-^•11^ -^^-^:^;v=t-: Ä^- ^^- i^^^ '■'W f ^'x!; ',,/5. •>''.• ;^' --.-^ .-.'-— '^^ -jib ? • • ^ ^'v.- „ ^-^:''-<^^ w^- -^ •-« ^.■?r..X'74ir^>*^ . -^ . Volkswirtschaftliche Studien Rufslaiicl. Volkswirtschaftliche Studien aus Rufsland. Von Dr. Gerhart v. Schulze-Gävernitz, ord. Professor der Volkswiitschalt zu Freiburg i. B. Leipzig, Verlag von Duncker & Humbio t. 1899. JUN 3 1974 jJ Uq 5f Alle Rechte vorbehalten. Vorbemerkung. V orliegende Studien sind das Ergebnis einer vieljährigen, allerdings durch akademische Lehrthätigkeit des öfteren unter- brochenen Arbeit, Die leitenden Gedanken habe ich bereits 1894 in dem Januar-, Februar- und Märzheft der Preufsischen Jahrbücher umrissen — freilich damals noch ohne genügende Begründung und Ausbau im einzelnen. Immerhin sind diese Gedanken seitdem in der russischen Presse und Litteratur wiederholt aufgetaucht, teils mit, teils ohne Bezugnahme auf meine Arbeit. Diese Thatsache ist um deswillen hier fest- zustellen, damit ich dem Kenner der volkswirtschaftlichen Litteratur Rufslands nicht meinerseits von gewissen einflufs- reichen Schriften der letzten Jahre abhängig erscheine. Ein Prioritätsstreit liegt mir fern. Das Anschwellen eines Gedanken- kreises ist für denjenigen erfreulich, der ihn aus sachlichen, nicht persönlichen Interessen vertreten hat. Inhaltsverzeichnis. Seite Einleitung 1 Erstes Kapitel. Der ältere Merkantilismus 3 I. Allgemeines 3 II. Die gutsherrlichen Fabriken 20 III. Die „Possessionsfabriken" 29 IV. Erfolge 38 Zweites Kapitel. \l,x5n^-'r"'V~ — ' — ' Die mittelrussisehe Baumw^ollindustrie . . 52 I. Der natürliche und volkswirtschaftliche Hintergrund ... 53 II. Die Leinenindustrie in Wladimir 70 III. Die Färberei in Iwanowo 79 IV. Die Moskauer Spinnerei 86 V. Die Produktionskosten in Moskau und Westeuropa .... 106 VI. Vorteile und Nachteile in der Anwendung mittelrussischer Fabrikarbeit 129 VU. Die Europäisierung der mittelrussischen Fabriken .... 146 Anhang 171 Drittes Kapitel. Die Slavophilen und die Panslavisten . . 178 I. Die Slavophilen 173 II. Die Panslavisten 193 in. Kritik 201 rV. Die Volkstümler (Narodniki) 208 V. Neuere Weltmachtspolitik 223 Viertes Kapitel. Die Handelspolitik der aehtzig-er Jahre . . 243 I. Geschichtlicher Überblick 243 II. Die Schutzzöllner 260 III. Kritik 267 IV. Die Eisenindustrie ■ . . 282 — VIII — Seite . Fü 11 f tes Kapitel. Agraria 308 I. Allgemeines 308 A. Landwirtschaftliche Geographie 309 B. Grundeigentumsverteilung 314 C. Der landwirtschaftliche Betrieb und sein Inhaber . . . 319 D. Die Mängel der russischen Bauernwirtschaft 331 E. Die Triebkrcäfte des Fortschritts 344 F. Die Erscheinungsformen des wirtschaftlichen Fortschritts 355 G. Agrare Gesetzgebung . 370 II. Ein Tagebuchblatt aus den russischen Notstandsgegenden . . 384 III. Reisebrief aus dem Gouvernement Charkoff 400 A. Gemeindebesitz, Landumteilungen 400 B. Die landwirtschaftliche Beti-iebsgröfse 409 C. Bäuerliche Technik. Deutsche Kolonien 416 IV. Reisebericht aus der Ukraine 426 A. Eine Arbeitsverfassung 426 B. Die Kosaken von Kobeljaki 441 Sechstes Kapitel. Zur Währungsreform 46C I. Die Aufgabe 46( A. Die währungspolitische Aufgabe 46C B. Die bankpolitische Aufgabe 48( IL Rubelkurs und Rubelbörse 49^ A. Die Entstehung der Berliner Rubelbörse 50^ B. Die Funktionen der Berliner Rubelbörse ...... 50' C. Das Ende der Berliner Rubelbörse 52^ III. Die finanzpolitischen Grundlagen der Währungsreform . . . 53- A. Die Steuerreform Bunges 53' B. Die Entwicklung des Staatskredits unter Wischnegradski und Witte 55( IV. Rufslands Zahlungsbilanz 56i A. Die Zahlungsbilanz von 1887—98 561 B. Rufslands Handelsbilanz . . 57i Schlufs 59( E i n 1 e i t u n i*v Durch die Güte des Herrn Ministers der Volksauf klärung- war es mir vergönnt, das Wintersemester 1892/93 hindurch an den volkswirtschaftlichen Studien der Universität Moskau teilzunehmen. Dieser Aufenthalt aber bot mir noch mehr: durch Verkehr in den verschiedensten , ja entgegengesetzten Kreisen suchte ich Einblick zu gewinnen in die Strömungen und Stimmungen, welche als Niederschlag des Lebens der russischen Nation in der altehrwürdigen Zarenstadt ihre Ver- einigung linden. Studienreisen in den verschiedenen Gegenden des Reiches und zu verschiedenen Jahreszeiten, insbesondere zwei Sommeraufenthalte in den landwirtschaftlichen Teilen des Reiches, erweiterten die in Moskau gesammelten Ei'fahrungen. Durch das Studium einer ausgedehnten russischen Litteratur versuchte ich die persönlich gewonnenen Eindrücke zu ver- tiefen ^ Zwar ist das orthodoxe Rufsland, von byzantinischen Kulturquellen ausgehend, gegenüber dem katholischen und protestantischen Europa eine Welt für sich. Trotzdem haben die Wellen der geistigen Bewegungen, welche in den letzten beiden Jahrhunderten über Europa hingingen, oft genug die Scheidewand zwischen Europa und Rufsland überflutet und sich an den phantastischen Mauern des Kreml in den wunderbarsten Kräuselungen gebrochen. Die russische ^ Die Titel der i-ussischen Litteratur gebe ich übersetzt wieder: ich fürchte nicht, dafs dadurch die Auffindung der betreffenden Bücher erschwert wird, während der des Russischen unkundige Leser einen Überblick über die benutzte Litteratur erhält. V. Schul ze-G aevernitz, Studien :i. Kiifsl. 1 — 2 — „Intelligenz" ist seit Peter d. Gr. ein empfangendes, heute für einige Wissenschaften, zu denen ich auch die Nationalökonomie rechne, ein gebendes Mitglied der Welt des europäischen Denkens. Aber nicht die europäischen Gedanken europäisieren Rufslands Verhältnisse. Ohne Einflufs auf die gesell- schaftliche kStruktur des Ganzen verkümmern sie in der dünnen, iitterarisch gebildeten Oberschicht, weil ihnen der volkspsycho- logische Boden fehlt, in den sie breite Wurzeln einsenken könnten. Von Bedeutung werden die philosophischen, poli- tischen, socialen Gedanken Europas in Rufsland erst insoweit, als sie den eigenartigen wirtschaftlichen Bedürfnissen des Zarenreichs sich dienstbar erweisen. Unter diesen wirt- schaftlichen Bedürfnissen steht bislang das finanzpolitische Interesse des Staates, welcher nach aufsen die Rolle einer europäischen Grofsmacht, ja einer Weltmacht spielen will, obenan. Diesem politischen Interesse dient seit Peter d. Gr. Rufslands Handels- und Gewer bepolitik, ihm vor allem die gewaltige grofsindustrielle Entwicklung des modernen Rufsland. Aber auf dem Umwege des wirtschaftlichen Bedürfnisses, unabhängig vom Willen der Menschen, der Litteraten wie der Staatsmänner, vollzieht sich langsam diejenige Europäisierung, welche wichtiger ist als alles, was in den oberen Schichten vor sich geht : in der breiten Tiefe des Volkes entwickelt sich der psychologische Typus des Europäers, und zwar des- wegen , weil er für die Befriedigung der wirtschaftlichen Be- dürfnisse sich als vorteilhafter erweist. Hand in Hand hiermit geht — trotz aller merkantilistischen Abschliefsung — eine zunehmende Verflechtung der russischen Volkswirtschaft mit dem Handels- und Kreditnexus West- europas, insbesondere des westeuropäischen Festlandes. Es be- deutet dies nach innen die Europäisierung der russi- schen Volkswirtschaft. Auch sie ist unvermeidlich — gerade im Dienste der politischen Selbstbehauptung und Machterweiterung des Staates. Erstes Kapitel. Der ältere Merkantilisiiius. 1. Allgemeines. Die heutige russische Industrie trägt einen kolonialen Charakter; die modernen Formen des fabrikmäfsigen Grofsr betriebe« wurden vom Westen her übernommen und unver- mittelt aufgebaut über den altertümlichen Formen des „natior nalen Gewerbes", welches bäuerlicher Hausfleifs war ^ Die Entwicklung des Gewerbes beginnt in Rufsland wie anderwärts mit der Familie als der ursprünglichen, nach aufsen unabhängigen Wirtschaftseinheit. Dafs die grofse und geschlofsene Bauernfamilie (pjetschischtsche, d. h. grofser Herd) der Gemeinde zeitlich vorangeht, ist für RuI'sland auf das deutlichste festzustellen -. Denn erst im vorigen Jahrhundert sind in abgelegenen Teilen des Nordens diese einzelnen Bauern- höfe zwangsweise zu Gemeinden vereinigt worden. Der Bauernhof produzierte zunächst nur zum eigenen Verbrauch , neben Nahrungsmitteln und Rohstoffen auch J Hier und im folgenden wird die Buch er sehe Tenninologie anj- gewandt; vergl. Handwrjrterbuch der Staatswissenschaften, Art. Gre- Averbe. -Vergl. Engeluiann, Leibeigenschaff in Rnfsland, Leipzig, 1884, S. 5, und die dort angeführte Abhandlung von Jefimenko, Bäuerlicher Grundbesitz im äufsersteii Norden, Russischer Gedanke, 1882 und 1883. ''^ 1* — 4 — gewerbliche Produkte, am frühesten Gewebe. Dies that. dem gröfseren Verbrauch entsprechend in gröfserem Mafse, auch der adlige Gutshof. Eine solche sich selbst genügende Guts Wirtschaft mit bereits hoch entwickelten gewerblichen Bedürfnissen schildert der „Domostroi", ein Laienbrevier aus dem 16. Jahrhundert, ähnlich wie auch im Westen derartige Haushaltsanweisungen die Anfänge der volkswirtschaftlichen Litteratur enthalten. Aus diesem Buche gewinnen wir den Eindruck, als habe eine wirtschaftliche Thätigkeit aufserhalb des Hauses gar nicht stattgefunden. Keine Andeutung von einer die Einzelwirt- schaften verknüpfenden Volkswirtschaft! „Aller Lebenszweck scheint darin zu bestehen, das einmal im Besitze Vorhandene so zu verwalten, dafs Keller, Speise- und Kleiderkammer nicht leer werden, dafs die hamsterartig aufgehäuften Vorräte mög- lichst vollständig erhalten, mit möglichst geringen Opfern er- gänzt werden ^" Hier Avie überall trieb die Bevölkerungszunahme zu höheren Wirtschaftsformen. Nur so ist es zu erklären, dafs im Norden, wo die Natur karg und der Nahrungsspielraum beschränkt war, die bäuerlichen Familien sehr früh begannen, die Überschüsse ihres Hausfleifses zu verkaufen. In den holzreichen Gegenden des Nordens spielten und spielen noch heute neben den Geweben die verschiedensten Zweige der Holzbearbeitung eine besondere Rolle, so die Herstellung von hölzernen Gefäfsen, Holzschuhen, Schlitten, der Bau von Flufs- schifFen , Mattenweberei , ferner Metallbearbeitung , Kessel-, Nägelherstellung u. s. w. Das Mittel des Absatzes bildete der Hausierhandel; er verbrachte die Erzeugnisse bäuerlicher In- dustrieen nach dem Süden, der dafür Getreide lieferte. Später kamen auch Ausländer, welche die bäuerlichen Gewerbeprodukte holten ; insbesondere bestand seit dem 16. Jahrhundert rege Tuch- und Leinenausfuhr seitens der Engländer, welche den Hanseaten den auswärtigen Handel 1 Brückner, J. Possoschkoff. Leipzig 1878, S. 243. Derselbe, Russische Bevue. IV, S. 1 ff. Rufslands entrissen. Bezeichnet wird dieser Umschwung durch den Niedergang Nowgorods und das Aufblühen Archangels, nachdem die Engländer 1553 den Seeweg nach Rufsland durcii das VVeifse Meer entdeckt hatten. Bis tief in das Innere hinein wird von englischen Handelsniederlassungen im vorigen und vorvorigen Jahrhundert berichtet. Ivan IV. der Grausame, der Zerstörer Nowgorods (1533 — 84), wurde wegen seiner regen Beziehungen zu England auch „der englische Zar'" ge- nannt, und die Engländer erklärten zur Zeit der Elisabeth, dafs ihnen der Handel mit keinem Lande solchen Vorteil bringe wie der mit Rufsland ^ Neben dem bäuerlichen HausfleiCs war die andere Form des nationalen Gewerbes das Wandergewerbe; der Ausgangs- punkt war ebenfalls der Norden. Noch heute wandern Tau- sende von Schreinern^ Maurern, Glasern u. s. w. von Wjatka und Wladimir nach dem landwirtschaftlichen Süden , wo sie umherziehend ihre Dienste anbieten -. Das Wandergewerbe ist der Boden, auf welchem das Artel entstanden ist. Wie der Mensch überhaupt als Gruppe in die Geschichte eintritt, so vereinigt er sich, wo er die natürliche Gruppe, die Familie, zu verlassen gezwungen ist, zu neuen künstlichen Gruppen. Das Artel trägt, gleich seinem Vorbilde, der Familie, einer- seits einen produktivgenossenschaftlichen Charakter und ist zugleich eine Vereinigung zum Zweck der Konsumtion ; es umfafst den ganzen Menschen und verbindet ihn nach aufsen in Solidarhaft. Bezeichnenderweise kam es vorwiegend bei ^wandernden Industrieen" vor ^, weil es hier eben die im Boden wurzelnde Genossenschaft, die Familie, ersetzte. ^ Vergl. Ordega, Die Gewerbepolitik Rufslands von Peter I. bis Katharina II. Tübingen 1885, S. 35 u. 42. Brückner, I. PossoschkofF. Leipzig 1878. S. 237—314. Derselbe, Peter der Grolse. S. 6. 2 Vergl. Struve, Kritische Bemerkungen über die wirtschaftliche Entwicklung Rufslands. Petersburg 1894, S. 190/191; und Thun, Land- wirtschaft und Gewerbe in Mittelrufsland. Leipzig 1880. passim. 3 Vergl. Stieda in Conrads Jahrbüchern, Neue Folge. Bd. VI, S. 193 ft'. Mit den modernen Wirtschaftsgenossenschaften Westeuropas scheinen mir die Arteis nichts gemein zu haben; erstere ruhen auf — 6 - Dies etwa war der gewerbliche Zustand Rulslands im 17. Jahrhundert. Träger der Industrie war damals und bis tief in unser Jahrhundert, trotz aller raerkantilistischen Ex- perimente der Monarchen, der Bauer. Die Handwerker, welche der Hof für seine Bauten und Luxusbedürfnisse brauchte, wurden aus dem Auslande yerschrieben. Erst waren es Griechen; nach dem Fall des byzantinischen Reiches folgten ihnen die Deutschen. Diese fremden Handwerker befanden sich in einer halben Beamtenstellung und waren von der einheimischen Be- völkerung streng geschieden ; ja sie betrachteten ihre Kunst als Geheimnis und hüteten sich, sie den Eingeborenen mit- zuteilen, was selbst Peter d. Gr. noch den von ihm be- rufenen deutschen Handwerksmeistern zum Vorwurf machte. Als solche ausländische Gewerbetreibende werden Gold- schmiede, Glocken- und Kanonengiefser , Architekten, Uhr- macher, Bildhauer und Maler, Bergleute, Tucharbeiter u. s. w. genannt. Nach Brückner betrug die Zahl der schon vor Peter d. Gr. in Rufsland thätigen Ausländer an 17 — 18 000 \ Weil es kein einheimisches Handwerk als besonderen Beruf gab, so konnte es auch keine Klassenbestrebungen des Handwerks geben : keinen Kampf gegen die Lohnarbeit in den Häusern der Kunden, gegen das ländliche Gewerbe und das Wandergewerbe, keine Regelung der Produktion innerhalb des Handwerks selbst. Daher herrschte in Rufsland völlige Gewerbe- freiheit bis zu Peter dem Grofsen, wie solche ja auch der Aus- gang unserer westeuropäischen Entwicklung war. Die von Peter d. Gr. eingeführte Zunftverfassung trug einen rein bureaukratischen Charakter mit fiskalem Zweck. Nach Brückner bestanden die Zünfte nur nominell; ein Ukas des Kaisers bedrohte die Oberpräsidenten des Magistrats mit Zuchthaus, wenn die Zunftverfassung nicht binnen bestimmter individualistischer Grundlage und ihre Entwicklung Aveist nach der Zu- kunft; die Arteis weisen nach der Vergangenlieit und verfallen mit der Entwicklung individualistischer Denkweisen. ■ ■Ali' 1 Brückner, Peter der Orofse, Berlin 1879, S, 200. Ordega ä;..a..O. S. 7, .35, 80—88. - 7 — Zeit eingeführt sei — die Strenge der Strafe ist jedenfalls ein Beweis der Erfolglosigkeit des kaiserlichen Willens ^ Das Vorhandensein einer Moskauer Grol'skaufmannschaft bedeutete wenig in dem Meere der bäuerlichen Naturalwirt- schaft, welche das vorpetrinische Rufsland darstellte. Ein Be- weis für die Rückständigkeit des Handels sind die steten Klagen über Betrügereien, in denen die Russen den Aus- ländern weit überlegen seien — ohne dafs sie damit dauernde Vorteile erreichten. Ähnliches sagt man heute von den Orientalen , ohne dafs die volkswirtschaftliche Bedeutung des Handels bei ihnen entfernt die gleiche ist, wie bei denjenigen Nationen Westeuropas, deren Handel die solidesten Gewohn- heiten aufweist, z. B. bei den Engländern. Peter d. Gr. be- drohte mit Todesstrafe diejenigen, welche den Hanf mit Steinen beschwerten , da die Engländer sich weigerten , Hanf von den Russen zu kaufen. Russische Biber wolle wurde in Frankreich einzuführen verboten, weil sie mit Katzenhaaren vermischt und für die Fabrikation ungeeignet war^. Ein weiterer Beweis für den Mangel eines Kaufmann- Standes im westeuropäischen Sinne ist die kommerzielle Be- herrschung Rufslands durch die Ausländer in jener Zeit. Der einheimische Handel, soweit er vorhanden war, stand eben auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe, wie das Gewerbe. Grofsenteils war er noch Nebenerwerb der geschlossenen Haus- wirtschaft. So ist es zu erklären , wenn die Reformer zur Zeit Peters über das Hineinpfuschen aller Stände in die Handelsgeschäfte klagen. Nach einer Bemerkung von Possosch- koff treiben Bojaren und Edelleute Handel^, was in dem Mafse aufhörte, als der Adel Dienstadel wurde. Die bäuerliche Wirt- 1 Brückner, Peter der Grofse. S. 521. Ordega a. a. Ü. S. 82. Als zum Umbau des Schlosses in Petersbui-g 1761 Tischler erfordert wurden, stellte sich heraus, dafs nicht einer in die Tischlerzunft ein- getragen war. Kosenberg, Arbeiterschutzgesetzgebung in Eufsland. Leipzig 1895, S. 10. 2 Brückner, I. Possoschkoff. S. 308, 304. 3 Vergl. Brückner, I. Possoschkoff, S. 279— 304. Ähnlich Kosto- maroff; citiert bei Tugau-Baranowski a. a. O. S. 2. — 8 — schal't betrieb den Handel in der Form des Hausierhandels. Man spricht von der Wanderlust des russischen Volkes. Was als angeborener Hang angesehen wird, war und ist das Er- gebnis wirtschaftlicher Verhältnisse : der Wandergewerbe und des Hausierhandels. Beides, verbunden mit der wilden Feld- graswirtschaft im Ackerbau, bewirkte jene Beweglichkeit des russischen Volkes , welche noch heute den westeuropäischen Reisenden erstaunt: es gleicht einem Sandhäufen, in welchem gerührt wird. Wie wir sehen, fehlten Handel und Handwerk als breite und gesonderte Berufsschichten, welche sich politisch vom platten Lande abgegliedert hätten. Damit fehlte die Grundlage jenes westeuropäischen Bürgertums, in dessen Kreisen gegen Aus- gang des Mittelalters die geistige Befreiung des Menschen sich anbahnte. In Rufsland sprach die Vernunft nicht zum Menschen jene Worte der Selbstherrlichkeit, die ihr Dante in den Mund legt. Es fehlte eine Renaissance und eine Reformation. Wenn die Slavophilen diesen Mangel au Individualismus bei dem russischen Volke als Tugend verherrlichen, so ist das ihre Sache, und nicht mit ihnen zu rechten. Nur so viel läfst sich wirtschaftsgeschichtlich feststellen : um diesen Mangel, be- ziehungsweise diese Tugend zu erklären, bedarf es nicht eines besonders gearteteten russischen Nationalgeistes. Es genügt zur Erklärung die Rückständigkeit der russischen Wirtschafts- entwicklung. Man pflegt zu sagen: Peter d. Gr. (1682 — 1725) europäisierte Rufsland, indem er, was er auf Reisen kennen gelernt hatte, den Merkantilismus Hollands, Frankreichs und Englands, nach seinem Reiche verpflanzte. Dies ist richtig, aber erschöpft nicht das Verhältnis. Gerade hierin zeigt sich deutlich die Abhängigkeit der Ideen von dem wirtschaftlichen Boden, auf dem sie gewachsen sind , dafs sie , auf andern Boden über- tragen, andern Zwecken dienen und zu andern Ergebnissen führen. Peter war persönlich durchtränkt von den Ideen des Westens. Aufgewachsen unter dem Einflufs der „deutschen Vorstadt" Moskaus und ihres angesehensten Bürgers, des — 9 — Schotten Gordon. „liebte er die Deutschen", wie das Volk zu seinem Entsetzen wahrnahm ; bald nach seinem Regierungsantritt besuchte er Archangel, die nach Europa gewandte Seite und den einzigen Seehafen des damaligen Rufsland. Hier lernte er holländisch, verkehrte mit englischen Kaufleuten , schob mit holländischen Matrosen Kegel und suchte insbesondere die Geheimnisse der Schiffbaukunst zu erlernen. Die russischen Zimmerleute werden zu ,.schiptimmermanni", der Boewode des Archangelschen Bezirks .,min her gubernor." ^ Später während seines berühmten Aufenthaltes in den Niederlanden "vvurde Peter halber Holländer. Der Reichtum der General- staaten, die Macht Englands wurden das Ideal, dem von nun an all seine Thätigkeit nachsteuerte. Fast sämtliche Mafs- regeln des westeuropäischen Merkantilismus wurden von ihm in irgend welcher Weise nachgeahmt. Persönlich in der merkantilistischen Wirtschaftsauffassung befangen , diente er ihr — eine gewaltige, willensstarke Natur. Trotzdem besteht ein sehr grofser Unterschied zwischen dem Merkantilismus etwa einer Elisabeth, eines Colbert oder Cromwell und dem Peters. Der französische und englische Merkantilismus bedeutete eine Zusammenfassung der Städte und des Bürger- tums , welche das höchste Ergebnis der mittelalterlichen Ent- wicklung und zugleich geistig wie wirtschaftlich der Aus- gangspunkt der neueren Geschichtsperiode waren. Hier war der moderne Staat nichts anderes als die Organisation dieses Bürgertums, gleichviel ob sie erfolgte durch die Hand der überkommenen Dynastie, wie in Frankreich und England, oder im Gegensatz zu ihr, wie in den Niederlanden. Des Staates bediente sich die neu emporgekommene Klasse, um in Handels- kriegen. Kolonialpolitik u. s. w. brutal, aber durch Kraft be- wundernswert ihre Interessen zu fördern. Leute mit bürger- lichen, selbst kaufmännischen Zügen treten zum erstenmal unter den Staatsmännern der Zeit hervor — ein de Witt ein 1 Vergl, MiljukofiF. Die StaatsM^irtscliaft Rufslands in der erst'Mi Hälfte des 18. Jahrhunderts S. 204. — 10 — Colbert. Städter und Grewerbtreibende waren die Puritaner wie die Hugenotten. Zwei Züge wies dieser moderne Staat auf, in denen er sicli völlig unterschied von dem Merkantilismus Osteuropas. Seine Finanzwirtschaft — weil aufgebaut auf einer geldwirt- schaftlichen Klasse — war geldwirtschaftlich. Mit Geld bezahlte der König seine Beamten, seine Offiziere und Soldaten. Damit un- abhängig vom Adel, drängte er die feudalen Verhältnisse zurück und beschränkte die Hörigkeit. Mit dieser Entwicklung also stieg zugleich der Bauer empor: Crorawells Reiterwaren Bauern ;^ von der hohen Lage des französischen Bauernstandes legt ihre Kraft in der Revolution Zeugnis ab. Geistig war diese Entwicklung individualistisch, wie es der Handel ist, auf dem sie beruhte. Man denke an William Petty, den scharfsinnigsten der merkantilistischen Schriftsteller- neben aller Verherrlichung der Staatsgewalt ist die still- schweigende Voraussetzung fast jeder Seite seiner Schriften ein starkes, sich selbst genügendes Individuum. Ein kühner^ welterobernder Handelsgeist kommt in ihm, einem Temple, einem Raleigh u. s. w. zum Ausdruck. Nicht ganz so in Frank- reich. Trotz aller Erfolge auf dem Gebiete der Gewerbepolitik gelang es Colbert nicht, den französischen Handel den Rivalen gleich zu machen. Damit fehlte Frankreich die wirtschaftliche Quelle des geistigen Individualismus; der Staat erstickte das Individuum. In Holland und in England überwog der Handel, der Träger des Individualismus. Daher wurde hier trotz aller staatlichen Zusammenfassung die Freiheit des Individuums^ nicht unterdrückt. Im Kampfe der Nationen aber siegte die- jenige, welche die stärkste Organisation nach aufsen mit der kräftigsten Entwicklung von Individuen nach innen verband. Es war ein Blitz jenes geistvollen Realismus, womit A. Smith seinen Deduktionen häufig einen so grofsen Reiz verleiht^ wenn er — in Übereinstimmung mit seinem Freunde Hume — behauptete: in dem Besitze gröfserer innerer Freiheit bestehe der wichtigste Vorteil Englands im Kampfe mit Frankreich. — 11 — Vergleichen wir hiermit Rur.slancl und den osteuropäi- schen Merkantilismus. Die reiche und viel versprechende mittelalterliche Ent- wicklung Rufslands war durch die tatarische Eroberung ge- brochen worden. Alles Land wurde Eigentum des Chans, alle Unterthanen seine Sklaven. Mit dem Wegfall der Ta- tarenherrschaft 1480 rückte der Grofsfürst von Moskau, welcher als Generalsteuereinnehmer des Chans eine Central- gewalt entwickelt hatte, in dessen Stelle. 1547 nahm er den Titel des Zaren an, während der Staat den tatarischen Charakter bewahrte : eine asiatische, auf Eroberung beruhende Monarchie auf Basis naturalwirtschaftlicher Bauern. Die bäuerliche Welt blieb, um die Worte von Karl Marx zu ge- brauchen, „von den Stürmen in der politischen Wolkenregion unberührt ^." Dieses Staatswesen war jeder Entfaltung des Individuums feindlich; der Gedanke der rechtlich geschützten Sphäre des Einzelnen, in die selbst der Staat nicht eingreifen darf, war dem Moskoviter Staate so entgegengesetzt, Avie jede Sonder- rechtsbildung. Die freiheitlicheren Zustände der Handels- republiken von Nowgorod und Pleskau wurden durch Moskau gewaltsam nivelliert. Aber auch im Moskoviter Staate regten sich alsbald nach Beseitigung der gewaltsamen Zusammenfassung durch die Tatarenherrschaft centrifugale Entwicklungsmomente. Das 16. und 17. Jahrhundert waren voll von inneren Unruhen, welche zeitweise die zarische Gewalt gänzlich zu beseitigen drohten. Rufsland schien abermals, wie das alte Kieft\ in inneren Zwistigkeiten adeliger Gefolgschaften sich auflösen zu wollen (1605—1613). Den Anstofs zur Neugründung der Monarchie gaben die kriegerischen Berührungen mit dem Westen. Schon Iwan der Schreckliche (1533 — 1584), welcher das Reich nach dem Osten hin so gewaltig ausdehnte, Kasan, Astrachan, Sibirien unter- warf, war wenig glücklich, wo er, wie z. ß. gegen Livland, 1 K. Marx, Das Kapital Bd. I. 4. Auflage S. o28. — 12 — westeuropäische Artillerie und Taktik zu bekämpfen hatte. Kurze Zeit darauf befahlen die ebenfalls mit westeuropäischer Technik ausgerüsteten Polen in Rufsland, und der Kreml von Moskau erhielt damals eine polnische Garnison. Es fehlte wenig, so wäre Rufsland eine Provinz des Westens geworden, wie etwa Indien. Centralasien u. s. w. Aber Rufsland sollte den Weg gehen, den neuerdings Japan eingeschlagen hat: poli- tische Unabhängigkeit durch Annahme der militärischen Technik des Westens. In einem populären Aufstande gegen die Polenherrschaft 1612 wurde die Monarchie der Romanoffs aufgerichtet. Die- selbe wandte sich abwehrend und erobernd nach aufsen, einigend und unterwerfend gegen die adlige Zerplitterung im Innern. Die militärische Technik Westeuropas in grofsem Mals- stabe nach Rufsland übertragen zu haben, war das Werk Peters; ihr diente der Staat, ihr sein Merkantilismus. Hier im Osten ist der militärische Zweck Selbstzweck des Staates ; die Kriege hatten nicht den Charakter der Handelskriege, wie im Westen. In seinem gründlichen Werke über das Finanzsystem Peters des Grofsen hat Miljukoff gezeigt, wie sehr die Her- stellung eines Heeres und einer Flotte nach westeuropäischem Muster „die bewegende Ursache aller Neuerungen auf dem Gebiete der Staats wir tschaft Avar."^ In dem Budget von 1701 machen die Ausgaben für militärische Zwecke 78 pCt. aus, während der nächsthöhere Posten auf Finanzoperationen und merkantilistische Mafsregeln fällt, welche doch zuletzt wieder dem militärischen Zwecke zu dienen hatten. Dieses Verhältnis stieg immer weiter, bis 1705 die militärischen Ausgaben 96pCt. der Staatseinkünfte verschlangen.- Der militärische Zweck des Staates aber konnte nicht erreicht werden durch dieselben Mittel , welche die west- europäische Monarchie anwandte : durch eine geldwirtschaft- 1 Miljukoff a. a. O. S. 166. 2 Miljukoff a. a. O. S. 162, 2U. — 13 — liehe, auf dem Bürgertum ruhende Finanzwirtschaft. Denn eine solche Klasse gab es in Rulsland nicht. Daher lag in in der Kopfsteuer, erhoben von Staatsbauern wie Gutsbauern, der Schwerpunkt der FinanzAvirtschaft ^ Aber da die Bauern kaum etwas verkauften, so hatten sie wenig Geld, um die Steuer zu zahlen; ihr Ertrag war auf nicht mehr als 4 Millionen Rubel berechnet, welche zudem schlecht eingingen. Das Blich von Miljukoff ist voll von Belegen der Zahlungs- unfähigheit der Bauern, welche sich massenhaft der mittels schwerer Strafe eingetriebenen Steuer durch die Flucht ent- zogen — „teils nach Sibirien, teils zu den Baschkiren, teils über die polnische und littauische Grenze." ,.Bald empfangen — so schildert Miljukoff — ganze Regimenter jahrelang keinen Sold und werden zu halben Bettlern und Landstreichern ; bald kann das Geschwader nicht aus der Newa fahren wegen Mangel an Geld, und so wird die geplante (,^am- pagne um ein Jahr aufgeschoben; hier sterben die Artilleristen vor Hunger, und dort sitzen Diplomaten im Auslande ganze Jahre ohne Gehalt ^." Nach weiterer Schilderung derartiger Zustände fährt Miljukoff fort: „Was unternahm die Regierung? Zunächst bestand sie auf buchstäblicher Erfüllung der Steuerauflageu, wiederholte die Befehle an die Gouverneure, bedrohte sie mit Strafen und bestrafte sie zuweilen thatsächlich, machte für die Steuern die Steuerkommissare der Gouvernements haftbar, setzte die unteren Beamten ins Gefängnis und schickte endlich, nach Erschöpfung dieser Mittel, Militär in das be- treffende Gouvernement. Wieder wurde geschrieben, geprügelt, gestraft, eingesperrt, und nachdem alle Mittel des Zwanges versucht worden waren, wandten sich die Offiziere an ihre Vorgesetzten mit derselben Frage: was jetzt thun? Es ist klar, dafs der Staat andere Mittel versuchen mufste." Aber die anderen Objekte, die man zu besteuern vor- ' Vergl. Jan schul, Grundlagen der Finanz Wirtschaft. Peters- burg 1890, S. 357; ferner Miljukoff a. a. O. S. ö8ö— t)4S, 692 ff. ' Miljukoff a. a. 0. S. o05. — 14 — fand, waren äufserst gering; ein Beweis hierfür sind die merk- würdigsten Steuern, die man mangels besserer ersann. Man besteuerte Barte, Särge, Badestuben, Schornsteine, Keller und Brunnen ; sehr entschieden tadelt der Engländer J. Perrv die Steuer auf Backsteine — eine Mafsregel, allerdings ganz ent- gegengesetzt dem Geiste des Merkantilismus \ Da eine breitere bürgerliche Mittelklasse, die man hätte be- steuern können, fehlte, so nahm Peter den Handel in die eigene Hand. Die wichtigsten Handelswaren waren'Staats- monopol: Juchten, Hanf, Pottasche, Theer, Wachs, Talg, Hanföl, Leinsaat. Borsten, Kaviar. Wagenschmiere und Leberthran, vor allem Salz, Branntwein und Tabak. Regal war die Bienenzucht und der Walfischfang, regal war auch der Handel mit China -. Seit 1711 hat Peter die Mehrzahl dieser Monopole fallen lassen; nur das Branntwein-, das Tabak- und das Salzmonopol blieben bestehen — gewils nicht deswegen, weil, wie Ordega will , der Zar nunmehr „liberaleren" Grundsätzen huldigte. Dafs kein grundsätzlicher Widerspruch gegen Monopole vorlag, beweist die Thatsache, dafs der Zar zwar die Staatsmonopole vielfach aufhob, um so bereitwilliger jedoch Privatleuten Monopole er- teilte^ — oft Monopole der wunderlichsten Art; beispielsweise wurden Ausländern Monopole für Mastbäume, Seekarten u. s. w, erteilt. Noch weniger durchschlagend ist der Grund, den Scherer anführt: der Zar habe eingesehen, dafs „ein Fürst nicht zur unter- geordneten Rolle des Kaufmanns herabsteigen dürfe, damit nicht der Handel die königliche Würde herabsetze." Wo immer etwas zu verdienen war, hat der Zar gleich andern Monarchen seiner Zeit selbst Handelsgeschäfte gemacht, z. B. nach Spanien, Portugal u. s. w .* Wie wenig skrupulös er in dieser Hinsicht verfuhr, zeigt folgende Geschichte: der Zar kaufte einmal eine 1 Brückner, Peter der Grofse S. 512. 2 Vergl. Stieda, ßussische Kevue Bd. IV, S. 229 ff". 3 .Stieda a. a. O. S. 220, 229, 230. * Vergl. Brückner, Possosclikoff S. 291. John l'erry, Etat pvesent de la grande Russie. Traduit de l'Anglais. 1717, p. 242. — 15 — bestimmte Menge Hanf und liefs sie an seine Häfen liefern. Dann verbot er allen Kaufleuten Hanf zu verkaufen , bis er den seinigen abgesetzt hatte, für welchen er einen hohen Preis festsetzte ^ womit das kurzlebige Hanfmonopol wieder aufhörte. Der offenkundige Grund der Aufgabe der meisten Mono- pole ist vielmehr der, dafs sie nichts einbrachten, d. h. an den naturalwirtschaftlichen Zuständen des russischen Volkes scheiterten. Alle Ausländer, welche über das damalige Rufsland schrieben, stimmten darin überein, dafs Rufsland zwar viele kostbare Naturprodukte, aber „wenig Geld" besitze. War auf dem Wege einer geldwirtschaftlichen Finanz das angestrebte Ziel nicht zu erreichen, so blieb nichts übrig, >als die Bedürfnisse des Staates und der Armee naturalwirt- schaftlich zu befriedigen. Die Soldaten gewann man durch Konskription; die Einstellung zum Militär, welche der Bauer nicht weniger als ein Todesurteil fürchtete, wurde zum schärfsten Strafmittel in der Hand des Gutsherrn gegen hals- starrige Leibeigene '. Auch für andere staatliche Arbeiten bediente man sich der zwangsweisen Konskription ; so wurden die Erdarbeiter zum Baue ■St. Petersburgs zwangsweise ausgehoben; nach der Rückkehr ■aus dem Kriege verwandte Peter die Soldaten in Kanalbauten und ähnlichem^. Da ihre Verpflegung zu Friedenszeiten mehr Schwierigkeiten machte , als auf fremdem Territorium im Kriege, so hat Peter vielfach die Regimenter über weite Land- strecken in Bauernquartiere zerstreut, wobei den Gemeinden die Unterhaltung der Truppen als unentgeltliche Pflicht auf* •erlegt wurde*. Auch Offiziere und Beamten wufste man auf naturalwirt- schaftlichem Wege sich zu verschaffen; man legte dem Adel 1 Vergl. Stieda, Russische Revue IV. S. 226, 241. 2 Vergl. Moltke, Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei, Berlin 1876, S. 281: „So lange türkische Linientrupj)eu existierten, hätten die Dorfschaften entlassene Soldaten noch nie /unick- Icehren gesehen." ^ Brückner, Peter der Grofse, 8. 526. * Miljukoff a. a. 0. S. 697. — 16 — die Verpflichtung des Staatsdienstes auf und gab ihm dafür die Herrschaft über die Bauern. Dies bezeichnet einen be- sonders tiefen Gegensatz zwischen dem westb'chen und öst- lichen Merkantilismus. Auf dem Schlachtfelde von Tewkes- bury 1471 rief Eduard IV., ein typischer Vertreter der west- europäischen Monarchie: „schonet das Volk und tötet die Herren" — in Rufsland führte Peter d. Gr. die Leibeigen- schaft einen starken Schritt vorwärts, und ihren Höhepunkt erreichte diese Institution erst unter der erleuchteten Katharina II. Damals fiel die Grenze, welche die Leibeigenschaft von der Sklaverei scheidet: auch ohne Land wurden Menschen ver- kauft, vertauscht, vermacht und verpfändet — neben Hunden und Papageien in den Zeitungen Zofen und Kammerdiener ausgeboten , auf den Märkten der Städte die gewöhnlicheren Exemplare der Menschenware an den Meistbietenden ver- steigert \ 1771 mufste Katharina verbieten, bei Zwangsver- steigerung von Landgütern die Bauern gesondert vom Lande unter den Hammer zu bringen. Erst 1808 wurde der Verkauf von Menschen auf öffentlichen Märkten verboten. Der preufsische Merkantilismus des vorigen Jahrhunderts, bisher meist vom Westen gesehen, sollte auch vom Osten her beleuchtet werden. In der That ist er ein Mittelding zwischen Westeuropa und Rufsland; das erstere ist er dem „wollen" nach, das letztere in vielen Fällen ist sein „voll- bringen". Das Finanzsystem Brandenburg-Preui'sens hat gegenüber dem Rufslands einen westeuropäischen Zug : die Accise als eine den Städten auferlegte Verbrauchssteuer. Ihre Bedeutung beweist, dafs die preufsischen Könige wenigstens schwache Reste eines steuerfähigen Bürgertums in ihrem Staate vor- fanden. Aber dieselben waren finanziell nicht stark genug, um das Heerwesen auf ihnen ausschliefslich aufzubauen, womit das ' Vergl. Seinjewski, Die Bauern unter der Regierung Katha- rinas II. Petersburg 1881. Bd. i, S. 145—157. Vergl. ferner Transehe Roseneck, Gutsherr und Bauer in Livland. Strafsburg 1890,. S. 198, 199. — 17 — Königtum unabhängig von den Junkern gewesen wäre. Ost- europäisch ist der notgedrungene Korapromifs mit dem Adel, aut' welchem der preulsische Staat des vorigen Jahrhunderts beruhte. „Das fürstliche Klassenbewufstsein" der preufsischen Könige war westeuropäisch und führte zu fortgesetzten Protesten gegen die Leibeigenschaft. So hat bekannth'ch Friedrieh der Grofse — ähnlich schon sein Vater — 1768 dekretiert: es sollen absolut und ohne das geringste Raisonnieren alle Leibeigenschaften von Stund an abgeschafft sein ! Aber noch im preufsischen Landrecht 1794 besteht, wenn auch unter anderem Namen, die Leibeigenschaft fort; ja zu dem Para- graphen, welcher die Leibeigenschaft im Sinne der Sklaverei verbietet, machten die Stände der Uckermark, Neumark und der Kreise Beeskow und Storkow damals noch die Bemerkung: jener Paragraph würde geltendes Recht ändern ^ „Der König war mehr als halb besiegt" — dieses Wort Knapps bezeichnet den fruchtlosen Kampf der preufsischen Könige gegen die Leibeigen- schaft überhaupt. Was die preufsischen Könige erfolglos be- kämpften, haben die grofsen Zaren des vorigen Jahrhunderts — Peter und Katharina — bewufst geschaffen. Der Grund war in beiden Fällen der gleiche: man brauchte den Adel als Offizier und Beamten und hatte nicht das Geld, seine Dienste zu bezahlen. Man zahlte mit Menschen. Osteuropäisch im Preufseu des vorigen Jahrhunderts war jene schulmeisterliche Stellung des Staates zum LInterthanen, wie sie auch in Rulsland sich wiederfindet. „In England", sagt Brentano^, „war die Staatsgewalt in ihren wirtschaftlichen Mafsnahmen meist nur das Organ der Wirtschafts- interessenten selbst. Diese waren es , von denen die Initiative ausging. Sie regten an, schlugen vor, die Staatsgewalt prüfte und verordnete. In Schlesien war es die Staatsgewalt, welche ^ Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit. Leipzig- 189L Derselbe, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Land- arbeiter. Leipzig, 1887, I. S. 120. - Vergl. Brentano, Zeitschr. fürSocial- und Wirtschaftsgeschichte Bd. 1. S. 338, 339. IL 348 ft'. V. Schulze-Gaeveruitz, .Studieu a. Kufsl. '2 — 18 — den Wirtschaftsinteressenten befahl, welche aus eigener Initiative ins Leben rief, ordnete und regelte" — oder in der drastischen Weise der Zeit ausgedrückt: „Der Plebs geht von der alten Leier nicht ab , bis man ihn bei Nase und Armen zu seinem Vorteil hinschleppt ^" Wie Peter der Grofse seine Kauf- leute als Kinder bezeichnete, die „willig oder widerwillig" das ABC lernen sollten , so galt auch in Preufsen der Satz : „Der Kaufmann bleibet bei dem, was er erlernt hat" — so ziemlich das Kläglichste, was man von einem Kaufmannsstande aussagen kann. Dem in der That „beschränkten Unterthanen- verstand" wurde es schwer verdacht, die ihm „geschehenen Anträge skeptisch zu behandeln^." Grund dieser Erscheinung war die wirtschaftliche Rückständigkeit des Ostens; ihm fehlte jenes Grofsbürgertum , aus dessen Kreisen die Litte- ratur des westeuropäischen Merkantilismus hervorging, welche im Osten wie im Westen dem Staate selbst die leitenden Ge- sichtspunkte angab. Wir haben damit die grundsätzliche Verschiedenheit des west- und des osteuropäischen Merkantilismus erörtert, welche in letzter Linie auf der Verschiedenheit der finanziellen Grund- lagen des Staates beruht. Im folgenden betrachten wir im besonderen die Gewerbe- politik des russischen Merkantilismus, ohne uns auf die Schwan- kungen im einzelnen einzulassen. Die von Katharina II. ver- kündete Gewerbefreiheit beruhte auf theoretischen Gesichts- punkten ^. Der physiokratisch gefärbte Widerwille der Kaiserin ^ Vergl. Schmoll er, Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrichs des Grofsen. Jahrb. f. Gesetzgeb. u. Verw., N. F., VIII., S. 8. „Allen ist bekannt," sagt in ähnlicher Weise Peter, „dafs unsere Leute nichts von selbst anfangen, ohne dafs man sie nicht zwinge. Daher mufs das Kommerzkollegium die Richtung der Handelsentwick- lung leitend bestimmen, etwa wie eine Mutter wohl für ihr unmündiges Kind sorgt." - Vergl. bei Zimmermann, Blüte und Verfall der schlesischen Leinenindustrie, S. 129, 130. ^ Bekanntermafsen hatte die Einführung der Gewerbefreiheit selbst 1807 in Preufsen noch geringe Bedeutung; vergl. Schmoll er, Klein- gewerbe, Halle 1870, S. 51 ff. - 19 - gegen die Privilegien der Fabrikanten beförderte das bäuer- liche Kleinge\A'erbe und kam in letzter Linie dem Adel zu gute^ welcher der Geldabgaben wegen gewerbliche Unter- thanen den rein ländlichen vorzog.^ Eine Milderung der merkan- lilistischen Energie ist also hier wie im Preufsen des vorigen Jahrhunderts als Sieg des Adels über das von Mehring sog. „fürstliche Klassenbewufstsein" anzusehen^. Wie Kaiser Paul, Katharinas Nachfolger, die von seiner Mutter aufge- hobene Prügelstrafe für den Adel wiederherstellte, so hat er auf Staatskosten wieder Fabriken errichtet und bestehende erweitert, für Fabrikanten Monopole, Privilegien und Prämien bewilligt. Alle gewerblichen Unternehmungen in Rufsland zerfielen bis zu den Reformen Alexanders II. in zwei Gruppen : die guts herrlichen und die unter Staatsaufsicht befindlichen, staatlichen oder halbstaatlichen Fabriken, sog. Possessions- fabriken. Dieser Unterschied beruhte auf der Strenge der Leibeigenschaft, wie sie seit Peter im vorigen Jahrhundert ihren Gipfel erreichte. Nur der adlige Gutsherr hatte grundsätzlich das Recht, Leibeigene zu halten, also auch unbeschränkt solche zur Fabrik- arbeit zu verwenden. Daneben war es nur der Staat, welcher Bauern zur Fabrikarbeit zwingen und nicht-adligen Unter- nehmern das Privileg verleihen konnte, Leibeigne zwecks Fabrikarbeit zu besitzen. Für dieses Privileg behielt er sich ein weitgehendes Aufsichtsrecht des gesamten Gewerbebe- triebes vor. Betrachten wir zunächst die gutsherrlichen Fabriken, welche sich unabhängig vom Staate entwickelten. Mit Recht nennt Engelmann die Gutsherrschaft einen geschlossenen und unabhängigen „Staat im Staate", lediglich durch die Dienstpflicht des Herrn (und die Kopfsteuer der Bauern) mit der Centralregierung verbunden. ' Tugan-lJara nowski, Die russische Fabrik, Petersbiu-g 1898, S. 39, 40. 2 Mehring, Lessinglegende, Stuttgart 1893 passini. 2* 20 II. Die gutsherrlichen Fabriken. Die Leibeigenschaft ist gewils von gröfstem EinHuis auf die russische Gewerbeentwicklung gewesen. Sie wirkte, wie die Unfreiheit im westlichen Europa, zunächst zu Gunsten des Fortschritts. Wie einst die Grundherrschaft im Westen die fortgeschrittene landwirtschaftliche Technik der römischen Villa dem germanischen Markgenossen aufzwang, so wurde in Rufs- land auf gleichem Wege eine fortgeschrittene gewerbliche Technik zwangsweise in Verhältnisse eingeführt, die noch weit ent- fernt waren, eine solche aus sich heraus zu entwickeln. Ausgang der Entwicklung war hier wie dort die ge- schlossene Gutswirtschaft. Geschickte Bauernsöhne nahm der Gutsherr auf den Herrenhof und bildete sie zu Handwerkern, sog. Hofleuten, aus ^ Daneben mufsten die Bauern aulser landwirtschaftlichen Abgaben und Frohnden den Übersehufs ihres gewerblichen Hausfleifses dem Gutsherrn abgeben. Nach einer feinen Bemerkung des A. Smith sind es die Luxusbedürfnisse des Adels gewesen, welche zuerst Anstofs zur geldwirtschaftlichen Entwicklung des platten Landes gaben. Auch der russische Adel wünschte weniger Naturalprodukte als Geld; denn er hatte auf Reisen und in Kriegen west- europäische Bedürfnisse kennen gelernt, die nur durch Geld zu befriedigen waren. Geld konnte sich aber der Bauer immerhin eher noch durch Verkauf gewerblicher Erzeugnisse oder durch Wander- gewerbe verschaffen, als durch Verkauf landwirtschaftlicher Produkte. Daher begünstigte der Gutsherr die bäuerlichen Gewerbe. Insbesondere waren nach Haxthausen im nörd- lichen Rufsland, wo der bäuerliche Hausfleifs seinen Sitz hat, die Geldabgaben der Bauern häutig, während im rein land- wirtschaftlichen Süden Naturalabgaben und Frohnden überwogen. Ein grofser Teil dieser fälschlich sogenannten Hausindustrien ist zweifellos zwangsweise durch den Adel eingeführt oder au.s- gedehnt werden. Noch heute gilt ein ähnliches Verhältnis. 1 Ordega a. a. 0. S. 80. — 21 - An die Stelle der giitsherrlichen Abgaben sind heute Ab- lösungs- und Steuerzahlungen getreten ; um sie aufzubringen, ist der sonst naturalwirtschat'tliche Bauer vielfach zur Fabrik- arbeit während des Winters gezwungen , als der einzigen Quelle des Gelderwerbs. Diese gutsherrliche Hausindustrie war nicht ohne Ana- logien im Westen. So hat Brentano auf den gutsherrlichen Charakter der schlesischen Leinenindustrie hingewiesen *. Freilich fehlen auch die Unterschiede nicht. Der schlesische Adel hatte das Recht zum Gewerbebetriebe auf Grund von Verträgen seitens der Städte erworben, welche früher ein aus- schliefsliches Gewerberecht besafsen; der russische Adel da- gegen hatte ein thatsächliches Monopol des Gewerbebetriebes, weil er allein Leibeigene hatte, und weil Menschen fehlten, welche freiwillig dem Gewerbe sich hingegeben hätten. Schlesien hatte ein städtisches Mittelalter und erlebte ledig- lich eine wirtschaftliche Rückentwicklung, bedingt durch Ver- legung der Welthandelsstrafsen , den dreifsigj ährigen Krieg u. s. w. ; in Rufsland fand die neuere Gewerbeentwicklung überhaupt keine städtisch gewerbliche Anknüpfung vor. In Rufsland allein auch konnte der gutsherrliche Gewerbe- betrieb seine Tendenzen voll entfalten. In Übertragung der verbesserten gewerblichen Technik Europas vereinigte der Adel die unfreie Arbeit in Werkstätten, und so entstand die gutsherrliche Fabrik, der Avichtigste Ausgangspunkt des mo- dernen Gewerbebetriebes in Rufsland. Seit der Mitte vorigen Jahrhunderts bis in die ersten Jahrzehnte des unsrigen über- traf die gutsherrliche Fabrik an Zahl und Bedeutung die vom Staate durch einheimische Kaufleute oder Ausländer ins Leben gerufenen privilegierten Betriebe. Zu jedem wohleingerichteten Latifundium gehörte im vorigen Jahrhundert insbesondere eine Tuchmanufaktur. Oft sehr ausgedehnte Fabrikgebäude, die heute meist leer stehen, traf ich noch vielfach als Ruinen auf adligen Gütern. 