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UNSER VERHÄLTNIS

ZU DEN BILDENDEN

KÜNSTEN

SECHS VORTRÄGE ÜBER KUNST UND ERZIEHUNG

GEHALTEN VON

DR. AUGUST SCHMARSOW

PROFESSOR DER KUNSTGESCHICHTE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG

LEIPZIG

VERLAG VON B. G. TEUBNER 1903

1445 ^4

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.

INHALTS-ÜBERSICHT.

ERSTER VORTRAG. Seite Alte und neue Bestrebungen zu Gunsten unseres Verkehrs mit den bildenden Künsten. Das Ziel ein Ganzes. Mit- wirkung des ganzen Menschen i 22

ZWEITER \TJRTRAG. Ausdrucksbewegung als Ursprung alles künstlerischen Schaffens.

Die Mimik. Pantomime 23 49

DRITTER VORTRAG.

Von Mimik zur Plastik. Gebärdensprache und Formen- sprache. — Bildnerei. Organische Schönheit .... 50 77

VIERTER VORTRAG. Der menschliche Körper als Ausgangspunkt der bildenden Künste. Von Plastik zur Architektur. Architektonische Schönheit 78 107

FÜNFTER VORTRAG. Das Raumgebilde und seine Grenze, die Wand. Belebung der Fläche. Malerei. Malerische Schönheit. Ver- hältnis zu Musik und Poesie 108 135

SECHSTER VORTRAG. Die bildende Kunst und die Unterschiede der Nationen. Heimatskunst und Weltmarkt. Zwei Beispiele zur Orien- tierung. — Plastik und Graphik im Widerspiel. Die heutige Lage 136 160

ERSTER VORTRAG

Vor einigen Jahren schon, als zum ersten Mal an dieser Stelle kunsthistorische Betrachtungen für einen weiteren Kreis veranstaltet wurden, konnte ich nicht umhin meinen Hörern zu bekennen, daß mir eigentlich eine Vorverhandlung über „Kunst und Erziehung" noch wünschenswerter schiene, als jeder geschichtliche Rück- blick in vergangene Zeiten. Nur die Absicht, die Schätze unsrer Lehrmittelsammlung und die Vorzüge der Pro- jektionsbilder auch den Freunden alter Kunst in unsrer Stadt zugängUch zu machen, oder zunächst noch hiter- esse für acht künstlerische Betrachtungsweise der oft genannten Meisterwerke zu verbreiten, hat damals für die Wahl eines andern Themas den Ausschlag gegeben. Jenes erste Mal also kam es meinerseits darauf an, hinter die vorgeführten Werke selbst zurückzutreten, nur An- regung für ihren Genuß in anspruchsloser Form zu bieten, um den Gästen dieses Instituts erst einmal zu zeigen, wie man künstlerische Schöpfungen der Vergangenheit hier sozusagen leibhaftig an sich erleben kann. Gar mancher freilich, der Vorträge nach gewohnter Art zu hören erwartete, und sich rednerische Leistungen ver- sprach, die durch lebhaften Wechsel des Ideenlaufs Unter- haltung gewähren, der mochte sich bei solchem ganz andersartigen Versuch unliebsam enttäuscht sehen. Grade

Schmarsow, Kunst und Erziehung. I

2 Erster Vortrag

die Eifrigsten haben sich vielleicht andrerseits durch Bücherlesen im Voraus die Lust am Schauen selbst verdorben. Wer schon ein fertiges Urteil mitbringt und eine fest formulierte Charakteristik des Meisters, der zur Sprache kommt, auswendig weiß, dem scheint ein Suchen und Fragen vor den Kunstwerken selber wohl garnicht mehr der Mühe zu lohnen. Nur eine kritische Erörterung der verschiedenen Ansichten, eine eigne Darstellung, die den Reiz der Neuigkeit darin sucht, von allen bis- herigen Auffassungen möglichst abzuweichen, wäre für solchen „wohlunterrichteten" Hörer noch geeignet ge- wesen, selbst um den Preis, mehr die persönliche Sub- jektivität des Redners als die Eigenart des Künstlers genießen zu müssen. Aber für solche Besucher waren die Anschauungsstunden in jenem Winter auch nicht bestimmt. Deshalb bleibt jedoch ohne Zweifel die Tat- sache bestehen, daß andre grade diesen Versuch selbst- verleugnender Annäherung an die Ausdrucksweise und die Sinnesart uns fremdgewordener Meister mit freund- licher Hingebung an das Dargebotene gewürdigt haben. Nicht bei allen konnte der erste Anlauf schon den ge- wünschten Erfolg erreichen. Wenn es nicht immer ge- lang, in der kurzen Zeit, die dem einzelnen gewidmet werden mochte, alle Schranken, die uns von fernen Zeiten trennen , hinwegzuräumen oder den Abstand überhaupt vergessen zu lassen, so bewies eben das Ver- sagen unsrer Hilfsmittel, wie notwendig eine Wieder- holung des gleichen Verfahrens eintreten müßte, bevor die alte Kunst sich voll und ganz erschließen mag. Einen durchaus reinen Genuß z. B. auch von Werken eines Angehörigen des 15. Jahrhunderts zu empfangen, so daß kein Befremden mehr das Überströmen des Ein- drucks stört, dazu gehört jahrelanger Verkehr mit jenen

Anleitung zum Genuß alter Kunstwerke 5

Alten auch für unsereins. Die erste Auswahl bei der Eröffnung solcher Schätze der Vergangenheit hätte vielleicht noch vorsichtiger geschehen sollen, das ist die Lehre, die jener Versuch erbracht hat.

„Aber, verzeihen Sie, hör* ich fragen, ist denn solch ein Erfolg fortgesetzter Bemühungen überhaupt wünschenswert? Was sollen wir, die Gebildeten unsrer Gesellschaft nur, mit einer künstlichen Wiederbelebung längst begrabener Kunstperioden, was frommt uns heute solch ein mühsam zu stände kommender Genuß, der doch nur für Augenblicke vorhält? Bleiben wir getrost bei den Werken unsrer lebenden Künstler, über die wir alle mitzureden aufgelegt und berechtigt sind. Da brauchen wir keine Vorbereitung und keine Andachts- übungen; wir sind ohne weiteres bei der Sache."

Wenn dies sich so verhält, lautet meine Antwort, dann habe ich auch gegen jenes garnichts einzuwenden. Doch lassen wir das vorerst ruhig dahingestellt. Es kommt hier auch nicht einmal darauf an, über die Vor- züge der sogenannten klassischen Meisterwerke vor den Leistungen unsrer heutigen Generation zu streiten. Dem Kunsthistoriker, dessen abermaliger Einladung an diese Stätte Sie alle gefolgt sind, liegt ein ganz andres Problem am Herzen, bei dem es sich vielleicht noch garnicht um ein solches Einleben in veraltete Kunstschätze handelt. Ihr Zweifel an der Berechtigung seines Amtes ficht ihn nicht an, nachdem er diesen Beruf einmal er- wählt hat; aber er ist nicht kurzsichtig genug, um über den nächsten Umkreis seiner Amtspflichten nicht hinaus- zuschauen, wo immer es darauf ankommt, seine be- sonderen Kräfte zu bewähren. Die Versammlung in diesem Räume selbst bezeugt das. Und freilich, diese weitere Aufgabe, die uns zusammenführt, scheint auch

4 Erster Vortrag

mir, dem Hüter und Bewahrer der aufgehäuften Schätze menschlichen Schaffens, ein dringhcheres Anliegen zu sein, als alle theoretischen Erörterungen über Vorzüge des Alten oder des Neuen.

Die ernste Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Erziehung , die zu praktischen Versuchen an- spornt, — sie hat auch mir bei der Wahl des eignen Berufes am Scheidewege gestanden und ist, seit den ersten Anfängen selbständiger Lehrtätigkeit bis heute noch niemals von meiner Schwelle gewichen. Sie grüßt mich beim Eingang und beim Ausgang in diesen Räumen, bald als Muse, bald als Frau Sorge, in dem einen Semester als Schafifnerin bei den Arbeitstischen, in dem andern als Königin am Kathederthron. Muß ich Ihnen von früheren Stätten meiner Wirksamkeit erzählen? Wie ich bereits in Göttingen oder in Breslau nicht für die Studenten der Universität allein gesorgt, sondern da- neben für die besten Schüler des Gymnasiums; wie kleine bescheidene, aber innerlich zusammenhängende Aus- stellungen und zwanglose Besprechungen, bei denen kaum Namen oder Jahreszahlen genannt wurden, auch diesen Gelegenheit zum Kunstgenuß boten? Da versteht sich's schon von selber, daß solche Annäherung an die Schule nicht möglich gewesen, ohne auch die Lehrer zu gewinnen. Und ich denke noch immer mit dank- barem Sinn an die Jahre zurück, weil ich damals die Fühlung mit den Bedürfnissen nach unten wie nach oben erlangt habe, die mir noch heute zu gute kommt. Deutsche Gymnasiasten haben mir damals bewiesen, daß es noch unverkümmerte Augen und frische zugängliche Herzen für künstlerische Dinge genug gibt, trotz aller Verbildung und allem Brillentum. Und ihre Lehrer und Professoren, wohl gar unter Führung ihres Direktors,

Frühere Versuche

5

sind auch dabei gewesen. Unter meinen ersten und besuchtesten Vorlesungen in Göttingen war die „Ein- führung in die Kunstlehre und Ästhetik der bildenden Künste", die sich dort eingebürgert hat und von meinem Nachfolger übernommen ward. Seitdem ich in Leipzig bin, durfte ich mit mehr Nachdruck, wenn auch unter mancher Anfechtung, eben dieses Ziel verfolgen, daß im akademischen Unterricht, wo unsre Lehrer gebildet werden, über all dem geschichtlichen Wissen und unserm ver- feinerten Kennertum nicht das Künstlerische in der Kunst vergessen werde. Eine solche Lehre vermag aber, wie sich eigentlich von selbst versteht, nicht als sogenannte graue Theorie zu leben. Sie fordert das Einsetzen der eignen Seele und, bei aller Selbstverleugnung, die stets bereite Wärme des eignen Herzblutes; denn darnach dürsten die Schatten, die wir auferwecken. Wer dem akademischen Leben fern steht, oder in enger Klause ihm längst entfremdet ist, der mag diese Voraussetzung verkennen, und am gedruckten Wort, das ohne die Klang- farbe des gesprochenen in die W^elt geht, eben die starre Prägung scheuen. Ihm erscheint vielleicht als ver- knöcherte Formel, was richtig angewandt die Pforten zu unerschöpflichen Schätzen sprengt; denn er bedenkt nicht, daß man mit hartem Stahl allein aus Kieselsteinen Feuer schlägt.

Doch genug, ich war Ihnen nur Rechenschaft schuldig, wie weit ich mitreden darf, obgleich mein Amt im höchsten Unterricht mich hier in Leipzig mehr als sonst dem Innern Bezirke der Erziehung fern zu halten scheint. Jetzt aber kommt von andern Seiten her, und zwar mitten aus denselben Kreisen, in denen ich in meinen Anfängen auch meine Freunde sah, die ganz venvandte Bewegung empor, die auch ihrerseits auf

5 Erster Vortrag

Anläufe vor zwanzig Jahren zurückgreift. Sie hat im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts auf dem sogenannten „Kunsterziehungstag" in Dresden einen ebenso ver- heißungsvollen wie vielgestaltigen Ausdruck gefunden.^) Und eins ist vor allen Dingen auf der Dresdener Tagung klar erkannt worden, „daß die ganze Kunsterziehungs- frage vorerst in wesentlichen Stücken eine Frage der Lehrerbildung ist." 2) Daneben scheint aber doch auch das Zweite hervorzuleuchten, daß eine Lösung des Problems oder der vielen Einzelfragen, die sich daraus ergeben, ohne nachhaltige Teilnahme der Selbst- erziehung unter den Erwachsenen in absehbarer Zeit nicht könne gefunden werden. Es durfte darnach mit Freuden begrüßt werden, daß wie in Hamburg vor- her, so auch in Sachsen mittlerweile und anderswo zugleich, grade die Lehrer die Erörterung dieser An- üegen aufgenommen und die Klärung der pädagogischen Möglichkeiten versucht haben. So liegt es auch mir daran, mich vor allen Dingen mit Eltern und Lehrern zu verständigen. Es sind die Erwachsenen, zu denen ich rede! Und den ganzen tiefen Ernst der aufrichtigen Gesinnung, den solch eine Frage verlangt, muß ich voraussetzen, wenn ich voll und frei mit der Sprache herauskommen soll. Es gilt ja noch lange nicht, über diese Dinge vor der Öffentlichkeit zu verhandeln, sondern es gilt, hier an der Stätte unsrer wissenschaftlichen Arbeit den Rat eines Mannes zu hören, der sich an seinem Teil redlich und unablässig bemüht hat, diesen Dingen

1) Kunsterziehung, Ergebnisse und Anregungen des Kunst- erziehungstages in Dresden am 28. und 29. September 1901. Leipzig, R. Voigtländers Verlag 1902.

'^) L. Volkmann, Die Erziehung zum Sehen, Leipzig 1902 p. 6.

Mitwirkung der Lehrer 7

ins Angesicht, womöglich ins Innerste ihres Wesens hineinzus.chauen.

*

Schon die Dresdener Versammlung ist an manchen Stellen der gegenseitigen Aussprache nicht nur auf Meinungsverschiedenheiten, wie sie immer vorkommen werden, sondern auch auf Hindernisse gestoßen, die

wenn überhaupt gewiß nur langsam hinwegge- räumt werden können. Es sind Widersprüche so tief greifender Art zu Tage getreten, daß sie den gedeih- lichen Fortgang der ganzen Bewegung vereiteln könnten, wenn kein befriedigendes Einvernehmen in den wichtigsten Kardinalpunkten des gemeinsamen Vorgehens erzielt wird. Ich habe keine Veranlassung, diese Sachlage zu vertuschen, wie es andre sofort versucht haben; ich halte es eher für meine Pflicht, sie noch schärfer zu betonen.

Die eine dieser Schwierigkeiten betrifft eben die Rolle der Lehrer und Erzieher bei der Vermittlung des Kunstgenusses, zu dem man unsre Jugend auf mancher- lei Wegen hinleiten möchte, oder vielmehr hingleiten zu lassen wünscht, wie von selber. Man fürchtet, daß ein zu fühlbares Eingreifen des vortrefflichsten Mentors grade den Schlitten des Knaben zum Entgleisen bringen werde, oder durch unliebsame Bevormundung seiner eignen Entdeckungsfahrten ins Land der Kunstfreuden dem jungen Gemüt die besten Mittel dabei, die man ihm unvermerkt zuschieben will, vor der Zeit entleide, so daß eben sie gar bald wieder unbenutzt daliegen wie zuvor. Man will Wandbilder von Künstlerhand in der Schule anbringen , aber dem Lehrer verbieten , sie

auch nur gelegentlich, wenn der eigne Drang ihn dazu treibt zum Gegenstand der Unterweisung zu

8 Erster Vortrag

machen. Der Lehrer, der dem künstlerischen Schmuck in seinem Reiche, dem Schulzimmer, eine gastliche Stätte gewährt, der soll sich über die Anwesenheit dieser gebetenen oder ungebetenen Gäste Stillschweigen auferlegen, vielleicht gar auch dann, wenn seine Schüler ihn um Rechenschaft angehen , darüber keinen Aufschluß geben. Unsereins , ich meine die eignen Fachgenossen von der Kunstgelehrsamkeit, mag dieses Ansinnen durchaus begreiflich finden, aber be- greiflich doch nur im Augenblick, angesichts des heutigen Standes künstlerischer Vorbildung in der vorhandenen Lehrerschaft. Es gibt freilich außerdem noch Leute, die prinzipiell gegen alle Erklärung von Kunstwerken eingenommen sind, weil sie mit einer gewissen weib- lichen Scheu davor zurückschrecken, den Schleier der geheimnisvollen Schöpfung zu lüften, oder gar der ent- hüllten nackten Schönheit unmittelbar zu Leibe zu gehen. Die zarten Empfindungen des ästhetischen Genießens zum Bewußtsein bringen zu wollen, erscheint ihnen wie eine Entweihung, eine rohe Verletzung des Heiligsten. Ich habe selbst unter meinen Studiengenossen ernste Köpfe gekannt, die sich gegen jede Analyse eines Ge- dichtes , jede kritische Behandlung einer Tragödie sträubten, wie aus tiefster Entrüstung ihrer Seele. Solche romantische Gemütsart war jedoch gewiß nicht die Triebfeder des Dresdener Verbotes: sondern wir können die Erklärung für jenes Mißtrauensvotum nur in gegen- wärtig vorwaltenden Mißständen unsrer Lehrerbildung suchen. Wie dem aber auch sei, die Maßregel als solche bleibt ein Widerspruch, der unmöglich geduldet werden kann, unmöglich dauernd aufrecht erhalten werden darf, je dringender das Verlangen laut wird, auf dem ein- geschlagenen Wege vorwärts zu kommen. „Wer wird

Mitwirkung der Lehrer g

dem Ochsen, der da drischet, das Maul verbinden?" sagt ein kräftiges Gleichnis der Schrift, das freilich richtiger auf andre Verhältnisse des Lehrstandes ange- wendet würde, als auf diese Frage des Mitredendürfens oder des Maulhaltens. Aber es trifft, wenn nicht in der einen Hälfte des Vergleiches, doch in der andern den Nagel auf den Kopf und zeigt uns unfehlbar die Stelle, wo wir ihn einschlagen müssen, um unsre gemeinsame Sache daran hängen zu können. Wenn der Lehrer, der die sauersten Arbeiten des täglichen Unterrichts zu leisten hat, nicht aus freien Stücken und nach bestem Wissen und Gewissen mittun soll, soweit ihn die eigne Erfahrung nach solcher Kost verlangen lehrt, dann geht es noch nicht mit rechten Dingen zu, und seine Stellung zur Sache bleibt unnatürlich, dem Sinn der Aufgabe im Innersten widersprechend. Wer die alte wohlbekannte Tretmühle unsres Schulunterrichts in Gang halten und zu Ende drehen soll, der duldet schwerlich gern das Einspringen eines Pegasus, der ein paar Augenblicke so tun will, als nähme er das Joch auf sich und zöge auch mit am Strang. Wer bleiben muß sieht in solcher Da- zwischenkunft des Musenrosses nur eine kurzweilige Gastrolle, bei der nichts Dauerhaftes herauskommt. Des- halb kann die rechte Hilfe nur aus der Mitte des Lehrerstandes selber kommen. Und die Dresdener Maß- regel kann höchstens zu einer vorübergehenden Verein- barung führen, so lange man eben noch experimentieren muß. Trifft sie doch im Grunde die Eltern ebensogut wie die Lehrer. Wird sie als gutwilliges Zugeständnis eine Zeitlang respektiert, so ist die Abhilfe, die uns Auf- hebung solcher Sperre bringen kann, das Erste, das uns not tut. Diese Einsicht werden auch die Teilnehmer der Dresdener Verhandlungen wohl als innerste Überzeugung

lO Erster Vortrag

mit nach Hause genommen haben , obwohl man den offenen Zusammenstoß zu vermeiden oder wieder auszu- gleichen bemüht war, solange man dort beieinander blieb.

Nicht so bedenklich für den Fortgang der vielver- sprechenden Bewegung selbst, aber vielleicht gefährlicher noch für das gesunde Gedeihen ihres letzten Zweckes erscheint ein zweiter Punkt. Er hätte wohl gar zu einer prinzipiellen Veruneinigung hingedrängt, wenn die vor- geschriebene Tagesordnung ihm nicht versagt hätte, so weit zum Austrag zu kommen wie es seiner Bedeutung nach auch sein Recht gewesen wäre. Die mehr oder minder selbstverständlich erscheinende und deshalb still- schweigende Voraussetzung des Dresdener Programmes war: daß es sich zunächst bei der „Ausbildung der künstlerischen Anlagen des deutschen Volkes" in der Gegenwart ausschließlich um die Anlagen zur bildenden Kunst handle, also um Malerei, Plastik und Kunst- handwerk in erster Linie und, wenn es hoch kommt, auch noch um Architektur. Ich weiß nicht, wie weit es der „Hamburger Lehrervereinigung zur Pflege künst- lerischer Bildung", die eine so wirksam führende Rolle in der bisherigen Bestrebung spielt, zum klaren Bewußt- sein gekommen ist, welch einschneidenden Querstrich durch die eigentliche Hauptrichtung des Dresdener Pro- grammes ihr Ansinnen bedeute, auch Musik und Poesie in Zukunft nicht zu vergessen. Ihr Wortführer erklärte ^) rund heraus: „Wir fürchten, daß wenn die Kunster- ziehungstage sich ausschließlich auf die bildende Kunst beschränken, eine chinesische Mauer zwischen den

1) Bericht S. 217.

Das Ziel ein Ganzes 1 1

einzelnen Zweigen der künstlerischen Erziehung aufge- richtet wird. Unsre Bitte geht deshalb dahin, daß auf dem nächstfolgenden Kunsterziehungstage auch die Dichtkunst und Musik eine Stätte finden mögen; denn schließlich handelt es sich doch um ein Ganzes, um die Erziehung des Volkes zum künstlerischen Genuß überhaupt, nicht allein der bildenden Künste."

Dieser Hinweis auf das Ganze gegenüber jedweder, sei es früher verschuldeten oder jetzt zu befürchtenden Einseitigkeit, scheint mir so beachtenswert und so grund- legend für alle weiteren Verhandlungen, daß ich ihn zum Ausgangspunkt meiner eignen Erörterungen machen will, wie er schon immer den Mittelpunkt meiner Kunst- lehre gebildet hat.^) Unzweifelhaft wird man beim Histo- riker der bildenden Künste auch das volle Verständnis für die Bevorzugung eben dieser Seite des künstlerischen Lebens voraussetzen, die er selbst vertritt, und es ist für ihn kaum nötig zu betonen, daß die neue Richtung gerade auf die Pflege dieser schwachen Seite unsrer deutschen Kultur ihren guten Sinn und zeitweilig auch ihre volle Berechtigung habe. Weil Musik und Poesie so lange die Vorherrschaft behaupten durften, ist es jetzt an der Zeit, auch das Gedeihen der andern Künste zu fördern. Gegen Einseitigkeit streiten die Vorkämpfer des Dresdener Tages, indem sie die Ausbildung des Auges, die Pflege des „anschaulichen Denkens", die Er- weckung aller noch vorhandenen Empfänglichkeit für bildende Kunst verlangen, und alle Mittel, die dazu helfen können, auf ihr Progamm setzen. Aber in der aus- schUeßlichen Bevorzugung dieser anschaulichen Seite, in der Kultur des „Augengeschöpfes" im Menschen, auf Kosten

1) Vgl. z. B. Beiträge zur Ästhetik der bildenden Künste, Leipzig, S. Hirzel 1896—99. I. S. 7. II, 2. III, 4.

12 Erster Vortrag

der übrigen Sinne, aber auch der Denkarbeit und andrer geistiger Funktionen, würde doch ebenfalls wieder eine Einseitigkeit betrieben. Und eine Übertreibung wäre nur der andern w-ert. So bekämen wir jedenfalls tief- greifende Uneinigkeit in unserm Lager oder offenen Zwist der Parteien da, wo einmütiges "Vorgehen auf das gemeinsame Ziel, das Wohl unsres Volkes, als unerläß- liche Bedingung des Fortschritts gelten muß.

Wenn ich an dieser Stelle mit meinen eignen Er- wägungen einsetze, so muß ich bitten, von mir nicht in erster Linie pädagogische Besserungsvorschläge und Heilmethoden zu erwarten, wie sie von andern, gewiß für praktische Dinge vorzugsweis berufenen Seiten ohne- hin schon beigesteuert werden. Männer und Frauen, die mitten im tätigen Leben auch in die Bedürfnisse des rastlos arbeitenden Tagewerks liineinschauen, sind dabei willkommene Ratgeber. Museumsdirektoren und Lehrer an Kunstschulen mögen, jeder aus seinem Kreise, die geeigneten Mittel aufweisen, und wir wollen nicht spotten, wenn ihnen allzu oft die vorgeschlagenen Re- zepte als einzig wahre Rettung erscheinen. Wenn wir verirrt sind, müssen wir alle möglichen Wege versuchen, bis wir endlich wieder auf die rechte Straße kommen; aber kopfloses Hin- und Wiederlaufen hilft gewiß am wenigsten. Vielgeschäftigkeit und immer wechselnde Betriebsamkeit führen zum Irrlichtersuchen , also erst recht in den Sumpf. Ruhige Überlegung, Kenntnis der Himmelsrichtungen sind bessere Hilfe, als Ungeduld und Vorwärtsstürmen um jeden Preis. Eins möchte ich den rastlosen Erziehern von vornherein zurufen, und zwar auf Grund einer zwanzigjährigen, geduldig fortgesetzten Erfahrung: so schnell, wie sie sichs vorstellen, kommen wir gewiß nicht vorwärts, um so sicherer nicht, je ge-

Weltanschauung und Lebenskunst i 2

Sünder und lebensfähiger die Entwicklung selber vor sich geht. Und so weit, wie unsre gesinnungstüchtigen Patrioten sich einbilden, so weit sind wir, nämlich das deutsche Volk, leider noch lange nicht. Ich zweifle sogar ernstlich, ob wir durch Kunst überhaupt schon erziehlich wirken können, wie jene' Wandbilder in den Schulen durch ihre stille Gegenwart allein es fertig bringen sollen. In allen Schichten der Bevölkerung trifft die Vor- aussetzung dieses Heilmittels jedenfalls noch nicht zu. Da müssen noch geraume Zeit ganz andre Hebel vor- arbeiten.

Ich glaube, wir sollten uns in ernster Selbstprüfung und unerbittlicher Umschau um uns her die grausame Tatsache vorhalten, daß die ganze Angelegenheit noch ein großes schw^eres Problem oder gar eine Vielheit von lauter Problemen ist, und daß sie vorerst über dieses Stadium nicht hinauskommen kann, falls nicht ein viel umfassenderer Umschwung eintritt. Solche Stimmen sind auch wohl in Dresden und anderswo laut geworden; aber es will mir scheinen, die Sache könnte doch so- wohl tiefer angefaßt, als auch weiter aufgefaßt werden denn bisher. Es ist doch kaum mehr eine Frage der Erziehung, auch wenn wir die Selbsterziehung in vollem Umfang mit hineinnehmen, sondern es ist vielmehr eine Frage der Weltanschauung und der Lebenskunst, d. h. ein Problem, das an die letzten Überzeugungen des denkenden Menschen rührt und zugleich in die geheimsten Gründe unsres Fühlens hineingreift! denn die Kunst ist eine Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt, in die er gestellt ward, so gut wie Wissen- schaft, Sittengesetz und Religion es auch sind.

Wollen wir die eindringliche Selbsterkenntnis, die dazu gehört, nicht vernachlässigen und zugleich die

lA Erster Vortrag

Weite des Gesichtskreises, deren wir bedürfen, nicht einengen lassen, so sehr die praktischen Forderungen des Augenblicks diesen Verzicht auch heischen mögen, so müssen wir das Problem an einem Punkt zu fassen suchen, wo sozusagen Höhe und Tiefe in einer Axe liegen, d. h. womöglich dort Stellung nehmen, von wo alle Richtungen der in sich mannichfaltigen Aufgabe ausstrahlen. Dahin zu streben ist meines Amtes, mögen Sie mich zuerst auch einen Idealisten und Träumer schelten, der den Boden unter seinen Füßen verliert. Die Wissenschaft fängt bekanntlich überall erst da recht an, wo hinter das, was zu Tage Hegt, zurückgegangen wird. Und wer den Boden seiner geistigen Existenz im Schweifen durch die Welt erobert hat, der behält ihn auch im kreisenden Fluge stets im Auge.

Wir könnten unsre Auffassung des wichtigen An- liegens gewiß noch vertiefen, wenn wir der Sache selbst auf den Grund gingen, um die es sich handelt. Wenn als leitende Idee der ganzen Bewegung verkündet wird: „Wir wollen die Erziehung unsrer Kinder zur ästhetischen Genußfähigkeit fördern, unsre Absicht geht dahin, den bei allen Menschen im Keime vorhandenen Kunst- sinn soweit zu wecken und auszubilden, wie es innerhalb der bescheidenen Grenzen des Nichtkünstlertums und innerhalb der übrigen Erziehungsziele möglich ist." Und „wenn wir dabei die bildende Kunst in den Vorder- grund stellen, so beruht das auf der Überzeugung, daß grade in Bezug auf sie unsre bisherige Erziehung be- sonders viel zu wünschen übrig ließ." -(Dresdener Be- richt 1901, p. 27 30). Was will das heißen? warum

Unsre Aufgabe I c

handelt sich's dann eigentlich? Lassen Sie mich mit einem anschaulichen Gleichnis antworten.

Es kann sich nur darum handeln, einen längst vor- handenen alten Brunnen, dessen Röhren nur zum Teil verstopft und verschüttet sind, wieder aufzugraben und in stand zu setzen, daß der Quell lebendigen Wassers aus der Tiefe wieder hervorsprudeln kann, womöglich alle Röhren wieder speisen oder gar lustig in vollem Strahl zum Himmel steigen wie einst. Das ist das angeborene und ererbte, durch so manche Zeiten des reichsten Gelingens schon bewährte Schaffensvermögen unsrer Nation. Und wir Wärter des Brunnens hätten nichts andres zu tun, als der ursprünglichen Anlage und Leitung nachzugehen, zu schürfen, wo ihre Verbindungen liegen, und diese Kanäle wieder herzustellen, damit sie alle, sich sondernd oder ineinandergreifend ihren Dienst verrichten wie zuvor, oder wie der Schöpfer dieser Anlage es ehedem gewollt.

Aber wer kennt das Geheimnis dieser ursprünglichen Anlage, so daß er im stände wäre, den stattlichen Brunnen auf offenem Markt wieder in Ordnung zu bringen, ohne das klare Quellwasser zu vergeuden oder zu trüben, ohne verhängnisvolle Mißgriffe zu begehen oder gar das Beste vollends zu zerstören. Und wer weiß uns zu sagen, ob die Quelle noch reich genug spendet, um alle Teile des Werkes gleich kräftig zu füllen, ob sie noch stark genug hervorbricht, um so herrlich wie sonst emporzujubeln? War seit Menschengedenken je das Ganze noch in gleichmäßiger Tätigkeit; oder haben nicht immer bald diese bald jene Röhren spär- licher geflossen; mochte nicht schon damals zuweilen die eine oder die andere Mündung völlig versagen? Es gilt auch die Natur der Quelle zu prüfen: wenn sie gar aus mehreren zusammenflöße, und wenn diese schon

l5 Erster Vortrag

ursprünglich zu den intermittierenden Quellen gehörten, sie alle oder wenigstens einige? Wer getraut sich all die Rätsel ihres Wesens zu belauschen?

Nun dieser Ouickborn lebendigen Wassers, er ist die Kunst. Seine Leitungsbahnen sind ihre Wege, ihr Zusammenhang das Geheimnis, das wir am sehn- lichsten suchen. Da haben wir auch die beiden Seiten bei einander, die man für abtrennbare Stücke gehalten, die für sich allein bestehen könnten: auf der einen Hälfte die bildenden Künste, auf der andern Seite die übrigen, Musik und Dichtung und was noch sonst dazu gehört. Aber schauen wir genauer hin, so erweist sich diese Wasserkunst wohl gar als einen jener wunderbaren Hochzeitsbrunnen, an dem jede seiner Öffnungen einen andern köstlichen Trunk gewährt, als besäßen die ver- schiedenen Leitungswege die Zaubermacht, das natür- liche Wasser in lauteren Wein zu verwandeln und jede wieder nach ihrer besondern Art, wie goldigen Rhein- wein oder purpurnen Burgunder, hier schäumenden Sekt, dort schwerflüssigen Muskateller; nur in der Mitte noch allein der ewig junge Springquell des Lebens selber, damit sich jeder das erfrischende Wasser mit edlerer Labung mische nach Belieben. Dem einen muß man zurufen „tu etwas Wein in dein Wasser", den andern umgekehrt ermahnen „tu Wasser in deinen Wein"; denn es sind mancherlei Gaben, aber es ist ein Geist, und es sind mancherlei Kräfte, aber es ist ein Quell.

Unser Gleichnis ist ernst gemeint: dieser Brunnen gleicht, so weit ein Bild aus anderm Umkreis nur ent- sprechen kann, in allen Zügen dem Reich der Kunst, oder wenn Sie Heber wollen, dem Reich der einzelnen Künste, die der Mensch bisher hervorgebracht hat. Und wenn es sich um Anleitung zum Kunstgenuß handelt,

Mitwirkung- des Einzelnen ij

SO dürfen wir auch da von vornherein behaupten: wo dieser Quickborn fröhlich plätschert, da werden auch die durstigen Trinker nicht fehlen und werden von allen Seiten selbst versuchen, wie sie sich erlaben mögen, auch ohne die wohlgemeinten Vorkehrungen eines Er- ziehungsrates, bis sie lernen, was ihrem eigenen Bedarf am besten entspricht. Nur wo kein natürlicher Quell am Wege rauscht, und wo das Volk in einer Wüste schier verdursten will, da gilt es Wasser aus dem Felsen schlagen; aber nur der rechte Gottesmann vermag das Wunder wirklich zu vollführen!

Nur eins bleibt immer dasselbe: wer seinen Durst löschen wdll, muß trinken lernen, ob nun Natur oder Instinkt, ob unser menschlicher Mitbruder oder schon unser tierischer Genosse dabei den ersten Lehrer spielt. Wo ich hinaus will? auf die Behauptung, daß aller Kunstgenuß auf eigener Tätigkeit beruht, und daß diese selbsttätige Rlitwirkung ebenso wenig entbehrt werden kann, wie beim Kunstschaffen. Ich gehe von der unabweisbaren Tatsache der Selbstbeobachtung aus> daß jeder rechte Genuß eines Kunstwerkes auf einem innern Nachschaffen beruht, und daß dieser mehr oder minder vollständige Vorgang der Reproduktion des fertigen Werkes in jedem genießenden Subjekt auch erst das fremde Werk zum eigenen Erlebnis macht. Wenn Goethe sagt: „Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie fertig sind; man muß sie im Entstehen auf- haschen, um sie einigermaßen zu begreifen," so weist er nicht nur dem Kunsthistoriker den Weg zu seiner genetischen Betrachtungsweise, sondern auch jedem Nicht- künstler den einzigen Zugang zum lebendigen Ver- ständnis und wirklichen Genuß der Kunstwerke, die nun einmal fertig und abgeschlossen vor ihm stehen. Wenn

Schmarsow, Kunst und Erziehung. 2

l3 Erster Vortrags

aber Kunstgenuß auch „innerhalb der bescheidenen Grenzen des Nichtkünstlertums" auf einem innern Nach- schafifen beruht, so kann der Unterschied vom schöpfe- rischen Künstlertum nur in einem Gradunterschied dieser seelischen Betätigung bestehen und der Hauptunterschied, der nach außen tritt, liegt nur darin, wie weit auf eine feste Verkörperung und bleibende Erhaltung dieser Re- produktion verzichtet wird. Wie der schaffende Künstler sich selbst sein erstes Publikum ist, so bleibt auch das schaffende oder genießende Subjekt lange Zeit eins. Und allen Betrachtern fertiger Kunstwerke darf man I zurufen: „Wenn ihr nicht werdet wie der Schöpfer, so ' werdet ihr nimmer ins Kunstland eindringen!" i Was sollte denn also „Erziehung unsres Volkes zum

Kunstgenuß" anders bedeuten können, als eine sehr be- trächtliche Annäherung ans Kunstschaffen? Das heißt: Er- ziehung zum künstlerischen Fühlen und Empfinden ist bis zu einem gewissen Grade ganz dasselbe wie Erziehung zur f Kunst als schöpferischem Tun. Kunstsinn ist nicht nur passive Empfänglichkeit, sondern auch aktive Fruchtbar- i keit. Wer empfangen will, muß auch gebären können. Und wennn wir uns erinnern, daß wir die Kunst über- haupt wie alle einzelnen Künste in ihrer Art als Aus- einandersetzung des Menschen mit der Welt bezeichnet haben, so leuchtet nun ein, daß ihr Unterschied von andern geistigen Auseinandersetzungen mit der um- gebenden Welt gerade darin besteht, daß sie eine schöpferische Tätigkeit ist, die zu bestimmten und bleibenden Ergebnissen führt. Jedes einzelne Kunstwerk ist ein solcher Wurf Wie sollte dem, der es auffaßt, die schöpferische Selbsttätigkeit wenigstens als innere Nach- ahmung dieser Ausgeburt einer Menschenseele, dieser Bei- trag eignen Lebens als Preis der Lust erspart bleiben?

Mitwirkung des ganzen Menschen lO

„Wer über Kunst und Schönheit zu reden sich er- kühnt, der muß mit seiner Persönlichkeit zahlen" bezeugt auch Carl Justi bei Gelegenheit VVinckelmanns, der uns die längstbegrabene Plastik der Griechen wieder er- schlossen hat. Wer von „Kunsterziehung" sprechen will, muß sich zuerst in den Mittelpunkt all unsres künst- lerischen Schaffens, Fühlens, Empfindens und Denkens stellen, d, h. der schöpferischen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt. Das ist der Punkt, zu dem ich Sie zunächst führen mußte, da liegt der Boden unter meinen Füßen. Von diesem Standpunkt aus wollen wir die Welt der Kunst überschauen und alle ihre Länder durchwandern. Frau Sorge, die Erzieherin, soll uns dabei begleiten, und ich wette, sie würde große Augen machen, wenn ihr die Binde, die ererbte, die alles färbt und ver- schleiert, einmal abgenommen werden könnte, so daß ein Vorurteil nach dem andern dahinsinkt.

Bei dieser Wanderung durch das Reich des künst- lerischen Schaffens und Genießens halten w^ir aber vor allen Dingen an der Überzeugung fest, daß überall mit dem ganzen Menschen gerechnet werden muß. Die Lehre des alten Griechen, das Maß aller Dinge sei der Mensch, gilt im Land der Künste jedenfalls in vollem Umfang und ohne Widerspruch. Ja, diese Einsicht gibt uns erst den rechten Anhalt, wo immer wir nach ihrem Wesen fragen oder gar an ihrem Werte zweifeln möchten. Denn sie erst deckt uns den Unterschied auf, der zwischen der Kunst auf der einen Seite und den übrigen Auseinander- setzungen des Menschengeistes mit der Welt umher, wie unsrer wissenschaftlichen Erkenntnis oder unserm ethischen Bestreben, auf der andern Seite besteht. Die Kunst besitzt ein glückliches Vorrecht vor jenen: die Befriedigung des ganzen Menschen. Sie allein erfüllt

20 Erster Vortrag

das natürliche Verlangen nach dem Einklang; denn sie schaltet und waltet mit der ganzen Menschennatur, wie sie gegeben ist und mit sich selber übereinstimmt. Diese Voraussetzung der menschlichen Organisation, der Innern wie der äußern, ist der Ursprung all ihrer Probleme und der Schlüssel all ihrer Lösungen. Die Gesamtheit der Einzelkünste schafft an einer umfassenden und voll- ständigen Auseinandersetzung, die als Ganzes ein Spiegel- bild darstellt, das in glücklicher Harmonie mit dem eignen Wesen des Menschen ihn als Schöpfer durch seine eigne Schöpfung beseligt, mögen jene Nachbarinnen dabei zu bedenken finden, was sie wollen. Sie selbst, Wissenschaft und philosophische Weltanschauung, Ethik und sittliche Weltordnung, und sogar die Religion, ver- danken ja dort, wo sie vollkommen harmonische Be- friedigung erstreben, nur allzuoft die beste Hilfe dem Verfahren der Menschenkunst.

