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Marine Biological Laboratory Library
Woods Hole, Mass.
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Presented by
the estate of
Dr» Herbert W. Rand
Januaiy 9, 19^4
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Umwelt und Innenwelt
der Tiere.
Von
J. von Uexküll,
Dr. med. hon. o.
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Berlin.
Verlag von Julius Springer. 1909.
Sr. Durchlaucht dem Fürsten Philipp zu Eulenburg und Hertefeld
in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet.
Einleitung.
Mit dem Wort „Wissenschaft" wird heutzutage ein lächer- licher Fetischismus getrieben. Deshalb ist es wohl angezeigt, darauf hinzuweisen, daß die Wissenschaft nichts anderes ist als die Summe der Meinungen der heutelebenden Forscher. So- weit die Meinungen der älteren Forscher von uns aufgenommen sind, leben auch sie in der Wissenschaft weiter. Sobald eine 'Meinung verworfen oder vergessen wird, ist sie für die Wissen- schaft tot.
Nach und nach werden alle Meinungen vergessen, ver- worfen oder verändert. Daher kann man auf die Frage: „Was ist eine wissenschaftliche Wahrheit?" ohne Übertreibung ant- worten: ,,Ein Irrtum von heute."
Die Frage, ob es einen Fortschritt in der Wissenschaft gibt, ist darum nicht ganz so leicht zu beantworten wie gemein- hin angenommen wird. Wir hoffen wohl von gröberen zu feineren Irrtümern fortzuschreiten, ob wir uns aber wirkHch auf dem guten Wege befinden, ist für die Biologie in hohem Grade zweifelhaft.
Die Betrachtung des Lebendigen bietet bei jedem Schritt dem unbefangenen Beobachter eine so unermeßliche Fülle von Tatsachen, daß die bloße Registrierung dieser Tatsachen jede Wissenschaft unmöglich machen würde. Erst die Meinung des Forschers, die das Beobachtete gewaltsam in Wesentliches und Unwesentliches scheidet, läßt die Wissenschaft erstehen. Die herrschende Meinung entscheidet rücksichtslos über das, was als ,, wesentlich" gelten soll. Wird sie gestürzt, so fallen mit ihr Tausende von fleißigen, mühsamen und ausgezeich-
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 1
2 Einleitung.
neten Beobachtungen als „unwesentlich" der Vergessenheit anheim.
In der Biologie stehen wir noch unter dem frischen Ein- druck, den der Sturz des Darwinismus in uns allen hervor- gerufen hat. Die Erfolge rastloser Arbeit eines halben Jahr- hunderts erscheinen uns heute als unwesentlich.
Kein Wunder, daß die Biologen jetzt bestrebt sind, ihren Arbeiten eine festere Grundlage zu geben, als es die Lehre von der Vervollkommnung der Lebewesen war.
Der Erfolg dieser Bestrebungen ist nicht sehr ermutigend. Über die Grundlagen, auf denen sich die Biologie der Tiere als stolzes wissenschaftUches Gebäude erheben soll, ließ sich bisher keine Einigung erzielen. Und doch entscheidet diese Eini- gung das Schicksal der Biologie. Bleibt die Frage nach den Grundlagen unentschieden oder der Mode unterworfen, so gibt es keinen Fortschritt, und alles, was mit dem größten Geistes- aufwand von der einen Generation erarbeitet wurde, wird von der nächsten wieder verworfen werden.
Nur wenn alle Hände nach einem gemeinsamen Plane* tätig sind, um auf fester Grundlage ein Haus zu erbauen, kann etwas Gedeihliches und Dauerndes entstehen.
Es ist lehrreich und vielleicht auch nützlich, sich darüber Klarheit zu verschaffen, welche Ursachen die Einigung in der modernen Biologie der Tiere bisher verhindert haben.
Die moderne Tierbiologie verdankt ihr Dasein der Einführung des physiologischen Experimentes in das Studium der niederen Tiere. Die Erwartungen, die man von physiologischer Seite an die Erweiterung des Forschungsgebietes knüpfte, wurden nicht erfüllt. Man suchte nach Lösung für die Fragen der Physio- logie der höheren Tiere und fand statt dessen neue Probleme. Die Auflösung der Lebenserscheinungen in chemische und phy- sikalische Prozesse kam nicht um einen Schritt weiter. Dadurch hat sich die experimentelle Biologie in den Augen der Physio- logen strengster Observanz diskreditiert.
Für alle jene Forscher aber, die im Lebensprozeß selbst und nicht in seiner Zurückführung auf Chemie, Physik und Mathematik den ,, wesentlichen" Inhalt der Biologie sahen, mußte der ungeheure Reichtum an experimentell lösbaren Pro- blemen ein besonderer Ansporn sein, um sich den niederen
Einleitung. 3
Tieren zuzuwenden. In wenigen Jahren ist denn auch die Fülle des bearbeiteten Stoffes so groß geworden, daß heutzutage die Ordnung des Stoffes als die viel dringendere Aufgabe er- scheint, gegenüber der stets fortschreitenden Neuforschung. Baumaterial ist in Hülle und Fülle vorhanden, um den Bau der Wissenschaft zu beginnen. Nur muß man sich über den Bauplan einigen.
Das natürhchste wäre, wenn man mit den alten, längst vorhandenen Bauplänen weiterarbeitete. In den schönen Zeiten, da Anatomie und Physiologie noch ungetrennt eine einheit- liche Biologie bildeten, faßte man jedes Tier als eine funk- tionelle Einheit auf. Die anatomische Struktur und ihre physiologischen Leistungen wurden gleichzeitig erforscht und als zusammengehörig betrachtet.
Es fällt niemand ein, eine Arbeitsteilung in die Techno- logie einzuführen, und zwei Klassen von Ingenieuren auszu- bilden, die einen für das Studium der Struktur, die anderen für das Studium des Energieumsatzes in den Maschinen.
Technologie wie Technik würden durch diese Teilung bald zugrunde gerichtet werden. Auch die Biologie wäre durch die Teilung in Anatomie und Physiologie längst zugrunde gegangen, wenn nicht die Medizin mit ihren praktischen Bedürfnissen den Zusammenschluß der beiden Wissenschaften wenigstens für den Menschen peremptorisch forderte. Diesem Zusammen- gehen der Wissenschaften verdanken auch die neuesten Arbeiten ihre hohe biologische Bedeutung. Man braucht bloß an das Lebenswerk Pawlows zu erinnern, oder an die großen Erfolge der englischen Physiologen wie Langley und Sherrington.
Überall dort, wo Physiologie und Anatomie getrennt vor- gingen, ist es nicht zu ihrem Heile ausgeschlagen. Die ver- gleichende Anatomie, die immer mehr die Leistungen der Or- gane vernachlässigte, gelangte schheßlich dazu, die Struktur der Lebewesen als eine bloß ,, formale Einheit" zu betrachten. Die ,, Homologie" wurde zur Grundlage einer ganz neuen Lehre von den Beziehungen der Körperformen, während die ,, Analogie" verachtet wurde, und so traten tote räumliche Beziehungen an die Stelle der lebendigen Wechselwirkung der Organe. Erst in neuester Zeit führt die experimentelle Embryo-
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4 Einleitung.
logie die anatomische Wissenschaft zu den Quellen der tiefsten Lebensprobleme zurück.
Ebenso verlor die allgemeine Physiologie immer mehr das Verständnis dafür, daß jedes Lebewesen eine ,, funktionelle Einheit'* ist. An Stelle des Strebens nach Erkenntnis des Bauplanes eines jeden Lebewesens, der allein aus Anatomie und Physiologie erschlossen werden kann, trat das einseitige Studium der mögUchst isolierten Teilfunktionen, um diese als rein physikalisch-chemische Probleme behandeln zu können.
Dies war das Schicksal der Biologie der höheren Tiere. Ganz eigenartig gestaltete sich das Schicksal der Biologie bei den niede- ren Tieren. Hier gingen nicht Anatomie und Physiologie ge- trennte Wege, sondern die Physiologie wurde zeitweilig voll- kommen unterdrückt. Dies geschah durch den Darwinismus. Der Darwinismus (nicht Darwin selbst) betrachtete die Leistungen der anatomischen Struktur als ,, unwesentlich" gegenüber dem einen Problem: wie sich die Struktur der höheren Tiere aus der der niederen entwickelt habe.
Man sah in der Tierreihe den Beweis für eine stufenweis ansteigende Vervollkommnung von der einfachsten zur mannig- faltigsten Struktur. Nur vergaß man dabei das eine, daß die Vollkommenheit der Struktur gar nicht aus ihrer Mannigfaltig- keit erschlossen werden kann. Kein Mensch wird behaupten, daß ein PanzerschifE vollkommener sei als die modernen Ruder- boote der internationalen Ruderklubs. Auch würde ein Panzer- schiff bei einer Ruderregatta eine klägliche Rolle spielen. Ebenso würde ein Pferd die Rolle eines Regenwurms nur sehr unvollkommen ausfüllen.
Die Frage nach einem höheren oder geringeren Grad von Vollkommenkeit der Lebewesen kann gestellt werden, wenn man jeden Bauplan mit seiner Ausführung zusammenhält und prüft, in welchem Fall die Ausführung am gelungensten ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß bei dieser Fragestellung die niederen Tiere, weil sie zu den ältesten Geschlechtern gehören, den Preis davontragen werden, denn es scheint die Regel zu gelten: je älter die FamiUe, um so besser die Durcharbeitung.
Man versucht ferner das Vollkommenheitsproblem zu er- örtern, indem man die Bedürfnisse der Organismen mit ihrem Bauplan vergleicht und fragt, inwieweit entspricht der Bauplan
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dem Bedürfnis. Das ist auch die Fragestellung des Darwinis- mus gewesen. Nur aus ihr heraus erhält die Behauptung, die höheren Tiere seien die vollkommeneren, einen Sinn.
Wenn man nämlich die Bedürfnisse des Menschen als Maß ansieht, an dem alle Baupläne der Tiere zu messen sind, so sind natürUch die höchsten Tiere die vollkommensten. Das ist aber ein zu handgreiflicher Irrtum, um darüber ein Wort zu verlieren. Haben wir doch zur Erforschung der Bedürfnisse eines Tieres gar keine anderen Hilfsmittel zur Hand, als eben seinen Bauplan. Er allein gibt uns Aufschluß über die aktive wie passive Rolle, die das Tier in seiner Umwelt zu spielen berufen ist. Deshalb ist die ganze Fragestellung sinnlos.
Aber selbst die Behauptung, daß die variierenden Indivi- duen einer Art mehr oder weniger gut ihrer Umwelt ange- paßt seien, ist vöUig aus der Luft gegriffen. Jedes variierende Individuum ist entsprechend seinem veränderten Bauplan anders, aber gleich vollkommen seiner Umgebung angepaßt. Denn der Bauplan schafft in weiten Grenzen selbsttätig die Umwelt des Tieres.
Diese Erkenntnis, die ich Schritt für Schritt zu beweisen gedenke, kann allein als dauernde Grundlage der Biologie an- gesehen werden. Nur durch sie gewinnen wir das richtige Verständnis dafür, wie die Lebewesen das Chaos der anorga- nischen Welt ordnen und beherrschen. Jedes Tier an einer anderen Stelle und in anderer Weise. Aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit der anorganischen Welt sucht sich jedes Tier gerade das aus, was zu ihm paßt, d. h. es schafft sich seine Bedürfnisse selbst entsprechend seiner eigenen Bauart.
Nur dem oberflächlichen Blick mag es erscheinen, als lebten alle Seetiere in einer allen gemeinsamen gleichartigen Welt. Das nähere Studium lehrt uns, daß jede dieser tausendfach verschiedenen Lebensformen eine ihm eigentümliche Umwelt besitzt, die sich mit dem Bauplan des Tieres wechselseitig be- dingt.
Es kann nicht wundernehmen, daß die Umwelt eines Tieres auch andere Lebewesen mit umschheßt. Dann findet diese wechselseitige Bedingtheit auch zwischen den Tieren selbst statt und zeitigt das merkwürdige Phänomen, daß der Ver- folger ebensogut zum Verfolgten paßt, wie der Verfolgte zum
Q Einleitung.
Verfolger. So ist nicht bloß der Parasit auf den Wirt, sondern auch der Wirt auf den Parasiten angepaßt.
Die Versuche, diese wechselseitige Zusammengehörigkeit benachbarter Tiere durch allmähliche Anpassung zu erklären, sind kläglich gescheitert. Sie haben zudem das Interesse von der nächstliegenden Aufgabe abgewandt, die darin besteht, erst einmal die Umwelt eines jeden Tieres sicherzustellen.
Diese Aufgabe ist nicht so einfach, wie der Unerfahrene glauben könnte. Es ist freiHch nicht schwierig ein beliebiges Tier in seiner Umgebung zu beobachten. Aber damit ist die Aufgabe keineswegs gelöst. Der Experimentator muß festzu- stellen suchen, welche Teile dieser Umgebung 'auf das Tier ein- wirken und in welcher Form das geschieht.
Unsere anthropozentrische Betrachtungsweise muß immer mehr zurücktreten und der Standpunkt des Tieres der allein ausschlaggebende werden.
Damit verschwindet alles, was für uns als selbstverständlich gilt: die ganze Natur, die Erde, der Himmel, die Sterne, ja alle Gegenstände, die uns umgeben, und es bleiben nur noch jene Einwirkungen als Weltfaktoren übrig, die dem Bauplan entsprechend auf das Tier einen Einfluß ausüben. Ihre Zahl, ihre Zusammengehörigkeit wird vom Bauplan bestimmt. Ist dieser Zusammenhang des Bauplanes mit den äußeren Faktoren sorgsam erforscht, so rundet sich um jedes Tier eine neue Welt, gänzlich verschieden von der unsrigen, seine Umwelt.
Ebenso objektiv wie die Faktoren der Umwelt sind, müssen die von ihnen hervorgerufenen Wirkungen im Nerven- system aufgefaßt werden. Diese Wirkungen sind ebenfalls durch den Bauplan gesichtet und geregelt. Sie bilden zu- sammen die Innenwelt der Tiere.
Diese Innenwelt ist die unverfälschte Frucht objektiver Forschung und soll nicht durch psychologische Spekulationen getrübt werden. Man darf vielleicht, um den Eindruck einer solchen Innenwelt lebendig zu machen, die Frage aufwerfen, was würde unsere Seele mit einer derart beschränkten Innen- welt anfangen. Aber diese Innenwelt mit seelischen Qualitäten auszumalen und aufzuputzen, die wir ebensowenig beweisen wie ableugnen können, ist keine Beschäftigung ernsthafter Forscher.
Einleitung. 7
Über der Innenwelt und der Umwelt steht der Bauplan, alles beherrschend. Die Erforschung des Bauplanes kann meiner Überzeugung nach allein die gesunde und gesicherte Grundlage der Biologie abgeben. Sie führt auch Anatomie und Physio- logie wieder zusammen zu ersprießUcher Wechselwirkung.
Wird die Ausgestaltung des Bauplanes für jede Tierart in den Mittelpunkt der Forschung gestellt, so findet jede neu- entdeckte Tatsache ihre naturgemäße Stelle, an der sie erst Sinn erhält und Bedeutung.
Der Inhalt des vorliegenden Buches soll dem Zwecke dienen, die Bedeutung des Bauplanes möglichst eindringUch vor Augen zu führen und an einzelnen Beispielen zu zeigen, wie Umwelt und Innenwelt durch den Bauplan miteinander zusammenhängen. Ein Lehrbuch der speziellen Biologie wird hier nicht geboten, sondern nur der Weg gezeigt, auf dem man zu ihm gelangen könnte.
In der Auswahl der vorliegenden Beispiele bestimmte mich vor allem der Wunsch, möglichst planmäßige Bilder zu geben. Natürlich sind überall Lücken vorhanden, und zwar nicht bloß im physiologischen, sondern auch im anatomischen Material. Da ich andererseits nur solches anatomische Material brauchen konnte, das physiologisch belebt war, mußte die große Masse anatomischer und zoologischer Erkenntnisse fortfallen. Ebenso mußten alle physiologischen Ergebnisse vernachlässigt werden, die nur physikalisches oder chemisches Interesse boten. Aber auch jene Strukturen, deren Leistungen gut erforscht sind, mußten unberücksichtigt bleiben, wenn ihre Komphkation zu große Anforderungen an das Vorstellungsvermögen des Lesers stellten.
Endhch habe ich mich auf die Wirbellosen beschränkt, weil ich dort selbst zu Hause bin, die höheren Tiere Be- rufenerem überlassend. Von den Wirbellosen bheben die Bienen und Ameisen unberücksichtigt, weil über sie bereits eingehende Lehrbücher vorhanden sind.
Ich könnte nun zu dem Inhalte des Buches übergehen, denn der Gesichtspunkt, von dem aus es betrachtet werden soll, ist ausreichend dargelegt. Aber noch erübrigt auf die- jenigen Meinungen einzugehen, die der Biologie eine andere Grundlage zu geben bestrebt sind.
g Einleitung.
Was auf die eben dargelegte Weise entstehen kann, ist eine spezielle Biologie aller Tierarten. Eine solche Biologie würde sehr einseitig sein, wenn sie auf das Hilfsmittel der Vergleichung verzichtete. Alle Tiere vollführen ihre anima- lischen Leistungen mit Hilfe von Geweben, die sich durch die ganze Tierreihe hindurch sehr ähnlich bleiben. Muskelgewebe und Nervengewebe zeigen überall analoge Leistungen, mögen sie sich in noch so verschiedenartigen Organen zusammenfinden. Dies ist von großer Bedeutung für die spezielle Biologie, denn die allgemein gültigen Eigenschaften der Muskel und Nerven lassen sich auch bei jenen Tieren als gültig voraussetzen, deren Körperbeschaffenheit keine physiologische Analyse bis herab auf die einzelnen Gewebe zuläßt. Es wird daher die ver- gleichende Physiologie der Gewebe immer ein sehr notwendiger Bestandteil der speziellen Biologie bleiben und, es läßt sich auch nichts dagegen sagen, wenn man die vergleichende Gewebs- kunde der Besprechung der einzelnen Tiere vorangehen läßt. Ich habe davon Abstand genommen, weil ich zeigen wollte, in welchen Tierarten wir am leichtesten zu allgemeineren Schlüssen für die allgemeine Gewebskunde gelangen.
Ganz anders nimmt sich die Biologie aus, wenn man die Vergleichung zur Grundlage des ganzen Studiums macht. Dies ist durch Loeb geschehen, und zwar in einer außerordentlich originellen und interessanten Weise.
Die große Mehrzahl der tierischen Bewegungen geht fol- gendermaßen vonstatten : Ein äußerer Reiz wirkt auf ein Rezeptionsorgan, dieses erteilt dem Nervensystem eine Erregung. Vom Nervensystem geleitet erreicht die Erregung schließlich den Muskel, der sich dann verkürzt. Diesen Vorgang nennt man einen Reflex. Loeb fand nun, daß eine große Anzahl von Tieren, wenn sie ganz elementaren Reizen ausgesetzt wer- den, wie es Licht, Schwere oder einfache chemische Substanzen sind, stets mit einer geordneten Bewegung antworten, durch die sie sich entweder der Reizquelle zu- oder von ihr abwenden. Er sah darin einen elementaren Vorgang, den er als Trop Is- mus bezeichnete und je nach der Richtung, die von der Be- wegung eingeschlagen wurde, sprach er von positivem oder negativem Tropismus.
Loeb selbst hat die Möglichkeit zugegeben, daß es sich
Einleitung. 9
bei vielen Tropismen um noch nicht genügend analysierte Re- flexe handeln könne. Aber bestimmte Tropismen, z. B. den Phototropismus, der auf einseitige Belichtung eintritt, will er als ein den physikalischen Phänomen gleichzusetzendes Ele- mentarphänomen angesehen wissen. Es sollen die Lichtstrahlen bei ihrem Durchgang durch den Tierkörper diesen zu drehen befähigt sein wie etwa ein Magnet die Eisenfeilspäne. Tiere, die auf diese Weise auf das Licht reagieren, nennt man photo- pathische.
Es besteht aber kein Zweifel, daß in vielen Fällen das Licht einfach auf der beleuchteten Seite des Tieres einen Re- flex auslöst, der zu einer einseitig gerichteten Bewegung führen muß, da auf der beschatteten Seite kein Reflex entsteht. Die Tiere, die auf diese Weise gegen das Licht reagieren, nennt man phototaktische.
Der photopathische Phototropismus ist ein physikalischer Vorgang, der phototaktische dagegen ein Reflex.
Nun hat Fr. Lee an einzelligen Tieren nachweisen können, daß die photopathische Erklärung ihrer Bewegungen sehr wohl durch eine phototaktische ersetzt werden kann.
Neuerdings hat Radi den Nachweis zu führen versucht, das Licht wirke auf Insekten ebenso richtunggebend wie die Gravitation auf einen schwebenden Körper. Dagegen hat G. Bohn gefunden, daß die unzweifelhafte richtunggebende Wirkung der beleuchteten Gegenstände auf Schnecken und Krebse abhängig ist vom physiologischen Zustand der Tiere.
Man sieht daraus, wie unsicher die Deutung dieser Vor- gänge ist.
Zwar erscheint es verlockend, alle Bewegungen der Tiere auf Tropismen zurückzuführen, denn das überhebt uns der Aufgabe, die scheinbar einfachen Vorgänge als Leistungen einer schwer zu ermittelnden Struktur zu behandeln. Aber eine sichere Grundlage gewannt man nur durch das Studium der Struktur und des Bauplanes.
Schon jetzt scheint diese Ansicht mehr und mehr Boden zu gewinnen. Aber nur ein Teil der Forscher wendet sich dem Studium des Bauplanes zu. Ein anderer folgt einer neuen Lehre, die das Studium des Bauplanes verwirft und die Tiere frei von jeder Analogie mit den Maschinen betrachten will.
IQ Einleitung.
Es ist ja zweifellos, daß die Ermittelung des Bauplanes der Tiere nur dann einen Sinn hat, wenn die Struktur der Tiere der Struktur der Maschinen gleichzusetzen ist.
Wir nähern uns damit der Grundlage aller Biologie, die nicht durch Spekulation entschieden werden kann, sondern nur durch Beobachtung der lebenden Substanz, auf der sich alle Lebewesen aufbauen, während die Maschinen aus totem Stoff bestehen — dem Protoplasmaproblem.
Das Protoplasmaproblem.
Die Wissenschaft der organischen Welt ist alt genug, um die Erwartung zu rechtfertigen, daß es eine eindeutige und allgemein anerkannte Definition des Begriffes Organismus gebe. Das ist leider keineswegs der Fall, und unter dem gleichen Wort Organismus werden die verscliiedensten Dinge verstanden, je nachdem welcher Theorie der Verfasser folgt.
Es ist deshalb notwendig, den Begriff des Organismus historisch abzuleiten und seine Beziehungen zum Begriff Maschine, mit der er so häufig verwechselt wird, klarzulegen.
Man wird, ohne beiden Begriffen Gewalt anzutun, die Maschinen als unvollkommene Organismen ansprechen können, weil alle prinzipiellen Eigenschaften der Maschine sich bei den Organismen wiederfinden. Dagegen ist es unmöghch, die Orga- nismen ohne weiteres als Maschinen zu bezeiclmen. Auf welchem Standpunkte man auch stehen möge, immer wird man mehr oder weniger starke Abzüge von den Eigenschaften der Orga- nismen machen müssen, ehe man ihnen die Bezeichnung maschinell beilegen darf.
Jene Eigenschaften der Organismen, durch welche sie den Maschinen überlegen sind, kann man passend als über- maschinelle Eigenschaften bezeichnen. Unter diesen sind am leichtesten erkennbar die Formbildung und die Regene- ration. Das sind beides Eigenschaften, welche die Ent- stehung der Organismen betreffen, die ja zweifellos ganz anders verläuft als diejenige der Maschinen.
Demgegenüber nimmt man allgemein an, daß die ausge- bildeten Organismen keine übermaschinellen Fähigkeiten auf- weisen. In einem prinzipiellen Punkt ist auch sicher eine Über-
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12 I^^s Protoplasmaproblem.
einstimmung zwischen den Maschinen und den Organismen vorhanden. Beide bestehen aus einzelnen Teilen, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Die Vereinigung der Teile zum Ganzen ist in beiden Fällen keine bloß formale, sondern eine funktionelle, d. h. die Leistungen der einzelnen Glieder einer Maschine oder eines Organismus vereinigen sich zur Gesamt- leistung des Ganzen.
Dieses Zusammenwirken der Teile können wir uns in einem räumlichen Schema sowohl für die Maschinen wie für die Orga- nismen zur Anschauung bringen. Dieses räumliche Schema nennt man den Organisationsplan oder den Bauplan. Jeder Bauplan ist in diesem Sinne nichts anderes als ein Grundriß, den wir entwerfen, nachdem wir von einem Organismus oder einer Maschine nähere Kenntnis gewonnen haben. Der Bau- plan zeigt uns, in welcher Form die Prozesse innerhalb des untersuchten Gegenstandes ablaufen. Er will weiter nichts als eine übersichtliche Beschreibung der Vorgänge liefern. Nur wenn man sich fest an diese Bedeutung des Wortes Bauplan hält, wird man vor Irrtümern bewahrt, die mit Notwendigkeit eintreten, sobald man dem Bauplan irgendwelchen Einfluß auf den Ablauf des Prozesses im Orgnanismus oder in der Maschine einräumt.
Hierin sind sich also Maschinen und ausgebildete Orga- nismen völlig gleich. Von beiden kann man einen anschau- lichen Plan entwerfen, mit lauter im Raum nebeneinander ge- lagerten Gliedern oder Organen.
Die Entstehung der Maschinen und die Entstehung der Organismen ist aber eine durchaus verschiedene. Die Maschinen sind alle von Menschen gemacht, die Organismen entstehen aus sich selbst. Darin liegt ihre hauptsächlichste übermaschinelle Fähigkeit.
Die neueren Forschungen haben jetzt zweifellos klargelegt, daß jedes Tier aus einem undifferenzierten Keim entsteht, und erst nach und nach Struktur gewinnt, welche anfangs in all- gemeinen Zügen auftritt, um sich dann allmählich bis ins ein- zelne auszugestalten.
Wenn wir die Entstehung eines Tieres beschreiben wollen, so fassen wir sie in eine Regel, welche die zeitUchen Folgen der einzelnen Phasen festlegt. Im Gegensatz zum Bauplan, der
Das Protoplasmaproblem. 13
eine räumliche Darstellung der Vorgänge gibt, gibt die Bildung s - regel eine Darstellung des zeitlichen Ablaufes aller Vorgänge. Auch hier Hegt die Gefahr nahe, anstatt von einer sub- jektiven Bildungsregel zureden, in welcher wir die Lebens- vorgänge einfügen, von einem objektiven Bildungsgesetz zu sprechen, das die Lebens Vorgänge beherrscht. Weder Bau- plan noch Bildungsregel haben das mindeste mit dem wirk- Hchen Naturfaktor zu tun, welcher die physikaUsch-chemischen Prozesse zwingt, besondere Bahnen einzuschlagen.
Regel und Plan sind nur die Form, in der wir die Wirkungen jenes Naturfaktors erkennen. Er selbst ist uns völHg unbe- kannt. Driesch nennt ihn in Anlehnung an Aristoteles die ,,Entelechie", Karl Ernst von Bär nannte ihn die „Ziel- strebigkeit".
Soviel scheint festzustehen, daß für die Tätigkeit dieses Naturfaktors die Strukturlosigkeit der lebendigen Substanz Vor- bedingung ist. Jedenfalls wird, während die Struktur im Laufe der individuellen Entwicklung jedes einzelnen Tieres auftritt, gleichzeitig die Fähigkeit zur Bildung neuer Struktur immer mehr und mehr eingeschränkt, so daß man wohl sagen darf: Struktur hemmt Strukturbildung.
Es ist natürlich von höchster Bedeutung, etwas Näheres über diesen rätselhaften Naturfaktor zu erfahren, der gerade dort am tätigsten ist, wo man es am wenigsten erwarten sollte, in der undifferenzierten Grundsubstanz des Keimes — dem Protoplasma. Das Studium des Protoplasmas gewährt da- her die meiste Aussicht über den großen Unbekannten etwas Näheres zu erfahren.
Das Protoplasma oder die lebendige Substanz ist nicht allein das Ausgangsstadium aller tierischen und pflanzlichen Zellen, denn alles Lebende entsteht aus dem einfachen Proto- plasmakeim. Es erhält sich auch in fast allen Zellen des er- wachsenen Tierkörpers, wenn auch in kleinen Mengen. Außer- dem erhält sich das Protoplasma als Körpersubstanz bei den einzelligen Tieren während ihres ganzen Lebens.
Die Einzelligen lassen zum Teil aus dem Protoplasma dauernde Organe hervorgehen, wie Schalen, Stacheln, Wimpern u. dgl., aber es gibt doch eine Anzahl ganz einfache Tiere, die faktisch nichts anderes sind als ein Klümpchen flüssigen
14 I^^s Protoplasmaproblem.
Protoplasmas. Und trotzdem führen sie wie alle übrigen Tiere ein reiches Leben, stehen in steter Wechselwirkung mit ihrer Umgebung, bewegen sich, nähren sich und pflanzen sich fort, wie die höchsten Organismen.
Da man, wie wir sahen, die ausgebildeten höheren Tiere mit Maschinen vergleichen kann, so durfte man annehmen, daß die EinzelHgen sich ebenfalls mit Maschinen vergleichen lassen müssen. Hier trat nun die große prinzipielle Schwierigkeit ein, die in den 80 Jahren der Geschichte des Protoplasmas eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Die Schwierigkeit, die sich am prägnantesten in die Worte fassen läßt : Kann es flüssige Maschinen geben?
Das Protoplasmaproblem beginnt in der Zoologie seine Rolle zu spielen, als Duj ardin im Gegensatz zu Ehrenberg das Vorhandensein einer inneren Organisation bei den Ein- zelligen leugnete. Er führte den Namen Sarkode ein und schrieb darüber: ,,Ich schlage vor jenes so zu nennen, was an- dere Beobachter eine lebende Gallerte genannt haben, jene Sub- stanz, die klebrig, durchscheinend, unlöslich im Wasser sich zu kugeligen Massen zusammenzieht . . . bei allen niederen Tieren an- zutreffen ist, eingefügt zwischen die anderen Struktur demente."
Die umfassende Bedeutung des Protoplasmas als gemein- sames Lebenselement aller Zellen hat dann Max Schnitze erkannt, der auch den Begriff der Zelle neu formulierte. ,,Eine Zelle ist ein Klümpchen Protoplasma, in dessem Inneren ein Kern liegt." An Stelle des Wortes ,, Sarkode" setzte er das den Botanikern entlehnte Wort ,, Protoplasma". Was haben wir unter Protoplasma zu verstehen? ,,Eine kontraktile Sub- stanz, welche nicht mehr in Zellen zerlegt werden kann, auch andere kontraktile Formelemente als Fasern u. dgl. nicht mehr enthält." ,,Das Protoplasma, dem schon vorher Kontraktilität zu- kam — die ungeformte kontraktile Substanz — formt sich durch innere Veränderungen und liefert die Muskelfasern, ohne jedoch ganz zu verschwinden. Zwischen den Fibrillen der kontraktilen Substanz führt es sein Zellenleben weiter. Ebenso bleibt es in fast allen Zellen des Körpers am Leben."
Das Protoplasma hat nach Max Schnitze außer seiner flüssigen Konsistenz und seiner Kontraktilität noch sehr wunder- bare Eigenschaften. Es zeichnet sich aus „durch sein, wenn
Das Protoplasmaproblem. 15
man so sagen darf, zentripetales Leben, durch die Eigentüm- lichkeit, mit dem Kern ein Ganzes zu bilden, in einer gewissen Abhängigkeit von ihm zu stehen."
Ferner schreibt er: ,,Eine Zelle mit einer vom Protoplasma chemisch differenzierten Membran ist wie ein enzystiertes Infu- sorium, wie ein gefangenes Ungetüm . . . doch laßt das ungestüm sich teilende, von dem noch ungestümeren Kern stets von neuem angestachelte Protoplasma seine Hülle sprengen, ... und das entfesselte Protoplasma wird zu Manches Schrecken von seiner Freiheit Gebrauch machen."
Gegen die Tendenz einer bloßen Flüssigkeit so merkwürdige Eigenschaften zuzuschreiben, wandte sich vor allem Reichert, der an dem maschinellen Bau der Einzelligen festhielt und die Pseudopodien für kontraktile Organe erklärte.
Auch Brücke konnte sich mit dem Gedanken einer kon- traktilen Flüssigkeit nicht befreunden und hielt die Flüssigkeit in den Protozoen für nur passiv bewegt durch die geformte Außenschicht, was Schnitze zu einer nochmaligen Darstellung der Vorgänge in den netzförmigen Pseudopodien der Süßwasser- rhizopoden veranlaß te. Diese Darstellung ist so künstlerisch anschaulich, daß sie als klassisches Dokument erhalten zu werden verdient.
Man denke sich ein mikroskopisches Tierchen, das die Form einer Eierschale besitzt, die an einer Spitze geöffnet ist, aus dieser Öffnung entströmt das Protoplasma, das den Innen- raum des Eies ausfüllt, oder man stelle sich einen kleinen Stern vor, der nach allen Seiten durchsichtige Fäden ausstrahlt, an deren Oberfläche das flüssige Protoplasma sich ausbreitet. Immer erhält man folgendes Bild: ,,Wie auf einer breiten Straße die Spaziergänger, so wimmeln auf einem breiteren Faden Körnchen durcheinander; wenn auch manchmal stockend und zitternd, doch immer eine bestimmte, in Längsrichtung des Fadens entsprechende Richtung verfolgend. Oft stehen sie mitten in ihrem Laufe still und kehren dann um, die meisten jedoch gelangen bis zum äußersten Ende der Fäden und wechseln hier selbst ihre Richtung. Nicht alle Körnchen eines Fadens bewegen sich mit gleicher Schnelligkeit, so daß oft eins das andere überholt, ein schnelleres das langsamere zu größerer Eile treibt oder an dem langsameren in seiner Be-
16 Das Protoplasmaproblem.
wegung stockt. Wo mehrere Fäden zusammenstoßen, sieht man die Körnchen von einem auf den anderen übergehen." Die strahlenförmigen Fäden sind konsistenter als das flüssige Protoplasma, aber auch kontraktil.
Bei vielen Rhizopoden, die in einer Schale stecken, sind die Pseudopodien durchgängig dünnflüssig und verfließen leicht ineinander. „Daß aber die Willkür," fährt Schnitze fort, „mit im Spiele ist, geht schon daraus hervor, daß die Ver- schmelzung der aneinanderstoßenden Fäden verschiedener Indi- viduen bestimmt nicht stattfindet, wie ich mich bei dicht nebeneinander auf den Objektträger gebrachten Individuen sehr oft überzeugt habe. Die Fäden weichen dann vor ihres- gleichen wie vor einem schlimmen Feind zurück."
Auch Kühne ^), der die Grundlage für die gesamte experi- mentelle Physiologie der Einzelligen gelegt hat, spricht von dem Willen, der im Vortizellenglöckchen steckt, ohne an der flüssigen Natur des Protoplasmas zu zweifeln.
In schärfsten Gegensatz zu Reichert trat Haeckel. Er schrieb : ,,Die Sarkode blieb was sie war — eine kontraktile zähflüssige, schleimige Eiweißsubstanz, in der jedes Partikelchen allen anderen gleichwertig erschien und alle Funktionen dieses allereinfachsten Organismus gleichmäßig vollzog."
Haeckel hatte kein Auge für die Gründe seiner Gegner, obwohl Brücke in überzeugender Weise auf die Schwierig- keiten des Protoplasmaproblems hingewiesen hatte : „Wir können uns keine lebende vegetierende Zelle denken, mit homogenem Kern und homogener Membran und einer bloßen Eiweißlösung als Inhalt, denn wir nehmen diejenigen Erscheinungen, welche wir als Lebenserscheinung bezeichnen, am Eiweiß als solchem überhaupt nicht wahr. Wir müssen deshalb den lebenden Zellen, abgesehen von der Molekularstruktur der organischen Verbindungen, welche sie enthält, noch eine andere und in anderer Weise komplizierte Struktur zuschreiben, und diese ist es, welche wir mit dem Namen Organisation bezeichnen.
Die zusammengesetzten Moleküle der organischen Verbin- dungen sind hier nur Werkstücke, die nicht in einförmiger
^) Kühne und nicht Verworn hat die Umkehr des Pflügerschen Gresetzes bei den Einzelligen entdeckt.
Das Protoplasmaproblem. ][7
Weise neben dem anderen aufgeschichtet, sondern zu einem
lebendigen Bau kunstreich zusammengefügt sind Wir
wissen, daß mit der Abnahme der Dimensionen sich die Natur der Mittel ändert, durch welche Kräfte der anorganischen Welt dem Organismus dienstbar gemacht werden. Aber abgesehen von den hierdurch bedingten Verschiedenheiten und abgesehen von der geringeren Summe der zusammengesetzten Teile haben wir kein Recht, einen kleinen Organismus für minder kunstvoll
gebaut zu halten, als einen von großen Dimensionen
Für uns ist der Zelleninhalt, die Hauptmasse des Zellenleibes, selbst ein komplizierter Aufbau aus festen und flüssigen Teilen.*'
Hier tritt zum ersten Male die Schwierigkeit, sich eine kontraktile Flüssigkeit zu denken, in den Hintergrund. Dafür wird um so deutlicher der Flüssigkeitscharakter des Proto- plasmas als unmöglich abgelehnt, weil es in einer Flüssigkeit keine Struktur geben kann.
Die Schwierigkeit, die Beobachtung mit der Logik in Übereinstimmung zu bringen, hat zu den verschiedensten Aus- wegen geführt und es ist nicht leicht, das Problem gegenüber allen Abschwächungsversuchen unzweideutig vor Augen zu be- halten. Am deutlichsten erkennt man das wahre Wesen des Protoplasmaproblems, wenn man sich an die unbeschalten Rhizopoden, die Amöben, hält.
Die Beobachtung der Amöben lehrt einerseits, daß diese Tiere sich wie gegliederte Organismen benehmen, und anderer- seits, daß sie keine Gliederung, sondern nur eine flüssige Leibes- substanz besitzen. Es ist aber unmöghch, gleichzeitig geglie- dert und nicht gegliedert zu sein.
Daher ist es verständlich, daß ein Teil der Forscher die eine Seite der Beobachtung, ein anderer Teil die andere Seite in Zweifel zog. Zunächst versuchte man sich dadurch aus der Verlegenheit zu helfen, daß man ein lebendiges Urelement annahm, welches die wichtigsten Lebenserscheinungen in sich vereinigte. Analog den Molekülen einer zusammengesetzten Substanz, die allein alle Eigenschaften der Substanz in sich tragen, erfand man lebendige Urelemente, beinahe ein Dutzend an der Zahl.
Für uns sind diese Versuche ohne Interesse. Denn es handelt sich gar nicht um die Frage, was noch lebendig ge-
V. UexküU, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 2
]^8 Das Protoplasmaproblem.
nannt werden kann, sondern darum, ob die ganze Amöbe eine Struktur besitzt oder nicht.
Auch der Ausweg, von halbweicher oder festweicher Sub- stanz zu sprechen, hilft uns nicht weiter. Die flüssige Ma- schine ist deshalb ein Unding, weil in einer Flüssigkeit sich alle Teilchen gegenseitig vertreten können und keinerlei An- ordnung zeigen, während die Maschinenstruktur unwandelbare Ordnung bedeutet.
Ebensowenig ist es möglich, alles auf Stoff Wechselprozesse zu schieben, denn auch diese bedürfen, um geordnet zu ver- laufen, der strukturellen Anordnung, der chemisch wirksamen Teile.
Da kam von selten Bütschlis der erste erfolgreiche Ver- such, in einer Flüssigkeit Struktur nachzuweisen. Es gelang ihm, vollkommen flüssige Tröpfchen darzustellen, die aus einer innigen schaumigen Mischung zweier Flüssigkeiten stammen. In den Tropfen befand sich die eine Flüssigkeit als Inhalt von tausend kleinen Kammern, die durch das Wabenwerk der anderen Flüssigkeit gebildet wurden. In reines Wasser gesetzt, zeigten die Tropfen eine lebhafte Bewegung, denn die Wasser- aufnahme änderte die inneren Spannungs- und Mischungsver- hältnisse dauernd und erzeugte immer neue Verschiebungen des Wabenwerkes.
Damit war endlich der Beweis erbracht, daß es kontrak- tile Flüssigkeiten gebe. Aber eine feste Anordnung der Teile, wie sie die Struktur der Maschine fordert, gab es doch nicht, denn die einzelnen Waben ließen sich anstandslos gegeneinander vertauschen.
Diesen Übelstand erkannte Rhumbler ganz klar, und er versuchte es, an Stelle der homogenen Wabenstruktur eine nicht homogene (anomogene) zu setzen, indem er annahm, daß die einzelnen Waben oder Alveolen im Protoplasma in bestimmter Weise an verschiedenen Orten mit verschiedenem Inhalt gefüllt sind. ,,Die Wabenlehre liefert auch hier wieder das einfachste Verständnis für die Verschiedenheiten und die Möglichkeit ihrer Auf rechterhalt ung. Die innere Zellspannung, welche den Wabenbau im Gefolge hat, wird unter nicht unbe- trächtlichem Arbeits- und Kräfteaufwand eine Verschiebung der einzelnen Alveolen zulassen, vorausgesetzt, daß das Alveolen- system im Spannungsgleichgewichte ist. Sind die Waben nun
Das Protoplasmaproblem, 19
ihrem Charakter nach verschieden, wie es die verschiedenartige Differenzierung der Zelle in ihren Einzelabschnitten zur Voraus- setzung hat, so wird durch die festgespannte Lage der Einzel- waben auch die Struktur der Zelle aufrecht erhalten werden, solange nicht besondere chemische, thermische oder struktu- relle Veränderungen die innere Zellspannung verändert und der oft gehörte Einwand, daß sich eine feststehende Zellstruk- tur nicht mit einem flüssigen Aggregatzustand des Protoplas- mas vertrage, wird hinfälhg, er verträgt sich mit ihm, sobald man nicht eine einfache Flüssigkeit, sondern ein flüssiges Schaum- gemenge in Vergleich setzt."
In dieser Auseinandersetzung findet sich ein kleiner Wider- spruch. Es heißt: ,,So wird .... die Struktur der Zelle auf- recht erhalten werden, solange nicht .... strukturelle Ver- änderungen die innere Zellspannung verändert." Und wenn strukturelle Veränderungen eingetreten sind, wer wird dann die Struktur der Zelle wieder herstellen?
Doch lassen wir diesen Widerspruch fürs erste auf sich beruhen, so müssen wir zugeben, daß es Rhumbler gelungen ist, das Bild einer Struktur in einem Flüssigkeitstropfen zu entwerfen. Die verschiedenen Spannungen in verschiedenen räumlich geordneten Waben können sich gegenseitig so beein- flussen, daß sie jeder gewaltsamen Verschiebung der Teile einen gewissen Widerstand entgegensetzen und dermaßen die Wirkung einer festen Struktur ausüben. Alles natürlich unter der Vor- aussetzung, daß der flüssige Tropfen nicht fließt. Denn fängt er an zu fließen, d. h. verschieben sich die Teile regellos durch- einander, so erleidet der Tropfen strukturelle Veränderungen, und wer bringt dann wieder Ordnung hinein, wenn die Struk- tur verloren ist?
Und nun hören wir, was Rhumbler über die Bewegungs- art des Protoplasmas berichtet. An Pflanzenzellen (Charazeen) hat Rhumbler die Protoplasmaströmung untersucht und auf ihre physikalischen Eigenschaften hin geprüft, indem er sie verschiedenen Drucken aussetzte. Dabei stellte sich heraus, ,,daß die Strömungsgeschwindigkeit von den auf das Deckglas ausgeübten Drucken ganz unabhängig war .... die strömende Substanz erweist sich den genannten Drucken gegenüber in jeder Beziehung als eine Flüssigkeit."
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20 3Das Protoplasmaproblem.
Das Ergebnis der direkten Beobachtung eines kreisenden Plasmastromes formuliert Rhumbler folgendermaßen: ,, Diese Ausschaltung gewisser Protoplasmateile aus der Kreisströmung der übrigen, ohne daß der Konnex zwischen beiden gelöst wird, zeigt, daß der ausgeschaltete ruhende Plasmateil durch keine Struktur von irgendwelcher Festigkeit mit dem strömenden Teil verkettet sein kann."
Also gibt es im strömenden Protoplasma keinerlei Struktur. Auch eine Spannungsstruktur, die die Waben in festen Ab- ständen bewahrt, kommt nicht zum Vorschein. Sind wir jetzt von der Strukturlosigkeit des Protoplasmas überzeugt, so wer- den wir naturgemäß daran zweifeln, daß die Wesen, die bloß aus einer flüssigen Substanz bestehen, sich benehmen können wie höhere organisierte Tiere. Vielleicht zeigen diese Wesen die Eigenschaften eines Chloroformtropfens auf Schellack, der ja auch, wie Rhumbler nachweisen konnte, sich bewegt und in der Aufnahme von festen Körpern eine gewisse Auswahl trifft. Ähnliche einfache mechanische Eigenschaften sind wir bereit, den strukturlosen Protoplasmatropfen zuzuschreiben und auf Rechnung ihres Wabenbaues zu setzen, aber alles andere wird wohl Phantasie sein.
Und nun hören wir einen der besten modernen Rhizo- podenkenner: Penard. Penard bestätigt die flüssige Natur und völlige Strukturlosigkeit des Protoplasmas. Selbst der Unter- schied zwischen der dichteren Außenschicht (Ektosark) und der flüssigeren Innenschicht (Entosark) ist bei den Amöben kein wesenthcher. ,,Es liegt in der Natur des lebenden Protoplas- mas selbst die Fähigkeit begründet, sich bei der Berührung mit dem Wasser zu erhärten, indem es eine Schicht formt, welche dichter und widerstandsfähiger ist. So wird bei den Amöben, sobald sich an der Oberfläche des Körpers ein plötzlicher Riß gebildet hat, durch den ein heftiger Strom flüssigen Entosarks austritt, diese Masse, anstatt weit weg zu fhegen und verloren zu gehen, augenbUcklich den peri- pheren Schichten eingefügt und gelangt nur dazu, einen Lappen zu bilden, während gleichzeitig das Entosark Ektosark geworden ist.**
Bei Amoeba limicola ist die Verwandlung von Entosark in Ektosark sogar die Regel, denn ihre Fortbewegung geschieht
Das Protoplasmaproblem. 21
durch eine Folge plötzlicher Zerreißungen und Ausströmung des Entosarks mit nachträglicher Verhärtung des Plasmas.
Amoeba limax fließt mit dem ganzen Körper davon. Manchmal erhebt sie sich aber mit dem Vorderende, während ihr Hinterende am Boden haftet, und vollführt schnelle tas- tende Bewegungen.
Noch merkwürdiger ist, was Penard von einer anderen Amöbe berichtet auf S. 78 seines interessanten Werkes. „Wenn man dann einen Augenblick das Tier beobachtet, sieht man es die verschiedenartigsten Formen annehmen. Nach allen Richtungen des Raumes entwickeln sich die nicht sehr zahl- reichen Arme und sozusagen gestützt bald auf die einen, bald auf die anderen bewegt es sich auf gut Glück vorwärts in langsamer Gangart, wie eine Spinne auf ihren Beinen, oft auch allem Anscheine nach auf ihrem Pseudopodien rollend. Diese selbst sind während der Zeit in dauernder Umgestaltung be- griffen. Sie verlängern sich, sie verkürzen sich, sie kehren in die gemeinsame Masse zurück, um anderweitig wieder zu er- scheinen. Oder sie bewegen sich in einem Stück, indem sie die umgebende Flüssigkeit auskundschaften, und die Gesamt- form wechselt ohne Aufhören. . . . Das Tier liebt es auch, sich mit einem Pseudopodium auf irgendeinen' Gegenstand festzusetzen .... während die anderen Arme sich wie Ten- takel entwickeln und dem Tier das Aussehen einer Hydra geben.
Die eben gegebene Beschreibung bezieht sich aber nur auf das Tier im Ruhezustand oder bei langsamem Gang. Alles ändert sich, wenn die Fortbewegung schneller werden soll. Dann sieht man einige Pseudopodien sich auf sich selbst zurück- ziehen — der Achsenstrom, der sie durchläuft, geht dabei von der Spitze zur Basis, während andere Pseudopodien sich aus- breiten, die einen mit den anderen zusammenfließen und zu einer einzigen Masse verschmelzen. Zum Schluß haben wir eine Amoeba limax vor uns, manchmal selbst mit einem aus- gezackten kaudalen Saum versehen, die sich in gerader Linie in beschleunigte Bewegung setzt."
Hyalosphaenia punctata besitzt ein großes Pseudopodium. ,, Dieses Pseudopodium zeigt sich mit einer besonders bemerkens- werten Aktivität begabt und funktioniert mittels schneller Wellen, die sich Schlag auf Schlag folgen, es umformend, teilend
22 Das Protoplaaiiiaproblena.
oder ausbreitend. Wenn das Tier zu einer Masse von Zer- setzungsprodukten gelangt, flacht es sein Pseudopodium erheb- lich ab und führt es dem Anscheine nach wie eine Klinge in die Mitte des Detritus."
Das Erstaunlichste leistet das Protoplasma, wenn es Organe hervorzaubert, die völlig differenziert, nur zu einem eng um- grenzten Beruf geschaffen sind und gleich darauf in die form- lose Körpermasse wieder aufgehen. Penard berichtet über eine beschalte R-hizopode Difflugia capreolata folgendes: ,,Wir sehen dann ein starkes und verlängertes Pseudopodium .... Wenn wir dann mit Aufmerksamkeit das Ende des langen Pseudopodiums verfolgen, sehen wir plötzlich an seiner Ober- fläche zwei kleine Bogenlinien entstehen, die sich mit ihrer Konkavität gegenseitig anschauen. Diese Linien sind der Aus- druck einer kleinen Welle, welche sich unterhalb der Pseudo- podienspitze bildet, wächst und sich wie ein Saugnapf auf- treibt .... Dieser Pseudosaugnapf heftet sich an die Unter- lage und man sieht die Myriaden außerordentlich feiner Stäub- chen, die das Innere des Pseudopodiums ausfüllen und die während seiner Formung von hinten na^h vorne zogen, still- stehen und da und dort umkehren. Zur gleicher Zeit bilden sich kleine Wellen längs des Pseudopadiums, das sich auf sich selbst zurückzieht. Zum vorne festsitzenden Saugnapf sich hinziehend, schleppt es hinter sich die Schale her. Aber bald löst sich der Saugnapf, das Pseudopodium schrumpft völlig zusammen und kehrt in das Bukalplasma zurück."
Wenn ich noch hinzufüge, daß nach den Angaben Penards Gromia squamosa wie eine Spinne in einem lebendigen Spinnen- netz sitzt, das aus ihren Pseudopodien gebildet ist, und das ihrem Schalenmund prompt die gefangene Beute zuführt — so wird wohl jeder Unbefangene davon überzeugt sein, daß auch die einfachsten Tiere eine Organisation besitzen wie die höchsten, und daß sie genau so gut mittels dieser Organisation in ihre Umgebung eingepaßt sind wie jene.
Das einzigartige an der Rhizopodenorganisation liegt aber darin, daß sie nicht dauernd vorhanden ist, sondern immer ad hoc erzeugt werden muß aus dem ganz formlosen Protoplasma. Damit ist die Hauptschwierigkeit des Protoplasmaproblems ge- löst. Es handelt sich gar nicht um die Frage, wie das
Das Protoplasmaproblem. 23
Funktionieren einer flüssigen Maschine — wie eine maschinelle Tätigkeit ohne Maschine möglich sei, denn die Leistungen der Amöben werden alle durch Organe ausgeübt. Es ist im Mo- ment des maschinellen Handelns auch stets eine passende Maschine vorhanden, die sehr differenziert sein kann.
Die Protoplasmaorgane der Rhizopoden bieten uns keine größeren Schwierigkeiten wie die Organe der höheren Tiere. Ihr Funktionieren ist durchaus mechanisch begreiflich, nur ihr Entstehen bleibt ein ungelöstes Problem.
Die Einzelligen haben die gleichen maschinellen und über- maschinellen Eigenschaften wie alle Tiere. Das Funktionieren der Pseudopodien ist ein mechanisches Problem, ihr Entstehen ein übermechanisches. Entstehen und Funktionieren der Organe treten bei den mehrzelligen Tieren zeitlich getrennt vonein- ander auf und werden dort niemals verwechselt. Bei den Ein- zelligen, die ihre Organe immer wieder auflösen, ist die zeit- liche Trennung nicht so leicht durchzuführen, obgleich sie am Einzelorgan natürlich immer sichtbar ist. Denn kein Pseudo- podium kann funktionieren, wenn es noch nicht da ist.
Die Vernachlässigung des prinzipiellen Unterschiedes zwischen maschinellen und üb^rmaschinellen Eigenschaften hat das Proto- plasmaproblem unnötigerweise verdunkelt.
Werfen wir jetzt einen Blick auf die Versuche Rhumblers, die mechanischen Vorgänge bei den Rhizopoden mittels Chloro- formtropfen und ölschäumen nachzumachen, so muß man vor allen Dingen Verwahrung einlegen gegen seine Sprachmißhand- lungen. Organismische und anorganismische Substanzen ist gar zu häßlich. Außerdem dienen diese Worte dazu, die Unter- schiede zwischen strukturloser Substanz und Maschinen einer- seits, sowie zwischen Maschinen und Lebewesen andererseits zu verwischen. Solche Zwischen begriffe machen jede klare Frage- stellung unmöglich.
Im übrigen kann manRhumbler nur Dank sagen für die Fülle von mechanischen Erfahrungen, die er uns übermittelt hat. Ich will hier nur das reizende Experiment des verdauen- den Chloroform tropf ens erwähnen, das ein mit Schellack über- zogenes Glasstäbchen verschluckt und, nachdem der Schellack sich im Chloroform gelöst hat, wieder ausspuckt.
Rhumbler hat in letzter Zeit es ausdrücklich ausge-
24 I^fts Protoplasmaproblem.
sprochen, daß solche mechanische Versuche keine Lebens- erscheinungen darstellen: ,,Die Zellenmechanik erschöpft nicht die Aufgaben des Zellenlebens, sondern betrachtet seine physi- kalisch-mechanische Seite."
Aber sollte es schließlich Rhu mb 1er oder einem anderen gelingen, eine künstliche Amöbe herzustellen, die die wichtigsten Funktionen der natürlichen Amöben ausübt, so wäre dadurch nur bewiesen, daß ein erfindungsreicher Geist auch mikro- skopische Maschinen zu bauen vermag. Wer es aber soweit bringt, Maschinen mit übermaschinellen Eigenschaften zu bauen, für den ist es dann ebenso leicht ein Pferd zu machen, wie eine Amöbe. Ein solcher Erbauer lebender Wesen muß frei- lich übermenschliche Fähigkeiten besitzen.
Man würde es leichter verstehen, wenn die ganze Richtung, die sich mit dem Bau künstlicher Amöben befaßt, von Leuten ausginge, die nach einem modernen Beweis für das Dasein Gottes suchten. Denn was sie mit ihren mikrochemischen und mikromechanischen Versuchen bestenfalls beweisen können, ist, daß es einem denkenden Geiste, der weit höhere Fähigkeiten besitzt als der Menschengeist, gelingen muß, lebende Wesen herzustellen. Statt dessen sollen diese Versuche, die der ganzen geistigen Anspannung der gelehrtesten Forscher bedürfen , nichts anderes beweisen, als daß der Zufall das gleiche bewirken könne. Auch diese Lösung wollen wir uns ansehen und es ver- suchen, uns an einem Beispiel klar zu machen, wie es einer durch Zufall entstandenen Maschine weiter ergehen wird. Nehmen wir an, in einer Fabrik sei während eines Erdbebens oder einer Feuersbrunst ein Automobil von selbst entstanden. Diese An- nahme ist viel leichter zu machen, als die zufällige Entstehung einer Amöbe, weil das Automobil keine übermaschinellen Eigen- schaften besitzt und seinesgleichen nicht wieder erzeugen kann. Nun könnte dieses Automobil doch nur dann ein erfolgreiches Dasein führen, wenn die Welt nur aus einer einzigen, geraden Chaussee bestünde und in den Chausseegräben Benzin flösse. Es gehört zu einem rein mechanischen Wesen als notwendiges Korrelat eine unwandelbare Außenwelt, die zu dieser Maschine paßt. Denn das maschinelle Wesen besitzt keine Eigenschaften, um einer Änderung der Außenwelt zweckmäßig zu begegnen. Der Plan, den wir in den Lebewesen oder Maschinen ver-
Das Protoplasmaproblem. 25
körpert sehen, ist kein objektiver Naturfaktor, der dem Wesen irgendwelche weiterreichende Fähigkeit verleiht. Deshalb ist mit der einmaHgen Entstehung eines Lebewesens, wie sie z. B. Bütschli annimmt, gar nichts erreicht. Dieses Lebewesen muß bei der nächsten Straßenbiegung zu Falle kommen.
Wir sehen aus diesem Beispiel, daß die Wesen, die nicht bei jeder für ihren Bauplan unvorhergesehenen Änderung der Außenwelt umkommen, noch eine weitere übermaschinelle Fähig- keit besitzen müssen, und diese Fähigkeit wollen wir mit Jennings „Regulation" nennen.
Die Regulation geht nach Jennings Hand in Hand mit der Reaktion eines jeden Tieres. Auf eine Änderung der Außen- welt, die sich als Reiz dem Tiere kundtut, führt jedes Tier eine Bewegung aus, und außerdem ändert sich sein physio- logischer Zustand. Die Änderung des physiologischen Zustandes wirkt modifizierend ein auf die Antwort, die das Tier dem nächsten Reiz erteilt. Es läuft die Lebenstätigkeit der Tiere auf äußere Reize nicht einfach ab, wie in irgendeiner Maschine, deren Bauplan sich gar nicht verändern kann. Im Gegenteil ändert sich der Bauplan der Tiere dauernd unter dem Einflüsse der Umgebung, so daß man mit Übertreibung sagen kann, niemals trifft ein Reiz zum zweiten Male das gleiche Tier. Diese dauernde Änderung des Bauplanes, die dem Leben den fließenden Charakter einer steten Umbildung gibt und dem Tiere eine stete Anpassungsmöglichkeit in weiten Grenzen ge- währt, nennt Jennings Regulation.
Bedauerlicherweise hat Jennings den Begriff der Regu- lation nicht präzis genug gefaßt. Es gibt natürlich auch eine Regulation, die innerhalb des bestehenden Bauplanes bereits vorgesehen ist, neben der Regulation, die den Bauplan selbst ändert. Ferner gibt es auch eine rein äußerliche Regulation, die von jedem äußeren Reiz ausgeht und darin besteht, daß der Reiz nur solange auf das Tier einwirkt, als das Tier seinem Wirkungskreis noch nicht entgangen ist. Diese drei prinzipiell verschiedenen Arten der Regulation, L die äußere, 2. die innere, aber im Bauplan vorgesehene, 3. die innere, den Bauplan selbst ändernde Regulation, werden in dem „Versuch und Irrtum" genannten Grundprinzip zu einem unentwirrbaren Knäuel ver- einigt. Die beiden ersten Arten der Regulation sind rein
26 Das Protoplasmaproblem.
maschinell, nur die dritte bezeichnet eine übermaschinelle Tätig- keit der Tiere.
Jennings Lehre verdankt ihre Entstehung den Amöben. Bei den Amöben gilt unzweifelhaft der Satz: daß niemals der gleiche Reiz zum zweiten Male das gleiche Tier trifft. Die Beobachtung lehrt unmittelbar, daß diese Tiere in einer dauern- den Umgestaltung begriffen sind. Diese Umgestaltung geht zwar dauernd und spontan vor sich, wird aber zugleich von äußeren Reizen beeinflußt.
Naturgemäß tritt bei Tieren, deren Haupttätigkeit darin besteht, Augenblicksorgane zu schaffen und wieder zu ver- nichten, wobei sich dauernd der Bauplan ändert, die über- maschinelle Regulation sehr stark in den Vordergrund, während bei den höheren Tieren mit dauernden Organen, die nach einem dauernden Plane geordnet sind und in der Regel innerhalb dieses Bauplanes ihren Funktionen obligen, die maschinelle Regulation mehr ins Auge springt. Und wenn wir mit Recht die übermaschinelle Regulation als spezifische Lebenseigenschaft betrachten, so muß man sagen: die Amöbe ist weniger Maschine als das Pferd.
Die über maschinelle Regulation tritt als dritter Faktor neben die Formbildung und die Regeneration. Übermaschi- nelle Regulation, Formbildung und Regeneration sind alles Leistungen, die sich auf die Ausbildung und Erhaltung des Bauplanes beziehen, welcher die einzelnen Teile zu einem Ganzen verbindet. Unter maschinellen Fähigkeiten bezeichnen wir alle die Eigenschaften, die sich bei Gegenständen mit ausgebildetem Bauplan vorfinden, d. h. bei allen mechanischen Strukturen, mögen sie belebt oder unbelebt sein. Die übermaschinellen Fähigkeiten, die sich mit der Bildung des Bauplanes selbst befassen, findet man bei den fertigen Strukturen nicht, sie ge- hören ganz ausschUeßlich dem ungeformten, aber bildungsfähigen Protoplasma an. Es fällt demnach das Protoplasmaproblem mit dem Problem der übermaschinellen Fähigkeiten bei den Lebewesen zusammen.
Und nun hören wir, was einer der besten Kenner des Proto- plasmaproblems, H. Hertwig, über dieses Thema sagt: ,,Die Dujardinsche Sarkode theorie und die dadurch zum Ausdruck gelangte Erkenntnis, daß es tierisches Leben gibt, welches
Das Protoplasmaproblem. 27
nicht an besondere Organe geknüpft ist, sondern von einer gleichförmigen Substanz der Sarkode vermittelt wird, mußte vorausgehen, ehe man zur Vorstellung gelangte, daß die Zelle auch bei den höheren Tieren nicht wie die Schwan-Schleiden- sche Zelltheorie lehrte, die nach physikalisch-chemischen Ge- setzen wirkende Einheit sei, sondern selbst ein Organismus, welcher alle Rätsel des Lebens in sich berge, daß das Leben des vielgestalteten Organismus nicht die Resultante von chemisch- physikalischen Vorgängen sei, welche durch jene Einheiten vermittelt werde, sondern sich auf den Lebensprozessen der einzelnen Zellen aufbaue. So wurde die wichtigste Reform ermöglicht, welche die Zelitheorie erfahren und ihr im wesent- lichen jede moderne Fassung gegeben hat: die Protoplasma- theorie MaxSchulzes . . . Die Zellen, selbst die Bindegewebs-, Knorpel-, Knochen-, Muskelkörperchen, usw. haben im wesent- lichen dieselbe Struktur, sie unterscheiden sich zwar von ein- ander durch verschiedene Gestalt, aber diese Formunterschiede haben wohl kaum größere Bedeutung und sind wohl nur die Folgen der Raum Verhältnisse, welche den Zellen und ihrer Um- gebung geboten werden, hat man doch in der Neuzeit es in Zweifel ziehen können, ob überhaupt die Zellen der verschie- denen Gewebe, wie es Roux und seine Schüler annehmen, selbst differenziert sind, oder ob sie nicht vielmehr sämthch die gleichen Eigenschaften besitzen, die Eigenschaften der be- fruchteten Eizelle, aus welcher sie durch artgleiche Teilung entstanden sind. Daß die Unterscheidung von verschiedenerlei Geweben möglich ist, würde nur durch den Einfluß der lokalen Existenzbedingungen, gleichsam den Genius loci, hervorgerufen sein, welcher Ursache wurde, daß gewisse Zellen Muskelsubstanz, andere Bindesubstanz, dritte Nervenfibrille usw. gezeitigt haben. Der Unterschied der Gewebe würde nur durch den Unterschied der Zellprodukte bedingt sein, die verschiedene chemische und morphologische Beschaffenheit der Muskel-, Nerven-, Binde- gewebsfibrillen usw. (0. Hertwig)".
Die Zellprodukte bilden ihrerseits die verschiedenen Struk- turteile des Gesamt tieres. Ihre Leistungen sind maschineller Art und gestatten prinzipiell eine Analyse und eine Synthese, wie die Strukturteile der Maschinen.
Um sich das Verhältnis zwischen Protoplasma und Struk-
28 I^ä^s Protoplasmaproblem.
tur eindringlich deutlich zu machen, stelle man sich vor, daß unsere Häuser und Maschinen nicht von uns erbaut würden, sondern selbsttätig aus einem Brei herauskristallisierten. Jeder Stein des Hauses und jeder Maschinenteil bewahre noch eine Portion Reservebrei bei sich, der die nötig werdenden Repa- raturen und Regulationen vornehme, außerdem besitze jedes Haus und jede Maschine eine größere Anhäufung von Urbrei, die zur Erzeugung neuer Häuser oder neuer Maschinen diene.
Diese Vorstellung spiegelt deutlich den doppelten Cha- rakter jedes Lebewesens, das erstens aus dem Protoplasma und zweitens aus den Protoplasmaprodukten oder der Struktur be- steht. Die Funktion der Struktur ist uns verständlich. Die Funktion des Protoplasmas aber ist ein Wunder. Zwar haben wir gesehen, daß der Protoplasmabrei keine maschinellen Funktionen besitzt, und daß es keine flüssigen Maschinen gibt, aber der Brei hat dafür andere Fähigkeiten, welche die Ma- schinen nicht besitzen.
Je mehr und je eingehender die Leistungen des Proto- plasmas studiert werden, um so größer wird das Rätsel. Wir können tausendmal vor einem Hause stehen, das aus dem Urbrei herauskristalhsiert, und können jede einzelne Phase ana- lysieren, alle physikalischen und chemischen Faktoren auf das Genaueste studieren — das Ganze begreifen wir doch nicht.
Die Tiere und Pflanzen entstehen nach Art einer Melodie, sagt Karl Ernst von Bär, sie bilden nicht bloß Einheiten im Raum wie die Maschinen, sie sind auch Einheiten in der Zeit, und diese zu fassen ist der menschliche Geist nicht fähig. Sie bleiben für ihn Wunder. Uns sind nur mechanische Einheiten verständlich, in denen wie in den Maschinen alle Teile sich gegenseitig im Räume gleichzeitig bedingen. Es scheint uns ganz widersinnig, daß es Faktoren geben könne, die sich auch in der Zeit gegenseitig beeinflussen könnten. Für unseren Verstand gibt es in der Zeit nur eine Wirkung vom Vorhergehenden auf das Folgende und nicht umgekehrt. Wenn etwas Derartiges eintrete, daß nämlich das Folgende auf das Vorhergehende wirkte, so würden wir ohne weiteres von einem Wunder reden.
Und doch findet derartiges im Protoplasma statt. Nicht eine vorhandene, sondern eine kommende Struktur bestimmt
Das Protoplasmaproblem. 29
die Leistungen des Protoplasmas in jedem einzelnen Falle der Strukturbildung. Die entstandene Struktur hemmt nur die strukturbildende Tätigkeit des Protoplasmas, die noch nicht vorhandene Struktur dagegen leitet die Strukturbildung. In einer Melodie findet eine gegenseitige Beeinflussung zwischen dem ersten und dem letzen Tone statt, und wir dürfen deshalb sagen, der letzte Ton ist zwar nur durch den ersten Ton mög- lich, aber ebenso ist der erste nur durch den letzten Ton mög- lich. Ebenso verhält es sich mit der Strukturbildung bei den Tieren und Pflanzen. Das fertige Hühnchen steht zwar in direkter Abhängigkeit von den ersten Furchungsvorgängen des Keimes, aber ebenso sind die ersten Keimesfurchen abhängig von der Gestalt des ausgebildeten Hühnchens.
Diese Tatsache ist ein Wunder, nicht im Sinne einer Ge- setzlosigkeit, sondern einer unbegreiflichen Gesetzlichkeit. Es ist ebenso lächerlich, wie unehrlich, das Vorhandensein dieser Tatsache leugnen zu wollen. Sie wird aber stets verschiedene ^Deutungen zulassen und je nach den verschiedenen Zeitströ- mungen wird diese oder jene Deutung in der Wissenschaft Mode sein. Die Tatsache selbst kann kein Deutungsversuch aus der Welt schaffen.
Mag man in Analogie des menschhchen Geistes eine Vor- stellung im Protoplasma waltend annehmen, oder annehmen, daß das Protoplasma im Laufe des Weltgeschehens, während es von Individuum zu Individuum wanderte, Erfahrungen sammelte, immer bleibt die Tatsache des Wunderbreies bestehen. SchUeß- lich kann man sagen, daß das Bewußtsein eines Beobachters mit übermenschhchen Fähigkeiten, welches nicht wie das unsere von Moment zu Moment lebt, und daher fähig wäre, Zeit- abstände ebenso gegenseitig in Beziehung zu setzen, wie unser Bewußtsein es mit den Raumabständen tut, andere Begriffe bilden würde, in der die Harmonie zeithch getrennter Faktoren keine Schwierigkeit machen würde.
Eines ist aber sicher, daß nämlich alle diese Lösungs- versuche sich nur auf das Protoplasma und seine übermaschi- nellen Eigenschaften beziehen, dagegen nichts mit der Struktur und ihren maschinellen Eigenschaften zu tun haben. Hier wollen wir uns nur mit der Struktur und ihren Leistungen beschäftigen, wir wollen maschinelle Biologie treiben.
30 I^as Protoplasmaproblem.
Jetzt wird es uns auch verständlich sein, warum der Be- griff eines Organismus so verschieden definiert wird, je nach- dem man die maschinellen oder übermaschinellen Eigenschaften untersuchen will.
Jennings, dessen Studium wesentlich der Erforschung der Regulationen gewidmet ist, definiert den Begriff des Organismus folgendermaßen: ,,Ein Organismus ist eine komplexe Masse von Materie, in welcher gewisse Prozesse stattfinden; das Aggrega^t oder System dieser Prozesse nennen wir Leben. Die Funda- mentalprozesse sind jene, die wir Stoffwechsel nennen, jedes Tier nimmt dauernd gewisse Stoffe auf, formt sie um und gibt sie weiter nach außen ab — bei diesem Prozeß Energie ge- winnend. Als HiKsprozesse neben dieser allgemeinen chemischen Umformung finden wir Verdauung, Kreislauf, Ausscheidung und Ähnliches. Es ist von der allergrößten Bedeutung für das Ver- ständnis des Benehmens der Organismen, sie vorzüglich als etwas Dynamisches — als Prozesse aufzufassen, eher denn als Struktur. Das Tier ist ein Geschehnis."
Dem gegenüber war ich gezwungen, den Organismus ganz anders zu definieren, als ich seine maschinellen Eigenschaften ins Auge faßte: ,, Biologie ist die Lehre von der Organisation des Lebendigen. Unter Organisation versteht man den Zu- sammenschluß verschiedenartiger Elemente nach einheitlichem Plan zu gemeinsamer Wirkung."
Beide Definitionen sind aber ungenügend, weil in ihnen das Protoplasma nicht genannt ist. Das Protoplasma sollte aber den Ausgangspunkt aller Theorien über den Organismus bilden.
Nur wenn man sich dauernd die Rolle des Protoplasmas vor Augen hält, gewinnt man "die Möglichkeit, die sich viel- fach kreuzenden und widersprechenden Theorien zu entwirren. Das Protoplasma besitzt die Fähigkeit, die toten Stoffe auf- zunehmen und sich selbst einzufügen. Das ist die eine Seite seiner Tätigkeit. Andererseits besitzt das Protoplasma die Fähigkeit, planmäßige Strukturen aus sich heraus zu bilden. Unter planmäßig soll nichts anderes verstanden werden, als daß die einzelnen Strukturteile zusammen nicht bloß ein räum- liches Ganzes bilden wie die Wasserkristalle in einer Schnee- flocke, sondern ein funktionelles Ganzes wie die Bausteine eines Hauses.
Das Protoplasmaproblem. 3 i
Die Bildung der Strukturen geschieht ferner planmäßig, d, h. nach einer einheithchen Regel in der Zeit, wodurch alle Störungen vermieden werden.
In den Gang der einmal gebauten Strukturen greift das Protoplasma nur ausnahmsweise ein. Deshalb darf der Ablauf der normalen Lebensfunktionen der Tiere, soweit er auf den Leistungen der Strukturen beruht, als rein maschinell behandelt werden.
Dagegen hat das Protoplasma in hohem Maße die Fähig- keit, den Verlust von einzelnen Strukturteilen planmäßig zu ersetzen.
Das Protoplasma sitzt überall in jeder lebenden Zelle des Tierkörpers neben und zwischen den von ihm gebauten Struk- turteilen. Wieweit es am Stoffwechsel beteiligt ist, wissen wir nicht. MögUch ist es, daß die Strukturteile einen Stoff- wechsel für sich erlangt haben, und es dann in jeder Zelle einen doppelten Stoffwechsel gibt, einen für die Strukturteile und einen für das Protoplasma. Möglich ist es aber auch, daß die Strukturteile in ihrem Stoffwechsel vom Protoplasma ab- hängig bleiben nachdem ihre Leistungen sich längst vom Ein- fluß des Protoplasmas befreit haben.
Alle diese Leistungen vollbringt das Protoplasma, ohne jemals gegen das Gesetz von der Erhaltung der Energie zu verstoßen. Und die Befürchtung ausgezeichneter Forscher, daß der heutige Neovitahsmus ihren auf den kausalen Zusammen- hang der Lebensvorgänge gerichteten Untersuchungen eine Grenze ziehen wird, ist ganz grundlos.
Alles, was geschieht, geschieht durch physikalische und chemische Kräfte.
Auch bei der Erforschung einer Maschine kann man sich auf die chemische oder physikalische Fragestellung beschränken, ohne jemals in Gefahr zu kommen, mit der Mechanik in Kon- flikt zu geraten, die sich mit dem Zusammenwirken der plan- mäßig gebauten Strukturteile beschäftigt.
Wer dagegen die Planmäßigkeit der lebenden Natur zum Forschungsobjekt nimmt, wird gut tun, sich zu entscheiden, ob er sich mit den Leistungen der ausgebildeten Strukturen befassen will. Dann kann er reine Mechanik treiben und wird niemals mit übermaschinellen Kräften in Konflikt kommen.
32 Amoeba Terricola.
Schließlich kann man sich dem Studium des Protoplasmas zuwenden. Dann wird man gut tun, den Versuch, Über- maschinelles mechanisch zu erklären, aufzugeben und sich mit der reinen Darstellung der Vorgänge zu begnügen.
Die philosophische Durchdringung des Protoplasmaproblems ist neuerdings von Driesch mit großem Erfolg unternommen worden, und es sind seine Gedanken über die Lebenskraft oder Entelechie von größtem Interesse. Besonders einleuchtend und ganz neu sind seine Ausführungen über die Beziehungen der Entelechie zu den physikalisch-chemischen Kräften.
Bevor man sich dem Neovitalismus zuwendet, halte ich es jedoch für ratsam, abzuwarten, was die reine Erkenntnis- lehre in der Durchdringung der biologischen Grundfragen zu leisten imstande ist.
Inzwischen kann diese Frage ruhig offen bleiben, da sie keinen Einfluß auf die speziellen Aufgaben ausübt, die uns hier beschäftigen sollen und die darin bestehen, die Leistungen des erwachsenen Tierkörpers soweit als möglich auf die mecha- nischen Leistungen seiner planmäßig geordneten Strukturteile zurückzuführen.
Amoeba Terricola.
Es lebt in feuchtem Moose und auf moderigem Grund ein winziges Tierlein, kaum sichtbar dem Auge des Menschen, aber dennoch ein Riese in seiner kleinen Welt. Als Landbewohner führt es den Namen terricola. Wegen seiner rauhen Ober- fläche wird es auch verrucosa genannt. Langsam wälzt es sich daher, nach vorne zu einen breiten Lappen mit glattem Saum bildend, während an seinem verschrumpfelten Hinterende die Runzeln deutlich zutage treten.
Es gleicht in seiner Form und seinen Bewegungen einem verunreinigten Tropfen, der langsam den Rand eines Tellers hinabrollt. Vorne befindet sich die klare Flüssigkeit, während die Verunreinigung als dicker Wulst nachgeschleppt wird. Lange Zeit hindurch hat man als Ursache dieser Bewegung eine Ver- minderung der Oberflächenspannung am Vorderende angenommen, weil die künstlichen Schaumkügelchen von Bütschli und die
Ämoeba Terricola. 33
Chloroformtropfen von Rh um b 1er sich mittels solcher Schwan- kungen ihrer Oberflächenspannung bewegen.
Dann kam Jennings und zeigte, daß alle Fremdkörper, die an der Oberfläche von Amoeba terricola kleben, sich rund um die wandernde Amöbe herumbewegen. Und zwar wandern sie auf der Oberseite von hinten nach vorne und auf der Unterseite von vorne nach hinten. Daraus durfte man schheßen, daß die Amöbe einem kontraktilen Sacke gleicht, der um sich selbst rollt. Im Inneren des Sackes, der vom Ektoplasma gebildet wird, zeigt das Endoplasma gleichfalls strömende Bewegungen.
Nur hat neuerdings Dellinger gezeigt, daß der Vorgang sich ganz anders ausnimmt, wenn man das Tier von der Seite betrachtet. Das Herumrollen des Ektoplasmas, das Jennings beobachtete, ist freilich vorhanden, aber es hat mit der wirk- lichen Gehbewegung nichts zu tun. Diese geschieht nach Art der Spannerbewegungen gewisser Raupen oder der Blutegel. Es haftet das Hinterende am Boden, während das Vorderende frei ins Wasser ragt, oder sich den Boden entlang schiebt. Dann faßt auch das Vorderende festen Fuß. Nun löst sich das Hinterende vom Boden ab, nähert sich durch eine kräftige Kontraktion des Gesamttieres dem Vorderende und setzt sich dort gleichfalls fest. Worauf das Vorderende den zweiten Schritt beginnt.
Die anderen Amöben sollen ebenso deutlich dieses span- nerartige Gehen zeigen, aber keine Umdi'ehungen um sich selbst vollführen; Fremdkörper, die auf ihrer Oberfläche haften, werden beim Marsche nur hin und her bewegt.
,,Wenn die Amöben", schreibt Dellinger, ,,im freien Felde wandern, oder von einem Haufen Detritus zum anderen ziehen, so bewegen sie sich wie lange Schnüre oder sie fassen an mehreren Stellen festen Fuß, bewahren aber dabei ihre schlanke Gestalt. Bewegen sie sich dagegen auf Algen weidend, so strecken sie zahlreiche Pseudopodien aus und nehmen eine bandförmige Gestalt an."
Penard hat für beschalte Lappenfüße das Ausstrecken von Pseudopodien, die einen Saugnapf am Vorderende bilden können, beschrieben. Der Gang dieser Schaltiere erscheint als eine weitere Durchbildung des gleichen Prinzips. Nur ersetzt hier die schwere Schale den hinteren Saugnapf.
V. UexküU, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 3
34 Amoeba Terricola.
Sucht man sich eine Vorstellung von den Kontraktions- bewegungen des Protoplasmas zu machen, die diese Bewegungs- art hervorrufen, so wird man aus der Analogie mit den mehr- zelligen Tieren, die eine gleiche Gangart besitzen, schließen, daß das Ektoplasma der Lappenfüßer überall aus wenigstens zwei Schichten besteht, die sich in ihren Verkürzungsrichtungen rechtwinklig kreuzen. Wenn sich eine dieser Protoplasma- schichten allein verkürzt, muß sie dabei die andere dehnen. Nun wissen wir von den mehrzelhgen Tieren, daß die Erregung immer nach den gedehnten Muskeln fließt. Auf das Proto- plasma übertragen, würde das bedeuten, daß die Verkürzung der einen Schicht die Veranlassung einer darauffolgenden Ver- kürzung der anderen Schicht abgibt, weil die Erregung der gedehnten Schicht zufließt. Wird die Verlängerung eines Pseudo- podiums durch die eine Schicht hervorgerufen, so folgt darauf das Einziehen durch die Verkürzung der anderen. Die An- nahme von gekreuzten Protoplasmaschichten würde auch die Kugelform der Amöben ohne weiteres erklären, die immer angenommen wird, wenn allseitig starke Reize das Tier treffen.