1 Vergl. Brentano, Zeitschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte Bd. I S. 318 ff. Bd. n S. 235. 22 Man kann verschiedene Stufen diesei' gutslierrliclien Ent- wicklung unterscheiden. Zunächst wurden die Bauern ge- zwungen, insbesondere des Winters, Frohntage in den guts- herrlichen Werkstätten zu leisten. Aber der Bauer erwies sich als völlig unbrauchbar zu halbwegs gelernter gewerblicher Arbeit; er arbeitete so wenig als möglich und verdai'b die ihm anvertrauten Werkzeuge. Das Nächstliegende war beruf- liche Trennung der gewerblichen von der landwirtschaftlichen Arbeitt Die zur Fabrikarbeit tauglichen Bauern Avurden dauernd in die Fabriken aufgenommen , in Arbeiterkasernen unter- gebracht und beköstigt 5 ihr bisheriges Land wurde häufig dem vom Gutsherrn selbst bewirtschafteten zugeschlagen. Sa entstanden gewerbliche Gebilde, welche den Sklavenbetrieben des Altertums glichen: es handelte sich hier wie dort um die wirksamste Ausnutzung des Überschusses an Menschenmaterial des Oikos^. Einen Lohn erhielten diese Leibeigenen selbst- verständlich nicht, sondern nur Beköstigung. Das Zwangs- mittel zur Arbeit war die Peitsche, das einzige Schutzmittel des Arbeiters die Flucht. Die Bauern sprachen, nach dem Bericht eines Zeitgenossen, mit dem Ausdruck desselben Ent- setzens von der Fabrik wie von der Pest^. Aber es gab zahlreiche Adlige, die nicht in der Lage waren, eigene Fabriken anzulegen. Diese verkauften oder vermieteten ihre überschüssigen Arbeitskräfte an fremde Fabriken (Kabalni rabotschi). Insbesondere in den ärmeren Teilen Weifsrufslands mieteten Agenten oder Zwischenmänner den Gutsherren das menschliche Arbeitsvieh in grofsem Um- fange ab und trieben es herdenweise unter scharfer Be- wachung den mittelrussischen Fabriken zu. Kinder wurden 1 Vergl. Semjewski, Bäuerliche Frage. Petersburg 1888. Bd. I S. 333 — 339. Über diesen Gegenstand stellte die Freie ökonomische Gesellschaft von St. Petersburg schon 1812 eine Preisaufgabe. ^ Semjewski, Die Bauern zur Zeit Katharina II. Petersbui*g 1881. I S. 479. ^ Turgenieff, La Russie et les Kusses II 143 — 144, citiert bei Tugan-Baranowski. — 23 — nach Haxthausen häufig auf siebenjährige Lehrzeit an Fabri- kanten abgegeben. Man machte die Erfahrung, dafs diese örtliche Versetzung die Arbeitsleistung einigermafsen steigerte. Daher pflegten vielfach auch die Gutsherren, welche mit eigenen Leibeigenen die Fabriken betrieben, von entfernteren Gütern Arbeiter kommen zu lassen und geographisch auszutauschen. In dieser Trennung vom Lande lag einer der Gründe der Entstehung einer besonderen Fabrikarbeiterklasse, welche zur Zeit der Befreiung schon vom Lande gelöst war und daher ohne Land befreit wurde ^. Übrigens wirkt diese geographische Verpflanzung noch heute. Nur in denjenigen Bezirken des Moskauer Gouverne- ments, welche seit lange gewerblich sind, überwiegt die Zahl der im Bezirk geborenen Arbeiter; in den weniger und seit kürzerer Zeit gewerblichen Bezirken bilden noch heute die Arbeiter auswärtiger Abstammung bei weitem die Mehrzahl^. Auch diese Gutshörigen, welche vom Lande und ihrer Heimat losgelöst in den Fabriken arbeiteten, erhielten zunächst keinen Lohn, sondern Beköstigung. Der Fabrikant zahlte vielmehr eine feste Geldabgabe (z. B. 25 Rubel das Jahr) an den Guts- herrn oder den Agenten, welcher die Zuführung eines be- stimmten Arbeitertrupps übernommen hatte. Solche Arbeiter kamen zwar sehr billig, aber waren nur dort zu brauchen, wo keine besondere Geschicklichkeit verlangt wurde. Ihre Mängel waren : „kein Fleifs, keine Ordnung, stündliche Flucht- gefahr" ^. Das Bedürfnis nach leistungsfähigerer Arbeit, wie sie zu gewerblicher Thätigkeit, insbesondere zur Bedienung von Maschinen, unentbehrlich ist, trieb weiter. Haxt- ^ Vergl. für die gutsherrliche Fabrik den Aufsatz von Pogojeff im Europäischen Boten 1889, insbesondere S. 8 — 21; ferner Tugau- Baranowski a. a. O. S. 104 ff., sowie Sammlung statistischer Mit- teilungen über das Gouvernement Moskau Bd. IV Teil I. Erisman, insbesondere S. 55, 69, 70, 91. " Erisman a. a. 0. S. 243. ^ Tugan-Baranowski a. a. 0. S. 92. — 24 — hausen bemerkt in seinem 1847 geschriebenen \^'erke, dafs die Russen sehr schlechte Fabrikarbeiter seien, wenn sie als unfreie Fröhnder arbeiten ; „arbeiten sie aber zum eigenen Vorteil, dann arbeiten sie herzhaft" — ein Satz, der gewifs nicht blofs auf die Russen pafst. Der letzte Schritt also war der, den Unfreien auf eine feste Geldabgabe zu setzen und die Verwertung seiner Arbeitskraft ihm selbst zu überlassen; es geschah dies zunächst mit solchen Leibeigenen, welche Handel oder Gewerbe als Unternehmer betrieben. So gab es reiche Kaufleute , welche den Obrok als Zeichen der Unfrei- heit einem Gutsherrn Generationen hindurch entrichteten. Des- gleichen traten unfreie Bauern als hausindustrielle Verleger oder Fabrikunternehmer auf und erwarben als solche oft grofse Vermögen. Höchst bezeichnend ist die Geschichte der Morosoff, einer der ersten russischen Fabrikantenfamilien der Gegenwart. Der Stammvater derselben, der Leibeigene eines gewissen Rumin, begann gegen Ende des vorigen Jahrhunderts eine Seiden- weberei, welche durch die Unverfälschtheit der Seide und die Dauerhaftigkeit ihrer Farben sich auszeichnete — eben das Geschäft, aus dem sich später die gröfsten Baumwollspinnereien des Wladimirschen Gouvernements entwickelten. Erst 1820 gelang es ihm, sich um den für jene Zeit beträchtlichen Preis von 17 000 Rubel freizukaufen \ Dagegen wurden die Malz(iffs, die älteste russische Fabrikantenfamilie, schon frühe, von Katharina H. 1775 in den Adelstand erhoben, womit das AvertvoUe Recht verbunden Avar, Leibeigene zu kaufen und ohne Beschränkung und Staatsaufsicht zur Fabrikarbeit zu verwenden '. Besonders interessant waren die Verhältnisse in Ivanowo, einem Dorfe im Wladimirschen Gouvernement, welches seit Mitte vorigen Jahrhunderts einer der ersten russischen Industrie- ^ Schischmarj eff, Kurze Beschreibung der Industrie des Be- zirks der Eisenbahn Nischni Novgorod— Schuja — Ivanowo. Petersburg 1892. S. 29. 2 Schischm arj eff a. a. 0. S. 41. — 25 — orte, insbesondere Mittelpunkt der Kattundruckerei und Sitz zahlreicher wohlhabender Fabrikanten wurde; bis 1861 ge- hörte das Dorf dem Grafen Scheremetjeff eigentümlich. Die Bauern - Fabrikanten kauften und verkauften Land und Leibeigene für ihre Fabriken, konnten jedoch als Un- freie nur im Namen ihres Herrn diese Rechtsgeschäfte ab- schlielsen. Jedes einzelne ihrer Geschäfte bedurfte der Be- stätigung des im Orte ansässigen gutsherrlichen Verwalters, welcher davon eine Abgabe erhob nach dem Werte des Ob- jekts. Fabriken, Maschinen und Arbeiter gehörten rechtlich dem Herrn. Der Herr hatte ein Interesse daran, dafs die Industrie möglichst unbehindert sich entfalte. Aufser den angeführten Gebühren erhob er einen regelmäfsigen Obrok (Kopfsteuer), welcher die gewaltige Höhe von 75 — 87 Rubel das Jahr pro verheiratetes Paar er- i eichte. Für die ärmeren Gemeindegenossen entrichteten diese /.bgabe die reichen Bauern-Fabrikanten, welche dafür das Recht erhielten, ihre Mitleibeignen als Fabrikarbeiter zu beschäftigen. Aufserdem besafs der Grundherr noch andere Mittel, sich den industriellen Reichtum seiner Leibeignen zu nutze zu machen. Reiche Fabrikantentöchter zahlten, wenn sie aus dem Kreise der Gemeindemitglieder hinaus heiraten wollten, wodurch das grundherrliche Eigentum an ihrer Person verloren ging, 10 000 Rubel und mehr. Nicht weniger (bis 30000 Rubel) hatten die Fabrikantensöhne zu zahlen, um sich der Militär- pflicht zu entziehen, die der Gutsherr ihnen auferlegen konnte. Dagegen wurde das Verhältnis drückend , wo es sich um die Ablösung handelte. Nur in seltenen Fällen gelang es einzelnen Fabrikanten , für sich und ihre Nachkommen die Freiheit zu erkaufen , worauf der Herr wenig bereit- willig einging. Die Fabrik und das zugehörige Land blieb aber auch dann im Eigentum des Herrn; die Freigelassenen hatten die Gebäude und Maschinen nunmehr von ihrem früheren Herrn zu mieten. Bei der Bauernbefreiung gingen die Fabriken nicht ohne weiteres in das Eigentum der Befreiten über, vielmehr war hierzu eine besondere Ablösung — 26 — erforderlich, deren juristische Komplikationen Garelin be- schreibt '. Aber auch bei Leibeigenen, welche Fabrikarbeiter waren, erwies sich ein ähnliches Verhältnis als vorteilhaft, wie bei leibeigenen Fabrikanten. Der Herr begnügte sich mit einer festen Geldabgabe, Obrok, und der Arbeiter vermietete sich auf Grund eines freien Arbeitsvertrages, Diese Obrokbauern, bei denen nurmehr die gutsherrliche Abgabe an die Unfrei- heit erinnerte, bildeten in den vierziger Jahren unseres Jahr- hunderts bereits einen wichtigen Bruchteil aller Fabrikarbeiter. Bezeichnenderweise entstammten sie gröfsenteils der Klasse der Gutshörigen , nicht der Domänenbauern , weil die Gutsherren ihr Menschenmaterial energischer nach gröfstmoglichem Gewinne ausnutzten, als der Millionen von Leibeigenen besitzende Staat, Im allgemeinen galt diese Klasse von Arbeitern für weniger widei'spenstig, als die lediglich dem äufseren Zwange gehorchenden Leibeigenen. Man verwendete sie mit Vor- liebe zu allen feineren Verrichtungen. So wurden z. B. die groben Soldatentuche, bei denen man auf festen Absatz an den Fiskus rechnen konnte , fast ausnahmslos mit unfreier Arbeit in gutsherrlichen Fabriken hergestellt; für feinere Tuche, zu deren Anfertigung man in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts überging, und die ihren Markt sich selbst suchen mufsten, verwendete man dagegen Arbeiter, welche von ihrem Herrn auf festen Obrok gesetzt worden waren, im freien Arbeitsvertrag. Auf solcher Arbeit beruhte von voi'nherein die Baumwollindustrie, weil in ihr die teueren englischen Ma- schinen unfreien Händen nicht anzuvertrauen waren, und die Handarbeit in dieser verhältnismäfsig modernen Industrie nie den Umfang besafs, wie in dem älteren Tuch- und Leinen- gewerbe ^. Der Fabrikant Kosnoff berichtete 180B, dafs solche Arbeiter ein Gewebe gegebener Länge für 9 Rubel herstellten; wenn er dasselbe Gewebe mit gekauften Arbeitern herstellen 1 Vergl. Garelin, Die Stadt Ivaiiowo Wosneseusk. Schuja 1884, I S. 114, 166; II 7flF. - Tugan-Baranowski a. a. 0. S. 43, 44, 81, 90. — 27 - wolle, so koste ihm Verzinsung und Unterhalt des lebenden Kapitals pro Stück Gewebe 10 Rubel. Es ist interessant, hier in unserm Jahrhundert jene Ent- wicklungsstufen der Arbeit von der Unfreiheit zur Freiheit nahe beisammen zu sehen, welche wir ähnlich bei dem Über- gänge der Grundherrschaft zur Stadt im Mittelalter West- europas mutmafsen. Die allgemeine Befreiung der Bauern 1861 setzte jedoch ein, bevor die geschilderte Entwicklung allgemein vollendet war. Zwar war der Beweis der Möglichkeit, ja des Vorteils der freien Arbeit auch für russische Fabriken bereits in vielen Fällen erbracht; aber noch leistete der gröfsere Teil der Fabrikarbeiter gezwungene Arbeit. Nur bei wenigen erst war das Eigeninteresse genügend in das Spiel gesetzt, um sie an der Arbeit festzuhalten. Scharenweise flohen daher die be- freiten Bauern aus den Fabriken in die Dörfer, so dafs das Befreiungswerk Alexanders II. zunächst eine ernstliche Krisis für die russische Grofsindustrie überhaupt bedeutete ^. Staatliche Gesetze, auch wenn sie tief in das Wirtschafts- leben einschneiden, verändern eben nicht mit einem Schlage die psychologischen Bedingungen, welche die Grundlage aller Wirtschaftsverhältnisse sind. Durch die Befreiung wurde der Bauer zwar „freier Arbeiter", nicht aber mit einem Schlage jenes thatsächlich freie Individuum, das auf dem Wege der Arbeiterbewegung seine Interessen bewufst wahrnimmt; ferne lag ihm zunächst die Steigerung seiner Lebenshaltung über das gewohnheitsmäfsig niedrige Niveau des Leibeigenen und eine dementsprechende Steigerung seiner Arbeitsleistung. Wie die geistige Nachwirkung der Leibeigenschaftsverhältnisse ge- wifs einer der Gründe ist, welche das Aufkommen einer In- dustrie im ostelbischen Deutschland verlangsamen, so leidet die russische Industrie noch heute darunter , dafs die in ihr ^ Überblick über die Industrie, Ausgabe des Handelsdepartements. Petersburg 1886. Bd. II. Abschnitt über die Baumwollindustrie S. 96. — 28 — beschäftigte Arbeit geistig der Htufe der Unfreiheit immer noch nahe steht ^ Aber ebenso verschieden wie der unfreie Fabrikarbeiter Rufslands von dem modernen westeuropäischen Arbeiter war, ebensowenig gHch der Gutsherrr-Fabrikant dem westeuropäi- schen Arbeitgeber^ welcher, in England wenigstens, bereits um die Wende des Jahrhunderts das Individuum der klassischen Nationalökonomie so ziemlich verwirkliclite. Der adlige Fabrik- besitzer verfolgte nicht im freien Kampfe seine Interessen mit kaufmännischem Geiste. Seine Stellung beruhte auf recht- lichem und thatsächlichem Monopol. Die unfreie Arbeit, welche er allein frei zu verwenden das Recht hatte, veranlafste ihn zu möglichst niedrigem Kapitalaufwand „in der Hoifnung, durch eine nichts oder wenig kostende Arbeit die Abwesen- heit technischer Vervollkommnung zu ersetzen" ^. Daneben gewährte die Schlechtigkeit der Verkehrsmittel ein thatsäch- liches Monopol des lokalen Marktes ; ein Beweis hierfür ist, dafs z. B. die Petersburger Kaufleute von dem Dasein zahl- reicher Fabriken in Moskau erst durch die Ausstellung von 1829 erfuhren 3. So lange die Leibeigenschaft bestand , kämpften die aus dem Bauernstande sich emporentwickelnden hausindustriellen Verleger einen ungleichen Kampf. Waren sie doch, wie wir sahen, oft mit beträchtlichen gutsherrlichen Lasten belegt. Als die Leibeigenschaft aber gefallen war, da zeigte sich, dafs die Unfreiheit der Arbeit auch die Herren in ihrer wirt- schaftlichen Widerstandskraft verweichlicht. Der Adel, ob- gleich er europäische Bücher las, war in der Selbstbehauptung seiner Interessen weniger Europäer, als die aus dem Bauern- ' Selbst für die schlesische Industrie gilt Ähnliches etwa im Ver- gleich mit der rheinischen. Vergl. meinen Grofsbetrieb S. 145. Vergl. Brentano, Über den Einflufs der Grundherrlichkeit und den Einflufs Friedrichs des Grofsen auf das schlesische Leinengewerbe. Zeitschr. f. Social- u. Wirtschaftsgeschichte II Heft 3 S. 341 ff. - Vergl. Erisman a. a. O. S. 10. ' Überblick über die Industrie. Ausgabe des Handelsdepartements. Petersburg 1886. Abschnitt über Baumwolle S. 83. - 29 — Stande sich emporkämpfenden Fabrikanten. Ähnlich wie in England die Quäker, so waren in Rufsland die Altgläubigen die Brutstätte für ein energisches Fabrikantengeschlecht. \^'ie der Schnee an der Sonne schmolzen mit Aufhebung der Leib- eigenschaft die gutsherrlichen Fabriken. Nur diejenigen, welche von Natur günstig gelegen waren oder technisch über den Durchschnitt hervorragten, blieben bestehen; aber sie ge- langten meist durch Kauf in die Hand jener dem Bauern- .stand entstammenden Fabrikanten, in deren Besitz sie sich an Umfang bald aufserordentlich erweiterten. Nunmehr erst kamen die Tendenzen des modernen Gewerbebetriebs nach geographischer und kapitalistischer Konzentrierung voll zur Geltung. III. Die „Possessionsfabrikeir'. Neben den Fabriken, welche ohne Staatsbeihilfe dem Adel ihre Entstehung verdankten, gab es seit Peter solche, welche auf staatlichem Privileg beruhten und aus Staatsmitteln unter- stützt wurden. Die gutsherrlichen Fabriken befriedigten nämlich bei weitem nicht die gewerblichen Bedürfnisse des Monarchen, welchen militärische Gesichtspunkte zu Grunde lagen. Die Bedürfnisse der modernen Kriegstechnik, die er im eigenen Lande nicht kaufen konnte, wollte er selbst herstellen, um im Kriegsfall unabhängig von den Nachbarn zu sein. ^ Peter wurde damit nicht nur der gröfste Kaufmann, sondern auch der gröfste Gewerbetreibende seines Landes. Der ganze Staat gewann etwas von einer einzigen riesigen Hauswirtschatt und erinnert, unter merkantilistischer Umhüllung, an früh mittel- alterliche Monarchien. Der Zweck der Gewerbepolitik Peters des Grofsen wird klar, wenn man erwägt, dafs fast sämtliche von ihm besonders gepflegte Gewerbezweige solche waren, die der Ausrüstung von Heer und Flotte dienten. 1 Diese Auffassung- über die Gründe des petrinischen Merkantilis- mus ist alt; sie findet sich schon bei Scherer, L'histoire raisonnee du Commerce de la Russic, Paris ITSS, citiert bei Tii£?aii- Baranowski a. a. O. S. 14. — 30 — An der Spitze stand die Tuchmanufaktur, deren ausg-e- sprocliener Zweck die Bekleidung der Armee war. Zwar liatte Peter die Bekleidung der Armee für eine Pflicht der Kaufmannschaft erklärt, der sie sich „willig oder widerwillig" zu unterziehen hätte. Aber die gewünschten Fabriken ent- standen nicht; und wenn Peter auch Gewaltmittel gegen die störrige Kaufmannschaft angewandt wissen wollte, so konnten solche Mafsregeln nicht gröfseren Erfolg haben, als jene „Polizeibereuter", die schlesischen Kaufleuten in das Haus gelegt wurden , um ihnen Lust zur Leinenindustrie beizu- bringen. * Nur durch eigenen Gewerbebetrieb also konnte es dem Zaren gelingen , das aufgestellte Ziel wenigstens teilsweise zu erreichen. Peter verfuhr dabei ähnlich wie die preufsischen Könige. Er baute die Fabriken meist auf eigene Kosten, und suchte sodann nach Privaten , welche ihre Leitung gegen Privilegien und Bezahlung übernahmen. Solche Private waren teils heimische, besonders Moskauer Kaufleute, teils Ausländer. Wie naturalwirtschaftlich dieses System war, ersieht man daraus , dafs selbst der Rohstoff nicht gekauft, vielmehr eine Quote der Staatssteuern in Wolle geliefert wurde. Wolle und Schaffelle durften nur an den staatlichen Tuchhof verkauft werden.^ Nur durch weitgehende Privilegien gelang es , Persön- lichkeiten zu gewinnen, die zur Übernahme der Fabriken bereit waren. Die allgemeinen gesetzlichen Privilegien waren folgende: a) Dienstfreiheit für die Gründer (incl. Kompagnons) und einen Teil des Personals der Fabrik. Wer eine Fabrik an- legte , „der sollte mit seinen Brüdern und Kindern, welche 1 Vergl. Zimmermann, Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien S. 130, 136, 138. 2 Ordega a. a. O. S. 42 u. 43. Lumley, Report on the Present State of the Trade between Great Britain and Russia. Englisches Blaubuch 1866 S. 31. — 31 — mit ihm zusammen in demselben Hause wohnten , von allen Staatsdiensten (Kriegsdiensten) befreit werden.'" b) Abgabenfreiheit. Die Besitzer von Fabriken hatten keine Steuern und keinen Zehnten zu zahlen. c) Zollprivilegien. Besitzer neu angelegter Fabriken, welche „wirklichen Eifer zeigten", sollten einige Jahre so- wohl für die Waren, welche sie verkaufen, als für die Waren, die sie kaufen, Zollfreiheit „zur Belohnung" geniefsen. Andererseits wurden auf alle ausländischen Waaren , welche in Rufsland hergestellt wurden, zum Teil Einfuhrverbote, jedenfalls hohe Schutzzölle gelegt. Weil erfahrungsgemäfs wenige Russen sich fanden , die trotz der ihnen zugesicherten Privilegien zu Fabrikunter- nehmuugen bereit waren, so wurden besondere Begünstigungen Ausländern zugesagt, um sie. zu veranlassen, nach Rufsland zu kommen und in Rufsland Fabriken und Manufakturen zu gründen. Allen Fremden wurde erlaubt, Fabriken anzulegen, und zugesichert: a) der freie Eintritt und das freie Verlassen Rufslands, letzteres ohne Steuerabzug. b) Der zollfreie Verkauf der in ihren Fabriken gefertigten Produkte während einer begrenzten Zeit. c) Das Recht, die notwendigen Rohmaterialien und Arbeits- instrumente zollfrei in Rufsland zu kaufen sowie aus dem Aus- lande zollfrei zu beziehen. d) Sie sollten frei von allen Abgaben, Diensten und von der Einquartierung sein und keiner anderen Obrigkeit als dem Manufakturkollegium unterstehen, welches ihnen in Notfällen zu helfen und sie zu schützen verpflichtet war. e) Bei ihrer Ankunft in Rufsland sollten sie vorbereitete Wohnungen finden und t) einige Jahre lang Geldvorschüsse von der Krone be- kommen. Für die Tuchmanufaktur traf Peter die weitgehendste Für- sorge. — 32 — Auf das genaueste wurde den Fabrikanten vorgeschrieben^ welche Arten und wieviel Stück Tuch sie in gegebener Zeit, sowie zu welchem Preise sie zu liefern hätten; sie wurden be- straft, wenn sie weniger produzierten oder die technischen Vorschriften vernachlässigten. Ja sie wurden meist verpflichtet, nur Soldatentuch zu weben , da gewöhnlich der Bedarf die Produktion weit überstieg. Übrigens waren die Erfolge dieser Politik keineswegs glänzende. Gegen Ende seiner Regierung hat Peter die Grenze für preufsisches Tuch wieder eröffnet; er überzeugte sich, dafs die einheimischen Fabrikanten den Bedarf nicht befriedigen konnten. Das im Inlande erzeugte Tuch war häufig schlecht und unhaltbar. Beispielsweise fand in den dreifsiger Jahren auf Antrag des Feldraarschalls Grafen Münich eine Unter- suchung aller Tuchfabriken statt, bei der viel schlechtes Fabrikat konfisziert und die unsoliden Fabrikanten hart be- straft wurden. In ähnlicher Weise verdankte das eingehendste aller derartigen Reglements der Tuchindustie 1741 wiederum der Klage der Mih'tärbehörden über schlechtes Tuch seine Entstehung. Von anderen Fabrikationszweigen sind zu nennen : die Salpeterindustrie und die Pulverfabriken, Gewehr- und Waften- fabriken, im Zusammenhange hiermit Bergbau und Eisenver- hüttung, Segeltuchfabrikation u. s. w. Daneben standen eine Anzahl von Fabriken, welche lediglich allgemein merkantili- stischen Gesichtspunkten entprangen : Spiegelfabriken, Seiden- Avebereien u. s. w., letztere in gewifs sehr geringem Umfang. Alle diese Fabriken waren ähnlich wie die Fabriken Colberts und Friedrichs d. Gr. im technischen Sinne „Manu- fakturen", d.h. sie beruhten auf Handarbeit ohne Anwendimg mechanischer Kraft in gemeinsamem Arbeitslokale. Ihr Absatz war ein pflichtmäfsiger an den Staat, aber auch von diesem gewährleistet; die Produktion hatte also einen feststehenden und gleichbleibenden Charakter wie die Bedürfnisse des Staates, denen sie diente. Das ,, Recht auf Absatz" war hier wie stets die unvermeidliche Voraussetzung des „Rechtes auf Arbeit" der Angestellten, welche die Fabrikanten fort zu ent- — 33 - löhnen hatten, auch wenn sie die Fabrikation etwa ein- schränken wollten. Anpassung der Produkte, der Preise und Löhne an wechselnde Konjunkturen gab es bei diesen Fabriken ebensowenig, wie Konkurrenz unter einander und dadurch er- zwungenen technischen Fortschritt. Vielmehr hing alles vom k?taateab, unterdessen strengster Aufsicht sie standen. Zu diesem Zwecke gründete Peter 1718 eine besondere Behörde, das Manu- lakturkollegium. Dabei machte es keinen allzugrofsen Unterschied aus, ob die Fabriken im staatlichen Eigentum standen und auf Staatsreclmung v^on Beamten betrieben wurden oder ob sie vom Staate an Private vermietet bezw. zu Eigentum gegeben Avaren. Auch die Privatunternehmer waren wenig mehr als Beamte, sie hatten „die Pflicht" zu fabrizieren für die Privilegien und Vorschüsse, welche ihnen die Regierung erteilte. Be- zeichnenderweise wurden sie „Unterhalter von Fabriken" genannt. Damit sie ihre Pflicht erfüllten, bestand ein ganzes System von Strafen, welches im Rückfall der Fabriken an den Staat gipfelte. Ahnlich wie die preufsische Gewerbepolitik hatte auch die russische des vorigen Jahrhunderts viel unter abenteuernden Ausländern zu leiden. Es ist viel von Leuten die Rede, die nur „zum Scheine" Fabriken betrieben, und gegen welche strenge Strafen angedroht wurden. Aber auch die wirklich in Betrieb befindlichen Fabriken scheinen häutig den Er- wartungen wenig entsprochen zu haben. Peter klagte darüber, dafs ihm „die Fabriken viel kosteten." Hier wie sonst fehlte eben dem bureaukratischen Gewerbe- betriebe jener kaufmännische Geist, welcher technische Vor- teile selbst im kleinsten wahrnimmt und die Überlegenheit freier Unternehmungen über staatliche ausmacht. Jene „Fabrik- unterhalter" Peters hatten, so scheint es, ein geringes Interesse am Erfolg des Geschäftes. „Sie verschmolzen mit der Klasse der Angestellten, welche nicht nach einer weiteren Entwickhing und Vervollkommnung der indu- striellen Unternehmungen streben, sondern nur an möglichst V. Seh alze-G ae ver ni tz, Studien a. KulVI. O — 34 — schnellen Gewinn denken, um zu Ehre und sorglosem Dasein zu gelangend" Wer waren die Arbeiter in diesen staatlichen oder halb- staatlichen Fabriken, welche, nach einer wohl unausgeführt gebliebenen Verordnung, uniformiert ^ gehen sollten? Seni- jewski giebt in seinem trefflichen Buche über die Bauern zur Zeit Katharinas II. hierüber eingehende Auskunft. Waren schon Fabrikanten, welche sich freiwillig dem Ge- werbe gewidmet hätten, schwer zu finden, so war diese Schwierigkeit hinsichtlich der Arbeiter noch gröfser. Wie man Soldaten zwangsweise konskribierte , so war auch die Fabrikarbeit eine zwangsweise zu leistende Pflicht der Bauern- schaft. In erster Linie entnahm der Zar, welcher ja einen grofsen Teil aller Bauern zu Eigentum besafs, diesen Staats- bauern das zur Industrie erforderliche Menschenmaterial. Staatsbauern teils mit, teils ohne Land bildeten die übliche Ausstattung zu gründender Fabriken; diese Bauern wurden „für ewig" den Fabriken „zugeschrieben" , d. h. immobile Pertinenzen des als ewig, in seiner Art und Gröfse als fest- stehend angesehenen Fabrikunternehmens. Daneben erhielten die Fabrikanten schon von Peter d. Gr. das Recht, Leibeigene für die Fabriken von den Gutsherren zu kaufen ^. Nach einigen Schwankungen bestätigte Kaiser Paul I. noch 1798 dieses Recht, welches 1802 von Alexander I. beschränkt wurde. Es wurde damals verboten, die Fabrikleibeigenen von der heimatlichen Scholle loszulösen und anderwärts in Fabriken zu verwenden. Hier wie sonst bedeutete also die Behandlung des Menschen als Pertinenz des Bodens statt als beweglicher Sache eine Milderung der Unfreiheit. Erst 1816 wurde das Recht der Fabrikanten, Leibeigne mit oder ohne Land für die Fabriken zu kaufen, endgültig aufgehoben ^ 1 Nisselowitsch, Geschichte der russ. Fabrikgesetzgebung. Petersburg 1883. Teil I, S. 82. 2 Semjewski, Bauern zur Zeit Katharinas II. Petersburg 1881. I. S. 463. •'' Semjewski a. a. 0. S. ;^94. ^ Tuean-Barauowski a. a. O. S. 88. — 35 — Aber die Fabrikanten konnten oft billiger als durch Kauf zu den nötigen Arbeitskräften kommen. Dafür sorgte die Strenge der ländlichen Leibeigenschaft. Es wimmelte im Reiche von Läuflingen, welche, wenn aufgegriffen, ihre Ab- stammung nicht zu wissen vorgaben. Peter hat sogar, um die Fabriken zu begünstigen, das Rückforderungsrecht des Guts- herrn an entlaufenen Leibeigenen, die einmal in Fabriken be- schäftigt waren, kurzweg aufgehoben — was jedoch von seinen gegenüber dem Adel schwächeren Nachfolgern zurückgenommen wurde ^ Diese Läuflinge trugen in reichem Mafse zur Bildung des künftigen Fabrikproletariats bei, indem sie einfach den Fabriken zugeschrieben wurden , schon damit der Staat die Kopfsteuer von ihnen nicht verlöre. Die zwecks Begünstigung der Gewerbe ausgesprochene Steuerfreiheit der Fabrikarbeiter wurde nämlich schon unter Kaiserin Elisabeth aufgehoben. 1718 wurde eine Jagd auf die minderjährigen Bettler ge- macht, welche sich auf den Strafsen von Moskau und Rjasan herumtrieben; öffentliche Mädchen und verurteilte Verbrecher wurden in die Fabriken geschickt, ebenso Soldatenkinder, Kinder aus dem grofsen Waisenhause in Moskau, entlassene Soldaten und Kriegsgefangene, insbesondere Schweden nach der Schlacht von Poltowa. Soldaten weiber wurden, während ihre Männer im Kriege waren, den Fabriken zugeteilt, und es mag oft genug vorgekommen sein, dafs die Männer sie nicht mehr zurückforderten ^. Wenigstens bemerkt Semjewski, dafs, wer einmal — und sei es auch nur vorübergehend — einer Fabrik zugeteilt war, gewöhnlich für sich und seine Nach- kommen daran gefesselt war. Trotz ihres verschiedenen Ursprunges verschmolzen die den Fabriken zugeschriebenen Leibeigenen gegen Beginn des ^ Semjewski a. a. 0. S. H99. Der Ukas von 1736 verpflichtet die Fabrikanten zix Entschädigung an die früheren Eigentümer in Geld, während sie die Arbeiter selbst behalten durften. Näheres Tugan- liaranowski a. a. 0. S. 22, 23. 2 Semjewski a. a. 0. S. 403, 404. Ebenso Tugan-ßaranowski a. a. O. 8. 17 fF. 3* — 36 — Jahrhunderts zu einer Klasse, den sog. „Possessionsbauern", welche von den Fabriken so wenig getrennt werden durften, wie die Ackerbau treibenden Bauern vom Lande ^ Indem die Staatsbauern durch Zuschreibung an eine Fabrik von ihrem bisherigen Niveau herabgedrückt wurden, stiegen zweifelsohne die der Gutsherrschaft entlaufenen Leibeigenen durch Aufnahme in den Fabrikarbeiterstand ^. Der beste Beweis hierfür sind die steten Reklamationen des Adels wegen Aufnahme von Läuflingen in den Fabriken. Hier wie oben bei den gutsherrlichen Fabriken hob also die gewerbliche Arbeit über die tiefste Stufe der Unfreiheit empor. In der That behielt sich der Staat, indem er nichtadligen Fabrikanten das Recht, Leibeigene zu besitzen, zugestand, die Regulierung auch des Arbeitsverhältnisses vor. Die Posses- sionsbauern betrachteten sich niemals als Leibeigene der Fabrikanten, sondern waren vielmehr, entsprechend ihrem über- wiegenden Ursprung aus den Staatsbauern, der Meinung: „der Zar verkauft keine Leute". Dem entsprach die Stellung der Fabrikanten als halber Beamten. Sie hatten die Arbeiter zur Fabrikarbeit erhalten und durften sie nicht zu anderer Arbeit, auch nicht gegen Obrok, bei Dritten beschäftigen. Auch regelte der Staat die Arbeitszeit und die Arbeitslöhne, wenigstens als Oberinstanz. In anderen Fällen findet sich direkte Lohnfestsetzung durch die Behörden in Perioden von 5 bis 10 Jahren. Die Versendung widerspenstiger Leibeigenen nach Sibirien, welche der ländliche Guts- herr aus eigner Macht vornehmen konnte, bedurfte bei Possessionsbauern der Bestätigung des Manufakturkollegs, welches die gelernte Arbeitskraft des Fabrikarbeiters als wert- vollen staatlichen Besitz ansah. Die Frage der Arbeitslosig- ' Vergl. über diese Arbeiterklassen aufser Semjewski den Auf- satz im Europäischen Boten 1878, Oktober S. 615 fiF. und November S. 158 ff. Der Ausdruck „Bauer" bezeichnet im Russischen bekanntlich nicht einen Beruf, sondern die rechtliche Eigenschaft des Unfreion^^oder gewesenen Unfreien. - Dieser Ansicht ist auch Semjewski a. a. 0. S. 405, 411. — 87 — keit existierte für diese Klasse von Arbeitern nicht, da der Fabrikant die Produktion nicht einschränken durfte. Zu- dem befahl der Staat die Landausstattung der Arbeiter. Die Rechte dieser Fabrikarbeiter waren geschützt durch ein wiederholt mit Erfolg ausgeübtes Beschwerderecht^ an die Behörde. Das Manufakturkolleg, später Kommerzkolleg, sollte auf Grund eines mündlichen Verfahrens entscheiden. Aus dem Subordinationsverhältnis gegenüber dem Staat, in dem sich Fabrikanten wie Arbeiter befanden, ergaben sich strenge Strikeverbote, wie sie noch heute als Nachwirkung älterer Statusverhältnisse in Rufsland bestehen. Gegen Arbeiter- bewegungen wurde allgemein mit Militär eingeschritten; die Schuldigen wurden der Knute unterworfen, und zwar in Anwesen- heit ihrer Kameraden. 1752 wurde in den Eisenwerken des Ural bei einer derartigen Gelegenheit eine förmliche Schlacht ge- liefert, bei der 9 Offiziere und 188 Soldaten verwundet wurden-. Aber gerade die Möglichkeit kräftiger Strikebewegung beweist eine günstigere Lage dieser dem Staate direkt unterstehen- den Arbeiter gegenüber den durch Vermittlung des Gutsherrn mit dem Staate verbundenen Leibeigenen. Die gleiche Be- deutung hat es, wenn das Manufakturkolleg „Neigung zur Anarchie" als einen „vor alters her charakteristischen Zug der Possessionsbauern" bezeichnet^ — bei den gedrückteren Gutsleibeignen ist von solcher Neigung nie die Rede. Verhältnismäfsig günstige Verhältnisse ergeben sich auch aus zahlreichen Bestimmungen hinsichtlich der Arbeitszeit, welche meist im Interesse ihrer Verlängerung erlassen wurden. Solange man nicht gezwungen war, kostbare Maschinen zu amortisieren, war, wie im Westen, der Arbeitstag durch das Tageslicht begrenzt; nach Erisman betrug die durchschnitt- liche Arbeitszeit 10 — 12 Stunden, Avonach eine erhebliche ^ Vergl. Semjewski a. a. 0. S. 465. Tugan - Baranowski a. a. 0. S. 120 ff. " Vergl. den citiertexi Aufsatz im Europäischen Boten , Oktober S. 641 ff., November S. 158 ff. ^ Tugan-Baranowski a. a. 0. S. 133. — 38 — Verlängerung' in unserem Jcahrhunclert stattgefunden hättet Es entspricht dies einer auch im Westen gemachten Erfahrung: z. B. wurde in England mit Aufkommen der modernen Grofs- industrie der Arbeitstag stark verlängert. Wenn auf einen Webstuhl nicht weniger als 42 Seelen gerechnet Avurden'^, so ist dies ein Beweis für den halbbäucr- lichen Charakter auch dieser Arbeiterklasse und für die un- geheuere Verschwendung von Arbeitskräften. IV. Erfolge. Noch gegen Mitte unseres Jahrhunderts war Rufsland im grofsen und ganzen ein ungewerbliches Land. Die Gewerbe- poHtik Peters ist im wesentlichen ohne Erfolg geblieben, ähn- lich wie auch die Erfolge der friedericianischen Politik in dieser Richtung geringe waren, was schon daraus hervorgeht, dafs noch bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts ein industrielles Schutzzollinteresse im preufsischen Osten kaum bestand. Man hört fortwährend von Mafsregeln zur Be- förderung einzelner Gewerbe, aber gerade ihre ewige Wieder- holung, die Verschärfung der Strafen wegen Nichtbefolgung u. s. w. ist ein Zeugnis der Vergeblichkeit dieser An- strengungen. Peter pries den Reichtum Rufslands an Metallen und suchte ihre Gewinnung mit allen Mitteln zu fördern ; Possoschkoff machte auf das Vorhandensein vieler Farbstoffe in Rufsland aufmerksam; er knüpfte an die Entdeckung des russischen Schwefels, Naphthas und der russischen Steinkohle grofse Hoffnungen. Trotz aller Versuche einer merkantilistischen Ge- werbepolitik blieben die Ausbeutung dieser Naturschätze und die darauf zu gründenden Gewerbe lange Zeit völlig unent- wickelt. Schon 1723 wurden die Kohlenschätze des Dnjepr- gebietes entdeckt; Peter sandte zur Untersuchung der Lager ^ Vergl. den citierten Aufsatz im Europäischen Boten, November, S. 163, ferner Erisman a. a. 0. S. 72, 78, 85, endlich Semjewski a. a. 0. S. 476. - Erisman a. a. O. S. 64. — 39 — einen Sachverständigen ab; aber erst in den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hat diese Industrie Aufschwung genommen^. Ahnlich sagt Brückner, einer der besten Kenner der Zeit und Geschichte Peters: „Peters Schüler und Gesinnungs- genosse Possoschkow hoffte, die Glasindustrie werde einen solchen Aufschwung nehmen, dafs Rufsland alle Länder mit Glaswaren werde versorgen können. Einem solchen Optimismus entsprach die einzige, nur eine unbedeutende Produktion auf- weisende Glasfabrik keineswegs," Fassen wir unser Urteil zusammen : Soweit von russischer Industrie im vorigen Jahrhundert überhaupt die Rede sein kann, ist dieselbe vorwiegend bäuerlicher Hausfleifs, zum Teil Überschufsverkauf der geschlossenen Hauswirtschaft durch Hausier- und Mefshandel, zum Teil bereits kapitalistisch organisiert im sog. Verlagssystem. Auf beiden Wegen wird der heimische und volkstümliche Verbrauch aufgesucht. Dem gegenüber produziert die „Fabrik", technisch Manufaktur, vor- wiegend für die Bedürfnisse des Heeres, des Hofes, des Adels, in Konkurrenz mit ausländischer Einfuhr, seltener in Konkurrenz mit dem bäuerlichen Gewerbe der Heimat, Wo eine Kon- kurrenz mit letzterem zu Tage tritt, hören wir Klagen der Fabrikanten, und behält der bäuerliche Hausfleifs gewöhnlich die Oberhand,"^ Erklärlich genug: die Technik ist in beiden Lagern die gleiche, aber der Bauer kann zu niedersten Preisen verkaufen, da er seinen Lebensunterhalt naturalwirt- schaftlich auf den Ackerbau gründet. Im russischen Gewerbe herrscht bis in die Mitte unseres Jahrhunderts völliger Stillstand der Technik. Dies ist der Grund dafür, dafs die frühere gewerbliche Ausfuhr z, B. von Leinengeweben nach Europa, von Tuchen nach China, verloren ging. Noch zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde ein Drittel des gesamten Erzeugnisses an Leinen und Segeltuch ausgeführt, nicht unbeträchtliche Mengen sogar nach Amerika^. In gleicher Weise bestand zu Beginn des Jähr- 1 Vergl. Stieda, Peter der (xrofse als Merkantilist. Russ. Revue Ed. IV 8. 206, 215. 2 8. Tugan-Baranowski a. a. O. S. 52. 3 Tugan-Baranowski a. a. O. S. 68/69, 83. — 40 — Hunderts eine bedeutende Eiseuausfuhr , welche 13 "o der Gesamtausfuhr umfafste. Auch diese nahm seit den 20er, noch mehr seit den 40 er Jahren stark ab, sicherlich nicht wegen mangelnder obrigkeitlicher Förderung. Waren doch den Eisen- werken am Ural an 178 000 Seelen männlichen Geschlechtes zugeschrieben, und gegen 15 Millionen Rubel hatte ihnen die Regierung als zinslose Dahrlehen gegeben, zudem riesige Waldungen Übermacht ! Der Grund des Rückgangs war alle- mal der gleiche. Europa und Amerika schritten technisch schnell voran •, sie lernten z. B. aus der Textilindustrie durch die Maschine die Handarbeit nahezu vertreiben, Eisen mit Kohle auszuschmelzen , die Warenpreise enorm zu ver- billigen. In allem diesem blieb Rufsland zurück. Welches sind die Gründe, denen die Mifserfolge des russischen Merkantilismus zuzuschreiben sind? Eine Industrie verlangt zu ihrer Blüte zweierlei: einen Markt für ihre Produkte und einen Handel, der sie mit dem Markte ver- bindet. Der von beiden ausgehende Druck erzwingt die freie Arbeit und den technischen Fortschritt. Jene Bedingungen aber sind das Ergebnis einer allmählichen geistigen und wirt- schaftlichen Entwicklung. Nur, wo sie sich entfalten, kann der staatliche Eingriff die äufsere Blüte beschleunigen. 1. Aus den zahlreichen Studien des letzten Jahrzehnts über die Gewerbepolitik Friedrichs d. Gr. gewinnt man den Eindruck, dafs das Haupthindernis einer Entfaltung der Industrie die Abwesenheit eines kauffähigen und kauflustigen Marktes war. Die schlesischen Kaufleute weigerten sich, das von Friedrich eingeführte kunstreichere Gewebe, den Damast, zu verlegen, weil ihnen niemand diese Ware ab- kaufe. Der königliche Hof war der wichtigste Abnehmer der in Berlin und Potsdam mit grofsen Opfern ins Leben ge- rufenen Seidenweberei. Die Hugenottenkolonie in Magdeburg ging am Mangel an Absatz beinahe zu Grunde. ^ Das ^ Vergl. z. B. Schmoller, Jahrb. f. Gesetzgeb. u. Verwaltung. N. F. Jahrgang XI, Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrichs des Gröfsen Art. XII 8.48 und das Öfters citierte Buch von Zimmer- mann, passim. — 41 — Preulsen des vorigen Jahrhunderts setzte sich eben zumeist zusammen aus geschlossenen adligen und bäuerlichen Wirt- schaften ; der Absatz in das Ausland aber verkümmerte, weil der technische Fortschritt eine Welt der Konkurrenz und Freiheit erfordert; erst der Zusammenbruch monopol- hafter Verhältnisse und das damit einsetzende Bestreben nach Verbilligung der Produkutionskosten erweckt das erfinderische Genie ^ . In noch viel höherem Mafse gilt das Gesagte von Rufs- land. Hier fehlten die geistigen und volkswirtschaftlichen Be- dingungen eines inneren Marktes gänzlich, während der aus- wärtige Absatz, wie Avir sahen, wegen der rückständigen Technik damals verloren ging. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dafs die Bedürfnislosigkeit naturalwirtschaftlicher Völker das schwerste Hemmnis indu- strieller Entwicklung ist. Erst eine längere und wiederholte Be- rührung mit dem höher entwickelten Ausland erweckt die Bedürf- nisse der Civilisation. Den Nationen Westeuropas war schon frühe — durch die Kreuzzüge und die Berührung mit der höheren Kultur der Mittelmeerländer — die Armut und Schmuck- losigkeit des Lebens nördlich der Alpen zum Bewufstsein gebracht worden ; denken wir an die Zeiten , da die Hohen- staufen, umgeben von orientalischer Pracht, ihre Reichstage in Deutschland abhielten. Ähnlich wirkte Peter d. Gr. für Rufsland, indem er die oberen Schichten seines Volkes mit westeuropäischen Lebensgewohnheiten durchtränkte. In der- selben Richtung lag die Berufung zahlreicher Ausländer nach Rufsland, die europäische Ordnung des Hofstaates, die Studien- reisen, zu denen er zahlreiche junge Russen nach Europa schickte, die Gründung der Hauptstadt auf einem wesentlich westeuropäischen Boden, die Kriege des Kaisers mit Schweden und Polen, die Erwerbung der baltischen Provinzen, auch die zu Unrecht verspottete Kleiderordnung des Monarchen. Hier- ^ Vergl. den oben citierten Aufsatz von Brentano in der Zeit- schrift für Social- und Wirtschaftsgeschiclite über die Konkurrenz der irischen und schlesischen Leinenindustrie. Vergl. ferner meinen ..Grofs- betrieb" S. 29 ff. — 42 — durch hat Peter sicherlich mehr für die künftige gewerbliche, Entwicklung seines Landes gethan, als durch seine künstlichen Fabrikgründungen. Durch jene Mafsregeln erweckte er erst das Bedürfnis nach gewerblichen Produkten. Aber die Entstehung des Marktes verlangt aufser der Geneigtheit auch das Vermögen zu kaufen. Hierzu gehört Bargeld, und in dessen Besitz gelangt man allein dadurch, dafs man verkauft. Es ist einer der verhängnisvollsten Irrtümer des Merkantilismus gewesen, dafs er diese Wechselwirkung- verkannte. Erst in dem Mafse, als die breiten landwirtschaft- lichen Massen Rufslands, Adel und Bauern, geldwirtschaftlich wurden, war eine Entfaltung des Gewerbes in Rufsland mög- lich. Diese Vorbedingung aber war erst erfüllt durch Ver- kauf von Agrarprodukten in das Ausland. Denn jene kost- baren Naturprodukte, welche auch in unentwickelten Verkehrs- verhältnissen die Ausfuhr lohnen , Pelzwerk , Metalle u. s. w., fielen in Rufsland nicht genügend in das Gewicht, um Bargeld in den Volksmassen zu verbreiten. Erst also mufsten in West- europa Handels- und Industriestaaten entstehen , welche der Getreideeinfuhr bedurften , ehe die Stunde der GeldAvirtschaft für Rufsland schlagen konnte. Weit entfernt also, dafs die russische Wirtschaftsentwicklung sich unabhängig vom Westen vollzog, setzte vielmehr der wichtigste Fortschritt, der Übergang zur Geldwirtschaft in den ländlichen Verhältnissen, die west- europäische Nachfrage nach Agrarprodukten voraus ; ohne die- selbe war die Befreiung der Bauern, wie die Entfaltung einer eigenen Industrie unmöglich. Noch heute gilt ein ähnliches Verhältnis: die russische Industrie hat Abnehmer dadurch, dafs der russische Landmann durch Absatz nach dem Westen kaufkräftig geworden ist. 2. Aber jede Industrieentwicklung verlangt nicht nur einen Markt, sondern auch einen sie mit dem Markte verknüpfenden Handel. Nun ist zwar, entgegen der irrigen Annahme von Friedrich List, der Handel wirtschafts- geschichtlich älter als die Industrie. Auch in ungewerblichen Verhältnissen giebt es einen Handel mit wertvollen Natur- produkten des Inlands (z. B. Edelmetallen, Bernstein, Fischen, — 43 — Pelzwerk), mit Industrieartikeln und Agrarprodukten des Aus- landes (z. B. Thee, Wein, Zucker). So beschaffen war im Grunde der Handel der alten Hansa, welche eigene Gewerbe- produkte wenig auf den Markt brachte, so beschaffen der Handel des vorpetrinischen Rulslands. worauf z. B. die That- sache weist, dafs bis in unser Jahrhundert die Moskauer Kaufmannschaft, heute die schärfste Vorkämpferin des Pro- tektionismus, freihändlerisch gestimmt war. Aber dieser Handel der alten Zeit bezog sich auf wertvolle, wenig voluminöse Artikel, für welche man Monopolpreise fordern konnte. Der moderne Handel, die Voraussetzung der Massenproduktion unserer Grofsindustrie , ist Massenhandel und beruht auf Konkurrenz. Dieser Massenhandel hat zunächst gewisse technische Voraussetzungen in den Verkehrsmitteln. Bis in die Neuzeit ist der Wasserweg dem Landwege so sehr überlegen gewesen, dafs Wasserwege , insbesondere maritime Lage , für die Ent- faltung des Handels und damit des Gewerbes geradezu ent- scheidend waren. Der moderne Grofsbetrieb in der Gestalt des Verlagsystems entfaltete sich zuerst in den maritimer Entwicklung nahestehenden Gebieten (Lucca , Florenz), weil hier Massenausfuhr eine Massenproduktion ermöglichte. Die Handelsblüte Italiens und Deutschlands, später die Über- legenheit Englands über Frankreich weist auf solche geo- graphische Vorzüge zurück. Rufsland ist der kontinentalste Teil Europas und war als solcher der lösenden Wirkung des Handels am wenigsten zugänglich. Später wurde der Bezirk, welcher im ganzen russischen Flufssystem durch gröfste Zu- gängiichkeit ausgezeichnet ist, das Becken der oberen Wolga und Oka, der Sitz des Handels und der Industrie. Aber die Technik des Verkehrs überwindet die Wider- stände der Natur, zunächst durch Kanalbauten, später durch Eisenbahnen. Diese wie. jede Technik läfst sich von einem Lande in das andere übertragen. Indem Peter Kanäle baute, insbesondere das Wolgasystem mit dem Baltischen Meere ver- band, legte er eine wertvolle Grundlage für die spätere Ent- faltung des Gewerbes. — 44 — Wie sehr früher die Schlechtigkeit der Landwege den Austausch von Agrar- mit Gewerbeprodukten in Rufsland er- schwerte, hierfür giebt es eine Fülle von Belegen. Die Ge- sandtschaften Rufslands nach den Mittelmeerländern zogen vor Erwei'b der baltischen Küste die mehrere Monate dauernde und gefährliche Seefahrt über Archangel durch das Polarmeer dem Landwege vor\ Für deutsche Industrieen, welche nach Rufsland ausführten, bedeutete anhaltendes Regenwetter, wegen Unpassierbarkeit der nach Rufsland führenden Verkehrswege, Geschäftsstockung ^. Nach Wendlands Berechnung führt heute die Eisenbahn 1 Pud Getreide bei kurzen Entfernungen für ^ 20 Kopeken pro Werst, bei Entfernungen von 500 Kilometer für ^40 Kopeken pro Werst, und bei 1000 Kilometer für ^/to Ko- peken pro Werst, — das ist viermal, achtmal, vierzehmnal so billig als die Axe selbst bei günstigem Landstrafsenverkehr es vermochte. Letztere aber versagt bei Herbstregen und während der Schneeschmelze gänzlich^. Welches Hindernis des Ver- kelirs müssen erst die Entfernungen und der völlige Mangel an Landstrafsen im vorigen Jahrhundert gewesen sein! Hier war der ganze Verkehr auf den Schlitten während des Winters angewiesen. Aber wenn sich die technischen Grundlagen des Handels von einem Lande in das andere übertragen lassen, so gilt dies nicht in gleicher Weise von den geistigen Voraus- setzungen. Es ist denkbar, die gewerbliche Produktion staat- lich zu reglementieren ; der Fabrikant wie der Arbeiter be- finden sich dann in Beamtenstellung zum Staate, und das Verhältnis beider zu einander wird nach der Art der mili- tärischen Subordination geordnet. Der moderne Handel da- gegen , welcher auf Konkurrenz und Spekulation , nicht wie der mittelalterliche Handel auf Privileg beruht, erfordert seit seinem Auftreten individualistische Motive. Es ist technisch ' Brückner, Peter der Grofse S. 8. - Vergl. Bein, Industrie des Voigtlandes II. S. 88. ^ Vergl. Wendland, Die deutschen Getreidezölle. Berlin 1892. S. 6. — 45 — in diesem Falle unmöglich, die Führung von Handelsgeschäften unter Einzelvorschriften zu stellen, wie dies etwa für die Tuchfabrikation oder die Spiegelmanufaktur, aber auch für den gildenmäfsigen Handel des Mittelalters möglich war. Die Beurteilung künftiger ungewisser Konjunkturen mufs ihrem Wesen nach frei und unter der Strafe von persönlichem Ver- lust vor sich gehen. Noch mehr-, der moderne Kaufmann ist, im Gegensatz zu dem durch ein eigenes Standesrecht ge- tragenen mittelalterlichen Berufsgenossen, der seif made man, der unabhängig von den überkommenen Standesverhältnissen Geld sammelt, um damit seine sociale Stellung zu erhöhen. Er verkümmert, wo die Ehren des Lebens allein durch staat- lichen Rang bestimmt werden, wie dies bis in die neueste Zeit in Rufsland der Fall war. In der verschiedenen Stellung des Staates zum Handel zeigt sich der tiefste Unterschied zwischen ost- und west- europäischem Merkantilismus. Beiden gemeinsam ist die staatliche Förderung des Handels. Aber im Westen ist der Staat das Werkzeug, im Osten der Vormund des Handels. Im Westen beruht der Staat auf dem Handelsstande selbst, wie er als Ergebnis der mittelalterlichen Städteentwicklung vorlag. Denken wir an Venedig, den Ausgangspunkt und das Muster alles späteren Merkantilismus, ferner an den nordischen Nachfolger Venedigs, die Niederlande. An der Spitze des Staates stehen im Westen oft Kaufleute selbst, z, B. die Medici in Florenz, Colbert in Frankreich, oder Monarchen, welche ganz vom Handelsgeiste durchtränkt sind. Im Osten dagegen begünstigen die Monarchen zwar den Handel, stehen ihm aber fremd gegenüber. Wie den Homunculus unter der schützen- den Glasglocke bewundern sie das künstliche Geschöpfchen, ohne es zu verstehen. Zeitlebens hat Peter der Grofse ge- klagt, dafs „das Kommerz wesen ihm besondere Schwierigkeiten bereite, und dafs er sich von dem Zusammenhange desselben nie habe einen deutlichen Begriff machen können". Wie der Monarch, so die Beamten. Im Osten achtete man den Kaufmann „geringer als eine Eierschale". Indem man meinte, die Sache besser zu verstehen als die Nächstbeteiligten, — 46 — schädigte man nach Brückner oft mehr, als man nützte. In England, sagt John Perry, ein sachkundiger Zeitgenosse Peters, sporne man die Industriellen und Kaufleute zur Thätig- keit an, in Rufsland dagegen lähme die Brutalität und Raub- sucht der Verwaltung alle Betriebsamkeit; wahrer Reichtum könne hier nicht gedeihen. „Die Geschichtsquellen", fügt Brückner hinzu, „berichten von zahlreichen Fällen der ärgsten Mifshandlung von Kaufleuten durch Beamte. Viele verloren Leben und Eigentum:, manche wurden zu Tode ge- martert." Nach demselben Schriftsteller pflegten Industrielle und Kauf leute ihren Wohlstand zu verbergen , um den Plackereien der Beamten zu entgehen ^ Lehrreich ist die Geschichte von J. Ssolowjeff, einem Grofskaufmann zur Zeit Peters d. Gr. Angeklagt der ver- botenen Kornausfuhr aus Rufsland wurde er gefoltert, Avobei ihm Arme und Beine gebrochen wurden, und 1 Million Rubel wurde ihm konfisziert Später erkannte der Zar seine Un- schuld an und bat ihn um Verzeihung, ohne jedoch die Million zurückzugeben. Im Gegensatz zu Frankreich, avo Colbert ausdrücklich den Adel zur Beteiligung an industriellen Unter- nehmungen aufforderte, im Gegensatz zu England, wo die Grund- aristokratie und die City geradezu verschmolzen, galten in Rufs- land Handelsgeschäfte als unehrenhaft für den Adel, welcher vielmehr in Beamtenstellungen auf dem einfacheren Wege der Erpressung sich die kaufmännischen Reichtümer aneignete^. Ein Spiegelbild der Verhältnisse ist die volkswirtschaft- liche Litteratur. Die westeuropäische Litteratur des Merkanti- ' Ähnlich Moltke, Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei. Berlin 1876. S. 49. „Die Bedingung alles Keichtums ist hier, dafs man ihn flüchten könne. Der Eajah wird lieber ein Ge- schmeide für 100000 Piaster kaufen, als eine Fabrik, eine Mühle, ein Vorwerk anlegen. — Die Juwelen, welche in reichen Familien selbst Kinder von wenig Jahren tragen, sind ein glänzender Beweis für die Armut des Landes." 2 Vergl. Brückner, Possoschkoff S. 248, 281, 299, 301. JJrückner, Peter der Grofse S. 518 ff'.; derselbe, Raumers historisclies Taschen- buch 1877 über ..Tvu^;sische Geldfürsten" S. 6. - 47 — lismus ist ihrem Wesen nach individualistisch; das treibende Moment des Wirtschaftslebens ist ihr das Streben nach Gewinn, Avorin sie sich von der nachfolgenden sog. klassischen National- ökonomie nicht unterscheidet. Für die deutschen Kameralisten und noch mehr für den litterarischen Vertreter des russischen Merkantilismus, Possoschkoff, steht als treibendes Moment der Volkswirtschaft mit dem Streben nach Gewinn zum mindesten der staatliche Zwang auf einer Linie. „Possoschkoff will den Handel organisieren, die Kaufmannschaft in scharf gesonderte Gruppen, je nach ihrem Handelsumsatz, teilen, jeden einzelnen Kauf- mann übei'wachen und kontrollieren." 3. Die rückständige Stufe von Verkehr und Handel, wie wir sie im Vorhergehenden kennen lernten, weist zurück auf die naturalwirtschaftlichen Zustände des damaligen Rufsland, denen gegenüber die Befehle der Monarchen machtlos waren. Auf derselben Endursache beruht ein weiterer Mangel, an welchem der russische Merkantilismus vorerst scheitern mufste: die unfreie Arbeit. Zwar ist zuzugeben, dafs anders als mit unfreier Arbeit Grofsbetriebe überhaupt nicht aufzubauen ge- wesen wären ; denn, wo immer die breite Masse des Volkes ihr Dasein auf den Boden der geschlossenen Hauswirt- schaft gründet, Avird sie sich nie freiwillig zur Arbeit im gewerblichen oder landwirtschaftlichen Grofsbetrieb verstehen. Insofern ist die unfreie Arbeit eine notwendige Begleit- erscheinung der Naturalwirtschaft. So kamen zu Beginn unseres Jahrhunderts wirkliche Grofsbetriebe mit Hunderten von Arbeitern nur in denjenigen russischen Industriezweigen vor, in denen die unfreie Arbeit stark überwog. ^ Aber wir sahen oben , dafs die unfreie Arbeit sich als unvereinbar erwies mit dem technischen Fortschritt, ins- besondere dem Übergang von der Manufaktur des A'origen Jahrhunderts zur neuzeitigen Fabrik und Maschine. So haben 'gegen Mitte unseres Jahrhunderts wiederholt russische Fabrikanten um Befreiung ihrer Possessionsbauern petitioniert ; ^ Vergl. StruA'e, Kritische Bemerkungen. St. Petersburg 1894. S. 88. Tugan-BaraiiOAvski a. a. 0. S. 86. — 48 — sie hofften nicht nur auf dem Wege des freien Arbeitsver- trages sich eine leistungsfähigere Arbeit schaffen zu können, sondern auch der Verpflichtung ledig zu werden, jene Possessions- bauern zu beschäftigen, was die Einführung arbeitsparen- der Maschinen hinderte — eine Wirkung des „Rechtes auf Arbeit." Nicht minder dem technischen Fortschritt feindlich wirkte die Unfreiheit der Fabrikanten gegenüber dem Staat. Bei den Possessionsfabriken erforderte jede Veränderung der Pro- duktion die Genehmigung der Oberbehörde. Aber die Akten durchwanderten damals äufserst langsam die riesigen Ent- fernungen des Reichs, den büreaukratischen Aufbau der Be- hörden. Jahre vergingen, bis Erlaubnis oder Verbot der Er- neuerung zurückkam. Auch diese Zustände waren nur mög- lich, so lange die Industrie lediglich der naturalwirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung des Fiskus diente. — Dafs der osteuropäische Merkantilismus nicht im Stande war, durch staatlichen Zwang die Naturalwirtschaft zu überwinden, darauf beruht in letzter Linie sein Mifserfolg. Hierauf beruht es ferner, dafs in Preufsen wie in Rufsland der Merkantilismus erst in der Gegenwart eine Renaissance feiern sollte — zu einer Zeit, da auch in Mittel- und Osteuropa die inneren Bedingungen für Massenhandel und Geldwii'tschaft auftauchten. Welches waren diese Bedingungen für Rufsland? Den Anstofs zum wirtschaftlichen Fortschritt gab seit den ersten Jahr- zehnten unseres Jahrhunderts der steigende Verkehr. Daneben war es abermals die Notwendigkeit, der militärischen Technik des Westens ein Pari zu bieten. Selten hat ein Krieg so sehr als Kulturträger gewirkt, wie der Krimkrieg; denn er machte die Eisenbahnen zur strategischen Notwendigkeit, gegen welche sich die konservative Regierung des Kaisers Nicolaus lange gesträubt hatte, weil sie „die Unbeständigkeit des Geistes unserer Epoche" vergröfserten. (Worte Kankrins.) Die Nachbar- schaft des technisch fortgeschrittenen Westens und militärisch- auswärtige Gesichtspunkte zwangen abermals und zwingen heute den Staat zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Fortschritts - 49 — in der Kiehtung auf den „Kapitalismus".' Mit dem Eisen- bahnbau hielt Tausch und Geldwirtschaft Einzug in Rufsland. Dieser gewaltige Umschwung fand seinen Ausdruck in dem Reformwerk Alexanders IL Die Bedingungen für eine mo- derne Grofsindustrie waren erst gelegt, als der Bau der Eisen- bahnen an Stelle von Monopolpreisen die Konkurrenz setzte. damit den technischen Fortschritt erzwang und Märkte er- öffnete, als die Schaffung einer von der Verwaltung un- abhängigen Civiljustiz für die rechtliche Sicherung des gewaltig um sich greifenden Verkehrs sorgte. Eine andere Folge der beginnenden Geld wir tschaft war die Befreiung der Bauern. Indem der Bauer in die Lage kam, Getreide zu verkaufen, erhielt er bar Geld. Damit Avurde dem Adel ermöglicht, die Leistungen seiner Leibeigenen in kapitalisierte Ablindungssummen zu verwandeln. Zum erstenmal erschien in der russischen Gesellschaft durch die Ausgabe der verkäuflichen Ablösungsscheine eine grofse Menge flüssigen Kapitals. Eisenbahn-, Bank- und Industrieunter- nehmungen schössen aus der Erde. Zudem wurde der Adel — zeitweise Avenigstens — ein kaufkräftiger Abnehmer von Industrieprodukten ; mit zunehmender Übersiedelung nach den Städten legte er seine naturalwirtschaftlichen Gewohn- heiten ab. Sodann schuf das Emancipationswerk die freie Arbeit. In der freien Arbeit aber gewann die Industrie erst die Grundlage, ohne welche die Anwendung komplizierter und wertvoller Maschinen nicht möglich ist. Mit Recht datiert Mendelejeff den Beginn der modernen Grofsindustrie von dem Reformwerk des Zar-Befreiers^. Die Bemühungen Peters um die Industrie trugen nun- mehr ihre Früchte. Wir sahen oben, wie sehr dem soeben ^ Vergl. Striive, „Kritische Bemerkungen zur ökonomischen Ent- wicklung Eufslands". Petersburg 1894. S. 277. - Vergl. Überblick über die Entstehung der russischen Industrie. Ausgabe des Departements für Handel und Manufakturen für die Aus- stellung von Chicago. Derselben Ansicht ist Erisman a. a. 0. S. 35. V. Schulze-Gaevernitz, Stvidien a. Rufsl. 4 — 50 — befreiten Bauern die Fabrikarbeit widerstand. Soweit er mit Land ausgestattet war, floh er von den Fabriken auf das Land. Nur allmählich unter dem Druck der Bevölkerungs- zunahme wäre er im Laufe der Jahrzehnte zur gewerblichen Arbeit zurückgekehrt. Der russische Merkantilismus aber hatte eine vom Lande getrennte Arbeiterklasse geschaffen, welche bei der Bauernbefreiung zwar befreit wurde, aber ohne Landausstattung ^. Sie war von vornherein zur Fabrik- arbeit gezwungen und bildete die Grundlage der neu- entstehenden Klasse von freien Industriearbeitern. Auch hier liegt eine Ähnlichkeit mit dem preufsischen Merkantilismus vor, dessen wichtigster Erfolg darin bestand, insbesondere in Berlin und Schlesien eine zur gewerblichen Arbeit bereite Bevölkerung geschaffen zu haben. Ihrer konnte sich die auf- tretende Grofsindustrie als Arbeitermaterials bedienen, nach- dem die anderen Bedingungen geschaffen waren ^. Erst in neuester Zeit gelang es einigen Industrien, auf russischem Boden feste und zukunftsvolle Wurzel zu schlagen. Merkwürdigerweise aber waren es keineswegs die einstigen Schofskinder des Merkantilismus. Die B a u m w o 1 1 i n d u s t r i e 1 .So mit Recht Tugau-Baranowski a. a. 0. S. 48: „Die ersten Fabriken erwiesen sich als technische Schulen für den russischen Arbeiter." - Eine ähnliche Auffassung findet sich bei Schmoller hinsichtlich Preufsens, Umrisse und Untersuchungen. 1898. S. 559: „Friedrich d. Gr. hat etwa 2 Millionen Thaler im Laufe seiner Regierung für die Seiden- industrie ausgegeben, wohl mehr als für irgend eine andere Industrie." „Ich sage, die 2 Millionen Thaler sind als Schulaufwendung, als ein Erziehungsgeld anzusehen, das Berlin und dem Osten die Kräfte und Fertigkeiten, die Sitten und Gewohnheiten einimpfen half, ohne welche ein Industriestaat nicht bestehen kann." „Es ist charakteristisch, dafs zuerst Franzosen und Juden unter den Verlegern, überwiegend Lyoner, Italiener und andere Fremde unter den Arbeitern auftreten, während 1800 in beiden Klassen die Einheimischen vorherrschen." „Das Wich- tigste aber war, dafs Berlin im Jahre 1800 eine technisch hochstehende Arbeiterschaft und ein fähiges, kapitalkräftiges industrielles Unter- nehmertum hatte, und diese Thatsache blieb, ob die Seidenindustrie fortdauerte oder nicht, das grofse Resultat der Friedericianischen Politik" . — 51 — war für den Staat, weil für die Kriegsverwaltung- ohne Nutzen, weder Gegenstand des Interesses noch der Fürsorge; trotzdem überholte sie weit die staatlieh gepflegte Tuch- und Leinenfabrikation. Da die Baumwollindustrie heute die leitende Industrie Rufslands ist, da sie von allen Grofsindustrien auf das volkswirtschaftliche Ganze von gröfstem Einflufs ist, da ihre Vertreter in der Handelspolitik des Reiches stets am meisten Berücksichtigung seitens der Regierung erfahren, so ist der mittelrussischen Baumwollindustrie ein besonderer Teil dieses Werkes gewidmet. Zweites Kapitel. Die mittelrussische Baumwollindustrie. Statt einer allgemein gehaltenen Darstellung der russischen Industrieentwicklung seit den Reformen Alexanders II. scheint es mir richtiger, ein Einzelbeispiel herauszugreifen, welches dem Leser konkrete Vorstellungen vermittelt. Dieser Weg empfiehlt sich um so mehr, als eine allgemeine Darstellung auf einem vielfach mifs verständlichen und in seiner Zuver- lässigkeit zweifelhaften statistischen Material beruhen müfste, aus dem entgegengesetzte Schlüsse gezogen werden könnten und gezogen worden sind. An allgemeiner Bedeutung ist es selbstverständlich un- möglich, die russische Baumwollindustrie mit der Weltindustrie Lancashires zu vergleichen. Dagegen verglichen mit den übrigen Industrien des Zarenreiches besitzt die Baumwoll- industrie für Rufsland eine ähnliche Bedeutung, wie die In- dustrie Lancashires in den mittleren Jahrzehnten unseres Jahr- hunderts für England. Zudem ist ihre Entwicklung be- zeichnender als alles andere für den neuerlichen Umschwung der russischen Volkswirtschaft. Leroy-Beaulieu und Mackenzie Wallace erwähnen sie kaum ^ ; eine Beurteilung der russischen Volkswirtschaft um den Ausgang des 19. Jahrhunderts mufs dagegen auf sie einen Hauptnachdruck legen. 1 Die üblichsten allgemeinen Werke über Rufsland: Anatole Leroy-Beaulieu, L'empire des Tsars et les Russes. Mackenzie Wallace, Russia. — 53 — Die Bedeutung- der Baumwollindustrie erhellt bereits aus folgenden Ziffern^: In den 80er Jahren waren 85 "o aller Fabrikarbeiter des industriellen Moskauer Gouvernements in der Textilindustrie und von diesen wieder 60*^/0, bezw. unter Zurechnung von Druckerei und Färberei 70 '^lo in der Baum- wollindustrie beschäftigt. Als die leitende russische Industrie erweist sich die Baumwollindustrie auch dadurch, dafs das Baumwollgeschäft für den Ausfall der Nischnier Messe seit den siebziger Jahren entscheidend ist. Im Frühjahr 1893 bereiste ich den Moskau- Wladimirschen Industriebezirk. Das Ergebnis dieser Studienreise war ein Aufsatz in Schmollers Jahrbuch 1805, welcher gegenwärtigem Kapitel mit Veränderungen zu Grunde liegt. I. Der natürliche und volkswirtschaftliche Hintergrund^. Nirgends ist auf reichem, landwirtschaftlichem Boden eine Industrie naturwüchsig ins Leben getreten; denn nur ge- zwungen durch die Kargheit der Natur wandte sich der Mensch von der Landwirtschaft zum Gewerbe, So waren in Deutschland und England gebirgige, ärmliche Gegenden die ursprünglichen Sitze der Industrie. Ahnlich in Rufsland: in ihrem Oberlauf erscheint die Wolga als die Nährmutter von Handel und Gewerbe; beide aber linden ihr jähes Ende dort, wo die „schwarze Erde" hinter Nischni an die Wolga hinan- sti'eift. Von Kasan an versenkt sich der Strom in jene unabsehbaren Ebenen des Landbaues, deren Bevölkerung noch heute jeder gewerblichen Thätigkeit abgeneigt ist. Zwischen dem oberen Lauf der Wolga und der Oka gelegen , umfafst der mittel russische Industrie- bezirk das heutige Gouvernement Wladimir und den öst- lichen Teil des Moskauer Gouvernements. Im Süden wird er begrenzt durch die „schwarze Erde". Das Metallgewerbe ^ Vergl. Sammlung statistischer Mitteilungen über das Moskauer Gouvernement. Abteilung der Gesundheitsstatistik. Band IV, Teil I, S. 20, 21, 27. 2 Vergleiche hierzu die Karte auf Seite 54. h 1$ , ^Vl -^ n \ i 1 ^ J 1 y\ 1 ** "^ \ 1 1 5 1 s fil C ^ -> k """^ 1 \ ■^1^ ^ ''S ■ V ^ > > r^-^ -% y "Ot V,/ V ) ^v *> \ 1 \ *-*• ? iT^ ^*'*^. \ \ .» ^ J !^ ^ ^ ^*V ) ^ V ^ r 1 ^ 1 1 1 1 1 ^ > r 5 \ v. <; ^ 1 1 1 S t v\i = 1 » \ y^, ^ 1 1 1 'S 1 J\ X / / ^ :^)' -"^. ^-r vr^ > N. ^— » ' / i ^^ (- ^-^ÄV \ ^— "7 1 , 1 < 1 J / "3 Mi ^ ^ -_ Y Sk^ v."^-" r^ } ^^^ 1 4^i\ 41^ it ' ^1 / / / / ^ ^ V 1&\ 3 jl [ — j — / / / 11^ r %- ^5^ ^ - v; ""^x V ^ ^\ ^^. "^ V <; ,a ^ ' ^ ^.— ^ ^ ^ ^"■z \ Vw. \ / • f 1 \ / >> -/ \ '- s — 55 — Tulas , der am meisten vorgeschobene Posten des mittel- russisehen Indiistriebezirkes, liegt immerhin erst in den Grenz- gebieten der schwarzen Erde. Dagegen ist die weit im Süden angesiedelte Montanindustrie des Dnjepr-Donezbeckens aller- modernsten Ursprungs; ausländisches Kapital hat erst in den achtziger Jahren ausländische Vorarbeiter und nordrussische Arbeiter in die bis dahin durchaus ungewerbliche Steppe des Südens gerufen. Im Norden wird der mittelrussische Industriebezirk be- grenzt durch die unermefslichen Wälder, welche sich vom nördlichen Ufer der Wolga bis zu der polaren Tundra und den Grenzen der Vegetation erstrecken. Allzu grofse Kargheit der Natur und Strenge des Klimas verhindern hier den wirtschaftlichen Aufschwung; noch heute lebt hier der Mensch der ursprünglichen Beschäftigung eines Fischer- und Jäger- lebens. Vor Zeiten gehörte der Industriebezirk selber dem Waldgebiete an ; noch gegenwärtig sind 32 "o seiner (Ober- fläche mit Wald bedeckt. Ja, der Wald war für das Auf- kommen der modernen Fabrikbetriebe notwendige Voraus- setzung; er lieferte, beim Mangel an Steinkohle, lange Zeit die Heizung der Dampfkessel ; erst heute wird das Holz durch einen weit intensiveren Brennstoff, das kaspische Naphtha, er- setzt; aus den undichten Schiffen aussickernd, überdeckt es die Wolga vielfach mit einer schillernden Petroleumhaut. Als Übergang zwischen der kulturfeindlichen Armut des Nordens und der landwirtschaftlichen Fülle des Südens wies der mittelrussische Bezirk seine Bevölkerung von vornherein auf das Gewerbe. Aber das Gewerbe, soweit es nicht für den Eigenverbrauch, sondern für den Verkauf arbeitet, er- fordert den Verkehr, und dieser ist in unentwickelten Ver- hältnissen vorwiegend Wasserverkehr ^ Auch in dieser Hin- sicht war der geschilderte Bezirk durch seine natürliche Lage ' Auch für das deutsche Mittelalter hat bekanntlich der Wasser- verkehr die weit überwiegende Bedeutung, vergl. z. B. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Leipzig l!^9i"). P>;uid II, S. 249. — 56 — aufserordentlich begünstigt. Im Norden begrenzt von der Wolga, im Süden von der Oka, durchschnitten von schiff- baren Nebenflüssen, steht der Industriebezirk in Verbindung mit den entferntesten Teilen des Reiches; seine Lage ist in dieser Hinsicht wirklich central. Die Bedeutung der Wolga als Wasserstrafse ist uralt, schon deswegen , weil sie den Getreide ausführenden Süden mit dem Getreide einführenden Norden verbindet. Dort wo der Thalverkehr dem Bergverkehr etwa gleichkommt, zwischen Nischni und Ribinsk ist uoch heute die belebteste Strecke des ganzen Stromes ^ Seit alters wurden hier Getreide gegen Holz, orientalische gegen europäische Ware getauscht; und gerade dieser Strecke des Stromlaufes schmiegt sich im Süden der Industriebezirk an. Von ihm aus weist die Wolgastrafse nach Süden bis zu den Küsten Persiens, den Naphthaquellen Bakus und dem Aus- gangspunkte der uralten indischen Karawanenstrafse, jetzt der transkaspischen Eisenbahn. Im Osten setzt die Wolga sich fort durch das Stromgebiet der Kama bis zu den Eisenwerken des Ural; da der Ural bekanntlich kein Grenzgebirge ist, so bedarf es nur einer geringen Land-, jetzt Eisenbahnverbindung mit den Stromgebieten Sibiriens. Nach Norden und Westen breitet sich ein plattes, wasser- und seenreiches Land. Mit geringer Mühe liefs sich hier ein Kanalsystem anlegen, welches von Ribinsk abzweigend, die Wolga mit dem Baltischen und dem Weifsen Meere verbindet; auf diesem Wege vollzieht sich noch heute ein Teil der Getreideversorgung Petersburgs und der Getreideausfuhr Rufslands über die Baltische See. Der Industriebezirk liegt ferner, wie die Karte zeigt, zwischen den beiden städtischen Mittelpunkten, welchen vor allen andern eine allgemein russische Bedeutung zugeschrieben werden mufs : zwischen Moskau und Nischni-Nowgorod. 1. Moskau. Die natürlichen Vorzüge seiner Lage er- hoben das Wolga-Okabecken vor Jahrhunderten zur politischen ^ So Besobrasoff, Economic nationale de la Russie. St. Peters- bourg 1883. Band I, S. 86. - 57 — Vorherrschaft in Rufsland. Auch später, nachdem die Residenz an die baltische Küste gerückt war, blieb dieses Gebiet doch der unbestrittene Mittelpunkt des Zarenreiches. In früher Vorzeit vollzog sich die Wolga hinunter die Einwanderung der Slaven, welche die breite Masse finnischer Ureinwohner langsam aufsogen — ein Prozefs, der in etwas östlicher gelegenen Gegenden auch heute noch nicht beendigt ist. Zwischen Wolga und Oka, in dem späteren Industrie- bezirk, entstand durch diese Vermischung mit finnischen Stämmen der grofsrussische Typus, welcher später seinen Stempel der russischen Nation überhaupt aufdrückte. Kieff, die Mutter aller russischen Städte, unterlag, inmitten der offenen Ebenen des Südens gelegen, den Angriffen der Feinde von Ost und West. Demgegenüber bildeten die Wälder des Nordens einen Schutz für das junge Reich von Susdal und Wladimir, von dem später die politische Einigung der Nation ausging. Die Macht seiner Fürsten beruhte schon damals darauf, dafs sie in der Lage [waren , der Grofsmacht des Nordens, der Republik Nowgorod, die Getreidezufuhr ab- zuschneiden^; so erkannten 1170 die Nowgoroder, obgleich sie den Fürsten von Susdal besiegt hatten, „aus freien Stücken", wie der Chronist sagt, d. h. der Getreidezufuhr wegen, die Oberherrschaft Susdals an^. Noch heute erinnern uralte Kirchen und halbverfallene Kreml den Besucher an die einstige Gröfse von Susdal und Wladimir^. Erbe beider Städte wurde Moskau, wohin der Herrscher- sitz 1328 verlegt wurde. Als Generalsteuereinnehmer der tatarischen Eroberer stiegen die Moskauer Grofsfürsten ^ Vergl. Besobrasoff, Economie nationale de^la ßussie. St. Peters- bourg 1883. Band I, S. 60. 2 Vergl. z. B. R a m b a u d , Histoire de la Russie. Paris 1878. S. 92. 3 Nach den Angaben von Baedekers Rufsland entstammen die Altertümer Wladimirs, insbesondere die Uspjenski-Kathedrale und die goldene Pforte dem 12. Jahrhundert; sie werden an Alter nur über- troffen durch die Sophienkathedrale in Kieff aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts. — 58 — allmählich zur Alleinherrschatt in Rufsland auf. Nach der Be- freiung von den Tataren 1480 besiegelte die Zarenwürde 1547 den Anspruch Moskaus auf die Nachfolge Konstantinopels. Haxthausen , dessen Reisewerk noch heute , trotz Leroy- Beaulieu und Mackenzie Wallace lesenswert ist, giebt eine an- schauliche Schilderung von Moskau zur Zeit des Brandes 1812. Diese Schilderung ist lehrreich für das, was unter jenen Städten der Vorzeit vorzustellen ist, deren Einwohnerzahl wir an- staunen, ohne dafs wir eine geldwirtschaftliche Grundlage an- nehmen können. Moskau zählte damals bereits gegen 250 000 Einwohner; aber wie verschieden waren ihre Lebensbedingungen von denen des gleichzeitigen Paris oder London. Von den 8300 bebauten Grundstücken gehörten 6400 dem Adel. In- mitten von Hof und Garten erhob sich das Herrenhaus , aus Holz gebaut, meist nur eine Etage hoch, im Innern reich, ja öfters luxuriös ausgestattet. Als eines der wenigen noch er- haltenen Beispiele dieser Art, die den Brand überdauerten, lernte ich das Haus des Fürsten Gagarin kennen. In den Nebengebäuden lebte eine ungeheure Masse leibeigener Diener. Haxthausen versichert, dafs ihre Zahl sich in einzelnen Fällen auf 1000 und mehr belaufen habe. Ihr Unterhalt kostete nichts, denn sie lebten von den Naturalabgaben der unfreien Bauern. Ahnlich mag einst der Grofse im kaiser- lichen Rom gelebt haben. Um die Wende des Jahrhunderts führten langwierige Kriege den Adel in Massen nach Westeuropa und machten ihn mit europäischen Luxusbedürfnissen bekannt. Auch in dieser Hinsicht wirkten die von der französischen Revolution ausgehenden Wellen nivellierend. Das alte Bojarendasein schwand; neben der Quantität begann man die Qualität der Lebensgenüsse zu schätzen. Hierzu brauchte man Bargeld, womit sich bereits die Befreiung der Bauern vorbereitete. . An Stelle des altrussischen Kaufmanns, welcher, im Kaftan gekleidet, zäh an den Gewohnheiten der Väter hielt, trat der europäische Importeur und allmählich der Industrielle — bürgerliche Elemente, welche dem Adel die Wage hielten, ja - 59 — an Reichtum ihn heute weit überholt haben. Hier, wie so oft in der Wirtschaftsgeschichte, waren Ausländer die Träger dieses Fortschrittes. Was die Hugenotten für Berlin, das waren die Deutschen für Moskau, wie denn noch heute die deutsche Sprache an der Moskauer Börse fortlebt. Trotz der unter Cancrin (Finanzminister 1823 — 44) herr- schenden , nahezu prohibitiven Zollsätze war in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die grofsgcAverbliche Entwicklung Rufslands nur eine langsame. Erst die Reformen Alexanders II. gaben die Möglichkeit einer selbständigen Industrieentwicklung" gröfseren Stiles. Gerade in Moskau kam die Bauernbefreiung zu besonderer Wirkung, Hier nämlich, am Sitze zahlreicher adliger Hofhaltungen, befand sich eine Menge von Leibeigenen, welche bisher zu persönlichen Diensten des Herrn verwandt worden waren, sog. „Hofleute". Diese wurden ohne Land befreit. Auch im übrigen waren wegen der vorhandenen Be- völkerungsdichte hier im Mittelpunkte des Reiches die Land- loose der befreiten Bauern schmal bemessen. Aus beiden Umständen folgte der Zwang zu gewerblicher Beschäftigung für einen starken Bruchteil der Bevölkerung. Moskau wurde unter Alexander IL ferner Mittelpunkt des Eisenbahnnetzes. Mit den Eisenbahnlinien strahlen Moskaus Sprache und Geschmack nach allen Seiten ; Avie sie beide Rufsland eroberten, so auch die ihnen folgenden Moskauer Industrieprodukte. Jede dichtere Maschung dieses Eisennetzes im Innern^, jedes tiefere Vorrücken der Lokomotive in den kontinentalen Block Asiens, jedes Pud Getreide, welches auf diesen Schienen nach Westeuropa wandert erweitert das Ab- satzgebiet der Moskauer Industrie. Noch streitet die russische „Intelligenz", ob Kufsland die kapitalistische Entwicklung des Westens mitmachen „solle". Demgegenüber hatte ich nirgends so sehr wie auf Moskauer ^ Noch heute hemmt ein zeitiges Frühjahr und liie damit ver- bundene Grruudlosigkeit der Laudsti-afsen die Abhaltunjj,- der ländlichen Kleinmärkte und damit den Absatz von Industrieprodukten. Vergl. Finanz böte, 5. Februar 189-5, S. 261. — 60 — Pflaster das Gefühl, mich auf dem Boden einer der frucht- barsten Brutstätten des modernen Kapitalismus zu befinden. Ähnlich mufs Manchester gewesen sein, als es zu Beginn des Jahrhunderts im Alleinbesitze der modernen Technik eine wehr- lose Welt eroberte. So erobert heute Moskau hinter den hohen Mauern des russischen Zolltarifs breite, durchaus ungewerbliche Märkte. Der Kapitalismus, in Westeuropa dem scharfen Luft- hauche der Konkurrenz ausgesetzt, entfaltet sich auf Moskauer Boden üppig und treibhausmäfsig. Moskau wird damit der wirtschaftliche Mittelpunkt Rufslands ^ 2. Nischni-Nowgorod. Bei der geringen Dichte und Kauf- kraft der Bevölkerung war der Handel in Rufsland bis vor kurzem vorwiegend Mefs- und Markthandel. Wie in anderen Beziehungen, gewähren die russischen Zustände auch in dieser Hinsicht Einblick in Verhältnisse, die für Westeuropa den dunkelsten Perioden der Wirtschaftsgeschichte angehören, — in die Zeit vor Entstehung der Städte. Die Kaufleute, von welchen die Bauern die wenigen Waren ihres Bedarfes auf den ländlichen Kleinmessen kauften, bildeten noch um die Mitte unseres Jahrhunderts eine wandernde Bevölkerungsklasse -. Sie verproviantierten sich auf den grofsen Jahrmärkten, auf welchen die Grofskaufleute und die mit dem Ausland in Be- ziehung stehenden Importeure erschienen. Diese Jahrmärkte folgten der Zeit nach in der Weise aufeinander, dafs die un- verkauften Waren von einem Markte auf den nächsten geschafft ^ Demgegenüber ist die Bedeutung von Petersburg als Einfuhr- hafen und Fabrikstadt zurückgegangen. Nach „Nicolai on", Ein „Abrifs unserer Volkswirtschaft seit der Reform", Petersburg 1893, S. 86/87, verlor Petersburg in den 10 Jahren von 1880 — 90 von seinem Absätze nach Moskau 58%, nach der Provinz 4%. Das genannte Jahrzehnt brachte dabei eine aufserordentliche Entwicklung von Handel und Industrie im allgemeinen. Nur als Bankjilatz übertrifft Petersburg noch heute Moskau. 2 Bis 1863 waren stehende Läden auf dem platten Lande den Stadtleuten verboten. Vergl. Samoilo witsch und Bunjakowski, Der innere Handel Rufslands und seine Jahrmärkte, in der offiziellen, für die Ausstellung zu Chicago hergestellten Ausgabe „Fabrikindustrie und Handel Rufslands", 1893, S. 239. 1 — 61 — werden konnten. Ähnlich wie einst die Messen der Champagne ein in sich geschlossenes System bildeten \ so standen in Rufsland bis in die neueste Zeit die grofsrussischen und die kleinrussischen Messen nebeneinander. In sich geschlossen, hatten beide gegenseitig wenig Beziehungen. Nach dem Be- richte des Ivan Aksakoff über die Jahrmärkte der Ukraine hatten viele Kaufleute, welche auf den Messen Kleinrufslands verkauften, im Laufe des Jahres ihre Waren an zwanzig Mal ein- und auszupacken, um im folgenden Jahre denselben Kreis- lauf von neuem anzutreten. Auch diese gröfseren Messen waren keineswegs notwendig mit Städten verbunden : Irbit, auf dessen Messen noch gegen- wärtig an 100000 Personen zusammenströmen, zählt nicht mehr als 5000 ständige Einwohner; der älteste der klein- russischen Märkte bei Kursk lag in einer als „Einöde" be- zeichneten Gegend. Klöster vielmehr scheinen Anziehungs- punkte für den Mefsverkehr gebildet zu haben, wie auch in Westeuropa Reliquienbesitz oft zum Mefsort emporhob^. Von allen Messen war und ist die Messe von N i s c h n i Now- gorod die wichtigste. Diese Stadt bildet den östlichen End- punkt des Industriebezirks und liegt in einer für den Wasser- verkehr aufserordentlich günstigen Lage, an dem Zusammen- flufs von Wolga und Oka. Nach diesem Punkt siedelt vom 15. Juli bis 10. September jedes Jahres der Moskauer Handel über. Von hier aus vollzieht sich die Verteilung der Waren noch heute für den gröfsten Teil Grofsrufslands und des asiati- schen Rufsland. Von Eröffnung der Schiffahrt im Frühjahr bis zu Beginn der Messe können fast aus allen Teilen des Reiches die Waren nach Nischni gebracht sein, und noch ist es Zeit, dafs die Käufer sie abermals verschiffen, ehe die Ströme zufrieren. Dr. Kosegarten ^, welcher 1843 die Messe besuchte, giebt ^ Verl. Goldschmidt, Universalgeschichte des Handelsrechts. Handbuch des Handelsrechts, 3. Aufl., Band I, Abt. I, 1891, S. 224 ff. -Lamp recht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter II S. 257/258. ' Sein Bericht findet sich bei Haxthausen IJand 1, S. 389 ff. der französischen Ausgabe. — 62 — ein interessantes Warenverzeichnis. Vorwiegend nennt er Pro- dukte des bäiierlichen Hausfleifses: grobe Textilstoflfe, Rcäder, kleine Metallwaren, Heiligenbilder, Ritualschriften, Edel- inctallarbeiten, Schuhe u. s. w. Wie überall, wo der Absatz in die Ferne den Produzen- ten vom Markte trennt, so lag auch hier der Übergang des bäuerlichen Hausfleifses zur kapitalistisch organisierten Haus- industrie nahei. j^ dieser Richtung liegt z. B., was Haxt- hausen von einem Do'-fe erzählt, das sich ausschliefslich mit Schuhmacherei beschäftigte und seine Waren auf der Messe zu Nischni vertrieb. Er berichtet von einzelnen Bauern, welche 20000 bis 50000 Rubel jährlicher Einnahme hatten. Ich erkläre dies so: bäuerliche Hausgenossenschaften, etwa solche mit grofser Personenzahl und intelligentem Oberhaupt, senden einzelne ihrer Mitglieder zum Absatz in die Ferne. Sehr leicht werden diese aus- gesandten Händler auf den von ihnen besuchten Messen neben den Erzeugnissen des eigenen Hauses auch die ihrer ärmeren und beschränkteren Nachbarn vertreiben. Dabei verheimlichen sie vielleicht den Käufern Wohnort und Persönlichkeit des Produzenten , wenn überhaupt die Möglichkeit einer Ver- bindung zwischen beiden vorliegt. Sie machen sich so beiden Seiten unentbehrlich und begründen damit über ihre Dorf- genossen ein ökonomisches Herrschaftsverhältnis 2. Neben den Erzeugnissen des bäuerlichen, meist nordrussi- schen Hausfleifses traf Kosegarten 1843 auf der Nischnier Messe gewisse wertvollere Naturprodukte des Südens und Ostens, z. B. tatarische Schafpelze für Winterkleidung, sibiri- sches Pelzwerk, Baumwolle, edle Hölzer aus dem Süden und vor allem den T h e e , damals die leitende Ware der Messe. Der Abschlufs des Theehandels war für den Geschäftsgang der Messe überhaupt entscheidend, direkt zunächst für den Handel mit Wollstoffen, gegen welche in Kiachta die Chinesen den 1 Von Bü eh er ^primäre Hausindustrie" genannt. Vergl. Art. Ge- werbe im Handwörterbuch der Staatswisseuschaften III S. 942. 2 Vergl. Haxthausen a. a. O. S. 288. Hesobrasoff a. a. O. s. 1.55. — 68 — Thee austauschten. Der Theehandel befand sicli , entgegen dem Handel in den oben genannten mehr demokratischen Waren, in wenigen Händen. Das chinesische Viertel der Messe, nicht etwa von Chinesen, sondern von den mit Kiachta in Verbindung stehenden Grofskaufleuten und Kommissionären bevölkert, war der vornehmste Teil der Messe; ähnlich heifst noch heute die Altstadt von Moskau Chinesenstadt (Kitaigorod) — ein Beweis dafür, wie der Grofshandel zunächst anknüpft an die wei'tvollen, wenig voluminösen Naturprodukte des fernen Auslandes. Ein ähnliches Objekt, wenn auch von weit geringerer Bedeutung, als der Thee. war der westeuropäische Wein. Von fremden Industrieprodukten bezeugt Kosegarten aus- drücklich persische und bucharische Baumwollgewebe, von europäischen Waren die „Ladenhüter" Westeuropas, die auf verschiedenen Etappen bis in das Innere Rufslands vorge- drungen waren. Als wichtigste Ware einheimischer Grofsbetriebe, und zwar der Zeit entsprechend grundherrlicher Grofsbetriebe, traten damals in Nischni die Metalle auf, insbesondere Eisen und Kupfer; sie wurden aus den Metallwerken des Ural die Kama im Frühjahr zur Messe heruntergeschwemmt. Auch das Eisen befand sich, bei der Verschuldung der Grundherren, in der Hand von wenigen Grofskaufleuten. Drei oder vier Kauf- mannsfamilien monopolisierten nach Besobrasoff Jahrzehnte lang den ganzen innerrussischen EisenhandeP. Diese Übersicht ist bezeichnend für die Zustände des Nicolaischen Rufsland. Noch herrschte der russisch-asiatische Fernhandel vor, ein Zeichen naturalwirtschaftlicher Zustände des russischen Volkes. Insbesondere war die mittelrussische Baumwollindustrie — ein Gewerbe, das den heimischen Massenabsatz zum Zweck hat — noch nicht auf dem Plane erschienen, Garne wie Gewebe wurden noch aus den transkaspischen Ländern nach Rufsland eingeführt, ähnlich 1 ßesobrasoff, Econornie iiationalo de la Russio. St. INHcrs- bourg 1883. Rand I, S. 204. — 64 — wie Indien im vorigen Jahrhundert noch Baumwollwaren nach England versandte. Die Einfuhr von Baumwollwaren aus Asien nach Rulsland stieg sogar noch in den Jahren von 1824 — 1852 beträchtlich*; die Einfuhr asiatischen, selbstver- ständlich handgesponnenen Garnes ging erst in den 60 er Jahren zurück — alles Beweise der geringen Bedeutung der eigenen fabrikmäfsigen Baumwollindustrie. Die Garneinfuhr aus Asien, d. h. aus Chiwa, Buchara und Persien betrug: 1854 43 985 Pud im Werte von 336 020 Rubelt 1860 14 478 - - - - 86 710 Diese Ziffern weisen auf den Umschwung hin, der sich um jene Zeit in der russischen Volkswirtschaft vollzog und den Charakter der Nischnier Messe grundlegend umgestaltete. Die breiten Massen Rufslands begannen zu jener Zeit in den Besitz einer Handelsware grofsen Stiles zu gelangen : ihr Getreide wurde verkäuflich. Damit veränderten sich, wenn auch allmählich, die naturalwirtschaftlichen Gewohnheiten des Volkes. Der tiefste Grund dieser Veränderung war das Getreideeinfuhrbedürfnis, also die städtisch -gewerbliche Ent- wicklung Westeuropas. Beschleunigt wurde diese Veränderung durch die Reformen Alexanders II., vor allem den Eisenbahn- bau. Die gesetzlichen Beschränkungen , denen bisher die Kramläden auf dem Lande unterworfen gewesen waren, fielen. Gewifs wirkte in der angedeuteten Richtung auch die Auf- hebung der Leibeigenschaft. Früher verbarg der Bauer etwaige Ersparnisse, da er durch Ausgaben auf Kleidung und Bequemlichkeit die Habgier des Herrn erweckte. In auffallen- der Weise vermehrte sich gerade in den Jahren nach der Bauernbefreiung auf den Jahrmärkten der Absatz der für das ^ Vergl. Seh er er, Die Baumwollindustrie, in der offiziellen Aus- gabe über die verschiedenen Zweige der Industrie Rufslands, St. Peters- burg 1863, Band II, S. 486. ^ Vergl. Lumley, Keports by her Majestys Secretai'ies of Eni- bassy on Manufactures and Commerce 1865, Nr. 8, S. 102. — 65 - Volk bestimmten Waren. Der befreite Bauer kleidete sich besser und in lichteren Farben'. Im Jahre 1895 habe ich in einem grofsen Dorfe des Gouvernements Woronesch den Inhalt des Dorf'ladens ge- mustert, um einen Einblick in die gegenwärtigen Verbrauchs- verhältnisse des Bauern zu gewinnen. Bei weitem überwogen die Produkte der Baumwollindustrie. Begierig greift das Öchmuckbedürfnis der Frau zu den leuchtenden Farben des Kattundruckes , welcher die unansehnlicheren Produkte des eigenen Hausfleifses verdrängt. Maschinengarn wurde feilge- halten für die Nähtereien und die oft reichen und künstlichen Stickereien der Frauen. Auch den Männern bot der Laden ein Erzeugnis der Baumwollfabrik ; geradezu typisch für die Bauern ist in vielen Gegenden Rufslands heute das rote Kattunhemd. Da in den Bauernstuben gewöhnlich eine aufser- ordentlich hohe Temperatur herrscht, so können sich beide Geschlechter im Hause auch während des Winters in Baum- wolle kleiden. Neben der Baumwolle spielte in dem besuchten Laden das Erdöl die zweite Rolle, ebenfalls ein Produkt der jüngsten kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung. Aufserdem fand ich zahlreiche eiserne Kleinwaren: die Räder werden jetzt meist mit eisernem Reife , die Pflugschar mit eisernem Rande ver- sehen. Daneben sali ich eiserne Beile, eiserne Töpfe, Nägel u. s. w. Zwar nicht in dem betreffenden Laden , jedoch in der Gegend sah ich eiserne Pflüge, meist deutschen Ur- sprungs, welche teils von Handlungsreisenden südrussischer Einfuhrhäuser, teils von den Beamten der Landschaft unter der bäuerlichen Bevölkerung verbreitet werden. Alles dies deutet auf eine Zunahme der geldwirtschaft- lichen Gewohnheiten des Volkes. Damit ist die Möglichkeit gegeben, vom Mefshandel zum ansässigen Handel überzugehen. Dies ist bereits der Fall in dem dichter besiedelten Klein- ^ Scherei-, Die Baumwollindustrie, in der offiziellen Ausgabe „Überblick über die verschiedenen Zweige der Industrie Eufslands". St. Petersburg 1863, Band II, S. 522. Auch Lumley a. a. O. S. 99. V. Schulze-Gaevernitz, Studien a. Kufsl. 