Das Spiegelbild, das diese zu weben weiß, muß aber notwendig den Grundtatsachen entsprechen, die das Urbild aufweist. Mögen wir diese Faktoren vom schöpferischen und genießenden Subjekt aus bezeichnen, d. h. im Menschen selber suchen, oder mögen wir vom Glauben an ihre objektive Gültigkeit und Realität aus sie der Außenwelt beimessen: ich meine Raum und Zeit, und mitten inne noch ein drittes, Kausalität. Da stehen sich schon die beiden Anschauungsweisen, die zeitHche und die räumliche, einander gegenüber, Bewegung dort Beharrung hier, heißen die beiden Pole, zwischen denen sich eine gegenseitige Verbindung vollzieht. Und zwischen diesen Extremen, denen die menschUche Organisation sich nur innerhalb bestimmter ihr zugängHcher Grenzen anzunähern vermag, erscheint gerade 'dort, wo beide Faktoren einander durchdringen, mit zwingender Not-

Mitwirkung des ganzen Menschen 21

wendigkeit die Vorstellung der Kausalität, die sich im reinmenschlichen Gebiet des künstlerischen Schaffens und Genießens als Grundtatsache behauptet wie jene Anschauungsformen auch.

Darnach gliedert sich schon die Welt der Kunst von beiden Polen her, nach räumlicher und zeitlicher Auf- fassung, wie zwei Hemisphären. Und wo Bewegung und Beharrung einander am innigsten durchdringen, da waltet das Prinzip der Kausalität in mannichfaltigsten Beziehungen über beide hingreifend wie im Menschen- leben selber. In Poesie und Malerei sowohl, wie be- sonders, wo diese Künste sich bei dramatischer Auf- führung verbinden, da wird auch die Frage nach Ursache und Wirkung oder nach Grund und Folge zum alles bestimmenden Faktor, d. h. wir steigen zum Gipfel der geistigen Auseinandersetzung auf, die wir als vollsten künstlerischen Ausdruck unsrer Weltanschauung begrüßen.

Der Ausgangspunkt dieser ganzen schöpferischen Tätigkeit liegt aber im menschlichen Subjekt und zwar im vollen natürlichen Zusammenhang seiner leiblichen wie seelischen Organisation. Die Rücksicht auf die Körperlichkeit unsres Leibes, die Ortsbewegung, die Tastempfindungen im ganzen Umkreis der Betätigung unsrer Arme und Hände, ja unsrer Beine und Füße dazu, und auf das Körpergefühl, das nicht dies wirkliche Eingreifen und Einschreiten allein, sondern unsre Atmung und unsern Herzschlag begleitet, sie alle dürfen ebenso- wenig außer Spiel bleiben, wie die Leistungsfähigkeit der sogenannten höheren Sinne, des Auges und des Ohres, mit denen unsre frühere Ästhetik sonst sich allein befassen zu dürfen wähnte, während sie doch das Wort „Geschmack" so ausgiebig verwertete, ohne sich immer klar zu halten, woher es eigentlich stammt.

22 Erster Vortrag

Heutzutage sind wir nirgends mehr zu leugnen aufgelegt, daß unsre leibliche Organisation ursprüngHch all unsre Auffassung der Dinge bestimmt, und zwar nicht allein der uns verwandten organischen Natur, sondern auch der sogenannten unorganischen , deren Widerspruch gegen diese menschUche Auslegung uns erst die Wissen- schaft, und nicht ohne Mühe, begreiflich macht.

Diese unmittelbare und ursprüngliche Auffassung unsrer Sinne und unsrer Sinnesart, die weder durch wissen- schafthche Erkenntnis noch durch ethische Zweifel be- helligt wird, d. h. die menschlich natürliche und mensch- Hch befriedigende Form, ist aber im Grunde die eigent- lich ästhetische. Bei ihr haben wir einzusetzen; denn sie behauptet immer wieder, trotz aller Korrekturen im Fortschritt unsrer geistigen Bildung, ihr angeborenes Vorrecht. Und sie leitet, wie gerade hier, wo es sich um ästhetische Erziehung handelt, sogleich mit voller Zuversicht hervorgehoben werden soll, stets wieder von den emporgeschraubten Zumutungen unsrer hochge- steigerten Kultur, unsres Wissens wie unsres WoUens, zu den natürUchen Grundlagen des Menschentums, d. h. zur physischen und psychischen Gesundheit zurück.

ZWEITER VORTRAG

Wenn es bei solchem Ausgang vom natürlichen Menschen nun darauf ankäme, unter den künstlerischen Betätigungen wieder die ursprünglichste zu suchen, so könnte unsre Wahl nur auf diejenige fallen, die als un- mittelbar hervorbrechende Äußerung des reichorgani- sierten Geschöpfes, das wir homo sapiens nennen, so- zusagen durch die Einwirkung der Außenwelt von selber ausgelöst wird, das ist das Benehmen und Gebaren des Körpers, das zunächst wie eine Reflexbewegung auftritt. Noch nicht vom Laut der Stimme, noch vollends von der Sprache begleitet und unterstützt, vollzieht dies stumme Spiel mit elementarer Macht die erste Auseinandersetzung mit der Welt. In diesem Bereich, zu dem wir weiterhin alle Körperbewegungen zu irgend einer gewollten und zweckentsprechenden Tätigkeit, sei es Arbeit, sei es Spiel, hinzurechnen , Hegt jedenfalls der Anfang aller ausdrucksvollen Gebärdung, die wir im allgemeinsten Sinn als Mimik bezeichnen wollen.

So betrachtet, erscheint wohl die Mimik als Mutter aller darstellenden Künste. Jemehr es sich zunächst um Selbstdarstellung und Mitteilung unter gleichorganisierten W^esen handelt, desto bestimmter muß das einleuchten. Und auch ferner bleibt ja für alles schöpferische Tun die Übertragung der innern Erregung auf den motorischen

Zweiter Vortrag

Apparat des eignen Leibes immer die Hauptsache, auf die es dabei ankommt, und erst im weitern Gange scheiden sich die Wege, ob die Körperbewegung nur den mimischen Verlauf nimmt und in ihm auch allein zum Austrag kommt, oder ob sie zu konkreter Ge- staltung über die Grenzen unsres Körpers hinaus greift. Weit näher als das Übergreifen auf einen bildsamen Stoff, den wir nach unserm Willen umformen, liegt die Verbindung unsres Gebarens mit den sonstigen Äuße- rungen unsres eignen Organismus. Durch Reflexbewegung, wie die Grundlagen unsrer Mimik, entsteht ja ein neues Element, indem der Lufthauch aus unserm Atmungs- organ plötzlich ausgestoßen wird und durch die Kehle dringend den Ton erzeugt. In ihm erwächst eine andre Art erlösenden Ausdrucks, sobald der unartikulierte Laut, wie ihn etwa ein Schreck oder Schmerz hervor- gerufen, durch die wandelbare Mitwirkung der Stimm- ritze auch verschiedene Klangfarbe gewinnt, und all- mählich nach unserm Willen geregelt wird. Indem wir den Atem, soweit es mit der regelmäßigen Arbeit unsrer Lungen vereinbar bleibt, längen und kürzen, unsre Kehle verengern oder erweitern, ergibt sich der erste Sang, so „wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet". Tritt aber außer der Stimmritze und ihrer tonbildenden Umgebung auch noch ein Teil der be- nachbarten Organe unsrer Mundhöhle dabei ins Spiel, so daß Zunge oder Gaumen, die Zahnreihen oder die Lippen sich dem Luftstrom hinderlich in den Weg stellen, ohne ihn völlig einzuschließen, so bildet sich aus dieser Gebärdung und dem zwischen ihr entlanggleitenden Laut eine neue Einheit: die Lautgebärde oder das Wort, und aus einer Aneinanderreihung von solchen Elementen die Lautsprache. Jeder von beiden Faktoren, Laut

Die Mimik

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und Gebärde, büßt zu Gunsten dieser neuen Einheit etwas von seiner ursprünglichen Kraft ein: das Ton- element mäßigt und bindet seine vokalische Fülle und Reinheit, die Gebärde schmiegt sich bis zur Konsonanz. Dafür ist aber auch das Wort eine höhere Errungen- schaft, denn nun erst bezeichnet der Ausdruck die kon- kreten Dinge dieser Welt. Damit ist der natürliche und unumgängliche Zusammenhang, der unsre Mimik mit ihren Nachbarinnen, dem Singen und dem Sagen, der Musik und der Poesie verknüpft, in seinen Wurzeln bloßgelegt. Und die Tragweite der Folgerungen eröffnet uns einen tiefen Einblick in die grundlegende Bedeutung dieser Sphären für die Ausdrucksfähigkeit des Menschen. Schon in diesen elementaren Regionen der Ausdrucks- bewegung waltet überall die künstlerische Tätigkeit. Schon die stumme Gebärde ist Menschenkunst.

Der Mensch tritt nackt und hilflos ins Leben; aber die ererbte Organisation enthält bereits alle Leitungs- bahnen soweit vorgebildet, daß in kurzer Frist alle Glied- maßen in ihrer Verwendbarkeit geläufig werden. Wir sagen, das Kind lernt von den Eltern; aber wir machen uns nicht immer klar, was dazu gehört, um durch Sehen und Hören auch Nachmachen lernen zu können. Die Möglichkeit einer entsprechenden Innervation sollte uns erinnern, wie jede Betätigung unsres angeborenen Bewegungsapparates auch vom Gefühl begleitet und durchdrungen wird, und wie das Bild der Bewegung, das wir an unsersgleichen erblicken, auch sofort das Echo dieses zugehörigen Gefühls in uns selber weckt. Nur von diesem Organgefühl kann der Anreiz zur Wiederholung der gleichen Bewegung ausgehen, nur dieses vermag die innere Nachahmung auszulösen, die wiederholt und verstärkt dazu gelangt, auch die wirkliche

26 Zweiter Vortrag

Nachahmung zu v'ollziehen. Von hier aus lernen wir jede wahrnehmbare Veränderung an gleichorganisieiten Wesen verstehen und gewinnen den gangbaren Vorrat von Kenntnissen, die uns den sogenannten „Funktions- ausdruck" der menschlichen Körperformen vermitteln. Keine Bewegung der Gliedmaßen, keine Verschiebung der Formen gegeneinander, keine noch so gleichgültige Tätigkeit oder Lage unsrer Gestalt ist ohne Ausdruck. Und grade diese Auffassung alles Sichtbaren unter der zeitlichen Anschauungsform bestimmt zunächst jeden innern Anteil, den wir an den Erscheinungen nehmen. Deshalb bedarf unsre Gebärdensprache fast nur des beweglichen Apparates unsrer Glieder und vermöchte mit dem Skelett allein, sofern nur die Gelenkigkeit nicht versagt, die Grundzüge des Ausdrucks zu vermitteln. Denken Sie nur an den Schnitter auf dem Felde, an den Bogenschützen auf Bergeshöh, an den Fährmann im Nachen, wie spricht in der Vorstellung allein der Bewegungszug, der durch das Ganze geht, ohne daß wir uns auf die Beschaffenheit der Körperformen näher ein- lassen. So wirkt auch das scheinbar zufällige Gebaren einer Person, der Gang, die Haltung, die Art des Sitzens und Liegens, die leiseste Beugung des Halses vielsagend genug, gleichgut ob es immer gelingt, den Eindruck in Worte zu fassen und kurzweg zu charakterisieren oder nicht. So rechnen wir zur menschlichen Mimik schon das Benehmen, den Anstand und die Lebensart. Lange bevor an eine künstlerische Verwendung der Gebärden- sprache oder gar an die Schöpfung selbständiger Kunst- werke aus lauter mimischen Elementen gedacht wird, eröffnet sich ein weites Feld für die ästhetische Er- ziehung. Hier liegt die gemeinsame Wurzel alles künstlerischen Ausdrucks: hier schon

Gebärdensprache 27

haben wir einzusetzen mit unserm Bemühen; denn ge- rade hier hapert es von vornherein; wo die geläufige Übertragung der innern Erregung auf den motorischen Apparat eintreten sollte, da stockt es bei uns modernen Menschen gar zu häufig.

Der rohe Mensch, sagen wir^), läßt sich gehen; be- sondre Bewegungen, mit denen er etwas ausdrückt, macht er nur in primitiv einfacher Art; er bewegt sich überhaupt nicht, oder nur in eckiger Wiederholung der gewohnten Manipulationen seiner Arbeit. Der Durch- schnittsmensch der Bildung dagegen hat sich ein gewisses Maß von Zucht und Ordnung in seinem Denken und Tun und so auch im Gebrauch seiner Gliedmaßen an- geeignet. Mit diesem Vorrat konventionellen Benehmens kommt er ohne Anstoß durch. Aber wie der persön- liche Gebrauch der Muttersprache, die doch alle Glieder einer Gesellschaft gleichermaßen zu reden glauben, nur bei einer Anzahl von Individuen zu einer gewissen Ab- rundung gelangt, die sich wohl gar zu einem durch- gebildeten Stil entwickelt, so auch die Gebärdensprache. Mit dem Fortgang der Gesittung, mit der wahren geistigen Bildung wird das Bedürfnis des Ausdrucks zur stillen selbstverständlichen Voraussetzung und zeigt sich mehr und mehr bereit, des besondern Ausdrucks zu entbehren. Aber der bedeutende Mensch, der sich auch über das Maß hinaus frei gehen lassen kann verschmäht vielleicht den Zwang eines neutralen oder gar negativen Übereinkommens. Er ruht auch körper- Hch wieder mehr in sich und folgt den Impulsen des geistigen Lebens mit einzelnen entschiedenen Gebärden; in gehobenen Momenten kommt es zu voller Entfaltung.

^) Vgl. z. folgendem W. Henke, Vorträge, Rostock 1892. S. 162 ff.

28 Zweiter Vortrag

Wie die Bildungsstufe bis hinauf zur selbständig entwickelten Persönlichkeit, so unterscheidet sich auch Charakter und Anlage ganzer Nationen und einzelner Stämme nach Art und Maß der Gebärdensprache. Man sagt ja den südlicheren Völkern Europas gern größere Lebhaftigkeit nach und rühmt als ihr Vorrecht jene Anmut und Würde, die den ganzen Körper gleichmäßig beseelt. Die Nordländer dagegen hätten weniger Grazie, mehr Ungebärdigkeit , aber auch mehr unmittelbare Energie, und wie solche Urteile sonst lauten. Dem stolzen Britten käme es zu, überhaupt keine lebhafte Gestikulation zu kennen oder sie geflissentlich zu meiden. „Wie langweilig", gestand mir eine trefifliche alte Dame in Rom, „in eine englische Gesellschaft zu geraten, von deren Unterhaltung man kein Wort versteht: an diesen unbeweglichen Gesichtern und steifen Händen vermag doch niemand abzunehmen, was sie vorhaben, nichts mitzufühlen, was die Herzen bewegt! Mir war, als hätte ich in einem Froschteich gesessen!"

Es versteht sich wohl von selbst, daß diese sum- marische Charakteristik der Nationen kaum relativen Wert beanspruchen darf. Das bischen, was übrig bleibt, wird bei längerem Verkehr durch intimeres Verständnis der fremden Eigenart erst recht eingeschränkt und durch zahlreiche Ausnahmen verzettelt. Aber die Lust jedes Kulturvolkes, das andre der Barbarei zu zeihen, in diesem Fall auf Grund eines Zuviel oder Zuwenig von mimischem Ausdruck seines Benehmens, diese seit dem Altertum wohl unleugbar fortbestehende Tatsache gibt auch hier zu denken, wenn es gilt, das Werk der ästhetischen Erziehung des eignen Volkes in Angriff zu nehmen. Eine Flut von Fragen stürmt auf uns ein, die alle wissen wollen, was uns frommt. Wo liegt die be-

Pflege der Ausdrucksfähig-keit 2Q

rechtigte Eigentümlichkeit des Charakters, die wir an- erkennen müssen, und wie weit reicht dies natürliche Recht der ererbten Anlage? Oder, wo fängt die be- rüchtigte Fremdländerei an, und wie weit ist Aus- gleichung im Sinne des Gemeinsamen aller Kultur heil- sam und wünschenswert im Kreis der führenden Nationen? Lassen wir den Streit um all diese Fragen vorerst auf sich beruhen, wenn wir nur in dem Punkt einig sind, der uns zusammenführt: daß uns Deutschen etwas künst- lerische Erziehung not tut in allen Dingen. Wer dieser Erkenntnis auch sein patriotisches Gemüt nicht mehr verschließen mag, der wird auch zugeben, daß es gut wäre, ganz im stillen beim eignen Kämmerlein anzu- fangen und ein gut Teil Unarten auszukehren, die jeden- falls überflüssig sind. Aber mit dem systematischen Krieg gegen die Ungebärdigkeit wäre nicht viel ge- wonnen. Mit dem Triumph des Anstands über die Un- geschlififenheit würden wir eben nur ein neutrales Ab- schleifen, aber noch keinen eigenen Schliff erreichen, und auf diesen kommt es an, bei jedem edlen Stein, der solcher Arbeit wert ist. Es gilt, den Kampf gegen die Hilflosigkeit des deutschen Jünglings und der deutschen Jungfrau aufzunehmen, gegen die Ratlosigkeit bei jeder Berührung mit Fremden nicht nur, sondern auch daheim unter sich. Es ist die positive Pflege der Ausdrucksfähigkeit, auf die es ankommt, und damit wächst von selbst die Ausdrucksfreude, die auch zu künstlerischer Befriedigung weiter drängt. Dazu bedarf es vor allem einer gemeinsamen Grundlage, der Ge- läufigkeit und Geschmeidigkeit aller Gelenke, aller Leitungsbahnen, die das innerste Seelenleben mit der sichtbaren Außenseite unsres Leibes verbinden. Diese Überlegenheit in allem Gebaren sollten wir unsern Nach-

^O Zweiter Vortrag

barn ringsum nicht länger einräumen, weil wir in die eigne Unbeholfenheit verliebt sind. Es ist wahr, die pfanze moderne Literatur des Nordens ist voll von Schilderungen solcher Charaktere, die mit irgend einer äußern oder innern Hemmung der Ausdrucksfähigkeit zu kämpfen haben, verschlossene oder zugeknöpfte^ aber auch halb entwickelte oder halb gelähmte Seelen, die nur Stottern oder Knirschen, oder gar Verstummen und Entweichen kennen, wo der freie Strom sich ergießen möchte und unter normalenBedingungen derMenschen- natur auch frischweg und befreiend ergießen sollte. Aber wie weit ist dieser Kultus des Abnormen in der Literatur zugleich ein Maßstab für uns und unsre Kinder? Sollen sie, bloß weil sie in Deutschland geboren sind, auch verdammt sein, ewig so weiter zu stammeln und zu stolpern, statt in der Lebenskunst mit ihren Nach- barn zu wetteifern. Sie brauchen den köstlichen Schatz ihrer Gemütstiefe deshalb nicht preiszugeben. Im Gegen- teil! Eine Gymnastik der Gemütsbewegungen und ihrer unverhohlenen Wiedergabe im Äußern würde in den Lehr- jahren unsrer Jugend doch wohl kaum auf Bedenken stoßen; sie wäre nicht nur die Unterlage für die Schule des Genießens, sondern auch für die Reife des Be- herrschens, die wir dem Erwachsenen wünschen. Und der Gewinn einer solchen Selbstbefreiung des Individuums durch rechtzeitige Fürsorge für die Brauchbarkeit aller Kanäle, die Natur uns mitgegeben, der Gewinn wäre, nach meiner Überzeugung, außerordentlich groß weit über das ästhetische Bereich hinaus. Sie würde auf der einen Seite schon an sich ein gut Teil der einge- schüchterten Verlogenheit, der beklagenswerten Züchtung von lauter Bedientenseelen, die bei -uns noch immer blüht, beseitigen, und zwar durch lebhaftere Zirkulation

Pflege der Ausdrucksfähigkeit 2 1

gesunder Säfte allein, die alle schlimmen Residuen ab- sorbiert. Sie würde auf der andern Seite zur Abklärung eines festen Herkommens, einer Reihe von zuverlässigen und allgemein anerkannten Anstandsvorschriften führen, ohne die eine moderne Gesellschaft nicht auskommt, die aber nur dann übertrieben bewertet wird, wenn solche Ratlosigkeit darin eingerissen ist wie bei uns. „Europas übertünchte Höflichkeit" darf getrost hinter uns liegen bleiben; die aristokratische Sitte des 1 8. Jahr- hunderts kehrt niemals wieder. Aber das Ideal der Humanität, das einst das 19. Jahrhundert als Palladium überkommen, ist wohl in Reaktionszeiten und Kriegs- läuften allzusehr vergessen worden.

Freilich, Anstand und Benehmen, Lebensart sind ja nur der ausgeprägte Stil, in dem man sich bewegt und ausdrückt; sie sind nicht Kern und Hauptsache der Gebärdensprache und des Gebarens überhaupt. Die Geschmeidigkeit aller Gliedmaßen, die Geläufigkeit aller Nervenverbindungen in den motorischen Apparat unsres Körpers hinein, sind aber sonst die größten Wohltaten, die unsrer Nation durch ästhetische Kultur des gesunden Leibes gewonnen werden könnte. Da liegt ja die un- erläßliche Voraussetzung für alle künstlerische Tätigkeit, soweit diese eben durch die Organe unsres Leibes allein oder durch die Beihilfe künstlicher Werkzeuge geleistet werden soll. Einübung des gesamten Telegraphennetzes, das die Innenwelt in uns mit dem eigens dazu ange- wachsenen Äußern vermittelt, also mimische Gymnastik im weitesten Sinne, kann sie erreichen. Das ist ja gerade das Unglück unsrer jungen angehenden Künstler, daß sie, einseitig nach andern Richtungen vorgebildet, beim Beginn ihrer eigentlich künstlerischen oder richtiger technischen Schulung- sich sozusagen vor die Zumutuno;

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Zweiter Vortrag-

gestellt sehen, erst neue Organe auszubilden oder vor- handene, doch verkümmerte, durch Hypertrophie andrer geschädigte Ansätze solcher Organe nun auf einmal und in kurzer Frist zum vollsten vorwiegenden Gebrauch zu entwickeln. Ist es ein Wunder, wenn so viele in diesem schöpferischen Gebaren für Lebenszeit nicht über das Stammeln, Hinken und Stolpern hinauskommen? Und unsre Kunstfreunde? leiden sie nicht auch, wenn die Leitungsdrähte dort versagen, wo es darauf an- kommt, der Ausdrucksfähigkeit des künstlerisch begabten Mitbruders mit frischer und lebhafter Empfänglichkeit zu antworten? Wo die mimische Organisation, die wir von Natur besitzen, verknöchert und verwahrlost liegt, da kann auch die innere Nachahmung eines Kunstwerks nicht gedeihen. Je größer dagegen die Annäherung an das schöpferische Gebaren auch im genießenden Subjekt sich einstellt, desto höher ist der Genuß, desto reicher das Erlebnis des dargebotenen Schönen, und desto fruchtbarer das Zusammenwirken, auf dem erst die Kunst- blüte eines Volkes beruht.

Daraus ergibt sich von selbst, daß die künstlerische Erziehung unsres Volkes nur angebahnt werden kann, wenn wir die Ausdrucksfähigkeit des Körpers unsrer geistigen Durchbildung entsprechend anzupassen ver- suchen. Jeder Anlauf zu konkreter Gestaltung, der über die malende Gebärde zur Charakteristik eines vorge- stellten Gegenstandes hinaus geht, jeder noch so un- bestimmte Drang zu plastischem Hervorbringen irgend eines Gebildes ist, als Hantierung des Menschen an dem ungeformten Material, schon Gebärdung; er enthält Bestandteile mimischer Äußerung, und es bleibt wohl lange, bis das zweckentsprechende Verfahren gefunden ist, beim tastenden Ausdruck des innern Nacherlebens

Mimik und Ornamentik

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und Mitgefühles, das kein klares Körpergebilde zu Stande bringt.

Ja, so erklärt sich auch die Entstehung der Orna- mentik, die selber noch keine Kunst, doch alle schöpfe- rischen Schwestern begleitet und ihnen allen die Wege bereitet. Sie ist die ursprünglichste Äußerung des künst- lerischen Triebes, die nicht mehr, wie die Ausdrucks- gebärde, im Augenblick zerrinnt, sondern dauernd wahr- nehmbare Form hinterläßt. Der Sinn all ihres Tuns ist nichts andres als Wertbezeichnung. Sie prägt also mit ihrem Schmuck und Zierrat nur den Sinn alles künstlerischen Schaffens aus, das die Werte des Daseins und des Lebens heraushebt und dem Strom des Werdens und Vergehens zu entrücken trachtet, ja eben diese Werte verewigen will zu bleibendem Genüsse. Aber sie selbst ist noch keine Kunst; denn sie vermag das Wert- volle nicht selber darzustellen und schöpferisch wieder- zugeben, sondern eben nur anzuerkennen und auszu- zeichnen. Das Mittel, dessen sie sich dazu bedient, das Ornament selbst, ist aber in all seinen mannichfaltigen Variationen nichts anderes, als ein Niederschlag des mimischen Spieles um solchen Wert herum, des liebkosenden Verweilens und W'iederkehrens im Erfassen des gefundenen Wertes.

Gehen wir vom Kleinen zum Großen, so wird von hier aus jedem begreiflich, daß die mimische Ausdrucks- bewegung selbst beim Schaffen des Architekten eine wirksame Rolle spielt. Der Leiter und Erfinder eines so umfänglichen Werkes, an dessen Ausführung zahl- reiche Hilfskräfte beschäftigt werden, erscheint uns, sowie wir seine Raumgestaltung in das Ursprungsgebiet, die innere Anschauung, zurückverfolgen, wie ein Organi- sator, dessen Machtgebärden die Entstehung des Ganzen

Schmarsow, Kunst und Erziehung. 3

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Zweiter Vortrag

wie aller Teile hervorbringen. Er setzt durch seinen Wink die Säule hier, den Pfeiler dort, wie ihre korre- spondierenden Glieder in vorgefühltem Abstand; er richtet die Wände hüben und drüben auf, in Ge- danken, wie die Leute sagen, d. h, aber im innern mimischen Vollzug zur lebendigen Anschaulichkeit, so daß ihr Dastehen als Raumgrenzen voller Klarheit auf sein Raumgefühl zurückwirkt und das Urteil auslöst: so stehen sie gut, so und nicht anders sollen sie Auge und Körpergefühl des durchwandelnden Betrachters auch bestimmen. Wir wundern uns nicht, wenn die Hand des raumbildenden Architekten unwillkürlich mit nachahmen- der Gebärde dem Schwung der Kuppel folgt, die er intuitiv zu wölben meint, obwohl in Wirklichkeit diese Hand des Einzelnen nur im kleinen Modell das bildsame Material regieren könnte, niemals bei der Ausführung in richtigem Maßstab und in dauerhaften Massen auch nur richtunggebend eingreift. So stellen wir uns Michel- angelo als Bildner seiner Peterskirche vor, auch wenn wir es versuchen, seine gewaltige Schöpfung von innen oder von außen, als Raum oder als Körper, nachzuer- leben und so zu genieß)en, wie sie gewollt war.

Wer die rhythmische Bewegung unsrer heimlichen Mimik beim Durchschreiten einer gotischen Kathedrale zu belauschen weiß, der fühlt auch den engen Zusammen- hang dieses reichgegliederten ästhetischen Vorgangs mit der innern Nachahmung oft ebenso verschlungener Ton- bewegungen in der Musik, und ermißt, was unsre Sprache bezeichnen möchte, wenn sie unsrer Menschenseele Seraphschwingen andichtet, kraft deren wir in die Lüfte schweben, in unabsehbaren Höhen und ahnungsvollen Tiefen dahinschwimmen, als wären wir leicht wie die Wolke geballt und in der Unendlichkeit so heimisch

Mimik Architektur Musik 25

wie auf der Erdoberfläche, wo die Schwere des Stoffes uns niederhält. Bei diesem Aufschwung gerade zu innerer Anschauung hat der motorisch angelegte Hörer, dessen Ausdrucksfähigkeit in allen Körperbewegungen eingeübt und durchgebildet ist, einen unschätzbaren Vorzug vor dem Ungelenken, der zusammengekauert dasitzt, um „ganz Ohr" zu sein. Jener Beweglichere fühlt und ge- nießt noch rhythmische Bewegung in unverfälschter Rein- heit da, wo der Stubenhocker schon längst ins Reich poetischer Vorstellungen und abenteuerlicher Ideen- assoziationen abgeschweift ist, deren Gaukelspiel in unsrer Phantasie mit dem lautern Kunstgenuß der musikalischen Schöpfung zunächst garnichts zu schaffen hat. Glauben Sie, auch ein Sebastian Bach wäre schwer- lich zu so hinreißender Großartigkeit seiner Kirchen- musik gelangt, hätte ihm nicht auch die physische Grundlage einer ererbten, durch Generationen hindurch ausgebildeten und gepflegten Übung des Orgelspiels zu Gebote gestanden, eine Anpassung des ganzen persön- lichen Gebarens an das gewaltige voUatmige Instrument, dessen dynamische Wirkung so weit über Menschenmaß hinausgeht. In solchem Emporsteigen und Anschwellen zu elementarer Kraft gleicht das Tongefüge und das Stimmengeflecht Sebastian Bachs dem Raumgebilde und dem Netzgewölbe der Kirchen, die es erfüllen soll. Darin erscheint er uns unwillkürlich dem architektonischen Schaffen verwandt, ein „baumeisterlicher, Mann", wie Goethe von Plato sagt, also wie ein Genius, der Natur- gewalten aufbietet zu seinem Dienst und sie klingen und singen heißt zur Ehre des Höchsten. Wer wollte sich eine solche künstlerische Intuition in voller Tätigkeit vergegen- wärtigen ohne die ausgreifende Gebärdung eines Diri- genten, so etwa wie Homer sich seinen Zeus als Wolken-

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Zweiter Vortrag

Schieber dachte, und Michelangelo seinen Jehovah, wie er die Weltkörper durch den Himmel rollt und dem Licht gebeut, sich von der Finsternis zu scheiden. Aber wer bewundert bei Bach und seinesgleichen nicht auch im engern Kreis ihrer Kammermusik die charakteristischen Unterschiede in der Gebärdensprache jedes Instruments, in der eigentümlichen Mimik, mit der sie bei der Zwie- sprache antworten oder ins Zusammenspiel eingreifen.

Wir würden auf solche Unterschiede unsrer Kom- ponisten noch viel stärker zu achten im stände sein, wären wir nicht allzusehr an jenes Übergleiten ins Land der Dichtung gewöhnt, dem sich neuerdings der Abweg in malerische Schilderung und nachahmende Charakteristik unsrer Programm-Musik verlockend genug anschUeßen will.

Die Frage des Kunstrichters, wie weit die Klang- farbe des Tonelements auf der einen Seite, w^ie weit die rhythmischen Unterschiede des Bewegungsfaktors auf der andern, zu solcher konkreten Bedeutsamkeit ausreichen, ist nicht unsre Sache, wenn die genaueste Aufmerksamkeit auf den Beitrag der Körperbewegungen uns auch zur Klärung der Sachlage sehr empfehlenswert scheint, d. h. eine Analyse im Sinne des mimischen Ausdrucks, wie wir ihn hier verfolgen. Von entscheidender Wichtigkeit wird die Beobachtung dieser Seite sofort, wenn wir zu einem offenkundigen Bündnis der Mimik als Kunst mit der Musik, sei es Instrumental- oder Vokalmusik, übergehen, oder wenn im begleitenden Ge- sänge sogar noch die Dichtung als Dritte im Bunde hinzutritt.

Die ganze geschichtliche Entwicklung von Oratorium, Singspiel und Oper hätte nicht stattfinden können, wie sie vorliegt, und die Streitfragen seit Richard Wagners

Mimik und Musik

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Bestreben zu einem Gesamtkunstwerk würden nicht in der Unklarheit oder Einseitigkeit auf uns gekommen sein, wenn nicht gleichzeitig ein bedauernswerter Nieder- gang der mimischen Kunst um sich gegriffen hätte. Ich meine nicht sowohl die Schauspielkunst im engern Sinne, die durch nahen Anschluß an das Dichterwerk darauf angewiesen ist, das Hausgesetz der Poesie und damit das schnelle Tempo der successiven Auffassung als maßgebend anzunehmen, sondern ich meine vielmehr das eigenste Privilegium der Mimik als selbständiger Kunst, den mimischen Faktor der Ausdrucksbewegung des ganzen Menschen in seiner Eigenart.

Die alte Oper ist, für sich betrachtet, doch als Kunstform so gebaut, daß der Zuschauer und Zuhörer die beiden Bestandteile, den musikalischen und den mimischen, zugleich genießen kann, ohne etwas zu verlieren. Die Handlung selbst und ihre Abwicklung im gehörten Wort ist an gewissen Ruhepunkten durch die Musik zu einer Ausbreitung in der Zeit gebracht, die gleichzeitig eine sehr ruhige Anschauung zuläßt, und diese schließt sich an den Genuß des Tonfalles stilistisch an, wenn sie ähnlich wie im Tanze einen harmonischen Einklang der Bewegung aller Glieder darstellt. ') Die rhythmische Bewegung ist das gemeinsame Element für den musikalischen wie für den mimischen Ausdruck. Deshalb sind unsre ungelenken, einseitig mit der Stimme geschulten Sänger, die ihren Körper garnicht mitbewegen, gerade in dieser Oper so wenig zu brauchen, zerstören den Fluß der Kunstschöpfung durch ihren Stumpfsinn und fallen einfach durch ihre BeweCTunsfslosiorkeit aus der Rolle nicht nur, sondern aus dem Ensemble, oder

^) W. Henke, Vorträge S. iSi,

2 8 Zweiter Vortrags

dem Rahmen des Ganzen heraus. Für diese echte alte Oper war eine bestimmte stark entwickelte Art von Mimik vorausgesetzt, die seit der Renaissance durch Barock- und Rokokozeit hindurch ausgebildet vorlag, aber an der Wende ins 19. Jahrhundert fast völlig ver- loren ging. Diesseits der Alpen kennt man sie fast nur noch in einer Abart des Tanzes, als Menuett, das heute niemand mehr mit ursprünglichem Gefühl aufführt, und andrerseits in einer verwilderten Massenverwertung auf der Bühne, nämlich im Ballett, das um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts, besonders durch die Wirtschaft unter dem dritten Napoleon, zur niedrigsten Stufe herab- gesunken ist. Für die echte Oper wird eine vollendete Kunst der Gebärdung erfordert, die dem auf- und ab- wogenden Rhythmus der Töne und der Wiederholung der musikalischen Motive auch eine entsprechende Wiederholung gewisser Stellungen und Ausdrucksmotive oder Bewegungsfiguren parallel laufen läßt. Die lyrische Ausbreitung des Gefühls kann des Kunstmittels der Wiederholung zum genießenden Verweilen nicht ent- raten, und die mimische Begleitung der Musik muß dies Hausgesetz auf sich nehmen sogut wie der Gesang, auch wo der Sinn der Worte wechselt. Variationen und orna- mentale Umkleidung haben dann für die wünschenswerte Abwechslung zu sorgen, wie die Wiederholung des näm- Uchen Gedankens durch zwei verschiedene Bilder auch in der Poesie z. B. der Psalmen geläufig ist.

Damit erst nähern wir uns der Schwelle des viel- fach eingeengten Bereichs, das noch der Mimik allein gehört. Erst wenn wir alle Zugeständnisse an die Schau- spielkunst dort oder die Tanzmusik hier, an die An- sprüche des Wortdichters auf der einen und des Ton- dichters auf der andern Seite, rücksichtslos abgestreift

Mimik Musik

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haben, erst dann steht die Gebärdensprache frei genug da, um ihr eigenstes im Anlauf zu einer selbständigen Schöpfung zu erproben. Wer kennt sie heute noch als unabhängige Kunst? wer anerkennt sie noch ohne Be- denken als ebenbürtig neben den andern fünf schönen Künsten? Sie, in deren Anfängen wir die Mutter aller übrigen zu erkennen glaubten, gilt sie dem modernen Bewußtsein im Vergleich zu diesen Schwestern nicht als Aschenbrödel ? Selbst bei Ästhetikern, die aus logischen oder historischen Gründen sie noch mitrechnen, bleibt es dabei. Aber eben deshalb schlüpft sie noch ohne Schwierigkeit in die winzigen Schuhe, und wäre gewandt genug, ihr gutes Recht zu ertanzen. Sie wird auch als Prinzessin nicht stolz und hochmütig herabsehen, sondern weiß besser als die andern, wie es den Leuten aus dem Volke, wie es den Kleinen und Bescheidenen im Lande ums Herz ist, wenn sie mitten aus der Arbeit sich nach dem Märchenglanz des goldenen Pantoffels sehnen. Denn noch immer lebt der natürUche Zusammenhang zwischen ihr und den übrigen künstlerischen Betätigungen des Menschen, von den bescheidensten Anfängen der Han- tierung bis zu den höchsten Höhen der Intuition, wie weit auch dieser notwendige Zusammenhang alles Her- vorbringens mit unserm leiblichen Organismus dem geistig entwickelten Bewußtsein des modernen Menschen entfremdet sei. Das bezeugt z, B. grade die modernste aller Künste, die Musik, im Grunde ihres Wesens, wenn wir nur ernstlich versuchen, Einschlag und Kette aus- einander zu halten, aus denen sie ihren Zauber zu- sammenwebt: — ich meine das Ton element dort und das Bewegungs element hier.