Es fragt sich nun, ob eine solche Anordnung des Proto- plasmas bei den Lappenfüßern als dauernde Einrichtung anzu- sehen ist, oder nicht ? Das Protoplasma besitzt nämlich außer der Fähigkeit sich zu verkürzen und zu verlängern auch noch die Fähigkeit, sich zu erweichen und wieder zu verdichten. Das Ektoplasma vermag außer seiner Form auch seine Kon- sistenz zu ändern. Die Konsistenzänderung tritt ganz selb- ständig und unabhängig von der jeweiligen Formbildung auf. Das tritt bei der Nahrungsaufnahme deutlich zutage. Jennings beschreibt sie folgendermaßen: ,, Indifferente Partikelchen wie Stückchen Ruß, welche an der Oberfläche haften, werden nicht aufgenommen." Dagegen werden Nahrungsmittel wie Räder- tierchen, Infusorien oder Bakterienhaufen nicht bloß fest ge- klebt, sondern langsam ins Innere der Amöbe hineingezogen. Dieses Eindringen der Nahrung geschieht unausgesetzt, während das Ektoplasma herumrotiert. Dabei geraten die Nahrungs- teilchen abwechselnd in Gegenden, von allen möglichen Ver- kürzungs- und Verlängerungsgraden. Trotzdem geht die Er- weichung des Protoplasmas in der nächsten Umgebung der Nahrung dauernd w^eiter, bis diese im Endoplasma angelangt
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ist. Die Erweichung muß bis zur völligen Verflüssigung fort- schreiten, um die feste Nahrung durchzulassen. Das Ekto- plasma stellt sich gleich darauf wieder her.
Daraus geht zur Genüge hervor, daß, wenn eine Schich- tungsstruktur im Ektoplasma besteht, sie bei der Erweichung verschwindet, um gleich darauf wieder zu erscheinen. Die Eigenschaft, Strukturen entstehen und verschwinden zu lassen, ist ja die Kardinaleigenschaft des Protoplasmas.
Amoeba terricola umkleidet manchmal ihre Nahrung mit einem Ektoplasmamantel, der dann mit der Nahrung zusammen im Endoplasma versinkt. Penard hat ferner beobachtet, daß gelegentlich die Fäkalien mit einer Ektoplasmaschicht, die sich offenbar im Endoplasma gebildet hatte, umkleidet waren und mit diesem Mantel gemeinsam ruckweise ausgestoßen wurden.
Um mit den Beobachtungen der Ektoplasmabewegung ab- zuschließen, sei noch erwähnt, daß Amoeba terricola bei ge- ringen Verletzungen ihres Ektoplasmas die Wundränder nach innen schlägt, wodurch eine trompetenförmige Einsenkung ent- steht. Am äußeren Rande verschmilzt dann das Ektoplasma und verschließt die Öffnung wieder. Das eingezogene Ekto- plasma wird resorbiert. Bei größeren Verletzungen, wenn man die Amöbe durch Druck zum Platzen gebracht hat, zieht sich das Ektoplasma hinter der Wundfläche ringförmig zusammen und bildet einen immer schmäler werdenden Hals, der die ganze verletzte Portion abschnürt. Die kleine Wunde, die noch eingezogen werden kann, wird ohne Substanzverlust geschlossen, während beim Verschluß der großen Wunde beträchtliche Teile der Körpersubstanz geopfert werden.
Nach dem Tode des Tieres bildet das Ektoplasma eine derbe, undurchdringliche Haut. Penard konnte beobachten, wie ein Würmchen, das wohl als Ei verschluckt worden war, nachdem es in einer abgestorbenen Amöbe ausschlüpfte, sich vergebhch bemühte, seinem allseitig geschlossenen Kerker zu entrinnen.
Die Bewegungen des Ektoplasmas bei den Wurzelfüßern, deren Körnchenströmung Max Schnitze so anschaulich schil- dert, ist noch gar nicht analysiert. Ebensowenig wissen wir von den Endoplasmaströmen, wie sie außer bei den Amöben hauptsächlich bei allen Infusorien und in vielen Pflanzenzellen
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auftreten. Über die Bewegung des Protoplasmas in der Schale eines Wurzelf üßers Gromia Brunneri berichtet Penard folgende merkwürdige Beobachtung: ,,Den gesamten Protoplasmakörper sieht man bei diesen Tieren (wenn sie sich in guter Gesund- heit befinden) in seiner ganzen Masse einer unaufhörlichen kreisenden Bewegung unterworfen längs der Innenseite der Schale. Oft bilden sich entgegengesetzte Strömungen, die sich kreuzen. Wenn man durch Druck die Schale sprengt, so tritt das Plasma heraus und teilt sich in eine Anzahl runde Kügel- chen. Von diesen beginnen die größeren nach einem Moment der Ruhe sich um sich selbst zu drehen in einer langsamen und dauernden Kreisbewegung.** Diese rätselhafte Kreisbewe- gung, von der man nicht weiß, ob man sie zu den Ektoplasma- oder zu den Endoplasmaströmungen rechnen soll, leitet uns über zu den Strömungen im Endoplasma der Amoeba terricola.
Auch das Endoplasma scheint bei unserer Amöbe ver- schiedene Konsistenz anzunehmen. Wenigstens sagt Dellinger darüber folgendes: ,,Das Entosark muß so beschaffen sein, daß es den Partikelchen bald gestattet frei umherzuschwimmen, bald sie sicher zusammenhält.**
Dem Endoplasma der Amöben liegt vor allem die Auf- gabe ob, durch lokale Kontraktionen die pulsierende Vakuole zu. bilden. Die pulsierende Vakuole ist bei Amoeba terricola eine kleine Wasserblase, die von einem dichteren Plasmasaum umgeben ist. Hat die Blase eine gewisse Größe erreicht, so schmilzt der Plasmasaum an einer Stelle ein und das Endo- plasma dringt in die Blase, deren Flüssigkeit verschwindet. Die Vakuole entsteht aus zahlreichen kleinen Bläschen, die miteinander verschmelzen. Ihre Lage ist stets nahe am Hinter- ende des Tieres, hart am Ektoplasma gelegen, an dem sie zu haften scheint. Nur selten wird sie durch die Endoplasma- strömung nach vorne gerissen. Dann entsteht an ihrem alten Platz sofort eine neue Blase. Der Rhythmus, in dem die Va- kuole entsteht und vergeht, ist stets in direkter Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, mit der sich der ganze Körper fort- bewegt. Je schneller das Tier kriecht, um so schneller wird der Rhythmus der Vakuole.
Die Endoplasmaströmungen scheinen bei einer Form der Nahrungsaufnahme eine größere Rolle zu spielen. Rhu mb 1er
Amoeba Terricola. 37
berichtet, daß Amoeba terricola häufig Oszillarienfäden in sich aufnimmt ohne eine sichtbare Bewegung auszuführen. Die langen Algenfäden, die bedeutend länger sind als die Amöbe, werden dabei im Innern des Tieres langsam aufgerollt. Oft wird das Verschlucken der Oszillarien durch Bewegungen des ganzen Körpers unterstützt, der sich wie beim Gehen abwech- selnd streckt und verkürzt und dabei immer neue Strecken der Algenfäden in sich hineinwürgt.
Wenn wir den Bauplan der Amoeba terricola feststellen wollen, so zeigt sich, daß sich anatomisch nur ein äußeres und ein inneres Tier unterscheiden lassen. Ein Ektoplasma und ein Endoplasma sind immer vorhanden. Wenn auch das Ektoplasma weiter nichts sein mag als das durch Berührung mit dem Wasser veränderte Endoplasma, so weist es doch be- sondere Fähigkeiten auf. Nur das Ektoplasma hält die Beziehun- gen der Amöbe zur Umgebung aufrecht. Nur das Ektoplasma be- stimmt das, was als Umwelt der Amöbe bezeichnet werden kann. Die ganze biologische Aufgabe, die Wirkungen der Umwelt aufzu- nehmen und in entsprechende Bewegungen zu verwandeln, liegt dem Ektoplasma ob.
Wir haben gesehen, wie man sich den Mechanismus der Bewegungen vorstellen kann. Über die Aufnahme der Reize muß noch einiges gesagt werden. Viele Amöben haben die Fähigkeit, sich lang zu strecken und mit dem Vorderende im Wasser umherzutasten oder zu wittern. Bei Amoeba terricola läßt sich nur feststellen, daß die Berührung des Vorderendes mit dem Boden eine Wirkung auf das Anheften ausübt. Offen- bar löst nur der Reiz eines rauhen Untergrundes die lokale Kontraktion, die zum Haften führt, aus, während ein glatter Grund diesen Reiz nicht übermittelt. Chemische Reize, die von Nahrungsmitteln ausgehen, wirken deutlich auf die Amöbe ein, denn nur sie sind imstande, das Ektoplasma zum Erwei- chen zu bringen, wodurch eine vorübergehende Mundöffnung geschaffen wird. Auch vermag Amoeba terricola spezifische Reize auszuwählen, denn die Oszillarienfäden werden ganz sicher von anderen Gegenständen unterschieden.
Von den allgemeinen Reizen scheint die Schwerkraft nicht auf das kleine Tier einzuwirken, das, in ständig rollender Be- wegung begriffen, keine dauernde Bauch- und Rückenseite
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aufweist und daher keine definierte Lage zum Erdmittelpunkte anzunehmen vermag.
Das Sonnenlicht hat auf dieses Dämmerungswesen einen ausgesprochen reizenden Einfluß. Die Amöbe bewegt sich immer vom Lichte fort, indem sie ihren lappigen Fuß nach der beschatteten Seite hin ausstreckt und sich an der belich- teten Seite zusammenzieht. Ebenso wirken alle stärkeren Reize : Die nächst getroffene Protoplasmaseite zieht sich zu- sammen und die abgekehrte Seite dehnt sich zu einem Pseudo- podium aus. Besonders überraschend ist die Wirkung des Sonnenlichtes auf Oszillarien fressende Amöben, wie Rhumbler beobachtete. Die Tiere hören sofort mit dem Zusammenrollen der Algenfäden in ihrem Inneren auf und die Fäden schnurren wieder auseinander, um wie Borsten überall aus dem Amöben- körper hervorzuschauen.
Amoeba terricola begnügt sich nicht mit Pflanzennahrung, sondern ist auch ein gefährlicher Räuber. Dank ihren lang- samen, unmerklich fortschreitenden Bewegungen gelangt sie, phne Reize auszusenden, in die Nachbarschaft von Infusorien oder Rädertierchen, die bei der ersten Berührung sofort am Räuber festkleben und dann nicht mehr entrinnen können.
Die Fähigkeit der Amöben, die Reizwirkungen der Um- gebung zu unterscheiden, ist daher keineswegs so gering, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Dazu kommt noch die Fähigkeit, den eigenen Körper von allem Übrigen zu trennen. Nie wird eine Amöbe, wie schon Max Schnitze sagt, mit einer Amöbe der gleichen Art verschmelzen. Während die Amöben selbst mit abgeschnittenen Teilen ihres eigenen Kör- pers, wie Jensen nachwies, sich wieder vereinigen. Amoeba terricola läßt gelegentlich die Spitze ihres zurückgebogenen Pseudopodiums mit dem eigenen Hinterkörper verschmelzen, verschmilzt aber nie mit einem fremden Individuum. Während bei höheren Tieren alles darauf ankommt, zu verhindern, daß sie sich selbst auffressen, hat das bei den Amöben gar nichts zu sagen, da bei ihnen durch die Autophagie keine Struktur zerstört wird. Die Leistungen des Ektoplasmas sind, um es kurz zusammenzufassen. Form Veränderungen, Konsistenzver- änderungen und Klebrig werden. Diese Tätigkeiten werden durch verschiedene Reize abwechselnd hervorgerufen.
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Die Tätigkeit des Endoplasmas beschränkt sich auf die Funktion der Verdauung, der Atmung und der Sekretion, die bei einem dauernden Kreisstrom ausgeführt werden. Die kon- traktile Vakuole sorgt für einen besonderen Säftestrom, der die kreisende Endoplasmamasse durchdringt.
Betrachten wir jetzt rückblickend Amoeba terricola, so gewinnen wir den Eindruck eines allerliebsten Kunstwerkes, das in einer fremden Welt sich seine eigene Welt geschaffen, in der sie sich ruhig, wie in sicheren Angeln schwebend, hält. Um dieser Umwelt näher zu kommen, müssen wir vergessen, welchen Eindruck die Umgebung der Amöbe auf unser Auge macht. Von all den bunten, vielgestaltigen Gegenständen, wie Oszillarien, Infusorien, Rotatorien, Steinchen und Detritus ist nicht die Rede. Schwache und starke Reize gibt es, die nur der Intensität nach unterschieden werden, mögen sie mechanisch oder chemisch oder durch das Licht ausgelöst sein. Dazu kommen die spezifischen Reize der Nahrungsmittel, die das Ektoplasma klebrig machen und erweichen.
So hängt die Amöbe in ihrer Umwelt wie an dreierlei Arten von Gummifäden, die sie ringsum halten und alle ihre Bewegungen lenken und bestimmen. Dieser kleine Ausschnitt der Welt ist eine in sich zusammenhängende Welt, einfacher und widerspruchsloser als die unsere, aber ebenso planvoll, ebenso künstlerisch.
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Die Ausbildung einer maschinellen Struktur hat bei den Infusorien bereits einen großen Schritt vorwärts getan. Zwar zeigt ihr Endoplasma noch einen rein protoplasmatischen Charakter, da es Eingeweide entstehen und vergehen läßt, aber das Ektoplasma hat die übermaschinelle Fähigkeit freier Strukturbildung verloren und damit seinen protoplasmatischen Charakter eingebüßt. Das Ektoplasma der Infusorien besitzt eine feste Gestalt und zeigt eine ganze Reihe durchgearbeiteter Strukturen.
Als Prototyp der Infusorien wähle ich Paramaecium caudatum, das zu den besterforschten Tieren gehört. Para-
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maecium caudatum ist ein zartes, durchsichtiges Tierchen, das 0,1 bis 0,3 mm lang wird und die Gestalt einer schräg abge- stumpften Zigarre besitzt. Sein spitzes Hinterende trägt etwas längere Wimpern als der übrige Körper. Diesem Umstände verdankt es seinen Artnamen. Vorder- und Hinterende sind somit deutlich unterschieden. Durch eine tiefe Rinne, die vom Vorderende bis zur Mitte des Körpers verläuft und hier mit der Mundöffnung endigt, erhält die Zigarre eine Mundseite, der eine Rückenseite gegenüberhegt. Damit sind ferner eine rechte und eine linke Körperseite gegeben, was die anatomischen Be- stimmungen sehr erleichtert.
Der ganze Körper ist mit Wimpern (Zilien) bedeckt. Sie sind das Fortbewegungsmittel der Paramaecien. Im Ekto- plasma befinden sich feine Kanäle, die schräg von vorn nach hinten verlaufen und den ganzen Körper wie zarte Längsreifen umfassen. In diesen Kanälen liegen lange, dünne Muskelfäden, welche die wohldefinierten Gestalts Veränderungen hervorbringen, während das übrige Ektoplasma überall eine diffuse Kontrak- tihtät besitzt.
„Der elastische Körper eines Infusors," schreibt Bütschli, „kann nicht etwa mit einem soliden Gummiball, sondern nur mit einer von Flüssigkeit erfüllten Blase mit relativ dünner, elastischer Wand verglichen werden." Die Form dieser Blase wird durch die Muskelfäden in geringem Umfang reguliert.
Das Wimperspiel ist von Wallgreen anschaulich be- schrieben worden: ,,In ihren Kontraktionsphasen schlagen die Wimpern wie bekannt kräftig nach hinten und es entsteht das zierhche und regelmäßige Wimperspiel, welches den Ein- druck macht, als ob regelmäßige Wellen über die Wimper- reihen hinwegliefen. Solange die Infusorien frei schwimmen, kann man dieses rastlose Wimperspiel sehen. Nur wenn die Paramaecien tigmotaktisch (durch Berührung) beeinflußt sind, ist die Wimperbewegung verlangsamt oder ganz zum Stillstand gebracht. Durch dieses Wimperspiel wird der Körper durch das Wasser vorwärts getrieben."
Die Bewegungen von Paramaecien sind von Jennings in einer Reihe mustergültiger Arbeiten analysiert worden, der diesen Tieren in seinem schönen Buche „Behavior of lower
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organisms*' eine monographische Darstellung gewidmet hat. Aus ihr schöpfe ich die folgenden Daten.
Wäre der Körper von Paramaecium mit Wimpern bedeckt, die alle gleich stark von vorne nach hinten schlügen, so müßte das Tier geradhnig nach vorne schwimmen. Nun schlagen aber die Wimpern der Mundrinne stärker als die übrigen Wimpern. Dadurch wird die geradlinige Fortbewegung zu einer kreisför- migen, wie ein Boot im ICreise schwimmen muß, wenn sich die Ruderer auf der einen Seite mehr anstrengen als auf der anderen. Da bei Paramaecium auf der Mundseite stärker ge- rudert wird als auf der Rückenseite, so wird beim Kreisen dauernd nach der Rückenseite eingebogen. Die Mundseite schaut immer nach der Peripherie, der Rücken immer nach dem Zentrum des Kreises.
,,Wie soll ein unsymmetrischer Organismus", fragt Jen- nings, ,,ohne Augen und andere Sinnesorgane, die ihn durch Einstellung auf entfernte Objekte leiten können, einen be- stimmten Kurs beibehalten durch das pfadlose Wasser, in welchem es von seiner Bahn nach rechts oder links, nach oben oder unten und in jeder dazwischenliegenden Richtung abweichen kann? Es ist wohl bekannt, daß Menschen unter ähnlichen, aber einfacheren Umständen ihren Kurs nicht beizubehalten vermögen. In der pfadlosen, schneebedeckten Prärie bewegt sich der Wanderer immer im Kreise, wie sehr er sich auch anstrengen mag einen geraden Kurs beizubehalten — obgleich er bloß nach rechts oder links abirren kann und nicht nach oben und unten, wie im Wasser."
Und doch vermag Paramaecium trotz seiner ausgesprochenen Neigung zum Kreisschwimmen eine gerade Richtung im Wasser beizubehalten. Dies wird ihr ermögHcht durch eine dauernde Drehung um die Längsachse beim Schwimmen. Die Wimpern schlagen in Wirklichkeit nicht genau von vorne, nach hinten, sondern in schräger Richtung von Hnks vorne nach rechts hinten. Dadurch wird der Körper gleichzeitig nach vorne ge- trieben und um seine eigene Längsachse gedreht.
Denken wir uns, um die Wirkung dieser doppelten Be- wegung zu verstehen, einen AugenbUck in Paramaecium hinein: Erst werden wir von den mächtigen Mundwimpern der Peri- pherie eines Kreises entlang getrieben, dessem Mittelpunkt wir
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dauernd den Rücken zuwenden. Zu gleicher Zeit beginnen die übrigen Wimpern unseren Körper um seine Längsachse zu drehen. Diese Drehung verschiebt die Mundwimpern nach rechts. Das bedeutet aber eine Verlegung des Mittelpunktes unserer Kreisbahn nach hnks, weil wir dem Schlag der starken Mundwimpern unter allen Umständen gehorchen müssen. Nun beginnen wir um einen Mittelpunkt zu kreisen, der uns dauernd nach Unks hin entgleitet. Dadurch wird unsere kreisförmige Schwimmbahn zu einer Spirale. Während wir diese Spirale beschreiben, führen wir gleichzeitig drei Bewegungen aus. Wir schwimmen der Hauptsache nach nach vorne, werden aber zugleich von den Mundwimpern um die Querachse und durch die Schrägstellung der Körperwimpern um die Längsachse gedreht. Unsere Körperachsen stehen aber, weil sie miteinander ana- tomisch verbunden sind, dauernd senkrecht aufeinander. An jeder Stelle des Kreises, den wir durchschwimmen, während wir uns einmal um unsere Querachse drehen, zwingt uns die Drehung um die Längsachse in eine Ebene hinein, die senk- recht auf dem durchschwommenen Kreise steht. Auf der Peripherie eines Kreises kann nur ein Zylindermantel senkrecht stehen. Unsere Bahn wird sich daher in Spiralen bewegen, die sich alle um einen Zylinder winden. Bei jeder vollen Windung haben wir uns einmal um unsere Querachse und ein- mal um unsere Längsachse gedreht.
Der Zylinder kann weit oder eng sein, die Spiralwindun- gen können nahe aneinander liegen oder gestreckt sein, stets bildet die Längsachse des ZyHnders eine gerade Linie. Die Längsachse des Zylinders gibt aber die Richtung oder den Kurs an, den Paramaecium im pfadlosen Wasser innehält. Auf diese Weise wird die senkrechte Stellung der Körperachsen zueinander zur Erzeugung einer geradlinigen Bewegungsrichtung verwertet.
Jennings macht darauf aufmerksam, daß die Spiralbahn dem Tiere noch besondere Vorteile bietet, weil sie ihm Gelegen- heit gibt, von allen Seiten Wasser herbeizustrudeln und auf diese Weise allseitig ,, Proben" seinem Medium zu entnehmen.
Eine dieser Proben möge einen chemischen Reiz enthalten, dann ändert sich das Benehmen von Paramaecium in sehr charakteristischer Weise: Sobald der Reiz einsetzt, schwimmt das Tier eine Strecke rückwärts, stellt sein Vorderende auf
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einen neuen Kurs ein und schwimmt wieder vorwärts. Dieses ist die einzige Antwort, die Paramaecium kennt und die un- weigerlich auf jeden Reiz erfolgt. Jennings, dem wir die Kenntnis dieser Funktion verdanken, hat sie ursprünglich „Motorreflex" genannt. Seitdem er die Reflexlehre völlig ver- bannt hat, spricht er von einer ,, Vermeidungsreaktion". Die Bezeichnung tut nichts zur Sache. Die aus drei Phasen be- stehende Antwort bildet eine einheitUche Handlung, die mit relativ einfachen Mitteln den größten Erfolg erzielt. Wären die beiden Enden von Paramaecium anatomisch und physio- logisch einander gleich, so könnten sie bei jeder Reizung ihre Plätze tauschen und das Tier auf noch einfachere Weise vom Reiz fortführen. Paramaecium besitzt aber ein wohl aus- gebildetetes und durch hohe Empfindlichkeit ausgezeichnetes Vorderende, das nicht dauernd seinen Platz abtreten kann. Daher muß das Vorderende, wenn das Tier dem Reiz aus- weichen soll, in eine neue Bahn gelenkt werden. Das geschieht durch die drei Tempi : zurück — seitwärts — vorwärts. Wir werden bei vielzelligen Tieren auf die gleiche dreiphasige Aus- weichungsreaktion stoßen, die dort nur mit anderen Mitteln ausgeführt wird.
Die Mittel, die Paramaecium anwendet, sind besonders interessant. In der ersten Phase schlagen alle Wimpern in umgekehrter Richtung, das Schwanzende wird zum Vorderende und das Tier legt eine Strecke seiner eigenen Bahn wieder zurück. Dann schnappen die Wimpern der rechten Körper- hälfte wieder in die normale Schlagrichtung ein, während die Wimpern der linken Körperhälfte in umgekehrter Richtung weit erschlagen. Dadurch heben sie sich gegenseitig in ihrer Wirkung auf und das Tier steht still. Allsobald setzen aber die Mundwimpern mit ihrer normalen Schlagrichtung energisch ein und werfen das stillstehende Tier rückwärts um. Würden jetzt auch die Wimpern der linken Seite richtig schlagen, so müßte das Tier in einer neuen Richtung da vonschwimmen.
Bei schwachen Reizen verläuft die Reaktion auch schein- bar nach diesem einfachen Schema. Jennings gelang es je- doch nachzuweisen, daß sich zwischen dem Umfallen und dem Fortschwimmen noch eine Phase einschiebt, die nur bei starkem Reiz zur vollen Entfaltung kommt, bei schwachem Reiz jedoch
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sich leicht der Beobachtung entzieht. Ist Paramaecium durch den Schlag der Mundwimpern umgeworfen worden, so bringt das Überwiegen des Wimperschlages der einen Körperhälfte über die andere eine leichte Drehung um die Längsachse her- vor und diese veranlaßt das stillstehende Tier mit dem Vorder- ende einen Kreis zu beschreiben, während das Hinterende fest- steht. Das ganze Tier beschreibt dabei die Form eines steilen oder flachen Trichters, je nachdem ob es nur wenig oder sehr weit rücküber gefallen war.
Während dieser Bewegung hat Paramaecium die Gelegen- heit, von verschiedenen Seiten Proben des Mediums zu er- halten, und sobald das Wasser keinen Reizstoff mehr enthält, ist in dieser Richtung die Passage frei. Das bezieht sich auf die chemischen Reize. Bei sehr starken mechanischen Reizen kommt es vor, daß der allzu heftig einsetzende Schlag der Mundwimpern das stillstehende Tier vollkommen umwirft, wo- rauf es die Form des allerflachsten Trichters beschreibt, das heißt, sich mehrmals in einer Ebene um sich selber dreht, um dann in gerader Linie fortzuschwimmen, wobei es gelegentlich direkt auf den reizenden Gegenstand zustoßen kann.
Wie man daraus sieht, ist die Stärke oder die Dauer des Reizes das einzige Regulativ für die schwächere oder stärkere Ausbildung der verschiedenen Phasen des Reflexes. Wenn wir uns die Wirksamkeit der drei anatomischen Faktoren in den verschiedenen Phasen des Reflexes klarmachen wollen, so brauchen wir nur einen Blick auf die nebenstehende Tabelle zu werfen. L bedeutet in ihr die hnken, R die Wimpern der rechten Körperhälfte, M die Mundwimpern.
1. Vorwärtsschwimmen = L -j-, R ~{-, M -f-, Reiz.
2. Rückwärtsschwimmen = L — , R — , M — .
3. StiUstand =- L — , R +, MO.
4. Umfallen = L— ,R-f,M4-.
5. Rotieren in Trichterform = L — , <C ^ H~> M -(-•
6. Vorwärtsschwimmen = L -|-, R -)-, M -)-.
Der Vorgang ist also ein ganz einfacher. Auf den Reiz hin schlagen erst alle Wimpern in die umgekehrte Richtung und kehren dann in bestimmter Reihenfolge zur normalen Schlag- führung zurück: Erst die Wimpern der rechten Körperhälfte,
Paramaecium. 45
dann die Mundwimpern und schließlich die Wimpern der linken Seite.
Die Bewegung der einzelnen Wimper geht währenddessen unbehindert weiter, sie pendelt immer in der gleichen Ebene hin und her. Da die Wimpern auf einer leichtgewölbten Fläche stehen, so haben sie die Möglichkeit, einen vollen Halbkreis zu beschreiben. Diese Möglichkeit wird aber niemals ausgenutzt. Die schwingende Wimper beschreibt immer nur die eine oder die andere HäKte des Halbbogens, d. h. einen Viertelkreis. Der Schlag erfolgt immer aus der senkrechten Stellung zur tangential geneigten (von oben nach unten) und von der geneigten Stellung zur senkrechten zurück (von unten nach oben). Die Ruhelage, um die der Pendel schvvingt, befindet sich demnach einen Achtelkreisbogen von der Unterlage entfernt.
Die Wimper unterscheidet sich aber von einem Pendel darin, daß sich die beiden Schlagphasen in ihrer Geschwindig- keit nicht gleichen. Immer ist die Phase des Schiagens, die von oben nach unten führt, fünfmal so schnell als die ent- gegengesetzte. Die schnelle Phase des Schlages ist die wirk- same, ist sie von vorn nach hinten gerichtet, so schwimmt das Tier vorwärts, ist sie dagegen von hinten nach vorne gerichtet, so schwimmt das Tier rückwärts. Es ändert die vom Reiz hervorgerufene Erregung am Schlagtypus nichts, sondern beein- flußt bloß seine Richtung. Damit stimmt auch die oft wieder- holte Erfahrung überein, daß einzelne Wimpern, die vom Körper losgelöst waren, unbekümmert weiter schlugen.
Es muß zwei Ruhestellungen der Wimpern für die beiden Richtungen des Schiagens geben. Beim Vorwärtsschwimmen ist die Wimper in der Ruhestellung nach hinten geneigt, beim Rückwärtsschwimmen dagegen nach vorne. Es tritt infolge der Reizung bloß ein Wechsel der Ruhestellung ein, alles übrige bleibt sich gleich.
Da die Wimper, sich selbst überlassen, weiter schlägt, muß sie sowohl Kontraktionsvorrichtungen wie Erregungsbahnen bei sich beherbergen. Um die Schlagphase von oben nach unten fünfmal so schnell erfolgen zu lassen, muß irgendeine federnde Vorrichtung vorhanden sein, die wir nicht kennen. Möglich ist es, daß die Erregungen, die infolge von Reizung eintreten,
46 Paramaecium.
und die Ruhelage der Wimper ändern, auch auf die federnde Vorrichtung wirken und die Feder umstellen.
Leider wissen wir von dem feineren Bau der Wimper- haare nichts, als daß sie im Leben homogene Stäbchen sind, die mit einer kugeligen Anschwellung im Ektoplasma sitzen und nach Durchbohrung der feinen Oberhaut des Tieres frei im Wasser endigen. Einer der besten Kenner der Wimper- apparate bei den Infusorien, H. N. Mayer, schreibt: ,,Die Zilien der Infusorien stellen äußerst feine, haarartige Fädchen von plasmatischer Substanz vor und sind als kontraktile Pri- mitivfibrillen oder Myofibrillen aufzufassen."
Pütt er meint, ,,daß der typische Unterschied der Zihen- bewegung — in des Wortes weitester Bedeutung — gegenüber der Pseudopodienbewegung wesentUch in der Ausbildung zweier verschiedenwärtiger Substanzen innerhalb der Bewegungsorga- nellen zu suchen ist, einer stützenden und einer bewegenden. ,,Die Stützsubstanz ist in der Achse der Wimper zu suchen, die von flüssigem Protoplasma umgeben sein soll. Pütter glaubt: ,,daß die Flimmerbewegung durch einfaches hyalines Protoplasma an der ZiHen Oberfläche zustande kommen muß." Mit anderen Worten, daß die Verschiebung einer Flüssigkeit längs eines Stabes diesen Stab zu biegen vermag.
Obgleich alle Wimpern in selbständigem Rhythmus weiter- schlagen, wenn sie vom Körper losgetrennt sind, so stören sie sich doch niemals, solange sie sich im gemeinsamen Verbände befinden. Da die Wellen des Wimperschlages in gleichmäßigem Zuge von vorne nach hinten gehen, wie die Wellen über ein wogendes Ährenfeld, so wird man zunächst an eine mechanische Beeinflussung denken, weil die Ähren in ihrer Bewegung sich durch den Druck gegenseitig regulieren. Die mechanische Be- einflussung ist jedoch nicht die einzige, wie sich aus einer Be- obachtung von Jennings ergibt, der nachweisen konnte, daß die Paramaecien, wenn sie an einen weichen, nachgiebigen Gegenstand stoßen, den Schlag ihrer Körperwimpern einstellen. Besonders wirksam ist die Berührung, wenn sie zwei Körper- stellen zugleich trifft. Dann bleibt das bewegliche Tierchen still sitzen und nur die Mundwimpern sprudeln das Wasser durch die Mundrinne hindurch.
Das beweist, daß alle Körperwimpem durch ein allgemeines
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Netz von Erregungsbahnen miteinander verbunden sind. Während des normalen Schlages kreisen die Erregungen der einzelnen Wimpern in geordnetem Rhythmus hin und her. Werden einige Wimpern am Schlagen verhindert, so wird dieser Rhythmus der Erregungskreise einseitig unterbrochen und die Erregung ergießt sich in das allgemeine Netz, überall die Ausbildung der normalen Erregungskreise hindernd, wie bei der Ausbildung der Chlad- nischen Klangfiguren die geringste Störung den Rythmus aufhebt.
Soweit kann die Zerlegung des Motorreflexes geführt wer- den. Es erübrigt noch, die Verwendung des Reflexes zu be- trachten. Die Art des Außenreizes ist ganz gleichgültig für den Reflex, nur muß das Tier an der vorderen Hälfte gereizt werden. Eine Reizung des Hinterendes ruft bloß eine be- schleunigte Vorwärtsbewegung hervor. Besonders leicht erreg- bar ist das Vorderende und die Mundöffnung. Die mechanische Behinderung des Wimperschlages an einer oder mehreren Stellen des Körpers bringt die Körperwimpern zur Ruhe. Das sind die gesamten Fähigkeiten von Paramaecium, mit denen es sein tägliches Leben bestreiten muß. Die Umwelt von Paramaecium beschränkt sich auf zwei Dinge: Flüssigkeit mit Reiz und Flüssigkeit ohne Reiz, wobei der Reiz chemisch oder mechanisch sein kann. Die Wimpern sind nur auf Flüssigkeiten angepaßt und die Rezeptoren behandeln alle Reize ganz gleich- mäßig, so daß man von einer Umwelt mit nur einer einzigen Reizart reden kann.
Der Unterschied zwischen der Umgebung der Infusorien, wie sie sich unseren Sinnesorganen darstellt und der Umwelt, die für die Rezeptoren der Paramaecien existiert, erscheint uns so außerordentlich groß zu sein, daß es uns schwer fällt, zu begreifen, wie sie im Leben von Paramaecium zur Deckung kommen. Betrachten wir die Pfütze, in der Paramaecien leben, so wirken alle die verschiedenen Gegenstände, wie Gräser, Blätter, Steine usw., als gleichartige Reize, weil das Paramaecium, sobald es an sie anstößt, den gleichen Motorreflex voUführt, der ihm immer einen neuen Kurs gibt. Auf diese Weise kommt das Tier dazu, nach und nach die ganze Pfütze im Zickzack zu durchschwimmen. Ebenso wirken verschiedene chemische Reize, die als Zersetzungsprodukte der Pflanzen auf- treten können.
43 Paramaecium.
Immerhin würde durch diese rein abstoßende Wirkung der Umwelt Paramaecium nicht zu seinem Ziel, d. h. seiner Nahrung gelangen, die aus allerhand Bakterien besteht, welche sich an verwesenden Pflanzenresten sammeln, wenn nicht noch ein innerer Faktor vorhanden wäre, der es bewirkt, daß die Para- maecien von den Stoff Wechselprodukten ihrer Nahrungsmittel wie in einer Fischreuse gefangen werden. Paramaecium zeigt sich nämlich befähigt, seine Erregbarkeitsschwelle sofort den veränderten Bedingungen der Umgebung anzupassen. Setzt man z. B. Paramaecien in eine schwache Kochsalzlösung, so werden sie in dieser herumschwimmen wie in destiUiertem Wasser, und niemand wird ahnen können, daß die Salzlösung ein Reiz werden kann. Kaum haben sie sich aber wieder an destilliertes Wasser gewöhnt, so vermeiden sie jede Salzlösung durch den Motorreflex. Hat man in der Mitte eines Objektträgers einen Tropfen schwach angesäuerten destillierten Wassers gebracht, und in Kreisen ringsum erst destilliertes Wasser, dann Salz- lösungen in steigender Konzentration hinzugefügt, so werden die Paramaecien, die sich anfangs im äußersten Ringe in der konzentriertesten Salzlösung befinden, bei ihrem Zickzack- schwimmen auch in die inneren Ringe gelangen. Dort sind sie sofort gefangen, denn der höhere Salzgehalt wirkt, sobald sie sich an die schwache Lösung gewöhnt haben, reflexaus- lösend.
Dagegen ruft das Eintreten in die schwächere Lösung gar keinen Reflex hervor. So sammeln sich immer mehr Para- maecien in der Mitte an, zu der sie unbehindert gelangen können, während sie vom nächsten Ring bereits abgestoßen werden.
Die schwache Säure ist das Optimum. Ihr gegenüber ist jede andere Flüssigkeit, selbst destilliertes Wasser, ein Reiz. In der schwachen Säure sammeln sich binnen kurzem alle Paramaecien an. Nun sezernieren die Bakterien, die das Hauptnahrungsmittel der Paramaecien bilden, immer ein wenig Kohlensäure und werden dadurch zu einer chemischen und mechanischen Falle für die Paramaecien. Denn die herbeige- lockten Paramaecien heften sich am GaUertklumpen der Fäulnis- bakterien an, sobald sie ihn mit ihren Wimpern berühren. Die Mundwimpern treiben dann die Bakterien dem Mund zu.
Paramaecium. 49
Da die Paramaecien selbst auch Kohlensäure produzieren, so bilden die festsitzenden unter ihnen für die freischwimmen- den ein Anlockungsmittel. Bis die Konzentration der Kohlen- säure so stark wird, daß diese selbst wiederum zum Reiz wird und die Tiere mittels des Motorreflexes auseinander treibt.
Da sowohl wärmeres wie kälteres Wasser, als auch sauer- stoffarmes Wasser als Reiz wirken, erhält Paramaecium von allen Seiten Direktiven, die es immer zwingen, zu den Orten mit den günstigsten Lebensbedingungen zurückzukehren.
Viele Paramaecien zeigen ferner, sobald sie senkrecht ab- wärts zu schwimmen anfangen, einen ausgesprochenen Motor- reflex. Dieser Reflex tritt nur bei Tieren auf, die reichlich Nahrung beherbergen. Er fehlt dagegen den hungernden Tieren. Ferner wird der Reflex sehr stark, wenn man wohlgenährte Tiere zuvor leicht zentrifugiert hat. Beim Zentrifugieren stellen sich die Tierchen mit ihrem schweren Vorderende nach außen. Im flüssigen Endoplasma werden infolgedessen alle spezifisch schwereren Teile in das Vorderende des Tieres getrieben. Aus diesen Tatsachen hat man den Schluß gezogen, daß bei Para- maecium die Nahrungsmittel als Orientierungsorgane dienen können, indem sie bei senkrechter Stellung des Körpers mit abwärtsgeneigtem Vorderende der Schwere nach herabsinken, das Vorderende reizen und so den Motorreflex hervorrufen, der das Tier in eine andere Lage bringt. Dadurch wird bewirkt, daß das Tier die Oberfläche der Pfütze, solange noch Nahrung in ihr vorhanden ist, nicht verläßt.
So ruht Paramaecium in seiner Umwelt sicherer als ein Kind in der Wiege. Überall von den gleichen wohltätigen Reizen umgeben, die es vor Irrfahrten schützen und ihm immer wieder die Wege weisen zu den Quellen seiner Nahrung und seines Wohlbefindens. Paramaecium ist so in die Welt hinein- gebaut, daß alles ihm zum Heile ausschlagen muß. Tier und Umwelt bilden zusammen eine geschlossene Zweckmäßigkeit. Auf eine sehr lehrreiche Ausnahme werden wir später zu sprechen kommen.
Werfen wir einen Blick auf Paramaecium, während es seine Nahrung einnimmt, so eröffnen sich wieder eine Fülle bedeutsamer Erscheinungen. Von der Mundöffnung, die am unteren Ende der Mundrinne sitzt, führt eine S-förmig ge-
V. UexküU, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 4
50 Paramaecium.
bogene kurze Speiseröhre nach hinten und endigt mit schräger Fläche im flüssigen Endoplasma. In der Speiseröhre befindet sich eine unduHerende Membran, deren Aufgabe es ist, die in den Mund gestrudelten Nahrungspartikelchen weiter zu be- fördern. Nach den Beobachtungen von Nierenstein muß man annehmen, daß sich ,,das den Grund des Ösophagus bildende Endoplasma nach innen halbkugelig aushöhlt und so die Flüssigkeit in Form eines Tropfens hineinzieht oder schlingt. Beim Abschnüren des Nahrungstropfens (Nahrungsvakuole) zieht sich das Protoplasma um die innere Öffnung der Speise- röhre konzentrisch zusammen und bildet eine feine Lamelle, welche die Öffnung abschließt, worauf die Bildung einer neuen Nahrungsvakuole einsetzt. Der abgeschnürte Na hrungs tropfen wird indessen von der Endoplasmaströmung ergriffen und fort- geführt." ,,Bei Paramaecium bursaria zieht, nach Bütschli, der Strom auf der rechten Körperhälfte nach hinten, um auf der linken wieder nach vorne zu eilen." Diesem Strom folgt anfangs der Nahrungstropfen und umkreist im Inneren das ganze Tier. Später kreist er nur im Hinterende des Tieres und schließlich findet er die Afteröffnung, die mitten zwischen Mund und Hinterende gelegen ist, und entleert dort seinen Inhalt.
Aber der Inhalt hat sich im Verlauf dieser Wanderung sehr verändert. Anfangs besteht der Nahrungs tropfen aus feinen im Wasser suspendierten Körpern (Bakterien, Flagel- laten, Detritus usw.), die durch die Tätigkeit der Mundwimpern und der undulierenden Membran die Speiseröhre hinabgelangten. Sobald der Nahrungstropfen im Körper zu wandern beginnt, treten in ihm die ersten Veränderungen auf. Seine Inhalts- flüssigkeit wird sauer, ,,die saure Reaktion, schreibt Nieren- stein, beruht auf der Anwesenheit von Mineralsäure im Vakuoleninhalte. Die Abscheidung der Mineralsäure geht in jedem Falle so weit, daß nicht nur die in der Vakuole ent- haltenen Stoffe abgesättigt werden, sondern daß ein Über- schuß an Mineralsäure auftritt, denn in jeder Nahrungsvakuole von Paramaecium ist innerhalb einer bestimmten Periode freie Mineralsäure regelmäßig nachzuweisen".
Durch die freie Säure wird der lebendige Inhalt der Nahrungsvakuole abgetötet, worauf er sich zu einem kleinen
Paramaecium. 5J^
Klumpen zusammenballt. Dann verschwindet die saure Reak- tion in den Vakuolen und ihr Inhalt wird alkalisch. In- zwischen haben sich feine Körnchen aus dem Endoplasma rings um den Nahrungstropfen angesammelt, die, nachdem der Tropfen seine saure Reaktion verloren hat, einzuwandern be- ginnen. Mit ihrem Erscheinen beginnt die eigentliche Ver- dauung. Daher nimmt man an, daß sie tryptische Verdauungs- fermente enthalten. Der flüssige Inhalt des Tropfens nimmt gleichfalls ab und zu. Dadurch wird die Aufnahme der ver- flüssigten Nahrung in das Endoplasma bewerkstelHgt. SchUeß- lich gelangt die verkleinerte Vakuole zum Anus, verschmilzt mit anderen Vakuolen, die sich dort bereits angesammelt haben, und alle entleeren gemeinsam ihren Inhalt nach außen.
Diese merkwürdige Differenzierung des Verdauungsaktes in zwei getrennte Perioden, eine saure und eine alkalische, er- innert unmittelbar an die Verdauung der Wirbeltiere. Nur wird der Periodenwechsel beim Wirbeltier durch den Übertritt der Nahrung vom Magen in den Darm hervorgerufen, während sich bei Paramaecium der gleiche Wechsel im gleichen Organ vollzieht, das mit der Verdauung zugleich entsteht und ver- geht. Was beim Wirbeltier räumlich und zeitlich geordnet ist, ist beim Infusorium nur zeitUch geordnet. Aber das Prinzip ist dasselbe und der Effekt ist der gleiche.
Während der Darm von Paramaecium ein vergängliches Organ ist, das vom Protoplasma in übermaschineller Weise stets neu gebaut und wieder vernichtet wird, haben die Nieren bereits den Charakter eines ständigen, maschinellen Apparates angenommen. Auf der Innenseite des Ektoplasmas, stets durch eine dünne Schicht Ektoplasma vom strömenden Endoplasma getrennt, liegen die beiden pulsierenden Vakuolen mit ihren strahlenförmig weit ausgreifenden Zuleitungskanälen. Der Rhythmus der gleiclifalls pulsierenden Kanäle wechselt mit dem der Blase ab. Kontrahieren sich die Kanäle, so füllt sich die Blase, entleert sich die Blase nach außen, so beginnen die Kanäle sich wieder zu füllen. Die dauernde Aufnahme vom überschüssigen Wasser durch den Mund bei der Bildung von Nahrungsvakuolen wird durch die Tätigkeit der pulsierenden Vakuolen wieder ausgeglichen. Deshalb darf man die pulsieren- den Vakuolen als Nieren im weitesten Sinne ansprechen.
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52 Paramaecium.
In den tiefen Schichten des Ektoplasmas aber, über den pulsierenden Vakuolen und ihren Kanälen liegen winzige spindel- förmige Bläschen dicht nebeneinander gelagert mit ihrer Längs- achse senkrecht zur Oberfläche. Sie enthalten einen gelatinösen Inhalt, der bei der Kontraktion des Ektoplasmas durch feine Kanälchen nach außen gespritzt wird. Er tritt in Form von dünnen Fäden heraus. Die Fäden können mit großer Gewalt weit weggeschossen werden, stoßen sie dabei an einen harten Gegenstand, so biegt sich ihre Spitze um. Diese ,,Trycho- zysten'* (Haarbläschen) werden für Verteidigungswaffen ge- halten, weil sie sich auf jeden starken Reiz entladen. Gegen den Hauptfeind von Paramaecium sind sie freilich wenig wirksam.
Und hier nahen wir uns der Stelle, an der die sonst so vollkommene Umwelt von Paramaecium versagt. Hier wird Paramaecium selbst zur zweckmäßigen Umwelt eines anderen Tieres. Hier greifen zwei Ringe biologischer Zweckmäßigkeit deutlich ineinander.
Didimium nasutum heißt der Feind. Kaum halb so groß als Paramaecium, aber gebaut wie eine Spitzkugel, sich wie rasend um seine Längsachse drehend, kommt er wie ein Pfeil dahergeschossen. Zwei mächtige Wimpersäume treiben den Räuber drehend vorwärts. Hart vor einem Paramaecium macht er Halt, indem er den einen Wimpersaum rückwärts schlagen läßt. Nun tastet er mit seiner spitzen Nase, in deren Mitte die Mundöffnung liegt, am Beutetier entlang. Plötzlich schießt er, durch eine energische Kontraktion der Mundhöhle mit wanderbarer Geschwindigkeit ein Stilett heraus, das sich tief in den Körper von Paramaecium einbohrt. Vergeblich entlädt Paramaecium seine Trychozystenbatterien , der Stich des Feindes ist tödlich.
Das Stilett besteht aus einem soliden plasmatischen Zylinder, in dessen Mitte sich ein Bündel spitzer Stäbchen befindet. Das Stilett tötet die Beute und verankert sich zu- gleich fest in ihrem Inneren. Dann wird es langsam zurück- gezogen, die Mundöffnung erweitert sich zu einer geräumigen Höhle, in der das Paramaecium mit Haut und Haar ver- schwindet.
Didimium ist fast ausschließlich Paramaecium jäger und
Paramaecium. 53
greift nur im Hungerzustande andere Infusorien an. Sein Be- wegungsapparat ist dem flinken Wilde angepaßt und der Schlund eignet sich ganz besonders dazu, große mit Flüssig- keit gefüllte Blasen zu verschlucken. So ist die Umwelt von Didimium mit schnell entgleitenden Nahrungsballen angefüllt. Leider sind wir nicht näher über die ReÜexe unterrichtet, um diese Umwelt analysieren zu können. Aber staunenswert ist es, daß Didimium ebenso vollkommen seinem Lebenszweck an- gepaßt ist, wie Paramaecium dem seinigen.
Nach einer soeben erschienenen Schilderung von Mast über den Kampf zwischen Didimium nasutum und Paramaecium scheint es, daß das Stilett nicht ausgestoßen, sondern nur im Ektosark verankert wird. Dann beginnt Didimium seine Beute ohne sie zu töten sofort in sich hineinzuschlingen. Und zwar konnte Mast Fälle beobachten, in denen das verschluckte Para- maecium zehnmal so groß war wie sein Verspeiser. ,,Wenn andere Tiere relativ so große Objekte verschlucken könnten, als es diese jagende ZiHate vermag, so könnte eine gewöhnliche Kreuzotter (?) mit Leichtigkeit ein Kaninchen verschlucken, eine große Hauskatze ein Schaf, und ein Löwe oder ein Mensch einen voll ausgewachsenen Ochsen.**
Aber die Jagd auf so große Paramaecien mißhngt bis- weilen. Wenn Paramaecium noch sehr kräftig ist, so entlad es an der gebissenen Seite eine große Menge von Trichozysten, die im Wasser eine quellende Masse bilden und Didimium mechanisch wegdrücken. Oft reißt das gepackte Stück Ekto- sark aus und bleibt in der Trichozystenmasse hängen, Didimium an seinem Stilett festhaltend, während Paramaecium enteilt. In solchen Fällen muß sich Didimium sein lang ausgezogenes Stilett selbst abdrehen und verstümmelt das Weite suchen. Dies ist das erste Beispiel für Autotomie. So ist Paramaecium wenn auch nicht ausreichend geschützt, so doch nicht ganz ungeschützt im Kampfe gegen seinen Spezialfeind.
54 Der Reflex.
Der Reflex.
Bevor man eine Maschinenausstellung besucht, ist es an- gezeigt, einen Blick in das Magazin zu werfen, in dem nicht die ganzen Maschinen zu sehen sind, sondern die einzelnen Maschinenteile nach ihrer Bauart geordnet nebeneinander liegen. Ebenso wünschenswert ist es, bevor man zur Betrachtung der differenzierten Tiere übergeht, einen Blick auf jene Elementar- teile zu werfen, die ihnen allen gemeinsam sind. Könnte man ein lebendes Tier einfach auseinandernehmen und die Funktionen der einzelnen überlebenden Teile vorzeigen, so wäre es leicht, an diesem Schulbeispiel das Wesen und die Wirkung der Elementarteile zu demonstrieren. Nun gestattet aber kein ein- ziges Tier eine so weit gehende Analyse. Dafür läßt uns das eine Tier an dieser, das andere an jener Stelle einen Einblick in das Getriebe seiner Elementarteile tun. So sind wir denn gezwungen, wenn wir einen möglichst vollständigen Überblick über die Elementarteile gewinnen wollen, möghchst viele Tiere zu zerlegen.
Dieses soll denn auch in den folgenden Kapiteln geschehen. Um aber dem Leser das Verständnis dieser Zerlegung zu er- leichtern, will ich im vorliegenden Kapitel versuchen, ihn durch einen kurzen Überblick über das, was er zu erwarten hat, im voraus zu orientieren. Bevor er die einzelnen Maschinen kennen lernt, soll er bereits einen Fingerzeig haben, aus welchen Elementarteilen sie sich aufbauen.
Alle Handlungen der Tiere sucht man auf Reflexe zurück- zuführen. Der Reflex ist also das Grundelement aller Hand- lungen. Aber dieses Grundelement vereinigt bereits verschiedene Faktoren zu einer gemeinsamen Funktion. Jeder Reflex ist nämlich die Antwort eines Teils des Tierkörpers auf eine Ein- wirkung der Außenwelt. Die Amöben vermögen es, mit einem einzigen protoplasmatischen Organ die Antwort zu erteilen. Die mehrzelligen Tiere verwenden zum selben Zweck drei ver- schiedene Organe: ein Aufnahmeorgan, ein Leitungsorgan und «in Ausführungsorgan — den Rezeptor, den Nerven und den Effektor. Die Verbindung dieser drei Organe, die den Reflex ausüben, nennt man den Reflexbogen. Wir haben
Der Reflex. 55
in den drei den Reflexbogen zusammensetzenden Organen die drei Elementarorgane zu sehen, die sich bei allen Tieren wiederfinden. Denn alle Tiere sind Antwortmaschinen auf die Wirkungen der Außenwelt.
Die Rezeptoren mögen noch so verschieden gebaut sein und den verschiedensten Wirkungen der Außenwelt dienen, sie haben überall immer nur eine einzige Aufgabe zu erfüllen: die Wirkung der Außenwelt auf den Reflexbogen zu übertragen. Jeder Rezeptor ist auf einen bestimmten Ausschnitt der Außen- weltwirkungen eingestellt, der größer oder kleiner sein mag, sich auf starke oder sehr schwache Wirkungen bezieht, die z. T. sehr spezialisiert sein können. Mögen die Wirkungen chemischer oder physikalischer Art sein, immer nennt man sie, wenn man ihre Beziehungen zu den Rezeptoren der Tiere aus- drücken will, Reize. Eine ausführliche Klassifikation der Rezeptoren habe ich in meinem ,, Leitfaden" gegeben. Hier genügt der Hinweis, daß die Bauart der Rezeptoren eines jeden Tieres souverän darüber entscheidet, mit welchen Wirkungen der Außenwelt das Tier Beziehungen eingehen soll, und mit welchen nicht. Die Summe aller Reize, die ein Tier dank der Bauart seiner Rezeptoren empfängt, bildet seine Umwelt. Dies ist die nach außen gerichtete Seite eines jeden Rezeptors. Seine innere Seite richtet sich dem Tierkörper zu, denn seine Aufgabe ist erst erfüllt, wenn er den Außenreiz dem Reflex- bogen zugänglich gemacht hat.
Das sich an den Rezeptor anschließende Organ ist der Nerv. Der Nerv besitzt nicht die Fähigkeit jede Art physi- kalischer oder chemischer Prozesse aufzunehmen und weiter- zuleiten. Er vermag nur einen ganz bestimmten Faktor zu übertragen, den wir die Erregung nennen. Die Erregung geht wie eine Welle über die Nerven dahin. Diese Welle hat ganz bestimmte elektrische Eigenschaften, die es uns gestatten, ihre Form und ihre Fortpflanzungsgeschwindigkeit sicher zu bestimmen. Wir wissen ferner, daß jeder Nerv, wenn er irgend- wo in seinem Verlauf gereizt wird, zwei Wellen, nach jeder Seite hin eine, entsendet. Die Erregung hat immer die Tendenz, die Nervenbahnen entlang zu laufen, sie bleibt nicht etwa stehen oder kehrt selbsttätig um, sie verwandelt sich auch niemals in eine stehende Welle. Die Erregung verbreitet sich,
56 Der Reflex.
wenn sich der Nerv in ein Nervennetz auflöst, nach allen Seiten hin. Sie bevorzugt jedoch die direkten Wege vor den Um- wegen und verbreitet sich schneller über Strecken mit einem reichen Netz, als über solche, die nur spärliche Bahnen auf- weisen.
Aus alledem läßt sich nur noch so viel entnehmen, daß die Erregung ein flüchtiger Vorgang ist, der entweder wie eine riüssigkeitswelle in einem Rohr entlang läuft oder wie ein Funke einer Zündschnur entlang weiterbrennt. Im ersten Falle ist der Vorgang ein passiver, im zweiten ein aktiver. Ich habe immer von neuem zu zeigen versucht, daß die Erregung ein passiver Vorgang ist, der seinen Anstoß von außen erhält oder von einem höheren Niveau zu einem niederen fließt, d. h. immer von außer ihm liegenden Ursachen bestimmt wird. Aber erst Jordan hat die Theorie bis zu Ende geführt und durch Aufstellung seiner Bipolar-Hypothese einer neuen Auffassung der Erregungsnatur die Bahn gebrochen. Die Bipolar-Hypo- these nimmt, wie schon ihr Name sagt, an, daß die Erregung nicht bloß von einem Zentrum des Nervensystems zu den Muskeln hin entsandt wird, sondern daß eine dauernde Be- ziehung zwischen dem Ausgangspunkt und dem Endpunkt der Erregung besteht. Neuerdings hat diese Auffassung durch die schönen Arbeiten von Piper eine ganz unerwartete Bestätigung erfahren.
Durch die Bipolar-Hypothese ist der Begriff des Zentrums wieder in das Nervensystem eingeführt worden, nachdem es durch die Forschungen Bethes und durch die Autorität Loebs zu verschwinden begann. Loeb hat immer daran festgehalten, daß besondere Zentren genannte Organe im Nervensystem gar nicht existieren, sondern nur reichere und ärmere Nervennetze zu unterscheiden seien. Bethe hat nachweisen können, daß bei Carcinus maenas ein typischer Reflex ablaufen kann, auch nachdem man alle Ganglienzellen entfernt hat. Da nun nach der alten Lehre Ganghenzelle und Zentrum dasselbe sein sollte, so schien es in der Tat unnütz, noch von Zentren zu reden.
Aber der biologische Begriff eines Zentrums ist gar nicht an die Ganglienzelle gebunden, sondern bezeichnet nur irgend- welchen Apparat im Nervensystem, der sich irgendwie von den einfachen Leitungsbahnen unterscheidet. Welche Leistungen
Der Reflex. 57
des Nervensystems sind wir gezwungen besonderen Apparaten, die wir Zentren nennen wollen, zuzuschreiben? Auch hier geben einige Worte Jordans treffende Antwort: ,,Möge sie (die Vor- untersuchung) eine Kleinigkeit mit dazu beigetragen haben, im Kampfe gegen die Anschauung, daß die Zentren nichts seien, als Knotenpunkte zahlreicher Leitungsbahnen. Gewiß ist das eine ihrer wichtigsten Aufgaben; vor allem aber sind sie ,, Reser- voirs" von Energie, die auf Grund ihres mehr oder weniger hohen Potentials das ihnen unterstellte Nerv-Muskel System in seiner automatischen Funktion zu leiten vermögen, nach dem universellen Gesetz vom Erregungsausgleich." Das uni- verselle Gesetz des Erregungsausgleichs, oder wie Jordan es auch nennt, das Gesetz vom Locus minoris resistentiae besagt, daß die Erregung vom Orte höheren Potentials zum Orte niederen Potentials hinfließt. Das gleiche habe ich, wenn auch in weniger abstrakter Form, ausgesprochen, wenn ich sage, die Erregung fließt von dem Reservoir mit höherem Niveau in das Reservoir mit niederem Niveau.
Jordans besonderes Verdienst aber ist es, daß er mit allem Nachdruck die Erregungs Vorgänge in statische und dynamische trennt. Jeder Forscher weiß, daß, bevor durch einen Reiz eine neue Erregungswelle im zentralen Netz entsteht, bereits Erregung im Netz vorhanden war. Diese dauernd vor- handene Erregung wird zutreffend als statische Erregung be- zeichnet. Diese Ausdrucksweise überhebt uns des viel miß- brauchten Wortes Tonus. Der statischen Erregung gegenüber nennt Jordan dynamische Erregungsvorgänge solche, die nur vorübergehender Art sind. Nur die dynamischen Erregungen laufen wellenförmig ab. Die statischen Änderungen blieben unseren Galvanometern bisher verborgen. Ich habe nun noch einen Faktor in die Theorie der Erregungsvorgänge hinein- getragen, und das ist der Erregungsdruck. Plötzlich ein- brechende Erregungen zeigen oft andere Wirkungen als lang- sam eintretende, auch wenn sie von der gleichen Stärke sind. Da ich die Erregung überhaupt mit einem Fluidum ver- gleiche, das von den Reservoiren hin und her getrieben wird, so suche ich die besonderen Wirkungen plötzlich eintretender Erregungen durch die Annahme eines höheren Druckes der An- schauung näher zu führen. Außerdem gab mir dieser Faktor
58 I^sr Reflex.
die Möglichkeit, die ausgleichende Wirkung der statischen Er- regung über das gesamte Nervensystem plausibel zu machen. Wenn man die Erregungsmenge, den Erregungsdruck und die wechselnde Kapazität der Reservoire in Anspruch nimmt, so läßt sich mit diesen drei Faktoren eine leidliche Ordnung in den sonst so widerspruchsvollen Wirkungen des Zentral- nervensystems herstellen. Besonders wenn man noch einige ein- fache mechanische Vorrichtungen als Analogien zu Hilfe nimmt.
Von vielen Seiten wird mir der Vorwurf gemacht, daß ich ein so unwahres Bild wie das eines Fluidums im Nervensystem benutze. Auf diesen Vorwurf kann ich nur mit der Frage antworten, ob meine geehrten Kritiker wirklich vermeinen, daß die Wissenschaft dazu da sei, die ,, Wahrheit" zu erfahren. Ist doch das Ziel jeder Naturwissenschaft gar nicht die ,, Wahrheit", sondern die ,, Ordnung". Daß ein jeder Naturforscher bis in die Fingerspitzen hinein ein wahrhaftiger Mensch sein muß, ist eine conditio sine qua non. Aber man kann sehr wahrheits- liebend sein und doch nicht das geringste Talent zum Natur- forscher haben.
Die Wahrheit liegt in der uns umgebenden Wirklichkeit unmittelbar vor uns. Diese können wir aber unverändert nicht gebrauchen. Eine lückenlose Beschreibung der WirkHch- keit wäre zugleich das wahrste und unnützste Ding von der Welt und gewiß keine Wissenschaft. Wir müssen der Wirklich- keit und damit der Wahrheit Gewalt antun, wenn wir sie wissenschaftlich verwerten wollen. Wir müssen die Unter- scheidung von wesentlich und unwesentlich einführen, die es in der ganzen Natur nicht gibt. In ihr ist alles gleich wesentlich. Indem wir die uns wesentlich erscheinenden Zu- sammenhänge aufsuchen, ordnen wir zugleich den Stoff über- sichtUch. Daim treiben wir Wissenschaft. Nun sind viele dieser wesentlichen Beziehungen unseren Augen verborgen, um sie aufsufinden, benutzen wir Mikroskope, Galvanometer, Färbe- methoden usw. usw. Für diejenigen Beziehungen, die wir trotz aller Hilfsmittel nicht auffinden können, von deren Existenz wir aber überzeugt sind, benutzen wir vorläufige Bilder. Diese Bilder benutzen wir genau so, wie jedes andere Handwerkszeug, wenn eines nicht taugt, macht man sich ein anderes.
Der Reflex. 59
Man werfe nur einen Blick auf die Physik, um sich zu überzeugen, wie diese Wissenschaft mit ihren Bildern umspringt: Bald ist die Elektrizität ein Fluidum, bald eine Bewegung, bald besteht sie aus winzigen Stoff teilchen , die wohl Materie sind, aber keinen Massencharakter tragen. Ebenso verfährt die Chemie. Was ist denn die ganze Stereochemie anderes, als ein Arbeiten mit Bildern? Und ein so hervorragender Chemiker, wie Emil Fischer, spricht ruhig von Schlüssel und Schlüssel- loch, um damit rein chemische Eigenschaften zu charakterisieren. Aus welchem Grunde nun sollte die Biologie noch immer auf die geheiligte, obzwar oft überwundene Ausdrucksweise der Physik und Chemie eingeschworen sein? Besonders da diese Bilder ihr meist gar nicht passen. Die Biologie bedarf, da sie mechanische Zusammenhänge aufsucht, der mechanischen Bilder. Und je anschaulicher diese Bilder sind, und je besser sie sich den beobachteten Vorgängen anschmiegen, um so besser. Deshalb bleibe ich mit voller Überzeugung beim Fluidum mit seiner Menge, seinem Druck und sonstigem Zubehör, denn das Fluidum scheint mir das anschauHchste Bild für die unbe- kannten Beziehungen im Nervensystem abzugeben.
Die Erregungen sind der einzige objektive Vorgang, aus dessen Gehen und Kommen sich das Innenleben der Tiere auf- baut. Im Gegensatz zur bunten und mannigfaltigen Umgebung kennt die Innenwelt keinen W^echsel in der Qualität. Daher kann man die dynamischen Erregungen nur als Zeichen dafür betrachten, daß etwas außerhalb vorgeht, ohnn daß sie selbst die mindeste Ähnlichkeit mit den Vorgängen der Umgebung besitzen.
Die Rezeptoren wählen unter den Wirkungen der Umgebung jene Reize aus, die nach dem Bauplan des Tieres geeignet sind, bemerkt zu werden, und geben daraufhin dem Nerven- system ein Zeichen, sobald der betreffende Reiz in der Um- gebung sich geltend macht. Man kann demnach feststellen, wieviel Zeichen ein Tier von seiner Umwelt erhält — soviel Reize, soviel Zeichen. Hat ein Tier auf diese Weise ein Zeichen seiner Umwelt erhalten, so muß es darauf eine Ant- w^ort erteilen. Das Nervensystem ist nun derart gebaut, daß es das Zeichen selbst benutzt, um durch den Muskel die Ant- wort erteilen zu lassen. Denn die dynamische Erregung wird
gQ Der Reflex.
von den beherrschenden Faktoren des Nervensystems so ge- leitet, daß sie selbst zu jenen Muskeln gelangt, deren Tätigkeit die richtige Antwort des Tieres auf den Reiz ausmacht.
Die beherrschenden Faktoren, welche die dynamische Er- regung zu den Muskeln leiten, sind vor allen Dingen die Strukturen im Nervensystem. Wenn nur ganz bestimmte Muskeln mit ganz bestimmten Rezeptoren durch ein spezielles Nervennetz verbunden sind, so ist die Antwort auf die biologische Zentralfrage: Wie findet die Erregung den richtigen Muskel? eine leichte. Das ändert sich schon bei den Seeigeln, deren nervöse Struktur reich ausgestaltet ist. Aber immer noch ist das Prinzip der Koordination der Reflexbögen streng durchgeführt. Bei den Bilateraltieren, die ein ausgesprochenes Vorderende besitzen, das die höheren Rezeptoren beherbergt, tritt naturgemäß eine immer weitergehende Subordination der Zentren ein und die Einfachheit der Reflexbögen geht verloren. Die Struktur wird dann im höchsten Grade kompliziert und ihre Feststellung eine äußerst schwierige. Aber sie ist doch wenigstens konstant. Ihre Veränderungen im erwachsenen Tier können für unsere Bedürfnisse gleich Null gesetzt werden.
Die übrigen Faktoren sind variabel und daher noch schwerer zu übersehen. Das gilt vor allem für die zentralen Reservoire der statischen Erregung, deren Füllungsgrad ein wechselnder ist und der einen entscheidenden Einfluß auf den Zustand des gesamten Nervensystems ausübt. Vor allem aber sind es die zahllosen kleinen Reservoire, die in direkter Beziehung zu den Muskeln stehen, welche auf den Weg, den die dynamische Erregung einschlagen soll, von Einfluß sind. Sie besitzen die Fähigkeit, die dyna- mische Erregung je nach ihrem Füllungsgrade oder, um mit Jordan zu reden, je nach ihrem Potential abzustoßen oder anzuziehen. Dieser Füllungsgrad ist einerseits abhängig von den zentralen Reservoiren, andererseits von den Muskeln selbst, deren Ansprüche an die Erregung des zentralen Netzes sie zu vertreten haben und deshalb von mir ,, Repräsentanten" genannt worden sind.
Es sitzen also an dem allgemeinen Nervennetz (das sich in verschiedene Netze gespalten haben mag und allerlei Struktur angenommen haben kann), drei Organe: die Rezeptoren, die zentralen Reservoire und die Repräsentanten. Zwischen
Der Reflex. 61
ihnen spielt sich das Innenleben des Tieres ab, und zwar in dreierlei Formen:
1. Als Reflex. Das ist die reine Form der dynanischen Erregung, die im Rezeptor entsteht und im Muskel vergeht.
2. Als Rhythmus, der ein gleichmäßig wiederholter Reflex sein kann oder durch das Hin- und Herschwingen der statischen Erregung erzeugt wird.
3. Als Automatic, die schon einen hohen Ausbildungs- grad der zentralen Apparate zur Voraussetzung hat. Denn während der Rhythmus von dem tätigen Eingreifen der Muskeln abhängig ist, werden die oft sehr komplizierten automatischen Erregungen allein durch die Tätigkeit der zentralen Apparate gelenkt. Es macht dann den Eindruck, als geriete die ganze statische Erregung in Fluß und anstatt von einzelnen Reser- voiren aus den Gesamtdruck zu beherrschen, durchzieht sie wandernd ihr ganzes nervöses Reich.
Es finden sich in den verschiedenen Bauplänen alle mög- lichen Kombinationen zwischen den beiden strukturellen Bau- prinzipien: der Koordination und der Subordination mit den drei Bewegungsprinzipien der Erregung.
Und doch ist damit die Mannigfaltigkeit nicht erschöpft. Bisher haben wir nur solche Tiere ins Auge gefaßt, deren Be- wegungen durch den Zufluß der Erregungen, sei es der statischen oder der dynamischen, veranlaßt werden. Man könnte sie Kraftmaschinen nennen. Es gibt aber auch solche Tiere, deren Handlungen durch den Abfluß der überschüssigen Erregung reguliert werden. Diese Tiere könnte man Bremsmaschinen nennen. Es ist wiederum Jordans Verdienst, uns mit diesen absonderlich gebauten Tieren näher bekannt gemacht zu haben. Zu den Bremsmaschinen gehören vor allem die Schnecken.
Das letzte Güed des Reflexbogens bilden die Muskeln, die durch ihre Bewegung der Umgebung die Antwort des Tieres mitteilen. Eine jede biologische Untersuchung sollte sich immer bemühen, die Zergliederung des Tieres bis auf die Bewegungen der Hauptmuskelgruppen durchzuführen. Erst dann kann man hoffen, ein leidUch vollständiges Bild vom Innenleben des Tieres zu erhalten, da wir die Vorgänge der Erregung im wesentlichen aus dem gesetzmäßigen Ablauf der Muskelbewegungen ableiten.
Die meisten Muskeln haben gleichzeitig eine doppelte Auf-
(]2 I^^r Reflex.
gäbe zu erfüllen. Sie müssen sich verkürzen und zugleich eine Last, z. B. die des eigenen Körpers, tragen. Das geschieht durch zwei nur selten anatomisch trennbare mechanische Apparate, von denen einer der Last dauernd das Gegengewicht hält — Sperr- apparat, der andere die Bewegungen ausführt — Verkür- zungsapparat. Das Senken der Last geschieht gleichfalls unter Beteiligung beider Apparate. Dabei werden die Muskeln gedehnt. Doch hat diese Dehnung mehr Ähnlichkeit mit dem Ablassen des Dampfes in einer Kolbenmaschine, als mit der Dehnung eines Gummibandes. Die Tätigkeit der Verkürzungs- apparate macht die Muskeln kurz oder lang, die der Sperr- apparate macht die Muskeln hart oder weich.
Jede Muskelfaser ist reizbar, leitet in ihrem Inneren die Erregung und ist kontraktil, d. h. es spielen sich in ihr in abgekürzter Form die Prozesse des ganzen Reflexbogens ab. Ein jeder wirksame Muskelreiz wird in eine Muskelerregung verwandelt, und diese erst bringt die beiden Apparate zur Tätigkeit. Es ist jedenfalls sehr gewagt, die zunehmende und abnehmende Tätigkeit der Muskeln mit Stoffwechselvorgängen (Dissimilation und Assimilation) in direkte Verbindung zu bringen. Im Gegenteil scheint eine sehr kompUzierte Struktur vorhanden zu sein, die ihre Tätigkeit entfaltet. In diesem Falle würden die Stofi'wechselvorgänge nichts anderes zu bedeuten haben als die Herbeischaffung des nötigen Heizmateriales und die Fort- schaffung der Asche.
Eine eigene statische Erregung besitzt der Muskel nicht. Seine Dauererregungen sind, wenn sie nicht vom Nervensystem verursacht werden, immer krankhafter Art. Wie der Muskel den Erregungen des Nervensystems gehorcht, wissen wir nicht. Ob die Nervenerregung als äußerer Reiz anzusehen ist, der durch eine Art von Rezeptionsorgan, das in der Nervenendigung steckt, in Muskelerregung verwandelt werden muß, oder ob es eine direktere Einwirkung der Nervenerregung auf die Muskelerre- gung gibt, das bleibt noch eine offene Frage. Daß aber die Nervenerregung dauernd auf die Muskeln einwirkt, kann jetzt als festgestellt gelten.
Soweit man sehen kann, besitzt jeder Muskel einen Apparat im Nervensystem, dessen Tätigkeit mit der seinigen eng ver- bunden ist. Der Zustand der Muskelerregung spiegelt sich im
Anemonia sulcata. 63
Zustand der Nervenerregung seines Repräsentanten und um- gekehrt. Diese Spiegelung ist auf eine sehr reelle gegenseitige Einwirkung der beiden Erregungsarten aufeinander zurückzu- führen. Da die Erregung des Muskels von der Tätigkeit der beiden mechanischen Apparate abhängig ist, so vermag die Muskeltätigkeit selbst rückwärts einen Einfluß auf das Innen- leben des Tieres auszuüben.
So hängen durch Wirkung und Gegenwirkung alle nervös miteinander verknüpften Apparate zusammen. Das Mittel, durch das diese Wirkung ausgeübt wird, ist die Erregung, für die wir das Bild eines Fluidums festhalten wollen, bis sich ein besseres gefunden hat.
Anemonia sulcata.
Wer als Taucher ins Meer hinabsteigt, wird erstaunt sein, wenn er in einer Tiefe von über zehn Metern den ganzen fel- sigen Boden der Küste in eine grüne Wiese verwandelt sieht. Überall, soweit das Auge bhckt, wehende Grashalme, die vom Winde bewegt erscheinen. Im blauen Dämmerschein der Meeres, der ihn wie ein silberner Rauch umgibt, sieht der Taucher keine scharfen Schatten und bemerkt erst bei näherer Prüfung, daß die vermeinthchen Grashalme nicht flache Blätter sind, sondern drehrunde Röhrchen. Auch sind diese Röhrchen nicht bloß passiv bewegt, wenn die Strömung über sie hinwegzieht, sondern sie vermögen sich auf Berührung zusammenzuziehen und wie Korkzieher aufzurollen.
Die grüne Wiese besteht nicht aus Pflanzen, sondern aus Tieren. Die kleinen Röhren sind keine Grashalme, die in der Erde wurzeln, sondern es sind die Tentakel genannten Arme von drei bis fünf Zentimenter hohen Tieren. Die Tentakel umgeben in mehreren Kreisen stehend den Mund wie Blüten- blätter den Blumenkelch. Deshalb nennt man die Tiere auch Seeanemonen. Die Farbe kann bei Anemonia sulcata weißhch schimmern, meist ist sie bräunüch oder grün.
Entfernt man die Tentakel, so bleibt als Körper nur ein zylinderförmiger muskulöser Magensack übrig. Die runde Fläche, die den Magen unten abschheßt, nennt man den Fuß, weil er nicht
34 Anemoiiia sulcata.
bloß das Tier am Boden festsaugt, sondern auch eine geringe Fortbewegung ermöglicht. Die Fortbewegung geschieht, indem sich die Muskulatur des Fußes an verschiedenen Teilen bald ablöst, bald ansaugt. Die Reize, die das Tier zum Wandern zwingen, sind das Licht und die Schwere des eigenen Körpers, der bei geneigter Lage einseitig auf dem Fuße lastet. Über dem runden Fuß erheben sich die zylinderförmigen Seitenwände des Körpers. Sie sind der unempfindhchste Teil des ganzen Tieres.
Oben schließt die Mundfläche den Zylinder senkrecht ab. Sie enthält radiäre und zirkuläre Muskelfasern, die sich alle um die in der Mitte gelegene Mundöffnung gruppieren. Ver- kürzen sich die zirkulären Ringfasern, so schließt sich der Mund.
Vom Mund aus führt ein gerades Rohr bis tief in den Verdauungsack hinein. Dieses Mundrohr wird durch zahlreiche muskulöse Scheidewände gehalten, die ringsum strahlenförmig zu den Außenwänden des Tieres ziehen. Zwischen den Scheide- wänden oder Septen entstehen zahlreiche Taschen, die nach unten zu offen stehen. Sie bilden den Darm. Nach oben zu wird jede Tasche von der Mundmembran nicht einfach abge- schnitten, sondern stülpt sich wie ein Handschuhfinger nach außen vor. Dadurch entstehen die Tentakel. Das Darmepithel tritt in den Tentakel ein und bildet seine innere Bekleidung. Die Wand des Tentakels besteht nach 0. und R. Hertwig aus einer Lage Bindegewebe (Stützsubstanz), die sowohl innen wie außen eine Muskelschicht trägt. Zwischen der äußeren Muskelschicht und der Außenhaut befindet sich eine Schicht von Nervengewebe, d. h. Ganglienzellen und Fasern. Ebenso schiebt sich zwischen die innere Muskelschicht und das Darm- epithel eine Nervenschicht ein. Die Haut besteht aus Sinnes- zellen, Stützzellen, Drüsen und Nesselkapseln.
Wie hängen diese einzelnen Organe funktionell zusammen? Diese Frage kann nur durch das Experiment gelöst werden. Und dieses hat folgende einfache Tatsachen zutage gefördert.
Der mechanische Berührungsreiz ist bei einer normalen Anemonia sulcata fast wirkungslos. Dagegen ist leicht nach- zuweisen, daß die Tentakel einem leisen Druck nachgeben und wie ein Taschenmesser umklappen. Oft schlagen sie dabei
Anemonia sulcata. ß5
weit vom drückenden Gegenstande fort. Stets bleiben sie noch eine Zeitlang gebogen, nachdem der drückende Gegenstand entfernt wurde. Das beweist, daß die Biegung ein aktiver Vorgang ist. Wir werden der gleichen Erscheinung beim See- igelstachel wieder begegnen. Sie ist einfach darauf zurück- zuführen, daß die durch den Druck gedehnten Muskeln er- schlaffen und dadurch ihren Antagonisten die Möglichkeit ver- schaffen, eine aktive Bewegung auszuführen, die den Tentakel von dem drückenden Gegenstande wegführt. Auf Erschütte- rung sind die Tentakel recht empfindlich. Oft antworten sie auf ein Klopfen am Glase mit einer Längsmuskelkontraktion, die auch einseitig sein kann und dann die Arme korkzieher- artig zusammenzieht. Ebenso ruft Kneifen eine Verkürzung der Arme hervor.
Unter den Längsmuskeln zeichnet sich ein Strang beson- ders aus, der auf der dem Munde zugekehrten Seite eines jeden Tentakels als weißer Strich sichtbar ist. Schneidet man einen Tentakel eines normalen Tieres glatt ab und wirft ihn in ein Schälchen mit Wasser, so wird er eine charakteristische Form annehmen. Von der Schnittstelle aufwärts bis etwa zur Hälfte ist der Tentakel nicht bloß leicht verkürzt, sondern auch hals- krausenförmig zusammengezogen. Immer ist die überwiegende Verkürzung des weißen Stranges Ursache dieser Erscheinung.
Während die Längsmuskeln dem mechanischen Reiz Unter- tan sind, antworten die Ringmuskeln den chemischen Reizen. Eine einprozentige Essigsäure in Seewasser, die noch hundert- mal verdünnt ist, vermag abgetrennte Arme, wenn sie genügend empfindlich sind, in lange, dünne Fäden zu verwandeln. Auch stärkere Lösungen haben die gleiche Wirkung. Nur muß man, je stärker die Lösung wird, um so vorsichtiger mit dem Ein- legen der Arme werden. Denn wenn auch der chemische Reiz nicht direkt auf die Längsmuskeln einwirkt, so hat er doch die Fähigkeit, die Rezeptoren der Längsmuskeln für den mecha- nischen Reiz erregbarer zu machen. Läßt man in eine stärkere Lösung den abgeschnittenen Tentakel fallen anstatt ihn vor- sichtig hineinzulegen, so wird er sich zusammenziehen, anstatt sich zu verlängern.
An Stelle von Essigsäure kann auch Kochsalz als Reiz verwendet werden. Am meisten empfiehlt sich eingedampftes
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 5
ßß Anenionia sulcata.
Wasser. Seewasser, das durch Eindampfen 5 ^/^ seines Vo- lumens verloren hat, beginnt als Reiz zu wirken. Man kann einzelne Tentakel in eine solche Lösung legen oder mit einer zur Kapillaren ausgezogenen Pipette die Lösung lokal den Tentakeln des unverletzten Tieres beibringen. Alle Lösungen, die schwerer als Seewasser sind, eignen sich für ein solches Verfahren. Da zeigt sich nun, daß peripher von der Reizstelle mehr oder weniger weit bis zur Spitze hin die Ringmuskeln in Kontraktion geraten und den Tentakel verlängern, während zentral wärt s eine leichte Erschlaffung eintritt. Diese wirkt ebenso, wie die mechanisch hervorgerufene Erschlaffung, d. h. der Arm schlägt von der Reizstelle fort.
