Deduktion". ,,Man kann, wenn man will, das zweifelnde Denken des experimentellen Forschers induktiv nennen, während man die apodiktischen Behauptungen des Mathematikers als Deduktion bezeichnet: aber dies ist alsdann nur ein Unter- schied, der die Gewißheit oder Ungewißheit des Ausgangs- punktes unserer Schlußfolgerungen betrifft, nicht die Art, in der diese Folgerungen selbst fortschreiten. Das Prinzip des Folgerns bleibt in beiden Fällen das gleiche, wenngleich der Weg des Folgerns in zwiefacher Richtung durchlaufen werden kann: „es gibt für den Geist nur eine Art des Schließens, wie es für den Körper nur eine Art des Gehens gibt"*. Diese Einheit der Grundlage tritt besonders deutlich in jenen Grenzgebieten hervor, in denen das Denken der Mathematik
♦Claude Bernard, Introduction k l'ötude de la mödicino expörimentale, Paris 1865, bes. S. 83 ff .
332
und das der experimentellen Forschung sich gleichsam berühren. Wir sahen, wie der Fortschritt des geometrischen Denkens darauf gerichtet war, die besondere anschauliche Eigen- art der Gebilde, auf die die Untersuchung sich bezieht, im Beweis mehr und mehr zurücktreten zu lassen. Nur der Relationszusammenhang zwischen den Elementen als solcher, nicht die individuelle Beschaffenheit dieser Elemente selbst, erwies sich als das eigentliche Objekt der geometrischen Betrachtung. Mannigfaltigkeiten, die für die Anschauung schlechthin ungleichartig sind, konnten demnach in Eins gesetzt werden, wenn und sofern sie Beispiele und Aus- prägungen derselben Regeln der Verknüpfung darboten. Ein entsprechendes logisches Verfahren ist es, von dem auch die Begriffsbildung der exakten Physik sich beherrscht zeigt. Man hat von jeher den Analogieschluß als einen wesentlichen Bestandteil der physikalischen Methodik und insbesondere des induktiven Verfahrens gekennzeichnet, und kein Geringerer als Kepler ist es, der ihn als seinen getreuesten Führer und Lehrer, dem kein Geheimnis der Natur ver- borgen bleibt, preist*. Der wissenschaftliche Wert der Analogie aber bleibt unverständlich, solange man sie lediglich auf eine sinnliche Ähnlichkeit zwischen Einzelfällen stützt. Ist es doch gerade die Aufgabe der theoretischen Physik, kraft deren sie sich von der naiven Betrachtung scheidet, Fälle, die in der direkten Wahrnehmung einander ähnlich und gleichartig erscheinen, voneinander zu sondern, indem sie analytisch immer tiefer in die Bedingungen ihrer Ent- stehung eindringt**. Die echte und wahrhaft fruchtbare
* Kepler, Paralipomena in Vitellionem, Kap. IV, 4 (Op. II, 187). — Zum Begriff der Analogie vgl. Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. 218 ff. ** Ein Beispiel hierfür bei D u h e m , La Theorie Physique, S. 32 f. : ,,La Physique experimentale nous fournit les lois toutes ensemble et, pour ainsi dire, sur un meme plan .... Bien souvent, ce sont des causes tout accidentelles, des analogies toutes superficielles qui ont conduit des obser- vateurs a rapprocher, dans leurs recherches, une loi d'une autre loi. Newton a fixe dans un meme ouvrage les lois de la dispersion de la lumiere qui traverse un prisme et les lois des teintes dont se pare une bulle de savon simplement parce que des couleurs eclatantes signalent aux yeux ces deux sortes de ph^nomenes. La theorie, au contraire, en d6veloppant les ramifica- tions nombreuses du raisonnement deductif qui relie les principes aux lois
333
Analogie beruht denn auch nicht auf einer sinnlichen Über- einstimmung der Merkmale, sondern auf einer begrifflichen Übereinstimmung im Relationsgefüge. Wenn wir, in der elektro-magnetischen Theorie des Lichts, Elektrizität und Licht als gleichartige Phänomene betrachten, so gründet sich diese Behauptung nicht auf eine Übereinstimmung, die die Wahrnehmung an ihnen erfassen könnte, sondern auf die Form der Gleichungen, die wir beiderseits als quantitativen Ausdruck der Erscheinungen feststellen, sowie auf die Beziehungen zwischen den numerischen Konstanten, die für beide Gebiete charakteristisch sind. (S. ob. S. 216.) Der Vergleich beruht somit nicht auf einer bloß unbestimmten Ähnlichkeit, sondern auf einer wahrhaften Identität des mathematisch faßbaren Bedingungszusammenhangs: und diese Identität ist es, die, ebenso wie in der reinen Mathematik, als logische ,, Invariante" herausgehoben und für sich betrachtet wird. Die „Analogie", die zunächst noch am Sinnlich-Einzelnen zu haften scheint, geht daher — wofür wiederum die Lehre Keplers das klassische Beispiel bietet — mehr und mehr in die mathematische ,, Harmonie" über: in die Anschauung der einheitlichen quantitativen Strukturgesetze, die, nach der Voraussetzung, von welcher die exakte Physik geleitet ist, das Ganze des Seins beherrschen und damit auch das scheinbar Entfernteste zur Einheit zusammenschließen.
IL Die erste Leistung, die von dem induktiven „Begriff" im strengen Sinne dieses Wortes gefordert wird, besteht darin, daß er die Mannigfaltigkeit der Beobachtungen, die sich zu- nächst als ein bloßes beziehungsloses Nebeneinander
exp^rimentales, 6tablit parmi celles-ci un ordre et une Classification; il en est qu'elle röunit, 6troitement serröes, dans un meme groupe; il en est qu'elle söpare les unes des autres et qu'elle place en deux groupes extreme- ment öloign6s . . . Ainai, pres des lois qui rögissent le spectre fourni par un prisme, eile ränge les loia auxquelles ob^issent les couleurs de rarc-en-9iel ; ni£Üs les lois selon lesquelles se succedent les teintes des anneaux de Newton vont, en une autre r6gion, rejoindre les lois des franges döcouvertes par Young et par Fresnel. . . . Les lois de tous ces ph6nomenes que leurs 6clatantes couleurs confondaient les uns avec les autres aux yeux du simple observateur, sont, par lea soins du th6oricien, classöes et ordonnöes."
334
einzelner Elemente darstellt, in irgendeine feste Reihen- f o r m umsetzt. Man kann, um den Sinn dieser Aufgabe zu verdeutlichen, an gewisse elementare Probleme der Arithmetik anknüpfen, die für das logische Verhältnis, um das es sich hier handelt, ein genaues Beispiel und Analogon bilden. Ist etwa irgendeine Folge von Zahlen gegeben, die gemäß einer bestimmten, jedoch zunächst noch unbekannten Regel miteinander zusammenhängen, so muß, zur Ermittlung dieser Regel, die gegebene Folge zunächst in einen Komplex von Reihen aufgelöst werden, die relativ einfacheren Bildungs- gesetzen gehorchen. Haben wir etwa die Folge der vierten Potenzen 1, 16, 81, 256, 625 .... vor uns, so läßt sich die Beziehung, durch die hier die einzelnen Reihenglieder ver- knüpft sind, dadurch feststellen, daß wir zunächst die Diffe- renzen zwischen ihnen und weiterhin die Differenzen dieser Differenzen usf. bilden, bis wir schließlich bei einer einfachen arithmetischen Reihe, mit einem konstanten Unterschied zwischen den Einzelgliedern stehen bleiben. Damit sind wir zu einem völlig bekannten und völlig beherrschbaren Reihen- typus zurückgekehrt und haben zugleich den Weg bezeichnet, auf welchem wir, von dieser Grundform aus durch immer kompliziertere Mittelstufen hindurch, die gegebene Reihe wiederum erreichen können. Diese steht somit jetzt in den Bedingungen ihrer Struktur und in allen einzelnen Phasen ihres Aufbaus deutlich vor uns; sie ist durch die Zurückführung auf die Vorstufen ihrer Bildung für uns gleichsam durchsichtig geworden und trägt denselben Charakter der Notwendigkeit des Fortschritts von Glied zu Glied an sich, der die primitiven Reihen auszeichnet. Die gleiche ,,resolutive Methode", die hier im Gebiet der Zahlen geübt wird, kennzeichnet den echten wissenschaftlichen Induktionsschluß. Der gegebene Bestand, den die unmittelbare Beobachtung darbietet, erscheint für den Gedanken zunächst gleichsam undurchdringlich; er kann nur schlechthin konsta- tiert, aber nicht aus einfachen Anfängen gemäß bestimmten, identisch festgehaltenen Fortschreitungsregeln abgeleitet werden. Aber die wahrhafte, theoretisch geschulte und ge- leitete Induktion bleibt niemals bei dieser ersten Feststellung
335
stehen. Sie ersetzt das tatsächliche Beisammen sinnlicher Daten durch einen andersartigen Zusammenhang, der zwar rein materiell betrachtet ärmer an Bestandteilen erscheint, der sich jedoch zugleich dem Prinzip seiner Gestaltung nach klarer überschauen läßt. Jedes Experiment, das wir anstellen und auf welches wir unsere induktiven Schlüsse gründen, wirkt bereits in dieser Richtung. Denn der wissen- schaftliche Versuch hat niemals das unbearbeitete Material der sinnlichen Wahrnehmung zu seinem eigentlichen Gegen- stand, sondern setzt an seine Stelle ein Ganzes von Bedin- gungen, das er selbst konstruiert und dem er seine Grenzen vor- geschrieben hat.
Das Experiment geht daher streng genommen niemals auf den wirklichen Fall, wie er hier und jetzt in aller Fülle seiner besonderen Bestimmungen vorliegt, sondern auf einen idealen Fall, den wir ihm substituieren. Die eigentlichen Anfänge der wissenschaftlichen Induktion bieten hierfür bereits das klassische Beispiel. Das Gesetz des Falles der Körper wird von Galilei nicht ermittelt, indem er beliebige Beobachtungen an sinnlich-wirklichen Körpern zusammen- stellt, sondern indem er den Begriff der gleichförmigen Be- schleunigung hypothetisch fixiert und als gedankliches Grund- maß den Tatsachen entgegenhält*. Dieser Begriff liefert ihm für gegebene Zeitwerte eine Folge von Raum werten, die nach einer festen, ein für allemal übersehbaren Regel fortschreiten. Und von dieser Regel aus muß nunmehr versucht werden, zu dem tatsächlichen Vorgang der Wirklichkeit vorzudringen, indem wir fortschreitend die komplexen Bestimmungen, die anfangs ausgeschaltet blieben, wie etwa die Abänderung der Beschleunigung mit der Entfernung vom Erdmittelpunkt, die Verzögerung durch den Luftwiderstand usf., wiederum in die Betrachtung einbeziehen. Wie wir in dem arithmetischen Beispiel von der einfachen Grundreihe, in der die Differenzen zwischen den Gliedern konstant sind, zu Reihen zweiter, dritter, vierter Ordnung fortgingen, so zerlegt sich uns jetzt
* Näheres hierüber : Erkenntnisproblem I, 294 sowie bes. bei Honigs- w a 1 d , Beiträge zur Erkenntnistheorie u. Methodenielire, Leipzig 1906.
336
das Wirkliche in verschiedene Relationsordnungen, die gesetz- mäßig miteinander zusammenhängen und sich fortschreitend einander bedingen. Der sinnliche Schein der Einfachheit des Phänomens weicht einem streng begrifflichen System der Über- und Unterordnung von Beziehungen. Gegenüber dem mathematischen Begriff aber zeigt sich jetzt der charakte- ristische Unterschied, daß der Aufbau, der innerhalb der Mathematik zu einem festen Ende gelangt, innerhalb der Erfahrung prinzipiell unabschließbar bleibt. So viele „Schichten" der Beziehung wir auch übereinander sich erheben lassen mögen und je näher wir damit auch allen Einzelumständen des wirklichen Vorgangs kommen mögen, so bleibt doch stets die Möglichkeit offen, daß irgendein mit- bestimmender Faktor des Gesamtergebnisses außer Rechnung blieb und erst durch den weiteren Fortschritt der experimen- tellen Analyse zur Entdeckung gelangen wird. Jeder Abschluß, den wir hier vollziehen, besitzt somit nur den relativen Wert einer vorläufigen Fixierung, die das Gewonnene nur darum festhält, um es zugleich als Ansatzpunkt für neue Bestim- mungen zu brauchen. Die Ungewißheit, die damit zurück- zubleiben scheint, aber betriff t wiederum nicht die Beziehungen, die innerhalb der einzelnen Reihen festgestellt worden sind, sondern sie tritt erst dort hervor, wo das Ganze dieses theoretischen Aufbaus den tatsächlichen Beobachtungen gegenübertritt. Ein Widerspruch, der sich hierbei ergibt, wird daher nicht dadurch gehoben, daß wir die prinzipiellen Grundlagen der früheren Versuche aufgeben, sondern daß wir diesen Versuchen neue Faktoren hinzufügen, die das erste Ergebnis, das sie berichtigen, zugleich in einer neuen Be- deutung festzuhalten gestatten. Die Wahrheit der ein- zelnen Bestimmungsstücke bleibt im allgemeinen — sofern von subjektiven Irrtümern der Beobachtung abgesehen wird — unangetastet; nur die Zulänglichkeit dieser Be- stimmungsstücke für die Erklärung der komplizierten tatsäch- lichen Verhältnisse der Wirklichkeit ist es, die stets aufs neue in Frage gestellt wird. Aber gerade, indem er diese Frage offen läßt, beweist der induktive Begriff, daß die Richtung, die er nimmt, nicht von der Wirklichkeit hinweg, sondern
Cassirer, Substanzbegrif 22 337
immer genauer zu ihr hinführt. Die „allgemeinen" Relationen, die er zunächst heraushebt, enthalten zwar für sich allein genommen, die besonderen Merkmale noch nicht, aber sie leugnen sie ebensowenig. Vielmehr lassen sie von Anfang an Raum für sie und deuten auf ihre künftige mögliche Bestimmung voraus. Das Fallgesetz Galileis bedarf, um die Phänomene des Falls bei einem bestimmten Luftwider- stand darzustellen, keiner Berichtigung seines Gehalts, sondern lediglich einer begrifflichen Erweiterung, die schon in seiner ursprünglichen Fassung prinzipiell zugelassen und vor- gesehen ist.
Der naturwissenschaftliche „Begriff* sieht daher in diesem Sinne keineswegs von dem Besonderen ab, sondern immer schärfer auf das Besondere hin. Jede allgemeingültige Beziehung, die er feststellt, enthält bereits die Tendenz in sich, sich mit anderen Beziehungen zu verknüpfen, um kraft dieser Durchdringung mehr und mehr zur Beherrschung des Ein- zelnen tauglich zu werden. Jede der Grundreihen, aus welchen ein komplexeres Gesetz sich aufbaut, bezeichnet für sich genommen freilich nur einen bestimmten Umkreis von Be- dingungen. Es kann indes keine Rede davon sein, daß diese Bedingungen von dem konkreten Gesamtvorgang, der aus ihrer Totalität sich ergibt, nur teilweise oder ungenau befolgt werden; vielmehr müssen sie insgesamt vollständig und ohne Einschränkung erfüllt sein, wenn die gegebene Folge möglich sein soll. Ein neuer Gesichtspunkt der Betrachtung, der nachträglich hinzutritt und der das Phänomen, das wir untersuchen, zu einem neuen Kreis von Tatsachen in Be- ziehung setzt, ändert daher nichts am Sinn und Wert der früheren Bestimmungen. Nur das Eine wird gefordert, daß die Relationen, die wir auf diese Weise fortschreitend fest- stellen, miteinander verträglich sind: und diese Ver- träglichkeit ist im Prinzip bereits dadurch verbürgt, daß die Bestimmung des besonderen Falls auf Grund der Bestimmung des allgemeinen Falles erfolgt und dessen Geltung daher still- schweigend voraussetzt. Denken wir uns einen Einzelvorgang als Synthese verschiedener Gesetze, so hört die Frage, wie das Besondere am Allgemeinen „Teil haben" könne, auf, ein
338
metaphysisches Problem zu sein : denn nunmehr gilt uns das Allgemeine nicht mehr als ein dinglich Vorhandenes, das als sachlicher Bestandteil irgendwie in das Einzelne ein- geht, sondern als ein logisches Moment, das in einem umfassenderen Inbegriff von Beziehungen implizit mitgesetzt ist. Wir bestimmen ein einzelnes Naturereignis A durch Ein- reihung in verschiedenartige funktionale Zusammenhänge f (A, B, C . . . ), 9 (A, B',0...) \p{K B", C" . . . ) usf. und denken es kraft dieser Einordnung den Regeln all dieser Zusammen- hänge unterworfen. Die „Teilhabe" des Einzelnen am All- gemeinen erscheint somit nicht rätselhafter, als die logische Grundtatsache selbst, daß überhaupt verschiedene Bedin- gungen sich gedanklich zu einem einheitlichen Ergebnis zu- sammenfassen lassen, in welchem jede von ihnen ganz erhalten ist. Nicht wie das Einzelne seiner ,, Substanz" nach aus dem Allgemeinen hervorgeht und von ihm sich ablöst, bildet jetzt mehr die Frage, sondern wie es der Erkenntnis möglich ist, die Regeln universeller Zusammenhänge, die sie gewonnen hat, derart in Beziehung zu setzen und wechsel- seitig durcheinander zu determinieren, daß daraus die begriff- liche Einsicht in die besonderen Verhältnisse des physisch Wirklichen sich ergibt. (Vgl. ob. S. 300 ff.) —
Daß in dieser Aufgabe das eigentliche Problem der In- duktion beschlossen ist, tritt innerhalb der Erkenntnistheorie der neueren Naturwissenschaft an vielen Stellen deutlich zutage. Die beiden Grundrichtungen naturwissenschaftlicher Betrachtung, die Galilei bereits als „resolutive" und „kompositive" Methode einander gegenübergestellt hat, sind in der modernen Diskussion bisweilen als die Prinzipien der ,, Isolation" und ,,Superposition" voneinander geschieden worden*. Das erste Ziel der experimentellen Forschung besteht darin, das Phänomen, dem die Untersuchung sich zuwendet, als reines Phänomen und frei von allen zufälligen Neben- umständen zu gewinnen. Während die Wirklichkeit uns eine vielfältige Mischung heterogener Umstände zeigt, die untrennbar
* S. Volkmann, Erkenntnis theoretische Griindzüge der Natur- wissenschaft, Leipzig 1896.
22* 339
ineinander verwoben und verwirrt scheinen, fordert der Gedanke die gesonderte Betrachtung jedes einzelnen Moments und die genaue Bestimmung des Anteils, der ihm in der Struktur des Ganzen zukommt. Nur durch eine künstliche Scheidung des tatsächlich Verbundenen, nur durch die Her- stellung besonderer Versuchsbedingungen, die es gestatten, die einzelnen Faktoren für sich allein in ihrer Wirksamkeit zu beobachten und zu verfolgen, ist dieses Ziel erreichbar. Erst nachdem diese Vereinzelung streng durchgeführt ist, gewinnt auch die konstruktive Zusammensetzung ihre Klarheit und Schärfe. Indem wir die Teilsysteme miteinander ver- knüpfen und sie gleichsam sich übereinander lagern lassen, entsteht uns damit wiederum das vollständige Bild des Gesamt- vorgangs, das jedoch nunmehr nicht nur in der Art einer ein- heitlichen Totalanschauung, sondern als ein differenziertes Begriffsganzes erscheint, in welchem die Art der Abhängigkeit zwischen den Einzelmomenten fest bestimmt ist. Wird die Aufgabe der physikalischen Induktion in diesem Sinne gefaßt, so zeigt sich hierin von einer neuen Seite, daß die mathe- matische Betrachtungsweise nicht sowohl als Gegensatz, wie als notwendiges Korrelat der induktiven Begriffs- bildung zu gelten hat. Denn eben jene Synthese von Relationen, die hier gefordert wird, und die als wesent- licher Bestand in die experimentelle Forschung selbst eingeht, findet ihre letzten abstrakten Grundlagen und die Gewähr ihrer allgemeinen Gültigkeit im System der Mathematik. Nicht die Zusammensetzung von Größen, sondern die Verknüpfung und wechselseitige Bestimmung von Be- ziehungen bildet, wie sich gezeigt hat, das Objekt der Mathematik, sofern sie in der ganzen Weite und Universalität ihres Begriffs gefaßt wird. (S. oben, S. 125 ff.) Die Aufgaben der beiden Forschungsrichtungen berühren sich also hier in einem gemeinsamen Punkt: wenn das Experiment unent- behrlich ist, um ein zunächst ungeschiedenes Wahrnehmungs- ganze in seine einzelnen konstituierenden Elemente zu zerlegen, so gehört andererseits der mathematischen Theorie die Be- stimmung der Form an, kraft deren diese Elemente sich wiederum zu einer gesetzlich beherrschbaren Einheit zu-
340
sammenschließen. Das System der ,, möglichen" Relations- synthesen, das in der Mathematik vorgängig entwickelt ist, bietet die Handhabe und das Grundschema für die Ver- knüpfungen, die der Gedanke am Stoff des Wirklichen ver- sucht. Das Experiment gibt in seinem Ergebnis Antwort darauf, welcher der möglichen Beziehungszusammenhänge in der Erfahrung tatsächlich verwirklicht ist: aber diese Antwort kann nur erfolgen, sofern die Frage zuvor klar und eindeutig gestellt ist, und dieser Prozeß der Fragestellung geht auf Konzeptionen zurück, kraft deren die unmittelbare An- schauung nach begrifflichen Gesichtspunkten sich scheidet und gliedert. Ist das Wirkliche als Ergebnis elementarer Abhängigkeitsreihen dargestellt, die einander decken und durchdringen, so hat es damit bereits prinzipiell die Form eines mathematisch bestimmbaren Gefüges erlangt*. —
Wenn daher das Prinzip der ,, Isolation" und ,,Super- position" gelegentlich dadurch erklärt und begründet werden soll, daß alles Wirkliche nur die Summe von Äußerungen einzelner Naturgesetze darstellt und aus diesen als hervor- gegangen zu denken ist, so verhüllt diese Wendung bereits den eigentlichen erkenntnistheoretischen Sinn des Gedankens**. Nicht um den Ursprung der Dinge, sondern um den Ursprung und die Beschaffenheit unserer Einsicht in die Dinge kann es sich hier allein handeln. Das „Wirkliche", wie es im sinn- lichen Eindruck erfaßt wird, ist nicht an und für sich bereits eine „Summe" verschiedenartiger Elemente, sondern steht zunächst als schlechthin einfaches und unzerlegtes Ganzes
* Eine neue Bestätigung und eine außerordentlich klare Dar- stellung hat dieses Grundverhältnis, wie ich nachträglich sehe, soeben durch einen modernen Physiker erhalten. S. H. Bouasse, Physique generale in dem Sammelband: De la Methode dans les sciences, Paris 1909: „La physique ne separe pas l'etude des formes de l'etude des faits; la deduction prevoit les faits que l'experience confirme." ,,Qu'est-ce donc qu'expliquerl C'est tout uniment faire rentrer un fait dans une forme. Le fait est explique lorsqu'il apparait identique ä un des phenomenes qu'engendre un des ces sorites indefinis que nous appelons theories ou formes . . . La physique n'est donc pas mathematique, parce qu'on y trouve des algorithmes algebri- ques; toute experience devant, en definitive, entrer dans une forme, toute forme se developpant naturellement sous les symboles mathematiques, toute physique est mathematique (a. a. O., S. 76 f., 91, 100). ** S. V o 1 k m a n n , a. a. O. S. 89.
341
vor uns. Diese ursprüngliche „Einfalt" der Anschauung wandelt sich erst unter der logisch zergliedernden Arbeit des Begriffs zu einer inneren Vielgestaltigkeit um. Der Begriff ist somit hier ebenso der Quell der Vielheit, wie er sonst allenthalben als der Quell der Einheit erscheint. Indem wir einen einzelnen Vorgang successiv verschiedenen Systemen einordnen, deren allgemeine Struktur sich mathematisch- deduktiv ableiten läßt, geben wir ihm damit eine immer weiter- gehende Bestimmtheit, sofern damit seine Stellung in dem allgemeinen Orientierungsplan unseres Denkens immer genauer bezeichnet wird. Der Fortschritt des Experiments geht hier Hand in Hand mit der fortschreitenden Universalität der Grundgesetze, aus welchen wir die empirische Wirklichkeit erklären und aufbauen.
Man hat bisweilen auf den methodischen Unterschied hin- gewiesen, der zwischen bloßen ,, Regeln" der Naturerkenntnis und zwischen den wahrhaft allgemeinen „Gesetzen" der Natur besteht. Die Keplerschen Induktionen über die Pla- netenbewegung bezeichnen nur verallgemeinerte ,, Regeln" des Geschehens, während das fundamentale Gesetz, auf das sie sich gründen, erst in Newtons Theorie der Gravitation erreicht wird*. Hier finden wir in der Tat die Ellipse nicht bloß als die wirkliche Form der Marsbahn vor, sondern über- sehen mit einem Blick das Ganze der „möglichen" Bahn- formen. Der Newtonische Begriff einer Zentralkraft, die gemäß dem Quadrat der Entfernung abnimmt, führt zu einer vollständigen Disjunktion der empirischen Fälle überhaupt. Der Übergang dieser Fälle ineinander ist nunmehr im voraus fest bestimmt: die Größe der Anfangsgeschwindigkeit des bewegten Körpers entscheidet — unabhängig von der Richtung dieser Geschwindigkeit — ob die Form seiner Bahn eine Ellipse oder eine Hyperbel oder Parabel ist. So schließt das „Gesetz" der Gravitation das Tatsachengebiet, das von ihm beherrscht wird, in sich selbst ab und weist ihm eine strenge Gliederung zu, während die bloß empirisch erkannte Regel der Planetenbewegung die besonderen Fälle nur als loses
* S. V o 1 k m a n n , a. a. O., S. 59. 342
Nebeneinander ohne scharfe Begrenzung stehen läßt. Im tatsächlichen Fortgang der Wissenschaft sind indes die beiden Betrachtungsweisen, die sich auf diese Weise logisch sondern lassen, nirgends in aller Strenge getrennt, sondern greifen unmerklich ineinander über. Die ,, Regel" enthält in sich bereits die Tendenz, sich zur Form des Gesetzes zu erheben; wie andererseits die begriffliche Vollendung, die das Gesetz erreicht, insofern eine bloß provisorische Setzung bleibt, als sie stets ein hypothetisches Moment in sich birgt. Wir stehen vor demselben scheinbaren Zirkel, der uns überall im Verhältnis von Gesetz und Tatsache entgegentritt. Denken wir uns die Bewegung der Planeten durch Zentralkräfte bestimmt, die im umgekehrten Quadrat der Entfernung wirken, so zeigt es sich, daß die Form des Kegelschnitts für ihre Bahn notwendig ist; — daß indessen diese Bestimmung über Art und Größe der Anziehung „wirklich" statt hat, kann selbst nicht anders, als durch diese methodische Not- wendigkeit, durch die Fähigkeit dieser Annahme, die Be- obachtungen einheitlich zu verknüpfen und in bestimmtem Sinne zu begrenzen, dargetan werden. (Vgl. ob. S. 193 ff.) Zwingt uns dereinst die Erfahrung durch neues Material, das sie uns zuführt, von dieser Annahme abzugehen, so vermag der reine Begriff als solcher hiergegen freilich nichts auszurichten; aber auch in diesem Falle geht die Form des empirischen Begriffs keineswegs zugleich mit seinem be- sonderen Inhalt unter. Wir fordern für das neue Gebiet, das sich uns nunmehr erschließt, alsbald den gleichen gedank- lichen Abschluß und suchen diesen Abschluß in einem neuen Gesetz, das dem früheren übergeordnet ist, zu vollziehen. Das veränderte Material bedingt eine veränderte Weise der Verknüpfung, wobei indes die allgemeine Funktion dieser Verknüpfung, die Herleitung des Einzelnen aus einem obersten Reihenprinzip, das wir zugrunde legen, die gleiche bleibt. —
Diese Funktion, nicht ihre jeweilige und wechselnde konkrete Ausprägung in besonderen Lehrsätzen, ist es, was im Begriff der Erfahrung selbst gesetzt ist und daher zu den eigentlichen „Bedingungen ihrer Möglichkeit" gehört. Ist
343
irgendeine Reihe von Beobachtungen aj aj aj . . .au gegeben, so bietet sie der Betrachtung alsbald eine doppelte Aufgabe dar. Wir können einerseits versuchen, das Material dieser Reihe durch Interpolation und Extrapolation zu bereichern, indem wir zwischen die gegebenen Glieder hypothetische Mittelglieder einschieben oder aber die Reihe über ihre anfäng- lichen Grenzen hinaus weiter verfolgen. Daneben aber gilt es, die Mannigfaltigkeit der Glieder in einer letzten Identität zusammenzufassen, indem eine Regel angegeben wird, durch die der Übergang von aj zu a„ von a, zu aj usf. bestimmt und einem festen Prinzip unterworfen wird. Wenn man das erste Verfahren vorzugsweise als das der „Induktion", das zweite als das der „Deduktion" bezeichnen mag, so ist doch deutlich, daß beide einander wechselseitig bedingen und auf- einander hinarbeiten. Die Ergänzung der Reihe durch Ein- führung neuer Einzelglieder erfolgt bereits in der Richtung auf das einheitliche Gesetz der Ableitung, das dem Denken hierbei als Problem vorschwebt. Die Auswahl und Sichtung des Materials steht unter der Leitung einer aktiven Urteilsnorm. Wir versuchen, durch eine gegebene Folge von Beobachtungen ein Gesetz von bekannter begrifflicher Struktur gleichsam hindurchzuführen und bemessen die Wahrheit dieses Gesetzes danach, ob es ihm gelingt, Stellen, die die unmittelbare Wahr- nehmung leer gelassen hat, seinerseits zu bezeichnen und auf ihre Ausfüllung durch künftige Versuche vorauszudeuten. In diesem Sinne verknüpft Kepler die Angaben über die Marsörter, die ihm durch die Forschung Tycho de Brahes geliefert sind, nacheinander durch die verschiedensten geometri- schen Kurven, die er als bekannte ideelle Normen den Tat- sachen gegenüberstellt, bis er schließlich zu der Ellipse als derjenigen Linie gelangt, die die größte Mannigfaltigkeit von Beobachtungen aus dem relativ einfachsten geometrischen Fortschrittsprinzip abzuleiten gestattet. Daß diese Arbeit indes niemals zu einem absoluten Abschluß gelangt, geht schon aus der Natur der Aufgabe selbst hervor: denn so viele Punkte der Planetenbahn uns auch gegeben sein mögen, so ist es doch stets möglich, sie durch beliebig viele Linien von verschiedenartiger, komplizierter Gestalt zu ver-
344
binden. Nur die eine methodische Forderung bleibt hierbei bestehen, daß, so notwendig komplexe Annahmen für die Darstellung eines begrenzten konkreten Tatsachen- gebietes sich erweisen mögen, in der letzten Analyse des Naturgeschehens überhaupt auf bestimmte einfache Grund- regeln zurückzukommen ist: — der Art vergleichbar, wie wir arithmetische Reihen beliebig hoher Ordnung allmählich auf den Grundtypus der Reihe mit konstanter Differenz der Glieder zurückführen. —
Diese Rückführung des mannigfachen und rastlos wech- selnden Wahrnehmungsstoffes auf letzte konstante Grundverhältnisse muß auch der radikalste ,, Empi- rismus" ohne Einschränkung zugestehen: denn die Annahme dieser Grund Verhältnisse ist dasjenige, was ihm vom Begriff des ,, Objekts", also vom Begriff der Natur selbst, einzig und allein übrig bleibt. ,,Ein Körper", so heißt es bei Mach, „sieht bei jeder Beleuchtung anders aus, bietet bei jeder Raumlage ein anderes optisches Bild, gibt bei jeder Temperatur ein anderes Tastbild usw. Alle diese sinnlichen Elemente hängen aber so miteinander zusammen, daß bei derselben Lage, Beleuchtung, Temperatur auch dieselben Bilder wieder- kehren. Es ist also durchaus eine Beständigkeit der Ver- bindung der sinnlichen Elemente, um die es sich hier handelt. Könnte man sämtliche sinnliche Elemente messen, so würde man sagen, der Körper besteht in der Erfüllung gewisser Gleichungen, welche zwischen den sinnlichen Elementen statt haben. Auch wo man nicht messen kann, mag der Ausdruck als ein symbolischer festgehalten werden. Diese Gleichungen oder Beziehungen sind also das eigentlich Beständige. Die logische Entwicklung der Naturwissenschaft geht demnach mehr und mehr dahin, daß die ursprünglichen naiven Stoff- vorstellungen als unnötig erkannt werden, so daß man ihnen höchstens den Wert veranschaulichender Bilder beimißt, als das eigentlich Substanzielle in den Erscheinungen dagegen die quantitativen Beziehungen, die zwischen ihnen obwalten, erkennt. ,,In dem Maße als die Bedingungen einer Erscheinung erkannt werden, tritt der Eindruck der Stofflichkeit zurück. Man erkennt die Beziehungen zwischen Bedingung und Be-
345
dingtem, die Gleichungen, welche größere oder kleinere Gebiete beherrschen, als das eigentlich Bleibende, Substanzielle, als dasjenige, dessen Ermittelung ein stabiles Weltbild ermöglicht*." Bis hierher stimmt der moderne Empirismus mit der kritischen Auffassung vom Sinn und von der fortschreitenden Tendenz der Naturerkenntnis noch völlig überein. Was wir auch nur an der Materie kennen — so hatte insbesondere die Kritik der reinen Vernunft unzweideutig gelehrt — sind lauter Ver- hältnisse, aber es sind darunter selbständige und beharrliche, dadurch uns ein bestimmter Gegenstand gegeben wird**. Der Gegensatz setzt erst dort ein, wo dieser Begriff der Beharrlich- keit selbst, auf den der Begriff des Objekts zurückgeführt ist, in seiner logischen Bedeutung und seinem logischen Ursprung näher bestimmt werden soll. Ist die Beständigkeit eine Eigenschaft der sinnlichen Eindrücke, die ihnen un- mittelbar anhaftet, oder stellt sie erst das Ergebnis einer intellektuellen Arbeit dar, kraft deren wir das Gegebene im Sinne bestimmter logischer Forderungen allmählich um- formen? Die Antwort hierauf kann nach den früheren Ent- wicklungen nicht zweifelhaft sein. Die Beharrung liegt niemals in der sinnlichen Erfahrung als solcher bereits fertig vor, da diese vielmehr nur ein Konglomerat der verschieden- artigsten, auf einen einzigen Zeitpunkt beschränkten und niemals völlig gleichartig wiederkehrenden Eindrücke dar- stellt. Sie tritt erst in dem Maße hervor, als es uns gelingt, das Sinnlich-Mannigfaltige zum Mathematisch-Mannigfaltigen umzugestalten, d. h. es aus bestimmten Grundelementen nach Regeln, die wir unveränderlich festhalten, hervorgehen zu lassen. Die Art der Gewißheit, die diesen Regeln zukommt, ist von der Gewißheit der einzelnen Empfindung deutlich geschieden. Es ist, schon vom Standpunkt einer bloßen „Phänomenologie" der Bewußtseinstatsachen aus, etwas völlig anderes, ob verschiedene Inhalte des Bewußtseins lediglich tatsächlich aufeinander folgen oder ob der folgende ,,aus" dem vorhergehenden nach ein und demselben durchgehenden
* Mach, Die Prinzipien der Wärmelehre, Leipzig 1896, S. 422 ff. ♦* Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., S. 341.
346
logischen Prinzip erkannt wird. L e i b n i z hat zur Verdeutlichung dieses Unterschiedes gelegentlich auf Beispiele der Zahlentheorie verwiesen, die das allgemeine Verhältnis, um das es sich hier handelt, in der Tat in aller Schärfe kenn- zeichnen. Denken wir uns etwa die Reihe der Quadratzahlen gegeben, so können wir hier zunächst rein empirisch durch Anstellung mannigfacher Proben den Umstand feststellen, daß die Differenzen der einzelnen Glieder durch die fortschreitende Reihe der ungeraden Zahlen 1, 3, 5, 7 . . . darstellbar sind. Auf Grund dieser Tatsache läßt sich erwarten, daß, wenn wir von dem zuletzt geforderten Gliede der Reihe der Quadratzahlen ausgehen und dieses Glied um die ent- sprechende ungerade Zahl vermehren, wiederum eine Quadrat- zahl sich ergeben werde: aber nichts berechtigt uns, diese psychologische Erwartung einer logischen Notwendigkeit gleich zu achten. So viele Glieder vielmehr bereits erprobt worden und der Regel entsprechend gefunden worden sind, so bleibt es doch stets möglich und zulässig, daß von einer bestimmten Stelle ab die bisherige konstante Art des Fort- schritts unterbrochen wird. Keine noch so große Häufung von Beobachtungen an einzelnen Zahlen vermag uns jemals eine neue Form der Gewißheit zu erschließen, die uns in dieser Hinsicht sicher stellt. Diese Form der Gewißheit aber wird sogleich gewonnen, sobald wir, statt von der Durchzählung der Einzelglieder der Reihe, von ihrem „allgemeinen" Gliede, d. h. von dem ein für allemal identischen Bildungsgesetz, aus- gehen. Die Formel (n -\- ip — n^ = 2 n -\- 1 zeigt mit einem Schlage und ohne daß es hierzu einer Mehrheit von Proben bedürfte, die konstante und notwendige Beziehung, die zwischen dem Fortschritt der Quadratzahlen und dem der ungeraden Zahlen besteht. Diese Formel gilt, sobald sie einmal erfaßt ist, für jedes b e 1 i e b i g e n, da in ihrer Ableitung und ihrem Beweis auf die Besonderheit irgendeines bestimmten Zahlwertes nirgends Rücksicht genommen ist, der besondere Wert also beliebig variieren kann, ohne den Sinn und die Bedeutung des Beweises selbst anzutasten. Jetzt erst ist der Inbegriff der Quadratzahlen und der der un- geraden Zahlen in ein System aufgenommen, in welchem
347
der eine durch den anderen erkannt wird, während zuvor beide, auf eine so große Strecke hin wir die wechselseitige Entsprechung auch verfolgen mochten, dennoch lediglich neben einander stehen blieben.