Es ist ja wohl eine unleugbare Tatsache, daß wir die Bewegung der Töne nach Analogie einer räumUchen

40 Zweiter Vortrag

auf- und absteigenden Bewegung auffassen, der wir uns selber anheimgeben. Bei keiner andern Bewegungsart tritt aber die Bewegung in solcher Reinheit, so frei von hemmenden Begleiterscheinungen hervor, wie bei der Tonbewegung. Und dazu kommt ihre mit keiner andern Erscheinung zu vergleichende Leichtig- keit. Von diesen verführerischen Eigenschaften des Rhythmus schnell und ganz hingenommen, „ahmt unser Bewußtsein den unendlich Wechsel vollen Tanz der Töne innerlich nach und schwebt in einem körperlosen Räume, von aller Erdenschwere befreit, in einem Reigen seliger Geister auf und nieder." ^) Was ist das anders, als eigene, wenn auch tief im Innern verborgene Mimik, diese räum- liche Bewegung, die mit uns selber vorgeht, indem wir den Tönen lauschen? Ist diese OuaUtät des Musikalischen, eben der Rhythmus, nicht als der vorzügUchste Bestand- teil anzusehen, da er bei den primitivsten Völkern weit- aus den Vorrang vor der Melodie zu haben scheint und bei dem musikalisch höchst gebildeten Menschen nur gereinigt, aber nicht minder hinreißend wirkt? Was sagt denn sonst eine Schilderung wie die Köstlins: „die Tonbewegung schreitet, kreist, schlängelt sich, hüpft, springt, fährt hinauf und hinab, tanzt, wiegt sich, schaukelt sich, bäumt sich, zuckt, rast, wütet hin und her, in größter Leichtigkeit"-) lauter Nachahmungs- bilder unsrer eignen Körperbewegung, lauter Mimik. Aber wir sehen bei all diesen Bildern von dem zweiten Element, dem Klang der Töne, w'illkürlich ab, und diese sind doch auch ein Ausdruckselement, das mit der rhythmischen Bewegung aufs innigste verquickt ist.

1) Groos, Spiele der Menschen. Jena 11S99. S. 34.

2) Ästhetik 560,

Pantomime 41

So leicht und rein freilich wie die Tonbewegung kann die sichtbare Mimik unsrer Körperbewegungen nicht ausfallen. Selbst das wetterwendische Mienenspiel mit seinem überraschenden Wandel und seiner unfaßbaren Schnelligkeit vermag dem Stimmungswechsel des Ge- müts und der Gebärde des Gedankens nur unvollständig zu folgen, weil es an die leibliche Unterlage, auf der es sich vollzieht, gebunden bleibt. Die Bewegung unsrer Gliedmaßen verleugnet die Schwere nicht, der wir im Räume gehorchen. Und dennoch, welch eine Fülle des Ausdrucks steht schon ihnen zu Gebote, wenn sie nur entwickelt und geübt sind zu rechter Zeit. Betrachten wir sie doch einen Augenblick für sich allein!

Wortlos und tonlos verläuft die mimische Darstellung im eigentlichen Sinn, die Pantomime. Und es be- zeichnet sofort ihren wesentlichen Zuschnitt für die zeit- liche Anschauungsform, wenn sie sich von den Hemmnissen der Körpermasse möglichst befreit , um nur die schnelle Aufeinanderfolge ihrer Zeichen desto reicher auszubeuten. Wenn die dunkelfarbigen Wilden weiße Linien auf den Körper malen, um die Stellung der Gliedmaßen zuein- ander auch bei Nacht am Schein des Feuers hervor- treten zu lassen, so wissen sie genau, worauf es bei solcher Mimik ankommt. Es ist die Zurückführung des Leibes auf die entscheidenden Merkmale des Knochen- gerüstes. Die Masse wird außer Betracht gesetzt; das Skelett genügt und wirkt fast allein, wie ein Gliedermann. Ein gleiches bezweckt das umgekehrte Verfahren bei uns Weißen, wenn wir in Schattenbildern die Gestalten in Profilansicht gegen die Leinwand werfen, indem wir sie von hinten beleuchten. Der einfache Kontrast von Schwarz und Weiß genügt. Und solche Silhouetten wirken durchschlagend, ihre Bewegungen drastisch, weil

A2 Zweiter Vortrag

ihre mimische Zugkraft, von allen fremdartigen Bei- mischungen befreit, ganz unmittelbar auf uns eindringt. Gerade so aber muß ein Runenzeichen der Ausdrucks- bevvegung das andre ablösen, muß alles, was gesagt werden soll, sich in Tätigkeit und Gebärdung umsetzen. Je mehr Bewegungsvorstellungen sich drängen, desto mehr erlebt unsre Phantasie die volle Energie des Ge- schehens auch in der stummen Pantomime. Damit ist jedoch die Eigenart solcher Auffühnmg noch nicht er- schöpft. Es wird nicht nur an die Bewegungsvorstellungen und die Beziehungen des einzelnen zu gleich organisierten Wesen oder zu Dingen dieser Welt appeUiert, sondern auch an das Kausalitätsbedürfnis des Betrachters. Je unbestimmter der Raum, wo die Silhouetten erscheinen, ohne weitere Lokalzeichen,, sozusagen nur als Ort in abstracto mitwirkt, desto intensiver sprechen die Figuren selbst und desto eifriger klammert sich die Frage nach dem Wie und Warum an die Personen, und ihre Stellung zueinander wird als Antwort ausgelegt. Die Gruppe wird zur Darstellung eines ursächlichen Zusammenhangs, einer Fabel. Und dieser Kausalnexus kann nur hinter dem Sichtbaren gesucht werden: er entspringt aus dem Innern der Charaktere, aus dem eignen Willen der Individuen, wie im dramatischen Gegenspiel, aber viel elementarer, konzentrierter: als brutale Tatsache, die keiner ausführlichen Motivierung bedarf.

Diese blitzartigen Explosionen der Handlung be- wahren ihre ganze überraschende Kraft eben deshalb, weil die Ausdrucksbewegung sich allein im Gesamtbild des Körpers oder der ausgreifenden Verschiebung der Gliedmaßen vollzieht, nicht aber, begleitet vom Mienen- spiel des Gesichts, eine allmähUche Überleitung und weitere Erklärung empfängt. Ruheloser Fortgang, Schlag

Pantomime

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auf Schlag, ist hier die unentbehrliche Forderung; nur ent- scheidende Abschlüsse werden durch charakteristische Hal- tungbezeichnet und im Stillstand das erreichte Ergebnis ein- geprägt, soweit es im Geist des Zuschauers haften soll. Nur in solcher Pause gelangt auch das Gefühl dazu, sich in die einzelne Situation zu vertiefen; sonst drängt der Wechsel der Erscheinungen unaufhaltsam weiter. Und auch dieser Moment der Ruhe gilt nur der Silhouette, dem durchgehenden Zug der Körperbewegung als Träger des Ausdrucks, nicht der leiblichen Beschaffenheit der Personen sonst. Die Form als räumlich-körperliche Ausdehnung ist für die Mimik eine Vorstellung von sekundärem Wert. Der Funktionswert aller Teile ist ihr die Hauptsache, also bevorzugt sie den Kontur, und diesen wieder in Profilansichten; was darinnen als Füllung vorhanden ist, bleibt gleichgültig. Ja, der Mangel an leiblicher Rundung und Fülle, die Gestrecktheit der Arme und Beine, das klare Hervortreten des motorischen Apparats in ausgiebiger Gelenkigkeit, das sind die Eigen- schaften, die sie sucht und verwertet. Die ältesten griechischen und etruskischen Vasenbilder, die schwarz- figurigen besonders, bezeugen „die ausgesprochene Vor- liebe für stärkste Bewegungen", die dem Stil der Panto- mime entsprechen. Immer aber wirkt der ganze Mechanis- mus in allen seinen Teilen einheitlich zusammen. Ein Fluß der Bewegung durchströmt gleichmäßig die Glieder im Vollzug der Tätigkeit oder der Gebärdung. Vielleicht ist es nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten, daß die volle Entfaltung des ausgreifenden Gebarens das Haupt- absehen sei, das schon der Verständlichkeit zuliebe in Rücksicht auf weiter entfernte Zuschauer vorzugsweise zur Geltung gebracht werden muß. Auf Treffsicherheit und Vollwirklichkeit der Leistung komme es dagegen

44 Zweiter Vortrag

nicht an; denn es handelt sich eben um Mimik, d. h. um Spiel, es wird nicht Ernst gemacht trotz aller In- tensität der Wirkung auf die Phantasie. Oder vielmehr wegen dieser ohnehin schon starken Zugkraft der Panto- mime kann die Durchführung in andre Sinnesgebiete, die sonst der weitern Beglaubigung zu dienen pflegt, unterbleiben, z. B. in Farbe, Stofifunterschiede, Ortsver- hältnisse fürs Auge, oder in begleitendes Geräusch und sonstige Schallwirkungen fürs Ohr.

Unerläßliche Bedingung für die successive An- schauung, an die das mimische Kunstwerk sich wendet, ist daher der zusammenhängende Verlauf in der Zeit. Bewegungsfortgang in allen Teilen ist ihr Hausgesetz, dem sich alles übrige unterordnen muß, also das Er- lahmen des Geschehens der schlimmste Fehler, ein Still- stand der Handlung das gefährlichste Wagnis. Alle retardierenden Faktoren müssen wieder in Bewegung übersetzt, also Abschweifungen, verschlungene Seiten- wege, die wieder in den Hauptvveg einmünden, oder gar rückläufige Wiederholungen müssen Folge werden, wie die Eisenbahn mit Schleifen das Hindernis ein^s Berges überwindet. Wenn nun die Kontinuität der Zeit- vorstellung sich erfüllt und keine klaffende Lücke ge- fühlt wird, ist gar labyrinthische Verschlingung frei- gestellt. Aber das Tempo der Darstellung kann sich beschleunigen oder verlangsamen nach Bedarf, wie der Lauf eines Flusses, der doch nimmer zur Ruhe kommt.

Dies Hausgesetz der fortlaufenden Gebärdung, das für die Pantomime in ganzer Strenge gilt, wird uns erst recht überzeugend, wenn wir beobachten, welcher Wandel sofort eintreten muß, sowie sich die Mimik mit einem neuen Ausdrucksmittel, z. B. mit der Laut- Sprache verbindet. Im Schauspiel, das ein Dichterwerk zur

Mimik und Poesie

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leibhaftigen Anschauung bringt, übernimmt das Wort einen Teil dieser Leistung, und bald genug den Löwen- anteil an der ganzen Aufführung. Das gesprochene Wort, die sinnvolle Rede, der poetische Inhalt, gewinnen die Oberhand. Und die gegliederten Sätze, die rhyth- misch bewegten Verse sind das zeiterfüllende Element, neben dem die Zeichensprache des Mimen zurücktritt.

Die Mimik des Schauspielers wird auf eine ganz andre Ökonomie angewiesen. „Paßt die Gebärde dem Wort, das Wort der Gebärde an!" rät ihr Hamlet. Aber bei dem scheinbar gleichberechtigten Zusammen- wirken bleibt es nicht. Schmiegt sich die Gebärde dem Wort oder das Wort der Gebärde gleichzeitig an, so entsteht ein einiges Paar, das als Einheit aufgenommen wird. Aber so sehr auch beide Elemente, das mimische und das sprachliche, miteinander verschmelzen , das Ganze wird doch nach der Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks bewertet. Der Sinn des W^ortes gibt den Ton an. Das Wort ist nun aber selbst schon eine höhere Ein- heit aus Laut und Gebärde, es vereinigt schon deren Vor- züge. Und die Rede vollends fließt schneller als die Körperbewegung; der Vorstellungslauf, den das Gehörte hervorzaubert, ist so viel mächtiger: er reißt die Phantasie des Zuschauers zum Fluge dahin. Also das Gebaren des Schauspielers kommt in die Verlegenheit nebenher zu hasten oder gar nachzuhinken. Der reiche Strom des sprachlichen Ausdrucks unterbricht den Fluß des mimischen, der beim einzelnen oft nur einem schmalen Rinnsal gleicht. Die Beweglichkeit der Zunge läuft allen andern Gliedern den Rang ab, und das Gebaren des Körpers ward wohl zeitweilig matt gesetzt. So trennen sich die Wege.

Dazu kommt noch das eio'entümliche Wesen des

Ajß Zweiter Vortrag

Affekts, der die Glieder lähmt. Die Haltung verharrt vielleicht in strammer Positur oder in zeitweiliger Er- schlaffung, bleibt also unbewegt. Dann regt sich ein einzelner Teil, tut etwas oder driAckt etwas aus. Schweigt die Rede dabei, so fällt dies einzelne desto entschiedener und bestimmter ins Auge, wirkt es mit aller Energie als mimische Potenz. Aber es liegt in der Natur dieses vereinzelten Heraustretens, daß es nicht allmählich und in gleichmäßig vorbereitender Entfaltung geschieht, son- dern ruckweise und plötzlich. Wir wenigstens halten gern das unerwartet hervorbrechende Gebaren für den aufrichtigem und wahrern Ausdruck. Je unwillkürlicher, je ungebärdiger es auftritt, desto überzeugender wirkt es auf uns. Wir erschrecken wohl gar und nehmen das Wahrzeichen elementarer Kraft einfach als Tatsache hin, grade wie ein Naturereignis. Der dunkle Schoß kann, ehe wirs denken, noch mehr Überraschungen gebären, wie Drachensaat aus dem Boden scliießt, ein gewappneter Krieger nach dem andern dasteht zum Kampf bereit, oder wie die schwarze Wolke dort mit Blitz und Donner heraufzieht.

Jede Verschiebung in der Lage der Gliedmaßen zu- einander • oder zum Rumpfe, jede plötzliche Veränderung des Standorts u. s. w. stellt sich im mimischen Verlauf als abgesetzter Moment der fortschreitenden Handlung dar. Es sind einfache und deutliche Akte, die wir so- fort verstehen. Und sehen wir sie auch garnicht ent- stehen, so w'irkt das Ergebnis der Bewegung als fertige Tatsache; denn mit ihm ergibt sich bei diesem abge- setzten Tempo ganz von selbst ein Ruhepunkt für die Auffassung. Solche Pause der Überraschung und der Abfindung mit dem Geschehnis wirkt aber, auch wo die simultane Anschauung sich ihr Recht nimmt, nicht

Mimik

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als unausgefüUter Zeitraum, nicht als Lücke in der successiven Darstellung selber. Das liegt an der Intensität des Eindrucks und der Bedeutungsschwere des Moments. Die vollendete Tatsache, der erreichte Abschluß wirkt eine Weile kräftig genug nach, erfüllt eine Spanne Zeit mit einem mannichfaltigen Hin- und -Wieder der Vor- stellungen im ganzen Umkreis der betroffenen Stelle. Es hängt somit von der Tragweite des Aktes ab, wie lange der Stoß noch nachzittert und den Intervall mit in Anspruch nimmt. Man denke nur bei heftigster tragischer Erschütterung ein plötzliches Zusammenbrechen mit einem Schrei. Der Tumult von Gefühlen und Ge- danken braucht eine ganze Weile, bis wir wieder für neue Reize verfügbar werden.

Aber auch die einzelne Gebärde, eine Streckung des Armes, eine Wendung des Kopfes nach einem Ziele ward vom Augenzeugen ebenso als Moment der beständig fortschreitenden Handlung aufgefaßt, ohne daß diese deshalb angehalten zu werden brauchte, Die übrige äußere Erscheinung des Menschen wird im Moment eines solchen Aktes nicht mehr und nicht weniger be- merkt als die andern Dinge, die auch in unserm Sehfeld stehen. Sie alle fallen ab gegen den besondern Inhalt, der unsern Sinn erfüllt. Die zugehörige Person ist nur Träger des Signals und gehört ihrerseits zur Umgebung, die höchstens als FoHe mitwirkt, bei stärkerer Spannung unsrer Aufmerksamkeit auf den einen mimisch sprechen- den Teil aber beinahe völlig verschwindet. Versinkt doch in solchem AugenbHck aller übrige Inhalt unsrer Seele auch vor dem grellen Licht des einen strahlen- den Funkes, der unser Bewußtsein hinnimmt, in volle Dunkelheit.

Erst wenn die Spannung sich löst, kehrt unsre Auf-

3 Zweiter Vortrag

merksamkeit auch zu dem Träger des Ausdrucks zurück und nimmt sozusagen in der Identität der Person den Faden des weitern Zusammenhangs wieder auf. Ihr Anblick erhält uns den bleibenden Charakter durch alle Wandlungen gegenwärtig, als den beständigen Unter- grund seiner vorübergehenden Erlebnisse, in denen er die Übereinstimmung mit sich selbst bewährt, in mancher- lei Anfechtungen die Eigenart seines Wesens behauptet oder verliert. Versuchen wir aber, uns Rechenschaft zu geben, wo wir diese Einheit der Person eigentlich suchen, so merken wir bei dieser Art von Mimik wohl bald, daß der Urquell aller Ausdrucksbewegungen immer im Innern der Person, in ihrem ethischen Kern angenommen wird, d. h. nicht in der sichtbaren Erscheinung ihres Leibes, die vor uns steht, sondern in einem unsichtbaren geistigen Zentrum hinter ihr, wenn uns auch die An- wesenheit des Körpers als äußerliche Bürgschaft seiner Gegenwart gilt. Alle Gebärden sind nur Symbole seelischer Werte, alle Bewegungen nur Wahrzeichen des Innern Lebens. Das sinnlich Wahrnehmbare ist nur Vermittlung, und aus der geheimnisvollen Tiefe stammen auch die unberechenbaren Ausbrüche des Dämonischen, als dessen Werkzeug nur das Individuum dient, das da mit Armen und Beinen um sich greift, so weit sie reichen wollen.

Indessen, die entwickelte Mimik, sei es im Schau- spiel, sei es in der Pantomime, geht weiter in der Aus- breitung ihrer eignen Mittel, die wir bis dahin nur als Körperbewegungen vornehmlich für den fernerstehenden Beschauer betrachtet haben. Sie will auch des Mienen- spiels im Antlitz nicht entraten. Und wie sollte sie lange darauf verzichten, wenn gar gesprochen wird? Muß sie doch dem beweglichen Gesicht des Schau-

Maske Mienenspiel aq

Spielers eine unbewegliche, wohl gar in bleibender Ver- zerrung die Natur entstellende Maske vorlegen, um es auszuschheßen. Daß sie es tatsächhch auf der antiken Bühne so lange getan, spricht freilich dafür, daß sie gute Gründe hatte, diese künstliche Vorrichtung beizu- behalten, und diese Gründe sind gewiß nicht allein in der Verstärkung des Schalles, d. h. in der Rücksicht auf den hörbaren Teil der Aufführung zu suchen, sondern erst recht vielleicht im sichtbaren, im Interesse der Mimik als Kunst. Da liegt ein Scheideweg zwischen den Künsten, da der Übergang zu einem Neuen. Mit der Betrachtung dieses kritischen Wendepunktes wollen wir das Folsrende einleiten.

Schmarsow, Kunst und Erziehung.

DRITTER VORTRAG

Wo die starre Maske fällt und die lebendigen wandelbaren Züge nun an die Stelle treten, da ergeben sich sogleich wieder entscheidende Folgerungen. Der Schritt zur vollen Wirklichkeit läßt sich nur hinhalten. Alles drängt dazu, ihn zu wagen. Versuchen Sie nur einmal, sich den Unterschied klar zu machen, auch da, wo wir die Pantomime für sich verfolgen und der Entstehung des mimischen Kunstwerks in seiner Un- abhängigkeit nachgehen, frei vom beherrschenden Wort oder vom begleitenden Tone! .... Und mit dem be- wegHchen Angesicht des Menschen in seinen natürlichen Formen, seinen lebenswarmen Farben, ist auch der Körper vollständig da mit seiner Rundung; es ist, als ob der Kopf auch zur eigentümlichen Gestalt aller einzelnen Glieder weiterdränge und die Farbe, das Leben in seinen Zügen auch den Pulsschlag des Blutes fordere durch das Ganze hin. Das Menschenantlitz als Schau- platz der feineren, nur für näheres Dreinschauen sicht- baren Metamorphose, zieht sozusagen die natürliche Er- scheinung der ganzen zugehörigen Gestalt nach sich: alle Teile wollen intimer mitsprechen, selbst durch die Hülle der Kleider, die uns die gleichgefärbte Oberfläche noch verbirgt, hindurchblicken. Da wjrkt nicht mehr Bein zum Beine nur, sondern Fleisch und Blut zugleich.

Von Mimik zur Plastik

51

Nun erst wird die typische Person zum besondern Exemplar auch im leiblichen Sinne. Nun erwacht der Anpruch, in diesem Einzelwesen den Vollgehalt des Daseins bewährt zu sehen, aber bald auch der weitere, das Individuum nach dem Wert seines Lebens zu be- fragen, es nur dann als abgerundete Persönlichkeit an- zuerkennen, wenn die Gebärde dem Gehalt, der Gehalt den Formen entspricht. Dann spielt, auch bei der stummen Mimik schon, die Gesamterscheinung des Körpers als solche wesentlich mit, und übernimmt wohl gar die unentbehrHchste Rolle. Und diese Schaustellung der LeibHchkeit in mancherlei Bewegung hat ein selbst- verständliches Interesse daran, sich nicht nur in rast- loser Verwandlung, sondern auch in Ruhe zu zeigen, nicht wie ein Proteus, der uns immer unter den Händen entschlüpft, wenn wir seine wahre Gestalt zu fassen meinen, sondern als festumschriebenes Ding im Räume, das standhält, so und so aussieht und nicht anders. Dann wird die Gestikulation zur Geste, die vorüber- gehende Stellung unvermerkt zur beibehaltenen Pose. Das Gewächs des organischen Leibes bietet sich selbst zur Augenweide dar, oder wir heften unsrerseits die Blicke daran, vergessen alles übrige umher und nehmen uns aus eigner Machtvollkommenheit die Muße, es an- zuschauen nach Belieben. Damit verändert sich der Stil der Pantomime durch und durch.

Natürlich wird auch hier, wie uns der geistvolle Anatom Wilh. Henke belehrt, durch die augenblickliche Haltung des Körpers ein Moment des Lebens, eine Handlung oder Stimmung, ein Tun oder Leiden des Menschen zur Anschauung gebracht. Aber es geschieht in Rücksicht auf die Harmonie, die sich in dem Bau und in der Verbindung der Glieder des menschlichen

C2 Dritter Vortrag

Leibes darstellt, und zwar derart, daß die Stellung nach einer einheitlichen Absicht so motiviert wird, wie sich dies im natürlichen normalen Gebrauch der Glieder aufs einfachste und zwangloseste ergibt. Mit Kraft und Sicherheit, aber ohne unnötige Anstrengung, werden sie so geordnet, daß man erkennt, wie sie völlig dem Im- pulse der Handlung folgen, zu der sie eben gebraucht werden. Damit erhält zugleich der Gesamtumriß der Gestalt einen gefälligen, harmonisch in sich abge- schlossenen Grundzug, der die Schönheit ebenso zur Geltung, wie den Ausdruck leicht zum Verständnis bringt. Es ist ein frisches, volles leibliches Leben, eins mit sich und seiner Seele bis zum letzten Hauche, das sich in dieser Einheit der Bewegung aller Glieder offenbart. ^) Diese Rücksicht auf die freie und volle Entfaltung des ganzen Gewächses hat ihren Einfluß auf viele Be- wegungen, die ein- für allemal zu einer regelmäßig wieder- kehrenden einfachen Aktion zusammenzuwirken haben, wie die Gangart, das Hinsetzen und Aufstehen, ja das zu Boden Sinken und Fallen. Aber auch die Beteiligung der Glieder an den eigentümUcher mimischen Akten, den Gebärden, die irgend einen Gedanken, eine Stimmung oder Handlung begleiten und durch ihren Ausdruck andeuten, ist dann stets eine einheitliche, so daß kein Glied in seiner augenblicklichen Lage ohne Anteil an dem Impulse bleibt, der die ganze Bewegung bestimmt. Wird nun aber in diesem Stile der Mimik eine zusammen- hängende Aufführung von größerem Umfang geschaffen, so kann nicht immer der geeignete Inhalt da sein, der zu seinem Ausdruck alle Gliedmaßen so oft und so viel zur Anwendung zu bringen heischt. Dann werden

1) a. a. 0. S. 167.

Von Mimik zur Plastik

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Stellungen und Bewegungen nur um ihrer selbst willen ausgeführt, d. h. sie haben dann keinen weitern Zweck als den der Augenweide. Die Folge ist, daß sich auch die Glieder dazu nicht besonders anstrengen; sie haben kein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern sich nur gegenseitig in ein gefälliges Gleichgewicht zu setzen. Das gibt ihnen dann maßvolle, weich fließende Bie- gungen, zeigt die ganze Gestalt immer in wohltuend- harmonischem Umriß; aber es kann nicht ausbleiben, daß Anmut und Würde, die damit erreicht werden, auch bald einförmig und nichtssagend wiederkehren. Wird dann vollends mit dieser Art von Gliederbewegung und Linienfluß weitergearbeitet auch da, wo geistig ver- wickeitere Handlungen und Stimmungen darzustellen sind, so bleibt die leere Form übrig, die Grazie wo sie nicht hingehört, wo vielmehr die angestrengteste Unterjochung der leiblichen Organe durch die Innern Erregungen am Platze wäre. Mit einem Wort, es liegt die Gefahr nahe, aus der darstellenden Kunst in be- gleitende Ornamentik zurück zu verfallen.

Damit pflegt fast regelmäßig eine zweite Eigen- tümlichkeit Hand in Hand zu gehen, die sich auf den zeitlichen Verlauf bezieht. Gleichermaßen, wie sich die Bewegung im Räume auf die verschiedenen Glieder des Körpers verteilt, ist sie auch in der Zeit ausgebreitet, so daß der Verlauf der Biegungen und Verschiebungen, die sie den Konturen des Körpers gibt, sich mit einer gewissen Breite vor dem Auge vollzieht , so daß es ihren Wandlungen bequem folgen kann. Dies geschieht freilich bald in einem schnellern, bald in einem lang- samem Tempo, je nach der Heftigkeit oder Gemessen- heit der augenblicklichen Aktion, aber immer mit einer gewissen Beständigkeit, so daß die Zeit der Handlung

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Dritter Vortrag:

von dem Verlaufe der Bewegungen, die sie begleiten, ausgefüllt wird. Daraus erwächst dem Fortgang der successiven Auffassung, auf die das mimische Kunstwerk in erster Linie zugeschnitten werden muß, eine weitere Gefahr. Sowie die Handlung in lebhafteres Vorwärts- drängen kommt, haben wir nicht Zeit, unser Auge bei solchem Anblick verweilen zu lassen. Und mehrt sich gar die Anzahl der Mitspieler, so daß größere Gruppen und ausgedehnte Massen entstehen, so brauchen wir einen Stillstand, in dem sich die Lage der Teile nicht ändern darf, aber auch sonst nichts geschehen sollte, das uns dringender angeht, also eine Art lebendes Bild, ein mimisches Tableau.^)

Das heißt, wir kommen mit diesem Stil der Mimik durch die Rücksicht auf harmonische und offene Ent- faltung der ganzen menschUchen Figur unverkennbar an die Grenzen wieder andrer Künste, und büßen, je mehr wir dieser Rücksicht nachgeben, die eigentümlichen Vor- züge der Mimik ein. Es ist in erster Linie nicht mehr die Körperbewegung, sondern die Körperform, der wir huldigen, und diese darzustellen ist das Hausrecht der ruhigeren Schwester, der Körperbildnerin, die

wir Plastik nennen.

* *

1) Ich habe mich in dieser Analyse des „plastischen" Stils der Mimik möglichst an die Ausführungen des Anatomen Henke über die „zwei Arten von Stil in der Kunst der Mimik" angeschlossen, die sich jedoch mehr auf die Schauspielkunst beziehen. Henke vergißt in seinem Versuch, Lessingschen Bestimmungen nachzugehen leider die Frage, wie denn die Mimik als selbständige Kunst verfahren müsse, wo sie mit ihren besondern Mitteln allein auszukommen und damit ihre eigensten Wirkungen auszuüben trachtet. Da ist Kontinuität der Gebärdensprache die unerläßlichste Vorbedingung, also ein inter- mittierendes Verfahren aus";eschlossen.

Von Mimik zur Plastik

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Der entscheidende Umschlag , durch den diese Wendung von der einen Aufgabe zur andern bedingt wird, liegt in der Verlegung des Schwerpunktes unsrer menschlichen Auffassung angesichts des nämhchen Gegen- standes. Dieser bleibt derselbe: die menschliche Gestalt. Aber in unsrer Anschauungsweise gleitet das Über- gewicht allmählich aus der einen Wagschale in die andre, d. h. von der successiven zur simultanen Form, von der zeitlichen Vorstellung in die räumliche hinüber. Und die unvermeidliche Folge wird sein, daß auch die künstlerische Darstellung sich von dem einen Pol ent- fernt und auf den andern zustrebt, d. h. nicht mehr Bewegung, sondern Beharrung als letztes Ziel zu er- reichen trachtet, freilich wie sich von selber versteht ohne je den andern Faktor völlig auszuschalten. Das zweite Element bleibt bestehen, wie die andre Wag- schale; es tritt nur als das leichtere hinter das ge- wichtigere zurück. Denken Sie nur auf der einen Seite den mimischen Tänzer, wie einen gelenkigen Hampel- mann, der beim leisesten Zucken an der Schnur schon alle Glieder bewegt, und gegenüber auf der andern Seite das kolossale Standbild eines ägyptischen Gottes, den starren kalten Granitblock: das Gemeinsame zwischen beiden Extremen ist doch die Erscheinung des Menschen, die beide wiedergeben, nur unter zwei grundsätzlich ver- schiedenen Gesichtspunkten. Oder möchte man nicht sagen von zwei verschiedenen Seiten? Wenn in dem mimischen Kunstwerk, das wir betrachtet, das Innere vorwaltete, so kehrt sich das plastische Kunstwerk ganz auf das Äußere. Suchten wir dort die Seele hinter ihrem Ausdruck in der Zeichensprache, so erscheint hier der Körper als Hauptsache. Fast möchte man den Unterschied auf die Spitze treiben und behaupten:

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Dritter Vortrag:

handelt es sich dort um den Inhalt, so gilt es hier der Form. Indes, eben damit drängen wir auch die not- wendige Ergänzung hervor: keine Form ohne Inhalt, kein Körper ohne Seele, kein Äußeres ohne Inneres, soweit unsre menschliche Erfahrung reicht. Und diese naive menschliche Vorstellungsweise, die von toter Natur nichts weiß, behält auch hier ihre Gültigkeit. Das eben bringen wir uns zum Bewußtsein, wenn wir den all- mählichen Übergang von der einen zur andern Kunst, von Mimik zur Plastik beobachten, und feststellen, daß er sich zunächst auf den Vorrang des ruhigen Schauens vor dem beweglichen abtastenden Sehen zurückführen läßt.

Auf lange hinaus waltet noch dieses Zusammen- wirken unsres Tastsinnes mit dem Sehorgan vor. Der beweglichen Menschengestalt, die eben durch ihre Bewegung uns ins Auge fällt und unsre Aufmerksamkeit auf sich zieht, kommen wir mit dem gewohnten Ver- fahren unsrer Sinne wie jeder andern Erscheinung ent- gegen. Wir spähen mit eifriger Spannung nach jedem Wahrzeichen des Lebens; denn wir verlangen zuerst schon in wachsamer Sorge des Selbsterhaltungstriebes zu wissen, wie weit das andre Ding da uns gefährlich werde, wie weit seine Annäherung uns bedrohe, seine Berührung uns gar verderben könne. Erst wo diese Wachsamkeit sich beruhigt oder von vornherein außer Spiel bleiben darf, beginnt auch die freiere Teilnahme für das gleichorganisierte Wesen. Nun folgen wir der verwandten Gestalt, die sich unter unsern Augen ge- bärdet, in allen Veränderungen und Verschiebungen der Gliedmaßen mit unserm schweifenden Blick, der immer den Gesamtumriß und die großen Abweichungen der Hauptteile von ihrer gewohnten Stellung und Lage ver-

Die Menschengestalt c^

gleichend zu ermessen strebt. Sowie wir auch die Ge- sichtszüge zu unterscheiden vermögen, lockt uns die Kontrolle dieser bedeutsamen Signale näher und näher, dem beweglichen Ausdruck auch sonst im einzelnen nachzugehen , zu den kleinen Unterschieden in der Rundung der Glieder und im Charakter ihrer Formen. Dieser bewegliche Ausdruck löst alsbald wieder die Vor- stellung einer Innern Ursache aus, die hinter der Ober- fläche liegt, wie wir zuvor bei der mimischen Gesamt- erscheinung uns eingestanden. Man sollte meinen, der unbefangene Beschauer sehe doch zunächst nichts weiter als die Erscheinung der Außenseite, wie sie, sich dar- bietet, d, h. nichts als die glatte Oberfläche der Menschen- gestalt, und sei vollends damit zufrieden, wenn sie, be- kleidet wie gewöhnlich, vor ihm auftritt. Die Mehrzahl begnügt sich auch in der Tat lange, oft ihr Leben lang, mit solchem Eindruck des Ganzen im Allgemeinen, und kommt über die summarische Auffassung niemals hinaus. Sie merkt garnicht, daß die beweglichen Züge des Ge- sichts zu solchem Kleiderstock in starkem Gegensatz stehen; denn sie kennt das Verhältnis garnicht anders und ist durch Gewohnheit dagegen abgestumpft.

Deshalb folgte der Gang unsrer Betrachtung auch lieber dem Wege, den wir eingeschlagen, über das mimische Schauspiel, und rechnete den Wandel der Auffassung vom Hinzutritt des Mienenspiels nach. Da- mit rückte der Standpunkt des Beschauers dem Schau- platz ausdrucksvoller Bewegung, dem verwandten Men- schenantlitz mit seinen natürlichen Farben, so nahe, daß von selbst die Beobachtung eingehender und vertrau- licher wird. Die Verschiebung der Innern Gesichtsteile zueinander, der Hautoberfläche wie der weichen Füllung zwischen dem festen Bestand, bietet auf so engem Raum

58 Dritter Vortrag

die allerwichtigsten Symptome. Hier schult sich das Auge für die leisesten Abstufungen im Vortreten der Form oder Zurückweichen der Fläche, in der Glätte oder Fältelung. Und schon die Wörter, die unsre Sprache dafür verwendet, offenbaren uns wieder, wie alle Erscheinungen als Ergebnisse einer Wirkung aus- gelegt werden, die von innen ausgeht. Immer steht die spontane Tätigkeit dahinter, wenn wir von der Strammung oder Spannung, vom Runzeln der Stirn oder von auf- geworfenen Lippen , vom Blähen der Nasenflügel oder gar vom Nasenrümpfen sprechen, oder wenn wir die tausend kleinen Veränderungen der Hautfalten um die Augenhöhle oder in den Lidern als Wirkungen des Blickes beschreiben und mit seelischen Regungen ver- quicken. Diese unbewußte und unkontrollierbare Mit- arbeit unsrer menschlichen Vorstellungsweise und der nimmer ruhenden Einbildungskraft erstreckt sich dann weiter auf die übrigen Teile des Körpers, soviel wir deren zu Gesicht bekommen. Das gilt in erster Linie von der Hand, deren GUederung und Ausdruck uns wahrscheinlich schon viel eher beschäftigt und not- wendiger auffallen muß, zumal bei primitivem Zustand, wo die beweghche Mimik der Gesichter noch nicht so entwickelt ist, wie bei der Hand, die durch mannichfaltige Leistungen in jedem Augenblick geschult wird, und im Gebrauch ihrer Finger bei jeder Arbeit auch ihre Form und ihr Gebaren verwandelt. Eine sehnige langfingrige Hand weckt mit jeder kleinen Streckung oder Krümmung die Vorstellungen ihrer Tätigkeit und behält dies Ge- präge der Möglichkeiten auch in ruhigerm Zustand. Sowie sich der leiseste Anlauf der zugreifenden oder sich ausstreckenden Bewegung meldet, so regt sich auch die damit zusammenhängende Körperempfindung

Antlitz und Körperformen Cg

in uns, und wir übertragen den Willensakt in den fremden Zusammenhang, von der Hand in den Arm, vom Arm in den Rumpf und weiter an den Ursprung der ziel- strebigen Muskelkontraktion; wir erwarten die Leitung, die Richtung gebende und Ergebnis messende Instanz im Kopfe, wir nehmen als selbstverständlich die gleichzeitige Mitwirkung des Blickes an. Damit aber überträgt sich diese Durchdringung mit den eigenen Organgefühlen auch auf die übrigen zwischen Kopf und Hand ge- legenen Teile, und das Interesse, sie wirklich mitwirken zu sehen, wo wir nahe und ruhig genug beobachten können, meldet sich immer bestimmter.

Zur vollen Befriedigung gelangen wir bei diesem ent- lang gleitenden und abtastenden Verfahren unsrer Betrach- tung erst dann, wenn zu dem freien Anblick des Gesichts und der Hand auch die Nacktheit der übrigen Teile hin- zutritt. Welch eine wichtige Rolle spielen nun aber in andern Betätigungen die untern Extremitäten, die Füße nicht allein, sondern die ganzen Beine bis an die Hüften hinauf Bestimmte Arbeitsleistungen und Kraftproben, die grade im Vollzug und Gelingen die größte Be- friedigung gewähren, sind schon für die Vorstellung des zweckentsprechenden Verlaufs und des wohlberechneten Ineinandergreifens aller Teile kaum noch von dem Bilde des innern Zusammenhanges der Glieder und der Spannung oder Lösung der Muskellagen zu trennen, auch wenn dies Erinnerungsbild natürlich weder die Schärfe noch die Genauigkeit anatomischer Anschauung erreicht. Es drängt doch, die Kleiderhülle sozusagen wegzudenken, und schiebt den unbestimmten Eindruck der nackten Formen an die Stelle. Sowie aber die wirkliche Be- obachtung des Vorganges stattfindet, wird dieser Anreiz zu eingehendem Verfolg des „Mechanismus" sich sein

60 Dritter Vortrag

Recht nehmen, und da wir das Knochengerüst oder den Muskelzug nicht freilegen können, ja mit unserm Be- dürfnis garnicht so weit gehen, so entschädigt sich das Auge jedes formfühligen Menschen an der Oberfläche, sucht auch unter dem Kleidungsstück und dem an- liegenden Zeug die natürliche Form und fühlt sie mit dem Auge heraus, die Schwellung des Schenkels, der Wade dort, die fest umschriebene Rundung des Kniees hier, die durchgehende Streckung des Beines oder das mannichfaltige, elastische Heben und Senken des Fußes begleitend, als wären sie ein Stück von uns.