Unabhängig von den Muskeln ist die Tätigkeit der Drüsen, die das bekannte Ankleben der Tentakel zur Folge hat. Auf ein reines Glasstäbchen, das geglüht und abgekühlt ist und dauernd in Seewasser aufgehoben wird, kleben normale Ten- takel niemals an. Ebensowenig kleben sie, wie schon Nagel zeigte, an Papierstückchen, die in Säure getaucht waren. Auch Papier- oder Schwammstückchen, die mit Salzlösung von hoher Konzentration vollgesogen sind, vermögen nicht den Klebereflex hervorzurufen. Dagegen genügt es, ein reines Glasstäbchen nur einmal über die Zunge zu ziehen, um sofort ein kräftiges und andauerndes Kleben der Tentakel zu beobachten. Nicht selten sieht man kränkelnde Tiere auch an reine Glasstäbchen ankleben.
Es ist mir gelungen, ein Tier, das ganz normal war, in diesen Zustand erhöhter Drüsentätigkeit zu versetzen, indem ich es auf die Mundseite legte. Nach einiger Zeit begannen alle Arme klebrig zu werden. Ob dies ein Hilfsmittel ist, um losgerissene Aktinien schnell wieder zu verankern, steht dahin. Das Tier, in die normale Lage gebracht, verlor nach und nach seine Klebrigkeit.
Wir haben demnach drei getrennte physiologische Faktoren vor uns, von denen jeder auf eine getrennte anatomische Grund- lage Anspruch erheben kann: 1. Die Drüsen, die den klebrigen Schleim produzieren, müssen ein eigenes Nervensystem besitzen, das sie mit ihren sehr spezialisierten Rezeptoren verbindet, die nur auf den chemischen Reiz der Nahrung reagieren. 2. Die Ringmuskeln, die auf jeden chemischen Reiz antworten. Auch
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sie bedürfen eines eigenen Nervennetzes und eigener Rezep- toren, die aber weniger spezialisiert sind und auf chemische Reize aller Art ansprechen. 3. Die Längsmuskeln verlangen ein besonderes Nervennetz, das sie mit ihren Tangorezeptoren verbindet. Diese drei selbständigen Reflexbögen, die auf ver- schiedene Reize eingestellt sind, handeln trotzdem gemeinsam, weil sie räumlich an das gleiche Organ gebunden sind. Ihr Zusammenarbeiten ist überraschend zweckmäßig und den Be- dürfnissen der Anemonen angepaßt.
Fällt auf die Anemone ein Steinchen, so müssen die Arme es passieren lassen, denn es verursacht nur Unordnung und ist gänzlich ungenießbar. Das kann auf verschiedene Weise ge- schehen. Entweder der Stoß des Steines ruft keine Erregung hervor und er gleitet einfach zwischen den glatten Tentakeln hindurch. Oder er bleibt liegen und dehnt dann die von ihm belasteten Tentakel, die darauf fortklappen und ihre Last fallen lassen. Oder die Erschütterung des fallenden Steines war stark genug, die Längsmuskel reflektorisch zu verkürzen, dann ziehen sich die Arme von ihm zurück. Der gleiche Effekt wird erzielt, wenn ein Arm durch den Stein geklemmt wird. In jedem Falle sinkt der Stein zu Boden.
Naht sich der Anemonia ein Tier, das nicht wie der Stein chemisch indifferent ist, so werden die Tentakel durch Ring- muskelreflex lang werden und an das fremde Tier anstoßen. Produziert dieses chemisch schädliche Stoffe, wie es etwa eine säurebildende Nacktschnecke tut, so werden auf die Berührung hin die Längsmuskeln sich zusammenziehen, weil ihre Rezep- toren durch den chemischen Reiz erregbar gemacht und sie selbst durch die Dehnung der Erregung zugänglicher geworden sind. Auf diese Weise vermeidet Anemonia die Schädlichkeit.
War das Tier eßbar, z. B. ein kleiner Oktopus de Philippi, so werden die Tentakel gleichfalls lang, die Längsmuskeln ver- kürzen sich auch, aber nicht so stark, d. h. sie ziehen sich nur an den Berührungsstellen zusammen. Dadurch werden sie zu Ranken, die sich um die Beute schlingen, und fahren dann erst in gemeinsamer Kontraktion zusammen. Aber sie fahren nicht leer zurück, denn die Drüsen haben infolge des Nahrungs- reizes die Beute am Arm festgeklebt, und diese wird nun mit fortgerissen. Handelt es sich um einen leicht beweghchen
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ßg Anemonia sulcata.
Bissen, etwa ein Stückchen Fischfleisch, so schlägt, wie Nagel das beschrieben, der Tentakel zum Munde hin. Dies geschieht durch die überwiegende Kontraktion des weißen Stranges, der die Beute immer nach dem Munde ziehen muß.
Was die Nesselkapseln betrifft, so hat Parker beobachtet, daß sie auf chemische Reize hin explodieren (sie bestehen bekannt- lich aus einem Spiralfaden, der in einer giftgefüllten Kapsel ruht). Dagegen sind Nahrungsreize für die Nesselkapseln indifferent.
Die Drüsen zeigen in ihrem Bau deutlich zwei verschie- dene Typen. Auch wird auf chemischen Reiz zweierlei Schleim sezerniert. Der eine, der am Gegenstand klebt, und ein zweiter, der den ganzen Arm mit einer dichten Hülle umgeben kann und ihn vor weiterer Schädlichkeit bewahrt.
Über die Muskeln des Körpers sind wir durch Jordan freilich an einer anderen Aktinienart, nämlich Aktinoloba, unter- richtet worden. Da mit seiner Aktinienarbeit die schönen Muskeluntersuchungen dieses Forschers einen vorläufigen Ab- schluß erreicht haben, sei es mir vergönnt, näher auf seine grundlegenden Resultate einzugehen. Jordan hat sich mit solchen Tieren beschäftigt, deren Muskulatur ein zentrales Netz beherbergt und daher dem Einfluß der statischen Erregung nicht entzogen werden kann. Er nennt solche Muskeln Tonus - muskeln. Da das zentrale Netz sich überallhin verbreitet, spricht er diesen Tieren einen generellen Reflex zu, im Gegensatz zu anderen Tieren, die viele individualisierte Reflexe aufweisen und zahlreiche Reflexbögen besitzen. Deshalb nennt er die Tiere mit Tonusmuskulatur reflexarme Tiere. Auch die re- flexarmen Tiere können eine gewisse Subordination des Netzes unter höhere Zentren aufw^eisen.
Bei den Aktinien gibt es keine Subordination. Bei ihnen treten die Grundgesetze der Tonusmuskeln, die Jordan auf- gestellt hat, ohne weiteres zutage. Erstens ist die Reizbarkeit abhängig vom Niveau der statischen Erregung oder, was dasselbe sagen will, vom Grade des Tonus: ,,Je niedriger der Tonus, desto höher der Grad der Reizbarkeit." Es ist dieses die gleiche Regel, die ich auch für die Seeigel nachweisen konnte. Zweitens findet Jordan, daß die Strecke, um die sich ein Tonusmuskel auf den gleichen Reiz zusammenzieht, ebenfalls abhängig vom Tonus ist: sie wächst, wenn der Tonus fällt. Schließlich und
Anemonia sulcata. 69
drittens sinkt der Tonus infolge der Belastung. Auch dies ist ein an anderen Tieren nachweisbares Faktum.
Jordan fand ferner die merkwürdige Tatsache der Über- tragung des Tonusfalles von einer Muskelpartie auf die andere. Das zentrale Netz übermittelt den Tonusfall vom gedehnten Muskel zu den ungedehnten Muskelpartien. Für Aktinoloba vermochte Jordan nachzuweisen, daß der durch starke Belast- ung hervorgerufene Fall des Tonus aufgehalten werden kann, wenn man eine ungedehnte Muskelpartie neben der gedehnten stehen läßt. Auch nach Jordans Auffassung ist der Tonus im Muskel ein Erzeugnis des Nervensystems, und wenn wir alle Vorgänge im Nervensystem kurzerhand als Erregungsvor- gänge bezeichnen, so ist auch für die Tonusmuskel das allge- meine Erregungsgesetz gültig, das da besagt, daß die Erregung immer den gedehnten Muskeln zujfließt.
Während ich für die Erregung die Vorstellung eines Fluidums bevorzuge, das vom höheren zum niederen Niveau fließt, wählt Jordan ein anderes Bild für den gleichen Vor- gang. Er schreibt: ,,Wir haben in beiden Fällen (bei Aktino- loba) ein Stück Nerven-Muskelschlauch, das wir belasten und dadurch seines Tonus berauben. Das eine Stück steht noch in Verbindung mit einem großen Gebiete des Nervensystems, nämhch vor allem mit der Mundscheibe, und dieses Gebiet muß über ,Energie' verfügen, da die zugehörige Muskulatur Tonus aufweist. Mehr noch, da die einzelnen Teile des Aktinien- körpers sich in der Norm nicht gegenseitig hinsichthch des Tonus beeinflussen, so müssen die »Potentiale' in all diesen Teilen ungefähr gleich sein. Ist aber durch Belastung eine wesenthche Abnahme des Tonus innerhalb der Fußmuskulatur eingetreten, so wird die an sich unbeeinflußte Mundscheibe den Fuß mit jEnergie' speisen müssen."
Jordan gelang es zu zeigen, daß das stark entwickelte Nervensystem, das den Mund der Aktinien umgibt, durchaus nicht die Rolle eines superponierten Zentralteiles spielt, sondern daß überall die gleichen nervösen Beziehungen herrschen.
Die Septenmuskulatur, die bei Aktinoloba das Einstülpen der Mundfläche ausführt, besitzt eine viel schnellere Tonus- muskulatur als die Wände und der Fuß. Auch sie ist von Jordan untersucht worden.
70 Aneinonia sulcata.
Die von mir oben erwähnten Versuche über die Arm- bewegungen von Anemonia sulcata zeigen die Schwierigkeit, die sich einer allgemeinen Anwendung der Jordan sehen Ein- teilung in generelle und individuelle Reflexe entgegenstellt. Wenn sowohl Längs- wie Ringmuskeln wie die Drüsen ein be- sonderes Nervennetz besitzen, so ist man schon im Zweifel, ob man noch im strengen Sinn des Wortes von generellen Reflexen reden darf. Jedenfalls würde auch die geringste weitergehende Spaltung in einem der drei Netze einen indivi- dualisierten Reflexbogen hervorbringen.
Ebenso interessant, wenn auch ganz anderer Art als die Jord ansehen Arbeiten, sind die Versuche, die Bohn mit ebenso- viel Ausdauer als Geschick an den Aktinien ausgeführt hat. Ihn interessieren weniger die Reflexe, die vom Rezeptionsorgan kommend durch das Nervensystem den Muskeln zufheßen, als der Einfluß, der von anderen Lebensprozessen auf die Reflexe ausgeübt wird, und der sich erst in einer Abänderung der Reflexe offenbart.
Bohn untersuchte die Aktinien des Atlantischen Ozeans, die innerhalb der Flutgrenze leben und die dem Rhythmus des steigenden und fallenden Meeres ausgesetzt sind. Diese Aktinien sind während der Flut geöffnet und während der Ebbe ge- schlossen. Die Reize, die ihnen durch den Gezeitenwechsel zugeführt werden, erzeugen in den Aktinien einen rhythmischen Prozeß, der sich noch erhält, wenn die Tiere im Aquarium unter gleichförmige Bedingungen gebracht werden. Obgleich dauernd vom Wasser umgeben, schließen sich die Aktinien noch tagelang regelmäßig, wenn draußen im Meere ihre Schwestern unter dem Einfluß der Ebbe sich zusammenziehen. Ebenso öffnen sie sich wieder, wenn draußen die Flut zu steigen beginnt. Dieser innere Rhythmus klingt langsam ab. Nach und nach werden die Aktinien bloß noch von den Reizen, die das Aquariumleben bringt, beeindruckt. Daß aber der innere Rhythmus trotzdem weiter fortbesteht, sieht man daran, daß eine einfache Erschütterung die geschlossene Aktinie zur Zeit der Ebbe nicht beeinflußt, dagegen zur Zeit der Flut zum öffnen bringt. Dagegen bringt die gleiche Erschütterung eine geöffnete Aktinie nur zur Zeit der Ebbe zum Schließen und verläuft wirkungslos zur Zeit der Flut.
Sehr interessant sind ferner die Beobachtungen Bohns
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Über die Wirkung des Lichtes auf die Aktinien. Einmal läßt sich die Wanderung der Aktinien durch das Licht hervorrufen. In einem Glasgefäß stellen sie sich immer auf der dem Licht abgewandten Seite auf. Während der Wanderung können die Aktinien durch Steine oder Algenblätter aufgehalten werden, die eine rauhe Oberfläche besitzen und dem Fuß einen besseren Halt gewähren als die Glaswand. Eine Tatsache, die schon Loeb beobachtet hatte. Ferner hat die Beleuchtung auf die Aktinien einen lange überdauernden Einfluß, der die Tiere, welche mehrere Tage im Hellen zugebracht haben, befähigt, sich schneller und ausgiebiger auf den gleichen Reiz zu öffnen als Tiere, die zwar gleichfalls im Hellen stehen, die Tage vorher aber im Dunkeln verbracht haben. Endlich ließ sich auch ein Rhythmus des öffnens und Schließens nachweisen, der mit dem Wechsel von Tag und Nacht Hand in Hand ging.
Der Rhythmus zwischen öffnen und Schließen, der vom Wechsel der Tageszeiten abhängig ist, steht in enger Beziehung zum Wohnort, dem die Aktinien entnommen sind. Stammen sie aus flachen, algenhaltigen Felswannen des Ufers, die sehr stark der Sonne ausgesetzt waren, so öffnen sie sich im hellen Aquarium am Tag und schließen sich in der Nacht. Werden dieselben Tiere im Dunkelzimmer gehalten, so kehrt sich diese Reaktion um. Sie öffnen sich in der Nacht, bleiben aber am Tag geschlossen, ,,denn sie leiden von der Abwesenheit des Lichtes wohl am Tag, nicht aber in der Nacht.'*
Diejenigen Aktinien (es handelt sich immer um Actinia equina), die an beschatteten Orten gelebt haben, öffnen sich, im hellen Aquarium gehalten, bei Nacht und schließen sich am Tag vor dem ungewohnten SonnenHcht. Aber die Öffnung in der Nacht geschieht rascher und ausgiebiger, wenn sie tags vorher beleuchtet wurden, als wenn sie den Tag im tiefen Schatten verbracht hatten. Die lange andauernde Dunkelheit ruft bei allen Aktinien eine immer mehr zunehmende Schwächung der Lebensfunktion hervor. Ebenso wirkt die Asphyxie und die lang andauernde Bewegung des umgebenden Wassers. Auch ich habe bei Anemonia sulcata beobachten können, daß alle Reaktionen der Arme bei sehr empfindlichen Exemplaren durch eine vorhergehende Bewegung des Wassers herabgesetzt wurden. Nach einer kürzeren oder längeren Ruhepause stellte sich die
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alte Erregbarkeit wieder her. Ähnliches berichtet auch Lulu Allenbach.
Bohn trennt die Wirkung der Dunkelheit, der Asphyxie und der Wasserbewegung als gegenwärtige von den ver- gangenen Beeinflussungen durch das Licht und die Gezeiten. Im Ganzen gelingt es Bohn überzeugend nachzuweisen, daß die Aktinien die Fähigkeit besitzen, in sehr weitem Maße den Anforderungen ihrer Umgebung gerecht zu werden. Alle Reize der Außenwelt können, einer Aktinie übermittelt, verschiedene Wirkungen hervorrufen, je nachdem die vergangenen Reize eine Dauerwirkung hinterlassen haben oder nicht. Die Aktinien zeigen sich befähigt, auf rhythmische Wirkungen der Außenwelt rhythmische Antworten zu finden, die den Rhythmus der Außen- welt sogar überdauern.
Diese Fähigkeiten werden von Bohn der ,, lebenden Sub- stanz'* als solcher zugeschrieben. Dies kann in der Tat der richtige Schluß sein. Aber welche lebende Substanz ist eigent- lich gemeint ? Soll es das Protoplasma sein, das in den Muskelzellen sitzt, oder im Nervennetz und den Rezeptoren ? Oder in allen dreien?
Wenn auch die Strukturen als etwas Nebensächliches zu betrachten sind, ihre Existenz läßt sich doch nicht ableugnen. Und die Funktionen, wie das Schließen und öffnen der Aktinien, werden von wohldifferenzierten Geweben ausgeführt. Ein Reflexbogen ist sicher vorhanden. Aber der Reflex ist von außerhalb des Reflexbogens beeinflußbar. Außerhalb des diffe- renzierten Gewebes, das den Reflexbogen bildet, befindet sich das undifferenzierte Protoplasma, das den Reflexbogen hat ent- stehen lassen. Mehr wissen wir nicht.
Bei den Amöben läßt das Protoplasma die Strukturen entstehen und zerstört sie gleich wieder. Bei den Aktinien bleiben die Strukturen bestehen, aber das Protoplasma bewahrt einen entscheidenden Einfluß auf ihre Funktion. Das Proto- plasma vermag bei einer bestimmten Amöbenart nur bestimmte Organe zu produzieren, die eine bestimmte Funktion haben. Bei den Aktinien kann die Funktion der einmal gebildeten Gewebe auch nicht geändert werden. Das Nervensystem kann nur Erregungen leiten, aber vermag sich nicht zu verkürzen. Die Muskeln können sich nur verkürzen, aber keine Erregung
Anemonia salcata. 73
von Faser zu Faser leiten. Aber jede einzelne Funktion kann, so scheint es, vom Protoplasma gehemmt, beschleunigt und so weit sie umkehrbar ist auch umgekehrt werden. So kann auf den gleichen Reiz einmal Erschlaffung, einmal Verkürzung ein- treten, je nach dem Eingreifen des Protoplasmas.
Die biologische Aufgabe des Protoplasmas besteht darin, die durch das Auftreten fester Strukturen zur Unveränderlichkeit neigende Reflexfunktion geschmeidig zu erhalten, so daß sie sich dem wechselnden Einfluß der Umgebung gewachsen zeigt. Dies ist besonders bei Tieren notwendig, die nur wenige Reflexe ausgebildet haben. Denn diese werden auch in allen möglichen Kombinationen doch nicht die nötige Mannigfaltigkeit erreichen, um dem Wechsel der Umgebung folgen zu könnnn. Bei Tieren mit reichem Reflexleben sind nicht allein zahlreiche MögUch- keiten gegeben durch Reflexkombination, dem Wechsel der Außenwelt ein Gegengewicht zu halten, auch das Zentralnerven- system ist bei differenzierteren Tieren befähigt, von verschiedenen Faktoren der Umwelt spezielle Eindrücke aufzunehmen und auf- zubewahren. Diese Eindrücke werden nach und nach zu Strukturteilen. Daher kann die Protoplasmawirkung immer mehr und mehr zurücktreten. Denn bei diesen Tieren ist die Umwelt sozusagen in das Hirn hinüberdestilhert und ihre Ver- änderungen rufen durch nervöse Übertragung analoge Verände- rungen im Hirn hervor. Da das Hirn einen reichen Reflex- apparat beherrscht, zeigen sich diese Tiere allen Wechselfällen des Lebens gewachsen.
Die einfachen Nervennetze der Aktinien sind für solche Leistungen ganz und gar nicht eingerichtet. Deshalb muß sie der regulierende Einfluß des Protoplasmas mit dem Wechsel der Umwelt vertraut machen. Wie das geschieht und wo das geschieht, darüber vermögen wir nicht einmal Vermutungen aufzustellen, aber daß es geschieht, ist wohl eine unbezweifel- bare Tatsache.
Interessant ist es, an den Befunden Bohns die beiden Theorien zu messen, die, wie Bohn sich ausdrückt, die Forscher Amerikas in zwei Lager spalten. Unzweifelhaft ist durch diese Versuche nachgewiesen, daß es sich beim Photo- tropismus von Loeb nicht bloß um unaufgelöste Reflexe handelt, sondern eine direkte Wirkung des Lichtes auf das Protoplasma
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angenommen werden muß. Diese Wirkung ist aber keine mechanische, da das Protoplasma die Fähigkeit besitzt, alle vitalen Reize planmäßig zu verwerten. Die Versuche Bohns geben andererseits auch Jennings recht, wenn er von der Wirkung innerer Prozesse auf die Bildung von Gewohnheiten spricht. Sie widersprechen aber der Lehre vom ,, Versuch und Irrtum", denn die Planmäßigkeit wird nicht gesucht und dann erst gefunden, sondern sie ist selbst die fundamentale Eigen- schaft des Protoplasmas und vor allen Versuchen vorhanden. Wie man sieht, behalten die Theorien, die sich mit dem Proto- plasma befassen, gerade so lange recht, bis sie eine mecha- nische und physikalische Deutung zu geben versuchen. Die mechanische Deutung tritt erst dann in ihr Recht, wenn es sich nicht mehr um Protoplasma, sondern um Strukturen handelt.
Wenn uns die Bohnschen Beobachtungen davon über- zeugten, daß bei den Aktinien die Wirkung des Protoplasmas unverkennbar ist, so können wir den Versuchen, die Jennings in dieser Richtung bei den Aktinien angestellt hat, die gleiche Überzeugungskraft nicht zuerkennen. Jede Anemone besitzt die drei wesentlichen Strukturelemente des Reflexbogens: die Rezeptoren, das Nervensystem und die Muskeln. Jedes dieser Elemente hat physiologische Eigenschaften, d. h. es ist in ge- wissen Grenzen, die von seiner Bauart abhängen, variabel. Die Muskeln ermüden durch Anhäufung ihrer eigenen Stoff- wechselprodukte. Die Rezeptoren werden leicht erschöpft, wenn sie einen zersetzUchen Stoff beherbergen, dessen Zer- setzung der Nervenerregung dient. Das Nervensystem ist am allervariabelsten, weil seine Leistungen von der Menge der Er- regungen abhängig sind, die es im Moment beherbergt.
Diese Faktoren hat Jennings nicht genügend berücksichtigt. Er findet z. B., daß eine Aktinie, die anfangs Papierstückchen fraß, diese Gewohnheit aufgibt, nachdem man ihr ein paar Fleischstückchen gereicht hat. Lulu Alienbach führte den gleichen Versuch aus, schaltete aber die Wirkung der Sättigung aus, indem sie sowohl Papier wie Fleischstückchen, wenn sie zum Munde gelangt waren, wieder fortnahm. Trotzdem blieb der Erfolg der gleiche. Die Papierstückchen wurden abgelehnt, nachdem man das Fleisch gegeben hatte. Das besagt, daß der
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stärkere Reiz den schwächeren unwirksam macht. Es handelt sich also bloß um eine Beeinflussung der Rezeptoren und nicht um einen inneren Prozeß im Jennings sehen Sinn.
Gewiß gibt es auch innere Prozesse, die wir mit den Worten Hunger und Sättigung bezeichnen. Aber diese Prozesse sind noch gar nicht analysiert, und in welcher Weise sie auf den Reflexbogen einwirken, ist uns unbekannt. MögHcherweise wirken sie mittels bestimmter StofEwechselprodukte nach einer ganz festen Regel auf die Rezeptoren oder das Nervensystem ein und gehören somit zu dem Bauplan des Tieres, der weder durch Hunger noch Sättigung eine Änderung erfährt.
Jennings führt selbst einen sehr lehrreichen Versuch an, der deuthch zeigt, wie leicht man sich über die inneren Prozesse täuschen kann. Eine Anemone, die ihre Tentakel nach hnks hin ausbreitete, wurde durch mehrfache Reizung dazu gebracht, sie nach rechts hin auszubreiten. Dies war aber keine neuer- worbene Gewohnheit, %\de es den Anschein hatte, denn es zeigte sich, daß die Wandmuskeln infolge des Reizes dauernd einseitig verkürzt blieben.
Wenn Jennings die These aufstellt, die Tiere seien ein Bündel von Prozessen, so bleibe ich bei meiner These, die Tiere sind ein Bündel von Reflexen. Unserem Verständnis sind die mechanischen Vorgänge in den Reflexbögen unmittel- bar zugängUch. Diese sind daher in den Mittelpunkt der Be- trachtung zu stellen. Erst wenn man eine deuthche räumliche Anschauung besitzt, kann man die Abänderung dieser Vorgänge durch fremde Einwirkung betrachten, ohne befürchten zu müssen, daß sich alles in eine allgemeine Unklarheit auflöst.
Die Nahrungsaufnahme der Aktinien ist bereits bis zum Überdruß geschildert worden. Am eindrucksvollsten bleibt die Beschreibung, die Nagel gegeben hat und die mit einer guten schematischen Zeichnung illustriert ist. Zwei Faktoren kommen zunächst in Betracht, die Tentakel und die Mundmembran. Ferner beteiligt sich das Schlundrohr am Freßakt und schließ- hch die gesamte Muskulatur des Tieres, soweit sie den Binnen- druck der Arme und des Magensackes reguliert. Die hohlen Tentakel besitzen eine Öffnung an der Spitze, die aber für ge- wöhnlich verschlossen bleibt. Dagegen ist die Öffnung, die zum Lumen der Septenkammer und somit in den Gastro-
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Vaskularraum des Tieres führt, bald offen, bald verschlossen. Wenn man einem Tentakel die Spitze abschneidet und ihn dann auf ein Glasrohr bindet, durch das man Luft dem Tier einbläst, so wird man bald in diesem, bald in jenem Tentakel die Luft eintreten sehen, während die übrigen sich ihr dauernd verschließen. Auch trifft man manchmal auf Exemplare, die lauter steife, prall gefüllte Tentakel besitzen, die sehr schwer reagieren, weil sie einen zu hohen Binnendruck besitzen, den sie nicht an das Gesamttier abzugeben vermögen.
Ist mit Hilfe der drei Reflexe der Arme, der Ringmuskel- kontraktion, dem Kleben und der Längsmuskelkontraktion, wobei der weiße Strich sich besonders hervortut, die Speise zum Mund gebracht worden, so werden die zunächst hegenden Arme durch den starken dauernden chemischen Reiz in dünne Fäden verwandelt, die wie zähe Ranken an der Beute sitzen.
Ist der Mund, der sich erst durch die Kontraktion der Radiärmuskeln öffnete, bis an die Beute gelangt, so schließt er sich mit Hilfe der Zirkulärmuskeln wieder. Meist ist das Mundrohr deuthch zutage getreten und hat die Speise um- schlossen. Die Schleimhaut des Mundrohres, die für gewöhnlich von innen nach außen flimmert, kehrt, wie Parker gefunden, ihre Flimmerrichtung um, sobald sie von den chemischen Reizen der Speise getroffen wurde. Außer dem Verschlucken kommt noch eine andere Art der Nahrungsaufnahme bei Anemonia vor. Ich fütterte ein Tier mit den Stücken eines Seeigeleierstocks, die wohl zum Munde geführt, aber nicht ver- schluckt wurden. Dafür fand sich nach einigen Stunden der Eierstock dicht von Mesenterialfilamenten umschlungen.
Das Verhältnis der Aktinien zu ihrer Umwelt ist ein be- sonders interessantes. Ihr Nervensystem, das in drei getrennte Nervennetze zerfällt, besitzt nur analytische Funktionen. Das Beutetier wird von den Rezeptoren in seine physikahschen und chemischen Eigenschaften zerlegt. Eine Synthese findet im Nervensystem nicht statt. Nur das Zusammenarbeiten der verschiedenen Muskulaturen und Drüsen am gleichen Organ führt zur Synthese einer einheitlichen Handlung. Es ist die Innenwelt einer Aktinie keine Einheit, sondern mindestens eine Dreiheit. Bald geraten die einzelnen Faktoren getrennt, bald gemeinsam in Erregung und bringen ihre Gefolgmuskel zur
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Verkürzung. Die Einheit liegt nur im Bauplan des Gesamt- tieres. Dies lehrt uns handgreiflich, daß das Zentralnerven- system nicht die Einheit des Tieres zuwege bringt, wie es bei komplizierten Tieren oft den Anschein hat. Das Zentral- nervensystem ist genau so ein Teilorgan oder eine Summe von Teilorganen, wie alle anderen Organe. Nach den Bedürfnissen des Gesamttieres wird das eine oder das andere Organ mehr ausgebaut.
Für die Umwelt, in der die meisten Aktinien leben, ge- nügt das einfache Bündel der drei Reflexe. Wo sie in großen Mengen rasenbildend den Meeresgrund überziehen, sind sie dem Einfluß der Gezeiten entzogen, und je tiefer sie wohnen, desto geringer wird der Wechsel der Tages- und Nachtzeiten sie be- einflussen. Je höher aber die Aktinien wohnen, je mehr wirken der Tages- und der Gezeitenwechsel auf sie ein. Dazu kommt, daß sie, auf der Wanderung begriffen, aus tiefem Schatten an das Licht gelangen können oder aus dem Gezeitenwechsel in die Tiefe und umgekehrt. Überallhin begleitet sie die Vor- sorge des Protoplasmas, das den Wechsel der Umwelt mit stillem Rhythmus wiedergibt, der die Erregbarkeit steigernd oder beruhigend auf die Reflexorgane wirkt. So stehen die Aktinien noch an der Kindheit Grenze, dem Gängelbande des Proto- plasmas noch nicht ganz entwachsen, und doch schon im Be- sitze ausgebildeter Reflexorgane den voll entwickelten Tier- arten gleichend.
Medusen.
1. Rhizostoma pulmo.
Die Oberfläche des Meeres ist eine einzige Weide mit reichem Pflanzenwuchs übersäet. Wie auf den Landweiden sich die Lämmer ernähren, so ernähren sich auf der Meeres- weide die Medusen. Ebenso verschiedenartig wie die beiden Weiden, ebenso verschiedenartig sind die Tiere, die darauf leben. Aber in jedem Falle passen Weide und Weidender gleich vollkommen zueinander.
Der Pflanzenwuchs des offenen Meeres besteht aus den zahllosen einzelligen Algen, insbesondere Diatomeen, die in ver-
78 Medusen.
schiedener Dichte und in wechselnde Tiefe hinab wie feinste Pünktchen aufgehängt sind. Sie können jeder Wellenbewegung widerstandslos folgen ohne ihren Platz zu wechseln, wie das Wasser selbst. Um diesen feinen Nahrungsstaub aufzunehmen, bedarf das weidende Tier eines pulsierenden Magens, der das Wasser unfiltriert aufnimmt und filtriert entläßt. Nur auf diese Weise kann der Nahrungsstaub in genügender Menge gesammelt werden, um ein größeres Tier zu ernähren. Zugleich muß das Tier, wenn es schwerer als das Wasser ist, Schwimm- bewegungen ausführen, die es an der Oberfläche halten.
Die Betrachtung von Rhizostoma pulmo, einer der großen Medusen des freien Mittelmeeres, lehrt uns, auf welche geist- reiche Weise die beiden notwendigen Bewegungen der Nahrungs- aufnahme und des Schwimmens mit einander verknüpft sind. Eine ruhende Rhizostoma gleicht annähernd einem aufgeschlagenen Regenschirm, der aus elastischer Gallerte verfertigt ist. Sie zeigt sowohl Stiel wie Schirm. Der Stiel gleicht seinerseits einem schweren herabhängenden Eiszapfen. Er ist mit Längs- kanälen durchsetzt, in die von außen feine Poren münden, die der Wasseraufnahme dienen. Der Stiel ist mit vier federnden Spangen an die Unterseite des gleichfalls federnden Gallert- schirmes befestigt. Zwischen den vier Spangen ist der häutige Magen ausgespannt, in den die Längskanäle des Stieles münden. Es gilt, einmal den Magen in rhythmische Pulsation zu versetzen, und zweitens Schwimmbewegungen mit dem Schirm auszuführen. Beides geschieht durch eine feine Schicht Ring- muskeln, die am inneren Schirmrande sitzen und bei ihrer Zu- sammenziehung den elastischen Schirm stark nach oben wölben. Lassen die Muskeln in ihrer Tätigkeit nach, so flacht sich der Schirm dank seiner Federkraft wieder ab. Da der durch die Muskeln herbeigeführte Schirmschlag nach unten energischer ist, als der federnde Schlag nach oben, so ist damit eine Be- wegung des Gesamttieres nach oben gegeben. Der schwere Stiel sorgt dafür, daß die Richtung „Schirm oben" dauernd erhalten bleibt und nach äußeren Störungen bald wieder ein- genommen wird.
Damit ist die Schwimmbewegung gegeben. Bei jeder Kon- traktion des Schirmrandes wird, wie wir sahen, der Schirm gewölbt und der Gipfel nach oben gedrängt. Dadurch wird
Medusen. 7 9
ein Zug auf den Stiel ausgeübt. Dieser kann dem Zug nicht allsogleich folgen, weil sein Reibungswiderstand im Wasser zu groß ist. Daher werden die federnden Spangen gedehnt und das Magenlumen erweitert. Nach Beendigung des Muskel - Schlages flacht die Glocke wieder ab, die Spangen federn zurück, der Stiel nähert sich dem Schirm und verengert das Lumen des Magens. Auf diese Weise wird die Schirmbewegung und die Magenbewegung durch eine einzige Muskeltätigkeit ausgelöst. Die Pulsationen des Magens treiben ihrerseits die Nahrung in die Verdauungskanäle, die sich an der Unterseite des Schirmes strahlenförmig ausbreiten. Zugleich dringt auf diesem Wege frisches Atemwasser zu den inneren Geweben. So werden durch die Kontraktion der Randmuskeln alle Bewegungs- funktionen, deren der Körper bedarf, ausgeführt.
Die Tätigkeit der Randmuskeln ist also für Rhizostoma ungleich wichtiger als es sonst Bewegungen peripherer Teile in der Regel sind. Denn bei Rhizostoma werden die Funktionen des Schwimmens, Fressens, Verdauens und Atmens durch die Ringmuskeln ausgeführt oder wenigstens eingeleitet. Kein Wunder, daß sich das ganze animale Leben des Tieres auf diese Muskeln konzentriert. Hier sitzen die einzigen Rezeptions- organe, die sogenannten Randkörper, hier sitzt das ganze Nerven- system.
Die kurzen Muskelfasern, die gemeinsam das lange Band bilden, das den Schirmrand umschlingt, zeigen, wenn sie direkt gereizt werden, keine besonderen Eigenschaften. Sie ziehen sich einfach zusammen, solange der Reiz dauert. Niemals greift die Erregung von einer Muskelfaser zur anderen über. Sie bilden, wie alle Muskelfasern aller Tiere, die einzelnen Tasten des Klaviers, die vom Nervensystem aus einzeln angeschlagen werden müssen, um zu klingen.
Im normalen Leben der Medusen antworten die Muskeln aber niemals anders als rhythmisch. Immer folgt auf eine Ver- kürzung eine vollkommene Erschlaffung. Dann, nach einer kurzen Ruhepause, beginnt die nächste Verkürzung. Dieser Rhythmus wird von verschiedenen Faktoren beeinflußt. Die Wärme beschleunigt ihn und die Kälte verlangsamt ihn. Die Abtragung des Stieles, welche die Muskelarbeit erleichtert, be- schleunigt den Rhythmus. Werden einzelne Randstücke mit
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ihren Muskeln abgetragen, so wird dadurch der Rhythmus nicht vernichtet. Nur schlagen die einzelnen Stücke nicht mehr in den gleichen Phasen. Es hat also der gemeinsame elastische Widerstand, den die Muskeln in gemeinsamer Arbeit überwinden müssen, die Wirkung, daß der Rythmus überall im gleichen Tempo vor sich geht.
Wir haben schon von dem allgemeinen Erregungsgesetz gesprochen, demzufolge die Erregung immer den gedehnten Muskeln zufließt. Werden nun alle Muskeln von einer gemein- samen Feder gleichzeitig gedehnt, so wird die Erregung auch allen Muskeln zu gleicher Zeit zufließen. Dadurch erhält der Rhythmus überall die gleiche Phase. Aber der Rhythmus selbst ist damit nicht ausreichend erklärt. Wohl läßt sich das all- gemeine Erregungsgesetz darauf zurückführen, daß die Erregung im zentralen Netz nur deshalb zu den gedehnten Muskeln fließt, weil sie durch die Dehnung ärmer an Erregung geworden sind. Ist die Erregung in sie eingetreten, so hört die Armut auf, und damit verlieren die Muskeln ihre Anziehungskraft auf die Erregung. Auf diese Weise lassen sich die rhythmischen Reflex- bewegungen, wie sie viele Gehbewegungen der Tiere charakte- risieren, ableiten. Allein diese rhythmischen Reflexe werden nicht zwangsmäßig ausgeführt, sondern können jederzeit durch das Auftreten eines stärkeren Reizes oder eines äußeren Hinder- nisses abgeändert werden. Der Rhythmus der Medusen hin- gegen ist echt und unabänderlich. Auch die stärksten Dauer- reize, die das zentrale Netz treffen, sind nicht imstande, den Rhythmus zu durchbrechen und eine Dauerkontraktion hervor- zurufen. Solange die Muskeln sich verkürzen, ist jede Ver- bindung zwischen ihnen und dem zentralen Netz unterbrochen. Die völlige Unterbrechung der Leitung zwischen Netz und Muskel muß einem nervösen Apparat zugeschrieben werden, den wir Unterbrecher nennen können. Über seine Leistungen wissen wir femer, daß die Muskeln der Medusen, wie die Mus- keln aller derjenigen Organe der höheren Tiere, die einen echten Rhythmus zeigen, bei jeder Art von Reizung sich immer nur maximal und niemals untermaximal kontrahieren. Das beweist, daß der Unterbrecher immer nur eine ausgiebige Erregungs- portion in die Muskeln einläßt oder gar nichts. Diese beiden Eigenschaften kann man dazu benutzen, um sich eine ungefähre
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Vorstellung dieses sonderbaren Organes zu machen. Offenbar hat der Unterbrecher die Fähigkeit, die Erregungen, die im zentralen Netz vorhanden sind, so lange zu stauen, bis ein ge- nügendes Quantum vorhanden ist, das da ausreicht, um die Muskeln in maximale Tätigkeit zu versetzen.
Während dieser Stauungsperiode ist der Unterbrecher zum zentralen Netz hin geöffnet, zum Muskel hin aber geschlossen. Hat die Stauung ihren Höhepunkt erreicht, so schlägt der Unterbrecher um und schließt sich gegen das zentrale Netz ab. Das nennt man seine refraktäre Periode. Zugleich öffnet er sich aber zu den Muskeln hin und gibt ihnen seine volle Ladung von Erregung ab.
Die Vorstellung eines nervösen Apparates mit Unterbrecher- eigenschaften bringt auch, wenn sie noch so vage ist, die beiden Leistungen, die in der Physiologie unter dem Namen ,, refraktäre Periode" und „Alles- oder Nichtsgesetz" bekannt sind, in einen verständlichen Zusammenhang. Das Alles- oder Nichtsgesetz fordert, daß Erregung gestaut werde, und die re- fraktäre Periode bedeutet Leitungsunterbrechung. Nun ist es selbstverständlich, daß ein Organ, das die Erregung zu stauen vermag, auch die Fähigkeit haben muß, ihr Weiterfließen zu verhindern, d. h. die Erregungsleitung zu unterbrechen. Anderer- seits muß ein Organ, das die Leitung der Erregung aufhebt, auf die neu hinzufließende Erregung stauend wirken. Wenn wir von einem Unterbrecher sprechen, so meinen wir damit ein nervöses Organ, das zwischen Nervennetz und Muskelfaser eingeschaltet ist. Es wird sich später zeigen, daß bei allen Tieren an dieser Stelle ein besonderer Apparat vorhanden ist, der im allgemeinen die Aufgabe hat, die Ansprüche der Mus- keln auf die Erregung im zentralen Netz zu regeln. Ich nenne dieses Organ den Repräsentanten und betrachte dem- entsprechend den Unterbrecher der Medusen als einen umge- wandelten Repräsentanten.
Werfen wir noch einen Blick auf den Rhythmus der Me- dusenmuskeln, so können wir, wie gesagt, drei Phasen unter- scheiden: die Kontraktionsperiode, die Erschlaffungsperiode und die Pause. Beim Unterbrecher kennen wir nur zwei Perioden: Füllung und Leerung. Während der Füllung öffnet er sich zum zentralen Netz und während der Leerung zu den
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 6
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Muskeln. Es fällt die Leerungsperiode des Unterbrechers mit der Kontraktionsperiode der Muskeln zusammen. Denn nur während der Kontraktionsperiode verläuft jede neue Erregung völlig wirkungslos. Die Füllungsperiode des Unterbrechers um- faßt sowohl die Erschlafiungsperiode der Muskeln als die Pause. Denn zu dieser Frist ist es möglich, durch neu hinzu- tretende Erregung den Rhythmus zu beeinflussen. Wird durch eine neue Erregung die Füllung beschleunigt, so tritt die nächste Kontraktion früher ein, und zwar je nach der Menge der neu hinzugekommenen Erregung schon zur Erschlaffungszeit der Mus- keln oder in der Pause. Wäre nun die künstlich erzeugte Neu- erregung ganz von der gleichen Art wie die normalen Er- regungen, so müßte der Rhythmus nach dieser kleinen Ver- schiebung im gleichen Tempo weitergehen. Dies geschieht aber nicht, sondern die nächste Pause wird über Gebühr verlängert. Das bedeutet, daß der Unterbrecher infolge der künstlichen Erregung erschöpft ist und einer längeren Füllungsperiode oder einer größeren Füllung bedarf, um wieder normal zu funktionieren.
Bethe ist der Ansicht, ,,daß der natürliche Reiz bei der Meduse einen ganz anderen Kontraktionsmodus hervorruft als der künstUche Reiz. Letzterer ist sicher instantan, er wirft auf einmal an eine Stelle des Gewebes eine große Menge Reiz- energie. Ich nehme an, daß der natürliche Reiz einen anderen Verlauf hat, daß er sich nämlich dauernd, aber schwach in das Gewebe ergießt und es gewissermaßen in allen Teilen, welche in engerem Zusammenhange stehen, füllt. Die Entladung kann dann überall nahezu gleichzeitig erfolgen. Der Instantanreiz bringt dagegen auf einmal einen großen Anstoß in das Ge- webe, so daß die Entladung an der AppUkationsstelle früher erfolgt als der Reiz Gelegenheit gehabt hat, sich über das ganze Gewebe auszudehnen".
Auch mir scheint die Annahme, daß die vom Instantan- reiz erzeugte Erregung, die plötzlich in großer Menge an einer Stelle des Gewebes auftritt, sich von der normalen Erregung, die sich langsam und gleichmäßig ausbreitet, durch einen, wenn ich so sagen darf, höheren Erregungsdruck auszeichnet. Dieser Unterschied zwischen normaler und künstlicher Erregung wäre ausreichend, um die Abweichungen des Unterbrechers zu erklären.
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Der Unterbrecher ist mithin die Ursache des Rhythmus. Er zwingt seine Gefolgsmuskeln in regelmäßigen Pausen zu arbeiten und sich jedesmal maximal anzustrengen. Wären die einzelnen Muskelfasern mit ihren Unterbrechern ganz unab- hängig voneinander, so würde bei dauerndem, gleichmäßigen Erregungszufluß bald ein allgemeines Fhmmem eintreten; denn jeder Unterbrecher würde sich nur nach seiner individuellen Bauart richten. So aber sind die Muskeln alle an einen und denselben Widerstand gebunden, und dieser zwingt sie zu ge- meinsamer Arbeit. Da anzunehmen ist, daß durch die Dehnung der Muskeln der Unterbrecher beeinflußt wird, so kommt der ganze Muskelmechanismus in gleichmäßigen Takt.
Und dieser Takt würde auch beibehalten werden, wenn irgendeine Erregungsquelle dauernd sprudeln würde. Statt dessen ist durch eine sehr feine Vorrichtung dafür gesorgt, daß die Erregung im gleichen Rhythmus auftritt, den der Muskel- apparat innehält. Der Schlag des Schirmrandes erzeugt nämlich selbst die nächste Erregung.
Dies geschieht durch Vermittlung der Randkörper. Die Randkörper von Rhizostoma bilden kleine Säckchen, die einen Stein und ein Nervenpolster enthalten. Man schließt daraus, daß das Anschlagen des Steines an das Xervenpolster einen Nervenreiz erzeugt.
Schneidet man einer Rhizostoma alle Randkörper bis auf einen einzigen weg, so schlägt sie trotzdem ruhig weiter. Hält man aber diesen Randkörper mit einem feinen Stäbchen an und verhindert es, die Schwingungen des Schirmrandes mit- zumachen, so bleibt die Meduse augenblickhch stehen. Erst wenn man den Randkörper künstlich in Schwingungen versetzt hat, beginnen auch die Schwimmbewegungen von neuem. Der Randkörper benimmt sich wie eine Glocke, deren IClöppel plötzlich festgehalten wurde und die daher nicht mehr tönen kann. Bei sehr großen Tieren, die nur noch einen Randkörper besitzen, kann man beobachten, wie vom Randkörper aus die Kontraktion des Schirmrandes beginnt, um sich dann über den ganzen Rand hin fortzusetzen. Viel deutlicher tritt dies bei künstlicher Reizung des Schirmrandes ein. Es ist daher der natürliche Reiz vom künstlichen Instantanreiz nur quantitativ und nicht qualitativ unterschieden. Wenn noch mehrere
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Medusen.
Randkörper mitarbeiten, sieht man von der Erregungsleitung
nichts.
Rhizostoma besitzt mithin zwei Ursachen, die ihren Rhyth- mus hervorrufen: die Leitungsunterbrechung im Nervennetz und die rhythmische Reizfolge durch die Randkörper. Beide Ursachen sind derart miteinander verkoppelt, daß sie sich gegenseitig unterstützen müssen. So wird das rhythmische Muskelspiel festgelegt, das dem Schwimmen dient und zugleich die anderen Bewegungsfunktionen auslöst.
Wenn man vom Bord des Schiffes aus die schimmernde Fläche des blauen Meeres überschaut und darin die stummen Glocken der Medusen einhersch weben sieht in zahllosen Scharen wie wundervolle Blumen eines Zaubergartens, so überkommt uns unwillkürlich das Gefühl des Neides. In all dieser Farben- pracht einherschweben zu dürfen, frei und unbekümmert, von den klingenden Wogen getragen, durch den strahlenden Tag und die glänzende Mondnacht, muß ein herrliches Los sein. Aber die Meduse vernimmt von alledem nichts. Die ganze Welt, die uns umgibt, ist ihr verschlossen. Das einzige, was ihr Innenleben ausfüllt, ist die gleichmäßige Erregung, die, von ihr selbst erzeugt, immer im gleichen Wechsel in ihrem Nerven- system entsteht und vergeht.
So ist dieser wundervolle Organismus für das AUernot- wendigste gebaut. Der Bauplan sichert dem Tiere die Nahrung und die notwendige Bewegung, ohne daß irgendwelche Reize der Außenwelt mitsprechen. Eine Umwelt, die das Nerven- system mit reichen Erregungen erfüllt, gibt es für Rhizostoma nicht, nur eine Umgebung, aus der ihr Magen die Nahrung entnimmt.
Gegen Feinde sind die Medusen durch reiche Batterien von Nesselkapseln wohl geschützt, so daß ihr eintöniges Schweben keine Störung zu befürchten hat. Doch gibt es einige Fische, die sich nach Eisigs Angaben von den Medusen nähren. Er schreibt darüber folgendes: ,, Unter den Glocken von Cassiopea borbonica und Rhizostoma pulmo — der zwei ansehnlichsten Medusen des Golfs — pflegen häufig kleinere Fische zu hausen, welche so unzertrennlich von ihren Genossen sind, daß sie nicht selten mit ihnen in Gefangenschaft geraten.
Auch noch in den Bassins schwimmen sie beständig um
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die Medusen herum und ziehen sich zuweilen auch unter deren Schirm zurück. Ich war lange Zeit hindurch der Meinung, daß diese Fische die Medusen nur deshalb begleiten, um bei heran- nahender Gefahr Schutz unter deren Schirm zu suchen; aber es stellte sich heraus, oder es bestätigte sich, daß dieses Ver- hältnis kein so harmloses ist. Von diesen Begleitern der Me- dusen sind folgende sämtlich zur Familie der Makrelen ge- hörigen Formen zur Beobachtung gekommen : Stromataeus microchirus, Caranx trachurus und Schedophilus medusophagus. Stromataeus ist weitaus der am häufigsten erscheinende, und ein ungefähr zwei Zoll langes Exemplar dieser Gattung wurde eines Tages mit einer ungefähr fünf Zoll Schirmweite messen- den Cassiopea zusammengebracht. Am nächsten Morgen schon fand ich die Meduse aller ihrer Wurzelspitzen beraubt; der Fisch hatte sie aufgefressen. Bald hatte ich Gelegenheit, ein anderes Exemplar beim Fressen zu beobachten, so daß gar kein Zweifel über die Tatsache walten kann. Daß aber diese Nahrung nicht etwa nur aus Mangel an anderem geeigneten Futter gewählt wurde, geht aus folgendem hervor. Ein größeres, etwa sechs Zoll langes Tier, welches längere Zeit in einem Bassin ohne Medusen gehalten worden war, nahm keinerlei Nahrung zu sich und kam schließlich so herab, daß ich für sein Leben fürchtete; nachdem ihm aber eine Cassiopea zuge- stellt worden, wurde das vorher ziemhch träge Tier ganz leb- haft, schwamm beständig um die Meduse herum, und es dauerte nicht lange, bis es sie anzufressen begann."
2. Carmarma und Gonionemus.
Die Medusen sind in zwei sehr ausgesprochene Typen ge- spalten. Der eine Typus wird durch Rhizostoma vertreten, der andere Typus ist an Carmarina in Neapel und an Gonione- mus in Amerika studiert worden. Beide Gattungen unter- scheiden sich von Rhizostoma dadurch, daß ihr Mundstiel be- weglich ist und dank seiner großen Mundöffnung richtige Bissen aufzunehmen vermag. Diese Tiere sind also nicht auf ein ein- faches Herbeistrudeln des umgebenden Wassers, sondern auf einen richtigen Nahrungsfang angewiesen. Dementsprechend besitzen sie am äußeren Umkreis ihres Schirmes Fangapparate,
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die den Tentakeln der Aktinien sehr ähnlich sind. Die Nah- rungsaufnahme der Medusen ist der einer mundabwärts gehal- tenen Seeanemone nicht unähnlich.
Die Muskulatur, mit der die Schwimmbewegungen aus- geführt werden, ist nicht bei allen Medusen so ganz einfach wie bei Rhizostoma. Bethe schreibt hierüber: ,,Cothylorhiza und verschiedene andere Medusen haben zwei ganz voneinander getrennte Muskulaturen, eine parallel und nahe dem Rande verlaufende Zirkulärmuskulatur und eine die zentraleren Par- tien (der unteren Schirmseite) einnehmende Radiärmuskulatur. Bei den normalen Pulsationen und auch bei künstlicher Reizung kontrahiert sich zuerst die Radiärmuskulatur, wo- durch die Glocke gewölbt wird, und dann, wenn die Kon- traktion der radiären auf der Höhe ist, die zirkuläre, wodurch die Glockenöffnung verengert wird." Da bei allen Medusen der Anreiz zur Muskel tätigkeit von dem Schirmrande ausgeht, so muß es auffallen, daß die dem Reizort näher gelegenen Zirkulärmuskeln später ansprechen als die entfernteren Radiär- muskeln. Bethe fand nun, daß bei gleichzeitiger künstlicher Reizung eines Schirmstückes, das beide Muskelarten enthält, die Zirkulärmuskeln immer später ansprechen. Auch für diese Verspätung der einen Muskellage muß ein nervöser Apparat verantwortlich gemacht werden. Wir werden wohl nicht fehl- gehen, wenn wir in einer abweichenden Bauart des Unter- brechers die Ursache dieses interessanten Phänomens sehen.
Bei Carmarina treten die rhythmischen Kontraktionen immer gruppenförmig auf. Benützt man die Pausen, die oft eine halbe Minute dauern, zur Reizung, so kann man folgenden von Bethe angegebenen Versuch ausführen: ,, Berührt man einen Tentakel, z. B. in der Mitte, ganz leicht mit einem Glas- stäbchen, so tritt nur eine geringe Verdickung an demselben auf. Ist die Berührung stärker, so greift die Kontraktion auf weitere Teile des Tentakels über. Bei einem kleinen Stoß tritt schon ein Emporschnellen des ganzen Tentakels auf, welches sich bei noch stärkerem Anstoß auf die beiden zunächst be- nachbarten Tentakel und schließlich auf alle Tentakel ausdehnt. Hierbei macht der Magenstiel bereits in der Regel eine schwache Bewegung nach der Reizstelle hin, die bei weiterer Steigerung des Reizes zu einem heftigen Schlagen mit dem Magenstiel wird.'*
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Es ist der Magenstiel durch ein nervöses Netz, das die ganze Unterseite des Schirmes einnimmt, mit dem Schirmrand verbunden, der noch einen besonderen Nervenring trägt. Am Schirmrande hängen die besprochenen Tentakel herab. Nagel verdanken wir die physiologische Erforschung der ner- vösen Verbindungen. Er zeigte, daß ein Tentakel, in dessen Nähe der Schirmrand rechts und links durchschnitten ist, physiologisch isoliert ist. Dadurch wird bewiesen, daß jede Erregung, die vom Tentakel stammt, vor allen Dingen den Nervenring passieren muß. Darauf gelangt die Erregung in das Netz auf der Innenseite des Schirmes. Die Existenz eines Netzes vermochte Nagel dadurch zu beweisen, daß er der Erregung den kürzesten Weg zum Magenstiel durch einen Ein- schnitt zwischen Tentakel und Magenstiel anatomisch ab- schneiden konnte, ohne die physiologische Leitung zu vernichten. Die Erregung vermochte die Schnittstelle zu umgehen. Das gelingt nur in einem Falle, wenn nämlich viele Bahnen vor- handen sind, die zusammen ein Netz bilden und der Erregung allseitig die Bahn offenhalten. Reizt man durch Andrücken einer Drahtschlinge, die man über den Magenstiel stülpt, die ganze Unterseite gleichzeitig, so bleibt der Stiel ruhig, Aveil sich die aus allen Richtungen kommenden Erregungen gegen- seitig aufheben.
An dem einzelnen Tentakel sind bisher zwei Reflexe nach- gewiesen worden. Eine Verkürzung, die den Tentakel kork- zieherartig zusammenziehen kann, und das Klebrig werden. Eine Verlängerung ist nicht beschrieben worden. Die Medusen- tentakel scheinen daher einfacher gebaut zu sein als die Akti- niententakel, denn es fehlt ihnen das Längerwerden durch eine Ringmuskelverkürzung. Die Längsmuskelverkürzung tritt ge- nau wie bei den Aktinien auf mechanischen Reiz auf und das Klebrigwerden ist ebenfalls in entsprechender Weise an den chemischen Reiz der Nahrungsmittel geknüpft. Wir wer- den also bei den Tentakeln der Medusen ein doppeltes Netz annehmen müssen, eines für die Längsmuskeln und eines für die Drüsen. Beide Netze münden in den Ringnerven.
Für Gonionemus beschreibt Yerkes ganz die gleichen Er- scheinungen. Ein dauernder Nervenreiz, der von der Beute ausgeht, ruft die korkzieherartige Kontraktion des getroffenen
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Tentakels hervor, worauf ein Zusammenziehen des Schirmran- des und ein Hinneigen des Magenstieles erfolgt.
Entsprechend seiner Lebensführung, die nicht auf dauernde Aufnahme des umgebenden Wassers angewiesen ist, schwimmt Gonionemus nicht dauernd einher. Yerkes gibt an, daß Gonionemus Murbachi nur schwimmt, wenn er hungrig ist. Solange er satt ist, sitzt er am Boden, an Algen verankert. Über die Wirkung des Lichtes hat Yerkes interessante Be- obachtungen veröffentlicht. Eine sehr charakteristische Reak- tion von Gonionemus ist der Hemmungsreflex. Er tritt regel- mäßig auf, wenn das Tier beim Hinaufschwimmen mit dem Schirm über die Wasseroberfläche gerät. Dann hört die Schlag- folge plötzlich auf, der Schirm wird weit ausgebreitet und steht dauernd still. Dadurch sinkt das Tier wieder langsam zu Boden. Legt man eine Karte auf die Wasseroberfläche, die das Auftauchen der Glocke verhindert, so tritt der Reflex nicht ein, sondern die Meduse fährt mit ihren Schwimmbewegungen bis zur Ermüdung fort. Ganz den gleichen Reflex vermag auch starkes Licht auszulösen und nicht selten auch plötzliche Beschattung. Sonst wirkt mäßiges Licht steigernd auf den Schlagrhythmus ein, und es gehngt sogar, ein halbbeleuchtetes Tier auf der beleuchteten Seite zu energischerem Schlagen zu bringen, was zur Folge hat, daß die Meduse in den Schatten hineinschwimmt .
Der abgeschnittene Mantelrand, der allein die Lichtrezep- toren beherbergt, ist viel empfindlicher gegen Licht und Schatten als das ganze Tier. Der Mantelrand besitzt außerdem die Fähig- keit, sich selbst umzudrehen, wenn er mit dem unteren Rand nach oben gelagert war. Das beweist, daß bei diesen Medusen die Randkörperchen bereits eine andere Funktion besitzen als bei Rhizostoma.
Wenn wir Rhizostoma mit Gonionemus vergleichen, so fällt uns am meisten auf, daß so ähnlich gebaute Organismen in so durchaus verschiedenen Umwelten leben können. Rhizo- stoma vernimmt nur den Schlag der eigenen Glocke. Gonione- mus dagegen wird von Licht und Dunkelheit, von der Gravi- tation, von mechanischen und chemischen Reizen berührt und bewegt. Die Außenwelt ist für beide die gleiche, aber Rhizo- stoma verschließt sich ihr dauernd, während Gonionemus durch
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die Pforten der Rezeptoren die Wirkungen der Außenwelt in reichem Strome einläßt. Der Organismus ist wie eine Wunder- welt, allen Wirkungen der Außenwelt verschlossen ; nur dem richtigen Schlüssel öffnet sie sich. Wenn kein Schloß vor- handen ist, so findet sich auch kein Schlüssel. So ist es bei Rhizostoma. Gonionemus hat viele Türen, jede mit ihrem be- sonderen Schlosse versehen. Die Türen sind wie die Türen eines Hauses an jenen Stellen angebracht, wo sich ein passender Eingang findet, der dem Bauplan des Ganzen entspricht. Wer wird behaupten w^ollen, daß ein Haus mit vielen Türen voll- kommener sei, als ein Haus mit wenigen Eingängen? So wird man die AusschHeßung der Reize, die Rhizostoma ihre große Einförmigkeit und Geschlossenheit verleiht, nicht niedriger an- schlagen dürfen als die Reizaufnahme bei Gonionemus, die dank der zahlreichen Reize zahlreiche Handlungen ausführt. Rhizo- stoma braucht diese Handlungen nicht, sie nützen ihr nichts. Und doch ist Rhizostoma ebenso kunstvoll gebaut wie Gonione- mus. Keine Medusenart kann die andere vertreten, weder kann Gonionemus auf der pelagischen Weide leben, noch Rhizostoma sich selbst Beute fangen.
Obgleich sie Tiere vom gleichen Bautjrpus sind, mit den gleichen nervösen Apparaten und Zentralnervensystem, die den Schlagrhythmus regeln, so sind sie dennoch völlig unver- gleichbar, wenn man ihre Lebensweise betrachtet. Die Nei- gung, alle Tiere in vollkommenere und unvollkommenere zu scheiden, um dadurch eine aufsteigende Entwicklung zu de- monstrieren, welche vom Minderwertigen zum Höheren fort- schreitet, wird nirgends eindringlicher ad absurdum geführt als in solchen Fällen, wo Tiere von dem gleichen Typus, die nur nach verschiedenen Richtungen differenziert sind, ganz ver- schiedene Umwelten besitzen. Von verschiedenen Anpassungs- graden sollte nicht mehr die Rede sein, nur von gleich voll- kommener Anpassung an verschiedenen Umwelten. Auch einer Zensur über die Umwelten sollte man sich lieber enthalten, denn die Umwelt ist ihrerseits nur verständUch aus ihren Be- ziehungen zu den Handlungen des Tieres. Die Umwelt besteht nur aus denjenigen Fragen, die das Tier beantworten kann. Und schließlich ist die Bauart des Zentralnervensystems, welches die Antworten erteilt, auch nichts anderes, als der Teil einer
90 I^ie Seeigel.
Antwort, die durch die Bauart des ganzen Tieres auf die Frage des Lebens gegeben wird. Manchmal liegt dabei der Schwer- punkt auf der Ausbildung eines besonderen Organes. Dem Zentralnervensystem mit besonderer Wertschätzung zu begeg- nen, ist durchaus unbegründet, denn die Natur kann mit jedem Organ ihre eigenen Fragen beantworten.
Die Seeigel.
Schon der Name Seeigel oder Seekastanie gibt uns eine Anschauung von dem Tier, auch wenn wir es niemals gesehen haben. Ein runder Körper, der mit Stachehi besetzt ist und der im Meer zu finden ist — mehr wissen meist auch die- jenigen nicht, die an der Meeresküste mit dem Seeigel persön- liche Bekanntschaft gemacht haben. Den meisten Physiologen ist er völlig unbekannt und doch liegen die Antworten auf die Grundfragen der Physiologie der Muskeln und des Nerven- systems bei keinem Tier so offen da wie beim Seeigel. Deshalb ist es nötig, die Ergebnisse der Seeigelbiologie ausführlicher darzulegen als bei irgend einem anderen Tiere.
Wer sich in das innere Leben der Seeigel vertiefen will, um aus diesem fremdartigen Dasein reiche Belehrung zu schöpfen, der muß sich das schematische Bild der einfachen anatomischen Verhältnisse fest einzuprägen suchen. Dann werden ihm die Leistungen dieser allerliebsten Maschinerie keine be- grifflichen Schwierigkeiten bereiten.
Der Seeigel besteht aus einer kugeligen Kalkschale, welche die Eingeweide beherbergt. Sie zeigt unten eine Öffnung für den Mund und oben eine für den Anus. Die Kalkschale trägt auf der Außenseite zahlreiche runde Gelenkhöcker, denen die Stacheln aufsitzen.
Die Anatomie des Stachelgelenkes verdient besondere Auf- merksamkeit. Es ist ein Kugelgelenk mit festsitzender Kugel und beweglicher kleiner Pfanne, welche die Basis des Stachels bildet.
Die Seeigel. 91
Die Muskeln.
Die Muskeln des Seeigelstachels sind für das Verständnis der Muskelarbeit überhaupt von fundamentaler Wichtigkeit und müssen daher eingehend behandelt werden. Ungefähr dreißig Muskelstränge umgeben das Stachelgelenk und drücken die Pfanne auf die Kugel. Jeder der dreißig Muskelstränge ist doppelt: er besteht aus einem weißhch, undurchsichtigen, inneren und einen glashellen äußeren Strang. Der äußere Strang wird von der allgemeinen Körperhaut überzogen, die das ge- meinsame Nervensystem für beide Stränge beherbergt.
Reizt man die Körperhaut durch einmalige Berührung in der Nähe eines Stachels, so verkürzen sich die zunächsthegen- den Muskelstränge und der Stachel neigt sich dem Reizorte zu, um gleich darauf in die aufrechte Ruhelage zurückzukehren.
Reizt man hingegen die Haut mehrere Male, so verkürzen sich die Stränge stärker und der Stachel neigt sich gleichfalls. Der Stachel kehrt aber nicht in die Ruhelage zurück, sondern bleibt in geneigter Lage unbeweglich stehen und leistet jedem Versuch, ihn gewaltsam in die Ruhelage zurückzuführen, erfolg- reichen Widerstand.
Dieser Unterschied in der Reizbeantwortung findet, wie eingehende Experimente beweisen, seine Erklärung darin, daß die vom einmahgen Reiz erzeugte, schwache und kurze Erre- gung nur den äußeren Muskelstrang in Tätigkeit versetzt, während die wiederholte Reizung eine dauernde und starke Erregung im Nervensystem hervorruft, die auch zu dem inneren Strang hinüberfließt.
Der äußere Strang dient dank seiner Verkürzung zur Be- wegung, der innere zum Feststellen des Stachels. Wir bezeichnen daher die äußeren Stränge als Bewegungs- oder Verkürzungs- muskeln, die inneren als Sperrmuskeln.
Das Überfließen der Nervenerregung vom Bewegungs- zum Sperrmuskel findet auch ohne wiederholte Reizung statt, wenn die Bewegung des Stachels durch irgendeinen äußeren Wider- stand gehemmt wird. Sobald die äußeren Stränge sich nicht weiter verkürzen können — sei es, daß sie ihr Maximum be- reits erreicht haben, sei es, daß ein Hindernis im Wege hegt — immer fließt die überschüssige Erregung den Sperrmuskeln zu.
92 Die Seeigel.
Die Sperrmuskeln geraten hierauf in Tätigkeit, die in einer allmählich zunehmenden Spannung besteht. Die Spannung wächst so lange an, bis sie dem äußeren Widerstände — mag dieser in dem Gewicht des eigenen Körpers oder in einer fremden Last bestehen — das Gleichgewicht hält. Auf diese Weise wird, was von großer biologischer Tragweite ist, stets ein Gleichgewicht zwischen Sperrmuskel-Spannung und Last hergestellt.
Ist das Gleichgewicht erreicht, so fällt damit zugleich die Ursache fort, die zur Steigerung der Sperrmuskel -Spannung führte. Die Erregung vermag jetzt in die entlasteten Be- wegungsmuskel einzudringen, weil ihrer freien Verkürzung jetzt nichts mehr im Wege steht.
Die Kenntnis der Seeigelmuskeln ist deshalb so wichtig, weil nur bei den Seeigehi eine anatomische Trennung von Sperr- und Bewegungsmuskeln vorhanden ist, die es uns ermöglicht, die beiden Grundfunktionen aller Muskulatur experimentell zu sondern.
Die Muskeln aller Tiere haben die Fähigkeit, jeder Last (bis zur Maximallast) in jeder Lage genau das Gleichgewicht zu halten. Nur durch diese Fähigkeit ist es den Tieren möglich, ihren Körper in all seinen Stellungen auszubalancieren. Es muß jeder einzelne Muskel außer seinem Verkürzungsapparat auch einen Sperr- apparat besitzen, der ihm die Fähigkeit verleiht, das mit jeder Stellung wechselnde Gewicht des Körpers sowohl bei Zunahme wie Abnahme des Gewichtes durch eine entsprechende Spannungs- änderung auszugleichen. Diese hochwichtige Leistung der Mus- kulatur setzt eine besondere ReguHerungsrichtung voraus, die es der Last ermöglicht, die Muskelspannung zu beherrschen.
Die Seeigelmuskeln lehren uns die Einrichtung des Regu- lierungsmechanismus kennen, der einfach darin besteht, daß die Erregung nur so lange dem Sperrapparat zufließt, als die Verkürzungsapparate belastet sind. Sobald die zunehmende Spannung der Sperrapparate die Bewegungsapparate entlastet hat, hört jeder weitere Erregungszufluß auf.
Ist das Gleichgewicht zwischen Last- und Sperrmuskel- Spannung erreicht, so kann entweder eine Verkürzung der Be- wegungsmuskeln eintreten oder ausbleiben — das hängt ledig- lich von der Menge und der Art der vorhandenen Erregung ab.
Die Seeigel. 93
Biologisch ist damit die Frage nach der Muskel tätigkeit beim Heben der Lasten völlig geklärt, physiologisch bleibt eine große Schwierigkeit bestehen : Wie ist es den Sperrmuskeln beim Heben einer Last, die sie durch ihre Spannung ausbalan- ciert haben, möglich, diese Spannung auch während der Weiter- verkürzung, die sie doch auch mitmachen müssen, dauernd zu bewahren ? Wir können uns hier mit dem Hinweise begnügen, daß die Muskeln chemo - mechanische Apparate darstellen, wie sie unsere Technik weder kennt, geschweige denn herzustellen vermag.
Wir haben bisher den scheinbar schwierigeren Fall be- handelt, wenn drei Faktoren: Last, Muskel und Erregung zu- sammenkommen. Es handelt sich jetzt darum, die Einwirkung der Last auf den Muskel zu studieren, wenn keine Erregung zur Verfügung steht. Der Muskel antwortet auf den Zug der Last nicht wie ein Gummiband mit einfacher physikalischer Dehnung, sondern mit einem verwickelten physiologischen Vor- gang, der Erschlaffung genannt wird.
Ein jeder Muskel besitzt eine physiologische Länge, die wechseln kann, und eine anatomische, die erst erreicht wird, wenn sich keine funktionellen Prozesse mehr in ihm ab- spielen. Den Verlust der physiologischen Länge nennen wir Erschlaffung.
Betrachten wir einen langen Hauptstachel von Centroste- phanus longispinus, so sehen wir, daß er in der Ruhe senk- recht zur Basis getragen wird, weil sich alle Sperrmuskel- Stränge rings um das Gelenk in Spannung befinden. Dadurch halten sie sich gegenseitig die Wage und lassen den Stachel nach keiner Seite ausschlagen.
Erteilt man nun dem Stachel einseitig einen leisen Druck (Erschütterung reizt die Muskel), so sehen wir, daß der Stachel nicht allein dem Druck nachgibt, sondern daß er auch viel weiter wegschlägt als der Druck ihn führte.
Es hat also der Druck den von ihm betroffenen Muskeln etwas geraubt, das sie bisher vor den Ansprüchen der übrigen Muskeln schützte — dies ist die normale Spannung der Sperr- muskeln. Die Höhe der normalen Sperrung bestimmt zugleich die Größe des Gewichtes, das auf den Stachel drücken muß, um die Erschlaffung eintreten zu lassen. Wir sprechen in
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solchen Fällen von einer Schwelle, die überstiegen werden muß ehe die Wirkung eintreten kann und bezeichnen daher die Sperrung als die Schwelle für die Erschlaffung. Jeder Muskel besitzt normalerweise eine solche ,, Sperrschwelle".
Das stets zum Vergleich herbeigezogene Gummiband be- sitzt keine Sperrschwelle — es wird einfach von einem kleineren Gewicht weniger gedehnt als von einem großen. Ferner kennt das Gummiband keine Erschlaffung, die den Muskel befällt, sobald seine Sperrschwelle überschritten ist. Dann vermag ihn der kleinste Zuwachs an Last bis zu seiner anatomischen Länge zu dehnen, Ist diese erreicht, so wird die Last von den Bändern und Sehnen übernommen, die sich wie das Gummi- band verhalten und nur die physikalische Dehnung kennen.
Deshalb vermögen beim Stachel von Centrostephanus die Antagonisten den Stachel weit weg zu ziehen, sobald die be- lasteten Muskeln ihre Sperrschwelle eingebüßt haben. Erschlaffte Muskeln bieten der Dehnung keinen Widerstand.
Sobald der Druck die Erschlaffung der belasteten Muskeln herbeigeführt hat, sind die Antagonisten von dem normalen Gegenzug befreit. Die Spannung ihrer Sperrmuskeln wird un- nötig und die Bewegungsmuskeln erhalten freies Spiel. Um in Tätigkeit zu geraten, bedürfen die Bewegungsmuskeln einer Erregung. Diese kommt ihnen jetzt von ihren eigenen ent- lasteten Sperrmuskeln zugeflossen. Diese Erregung diente bisher zur Erzeugung der Sperrschwelle. Es ist also die Sperrschwelle das Anzeichen für das Vorhandensein einer bestimmten Erregung.
Der Druck, der auf der belastesten Seite die Sperrschwelle zum Schwinden bringt, löscht diese Erregung aus, die sich nie wieder in vollem Umfang einstellt, bevor die Last ganz ent- fernt wurde; ist das geschehen, so erhalten die Bewegungs- muskeln ihre alte Länge wieder, die Sperrmuskeln ihre alte Spannung und alles ist wieder wie sonst. Der Stachel steht ruhig und senkrecht auf seiner Unterlage.
Aus diesen Beobachtungen geht mit Sicherheit hervor, daß der einfache Fall, den wir suchten, mit Muskel und Last als einzigen Faktoren im Leben gar nicht vorkommt. Stets spielt die Erregung als dritter Faktor eine entscheidende Rolle. Woher stammt die Erregung? Das ist die Frage, der wir uns jetzt zuwenden.
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Die Zentren.
Das Studium der Muskeln weist uns auf einen außerhalb liegenden Faktor hin, von dem die Erregung herstammt. So werden wir zur Betrachtung des Nervensystems hingeführt, das den Muskeln zunächst liegt. Im Seeigelstachel befindet sich über den Muskeln ein nervöser Ring, der Nervenfasern und Ganglienzellen enthält. Dieser Ring ist physiologisch keine Einheit. Man kann ihn beHebig oft an der Grenze zweier Muskelstränge durchschneiden, ohne seine Funktion zu stören. Es zerfällt der Nervenring in ebensoviele einzelne Zentren, als es unter ihm liegende Muskelstränge gibt.
Wir wollen nun diejenige Leistung der nervösen Zentren aufsuchen, die uns zu einer möglichst greifbaren Vorstellung ihrer Fähigkeiten verhilft. Zu diesem Zweck müssen wir weiter in die Anatomie des Nervensystems eindringen. Ein jedes Muskelzentrum im Nervenring steht außer mit seinen Gefolgmuskeln und seinen Nachbarzentren auch noch in Ver- bindung mit dem weitverzweigten Hautnervensystem. Dieses umzieht in zahlreichen Netzen die ganze Oberfläche des See- igels. Aus diesen Netzen treten ferner Nebenbahnen in das Innere der Kalkschale und bilden hier die Seitennerven der Radialnerven. Die Radialnerven sind fünf Nervenstämme, die nahe dem Anus beginnend an der Innenseite der Schale bis zum Munde ziehen, um sich hier zu einem Ringkanal zu ver- einigen, der den Mund umschheßt.
Wird ein Radialnerv durch Nikotin in EiTegung versetzt, so pflanzt sich die Erregung bis zu den Stachelmuskeln hin fort, die erst in heftige Bewegung geraten, dann aber im Sperrkrampf unbeweghch stehen bleiben. Umspült man da- gegen das Radialnervensystem mit kohlensaurem See w asser, so werden nach kurzer Zeit alle Muskeln schlaff und die Stacheln senken sich der Schwere nach herab. Beide Wirkungen fallen fort, wenn man zuvor die Seitennerven durchschnitten hat. Daraus ergibt sich die Vorstellung einer Erregung, die einmal (bei der Nikotinwirkung) von den Radialnerven kommend, durch die Seitennerven von innen nach außen zu den Zentren der Stachelmuskeln geflossen ist, das andere Mal (bei der Kohlen- säurewirkung) von den Muskelzentren kommend, durch die
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Seitennerven von außen nach innen fließend, zu den Radial- nerven gelangt ist. Wie zwei Reservoire stehen die Muskel- zentren und die Zentren der Radialnerven vor unseren Augen da, sich gegenseitig die Erregung zusendend. Ob wir die Ganglienzellen in diesem Fall als die Reservoire ansprechen dürfen, ist zwar verführerisch, aber nicht nachgewiesen.
Vergleichen wir die beiden Reservoire miteinander, so ist ein Unterschied sehr in die Augen fallend. Auf der einen Seite haben wir das geschlossene System der fünf Radialnerven- stämme, das wie eine große Einheit gebaut ist, auf der anderen Seite die außerordentlich zahlreichen und zerstreuten Nerven- ringe, alle wiederum aus 30 einzelnen Zentren bestehend. Es ist daher nicht zu verwundern, daß das Radialnervensystem dem übrigen Nervensystem gegenüber wie ein einziges Zentral- reservoir wirkt, das die zahlreichen Einzelzentren in der Ober- haut vollkommen beherrscht.
Man kann sagen, das Erregungsniveau der Zentralstelle ist ausschlaggebend für das Niveau in allen einzelnen Muskel- zentren. Sinkt das Niveau im Zentralreservoir durch Vergif- tung mit Kohlensäure, so sinkt es auch in allen Nervenringen der Stacheln. Steigt das Niveau bei Nikotinvergiftung im Zentralreservoir, so steigt es auch in allen Nervenringen. Das Steigen und Fallen des Erregungsniveaus in den Zentren kann man natürlich nicht sehen, sondern nur aus dem Verhalten der Muskeln erschließen. Es ist deshalb notwendig, Hjrpo- thesen über die Beziehungen der Muskeln zu ihren Zentren zu machen. Nur sollen die Hypothesen mögHchst direkt aus den Beobachtungen entspringen.
Die Beobachtung, die uns den unmittelbarsten Aufschluß über die Muskelzentren gibt, ist folgende: Man bringe die Muskeln eines Seeigelstachels durch das Auflegen einer Last einseitig zur Erschlaffung. Dann beginne man in größerer Entfernung die Haut an einer den erschlafften Muskeln vis-a-vis liegenden Stelle zu reizen. Dann werden, abgesehen von den der Reizstelle zunächstliegenden Stacheln, alle übrigen Stacheln in völliger Ruhe verharren. Einzig die weit abliegenden er- schlafften Muskeln verkürzen und sperren sich so lange, bis sie ihre Last einem Nachbarstachel aufgebürdet haben.
Es ist aber die von der Reizstelle ausgehende Erregung,
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die (wie man beweisen kann) dabei die Radialnerven passiert, um sich überall hin auszubreiten, nur in die erschlafften Muskeln des einen Stachels eingedrungen ; an allen anderen ging sie spurlos vorüber. ,,Es fließt die Erregung in ein- fachen Nervennetzen immer den erschlafften Muskeln zu;*' so lautet diese fundamentale Beobachtung als Gesetz gefaßt.
Vor den Maskeln liegen aber ihre Zentren und ohne sie zu passieren kann man nicht zu den Muskeln gelangen. Wären an der Erschlaffung die Zentren ganz unbeteiligt, so könnte die Erregung niemals ihren Weg zu den Muskeln finden. Es sind also die Zentren durch die Erschlaffung ihrer Muskeln auch in Mitleidenschaft gezogen,
Diese Mitleidenschaft spricht sich darin aus, daß sich das Zentrum zentralen Erregungsvorgängen gegenüber anders ver- hält als sonst. Wirft man einen Blick auf die Muskelzentren, so sieht man, daß die Zentren genau den Zustand ihrer Ge- folgsmuskeln widerspiegeln. Sie repräsentieren in ihrer Weise ihre Gefolgsmuskeln. Es ergibt sich dadurch eine höchst wichtige Wechselwirkung zwischen dem Muskel und seinem Zentrum. Der Muskel hat nicht nur blind dem Zentrum zu ge- horchen, wenn dieses ihm Erregungen zusendet. Nein, der Muskel hat auch die Fähigkeit, sein Zentrum zu beeinflussen. Und das Zentrum ist einerseits der Herr des Muskels, ander- seits sein Repräsentant, der entsprechend dem Zustand des Muskels sich den Erregungen im zentralen Netz gegenüber ver- schieden zu verhalten hat.
Ich habe deshalb vorgeschlagen , die Muskelzentren ,, Repräsentanten" zu nennen. Dieser Name führt uns ohne weiteres zum Verständnis der Grundfunktion des zentralen Nervensystems. Das Zentralnervensystem vermag weiter nichts als Erregungen zu ordnen. Wenn es mit dieser Fähigkeit allein den ganzen Körper regieren soll, so kann das nur geschehen, wenn einerseits alle Reize der Außenwelt in Erregungen um- gesetzt werden, anderseits alle Körperbewegungen durch Er- regungen auszulösen sind. Um aber die Körperbewegungen ordnungsgemäß auslösen zu können, muß das Zentralnerven- system in jedem Augenblick über den Zustand der Muskeln orientiert sein. Es muß daher ein nervöses Organ da sein,
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 7
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das von dem Zustand der Muskeln beeinflußt wird und seiner- seits auf die Erregungen einzuwirken vermag. Dieses Organ sind die Repräsentanten. Es ist interessant festzustellen, daß der nervöse Abschnitt, der vom Repräsentanten bis zum Muskel reicht, bei den Säugetieren als die ,, letzte gemeinsame Strecke" von Sh errington bezeichnet und zur Grundlage einer ganzen Reflexlehre gemacht worden isf.