Der gleiche grundlegende Unterschied, der sich hier ergibt, aber läßt sich auch hei jedem echten physikalischen Grundgesetz aufweisen. Betrachten wir ein Gesetz, wie das Galileische Fallgesetz oder das Mariottesche Gesetz, so werden hier die zusammengehörigen Werte der Räume und Zeiten, des Drucks und des Volumens nicht einfach nebeneinander registriert, sondern sie gelten als durcheinander bedingt. Eine Liste von Zahlenwerten, in der zu jedem einzelnen Wert des Drucks der entsprechende Wert des Volumens, zu jedem einzelnen Wert der Zeit der entsprechende Fallraum ver- merkt wäre, würde rein materiell, was die bloße Tatsachen- kenntnis angeht, all das leisten, was die mathematische Funktionsregel uns nur immer zu geben vermag: und doch würde jede solche Anhäufung einzelner numerischer Daten gerade das charakteristische Moment vermissen lassen, auf welchem die Bedeutung des Gesetzes beruht. Denn hier wäre gerade das entscheidende Moment fortgefallen: die Art der Bestimmung, kraft deren die eine Größe aus der andern hervorgehend gedacht wird, bliebe in Dunkel gehüllt, selbst wenn das Ergebnis dieser Bestimmung richtig verzeichnet wäre. Diese Weise der Bestimmung tritt in der quantitativen Gleichung scharf hervor: denn diese zeigt, durch welche rein algebraischen Operationen, deren all- gemeingültige Regeln feststehen, der Wert der abhängigen Variabein aus dem Wert des Arguments zu gewinnen und zu errechnen ist. Und diesem mathematischen Zusammenhang läßt die physikalische Theorie sodann einen objektiv-kausalen entsprechen: die Werte der Funktion gehören zugleich mit denen der unabhängig Veränderlichen einem gemeinsamen Grundsystem von Ursachen und Wirkungen, von Bedingungen und Bedingtem an, und sind daher mittelbar derart mitein- ander verknüpft, daß die Setzung der einen die der anderen notwendig nach sich zieht. Auch hier stellen wir nicht den einzelnen Wert der einen Reihe dem einzelnen der anderen
348
einfach gegenüber, sondern versuchen, wenigstens hypothe- tisch, beide Reihen in ihrem Bildungsgesetz und somit in der Totalität ihrer möglichen Bestimmungen zu erfassen und mit- einander zu vergleichen. Die methodisch geleitete Induktion strebt diesem Ziele zu, indem sie dasjenige, was die Erfahrung nur als ein komplexes Beisammen von Gliedern kennt, als eine Resultante einfacherer Abhängigkeitsreihen darstellt, die indes ihrerseits nach dem strengen Verhältnis des mathe- matischen „Grundes" zur mathematischen ,, Folge" fort- schreiten.
Diese Anwendung der Begriffe des Grundes und der Folge hält sich offenbar von allen metaphysischen Neben- gedanken frei. Auch hier gilt es, der Theorie der ,, Beschrei- bung" gegenüber, den reinen logischen Charakter der Beziehung von Grund und Folge aufrecht zu erhalten, ohne diesen Charakter ins Ontologische umzudeuten. (Vgl. oben, S. 183 f.) Einen Naturvorgang, wie der mathematische Phäno- menalismus es will, in quantitativen Gleichungen ,, be- schreiben", heißt zugleich ihn in jedem wissenschaftlich nur irgend zulässigen Sinne ,, erklären": denn die Gleichung selbst ist das Muster einer rein begrifflichen Einsicht. Haben wir einen gegebenen Inbegriff von Beobachtungen durch „Superposition" mehrerer Grundreihen mathematisch dar- gestellt, so haben wir damit freilich unsere Kenntnis von den absoluten und transzendenten Ursachen des Geschehens nicht vermehrt; wohl aber ist es ein neuer Typus des Wissens, zu dem wir uns damit erhoben haben. Wir begreifen nunmehr zwar nicht den Zwang in den Dingen, der aus einer bestimmten Ursache eine bestimmte Wirkung hervortreibt; aber wir verstehen den Fortschritt von jeg- lichem Einzelschritt der Theorie zum nächstfolgenden in derselben Strenge und Genauigkeit, in der wir die Umformung irgendeiner Größenbeziehung in eine andere, die ihr logisch äquivalent ist, begreifen. Der Begriff der „Beschreibung" ist daher nur dann berechtigt und zulässig, wenn man einen aktiven Sinn in ihn hineinlegt. Eine Gruppe von Phäno- menen beschreiben heißt alsdann nicht lediglich rezeptiv die sinnlichen Eindrücke verzeichnen, die wir von ihr empfangen,
349
sondern es heißt sie gedanklich umprägen. Unter den theo- retisch bekannten und entwickelten Formen des mathe- matischen Zusammenhangs — also etwa unter den Gestalten der reinen Geometrie — soll eine derartige Auswahl getroffen und eine derartige Zusammensetzung gefunden werden, daß in dem Inbegriff, der auf diese Weise entsteht, die hier und jetzt gegebenen Elemente als konstruktiv abgeleitete Elemente erscheinen. Das logische Moment, das hiermit gegeben ist, verleugnet sich denn auch in den Theorien des Empirismus nicht: unter wie verschiedenen Namen es sich hier auch immer verbergen mag. Die ,, Anpassung der Vor- stellungen an die Wirklichkeit" setzt eben den Begriff dieser Wirklichkeit selbst und damit ein Ganzes intellektueller Forderungen voraus. Vor allem ist es das Prinzip der Ein- deutigkeit des Geschehens, in welchem all diese Forderungen sich zuletzt zusammenfassen. ,,Ich bin überzeugt,** so heißt es bei Mach selbst, „daß in der Natur nur das und so viel geschieht, als geschehen kann, und daß dies nur auf eine Weise geschehen kann.** Alles physische Geschehen wird demnach durch die augenblicklich wirksamen Umstände vollständig bestimmt und daher nur in einer Weise vor sich gehen können*. Analysiert man indes die Gründe eben dieser Überzeugung, so wird man damit implizit auf alle jene Grundgedanken zurückgeführt, die die sensualistische Grundlegung explizit verleugnet. Der Gedanke der Eindeutigkeit und der „Stabilität** des Seins liegt offenbar nicht in dem Inhalt der Wahrnehmungen selbst, so wie sie uns im ersten unmittelbaren Erleben gegeben sind, sondern er bezeichnet das Ziel, dem die wissenschaftliche Denkarbeit diesen Inhalt mehr und mehr anzunähern strebt. Dieses Ziel ist nur dann erreichbar, wenn es gelingt, in dem Wechsel der Empfindungen, deren jede von der anderen verschieden ist und deren jede in ihrer Bedeutung und Wahrheit zunächst nur auf einen einzigen Zeitmoment beschränkt ist, gewisse gleich- bleibende Relationen der Verknüpfung festzuhalten, deren
* Mach, Prinzipien der Wärmelehre, S. 392 f. ; cf. Analyse der Empfindungen, 2. Aufl., S. 222 ff.
350
Regeln wir uns, unabhängig von der Veränderlichkeit des jeweiligen Materials, zum Bewußtsein bringen können. In dem Maße, als das geschieht, entsteht und festigt sich der wissenschaftliche Begriff der Natur. Die biologische Be- gründung der Erkenntnistheorie dagegen sucht in dem Ge- danken, daß alles Erkennen eine fortschreitende Anpassung an das Sein darstellt, die Konstanz des Seins festzuhalten, ohne die Behauptung dieser Konstanz in einem zugehörigen Mittel des Wissens rechtfertigen zu können. Man spricht von einer Beständigkeit unserer Umgebung, aus der sich eine entsprechende Beständigkeit der Gedanken entwickeln soll: aber man übersieht, daß mit dieser Beständigkeit der Um- gebung zuletzt nichts anderes gemeint und gesagt ist, als das Bestehen fester, im letzten Grunde mathematisch formu- lierbarer, Funktionsverhältnisse zwischen den Elementen der Erfahrung. Neben dem Inhalt dieser Elemente ist also jetzt eine Form ihrer Verknüpfung anerkannt, die jedenfalls auf die materialen Gegensätze der Empfindung selbst, auf das Helle und Dunkle, das Süße und Bittere usf. in keiner Weise mehr zurückführbar ist. Damit aber ist aller Streit im Grunde ge- schlichtet. Daß der Gedanke des konstanten Gesetzes für die Definition des Naturobjekts selbst unentbehrlich ist, wurde bereits von Anfang an zugestanden und hervorgehoben; es bleibt nur übrig, einzusehen, daß dieser Gedanke ein voll- kommen selbständiges Moment der Erkenntnis ist, das jeder Reduktion auf angeblich „einfache" Sinneseindrücke widerstrebt. Die fortschreitende Analyse führt zu einer immer genaueren Bestätigung dieses Grundunterschiedes: die logische Eigenart der reinen Relationsbegriffe tritt in dem Maße schärfer hervor, als sie selbst sich zu einem festen System ordnen und sich in dem ganzen Reichtum ihrer Verzweigungen und ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten darstellen.
III.
Die beiden Grundmomente, auf denen das Verfahren der Induktion beruht: die Gewinnung einzelner ,, Tatsachen'* und die Verknüpfung dieser Tatsachen zu Gesetzen gehen, wie sich gezeigt hat, auf ein und dasselbe Motiv des Denkens
351
zurück. In beiden Fällen ist die Aufgabe gestellt, aus dem Flusse der Erfahrung Bestandteile herauszuheben, die sich als Konstanten der theoretischen Konstruktion brauchen lassen. Schon die Feststellung irgendeines einzelnen, zeitlich begrenzten Ereignisses wies diesen Grundzug auf: schon sie verlangte, daß wir in dem an und für sich veränderlichen Geschehen gewisse gleichbleibende Bedingungszusammen- hänge zu ergreifen und festzuhalten vermögen. (S. 321 ff.) Die wissenschaftliche Erklärung irgendwelcher verwickelter Erscheinungsgruppen durch die ,, Isolation" und ,,Super- position" einfacher Grundbeziehungen führt sodann die Auf- gabe, die hier gestellt ist, um einen Schritt weiter. Wir ent- decken nunmehr, in den letzten empirischen ,, Naturgesetzen", gleichsam Konstanten höherer Ordnung, die sich über dem bloß faktischen Bestand der Einzeltatsachen, der in bestimmten Größenwerten fixiert ist, erheben. Dennoch gelangt das allgemeine Verfahren, das hier überall wirksam ist, auch in diesem Ergebnis nur scheinbar zur Vollendung. Die „Grundgesetze" der Naturwissenschaft, die zunächst die ab- schließende ,,Form" alles empirischen Geschehens in sich dar- zustellen scheinen, dienen, unter einem anderen gedanklichen Gesichtspunkt angesehen, alsbald wiederum nur als das Material einer weitergehenden Betrachtung. Auch diese „Konstanten zweiter Stufe" lösen sich im ferneren Prozeß der Erkenntnis wiederum in Variable auf. Sie gelten nur relativ zu einem bestimmten Erfahrungskreis und müssen somit gewärtig sein, sobald dieser Kreis selbst sich ausdehnt, zugleich in ihrem Gehalt zu wechseln. So stehen wir hier vor einem unaufhaltsamen Fortgang, in welchem die feste Grund- gestalt des Seins und Geschehens, die wir soeben gewonnen zu haben glaubten, wiederum zu zerrinnen scheint. Alles wissenschaftliche Denken ist beherrscht und durchdrungen von der Forderung unveränderlicher Elemente, während auf der anderen Seite das empirisch Gegebene stets aufs neue dieses Verlangen vereitelt. Wir ergreifen das beharrliche Sein nur, um es wieder zu verlieren. W^as wir Wissenschaft nennen, erscheint unter diesem Gesichtspunkt nicht als die Annäherung an irgendeine „stehende und bleibende" Wirklichkeit, sondern
352
nur wie eine stets sich erneuernde Illusion, eine Phantasma- gorie, in der jeweilig ein neues Bild alle früheren verdrängt, um selbst alsbald vor einem anderen zu verschwinden und zunichte zu werden. —
Gerade dieser Vergleich aber weist zugleich auf eine not- wendige Schranke hin, die der radikalen Skepsis gesetzt ist. Selbst die Bilder im individuellen Vorstellungsleben, denen hier die Einzelphasen der Wissenschaft verglichen werden, besitzen untereinander, so bunt und vielfältig sie aufeinander folgen mögen, doch stets eine bestimmte innere Form des Zusammenhangs, ohne welche sie sich nicht als Inhalte ein und desselben Bewußtseins auffassen ließen. Sie alle stehen zum mindesten in geordneter zeitlicher Verknüpfung, in einem bestimmten Verhältnis des Früher und Später: und dieser eine Zug genügt, um ihnen, durch alle Vielfältigkeit der individuellen Gestaltung hindurch, einen gemeinsamen Grundcharakter aufzuprägen. So sehr die einzelnen Elemente ihrem materialen Bestände nach voneinander abweichen mögen, so müssen sie sich doch in jenen Bestimmungen be- gegnen, auf welchen die Reihenform, an der sie sämtlich teil haben, beruht. Selbst in der losesten und lockersten Succession von Gliedern wird das vorangegangene Glied durch den Eintritt des folgenden nicht schlechthin vernichtet; sondern es erhalten sich gewisse Grundbestimmungen, auf denen die Gleichartigkeit und Gleichförmigkeit der Reihe beruht. In den aufeinanderfolgenden Phasen der Wissen- schaft ist sodann diese Forderung aufs reinste und voll- ständigste erfüllt. Jede Veränderung, die sich im System der wissenschaftlichen Begriffe vollzieht, stellt zugleich die dauernden Strukturelemente, die wir diesem System zu- sprechen müssen, in helles Licht, da sie sich nur unter Vor- aussetzung eben dieser Elemente feststellen und beschreiben läßt. Denken wir uns das Ganze der Erfahrung, so wie es sich auf irgendeiner bestimmten Stufe der Erkenntnis dar- stellt, gegeben, so bildet dieses Ganze niemals ein bloßes Aggregat von Wahrnehmungsdaten, sondern ist nach be- stimmten theoretischen Gesichtspunkten in sich selbst ge- gliedert und zur Einheit gestaltet. Daß ohne derartige
Cassirer, Substanzbegriff 23 353
Gesichtspunkte keine einzige Aussage über Tatsächliches, insbesondere keine einzige konkrete Maßbestimmung möglich wäre, hat sich bereits allseitig gezeigt. (Vgl. bes. S. 186 ff.) Fassen wir also den Inbegriff der Erfahrungs- erkenntnis in einem beliebigen Zeitpunkt ins Auge, so können wir ihn in der Form einer Funktion darstellen, die uns die charakteristische Beziehung wiedergibt, kraft deren wir die Einzelglieder in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit geordnet denken. Wir erhalten, allgemein gesprochen, irgendeine Form F (A, B, C, D ....), wobei indessen daran festzuhalten ist, daß dasjenige, was in diesem Ausdruck zunächst als E 1 e m e n t erscheint, in einer anderen Betrachtungsweise sich möglicher- weise als ein sehr komplexer Zusammenhang erweist, so daß also das Glied A durch f(ai, aj, ... an), das Glied B durch qp (bi b, ... bn) usf. zu ersetzen wäre. So entsteht ein kom- plexes Ganze ineinandergreifender Synthesen, die ein be- stimmtes Verhältnis der Über- und Unterordnung gegenein- ander bewahren. Zwei Erscheinungsgebiete A und B werden zunächst je in einem besonderen Gesetz ip^ (a^, a^, a^), ip2 {ßv ßi* ßi* • • •) zusammengefaßt, diese Gesetze sodann wiederum untereinander in einer neuen Relation <P (i/Zi, ipz) verknüpft, bis wir schließlich zu einer allgemeinsten Beziehung gelangen, die jedem Einzelfaktor hinsichtlich des anderen seine bestimmte und eindeutige Stelle zuweist. Die Grund- form F zerlegt sich für den Gedanken in ein Gefüge von- einander abhängiger Bestimmungen, das symbolisch etwa durch einen Ausdruck F [<l>i {% %), 0, (^^3 W^), Og . . .] zu be- zeichnen wäre. Findet es sich nun, daß irgendeine völlig sicher gestellte Beobachtung mit den Bestimmungen, die auf Grund dieser allgemeinsten theoretischen Formel zu erwarten und zu errechnen sind, nicht übereinstimmt, so bedarf diese Formel einer Berichtigung, die aber nicht wahllos jedes beliebige Element aus ihr herausgreifen kann, sondern einem bestimmten Prinzip des methodischen Fort- gangs untersteht. Die Umgestaltung erfolgt gleichsam ,,von innen nach außen": es werden zunächst, unter Fest- haltung der umfassenderen Relationen F, Oi, O^ usf. die speziellen Beziehungen 'f'i, ^^ . . . umgeformt und ver-
354
sucht, auf diese Weise die lückenlose Übereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung wiederum herzustellen. Die Einschiebung von Mittelgliedern, der Ansatz neuer Experimente erfolgt in der gedanklichen Tendenz, die um- fassenderen Gesetze zu wahren und zu „retten", indem das abweichende Ergebnis nunmehr aus ihnen selbst, unter Einfügung eines neuen bestimmenden Einzelfaktors, als notwendig abgeleitet wird.
Die Erhaltung einer allgemeinen ,,Form" der Gesamt- erfahrung ist also hier ohne weiteres deutlich; aber sie ergibt sich auch dann, wenn die notwendige Revision von den „Tatsachen" und den rein empirischen ,, Regeln" ihrer Ver- bindung auf die Prinzipien und Grundsätze selbst übergreift. Auch diese Grundsätze, wie sie etwa Newton an die Spitze seiner Mechanik stellt, dürfen uns nicht als schlechthin unveränderliche Dogmen gelten, sondern als die jeweilig einfachsten gedanklichen ,, Hypothesen", durch welche wir die Einheit der Erfahrung stiften. Wir gehen von dem Inhalt dieser Hypothesen nicht ab, so- lange noch irgendeine weniger eingreifende Variation, die also ein abgeleitetes Moment betrifft, den Einklang zwischen Theorie und Erfahrung wiederherzustellen vermag: hat dieser Weg sich aber endgültig als ungangbar gezeigt, so sieht sich die Kritik nunmehr zu den Voraussetzungen selbst und zu der Forderung ihrer Umgestaltung zurück- gewiesen. Jetzt ist es somit die „Funktionsform" selbst, die in eine andere übergeht: aber dieser Übergang selbst bedeutet niemals, daß die eine Grundgestalt absolut ver- schwindet, während eine andere an ihrer Stelle absolut neu entsteht. Die neue Form soll die Antwort auf Fragen enthalten, die innerhalb der älteren entworfen und formuliert worden sind: schon dieser eine Zug aber setzt zwischen beiden einen logischen Zusammenhang und weist auf ein gemeinsames Forum der Beurteilung hin, dem beide unter- stehen. Die Veränderung muß einen bestimmten Bestand von Prinzipien unangetastet lassen; denn lediglich die Sicherung dieses Bestandes ist es, um derentwillen sie überhaupt unter- nommen wird und die ihr das eigentliche Ziel weist. Da wir
23* 355
niemals den Inbegriff der Hypothesen an sich mit den nackten Tatsachen an sich vergleichen, sondern stets nur e i n hypo- thetisches System von Grundsätzen einem anderen, um- fassenderen und radikaleren, gegenüberstellen können, so bedürfen wir für diese fortschreitende Vergleichung ein letztes konstantes Maß in obersten Grundsätzen, die für alle Er- fahrung überhaupt gelten. Die Identität dieses logischen Maßsystems bei allem Wechsel dessen, was dadurch gemessen wird, ist es, was der Gedanke fordert. In diesem Sinne will die kritische Erfahrungslehre in der Tat gleichsam die all- gemeine Invariantentheorie derErfahrung bilden und damit eine Forderung erfüllen, auf welche die Charakteristik des induktiven Verfahrens selbst immer deut- licher hindrängt. Das Verfahren der „Transzendental- philosophie" kann an diesem Punkte dem der Geometrie unmittelbar gegenübergestellt werden: wie der Geometer an einer bestimmten Figur die Beziehungen heraushebt und untersucht, die bei bestimmten Transformationen ungeändert bleiben, so werden hier diejenigen universellen Formelemente zu ermitteln gesucht, die sich in allem Wechsel der besonderen materialen Erfahrungsinhalte erhalten. Als solche Form- elemente, die somit in keinem Erfahrungsurteil und in keinem System solcher Urteile fehlen können, werden die „Kate- gorien" des Raumes und der Zeit, der Größe und der funk- tionalen Abhängigkeit von Größen usf. festgestellt. Und auch die Methode, die hierbei geübt wird, weist das gleiche „rationale" Gepräge auf, wie es uns in der Mathematik ent- gegentrat. Wie wir dort, um die Unabhängigkeit einer be- grifflichen Beziehung von bestimmten Änderungen festzu- stellen, nicht darauf angewiesen waren, alle diese Änderungen wirklich zu vollziehen und tatsächlich zu durchlaufen, wie es vielmehr genügte, lediglich die Richtung der Änderung ein für allemal ins Auge zu fassen, um die Entscheidung zu treffen*, so gilt das Gleiche auch hier. Wir stellen fest, daß der Sinn bestimmter Erfahrungsfunktionen von einem Wechsel in dem materialen Inhalt, in welchem sie sich aus-
♦ Vgl. oben, S. 317 f. 356
prägen, prinzipiell nicht betroffen wird: wie z. ß. die Geltung einer räumlich-zeitlichen Abhängigkeit der Elemente des Geschehens überhaupt, die sich im allgemeinen Kausalgesetz ausspricht, von jeder Änderung in den besonderen Kausalsätzen unberührt bleibt. Das Ziel der kritischen Analyse wäre erreicht, wenn es gelänge, auf diese Weise das letzte Gemeinsame aller möglichen Formen der wissenschaftlichen Erfahrung herauszustellen, d. h. die- jenigen Momente begrifflich zu fixieren, die sich im Fortschritt von Theorie zu Theorie erhalten, weil sie die Bedingungen jedweder Theorie sind. Dieses Ziel mag auf keiner gegebenen Stufe des Wissens vollständig erreicht sein : als Forderung bleibt es nichtsdestoweniger bestehen und bestimmt in der stetigen Entfaltung und Entwicklung der Erfahrungssysteme selbst eine feste Richtung. —
Der streng begrenzte sachliche Sinn des „a priori" tritt in dieser Betrachtungsweise deutlich hervor. Apriorisch können nur jene letzten logischen Invarianten heißen, die jeder Bestimmung naturgesetzlicher Zusammen- hänge überhaupt zugrunde liegen. Eine Erkenntnis heißt a priori, nicht als ob sie in irgend einem Sinne vor der Erfahrung läge, sondern weil und sofern sie in jedem gültigen Urteil über Tatsachen als notwendige Prä- misse enthalten ist. Zergliedern wir ein derartiges Urteil, so finden wir neben dem, was es unmittelbar an sinnlichen Beobachtungsdaten enthält und was von Fall zu Fall ver- schieden ist, einen gleichbleibenden Bestand: gleichsam ein System von „Argumenten", zu denen die betreffende Aussage einen zugehörigen Funktionswert darstellt. Dieses Grund- verhältnis ist in der Tat von keinem noch so entschlossenen „Empirismus" jemals im Ernst geleugnet worden. Wenn etwa die evolutionistische Erfahrungslehre Gewicht darauf legt, daß die Zeitempfindung und Zeitvorstellung sich „in der Anpassung an die zeitliche und räumliche Umgebung" ent- wickelt, so enthält dieser gewiß unbestrittene und unbestreit- bare Satz in dem Begriff der „Umgebung", den er voraussetzt, bereits alle diejenigen Momente in sich, die hier in Frage kommen. Es ist darin vorausgesetzt, daß es eine feste, objek-
357
tive Zeitordnung „gibt" und daß die Ereignisse in ihr nicht beliebig und nach Willkür einander folgen, sondern nach einer bestimmten Regel „auseinander" hervorgehen. Die Wahrheit dieser Grundannahmen muß feststehen, wenn der Gedanke der Evolution irgendwelches Recht, ja irgendwelchen Sinn behalten soll: und diese Wahrheit eines Urteilszusammenhangs, nicht die Existenz irgendwelcher Vorstellungen in uns, ist es, auf welche der Begriff des Apriori in seiner reinen logischen Bedeutung allein anwendbar ist. Nicht vom Dasein psychischer Inhalte, sondern von der Geltung bestimmter Relationen und von ihrer Über- und Unterordnung ist in ihm einzig die Rede. Der Raum, nicht die Farbe ist ein „Apriori" im Sinne der kritischen Erkenntnislehre, weil nur er eine Invariante für jegliche physikalischeKonstruktion bildet. Je schärfer indessen hier wiederum der Gegensatz zwischen Wahrheit und Wirklichkeit hervortritt, um so deutlicher zeigt es sich auf der anderen Seite, daß er eine ungelöste Frage in sich birgt. So notwendig die Sonderung beider Momente ist, so unabweislich ist es andererseits, sofern die Erkenntnis sich zum einheitlichen System vollenden soll, eine Vermittlung zwischen ihnen anzunehmen. Gibt es — so muß jetzt gefragt werden — innerhalb der Erkenntnis selbst einen Weg, der uns von den reinen logischen und mathematischen Bedingungs- zusammenhängen bis zum Problem der Wirklichkeit hin- führt? Und wenn ein solcher Weg gezeigt werden kann: welche neue Bedeutung ist es, die das Problem selbst hierdurch gewinnt, und welche Richtung seiner Lösung wird dem Denken damit gewiesen?
358
Sechstes Kapitel. Der Begriff der Wirklichkeit.
I.
Das charakteristische Verfahren der Metaphysik besteht nicht darin, daß sie das Gebiet der Erkenntnis überhaupt überschreitet — denn außerhalb dieses Gebiets gäbe es für sie nicht einmal mehr Stoff zu möglichen Fragestel- lungen— sondern daß sie, im Gebiet der Erkenntnis selbst, zusammengehörige Gesichtspunkte, die nur in bezug aufein- ander bestimmt sind, voneinander abtrennt und somit das Logisch-Korrelative in ein Dinglich- Gegensätzliches umdeutet. (Vgl. oben, S. 313f.) An keiner Stelle tritt dieser Zug so deutlich hervor und an keiner Stelle ist er so bedeutsam und folgen- reich, wie in der alten Grundfrage nach dem Verhältnis des Denkens und Seins, des Subjekts und Objekts der Erkenntnis. Dieser eine Gegensatz birgt bereits alle anderen in sich und läßt sich fortschreitend in sie entfalten. Sind einmal die „Dinge" und der „Geist" begrifflich geschieden, so treten sie alsbald auch in zwei getrennte räumliche Sphären, in eine Innen- und Außenwelt aus- einander, zwischen denen es keine verständliche kausale Vermittlung gibt. Und immer schärfer prägt sich nunmehr der Widerstreit aus: wenn die Objekte nur als Vielheit Bestand haben, so ist dem Subjekt die Forderung der Ein- heit wesentlich, wenn zum Wesen der Wirklichkeit das Moment der Veränderung und der Bewegung gehört, so sind es dagegen Identität und Unwandel- bar k e i t , die vom echten Begriff gefordert werden. Keine dialektische Lösung vermag diese Trennungen, die sich bereits in der ursprünglichen Formung der Grundgedanken
359
vollzogen haben, jemals wieder völlig aufzuheben: die Ge- schichte der Metaphysik wechselt zwischen den gegensätz- lichen Tendenzen ab, ohne daß es ihr gelingt, die eine aus der anderen abzuleiten und auf sie zurückzuführen. —
Und dennoch bildet zum mindesten das System des Erfahrungswissens eine ursprüngliche Einheit, die sich all jenen Gegensätzen zum Trotz als solche erhält und behauptet. Der stetige Gang der Wissenschaft wird durch die wechselnden Schicksale der Metaphysik nicht von seinem Ziele abgelenkt. Über die Richtung dieses Fortschritts muß sich also Klarheit gewinnen lassen, ohne den Dualismus der metaphysischen Grundbegriffe bereits vorauszusetzen. Sofern dieser Dualismus auf die Erfahrung anwendbar sein soll, ist zugleich zu fordern, daß er sich rein aus ihr und ihren eigentümlichen Prinzipien verständlich machen lasse. Somit lautet die Frage nicht länger, welche Trennung im Absoluten den Gegensätzen des ,, Innen" und ,, Außen", der „Vorstellung" und des ,, Gegenstands" zugrunde liegt, sondern lediglich, aus welchen Gesichtspunkten und welcher Notwendigkeit heraus das Wissen selbst zu diesen Scheidungen gelangt. Sind diese Begriffe, um deren Trennung und Wiedervereinigung sich alle Geschichte der Philosophie gemüht hat, lediglich gedankliche Phantome oder bleibt für sie im Aufbau der Erkenntnis eine feste Bedeutung und Leistung zurück?
Befragt man die unmittelbare Erfahrung, die noch von keinem Moment der Reflexion durchsetzt ist, so zeigt es sich, daß ihr der Gegensatz des „Subjektiven" und „Objektiven" noch völlig fremd ist. Für sie gibt es nur eine Stufe des „Daseins" schlechthin, die alle Inhalte gleichmäßig und unterschiedslos in sich befaßt. Was hier und jetzt vom Be- wußtsein aufgefaßt wird, das ,,ist" damit und ist genau in der Form, in der es sich der direkten Erfahrung darbietet. Zwischen den Erfahrungen insbesondere, die sich auf den eigenen Körper des Individuums und denen, die sich auf die ,, äußeren" Dinge beziehen, besteht noch keinerlei feste Scheidewand. Selbst die Zeitgrenze der einzelnen Erfahrungen verschwimmt: das Vergangene ist, sofern es in die Erinnerung aufgenommen
360
ist, ebenso vorhanden und damit ebenso „wirklich", als es das Gegenwärtige ist. Die mannigfachen Inhalte ordnen sich gleichsam in einer Ebene: noch gibt es keine bestimmten Gesichtspunkte, die irgendeinen Vorrang des einen vor den andern begründen könnten. Will man zur Charakteristik dieser Stufe den Gegensatz des Subjektiven und Objektiven überhaupt gebrauchen — was nur im übertragenen und un- eigentlichen Sinne geschehen kann — so müßte man ihr das Merkmal durchgängiger Objektivität zusprechen: denn in ihr besitzen die Inhalte noch jene Passivität, jene fraglose und unzweifelhafte Gegebenheit, die wir mit dem Gedanken des „Dinges" zu verknüpfen pflegen. Aber freilich hebt schon der erste Anfang der logischen Reflexion diesen Eindruck der vollkommenen Einheit und Geschlossenheit auf. Die Ent- zweiung, die jetzt beginnt und die sich im weiteren Fort- gang immer schärfer ausprägt, liegt bereits in den ersten An- sätzen der wissenschaftlichen Weltbetrachtung verborgen. Die Grundtendenz dieser Betrachtung geht dahin, die sinn- lichen Daten nicht einfach hinzunehmen, sondern sie in ihrem Werte zu unterscheiden. Die einmalige flüchtige Be- obachtung wird mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt: was zurückbehalten werden soll, sind nur jene „typischen" Erfahrungen, die in immer gleichbleibender Weise und unter Bedingungen, die sich allgemein formulieren und feststellen lassen, wiederkehren. Indem die Wissenschaft das Gegebene aus bestimmten Prinzipien zu gestalten und abzuleiten unternimmt, muß sie eben damit das anfängliche Verhältnis der Koordination aller Erfahrungsdaten aufheben und ein Verhältnis der Über- und Unterordnung an seine Stelle treten lassen. Jeder kritische Zweifel aber, der sich gegen die allgemeine Gültigkeit irgendeiner Wahrnehmung richtet, trägt im Keime zugleich die Spaltung des Seins in eine „subjektive" und „objektive" Sphäre in sich. Die Analyse des Erfahrungs- begriffs hat bereits zu demjenigen Gegensatz hingeführt, der dazu berufen ist, an dieser Stelle die metaphysische Scheidung von Subjekt und Objekt abzulösen, indem er ihren wesentlichen begriffliche n Gehalt in sich auf- nimmt.
361
Das Ziel, dem alle empirische Erkenntnis zustrebt, liegt, wie sich zeigte, in der Gewinnung letzter Invarianten, die die notwendigen und konstitutiven Faktoren jedes Er- fahrungsurteils bilden. Unter diesem Gesichtspunkt be- trachtet, erscheinen indessen die mannigfachen empirischen Aussagen alsbald von sehr verschiedenem Werte. Neben lockeren assoziativen Verbänden von Wahrnehmungen, die nur jeweilig unter besonderen Umständen, also etwa unter bestimmten physiologischen Bedingungen, zusammentreten, finden sich feste Verknüpfungen, die für irgendeinen Ge- samtbereich von Gegenständen schlechthin gültig sind und ihm, unabhängig von den Differenzen, die durch den be- sonderen Ort und den bestimmten Zeitpunkt der Beob- achtung gegeben sind, ein für allemal zukommen. Wir finden Zusammenhänge, die sich in jeder ferneren experi- mentellen Prüfung und durch alle scheinbaren Gegeninstanzen hindurch behaupten, die somit im Flusse der Er- fahrung beharren, während andere wiederum zerfließen und sich verflüchtigen. Die ersteren sind es, die wir im prägnanten Sinne „objektiv" nennen, während wir die letzteren mit dem Ausdruck des ,, Subjektiven" bezeichnen. Objektiv heißen uns zuletzt diejenigen Elemente der Erfahrung, auf denen ihr unwandelbarer Bestand beruht, die sich also in allem Wechsel des Hier und Jetzt erhalten; während das- jenige, was diesem Wechsel selbst angehört, was also nur eine Bestimmung des individuellen, einmaligen Hier und Jetzt ausdrückt, dem Kreise der Subjektivität zugerechnet wird. Aus dieser Ableitung des Grundunterschiedes aber ergibt sich sogleich, daß er lediglich relative Bedeutung besitzt. So wenig es, für einen jeweilig erreichten Stand unserer Er- kenntnis, absolut konstante Elemente der Erfahrung gibt, so wenig gibt es absolut veränderliche Elemente. Ein Inhalt kann als veränderlich nur erkannt werden mit Bezug auf einen anderen, der ihm gegenübertritt und der für sich zu- nächst dauernden Bestand in Anspruch nimmt; wobei indes stets die Möglichkeit bestehen bleibt, daß auch dieser zweite Inhalt in einem dritten seine Korrektur findet, und daß er somit nicht mehr als der wahrhafte und vollständige
362
Ausdruck der Objektivität, sondern als bloßer Teilausdruck des Seins gilt. Hier handelt es sich also nicht um eine starre Scheidewand, die zwei voneinander ewig getrennte Gebiete der Wirklichkeit auseinanderhält, sondern um eine beweg- liche Grenze, die sich im Fortgang der Erkenntnis selbst beständig verschiebt. Die gegenwärtige Phase erscheint der vergangenen gegenüber ebenso sehr als „objektiv", wie sie sich der späteren gegenüber als „subjektiv" erweist. Nur dieser wechselseitige Akt der Berichtigung selbst, nur die Funktion, die die Entgegensetzung zu erfüllen hat, bleibt bestehen, während der materiale Inhalt der beiden Gebiete in steteni Fluß begriffen ist. Der räumliche Ausdruck der Grenzscheidung, die Zerlegung des Seins in eine Innen- und Außenwelt ist daher schon darum unzureichend und irre- führend, weil er dieses Grundverhältnis verdunkelt; weil er an die Stelle einer lebendigen Wechselbeziehung, die sich zugleich mit der fortschreitenden Erkenntnis selbst voll- zieht und konstituiert, eine fertige und absolut abgeschlossene Sonderung der Dinge setzt. Der Gegensatz, um den es sich handelt, ist nicht räumlicher, sondern gleichsam dynamischer Natur: er bezeichnet die verschiedene Kraft, mit welcher Erfahrungsurteile der steten Nachprüfung durch Theorie und Beobachtung standhalten, ohne in ihrem Inhalt dadurch geändert zu werden. In diesem sich stetig erneuernden Prozeß scheiden immer mehr Gruppen aus, die uns anfangs als „feststehend" galten und die jetzt, da sie die Probe nicht bestanden, diesen Charakter, der das Grundmerkmal aller Objektivität ausmacht, verlieren. Aber es handelt sich, wie jetzt immer klarer hervortritt, bei diesem Übergang ins Subjektive nicht um eine Veränderung, die die Substanz der Dinge, sondern lediglich um eine solche, die die kritische Bewertung von Erkenntnissen erfährt. Die „Dinge" werden dadurch nicht zu bloßen „Vorstellungen" herabgedrückt, sondern ein Urteil, das zuvor unbedingt zu gelten schien, wird nunmehr auf einen bestimmten Kreis von Bedingungen eingeschränkt.
Man kann sich dieses Verhältnis alsbald verdeutlichen, wenn man an das bekannteste Beispiel für diesen Übergang
363
der Objektivität in die Subjektivität, an die Entdeckung der „Subjektivität der sinnlichen Qualitäten" denkt. Schon bei Demokrit, der diese Entdeckung zuerst vollzieht, bedeutet sie im Grunde nichts anderes, als daß die Farben und Töne, die Gerüche und Geschmäcke einen eigentümlichen Erkenntnischarakter erhalten, kraft dessen sie aus der wissen- schaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit ausscheiden. Sie gehen von der ^rtjaltj ^via^ri in die öxot/t; -[viü^it} über; sie trennen sich von den rein mathematischen Ideen des Raumes, der Gestalt, der Bewegung, denen fortan allein physikalische „Wahrheit" zugesprochen wird. Trotzdem bedeutet diese Abgrenzung nicht, daß ihnen jeder Anteil am Sein über- haupt abgesprochen wird: vielmehr wird ihnen, die früher als Zeugen der Wirklichkeit schlechthin galten, nur ein engeres Gebiet abgesteckt, innerhalb dessen sie jedoch ihre volle Geltung bewahren. Die gesehene Farbe, der gehörte Ton ist und bleibt ein ,, Wirkliches": nur besteht diese Wirk- lichkeit nicht für sich und isoliert, sondern resultiert von dem Zusammenwirken des physikalischen Reizes, und des zu- gehörigen Organs der sinnlichen Empfindung. Die Quali- täten fallen also, indem sie als subjektiv erklärt werden, zwar aus der Welt der „reinen Formen", die die mathematische Physik entwirft, nicht aber aus der Natur als solcher heraus: denn eben jenes Verhältnis physikalischer und physiolo- gischer Bedingungen, auf welchem sie beruhen, macht selbst einen Teil der „Natur" aus, deren Begriff sich ja erst in der wechselseitigen kausalen Abhängigkeit der Einzelelemente erfüllt. Das gleiche gilt, wenn man über den Kreis der sekun- dären Qualitäten hinaus, bis zu den Illusionen und Sinnes- täuschungen zurückgeht. Wenn wir den geraden Stab im Wasser gebrochen erblicken, so ist auch dies kein wesenloser Schein, sondern ein Phänomen, das in den Gesetzen der Lichtbrechung ,, wohlbegründet" ist, das somit einen be- stimmten komplexen Zusammenhang von Erfahrungsmomenten zu völlig zutreffendem Ausdruck bringt. Der Irrtum beginnt erst, wenn wir eine Bestimmung, die für ein einzelnes Glied gilt, auf den Gesamtkomplex übertragen und somit ein Urteil, das unter bestimmten Einschränkungen als gültig befunden
364
wurde, auf die Erfahrung als Ganzes, losgelöst von jeder beschränkenden Bedingung, anwenden. Daß der Stab ge- brochen ist, ist ein gültiges Erfahrungsurteil, sofern nämlich die Erscheinung, auf die es sich bezieht, sich als not- wendig begründen und ableiten läßt; — nur müssen wir diesem Urteil gleichsam einen logischen Index beigeben, der die besonderen Bedingungen seiner Geltung, von denen sich nicht abstrahieren läßt, bezeichnet und festlegt.