5 — 66 — rufsland, dessen Messen lieute verfallen, dessen Handels- metropole Charkoff gewaltig aufblüht. Die Jahrmarktsteuer, erhoben in fünf Klassen nach der Gröfse des Jahrmarktes von den anreisenden Kaufleuten, zeigt dementsprechend seit 1884 für Kleinrulsland einen Rückgang^ . Dagegen gehört die Bedeutung der Nischnier Messe keines- wegs der Vergangenheit an, vielmehr ist ihr die verkehrswirt- schaftliche Entwicklung der sechziger und siebziger Jahre zu- nächst zu gute gekommen. Ihr geographisches Gebiet deckt noch heute das gesamte Wolgabecken einschliefslich des mittel- russischen Industriebezirkes selbst, sowie das im Norden und Osten dieses Beckens gelegene Gebiet. Im Westen wird es begrenzt durch das Twei'sche Gouvernement, welches kom- merziell bereits von Petersburg abhängt. Das Gebiet der Messe ist also nahezu das gleiche, wie das des bäuerlichen Gemeinde- besitzes — gewifs kein Zufall. Beides vielmehr deutet auf den weniger verkehrswirtschaftlichen Charakter des mittleren und östlichen Rufsland im Vergleich mit dem Norden, Westen und Süden. Aber wenn Nischnis Handel bis in die achtziger Jahre nicht gelitten hat, so hat sich doch der Charakter seiner Messe völlig geändert. Der asiatische Fernhandel, insbesondere der russisch-chinesische Handel, ist zurückgegangen. Der Thee hat die Überlandsroute verlassen; mit der Verbilligung der Seefracht ist an Stelle des Karawanenthees der Cantonthee getreten. Zwar erscheint der Thee noch in Massen auf der Nischnier Messe, aber Nischni empfängt ihn doch nur aus zweiter Hand. Von den Schwarzen Meerhäfen , sowie von Moskaii aus und ohne Vermittlung der Messe vollzieht sich in wachsen- dem Mafse die Versorgung des Landes mit dem allbeliebten Genufsmittel. Der Ausfuhrhandel russischer Gewerbeprodukte, besonders russischer Wollstoffe, nach China ist gänzlich ver- fallen. Seit der Mitte des Jahrhunderts bis in die achtziger ^ Vergl. Samoilowitsch und Bunjakowski a. a. 0. S. 241 u. 250. Beispielsweise ist der Umsatz der CharkofFer Messe von 22V2 Mill. Rubel 1873 auf 15 Millionen in den letzten Jahren gesunken. — 67 — Jahre sank die russische Ausfuhr über Kiachta von 22 Millionen auf kaum V12 Millionen Rubel. Der vornehmlichste Grund für diesen Rückgang liegt wahrscheinlich darin, dafs Rufsfand auf den chinesischen Märkten begann, der Konkurrenz europäischer Fabrikerzeugnisse zu begegnen. Während in Westeuropa die Preise der Gewerbeerzeugnisse allgemein und dauernd zurück- wichen, verhinderte der Hochschutzzoll Rufsland, dieser Ent- wicklung zu folgen. Bei der Sicherheit ihrer Gewinne ent- behrte die russische Industrie jenes Ansporns, welcher in dem Kampf auf offenen Märkten liegte An Stelle des Fernhandels spielt in Nischni der Innen- handel seit den siebziger Jahren die Hauptrolle. Der Moskauer Grofshändler und Fabrikant verkauft hier an die Provinzial- kaufleute, von denen die Versorgung der ländlichen Klein- händler ausgeht. Hier wie überall ging der Fortschritt des Handels hinunter in die Tiefe des Volksganzen , das er einst als internationaler Fernhandel nur oberflächlich be- rührte. Bezeichnenderweise erscheint diejenige Ware, welcher in letzter Linie der ganze Umschwung verdankt wird, und welche heute die wichtigste Rufslands ist, das Getreide, nicht auf der Messe von Nischni. Der Getreidehandel sitzt vielmehr in den Hafenstädten des Schwarzen und Baltischen Meeres , woselbst sich die Preisbildung in engem Anschlufs an die westeuropäischen Börsennotierungen vollzieht.^ Aber trotzdem ist diese Ware aus- schlaggebend für den Gang der Messe. Denn die Ernte und die Getreidepreise sind in Rufsland als einem vorwiegend ^ Über die Schädigung des russischen Ausfulirhandels durch die Lösung des Rubels von seinem .Silbernennwert, welche sich in jenen Jahren vollzog, vergl. Besobrasoff a. a. O. I S. 188 und Appendix in S. 78 ff. Ahnlicher Ansicht ist das Memorandum des deutschen Handelstages 1864, abgedruckt in dem engl. Blaubuche „The present State of the trade between Great Britain and Russia", 1866, S. 134, welches die Kursschwankungen der Schädigung des russischen Ausfuhr- handels bezichtigt. 2 Vergl. ähnlich für Indien Ellstätter, Indiens Silborwährung. Stuttgart 1894. S. 39. 5* — 68 — agraren Lande entscheidend für die Nachfrage nach Industrie- produkten ^ ; von unmittelbarstem Einflufs sind sie insbe- sondere für die Baumwollindustrie, deren Vertreter sich irriger- weise für unabhängig von Europa halten. Je mehr Europa Getreide kauft, desto gröfser ist der Absatz von Kattunen zu Nischni. Was in der Mitte des Jahrhunderts der Thee war, werden in den sechziger Jahren die Baumwo 11 waren: die leitende Ware der Messe. Wie in Europa und Indien, so hat auch in Rufsland die Baumwolle die Bedeutung gehabt, die geld wirtschaftliche Be- dürfnisbefriedigung in die Massen hinunterzutragen. Durch sie werden Wolle und Flachs aus der Eigenproduktion des Bauernhofes verdrängt. Auf der Grundlage des heimischen Massenverbrauchs entfaltete sich die Baumwollindustrie als die erste moderne Fabrikindustrie Rufslands. Während die Ein- fuhr von Textilprodukten aus Asien nahezu aufgehört hat, gehen russische Garne, Druckkattune, auch farbenprächtige Seiden- und Halbseidenwaren in wachsenden Beträgen nach den transkaspischen Besitzungen Rufslands, Die Spindel aus Metall hat die kunstgeübte Hand der asiatischen Spinnerin auch in ihrer eigenen Heimat geschlagen. Neben den Textilwaren spielen Eisenwaren heute die wichtigste Rolle auf der Messe, sodann eine stets wachsende Anzahl anderer russischer Industrieprodukte, z. B. Glas-, Porzellanwaren u. s. w. Der europäische Schund, berechnet auf einen gänzlich ungebildeten Geschmack, ist nahezu ver- schwunden. Heute kauft man europäische Luxuswaren in den glänzenden Magazinen des Petersburger Newski oder der Moskauer Schmiedebrücke, zwar zu hohen Preisen, aber in Qualitäten, die selbst den Kenner befriedigen. Eine Folge der verbesserten Verkehrsverhältnisse ist das ^ Abgesehen natürlich von staatlicher Nachfrage, etwa zu Zwecken des Eisenbahnbaues ; aber die finanzielle Kraft des Staates, welche aus- ländische Anleihen und damit Eisenbahubau ermöglicht, beruht doch in letzter Linie auch auf agrarer Grundlage. - 69 — breitere Auftreten von Naturprodukten auf der Messe, — Naphtha, Fische, russische Weine, Rohbaumwolle u, s. w. Sie alle dienen dem inneren Verkehr. Dagegen ist der Ausfuhr- handel mit Rohprodukten nach Europa dem Mefsverkehr ent- zogen. Die einzige Ausnahme bildet das Pelzwerk, dessen asiatisches Produktionsgebiet dem regulären europäischen Handel wenig zugänglich ist. In den letzten Jahren vollzog sich eine weitere Veränderung. Die Messe von Nischni hat ihren Höhepunkt überschritten. Der Wert der zugeführten Waren betrug 1880 — 84 im Jahres- durchschnitt 215^2 Millionen Rubel und war in den Jahren 1892 — 1896 auf 170 Millionen gesunken. Insbesondere werden heute weniger Textilwaren zur Messe gebracht, als vordem, obgleich dieselben noch immer die leitende Ware der Messe sind: 49 Millionen Rubel im Durchschnitt der Jahre 1868 bis 1872 gegen 45 Millionen 1890 und 91 — und dies trotz der ge- waltigen Ausdehnung gerade der Textilindustrie in den letzten zwei Jahrzehnten. Dies bedeutet, dafs die wichtigste russische Industrie sich vom Mefsabsatz los zu machen beginnt. Baum- wollgarne erscheinen oft nur in Specialitäten auf der Messe, z. B. gefärbte Garne für den asiatischen Verkehr, die Kattune vielfach nur in Mustern. Die Messe wird zur Börse; an Stelle des Verkaufs in natura tritt die Preisfestsetzung und Bestellung nach Proben unter örtlicher Zusammenfassung von Angebot und Nachfrage. Aber diese Börse läfst sich ebensogut oder besser in Moskau abhalten, um so mehr als die einjährige Frist, an welche die Messe von Nischni gebunden ist, den schnelleren Schwankungen der geschäftlichen Konjunkturen von heute nicht mehr ent- spricht. Jedoch bleibt der Messe ein breites, ja wachsendes Gebiet in den asiatischen Dependenzen Rufslands. Politisch unab- hängige Asiaten, Perser und Türken pflegen auf der Messe nur zu verkaufen , um Bargeld mit nach Hause zu nehmen, für welches sie daheim westeuropäische Industrieprodukte kaufen. Die Kaukasier nnd die Transkaspier dagegen sind durch das sie umschlingende Schutzzollsystem gezwungen. - 70 — russische Industrie])rodukto von der Messe mitzunehmen. Durch ein wertvolles Ausfuhrobjekt, welches mehr und mehr an Bedeutung- gewinnt, die Rohbaumwolle, werden diese Trans- kaspier zunehmend kaufkräftige Abnehmer der russischen Industrie. Den asiatischen Gewolinheiten aber entspricht noch heute und auf lange hinaus der Mefshandel. Soweit nicht unter den Volksgenossen geheiligte Überlieferung die Preise festsetzt, ist der Kaufmann noch heute wie vor alters der „Überlister". Der Asiate mifstraut den zugesandten Mustern und Waren- proben ; er will die Waren selbst sehen und untersuchen. Er glaubt sich übervorteilt, wenn der Preis ohne stundenlanges Feilschen zustande kommt. Denn er sucht seine persönliche Schlauheit beim einzelnen Geschäft in die Wagschale zu werfen ; nicht Angebot und Nachfrage bestimmen für ihn die Preise, sondern das Mafs gegenseitiger Geriebenheit. Diesen Gepflogenheiten aber kommt der Mefshandel ent- gegen. In demselben Verkaufslokal werden in derselben Stunde, ohne dafs irgend welche Umstände sich geändert hätten, dieselben Waren oft zu den allerverschied ensten und geheimgehaltenen Preisen verkauft. In der Abneigung des Asiaten gegen öffentliche Preisfestsetzung liegt auch für die Zukunft eine gewisse Bedeutung der Messe zu Nischni ge- sichert. II. Die Leineiiindiistrie iu Wladimir. Obwohl Wolle und Flachs seit jeher in Rufsland ge- sponnen und verwoben wurden, obwohl Rufsland diese Roh- stoffe noch heute in Masse besitzt und ausführt, so ist es^ ähnlich wie in England , nicht die heimische Textilfaser, sondern die Baumwolle gewesen , auf deren Boden sich die bedeutendste Fabrikindustrie Rufslands aufbaute ^ Diese That- 1 Ich brauche „Fabrik" nach dem Sprachgebrauche, der durch Marx eingebürgert wurde, im Sinne von Grofsindustrie mit Anwendung des mechanischen Motors und der Werkzeugsmaschine. Die älteren — 71 — sache mag auf den ersten Blick befremden bei der Un- gunst der geograpliischen Lage Mittelrufslands für den Be- zug amerikanischer Baumwolle. Man hat daher von Seiten der älteren Freihändler die Baum Wollindustrie für eine „un- natürliche" Pflanze auf russischem Boden erklärt. Sehr zu unrecht. Schon die naive Freude des russischen Volkes an der Farbe kam der Baumwollenindustrie entgegen, welche die farbenprächtigen Surrogate für Seide schafft ^ Farbe und Licht ist der erste Eindruck, den der Westeuropäer schon beim Betreten Moskaus empfängt und den er in gleicher Stärke südlich erst in Neapel und Palermo wiederfindet. Ein anderer Gesichtspunkt ist wichtiger: noch auf lange hinaus sind die Massen des russischen Volkes zu arm, um bei geldwirtschaftlicher Beschaffung ihres Kleidungsbedarfes andere Gewebe als Baumwollgewebe zu kaufen. Aus gleichem Grunde war der englische Arbeiter in der ersten Hälfte unseres Jahr- hunderts so ausschliefslich mit Baumwolle bekleidet, dafs der Name dieses Stoffes „Fustian" geradezu die Bezeichnung für den Arbeiter selbst wurde. Die Armut der Bauern ist noch heute das Haupthindernis, das einer breiteren Entwicklung sogar der russischen Baumwollindustrie entgegensteht. Infolge der Billigkeit ihrer Produkte schiebt sich zuerst die Baumwollindustrie trennend ein zwischen die Person des Konsumenten und des Produzenten und unterwirft so arme, der Naturalwirtschaft noch nahestehende Märkte : Rufsland, Indien, Mittelasien. Diese Billigkeit ihrer Produkte hat in letzter Linie wirtschaftsgeschichtliche Gründe: ein Kind des Handels, wurde die Baumwolle am frühesten in Roherzeugung, wie Verarbeitung dem Prinzipe des gröfstmöglichen Gewinnes, „Fabriken" mit Handbetrieb fallen für mich unter die Jiezcichnung „Manufaktur". Verschiedene Terminologie war hier der Anlafs zu viel- facher sachlicher Verwirrung. ^ Nach Bücher ist die Grofsiudustrie anfänglich oft Surrogat- indu.strie. Vergl. Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band HI, S. 944. — 72 — damit der Verbilligung der Produktionskosten und dem technischen Fortschritt unterworfen. Der Baumwollindustrie geht in Rufsland, wie anderwärts, eine Leinenindustr i e voraus. Die Herstellung leinener Gewebe ist bei den Völkern Nordeuropas einheimischen Ursprungs und wurde auch vom russischen Bauer seit alters ausgeübt ^ Bäuerlicher „Haus- fleifs", um den Ausdruck Büchers zu verwenden, ist auf diesem Gebiete in Rufsland noch heute aufserordentlich ver- breitet — zunächst für die Zwecke eigenen Bedarfes, sodann für den Verkauf. Wahrscheinlich war es der vom Gutsherrn geübte Zwang, welcher die Bevölkerung ursprünglich veranlafste, mehr an Textilprodukten herzustellen, als der Eigenbedarf erforderte. Bei der Schlechtigkeit des Bodens im nordrussischen VVald- gebiete hatte der Gutsherr kein anderes Mittel, sein Menschen- material zu verwerten. Zunächst erhob er Abgaben in natura, und zwar für den Eigenbedarf des menschenreichen Herren- haushaltes in Stadt und Land. Das Garn, welches die Bäuerinnen dem Gutsherrn abzuliefern hatten, wurde auf dem Gutshofe von unfreier Arbeit verwoben. Noch in diesem Jahrhundert hatten in dem Hauptfabrikort des Wladimirschen Gouvernements, in Iwanowo, die Frauen einen gutsherrlichen Obrok in Garn zu entrichten : Frauen im Alter von 18 bis 20 Jahren 3 Pfund, von 20—25 Jahren 8 Pfund, von 25 bis 30 Jahren 10 Pfund. Daneben erhoben, wie aus dem Wladimirschen ausdrücklich berichtet wird, die Gutsherren bäuerliche Abgaben in Leinwand und Tuch^. In doppelter Weise war nun ein Fortschritt aus diesen rein naturalwirtschaftlichen Verhältnissen denkbar: entweder begann der Gutsherr selbst im grofsen und daher mit Absicht auf Verkauf zu produzieren oder er verwies die Bauern auf den Verkai\f ihrer Erzeugnisse und begnügte sich mit einer 1 Vergl. Tugan-Haranowski a. a. O. S. 432, 206. " Vergl. Industriel)ote Januar 1860, S. 197—202. - 73 — testen Geldabgabe. Im ersteren Fall vereinigte der Gutsherr die unfreie Arbeit in gutsherrliclien „Fabriken", d. h. im technischen Sinne in Werkstätten oder Manufakturen ^ Aber nicht diese gutsherrlichen Unternehmungen waren es, welche zu den modernen Grofsbetrieben Moskaus und Wladimirs auswachsen sollten ^. Auf dem Privileg der unbeschränkten Benutzung unfreier Arbeit beruhend, waren sie ohne jede Rücksicht auf die Verkehrsverhältnisse an- gelegt. Leibeigene schleppten Rohstoffe und Brennmaterialien herbei, führten Garne und Gewebe oft Hunderte von Meilen nach Städten und Jahrmärkten — alles ohne Entgelt auf ein Wort des Herrn. Die Leibeigenschaft war ein Faul- bett für den technischen Fortschritt; die Werkzeuge der gutsherrlichen Manufakturen waren schlecht und veraltet und wurden von widerwillig geleisteter Arbeit mifshandelt^. Die Bedingung ihres Daseins fiel mit der Bauernbefreiung. Ins- besondere räumte der bald folgende amerikanische Bürger- krieg unter ihnen auf: er traf sie ohne Kapital und Vorräte an Rohstoff, sodafs in jenen Jahren die meisten gutsherr- lichen Fabriken sich schlössen, ohne je wieder geöffnet zu werden *. Wie in der westeuropäischen Agrargeschichte knüpft die fortschreitende Entwicklung vielmehr an die zweite Möglich- keit: der Gutsherr setzte das Eigeninteresse der Bauern in Bewegung, um eine feste Geldabgabe zu erzielen. In diesem Falle mufste die bäuerliche Hausgenossenschaft einen Über- schufs über den eigenen Bedarf erzeugen und verkaufen. Dieser Überschul's konnte nicht affrarer Natur sein — ^ Ich acceptiere die von Karl Marx aufgebrachte Terminologie. 2 Tugan-Baranowski a. a. 0. S. 227. ^ Über die technische Unzulänglichkeit gutsherrlicher Fabrik- betriebe vergl. Erismann in der Statistik des Moskauer (rouvernements. Moskau 1890, Band IV, Teil I, S. 49. * Vergl. Mitchell, The present state of the trade between Great Britain and Russia. Englisches Blaubuch von 1866. S. 38, 39. — 74 - ein solcher wäre unverkäuflich gewesen; er konnte nur in- dustrieller Natur sein. Dieselbe Hausgenossenschaft verspann und verwebte die selbsterzeugte Flachsfaser, ja sie besorgte auch das Färben, soweit ein solches überhaupt stattfand. Mit Erweiterung der Produktion mochte sie „Verwandte und Be- kannte" zu Hilfe ziehen ; äufserlich mochte der Bauernhof das Aussehen einer Webmanufaktur annehmen, — innerlich war er, solange die alten Vei'hältnisse fortdauerten, einer modernen Gewerbeunternehmung so entgegengesetzt Avie möglich. Denn jene Hilfspersonen wurden nach dem Rechte der „Primaki", d. h. in die Stellung blutsverwandter Genossen aufgenommen. Die Familie war eine Produktionsgenossenschaft zu gleichen Rechten ^. Der Verkauf des Überschusses der Produktion vollzog sich zunächst auf dem Markte (Bazar) des Heimatsdorfes, wie noch aus den sechziger Jahren berichtet wird. Der Bericht- erstatter klagt darüber, dafs die Bauern-Weber den in die Kaufmannsgilden eingeschriebenen und dafür Steuern zahlenden Fabrikanten Konkurrenz machten-. Übrigens ergiebt derselbe Bericht zugleich, dafs die Entwicklung in jener Zeit bereits über jene ursprünglichen Zustände hinaus war. Nur mehr die schlechtesten Sorten der in Iwanowo gangbaren Gewebe wurden von den Bauern als Selbstunternehmern erzeugt und zu Mai'kte gebracht; die besseren entstanden in der Haus- industrie und der Manufaktur. Auch deutet ein anderer gleichzeitiger Bericht^ an, dafs die Kleinverkäufer auf den ländlichen Bazaren vielfach hausindustrielle Arbeiter waren, welche in truck bezahlt wurden. Neben dem ländlichen Bazar stand als weiteres Mittel, den Überschufs der bäuerlichen Produktion zu vertreiben, der ^ Vergl. Max Weber, Zur Greschiehte der Handelsgesellschaften. Stuttgart 1889, S. 58 ff. 2 Vergl. Industriebote 1858, S. 10:^—121 (Artikel von Schur off). ^ Vergl. den Wladimirschen Gouvemementsanzeiger, Dezember 1853, Nr. 50, S. 310, 311. — 75 — Hausierer. Durch den Hausierhandel gelangten zahlreiche Bauern zu Kapital, wurden sefshafte Kaufleute und beschäf- tigten sich nur mehr mit dem Vertriebe der Gewebe ^ Über diese Baueruhausierer vergleiche man folgende bezeichnende Stelle aus der Schrift von J. Aksakoff über die Jahrmärkte der Ukraine, Petersburg 1858: „Sie bringen ihre häuslichen Erzeugnisse oft 1000 Werst weit und weiter, grofsenteils mit eignen Pferden. Öfters kauft ein gescheiter Bauer, welcher selbst webt, bei seinen Dorfgenossen die von diesen her- gestellten Waren und bringt sie mit den seinen auf die Messe." Wo es sich um Absatz im grofsen und in die Ferne han- delte-, geriet der bäuerliche Hausfleifs in kommerzielle Ab- hängigkeit vom Verleger, war also dann nicht minder „kapitalistisch organisiert", — um diesen mifsverständlichen, aber in der russischen Litteratur häufigen Ausdruck zu ge- brauchen — als die gutsherrliche Manufaktur oder die mo- derne Fabrik. Unter diesem System entwickelte sich insl)esondere Iwa- nowo, das Eigentum der Grafen Scheremetjeff, zum Mittel- punkt der Wladimirschen Industrie. Schon im vorigen Jahr- hundert gab es dort wohlhabende, ja reiche Bauernfabrikanten ^. Wir sahen oben , wie ungern der Gutsherr sich auf den Loskauf der unfreien Fabrikanten einliefs. Noch viel weniger gern verstand er sich zum Verkauf des industriell benutzten Landes*. Vielmehr mufsten die Fabrikanten, nachdem sie ' Vergl. den Wladimirscheu Gouvernementsanzeiger, Dezember 1853, Nr. 49, S. 303—304, und daselbst Nr. 50, S. 310, 311. - In Schuja gab es in der Mitte des vorigen Jahrhundei'ts einen besonderen Kaufhof der Engländer. Vergl. Ordega, Die G-ewerbe- politik Peters des Grofsen, S. 35. Betr. die Ausfuhr über Archangel daselbst 8. 42. ^ Die Entwicklung von Jwanowo schildert Garelins interessantes Buch: Die Stadt Jwanowo. Schuja 1894. * Vergl. Industriebote, Januar 1860, S. 247—262. — 76 — sich freigekauft hatten, ihre bisherigen Fabriken dem Grund- herrn abmieten — daher der Auszug vieler Fabrikanten und die Gründung des Vorortes Wosnessensk. dessen Boden einem benachbarten Gutsherrn abgekauft wurde. Wo die Entwicklung so verlief, war der Gutsherr nur Rentenempfänger, nicht Glied im Produktionsnexus. Mit einem Federstrich konnte ihn gelegentlich der Bauernbefreiung der Gesetzgeber wegstreichen, und übrig blieb der bisher unfreie Bauer als selbständiger Träger des Gewerbes — hausindustrieller Verleger, Manufakturist oder moderner Fabrikant. Die mittelrussische Textilindustrie erwuchs also bäuer- lichem Boden. Vorbereitet wurde dieses äufserst unzugäng- liche Erdreich durch die Sekten. Gerade Iwanowo war ein Mittelpunkt der Sektiererei, ehe es Mittelpunkt der Industrie wurde. Es wird erzählt, dafs selbst grofse Fabrikanten der älteren Generation jedes Geschäft im Stiche liefsen, um jenen Wortgefechten beizuwohnen, wie sie in Rufsland zwischen den Vertretern der Staatskirche und den Altgläubigen in Streit- fragen meist ritueller Natur abgehalten werden. Erst in den zwanziger Jahren wurden die Zeichen äufserer Duldung, ein Friedhof und eine Kapelle, erreicht. Seitdem verlor die Ketzerei an Schärfe und starb allmählich in dem Mafse ab, als die Fabrikantensöhne anfingen, nach Moskau und selbst nach England zu gehen, und die grofse Welt kennen lernten ; freilich büfsten sie dabei nicht selten das Rückgrat ihrer Väter ein ^ Die Bedeutung der Sektiererei für die Industrieentwick- lung ist nicht gering anzuschlagen, wofür die Quäker das be- kannteste Beispiel abgeben. Zwar mochte der Raskol den technischen Fortschritt zeitweise verlangsamt haben , indem seine Anhänger alles Ausländische als Teufelswerk flohen ; aber auf der anderen Seite besafsen diese Sektierer eine Schule für die Entwicklung der Individualität, welche die 1 Vergl. ludustriebote, Januar 1860, S. 247 S. - 77 - geistige Loslösung des Einzelnen aus dem Gruppendasein der Vorzeit anbahnte. Auch für Rufsland ist das Wort Pettys wahr, dafs Ketzerei und Reichtum häutig zusammengehen. In der That steht die ganze Moskauer und Wladimirsche Ge- schäftsAvelt, soweit sie einheimischen Ursprungs ist, auf dieser heute allerdings stark verblafsten psychologischen Grundlage. Gegenüber dieser bäuerlichen Gewerbeentwicklung er- wiesen sich die von Staatswegen geförderten Unternehmungen des städtischen Kaufmannsstandes konkurrenzunfähig. So er- baute z. B. in dem später so hochindustriellen Schuja 1720 ein Holländer mit dem Gelde Peters des Grofsen eine Manu- faktur für starke Leinengewebe. Aber von dem Verlaufe dieser und ähnlicher Unternehmungen ist wenig zu berichten ^ ; jedenfalls lag nicht in ihnen der Keim zu der später so mäch- tigen Industrieentwicklung des Wladimirschen Bezirks. Viel- mehr hatte die nach westeuropäischem Muster eingerichtete, unter staatlicher Bevormundung stehende Manufaktur, sog. „Fabrik", lediglich das Verdienst, dieBauern mit neuer Technik und neuen Produktionszweigen bekannt zu macheu. Aber was die Bauern in ihr gelernt hatten, das verwendeten sie lieber und vorteilhafter im eigenen Hause, frei von staatlicher Kontrolle und Besteuerung^. Daher immer wieder der Schrei der „Fabrikanten", d. h. der in Kaufmannsgilden eingetragenen und daselbst Steuern zahlenden Manufakturunternehmer gegen die Konkurrenz des bäuerlichen Gewerbes, ^^'orin der Grund der Überlegenheit des letzteren lag, zeigen folgende Vor- schläge: „in dem Bestreben, das bäuerliche Gewerbe einzu- engen, wünschen die Fabrikanten, es der obrigkeitlichen Auf- sicht zu unterwerfen, Zünfte, staatliche Prüfung der Waren einzurichten" u. s. av. ^. Andere Vorschläge gingen dahin, den 1 Bericht der Wladimirschen Landschaft .,Die Fabriken und andere Gewerbebetriebe des Wladimirschen Gouvernements". 1890. S. 29. 2 Bericht des Departements für Manufaktur und Innern Handel. 1832 citiert bei Tugan-Baranowski a. a. 0. 8. 223. 3 Vergl. Tugan-Baranowski a. a. O. S. 221, 222. - 78 - Bauern nur so viel Garn zu geben, als sie selbst verweben konnten, dagegen ihnen zu verbieten, das Garn an andere weiterzugeben. Diesen Wünschen wurde jedoch vom Staate keine Folge gegeben ; wir werden nicht fehl gehen, wenn wir darin eine Rücksicht auf die Gutsherrn erblicken, welche als Obrokberechtigte am bäuerlichen Gewerbe das gröfste Interesse hatten. So zerflossen die merkantilistischen „Fabriken" in das Meer des bäuerlichen Kleingewerbes; aus ihm tauchten unter Zuhilfenahme von Hausgenossen oder Lohnarbeitern wieder neue Werkstätten (sbjetelka) auf; wir finden Webermeister mit 5, 6, ja 20 Gehilfen, Es ist irrig, in diesem „Zerfall der Fabrik" eine tech- nische Veränderung zu erblicken und hieraus auf Besonder- heiten der russischen ^^'irtschaftsentwicklung gegenüber West- europa zu schliefsen. Der sog, „Fabrikant" wie der bäuerliche Hausweber arbeiteten mit dem gleichen Werkzeug: dem Hand Webstuhl ^ Vielmehr handelt es sich um eine Klassen- verschiebung : aus den Händen des Gutsherrn, aber auch aus den Händen des staatlich geförderten, kaufmännischen Unter- nehmers glitt der Zügel der industriellen Bewegung in die Hände des damals noch unfreien Bauern, welcher — im eigentlichen Sinne des Wortes ein „Pfuscher" — den Vorzug hatte, „ohne Regel und Beobachtung der Vorschriften" zu arbeiten. Auch im Westen erwies sich vielfach Freiheit von raer- kantilistischer Bevormundung nicht als Nachteil, sondern als Vorzug für jugendliche Industrien. Nicht die Schofskinder des Merkantilismus wuchsen zu den Weltindustrien der Gegenwart aus. Ja die älteste Grofsindustrie, die Englands Gröfse mehr als jede andere begründete, die von Lancashire, ist sogar im Kampfe mit dem Staate aufgekommen. * Vergl. Tugan-Baranowski a. a. 0. S. 247. — 79 III. Die Färberei in Jwanowo. Die kapitalistische Entwicklung der Wladimirschen In- dustrie wurde dadurch aufserordentlich beschleunigt, dafs man in Wladimir schon frühe neben dem selbsterzeugten Leinen- garn auch importiertes Baumwollgarn verwandte. Damit wurde der bäuerliche Hausfleifs , in seinem Absatz bereits kapitalistisch zusammengefafst, auch von seiten des Rohstoffes her abhängig vom Handel. Er geriet sozusagen zAvischen zwei Mühlsteine, die ihn zerrieben. Endlich griff der Handel er- obernd auch auf das Gebiet der Produktion über: er be- mächtigte sich nicht nur des Absatzes der Waren und der Zufuhr des Rohstoffes, sondern er bröckelte auch von vorn und hinten am Produktionsprozesse selbst ab. Der bäuerliche Hausfleifs verlor Spinnerei und Färberei, welche zum modernen Fabriksystem übergingen. In England war es die Spinnerei, Avelche zuerst die Form des Grofsbetriebes annahm. Auf russischem Boden schlug die Spinnerei erst spät Wurzeln, um dann freilich, wie wir sehen werden , das Gebiet des gesamten Gewerbes zu be- herrschen. Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts dagegen beruhte die russische Baum Wollindustrie auf der Einfuhr fremden Garnes. Wie in England erwies sich auch in Wladimir zunächst die altgeübte Hand der orientalischen Spinnerin den gröberen Fingern des Europäers überlegen. Die einheimische Kette aus festem Leinengarn pflegte man mit dem feinen orientalischen Baumwollgespinst zu durchschiefsen, wie dies wohl die ältere Form aller europäischen Baumwollgewebe überhaupt war. Seit Beginn des Jahrhunderts vertrieb das Produkt der englischen Spinnmaschinen die orientalischen Garne von den Ufern der Wolga ; die Kontinentalsperre hatte demgegenüber wenig Wirkung; das englische Garn wurde in Massen ge- schmuggelt und genofs als „Brabanter Garn" sogar die dem befreundeten Frankreich gemachten Zollvergünstigungen ^ I Garelin a. a. O. I 183, 185, 186. — 80 - Demgegenüber entwickelte sich in Rufsland der moderne Fabrikbetriel) zuerst auf dem Boden der Färberei. Sie war es, welche die Wladimirsche Industrie grundlegend umgestaltete. Ihrem Interesse wurde bereits der Übergang vom Leinen zu der den Farben geneigteren Baumwolle ver- dankt. Der Aufschwung der Färberei vollzog sich nicht ohne Anstofs von aufsen. Ahnlich wie in England knüpfte die Baumwollindustrie auch in Rufsland an die Beziehungen mit dem indischen Kulturkreis an, der durch das Wolgasystem mit dem Herzen Rufslands in Verbindung stand. Aus den ver- streuten Nachrichten lassen sich folgende Stufen der Ent- wicklung feststellen ^. Schon frühe kamen die Wolga hinauf bunte asiatische Gewebe. Insbesondere stach das türkische Rot, mit dem die Perser und Bucharen die Baumwolle zu färben verstanden, den Naturkindern des Nordens in die Augen, Die gewerb- liche Überlegenheit des Südens kam darin zum Ausdruck, dafs der Norden die Gewebe des Südens gegen Natur- erzeugnisse eintauschte: Fische, Holz, Getreide u, s. w. Dieser Handel mufs ziemlich bedeutend gewesen sein; denn er veranlafste orientalische Kaufleute, eigene Färbereien in Rufs- land anzulegen. Bald versuchten die Russen selbst die Farben- pracht der orientalischen Gewebe nachzuahmen — ursprüng- lich in sehr primitiver Weise mit vergänglichen Ölfarben auf einseitig bemalter Leinwand, Wasserreichtum und der Besitz ' Vergl. die älteren Jahrgänge des Industrieboteii. Ferner: den Historisch-statistischen Überblick über Rufslands Industrie, Petersburg 1886. Ausgabe des Departements für Handel und Industrie, S. 73 ff. Die Aufsätze Mendelejeffs in der Ausgabe der gleichen Behörde für die Ausstellung in Chicago, Petersburg 1893. Ferner „Fabriken und andere Gewerbebetriebe im Gouvernement Wladimir", Ausgabe der Landschaft von Wladimir, Wladimir 1890; Gareliu, Die Stadt Jwauowo-Wosnessensk, Schujal894; Erismann, Sammlung statistischer Mitteilungen über das Gouvernement Moskau, Band IV, Teil I, und die wiederholt citierten englischen Blaubücher. Endlich Tugan Baranowski passim. — 81 — von Wiesen zum Bleichen gab den Bezirken an der nörd- lichen Wolga einen natürlichen Vorteil vor den Asiaten. ' Garelin setzt den Beginn der Färberei in Iwanowo um den Anfang des 18. Jahrhunderts, Die Annahme westeuropäischer Technik setzte, wie auf dem Gebiete des Heerwesens, so auf dem des Gewerbes, die Russen in den Stand, ihre orientalischen Lehrmeister zu schlagen. Um 1750 wurde aus der Manufaktur eines Deutschen Namens Leimann in Schlüsselburg zuerst ein dauerhafteres Färbverfahren nach Wladimir gebracht. 1772 fiel das Monopol, welches der merkantilistische Staat den Fabrikanten der Hauptstadt für Kattundruck gegeben hatte; damit erst ent- wickelte sich eine lebhafte Auswanderung junger Bauernsöhne aus dem Wladimirschen nach Petersburg zur Lehre bei den Deutschen und die Rückwanderung gelernter Arbeiter in die Pro- vinz. Auch hier also wieder der Übergang städtischer, staatlich überwachter, vielfach in Händen von Ausländern befindlicher Manufakturen in unregulierte, bäuerliche Kleinbetriebe, welche oft zu gröfseren bäuerlichen Färbe Werkstätten aus wuchsen. An Stelle der bisherigen abwaschbaren Farben traten dauer- haftere, an Stelle des kalten Aufmalens der Farbe die innigere Verbindung des Gewebes mit dem Farbstoff durch Kochen, Eine weitere Vervollkommnung erfuhr der Kattundruck durch Kriegsgefangene des Jahres 1812 — wahrscheinlich Elsässer. Gegenüber den Petersburger Konkurrenten war die geo- graphische und kommerzielle Beziehung mit den Asiaten ein Vorteil.^, Trotzdem war bis in die zwanziger und dreifsiger .Jahre unseres Jahrhunderts die Technik in Wladimir noch äufserst einfach. Man druckte noch allgemein mittelst hölzerner Stempel, ja bediente sich daneben des Pinsels, wobei die alt- nationale Heiligenbildmalerei Anknüpfung bot. Solcher hoch- gelöhnter Handdrucker gab es in dem Dorfe Iwanowo damals ^ Vergl. den angeführten Bericht der Wladimirschen Land- schaft, S. 9. 2 Vergl. Garelin a. a, 0. I 142, 145, 200. V. Schulze-Gaevernitz, Studien a. Rufsl. 6 — 82 — an siebentausend; der Mangel kostspieliger Technik erlaubte vielen von ihnen das Aufsteigen zu selbständigen Färbe- meistern *. Die Gewebe, welche man färbte und druckte, wurden zum Teil aus dem Orient importiert; während des ganzen vorigen Jahrhunderts scheint ein ziemlich reger Veredelungs- verkehr die Wolga hinauf und hinunter bestanden zu haben. Daneben verwandte man die oben geschilderten heimischen Baumwollgewebe. Nach dem angeführten Buche von Garelin scheint die färbende Hausgenossenschaft sich vielfach zur Machtstellung eines hausindustriellen Verlegers über ihre nur webenden Nachbarn emporgeschwungen zu haben. Eng verknüpft mit dem kaufmännischen Absatz der fertigen Produkte, ent- wickelte sie in sich jenen psychologischen Umschwung, welcher das Prinzip des gröfstmöglichen Gewinnes an die Stelle der gewohnheitsmäfsigen Produktionsverhältnisse setzt. Seit alters galt es auf dem Gebiete des Handels für Recht, ohne Bindung durch Sitte den eigenen Vorteil bis zum äufsersten zu ver- folgen, Leute, die mit dem Handel in Berührung standen, verpflanzten diese Anschauungsweise auf das Gebiet des Ge- werbes. Ihre Nachbarn im Produktionsprozesse, die nur gewohnheitsmäfsige Gewerbetreibende waren, fielen ihnen zum Opfer; zunächst gerieten sie in ein ökonomisches Abhängig- keitsverhältnis (Hausindustrie); aber bald führte der im Ge- werbe zur Herrschaft gelangte Handelsgeist zu dem Streben möglichster Verbilligung der Produktion selbst, damit zur technischen Revolution, zur Maschine. Seit 1830 gingen die gröfseren der Färbereien Iwanowos, welche alle bäuerlichen Ursprungs waren, zum maschinellen Cylinderdruck über, im Kampfe mit den gesteigerten Lohnansprüchen der Handdrucker. Die hierzu erforderlichen Maschinen wurden zuerst durch Pferdekraft, später durch Dampf bewegt. Zugleich erfolgte die Berufung von aus- ländischen Koloristen und Chemikern, Typisch für die Ver- 1 Vergl. Tugau-Barano wski a. a. O. S. 213. - 83 — bindung hausindu.strieller Weberei und fabrikmäfsigen Druckes ist z. B. das Unternehmen BaranofFs, welcher, ein Verleger von Tausenden von Hauswebern, 1846 bei Alexandroff im Wladimirschen gewaltige Fabrikanlagen für Färberei und Kattundruck errichtete. Auch ist dieses Unternehmen be- zeichnend für die Verbindung der Wladimirschen Industrie mit den asiatischen Märkten. In Chiwa, Buchara, Astrabad und Tiflis wurden Baranoffs Waren verkauft ^ So entstand auf russischem Boden der erste aussichtsvolle Fabrikbetrieb im modernen Sinne des Wortes: fabrikmäfsiger Druck, aufgebaut auf der Beschäftigung von hausindustriellen Webern und auf der Einfuhr von Garnen.^ Die Farben waren und sind auch heute noch vorwiegend nichtrussischer Her- kunft; grofsenteils besitzt für sie Deutschland einen selbst durch russische Schutzzölle bis heute nur wenig gefährdeten Vorsprung ^. Werfen wir noch einen Blick auf die Baum Woll- weberei, welche der also fortschreitenden Färberei die Grund- lage bot. Der Zustand um die Mitte des Jahrhunderts läfst sich auf Grund der öfters citierten Aufsätze im Industrieboten ziem- lich klar übersehen. Die Weberei vollzog sich in bäuerlichen Webewerkstätten, welche 5, 10 ja 20 Webstühle beherbergten. Der Besiter der Webstätte beschäftigte entweder Familien- angehörige oder Lohnarbeiter oder vermietete die Webstülile an selbständig webende Dorfgenossen. Noch befand sich ein Teil der Weber im Besitze der Produktionsmittel : sie kauften Garn und verkauften Gewebe. Die Mehrzahl dagegen erhielt die Garne bereits vom Verleger. Jedoch war auch in diesem Fall die Lage der Weber noch keine ungünstige. Es be- ruhte dies vielleicht auf der landwirtschaftlichen Grundlage, welche der Gemeindebesitz gewährleistete, solange eine be- stimmte Bevölkerungsdichte nicht überschritten war. In an- schaulicher Weise wird geschildert, wie die Agenten der 1 Vergl. kSwirski a. a. O. 8. 15. 2 Vergl. Garelin a. a. 0. Band l, 8. 201, 215, 216. 3 Vei-ifl. Finanzbote vom 5. Febr. 1896, S. 262. 6' — 84 — Verleger auf das Land hinausfahren ; in Zeiten des Geschäftsauf- schwunges sucht einer schneller zu fahren, als der andere, um die bereits gedungenen Weber dem Konkurrenten abspenstig zu machen, wobei der Branntwein eine grofse Rolle spielt. Den Webern gegenüber stand eine Klasse von Verlegern (sog. „Fabrikanten), von denen einzelne an fünftausend Web- stühle beschäftigten. Vielfach waren dieselben zugleich Be- sitzer maschineller Färbereien. Die Garne bezogen sie von Moskauer Händlern, meist auf Kredit und lange Fristen, wozu sie der einjährige Mefskredit zwang, den sie selbst ihren Kunden zu gewähren hatten. Die Verbindung der Verleger mit den auf dem Lande zerstreuten Webern vermittelten Zwischenmeister, sogenannte „Kommissionäre" ; dieselben übernahmen das Garn zum Verweben nach Gewicht gegen bestimmte Accordsätze. Diese Kommissionäre hatten vielfach eigene Schlichtereien, in denen sie die Ketten zum Verweben fertig stellten. Die den Kommissionären von den Verlegern gewährten Accordsätze waren durch Verabredung unter den Verlegern festgelegt. In unmittelbarer Verbindung mit den Webern standen die gröfseren der Verleger nicht ^. Weiter, in Wladimir dieselbe Erscheinung wie z. B. in England im Anfang des Jahrhunderts: die Löhne der Haus- weber helen , ihre Lage verschlechterte sich infolge der unter ihnen herrschenden Konkurrenz , lange vor Einführung des mechanischen Webstuhls. - Je schlechter die Lage der Haus- weber sich gestaltete, um so gröfser die von ihnen verübten Betrügereien. Sie verkauften einen Teil des erhaltenen Garnes und ergänzten das fehlende Gewicht durch Beschwerung des GcAvebes mit Mehl, Kreide u. s. w. Nicht selten gingen sie mit dem erhaltenen Garn und Handgeld durch, indem sie erlogene Namen und Heimatsorte angaben. Diese Verhältnisse waren um I 1 Vergl. aufser dem Industrieboten Eeports by her Majestys Secretaries of Embassy on the Manufaktures and Commerce of tlie Couiitries in which they reside. Nr. 8. 1865. Report by Lumley, S. 87. - Tugan-Barauowski a. a. 0. S. 250. Vergl. meinen .,Grrofs- betrieb". Leipzig 1892. S. 41. — 85 — so unerträglicher, als die Gutsherren die Betrügereien ihrer Unter- thanen offen begünstigten. Betrüger schlimmster Sorte wiesen, wenn sie um gewerbliche Arbeit einkamen , gewöhnlich die besten Sittenzeugnisse seitens der gutsherrlichen Verwaltung auf; ja es wird ausdrücklich berichtet, dafs die Gutsherren oft genug ihren Obrok aus derartigen unlauteren Quellen be- zogen. Der angeführte Bericht von 1860 schätzt den Verlust, welchen die Verleger durch die Betrügereien der Weber er- litten, auf 6 ^' 0 vom Wert aller Waren. Folge dieser Verhältnisse war der Übergang zur me- chanischen Weberei, welche eine bessere Kontrolle er- möglichtet Vor dem Verlassen der Fabrik wurden die Arbeiter körpei'lich untersucht und dadurch die meisten Betrügereien abgeschnitten. Immerhin vollzog sich der Übergang zur mechanischen Weberei nur sehr allmählich^. Im Jahre 1860 bestanden erst drei mechanische Webereien in Wladimir. Neuerdings jedoch konstatiert der angeführte Bericht der Wladimirschen Land- schaft einen entschiedenen Kückgang der Handweberei in Baumwolle (1882 — 90 Verminderung um 64 '^/o), welche Ent- wicklung allerdings dadurch verdeckt wird, dafs die Leinen- weberei noch wenig von der mechanischen Betriebsform er- griffen ist^. In vielen Orten des Wladimirschen Gouverne- ments ist die Baumwollhandweberei bereits völlig ausgestorben*. Seit den fünfziger Jahren vollzog sich ein Fortschritt über die geschilderten Verhältnisse hinaus: die fremden Garne fingen an, durch russische verdrängt zu werden. Jedoch waren es nur in Ausnahmefällen die Färbereien, welche sich eigene Spinnereien angliederten. Ein solches Beispiel ist das Geschäft der Garelins in Iwanowo, welches, ausgehend von der Färberei, ' Tugan-Baranowski a. a. 0. S. 253. 2 1847 erste mechanische Weberei zu Schuja. Vergl. Swir.ski, Fabriken und andere Industriebetriebe des Wladimirschen Gouverne- ments. Landschaftsausgabe. Wladimir 1890, S. 18. 3 Vergl. Swirski a. a. 0. S. 27. * Eine Menge von Citaten und Belegen hierfür bringt Tugan- Baranowski a. a. 0. 8. 420 ff. - 86 — allmählich zur Spinnerei und in letzter Linie auch zur mechanischen Weberei übergingt 1863 besafs diese Firma bereits über 21 000 Spindeln. Im allgemeinen jedoch voll- zog sich dieser wichtigste Fortschritt nicht auf dem Boden Wladimirs, sondern in Moskau. Wie einst den politischen, so mufste jetzt Wladimir den gewerblichen Vorrang an Moskau abtreten. Aber selbst ein Teil der in Wladimir altheimischen Färberei und Druckerei verschob sich nach dem wohnlicheren und westlicheren Moskau, Hier entstanden die technisch höchststehenden Betriebe, wie die von Titoff und Zündel, mit einem Stabe von Elsässer Technikern und Vorarbeitern. In ihnen wurde zum erstenmale in Rufsland der Prozefs kontinuier- licher Bleiche angewandt. An dieser Stelle darf auch der Name der Rabeneckschen Manufaktur nicht vergessen werden, welche, als die erste in Rufsland, Elberfelder Rotfärberei be- trieb. Diese Fabriken brachten unter dem Schutze hoher Zölle und bei allerdings hohen Preislagen bald vorzügliche Leistungen zuwege; bereits zur Zeit der Moskauer Gewerbe- ausstellung 1865 erregten letztere die gerechte Anerkennung einer Abordnung der Manchester Handelskammer^. Die ge- wöhnliche Färberei und Druckerei dagegen hat noch heute zum grofsen Teil ihren Standort in Iwanowo beibehalten. TV. Die Moskauer Spinnerei ^. Der Färber war dem Weber überlegen gewesen — ein Kaufmann dem Bauer. Seine Macht beruhte auf der Ver- bindung mit dem heimischen und dem asiatischen Markte. Aber ein Stärkerer trat auf die Bühne, der Ausländer, der mit dem europäisch-amerikanischen Markte verbunden, zugleich 1 Vergl. Scher er a. a. 0. S. 452 und Liimley a. a. O. S. 85. 2 Vergl. Mitchell a. a, 0. 36, 15, 3 Das folgende beruht gröfstenteils auf mündlichen und schrift- lichen Mitteilungen Moskauer G-eschäftsleute, daher die geringere Zahl von Litteraturnachweisen, — 87 - im Besitze der kommerziellen und industriellen Technik des Westens sich befand. Wir sahen bisher, wie die grofsindustrielle Entwicklung von den Seiten des Absatzes der gewerblichen Erzeugnisse den bäuerlichen Hausfleifs anfrafs. Dieser Prozefs wurde nunmehr auch von selten des Imports des Rohstoffes auf- genommen und rascher und grofsartiger durchgeführt. Die Spinnerei tritt an Bedeutung vor die Färberei , Moskau vor Wladimir. Diese Entwicklung, die den europäischen Importeur zeitweise zum Herrn der ganzen Industrie machte, wäre nicht möglich gewesen, wenn die asiatischen Beziehungen ihre Wichtigkeit bewahrt hätten. Aber die asiatische Baumwolle verlor ihre Bedeutung gegenüber der amerikanischen. Klima- tische Gründe kommen für diese Veränderung nicht in Be- tracht; in neuester Zeit hat man festgestellt, dafs auch langstaplige Baumwollen, ja hervorragende Qualitäten, in Transkaspien gedeihen. Der Grund ist vielmehr ein wirt- schaftlicher. Die asiatische Baumwolle wurde gewohnheitsmäfsig seit Jahrhunderten in unveränderter Form gepflanzt, geerntet und verfälscht. Der Pflanzer der amerikanischen Baumwolle war dagegen ein moderner Mensch, einer der ersten völlig geld- wirtschaftlichen Produzenten auf dem Gebiete der Landwirt- schaft überhaupt. Die Sklavenfarm Amerikas produzierte für den Verkauf, nicht wie der Asiat für Eigenverbrauch und Überschufsverkauf. Daher in ihrem Betriebe die Fort- schritte der Technik ; von ihr wurden zuerst Reinigungs- maschinen zwecks Qualitätssteigerung der Baumwolle erfunden und angewandt^. Der amerikanische Baumwollpflanzer war ein Kapitalist, — in jenerZeit noch der mächtigste Mann in den Vereinigten Staaten. Der transkaspische Produzent war dagegen ein Parzellenbauer, welcher ähnlich wie der indische Bauer ^ Vergl. für den geldwirtschaftlichen Charakter der amerikanischen Negersklaverei Knapp, Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit. Leipzig 1891, 8. 16 und passim. in der Hand von blutsaugerischen Dorfwucherern sich befand ^ Dieselben machen den Bauern gleichgültig gegen den Erfolg seiner Arbeit, da sie ihm jeden Gewinn ausj)res«en. Die asiatische Baumwolle war bis in die neueste Zeit unrein, sandig und gewässert, um ihr Gewicht betrügerisch zu erhöhen. Wie in der Produktion, so im Handel. Die asiatische Baumwolle wurde durch Karawanenhandel dem Mefsplatz zu- geführt ; sie war dabei den Unbilden der Witterung ausgesetzt und wurde allabendlich vom Kameel abgeladen. Der Graf Ignatieff erzählt, dafs die asiatischen Karawanenstrafsen oft wie beschneit aussehen von den Flocken verlorener Baum- wolle". Die amerikanische Baumwolle dagegen befand sich unter der Obhut des technisch fortgeschrittensten Handels der Welt. Als Produkt einer geldwärtschaftlichen Volkswirtschaft gewährleistete die amerikanische Baumwolle die gleichmäfsige Qualität und die Sicherheit der Bezüge, welche der moderne Maschinenbetrieb erheischt — im Gegensatz zur asiatischen, welche sich oft bis zu 50 "o unbrauchbar erwies. Aus gleichem Grunde verhielten sich gewifs auch die heimisch europäischen Textilfasern , welche immerhin weniger geldwirtschaftlich hergestellt und gehandelt wurden, lange Zeit spröde gegenüber dem Maschinenbetrieb^. Mit dem Übergang zum amerikanischen Rohstoff wurde der Importeur der mächtigste Mann auf dem ganzen Gebiete der Industrie. Die Importfirma allein war den Banken und Baumwollgrofshändlern Westeuropas bekannt, welche jede Berührung mit den Russen als unsicheren Zahlern scheuten. Die Moskauer Importfirma dagegen fand um so leichter Kredit, als ihr Inhaber, zumeist ein deutscher, nicht selten halb angli- sierter Kaufmann, in Deutschland und England zahlreiche pei'sönliche Beziehungen besafs. Sein Übergewicht beruhte ^ Von den Engländern euphemistisch „Bankiers'- genannt. Vergl. Ell statt er. Die Silberwährung Indiens 1895, S. 16. 