Die Repräsentanten sitzen bei den Seeigeln noch nahe ihren Gefolgsmuskeln. Bei den meisten Tieren werden sie aber an einer zentral gelegenen Stelle zusammengezogen und geben dann auf kleinem Räume eine gedrängte Übersicht der ganzen Körpermuskulatur. Sie haben die Erregungen aus den zentralen Netzen zu empfangen und an ihre Gefolgsmuskeln weiterzugeben. Was sich später als Kraft und Bewegung im Leben des Tieres ofifenbart, das ist vorher im Wechselspiel der Repräsentanten verteilt und geordnet worden.
Das Wechselspiel der Repräsentanten ist bei jedem Tier nach seiner Bauart verschieden. Bei einigen Seeigeln ist die gegenseitige Beeinflussung der Repräsentanten eine sehr weit- gehende, wofür folgende Beobachtung als Beleg dienen mag. Bringt man bei Echinus acutus einen großen Stachel durch sanften Druck einseitig zur Erschlaffung, so zeigt sich auch bei den Nachbarstacheln am gleichen Ort die gleiche Er- schlaffung. Die Nachbarstacheln schlagen nicht konzentrisch zusammen wie bei mechanischer Reizung, sondern verbeugen sich alle nach der gleichen Richtung, in die sich auch der ge- drückte Stachel geneigt hat. Die Erschlaffungsübertragung läßt darauf schließen, daß alle gleichgerichteten Muskelstränge durch besondere Netze nahe miteinander verbunden sind. Dies ist für Echinus um so wichtiger, als er von allen Seeigeln der einzige ist, der mit seinen Stacheln leidlich in Takt zu mar- schieren vermag.
Die Statik der Erregung.
Alle bisherigen Beobachtungen weisen nachdrücklich dar- auf, daß es unmögHch ist, einen Zustand, sei es im Muskel, sei es in den Zentren, aufzufinden, in dem keine Erregung vor- handen ist. Trotzdem bleiben die beiden Zustände der Ruhe und Tätigkeit sowohl beim Muskel wie im Nervensystem deut-
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lieh voneinander getrennt. Es entspricht jedem von diesen Zuständen ein anderes Verhalten der Erregung, die man mit Jordan als statisches und dynamisches Verhalten be- zeichnen kann. Die Statik der Erregung oder die Erregung im Zustand der Ruhe sorgt für die Erhaltung und Wieder- herstellung eines inneren Erregungsgleichgewichtes, das immer wieder durch den Eingriff der tätigen oder dynamischen Er- regung gestört wird.
Das wichtigste Organ zur Erhaltung des Gleichgewichtes der Erregung ist der Radialnerv mit seinen Erregungsreservoiren. Dieses Zentralreservoir vermag durch sein Erregungsniveau das Erregungsniveau in allen Repräsentanten zu heben oder herabzudrücken. Nur durch die beherrschende Wirkung eines Zentral reservoirs wird es verständlich, daß alle Stacheln des gleichen Tieres gleich stramm und aufrecht stehen, während bei einem anderen Exemplar alle Stacheln die gleiche Neigung zeigen, herabzusinken.
Die Tatsache, daß es möglich ist, durch Vergiftung mit Kohlensäure die zentralen Reservoire so zu beeinflussen, daß die Erregung aus den peripheren Reservoiren, d. h. den Repräsentanten zentralwärts abfließt, ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, daß die Erregung etwas passiv Bewegtes ist. Das aktiv Handelnde sind, soweit die statischen Ausgleichungen in Frage stehen, nur die Zentren. Deshalb dürfen wir die These aufstellen: Ein Zentrum ist ein Organ, das Erregungs- verschiebungen bewirkt. Alle Zentren stehen durch nervöse Leitungsbahnen miteinander in direkter oder indirekter Ver- bindung. Alle vermögen sich Erregung gegenseitig zuzuschieben und Druck mit Gegendruck zu beantworten. Dadurch er- halten sie alle Fühlung miteinander. Allein durch dieses Ver- halten der Zentren ist es mögUch, daß eine von den Rezeptions- organen herkommende djniamische Erregungswelle ihren rich- tigen Weg vorgeschrieben findet und allein in jene Repräsen- tanten einbricht, die infolge der Erschlaflung ihrer Muskeln selbst auch keinen genügenden Gegendruck besitzen und ihr daher keinen Widerstand leisten können.
Es ist bei den Seeigeln nicht die anatomische Struktur des Zentralnervensystems, die die Erregungsverteilung und Ordnung besorgt, sondern ein allgemeiner innerer Erregungs-
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■yQQ Di© Seeigel.
druck, der das Erzeugnis der zentralen und peripheren Reser- voire ist. In allerneuester Zeit ist es Sherrington gelungen, die statischen Erregungsverschiebungen auch am Säugetier- muskel nachzuweisen.
Die Dynamik der Erregungen.
Unter Statik der Erregungen verstehen wir alle Vorgänge im Zentralnervensystem, die sich auf die Wiederherstellung und Erhaltung des Erregungsgleichgewichtes beziehen. Die Ver- schiebungen der Erregungen, die sich dabei in den Nerven vollziehen, können nur aus dem Zustand der Muskel gefolgert, nicht selbst beobachtet werden.
Das innere durch Druck und Gegendruck erzeugte Gleich- gewicht wird gestört, sobald die von außen her gereizten R-ezeptionsorgane eine Neuerregung im Nervensystem erzeugen. Diese von den Rezeptionsorganen erzeugte Erregung, die den Reflex im engeren Sinne einleitet, zeigt elektrische Neben- erscheinungen, die vom Galvanometer wahrgenommen werden können. In den untersuchten Fällen hat sich sowohl im zentripetalen wie im zentrifugalen Nerven eine elektrische Schwankungswelle aufzeigen lassen, die freilich bei verschiedenen Tierarten außerordentlich in Form und Größe wechselt.
Bei den Seeigeln ist sie noch nicht untersucht worden. Wir haben aber keinen Grund, hier eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zu erwarten und werden daher die auf Reiz eintretende Erregung auch hier als einen wellenförmigen Vor- gang im Nerven ansehen. Nun sind aber Welle und Welle bei verschiedenem Substrat sehr verschiedene Dinge. Wie außerordentlich schwierig ist es, von den Flüssigkeitswellen in Röhren von wechselndem Durchmesser und wechselndem Widerstand der Wände, wie sie unsere Blutgefäße darstellen, ein einigermaßen zutreffendes Bild zu entwerfen. Obgleich wir sowohl das Substrat der Wellen, d. h. unser Blut, genau kennen und den Verlauf der Blutgefäße überallhin verfolgen können. Im Nervensystem kennen wir nur den Bau und den Verlauf der Nervenfasern, wenn auch sehr unvollkommen. Einen Schluß aus dieser Kenntnis auf die Funktion der nervösen Teile zu machen, ist aber ganz unmöglich, solange man sich über das Substrat der Wellen nicht einigen kann. Selbst wenn man in
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betreff des Substrates zugegeben hat, daß die Wellenbewegung ohne Substanzverbrauch vor sich geht und daß sie während ihres Ablaufes in den Nervenfasern ein passiver Vorgang ist, der von außerhalb der Nerven, sei es von einem Rezeptor oder einem Zentrum, seinen Anstoß erhält — so gibt es immer noch zwei Möghchkeiten, die erwogen werden müssen.
Einmal kann man sich vorstellen, daß die Wellenbewegung, sobald sie einmal im Nerven aufgetreten ist, unbeeinflußt dahin weitereilt, wohin sie die anatomischen Verzweigungen der Nervenfasern tragen. Dies ist die Vorstellung aller jener Forscher, die sich ihre Ansichten aus den Experimenten mit künstlicher Nervenreizung am Froschnerven geholt haben, der, von seinem Zentrum getrennt, nur noch mit dem Muskel in Verbindung stand, cder gar beiderseitig durchschnitten nur den kläglichen Rest eines Organes bildete.
Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit : Man kann die Erregungswelle als einen Vorgang betrachten, der sowohl von seinem Ausgangspunkt, wie von seinem Zielpunkt gleich- zeitig beeinflußt wird. Dies ist die Vorstellung, die sich mit der Bipolarhypothese von Jordan deckt und die man sich auch nach den neuesten grundlegenden Untersuchungen von Piper bilden muß, der die normalen Erregungen des unver- letzten Nerven prüfte.
Piper untersuchte die Erregungswellen, die in den mensch- lichen Muskeln entlang laufen, sowohl nach künstlicher Reizung des Nervenstammes, wie nach natürlicher Erregung durch das Zentralorgan. Es zeigte sich dabei folgender wesentlicher Unter- schied: Die Frequenz der Erregungs wellen ist nach künstlicher Reizung allein abhängig von der Frequenz der angewandten Reize. Die Frequenz der Erregungswellen ist bei willkürlicher Inner- vation erstens abhängig von der Person des Zentrums, das die Erregung dem Muskel zusendet, und zweitens vom Muskel selbst. Denn es tritt in diesem Falle niemals eine neue Erregungs- welle im Muskel auf, bevor die alte ganz abgelaufen ist. Es muß eine wirksame Reaktion vom Muskel auf seinen Repräsen- tanten stattfinden, für die der Duboissche Reizschhtten ganz unempfindlich ist. Daher sind alle Versuche mit künstlicher Reizung des Froschnerven in dieser Hinsicht wertlos und die aus ihnen geschöpften Ansichten hinfäUig.
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Ist das Zentrum mit dem Muskel noch im normalen Zu- sammenhang, so befinden sie sieh in einer dauernden Wechsel- beziehung der Erregung, die man als Druck und Gegendruck bezeichnen kann. Bricht in diese statischen Beziehungen die dynamische Erregungswelle ein, so kann sie dieselben wohl zeitweihg ändern, aber niemals aufheben, das ist für den Menschen ebenso sicher wie für den Seeigel. Ja, der Seeigel lehrte uns noch mehr, indem er uns zeigte, daß eine Erregungs- welle nur in die Repräsentanten der erschlafften Muskel ein- tritt. Damit wurde der Beweis erbracht, daß die dauernden statischen Beziehungen der einbrechenden dynamischen Welle ihre Richtung erteilen.
Dieses merkwürdige Ineinandergreifen der statischen und dynamischen Funktionen am Seeigel darf uns aber nicht dazu verführen, die Funktionen für gleichartig zu erklären. Denn es gibt noch ein sehr wichtiges Merkmal, das die beiden Er- regungsarten unterscheidet. Bei Ausübung der statischen Funktionen zeigt es sich, daß alle Repräsentanten dem Zentral- reservoir im Radialnervensystem untergeordnet sind. Es be- herrscht eine höchste Station alle übrigen. Für die dynamischen Funktionen wird diese Stelle ausgeschaltet. Die Erregungs- wellen passieren die Radialnerven, ohne von den dortigen Zentren irgendwie gelenkt oder geordnet zu werden. Für die dynamischen Erregungswellen gibt es nur die Repräsentanten, die durch viele intrazentrale Netze miteinander verbunden sind. Alle Repräsentanten sind einander beigeordnet ohne jede Spur der Unterordnung.
Die Kezeptoren.
Die Haut der Seeigel ist überall reizbar sowohl durch mechaniche Berührung, wie durch chemisch wirksame Stoffe. Besonders wirksam sind alle Säuren, selbst in großer Verdünnung. Diese Reize sind zugleich die allgemeinen Nervenreize, die ge- eignet sind, jede Art von Nervensubstanz zu reizen ohne Ver- mittelung besonderer Endapparate. Die allgemeinen Nerven- reize bilden einen gemeinsamen Maßstab, der in gewissen Grenzen auf alle Tiere anwendbar ist, wenn man ihre Beziehungen zur Umgebung miteinander vergleichen will. Erst die Abweichungen von diesem allgemeinen Maßstab charakterisieren die Besonder-
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heit jedes Falles. Die Abweichung beruht einmal in der Unter- drückung gewisser allgemeiner Reize, hauptsächhch aber in der Befähigung, besondere, sonst unter der Schwelle hegende Wir- kungen der Außenwelt in wirksame Nervenreize zu verwandeln.
Bei den Seeigeln wirkt auf die Körperhaut außer den allgemeinen Nervenreizen besonders ein Reiz, der von dem Feinde aller Seeigel ausgeht. Dies ist der Schleim des See- sternes Asterias glacialis. Diese Substanz ist für die Haut der Seeigel von spezifischer Giftigkeit. Läßt man ein abgeschnittenes Füßchen dieses Seesternes in der Nähe der Seeigelhaut unter Wasser liegen, so beginnt diese alsbald blasig aufzutreiben, wo- bei der Zelleninhalt körnig zerfällt. Die zersetzende Wirkung des Seesternschleimes übt gleichzeitig einen heftigen Nervenreiz aus. Es ist die Seeigelhaut gegen den Schleim des Seesternes überempfindlich und doch darf man hierbei nicht von einem spezifischen Reiz reden. Denn ein spezifischer Reiz verlangt immer ein spezifisches Rezeptionsorgan, das speziell für ihn gebaut und eingerichtet ist. Wir sprechen in diesem Falle von einem Transformator, der einen an sich unwirksamen Vorgang der Außenwelt in einen wirksamen Nervenreiz verwandelt.
In der Seeigelhaut gibt es einen solchen Transformator für das Licht. Es ist eine Art Sehpurpur, der sich überall vorfindet und durch Alkohol ausgezogen werden kann. Die alkoholische Purpurlösung bleicht im Lichte schnell ab. Wir dürfen sie daher in Beziehung zur Reizbarkeit der Seeigel durch das Licht setzen. Der Reiz des einfallenden Sonnen- lichtes wirkt genau wie ein allgemeiner mechanischer Reiz. Die belichteten Stacheln führen bei sehr reizbaren Arten Be- wegungen aus. Die übrigen Seeigelarten begnügen sich mit einer langsamen Fluchtbewegung oder sie transportieren doch wenigstens die Gegenstände, die ihre Stacheln belasten, seien es Steine oder Algenblätter, nach der beleuchteten Stelle hin, und verschaffen sich auf diese Weise einen Lichtschirm. Der Lichtreiz wird also durch einen spezifischen Transformator den Nervennetzen übermittelt. Die von ihm ausgelöste Erregung betritt aber keine besonderen Bahnen, sondern läuft wie jede andere Erregungs welle ab.
Die erste Andeutung einer spezifischen Behandlung des Lichtreizes in den Nervennetzen findet sich bei denjenigen
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Arten, die nicht nur auf Licht, sondern auch auf Schatten reagieren. Die Mehrzahl der tropischen Seeigel und von den Mittelmeerarten Centrostephanus longispinus zeigen deutliche Stachelbewegungen auf Beschattung. Diese Tiere werden vom Sonnenlicht so lange in die Flucht getrieben, bis sie in die dunkelste Ecke geraten. Dort bleiben sie still sitzen und strecken ihre Stacheln gleichmäßig nach allen Seiten aus. Tritt nun irgendeine Verdunkelung am Horizont auf, mag sie durch eine vorbeiziehende Wolke oder durch einen herannahenden Fisch veranlaßt sein, so schlagen die Stacheln, die von der Ver- dunkelung getroffen werden, wie auf einen allgemeinen Haut- reiz zusammen. Dies ist eine Abwehrbewegung, die häufiger eintritt als nötig, weil die Gegenstände der Außenwelt von den Seeigeln nicht unterschieden werden.
Den Verlauf des Beschattungsreflexes habe ich eingehend untersucht und folgendermaßen dargestellt: ,,Die Endigungen der rezeptorischen Fasern sind von lichtempfindlichem Purpur umgeben. Auf ihn wirken die Lichtstrahlen und bei seiner Zersetzung werden die Nervenendigungen gereizt. Nun läuft die Erregung, die sich von nun ab nicht mehr von anders erzeugten Erregungen unterscheidet, den Nerven entlang und tritt in die Hautnervennetze ein. Hier löst sie, wenn sie kräftig genug ist, in den nächstliegenden Reflexzentren der Stacheln einen Reflex aus, der die Stacheln dem Reizort zu- führt. Weiter tritt die Erregung in die Ausläufer des Radial- nerven ein und dringt ihnen entlanglaufend ins Innere des Körpers ein. Durch die Seitenäste gelangt sie schließlich in den Radialnerv selbst, der dann die Erregung allseitig weiter- verbreitet und ihr so die Mögüchkeit verschafft, wiederum an die Außenfläche zu kommen und in alle eingekhnkten Reflex- zentren einzudringen, die nach dem Reflexorte zu schauen. Hier wird überall eine Muskelbevvegung ausgelöst und der Flucht- reflex tritt ein.
Beim Passieren der Radialnerven erhöht die Erregung den Tonus in den bipolaren Zellen, und zwar mit steigender In- tensität in steigender Anzahl. So lange die Erregung den Radialnerven durchläuft, so lange findet auch eine dauernde Ladung der Tonuszentren statt. Im Moment, wo außen das Licht abgeschnitten wird und mit der Purpurzersetzung auch
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die Erregung aufhört, geben die Tonuszentren ihre Ladung in Form von Erregung wieder den Nerven ab, denen sie bei- geschaltet sind, und nun durchläuft die Erregung den gleichen Weg in umgekehrter Richtung nach ihrer Ursprungsstätte zurück, tritt ins Hautnervennetz ein und löst in den Reflexzentren der Stacheln wiederum eine Bewegung aus, die der zuerst ausgelösten gleichen muß, da sie an den gleichen Orten anpackt wie früher."
Ob es wirklich die bipolaren Zellen sind, die als Reservoire für die Erregung oder den Tonus angesprochen werden müssen, ist zweifelhaft. Unzweifelhaft aber scheint mir, daß sich eine gewisse Anzahl von den allgemeinen Reservoiren abgespaltet haben müssen, um nun dem speziellen Zweck des Schatten- reflexes zu dienen. Dadurch ist die erste Andeutung einer ge- sonderten Anlage der Photorezeption gegeben. In allen anderen Tieren werden Licht- und Schattenreflex von dem gleichen Organ ausgelöst. Auch hierin sind die Seeigel von grundlegender Be- deutung, weil sie uns erlauben, auch diese eng zusammengehörigen Reflexe dank ihrem anatomischen Bau experimentell gesondert zu behandeln. Zu bemerken ist noch, daß alle Seeigel, die eine hohe LichtempfindHchkeit besitzen, besondere Pigmentzellen in der Haut tragen, die als Lichtschirm wirken. Sie bewirken es, daß Centrostephanus im Dunkeln weiß wird, im Sonnenlicht aber schwarz erscheint.
Alle Seeigel besitzen um den Mund herum besondere Or- gane, die wahrscheinlich die Nahrungssuche vermitteln. Sie sind aber noch nicht untersucht worden und können daher hier keinen Platz finden. Ebenso übergehe ich die Funktion der Saugfüße, die teils dem Tasten, teils der chemischen Re- zeption, teils der Atmung und schließlich der Fortbewegung dienen, weil das Zusammenarbeiten dieser Funktionen noch nicht genügend analysiert ist. Auch das Arbeiten des kompli- zierten Kauapparates, der sogenannten Laterne des Aristoteles, muß ich übergehen.
Spezieller Teil. Arbacia pustulosa.
Der einfachste Seeigel ist schwarzbraune Arbacia pustu- losa, die ihr Leben in der Brandungszone verbringt, die Algen- decke der Felsen abweidend. Sie preßt sich in alle Ver-
IQß Dio Seeigel.
tiefungen hinein dank ihren außerordenthoh kräftigen Saug- füßen und streckt ihren langen, starren Stachel wald allseitig nach außen. Ihre Stacheln sind alle gleiclilang, sehr hart und sehr spitz. Die Sperrmuskeln überwiegen sehr stark gegenüber den Bewegungsmuskeln, ein Zeichen, daß wir es mit einem seßhaften Seeigel zu tun haben.
Starke Eingriffe durch Erschütterung und chemische Reize beantwortet das Tier mit einem lang andauernden Anspannen seiner gesamten Sperrmuskulatur. In diesem Stadium ist es unmöglich, die Stacheln zu beugen, eher brechen sie ab. In dieser Stellung erwartet Arbacia den Erbfeind aller Seeigel, den Seestern Asterias glacialis, sobald der Reizstoff, der von seinem Schleim ausgeht, ihre Haut getroffen hat. Der schöne Stachelwald schützt Arbacia besser vor ihrem Feinde, als all die komplizierten Werkzeuge der anderen Seeigel- arten.
Einer mechanischen Hautreizung ist Arbacia nur selten ausgesetzt, weil bei jeder unsanfteren Berührung die Stacheln zusammenfahren und dem nahenden Eindringling eine spitze Stachelbürste entgegenstrecken, die jede Passage versperrt. Es ist schwierig, Arbacia zur Flucht zu bewegen, da sie auf chemische und mechanische Reize ihre Stachelmuskeln sperrt. Nur durch einseitiges Einleiten von kohlensaurem Seewasser gelingt es, sie zum Verlassen ihres Standortes zu bringen.
Bekanntlich verkürzen sich alle dem Reizort zugekehrten und erschlafften Stachel muskeln, sobald eine Erregung zu ihnen dringt, und schieben dabei den Gegenstand, der sie zum Er- schlaffen brachte, dem Reizorte zu. Ist dieser Gegenstand der Erdboden, so flieht der Seeigel vor dem Reiz.
Legt man eine Arbacia auf den Rücken, so beginnen jetzt die gedrückten Rückenstacheln Fluchtbewegungen zu machen, und zwar macht es den Eindruck, als ginge der Reiz, der sie zum Fliehen veranlaßt, von der Mundmembran aus. Kommt Arbacia bei diesen Bewegungen an eine Stelle, die bergauf führt, so ist sie gerettet. Denn nun finden die langen Mund- füße Gelegenheit, den Boden zu fassen und den Tierkörper um- zudrehen. Die Rückenfüße ermangeln bei Arbacia der Haft- scheiben und dienen bloß zum Tasten und Atmen. Auf einer ebenen Fläche ist die auf dem Rücken liegende Arbacia ver-
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loren. Sie stellt ihre resultatlos verlaufenden Gehbewegungen nach einiger Zeit ein und geht bald zugrunde.
Arbacia ist, wie die meisten Seeigel, von peinlichster Sauberkeit. Sie kann sich aber nicht selbst reinigen, sondern überläßt dies Geschäft dem Wellenschlag. Deshalb ist sie im Aquarium bald mit ihren eigenen Exkrementen bedeckt, die man durch kräftige Wasser bewegung entfernen muß, um das Tier gesund zu erhalten.
Centrostephanus longispinus.
Der nächste Seeigel, den wir betrachten, besitzt gleichfalls lange Stacheln, die eine Länge von 7 cm erreichen können, außer diesen Hauptstacheln aber noch zahlreiche mittlere und kürzere Stacheln von 1 bis 2 cm Länge. Alle diese Stacheln sind zarte Röhren, dicht besetzt mit feinen, nach außen zu strebenden Spitzen, so daß sie unter der Lupe überschlanken gotischen Münstertürmen gleichen. Jeder Fremdkörper, der sich der Körperhaut nähern will, wird von diesen Spitzen aufgehalten und mit Leichtigkeit abgestreift.
Nahe Verwandte des Centrostephanus, die in den Tropen wohnen, tragen ihre lanzettartig geschliffene Stachelspitze in einem häutigen Beutel, der mit Gift gefüllt ist — eine recht bösartige Waffe.
Seinem Stachelbau entsprechend, besitzt Centrostephanus eine ganz andere Muskulatur als Arbacia. Während Arbacia hauptsächUch Sperrmuskulatur aufwies, ist bei Centrostephanus fast die gesamte Muskulatur zu Bewegungsmuskeln geworden. Daraus allein läßt sich schließen, daß wir es hier mit dem Renner unter den Seeigeln zu tun haben, der nicht im festen Widerstände, sondern in der Flucht sein Heil suchen wird.
Die Muskeln von Centrostephanus geraten sehr schwer in Sperrkampf. Auch vermögen sie nur gerade noch ihren eigenen leichten Körper zu tragen, nicht aber einem starken Drucke zu widerstehen.
Sehr interessant ist bei Centrostephanus zu beobachten, wie durch eine nur geringe Abweichung im Bau der nervösen Ver- bindung ganz neue Effekte erzielt werden können. So besitzt Centrostephanus im Umkreise des Anus fünf bis acht kleine
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Stacheln mit kolbenförmigem Ende, die fast immer in kreisen- der Bewegung sind. Sie sind ganz besonders spärlich mit Sperrmuskeln versehen und vermögen sich nicht mehr aufrecht zu erhalten, wenn der Seeigel aus dem Wasser genommen wird, sondern sinken auf die Schale nieder. Ihre Muskeln werden daher besonders leicht von Erschlaffung befallen und sind jeder Erregung ausgesetzt. Um sie still zu stellen, muß man die Radialnerven entfernen und sie dadurch dem Beschattungs- reflex entziehen. Berührt man die Haut im Umkreise eines solchen Stachels dreimal nacheinander, so neigt sich der Stachel dem ersten Reizorte zu und fährt dann, in geneigter Lage ver- bleibend, nach dem zweiten und dann nach dem dritten Reiz- orte hin. Darauf kehrt er aber nicht zur Ruhelage zurück, sondern fährt noch lange fort sich in der durch die Reizfolge gegebenen Richtung im Kreise zu drehen. Dieses Drehen ist in Wahrheit ein Verbeugen nach allen Richtungen hin , denn es wird hervorgerufen durch die immer wiederholte Verkürzung der einzelnen Muskelstränge, die nacheinander in Tätigkeit ge- raten. Es ist sicher, daß die Erregung dabei im Nervenring kreist, der bei diesen Stacheln besonders innige Verbindungen der einzelnen Zentren untereinander aufweisen muß. Nachdem von außen der Anlaß und die Richtung gegeben sind, kann der Stachel automatisch im Kreisen fortfahren, da jede Ver- kürzung der Muskeln auf der einen Seite die Antagonisten, auf der anderen zur Erschlaffung bringt, die dann die Erregung zu sich heranziehen. Somit ist jede Bewegung selbst die Ursache zur Fortsetzung der Bewegung. Man hat es dabei völlig in der Hand, die Drehungsrichtung der kreisenden Stacheln beliebig zu ändern, indem man sie mit einem spitzen Gegen- stand anhält. Dann beginnen sie in der entgegengesetzten Richtung zu kreisen.
Die kreisenden Analstacheln dienen vermutlich der Rein- Hchkeit, die an dieser Stelle besonders gepflegt werden muß, weil die Oberseite der Schale, die der Verunreinigung durch die Exkremente am meisten ausgesetzt ist, zugleich in besonders hohem Maße der Lichtrezeption dient.
Von Centrostephanus können wir noch eine prinzipielle Neuerung lernen, die im allgemeinen Organisationsplan noch nicht aufgeführt wurde. Durch geeignete Schnittführung kann
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man die eine Hälfte eines Stachels mit der benachbarten Haut- partie völlig isolieren und als einen besonderen Reflexapparat be- handeln. Reizen wir die Haut dieses Reflexapparates mechanisch, so verkürzen sich die Muskeln wie immer und der Stachel neigt sich dem Reizorte zu. Reizen wir aber die Haut mit einem Salzkristall, so erschlaffen die Muskeln und der Stachel neigt sich vom Reizorte fort.
Dieses Umschlagen des Reflexes kann nicht allein in einer gesteigerten Intensität der Erregung gesucht werden, denn eine auf einen gesteigerten mechanischen Reiz auftretende starke Erregung ruft immer nur Verkürzung und Sperrung hervor, aber niemals Erschlaffung. Es muß auch die Plötzlichkeit der neu auftretenden Erregung für diesen Umschlag verantwortlich gemacht werden. Wenn in der Zeiteinheit aus dem gleichen Rohr mehr Wasser herausfließt, so steht dieses Wasser unter erhöhtem Druck und vermag andere Wirkungen auszuüben, als das mit schwachem Druck ausfließende Wasser. In über- tragener Bedeutung können wir auch von einem höheren Er- regungsdruck sprechen und sagen, die Erregung, die unter hohem Druck an die Repräsentanten von Centrostephanus gelangt, füllt diese nicht langsam mit Erregung an, sondern drückt sie plötz- lich maximal auseinander. In die so erweiterten Reservoire fließt die Erregung aus den Muskeln ab und die Muskeln erschlaffen.
Die Bedeutung dieser Einrichtung liegt in der Erleichterung der Flucht. Centrostephanus flieht auf den langen Haupt- stacheln vor dem Feinde. Solche Stacheln sind nur in be- schränkter Anzahl vorhanden. Darum müssen sie alle mittun. Es würde den Erfolg der Flucht in Frage stellen, wenn ein Teil dieser Stacheln starr gesperrt nach hinten gerichtet bliebe.
Centrostephanus ist, wenn man so sagen darf, ein nervöses Tier, sehr leicht und sehr stark erregbar durch alle Änderungen seiner Umwelt und dabei trotz seiner Vielseitigkeit so einfach organisiert.
Die kurzstacheligen Seeigel.
(Sphaerechinus, Toxopneustes, Echinus.)
Die kurzstacheligen Seeigel bilden eine Gruppe für sich, die durch sehr charakteristische Eigenschaften verbunden ist. Trotz der Verschiedenheit in Bau und Lebensweise zeichnen
jjQ Die Seeigel.
sich alle kurz stacheligen Seeigel durch den Besitz von vier ver- schiedenen Zangenarten aus, mit denen ihr Körper an allen Stellen zwischen den Stacheln besäet ist. Die kurzstacheligen Seeigelarten zerfallen unter sich wieder in zwei Gruppen, in dicht bestachelte und spärlich bestachelte.
Die Funktion der Stacheln ist bei diesen beiden Gruppen eine verschiedene und wir müssen erst auf diesen Unterschied eingehen, bevor wir auf die ,,Pedicellarien" genannten Zangen zu sprechen kommen. Der große Echinus acutus ist nur an der Unterseite dicht mit Stacheln bedeckt, die bei diesem schweren Tier das Gehen auf ebenen Flächen allein besorgen, während ein leichter Seeigel, wie Toxopneustes lividus, von seinen Saugfüßen getragen, leicht einherschweben kann. Die Stacheln von Echinus marschieren in ausgesprochenem Takt. Sie zeigen auch am deutlichsten das Phänomen der Erschlaffungsüber- tragung von Nachbar- auf Nachbarstachel. Auf der Oberseite ist Echinus nur spärhch bestachelt. Er lebt in größeren Tiefen als die anderen Arten und muß dort weniger Schädigungen der Haut ausgesetzt sein.
Für die dicht bestachelten Arten bildet der Stachelwald außer einem Schutzmittel auch eine Falle für die Beute. Es ist öfter beobachtet worden, daß eine Mantis mit ihren Schlag- scheren nach einem Sphaerechinus schlagend ihre Schere nicht mehr aus dem Stachelwald zurückzuziehen vermochte. Die Stacheln fahren, wie wir wissen, nach dem Reizorte zusammen, und dauert die Reizung an, so setzt die Sperrung ein. Es legen sich dann die Stacheln wie ein dichter Zaun über das feindliche Glied und verharren regungslos, bis die Saugfüße zugefaßt haben um den Transport der Beute nach dem Munde zu übernehmen. Da Sphaerechinus noch die Neigung zeigt, alles, was ihm in den Weg kommt, Steine und Algenblätter, sobald sie seine Stacheln belasten, auf den Rücken zu schieben, so maskiert er sich dadurch vollkommen und verwandelt sich, wie das Dohrn zuerst beobachtet hat, in eine gefährliche Krebs- falle. Die mitgeführten grünen Algenblätter liefern ihm zugleich ein willkommenes Sauerstoffreservoir.
Während Centrostephanus auf den Rücken gelegt durch zwei Schläge seiner beweglichen langen Stacheln den Erd- boden wieder unter seine Mundfläche schiebt und so wieder
Die Seeigel. Hl
in die richtige Lage kommt, brauchen die großen kurzstache- ligen Seeigel längere Zeit, um von der Rückenlage in die Mund- lage zu gelangen. Am meisten wirkt die Form ihres Körpers dabei mit. Sie gleichen mehr oder minder einer Kugel, die man einseitig glatt abgeschnitten hat. Die glatte Fläche ist die Mundfläche. Wenn das Tier auf der Mundfläche ruht, so ist die Last des Körpers auf viel zahlreichere Stacheln verteilt, als wenn der Körper auf die runde Rückenfläche zu Hegen kommt. In dieser Lage beugen sich die wenigen, aber stark belasteten Stacheln allseitig ganz fort, so daß das Tier mit der Körperschale unmittelbar auf dem Boden ruht. Nun braucht es nur eines geringen Reizes, der von der Mundfläche ausgeht, um die gedehnten Stachelmuskeln, die zur Mundfläche hinsehen, in Kontraktion zu versetzen. Dadurch geben sie dem runden Körper einen leisen Stoß und dieser rollt ohne Schwierig- keit in die Mundlage zurück. Wird einem auf der Seite liegen- den Sphaerechinus ein stärkerer mechanischer Reiz vom Anus aus erteilt, so rollt der Seeigel in die umgekehrte Lage und kommt mit dem Anus anstatt mit dem Munde nach unten zu liegen. Von der Reflexumkehr auf chemischen Reiz, die wir bei Centrostephanus kennen lernten, machen die kurzstacheUgen Seeigel noch einen besonderen Gebrauch. Die kleinen Exkre- mentkügelchen, die aus dem am Zenith der Schale gelegenen Anus austreten, müßten, wenn sie hier liegen blieben, das Tier verunreinigen, wie wir das an Arbacia gesehen haben. Sie bleiben aber nicht Hegen, weil die nächsten Stacheln auf den chemischen Reiz des Exkrementes durch Muskelerschlaffung zurückschlagen und die kleinen Kugeln herabroUen lassen. Es braucht aber nicht jeder Stachel auf dem Wege hinab einen neuen chemischen Reiz, um die Passage freizugeben. Der Druck der oberen Stacheln auf die unteren genügt, um diese herab- zubeugen. Daß keinerlei nervöse Reflexe dabei eine RoUe spielen, davon überzeugt man sich leicht, indem man einen Sphaerrechinus an seinem Äquator in eine obere und untere Schalenhälfte auseinandersprengt und dann die beiden Schalen - Hälften wieder aneinanderfügt. Auch in diesem FaUe wird jede von einem chemischen Reiz am Anus erzeugte Beuge- bewegung der Stacheln, die Schalenlücke überspringend, sich bis an die Mundmembran hinab fortsetzen.
112 ^^^ Seeigel.
Die Pedicellarien.
Unter Pedicellarien versteht man kleine, auf beweglichen Stielen stehende dreizinkige Zangen, die je nach ihrer Bauart verschiedenen Zwecken dienen.
Die Putzzangen sind die kleinsten Pedicellarien, sie haben drei breite blattförmige Zangenglieder, mit denen sie auf der Haut herumkratzen und alle Unreinigkeiten entfernen. Oft sieht man zwei Zangenglieder ein Körnchen fassen, um es mit dem dritten zu zerklopfen.
Die übrigen drei Zangenarten müssen gemeinsam betrachtet werden, da sie sich gegenseitig ergänzen. Die langen, dünnen, leichtbeweglichen Klappzangen haben die Aufgabe, die zartere Beute, etwa vorbeischwimmende kleine Würmchen, zu packen. Die kurzen, kräftig zufassenden Beißzangen sind geeignet, die dünnen Beine kleiner Krebse zu fassen, die dem Stachelzaun durch ihre Biegsamkeit entgleiten. Die großen, Drüsen tragen- den Giftzangen beißen sich in die Saugfüße des Seesternes fest, vor dessen chemischen Reiz die Stacheln sich fortneigen.
Die Unterscheidung zwischen Würmern, Krebsen und See- sternen geschieht nach dem Stärkegrade der von diesen Tieren ausgehenden Reize. Die drei fremden Tierarten in der Um- gebung der Seeigel bedeuten für die Umwelt des Seeigels nichts weiter als schwache, mittlere und starke Reize.
Am ruhenden Tier liegen alle Pedicellarien auf der Schale zwischen den immer aufrecht stehenden Stacheln. Das Stiel- gelenk der Pedicellarien unterscheidet sich nicht vom Stachel- gelenk. Aber seine Zentren nehmen nicht teil am allgemeinen Erregungsdruck, der vom Radialnervensystem ausgeht. Sie sind daher nicht dauernd geladen wie die Repräsentanten der Stachelmuskeln, sondern bedürfen vor dem Gebrauch einer jedesmaligen Ladung durch eine besondere Erregung. Erst dann verkürzen sich die Stielmuskeln, richten den Stiel auf und machen die Zange gebrauchsfertig. Die Stielmuskelzentren der drei Zangenarten werden entsprechend dem Gebrauch, dem die Zange dient, durch verschieden starke Erregungen geladen, durch schwache, mittlere und starke. Unter schwach und mittel sind dabei verschiedene Grade der mechanischen Reizung, unter stark ist chemische Reizung zu verstehen.
Die Seeigel. 113
Auf diese Weise gelingt es, für verschiedene fremde Objekte stets die passende Zange bereitzuhalten. Ferner muß dafür gesorgt werden, daß die nicht mehr passende Zange ver- schwindet. Das geschieht mit Hilfe des neu eintretenden stärkeren Erregungsdruckes, der die Zentren der nicht mehr zusagenden Zange dehnt und ihre Gefolgsmuskeln zur Er- schlaffung bringt. So vertreibt ein starker mechanischer Reiz die vom schwachen Reiz hervorgerufenen Klappzangen, während er die Beißzangen hervorlockt. Ein chemischer Reiz vertreibt wiederum die Beißzangen und mit ihnen zusammen die Stacheln, zaubert aber dafür die Giftzangen hervor.
Dies kann man sich, wie wir bereits gesehen, nach Ana- logie der veränderten Wirkung eines unter höherm Druck her- vorspritzenden Wasserstrahls klar machen. Nur bilden die Zentren der Stielmuskeln bei den Giftzangen ganz besonders gebaute Apparate. Die Erregung, die vom chemischen Reiz ausgeht, und die sonst alle anderen Zentren lähmt, reicht ge- rade hin, um sie so weit zu laden, daß die Stielmuskeln die Zange aufrecht stellen. Ist das geschehen, so neigen sich die Stiele der Zangen, wie alle Stacheln dem Reizorte zu, sobald eine Stelle in ihrer Nähe gereizt wird,
Hier wird zum ersten Male die biologisch-technisch inter- essante Frage gelöst: Wie macht es die Natur, wenn das Nervensystem nicht Einzelreize, sondern Reizgruppen gesondert behandeln soll. Die Stielmuskeln der Giftzangen antworten auf eine Kombination von chemischen und mechanischen Reizen anders als auf einfache, chemische oder mechanische Reize. Denn sobald der chemische Reiz zu wirken aufgehört hat und die Stielmuskeln der Erschlaffung anheimzufallen beginnen, antworten ihre Zentren auf jeden neuen mechanischen Reiz nur mit einer stärkeren Erschlaffung ihrer Gefolgsmuskeln. In diesem Falle neigt sich die Giftzange vom Reizort fort, dem sie sich vorher genähert hatte.
Das gleiche Phänomen zeigt sich bei den Stacheln. Wenn man durch andauernde chemische Reizung ihre Muskeln in zu- nehmende Erschlaffung gebracht hat, so bewirkt jeder neue Reiz, der während der Periode der Erschlaffung einsetzt, eine weitere Zu- nahme der Erschlaö'ung und der Stachel neigt sich vom Orte der mechanischen Reizung fort, dem er sich sonst unweigerHch nähert.
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 8
^\4: ^^^ Seeigel.
Wir lernen hieraus die wichtige Tatsache kennen, daß ein Zentrum im Stadium der zunehmenden Lähmung sich neuen Erregungen gegenüber anders benimmt, als im Stadium der abnehmenden Lähmung oder der Ruhe. Das läßt sich so formulieren: Die neue Erregung wird von den Zentren bei zu- nehmender Lähmung mit Zunahme, bei abnehmender mit Ab- nahme der Lähmung beantwortet.
Ein Seesternf üßchen , das sich der Haut eines Seeigels nähert, reizt diese durch seinen Schleim erst chemisch und dann mechanisch. Die vom mechanischen Reiz ausgehende Erregung trifft die Stachelzentren infolge der voraufgegan- genen chemischen Reizung im Stadium der Lähmungszu- nahme, die Stielmuskelzentren der Giftzangen aber im Stadium der Lähmungsabnahme. Infolgedessen neigen sich die Stacheln vom Reizorte weg, die Giftzangen dem Reizorte zu. Damit ist der biologische Zweck erreicht, den Feind, der sich aus den Stacheln nichts macht, den Giftbatterien gegenüberzustellen.
Wir wenden uns jetzt den Leistungen der Zangenglieder zu. Jedes Zangenglied aller vier Zangenarten ist nach außen zu mit zwei Öffnern, nach innen mit zwei SchUeßern ver- bunden, die zu seinen Nachbarn gehen. Die drei Zinken sind immer gelenkig eng miteinander verbunden. Mit dem Kalkstiel stehen sie durch drei Flexoren in Verbindung. Ich übergehe weitere Einzelheiten und betrachte bloß die Reflexe der Öff- nung und Schließung.
Bei den Klapp- und Beißzangen liegen die Verhältnisse einfach. Wird die Haut auf der Außenseite mechanisch ge- reizt, so antworten die Öffner, wird die Innenseite gereizt, so antworten die Schließer, die bei den Klappzangen aus quer- gestreifter Muskulatur bestehen. Chemische Reizung hebt alle Reflexe auf. Dieser Umstand wird wiederum von der Natur in genialer Weise ausgenutzt.
Da die Pedicellarien von keinem Zentralnervensystem aus dirigiert werden, sondern ganz selbständig auf jeden mecha- nischen Reiz, der die Innenseite ihrer Zangen trifft, zubeißen, so liegt die Gefahr nahe, daß sie in einen dauernden Krieg untereinander und mit den Stacheln geraten. In Wirklichkeit ist es aber nur eine seltene Ausnahme, daß zwei Klappzangen bei ihrem Hin- und Herpendeln aneinanderschlagen und sich
Die Seeigel. ;[15
gegenseitig verbeißen. Aber auch in diesem Falle lassen sie gleich wieder los. Es zeigt sich nun, daß selbst vom Tier abgelöste Beiß- und Klappzangen, die bei der geringsten Be- rührung jedes beliebigen Gegenstandes zubeißen, alle Organe, die mit der Haut ihrer eigenen Art überzogen sind, respek- tieren. Es genügt aber, einen Stachel, der bisher nicht ange- griffen wurde, einen Augenblick in kochendes Wasser zu tun oder einer Pedicellarie die Haut abzuziehen, um sie dadurch in Fremdkörper zu verwandeln. Daraus habe ich geschlossen, daß es einen Stoff in der Haut gibt, dessen chemische Wirkung für gewöhnlich unter der Schwelle liegt, aber sofort hervortritt, wenn sich zwei Hautstellen berühren. Ich habe diesen Stoff Autodermin genannt und die Erscheinung der Reflexunter- drückung durch chemische Selbstreizung nenne ich Autodermo- philie.
Wir nähern uns jetzt dem kompliziertesten Organ der Seeigel, dem Kopf der Giftzangen. Aufgabe dieses kleinen Meisterwerkes ist es, sich so fest in den Feind zu verbeißen daß es wie ein vergifteter Pfeil im Fleische stecken bleibt. Die Feinde sind neben Asterias glacialis noch einige säure - bildende Nacktschnecken. Jede Giftzange ist nur für einen einzigen Biß berechnet, deshalb muß besondere Sorgfalt darauf verwendet werden, daß sie ihr Ziel nicht verfehlt. Der Kopf der Giftzange beherbergt drei koordinierte Reflexapparate, die so genau ineinandergefügt sind, daß der wirksame Biß unter normalen Umständen völlig gesichert erscheint.
Wir unterscheiden erstens die dünnen Öffner, die auf leichten chemischen Reiz sich mit den Stielmuskeln zusammen verkürzen. Infolgedessen zeigt die aufrechtstehende Giftzange immer weit geöffnete Zinken. In diesem Stadium wirkt jeder mechanische Reiz auf der Außenseite oder Innenseite, appliziert immer nur Reflex auslösend auf die Öffner. Wir unterscheiden zweitens die Muskeln der Giftdrüse, die sich immer nur auf starken chemischen Reiz zusammenziehen und den Drüseninhalt in dünnem Strahle nahe der Zinkenspitze hinauspressen. Drittens unterscheiden wir die sehr starken Schließer. Diese zeigen bei verschiedenen Arten eine verschiedene Erregungs- weise. Bei Sphaerechinus werden die SchUeßer durch den immer stärker werdenden chemischen Reiz des herannahenden
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\IQ Die Seeigel.
Feindes zur Verkürzung gebracht. Die Zangen sind aber durch die Tätigkeit der vorher erregten Öffner so weit zurückgebogen, daß die Schließer hinter ihr Gelenk zu liegen kommen. Ihre Verkürzung öffnet daher die Zange nur noch stärker. Durch diese Bewegung wird das Gelenk selbst ganz nach vorne ge- bracht. Jeder mechanische Druck, der vom Feinde auf das übergeschnappte Gelenk ausgeübt wird, bringt es zum Zurück- schnappen. Worauf erst die Kontraktion der SchUeßer zur vollen Wirkung gelangt und die spitzen Zähne der Zinken tief ins feindliche Fleisch treibt. Der Kanal der Giftdrüsen war, solange die Zinken zurückgeschlagen blieben, abgeknickt. Daher konnte die Drüse, obwohl ihre Muskeln in Kontraktion waren, ihren Inhalt nicht entleeren. Erst jetzt, nachdem die Zinken zurückgeschnappt sind, wird der Kanal gerade gezogen und das Gift tritt aus. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß nur nach starker chemischer Reizung und wirklich erfolgter Berührung die Zange zubeißt und Gift speit.
Bei Toxopneustes lividus ist der Vorgang noch merk- würdiger. Hier finden wir gleichfalls nach voraufgegangenem leichten chemischen Reiz die Giftzangen geöffnet aufrecht stehen. Am weitesten nach vorne gerichtet befindet sich ein kleiner häutiger Hügel, der sich sonst in der Tiefe der ge- schlossenen Zange verbirgt. Dieser Hügel ist mit langen, lebhaft wimpernden Haaren bedeckt. Steigert sich die Wirkung der chemischen Reize beim Herannahen des Feindes, so ver- wandelt sich dieser wimpernde Hügel vor unseren Augen in ein Tastorgan. Die Wimpern stehen plötzlich still, starr nach vorne gerichtet, und der mechanische Reiz, der bisher von hier aus wie von jeder anderen Stelle nur die Öffner erregte, löst jetzt die Kontraktion der Schließer aus, die zusammenfahrend die Zinken in den Feind treiben. Bei dieser Annäherung wird der chemische Reiz so stark, daß auch die Drüsenmuskeln sich verkürzen und das Gift in die Wunde spritzen.
Wir sehen uns drei verschiedenen Methoden gegenüber, welche die Seeigel anwenden, um eine Kombination von che- mischen und mechanischen Reizen durch einen spezifischen Reflex zu beantworten. In allen drei Fällen wird der chemische Reiz, der den Seeigel früher trifft als der mechanische, dazu benutzt, um den Reflexapparat einzustellen. Bei Toxopneustes
Die Seeigel. 117
wird durch den chemischen Reiz ein Tastorgan ad hoc ge- schaffen. Diese Methode kann wohl angewandt werden, wenn der Reflex nur ein einzigesmal auftreten soll, was für die Gift- zangen der Fall ist. Sphaerechinus bedient sich eines feinen mechanischen Apparates, der durch den chemischen Reiz ge- spannt wird und beim ersten Druck losschießt wie eine Arm- brust. Auch diese Methode wird schwerlich eine allgemeine Verbreitung finden können. Nur die Methode, die bei den Stielmuskeln aller Giftzangen angewandt wird, beansprucht höhere Bedeutung. Hier wird durch den chemischen Reiz ein Zentrum geladen, das erst dadurch die Fähigkeit erlangt, den mechanischen Reiz mit einer Verkürzung der Gefolgsmuskeln zu beantworten.
Die Umwelt.
Die Behandlung der Reizkombinationen durch die See- igel ist deshalb so wichtig, weil damit die Frage nach der Beschaffenheit der Umwelt gelöst wird. Die Gegenstände, die wir in der Umgebung der Seeigel bemerken, besitzen gar keine anderen Mittel, um als selbständige Individuahtäten einzu- wirken, denn durch Erzeugung von Reizkombinationen, die für sie allein charakteristisch sind. Oder anders ausgedrückt, ein Seeigel kann keine Kenntnis von den Gegenständen seiner Um- gebung erlangen, wenn er nicht imstande ist, charakteristische Reizkombinationen von den einzelnen Gegenstandsarten in Er- regungen zu verwandeln. Die von den Reizkombinationen er- zeugten Erregungen müssen ferner imstande sein, gesonderte Wirkungen im Seeigel auszuüben, damit man von einer wirk- Hchen Gegenstandswirkung reden darf. Sonst bleibt es bei unvereinten Reizen, und die Umwelt der Tiere enthält dann wohl Eigenschaften, aber keine Gegenstände.
Die Umgebung der Seeigel, wie sie sich unserem Auge darstellt, ist leicht aufgezählt : Wasser, Felsboden, kleine Steine, Algen, Licht, für einzelne Arten auch Schatten, ferner Beute- tiere, wie Krebse und Würmer, und endlich als Feinde See- sterne und Nacktschnecken. Diese Gegenstände existieren für das Nervensystem der Seeigel samt und sonders nicht. Für die Seeigel gibt es nur schwache und starke Reize, die schwache und starke Erregungen auslösen, hin und wieder eine Kom-
■^IQ Die Seeigel.
bination von schwachen und starken Reizen, die aber nicht weiter unterschieden wird. Der einzige Reiz, der sich einer gesonderten Behandlung erfreut, ist der Schatten. Alle übrigen Reize erzeugen immer nur Erregungen, die unterschiedslos im allgemeinen Nervennetz ihren Weg suchen müssen.
Selbst wenn wir uns das Vergnügen machen wollen, und ganz bewußt unsere Seele dem Zentralnervensystem der Seeigel zugrunde legen (was die vergleichenden Psychologen unbewußt tun), so können wir doch von einem solchen Nerven- system nie etwas anderes erfahren als einzelne Empfindungen. Nur im Stiel der Giftzangen würde unsere Seele zwei ver- koppelte Empfindungen erhalten. Was aber für unsere Seele am verwunderlichsten wäre, das wäre die Unmöglichkeit, dem Körper einen einheitlichen Impuls zu erteilen.
Wohl gibt es die zentral gelegenen Reservoire, die den allgemeinen Erregungsdruck regulieren, aber die einzelnen Re- flexe laufen durchaus selbständig ab. Nicht bloß jedes Organ, sondern auch jeder Muskelstrang mit seinem Zentrum handelt völlig eigenmächtig. Daß dabei doch noch etwas Vernünftiges herauskommt, ist nur das Verdienst des Planes, nach dem die selbständigen Einzelteile so zusammenpassen, daß immer und und überall der Nutzen des Gesamttieres gewahrt bleibt. Man kann deshalb die Seeigel eine Reflexrepublik nennen und den Unterschied gegenüber den höheren Tieren dadurch anschaulich machen, daß man sagt: Wenn der Hund läuft, so bewegt das Tier die Beine — wenn der Seeigel läuft, so bewegen die Beine das Tier.
Es herrscht im Seeigel, um das Wesentliche nochmals hervorzuheben, nicht der einheitliche Impuls, sondern der einheitliche Plan, der die ganze Umgebung des Seeigels mit in seine Organisation hineinzieht. Er wählt von den nützlichen und feindlichen Gegenständen der Umgebung diejenigen Wir- kungen aus, die als Reize für den Seeigel geeignet sind. Diesen Reizen entsprechen abgestufte Rezeptionsorgane und Zentren, die auf verschiedene Reize verschieden antworten und dabei die Muskeln erregen, welche die vom Plan vorgesehenen Bewegungen ausführen müssen.
So ist auch der Seeigel nicht einer feindlichen Außenwelt preisgegeben, in der er einen brutalen Kampf ums Dasein führt,
Die Seeigel. 119
sondern er lebt in einer Umwelt, die wohl Schädlichkeiten neben Nützlichkeiten birgt, die aber bis aufs letzte so zu seinen Fähigkeiten paßt, als wenn es nur eine Welt gäbe und einen Seeigel.
Die Herzigel.
(Echinocardium caudatum.)
Dem Meeresboden fehlt der Humus, jenes feuchte, plastische Material, das von unzähligen Rissen durchzogen, tausend wohl- gelüftete Kammern bildet, in denen sich große und kleine Tiere durch Erweiterung der nachgiebigen Wände wohnHch niederlassen können. An Stelle des Humus tritt am Meeres- boden der Sand, der auch, wie der Humus, fein verteiltes organisches Material beherbergt, das bescheidenen Ansprüchen vollauf zur Nahrung genügt. Dafür felilen dem Sande die plastischen Eigenschaften und die Durchlüftung. Der Sand fällt immer wieder in sich zusammen und schließt beim Zu- rücksinken die eingeschlossenen Höhlen hermetisch gegen das Seewasser ab. Dadurch wird den Tieren, die solche Sandhöhlen bewohnen, der notwendige Sauerstoff abgeschnitten und sie sind alle dem Erstickungstode preisgegeben, wenn sie nicht be- sondere Hilfsmitttel besitzen, die ihnen die Wasserzufuhr sichern. Es gibt verschiedene solcher Hilfsmittel, die wir bei Sipunculus, den Anneliden und den Herzigeln kennen lernen. Das einfachste besteht darin, Löcher mit großer Kraft in den Sand zu stoßen. Dadurch wird der Sand ringsum zusammen- gepreßt und gewinnt einen gewissen Halt. Sipunculus, der dieses Mittel anwendet, überzieht außerdem die Innenseite der von ihm in den Sand gestoßenen Höhle mit Schleim. Der Schleim wird sehr allgemein angewandt, und speziell zum Verkleben der nassen Sandkörner ausgebildet. Auch die Anne- liden, die tief im Sande leben, bekleiden ihre vertikalen Höhlen mit einem besonderen Klebstoff. Den ausgiebigsten Gebrauch von dem Klebstoff für den Sand machen aber die Herzigel.
Die Herzigel gehören dem Typus der Seeigel an, haben aber alle Orgrane der freilebenden Formen für das Dasein unter dem Sande umgestaltet. Die runde Mundfläche hat sich ver- lagert und verschmälert. Der Mund ist nach der einen Seite hin gerückt und wird jetzt bei horizontalen Bewegungen der
120 ^iö Seeigel.
Tiere nach vorne getragen. Die breite, runde, muskulöse Mundmembran, die in der Ebene der Mundfläche lag und die Laterne des Aristoteles trug, ist jetzt vertikal gestellt und verbindet die breite knöcherne Unterlippe, die wie eine Pflug- schar nach unten gekrümmt ist, mit der verstrichenen knö- chernen Oberlippe. Die Mundöffnung ist einseitig angebracht und führt unmittelbar in den Darm. Die ganze Laterne des Aristoteles ist verschwunden und der in den Mund gepflügte Sand gelangt unmittelbar in den Verdauungskanal.
Vom Munde aus zieht an der Außenseite der Schale eine tiefe und breite R-inne nach oben. Sie mündet an der Ober- seite in eine flache vierarmige Atemlakune, die wie mit einem Stempel in die Schale eingedrückt erscheint. Die Rinne ist von einem dichten Stachelzaun nach außen zu abgesperrt. Die Stacheln stehen links und rechts am Rande der Rinne und beugen sich einander entgegen. Der Boden der Rinne ist frei von Stacheln. So entsteht ein Kanal, der das Wasser der Lakune in direkte Verbindung mit dem Munde bringt. In der Lakune befinden sich die zu Kiemen umgebildeten Saug- füßchen. Die Verbindung der Lakune mit dem Seewasser herzustellen und aufrecht zu erhalten, dazu gehört das Zu- sammenwirken mehrerer Organe, das wir jetzt zu betrachten haben.
Bringt man einen frisch aus dem Sande geholten Herzigel in eine Glasschale mit Seewasser, so bietet sich unseren Blicken ein allerliebstes Schauspiel dar. Das kleine Tierchen gleicht in Größe und Farbe einem weißen Mäuschen. Die langen weißen Borsten liegen dicht den beiden Seiten an und sind auf das peinlichste von vorne nach hinten gekämmt. An der Mundseite sind sie auf fünf Felder verteilt, die den Mund strahlig umgeben. Hier sind die Borsten viel kräftiger gebaut als auf den Seiten, und besonders die kurzen Borsten, die hinter der Unterlippe ihren Platz haben, gleichen kleinen platten Füßchen. Betrachten wir die einzelnen Borsten genauer, so bemerken wir, daß sie alle an ihrer Spitze eine kleine, löffeiförmige Verbreiterung tragen. Die Innenflächen dieser viele Hunderte zählenden Löffel sind an den Seiten des Tieres alle nach oben gerichtet. An der Mundseite schauen sie alle vom Munde fort.
Die Seeigel. 121
Ist das Tierchen in der Glasschale eine Zeitlang dem Tageslicht ausgesetzt worden, so beginnt der ganze Wald dieser feinen Borsten sich zu regen. Erst zeigen sich einige flache Wellen, die das weiße, wohlgekämmte Haar der Seitenflächen zu kräuseln beginnen. Dann setzt der ganze Borstenwald mit einer exakten rhythmischen Wellenbewegung ein, die unser Auge ebenso durch seine Gesetzmäßigkeit wie seine Zierlichkeit erfreut.
,,Der Borstenwald bietet den Anblick eines vom Wind bewegten Kornfeldes dar. Jederseits vom Munde in den Seiten- feldern beginnend bis hinauf am Rückenschopf endigend, folgt sich Welle auf Welle. Steil aufragend oder ausgehöhlt ist die Vorderseite jeder Welle, während die Rückseite in sanftem Bogen zum nächsten Tal übergeht. Jede Vorderseite zeigt dicht an einander gepreßt die Höhlungen der Stachellöffel . . . Setzt man einen frischen Seeigel unter Seewasser auf feinen Sand, so sieht man binnen kurzem rechts und links von ihm einen kleinen Sandwall entstehen, der durch die Stacheln der Unterseite aufgeworfen wird. Die immer höher werdenden Seitenwälle werden von den Stacheln an beiden Seiten des Tieres derart weiter verarbeitet, daß der Sand an der Innen- seite des Walles in die Höhe geschafft wird, bis er auf den Gipfel des Walles niederfällt. Der Sandwall wird dadurch immer höher und breiter, zugleich verschwindet das Tier lang- sam im Sande."
Wie kommen die einzelnen Wellen zustande, welche Be- wegungen vollführen die einzelnen Borsten dabei ? Die Borsten der Herzigel sind nichts anderes, als etwas umgestaltete Stachel der Seeigel. Auch sie sind im Grunde nur kleine Stöckchen, die auf einem Kugelgelenk kreisen. Die Stacheln der Seeigel sind aber beim freien Kreisen ganz und gar nicht im- stande, eine Welle zu erzeugen. Jede Welle besteht aus einem Wellenberge und einem Wellentale. Will man daher über eine Anzahl dicht gedrängter Stacheln eine Welle hinziehen lassen, so ist es notwendig, daß sich die Stacheln abwechselnd neigen und wieder erheben, wie das die Halme eines windbewegten Kornfeldes tun. Nun kreisen die Stacheln der regelmäßigen Seeigel, indem sich ihre Muskeln ringsum nacheinander gleich- stark verkürzen. Dadurch bleibt die Spitze stets gleichweit
122 ^^^ Seeigel.
von der Unterlage entfernt und es kommt daher kein Neigen und Wiederaufrichten zustande. Die Stacheln der Herzigel sitzen gleichfalls auf einer Kugel, aber die Kugel selbst sitzt auf einer schräg gestellten Basis. Daher entfernt und nähert sich beim Kreisen die Spitze des Stäbchens in regelmäßigem Wechsel der Oberfläche des Tieres. Schräg gestellte Stäbchen sind wohl imstande, wenn sie im gleichen Tempo kreisen, eine Welle über sich dahinlaufen zu lassen. Bei den Stacheln der Herzigel kommt noch dazu, daß sie alle einseitig gebogen sind. Auch das regelmäßige Kreisen eines gebogenen Stäbchens ruft ein regelmäßiges Neigen und Heben seiner Spitze hervor. Es gleicht die Welle, die über den Borstenwald des Herzigels einherzieht, nur scheinbar der Welle, die ein windbewegtes Kornfeld schlägt. Die Spitzen der Stäbchen bewegen sich nicht einfach auf und ab, sondern ziehen regelmäßige Kreise, die aber schräg zur Unterlage stehen.
Da die Wellen, die über den Herzigel dahinziehen, die Aufgabe haben, mit ihren Wellenbergen den Sand von der Mundseite wegzuschaffen und an den Seiten emporzuheben, so sind die Muskeln, solange sie den Sand heben, sehr stark in Anspruch genommen. Nur solange die Innenseite des Löffels vorwärts bewegt wird, ist sie mit Sand belastet und muß da- her schwere Arbeit leisten. Deshalb sind die Muskeln, welche die Innenseite des Löffels zu sich heranziehen, doppelt so stark und lang, als die Muskeln der anderen Seite.
Die Spitze einer jeden Borste an den Seiten des Herz- igels beschreibt einen Kreis, dessen Fläche nicht parallel der Oberfläche des Tieres steht, sondern der vorne weiter vom Körper entfernt ist als hinten. Während die Spitze die vordere Hälfte des Kreisbogens durcheilt, ist sie weiter vom Körper entfernt und nimmt daher Teil an der Bildung des Wellen- berges. Im hinteren Teile des Kreises nähert sich die Spitze dem Körper und bildet mit seinem Nachbarstachel zusammen das Wellental. Die Richtung, in der die Spitze den Kreisbogen durchläuft, ist durch die Stellung des Löffels von vornherein bestimmt. Da der Löffel den Sand hinaufschaufeln muß und deshalb nach oben gerichtet ist, so muß er, um wirksam zu sein, die vordere Hälfte des Kreisbogens, in der er den Wellen- berg bildet, von unten nach oben durchfahren. Beim Durch-
Die Seeigel. 123
kreisen der hinteren Hälfte des Kreisbogens, der zum Wellen- tal gehört, zieht der LöfiFel von oben nach unten mit seiner konvexen Rückenseite voran.
Die Wellen beginnen an der Unterseite des Tieres und ziehen nach oben. Das bedeutet, daß ein jedes Stäbchen etwas später zu kreisen beginnt als die unter ihm gelegenen Nach- barn, und während des ganzen Vorgangs immer um einen kleinen Teil des Kreisbogens, der gerade der Breite eines Löffels entspricht, hinter ihnen zurückbleibt. Um den gleichen Teil des Kreisbogens ist er seinen oberen Nachbarn voraus. Seine hinteren und vorderen Nachbarn dagegen sind gerade so weit wie er und bleiben daher mit ihm in einer Flucht.
Betrachtet man die vorschreitende obere Seite eines Wellen- berges, so sieht man, daß sie bis in die Tiefe des Tales hinab aus dicht aneinander gepreßten Löffeln besteht. Es beteiligen sich immer mehrere untereinander liegende Stachelreihen an diesem Aufbau. Der äußerste Saum der Welle wird von einer Löffelreihe gebildet, deren Stacheln gerade der Mitte der ganzen Welle angehören. Ihr Löffel hat eben den Punkt des Kreis- bogens erreicht, der am weitesten vom Körper absteht. An sie anschließend folgt Löffelreihe auf Löffelreihe, welche erst auf dem Wege zu diesem höchsten Punkt sich befinden. Beim Fortschreiten der Welle schiebt sich immer eine Reihe an die Stelle der anderen, und die letzte Reihe, die eben den Wellen- saum bildete, verschwindet hinter der vorletzten, wenn diese ihre Stelle einnimmt.
Auf der Rückseite des Wellenberges gleiten die Löffelreihen, die man hier von der konvexen Seite sieht, wieder hinab, bis sie im Tal angelangt sind. So besteht jede Vorderseite einer Welle aus lauter konkaven Innenseiten der Löffel, während jede Rückseite aus den konvexen Außenseiten der Löffel gebildet wird.
An der tiefsten Stelle des Wellentales verläßt der Stachel die vorübergezogene Welle und schHeßt sich durch sein Wieder- emporsteigen der neuen Welle an. Solange er sich noch im Bereich des neuen Wellentales befindet, bewegt der Stachel sich mit der Hinterseite seines Löffels voran imd schiebt sich auf diese Weise hinter den emporgetragenen Sand. Der Sand kommt im Wellental nur darum vorwärts, weil sich immer wieder eine höhergelegene Löffelreihe hinter ihn schiebt. Erst
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an dem Punkte, wo Wellental in Wellenberg übergeht, beginnt der Stachel den Sand zu heben, indem er mit der Innenseite des Löffels voranschreitet. Die ausgehöhlte Form der Vorder- seite der Wellen versteht sich nun leicht. Die Stelle, wo die Welle am weitesten ausgehöhlt ist, ist zugleich der Ort, wo die Stacheln aus einer Abwärtsbewegung in eine Aufwärts- bewegung umschlagen, wobei ihre Löffelinnenseite immer nach oben schaut. Bis zu diesem Punkt arbeitet der Stachel so gut ^vie unbelastet, denn beim Einschieben hinter den Sand findet er keinen großen Widerstand. Erst in dem Moment, da die Löffelinnenseite wieder hinauf getragen wird, muß er eine wirkliche Belastung überwinden. Dann erst beginnt das Schaufeln des Sandes. Aber die hebende Arbeit der Stacheln endigt nicht, wenn sie den höchsten Punkt am Wellen - säum erreicht haben. Auch wenn sie an der Rückenseite der Wellen herabgleiten, sind sie noch schiebend und hebend tätig, indem sie auf ihre Vordermänner drücken. Das währt so lange, bis sie an die Stelle gelangt sind, \yo der Wellenberg in das Wellental übergeht. Dann beginnt der Stachel unbelastet zurückzugleiten, bis er wieder in die Tiefe des Wellentales gelangt.
So wechselt Arbeit und freie Bewegung regelmäßig mit- einander ab; bald antworten die Bewegungsmuskeln allein, bald springen auch die Sperr muskeln ein. Die Sperrmuskeln springen jedesmal ein, sobald die Belastung beginnt. Dies ist an einem frei arbeitenden Tiere leicht nachzuweisen. Sobald man einen spitzen Gegenstand gegen einen kreisenden Stachel hält, kann man genau fühlen, wie der Stacheldruck mit der Steigerung des Gegendruckes steigt und mit dessen Sinken wieder nachläßt. Das weist auf das besprochene Hin- und Herfließen der Erregung zwischen Bewegungs- und Sperr- muskeln hin.
Wie die Muskulatur, zeigt sich auch im Nervensystem der Herzigel die größte Verwandtschaft zu den übrigen Seeigeln. Das Radialnervensystem kann vollkommen entfernt werden, ohne die Bewegungen der Stacheln im mindesten zu beeinflussen. Diese werden von den äußeren Nervennetzen vollständig be- herrscht. Jeder stillstehende Stachel neigt sich, wenn er ge- reizt wird, zum Beizorte hin, mag der Reiz ein chemischer
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oder mechanischer sein. Die Herzigel zeigen ebensowenig wie Arbacia einen Erregungsabfall auf starke Reize. Sprengt man einen arbeitenden Herzigel in einzelne Stücke auseinander und fügt diese wieder genau zusammen, so läuft die Welle mit der größten Sicherheit über die Lücke hinweg. Dagegen ist eine Welle nicht imstande, von einem bewegten Stück auf ein ruhendes hinüberzuspringen. Es kann durch den Druck der Stacheln wohl eine gegenseitige Bewegungsregulierung erfolgen, es genügt aber der leise Druck eines Stachels auf den anderen nicht, um diesen in Bewegung zu bringen. Im Gegenteil ist jeder ruhende Stachel eher bereit auf jeden Druck mit Sperrung als mit Erschlaffung zu antworten.
Von den regelmäßigen Seeigeln wissen wir, daß der Nerven- ring eines jeden mit denen seiner Nachbarn durch ein be- sonderes Netz in Verbindung steht, und zwar stehen die Stellen der Nervenringe zweier Stacheln, die sich gegenüberliegen, nicht miteinander in direkter Verbindung, sondern immer nur die- jenigen Stellen, die nach der gleichen Richtung hinsehen. Ebenso stehen bei den Herzigeln alle oberen Seiten der Nervenringe mit allen oberen Seiten ihrer Nachbarringe in Verbindung. In gleicher Weise sind alle unteren, Hnken und rechten Seiten einzeln miteinander verknüpft. Nur muß man aus dem Fortschreiten der Wellen schheßen, daß zwar alle linken und rechten Seiten der Nervenringe an der gleichen Stelle in ihr verbindendes Netz münden, während die unteren Seiten der Nervenringe ihre Ein- mündungssteilen in das verbindende Netz um ein Geringes ver- schoben haben, weil die nächsthöheren Stachelreihen immer um eine Löffelbreite später zu kreisen beginnen. Sicher ist diese Annahme nicht ungerechtfertigt, denn wo alle Muskeln und Knochen so zierlich und exakt gebildet sind, wird das Nerven- system die gleiche minutiöse Arbeit aufweisen. Auch strömt der Fluß der Erregungen in den feingegliederten Nerven- bahnen, die von den Ringkanälen ausstrahlen, mit bewunde- rungswürdiger Sicherheit. Es entsteht niemals eine Entgleisung oder Stockung des Betriebes dieser hundert Teilmaschinen, die zusammenarbeiten, als würden sie von einem zentralen Impuls geleitet.
Die Stachelbewegung bringt den Herzigel senkrecht unter den Sand. Erst wenn das Tier vöUig im Sande verschwunden
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ist, beginnt der Kanalbau. Anfangs halten die langen Stacheln des Rückenschopfes, die aus dem Grunde der Atemlakune emporsteigen, die Kommunikation des Tieres mit dem Seewasser offen. Bald aber verschwinden auch sie unter dem Sande. Aber der Sand schließt sich nicht über ihnen, sondern es bleibt ein enger Kamin im Sande bestehen, der dem Seewasser den Zutritt zur Höhle des Tieres ermöglicht. Nach meinen Be- obachtungen kommt dieser Kamin folgendermaßen zustande.
Wie wir wissen, führen die Stachelwellen beiderseits den Sand dem Rückenschopf zu, der sich in der Mitte des Rückens befindet. Nun schließen sich die Schopfstacheln nicht unmittel- bar an die Seitenstacheln an, sondern sind von ihnen durch die sogenannten ,, Saumlinien" getrennt; die Saumlinien füllen einen großen Teil des Lakunenbodens aus. Sie umschließen allseitig die Schopfstacheln bis auf die Stelle, wo die Atem- rinne die Lakune verläßt.
Die Saumlinien bilden im Leben ein dichtes Samtband feinster Kölbchen, die einen ganz eigenartigen Bau besitzen. Ein zarter Achsenstab aus Kalk von deuthcher Längsstreifung ist von einem durchsichtigen Gewebe umgeben, dass an der Spitze zu einem leichten Kolben anschwillt. In diesem Ge- webe befinden sich freibewegliche Farbstoffzellen, purpurne und hellgrüne. Das Licht wirkt auf beide Zellarten kontrahierend ein. Zugleich entfärben sich die purpurnen Zellen und werden die hellgrünen schwarz.
„Welchen Einfluß diese sonderbaren Farbstoffzellen auf das Gesamttier haben, ist unbekannt. Wohl beeilt sich ein Herz- igel schneller unter den Sand zu kommen, wenn er von der Sonne beschienen wird, als wenn er sich in einem verdunkelten Bassin befindet. Aber da wirkt das Licht wahrscheinlich als allgemeiner Hautreiz.
Dagegen sind die Beziehungen der Kölbchen auf den Saum- linien zum Kanalbau viel offenkundiger. Bei vielen frisch ge- fangenen Herzigeln findet man das ganze Tier vollkommen frei von Sand. Nur die Saumlinien sind dicht gepflastert mit Sand- körnchen, die alle mit einem klebrigen Stoff bezogen sind und eine einheitliche Masse bilden. Gleitet diese klebrige Masse, durch die Wellenbewegung der Seitenstacheln getrieben, an der Außenseite der Schopfstacheln empor, so ist es leicht verstand-
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lieh, wie die Schopfs tacheln durch energisches Auseinander- pressen der klebrigen Masse dem Kanal im Sande eine Innen- bekleidung geben können, die dem Seitendruck des Sandes wider- steht. So wird ein Atemkamin gebaut, der selbst Tiere, die 10 bis 15 cm unter der Oberfläche stecken, mit dem Seewasser verbindet."
Der Atemkamin, der aus zusammengeklebten Sandkörnern besteht, bedarf stetiger Säuberung und dauernder Reparaturen. Zu diesem Zweck sind bei dem Herzigel merkwürdigerweise die gleichen Apparate im Gebrauch, wie bei uns Menschen. Wenn wir die Kamine unserer Häuser reinigen lassen wollen, so bedient sich der Schornsteinfeger einer Anzahl von Blei- kugeln, die durch Stricke zu einem Büschel vereinigt sind, und fährt damit in dem Kamin auf und ab. Das gleiche tut der Herzigel mit einem feinen Organ, das lauter kleine Kugeln zu einem Büschel vereinigt. Aber das Organ der Herzigel vermag zugleich auch den Kamin auszubessern, indem es ihn mit frischem Klebstoff bestreicht. Diese Organe heißen die Pinsel- füßchen. So bleibt die Atemlakune und mit Hilfe der Atem- rinne der Mund in dauernder Verbindung mit dem Seewasser. Für eine Zirkulation sorgen die Stachelbewegungen.
Der Herzigel lebt, während er verdaut, in einer engen Höhle, die gerade den Stacheln genügenden Spielraum läßt. Die Innen- wand der Höhle ist mit einer dünnen Tapete ausgekleidet, die aus erhärtetem Schleim und Sandkörnern besteht. Um zu fressen, braucht er bloß mittels seiner kräftigen Füße, die hinter dem Mund liegen, ein paar Schritte zu machen, wobei die pflug- scharartige Unterlippe den Sand vor ihm aufwühlt. Dabei quillt ihm die mit dem Sand vermischte Nahrung direkt in den Mund. Während dieser Freß Wanderungen baut sich der Herzigel noch einen zweiten wagerechten Kanal, der ebenfalls von Pinselfüßchen gereinigt und ausgebessert wird. Dank dieser Horizontalkanäle können die Tiere, die in großen Herden nahe beieinander leben, in direkte Kommunikation treten. Die beiden Kamine halten den alleinigen Zugang zur Außenwelt offen. Im übrigen sind die Herzigel gezwungen, als lebendig begrabene Einsiedler ihr ganzes Dasein in der sandigen Zelle zu verbringen.
Jede Umwelt ist nur vom Standpunkt des Tieres aus zu
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würdigen. Das Licht und der leichte Gang der Wellen wird den Herzigeln sofort verderblich, sobald sie den schützenden Sand verlassen. Tausende von bleichenden Schalen am Strande berichten von jenen Herzigeln, die zur Zeit der Ebbe, als ihre Atemkanäle sich verstopften, aus dem Sande emporkrochen und widerstandslos der kommenden Flut zum Opfer fielen. Die Bewegung im lockeren Sande, der zugleich die Nahrung birgt in Stille und Dunkelheit, das gewährt den Herzigeln Leben und Gesundheit.
Aus dieser bescheidenen Umwelt läßt sich die Form und die Funktion der Herzigel in gewissem Maße ableiten. ,, Gehen wir davon aus, daß für ein Tier, das so unergiebige Nahrung aufnimmt, wie es der Seesand ist mit seinen spärlichen orga- nischen Resten, die Kugel die vorteilhafteste Form sein muß, weil in der Kugel die geringste Oberfläche den größten Inhalt birgt. Setzen wir dieser Kugel die Pflugschar ein, um den Sand zu fassen, platten wir die Kugel ein wenig ab, damit sie stehen kann, sorgen wir für den Raum, der das Atemwasser birgt, und drücken wir endlich die Rinne ein, die den Mund mit dem Atemwasser verbindet, so ergibt sich die äußere Form der Herzigel von selbst." An die äußere Form schließen sich alle weiteren Einzelheiten der Stachelbewegung und des Kanal- baues ohne weiteres an. Wie verlockend ist es da, von einer Anpassung des Tieres an seine Umgebung zu sprechen, und dabei der Außenwelt die aktive, dem Organismus aber die passive Rolle zuzuweisen. Und doch kann man im Ernst nur von einer Herrschaft des Organismus über die Eigenschaften seiner Umgebung sprechen, und nicht von einer Anpassung unter die physikalischen und chemischen Bedingungen. Denn während Echinocardium die Lockerheit des Sandes dazu be- nutzt, um ihn von hundert kleinen Schaufeln bearbeiten zu lassen, stampft Sipunculus den lockeren Sand zusammen, um ihm mehr Halt zu verleihen. Während Sipunculus die Innen- seite seines Kanals nachträglich mit Schleim bestreicht, be- arbeitet Echinocardium vorher das Material, das später zur Bekleidung der Innenfläche des Kamins dienen soll.
Das formende Prinzip, das den Organismus mit der Umwelt zusammenführt, sitzt im Tier und nicht, wie man lächerlicher- weise behauptet, in der Außenwelt. Von der Außenwelt über-
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nimmt das formende Prinzip nur ganz bestimmte Bruchteile, aus denen es mit dem Organismus zusammen eine höhere Einheit bildet.
Die Schlangensterne.
Kein Tier ist durch seinen Namen besser beschrieben als der Schlangenstern. Ein Stern, der schlangenartig ist, gibt uns unmittelbar die Vorstellung dieses Tieres, das aus einem runden Mittelkörper besteht, von dem fünf Arme ausstrahlen, die schlangenartige Bewegungen ausführen. Die schlangen- artigen Windungen unterscheiden sich deutlich von den wurm- förmigen durch den Umstand, daß sie durch Verschiebungen fester Teile gegeneinander hervorgebracht werden und nicht durch Biegungen eines gleichmäßig weichen Körpers.
Die Arme der Schlangensterne bestehen der Hauptsache nach aus den knöchernen Wirbeln, die in der Mitte gelenkig miteinander verbunden sind. Um diese Gelenke sitzen vier starke Muskeln, die immer den einen Wirbel auf seinem Nach- barn kreisen lassen. Die Wirbel kann man als sehr stark verkürzte und verbreiterte Seeigelstachel auffassen, die auf der einen Seite eine Kugel und auf der anderen eine Pfanne tragen, um sowohl einerseits auf dem einen Nachbarn selbst zu kreisen, als auch andererseits den anderen Nachbarn kreisen zu lassen. Die ganze Wirbelreihe gleicht einer Geldrolle, deren Münzen nach dem Ende hin immer kleiner werden. Und wie die einzelnen Geldstücke auf der einen Seite den Kopf, auf der anderen Seite die Schrift tragen, so tragen die Wirbel auf der einen Seite die Kugel und auf der anderen die Pfanne. Beide umgeben von den vier Ansatzflächen der Muskel.
Um den Mund herum sitzt ein knöcherner Ring, der die Arme trägt. Er ist von einem derben runden Beutel nach oben abgeschlossen. In diesem Beutel steckt der Magen. Die Wirbel sind ringsum mit kleinen Schutzplättchen bedeckt, die bei der Biegung der Gelenke sich ineinander und auseinander schieben, ohne jemals die Muskeln ganz preiszugeben. Beson- dere, spitze Plättchen schützen die Füßchen oder Tentakel, die an den beiden Seiten der Unterfläche paarweise zutage treten. Jeder Wirbel trägt auf der Unterseite eine Furche,
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 9
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in der der Radialnerv zu liegen kommt, der die Arme von der Wurzel bis zur Spitze durchzieht. Wie bei den Seeigeln schließt sich das Radialnervensystem um den Mund zu einem Ringe.