Faßt man das Ganze dieser Betrachtungen zusammen, so tritt die Stufenfolge in den Graden der Objektivität deutlich hervor. Solange man bei dem metaphysischen Unter- schied des Innen und Außen stehen bleibt, ist damit ein Gegensatz gegeben, der schlechthin keine Vermittlung zuläßt. Hier gilt nur ein einfaches Entweder — Oder: wie ein Ding nicht gleichzetig an zwei verschiedenen Stellen des Raumes sein kann, so kann das „Innere" nicht in irgendeinem Be- tracht zugleich ein „Äußeres" sein, und umgekehrt. In der kritischen Fassung der Frage dagegen ist diese Beschränkung aufgehoben. Der Gegensatz ist nicht mehr zweigliedrig, sondern mehrgliedrig, sofern — wie sich gezeigt hat — ein und derselbe Erfahrungsinhalt subjektiv und objektiv heißen kann, je nachdem er relativ zu verschiedenen logischen Be- zugspunkten genommen wird. Die sinnliche Wahr- nehmung bedeutet, der Halluzination und dem Traume gegen- über, den eigentlichen Typus des Objektiven, während sie, an dem Schema der exakten Physik gemessen, zu einem Phänomen werden kann, das keine selbständige Eigenschaft der „Dinge" mehr, sondern nur einen subjektiven Zustand des Beobachters ausdrückt. In Wahrheit handelt es sich hier stets um eine Beziehung, die zwischen dem relativ engeren und dem relativ weiteren Erfahrungskreis, zwischen relativ abhängigen und relativ unabhängigen Urteilen besteht. Damit aber ist von selbst statt einer bloßen Zweiheit von Bestim- mungen, eine Wertfolge gegeben, die nach einer be- stimmten Regel fortschreitet. Jedes Glied weist nunmehr auf ein folgendes hin und fordert es zu seiner Ergänzung. Schon in der populären und vorwissenschaftlichen Betrachtung lassen sich die ersten, wichtigen Phasen dieser Entwicklung
365
erkennen. Wenn wir einen sinnlichen Eindruck, der uns hier und jetzt in ganz bestimmter Nuancierung gegeben ist, etwa als „rot" oder „grün" bezeichnen, so liegt schon dieser primitive Urteilsakt in jener Richtung vom Variablen zum Konstanten, die für alle Erkenntnis wesentlich ist. Schon hier wird der Inhalt der Empfindung vom momentanen Erlebnis losgelöst und diesem als selbständig gegenübergestellt: er erscheint dem einzelnen zeitlichen Akt gegenüber, in dem er erfaßt wird, als ein gleichbleibendes Moment, das sich in identischer Bestimmung festhalten läßt. Aber diese gedank- liche Festigung, die auch im Einzeleindruck latent ist und ihm erst einen eigentlichen Bestand verleiht, bleibt dennoch weit zurück hinter dem, was im Dingbegriff der ge- wöhnlichen Erfahrung geleistet ist. Hier genügt es nicht, sinnliche Wahrnehmungen schlechthin zusammenzunehmen, sondern neben diese bloße Vereinigung des Gegebenen muß ein Akt der logischenErgänzu ng treten. DerGegen- stand der Erfahrung wird als ein kontinuierliches Sein gedacht, dessen Fortbestand in jedem Punkte der stetigen Folge der Zeitmomente als notwendig postuliert wird. Was die direkte Wahrnehmung uns darbietet, sind dagegen stets nur isolierte Bruchstücke, sind nur völlig diskrete Werte, die in keiner Zusammenfassung ein stetiges Ganzes ausmachen. Das wahrhaft „Gesehene" und „Gehörte" gibt nur unzusammenhängende, zeitlich auseinanderfallende Massen von Perzeptionen, während der Begriff des ,, Gegenstandes" die vollkommene Erfüllung der Zeitreihe, also streng genommen die Setzung eines unendlichen Inbegriffs von Elementen, verlangt. Somit tritt auf dieser zweiten Stufe das allgemeine Verfahren der Umformung und Bereicherung des Gegebenen auf Grund der logischen Forderung seiner durchgängigen Verknüpfung bereits in voller Schärfe hervor. Die Fort- bildung dieses Verfahrens ist es sodann, worauf die Wissen- schaft ihre Definition der Natur und des Naturobjekts gründet. Die logischen Ansätze, die schon im Erfahrungsbegriff der gewöhnlichen Weltansicht vorlagen, werden jetzt bewußt auf- genommen und in methodischer Absicht weitergeführt. Die ,, Dinge", die nunmehr entstehen, erweisen sich, je deutlicher
366
sie in ihrem eigentlichen Gehalt erfaßt werden, immer mehr als metaphorische Ausdrücke für dauernde Gesetzeszusammen- hänge der Phänomene und somit für die Konstanz und Kon- tinuität der Erfahrung selbst. Um diese Festigkeit und Stetigkeit, die in keinem sinnlich wahrnehmbaren Objekt jemals völlig erfüllt ist, zu erreichen, sieht sich der Gedanke zu einem hypothetischen Unterbau des empirischen Seins hingeführt, der aber keine andere Funktion besitzt, als die beständige Ordnung innerhalb dieses Seins selbst darzustellen. (Vgl. oben, S. 217 ff.) Somit ist es ein lückenloser Fortgang, der von den ersten Stufen der Objektivierung bis zu ihrer vollen- deten wissenschaftlichen Gestalt hinführt. Der Abschluß dieses Prozesses wäre erreicht, sobald es uns gelungen wäre, zu jenen letzten Konstanten der Erfahrung überhaupt vor- zudringen, die, wie sich zeigte, zugleich Voraussetzung und Ziel der Forschung bilden. Das System dieser unveränderlichen Elemente bildet das Muster der Objektivität überhaupt; — sofern dieser Terminus rein auf eine Bedeutung einge- schränkt wird, die der Erkenntnis völlig faßbar und erreich- bar ist. —
Wie das ,,Ding an sich" in die bloße ,, Vorstellung" über- geht, wie das absolute Dasein sich in das absolute Wissen wandelt, bleibt daher freilich ein unergründliches Problem: aber mit dieser Frage haben wir es in der kritisch geklärten Fassung des Gegensatzes des Subjektiven und Objektiven auch nirgends zu tun. Wir messen hier die Vorstellungen nicht an den absoluten Gegenständen, sondern es sind verschiedene Teilausdrücke ein und derselben Gesamterfahrung, die ein- ander wechselseitig als Maßstab dienen. Jede Teilerfahrung wird danach befragt, was sie für das Gesamtsystem bedeutet: und diese Bedeutung ist es, die ihr das Maß der Objektivität bestimmt. So handelt es sich hier im letzten Grunde nicht darum, was eine bestimmte Erfahrung ,,ist", sondern um das, was sie „wert ist", d. h. welche Leistung ihr, als besonderem Baustein, im Aufbau des Ganzen zukommt. Auch die Traum- erlebnisse sind von den wachen Erlebnissen nicht durch einen ganz spezifischen ,, Dingcharakter" unterschieden, der ihnen als ein für allemal erkennbares Merkmal anhaftete. Auch sie
367
besitzen eine Art des „Seins", sofern sie in bestimmten physio- logischen Bedingungen, in „objektiven" körperlichen Zu- ständen gegründet sind; aber dieses Sein reicht nicht über den Umkreis und über die Zeitspanne hinaus, innerhalb deren diese Bedingungen erfüllt sind. Die Einsicht in den subjektiven Charakter des Traumes bedeutet nichts anderes als die Wiederherstellung einer logischen Abstufung zwischen den Bewußtseinsinhalten, die sich vorübergehend zu verwischen drohte. Und so ist es allgemein die immer strengere Organisation der Erfahrung, der der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven in seiner fortschreitenden Ent- wicklung dient. Wir suchen an Stelle der veränderlichen Inhalte dauernde Inhalte zu gewinnen; aber wir werden uns zugleich bewußt, daß jeder Ansatz, den wir in dieser Richtung unternehmen, die Grundforderung nur zum Teil erfüllt und daher der Ergänzung in einer neuen Setzung bedarf. So gelangen wir zu einer Folge über- und untergeordneter Mo- mente, die gleichsam die verschiedenen komplementären Phasen für die Lösung ein und derselben Aufgabe darstellen. Keine dieser Phasen — auch diejenigen nicht, die von dem Ziel am weitesten entfernt bleiben — kann gänzlich entbehrt werden; aber keine stellt auch einen schlechthin unbedingten Abschluß dar. So können wir freilich die Erfahrung von den Dingen niemals mit den Dingen selbst, so wie sie an und für sich und losgelöst von allen Bedingungen der Er- fahrung etwa angenommen werden, vergleichen; wohl aber können wir einen relativ engeren Aspekt der Erfahrung selbst durch einen weiteren ersetzen, der die gegebenen Daten unter einem neuen allgemeineren Gesichtspunkt ordnet. Die früheren Ergebnisse werden dadurch nicht entwertet, sondern vielmehr innerhalb einer bestimmten Geltungssphäre be- stätigt. Jedes spätere Glied der Reihe hängt mit den früheren, an deren Stelle es sich setzt, notwendig zusammen, sofern es die Antwort auf eine Frage geben will, die in ihnen latent ist. Wir stehen hier vor einem ständig sich erneuernden Prozeß, der nur relative Haltpunkte kennt: und diese Haltpunkte sind es, die uns den jeweiligen Begriff der „Objektivität" definieren. —
368
Auch die Richtung, in welcher dieser Weg der Er- fahrung durchschritten wird, ist derjenigen, die nach den ge- wöhnlichen metaphysischen Voraussetzungen zu erwarten wäre, unmittelbar entgegengesetzt. Vom Standpunkt dieser Voraussetzungen ist es das Subjekt, sind es die Vorstellungen in uns, die uns anfangs allein gegeben sind und von denen wir uns erst mühsam den Zugang zur Welt der Objekte zu bahnen haben. Die Geschichte der Philosophie lehrt indes, wie alle Versuche, die in dieser Hinsicht unternommen werden, ver- sagen: haben wir uns einmal in den Kreis des ,, Selbstbewußt- sein" eingeschlossen, so kann keine Bemühung des Denkens, die ja selbst vollständig diesem Kreise angehört, uns wieder über ihn hinausführen. Der Kritik der Erkenntnis dagegen stellt sich die Aufgabe umgekehrt: für sie lautet das Problem nicht, wie wir vom ,, Subjektiven" zum ,, Objektiven", sondern wie wir vom „Objektiven" zum ,, Subjektiven" gelangen. Sie kennt keine andere und keine höhere Objektivität, als diejenige, die in der Erfahrung selbst und gemäß ihren Bedingungen gegeben ist. Somit fragt sie nicht, ob das Ganze der Erfahrung objektiv wahr und gültig ist — da hier bereits ein Maßstab vorausgesetzt würde, der in der Erkenntnis niemals gegeben sein kann — , sondern nur, ob ein bestimmter Sonderinhalt einen dauernden oder vergänglichen Bestandteil in eben diesem Ganzen ausmacht. Es handelt sich nicht darum, das System in seiner Gesamtheit seinem absoluten Werte nach abzuschätzen, sondern einen Wertunterschied zwischen seinen einzelnen Faktoren zu treffen. Die Frage nach der Objektivität der Erfahrung überhaupt beruht im Grunde auf einer logischen Illusion, von der die Geschichte der Meta- physik auch sonst mannigfache Beispiele liefert. Sie steht prinzipiell auf derselben Stufe, wie etwa die Frage nach dem absoluten Ort der Welt: denn wie in dieser ein Verhältnis, das nur für die einzelnen Teile des Universums in ihrer wechsel- seitigen Beziehung Geltung hat, fälschlich auf das Universum als Ganzes übertragen wird, so wird hier ein begrifflicher Gegensatz, der bestimmt ist, die einzelnen Phasen der empiri- schen Erkenntnis zu unterscheiden, auf die gedachte Allheit dieser Phasen und ihre Aufeinanderfolge angewandt. Jeder
Cassirer, Substanzbegriff 24 369
besonderen Erfahrung kommt das volle Maß der „Objektivi- tät" zu, solange sie nicht durch eine andere, die ihr gegenüber- tritt, verdrängt und berichtigt wird. In dem Maße, als diese ständige Prüfung und Selbstkorrektur fortgesetzt wird, mehrt sich daher der Stoff dessen, was aus der endgültigen wissenschaftlichen Auffassung der Wirklichkeit ausscheidet, wenngleich es innerhalb eines beschränkten Umkreises sein Recht bewahrt. Bestandteile, die zunächst unentbehrlich und konstitutiv für den Begriff des empirischen Seins selbst scheinen — wie der spezifische Inhalt der einzelnen Empfin- dungen — verlieren diese vorherrschende Stellung und be- sitzen fortan keine zentrale, sondern nur noch eine periphere Bedeutung. Die Bezeichnung eines Elementes als „subjektiv" kommt ihm daher keineswegs ursprünglich zu, sondern sie setzt ein kompliziertes Verfahren der gedanklichen und empiri- schen Kontrolle voraus, das erst auf relativ hoher Stufe erreicht wird. Sie entsteht erst in der wechselseitigen Kritik der Erfahrungen, in der sich der veränderliche Bestand vom dauernden abscheidet. Das,, Subjektive" ist nicht der gegebene selbstverständliche Ausgangspunkt, von welchem aus nun in einer spekulativen Synthese die Welt der Objekte zu erreichen und zu konstruieren wäre, sondern es ist erst das Er- gebnis einer Analyse, die den Bestand der Erfahrung selbst, die also die Geltung fester gesetzlicher Relationen zwischen Inhalten überhaupt, voraussetzt. —
Der Fortgang dieser Analyse wird deutlich, wenn man auf das Verhältnis des „Allgemeinen" zum ,, Besonderen" zurückblickt, das schon in der Begriffsbestimmung des in- duktiven Urteils hervortrat. Jedes Einzelurteil — so zeigte sich hier — nimmt zunächst und ursprünglich unbedingte Geltung für sich in Anspruch: es will nicht nur hier und jetzt gegebene Empfindungen in ihrer individuellen Eigentümlich- keit beschreiben, sondern einen Sachverhalt feststellen, der unabhängig von allen besonderen zeitlichen Umständen an und für sich als gültig gesetzt wird. Das Urteil blickt als solches und kraft seiner logischen Grundfunktion über den Kreis des jeweilig Gegebenen hinaus, indem es einen allgemein- gültigen Zusammenhang zwischen Subjekt und Prädikat
370
behauptet. (S. oben, S. 326 ff.) Nur auf Grund besonderer Motive wird der Gedanke dazu geführt, von dieser ersten Forderung abzugehen und seine Aussage ausdrücklich auf einen engeren Kreis zu beschränken. Diese Begrenzung findet nur statt, sofern sich ein Konflikt zwischen verschiedenen empiri- schen Aussagen ergibt. Aussagen, die absolut genommen, inhaltlich unvereinbar sein würden, werden jetzt in Einklang miteinander gesetzt, indem sie auf verschiedene Subjekte be- zogen werden; — indem also zum mindesten die eine von ihnen sich bescheidet, nicht die ,, Natur" der Dinge schlechthin, sondern nur von einem speziellen Gesichtspunkt aus und unter bestimmten einschränkenden Bedingungen zum Ausdruck zu bringen. Wie die einzelne geometrische Gestalt, nach einem bekannten Satz der Kantischen Raumlehre, nur durch Einschränkung aus dem ,, einigen" allbefassenden Raum gewonnen wird, so geht das besondere Erfahrungsurteil durch Einschränkung aus dem einigen Grundsystem der Erfahrungs- urteile überhaupt hervor und setzt dieses System voraus. Es entsteht, wenn eine Mehrheit von Erfahrungskreisen, deren jeder indessen als gesetzlich völlig bestimmt gedacht wird, sich schneiden und sich wechselweise bestimmen. Von der schlechthin isolierten „Impression", in der jeder Gedanke der logischen Beziehung ausgelöscht ist, führt kein Weg zum Gesetz hinüber: dagegen ist es völlig verständlich, wie wir auf Grund der allgemeinen Forderung einer durchgehenden gesetz- lichen Ordnung der Erfahrungen dazu geführt werden, einzelne Inhalte, die sich dem Gesamtplane scheinbar nicht einfügen, zunächst auszuscheiden, um sie erst nachträglich aus einem besonderen Komplex von Bedingungen abzuleiten.
Es ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs bildet. Dieser Zusammenhang wird von einer neuen Seite her bestätigt, wenn man den logischen Grundcharakter des wissenschaftlichen Versuchs, der ja der eigentliche Zeuge der empirischen Wirklichkeit ist, näher ins Auge faßt. Das wissenschaftliche Experiment stellt niemals einen einfachen Bericht über hier und jetzt gegebene
24* 371
Wahrnehmungstalsachen dar, sondern erhält seinen Wert erst dadurch, daß es die Einzeldalen unter einen bestimmten Gesichtspunkt der Beurteilung rückt und ihnen damit eine Bedeutung gibt, die sie im einfachen sinnlichen Erleben als solchem nicht besitzen. Was wir beobachten, ist etwa ein bestimmter Ausschlag der Magnetnadel, der unter gewissen Bedingungen erfolgt ist; was wir dagegen als Ergebnis des Versuchs aussagen, ist stets ein objektiver Zusammen- hang theoretisch-physikalischer Sätze, der weit über den be- grenzten Tatsachenkreis, der uns im Einzelmoment zugänglich ist, hinausgreift. Immer muß der Physiker — wie D u h e m es vortrefflich ausgeführt hat — um zu einem wirklichen Ertrag seiner Untersuchungen zu gelangen, den tatsächlichen Fall, der ihm vor Augen steht, zuvor zum Ausdruck des idealen Falls umbilden, den die Theorie voraussetzt und erheischt. Damit aber wandelt sich ihm das einzelne Instrument, das er vor sich hat, aus einer Gruppe sinnlicher Merkmale und Eigen- schaften in ein Ganzes ideeller gedanklicher Bestimmungen. Es ist jetzt nicht mehr ein bestimmtes Werkzeug, ein Ding aus Kupfer oder Stahl, aus Aluminium oder Glas, auf das er in seinen Aussagen hinblickt, sondern an seine Stelle sind Begriffe, wie die des magnetischen Feldes, der magnetischen Achse, der Stromintensität usf. getreten, die ihrerseits wiederum nur das Symbol und die Hülle für allgemeine mathematisch- physikalische Beziehungen und Zusammenhänge sind*. Der charakteristische Vorzug des Experiments liegt eben darin, daß hier in der Tat ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Der beschränkte Umkreis von Tatsachen, der uns sinnlich allein zugänglich ist, weitet sich vor dem geistigen Blick zum naturgesetzlichen Zusammenhang der Phänomene über- haupt. Die unmittelbare Anzeige des Augenblicks wird nach allen Richtungen hin überschritten; an ihre Stelle tritt der Gedanke einer allgemeingültigen Ordnung, die im Kleinsten wie im Größten gleichmäßig Geltung besitzt und die sich daher auch von jedem Einzelpunkte aus wiederum rekonstruieren lassen muß. Erst vermöge dieser Bereicherung seines
* Duhem, La Theorie Physique, S. 251 f., vgl. oben, S. 190 ff.
372
unmittelbaren Gehalts wird der Inhalt der Wahrnehmung zum Inhalt der Physik und damit zum „objektiv wirklichen" Inhalt.
Somit haben wir es hier freilich mit einer Art „Trans- zendenz** zu tun: denn der einzelne gegebene Eindruck bleibt nicht schlechthin was er ist, sondern wird zum Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb deren er steht und an welcher er in bestimmtem Maße teil hat. Aber dieser Fortschritt verändert wiederum nicht seine metaphysische ,, Substanz", sondern lediglich seine logische Form. Was zu- nächst isoliert schien, tritt jetzt zusammen und weist wechsel- weise aufeinander hin; was zuvor als einfach galt, das offenbart jetzt eine innere Fülle und Mannigfaltigkeit, sofern sich zeigt, daß sich von ihm aus in kontinuierlichem Fortschritt und nach völlig bestimmten Regeln zu anderen und wieder anderen Daten der Erfahrung gelangen läßt. Indem wir die Einzel- inhalte auf diese Art gleichsam mit immer neuen Fäden aneinander knüpfen, geben wir ihnen damit jene Festigkeit, die das auszeichnende Merkmal der empirischen Gegenständ- lichkeit ausmacht. Nicht die sinnliche Lebhaftigkeit des Ein- drucks, sondern dieser innere Beziehungsreichtum ist es, was ihm das Kennzeichen wahrhafter Objektivität aufprägt. Was die „Dinge" der Physik über die Sinnendinge hinaushebt und ihnen ihre eigentümliche Art der ,, Realität** verleiht, ist der Reichtum an Folgerungen, der von ihnen ausgeht. Sie bezeichnen nur verschiedene Wege, auf welchen wir von einer Erfahrung zur anderen fortschreiten, um auf diese Weise schließlich die Gesamtheit des Seins als die Gesamtheit des Systems der Erfahrung zu überblicken.
Der Begriff und Terminus der Repräsentation, der trotz aller Angriffe, die gegen ihn gerichtet wurden, in der Geschichte der Erkenntnislehre dauernd eine zentrale Stellung behauptet hat, empfängt hier einen neuen Sinn. Innerhalb der metaphysischen Lehren ist es die „Vorstellung**, die auf den Gegenstand, der hinter ihr steht, hinweist. Das ,, Zeichen" ist somit hier von gänzlich anderer Natur, als das Bezeichnete und gehört einem anderen Bereich des Seins an. Eben hierin aber liegt das eigentliche Rätsel der Erkenntnis. Wäre uns der
373
absolute Gegenstand bereits anderweit bekannt, so ließe es sich allenfalls verstehen, wie wir seine besondere Be- schaffenheit aus der Art der Vorstellungen, die uns von ihm entstehen, mittelbar ablesen könnten. Haben wir uns des Daseins zweier verschiedener Grundreihen einmal ver- sichert, so können wir versuchen, kraft eines Analogieschlusses die Verhältnisse, die wir in der einen Reihe finden, auf die andere zu übertragen: unbegreiflich dagegen bleibt es, wie wir dazu gelangen sollten, die Existenz der einen Reihe aus Daten, die ganz und ausschließlich der anderen an- gehören, zu fordern. Sobald wir die, wenn auch nur allgemeine Gewißheit von transzendenten Dingen jenseits aller Erkenntnis besitzen, mögen wir daher im unmittelbaren Erfahrungsinhalt nach Zeichen für diese, wenigstens dem Begriff nach gegebene Realität suchen; wie dagegen dieser Begriff selbst entsteht und was ihn notwendig macht, wird durch die Theorie der Zeichen nicht erklärt. Diese Grund- schwierigkeit tritt denn auch in die Entwicklung des Re- präsentationsbegriffs immer von neuem zutage. In der antiken Atomistik werden die ,, Bilder" der Dinge, die uns von ihrem Sein Kunde verschaffen, selbst als stoffliche Be- standteile gedacht, die sich von ihnen loslösen und die auf dem Wege zu unseren Sinnesorganen mannigfache phy- sische Veränderungen erfahren. Es ist — wenngleich in ver- kleinertem Maßstabe — die wirkliche Substanz der Körper, die in der sinnlichen Wahrnehmung in uns eindringt und die mit unserem eigenen Sein verschmilzt. Aber diese materia- listische Darstellung vermag das logische Ziel, um dessent- willen sie unternommen wird, nicht zu erreichen: denn die Einheit des Erfahrungsinhalts ist auch hier nur scheinbar gewahrt. Selbst wenn die Dinge gleichsam einen Teil ihrer selbst hergeben, um zur Erkenntnis zu ge- langen, so bleibt es doch nach wie vor dunkel, wie es möglich ist, diesen Teil nicht nur als das, was er an und für sich ist, sondern als Ausdruck eines umfassenden Ganzen zu nehmen. Diese Zurückdeutung auf das Ganze würde stets eine eigentümliche Funktion erfordern, die hier nicht abgeleitet, sondern vorausgesetzt ist. Die Aristotelisch-scholastische
374
Theorie der Wahrnehmung scheint daher dem eigentlichen psychologischen Tatbestand näher zu kommen, wenn sie diese Funktion, statt sie zu erklären, von Anfang an postuliert. Der ganze Inhalt der ,, immateriellen Spezies", durch welche wir das Sein der Dinge erfassen, geht jetzt im Akt der Repräsentation selbst auf. Wir erkennen keinerlei einzelne Bestimmungen der Spezies selbst, sondern wir erkennen nur durch sie die Verhältnisse der äußeren Dinge: ,,cognoscimus non ipsam speciem impressam, sed per speciem". Die ,, Ähn- lichkeit", die zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten anzunehmen ist, ist daher jetzt nicht mehr derart aufzufassen, als gehörten beide derselben logischen Kategorie an. Die Spezies stimmen in keinem einzigen sachlichenEinzel- m e r k m a 1 mit dem Gegenstand, auf den sie hinweisen, überein, da sie eben nur durch diese Operation des Hin- weisens selbst, nicht durch irgendwelche dingliche Beschaffen- heiten, in denen sie anderen Dingen ,, ähnlich" sein könnten, gekennzeichnet sind. Die Auffassung, daß sie „formales similitudines ac veluti picturae objectoru m" seien, wird daher — zum mindesten in den reifsten und kon- sequentesten Ausführungen der Theorie bei Suarez — aus- drücklich bekämpft und verworfen. „Die Verähnlichung des Bewußtseins mit dem Gegenstande bedeutet für Suarez nicht, daß dadurch in das Bewußtsein Elemente hineingebracht werden, die im Objektverhältnis zu anderen Funktionen des Bewußtseins stehen, diesen als der Gegenstand sich vor- täuschen, vielmehr das ist seine Meinung, daß sozusagen das ganze Bewußtsein zu einem Erkenntnismittel und insofern zu einem Bilde (besser zu einem Ausdruck, species expressa) des Gegenstandes wird. Das Bewußtsein vollzieht eine Handlung, gerät in eine eigentümliche Beschaffenheit, die ohne weiteres bewirkt, daß es sich auf den wirklichen Gegen- stand richtet. Die lebendige Tätigkeit des Bewußtseins, die das vermittels der Spezies wirkende bewußtseinsfremde Objekt erkennt, ein anschauendes, nicht ein angeschautes wird als das mit dem Gegenstand Ähnliche bezeichnet*."
* H. Schwarz, Die Umwälzung der Wahrnehmungßhypothesen durch die mechaniache Methode. Leipzig 1895, I, S. 25; vgl. S. 12 ff.
375
Hier tritt also, wenngleich verhüllt durch die scholastische Terminologie, bereits eine wichtige neue Unterscheidung her- vor. Die Tatsache, daß ein Element auf ein anderes ,, hin- weist" und dieses mittelbar zur Darstellung bringt, wird jetzt nicht mehr durch eine besondere Beschaffenheit dieses Elements selbst erklärt, sondern auf eine eigentümliche Gesamtleistung der Erkenntnis und insbesondere des Ur- teils zurückgeführt. In prinzipieller Strenge freilich vermag diese Einsicht nicht festgehalten zu werden; vielmehr droht stets von neuem das funktionale Verhältnis des Ausdrucks, auf welches hier die Analyse hinführt, sich in ein dinglich- substantiales Verhältnis der Teilhabe an gewissen objek- tiven Merkmalen zu verwandeln. Die Spezies werden alsdann wiederum zu ,, Spuren" der Dinge, die indes nicht mehr den vollenSeinsgehalt, sondern nur eine abgeschwächte „Wesenheit" besitzen. DerWiderstre t dieser beiden Auffassungen aber bringt zuletzt den Begriff der ,, Repräsentation" selbst um seinen bestimmten und eindeutigen Sinn. Um die Operation des Ausdrucks rein hervortreten zu lassen, muß der Inhalt, der als Zeichen dient, mehr und mehr seines Dingcharakters ent- kleidet werden; damit aber scheint zugleich die objektivi- rende Bedeutung, die ihm zugesprochen wird, ihren Halt und ihre beste Stütze zu vertieren. So droht die Theorie der Repräsentation immer von neuem der Skepsis zu verfallen: denn welche Gewißheit besteht dafür, daß das Symbol des Seins, das wir in unseren Vorstellungen zu besitzen glauben, uns seine Gestalt unverfälscht wiedergibt, statt sie gerade in ihren wesentlichen Zügen zu entstellen? —
Die neue Bedeutung, die die Erkenntniskritik dem Begriff der Repräsentation zuweist, hebt dieses Bedenken auf. Jede besondere Phase der Erfahrung besitzt in der Tat, wie jetzt erkannt wird, ,, repräsentativen" Charakter, sofern sie auf eine andere hinausweist und schließlich im geregelten Fort- schritt auf den Inbegriff der Erfahrung überhaupt hinführt. Aber dieser Hinweis betrifft nur den Übergang von einem einzelnen Reihenglied zu der Totalität, der es angehört und zu der allgemeinen Regel, von der diese Totalität sich beherrscht zeigt. Die Erweiterung greift also nicht in ein schlechthin
376
jenseitiges Gebiet über, sondern sucht umgekehrt eben das- selbe Gebiet, dem die besondere Erfahrung als einzelner Aus- schnitt angehört, als allseitig bestimmtes Ganze zu erfassen. Sie stellt das Einzelne in den Umkreis des Systems ein. Fragt man aber weiter, woher dem besonderen empirischen Inhalt diese Fähigkeit eigne, das Ganze zu vertreten und darzustellen, so liegt hierin bereits eine Umkehrung der Problemstellung. Die Verbundenheit der Tatsachen und ihre wechselseitige Beziehung ist das Erste und Ursprüngliche, während ihre Isolierung lediglich das Ergebnis einer künstlichen Abstrak- tion darstellt. Versteht man daher die Repräsentation als Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt, so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen „präsenten", keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er ein- bezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche, wie seine begriffliche Bestimmtheit geben. So wenig daher aus dem bloßen Begriff der Erkenntnis sich die Notwendigkeit ableiten läßt, ein Sein zu setzen, das außerhalb jeder Beziehung zur Erkenntnis steht: so notwendig enthält dieser Begriff eben jene Forderung der Ver- knüpfung, auf die die kritische Analyse des Realitätsproblems hinführt. Der Inhalt der Erfahrung ist uns ,, objektiv" ge- worden, sobald wir begriffen haben, wie jegliches Element in ihm sich zum Ganzen webt. Wollte man dieses Ganze selbst als Illusion bezeichnen, so bliebe dies ein bloßes Spiel mit Worten: denn die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein, die hier vorausgesetzt wird, ist selbst nur i m System der Erfahrung und unter seinen Bedingungen möglich. (Vgl. oben, S. 362 ff.) Auch die Frage nach der ,, Ähnlichkeit" des empirischen Zeichens mit dem, was es bezeichnet, bietet jetzt keine Schwierigkeit mehr dar. Das Einzelmoment, das als Zeichen dient, ist dem Inbegriff, der bezeichnet wird, zwar nicht materiell ähnlich — denn die B e z i e -
377
h u n g e n , die den Inbegriff ausmachen, lassen sich nicht durch irgendeine Einzelgestaltung vollständig ausdrücken und „abbilden" — wohl aber besteht zwischen ihnen eine durchgehende logische Gemeinsamkeit, sofern beide prinzipiell demselben Zusammenhang derBegründung an- gehören. Die sachliche Ähnlichkeit wandelt sich in begriffliche Korrelation: die beiden Stufen des Seins werden zu verschie- denen, jedoch notwendig einander ergänzenden Gesichts- punkten, unter denen der Erfahrungszusammenhang sich betrachten läßt. —
Freilich könnte die sensualistische Erkenntnis- lehre versuchen, diesen Tatbestand, ohne ihn zu bestreiten, in das Schema ihrer Erklärung einzufügen, indem sie ihn auf den psychologischen Grundbegriff der „Assoziation" zurückführt. Dieser Begriff scheint in der Tat alle Voraus- setzungen für die Deutung und Lösung des Realitätsproblems darzubieten: da er über den Inhalt der einzelnen Eindrücke hinweg zu festen Verbindungen zwischen ihnen hin- führt. Der Mangel der Erklärung aber tiitt sogleich hervor, wenn man die Form der Verbindung, die hier vorausgesetzt wird und die nach den Begriffen der Assoziations- Psychologie allein zulässig erscheint, näher zergliedert. Der ,, Zusammenhang" zwischen den einzelnen Gliedern der Reihe bedeutet hier nichts anderes als ihre häufige empirische Koexistenz. Dies Beisammen der einzelnen Vorstellungen ist es, was eine Verbindung zwischen ihnen nicht sowohl schafft, als vielmehr vortäuscht. Kein begriffliches Prinzip, das sich in strenger logischer Identität aussprechen und feststellen ließe, verknüpft die Elemente der Assoziationsreihen zur Einheit. Die Wege von einem zum anderen Element sind an und für sich unbeschränkt: welcher von diesen Wegen im wirklichen psychologischen Denken eingeschlagen wird, hängt lediglich von den voraufgehenden psychischen ,, Dispositionen", also von einem Umstand ab, der von Moment zu Moment und von Individuum zu Individuum als wandelbar an- zusehen ist. So geht hier gerade jene Beständigkeit und Ein- deutigkeit des Zusammenhangs verloren, die das eigentliche Kennzeichen im Gedanken der Realität ausmacht. Die Ge-
378
staltung zum „Objekt" tritt erst mit der kritischen W e r t - Ordnung im Begriff zutage. Gehen wir von dem besonderen Inhalt der Erfahrung aus, wie er im Zeitmoment vorliegt, so sind in ihm nicht nur bestimmte Elemente gegeben, sondern zugleich bestimmte Richtlinien vorgezeichnet, gemäß denen der Gedanke allmählich die einzelne Phase zum Gesamtsystem zu erweitern vermag. Der Fortgang bleibt nicht der individuellen Willkür überlassen, sondern er gilt als gesetzlich gefordert. Indem die Wissenschaft den Inbegriff dieser Forderungen immer strenger faßt und immer genauer bezeichnet, gewinnt sie damit fortschreitend erst den Begriff des Wirklichen. Daß diese Entwicklung überall über die Sphäre der bloßen Assoziation hinausgreifen muß, hat sich bereits allseitig gezeigt. Die Assoziation vermag, im günstigsten Sinne verstanden, lediglich die Frage zum Ausdruck zu bringen; die Antwort dagegen liegt allein in den allgemeinen Reihenprinzipien, die die möglichen logischen Übergänge von Glied zu Glied im voraus deter- minieren und unter bestimmte Gesichtspunkte ordnen. Die spezifische Bedeutung dieser Gesichtspunkte muß theoretisch feststehen, wenn der Fortgang sich nicht ins Un- bestimmte verlieren soll. Die notwendigen Leitbegriffe der Assoziation können nicht aus dieser selbst entstehen, sondern gehören einem anderen Gebiet und einem anderen logischen Ursprung an*.
Allgemein zeigt es sich jetzt, daß das Problem der Wirk- lichkeit, je weiter man zu seinen einzelnen Bedingungen vordringt, um so deutlicher wiederum in das Problem der Wahrheit einmündet. Ist einmal begriffen, wie die Er- kenntnis zu einer Konstanz bestimmter Prädikate, zu einer gesetzlichen Festigung von Urteilszusammen- hängen gelangt, so bietet die „Transzendenz", die dem Gegenstand gegenüber der bloßen Vorstellung zuzusprechen ist, keine neue prinzipielle Schwierigkeit mehr dar. Und auch die Mittel, deren sich die Erkenntnis bedient, erweisen sich nunmehr in beiden Gebieten der Fragestellung als die
* Vgl. bes. ob. S. 18 u, S. 346 ff.
379
gleichen. Wie die eigentliche Leistung des Begriffs nicht darin liegt, daß durch ihn ein gegebenes Mannigfaltige abstrakt und schematisch „abgebildet" wird, sondern darin, daß er ein Gesetz der Beziehung in sich schließt, durch welches ein neuer und eigenartiger Zusammenhang des Mannigfaltigen erst geschaffen wird, so zeigt sich hier die Form der Ver- knüpfung der Erfahrungen als dasjenige, was die veränderlichen „Eindrücke" zu konstanten „Objekten" umschafft. Der all- gemeinste Ausdruck des ,, Denkens" trifft also in der Tat mit dem allgemeinsten Ausdruck des „Seins" zusammen: der Gegensatz, den die Metaphysik nicht zu überwinden vermag, schlichtet sich, wenn man auf die logische Grundfunktion zurückgeht, aus deren Anwendung beide Problemkreise erst entstanden sind und in der sie daher zuletzt ihre Erklärung finden müssen.
II.