Erst allmählich lernen wir von dieser wechselnden Vorstellung der beweglichen Gestalt und ihrer tätigen GHedmaßen die bleibende Formvorstellung unterscheiden, die dem Zustand der Ruhe sich anbequemt. Ich sage absichtlich so: sich anbequemt; denn es geschieht allmählich und nicht ohne Anstrengung, auf Befehl unsres Verstandes. Man glaube ja nicht, daß wir zuerst die feste Form uns einprägen und dann zur bewegten vor- schreiten, wie nach regelrechter Schulmethode; sondern wir erobern sie gerade umgekehrt, und was dabei schheßlich als sogenannte feste Form des angeblichen Normalzustandes herauskommt, ist fast immer mehr ein logisches Postulat, ein auf Kommando hervor eskamotierter Begriff, als eine klare und konkrete Formanschauung. Mit welchem Aufwand an Mühe gelangt dazu einerseits der Naturforscher, andrerseits der Künstler. Dem Laien bleibt sie fast immer fern und verschwimmt zeitlebens mit Bewegungsvorstellung und Modalitäten der Funktion, die zufällig das Erinnerungsbild bestimmen. Das ist gar kein Wunder, im Gegenteil ganz natürlich und selbst- verständlich. Wir modernen Menschen erstaunen nur darüber, weil die Wissenschaft seit Generationen an uns

Menschliche Auffassung 5l

herumgedoktert hat, uns einzupauken, wie wir uns die Dinge eigentlich denken sollen. Das ist gerade wie jemand, der durch ein abgelegenes Pförtchen ins Haus eingetreten und Hintertreppen hinaufgestiegen ist, dann aber, vorn aus dem Fenster herausschauend, zu seinem Befremden gewahr wird, daß auf dieser Seite der Haupt- eingang groß und breit vorhanden ist. Daß sich noch immer die alte Erbsünde unsrer sogenannten Sinnes- täuschungen und falschen Vorstellungen behauptet, ist auch weiter kein Unglück; denn sie ist der fröhliche Quell, mit dem wir Menschenkinder die ganze Natur um uns her beleben.

Es ist schon ein großer Schritt über diese mensch- liche Auffassung hinaus, wenn wir uns um die materielle Beschaffenheit der Erscheinungen kümmern, nach dem Stoffe forschen, aus dem sie bestehen. Dann hört der Baum in unserm Walde unvermeidHch auf, aus Fleisch und Blut zu bestehen wie wir, und uns warm wie unsers- gleichen anzumuten; er wird Holz. Ein weiterer Fort- schritt in dieser Richtung zeitigt eine noch verhängnis- vollere Frucht vom Baum der Erkenntnis, wenn unsre Wißbegierde auch die Frage nach den Bedingungen aufwirft, die dieser andre uns fremde Stoff mit sich führt. Wie weit der Stoff die Besonderheit des Eindrucks bestimmt, und wohl gar die Form des Gegenstandes bedingt. Dann wird der Baumriese, der mit seinen ge- waltigen Armen über dem Menschensohn rauschte, zum hölzernen Stamm, wird das Götterbild, das ihn ange- schaut, zum steinernen Fetisch, kalt und starr. Aber weit gefehlt , wenn uns moderne Künstler gar weis- machen wollen, das erste, was wir aus den Erscheinungen lesen, sei Raum und Form, und die Vorstellung des Raumes und der Form sei die elementarste und not-

52 Dritter Vortrag

wendigste , die an den Anfang der ästhetischen Auf- fassung gehöre. Sie sind im Gegenteil psychische Leistungen höheren Grades, Ergebnisse einer ausgereiften Synthese, die erst ein langwieriger Prozeß der An- näherung von der Bewegung zur Beharrung hin über- haupt ermöglicht. Und immer bleibt, zum Glück für unser Gefühl, auch in der ruhigen abgerundeten Form „das Gepräge einer Tätigkeit in latentem Zustand",^) der Ausdruck beweglichen Lebens erhalten.

„Stark entwickelte Kinnladen machen den Eindruck von Kraft und Energie, weil wir bei starken Willens- äußerungen die Kinnladen aufeinander pressen und ihre Muskulatur anspannen, so daß sie hervortritt. Weil sie in diesem Falle stark wirken, so entsteht bei an sich starken Kinnladen diese Erinnerung an den Willens- zustand, und wir empfinden in ihnen den Ausdruck der Kraft. Ein zusammengezogener Wulst von Stirnmuskeln erscheint als Ausdruck des Zornes oder der Anstrengung, weil wir in solchem Zustand ein derartiges Zusammen- ballen zwischen den Augen vollziehen." So behält auch eine Stirn, wo dieser Wulst im Ruhezustand vorhanden und durch den Knochenbau oder eine Wucherung ver- anlaßt ist, den Ausdruck der Kraftentwicklung. Was die Form für uns aussagt, ist also Wahrzeichen innerer Vorgänge; es braucht ihr durchaus nicht beim vorliegenden Fall wirklich zuzukommen. Der Kerl mit seinen starken Kinnladen kann ein schwacher Mensch sein, der Schauspieler, dem es gelingt, die seinigen weiter vorzuschieben, wirkt so lange täuschend als Mohr

1) Ad. Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst, Kap. VI. Vgl. dazu Schmarsow, Plastik, 'Malerei und Relief- kunst, Kap. II.

Formensprache Motiv 6 2

von Venedig. Immer kommt es nur darauf an, daß der Anreiz zur innern Nachahmung bestimmter Vorgänge vermittelt werde, sei es durch die feste Form oder die momentane Gebärdung. In allen Fällen wird die Er- scheinung als eine entstandene aufgefaßt und ihr Leben besteht in diesem Anklang an Bewegungsvorgänge, die wir im Anschauen nacherleben. „Das Leben einer Hand im Ruhezustand wird in ganz derselben Weise erfaßt und vermittelt, wie das der Hand in Aktion. Es existiert darin kein Unterschied im innern Vorgang", gesteht Adolf Hildebrand. „Die agierende Hand ist nur noch stärkerer Ausdruck gewisser Funktionsvorstellungen, als die ruhende, bei der sie sozusagen bloß lauern, um sich betätigen zu können".

Wenn dies schon bei dem einzelnen, verhältnis- mäßig kleinen Gliede der Fall ist, besonders da, wo wir es näher betrachten, so wird dasselbe doch in viel stärkerm Maße beim Anblick der ganzen Menschenge- stalt eintreten, sobald wir den Zusammenhang ihrer Gliedmaßen überschauen und die Stellung dieser Teile zueinander, vielleicht schon aus der Ferne, als eine vorübergehende, mehr oder minder bewegte Haltung erkennen. Dann wird erst recht der Anreiz wirken, dies Wahrzeichen aus eigener Erfahrung heraus als unver- kennbare Äußerung innern Lebens zu fassen und den Träger dieses Symptoms als unsersgleichen anzuschauen. Es ist der durchgehende Zug einer einheitlichen Be- wegung, deren Sinn uns unmittelbar verständlich an- spricht, wie beim Schnitter die Führung der Sense, beim Fährmann die des Ruders, beim Kegelschieber oder Bocciaspieler der verschieden ausholende Wurf mit der Kugel. Es ist das Motiv, das sofort die Bewegungs- vorstellung in uns selber weckt und als Körpergefühl

54 Dritter Vortrag

durch alle Glieder zittert. Sein Anblick stellt die un- mittelbare Beziehung zwischen dem menschlichen Be- schauer und dem Tänzer oder dem Mimen her, wie jeder Anblick einer wohlbekannten oder als sinnvoll ver- ständlichen Bewegung zweckentsprechender Tätigkeit. Es ist die Wirkung eines Impulses von innen her, von jenem Älittelpunkte , den wür alle spüren und im Zu- sammenhange wissen mit den äußersten Spitzen unsres Leibes. Und diese Wirkung findet natürlich auch da statt, wo die Bewegung nicht so ausgreifend durch die ganze Gestalt verläuft, oder wo sie gar auf einen Teil des Körpers beschränkt bleibt, während das übrige in ruhigem Zustand verharrt. Sie behält ihre vom ersten Blick des Betrachters erfaßte, für den Anklang mensch- lichen Mitgefühls entscheidende Kraft auch da, wo sie als sanfte Regung rein vegetativen Daseins, wie ein Hauch der Seele nur sich äußert, dann freilich unter der Voraussetzung, daß über die Ähnlichkeit der Gestalt mit unserseleichen von vornherein kein Zweifel walte.

Bei ruhigerem Verweilen in der Anschauung eines solchen, die menschUche Figur belebenden Motivs er- gibt sich dann von selbst die Vorstellung von der Zweckhaftigkeit der Form der hierbei zusammen- wirkenden Glieder, oder besonders des einzelnen in Anspruch genommenen Werkzeugs, sei es bei irgend einer Beschäftigung oder beim Gebaren in irgend einer Situation. Jede Form läßt schon im Ruhezustand ihre Bestimmung und ihren Zusammenhang mit dem Ganzen erkennen. Die Gestalt wird daher immer fühlbarer „als ein Komplex von Formen aufgefaßt, die das Gepräge

Die Plastik 65

bestimmter Funktionsmöglichkeiten tragen", d. h. als ein System von Zwecken, als Organismus im eigentlichen Sinne. „Das Gefühl für das organische Leben beruht darauf, sagt Hildebrand, daß wir uns alle Formen in ihrer Aktion vorstellen können, die organische Einheit darauf, daß wir uns mit unserm Körpergefühl ganz in das vorliegende Körpergebilde hineinversetzen können."

Damit sind wir beim Hauptanliegen der plastischen Kunst angelangt. Die ruhigere Schwester der Mimik, die Körperbildnerin, verfolgt als Hauptziel die Ver- herrlichung unsres eignen organischen Leibes. Dieser Wert ist es, den sie in ihren Werken ausgestalten und zu bleibendem Genüsse verewigen will. Das glück- liche Selbstgefühl in dieser natürlichen Behausung ist die Seele all ihres Schaffens, und das wohlige Ausruhen im Vollbesitz dieses leiblichen Daseins der Genuß, den sie vermittelt.

Die harmonische Ausbildung aller Teile des mensch- lichen Körpers, das gesunde, dem Gesamtzweck des Geschöpfes entsprechende Ineinandergreifen aller Funk- tionen, sind die Voraussetzungen, die sich dabei von selbst ergeben. Und unsre ganze Betrachtung des mimischen Zusammenspiels aller ausdrucksfähigen GHeder, deren Wohllaut in der Bewegung schon die Harmonie der bleibenden Unterlage im Zustand der Ruhe gefordert und gefördert hat, war von diesem Zielpunkt aus ge- sehen nur eine Vorbereitung auf den Vollgenuß des neuen Wertes, der sich aus der Einübung und Entwick- lung mimischer Vorzüge mit Notwendigkeit ableitet, sowie nicht mehr die rastlose Bewegung wie dort, sondern die ruhevolle Beharrung als höchste Instanz angerufen ward.

Das Gemeinsame, das in beiden Künsten zur Dar-

Schmarsow, Kunst und Erziehung. 5

66 Dritter Vortrag

Stellung gelangen kann, soweit ihre Bahnen sich einander zu nähern und neben einander herzulaufen vermögen, ist die Schönheit des menschlichen Körpers und in weiterem Sinne aller verwandten organischen Geschöpfe. Das ist aber unter allen Werten des Daseins und des Lebens, die des Menschen Kunst verherrlichen kann, ein Kapital- stück von so grundlegender und so weitreichender Be- deutung, daß wir einen Augenblick innehalten müssen, uns seiner recht eindringlich zu versichern. Ist hier doch eigentlich zum erstenmal von „Schönheit" die Rede, nachdem wir solange schon von künstlerischen Anliegen gesprochen haben. Wir haben das Wort absichtlich für diese Stelle aufgespart, eben weil es hier mit voller Klar- heit auftreten kann. Sonst wird es gegenwärtig entweder ganz vermieden^ oder mit geringschätziger Miene ver- wendet, und zwar grade überall da, wo man es nicht ganz leichtsinnig in allen möglichen Bedeutungen durch- einander wirft. Ich glaube, wir sollten darnach trachten, aus dieser mißUchen Lage herauszukommen, unter deren Druck doch eigentlich jede ästhetische Erörterung um- fassenderer Art sich eines ihrer Hauptbegriffe nicht be- dienen kann, ohne sich den seltsamsten Mißverständnissen auszusetzen oder von vornherein von den Nachbarn über die Achsel angesehen zu werden. Wir entheben uns diesem Übelstand jedenfalls schon beträchtlich, wenn wir zunächst für die Kunstlehre die Tatsache feststellen: jede Kunst hat ihre besondere Schönheit, und es ist eine wesentliche Aufgabe der Ästhetik, die Unterschiede zwischen diesen Begriffen herauszuarbeiten: es gibt eine plastische Schönheit und daneben eine ganz anders geartete architektonische, und ebenso eine male- rische Schönheit. Und diese drei werden gewiß zur poetischen, zur mimischen und zur musikalischen

Organische Schönheit 67

Schönheit gegenüber, jede in einem besondern Verhältnis stehen.

Dies nähere Verhältnis zwischen je zwei Vertrete- rinnen aus beiden Hemisphären der Kunstwelt springt hier sofort und ohne weiteres in die Augen. Wir haben bis dahin von dem Gemeinsamen zwischen Mimik und Plastik gesprochen: sie beide stellen es dar, nur die eine für die successive, die andre für die simultane Auf. fassung in erster Linie; die eine faßt es im Sinne der Bewegung, die andre im Sinne der Beharrung; die eine bringt es in zeitlichen Verlauf, die andre in räumlichen Bestand. So wirken die beiden Künste wie ein Paar von Komplementärfarben: wo die eine verschwindet, tritt die andre unversehens von selber auf; wo die eine versagt, ergänzt die andre; beide Vorstellungen aber geben zusammen erst das Ganze.

Gilt es darnach, den gemeinsamen Wert, den sie darstellen und zum Genüsse bringen, mit einem einheit- lichen Begriff zu umfassen, so nennen wir :die organische Schönheit. Das ist die höhere Einheit zwischen der plastischen Schönheit hier und der mimischen dort. Wir verstehen unter diesem Beisatz „organisch" zunächst nur die Eigenschaften, die den menschlichen Organismus charakterisieren. Es ist der Wert der fühlbaren Einheit und Zweckhaftigkeit unsrer eignen Organisation, den wir anerkennen und genießen, wo wir die Schönheit des Geschöpfes preisen. Von dieser uns Menschen unmittel- bar verständlichen Bezeichnung übertragen wir sie noch annäherungsweise auf verwandte Geschöpfe, besonders des Tierreichs, und weiter bis auf die Pflanzenwelt, mit mehr oder minder bewußter Einschränkung. Wenn aber auf völlig andern Gebieten von „Organisation" einer poli- tischen Partei, eines großen Fabrikbetriebes gesprochen

68 Dritter Vortrag

wird, SO bedarf der Vergleich schon eines besondern Ausweises über seine relative Berechtigung. Die Mög- Hchkeit dieser letztern liegt darin, daß dem Menschen ursprünglich eben gar nichts andres verständlich, ge- schweige denn für innere Nachahmung zugänglich ist. als die Beschaffenheit seiner eignen Natur und Seines- gleichen. Bezeichnen wir doch heute noch das ganze Bereich, das über diese Grenzen hinausliegt, nur mit der Verneinung dieser wohlvertrauten Eigenschaft, als wn- organische Natur, dieweil wir eines positiven Ausdrucks für das fremde Wesen ermangeln. Nur soweit das „Organische" reicht oder die Übertragung unsres mensch- Uchen Gefühls für „organische Schönheit" sich ungestört vollziehen mag, nur soweit reicht auch die künstlerische Auseinandersetzung des Menschen mit der umgebenden Welt für lange Zeit. Wo diese naive Vorstellungsarbeit durch den Einspruch der fortschreitenden Erkenntnis unterbrochen oder als unberechtigt zurückgedrängt wird, da geht auch die harmlose Beseelung der Natur in die Brüche, da getraut sich die unbefangene Schöpferlust unsrer Kindertage bald gar nicht mehr hervor.

Daraus ergibt sich jedenfalls: wer die künstlerische Erziehung pflegen und ästhetische Genußfähigkeit be- fördern will, der muß unser Gefühl für die organische Schönheit des Menschenleibes stärken und erhalten um jeden Preis; denn von diesem lebendigen Gefühl strömt all unsre Teilnahme für die andern aus, in ihm wurzelt all unser Verständnis für die Schönheit der Kreatur. Fragen wir uns aber aufs Gewissen, wie es mit der Lebenskraft und Ausgiebigkeit dieses natürhchen Em- pfindens beim modernen Menschen bestellt sei, und in- sonderheit bei uns daheim, so kann die Antwort nur lauten , daß unser Geschlecht dies anvertraute Pfund

Selbstgefühl ßg

seit lange schon vergraben hat. Nur eine ganz kleine Zahl weiß wirklich noch, was wir daran haben, und noch viel weniger wissen Auskunft zu geben, wo der Schatz eigentlich steckt. Was es heißen will, ihn wieder zu Tage zu fördern oder gar damit zu wuchern, darüber schweigen unsre Propheten.

Und es ist doch nicht anders, kann nicht anders sein: fröhlich und ungestört müßte die Gabe gedeihen, nicht erst durch Kunstgriffe oder Treibhauszucht, sondern unter freiem Himmel und auf eigne Hand müßte sie überall sich ausbreiten dürfen, wenn es darauf ankommt, ein wirkliches Kunstleben zu erreichen, an dem das Volk teilnimmt und mitwirkt! Eine einzige Stimme nur hat auf dem Dresdener Kunsterziehungstag das ent- scheidende Wort vernehmen lassen, aber es selbst in der Ausführung wieder verlöscht oder verloren. Oder hatte auch dies eine nicht den Sinn, den ich gern darin vermute? „Die Grundlage des Kunstverständnisses lese ich da (S. 197) besteht meines Erachtens nur darin, daß einmal die Lebensfreude überhaupt im Kinde geweckt und erhalten wird und sodann die Freude an der Erscheinung . . . ."

Was heißt denn das, „die Lebensfreude wecken"? Ist sie denn auch im Kinde schon abhanden gekommen? Das wäre das traurigste Zeugnis, das wir uns ausstellen könnten, und dann wäre wohl von Menschenkunst das Heil nicht mehr zu hoffen. Wenn aber die Lebens- freude die Grundlage des Kunstverständnisses sein soll, und es handelt sich da um das Kind in der Volksschule, dann muß das Wort einen besondern Sinn haben. Und eben die notwendige Erklärung, was es meinen mag, vermissen wir an jener Stelle. Versuchen wir den Aus- spruch zu ergänzen, indem wir selber sagen, weshalb

J70 Dritter Vortrag

wir ihn als rechtes Wort am rechten Ort begrüßen! Lebensfreude ist vorerst, beim Kinde zumal, das Wohl- gefühl im eignen Leibe. Gesundheit gehört dazu, dann meldet sich die Daseinslust von selber. Nur wem es wohl ist in seiner eignen Haut, der ist auch aufgelegt, des Lebens Freuden zu genießen und öffnet alle Sinne für die Welt da draußen. Das gilt wohl im Volke gewiß auch vom Erwachsenen noch. Wenn aber der frische Lebensmut die Richtung auf die Freude an der Er- scheinung nehmen soll, um von da allmählich zum Kunst- verständnis zu gelangen, so kommt es darauf an, den Schlüssel zu aller Erscheinung, gewiß zunächst zum Natur- verständnis, zu finden. Diesen Schlüssel brauchen zu lernen und nicht wieder verloren gehen zu lassen, heißt Lebens- freude wecken und erhalten. Auch er ist nichts andres als das Wohlgefühl im eignen Leibe, das Behagen im wohlgerüsteten Organismus , die Übereinstimmung mit sich selbst in ihrem ersten und grundlegenden Kapitel, dem frischen fröhlichen Selbstgefühl im Vollbesitz der gesunden Organisation. Das erschließt uns Menschen- kindern, Groß und Klein, schon die ganze Welt der organischen Schönheit, so von innen wie von außen, in Tätigkeit wie in Ruhe, im Frieden des stillen fast vegetativen Daseins, wie im Kampf des hastig pro- zessierenden Lebens.

Nun aber die notwendige, unabweisbare Folgerung für die Frage, wie wir diese Voraussetzung herstellen und bewahren. Was ist diese Freude an sich selbst, am gesunden Körper anders, als Freude am natürlichen Menschen, in seinem urwüchsigen und naiven Zustand, frei von allem störenden Beiwerk und allen nach- tragUchen Zutaten der Kultur? d. h. Freude an dem organischen Geschöpf , wie es ins Dasein tritt,

Freude am nackten Menschen

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Freude am nackten Menschen? Dem Reinen ist alles rein!

Organische Schönheit des Menschen ist in erster Linie Schönheit des nackten Menschen. Plastik und Mimik vereinigen sich in ihrem Kultus; denn der or- ganische Körper in seiner nackten Schönheit allein be- sitzt die volle natürliche Ausdrucksfähigkeit. Nur wo die ganze Gestalt harmonisch zusammenwirkt, kann sie im höchsten Maße zur Geltung kommen. Und nennen wir sie nicht alle inbrünstig das Meisterstück der Schöpfung, selbst da, wo unsre erhabensten Pessi- misten vom Ideal des Übermenschen träumen?

Aber, wo ist der unbefangene Sinn für die nackte Schönheit geblieben heutzutage? und wo die Kenntnis des menschlichen Organismus in seiner ursprünglichen Erscheinung? Mitten im Zeitalter der Naturwissenschaft klingt dieser Zweifel fast paradox. Und doch sind wir in diesem Punkt weiter von der Natur entfernt, als wir uns klar zu machen pflegen, oder einzugestehen den Mut haben. Eben weil auch diese Wahrheit so nackt ist,

Wissenschaft tuts freilich nicht. „Habe nun, ach, Anatomie und Medizin .... sattsam studiert!" seufzt der Künstler wie der Ästhetiker gleich betrübt. „In der wissenschaftlichen Betrachtung hat die Natur eine Zergliederung zu erleiden, die vor allem geeignet ist, ihr den Charakter des Schönen abzustreifen, Hat die Schöpfung nicht weise und wohltätig den Mechanismus ins Verborgene verlegt? Das Triebwerk der Natur arbeitet durchweg unter einem Schleier, auf dessen sichtbarer Außenseite die schönen Formen als Zeugnis auftreten, daß die Aufgabe im verhüllten Innern wohl versehen wird. Will die Wissenschaft die Decke durch-

. 72 Dritter Vortrag

brechen, ist sie in ihrem Rechte; wer unberufen mit eindringt, wird seinen Vorwitz büßen, wie der Unvor- sichtige, der das Bild von Sais entschleierte". So bekennen auch wir. Plastische Anatomie kann uns nicht helfen, wo es not tut. Sie unterstützt freilich das Sehen durch Wissen, aber sie verführt es auch gerade, die Oberfläche zu durchschauen, die natürliche Erscheinung durch das, was hinter ihr liegt, zu ersetzen, d. h. grade das nicht mehr wahrzunehmen, was dem unbefangenen Auge von der gröl'ten Künstlerin Natur geboten wird. Dann gibt auch der Bildner unbewußt oder im Forscherdrang den abgehäuteten Muskelmann statt der gleichmäßigen Hülle, zerfasert schon von außen das Ganze, die Gestalt, in lauter Einzelheiten des verborgenen Gefüges. Aus der organischen Schönheit wird, wo die Einheit der Erscheinung verloren ging und Vielheit an die Stelle trat, notwendig die Negation dieses Wertes, Häßlichkeit. Um das einzusehen, braucht man noch nicht zu den Zimperlichen zu gehören, die vor dem Sezierboden zurückscheuen und jeden Einblick in die W^erkstatt der Natur als unästhetisch fliehen.

Dagegen sollte Medizin schon längst errungen haben, was heute die Naturheilkunde zu predigen beginnt: Freiheit des Nackten, wo möglich unter freiem Himmel, und Gelegenheit dazu so oft und so lange dieser Himmel es irgend erlaubt. Nicht die medizinische Wissenschaft, sondern ihre heutige Konkurrentin oder Antipodin, wie Sie wollen, eröffnet uns, im Augenblick noch als verstecktes Hinterpförtchen, den Zugang, der eigentlich als Haupttür bereitet war . . . Und der ge- sunde Menschenverstand, der mitunter auch nicht ohne seine Amme Gewohnheit auskommen kann, wird ja wohl endlich sein Erstgeburtsrecht geltend machen und dem

Gemeinschaft mit der Natur

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Selbstverständlichen zum Sieg verhelfen. So kämen wir wieder, wenn auch ganz allmählich, von der Entfremdung zurück, in der wir mit unserm guten alten Adam leben, und gewöhnten auch uns wieder daran, über der Jagd nach dem modischen Zuschnitt oder den Reformkleidern, nicht der eignen unserm lieben Ich nun einmal angewachsenen Hülle zu vergessen, die doch nicht alle Tage einen neuen Adam anzuziehen braucht.

So scherzen wir wohl grade da, wo wir am bittersten empfinden, wie weit wir in der gesunden ästhetischen Kultur zurück sind. Das Zeitalter der Naturwissenschaft benimmt sich in diesem Punkt, als stünde auf ihren Ge- setzestafeln die mosaische Lehre von der Sündhaftigkeit alles Fleisches geschrieben. Ich sage das mit dem vollen Bewußtsein, daß wir da vor der größten und nach- haltigsten Schwierigkeit des ganzen Problems stehen. Da klafft ein Widerspruch zwischen unsrer Erziehung und unsrer Kunst. Da glaubt eine beträchtliche Zahl selbst eifriger Vorkämpfer für künstlerisches Sehen ge- wiß, ein Abgrund öffne sich, und gähne sie schon drohend an mit höllischem Feuer. Und dennoch, grade wenn es gilt, der Sachlage klar und unerschrocken ins Antlitz zu schauen, wie sie ist, grade hier ist kein Zweifel: dies Hindernis auf dem Wege kann nicht umgangen werden; wir müssen es überwinden, sonst ist alles um- sonst.

Es hilft uns nichts, unsre Zuflucht zu den Schätzen der Antike zu nehmen. In der Statuenwelt des Altertums haben die Generationen unsrer Väter schon die Rettung aus diesem Zwiespalt vergebens gesucht. Da sind ihnen freilich die Augen aufgegangen für die plastische Schön- heit der Menschengestalt; sie haben sich allmählich zurück- gefunden zu dem Bewußtsein dieses ewigen Wertes.

74

Dritter Yortrasr

Aber das Götterideal des hellenischen Volkes ist doch nicht ohne weiteres das Kunstideal des germanischen, das Formgefühl einer fernen Vergangenheit wird un- möglich den Ansprüchen der Gegenwart an Ausdruck und Eigenart gerecht.

Und merkwürdig, auch hier hat das wissenschaft- liche Studium uns nicht geleistet, worauf es ankam. Trotz aller gelehrten Vertiefung in das Altertum an der Hand unsrer klassischen Philologie, der seit Wilhelm von Humboldt alle Schulen geöffnet waren, haben wir ein köstliches Erbteil des hellenischen Stammes nicht wiedergewonnen, ein Lebensprinzip, das nicht ausschließ- liches Vorrecht dieses einen Begünstigten sein kann, sondern allen Söhnen des Hauses gleichermaßen ge- bührt: das ist die innige Gemeinschaft mit der Allmutter Natur. Unsre Geschichtsforscher rechnen uns alle Be- dingungen vor, die einst zu jener wundervollen Kunst- blüte Griechenlands beigetragen haben könnten. Es wäre wohl ein Leichtes, die Rechnung umzukehren, um für uns ein praktisches Ergebnis zu ziehen: daß, wo die Hauptbedingung fehlt, auch die glücklichen Folgen nicht eintreten können, die wir uns wünschen.

Wenn die klassische Bildung, die wir zurückerobert haben, nicht aus sich selber zu ihrem letzten Sieg hin- durchzudringen vermag, d. h. die Begründung unsres Menschendaseins auf die volle ursprüngliche Weisheit der Natur, deren Schoß wir auch heute noch entsteigen wie damals, wirklich zu erreichen in vollstem Maß, dann führt uns vielleicht auf weitem Umweg der Fort- schritt des Naturerkennens zurück zum vollen Ver- ständnis mit ihr.^) Noch besser als beides wäre aller-

^) Die Kunstgeschichte an unseren Hochschulen. Berlin. Georg Reimer. 1891. S. iiS f.

Leibesübungren

75

dings das Erwachen des unmittelbaren Gefühls; denn was aus dieser Quelle stammt allein, vermag als Kraft dem schöpferischen Vermögen zu Gute zu kommen. Das Bedürfnis des Herzens ist doch immer die letzte Triebfeder jeder lebensfähigen Weltansicht. Erst wenn wir die ewigen Gesetze der Allmutter, auf denen wir fußen, zugleich zu den heiligsten Geheimnissen erheben, die wir verehren, erst dann vermag auf dem einzigen Heimatgrund unsres irdischen Wesens auch die Kunst wieder zur Verherrlichung der Werte zu gelangen, die wir keinen Augenblick ungestraft vergessen, unsrer leib- lichen Existenz und unsrer physischen Organisation. Nur ausgehend von diesem unveräußerlichen Grunde vermögen wir auch das Problem der ästhetischen Er- ziehung oder der künstlerischen Bildung unsres Volkes mit einiger Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen; so erst werden sich diese Bestrebungen fruchtbar er- weisen für die Verjüngung der schöpferischen Kraft. Aus der Freude des Menschen an sich selbst und seines- gleichen, aus der Gesundheit des natürlichen Daseins entspringt aller Antrieb zur Selbstdarstellung und zur Verewigung des eignen Wertes für immer sich erneuern- den Genuß, mitten im Wechsel des Entstehens und Vergehens, dem wir allesamt anheimfallen.

Deshalb erwarten wir das Erwachen des künst- lerischen Sinnes viel eher auf den Tummelplätzen unsrer Jugend und von der Pflege körperlicher Übungen bei Jung und Alt. Nicht unsre Schulzimmer, sondern unsre Badeanstalten, nicht unsre Hörsäle, sondern unser Fecht- boden, selbst nicht die Zeichenstunde, sondern die Er- holungspausen auf dem Hof, draußen auf grünem Rasen oder glänzender Eisbahn, beim ausgelassenen Spiel unter freiem Himmel sind die wichtigsten Stätten der ästhe-

1^

Dritter Vortrag:

tischen Erziehung. Gönnt dem Knaben, der nackt ins Wasser springen will, die Freude an seinem geschmei- digen Körper; weckt sie und stärkt sie ihm, diese Lust, seine Kräfte zu prüfen, sich mit andern zu messen und mit altern Genossen zu vergleichen. Gönnt sie und verschafft sie auch den Mädchen ungescheut, das ist sogar das beste Mittel, die Stubenluft der Phantasie zu reinigen und böse Träume zu verjagen. Hier am Schwimmbassin, dort beim Ballspiel gibt es Augenweide eenusf für den Teilnehmer wie für den Zuschauer. Da wachsen dem schöpferisch Begabten die Motive wie von selber zu, füllt sich die Anschauung mit Erinnerungs- bildern, die über Nacht wieder aufwachen und nicht ruhen, bis sie sich eines Tages zum Kunstwerk aus- gewachsen haben. Da gedeiht die gesunde Verherr- lichung des nackten oder leicht bekleideten Körpers, frei von allem Beigeschmack des Kunstsalons oder gar des Alkovens. Und was an plastischem Bildwerk aus dem öffentlichen Wettspiel und eifrigem Sportbetrieb, aus der Turnerfahrt oder dem Sängerkrieg entstanden ist, das wirkt auch weiter und bleibt volkstümlich wie Kirmes einst und Schützenfest; das vermag sich aber andrerseits auch getrost zu idealem Aufschwung zu er- heben, ohne sich dem lebendigen Mitgefühl der Heimat zu entfremden. Mitten aus der Arbeit stammen die heroischen Gestalten, die Const. Meunier den Götter- bildern der Antike an die Seite gestellt hat, und sie beweisen für alle dazwischen liegenden Regionen mensch- licher Tätigkeit mit. Noch immer lebt die plastische Schönheit, Großartigkeit und Adel des organischen Ge- schöpfes, von dem selbst semitische Lehre behauptet, es sei nach dem Ebenbilde der Gottheit, selber geformt. Und unsre modernen Künstler wären nicht durch

Nacktheit 77

die Not der allgemeinen Entartung dazu gezwungen, uns ausgemergelte Wüstlinge und heruntergekommene Frauenzimmer in Marmorstatuen zu verewigen. Wohl aber ist es ein Elend fi*r sie und für uns, wenn sie keinen gesunden Mann aus guter Gesellschaft und keine deutsche Jungfrau in keuscher Nacktheit mehr zu sehen bekommen, und solange zu sehen bekommen, bis die natüriiche Überlegenheit eines solchen Eindrucks über alle jene häßlichen Gespenster auch bei ihnen triumphiert und die helle Schaffenslust ein daseinsfrohes Werk erzeugt. Aber freilich, mit dem bloßen Modell- stehen ist da nicht geholfen. Lebendiger Verkehr und mannichf altige Gelegenheit des Schauens sind die Voraus- setzung, und eben sie sind abhanden gekommen und können weder durch Statuenmuseen noch durch Akt- säle ersetzt werden. So erklärt sich die unleugbare Tatsache, daß dem modernen Menschen keine Kunst so fremd geworden ist, wie die Plastik.^) Die Quelle des Schaffens wie des Genießens in ihrem Reich ist eben die starke Intuition der Einheit und zweckhaften Voll- kommenheit unsres eignen Organismus, die sich im Ganzen wie im Zusammenwirken aller Teile seiner leib- hchen Erscheinung bewährt. Und diese vom Gefühl durchdrungene Anschauung unsrer selbst ist veruntreut worden durch die Unnatur unsrer sogenannten Sittlich- keit, die immer noch eine Lüge auf die andre häuft.

1) Vgl. auch Carl Neumann, Der Kampf um die Neue Kunst. Berlin 1896. S. 116 ft".

VIERTER VORTRAG

Nicht ohne lebhafte Zweifel und ernste Bedenken werden Sie dem Vorschlag zu Gunsten der unbe- fangneren Freude am gesunden Menschenleib nachge- dacht haben. Wer den Kultus des Nackten predigt, setzt sich heute noch in weiten Kreisen dem Gespött und Gelächter der Ungläubigen oder dem Vorwurf und Gejammer der Mißtrauischen aus. Verstanden wird er in vollem Umfang nur selten, selbst da, wo die Schwierig- keit eines Widerstreits gegen Sitten und Gewohnheiten der nordischen Heimat sofort klar vor dem Bewußtsein aller Anwesenden heraustritt. In dem kleinen Kreise der hier Versammelten kommt es vorerst nur darauf an, einmal Zeugnis abzulegen. Die Ausführung eines Umschwungs wäre ja ohnehin nur als geschichtlicher Prozeß denkbar, dessen Verlauf sich selten so einstellt, wie man ihn vorausberechnet. Wo immer jedoch die Pflege des Kunstsinnes um seiner selbst willen verhandelt wird, da wiegt ein Gutachten, das den Zusammenhang der Frage mit der ganzen modernen Weltanschauung und dem tiefsten Wesen unsrer Kultur keinen Augen- blick verkennt, doch wohl schwer genug, um wenigstens zu vorurteilsfreier Erwägung der Sachlage, wenn irgend möglich auch zu fröhlicher Zuversicht auf die gute Sache selbst zu mahnen.

Zentrale Bedeutung des Menschenkörpers 7g

Ich wenigstens kann nicht ohne Genugtuung darauf hinweisen, daß ich mich hier in vollem Einklang weiß mit dem Urteil unsrer einsichtsvollsten Künstler, die dem Problem des bildnerischen Schaffens unter den obwalten- den Bedingungen der Gegenwart so ernst wie weit- blickend nachgesonnen haben: ich meine Adolf Hilde- brand und Max Klinger. „Man klagt über die Stillosig- keit unsrer Zeit," schreibt der letztere, „und versucht alles mögUche, zu einer eignen Stilbildung zu gelangen. Allein das Wesentliche hat man übersehen."

„Der Kern und Mittelpunkt aller Kunst, an den sich alle Beziehungen knüpfen, von dem sich die Künste in der weitesten Entwicklung loslösen, bleibt der Mensch und der menschliche Körper."

„Es ist die Darstellung des menschlichen Körpers, die allein die Grundlage einer gesunden Stilbildung geben kann. Alles, was künstlerisch geschaffen wird, in Plastik wie Kunstgewerbe, in Malerei wie Baukunst, hat in jedem Teil engsten Bezug zum menschlichen Körper. Auf dem Verständnis und der gleichmäßigen Ausbildung dieser Verhältnisse allein kann eine selbständige Naturauffassung sich entwickeln."

„Leider jedoch müssen wir uns gestehen, daß in allen heutigen Kunstrichtungen die Darstellung des menschlichen Körpers in den Hintergrund tritt, daß über Novellistik, über der historischen, der achäologischen Zutat und den sogenannten sozialen Tendenzen jene Forderung selbst vernachlässigt wird."

„Nur am frei gegebenen Körper entwickelt sich auch ein gesunder Kunstsinn. Wollen wir diesen und einen gesunden Stil, so müssen wir gesunden Sinn genug haben, das Nackte nicht nur zu ertragen, sondern es sehen und schätzen zu lernen. Die wunderbare Einfachheit

3o Vierter Vortrag

des menschlichen Körpers duldet im Kunstwerke keine Künstelei, sie zwingt den Künstler zur Einfachheit, zum Aufgeben der kleinlichen Nebensachen und bereitet den ersten Schritt zu einem eignen Stil v^or."

„Man überblicke nur die Stilarten aller Zeiten und man wird ohne weiteres erkennen, daß jede selbstbewußt auftretende Kunstepoche den menschlichen Körper auf ihre Weise aufzufassen und zu bilden wußte. Ägypter und Grieche, Japanese oder Renaissancekünstler, jeder hat die einfache menschliche Form, die sich seit Jahr- hunderten gleichgeblieben ist, deren Rassenunterschiede in Bezug auf Form so gering sind, daß sie durch Maße sich nur in minimalster Weise ausdrücken lassen, präzis und selbständig aufzufassen gewußt. Eine jede Epoche hat davon ihre eigne, v^on allen andern verschiedene Auffassung gegeben, so daß das allen gleiche Vorbild für jede Zeit dennoch als eigne Person und eigner Charakter auftritt."

„Nur wir leben heutzutage in jeder Kunst auf Raub. Man hat nur totes ^Material, verlebte Stile, sei es Re- naissance oder Griechentum, wieder hervorgeholt."

Das Wesentliche, worauf es ankommt, „ist die Kenntnis und die Wertschätzung des Nackten, da wo es notwendig ist, ohne falsche Scham, ohne drückende Rücksicht auf gewollte und gesuchte Blödigkeit." Und es ist wahrhaftig „weder eine lächerliche, noch eine ge- ringfügige Forderung, die Forderung des Nackten". Der nackte Körper ist ja doch „das Schönste, was wir überhaupt uns vorstellen können".

Wenn der Künstler mit so beredten Worten für die Freiheit des bildnerischen Schafiens eintritt, so wollen wir uns jedenfalls die entgegenkommende Genußfähigkeit unsrer Nation, vor allem auch der gebildeten Kreise, der

Schönheit des menschlichen Körpers 8l

Träger unsres geistigen Lebens angelegen sein lassen, von denen das Gedeihen einer heimischen Kunst min- destens zur andern Hälfte abhängt. Bemühen wir uns zunächst, verständlich zu machen, wie weit unser leben- diges Verhältnis zu allen bildenden Künsten von dem ausgebildeten und unverkümmerten Gefühl für den menschlichen Körper bedingt wird.