Sowohl anatomisch wie physiologisch gewinnt man ein übersichtliches, wenn auch stark vergröbertes Bild des Nerven- systems, wenn man sich einen jeden Radialnerven aus zwei Röhren bestehend denkt, von denen eine nach links, eine nach rechts zum nächsten Arme umbiegt. Auf diese Weise be- trachtet, setzt sich das Zentralnervensystem aus fünf einfachen Schleifen zusammen, die mit ihrer Mitte den Mund umgreifen, in jedem Arme aber paarweise nebeneinander liegen. Alle Röhren seien in ihrem ganzen Verlauf durch kleine Öffnungen mit- einander verbunden. Dieses Bild soll der Ausdruck für die Tatsache sein, daß das Zentralnervensystem aus einem Netz besteht, in dem sich einige Hauptleitungsbahnen befinden, die immer die sich zugekehrten Seiten zweier Nachbararme mit- einander verbinden.
Dürfen wir die Radialnerven der Schlangensterne in Parallele zu den Radialnerven der Seeigel setzen, und was ent- spricht dem Hautnervensystem der Seeigel? Darauf ist zu antworten, daß die Schlangensterne kein Hautnervennetz be- sitzen. Ein Wirbel steht mit dem anderen nur durch den Radialnerven in leitender Verbindung. Dafür haben aber die Radialnerven der Schlangensterne, weil sie die Repräsentanten der Wirbelmuskeln beherbergen, direkte Beziehungen zu den Muskeln gewonnen, die sie beim Seeigel nicht besaßen.
Bei den regelmäßigen Seeigeln bilden die Saugfüße ein abgeschlossenes Organsystem für sich, das noch nicht genügend erforscht ist. So viel läßt sich aber doch aussagen, daß die Reizung einiger Saugfüßchen die getroffenen Füßchen zum Zurückziehen bringt, die Nachbarfüßchen aber vortreibt. Bei dem Schlangenstern Ophiotrix fragilis zeigt sich ein ganz ab- gesondertes Zusammenarbeiten der Saugfüßchen oder Tentakel, welche ebenfalls mit Flüssigkeit gefüllte Muskelschläuche sind. ,,Die Armmuskulatur beteiligt sich gar nicht am Erfassen der Beute, sondern die bei ihr besonders ausgebildeten Tentakel (siehe Hamann) schieben sich gegenseitig die kleinen Nah- rungsbrocken zu, die im Zickzack von der Armspitze zum Mittelkörper wandern."
Die Schlangensterne. 131
Bei Ophioglypha ist der Ablauf des Freßreflexes ein anderer. Die Erregung greift vom gereizten Tentakel auf die nächsten Muskeln der gleichen Seite über und veranlaßt erst diese, dann die nächsten, zentraler gelegenen, zur Kontraktion und so fort bis hinab zum Munde. Dadurch wird der Arm einseitig eingerollt; ähnlich wie bei den Tentakeln des Sipun- culus zeigt sich dabei eine deutliche Trennung des Reflexes nach den Reizarten. Der stärkste mechanische Reiz bringt nur den getroffenen Tentakel zur Verkürzung, erzeugt aber niemals eine Erregung der Wirbelmuskeln. Diese wird nur von dem chemischen Nahrungsreiz ausgelöst. Das einseitige Einrollen des Armes, das sehr schnell abläuft, bringt jeden Bissen, der die Tentakel gereizt hat und vom Arm umfaßt wurde, unfehlbar zum Munde. Der Magen oder der Nerven- ring um den Mund haben hierauf keinerlei Einfluß, denn das Einrollen geht immer noch vor sich, auch wenn der Radial- nerv irgendwo durchschnitten war. Bis zur Durchtrennungs- stelle läuft die Einrollung stets mit der gleichen Sicherheit ab. Da nun die Schlangensterne sich der Nahrung gegenüber ganz anders benehmen, wenn sie hungrig oder satt sind, so wäre es interessant zu untersuchen, auf welche Organe die Sättigung eigentlich einwirkt.
Das Einrollen läuft ganz selbständig ab, ohne die sehr charakteristischen Eigenschaften der übrigen Reflexe zu zeigen. Man hat daher allen Grund anzunehmen, daß dieser Reflex eine ganz gesonderte nervöse Basis besitzt, und daß die Bahnen, die von den Tentakeln zu den Wirbelmuskeln gehen, ihre eigenen Verbindungen mit den Muskeln besitzen, unabhängig von den beschriebenen Hauptbahnen der zentralen Netze. Eine mehrfache Innervation eines Muskels von verschiedenen Seiten aus ist bei den W^irbellosen nichts Ungewöhnliches. Der Re- traktor des Sipunculus weist allein drei auf.
Die Schlangensterne zeigen allen Arten der mechanischen Reizung gegenüber verschiedenartige deutlich ausgesprochene Reaktionen. Sehr starke allgemeine Reize, wie das Hinwerfen des ganzen Sternes auf eine Marmorplatte, besonders wenn es mehrfach wiederholt wird, ruft in allen Muskeln eine lang- dauernde Sperrung hervor. Der Schlangenstern bleibt dann mit gerade gestreckten Armen liegen, die sich wie steife Stock-
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chen anfühlen. In dieser Verfassung kann man an ihnen jede Operation ausführen, ohne befürchten zu müssen, daß die Autotomie den operierten Arm beseitigt.
Ein schwacher Reiz, der sich über eine größere Haut- partie erstreckt, wie er von einem übergestülpten Gummirohr aus- geht, ruft dauernde Abwehrbewegungen hervor. Die beiden Nach- bararme biegen sich wiederholt sehr stark zum gereizten Arme hin und strecken sich, dort angelangt, gerade, dabei streifen sie das Gummirohr endlich ab.
Ein Wollenfaden, langsam aber kräftig um einen Arm ge- schnürt, ruft anfangs die gleiche Abwehrbewegung hervor. Da der Hautreiz aber dabei wenig ausgedehnt ist, so hören die Abwehrbewegungen bald auf und der Stern bleibt ruhig liegen. Dann zeigt sich aber eine andere, höchst merkwürdige über- dauernde Wirkung des Reizes. Lokale Reizungen, die einem solchen Tier verabfolgt werden, rufen wohl noch Fluchtbewe- gungen hervor, aber diese sind so ungelenk und so gehemmt, daß man den Eindruck erhält, das ganze Tier sei in Brei geraten.
Geschieht das Zubinden des Wollenfadens zu schnell, so daß ein plötzlicher heftiger Reiz einsetzt, so autotomiert der Arm und löst sich zentralwärts vom Reizort von seiner Basis ab. Je stärker der lokal angesetzte Reiz ist, um so leichter stellt sich die Autotomie ein. Man kann die Reizintensität steigern, indem man ein bis zwei Minuten an die Unterseite des Armes von Ophioderma longicauda (die sich der langen Arme wegen besonders zu diesen Experimenten eignet) einen Salzkristall an- preßt, dann lösen sich die zentral von der Reizstelle gelegenen Arm Wirbel mit Leichtigkeit voneinander ab. Die Autotomie der Schlangensterne besteht also in einer Erschlaffung der Muskeln, welche zentralwärts vom Reizort liegen. Zugleich ist eine Steige- rung der Kontraktion und Sperrung peripher vom Reizort alle- zeit nachweisbar. Es tritt also auf den lokalen Reiz einerseits eine Vermehrung, andererseits eine Verminderung der Muskel- tätigkeit ein. Auf der einen Seite steigt die Sperrschwelle, auf der anderen sinkt sie. Ich nenne eine derartige Reaktion eine ,, Reflexspaltung*'. Die Reflexspaltung ist nichts Un- gewöhnliches bei den Wirbellosen. Wir sind ihr bereits bei den Ringmuskeln der Aktiniententakel begegnet. Wir werden
Die Schlangensterne. 133
sie beim Schleifenreflex des Blutegels wiederfinden. Über die Ursache der Reflexspaltung kann uns vielleicht das Fließ- präparat des Sipunculus Aufschluß geben. Bei ihm werden wir Gelegenheit finden, zu beobachten, daß an der Reizstelle Kontraktion eintritt, wenn die Erregung nicht weitereilen kann. Ist ihr aber die Möglichkeit gegeben, den Reizort schnell zu verlassen, um einem entfernten Ziele zuzustreben, so rufi sie in den dem Reizort zunächst liegenden Muskeln Erschlaffung hervor. Es gibt zwei Ursachen, die für diese sonderbare Erscheinung verantwortlich gemacht werden können. Einmai ruft ein heftiger Reiz im Zentralnervensystem eine Instantanwirkung hervor, die wir mit einer plötzlichen Steige- rung des Druckes vergleichen können. Zugleich ist die Er- regung selbst fortgeeilt und die nächstUegenden Muskelzentren (Repräsentanten) sind dem Druck allein preisgegeben, ohne die entsprechende Erregungsmenge zu erhalten. Sie antworten daher mit einer Lähmung statt mit einer aktiven Tätigkeit. Infolgedessen erschlaffen auch ihre Gefolgsmuskeln. Die zweite Ursache für die Erschlaffung der am Reizorte gelegenen Mus- keln kann darin gesucht werden, daß die Erregung beim Vor- beifließen an den Repräsentanten aus ihnen ihre Erregung an- saugt, anstatt in sie hineinzudringen. Beim Sipunculus spielt wahrscheinlich die erste Ursache die Hauptrolle. Bei den Schlangensternen dagegen, die eine echte Reflexspaltung besitzen, genügt die zweite Ursache vollkommen, um alle Erscheinungen verständlich zu machen.
Die Reflexspaltung, die bei starker Reizung zur Auto- tomie führt, ist auch bei ganz schwacher lokaler Reizung eines einzelnen Armes noch sichtbar. Sie tritt aber in diesem Falle nur auf einer Armseite auf. Die Muskeln der gereizten Seite, die peripher vom Reizorte liegen, verkürzen sich und die Arm- spitze macht eine Bewegung zum Reizort hin. Es kommt aber zu keiner Berührung mit dem reizenden Gegenstande, weil die zentralen Muskeln an der gereizten Seite erschlaffen und dadurch ihren Antagonisten auf der anderen Seite Gelegenheit geben, sich zu verkürzen, worauf die Wurzel des Armes vom Reizorte fortschlägt.
Weder die stärkste Reizung, die zur Autotomie führt, noch die schwächste, deren Wirkung den gereizten Arm nicht
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Überschreitet, sind geeignet, die normalen Gehbevvegungen des Schlangensternes einzuleiten. Dazu ist eine mittelstarke Reizung erforderlich.
Die mittelstarke Reizung, die den gereizten Arm beider- seitig erfaßt, wie das bei jedem Zugreifen seitens eines Feindes geschieht, erweckt einen Rhythmus im Zentralnervensystem, der ganz besonders interessant ist. Die im gereizten Arm erzeugte Erregung läuft nicht bloß als einfache dynamische Welle ab, die eine einmalige Armbewegung hervorruft, sondern es entsteht eine Reihe von Erregungsschwankungen, die wir der statischen Erregung zuweisen müssen. Es läuft also auf «einen mittelstarken Reiz eine Erregungswelle im zentralen Netz der Schlangensterne ab, durch die zugleich die dauernd vor- handene statische Erregung in ein rhythmisches Hin- und Herschwingen versetzt wird. Vergegenwärtigen wir uns, was vom Bau des Zentralnervensystems am Anfang gesagt wurde, so sehen wir bei der doppelseitigen mittelstarken Reizung eines Armes eine Erregungswelle entstehen, die in den beiden Röhren nach links und rechts zu den nächsten Armen weiterläuft. Darauf erfolgt eine Kontraktion in den von der Erregungs- welle direkt getroffenen Muskeln. Die Nachbararme schlagen infolgedessen zum Reizorte hin und bleiben bei dauernder Reizung durch ein übergestülptes Gummirohr auch in seiner Nähe. Ist die Reizung aber eine vorübergehende, so schlagen die Nachbararme gleich wieder vom Reizorte fort. Warum tun sie das? Es liegt doch scheinbar gar keine Ursache dafür vor. Ist jedoch eine Ursache vorhanden, so muß sie auch maßgebend sein für den ganzen ferneren Verlauf der Geh- bewegungen.
Wir wissen von den Seeigeln, daß die belasteten und er- schlafften Stachelmuskeln die Erregung an sich zu ziehen vermögen, während alle Muskeln, die eine normale Sperrschwelle besitzen, die Erregung nicht einlassen. Es galt zu prüfen, ob auch bei den Schlangensternen die gleiche Ursache, d. h. die Erschlaffung der Muskeln wirksam war. Zu diesem Zwecke wurde ein Schlangenstern durch starke Reizung zum Abwerfen von vier Armen bewogen. Gegenüber dem Ansatz des fünften Armes wurde der Nervenring durchschnitten, um sicher zu sein, daß jede Erregung ihm nur einseitig zufloß. Es war bekannt,
Die Schlangensterne. 135
daß die Dauerreizung der Haut die Nachbararme immer dem Reizort zuführt, weil die anatomische Lage der leitenden Hauptbahnen dieses bedingt. Wie soll in der Tat die Erre- gung, die wie in einem Rohr einfach weiterfließt, um zu be- stimmten Muskeln zu gelangen, fähig sein, andere Muskeln als diese zu erregen? Aber die Bahnen im Zentralnervensystem sind keine peripheren Nerven, welche die Erregung bestimmten Muskeln unweigerhch zuführen müssen. Für die Erregung, die in einen peripheren Nerv eingetreten ist, gibt es freihch keinen Ausweg. Anders liegt der Fall, wenn die leitenden Bahnen Teile eines allgemeinen Nervennetzes sind und daher der Erregung ein Ausweg in andere Bahnen freisteht. Und in der Tat gelingt es, wenn man am besprochenen Präparat den Nervenring anstatt der Hautnerven direkt elektrisch reizt, die Erregung nicht in die ihnen anatomisch nahehegenden Muskeln, sondern in deren gedehnte Antagonisten zu senden. Wenn man vor der Reizung den antwortenden Arm nach einer Seite zu schlaff herabhängen läßt, so wird die Dehnung der Muskeln bestimmend für den Erregungsablauf. Zwar schlägt der Arm stärker aus, wenn Reizort und gedehnte Muskeln auf der gleichen Seite liegen, aber es gehngt doch auch mit Sicherheit, die Erregung in die gedehnten Antagonisten zu treiben. Wenn man nach einigen Versuchen die richtige Stromstärke gefunden hat, bei der die gedehnten Muskeln antworten, so erhält man ganz zweifellose Resultate. Freilich muß man sich dabei stets vergegenwärtigen, daß man einen physiologischen Faktor gegen einen anatomischen ausspielt. Das ist beim normalen Ablauf der Erregung nicht der Fall. Da antwortet erst die anato- misch begünstigte Seite und der Arm bewegt sich zum Reiz- ort hin. Durch diese Bewegung werden die Antagonisten erst gedehnt, nachdem die Reizung bereits aufgehört hat, und nun hindert die Erregung nichts mehr, nach der physiologisch be- günstigten Seite hinüberzufließen. Ist einmal der Schlangen- stern im Gang, so kommt nur noch der physiologische Faktor der Muskeldehnung in Frage, weil die Antagonisten bei ihrer wechselseitigen Dehnung die Erregung immer hin und her treiben. Der bewegende Faktor ist dabei, wie überall, ein Zentrum. In diesem Falle sind es die Repräsentanten, die von ihren ge- dehnten Gefolgsmuskeln ein Sinken ihres Erregungsniveaus er-
136 ^^^ Schlangensterne.
fahren und dabei die Erregung aus dem Netz an sich saugen. Sind sie mit Erregung gefüllt, so geben sie diese ihren Muskeln wieder ab, die sich daraufhin verkürzen. Die Repräsentanten sind während ihres höchsten Füllungsgrades gegen die Erre- gungen im zentralen Netz relativ refraktär. Es entsteht dabei nur ein relativer Rhythmus im Gegensatz zu dem der Medusen, der ein absoluter ist. Eine jede Unebenheit des Bodens, die die Dehnung der Arme verändert, eine jede neue Erregung vermag den relativen Rhythmus zu ändern und ihn den wechselnden Bodenverhältnissen anzupassen. Dagegen ist im freien Wasser der absolute Rythmus der Medusen besser am Platze. In einem wichtigen Punkte unterscheidet sich der Rhythmus der Schlangensterne ebenfalls von dem der Medusen. Der Rhythmus der Medusen mußte immer wieder von neuem durch einen neuen Reiz erzeugt werden und blieb daher ein rein dynamischer Rhythmus, der aus einer Reihe regelmäßig wieder- kehrender dynamischer Erregungswellen sich aufbaute. Bei den Schlangensternen spielt die dynamische Welle bloß die einleitende Rolle, dann wird durch die Dehnung der Muskel die statische Erregung in Mitleidenschaft gezogen. Während die statische Erregung bemüht ist, den durch die dynamische Welle gestörten Gleichgewichtszustand wiederherzustellen, ge- rät sie selbst in Schwingungen, die nur langsam abklingen.
Die Dauer dieser Hin- und Herbewegung ist einmal ab- hängig von der Stärke des Reizes und zweitens von dem Widerstand, den die xA.rmbewegungen in der Außenwelt finden, niemals aber von einem höheren Zentrum, wie wir das bei den Libellen finden werden.
Wir sind jetzt in der Lage, den Erregungsablauf in einem schreitenden Schlangenstern zu verfolgen. Die normale Ophio- glypha ruht niemals mit dem Mittelkörper am Boden, sondern auf ihren fünf Armen, die alle leicht nach unten gekrümmt sind. Das ist die Lage, in der alle Muskeln gleichmäßig mittel- stark gesperrt erscheinen. Eine gleichmäßige statische Engerie beherrscht alle Muskeln. Der Körper ruht dabei auf den Armen wie auf fünf C-Federn und lastet auf den dorsalen Muskeln. Ist keine statische Energie vorhanden, so geben die Muskeln nach und der Mittelkörper sinkt zu Boden.
Faßt man einen Arm eines normalen Schlangensternes
Die Schlangensterne. 137
plötzlich an und hält ihn einen Augenblick am Boden fest, so schlagen alle Arme nach rückwärts, d. h. alle belasteten Muskeln kontrahieren sich gleichzeitig. Da auch der gefaßte Arm sich rückwärts krümmt, so hebt er das ganze Tier empor und dieses schlägt, sobald man den gefaßten Arm losgelassen hat, einen Purzelbaum.
Auch bei einem mit dem Rücken nach unten ins Wasser geworfenen Schlangenstern werden die dorsalen Muskeln der Arme durch das schnellere Hinabsinken des Mittelkörpers ge- dehnt und kontrahieren sich gemeinsam. Dadurch verwandelt sich die Ophioglypha in eine Art Hohlkugel, deren Schwer- punkt durch den Mittelkörper gegeben ist. Dieser trifft denn auch immer zuerst am Boden ein und das Tier befindet sich in normaler Lage.
Was den normalen Gang betrifft, so haben wir bisher die beiden wichtigsten Faktoren kennen gelernt, die ihn beherrschen: die anatomische Verbindung der Nerven und die physiologische Dehnung der Muskeln. Diese Faktoren machen es wohl ver- ständlich, daß die Arme auf einen mittelstarken Reiz hin und her pendeln. Aber ein einfaches Hin- und Herpendeln erzeugt noch keine Fortbewegung. Dazu gehört, daß die Arme sich vom Boden erheben und die Hinbewegung im freien Wasser, die Herbewegung aber am Boden ausführen. In der Tat be- sitzen die Arme vier Muskeln, die einen jeden Wirbel auf seinem Nachbar kreisen lassen. Läge ein einfaches Kugelgelenk vor, so wäre nicht einzusehen, warum das Kreisen der Arme immer in der richtigen Richtung erfolgen sollte, wie es stets der Fall ist. Denn eine Ophioglypha, die man auf den Rücken geworfen hat, und die, bevor sie sich umdreht, eine Reihe von Gehbewegungen in dieser anormalen Lage ausführt, bewegt sich immer auf den Reiz zu, anstatt vor ihm zu fliehen. Das beweist, daß irgendein Zwang vorliegen muß, der die Richtung der Armbewegungen festlegt. Betrachtet man die Wirbelgelenke genauer, so findet man kein regelmäßiges Kugel- gelenk, sondern ein Zweizapfengelenk. Während die Muskeln bestrebt sind, den größeren Zapfen in seiner Pfanne kreisen zu lassen, verhindert der dorsal gelegene kleine Zapfen die volle Ausbildung der Kreisbewegung. Möge die Kreisbewegung links herum oder rechts herum ablaufen, immer wird sie vom
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oberen Zapfen, der als Anschlag dient, nach unten hin abge- lenkt. Das hat zur Folge, daß jeder schreitende Arm, sobald er gestreckt und gehoben ist, mit der Bewegung von oben nach unten einsetzt. Am deutlichsten zeigt sich dies bei den Bewegungen eines Schlangensternes, dem man aller Arme bis auf einen beraubt hat. Dieser Arm schlägt, wenn er eine Fluchtbewegung ausführt, einmal nach links und einmal nach rechts aus. Er senkt sich jedesmal, wenn er gestreckt ist, zu Boden und schlägt dann seitlich aus. Alle Armwirbel voll- führen dabei eine liegende Acht. Auf diese Weise gelingt es auch einem einzigen Arm, den Körper vorwärts zu schleppen.
Solange noch zwei Arme vorhanden sind, arbeiten sie immer derart zusammen, daß, solange der eine nach rechts schlägt, sich der andere nach links bewegt. Es verkürzen sich auch dabei alle vier Muskeln der Wirbel nacheinander. Nur verkürzen sie sich auf der einen Seite stärker als auf der anderen. Die Seite der stärkeren Verkürzung ist immer die dem Reizorte zu ge- legene, welche die erste dynamische Welle erhielt und deren Muskeln daraufhin die zum Reizorte hinführende Anfangs- bewegung ausführten. Infolge davon wird die Herbewegung des Armes, die zum Reizort geht, am Boden entlang geführt und trägt das Tier vom Reize fort.
Warum schlagen aber zwei arbeitende Arme ohne Aus- nahme immer nach der einen Seite hin aus und niemals nach beiden Seiten, wie das der allein arbeitende Arm tut? Die Ursache dafür ist im Erregungsablauf selbst zu suchen, der eine labile Bewegungskoordination bewirkt. Die labile Ko- ordination zweier Arme ist eines der interessantesten Pro- bleme dieser Tiere. Beim Gehen zeigen die Schlangensterne zwei typische Bewegungsarten. Da die Arme immer paar- weise miteinander arbeiten, bleibt der fünfte Arm als unpaar übrig. Dieser wird beim Gehen entweder nach vorn oder nach hinten getragen. Während des Gehens schlägt häufig der eine Gangtypus in den anderen über. Die Ursachen dieses Umschlagens sind immer nur äußerer und niemals innerer Art. Marschiert z. B. ein Schlangenstern ,, unpaar hinten", wobei zwei Nachbararme das vordere Paar bilden, so bedarf es bloß eines kleinen Hindernisses, das den einen Vorderarm in seiner Bewegung hemmt, während er gerade gestreckt ist, um ihn
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sofort in einen vorderen unpaaren zu verwandeln. Hinter ihm wechseln die Partner und der bisherige hintere, unpaare schließt sich dem Gang an. Kinematographische Aufnahmen der Schlangensterne belehren uns darüber, daß die beiden gehen- den Paare in leidlichem Takt arbeiten. Wenn auch die Ampli- tude des vorderen Gangpaares stets größer ist, als die des zweiten Paares, so gehen dennoch alle vier Arme gleichzeitig vor und zurück.
Der vordere unpaare kann jederzeit zum energischen Gehen angeregt werden, wenn er beim Vorbeistreichen an einem äußeren Hindernis gedehnt wird. Je nachdem er nach rechts oder nach links gedehnt wird, verwandelt er sich in einen linken oder rechten vorderen Gangarm. Zugleich fällt hinten der fünfte überflüssig werdende Arm als hinterer unpaarer aus der Gehbewegung heraus und wird nur passiv mitgetragen.
Ich glaube, daß die hier geschilderte Erscheinung der labilen Koordination sich aus den besprochenen Vorgängen im Zentralnervensystem ohne weiteres ableiten läßt. Betrachten wir zuerst die Erregungs Vorgänge beim Typus „unpaar hinten**. Er entsteht immer, wenn der Reiz einem Arme appliziert wurde. Dann bleibt der gereizte Arm unbeweglich, während die Erregung sowohl nach links wie nach rechts im Nerven- ring weitereilt, überall in die zunächst liegenden Armseiten ein- dringend. Diese schlagen stark reizwärts aus, und damit ist der Bewegungstypus für alle Arme gegeben. Nun kreisen in jedem Wirbel die vier Muskeln in der angegebenen Weise und die Erregung kreist dementsprechend in ihren Repräsentanten. Ganz wie bei den Stacheln der Seeigel sind alle Muskeln, die nach der gleichen Richtung hinschauen, durch eigene Bahnen mit- einander verbunden. Ferner stehen, wie wir wissen, alle Mus- keln der gleichen Armseite mit der zunächst liegenden Seite des anderen Armes in besonders guter Verbindung. Dadurch wird nicht allein ein gleichmäßiges Kreisen der Erregung in allen Wirbeln des gleichen Armes hervorgerufen, sondern auch eine Abhängigkeit der einander gegenüberliegenden Seiten der Nachbararme voneinander gewährleistet.
Das vorderste Armpaar, das viel größere Ausschläge macht, als das hintere, und die Hauptarbeit leistet, ist stets so ge- koppelt, daß die beiden nach vorne sehenden Armseiten immer
140 -^^^ Schlangensterne.
die gleiche Erregung besitzen. Während nun an dem vorderen Gangpaar die gegenüberUegenden Seiten das gleiche Vorzeichen tragen (wenn man von Plus- und Minus- Erregung sprechen will), so zeigen die Arme der gleichen Seite, die hintereinander und nicht gegeneinander arbeiten, auf den gegenüberiiegenden Seiten das umgekehrte Vorzeichen.
Die Durchschneidung des Nervenringes an einer behebigen Stelle macht das hierdurch nervös getrennte Armpaar ganz unfähig als vorderes Gangpaar zu wirken. Die beiden Arme setzen wohl noch richtig ein, wenn der Reiz sie von hinten gleichmäßig trifft, sie sind aber ganz außerstande, das gleiche Tempo dauernd beizubehalten. Das beweist, daß die Erregungen sich gegenseitig beeinflussen müssen. Faßt man den Punkt des Nervenringes, der gerade mitten zwischen den beiden Gang- armen liegt, ins Auge, einen Punkt, der keine Repräsentanten, sondern bloß Bahnen enthält, so zeigt dieser Punkt eine wechselnde Flut und Ebbe der Erregungen, die, von beiden Seiten kommend, hier zusammentreffen. Ich nenne ihn den Pulsationspunkt.
Die gleichzeitig einsetzende Erregungsflut an der Ver- bindungsstelle der beiden Vorderarme hemmt das Weiterfließen der Erregung sowohl nach links, wie nach rechts, und er- leichtert es den gedehnten Muskeln, an der hinteren Seite der Arme die Erregung an sich zu ziehen. Das scheint mir die Ursache zu sein, warum niemals ein Vorderarm, der noch einen Partner besitzt, die beiderseitigen Ausschläge ausführt, wie es der einzelne Arm tut. Der Pulsationspunkt ist nicht ein für allemal festgelegt, sondern wandert beim Umschlagen des Gang- typus. Tritt nämlich der Gang ,,unpaar vorne" ein, so ver- breitert sich der Pulsationspunkt über die gesamten Verbindungs- bahnen des vorderen unpaaren. Es ist auf den ersten BUck auffallend, daß ein Arm, der von beiden Seiten Erregungen erhält, ruhig bleiben kann. Man wird dabei an den Mundstiel von Carmarina erinnert, der sich auch nicht rührt, wenn man ihm von allen Seiten gleichzeitig Erregung zufließen läßt.
Das Tempo des Gangrhythmus hängt lediglich von dem vorderen Gangpaare ab. Die hinteren Arme folgen den vorderen und sind nicht voneinander abhängig, da man den Nerven- ring zwischen ihnen durchtrennen kann, ohne sie in ihrer Tätig- keit zu stören.
Die Schlangensterne. 141
Der Typus ,,unpaar voran" wird hervorgerufen, wenn ein Reiz den Mittelkörper gerade zwischen zwei Arm wurzeln trifft. Er ist deshalb der seltenere.
Es ist also der Reizort bestimmend für die Anfangsstellung der Arme beim Gehen, weil von ihm aus die dynamische Er- regungswelle in die Hauptleitungsbahnen eindringt und weiter- läuft. Der Rhythmus des Gehens entsteht aber nur, wenn es der Muskeldehnung ermöglicht wird, ohne Hemmnis die statische Erregung in Schwingung zu versetzen. Eine dauernde, wenn auch schwache Quelle für dynamische Wellen, wie sie von einem Wollenfaden ausgehen, hemmt die freie Ausbildung des Rhythmus. Der rhythmische Erregungsablauf bestimmt die Amplitude der Bewegung. Sie gestattet einem einzelnen Arm eine Doppelellipse zu beschreiben , während jeder paarige Arm nur eine einfache Ellipse beschreibt. Der Bau des Gelenkes bestimmt die Richtung der Fortbewegung, indem er festlegt, daß die reibende Bewegung des Armes am Boden immer er- folgen muß, nachdem der Arm gestreckt und gehoben ist. Die Stärke des Reizes bestimmt, ob es zur Autotomie, zur Abwehr- bewegung, zur einfachen Armbewegung oder zum Gangrhythmus kommen soll. Die äußeren Hindernisse bestimmen, ob der vorhandene Gangtypus beibehalten oder geändert werden soll, und setzen zugleich mit der Reizstärke die Dauer des Ganges fest. Ganz abseits steht der Einrollreflex, der von den Tentakeln ausgeht.
Selten ist der Ablauf der Erregungen von so durchsichtiger Klarheit, weil er von lauter wohlübersehbaren Faktoren ab- hängt, die zum Teil in der Außenwelt selbst liegen. Ein frei im Wasser in normaler Lage aufgehängter Schlangen stern ver- liert, wenn seine Arme der Schwere nach abgesunken sind, die Fähigkeit, den normalen Gangrhythmus zu finden, weil die anormalen Dehnungs Verhältnisse alles durcheinander bringen.
So ist der Schlangenstern mit Rezeptoren und Effektoren in höchst empfindlicher Weise in seine Umgebung eingehängt. Er ist nicht eine selbständige Antwortmaschine (wie Rhizo- stoma oder Sipunculus), die ihre fertigen Antworten bereit hat und nur auf die ihren Rezeptoren entsprechenden Fragen der Umwelt wartet, um die Antwort unbeeinflußt vom Erfolg mit eindeutiger Sicherheit abzugeben. Der Schlangenstern ist viel-
2^42 Sipunculus.
mehr ein geschmeidiger Apparat, dessen Bewegungen einer dauernden direkten und indirekten Regulierung durch die Gegen- stände der Umgebung unterliegt. Die Umwelt, die auf die Rezeptoren wirkt, zeichnet sich aus durch ihre zahlreichen Ab- stufungen in der Reizstärke, im übrigen ist sie aber sehr ein- fach. Fällt plötzlich ein Schatten auf ein ruhendes Tier, das seine Armspitzen im Wasser flottieren läßt, so schlagen sie alle gleichzeitig herab und die blaßsandfarbene Haut wird plötzlich um eine Nuance dunkler. Ferner wirken die Riech- stoffe der Nahrung stark auf die Tentakel ein, die ihre Er- regungen in einem abgesonderten Teil des Zentralnerven- systems erzeugen. Sonst kommen fast nur mechanische Reize in Betracht, deren Erregungen sich als ein reichbewegtes Innen- leben in den Hauptbahnen und Netzen des Zentralnerven- systems abspielen. Dynamische Wellen werden von den Schwingungen der statischen Erregung abgelöst. Die Re- präsentanten und ihre Muskeln stehen in stetigem Erregungs- austausch. Die Erregungen kommen und gehen nicht bloß beherrscht von den Befehlen der Rezeptoren, sondern gleich- falls sanft gelenkt vom Zustande der Muskeln, die sich der Außenwelt anpassen müssen. So findet bei den Schlangen- sternen die Umgebung zwei offene Tore und vermag den Tieren nicht bloß das ferne Ziel zu weisen, sondern auch jeden Schritt zu lenken.
Sipunculus.
Da alle Lebewesen funktionelle Einheiten sind, ist die Kenntnis der Funktion der wahre Schlüssel für das Verständnis der Organisation. Die Gesamtheit der Funktionen eines Orga- nismus nennen wir sein Leben. Mit der Erkenntnis, daß ein Tier lebt, ist aber noch nichts gewonnen, denn ein jedes lebt auf seine Weise. Es ist also die Kenntnis der Teil- funktionen, die das Leben zusammensetzen, das wirklich Wissens- werte. Diese sind bei jedem Tier andere und fügen sich auf andere Art zusammen.
Je weniger Teilfunktionen vorhanden sind, desto einfacher ist der Bauplan des Tieres. Je leichter die einzelnen Teil-
Sipunculus. 143
funktionell sich voneinander anatomisch sondern lassen, desto übersichtHcher ist der Bauplan des Tieres. Einfach und über- sichtlich ist z. B. der Bauplan der Medusen und Anemonen. Aber gerade diese Einfachheit ist schuld daran, daß wir über den Aufbau des Nervensystems aus ihnen nicht viel neues lernen können. Im Gegensatz zu den Medusen beansprucht Sipun- culus unser volles Interesse deshalb, weil seine Teilfunktionen sehr reich ausgebildet sind, ohne ihre Übersichtlichkeit zu ver- lieren.
Sipunculus ist ein Wurm von der Größe und Form einer mittleren Zigarre, der am Grunde des Meeres lebt. Seine Haupt- aufgabe besteht darin, Löcher in den Sand zu stoßen, in denen er weiter kriechen kann. Es weist die gleichen Leistungen auf wie eine Tunnelbohrmaschine. Dieser Hauptaufgabe seines Lebens sind alle muskulösen und nervösen Einrichtungen unter- geordnet. Sie beherrscht ihn dermaßen, daß er selbst aufge- schnitten und auf die Präparierschale gespießt mit den Stoß- bewegungen unbekümmert noch stundenlang fortfährt. Wie das isolierte und blutleere Froschherz stundenlang automatisch weiterarbeitet, so arbeitet auch der Sipunculus weiter in voller Unabhängigkeit von allen äußeren Einflüssen durch das selbst- ständige Getriebe seiner inneren Apparate.
Die Anatomie von Sipunculus ist einfach. Er ist ein ein- facher Muskelsack, dessen Vorderende sich schlauchförmig ver- längert. Dieser Schlauch läßt sich wie ein Handschuhfinger ein- und ausstülpen. Die Amerikaner nennen ihn deshalb Introvert, auf Deutsch sagt man weniger passend Rüssel. Das Ausstülpen des Rüssels geschieht durch die Zusammen- ziehung der gesamten Muskulatur des Sackes, die den Binnen- druck des flüssigen Inhaltes bis auf 6 cm Quecksilber treibt. Der Rüssel fliegt hinaus und bildet prall gefüllt ein wider- standsfähiges Instrument, wohlgeeignet, um Löcher in den Sand zu stoßen. Steckt der Rüssel tief im Sande drin, so beginnt er sich zu verkürzen und zieht, da er an der Spitze mit kleinen Häkchen im Sande festsitzt, den ganzen Körper mit nach vorn. Hierauf erschlafft die gesamte Muskulatur, der Binnen- druck fällt auf Null und der Rüssel wird durch vier, Retraktoren genannte Muskeln nach innen zurückgezogen.
Es zerfällt, wie man hieraus ersieht, der Sipunculus in
\4:4: Sipunculus.
zwei getrennte, hintereinander liegende Apparate, in den vor- deren Stoßapparat und den hinteren Druckapparat, der bloß einen einfachen, kontraktilen Muskelsack darstellt. Um vor allen Dingen die Eigenschaften der Muskeln kennen zu lernen, empfiehlt es sich, den Stoßapparat, d. h. Rüssel und Retraktoren, abzuschneiden und den hinteren Muskelsack an ein Steigrohr zu binden, nachdem man das Zentralnervensystem (Bauchstrang), das als derber roter Faden der Kriechseite des Tieres entlang läuft, herausgerissen hat. Dann füllt man das Steigrohr bis zur Hälfte mit Seewasser und taucht Sack und Steigrohr in ein Aquarium. Nun zeigt sich eine merkwürdige Eigenschaft der lebenden Muskulatur, welche alle Vergleiche mit Gummiblasen und ähnUchen anorganischen Materialien ad absurdum führt. Versucht man nämhch, den Meniskus im Steigrohr mit der Wasseroberfläche in eine Ebene zu bringen, so wird man bald gewahr, daß dieses nicht gelingt. Immer zeigt sich der gleiche Überdruck im Steigrohr. Mag man das Rohr hoch hinauf- ziehen, wobei der Muskelsack durch den Binnendruck des Wassers sich stark dehnt, oder mag man das Rohr tief ein- tauchen, wobei der Muskelsack sich stark verengt und ver- kürzt, immer zeigt sich der gleiche Überdruck im Steigrohr.
Was bedeutet dieser Überdruck? Er zeugt davon, daß die Muskeln bei jeder physiologischen Länge imstande sind, den gleichen Wasserdruck auszubalancieren. Das beweist uns, daß die Muskeln unabhängig von ihrer Verkürzung die Fähig- keit der Sperrung besitzen. Die beiden Funktionen zeigen hier völlige physiologische Unabhängigkeit voneinander ohne nach- weisbare automatische Trennung der Bewegungs- und Sperr- apparate wie bei den Seeigeln.
Auch der normale Muskel des Seeigelstachels wies eine dauernde Sperrschwelle auf, die ihn befähigte, einem ent- sprechenden Drucke die Wage zu halten. Wurde dieser Druck überschritten, so trat Erschlaffung ein und man konnte mit dem geringsten Übergewicht den Muskel bis auf seine ana- tomische Länge dehnen. Ganz das gleiche lehrt uns der Ver- such am Sipunculus. Ist ein gewisser Überdruck im Steigrohr vorhanden und versucht man diesen Überdruck zu erhöhen, indem man das Steigrohr emporhebt, so gibt die Muskulatur widerstandslos nach, sie ist sofort in voller Erschlaffung. Der
Sipunculus. 145
kleinste Überschuß an Druck dehnt sie bis auf ihre anatomische Länge. Andererseits zeigt sich, ebenso wie beim Seeigel, daß die Verkürzungsapparate sofort in Tätigkeit geraten, sobald man ihre normale Belastung aufhebt. Versucht man durch Herabdrücken des Steigrohres den inneren Druck herabzusetzen, so beginnen sogleich die Muskeln sich zusammenzuziehen. Wir dürfen das als einen Beweis dafür ansehen, daß die Erregung, die bisher die Sperrapparate versorgte, bei deren Entlastung zu den Verkürzungsapparaten hinübertritt und diese in Tätig- keit versetzt. Kaum \^'ird mit der Entlastung innegehalten, so hört die Verkürzung wieder auf und die Erregung geht wieder in die Sperrapparate.
Es findet also ein freier Austausch der Erregung zwischen Sperr- und Bewegungsapparaten statt, ohne daß die nervösen Zentren dabei beteiligt sind. Das sieht man beim Sipunculus so besonders deutlich, weil man sein Zentralnervensystem ohne weiteres entfernen kann.
Trotzdem bleibt wie beim Seeigel auch hier das Nerven- system die einzige Quelle der Erregung. Der nervöse Ursprung der Sperrschwelle zeigt sich bei Sipunculus mit ganz einzig da- stehender Deutlichkeit. Man hat es nämlich völlig in der Hand, die Sperrschwelle beliebig hoch ausfallen zu lassen, wenn man den Muskelmantel kurz vor Entfernung des roten Zentral- nervenfadens durch eine allgemeine Hautreizung reflektorisch zu hoher Kontraktion und Sperrung gebracht hat. Je größer die Reflexwirkung war, um so höher wird die Sperrschwelle ausfallen. Bei den Retraktoren des Vorderendes ist diese Er- scheinung noch deutlicher. Hier glaubt man geradezu zu sehen, wie die Erregung, die den Muskeln verkürzt und sperrt, durch den Schnitt, der das Zentralnervensystem entfernt, wie in einer Falle gefangen wird. Ich nenne deshalb dieses Phä- nomen den Erregungsfang. Der Erregungsfang lehrt uns, daß die in den Muskel gelangte Erregung nicht wieder erlöschen kann, wenn kein Zentrum vorhanden ist, das sie in sich auf- zunehmen vermag.
Dieses Abfangen der Erregung mittels einer Nervendurch- trennung erscheint uns deshalb so paradox, weil es sich beim Sipunculus um eine reflektorisch zum Muskel gelangte Erregung handelt, die als djmamische Erregung nur von kurzer Dauer
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 10
X46 Sipunculus.
sein sollte. Bei statischer Erregung ist dieser Vorgang nichts Unerhörtes. Durch trennt man beim Seeigel die Seitennerven des Radialsystems, so bleiben die außen gelegenen Repräsentanten im gleichen Erregungsniveau stehen, welches das beherrschende Zentralniveau im Moment der Durchschneidung besaß. War der Radialnerv mit Nikotin vergiftet, so verbleiben alle Stachel- muskeln in dauerndem Sperrkrampf. Das vergiftete Radial- system mag sich längst wieder entgiftet haben, der Zustand der Repräsentanten und ihrer Muskeln ändert sich nicht mehr. Die übermäßige Erregung bleibt in ihnen gefangen.
Im Gegensatz zu diesen dauernden Verschiebungen der statischen Erregung stehen die vorübergehenden Erregungs- wellen der dynamischen Erregung, wie wir sie aus allen Re- flexen kennen. Aber überall dort, wo sich an den einfachen Reflex eine langdauernde Bewegung anschließt, wie beim Gehen der Schlangensterne, hat man bereits mit einer Verschiebung der statischen Energie zu rechnen.
Wir unterscheiden, wie bereits ausgeführt, reflektorische, rhythmische und automatische Bewegungen, die auf eine drei- fache Art des Erregungsablaufes hinweisen. Beim Reflex ent- steht die Erregung im Rezeptor und erlischt im Muskel. Dies ist ein rein dynamischer Vorgang. Beim Rhythmus entsteht die Erregung gleichfalls im Rezeptor, aber sie erlischt nicht gleich beim ersten Male im Muskel, sondern fließt, nachdem sie den Agonisten verkürzt hat, zum gedehnten Antagonisten und wieder zurück, immer vom gedehnten Muskel angezogen. Dies geschieht längere oder kürzere Zeit, je nach der Stärke des ersten Anstoßes. Es kann sich dabei nicht bloß um eine flüchtige Erregungs welle handeln, sondern auch die statische Erregung muß mit in Schwingungen geraten. Die automa- tische Bewegung unterscheidet sich vom Rhythmus durch zweierlei. Einmal ist sie unabhängig von der Muskeldehnung und zweitens steht ihre Dauer in gar keinem Verhältnis zur Stärke des auslösenden Reizes und der von ihm erzeugten Er- regungswelle. Dieses zweite Merkmal kann als Beweis dafür gelten, daß bei der automatischen Bewegung die statische Er- regung die Hauptrolle spielt.
Nun ist der Sipunculus ein ausgesprochen automatisch arbei- tendes Tier, deshalb nehmen bei ihm die einfachen Reflexe einen
Sipunculus. 247
ganz anderen Charakter an. Will man die Reflexe des hinteren Muskelsackes studieren, so braucht man ihn bloß an der Rückenseite der Länge nach aufzuschneiden und aufzuhängen. Dann erhält man ein lebendes Vheß, das sehr merkwürdige Eigenschaften zeigt. Man mag die Haut dieses Vließes mecha- nisch reizen an welcher Stelle man wolle, immer fheßt die Erregung nach einer ganz bestimmten Stelle hin und setzt dort die Muskeln in Tätigkeit. Diese Stelle des Muskelmantels heißt der Griff. Sie unterscheidet sich, soweit die Anatomie der Muskeln in Betracht kommt, in nichts von den übrigen Muskelpartien. Auch physiologisch läßt sich kein Unterschied erkennen. Gedehnt oder erschlafft sind die Muskeln des Griffes sicher nicht. Es muß also die Ursache, welche die Erregung hierherführt, im Nervensystem gesucht werden. Die Histologie läßt uns wie immer im Stich. So sind wir denn darauf angewiesen, bei irgendeiner Analogie Hilfe zu suchen, wenn wir uns diesen Vorgang veranschaulichen wollen. Am naheliegendsten ist es natürlich an Wasser zu denken, das immer ins Tal hinabfließen muß, einerlei, wo es herkommt. So habe ich denn diesen Erregungsvorgang die Erscheinung des Erregungstales genannt.
Es fragt sich nun, ist das Hinfließen der Erregung nach dem Tale noch ein Reflex zu nennen? Vom Reflex wissen wir, daß jede Erregung erlischt, wenn der Bogen, den sie zu durchlaufen hat, irgendwo durchschnitten wird. Nicht so beim Erregungstal. Wird der Nervenfaden zwischen Reizort und Griff durchschnitten, so fließt die Erregung einfach in die der Schnittstelle zunächstliegenden Muskeln und bringt diese in Tätigkeit. Genau wie das zu Tal fließende Wasser durch ein Hindernis abgefangen werden kann und sich an der neuen tiefsten Stelle sammelt.
War der Reiz etwas stärker, so ist es mit der einfachen Erregung der Griffmuskeln nicht getan, sondern es tritt eino rückläufige Strömung der Erregung ein, die nacheinander vom Griff beginnend alle Muskeln bis zur Reizstelle und darüber hinaus zur Kontraktion bringt. Ist das Vordertier nicht ab- getrennt worden, so sehen wir, wie jetzt die Erregung auf die Stoßapparate übergreift, um dann, nach Ablauf der Stoßbe- wegung, zum Griff zurückzueilen und das Spiel von neuem
10*
\4:S Sipunculus.
beginnen. Es tritt dann eine lang anhaltende Bewegungsfolge auf, die durch keine äußeren Eingriffe zu hemmen ist.
Die vom Reiz ausgehende erste Erregungswelle war nur der Anstoß, der die ganze Maschine in Gang brachte. Der Gang dieser Nervenmaschine besteht offenbar in einem Hin- und Her- schwingen der statischen Erregung, ähnlich wie wir das beim Schlangenstern gesehen haben. Beim Sipunculus ist aber die Trennung der anstoßgebenden dynamischen von der dauernd arbeitenden statischen Erregung möglich. Das zeigt folgende Beobachtung. Die vom Reiz ausgelöste Erregungswelle bringt, bevor sie zum Erregungstal weiterfließt, das dem Reizort zunächst- liegende Muskelband zur Erschlaffung. Diese Erschlaffung tritt nicht ein, wenn die Erregung nach der Durchschneid ung des Nerven- fadens gehindert ist, weiter fortzufließen. Dann kontrahieren sich die Muskeln, die sonst erschlafft waren. Auch hier werden wir darauf hingewiesen, daß die Erregung in zwei Komponenten zerfällt, welche die entgegengesetzte Wirkung ausüben können. Am weitesten kommt man, w^enn man, die Analogie mit dem Wasser weiterführend, von Erregungsdruck und Erregungsmenge spricht. Erlangt durch besondere Umstände, wie hier durch deu Abfluß der Erregungsmenge in das Tal der Druck ein Übergewicht über die Menge, so werden von ihm die nächstliegenden Reservoire gedehnt und dadurch ihre Gefolgs- muskeln zur Erschlaffung gebracht. Wird der Abfluß der Er- regung gehindert, so gleicht sich der Widerstreit der beiden Faktoren zugunsten der Menge aus, und sowohl die Repräsen- tanten wie ihre Muskeln setzen mit der normalen Tätigkeit ein.
Die lokale Erschlaffung tritt aber nur im Anschluß an eine neu auftretende Erregung ein, sie ist daher rein dynamischer Natur und kommt im weitern Ablauf der statischen Vorgänge nicht wieder vor. So läßt sich denn hier die dynamische Erregung durch ihren hohen Druck ganz gut von den statischen Erregungsverschiebungen unter- scheiden. Ferner läßt sich aus dem ganzen Verhalten der Erregung entnehmen, daß die reflektorisch erzeugte Erregung, die sich im Tale sammelt, zum größten Teil aus statischer Erregung besteht, die nur durch den Anstoß der dyna- mischen Welle in Bewegung geraten ist, um dann selbständig weiter zu arbeiten. Ist dieses richtig, so ist der Erregungs-
Sipunculus. 149
fang kein so abenteuerlicher Vorgang mehr, denn die statische Erregung kann immer durch Nerventrennung abgefangen werden.
Es fragt sich nun, welche Aufgabe hat das Erregungstal zu erfüllen, das scheinbar ohne Grund im Beginn des letzten Drittels des Muskelsackes gelegen ist. Wir wissen, daß die Zusammenziehung des Muskelsackes den hohen Binnendruck erzeugt, der den Rüssel hinausfhegen läßt und ihm die nötige Widerstandskraft verleiht. Da ist es natürlich sehr wichtig, daß sich alle Muskeln mögUchst gleichzeitig verkürzen. Zu diesem Zweck müssen sie möglichst gleichzeitig ihre Erregung erhalten. Es wäre unvorteilhaft gewesen, das Erregungstal an das Ende des Tieres zu verlegen, weil dann die zurückstauende Erregung zu spät zu den vorderen Muskeln gelangte. Deshalb ist das Erregungstal so gelagert, daß die Rückstauung nach beiden Seiten gleichmäßig fortschreiten kann, wodurch ein gleichzeitiges Zusammenarbeiten aller Muskeln erreicht wird.
Ist die vom Erregungstal zurückgestaute Erregung bis an den Rüssel gelangt, so hört sie auf wie bisher die beiden Muskelschichten, aus denen der Körper besteht, gleichzeitig zur Tätigkeit zu bringen, sondern tritt von nun ab nur noch in die Ringmuskeln ein. Am ganzen übrigen Körper sind Ring- und Längsmuskeln sauber voneinander geschieden und bilden ein zierliches Gitterwerk von sich rechtwinklig kreuzenden Bändern. Nur am Rüssel ist diese deutliche anatomische Trennung nicht mehr vorhanden. Hier gerade ist statt dessen die physiologische Trennung durchgeführt. Die Erregung ergreift langsam, von der Wurzel zur Spitze des Rüssels fortschreitend, einen Ringmuskelring nach dem anderen. Schneidet man den Rüssel in so viel Ringe auseinander als zuführende Nerven- paare vorhanden sind, so sieht man deutlich einen Ring nach dem anderen in strenger Reihenfolge schmal und lang werden. In der Rüsselgegend hat sich der rote Nervenfaden des Bauch- strangs von der Muskulatur losgelöst und schwebt frei in der Leibes- höhle durch seine langen Seitennerven mit der Rüsselmuskulatur verbunden. Erst an der Spitze des Rüssels tritt er wieder dicht an die Körperwand heran. Man kann ohne Schwierigkeit einzelne Seitennerven durchschneiden, das ändert an dem Ablauf der Muskelkontraktion nichts. Es fällt bloß der nicht innervierte Ring aus der Reihe aus. Nach einer kleinen Pause, die sonst
150 Sipunculus.
auf seine Innervation verwandt worden wäre, antwortet dann der nächstfolgende Ring.
Während dieser langsam fortschreitenden Kontraktion der Ringmuskeln erschlaffen gleichzeitig die Längsmuskeln des Rüssels und die vier Retraktoren. Die Erschlaffung der Längs- muskeln ist nicht erstaunhch ; da sie nicht erregt sind, können sie von den kontrahierten Ringsmuskeln wiederstandslos ge- dehnt werden. Anders steht es um die Retraktoren. Am aufgeschnittenen Tier kann man sich überzeugen, daß die Er- schlaffung der Retraktoren völlig unabhängig von jedem mecha- nischen Zug eintritt. Man kann den Rüssel in Ringe schneiden, ja man kann den ganzen Rüssel abschneiden — immer wird zu der Zeit, da die Kontraktion der Ringmuskeln im normalen Ablauf der automatischen Bewegungen eintreten sollte, die Er- schlaffung der Retraktoren eintreten.
Das beweist, daß die Erschlaffung der Retraktoren durch irgendeine Vorrichtung im Nervensystem mit der Kontraktion der Ringmuskeln verbunden ist. Bisher kannten wir bloß den Antagonismus der Muskeln, der es vermochte, den einen Muskel zu dehnen, während der andere sich verkürzte. Jetzt springen an Stelle der Muskeln ihre Repräsentanten ein. Außer dem mechanischen Zug vermag nur der Repräsentant seine Gefolgsmuskeln zur Erschlaffung zu bringen. Deshalb müssen die Repräsentanten an dieser auf nervösem Wege hervorge- rufenen Erschlaffung der Retraktoren verantwortlich sein.
Da wir wiederum ohne jeden histologischen Anhalt sind, müssen wir wiederum die Analogie zu Hilfe nehmen, die dies- mal besonders nahe liegt. Wir stellen uns am einfachsten den Antagonismus der Repräsentanten ebenso vor, wie den Anta- gonismus der Muskeln und nehmen an, daß die Repräsentanten der Retraktoren von den Repräsentanten der Ringmuskeln mechanisch gedehnt werden. Die Repräsentanten sind, wie wir wissen, Erregungsreservoire. Während das eine Reservoir sich zusammenzieht, um die Erregung in seine Gefolgsmuskeln zu treiben, dehnt es zugleich das antagonistische Reservoir. Die Dehnung eines Reservoirs, mag diese durch den Erregungs- druck oder durch den Zug seines Antagonisten veranlaßt sein, zieht immer die Erschlaffung der Gefolgsmuskeln nach sich. Dies ist wohl ein grobes und rohes Bild, aber es ist doch eins.
Sipunculus, 151
Ist die Erregung am vorderen Ende des Bauchstranges angelangt, so kehrt sie wieder um und bringt in schnellem Tempo die Längsmuskeln des Rüssels und die Retraktoren gleichzeitig zur Verkürzung. Da die Retraktoren weiter hinab reichen als die Wurzeln des Rüssels, so unterstützen sie nicht bloß die Verkürzung des Rüssels, sondern rollen ihn schließlich nach innen ein. Während des Einrollens hat die Erregung die Längsmuskeln bereits wieder verlassen und ist auf dem Wege nach dem Erregungstal begriffen. Dort angelangt, be- ginnt sie das Spiel von neuem. Damit ist der Erregungskreis- lauf nach erfolgreicher Ausführung der Stoßarbeit zu seinem Ursprungsort zurückgekehrt.
Es gibt aber, unabhängig von der Stoßarbeit, noch einen Reflex, der mancherlei Interessantes bietet. Nicht immer arbeitet das Tier als Stoßmaschine. In den Pausen liegt es in seinem selbstgeschaffenen Tunnel ruhig da mit ausgestrecktem Rüssel, an dessen Spitze kleine Büschel muskulöser Tentakel sitzen, die den Mund umgeben. Die Tentakel sind in nervöser Verbindung mit einem doppelten Ganglienknoten in der Leibes- höhle, der dem Anfangsstück des Darmes dorsal aufsitzt. Man nennt diesen Ganglienknoten das Hirn. Dem Hirn gegenüber, auf der Ventralseite des Darmes, befindet sich das Vorderende des Bauchstranges. Vom Hirn führt links und rechts um den Darm herum je eine Kommissur zum Bauchstrang. In der Mitte jeder Kommissur treten die Nerven für je ein Paar Retraktoren gemeinsam aus. Wird eine der Kommissuren zwischen Bauchstrang und Retraktorennerv durchschnitten, so zeigt sich eine deutliche Erschlaffung in den beiden zugehörigen Retraktoren. Wogegen die Durchschneidung der Kommissur auf der Hirnseite keine solchen Folgen hat. Hieraus muß man schUeßen, daß die Repräsentanten der Retraktoren nur im Bauchstrang sitzen und durch ihre Tätigkeit die Sperr- schwelle dauernd beeinflussen. Wenn die Sperrschwelle in den Retraktoren ad maximum gestiegen ist, zeigt die Kommissuren- durchschneidung keinen Einfluß und die Erregung bleibt ge- fangen.
Die Verbindung der Retraktoren mit dem Hirn ist nur sekundärer Natur und dient nur dem Tentakelreflex. Werden die Tentakel mechanisch gereizt, so kontrahieren sich die Re-
1q2 Sipunculus.
traktoren. Zugleich kontrahieren sich die Längsmuskeln im Rüssel, während die Ringmuskeln ganz unberührt bleiben. Der Tentakelreflex hat nur die Aufgabe, bei mechanischer Reizung durch einen etwaigen Feind den Rüssel blitzschnell zurück- zuziehen.
Dieser Reflex kann aber durch Reizung des Bauchstranges gehemmt werden. Und zwar braucht die Erregung, die von der Bauchstrangreizung ausgeht, gar nicht bis zum Retraktor zu gelangen, wenn sie nur auf das Hirn selbst einwirken kann. Trennt man auf einer Seite die Kommissur zwischen Retrak- torennerv und Bauchstrang, so werden die Retraktoren dieser Seite durch die Reizung des Bauchstranges nicht mehr berührt. Trotzdem wird der Tentakelreflex durch die Bauchstrangreizung auch für sie unterdrückt. Dies ist ein besonders merkwürdiger Fall, denn die Erregung, die sich bloß auf der einen Seite be- findet, wirkt auf die andere Seite hemmend ein, ohne selbst hinüber zu fUeßen. Wir sind auch hier wieder gezwungen, auf eine mechanische Vorrichtung zu schheßen, die von einer Hirnhälfte auf die andere hinüberwirkt. Wird Hnks die Re- flextür zugemacht, so schließt sich zwangsmäßig auch die Tür auf der anderen Seite. Jedenfalls haben solche Fälle das Gute, uns davor zu warnen, Hemmung und Hemmung für iden- tisch zu halten. Hemmung mit Erschlaffung der Muskeln ist offenbar etwas ganz anderes wie die Hemmung ohne Er- schlaffung.
Vom Sipunculus läßt sich mit einiger Übertreibung be- haupten, er bestehe aus zwei Tieren, einem Bewegungstier und einem Freßtier, die niemals gleichzeitig in Funktion treten können. Entweder man bewegt sich, dann wird nicht gefressen, und umgekehrt. Das Bewegungstier haben wir genauer kennen gelernt. Über das Freßtier sind nur wenige Worte zu sagen. Es besteht im wesentlichen aus dem langen, mit Sand ge- gefüllten Spiraldarm und hat mit dem Bewegungstier nur die Tentakel gemeinsam, die den Mund umsäumen. Die musku- lösen Tentakel dienen dem ruhig daliegenden Tiere dazu, die Sandkörner mit dem anhaftenden Detritus in den Mund zu befördern. Bei dieser Aufgabe können sie eines Chemorezep- tors nicht entbehren. In der Tat lassen sich die Tentakel durch chemische Reize in ausgiebige Bewegung versetzen.
Sipunculus. 153
Damit der Freßakt die Bewegung nicht störe, ist folgende geistreiche Einrichtung getroffen. Die chemischen Reize werden nicht nach dem Hirn und den Retraktoren übertragen, sondern nur die mechanischen. Es müssen die Rezeptorennerven, die zum Hirn führen, impermeable Hüllen besitzen. Wir wissen darüber natürhch nichts.
Während das Freßtier im Sande seiner Arbeit obUegt, sinkt im Bewegungstier die statische Erregung immer mehr und mehr, bis die Muskeln vöUig erschlafft sind. Der Körper verliert seinen kreisrunden Durchschnitt und legt sich als flaches Oval auf den Boden. Die Haut wird dabei ganz dünn und ist dann zur Atmung besonders befähigt. Die roten Blutkörper- chen fallen alle der Schwere nach zu Boden und kommen dabei mit dem Außenwasser in nahe Berührung. Aber die kleinen bewimperten Urnen, die gleich Infusorien die Leibeshöhle durchschwimmen, lassen ihnen keine Ruhe und hetzen sie immer wieder auf. Dadurch kommt ein ganz einzigartiger Blutkreislauf zustande.
Ein solches Tier ist völlig schlapp und bewegungsunfähig. Es muß erst durch allgemeine Hautreize geladen werden. Darauf zieht es seinen Rüssel ein und nimmt durch die gleich- mäßige Verkürzung aller Muskeln des Sackes die typische Zigarrenform an. Nach längerer oder kürzerer Zeit beginnen dann die Bohrbewegungen.
Das Innenleben von Sipunculus zeichnet sich vor allen Wirbellosen aus durch seine große Unabhängigkeit, nicht allein von der Umgebung, das tun auch die Medusen, sondern auch von seinen eigenen Bewegungen. Dadurch gewinnen seine Handlungen eine Geschlossenheit und Hartnäckigkeit, die einzig dasteht — ein bohrender Sipunculus bohrt weiter, einerlei, ob etwas dadurch erreicht wird oder nicht.
Packt man ihn während des Bohrens mit einer Pinzette fest am Rüssel, so schlägt plötzlich die Bewegungsform um. Alle Ringmuskeln verkürzen sich sowohl am Rüssel wie am ganzen Körper und die Längsmuskeln beginnen sich abwechselnd links und rechts zu verkürzen, wodurch der Wurm in eine halb schlagende, halb schlängelnde Bewegung gerät, die es ihm ermöglicht, frei im Wasser zu schwimmen. Dabei schwingt die statische Erregung zwischen den Repräsentanten der Längs-
j^54 Sipunculus.
muskeln hin und her, während die Ringsmuskelrepräsentanten dauernd geladen bleiben.
Die Faktoren der Umwelt, die auf das Tier einwirken, wie das Sonnenlicht, das als allgemeiner Hautreiz wirkt, und die Berührung der Oberseite durch den Boden, wenn der Wurm auf den Rücken zu Hegen kommt (die ihn veranlaßt, sich nach der gereizten Seite zu krümmen und dadurch in die normale Lage zurückzuschlagen) — spielen eine bloß nebensächliche Rolle im Leben des Tieres. Das Innenleben konzentriert sich auf ein selbsttätiges Hin- und Herschwingen der statischen Er- regung, die beim Schwimmen der Quere nach, beim Bohren der Länge nach erfolgt. Eine solche Loslösung von der Außen- welt ist nur dann angebracht, wenn die Umgebung, in der das Tier lebt, eine äußerst einförmige ist und keinerlei Wechsel zeigt, dem ein so einförmiges und unbeeinflußbares Tier ganz wehrlos gegenüberstünde. Der Meeressand bildet eine solche gleichförmige Umgebung. Da das Schwimmen nur ganz aus- nahmsweise geschieht, wird auf das Wasser mit all den Ge- fahren, die es beherbergt, keine weitere Rücksicht genommen. Im Meeressand gibt es keine Maulwürfe, die dem Regenwurm des Meeres gefährlich werden könnten. Seine Feinde, die Krabben und Krebse, können sich wegen der Erstickungsgefahr nicht so tfef in den Sand hineinwagen, und die anderen Sand- bewohner sind wie die Ringelwürmer und die Herzigel ganz harmlose Nachbarn.
So erhält das Bewegungstier im Sipunculus während des größten Teiles seines Daseins keinerlei Reize und besitzt dann sozusagen keine Umwelt. Daher gleicht der Sipunculus mehr als alle anderen Tiere einer Dampfmaschine, die ja auch nur vom Heizmaterial abhängig ist, sich im übrigen aber um die Eindrücke, die sie erhält oder austeilt, nicht im mindesten kümmert.
Man kann daher gespannt darauf sein, welche Art von Seele die vergleichenden Psychologen dem Sipunculus zuschreiben werden.
Der Regenwurm. 155
Der Regenwurm.
Die Gestalt des Regenwurms ist jedermann bekannt. Sie liefert uns die Anschauung, die wir der Vorstellung ,,wurm- förmig" ganz allgemein zugrunde legen. Eine sehr langgestreckte Walze, die an beiden Enden zugespitzt ist, so zergliedert man für gewöhnlich die Form des Wurmes. Die vordere Spitze trägt den Mund, der von einer feinen muskulösen Greifüppe überragt wird. Die hintere Spitze, an der der Darm endigt, ist meist ein wenig gekrümmt. Die Walze besteht aus hundert bis zweihundert Ringen einer inneren Segmentierung ent- sprechend, die sowohl am Darm wie am Nervensystem aus- gebildet ist. Von den Muskeln sind nur die Ringmuskeln segmental angeordnet, während vier Längsmuskelbänder un- gegliedert durch den ganzen Wurm von vorne nach hinten ziehen.
Die Muskulatur bildet den Mantel, der die übrigen Organe umschheßt und dem Tiere seine im Leben wechselnden Formen verleiht. Die Ringmuskeln sind in der Vorderhälfte viel stärker ausgebildet als weiter nach hinten zu, weil sie zur Lang- streckung des Vorderendes beim Tasten dienen müssen. Die Muskulatur ist von der Haut umldeidet, welche reichlichen Schleim produziert, damit das Tier stets schlüpfrig bleibe. Spärhche Borsten stehen in vier Längsreihen über den Zwischen- räumen der Längsmuskeln. Die Borsten sollen verstellbar sein und je nach der Gangrichtung nach vorne oder nach hinten gerichtet werden.
Das Nervensystem ist in der Mittellinie der Bauchseite gelegen und bildet eine lange Kette von Doppelganglien, die den Segmenten entsprechen. Am Vorderende bildet sich wie gewöhnlich ein nervöser Ring aus, der den Schlund umfaßt und sowohl über wie unter dem Schlünde ein paar größere Ganglien trägt.
Bemerkenswert ist der muskulöse Schlundkopf, der bis an das Vorderende vorgeschoben und zurückgezogen werden kann. Er bildet eine Art innerlichen beweglichen Stempel. Die übrigen Organe, besonders den sehr komplizierten Darm, über- gehen wir, weil sie nicht unmittelbar in das Bewegungsleben des Tieres eingreifen.
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Über die normalen Gehbewegungen des Regenwurmes sind wir durch Friedländer und Biedermann eingehend unter- richtet worden. Immer beginnt die Vorderspitze mit einer Ringmuskelkontraktion, die das Vorderende stark verlängert. In Ausnahmefällen kann die Ringmuskelkontraktion sich bis an das Hinterende hin fortsetzen, ehe eine Längsmuskelkontraktion eintritt. Schneidet man einem Wurm den Kopf ab und zieht durch das neue Vorderende einen Faden, mit dem man ihn leise dehnt, so wird diese Dehnung immer reflektorisch eine Ring- muskelkontraktion auslösen, die dann gleichfalls von vorne nach hinten weiterläuft. Durch die Ringmuskelkontraktion wird der Leib verlängert und die Längsmuskeln gedehnt, die alsdann gleichfalls mitzuarbeiten beginnen. Meist setzen sie bereits ein, bevor die Ringmuskelkontraktion weit nach hinten geeilt ist. Dann folgt auf die Verdünnungswelle der Ringmuskeln eine Verdickungswelle der Längsmuskeln. Auf der Verdickungswelle lastet der Wurm. Wenn er in seiner eigenen Höhle steckt, fassen die kleinen Borsten von der Verdickungswelle allseitig an die Wand gepreßt fest an und tragen dazu bei, die Reibung zu erhöhen. Beim normalen Kriechen folgen sich mehrere Verdünnungs- und Verdickungs wellen regelmäßig miteinander abwechselnd. Die Verdünnungs welle wird durch eine reflek- torisch im Bauchstrang erzeugte Erregung hervorgerufen. Diese Erregung fließt, wenn sie vorne begonnen, den ganzen Bauch- strang entlang nach hinten ab. Der Ablauf der Erregung wird dadurch unterstützt, daß der Zug, den die vorwärts schreiten- den Partien des Wurmes auf die hinteren ausüben, immer von neuem reflektorische Ringmuskelkontraktionen erzeugt.
Dies kann dadurch bewiesen werden, daß man einen Wurm in zwei Hälften zerlegt und sie dann mit einem Bindfaden an- einander bindet. Dann erzeugt die vordere marschierende Hälfte mittels des Zuges des Bindfadens einen genügenden Reiz in der zweiten Hälfte, um hier reflektorisch eine Verdünnungs- weUe hervorzurufen, die gleichfalls von vorne nach hinten ab- läuft. Andererseits konnte auch bewiesen werden, daß der Bauchstrang allein genügt, um die Erregungswelle von vorne nach hinten zu leiten. Aach hier sehen wir, wie so oft zwei Faktoren im gleichen Sinne wirken, um das planmäßige Resultat möglichst sicher zu stellen.
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Es ist die Frage, ob die zweite und die folgenden Ver- dünnungswellen, die beim Gehen vorne entstehen, immer eines neuen Reizes bedürfen oder ob die in den Ringmuskeln durch die Verdickungswelle erzeugte Dehnung nicht allein ausreicht, um nach dem allgemeinen Erregungsgesetz ihre Tätigkeit aus- zulösen.
Nur der Reiz des sanften Zuges ist imstande, Ring- muskelkontraktion zu erzeugen. Jeder stärkere mechanische Reiz, wie Stich oder Schnitt, ruft Längsmuskelkontraktion an der getroffenen Stelle hervor und außerdem eine Ringmuskel- kontraktion an dem Vorderende des Wurms, die eine neue Gangperiode einleitet. Es muß sich daher am vorderen Ende des Bauchstranges ein Erregungstal befinden, wie wir es bei Sipunculus kennen lernten. Denn jede mechanische Reizung des Tieres in seinem ganzen Verlaufe erzeugt immer eine Ver- dünnungswelle am Vorderende.
Wie werden sich, nachdem was wir jetzt wissen, die beiden Hälften eines durchschnittenen Regenwurms benehmen? An der Schnittstelle herrscht beiderseits heftige lokale Längsmuskel- kontraktion, in der vorderen Hälfte außerdem noch eine Ring- muskelkontraktion, welche die normalen Gehbewegungen einleitet und die lokale Kontraktion der Längsmuskeln überwindet. An der hinteren Hälfte fehlt diese Korrektur und die erregten Längs- muskelbündel werden abwechselnd sich und die Ringmuskeln dehnen. Die gedehnten Muskeln werden darauf mit Kontraktion und Kontradehnung antworten. Auf diese Weise entsteht aber keine geordnete Bewegung, sondern das charakteristische Win- den des Wurms.
Auch der Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird, sagt ein bekanntes Sprichwort. Man hat immer im Winden des Wurmes wenn nicht ein Zeichen des Zornes, so doch des Schmerzes sehen wollen, bis Norman auf das verschiedene Verhalten der beiden Hälften eines geteilten Regenwurms auf- merksam machte und darauf hinwies, daß, wenn eine Hälfte von Rechts wegen Schmerz empfinden sollte, es die vordere sein müßte, die das Hirn beherbergt. Nun läuft aber gerade diese Hälfte ruhig davon, als ob nichts passiert wäre. Jennings versucht diesen Einwand zu widerlegen, indem er das Winden der hinteren Hälfte als eine beschleunigte Fortbewegung an-
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sieht, die aber nur in der engen Höhle des Wurmes zu ersprieß- licher Wirksamkeit gelangen könne. Mir scheint die Bewegung der hinteren Wurmhälfte eine gänzHch unkoordinierte und zwecklose zu sein. Sie wird aber sofort koordiniert und plan- mäßig, wenn man sie nach dem Vorgange Friedländers an die vordere Hälfte anbindet. Die Frage nach der Empfindung des Wurmes läßt man lieber unerörtert, denn man sieht, zu welchen Paradoxen man sofort gelangt.
Der Regenwurm lebt in einer selbst verfertigten, kanalartigen Höhle, deren Wände ringsum mit Exkrementkügelchen, die durch Schleim miteinander verklebt sind, verschmiert werden. Diese unebenen, aber doch nicht rauhen Flächen gestatten ihm, mit Leichtigkeit auf- und abzugleiten, denn sie geben ihm den nötigen Halt ohne seine Haut zu verletzen. In seiner Röhre muß der Wurm vorwärts wie rückwärts schlüpfen. Es ist in der Tat möglich, den Regenwurm durch einen starken Reiz am Vorderende zu antiperistaltischen Bewegungen zu veranlassen. Dann beginnt eine Reihe von Verdünnungswellen am Hinter- ende und läuft, während der Wurm nach hinten kriecht, zur vorderen Spitze hin. Es muß also auch am Hinterende ein zweites, wenn auch unbedeutendes Erregungstal vorhanden sein, das nur selten in Aktion tritt.
Am Grunde der Röhre befindet sich eine kleine Erweite- rung, die dem Regenwurm Gelegenheit bietet, sich umzudrehen, wenn er behufs der Defäkation mit dem Hinterende aus der Röhre hinausragen muß. Die peristal tische Bewegungsart ist keineswegs auf den Regenwurm beschränkt. Alle drehrunden Würmer, die in engen Kanälen wohnen, bewegen sich stets auf diese Weise. Überall passen Wohnort und Bewegungsart genau zusammen.
Aber die Bewegungsmittel der Verdünnungs- und Ver- dickungs wellen sind nicht die einzigen, deren der Regenwurm fähig ist. Es ist zwar nur einmal eine andere Bewegungsart beobachtet worden, aber von einem so zuverlässigen Forscher, daß darüber kein Zweifel walten kann. Ich setze die merk- würdige Beobachtung, die H. Eisig mitteilt, mit seinen Worten hierher.
,,Als ich früh an einem Herbstmorgen im erwähnten Garten an einem abgeräumten Gemüsebeet vorbeiging, wurde plötzlich
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meine Aufmerksamheit durch ein Geräusch auf dieses Beet ge- lenkt, und da sah ich eine ca. 20 bis 30 cm lange Lumbricide mit einer Geschwindigkeit sich fortbewegen, die mit der sonst diesen Tieren eigentümhchen ziemlich trägen Kriechbewegung seltsam kontrastierte. Diese Fortbewegung war eine undula- torische, aber es handelte sich nicht um die für die Polycheten typische laterale, sondern vertikale Undulation. Wenn ich mich recht erinnere, waren ca. drei Bögen zu zählen, also sehr lange und steile Bögen, welche an die hohen Schleifen der spamier- raupenähnhchen Bewegung erinnerten. Dicht hinter dem Wurme kam aber aus demselben Erdloch ein Maulwurf hervor, und trotz seines mehrere Meter betragenden Vorsprunges wurde ersterer vom letzteren eingeholt, gepackt und verspeist, und zwar vor meinen Augen. Erst nachdem er seine Beute ver- schluckt hatte, zog sich der Maulwurf wieder in seine Galerie zurück. Kurz bevor dies aber geschah, war eine zweite Lum- bricide von ungefähr derselben Größe und wohl von derselben Art in ebenso rascher vertikaler Undulation erschienen und hinter ihr her auch ein zweiter, aber im Gegensatz zum ersten ausgewachsenen, sehr jugendlicher (etwa halb so großer) Maul- wurf. Und in diesem Falle gelang es der Lumbricide dank ihrer raschen Bewegung zu entkommen; denn der Verfolger, welcher offenbar ihre Spur verloren hatte, geriet weit von ihr ab in ein benachbartes mit Salat bepflanztes Beet. Er ließ mich ganz nah herankommen und nahm die von mir inzwischen eingefangene Lumbricide aus der Hand und verschlang sie."
In diesem interessanten Fall hatten die Regenw^ürmer ihre gesamten Ringmuskeln in dauernde Kontraktion versetzt und ließen die Längsmuskeln der Ober- und Unterseite paarweis gegeneinander spielen. Ganz dasselbe haben wir beim Sipun- culus gesehen, der auch auf diese Weise vom Kriechen zum Schwimmen übergeht. Wir werden beim Blutegel ein ähnliches Umspringen der einen Bewegungsart in die andere kennen lernen. Nur ist beim Blutegel dies bereits zu einer dauernden Ein- richtung gev/orden. Aus der Zergliederung der Gehbewegungen des Regenwurmes sieht man, wie wenig die anatomische Seg- mentierung des Zentralnervensystems mit den physiologischen Leistungen zu tun hat. Nur die Lagerung der Repräsentanten entspricht insofern der Segmentierung, daß alle Muskelfasern
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eines Segmentes ihre Repräsentanten im gleichen Segment des Bauchstranges sitzen haben. Aber das allgemeine Netz, das von vorne nach hinten den ganzen Bauchstrang durchzieht, zeigt ganz andere Einteilungen. Es ist besonders für eine leichte Verbindung zwischen den Repräsentanten der Ringmuskeln ge- sorgt, denn sonst könnte die Erregung nicht mit so großer Leichtigkeit von vorne nach hinten laufend immer nur die Ringmuskeln in Tätigkeit versetzen. Erst nachdem die Längs- muskeln durch die Kontraktion der Ringmuskeln gedehnt und erschlafft sind, tritt die Erregung auch zu ihnen. Außer dieser Verbindung mit dem allgemeinen Netz müssen die Repräsen- tanten der Längsmuskeln noch eigene direkte Bahnen besitzen. Denn es treten nicht selten Zuckungen auf, die nur von den Längsmuskeln ausgeführt werden und die zu einem blitzartigen Zurückschnellen des Vordertieres führen. Ferner müssen die Repräsentanten der Längsmuskeln mit den zunächstliegenden Rezeptoren in besondere Verbindung gebracht sein, da jede stärkere Hautreizung immer nur mit einer lokalen Längsmuskel- kontraktion beantwortet wird. Bei der Flucht vor dem Maul- wurf ist eine so große Erregung im ganzen Nervensystem vor- handen, daß die Ringmuskeln dauernd in Tätigkeit bleiben und die noch übrige Erregung rhythmisch zwischen den Längs - muskeln nach dem Erregungsgesetz hin und her schwankt.
Die Repräsentanten aller Muskeln sitzen im Bauchstrang, denn sobald der Bauchstrang entfernt wird, hört jede Bewegung der Muskeln in den zugehörigen Segmenten auf. Die Bewegung des Hautmuskelschlauches auf Dehnung, die Straub beobachtete, ist wohl mit den Bewegungen des Hautmuskelschlauches des Sipunculus bei wechselnder Dehnung identisch.
Es bietet demnach das Zentrahiervensystem des Regen- wurmes wohl einige ihm eigentümliche Verbindungen der zen- tralen Netze unter sich und mit den Rezeptoren aber keine prinzipiellen neuen Einrichtungen. Alle bisher betrachteten Bewegungen lassen sich auf die bekannten Gesetze beim Fließen der Erregung in einfachen Netzen mit einem oder zwei Er- regungstälern zurückführen.
Beim Einbohren in den Erdboden kommen noch weitere Einrichtungen zum Vorschein. Das sind vor allem die Be- wegungen des Schlundkopfes, der gleich einem inneren Stempel
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hin und her fliegt und dabei die Erde ringsum wegdrängt. Diese Art des Einbohrens ist aber nur möghch, wenn die Erde einiger- maßen locker ist. Bei zugestampftem Boden bleibt dem Wurm nichts anderes übrig, als sich in die Erde hineinzufressen, was freihch über 24 Stunden in Anspruch nehmen kann. Eine be- sondere Bewegungsart wird beim Tasten angewandt, das nur mit dem Vorderkörper geschieht. Die vorderste Spitze dient als Rezeptor für den Berührungsreiz. Dieser Tangorezeptor wird durch Rings- und Längsmuskelbewegung an den Gegen- ständen entlang geführt und vermag die Formen der Gegen- stände in beschränktem Maße zu unterscheiden. Bevor ^vir auf dieses interessante Kapitel eingehen, haben wir noch kurz die anderen Reizwirkungen zu betrachten.