In der Geschichte des wissenschaftlichen und spekula- tiven Denkens ist das Problem der Wirklichkeit seit jeher un- löslich mit dem Problem des Raumes verknüpft. So eng ist dieser Zusammenhang und so ausschließlich be- herrscht er das logische Interesse, daß man alle Fragen, die sich an die Begriffsbestimmung des Wirklichen knüpfen, gelöst und erledigt glaubt, sobald es gelungen sei, die Frage nach der Realität der ,, Außenwelt" endgültig zu entscheiden. Noch die ,, Kritik der reinen Vernunft" vermochte sich den Zugang zu ihrem eigentlichen Grundthema nicht anders zu bahnen, als dadurch, daß sie von einer Umformung der Theorie des Raumes ihren Ausgang nahm. Damit aber entschied sich bereits zum großen Teil das Schicksal ihrer geschichtlichen Wirkung: in der Auffassung der Zeitgenossen und Nachfolger konnte nunmehr, was eine Kritik des Erfahrungsbegriffs sein sollte, wiederum als eine Metaphysik des Raumbegriffs mißverstanden werden. In Wahrheit gilt es auch hier die Ordnung der Probleme umzukehren. Nicht von einer fest- stehenden Ansicht über die ,, subjektive" oder „objektive" Beschaffenheit des Raumes kann ausgegangen werden, um danach den Begriff der Erfahrungswirklichkeit überhaupt zu
380
bestimmen, sondern die obersten und allgemeingültigen Prin- zipien des Erfahrungswissens sind es, nach denen auch die Frage über die „Natur', des Raumes sich zuletzt ent- scheiden muß.
Die empirisch-physiologische Betrachtung, wie sie ins- besondere durch Johannes Müller begründet worden ist, widerstreitet dieser Forderung, sofern sie ein Axiom an die Spitze stellt, das selbst unverhohlen metaphysischen Charakter trägt. Was wir wahrnehmen — dies wird hier vorausgesetzt — sind nicht die Dinge selbst in ihrer wirk- lichen Gestalt und ihrer wirklichen wechselseitigen Lage und Entfernung voneinander, sondern es sind unmittelbar nur gewisse Bestimmungen unseres eigenen Leibes. Gegenstand der Gesichtsempfindung sind nicht die äußeren Objekte, sondern es sind die Teile der Netzhaut, die wir in ihrer realen räumlichen Größe und Ausdehnung zu erfassen ver- mögen. Die Aufgabe der Physiologie des Sehens besteht darin, den Übergang zu schildern, der von diesem Bewußtsein der Netzhautbilder zur Erkenntnis der räumlichen Ordnung der Gegenstände hinführt. Es muß gezeigt werden, wie wir dazu kommen, Empfindungen, die nur ,,in uns" gegeben sind, nach außen zu versetzen und sie zu einer für sich be- stehenden Raumwelt zusammenzufassen.. Stellt man das Problem indessen in dieser Form, so erweist es sich alsbald als unlösbar. Alle Versuche, den eigentümlichen Vorgang der „Projektion", der hier angenommen wird, auf „unbewußte Schlüsse" zurückzuführen und aus ihnen zu erklären, bewegen sich im Zirkel : sie setzen stets schon ein allgemeines Wissen von jenem „Außen" voraus, das hier erst abgeleitet werden soll. In der Tat gibt es keine Phase der Erfahrung, in der uns lediglich die Empfindungen als innere Zustände und losgelöst von jeder ,, objektiven" Beziehung gegeben wären. Die Empfindung in diesem Sinne ist keine empirische Wirklichkeit, sondern lediglich das Ergebnis einer Abstraktion, die auf sehr komplexen logischen Bedingungen beruht. Der Weg geht von den gesehenen Objekten zu der Annahme bestimmter Nervenerregungen und ihnen ent- sprechender Empfindungen zurück; er führt nicht umgekehrt
381
von den an sich bekannten Empfindungen zu Gegenständen hin, die ihnen etwa korrespondieren mögen*. So ist auch die allgemeine Form der Räumlichkeit, also das Bei- sammen und Auseinander der einzelnen Elemente, kein ver- mitteltes Ergebnis, sondern eine Grundbeziehung, die mit den Elementen selbst gesetzt ist**. Nicht wie diese Form an und für sich entsteht, sondern lediglich, wie sie sich in der empirischen Erkenntnis näher bestimmt und spezialisiert, kann gefragt werden. Was der Erklärung bedarf, ist nicht der Umstand, wie wir vom Inneren zum Äußeren gelangen — denn das schlechthin ,, Innere" ist selbst eine bloße Fiktion — sondern wie wir dazu geführt werden, gewisse Inhalte der ursprünglichen Außenwelt nach und nach als ,,in uns" be- findlich anzusehen, d. h. sie nicht nur überhaupt räumlich zu bestimmen, sondern sie in eine notwendige Korrelation mit unseren körperlichen Organen, mit bestimmten Teilen unserer Netzhaut oder unseres Gehirns zu setzen. (Vgl. oben, S. 363 ff.) Nicht die Lokalisation schlechthin, sondern diese besondere Lokalisation ist es, was es zu erklären gilt: und jede derartige Erklärung muß offenbar die allgemeine Relation der Räumlichkeit bereits zugrunde legen. —
Den Begriff der „Wirklichkeit" bestimmen, heißt somit auch hier ein Motiv der Differenzierung auf- finden, das uns gestattet, den zunächst gleichartigen Inbegriff von Erfahrungen in Gruppen von verschiedenem Wert und Gehalt auseinanderzulegen. Denken wir uns etwa die ver- schiedenen Wahrnehmungsbilder, die wir von ein und dem- selben „Objekt", je nach der Entfernung, in welcher wir uns von ihm befinden und je nach der wechselnden Beleuchtung, empfangen, in eine Reihe zusammengefaßt, so läßt sich, vom Standpunkt des unmittelbaren psychologischen Erlebnisses aus, zunächst kein Merkmal angeben, kraft dessen irgendeines dieser mannigfach wechselnden Bilder einen Vorrang vor
* Näheres zur psychologischen Widerlegung der „Projektions- hypotheeen" s. bes. bei Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raiunvorstellung, S. 184 ff, ; sowie bei James, Principles of Psycho- logy II, 31 ff.
•♦ Vgl. unten Kap. 8.
382
n
einem beliebigen anderen besitzen sollte. Erst die Gesamt- heit dieser Wahrnehmungsdaten bildet ja dasjenige, was wir die empirische Kenntnis des Objekts nennen und für diese Gesamtheit ist kein einzelnes Element schlechthin entbehrlich oder überflüssig. Keine der verschiedenen perspektivischen Ansichten, die uns nacheinander entstehen, kann demnach den Anspruch erheben, der allein gültige, absolute Ausdruck des J.Gegenstandes selbst" zu sein; vielmehr kommt aller Erkenntniswert, den wir einer einzelnen Wahrnehmung bei- legen, ihr nur im Zusammenhang mit anderen Inhalten zu, mit denen sie sich zu einem Erfahrungsganzen zusammen- schließt. Und dennoch bedeutet diese Forderung des durch- gängigen Zusammenhangs nicht zugleich die durchgängige Gleichwertigkeit der einzelnen Faktoren. Zur Anschauung einer bestimmten räumlichen Form gelangen wir erst, sobald diese Gleichwertigkeit unterbrochen wird. Wenn wir fragen, was unter einem nach drei Dimensionen ausgedehnten Körper zu verstehen ist, so werden wir — wie Helmholtz gelegentlich ausführt — psychologisch in der Tat zunächst auf nichts anderes geführt, als auf eine Reihe einzelner Gesichtsbilder, die sich gegenseitig ablösen. Die genauere Analyse zeigt indessen, daß der bloße Ablauf all dieser Bilder, so viel wir ihrer auch immer annehmen mögen, für sich allein niemals die Vorstellung eines körperlichen Objekts zu ergeben vermöchte, wenn nicht der Gedanke einer Regel hinzuträte, durch welche jedem einzelnen eine be- stimmte Ordnung und Stellung im Gesamtkomplex zu- gewiesen wird. Die Vorstellung der stereometrischen Form spielt in diesem Sinne ,,ganz die Rolle eines aus einer großen Reihe sinnlicher Anschauungsbilder zusammengefaßten Be- griffs, der aber selbst nicht notwendig durch in Worten ausdrückbare Definitionen, wie sie der Geometer sich kon- struieren könnte, sondern nur durch die lebendige Vorstellung des Gesetzes, nach dem jene perspektivischen Bilder einander folgen, zusammengehalten wird." Diese Gliederung durch den Begriff aber besagt zugleich, daß die verschiedenen Elemente hier nicht bloß wie Teile eines Aggregats neben- einander liegen, sondern daß wir jedes von ihnen nach seiner
383
systematischen Bedeutung abschätzen. Auch hier scheiden wir nunmehr „typische" Erfahrungen, die wir als gleichartig wiederkehrend voraussetzen, von ,, zufälligen" Eindrücken, die nur in individuellen Begleitumständen ge- gründet sind. Und jene Erfahrungen sind es, die wir aus- schließlich zum Aufbau der ,, objektiven" Raumwelt ver- wenden, während wir alle Inhalte, die ihnen widerstreiten, fernzuhalten und auszuschalten bemüht sind.
Helmholtz' Darstellung hat diesen Prozeß bis ins einzelne erleuchtet. Hier wird zunächst die allgemeine Regel auf- gestellt, „daß wir stets solche Objekte als im Gesichtsfelde vorhanden uns vorstellen, wie sie vorhanden sein müßten, um unter den gewöhnlichen normalen Bedingungen des Ge- brauchs unserer Augen denselben Eindruck auf den Nerven- apparat hervorzubringen." Einer Erregung, die unter un- gewöhnlichen Bedingungen eintritt, wird zunächst jene Be- deutung beigelegt, die ihr zukommen würde, wenn sie als auf gewöhnlichem Wege entstanden zu denken wäre. „Um ein Beispiel zu benutzen, nehmen wir an, es sei der Augapfel am äußeren Augenwinkel mechanisch gereizt worden. Wir glauben dann eine Lichterscheinung in der Richtung des Nasenrückens im Gesichtsfelde vor uns zu sehen. Wenn bei dem gewöhnlichen Gebrauche unserer Augen, wo sie durch von außen kommendes Licht erregt werden, eine Erregung der Netzhaut in der Gegend des äußeren Augenwinkels zu- stande kommen soll, muß in der Tat das äußere Licht von der Gegend des Nasenrückens her in das Auge fallen. Es ist also der eben aufgestellten Regel gemäß, daß wir in solchem Falle ein lichtes Objekt in die genannte Stelle des Gesichtsfeldes hinein versetzen, trotzdem der mechanische Reiz hierbei weder von vorn vom Gesichtsfelde her, noch von der Nasen- seite des Auges, sondern im Gegenteil von der äußeren Fläche des Augen und mehr von hinten her einwirkt*." Die einzelnen Beobachtungen werden also gleichsam abgestimmt auf einen bestimmten Kreis von Bedingungen, den wir als konstant ansehen. In diesen Bedingungen besitzen^wir ein festes Koordi-
* Helmholtz, Handbuch der Physiolog. Optik, § 26, S. 428. 384
^Sl
naten-System, auf das nunmehr jede besondere Erfahrung stillschweigend bezogen wird. Und erst kraft dieser eigen- tümlichen Deutung, die wir dem Material der Sinnesempfin- dungen geben, entsteht uns das Ganze des objektiven Gesichts- und Tastraumes. Dieses Ganze ist niemals der bloße tote Abdruck einzelner sinnlicher Perzeptionen, sondern ein kon- struktiver Aufbau, der unter Festhaltung bestimmter all- gemeiner Grundregeln erfolgt. In dem Maße als nach diesen Grundregeln die unveränderlichen Momente der Erfahrung von den veränderlichen Bestandteilen sich trennen, erfolgt die Scheidung in eine objektive und subjektive Sphäre. Und es unterliegt auch hier keinem Zweifel, daß die Er- kenntnis der Subjektivität nicht den ursprünglichen Aus- gangspunkt, sondern eine logisch vermittelte und spätere Einsicht darstellt. Helmholtz betont ausdrücklich, daß das Wissen um die Objekte dem Wissen um die Empfindungen vorangeht und es an Klarheit und Schärfe bei weitem übertrifft. Die Empfindung ist unter den gewöhnlichen psychologischen Bedingungen des Erlebens, so ausschließlich auf den Gegenstand gerichtet und geht so völlig in ihn ein, daß sie selbst hinter ihm gleichsam ver- schwindet. Die Auffassung einer Empfindung a 1 s Empfindung ist daher immer erst das Werk einer nachträglichen bewußten Reflexion, die wir auf sie richten. Wir müssen stets erst lernen, unseren einzelnen Empfindungen die Aufmerksamkeit zuzuwenden „und wir lernen dies für gewöhnlich nur für die Empfindungen, die uns als Mittel zur Erkenntnis der Außen- welt dienen". „Während wir deshalb in der objektiven Be- obachtung einen außerordentlichen Grad von Feinheit und Sicherheit erreichen, erlangen wir diesen für die subjektiven Beobachtungen nicht nur nicht, sondern wir erlangen sogar in einem hohen Grade die Fähigkeit, diese zu übersehen und uns in der Beurteilung derObjekte von ihnen unabhängig zu erhalten, selbst wo sie sich durch ihre Stärke leicht genug bemerklich machen könnten*."
♦ Helmholtz, a. a. O., S. 432. Cassirer, Substanzbegriff 25 385
Was hier als bloß negative Leistung, als ein Akt des Über- sehens und Vergessens geschildert wird, ist indessen in Wahr- heit jene höchst positive Funktion des Begriffs, die sich bereits allseitig dargestellt hat. Es ist das Festhalten der identischen Beziehungen in dem wechselnden Vor- stellungsinhalt, was jede, auch die früheste Stufe objektiv- gültiger Erkenntnis kennzeichnet. Das schlechthin Wandel- bare fällt gleichsam von dem momentanen Inhalt ab: und nur dasjenige bleibt zurück, was sich in dauernden Gedanken befestigen läßt. Durch die zentrale Richtung des Denkens wird ein gewisser Kreis von Erfahrungen, der bestimmten logischen Bedingungen der Konstanz genügt, aus dem Gewirr der Erlebnisse überhaupt herausgehoben und als „fester Kern" des Seins ausgezeichnet. Die relativ flüchtigen Inhalte da- gegen, in denen sich keine durchgängige Bestimmtheit der Erfahrung überhaupt ausdrückt, können für diesen ersten Aufbau und diese erste Bezeichnung des ,, Wirklichen" zunächst unbeachtet bleiben. Die tiefere Besinnung lehrt indes, daß auch diese Elemente aus dem Umkreis der Erfahrung nicht schlechthin herausfallen, sondern daß auch sie eine Stelle in ihm beanspruchen dürfen, sofern ihre Variation selbst nicht willkürlich erfolgt, sondern bestimmten Regeln unterliegt. Jetzt ist es daher das Veränderliche selbst, das unter einem neuen Interesse der Erkenntnis zum Gegenstand der Be- trachtung gemacht wird. Diese Erkenntnis des „Subjek- tiven" bedeutet somit in Wahrheit eine Objektivierung höherer Stufe, die in einem Material, das zunächst als schlechthin unbestimmt bei Seite gelassen wurde, noch ein Moment der Bestimmbarkeit entdeckt. Das Gegebene gliedert sich jetzt in weitere und engere Objektivitätskreise, die deutlich voneinander abgehoben und nach bestimmten Ge- sichtspunkten abgestuft sind. Jede Einzelerfahrung wird nunmehr nicht nur durch den materialen Gehalt an Ein- drücken bestimmt, sondern durch eine eigentümliche Funktion, die sie erfüllt, sofern die einen Erfahrungen als feste Ko- ordinationsmittelpunkte dienen, an denen wir andere messen und deuten. Auf diese Weise schaffen wir bestimmte, begrifflich ausgezeichnete Zentren, um die sich die Phänomene ordnen
386
und gliedern. Die einzelnen Erscheinungen fließen nun nicht mehr einförmig und gleichförmig ab, sondern begrenzen und scheiden sich gegeneinander: das anfängliche Flächenbild gewinnt gleichsam Vordergrund und Hintergrund. Die Sonde- rung in verschiedene Teilgebiete, die durch ihre systematische Bedeutung voneinander geschieden sind, nicht die ,, Pro- jektion" des Innen und Außen, erweist sich somit auch hier als der eigentliche Ursprung des Begriffs des Gegenstandes. Jedes Einzelne erhält einen Index, der seine Stellung zum Ganzen bezeichnet, und dieses Kennzeichen ist es, worin sich sein gegenständlicher Wert ansprägt. Für die naive Ansicht ist es das „Ding", das von Anfang an gegeben ist und das in jeder unserer Wahrnehmungen immer nur zum Teil aus- gedrückt und abgebildet wird. Auch sie setzt somit ein Ganzes voraus, mit dem wir jede besondere Erfahrung vergleichen und an dem wir ihren Wert messen. Die Forderung, die hier gestellt ist, bleibt auch vom Standpunkt der kritischen Betrachtung zu Recht bestehen. Der Mangel der naiven Auf- fassung besteht nicht darin, daß sie diese Forderung über- haupt erhebt, sondern daß sie Forderung und Erfüllung verwechselt; — daß sie die Aufgabe, die die Erkenntnis zu vollziehen hat, als bereits gelöst vorwegnimmt. Das Ganze, das wir suchen und auf welches der Begriff sich richtet, darf nicht im Sinne eines absoluten Seins außerhalb jeder möglichen Erfahrung gedacht werden; es ist nichts anderes als der geordnete Inbegriff dieser möglichen Erfahrungen selbst. — Die moderne Psychologie der Raumvorstellung hat daher an die Stelle der Projektionstheorie eine andere Auf- fassung gesetzt, die den Tatbestand der Erkenntnis, wie er unabhängig von allen metaphysischen Annahmen sich dar- stellt, reiner und schärfer zum Ausdruck bringt. Die Vor- stellung des ,, objektiven" Raumes ist danach nicht ein Werk der „Projektion", sondern der „Selektion": sie beruht auf einer begrifflichen Auswahl, die wir im Bereich unserer Sinneswahrnehmungen, insbesondere im Gebiet der Gesichts- und Tasteindrücke, vollziehen. Wir halten in der homogenen Masse dieser Eindrücke nur jene Inhalte fest, die den ,, nor- malen" physiologischen Bedingungen entsprechen, während
25* 387
wir andere, die unter außergewöhnlichen Bedingungen ent- stehen und die daher nicht die gleiche Wiederholbarkeit wie jene ersteren besitzen, mehr und mehr zurückdrängen. Indem auf diese Weise unsere Apperzeption einen bestimmten Umkreis von Erfahrungen aus dem Fluß der übrigen heraus- löst, gewinnt dieser eine bevorzugte Stellung. Er ist es nun- mehr, der als die Realität schlechthin gilt, während alle übrigen Inhalte nur insofern Wert behalten, als sie als „Zeichen" auf diese Realität hinweisen. Hier ist es somit kein absoluter Seinsunterschied, sondern gleichsam ein Unterschied der Betonung, der das Objektive vom Subjektiven sondert. Der konstruktive Aufbau der räumlichen Wirklichkeit enthält einen Prozeß der logischen Auslese in sich und wäre ohne ihn in seinem Ergebnis nicht verständlich. Die Masse der räumlichen „Perzeptionen" organisiert sich allmählich gemäß einem bestimmten Plane und gewinnt in dieser Organisation feste Gestalt und Fügung*. Vom Standpunkt der logischen Betrachtung ist es von besonderem Interesse, die Leistung zu verfolgen, die dem Begriff in diesem allmählichen Prozeß der Gestaltung zukommt. Helmholtz selbst rührt an diese Frage, wenn er gelegentlich betont, daß schon die Vorstellung einer gesetzlichen Verbundenheit von Einzel- inhalten, die in der Zeit aufeinanderfolgen, ohne eine begriffliche Regel nicht möglich sei. „Durch Erfahrung können wir offenbar lernen, welche anderen Empfindungen des Gesichts oder der anderen Sinne ein Objekt, welches wir sehen, uns machen wird, wenn wir die Augen oder unseren Körper fortbewegen und jenes Objekt von verschiedenen Seiten be- trachten, betasten usw. Der Inbegriff aller dieser möglichen Empfindungen in eine Gesamtvorstellung zusammengefaßt ist unsere Vorstellung von dem Körper, welche wir Wahrnehmung nennen, so lange sie durch gegenwärtige Empfindungen unterstützt ist, Erinnerungsbild, wenn sie das nicht ist. In gewissem Sinne also, obwohl dem gewöhn- lichen Sprachgebrauch widersprechend, ist auch eine solche
* Näheres zur Theorie der „Selektion" s. James, Principles of Psychology U, 237 ff.
388
Vorstellung von einem individuellen Objekte schon ein Be- griff, weil sie alle die möglichen einzelnen Empfindungs- aggregate umfaßt, welche dieses Objekt von verschiedenen Seiten betrachtet, berührt oder sonst untersucht, in uns her- vorrufen kann*." Man sieht, daß Helmhol tz sich hier zu einer Ansicht des Begriffs zurückgeführt sieht, die der traditionellen Logik fremd ist und die ihm selbst daher zunächst paradox erscheint. In Wahrheit aber erscheint gerade hier der Begriff keineswegs in bloß übertragener und abgeleiteter, sondern in seiner echten und ursprünglichen Bedeutung. Der „Reihen- begriff", im Unterschiede vom ,, Gattungsbegriff", war es, der bereits in der Grundlegung der exakten Wissenschaften ent- scheidend hervortrat, und der, wie sich jetzt zeigt, auch in den weiteren Anwendungen fortwirkt und sich als Instrument der objektiven Erkenntnis erweist. —
III.
Die psychologische Analyse der Raumvorstellung be- stätigt und befestigt somit den Begriff der Objek- tiv i t ä t , der sich allgemein aus der logischen Analyse der Erkenntnis ergeben hat. Der rätselhafte Übergang zwischen zwei verschiedenen, von einander ihrem Wesen nach getrennten Sphären des Seins verschwindet nunmehr und an seine Stelle tritt das schlichte Problem des Zusammenhangs und Zusammenschlusses der einzelnen Teilerfahrungen zu einem geordneten Inbegriff. Der einzelne Inhalt muß, um wahrhaft objektiv heißen zu können, gleichsam aus seiner zeitlichen Enge herauswachsen und sich zum Ausdruck der Gesamterfahrung erweitern. Er steht fortan nicht nur für sich selbst, sondern für die Gesetze dieser Erfahrung, die er an seinem Teil zur Darstellung bringt. Der Moment bildet jetzt den Ausgangspunkt einer gedanklichen Kon- struktion, die in ihren näheren und weiteren Folgen das Ganze der erfahrbaren Wirklichkeit bestimmt und umfaßt. Das Verfahren dieser logischen „Integration" ließ sich, seinen Grundzügen nach, bereits in jedem einfachsten Urteil
* Handbuch der physiolog. Optik, 2. Aufl., S. 947 f.
389
über „Tatsachen" sichtbar machen. Überall dort, wo auch nur einem einzelnen Ding eine konkrete besondere Beschaffen- heit zugesprochen wird, waltet bereits der Gedanke, daß der Zusammenhang, der damit gesetzt ist, als solcher logisch beharrt. Und diese Beharrung, die mit der Form des Urteils selbst gesetzt ist, bewährt sich auch dort, wo der Inhalt, auf den die Bestimmung sich richtet, als solcher veränderlich ist. In der einfachsten schematischen Bezeichnung des Grundverhältnisses genügte es, darauf hinzuweisen, daß in jeder beliebigen Aussage: a ist b insofern ein Moment der Dauer eingeschlossen ist, als damit eine Abhängigkeit festgestellt wird, die nicht nur für einen einzelnen Zeit- punkt gelten will, sondern als identisch übertragbar auf die ganze Folge der Zeitmomente angesehen wird. Die ,, Eigen- schaft" b kommt dem „Ding" a nicht nur in dem bestimmten Zeitpunkt t^, in welchem sie durch den Wahrnehmungsakt erfaßt wird, zu, sondern wird für die ganze Reihe t^^t^t^ . . . festgehalten. (S. oben, S. 321 ff, 355 ff.) Somit ist es hier zu- nächst ein und dieselbe Bestimmung, die als schlecht- hin wiederholbar gesetzt und im Urteil fixiert wird. Zu diesem ursprünglichen Akt aber vermag weiterhin ein anderer hinzuzutreten, in welchem nunmehr die Ver- änderung der Einzelelemente selbst als logisch bestimmt gedacht wird. Wie das Urteil dem Subjekt a im Zeitpunkt Iq das Prädikat b zugeschrieben hat, so kann es ihm im Zeit- punkt ti das Prädikat b', im Zeitpunkt t^ das Prädikat b" zusprechen, sofern nur daran festgehalten wird, daß dieser Wechsel der Merkmale nicht regellos erfolgt, sondern durch zugehörige Änderungen in einer anderen Reihe gesetzlich bedingt und gefordert ist. Erst damit ergibt sich das allgemeine Schema für den Begriff des empirischen ,, Gegenstandes" selbst: denn der wissenschaftliche Begriff eines bestimmten Objekts umfaßt, in seiner ideellen Vollendung nicht nur die Gesamtheit seiner hier und jetzt gegebenen Merkmale, sondern auch die Gesamtheit der notwendigen Folgen, die sich aus ihm, unter bestimmt angebbaren Umständen, entwickeln können. Wir verknüpfen eine Reihe zeitlich getrennter und inhaltlich verschiedener Zuständlichkeiten durch einen ein-
390
heitlichen Komplex kausaler Regeln: und diese Verknüpfung ist es, die dem Einzelnen, nach dem platonischen Wort, erst wahrhaft das Siegel des Seins aufdrückt. Der Inhalt des einzelnen Zeitdifferentials gewinnt objektive Bedeutung, sofern aus ihm nach bestimmter Methodik der Inhalt der Gesamterfahrung sich rekonstruieren läßt. —
Im Gegensatz zu diesem kontinuierlichen Prozeß, durch welchen die anfänglich fragmentarischen und unverbundenen Erfahrungen sich mehr und mehr zu dem einen System der empirischen Erkenntnis gestalten, sieht sich die meta- physische Auffassung an irgendeiner Stelle notwendig zu einer Kluft geführt, die das Denken nicht mehr zu überbrücken, wenngleich allenfalls zu überspringen vermag. Gerade dort, wo man am eifrigsten bestrebt ist, die Grenzen der bloßen ,, Vorstellungswelt" zu durchbrechen, um zu einer Welt der realen ,, Dinge" vorzudringen, zeigt sich der Mangel aufs deutlichste und empfindlichste. Indem der ,, transzendentale Realismus" sich die Aufgabe stellt, die Schlußfolgerungen auf- zuweisen, die vom Gebiet des Subjektiven, das uns anfangs allein zugänglich ist, in den Bereich des „Transsubjektiven" hinüberführen, ist mit dieser Fragestellung im Grunde bereits eine Schranke zwischen Denken und Sein aufgerichtet, die fortan durch keine logische Bemühung mehr beseitigt werden kann. Daß alles Bewußtsein sich zunächst nur auf die subjektiven Zustände des eigenen Ich bezieht, daß nichts anderes, als eben diese Zustände den Inhalt des un- mittelbar Gegebenen ausmachen, wird hier als eine Voraussetzung, die keiner näheren Prüfung bedarf, zugrunde gelegt. Es gibt einen Bezirk der ,, Immanenz", der über diese ersten und ursprünglichen Daten nirgends hinausgreift: es gibt eine Art des Selbstbewußtseins, die sich aus- drücklich darauf beschränkt, lediglich den Inhalt der einzelnen, tatsächlich vorhandenen Impressionen passiv hinzunehmen, ohne ihm irgendein neues Element hinzuzufügen, oder ihn logisch nach einem bestimmten begrifflichen Gesichtspunkt zu beurteilen. Nur dies wird behauptet und zu erweisen gesucht, daß diese erste Stufe, die für das Ichbewußtsein als hinlänglich gilt, in keiner Weise genügt, das Bewußtsein des
391
Gegenstandes zu begründen. Insbesondere ist der Gegenstand der Naturwissenschaft, wie sich in der Tat leicht zeigen läßt, mit diesen primitiven Mitteln nicht zu erschöpfen. Die Gegenstände, von denen hier die Rede ist, die „Masse" und die „Energie", die ,, Kraft" und die Be- schleunigung, sind von allen Inhalten der unmittelbaren Wahrnehmung streng und unverkennbar geschieden. Wer daher der Wissenschaft das Recht einräumt, von Objekten und von den kausalen Verhältnissen der Objekte zu sprechen, der hat damit — wie nunmehr weiter gefolgert wird — den Kreis des immanenten Seins bereits verlassen, um in den Bereich der „Transzendenz" überzutreten.
Man mag alle diese Folgerungen bis hierher völlig zu- gestehen: — aber ein seltsamer Irrtum war es, wenn man ge- glaubt hat, durch sie nicht nur den psychologischen Vor- stellungsidealismus, sondern auch den kritischen Idea- lismus in seinem Grunde und seiner Wurzel getroffen zu haben. Der kritische Idealismus unterscheidet sich von dem „Realismus", der hier vertreten wird, nicht dadurch, daß er die gedanklichen Postulate, auf welche in diesen Deduktionen der Begriff des objektiven Seins gegründet wird, ver- neint, sondern umgekehrt dadurch, daß er sie schärfer faßt und ihre Wirksamkeit bereits für jegliche, auch die primitivste, Phase der Erkenntnis, fordert. Ohne logische Grundsätze, die über den Inhalt der jeweilig gegebenen Ein- drücke hinausgreifen, gibt es für ihn so wenig ein I c h - b e w u ß t s e i n , als es ein Gegenstandsbewußt- sein gibt. Was daher von seinem Standpunkt aus zu be- streiten ist, ist nicht sowohl der Begriff der „Transzendenz", als vielmehr der Begriff der ,, Immanenz", der hier voraus- gesetzt wird. Der Gedanke des Ich ist keineswegs ursprüng- licher und logisch unmittelbarer, als der Gedanke des Objekts, da beide nur miteinander bestehen und sich nur in steter Wechselbeziehung aufeinander entwickeln können. Kein Inhalt kann als „subjektiver" gewußt und erfahren werden, ohne damit einem anderen, der ihm gegenüber als der objektive erscheint, entgegengesetzt zu werden. (Vgl. oben, S. 362.) Die Bedingungen und Voraussetzungen der „objektiven"
392
Erfahrung können daher nicht, nachdem die subjektive Welt der Vorstellungen bereits besteht und in sich selbst ihren Abschluß gefunden hat, als nachträgliche Ergänzung hinzu- gefügt werden, sondern sie sind bereits in ihrer Setzung mit- enthalten. Das ,, Subjektive" bedeutet immer nur das ab- strakte Teilmoment einer begrifflichen Unterscheidung, das als solches keinen selbständigen Bestand besitzt, weil sein ganzer Sinn und seine ganze Bedeutung in seinem logischen Korrelat und Gegensatz wurzelt.
So klar dieser Sachverhalt erscheint, sobald einmal die metaphysische Differenz des Subjekts und Objekts in eine methodische Unterscheidung verwandelt ist, so verlohnt es sich dennoch, bei ihm zu verweilen: denn hier liegt der Kern aller Mißverständnisse, die zwischen den verschiedenen erkenntnis- theoretischen Richtungen immer aufs neue entstehen. Der tiefere Grund dafür, daß Außen- und Innenwelt als zwei heterogene Wirklichkeiten einander entgegengesetzt werden, liegt in einem analogen Gegensatz, der zwischen Erfahrung und Denken angenommen wird. Die Gewißheit der reinen Erfahrung gilt von der des Denkens als völlig verschieden. Und wie beide in ihrem Ursprung getrennt sind, so beziehen sie sich demgemäß auch auf je einen besonderen Kreis von Objekten, innerhalb dessen sie alleinige und ausschließende Geltung besitzen. Die reine Erfahrung, die sich von jeder Beimischung des Begriffs frei hält, ist es, die uns der Zustände des eigenen Ich versichert, während alle Erkenntnis des äußeren Objekts ihre eigentliche Gewähr erst kraft der Not- wendigkeit des Denkens empfängt. Die innere Wahrnehmung, kraft deren das Ich sich selbst erfaßt, besitzt demnach freilich eine eigentümliche und in ihrer Art unübertreffliche Evidenz: aber diese Evidenz wird dadurch erkauft, daß der Inhalt, der auf diese Weise gewonnen wird, ein schlechthin individueller ist, der lediglich in der einmaligen Beschaffenheit, in der er hier und jetzt gegeben ist, ergriffen wird. Wenn aus unseren Vorstellungen ,,alle Denknotwendigkeit, alles logische Ordnen entfernt ist und sie nur in einem Zusammenrinnen des Ähn- lichen und Gleichen bestehen": dann und nur dann darf die Selbstgewißheit sie in ihren Dienst stellen, ohne sich damit
393
untreu zu werden. Der Anfang jeder Theorie des Erkennens muß somit darin bestehen, daß wir uns allen Zusammenhängen mit den Reichen des Geistes und der Natur, allem Verkehr mit den Gütern und Gemeinschaften der Kultur entschlagen, um lediglich dieses unser einzelnes individuelles Bewußtsein „in seiner ganzen Blöße und Nacktheit" festzuhalten. Erst auf diese Weise gelangen wir zu einer Gewißheitsart, an der das Denken in keiner Weise beteiligt ist, — um freilich sogleich einzusehen, daß sich bei ihr nicht stehen bleiben läßt, sondern daß sie durch logische Annahmen und Postulate, kraft deren wir einen Gegenstand der Er- kenntnis setzen, zu erweitern ist*. Gerade dieser scheinbar gänzlich voraussetzungslose Anfang aber enthält eine Prä- misse in sich, deren Recht vom Standpunkt der Logik wie von dem der Psychologie aus in gleicher Weise unerweislich ist. Der Schnitt, der hier zwischen Wahrnehmung und Denken versucht wird, vernichtet nicht minder den Begriff des Be- wußtseins, wie den objektiven Begriff der Erfahrung. Alles Bewußtsein verlangt irgendeine Art der Verknüpfung: und jede Form der Verknüpfung setzt eine Relation des Ein- zelnen zu einem umfassenden Ganzen, setzt eine Einordnung des individuellen Inhalts in irgendeinen Gesamtzusammenhang voraus. So primitiv und unentwickelt dieser Zusammenhang auch gedacht werden mag: er läßt sich dennoch niemals gänzlich aufheben, ohne den einzelnen Inhalt selbst zu zer- stören. Ein schlechthin regelloses und ungeordnetes Etwas von Wahrnehmungen ist daher ein Gedanke, der nicht einmal als methodische Fiktion vollziehbar ist: denn die bloße Mög- lichkeit des Bewußtseins schließt zum mindesten die begriffliche Antizipation einer möglichen, wenngleich in ihren Einzelheiten noch nicht festgestellten Ordnung in sich. Bezeichnet man daher jedes Moment, das über die bloße unmittelbare Ge- gebenheit der Einzelempfindung hinausgeht, als ,, transsub- jektiv", so gilt hier der paradoxe Satz, daß nicht nur die Gewißheit des Objekts, sondern auch die Gewißheit des
* S. hierzu V o 1 k e 1 t , Die Quellen der menschlichen Gewißheit. München 1906, bes. S. 15ff. ; vgl. Erfahrxing und Denken, Leipzig 1878, Kap. I.
394
Subjekts ein ,, transsubjektives" Moment in sich birgt. Denn auch das bloße ,, Wahrnehmungsurteil" gewinnt seine Be- deutung erst durch den Hinblick auf das System der Er- fahrungsurteile und muß somit die gedanklichen Bedingungen dieses Systems anerkennen. (Vgl. oben, S. 325 f.)
Bestimmt man daher den Gegenstand nicht als eine absolute Substanz jenseits aller Erkenntnis, sondern als das Objekt, wie es sich in der fortschreitenden Erfahrung selbst gestaltet, so gibt es hier keine ,, erkenntnistheoretische Kluft", die erst mühsam, durch irgendein Machtgebot des Denkens, durch einen ,, transsubjektiven Befehl" zu über- winden wäre*. Denn dieser Gegenstand mag vom Stand- punkt des psychologischen Individuums aus immerhin ,, transzendent" heißen: vom Standpunkt der Logik und ihrer obersten Grundsätze aus ist er nichtsdestoweniger als rein ,, immanent" zu bezeichnen. Er verbleibt streng in dem Umkreis, den diese Grundsätze, den insbesondere die all- gemeinen Prinzipien der mathematischen und natur- wissenschaftlichen Erkenntnis bestimmen und abgrenzen. Dieser schlichte Gedanke allein aber ist es, der den Kern des kritischen ,, Idealismus" ausmacht. Wenn Volkelt in seiner Kritik immer von neuem hervorhebt, daß der Gegen- stand nicht in der bloßen Empfindung gegeben ist, sondern daß er erst auf Grund der Denknotwendigkeit gewonnen wird**: so verficht er damit die eigenste These eben dieses Idealismus selbst. Die Idealität, die hier allein behauptet ist, hat mit der subjektiven ,, Vorstellung" nichts mehr gemein; sie betrifft lediglich die objektive Geltung bestimmter Axiome und Normen der wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Wahrheit des Gegenstands — dies allein ist die Meinung — hängt an der Wahrheit dieser Axiome und besitzt keinen anderen und festeren Grund. Es gibt somit freilich im strengen Sinne kein absolutes, sondern immer nur relatives Sein: aber diese Relativität bedeutet ersichtlich nicht die physische Abhängigkeit von den einzelnen
* Vgl. V o 1 k e 1 1 , Quellen der menschlichen Gewißheit, S. 46 f. usf. ; Erfahrung und Denken, S. 186 ff.
** Quellen der menschlichen Gewißheit, S. 32 ff. usf.
395
denkenden Subjekten, sondern die logische Abhängigkeit vom Inhalt bestimmter allgemeingültiger Obersätze aller Erkenntnis überhaupt. Der Satz, daß das Sein ein „Produkt" des Denkens ist, enthält somit hier keinerlei Hindeutung auf irgendein physisches oder metaphysisches Kausalverhältnis, sondern er bezeichnet lediglich eine rein funktionale Beziehung, ein Verhältnis der Über- und Unterordnung in der Gültigkeit bestimmter Urteile. Wenn wir die Definition des „Gegenstandes" zergliedern, wenn wir uns zu klarem Be- wußtsein bringen, was in diesem Begriff gesetzt ist, so werden wir hier notwendig auf gewisse logische Notwendig- keiten zurückgeführt, die somit als die unentbehrlichen, kon- stitutiven „Faktoren" eben dieses Begriffs erscheinen. Die Erfahrung und ihr Gegenstand werden in der Weise von abhängigen Variabein aufgefaßt, die successiv auf eine Folge logischer , .Argumente" zurückgeführt werden : und diese rein inhaltliche Abhängigkeit der Funktion von ihren Argumenten ist es, was in der Sprache des Idealismus als die Bedingtheit des „Objekts" durch das „Denken" bezeichnet wird. (Vgl. bes. oben, S. 354 ff.)