Eine Geschmacksbildung, die der angeborenen Be- deutung und Schönheit des menschlichen Körperbaues gerecht zu werden weiß, liegt von den Anfängen weit entfernt. Der Wilde, der keinen Begriff von seinem ungeschwächten, herrlichen Leibe zu haben braucht, hängt doch Muscheln um den Hals, einen Ring in die Nase, Pflöcke in Ohr und Lippen, und glaubt nun vor- zustellen, was er darstellen möchte. Stämme, die von der Geschichte ausgestoßen und bis zur Tierheit herab- gesunken sind, wie einige Gebirgsstämme Indiens, haben sich als Erinnerung an bessere Tage noch einen Rest der Zierde bewahrt, und bestünde diese nur aus einem erbeuteten Strick, den sie bei völlig nacktem Körper um den Hals schlingen. Damit aber ist die VVert- bezeichnung deutlich genug vollzogen, wie durch die Feder, die sich der Krieger ins Haar steckt, und diese Wertung gilt unverkennbar dem Ganzen oder doch der Hauptsache. Eine kräftige Hand ist dem natürlichen Menschen nur ein willkommenes Werkzeug der Arbeit. Schmückt er sie mit Ringen am Gelenk oder an den Fingern, so erkennt er ihr einen Teil des Verdienstes zu, das er sich selbst um den Unterhalt seiner Existenz, die Förderung seines Dasein erwirbt. Er gesteht ihr eine gewisse Selbständigkeit zu, ein Stück eignen Seins, dessen er sich im Anblick des Schmuckes vergewissert und freut. Seine breite Brust, seine Arme und Schenkel

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werden mit Tätowierung überzogen. Was bedeutet dieses Linienziehen auf der Fläche zunächst anders, als eine Folge des Verweilens bei ihrem Anblick und eine Einladung, sie zu beachten, also eine Anerkennung ihrer Muskellagen und ihrer Leistungsfähigkeit als Teile des geschmeidigen Körpers. Freilich mit dem Tätowieren, mit dem Durchbohren der Lippen und Nase beginnt auch die Vergewaltigung und Entstellung, zu der sich diese Befriedigung des Selbstgefühls durch die Lust an eignen Erfindungen steigert und verirrt. Davon weiß auch die lange Geschichte menschlicher Trachten und Kostüme genugsam, selbst auf europäischem Boden, zu erzählen, bis hinunter in unsre Tage mit Reifrock, Schnürleib und Ohrgehängen, gegen die der Kampf sich oft genug erneuert, wie gegen Frackschöße und Vater- mörder oder Bartbinden und Monocle. Aber im Grunde bedeutet doch die Kleidung, zu der das Klima nötigt, nicht nur Schutz, sondern auch Schmuck, wie die Rüstung des Kriegers, die Uniform des Soldaten, und wie Perlenschnur oder Papageienfeder des nackten Wilden, d. h. Wertbezeichnung des eignen Leibes.

Zwei Momente sollten wir bei dieser Symbolik unter- scheiden, nämlich die Bewertung der Teile und die Zu- sammenfassung des Ganzen. Der Schmuck der einzelnen Glieder spricht für die Bewährung der verschiedenen Kräfte nach allen Seiten, die Betonung der Einheit geht auf den Kern des Ganzen oder den Höhepunkt über allen Werkzeugen, mag die entscheidende Stelle nun im Rumpfe oder im Kopfe gesucht werden. Die Anregung für beides stammt ohne Zweifel aus den praktischen Erfahrungen zweckentsprechender Tätigkeit. Aber die Teilwerte liegen dem mimischen Gebiet, der Gebärden- sprache selbst näher; geschmückt mit glänzendem Zierrat

Mimische und plastische Werte

oder flatternden Bändern werden sie in der Betätigung selber für das Auge hervorgehoben, sozusagen unter- strichen, vom Gehänge wie vom Gefühl begleitet. Die Zusammenfassung zur Einheit dagegen drängt aus der Beweglichkeit zum Bestände, vom Gewoge des Lebens mit seinen wechselnden Zwecken, zum Grunde des Da- seins mit seinem bleibenden Ziel. Das Ergebnis des ruhigen Erfassens dieser einen Hauptsache ist das Werk der Plastik, das Abbild des menschlichen Körpers selbst: die volle Gestaltung und Wiedergabe des allmählich ent- deckten und oft erprobten Wertes macht sie zur selb- ständigen Kunst.

Natürlich übt die Beteiligung der lebendigen Werk- zeuge zu jeglicher Arbeit, vor allem der feinfühligen Hände, ihren Einfluß auf das entstehende Bildwerk. Die Tastgefühle und Bewegungsvorstellungen, alle Erfahrun- gen der eignen Körperlichkeit spiegeln sich auch in dem Ergebnis wieder. Und der Betrachter, der das Bildwerk genießen will, muß auf Grund dieser sinnlich wahrnehm- baren Spuren seine innere Nachahmung vollziehen, um das fertig Dastehende wieder zum eignen Erlebnis zurück- zuführen. Also der mimische Verlauf hat auch hier seinen Anteil; aber er spielt sich im Innern des Subjekts ab, des schaffenden dort, des genießenden hier. Als auffallendstes Bindeglied begrüßen wir, wie schon gesagt, das Motiv. Diese durchgehende Bewegung einer wohl- bekannten Funktion oder ausdrucksvollen Gebärde übt schon beim ersten flüchtigen Anblick einen Reiz auf den Beschauer aus, so daß er sofort durch die unverkennbare Äußerung Innern Lebens in den Umkreis organischer Geschöpfe, menschlich vertrauter Regung hineingezogen wird. Damit ist dem fremden Ankömmling, dem eine Statue ins Auge fällt, auch die Bedingung für deren

84 Vierter Vortrag

ästhetische Aufnahme gegeben, wie eben das Motiv für den Urheber der Schöpfung selbst der Anlaß seiner künstlerischen Wiedergabe war. Und der Genuß des so vermittelten Wertes ist und bleibt wohl in erster Linie ein Zuwachs an Daseinslust und Lebensgefühl, eine Stärkung und Bestätigung der eignen Leibhaftigkeit als gleichorganisiertes Wesen.

Doch lassen wir uns die geschichtliche Tatsache, die wir kurz zuvor beim Schmucke festgestellt haben auch hier nicht entgehen. Die Erfassung und Wieder- gabe des Wertes gelingt nicht alsbald in vollem Um- fang und Reichtum, sondern nimmt den Ausgang von symbolischer Bezeichnung wie dort. Die ältesten er- haltenen Bildwerke der Vergangenheit, wie die Versuche primitiver Völker noch heute, beweisen, daß die simultane Auffassung, die aufs Ganze geht, zu Anfang nicht mehr festzuhalten im stände ist, als das nackte Symbol, das etwas von unsersgleichen bedeuten soll, wie die auf- gerichtete Stange mit einem Topf, oder Hut oder Kranz als Wahrzeichen des Kopfes darauf, oder gar ohne solche, sei es runde, sei es spitze, besonders ins Auge fallende Bekrönung. Da ist dieser Schmuck schon die Auszeichnung des Wertes, und der Wert selber in der Stange zu suchen, die der eignen aufrechten Haltung des Menschen entspricht und als Vorzug seiner Gestalt auch dem Ankommenden sofort einleuchtet. Die Steige- rung ihrer Höhe über das Menschenmaß ist wiederum nur Hervorhebung dieses Wertes und nötigt selbst dem feindlich Nahenden Achtung ab. Das Mal erinnert ihn daran, daß hier ein Einzelwesen wie er seinen Willen eingesetzt und seinen Vertreter aufgepflanzt habe, d. h. sich behaupten werde, auch ihm zum. Trotz. Oder nehmen wir, statt jener Stange dort auf dem Hügel,

Symbol und Abbild ge

hier den schlanken Steinblock mitten auf dem Felde. Auch dieser rohe Stein befriedigt schon den Antrieb, das Wertvolle, das im Dasein des eignen Körpers ge- geben ist, zu ergreifen und fest zu bannen, während es im Leben gefährdet werden kann und vergänglich bleibt. Das Zeichen gemahnt entweder an ein Wesen, das ab- geschieden ist, oder an eine Tat, die dieses vollbracht hat, oder es bekundet einen Willensakt und soll ihn vertreten, sei es auch nur als Mittelpunkt einer Macht- sphäre oder als Warnung an deren Grenzen.

Diese Aufrichtung der Vertikalachse, wenn auch noch so schematisch und abstrakt in dem äußerlich ergriffenen Mittel zur Versinnlichung, stellt doch schon die Grund- tatsache sicher, um die es der Körperbildnerin zu tun ist. Wir haben bereits die Heraushebung des bleiben- den Bestandes vor uns, gegenüber all dem mimischen Wechsel und all der Beweglichkeit der Gliedmaßen in ihren besondern Funktionen, wie das Lebewesen selbst sie betätigt. Der Kern des organischen Geschöpfes in seiner Eigentümlichkeit als aufrechter und selbständiger Körper im Raum ist damit hingestellt.

Und begleiten wir die Plastik in ihrem historischen Gange nur noch wenig Etappen weiter, von der Auf- richtung des Symbols zum ersten noch so unvollkom- menen Abbild der Menschengestalt selber, so begegnet uns wieder eine unleugbare Tatsache. Die primitive Bildnerei sorgt, schon instinktiv möchte man sagen, für die Hauptsache mit einer Sicherheit, die den modernen, ihrem ursprünglichen Sinn entfremdeten Menschen in Erstaunen setzt. Die Mittelachse des Körpers wird als Dominante so entschieden hervorgedrängt, daß über die Wachstumsrichtung in der Höhendimension und über die Haltung kein Zweifel walten kann. Mögen die Arme

36 Vierter Vortrags

der Gestalt noch so leblos anliegen, die Beine noch so grade dastehen ohne die Knie voneinander zu lösen, mag die Figur sitzen oder stehen, aufrecht ist sie; schon dazu gehört fühlbare Kraft, Willen, Leben, und der Kopf darauf vollendet das Symbol zu unfehlbarer Wir- kung. Blicken wir weiter auf die Gestalten der ägyp- tischen Skulptur, so finden wir noch die allgemeinsten Formen, die einfache Naturanlage ausdrückt: der Mensch, wie er, mit seinen entsprechenden Organen ausgerüstet, seine Aufgabe übernimmt, noch unberührt von deren Geschichte. Aber in diesen Götter- und Königsstatuen ist der Wert, den sie versinnlichen sollen, mit einer abstrakten Schärfe herausgeschält und mit einer Gier ergriffen, als gälte es noch, wie ein Raubtier sich der Beute zu versichern, und den Begriff des absoluten Daseins mit hungrigen Krallen festzuhalten, damit es nicht wieder entwische. Das bezeugt auch das spröde, felsenharte Material, in dem sich die Starrheit der Aus- führung von selber ergibt, indem aber zugleich das Abbild des hochgehaltenen Wertes die größte Dauer verspricht. Damit stoßen wir auf ein weiteres bedeutsames Moment im Wesen der plastischen Kunst. Sie ver- meidet wenigstens in diesem Stadium ihrer Entwicklung geflissentlich die Wiedergabe des Triebwerks der Natur, die Spuren des Stoffwechsels und der Auflösung, denen alle Geschöpfe in Wirklichkeit unterliegen. Wir ge- wahren in ihren Formen nichts vom verborgenen Mecha- nismus, der sie hervorbringt; keine Sehnen spannen die Muskeln, keine Adern durchziehen die Hautflächen. Nur, was notwendig zur Erscheinung gehört, ist gegeben; was dem Hauptanhegen Abbruch tun könnte, bleibt außer Betracht. Worauf es außer der unantastbaren Höhenachse, und zwar in unmittelbarem Bezug auf deren

Dasein und Dauer

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Sicherstellung, zunächst ankommt, ist die räumliche Aus- einandersetzung des Körpers nach den beiden andern Dimensionen. In der Vertikalachse suchen wir sofort gewohnheitsmäßig die Einheit des Ganzen. Dann aber wird die entscheidende Klarheit über Verhältnis und Abstand der Gliedmaßen von dieser Mittellinie des Körpers aus zunächst gefordert, schon zur Orientierung über die Grenzen seines Volumens. Sie ist wichtiger für den Glauben an das Gebilde \'on Menschenhand, als die Vollständigkeit aller Teile des organischen Ge- schöpfes selber; denn wir können ganz leicht von einem nicht vorhandenen Stück absehen, ohne dadurch in der Auffassung des Werkes als Abbild eines uns verwandten Wesens irgend behindert zu werden. Die räumliche Ausdehnung der Gestalt ist aber die Versinnlichung ihres wirklichen Daseins. Und wir können uns selbst zum Bewußtsein bringen, daß es dabei nicht etwa, wie man glauben mochte, auf die kompakte Masse, die gleichmäßige Erfüllung des Raumes ankommt, sondern vielmehr auf die Rundung der Glieder wie des Rumpfes, also auf den Eindruck der dreidimensionalen Begrenzung im Raum. Ob das Innere leer gelassen wird, wie im Bronzeguß, ob es massiv aus toter Materie besteht, wie ein Marmor, die tatsächliche Struktur des Gerüstes bleibt außer Betracht, so sehr wieder die Ähnlichkeit mit uns als stillschweigende Voraussetzung des Denkens gilt und so sehr die Bedingungen der organischen Form auch die natürliche Unterlage alles Dichtens und Trachtens der Plastik ausmachen. Die Oberfläche der Gestalt, die ruhig sichtbare und tastbare, ist alles; auf ihre körperbildenden Eigenschaften für unsre Sinne kommt es an, auf eine klare, sichere Bewährung des Daseins nach allen Seiten. Und diese räumlich -körperliche Ausdehnung des

38 Vierter Vortrag

Bildwerks gewährt dem Betrachter einen Genuß, wenn Sie wollen, eine Wohltat, die wir von jenen starren Leistungen archaischer Skulptur ebenso empfangen, vielleicht gar in höherm Grade noch, als von lebhaft bewegten, naturgetreueren Figuren einer spätem Zeit. Woran mag das liegen? und wie wird uns überhaupt mög- lich, jene ägyptischen Götter- und Königsbilder z. B. zu ge- nießen? Die ganz allgemeine Ähnlichkeit zwischen ihnen und uns ist natürlich die Brücke für unser Gefühl; die Anerkennung des verwandten Organismus, der sich in diesen Gliedern und Formen sonst lebendig warm und verständlich für uns auszusprechen pflegt, muß voraus- gehen. Sonst haben wir mit diesen Steinblöcken vor- erst nichts zu schaffen. Dann aber nehmen wir nicht nur, sogar bei kolossaler Größe noch, teil an dem Hoch- gefühl, als der Steigerung des eignen, sondern auch an der Größe der andern Dimensionen, die uns entgegen- dringt oder sich ausbreitet. Es sind die Erfahrungen des eignen Körpergefühls, die dabei ins Spiel treten und die innere Nachahmung aufnehmen, auch wenn diese beim weitern Annäherungsversuch versagt oder sich gar- nicht ernstlich unterfängt, so hoch und weit hinaus zu wollen. Es ist doch immer ein Zuwachs der eignen Realität oder ein Durchkosten der Körperlichkeit nur als raumerfüllende Existenz.

Um diese Wohltat zu empfangen, diese Bewährung leibhaftigen Daseins genießen zu können, bedarf es natür- lich eines gewissen Grades unbefangener Empfänglich- keit, und zwar der Sinne, zu denen die Erscheinung spricht. Dies sind gewöhnlich wohl unsre Augen zuerst; aber wir merken gar bald, daß sie es nicht allein sind: je mehr wir uns der Erscheinung nähern, desto fühl- barer benehmen sich die Augen als Tastorgane und

Körpergefühl go

schauen nicht ruhig drein, wie passiv nur den Eindruck zu dulden, sondern bewegen sich hin und wieder, gleiten an dem Dinge dort entlang, steigen auf und ab, streben wohl gar von vorn nach hinten , um außer der Er- streckung nach oben oder unten, nach links oder rechts, auch noch die Dicke der Formen zu erproben. Dabei werden zahlreiche Überreste von Vergleichungen zwischen unserm eignen leiblichen Bestände und den Dingen um uns her, wie sie uns sonst begegnet sind, zur Beur- teilung des vorliegenden wachgerufen. Wir versuchen Stellung zu nehmen, in diesem oder jenem Maße der Annäherung oder Entfernung, bis wir den entscheidenden Standpunkt gefunden haben und mit uns einig werden, was von dem Ding da zu halten sei. Dabei können wir, trotz aller blitzartigen Schnelligkeit des Vollzuges, wohl mit Hilfe einiger Selbstbeobachtung uns wiederholt über- zeugen, mit welchen Sinnesregionen wir sonst dabei be- teiligt sind, sei es auch immer nur unter Vermittlung des Auges. Wir merken, daß jede Auseinandersetzung des Menschen mit einem Gegenstande , auf den er „stößt", wie wir bezeichnend sagen, eigentlich unmittelbar vom eignen Leibe aus beginnt, schon deshalb, weil wir überall, wo unsre Augen nicht helfen oder nicht genügen, mit unsern andern Tastorganen einzugreifen gewohnt sind. Ort und Stellung aller dieser beteiligten Werk- zeuge, der Grad ihrer Beweglichkeit oder ihrer Ab- hängigkeit vom Rumpfe, die Bedingungen des Zusammen- wirkens der Hände an den Armen, mit der korrespon- dierenden Anordnung der Finger zu einander, der Füße und Beine beim Stehen und Gehen, dann der Augen selbst, die wir doch nur an der Vorderseite unsres Kopfes haben, und die Besonderheiten dieses paarigen Sehapparates, der seitlich bis zu einer gewissen Weite,

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Vierter Vortrag

aber aufwärts schon weniger bequem als abwärts ge- richtet werden kann, alle diese Verhältnisse bestimmen unsre Auffassung der Körper um uns her. Sowie wir nicht nur mit dem Finger dahin zeigen können, wo das Auge etwas sieht, sondern es auch berühren, mit den Fingerspitzen betasten, da wirkt schon die nähere Sphäre um unsern eignen Leib mit bis an den Kernpunkt in unserm Innern, wo es uns sozusagen ans Leben geht. Und hier wenigstens, wo jede weitere Annäherung zu einer Auseinandersetzung auf Druck und Stoß werden kann, unsre Selbstbehauptung herausfordern oder ge- fährden mag, da merken wir auch, wie uns diese kritischen Momente den Atem in der Brust beklemmen oder ausweiten, den Pulsschlag steigern oder hemmen. Nun wissen wir auf einmal, was es heißt, wenn unsre Muttersprache von „Ausdehnung" des Körpers oder des Raumes redet, wie unsre Lungen sich ausweiten und zusammenziehen, oder von „Erstreckungen" wie unsre Arme, unsre Hände sie vollziehen; soweit sie reichen erstreckt sich auch unser eigenster Bereich. Nun wissen wir, was es für uns bedeutet, wenn wir von „Richtung" reden, sei es daß wir uns aufrichten oder emporheben, sei es daß wir uns selber vom Orte weg bewegen, nicht nur mit unsern Armen, sondern mit unsern Beinen den Raum durchmessen. Überall spricht unser motorischer Apparat, unser Gebaren, unser mimisches Verhalten mit hinein, selbst wo die Dinge zu uns und wir zu den Dingen ganz ruhig zu verharren scheinen. Als letzte, bleibende Instanz liegt allen unsern Vorstellungen noch der eigne Körperbau zu gründe. Und dieser mensch- liche Leib besitzt ja eine ausgemachte Vorderseite und eine ebenso wenig, trotz aller dahinzielenden Versuche, ebenso wenie weezuleuenende Rückseite.

Vorderseite Rückseite

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Das sind mit zwingender Notwendigkeit auch zwei Hauptkapitel der plastischen Schönheit, zwei nie ganz überwindliche Bedingungen unsres Vorstellens, also auch Forderungen unsers Geschmacks, als müsse nun auch all und jedes andre Ding eine Schauseite und eine Kehrseite haben; wir sind immer in Versuchung, uns selbst einen unsichtbaren allgegenwärtigen und ewigen Geist ebenso vorzustellen. Die menschliche Kunst rechnet mit dieser Voraussetzung ; denn sie muß sich auf unsre Ge- nußfähigkeit verlassen. Grade deshalb ist es hier der Ort, nach dem Unterschied und nach dem Wert beider für die menschliche Gestalt zu fragen. Daß die Vorder- seite die unentbehrliche, die reicher belebte, die stets in erster Linie vorgestellte sei, versteht sich zur Genüge von selbst, wie daß wir die andre minder beachten, gern hintansetzen, wohl gar verbergen oder wegdenken; diese nehmen wir gewohnheitsmäßig als dunkle hin, um so sicherer, je heller die vordere uns leuchtet. Es ist also grade umgekehrt wie bei der Maischolle, dieser aus- gemachten Heuchlerin, die ihre dunkle Hälfte nach oben kehrt, weil sie am liebsten garnicht anwesend sein will, wo sie am eifrigsten Alles belauert.

Weniger trivial als diese Bemerkungen wird Ihnen wohl die freche Behauptung vorkommen, daß Sie nicht einmal die natürliche Vorderseite ihrer Mitmenschen wirk- lich zu sehen gewohnt sind, bis auf ein verhältnismäßig kleines Bruchstück, wie Sie auch bei sich selbst diese Schauseite kaum überblicken, solange kein Spiegel zu Hilfe genommen wird. „Aber darin besteht doch grade der Unterschied zwischen mir und meinem Gegenüber, daß ich diesen wenigstens ganz sehe! Darin eben liegt doch gewiß eine Haupterklärung für den Einfall, sich plastische Abbilder vor Augen zu stellen." Mag sein,

g2 Vierter Vortrag

aber was sehen Sie denn von der Dame, die Ihnen be- gegnet, ich meine unwillkürlich und gewohnheitsmäßig, nicht mit dem impertinenten Schulmeister neben sich wie jetzt, der Ihnen alles abfragt und Sie mit seiner besserwissenden Kontrole bis aufs Blut peinigt, als wären Sie bei ihm im Seminar. Was sehen Sie? Wenn Sie ehrlich antworten: Stückwerk, und für ge- wöhnlich fast nur das Gesicht. Alles andre nur im allgemeinen, und genauer nur bei besondern Ent- deckungsreisen. Nun machen wir die Gegenprobe und schauen auf das nackte Standbild des Gottes. Da merken Sie, das Gesicht spielt lange nicht so herrsch- süchtig die Hauptrolle, es kann sogar untertauchen im Ganzen, darf bis zu einem beträchtlichen Grade zurück- treten und verschwinden, und dieser Gott bleibt doch der Gott, dieser König doch ein gewaltiger, majestätischer König. Was heißt das? die nackte Vorderseite des organischen Leibes hat so viel zu sagen, daß das Antlitz für sich garnicht so wie sonst in Betracht kommt; ja es wird sogar herabgesetzt in seinem Wert, herabge- stimmt in seiner Bedeutung und müßte eine ganz andre Tonart anschlagen, um wieder aufzukommen gegen die übrigen Funktionswerte des Organismus. Dieser Über- griff in eine andre, vermeintlich höhere Tonart für den einen Teil wäre jedoch, ästhetisch betrachtet, zweifellos sofort ein Mißgriff, ein Widerspruch , und würde von vornherein die Einheit des harmonischen Gesamtein- drucks zerstören. Das wissen manche Künstler von heute gar nicht mehr: sie geben nackten Gestalten von entkleideten Modellen ganz arglos Köpfe von der ge- nauesten Ausführlichkeit und photographischer Porträt- treue, ohne die Dissonanz zu spüren. Der Körper ver- rät dann auf den ersten Blick, daß er eigentlich ange-

Schauseite Kehrseite

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zogen zu sein pflegt und sein Dasein im Dunkel ver- träumt, während nur das Gesicht sein eignes Leben unter der Sonne geführt, also auch eine Geschichte zu erzählen hat.

Dieses Mißverhältnis verschwindet, sobald uns der konterfeite Herr So- und -So den Rücken dreht; dann erst ist auch er wieder ein ganzer Mann, aber für die erdrückende Mehrheit der Zuschauer, auch wenn sie ihn alle Tage getroffen haben , ein Unbekannter. Das ist unter Umständen auch für ihn ein Vorzug, jedenfalls aber für die Statue; denn desto unbefangener dient sie als Augenweide. Als Augenweide, die Rückseite? „Was gibt es denn da überhaupt zu sehen? Das genußreiche Wort stellt sich wohl nur ein, um uns glauben zu machen, daß wir schon erfahren haben, wo denn die plastische Schönheit steckt ? Das hieße doch ein wichtiges Zugeständnis erschleichen!" Doch nein, um einen Beweis, daß die menschliche Gestalt, auch von der Kehrseite betrachtet, die spezifische Schönheit der plastischen Kunst darbiete, kann es sich wohl nicht mehr, oder glückHcherweise noch nicht handeln. Sie muß schon wesentlich dazu gehören, weil sie doch immer die unveräußerliche Hälfte des organischen Geschöpfes repräsentiert. Damit aber rühren wir grade an ihren besonderen Wert für den Bildhauer, und diesen Wert im Ganzen hervorzuheben, ist vielleicht dankenswerter als ein Lob ihrer Schönheit im Einzelnen. Schon als selbstverständlich vorhandene Schattenseite hätte sie die Bedeutung, als ruhige Unterlage der beweglichen Licht- seite, d. h. als Folie zu dienen. Wird sie selbst aber in gutes Licht gerückt, wie es beim vollrunden Gebilde von Rechtswegen erlaubt sein muß, hat sie den Vorzug der Ruhe, der Geschlossenheit, der Abrundung in sich.

QA Vierter Vortrag

also, im Vergleich zur andern, der Unabhängigkeit von auswärtigen Beziehungen, die jeder Blick und jedes Gebaren schon herausfordert, den Vorzug der Selb- ständigkeit und Beharrung. Je lebhafter der Ausdruck vorn, desto größer die Wohltat des bleibenden Bestandes hinten, der sichere Rückhalt an sich selbst. Je mannich- faltiger dort die Richtung nach Außen sich auf alle mit- wirkenden Glieder verteilt, desto notwendiger wird hier die allseits befriedigende Auskunft über den Zusammen- hane des Ganzen, der sich trotz alledem erhält. Machen wir auch hier die Gegenprobe, indem wir einen weiten Mantel von den Schultern herabhängen lassen: er ver- hüllt die eine Hälfte des Organismus und setzt sich selbst an ihre Stelle. Er übernimmt die Beruhigung; aber er kommt auch sofort in Gefahr, zur leeren Fläche, zur kahlen Wand zu werden, wie so mancher Königs- mantel an unsern Standbildern, nichts als eine tekto- nische Masse, die beliebiges Zeug bedeutet. Legen wir dagegen nur ein farbiges Tuch allein um die Hüften, so schneiden wir sofort den Zusammenhang des Ganzen entzwei und zerlegen es in eine obere und eine untere Hälfte, von sehr verschiedenem Wert: nun sind die Beine nur noch Gestell des Rumpfes.

Doch hören wir über diese heikle Frage lieber den Künstler selbst, der den nackten Körper das Schönste genannt hat, das wir überhaupt uns vorstellen können, „Die sichere Aufstellung einer schlanken und schweren Masse auf doppelten, je dreifach flexiblen Grundlagen wäre schon für die Mechanik ein schwieriges Problem. Dasselbe wird bei unserm Körper noch erschwert durch den hochgelegten Schwerpunkt der getragenen Masse und dessen in ziemlichem Spielraum ^ehr erleichterte Verlegbarkeit. Daß die schwierigsten Punkte der Kon-

Verbindung zwischen Ober- und Unterkörper ge

struktion in den Verbindungen der Träger mit dem Ge- tragenen liegen, ist einleuchtend. So spiegelt sich jede wesentliche Veränderung der obern an den untern Teilen, die der Bewegung erst Sicherheit verschaffen. Alle diese wichtigen Konstruktions- und Bewegungsfragen des menschhchen Körpers finden ihre Lösung im Becken und zwischen seinen hervorragenden Punkten. Wie die Konstitution jedes individuellen Körpers selbst, ob schlank, ob breit, ob kräftig, ob fein, so spiegelt sich auch jede Bewegung an jenen Stellen. Die wunderbare Kom- pliziertheit des Mechanismus bietet, unter scheinbarer Einfachheit verborgen, die schönsten Flächen- und For- menkombinationen. Durch ihre künstlerische Wieder- gabe ist die Darstellung der menschlichen Gestalt erst möglich. Grade diese Stellen sind für die Arbeit des Künstlers, wie für das Verständnis des Beschauers von höchster Wichtigkeit. Sie sind es, deren Konstruktion den menschlichen vom tierischen Organismus unter- scheidet, deren vollendete Wiedergabe dem Kunstwerke Einheit und Klarheit verleiht." i)

1) Malerei und Zeichnung. Ich habe dies Schriftchen Klingers seit seinem Erscheinen (1893) mit meinen Schülern häutig gelesen. Als ich damals nach Leipzig kam, verhielten sich seine Mitbürger noch so ablehnend gegen den Künstler, daß ich beim ersten Vortrag im Kunstverein zu Neujahr 1894 die Gelegenheit vom Zaune brach, die Versammelten an ihre Pflicht gegenüber einer solchen Kraft zu mahnen. Im Museum sagte man mir, ich hätte dieses Schlußwort besser unterlassen; aus dem Hörerkreise jedoch bekam ich Briefe, die es als ,, rautige Tat" bezeichneten oder den Wunsch aussprachen, daß damit ,,das Eis gebrochen" sei. Als die „Salome" erschien, wurde ich von maßgebender Seite befragt, ob man ihre Anschaffung fürs Museum verantworten könne? Jetzt hat sich das Blatt gewendet, und dieselben Leute können sich nicht genug tun in Begeisterung: sie sind daran, statt eines Heiligtums für den „Beethoven", vielmehr ein Klinger-Heiligtum zu bauen, und schießen, m. E., damit über das Ziel

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Vierter Vortrag:

In diesem Bekenntnis Max Klingers über den Wert einer einzigen, wenn auch besonders entscheidenden Stelle des menschlichen Körpers verquicken sich aller- dings, wie wir nicht verhehlen dürfen, verschiedene Be- trachtungsweisen. Die plastische Schönheit des Orga- nismus beruht hier jedenfalls grade in der „scheinbaren Einfachheit", unter der die Natur das Ineinandergreifen der Teile „verborgen" hat. Denken wir diese Hülle hinweg, so daß die Mannichfaltigkeit der Funktionen frei zu Tage trete, so wird schon die Auffassung der mi- mischen Ausdrucksfähigkeit der verschiedenen Kom- binationen überwiegen, und zwar im zeitlichen Verlauf der Körperbewegungen nacheinander. Und ist es gar der Mechanismus an sich, der unser Interesse beim menschlichen Skelett gefangen nimmt, ist es die Freude an der Kompliziertheit des Problems und den Schwierig- keiten seiner Lösung, so sind wir bei der Analyse eines zweckentsprechenden Werkzeugs, bei der Bewunderung einer sinnreichen Maschine, also doch sicher auf dem Gebiet des Kunsthandwerks angekommen.

Wir sehen eben wieder bewährt, wie der Körper des Menschen im Mittelpunkt all seines künstlerischen Schaffens dasteht, und wie von diesem organischen Ge- bilde die Wege nach allen Kichtungen hinausführen zu andern Kunstg-ebieten.

hinaus. Ich denke immer noch grüßer von dem Beethoven als mancher Tagesherold, wenn ich behaupte, die Gruppe fordert ihren eignen Raum und verträgt sich weder mit einer Badenden, noch mit einer Pariser Kokette, ja selbst nicht mit einer Kassandra. Man wünscht dem Einsamen, er könne über Nacht aufstehen und sie mit seinen Fäusten allesamt an die Luft setzen, damit er mit seinem Vogel allein bleibe.

Kunsthandwerk

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Das Gefühl für den eignen Leib als Körper im allgemeinen Raum ist auch die Grundlage für die Tektonik, und nicht für sie allein, sondern auch für das weitere Schaffen der Architektur. Dieser lebendige Zusammenhang muß uns um so mehr beschäftigen, als hier wieder der Schlüssel der ästhetischen Ausbildung und Genußfähigkeit in dem Gemeinsamen zu suchen ist, das wir alle miteinander teilen, d. h. in der gleichen Organisation.

Daß alle Werkzeuge und Geräte, die der Mensch erfindet und schafft, den eignen GHedmaßen und Körper- teilen angepaßt sein müssen, versteht sich ja eigentlich von selbst. Unsere Hand, die den Henkel einer Tasse, einer Kanne faßt, durchdringt sozusagen diesen Anhalt mit dem eignen Gefühl und vollzieht die Handhabung um so bequemer, je handlicher der Griff gebildet ist, je einladender er gleichsam der Berührung entgegenkommt, je williger er sich dem Dienste des lebenswarmen Or- ganes anschmiegt. Und was von diesem Teil, gilt weiter für das Ganze, das seinen Funktionswert so verständUch ausprägen mag, wie der Arm, das Bein, der Fuß des Menschen selber. In der Gestalt des Gerätes schon gibt seine Bestimmung sich kund und erwirbt so den An- schein, als diene es freiwillig aus eigner Lust und mit einem Überschüsse seiner Innern Anlage. Aus dem bloßen Werkzeuge wird es zum Genossen des Besitzers, der ausschließlich praktischen Rücksicht enthoben. Zweck und Form verschmelzen zu einer Wesenseinheit, die unsre Intuition erfaßt, wie die Einheit zwischen Leib und Seele in der eignen ausdrucksvollen Erscheinung. Auch hier greifen die Momente mimischer und plastischer Schönheit ineinander, wie an jedem Lebewesen. Dieser bereitwillige Anschluß an die Körperbewegung des

Schmarsow, Kunst und Erziehung. 7

g8 Vierter Vortrag

Menschen und die Arbeitsleistung, die von ihm verlangt wird, gibt dem Werkzeug eine bleibende Gebärde; unsre zeitliche Anschauung löst sie ins Nacheinander, in die zweckdienliche Abfolge der Momente auf, und wandelt sie für unsre Phantasie, auch wenn wir das Ding nicht wirklich gebrauchen, in die Vorstellung des Vollzuges, wie das durchgehende Motiv einer Genrefigur. Sehen Sie nur die Sense an, die dort in der Ecke lehnt. Sieht sie nicht aus wie ein abgelöstes Glied. Schauen wir sie etwas näher an, nimmt sie sich aus wie gebogen oder geknickt, als hätte sie ein Gelenk zwischen zwei Teilen, deren einer sich wie ein verlängerter Arm erstreckt, während der andre herumgreift wie eine verlängerte Hand. Das Eine ist der Stiel, das Andre das Messer. Ganz ähnlich verhält sich auch der Klappstuhl, der seine Arme und Beine unter die unsrigen schiebt. Je selb- ständiger jedoch das Gerät ausgebildet wird, so daß es auch außer Dienst sozusagen auf eignen Füßen stehen und sich unabhängig an seiner Stelle behaupten kann, desto mehr tritt die transitorische Gebärdung zurück, um der ausgerundeten Form oder organisch gegliederten Gestalt den Vorrang einzuräumen. Die Kanne schon hat ihren eignen Fuß, ihren Rumpf oder Bauch, und womöglich gar ihren eignen Schnabel, und zwar an einer Seite, dem Henkel gegenüber; sie hat also ihre Vorder- und Rückseite, es fehlt nur noch der eigne Kopf, den schon ein Deckel fast vollendet. Verwandelt sich die Kanne dann in eine Vase, indem sie den Henkel ab- wirft, um lieber umhalst oder um den Leib gefaßt zu werden, oder indem sie statt eines Henkels deren zwei ausbildet, wie unser Paar von Armen, dann trauen wir ihr erst recht zu, daß sie ihren Kopf «lufrecht halte und den unabhängigen Wert ihres Inhalts behaupte, indem

Tektonik

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sie gar nicht mehr Miene macht, sich zu bücken und zu schmiegen, sondern unbeirrt dasteht, bis wir sie ent- schlossen von ihrem Standort heben und, dem Gesetz ihres Inhalts Rechnung tragend, entleeren, d. h. ohne ihn zu verschütten. Dabei spielt sich gar eine Szene, ein Kampf ab, wie der Widerspenstigen Zähmung, und wehe dem Ungeschickten, der sich nicht einzufühlen weiß zu rechter Zeit! Die Ziervase dagegen beharrt vollends als plastisches Kunstwerk auf sich selber be- ruhend.

Von der Vase bleibt nur ein Schritt noch zum Baluster, dessen Fuß unten und Kopf oben in einen bleibenden festen Zusammenhang aufgenommen ist, der also seine Selbständigkeit wieder opfert im Dienst eines gemeinsamen Zweckes. In Reih und Glied, wie er, be- gegnet uns dann, noch größer freilich und zur voll- gerundeten Körperlichkeit über den Menschenleib hinaus gesteigert, die Säule oder der Pfeiler im umfassenden Bauwerk.

Nun aber dem Baugliede mitten im Zusammenhang eines größern Ganzen gegenübergestellt, sollten wir uns den Unterschied mimischer Beweglichkeit und plastischer Beharrung noch einmal zum Bewußtsein bringen; denn der verschiedene Charakter der tektonischen Einzel" glieder schon spricht die ganze Sinnesart der Baustile vernehmlich aus, und verrät uns die innerste Triebfeder im Wandel der Weltanschauungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte vollzogen hat und die Gegensätze wie völlig unvermittelte und unvereinbare Potenzen aus- einanderrückt. Treten wir zunächst in unsre gotischen Kirchen, unter ein einziges Gewölbejoch nur mit seinen Rippen zwischen den füllenden Kappen, seinen Diensten an den Trägern und seinen Spitzbogen, die sich hinüber

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und herüber lehnen. Haben nicht diese schlanken Dienste und gefurchten Rippen unzweifelhaft mimischen Ausdruck, als gebärdeten sie sich vor uns, griffen in- einander im Vollzug ihrer Tätigkeit, und hielten einander aufrecht durch die einseitige Anspannung ihrer Kraft? Wir glauben den Aufwand der Muskelenergie zu spüren, und schweifen, der Streckung dieser GHeder folgend, mit dem Blick von einem zum andern. Wir finden uns überall hinausgewiesen über das Einzelne und nicht auf den ruhigen Zusammenhalt, sondern auf w'eitergehendes Streben, bis zur Schließung des Kreises aller Mitwirken- den ringsum.

Der gotische Gliederbau beschäftigt uns mit dem Ausdruck von lauter Funktionswerten, lauter für sich allein nicht selbständigen, sondern immer von einem andern Teil und schließlich vom Ganzen abhängigen Werkzeugen, die in transitorischer Gebärde erstarrt scheinen, wie es von der Sense gesagt ward. Wir voll- ziehen in unsrer Vorstellung den Verlauf der gemein- samen Leistung, das Ineinandergreifen der Hebelarme, die an senkrechtem Rückgrat mit geschlossenen Stand- beinen darunter angesetzt scheinen: und diese Vorstellung erst gibt uns die Einheit aller.