Ein tastender langgestreckter Vorderkörper, der nach links gebogen ist, wird, wie Jennings berichtet, auf jeden Be- rührungsreiz, einerlei wo dieser ansetzt, nach rechts schlagen und umgekehrt. Es verhält sich also der gestreckte Wurm neuen Erregungen gegenüber genau so wie der Arm eines Schlangen- sternes, d. h. es fließt die Erregung den am meisten gedehnten Längsmuskeln zu. Es ist möglich, daß auch der Lichtreiz ähnlich wirkt, denn alle Versuclie über Photorezeption haben bisher keine befriedigende Antwort auf die Frage gegeben, ob der Regenwurm durch das Licht bloß gereizt oder auch ge- richtet wird. Sichergestellt ist nur, daß die meisten Würmer, wenn sie bei Nacht aus ihrer Höhle hervorschauen, auf Be- leuchtung sich zurückziehen, manche blitzschnell, manche lang- sam. Sind sie aber zur Zeit mit Fressen oder Bauen der Röhre beschäftigt, so bleiben sie für den Lichtreiz völlig refraktär. Es scheint ferner, daß die Lichtstärke des Mondlichtes sie aus den Höhlen hervorlockt, während das intensive Sonnenlicht sie zurücktreibt.
Interessant ist auch festzustellen, daß, wenn ein Regen- wurm, der geradeaus fortschreitet, an der Spitze von einem Reiz getroffen wird, zurückfährt, still steht, sich seitlich wendet und dann in einer neuen Richtung vorwärts kriecht, also alle Phasen des Motorreflexes von Paramaecium wiederholt.
Das Witterungsvermögen des Regenwurmes ist nicht un- bedeutend, denn er findet vergrabene Kohl- oder Zwiebelblätter mit Sicherheit, wenn der Erdboden locker ist. Der ganze
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 11
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Körper ist sehr empfindlich für Salze. So findet man, daß ein Regenwurm, den man mit nur einem kleinen Klümpchen Erde auf trockenen Seesand gesetzt hat, den Erdklumpen nicht mehr verläßt. Sehr ausgebildet sind spezielle Gusto-Rezeptoren, das sind sehr speziaUsierte chemische Rezeptoren, die bei der Nahrungsaufnahme in Funktion treten. Beim Regenwurm spielen sie noch eine besondere Rolle, indem sie es ihm er- leichtern, die Form der Blätter zu unterscheiden.
Und nun wenden wir uns der bedeutungsvollen Frage zu, welche Gegenstände der Umgebung vermag der Regenwurm in seine Umwelt aufzunehmen? Charles Darwin hat in seinem schönen Buche über die Bildung der Ackerkrume auch die merkwürdige Fähigkeit der Regenwürmer Formen zu unterscheiden, aufmerksam gemacht, und Elise Hanel hat die von Darwin angestellten Versuche auf das glücklichste weitergeführt.
Die Regenwürmer hegen tagsüber mit dem Vorderende nahe der Öffnung ihrer Höhle. Die Mündung der Höhle ver- stopfen sie zu ihrem Schutz mit allem umhegenden losen Material, am liebsten mit Blättern, aber auch mit Federn oder Steinchen. Die Blätter werden an ihrem Rande mit der Lippe gefaßt und in die Höhle gezogen bis die Mündung vollgestopft ist. Die Steinchen werden ergriffen, indem erst die Lippe sich fest andrückt, wobei der Schlundkopf vorgeschoben ist. Dann wird der Schlundkopf zurückgezogen. Dadurch entsteht ein luftleerer Raum vor dem Munde und nun vermag der Regen- wurm mit seinem in einen Saugnapf verwandelten Vorderende die kleinen Steinchen beliebig zu versetzen. Um die Form der Steinchen kümmert sich der Regenwurm nicht. Sie werden in unregelmäßigen Häufchen vor die Höhle gelagert.
Mit den Blättern verhält es sich schon anders, denn diese werden bis in die Höhle hineingezogen. Nun ist es ohne weiteres verständlich, daß ein herzförmiges Lindenblatt, wenn es am Stiel gepackt wird, nicht in die enge Höhle hineingeht. Wird es dagegen an der Spitze gefaßt, so rollt es sich ohne Schwierig- keit zusammen, während es die Mündung der Höhle passiert. Tatsächhch ergreifen die Regenwürmer alle Lindenblätter aus- nahmslos an ihrem Vorderrand nahe der Spitze. Elise Hanel konnte zeigen, daß bei diesem Vorgehen die Regenwürmer von einem chemischen Reize geleitet werden. Denn wenn man mit
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der Schere ein Lindenblatt derart herzförmig zuschneidet, daß die Herzspitze nach dem Stengel zu sieht, so wird nicht die neue Herzspitze erfaßt, sondern die neue Herzbasis, d. h. eine der Form nach ganz ungeeignete Stelle. Beim Lindenblatt spielt also die Form keine Rolle.
Nimmt man dagegen zwei aneinanderhängende Kiefernadeln, die vom Regenwurm immer an der Basis gepackt w^erden, und bindet sie mit einem Faden zusammen, so w^erden sie immer noch an der Basis ergriffen, obgleich jetzt für das Einführen beide Enden gleich gut geeignet sind. Schneidet man aber eine Nadel von der Basis ab, die man an der anderen Nadel läßt, so wird nicht mehr die Basis gepackt, sondern die zu- sammengebundenen Spitzen. Hierbei tritt die Wirkung der Form deutlich zutage, die sogar den chemischen Reiz, der von der Basis ausgeht, über^^dndet.
Noch überzeugender sind die Versuche mit Papierschnitzeln, denen man die Form eines gleichschenkligen Dreieckes mit kurzer Basis und langen Schenkeln gegeben hat. Stets wird von den Regenwürmern die zwischen den beiden langen Schen- keln gelegene Spitze als Angriffspunkt gewählt, und zwar ohne Herumprobieren, sondern mit großer Sicherheit nach einem bloßen Abtasten des Dreieckes. Hanel schreibt zur Deutung dieser Vorgänge: ,, Bleibt uns nichts anderes übrig, als den Vorgang in eine Kette einfacher Reize aufzulösen. Stellen wir uns vor, daß die drei Spitzen eines Dreieckes, gleichgültig ob sie alle untereinander verbunden sind wie bei den Papier- stückchen oder teilweise wie bei den Kiefemadeln, bei der Bewegung eines Regenwurmes in gewissen Abständen oder Zeiträumen seinen Körper berühren und so, einander sukzessive folgend, kombiniert auf ihn w irken. Nimmt man jede Strecke, die der Wurm von einer Ecke, resp. Spitze zur anderen zurück- legt, als einfachen Reiz an, so kann man sich vorstellen, daß es die verschiedene Kombination in der Aufeinanderfolge dieser einfachen Reize ist, die den verschiedenen Effekt hervorruft. Wenn wir den Reiz, welcher ausgeübt wird, wenn der Wurm an der Langseite eines Dreieckes kriecht: a, und diejenigen, die durch Kriechen an der kurzen Seite bewirkt wird: b nennen, so können wir uns vorstellen, daß die Reize in der Aufeinander- folge: b -f- Spitze -f- a -|- Spitze den Reflex des Hineinziehens
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auslösen, was dann natürlich zur Folge hat, daß nur das spitzeste Ende erfaßt wird. Hingegen würden die Reize in der Aufeinanderfolge : a -[- Spitze -|- b -[- Spitze in den meisten Fällen gar keinen oder nur einen Hemmungsreiz ausüben, der Effekt wird also der negative des Nichteinziehens sein."
So außerordentlich dankenswert es auch ist, daß die Ver- fasserin sich von jeder psychologischen Deutung ferngehalten hat, die von Darwin noch ohne jedes Bedenken angewandt wurde, so kann doch die von ihr ausgeführte Analyse des Vor- ganges nicht als beendet angesehen werden, solange bloß die Zustände der Umgebung in Rechnung gezogen werden ohne Rücksicht auf die rezeptorischen Organe des untersuchten Tieres. Ein Vorgang in der Außenwelt wird erst durch seine physio- logische Wirkung auf den Rezeptor zum Reiz, sonst bleibt er ein bloßer physikahscher Faktor. So kann eine zurückgelegte Strecke nicht als Reiz angesprochen werden. Nur die Muskel- bewegung, die der Wurm ausübt, um diese Strecke abzutasten, kann man unter Umständen als Reiz deuten. Es ist freilich für die niederen Tiere überhaupt nicht bewiesen, ob ihre eigenen Bewegungen zu Reizen werden können. Bei den Medusen ist sogar ein besonderer Rezeptor, der von der Bewegung erregt wird, eingefügt, offenbar weil die Bewegung der Muskeln nicht direkt als Reiz auf das zentrale Netz zu wirken vermag. Aber für den Regenwurm möge fürs erste angenommen werden, daß seine eigenen Bewegungen ihm als Reiz dienen.
Auch die Spitze ist an sich kein Reiz, sondern nur ihre Wirkung auf den Tastapparat. Die Spitze wirkt nach der Darstellung von Elise Hanel nicht auf die Muskeln, sondern auf den Tangorezeptor. Demnach würde die Hanelsche Reiz- kette ins Physiologische übersetzt folgendermaßen lauten: Schwa- cher Muskelreiz -(- Tangoreiz -|- starker Muskelreiz -f- Tangoreiz gebe eine wirksame Reizkombination. Wie sollen wir uns diesen Vorgang im Zentrum weiter vorstellen?
Apparate, die die Fähigkeit haben, verschiedene aufeinander- folgende Reize aufzunehmen, können wir uns nur anschaulich machen, indem wir für jeden Reiz eine gesonderte räumlich getrennte Aufnahmeeinrichtung annehmen. Es müßte also im Zentralnervensystem des Wurmes ein Komplex von vier Zentren vorhanden sein, entsprechend den vier wirksamen Reizen.
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Diese vier Zentren müssen außerdem in bestimmter Reihenfolge im Raum nebeneinanderliegen, damit nur die richtige Reihen- folge der Reize den Zentrenkomplex in Erregung versetzen kann. Mit anderen Worten: die Hanelsche Reizkette verlangt die Annahme eines entsprechenden räumhchen Schemas im Zentralnervensystem.
Die Frage nach dem Vorhandensein räumlicher Schemata im Zentralnervensystem ist, wie wir später sehen werden, von grundlegender Wichtigkeit für den Aufbau des Gehirnes aller höheren Tiere. Erst wenn äußere Formverhältnisse durch innere räumliche Verhältnisse wiedergespiegelt werden, kann man im strengen Sinne vom Vorhandensein von Gegenständen in der Umwelt eines Tieres reden. Nun gibt es ein Raum Verhältnis, das bei allen bilateralen Tieren mit Sicherheit unterschieden wird, das ist : ,, Links" und „Rechts". Überall findet sich eine Teilung der höheren GangHen in eine linke und rechte Hälfte, und bei allen einfacheren Tieren nimmt das Unke Gang- lion alle rezeptorischen Fasern der linken HäKte auf und das- selbe tut die rechte Hälfte.
Wenn ein Regenwurm einem Papierschnitzel entlang tastet, das mit einer Spitze zu ihm sieht, so wird er die eine Kante mit der hnken Seite der Lippe berühren, die andere mit der rechten. Dadurch sind die beiden Kanten sicher unterschieden. Es braucht jetzt nur die Dauer der Reizung des Tastorganes durch eine Intensitätssteigerung sich dem Zentralnervensystem kundzutun, um so die Unterscheidung der langen Kante von der kurzen Kante durchzuführen. Daß diese auf das Mindest- maß reduzierte Erklärungs weise genügt, will ich durchaus nicht behaupten. Die Entscheidung können nur neue Versuche bringen. Aber auch in diesem allereinfachsten Falle sehen wir, daß mindestens zwei räumhch getrennte Zentren, eines auf der Unken und das andere auf der rechten Hemisphäre, nötig sind zur Unterscheidung der Form. Daher werden wir dem Zentralnervensystem des Regenwurmes die Existenz rudi- mentärer Schemata nicht abstreiten dürfen.
Wir haben noch einen Blick auf die Lebensgewohnheiten der Regenwürmer zu werfen, welche Darwin so anschauUch schüdert. Zur Nachtzeit kommen die stülen Tiere aus ihren Höhlen heraus, meist bleiben sie mit dem gekrümmten Schwanz-
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ende in der Mündung der Höhle eingehakt. Wagen sie sich weiter hinaus, so finden sie ihr Haus nicht mehr wieder, son- dern müssen sich ein neues bauen. Sie nähren sich mit Vor- liebe von Kohlblättern. Im übrigen sind sie aber durchaus omnivor. Sie verspeisen gerne Speck und verschmähen eigent- lich keine Nahrung. Eine Haupttätigkeit, die ihre große Wir- kung auf die Bildung der Ackerkrume erklärt, besteht im Verschlucken der Erde, die sie dann als geringelte Exkrement- kügelchen vor der Mündung ihrer Höhle deponieren. Auch Kannibalismus kommt gelegentlich vor, denn die Regenwürmer verschmähen es nicht, sich an toten Kollegen zu vergreifen. Zum Schutze ihrer zahlreichen Feinde, zu denen besonders die Amseln gehören, verstopfen sie ihre Höhlen. Auch schützt sie der Blätterwall vor dem Eindringen der Hundertfüße, die ihnen sehr gefährhch sein sollen. Ebenso haben sie eine Fliege zu fürchten, die ihre Eier unter die Haut der Regenwürmer legt, damit ihre junge Larve immer frisches Fleisch zur Ver- fügung habe. Schließhch ist der Maulwurf wohl ihr größter Feind und Vertilger, der wie sie unter der Erde heimisch ist. Trotz dieser großen Zahl von Feinden, denen die Regen- würmer wehrlos preisgegeben sind, ist ihre Zahl doch ganz ungeheuer groß und ihre geographische Verbreitung fast unbe- schränkt, soweit der Boden nicht salzig ist. Das beweist, wie gut sie trotz allem in ihre Umgebung eingepaßt sind. Einmal ist es ihr geschmeidiger Bau, der es ihnen gestattet, alle Schlumpf Winkel auszunutzen, der sie zu so hervorragend geeig- neten Erdbewohnern macht. Dann kommt die Fähigkeit dazu, sich eine wohnliche Höhle in die Erde fressen zu können. Das beweist auch ihren unstillbaren Appetit. Die Leistungen des Regenwurmdarmes sind geradezu erstaunlich, wenn man die Masse unverdauUcher Substanz in Betracht zieht, die ihn dauernd passiert. In der Fähigkeit, aus dem spärlichsten Erdboden genügende Nahrungsmittel zu gewinnen, stehen die Regenwürmer konkurrenzlos da. Die Auswahl wirksamer Fak- toren aus der Umgebung, die als Reize wirkend die dyna- mischen Erregungswellen erzeugen, bietet dem Verständnis keine besonderen Schwierigkeiten. In der Innenwelt des Ner- vensystems ziehen während des Gehens die statischen Erregungen von vorne nach hinten, die Repräsentanten der Ringmuskeln
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füllend ; unterstützt durch die von der leichten Dehnung reflek- torisch erzeugten dynamischen Wellen. Hinten angelangt, kehrt die statische Erregung durch das Netz zum Erregungs- tal am Vorderende zurück, was auch alle dynamischen Wellen tun, die durch irgendeinen starken Reiz hervorgerufen werden. Die Längsmuskeln werden von den dynamischen Wellen nur lokal erregt, während die statische Erregung immer in ihre Repräsentanten eintritt, sobald die Längsmuskeln durch eine Ringmuskelkontraktion gedehnt worden sind. Auf diese Weise werden die Zwischenräume zwischen zwei Verdünnungswellen stets durch eine Verdickungswelle ausgefüllt. Diesem sicht- baren Teil des Erregungskreislaufes, der von vorne nach hinten zieht, entspricht ein unsichtbarer, der von hinten nach vorne geht. So erhalten wir das Bild eines zu seinem Ursprung zurückkehrenden Stromes. Das ist ein normaler, durch Muskel- kontraktionen unterstützter Rhythmus, der keine automatischen Eigenschaften voraussetzt. Denn er kann durch jeden äußeren Einfluß verändert und reguliert werden. Auch fehlen ihm die Anzeichen einer echten refraktären Periode, die auf die An- wesenheit eines Unterbrechers schließen ließe.
Dieser Art von Rhythmus, der aller Beeinflussung von außen offen bleibt, gestattet es, einen ausgebreiteten Gebrauch von Rezeptoren zu machen, die durch neue Erregungen nütz- liche Abweichungen in der Gangrichtung hervorrufen. Daher besitzt der Regenwurm eine viel reichere Umwelt als Sipun- culus. Er sucht die bescheidene Helle des Mondes und flieht das Licht des Tages. Er sucht die bekömmliche Nahrung und flieht vor den Erschütterungen, die der wühlende Maul- wurf hervorruft. Das alles geschieht durch lokale dynamische Erregungen, welche von den Rezeptoren aus einfachen Reizen erzeugt werden. Seinen übrigen Feinden gegenüber besitzt der Regenwurm nur das Hilfsmittel des Höhlenbaues. Wir haben gesehen, wie gerade hierbei die ersten höheren Anlagen seines Innenlebens sich kundtun, die dieses kleine Kunstwerk bis an die Pforten des höheren Tierreiches bringen und in seiner Umwelt zum erstenmal etwas Neues neben den Reizen ent- stehen lassen, nämlich die Form.
2gg Die Blutegel.
Die Blutegel.
Der Ehrgeiz eines jeden Biologen wird stets darauf gerich- tet sein, sein Untersuchungsobjekt, sei es ein Organ oder ein ganzes Tier, in seine Grundfaktoren zu zerlegen, um aus ihnen durch eine planvolle Ordnung das Ganze wenigstens in Ge- danken wieder aufzubauen. Der Begriff eines Grundfaktors bedarf einer kurzen Erläuterung. Für gewöhnlich versteht man unter den aufbauenden Faktoren eines Tieres seine Organe. Nun ist der Umfang dessen, was wir als Organ bezeichnen, ebenso unsicher wie der Begriff des Grundfaktors, denn wir nennen sowohl unsere Arme als auch die in ihnen enthaltenen Muskeln unsere Organe. Dahingegen wird die einzelne Muskel- zelle nicht mehr als Organ angesprochen. Sicher sind aber alle Zellen Grundfaktoren des Tieres. Eine jede Zelle ist, wie wir wissen, das Produkt des Protoplasmas und besteht außer dem strukturlosen Protoplasma aus einem strukturierten Teile, der nicht bloß Nahrung aufnimmt, wächst und abstirbt, d. h. ein Eigenleben führt, sondern auch eine spezifische Funktion ausübt, die dem Ganzen zugute kommt. Dank ihrer spezi- fischen Struktur wird die Zelle zu einem Grundfaktor des Tier- körpers, denn die spezifische Struktur verhilft der Zelle zu einer selbständigen Leistung zum Nutzen des Ganzen. Und von einem Grundfaktor müssen wir verlangen, daß seine Leistungen ihn zu einem stelbständigen GHede im Aufbau des Ganzen machen. Nun arbeiten einzelne Zellen niemals allein, sondern bilden mit ihren Artgenossen eine Vereinigung, in der sie gemeinsam ihre Leistungen ausüben. Solche funktionelle Vereinigungen der Zellen nennt man Organe. Auf diese ein- fachen Organe oder Gewebe, die aus gleichartigen Zellen be- stehen, genügt es zurückzugreifen, wenn man sich ein an- schauliches Bild vom Zusammenwirken der Grundfaktoren machen will.
Die Blutegel eignen sich, soweit ihre Geh- und Schwimm- bewegungen in Betracht kommen, vortreffHch zur Zerlegung in die einfachen Grundfaktoren. An erster Stelle stehen natürlich die Bewegungsorgane, d. h. die einzelnen Muskelstränge. Nun sind die Muskelstränge, wenn man sie für sich allein betrachtet.
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noch keine Grundfaktoren des Körpers. Sie besitzen wohl eine bestimmte Leistung, aber diese muß erst in Beziehung zum Ganzen gebracht werden, ehe sie ihre Funktion ausüben kann. Erst der Ort im Körper, an dem die Leistung zur Wirkung gelangt, macht sie zu einem Baustein des Ganzen. Daraus ergibt sich ohne weiteres die doppelte Betrachtungsweise, die wir bei jedem Elemente des Tierkörpers anzuwenden haben. Einmal betrachten wir die Leistung der einzelnen Teile als etwas vöUig Selbständiges (Physiologie), ein andermal untersuchen wir, wie die selbständige Leistung durch den Ort, an dem sie sich ent- faltet, höheren Aufgaben dient (Biologie). Leistung und Ort zusammen ergeben erst die integrierende, d. h. die auf das Ganze gerichtete Funktion der Grundfaktoren. Handelt es sich im wesenthchen um lauter gleichartige Elemente, so bleibt nur der Ort nach, der als entscheidend und unterscheidend in Frage kommt. Dies ist dann ein besonders glückhcher Fall, denn er setzt uns in die Lage, durch ein paar einfache Experi- mente, die sich auf die örtlichen Beziehungen erstrecken, ein Bild der funktionellen Anordnung zu gemnnen.
Einen solchen günstigen Fall bieten uns die Blutegel. Bei ihnen genügt es, eine Analyse der Bewegungen ihrer verschie- denen Muskelstränge zu geben, um bereits ein anschauhches Bild ihres Innenlebens davon ableiten zu können. Die Blut- egel sind bekannthch drehrunde, gestreckte Würmer, die vorn und hinten einen Saugnapf besitzen. Die Körpermuskulatur besteht aus drei getrennten Muskellagen: aus einer Ring- muskelschicht, die dicht unter der Haut liegt und deren Tätigkeit den Körper lang und dünn macht, dann folgt nach innen die Längsmuskelschicht, die in deutliche Stränge zerfäUt, sie macht den Körper kurz und dick. Endlich gibt es noch dorsoventrale Muskelstränge, die den Rücken des Tieres der Bauchfläche nähern und dadurch das ganze Tier abplatten. Ein einfaches, leiterförmiges Zentralnervensystm durchläuft das ganze Tier an der Bauchseite (Bauchstrang). In ihm sind aUe Repräsentanten enthalten.
Der Blutegel besitzt zwei Arten der Fortbewegung, das Schwimmen und das Gehen. Schneidet man einem Blutegel den Kopf ab, so kann er nur noch schwimmen und gar nicht gehen. Durch diese Operation verliert der Blutegel die Fähig-
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keit, seine Ringmuskeln in Bewegung zu setzen und ohne Ring- muskeln kann nicht gegangen werden. Es schaltet die Durch- schneidung des Bauchstranges am Vorderende das Nervennetz der Ringmuskeln mit ihren Repräsentanten völlig aus. Daher muß das Nervennetz der Ringmuskeln im Verlauf des ganzen Bauchstranges von den übrigen nervösen Elementen völlig isoliert sein und nur am Vorderende mit ihnen in Verbindung stehen. Beim Schwimmen spielen nur die dorsoventralen und die Längs - muskeln eine Rolle. Auf jeden Reiz hin verkürzen sich die dorso- ventralen Muskeln von vorne nach hinten fortschreitend und ver- wandeln den Blutegel in ein plattes Band. Dieses Band führt wellen- artige Bewegungen aus, mit deren Hilfe es vorwärts schwimmt. Denkt man sich in den Blutegel wie in ein plattes Gummirohr eine Falte geschlagen, so ist die Außenseite der Falte gedehnt, ihre Innenseite dagegen zusammengedrückt. Es wirken daher die Längsmuskeln der Rückenseite als Antagonisten gegen die ihnen gerade gegenüberliegenden Längsmuskeln der Bauchseite. In solchen Fällen tritt bekanntlich sehr leicht ein Hin- und Herpendeln der statischen Erregung ein, sobald durch eine dynamische Welle der Anlaß zur ersten Kontraktion gegeben wurde. Durch das Hin- und Herschwanken der statischen Er- regung, welche die Antagonisten nach dem allgemeinen Erre- gungsgesetz abwechselnd zur Kontraktion bringt, wird die Falte im Blutegel bald nach oben, bald nach unten geschlagen. Das Auf- und Abschlagen einer Falte in einem Bande erzeugt aber stets durch den Zug, den sie auf ihre Nachbarseite ausübt, eine fortschreitende Welle, die sich von der primären Falte nach beiden Seiten hin fortsetzt. Entsteht wie beim Blutegel die primäre Faltung immer am Vorderende, so läuft nur eine Welle von vorne nach hinten ab. Die Welle, die über dem Blutegel abläuft, besitzt, wie jede fortschreitende Welle, eine Vorderseite und eine Rückseite. Die Vorderseite der Welle vermag je nach ihrer Größe und Schnelhgkeit einen gewissen Druck auszuüben. Ist daher das wellenschlagende Band frei im Wasser suspendiert, so wird die Vorderseite der Welle auf das umgebende Wasser drücken und daher das Band selbst, entgegen der Abiaufrichtung der Welle, forttreiben. Läuft die Welle im Tier von vorne nach hinten ab, so muß das Tier von hinten nach vorne, d. h. Kopf voran, schwimmen.
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Verhindert man das mechanische Fortschreiten der Welle über das Tier, indem man unter Schonung des Nervensystems ein so großes Stück Muskulatur wegschneidet, daß eine ge- nügende Zugwirkung über die Lücke hinweg nicht mehr statt- hat, so bleiben die Schwimmbewegungen an der Lücke stehen, d. h. es schwimmt nur das vordere Ende, während das hintere Ende passiv mitgeschleppt wird. Dabei ist das Hinterende ebenso platt geworden wie das Vorderende, denn die nervöse Leitung ist erhalten geblieben und es tritt auf jeden Reiz am Vorderende erstens ein Plattwerden auf, das sich über den ganzen Wurm erstreckt, und zweitens eine Längsmuskelkontraktion, welche die erste Falte der Welle schlägt, welche an der Lücke erlischt. Sowohl für die dorso ventralen Muskeln wie für die Längsmuskeln ist ein Erregungstal am Vorderende vorhanden.
Die Durchschneidung des Bauchstranges hebt die Möglich- keit der Schwimmbewegungen an beiden nervös getrennten Teilen nicht auf. Beide Teile können, wenn sie gereizt wurden, noch Schwimmbewegungen ausführen, aber es kommt zu keiner Koordination. Die Durchschneidungsstelle des Bauchstranges wirkt als neues Vorderende, von dem aus die neue Falten- bildung selbständig ausgeht, einerlei, in welcher Bewegungs- phase sich das Vordertier befindet.
Die Erregungs Vorgänge beim Schwimmen bieten nach dem, was uns bereits von anderen Tieren bekannt ist, keine weiteren Schwierigkeiten. Die vom Reiz erzeugte dynamische Erregungs- welle läuft nach dem Erregungstal hin, das sich am Vorder- ende befindet. Ist dieses abgetrennt, so tritt die Erregung an der Durchschneidungsstelle in die Muskeln über, und zwar sowohl in die Dorsoventralmuskeln wie in die Längsmuskeln. Aus diesen und anderen Gründen ist es ratsam, außer den drei Netzen mit ihren Repräsentanten für die drei Muskelarten ein allgemeines verbindendes Nervennetz anzunehmen, das sich durch den ganzen Bauchstrang erstreckt, aber keine Repräsentanten enthält. Die dorso ventralen Muskeln besitzen keine Antagonisten und sind daher außerstande, einen Rhythmus hervorzubringen. Sie können sich bloß dauernd kontrahieren. Die Dauerkon- traktion spricht dafür, daß es besondere Reservoire für die statische Erregung in ihrem Nervennetz geben muß, welche durch die dynamische Welle in Tätigkeit versetzt werden und
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einen dauernden Erregungsdruck hervorbringen, der die Sperr- schwelle der verkürzten dorso ventralen Muskel dauernd erhöht.
Viel interessanter gestalten sich die Dinge, wenn wir die Gehbewegungen in Augenschein nehmen. Beim Gehen spielen die dorso ventralen Muskeln nicht mehr mit. Dafür springen die Ringmuskeln ein, die als Antagonisten der Längsmuskeln wirken. Die Längsmuskeln antworten alle gleichzeitig, mögen sie zu den ventralen oder dorsalen Strängen gehören. Es be- steht daher beim Gehen kein Antagonismus zwischen den dor- salen und ventralen Längsmuskeln.
Ein jeder Schritt besteht aus zwei Kontraktions- und zwei Erschlaffungsperioden. Er beginnt, während der Blutegel mit dem hinteren Saugnapf am Boden festsitzt, mit einer Ring- muskelkontraktion, die vom Vorderende ausgehend (weil sich dort ebenfalls ein Erregungstal für die Ringmuskeln befindet) sich langsam über den ganzen Körper erstreckt und verwandelt diesen in ein langes dünnes Rohr. Dann faßt der vordere Saugnapf plötzlich Fuß. Sobald beide Saugnäpfe gleichzeitig festsitzen, wird die gesamte Muskulatur von einer Erschlaffung befallen, die sofort einer Kontraktion Platz macht, sobald sich ein Saugnapf vom Boden ablöst. Ist der vordere Saugnapf frei, so herrscht im Körper Ringmuskelkontraktion, ist der hintere Saugnapf frei, so tritt Längsmuskelkontraktion ein. Sind sie beide frei, so treten Schwimmbewegungen auf.
Nach der ersten Erschlaffungsperiode beginnt die zweite Hälfte des Schrittes. Der langgestreckte erschlaffte Egel löst den hinteren Saugnapf vom Boden los und darauf beginnt wieder von vorne anfangend die Kontraktion der Längsmuskeln, die den Wurm kurz und dick macht. Dadurch kommt der hintere Saugnapf nach vorne und faßt nahe dem vorderen Saugnapf Fuß. Sobald beide Saugnäpfe haften, tritt die zweite Erschlaffungsperiode ein, aus der die Muskulatur erwacht, wenn der vordere Saugnapf sich abgelöst hat und damit die Ring- muskelkontraktion einleitet.
Es läßt sich zeigen, daß es bloß darauf ankommt, daß die freie Fläche des Saugnapfes konkav werde, um die Er- schlaffung hervorzurufen, daß dagegen die konvexe Form des Saugnapfes immer den Eintritt einer Kontraktionsperiode be- stimmt. Hängt man einen Blutegel mit einem Häkchen, das
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nahe dem hinteren Saugnapf durch die Rückenhaut gesteckt ist, frei auf, so treten Schwimmbewegungen ein, bis man dem vorderen Saugnapf einen leichten Gegenstand zu fassen gibt. Auf das Zufassen des vorderen Saugnapfes tritt sofort Längs- muskelkontraktion ein, die den Gegenstand in die Höhe hebt. Berührt man jetzt den hinteren Saugnapf mit der Spitze eines Stäbchens, an der er nicht haften kann, so wird der Saug- napf für einen Augenblick in die konkave Form umschlagen, um gleich darauf wieder konvex zu werden. Während dieser Zeit sieht man in den kontrahierten und gesperrten Längs- muskeln vom hinteren Saugnapf aus beginnend eine tiefe Er- schlaffung eintreten. Ist der hintere Saugnapf noch recht- zeitig zurückgeschlagen, ehe die Erschlaffung das Vorderende ergriffen hat, so sieht man am Vorderende einen Rest Längs- muskelkontraktion bestehen bleiben, der sich allmählich wieder nach hinten zu ausbreitet, d. h. die fortgeflossene Erregung fließt wieder in die Längsmuskeln zurück. Es öffnet also der Saugnapf, wenn er in die konkave Form umschlägt, eine Pforte für die Erregung, die sich im Längsmuskelnetz befindet, worauf diese hinausstürzt, um in das allgemeine verbindende Nerven- netz überzufließen. Dort bleibt die Erregung unsichtbar, bis sie wieder ins allgemeine Erregungstal gelangt ist und von dort aus in eines der drei Nervennetze eintritt. Ganz das gleiche zeigt sich am vorderen Saugnapf. Solange er konvex ist, herrscht Ringmuskelkontraktion, wird er konkav, so stürzt die Erregung in das allgemeine Verbindungsnetz und wird erst wieder sichtbar, wenn sie in die Längsmuskeln eingedrungen ist. Am Hinterende des Blutegels geht die Erregung aus dem Längsmuskelnetz ins Verbindungsnetz über, am Vorderende dagegen aus dem Ringmuskelnetz ins Verbindungsnetz. Auf diese Weise entsteht ein Kreislauf der Erregung, der nur darum nicht so deutlich in die Erscheinung tritt, weil die Erregung während der Erschlaffungsperiode in der sie sich im Verbindungsnetz befindet, immer nach dem Vorderende in das Erregungstal fließt.
Die Erregungspforte am Vorder- und Hinterende stellt man sich am besten unter dem Bilde eines Ventiles vor, das ja auch die Flüssigkeit nur in einer Richtung hin durch- läßt. Dieses Ventil kann aber durch die Bewegung des Saug-
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napfes nach der anderen Richtung hin geöffnet werden. Ich habe die merkwürdige Tatsache, daß eine einfache Muskel- bewegung einem Reflex die Pforten öffnen kann, die Reflex- führung genannt. Man gewinnt den Eindruck, als seien die Repräsentanten der führenden Muskeln direkt in die Haupt- leitungsbahnen eingebaut und bildeten dort das Ventil. Irgend- eine weitergehende Andeutung wage ich nicht zu geben.
Die Kenntnisse, die wir über die Erregungsvorgänge beim Gehen der Blutegel gewonnen haben, gestatten uns eine Tat- sache der Muskelphysiologie ihrem ganzen Umfange nach zu würdigen, die sonst nicht die genügende Beachtung finden würde. Es ist dies die ,, Unterstützungshemmung". Be- trachten wir einen Blutegel, der nahe an seinem hinteren Saugnapf aufgehängt ist und dauernd eine leichte Last trägt (man kann, um jede Störung zu vermeiden, den hinteren Saug- napf abschneiden, der sonst gerne die gehobenen Gegenstände erfaßt), so ist der Blutegel in diesem Moment nichts anderes als ein Längsmuskelband, das verkürzt ist und eine Last trägt. Die Antagonisten spielen gar nicht mit, denn solange der hintere Saugnapf nicht konkav wird, bleibt die Erregung im Netz der Längsmuskeln eingesperrt. Die eingesperrte statische Erregung bringt die Längsmuskeln zur Kontraktion und Sper- rung, und zwar reicht die Sperrung gerade aus, um die jeweilige Last zu tragen. Wenn wir uns den Hautmuskelsack von Sipunculus ins Gedächtnis zurückrufen, so konnte dieser auch nach Verlust des Zentralnervensystems eine bestimmte Last tragen. Wurde die Last schwerer, so erschlafften die Muskeln, wurde sie leichter, so verkürzten sie sich. Die Größe dieser Last war ein für allemal durch die Sperrschwelle gegeben, die in den Muskeln herrschend blieb, nachdem das Zentral- nervensystem entfernt war. Es können also die Muskeln auch ohne ihre Repräsentanten ihre Länge selbst regulieren, wenn sie sich auf ein bestimmtes Gewicht eingestellt haben, das gerade ihrer Sperrschwelle entspricht. Auf verschiedene Gewichte ver- mögen sich die Muskeln ohne Hilfe des Zentralnervensystems aber nicht einzustellen. Dies aber vermögen die Längsmuskelstränge des Blutegels solange sie mit ihrem Repräsentantennetz in Ver- bindung stehen. Die Fähigkeit, die Sperrschwelle je nach der Größe des Gewichtes zu wechseln, wird am besten durch die
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Unterstützungshemmung erläutert. Man gebe einem hängenden Blutegel ein Reagensgläschen zu heben. Dann unterstütze man das gehobene Gewicht eine Zeitlang und gebe es sanft wieder frei. Sofort wird das gleiche Grewicht, das bisher an- anstandslos getragen wurde, die Längsmuskeln bis auf ihre anatomische Länge dehnen. Ist das geschehen, so beginnen die Muskeln das Gewicht von neuem zu heben.
Kjiüpft man einem marschierenden Blutegel ein Schnür- chen an das Hinterende und zieht an der Schnur während der Kontraktionsperiode der Längsmuskeln, so werden diese wie bei der Unterstützungshemmung ohne weiteres nachgeben und der Wurm wird lang und schlaff, um gleich darauf wieder mit der Längsmuskelkontraktion von neuem zu beginnen. Reizt man kurz vorher das hintere Ende des Blutegels mecha- nisch, so gibt er dem Zug nicht mehr nach. Dann besitzen seine Muskeln eine Sperrschwelle, die höher ist als die Last des Körpers. Es benehmen sich die Muskeln des Blutegels in diesem Falle wie die Retraktoren des Sipunculus nach dem Erregungsfang. Denn nun sind sie nicht mehr in der Lage, sich verschiedenen Gewichten durch Verschiebung ihrer Sperr- schwelle anzupassen, sondern sind dauernd auf eine Maximal- last eingestellt. Dieselbe Gesetzmäßigkeit zeigt sich bereits bei den Seeigelstacheln. Auch sie erhalten durch starke Reizung eine hohe und unabänderhche Sperrschwelle, während sie beim normalen Arbeiten sich durch Verschiebung ihrer Sperrschwelle allen möghchen Gewichten anpassen können. Die maximale Sperrschwelle läßt sich bei den Muskeln der Seeigelstacheln dauernd erreichen, wenn man die Haut, in der sich der zen- trale Nervenring befindet, ablöst.
Aus all diesen Beispielen läßt sich schUeßen, daß die An- sammlung übermäßiger Erregung im Muskel ebenso wirkt wie die Abtrennung des Zentralnervensystems, das heißt, daß nur bei normalen Erregungs Verhältnissen die Herrschaft der Re- präsentanten über ihre Gefolgsmuskeln gewährleistet ist. Diese Herrschaft besteht in der Verschiebung der Sperrschwelle sowohl nach oben wie nach unten, je nach Maßgabe der angehängten Last. Die Sperrschwelle selbst ist, wie wir wissen, jener Zu- stand der Sperrmuskulatur, der es ihr ermögUcht, einer be- stimmten Last bei jeder beliebigen Länge des Muskels das
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Gleichgewicht zu halten. Zu jeder Last gehört eine bestimmte Sperrschwelle. Die richtige Sperrschwelle für eine beliebige Last wird stets mit Sicherheit gefunden, weil die Erregung, die zu den Verkürzungsrauskeln fließt, so lange in die Sperr- muskeln übergeht, bis diese die genügend hohe Sperrschwelle er- reicht haben, um es den Verkürzungsmuskeln zu ermöglichen, die Muskelbewegung auszuführen, worauf der weitere Zufluß zu den Sperrapparaten aufhört. Soweit hatte uns die Analyse der Seeigelstacheln gebracht. Nun zeigt es sich, daß zur Er- reichung der richtigen Sperrschwelle ein zentraler Apparat ge- hört, denn alle Muskeln, die nur ihren peripheren Nerv allein besitzen, sind immer nur auf eine einzige Sperrschwelle ein- gestellt, die für jede Last vorhalten muß. Die Verschiebung der Sperrschwelle bedarf eines Zentrums, d. h. des Repräsen- tanten im Nervensystem. Die Zentren besitzen alle die Fähig- keit, die statische Erregung zu verschieben und Druck mit Gegendruck zu beantworten. Es scheint daher am einfachsten, die Wirkung der Repräsentanten darin zu erbhcken, daß sie den Erregungsdruck, mit dem die Sperrmuskulatur arbeitet, so lange steigert, bis die richtige Sperrschwelle erreicht ist, die der Last das genügende Gegengewicht liefert. Es schickt dem- nach der Repräsentant die Erregung zum Muskel. Diese tritt in die Verkürzungsapparate. Hängt eine Last am Muskel, so können die Verkürzungsapparate nicht funktionieren. Es muß erst das genügende Gegengewicht durch die Sperrmuskeln ge- hefert sein. Um dieses zu erreichen, sendet der Repräsen- tant immer neue Erregung zum Muskel unter immer steigen- dem Druck, bis die Sperrschwelle erreicht ist, die der Last das Gegengewicht hält. Dann können die Verkürzungsmuskeln anstandslos arbeiten. Wird die Last ausgehängt, so saugt der Repräsentant die Erregung wieder an sich, die Sperrschwelle sinkt und es tritt bei Fortnahme der Unterstützung durch den neuen Zug der Last vollkommene Erschlaffung ein. Unter diesem Bilde können wir uns die Unterstützungshemmung einigermaßen verständlich machen. So fügt sich langsam Stein an Stein in der Erkenntnis der schwierigen Verhältnisse, welche bei der Wirkung und Gegenwirkung aller statischen Erregung Geltung haben.
Die Manteltiere. 177
Die Manteltiere.
(Cyona intestinalis.)
Wie die Medusen die Meeresoberfläche abweiden, indem sie das Seewasser unfiltriert aufnehmen und filtriert entlassen, so finden sich zahlreiche Tiere, die dieses Geschäft in der Tiefe, am Meeresgrunde betreiben und dabei reichlich auf ihre Kosten kommen. So wenig es angebracht wäre, sich nur vom Staube der Luft zu nähren, so reichlich lohnt es sich, im Staube des Meeres seine Nahrung zu suchen. Denn der Meeresstaub ist großenteils lebendig und besteht aus mikro- skopischen Pflanzen und Tieren, die alle zur Nahrung geeignet sind. Man muß nur eine genügend große Anzahl von ihnen vertilgen.
Abgesehen von den zahllosen Schwämmen, die auf diese Weise ihr Leben fristen, sind wohl die Manteltiere oder Tuni- katen die interessantesten Filtriermaschinen. Während die Schwämme infolge ihrer primitiven Leibesbeschaffenheit (sie sind mehr Zellkolonien als Individuen) zu diesem primitiven Nahrungsfang prädestiniert erscheinen, besitzen die Manteltiere eine so hohe Organisation, daß sie auch zu einem höheren Dasein befähigt wären. Und in der Tat haben die Mantel- tiere in ihrer Jugend ein reiches Leben geführt und eine reiche Umwelt besessen. Die freischwimmenden Larven, im Besitze von Auge und Statolithen, mit einer Art Rückenmark ver- sehen, das von einer Chorda dorsalis gestützt wird, nähern sich bereits den einfachen Fischen und berechtigen zu den schönsten Hoffnungen. Und dann dieser Rückschlag! Die festsitzende Lebensweise und die Art des Nahrungsfanges scheint auf diese Tiere degenerierend einge\^'irkt zu haben. Ja, sie wirken in dieser moraHschen Beleuchtung fast wie ein warnendes Beispiel.
Und doch ist diese ganze Auffassung lächerlich. Die er- wachsenen Tunikaten sind ihrer Umgebung und ihrem Dasein genau so gut angepaßt, wie ihre Larven. Daß sie es ver- mögen, so hohe Differenzierungen in ihren Larvenorganen zu zeitigen, beweist nur, wie mannigfaltig das ganze Tier ist und gewiß nichts gegen seine Vollkommenheit. Denn ein Tier ist
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 12
■j^YS I^iö Manteltiere.
nicht bloß eine momentane Einheit, sondern eine höhere Zu- sammenfassung aller in der Zeitfolge sich ablösenden momen- tanen Einheiten. Bei allen anderen Tieren wird man leicht dazu verleitet, in dem erwachsenen Tier das Ziel der indivi- duellen Entwicklung zu sehen. Die Manteltiere belehren uns eines Besseren. Das ganze Leben, mag es sich in der Larve oder dem Erwachsenen abspielen, bleibt sich stets allein Selbst- zweck. Es gibt keine Entwicklung vom Schlechteren zum Besseren, vom Unvollkommeneren zum Vollkommeneren. Be- reits das Ei ist vollkommen vollkommen.
Wir müssen uns zu einem übermomentanen Standpunkt erheben, wenn wir die Tiere richtig beurteilen wollen. Von diesem Standpunkt aus erscheint auch das Auf- und Absteigen im Leben der Manteltiere als eine zusammengehörige Einheit, als eine planmäßige Melodie. Auch wenn sie nicht mit einer Steigerung endigt, bewahrt sie dennoch ihre volle Schönheit.
Wir haben es hier nur mit der momentanen Einheit zu tun, die uns das erwachsene Tier zeigt und wollen auf sie und ihre dürftige Umwelt einen kurzen Blick werfen. Cyona intestinalis ist ein Sack, der etwa handgroß werden kann. In diesen Sack führen zwei Öffnungen: die eine, der Mund, nimmt das Seewasser auf, die andere, die Kloake, entläßt es filtriert. Der Filtrierapparat befindet sich gleich unterhalb der Mund- öffnung, es ist der sogenannte Kiemenkorb. ,,Bei den Aszidien", schreibt Ludwig, ,,ist die ganze Wand der Kiemenhöhle von in Quer- und Längsreihen angeordneten und so ein Gitter bil- denden, zahlreichen Spalten durchbrochen. An den Rändern dieser bewimperten Spalten verlaufen die Blutgefäße der Kieme. Durch die Spalten gelangt das durch den Mund auf- genommene Atemwasser in einen den Kiemensack umgebenden Raum (Peribranchialraum), welcher eine Nebenhöhle des Kloaken- raumes ist; aus letzterem wird das Atemwasser dann zusammen mit den Exkrementen und Geschlechtsprodukten durch die Kloakenöffnung entfernt. — An der Bauchseite der Kiemenhöhle verläuft in der Mittellinie eine eigentümliche bewimperte Rinne, die Bauchrinne. — Die Seitenränder der Bauchrinne besitzen zahlreiche Drüsenzellen. — Die Drüsenzellen der Rinne sondern einen Schleim ab, an welchem die durch das Atemwasser in die Kiemenhöhle gebrachten Nahrungsteile hängen bleiben und
Die Manteltiere. 179
dann durch die Tätigkeit der Wimpern zur Speiseröhre beför- dert werden."
Auf diese Weise wird die doppelte Filtrierung vorge- nommen. Der Sauerstoff des Seewassers wird von den Blut- gefäßen ergriffen, während die suspendierten Nahrungsteilchen von den engen Spalten des Kiemenkorbes abgesiebt werden und in den Verdauungskanal gelangen. Das Wasser selbst streicht unaufhörlich vom Munde in den Kiemenraum, vom Kiemenraum in den Kloakenraum und gelangt dann ins Freie. Die gesamten Eingeweide von Cyona sind von einer doppelten Muskelschicht umgeben, einer äußeren Längsmuskelschicht und einer inneren Ringmuskelschicht. Die Kontraktion der Längs- muskeln verkürzt das Tier, die kontrahierten Ringmuskeln ver- längern es. Beim Ejektionsreflex kontrahieren sich beide Mus- kelarten zusammen und werfen den flüssigen Inhalt des Kiemen- korbes durch die Kloakenhöhle nach außen.
Der Schutzreflex besteht im Verschluß der beiden Atem- öffnungen oder Siphonen und dient dazu, stark reizende Gegen- stände vom Kiemenkorb fernzuhalten. Meist kommt es zugleich zu einer Kontraktion der Längsmuskeln, die das Tier vom Reizort wegführt. Das auffallendste beim Schutzreflex ist die Tatsache, daß bei der geringsten Berührung der einen Öffnung sich auch die andere schheßt. Nun liegt zwischen beiden Öffnungen ein Ganglion, über dessen Eingreifen in den Reflex viel geschrieben worden ist. Jordan hat als letzter darauf hingewiesen, daß bei Entfernung des Ganglions auch ein großer Teil der direkten Verbindungsbahnen, die von einem Sipho zum anderen füliren, mit durchtrennt wird. Loeb hatte bereits behauptet, das Ganglion bedeute nichts mehr als die schnellste nervöse Verbindung von einer Öffnung zur anderen. Seine Versuche sind aber als nicht beweisend zurückgewiesen worden. Dagegen ist es Jordan in einer großen Anzahl von Fällen gelungen, die Mundöffnung so nachhaltig zu reizen, daß man die Ausbreitung der Erregung nach Entfernung des Gang- Hons erst am Munde selbst, dann am Rumpf und schließhch an der Kloake verfolgen konnte. Es existiert also außer dem Schutzreflex, der schnell und energisch von einer Öffnung zur anderen eilt, auch noch ein allgemeiner ,, genereller" Reflex, der sich mit starkem Dekrement über die gesamte Muskulatur
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IQQ Die Mantel tiere.
ausbreitet. Dadurch wird das Vorhandensein eines allgemeinen Nervennetzes bewiesen, das sich über die ganze Muskulatur hinzieht. Von den Muskeln sprechen die Längsmuskeln schwerer an als die Ringmuskeln, deren Hauptaufgabe es ist, die Kieme und den Kloakenraum zusammenzupressen.
Das Ganglion selbst hat nach Jordan nur eine regulie- rende Funktion, ähnlich den Zentren der Radialnerven bei den Seeigeln. Es beherrscht als gemeinsames Reservoir für die statische Erregung das ganze Netz mit seinen Repräsentanten. Während aber die Radialnerven-Reservoire im normalen Leben mehr Erregung an die Peripherie abgeben als in sich auf- nehmen, benimmt sich das GangHon von Cyona ganz anders. Es dient der Hauptsache nach dazu, die überschüssige Erre- gung an sich zu ziehen. Die Manteltiere liefern daher das erste Beispiel einer Bremsmaschine. Wird das Ganglion ent- fernt, so verfallen die Muskeln langsam mehr und mehr einer dauernden Sperrung. Im übrigen regulieren die Muskeln sich selber. Wird durch eine dynamische Erregung vom Mund- sipho aus der ganze Muskelsack in Tätigkeit gesetzt, während sich zugleich die beiden Öffnungen schließen, so steigt der Binnendruck schnell und wirkt seinerseits auf die Muskeln dehnend und die Erregung herabsetzend. Jordan hat aber an ausgeschnittenen Muskeln zeigen können, daß die Er- schlaffung durch Dehnung anders verläuft bei Anwesenheit als nach Entfernung des Ganglions. Ist das nervöse Reservoir noch vorhanden, so findet sich im allgemeinen Netz weniger statische Erregung vor, denn diese wird vom Ganglion dauernd abgesaugt. Daher ist die Erschlaffung der Muskeln infolge der Dehnung eine schnellere als bei einem Nervennetz, das viel Erregung beherbergt, welche es nicht mehr abgeben kann. Ist aber ein bestimmter Grad der Dehnung erreicht, bei dem das Erregungsniveau der Repräsentanten unter dasjenige des Zentralreservoirs sinkt, so vermag dieses mit seiner Erregung helfend einzuspringen, während ein zentrales Netz, das dieses Hilfsmittels beraubt ist, der Erschlaffung wehrlos preisge- geben ist.
Cyona besitzt dauernd eine relativ hohe Sperrschwelle in der gesamten Muskulatur. Daher ist sie in der Norm hoch aufgerichtet. Diese Haltung steht unter nervöser Kontrolle
Aplysia. 181
des Ganglions. In den Nervennetzen können beim Schutz- wie beim Ejektionsreflex dynamische Wellen ablaufen. Damit ist das ganze Innenleben des Manteltieres in seinen Grund- zügen gegeben.
Wir haben nur noch einen Blick auf die Umgebung zu werfen und ihre Umwandlung durch die Rezeptoren. Die Manteltiere tragen ihren Namen nach einer mantelartigen Um- hüllung, welche die Muskeln umgibt und die bei verschiedenen Arten knorpelhart bis lederartig werden kann. Manchmal ist der Mantel durch Säure produzierende Drüsen besonders ge- schützt. Der Mantel schließt jeden Außenreiz vom Körper ab. So bleiben nur die Ränder der beiden Öffnungen als rezipierende Organe übrig, abgesehen von der inneren Auskleidung der Kiemenhöhle, deren Reizung den Ejektionsreflex veranlaßt. Es versteht sich von selbst, daß bei einem festsitzenden Tiere, das nur das Wasser ein- und ausströmen läßt, besondere Re- zeptoren für die Nahrungsunterscheidung nicht am Platze sind. Es finden sich in der Tat nur solche Rezeptoren vor, die auf Schädlichkeiten mechanischer oder chemischer Art ein- gestellt sind, welche sich im Wasserstrom befinden und durch den reflektorischen Schluß der Siphonen ausgeschaltet werden.
Die Umwelt von Cyona besteht also, wenn man sie allein vom Standpunkte des Innenlebens im Zentralnervensystem beurteilt, bloß aus Schädlichkeiten, die als Reize wirken und die, sobald sie auftreten, eine dynamische Erregung erzeugen, welche den Schutzreflex hervorruft. Alle gute Nahrung wandert reizlos in den Körper.
Aplysia.
Von den großen Nacktschnecken des Meeres ist Aplysia sicher die interessanteste. Ihre Größe und ihre Haltung hat ihr den Namen Seehase eingetragen. In der Tat sieht sie einem kleinen schwarzen Kaninchen nicht unähnhch, das am Boden sitzend, den Hals emporstreckt und die Ohren spitzt, bevor es fort- hüpft. Die Ohren sind aber in Wirklichkeit die Augenstiele des Seehasen und von Forthüpfen ist geA^dß keine Rede. Denn der Seehase kann nur langsam am Boden entlang kriechen
182 Aplysia.
oder auch schwimmen, indem er zwei seitliche Hautlappen schwingend bewegt.
Der Körper von Aplysia besteht aus einem derben musku- lösen Sacke, der eine geräumige Leibeshöhle birgt. Die Leibes- höhle ist mit der leicht opaliszierenden Blutflüssigkeit gefüllt. In ihr liegen die Eingeweide und Nerven in seltener Klar- heit da.
Um ein richtiges Verständnis für die Bewegungen der Schnecken zu erlangen, muß man sich eine deutliche Vorstellung von der Anatomie des muskulösen Sackes gemacht haben, der Aplysia von allen Seiten einhüllt. Wir verdanken die Grund- lagen unserer Kenntnisse Jordan. Er zeigte, daß die eigent- liche Masse des Körpersackes durch Bündel glatter Muskel- fasern gebildet wird. Jede einzelne Muskelfaser, sowie die ganzen Bündel werden vom Bindegewebe eingehüllt, so daß überall Bindegewebe an Bindegewebe stößt. Das Bindegewebe, das viele elastische Formen enthält, bildet keine zusammen- hängende Schicht, sondern umgibt ein reiches, weitverästeltes Lakunensystem mit vielen größeren Höhlungen. Das Lakunen- system wird von Blut durchspült, das durch den wechselnden Binnendruck, der im Innern des Körpersackes herrscht, überall hingetrieben wird. Kontrahiert sich irgendwo eine größere Muskelpartie, so werden dadurch die innerhalb der kontrahierten Muskelpartie liegenden Lakunen und Hohlräume vom übrigen Lakunensystem abgesperrt und erhalten einen selbständigen Binnendruck. Dieser Binnendruck steigt bei steigender Kon- traktion der Muskeln schnell an, weil die Wände der Lakunen nicht behebig nachgeben, sondern durch den Reichtum an elastischen Fasern fähig sind, dem auf sie ausgeübten Druck einen kräftigen Gegendruck entgegenzusetzen.
Dem hohen Binnendruck in den Lakunen kommt eine große Bedeutung zu, weil er es ist, der die verkürzten Muskeln nach Aufhören der Reizung wieder auseinandertreibt. Alle Muskeln arbeiten gegen ein elastisches Widerlager, das bereit ist, sie in jedem Moment wieder auszudehnen. Bei erhöhtem Binnendruck des ganzen Sackes drücken sich die einzelnen in der kontrahierten Muskelpartie gelegenen Lakunen nach außen vor und bilden recht ansehnliche Pro tuberanzen.
Die einzelnen Muskelbündel sind auf der Oberfläche des
Aplysia. 183
Körpersackes ziemlich wirr verteilt. Nur am Fuß und an den Flügeln zeigt sich eine größere Regelmäßigkeit in der Anordnug. Am Fuß zerfallen die Muskeln in längs- und querlaufende Bündel, die in unregelmäßigen Schichten alternierend über- einanderliegen. ,,In den Flügeln", schreibt Jordan, „verlaufen die Hauptbündel den Außenwänden parallel, und zwar sind die einen parallel mit der Ansatzlinie der Flügel, die anderen stehen senkrecht oder schräg auf dieser Linie."
Der ganze Muskelsack ist von einem dichten Nervennetz um- sponnen, in das sich die Nerven, die von den Ganglien kommen, einsenken. Diese Nerven muß man pseudoperiphere nennen, weil sie in Wirklichkeit intrazentrale Bahnen sind, die zwei Zentralstationen miteinander verbinden.
Der Beweis, daß es sich um ein allgemeines Nervennetz handelt, ist von Bethe erbracht worden. Er schreibt: ,,Bei Reizung eines peripheren Nerven bleibt der Effekt nicht auf die direkt innervierte Muskulatur beschränkt, sondern er dehnt sich je nach Stärke des Reizes auf weitere Teile und schließ- lich auf die ganze Muskulatur aus, trotzdem das gesamte zentrale Nervensystem (d. h. die Ganglien) herausgenommen ist. Es hängt also jeder Nerv durch das Nervennetz indirekt mit der gesamten Muskulatur zusammen."
Da ein jedes Stück des Muskelsackes, solange es noch ein wenig äußere Haut beherbergt, noch eines vollen Reflexes fähig ist, so ist dadurch auch die Anwesenheit von Repräsentanten im zentralen Netz bewiesen. Da die Repräsentanten einerseits durch die Dehnung der Muskeln, andererseits durch die zen- tralen Erregungsänderungen beeinflußt werden, so ist es leicht verständlich, daß die schwache elektrische Reizung der pseudo- peripheren Nerven sehr wechselnde Resultate gibt. Bald wird ein Teil der Repräsentanten durch die in ihnen enthaltene gesteigerte Erregung relativ refraktär sein, bald ein anderer Teil durch die Wirkung des elastischen Widerlagers gedehnte Gefolgsmuskeln besitzen und daher ein niedriges Erregungs- niveau zeigen, in das die dynamischen Erregungswellen leicht Eingang finden. Bethe beschreibt die Wirkung der Nerven- reizung folgendermaßen: ,,Nur bei sehr starker faradischer Reizung sieht man einigermaßen andauernde und dann sehr ausgedehnte Kontraktion eintreten. — Bei allen submaximalen
184 Aplysia.
Reizungen wechselt während der Reizung Kontraktion und Erschlaffung miteinander ab und der Effekt bleibt auf ein kleineres Gebiet beschränkt."
Die langen pseudoperipheren Nerven, die durch die große Leibeshöhle des Sackes ziehen, verbinden das zentrale Muskel- netz mit einem paarigen Ganglion, das unter dem Schlünde liegt und Pedalganglion heißt. Es erhebt sich wieder die Frage, inwieweit ist das Pedalganglion bloß als Durchgangs- station für die Erregung anzusehen, und welche Eigenschaften besitzt es außerdem? Jordan hat ein Tier durch einen Median- schnitt in zwei Hälften geteilt und die Hälften einmal durch ein Stück Muskelsack, das andere Mal durch die Ganglien mit- einander in Verbindung gelassen. Dann wurde die eine Tier- hälfte abwechselnd belastet und entlastet, während die andere HäKte mit einem Registrierapparate in Verbindung stand. Jordan fand: „daß die Belastung (Dehnung) der einen Tier- hälfte in der anderen den Tonus herabsetzt, und zwar so, daß ein Teil des peripheren Nervennetzes die Kommunikation bildet, diese Herabsetzung eine geringfügige ist ; wenn dagegen das Zentralnervensystem die Brücke bildet, so erfolgt bei Be- lastung ein prompter Tonusfall, bei Entlastung eine ebenso ausgesprochene und schnelle Steigerung". Daraus läßt sich schUeßen, daß die Bahnen, die durch das Pedalganglion gehen, eine viel bessere Verbindung der verschiedenen Teile des Muskel- sackes untereinander bilden, als das allgemeine nervöse Netz.
Das Pedalganglion zeigt außerdem sehr ausgesprochene zentrale Eigenschaften. Durchschneidet man die Bahnen, die vom Pedalganglion zu den Muskeln führen, so bemerkt man bald, daß die gesamte Muskulatur einer dauernden Verkürzung und Sperrung anheimfällt. Genau wie bei Cyona ist bei Aplysia das den Muskelschlauch beherrschende Ganglion ein aufsaugen- des Reservoir, das der dauernden Überproduktion an Erregung im Nervennetz ein Ziel setzt.
Auch bei den Landschnecken, welche die gleiche Trennung von Nervennetz und Ganglien zeigen, herrscht die gleiche Ein- richtung, wie Biedermann schreibt. ,, Neben der Rolle eines motorischen Hauptzentrums hat das Pedalganglion auch noch die weitere, nicht minder wichtige Aufgabe, den Tonus der ge- samten Fußmuskulatur dauernd zu beherrschen, und zwar im
Aplysia. 185
Sinne einer stetigen Hemmung. Jede dem Einfluß des ge- nannten Ganglions entzogene Muskelpartie gerät in einen Zu- stand stärkster, dauernder Kontraktion (Tonus)."
Die Reizung der pseudoperipheren Nerven erzeugt immer einen Erregungszuwachs im zentralen Netz, und niemals eine Hemmung. Bei den Landschnecken kann man sich über die Wirkung der Reizung täuschen, denn die vorher verrunzelte Sohlenfläche wird glatt. Das ist aber bloß eine Wirkung der Muskelkontraktion, welche die Blutflüssigkeit in das Lakunen- system unter die Haut preßt. Bei Aplysia ist die Kontraktion der Muskeln immer über jeden Zweifel erhaben.
,, Teile (von Aplysia), die nicht mehr mit einem lebenden Pedalganglion in Verbindung sind, behalten durch Hautreiz zugeführten Tonus auffallend lange", schreibt Jordan.
Wir haben nach alledem im Pedalganghon ein Reservoir zu sehen, das die überschüssige Erregung aus dem Netz dauernd an sich saugt und dadurch die Muskeln unter normalen Be- dingungen erhält. Das Saugreservoir kann aber jederzeit, wenn sein Erregungsniveau höher wird als das der Repräsentanten, Erregung an das Netz abgeben. Sobald in irgendeiner Form Erregung in die Verbindung der pseudoperipheren Nerven tritt, ^\de es bei direkter Nervenreizung geschieht, so geht die Er- regung ins Netz über. Es gibt also keine Hemmungsnerven und die Hemmung erfolgt bloß durch Absaugung der Erregung. Die Abtragung des Pedalganglions hat denselben Einfluß, wie die Reizung der pseudoperipheren Nerven, beide steigern die Erregung in den Repräsentanten. Ist nun eine normale Be- wegung im Gang, so kann diese sowohl durch den Verlust des Pedalganglions, wie durch Reizung der pseudoperipheren Nerven gehemmt werden. In diesem Fall bedeutet Hemmung bloß eine Störung des Ablaufes der normalen Erregungen. Bethe schreibt über Aplysia: ,,Das normale Tier kriecht nur, wenn der Körper schlaff ist; im Kontraktionszustande laufen keine Wellen über die Sohle."
Es w^äre sehr lehrreich, sich darüber ein Bild zu machen, was für heterogene Dinge unter dem Wort ,, Hemmung" zu- sammengefaßt werden. Man würde bald zur Überzeugung ge- langen, daß faßt jede Abweichung von der Norm irgendwelcher Bewegung, aus welchem Grunde sie auch erfolge, als Hemmung
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bezeichnet werden kann. Hier handelt es sich um die Frage, ob durch Reizung der pseudoperipheren Nerven eine Erschlaffung in den Muskeln hervorgerufen werden kann. Jordan hat die Nerven von herausgeschnittenen Muskelpartien, die ihren Kon- traktionszustand direkt aufschrieben, mit den verschiedensten Reizen behandelt und niemals etwas anderes als Verkürzung erhalten. Der Versuch Biedermanns, in den Nerven der Schnecken Erschlaffungsfasern nachzuweisen, ist als gescheitert anzusehen. Da solche Fasern in keinem der von uns be- handelten Tiere nachzuweisen waren, brauchen wir uns nicht weiter um sie zu bekümmern.
Die Bewegungen der Schnecken können auch vom Nerven- netz nach Verlust des Pedalgangüons ausgeführt werden, wenn die Erregungssteigerung nicht allzu heftig auftritt. Bethe schreibt: ,, Schneidet man einem solchen Tier (limax cinereus oder variegatus) den Kopf ab, so zeigen sich die Wellen in unveränderter Regelmäßigkeit (Kunkel)." Auch an Aplysia ist in günstigen Fällen ein Überdauern der normalen Bewegungen nach Entfernung des Pedalganglions zu beobachten.
Die Bewegungen der Flügel von Aplysia, die sich wie das Gewand einer Serpen tintänzerin benehmen (Jordan), sind leicht zu verstehen, denn es kontrahieren sich die einzelnen Muskelbündel nacheinander von vorne nach hinten fortschreitend. Das ist eine Bewegungsart, die sich an die Schwimmbewegungen der Blutegel eng anschUeßt.
Die Bewegungen an der Sohle von Aplysia setzen sich aus zwei Wellen zusammen. Eine Verdünnungs welle (Kon- traktion der Querfasern) läuft von vorne nach hinten, wodurch die vorderste Sohlenpartie sich verdünnt und nach vorne schiebt. Sobald diese am Boden haftet, tritt eine Verdickungswelle (Längsmuskelkontraktion) auf, welche die nächste Partie der Sohle nach vorne zieht. Genau wie beim Regenwurm ziehen Verdünnungs- und Verdickungs wellen von vorne nach hinten.
Auch an Landschnecken hat Biedermann das Vor- kommen dieser Bewegungsart beobachtet. Dagegen zeigt die Sohle der Landschnecken außerdem noch einen ganz neuen Bewegungstjrpus, der völlig aus der Reihe alles bisher Be- kannten herausfällt. Jede Welle, die ein Tier im freien Wasser vorwärts treibt, läuft immer von vorne nach hinten ab, denn
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es Übt die fortschreitende Vorderseite der Welle einen Druck auf das Wasser aus. Geht die Bewegung am Boden vor sich, so tritt gleichfalls eine Welle auf, die von vorne nach hinten läuft, wie wir das beim Regenwurm gesehen haben. Die Ver- dünnungswelle, die den Körper verlängert, muß unter allen Umständen am Vorderende beginnen, damit dieses voranschreite. Begänne die Verdünnungswelle am Hinterende, so würde dieses vorangehen. Nun zeigen sich auf der Sohle der Landschnecken Wellen, die von hinten nach vorne laufen und trotzdem das Tier vorwärts tragen. Wodurch kommt diese merkwürdige Umkehr zustande?
Am besten ist es, man vereinfacht sich die Vorstellung der Schneckensohle durch folgendes Bild, das die mechanischen Verhältnisse in allen wesentlichen Punkten wiedergibt. Ein langer muskulöser Strick sei von einer schwammigen, elastischen Masse umgeben, die mit Flüssigkeit vollgesogen ist. Nach außen sei das ganze zyhnderförmige Gebilde von einer elasti- schen Haut überzogen. Beginnt der muskulöse Strang sich an einem Ende zu verkürzen, so wird er zugleich an dieser Stelle dicker und die Flüssigkeit in der schwammigen Masse bildet einen nach außen vorspringenden Wulst, der mit der fortschreitenden Kontraktionswelle von einem Ende zum anderen mit fortschreitet. Der Wulst in der schwammigen Masse, welche in ihren gedehnten elastischen Wänden eine Flüssigkeit von hohem Binnendruck einschließt, hat die Aufgabe, die über ihm Hegende Partie des muskulösen Strickes, sobald die Kon- traktion geschwunden ist, wieder auszudehnen und ihr die An- fangslänge wiederzugeben. Das Fortschreiten des Wulstes über den ganzen Zylinder wird aber nur dann zu einer Fortbewegung des Zylinders führen, wenn seine Oberfläche nach Art eines Sperrades am Boden haftet, das die Bewegung nur in der Richtung des fortschreitenden Wulstes freigibt, in der anderen aber hemmt. Wenn das nicht der Fall ist und die Reibung am Boden nach beiden Seiten hin die gleiche ist, so käme nur ein wirkungsloses Hin- und Herbewegen an der gleichen Stelle zustande. In der Tat ist eine solche äußere Sperrwirkung vor- handen. Man kann eine Gartenschnecke, die auf einer Glas- platte kriecht, wenn man sie an ihrer Schale gefaßt hat, ganz leicht nach vorne, aber viel schwerer nach hinten ziehen.
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Die ganze Sohle der Landschnecken ist als ein einziger Saugnapf anzusehen. Entsteht an irgendeiner Stelle ein er- habener Wulst, so löst er in einem kleinen Bezirk die Saug- fläche vom Boden los und ermöglicht dadurch eine wirkliche Verschiebung der Sohlenfläche am Boden. Diese Verschiebung wird durch die Zusammenziehung der Längsmuskeln und durch ihre Wiederausdehnung mittels der schwammigen Masse hervor- gerufen. Der feste Punkt für diese teils ziehende, teils stoßende Bewegung liegt immer vorne und der bewegte hinten. Diese theoretische Betrachtung wird durch die Beobachtung aufs schönste bestätigt. Wir besitzen von Biedermann eine ein- gehende Beschreibung des Vorganges: ,,Man kann sich leicht davon überzeugen, daß ein bestimmter Punkt der Schnecken- sohle immer in dem Momente eine beschleunigte Vorwärts- bewegung erfährt, wo eine der Kontraktionswellen darüber hinzieht. Betrachtet man die Sohlenfläche einer großen Helix Pomatia von unten her durch eine Glasplatte, auf welcher das Tier fort- gleitet, bei Lupen Vergrößerung, so sieht man dieselbe übersät mit zahllosen weißlichen Pünktchen, die, wie die mikroskopische Untersuchung lehrt, kleinen Drüschen entspricht. Faßt man ein solches Pünktchen als Merkzeichen ins Auge, so ist leicht festzustellen, daß es in dem Augenbhck, wo eine Welle darüber hinläuft, einen Ruck nach vorwärts erhält und sozusagen durch die Welle vorwärts geschoben wird. Solange es sich dann im Bereiche des Zwischenraumes zwischen je zwei Wellen befindet, liegt es völlig ruhig, um bei der nächsten Welle wieder um eine gleiche Strecke vorzurücken. ... Es wird hiernach jeder Punkt der Sohlenfläche in streng rhythmischer Folge durch die Wellen in der Richtung ihres Fortschreitens ruckweise nach vorne bewegt, um dann in der neuen Lage so lange zu ver- harren, bis eine folgende Welle ihn in gleicher Weise vorschiebt." Trotzdem ist Biedermann der Meinung, daß diese Wellen- bewegung nicht imstande ist, die Sohle vorwärts zu treiben, denn er schreibt: ,,An sich ist nun freihch die Wellenbewegung der Sohle noch nicht vermögend, ein stetiges Fortgleiten des Schneckenkörpers zu bedingen. Es gehört dazu vielmehr noch eine Kraft, durch welche die Muskeln am Vorderende der Sohle nach jedesmaUger Kontraktion wieder passiv gedehnt und nach vorne in der Richtung des Kriechens verlängert werden." Diese
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verlängernde Wirkung auf die kontrahierenden Muskelfasern geht vom Binnendruck des Wulstes aus und ist an der ganzen Sohlenfläche, nicht bloß am Vorderende vorhanden. Die Dehnung am Vorderende bringt dieses um die Breite einer Welle am Erdboden vorwärts.
So kann es geschehen, daß durch das Fortschreiten der Kontraktionswellen der Längsmuskeln allein mit Hilfe ihrer passiven Wiederausdehnung die Sohle von hinten nach vorne geschoben wird. Was wir an Verschiebungen der Teilchen bei der Beobachtung zu sehen bekommen, ist eine gemeinsame Wirkung der Kontraktion und Wiederausdehnung, die beide im gleichen Sinne wirken, weil eine äußere Sperrvorrichtung vorhanden ist. Worin die Sperrvorrichtung besteht, die jeder Bewegung der Sohlenfläche eine bestimmte Richtung anweist, ist noch nicht aufgeklärt; vielleicht ist die Schleimsekretion in irgendeiner Weise daran beteiligt.
Es ist noch mit einem Worte darauf hinzuweisen, daß sich die Wellen stets in regelmäßigen Abständen folgen. Da sich keinerlei Vorrichtung in der Muskulatur auffinden läßt, die dieses Verhalten verursachen könnte, so sind \vir gezwungen, anzunehmen, daß das zentrale Netz, welches die Repräsentanten verbindet, so gebaut ist, daß sich immer diejenigen Repräsen- tanten, die um einen Wellenzwischenraum voneinander entfernt sind, in besonders inniger nervöser Verbindung befinden, und daß infolgedessen der Beginn des Wellenspieles an einer Stelle sogleich ausschlaggebend wird für das Entstehen neuer Wellen in bestimmten Distanzen.
Es kann keinem Zw^eifel unterliegen, daß das ganze Wellen- spiel auf Bewegungen der statischen Erregung zurückzuführen ist, welches sich immer dann frei entfaltet, wenn keine dyna- mischen Wellen störend eingreifen. Wir sind leider noch nicht in der Lage, den Parallelismus zwischen dem Ablauf der Muskel - bewegung und der Nervenerregung mit derjenigen Sicherheit darzulegen, wde es etwa bei den Herzigeln der Fall war. Aber daß es sich auch hier um ein Kreisen der Erregung in den zentralen Bahnen handelt, das sowohl von der unbekannten Verbindungsart der Bahnen, wie vom Zustand der Muskeln abhängig ist, scheint mir sicher zu sein.
Zeigte das allein gelassene Nervennetz nicht allzu große
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Neigung, einen dauernden Erregungszuwachs 7ai produzieren, so könnte auch Aplysia, wie das einzehie Landschnecken tun, ohne Gangüen ihre normalen Bewegungen ausführen. So aber muß sie von dem großen Erregungsreservoir des Pedalganglions dauernd gebremst werden, sonst gerät sie in Dauererregung. Merkwürdigerweise besitzen die Schnecken noch eine zweite Bremsvorrichtung, von der es ungewiß ist, ob sie direkt das zentrale Netz oder das Pedalganglion bremst. Diese zweite Bremsvorrichtung befindet sich in dem über dem Schlund ge- legenen paarigen Zerebralganghon.
Eine Aplysia, der das Zerebralganghon entfernt wurde, verfällt zwar nicht mehr einer Dauerkontraktion, dafür ist sie aber immer in Bewegung und schwimmt oder kriecht rastlos umher. Jordan schreibt hierüber: ,,Eine Schnecke (Aplysia) ohne Zerebralganglion bewegt sich stets, mit Zerebralganghon wenig. Diese Hemmung ihrerseits findet jedoch nur statt, so- lange der aktive Zustand des Ganghons ein geringer ist. Je mehr dieser jedoch steigt, desto mehr nimmt das Tier den Habitus eines zerebrallosen an, wie wir sagen: Das Tier setzt sich eben- falls in Bewegung. Es steigt aber dieser aktive Zustand höchst- wahrscheinhch durch Erregung der Hauptsinnesnerven."
Versuchen wir die Wirkungsart beider Ganghen mit- einander zu vergleichen, so zeigt sich, daß das Pedalganglion die Aufgabe hat, das Niveau der statischen Erregung im Netz herabzudrücken, daß das Zerebralganglion aber die Bewegungen der statischen Erregung unterdrückt. Beides ist notwendig, da der große Muskelsack überall von der rezipierenden Haut überzogen ist, die dauernd dynamische Wehen erzeugt. Diese Wellen steigern das Erregungsniveau, und wenn diese Wirkung verhindert wird, rufen sie immer von neuem Schwingungen der statischen Erregung hervor. Wir sind leider nicht ge- nügend über die Beziehungen der beiden Ganghen untereinander aufgeklärt, um uns ein zuverlässiges Bild vom Eingreifen des Zerebralganglions zu machen. Nur soviel läßt sich mit Sicher- heit über die biologische Aufgabe des Zerebralganghons sagen: Es dient dazu, daß die Reizung der höheren Rezeptoren, wie des Auges und der Witterungsorgane, ihren Einfluß auf den Muskelsack ausübe. Der mit dem Pedalganghon allein ver- bundene Muskelsack zeigt, sich selbst überlassen, so viel Er-
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regungs Vorgänge, daß die Wirkung der höheren Rezeptoren not- wendig einen Wirrwarr hervorbringen müßten, wenn nicht vor- her die Erregungsströmungen abgedämpft werden. Die Erregung, die von den höheren Rezeptoren ausgeht, übt ihren Einfluß aber gar nicht nach Art eines Reflexes aus, sondern wirkt auf den Muskelsack nur indirekt, indem sie die Bremsvorrichtung des Zerebralganghons für bestimmte Teile stillstellt und den unterdrückten Erregungen die Möghchkeit voller Entfaltung bietet. Die Wirkung des Lichtreizes z. B. besteht darin, daß die von ihm hervorgerufene Erregung in den rezeptorischen Nerven weiterläuft, bis sie zur Bremsvorrichtung im Zerebralganglion gelangt. Dort stellt sie bestimmte Teile des Bremsapparates fest und ermöghcht dadurch der unterschwellig vorhandenen Erregung im zentralen Netz, ihre Wirkung auf bestimmte Muskeln zu entfalten. Die Wirkung ist genau dieselbe, als wenn die Erregung vom Rezeptor zum Effektor geeilt wäre. Die Schnecken gleichen solchen Maschinen, die in allen Teilen einen Überschuß an Dampf produzieren, der durch zahl- reiche Ventile dauernd entlassen wird. Die Maschine wird gelenkt, indem man bald das eine, bald das andere Ventil schheßt und auf diese Weise der Maschine jede gewünschte Richtung gibt.
Die Gegenwelt.
Unsere bisherigen Betrachtungen der Innenwelt der Tiere befaßten sich hauptsächlich mit den motorischen Funktionen des Nervensystems. Bei den einfacheren Tieren liegt das Schwergewicht der nervösen Organisation im motorischen Teil. Die Leistungen der muskulösen Apparate sind oft schon hoch- kompliziert, während die rezeptorischen Organe noch äußerst einfach sind. Der Ablauf der Erregungen im zentralen Netz ist entweder durch den Rhythmus der Muskeln indirekt be- stimmt, oder der Bau des Nervensystems bestimmt selbst diesen Rhythmus. Die Teilungen des zentralen Netzes haben dann bloß die Aufgabe, besondere Gruppen oder Arten von Muskelfasern näher miteinander zu verbinden, um sie den dynamischen Wellen, die aus bestimmten Rezeptoren stammen, gleichmäßig zugänglich zu machen unter Ausschluß der übrigen
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Muskulatur. In jedem Falle sehen wir, daß die Komplikationen des nervösen Aufbaues sich unmittelbar auf die motorischen Tätigkeiten des Tieres beziehen.
Das ändert sich bei den höheren Tieren. Der motorische Apparat zeigt bei ihnen keine prinzipiellen Neuerungen außer einer immer weitergehenden Subordination von zahlreichen motorischen Netzen unter einzelne beherrschende Netze oder Zentralstationen. Der rezeptorische Apparat dagegen beginnt sich immer mehr und mehr zu entfalten. Nicht allein durch die Rezeptionsorgane selbst, die immer zahlreicher und mannig- faltiger werden, sondern auch durch ihre Verwertung im zen- tralen Netz, die eine ganz andere und reichere wird.
Alle Rezeptoren haben, wie wir wissen, die gleiche Auf- gabe: die Reize der Außenwelt in Erregungen zu verwandeln. Es tritt also im Nervensystem der Reiz selbst nicht wirklich auf, sondern an seine Stelle tritt ein ganz anderer Prozeß, der mit dem Geschehen der Umwelt gar nichts zu tun hat. Er kann nur als Zeichen dafür dienen, daß sich in der Umwelt ein Reiz bsfindet, der den Rezeptor getroffen hat. Über die Qualität des Reizes sagt er nichts aus. Es werden die Reize der Außenwelt samt und sonders in eine nervöse Zeichen- sprache übersetzt. Merkwürdigerweise tritt für alle Arten von äußeren Reizen immer wieder das gleiche Zeichen auf, das nur in seiner Intensität entsprechend der Reizstärke wechselt. Die Reizstärke muß erst eine gewisse Schwelle überschritten haben, ehe ein Erregungszeichen auftritt. Dann aber wächst die Stärke der Erregung mit der Stärke des Reizes.
Die Einfügung der Schwelle ist ein sehr wirksames Mittel, das dem Organismus erlaubt, die Reize der Umwelt auszu- schalten oder auszuwählen. Wenn aber das Nervensystem bei allen Reizen nur das gleiche Zeichen erhält, wie wird es dann mög- lich, die Reizarten zu unterscheiden? Dies geschieht durch die Benutzung besonderer Nervenbahnen, für die besonders unter- schiedenen Reizarten. Jedes Rezeptionsorgan verfügt über eine sehr große Anzahl zentripetaler Bahnen und ist dadurch in den Stand gesetzt, auch sehr feine Unterschiede in der Reizart ebenso sicher wie die gröbsten zu differenzieren, indem es für jede Reizart eine besondere Nervenbahn bereithält.