2 Vergl. Lumley a. a. 0. S. 103—109. ^ Sehr bezeichnend sagt Mitchell a. a. 0. S. 40 von Rufsland, dem Haupt exportlande des Flachses: „Cotton easier supplied than hemp and flax." Ähulicli Scherer a. a. 0. S. 459. — 89 ~ zudem auf persönlichen Eigenschaften. In den Comptoiren des Westens aufgewachsen , war er dem Russen überlegen durch Warenkenntnis und den Besitz der kommerziellen Technik. Diese Überlegenheit mufste um so schwerer wiegen, als bei dem Moskauer Baumwollgeschäft äufserst verwickelte Konjunkturen, die Schwankungen der Baumwollpreise wie die des Rubelkurses über Gewinn und Verlust entschieden. Hierzu kam das Zufrieren der baltischen Häfen im Winter, die Gewohnheit der russischen Fabrikanten, den Rohstoff in riesigen Massen aufzustapeln, die Entfernung des Produzenten vom preisbestimmenden Liverpooler Markte und damit das zeitliche Auseinanderfallen von Einkauf des Rohstoffes und Verkauf des Produktes. Den sich hieraus ergebenden Ge- fahren konnte nur der Importeur begegnen: er allein kannte und las die seit 1805 erscheinenden Wochenberichte der Liver- pooler Makler; nur er verstand sich auf die Technik des in Liverpool früh ausgebildeten Termingeschäftes zwecks Risiko- versicherung, er allein verstand es, nach Ausbildung des Rubelterminmarktes in Berlin Kurssicherung in Valuta vor- zunehmen. Hierauf beruhte das Übergewicht, welches der Moskauer Handel zeitweise über die Industrie zu erobern verstand. Der Importeur war ursprünglich Garnimporteur. Denn die Spinnerei in Rufsland ist jung. Ihre Entwicklung geben folgende Zahlen. Die Einfuhr aus dem Westen betrug in Pud und im Jahresdurchschnitt auf Grund der Angaben Lumleys und Mendelejeffs: Rohbaumwolle Baumwollgai'n 1824—26 74 268 337 101 1836-38 282 799 626 713 1842-44 524 511 592193 1848—50 1 329 031 281 520 1889—91 7 305 333 214 666 Diese Ziffern ergeben einen Umschwung für die vierziger Jahre. In der That fiel damals das englische Maschinen- ausfuhrverbot. Bis dahin hatten die englischen Arbeiter, die man schon bei den ersten Versuchen einer Spinnerei in — 90 - Moskau verwandte, nur widerwillig und schlecht die un- gewohnten elsässischen und belgischen Spinnmaschinen be- dient ^ Nach Beseitigung jenes Hindernisses nahmen Baum- woll- und Maschinenimport gewaltigen Aufschwung, Der Weg- war gewöhnlich folgender: der deutsche Importeur finanzierte den russischen Spinner, versah ihn mit englischen Maschinen und Vorarbeitern, häufig auch englischen Fabrikdirektoren, um sodann an ihm einen festen Abnehmer für Baumwolle zu besitzen. Noch heute lebt dieses Verhältnis, wenn auch ab- geschwächt, an der Moskauer Börse fort: der Handel spricht vorwiegend deutsch, die Industrie russisch. Es wäre ungerecht, eines Mannes hier zu vergessen, welcher sich vom mittellosen Commis zu einer fast könig- lichen Stellung in der zu schildernden Industrie emporschwang. Bezeichnenderweise wird in keiner der angeführten zahlreichen Schriften dieser interessanten Episode der russischen Industrie- geschichte gedacht. Sie pafst eben weder in die freihändlerische noch in die schutzzöllnerische Schulmeinung, welche darin sich gleichen, dafs sie die Konkurrenz annähernd Gleicher auf inter- nationalem bezw. nationalem Markte füi- den normalen Zustand der Industrie halten. Nur Mitchell erwähnt die Erfolge des alten Knoop, um daran die moralisierende Betrachtung zu knüpfen: da sähe man, dafs der Schutzzoll zu Unnatur und Monopol führe 2 ! Das Folgende beruht daher ausschlieislich auf persönlichen Erkundigungen. Dieselben wurden vielfach durch das in Rufsland strenger als z, B. in England gewahrte Geschäftsgeheimnis erschwert. Die Laufbahn des späteren .,Bai'on" Ludwig Knoop er- innert an die des Amerikaners Rockefeller. Aber Knoop war mehr als Rockefeller; er war zugleich der Arkwright Rufs- lands, der Schöpfer einer gewaltigen Grofsindustrie dort, wo das Gewerbe bisher vorwiegend auf dem Überschufsverkauf der bäuerlichen Hausgenossenschaft beruht hatte. Es verrät kleinbürgerliche Beschränktheit, einem Genie des Kapitalismus wie Knoop Bewunderung zu versagen ; unverständlich aber 1 Scherer a. a. 0. S. 448. 2 Mitchell a. a. 0. S. 39. — 91 - ist es, wenn rnssische Prefsstimmen aus nationalen Gründen das Andenken des alten Knoop angriffen. Knoop war längst russischer Unterthan geworden ; der groise Betrag seiner Intelligenz ging für sein Heimatland verloren und war ein Reingewinn für Kufsland. Ludwig Knoop wurde am 3. August 1821 zu Bremen als Sohn eines Kleinkaufmanns geboren. Mit 14 Jahren war er Lehrling in einem Bremer Handlungshause, sodann Commis in der Firma de Jersey in Manchester, welche englische Garne nach Rufsland importierte. Nur e i n Jahr verbrachte der junge Knoop auf diesem Heimatboden der Baumwollindustrie; jedoch genügte diese Zeit, um ihn nicht nur mit dem Ge- schäft des Garnexports, sondern auch mit der Fabrikation des Garnes bekannt zu machen. Er lernte die Spinnerei zu Rochdale, wo John Bright damals auf der Höhe seiner Triumphe stand, und wo die Pioniere soeben ihr Reformwerk begannen. Ob Knoop die letzteren überhaupt bemerkte? Ob er zeitweise Adept des berühmten Quäkers war — Knoop, der die Industrie Rochdales auf einen Boden des Prohibitiv- zolles und der tiefststehenden Arbeit verpflanzen sollte? 1839 kam Knoop nach Moskau als Gehülfe des Vertreters der Firma de Jersey. Leute, welche Moskau um die Mitte des Jahrhunderts kannten, versicherten mir, dafs Knoop seine Erfolge einem guten Magen verdankte. Er hätte es ver- standen, mit den russischen Kaufleuten familiär zu verkehren, mit ihnen Wodka zu trinken und bei Traktieren^ und Zi- geunerinnen manche Flasche Champagner zu köpfen — ein keineswegs gefahrloses Unternehmen, da die Sitten damals noch recht asiatisch gewesen, und oft genug Gläser, Flaschen und Spiegel in der Luft herumgeschwirrt seien. Nun mag Knoop einen guten Magen besessen haben; jedenfalls besafs er daneben einen guten Kopf. In aufserordentlicher Weise mufs er es verstanden haben, die Menschen, mit denen er ver- kehrte, auf ihre Vertrauenswürdigkeit zu durchschauen; auf dieser Eigenschaft beruht das Geheimnis so mancher glänzen- den geschäftlichen Laufbahn. ^ Traktiere sind volkstümliche Kneipwirte. — 92 — Der Wendepunkt seines Lebens ging aus von C. W. Moro- soff, einem Moskauer Garnhändler, welcher damit der Gründer der berühmten Nikolskischen Manufaktur wurde. Dieser Mann beauftragte Knoop, ihm eine Spinnerei mit Maschinen, Vorarbeitern und allem Zubehör aus England zu verschreiben und in der Nähe von Moskau fertig hinzustellen. Alle Welt riet dem unbekannten und mittellosen jungen Knoop von einem Unternehmen ab , welches undurchführbar erschien. Noch bestand das englische Maschinenausfuhrverbot; dazu kamen die aufserordentlich langfristigen und unsicheren Kreditver- hältnisse Rufslands gegenüber den Barzahlung verlangenden Engländern. Aber Knoop kannte seinen Russen und über- nahm die Sache. Er arbeitete rastlos, wobei sein jüngerer Bruder in Manchester ihm ein treuer Bundesgenosse war. Die Firma de Jersey schenkte Vertrauen und Kredit. Das Unter- nehmen schlug glänzend ein, und bald folgten ähnliche. Einer nach dem anderen von den russischen Garnhändlern wurde durch Knoop zum Spinner gemacht. Am Abend seines Lebens konnte Knoop auf 122 Spinnereigründungen zurückblicken. Auch in Wladimir fand Knoop Eingang und versah die dortige Industrie mit mechanischen Webstühlen, mit Maschinen für Kattundruck und Färberei, sowie mit englischen Technikern. Von ihm sagte ein viel gebrauchtes Reimwort: Keine Kirche ohne Popen Keine Fabrik oline Knoopen ^ Fragen wir nach den wirtschaftlichen Gründen des aufser- gewöhnlichen Erfolges Knoops. Neben der freien Konkurrenz finden sich in der Industriegeschichte öfters Versuche einheit- licher Zusammenfassung einer Industrie, entweder als Ver- abredungen mehr oder minder Gleicher (Kartelle) oder als monarchische Organisationen. Letztei^e knüpfen gewöhnlich an den Umstand an, dafs der Rohstoff, das Halbfabrikat oder das fertige Fabrikat einen bestimmten Kanal passieren mufs, ^ Eine dritte russische Reimzeile enthält die etwas küiine Be- hauptung : Kein Bett ohne Wanze. — 93 — welcher die Alleinherrschaft Eines ermöglicht. Um den Stan- dard oil trust aufzubauen, eroberte Rockefeiler die Herrschaft über die Röhrenleitungen, in denen das Erdöl von den Quell- gebieten des Westens nach den Raffinerien, Verbrauchscentren und Ausfuhrhäfen des Ostens geleitet wird. Knoop vereinigte in seiner Hand die Verbindung des russischen Produktions- gebietes mit dem Lande des Rohstoffes, der Maschinen und des bankmäfsigen Kredits. Seine Machtstellung beruhte ins- besondere darauf, dafs die englischen Maschinen, welche seit den vierziger Jahren in Rufsland einströmten , durch seine Hand hindurch mufsten. Schon wegen ihrer Unbekanntschaft mit dem russischen Markte , sodann wegen der gänzlich abweichenden Kredit- verhältnisse Rufslands gewährten die englischen Maschinen- fabrikanten keinen Kredit an die Russen. Hier setzte Knoop ein. Er war ebenso bekannt und geschätzt in Manchester wie in Moskau. Dort erhielt er Kredit, hier gewährte er Kredit. In Manchester besafs Knoop das Monopol der Kenntnis Moskaus. Daher hielt es die gröfste englische Spinnmaschinen- fabrik, Platt Brs. in Oldham, in ihrem Interesse, mit Knoop in folgendes Verhältnis zu treten : Knoop verpflichtete sich, seine Maschinenbestellungen allein bei Platt zu machen ; da- gegen versprach die Firma Platt, keinen anderen als Knoop zum Vertriebe ihrer Erzeugnisse in Rufsland zuzulassen. In ähnlicher Weise bezog Knoop die Dampfmaschinen ausschliefs- lich von Hick Hargreaves und seit den achtziger Jahren von John Musgrave and Sons; elektrische Beleuchtungsanlagen werden neuerdings durchweg von der bekannten Firma Mather in Salfoi'd bezogen. Gefahr war beiderseits bei einem Abkommen , wie dem mit Platt geschlossenen, kaum zu laufen. Der Schutzzoll in Rufsland verhiefs reiche Gewinne, wenn anders den technischen Erfordernissen bei Begründung und Betrieb der zu errichten- den Spinnereien genügt wurde — und hierfür war den Eng- ländern die Persönlichkeit Knoops gut. Auf Grund einer genauen Kenntnis der Moskauer Verhältnisse und Persönlichkeiten stellte Knoop den ihm — 94 - geeignet scheinenden Küssen die günstigsten Zahlungs- bedingungen; er drängte nie; stets erneuerte er die Wechsel seiner Kunden. Niemand lieferte in Moskau eine Spinnerei entfernt so billig wie Knoop. Die Sicherheit für seine Forde- rungen fand er darin, dafs er die Inbetriebsetzung der Fabriken in seine Hand nahm. Keiner der von ihm linanzierten Spinner hatte die Möglichkeit, bezüglich der technischen Einrichtungen der zu gründenden Fabriken Wünsche zu äufsern. Es lag dies jedenfalls im Interesse der in das Leben zu rufenden Industrie, deren Eigentümlichkeiten den russischen Kaufleuten unbekannt waren. Wenn Knoop im allgemeinen Lancashire kopierte, so wird man darin keinen Nachteil erblicken. In den Maschinen Lancashires ist die Denkarbeit von nunmehr vier Generationen einer ganzen Bevölkerung verkörpert. Auch lag darin, dafs man die Fabriken nach einer bestimmten Scha- blone entwarf, eine wichtige Beschneidung der Anlagekosten, indem man die Ausarbeitung kostspieliger Pläne vermied. Allerdings sagt man , dafs Knoop keineswegs immer die neuesten Erfindungen und Vervollkommnungen sofort über- nahm; das Journal der russischen technologischen Gesellschaft macht ihm neuerdings aus einer angeblichen technischen Rück- ständigkeit einen Vorwurf ^ Dieser Vorwurf beruht auf der irrigen Meinung, dafs der technische Fortschritt mit der the- oretischen Erkenntnis und dem Beispiel fortgeschrittenerer Länder von selbst gegeben sei. Er ist vielmehr in jeder seiner Einzelheiten das Ergebnis des Kampfes um die Ge- winne, der auf offenen Märkten mit besonderer Schärfe tobt; der technische Fortschritt wird verlangsamt, wo die Gewinne an sich hoch und sicher sind. Knoop und seine Klienten wollten nichts als verdienen , und wenn es wahr ist , was ich nicht beurteilen kann, dafs sie keineswegs ängstlich allen tech- nischen Neuerungen Lancashires folgten, so ist dies lediglich ein Beweis dafür, dafs sie ihnen nicht zu folgen brauchten, dafs sie auch ohne das reichlich, ja überreichlich verdienten. ^ „Das Kontor Knoop und seine Beden tiing'S auch als Broschüre veröfFentliclit. - 95 — Der Tadel trifft dann den bestehenden Hochschutzzoll, welcher der aufkommenden Industrie das Dasein vielleicht etwas zu bequem machte, nicht die Industriellen, die sich seiner be- dienten. Knoop hat die von ihm ünanzierten Spinnereien nicht nur selbst gebaut; er versah sie auch mit ausländischen, meist englischen Beamten und Vorarbeitern. Zu Hülfe kam ihm das hohe geistige und physische Niveau, zu dem sich seit den sechziger Jahren die Arbeiterbevölkerung Lancashires empor- schwang. Zu Vorarbeitern konnte Knoop einfache englische Spinner, zu Direktoren einfache englische Vorarbeiter ge- brauchen. Wenn das angeführte Journal auch hieraus Knoop einen Vorwurf macht, so sollte es bedenken, dafs man in Eng- land selbst heute nicht anders verfährt, dafs insbesondere die Spinnereidirektoren vielfach aus dem Arbeiterstande hervor- gehen , und dafs gerade hierin eine aufs erordentliche Ver- billigung der Verwaltung und damit eine besondere Stärke der Industrie Lancashires besteht ^ Dafs übrigens diese Ab- kömmlinge einer Arbeiteraristokratie ohne Verständnis für die Eigentümlichkeiten der russischen Arbeit waren , wie das an- geführte Journal behauptet, erscheint nicht unglaublich. Auch nachdem die Fabriken in Betrieb gesetzt waren, gab Knoop fortlaufend Rat und übte weitgehende technische Aufsicht. Fast ohne Ausnahme sind seine Gründungen geglückt und zum Teil zu den gröfsten Grofsbetrieben ausgewachsen. Ihre Besitzer, einst kleine Garnhändler, wurden die mächtigste Fabrikantengruppe im heutigen Rufsland. Die Morosoffs, die Maljutins, die Chludoffs, die Jakuntschikoffs und wie sie alle heifsen, die grofsen, jetzt unabhängigen Unternehmungen, sie alle verdanken ihre Existenz als Fabrikanten dem alten Knoop. Aber Knoop war nicht nur der Begründer und Beirat der russischen Spinner; er war zugleich ihr Baumwolllieferant und übte als solcher besonders Avährend des amerikanischen 1 Vergl. Sinzheimer, Die Tendenzeu der Entwickelimg des fabrikmäfsigen Grofsbetriebs. München 1894, S. 185 und meinen „Gri-ofsbetrieb", S. 251. — 96 — Bürgerkrieges eine aiifserorclentliche ^Machtstellung aus, da er allein Baumwolle besafs, und von seinem Willen der Fort- bestand jeder einzelnen Fabrik abhing. Knoop war zugleich der Bankier seiner Klienten, denen er Kontokorrent eröffnete und deren Wechsel er acceptierte. Es war dies wichtig bei der geringen Entwicklung der Moskauer Bankverhältnisse. Auch heute noch geniefsen die Industriellen selten bankmäfsigen Kontokorrentkredit zum Zweck der Ziehung von Kreditwechseln, vielmehr gewähren die Banken nur Kredit gegen Unterlage von Waren oder Wertpapieren. Wechsel sind gemeinhin nur als Warenwechsel Grundlage von Bankkredit und unter- liegen aufserordentlich hohen Diskontsätzen. Demgegenüber war es für die Moskauer Industriellen ein gi'ofser Vorteil, auf Knoop Kreditwechsel ziehen zu können, um so mehr als es in ganz Rufsland kein angeseheneres Accept gab, als das Knoops. Ferner war Knoop bei den meisten der von ihm ge- gründeten Spinnereien Aktienteilhaber, häufig im Vorstande, gewöhnlich, wenn auch nur durch einen seiner Vertrauten, im Aufsichtsrat. Ähnlich wie Rockefeller nicht selten unter anderem Namen mit sich selbst Geschäfte abschlofs, so sind die Danileffskische, die Wosnecenskische, die Israailoffskische Manufaktur — alles hervorragende Moskauer Spinnereien — gleich Knoop. Selbst bei einigen der Morosoffschen Betriebe, welche als die selbständigsten im heutigen Rufsland gelten, ist die Firma Knoop noch immer einflufsreicher Aktionär. Bei der aufserordentlichen Rentabilität der Knoopschen Gründungen genügten oft wenige Jahre, um einen Reservefonds aufzubringen, der zur Verdoppelung der Spindelzahl ausreichte. Bei Ge- schäftserweiterung auf dem Wege der Vermehrung des Aktien- kapitals machte sich Knoop häufig durch Übernahme der neuen Aktien für den erstgewährten Kredit bezahlt. Aber die Machtstellung Knoops hatte noch eine weit festere Grundlage. Er war imstande, innerhalb der russischen Zollgrenzen den Moskauern überlegene Konkurrenz zu machen. Es ist dies die Bedeutung der Gründung eines Grofsbetriebes ersten Ranges zu K r ä n h o 1 m bei Narwa. Versteht man unter „Spinnerei" nicht Firma, sondern Gebäudekomplex, so ist die - 97 — Spinnerei zu Narwa wahrscheinlich die gröfste der Welt; mitte der neunziger Jahre, als ich die Fabrik besuchte, hatte sie mehr als 400 000 Spindeln und über 2000 Webstühle. Sie benutzt den herrlichen Wasserfall der Narwa, dem sie durch Turbinen mehrere tausend Pferdekräfte abgewinnt. Die Küsten- lage ermöglicht billigste Beschaffung von Kohlen, Baumwolle, Maschinen und Baumaterial. Das Ganze ist ein Stück England auf russischem Boden. Nur die Turbinen sind deutsches Fabrikat. Der Weitblick des alten Knoop zeigte sich darin, dafs er bereits 1857 den Wasserfall kaufte; 1860 war das erste Fabrik- gebäude vollendet. Diese Gebäude sind durchweg aus Stein und Eisen gebaut; die Arljeitsräume sind weit und luftig; die Erschütterung durch die Maschinen ist äufserst gering. Alle technischen Fortschritte kommen nach Rufsland via Kräuholm ; schon 1863 waren nach Scherer selbstreinigende Kratzen da- selbst in Thätigkeit^. Auf die Fabrik zu Kränholm trifft also ebenso wenig der Vorwurf technischer Rückständigkeit, wie gesundheitswidriger Arbeitsräume zu, welchen das Journal der Technologen gegen die Knoopschen Gründungen erhebt. Die Arbeitsräume zu Kränholm dürften in hygienischer Beziehung vielmehr zu den besten Rufslands gehören. Auch die Arbeitsverhältnisse liegen günstiger in Krän- holm wie in Moskau. Der langjährige Direktor, ein Eng- länder aus Blackburn, sagte mir, der esthnische Arbeiter, welcher in Narwa vorherrscht, sei zwar schwerer zu regieren, als der Russe; insbesondere sei er nicht mit Schlägen zu regieren, da er wieder schlage, aber er sei produktiver und trotz höherer Wochenlöhne billiger. In der That fand ich bei meinem Be- suche in Narwa 1893 aufserordentiich günstige Produktions- verhältnisse und eine Arbeitsersparnis, welche von guten deutschen Spinnereien kaum erreicht werden dürfte. Ich notierte folgende Zahlen : Garnnummer 32 s pair of mnles zu 1512 Spindeln j bedient von nur „ 35 „ „ „ „ „ 1552 „ l 3 Arbeitern 40 „ „ „ „ „1996 „ 1(1 Spinner, 2 Geh.) 1 Scherer a. a. 0. S. 497. V. Schulze-Gaevernitz , Studien a. Rufsl. 7 — 98 — Der Spinner bezog in diesem Falle einen Wochenlohn von 11 — 12 Rubel, also eher mehr als die deutschen Spinner, die ich in meinem „Grofsbetriebe" anführte. Seit den achtziger Jahren hat sich — ein Zeichen steigender Produktivität der Arbeit — in Narwa die Zahl der Spindeln bedeutend vermehrt, die der Arbeiter dagegen vermindert. Wenn auf eine Spindelzahl bis zu 20000 nur ein Aufseher kam, so war auch dieses Verhältnis zwar ungünstiger als in England , dagegen keineswegs schlechter als in Deutschland. Der hohe technische Stand von Kränholra zeigte sich auch darin, dafs hier wohl allein in Rufsland feinste Garne, von Nr. 90s aufwärts, aus ägyptischer Baumwolle und unter An- wendung von Kämmmaschinen erfolgreich gesponnen wurden. Betreffend die Schnelligkeit der Webstühle notierte ich (Januar 1893) folgende Ziffern, die ebenfalls von den besten deutschen und schweizer Beispielen damals kaum erreicht wurden. Breite 1 arschin 220 Schläge die Minute, „ 1^'^ „ 200 „ „ 11/2 „ 180 „ „ „ Ein Weber bediente 2 — 3 Stühle, und auf 50 Stühle kam erst ein Aufseher ^. Im ganzen genommen dürfte Kränholm nicht teurer als Deutschland produzieren. Die Überlegenheit des Betriebes zu Kränholm über die Moskauer Spinnerei ist aufserordentlich grofs. Aus den Angaben eines englischen Blaubuchs bereits aus den siebziger Jahren lassen sich folgende Ziffern be- rechnen ^ : Jährliche Produktion pro Arbeiter der Si^innerei in Esthland (Kränholm) Wert 402 Rubel, Jährliche Produktion jjro Arbeiter der Spinnerei in Moskau „ 146 „ Jährliche Produktion pro Arbeiter der Spinnerei in Wladimir „ 141 „ 1 1 Arschin = 71.1 cm. Vergl. hierzu die Angaben meines „Grofs- betriebes", S. 142—145. 2 Reports respecting factories for .spinning and weaving, London 1892 (C. 734), S. 95. — 99 — Der Besitz dieses technisch hochstehenden Betriebes er- möglicht der Firma Knoop die Garnpreise für ganz Rufsland festzusetzen. Etwaige Konkurrenten wären nicht in der Lage, sie zu unterbieten, weil sie alle weit teurer produzieren als Kränholm. Bessere Preise aber als Knoop erhalten sie nicht, weil Knoop jederzeit Riesenquanta auf den Markt werfen kann. Thatsächlich bekommt Knoop (meines Wissens wenigstens für Kränholm) sogar bessere Preise als andere, weil sein Garn besser ist, wie überhaupt der Preis bei den einzelnen Spinne- reien doch etwas verschieden ist, je nach Güte und Renommee ihres Garnes; Knoop setzt nur die Basis fest. Dreimal im Jahre pflegte der alte Knoop, auch nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte , nach Moskau zu kommen , um die Garnpreise festzusetzen. Niemand verkaufte, ehe er gesprochen hatte; die Weber hatten sich mit ihrer Garnnachfrage einfach „einzu- schreiben". Beachten wir den Unterschied zwischen England und Rufsland: in England werden die fertigen Garne gegen bar zu den wechselnden Tageskursen an der Manchesterbörse gehandelt; in Moskau verkaufen die Spinner ihre künftige Produktion gegen Kredit oft auf Monate hinaus und auf Grund autorita- tiver Preise. Knoop hat den Gesamtbestand der russischen Spinnerei stets etwas unter der Nachfrage der Weber gehalten. Trotz- dem wäre es irrig zu meinen, dafs den Preisfestsetzungen Knoops einfach die englischen Preise plus Zoll zu Grunde ge- legen hätten. Dies war nur der Fall bei den Garnen über 60, welche noch heute grofsenteils eingeführt werden. Bei den niederen Nummern war eine volle Ausnutzung der Zölle un- möglich, und findet daher nur in Ausnahmsfällen Einfuhr aus England statt. In der naturalwirtschaftlichen Verwendung von Wolle und Flachs besitzt nämlich [der Bauer zur Zeit ein Schutzmittel gegen übermäfsige Preissteigerungen des Baumwollgarnes. Beispielsweise war es während des amerika- nischen Bürgerkrieges in Rufsland weniger möglich als in Westeuropa, die Preise der Baumwollwaren über das gew^ohn- heitsmäfsige Niveau emporzuschrauben ^ Freilich versagt diese 1 Scherer a. a. O. S. 522, — 100 - Waffe, jemehr der Bauer zwecks Getreideverkaufes das Land aufpflügt, die Schafhaltung einschränkt, den Flachs verkauft. In dieser Richtung bezeichnet die steigende Ausfuhr von Flachs ohne Steigerung seiner Anbaufläche und das Verschwinden der Hanfgärten in Südrufsland eine Steigerung der Machtlage der Moskau-Wladimirschen Industrie im Preiskampf mit den Bauern ^. Bei seinem Tode 1894 war Knoop zweifellos der gröfste Industrielle Rufslands. Sein Geschäft hatte internationale Be- deutung. Er besafs Einkaufshäuser in New-Orleans und Bom- bay. Als die russische Regierung aus den mäfsigen Finanz- zöllen hohe Schutzzölle für Rohbaumwolle machte, da erschien Knoop auf dem mittelasiatischen Produktionsfelde zwar als einer der letzten, aber war doch bald der gröfste. Das Haus de Jersey, welches mit Knoop verschmolzen wurde, besorgte in Manchester die Ausfuhr von Maschinen und Garn, während die Moskauer Hauptniederlassung die gröfste russische Grofs- industrie leitete. Gewifs hat Knoop nicht für die schönen Augen seiner Kunden gearbeitet. Aber die Thatsachen zeigen , dafs auch seine Klienten reich wurden. Seine Thätigkeit war also nütz- lich für Rufsland. Nicht zu unrecht bezeichnet die Firma ihre Stellung als die einer „wohlwollenden Vormundschaft". Wenn ich oben von einem Herrschaftsverhältnis sprach, so liegt hierin kein Vorwurf, wie ihn die meist noch kapitalfeindliche Presse Rufslands mit diesem Worte verbindet. Was erstrebt der Staatsmann und der Schriftsteller, was der Bankokrat und der Grofsindustrielle, was aber auch der westeuropäische Arbeiterführer anders, als die Herrschaft und Organisation von Menschen? Erscheinungen, wie die eines Rockefeiler und eines Knoop, eines Stumm und eines John Burns sind gerade für unsere Zeit bezeichnend 5 ihnen gegenüber ist es unverständ- lich, wie ein moderner Philosoph (Nietzsche) behaupten konnte, 1 Vergl. Nicolai — 011, Skizzen unserer Volkswirtschaft seit der Eeform. Petersburg 1893. S. 238/39. — 101 — dafs die urwüchsigen Herrschaftsinstinkte den Menschen heute verloren gegangen seien. Übrigens ist auch auf industriellem Gebiete dafür gesorgt, dafs die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die mo- narchischen Stellungen in der Industrie sind nicht erblich ; sie stehen, wie man sagt, auf zwei Augen. Auch der Firma Knoop wird diese Erfahrung nicht erspart bleiben; um so un- nötiger aber sind die Warnrufe der russischen Presse gegen die kapitalistische Übermacht des Hauses Knoop. Bald nach dem Tode Knoops trat ein, was Knoop stets zu vermeiden gewufst hatte: zum erstenmal wurde das Ver- hältnis der Firma zu den Moskauer Spinnern Gegenstand gerichtlicher Vei'handlung. Der Strafprozefs gegen Sergejeff wurde ein Sensationsprozefs ersten Ranges. Nicht darin be- stand sein Interesse, dafs der Angeklagte die Firma Knoop in gröblicher Weise zu betrügen versucht hatte; interessanter war, dafs man einen Einblick gewann in die Beziehungen zwischen Knoop und seinen Klienten, die der Öffentlichkeit bisher entzogen waren. Sergejeff war Direktor und Hauptaktionär der Lapins- kischen Manufaktur; Hauptgläubiger war Knoop. Da die übrigen Aktien im Besitz nächster Verwandten des Sergejeff waren, so hatte die Form der Aktiengesellschaft augenscheinlich den Zweck, im Interesse des finanzierenden Gläubigers die Privatschulden des Sergejeff von denen der Gesellschaft zu trennen. In der That hat Knoop nur mit der Gesellschaft, grundsätzlich nicht mit Sergejeff persönlich Geschäfte gemacht. Das Verhältnis zwischen der Lapinskischen Manufaktur und dem Hause Knopp war das typische. Knoop hatte die Fabrik in Kommission gebaut, versah sie mit Baumwolle und Garn und liefs sie von seinen Technikern beaufsichtigen. Auch gewährte er der Manufaktur laufenden Kredit. Seine Sicherheit bestand in einem Faustpfande, das er an dem gröfsten Teil der Aktien der Manufaktur ausübte; in dem Knoopschen Kassenschrank aufbewahrt, waren sie der Ver- fügung ihrer Eigentümer entzogen. In gleicher Weise hatte die Firma Knoop das Wechselportefeuille der Manufaktur in — 102 — Depot und damit die Verfügung über die ausstehenden For- derungen ihrer Schuldnerin. Die Firma Knoop hatte die Güte mir mitzuteilen, dafs diese Mafsregel ergriffen worden sei: „schon lange, bevor es zum Bruch mit der Manufaktur kam und im vollen Einverständnis mit der Verwaltung". Seit seiner Verheiratung führte Sergejeff ein verschwen- derisches Leben und vernachlässigte den Betrieb. August 1889 betrugen die Forderungen der Firma Knoop an die Manufaktur 1 200 000 Rubel , die übrigen Schulden 200 000 Rubel, das Aktivum V/2 Millionen Rubel. In dieser kritischen Lage be- schlofs die Firma Knoop, die Zahlung ihrer Forderungen zu verlangen , solange noch volle Befriedigung zu erwarten stand. Sergejeff parierte den Schlag durch Verletzung des Strafgesetzbuches. Infolge des Mifsverständnisses eines Knoop- schen Buchhalters wufste er seine an Knoop verpfändeten Aktien dem Gewahrsam des Gläubigers zu entziehen. Nun- mehr von jeder Rücksicht frei, nahm er aus dem Geschäfte, was zu Geld zu machen war: die fertige Ware wurde schleunigst verkauft, ja der Versuch gemacht, nach einem ein- getretenen Brande eine Versicherungssumme von 200 000 Rubel dem Gesellschaftsvermögen zu entziehen. Nicht ohne Interesse war das Plaidoyer des Verteidigers des Sergejeff, welcher Knoop als den Ausbeuter, Sergejeff als den Ausgebeuteten hinzustellen versuchte. Wenn Knoop sich als Kommissionär des Sergejeff bezeichne, so sei dies eine ähnliche Bescheidenheit, wie die des Fürsten Bismarck, welcher sich mit dem bescheidenen Namen eines ehrlichen Maklers be- gnügt hätte zu der Zeit, da er der Schiedsrichter Europas gewesen sei. Demgegenüber ist folgendes hervorzuheben: gewifs bestand eine Abhängigkeit, aber nicht ohne Grund. Denn ohne Knoop wäre die Lapinskische Manufaktur gar nicht vorhanden gewesen und hätte dem Sergejeff nicht die Mittel zu einem verschwenderischen Leben gewährt. Hat doch die Manufaktur im Verlaufe von nur 12 Jahren 982952 Rubel Gewinn an ihre Aktionäre verteilt. Gerade die letztere Thatsache weist aber bereits auf die Gründe, welche früher oder später den Verfall der Knoopschen — 103 — Macht herbeiführen müssen. Der alte Knoop hatte fast durch- weg" tüchtige Geschäftsleute mit soliden Lebensgewohnheiten tinanziert, wenn er auch nicht in allen Fällen ihnen eben solche Frauen besorgen konnte. Bei den riesenhaften Ge- winnen müssen die Klienten allmählich in die Lage kommen, ihren Patron abzustofsen. Hierzu kommt, dafs eine junge Generation herangewachsen ist, welche mit der Firma Knoop nicht mehr durch ein persönliches Verhältnis verknüpft ist. Zwar haben die russischen Spinner noch neuerdings bei Gelegenheit des Prozesses gegen Sergejeff in einer Eingabe an das Finanzministerium die nützliche Thätigkeit des Hauses Knoop einstimmig anerkannt. Aber das hindert nicht die Entwicklung der Thatsache: die russischen Spinner werden „flügge", die Firma Knoop wird zum „Erhaltungsconcern". Aber auf industriellem Gebiete, wie auf politischem ist Still- stand gleich Rückgang. Aber noch aus einem weiteren Grunde werden die Mos- kauer Spinner unabhängig von Knoop. Moskau wird all- mählich dem Kreditnexus der Welt eingegliedert, womit die Sonderstellung des Kredit vermittelnden Einfuhrhauses auf- hört. Heute fahren nur noch die kleineren Industriellen, welche am altnationalen Typus festhalten, fort, beim Importeur in russischer Valuta zu kaufen. In diesem Falle sichert sich der Importeur bei den langen, oft neunmonatlichen Fristen, zu denen gekauft wird, gegen Preisschwankungen von Baumwolle und Rubel durch doppeltes Termingeschäft; er macht seinem Käufer einen selbständigen Preis, natürlich unter Berück- sichtigung der zu laufenden Risiken und mit einem anständigen Gewinnaufschlag, wie er allemal da einzutreten pflegt, wo der Kaufmann dem Nichtkaufmann gegenübersteht. Viel häufiger ist es bereits, dafs der Industrielle in ^ vom Importeur kauft und die Sicherung gegen Valutaschwankungen selbst vornimmt. Aber auch in diesem Falle ist der Importeur noch Selbstkontrahent und in einer Machtstellung gegenüber dem Industriellen , weil dieser letztere bei dem ausländischen Liverpooler oder amerikanischen Ausfuhrhause kreditlos ist und deswegen den Moskauer Importeur nicht umgehen kann. — 104 — Dadurch aber wurde eine Bresche in die Machtstellung des Importeurs gelegt, dafs die gröfseren mittelrussischen Industrie- unternehmungen in Europa bekannt und kreditwürdig wurden — es wurde dies gewifs dadurch beschleunigt, dafs die tüchtigsten der Fabrikantenfamilien ihren jungen Nachwuchs nach West- europa schickten, wo er in den Comptoiren, insbesondere Manchesters, sich die kommerzielle Technik des Westens an- eignete; viele der jüngeren Fabrikanten Moskaus und Wladi- mirs sprechen geläufig englisch. Soweit nun die russischen Fabrikanten über westeuropäische Bankverbindungen ver- fügen, auf welche sie Ausländern Rembours geben können, sind sie in der Lage, im eigenen Namen Geschäfte im Westen zu kontrahieren. Gegenwärtig kaufen zahlreiche Moskauer Häuser direkt in Amerika Baumwolle, in England Maschinen. Der Amerikaner oder Engländer macht sich in diesem Falle durch Trassierung auf die vom Russen angegebene Rembours- stelle in London oder Berlin bezahlt. In diesem Falle wird der Importeur zum Agenten herabgedrückt und mufs sich mit einer mageren Provision begnügen. Wenn so die russische Baurawollindustrie in die Lage gekommen ist, ihre Verschuldung gegenüber der Firma Kuoop allmählich zu lösen, wenn ferner die monopolhafte Stellung , des Importeurs im Zurücktreten begriffen ist , so dürfte die Firma Knoop als sachkundige finanzierende Kapital- macht für die weitere Ausdehnung der Industrie ihre Be- deutung und ihren Nutzen noch lange behaupten. Gerade gegenwärtig entwickelt sich die mittelrussische Baumwoll- industrie in raschem Tempo vorwärts, hauptsächlich auf Grund des Kredites , welchen die den Bezug der Maschinen ver- mittelnden Firmen gewähren — und unter diesen steht Knoop noch heute obenan, wenn auch nicht mehr ohne Konkurrenz. Es ist diese Thätigkeit der Firma Knoop für Rufslaud um so nützlicher, als noch immer die Kapitalbeschaffung für zu gründende Industrien in Moskau mit grofsen Schwierigkeiten verknüpft ist. Den privilegierten Bankeji für ßodenkredit steht nicht das Recht zu, industrielle Anlagen (Fabriken, — 105 — Maschinen) zu beleihen. Bei ihren Beleihungen wird aus- schliefslich der Grund und Boden und das Gebäude geschätzt. Privater Bodenkredit aber ist sehr teuer (mindestens 10 bis 12 '* o) wegen des Mangels eines Hypothekenrechtes, das die Grundsätze der Publizität und Priorität verwirklichte. Frühere Belastungen sind schwer zu ermitteln und Vorhypotheken gegen die Eingriffe des späteren Pfandgläubigers nicht ge- nügend geschützt. Somit ist die Industrie mehr als ander- wärts auf die Vermittlung von Emissionsbanken angewiesen. Es geschieht dies meist in der Weise, dafs die Aktien (An- teile, pai) unter .die sich persönlich bekannten Gesellschafter bezw. Gründer verteilt werden, wogegen man zwecks weiterer Kapitalbeschaffung den Weg der Ausgabe von Obligationen beschreitet; diese Obligationen werden durch die Banken emittiert oder in Pfand genommen. Hierbei machen die Banken Gewinne von 10 — 20 '^io vom Nennwerte der Papiere. Es ist bekannt, dafs die Banken gegenwärtig den Rahm der russischen Industrieentwicklung abschöpfen, und dafs ihre Gewinne nach den Ausweisen des Finanzboten an der Spitze sämtlicher daselbst aufgeführten Gesellschaftsunternehmungen stehen. Bisher hat die Firma Knoop die Thätigkeit dieser Emissionsbanken der Baumwollindustrie fern gehalten. Es liegt hierin ein Verdienst, da sie jene Banken an Fachkunde ge- wils übertrifft. Ihre eigenen Gewinne schmälern jenes Ver- dienst nicht. Vielmehr ist es die Seltenheit des Kapitals, welche der kapitalvermittelnden Instanz auf lange hinaus eine Monopolstellung sichert, die nur im Laufe der Zeit und ins- besondere durch stärkeres Einströmen ausländischen Kapitals gehoben werden kann, Fragen Avir, welches war das Ergebnis der Lebensarbeit Knoops? Die Slavophilen hatten behauptet, in Rufsland gebe es keine Parteien im westeuropäischen Sinne. Sie hatten recht gehabt. Der westeuropäischen Partei liegt ein Wirt- schaftsinteresse zu Grunde; dasselbe mufs geldwirtschaftlicher Natur sein; denn naturalwirtschaftliche Verhältnisse bleiben von der Wirtschaftspolitik der Allgemeinheit unbeeinÜufst und haben daher keine Tendenz, auf sie zurückzuwirken. Als der — 106 — russische Landbau geldwirtschaftlich zu werden anfing, da er- wiesen sich seine Vertreter, Adel und Bauer, geistig als Kinder der alten Zeit ; sie wurden keine Partei. Aber gerade die Absonderung vom Westen, welche die Slavophilen ver- langt hatten, das heifst wirtschaftlich der Schutzzoll, führte zur Widerlegung der slavophilen Lehre. Unter den schützenden Flügeln Knoops wuchs ein junges und energisches Wirtschafts- interesse heran. Allmählich dem Knoopschen Einflüsse ent- wachsend , sind seine Vertreter auf russischem Boden heute die Kerntruppe der ersten Partei im westeuropäischen Sinne, einer Partei, die um so bedeutsamer ist, je ärmer und natural- wirtschaftlicher das Land noch im allgemeinen. V. Die Produktionskosten in 3Ioskau und AVesteuropa. An der Hand der englischen Baumwollindustrie suchte ich anderorts ^ die charakteristischen Merkmale der Avest- europäischen Industrieentwicklung nachzuweisen. Ich führte dieselben auf zwei Grundthatsachen zurück; einmal auf die fortschreitende geographische und kapitali- stische Konzentrierung der Industrie unter Spe- cialisierung ihrer Produkte, sodann auf den fort- schreitenden Ersatz der Arbeit durch Kapital unter A b n a li m e d e r K o s t e n d e r A r b e i t p r o P r o d u k t bei Steigerung der Wochen Verdienste der Arbeiter und Verkürzung der Arbeitszeit. Es ist nicht ohne Interesse, die Anwendbarkeit dieser Sätze auf ein osteuro- päisches Wirtschaftsgebiet zu prüfen. In der That ergeben sich, wie wir sehen werden, eine Reihe von Abweichungen: die junge russische Grofsindustrie beginnt mit gewissen Eigentümlichkeiten, welche im Westen nur langsam erreicht wurden; dagegen zeigt sie keineswegs eine kontinuierliche ^ Der Grofsbetrieb , ein Avirtschaftlicher und socialer Fortschritt. Leipzig, Duncker und Humblot, 1892. Übersetzungen des Buches mit einigen geringfügigen Änderungen : The Cotton trade in England and on the Contineut. Manchester, Marsden Co., 1895. La grande industi'ie. Paris, Gruillaumin, 1896. Daneben erschien eine italienische und eine russische Übersetzung, letztere mit einem interessanten Vorwort meines Freundes P. Struve. Petersburg. Pantelejeff, 1897. — 107 — Vorwärtsentwicklung im Sinne der obigen Regel. Selbst scheinbar rückläufige BcAvegungen korüinen vor, werden jedoch dadurch erklärt, dafs die Industrie — zuerst ein ausländischer Setzling — in die nationale Volkswirtschaft organisch hineinwächst, wofür wir schon oben in dem Siege der bäuerlichen Industrie über die merkantilistische Fabrik ein Beispiel kennen lernten. Um die Anwendbarkeit des oben aufgestellten allgemeinen Satzes auch für Eufsland zu verstehen, gedenke man zweier Thatsachen, Avelche Rufsland vom Westen tiefgreifend unterscheiden: einerseits des kolo- nialen Charakters der russischen Industrie und der damit verbundenen hohen Kosten des Kapitals, so- dann der mittelalterlichen Volkspsychologie und der daraus entspringenden Eigentümlichkeiten der in- dustriellen Arbeit. In Mittelrufsland kostet die Spindel drei- bis viermal so viel wie in England. Aljantschikoff gab in der Sitzung der Gesellschaft zur Beförderung der russischen Industrie vom 3. Dezember 1895 folgende Ziffern, welche mit anderen An- gaben, z. B. denen Mendelejeffs, genügend übereinstimmen. Kosten pro Spindel Maschinen, Kessel 15 Rubel 59V'2 Kop. „ „ „ Arbeiterkasernen u. ä. 8 „ 27V'2 „ „ „ „ Fabrikgebäude 7 „ 70V2 „ „ „ Wege 1 ,, 56 Summa: russ. Spindel :33 Rubel 13^2 Kop. Eine englische Spindel kostet demgegenüber circa 10 Rubel und weniger. I. Entsprechend den oben aufgestellten Gesichtspunkten fragen wir zunächst nach dem Mafse der kapitalistischen Konzentrierung der russischen Baumwollindustrie. 1. Im Westen entwickelte sich die grofsindustrielle Unter- nehmung allmählich aus Mittel- und Kleinbetrieben. Durch den Willen einer kapitalistischen Grofsmacht wurde sie fertig auf russischen Boden verpflanzt. Ahnliches Averden wir unten für die Eisenindustrie kennen lernen. Die russische Industrie- entwicklung beginnt vielfach mit gewaltiger Kapitalkonzentrie- rung. Auch wenn wir der Knoopschen Gründung zu Narwa — 108 — nicht gedenken , so ist doch die Durchschnittsspindelzahl pro Fabrik in Moskau und Wladimir gröfser als in Deutschland und England. Demgegenüber nimmt der Umfang der Groi's- betriebe in Rufsland möglicherweise nicht so ununterbrochen zu, wie in Westeuropa, Wir befinden uns hier in der eigentümlichen Lage, dafs zwei bekannte Nationalökonomen das entgegengesetzte Er- gebnis aus der ofhziellen Statistik herauslesen und mit Ziffern belegen. Ich selbst bin nicht imstande , das vorhandene statistische Material zu bewerten. Ich lasse also beide Autoren zu Worte kommen. Karischeff ^ behauptet, dafs in der von ihm untersuchten Periode (1885 — 91) der Umfang der Fabrikunternehmungen sich im Durchschnitt verringert habe, dafs die Zahl der kleinen und mittleren Betriebe mehr zugenommen habe, als die der grofsen, und dafs im Wachstum der grofsen ein Stillstand eingetreten sei. Diese Thatsache gelte für die drei wichtigsten Gewerbszweige, welche 84 ^/o der Gesamt- produktion der russischen Grofsindustrie hervorbringen. Der Wert der Produktion pro Fabrik betrüge auf Grund der offiziellen Statistik in lOOO Rubeln: 1885 1891 in der Textilindustrie 145 137 in der Metallindustrie 79 86 in der Nahrungsmittelindustrie (Müllerei, Zuckerfabrikation, Brennerei) 46 33 Tugan - Baranowski behauptet das Gegenteil ; nach den von ihm beigebrachten Ziffern erscheint Karischeffs Satz in seiner Allgemeinheit mehr als zweifelhaft. Unrichtig ist er jedenfalls für die beiden Grofsindustrien , welche der Ver- brauchssteuer unterliegen, für deren Statistik der Staat daher mehr als eine blofs platonische Zuneigung empfindet-. 1 Karischeff in der Monatsschrift „Russischer Reichtum", Heft 11 und 12. 1894. Die offizielle Statistik giebt allerdings zu mannig- fachem Zweifel Anlafs, schon weil der Begriff Fabrik sehr schwankend ist. Hierzu kommt das allgemeine Herabgehen der Warenpreise. Vergl. Tugan-Baranowski a. a. O. S. 352—356. 2 Im Jahre 1869 gab es 4300 Branntweinbrennereien in Rufsland, — 109 - Aber selbst wenn die von Karischeff aufgestellte Be- hauptung richtig wäre, so ist es jedenfalls verfehlt, wenn die nationalistische Wirtschaftslehre daraus folgenden Schlufs zieht: der Kapitalismus rinde in Kufsland nur unfruchtbares Erdreich und werde sich dort nie so entfalten, wie er es im Westen jit^-ethan habe. Im Gegenteil, man könnte jene Thatsache, so- weit sie richtig sein sollte, auch auf eine Zunahme des Kapitalismus in Rufsland deuten. Das Kapital wird billiger; die monopolhafte Stellung weniger Kredit vermittelnder In- stanzen gerät in das Wanken; die Unternehmungslust wächst; viele beginnen sich am industriellen Wettkampf zu beteiligen. Russlands Industrie verliert ihren kolonialen Charakter. Ahnlich pflegen im Zahlungsverkehr Europas mit fernen und unkultivierten Ländern zunächst Devisen hoher Beträge zu erscheinen, weil nur wenige, gröfste Häuser des Kolonial- landes in Europa Kredit geniefsen; je mehr das Land einge- gliedert wird in den europäischen Kreditnexus, je kapita- listischer es also wird, desto mehr tauchen neben den grofsen auch die kleineren Wechsel der mittleren Geschäftswelt auf. 2. Die russische Industrie zeigt auch um deswillen eine grofse Kapitalkon Zentrierung, weil sie mehr als irgend welche andere europäische Industrie die verschiedenen Betriebszweige kombiniert. Ich gebi'auche diesen Ausdruck in dem von Sinz- heimer, wie mir scheint, glücklich umschriebenen Sinne ^ und verstehe darunter die Vereinigung verschiedener Produktions- stadien und Hilfsbetriebe in einem Unternehmen: derselbe Betrieb fertigt die Halbfabrikate, Hilfstoffe, Werkzeuge, Modelle u. s. w. selbst, welche zur Herstellung des Ganz- 1887/88 nur 2139; Eude der 60 er Jahre erzeugte der Betrieb 16 900 Wedro, zwanzig Jahre später 41300 Wedro im Durchschnitt. Janschull, Grundsätze der Finanzwissenschaft. Petersburg 1890, erste Auflage, S. 456. 1882/83 erzeugten 237 Zuckerfabriken I71/2 Millionen Pud, 1893'94 226 Fabriken über 35 Mill. Pud Zucker. Kaschkaroff, Die haupt- sächlichsten Resultate der staatlichen Finanzwirtschaft 1885^1894. Petersburg 1895, S. 81. ^ Sinzheimer, Über die Grenzen der Weiterbildung des fabrik- mäfsigeu Grofsbetriebes. Stuttgart 1893. S. 20. — 110 — fabrikates erforderlich sind. Es bedeutet dies eine Ver- minderung der Einkaufs- und Verkaufsgeschäfte innerhalb des Produktionsprozefses. Der kombinierte Betrieb wird also insbesondere dort aufkommen, wo bei diesen Einkaufs- und Verkaufsgeschäften der eine der beiden vertragschliefsenden Teile entschieden schwächer als der andere ist und infolge-, dessen ungünstiger produziert: der Starke gliedert sich das Produktionsgebiet des Schwachen an. Dies ist in RuCsland der Fall bei der Weberei , da^ wie wir sahen , der Weber ab- hängig ist von den monopolistischen Preisfestsetzungen des Spinners. Der Spinner, welcher eignes Garn verwebt, hat daher weit geringere Produktionskosten, als der Garn kaufende Weber. Zudem ist der Weberei und Spinnerei verbindende Betrieb geschützt gegen die Gefahren, welche aus den Preis- schwankungen der Garne hervorgehen — Gefahren, welche in Rufsland um so gröfser sind, als der Garneinkauf und der Verkauf der Gewebe zeitlich weit auseinander fallen. Nach dem öfters citierten Bericht der Wladimirschen Landschaft von 1890 hatten bereits damals sämtliche Spinnereien des Gouvernements sich Webereien angegliedert; es sind dies Grofsbetriebe ersten Ranges, im westlichen Teile des Gouverne- ments gelegen und thatsächlich nur durch eine zufällige politische Grenze von der Moskauer Spinnerei getrennt, die .ebenfalls allgemein mit Weberei kombiniert ist. Ihnen gegen- über kommen die kleineren, kapitalschwachen und unorgani- sierten Webereien, welche im östlicheren Iwanowo ihren Mittel- punkt haben, stark in das Gedränge und geraten zum Teil in direkte Abhängigkeit von ihren Garnlieferanten ^. Man nimmt an, dafs die kombinierten Grofsbetriebe Moskaus und des westlichen Wladimirs 15—20 °/o des angelegten Kapi- tals abwerfen, die kleineren auf Garneinkauf angewiesenen Webereien des östlichen Wladimirs dagegen nur 7 — lO^io. — So siegt auch in dieser Hinsicht der europäische Setzling, ^ Vergl. Swirski, Fabriken und andere Industrieunternehmungen des Wladimirscheu Gouvernements. Ausgabe der Landschaft. 