Diese Art der Bedingtheit aber ist so unverkennbar, daß sie auch auf der Gegenseite ausdrücklich hervorgehoben und bezeugt wird. Die sachliche Notwendigkeit, kraft deren wir aus dem Kreis der einzelnen, unverbundenen Empfin- dungen heraustreten, um uns zu dem Gedanken kontinuier- licher, durch strenge kausale Regeln miteinander verknüpfter Gegenstände zu erheben, ist, wie auch hier schließlich zu- gestanden wird, im letzten Grunde eine logische Not- wendigkeit. „Es geschieht im Namen der Vernunft, daß die Gewißheit sachlicher Notwendigkeit mich beherrscht und zu transsubjektiven Annahmen nötigt. . Alles, was wir Beurteilen, Überlegen, Denken, Verstand, Vernunft, Wissen- schaft nennen, würde uns an der Wurzel untergraben er- scheinen, wenn wir dieser Gewißheit zuwider handelten." Unter Seinsgültigkeit soll daher nichts anderes verstanden werden, als „die transsubjektive Bedeutung, die wir vermöge der Denknotwendigkeit dem Inhalte des Urteils geben*." Die
♦ V o 1 k e 1 1 , Die Quellen der menschlichen Gewißheit, S. 33 u. 37.
396
allgemeingültigen Regeln der Vernunft sind es somit, nach welchen wir den Begriff des Seins selbst entwerfen und im einzelnen bestimmen. Das Recht sowohl, wie die Grenze jeglicher Art von ,, Transzendenz" ist damit genau bezeichnet. Am klarsten tritt diese Begrenzung hervor, wenn man hier den Gegenstand der Erfahrung mit dem Gegenstand der reinen Mathematik vergleicht. Auch dieser geht ja in keiner Weise in einem Komplex von sinnlichen Empfindungen auf; auch für ihn ist es charakteristisch, daß er das Gegebene in einem gedanklichen Entwurf, der keine unmittelbare Entsprechung in irgendeinem einzelnen Vorstellungsinhalt besitzt, über- schreitet. Und dennoch bilden die Gegenstände der mathe- matischen Erkenntnis, bilden die Zahlen wie die reinen Ge- stalten der Geometrie kein eigenes Gebiet für sich bestehender, absoluter Existenzen, sondern sind nur der Ausdruck bestimmter allgemeingültiger und notwendiger ideeller Zu- sammenhänge. Ist diese Einsicht einmal festgestellt, so läßt sie sich alsbald auf die Objekte der Physik übertragen, die ja, wie sich allenthalben gezeigt hat, nichts anderes sind als das Ergebnis und der Abschluß einer logischen Arbeit, in der wir die Erfahrung fortschreitend gemäß den Forderungen des mathematischen Begriffs umgestalten. Die „Transzendenz", die wir dem physikalischen Objekt im Unterschied von dem verfließenden und veränderlichen Inhalt der Einzelwahr- nehmung zuschreiben, ist von derselben Art und beruht auf den gleichen prinzipiellen Gründen, wie die Unterscheidung, kraft deren wir die mathematische Idee des Dreiecks oder Kreises dem einzelnen anschaulichen Bilde, durch welches sie hier und jetzt im wirklichen Vorstellen repräsentiert wird, entgegenstellen. In beiden Fällen erhebt sich das momentane sinnliche Bild zu einer neuen logischen Bedeutung und Dauer; aber in beiden Fällen gilt zugleich, daß vermöge dieser Schei- dung kein gänzlich fremdartiges Sein von uns ergriffen wird, sondern nur bestimmten Inhalten ein neuer Charakter begriff- licher Notwendigkeit aufgeprägt wird. Dieselben Bedingungen, auf denen der Übergang von den empirischen Daten des Tast- und Gesichtssinnes zu den reinen Gestalten der Geometrie beruht, sind notwendig und hinreichend für die Umformung
397
des Inhalts der bloßen Perzeption in die Welt der empirisch- physikalischen Massen und Bewegungen. Hier wie dort wird ein konstanter Maßstab eingeführt, auf den fortan das Veränderliche bezogen wird: und diese grundlegende Funktion ist es, auf der die Setzung jedweder Art von Objek- tivität beruht.
Der ,, Realismus" ist somit allerdings im Recht, wenn er betont, daß das, was das Urteil zum Urteil, die Erkenntnis zur Erkenntnis macht, nicht selbst etwas Gegebenes ist, sondern etwas, das zu dem Gegebenen hinzukommt. ,,\Vir könnten nie etwas meinen, wenn wir lediglich auf das Gegebene beschränkt wären; denn alle Versuche, mit dem Meinen, mit dem Urteilen rein im Gegebenen zu bleiben, würden zu Tautologien, zu sinn- losen Sätzen führen. Das Urteil, die Erkenntnis gehen ihrem Sinne nach über das Gegebene hinaus; das in ihnen Gemeinte ist dem Gegebenen und daher ihnen selbst, sofern sie nur als Gegebenes, als gegenwärtiger psychischer Inhalt betrachtet werden, transzendent. Jeder Gedanke ... ist sich selbst transzendent, insofern er sich selbst nie meinen kann*." Diese Sätze sind völlig zutreffend: aber es bedarf nur einer leichten Änderung der Formulierung, um aus ihnen sofort eine völlig andere Konsequenz zu entwickeln, als sie hier gezogen wird. Wenn wirklich alles Denken „sich selbst trans- zendent" ist, wenn es bereits zu seiner ursprünglichen Leistung gehört, nicht in den gegenwärtigen Empfindungen zu beharren, sondern über sie hinauszuschreiten: so gilt zugleich der um- gekehrte Schluß. Die ,, Transzendenz", die kraft des Denkens begründet und erwiesen werden kann, ist keine andere, als die- jenige, die in der Grundfunktion des Urteils selbst gesetzt und gewährleistet ist**. Der „Gegenstand"
♦ W. F r e y t a g , Der Realismus und das Transzendenzproblem, Halle 1902, S. 123.
** Vgl. Frey tag, a.a.O., S. 126: „In dieser allgemeinen Über- zeugvmg von der objektiven Natur der Wahrheit liegt aber die Transzendenz des Urteils als notwendige Voraussetzung eingeschlossen. Denn wäre das Urteil nicht transzendent, hätte es keine Bedeutung, die über das in ihm Gegebene hinausführt, läge all seine Bedeutung in dem, was es als psychischer Vorgang ist, so würde ja die Wahrheit vom Urteil selbst geradezu gemacht werden; gleichgültig, ob ich urteile, a ist b oder a ist nicht b, jedes Urteil
398
ist somit genau so viel und genau so wenig transzendent, als es — das Urteil ist. Damit aber ist wiederum die Korrelation von Erkenntnis und Gegenstand im kritischen Sinne zugestanden: denn so sehr das Urteil den bloßen Inhalt der eben gegenwärtigen, sinnlichen Wahrnehmung überschreitet, so wenig wird man behaupten wollen, daß es jenseits der logischen Grundsätze der Erkenntnis überhaupt stehe. Die Abhängigkeit von diesen Grundsätzen, nicht die- jenige von irgendwelchen konkreten psychischen Inhalten oder Akten, aber war es, die der methodische Idealismus allein vertrat und forderte. Die „Immanenz" im Sinne des Psycholo- gismus muß freilich überwunden werden, um zum Begriff des physikalischen Objekts vorzudringen, aber eben dieses Objekt selbst gewinnt, indem es den Kreis der Empfindung überschreitet, seinen Bestand in begrifflichen Re- lationen, von denen es seinem Wesen, weil seiner Defini- tion nach unablösbar ist. Der psychologischen Immanenz der Eindrücke tritt nicht eine metaphysische Transzendenz der Dinge, sondern vielmehr die logische Allgemeingültigkeit der obersten Erkenntnisprinzipien gegenüber. Daß die einzelne ,, Vorstellung" gleichsam über sich selbst hinausgreift, daß alles Gegebene zugleich etwas bedeutet, was nicht direkt in ihm selbst liegt*, ist unbedingt zuzugestehen: aber in dieser „Repräsentation" liegt, wie sich bereits gezeigt hat, kein Moment, das uns über die Erfahrung als Gesamtsystem hinausführt. Jedes Einzelglied der Erfahrung besitzt insofern symbolischen Charakter, als in ihm das Gesamtgesetz, das die Allheit der Glieder umschließt, mitgesetzt und mit- gemeint ist. Das Besondere erscheint als Differential, das ohne den Hinweis auf sein Integral nicht völlig bestimmt und verständlich ist. Der metaphysische „Realismus" mißversteht diesen logischen Bedeutungswandel, indem er ihn als eine Art dinglicher Transsubstantiation auffaßt. „Ein Jegliches, das
würde in sich richtig sein, weil ja im ersten eben das a gemeint wäre, das tatsächlich als b seiend beurteilt und darum auch gegeben wäre, im zweiten das a, das tatsächlich als nicht b seiend beurteilt und darum auch so ge- geben wäre."
* Vgl. hierzu z. B. U p h u e s , Kant und seine Vorgänger, Berlin 1906, S. 336.
399
etwas bedeuten soll", so wird hier gefolgert, „muß etwas anderes bedeuten, als es ist; denn das, was es ist, ist es eben und braucht es darum nicht erst zu bedeuten*.'* Aber dieses .Andere" braucht darum in keiner Weise etwas sachlich, Heterogenes zu sein; vielmehr handelt es sich hier um eine Beziehung zwischen verschiedenen empirischen In- halten, die als solche einer gemeinsamen Ordnung angehören. Diese Beziehung ist dazu bestimmt, daß wir kraft ihrer von einem gegebenen Anfangspunkt aus das Erfahrungsganze im geregelten Fortgang durchschreiten, nicht dazu, daß wir es überschreiten. Das beständige Hinaus- greifen über den jeweilig gegebenen Einzelinhalt ist selbst eine Grundfunktion der Erkenntnis, die sich innerhalb des Gebiets der Erkenntnisgegenstände erfüllt und befriedigt. Von den philosophischen Physikern ist es insbesondere F e c h n e r , der das Problem, das hierin liegt, scharf erfaßt hat. „Daß in der Welt der Erscheinung immer nur Eins mit und durch das Andere bestehen kann, kann leicht dazu führen, und hat dazu geführt, allen Erscheinungen überhaupt die eigentliche Existenz abzusprechen und als letzten haltbaren und Halt gewährenden Grund ihrer wechselnden Vielheit an sich be- stehende, selbständig seiende feste Dinge dahinter anzunehmen, die mit ihrem Ansich nie in die Erscheinung treten können, vielmehr den ganzen unselbständigen Schein der Erscheinung, sei es durch äußeres Wechselwirken, ineinander hineinwerfen oder durch inneres Wirken in sich oder aus sich heraus er- zeugen. Denn, sagt man: wenn sich Eins hinsichtlich des Grundes seiner Existenz immer nur auf das Andere berufen will, so fehlt zuletzt ein Grund für alle Existenz; spricht A, ich kann nur bestehen, sofern B besteht, und B hinwiederum, ich kann nur bestehen, sofern A besteht, so haben beide sich zuletzt auf Nichts berufen . . . Aber statt daß A und B den Grund der Existenz, den sie nicht einseitig und wechselseitig ineinander finden können, nun weiter rückwärts in etwas hinter sich zu suchen haben, was ihrem Schein den Grund
* E. V. Hartmann, Das Grundproblem der Erkenntnistheorie, S. 49.
400
und Kern gebe, haben sie ihn in der Totalität zu suchen, von der sie beide Glieder sind; das Ganze ist der Halt und Kern des Ganzen und alles Dessen, was darin .... Im Ganzen hat man allen Grund des Einzelnen zu suchen, nicht in etwas Einzelnem, dahinter noch Anderem, nach dessen Grunde man von neuem zu fragen hätte; doch kann man untersuchen, nach welchen Regeln sich das Einzelne zum Ganzen fügt und was die letzten Elemente... Was wir Objektives an einem materiellen Dinge finden können, beruht immer nicht in einem unabhängig von den Wahrnehmungen, Erscheinungen rück- liegenden dunklen Dinge dahinter, sondern in einem über die Einzelwahrnehmungen, Einzelerscheinungen, welche das Ding gewährt, hinausreichenden solidarisch gesetzlichen Zusammen- hang derselben, von dem jede Erscheinung einen Teil ver- wirklicht*." So deutlich und entschieden diese Sätze indessen die Abgrenzung zwischen Metaphysik und Physik vollziehen: so verrät sich dennoch zuletzt bei Fechner selbst, in der Be- griffsbestimmung des Objekts der Physik noch eine innere Unklarheit. Um der Auffassung der Materie als eines völlig unbekannten und unbestimmten Etwas, das den sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften „zugrunde liegt", zu entgehen, bestimmt er sie durch eben diese Eigenschaften selbst: die Materie des Physikers ist, „ganz übereinstimmend mit dem gemeinsten Sprachgebrauche", nichts anderes, als was sich dem Tastgefühl bemerklich macht. So wird sie gleich- bedeutend mit dem — „Handgreiflichen". Was hinter den Daten des Tastens und Fühlens selbst noch liegen mag, braucht den Physiker nicht zu kümmern; ihm ist die Hand- greiflichkeit selbst das allein Aufzeigbare, durch Erfahrung Faßbare und weiter Verfolgbare: und dies genügt, dem Begriffe die für seine Zwecke erforderliche feste Unterlage zu geben**. Hier hat also der Versuch, die metaphysischen Bestandteile im Begriffe der Materie auszuschalten, wiederum dazu geführt, auch das eigentümliche logische Moment zu beseitigen, das für ihn charakteristisch ist. Die kritische Auffassung steht
* Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomen- lehre. 2. Aufl., Leipzig 1864, S. 111 ff. ** A. a. O., S. 106 f.
Cassirer, Substanzbegriff 26 4Q1
zwischen beiden Ansichten mitten inne. Sie definiert das Objekt der Naturwissenschaft durch die Beziehung auf das „Ganze der Erfahrung": aber sie ist sich zugleich bewußt, daß dieses Ganze sich niemals als eine bloße Summe einzelner Sinnesdaten darstellen und begründen läßt. Nur durch die Setzung ursprünglicher Relationen, deren keine sich „hand- greiflich" gleich einem gegebenen sinnlichen Inhalt aufzeigen läßt, gewinnt es seine Form und Gliederung; — und einer der mannigfaltigen Ausdrücke dieser Relationen ist es, der im Begriff der Materie, wie in dem der Kraft oder Energie fest- gehalten wird. (S. oben, S. 224 f.)
IV.
Die Rückführung des Dingbegriffs auf einen obersten Ordnungsbegriff der Erfahrung beseitigt eine Schranke, die sich im Fortschritt der Erkenntnis immer gefährlicher auf- zurichten drohte. Für die erste naive Wirklichkeitsansicht zwar enthält der Begriff des Dinges keinerlei Rätsel und Schwierigkeiten. Der Gedanke braucht nicht allmählich und kraft komplizierter Schlußfolgerungen zu den Dingen vorzudringen; sondern er besitzt sie unmittelbar und vermag sie zu ergreifen, wie unsere körperlichen Organe des Tastens das körperliche Objekt umfassen und umspannen. Aber dieses naive Vertrauen wird alsbald erschüttert. Der Ein- druck des Objekts und dieses Objekt selbst treten auseinander: an die Stelle der Identität tritt das Verhältnis der Repräsentation. All unser Wissen, so vollendet es in sich selbst sein mag, liefert uns niemals die Gegenstände selbst, sondern nur Zeichen von ihnen und ihren wechselseitigen Beziehungen. Immer mehr Bestimmungen, die zuvor als dem Sein selbst zugehörig galten, wandeln sich nunmehr in bloße Ausdrücke des Seins. Wie das Ding frei von all den Be- sonderungen zu denken ist, die unseren unmittelbaren Sinnes- empfindungen anhaften, wie es an sich selbst weder leuchtend noch duftend, weder farbig noch tönend ist, so müssen weiter- hin — in dem bekannten Fortgang, der die Geschichte der Metaphysik aufweist — auch alle räumlich-zeitlichen Eigen-
402
Schäften, so müssen Verhältnisse, wie die der Mehrheit und der Zahl, der Veränderlichkeit und der Ursächlichkeit von ihm abgestreift werden. Alles Bekannte, alles Erkennbare, tritt in einen eigentümlichen Gegensatz zum absoluten Sein des Gegenstandes. Derselbe Grund, der uns der Existenz der Dinge versichert, prägt ihnen das Merkmal der Un- begreiflichkeit auf. Alle Skepsis und alle Mystik drängen sich fortan in diesen einen Punkt zusammen. Wie vielfältige und neue Verhältnisse der „Erscheinungen" uns die wissenschaftliche Erfahrung immer kennen lehren mag: die eigentlichen Gegenstände scheinen sich in ihnen nicht sowohl zu enthüllen, als vielmehr tiefer und tiefer zu verbergen. — Alle diese Zweifel und Bedenken schwinden indes, sobald man sich darauf besinnt, daß eben dasjenige, was hier als der unverstandene Rest der Erkenntnis erscheint, in Wahrheit in jegliche Erkenntnis als unentbehrlicher Faktor und als notwendige Bedingung eingeht. Einen Inhalt erkennen, heißt ihn zum Objekt umprägen, indem wir ihn aus dem bloßen Stadium der Gegebenheit herausheben und ihm eine bestimmte logische Konstanz und Notwendigkeit verleihen. Wir erkennen somit nicht „die Gegenstände" — als wären sie schon zuvor und unabhängig als Gegenstände bestimmt und gegeben — , sondern wir erkennen gegen- ständlich, indem wir innerhalb des gleichförmigen Ablaufs der Erfahrungsinhalte bestimmte Abgrenzungen schaffen und bestimmte dauernde Elemente und Verknüpfungs- zusammenhänge fixieren. Der Begriff des Gegenstandes ist in diesem Sinne genommen, keine letzte Schranke des Wissens mehr, sondern umgekehrt eben das Grundmittel, kraft dessen es all das, was ihm zum feststehenden Eigentum geworden ist, ausdrückt und sicherstellt. Er bezeichnet den logischen Besitzstand des Wissens selbst, — nicht ein dunkles Jenseits, das sich ihm jetzt und für immer entzieht. So ist das ,,Ding" nicht mehr die unbekannte Sache, die als bloßer Stoff vor uns liegt, sondern ein Ausdruck für die Form und den Modus des Begreifens selbst. All das, was die Metaphysik den Dingen an und für sich als Eigenschaft beilegt, erweist sich jetzt als ein notwendiges Moment im Prozeß der
26* 403
Objektivierung. Wenn dort von der Beharrlichkeit und der stetigen Fortdauer der Gegenstände, im Unterschied von der Wandelbarkeit und der Unterbrechung der Sinneswahr- nehmungen, gesprochen wird, so erscheinen hier Identität sowohl wie Stetigkeit als Postulate, die der fortschrei- tenden gesetzlichen Verknüpfung als allgemeine Richtlinien dienen. Sie bezeichnen nicht sowohl die sachlichen Merkmale, die erkannt werden, als vielmehr die logischen Werkzeuge, mit denen erkannt wird. Aus diesem Zusammenhang heraus erklärt sich erst die eigentümliche Wandelbarkeit, die sich im Inhalt der wissenschaftlichen Objektbegriffe kundtut. Je nachdem die ihrem Ziel und Wesen nach einheitliche Funktion der Gegenständlichkeit sich mit verschiedenem empirischen Material erfüllt, entstehen verschiedene Begriffe der physikalischen Realität, die jedoch nur verschiedene Stufen in der Erfüllung ein und derselben fundamentalen Forderung darstellen. Wahrhaft unveränderlich bleibt lediglich diese Forderung selbst, nicht die Mittel, durch die sie jeweilig befriedigt wird.
So vermag denn die Naturwissenschaft auch dort, wo sie am Begriff des absoluten Gegenstandes festhält, zur Bezeichnung seines Gehalts zuletzt kein anderes Ausdrucks- mittel zu finden, als die rein formalen Beziehungen, auf denen der Zusammenhang der Erfahrung beruht. Besonders prägnant tritt dieser Zug in der Helmholtzschen Zeichentheorie hervor, die eine charakteristische und typische Ausprägung der allgemeinen naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre dar- stellt. Unsere Empfindungen und Vorstellungen sind Zeichen, ;y nicht Abbilder der Gegenstände. Denn vom Bilde ver- langt man irgendeine Art von Gleichheit mit dem abgebildeten Objekt, deren wir uns hier niemals versichern können. Das Zeichen dagegen fordert keinerlei sachliche Ähnlichkeit in den Elementen, sondern lediglich eine funk- tionale Entsprechung der beiderseitigen Struktur. Was in ihm festgehalten wird, das ist nicht die besondere Eigenart des bezeichneten Dinges, sondern die objektiven Verhältnisse, in denen es zu anderen gleichartigen steht. Die Mannigfaltig- keit der Empfindungen ist der Mannigfaltigkeit der wirklichen
404
Gegenstände derart zugeordnet, daß jede Verknüpfung, die sich in dem einen Inbegriff feststellen läßt, auf eine Ver- knüpfung in dem andern hinweist. Somit erkennen wir kraft unserer Vorstellungen zwar nicht das Wirkliche schlechthin, in seiner isolierten an sich seienden Beschaffenheit, wohl aber die Regeln, unter denen dieses Wirkliche steht und denen gemäß es sich verändert. Was wir unzweideutig und als Tatsache ohne hypothetische Unterschiebung finden können, ist das Gesetzliche in der Erscheinung: und diese Gesetz- mäßigkeit, die für uns eine Bedingung der Begreiflichkeit der Phänomene ist, ist zugleich die einzige Eigenschaft, die wir unmittelbar auf die Dinge selbst übertragen können*. Man sieht indessen, daß auch in dieser Auffassung nicht sowohl ein gänzlich neuer Inhalt gesetzt, als vielmehr nur ein doppelter Ausdruck für ein und denselben fundamentalen Sach- verhalt geschaffen ist. Die Gesetzlichkeit des Realen besagt zuletzt nichts mehr und nichts anderes als die Realität der Gesetze: und diese besteht in der unveränderlichen Gültig- keit, die sie für alle Erfahrung, abgesehen von allen be- sonderen einschränkenden Bedingungen besitzen. Indem wir die Zusammenhänge, die zunächst als bloße Regelmäßigkeiten von Empfindungen erscheinen konnten, als G e s e t z e der Dinge aussprechen, haben wir damit lediglich eine neue Bezeichnung für die universelle Bedeutung, die wir ihnen zuerkennen, geschaffen. Der bekannte Tatbestand wird, indem wir diese Ausdrucksform wählen, nicht seiner Natur nach geändert, sondern lediglich bekräftigt und in seiner objektiven Wahrheit bestätigt. Die Dinglichkeit ist stets nur eine derartige Bestätigungsformel, die somit abgetrennt von dem Ganzen der empirischen Zusammen- hänge, die durch sie beglaubigt werden sollen, keine Bedeutung mehr besitzt. Die Gegenstände der Physik, in ihrem gesetz- mäßigen Zusammenhang, sind daher nicht sowohl ,, Zeichen von etwas Objektivem", als sie vielmehr objektive Zeichen sind, die bestimmten begrifflichen Bedingungen und Forde- rungen genügen.
* Helmholtz, Handbuch der physiolog. Optik, 2. Aufl., S. 586 ff., 947 f. u. ö.
405
Daß wir die Dinge niemals in dem, was sie für sich allein sind, sondern nur in ihren wechselseitigen Verhältnissen kennen: daß wir nur die Relationen der Beharrung und Veränderung an ihnen festzustellen vermögen, ergibt sich hieraus von selbst. Aber dieser Satz schließt keine der skep- tischen Folgerungen mehr in sich, die in der realistischen Metaphysik mit ihm verknüpft sind. Geht man von der Existenz der absoluten Elemente aus, so muß es wie ein Mangel des Denkens erscheinen, daß es sich dieser Existenz niemals völlig rein und abgelöst zu bemächtigen vermag. Die Dinge bestehen nach dieser Auffassung für sich; aber sie werden uns nur in ihrer Wechselwirkung, die die Natur jedes einzelnen beeinträchtigt und verdunkelt, bekannt. „Jede Eigenschaft oder Qualität eines Dinges," so formuliert Helmholtz diese Anschauung, „ist in Wirklichkeit nichts anderes, als die Fähigkeit desselben, auf andere Dinge gewisse Wirkungen auszuüben... Eine solche Wirkung nennen wir Eigenschaft, wenn wir das Reagens, an dem sie sich äußert, als selbstverständlich im Sinne behalten, ohne es zu nennen. So sprechen wir von der Löslichkeit einer Substanz, das ist ihr Verhalten gegen Wasser; wir sprechen von ihrer Schwere, das ist ihre Anziehung gegen die Erde; und ebenso nennen wir sie mit demselben Recht blau, indem dabei als selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß es sich nur darum handelt, ihre Wirkung auf ein normales Auge zu bezeichnen. Wenn aber, was wir Eigenschaft nennen, immer eine Beziehung zwischen zwei Dingen betrifft, so kann eine solche Wirkung natürlich nie allein von der Natur des einen Wirkenden ab- hängen, sondern sie besteht überhaupt nur in Beziehung auf und hängt ab von der Natur eines zweiten, auf welches ge- wirkt wird*." Man hat sich auf diese Sätze, in denen man die treffendste Formulierung des allgemeinen Grundsatzes der Relativität sah, berufen, um auf Grund derselben die prinzipielle Ausscheidung aller ontologischen Bestandteile
* Helmholtz, Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens. (Vorträge und Reden, 4. A\ifl., Braunschweig 1896, S. 321), vgl. Physiologische Optik», S. 589.
406
aus den Naturwissenschaften zu fordern*. In Wahrheit indessen enthalten auch sie noch ein unverkennbar ontologisches Element. Die schärfere Fassung des Prinzips der Relativität der Erkenntnis stellt dieses Prinzip nicht als eine bloße Folge aus der allseitigen Wechselwirkung der Dinge hin, sondern erkennt in ihm eine vorausgehende Bedingung für den Begriff des Dinges selbst. Hierin erst besteht die allgemeinste und radikalste Bedeutung des Relativitätsgedankens. Nicht dies ist die Meinung, daß wir stets nur die Beziehungen zwischen Seinselementen denkend erfassen können, wobei diese Elemente selbst doch immer noch als ein dunkler für sich bestehender Kern gedacht sind, sondern daß wir nur durch die Ka- tegorie der Beziehung hindurch zur Kategorie des Dinges gelangen können. Wir erfassen nicht an absoluten Dingen die Verhältnisse, die aus ihrer Wechselwirkung resul- tieren, sondern wir verdichten die Erkenntnis empirischer Zusammenhänge zu Urteilen, denen wir gegenständliche Gel- tung zusprechen. Die „relativen" Eigenschaften bedeuten demnach nicht im negativen Sinne den Rest an Dinglichem, den wir noch gerade zu erfassen vermögen, sondern sie bilden den ersten und positiven Grund, in welchem der Begriff der Wirklichkeit selbst wurzelt. Es bleibt ein Zirkel, die Relativität der Erkenntnis aus der durchgängigen Wechselwirkung der Dinge erklären zu wollen, da eben diese Wechselwirkung vielmehr nur einer jener Relationsgedanken ist, die die Erkenntnis in das sinnlich Mannigfaltige hineinlegt, um es damit zur Einheit zu gestalten.
Es ist von besonderem Interesse zu verfolgen, wie diese Grundanschauung innerhalb der modernen Physik selbst allmählich mehr und mehr zu methodischer Klarheit und Schärfe gelangt. Die Darstellung, die neuerdings ein bedeu- tender Physiker von dem Fortgang und den allgemeinen Zielen der physikalischen Methodik gegeben hat, liefert hierfür einen charakteristischen Beleg. In seiner Schrift über die Einheit des physikalischen Weltbildes hat Planck in einem kurzen Entwurf die allgemeinen Gesichtspunkte bezeichnet, nach
* Vgl. Stalle, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik, dtsch. Ausg.; Leipzig 1901, S. 131, 186 ff.
407
denen die stetige Umbildung der physikalischen Theorien sich erklärt. Wenn die erste Stufe unserer physikalischen Definitionen dadurch gekennzeichnet ist, daß der Begriff hier noch unmittelbar den sinnlichen Inhalt der Einzelemp- findung wiederzugeben trachtet, so besteht aller weitere logische Fortschritt darin, diese Bedingtheit mehr und mehr abzustreifen. Die Empfindung als solche enthält ein anthropomorphes Element, sofern sie notwendig eine Beziehung auf ein bestimmtes Sinnesorgan, also auf die spezifische physiologische Struktur des menschlichen Or- ganismus in sich schließt. Wie dieses Element ständig zurück- gedrängt wird, um schließlich im idealen Entwurf der Physik gänzlich zu verschwinden: dafür bildet die Geschichte der Naturwissenschaft ein einziges fortlaufendes Beispiel*. Wel- chen Ersatz aber — so muß nunmehr gefragt werden — bietet zuletzt das wissenschaftliche Weltbild für diese ver- lorenen Inhalte dar ; welcher positive Vorzug ist es, auf dem seine Bedeutung und seine Notwendigkeit beruht? Hier zeigt es sich nun alsbald, daß der geforderte Ersatz nicht selbst wiederum in einem materialen, sondern lediglich in einem formalen Moment gegründet sein kann. Indem die Wissenschaft dem Reichtum und der bunten Mannigfaltigkeit der unmittelbaren Empfindung entsagt, gewinnt sie kraft dieses Verzichtes, was sie scheinbar an Inhalt einbüßt, an Einheit und Geschlossenheit zurück. Mit der individuellen Besonderung der Eindrücke ist auch ihre innere Ungleichartigkeit verschwunden, so daß Gebiete, die vom Standpunkt der Empfindung aus schlechthin unvergleichlich sind, nunmehr als Glieder ein und desselben Gesamtplanes in wechselseitigem Zusammenhang begriffen werden können. Hier allein liegt der eigentümliche Wert des wissenschaftlich- konstruktiven Aufbaus: in ihm erscheint durch stetige begriff-
* S. Planck, Die Einheit des physikalischen Weltbildes, Vortrag, Leipzig 1909. — Die Darstellung der Entwicklung der naturwissenschaft- lichen Begriffsbildung im vierten Kapitel (vgl. bes. S. 217 ff.) war bereits vollendet, als der Plancksche Vortrag erschien; um so freudiger begrüße ich es, daß durch den philosophischen Teil der Ausführungen Plancks das Ergebnis, zu dem diese Darstellung gelangt ist, in allen wesentlichen Punkten bestätigt und von einem anderen Gesichtspunkte her beleuchtetwird.
408
liehe Mittelglieder verbunden, was in der ersten naiven Ansicht fremd und beziehungslos nebeneinander liegt. Je reiner diese Tendenz sich durchringt, um so vollkommener hat die Forschung ihre Aufgabe erfüllt. ,, Sehen wir genauer zu, so glich das alte System der Physik gar nicht einem einzigen Bild, sondern viel eher einer Gemäldesammlung; denn für jede Klasse von Naturerscheinungen hatte man ein besonderes Bild. Und diese verschiedenen Bilder hingen nicht miteinander zusammen; man konnte eins von ihnen entfernen, ohne die anderen zu beeinträchtigen. Das wird in dem zukünftigen physikalischen Weltbild nicht möglich sein. Kein einziger Zug desselben wird als unwesentlich fortgelassen werden können; jeder ist vielmehr unentbehrlicher Bestandteil des Ganzen und besitzt als solcher eine bestimmte Bedeutung für die beobachtete Natur, und umgekehrt wird und muß jede beob- achtbare physikalische Erscheinung in dem Bilde einen ihr genau entsprechenden Platz finden." Man sieht, daß die Kennzeichen der echten physikalischen Theorie, wie sie hier entwickelt werden, mit den Kriterien der empirischen Realität, wie sie sich aus der erkenntnistheoretischen Analyse ergeben, völlig zusammenfallen. ,, Einheit in bezug auf alle Einzelzüge des Bildes, Einheit in bezug auf alle Orte und Zeiten, Einheit in bezug auf alle Forscher, alle Nationen, alle Kulturen" ist es, was Planck als Grundbedingung jeg- licher Theorie der Physik fordert: der Inbegriff und die Er- füllung aller dieser Forderungen aber ist es zugleich, was den eigentlichen Sinn des Gegenstandsbegriffs ausmacht. Planck darf daher mit Recht seine Grundanschauung — im Gegensatz zu der phänomenalistischen Ansicht, die bei der Gegebenheit der bloßen Empfindung stehen bleibt — als ,, realistisch" be- zeichnen: aber dieser „Realismus" bildet nicht mehr den Gegen- satz, sondern das Korrelat zum recht verstandenen logischen Idealismus. Denn die Unabhängigkeit des physikalischen Ob- jekts von allen Besonderheiten der Empfindung stellt zugleich seine Zuordnung zu allgemeingültigen logischen Grundsätzen in helles Licht: nur im Hinblick auf diese Grundsätze der Einheit und Kontinuität der Erkenntnis wird der Inhalt des Objektbegriffs selbst gefunden und festgestellt.
409
Siebentes Kapitel.
Subjektivität und Objektivität der Relationsbegriffe.
Die Analysis der Erkenntnis endet in bestimmten Grund- relationen, auf denen der inhaltliche Bestand aller Erfahrung beruht. Weiter als bis zu diesen allgemeinen Beziehungen vermag der Gedanke nicht zurückzudringen: denn nur in ihnen ist das Denken selbst und ist ein Gedachtes möglich. Und dennoch kann es scheinen, als hätten wir uns mit dieser Antwort im Zirkel bewegt. Das Ende der Untersuchung scheint uns an denselben Punkt zurückzuführen, an welchem wir zu Anfang standen. Das Problem scheint verschoben, aber nicht gelöst: denn der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven besteht noch immer in gleicher Schärfe fort. Auch die reinen Relationen unterliegen derselben Frage, die sich zuvor auf die Empfindungen und Vorstellungen richtete. Sind sie ein Bestandteil des Seins oder sind sie bloße Gebilde des Denkens; enthüllt sich in ihnen die Natur der Dinge oder sind sie nur die allgemeinen Ausdrucksformen unseres Bewußtseins, also nur für dieses selbst und den Umkreis seiner Inhalte gültig? Oder besteht hier eine geheim- nisvolle praestabilierte Harmonie zwischen dem Geist und der Wirklichkeit, kraft deren beide notwendig zuletzt in den- selben Grundbestimmungen zusammentreffen müssen?
Es genügt indessen, das Problem in dieser Weise zu fassen, um alsbald zu bemerken, daß es einem Typus der Fragestellung angehört, der durch das Ergebnis der vorangehenden Untersuchung prinzipiell überwunden ist. Das „gemeinsame" Gebiet, in dem der Gegensatz von Denken
410
und Sein ausgelöscht sein soll, besteht allerdings: aber es kann nicht mehr in einem absoluten Urgrund aller Dinge überhaupt, sondern lediglich in den allgemeingültigen Funktionsformen der rationalen und empirischen Erkenntnis gesucht werden. Diese Formen selbst bilden ein festgefügtes System von Bedingungen: und nur relativ zu diesem System erhalten alle Aussagen über den Gegenstand, wie über das Ich, über Objekt und Subjekt einen verständ- lichen Sinn. Es gibt keine Objektivität, die außerhalb des Rahmens der Zahl und Größe, der Beharrung und Veränderlich- keit, der Causalität und Wechselwirkung stünde: alle diese Bestimmungen sind nur die letzten Invarianten der Erfahrung selbst und somit aller Wirklichkeit, die in ihr und durch sie feststellbar ist. Die gleiche Betrachtungs\yeise aber er- streckt sich unmittelbar auf das Bewußtsein selbst: ohne eine zeitliche Folge und Ordnung von Inhalten, ohne die Möglichkeit, sie zu bestimmten Einheiten zusammen- zufassen und sie wiederum in unterschiedene Vielheiten auseinanderzulegen, ohne die Möglichkeit endlich, relativ konstante Bestände von relativ veränderlichen zu scheiden, besitzt der Gedanke des Ich keine angebbare Bedeutung und Anwendung. Die Analyse lehrt uns mit unzweideutiger Bestimmtheit, daß alle diese Relationsformen in den Be- griff des ,, Seins", wie des ,, Denkens" eingehen; aber sie zeigt uns niemals, w i e sie sich zusammenfügen, noch woher sie ihre Entstehung ableiten. Jede Frage nach dieser Entstehung, jedeZurückführung der Grundformen auf eine Wirksamkeit der Dinge oder auf eine Betätigungsweise des Geistes, würde eine deutliche petitio principii in sich schließen: denn das ,, Woher" ist selbst nichts anderes als eine bestimmte Form der logischen Beziehung. Ist einmal die Kausalität als Relation verstanden und eingeordnet, so entfällt jegliche Frage nach der Kausalität der Relationen überhaupt. Ihnen gegenüber läßt sich nur noch fragen, was sie ihrem logischen Sinne nach sind; — nicht in welcher Weise und von welchen Anfängen aus sie geworden sind. Man kann, nachdem diese Relationen in ihrer Bedeutung „feststehen", mit ihrer Hilfe und unter der Anleitung der Erfahrung der
411
Entstehung der besonderen Objekte und Vorgänge nach- gehen: dagegen ist es ein hoffnungsloses Beginnen, sie selbst, gleich einer entstehenden und vergehenden empirischen Existenz, auf weiter zurückliegende Anfänge, auf psychische oder physische „Grundkräfte" zurückführen zu wollen. —
Damit entfällt zugleich die Möglichkeit, die „Materie" der Erkenntnis von ihrer „Form" derart zu sondern, daß man beiden einen verschiedenen Ursprung im absoluten Sein zuweist; indem man etwa den Ursprung des einen Faktors in den „Dingen", den des anderen dagegen in der Einheit des Bewußtseins sucht*. Denn alle Bestimmtheit, die wir an der „Materie" der Erkenntnis festhalten können, kommt ihr lediglich relativ zu irgendeiner möglichen Ordnung und somit zu einem formalen Reihen- begriff zu. Die einzelne qualitativ besondere Empfindung empfängt ihre Eigenart erst durch die Unterscheidung von anderen bewußten Inhalten, denen sie gegenübersteht: sie besteht nur als Reihenglied und kann nur als solches wahrhaft gedacht werden. Das Absehen von dieser Fundamental- bedingung würde nicht nur eine größere oder geringere ,, Un- bestimmtheit" ihres Inhalts zur Folge haben, sondern gänzlich ins Leere führen**. Diese unlösliche logische Correlation widerstreitet jedem Versuch, das Verhältnis, das hier vorliegt, durch zwei getrennte ursächliche Faktoren zu erklären, die man als für sich seiend und wirksam annimmt. Die Materie ist stets nur in Bezug auf die Form, wie andererseits die Form nur in Beziehung auf die Materie gilt. Sieht man von dieser Zuordnung ab, so bleibt für beide kein ,, Dasein" mehr übrig, nach dessen Grund und Ursprung sich fragen ließe. Die materiale Besonderung der empirischen Inhalte kann daher niemals zum Beweis für die Abhängigkeit aller
♦ Vgl. hierzu R i e h 1 , Der philosophische &iticismu8 (bes. II, 1, S. 285 ff.) sowie die Darstellung bei Hönigswald, Beiträge zur Er- kenntnistheorie u. Methodenlehre, Lpz. 1906. — Zum Folgenden vgl. m. Kritik dieser Schrift: Kant Studien XIV, S. 91 — 98; zum Problem der Größenkonstanten s. ob. S. 306 ff.