Auch bei den niederen Tieren zeigt sich schon die An-
Die Gegen weit. I93
Wendung besonderer Bahnen für die verschiedenen Rezeptoren. Sobald aber diese Bahnen in das allgemeine Nervennetz ein- münden, geht die Differenzierung wieder verloren und das Nervensystem unterscheidet die Reize der Außenwelt nicht mehr ihrer Art nach, sondern nur entsprechend ihrer Stärke. Bleiben die zentripetalen Bahnen isoliert, so ergibt sich die Möglichkeit, auch die Reizarten in ihrer Wirkung auf den Organismus getrennt zu verwerten.
Bei den höheren Organismen treten verschiedene zentripetale Bahnen, die bestimmten, häufig vorkommenden Reizkombina- tionen entsprechen, in isolierten Netzen zusammen und dienen den entsprechenden Erregungskombinationen als Sammelstelle. Dadurch wird dem Organismus die Möglichkeit geboten, auch Reizkombinationen differenziert zu behandeln. Man könnte solche Reizkombinationen kurzerhand als Gegenstände an- sprechen und dementsprechend das Nervensystem eines Tieres, das auf verschiedene Reizkombinationen verschieden reagiert, für fähig halten, Gegenstände zu unterscheiden.
Mir schien dieser Schluß bisher unabweislich. Je mehr ich mich aber mit der Frage beschäftigte : Welche mechanische Einrichtungen muß ein Nervensystem besitzen, damit es ver- schiedene Gegenstände seiner Umwelt verschieden behandelt, um so mehr kam ich zur Überzeugung, daß einfache Erregungs- kombinationen dazu nicht ausreichen. Ein jeder Gegenstand ist vor allem charakterisiert durch seine räumliche Aus- dehnung.
Für die niederen Tiere ist es sicher, daß sie dieses Cha- rakteristikum nicht benutzen. Die Verbindung eines mecha- nischen Reizes mit einem chemischen Reiz genügt zum Beispiel dem Seeigel vollauf, um den feindlichen Seestern von allen übrigen Wirkungen der Umwelt sicher zu unterscheiden. Aber bei den höheren Organismen ist das nicht mehr der Fall. Sie begnügen sich nicht mehr mit dieser primitiven Einteilungs- maschinerie. Sie unterscheiden dank ihrer höheren Organi- sation auch die räumlichen Umgrenzungen der Gegenstände. Bereits der Regenwurm lieferte die erste Probe davon.
Hier tritt auf einmal das Raumproblem in seiner ganzen Schwierigkeit an uns heran. Jede einzelne Reizqualität kann durch Anwendung einer isolierten Nervenbahn im Zentral-
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 13
194 ^^® Gegenwelt.
nervensystem durch ein besonderes Zeichen isoliert festgehalten werden, einerlei, welchen Weg die Nervenbahn einschlagen mag. Die räumliche Anordnung der Reize aber geht verloren, wenn sie nicht durch eine gleichartige Anordnung der Nerven- bahnen festgehalten wird. Nun zeigt es sich, welche Bedeu- tung es für den Organisationsplan des Zentralnervensystems hat, daß die Reizarten nicht durch verschiedene Erregungs- arten in der gleichen Nervenfaser wiedergegeben, sondern durch Anwendung verschiedener Nervenfasern festgehalten werden. Die Erregungsarten könnte man gar nicht räumlich, den Formen der Gegenstände entsprechend, ordnen, die Nervenfasern aber wohl.
Die Nervenfasern kann man ordnen, indem man sie in einer Fläche nebeneinander legt und auf diese Weise eine räumliche Anordnung schafft, die der äußeren Anordnung der Reize in der Umwelt entspricht. Dadurch erlangt das Zentral- nervensystem die Möglichkeit, in ganz neue und viel intimere Beziehungen zu seiner Umgebung zu treten, als dies durch die bloßen Reizkombinationen der Fall war. In welcher Weise wir uns die Anordnung der Nervenfasern denken wollen, ob einem Kreise in der Umwelt eine kreisförmige oder dreieckige Anordnung der Nervenbahnen entsprechen soll, oder umgekehrt, ist ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß die Unter- scheidungen der räumlichen Umgrenzungen der Gegenstände durch die höheren Zentralnervensysteme und Hirne eine feste räumliche Verteilung der Nervenbahnen verlangt. Man kann behaupten, die höheren Gehirne kennen die Umwelt nicht bloß durch eine Zeichensprache, sondern sie spiegeln ein Stück Wirklichkeit in der räumlichen Beziehung ihrer Teile wieder.
Durch Einführung dieses, wenn auch sehr vereinfachten Weltspiegels in die Organisation des Zentralnervensystems hat der motorische Teil des Nervensystems seine bisherigen Be- ziehungen zur Umwelt verloren. Es dringen keine in Erregungs- zeichen verwandelte Außenreize mehr direkt zu den motorischen Netzen. Diese erhalten alle Erregungen nur noch aus zweiter Hand, aus einer im Zentralnervensystem entstandenen neuen Erregungswelt, die sich zwischen Umwelt und motorischem Nervensystem aufrichtet. Alle Handlungen der Muskelappa- rate dürfen nur noch auf sie bezogen und können nur durch
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sie verstanden werden. Das Tier flieht nicht mehr vor den Reizen, die der Feind ihm zusendet, sondern vor einem Spiegel- bilde des Feindes, das in einer Spiegelwelt entsteht.
Um aber durch die Anwendung des Wortes ,, Spiegel weit" keine Mißverständnisse herbeizuführen, weil ein Spiegel viel mehr tut, als bloß einige räumliche Verhältnisse in sehr ver- einfachter Form wiederzugeben, nenne ich diese im Zentral- nervensystem der höheren Tiere entstandene neue Eigenwelt die Gegenwelt der Tiere.
In der Gegenwelt sind die Gegenstände der Umwelt durch Schemata vertreten, die je nach dem Organisationsplan des Tieres sehr allgemein gehalten sein und sehr viele Gegenstands- arten zusammen fassen können. Es können die Schemata aber auch sehr exklusiv sein und sich nur auf ganz bestimmte Gegenstände beziehen. Die Schemata sind kein Produkt der Umwelt, sondern einzelne, durch den Organisationsplan gegebene Werkzeuge des Gehirnes, die immer bereitliegen, um auf passende Reize her Außenwelt in Tätigkeit zu treten. Ihre Anzahl und ihre Auswahl läßt sich nicht aus der Umgebung des Tieres, die wir sehen, erschließen. Sie lassen sich nur aus den Bedürfnissen des Tieres folgern. Wenn die Schemata auch räumliche Spiegelbilder der Gegenstände darstellen, so ist dennoch die Form und die Zahl dieser Bilder Eigentümlich- keit des Spiegels und nicht des Gespiegelten.
Die Schemata wechseln mit den Bauplänen der Tiere. Dadurch ergibt sich eine große Mannigfaltigkeit der Gegen- welten, die die gleiche Umgebung darstellen. Denn nicht ist es die Natur, wie man zu sagen pflegt, welche die Tiere zur Anpassung zwingt, sondern es formen im Gegenteil die Tiere sich ihre Natur nach ihren speziellen Bedürfnissen.
Wenn wir die Fähigkeit besäßen, die Gehirne der Tiere vor unser geistiges Auge zu halten, wie wir ein Glasprisma vor unser leibliches Auge zu halten vermögen, so würde uns unsere Umwelt ebenso verändert erscheinen. Nichts Anmutigeres und Interessanteres dürfte es geben, als solch ein Blick auf die Welt durch das Medium der verschiedenen Gegenwelten. Leider bleibt uns dieser Anblick versagt und wir müssen uns mit einer mühsamen und ungenauen Rekonstruktion der Gegen- jWelten begnügen, wie sie uns durch eingehende und schwierige
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1QQ Die Gegenwelt.
Versuchsreihen wahrscheinlich gemacht werden. Ein leitender Gedanke gibt uns die Hoffnung, aus diesem unsicheren Mate- rial etwas Brauchbares aufzubauen, das ist die Gewißheit, daß die Natur und das Tier, nicht wie es den Anschein hat, zwei getrennte Dinge sind, sondern daß sie zusammen einen höheren Organismus bilden. Die Umgebung, die wir um das Tier aus- gebreitet sehen, ist selbstverständlich ein anderes Ding als die Tiere; aber dafür ist sie auch nicht ihre Umwelt, sondern unsere. Die Umwelt, wie sie sich in der Gegenwelt des Tieres spiegelt, ist immer ein Teil des Tieres selbst, durch seine Or- ganisation aufgebaut und verarbeitet zu einem unauflöslichen Ganzen mit dem Tiere selbst. Man kann sich wohl die von uns gesehene Umgebung des Tieres wegdenken und sich ein Tier isoliert vorstellen. Man kann sich aber nicht ein Tier soliert von seiner Umwelt denken, denn diese ist nur als eine Projektion seiner Gegenwelt richtig zu verstehen. Und die Gegenwelt ist ein Teil seiner eigensten Organisation.
Nachdem wir von der Bedeutung der Gegenwelt einen allgemeinen Eindruck gewonnen, wollen wir es versuchen, uns darüber Rechenschaft zu geben, welche Anschauung nach unseren jetzigen Kenntnissen der Gegenwelt am besten entspricht. Dieses kann nur andeutungsweise geschehen und muß not- wendigerweise sehr unvollständig bleiben, bis mehr Beobach- tungsmaterial gesammelt ist. Aber in jedem Falle wird eine anschauliche Vorstellung von Nutzen sein, weil sie uns einer- seits zu einer klaren Fragestellung verhilft, andererseits uns einen allgemeinen Zusammenhang ahnen läßt. Ist die Gegen- welt einmal entstanden, so übt sie eine bedeutende Anziehungs- kraft auf alle Rezeptoren aus, welche nach und nach ihre direkten Beziehungen zum allgemeinen Nervennetz fallen lassen und sich mit dem rezeptorischen Netz der Gegenwelt verbinden.
Als Ausgangspunkt unserer Betrachtung kann uns der Regenwurm dienen, der zum ersten Male eine sichere Unter- scheidung der Form kundgibt. Das zentrale Netz des Regen- wurmes tritt am Vorderende in die beiden Oberschlundganglien ein. Die Oberschlundganglien müssen, um den einfachsten Unterschied von links und rechts an einem Gegenstand zu machen, mindestens zwei getrennte Zentren beherbergen. Diese beiden Zentren müssen in fester Verbindung miteinander stehen,
Die Gegenwelt. 197
wenn sie auf eine bestimmte Gegenstandsform, die viel links, aber wenig rechts reizt, eine bestimmte Muskelbewegung er- folgen lassen. Jedes dieser Zentren will ich in geringer Ab- weichung von der Ausdrucksweise in meinem ,, Leitfaden" einen ,, Erregungskern" nennen. Die beiden zusammen- arbeitenden Zentren bilden ein gemeinsames Schema. Der Regenwurm besäße demnach die einfachste Form eines Schemas, das aus zwei Erregungskemen und ihrer leitenden Verbindung besteht. Dieses Schema kann als der erste Ansatz zu einer Gegen weit angesehen werden.
Die nächst höhere Stufe der Gegenwelt treffen wir bei den Tieren, deren Augen eine Bewegung übermitteln, oder, um mit Nuel zu reden, der Motorezeption dienen. In diesem Falle müssen wir uns bereits eine Fläche vorstellen, die zahl- reiche Erregungskerne enthält. Die Erregungskerne lösen nur dann eine wohldefinierte Muskeltätigkeit aus, wenn sie gruppen- weise nacheinander in Erregung geraten, sobald eine Erregungs- welle über sie hinweggeht, gleich einer Welle über ein Ähren- feld. Feste nervöse Verbindungen, die zur Bildung von Schematen führen, bestehen noch nicht zwischen den einzelnen Kernen. In ihrer Umwelt ist das ein Gegenstand zu nennen, ,,was sich zusammen bewegt" ohne jede Rücksicht auf die Form.
Die nächst höhere Gegenwelt finden wir dort, wo vom Auge bereits Bilder unterschieden werden, wo die einfachste Ikonorezeption auftritt. Dort treten im Felde der Erre- gungskerne bereits die ersten Schemata auf, welche groben Umrißzeichnungen der auf die Retina entworfenen Bilder gleichen. In diesem Falle kann man bereits von räumhchen Schematen reden. Diese werden erregt, sobald sich ein dem Schema entsprechender Gegenstand dem Tiere nähert. Räum- lichen Schematen in der Gegenwelt entsprechen fest umgrenzte Gegenstände in der Umwelt.
Zwischen die beiden Gegen weiten der Moto- und der Ikonerezeption schiebt sich die Gegen weit der Chromorezep- tion, welche die Unterscheidung von farbigen Gegenständen ohne Rücksicht auf ihre Form ermöglicht. Hierbei müssen Gruppen von verschieden stark erregten Erregungskernen moto- risch wirksam werden. In der Umwelt solcher Tiere lautet
198 " ^^® Gegenvvelt.
die Definition für den Gegenstand : ein Gegenstand ist das, was die gleiche Farbe besitzt.
Wie man sieht, sind auf diese Weise die drei Charakte- ristika, die wir jedem gesehenen Gegenstand in der Umgebung der Tiere zuschreiben, auseinander gefaltet. Die Einzelteile, die einen gesehenen Gegenstand zusammensetzen, haben einen gemeinsamen Umriß , in der Regel eine gemeinsame Farbe, und eine gemeinsame Bewegung. Wie groß ist hier bereits der Fortschritt gegenüber den niederen Tieren, die von der Einheit der Gegenstände nur darum etwas erfahren, weil diese ein einheitliches Parfüm haben, einen einheit- lichen Schatten werfen oder einen einheitlichen Stoß versetzen.
Wenn wir auch mit Recht die drei erstgenannten Formen als einen großen Fortschritt betrachten, so dürfen wir ihre Fähigkeiten auch nicht überschätzen. Wohl gestatten sie, auf räumliche Unterscheidungen gestützt, die Gegenstände in be- schränktem Maße widerzuspiegeln. Aber von einer Ordnung der Gegenstände zueinander und einer Beziehung zu ihrer Lage im Raum spüren wir noch nichts. Jedes angeschlagene Schema wirkt wie jede Reizkombination die zugehörige Muskel- tätigkeit auslösend und damit fertig.
Unterdessen hat sich in der Tierreihe mit Hilfe eines anderen Rezeptors eine neue Beziehung, wenn auch nicht zum Räume, so doch zum Erdmittelpunkt ausgebildet. Das ist der Statolith. Die Wirkung des Statolithen auf das zentrale Netz ist von Anfang an eine ganz andersartige wie diejenige der übrigen Rezeptoren, die einen Außenreiz in eine dyna- mische Erregung verwandeln. Wir müssen weit zurückgreifen, wenn wir seine eigentümliche Stellung verstehen wollen. Die Last eines jeden GHedes und des ganzen Körpers wird dauernd ausbalanciert durch die dauernde Tätigkeit der Sperrmuskeln, die ihre Erregung der dauernden Beeinflussung durch die sta- tische Erregung des zentralen Netzes verdanken. Die statische Erregung im Netz war ihrerseits das Werk der mit statischer Erregung gefüllten zentralen Reservoire. Der Einfluß des Stato- lithen, der den Körper dauernd unter den gesteigerten Einfluß der Schwerkraft bringt, wirkt auf diese zentralen Reservoire in noch unbekannter Weise ein, aber erzeugt nur ausnahmsweise
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dynamische Wellen. Bei den niederen Tieren, deren Körper im Leben die gleiche Lage zum Erdmittelpunkt einnimmt wie im Tode, fehlt für gewöhnlich der Statolith oder scheint, wenn vorhanden, anderen Funktionen zu dienen. Ich brauche bloß an die Medusen zu erinnern. Das Ausbalancieren des Körpers beim Gehen oder Kriechen wird von den belasteten Muskeln ohne Beihilfe besorgt, da der Körper dank seines Schwerpunktes stets von selbst nach der normalen Lage zurück- strebt. Bei jenen Tieren aber, die in einem künstlichen Gleichgewichte erhalten werden, bedürfen die Muskeln eines dauernden Korrektivs. Dieses Korrektiv liefert ihnen der kleine Stein, der auf feinen Haaren balancierend stets jenes Haar erregt, das im Augenblicke senkrecht zum Erdmittelpunkte steht. Von hier aus werden die statischen Reservoire derjenigen Seite beeinflußt, die momentan in Gefahr steht , den Ände- rungen des Schwerpunktes nachzugeben, weil dieser stets aus der physiologischen in die physikalische Lage strebt. Die Muskeln allein reichen dazu nicht aus, denn einer so anhaltenden Dauer- belastung geben sie immer nach, wenn nicht speziell für ihren Erregungsnachschub gesorgt ist. Der Statohth veranlaßt eine dauernde Sperrung der Muskeln. Wird er entfernt, so fällt in den Muskeln die Sperrschwelle, die der Belastung das Gegen- gewicht hielt, und die Tiere sind unfähig, ihre physiologische Lage einzunehmen, sondern fallen immer wieder in die physi- kalische Lage zurück. Der Statohth sorgt also für die Erhal- tung einer gleichmäßigen normalen Körperhaltung und gewinnt dadurch Beziehungen zur Gegenwelt. Ganz besonders eng werden diese Beziehungen bei jenen Tieren, deren Statohthen die Stellung der Augen beherrschen. Es gibt Krebse, die mit ihren Augenstielen die Bewegungen, die ihr Körper nach einer Seite macht, durch eine sogenannte kompensatorische Bewegung nach der anderen Seite hin wieder ausgleichen und auf diese Weise ihren Augen ermöghchen, ein unverrücktes Bild der Außenwelt auf der Retina zu entwerfen. Dies gibt ihnen die MögUchkeit, den verwirrenden Einfluß der eigenen Körper- bewegungen auf die Gegenwelt in weiten Grenzen auszuschalten, um den durch die Bewegungen der Gegenstände herbeigeführten Motoreflex rein zur Geltung kommen lassen.
Bei den Insekten werden die kompensatorischen Bewe-
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gungen der Augen durch einen Motoreflex von den Augen selbst ausgelöst. Sobald sich das ganze Bild der Umgebung auf der Retina verschiebt, löst die in den Kernen der Gegen- welt hervorgerufene Erregung, die mit der Verschiebung des Bildes zu wandern beginnt, eine kompensatorische Verkürzung der Halsmuskeln hervor und das Auge behält eine ruhende Außenwelt, auch wenn der Körper sich neigt.
Damit sind wir zum schwierigsten Punkt des ganzen Pro- blems gelangt: Welchen Einfluß haben die eigenen Bewegungen auf die Gegen weit? Bisher haben wir nur gesehen, daß die Augenbewegungen dazu verwendet werden, den Einfluß der Körperbewegungen auf die Gegen weit aufzuheben. Aber es ist sicher, daß die Augenbewegungen auch noch andere Aufgaben zu erfüllen haben. So folgt das Auge vieler Tiere einem vorbei- ziehenden Gegenstande. Dies kann nur den Zweck haben, dem Gegenstande die Möglichkeit zu bieten, durch einen dau- ernden und gleichmäßigen Einfluß auf die Retina sein Schema mit Sicherheit anklingen zu lassen. Dies sind aber nicht die einzigen Vorteile der Augenbewegungen.
Manches gestielte Facettenauge der Arthropoden gleicht in seinem Bau einem beweglichen Tastorgan, das viele Ein- drücke gleichzeitig aufnehmen kann und daher wohl geeignet ist, nicht bloß die einzelnen Gegenstände, sondern auch die sie trennenden Zwischenräume abzutasten.
Wenn wir uns vorstellen, daß die Ebene der Gegenwelt, in der die zentralen Erregungskerne liegen, nicht bloß dem Sehfeld, son- dern dem ganzen Bhckfeld entspricht, so werden die Bewegungen der Augen keine Störungen in der Gegenwelt hervorrufen, sondern bloß immer neue Teile der Gegen weit in Aktion treten lassen. Beherbergt eine solche Gegenwelt mehrere Schemata, so wird sie fähig sein, das gleichzeitige Vorhandensein verschiedener rezipier- barer Gegenstände festzustellen und zugleich ein Maß besitzen für die Entfernung der Gegenstände voneinander, das einfach durch die Zahl der Erregungskerne gegeben ist, die bei der Bewegung des Auges von einem Gegenstande zum andern in Aktion treten.
Damit hat sich die Umwelt der Tiere wieder um ein Be- trächtliches geändert. Die einfache Gegen weit, bei der einmal dieses, einmal jenes Schema ansprach, besaß noch keine An- deutung einer Spiegelung des Raumes, der die Tiere umgibt.
Die Gegenwelt. 201
Jedes Schema wirkte bloß als einfache Reizkombination und die räumliche Entfernung der einzelnen Teile, die das Schema ausmachen, unterlag noch keiner Unterscheidung. Das wird anders, sobald die Gegen weit nicht bloß der Retina, sondern dem Blickfeld entspricht. Dann kommt durch die Augen- bewegung ein neues Moment hinein, das ganz nahe Beziehungen zum Räume hat. Zwar handelt es sich immer noch nicht um den dreidimensionalen Raum, aber doch um eine Fläche, die durchmessen wird. Diese Fläche kann durch eine Bewegung von oben nach unten und eine zweite Bewegung von links nach rechts vollständig durchwandert werden. Sie gibt daher schon ein leidliches Spiegelbild einer zwiefachen räumlichen Ausdehnung. Die Lage eines jeden Gegenstandes der Umwelt wird durch die Zahl der Erregungskerne, die das Auftreten seines Schemas von dem dauernd in Erregung befindlichen Schema des Horizontes trennt, gemessen. Erst die Tiere, die eine Akkomodation besitzen, können eine Gegenwelt beherbergen, die nicht bloß eine Fläche ausmacht, sondern bereits eine gewisse Tiefe besitzt, deren Kerne also nicht bloß nebeneinander, sondern auch hintereinander gelagert sind. Aber auch in diesem Falle wird man noch zögern müssen, von einer Spiegelung des dreidimensio- nalen Raumes zu sprechen. Denn was das Tier mit dem Hilfs- mittel der Gegen weit unterscheidet, ist nicht der Raum, sondern bloß die räumlichen Beziehungen der Gegenstände untereinander.
Erst bei den Wirbeltieren tritt das Organ auf, das wir nach der schönen Entdeckung von Cyon als das eigentliche Raum Organ ansprechen dürfen und das geeignet ist, die Gegenwelt zu einem Gegenraum zu machen.
Dies Organ ist der Bogengangapparat. Da ich keine Wirbeltiere besprechen will, so kann ich mich über die Lei- stungen dieses merkwürdigen Apparates kurz fassen. Die beiden ßogengangapparate bestehen aus je drei ringförmigen Kanälen. Man denkt sich die drei Ringkanäle am besten in die drei Flächen eines Würfels gelagert, die an einer Ecke zusammen- stoßen. Alle drei stehen rechtwinklig aufeinander und ihre Ebenen liegen entweder in oder doch wenigstens parallel zu den drei Hauptteilungsebenen, durch die der Kopf in eine rechte und linke, eine obere und untere und eine vordere und hintere Hälfte geteilt wird.
202 -^i® Gegenwelt.
Die beiderseitige Operation der gleichen Kanäle ruft ein Hin- und Herpendeln der Augen in einer dem entfernten Kanal entsprechend gelegenen Ebene hervor. Die Augen suchen dabei in dieser Ebene das ganze Blickfeld ab ohne eine feste Einstellung finden zu können. Das Pendeln hört erst wieder auf, nachdem die Augen ihre Einstellung auf bestimmte Gegen« stände wiedergefunden haben, die ihnen durch die Operation genommen wurde. Dann gewinnen auch die Körperbewegungen, die gleichfalls durch die Operation schwere Koordinations- störungen erlitten haben, ihre Sicherheit wieder. In der Dunkel- heit freilich bleiben sie dauernd gestört. Daraus läßt sich mit Sicherheit schließen, daß die Bogengänge als Einstellungs- oder Meßapparate für die zentrale Lokalisation dienen.
So außerordentliche begriffliche Schwierigkeiten es macht, wenn man die Wirkungen der Bogengänge, wie das Cyon getan, direkt auf die Vorstellung des Raumes in der mensch- lichen Psyche bezieht, so außerordentlich einfach erscheinen diese Wirkungen, wenn man sie zur dreidimensionalen Gegen- welt in Beziehung setzt. In diesem Falle liefern die Bogen- gänge die Erregungen, welche ein ganz einfaches Schema in Aktion treten lassen. Man braucht bloß anzunehmen, daß die Gegenwelt von langen Bahnen durchsetzt ist, die zusammen ein einfaches Koordinatensystem bilden. Das Koordinaten- system unterscheidet sich in nichts von den anderen Schematen, die den Umrissen der Gegenstände entsprechen. Nur wird das Koordinatenschema nicht durch das Auge, sondern durch die Bogengänge in Erregung versetzt. Diese Erregung ist eine dauernde. Nach Cyons Ansicht werden die Bogengänge durch die schwächsten Geräusche und Töne dauernd gereizt und er- zeugen daher dauernd Erregung.
Wie dem auch sei, wir haben in der Gegenwelt ein fast mathematisch genau gebautes Koordinatenschema anzunehmen, das als Ausgangsbasis für die Bestimmung der Lage der je- weilig auftauchenden erregten Gegenstandsschemata dient. Die Zahl der Erregungskerne von der gereizten Stelle aus bis zu den drei Koordinaten bestimmt mit Sicherheit die Lage des erregten Punktes.
Hier ist der Ort, um eine Schwierigkeit wegzuräumen, die sich leicht einem jeden aufdrängt : Wie ist es möglich, daß
Die Gegenwelt. 203
das gleiche Schema eines Gegenstandes an den verschiedensten Stellen der Gegenwelt erregt werden kann, obgleich es als dauern- der Strukturteil des Zentralnervensystems einen bestimmten Platz einnehmen muß? Diese Frage wird am besten durch die Annahme beantwortet, daß bei den höheren Hirnen die Schemata selbst nicht mehr innerhalb des von Erregungskernen ausgefüllten Gegen- raumes gelagert sind, sondern sich in einiger Entfernung davon befinden und nur durch Influenz erregt werden, wenn eine Gruppe von Erregungskernen in Aktion tritt. Die Gruppe der erregten Kerne gibt durch ihre festen Beziehungen zum Koordinatensystem die Lage — das durch Influenz erregte Schema die Form des Gegenstandes wieder. Auf diese Weise kann ein Gegenstand sowohl seiner Form, wie seiner Lage nach von der Gegenwelt festgehalten und registriert werden. Solange die Gegenwelt noch kein Koor- dinatenschema besitzt, muß die Lage der jeweilig gereizten Stelle auf solche Schemata bezogen v/erden, die von dauernden äußeren Einwirkungen herstammen, wie z. B. der Horizont. Ein solcher Maßstab bleibt, selbst wenn die größten Vorsichts- maßregeln ergriffen sind, das Auge vor der Beeinflussung durch die Körperbewegungen zu bewahren, stets ungenau und ungewiß. Dem gegenüber bietet das vom Bogengang gelieferte Maßsystem sehr große Vorteile, da es stets in der gleichen Stärke vor- handen ist, gleichgültig wohin das Auge sich richtet und welche Lage der Körper einnimmt. Dazu kommt, daß das Koor- dinatenschema im Dunkeln ebenso vorhanden ist wie im Hellen und auch den, durch die Tastorgane erzeugten Schematen die gleichen Dienste zu leisten vermag, wie den durch das Auge entworfenen. Die Gemeinsamkeit der Gegenwelt für Tast- wie für Gesichtsschemata gestattet diese beiden Arten von Ein- drücken zu verbinden und auf diese Weise in der Umwelt Gegenstände entstehen zu lassen, deren Formen eine feste Körperlichkeit besitzen. Treten die anderen von den Gegen- ständen der Umgebung ausgehenden Reize hinzu, und werden die von ihnen erzeugten Erregungen zu den kombinierten Photo- und Tangoschematen geleitet, so nimmt die Umw^elt immer mehr an Mannigfaltigkeit zu und gleicht schließhch der von uns wahrgenommenen Umgebung wie eine Zeichnung, in der die Farben durch besondere Merkzeichen angegeben sind, einem Gemälde.
204 ^^^ Gegenwelt.
Auf diese Weise vereinigen sich alle Wirkungen der Re- zeptoren in der Gegenwelt wie in einem Brennspiegel. Kein Wunder, daß auch die Wirkung des Statolithen als dauernder Faktor in der Gegenwelt auftritt und sich nicht mehr damit begnügt den Körper und die Augen zu richten. Mitten durch die Gegenwelt zieht sich seine Erregungslinie, die zu allen Zeiten die Stellung der Gegenwelt zum Erdmittelpunkte anzeigt. Sie bildet das nötige Korrektiv zu dem Koordinatenschema, das mit der Gegenwelt fest verwachsen ist. Ein festes Schema für die Statolithenwirkung braucht nicht vorhanden zu sein, da diese bei jeder Lage des Kopfes wechselt und keine Umgrenzung besitzt.
Wenn wir diese glänzende Entwicklung der Gegenwelt aus einem einfachen rezeptorischen Netz betrachten, so drängt sich uns von selbst die Frage auf : Ist dem motorischen Netz eine ähnliche Entfaltung beschieden? Anfangs will es scheinen, als werde die Ausbildung der motorischen Netze ganz andere Wege gehen. Es tritt eine große Zahl von Komplikationen im mo- torischen Netze auf, die wir als Unterbrecher, Erregungstal, Reflexspaltung und ähnliches mehr beschrieben haben. Alle diese Einrichtungen regeln den Ablauf der Muskelbewegungen in der Zeit; sie sorgen dafür, daß eine dem Bauplan des Tieres entsprechende Folge von Bewegungen sich regelmäßig abspiele. Bald erzeugen sie einen gleichzeitigen Rhythmus der gesamten Muskulatur (Unterbrecher), bald einen gleitenden Rhythmus, an dem die verschiedenen Teile des Tieres nacheinander teilnehmen (Erregungstal), bald erzeugen sie eine gleichzeitige, aber gegen- sätzliche Wirkung der benachbarten Muskeln (Reflexspaltung). In jedem Falle wird eine Regelung der zeitlichen Beziehungen in der Muskeltätigkeit durchgeführt.
Um eine dauernde räumliche Gruppierung der tätigen Muskeln nachzuweisen, müssen wir bis zu den Aktinien hinabsteigen, bei denen die einfachen Nervennetze der Längs- und Ringmuskeln getrennt innerviert sind, wodurch die erste Andeutung einer räum- lichen Zusammenfassung der Muskelfasern gegeben ist. Aber die Nervennetze entbehren noch jeder weiteren Verbindung. Denken wir uns nun das Nervennetz der Längs- und Ringmuskeln jedes für sich in einem Punkte zusammengerafft und mit einem höheren Zentrum verbunden, so erhalten wir Verhältnisse, wie sie im Gehirn des Oktopus verwirklicht sind. In einem höheren Ganglion
Die Gegen weit. 205
sind alle höheren Zentren vereinigt, die ganz bestimmten Muskel- gruppen entsprechen, während im niederen Ganglion die Repräsen- tanten undifferenziert nebeneinander liegen. Diese Anordnung zeigt eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Aufbau der Gegenwelt. Auf der einen Seite haben wir als unverarbeitetes Material die große Zahl gleicher Erregungskerne, auf der anderen eine gleich- falls sehr große Zahl gleichartiger Repräsentanten. Wie es nun Schemata gibt, die eine bestimmte Gruppierung von Erregungs- kernen zusammenfassen, so gibt es andererseits Strukturen, die bestimmte Gruppen der Repräsentanten vereinigen. Werden diese höheren Einheiten durch einfache Nervenbahnen leitend verbunden, so kann auf das Erscheinen eines ganz bestimmten Gegenstandes der Umwelt eine ganz bestimmte wohldifferenzierte Handlung erfolgen. Eine solche Art des Zusammenwirkens der motorischen Zone und der rezeptorischen Gegenwelt kann gewiß eine große Mannigfaltigkeit gewinnen und sehr hohen Ansprüchen genügen. Auch ist es wohl sicher, daß kein einziges wirbelloses Tier diese Entwicklungsstufe des Innenlebens überschreitet, aber ebenso sicher ist es, daß diese Stufe nicht die höchste sein kann. In allen behandelten Fällen gleichen die Tiere gewissen zweiteihgen Maschinen, in die man vorne das Rohmaterial hineinwirft, während sie das verarbeitete Material auf der an- deren Seite wieder hervorbringen. Auf der einen Seite kommen die Reize hinein, auf der anderen Seite entstehen die Muskel- bewegungen. Frage und Antwort werden von zwei verschiedenen nervösen Organen bearbeitet, die nur durch den gemeinsamen Bauplan miteinander zusammenhängen. So sehen wir, daß bei den höchsten Wirbellosen, den Arthropoden und Oktopoden, ein sehr kunstvoller Bau der motorischen Netze alle Bewe- gungen der Gliedmaßen beherrscht. Die motorischen Netze reichen bei den Oktopusarmen und den Krebsbeinen bis nahe an die Peripherie hinan. Wenn die motorischen Zentren der GHedmaßen bei den Insekten schon im Bauchstrang sitzen und die Zentren der Mantelbewegung bei den Oktopoden bis in die Schlundganglien gerückt sind, so erfährt dennoch nirgends der rezeptorische Apparat auch nur das geringste von der Tätig- keit der motorischen Apparate. Ob die Antwort ordnungs- mäßig erteilt wurde, wird der Gegenwelt, welche die Frage zu formulieren hatte, niemals mitgeteilt.
206 ^^® Gegen weit.
In der ganzen Reihe der wirbellosen Tiere, vom niedersten bis zum höchsten, liegt die Einheit des Zentralnervensystems ausschließHch im Bauplan. Die Funktionen bilden bloß eine hindurchlaufende Kette, die sich nirgends zum Kreise schließt. Daher erreichen diese Tiere nirgends die höchste Stufe der Ver- einheithchung. Nur die Medusen haben bisher von allen Tieren eine Ausnahme gemacht, nur sie empfangen ihre eigenen Be- wegungen als Reiz zurück, freiUch auf Kosten der Umwelt, von der sie keine Reize erhalten. So unbedeutend dieser einfache, in sich zurückkehrende Reflexring auch sein mag, gegenüber dem reich verzweigten Reflexstrom, der durch die höheren Wirbellosen fließt, so zeigt er doch das Mittel an, welches die Natur anwendet, wenn sie die erfolgte Antwort- bewegung den rezeptorischen Netzen kundgeben will. Sie ver- wendet die eigene Bewegung als Reiz.
Wenn eine Handlung immer wieder die nächstfolgende auslöst, so muß eine Kette von Handlungen entstehen, die kein Ende besitzt. Das mag für die einfachen Medusen ganz am Platze sein. Für die höheren Tiere kann ein so einfacher Mechanismus nicht in Frage kommen, obgleich auch bei ihnen die Bewegung selbst wieder zum Reize wird. Bei den Tieren mit einem allesbeherrschenden motorischen Netz ist die Ver- ■svendung der Eigenbewegung als Reiz deshalb nicht erforder- lich, weil die Repräsentanten je nachdem, ob ihre Gefolgs- muskeln angesprochen haben oder nicht, auf die Erregung im allgemeinen Netze verschieden reagieren, wodurch das Zentral- nervensystem unmittelbar Kunde von der Ausführung der Ant- wortbewegung erhält. Bei den Tieren, die eine sehr entwickelte Gegenwelt besitzen und deren motorisches Netz sich zu gliedern begonnen, fehlt die Rückwirkung der Einzelbewegung auf die höchsten Zentralteile. Diese bleiben ohne Kenntnis davon, ob die Antwort ausgeführt wurde oder nicht. Man könnte an- nehmen, daß das Auge geeignet wäre, die Eigenbewegungen des Körpers zu kontroUieren. Aber erstens ist das Auge immer so gestellt, daß es möglichst wenig vom eigenen Körper zu sehen bekommt, und zweitens fehlt uns zu dieser Annahme eine wesentliche Voraussetzung, nämlich die Kenntnis des Mittels, durch welche eine photorezipierte Eigenbewegung von fremden Bewegungen unterschieden werden kann.
Die Gegen weit. 207
Wir wissen von den Seeigeln her, daß die Natur besondere Mittel anwenden muß, um es zu verhindern, daß die Tiere sich selbst auffressen. Und doch kommt es nicht selten vor, daß Oktopoden, die einen kränklichen Eindruck machen, ihre eigenen Arme benagen. Wenn selbst bei einem so hoch organi- sierten Tiere, das so geschlossene Gesamthandlungen des ganzen Körpers auszuführen vermag, die photorezeptorische Unter- scheidung des eigenen Körpers nicht vorhanden ist, wie wird es dann erst mit den übrigen Wirbellosen bestellt sein?
Also bleibt nur die Annahme einer Reizerzeugung durch die Muskel Verkürzung selbst übrig, die durch zentripetale Bahnen dem Zentralnervensystem übermittelt wird. Aber die Antwort besteht ja gar nicht in einer Verkürzung einzelner Muskeln, sondern in einer gerichteten Gesamtbewegung von bestimmter Größe. Es kann daher die Antwort ihrem eigentlichen Wesen nach erst dann dem Zentralnervensystem bekannt gemacht werden, wenn dieses im Besitze einer räumhchen Gegenwelt ist. Aber selbst in einer Gegenwelt, die ausschließHch eine Gegenwelt des Auges ist, deren räumUche Ausmessung auf die Lage äußerer Bilder wie des Horizontes angelesen ist, können die Größe und die Richtung der Eigenbewegungen, die ein ganz anderes Maß verlangen, gar nicht ermittelt werden. Erst durch die Einführung der Bogengänge und ihres Koordinatenschemas wird die Gegenwelt sozusagen neutralisiert und der Allein- herrschaft des Auges entzogen. Jetzt kann sie wirklich zum gemeinsamen Feld für alle räumlichen Messungen werden, die sowohl für das Auge und die Tastorgane als auch für die Be- wegungen der Gliedmaßen gelten. Natürlich bleibt dabei eine offene Frage, auf welchem Wege die ausgeführten Bewegungen eine Spiegelbewegung in der Gegenwelt hervorzurufen imstande sind. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die Bogengänge selbst als ein Rezeptionsorgan für die Eigenbewegungen des Kopfes anzusprechen. Doch wird man, wenn es sich um Gliedmaßen- bewegung handelt, nicht ohne die Annahme der direkten sen- siblen Reizung, welche von den Muskeln, Sehnen oder Gelenk- bändern ausgeht, auskommen können.
Nimmt man die Antenne eines Krebses, die mit regel- mäßigen Tastborsten besetzt ist, und fährt mit einem Gegen- stande über die Borsten dahin, so mrd von jeder Borste eine
208 ^^® Gegen weit.
Erregung zu den allgemeinen Netzen fließen. Die Erregungen unterscheiden sich nur dadurch voneinander, daß jede in einer anderen Nervenbahn abläuft. Nehmen wir nun an, daß ein Teil des allgemeinen Netzes sich an dieser Stelle bereits ab- gespalten habe, um als einfaches rezeptorisches Netz zru dienen, so wäre hier bereits die Möglichkeit einer Verwendung dieses Netzes als Gegen weit gegeben, wenn sich in ihm entsprechend der Anzahl der Borsten eine Anzahl von Erregungskernen aus- gebildet hat. Das Netz könnte dann der Moto-Tango-Rezeption dienen, und wenn bestimmte Gruppen von Borsten durch be- stimmte Gruppen von Erregungen vertreten wären, die sich zu einem Schema zusammenschließen, so wäre damit auch eine Ikono -Tango -Rezeption gegeben.
Nun ist eine solche Antenne niemals mit dem übrigen Körper fest verbunden, sondern stets auf ein Gelenk gesetzt, das durch Muskeln bewegt wird. Dadurch erhebt sich vor uns plötzhch eines der aUerschwierigsten physiologischen Pro- bleme : Wie vereinigt sich die Moto-Rezeption der stillstehenden Borsten mit den Bewegungen der Antenne? Um die Frage in voller Klarheit zu sehen, stelle man sich vor, daß die Antenne nur eine einzige Tastborste besäße. Wie ist es möglich, daß die Berührung dieser Tastborste einen anderen Erfolg hat, je nachdem welche Muskeln der Antenne im gegebenen Augenblick verkürzt sind. An der Tatsache ist gar nicht zu zweifeln, nur bleibt das Zusammenarbeiten der beiden Erregungen, von denen die eine der Tastborste, die andere dem Muskelapparat ent- stammt, für uns vorläufig unverständlich. Wir können nur feststellen, daß die Wirkung des einen durch die Antenne be- wegten Tasthaares derjenigen von hundert Tasthaaren gleicht, wenn sie unbewegt auf der Oberfläche einer Kugelschale stehend gedacht werden, welche der Aktionsfläche der Antenne ent- spricht. Ebenso gibt es Tiere, die nur ein einziges Retina- element an der Spitze eines beweghchen Augenstieles besitzen. Die Bewegung des Augenstieles ersetzt eine Retina von hundert Elementen, die dem Aktionsradius des Augenstieles entspricht. In beiden Fällen wird durch die Bewegung des Stieles die Zahl der bewegten Rezeptoren, mögen sie sich in der Einzahl oder Vielzahl befinden, mögen sie der Photo- oder Tango-Rezeption dienen, um ein Vielfaches vergrößert. Die Bewegung der Augen
Die Gegen weit. 209
vergrößert das Sehfeld zum Blickfeld, die Bewegung der Antenne vergrößert das Berührungsfeld zum Tastfeld.
Der Vorteil, den die Einführung des Bewegungsmechanis- mus vor der bloßen anatomischen Vervielfältigung der rezi- pierenden Elemente bietet, ist, wie wir bereits sahen, ein doppelter. Einmal vermag er durch eine kompensatorische Be- wegung die Wirkungen der Körperbewegungen auszuschalten. Zweitens ermöghcht er es, einen vorbeiziehenden Gegenstand durch eine mitgehende Bewegung dauernd zu photo- oder tango- rezipieren. Dieser zweite Vorteil kommt bei der Tangorezeption der Antenne hauptsächhch in Frage, die für die Motorezeption gebaut ist und wohl kaum für die Ikonorezeption in Betracht kommt.
Wenn man einen Gegenstand zehnmal immer wieder in gleichen Abständen vor einen Spiegel stellt, oder zehn gleiche Gegenstände in denselben Abständen vor den Spiegel hält, immer erhält man die Wirkung, daß zehnmal das gleiche Spiegelbild in gleichen Abständen auftritt. Es ist dabei ganz gleichgültig, welchen Gegenstand man ergreift, immer wird der gleiche Erfolg eintreten. Die Form des Spiegelbildes spielt gar keine Rolle, nur die Lage der Spiegelbilder ist ausschlaggebend. Die Lage der Bilder im Spiegel gibt die Lage der Gegenstände in der Außenwelt in irgendeiner Form wieder, welche Bauart der Spiegel selbst haben möge. Sowohl im Planspiegel, wie im Konvex- oder Konkavspiegel wird stets ein räumliches Ver- hältnis durch ein anderes räumliches Verhältnis wiedergegeben. Ebenso müssen wir nicht nur für die Retina nach einem Gegen- raum suchen, was uns jetzt selbstverständlich erscheint, sondern wir müssen auch für die wechselnde Lage des Tangoreizes eine gleichfalls räumUche Gegenwelt annehmen, wenn wir den Tat- sachen gerecht werden wollen.
Wie nahe die beiden Gegenwelten für die Photo- und Tangorezeption zusammenhängen, das habe ich an einem Ein- siedlerkrebs beobachten können. Ein dunkles Stäbchen wurde in weitem Bogen vor dem Tier langsam vorbeigeführt. Die Augen, die das Bild des Gegenstandes aufnahmen, blieben ganz unbewegHch. Dafür folgte erst die eine Antenne, solange das gleichseitige Auge das Bild aufnahm, der Bewegung des Stäb- chens. Als das Stäbchen sich gerade zwischen beiden Augen
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 14
2;1^0 ^^^ Gegen weit.
befand, schlugen beide Antennen gleichzeitig zusammen. Dann folgte die andere Antenne allein dem Gegenstand von vorn nach hinten.
Verlassen wir jetzt für einen Augenbhck die Wirbellosen, um noch einen Schritt weiter zu tun, indem wir jedoch immer noch die Antenne zum Ausgangspunkt wählen. Besitzt die Antenne zahlreiche Tastborsten in einer Ebene vereinigt, so können wir uns die zahlreichen Tastborsten durch eine einzige ersetzt denken, wenn die Antenne noch ein zweites beweghches GHed erhält. Denn eine einzige Tastborste kann durch ihre Bewegungen hundert festsitzende Borsten vertreten. Für den zentralen Apparat würde das keinen Unterschied machen. Die Gegenwelt mit ihren zahlreichen Erregungskernen ist ge- eignet, jede Art von Bewegungen widerzuspiegeln. Solche zwei- oder mehrghederige Antennen erkennen wir auch in den Ghed- maßen der Wirbeltiere wieder und verstehen plötzlich, wie es möglich wird, daß auch die Lagen der GHedmaßen sich in der allgemeinen Gegenwelt spiegelt. Der Körper mit seinen zahl- reichen flächenartig ausgebreiteten Tango - Rezeptoren gleicht der Retina, während die Gliedmaßen mit den eng zusammen- gedrängten Rezeptoren an der Spitze den Antennen ähneln. Aber während die Tango-Rezeptoren des Körpers nur durch eine gleichgroße Anzahl von Erregungskernen in der Gegenwelt vertreten zu sein brauchen, verlangen die Tango-Rezeptoren der beweghchen Gliedmaßen eine ihrem Bewegungsumfang ent- sprechend gesteigerte Anzahl von Kernen. Die ganze Gegen- welt muß daher das gesamte Berührungsfeld des Körpers und der Gliedmaßen plus dem Tastfeld der Ghedmaßen umfassen und dieses muß wieder mit dem Sehfeld plus Blickfeld der Augen vereinigt sein. Das ganze, vom Koordinationsschema durchzogen und vom Statolithen gerichtet, gibt uns eine Vor- stellung, die wir fürs erte nur in den gröbsten Umrissen erkennen können.
Kehren wir nun zu den Wirbellosen zurück, so finden wir viel einfachere Verhältnisse vor, die leichter zu überschauen sind. Von einer Gegen weit der Gliedmaßen ist keine Rede. Das Zentralnervensystem eines Krebsbeines ist ein sehr ein- facher und sehr selbständiger Apparat. Das motorische Netz behauptet noch durchaus das Übergewicht und in ihm allein
Die Gregenwelt. 211
liegen die Komplikationen. Die nervösen Bahnen der Rezep- toren zeigen sehr einfache Verhältnisse. Die Reflexe, die von der Reizung des Beines selbst ausgehen, bleiben, solange sie schwach sind, im Bein selbst. Erst wenn sie stärker werden, greifen sie auf die anderen Beine über und rufen allgemeine Bewegung hervor. Außerdem stehen die motorischen Netze unter der Herrschaft der rezeptorischen Netze in den Schlund- ganglien. Diese allein beherbergen Photo- und Tango -Welten.
Die Ausdehnung und die Aufnahmefähigkeit der Gegenwelt können nur durch eine fortgesetzte Reihe eingehender Versuche bestimmt werden. Wir werden in den folgenden Kapiteln er- fahren, wieviel darüber schon bekannt ist. Sind sie aber ein- mal festgelegt, so ermöglichen sie uns auch ein Bild der Um- welt zu entwerfen. Obgleich die Umwelt vom Standpunkt des Tieres aus rein subjektiver Art ist und nur durch die Gruppie- rung aller Einzelheiten um das Subjekt des Tieres einen Sinn erhält, so ist sie doch vom Standpunkt des Beobachters aus ein objektiver Faktor, der in objektiven Beziehungen zum be- obachteten Objekt steht. Alle subjektiven Spekulationen, die die Seele des Beobachters in dieses objektive Bild hineinziehen, fälschen seinen wahren Charakter und machen es wertlos. Schon sind wdr durch die Beobachtungen Rädls, Bohns, Minkiewitschs und Lyons, die sich auf Schnecken, Krebse, Insekten und Fische beziehen, tief in die Kenntnis der ob- jektiven Beziehungen zwischen Subjekt und Umwelt einge- drungen. Ich will hier nur auf die Arbeiten Lyons an Fischen eingehen, auf die ich sonst keine Gelegenheit habe, zurück- zukommen: Im einem ringförmigen Glasrohr, das mit Wasser gefüllt ist, befindet sich ein Fisch, der ruhig an einer Stelle stehen bleibt, solange sich die Umgebung nicht ändert. Die Umgebung ist selbst ein halb offener Kanal, der das Glasrohr an den Seiten und unten umgibt. Sie kann im Kreise rotiert werden und ahmt in einfacher Weise den Grund eines Baches nach. Sobald man mit der Bewegung der Umgebung beginnt, so folgt der Fisch der Bewegung und durchschwimmt im gleichen Tempo die ganze gläserne Röhre. Er ist gleichsam mit seinen Augen an der Umgebung aufgehängt und wird an ihnen vorwärtsgezogen.
So dient denn auch das Auge mit seiner räumlichen Gegen-
14*
212 Carcinus maenas.
weit nur dazu, dem Tiere neue Anknüpfungspunkte zu ver- schaffen. Wie die niederen Tiere sich die passenden chemischen und physikalischen Reize aussuchen, so sucht sich das höhere Tier mit seinem entwickelten Augenapparat die passenden Formen, Farben und Bewegungen aus, die seinen Reflexen als An- knüpfungspunkte dienen können und von denen es allein ab- hängt, unbekümmert und sicher schwebend in der Unermeßlich- keit der Außenwelt. Die Reize der Umwelt bilden zugleich eine feste Scheidewand, die das Tier wie die Mauern eines selbstgebauten Hauses umschließen und die ganze fremde Welt von ihm abhalten.
Carcinus maenas.
Von den Krebsen des Meeres ist die gemeine Krabbe am besten erforscht. Wir verdanken vor allem Bethes histologisch wie physiologisch gleich wertvollen Untersuchungen die Grund- lage unserer Kenntnisse. Der Körper der Krabbe gleicht von oben gesehen einem Rechteck, dessen vordere Seite bogen- förmig vorspringt. Die hintere Seite, die etwas kürzer ist als die beiden Seitenlinien, dient als Ansatz für den kurzen Schwanz, der dauernd nach unten geklappt ist. Die bogenförmige Vorder- seite trägt die Hauptrezeptoren: die Augen und die beiden Fühlerpaare, von denen das eine, das der Witterung dient, stetig in Bewegung ist, während das äußere die Tastbewegungen vollführt. Jederseits kommen die fünf Gliedmaßenpaare zum Vorschein, die an der Bauchseite entspringen. Zuvorderst sitzen die kräftigen Scheren. Dann kommen die vier Bein- paare, von denen das letzte ein verbreitertes Endglied trägt, dessen Bewegungen dem Herabschweben im Wasser dienen. Denn von einem ausgebildeten Schwimmen ist bei Carcinus nicht die Rede.
Die Beine bestehen aus sieben hintereinander liegenden Chitinröhren des Außenskelettes. Jede Röhre ist mit ihren Nach- baren durch ein einfaches Scharniergelenk verbunden und birgt in ihrem Inneren zwei Muskeln, die mit ihrem sehnigen Ende am Rand der Nachbarröhre befestigt sind. Die letzte Röhre, welche die Spitze des Beines bildet und blind geschlossen ist, enthält keine Muskeln, sondern wird von den Muskeln des vor-
Carcinus maenas, 213
letzten Gliedes bewegt. Dieses gehorcht seinerseits den Mus- keln des drittletzten Gliedes und so fort. Die Achsen der Gelenke liegen in verschiedenen Ebenen und gestatten dem Bein eine große Bewegungsfreiheit nach allen Richtungen, ohne die Sicherheit der Führung in der Hauptebene zu gefährden, welche senkrecht auf die Längsachse des Körpers gerichtet ist. Da die Krabben fast ausnahmslos seitwärts laufen, kann man in jedem Gelenk Flexoren, d. h. Muskeln, die das Bein zum Körper heranziehen, und Extensoren, die das Bein vom Körper Wegstrecken, unterscheiden.
Die nervösen Verhältnisse im Krebsbein lassen sich nur an großen Langusten mit Hilfe der elektrischen Reizung er- forschen. Da zeigt es sich, daß drei Faktoren eine entschei- dende Rolle spielen: L die anatomische Verbindung der Nerven- fasern, 2. die Stärke des Reizes (Biedermann), 3. die Deh- nung der Muskeln.
Ich mache mir auf Grund der von Groß und mir ge- wonnenen Erfahrung folgendes Bild vom Nervensystem der Krebsbeine. Als Grundlage dient ein allgemeines motorisches Netz, das die Erregung, die vom Bauchmark her eintrifft, überallhin zu leiten vermag, während die rezeptorischen Nerven als gesonderte Bahnen direkt bis zum Bauchmark gehen. Das motorische Netz leitet die Erregung nach dem allgemeinen Ge- setz immer den gedehnten Muskeln zu. Damit ist die Mög- üchkeit, rhythmische Gehbewegungen auszuführen, gegeben. Um nun besonders die äußersten Gheder auch für nicht rhyth- mische Handlungen zu verwerten, sind die Repräsentanten, die den Muskeln nahe ansitzen, auf verschieden starke Erre- gungen eingestellt. So findet eine schwache Erregung andere Pforten offen als eine starke, analog den Verhältnissen bei den Pedicellarien der Seeigel. Schheßlich sind noch, um prompte Antworten zu erhalten, besondere Bahnen vom Bauchmark durch das Netz zu den Repräsentanten geführt. Aber auch sie sind keine peripheren, sondern intrazentrale Nerven, denn auch die in ihnen ablaufende Erregung bleibt wirkungslos, wenn sie nicht die richtige Intensität besitzt, auf welche die Repräsentanten abgestimmt sind.
Leider sind wir nicht imstande, im einzelnen nachzuweisen,, wie das Bauchmark dieses komphzierte System regiert. Nur
214 Carcinus maenas.
für einen einzigen Reflex läßt sich die Analyse weit genug führen, um einen Einblick in das Getriebe dieses von allem Bekannten so sehr abweichenden Nervensystem zu erhalten.
Bethe beschreibt folgenden charakteristischen Reflex, der besonders bei kräftigen Männchen von Carcinus maenas als Antwort auf die Annäherung eines fremden Gegenstandes häufig beobachtet wird. Er nennt ihn den Aufbäumereflex: ,,Die Beine strecken sich ganz aus, das erste Paar greift schräg nach vorne, das zweite und dritte nach der Seite und das vierte nach hinten, so daß sich das Tier in sehr stabilem Gleichgewicht befindet. Die Scheren werden gespreizt und er- hoben .... Nähert man den Gegenstand bis auf einige Zen- timeter, so schlagen die Scheren mit Gewalt auf ihn ein. Ja der Reflex kann sich so steigern .... daß das Tier hoch- springt und nach dem Gegenstande stößt."
Das besonders Merkwürdige an diesem Reflex liegt in der deutlich zutage tretenden Unabhängigkeit in der Tätigkeit der äußersten Scherengheder von den Bew^egungen der Basalgheder. Die beiden äußersten Scherenglieder verharren in dauernder Extension, während die basalen Glieder starke Flexionsbewe- gungen machen. Diese Unabhängigkeit wäre bei einem Wirbel- tier nichts Auffallendes, dessen Muskeln durch periphere Nerven direkt mit einem hochkomplizierten Zentralnervensystem ver- bunden sind. Für einen Krebs aber, dessen zentrales Netz bis in die Beine hinabreicht, ist das bereits eine Leistung, die besondere Vorrichtungen erheischt. Nun hat schon Bieder- mann gezeigt, daß nach sehr heftiger Nervenreizung die Krebs- schere, die während der Reizung geschlossen wurde, sich im Moment der Beendigung der Reizung öffnet und längere Zeit in Öffnungssperrung verharrt.
Groß und ich sind diesem Phänomen am Scherenfuß der Languste nachgegangen und haben feststellen können, daß nach Durchschneidung des Schließmuskels (Flexor) die Erregung schon während der Reizung in den Öffner (Extensor) fließt. In diesem Falle bleibt die nachträgliche Sperrung aus. Man kann jedoch die normale Reiz Wirkung sofort wieder eintreten lassen, wenn man den Scherenfuß während der Reizung durch einen ganz geringen Fingerdruck geschlossen hält und derart die Wirkung des durchschnittenen Flexors ersetzt. Daraus
Carcinus maenas. 215
geht hervor, daß die extreme Dehnung des Öffners während der Reizung die Erregung, die ihm sonst zufließen würde, nach einem anderen Orte hin ablenkt, aus dem sie sofort hervor- bricht, nachdem die extreme Dehnung aufgehört hat. Es ist also sicher ein Erregungsreservoir vorhanden, das die Erregung zu speichern und wieder auszustoßen vermag, je nachdem die ihm unterstellten Muskeln seinen Zufluß resp. Abfluß ver- schheßen oder öffnen. Ähnliche Rückwirkungen der Muskeln auf den Abfluß der Erregung im Nervensystem haben wir bereits bei den Blutegeln kennen gelernt.
Da die Wirkung des Reservoirs sowohl beim ersten wie beim zweiten Gelenk zum Vorschein kommt, war die Möghch- keit gegeben, das Reservoir direkt zu reizen. In der Tat ge- hngt es, wenn man den Nerven im zweiten Ghede reizt, eine ganz umschriebene Wirkung auf den Extensor des dritten Ghedes allein zu erhalten. Diese streng lokahsierte Wirkung eines peripher angesetzten Reizes kann, da es sonst im ganzen abgeschnittenen Bein keine Reflexe gibt, so scheint es mir, nur auf direkte Reizung des Reservoirs bezogen werden.
Die Existenz eines Reservoirs für die Extensoren des ersten und zweiten Gelenkes ermöglicht es der Schere, sich noch einer starken Erregung auf Stoß einzustellen und läßt zugleich den Basalgliedern die volle Freiheit, durch Flexoren- bewegung den Stoß wirklich auszuführen. Analog Heße sich auch das Springen beim Aufbäumereflex analysieren, denn auch die Beine zeigen die gleiche umschriebene Extensorwirkung bei Reizung im zweiten Ghede.
Wir wenden uns jetzt einem zweiten, sehr merkwürdigen Reflex der Krabbenbeine zu, dessen Erforschung wir Frede- ric q verdanken — der Autotomie. Denkt man sich an der Begrenzungsebene zweier Glieder Gelenk und Gelenkhäute verschwunden, so werden hier die benachbarten Skeletteile in ihrer ganzen Ausdehnung hart aneinanderstoßen und nur noch durch einen engen Spalt getrennt bleiben. Beide Gheder werden zusammen den Eindruck eines festen Stabes machen und ge- meinsam von den Muskeln, die das basale Glied bewegen, hin und her geführt werden. Dieser Stab kann aber jederzeit auseinanderbrechen, wenn er mit dem vorderen Ende an ein Hindernis stößt und die Muskeln trotzdem in ihrer Bewegung
2'IQ Carcinus maenas.
fortfahren. Denn jetzt wird ein Zug auf den Spalt ausgeübt, dem er nachgeben muß.
Dies ist denn auch die Art und Weise, wie die Krabbe durch Spaltung ihres Beines zwischen dem fünften und sechsten Gliede sich ihrer Gliedmaßen entledigt. An der Spaltstelle schließt eine vorgebildete Membran die Wunde ab, so daß jeder Blutverlust vermieden wird.
Fredericq weist darauf hin, daß zwei Faktoren vor- handen sein müssen, damit die Autotomie eintrete: 1. der Reiz, der einer Verletzung des Beines entspringen kann, und 2. das Hindernis, das als Stütze beim Abbrechen des Beines nötig ist. Die Krabbe benutzt ihr vorspringendes Rückenschild als Stützpunkt, um das Bein abzuwerfen, sobald es durch einen Scherenschnitt in das zweite Glied verletzt wurde.
Die Ausführungen Fredericqs sind durch die Versuche Morgans am Einsiedlerkrebs auf das schönste bestätigt worden. Der Einsiedlerkrebs, der keine harte Schale besitzt, benützt als Stützpunkt bei der Autotomie eines verletzten Beines seine Schere, mit der er das Bein packt und festhält bis die Muskeln des letzten Basalgliedes den Spalt auseinanderreißen und den Stab zerbrechen. Auch beim Einsiedlerkrebs wird der ganze komplizierte Reflex nur vom Bauchmark ausgeführt, ganz unabhängig vom Gehirn. Morgan konnte zeigen, daß das Hinfassen der Schere ausbleibt, wenn das Bein zentral vom Spalt gereizt wird. Demnach liegen die Rezeptoren, welche die Autotomie auslösen, im Gebiet des zweiten bis zum fünften Gliede des Beines.
Der Gang von Carcinus maenas und die ihn beherrschenden Faktoren sind von Bethe sorgfältig untersucht worden. Am häufigsten sieht man unter Wasser den reinen Seitwärtsgang. Dabei schreiten auf jeder Seite das erste mit dem dritten und das zweite mit dem vierten gemeinsam. Diese Verbindung ist aber, wie Groß und ich gefunden, durch keine anatomische Struktur festgelegt, denn nach der Autotomierung eines Beines, z. B. des zweiten, schlägt der Gang um, und es marschieren jetzt das erste und vierte gemeinsam, während das dritte allein arbeitet. Es muß also ein physiologischer Grund vorhanden sein, der es verbietet, daß zwei Nachbarbeine zusammen aus- schreiten. Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir den Erregungs-
Carcinus maenas. 217
ablauf dafür verantwortlich machen. Leider fehlen uns die näheren Daten, um uns ein Bild des Vorganges machen zu können.
Die Beine der beiden Seiten machen beim normalen Tier in der Zeiteinheit die gleiche Anzahl gleichgroßer Schritte, wobei die Beine auf der vorwärts gerichteten Körperseite den Körper ziehen, während die rückwärts schauenden ihn schieben. Die Korrelation der beiden Seiten wird merkwürdigerweise durch die Otozysten aufrecht erhalten. Die Otozysten sind kleine mit Flüssigkeit gefüllte Bläschen, die im Basalglied der inneren Fühler stecken. An Stelle eines Steines enthalten sie lange Haare, die Kornähren gleichend durch ihr Herabneigen nach der jeweilig zu unters t gelegenen Körperseite hin die Lage des Erdmittelpunktes angeben. Die Entfernung einer Otozyste setzt die Sperrung hauptsächlich in allen Flexoren der Beine auf der gleichen Körperseite herab. Da auch die Durchschnei- dung einer Komissur, die vom Gehirn zum Bauchmark geht, die gleiche Wirkung im verstärkten Grade zeigt, so kann man daraus schließen, daß jederseits im Gehirn ein Erregungsreser- voir sitzt, das dauernd von den Otozysten aus mit Erregung gespeist wird. Vom Erregungsreservoir im Gehirn sind die Reservoire der statischen Erregung im Bauchmark abhängig und ihr Niveau fällt, wenn das Niveau im Hirnreservoir sinkt. Wird das Hirnreservoir ganz entfernt, so sinkt das Niveau der Bauchmarkreservoire noch stärker. Dadurch werden auch die Repräsentanten in Mitleidenschaft gezogen und vermögen die Muskeln nicht mehr mit der genügenden Erregung zu speisen. Nun haben die Flexoren der Beine auf der voranschreitenden Seite die größte Arbeit zu verrichten, weil sie normalerweise den Körper nach vorwärts ziehen. Dazu gehört nicht bloß Verkürzung, die ja leicht auszuführen ist, sondern auch Sperrung, um die Last auszugleichen. Genügt die Sperrung auf der voran- schreitenden Seite nicht, um den Körper zu ziehen, so müssen die Beine auf der rückwärts liegenden Seite doppelte Arbeit leisten beim Schieben des Körpers. Auf diese Weise läßt sich, wie mir scheint, die von Bethe gefundene Tatsache deuten, daß nach Verlust einer Otozyste die Korrelation der beiden Beinseiten verloren geht, wenn die Beine der verletzten Seite voranschreiten. Und zwar zeigt sich der Verlust der
218 Carcinus maenas,
Korrelation darin, daß die hintere Beinseite schnellere und kleinere Schritte ausführt, während die vordere Seite die gleichen Schritte wie sonst ausführt, ihre Sperrfähigkeit aber einge- büßt hat.
Die Entfernung der Otozysten, besonders nach beiderseitiger Operation, hat einen bedeutenden Einfluß auf die Augenbe- wegungen. Denkt man sich, daß bei jeder Bewegung des Körpers, die ihn in eine andere Lage zum Erdmittelpunkte bringt, eine andere Kornähre in der Otozyste sich herabneigt, so kann man eine kompensatorische Bewegung des Augenstiles wohl verstehen. Es braucht in diesem Falle immer nur eine ganz bestimmte Muskelgruppe anzusprechen, die allein von jenem bewegten Haar aus ihre Erregung erhält. Es wird dann jede Art Senkung des Körpers mit einer entgegengesetzten Hebung des Auges beantwortet und dadurch kompensiert.
Kr ei dl ist es gelungen, bei langschwänzigen Krebsen, welche Sandkörnchen in ihren OtozjT-stenhöhlen auf feinen Haaren ba- lancieren (die sie sich nach jeder Häutung selbst mit den Scheren hineinstopfen), die Sandkörnchen durch Eisenfeilspäne zu ersetzen. Diese eisernen Otoliten ließen sich durch einen Elektromagneten beeinflussen und in der Otozyste bewegen. Die Antwort war stets eine kompensatorische Bewegung des ganzen Körpers, die natürlich in diesem Falle zu einem falschen Resultat führte. Man sieht aber daraus, daß von den Oto- zysten aus die kompensatorischen Bewegungen überhaupt ge- lenkt und der Lage des Erdmittelpunktes angepaßt werden.
Die kompensatorischen Bewegungen der Beine treten auf, wenn der Krebs auf eine Unterlage gesetzt wird, die man nach verschiedenen Richtungen hin senkt. Die kompensatorischen Bewegungen der Augen treten auf, wenn der Körper des Tieres sich nach verschiedenen Richtungen hinsenkt. Die ersten haben den Zweck, das Tier vor dem Umfallen zu bewahren, die zweiten dienen dazu, der Retina einen ruhigen Hintergrund zu ver- schaffen.
Wir werden bei Besprechung der Libellen Gelegenheit haben, näher auf die Bedeutung der kompensatorischen Augenbewe- gungen einzugehen und ihre Beziehungen zu der von Rädl entwickelten Lehre der Lichtgleichung einzugehen.
Entsprechend dieser Lehre, die von Bohn eine ausreichende
Carcinus maenas. 219
experimentelle Begründung erhalten hat, müssen wir annehmen, daß Carcinus maenas sich in einer Welt befindet, die sich bloß aus helleren und dunkleren Flächen zusammensetzt, deren Kon- turen gar keine RoUe spielen. In dieser Welt stellt sich Car- cinus immer so ein, daß er möglichst viel dunkle Flächen hinter sich und möglichst viel helle Flächen vor sich hat. Ist er einmal so eingestellt, so bewahrt sein Auge, dank der kom- pensatorischen Bewegungen, das eingestellte Feld in Ruhe um sich. Auf diesem ruhenden Felde spielen sich dann Einzel- bewegungen ab, auf die Carcinus mehr oder weniger deutUch reagiert.
Aus den Labyrinth versuchen von Yerkes scheint hervor- zugehen, daß eine regelmäßige Wiederholung der Veränderungen im Lichtfelde, die jeder Krebs erfährt, wenn er sich auf die Wanderung begibt, sich dem Gehirn des Krebses einprägen kann. Denn die Krabben finden bei häufiger Wiederholung den Weg aus einem einfachen Labyrinth schneller als am Anfang.
Die verschiedenen Umrisse und Formen der Gegenstände werden von Carcinus nicht unterschieden, nur die Bewegungen von Dunkelheiten gegen die helleren Lichtfelder werden mit einer Scherenbewegung beantwortet, die ziemhch gut lokalisiert ist. Es müssen daher verschiedene Gruppen von Lichtkegeln der Augen gesonderte Bahnen besitzen, die nach den Ganglien der Scheren im Bauchmark führen. Bethe hat den Weg, den diese Nerven im Gehirn einschlagen, verfolgen körmen. Außer diesen feineren Reaktionen der Lichtkegel gibt es noch eine ganz grobe Reaktion, die von der ganzen Retina wie von einem einzigen Rezeptor ausgehen. Die Retina eines Auges, gleichgültig an welcher Stelle sie gereizt wird, sendet Erregungen zu den Beinganglien im Bauchmark, die eine Fluchtbewegung der Beine auslösen. Diese Flucht bringt das Tier immer von dem gereizten Auge fort. Wird das linke Auge mit Asphalt- lack geschwärzt, so wirkt jede dunkle Annäherung nur noch auf das rechte Auge. In diesem Falle flieht die Krabbe, gleich- gültig in welcher Richtung sich das Dunkle befindet, nur nach links.
Während die Augen bei Carcinus nur eine untergeordnete Rolle spielen, sind sie bei anderen Krabben ein wichtiges Hilfs- mittel zur Erforschung der Umgebung geworden. Ich bin selbst
220 Carcinus maenas.
Zeuge eines sehr anmutigen Schauspieles gewesen, wie eine große tropische Landkrabbe sich der wütenden Angriffe eines Dachs- hundes erwehrte. Von welcher Seite her sich der Hund auf die Krabbe stürzen mochte, stets starrte ihm bereits eine weit- geöffnete Schere entgegen. Es war interessant, zu sehen, mit welcher Sicherheit die Krabbe den blitzschnellen Bewegungen des Hundes zu folgen vermochte.
Wenn man auch in diesem Falle noch von einer Reaktion auf Bewegungen reden kann ; für die gelben Sandkrabben von Makatumbe bei Daressalam muß man schon die Umrisse der Gegenstände als wirksam annehmen, mit solcher Sicherheit vermochten sie es, ihre Scheren in die Lefzen des sie ver- folgenden Hundes zu setzen. Diese Krabben autotomierten ihre Scheren, nachdem sie zugeschnappt hatten, wie die See- igel ihre Giftzangen, und der Dachshund kam heulend zurück, eine festgeklammerte Zange in den Lippen.
Die Einsiedlerkrebse verfolgen mit großer Sicherheit die Bewegungen eines feinen Stäbchens, indem ihre Tastfühler dem Gegenstande folgen. Dagegen sind sie ganz unfähig, auf ein Fleischstückchen, das ihnen durch optische und nicht durch chemische Reize wahrnehmbar gemacht wird, mit dem Freß- reflex zu reagieren. Mit der Nahrungsaufnahme scheinen die Augen bei keinem Krebs etwas zu tun zu haben, denn die Nahrung tut sich den Krebsen nur durch chemische und mecha- nische Wirkungen kund.
Dagegen zeigen die Augen von Maja, wie neuerdings Min- kiewicz in einer schönen Arbeit gezeigt hat, eine hohe Emp- findlichkeit für Farben. Maja, deren Körper über und über mit Spitzen und Haken besetzt ist, zeigt die Eigentümlichkeit, alles, wessen sie habhaft werden kann, an ihrem Körper zu befestigen. Lebt sie unter braunen Algen, so trägt sie ein braunes Kleid, lebt sie unter grünen Algen, so ist ihr Kleid grün. Dies Verhalten läßt noch auf keine Farbenunterscheidung schließen. Aber Minkiewicz konnte zeigen, daß in einem Bassin, das mit rotem Papier ausgeschlagen war und an dessen Boden sich Wollenfäden in verschiedenen Farben befanden, die Maja sich immer nur die roten Fäden aussuchte, um sich damit zu bekleiden.
Es würde zu weit führen, auf die höchst merkwürdigen
Die Kephalopoden. 221
Ergebnisse des genannten Forschers bei Chromatophoren tra- genden Krebsen einzugehen, die uns einen ganz ungeahnten Einfluß der Häutung auf das Reflexleben offenbaren.
Um auf Carcinus zurückzukommen, so scheint in seiner Umwelt weder Form noch Farbe eine Rolle zu spielen, nur beleuchtete Flächen und gelegenthche Verdunkelungen spielen in ihr eine Rolle. Die Verdunkelungen, wenn sie sich bewegen werden mit dem Flucht- oder Aufbäumereflex beantwortet. Die Nahrung wird am chemischen Reiz und am Härtegrad bereits von den Scheren erkannt und dann dem Mund zu- geführt. Über das Geschlechtsleben und die Rolle des Gehirnes dabei hat uns Bethe unterrichtet. Leider ist aber die Mehrzahl Reflexe noch nicht weit genug analysiert, um uns ein Bild vom Ablauf des Innenlebens mittels der uns geläufigen Vorstellungen zu machen. Es sind zwar überall Ansätze vorhanden, aber es formt sich noch nicht zum Ganzen. Es bleibt uns daher nichts übrig, als von künftigen Arbeiten das abschließende Resultat zu erhoffen.
Die Kei)lialopodeiL
(Eledone moschata.)
Eledone moschata und Octopus vulgaris sind die beiden bekanntesten Vertreter der achtarmigen Kephalopoden oder Kopffüßer. Der Name lehrt uns bereits, daß die Ghedmaßen dem Kopf ansitzen. Die acht Füße, oder besser Arme, um- stehen im Kreise den Mund. Der Mund sitzt an dem durch zwei große Augen geschmückten Kopf, der sich deuthch vom übrigen Körper abhebt. Der Körper selbst ist sackförmig und steckt in einem kräftigen muskulösen Sack oder Mantel, mit dem er nur stellenweise verwachsen ist.
Faßt man einen langarmigen Kephalopoden, etwa Oktopus macropus, am Halse und hält ihn frei in die Luft, so werden die windenden Bewegungen der Arme, die ihre Saugnapfreihen vorstrecken, den Eindruck eines Schlangennestes machen, aus dem überall kleine uud große Schlangen ihre Köpfe hervor- strecken. Man wird dabei deutlich an die Sage des Medusen- hauptes gemahnt.
222 ^^^ Kephalopoden.
Auch die abgeschnittenen Arme zeigen noch lebhafte Be- wegungen, denn eine große Zahl von Reflexen ist völlig un- abhängig vom Gehirn, das fernab in der knorpeligen Schädel- kapsel verborgen liegt. Leider sind wir über die Beziehungen zwischen Muskeln und Nervensystem im Arm der Kephalopoden noch nicht genügend aufgeklärt, um uns ein deutliches Bild ihrer Wechselwirkungen zu machen. Selbst eine genügende Analyse der Bewegungen der Saugnäpfe fehlt noch. Im großen und ganzen läßt sich sagen, daß es hauptsächlich Längsmuskel- stränge sind, die den Arm von der Basis bis zur Spitze durch- ziehen. Sie umschheßen den nervösen Achsenstrang, der aus einem dorsalen Nervenpaar und einem ventralen Nervennetz besteht, das seitlich von Ganglienzellen umsäumt ist. Über den Saugnäpfen schwillt der Achsenstrang zu kleinen Ganglien an. Die dorsalen Nerven übermitteln keine Reflexe, sondern stellen bloß die Verbindung zwischen dem Gehirn und den Chromatophoren der Haut her. Ihre Reizung erzeugt immer nur eine peripher von der ReizsteUe auftretende Verdunkelung der Haut. Durch diese Einrichtung ist die Verfärbung unter den direkten Oberbefehl des Gehirns gestellt und den lokalen Zentren des Armes entzogen.
Viel schwieriger ist es, die Leistungen des Nervennetzes zu erkunden. Soviel kann als sicher gelten, daß vom Nerven- netz aus überall kurze, motorische Fasern zu den Längsmuskeln und kurze rezeptorische Fasern zur Haut ziehen. Die direkte Reizung des Nervennetzes erzeugt sowohl periphere wie zentrale Wirkungen auf die Muskeln. Ob das Erregungsgesetz gültig ist, ist noch nicht festgestellt worden. Die Saugnäpfe neigen sich, wenn zwischen ihnen das Nervennetz gereizt wird, dem Reizorte zu. Dies alles wäre nicht schwer zu verstehen und ergibt sich aus den allgemeinen Eigenschaften eines jeden Nervennetzes. Die Schwierigkeit beginnt erst bei der Frage: Wie beherrscht das Gehirn diesen zentralen Apparat, der so außerordentlich selbständig in seinen Leistungen ist? Einer- seits kann jeder Arm jede Bewegung mit seinen Muskeln und Saugnäpfen ausführen, auch wenn er abgeschnitten ist, andererseits kann ihm vom Gehirn aus jede Bewegung diktiert werden.
Im Gegensatz zu den Armen beherbergt der Atem- oder
Die Kephalopoden. 223
Mantelsack der Kephalopoden kein eigenes Zentrum mehr, das Reflexe vermitteln könnte, sondern untersteht direkt dem Ge- hirn. Denn die sogenannten Stellarganglien, die sich gerade an der Stelle befinden, wo die vom Gehirn kommenden großen Mantelnerven rechts und links im Mantel anlangen, vermitteln keine Reflexe. Nur bei Vergiftung mit Nikotin treten Erregungen von einer Bahn zur anderen über, die sonst streng isoliert bleiben. Die mechanische Erregbarkeit der Stellarnerven, die vom Stellarganglion aus nach den Mantelmuskeln strahlen, steht, wie Fröhlich und Löwy gefunden, in besonderer Ab- hängigkeit vom Ganglion. Ist dieses mit Nikotin vergiftet worden und wird dann schnell abgetrennt, so bleibt die erhöhte Erregbarkeit für mechanische Reizung noch mehrere Minuten in den Stellarnerven stecken. Das ist ein Erregbarkeitsfang, der wohl auf einen abgefangenen statischen Erregungsdruck zurückzuführen ist.
Die Mantelmuskulatur zeigt drei ausgesprochene Richtungen ihrer Faserzüge. Zu äußerst und zu innerst hegt eine dünne Schicht von Längsmuskeln, die den Mantel von vorne nach hinten durchziehen. Zwischen ihnen eingebettet und recht- winklig zu ihnen angeordnet liegen die mächtigen Ringmuskeln. Schließlich finden sich noch feine, transversale Muskelstränge, welche die Innenseite des Mantels mit seiner Außenseite ver- binden. Die transversalen Muskeln dienen der Einatmung, welche von den Längsmuskeln eingeleitet wird. Werden die Transversalmuskeln vom Gehirn aus innerviert, so verwandeln sie den Mantel in einen aufgeblasenen Ballon, dessen Wände stark verdünnt und erweitert sind. Die Ringmuskeln verengern bei ihrer Kontraktion das Lumen des Mantelsackes und werfen das in ihnen enthaltene Wasser hinaus. Sie dienen daher der Ausatmung. Dank ihrer starken Entwickelung sind sie fähig, das Wasser mit einem so starken Ruck nach außen zu werfen, daß das ganze Tier dadurch rückwärts getrieben durchs Wasser schießt. Dies ist denn auch die normale Schwimmbewegung der achtarmigen Kephalopoden oder Oktopoden. Der Mantel- sack ist mit seinem Rückensaum am Tierkörper angewachsen und hat seinen freien Rand an der Bauchseite des Tieres. Nun liegt unter dem Kopf eine trichterförmige Röhre, die mit ihrem weiten Ende in den Mantelsack reicht, mit dem engen
224 ^^^ Kephalopoden.
Ende aber frei nach vorn ins Wasser schaut. Beim Ausatmen legt sich der Mantelrand erst fest an den Trichter an, worauf die Kontraktion der gesamten Ringmuskeln erfolgt, die das Wasser durch den Trichter treibt. Durch Neigen des freien Trichterendes nach links oder rechts vermag das Tier den Wasserstrom einigermaßen zu dirigieren und seine Steuerung zu unterstützen.
Die Atembewegungen werden durch einen doppelten Reflex reguliert: Der Druck auf die in der Mantelhöhle hegenden Kiemen erzeugt reflektorisch die Öffnung des Mantelrandes und die Inspiration. Die Dehnung des Mantelrandes dagegen er- zeugt Schheßung des Mantels und Exspiration. Diese Reflexe wirken, wie wir sehen werden, auf den nervösen Atemapparat im Gehirn.