Der Eindruck des griechischen Baugliedes ist ein ganz andrer; der Zusammenhalt in der Säulenreihe mit ihrem Gebälk wird nur mit starker Einmischung der poetischen Phantasie und des rechnenden Verstandes in ein Widerspiel von Kräften aufgelöst und aus der Ruhe, wie sie dasteht, in Bewegung und Gebärdung übersetzt werden können. Es war nichts als gotische Infektion, wenn solche KampfdarstcUung auch im helleni- schen Tempel behauptet und als Ergebnis^der ästhetischen Analyse hingestellt worden ist. Der wirklich gegebene

Mimische und plastische Auffassung iqj

Eindruck der griechischen Säule hängt vielmehr ganz an der plastischen Rundung, der harmonischen Ganzheit und der maßvollen Betätigung des grade gewachsenen Stammes, der über seine Geschlossenheit doch nirgends hinaustritt. Neben der einen Richtung, die mit der Achse seines Wachstums zusammenfällt, ist er nirgends zu seitlichem Ausgreifen in Anspruch genommen, auch am Fuß- und Kopfende nicht in stärkerem Maße. Wir versetzen also, wenn wir die Säule unbefangen anschauen, unwillkürllich uns selber ganz und gar, aber in ge- schlossener Haltung zusammengenommen, d. h. unsern Körper als verwandtes Gewächs vom Kopf bis zu den Füßen in dieses tektonisch-plastische Gebilde. Wir fühlen den Anklang an die eigne organische Einheit und Selbst- ständigkeit in ihr, so wahr sie auf eignem Fuße steht und einen eignen Kopf aufweist. In Reih und Glied übernimmt sie, doch freiwillig scheint es und auf sich selber beharrend, den weitern Zusammenhang und er- hält ihn nach unten wie nach oben. Aber das Bindeglied droben, das gleichstarke Gebälk, ist wieder ein Körper für sich. Diese Säule, dieser Pfeiler hat Haltung, aber kein Gebaren. Es liegt eine viel stärkere Annäherung an die abstrakte stereometrische Form vor, d. h. an die gesetzmäßige Einfachheit der unorganischen Natur, und damit an den Pol der Beharrung.

Diesen Weg der Betrachtung müßten wir verfolgen, wenn es gälte, die Regelmäßigkeit der tektonischen Ge- bilde durch das ganze Gebiet des Kunsthandwerks zu verstehen und in Verbindung mit der Baukunst alles Einzelne dem lebendigen Gefühl des Betrachters zu er- schließen. Hier genügt es, ein charakteristisches Bei- spiel vorgeführt zu haben, das zugleich einen tiefgehen- den Unterschied aufdeckt. Denn es begreift sich wohl

102 Vierter Vortrag

ohne weiteres: hier trennen sich die Wege zweier grund- verschiedener Stile, die wir als mimische und als plas- tische Auffassung innerhalb der architektonischen Formen- sprache bezeichnen könnten. Sie stehen einander gegen- über wie die gotische Kathedrale und der griechische Tempel. Da scheiden sich die Zeiten; denn die eine herrscht im christlichen Mittelalter wie die andre im klassischen Altertum. Da sondern sich auch die Völker nach ihrem Charakter und Empfinden; denn der eine Weg führte von innen nach außen, der andre von außen nach innen. Und wir dürfen uns fragen, nach welcher Richtung zieht uns das eigne Wesen, zur Ausdrucks- bewegung oder zur Körperform? Oder wüßten wir eine dritte aufzuweisen, die mit größerm Recht unser eigen wäre? Sollten sich durch die große Renaissanceperiode, die seither verflossen ist, die Gegensätze so weit aus- geglichen haben, daß keine Völkerscheidung zwischen Nord und Süd zu walten braucht?

Doch kehren wir von diesem Ausblick zu unserm bescheidenen Standpunkt vor dem tektonischen Bau- gliede zurück. Versuchen Sie nun einmal sich selbst von solchem zylindrischen Stamm wirklich umschlossen zu denken, zunächst mit schlicht herabhängenden oder über dem Kopfe zusammengelegten Armen. Dann be- greifen Sie, daß darin das Grundmaß für allen weitern Aufbau gegeben ist. Nach der Zahl dieser Körperdicken mag sich der Abstand von Träger zu Träger, von Wand zu Wand bemessen, auch wenn wir die Rechnung in größeren Maßstab übersetzen. Natürlich bleibt der frei sich dazwischen bewegende Mensch unentbehrliche Voraussetzung für den Genuß dieser Verhältnisse; aber er muß das tektonische Gebilde körperlich fühlen neben dem eignen Körper, wenn er hindurchgeht, die auf-

Von Plastik zur Architektur

103

gerichtete Höhenachse sich gegenüber, wenn er davor- steht, und dieses Gefühl wird durch imponierende Steige- rung der Vertikalen erst recht herausgefordert. Und nun denken wir uns den Zylinder oder den vierseitigen Pfeiler durchsichtig, wie ein Glasgehäuse oder eine krystallene Umgrenzung über uns gestülpt, dann haben wir in dieser eng unsern Leib umkreisenden Raumgrenze das sichtbar vor uns, was wir bei plastischen Gestalten (gewöhnlich allerdings erst, wenn Arme und Beine freier ausladen) als „ästhetischen Raum" der Figur zu bezeichnen pflegen. Die grundlegende erste Umgrenzung ist aber die eng- umschließende, die eigentliche Körperzone, der innerste Umkreis um die Vertikalachse vom Scheitel bis an unsre Sohlen. Dann aber breiten wir die Arme so weit wir können aus, so gibt der konzentrische Kreis, den wir mit unsern Fingerspitzen beschreiben, oder die innere Wandung eines weiteren Glaszylinders eine weitere Zone wieder, das ist die äußerste Grenze unsrer Tast- region. Darüber hinaus reichen, solange wir feststehen, nur noch die Augen. Der Spielraum ihrer Blicke gleicht ungefähr einer Innern Kugelfläche, so daß wir richtiger von unsrer „optischen Sphäre" sprechen. Und dieser Sehraum zerfällt wieder in zwei konzentrische Sphären, die nähere für das abtastende Sehen unsrer konvergierenden Augen, die immer noch Körperwerte suchen, und die weitere für das ruhige Schauen des flächenhaften Fernbildes. Auf der Scheide zwischen diesen beiden Sphären be- ginnt erst eigentlich die Außenwelt. Mit dieser Reihe: vom Körpervolumen zum ästhetischen Raum unsres Körpers, von da bis zur Grenze der Tastregion, und weiter hinaus in die Sehsphäre, sind wichtige Stufen in unsrer räumlich-körperlichen Auseinandersetzung mit dem allsfemeinen Raum da draußen aufgewiesen. Und diese

I04 Vierter Vortrag

Stationen führen von der Körperbildnerin, Plastik und Tektonik, zur Raumgestalterin, Architektur,

Nun aber begnügen wir uns nicht mit dem festen Standort, den wir bisher eingenommen haben, sondern verschieben ihn nach Bedarf und Laune, soweit die Erd- oberfläche uns trägt. Das natürliche Vorrecht der Orts- bewegung ist auch grade die innerste Triebfeder bei der Entstehung der architektonischen Schöpfung. Wie unser pochendes Herz in schnellem Tempo, unser Ein- und Ausatmen schon in regulierbarem Wechsel innerhalb fühlbarer Grenzen, so hilft unser pendelnder Gang, das mehr oder minder schnelle Sichablösen unsrer Beine den Raum zu durchmessen. Die Ortsbewegung in der dritten Dimension erst bringt uns die Ausdehnung zum unmittelbaren Erleben. Die Entfernung kann ich abschreiten und abtasten, den Raum vor mir kann ich Stück für Stück zurücklegen. Nachdem ihn meine vor- wärts blickenden Augen schon im Voraus überschaut haben, ordnen sich nun erst beim Durchwandeln die Einzelheiten in ihrem tatsächlichen Abstand zueinander, bewähren nach dem bloßen Augenschein nun erst ihre volle Realität, eben als Körper im Raum wie ich selber. Die Länge dieser Tiefenachse durch den Raum hin be- deutet für das menschliche Subjekt das Maß der freien Bewegung im vorhandenen Bereiche. Nach welcher Himmelsrichtung wir das AntUtz kehren, da liegt für uns die Welt. Wo wir diese Anwartschaft auf die ganze Weite da draußen durch eine Grenzwand abschneiden» da bescheiden wir uns, und mit solchen „vier Wänden" stiften wir unser eignes Heim.

In der Tiefendimension und der ganzen an ihr sich hinziehenden, durch Körper begrenzten Raumentfaltung, lernen wir die Wohltat begreifen, die eine solche architek-

Architektur IO5

tonische Schöpfung von Menschenhand uns gewährt. Was mag der Wert dieser Raumgestaltung wohl sein, ganz abgesehen von ihren praktischen Zwecken , der innere Wert, den wir in reiner Anschauung genießen? Wir Menschen bringen ja die Anlage für die räum- liche Anschauungsform mit. Raum und Form ist freilich nicht das Erste, was wir den Erscheinungen abfragen, aber wir können nicht umhin, alles Erscheinende in diese unsre Auffassung einzufangen. In der wirklichen Aus- gestaltung eines Körpers oder eines Raumgebildes emp- fangen wir aber erst mit voller Klarheit und Konse- quenz die dreidimensionale Raumform, wie keine alltäg- liche Erfahrung der Wirklichkeit sonst sie zu geben ver- mag, eben weil der Erscheinungen Flucht sich nur in ewigem Flusse darstellt und jeden Augenblick verschiebt, oder gar verwirrend an uns vorüber jagt. Unsre Be- hausung dagegen ist eine bleibende Auseinandersetzung mit dem durcheinanderlaufenden Gewoge der Außenwelt, und zwar auf Grund der durchwaltenden Gesetzmäßig- keit, sowohl unsrer eignen räumlichen Anschauungsform, deren glatter Vollzug uns befriedigt, wie andrerseits der elementaren Unterlagen unsrer Existenz, d. h. der Materie, der unorganischen Natur, auf deren sichern Be- stand und gleichmäßige Beharrung wir bauen. Diese Auseinandersetzung im Bauwerk geht aus von unserm eignen Körper, und ihre Wirkungen kehren immer zu ihm zurück; sie beruht überall auf sinnlichen Be- ziehungen zu ihm, aber sie steigt auf zu einer geistigen Schärfe und bewußten Verarbeitung, die das Wesen der ganzen Körperwelt, den Bau der Erde wie des Kosmos zu ergründen strebt, sei es zunächst auch nur, um den beruhigenden Einklang zwischen dem Menschen und seiner täglichen Umgebung zu sichern, der einmal

lo6 Vierter Vortrag-

die Grundlage und Voraussetzung seines beglückenden Daseins ausmacht.

Es sind also zwei Seiten, die wir auch im architek- tonischen Kunstwerk zu unterscheiden vermögen: die Organisation, aller Formen zunächst nach Analogie unsres eignen Körpers, aber auch des Ganzen im Zu- sammenhang aller Teile, und die Krystallisation in jener Annäherung an die stereometrische Regelmäßig- keit der unorganischen Materie, in der Anpassung an die Gesetze der Körperwelt und die Bedingungen des Stoffes. Beide Seiten bewähren sich in jedem Raum- gebilde, das die Architektur uns schafft. Ein noch so kompliziertes Ganze, wie unser heutiges Haus oder die gotische Kathedrale, befriedigt uns lediglich durch den erreichten Einklang zwischen den Gefühlen des Ich und den Gesetzen des All. Wir erleben in ihnen, von Raum zu Raum weiterschreitend , von den äußersten Ver- zweigungen bis zum Hauptpunkt vordringend, die Über- schau über ein System von Zwecken, die sinnvolle, überall durchgeführte und verständlich uns anmutende Organi- sation am Verhältnis aller Glieder zum Rumpfe, aller Werkzeuge zum Haupte, und genießen die Raumkompo- sition bei diesem Innern Nacherleben im Vollzug des zeitlichen Verlaufes, wie die Aufführung eines Dramas, einer Trilogie gar, oder einer symphonischen Dichtung. Wir lösen ins Nacheinander auf, was im Nebeneinander besteht. Und eben an diesem festen Bestände, dem ruhigen Beharren der Masse, des Körpers und der Raum- form bricht sich die warm empfindende Beseelung. Der Vergleich mit unserm eignen natürlich gewachsenen Leibe reicht doch nur bis zu einem gewissen Grade, denn die Mauern und Stützen, die Decke und das Dach sind aus starrem Material gefügt, und das Ganze, als

Architektonische Schönheit

107

Raumkörper von außen betrachtet, erscheint erst recht wie eine stereometrische Figur, wie ein Krj'stall, der aus dem Felsen hervorragt, oder ein Komplex von solchen krystallinischen Gebilden auf der festen Unterlage dieser Erdrinde.

Wer eine solche Schöpfung genießen will, der spürt es wohl: das Körpergefühl des Menschen erweitert sich zum Raumgefühl, das Selbstgefühl des Einzelgeschöpfes zum Verfolg des Zusammenhangs mit den kosmischen Gesetzen, deren gewaltiger Bau uns nur beherbergt. An der Hand der Baukunst erobern wir wenigstens ein Stück von diesem weiten, unsern Erdball umfassenden Ganzen. Unsre schöpferische Auseinandersetzung mit der Welt geht über die Grenzen der organischen Schön- heit unsres Leibes und Unsersgleichen zur architekto- nischen Schönheit der unorganischen Natur um uns her, und unser Blick in das Sternenzelt über unsern Häuptern lehrt uns jenseits dieser Wölbung die weit über Menschen- maß hinwegschreitende Architektonik des Weltgebäudes ahnen, wo unsre dreidimensionale Auschauungsform sich erkühnt, mit ihrem Anspruch auf Geltung auch die Unendlichkeit zu durchdringen, sie zu erobern für den Menschengeist und, soweit es irgend zu folgen vermag, auch für das menschliche Gefühl.

FÜNFTER VORTRAG

Der menschliche Körper bleibt immer der Mittel- punkt aller ausstrahlenden Wirkungen in die Weite, haben wir uns gesagt, und ebenso der Zielpunkt aller Einstrahlungen von den Grenzen unsrer Sinnessphären her. Das ist auch Hausgesetz für unser lebendiges Ver- hältnis zum architektonischen Kunstwerk. Nun aber haben wir bis dahin fast nur die beiden notwen- digsten Faktoren, den prinzipiellen Gegensatz sozusagen, zwischen dem Ich und der Weite, die es erobern und gestalten soll, verfolgt, nämlich die erste und die dritte Dimension. Die erste Dimension ist für den Menschen die Höhe; denn sie ist als Wachstumsachse seiner auf- rechten Gestalt gegeben. Sie bleibt auch die unvermeid- lich vorbestimmte Mittelachse seiner Weltanschauung. Die dritte Dimension dagegen fanden wir als wichtigste Lebensachse der räumlichen Weite um uns her eröffnet« Wohin wir uns kehren, sie mit Hilfe unsrer Orts- bewegung zu durchmessen, da beginnt die Auseinander- setzung zwischen Körper und Raum. Mit diesem gegen- sätzlichen Paar hätten wir jedoch nur den positiven und den negativen Pol, ohne noch zu wissen, wie sie sich in schöpferischer Gestaltung mit einander ausgleichen sollen. Vom positiven Faktor, dem Menschen, muß doch die Raumbildung ausgehen, während der allgemeine Raum

Die drei Dimensionen

109

nur das Feld für diese Tätigkeit darbietet, eben die Raumleere, die wieder nur durch Körper erfüllt und geteilt werden kann. Nun enthält freilich die Natur um uns her bereits mehr oder minder fertige Raumum- schließungen, wie die Waldwiese von Bäumen umstanden, das Tal von Bergen begleitet, oder die Schlucht von Felswänden eingehegt. Aber die Einzelkraft des Menschen vermag nicht ohne weiteres Berge zu versetzen und Felswände zurecht zu schieben, wie er sie haben will; nur Baumstämme oder Aste hinzupflanzen, hinabgerollte Steinblöcke zuhauf zu wälzen gelingt ihm, wo seine Körperbewegung und seine Muskelenergie die Körper- schwere und ihr Gesetz der Trägheit überwindet. Körper muß sich an Körper messen. Wir kommen also auf das Nebeneinander mehrerer Gegenstände und damit auf die wichtigste Vermittlerin zwischen jenen beiden Polen, die Breitendimension, die uns noch fehlte. Diese, die wir die zweite Dimension nennen, beansprucht ihren Rang vor der dritten, eben weil sie uns körperlich noch näher liegt. Wir betrachten sie wenigstens von unserm mensch- lichen Standpunkt als den nächsten Zuwachs über die persönliche Vertikalachse hinaus, sie macht aus dieser senkrechten Mittellinie, in der wir stets das Zentrum unsers Ichbewußtseins suchen, eigentlich erst ein fühlbar Ausgedehntes im Raum. Sie scheint für unsre An- schauung von uns selber zu genügen; sie gibt uns schon ein Abbild, wenn auch zur vollen Körperlichkeit die dritte Bundesgenossin notwendig dazu gehört. Wir wissen höchstens von einer Vorderseite und einer Rückseite; daß unser Leib auch noch zwei andre Seitenansichten hat, die uns die Körperdicke zeigen, das lernen wir erst allmählich, durch Erfahrungen von Druck und Stoß, und unser Auge wird wohl gar von diesem Anblick über-

1 1 0 Fünfter Vortrag

rascht, ja befremdet. Nur der Künstler weiß: „le profil c'est rhomme", und meint damit nicht nur das des Kopfes, sondern der ganzen Figur.

Die zweite Dimension ist sozusagen der selbstver- ständlichste, geläufigste Bestandteil der Außenwelt für uns. Das „Außer mir" beginnt eben mit dem Auftreten eines zweiten Körpers neben mir. Und stellt sich gar ein dritter an meine andre Seite, so meldet sich das Gefühl der Einengung. Schulter an Schulter, das bringt mich in Reih und Glied, zieht mich hinein in die Masse der übrigen. Da sind Ellbogen erforderhch, um wenigstens die Stelle zu behaupten, und starke Schultern, um nicht erdrückt zu werden. Im Gedränge lernen wir den Wert der zweiten Dimension am eignen Leibe kennen. So bietet sich unser Tastraum zunächst als Verbindung des Höhenlots mit der Breitenausdehnung dar, oder als Kreuzung der Vertikalen und der Horizontalen. Aber fragen wir weiter, indem wir auch unsern Gesichtssinn zu Rate ziehen, so merken wir abermals, daß auch er den Raum zunächst nur als Fläche wahrnimmt, als Kreuzung der senkrechten und der wagerechten Er- streckung einer Ebene uns gegenüber, in gewissem Ab- stand da draußen meinen wir aber in sehr unge- wissem Abstand von uns, eigentlich auf uns, beschreiben die Blinden, wenn sie sehen lernen. Schon diese Ab- schiebung der nahen Fläche zur Entfernung, schon diese Erweiterung des Sehraums über die Tastregion hinaus ist eine bedeutsame Etappe in unsrer Auseinandersetzung mit der Welt. „Drei Schritt vom Leibe!" befiehlt ja wohl, wer eine unliebsame Annäherung verbietet. Aber die Errungenschaft, die sich damit einstellt, ist doch wohlbeachtet schon die Erorberun^ der dritten Di- mension, der Tiefen -Ausdehnung. Und Ortsbewegung

Symmetrie, Proportionalität, Rhythmus 1 1 1

erst ermißt die erscheinende Weite des Blicks: im Wechselspiel der Augen und des Leibes werden wir der Wohltat inne, was es bedeutet, freien Spielraum um uns her zu gewinnen und zu behalten.

Nun atmen wir auf, wenn wir uns eben noch ein- geengt fühlten, und genießen dies Atmen in vollen Zügen wie eine Gunst des Raumes. Zwischen den Dingen und uns besteht aber der greifbare Zusammenhang als Körper im nämlichen Räume fort, und je nach dem Abstand von unsrer für jede Berührung empfindlichen Haut schätzen wir einwärts oder auswärts liegende Grade der Möglichkeit dieser Beziehungen ab. Hier erfahren wir am eignen Leibe die Verschiedenheit seines Äußern und Innern, und fassen die Breite als Ausbreitung von unsrer Mitte her, nach unsern Flanken, unsern Schultern und Ellbogen oder unsern ausgestreckten Armen und Fingerspitzen.

Dies Verhältnis zwischen der Mittelachse und dem weitesten Abstand unsrer Hände voneinander übertragen wir auch auf die Breite des Sehfeldes uns gegenüber. Vor jedem Ding der Außenwelt nehmen wir Stellung, um unser Höhenlot auf das Objekt anzuwenden und von dieser Trennungslinie aus das Ganze in zwei Hälften zu zerlegen. Die Gleichheit dieser Seiten befriedigt, die Ungleichheit beunruhigt unser Gefühl, wie uns ein Über- maß der Höhe im Vergleich zu uns den Atem hemmt und stoßweise dagegen aufzukommen drängt, ein Zurück- bleiben der Vertikale drüben unter der eignen jedoch sofort ein hochgemutes Selbstgefühl auslöst und den Odem stolz emportreibt, bis solchem Genuß der „Überlegenheit" etwas andres in die Quere kommt. Es sind die Gesetze der Symmetrie und der Proportionalität, die wir damit erleben.

112 Fünfter Vortrag

Stellt sich nun irgend ein Anlaß ein, die Breite nicht nur von uns aus so obenhin abzuschätzen, son- dern in ihrer wirklichen Ausdehnung am Objekt uns gegenüber, von einem Ende bis zum andern, zu ermessen, so müssen wir unsern festen Standpunkt aufgeben, sei es tatsächlich, sei es nur in der Vorstellung, uns an den einen Endpunkt versetzen, und dann die Entlangbewegung vollziehen, und zwar wiederum durch wirkliche Orts- bewegung oder durch innere Nachahmung dieses Vor- gangs. So lösen wir auch hier das ruhig Beharrende für unser Gefühl in zeitliche Vorstellung auf, und aus dem Widerspruch gegen diese Anläufe unsres successiven Erlebens ergibt sich die Bewährung des simultanen Be- standes, des Daseins, das wir „wirkUch" nennen. Nun hat sich aber die Breite verwandelt, sozusagen unter unsern Händen oder unsern Augen; sie stellt sich jetzt als Länge dar. Und sehen wir oder schreiten wir daran entlang, so übersetzen wir sie aus der zweiten Dimen- sion in die dritte: aus der Breite wird, sowie wir sie wieder zu unserm eignen Leibe in Beziehung setzen, uns (wie wir sagen) richtig im Raum orientieren, die Tiefe. Und auch diese hat ihr eignes Gesetz, das wir im Unterschied von Symmetrie und Proportionalität am besten Rhythmus nennen, da es in zeitHchem "Verlaufe vollzogen wird.

Es sind lauter ganz einfache und längst selbst- verständlich gewordene Dinge, die nur Verwunderung erregen, wenn man sie einmal beim richtigen Namen nennt, und dadurch wieder zum Bewußtsein zu bringen sucht. Nicht diese Verstandesarbeit aber ist das Wichtige, worauf es eigentlich ankommt, sondern sie leistet uns nur den Handlangerdienst, um das Gefühl für diese Beziehunjjen wieder zu erwecken. Ist dies lebendige

Raumgefühl Dynamik der Blicke 1 1 ^

Verhältnis zwischen den Dingen und uns erst wieder erwacht, so sind wir im Zuwachs unsrer Genußfähigkeit auch im vollen Zuge der ästhetischen Erziehung. Es heißt eben auch hier: „Wer Augen hat zu sehen, der sehe", gleichwie: „Wer Ohren hat zu hören, der höre" nicht nur für Wort und Rede, sondern auch für Musik, für Töne und deren Rhythmus, gilt. Etwas Gehör oder Gesicht haben wir wohl alle; aber zur vollen Ausübung beider Sinne muß den meisten erst geholfen werden. „Und ihre Augen wurden aufgetan, und ihre Ohren ver- nahmen eine unsichtbare Stimme." Es ist weiter gar kein Orakelspruch, wenn wir uns sagen, daß erst die Weite unsres schweifenden Blickes auch der zweiten Dimension ihre volle Lebenskraft verleiht. Wenn das Auge in freiere Beweglichkeit übergeht, und beim Spiel der Muskeln um den Augapfel herum auch die Über- tragung auf den motorischen Apparat unsres sonstigen Körpers sich einschleicht, dann klingen die Erfahrungen andrer Sinnesregionen mit und legen die Werte von Hell und Dunkel, die das Auge beibringt, als Raum- und Körperwerte da drüben aus. Mit dem Wechsel in der Richtung unsres Blickes erwächst auch der Anspruch auf weitere Grenzen, von Hnks nach rechts, von unten nach oben. Die beiden Ausdehnungen auf der Seh- fläche werden zur Augenweide, an der auch die Seele sich ausweitet wie unser Atem, und sich erquickt wie unser Herz. Die schweifende Ortsbewegung unsrer Augen führt uns erst die Ausdehnung jener Wand zu Gemüte; aber diese Ebene vor uns erscheint bald kahl und öde, wenn sie keinen Anhalt, keine faßbaren Bahnen für unsre Blicke bietet, keinen Wechsel zwischen Ausruhen und Be- wegung hervorbringt. Erst die nachahmende Betätigung des Gefühls und deren rhythmische Gliederung ver-

Schmarsow, Kunst und Erziehung. S

114 Fünfter Vortrag

mittelt uns die volle tatsächliche Ausdehnung der Fläche da, veranlaßt den vorübergehenden Besucher, sich eine Weile an die Erstreckung in die Höhe und die Breite hinzugeben, sozusagen daran entlang zu gleiten und darüber hin zu schweben im Genuß.

Diese Blickbewegung über die Wandfläche hin ist noch eine spielende Tätigkeit, deren Genuß nur im Er- proben der eignen Kräfte wie der Möglichkeiten ihres Gebrauchs auf dem Tummelplatz da drüben besteht. Aber es darf nicht unbeachtet bleiben, daß die senkrecht vor uns dastehende Wand unserm schweifenden Blick einen Widerstand leistet, der die notwendige Dynamik des Vollzuges erst zustande kommen läßt. Unsre schweifenden Blicke dringen als Bogenlinien hinaus in die Weite; sie würden, solange sie ungehindert bleiben, lauter Kurven beschreiben, die Teile einer innem Kugel- fläche bilden, aus deren Gesamtheit ringsum wie wir uns gesagt haben unsre Sehsphäre besteht. Die senkrecht zu uns auftretende Parallel-Ebene der Wand fängt aber diese Kurvenbewegung ab und zwingt sie, sich der ebenflächigen Ausdehnung anzubequemen, die sie selbst darbietet. Statt in die Tiefe vorzudringen bis zu einem Punkt der Peripherie und wieder zurück- zukehren, sei es von unten nach oben, oder von der einen Seite hinein und zur andern hinaus, d. h. statt Kreissegmente zu ziehen, gleiten die Blickbahnen in die Höhen- oder Breitenausdehnung der Fläche hinein und werden abgelenkt in die Kreuz- und die Querbewegung, bald dem ursprünglichen Schwung gemäßer, noch als Bogenlinie verlaufend und zur Freiheit zurückschweifend, bald dem graden Verfolg einer Richtung sich nähernd und schneller erlahmend, bald als Wellenlinie schwankend zwischen beiden Extremen und allmählich im Ausgleich

Flächenornamentik Dekoration j i g

der Gegensätze zerrinnend. In dieser Dynamik des Vollzuges nur wird das Linienziehen der Blicke zu einem fühlbaren Erlebnis, zu einem wechselreichen Spiel der Kräfte, dem unsre Seele sich hinzugeben vermag mit Lust, und wandelt sich in ein freies Linienziehen des Gefühls, das die Traumwelt unsres Bewußtseins erfüllt, wie das Gewoge der Töne, noch ehe sich Klangfarbe und Rhythmus zu sinnvollerer Bedeutsamkeit verbinden. Wenn Pinsel und Farbstoff solch einen Anhalt für unsern schweifenden Blick über die leere Wandfläche breiten, so haben wir wieder eine Betätigung der Orna- mentik vor uns, die, selber noch keine den andern eben- bürtige Kunst, doch auch hier einer neuen schöpferischen Kraft das Feld bereitet. Sie selbst vermag den Wert nur aufzuweisen und zu vermitteln, aber nicht selbst vollauf darzustellen. Ornamentik und Dekoration bleiben überall auf der Oberfläche, überziehen sie mit mannich- fachem Schmuck, heften ihn wohl äußerUch an, aber dringen nicht eingreifend ins Innere vor, um das Vor- handene umzugestalten zu einem Neuen. Die Aus- dehnung der Fläche, wie die Gestalt aller andern tekto- nischen Körper, die sie liebkosend mit dem bunten Niederschlag ihres mimischen Gebarens umspinnt, bleiben doch selber die Hauptsache. Die raumschließende Funktion der Wand wird nirgends aufgehoben, so kühn auch zu- weilen schon das Spiel der andringenden Blicke sie zu durchbrechen sucht. Und mag sie schließlich gar, wie auf den Wänden von Pompeji, mit allerlei Vorspiege- lungen den endlichen Triumph des Tiefendranges, den unsre Sehkraft fordert, vorbereiten: sie macht doch nirgends Ernst damit, den Vorhang aufzuziehen, und das Fernbild der Welt da draußen als neuen Schauplatz jenseits des Innenraumes zu zeigen.

8*

jl5 Fünfter Vortrags

Dies Wunder zu vollbringen lernt erst die Kunst der Malerei in langsamer Selbstbefreiung aus diesen Anfängen des Flächenschmucks. Als selbständige Kunst bewährt sie das neue Wollen erst da, wo sie den Augen- schein der Raum- und Körperwelt als Ganzes auf die Fläche zaubert. Die Malerei nimmt also das Schaffen beider Schwesterkünste auf, der Architektur als Raum- gestalterin, wie der Plastik als Körperbildnerin, und sucht die beiden Elemente, die jene getrennt für sich behandelt haben, zusammenzufassen zu einer Einheit. Nicht um ein Bündnis beider Schwestern handelt es sich, wie ein statuengeschmückter Innenraum es darbietet, oder ein Standbild mit tektonischem Sockel, und vielleicht noch mit architektonischer Umschließung seines Platzes unter freiem Himmel dazu; sondern es handelt sich um eine höhere Einheit zwischen Körper und Raum, und zwar zu Gunsten des feineren Sinnes, des Auges, das beide überschauend umspannt, und doch nicht aufge- halten sein will in seinem Aufschwung zur Höhe und seinem Vordringen in die P^erne, Es gilt, ein starkes Bedürfnis unsrer geistigen Entwicklung zu befriedigen, das durch die wachsende Überlegenheit des Gesichts- sinnes über alle unteren Instanzen unsrer Sinnlichkeit sich herausbildet und zur zwingenden Forderung empor- wächst. Es gilt, eine Befreiung von dem Schwergewicht der Materie und den Hemmnissen der Stofifnatur zu er- reichen. In dieser Richtung liegt der Wert der neuen Er- rungenschaft, die unsre schöpferische Auseinandersetzung mit der Welt zu gewinnen strebt, wieder eine Wohl- tat, wie die Klarheit und Konsequenz unsrer räumlich- körperlichen Anschauungsform, die durch unser plastisches Bilden und unser architektonisches Ausgestalten erst gezeitigt und ausgereift werden.

Die Malerei das Bild

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Aus Laut und Gebärde, den beiden ursprüng- lichen Elementen des Ausdrucks für unsern eignen Organismus, erwuchs wie wir uns gesagt haben, die höhere Einheit der Lautgebärde : das Wort. Ganz ähnlich erwächst nun hier, auf der objektiven Hemisphäre, die höhere Einheit von Raum und Körper: das Bild. Auch hier wie dort verzichten beide Bestand- teile auf einen Grad ihrer vollen Wirklichkeit, nämlich zunächst auf die dritte Dimension. Nur so gelingt es, beide Faktoren der Welt zu einheitHcher Anschauung zusammenzugreifen. Der Augenschein der Körper wie der Räume wird auf die Fläche geworfen: die Körper verlieren ihre Rundung, der Raum seine Tiefe. Als Fläche hat das Bild nur zwei Dimensionen , die Breite und die Höhe. Erst mit dem Fortschritt der neuen Kunst in der Handhabung ihrer besonderen Mittel ge- lingt es, auch für diesen Verlust im Augenschein Ersatz zu schaffen: die Modellierung ertäuscht mit Hell und Dunkel den Körperschein, die Perspektive erweckt uns mit Verkürzung der Formen und Abtönung der Farben den Eindruck der Raumweite. Aber im Grunde bleibt doch immer das Bild an die Fläche gebunden, und in Übereinstimmung mit seinem ursprünglichen Wesen auch immer nur Flächenschein. Sein Rahmen ist die unent- behrliche Grenze, die es von der Vollwirklichkeit sondert und von ihren letzten Konsequenzen befreit. Drinnen öffnet sich ein andrer Schauplatz, der doch nur die Welt bedeutet. Wo das Bild diese Grenzpfähle des eigensten Bereiches verschmäht, da tritt es in die Raum- und Körperwelt zurück, verzichtet auf das Privilegium und unterwirft sich wieder den Gesetzen, die in den Nachbarkünsten Plastik und Architektur herrschen, d. h. den Ansprüchen unsres Tastsinnes und unsrer Ortsbe-

j I g Fünfter Vortrag

wegung. Dann ist kein selbständiges unbeirrtes Schaffen zu Gunsten des Augenscheines und der optischen Auf- fassung des Weltbildes allein mehr möghch, sondern nur ein Bündnis mit jenen robusteren Schwestern. Dann meldet sich laut und vernehmlich wieder der Menschen- leib mit allen seinen Instanzen als Herr der Situation und Richter aller Eroberungsversuche in die Weite der Natur.

Da sind wir wieder auf dem Standpunkt, von dem wir ausgehen wollten, um in allen Künsten, die wir be- trachten, den sinnlichen Zusammenhang mit dem Menschen und seinem körperlichen Dasein hervorzuheben. Diese lebendigen Beziehungen müssen uns auch durch das umfassende und reichhaltige Gebiet der Malerei hindurch leiten, wenn wir uns bemühen wollen, die Berührungs- punkte freizulegen, wo das natürliche Gefühl des mensch- lichen Beschauers aus sich selber einzusetzen vermag» oder doch nur ein wenig Anregung und Einübung bedarf, um überall seine Rechnung zu finden. Gemälde freilich sind dem modernen Menschen so viel vertrauter noch als Bildwerke und Bauwerke, daß jede besondere Be- lehrung über die Genießbarkeit der Malerei als über- flüssig erscheint.

Bei der Fülle des Inhalts kann es auch garnicht die Absicht sein, alle Bereiche des Malerischen zu streifen und wenigstens die Hauptgattungen mit einem Wink zu bedenken. Welch ein unerschöpfliches Kapitel eröffnet sich schon mit dem Verhältnis des Menschen zur tekto- nischen Grenze und Fassung des Bildes, zum Rahmen! Und das ist zugleich ein Hauptkapitel für die Anleitung des ästhetischen Gefühls. Es gehört schon ein gut Teil Übung dazu, sich über unsre sinnliche Auseinander- setzung mit diesem Vermittler zwischen uns und dem

Das Bild

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Bilde Rechenschaft zu geben. Grade da liegt ja die Schwelle, die wir überschreiten müssen, da die Tür, durch die wir eintreten: und beide sprechen zu unserm Körper oft noch mehr als zu unserm Auge. Und dann, bevor wir noch sehen, was die Bildfläche darin dar- bietet, — welche grundlegenden Unterschiede werden allein durch das Format der Tafel oder der Leinwand hervorgebracht, wie werden die Ansprüche, die Er- wartungen, das eigne Verhalten des Beschauers darnach verändert, z. B. je nachdem dies Format uns aufrecht zu stehen oder quer zu liegen scheint u. s. w. Endlich die Stelle, wo sich das Bild befindet, der Abstand, die senkrechte oder geneigte Haltung der Fläche zum Beschauer, vom untersten Umkreis des bequemen Schauens bis zu den oberen Regionen der Wand oder gar hinauf an die flache Decke, die Kuppel, die schrägen Übergänge in den Zwickeln und andre Möglichkeiten des Innenraums oder der Außenmauern. Solche prak- tische Vorschule der Bilderbetrachtung wäre mit ihren Experimenten an der Person nicht allein unsern streb- samen Galeriebesuchern, sondern oft auch unsern ge- wiegten Galeriedirektoren noch zu wünschen; wie viel mehr noch den Auftraggebern oder den Schöpfern monumentaler Wand- und Deckenmalerei. Aber die dankbarste Gelegenheit für Demonstrationen ist nicht immer auch geeignet für einen kurzen Vortrag. Also lassen wir sie beiseite.

Was jedoch jeder Ankommende vom Bilde zunächst beansprucht, ist natürlich ein Anblick der Dinge dieser Welt. Daß wir von dieser Tatsache noch Akt nehmen, ist freilich, wie unsre Tageskritiker schon den tüchtigsten Ästhetikern abgelernt haben, ein starkes Zugeständnis an den Laienstandpunkt; aber wo die Erziehung der

I20 Fünfter Vortrag

Jugend zu künstlerischem Sehen auf der Tagesordnung steht, da darf man diese Grundtatsache, diese Lebens- bedingung der Malerei gewiß nicht vornehm übergehen. Gegenstandsvorstellungen durch den Pinsel oder den Griffel hervorzuzaubern ist das erste und größte Wunder dieser Kunst, wie das Älotiv ihrer Entstehung, so auf lange hinaus ihrer* Weisheit letzter Schluß. Wie das Wort, so das Bild. Wer will den Wettstreit mit der Dichtung aus der Geschichte der Malerei herauswerfen? Darin gipfeln beim Volke noch heute ihre stärksten Anwartschaften; damit übt sie auch auf die Jugend noch immer ihre mächtigste Anziehungskraft. Wandbilder, die keine Gegenstandsvorstellungen auslösen, und zwar in reicher Mannichfaltigkeit oder mit dem unfehlbaren Anreiz zum Mitspiel poetischer Phantasie, die das Vor- her und Nachher, die Ursache zur Wirkung und zum Grund die Folge hinzudenkt, solche Naturbilder ohne Menschendarstellung, wie man sie heute in die Schule hängen will, sprechen das Kind nicht an, oder doch nur Ausnahmen unter ihnen; sie langweilen es, ohne Belebung durch des Lehrers Wort erst recht, bis hinauf in die höheren Klassen. Unter eine noch so tüchtige Reproduktion eines künstlerisch wertvollen Gemäldes wie das „Hünengrab", schreibe ich mit ruhigem Ge- wissen: „Wer wird dem Hungrigen statt des Brotes einen Stein bieten?" Und mit einer herrlichen Baumgruppe für sich allein, selbst im Farbenhauch einer Beleuchtung, die das Auge des Erwachsenen entzückt, steht es nicht viel besser. Schreibt ihr den Namen darunter, das „Hünengrab", oder die „Lutherbuche", dann freilich verwandeln sich beide, aber durch das Wort, das seiner Wirkung in Gemeinschaft mit dem Anblick des farbigen Gegenstandes gewiß nicht ermangelt. Indes, statt den

Darstellungsgegenstand j 2 j

halbversunkenen Stein in seinen schillernden Tönen und in seiner Umgebung von Vegetation und Himmel zu betrachten, denkt das Kind nur an die Erzählung von den Hünen und an die Traurigkeit des Grabes, d. h. an das, was dahinterliegt. Das Bild ist für die Phantasie nur das Schwungbrett zu ihrem eignen Fluge, was der Maler geschaffen nur Gelegenheitsursache, willkommener Anlaß zuerst, unterstützender Anhalt zuzweit, und über- flüssige Beigabe zudritt. Ganz ebenso geht es bei der „Lutherbuche" oder der „Körnereiche"; sie bliebe dem Jungen ein ganz beliebiger Baum, wenn nicht der Name des Mannes, der früher an sein Ohr geklungen, dazu Erinnerungsbilder und Geschichten aus ihrem Schlaf erweckte. Und kehrt der Volksschüler zum gemalten Baume da zurück, so bedauert er sicher, daß auf der Buche keine Äpfel und auf der Eiche keine Nüsse wachsen, oder wenn es hoch kommt, wandelt ihn die Lust an, doch hinaufzuklettern, und diese Sehnsucht lockt ihn von dem gemalten Baume weg zum ersten besten Kletterbaum ins Freie.