** Vgl. hrz. jetzt besonders: G. F. Lipps, Mythenbildung und Erkenntnis, Lpz. 1907, S. 154 ff.
412
Gegenstandserkenntnis von einem schlechthin ,, transzendenten" Bestimmungsgrunde angeführt werden: denn diese Bestimmt- heit, die als solche unleugbar besteht, ist nichts anderes als ein Charakteristikum der Erkenntnis selbst, durch welches ihr Begriff sich erst vollendet. Bringen wir sie auf ihren reinsten wissenschaftlichen Ausdruck, so besagt sie zuletzt nichts anderes, als die Feststellung, daß es zum Aufbau der Erfahrung und zur Konstituierung ihres Objekts nicht genügt, bei allgemeinen Regeln der Verknüpfung, bei universellen Gleichungen des Naturgeschehens stehen zu bleiben, sondern daß es hierzu zugleich der Kenntnis be- sonderer Konstanten bedarf, die nur durch die experi- mentelle Beobachtung sich ermitteln lassen. Inwiefern diese Konstanten aber mehr als die empirische Realität der Erfahrungsobjekte selbst bezeugen, inwiefern sie etwas über ihre absoluten Grundlagen enthüllen sollen, ist nicht ersichtlich. Denn die Besonderung eines Gesetzes setzt doch eben dieses Gesetz selbst voraus und ist nur in Beziehung darauf verständlich: der einzelne, fixierte Größen- wert bleibt also stets in dem Umkreis desjenigen Seinsbegriffs, der durch die allgemeinen Grundsätze der Mathematik be- zeichnet und umgrenzt wird. Diese Begrenzung aber ist es, die seine wahrhafte „Idealität'* ausmacht: eine Idealität, durch die keine korrelative Zuordnung zu den Vorstellungen und Denkakten der psychologischen Individuen, sondern zu den allgemeinen Prinzipien und Bedingungen der wissen- schaftlichen Wahrheit behauptet und festgestellt werden soll. (S. ob. S. 395 f).
Wenn indessen die Frage nach der metaphysischen Herkunft dieser Bedingungen sich als ein Mißverständnis erweist, wenn das Problem, ob sie aus dem Geist oder aus den Dingen oder aus einer Wechselwirkung beider abzuleiten sind, in Nichts zerrinnt: so ist doch der alte Gegensatz des ,, Sub- jektiven" und „Objektiven" hier noch nicht in jedem Sinne geschlichtet und überwunden. Vielmehr scheint er sich aufs neue hervorzudrängen, sobald man fragt, welche spezifischen Erkenntnismittel, welche Formen des Urteils und des beziehenden Denkens es sind, in denen wir uns die
413
reine, an sich zeitlose Geltung der ideellen Grundsätze zeit- lich, im tatsächlichen empirischen Erlebnis, zu vergegen- wärtigen vermögen. Man kann sich versucht fühlen, um der Strenge und Reinheit der logischen Begründung willen, auch diese Frage völlig auszuschalten und abzuweisen. Die „ewigen Wahrheiten" — so erklärt bereits L e i b n i z im engsten Anschluß an Piaton — gelten völlig unabhängig von jeglichem Tatbestand der Wirklichkeit, wie immer er auch beschaffen sein möge. Sie stellen lediglich hypothetische Systeme von Folgerungen dar, sie knüpfen die Geltung bestimmter Schluß- sätze an die Geltung bestimmter Obersätze, ohne darauf Rück- sicht zu nehmen, ob sich in der Welt der empirischen Dinge konkrete Beispiele dieser abstrakten Zusammenhänge finden lassen, ja ohne irgend danach zu fragen, ob es Individuen gibt, in deren aktuellem Denken der Übergang von den Prämissen zu den Folgerungen, der hier als zu Recht bestehend behauptet wird, tatsächlich jemals vollzogen worden ist. Die Wahrheiten der reinen Zahlenlehre würden bleiben, was sie sind — selbst wenn es nichts gäbe, was gezählt werden kann, noch irgend jemand, der zu zählen verstünde*. In solcher äußersten Prägnanz vollzieht sich die Abkehr von jeder bloß psychologischen Begründung bei den eigentlichen Klassikern des Idealismus. Sie alle neigen jenem Gedanken zu, der seinen paradoxen Ausdruck in Bolzanos Conception eines Reiches der „Sätze und Wahrheiten an sich" gefunden hat. Der „Bestand" der Wahrheiten ist logisch unabhängig von der Tatsache ihres Gedachtwerdens. Was etwa die Sätze der reinen Geometrie bedeuten, wie sie gemäß einer strengen und notwendigen Abfolge aus einander hervorgehen und somit ein ideales Ganze der Bestimmung ausmachen: dies läßt sich vollkommen ableiten und zur Darstellung bringen, ohne daß wir auf die psychologischen Akte zurückgehen, in denen wir uns den Gehalt dieser Sätze zur anschaulichen oder begriff- lichen Vorstellung bringen. Gleichviel ob diese Akte in den
* S. Leibniz, Juris et aequi elementa (M o 1 1 a t , Mitteilungen aus Leibnizens ungedruckton Schriften. Lpz. 1893 S. 21 f; vgl. m. Ausg. von Leibniz' Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Lpz. 1904 ff., II, S. 504 f.)
414
verschiedenen Individuen verschieden oder ob sie gleich- artig sind und somit eine konstante Beschaffenheit darbieten: in keinem Falle ist es d i e s e Beschaffenheit, die wir meinen, wenn wir von den Objekten der Geometrie, von den Linien, Flächen und Winkeln sprechen. Das „Sein", das wir diesen Objekten beilegen, bedeutet keinerlei zeitliche Wirklichkeit, wie sie irgendwelchen konkreten physischen oder psychischen Inhalten eignet, sondern lediglich ihr wechselseitiges B e - stimmt-Sein: es besagt die objektive Abhängigkeit im Bereich des Gedachten, nicht irgendeinen tatsächlichen kausalen Zusammenhang im Gebiete des Denkens.
Es ist insbesondere die moderne Erweiterung der Mathematik, die diesen Sachverhalt zu voller Klarheit gebracht hat und die damit der logischen Theorie, die sich auf ihn stützt, von neuem den Boden bereitet hat. Die Gebilde, mit denen es die allgemeine Mannigfaltigkeitslehre zu tun hat, sind echte und vollgültige Objekte der Mathe- matik, die deren Begriff erst seinem ganzen Umfang nach darstellen. Der systematische Aufbau dieser Gebilde aber läßt sich vollständig entwickeln und darlegen, ohne auf die komplexe und schwierige psychologische Nebenfrage einzu- gehen, in welchen intellektuellen Prozessen wir uns die Be- deutung der unendlichen Inbegriffe, die hier den Gegenstand der Betrachtung bilden, vergegenwärtigen. Da ferner alle Eigenschaften dieser Inbegriffe durch ihren ursprünglichen Begriff feststehen und ihnen in notwendiger und unabänder- licher Weise zukommen, so bleibt hier für irgendwelche willkürliche Betätigung des Denkens keinerlei Raum übrig: vielmehr geht das Denken ganz in seinem Gegen- stand auf und wird durch ihn bestimmt und geleitet. ,,Man nenne es wie man will" — so spricht sich ein moderner Vertreter der mathematischen Logik aus — ,,es gibt eine Welt, die bevölkert ist von Ideen, von Inbegriffen, von Sätzen, von Relationen und Abhängigkeiten, die in endloser Ver- schiedenheit und Mannigfaltigkeit vom Einfachsten beginnen und bis zum Verwickeltsten aufsteigen. Diese Welt ist nicht das Produkt, sondern das Objekt, nicht das Geschöpf, sondern die Beute des Gedankens: denn die Wesenheiten, aus denen
415
sie besteht — wie etwa die wahren Sätze — sind so wenig identisch mit dem Denken dieser Wesenheiten, wie der Wein identisch ist mit dem Trinken des Weines. Die Ver- fassung dieser außerpersönlichen W^elt, ihre innere ontologische Struktur macht den wesentlichen Charakter und die Substanz der Logik als einer unabhängigen und außerpersönlichen Form des Seins aus. . . . Wie der Astronom, der Physiker, der Geologe oder irgend ein anderer Naturforscher die Welt der Sinne in seiner Betrachtung durchmißt, so schreitet der Geist des Mathematikers, nicht in übertragenem, sondern in wört- lichem Sinne im Universum der Logik vorwärts; so er- forscht er alle Höhen und Tiefen nach neuen Tatsachen: nach Ideen, Klassen, Verwandtschaften, Abhängigkeiten.*" Diese Sätze umgrenzen, sowohl nach der positiven wie nach der negativen Seite hin, aufs schärfste das Problem, das hier vorliegt. Die Notwendigkeit der allgemeinen mathe- matischen Zusammenhänge muß unangetastet bleiben: und diese Notwendigkeit bildet in der Tat eine eigentümliche Wesenheit, einen objektiven Gehalt, der der psychologischen Tätigkeit des Denkens als schlechthin bindende Norm gegen- übersteht. Aber steht dieser Gehalt in Wahrheit auf der- selben Stufe, wie die sinnliche Wirklichkeit, von der wir lediglich empirisch Kenntnis zu erhalten vermögen? Sind die „Tatsachen" des Mathematikers nichts anderes und wollen sie nichts mehr bedeuten, als diejenigen, die etwa der ver- gleichende Anatom und Zoologe in der Beschreibung und Ver- gleichung verschiedenartiger körperlicher Strukturen fest- stellt? Gerade die Logik der Mathematik und der mathe- matischen Physik ist es, die jede derartige unmittelbare Gleichsetzung der exakten und der rein beschreiben- den Methoden endgültig verbietet. Notwendigkeiten können nicht einfach beschrieben, nicht schlechthin als solche ,, vor- gefunden" werden: denn alles bloß Vorgefundene gilt eben nur für den Moment, für welchen es festgestellt wird und be- zeichnet somit einen empirisch -einmaligen Tatbestand. Die Frage nach den intellektuellen Operationen, in denen
* C. J. Keyser, Mathematics -^ a Lecture delivered at Columbia Umversity. New York 1907 S. 25 f.
416
jene Notwendigkeiten erfaßt werden, drängt sich daher hier von neuem hervor. Diese Operationen dürfen uns freilich mit dem, was durch sie erkannt wird, niemals unterschiedslos verschmelzen: die Gesetzlichkeit des Erkannten ist mit der des Erkennens nicht gleichbedeutend. Dennoch aber bleiben beide Gesetzlichkeiten auf einander bezogen, sofern sie zwei verschiedene Aspekte eines allgemeinen Problems darstellen. So besteht zwischen dem Gegenstand und der O p e - rat i 0 n des Denkens in der Tat ein tieferes und intimeres Wechselverhältnis, als zwischen dem — Wein und dem Trinken des Weins. Wein und Trinken sind einander nicht in eindeutiger Weise zugeordnet; — wohl aber zielt jeder reine Erkenntnisakt auf eine objektive Wahrheit hin, die er sich gleichsam gegenüberstellt, wie andererseits der Bestand der Wahrheit nur kraft dieser Akte und durch ihre Vermittlung zum Bewußtsein gebracht werden kann.
Es gilt daher jetzt von dem Begriff der ,, Objektivität" aus, der aus der Analyse des Gehalts der wissenschaftlichen Grundsätze gewonnen wurde, den Begriff der ,, Subjektivität" in einem neuen Sinne zu bestimmen. Die allgemeine Charak- teristik des Gegenstands, die sich ergab, enthält zugleich implicit die allgemeine Antwort auf die Frage, welcher Art die gedanklichen Mittel und Verfahrungsweisen sind, kraft deren wir zu seiner Kenntnis gelangen. Ein Moment ist es vor allem, das hier entscheidend hervortritt. Solange der Gegenstand noch schlechthin das „Ding" in der gewöhn- lichen Bedeutung des naiven Dogmatismus war: so lange mochte ein einzelner ,, Eindruck" oder eine bloße Summe derartiger Eindrücke genügen, um ihn zu erfassen und innerlich nachzubilden. Diese Art der Aneignung aber versagt, nach- dem einmal die Geltung bestimmter logischer Relationen als notwendige Bedingung und als der eigentliche Kern des Gegen- standsbegriffs festgestellt ist. Denn der Gehalt reiner Be- ziehungen läßt sich niemals in bloßen sinnlichen Impressionen darstellen: die Gleichheit oder Ungleichheit, die Identität oder Verschiedenheit des Gesehenen und Getasteten ist nicht selbst etwas, was gesehen oder getastet wird*. Überall
* Näheres hrz. s. Cap. VIII. Cassirer, Substanzbegriff 27 417
muß hier von der passiven Empfindung auf die Aktivität des Urteils zurückgegangen werden, in der allein der Begriff des logischen Zusammenhangs und damit der Begriff der logischen Wahrheit einen zureichenden Ausdruck findet. Den Ge- danken des Dinges — als eines Komplexes sinnlicher Eigen- schaften — mag man sich immerhin dadurch entstanden denken, daß diese Eigenschaften für sich wahrgenommen werden und vermöge eines automatischen Mechanismus der „Association" wie von selbst zusammenfließen: der Gedanke der notwendigen Verknüpfung aber bedarf, um sich überhaupt psychologisch bezeichnen zu lassen, den Hin- weis auf eine selbständige Tätigkeit des Bewußtseins. Der gesetzmäßige Fortschritt im Urteil ist das Korrelat des gesetz- mäßigen Zusammenhangs der Beziehungen, die sich im Be- griff des Erkenntnisobjekts zur Einheit zusammenschließen. Freilich scheint damit der Gehalt der Wahrheit, und somit zugleich der Gehalt des „Seins" von neuem gleichsam in Fluß zu geraten: denn was eine bestimmte Wahrheit „ist", können wir uns nach dieser Gesamtanschauung nicht anders verdeutlichen, als dadurch, daß wir sie gedanklich nacherzeugen, indem wir sie aus ihren einzelnen Bedingungen vor uns entstehen lassen. Aber diese „gene- tische" Ansicht der Erkenntnis bildet jetzt keinen Gegensatz mehr zu der Forderung eines dauernden Bestandes. Denn die Tätigkeit des Denkens, auf die hier zurückgegangen wird, ist selbst nicht willkürliche, sondern streng geregelte und gebundene Tätigkeit. Die funktionale Betätigung des Denkens verlangt und findet ihren Halt in einer idealen Struktur des Gedachten, die ihm unabhängig von jedem besonderen zeitlich begrenzten Denkakt ein für alle Mal zu- kommt. Beide Momente bestimmen erst in ihrer Durch- dringung den vollständigen Begriff der Erkenntnis. Das Ganze [unserer intellektuellen Operationen ist gerichtet und gespannt auf die Idee eines ,, stehenden und bleibenden" Geltungsbereichs objektiv notwendiger Beziehungen. So zeigt sich, daß jedes Wissen gleichsam ein statisches und ein dynamisches Motiv in sich birgt und erst in dieser Vereinigung seinen Begriff vollendet. Es verwirklicht sich
418
4
nur in einer Aufeinanderfolge logischer Akte, in einer Reihe, die successiv durchlaufen werden muß, damit wir uns der Regel ihres Fortschrittes bewußt werden. Soll aber diese Reihe selbst als Einheit gefaßt und als Ausdruck eines identischen Sachverhalts genommen werden, der durch sie, je weiter wir in ihr fortgehen, immer schärfer und genauer bezeichnet wird: so ist hierfür erforderlich, daß wir sie selbst gegen eine ideelle Grenze konvergierend denken. Diese Grenze ,,ist" und besteht in eindeutiger Bestimmtheit; wenn- gleich sie für uns nicht anders, als vermittels der einzelnen Reihenglieder und ihrer gesetzlichen Veränderung er- reichbar ist. Je nachdem wir unseren Standort an dem gedachten Grenzwert selbst oder aber innerhalb der Reihe und ihres Fortgangs wählen, ergibt sich uns. also eine ver- schiedene Auffassung, wobei indes jeder der beiden Aspekte den anderen zu seiner Ergänzung verlangt und herbeiruft. Die Veränderung zielt auf eine Konstanz ab, während andererseits die Konstanz nur an der Veränderung zum Bewußtsein kommen kann. Es gibt keinen Akt des Wissens, der nicht auf irgendeinen festen Gehalt von Be- ziehungen, als seinen eigentlichen Gegenstand, gerichtet wäre; wie andererseits dieser Bestand sich nicht anders als in Akten des Wissens belegen und zum Verständnis bringen läßt.
An diesem Punkte scheiden sich am deutlichsten die all- gemeinen Tendenzen, die die erkenntnistheoretische Diskussion der Gegenwart beherrschen. Auf der einen Seite wird die reine Objektivität des Logischen und Mathematischen dadurch aufrecht zu erhalten gesucht, daß man sich prinzipiell jeder Beziehung auf das Denken und den „denkenden Geist" begiebt. Zergliedern wir das ideale Gefüge der Mathematik, stellen wir das Ganze ihrer Definitionen, ihrer Axiome und Lehrsätze klar und vollständig heraus, so ist, wie man betont, unter den „logischen Konstanten'', die auf diese Weise zuletzt übrig bleiben, der Begriff eines denkenden Subjekts, dem dieser gesamte Zusammenhang gegeben wäre, in keiner Weise mitenthalten. Dieser Begriff gehört demnach nicht dem Gebiet der reinen Logik und Mathematik selbst an, er ist vielmehr zu jenen „gänzlich bedeutungslosen" Konzep-
27* 419
tionen zu rechnen, die erst durch die Vermittlung der Philo- sophie in die Wissenschaften eingedrungen sind*. Damit entfällt auch jede nähere Beziehung der ideellen Wahrheiten der Mathematik und Logik zur Aktivität des Denkens: viel- mehr wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Geist, wo immer er diese Wahrheiten ergreift, sie nur receptiv als ge- gebenen Stoff empfängt. Er ist in der Erkenntnis eines be- stimmten Zusammenhangs von Schlußfolgerungen so völlig passiv, wie es — gemäß der gewöhnlichen Auffassung — der Sinn in der Wahrnehmung sinnlicher Objekte ist**. ,, Alles Erkennen ist nichts als ein Anerkennen, sofern es nicht bloße Täuschung sein soll. Die Arithmetik muß genau in dem- selben Sinne entdeckt werden, als Columbus West-Indien entdeckte und wir schaffen die Zahlen so wenig, als er die Indianer erschuf. Die Zahl ,,Zwei" ist kein rein geistiges Ding, sondern eine Wesenheit, die den Gegenstand unseres Denkens bilden kann. Was immer den Gegenstand unseres Denkens bildet, hat ein bestimmtes Sein und dieses Sein ist die Vorbedingung dafür, daß es gedacht wird, nicht aber selbst ein Ergebnis des Denkens***." Die ,, Objektivität" der reinen Begriffe und Wahrheiten wird demnach mit der der physischen Einzeldinge völlig auf eine Stufe gestellt. Dennoch tritt die Differenz zwischen beiden alsbald wieder scharf hervor, sobald man sich vergegenwärtigt, daß es nicht absolute, sondern stets nur relative „Gegenstände" sind, zu denen wir innerhalb des Umkreises, der Logik und Mathematik allein zu gelangen vermögen. Nicht die Zahl, sondern allenfalls die Zahlen bilden eine wahrhafte „Wesenheit". Das Einzelne erhält hier seinen Sinn und Gehalt erst vom Ganzen: — dieses Ganze aber läßt sich niemals wie ein ruhendes Objekt der An- schauung auf einmal vergegenwärtigen, sondern muß, um
* Vgl. Russell, The Principles of Mathematics I, S. 4: Philo- sophy asks of Mathematics : What does it mean ? Mathematics in the past weis unable to answer, and Philosophy answered by introducing the totally irrelevant notion of mind. But now Mathematics is able to answer, so f ar at loast as to reduce the whole of its propositiona to certain funda- mental notions of logic.
** R u s 8 e 1 1 , a. a. O. § 37, S. 33. *♦♦ Russell, a. a. O. § 427, S. 451.
420
wahrhaft übersehen zu werden, im Gesetz seines Aufbaus erfaßt und durch dieses Gesetz bestimmt werden. Um die Zahlenreihe als Reihe aufzufassen und sie damit erst in ihrem systematischen Wesen zu durchdringen, bedarf es nicht nur eines einzelnen apperceptiven Aktes, wie man ihn etwa für die Wahrnehmung eines besonderen Sinnen- dinges als genügend ansieht, sondern stets einer Mannig- faltigkeit derartiger Akte, die einander wechselweise bedingen. Immer wird hier also eine Bewegung des Denkens erfordert, die jedoch kein bloßer Wechsel von Vorstellungen ist, sondern in der vielmehr das einmal Erreichte festge- halten und zum Ausgangspunkt neuer Entwicklungen ge- macht wird. Die Tätigkeit selbst ist es somit, aus der die Anerkennung eines dauernden Bestandes von Wahrheiten quillt. Mitten im Akt des Produzierens hebt sich für den Gedanken ein bleibendes logisches Produkt heraus, sofern er sich bewußt wird, daß dieser Akt selbst nicht willkürlich vor sich geht, sondern nach konstanten Regeln erfolgt, denen er sich nicht zu entziehen vermag, wenn anders er in sich selbst Sicherheit und Bestimmtheit gewinnen soll. —
Die ,, Spontaneität" des Denkens bildet somit nicht den Gegensatz, sondern das notwendige Korrelat derjenigen „Objektivität", die ihm allein erreichbar ist. Wird diese Grundbeziehung nicht vollständig erfaßt, wird einseitig nur ein einzelnes Moment von ihr betont, so muß sich alsbald ein Rückschlag einstellen, der nunmehr die Konstanz des Logischen selbst gefährdet. Aus diesem allgemeinen Motiv heraus läßt sich vielleicht am ehesten der Kampf verstehen, der von Seiten des ,, Pragmatismus" gegen die ,, reine Logik" geführt wird. Soweit freilich der Pragmatismus in nichts anderem besteht, als in der Gleichsetzung der Begriffe ,, Wahr- heit" und „Nützlichkeit": soweit dürfte man ihn getrost dem allgemeinen Schicksal philosophischer Schlagworte überlassen. Was zur Verteidigung dieser Ansicht vorgebracht worden ist, hält sich fast ausschließlich im Bereich des rhetorisch-pole- mischen Stils und zerfällt, sobald man versucht, es in die nüchterne Sprache der logischen Begründung zu übertragen. Schon der Begriff des Nutzens selbst widerstrebt jedem
421
Versuch einer scharfen Begrenzung: denn bald ist es das einzelne Individuum mit seinen besonderen Wünschen und Neigungen, bald ist es irgendeine gemeinsame gattungs- mäßige Struktur des Menschen, in Bezug auf welche der Nutzen festgestellt und gemessen wird. Gilt das Erstere, so bleibt gerade das entscheidende Problem, die Möglichkeit exakter wissenschaftlicher Erkenntnis ungelöst: aus individuellen Gefühlen und Trieben baut sich so wenig wie aus individuellen Empfindungen eine Wissenschaft der Natur auf, da diese vielmehr auf die Ausschaltung aller rein „anthropo- morphen" Elemente des Weltbildes gerichtet ist. (S. S.407ff.) Soll dagegen das Zweite gelten, so ist wiederum ein konstantes physisch - psychisches Subjekt mit einer gleichbleibenden Organisation gesetzt, das sich unter Bedingungen, denen selbst eine objektive Regelmäßigkeit zukommt, entwickelt; es ist somit der gesamte Begriff des Seins, der abgeleitet werden sollte, in Wahrheit bereits vorweggenommen. „Nütz- lichkeit" selbst gibt es nur in einer Welt, in der nicht beliebig aus Jeglichem Jegliches hervorgeht, sondern in der be- stimmte Erfolge an bestimmte Voraussetzungen ge- bunden sind: nur innerhalb des Seins und innerhalb einer eindeutigen Ordnung des Geschehens ist der Gesichtspunkt des „Nützlich-Seins" verständlich und anwendbar. (Vgl. ob. S. 350 f.)
Indessen treffen freilich derartige Erwägungen nicht die feinere und subtilere Fassung, die der Pragmatismus insbe- sondere durch Dewey und seine Schule erhalten hat. Hier ist das Problem zum mindesten von jenen Unklarheiten und Zweideutigkeiten befreit, mit denen es in der populären philo- sophischen Diskussion behaftet bleibt. Es handelt sich — wie nunmehr klar hervortritt — um das Verhältnis, das zwischen den objektiv-gültigen Sätzen der Wissenschaft und zwischen der Aktivität des Denkens anzunehmen ist. Denn das Denken selbst ist hier, wie sich bei näherer Prüfung ergibt, der reine und vollgültige Ausdruck des ,,Tuns" geworden. „Praktisch" heißt unser Folgern und Schließen, unser Unter- suchen und Prüfen nicht, weil es notwendig auf die Erreichung eines äußeren Zweckes gerichtet wäre, sondern lediglich
422
in dem Sinne, daß es die Einheit alles Gedachten ist, die als letztes Ziel beständig vor uns steht und unserem Erkennen die Richtung weist. Die Wahrheit irgendeines Einzelsatzes läßt sich nur danach bemessen, was er für die Lösung dieser Grundaufgabe des Wissens, für die fort- schreitende Vereinheitlichung des Mannigfaltigen leistet. Wir können ein Urteil niemals direkt den einzelnen äußeren Gegenständen gegenüberstellen und es mit diesen, als für sich gegebenen Dingen, vergleichen; sondern wir können stets nur nach der Funktion fragen, die es im Aufbau und in der Deutung der Gesamtheit der Erfahrungen erfüllt. ,,Wahr" heißt uns ein Satz, nicht weil er mit einer festen Realität jenseit alles Denkens und aller Denkbarkeit übereinstimmt, sondern weil er sich im Prozeß des Denkens selbst bewährt und zu neuen fruchtbaren Folgerungen hinleitet. Seine eigentliche Rechtfertigung ist die Wirksamkeit, die er in der Richtung auf die fortschreitende Vereinheitlichung entfaltet. Jede Hypo- these des Wissens besitzt ihr Recht lediglich im Hinblick auf diese fundamentale Aufgabe: sie gilt in dem Maße, als es ihr gelingt, die anfänglich auseinanderliegenden sinnlichen Daten gedanklich zu organisieren und in sich einstimmig zu gestalten*.
Die kritische Auffassung der Erkenntnis und ihres Verhältnisses zum Gegenstand wird indessen durch alle diese Ausführungen nicht getroffen: denn in ihnen ist nur ein Gedanke fortgesponnen, den sie selbst von ihren ersten An- fängen an anerkennt und zugrunde legt. Auch für sie emp- fangen die Regriffe, wie sie stets aufs neue betont, nicht da- durch ihre Wahrheit, daß sie Abbilder an sich vorhandener Wirklichkeiten sind, sondern dadurch, daß sie ideelle Ordnungen ausdrücken, die den Zusammenhang der Erfahrungen her- stellen und verbürgen. Die „Realitäten", die die Physik setzt und behauptet, reichen über diesen Sinn der Ord- nungsbegriffe nicht hinaus. Sie werden begründet, nicht indem ein besonderes sinnliches Sein aufgewiesen wird.
* Vgl. hrz. die von D e w e y herausgegebenen ,,Studies in Logical Theory" (The Decennial Publications of the University of Chicago, First series. Vol. III, Chicago 1903).
423
das ihnen „entspricht", sondern indem sie als Mittel der strengen Verknüpfung, und somit der durchgängigen rela- tiven Bestimmtheit des „Gegebenen" selbst erkannt werden. (S. ob. S. 217 ff.) Die Anerkennung dieses Sachverhalts aber schließt nichts von den Folgerungen ein, die der Prag- matismus an ihn zu knüpfen pflegt. So sehr man die ,, instru- mentale" Bedeutung der wissenschaftlichen Hypothesen zu- gestehen und betonen mag: so handelt es sich doch hier er- sichtlich um ein rein theoretisches Ziel, das mit rein theoretischen Mitteln verfolgt wird. Der Wille, der hier seine Befriedigung finden soll, ist nichts anderes, als der Wille zum Logischen selbst: nicht irgendwelche individuellen Be- dürfnisse, die von einem Subjekt zum andern wechseln, sondern die allgemeingültigen gedanklichen Postulate der E i n- h e i t und Stetigkeit sind es, die dem Fortgang der Erkenntnis die Richtung weisen. In der Tat tritt diese Fol- gerung — durch alle Zweideutigkeiten im Begriff des ,, Prak- tischen" hindurch — bisweilen in aller Klarheit zutage. James selbst betont, daß unser Erkennen einem doppelten Zwange unterliegt: wie wir in unserem Tatsachenwissen an die Beschaffenheit unserer sinnlichen Eindrücke gebunden sind, so gibt es einen „ideellen Zwang", der unser Denken im Gebiet der reinen Logik und Mathematik bestimmt. So ist etwa die hundertste Dezimalstelle der Zahl n ideell voraus bestimmt, mag auch niemand sie tatsächlich ausgerechnet haben. ,, Unsere Ideen müssen, wenn sie nicht endlosem Selbstwiderspruch und endloser Täuschung anheimfallen sollen, mit den Reali- täten übereinstimmen: mögen diese Realitäten nun konkret oder abstrakt, mögen sie Tatsachen oder Prinzipien sein*." Es ist klar, daß die Annahme eines derartigen , »ideellen Zwanges" (coercions of the ideal order) sich in nichts mehr von der Annahme eines objektiven, logischen Wahrheits- kriteriums unterscheidet: beides sind nur verschiedene Aus- drücke derselben Sache. Was also hier geleistet ist, ist keine Widerlegung der , .reinen Logik", sondern allenfalls eineWeiter- führung der Gedanken, auf denen sie beruht. Nicht eine
♦ James, Pragmatism, New York 1907, S. 209 ff. 424
neue Lösung, sondern ein neues Problem wird aufgestellt, das in den ersten allgemeinen Ansätzen zur Begründung des Wissens zunächst zurücktreten durfte. Die universellen Wahrheiten der Logik und Mathematik entziehen sich nicht nur der empiristischen Begründung, sondern sie scheinen auch jede Beziehung zur Welt der empirischen Gegen- stände entbehren zu können. Ihre Apriorität stützt sich auf ihre ,, Daseinsfreiheit" und gilt nur in dem Maße, als diese Bedingung erfüllt ist. In dem Augenblick, in dem der Ge- danke sich der empirischen Existenz der Gegenstände zu- wendet, scheint er sich daher von dem eigentlichen Fundament seiner Gewißheit loszulösen. Wahrhafte Einsicht in die Notwendigkeit eines Zusammenhangs läßt sich nur dort erreichen, wo wir darauf verzichten, irgend etwas über die Wirklichkeit der Elemente, die in die Relation ein- gehen, zu behaupten und auszumachen*. Dennoch kann es bei dieser unbedingten Trennung — so unentbehrlich sie anfangs aus methodischen Gesichtspunkten erscheinen mag — nicht bleiben: da schon die bloße Möglichkeit der mathe- matischen Naturwissenschaft ihr widerstreitet. Denn in dieser sind die beiden Wissenstypen, die hier einander entgegengestellt werden, wiederum unmittelbar auf einander bezogen: das empirische Sein selbst ist es, das wir in der Form rationaler mathematischer Ordnungen zu fassen und zu be- greifen suchen. Daß diese Forderung niemals bis zu einer letzten definitiven Erfüllung geführt werden kann, ergibt sich freilich aus der Natur der Aufgabe selbst. Denn das Material, das hier der intellektuellen Bearbeitung unter- breitet wird, liegt selbst niemals fertig als ein in sich vollendeter Schatz von „Tatsachen" vor, sondern es gestaltet sich erst im Prozeß des Fortschritts und gewinnt in ihm immer neue Formen. Es ist kein konstantes, sondern ein variables Datum, das eben in seiner Variabilität: in der möglichen Umformung, die es durch neue Beobachtungen und Versuche erfahren kann, begriffen und gewürdigt sein will. Aber diese Variabilität, die zum Wesen des Empirischen selbst
* S. hrz. ob. S. 319 f ; vgl. M e i n o n g , Über die Stellung der Gegen- standstheorie im System der Wissenschaften, Lpz. 1907, § 5 ff.
425
gehört, schließt dennoch kein Moment „subjektiver" Willkür ein. Die Veränderung selbst ist als solche bestimmt und notwendig, sofern nicht beliebig, sondern gemäß einem be- stimmten Gesetz von einem Stadium zum andern über- gegangen wird. Man pflegt sich, um die Relativität des Be- griffs der empirischen Wahrheit zu erweisen, mit Vorliebe auf die bloß relative Gültigkeit unseres astronomischen Welt- bildes zu berufen. Da die absoluten Bewegungen der Himmels- körper— so folgert man — uns in keiner Erfahrung gegeben sind, noch jemals gegeben sein werden, da wiralso die astronomischen Konstruktionen niemals mit diesen Bewegungen selbst zu- sammenhalten und an ihnen erproben können: so hat es keinen Sinn, irgendeinem System, wie etwa dem Kopernikanischen, vor allen anderen den Vorzug der „Wahrheit" einzuräumen. Alle Systeme sind gleich wahr und gleich wirklich, weil alle der absoluten Wirklichkeit der Dinge gleich fern stehen und nichts anderes, als subjektive Zusammenfassungen von Er- scheinungen bedeuten wollen, die je nach der Wahl des in- tellektuellen und räumlichen Standortes verschieden ausfallen können und müssen. Der Mangel dieser Schlußweise aber liegt deutlich zutage: denn die Aufhebung des absoluten Maß- stabes schließt in keiner Weise die Aufhebung des W e r t - Unterschiedes der verschiedenen Theorien selbst ein. Dieser bleibt vielmehr in aller Strenge bestehen, sofern nur an der allgemeinen Voraussetzung festgehalten wird, daß die wechselnden Phasen des Erfahrungsbegriffes nicht schlecht- hin auseinander liegen, sondern durch logische Beziehungen mit einander verknüpft bleiben. Der Zusammenhang und die Konvergenz der Reihe tritt an die Stelle des äußeren Maßstabes der Realität: beides aber läßt sich, analog wie im Arithmetischen, rein durch den Vergleich der Reihenglieder selbst und durch die allgemeine Regel, der sie in ihrem Fort- schritt folgen, ermitteln und feststellen. Diese Regel ist auf der einen Seite dadurch gegeben, daß die Form der Er- fahrung beharrt: die besonderen Konfigurationen im Räume, die wir für unsere Konstruktion des Weltbildes zugrunde legen, wechseln, während Raum und Zeit, Zahl und Größe als Mittel jeglicher Konstruktion erhalten bleiben. (Vgl.