Die Muskelfasern der Oktopoden sind keine glatten mehr. Sie besitzen wie die quergestreiften Muskeln eine bestimmte Anfangslänge, zu der sie immer wieder zurückkehren, und sind daher viel unabhängiger von ihren Repräsentanten geworden. Trotzdem spielen die Repräsentanten eine sehr wichtige Rolle im Gehirn. Alle muskulösen Organe zeigen sich im Gehirne der Oktopoden doppelt vertreten, einmal ihrer Lage nach, und ein andermal ihrer Leistung nach. Die Vertretung der Muskel- fasern ihrer Lage nach übernehmen die Repräsentanten. So finden wir in dem paarigen Viszeralganglion des Gehirnes den ganzen Mantel beinahe in situ vertreten, denn man kann durch punktförmige Reizung des ViszeralgangHons den Mantel alle möglichen kleinen Falten schlagen lassen. Jede Reizung wird die Erregung zu einer lokal begrenzten Stelle schicken, welche bald mehr die eine, bald mehr die andere Muskelschicht zur Kontraktion bringt. Es liegen also im Viszeralganglion die Zentren so beieinander, wie die Tasten in einem Klavier: der räumlichen Ausbreitung der Saiten entspricht die räumliche Anordnung der Tasten. Es bildet die eine Hälfte des Mantel- sackes mit dem Mantelnerv und dem zugehörigen Viszeral- ganglion bereits ein in sich abgeschlossenes Reflexsystem. Aber die Leistungen des Viszeralganglions gehen noch darüber hinaus, denn es vermag, abgetrennt von dem übrigen Gehirn, die ganze Atmung zu besorgen. Es beherbergt an zwei wohl definierten Stellen höhere Zentren, bei deren Reizung man keine lokalen
Die Kephalopoden. 225
Muskelbewegungen, sondern allgemeine Aus- oder Einatmungs- bewegungen erzielt. Es ist also auf dem Klavier noch eine Einrichtung vorhanden, welche alle weißen Tasten einerseits und alle schwarzen Tasten andererseits vereinigt, so daß ein Druck genügt, um alle weißen Tasten, ein zweiter Druck, um alle schwarzen Tasten anzuschlagen.
Im Viszeralganglion treten alle Repräsentanten der aus- atmenden Ringmuskeln durch besondere Bahnen mit einem höher gelegenen Zentrum in Verbindung und ebenso treten die Repräsen- tanten der einatmenden Längs und Trans versalmuskeln zu einem anderen höheren Zentrum in Beziehung. Diese höhere Vereinigungsweise läßt sich als eine weitgehende Differenzierung im zentralen Netz verstehen. Schon bei den Aktinien fanden wir, daß die Repräsentanten der verschiedenen Muskelschichten ihre besonderen Spezialnetze besaßen. Bei den Oktopoden ver- einigen sich alle Bahnen dieser Spezialnetze in zwei höheren statischen Atemzentren. Diese Zentren haben aber nicht die Aufgabe, die überschüssige Erregung abzusaugen, wie das bei den Schnecken der Fall ist, denn mit ihrer Erregung werden die gestreiften Muskeln allein fertig. Dafür haben sie die Auf- gabe, ihre Erregung unter einander auszutauschen. Es findet also ein Hin- und Herfließen der Erregung zwischen dem Aus- und dem Einatmungszentrum statt. Sobald die Erregung ein statisches Zentrum erfüllt hat, wirkt sie auch auf alle mit ihm verbundenen Repräsentanten und deren Gefolgsmuskeln ein.
Die pendelnde Bewegung der Erregung wird reguliert und in Gang gehalten durch die beiden besprochenen Reflexe: Die extreme Einatmungsbewegung wird zum Reiz, der eine Erregung zum Ausatmungszentrum sendet und ebenso wirkt die extreme Ausatmungsbewegung erregend auf das Einatmungszentrum. Hier finden wir die uns bereits von den Medusen her bekannte Einrichtung wieder, daß die ausgeführte Bewegung selbst wieder zum Reize wird. Nur wurde bei den Medusen eine einzige Bewegung aktiv durch Muskeln ausgeführt, die andere geschah passiv durch den Gallertschirm. Infolgedessen kam auch nur ein einziger Reiz in Frage, der die Erregung allen Muskeln zu- sandte. Bei den Oktopoden handelt es sich um zwei aktive Muskelbewegungen, zwei Reize und zwei Erregungen. Auch wird die innerste Station nicht durch ein bloßes Nervennetz
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 15
226 ^^^ Kephalopoden.
gebildet, sondern durch zwei statische Zentren, die allein schon fähig sind, automatisch zu arbeiten, indem sie sich gegenseitig die Erregung zuschieben, sobald sie die von ihnen abhängigen Repräsentanten mit Erregung gefüllt haben. Der automatische Rhythmus, der mit der Tätigkeit zweier verkuppelten Ballons zu vergleichen ist, ist an keinen Unterbecher gebunden, wie das bei den Medusen der Fall ist, denn der Atemrhythmus der Kephalopoden ist jederzeit anpassungsfähig, und wenn eine refraktäre Periode nachgewiesen werden sollte, so ist sie sicher nur relativ und nicht absolut. Ein Erregungsrhythmus zwischen Ein- und Ausatmungszentrum ist also sicher vorhanden, er kann aber jederzeit verstärkt, beschleunigt oder verlangsamt werden, und zwar paßt sich das Viszeralganglion der einen Seite mit langsamem Rhythmus immer dem anderen Viszeralganglion an, wenn dieses einen schnelleren Rhythmus aufweist. Es müssen also gute Verbindungen zwischen den Atmungszentren beider Seiten bestehen. Der Rhythmus in den Viszeralganglien kann durch höher gelegene Zentren beeinflußt werden. Bevor wir auf die Wirkungsweise dieser Zentren eingehen, müssen wir einen kurzen Überbhck über das ganze Gehirn gewonnen haben.
Das Gehirn besteht aus lauter paarweis angeordneten Ganglien. Unter Ganghen versteht man kompakte Nerven- netze, die von Ganglienzellen umsäumt sind. Die Größe und Form der Ganglien ist sehr wechselnd. Ich unterscheide bei den Oktopoden drei Arten von Ganglien: 1. periphere, 2. zen- trale und 3. zerebrale Ganglien. Die peripheren Ganglien ent- senden periphere Nerven, die zentralen verbinden die peri- pheren Ganglien miteinander und die zerebralen sind den zentralen aufgelagert.
Da das Gehirn von der Speiseröhre durchbohrt ^vird, so entsteht eine über dem Schlünde und eine unter dem Schlünde gelegene Ganglienmasse. Die Unterschlundmasse besteht aus drei peripheren, paarigen Ganglien, die hintereinander liegen. Zuvörderst liegt das Armganglion, das die Armnerven auf- nimmt. Ihm folgt das Trichterganglion (Pedalganglion), das den Trichter mit Nerven versorgt, und schließhch kommt das besprochene Viszeralganglion, das die Mantelnerven abgibt.
Während die drei Unterschlundganglien in einer Ebene liegen, erhebt sich die Oberschlundmasse zu einem kleinen
Die Kephalopoden. 227
Berge. Die Basis des Berges wird von vier Ganglien gebildet. Zuvörderst liegt das Buccalganglion, so genannt, weil es Nerven zur Mundmasse oder Bucca entsendet. Dann folgen hinter- einanderliegend die drei Zentralganglien. Den Gipfel des Berges bilden die beiden gleichfalls hintereinanderliegenden Zerebral- ganglien.
Ober- und Unterschlundganglien sind sowohl am vorderen wie am hinteren Ende durch Kommissurenpaare miteinander verbunden. Die hintere Kommissur verbindet jederseits das Viszeralganglion mit dem dritten Zentralganglion. Es kann daher nicht wundernehmen, daß die höheren Ganglien, welche die Atmung beeinflussen, in der dritten Zentrale gelegen sind. Hier finden sich in der Tat ausgesprochene Stellen, von denen aus man je eine Phase der Atembewegung isoUert beeinflussen kann. Besonders deutlich läßt sich eine reine Streckung des Mantels und eine ausgesprochene Ballonform durch Reizung bestimmter Orte erzielen.
Durch die Einfügung dieser höheren Zentren vdvd dem Tier die Möglichkeit gewährt, bei besonderen Gelegenheiten die eine oder die andere Phase des Atemrhythmus allein vor- herrschen zu lassen. Am Boden der dritten und dem an- schließenden Teil der zweiten Zentrale befindet sich eine Region, die auf Reiz hin das Atmen in Schwimmen verwandelt. Es macht den Eindruck, als wenn hier ein großes Erregungs- reservoir läge, das auf dynamische Erregung hin einen sehr verstärkten Rhythmus auszuspielen beginnt, den es den Atem- zentren im Viszeralganglion aufzwingt. Damit ist der Kreis der Mantelbewegungen erschöpft. Deutlich zeigt sich, daß der Unterschied zwischen niederen und höheren Zentren darin be- steht, daß die niederen einzelne Muskelkontraktionen auslösen, während die höheren einer ganzen Körperbewegung vorstehen.
Die gleiche Trennung der Zentren in lokal wirksame und funktionell zusammenfassende zeigt sich auch bei den Bewegungs- zentren der Arme. Wir sahen, daß in dem Achsenstrang der Arme ein Nervennetz vorhanden ist, das die Repräsentanten der Muskeln enthält, die sich noch im gleichen Querschnitt mit ihren Gefolgsmuskebi befinden. Die Zusammenfassung der Repräsentanten unter höhere Zentren geschieht erst im Gehirn. Das Nervensystem der Arme zerfällt in zwei deuthch getrennte
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228 ^^^ Kephalopoden.
Abschnitte. Von den äußersten Spitzen beginnend bis zu den Armwurzeln (die einem muskulösen Becher aufsitzen, in welchem die Bucca frei beweglich liegt) verbindet das allgemeine Nerven- netz die Repräsentanten miteinander. An der Armwurzel greifen die Nervennetze durch Verbindungsbrücken von einem Nachbar- arm zum anderen über. Und jede peripher auftretende Er- regung ist fähig, von einem Arm zum anderen hinüberzufheßen. In dieses allgemeine Nervennetz strahlen die vom Gehirn kommenden Bahnen ein und verbinden sich in noch unerforschter Weise mit den Repräsentanten. Sicher ist nur, daß diese Bahnen nicht im allgemeinen Nervennetz aufgehen, denn niemals greift eine zentrale, in die Armwurzeln einbrechende Erregung, auf die Nachbararme über, obgleich das allgemeine Netz hier seine Verbindungsbrücken geschlagen hat.
Die Arme haben drei verschiedene Aufgaben zu erfüllen, und dementsprechend kann man ihnen drei verschiedene Funktionen zuschreiben: 1. Abwehrbewegungen, besonders zum Schutze des Mantels, 2. Bewegungen, die der Orts Veränderung dienen, beim Kriechen, Klettern oder Schwimmen, 3. Fang- oder Freßbewegungen, Die Bewegungen, die der einzelne Arm bei Ausübung dieser drei Funktionen macht, sind immer die gleichen. Sie bestehen aus Windungen nach allen Seiten hin, aus Zufassen und Loslassen der Saugnäpfe. Es ist vöUig aus- sichtslos, verschiedene Typen der Armbewegungen nach den verschiedenen Funktionen aufstellen zu wollen. Trotzdem ver- mag man nachzuweisen, daß im Gehirn für jede dieser drei Funktionen gesonderte Gruppen von Zentren vorhanden sind. Die verschiedenen Zentren benutzen also nicht bloß das gleiche Organ, sondern auch die gleichen Bewegungen des einzelnen Organes, nur in verschiedener Zusammenstellung mit den Bew^egungen seiner Nachbarn, um ihre spezielle Leistung durchzusetzen.
Zur Ausführung der Abwehrbewegungen, die auf Reizung des Mantels eintreten und in einem Zurückschlagen der Arme nach der gereizten Stelle hin bestehen, bedürfen die Oktopoden nur eines einfachen Reflexes, der im Pedalganglion gipfelt. Die rezeptorischen Nerven treten durch die Mantelnerven und das Viszeralganglion zum Pedalganglion über und finden dort ihre Verkoppelung mit den motorischen Bahnen, die das Armganglion durchsetzen und zum Achsenstrang weiterziehen.
Die Kephalopoden. 229
Von den Lokomotionsbewegungen sind die Steuerbewegun- gen beim Schwimmen am besten bis auf ihren Ursprung zu verfolgen. In der gleichen Region der zweiten und dritten Zentrale, deren Reizung die Schwimmbewegung auslöst, ent- steht auch die Erregung, welche, die hintere Kommissur durch- eilend, im Pedalganghon ihre Verkoppelung mit jenen moto- rischen Nerven erfährt, die ein Loslassen der Saugnäpfe und ein Zusammenschheßen der Arme zu einem Bündel veranlassen. Beim Schwimmen, dessen Richtung nur ungenügend durch die Biegung des Trichters reguHert wird, wirkt ein Hin- und Herpendeln des ganzen Armbündels wie ein effektvolles Steuer. Vom Boden der dritten Zentrale gehen ferner die Erregungen aus, die dem Klettern und Kriechen dienen. Auch ihr Weg führt durch die hintere Kommissur zum Pedalganglion und von dort in den Achsenstrang. Sie sind noch nicht ge- nügend untersucht.
Merkwürdigerweise nehmen die Bahnen derjenigen Zentren, die das Fressen beherrschen, ihren Weg nicht durch die hin- teren, sondern durch die vorderen Kommissuren. Wie die Armbewegung, welche das Schwimmen unterstützt, von der gleichen Region ihre Erregung enthält wie die Schwimmbewe- gung selbst, so erhält die hauptsächliche Bewegung beim Fressen, nämlich das Zufassen der Saugnäpfe, besonders an der Arm- wurzel seinen Impuls aus der gleichen Region, die das Zubeißen der kräftigen, in der Bucca gelegenen Kiefer auslöst. Am Boden der ersten Zentrale finden sich Zentren, die einerseits durch das Buccalganglion ihre Nerven zur Bucca entsenden, andererseits ihre Nerven durch die vordere Kommissur zum Armganglion schicken. Dort werden sie mit den motorischen Bahnen des Achsenstranges verkoppelt. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß die Bewegungen der verschiedensten Or- gane, wenn sie nur die gleiche Aufgabe gemeinsam zu erfüllen haben, von einem eng zusammenhängenden Zentrenkomplex ausgelöst werden.
Außerhalb der Schädelkapsel liegt links und rechts ein weiteres großes peripheres Ganglion, das aber rezeptorischer Natur ist. Es ist das Augenganglion. Mit dem Gehirn steht es durch den derben Tractus opticus, der oberhalb der hinteren Kom- missur mündet, in Verbindung. Mit dem Auge ist das Ganglion
230 ^i® Kephalopoden.
durch eine dichte Reihe zarter Optikusfasern verbunden. Vom Auge aus werden während des normalen Lebens dauernd Reflexe ausgelöst, die besonders die Verfärbung der Haut be- treffen, mit der die Bewegungen der sehr beweglichen Ober- haut Hand in Hand gehen. Es ist daher sehr auffallend, daß die Reizung der Optikusfasern gar keinen Effekt hat. Erst die Reizung des Ganglions selbst wirkt auf die Haut und die Chromatophoren. Dieser Unterschied kann nur darin gesucht werden, daß im Gegensatz zum motorischen Gebiet des Ge- hirnes, wo jede Reizung Erfolg hat (es sei denn, daß man zu- fällig zwei antagonistisch wirkende Fasern gleich stark erregte), im rezeptorischen Gebiete die Reizung erst dann Erfolg hat, wenn ein anatomisch und funktionell zusammengehöriger Kom- plex von Bahnen und Zentren erregt wird. Bei der elektrischen Reizung der Optikusfasern wird man, wie leicht einzusehen, niemals den richtigen Erregungskomplex auslösen, den ein Bild auf der Retina ohne weiteres hervorruft. Im Augenganghon kann man schon eher darauf hoffen, einen nervösen Komplex zusammenzuerregen, wenn er sehr einfacher Art ist. So ge- lingt es vom Augenganglion aus einige einfache Farbenreflexe und manchmal Schwimmbewegungen hervorzurufen, also die primitivsten Flucht- und Verfärbungsreaktionen, keineswegs aber höhere Bewegungungskoordinationen.
An der Stelle, wo der Pedunculus opticus aus dem Augen- ganglion austritt, sitzt ein stecknadelkopfgroßes GangUon, dessen Reizung mit Sicherheit eine tiefe Schwärzung des ganzen Tieres veranlaßt. Die Verdunkelung der Haut ist ein sicheres Mittel, von hier aus den Weg der Kolorationsnerven durch die dritte Zentrale in die hinteren Kommissuren zu verfolgen, wo sie teils durch das Viszeralganglion in die Mantelnerven, teils durch das Pedalganglion in den Achsenstrang ziehen. Ob das Ganglion pedunculi ein besonderes Erregungsreservoir für die Kolorationsnerven darstellt, ist ungewiß, jedenfalls trägt es bereits einen motorischen Charakter.
Sehr auffallend ist ferner die Tatsache, daß die beiden Zerebralganglien, die den Zentralganglien aufsitzen, genau wie die Optikusfasern für jede künstliche Reizung völHg refraktär sind. Dadurch allein charakterisieren sie sich bereits als re- zeptorische Ganglien, welche nur erregt werden können, wenn
Die Kephalopoden. 231
ihre Zentren in der richtigen Form und in der richtigen Reihen- folge gereizt werden.
Das Hauptkennzeichen einer höheren Organisation sahen wir in dem Auftreten der Gegen weit, d. h. einer Neubildung im rezeptorischen Teil des Zentralnervensystems. Es ist durch Beobachtung an Oktopoden genugsam festgestellt, daß sie auf die Form der photorezipierten Gegenstände reagieren. Es kann aber, wie wir sahen, die Form eines Gegenstandes nur dann als Reiz wirken, wenn im Gehirn eine entsprechende Form im Bau der Nervenbahnen und Zentren vorgebildet ist. Die Form der Anordnung der Nervenbahnen kann man als Transformator für die Form der Gegenstände im weitesten Sinne auffassen und muß sie daher dem rezeptorischen Teil des Zentralnerven- systems zurechnen. Es besitzen die Oktopoden sicher eine Gegen weit, und wo sollte diese passender ihr Zelt aufschlagen können, als in den Zerebralganghen ? Diese sind so gelagert, daß sie von allen Rezeptoren gleich weit entfernt sind und alle äußeren Eindrücke auf dem kürzesten Wege erhalten. Ferner liegen sie den Zentralganglien auf, welche die höchsten motorischen Stationen beherbergen, von denen aus die Ge- samthandlungen des ganzen Tierkörpers dirigiert werden. Wenn wir diesen Gedanken weiter verfolgen, so hegt in den Zerebral- ganghen die gesamte Umwelt des Tieres in Form von nervösen Schematen aufgespeichert und jedes Schema ist bereit, sobald ihm die Erregung in der ihm allein zusagenden Form zuge- sandt wird, seine Verbindungen mit den höchsten motorischen Zentren spielen zu lassen. Auf diese Weise allein gehngt es, ein anschauhches Bild von den Vorgängen im Gehirn zu er- langen, das halbwegs den allgemeinen Erfahrungen am Tiere entspricht.
Leider können wir mit unseren rohen Reizen nicht die einzelnen Schemata rein anklingen lassen, und nur dann dürfte man auf Erfolg hoffen. Alle Versuche an Kunstschlössern, die nur auf ein bestimmtes Kennwort sich öffnen, sind vergebliche Mühe, wenn man das Wort nicht kennt. Man erzielt mit allen Umstellungen gar nichts. Dagegen ist es sehr leicht, Bewegungen der Riegel zu erzielen, wenn man im Uhrwerk des Schlosses an den Rädern selbst herumprobiert. So ist es auch mit den Reizen im rezeptorischen und motorischen Ge-
232 ^^^ Kephalopoden.
biet. Die ersten geben gar keine, die anderen immer Effekte, die freilich oft ganz unnormal sind.
Die Vorstellung der Gegenwelt eröffnet auch für die Okto- poden ganz neue Fragestellungen. Man weiß, daß ein Okto- pus die Krabbe, die man ihm an einen Faden hängend zuwirft, an ihrer Form erkennt ; sobald er sie erblickt, verfärbt er sich und stürzt auf sie los. Das Auge liefert ein tadelloses Bild der äußeren Gegenstände in der Retina und vermag sogar aus- gezeichnet zu akkomodieren. Aber wie genau die Schemata der Gegen weit sind, ist noch gar nicht untersucht worden. Ob etwa ein Schlangenstern ebenso behandelt würde, wie eine Krabbe, oder ob die künstliche Färbung der Krabbe die Wir- kung der Form aufhebt, darüber ist noch nichts bekannt.
Das Abtragen der Zerebralganglien ist ebenso erfolglos wie die künstHche Reizung. Wenigstens bleiben alle koordinierten Bewegungen erhalten und können durch Reizung der rezep- torischen Nerven reflektorisch ausgelöst werden. Es bleibt also das zentrale Innenleben durch diese Operation unberührt. Die höchsten motorischen Zentren sind unverletzt geblieben und lassen den komplizierten Bewegungsapparat mit der gleichen Sicherheit spielen, gleichgültig woher sie ihren nervösen Impuls erhalten. Da im normalen Leben es jederzeit nötig werden kann, einen der motorischen Apparate möglichst schnell in Tätigkeit zu setzen, so kann es nicht wundernehmen, daß von den Rezeptoren direkte Bahnen zu den höchsten moto- rischen Zentren verlaufen. Es ist daher das Bestehenbleiben der gesamten Bewegungsfähigkeit nach Abtragung der beiden Zerebralganglien nicht so auffallend. Zusammengehalten aber mit der völligen Unfähigkeit auf künstliche Reize zu reagieren, wird diese Tatsache leicht zum Glauben verführen, als be- säßen die Zerebralganglien lediglich hemmende Eigenschaften. Wenn von ihnen aus tatsächhch auch hemmende Wirkungen auszugehen scheinen, so ist damit ihre Bedeutung kaum an- gedeutet. Wie Hemmungszentren wirken, wissen wir jetzt aus den Versuchen an Schnecken, deren Tätigkeit ganz anderer Art ist.
In neuester Zeit hat die Analyse der Reaktionen bei höheren Tieren die Annahme einer Gegenwelt im Zentralnerven- system notwendig gemacht, und wir haben die Unerregbarkeit
Die Kephalopoden. 233
der Schemata durch künstiiche Reize plausibel machen können. Ebenso plausibel ist der Mangel an Ausfallserscheinungen nach Entfernung der Gegenwelt, wenn die Rezeptoren direkte Ner- venbahnen zu den motorischen Zentren senden. Die Wichtig- keit der Zerebralganglien mit ihrer Gegenwelt wird dadurch nicht im geringsten berührt. Es zerfällt eben das Innenleben der Oktopoden in zwei Hauptteile, in ein zentrales und ein zerebrales Innenleben
Das zentrale Innenleben, das eine völlig geschlossene Ein- heit bildet, lehnt sich unmittelbar an das Innenleben der niederen Tierformen an. Rezeptor — Netz — Effektor ist auch hier der Weg der Reflexe, nur ist eine höhere Ausbildung im motorischen Teile des Netzes vorhanden. Die Umwelt, die für das zentrale Innenleben in Frage kommt, besteht nicht aus Gegenständen, sondern aus einzelnen physikalischen oder chemischen Wirkungen, die vielleicht eine gewisse Gruppierung im rezeptorischen Netzteil erfahren. Mit der zentralen Innen- welt allein können die Oktopoden noch leben, denn kein unent- behrhcher Maschinenteil ist ausgeschieden, der Organismus funk- tioniert noch immer als ein Ganzes.
Auch im zerebralen Innenleben kann nichts anderes ge- schehen, als daß auf äußere Reize hin Bewegungsreaktionen erfolgen. Die Rezeptoren und Effektoren bleiben dieselben und nur die rezeptorischen Bahnen erleiden eine Umgestaltung. Diese Umgestaltung verändert aber nicht so sehr den eigenen Organismus als vor aUen Dingen die Umwelt, die vom Grund auf umgestaltet wird, durch die Einführung von räumlichen Formen und die Erzeugung von wirkhchen Gegenständen. Welche Gegenstände das sind und wie weit sie sich mit den von uns in der Umgebung des Tieres erkannten Gegenständen decken, darüber müssen uns noch geeignete Experimente auf- klären. Octopus vulgaris baut sich selbst ein Haus aus Steinen und Felsblöcken, und das verlangt immerhin eine gewisse Kenntnis der Formen der verwendeten Bausteine.
Augenblicklich werden in Amerika interessante Versuchs- reihen an verschiedenen Tierarten angestellt, die sich auf die Entstehung von Gewohnheiten (Yerkes) beziehen. Man hofft dabei einen Beweis für das Wirken einer Psyche zu finden. Insofern eine Neubildung von Gewohnheiten auf Neubildungen
234 ^i® Kephalopoden.
im Gehirn selbst schließen läßt, ist allerdings aus diesen Ver- suchen zu schließen, daß ein übermaschineller Faktor im Ge- hirn tätig ist. Ich sehe aber keine Veranlassung, diesen Faktor eine Psyche oder ein Psychoid zu nennen, denn die Struktur- bildung ist eine maschinell nicht auflösbare Eigenschaft des ungeformten Protoplasmas, das gerade durch diese Eigenschaft sich von allen übrigen, geformten und ungeformten Stoffen unterscheidet. Inwieweit eine Neubildung im Oktopodengehirn anzunehmen ist, ist noch nicht sichergestellt. Wohl wird ein Oktopus vulgaris, der sich auf einen Torpedo gestürzt hat und, von dessen Schlägen verjagt, wieder am Ufer sitzt, den Torpedo eine Zeitlang in Ruhe lassen. Ob daraus aber eine dauernde Gewohnheit wird, ist noch nicht untersucht.
Ich habe an hungernden Exemplaren von Eledone moschata gefunden, daß sie sich gerne auf Einsiedlerkrebse stürzen. Trägt aber das Gehäuse des Krebses eine Aktinie, an der sich Eledone verbrennt, so gibt sie die vergeblichen Versuche bald auf. Sie hört aber dann überhaupt zu fressen auf und nimmt auch die beliebten Krabben nicht mehr an, sondern geht elend zugrunde. Dieser Versuch lehrt, daß die sogenannte Plastizität des Gehirnes von Eledone eine geringe ist, denn die neue Er- fahrung zeitigt keine neue Gewohnheit, sondern zerreißt die Gegenwelt.
Im Gegensatz zu Yerkes und Driesch, die in den proto- plasmatischen Leistungen des Gehirnes einen Beweis für die Psyche suchen, glauben Loeb und neuerdings Bohn in der Existenz eines assoziativen Gedächtnisses den Beweis einer Psyche sehen zu dürfen. Nun ist ein assoziatives Gedächtnis, wenn man damit eine objektive Leistung eines Tieres bezeichnet, durchaus keine übermaschinelle Fähigkeit. Wir können uns sehr gut Maschinen vorstellen, in denen die Auslösung einer ge- wissen Radstellung dauernd den Gang der Maschine beeinflußt. Dieser Versuch, die Psyche, die ja identisch mit dem Empfin- dungsleben ist, objektiv zu beweisen, scheint mir daher noch weniger geglückt.
Die Existenz eines assoziativen Gedächtnisses, das auch bei der Entstehung von Gewohnheiten eine große Rolle spielt, ist für die Oktopoden wohl wahrscheinlich gemacht, aber nicht streng bewiesen. Überhaupt fehlt noch der Aufbau unserer
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Kenntnisse nach dieser Seite hin völlig. Ich glaube aber, daß der Weg zu einer einwandfreien Anordnung unserer Erfah- rungen nur auf Basis der Begriffe von Umwelt und Gegenwelt erfolgen kann.
Libellen.
Die Kephalopoden haben uns eine grundlegende Tatsache eröffnet, indem sie uns lehrten, daß es im selben Tier zwei verschiedene Innenwelten geben kann, eine zentrale und eine zerebrale. Die zerebrale Innenw^elt ist das, was mr als Gegen- welt zu bezeichnen haben, weil in ihr die Formen der Gegen- stände durch die Formen der Schemata widergespiegelt werden. Die Umwelten sind den beiden Innenwelten entsprechend völlig verschieden, obgleich für beide die gleichen Rezeptoren die Erregungs quelle bilden. Es zerfällt also der z. B. durch das Auge aufgenommene Ausschnitt der Umgebung in zwei fundamental verschiedene Teile. Wird dieser Umstand nicht beachtet, so verwickelt man sich in unvermeidhche Widersprüche, die bei der Betrachtung der Insekten besonders empfindlich werden.
Durch Rädl sind wir vor allem auf die zentrale Umwelt der Insekten aufmerksam geworden und er hat eindringHch die Umw^elt der Insekten als ein Lichtfeld beschrieben, dem gegen- über sich das fliegende Insekt in einer Art Lichtgleichung befindet. Dieses Lichtfeld wirkt, wie Parker zeigen konnte, nur durch die Augen auf das Tier ein und die Lichtgleichung wird nur auf reflektorischem Wege aufrecht erhalten.
Wir verdanken den Versuchen Bohns, die er mit seinem ,,Revelateur" an verschiedenen Mollusken angestellt hat, die erste Anschauung über das Lichtfeld. Der Revelateur ist ein Apparat, der aus Schirmen verschiedener Form und Größe besteht, die mit weißem und schwarzem Papier beklebt sind. Mit Hilfe dieser Schirme ist es Bohn gelungen, um verschie- dene kleinere Schnecken ein Lichtfeld zu schaffen, das der Ex- perimentator behebig verändern kann und das ihm die Möghch- keit gibt, das Versuchstier behebig hin- und herzuleiten. Leider ist es viel schwieriger, einen Revelateur für ein fliegendes Objekt herzustellen. Doch läßt sich schon jetzt sagen, daß man mit einem solchen Apparat erstaunhche Wirkungen auf die Insekten
236 Libellen.
erzielen würde. Parker und Cole haben nämlich an Schmetter- lingen nachweisen können, daß die Intensität des Lichtes gar nicht in Frage kommt gegenüber der Größe der beleuch- teten Flächen.
Es kommen für die Orientierung der Insekten in ihrer Umwelt weder die Intensität des Lichtes, noch die Formen der Umrisse, noch die Farbe der Gegenstände in Betracht, sondern lediglich die Größe und die Verteilung der Dunkelheiten auf einen hellen Grund. Die einfachste Art dieser Orientierung hat Parker beim Trauermantel gefunden, der sich beim Hin- setzen immer so orientiert, daß seine beiden Augen gleich stark von der Sonne beleuchtet sind. Fällt aber ein Schatten auf ihn, so verläßt er seinen Platz und fliegt nach der größten beleuchteten Fläche hin, niemals aber nach der Sonne. Diese Beobachtungen sind von Parker in allen Einzelheiten durch Experimente nachgeprüft und bestätigt worden.
Radi konnte zeigen, daß sich spielende Müc kenschwärme auf den Hut des Beobachters einstellen und ihm folgen. Sehr lehrreich ist auch der von ihm zitierte Versuch Foreis, welcher Ameisen auf eine hell beleuchtete Landstraße warf, an der sich keine größeren Gegenstände befanden und die nun dem Experimentator folgten, weil sie sich auf das dunkle Feld ein- gestellt hatten, durch das sich sein Körper vom allgemeinen Lichtfeld abhob. Sobald sie sich den ersten Bäumen des Wald- randes näherten, verheßen die Ameisen den Menschen und folgten diesen neuen Orientier ungs flächen.
In einer schönen Arbeit hat Cole nachgewiesen, daß mit geringen Ausnahmen alle Tiere, die das Licht fliehen (negativer Heliotropismus), durch die Intensität des Lichtes geleitet werden, während die Tiere, die das Licht suchen (positiver Hehotropismus), durch die Größe der beleuchteten Felder ihrer Umgebung ge- lenkt sind. Das Licht suchen und das Licht fliehen sind, wie zuerst Loeb gefunden, keine unveränderlichen Eigenschaften der Tiere. Sie können durch alle möglichen Änderungen der Umgebung umschlagen, je nach der Lebensweise des Tieres. So werden viele Tiere, die Lichtsucher sind, Uchtflüchtig im Moment, da die Temperaturerniedrigung sie zum Winterschlaf einlädt, für den sie dann eine dunkle Höhle aufsuchen. Es wäre nun äußerst dankenswert, wenn der Nachweis versucht
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würde, ob auch beim gleichen Tier während der Periode des Lichtsuchens immer nur die Extensität, in der Periode des Lichtfliehens aber die Intensität des Lichtes die führende Rolle übernimmt.
Die Forscher versuchen in anerkennenswerter Weise die Wirkung des Lichtes auf die Organismen in ihre einzelnen phy- siologischen Faktoren zu zerlegen. So betrachten sie das Licht erstens als bewegungsauslösend, zweitens als die Körperstellung richtend, drittens als die Bewegungsrichtung bestimmend.
Rädl hat gefunden, daß bei einigen Süßwasserkrebsen der Lichteinfall ihre Lage beim Schwimmen völlig ändert, denn die Tiere stellen sich immer so ein, daß das Auge nach der Licht- quelle gerichtet ist, einerlei, wo sich dieselbe befindet. Kommt das Licht von unten, so liegen sie umgekehrt im Wasser. Dies ist bei den Insekten natürhch nicht der Fall. Ihre Stellung beim FHegen ist durch die Schwere des Körpers und den Ansatz der Flügel gegeben. Dafür ist aber ihre Flugrichtung, ihre Steigen, Fallen und Stehenbleiben im Flug abhängig vom Lichtfeld, der Anstoß zum Flug mag gewesen sein, welcher €r wolle.
Unerklärliche Versuche hat bekannthch Bethe angestellt, als er die Fähigkeit der Bienen, ihr Heim wiederzufinden, unter- suchte. Die Bienen finden stets mit der größten Sicherheit die Stelle im Räume wieder, von der sie ausgeflogen sind, nicht aber ihren Stock, wenn dieser unterdessen ein wenig von der Stelle gerückt wurde. Dadurch wird bewiesen, daß die Bienen nicht durch das Bild ihres Stockes geleitet werden, sondern von einem anderen Agens, das bisher unerklärhch w^ar. Nun scheint die Lehre Radis von dem Lichtfeld und der Lichtgleichung dieses offenbar sehr komplizierte Problem seiner Lösung einiger- maßen näher zu führen. Radi schreibt: ,,Eigentümhch ist aber, daß die Insekten nicht nur nach Hause fliegen, sondern auch nach Orten, auf welchen sie wenige Momente ausge- ruht haben.
Man kann aich davon oft an einem Schmetterling, einer Libelle, oder auch an anderen Insekten überzeugen, welche an behebigen Orten sitzen: Wenn man sie nicht zu hurtig auf- scheucht, kehren sie nach einigem Herumflattern zu der Stelle, welche sie eben verlassen haben, zurück. Ich habe (1901)
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mehrere solche Erscheinungen durch den Satz ausgedrückt, daß die Insekten auf irgendeine Art an die Stelle gebunden sind, welche sie willkürlich verlassen haben .... In diesen Fällen wird man gewiß schon fühlen, daß von einem guten Gedächt- nis oder etwas Ähnlichem zu sprechen gar nichts erklärt; es ist aber sehr wahrscheinlich, daß diese Erscheinungen nur ein spezieller Fall von der Heimkehrfähigkeit der Tiere überhaupt sind."
Am besten wird man durch die Worte Radis, mit denen er sein grundlegendes Buch abschließt, zum Verständnis der Umwelt der Insekten gelangen, soweit diese auf das zentrale Leben einwirkt: ,,In der Lehre von den Tropismen ist uns eine neue experimentelle Basis für die Orientierung der Erscheinungen im Organismenreiche geboten. Wir finden, daß es bei den Tieren keine ,, Orientierung überhaupt" gibt, sondern daß es äußere Umstände sind, welche das Tier orientieren, besonders das Licht, die Schwerkraft, der Oberflächendruck der Körper und vielleicht noch anderes. Wir sehen, daß die Orientierung eines Tieres darin besteht, daß dasselbe in bezug auf irgend- eine äußere Kraft im Gleichgewicht steht, wobei dieses Gleich- gewicht sich nicht nur auf die Lage des Organismus, sondern auch auf seine physiologischen Funktionen bezieht; wir haben gesehen, daß, wenn die Richtung der wirkenden Kraft geändert wird, auch der Organismus seine Orientierung ändert und den neuen Verhältnissen anpaßt.
Auf Grund dieser Untersuchungen können wir behaupten, daß der Raum für die Organismen ein System richtender Kräfte ist, von denen eine jede den Organismus in ein Gleichgewicht gegen sich stellt. Dieses Gleichgewicht ist die Orientierung des Tieres. Die Räume verschiedener Organismen sind nicht einander gleich: Während bei einigen mehr ein Lichtraum entwickelt ist, ist bei anderen ein Schwerkraftraum und bei anderen ein Flächenraum und wieder bei anderen ein Druckraum besser ausgebildet; es ist wahrscheinlich, daß immer mehrere solche Räume bei demselben Organismus vorhanden sind, daß aber hier der eine, dort der andere überhand nimmt." Rädls in- teressante Ausführungen würden verständlicher sein, wenn er an Stelle des Wortes ,,Raum" das Wort ,, Um weit" ge- wählt hätte.
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Auch die bereits von Darwin aufgeworfene Frage, warum die Motten wohl in die Kerze, aber nicht in den Mond fliegen, scheint sich durch Anwendung der Lichtgleichung lösen zu lassen. Der Mond bescheint große Flächen, die wegen ihrer Extensität in der Lichtgleichung stärker wirken, als sein inten- sives Licht. Die Kerze vermag keine so hellen Flächen hervor- zurufen, die ihr selbst Konkurrenz machen könnten, daher bleibt sie in der Lichtgleichung als einziger wirksamer Faktor übrig und die lichtsuchenden Tiere stürzen in ihr Verderben.
Die Wirkung heller und dunkler Flächen auf die Retina beider Augen der Insekten ruft, so scheint es, einen Wettstreit der beiden Augen, vielleicht auch verschiedener Partien im gleichen Auge hervor, der durch reflektorische Wirkung auf die Hals- und Flügelmuskeln den Augen immer neue Stellungen gibt, bis sich ein Kompromiß ergeben hat, d. h. bis ein labiles Gleich- gewicht gefunden ist, bei dem die von allen Teilen der Retina ausgehenden Wirkungen sich entweder gegenseitig aufheben — dann bleibt das Insekt in der Luft stehen — oder sich zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigen — dann fliegt das Insekt in einer bestimmten Richtung davon. Ob es einfach die Aus- dehnung der hellen Flecke auf der Retina ist, von denen jeder eine zum Reizort hinzielende Bewegung zu veranlassen sucht, und dabei in Konflikt gerät mit jenen Bewegungen, die von den anderen Flecken veranlaßt werden — und ob es dabei bloß auf die Zahl der beUchteten Retinaelemente ankommt, um den Ausschlag im Wettstreit zu geben — das läßt sich wohl ver- muten, aber nicht beweisen.
Wenn in einem Insektenauge aUe beHchteten Retinakegel reflektorisch auf die Halsmuskeln wirken und diese von allen Seiten schwächere und stärkere Erregungen erhalten, die sie nur insoweit mit Verkürzung beantworten können, als es ihre gleichfalls erregten Antagonisten gestatten, so muß der Kopf des Tieres dadurch eine bestimmte Stellung im Raum ein- nehmen, der sich auch der übrige Körper anzupassen hat. Es versteht sich von selbst, daß jede passive Drehung des Kopfes die Lichtgleichung stört und daher durch eine entgegengesetzte Bewegung der Halsmuskeln wieder gut gemacht werden muß. Solche Bewegungen nennt man kompensatorische.
Die Einstellung des Auges nach der Lichtgleichung macht
240 Libellen.
die Tiere zu Sklaven ihrer Umgebung. Es werden ihnen durch die Lichtgleichung nur ganz wenige Punkte in der Natur als Aufenthaltsorte angewiesen. So sieht man verschiedene Fliegen und Mücken auf enge Bezirke zusammengedrängt unter Bäumen in einem schmalen Sonnenstrahl schweben.
Die Libellen scheinen unabhängiger von der Lichtgleichung zu sein. Zwar habe ich eine Aeschna beobachten können, die einen ganz bestimmten Wechsel besaß und unermüdlich über eine halbe Stunde die gleichen Büsche in der gleichen Richtung, in der gleichen Höhe umflog. Aber für die stillsitzenden, auf Raub lauernden Bachlibellen dürfte der Nachweis, daß sie ihre Stellung lediglich der Lichtgleichung verdanken, schwer zu führen sein. Trotzdem führt ihr Kopf ausgesprochene Kom- pensationsbewegungen aus. Jede passive Verschiebung des Körpers nach oben oder unten, nach rechts oder links wird durch eine entgegengesetzte Bewegung der Halsmuskeln aus- geglichen. Es ist nicht notwendig, diese Erscheinung auf die Lichtgleichung zurückzuführen, weil eine jede Erregung, die beim Wandern eines Retinaeindrucks über die Nervenendigungen hinweggleitet, eine elektrische Wellenbewegung erzeugt, die an der zentralen Endigung der Optikusfasern ebenso zum Vorschein kommen muß, wie an der retinalen. Diese Wellenbewegung, die in einer durch den äußeren Vorgang gegebenen Richtung über das zentrale Ende des Sehnervenfaserbündels dahingleitet, ist durchaus fähig, in bestimmten zur Bewegungsrichtung gleichgelagerten Fasern des zentralen Netzes eine Erregung durch Induktion hervorzurufen, die dann die zugehörigen Muskeln in Tätigkeit versetzt, während alle anderen Teile des Nervennetzes unberührt bleiben. Auf diese Weise kann eine kompensatorische Bewegung auch ohne Beziehung zur Licht- gleichung zustande kommen. Die biologische Bedeutung der kompensatorischen Bewegungen ist sehr groß, denn sie ver- schaffen dem Tiere, selbst wenn es auf einem schwankenden Blatte rastet, einen ruhigen Hintergrund, von dem sich die bewegten Beutetiere mit Sicherheit abheben.
Wie die Gesamtheit der auf der Retina abgebildeten Um- risse der Gegenstände, wenn sie in Bewegung gerät, einen Reflex auslösen kann, so kann dies auch ein einzelner Umriß voll- bringen. Hier erst beginnt im strengen Sinne die von Nuel
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SO bezeichnete Motorezeption, d. h. die Wirkung der Bewegung eines Gegenstandes aus der Umgebung auf das Auge des Tieres. Die Bewegung sämtlicher Umrisse auf der Retina tritt nur ein, wenn die Libelle selbst bewegt ist, die Bewegung eines Um- risses allein wird stets durch einen vom Tier unabhängigen Vorgang hervorgerufen. Wenn trotzdem die Bewegung eines einzelnen Umrisses mit einer kompensatorischen Bewegung be- antwortet wird, so hat das den Vorteil, daß die Libelle eine vorbeifliegende Beute auf einer bestimmten Stelle der Retina zu fixieren vermag.
Meist aber tritt ein anderer Reflex ein, die Libelle stürzt sich auf den bewegten Gegenstand und ergreift ihn, wenn er eine Beute ist. Ich habe häufig beobachten können, daß Aeschna sich auf ein langsam herabfallendes kleines Blatt stürzte. Kaum gelangte sie aber in die Nähe des Blattes, so bog sie ab ohne es zu berühren. Es ist mir auch gelungen, im Einklang mit den Angaben von Exner, Aeschna durch das Fliegenlassen von Papierschnitzel zu täuschen, was bei der gewöhnlichen See Jungfer Caleopleryx keinen Erfolg hatte.
Die Beobachtungen an Aeschna lehren unmittelbar, daß hier zwei Reflexe vorliegen : ein Reflex , der durch die Be- wegung eines Umrisses auf der Retina hervorgerufen wird, und ein zweiter, der durch die Form des Umrisses erzeugt wird. Den ersten nennen wir Moto-, den zweiten Ikono- reflex. Beim normalen Beutefang müssen die beiden Reflexe, die beim Papierschnitzelversuch so deutlich auseinander fallen, sich gegenseitig ergänzen und eine einheitliche Handlung her- vorrufen. Der Motoreflex erzeugt das Hinstürzen, der Ikono- reflex das Zufassen. Beide zusammen bilden den Beutefang.
Ich nehme an, daß der Ikonoreflex ähnlich dem Moto- reflex zustande kommt. Jeder Umriß, der auf der Retina entworfen ist, erzeugt in allen jenen Nervenendigungen, die er mit seiner Fläche bedeckt, eine Nervenerregung, die sich bis an das zentrale Ende des Optikusbündels fortsetzt. Die erregte Fläche auf der zentralen Ebene des Bündels vermag dank ihrer elektrischen Eigenschaften eine Induktionswirkung auf das zentrale Netz auszuüben, vorausgesetzt, daß sich daselbst eine Fasern anordnung befindet, die der Form der erregten Fläche entspricht. Diesen den Umrissen der Gegenstands-
V. Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere. 16
242 Libellen.
bilder auf der Retina entsprechend geformten zentralen Bahnen- komplex nenne ich ein Schema und behaupte, daß gerade so viel Gegenstandsarten der Umgebung vom Tier unter- schieden werden, als Schemata in seiner Gegenwelt vorhan- den sind.
Es ist hier der geeignete Ort, eine kurze Übersicht über die Wirkung des Lichtes und die Gegenwirkung der Organis- men zu geben. Bei den Tieren, die keine optischen Apparate besitzen, kann nur die Intensität des Lichtes wirksam sein. Auf unseren Körper z. B. wirkt nur die Intensität des Sonnen- hchts, das eine Seite beleuchtet, während die andere im Schatten liegt. Ob und welche beleuchteten Flächen oder Gegenstände sich in unserer Umgebung befinden, kann unser Körper nicht wahrnehmen, es sei denn, daß ein Schatten auf ihn fiele. Dementsprechend antwortet Centrostephanus nur auf die Be- leuchtung irgendeiner Partie seines Körpers und auf Schatten. Jede sonstige Lichtwirkung geht an ihm spurlos vorbei.
Erst der Besitz eines optischen Apparates, der ein Bild zu entwerfen vermag, befähigt das Tier, auf die beleuchteten Flächen der Umgebung zu reagieren und in eine Lichtgleichung einzutreten. Der Besitz eines optischen Apparates ist aber noch lange kein Beweis dafür, daß die Tiere bereits Bewe- gungen oder gar Umrisse in Erregung zu verwandeln ver- mögen. Diese Einsicht erleichtert uns auch das Verständnis dafür, daß z. B. die Pilgermuschel Hunderte von ausgebildeten Augen besitzt, obgleich sie bei ihrem schwerfälligen Schwimmen gar nicht fähig ist, auf ein Ziel loszusteuern, und in ihrem allereinfachsten Nervenetz sicher keine Gegen weit beherbergt. Es ist aber durchaus möglich, daß (nachdem das Sonnenlicht sie zum Schwimmen angeregt hat) ein jedes unter ihr aus- gebreitete Lichtfeld je nach seiner HeUigkeit auf die Dauer der Schwimmbewegungen einwirkt und sie derart bis zu einer Stelle gelockt wird, welche ihr günstige Lebensbedingungen bietet.
Sehr bald zeigen sich, wenn wir uns den Krebsen zuwenden, die ersten Wirkungen der Farben und der einfachsten Formen. Damit ist dann der Weg gebahnt, auf dem durch Ausgestal- tung der Gegenwelt eine immer eingehendere Erforschung der Umgebung möglich wird, indem sich eine immer reichere Um- welt ausbildet. Wir haben gesehen, in welch interessanter
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Weise die Wirkung der eigenen und der fremden Bewegung mit der Bildmrkung zusammenklingen, um bei den Libellen die komplizierte Handlung des Beutefangs zu ermöglichen.
Man kann die Entwicklung der optischen Umwelt bei den Tieren sich am anschaulichsten zum Bewußtsein führen, w^enn man einem Maler zusieht, der das Bild einer Landschaft ent- wirft. Erst ent^\irft er die großen Flächen, die dem Bild eine Art Lichtgleichung geben. Wenn er der Flächen Wirkung ganz sicher ist, setzt er immer neue Farbentöne immer genauere L^mrisse ein, bis schließlich farbige, beleuchtete Gegenstände vor uns entstehen.
Bei den Libellen nimmt die Gegenstandswelt bereits einen breiten Raum ein, und weil das reichere Hilfsmittel immer das geringere verdrängen wird, beginnt bei ihnen die Wirkung des Lichtfeldes bereits abzublassen. Es ist zweifelhaft, ob die Libellen bloß eine zentrale Umwelt besitzen, die aus Licht- feldern und Flecken besteht, oder ob sie in einer zerebralen Umwelt lebt, in der sich bereits Rasen, Busch und Wasser be- finden. Freihch muß man sich bei Anwendung dieser Worte bloß an das ungefähre Aussehen dieser Gegenstände halten und durchaus vergessen, was wir sonst von diesen Dingen wissen.
Da wir leider keine Aussicht haben, die Schemata der Gegenwelt in den zerebralen Hirnpartien kennen zu lernen, sind wir darauf angewiesen, durch Vereinfachung der Gegen- stände, auf welche die Insekten mit Sicherheit reagieren, die notwendigen Faktoren sowohl der Form, wie der Farbe, me der Bewegung experimentell festzustellen. Wie weit darf ein bestimmtes Beutetier vereinfacht werden, damit es von einer Libelle noch mit Sicherheit ergriffen wird? Ich glaube, hier eröffnen sich hochinteressante Versuchsreihen. Man braucht nur an die künsthchen Fliegen zu denken, die aus ein paar Federn hergestellt werden und dennoch den Anglern vortreff- liche Dienste leisten. Diese von der Praxis gelieferten Erfah- rungen sollte man im Sinne einer möglichst weitgehenden Vereinfachung weiter ausbilden, um auf diese Weise eine An- schauung der tierischen Umwelt zu erhalten, von der aus man auf die Gegenwelt zurückschließen kann.
Das Gehirn der Libellen ist seiner Kleinheit wegen zu
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244 Libellen.
Reizversuchen wenig geeignet, daher lassen sich die zerebralen Partien schwer von den zentralen abgrenzen. Doch gibt die Reizung des Gehirnes immerhin einige interessante Resultate. Bemerkenswert ist es, daß das Schlagen mit den Flügeln, wenn es durch Hirnreizung ausgelöst wird, die Reizung um ein Be- trächtliches überdauert, im Gegensatz zur Reizung der unter den Flügeln gelegenen Bauchstrangganglien, die den Flügel- schlag nur so lange hervorruft, als die Reizung dauert. Eine geköpfte Libelle läßt auf Druckreizung ihres letzten iVbdominal- gliedes die Unterlage los, an der sie sich festgeklammert hat, und beginnt mit den Flügeln zu schlagen. Der Flug endigt aber sofort nach Aufhören des Druckreizes. Eine normale Libelle läßt auf den gleichen Reiz gleichfalls die Unterlage fahren und fliegt davon, sie hört aber mit dem Flügelschlag erst auf, nachdem sie sich wieder gesetzt hat. Das beweist, daß in den Ganglien des Bauchstranges der gesamte nervöse Apparat, der die Flügelbewegungen beherrscht, fertig vorliegt und mit dem Apparat für die Entklammerung fest verbunden ist. Der zentrale Flugapparat kann von jeder Erregungs welle in Tätigkeit versetzt werden, gleichgültig, welcher Rezeptor den Reiz empfangen hat. Das Gehirn besitzt außerdem ein Erregungereservoir, das nach Reizung des Auges dauernd in Tätigkeit tritt und so lange den Flugapparat mit Erregungs - wellen versorgt, bis es durch den erneuten Klammerreflex der Füße still gestellt wird. Wie diese Verkoppelung von Still- stellung der Flugbewegung mit dem Klammerreflex zustande kommt, dafür besitzen wir auch einen Hinweis. Es zeigt sich nämlich, daß eine geköpfte Libelle einen dauernden Klam- merreflex besitzt, der nur während der Flugbewegung ausgC' schaltet wird. Eine normale Libelle zeigt den Klammerreflex nur vorübergehend. Daraus geht hervor, daß im Gehirn eine Bremsvorrichtung für den Klammerreflex vorhanden ist. Eine solche Bremsvorrichtung stellen wir uns nach Analogie mit Aplysia als ein Erregungsreservoir mit tiefem Niveau vor, das dauernd den Erregungsüberschuß der ihm unterstellten Gang- lien absaugt. Es muß dieses Reservoir mit tiefem Niveau, das den Klammerreflex aufhebt, irgendwie mit dem Reservoir mit hohem Niveau, das die Flugbewegungen hervorruft, ver- koppelt sein, um das exakte Ineinandergreifen beider Reflexe
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nach Beedigung des Fluges zu gewährleisten; während die Aus- schaltung des Klammerreflexes beim Beginn des Fluges eine spezielle Vorrichtung in den Bauchstrangganglien verlangt.
Der Gang wird von einem der beiden Vorderbeine ein- geleitet. Die Hinterbeine folgen dem wechselnden Zug der Vorderseite nach dem allgemeinen Gesetz der Erregungsleitung. Infolgedessen braucht man für die GangUen der Hinterbeine bloß ein nervöses Netz anzunehmen, in das besondere Bahnen für den Klammerreflex einmünden. Die Vorderbeine sind für den normalen Gang unerläßlich, sie dienen ferner zum Putzen des Kopfes.
Die Flugbewegungen sind von Lendenfeld in eingehen- der Weise analysiert worden. Die Darstellung seiner Resultate ist aber selbst mit seinen Abbildungen schwer verständlich. Es wäre sehr zu wünschen, daß die ausgezeichnete Arbeit Lendenfelds durch chronophotographische Bilder noch nach- träglich illustriert würde.
Die Bewegungen des elfgliedrigen Abdomens sind mannig- fach und dienen verschiedenen Aufgaben. Das Ein- und Aus- schieben der Bauchplatten dient der Atmung. Beim Fhegen ist das Abdomen gerade weggestreckt und dient als Balancier- stange. Seitliche Bewegungen wirken bei der Steuerung mit und können durch Hirnreizung ausgelöst werden. Die Rolle des Abdomens bei der Begattung ist fein reguhert und von großer Präzision. Die nervöse Grundlage dafür ist leider noch völlig unbekannt.
Betrachten wir die Libelle als ein Ganzes, so fällt uns zunächst die große Mannigfaltigkeit ihrer verschiedenen Glieder in die Augen. Nur die Seeigel haben einen ähnlichen Reich- tum an Organen aufzuweisen. Alle Organe der Seeigel sind aber im Gegensatz zu den Libellen in so großer Anzahl vor- handen, daß jede Erregung, die ins allgemeine Nervennetz ein- tritt, überall, wohin sie sich auch wenden möge, alle Organe vorfindet, die dann nach ihrer Bauart verschieden auf die Er- regung reagieren. So ist durch die räumhche Anordnung der Reflexpersonen bereits der zeitliche Ablauf ihrer Handlungen mit bestimmt. Das gleiche ist bei all den Tieren der Fall, die aus lauter gleichartigen hintereinander hegenden Segmenten bestehen. Auch hier braucht die Erregung keine besonderen
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Wege einzuschlagen ; seiner räumlichen Anordnung entsprechend antwortet ein Segment nach dem anderen, wenn der Erregungs- strom im zentralen Netz an ihm entlang fUeßt. Eine gewisse Regulierung des Erregungsstromes kann hierbei durch Ein- fügung eines Erregungstales oder gewisse ventilartige Ein- richtungen in den Hauptbahnen herbeigeführt werden. Zur Errichtung einer Zentralstelle, von der jedes einzelne Organ direkt abhängig wäre, liegt in diesen Fällen weder das Bedürf- nis, noch die strukturelle Möglichkeit vor.
Anders sind die Verhältnisse, wenn zwar gleichfalls ver- schiedenartige Reflexorgane vorliegen, die aber nur in wenig Exemplaren vorhanden sind und diese, obgleich sie nicht nach Funktionen gruppiert sind, dennoch gemeinsame Handlungen vollführen müssen. In diesem Fall befinden sich sowohl die Kephalopoden wie die Libellen. Die Kephalopoden helfen sich, indem sie aus jedem peripheren Reflexorgan je ein zum Ablauf des Reflexes notwendiges Zentrum entfernen und aus diesen Zentren räumlich verbundene Gruppen im Gehirn bilden. Diese Gruppen von Zentren werden von den Erregungen, die ihnen aus den Zerebralganglien zufließen, gemeinsam getroffen und erzeugen in ihren Organen eine gemeinsame Handlung. Auf diese Weise sorgt wiederum die räumhche Anordnung der Struktur für den zeitlichen Ablauf der Handlung.
Bei den Libellen ist ein anderer Weg eingeschlagen worden. Die Reflexorgane bleiben in der Peripherie ungeteilt bestehen. Skelett, Muskeln, Nerven und Zentren verharren in ihrem Zu- sammenhang, kleinen, durchgebildeten Apparaten ähnlich, die bloß eines Anstoßes bedürfen, um tadellos in Gang zu kommen. Aber der Anstoß geht nicht mehr direkt von den rezeptorischen Zentralteilen aus, sondern von besonderen Apparaten, welche die Fähigkeit haben, die Erregungsdauer zu verlängern oder zu verkürzen. Diese besonderen zentralen Reservoire sind wiederum räumUch miteinander verbunden und so wird auch hier schheßhch die räumliche Anordnung der Struktur maß- gebend für den zeitlichen Ablauf der Handlung.
Es herrschen also durchgehend rein maschinelle Struktur- verhältnisse vor, wie bei einer Drehorgel der zeitliche Ablauf des Musikstückes durch die räumliche Anordnung der Stifte an der Walze bestimmt ist.
Libellen. 247
Die Libellen gleichen in der Dezentralisation ihrer Reflex- organe den niederen Wirbellosen mehr als den Kephalopoden. Auch bei ihnen sind die Repräsentantengruppen, mögen sie in sich noch so kompHziert sein, unmittelbar an das allgemeine Nerven- netz angeschlossen. Aber durch die Einfügung der Gehirn- reservoire, welche die Dauer des Erregungsablaufes beherrschen, gewinnen sie eine Unabhängigkeit von ihrer Umgebung, die die niederen Tiere nicht besitzen. Bei einem Seeigel oder Schlangenstern bestimmen die Intensität des Reizes und die äußeren mechanischen Hindernisse die Dauer des Erregungs- ablaufes im Inneren. Bei den Libellen ist die Dauer des Er- regungsablaufes einem inneren Faktor unterstellt. Auch der Sipunkulus ist in seinen Bewegungen von der Umgebung unab- hängig, denn er besitzt Reservoire der statischen Erregung, die sein Nervennetz anhaltend mit Erregung zu speisen vermögen, genau wie bei der Libelle.
Bei der Libelle aber unterstehen die Erregungsreservoire ihrerseits den rezeptorischen Zentren der Gegenwelt. Durch diese beiden Faktoren gewinnt die Libelle erstens eine Unab- hängigkeit von der Stärke des jeweiligen Reizes, und zweitens eine neue Abhängigkeit vom Zustand ihrer Umgebung, welche durch das Auge auf die zentralen wie zerebralen Teile des Ge- hirnes einzuwirken vermag. So ist die Libelle trotz ihrer Unab- hängigkeit doch wiederum in ihre Umwelt eingehängt, die sich dank ihren zerebralen Fähigkeiten sehr erweitert und verfeinert hat. Gewiß ist sie im Verlauf ihres Lebens vöUig von dieser Umwelt abhängig. Aber ihre Umwelt ist wiederum bis in alle Einzelheiten ihr eigenes Werk. So gleicht ihr Dasein durch- aus nicht einer Knechtschaft, welche ihr der sogenannte Kampf ums Dasein aufzwingt, sondern vielmehr dem freien Wohnen im eigenen Haus.
248 ^^^ Beobachter.
Der Beobachter.
Wir nahen uns dem Ende. Die vorgeführten Bilder ein- zelner Tierarten geben bereits die großen Richtungslinien an, welche zu den letzten Folgerungen führen, deren die Biologie überhaupt fähig ist.
Werfen wir erst einen Blick zurück auf die Umwelten der verschiedenen Tiere, die wir betrachtet haben, so erkennen wir, daß überall unsere eigene Umgebung die gemeinsame Basis für alle Betrachtungen abgegeben hat. Die Welt, die uns um- gibt, ist die objektive Wirklichkeit, mit der wir es allein zu tun haben, wenn wir objektive Naturforschung treiben. Sie besteht aus zahlreichen farbigen und vielfach gegliederten Gegen- ständen und ist voller Töne und Duft. In der gleichen Welt leben scheinbar auch alle Tiere. Jedoch besitzt keines von ihnen auch nur annähernd eine so reiche Wechselwirkung mit all den Gegenständen, mit denen unsere Rezeptionsorgane dauernd in Berührung kommen.
Jedes Tier besitzt seine eigene Umwelt, die immer größere Verschiedenheiten mit der unseren aufweist, je weiter es sich in seiner Organisation von uns entfernt. Wir haben gesehen, daß die höheren Insekten in einer Welt leben, die der unsrigen • noch einigermaßen ähnhch ist: Büsche, Bäume und Wasser- flächen treten auch in ihrer Welt als wirksame Faktoren auf. Aber schon bei den niederen Insekten und Krebsen ändert sich die Umwelt bedeutend: die Umrisse und Farben des Hinter- grundes verschwinden und nur die Größe der beleuchteten Flächen dient ihnen zur Führung. Auch die Zahl der Umrisse, mit der die nächsten Gegenstände unterschieden werden, die noch bei dei den Kephalopoden bedeutend ist, nimmt immer mehr ab. Manche Krebse scheinen nur noch von Farben und nicht mehr von Formen umgeben su zein.
Je weiter man die Tierreihe hinabgeht, desto mehr ver- schwindet die Welt des Auges mit ihren farbigen und geformten Gegenständen — immer mehr verwandelt sich die Umwelt in eine Welt von Gerüchen und mechanischen Widerständen, die je nach dem Bauplan anziehende oder abstoßende Wirkungen ausüben, bis schließlich in der Umwelt der Tunikaten nur noch einige schädliche Reize vorhanden sind. Bei Rhizostoma wird
Der Beobachter. 249
die ganze Umwelt nur von den eigenen reizerzeugenden Be- wegungen ausgefüllt. Während noch alle Würmer und Seeigel eine Umwelt besitzen, die auf ihre ganze reizbare Oberfläche einwirkt und die daher gleichzeitig nebeneinander angreifende Reize empfangen können, sind die Tunikaten auf ein einziges Einfallstor angewiesen, durch das die Reize auf sie einwirken. Ihre Umwelt besteht daher bloß aus einem Nacheinander von schädhchen Reizen. AUes RäumHche ist aus ihrer Umwelt ver- schwunden.
In dieser Hinsicht ist die Umwelt der Tunikaten sogar einfacher als die der Amöben, die aus einem Klumpen gleich- mäßig reizbarer Substanz bestehen und die daher gleichzeitig nebeneinander wirkende Reize aufnehmen.
Mit der einen Ausnahme der Tunikaten, die sich daraus erklärt, daß ihr Nervensystem eine ganz besonders unter- geordnete Rolle im Bauplan spielt, kann man sagen, daß, je einfacher ein Tier gebaut ist, desto einfacher auch seine Um- welt sein wird. Die Umwelt ist immer nur jener Teil der Umgebung, der auf die erregbare Substanz des Tierkörpers wirkt, und mit der Vereinfachung der ganzen Bauart verein- facht sich auch die Bauart der erregbaren Substanz.
Während die Umwelt sich ändert, bleibt die Umgebung im wesentlichen unverändert, weil sie eben die Umwelt des Beobachters und nicht des Tieres darstellt. Den Wirkungen der Umgebung ist der tierische Körper auch dort ausgesetzt, wo er keine reizbare Substanz beherbergt. Manchmai nimmt der nicht reizbare Teil des Tierkörpers den größeren Teil der Oberfläche ein, wie bei den Tunikaten und bei Rhizostoma. Die nicht reizbaren Partien des Tierkörpers sind den anorga- nischen Körpern gleichzusetzen, sie sind aber wie diese nicht unveränderlich; sowohl ihre mechanische wie ihre chemische Struktur wird von den Agentien der Umgebung beeinflußt. Es liegt nahe, auch diese Beziehungen zwischen Objekt und Umgebung unter dem Bilde der Umwelt zu betrachten, ob- gleich in diesem Falle der Organismus nicht anders als ein jeder leblose Stein der Außenwelt gegenüber steht. Auch auf einen jeden Stein können die Faktoren der Umgebung von allen Seiten sowie nacheinander einwirken. Seine Umwelt wird daher sowohl räumliche als zeitliche Ausdehnung be-
250 -^^^ Beobachter.
sitzen. Da er chemische, thermische und mechanische Ver- änderungen erleiden kann, wird man seiner Umwelt ent- sprechende Wirkungen zuschreiben. Gelingt es nun, alle diese Veränderungen auf die Bewegungen seiner Molekularstruktur zurückzuführen, so wird man auch in der Umwelt nichts anderes als bewegte Teilchen in Raum und Zeit nachweisen können. Dies ist denn auch die Anschauung, zu der die Wissenschaft der anorganischen Materie gelangt ist, und sie ist auf alle organische Materie in gleicher Weise anwendbar, soweit diese nicht reizbar, d. h. nicht lebendig ist oder, was dasselbe sagen will, nicht aus Protoplasma besteht.
Es ist aber ein starkes Stück, wenn die materiahstischen Demagogen uns einreden wollen, daß diese ,, Um weit der Steine", die nur eine gedankliche Abstraktion der uns umgebenden Wirklichkeit ist, wirklicher sei als diese. Trotzdem es in der Umwelt der Steine gar keine Gegenstände gibt, sondern nur ein Chaos tanzender Punkte, soll dieses blasseste aller Gedanken- dinge reeller sein als alles, was uns an wirklichen Gegenständen umgibt. Es wäre wohl an der Zeit, mit diesem Obskuranten- tum, das eines Alchimisten würdig ist, endgültig aufzuräumen.
Ebenso lehrreich wie die Vergleichung der Umwelten ge- staltet sich die Vergleichung der Innenwelten. Während unsere eigene Umwelt, die zugleich die Umgebung für alle Tiere bildet, voller farbiger, tönender, duftender Gegenstände ist, ist unsere Gegenwelt auf den Ablauf der Erregungen in den vorgebildeten, nervösen Fasergebilden (Schemata) unseres Gehirnes beschränkt. In ihrer Form ähneln sie den Gegenständen, außerdem muß aber noch jede selbständige Qualität der Gegenstände durch eine besondere Nervenperson vertreten sein. Nur die Intensität des Reizes setzt sich in Intensität der Erregung um; im übrigen sind Reiz und Erregung etwas durchaus Verschiedenes. Daher darf die Erregung nur als ein Zeichen äußeren Geschehens an- gesehen werden.
Die Gegenwelt, die in unserem Gehirn so reich ist, daß sie als Spiegel der Umwelt dienen kann, nimmt bei den Tieren schnell an Umfang und Reichtum ab. Während die Kephalo- poden noch große Zerebralganglien im Gehirn besitzen, deren Aufgabe es ist, die Gegen weit zu beherbergen und die dem- entsprechend besondere physiologische Eigenschaften aufweisen,
Der Beobachter. 251
sind bei den Artropoden besondere zerebrale Ganglien anatomisch nicht nachweisbar. Bei den einfacheren Tieren fehlt die Gegenwelt völlig und es spielt sich das ganze Innenleben nur in den zen- tralen Netzen ab. Diese können, wie wir gesehen, von den Aktinien bis zu den Blutegeln eine Fülle von Abwechslung bieten; bei Rhizostoma ist das Innenleben auf ein einfaches Hin- und Herfließen der Erregung reduziert. Bei den Amöben ist der Erregungsablauf nicht mehr so regelmäßig, da keine festen Bahnen vorhanden sind und die Erregung sich dem wechseln- den Gestaltungsdrang des Protoplasmas anschmiegen muß.
Das Verhältnis zwischen Innenwelt und Umwelt ist bei allen Tieren ein unwandelbares, da sie sich gegenseitig bedingen. Alle Reize der Umgebung unterliegen, wie uns bekannt ist, erst einer Auswahl durch die Rezeptoren. Ein großer Teil der Wirkungen scheidet von vornherein aus, der andere wird in Erregung verwandelt. Werden aUe Erregungen direkt in das allgemeine Netz geleitet, so gehen damit alle qualitativen Unter- schiede, die in der Umgebung vorhanden sind, verloren. Nur wenn bestimmte Nerven für bestimmte Qualitäten vorhanden sind, bleiben sie der Umwelt erhalten. Ebenso gehen die räumlichen Verhältnisse, welche wir an den Gegenständen der Umgebung erkennen, in die Umwelt des Tieres über, wenn seine Gegen weit die entsprechenden Schemata beherbergt.
Die Tätigkeit der Rezeptoren ist stets eine dreifache : Erst erfolgt die Auslese aus den Wirkungen der Umgebung, wobei der größte Teil ausgeschieden wird, dann erfolgt die Analyse des auf- zunehmenden Teiles, d. h. die Gesamtmenge der Reize wird in Gruppen gespalten, die der Bauart des Rezeptors entsprechen. So kann das Licht bei einem Tier nur als hell und dunkel wirken, während bei einem anderen eine ganze Farbenskala differenziert wird. Als drittes folgt die Umwandlung der ein- zelnen Reizgruppen in Erregung des Nerven.
Erst im Nervensystem erfolgt die Synthese, wenn sich die verschiedenen Nervenpersonen, von denen jede einer Reizqua- htät der Umwelt entspricht, zu hochkomplizierten Strukturen zusammenfinden. Auf welche Weise diese Strukturen auch als Schemata der Gegenstände dienen können, ist ausführhch dar- gelegt worden.
Je mehr sich die Innenwelt durch den Ausbau solcher
252 ^^^ Beobachter.
Strukturen bereichert, um so größer und reicher wird auch die Umwelt der Tiere. Daher umfaßt die Umwelt des nächst höheren immer wieder die Umwelt des nächst niederen. Und wenn man sich die Tiere als Beobachter denkt, so wird jedes- mal die Umwelt des höheren Tieres als die Umgebung des niederen Tieres gelten können, in der es von diesem beobachtet wird. Dem Beobachter stellt sich das niedere Tier zusammen mit seiner Umwelt als eine geschlossene Einheit dar, während die Einheit des höheren Tieres mit seiner Umwelt niemals vom niederen Tiere erfaßt werden kann. Diese Auffassung der Tier- reiche erzeugt die Vorstellung von immer größeren Kreisen, die den nächst kleineren umschließen.
Auch wir Menschen leben einer in der Umwelt des an- deren. Es gibt zweifellos Menschen, in deren Umwelt wir mit unserer gesamten Umwelt wie von einer fremden Umgebung eingeschlossen leben. Man braucht bloß die Bilder eines Hol- bein zu betrachten, um sich davon zu überzeugen, daß die Welt, in der er lebte, von einem viel größeren Reichtum war als die unsrige. Wenn er die einfachsten Gegenstände malt, so besitzen sie eine so unbegreiflich hohe Wirklichkeit, daß die Gegenstände, die uns umgeben, dagegen verblassen. Wenn nun Holbein, wie wir es mit den Tieren getan, die Be- ziehungen unserer Umwelt zu unserer Innenwelt untersuchen wollte, so würde er in der Gegenwelt unseres Gehirnes Sche- mata vorfinden, denen die Gegenstände unserer Umwelt ent- sprechen. Er würde dementsprechend schließen: ,,Für diese Wirklichkeiten ist dieses Menschenobjekt noch gerade emp- fänglich." Die Lücken unserer Gegenwelt würden ihm aber auch nicht verborgen bleiben und er würde sagen: ,,Für jene höheren Wirklichkeiten ist das Objekt nicht geschaffen."
So wächst jede höhere Umwelt mit der steigenden Zahl von Wirkungen, die sie enthält, und nähert sich immer mehr der Umgebung, die sie umschließt. Es ist ganz gleichgültig, ob wir uns diese Umgebung \viederum als Umwelt eines höheren Wesens denken wollen oder nicht. Die Tatsache bleibt bestehen, daß wir von höheren Wirklichkeiten umgeben sind, die wir nicht zu übersehen vermögen. Jenes Ding, das vom Ei bis zur Henne reicht, und das seinen planmäßigen Bau ohne jede Lücke durch die Zeit erstreckt, wobei es eine Kette von Gegenständen
Der Beobachter. 253
bildet, ohne selbst zum Gegenstand zu werden, müssen wir wohl — wie Keyserling eindringUch darlegt — als existierend anerkennen, ohne es erkennen zu können. Wir sind eben von zahllosen WirkUchkeiten rings umgeben, an die unser Anschauungs vermögen nicht heranreicht, die ,,unanschauüch'' bleiben, weil sie ,, überanschaulich" sind. Alle Lebewesen, Pflanzen wie Tiere, gehören hierher, wir besitzen von ihnen nur das Bild ihrer momentanen Erscheinung; von ihrem Dasein, das geschlossen vom Keim zum Erwachsenen reicht, und von dem wir wissen, daß es eine einheitliche Gesetzmäßigkeit birgt, können wdr uns kein Bild machen. Alle Tierarten und Pflanzenarten, mit denen wir wie mit bekannten Größen operieren, sind überanschauliche Wirkhchkeiten. Ja, wir selbst bilden eine solche Wirkhchkeit, die wir nicht zu übersehen vermögen, da wir uns nur von Moment zu Moment beobachten können. Alle Völker, alle Staaten reichen mit ihrer Wirklichkeit über unser Anschauungs - vermögen hinaus. Wer jemals auf diese Dinge seinen Blick gelenkt hat, wird bald zur Überzeugung kommen, daß wir nicht in einer ,, Umwelt der Steine' leben, sondern von allen Seiten her von einer höheren Umgebung umschlossen sind, die wir nicht zu übersehen vermögen und von der wir selbst in unerkennbarer Weise gelenkt werden. Und da wir mit dem Worte ,, Leben" diese höhere Umgebung mit umschHeßen, so entgleitet das Lebensproblem immer wieder unseren kurzsichtigen Augen.
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\
Literatur.
Nach einer oberflächlichen Schätzung würde ein Forscher, der seine ganze Arbeitszeit der Lektüre der anatomischen Lite- ratur widmen wollte, zwei bis drei Jahrhunderte beschäftigt sein, um bis zu den heutigen Arbeiten vorzudringen. Mit der biologischen Literatur wird es in absehbarer Zeit ebenso bestellt sein. Deshalb soll eine Übersicht der Literatur immer nur eine Auswahl darstellen. So macht denn die folgende Aufzählung keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit, sondern gibt nur die Arbeiten an, die mir als besonders wichtig erschienen.
Für das Kapitel Protoplasmaproblem brauche ich nur auf die Literaturübersicht zu verweisen, die Biedermann in dem letzten Band der Ergebnisse der Physiologie (1909) ge- geben hat.
Amoeba terricola.
Die Literatur der Einzelligen findet sich in seltener Vollständig- keit in:
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1
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Kephalopoden.
Die Literatur ist vollständig gesammelt und kritisch gesichtet in der sehr verdienstvollen Arbeit von Bauer.
Bauer: Einführung in die Physiologie der Kephalopoden. Mitteil, der Zool. Station Neapel, B. 19, 1909.
Libellen.
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Carpenter: The Reactions of the Pomace fly to light. American
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Literatvir. 259
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V. Lendenfeld : Der Flug der Libellen. Akad. Wien, Bd. LXXXIII, 1881.
Leydig: Tafeln zur vergl. Anatomie. Tübingen 1864.
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Literatur zu den allgemeinen Kapiteln, soweit sie nicht
schon aufgeführt ist.
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Claparede: Les animaux sont-ils conscients? Revue philosophique, LI, 1901.
— La Psychologie est-elle legitime? Arch. de Psychologie, V, 1905. H. Graf Keiserling: Unsterblichkeit.
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— Leitfaden. Wiesbaden, Bergmann.
17*
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung 1
Das Protoplasmaprobleni 11
Amoeba Terricola 32
Paramaecium 39
Der Reflex 54
Anemonia sulcata 63
Medusen 77
1. Rhizostoma pulmo 77
2. Carmarina und Gonionemus 85
Die Seeigel 90
Die Muskeln 91
Die Zentren 95
Die Statik der Erregung 98
Die Dynamik der Erregungen 100
Die Rezeptoren 102
Arbacia pustulosa (spezieller Teil) 105
Centrostephanus longispinus 107
Die kurzstacheligen Seeigel 109
Die Pedicellarien 112
Die Umwelt 117
Die Herzigel 119
Die Schlangensterne • . . . . 129
Sipunculus 142
Der Regenwurm 155
Die Blutegel 168
Die Manteltiere 177
Aplysia 181
Die Gegenwelt 191
Carcinus maenas 212
Die Kephalopoden 221
Libellen 235
Der Beobachter 248
Literatur 254
Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.
Verlag von Julius Springer in Berlin.
Im Sommer 1909 erschien:
Die chemische
Entwicklungserregung
des tierischen Eies.
(Künstliche Parthenogenese)
Von
Jacques Loeb,
Professor der Physiologie an der University of California
in Berkeley.
Mit 56 Textfiguren. Preis M. 9, — , in Leinwand gebunden M. 10, — .
Im Herbst 1909 gelangt zur Ausgabe:
Über das Wesen der formativen Reizung, Vortrag gehalten auf
dem XVI, Internationalen Medizinischen Kongreß in Budapest 1909. Von Professor Jacques Loeb, Berkeley. Preis M. 1, — .
Untersuchungen über Aminosäuren, Polypeptide und Proteine.
(1899 bis 1906.) Von Emil Fischer.
Preis M. 16, — ; in Leinwand gebunden M. 17,50.
Untersuchungen in der Puringruppe. (1882—1906.) Von Emil Fischer.
Preis M. 15, — ; in Leinwand gebunden M. 16,60,
Untersuchungen über Kohlenhydrate undFermente. (1884—1908.)
Von Emil Fischer. Preis M. 22, — ; in Leinwand gebunden M. 24. — .
Organische Synthese und Biologie. Von Emil Fischer. Preis M. 1,—.
Biochemie. Ein Lehrbuch für Mediziner, Zoologen und Botaniker von Prof, Dr. F. Röhmann, Breslau, 1908. Mit 43 Textfiguren und 1 Tafel.
In Leinwand gebunden Preis M. 20, — .
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
Verlag von Julius Springer in Berlin.
Ludwig Darmstaedters
Handbuch zur Geschichte
der Naturwissenschaften und der Technik.
In chronologisclier Darstellung. Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Unter Mitwirkung von
Professor Dr. R. du Bois-Reymond und Oberst z. D. C. Schaefer
herausgegeben von
Professor Dr. L. Darmstaedter. In Leinwand gebunden M. 16, — .
Analyse und Konstitutionsermittelung organischer Verbin- dungen. Von Dr. Hans Meyer, o. ö. Professor an der Deutschen Technischen Hochschule in Prag. Zweite, vermehrte und umge- arbeitete Auflage. Mit 235 Textfiguren. 1909. Preis M. 28,— ; in Halbfranz gebunden M. 31, — .
Die physikalischen und chemischen Methoden der quantitativen Bestimmung organischer Verbindungen. Von Dr. WilhelmVaubel,
Privatdozent an der Technischen Hochschule zu Darmstadt. Zwei Bände. Mit 95 Textfiguren. 1901. Preis M. 24.— ; in Leinwand gebunden M. 26,40.
Lebenserinnerungen von Werner von Siemens. Dritte Auflage,
dritter unveränderter Abdruck. Mit dem Bildnis des Verfassers in Kupferätzung. Preis M. 5, — ; in Halbleder geb. M. 7, — . Wohl- feile Volksausgabe. Achte Auflage. Mit dem Bildnis des Ver- fassers in Kupferätzung. In Leinwand gebunden Preis M. 2, — .
Lebendige Kräfte. Sieben Vorträge aus dem Gebiete der Technik von Max Eyth. Zweite Auflage. Mit in den Text gedruckten Ab- bildungen. In Leinwand gebunden Preis M. 5, — .
Zu beziehen durch jede Buchhandlung.
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