Woran das liegt, haben wir uns früher schon aus- gesprochen. Der ursprüngliche Sinn des Menschen, und das gilt auch für die Durchschnittsjugend heute noch, hat volles Gefühl für Menschenwesen allein und damit für alle Lebewesen, die ihm verwandt sind. Tiere, Vögel, Schmetterlinge, Schlangen und Würmer beschäftigen ihn mehr, als Dinge die sich nicht bewegen. Der eigne Organismus und seine spontanen Verrichtungen sind der Schlüssel zur übrigen Natur. Der Blick für die charakte- ristische Haltung und Gebärde muß schon begonnen haben, wenn der Baum mit seinen Ästen sich erschließen soll auch wo keine genießbaren Früchte daran winken. Ein liegengebliebenes Felsstück mitten auf dem Anger

122 Fünfter Vortrag;

interessiert den Knaben gewiß erst, wenn er einmal vom „erratischen Block" gehört hat wie er dahin ge- kommen sei; dem Bauern, der ihn nicht heben kann, gewinnt er erst Teilnahme ab, wenn ein verzauberter Schatz darunter liegen soll oder eine Schlangenfamilie ihr Nest darunter aufgeschlagen hat.

Gegenstände aller Art, die Dinge dieser Welt samt und sonders, aber vor allen Dingen Figuren von Menschen- art gibt die Bildkunst; stets jedoch kommt es dabei nicht sowohl auf die Existenz allein oder gar die Be- schaffenheit ihrer Gestalt, als vielmehr auf den Zusammen- hang zwischen ihnen an, mag der Beschauer sich diesen schon herauslesen können oder noch hineinlegen müssen nach Bedarf Wenn statt der Flächenmusterung, im Sinne der Ornamentik zum spielenden Genuß der Aus- dehnung, nun Figurendarstellung auftritt, wird ernst ge- macht mit dem Anspruch, die Gegenstände selber vorzubringen. Es fragt sich nur, wie weit auch in dieser werdenden Kunst die Sprache des Symbols zunächst den Wert nur andeutet und mit Hilfe der starken ent- gegenkommenden Phantasie mehr vermittelt als selber zu geben weiß. Wie bei den Anfängen oder Vorstufen der Plastik kann auch hier wohl kein Zweifel sein, daß bereitwillig das Zeichen für die Sache selbst genommen wird. Bemerkenswert für unsre Zwecke erscheint uns nur das Verfahren, wie allmählich mit den schwächern Mitteln doch die ausreichende Stärke des dynamischen Vollzuges erreicht wird.

Fassen wir zunächst die Abnahme des Körperlichen, den Verzicht auf die volle Rundung der Gestalten ins Auge, so können wir den Übergang vom Gebiet der Skulptur am^ besten mit Hilfe der Reliefkunst ver- folgen. Ohne Zweifel ist das Relief in seinen verscliie-

Körperrundung^ und Körpergröße 123

denen Abstufungen ein Zwischenreich zwischen Plastik und Malerei. Das Nebeneinander der Körper im Raum versucht man wiederzugeben, d. h. die Aufgabe hat sich erweitert, aber die Lösung wird zunächst noch ganz mit den Mitteln der Körperbildnerin in Angriff genommen. Nur die stehengebliebene Grundlage des tektonischen Materials, die Wandfläche hinter den Figuren, bedeutet den Raum.

Je mehr die Rundung der Figuren schwindet und die Hilfe des Tageslichts zu Gunsten der Modellierung zurücktreten darf, desto ausschließlicher wird der ein- gegrabene Umriß allein das Mittel, die Gegenstände auf der Fläche zur Erscheinung zu bringen. Und mit diesem zarten Streifen am Rande der Figuren wird auch die Grenze zwischen Plastik und Zeichnung, d. h. auch zwischen Skulptur und Malerei gezogen.

Nur eine Bemerkung, bevor wir weiter gehen, mag hier noch fallen, weil sie das ganze gemeinsame Ge- biet dieser darstellenden Künste betrifft. Es ist nicht allein die Abnahme oder Zunahme der Körperrundung, die als solche auch fühlbare Unterschiede im Grade der Verwirklichung hervorbringt, sondern es kommt noch eine Möglichkeit hinzu: die Zunahme oder Abnahme des Maßstabes aller dargestellten Gegenstände. Das Bild auf der Fläche wie das Bildwerk der Skulptur bean- sprucht nicht mehr die volle Lebensgröße. Diese Herab- minderung bedeutet auch eine Entfernung aus dem Um- kreis der Tastregion, eine Entrückung ins Reich der Gesichtseindrücke für sich allein, und damit wieder eine Annäherung an die Vorstellungswelt, eine Abstraktion von zahlreichen Eigenschaften der vollen Körperlich- keit sonst.

Und ebenso geht es endlich mit jenem neuen Mittel,

124 Fünfter Vortrag

in dem man sonst so gern das unterscheidende Merkmal der Malerei gesehen hat, das ist die Farbe. Sie war gewiß dem Menschen eher zur Hand, als die verfeinerten Ab- stufungen der Reliefkunst und die Umrißfurche des zeichnenden Meißels zumal. Die Ausbeutung des ein- fachen Gegensatzes von Hell und Dunkel gibt die Unter- scheidung bereits selbständig genug. Aber kein Zweifel: die Gegenstände wurden damit dunkel aufgetragen, und die Fläche dazwischen, die den gemeinsamen Raum be- deutet, blieb hell wie sie war. Schwarz, braun oder rot erschienen die Silhouetten. Die Ausfüllung mit einem gleichartigen Pigment, im starken Kontrast zum Grunde, gibt einen volleren Abklatsch der Körperlichkeit des Dinges, einen wirksameren Auszug aus der Gegenständ- lichkeit als irgend ein andres Mittel. Und eben auf diese Funktion des fühlbaren Anhalts und verhältnis- mäßigen Widerhalts für unsre schweifenden Blicke kommt es an, wie wir uns vorher bei der Betrachtung der auf- rechten Wand gesagt haben. Und wenn diese vor uns stehende Parallel-Ebene nun die Raumleere bedeuten soll, wo sich die dargestellten Gegenstände befinden, so müssen diese Figuren auf der Fläche auch unserm Auge stärkern Widerstand leisten als dieses Medium selber, d. h. sich dem Vollzug unsrer vordringenden Blickbe- wegung nachhaltiger entgegenstemmen. Auf dieser Leistungsfähigkeit beruht noch heute die Zugkraft der schwarzen Silhouettenbilder. Dagegen ist die Umkehrung des Verfahrens, mit hellen Figuren auf dunklem Grunde^ nur eine technisch schwierigere Lösung. Hier muß schon der Umriß sorgfältiger gegen die dunkle Grundierung verteidigt werden; alle Einzelheiten der Form fallen mehr ins Auge. Die Annäherung an die Wirklichkeit mag für hellfarbige Rassen, ob rot, ob gelb, ob weiß,

Farbe Darstellungsinhalt I25

einen wünschenswerten Fortschritt bedeuten. Aber die Zeichnung stellt höhere Forderungen, die vielleicht erst einer weiteren Entwicklung verdankt werden.

Bleiben wir also noch einen Augenblick bei den schwarzen Silhouetten auf hellem Grunde. Da meldet sich jedenfalls, nach der Erkennbarkeit der Gegen- stände, die nur der leicht erreglichen, ohnehin schon vor- bereiteten oder doch bereitwillig entgegenkommenden Phantasie zur Anregung ihres Vorstellungslaufes zu dienen braucht, viel dringender das Bedürfnis, diese Gegenstands- zeichen in Beziehung zu einander gesetzt zu sehen. Sowie uns die Bilder eine Geschichte erzählen sollen oder irgend einen Gedankenzusammenhang vermitteln, so wird die Wendung der Figuren in Profilrichtung zu einander und das Ausgreifen ihrer GHedmaßen, zur Orts- bewegung hier, zur Ausdrucksbewegung da gefordert. Alles, was wir über die Ausdrucksfähigkeit der Gestalt mit ihrer beweglichen Biegung und Streckung der Glieder, also grade in ihrer schlankesten und magersten Bildung gesagt haben, gilt hier von der Silhouette, bei den An- fängen der Malerei besonders da, wo die Mitteilung eines konkreten Inhalts aus dem Leben verlangt wird. Alle Werte der Beziehung eröffnen sich als Darstellungs- gebiet grade dieser Kunst, sowie sie verständlich zu er- zählen lernt, und der epische Stoff vermag sich gar bald bis an die Grenze dramatischer Auseinandersetzung zu steigern, sowie das mimische Mittel, die sprechende Körperbewegung, die stumme Gebärdensprache hinzu- kommt. Die innere Nachahmung des menschlichen Be- schauers macht eben nicht Halt an dem Punkte, den das Bild tatsächlich geben mag, sondern vollzieht die be- gonnene Verschiebung und erneuert sie bei jeder Wieder- kehr des Blickes zum vollgültigen Geschehen. Sie findet

1 26 Fünfter Vortrag

gar das Wort hinzu, das jener Pantomime fehlt. Mit diesem ergänzenden Faktor rechnet z. B. die ganze mittel- alterliche Malerei.

Ganz anders wird aber dieser Instanzenzug, wenn statt des einfachen Pigments für alle Gegenstände nun immer mehr Farben die Figuren unter sich genauer bezeichnen helfen und voneinander unterscheiden: die Weißen von den Schwarzen, die helleren Frauen von den dunkeln Männern. Ein Schritt nach dem andern führt dann zur Annäherung an den Reichtum der Dinge und erstreckt sich bald von den handelnden Personen auf die Nebensachen, auf den Schauplatz und seine Wahrzeichen, auf Baulichkeiten oder Berge, Bäume und Sträucher, Wagen und Schiffe, ja Vögel und Wolken in der Luft. Mit der Farbe kommt erst das Augengeschöpf in uns zu seinem vollen Recht. W^er wollte die Trag- weite dieses neuen Elements verkennen! Hier aber muß es genügen, ihren Eintritt in den Gang des Wettbewerbs bezeichnet zu haben. Wir dürfen ihr noch nicht in allen Folgerungen nacheilen. Mit der Farbe meldet sich auch der Stoff, aus dem die Dinge bestehen, und der Stoff verkündet den Körper.

Damit beginnt wieder ein Wandel im Haushalt des Bildes. Statt der mimisch wirksamen Figur wird nun versucht, als Hauptsache den voll ausgerundeten Gegen- stand in seiner ruhigen Existenz zu geben. Mit der ge- nauem Rechenschaft über die Körperform, mit dem Verweilen bei ihrer Beschaffenheit, bei ihrem Raumwert im Nebeneinander mit andern Körpern verschiedener Art betreten wir das Gebiet der ReUefanschauung wieder und nähern uns aufs Neue der plastischen Kunst. Aber nun treten die Figuren nicht allein vor die Fläche heraus, sondern auch und vielmehr in die Fläche hinein

Farbe Plastik des Bildes

127

und hinter die Oberfläche zurück. Je geringer die Zahl der Figuren noch bleibt und je größer der Maßstab genommen wird, desto stärker wird die Verwandtschaft mit der Auffassung der Skulptur, wie sie einer vollrunden Figurengruppe zu teil wird. Ja, die Wiedergabe einer Einzelgestalt, sei es eine Idealfigur oder ein Porträt, ge- winnt bis zu einem gewissen Grade dieselben Ansprüche wie ein Standbild aus Marmor. Nur Licht und Farbe mit den Bedingungen des gegebenen Raumes treten in stärkerem Grade mit hinein in die Aufgabe des Bildes, werden mit gemalt. Die Annäherung an die Lebens- größe, oder gar die Steigerung über das Menschenmaß bringt einen Zuwachs an Körperschein, von dem auch polychrome Malerei sich lange fern zu halten weiß, indem sie wirklichkeitsgetreue Farbenwahl vermeidet. Mit der natürlichen Farbe, des Fleisches z. B,, wird auch der Augenschein der Körperformen mit allen Reizen in das Bild gebracht.

Nun sind es die Werte der organischen Schön- heit in erster Linie, die das Bild zu verherrlichen strebt, und der Wetteifer mit der Plastik bleibt unverkennbar in dem ganzen Bereiche, wo auch die Malerei den Vor- zügen des nackten Menschenleibes huldigt. Damit aber gibt sie selbst eine Fülle von Werten des reicheren Lebens wieder preis, die sie früher schon mit bescheid- neren Mitteln für die Darstellung in ihrem Rahmen er- obert hatte. Sie vergißt wohl gar, indem sie sich auf die Körpererscheinung beschränkt, das ursprüngliche Wesen des Bildes, das grade darauf ausging, über die Körperwerte hinweg zu einer Zusammenfassung mit dem umgebenden Raum zu gelangen, eine höhere Einheit von Körper und Raum im Augenschein auf der Fläche zu sieben.

128 Fünfter Vortrag

So reiht sich an die plastischen Bestrebungen in der Malerei mit Notwendigkeit die Weiterführung des architektonischen Schaffens im Bilde. Klarheit und Konsequenz der räumlichen Auseinandersetzung wird nun auch hier gefordert und als Wohltat für den Be- trachter wie im Raumgebilde des Baumeisters geboten. Dies kann aber nur für einen vorgeschriebenen Stand- punkt gegenüber dem Bilde geschehen. Damit stellen die Probleme der perspektivischen Konstruktion, für diesen einen Augenpunkt, und der Abtönung aller Farben, je nach dem Abstand der Pläne, sich ein. Nun erst ver- folgen wir alle Bedingungen des Schauplatzes, sei es im Innenraum oder unter freiem Himmel, die Möglichkeiten der Beleuchtung und der sonstigen Annäherung des ge- malten Augenscheines an die Eindrücke der Wirklichkeit selber, mit den natürlichen Farben und den intimen Wirkungen der Stoffe selbst. Als Grundlage für diese Vollständigkeit der Wiedergabe steht die Architektonik des Bildes da, in der Schöpfung des Malers wie auf der Schaubühne des Theaters. Aber dieser Aufbau, der unleugbar allerdings seine eigne architektonische Schön- heit hat, kann doch nicht als die Hauptsache des malerischen Kunstwerks gelten, so gewiß er auch im Lauf der geschichtlichen Entwicklung der Malerei sich vorübergehend dieser Rolle bemächtigt hat. Das letzte Absehen des Bildes bleibt doch die Einheit zwischen Körpern und Raum, und diese können wir nur im Me- dium zwischen ihnen erwarten, also in Luft und Licht und Farbenschimmer, die über alle Teile hingleiten und alle Gegenstände miteinander und mit der Umgebung verbinden. Dort erst liegt die malerische Schönheit beschlossen.

Damit sind wir in der Lage, das' Hauptproblem

Malerische Schönheit

129

der Malerei als Kunst in kurzen Worten zu bezeichnen: es ist die Wiedergabe des Zusammenhanges zwischen den Dingen dieser Welt, also der Einheit des Ganzen, das uns umgibt, und zwar zunächst natürlich nur soweit, wie wir im Augenschein allein dieser Einheit habhaft werden.

Indes, wir wissen ja, daß die menschliche Phantasie für solchen Zusammenhang der Naturerscheinungen ur- sprünglich nur wenig Sinn hat, und daß nicht allein eine fortgeschrittene Beobachtungsgabe des Auges, sondern auch eine hochgestiegene Bildung des Geistes dazu ge- hört, sich von den tausend näherliegenden Werten des Selbstgefühls zu den freien Gesichtspunkten des Welt- gefühls zu erheben, d. h. den Zusammenhang der Dinge da draußen in der weiten Natur als selbständigen Wert zu erfassen und mit dem Wohlsein des lieben Ich so verträglich zu finden, daß er zum Inhalt einer eignen künstlerischen Schöpfung werden kann. Weit eher sind es ursächliche Zusammenhänge menschlichen Tuns und Treibens, die unsre Vorstellung auch in Bildern sucht und immer zu finden bereit ist. Das prozessierende Leben mit seinem Reichtum, den sonst die Dichtung allein in konkreter Bestimmtheit vorzuführen vermag, er bietet sich dem Maler verlockend genug und soviel auf- dringlicher an, je mehr der Künstler selbst wie seine Gemeinde befangen bleibt von eben diesen Mächten der menschlichen Gesellschaft. Da drängt sich stets die Vorgangseinheit, der Zusammenhang der Fabel, die Ideenverbindung an die Stelle der malerischen An- schauungseinheit, und der gefährliche Wettstreit mit der Nachbarin Poesie nimmt lange Entwicklungsperioden der Malerei als Kunst in Anspruch, noch ehe sie zur Entdeckung des Malerischen hindurchgedrungen ist; ja

Schmarsow, Kunst und Erziehung. q

iqo Fünfter Vortrag

lange Zeitläufte nach dieser Selbstbefreiung ihres eigensten Wesens vergessen die wichtigste Errungenschaft wieder und sinken zurück „zu Novellistik, zu historischen und archäologischen Zutaten oder zu sozialen Tendenzen", über die sich ein Meister der graphischen Kunst wie Max Klinger selbst beklagt.

Und doch, wer möchte sich entschließen, ganze Ge- biete, die einst als das Höchste des Erreichbaren, als die einzig erstrebenswerten Ziele der Kunst gegolten haben, wie die Historienmalerei, nur deshalb heute aus dem heiligsten Bezirk hinauszuweisen, weil wir erkannt haben, daß die malerische Schönheit etwas anderes ist als die poetische Schönheit, ebenso wie sie etwas anderes sein muß als ihre eignen Vorstufen, die plastische und die architektonische Schönheit mitsamt der mimischen Schwester, die in aller Historie, wo sie gemalt wird, die Rolle des Wortes übernimmt.

Freilich, darüber kann kein Zweifel bestehen, unser Zeitalter der Naturwissenschaft und des Pantheismus, unsre Geringschätzung der Persönlichkeit und unser Glaube an die sozialen Mächte, unser Kultus des Kollektivismus und unser erweitertes Naturgefühl haben dahin geführt, daß auch die Malerei jenem alten ererbten Ideal ein neues entgegenstellt. Denken wir nur an die Ausdehnung des einst so gering geachteten, noch am Anfang des vorigen Jahrhunderts [wieder fast verleug- neten Gebietes, der Landschaftsmalerei, um uns klar zu machen, was heute das allgemein verstandene Gefühl für malerische Schönheit bedeutet. Hier liegt im Gegensatz zu jenen Verwechslungen mit der Einheit der Handlung und mit dem ursächlichen Zusammenhang viel eher eine Analogie mit den Bestrebungen einer andern Schwesterkunst vor. Wenn wir der Landschaft

Malerei und Musik 1 2 1

gegenüber, die uns keine menschlichen Figuren mehr darbietet, aus dem poetischen Interesse, das sich trotz- dem noch meldet, nur eine Region aussondern, die be- rechtigt wäre mitzusprechen, so ist es sicher die lyrische Dichtung. Und damit eben sind wir schon auf dem richtigen Wege. Denn dem landschaftlichen Bilde gegen- über tritt nur das menschliche Subjekt als zweiter Faktor auf, und zwar als schöpferisches und genießendes wieder in innigster Gemeinschaft. Aber es wirkt doch wesent- lich nur vermöge seiner Seelenstimmung, die sich in diesen Augenschein der weiten Welt oder eines ein- samen Fleckchens Erde zu ergießen weiß. Die Auf- fassung, die entgegenkommende Gemütslage ist alles. Das Nahe und das Ferne^ hier in der Wirklichkeit oder dort im Bilde, die Bewegung des Lichtes und der Farben- töne, die unserm Auge bald entgegendringt, bald zu entschwinden scheint, sind dagegen ihrerseits die leben- digen Träger des dynamischen Vollzuges, der rhyth- mischen Auseinandersetzung zwischen unsrer eignen Seele und der Weite da draußen, die sich ausdehnt und wieder auf einen Punkt zusammenzieht wie jene. Un- willkürlich stellen sich die Vergleiche mit dem Erleben eines musikalischen Kunstwerkes ein, wenn das Mittel auch keine Töne, sondern Farben sind, wenn nicht hohe oder niedrige Lage, sondern Hell und Dunkel, Licht und Schatten die wechselnden Kontraste bilden, die sich gegeneinander bewegen und ausgleichen. Nicht die Nachbarin, sondern die Komplementärkunst der Musik ist die Malerei, wenn wir diese Seite verfolgen: Ton- dichtung ohne Gegenstandsvorstellungen könnten wir sagen, wenn es nicht ratsamer wäre, ein schillerndes Spiel mit Worten, auch wenn es etwas Ernstes lehren kann, lieber ganz zu vermeiden. Lassen wir es bei dem

1^2 Fünfter Vortrag

Winke, um nicht die Fehler wie die Vorzüge jedes an- schaulichen Vergleichs in den Kauf zu nehmen.

Neben diesem stärksten Gegensatz gegen die Historien- malerei und dem ausschließlichsten Verfolg der male- rischen Schönheit bis zu einseitiger Konsequenz regt sich jedoch unleugbar im modernen Kunstleben die Neigung zu einem andern Extrem, dessen letzte Ver- zweigungen doch wieder ins Land der poetischen Vor- stellung einlenken, und nur in abstrakterer Form die nämliche Verquickung mit jenen fremden Werten zurück- führen, die sonst als Sünden des Geschichts- wie des Genrebildes verschrieen sind. Das letzte Ziel, zu dem unser Kunstschaffen im Norden auf mancherlei ver- schlungenen Pfaden zurückflieht, ist die Gedanken- malerei.

Mehr als einer dieser Pfade liegen auf dem weiten Felde unsrer graphischen Kunst; mehr als eine dieser Erbsünden gelten jetzt noch als besondere Vorrechte des Griffels. Aber wo wären denn unsre lieben gelehrten Landsleute, wenn sie von der Kunst, die sie predigen, nicht auch Befriedigung ihres Tiefsinnes verlangen sollten. Wenn ein Adler aus farbigem Marmor menschliche Gliedmaßen nur mit einer Schlangenhaut verschleiert, so ist ihnen dies kein Exemplar aus Aristophanes „Vögeln", d. h. ein Figurant vom Theater, wie uns sinnlich an- schauenden Kunstbetrachtem alten Stils, sondern ein Sendbote aus philosophischen Gedankenhöhen, bis Zarathustra, vielleicht der Künstler selbst, ihnen lachend erzählt, daß nur ein Seiltänzer im Federmantel zu diesem Marmorvogel Modell gestanden hat, daß sich ganz ein- fach die Vermengung der Naturreiche von selber er- klärt. Wie viel leichter wird die Zeichnung, die Radie- rung vollends, aus den Bedingungen organischer Schön-

Graphik I -^ ^

heit und räumlicher Klarheit in die Verschwommenheit symbolischer Beziehungen und die Sprunghaftigkeit ort- und zeitloser Traumgebilde hinübergleiten. Wo sich Bilder am Rand der Notenblätter ausbreiten, wo sich Holzschnitte mit gedruckten Textmassen nicht ablösen nur, sondern im Wechselreigen ineinander schmiegen, da ist doch eigentlich erst das Paradies der modernen Illustration wieder gewonnen. Und mit Recht: Buch- schmuck und Illustration sind keine geschlossene Einheit, wie das Gemälde in seinem Rahmen oder seiner selbstgewählten Begrenzung ringsum, die es mit seinem eignen Stück Welt erfüllt; sondern sie sind im Fluß befindlich wie die Gedankenreihen, die Sätze der Schrift. Illustration ist von Natur ein Schlinggewächs, das im Texte wurzelt, seinen Stamm umrankt, seine Zweige behängt, seinen Wipfel blühend übersteigt.

Das Bild im Buche mag auftauchen, wie die Er- scheinung mitten im Leben, mag wieder entschwinden, noch ehe sein Zug zu Ende ist. Seine Gruppe von Ge- stalten braucht sich nicht abzuschließen, sein quellendes Gedränge hier durchaus kein Gegengewicht auf der andern Hälfte zu finden, wenn nur die Blattseite als solche, die graphische Masse, ob Text, ob Bild, im Ganzen ihr Gleichgewicht bewahrt. Ja, solche Ver- anschaulichung poetischer Erfindungen, erdichteter Ge- genden muß vielleicht überraschen und wieder zerfließen, wie die schaffende Phantasie beim Lesen nur hie und da Zeit findet, zur vollkräftigen Anschauung über- zugehen. Wie oft genügt ein einziges, farbiges, stimmung- gebendes Wort, die Fata Morgana femer Küstenstriche hervorzuzaubern. Eine Hand in charakteristischer Ge- bärde, einmal erschaut, taucht nach Seiten und Seiten vor dem innern Auge wieder empor; und abermals, beim

134

Fünfter Vortra»

gleichen Anklang einer verwandten Situation, streckt sie sich aus; da steht sie endlich wie eine festgezogene Hieroglyphe, das feurige Mene tekel an die Wand zu schreiben. Das ist das Wesen der graphischen Kunst, Umrisse und Körperbewegungen zu schreiben, wie der Schriftsteller die Schnörkel eines Federzuges. So kann auch sie Gedanken konterfeien, die zu fassen sonst nur dem Worte glücken mag.

Diese Graphik aber ist die abgesagte Feindin des plastischen Ideals, die Gegenfüßlerin der Körperschönheit oft genug; sie ist vielmehr die Zwillingsschwester der Mimik, ja nichts anders als die aufgefangene Bildgebärde selber. Und fragen wir sie nach ihrer Herkunft in unsrer heutigen Generation, so weist grade sie sich aus als Kind des Volkes und hegt das überlegene Bewußt- sein, daß ihr die Seele dieser Nation gehört, daß ihr die Herzen der Gelehrten wie der Ungelehrten entgegen- kommen. Die Großen und die Kleinen, alle, für die es Bücher gibt und Blätter Papiers, sei es der Brief an der Wand oder das Flugblatt in den Händen, denen die Welt sich auftut, alle hängen ihr nach. Ja, noch mehr: diese Vermittlerin zwischen dem Augenschein und dem Land der Dichtung weist auf ihre angestammten Vor- rechte, auf ihre deutsche Vergangenheit zurück, um sich aller patriotischen Gemüter erst recht zu versichern. Stellt sie nicht im Bunde mit allem Heimatlichen sich als die Eigenart der deutschen Kunst hin und pocht dabei un- verhohlen auf den Widerspruch zu aller Körperschönheit, dieser Frcmdländerei, die unter uns eingerissen. „Wandelt die Wege Dürers und Kranachs, da seid ihr zu Hause; dort ist das Heil für Deutschlands werdende Kunst." Mimische Ausdrucksbewegung und Charakteristik des Seelenlebens heißt germanisch, war es nicht so?

Graphik 1^5

Plastische Form und Leibeskult sollen wir getrost den Andern überlassen. Das hänge mit der ganzen An- lage der Völker zusammen, das lehre uns die Ge- schichte, das müsse auch Gesetz unsrer ästhetischen Zukunft seinl^)

^) Damit hängt doch das Bestreben zusammen, die Griffelkunst als eine selbständige freie Kunst mit eigner Ästhetik hinzustellen. Wer ihm rückhaltlos zustimmt, befindet sich in vollem Widerspruch zu den Hausgesetzen der bildenden Kunst. Vgl. darüber Schmarsow, Zur Frage nach dem Malerischen. 1896. S. 82 114.

SECHSTER VORTRAG

Die graphische Kunst verlockt uns ins Land der Dichtung. Die Landschaftsmalerei scheint wie ein Gegen- stück das Reich der Töne herauszufordern. Und eben dieses Paar, das sich ergänzt, Musik und Landschaft, entspricht dem modernen Bedürfnis nach Kunst noch am meisten. Ja, wenn die Neuerer Recht behielten, würden wir auf ein gut Teil unsrer poetischen Literatur verzichten können und als Ersatz dafür die Grififelkunst an ihre Stelle schieben.

Da wären Gesichtspunkte genug gegeben, auch zu diesen Künsten der zeitlichen Anschauungsform, deren Gebiet wir noch nicht überschaut haben, den Zugang zu gewinnen. Mußten wir doch die Forderung aner- kennen, daß auch der Dichtkunst und der Musik eine Stätte in unsrer künstlerischen Erziehung bewahrt bleiben sollte, da es sich schließlich doch um ein Ganzes handle, zu dem wir gelangen wollen, und nicht um die Pflege der bildenden Kunst allein. Vielleicht verlohnte sich's der Aufforderung nachzukommen, auch hier die nämlichen Grundsätze durchzuführen. Die Hauptsache freilich, mit der wir uns bei den andern Künsten begnügen mußten, die lebendige Beziehung des Menschen zu jeder künst- lerischen Tätigkeit hervorzuheben und damit die An- griffspunkte der ästhetischen Ausbildung, die uns ab- handen gekommen wieder frei zu legen, dies Haupt-

Nationalunterschiede

"i-ZI

anliegen wäre bei den beiden bevorzugten Lieblingen der letzten Jahrhunderte wohl noch nicht angebracht. Musikalische Genußfähigkeit erwecken zu wollen, hieße heut- zutage jedenfalls nur Eulen nach Athen tragen. Und was die Dichtkunst betrifft, so sind uns freilich Epos und Tragödie verhältnismäßig entfremdet, aber doch nicht unverständ- lich geworden. Das unausgesetzte Bemühen der früheren Ästhetik ist wenigstens der Poesie , und immer nur ihr zugute gekommen; die Probleme des Tragischen und des Komischen beschäftigen uns nach wie vor. Wir brauchen nur die Bücher aufzuschlagen, die heute mehr als jemals jedes Haus besitzt. Aber allerdings gegen das Lesen, das stumme Lesen zumal, wäre ein energischer Feldzug vonnöten; denn das laute Lesen, den Vortrag und das genießende Zuhören, d. h. das eigentlich leben- dige Verhältnis zu unsrer Literatur, haben wir vernach- lässigt: die meisten der heranwachsenden Jugend lernen es überhaupt nicht, nicht einüben, also auch nicht lieben.

Das hängt mit dem großen Kapitel von der Aus- drucksfähigkeit zusammen, das wir schon berührt haben, und hat den allgemein vermerkten Übelstand zur Folge, daß so wenige noch frei sprechen können, geschweige denn gut reden wo die Gelegenheit es fordert. Doch sagen wir das ja nicht zu laut! Es gibt auch Länder, wo man nichts besser versteht als Musikgenuß und Schönrederei. Es wäre vom Übel , wenn auch die Schweiger noch zu Schwätzern würden und die Un- musikalischen selbst zu Dilettanten. Da loben wir uns die Stillen im Lande, die bildenden Künste, allzumal.

Und in der Tat, wir wollen lieber Halt machen auf unserm Wege, indem wir, die Sache der Dichtung und Musik zu führen, trotz aller Neigung für sie, den Sach- verständigen überlassen, die besser dazu berufen sind.

I^g Sechster Vortrags

Wir lenken an dieser Stelle vielmehr den Blick zurück auf die Strecken, die wir durchflogen haben, und nehmen so die Perspektive wieder auf, bei der wir schon am Schluß unsrer letzten Betrachtung angekommen waren. Dort eröffnete sich die Einsicht in einen tiefgewurzelten und hochentwickelten Gegensatz, nach dem die Völker auseinander traten wie die Zeiten. Da trennten sich die Richtungen der Stile wie die Perioden der Kunst- entwicklung. Kein Zweifel, da muß auch wieder eine Hauptsache zum Austrag kommen, die für unsre Frage nach der ästhetischen Erziehung der heutigen Gene- ration und nach der künstlerischen Genußfähigkeit unsres eignen Volkes von entscheidender Bedeutung sein kann. Denn an diesem Scheidewege klingt noch heute das Kampfgeschrei. Hie Weif, hie Waibling! rufen sich die Streiter zu, mag es auch im Sprachengewirr sich umwandeln zu mancherlei neuen Schlagwörtern. Hier klassisch, dort romantisch; dort Griechen, hier Deutsche. Auf der einen Seite die germanische Stammverwandtschaft, auf der andern die roma- nische Völkerfamilie, oder gar der Norden diesseits der Alpen und der Süden jenseits der Berge. So schwanken die Namen und Begriffe, so die Grenzen und Ansprüche hin und wieder.

Sie erinnern sich, es war der Gegensatz der mimi- schen Ausdrucksbewegung und der plastischen Schön- heit der Körperform, den wir in allen darstellenden Künsten aufgewiesen haben, ja bis ins Kunstgewerbe hinein und die Bauglieder der Architektur.

Die Durchdringung der graphischen Kunst mit poetischem Gedankeninhalt darf als germanische Eigen- tümlichkeit aufgefaßt werden. Die Ausdrucksfähigkeit des ganzen Körpers und die fließende Gebärdensprache

Nationalunterschiede

139

des Südländers kann schließlich der anatomischen Be- schaffenheit der Muskulatur ihren Ursprung danken, wie das nordische Klima die Beweglichkeit hemmt und die stoßweise hervorbrechende, nicht selten ganz zurück- gehaltene Mimik des Nordländers erklärt. Nicht die Gunst der sonnigen Gestade nur befördert das leben- dige Bewußtsein vom Werte der nackten Menschen- gestalt, sondern auch ererbte Vorstellungen von seinem Verhältnis zu den übrigen Werten, besonders der Kultur. Unsre deutsche Gemütstiefe, unsre nordische Innerlich- keit werden angerufen, die Gesamtheit geistiger Arbeit, das rastlose Ringen der intellektuellen Kräfte werden aufgeboten, wenn es gilt, das Schwergewicht der andern Wagschale zu steigern. Und wenn die ästhetische Er- ziehung, die heute gepredigt wird, am Ende mit ethischen Überzeugungen in Widerspruch käme, so müssen wir gewärtig sein, daß ihr von vornherein der Einwurf ent- gegengehalten wird, die Unterschiede der natürlichen Anlage und der geschichtlichen Entwicklung hätten uns den Weg vorgezeichnet, den wir bis jetzt verfolgen; es sei unmöglich das Ergebnis heute noch abzuwandeln. Ja vielleicht wäre die geschichtsphilosophische Betrach- tung nicht übel aufgelegt, noch weiter zu gehen, und in der bisherigen Entwicklung unsres Volkes die not- wendigen Vorstufen eines Aufschwungs zu erkennen, der zu immer größerer Befreiung der geistigen Mächte, zu immer erfolgreicherer Unterordnung unsrer leiblichen Bedingtheit führe, d. h. zu einer höheren Organisation des Menschen, die mit Recht alles von sich abstoße, was überwunden sei und was bei solcher begehrens- werten Vervollkommnung nur zum Hemmschuh werden könne.

Bevor wir den Ikarusflug des Astral-Leibes wagen,

I^O Sechster Vortrag

den unpraktische Metaphysiker uns empfehlen möchten, bleibt es gewiß ein besserer Rat, die gegebenen Grund- lagen nicht außer Acht zu lassen und die Unterschiede der ererbten Begabung grade zum Anknüpfungspunkt aller Weiterbildung zu wählen. Mit Recht erinnern wir uns auf jeden Fall, daß die angestammte Natur und Eigenart, die Heimat, das Haus, den sichersten Anker- grund gewähren, so weit und kühn sich unser Sinn auch hinaus wage zu Eroberungszügen im Wettstreit mit den Nachbarn. Je mehr es sich überall um die Genußfähig- I keit und die Schöpferkraft des ästhetischen Gefühls ^\ handelt, desto weniger vermag unser Streben ohne das

i Heimische und Vaterländische auszukommen, mit dem doch alle Fasern unsres Gefühlslebens verwebt sind. Dort haben wir zweifellos die erste Antwort zu suchen auf die große Frage, was uns denn eigentlich frommt? Solange wir noch darauf angewiesen sind, nur die Empfänglichkeit zu wecken und die Fähigkeit zum künst- lerischen Auffassen wie ein schwaches Kind zu pflegen, mag es ratsam bleiben, an überlieferte Kunstübung an- zuknüpfen. Die Holzschnitte und Kupferstiche der großen deutschen Meister des 15. und 16. Jahrhunderts mögen durch sich selber versuchen, ob sie noch heute die alte Kraft bewähren, ob sie nicht nur so manche gewiegte Kunstkenner, deren Geschmack und Verständnis sich gar leicht über die allgemeine Gültigkeit der eignen Vorliebe täuscht, sondern auch die ungelehrten Söhne des Volkes selber zu gewinnen vermögen. Da wird sich herausstellen, ob diese wieder auferweckten Schätze ver- gangener Kunstblüte für sich allein die Schule einer ge- sunden, lebensfähigen Heimatskunst zu bilden imstande sind. Nehmen wir an, daß auch dem Größten unter jenen Großen, dem einzigen Albrecht Dürer, allein die

Heimatliche Kunst

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starke und andauernde Nachwirkung gelingen werde, die dazu erforderlich ist, so würde damit erwiesen, daß auch heute noch die nämlichen Triebe vorhanden sind, und verwandte Neigungen sich in der gleichen Richtung be- friedigen mögen. Dann entspräche sein Drang nach mimischer Ausdrucksbewegung noch jetzt dem germa- nischen Empfinden, und auch Cornelius hätte recht gehabt, diese Sprache der Innerlichkeit mit ihrer hinreißenden Energie zu erneuern. Dagegen wäre es kurzsichtig, sich der unleugbaren Tatsache zu verschließen, daß bei Dürer bereits ganz andere Formelemente mitwirken, die er den Anregungen der italienischen Renaissance verdankt. Vor allen Dingen sind es die plastische Rundung seiner Ge- stalten und die räumliche Klarheit seiner Schauplätze, die ganze dreidimensionale Konsequenz seiner graphischen Bilder, die nicht auf die nationale, sondern nur auf die internationale Rechnung des Kunstvermögens gesetzt wer- den dürfen. Bei Hans Holbein wäre dieser Bestandteil vollends noch größer, von Andern ganz zu schweigen. Aber auch damit ist doch wieder ein Beweis erbracht, nämlich für das Vorhandensein und das Entgegen- kommen des Sinnes für die plastische Körperform auch bei diesen Deutschen. Und es hieße auch heute noch die Begabung unsrer norddeutschen Stämme gewiß ebenso verkennen, wenn man die ausgesprochene Stärke des Gefühls für diese Seite des künstlerischen Schaffens in Abrede stellte. Was ein Carstens für die Wieder- eroberung der vollrunden Körperlichkeit auch mit den einfachen Mitteln seiner Zeichnung schon geleistet, gegen- über der einseitigen malerischen Auffassung des Zu- sammenhanges aller Dinge in den Schulen des Rokoko, das wird durch seine Vereinzelung in der Fremde nicht aufgehoben. Was ein Winckelmann, der so vielen die

1*2 Sechster Vortrag

Augen geöffnet hat, seiner Anlage von Hause aus ver- dankt, das bleibt doch auch eine Tatsache deutscher Sinnesstärke, wie die selbsterrungene statuarische Sicher- heit eines Schadow als urwüchsiges Zeugnis dasteht für nun für die Musen und Grazien in der Mark.