426
ob. S. 353 ff.) Weiterhin aber sind es auch gewisse materiale Züge des Bildes, die beim Übergang von einem Stadium zum folgenden unberührt bleiben: die Variation hebt den früheren Bestand nicht schlechthin auf, sondern läßt ihn in einer neuen Deutung fortbestehen. Das Ganze der Beobachtungen Tycho de Brahes geht in das System Keplers ein, in welchem es jedoch nunmehr in neuer Weise verknüpft und begriffen erscheint. Das Recht jeder derartigen Verknüpfung aber messen wir nicht an den Dingen selbst, sondern an bestimmten obersten Prinzipien der Naturerkenntnis, die wir als logische Normen festhalten. „Objektiv" heißt uns die räumliche Ordnung, die diesen Prinzipien entspricht, die also z. B. gemäß der Voraussetzung und den Erfordernissen des Trägheitsgesetzes von uns aufgebaut worden ist. (S. ob. S. 242 ff.) Die Zurück- führung auf derartige oberste Leitsätze verbürgt eine innere Gleichartigkeit des Erfahrungswissens, kraft deren sich all seine verschiedenen Phasen zum Ausdruck des Einen Gegenstands zusammenschließen. Der „Gegenstand" ist daher genau so wahr und so notwendig, wie die logische Ein- heit der Erfahrungserkenntnis; — aber freilich auch um nichts wahrer und notwendiger. So wenig diese Einheit jemals fertig vorliegt, so sehr sie vielmehr stets ,, projektierte Einheit" ist und bleibt, so ist doch ihr Begriff darum nicht minder eindeutig bestimmt. Die Forderung selbst ist das Bleibende und Feststehende, während jegliche Form ihrer Erfüllung wiederum über sich selbst hinausweist. Die Eine Wirklichkeit kann nur als die ideale Grenze der mannigfach wechselnden Theorien aufgezeigt und definiert werden; aber die Setzung dieser Grenze selbst ist nicht willkürlich, sondern unumgänglich, sofern erst durch sie die Kontinuität der Erfahrung hergestellt wird. Kein einzelnes astronomisches System, das Kopernikanische so wenig wie das Ptolemäische, sondern erst das Ganze dieser Systeme, wie sie sich gemäß einem bestimmten Zusammenhang stetig entfalten, darf uns demnach als Ausdruck der „wahren" kosmischen Ordnung gelten. So wird hier der instru- mentale Charakter der wissenschaftlichen Begriffe und
427
Urteile nicht bestritten: diese Begriffe gelten, nicht sofern sie ein gegebenes starres Sein abbilden, sondern sofern sie einen Entwurf zu möglichen Einheitssetzungen in sich sclüießen, der sich in der Ausübung, in der Anwendung auf das empirische Material fortschreitend bewähren muß. Aber das Instru- ment selbst, das zur Einheit und damit zur Wahrheit des Gedachten hinführt, muß in sich fest und sicher sein. Besäße es nicht in sich selbst eine bestimmte Stabilität, so wäre kein sicherer und dauernder Gebrauch von ihm möglich; es würde beim ersten Versuch zerbröckeln und sich in Nichts auflösen. Wir bedürfen nicht der Objektivität absoluter Dinge, wohl aber der objektiven Bestimmtheit des Weges der Erfahrung selbst. —
Der reale Inhalt des Gedachten, zu dem die Er- kenntnis durchdringt, entspricht daher in der Tat genau der aktiven Form des Denkens überhaupt. Im Bereich der rationalen, wie im Bereich der empirischen Erkenntnis ist es die gleiche Aufgabe, die hier gestellt ist. Im Prozeß der Erkenntnis selbst entsteht und festigt sich der Gedanke eines Grundbestandes ideeller Beziehungen, der als solcher sich selbst gleich und von den zufälligen, zeitlich wechselnden Umständen des psychologischen Erfassens unberührt bleibt. Die Behauptung einer derartigen Constanz ist jedem Denkakt als solchem wesentlich; nur die Art, in welcher der Beweis dieser Behauptung erbracht wird, begründet den Unterschied der verschiedenen Erkenntnisstufen. Solange wir im Gebiet der rein logischen und mathematischen Sätze verharren, be- sitzen wir ein festgefügtes Ganze von Wahrheiten, die un- veränderlich in sich selber ruhen. Jeder Satz ist hier, was er einmal ist, für immer; er kann durch andere, die zu ihm hinzutreten, ergänzt, aber nicht mehr in seinem eigenen Gehalt umgeformt werden. Die rein empirische Wahrheit aber scheint sich dieser Bestimmtheit prinzipiell zu ent- ziehen: sie ist morgen eine andere, als sie gestern war und bedeutet somit nur einen flüchtigen Halt, den wir im Wechsel der Vorstellungen ergreifen, um ihn alsbald wiederum aufzugeben. Und dennoch schließen sich beide Motive trotz aller Gegensätzlichkeit zuletzt zu einem einheit-
428
liehen Typus des Wissens zusammen. Nur in der Abstraktion können wir die schlechthin dauernden Momente von den ver- gänglichen ablösen und ihnen gegenüberstellen: denn die eigentliche konkrete Aufgabe der Erkenntnis besteht darin, das Dauernde für das Vergängliche selbst fruchtbar zu machen. Der Bestand der ewigen Wahrheiten wird zum Mitte], im Gebiet der Veränderung selbst Fuß zu fassen. Das Veränderliche wird betrachtet, als ob es dauernd wäre, indem wir versuchen, es als Ergebnis allgemeiner theoretischer Gesetze zu verstehen. So wenig der Unterschied der beiden Faktoren sich daher jemals völlig zum Verschwinden bringen läßt: so besteht doch in dem beständigen Ausgleich, der sich von einem zum andern hin vollzieht, die gesamte Bewegung der Erkenntnis. Die Veränderlichkeit des empirischen Ma- terials erweist sich keineswegs nur als ein Hemmnis, sondern zugleich als eine positive Förderung des Wissens. Die Gegen- sätze zwischen der mathematischen Theorie und dem In- begriff der jeweilig bekannten Beobachtungen wären unaus- gleichbar, wenn es sich beiderseits um starre unabänderliche Gegebenheiten handelte. Erst indem wir uns der Bedingtheit unserer empirischen Kenntnisse und damit gleichsam der Bildsamkeit des empirischen Materials, mit dem die Erkenntnis arbeitet, bewußt werden, eröffnet sich die Möglichkeit einer Aufhebung des Widerstreits. Der Einldang des Gegebenen und des Geforderten wird hergestellt, indem wir das Gegebene im Sinne der theoretischen Forderungen aufs neue durch- forschen und damit seinen Begriff erweitern und vertiefen. Die Beständigkeit der idealen Formen hat nunmehr selbst keinen rein statischen, sondern zugleich und vorzüglich einen dynamischen Sinn: sie ist nicht sowohl Beständigkeit im Sein, als vielmehr Beständigkeit im logischen Gebrauch. Die idealen Zusammenhänge, von denen Logik und Mathe- matik sprechen, sind die gleichbleibenden Richtlinien, nach denen die Erfahrung selbst in ihrer wissenschaftlichen Gestal- tung sich orientiert. Diese Funktion, die sie stetig erfüllen, ist ihr dauernder und unverlierbarer Gehalt, der sich gegenübej allem Wandel des zufälligen Erfahrungsstoffes als identisch behauptet und bewährt.
429
Identität und Verschiedenheit, Konstanz und Veränderung erscheinen demnach auch von dieser Seite her als zusammen- gehörige logische Momente. Zwischen ihnen einen ab- soluten sachlichen Gegensatz statuieren, hieße nicht nur den Begriff des Seins, sondern den des Denkens aufheben. Denn das Denken erschöpft sich — wie sich allseitig gezeigt hat — nicht in der Heraushebung des analytisch Gemein- samen aus einer Mehrheit von Elementen, sondern erweist seine eigenste Bedeutung erst in dem notwendigen Fort- gang, den es von einem Element zum andern vollzieht. Verschiedenheit und Veränderung bilden demnach keine prinzipiell „denkfremden" Gesichtspunkte*, sondern sie ge- hören ihrer Grundbedeutung nach der eigentümlichen Leistung des Intellekts selbst an, und stellen diese erst ihrem vollen Umfang nach dar. Wird diese korrelative Doppelform des Begriffs selbst verkannt, so muß sich alsbald wieder zwischen der Erkenntnis und der phaenomenalen Wirk- lichkeit eine unübersteigliche Kluft erheben. Wir stehen alsdann wieder vor der Grundansicht der Eleatischen Meta- physik, die in der Tat in modernen erkenntniskritischen Untersuchungen eine interessante und bezeichnende Erneue- rung erfahren hat. Um die Wirklichkeit kraft unserer mathe- matisch-physikalischen Begriffe zu verstehen, müssen wir sie — wie man nunmehr folgert — zuvor in ihrem eigent- lichen Wesen, in ihrer Mannigfaltigkeit und Wandclbarkeit, vernichten. Der Gedanke duldet keine innere Ungleich- artigkeit und Veränderlichkeit der Elemente, aus denen er sich seine Form des Seins aufbaut. Die mannigfachen physi- kalischen Qualitäten der Dinge lösen sich ihm daher in den Einen Begriff des Aethers auf, der selbst nichts anderes, als die Hypostasierung des leeren eigenschaftslosen Raumes ist; die lebendige Anschauung des Zeitverlaufs der Ereignisse erstarrt für ihn zur Beharrung letzter absoluter Größen- konstanten. Die Natur erklären, heißt somit sie als Natur, als mannigfaltiges und veränderliches Ganze, aufheben: die ewig gleichartige unbewegliche „Sphäre des Parmenides"
* Zum Begriff der „Denkfremdheit" s. Jonas Co h n , Voraussetzungen u. Ziele des Erkennens, Lpz. 1908, bes. 107 ff.
430
bildet das letzte Ziel, dem alle Naturwissenschaft sich unver- merkt annähert. Nur dem Umstand, daß die Realität den Bemühungen des Denkens widersteht und ihnen zuletzt be- stimmte unübersteigliche Schranken setzt, ist es zu danken, daß sie sich gegenüber der logischen Nivellierung ihres Gehalts behauptet: daß in der Vollkommenheit des Wissens nicht das Sein selbst zum Verschwinden kommt*. So paradox diese Konsequenz erscheinen mag: so genau und folgerecht ist sie aus der einmal angenommenen Erklärung des Intellekts und seiner eigentümlichen Grundfunktion abgeleitet. Aber diese Erklärung selbst verlangt eine Einschränkung. Die Identität, der der Gedanke fortschreitend zustrebt, ist nicht die Identität letzter substantialer Dinge, sondern die Identität funktionaler Ordnungen und Zuordnungen. Diese aber schließen das Moment der Verschiedenheit und Veränderung nicht aus, sondern gelangen erst in und mit ihm zur Bestimmung. Nicht die Mannigfaltigkeit als solche wird aufgehoben, sondern es ist nur ein Mannigfaltiges anderer Dimension: es ist das mathematisch-Mannigfaltige, das in der wissenschaftlichen Erklärung an die Stelle des sinnlich-Mannigfaltigen tritt. Was der Gedanke fordert, ist somit nicht die Auslöschung der Vielheit und Veränderlichkeit überhaupt, sondern ihre Be- herrschung kraft der mathematischen Kontinuität von Reihengesetzen und Reihenformen. Zur Herstellung dieser Kontinuität aber bedarf das Denken des Gesichtspunkts der Verschiedenheit nicht minder, als es des Gesichtspunkts der Identität bedarf: auch er ist ihm somit nicht schlechthin von außen aufgedrängt, sondern im Charakter und in der Aufgabe der wissenschaftlichen „Vernunft" selbst gegründet. Indem die Analyse die gegebenen, sinnlichen Einzelqualitäten in eine Fülle elementarer Bewegungen auflöst, indem ihr die Wirklichkeit des ,, Eindrucks" zur Wirklichkeit der „Schwingung" wird, zeigt es sich, daß der Weg der Forschung nicht lediglich darin besteht, von der Vielheit zur Einheit, von der Bewegung zur Ruhe überzugehen, sondern daß auch die umgekehrte Richtung: die Aufhebung der scheinbaren
* S. hrz. E.Meyerson, Identitö et Röalitö, bes. S. 229 ff.
431
Konstanz und Einfachheit der Wahrnehmungsdinge nicht minder berechtigt und notwendig ist. Erst durch diese Auf- hebung hindurch läßt sich zu dem neuen Sinn der Identität und der Dauer gelangen, der den wissenschaftlichen Gesetzen zugrunde liegt. Der volle Begriff des Denkens stellt somit die Einstimmigkeit des Seins wiederum her: die Uner- schöpflichket der wissenschaftlichen Aufgabe ist kein Kenn- zeichen ihrer prinzipiellen Unlösbarkeit, sondern enthält die Bedingung und den Ansporn zu ihrer immer vollkommeneren Lösung in sich.
I
432
Achtes Kapitel.
Zur Psychologie der Relationen.
I.
Das Problem der Erkenntnis hat uns statt zu einem meta- physischen Dualismus der subjektiven und der objektiven Welt, zu einem Inbegriff von Beziehungen zurückgeführt, der die Voraussetzung für die gedankliche Entgegensetzung des ,, Subjekts" und ,, Objekts" selbst enthält. Vor diesem Inbegriff erweist sich die herkömmliche Trennung als un- durchführbar: er ist objektiv, sofern auf ihm alle Constanz der Erfahrungserkenntnis und somit alle Möglichkeit des gegenständlichen Urteils beruht, während er anderer- seits nur im Urteil selbst und somit in der Tätigkeit des Denkens zu erfassen ist. Schon von hier aus zeigte es sich, daß seine Bestimmung einer doppelten Methode unterliegt und auf zwiefachem Wege versucht werden kann. Was diese Beziehungen ihrem reinen logischen Sinne nach sind, kann lediglich aus der Bedeutung abgenommen werden, die sie im Gesamtsystem der Wissenschaft gewinnen. Jeder Einzelsatz wird innerhalb dieses Systems an einen anderen gebunden und mit ihm verknüpft und die Stellung, die er damit im Ganzen der möglichen Erkenntnis überhaupt erhält, weist ihm das Maß seiner Gewißheit zu. Die Frage, wie dieses Ganze selbst in den erkennenden Individuen sich verwirklicht, kann und muß zurücktreten, solange es sich darum handelt, den reinen Begründungszusammenhang selbst zu verstehen und in seiner Wahrheit abzuleiten. Die Entwicklung der Wissenschaft selbst drängt dazu, diese Frage in den Hinter- grund treten zu lassen: die Wissenschaft schreitet von einem objektiv gültigen Satze zu einem anderen fort, für den sie die gleiche Form der Geltung in Anspruch nimmt, ohne von diesem Wege durch psychologische Betrachtungen und psycbo-
Cassirer, Substanzbegriff ng 433
logische Zweifel abgelenkt zu werden. Und dennoch schafft gerade dieser unabhängige Fortgang zuletzt auch für die Psychologie selbst ein neues Problem. Es zeigt sich, daß die psychologische Analyse sofern sie vom bloßen sinnlichen Erlebnis ausgeht und bei seinem Typus zu verharren strebt, den Aufgaben, die von selten der Wissenschaft beständig aufs neue gestellt werden, in keiner Weise gerecht zu werden vermag. Der Gegenstand, der hier deutlich und gesichert vorliegt, fordert zugleich neue psychologische Mittel, kraft deren er sich beschreiben läßt. Und so führt die allgemeine Forderung einer Psychologie der Relationen zu einer Umbildung der psychologischen Methode überhaupt. Diese Umformung in den Prinzipien der Psychologie bildet selbst ein wichtiges erkenntnistheoretischesProblem : es zeigt sich auch hier, daß es die Art der Begriffsbildung ist, die, wie in den übrigen Gebieten, eine charakteristische Ver- schiebung erfährt.
Die neuere Psychologie schien eine Zeitlang das Eigen- tümliche der reinen Relationsbegriffe völlig aus dem Auge verloren zu haben: erst seit relativ kurzer Zeit und auf merkwürdigen Umwegen beginnt sie sich ihm wiederum zu nähern. Vom geschichtlichen Standpunkt aus liegt hierin eine seltsame Anomalie: denn was der moderne Psychologe leicht als das Ende seiner Wissenschaft betrachtet, das bildet in Wahrheit ihren historischen Anfang. Der Gedanke der wissenschaftlichen Psychologie geht geschichtlich auf P 1 a t o n zurück. Hier erst tritt der Seelenbegriff aus dem allgemeinen Umkreis des Naturbegriffs heraus und gewinnt eigene und selbständige Züge. Die Seele ist nun nicht mehr der bloße Lebenshauch, der in sich selbst das Prinzip seiner Erhaltung und Selbstbewegung enthält, sondern sie geht, von dieser allgemeinen Bedeutung aus, in die Bedeutung des Selbstbewußtseins über. Dieser Übergang aber wird nur dadurch möglich, daß Piaton sich bereits in der reinen Logik, wie in der reinen Geometrie und Arithmetik seiner notwendigen Mittelglieder versichert hat. Von der bloßen Wahrnehmung als solcher führt kein Weg zu dem neuen Be- griff des „Selbst", der hier festgestellt werden soll. Denn die'
434
Wahrnehmung erscheint wie ein bloßer Teil des Naturprozesses; sie ist — wie Empedokles und die gesamte ältere Natur- philosophiesieschildern— nichts anderes, als der Ausgleich, der sich zwischen unserem Körper einerseits und den materiellen Dingen seiner Umgebung vollzieht. Die Seele muß, um die körperlichen Dinge in der Wahrnehmung zu erkennen, mit ihnen von gleicher Art und Beschaffenheit sein. In der Aus- bildung, die Piaton im Theaetet dem Satze des Protagoras gegeben hat, klingt diese Anschauung noch deutlich nach: „Subjekt" und ,, Objekt" verhalten sich zu einander, wie zwei aufeinander bezogene und abgestimmte Bewegungs- formen, die wir jedoch niemals rein und selbständig zu isolieren, sondern nur in ihrer wechselseitigen Bestimmung durch einander zu erfassen vermögen. Wir ergreifen stets nur das Resultat, ohne es in seine realen Komponenten zer- legen zu können. Aber diese Ansicht, der Piaton auf eine kurze Strecke hin — so lange es sich um die Zergliederung der Sinnesempfindung handelt — folgt, wird von ihm alsbald verlassen, sobald er sich der Analyse der reinen Begriffe zu- wendet. Das Bild und Analogon der physischen Wirkung und Gegenwirkung muß jetzt versagen. Einheit und Verschiedenheit, Gleichheit und Ungleichheit sind keine körperlichen Gegenstände, die mit körperlichen Kräften auf uns eindringen. So ist auch die Art, in der ihnen das Ich gegenübertritt, eine von Grund aus neue und eigentümliche. Das Helle und Dunkle mag das Auge, das Leichte und Schwere, das Warme und Kalte der Tastsinn unter- scheiden: aber in der Gesamtheit derartiger sinnlicher Inhaltsunterschiede erschöpft sich niemals das Ganze der Erkenntnis. Eine Erkenntnis ist es, wenn wir von Farbe oder Ton sagen, daß jegliches von ihnen ist, daß das eine vom andern verschieden ist, daß sie beide vereint zwei sind. Wenn indessen Sein und Nicht-Sein, Ähn- lichkeit und Unähnlichkeit, Einheit und Vielheit, Identität und Gegensatz objektiv unentbehrliche Bestandteile jeglicher Aussage sind, so lassen sie sich nichtsdestoweniger durch keinen Wahrnehmungs- inhalt als solchen belegen: denn eben dies ist ihre Funktion,
28» 435
daß sie über die Besonderheit all dieser Inhalte hinausgreifen, um eine Verknüpfung zwischen ihnen herzustellen, an der beide im gleichen Sinne Teil haben, die aber in keinem der beiden Einzelelemente als solchem direkt aufzeigbar ist. Die Beziehung zwischen den heterogenen Gebieten sinnlicher Wahrnehmung wäre nicht erreichbar, wenn es nicht Gebilde gäbe, die sich außerhalb ihrer Sonderbestimmtheit und somit ihrer qualitativen Gegensätzlichkeit halten. Diese allgemein- gültigen Momente sind an kein spezielles Organ mehr gebunden und bedürfen seiner nicht: vielmehr ist es die Seele selbst, die sie rein aus sich heraus und in freier Gestaltung gewinnt. Und hier erst gewinnt der Begriff der Einheit des Bewußtseins einen festen Halt und eine sichere Grundlage. Bleiben wir bei dem Inhalt der be- sonderen Empfindung stehen, so bietet sich uns nichts als ein Chaos einzelner Erlebnisse. Wie die Helden im hölzernen Pferde, so liegen hier die Wahrnehmungen dichtgedrängt in uns zusammen: aber nichts findet sich, was sie auf einander beziehbar macht und sie zu einem identischen Selbst zusammenschließt. Der wahrhafte Begriff des Selbst ist an den Begriff des Einen und Vielen, des Gleichen und Un- gleichen, des Seins und Nicht-Seins gebunden und findet erst hier seine wahrhafte Erfüllung. Indem wir die Wahr- nehmung unter diese Begriffe fassen, führen wir sie damit in eine Idee zusammen: gleichviel ob wir diese Einheit als „Seele" oder wie immer bezeichnen mögen. Die „Seele" wird somit hier gleichsam als der einheitliche Ausdruck für den Gehalt und die systematische Verfassung der reinen Relationsbegriffe erdacht und gefordert. Das Grundproblem der Psychologie findet seine Bestimmung im Hinblick auf die Grundprobleme der reinen Logik und Mathematik: und dieser Zusammenhang ist es, der den Platonischen Seelenbegriff end- gültig von der orphischen und naturphilosophischen Spekulation loslöst, so nahe er mit dieser zunächst verbunden erscheint. Die Platonische Auffassung hat in Aristoteles' Lehre vom KoLvöv zweifellos nachgewirkt; aber ihr Schwerpunkt ist
* Vgl. bes. Theaetet 184 C. ff. 436
hier bereits verschoben. In der Einteilung der sinnlichen Wahrnehmungen wird davon ausgegangen, daß jedem Sinn ein besonderer Inhalt angehört, der ihm allein eigentümlich ist und ihn von allen anderen unterscheidet. So kommt dem Gesicht die Farbe, dem Gehör der Ton als ein derartiges i'diov zu, während der Tastsinn zwar eine Mehrheit von Qualitäten in sich faßt, sich aber zu jeder einzelnen von ihnen in gleicher Weise, wie irgend ein Sinn zu seinem bestimmten spezifischen Inhalt verhält. Aber diese Art der Beziehung reicht nicht aus, sobald es sich darum handelt, Begriffen wie Bewegung und Ruhe, wie Größe und Zahl ihr psychologisches Korrelat zu bestimmen. Diese Begriffe stellen ein wahrhaft ,, Gemeinsames" dar, das über alle Einzelunterscheidungen hinweggreift. Der Allgemeinheit des Gegenstandes aber muß — wie Aristoteles nunmehr weiter folgert — eine Allgemeinheit des aufnehmenden Organs entsprechen. Wenn wir etwa das Weiße mit dem Süßen zusammenstellen oder beides ein- ander entgegensetzen, so ist es notwendig der Sinn selbst, der diesen Akt der Vergleichung vollzieht: denn mit welchem anderen Vermögen vermöchten wir Inhalte, die selbst rein sinnlicher Natur sind, zu erfassen ? Aber der Sinn fungiert hier nicht mehr in irgend einer Sonderbeschaffenheit, als bloßes Gesicht oder bloßer Geschmack, sondern als ,, Gemein- sinn" in einer umfassenden Bedeutung. Diesem Gemeinsinn werden alle einzelnen Daten der Wahrnehmung zugeführt, um in ihm gesammelt und auf einander bezogen zu werden*. Was bei Piaton also als spontane und freie Leistung des „Bewußtseins selbst" gefaßt wurde, das erscheint hier als eine zugleich abstrakte und sinnliche Potenz, in der all das, worin die verschiedenen Arten und Gebiete der Wahr- nehmung übereinstimmen, zusammengefaßt ist. Diese psycho- logische Entscheidung entspricht wiederum der logischen Grundansicht: sie beruht auf jener Auffassung, die im ,, Be- griff" zuletzt nichts anderes als eine Summe dinglicher Merkmale sieht, die sich in einer Mehrheit von Objekten gleichmäßig vorfinden.
* Vgl. bes. Aristoteles, nsQl xpvxijs H, 6, 418a; III, 2, 426b.
437
Die moderne Psychologie versucht zunächst nur in vereinzelten Ansätzen zu einer neuen Fassung des Problems vorzudringen. L e i b n i z greift unmittelbar wieder auf Piaton zurück, wenn er betont, daß die Inhalte, die die tradi- tionelle Lehre dem „Gemeinsinn" zuspricht, daß insbesondere Ausdehnung, Gestalt und Bewegung Ideen des reinen Verstandes seien, die zwar anläßlich sinnlicher Eindrücke sich bilden, aber sich in ihnen niemals erschöpfend begründen lassen. In der neueren deutschen Psychologie ist es sodann besonders T e t e n s , der diese Anregung aufnimmt und sie zu einer ausgebildeten Theorie der reinen „Verhältnisgedanken'* weiterführt. Im Ganzen aber bleibt hier durchaus das Lockesche Schema herr- schend, nach welchem ein Begriff erst dann als wahrhaft verstanden und abgeleitet gelten kann, wenn es gelungen ist, die einfachen Sinnesinhalte darzulegen, aus welchen er sich zusammensetzt. Auch die Ideen der ,, Reflexion", die anfangs eine besondere Stellung einzunehmen scheinen, werden zuletzt nach diesem Maßstab gemessen. Sie besitzen nur insoweit wahrhaft positiven Gehalt, als sie sich unmittelbar in einzelnen, anschaulich gegebenen Vorstellungsbildern zum Ausdruck bringen lassen. Am klarsten tritt dies am Begriff des Unendlichen hervor, der nur darum der Kritik verfällt, weil es sich zeigt, das dasjenige, was er will und bedeutet, im tatsächlichen Vorstellen niemals realisiert ist, sondern immer nur in dem Hinweis auf einen unbegrenzt möglichen gedanklichen Fortschritt besteht. So sehr gerade die allgemeine Regel dieses Fortschritts, vom Standpunkt der Logik und Mathematik, den Bestand und die Wahrheit des Unendlichen ausmacht: so trägt sie doch für die psychologische Betrachtungsweise notwendig den Stempel des bloß Negativen. Denn innerhalb dieser Betrachtungsweise ist selbst noch kein zureichender Ausdruck für die Geltung und Eigenart der Beziehungen entdeckt. Dennoch kehrt der Gedanke dieser Beziehungen, so sehr er zurückgedrängt werden mag, stets von neuem wieder. "Wie ein Schattenbild von unsicherer "Wesenheit und Herkunft mischt er sich stets von neuem unter die klaren und gewissen Eindrücke der "Wahrnehmung
438
und Erinnerung. Wie sehr man mit Berkeley über die Infini- tesimalgrößen der Mathematik als die ,, Geister abgeschiedener Quantitäten" spotten mag: diese Geister wollen sich nicht bannen lassen. Die Analyse stößt hier auf einen letzten Rest, den sie weder zu begreifen, noch zu beseitigen vermag. Die Begriffe, die im tatsächlichen wissenschaftlichen Gebrauch sich als wirksam und fruchtbar erweisen, gehen niemals in jene Elemente auf, die die psychologische Betrachtung als die alleinigen Träger der „Objektivität" kennt und anerkennt; ■ — ihre Bedeutung beruht darauf, daß sie sich von dem Typus der Realität, der hier als Muster dient, entfernen und ihn geflissentlich überschreiten. —
Der tiefere Grund dieses Widerstreites aber liegt darin, daß die psychologische Kritik an diesem Punkte sich von den Voraussetzungen, die sie bekämpft, innerlich noch keines- wegs frei gemacht hat. Der Begriff, gegen den sich Locke am schärfsten und eindringlichsten wendet, ist der Begriff der Substanz. Alle Waffen des Spottes werden gegen die Annahme jenes selbständigen, abgesonderten und eigen- schaftslosen „Etwas" aufgeboten, das man als „Träger" der sinnlichen Qualitäten voraussetzt. Immer von neuem wird gezeigt, wie in dieser Annahme die eigentliche Geltung des Wissens sich verkehrt, indem die „Erklärung" für dasjenige, was uns vom Standpunkte der Erfahrung das Bekannteste und Gewisseste ist, in ein gänzlich Inhaltleeres und Unbe- kanntes verlegt wird. Ein rätselhaftes „Ich weiß nicht was" wird zum begrifflichen Grund aller wahrhaft wißbaren Qualitäten und Eigenschaften erhoben. In dieser Polemik gegen den Substanzbegriff glaubt Locke den eigentlichen Kern aller Metaphysik und aller scholastischen Wirklichkeits- erklärung getroffen zu haben. Und das Werk der Kritik scheint beendet, nachdem H u m e ihr Ergebnis von der äußeren Erfahrung auf die innere übertragen hat. Wie die Substanz des Dinges, so scheint nunmehr die Substanz des Ich beseitigt: es sind bloße associative Zusammen- hänge von Vorstellungen, die an beider Stelle treten. Trotz alledem bleibt in der Ansicht der physischen und psychischen Wirklichkeit, die sich auf dieser Grundlage aufbaut, der all-
439
gemeinen Kategorie der Substantialität ihre ent- scheidende Bedeutung erhalten. Nur die Anwendungen dieser Kategorie sind andere geworden, während sie selbst unvermerkt ihre alte Stellung und ihren alten Vorrang be- hauptet. Die Substantialität der ,, Seele" ist nur scheinbar beseitigt: denn sie lebt in der Substantialität des sinnlichen „Eindrucks" fort. Nach wie vor herrscht die Überzeugung, daß nur dasjenige als wahrhaft ,, wirklich" und als Grund alles Wirklichen zu gelten habe, was für sich allein steht und rein aus sich selbst, als isolierter Bestand faßbar und ver- ständlich ist. Hier liegt das Unveränderliche und Wesentliche aller bewußten Wirklichkeit vor uns, während alle Ver- knüpfungen, die sich nachträglich zwischen den besonderen Inhalten einstellen, eine bloße Zutat des Geistes bilden, und somit nur Ausdruck eines willkürlichen Triebes der Einbildungs- kraft, nicht aber eines objektiven Zusammenhangs der Dinge selbst sind. Dieses Ergebnis bildet gleichsam die negative Probe für die Festigkeit, die die substantielle Auffassung trotz allem noch besitzt. Sobald einmal der Versuch unternommen wird, die reinen Begriffe der Verknüpfung, wie insbesondere die Begriffe von Ursache und Wirkung, nicht mehr als Eindrücke und Abdrücke von Gegenständen zu denken, — so schwindet auch ihr logischer Gehalt. Was nicht selbst „Eindruck" ist, das ist eben damit bloße — Fiktion: und diese Fiktion gewinnt nicht dadurch an innerem Wert, daß sie in der „Natur" des Geistes selbst gegründet erscheint und sich demnach mit einer Art von Allgemeinheit und Regelmäßigkeit unter be- stimmten Bedingungen einstellt. —
Die neuere Psychologie hat lange Zeit versucht, der skeptischen Konsequenz der Humeschen Lehre zu entgehen, ohne die Prämissen, auf denen sie ruht, einer durch- greifenden Änderung zu unterziehen. Ihr erwuchs in den eigenen Begriffen, mit denen sie operierte, eine neue Form der , .Wirklichkeit", die zunächst naiv und vertrauens- voll hingenommen wurde. Alle Eigentümlichkeiten der psychologischen Analyse wurden jetzt unmittelbar als Be- schaffenheiten in das psychische Objekt hineinverlegt. So ergab sich hier jene Selbsttäuschung, die James
440
als die „psychologische Täuschung" schlechthin (the Psy- chologist's fallacy) aufgedeckt und beschrieben hat. Die Mittel, deren wir uns bedienen, um einen bestimmten psychischen Tatbestand darzustellen und ihn in ein- facher Weise mitteilbar zu machen, werden als wirk- liche Momente aufgefaßt, die in diesem Tatbestand selbst enthalten sind. Der Standpunkt der reflexiven Beobachtung und Zergliederung schiebt sich unvermerkt dem Standpunkt des wirklichen Erlebnisses unter*. Die Lehre von den „ein- fachen" Grundelementen, aus denen jeder Zustand des Be- wußtseins sich zusammensetzen soll, ist ein typisches Beispiel dieser Gesamtanschauung. Die letzten Teile, die unser Be- griff noch zu unterscheiden vermag, werden zugleich zu den absoluten Uratomen, aus denen das Sein des Psychi- schen sich aufbaut. Aber dieses so gewonnene Sein bleibt trotz allem in sich selbst zwiespältig. Immer wieder zeigen sich in ihm Merkmale und Eigentümlichkeiten, die aus der bloßen Summierung der Einzelteile nicht erklärt und ab- geleitet werden können. Je weiter die Selbstbeobachtung fortschreitet und je mehr sie sich vorurteilslos ihrem eigenen Wege überläßt, um so mehr drängen die neuen Probleme zutage. Es ist zunächst noch ein eingeschränkter Gesichts- punkt und ein spezielles Interesse, von dem aus sie ihre erste Formulierung erfahren. Die Fragen, die sich psychologisch unter dem Begriff der Gestaltqualität zusammen- fassen, geben die erste Anregung zu einer erneuten Revision der allgemeinen Grundbegriffe. Daß nicht jedes räumliche oder zeitliche Ganze, das die Erfahrung uns darbietet, sich als einfacher aggregativer Komplex seiner einzelnen Teile darstellen läßt, tritt hier an besonders markanten Beispielen hervor. Wenn unser Bewußtsein eine einfache Melodie verfolgt und auffaßt, so scheint zunächst aller Inhalt, der ihm hierbei gegenwärtig ist, in der Wahrnehmung der einzelnen Töne zu bestehen und aufgehen zu müssen. Die nähere Betrachtung zeigt indessen, daß eine derartige Beschreibung den wahrhaften Sachverhalt nicht trifft. Wir können durch
* Vgl. James, Principles of Psychology I, 196 ff., 278 ff., u. a.
441
Übergang in eine andere Tonart sämtliche Einzeltöne, aus denen die Melodie anfänglich für uns bestand, verschwinden lassen und durch andere ersetzen, ohne daß wir darum auf- hören, sie selbst als Einheit festzuhalten und wieder- zuerkennen. Die spezifische Eigenart und die charakteristische Beschaffenheit, die sie für uns besitzt, kann somit nicht von der Besonderheit der Elemente abhängen, da sie sich jedem Wechsel dieser Besonderheit gegenüber als solche erhält und behauptet. Zwei durchaus verschiedene Komplexe von Ton- empfindungen können für uns dieselbe Melodie ergeben, wie andererseits zwei Komplexe, die aus inhaltlich gleichen Elementen bestehen, zu völlig verschiedenen Melodien führen, sofern diese Elemente in ihrer relativen Folge von einander unterschieden sind. Der gleiche Gedanke läßt sich sodann von der Einheit der „Tongestalten" auf die Einheit der „Raumgestalten*' übertragen. Auch im Räume bezeichnen wir bestimmte Figuren als einander „ähnlich", fassen sie also ihrem bloß geometrischen Begriff nach als identisch auf, wenngleich sie sich auf qualitativ völlig verschiedenen räumlichen Einzelempfindungen aufbauen. Dieses Bewußt- sein der Identität von Ganzen, die doch in all ihren einzelnen Bestandstücken von einander abweichen, fordert, wenn nicht eine besondere Erklärung, so doch eine be- sondere psychologische Kennzeichnung. Der Begriff der Gestaltqualität enthält diese Bezeichnung, die freilich zunächst nur das Problem abgrenzt, ohne noch eine bestimmte Lösung dafür zu geben. Was die mannigfachen Vorstellungs- inhalte zu einer psychischen Grundgestalt verknüpft, das ist nicht in einem dieser Inhalte selbst, noch in ihrem bloßen aggregativen Beieinander aufzufinden: sondern es liegt hier eine neue Leistung vor, die sich zugleich in einem selbständigen Gebilde von bestimmt aufweisbarer Beschaffenheit ver- körpert. Der Bestand derartiger Gebilde und der eigentümliche inhaltliche Zuwachs, der damit gegeben ist, ist als empirisches Datum anzuerkennen, gleichviel von welchen theoretischen Voraussetzungen aus man ihn beurteilen und deuten mag*.
* Vgl. hrz. bes. Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, Viertel- jahrschr. f. wiss. Philos., XIV, (1890), S. 249 ff., sowie Meinong, Zur
442
Eine solche theoretische Deutung liegt bereits vor, wenn man die Einheit, die den komplexen psychischen Ge- bilden zukommt, zwar nicht aus dem bloßen Beisammen ihrer Teile, wohl aber aus der wechselseitigen Wirkung, die sie gegen einander ausüben, zu erklären unternimmt. Daß die Melodie — so wendet man ein — gegenüber den einzelnen Tönen, die in sie eingehen, als ein selbständiger Inhalt erscheint, ist nicht zu bestreiten; aber zur Erklärung dieser Tatsache ist es keineswegs erforderlich, neben den gewöhnlichen Empfindungs- und Vorstellungselementen noch ganz neuartige einzuführen, die zu ihnen hinzukommen. Ein Ganzes bilden heißt im psychologischen Sinne nichts anderes, denn als Ganzes wirken. Nicht nur die Teile als solche, sondern auch ihr gesamter Komplex löst stets bestimmte besondere Wirkungen auf unser Gefühl und unsere Vor- stellung aus: und diese Wirkungen, die von dem Komplex ausgehen und somit zugleich von der Ordnung der Elemente innerhalb desselben abhängig sind, sind es, kraft deren wir über die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, die Gleich- heit oder Ungleichheit ganzer Inbegriffe urteilen. Diese Erklärung scheint in ihrer allgemeinen Anwendung zugleich jede Annahme besonderer Relationsvorstellungen und Rela- tionsbegriffe entbehrlich zu machen. Die einfache Wahr- nehmung ist es wiederum, die nicht nur über sinnliche Beschaffenheiten, wie über Farbe und Ton, Geruch und Geschmack entscheidet, sondern die uns zugleich über Einheit und Vielheit, über Beharrung und Veränderung, über die
Psychologie der Komplexionen u. Relationen, Zeitschr. für Psychologie u. Physiologie der Sinnesorgane II, (1891), S. 245 ff. — Die psychologische Erörterung des Problems der ,, Gestaltqualitäten" hätte zweifellos an all- gemeiner Bedeutvmg gewonnen, wenn sie näher auf die entsprechenden logischen Probleme, die sich hier unmittelbar aufdrängen, eingegangen wäre. Wie schon die angeführten psychologischen Beispiele zeigen, handelt es sich um jenen allgemeinen Prozeß der Loslösung und selbständigen Setzung des Relationsgehalts, der insbesondere für weite Gebiete der Mathematik charakteristisch \ind von grundlegender Bedeutung ist. (Näheres hierüber Kap. III, bes. S. 122 ff.). Die Möglichkeit, eine Beziehung ihrem Sinne nach als invariant festzuhalten, während die Beziehungsglieder die mannigfachsten Umformungen erfahren, wird in den rein psychologischen Erwägungen nxxr von einer neuen Seite her be- leuchtet und sichergestellt.
443
zeitliche Folge und zeitliche Dauer der Inhalte belehrt. Denn alle diese Bestimmungen unterscheiden sich von den ein- fachen Sinneseindrücken nur dadurch, daß sie die „Wir- kungen" nicht von einzelnen Reizen, sondern von Reiz- komplexen sind. Wie eine bestimmte Ätherschwingung in uns den Eindruck einer bestimmten Farbe hervorbringt, so bringt eine bestimmte Zusammenstellung und Ver- knüpfung von Reizen, die unser Bewußtsein treffen, in diesem den Eindruck der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, des Wechsels oder der Dauer hervor. So können wir z. B., wenn verschiedene Tonempfindungen in bestimmten zeitlichen Abständen nacheinander in uns erregt werden, die Länge der dazwischenliegenden Pausen gegeneinander abmessen und daraufhin bald von einer rascheren, bald von einer lang- sameren Aufeinanderfolge sprechen. Es bedarf hierzu keines besonderen geistigen Aktes der ,,Vergleichung" zeitlicher Intervalle, sondern es genügt die einfache Annahme, daß von dem Komplex der rascher aufeinanderfolgenden Einzeltönc eine besondere Wirkung ausgeht, die von der Wirkung, die bei einem weiteren Abstand der Töne eintritt, verschieden ist*. Verfolgt man indessen diesen Erklärungsversuch zu Ende, so entdeckt man alsbald den erkenntniskritischen Zirkel, den er in sich schließt. Die Gesamtheit der reinen Relations- gedanken wird hier auf eine tatsächliche Wirkung zurück- geführt, die von bestimmten Mannigfaltigkeiten ausgeht, während doch die bloße Anwendung des Gesichts- punktes von Ursache und Wirkung bereits einen speziellen Relationsgedanken in sich schließt. Nicht derart ist das Ver- hältnis, daß wir von der Kenntnis bestimmter ursächlicher Zusammenhänge aus zum Verständnis der Beziehungsbegriffe überhaupt geleitet werden könnten; vielmehr muß umgekehrt dasjenige, was diese Begriffe bedeuten und meinen, bereits vorausgesetzt werden, um mit Sinn von kausalen Verknüpfun- gen der Wirklichkeit zu sprechen. Indem die psychologische
* S. Schumann, Zur Psychologie der Zeitanschauung. Ztschr. f. Psychol. XVII (1889) S. 106 ff. — Zur Kritik Schumanns vgl. bes. die Ausführungen M e i n o n g s , Über Gegenstände höherer Ordnung u. deren Verhältnis zur inneren Wahrnehnning. Ztechr. f. Psychol. XXI. (1899) S. 236 ff.