1893. S. 18—21. — 111 — den ein kundiger Gärtner aus Europa nach Moskau ver- pflanzt hatte, über die ältere und eigenständige Entwicklung- Wladimirs. Im Gegensatz zu der mittelrussischen Entwicklung, welche die kombinierten Betriebe auf Kosten der unkombinierten be- günstigt, sind in England die früher auch dort verbunden ge- wesenen Produktionsstadien der Spinnerei und Weberei aus- einandergefallen. Vom technischen Standpunkt aus ist diese Trennung vorzuziehen, weil der Leiter des Geschäftes seine Kenntnisse und Kräfte auf ein Gebiet vereinigen kann; kommerzielle Gründe aber sprechen dort nicht mehr für die Vereinigung, wo ein börsenmäfsiger Garnmarkt die Chancen für Spinner und Weber ausgleicht, und wo die Risiken der Preisschwankung schon deswegen geringer sind , weil Baum- wolle und Garne im Verlaufe weniger Tage durch die Fabrik hindurchgejagt werden ^ Geht die Verbindung von Weberei und Spinnerei schon auf unentwickelte Marktverhältnisse zurück , so ist die in Rufsiand übliche Vereinigung der Baumwollgrolsbetriebe mit unzähligen Hilfs- und Nebenbetrieben erst recht ein Zeichen der Rückständigkeit der volkswirtschaftlichen Umgebung. Es gilt das zunächst von den Maschinenwerkstätten , wie denn z. B. in ganz Wladimir eine selbständige Maschinenfabrik irgendwelcher Bedeutung überhaupt nicht besteht. Es gilt das aber nicht minder von all den Betrieben, welche dem Unterhalt der Arbeiter dienen und durch die eigentümliche Natur der russischen Fabrikarbeit notwendig gemacht werden, z. B. Bäckereien, Schlächtereien, Kramläden, Bädern u. s. w. Ein Auseinanderfallen aller dieser Betriebe wäre nur denkbar mit fortschreitender geographischer Sammlung der Industrie nach Städten und Eisenbahnstationen, was bisher durch die vorwiegende Holzheizung verhindert wurde. ^ Über die Frage der Kombinierung von Weberei und Spinnerei, ihre Vorzüge und Nachteile vergl. meinen „Grofsbetrieb", Leipzig 1892, S. 98—110; daran auschliefsend Martin, Schmollers Jahrbuch Band XVII, S. 674, und meine Erwiderung darauf, daselbst S. 1228, endlich Sinz- heimer a. a. O. S. 21, 26, 172. — 112 — Die russische BaumwolHndustrie, wie die russische Industrie überhaupt, zeigt neben starker Kombinierung der Betriebe eine geringe Specialisierung der Produkte, obgleich gerade hierin eines der wichtigsten Merkmale des industriellen Fort- schritts besteht. Die russischen Baumwollfabriken spinnen viele und wechselnde Garnsorten und verfertigen die mannig- faltigsten Arten von Geweben. Es beruht dies auf der Armut des Marktes, welcher unfähig ist, eine Massenproduktion auf- zunehmen , wie sie gerade die Eigentümlichkeit der speciali- sierten Grofsindustrie ausmacht. II. Was in zweiter Linie den Ersatz der Arbeit durch Kapital betrifft, so ist allgemein hervorzuheben, dafs man in Rufsland vorwiegend solche Produkte herstellt, in denen die Elemente der Arbeit wie des Kapitals gegenüber dem Rohstoff zurücktreten — Beleg einer längst gemachten Be- merkung des Josiah Tucker^. Rufsland spinnt grobe Garne und stellt gewöhnliche Stapelgewebe her, während England feinere Garne spinnt und Deutschland specialisierte BaumAvoll- gewebe, -Wirkereien u. s. \v. ausführt -. Der durchschnittliche Verbrauch einer russischen Spindel beträgt circa 93 englische Pfund Baumwolle gegen 61 Pfund der westeuropäisch-fest- ländischen und 34,5 der englischen Spindel, Im einzelnen ist folgendes zu bemerken : 1. Die Maschinen gehen in Rufsland verhältnismäfsig schnell, nicht viel langsamer als in England, zum Teil schneller als in Deutschland. Es beruht dies auf der Notwendigkeit möglichster Ausnutzung des teuren Kapitals. Es gilt dies von der Spinnerei wie von der Weberei. Beispielsweise fand ich bei einer Länge der Ausfahrt des Selfactors von 64 bis 66 eng- lischen Zoll in den besseren Spinnereien W^ladimirs und Moskaus Geschwindigkeiten von 13V 2 — 16 Sekunden pro Aus- 1 Four tracts on political and commercial objects. Glocester, third edition 1774, S. 30 u. 40. 2 Vergl. meinen „Grofsbetrieb", Leipzig 1892, S. 114, 152; Mendelejeff, Bericbt für Chicago, engl. Ausgabe S. 7. — 113 — und Einfahrt bei Nr. 30 und nächstfolgenden Nummern Twist, während in England die Geschwindigkeit in diesen Fällen auf 13 — 14 Sekunden zu schätzen ist. In Petersburg und Riga, wo bereits die Spindel etwas weniger kostet, werden die Geschwindigkeiten verringert. Also auch hier eine Art rück- läufiger Entwicklung. Jedoch ist eine so weit getriebene Beschleunigung in Kufs- land nur bei groben Nummern möglich; bei feinen Nummern würde wegen der Mangelhaftigkeit der Arbeit die Zahl der Fadenbrüche allzusehr steigen. Während bei 30 Twist die englischen und russischen Geschwindigkeiten etwa gleich sind, hat England schon bei Nummer 40 einen beträchtlichen Vorsprung. In Oldham läuft in diesem Falle der Selfactor mit einer Geschwindigkeit von 13 Sekunden, in Russland fand ich keinen Fall unter 20 Sekunden. Bei höheren Nummern wird dieser Unterschied immer klaffender, und damit das Spinnen feiner Garne in Rufsland unrentabel. Bei gewöhnlichen Baumwollgeweben gehen die Webstühle in Moskau und Wladimir sehr schnell, zwar nicht ganz so schnell wie in England , teilweise jedoch schneller als in Deutschland. Bei geringen Breiten von etwa 71 — 80 cm. (1 — Vis Arschin) finden sich Schützenschläge von 200 bis 215 die Minute — eine Zahl, die in England auf 240 steigt, während in der Schweiz und Deutschland wohl selten 200 überschritten wird. Bei feineren Geweben und gröfseren Breiten nimmt jedoch in Rufsland die Geschwindigkeit der Webstühle in schnellerem Mafsc ab, als in Westeuropa — aus ähnlichen Gründen, wie bei feinen Garnen. 2. Zeigt Rufsland immerhin recht günstige Geschwindig- keiten, so weist es im Vergleiche mit Westeuropa aufserordent- lich hohe Differenzen zwischen theoretischer und thatsäch- licher Leistung, d. h. grofse Verlustziffern auf. Es beruht dies einmal auf der geringeren Qualität des verwandten Roh- stoffs. Von einem Freunde, der das Baumwollgeschäft in Manchester erlernt hat und in Moskau ausübt, hörte ich folgende Äufserung: Die Moskauer nehmen mit geringerer V. Schulze-Gae vernit z , Studien a. RiiTsl. 8 — 114 — Baumwolle vorlieb wegen mangelnder Warenkenntnis und wissen aus derselben Qualität weniger zu machen, als die Eng- länder. Nicht minder aber beruhen die aufserordentlich hohen Verlustziffern auf der Rückständigkeit der Arbeit, der ein liebevolles Verständnis für die in den Maschinen nieder- gelegten Gedanken der Technik mangelt. Aus zahlreichen Beispielen, welche ich der Güte des Herrn Mikulin, Fabrik- inspektors zu Wladimir, verdanke, berechne ich für die Webereien Iwanowos den durchschnittlichen Verlust auf 40 '^'o der theoretischen Leistung, wogegen der Verlust in England nicht über 10 "/o, in Deutschland nicht über 20°/o zu gehen pflegt. ^ Übrigens fand ich in einigen vortrefflichen Grofs- betrieben Moskaus bereits weit geringere Verlustziffern, beispielsweise in der noch öfters zu erwähnenden Fabrik zu Ramenje. Bezeichnender Weise arbeitete dieser "Betrieb in zwei Ostündigen Schichten, also in einer für russische Ver- hältnisse stark abgekürzten Arbeitszeit. Durch die hohen Verluste gegenüber der theoretischen Leistung werden nicht nur die relativ grofsen Geschwindig- keiten, sondern auch die langen Arbeitszeiten aufgewogen. Einer 9 — 9^/2 stündigen Arbeitszeit in England steht in Rufs- lands Baum Wollindustrie zumeist eine 12 stündige, in der Weberei eine 13- und 14 stündige gegenüber. Trotzdem ist das Ergebnis der Maschinen im allgemeinen hier kein gröfseres als dort. Der bekannten Danilewskischen Spinnerei in Moskau und einer mafsgeblichen Spinnerei in Bolton entnahm ich folgenden Vergleich. Die Geschwindigkeit in Moskau stand wenig unter der in Bolton (hier 16 Sekunden, dort 14,6 Se- kunden); dabei betrug die tägliche Arbeitszeit in Bolton 9, in Moskau in diesem Falle 13^/2 Stunden. Trotzdem war, zur Zeit meiner diesbezüglichen Untersuchung Februar 1898, ^ Die Angaben für England entnehme ich meinem „Grofsbetrieb", Leipzig 1892, welche durch den sachverständigen Übersetzer, Herrn Hall M. I. Mech. E. Webstuhlfabrikanten zu Bury Lancashire, accep- tievt wurden. Das Buch erschien unter dem Titel: The Cotton Trade in England and on the Continent. Manchester. Marsden Co. 1895. — 115 — das Erzeugnis einer Spindel pro Tag in Moskau 1,2 engl. Pfund, in Bolton 1,1 engl. Pfund Nr. 30 Twist. Dasselbe gilt von der Ringspinnerei. Auch hier bin ich in der Lage, eine der ersten Spinnereien des Moskauer Industriebezirks, die Manufaktur zu Ramenje, mit einer mafs- geblichen Spinnerei Manchesters zu vergleichen^. In der erst- genannten Manufaktur wurde mir als gute Leistung einer Ringspindel bei Doppelschicht von 24 Stunden eine Wochen- leistung von 84 hanks bei 32 s T^vist angegeben, also für die einfache Schicht von 12 Stunden 42 hanks; dasselbe, eher mehr (40 — 50 hanks), ist die Wochenleistung einer englischen Spindel in 9stündiger Arbeitszeit" . Für die Weberei ist es schwierig, vergleichbare Zahlen anzuführen, weil absolut gleiche Gewebe sich selten auffinden lassen. Dafs ein Webstuhl in England trotz weit kürzerer Arbeitszeit eher ein gröfseres Wochenprodukt liefert als in Iwanowo, ist bei den hohen Verlust- ziffern in letztgenanntem Orte nicht unAvahrscheinlich. 3. Obgleich die Maschinen der russischen Fabriken in Eng- land gemacht werden , so sind doch die in England selbst thätigen Maschinen vielfach gröfser und leistungsfähiger. Es mag dies einmal darauf beruhen, dafs die Russen wegen der hohen Kosten des Kapitals die Maschinen viel cälter werden lassen, als dies in England üblich ist; auch mögen die Eng- länder nicht immer das Neueste hinausschicken. Nicht minder aber dürften in das Gewicht fallen die Mängel der russischen Arbeit; selbst eine gesteigerte Personenzahl könnte so grofse Ma- schinen, wie sie in England üblich sind, überhaupt nicht bedienen. Insbesondere ist die Zahl der Spindeln pro Paar Selfactor in Bolton und Oldhara weit gröfser, als in Moskau. Selfaetor- paare über 2000 Spindeln sind in England jetzt allgemein und die Spindelzahl wird stetig gesteigert; in den zahlreichen russischen Spinnereien, welche ich durchwanderte, sind mir ^ Diese letztere Ziffer entstammt meinem „Grofsbetrieb", S. 119. Ich zweifle nicht, dafs die Technik seit meinen Untersuchungen in England Sommer 1891 über die gegebenen Ziffern hinausgegangen ist. 2 Hank = 840 yards = 1082 arschines. 8* — 116 — nie Selfactorpaare über 2000 Spindeln , ja selten solche über 1500 Spindeln begegnet. Infolge hiervon ist das Ergebnis eines Selfactorpaares in England gröfser als in Riifsland. In dem oben angeführten Vergleich zwischen Moskau und Bolton standen 1512 russischen Spindeln 2064 englische Spindeln gegenüber. Das Paar Selfactors lieferte dabei in 12 stündiger Arbeitszeit in Rufsland 1800 engl. Pfund, in England bei 9 stündiger Arbeitszeit über 2200 engl. Pfund 30s Twist. 4. Die Zahl der Arbeiter pro Maschine ist in Rufsland weit gröfser als in England. Der übliche Mafsstab in der Spinnerei besteht in der Reduktion der Gesamtarbeiterzahl — alle Vorbereitungsarbeiten eingeschlossen — auf je 1000 Spindeln. Nach den Angaben Mendelejeffs, welche auf der allgemeinen Statistik beruhen, kommen in Rufsland auf 1000 Spindeln 16,6 Arbeiter, nach den Ausführungen in meinem „Grofsbetriebe" in England nur 3 Arbeiter, Danach könnte der Engländer den vierfachen Wochenlohn verdient haben, als der Russe, und würde immer noch billiger arbeiten. Nach meinen Beobachtungen in den besseren Spinnereien Moskaus und Wladimirs ist jedoch das Verhältnis für Rufsland ent- schieden günstiger, als nach jener Statistik erscheinen könnte. In' diesen Fällen kommen thatsächlich nicht über 10 bis 12 Arbeiter auf 1000 Spindeln. In der trefflichen Spinnerei zu Narwa, welche, wie wir sahen, den Moskauer Betrieben überlegen ist, kamen zur Zeit meines Besuches nur 6 Arbeiter auf 1000 Spindeln, ein sehr günstiges, selbst in Deutschland noch nicht überall erreichtes Verhältnis. Richten wir im einzelnen unsere Aufmerksamkeit auf den Teil des Spinnereiprozesses , den man als Feinspinnen be- zeichnet, so kommen in Rufsland 4 bis 6 Arbeiter auf das Paar Selfactors, in England 2 bis 3. Dabei bedenke man, dafs die Selfactors in Rufsland kürzer sind, als in England. Selbst in der unter allen Moskauer Fabriken so hervorragenden Manufaktur zu Ramenje fand ich 4 Arbeiter pro Paar Sel- factors. Auch hier macht der Narwasche Betrieb eine rühm- liche Ausnahme. Dort war es 1892 bereits gelungen, die Zahl der Arbeiter an allerdings ziemlich kurzen Selfactors auf 3 - 117 — herabzudrücken. In ähnlicher Weise ist in der Ringspinnerei das Verhältnis der angewandten Arbeit in Rufsland und Eng- land etAva wie 2 zu 1. Was von dem Feinspinnen gilt, gilt von dem Vorspinnen. In England kommt auf zwei Vorspinnbänke (slubbing, inter- mediate, roving frame) je eine Person : in den besten Spinnereien Moskaus bedient wohl nirgends eine Person mehr als eine Vorspinnmaschine. Dasselbe gilt wahrscheinlich auch von den Kratzmaschinen, bei denen gerade in England die Arbeits- ersparnis sehr weit fortgeschritten ist; aber die Verschieden- heit in der Gröfse und dem Bau dieser Maschinen läfst zahlen- mäfsige Vergleiche nicht zu. Noch gröfser ist die Arbeits- ersparnis in England beim Mischen der Baumwolle, welches nahezu ganz der Maschine übertragen ist; in einer Fabrik von 60000 Spindeln fand ich in England hierfür nur einen Mann thätig, in Rufsland dagegen eine grofse Anzahl sog. „billiger'" Handarbeit. Auch in der Weberei lassen sich zahlenmäfsige Vergleiche gewinnen, welche das Gleiche besagen. Man pflegt hier, indem man alle Vorbereitungsarbeiten einschliefst, die Zahl der Stühle auf 1 Arbeiter zu reduzieren; natürlich darf man hierbei nur Webereien gewöhnlicher Baumwollgew^ebe berück- sichtigen, weil sonst die Vergleichbarkeit verloren geht. In den Webereien Wladimirs, in denen meist sehr einfache Stoffe hergestellt werden, kommt in recht guten Fabriken 1 Arbeiter schon auf 0,8 Stühle,- in England durchschnittlich 1 Arbeiter erst auf 2,8 Stühle, in den Fällen einfachster Weberei, in Nordlancashire 1 Arbeiter sogar erst auf 3 bis 4 Stühle. Läfst man die Vorbereitungsarbeiten aufser Betracht und berück- sichtigt man nur das Weben selbst, so bedient in Wladimir bei ganz einfachen Geweben ein Ai'beiter 2 Stühle, in Eng- land 4—6. Fassen wir zusammen , so können wir sagen : die hohen Verluste an der theoretischen Leistung, die geringeren Dimen- sionen der Maschinen, die gröfsere Arbeiterzahl pro Maschine bewirkt, dafs die Kosten der Arbeit pro gegebenes Produkt in Rufsland nicht billiger sind als in England. Zahlenmäfsige — 118 - Vergleiche sind nicht ohne Vorsicht anzustellen, da in Kufs- land aufser dem Geldlohn der Arbeiter meist die Wohnung, hin und wieder auch noch Naturalverpfiegung erhält. Mein Gesamteindruck ist folgender: Zieht man nur die Geldlöhne in Betracht, so verdient der englische Arbeiter wöchentlich das 3 — 5fache wie der russische; trotzdem sind die Kosten der Arbeit pro Produkt in Rufsland nur wenig niederer als in England, entschieden niederer nur in jenen besten Grofsbetrieben Moskaus , welche zur Neunstundenschicht • übergingen. Aber auch dieser Unterschied zu Gunsten Rufslands wird mehr als ausgeglichen einmal durch die Aufwendungen für Arbeiter- wohnungen u. a., sodann durch die Kosten der Aufsicht und Verwaltung, welche in Rufsland aufserordentlich viel höher sind als in England. In England ist der Spinner sein eigner Aufseher und kann daher die Löhne des Aufsehers mit be- ziehen. Aus einer gröfseren Anzahl von Beispielen, die ich auf Grund des in meinem „Grofsbetriebe" ausgearbeiteten Schemas (vergl. daselbst S. 138/139) sammelte, wähle ich folgende das Selfactorspinnen betreffende aus: (Siehe Tabelle S. 119.) Hiernach scheint bei 36s Twist der Punkt zu liegen, wo die Kosten der Arbeit zuzüglich der Aufsicht in England billiger werden, als in Rufsland. Bei feineren Nummern mufs dieser Unterschied zu Gunsten Englands rasch wachsen^^ Zu gleichen Ergebnissen scheint OnofriefF^ zu kommen. Er ver- gleicht den Durchschnitt dreier leitender Spinnereien Lan- cashires mit zwei russischen Beispielen, jedoch ohne Angabe der gesponnenen Garnnummern und Produktionsmengen. Da- nach kommen im halben Jahr auf tausend Spindeln in Rubeln Kredit (1 ^ = 10 Rubel) : 1 Vergl. die Mitteilungen der Gesellschaft zur Förderung der russischen Industrie, Sitzung vom 10. Januar 1893, Bd. II der Mit- teilungen der Gresellschaft , Art. 3, sowie die Russischen Nachrichten vom 23. Februar 1893. — 119 — c«l o 1 -f c o S^ a 03 < 1 I— ( -u > 2 S' c '-^ T . o ■*^ . "3 "3 ^ £ -a o .00 Ä 'S s Cm ^ ü PM 73 es 1 CS s '5, CS cS S "S 1 1 TS .s s ö. o X CM lO c^ u OD 03 n_| »—1 o ;-i u ^ <; <1? m i= 1 _l^ <» a3 U TJ Ö ^_^ JZ iO lO CO a <^ c .=3 CO -* CO iO" ^ ^ ^ s e 1—1 '"' T— 1 '"' ^ S -tJ ü ^ m SiD p2 £ QJ ^ !» ^ CD o CD CD ^ :^ "O "ü cc CO CD CD CO CD ^ ^ .^ ;-i ^ ^ ^ C3 o CD ■M "^ "C 1-H CO CO cc CO ^^ j^ lO OS CO 1-H i-O <^ t; "Sh i-H ■"^ '"' C<1 "^ "^ ■M N 'X X ;-i CS 'S g ;2 1 = 1 .2 O '•' 2 CS c3 ti i »■ r" »; 73 CD CD CD ö O o CO Ilt! CO CO CO CO — 120 — Ruföland England Beispiel I Beispiel II an Löhnen und Gehalten, sonstigen Aus- gaben für die Arbeiter, Besoi'gung von Kesseln und Dampfmaschinen .... 1885 1669 1817 an Verwaltungskosteu 519 465 14 Insbesondere charakteristisch ist der Unterschied hinsicht- lich der Verwaltungskosten; während mit der Emporentwick- lung des Arbeiterstandes in England das Angebot für die Posten der Leitung ein ungeheures ist, und die Beamtengehälter herab- gehen, sind in Kufsland technische Kenntnisse verbunden mit praktischer Sachkunde selten ; häufig müssen Ausländer durch hohe Gehälter herbeigezogen werden. Die russischen Fabriken wimmeln von einem Stabe von Beamten, während in England die dort allerdings viel leichtere Aufsicht von einem schlichten, meist dem Arbeiterstande entstammenden Manne besorgt wird. Weiteres Anschwellen der Verwaltungskosten bewirken in Rufsland die vielfältigen Schreibereien, welche mit dem Pafs- system und der Polizeiaufsicht über die Arbeiter zusammen- hängen und die Anstellung besonderer Schreiber erfordern. Dieselben Unterschiede, welche sich zwischen Moskau und Westeuropa feststellen lassen, gelten, wenn auch in geringerem Grade, zwischen Moskau und Polen. In Polen erwuchs be- kanntlich, befruchtet von deutscher Arbeit, unter einem mäfsigen Zollschutz und der fördernden Fürsorge der der preufsischen Seehandlung nachgebildeten polnischen Bank ein Industriecentrum ersten Ranges: Lodz. Ehe ich jedoch auf den Vergleich von Moskau und Lodz eingehe, möchte ich die Meinung abweisen, als ob ich den Angstschrei der nationalen Volkswirtschaftler Moskaus gegenüber der polnischen Kon- kurrenz für begründet hielte. Obgleich Lodz zweifellos hin- sichtlich des Kapitals wie der Arbeit vor Moskau Vorteile geniefst, so hat Moskau von Lodz doch nichts zu fürchten, wie ein Blick auf die unten folgende Statistik der Baum- wollindustrie zeigt. Es lassen sich hierfür drei Gründe an führen : — 121 — Zwischen Moskau und Polen besteht eine Arbeitsteilung; Polen macht dichte, buntgewebte, gerauhte und halbwollene Stotfe, und seine Stärke in der Spinnerei ist die Vigogne; Moskau macht Druckkattune und spinnt gewöhnliche Garne niederer und mittlerer Nummern. Moskau und Polen machen sich kaum mehr Konkurrenz als Gladbach und Mülhausen. Polen hat noch nie Garne auf den Moskauer Mai'kt ge- worfen, vielmehr kauft es von Moskau Garne, besonders Zwirne. Ferner : die geographische Lage Moskaus ist günstiger als die Polens, weil es den Märkten näher ist. Die Frachtsätze von Lodz sind bis Wladikawkas um 45°/o, bis Kursk um 180^0, bis Orenburg um 288 «o, bis Ufa 250<^'o, bis Slatust um 248 ^'o teurer als die von Moskau ^ Je mehr die russische (asiatische) Baumwolle Bedeutung gewinnt, umsomehr ist Moskau im gleichen Vorteil auch hinsichtlich des Rohstoffes. 1889 wurden nach Lodz im ganzen 1292194 Pud ausländischer und 584451 Pud russischer Baumwolle zugestellt. Nach Bjeloff aber betrugen die Transportkosten vom kaspischen Hafen bis Moskau 46, nach Lodz 67,59 Kopeken pro Pud Baumwolle. Wahrscheinlich besitzt Lodz gewisse Vorteile in- folge billigeren Heizmaterials; aber diese Vorteile ver- ringern sich in dem Mafse, als Moskau zum kaspischen Naphtha übergeht, welches icli in den besten Grofs- betrieben Moskaus bereits allgemein zur Kesselheizung an- gewandt fand. Moskau hat endlich die politische Macht und kann jeder- zeit die polnische Konkurrenz durch die Eisenbahntarifpolitik in Schach halten. Aus dem Gesagten ergiebt sich, dafs Lodz zwar neben Moskau Platz hat, aber kaum in der Lage sein dürfte, Moskau ernstlieh zurückzudrängen. Unter diesem Vorbehalt ist eine 1 Nach den Angaben lijeloffs in einem Vortrage über die pol- nische Konkurrenz im Verein zur Förderung der Industrie und des Handels Rufslands. St. Petersburg 1892. — 122 — Betrachtung der Vorteile, welche Lodz thatsächlich vor Moskau in der Produktion geniefst, sehr interessant, weil von all- gemeiner Bedeutung für die Vorzüge westeuropäischer vor östlicher Industrie. In Polen sind die Entwicklungstendenzen des modernen Grofsbetriebes in vieler Hinsicht weiter entwickelt als in Rufs- land. Die russischen Fabriken liegen noch heute grofsenteils in den Wäldern zerstreut, wohin sie ursprünglich das Bedürfnis nach Brennmaterial führte. Die zur Zeit der Schneeschmelze nahezu unpassierbaren Wege zwingen zur Anhäufung riesiger Warenlager und Rohstoffvorräte. Erst gegenwärtig sammeln sich die Fabriken allmählich um die Eisenbahnstationen. Die polnische Industrie dagegen hat in Lodz, Warschau, Sosnowice engere geographische Mittelpunkte. Der örtlichen Zusammen- fassung entspricht ein Auseinanderfall der in Moskau über- mäfsig kombinierten Grofsbetriebe. So konstatieren Hin und Langoff wenigstens für schwere Baumwollstoffe und Halbwoll- stoffe, wie sie Polen vorAviegend fertigt, eine Trennung der Färberei und Appretur von der Weberei. Die Färber als die kapitalkräftigeren kaufen den Rohstoff, lassen ihn um Lohn verspinnen, an anderem Orte verweben und besorgen selbst nur die Fertigstellung des Produktes. Die Überlegenheit der Färber und Appreteure beruht vielleicht darauf, dafs bei der grofsenteils sehr niederen Qualität der Garne und Gewebe ihr Geschäft, welches fragwürdigem Material ein annehmbares Aufsere giebt, das wichtigste ist. Der russische Markt ist zu arm, um qualitativ hohe Ansprüche machen zu können — die Grofsindustrie entwickelt sich an Surrogaten, wie denn Baum- wollabfälle und Lumpen zur Kunstwollfabrikation einen starken Einfuhrartikel Polens bilden ^ Besondere Reparaturwerkstätten für Maschinen erlauben den polnischen Fabriken, auf eigne Hilfsbetriebe in dieser Richtung zu verzichten. Selbst die Anfänge einer eignen Maschinenfabrikation, wenigstens für die ^ Vei'gl. den Bericht von Hin und Langoff, Über die Fabrik- industrie des Zariums Polen. Petersburg 1888. S. 23, 27, 67—71. — 123 — Weberei, die Kratzenfabrikation, die Herstellung von Jacquard- karten u. s. w. liegen vor. Nicht minder wichtig aber ist die Überlegenheit der pol- nischen Industrie über die russische in Rücksicht auf den Kredit. Eine Anzahl polnischer Fabriken sind Filialen deutscher Häuser und nehmen an allen Vorteilen der deutschen Kreditorganisation teil. Aber auch die selbständigen Firmen Polens sind denen Moskaus überlegen, zunächst durch die Existenz eines westeuropäischen Hypothekarrechtes, welches in Rufsland fehlt ^. Daher ist das Kapital und damit die An- lage der Fabriken billiger und die Beschaffung von Maschinen leichter. Der Ersatz veralteter Maschinen vollzieht sich in Polen schneller als in Rufsland. Die Moskauer Fabriken sind meist gezwungen, um das teuere Anlagekapital zu verzinsen, Tag und Nacht zu arbeiten; in den polnischen Fabriken da- gegen kann man wegen der gröfseren Billigkeit des Kapitals die qualitativ wenig erfreuliche Nachtarbeit vermeiden. Die billigeren Anlagekosten ermöglichen ferner der polnischen In- dustrie, die Konjunkturen des Marktes schneller auszunutzen. In wenigen Monaten, sagt Janschull, werden in Polen Fabriken erbaut und in Betrieb gesetzt, deren Anlage in Moskau Jahre 1 Das russische Pfandrecht an Immobilien war bis in dieses Jahr- hundert Faustpfand mit Eigentumsübergang au den Gläubiger im Falle der Nichteinhaltung des Zahlungstermins. Seitdem hat man eine Ver- pfändung entwickelt, bei welcher der Besitz zwar beim Schuldner bleibt, jedoch über das Gut ein Veräufserungs- und Verpfändungsverbot ver- hängt wird. Das Gut haftet nur, so lange es Eigentum des Schuldners ist. Dieser ist daher an Händen und Füfsen gebunden und kann eine neue Schuld auf das Gut nur aufnehmen, wenn er die alte tilgt. Die Feststellung, dafs ein Grundstück bislang unverpfändet, d. h. von einem öffentlichen Veräufserungsverbot nicht betroffen ist, ist umständlich und unsicher, daher der Kredit auf Immobilien teuer. Vergl. Pobe- donosceff, Kurs des russischen Civilrechts. Teil I. — Thatsächlich befindet sich der Immobiliarkredit in der Hand von öffentlich privile- gierten Banken, welche den Grund und Boden und das Gebäude, nicht aber die Maschinen beleihen und für Industriezwecke Avenig in Be- tracht kommen. Die polnische Hypothekenordnung stammt aus der Zeit Alexanders I. und beruht auf deutschen Rechtsgedanken. — 124 — erfordern würde. Die seit 1877 gegründeten Fabriken produ- zierten 1885 bereits 44,7 ^/'o des Gesainterzeugnisses Polens^. Die verhjUtnismäfsige Billigkeit des Kapitals macht sich insbesondere in dem Preise derjenigen Produkte geltend, bei deren Herstellung das Kapital, also Maschinenarbeit, eine be- deutende Rolle spielt. Bei den Fabrikbauten in Polen wird mehr Eisen verwandt, während in Moskau die höheren Eisen- preise Steinbauten erforderlich machen, z. B. bei Treppen. Nach dem angeführten Bericht von Hin und Langoff kosteten 1886/87 1000 Stück Ziegel in Moskau 22 Rubel, in Lodz 8 bis 9 Rubel. Bezeichnenderweise ist gerade in der Ziegel- fabrikation der Handbetrieb durch die Maschine erfolgreich eingeschränkt worden. Auch hinsichtlich des Betriebskredits steht Polen günstiger als Moskau. Polen, bildet in dieser Hinsicht einen Annex des deutschen Kreditsystems. Eine Monopolstellung des Importeurs von Rohstoff und Maschinen, wie die Knoops, wäre hier un- möglich. Der polnische Fabrikant bezieht gleich dem deutschen, der sich bekanntlich von Liverpool unabhängig gemacht hat, vielfach die Baumwolle und Wolle direkt von den Export- häusern in New- York, New-Orleans, Buenos-Aires, und zahlt durch Tratten auf deutsche Banken, welche bekannten pol- nischen Fabriken gern Rembourskredit gewähren. Beispiels- weise: der Pole, d. h. meist ein deutsch-jüdischer Fabrikant, kauft Maschinen in England oder Deutschland, Baumwolle in Amerika; der englische, deutsche, amerikanische Lieferant kennen die Ki'editverhältnisse Polens nicht, fürchten die Schwankungen des Rubelkurses und würden unserm Polen gewifs keinen Kredit gewähren. Dagegen sind einige de Berliner Bankhäuser, welche speciell polnisch-russische Kundschaft pflegen, zugleich Welthäuser, deren Accept allenthalben nicht anders als bar Gold gilt. Mit Vergnügen verzichtet der Lieferant der pol- nischen Fabrik auf Barzahlung, wenn er dafür z. B. auf Mendelsohn einen Goldwechsel ziehen darf, der von diesem ^ Janschull, Greschicbtlicher Überblick über die Entwicklung der Industrie Polens. S. 40. — 125 — acceptiert wird. Nicht minder günstig ist es ferner für unsern Polen, auf seine Berliner Bankverbindung, soweit sein Konto- korrentvertrag es erlaubt, Kreditwechsel zu ziehen, Avelche, mit dem Primabankaccept des Berliners versehen, auf dem deutschen Wechselmarkte zu günstigsten Diskontsätzen zu verwerten sind. Auf diese Weise kommt der polnische Fabrikant zu billigstem Betriebskredit. Diese Vorteile, welche die polnische Industrie geniefst, wurden dadurch verschärft, dafs bisher keine Filialen west- europäischer Bankhäuser den billigen Kredit des Westens dem innerrussischen Fabrikanten nahe bringen konnten. Der Rück- halt, welchen der polnische Fabrikant an dem Kreditsystem Deutschlands hat, ermöglicht ihm auch, im Kampfe um den Kredit seinen Abnehmern günstigere Bedingungen abzuzwingen. Die polnischen Fabriken gewähren nach dem Innern Rufs- lands 3 bis 6 Monate Kredit wogegen die russischen Fabriken ihren Käufern 6 Monate bis IV 2 Jahre, ja nach Asien 18 Mo- nate Zahlungsfrist gewähren müssen^. Zusammenfassend können wir sagen : in Moskau über- wiegt das Anlagekapital (man denke an die Arbeiterkasernen, die Waldungen, Torfmoore u. s. w. der russischen Fabriken): in Polen tritt das Betriebskapital gegenüber dem Anlage- kapital in den Vordergrund. Das Betriebskapital wird schneller durch die Betriebe hindurchgejagt; Polen besitzt z. B. nicht die riesigen Vorräte an Rohstoffen, Heizmaterialien u. s. w. wie Moskau. Auch kehrt das in der fertigen Ware aufgespeicherte Betriebskapital schneller in die Hand des Unternehmers zurück (kürzere Kreditfristen). Aber auch das Anlagekapital, weil billiger, ist beweglicher (die Maschinen werden z. B. schneller erneuert). Es sind dies Erscheinungen, welche allgemein die fortschreitende Entwicklung der modernen Grofsindustrie charakterisieren . 1 Vergl. Jan sc hüll, Bericht über die Fabrikindustrie Polens, Petersburg 1888, S. 20 und Gare 1 in, Die Stadt Jwanowo Wosnescensk II, Ö. 29. — 126 — In derselben Richtung Hegen die Vorteile Polens über Moskau hinsichtlich der Arbeit. Denn der polnische Arbeiter, wenn auch dem englischen und deutschen Arbeiter nicht ge- wachsen, steht beiden doch näher als der Moskauer; er ist, um den Ausdruck der Slavophilen zu gebrauchen, europäischer. Leider habe ich Lodz aus eigener Anschauung nicht kennen ge- lernt; die zahlreichen, russischen Berichte aber, welche ich über die dortigen Verhältnisse las, und welche zum Teil der soliden und sachkundigen Feder JanschuUs entstammen, lassen mir keinen Zweifel darüber, dals die Arbeitsersparnis gegenüber Moskau in Lodz weit fortgeschritten ist. Das gleiche be- richten mir Bekannte, welche sowohl in Moskau wie in Polen als Industrielle thätig sind. Den russischen Berichterstattern fällt in Polen die Abwesenheit jener Unzahl von Untermeistern und Aufsehern auf, welche in den russischen Fabriken zur Disciplinierung der Arbeiter unumgänglich sind. Der polnische Arbeiter bedarf weniger scharfer Zwangs- mittel zur Arbeit als der russische. Schläge sind in den russischen Fabriken alltäglich, und Janschull stellte in Moskau zahlreiche Fälle fest, in denen Strafabzüge am Lohne eine regelmäfsige Einnahme des Fabrikherrn bedeuteten; derselbe Beobachter fand in den polnischen Fabriken körperliche Strafen und Lohnabzüge nur in mäfsiger Anwendung ^ Mir scheint der Grund hierfür darin zu liegen, dafs in den polnischen Fabriken ein wirksamerer Antrieb zur Arbeit vorhanden ist als Schläge und Strafen: das Eigeninteresse des Arbeiters, welches, wie wir sehen werden, die mehr europäischen Arbeiterverhältnisse Polens wirksamer in das Spiel setzen, als die halb asiatischen Moskaus. Das Ergebnis scheint ein ähnliches zu sein, wie das, welches wir oben im Vergleich zwischen Moskau und Lancashire feststellten. Alle Berichterstatter stimmen darin überein, dafs die Löhne in Polen, und speciell in der polnischen Baumwoll- 1 Vergl. JanschuUs angeführten Bericht S. 67, Hins und Lang off s Bericht S. 102. — 127 - industrie , höher sind , als in Moskau ^ Nach den Angaben Janschulls wird man nicht zu hoch greifen , wenn man Lohnunterschiede von etwa 50 °/o zu Gunsten Polens an- nimmt. Trotzdem ist die Arbeitsersparnis und die Arbeits- intensität um soviel gröfser, dafs in den Produktionskosten eines Pfundes Garn gegebener Nummer der Posten Arbeit in Polen gewifs nicht höher, wahrscheinlicherweise niedrer ist, als in Moskau. Janschull und Swjatlowski beziffern über- einstimmend den auf die Arbeit kommenden Betrag eines Pfundes Garn gewöhnlicher grober Nummern für Polen auf 66 Kop. bis 1 Rubel 20 Kop., für Moskau auf 80 Kop. bis 1 Rub. 50 Kop., Avobei die höheren Aufsichts- und Ver- waltungskosten noch aufser Acht gelassen sind ^. Die Richtig- keit dieser Aufstellung wird dadurch um so wahrscheinlicher, als nach ofliziellen Angaben die Produktivität pro Kopf des Arbeiters in Polen weit gröfser ist als in Moskau. Schon die älteren Angaben Matthaeis bestätigen die gröfsere Produktivität des polnischen Arbeiters; dasselbe besagt die neuere Statistik der Regierung, aus der ich die folgenden Ziffern berechne^. 1 Vergl. Janschulls Aufsatz über die polnische Industrie im Europäischen Boten, Februar 1888, S. 789—791, 795, ferner überein- stimmend den citierten Bericht von Hin und Langoff, S. 106; ein- gehende Vergleiche der Löhne zwischen Polen und Moskau giebt Janschull in seinem Bericht über die Fabrikindustrie Polens, Peters- burg 1888, S. 39 und Beiläge 15, S. 88. 2 V^vgl. Janschull im Europäischen Boten, Februar 1888, 8.791flF., ferner Swjatlowskis Buch „Der Fabrikarbeiter", S. 46. 3 Ich entnehme diese Ziffern dem „Histor. Statist. Überblick über die Industrie", unter der Redaktion von Timirjaseff herausgegeben vom Departement für Handel und Manufaktur 1886, S. 93, und den Angaben des „Abrifs von Thatsachen über die Fabrikindustrie für 1892", heraus- gegeben 1895 von derselben Behörde. Die Verminderung in der Produk- tivität der Arbeit in der Spinnerei von 1879 bis 1892 ist vielleicht auf Mängel der Statistik, vielleicht aber auch auf Verschiebungen in der Nationalität der Arbeiter zurückzuführen. 128 Wert der Produktion pro Kopf eines Arbeiters in Rubeln : in Rufslancl ohne Jahr Finnland und Polen in Polen ( 1867 1080 1400 Spinnerei ' 1879 1485 2050 1892 1219 1658 ( 1867 500 558 Weberei . 1879 650 1000 1892 796 2092 Die Löhne in Polen können danach bedeutend höher sein, und trotzdem wird immer noch ein Unterschied zu Gunsten der polnischen Fabrikanten übrig bleiben. Die Vorzüge Polens vor Moskau betreffen nicht nur die Arbeit in engerem Sinne. Sie gelten auch von der nicht minder wichtigen Arbeit, welche der Unternehmer selbst leistet. Alle Kenner rühmen die Tüchtigkeit der polnischen Fabrikbesitzer, ihren Fleifs, ihre Unternehmungslust im Ver- gleich mit vielen Moskauer Fabrikanten, welche durch lang- jährige Begünstigungen seitens der Regierung und durch die Sicherheit der Gewinne auf riesigen, geschützten Märkten ver- wöhnt sind. Viele von den polnischen Fabrikanten haben als Schlosser, Maschinentechniker u. s. w. angefangen und mit- gearbeitet. Das Ergebnis des Vergleiches zwischen Moskau und Westeuropa läfst sich in folgenden Sätzen zusammen- fassen. 1. Die in meinem „Grofsbetriebe" aufgestellten Sätze waren gewonnen auf Grund westeuropäischer Industrieent- wicklung. Sie sind mit gewissen Modifikationen auch dort anwendbar, wo die westeuropäische Industrie einem ihr - 129 — fremden, kapital- und kreditarmen Boden und einer ihr fremden, mittelalterlich gebundenen Volkspsychologie auf- gepfropft wurde, wie dies in Moskau, ähnlich wie in Bombay und Japan geschah. 2. Diese Modifikationen sind, soweit Rufsland in Betracht kommt, Nachteile in der Konkurrenz mit der westeuropäischen Industrie; diese Nachteile wiegen in dem Mafse schwerer, als es sich um kapitalintensive Produkte, d. h. um die Erzeug- nisse wertvoller und komplizierter Maschinen handelt, deren Bedienung nicht sowohl manuelle Geschicklichkeit, in der der Russe dem Westeuropäer überlegen ist, sondern Geistes- anspannung, Verantwortlichkeitsgefühl und technisches Ver- ständnis erfordert. 3. Diese Nachteile verblassen jedoch in dem Mafse, als der westeuropäische Kredit- und Handelsnexus die russischen Industriebetriebe umschlingt, und der westeuropäische Indi- vidualismus den Arbeiter erfafst. Dafs das erstere für Moskau der Fall ist, lernten wir bereits oben kennen; der Europäi- sierung des mittelrussischen Fabrikarbeiters soll ein besonderer Abschnitt gewidmet werden ^. VI. Vorteile nnd Nachteile in der Anwendung niittel- rnssischer Fabrikarbeit ^. Die Slavophilen sagen: die glänzende Kultur des \A'estens beruhe auf der Ausbeutung eines Arbeiterproletariats, dessen Lage sich zusehends verschlechtere und jene Kultur selbst 1 Betreffend Luxembui-g, „Die industrielle Entwicklung Polens", siehe Nachtrag am Schlufs dieses Kapitels. - Es entspricht der Natur eines Buches , wie des vorliegenden, dafs seine Entstehung Jahre beansprucht. Vorliegende Abschnitte VI und VII gehören zu den am frühesten ausgearbeiteten. Sollten einige der mitgeteilten Thatsachen überholt sein , so bleibt doch das Wichtigere: die Richtung der gegenwärtigen Entwicklung, welche ich aufzudecken mich bemühte. Vieles Mitgeteilte beruht auch hier auf eigener Wahrnehmung und mündlicher Mitteilung. V Schulze-Gaevernitz, Studien a. Rufsl. 9 — 130 — mit Untergang bedrohe. Die Slavopliilen irren; die .städtisch- industrielle Entwicklung des Westens tritt zwar diejenigen Klassen zu Boden, welche sie dcpossediert. Dagegen hebt sie wirtschaftlich wie politisch die ihr dienenden Klassen. Zweifellos ist diese Thatsache dort zu beobachten , wo die wirtschaftliche Entwicklung selbst am weitesten fort- geschritten ist. Wenn der Schwerpunkt der politischen Macht in Eng- land langsam, aber sicher von den Mittelklassen auf die Ar- beiter hinübergleitet , so erweist sich dies keineswegs als nationale Gefahr, vielmehr fällt das politische Aufsteigen der Arbeiter zeitlich zusammen mit dem Aufleben neuer natio- nalistischer Stimmungen im heutigen England. Nirgends ging die nationale Begeisterung gelegentlich des Sieges von Om- durman höher als in den oberen Schichten der englischen Arbeiterwelt, wofür ich ein interessantes, briefliches Zeugnis von der Hand eines Engeneers einsah. Für Deutschland ist es kein Geheimnis, dafs das utopistisch - revolutionäre Element unserer Socialdemokratie auf einer gewissen technischen Rückständigkeit der gewerb- lichen Verhältnisse Deutschlands beruht. Dem gegenüber haben auch die deutschen Arbeiter bereits den Weg lang- samen, aber sicheren Emporsteigens gefunden — Beweis die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Früher oder später mufs es auch in diesen Köpfen dämmern; denn zu offen- kundig ist die Thatsache, dafs die wirtschaftliche Welt- stellung Deutschlands und damit Deutschlands politische Macht „Messer- und Gabelfrage" für die deutschen Arbeiter ist. — Meiner Meinung nach liegt die internationale Ver- einigung des Proletariats in den Wolken ^ Aber der Irrtum der Slavophilen war verzeihlich , denn er wurde von den älteren Beobachtern im Westen selbst ge- teilt. Insbesondere glaubte Karl Marx, dafs die Reichen reicher, die Armen ärmer würden, bis der grofse Krach ein 1 Anders Luxemburg a. a. 0. S. 92. — 131 — Ende mit Schrecken bereite. Dem gegenüber, so fahren die Slavophilen fort, das „heilige" Rufsland: in Rufsland gäbe es kein Proletariat im Avestlichen Sinne. Jedes seiner Kinder, auch der Fabrikarbeiter, sei im Besitze des Urrechtes der Menschen, des Rechtes auf die heimische Scholle; der Ge- meindebesitz verknüpfe ihn mit der Mutter Erde. Unberührt von den Ideen des Westens, sei er, wie der Bauer, ein Träger altnationaler und kirchlicher Traditionen ^. In der That läfst sich der Grundunterschied der russischen von der westeuropäischen Fabrikarbeit in den oft gebrauchten Satz zusammenfassen : „der Arbeiter hat das Band mit dem Lande noch nicht zerrissen." Er ist mehr oder weniger Bauer, gewöhnlich Mitglied einer Landgemeinde, Nur vorübergehend sucht er industriellen Nebenerwerb , den er früher oder später mit dem Pfluge wieder zu vertauschen hofft. Das Ziel seiner Wünsche sind die wogenden Getreide- felder der Heimat. Die Richtigkeit dieser Behauptung ist durch eine Menge von Thatsachen zu belegen. Im Sommer sind die industriellen Löhne um 10 bis 20" o höher als im Winter, und trotzdem ist im Sommer die Arbeiterzahl in den Fabriken geringer als im Winter. In den mechanischen Webereien Moskaus und Wladimirs hält man im Sommer, selbst bei dringender Arbeit, nur 70 bis 80 ^lo der im Winter beschäftigten Arbeiter zu- sammen-. Zur Zeit der Ernte stehen die meisten Fabriken still. Ferner: über die Höhe der industriellen Löhne ent- scheidet in erster Linie die vorangegangene Ernte. Bei 1 Vergl. die Ausgabe des Departements für Handel und Manufaktur ,,Die Fabrikindustrie und der Handel Kufslands", Teil II, S. 274—275 — eine sehr bezeichnende Stelle. 2 Vergl. Jan sc hüll, Fabrikleben im Moskauer Gouvernement, S. 86, 91. Selbst in Narwa, wo die Arbeiter grofsenteils Esthen sind, fand ich in der bekannten Stieglitzschen Tuchmanufaktur das- selbe Verhältnis : auf 47 Arbeiter im Winter kamen nur 36 im Sommer. 9* — 132 — guter Ernte hat der Bauer genug, um zu essen und Steuern zu zahlen, und sucht deshalb keinen industriellen Nebenerwerb; je schlechter dagegen die Ernte, desto gröfser das Angebot an industrieller Arbeit, um so niederer der Lohn^. Diese Verhältnisse schienen den Slavophilen umkleidet mit dem Schimmer der nationalen Romantik. Den Kenner der einschlägigen Litteratur erinnern sie an das, was englische Blaubücher über die Arbeit der jungen indischen Grofsindustrie berichten. Wichtiger ist die Frage: ist diese landwirtschaft- liche Grundlage der industriellen Arbeit wirklich, wie die Slavophilen meinen, ein Vorzug Rufslands vor Westeuropa oder — um konkreter zu fragen — ist sie rentabel? Hier nun, Avie in vielen Punkten, schien die slavophile Lehre dem nächstliegenden Interesse der Fabrikanten trefflich entgegen- zukommen , weshalb sie unter ihnen ihre gläubigsten An- hänger fand. In der That sind die aufserge wohnlich niederen Löhne, die überlangen Arbeitszeiten, die willenslose Abhängig- keit der Arbeiter vom Arbeitgeber — Eigentümlichkeiten, durch die sich das industrielle Rufsland von Westeuropa unter- scheidet — nur zu verstehen unter Berücksichtigung des Zu- sammenhanges des Arbeiters mit dem Lande. Ich gründe die folgende Darstellung auf die Arbeiten von Janschull, Peskoff, Mikulin und Erisman, welche sich auf den mittelrussischen Industriebezirk und auf die in ihm über- wiegende Textilindustrie beziehen. Als Ergänzung sehr wert- voll sind die Arbeiten Swjatlowskis, dessen amtliche Thätigkeit als Fabrikinspektor Südrufsland und Polen zum Gegen- stand hatte. Die genannten Gewährsmänner haben ihre Mit- teilungen gröfstenteils in der Form von Fabrikinspektorats- berichten und LandschaftsveröfFentlichungen niedergelegt. Diese Berichte stammen zumeist aus den achtziger Jahren ; ich 1 Vergl. Rosenberg, Die Arbeiterschutzgesetzgebuiig in Rufs- land. Leipzig 1895, S. 114. — 133 - ergänzte sie durch Besichtigung einer grofsen Anzahl von Fa- briken, Arbeiterwohnungen u. s, w. im Winter 1892 93. Die neueren Reformbestrebungen auf dem Gebiete des Arbeiter- schutzes, welche durch die Schilderungen der genannten Ge- währsmänner gewifs zum Teil mit hervorgerufen wurden, sollen unten besonders erwähnt werden. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Arbeitslöhne. Jeder, der sich mit Lohnstatistik beschäftigt hat, weifs, dafs Angaben über Durchschnittslöhne mit äufserster Voi'sicht zu gebrauchen sind. In Rufsland ist diese Schwierigkeit be- sonders grofs; denn einmal bezieht in vielen Fabriken der Arbeiter gewisse Naturalien von der Fabrik; andererseits fliefst auf Umwegen nicht selten ein beträchtlicher Teil des Geldlohnes in die Tasche des Arbeitgebers zurück. Trotzdem wird man im grofsen und ganzen der Annahme Janschulls zu- stimmen können, dafs die Löhne der englischen Baumwoll- industrie um das Doppelte bis Fünffache höher sind als die entsprechenden mittelrussischen Löhne. Mit aller Reserve führe ich die Ziffern Janschulls an, welche sich auf den Aus- gang der siebziger und Anfang der achtziger Jahre beziehen, und setze mit ebensolchem Vorbehalt daneben Daten, welche ich selbst anfangs der neunziger Jahre bei Gelegenheit der Bereisung zahlreicher nordenglischer und mittelrussischer Fa- briken gesammelt habe. Monatslöhne in Kreditrubeln: (ZiflFern Janschulls) (^eigene Zift'ern) Amerika England Moskau England Moskau Spinner am Selfactor 80 58 19V2 70—90 17—24 median. Weber 60 35V'2 15 . 38—50 12—16 JanschuU ^ hat keinesfalls die russischen Löhne zu niedrig angesetzt, denn spätere Berichterstatter führen noch geringere 1 Vei-gl. JanschuU, Fabrikleben im Moskauer Gouvernement. Petersburg 1884, S. 114—116, sowie die zugehörige Beilage. — 134 — Ziffern an. So werden z. B. von Schischmarieff als Web- löhne für Maschinen weber im Wladimirschen 9,50 — 14 Rubel angegeben^. In dem vortrefflichen Grofsbetriebe zu Ramenje bei Moskau, welcher die anerkannt besten Arbeiterverhält- nisse aufweist, wurden Anfang 1893 an Spinner Monatslöhne bis 25 Rubel, Löhne an Zweistuhlweber bis 20 Rubel bezahlt. Diese Ziffern enthalten wahrscheinlich die Maximalgrenze nach oben. Auf indirektem Wege ist es vielleicht besser möglich, die Lohnverhältnisse der mittelrussischen Industrie zu beschreiben. Soweit überlieferte Lebenshaltung nicht abändernd eiuAvirkt, gilt für unorganisierte Arbeiter auch hier das Ricardosche Lohngesetz : die Löhne werden durch den zur Erhaltung und Fortpflanzung der Arbeiter notwendigen Betrag bestimmt. Jedoch braucht dieser Betrag nicht immer vom Arbeitgeber selbst bezahlt zu werden. In Rufsland wälzt die Industrie einen Teil des notwendigen Lohnes ab auf die Landgemeinde. Es beruht dies darauf, dafs der russische Arbeiter in dem gewerblichen Lohn nur eine Ergänzung des landwirtschaft- lichen Einkommens erblickt. Die Aufzucht der Kinder, die Sorge für die Alten und Kranken hat die ländliche Gemeinde zu tragen. Man findet erstaunlich wenig Kinder in den Ka- sernen der russischen Fabrikarbeiter. Schwangere Frauen werden zur Geburt auf das Land geschickt, oder die neu- geborenen Kinder werden dorthin verbracht und bleiben dort, bis sie das arbeitsfähige Alter erreicht haben. Arbeitsunfähige werden in ihre Gemeinden zurückgeschoben. So hält sich die grofse Mehrzahl aller Einwohner der Industrieorte daselbst nur vorübergehend auf, ohne der städtischen Gemeinde je zur Last zu fallen. Nur unter Berücksichtigung dieser Ab- wälzung eines Teiles der Lohnlast sind die aufserordentlich 1 Kurze Beschreibvxng des Indnstriebezirks der Eisenbahn von Nischni Nowgorod nach Schuja, Petersburg 1892, S. 63. Ähnlich Peskoff, Fabrikleben des Wladimirschen Gouvernements. Beilage S. 88 ß. — 135 — niederen Lohnsätze der russischen Fabrikarbeit zu er- klären. Aber, wie schon erwähnt, wird in vielen Fällen nur ein Teil des Nominalbetrags der Löhne den Arbeitern thatsäch- lich ausgezahlt. Strafen und Lohnabzüge fand Janschull bei seinen Dienstreisen im Moskauer Gouvernement „in sehr be- trächtlichem Mafse" , „bei den verschiedensten Anlässen", „nach dem Gutdünken des Herrn" in Anwendung ^ Eng ver- wandt mit den Strafabzügen sind die Lohneinbehaltungen. Janschull bemerkt, dafs zur Zeit seiner Untersuchung in vielen Fabriken feste Termine der Lohnzahlung überhaupt nicht existierten ^. Während der Arbeitsvertrag laufe, erhielten die Arbeiter nur dann Geld, „wenn sie darum bitten, und der Herr geneigt ist und Mittel hat." Abrechnung findet erst bei Beendigung des mehrmonat- lichen oder halbjährigen Kontraktes statt; wer die Arbeit früher verläfst, mufs sich Abzüge gefallen lassen. Dasselbe berichtet Peskoff aus dem Wladimirschen Gouvernement. Swjatlowski meint: wer die Arbeiter „abgerissen, mit der Mütze in der Hand , betteln gesehen habe um den mit ihrer Arbeit verdienten Lohn, der verstehe, warum selbst eine ordentliche und sparsame Familie sich nicht über die Lebenshaltung der Büfser der Vorzeit erheben könne" ^. Ein anderer Teil der Löhne fliefst mittelst der Fabrik- läden in die Hand dej* Arbeitgeber zurück. Die Niedrigkeit der Löhne und die Unregelmäfsigkeit der Lohnzahlungen zwingt die Arbeiter, ihre Lebensmittel auf Kredit zu kaufen. Kredit erhalten sie aber am ehesten in den Läden der Fabrik selbst. Nach Janschull giebt es Arbeiter, welche nie einen 1 Janschull a. a. O. S. 79 n. 80. 2 Janschull a. a. 0. S. 78—90. ^ Vergl. Janschull, Fabrikleben im Moskauer Gouvernement, 1884, 8.78, 79, 90; Peskoff, Fabrikleben im Wladimirschen Gouverne- ment, 1886, S. 67; Swjatlowski, Der Fabrikarbeiter. Warschau 1889, S. 33-37. — 136 — Pfennig- bar besehen, sondern sich stets in der Schuld gegen- über ihrem Herrn befinden; Lohnzahlung vollzieht sich hier einfach im Fabrikkontor durch Umschreibung von einem Konto auf das andere. Nicht selten , sagt Janschull , wisse man nicht genau, ob der Laden um der Fabrik oder die Fa- brik um des Ladens willen da sei. Wo die Fabriken keine eigenen Läden besitzen, weisen sie häufig ihre Arbeiter an, in bestimmten Läden der Nachbarschaft zu kaufen. Hierfür gewähren die Ladeninhaber oft 15 "/o des Betrages der von den Arbeitern gemachten Einkäufe als Rabatt an die Fabrik. Janschull berichtet von Arbeitsverträgen , welche die Ver- pflichtung der Arbeiter auf bestimmte Läden bereits aus- drücklich enthielten ^ Neuerdings hat die Gesetzgebung die Fabrikläden der Aufsicht der Fabrikinspektoren unterstellt und ihrer Kon- trolle insbesondere die Preistaxen unterworfen. Die hierdurch erzielten Erfolge sind unleugbar. Trotzdem scheinen Ab- machungen mit Privathändlern auch heute noch Mittel zu biete n, um das Gesetz zu umgehen. Was Erisman aus den neunziger Jahren berichtet, bleibt hinter den Mitteilungen Jau- schuUs aus den achtziger Jahren kaum zurück^. Neben niederen Löhnen steht im mittelrussischen In- dustriebezirk vielfach eine ungewöhnlich lange Arbeitszeit. In den Webereien Wladimirs wird 12—15 Stunden täglich gearbeitet^. In Moskauer Färbereien konstatierte Janschull bei Geschäftsfülle Arbeitstage von 16 und mehr Stunden*. In Industrien, welche der Baumwollindustrie gegenüber kapi- talistisch rückständig sind, finden sich sogar noch längere Arbeitszeiten — ein Beweis dafür, dafs nicht etwa die Maschine 1 Janschull a. a. 0. S. 92, 93, 102, 108. - Vergl. Erisman, Die Ernährung der Arbeiter in den Fabriken des Moskauer Gouvernements, Untersuchungen im Auftrage der Moskauer Landschaft. Moskau 1893, S. 6—10. 3 Vergl. Peskoff a. a. O. S. 94. * Vergl. Janschull a. a. O. S. 38. - 137 - es ist, welche die Arbeitszeiten verlängert. Mattenfabriken, Segeltuchfabriken, Zündholzfabriken u. s. w. haben nach Swjatlowski vielfach 16 — ISstündige Arbeitszeit. Hören wir noch JanschuU ^ über die Moskauer Mattenfabriken ; es sind das Handwebereien in Werkstättensystem, wobei sich meist zwei Erwachsene und zwei Kinder gemeinschaftlich ver- dingen : „Die Arbeitszeit beginnt Sonntags Abend 9 Uhr; der Mann, die Frau und zwei Kinder arbeiten ununterbrochen bis 4 Uhr morgens. Der Mann webt, die Frau leistet Hilfsarbeit, die Kinder spulen den Bast. Um 4 Uhr legt sich der Mann hin und die übrigen arbeiten weiter bis 7 Uhr morgens ; um 7 Uhr steht der Mann auf und legt sich die Frau nieder und schläft bis 9 Uhr; dann legt sich eines der Kinder und schläft bis 1 Uhr. Während dieser Zeit arbeiten die Erwachsenen un- unterbrochen; das zweite Kind schläft dann bis 4 Uhr. Von 4 Uhr nachmittags bis 2 Uhr nachts arbeiten alle ununter- brochen und dann schlafen sie zwei oder drei Stunden bis 4 oder 5 Uhr morgens u. s. w. Die Hälfte der Arbeiter sind Kinder, von denen sehr viele nicht 10 Jahre alt sind, ja man findet schon Kinder von 3 Jahren an der Arbeit. Nach dem Ausdruck des Besitzers einer Mattenfabrik sind sie gegen Ostern, wenn die Arbeit eingestellt wird, „so schwach, dafs ein Wind sie umbläst'". Das, was wir in dieser Hinsicht in den Berichten der Fabrikiuspektoren lesen , begreifen wir nur unter der Voraussetzung, dafs der Arbeiter periodisch auf das Land zurückkehrt, hier Wochen verschläft und so neue Kräfte sammelt. Bei dem steten Zuflüsse vom Lande konnte die Industrie zunächst Arbeitergenerationen aufbrauchen, ohne auf Ersatz durch Inzucht zu rechnen. Einer ständigen Arbeiterbevölke- rung solche Arbeitszeiten aufzuerlegen, wäre eine physiologische Unmöglichkeit. * JanschuU a. a. ü. S. 44. — 138 — Bezüglich der Arbeitszeit liegen die Verhältnisse in den grofsen Moskauer Spinnereien entschieden günstiger. Das fixierte Kapital ist hier so wertvoll, dafs man die Spindeln Tag und Nacht laufen läfst; die Arbeit aber ist gelernt und schwierig; eine ununterbrochene Ausnutzung der Arbeitskraft wäre unmöglich ; daher arbeitet man hier gewöhnlich in zwei zwölfstündigen Schichten. Um jedoch jede Pause zu ver- meiden, zerreifst man die zwölfstUndige Arbeitszeit in je zwei sechsstündige Abschnitte ^ Es ergiebt sich daher folgende Anordnung der Arbeits- zeit : Schicht 1 von 5 bis 10 Uhr vorm., Schicht II „ 10 Uhr vorm. bis 4 Uhr nachm., Schicht I „ 4 „ nachm. „ 9 „ „ Schicht II ,, 9 „ „ „ 5 „ vorm. Diese Anordnung der Arbeitszeit wird von Fabrikinspektoren und Landschaftsärzten für gesundheitsschädlich erachtet; sie gestatte niemals eine genügend lange Ruhepause. Auch reifse sie die Familien willkürlich auseinander und mache jede Art von Familienleben den Arbeitern unmöglich. Seitdem das Fabrikgesetz die Nachtarbeit von Frauen und Minderjährigen verboten hat, ist man in den besten Spinnereien Mittelrufslands zu einer Doppelschicht von 18 Stunden über- gegangen ^. 1 Janschull a. a. 0. S. 87; Peskoff a. a. 0. S. 94 ff. 2 Vergl. Bericht der Moskauer Sektion der Gesellschaft zur Unter- stützung für russischen Handel und Industrie, betr. das Lodzer Projekt, 1895, S. 6. Ferner den Bericht von Aljantschikoff in der Gesellschaft für Unterstützung des russischen Handels und Industrie, abgedruckt in den Russischen Nachrichten vom 9. Februar 1896; danach arbeiten über die Hälfte aller untersuchten Spindeln 24 Stunden, über ein Viertel 18 Stunden täglich in doppelter Schicht, 18 ^/o in einer Schicht von 12 und mehr Stunden. — 139 — Es ergiebt sich daraus folgendes Schema: erster Tag zweiter Tag Schicht I von 4 Uhr vorm. bis 10 Uhr vorm., Schicht II „ 10 ., „ :, 4 ., nachm., Schicht I ., 4 ., nachm. ., 10 ., ., Schicht II „ 4 ., vorm. ., 10 ., vorm., Schicht I ,, 10 ., „ „ 4 ., nachm., Schicht II „ 4 „ naclim. ., 10 _ ., Es waren dies die kürzesten Arbeitszeiten, welche zur Zeit meines Besuches in Mittelrufsland vorkamen — ein Beleg des social - fortschrittlichen Charakters des kapitalistischen Grofsbetriebes. Trotz niedrer Löhne und langer Arbeitszeit schliefst die Natur der russischen Fabrikarbeiter zwar nicht gewaltsame Ruhestörungen, wohl aber alle planmäfsigen Versuche aus, ihre Lage zu bessern. Der russische Arbeiter ist weder Social- demokrat noch Gewerkvereinler. Heiligenbilder finden wir an Stelle der Porträts von Marx und Lassalle, womit die deutschen Arbeiter ihre Stuben schmücken, — an Stelle der englischen Gewerkvereinsembleme, welche zwar unschön in der Zeich- nung, aber bewundernswert durch das Selbstgefühl sind, das sich in ihnen ausspricht. In den russischen Fabriken wird viel geschlagen und zwar, wie der oben erwähnte Bericht des Journals der tech- nischen Gesellschaft ausdrücklich zugiebt, sowohl von eng- lischen als von russischen Aufsehern. Wenn man sich hier- über skandalisiert, so sollte man bedenken, dafs eben überall solange geschlagen wird, als der Geschlagene es sich gefallen läfst. Solange insbesondere von Rechtswegen gegen Angehörige des Bauernstandes, zu denen ja die Fabrikarbeiter gehören, die Prügelstrafe erkannt werden kann , so lange ist eine Ab- stellung des mifsbräuchlichen Prügeins in Fabriken und Guts- l)etrieben kaum zu erwarten. Die Natur der russischen Fabrikarbeit bringt es mit sich, dafs über den Inhalt des Arbeitsvertrages der einseitige Wille des Arbeitgebers entscheidet. Es zeigt dies z. B. der Um- stand , dafs Verträge vorkommen , in denen der Arbeiter sich — 140 — verdingt gemäfs den Fabrikregeln und Lohnlisten , deren In- halt er gar nicht kennt und gewöhnlich nicht lesen kann^ Auch die Gesetzgebung steht in Rufsland keineswegs auf dem Standpunkt der Rechtsgleichheit, welche ja auch in West- europa vielfach nur formeller Natur ist. Der Strike ist gesetzwidrig und strafbar. Widersetzlich- keit gegen den Arbeitgeber gilt gleich der Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt. Man vergleiche die Bestimmung des Strafgesetzbuchs § 1358 I: „Bei Einstellung der Arbeit in einer Fabrik infolge eines Strikes mit der Absicht, den Fabrik- besitzer zu zwingen, den Lohn zu erhöhen oder andere Be- dingungen des Arbeitsvertrages zu ändern, bevor der Ver- dingungstermin abgelaufen ist, werden die Schuldigen bestraft : der Anstifter zum Beginn und zur Fortführung des Strikes mit Gefängnis von 4 — 8 Monaten, die übrigen Teilnehmer an dem- selben mit Gefängnis von 2 — 4 Monaten. Die Teilnehmer an einem solchen Strike werden von der Strafe befreit, wenn sie den Strike aufgeben und die Arbeit auf die erste Aufforderung der Polizei wieder aufnehmen." Erst kürzlich, da die Strikewelle im Westen hochging, hat der Finanzminister in einem Cirkular an die Fabrik- inspektoren die Strafbarkeit des Strikes von neuem eingeschärft. Die Arbeitgeber seien die Väter der Arbeiter, und ihrem Wohl- wollen allein sei die Verbesserung des Loses der Arbeiter an- zuvertrauen. Vernehmen Avir hier nicht — so könnte man fragen — eine Schilderung des Eldorados, jenes fabelhaften Goldlandes, nach der Phantasie mancher deutscher Fabrikfeudalen? Wenn die Konkurrenzfähigkeit einer Industrie auf niederen Löhnen, langen Arbeitszeiten und der Unterwürügkeit der Arbeiter beruhte, so mül'ste Moskau Manchester schlagen und Rufsland die industrielle Gröfse Westeuropas bedrohen. Gerade das Umgekehrte ist der Fall. Alle Kenner russischer Industrie- verhältnisse sind darüber einig , dafs die Erschliefsung der aufserordentlichen Reichtümer Rufslands vorwiegend durch 1 Peskoff, Das Fabrikleben in Wladimir, 1884, S. 71. — 141 — Mängel auf .selten der Arbeit verlangsamt wird. Zahl- reiche mittelrussische Industrielle, zumal solche, welche die hochgelernte Arbeit Westeuropas aus eigener Erfahrung kannten, insbesondere Franzosen und Engländer, hörte ich diese Schwierigkeiten als aufserordentlich schwerwiegend be- klagen. Die russische Fabrikarbeit ist gröfstenteils unständig, flüssig und unzuverlässig. In den meisten Fabriken wird die gesamte Arbeiterschaft im Frühjahr entlassen. Nach der mehrwöchentlichen Osterpause treten in sehr zahlreichen Fällen neue Arbeiter ein, welche oft in dem betreffenden Ge- werbe überhaupt noch nicht beschäftigt waren. Immer von neuem ergiebt sich die Notwendigkeit des Anlernens, welche jene allmähliche, aber stetige Steigerung der Arbeitsleistung verhindert, worin im Westen eine wichtige Seite des indu- striellen Fortschritts besteht. Neulinge vergeuden am Material, auch ermüden sie früher, als erfahrene Leute, welche die Ar- beit an der rechten Stelle anzugreifen gelernt haben. Der russische Arbeiter wandert von Ort zu Ort, von Gewerbe zu Gewerbe , von der Industrie zur Landwirtschaft und um- gekehrt: ein „Fabriknomade" nach der zutreffenden Bezeich- nung eines geistvollen Franzosen. Noch nicht auf die Maschine eingelebt , versteht er es schlecht , die in ihr verborgenen Mächte zu entfesseln. In manchen Industrien, die in Europa längst fabrikmäfsige Grofsbetriebe sind, ist aus diesem Grunde der Hausindustrielle trotz seines technisch tief stehenden Werkzeuges in Rufsland der Fabrik ökonomisch noch über- legen. Aber die russische Fabrikarbeit ist nicht nur unstät: sie ist widerwillig, und nur dem äufseren Zwang gehorchend dient sie der Maschine. Innerlich hafst und vei'achtet sie die Fabrik; so hörte ich bei Bereisung des jugendlichen, aber gewaltig aufstrebenden Industriebezirks des Donez- Dnjepr- Beckens, dafs die eingesessene Bevölkerung die aus den Con- vertern hervorschiefsende Flamme für höllisches Feuer halte und die Werke fliehe, so viel sie könne. Es ist dies eine Er- scheinung, die sich bei jeder ursprünglichen, landwirtschaft- — 142 — liehen Bevölkerung wiederholt und z. B. die geringe Aus- nutzung der Wasserkräfte der österreichischen und bayerischen Alpenländer gegenüber dem schon im Mittelalter städtischeren Schwaben und der Schweiz erklärt *. In Kufsland ergiebt sich hieraus folgender Widerspruch: bei guten Ernten schwillt die Nachfrage nach Industrieprodukten an, denn die Bauern haben Geld. Aber gerade dann fliefsen die Arbeiter ab, weil sie den industriellen Verdienst im Augenblick nicht notwendig haben ; daher gerade in solchen Zeiten ein oft unerträglicher Arbeiter- mangel. Hohe Löhne vermögen hiergegen wenig; denn der russische Arbeiter ist zufrieden , wenn ihm das gewohnheits- mäfsige Dasein gesichert erscheint. Nur der Hunger zwingt ihn zur Arbeit. Während in Westeuropa sich die Überzeugung Bahn gebrochen hat, dafs der bestgenährte Arbeiter auch der leistungsfähigste ist, kann man von russischen Fabrikanten oft genug die vielleicht nicht immer unbegründete Meinung hören, der satte Arbeiter sei faul ^. Einen Einblick in das Denken und Fühlen der mittel- russischen Fabrikbevölkerung gewährt ein im Moskauischen verbreitetes Arbeiterlied^, von dem ich einige Verse anführe: Blüh'nder Sommer nun entschwand, Kalter Winter zieht ins Land. Heifsa, sause, Schlitten sause, Winterfrost naht Feld und Hause. Unter Winterfrostes Banne Prefst das Herz sich armem Manne. Mitternacht steigt kaum heiniieder, Eilet zur Fabrik er wieder. ^ „Der Tiroler," sagte mir kürzlich ein aus Tirol gebürtiger Kollege, „hält das Gefängnis für ehrlicher als die Fabrik." 2 Es erinnert dies an die in meinem „Grofsbetrieb", Einleitung, behandelte Kontroverse der Engländer des vorigen Jahi-hunderts und begründet die dort aufgestellte Meinung, dafs es sich \\m eine psychologische Entwicklung handle, welche entgegengesetzte Meinungen erklärt. ^ Rosenberff a. a. 0. S. 75. — 143 — Heine Rechte reifst in Stücke Ihm im Schlaf Maschinentücke. 0 Fabrik, dii schlimme, böse, Die du schufst des Volkes Blöfse! Ausgestofsen bin von allen, Mag zur Hausfrau nicht gefallen, Nicht dem Herrn, noch dem, der Handel Treibt, noch Burschen stolz im Wandel ! Und zur Gattin heischt mich balde, Der die Schweine treibt im Walde — Der im Walde treibt die Schweine Armes Mädchen, wird der deine! Wie bezeichnend der ländliche Hintergrund, der trübe Winter, der die Bauern in die Fabrik treibt, der Unfall während des Schlafs (!) bei der Arbeit, die geringe Wert- schätzung des Fabrikmädchens in der Stufenleiter der länd- lichen Gesellschaft, vor allem der Widerwille gegen die Fabrik und die Maschine. Will man sich des äufsersten Gegensatzes bewufst werden, so gedenke man der Arbeiterbevölkerung Lancashires, welche stolz ist auf die Maschinen als das Werk ihres eigensten Genius und ihnen selbst ihre Mufsestunden widmet in Fortbildungsklassen und technischen Erörterungen der Arbeiterpresse. Aber auch die Ahnen dieses kräftigen Arbeitergeschlechtes wurden einst mit Zwang an die Maschinen gesetzt; man erinnere sich jener Wagenladungen von Armen- kindern, welche einst aus Südengland nach den nordenglischen Fabriken verfrachtet wurden. Nicht verwunderlich ist es daher, wenn man in Kufsland die verschiedensten Mittel anwenden mufs, um die widerwillig geleistete Arbeit an die Fabrik zu fesseln. In erster Linie zu nennen sind hier jene die Anlagekosten verteuernden Arbeiter- kasernen zur Unterkunft der Arbeiter; häutig werden ihre Thore des Nachts verschlossen, da man fürchtet, dafs die Arbeiter von abendlichen Ausgängen nicht wieder zurück- kehren könnten. Ein weiteres Mittel, die Arbeiter an den Betrieb zu fesseln, sind langdauernde Arbeitsverträge. In — 144 — Moskau sind halbjährige und ganzjährige Verträge gewöhn- lieh. Am gebräuchlichsten sind Verträge vom 1. Oktober, als dem Endtermin der Feldarbeiten, bis Ostern und sodann nach mehrwöchentlicher Osterpause bis Oktober ^ Diese langen Verträge sind nicht ohne Nachteile für die Industrie ; soweit der Arbeitgeber sich an sie gebunden hält, ist er aufserstande, bei schlechten Konjunkturen die Arbeit beliebig abzustofsen, um sie bei guten wieder anzuziehen ; in dieser Möglichkeit besteht ein wesentlicher Vorteil insbesondere der englischen Industrie, welche eine dichte, sefshafte und sparkräftige Arbeiterbevölke- rung hinter sich hat. Aber weder die Arbeiterwohnungen, noch die langen Kon- trakte, selbst wenn sie mit bedeutenden Lohneinbehaltungen verbunden sind, erreichen in allen Fällen ihren Zweck. Haupt- kalamität in Rufsland ist das Entlaufen der Arbeiter, selbst unter Instichlassung der verdienten Löhne. So entliefen z. B. im Charkoffer Fabrikbezirk während der Campagne 1881/82 12 '•/o aller Arbeiter der Zuckerfabriken ^. Von den Arbeitern, welche man aus dem Norden nach den Hüttenwerken des Südens kommen läfst, wurde mir erzählt, müsse man stets die doppelte Zahl verschreiben ; bis sie das Werk erreicht hätten, seien sie auf die unentbehrliche Hälfte zusammengeschmolzen. Daher überall in Rufsland, selbst in den besten Grofsbetrieben, jene Fülle von Ersatzarbeitei-n , welche einzutreten haben, wenn der zunächst Verpflichtete ausbleibt! Hieraus erklärt sich auch der Mangel an bestimmten Arbeitspausen, in denen die Maschinen abgestellt werden; man läfst die Arbeiter nach- einander abtreten und behält immer noch genug für die zu verrichtende Arbeit übrig. Daher endlich auch das gänzliche Fehlen oder die Beschneidung der Sonntagspausen , da der Arbeiter durch zeitweises Wegbleiben oder völlige Flucht für die physiologisch unentbehrliche Ruhezeit selber, sorgt. ' Vergl. Janschull a. a. 0. S. 76 und die oben citierte amtliche Schrift „Die Fabrikindustrie und der Handel Rufslands". Teil II. Petersburg 1893, S. 274—279. 2 Rosenberg a. a. O. S. 113. — 145 — Das Gesagte ergiebt, dafs trotz des freien Arbeitsver- trages, welcher seit der Bauernbefreiung die rechtliche Grund- lage des Arbeitsverliältnisses bildet, dasselbe innerlich noch mit den Nachteilen der unfreien Arbeit behaftet ist. Aber selbst die rechtliche Fiktion des freien Vertrages wird nicht in allen Fällen aufrechterhalten. Es kommt z. B. vor, dafs Dorfverwaltungen ihre Steuerrückständler an Fabriken oder Zwischenmeister verdingen — es ist dies oft das einzige Mittel ftir die Landgemeinden, der Steuerrückstände Herr zu werden, für welche sie solidarisch haften, und zu deren Eintreibung Körperstrafe eintreten kann. Janschull berichtet z. B. folgen- den FalD : „Im Gouvernement Kaluga im Massalskischen Be- zirk besteht ein Wolost (unterer Verwaltungsbezirk), Avelcher seit lange den Mattenfabriken im Moskauischen als Bezugs- quelle für Arbeiter dient. Nicht später als im September schicken die Mattenfabrikanten in jenen Wolost Zwischen- meister, welche gewöhnlich aus den dortigen Bauern stammen; diese setzen sich mit der Wolostbehörde in Verbindung und empfangen von ihr eine Vollmacht, auf Grund deren sie für den Wolost mit den Fabrikanten einen Vertrag abschliefsen über die Lieferung von so und so viel Arbeitern für eine bestimmte Zahl von Mattenwebstühlen. Nach den Worten der Zv/ischenmeister selbst , welche ich befragte , verfährt die Wolostverwaltung in diesem Fall durchaus selbständig (d. h. ohne die Arbeiter zu fragen); sie verdingt in der angegebenen Weise hauptsächlich Steuerrückständler und rechnet aus den Handgeldern, die sie empfängt, ab auf die Steuerrückstände einer jeden verdungenen Person." Auch kommt es vor, dafs der verdiente Lohn, statt an den Arbeiter ausgezahlt zu werden, von den Fabrikanten direkt an die Wolostverwaltung gesandt wird. Überblicken wir das Gesagte, so ist es nicht verwunderlich, dafs auch heute noch für die russische Industrie der Satz Haxthausens gilt: „la raain d'oeuvre est chere en Russie." Wir können dem hinzufügen: teuer, wie jede unfreiwillig ' Janschull a. a. O. S. 86, 91. V. S chiil ze-Gae V ern itz , Studien a. Riifsl. 10 — 146 — geleistete Arbeit. Teuer, ja oft überhaupt nicht zu haben ist ins- besondere die gelernte und verantwortungsvolle Arbeit, welcher man wertvolle Kapitalien und komplizierte Maschinen anver- trauen könnte. Wir sind damit zum Verständnis der oben ausgeführten Thatsache gelangt, warum die Arbeit pro Produkt in Rufsland nicht billiger, sondern eher teurer ist als in Eng- land, trotz der 2 — 5mal niederen Wochenverdienste in Rufsland. VII. Die Europäisieruu^ der mittelrnssischen Fabriken. So mangelhaft die russische Fabrikarbeit auch heute noch sein mag, so sind Fortschritte zu Intensität und Gelerntheit zweifellos. Diese Fortschritte aber vollziehen sich nicht ohne eine allmähliche Annäherung des russischen Arbeiters an die Lebenshaltung und Denkweise seines westeuropäischen Arbeits- genossen. Hatten die Slavophilen den Individualismus des Westens verketzert und Rufsland gepriesen, das in seinen breiten Schichten von ihm unberührt sei — gleichviel , auch der Russe der unteren Klassen wird Eui'opäer. Beweis auf dem Lande der als Kulak verschrieene reiche Bauer, der Kosak und der Kolonist in den Getreideausfuhrgebieten des Südens. Beweis auch der mittelrussische Fabrikarbeiter. Er wird Europäer einfach deswegen , weil für die Unter- nehmer die Anwendung des Europäers rentabler ist — ein Grund, gegen den Litteraturmeinungen wenig verschlagen. Dieser Vorgang schliefst in sich die Loslösung aus der Ge- bundenheit der ursprünglichen Gruppenzusammenhänge, so der Familiengenossenschaft, des Agrarkommunismus, an deren Stelle die kleine westeuropäische Familie tritt. Hand in Hand hiermit geht der Zusammenbruch der überkommenen Lebens- haltung und die Erweiterung der menschlichen Wünsche über das Gewohnheitsmäfsige hinaus: die Geburt des Individuums. Bei der mittelrussischen Fabrikarbeit läfst sich dieser Prozefs, welcher von allgemein wirtschaftsgeschichtlichem Inter- esse ist, auf das deutlichste beobachten. Er vollzieht sich in vier Stufen, von denen die erste grofsenteils überwunden, die vierte nur in wenigen Fällen erreicht ist^ auf der zweiten — 147 - befindet sich die grofse Masse der mittelrussisclien Industrie, insbesondere die Mehrzahl der Webereien und Färbereien, auf der dritten die fortgeschritteneren Grofsbetriebe Moskaus. 1. Noch heute findet man in technisch zurückgebliebeneren Gewerben Fälle der primitivsten Stufe der gewerblichen Arbeit. Wie einst der Bauer auf dem Gutshofe unter anderem auch Fabrikarbeit verrichtete, so bedienen sich heute noch die kleineren, insbesondere die auf dem Lande zerstreuten Fabriken der umwohnenden bäuerlichen Bevölkerung. Der Bauer ist hier zufällig und vorübergehend Fabrikarbeiter. Dem entspricht seine Lebensweise. Für eine dauernde Unterkunft der Arbeiter bei der Fabrik ist nicht gesorgt. Sie nächtigen im Sommer im Freien vor der Fabrik, im Winter in den Arbeitsräumen selbst, auch wohl bei den nächst umwohnenden Bauern oder in flüchtig errichteten Baracken. Janschull und Peskoff sagen von diesen Arbeitern, „dafs sie schlafen, wo sie hinfallen". Der erstgenannte Augenzeuge erzählt von Handwebern, die auf den Webstühlen, Handdruckern, die auf den von Farben triefenden Drucktischen, Seidenweberinnen, die auf der Diele des Websaales in grofser Enge und ohne Ordnung durcheinander schlafen. Swjatlowski berichtet , dafs die Arbeiterinnen gewisser Chokoladenfabriken des Nachts auf denselben Tischen kampierten, auf denen sie am Tage die Konfekte bereiteten. Derselbe Sachverständige erzählt von Gerberei- und Handschuhwerkstätten, die zugleich als Schlaf- räume dienten, und in denen „die Luft nicht besser sei als in einem schlecht ventilierten anatomischen Theater."' In Wla- dimir, dem östlichsten Industriebezirk Europas, wo der Fabrik- arbeiter aus dem allgemeinen Bauerntypus noch am wenigsten herausgeschält ist , mangelt häufiger als im westlicheren Moskau jede Fürsorge für die Unterkunft der Arbeiter.^ Auch die Beköstigungsweise ergiebt den durchaus vorüber- gehenden und zufälligen Charakter derartiger Industriearbeit: besondere Speiseräume bestehen nicht, die Nahrung wird in 1 Vergl. Janschull a. a. O. 8. 119 fF.; Feskoff a. a. O. S. 57; Swjatlowski a. a. 0. S. 116. 2 Peskoff a. a. 0. S. 89. 10* — 148 — den Arbeitsräumen und häutig in den unregelmäfsigen Pausen "Während der Arbeit verzehrt. Die Leute bringen das Essen mit, leben hiervon die Woche und kehren des Sonntags nach Hause zurück. Gekochtes Essen nehmen sie während der Woche selten zu sich. Ihre Nahrung ist äufserst einförmig und besteht fast ausschliefslich in Schwarzbrot. Das Arteil, jene die Familie nachahmende, altertümliche Form der Ge- nossenschaft, besteht bei diesen Arbeitern nicht, weil nach einer bezeichnenden Bemerkung Erismans „das ganze Volk aus der Nähe ist" , d. h. der Mensch ist von der im Boden wurzelnden Familiengenossenschaft noch nicht entschieden genug losgerissen, um eine neue Genossenschaft zu bilden^. Unter solchen Verhältnissen ist die Arbeit äufserst un- ständig, so dafs man etwa dreimal so viel Leute anstellen mufs, als man braucht, und doch oft genug nicht die genügende Anzahl von Händen beisammen behält. 2. Arbeiter aus der Ferne können schwerer entlaufen •, wo man auf dauernde Arbeit Wert legen mufs, zieht man daher auswärtige Arbeiter vor. Seit alters sucht der Be- völkerungsüberschufs der nördlichen Gouvernements seinen Lebensunterhalt in der Ferne ; an das Gruppendasein gewöhnt, schliefst sich der Bauer zu Artellen zusammen, wandernden Produktiv- und Konsumtivgenossenschaften, welche gewisse Arbeiten gegen Gesamtlohn übernehmen. Es bedeutet dies für den Bauern eine geringe Veränderung seines Daseins : auch die ländliche Familie, wie sie bis in dieses Jahr- hundert hinein die Daseinsform des russischen Volkes dar- stellte, war weniger eine verwandtschaftliche, als eine wirt- schaftliche Gemeinschaft. Sie erweiterte sich durch Aufnahme (Adoption) Fremder; sie verlor durch Wegzug oder Weg- heirat Blutsverwandter und stand — genau wie das Artell — nicht unter der Leitung des Geschlechtsältesten nach Bluts- verwandschaft, sondern des Stärksten und Fähigsten^. Das 1 Erisman a. a. O. S. 14 u. 28. 2 Veigl. Maine, Ancient Law. Neueste Auflage. London 1894. S. 133, 184, 265. — 149 — Artell ist die mobilisierte Bauernfamilie, wie die Drujina (Gefolgschaft) die mobilisierte Adelsfamilie ist. Das Artell wie jede familienhafte Genossenschaft ist nur so lange gesund, als bei dem Führer die persönlichen mit den Gesamtinteressen zusammenfallen. Neuerdings nehmen diese wandernden Genossenschaften dadurch einen individualistischen Charakter an , dafs der bis- herige Älteste sich zum Unternehmer aufschwingt; als Zwischen- mann übernimmt er es, der Fabrik eine bestimmte Anzahl von Arbeitern gegen eine bestimmte Summe zu stellen; seiner- seits wirbt er die Arbeiter auf eigene Rechnung an, oft mittels Branntweins, und ohne dafs sie wissen, wohin die Reise gehen soll ^ Sobald man Arbeiter aus der Ferne in gröfserer Zahl an- stellt , tritt die Notwendigkeit ein , für ihre Unterkunft zu sorgen. Nach übereinstimmender Meinung der einsichtigsten Fabrikinspektoren bedeutet der Bau von Arbeiterwohnungen in diesem Falle einen Fortschritt; denn während in Westeuropa heute Arbeiterwohnungen vielfach vom Fabrikanten gebaut werden, um die Organisation der Arbeiter hintenan zu halten, sind sie in Rufsland der erste Schritt, um einen Arbeiterstand selbst erst zu schaffen. Nicht dazu sind sie da, den plan- mäfsigen Strike zu bekämpfen, sondern jenen stillschweigenden, aber gefährlicheren Strike, den in Deutschland zwar nicht der westdeutsche Fabrikant, wohl aber der ostelbische Landwirt aus eigener Erfahrung kennt: den Abflufs der Arbeit. Damit entsteht die Arbeiterkaserne, welche für die Mehrzahl der russischen Fabriken typisch ist. Die Arbeiter nächtigen in ge- meinsamen Schlafsälen, meist auf Holzpritschen, welche mit Schafpelzen bedeckt sind. In anderen Fällen thun Lumpen oder alte Baumwollsäcke denselben Dienst'. Auf dieser Stufe der Arbeit überwiegen die Männer. Fast alle sind verheiratet, denn der russische Bauer heiratet sehr früh ; aber die Frauen sind zu Hause geblieben unter der 1 Vergl. Roseuberg a. a. 0. S. 112 u. 113. 2 Yergl. Swirski a.a.O. S. 63; Janschull a.a.O. S. 118. Hier wie im folgenden beruht die Schilderung auf eigener Anschauung. — 150 — Schutzgewalt des Schwiegervaters, welcher häutig die ehelichen Rechte des Sohnes geltend macht. Zu Ostern, vielfach fin- den ganzen Sommer, kehren die Arbeiter aus den Fabriken zur Bestellung der heimischen Felder zurück. Frauen werden auf dieser Stufe seltener angestellt. Aber auch wo Frauen sich zur Fabrikarbeit stellen, ist zunächst von familienhaftem Leben keine Rede. In gemeinsamen Schlaf- räumen schlafen alle Geschlechter und Alter unterschiedslos durcheinander, oft dicht gedrängt Avegen Raummangels oder zum Schutz vor der Kälte. Wo in zwei Schichten gearbeitet wird, werden die Lagerstätten häufig überhaupt nicht kalt, und fehlt jede Möglichkeit ihrer Reinigung^. Die besseren Fabriken gewähren den Frauen dagegen besondere Schlaf- säle, welche sich von Anfang an durch gröfsere Sauberkeit auszeichnen. Aber wie dem auch sei, in allen diesen Fällen reifst die Fabrikarbeit die ländliche Familie auseinander: die Männer arbeiten hier , die Frauen dort. Alle diese Leute streben daher nach Hause und betrachten das Fabrik leben als etwas vorübergehendes. Auch hier ersetzt das nunmehr örtlich festgewurzelte Artell dem Arbeiter die Familie — ein Beweis für den das Empfinden des Volkes auch heute noch beherrschenden Trieb nach familienhafter Gebundenheit.^ Bezeichnenderweise pflegen diese Artelle sich zu gliedern in Artelle der Männer, der Frauen und der Kinder. Es ist dies ein Anzeichen dafür, dafs das Artell für die Genossen nur eine vorübergehende Gemeinschaft ist, dafs hinter ihm die „ewige" Gemeinschaft der Familie steht, in deren Schofse das sexuelle Zusammenwohnen 1 Vergl. »Swirski a. a. O. S. 63; Janscliull a. a. 0. S. 117 und den haarsträubenden Bericht von Swjatlowski a. a. 0. S. 68. 2 Eine gute Litteraturzusammenstellung, sowie die richtige Grund- auffassung über das Artell enthält Stach er, Über Ursprung, Ge- schichte, Wesen und Bedeutung des russischen Artells. Dorpat 1890. Vergl. bes. S. 59. Die Schrift von Apostol, Das Artell. Münchner volkswirtschaftliche Stadien. Stuttgart 1898 enthält in deutscher Sprache viele interessante Einzelangaben. Im Grundgedanken — Anlehnung des Artells an die Familie der älteren Zeit — stimmt es mit der in diesem Buche vertretenen Auffassung überein. — 151 — der Geschlechter sich normalerweise vollzieht. Da die Pro- duktion kapitalistisch geordnet ist, so sinkt hier das Artell zu einer Gemeinschaft des Lebens und Verbrauchs herab; jedoch zeigt sich der alte erwerbsgemeinschaftliche Charakter der Familiengenossenschaft noch darin, dafs die Löhne nicht dem einzelnen Arbeiter, sondern dem Artellhaupt ausgezahlt werden, welcher sie den Genossen verrechnet. In riesigen Kesseln ferner wird in den Artellküchen auf gemeinsame Rechnung gekocht; man speist an gemeinsamen Tischen, oft aus gemeinsamen Schüsseln. Das Gemeinschaftsleben, welches sich in den russischen Arbeiterkasernen abspielt, erinnert in mancher Beziehung an die Familisteres der französischen Socialisten. Hier wie in anderen Punkten erweist sich das Zukunftsbild des Socialismus als ein idealisierter Reflex der Vergangenheit. Demgegen- über ist der westeuropäische Arbeiter zu individualistisch, um an Massenabfütterungen Geschmack zu linden. Er vermeidet, soweit er kann , sogenannte Volks- oder Fabrikküchen und speist lieber, wenn auch schlechter, im eigenen Haushalte. Darin gerade besteht die zukunftsreiche Seite der Konsum- genossenschaften Westeuropas, dafs sie dem Arbeiter die Vor- teile gemeinsamen Warenbezuges sichern, ohne die Neigungen gesonderten Familienlebens zu beschränken. Aber auch in Rufsland geht das altertümliche Gruppen- dasein einem unaufhaltsamen Verfall entgegen. Voraussetzung für den Bestand jener alten familienhaften Organisationen ist die psychologische Gebundenheit der Genossen. Aber der Individualismus greift von den Höhen der Gesellschaft hinunter nach der Tiefe. Er ergreift den Altesten des Familienver- bandes früher als den minderen Genossen; sein Interesse ist nicht mehr das der Brüder; statt ihr Führer wird er ihr Ausbeuter. Jene aber sind seine wehrlosen Opfer, denn er ist stärker, weil individualistischer als sie. Je nach den äufseren Verhältnissen ergeben sich hieraus die verschiedensten Formen ökonomischer Abhängigkeit: das Familienhaupt wird Feudal- herr oder hausindustrieller Verleger, bei Avandernden Ge- nossenschaften Gangmeister, bei den Artellen in den russischen — 152 — Fabrikkasenieri ein Zwischenhändler clor von den Genossen verbrauchten Nahrungsmittel und Getränke. „Gegenwärtig", sagt Janschull, „sind die Artellältesten Wucherer, welche ihren Genossen Kredit gewähren gegen hohe Prozente und andere Nebenverdienste ; beispielsweise verkaufen sie im geheimen Schnaps und Tabak und geben den Arbeitern Anweisungen auf die benachbarten Kneipwirte." Ganz be- sonders ungünstig liegen die Verhältnisse für die Arbeiter dort, wo die Interessen des Fabrikladens mit denen der Artell- ältesten ein Bündnis schliefsen. In zahlreichen Fabriken wird den Arbeitern aus dem Fabrikladen nicht anders eine Ware verabfolgt als durch Vermittelung des Artellvorstandes, welcher sich für diese Vermittelung natürlich von den Arbeitern bezahlen läfst. So werden die Preise, welche ohne- hin teuer genug sind, durch die Artellvorstände oft um ein beträchtliches weiter verteuert (nach Janschull nicht selten um 10 — 50 ^lo). Wie wir sahen, zahlt das Fabrikkontor in vielen Fällen den Artellvorständen die von den Arbeitern verdienten Löhne aus. Die Artellvorstände begleichen hiervon die Nahrungsmittelkonti der Arbeiter und die Wucherzinsen, die sie für die gewährten Vorschüsse erheben. Es ist klar, dafs diese fremde Kassenführung für die Arbeiter um so ungünstiger ist, als sie grofsenteils des Schreibens und Lesens unkundig und zur Kontrolle unfähig sind. Die Veränderung, welche im Wesen des Artells vor sich gegangen ist, ergiebt sich daraus, dafs die Vorsteher früher besoldet wurden. Ihre unrechtmäfsigen Nebeneinnahmen er- laubten ihnen jedoch, ihren Schreibern oft höhere Monats- gehalte zu zahlen, als sie selbst vom Ar<^ell Jahresgehalte be- zogen. Neuerdings haben die Arbeiter ein Gegenmittel gegen die an ihnen verübten Betrügereien darin gefunden, dafs sie die Vorsteherstelle an den Meistbietenden versteigern, Jan- schull schätzt die Einnahmen der Ältesten gröfserer Artelle trotzdem noch auf Hunderte von Kübeln. ' Leider wird die Abschlagszahlung, welche die Genossen für die Erlaubnis, sie Vergl. Janschull a. a. 0. S. 97 ff.; Peskoff a. a. 0. 8. 98 ff. — 158 — auszuwuchern, vom Ältesten erhalten, gewöhnlich sofort in einigen Eimern Schnaps angelegt. Aus dem Gesagten ergiebt sich der Verfall der Artelle, welcher um deswillen unaufhaltsam ist, weil es sich um Zer- störung ihrer psychologischen Grundlagen handelt. Dieser Vor- gang ist zunächst gegen das Interesse der Arbeiter. Zwar sind die Artelle kein Mittel zur Emporentwicklung der Arbeiter- klasse, wie die westeuropäischen Gewerkvereine; dagegen bilden sie, so lange sie gesund sind , eine nicht zu unter- schätzende Schutzwehr der Arbeiter gegen Herabdrückung vom ül)erkommenen Niveau. In den Artellen lebt die gewohn- heitsmälsige Lebenshaltung des Bauern fort. Zwar sind die Artellküchen meist dunkel und schmutzig; auch mag in ihnen die Zubereitung der Speisen nach westeuropäischen Begriffen recht unappetitlich sein — Swjatlowski erzählt von Fällen, in denen die Kessel abwechselnd zum Kochen und zum Waschen der schmutzigen Wäsche benutzt wurden. Auf der anderen Seite steht jedoch die Beköstigung in den Artellen, nach der Analyse Erismans ^, an Nährwerten verhältnis- raäfsig hoch, ja Avahrscheinlich höher als die mancher deutscher Fabrikarbeiter. Nach Erisman enthält die tägliche Nahrung an Gramm : Ehveifs Fett KohlenstoflF bei deu männlichen Artellen der Moskauer Fabriken (in Niclit- fastenzeit) bei einem englischen Weber (nach Playfair) bei einem Tischler in München (nach Forster) die theoretische Norm für den er- wachsenen Arbeiter 136,08 76,23 t 151 { 43 131,1 I 67,6 130 1 75 573,49 621 494 450 1 Erisman, Die Ei-nährung der Arbeiter in den Fabriken des Moskauer Gouvernements. Moskau 1893. — 154 — Zum Vergleiche tühre ich nach Erisinan folgende bäuerliche Ernährungswerte an. Die erste Reihe dürfte die gewohnheitsmäfsige Lebenshaltung des Moskauer Gouverne- ments darstellen, die zweite die Proletarisierung breiter Teile des mittelrussischen Bauernstandes bezeichnen. Eiweifs Fett Kohlenstoff I. Bauer II. Bauer im Moskauischen (nach Skibnebski) 147 92 53 28 750 495 Auch hinsichtlich der Auswahl der Lebensmittel hält die Artellkost das Gewohnheitsmäfsige fest. Fast der ganze Betrag der Nährwerte wird dem Pflanzenreiche entnommen. In Rufsland sind allein 180 Tage des Jahres Fasttage. Das Fleisch spielt in den Moskauer Artellküchen eine geringe Rolle , freilich auch die im Westen zu trauriger Berühmtheit gelangte Kartoffel. Brot und Buchweizen bilden den Haupt- bestand der Artellkost; ihnen wird nach Erisman 76^ 2 ^/o des Eiweifses und 9P/2 'Vo des Kohlenstoffes entnommen. Fett wird in Gestalt von pflanzlichen Ölen genossen. Diese Kost ist einförmig, reizlos und schwer verdaulich; es ist die Kost eines Bauers, welcher in freier Luft harte Körperarbeit verrichtet. Aber der mittelrussische Fabrik- arbeiter steht gesundheitlich unter weit ungünstigeren Be- dingungen; erarbeitet in geschlossenen, oft schlecht ventilierten Räumen. Die geschilderte Ernährungsweise ist für ihn nur so lange möglich , als er periodisch zum Lande zurückkehrt und eine bäuerliche Konstitution von seinen Eltern ererbt. Nur unter dieser Bedingung ist es für ihn möglich, solche Massen tiefschwarzen Roggenbrotes in sich aufzunehmen, wie sie in Jahren guter Ernte der russische Bauer verschlingt. Aus diesem Grunde ist die Abweichung vom gewohnheits- mäfsigen Dasein, wie sie der Verfall der Artelle mit sich bringt, auch wenn sie zunächst eine Verminderung der Nähr- — . 155 — werte zeig% immerhin in der Richtung des Fortschritts auch für den Arbeiter gelegen, weil sie eine Anpassung seiner Lebensweise an die veränderten Lebensbedingungen vorbereitet. Wir lernten die Schlafsäle, die Speiseräume und die Küchen der russischen Fabrikarbeiter kennen. Es erübrigt noch, einer anderen Ortlichkeit zu gedenken, zu welcher sich der Westeuropäer so sehr als Individualist verhält, dafs zeit- weiser Alleinbesitz für ihn geradezu Bedingung der Benutzung ist. In Rufsland untersteht auch dieser Ort einem weitgehen- den Gemeinschaftsleben. Ich erinnere mich meines Staunens, als mir in einer der bekanntesten Moskauer Fabriken der Besitzer hinter einem Vorhang, den er ein wenig zur Seite schob, einen Anblick zeigte, wie er für die Verschiedenheit der westeuropäischen und russischen Fabrikarbeit nicht be- zeichnender gedacht werden kann. Ich erblickte ein Massen- abort, gleichzeitig besetzt von etwa 60 bis 70 Personen beiderlei Geschlechtes, der augenscheinlich zugleich als Rauch- und Kon- versationszimmer diente.. Es wurde in gemeinsamer Sitzung ge- schwatzt, gescherzt, gelacht; unter einer halben Stunde kehre niemand zurück, versicherte mein Begleiter, und diese Gewohn- heit seiner Arbeiter zwinge ihn, mehrere Dutzend von Ersatz- arbeitern zu halten. Sehr bald bemerkte ich , dafs die Be- schaffenheit der bezeichneten Ortlichkeit und ihre Benutzungs- weise durch die Arbeiter allgemein einen Schlufs auf die Stufe gestattete, bis zu welcher in einer gegebenen Fabrik die An- näherung des Arbeiters zum europäischen Typus vorgeschritten war. Sehr oft ist jene Ortlichkeit der Tummelplatz der Kinder? und nur in wenigen fortgeschrittensten Fällen fand ich jene Ausschliefslichkeit der Nutzung, welche wir für selbstverständ- lich halten — sie taucht auf erst mit der kleinen, westeuropäi- schen Familie. 