Vor dem unparteiischen Auge des Kunsthistorikers löst sich die Einseitigkeit des nationalen Standpunktes gegenüber allen Perioden unsrer deutschen Vergangen- heit auf und hinterläßt keinen Zweifel über die Torheit des Bemühens, uns nach dem Rausch der Romantiker noch einmal wieder weis zu machen, wir Deutschen seien über die Kinderschuhe von ehedem noch nicht hinaus- gewachsen und könnten nichts Besseres tun, als artig wieder hineinzuschlüpfen. Diese Kunstpädagogik, die nur das altgewohnte Heimatliche gelten läßt,, verhilft uns höchstens wieder zu einer archaistischen Kunst, Und damit wäre uns, schon aus einem einzigen, sehr wenig idealen freilich, aber sehr praktischen und deshalb un- fehlbar durchschlagenden Grunde, garnicht gedient. Wir schaffen nicht nur für uns selbst und für die Erziehung unsrer Kinder, sondern es gibt einen Wettbewerb unter den Völkern, nicht Europas allein, und es gibt einen internationalen Kunstmarkt, wo es darauf ankommt, be- stehen zu können und seinen Platz zu behaupten, wo vielleicht gar das Grundgesetz gilt: wer nicht er- obert, wird verschlungen!

Sowie wir über die ersten Anregungen zur Kunst hinausschauen, wo nicht erst die letzten Funken, die unter der Asche glimmen, wieder angefacht werden, sondern irgendwo schon ein lustiges Feuer brennt, da muß auch jene beschränkte Weisheit von der Heimats- kunst ihr Ende finden. Mögen wir überall vom Bekannten in der nächsten Umgebung ausgehen, die Tiere, die

Zwei plastische Beispiele ^4-3

Pflanzen, die Märchen und Lieder des engsten Vater- landes auch als den natürlichen Bereich unsrer Kunst- pflege betrachten, ünsre Heimatkunde muß sich zur Erd- kunde erweitern, unsre Hauskunst doch nur der erste Anlauf sein zu einer Volkskunst, und diese Volkskunst hat sich eines Tages einzureihen in die Kunst der Völker ringsum. Sie hat sich Rechenschaft zu geben von früh bis spät, wie weit sie ihre nationale Auseinandersetzung mit der Welt gefördert hat, und zwar mit der ganzen weiten Welt, in die wir Menschen gestellt sind, samt und sonders. Das aber kann sie nur, wenn sie mit allen Faktoren des modernen Kunstschaffens ehrlich und ernst- lich eerunsren hat.

Nun lassen Sie uns einmal eine Probe machen, und zwar wo sie besonders not tut, d. h. mit besonderer Rücksicht auf die plastische Körperform, die über flächen- hafte Darstellungen der Grififelkunst weit hinausgeht und die Rundung, deren Vollgefühl uns heute so seltsam ab- handen zu kommen droht, selber zu geben trachtet. Suchen wir aber womöglich nach einem Beispiel, wo sie es unternimmt, in ihrer Gestaltenschöpfung zugleich die Weltanschauung ihrer Zeit zum umfassenden Ausdruck zu bringen.

Nirgends kennzeichnen sich die Ansprüche der Lebenden klarer als an der Schwelle des Totenreichs. Da beben sie zurück und suchen sich zu fassen; da sammeln sich die höchsten Werte und möchten sich hinüberretten an ein jenseitiges Ufer. Da wird die Kunst berufen, diese Werte zu verewigen, zum letzten Mal, wie ein inbrünstiges Stoßgebet oder eine laute, den Wider-

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Sechster Vortrag

hall in allen Herzen weckende Beteuerung, bevor das dunkle Tor sich öffnet und hinter dem Eingetretenen wieder schließt. Auf immer? auf ewig? das ist die Frage.

Wir betrachten zwei Werke dieser Art, die als Be- kenntnis solcher Anwartschaft geschaffen worden : das Ehrendenkmal für Canova und das Denkmal für die Toten von Bartholomc. Eine schUchte Marmor- pyramide tritt in der Frarikirche zu Venedig halb aus der Wand hervor. Drei Marmorstufen über dem dunklen Sockel führen in ihrer ganzen Breite hinauf zum Ein- gang, den außer dem vielgepriesenen Namen Canova und einem Reliefmedaillon mit dem Profil des Künstlers, von schwebenden Genien getragen, kein andrer Schmuck auszeichnet. Nur dem Einzigen ist diese Stätte bereitet. Die Hand seiner Schüler hat nach seinem Entwurf (1794) den Aufstieg links und rechts mit plastischen Gestalten besetzt (1827). Der geflügelte Löwe Venedigs lagert an der Pforte, ein nackter Jüngling mit umgestürzter Fackel und erlahmten Schwingen sitzt zurückgelehnt zur Seite dieses Wächters. Er schließt die Augen, während der Markuslöwe, das Haupt auf die Pranken am Boden streckend, den Blick voll Trauer auf- schlägt nach der Aschenurne, die soeben in feier- lichem Zuge gebracht wird. Eine tiefverschleierte Frauen- gestalt trägt das schlichte Gefäß, das die teuern Reste beherbergt, langsamen Schrittes, wie unwillkürlich zögernd vor dem letzten Schritt in das Dunkel. Ein nackter Knabe mit der brennenden Fackel folgt ihr die Stufen hinauf, aber auch er vermag die Augen nicht abzu- wenden und hängt mit seiner ganzen Seele nur dem Kleinod nach, das da getragen wird. Zwei Frauen mit einer Blumensruirlande kommen hinterdrein: die eine

Das Denkmal Canovas

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von königlichem Wüchse, gefaßt, doch gesenkten Hauptes vor sich niederschauend; die andere zartere Halt suchend, an die Schulter der altern gelehnt, aber voll Sehnsucht auf dasselbe Ziel gerichtet, wie der junge Fackelträger vor ihnen. Zwei kleine Knaben, Arm in Arm, beschließen den Zug; der eine rüstig hinaufsteigend, der andre lässig wandelnd, bekümmert und schweigsam auch sie. Mitten in der Bewegung, die sie vollziehen, ist es e i n Schmerz, der sie alle befängt, und unter seinem Druck erstarren die stolzen jugendfrischen Glieder, wie zu ewigem Still- stand, gleich dem göttlichen Genius, der da drüben in Schlummer sinkt.

Fragen wir nach dem letzten Werte, dem all die Trauer huldigt, so haben wir ihn gewiß in dieser groß- artigsten Gestalt zu suchen, die neben dem gewaltigen Symbol Venedigs draußen zurückbleibt. Hammer, Meißel und Lorbeerkranz liegen neben ihr auf der Stufe. Sie waren dem Ideale der klassischen Schönheit geweiht, das hier verkörpert, sich in all seiner Pracht und Herr- lichkeit vor uns ausbreitet, und über alles vorüberziehende Leidwesen triumphiert, durch seine stille Gegenwart allein. Gegen diesen Götterjüngling mit den mächtigen Schwingen erscheinen die wohlgebildeten, aber vom Weh des Herzens leise durchbebten W^esen, die daher wallen, nur wie Vorstufen dieser höchsten Vollkommen- heit. Körperschönheit nach dem Sinne des klassischen Altertums, die Vergötterung des Menschenleibes ist es, die hier gefeiert wird. Sehnsucht nach ihr zurück klagt an Canovas Grabdenkmal um das Entschwinden durch das Tor der Schatten.

Ganz anders spricht das Denkmal für die Toten von Albert Bartholome auf dem Kirchhof Pere Lachaise zu Paris (1892), Es ist nur eine Pforte mitten in einer

Schmarsow, Kunst und Erziehung. lO

lAß Sechster Vortrag

hohen Mauer, wie zu einem Gottesacker. Aber dies überragende Tor, von ägyptischer Einfachheit und Strenge, finster und eng, erschließt den Zugang zu der raum- losen Tiefe, wo es Iceinen Ort und keine Zeit mehr gibt. Ein Mann und ein Weib sind soeben auf die Schwelle getreten. Wir sehen die nackten Gestalten nur noch vom Rücken, wie die letzte Hülle, die sie deckte, nieder- sinkt, und beide drängen sich unwillkürlich, wie Halt suchend, seitwärts auf schmalem Steg gegen die Wan- dung der Pforte. Der Mann nimmt sich zusammen und schreitet entschlossen vor gegen das Dunkel zu seinen Füßen. Die Gefährtin hält noch den Arm ausgestreckt und die Hand auf seiner Schulter; aber ihr Haupt ist erhoben, leise zurückgeneigt, als spähten die Augen mit dem schwindenden Lichte noch, das schwarze Geheimnis zu durchdringen. Nächtliche Schauer wehen sie an aus der Tiefe und rühren eiskalt an die zagenden Glieder. Noch nicht so weit, wie dieses Menschenpaar, sind die andern draußen an der Mauer; aber sie kommen alle. Tastend sucht der hochgewachsene Mann, der mit beiden Händen den Rand des Tores ergreift, seinen Weg, und schiebt sich mit gekrümmtem Rücken und geknicktem Gange weiter voran. Ein junges Mädchen hat sich neben ihm vornübergeworfen und verbirgt das Antlitz auf dem Boden. Händeringend kniet ein andres zur Seite und starrt beklommen vor sich hin. Dann wieder ein Liebespaar, das gemeinsam dahinging; aber dem zarten Geschöpf entsinkt der Mut; halb selber knieend stützt sie der sorgende Freund, dessen Arm sie nicht lassen will. Bebend wie Espenlaub schmiegt sich die Letztgekommene daran. Sie ist dem Taumel des Lebens entronnen, und findet hier eine Zuflucht; aber sie hört nicht auf zurückzuschauen und dem Klang der

Bartholomes Denkmal fiir die Toten

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Freude zu lauschen, dem ihr Herz gehört, ob es auch brechen mag. Wie gerettet aus der allgemeinen Flut sind sie alle an diesem Ufer gelandet, erschöpft und geängstigt und doch am Ziel. Eine unsichtbare Hand lenkt die mannichfach strebende und zögernde Be- wegung hinan zum Eingang der Ruhe.

Unüberwindliche Mächte drängen auch die harrende Schar gegenüber. Von der schaudernden Gestalt des stehenden Mannes am Ende, der seine Augen im Haupt- haar der sitzenden Frau versteckt, bis hinunter zur ersten der Reihe, der verzweifelten Matrone, die trotz Alter und Mühsal noch auf ihrem Steine wartet, die Ellbogen auf die Knie und die Stirn in die gefalteten Hände stützt, und weiter brütet in dumpfem Gram, wie geht der Zug der Linien abwärts gegen die Tiefe! Mag auch dazwischen das Hangen und Bangen, Begehren und Reue, Liebkosen und Streit sogar sich widersetzen: halb hingesunken, halb fortgezogen, ist auch das schönste nackte Frauenbild dem Verhängnis anheimgefallen.

Nur einmal leuchtet hier der Reiz des blühenden Weibes, dort die ungebrochene Kraft des Mannes her- vor; — und auch nur im Vorübergehen; und zu- gleich als Träger des Ausdrucks für den Seelengehalt, der beide Reihen durchbebt. Von dem Menschenpaar in der Mitte bis ans Ende der Gruppen links und rechts nur schlanke bewegliche Gebilde, von dem gefaßten Mannessinn und dem weicheren Wehgefühl der Gattin bis zu den Grenzen des Umschlags, wo der alternde Mann ergraust und die schlanke Maid sich mutig los- reißt, lauter ethische Werte, die sich retten bis zum Äußersten, und das Hängen am Leben um ihretwillen in Lieben und Not, in Leiden und Tod. Die nackte Menschengestalt ist nur die unverhohlene Sprache für

1^8 Sechster Vortrag

die Wonne des Wehs in der Menschenbrust. Kein ander Gut als dieses. So wenigstens spricht der obere Teil. Was darunter noch hinzu kam ist etwas für sich.

Wie grundverschieden ist diese moderne Weltan- schauung von dem Triumph der Körperschönheit am Grabmal Canovas, das doch schon dem neunzehnten Jahrhundert, also auch der Neuzeit angehört. Kaum hundert Jahre trennen die beiden Werke; aber sie stehen einander gegenüber wie Mittelalter und Altertum. Und unverkennbar beruhen sie ebenso auf ganz verschiedener Formensprache: das eine auf der späten römischen Kunst, mit der sich auch der sentimentale Anflug vom Übergang des i8. ins 19. Jahrhundert am besten ver- trägt; das andere auf der französischen Skulptur früh- gotischer Kathedralen, d. h. auf dem besten Erbteil der christlichen Kunst des Abendlandes, mit der auch die weitern Zutaten tröstender Hoffnung, im untern Teil des Denkmals für die Toten, zusammenhängen. Die Haupt- sache jedoch bleibt die Verschiebung aller Werte für die künstlerische Rechnung des Ganzen. Ein schlankes feinknochiges Menschengeschlecht, kein Prachtexemplar von königlichem Wuchs, und statt der einzelnen Per- sonen, der statuarischen Gestalten in ihrer geschlossenen auf sich selber beruhenden Herrlichkeit, vielmehr die Durchschnitts Vertreter der Gattung, ein Paar typischer Beispiele, und sonst die Scharen zu häuf, wie sie kommen und gehen. Aber diese Figuren, vom innigsten Gefühl belebt, von lauter subjektiven Regungen durchdrungen, nur Träger der Stimmungsmomente, wie die Ankunft jener hergetriebenen Schatten da, nein, unser aller Ankunft am dunkeln Ziele, sie auslöst in uns allen. Und ist es nicht mimischer Ausdruck in Körperhaltung, im Zug der Bewegung, im rhythmischen Verlauf der Über-

Unser Verhältnis zu beiden Werken

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schau nach einander, den wir vor uns haben? Man darf sich fragen, was größer sei, das Wunder der plastischen Gebilde oder das der poetischen Pantomime. Klingt es nicht gar wie ein deutsches Requiem aus diesen Scharen: „Denn alles Fleisch ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen". . .

Alle, die klassisch gesonnen sind, „das Land der Griechen mit der Seele suchend", sie müssen auf Canovas Seite treten, ob die Leistung an seinem Grabmal nun ihren Geschmack befriedigt oder noch nicht vollauf. Alle die romantisch empfinden, werden sich zu Bartholome hingezogen fühlen, ob sie nun die christliche oder die moderne Seite des Werkes bevorzugen. Es handelt sich hier nur um die Richtung und die Auswahl der Werte zur bildlichen Verkörperung. Sollen wir Umfrage halten, wer für das Eine, wer für das Andere stimmt? Es ist kein Zweifel, daß auch hier die Geister auseinander- gehen. Und wenn man den Zwischenraum von hundert Jahren, der beide Werke trennt, noch abzuziehen ver- möchte, so würde der Gegensatz vollends rein hervortreten.

Nun aber erinnern wir uns, weshalb dies Paar von Bildwerken überhaupt in Betracht gezogen ward. Es war die Frage nach dem nationalen Standpunkt. Wenn die Anhänger des klassischen Stils das Denkmal für den Bildhauer Canova ohne weiteres verstehen, sich gewiß nicht dadurch befremdet fühlen, daß diese Schöpfung zur italienischen Kunst gehört, wie viel weniger stört die Gesinnungsgenossen der modernen Weltanschauung der Umstand, daß der Urheber des Denkmals für die Toten, Albert Bartholome, kein Deutscher ist, sondern ein Fran- zose. Sträubt sich unser germanisches Empfinden auch nur einen Augenblick gegen die ergreifenden Gebilde, sei es draußen in Paris auf dem Friedhof von Pere

jCQ Sechster Vortrag

Lachaise, als Monument unter freiem Himmel, wie es gewollt ist, oder sei es drinnen in einem Ausstellungs- saal zu Dresden, etwas malerisch zurecht gemacht und für Reliefanschauung in eine Nische geschoben, wie unsre Künstler es sehen wollen? Aber meinen Sie, dies ausdrucksvolle Leben der nackten oder leicht ver- hüllten Gestalten wäre möglich gewesen, ohne die freieste Kenntnis des Menschenleibes, die jenseits des Rheines noch immer gepflegt wird, ohne den intimsten Verkehr mit dem lebenden Geschlecht, den unsre deutschen Künstler in verzweifeltem Ringen zu retten suchen, als Hort, als Nibelungenring all ihres Schaffens im Norden?

* :■:

ArmseHge Verblendung unsrer historischen Gelehr- samkeit, die uns mit engherziger Vaterlandsliebe zurück- schrauben möchte zu dem Deutschtum irgend einer Periode unsrer Vergangenheit, die uns kein andres Heil zu verkünden weiß, als das Lob des Gängelbandes, an dem unser Volk einst das Gehen gelernt hat. Wie unglaublich verworren und einseitig sind die Begriffe von Heimatlichem und Volkstümlichem, von germanischem oder deutschem Wesen, die uns eingeimpft werden von Jugend auf, eben heute, nach 1870, mehr denn je zuvor, selbst in den Freiheitskriegen. Wie kurzsichtig verfahren selbst unsre Wanderprediger für Kunst und Erziehung, wenn sie immer wieder zur Nachahmung einer verflossenen Formensprache raten, d. h. zur Lehre Winckclmanns zurückkehren. Ist es denn etwas andres, wenn dieser Stil aus römischen Nekropolen und helle- nischen Tempelruinen ausgegraben ward, oder aus unsern Klöstern des Mittelalters und unsern Bücherschätzen der Reformationszeit? Geht man in dieser neuesten Altertümelei nicht sogar so weit, die Inkunabeln des

Plastik und Graphik I5I

Holzschnitts, wohl gar der kolorierten Erstlings-Drucke wieder anzupreisen, d. h. einer Kunst, die dazumal in der Wiege und doch auch wohl in den Windeln lag, wie der gelehrte Name standesamtlich bezeugt. Und damit meint man, den Geschmack unsrer Kinder, des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur zu treffen, sondern auch zu bilden, wohl gar zu veredeln. Solches geschehen zu Leipzig in der Stadt der Verleger im Jahre des Buch- gewerbes 1902! Der heilige Gutenberg bewahre uns und unsre Kinder vor dieser Kunst der Bücherwürmer wie jeder anderen Altertümelei, und sei dies selbst der Druck, in dem unsre herrlichste Literatur, die Werke Schillers und Goethes, zuerst das Licht der Welt erblickt haben. Die Buchstaben werden den Geist nicht zurückbringen.

Aber nicht um einen Kampf nur der Vorbilder handelt es sich, nicht um Parteigezänk der Gotiker und der Klassiker, wie nicht lange her noch in der Baukunst, nicht um den Schlachtruf hie Schwabach, hie Cicero, sondern wie wir uns sogleich zu anfang eingestanden, um ein viel ernsteres Problem, das an die letzten Über- zeugungen des denkenden Menschen rührt und zugleich in die geheimsten Gründe unsres Fühlens hineingreift. Wir treten diesem Hauptproblem unsres heutigen Kunst- lebens und damit unsrer ästhetischen Erziehung gewiß viel näher, wenn wir sagen, es laute: hie Graphik, hie Plastik. Auf der einen Seite winkt uns die Verquickung des Bildes mit dem Wort, ein unvermerktes Übergleiten aus der sinnlich sichtbaren Anschauung in die poetische Vorstellung, und schlimmer als das, in das begriffliche Denken, in die logische Abstraktion. Ist doch die ganze Grififelkunst nichts andres als solch ein Zwischenreich zwischen Malerei und Dichtung, gradeso wie die Relief- kunst nur als Übergangsgebiet zwischen Plastik und

152 Sechster Vortrag

Malerei verstanden werden kann. Ist doch Vergeistigung des Bildes, aus farbiger Wirklichkeitstreue in farblose Entwirklichung, grade das Wesen dieser Vermittlerin zwischen bildender und redender Kunst. Mit der er- neuten Pflege dieser oft erprobten Richtung der Deutschen werden alle unkünstlerischen Momente in der Begabung der Nation, d. h. alle angeborenen Widersacher der bildenden Kunst und des sinnlichen Bedürfnisses nach Anschaulichkeit wachgerufen, werden immer wieder die Leitungsbahnen eingeübt, die vom Konkreten weg und zum Abstrakten hinüber führen, aus der räumlichen Form in die zeitliche, vom Körper zum Geist. Auf der andern Seite leuchtet die Schönheit des nackten Menschenleibes, der Wert eines gesunden, harmonisch ausgebildeten Körpers und die Verherrlichung dieser natürUchen Gaben unsres erdgebornen Geschlechtes. Aber dies Ideal ist uns entfremdet, steht uns fern gegen- über wie am jenseitigen Ufer, wie ein übenvundener Standpunkt, wie ein lästiges Hemmnis im Fortschritt des Geistes. „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb." Und können sie wirklich nicht mehr zu einander kommen, dann ist die Folgerung un- vermeidlich: die Plastik ist tot, und trotz aller ver- zweifelten Wiederbelebungsversuche, tot und begraben in unsren Landen. Die Malerei , diese anerkannte moderne Kunst mag uns noch bleiben für eine Weile; aber die Gestalt, vor allem die vollentwickelte größeren Maßstabes verschwindet mehr und mehr; und damit ist auch der monumentalen Wandmalerei das Urteil ge- sprochen. Figuren allein, als Träger geistigen Ausdrucks und Dolmetscher poetischer Beziehungen, bleiben übrig. Ihre Zeichnung muß immer mehr verfallen, und orga- nische Häßlichkeit triumphiert. Daneben gedeiht eigent-

Optisches und Musikalisches iCs

lieh nur die Landschaft, die Darstellung des Außer- menschlichen, des Augenscheins der weiten Welt. Und endlich lockt uns, wie gesagt, die graphische Kunst zum Wettbewerb mit dem Ausdruck durch das Wort, dem geschriebenen und gelesenen Buchstaben ; das Buch- gewerbe blüht. Sollen wir noch weiter gehen? Wir kommen aus dieser Schilderung der Zukunft eigent- lich wieder zurück zur Schilderung unsrer schon völlig ausgewachsenen Gegenwart, wenn wir fortfahren: die Musik überwuchert die Architektur. Mit dem Körper- gefühl ist auch die lebendige Vermittlung zwischen dem Menschen und seinem Raumgebilde verkümmert und ab- gestorben. Die Raumkunst kann nur andre Ziele ver- folgen als die Auseinandersetzung mit unsrem lebens- warmen Leibe; es kann sich auch da nur um Befriedigung des „Augengeschöpfes" und des „Ursachentieres" in uns handeln, d. h. um die Kunst des Scheines und die Ge- nüsse der Vorstellungswelt. Man wird uns sagen, daß wir Luftschlösser bauen. Nein, halt, es gibt noch eine Möglichkeit, zu der auch Kartenhäuser in Menschen- format ausreichen; im Wettlauf mit der Musik als Stimmungsausdruck erscheinen Farbenräume und psycha- gogische Veranstaltungen zum Wechsel dieser Wirkungen: Aneinanderreihung mehrerer solcher farbig stimmender Räume gäbe die Möglichkeit zeitlichen Erlebens nach- einander, wenn dieser Zweck auch leichter durch Ver- wandlung des Schauplatzes erreicht würde und mit monumentaler Durchführung eigentlich im Widerspruch steht. Das wäre jedenfalls ein Hauptanliegen der Kunst für den Menschen als Augengeschöpf allein, eine Art Kalospinthochromokrene, die sonst mit farbigem Lichte zu Stande kam. Doch genug des grausamen Spiels! Wir

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Sechster Vortrag

wollten ja nicht unter die Propheten gehen. Indes ein solcher Ausblick in die Zukunft war nicht zu vermeiden. Bis zu einem gewissen Grade muß man sich an jedem Scheidewege den weiteren Verfolg vorausschauend vergegenwärtigen. Wenn uns nun angesichts eines solchen Horoskops doch Besorgnis ergriffe? Was könnten wir tun, um unsre bildende Kunst vor der Auflösung in die zeitliche Form, vor dem gefährlichen Wettstreit mit der Poesie, der Mimik und der Musik zu bewahren? Sollten wir uns nicht begreiflich machen, daß diese Gefahr grade dort am größten ist, wo wir die Vorliebe unsrer Nation zu suchen pflegen, auf dem Gebiet der Graphik? Diese verhängnisvolle Zwitterbildung bietet überall Gelegenheit, unsrer Neigung zu fröhnen, d. h. zum unvermerkten Übergleiten aus der sinnhchen Anschauung in die rein geistige Vorstellung, von der Intuition in die Begriffs- welt unsres logischen Denkens. Hier ist die Ausbildung eines klaren Urteils am allerdringendsten geboten; denn hier ist all unsre Gelehrsamkeit, auch beim besten Willen, die P"eindin, die unbewußte Verführerin und unermüdliche Zerstörerin unsrer künstlerischen Anlagen und Triebe. Und nehmen wir hinzu, daß als zugänglichstes Mittel für die Pflege des Kunstsinnes bei unsrer Jugend immer wieder zuerst das Zeichnen empfohlen wird, so haben wir alle Ursache, diese Verbindung mit Mißtrauen zu untersuchen. Deshalb ist auch meinerseits vom Zeichnen erst hier die Rede. Ich habe mich überall bemüht, die Zeichnung als eine Abstraktion kenntlich zu machen, den Irrtum zu bekämpfen, als sei diese Form der Dar- stellung der Ursprung aller bildenden Künste und des- halb der Springquell des Segens. Wir müssen auch hier das Gegenteil der ererbten Meinung verfechten, indem wir die Leistunsf intellektueller Art anerkennen,

Graphik und Plastik X 5 5

die schon im einfachsten Umrißbild auf der Fläche vor- liegt.

Viel ursprünglicher ist die andre Form der An- schauung, die aus dem allseitigen Verkehr mit dem Gegenstande hervorgeht. Sie beruht ebenfalls auf einer psychischen Synthese. Aber sie entsteht nicht auf rein optischem Wege, wie das Fernbild, sondern fußt überall auf den Erfahrungen der Tastregion, auf Sinnes- empfindungen unsres Leibes in unmittelbarer Berührung mit dem Gegenstand und der körperlichen Auseinander- setzung mit unsrer Nähe. Und diese viel stärker sinn- liche Anschauung, diese Auffassung des fremden Körpers nach Analogie unsres eignen Leibes vermögen wir durch Modellieren und Formen zum Ausdruck zu bringen. Nun und nimmer ist Formen und Zeichnen dasselbe. „Das Formen ist das Darstellungsmittel, welches sich unmittelbar an die Natur anschließt", erklärte zu meiner Freude ein berufener Fachmann auch in Dresden. Das Formen ist das erste Darstellungsmittel, das am ge- nauesten die allseitige Auffassung des Dinges wiedergibt. Dies Darstellen des Gegenstandes in körperlicher Form ist bisher in unsern Schulen, in der Volksschule und im Elementarunterricht fast vollständig oder gänzlich ver- nachlässigt worden. 1) Auch ich bin der Ansicht: bevor wir nicht zu der Überzeugung kommen, daß auch das Formen in der Elementarschule einen Platz gewinnen muß, werden wir keine Grundlage für die künstlerische Erziehung gewinnen. In Holland bestehen bereits Privat-

1) Dresdener Bericht S. 159. Vgl. 151 ff. Der Berichterstatter, Lehrer C. Götze aus Hamburg, verfällt jedoch an der Hand von Adolf Hildebrands ,, Problem der Form" in eine Abirrung von dieser Erkenntnis. Die Bevorzugung des Flächenbildes ist grade an unsrer modernen Un- fähigkeit, räumlich-körperlich zu fühlen und zu gestalten, schuld.

156 Sechster Vortrag-

schulen, im Haag und in Amsterdam z. B., und Volks- schulen in Haarlem und Enschede, wo das Formen in ausgedehntestem Maße betrieben wird. Und es wäre gewiß kein Unglück, wenn statt der dilettantischen Pflege des Klavierspiels versucht würde, das geräuschlose Mo- dellieren an die Stelle treten zu lassen, soviel und solange Lust am Formen irgend vorhanden ist. Es gibt ja kein Geschöpf, das zum Schafifen und Ausdrücken zahlreichere Anläufe nimmt als das sich selbst überlassene Kind; es baut, es formt, es kritzelt. Sein natürlicher Erfindungs- trieb bedarf nur des Anstoßes, um in die wünschens- werte Bahn gelenkt zu werden. Und dies sind Modellieren in Ton oder Wachs, und Bauen mit leichterem oder schwererem Material gewiß dringlicher, als Kritzeln und Zeichnen. Körperbildung und Raumbildung sind auch die Vorstufen für das wahrhaft anschauliche Zeichnen selbst. Sie sind überhaupt die unentbehrlichen Grund- lagen für alle Naturaufifassung im künstlerischen Sinne. Ihre Einübung in Haus und Schule ist viel wichtiger als die stillschweigende Betrachtung oder gar die frühzeitige Nachbildung graphischer Vorlagen. Selbstverständlich behält das Zeichnen seinen besondern Wert für die höher entwickelten Stufen des Unterrichts. Aber auch hier kann nicht genugsam empfohlen werden, das freie Han- tieren mit Kreide an der Wandtafel oder auf der Tisch- platte, mit Kohle auf großen, ausgespannten Papier- blättern, d. h. im Zusammenhang mit der Beweglichkeit des ganzen Körpers vorangehen zu lassen, bevor das Kritzeln mit dem Bleistift im Sitzen am Tische nach Art des Schreibens an die Reihe kommt. ^)

In der Gegenwart, mit der wir uns heut auseinander

^) ^^S^- ]• Liberty Tadd, Neue Wege zur künstkrischen Erziehung der Jugend. Leipzig 1900.

Graphik und Plastik je^

ZU setzen haben, ist die Schreib- und Leseübung das stärkste Hindernis der unbefangenen allseitigen Auffassung der Natur in ihrem dreidimensionalen Bestände. Wenn wir im Namen unsres eignen angeborenen Körpers und unsrer auch noch in kubischer Existenz heran- wachsenden Jugend gegen solche Züchtung von leib- lichen und geistigen Krüppeln protestieren, so können wir angesichts all der einseitigen Schulung zu Arbeits- geschöpfen des Fabrikbetriebes gewiß zu der Entschei- dung gelangen, daß wir vorläufig lieber auf die Graphik als auf die Plastik verzichten wollen. Da liegt der Widerspruch gegen das Auftreten eines dritten Ge- schlechts nach Art der Bienen offen zu Tage. Und es gibt doch immer noch eine kleine Gemeinde von Ketzern, die allem rücksichtslosen Betrieb der Arbeits- teilung gegenüber bei dem lauten und nachhaltigen Proteste zu verharren entschlossen ist. Auch unsre bildende Kunst zu retten gibt es kein anderes Mittel als die Pflege und Freiheit unsres nackten Körpers. Er allein ist den einen die Wurzel alles Übels und den andern der Quell alles Heils. Da muß die Axt angelegt werden, die Vorurteile zu fällen, oder der erste Spatenstich er- folgen, den lautern Quickborn wieder freizulegen; denn Gesundheit unsres Menschentums tut uns vor allem not. Wo eine gesunde harmonisch ausgebildete Generation ge- deiht, da blühen auch am ehesten die Künste, zu denen wirklich Begabung vorhanden ist. Alles andre bleibt doch nur Treibhauskultur, die niemand dauernd beglücken kann. Plastik hier und Graphik drüben im feindlichen Lager, steht die Sache wirklich so auf des Schwertes Spitze? Die Vertreter der Griffelkunst berufen sich noch auf eine Tatsache: „Neben der Bewunderung, der An- betung dieser prachtvollen, großschreitenden Welt wohnen

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Sechster Vortras

die Resignationen, der arme Trost, der ganze Jammer, die lächerliche Kleinheit des kläglichen Geschöpfes im ewigen Kampfe zwischen Wollen und Können." Die organische Schönheit des Menschengeschlechts, v^on der ihr träumt, ist verfallen; das plastische Ideal, das ihr wieder erobern möchtet, wird längst von den dunkeln Mächten des Lebens überflutet.

Da stehen wir wieder vor den beiden Grabmälern, die wir betrachtet haben. Das eine predigt den Kultus der Körperschönheit als letzten Wert. Von dem andern vermöchten wir das nicht zu sagen. Es sind vielmehr die ungeheuren Kontraste , die Furchtbarkeit des Menschenloses und der Widerspruch des Menschenge- müts, die dort zum Ausdruck kommen. Diese Ansicht der Welt erscheint hier freiUch noch in den Formen des nackten Körpers; auch seine Vorzüge tauchen auf als solche, aber nur in relativem Wert: die schmächtige Bildung überwiegt, als gebrecliliche durchsichtige Hülle nur des Seeleninhalts. Demgemäß waltet aber auch nicht mehr das Gesetz der plastischen Anschauung allein, wenn wir das Denkmal Bartholomes für die Toten betrachten. Körper und Raum wirken zusammen; es ist seinem Innern Wesen nach ein Bild. In Stein ge- hauen, aber alle Gestalten im Zusammenhang erfaßt, mit Ihresgleichen oder mit der Stätte, dem Schauplatz, der allein ihr ganzes Benehmen zu erklären vermag. Im dunklen Tore drinnen liegt der Beweggrund all ihres Ausdrucks. Wir suchen diese Einheit, die über alle organischen Einzelgeschöpfe hinausgeht und die Be- dingungen des Ortes und des Augenblicks in ihrer Herr- schaft über allen Körpern anerkennt. An den Friedhofs- mtiuern entlang getrieben, werden diese plastischen Ge- bilde erst zu Trägern jener höheren Einheit selber. Es

Malerische Schönheit I 59

ist die malerische Auffassung, die so viel Wider- strebendes zusammenzugreifen und unter eine Ansicht zu vereinigen weiß; denn die Sonne scheint über Ge- rechten und Ungerechten, und der Sturm der Elemente peitscht die Übeltäter und die Unschuldigen durch- einander. Über den Hebten wie den finstern Gewalten des Daseins erhebt sich siegreich die malerische Schön- heit, die wir genießen. Ja, vielleicht sollten wir nicht verschweigen, daß diesseits wie jenseits, dort im Hinter- grunde wie hier im Busen des Betrachters, noch andere Faktoren mitwirken, die letzte Einheit dieses Kunstwerks zu weben, und daß eben diese der Vorstellungswelt, der dichtenden Phantasie angehören. Sie kommen als unser zagendes Bedürfnis dem Bilde schon entgegen und stehen hinter seinem Spiegel als festgeglaubte Überzeugung da gleich gut, wie wandelbar sie beide von Mensch zu Mensch sich ändern mögen oder sich vertauschen.

Nicht anders schaltet die malerische Schönheit auch bei Rembrandt, den berufene Stimmen „wegen seines echt germanischen Empfindens" und zugleich „wegen der Gesundheit seiner Anschauungen" preisen. Da breitet er vor unsern Augen eine Schar von zerlumpten Krüppeln und verkommenen Bettlern aus und stellt eine nicht weniger dürftige Menschenfigur in langem Rocke mitten unter sie; der Menschheit ganzer Jammer faßt sie an. Und doch, die Schatten und die Lichter fluten über das Gedränge; sie decken das herzzerreißende Bild des Elends und die Häßlichkeit der organischen Geschöpfe; sie wecken die Mächte des Lebens aus versunkenen Tiefen. Und dieses Leben dringt so unwiderstehlich aus dem gemeinen Grunde, es drängt auch unser Auge vom Einzelnen zum Ganzen, von dem armseligen Körper zu dem weiten Zusammenhang der Welt. Unser Mitgefühl

l6o Sechster Vortrag

löst sich, wie in dem trostverkündenden Lehrer in ihrer Mitte, und erinnert sich, daß die Geschichte der Men- schengeschlechter auf Erden nur ein Schauspiel sein kann für einen höheren Geist. Auch da noch trium- phiert die Kunst. Die malerische Schönheit, die sie darüber ausbreitet, gewinnt schon unsre sinnliche An- schauung für ihren Reiz und lockt uns, den Zusammen- hang zu suchen, der alle Gegensätze bändigt und be- greift. Aber auch hier liegt der Schlüssel zum letzten Geheimnis in uns selber, und in dem Blick, mit dem wir diese Welt betrachten. Da liegt auch die ewige Be- rechtigung unsrer geistigen Seite. Und Rembrandts Radierungen, KUngers Griffelkunst sind es, die den Weg bereiten. Da treten Dichtung, Mimik und Musik in ihre unantastbaren Ämter. Wo Licht und Helldunkel nicht helfen, da lösen die Töne noch starke Dissonanzen in Harmonie. Wo die melodischen Klänge verstummen, da erhebt noch der Geist seine Schwingen und rettet sich in Abstraktion. Diese Mächte, die uns Menschen gegeben sind, kennen wir alle.

Hier kam es nur darauf an, für die Urkraft ihrer räumlich - körperlichen Schwestern zu zeugen, deren näheres Anrecht überall bestehen bleibt, so lange wir in diesem Leibe wohnen, ja, solange unsre sinnliche Natur noch immer die Brücke bildet für all unser Vor- dringen in die fremde Welt, für all unsern Aufstieg zur schwindelnden Höhe, wie für all unsre Ahnungen vom Ufer des Schweigens da drüben, das uns sicher winkt. So lange wir zum Augenblick sagen: verweile doch, du bist so schön , solange darf auch Menschenkunst, die diesen Wert verkörpert, mit vollem Recht noch ihres

Amtes walten.

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Druck von Theodor Hofmann in Gera.

N Schmarsow, August

UM Unser Verhältnis zu den

34- bildenden Künsten

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