444
Erklärung von tatsächlichen Elementen und der Aktion, die sie im Ganzen des psychischen Geschehens ausüben, ausgeht, hat sie bereits all das vorweggenommen, dessen logische Rechtfertigung in Frage steht, Sie setzt eine dingliche Welt, in der verschiedenartige objektiv feststehende Beziehungen obwalten, an den Anfang der Betrachtung — während es zuerst den Anschein hatte, als könne und solle diese ganze Art der Wirklichkeit, ohne Hinzunahme irgend eines anderen Bestandteiles, aus den einfachen Empfindungen, als den alleinigen Daten der reinen Erfahrung, abgeleitet werden. Diese Umkehr ist freilich nicht befremdlich: denn sie stellt sachlich nur jene Rangordnung der Probleme wieder her, die hier im ersten Ansatz der Frage zunächst verkehrt wurde. Was uns im Gebiete des Bewußtseins empirisch wahrhaft bekannt und gegeben ist, sind niemals die Einzel- bestandteile, die sich sodann zu verschiedenen beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist stets bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern läßt. Die Frage kann hier nie- mals lauten, wie wir von den Teilen zum Ganzen, sondern wie wir von dem Ganzen zu den Teilen gelangen. Die Elemente „bestehen" niemals außerhalb jeglicher Form der Verknüpfung, so daß der Versuch, die möglichen Weisen der Verknüpfung aus ihnen herzuleiten, notwendig im Kreise verläuft. ,,Rear' im Sinne der Erfahrung und des psychologischen Erlebnisses ist stets nur das Gesamtergebnis selbst, während seine einzelnen Komponenten nur den Wert hypothetischer Ansätze besitzen, deren Wert und Recht danach zu bemessen ist, ob sie in ihrer Vereinigung die Gesamtheit der Phänomene wiederum dar- zustellen und zu rekonstruieren vermögen. —
So sind denn auch innerhalb der psychologischen For- schung selbst die spekulativen Versuche, den Eigengehalt der reinen Beziehungen zu leugnen und ihn durch bloße Kom- plexe von Empfindungen zu ersetzen, allmählich verstummt. Das Ideal der begrifflichen „Erklärung", das hier maßgebend war, wurde zwar im allgemeinen festgehalten; aber man erkannte und sprach es aus, daß unsere tatsächliche Erfahrung
445
und unsere wirklichen empirisch-psychologischen Kenntnisse ihm die Erfüllung versagen. Wie wir bestimmte Klassen einfacher Empfindungen als letzte Tatsachen annehmen müssen, so müssen wir — wie nunmehr erklärt wurde — neben diesen Gebieten auch gewisse spezifische Beziehungen, wie die der Einheit und Mehrheit, der Ähnlichkeit und Verschieden- heit, des räumlichen Beisammens wie der zeitlichen Dauer als grundlegende, nicht weiter reduzierbare Daten des Bewußt- seins anerkennen. „Natürlich heißt dies nicht" — so bemerkt ein Vertreter dieser Ansicht — „die Dinge erklären, aber es heißt, ehrliche Armut dem Schein des Reichtums vorziehen"*. E i n Rückweg scheint freilich noch übrig zu bleiben, der uns gestattet, die begriffliche Mannigfaltigkeit der Beziehungen wiederum in die Einheit eines einzigen kausalen Ursprungs aufzulösen. Was der rein psychologischen Betrachtungsweise versagt blieb, scheint hier der physiologischen Er- klärung und Deutung gelingen zu können. Die allgemeinen Verhältnisbestimmungen, die sich an allen Empfindungen, unbeschadet ihrer qualitativen Verschiedenheit, gleichmäßig wiederfinden, erweisen sich eben damit als ein gemein- samer Bestand des Empfindungsinhaltes als solchen, für den nunmehr auch eine entsprechende Gemeinsamkeit in den zugehörigen physiologischen Prozessen zu fordern ist. Diese Übereinstimmung in den physischen Grundlagen jeder Wahrnehmung, gleichviel welchem besonderen Gebiet sie angehören mag, aber ist leicht aufweisbar. Die Sinnes- organe samt den ihnen zunächst zugehörigen nervösen Zentren stellen sich freilich zunächst als sehr verschieden gebaute und verschieden ausgestattete Apparate dar; aber sie bilden nichtsdestoweniger schließlich doch insofern eine Einheit, als sie sich sämtlich aus demselben Material, aus nervösen Elementen nach gewissen in sich überein- stimmenden Prinzipien aufbauen. „Wirken äußere Reize auf sie ein, so müssen die in ihnen hervorgerufenen Prozesse naturgemäß verschieden sein, soweit die physikalisch-chemische
♦Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, 2. Aufl., Lpz. 1905, S. 462.
446
Beschaffenheit der Reize und die ihr angepaßte Funktion der ersten Aufnahmeapparate verschieden ist. Aber zur selben Zeit müssen jene Prozesse auch gleich oder ähnlich ausfallen, soweit nämlich in der Außenwelt die Verbindungsweise der Reize zu einem Ganzen und innerhalb der Sinnesorgane die Grundeigenschaften der nervösen Materie und die allgemeinen Konstruktionsprinzipien ihres Aufbaus dieselben sind .... In der besonderen Eigenart der beim Sehen, Hören, Schmecken stattfindenden Erregungen liegt es, daß wir ihre seelischen Wirkungen als etwas ganz Disparates, wie Helles, Lautes, Bitteres empfinden; — in den übereinstim- menden Zügen derselben Erregungen, daß uns alle diese Eindrücke je nach Umständen als dauernd oder intermittierend, sich verändernd usw. bewußt werden" . Die nervösen Vorgänge, die den ,, Anschauungen" des Raumes und der Zeit, der Ein- heit und Mehrheit, der Konstanz und Veränderung zugrunde liegen, ,, stecken also in ganz denselben Prozessen, die den Empfindungen zugeordnet sind, aber nicht in sämtlichen, sondern nur in den gemeinsamen Eigentümlichkeiten dieser Prozesse, deren nähere Angabe uns freilich noch nicht mög- lich ist"*.
Diese Erklärung, die auf den ersten Blick rein mit den Mitteln moderner naturwissenschaftlicher Auffassung operiert, lenkt dennoch ihrem Prinzip nach wiederum in die Bahnen der Aristotelischen Lehre vom „Gemeinsinn" zurück. Für die Erfassung der Beziehungen steht zwar nicht wie für die der einzelnen Sinnesqualitäten ein besonderes Organ zur Verfügung; wohl aber besteht auch hier, eine Art gemeinsamen Organs, kraft dessen wir die realen Verhältnisse der äußeren Objekte in uns aufnehmen. Sollte indessen diese ursächliche Erklärung zugleich eine logische Deduktion der Geltung der Verhältnisbegriffe bedeuten, — so würde auch sie eben jenes vGTEQov TCQÖreqov in sich schließen, dem wir zuvor bereits begegnet sind. Denn sie muß, um die Vorstellung der Gleichheit oder Verschiedenheit, der Identität oder Ähnlich- keit zu erklären, offenbar auf die Gleichheit oder Verschieden-
♦ E b b i n g h a u 8 , a. a. O. S. 442 f.
447
heit in den Dingen, spezieller in den peripherischen und zentralen Organen der Wahrnehmung zurückgehen. Der Begriff des Seins, von dem hier ausgegangen wird, enthält also bereits alle diejenigen kategorialen Bestim- mungen in sich, die nachträglich, auf dem Wege der psycho-physiologischen Ableitung aus ihm wiederum heraus- gezogen werden. Der Wahrheitsgehalt dieser Be- stimmungen muß vorausgesetzt werden; wenngleich die Art, wie sie dem individuellen Subjekt zum Bewußtsein kommen, einer — freilich nur hypothetischen — Erklärung zugänglich sein mag. Weiterhin aber muß jede rein physiologische Darstellung des Sachverhalts denjenigen Punkt im Dunkeln lassen, der hier vor allem in Frage steht. Eine Identität oder Gemeinsamkeit in den äußeren Reizen reicht niemals hin, um den correlativen Bewußtseinsausdruck dieser Ver- hältnisse zu erklären. Das physisch Gleiche muß als gleich erkannt und beurteilt, das sachlich Verschiedene a 1 s verschieden aufgefaßt werden, damit es zu jener Loslösung des allgemeinen Anschauungsinhalts vom besonderen Emp- findungsinhalt kommt, der hier angenommen wird. Die reinen Bewußtseinsfunktionen der Einheits- und Verschieden- heitssetzung sind somit als solche niemals zu entbehren, noch durch den Rückgang auf die objektiven physiologischen Ur- sachen zu ersetzen. Die Forderung bleibt bestehen, daß sie in einer Betrachtungsweise, die lediglich innerhalb der psychi- schen Phänomene selbst verharrt, ohne zu ihren hypothetischen Gründen zurückzugehen, aufgewiesen und dargestellt werden. Von allen Seiten her werden wir somit immer deutlicher auf ein zweites großes Gebiet der psychologischen Untersuchung hingewiesen, das in ihrem ersten Ansatz zunächst vernach- lässigt und zurückgedrängt war. Der Psychologie der Emp- findung tritt die Psychologie des Denkens gegenüber, die von Anfang an von einer völlig andersartigen Formulierung des Problems und von einer neuen Wertordnung zwischen den „absoluten" und den ,, relativen" Elementen des Bewußtseins beherrscht wird.
448
II.
Die allgemeinen Probleme, die in der Lehre von den „Gestaltqualitäten" eingeschlossen sind, sind in der Um- bildung, die diese Lehre in der Theorie der ,, fundierten Inhalte" erfahren hat, zu schärferem Ausdruck gelangt. Hier zeigt es sich bereits deutlicher, daß die Fragen, die damit in die Psychologie eintreten, nicht auf eine bloße Erweiterung ihres Gebiets, sondern auf eine innere Umgestaltung ihres Begriffs hinzielen. Es sind nunmehr zwei Formen psychischer „Gegenstände", die einander bestimmt gegenübertreten. Über den einfachen Empfindungen, über den Qualitäten der ver- schiedenen Sinne bauen sich „Gegenstände höherer Ordnung" auf, die von jenen Elementarinhalten zwar getragen werden, und ihrer als Stütze bedürfen, die aber in ihnen nicht auf- gehen. Wir können freilich von Gleichheit oder Ver- schiedenheit, von Einheit oder Mehrheit nicht sprechen, ohne sie als Gleichheit oder Verschiedenheit, als Einheit oder Mehrheit von Etwas zu denken. Aber dieses Etwas kann anderseits beliebig wechseln, es kann als Farbe oder Ton, als Geruch oder Geschmack, als Begriff oder Urteil erscheinen, — von welchem allem ja Verschiedenheit oder Einheit aussagbar ist — , ohne daß dadurch der eigentliche Sinn dieser Grundgedanken irgendwie berührt würde. Die Unselbständigkeit, die den reinen Relationen in ihrem tat- sächlichen Auftreten und gleichsam in ihrer psychischen Existenz anzuhaften scheint, schließt somit eine vollkommene Selbständigkeit ihrer eigenartigen Bedeutung nicht aus. Die allgemein gültigen Relationen, um die es sich hier handelt, existieren nicht als zeitlich oder örtlich abgegrenzte Teile der psychischen oder physischen Wirklichkeit, sondern sie „be- stehen" schlechthin kraft der Notwendigkeit, die wir be- stimmten Aussagen zuerkennen. Wer vier wirkliche Gegen- stände vorstellt, der stellt neben ihnen nicht noch die Vierheit als ein besonderes Stück der Wirklichkeit vor, wenngleich er für sein Urteil über das Zahl Verhältnis eine bestimmte objektive Wahrheit und Gültigkeit in Anspruch nimmt. So treten allgemein den Beziehungen zwischen Existenzen reine Idealrelationen gegenüber: und diesem Unter-
Cassirer, Substanzbegriff 09 449
schied entspricht weiterhin ein charakteristischer Gegensatz in der Rangordnung der Erkenntnisse, die sich auf diese Gegenstände beziehen. Wo immer das Urteil sich auf ein Objekt der tatsächlichen Wirklichkeit bezieht und an ihm eine einzelne Bestimmung bezeichnen und treffen will, da bleibt es notwendig auf ein Hier und Jetzt, also auf eine Aussage von bloß empirischer Geltung beschränkt. Diesem Fall, in welchem wir lediglich einem einzelnen Dinge eine einzelne, durch Erfahrung bekannte Beschaffenheit zusprechen, steht jedoch der andere Fall entgegen, in welchem die Art der Abhängigkeit zwischen zwei Elementen a und b durch die „Natur" der Glieder selbst determiniert und eindeutig vor- geschrieben ist. Von den idealen Relationen dieser Art sind Urteile möglich, die, um in ihrer Wahrheit erfaßt zu werden, nicht der Probe durch verschiedene, successiv durchlaufene Einzelfälle bedürfen, sondern ein für alle Mal mit der Einsicht in die Notwendigkeit des Zusammenhangs erkannt werden. Den empirischen Urteilen über Erfahrungsgegen- stände stehen somit „apriorische**Urteile über die , Fundierungs- gegenstände" zur Seite. Während die psychischen „Phae- nomene", wie Farbe oder Ton, nur einfach in ihrem Auftreten und ihrer Beschaffenheit als Tatsachen konstatiert werden können, knüpfen sich an die „metaphaenomenalen*' Gegen- stände, wie Gleichheit oder Ähnlichkeit, Urteile, die mit dem Bewußtsein zeitloser und notwendiger Geltung gefällt werden. An die Stelle einer bloß faktischen Feststellung tritt hier das systematische Ganze eines Begründungs-Zusammenhangs, dessen Elemente sich wechselseitig bedingen und fordern*. Auch diese Theorie indes, so energisch sie das Problem- gebiet der Psychologie über seine herkömmlichen Grenzen zu erweitern strebt, steht an einem Punkte noch unter dem Einfluß der traditionellen Begriffsbildung. Sie knüpft an die einfachen Empfindungsinhalte als anerkannte Daten an, um sich von ihnen aus den Zugang zu den komplexeren Gebilden zu bahnen. Die „Gegenstände höherer Ordnung"
* Näheres zur Theorie der „fundierten Inhalte" u. der „Gegenstände höherer Ordnting'* s. bes. bei M e i n o n g , Z. f. Psychologie XXI, 182 ff.; vgl. auch Höf Ter, Zva gegenw. Naturphilosophie S. 75 ff.
450
lassen sich von irgendwelchen Wahrnehmungselementen, in denen sie fundiert sind, nicht loslösen, ohne damit jeglichen Halt zu verlieren. Dagegen gilt zunächst keineswegs die Umkehrung dieses Satzes: wenn das „Superius" auf die „Inferiora" notwendig angewiesen ist, so sind diese ihrerseits dadurch charakterisiert, daß sie für sich bestehen und auf sich allein beruhen. Die Relationen, die sich über ihnen auf- bauen, erscheinen wie ein nachträgliches Ergebnis; ihr Sein oder Nicht-Sein trägt zum Bestand der Elemente nichts bei und vermag ihn weder zu begründen, noch zu gefährden. Die schärfere Analyse beseitigt indessen auch diesen letzten Schein der Selbständigkeit des Einfachen. An die Stelle eines Nacheinander, einer Über- und Unterordnung von Inhalten setzt sie ein Verhältnis strengster Korrelativität. Wie die Beziehung des Hinblicks auf die Elemente bedarf, so bedürfen diese nicht minder des Hinblicks auf eine Form der Beziehung, in der allein sie feste und konstante Bedeu- tungen erlangen. Jede begriffliche Aussage über ein ,,Inferius*' betrachtet dies bereits unter dem Gesichtspunkt irgend einer Relation, der wir den betreffenden Inhalt zuordnen. Die „Fundamente" sind stets nur als Fundamente möglicher Relationen bestimmbar und bestimmt. Was hier- über zunächst hinwegtäuscht, ist der Umstand, daß das Ganze der Verhältnisbestimmungen, in die ein einzelner Inhalt ein- zutreten vermag, in ihm zwar irgendwie angelegt, aber keines- wegs von Anfang an tatsächlich verwirklicht ist. Es bedarf einer Reihe verwickelter intellektueller Operationen, es bedarf immer erneuter begrifflicher Arbeit, um hier den „potentiellen" logischen Gehalt in „aktuellen" Gehalt überzuführen. Die Möglichkeit indessen, einen Inhalt von dieser oder jener be- grifflichen Einzelbestimmung loszulösen und ihn gleichsam vor dieser Bestimmung zu betrachten, darf nicht dazu führen, ihn aller Bestimmungsformen überhaupt zu entkleiden. Nicht nur wenn wir die sinnlichen Phaenomene, wenn wir die Farben und Töne, die Gerüche und Geschmäcke, sondern auch wenn wir jene ,,metaphaenomenalen" Gegenstände, wie Vielheit und Zahl, Identität und Verschiedenheit, aufgehoben denken, wäre das Bewußtsein als Bewußtsein aus-
29* 451
gelöscht. Sein Bestand wurzelt lediglich in der gegenseitigen Zusammengehörigkeit der beiden Momente, deren keines daher als „erstes" und ursprüngliches dem anderen voran- zustellen ist. —
Von hier aus fällt daher auf die alte psychologische Streit- frage des „Empirismus" und „Nativismus" neues Licht. Man erkennt, daß auch diese Streitfrage in einer ungeklärten Problemstellung wurzelt. Sind die gemeinsamen Bestimmun- gen, die an den Empfindungen auftreten, — so wird gefragt — sind ihre Einheit und Mehrheit, ihre räumliche Anordnung, ihre längere oder kürzere zeitliche Dauer Merkmale, die ebenso unmittelbar wie die Unterschiede der Empfindungen selbst sind, und die daher mit ihnen zugleich erfaßt werden — oder bilden sie vielmehr ein späteres Produkt der seelischen Vergleichung, die dem Wahrnehmungsmaterial, das als solches ungeordnet ist, erst eine bestimmte Gestaltung aufprägt? Ist es mit anderen Worten eine eigene geistige Tätigkeit, die zu diesen Bestimmungen führt oder sind sie direkt im ersten Wahrnehmungsakt implicit als Bestandteile mitgegeben? Es sind indessen zwei verschiedene be- griffliche Gesichtspunkte, die in diesen Fragen unvermerkt in einander übergehen. Der logischen Trennung von Er- kenntnismomenten schiebt sich die zeitliche Trennung im Auftreten bestimmter psychischer Inhalte unter: und beide, an sich völlig heterogenen Probleme wurden nunmehr mit und durch einander zu lösen versucht. Indem — vom Standpunkt des „Nativismus" aus — gezeigt wird, daß schon der früheste Zustand des Bewußtseins, der sich nur immer annehmen oder erdenken läßt, irgend eine Form der räumlich-zeitlichen oder der begrifflichen Verknüpfung aufweist, glaubt man damit den logischen Wert der Verknüpfungen selbst auf den der bloßen Empfindung reduziert zu haben. Es gibt — so folgert man nunmehr — ein unmittelbares Bewußtsein der Relationen in derselben Weise, wie es ein unmittelbares Bewußt- sein von Farben oder Tönen gibt. Wir ergreifen in der inneren Wahrnehmung, im bloßen ,,feeling" ebensowohl die Be- deutung des „Und" und des „Aber", des ,,Wenn" und des „Dadurch", als wir durch sie von dem Inhalt „Blau" oder
452
„Kalt" Kunde erlangen. Der „actus purus" des Verstandes erweist sich somit als entbehrlich, da alles, was er hervor- bringen soll, in Wahrheit bereits in den ersten Wahr- nehmungsdaten selbst enthalten ist*. Will man diesem Gedanken kritisch gerecht werden, so muß man die allgemeine Tendenz, von der er beherrscht wird, von der speziellen Ausführung, die sie erfährt, unterscheiden. Was hier vor allem betont werden soll, ist dies: daß das Ordnungsmoment zu dem Inhaltsmoment in keinem zeitlichen Verhältnis des Vor und Nach, des Früher oder Später steht. Nur die Analyse vermag an dem zunächst einheitlichen Material des „Gegebenen" diese Unterscheidung zu treffen. In diesem Sinne ist es zu- treffend, daß schon der elementarste psychische Tatbestand die allgemeinen Formelemente in sich schließt. Der Schluß aber, daß diese Elemente somit der bloßen Passivität des Wahrnehmens angehören, wird hierdurch nicht gerecht- fertigt. Vielmehr gilt hier die umgekehrte Folgerung: die Tatsache, daß es für uns keinen Inhalt des Bewußtseins gibt, der nicht in irgend einer Weise gestaltet und gemäß bestimmten Beziehungen gegliedert wäre, beweist, daß der Prozeß des Wahrnehmens von dem des Urteils nicht zu trennen ist. Es sind elementare Urteilsakte, kraft deren der Einzelinhalt als Glied einer bestimmten Ordnung erfaßt und damit erst in sich selbst gefestigt wird. Wo dies geleugnet wird, da versteht man das Urteil selbst nur in dem äußer- lichen Sinne einer vergleichenden Tätigkeit, die einem bereits feststehenden und gegebenen ,, Subjekt" ein neues Prädikat nachträglich hinzufügt. Eine derartige Tätigkeit erscheint freilich dem Stoff gegenüber, an welchen sie anknüpft, als zufällig und willkürlich: gleichviel ob sie ausgeübt oder unter- lassen wird, so bleibt doch dieser Stoff, was er einmal ist und behält die Merkmale, die ihm vor aller logischen Bearbeitung zukommen. In seiner eigentlichen Grundform dagegen be- deutet das Urteil nicht einen derartigen Willkürakt, sondern die Form der objektivierenden Bestimmung überhaupt, durch
* S, Jamea, The Principles of Psychology I, 244 f.; vgl. bes. n, 148.
453
welche ein Sonderinhalt als solcher unterschieden und zu- gleich einer Mannigfaltigkeit systematisch eingeordnet wird. Von dieser Form läßt sich nicht absehen, ohne daß damit auch alle qualitativen inhaltlichen Differenzen verloren gingen. Mögen also immerhin, wenn wir auf das reine Z e i t v e r - h ä 1 1 n i s hinblicken, die Relationen zugleich mit den Empfindungsinhalten „vorgefunden" werden: so gilt doch darum nicht minder, daß eben dieses ,, Finden" selbst die elementaren Formen des geistigen Tuns bereits in sich schließt. Denken wir diese Formen aufgehoben, so würde damit jede Möglichkeit einer weiteren Anwendung des Bewußt- seinsbegriffs selbst schwinden. Gleichviel was der Inhalt alsdann noch an und für sich sein und bedeuten möchte: für uns, für die Einheit des Selbst wäre er nicht vorhanden. Denn das Selbst ergreift und konstituiert sich erst in irgendeiner Art der Betätigung. Immer sind es bestimmte Weisen der „Einheitsapperception", an die die Auffassung bestimmter Relationen zwischen Gegenständen psychologisch notwendig geknüpft ist*. Somit lehrt die unlösliche Korrelation der Empfindungen mit den reinen Verhältnisgedanken, wenn man sie konsequent weiter verfolgt, das Gegenteil von dem, was anfänglich aus ihr gefolgert wurde: sie zeigt nicht die Passivität des Ich im Erfassen dieser Gedanken, sondern umgekehrt das Moment der Aktivität, das auch jedem Wahrnehmungs- prozeß eignet, sofern er nicht für sich allein steht, sondern dem Ganzen des Bewußtseins und der Erfahrung an- gehört. Man kann in der Tat versuchen, die Beziehungen aus der Sensation abzuleiten: aber man hat alsdann bereits in die Sensation selbst Bestimmungen hineingelegt, die über den isolierten Einzeleindruck hinausgehen. Sie ist hier nicht mehr das Abstraktum der ,, einfachen" Empfindung: sondern sie bezeichnet lediglich den anfänglichen, noch ungegliederten Bewußtseinsinhalt überhaupt, dem indes stets bereits be- stimmte Beziehungen und Verknüpfungen wesentlich sind, die von ihm zu anderen Elementen überführen.
• Vgl. hrz. vor allem die Ausführungen von Th. L i p p s , Ein- heiten und Relationen, Eine Skizze zur Psychologie der Apperception, Lpz. 1902.
454
Noch deutlicher tritt dies bei der Betrachtung des spe- ziellen Problems hervor, das, im Streit zwischen „Empirismus" und „Nativismus", von jeher im Mittelpunkte der Erörterung stand. Das Schicksal der verschiedenen Theorien entscheidet sich vor der Frage nach dem psychologischen Ursprung und der psychologischen Bedeutung der Raumvorstellung. Gelingt es den Raum aus schlechthin unräumlichen, nur durch ihre Qualität und Intensität unterschiedenen Emp- findungen abzuleiten, so steht prinzipiell nichts mehr im Wege, die gleiche Erklärung für all die verschiedenen Grundarten der Beziehung überhaupt durchzuführen. Es zeigt sich indessen alsbald, daß die empiristische Theorie, indem sie es unter- nimmt, die Entstehung der Raumordnung aus dem bloßen Material der Wahrnehmungen und den einfachen Grund- kräften der associativen Verknüpfung zu deduzieren, hierbei ihrem eigenen methodischen Ideal untreu werden muß. Denn es kann kein Zweifel darüber sein, daß eine solche Entstehung, falls sie in Wahrheit anzunehmen ist, doch in unserer tatsäch- lichen Erfahrung nicht aufweisbar ist. Jede Erfahrung, wie immer sie beschaffen sein mag, weist irgendeine primitive Form des „Beisammen" der einzelnen Elemente und damit das spezifische Moment auf, in welchem jede noch so komplexe räumliche Gestaltung ursprünglich wurzelt. Versucht man hinter diesen psychologischen Tatbestand zurückzugehen, versucht man zu zeigen, wie die Ordnung selbst aus dem schlechthin Ungeordneten entsteht und sich entwickelt, so überläßt man sich hierbei einer Hypothese, die in zwiefacher Richtung über die Grenzen der Erfahrung hinausgeht. Wir kennen empirisch so wenig eine einfache, in keiner Weise lokalisierte Wahrnehmung, wie wir andererseits nichts von einer besonderen Funktion der Seele wissen, durch die sie auf Grund unbewußter „Schlüsse" das zuvor Gestaltlose zur Gestalt umwandelt. Wie immer man über das methodische Recht derartiger Begriffe urteilen mag: es wäre gefährlich und irreführend, sie als den Ausdruck konkreter Tatsachen mißzu verstehen. Auch hier somit bleibt die Kritik der „empiristischen" Raumtheorien — wie sie in der neueren Psychologie insbesondere durch Stumpf und James
455
geübt worden ist — im Recht, sofern sie betont, daß die bloße „Association" als solche keinen neuen psychischen Inhalt zu schaffen vermöge. Keine bloße Wiederholung und Umstellung der Inhalte vermöchte ihnen die Räumlichkeit zu verleihen, wenn diese nicht bereits ursprünglich in ihnen irgendwie gesetzt und angelegt wäre*. Aber auch hier beweist die zeitliche Verbundenheit der beiden Faktoren keineswegs ihre logische Gleichwertigkeit. Wenn die Erkenntnis- kritik die Raum- und Zeitform vom Inhalt der Empfindung unterscheidet und sie als selbständiges Problem behandelt, so bedarf sie hierbei des Gedankens einer realen Getrennt- heit beider in irgendeinem mythischen Vorstadium des Bewußtseins in keiner Weise. Was sie behauptet und vertritt, ist lediglich der schlichte Gedanke, daß die Urteile, die sich auf diese Beziehungsformen gründen und aufbauen, einen eigenen charakteristischen Geltungswert besitzen, der den bloßen Aussagen über das Dasein einer hier und jetzt gegebenen Empfindung versagt ist. Der zunächst einheitliche Inhalt differenziert sich, indem wir erkennen, daß er den Ansatz für zwei verschiedene Systeme von Urteilen enthält, die ihrer D i g n i t ä t nach getrennt bleiben. Je nachdem wir an ihm das spezifische Moment einer einzelnen Wahrnehmung,
♦ Vgl. z. B. James, a. a. O., II, 270, 279 u. s. — Die Nach- wirkung des allgemeinen Schemas der Associationspsychologie zeigt sich indessen auch bei ihren Ivritikern in dem Umstand, daß sie die Ursprüng- lichkeit der Haum Ordnung nur dadurch zu beliaupten vermögen, daß sie sie zu einem eigenen und ursprünglichen Wahrnehmvmgs i n h a 1 1 e verdichten. Die Raumordnung — so f iihrt insbesondere Stumpf aiis — wäre nicht faßbar und verständlich ohne einen positiven absoluten Inhalt, der ihr zugninde liegt. Dieser Inhalt erst verleiht ihr das Eigentümliche, kr£ift dessen sie sich von anderen Ordnungen xuiterscheidet. ,,Um die verschiedene i Ordnungen von einander zu unterscheiden, müssen wir überall einen besonderen absoluten Inlialt anerkennen, in bezug auf welchen die Ordnung stattfindet. Und so ist auch der Raum nicht eine bloße Ordnung, sondern eben das, wodurch die räumliche Ordnvmg, das Neben- einander, sich von den übrigen unterscheidet." (Über den psychologischen Ursprung der Raum Vorstellung, S. 15, vgl. S, 275.) Es sind indessen zwei verschiedene, nicht streng von einander geschiedene Gesichtspunkte, die sich in diesem Argimaent vereinen. Daß jede Beziehung die Beziehung von Etwas ist urd insofern irgendwelche „Fundamente" voraussetzt, euf denen sie sich aufbaut, mag zutreffen, — wenngleich auch hier daran fest- zuhalten ist, daß die Abhängigkeit eine diu-chaus wechselseitige ist, so
456
das Blau und Rot, das Rauh oder Glatt usf. hervorheben oder aber lediglich auf die allgemeinen Verhältnisse hinblicken, die sich zwischen diesen besonderen Elementen herstellen, entstehen uns Sätze, die einem durchaus verschiedenen Typus der Begründung angehören. Freilich kann die Psycho- logie innerhalb der Grenzen ihrer Aufgabe, kraft deren sie lediglich das Denken als zeitlichen Vorgang, nicht aber den Inhalt des Gedachten beschreibt und zergliedert,
daß die „Fundamente" ebensosehr der Beziehung bedürfen, wie diese der Fundamente bedarf. Darin aber liegt nicht, daß dasjenige, was die Eigen- tümlichkeit eines bestimmten Ordnungsprinzips ausmacht, irgendwie selbst wiederum als inhaltliches Merkmal der geordneten Elemente aufzeigbar sein muß. Denn würden wir dies annehmen, so müßten wir schließlich dem Inhalt so viel besondere „Qualitäten" zusprechen, als es Arten gibt, ihn mit anderen zu verknüpfen tmd auf andere zu be- ziehen. Nicht nur für die Raumordnung, sondern auch für die Zeitordnung, weiterhin aber für alle Arten quantitativer oder qualitativer Vergleichung müßte jetzt ein spezifischer Wahrnehmungsbestand gefordert werden. Allgemein aber ist es nicht ersichtlich, wie eine bloße Differenz im Inhalt der verglichenen Elemente dazu dienen soll, die verschiedenen möglichen Weisen ihrer Beziehung zu bestimmen und auseinanderzuhalten. Sollen zwei Ordnungen als Ordnungen unterschieden werden, so muß es doch wohl irgendein Mittel des Bewußtseins geben, kraft dessen sich die Art der Verknüpfung selbst rein als solche erfassen und gegen andere abgrenzen läßt. Spricht man dem Bewußtsein die Fähigkeit zu, die einfachen Wahrnehmungsdaten von einander zu unterscheiden, so sieht man nicht, wie man ihm die gleiche Fähigkeit für die mannigfachen ursprünglichen Funktionen der Zuordnung versagen kann. Der tiefere Grund der Schwierigkeit scheint hier nicht sowohl in der Psychologie selbst, als in der gewöhnlichen Auffassung und Definition der Logik zu liegen. Die Logik gründet sich in ihrer traditionellen Gestalt auf den Ge- danken der Identität und sucht auf ihn letzten Endes alle Weisen der Verknüpfxing und Schlußfolgerung zurückzuführen. Gilt aber die Identität einmal als Ausdruck der Beziehungsform schlechthin, so kann freilich die Verschiedenheit der Bezieh\xngen, für die notwendig ebenfalls eine Ableitung und Erklärung zu fordern ist, lediglich im Inhalt der auf- ernanderbezogenen Elemente gegründet werden. Indessen hat gerade die moderne Gestaltung der Logik dieser Auffassung den Boden ent- zogen, indem sie immer deutlicher gezeigt hat, daß es unmöglich ist, die verschiedener Formen des Urteils auf den einzigen Typus der Identität zurückzuführen (Näheres hierüber z. B. bei Jonas C o h n , Vor- aussetzungen und Ziele des Erkennens, S. 85 ff.). Wie man sich hier zur Anerkennung einer ursprünglichen Vielheit verschiedenartiger Relations- Synthesen (R, R', R" visf.) genötigt sieht, die aufeinander nicht wechsel- weise reduzierbar sind, so muß auch die psychologische Betrachtung zuletzt Unterschiede anerkennen, die der Art und Weise der „apperceptiven Ver- knüpfung" selbst angehören, ohne darum in einer besonderen Qualität des Empfindungsinhalta iliren Ausdruck zu finden.
457
diesen Prozeß der begrifflichen Sonderung nicht mehr in seiner Gesamtheit verfolgen und übersehen. Erst im endgültigen Ergebnis wird die Tendenz des Gesamtprozesses klar; erst das völlig entwickelte und nach einheitlichen rationalen Prin- zipien gegliederte System der Geometrie enthält die abschließende Charakteristik des Raummoments. Wenn- gleich indessen die Psychologie diese Charakteristik nicht mehr zu begründen vermag, so braucht sie ihr doch andererseits an keinem Punkte zu widersprechen. Ihre eigene Behandlung der Relationsprobleme führt sie vielmehr von selbst mit innerer Notwendigkeit zu einem Punkte hin, an welchem eine neue Richtung der Betrachtung einsetzt. Die Scheidung des Relationsmoments vom Inhaltsmoment, zu der sie sich gedrängt sieht, bleibt in ihr sozusagen p r o - 1 e p t i s c h und erhält erst in einem erweiterten Gebiet ihre volle Aufhellung und Bestätigung.
Selbst die rein empirisch-experimentelle Betrachtung der seelischen Phänomene weist bezeichnenderweise auf eine derartige Konvergenz der Probleme hin. Mehr und mehr tritt hier das Bemühen hervor, die Methode des Experiments nicht lediglich auf die Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung anzuwenden, sondern mit ihrer Hilfe die komplexen Vor- gänge des begrifflichen Verstehens in ihren Grundzügen festzustellen*. Auch hierbei aber zeigt es sich immer deut- licher, daß nicht die anschaulichen Sachvorstellungen, nicht die direkten Wahrnehmungs b i 1 d e r es sind, die diesen Vorgang stützen und tragen. Das Verständnis des einfachsten Satzes verlangt, eben wenn er als Satz, in seiner bestimmten logisch grammatischen Struktur erfaßt werden soll, Elemente, die sich der anschaulichen Darstellung schlecht- hin entziehen. Die bildlichen Einzelvorstellungen der kon- kreten Objekte, von denen die Aussage gilt, können mannig- fach wechseln oder auch gänzlich zurücktreten, ohne daß damit die Erfassung der einheitlichen Bedeutung des Satzes gefährdet würde. Die Begriffszusammenhänge, in denen diese
* Eine knappe und übersichtliche Darstellung dieser psychologischen Forschungsrichtxuig findet sich bes. bei Messer, Empfindung und Denken, Lpz. 1908.
458
1
(
Bedeutung wurzelt, müssen also für das Bewußtsein in eigenen kategorialen Akten repräsentiert sein, die als selbständige, nicht weiter zurückführbare Faktoren jeglichen geistigen Er- fassens anzuerkennen sind. Der Weg, auf welchem die psychologische Forschung zu dieser Einsicht gelangt ist, ist freilich merkwürdig genug; und er kennzeichnet wiederum die geschichtliche Bedingtheit ihrer Methode und Fragestellung. Nicht in seiner selbstständigen Tätigkeit, wird hier das „Denken" erfaßt und beobachtet; sondern in der Aufnahme eines fertigen, von außen dargebotenen Inhalts versucht man seine Eigentümlichkeit festzustellen. Daher erscheint denn auch der neue Faktor, der auf diesem Wege ermittelt wird, eher als ein paradoxer, nicht völlig verstandener Rest, der bei der Analyse zurückbleibt, denn als eine positve und eigen- tümliche Grundfunktion. Die erkenntniskritische Betrach- tung dagegen kehrt dieses Verhältnis um: denn für sie ist eben jener problematische ,,Rest" das eigentliche Erste und „Ver- ständliche", von dem sie ausgeht. Sie sucht das Denken lÄciit dort auf, wo es den Sinn eines schon fertigen Urteils-Zusammen- hangs bloß receptiv aufnimmt und in sich nachbildet, sondern wo es einen sinnvollen Inbegriff von Sätzen erschafft und aufbaut. Sobald die Psychologie dieser Richtung der Betrach- tung folgt und das Denken gleichfalls in der konkreten Gesamt- heit seiner produktiven Leistungen betrachtet, löst sich auch der anfängliche Gegensatz der Methoden mehr und mehr in eine reine Korrelation auf: die Psychologie selbst ergibt nunmehr den Ansatz der Probleme, die ihre fort- schreitende Lösung in der Logik und in ihrer Anwendung auf die Wissenschaft zu suchen haben.
459
MonotypeaaU und Drude von A. Gerts O. m. b. H.,
Charlottenburg.
1
ÜNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
Acme Library Card Pocket
Under Pat. "Ref. Index File." Made by LIBRARY BUREAU
v |
' |
i |
■ ■ ■ ■ |
■ ■ ■ |