3. Die Bildung einer besonderen Arbeiterklasse und die Loslösung des Arbeiters vom Lande vollzieht sich in dem Mafse, als ihm die Fabrik ein familienhaftes Dasein ermög- licht. Voraussetzung hierfür ist die Ausdehnung der Frauen- arbeit. Auch für Westeuropa möchte ich die gewerbliche Frauenarbeit an sich keineswegs beklagen, vielmehr nur wünschen, dafs die verheiratete Frau und Mutter kleiner — 156 ^ Kinder der Erwerbsthätigkeit enthoben sei. Aber die« wird am ehesten ermöglicht durch die Ersparnisse, welche sie bei den hohen Löhnen einzelner englischer und amerikanischer Grofsindustrien als Mädchen machen konnte; ökonomisch un- abhängig, ist sie in der Lage, den Eheschluls nicht zu über- eilen. Die geringe Ausdehnung der Frauenarbeit in der rus- sischen Industrie ist weder als wirtschaftlicher, noch als socialer Vorzug anzusehen, wie denn gerade die fortge- schrittenste russische Industrie, die Baumwollindustrie, es ist, welche die Frau in wachsendem Mafse in die Fabrik ein- gliedert. Für die Moskauer Baumwollindustrie betrug der Prozentsatz der beschäftigten Frauen in den achtziger Jahren 42,9 ''/o (in der englischen Baumwollindustrie dagegen 62 ^/o), im einzelnen für die mechanische Weberei 52,8 °/o, für die Spinnerei 46,8 *^/o ^ , für die Druckerei nach Janschull 27,4 *^/o. In den andern, der Baumwollindustrie gegenüber ökonomisch rückständigen Textilgewerben, welche sich ihrer Natur nach nicht minder für Frauenarbeit eignen, z. B. in der Seiden- und der Wollindustrie, überwiegt die Zahl der Männer in Rufsland noch bedeutend ; nach Erisman betragen die Pro- zente der in ihnen beschäftigten Frauen 38 und 28 "/o. Aber die Frauenarbeit bedeutet für Rufsland einen Kultur- fortschritt. Wo wenig Frauenarbeit vorhanden ist, da führen die Männer jenes oben geschilderte, kulturell tiefstehende Massendasein in Artellen; sie wandern und wechseln die Be- rufe. In denjenigen Industrien dagegen, in denen die Frauen- arbeit bereits stark entwickelt ist, werden die Arbeiterver- hältnisse stetiger^. Auch die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit für Kinder — eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Ergänzung des Arbeiterstandes aus sich heraus — führt zur Vermehrung der Frauenarbeit^. 1 Wir entnehmen diese Ziffern Erisman in der öfters citierten Statistik des Moskauer Grouvernements. Bd. IV. Teil I. S. 206. 2 Vergl. Erisman a. a. 0. S. 292, 297. ^ Vergl. Jansehulls Bericht als FabrikinsjDektor. St. Petersburg 1886. S. 52. — 157 — Mit der Frauenarbeit tritt an Stelle des einzelnen Wander- arbeiters das verheiratete Paar, Aber zunächst fehlt noch die heranwachsende Jugend. Vielmehr werden die schwangeren Frauen oder die neugeborenen Kinder, nachdem die Entbindung der Arbeiterin in der zur Fabrik gehörigen Entbindungsanstalt stattgefunden hat, nach der ländlichen Gemeinde geschickt, welcher die Eltern angehören. So sah ich in russischen Fabriken riesige Schlafsäle, besetzt mit hunderten von Ehe- betten, welche — ebenfalls wieder ein Fortschritt in der Richtung des Individualismus — in der Mehrzahl der Fälle bereits von Latten oder Vorhängen umgeben waren. Es ist klar, dafs mit diesem System der Nachteil verbunden ist, den Nach- wuchs der Fabrikarbeit immer von frischem wieder der Land- bevölkerung entnehmen zu müssen. Nach einer mir mündlich gemachten Mitteilung des Fabrikinspektors von Wladimir be- finden sich unter der Arbeiterbevölkerung dieses gewerblichen Gouvernements auch heute noch nicht 10 "o Kinder. Der Fortschritt besteht nun darin , dafs man zunächst einzelnen, fähigen Arbeitern, sogenannten „Arbeitern erster Klasse", ermöglicht, ihre Kinder bei sich in der Fabrik zu behalten. Anfänglich behält man nur soviel Kinder zurück, als nötig ist, um den Bedarf an Vorarbeitern, Commis u. s. w. zu decken; diese Kinder werden dann in der Fabrikschule erzogen. Allmählich ermöglicht man der Mehrzahl der Ar- beiter, ihre Kinder bei sich zu behalten; die Fabrikschulen füllen sich. Die Schuleinrichtungen einer ganzen Anzahl Moskauer und Wladimirscher Fabriken sind um so rühmlicher, als für die breite Masse der Bevölkerung in Rufsland be- kanntlich allgemeine Schulbildung auch heute noch nicht existiert. Z. B. sind die Fabrikschulen der Morosoff, welche ich besuchte, geräumig, gut beleuchtet und ventiliert, mit Lehrkräften und Lehrmaterial reichlich ausgestattet. Aufser den gewöhnlichen Elementarfächern findet sich in ihnen teil- weise auch Handfertigkeits- und Anschauungsunterricht. Nach und nach gelingt es, einen grofsen Teil des not- wendigen Nachwuchses der Fabrikbevölkerung selbst zu ent- nehmen, welche damit in ihren Lebensgewohnheiten von der — 158 — Landbevölkerung sich trennt und mit ihr nur noch durch die Unterstützungs- und Steuerordnung zusammenhängt. Auf dieser Stufe werden zwar Invah'de und Alte nach wie vor auf das Land zurückgeschoben, die Kranken dagegen, deren Herstellung zu hoffen ist, in dem Fabrikkrankenhause be- handelt: Anzeichen der beginnenden Schätzung der gelernten Arbeit. Eine Anzahl der grofsen Spinnereibetriebe Moskaus be- sitzt Krankenhäuser, welche den Anforderungen der Zeit voll entsprechen. Statt „des Feldschers" linden sich hier oft mehrere studierte Ärzte. Einzelne dieser Krankenhäuser machten mit ihren breiten Korridoren, lichten und nicht über- füllten Krankenzimmern, Bade- und Operationsräumen, Rekon- valescentengärten u. s. w. auf mich einen durchaus erfreulichen Eindruck. Auf diese Weise ist es heute einer Anzahl von Fabriken möglich, ihren ganzen Arbeiterbestand aus sich selbst heraus zu ergänzen. An Stelle des Fabriknomaden tritt der berufs- mäfsige, mit dem Betrieb verknüpfte Arbeiter. In mehreren der besten Spinnereien Moskaus giebt es heute bereits Arbeiter, welche in der di'itten Generation der Fabrik angehören. Trägerin dieses Fortschrittes ist zu- gestandenermafsen die Baumwollindustrie. Die ihr dienenden Spinner und Weber sind die stetigste Arbeiterklasse im Mos- kauischen. Die geschilderte Entwicklung liegt zunächst im Interesse der Fabrikanten. Kinder von Fabrikarbeitern, welche in der Fabrik und der Fabrikschule aufgewachsen sind, erlernen nach Angaben einsichtiger Unternehmer in 3 — 4 Monaten schwierige Arbeiten, wozu Bauern vom Lande 3 — 4 Jahre brauchend Zu der eigentlich gelernten Arbeit an Maschinen sind letztere überhaupt kaum zu verwenden, und bei ihnen ist der Verlust ^ Diese und einige der folgenden Angaben beruhen auf einer Privatenquete des Herrn A. Scheike witsch, welcher mir freundlichst Einsicht gestattete. — 159 — an Zeit und Material stets grofser, als bei den fabrikbürtigen Arbeitern. Einer der von Herrn Scheikewitsch befragten Fabrikanten schätzt diesen Unterschied auf 20 — 25 Prozent. Nach der interessanten Aufserung dieses Zeugen hat die Ver- kürzung der Arbeitszeit auf die Arbeitsleistung der Bauern keinen Einflufs, dagegen zeigt im gleichen Falle der fabrik- bürtige Arbeiter jene aus Westeuropa bekannte Steigerung der Arbeitsintensität. Aber die geschilderte Entwicklung ist auch im Interesse der Arbeiter. Wo die junge Generation in der Fabrik zurück- gehalten wird, tritt an Stelle des Artells die individualistische Familie des westlichen Europas. Dafür, dafs auch der rus- sische Arbeiter Europäer wird, ist nichts bezeichnender, als die von allen Zeugen einstimmig berichtete Thatsache: die Arbeiter fliehen die Artelle \ Freilich ist die Sonderexistenz der Einzelnen immerhin noch gering. Zwar verzichtet der Fabrikant nunmehr auf die grofsen Schlafsäle und baut die Kasernen so, dafs in jedem Stockwerk das Gebäude der Länge nach von einem Korridor durchzogen wird, von dem auf beiden Seiten einzelne Stuben abgehen. Aber in jeder solchen Stube wohnen noch mehrere Familien zusammen, gewöhnlich je vier, wie die in jeder Ecke stehenden riesigen Familien- betten dem Besucher beweisen. Öfters fand ich die Zahl der in einem Zimmer hausenden Familien auf zwei beschränkt; in letzterem Falle waren die beiden hinteren Ecken der Stube den Betten vorbehalten, die beiden vorderen, am Fenster ge- legeneu Ecken dagegen mit Heiligenbildern und einer brennen- den Lampe geschmückt. In diesen Stuben und Korridoren wimmelt es nunmehr von Kindern ; die kleinen hängen häufig in Wiegen von der Decke herab; trotz aller störenden Gerüche bietet das Bild einen immerhin viel menschlicheren Anblick, als jene öden Schlafsäle der Wanderarbeiter, in denen übermüdete Gestalten auf schmutzigen Schafpelzen sich wälzen. Mit dem Familienleben beginnt die Lust an dem kleinen Schmuck des Daseins; die Wände sind oft mit Buntdrucken bedeckt, welche ^ So unter andern JanschuU, Moskauer Fabrikleben. S. 95. — 160 — Heiligenlegenden, die Krönung des Zaren u. s. w. darstellen. Kinder und Frauen begrüfsen höflich den Besucher. Man sieht die Männer in ihrer Mufsezeit bereits hin und wieder lesen. In einzelnen der besten Moskauer Grofsbetriebe hat jede Familie ein eigenes Zimmer. Es sind dies die Fabriken, Avelche zugleich die höchste Arbeitsintensität aufweisen, und in denen man mit der sonst wenig geschätzten Menschenkraft bereits zu sparen beginnt. So fand ich in dem bekannten Grofsbetriebe zu Ramenje in den Arbeiterkasernen saubere und wohlgehaltene Zimmer mit genügendem Luftraum, Wasser- darapfheizung und Wasserleitung, eine Krippe, in welche die kleinen Kinder gebracht werden , solange die Mütter in der Fabrik beschäftigt sind, lichte Korridore, verschliefsbare Ab- orte u. s. w. Es stellt diese Fabrik wahrscheinlich den Höhe- punkt dar, dessen das ganze System fähig ist. Mit der Entstehung der Familie beginnt die Thätigkeit der Hausfrau. Zwar sind die Küchen noch gemeinsam, aber jede Familie hat ihren eigenen Kochtopf. Die einförmige Artellkost wird mannigfacher und individueller. Freilich be- deutet, wie für die englischen Industriearbeiter zu Beginn des Jahrhunderts, wie für die ostdeutschen Landarbeiter unserer Tage, die Durchbrechung des geAvohnheitsraäfsigen Daseins zunächst eine Verschlechterung der Ernährungsverhältnisse. Die Kartoffel beginnt ihre traurige Rolle. Erisman giebt folgende chemische Analyse der täglichen Nahrung in Gramm ^ : Eiweifs Fett Kohlenstoff Artellkost von Männern .'..... 136,08 76,23 573,19 Artellkost von Frauen 99,62 48,52 462,41 Familienweise Beköstigung pro Kopf 100,13 44,32 470,06 ^ Vergl. Erisman a. a. 0. S. 32. (Gemischte Artelle sind sehr selten.) - 161 — Man kann diese Minclerernährung- des Mannes bedauern ; man bedenke aber, dafs ihr eine bessere Ernährung der Frau und der Kinder gegenübersteht; auf der Stufe des Artelldaseins ist die Ernährung der weiblichen und jugendlichen Arbeiter völlig unbefriedigend. Ferner darf man den psychologischen Gewinn des Familiendaseins nicht vergessen. Mit der gewohnheitsmäfsigen Lebenshaltung fallen die Grenzen des gewohnheitsmäfsigen Genügens. Weitere Wünsche und neue Kulturbedürfnisse er- wachen im Arbeiter, und es wird damit erst die geistige Vor- aussetzung eines späteren Aufsteigens durch eigene Kraft gegeben. Wäre die Arbeiterbewegung des Westens, alles in allem doch eines der wichtigsten Kulturelemente unserer Zeit, auf dem Boden des Gewohnheitsmäfsigen geworden? Überblicken wir das Gesagte, so erscheint es unverständlich, wie der Verfasser des öfters citierten Aufsatzes .,das Kontor Knoop und seine Bedeutung" der Moskauer Spinnerei — denn diese ist doch das Lebenswerk Knoops — vom Gesichtspunkte des Arbeiterinteresses aus einen Vorwurf machen kann. Gewifs sind die in der Moskauer Spinnerei herrschenden Verhältnisse weit entfernt vom Ideal. Aber nach der Lektüre von Peskoff, Janschull, Erisman und Swjatlowski ist doch unzweifelhaft, dafs in der Mehrzahl der Moskauer Klein- betriebe, z. B. in den noch sehr verbreiteten Handwebereien, wahrscheinlich auch in den kleineren und wenig kapital- kräftigen mechanischen Betrieben des östlichen Wladimirs, die Lage der Arbeiter viel unerfreulicher ist, als in den auf Spinnerei fufsenden Grofsbetrieben. Beweis hiefür — und nicht, wie man gewollt hat, Beweis des Gegenteils — sind die gerade in den Moskauer Grofsbetrieben häufigen , oft gewaltsamen Arbeiterunruhen: nur ein Arbeiter, welcher leidlich genährt ist, besitzt Kraft und Lust zum Wi r 9 2 1 40 Kop. - 326 — Insbesondere kommt als Käufer des Gutslandes in Be- tracht die kleinere Kaufmannschaft der Landstädte und Handels- dörfer, welche der Landwirtschaft und der Landbevölkerung nahe steht. Es sind die Fälle nicht selten, in denen solche Bürgerschaften grofse Gemeindefluren nach den Regeln des Gemeindebesitzes bewirtschaften. Auf meinen Reisen in Rufs- land hatte ich öfters Gelegenheit, über diese wichtige Volks- klasse Beobachtungen anzustellen. Die ältere Generation dieser Kaufleute führte ein durch- aus bäuerliches Leben, getrennt von der Welt westeuropäischer Bildung, deren wirtschaftliche Grundlage der Landadel war. Heute beginnt die jüngere Generation „europäisch" zu leben i sie erscheint in der Gesellschaft der Landstadt unter Beamten und Adel. Ihre Kinder schickt sie in die höheren Bildungs- anstalten — einen bedeutsamen Umschwung in der gesell- schaftlichen Schichtung der Nation damit vorbereitend^. Terpigorjeff hat den Übergang der Gutsländer in die Hände solcher Elemente anschaulich geschildert. Schwäche, Leichtgläubigkeit und Charakterlosigkeit bringen die einen zu Fall-, List und Betrug, aber auch Energie und Wirtschaft- lichkeit heben die andern empor. Zuerst haben die neuen Da das Land in dem obigen Beispiel nicht mehr als 60 Rubel die Defsjätine wert ist, so trägt es bei 7 Rubel Pacht aufser dem Gewinn des Pächters dem Verpächter eine hohe Verzinsung. Allerdings mufs letzterer bei dem herrschenden Feldsystem das Land eine längere Reihe von Jahren als Weide ruhen lassen, wofür natürlich die Pacht- preise viel geringer sind. 1 In dem Handelsdorfe Balakowa an der Wolga hörte ich von Kauf leuten, die 200 000 Defsjätinen und mehr zusammengekauft hatten. Der gröfste dieser Besitzer lebte noch ganz wie ein Bauer. Wenn er seine Güter bereiste, empfingen ihn seine Verwalter mit stinkendem Schweinefleisch und Buchweizengrütze — um dann, wenn der „Alte" abgefahren war, es sich um so besser schmecken zu lassen. Nach der Anschauung des Alten war jeder Verwalter ein Betrüger; in der That wurden sie alle schnell reich, aber er auch. Als ein neu ange.stellter Verwalter, welcher schon von europäischer Art angekränkelt war, dem Alten eine schriftliche Rechnung legen wollte, wurde dieser wütend ; „du willst mich betrügen," rief er, „schreibe mir, was du gestohlen hast." — — 327 — Besitzer die Güter, soweit noch etwas zu rauben war, insbe- sondere die Waldbestände , ausgeraubt. Aber das damit unverkäuflich gewordene Land erforderte landwirtschaftliche Ausnutzung. Es ist kein Zweifel, dafs letztere bei den neuen Besitzern aus dem Kaufmanns- und Bauernstande zweck- entsprechender ist als bei ihren Vorgängern. Sie bauen, sagt Terpigorjeff, keine kostspieligen Phantasiebauten wie der Adel ; sie wenden weniger Maschinen an, aber die, welche sie an- wenden, funktioniren. Es liegt mir fern, die moralischen Mängel zahlreicher Mitglieder dieser Klasse zu beschönigen. Ihre erste Generation gleicht eben dem rechtlosen Geschlechte der Squatter, energischen Willens, aber sittlich zweifelhaften Wertes. Möchten ihre Kinder sich zum thatkräftigen Yankee entwickeln, den die Schätze des russischen Bodens erwarten ! Es ist zu hoffen, dafs ein Teil der Söhne des Adels an diesem Auswege teilnimmt, den Fleifs- und Energie einem jeden eröffnen. Es wäre hier endlich der Platz, des deutschen Gutsver- Avalters mit einem Worte zu gedenken, jener typischen Figur des russischen Landlebens ; er ist die wichtigste Hilfstruppe des Adels gegen den Ansturm von Bauern und Kaufmann- schaft. Mit geringem Verständnis ausgerüstet für die Eigen- tümlichkeiten des ihn umgebenden Volkslebens, nicht selten bei den Bauern wegen seiner Genauigkeit und Rücksichtslosigkeit mifsliebig, dient er mit bewundernswerter Treue den Interessen der oft weit entfernten Auftraggeber. In der Heimat ist es ihm zu eng geworden ; an die breiteren Verhältnisse Rufslands gewöhnt, „könnte er in Deutschland nicht mehr leben." Das Resultat seiner Lebensarbeit aber kommt ausschliefslich der russischen Volkswirtschaft zu gute, Avie er auch in Körpern der Selbstverwaltung und in geselligen Klubs häufig beliebt ist wegen der „Disciplin", die er hineinbringt. — Der adelige Betrieb aber bröckelt nicht nur durch Verkauf ab, sondern mehr noch durch Verpachtung. Die Bau er np acht ist eine der wichtigsten Erscheinungen der russischen Agrarverhältnisse der Gegenwart. Über diesen Punkt - 328 — bietet das treffliche Buch von KarischefF^ wertvolle Auf- klärung. Ganz besonders zu betonen ist hier der tiefgreifende Unterschied der langdauernden Pachten Westeuropas und der vorwiegend einjährigen Pachtverhältnisse in Rufsland. Nach Karischeff ist Verpächter der Adel, Pächter der Bauer ; über die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung Kufslands ist an der Pacht beteiligt; Pächter sind die mittleren und die reicheren Bauern, während die armen Bauern auch als Pächter leer ausgehen. Je gröfser die Landausstattang des Bauern mit Nadjelland, je gröfser sein Viehbesitz und die Arbeits- kraft des Hofes, um so begieriger sucht er Gutsland hinzu zu pachten. Karischeff unterscheidet unter den Pächtern: Gemeinden, Gesellschaften und einzelne Bauern. Die Gemeinden treten als Pächter auf in Gegenden des Landüberflusses und bei niedrigen Pachtpreisen. Durch diese Gemeindepachten wird zunächst eine gewisse Gleichheit unter den Bauern aufrecht erhalten, dort nämlich wo das Pachtland nach Seelen unter alle Gemeindegenossen verteilt wird. Bei höheren Pachtpreisen tritt die Verteilung nach Seelen zurück, und werden nur noch die wohlhabenderen Gemeindemitglieder am Pachtlande be- teiligt, weil sie allein für die Erlegung des Pachtzinses Sicherheit bieten. Aber die Pachtpreise steigen weiter ; sie sind in den letzten drei Jahrzehnten enorm gestiegen , im Osten und Westen Rufslands um das 2 und Stäche, in der Mitte und im Süden um das 4 und 5fache ; an Stelle der Geraeindepacht tritt damit die Pacht durch Gesellschaften (Artelle) wohlhabender Bauern und in letzter Linie die Pacht durch einzelne kräftigere Wirte. Der Pachtzins besteht in Rufsland überwiegend in Naturalleistungen (Teilbau) oder Arbeitsverpflichtung. Die volkswirtschaftlichen Nachteile beider Systeme liegen auf der 1 Karischeff, Bauernpacht. Lorpat 1892. Vergl. auch das anonyme Buch aus der Feder eines hohen Staatsbeamten (Jermoloff) „Mifserute und Volksarniut". PetersburK 1892. S. 99 ff. — 329 — Hand. Die gepachteten Felder werden beim Teilbau meist sehr oberflächlich bestellt ; denn für den Bauern ist am vorteilhaftesten ein mittlerer Ertrag des Feldes bei geringer Arbeitsaufwendung. Um höhere Erträge zu erzielen, müfste er relativ mehr arbeiten, während er das Mehrerträgnis mit einem andern zu teilen hätte. Nicht minder unerfreulich ist die Pacht gegen Arbeitsverpflichtung. Sie bedeutet Bestellung der Guts- äcker mit Bauerninventar und widerwilliger Bauernarbeit. Um auf dem Gutshofe zur Arbeit zu erscheinen , mufs der Bauer sein Feld oft gerade zu einer Zeit vernachlässigen , da es der Arbeit am meisten bedarf. Dieses System verewigt alle Mängel der unfreien Arbeit. Auf der andern Seite ergiebt das Buch von KarischefF einen grofsen Widerwillen der Baueim gegen Teilbau und Arbeitspacht. Die kräftigeren Wirte streben nach Geldpacht, schon um in ihrer Wirtschaftsführung freier zu sein. Aufserdem ist der Pachtzins bei Geldpacht verhältnismäfsig niederer und weniger lastend als bei Pacht gegen Arbeitsleistung und Naturalabgaben , weil im letzteren Falle dem Verpächter die Arbeit und Gefahr der Verwertung bleibt. Auch der Ver- pächter zieht die Geldpacht vor, wenn anders der Pächter nur einige Sicherheit für den Pachtzins auch in schlechten Jahren bietet. Wird damit das Risiko des Verpächters geringer, so kann die Pachtsumme niederer sein. Nach Karischeff über- wiegt die Geldpacht bereits heute dort, wo gröfsere und viel> reiche Bauernhöfe existieren. Bei der völligen Unsicherheit und Schwäche der Pächter, wie sie in vielen Teilen Rufs- lands allgemein ist, herrscht dagegen Teilbau oder Pacht gegen Arbeitsverpflichtung auch heute noch vor. Die Pachtperiode ist in Rufsland überwiegend eine einjährige. Je mehr der Gutsbesitzer seine patriarchalischen Beziehungen zu den Bauern aufgab und möglichste Steigerung seiner Renten erstrebte, um so mehr verkürzte er die Pacht- perioden; angesichts der Unsicherheit der Pächter und des Mangels an Düngung boten längere Pachtperioden keinen Vorteil; dagegen konnte der Gutsherr bei einjährigen Pacht- perioden die günstige Konjunktur am meisten ausnutzen. Aber — 330 — das Buch von Karischeff zeigt auf der andern Seite, parallel mit der Entwicklung der Geldpacht, eine Neigung zur Ver- längerung der Pachtperioden, soweit es sich um kräftigere Pächter handelt, soweit Düngung und geregelter Frucht- wechsel einsetzt. Die Entwicklung zur Geldpacht und zur mehrjährigen Pacht wird beschleunigt durch das Auftreten „kapitalistischer" Grofspächter. Es sind dies Leute, welche meist selber dem Bauernstande entstammen und durch Handels- und Kredit- geschäfte zu einem gewissen Wohlstand emporgestiegen sind. Sie pachten teils zwecks Afterverpachtung, teils zur Selbst- bewirtschaftung. Die Afterverpachtung wird in dem Mafse schwieriger, je mehr die breite, mittlere Bauernschicht zum Proletariate herabsinkt und die eigene Wirtschaft aufgiebt. Die kapitalistische Pacht zwecks Selbstbewirtschaftung führt zu gröfseren Landwirtschaftsbetrieben, freilich in der Hand einer energischeren Unternehmerklasse als der des Adels. Auch in Sachen der russischen Bauernpacht könnte ich manches aus persönlichen Eindrücken und mündlichen Mit- teilungen schöpfen. Baron Behr, der Oberverwalter des von mir besuchten Livenschen Latifundiums, wie alle von mir hierüber befragten Landwirte waren darin einig, dafs die ein- jährige Pacht in der wirtschaftlichen Schwäche der Bauern ihren Grund habe ; längere Pachtverträge schützten, weil gegen die Bauern nicht exequierbar, weder vor den niedergehenden Konjunkturen, noch vor der Einwirkung von Mifsernten auf die Pachtlust u. s. w. Bei der einjährigen Pacht habe dagegen der Verpächter wenigstens den vollen Vorteil der steigenden Konjunktur. Zudem sei Düngung bei den Bauern doch nicht üblich, und es wäre daher auch bei längeren Verträgen eine bessere Bearbeitung des Feldes seitens des Bauern nicht zu erwarten. Die mit dem Gemeindebesitz verbundenen Land- umteilungen erschwerten das Aufkommen einzelner kräftiger Besitzer, welche genügende Sicherheit für mehrjährige Pachten böten und genügend Vieh besäfsen , um entsprechend zu arbeiten und zu düngen. Das Gesagte führt zu der Einsicht : der russische — 331 — Landwirt ist der russische Bauart Es kommt in dieser Hinsicht noch in Betracht, dafs der Anteil der besäten Fläche am Gesamtareal beim Bauernlande viel gröfser ist als beim Gutslande, Für das schwarzerdige Rufsland, also für das Rufsland des Getreidebaues , giebt Korolenko folgende Ziffern : Defsjätinen Bauernland Privateigentum Kulturland 77 711012 53110 463 davon Ackerland 63,7 *'/o 44,3 *'/o davon besät 61,8 «/o 55,4 0/0 Nach Nicolai — on werden nur 13 pCt. des Ernteergeb- nisses der Hauptgetreidearten von nichtbäuerlichen Wirt- schaften hervorgebracht ^. D. Die Mängel der russischen Bauern Wirtschaft. Der russische Bauer ist ein gewesener Leibeigener. Vor dem Reformwerk Alexanders H, zerfiel die bäuerliche Bevölkerung in zwei Klassen: die Staatsbauern und die Guts- bauern. Bei beiden lag der Zweck der bäuerlichen Wirtschaft nicht in dieser selbst, sondern aufserhalb ihrer in der Wirtschaft des Herrn, bezw. des Staates. Der Reichtum letzterer be- stimmte sich bei der Wertlosigkeit des Landes nach der Zahl ihres Besitzes an leistungsfähigen Bauern, wie man Landgüter nicht nach Flächeninhalt, sondern nach „Seelen" kaufte. Die Leistungsfähigkeit des Bauern erforderte eine entsprechende Landausstattung; um Land und Arbeitskraft in gleichem Ver- hältnis zu erhalten , mufste der Gutsherr den Verschiebungen innerhalb der Bevölkerung durch Landumteilung folgen. Ähn- liches geschah auf Befehl des Zaren auf dem Staatslande in willkürlichen Zwischenräumen (sog. Revisionen)^. 1 So schon Thun, Landwirtschaft und Gewerbe in Mittelrufsland. S. 2. Diesen richtigen Satz betonen vor allem die Volkstümler; freilich ziehen sie verfehlte Folgerungen. Sielie oben. 2 Nicolai — on a. a. 0. S. 137, 267. ^ Aus einem Aufsatz eines vortrefflichen Sachkenners hebe ich folgende Stellen hervor : „Bis zur Einführung der Kopfsteuer war voll- berechtigtes Mitglied der Gemeinde, Aver einen Hof innerhalb der — 332 — Die Aufhebung der Leibeigenschaft gab den Bauern zweierlei: persönliche Befreiung und Abtrennung des Bauern- landes von den Staats- und Gutsländereien. Hiergegen wurde der Bauer mit Ablösungssummen belastet, welche dem Ab- lösungsplane nach auf mehrere Jahrzehnte bis zur völligen Tilgung sich erstreckten. Da der Adel vom Staate durch verzinsliche Papiere abgefunden war, so waren die Ablösungs- gelder lediglich an den Staat zu zahlen. Der Staat trat an die Stelle des Gutsherrn ^ Aber eine wichtige Veränderung fand statt: in den breiten Gebieten des schwarzerdigen, landwirtschaftlichen Rufsland hatte der Gutsherr vorwiegend Naturalabgaben und Frohnden bezogen; der Staat forderte Geld^. Die russische, wie jede Bauernbefreiung setzte einen gewissen Grad geld- wirtschaftlicher Entwicklung voraus, und dieser Grad war vielfach noch nicht erreicht. Gegenüber der bäuerlichen Naturalwirtschaft und dem niederen Stande der Technik, wie er von der Leibeigenschaft her überkommen war, erreichten, ja überstiegen die Ablösungszahlungen und Steuern vielfach die Erträgnisse des Grund und Bodens. Dies war besonders in den sch^varzerdigen Teilen des mittleren und südlichen Rufsland der Fall. In der nördlichen Zone Avaren schon zur Zeit der Leibeigenschaft die Verhältnisse geld wirtschaftlicher gewesen, und die Bauern auf den Obrok, d. h. Geldabgaben gesetzt. Der gutsherrliche Rentenempfänger wurde hier durch die Bauernbefreiung einfach durch den Fiskus ersetzt, wobei Gemeinde besafs, weil er davon die Grundsteuer zahlte. — Um die Möglichkeit zu haben, die Kopfsteuer zu zahlen, mufs man Land be- sitzen. Die Gemeinde teilt daher das Land nach Revisionsseelen. — Diese Verteilung verfolgte rein fiskale Ziele. — Die Umlegung der Kopf- steuer auf das Land und die Verteilung des Landes nach Revisions- seelen führte das Volk zu der Überzeugung eines gleichen Rechtes jedes Gemeindegenossen auf ein Stück Land." N. Wasileuko im Encyklopädischen Wörterbuch XXIV, S. 209. ^ Steuer, Feudallast und Pachtzins fliefsen im Osten zusammen. So Maine, Village Communities. - Auf diesen Unterschied weist hin die Ökonomische Rundschau. Juli 1898. S. 11. — 333 — ein Gewinnüberschufs aus Landwirtschaft, Hausindustrien und Wandergewerben der bäuerlichen Bevölkerung verblieb. In den rein agraren Bezirken der Mitte, des Südens und des Ostens dagegen, in welchen die wirtschaftliche Basis Rufslands liegt, blieb der Landbesitz vielfach, was er bisher gewesen: kein Recht, sondern eine Pflicht. Ein Beweis hierfür sind die S teuer rückständ e der mittleren und östlichen Gouvernements, d. h. jener Gegenden, in denen die Naturalwirtschaft auch heute noch am tiefsten wurzelt. Über die SteuerrUckstände und ihre geographische Verteilung enthält das oben angeführte Buch von Jermoloff „Mifsernte und Volksarmut", Petersburg 1892, interessante Mitteilungen. Die Steuerrückstände sind auf der fruchtbaren Schwarzerde gröfser als im Norden. Die gröfsten Rückstände hat der Osten, dann folgt das mittlere Rufsland, bezeichnender- weise die Gegenden, in denen der Gemeindebesitz noch heute unerschüttert ist. Keinerlei nennenswerte Steuerrückstände weisen der Süden und der Westen Rufslands auf; diese Gegenden aber sind unter dem Einflüsse der See und des Verkehrs am tiefsten in jene Geldwirtschaft verstrickt, welche nach Meinung der „Volkstümler" den Ruin des Volkes bedeutet. Nach den Berichten des. Reichskontrollamts machten die Steuerrückstände im Jahre 1885 bei der bäuerlichen Be- völkerung gegen 50 Millionen Rubel aus, bis zum Jahre 1896 aber wuchsen die Rückstände bis 142^2 Millionen an. Die Rück- stände betrugen u. a. im Gouvernement Woronesch 164 *^ o der direkten Abgaben , im Gouvernement Nischni-Nowgorod 306 ^0 der Jahresquote, in dem Gouvernement Kasan 355 " o, in dem Gouvernement Samara 342 '^'o, in dem Gouvernement Orenburg 492 ** o ^ Dabei ist keineswegs eine zu grolse Milde der Eintreibung Grund der Steuerrückstände. Die Steuern, für welche die Gemeinde solidarisch haftet, werden von den Gemeindeältesten „herausgeschlagen" ; nach Engelhard „Vom Lande'' soll es vorgekommen sein, dafs nicht nur einzelne Bauern, sondern ^ Issajeff, Zur Politik des russischen Fiuanzministeriums. JS. 7. — 334 — ganze Gemeinden bei Nacht und Nebel den Steuer- rückständen entliefen. Die Steuereintreibung- wird dadurch verschärft, dafs die Steuern alsbald nach der Ernte zu ent- richten sind. Hierdurch zwingt man den Bauern, sofort zu verkaufen, während er, wenn die Steuern über das Jahr ver- teilt wären, zweifelsohne einen beträchtlichen Teil dessen, was er jetzt in Geld an die Staatskasse abführt, in natura aufzehrte. Uspjenski ^ sagt sehr bezeichnend : an Stelle der bequemen Zustände der Vergangenheit sei das Leben des Bauern heute „eine quälende Geldfrage" geworden. Wie wenig freiwillig die sofortige Veräufserung der Ernte ist, zeigt z. B. ein Umstand, auf den Nicolai — on hinweist: im Falle einer ersten guten Roggenernte fallen die Roggenpreise, weil Steuerrückstände und Schulden den Bauern zum Verkauf zwingen; dagegen ziehen bei einer zweiten, guten Roggenernte die Preise eher an, weil der Bauer nun nicht verkauft, sondern selbst konsumiert. Nach dem Urteile aller Kenner hat die Mehrzahl der Bauern nur bis Weihnachten, die „Reichen" bis Ostern auskömmlich zu essen. Von da an setzt Unterernährung ein. Durch Schulden, durch den Verkauf der künftigen Ernte oder künftigen Arbeitskraft, in letzter Linie „um Christi willen" fristet der Bauer sein Dasein. Die Schulden des russischen Bauern sind zu konsumtiven Zwecken, d. h. für Nahrung oder Steuer- zahlung gemacht. Das Mifsverhältnis zwischen Geldabgaben auf der einen, bäuerlicher Naturalwirtschaft auf der andern Seite wurde durch einen Umstand vermehrt, welcher dem Bauern erschwerte, sich aus den überkommenen Verhältnissen loszuarbeiten: die geistige Natur des Bauern selbst als eines gewesenen Leibeigenen. Ein be- rühmter Kenner der russischen Landverhältnisse schildert diese Natur in folgenden Worten: „Der Bauer freut sich oder jammert; er klagt über sein Schicksal oder dankt für dasselbe Gott, aber er nimmt Gutes und Schlechtes hin, ohne auch nur den Ge- danken zu fassen, dafs man das Gute befördern, das Schlechte bekämpfen und besiegen kann. Sein Dasein verändert sich. ^ Uspjenski, Tagebuch. Petersburg 1879 passim. — 335 — aber diese Veränderungen sind nicht das Ergebnis persön- licher Absicht, sondern erscheinen als das Ergebnis der Thätigkeit gewisser geheimnisvoller Mächte, welche sein Leben regieren. Der völlige Mangel der Selbstthätigkeit, die völlige und bedingungslose Unterwerfung unter das, was von aufsen kommt — dies ist das Grundprinzip der Weltanschauung des Bauern." „Der Protest gegen die Umstände, wenn sie un- erträglich werden, drückt sich entweder in Flucht oder wilder, plötzlicher Zerstörung aus^" Die Art, wie die Bauernbefreiung sich vollzog, hat dazu beigetragen, den Bauern an diesen psychologischen Typus des Leibeigenen festzuschmieden. Der Gedanke der „Befreiung des Bauern mit dem Lande", d. h, der Landausstattung des befreiten Bauern, wurde im Laufe der Reform zu Gunsten des Adels mehr und mehr abgeschwächt; ein grofser Teil des Landes verblieb beim Adel. Der gewesene Guts- bauer wurde also in der grofsen Mehrzahl der Fälle ein proletarischer Zwergbesitzer; die ihm gewordene Landaus- stattung war zu gering, um auf ihr die Tugenden des Freien : Arbeit, Selbsthilfe und wirtschaftlichen Fortschritt zu gründen. Auf dem Boden proletarischer Hoffnungslosigkeit lebten als Erbstücke der Leibeigenschaft Passivität und Indolenz weiter. Folge dieser Verhältnisse ist nach meiner Auffassung die Fortdauer des Gemeindebesitzes. Hinsichtlich des Gemeindebesitzes in seiner gegenwärtigen Gestalt ist vor allem auf das riesige Thatsachenmaterial Bezug zu nehmen, welches in den Landschaftsstatistiken niedergelegt ist; die- selben umfassen eine ganze Bibliothek zum Teil sehr wert- vollen Inhalts; es wäre zu wünschen, dafs eine vollständige Sammlung der russischen Landschaftsstatistiken wenigstens in einer Bibliothek Deutschlands oder Frankreichs vorhanden wäre ^. ^ Vergl. Ivawelin, Baueriifrage. !S. 150—151. 2 Eine kurze Avertvolle Zusammenstellung der Aviclitigsten Ergeb- nisse findet sich in den „Quellen der volkswirtschaftlichen Erforschung — 336 — Auch zum Verständnis der heutigen Verhältnisse des Gemeindebesitzes ist auf seinen fi s k a 1 e n U r s p r u n g zu ver- weisen. Noch bei der Befreiungsgesetzgebung spielten fiskale Ge- sichtspunkte eine hervorragende Rolle, wie die Beibehaltung der Solidarhaft der Gemeinden für Steuern und Ablösungs- zahlungen beweist. Wo diese Solidarhaft von praktischer Be- deutung war, d. h. dort, wo die Abgaben an den Ertrag der Grundstücke heranreichten oder ihn überstiegen, wurde durch die Befreiungsgesetzgebung der Gemeindebesitz befestigt, ja auf Gebiete ausgedehnt, denen er bisher fremd gewesen war. Die theoretische Abneigung vieler Mitglieder der Gesetzgebungs- kommission gegen den Gemeindebesitz hatte gegenüber den fiskalen Rücksichten wenig Bedeutung ^ Auch heute ist der Gemeindebesitz am festesten einge- wurzelt in den weniger geld- und verkehrswirtschaftlichen Teilen des Reiches, wo der Widerspruch zwischen Geld- abgaben und Naturalwirtschaft am klaffendsten ist. Dort wird in häufigen Umteilungen der Landbesitz , der Träger der Steuer, den veränderten Arbeitskräften angepafst. Die Norm der Teilung ist in diesen Fällen meist die Arbeitskraft ^. Häufig teilt die Gemeinde das Land in der Weise des früheren Gutsherrn nach Paaren (Tjaglo, arbeitsfähiges Ehepaar). Wo Rufslands auf Grund der Landschaftsstatistik". Moskau 1892. In deutscher Sprache giebt neuerdings Simkho wits ch, „Die Feld- gemeinschaft in Rufsland", Jena 1898, eine nützliche Zusammenfassung des gegenwärtigen Standes der Gemeindebesitzfrage. Das Buch ent- hält für denjenigen, dem die russische Litteratur einigermafsen bekannt ist, wenig neues; jedoch soll hierin kein Tadel liegen; denn es ist ein Verdienst, ein uferloses Meer, auf dem so viele Irrfahrten gemacht wurden, sicher zu beschiflFen. Den Kompafs hat bereits vor Jahr- zehnten Tschitscherin gearbeitet. Dieser grofse Gelehrte war für alle Späteren ein Pfadfinder. ' So Brscheski, Die Dorfgemeinde auf Grund der neuesten Daten. Ökonomische Rundschau, November 1897, S. 62/63. Ahnlich Ökonomische Rundschau, Juli 1898, S. 8. 2 Quellen I, Landverteilung nach Tjaglo S. 68, 224 ; nach Arbeiter S. 285, 290: nach Kraft schlechthin S. 66, 75, 362. Vergl. auch Keufsler a. a 0. II, 300. — 337 — die Verhältnisse besonders drückend sind, wird unter Ab- wägung aller Umstände die Gröfse des Landanteils der Leistungsfähigkeit des Einzelnen öfters noch genauer angepafst ; so werden manchmal heranwachsende Kinder als halbe Seelen berechnet, Alter von 60 oder 70 Jahren als Entschuldigungs- grund gegen Landzuweisung angesehen, körperliche Grebrechen, z. B. geschwächte Sehkraft, als Grund zur Minderung des Landanteils zugelassen, u. ä.^ Unter solchen Umständen ist Landbesitz eine Pflicht, der sich kein Gemeindegenosse entziehen darf. Der Wohlhabende verbirgt seinen Besitz, um nicht mehr Land zu erhalten, als der Zahl der Arbeitskräfte auf seinem Hofe entspricht. Trotzdem kann die Gemeinde nicht verhindern, dafs fort- während Landanteile unbebaut bleiben, sei es, dafs die Bauern entlaufen, sei es, dafs sie der „Kraftlosigkeit" anheimfallen. Solche Wirte, welche kein Vieh mehr haben und daher hoffnungslose Steuerrückständler sind, befreit die Gemeinde vom Lande, indem sie ihren Anteil den reicheren und vieh- besitzenden Bauern zuwälzt, welche sich häufig genug dagegen sträuben. Verhältnisse, wie die geschilderten, sind nach den „Quellen" noch immer weit verbreitet in dem mittleren und östlichen Rufsland von Moskau und Rjäsan bis nach Saratoff und Samara^. Wo solche Zustände herrschen, ist der Ge- meindebesitz die notwendige Form des bäuerlichen Wirtschafts- lebens — so notwendig, dafs es auf nationale Gewohnheiten und Neigungen dabei wenig ankommt. So suchte selbst im Kaukasus die eingeborene Bevölkerung stellenweise gegenüber dem Druck der Rauchfangsteuer ihre Zuflucht im Gemeinde- besitz^. Selbst Gemeinden alten Privateigentums gehen zum Gemeindebesitz über wegen der Bildung „erbloser" Anteile. Gewifs sind nicht ethische Gründe für die Aufrecht- erhaltung des Gemeindebesitzes mafsgebend : der Bauer ist zu 1 Quellen I, 66—69, 246. 2 Quellen I, aufgegebene Anteile in Rjäsan S. 282, 283; in Saratoff S. 272, 273; in Tamboff S. 288; in Samara S. 361. 3 Keufsler, Gemeindebesitz II, 37; III, 65, 69. Quellen I, 273. V. Schulze-Gaevernitz , Studien a. Kufsl. 22 — 338 — arm, um sich den Luxus einer Socialpolitik gestatten zu können , wie denn Witwen und Waisen als unsichere Steuer- zahler grofsenteils kein Land erhalten ^ Der Grund für den Fortbestand jener Wirtschaftsform, welche die Slavo- philen mit einem mystischen Schimmer umhüllen, liegt vielmehr in solchen Fällen in Folgendem : Privateigentum setzt ein privatwirtschaftliches Interesse am Objekt voraus; Pflichten sind dagegen dann am leichtesten zu tragen, wenn sie in möglichst gleicher Weise der Leistungsfähigkeit des Einzelnen angepafst werden^. Neben den bisher geschilderten Fällen steht eine breite Masse solcher, in denen die Lasten den Ertrag zwar nicht übersteigen, wohl aber ungefähr aufwiegen. Auch hier hat das Land noch keinen privatwirtschaftlichen Wert ; weit ent- fernt, dafs der Einzelne möglichst viel davon zu besitzen strebt, begehrt er nicht mehr, als notwendig ist, sich und die Seinen zu erhalten. Ahnlich wie von Luft und Wasser — Gütern, die ebenfalls einen privatwirtschaftlichen Wert nicht besitzen — nimmt jeder soviel Land, als er braucht; mehr will er nicht, denn mehr Land bedeutete mehr Steuern. Auch hat er den Reiz einer höheren Lebenshaltung noch nicht kennen gelernt und scheut sich, mit einem gröfseren Land- besitz ein Mehr von Arbeit zu übernehmen, um sich über die Stufe barster Lebensnotdurft emporzuschwingen. Auch in solchen Verhältnissen sind Landumteilungen häufig; man teilt öfters „nach gutem Willen", „nach Bedürfnifs". Ein jeder sagt, was er braucht, und was übrig bleibt, wird zwangsweise den wohlhabenden Wirten zugewälzt. Denn kein Land darf unbestellt bleiben, damit alles Land an der Tragung der Steuerlast Teil habe. Ähnliche Bedeutung haben vielfach jene Fälle, in denen „nach Seelen", „nach Essern" schlecht- hin, auch unter Berücksichtigung der weiblichen Seelen, ^ Brscheski, Ökonomische Rundschau, Juli 1898, S. 11: „Aus- schliefslich Steuererwägungen" seien für die Gemeinde mafsgebend. 2 Simkhowitsch a. a. O. S. 134: „Je mehr die Zahlungen den Ertrag des Bodens überragen, desto geringer ist das Interesse der Höfe, den Umteilungen zu widei-stehen, und desto häufiger kommen Um- teikmsen vor." I — 339 — geteilt wird ^. Dafs auch für diesen Verteilungsmodus keine „socialen" Beweggründe mafsgebend sind, zeigt der Umstand, dafs die Ärmsten der Armen, Steuerrückständler und solche, die es werden können, leer ausgehen. Auch in diesen Fällen ist Landbesitz noch kein Recht ; der Mir hat noch alle Mühe, frei werdende Ackerloose an den Mann zu bringen- — und solche entstehen noch fortwährend durch Aufgabe oder Ver- armung. Das Mifsverhältnis zwischen der bestehenden Katural- wirtschaft und den ihr auferlegten Geldlasten äufsert sich nicht nur in der Fortdauer des Gemeindebesitzes, sondern auch in der lan d wir tsc haftli chen Tech ni k. In dieser Hinsicht bietet u. a. das oben angeführte Buch des einflufs- reichen Anonymus ..Mifsernte und Volksarmut" reiches Material. Eine eingehendere Untersuchung hätte hier im einzelnen nachzuweisen, wie die dem Lande auferlegten Geld- lasten zum Teil nicht aus dem Ertrage, sondern aus dem Kapital des Bodens gezahlt werden. Zunächst wäre zu verweisen auf den vielfach bemerkten Rückgang der Viehhaltung^. Diese Erscheinung müfste in Zusammenhang gesetzt werden mit der Verminderung von Weide und Wiese zu Gunsten der durch den Steuerdruck erzwungenen Getreideverkaufsproduktion. Ohne genügenden Viehstand ist aber Düngung und intensivere Bearbeitung des Feldes unmös'lich. ^ Vergl. Quellen I, Teilung „nach gutem Willen'" S. 256, 298; „nach Essern" S.77; Berücksichtigung weiblicher Seelen S.254. Verteilung „nach Seelen" berücksichtigt nur die männlichen Seelen, die „nach Essern" auch die weiblichen. So nach Orloff Miklaschefski, Encyklopädisches Wörterbuch. Band XXIV. S. 216. - Simkhowitsch a. a. O. S. 119: „Wirtschaftliche Motive sind es , welche die Bauerngemeindeu der verschiedeneu Gegenden Rufslands zu dieser oder jener Verteilungsart bewegen." Diesen Ge- danken führte ich bereits aus in den Preufsischen Jahrbüchern. l^Qi. Band 75. Heft 3. S. 499 ff. 3 Näheres giebt Nicolai — on a. a. O. 60, 242, 312. 1876 hatte Rufsland nicht mehr Pferde als iSöl. Auch die offiziöse Ökonomische Rundschau stellt für die achtziger Jahre einen Rückgang der Vieh- haltung fest. Juli 189S. S. 38. 99 K - 340 — Zu erwähnen wäre ferner in diesem Zusamnienliang die vielbeklagte Entwaldung des südlichen liufsland , als deren Folge man vielfach zunehmende Trockenheit des Klimas ansieht. Zur Stütze dieser Meinung verweist man auf das Austrocknen vieler kleinerer Flüfse, die Bildung von Erdrissen, die Ausdehnung von Flugsand, besonders in den südöstlichen Teilen des Reiches, auf das Sinken des Wasserspiegels des Kaspischen Meeres u. s. w. Eine Stimme für viele : Aus dem Gouvernement Woronesch, welches recht eigentlich im Mittel- punkt der Schwarzerde liegt, berichtet z. B, das im Jahre 1893 veröffentlichte Tagebuch eines Landwirts: „In letzter Zeit sind weite Räume fruchtbaren Landes in Ödland übergegangen. Überall im Gouvernement beobachtet man das Einfallen der wasserhaltenden Schluchten, die Vertrocknung der Flüsse, die Bildung von Rissen. Die Verwüstung der Nährkräfte des Bodens geht schnell und breit vor sich, und dort, wo früher Getreide stand, Gräser und Wald wuchsen, hörte alle Vegetation auf." Immerhin stehen solche Klagen unter dem Eindruck von vorübergehenden Mifsernten und sind nicht ohne weiteres zu verallgemeinern ^. Diese Zusammenhänge werden von Nicolai — on in interessanter Weise beleuchtet; freilich führt seine „volks- tümliche" Gedankenrichtung diesen Verfasser öfters zu einseitig pessimistischer Beurteilung, welcher man nur mit Vorsicht folgen darf. Nachstehende Ausführung ist dagegen eine zweifellos scharfsinnige Erfassung der Thatsächlichkeit. „Die Bevölkerung fährt fort zu wachsen. Um das Dasein zu fristen, mufs sie das Ackerland auf Kosten der Wiesen und Weiden erweitern, den Wald hauen und hiermit mehr und mehr die natürlichen Bedingungen verschlechtern, ihnen mehr und mehr sich unterwerfen. Die Erweiterung des Ackerlandes auf Kosten von Wiese und Weide führt zur Verminderung des Viehs, welches ohnehin eine Last ist wegen der Schwierig- keit der Ernährung im Winter. Das Vieh wird verkauft ; ^ Vergl. über klimatische und meteorologische Verhältnisse „Mifs- ernte und Volksarmut" a. a. 0. S. 11 flf. - 341 — mit der Verminderung des Viehs nimmt die Düngung ab ; der ungedüngte Boden unterliegt leichter der Trockenheit" ^. Hierzu kam die Einführung der modernen Technik in der Industrie und dem Verkehrswesen Rufslands. Der Bauer verlor dadurch in vielen Fällen seine Nebenbeschäftigung, sowohl die Hausindustrie als das früher im Winter einträgliche Fuhrwesen ; er verlor damit denjenigen Erwerb, welcher ihm früher einen beträchtlichen Teil der zur Steuerzahlung nötigen Barmittel lieferte. Dieser Umstand zwang ihn, einen immer gröfseren Betrag der Ernte zu verkaufen. Bei dem Stillstande der Technik Avurde dieser gröfsere Betrag nicht durch Produktionssteigerung , sondern auf Kosten der Konsumtion und des Bodenkapitals aufgebracht. Aus dem gleichen Grunde war der Bauer gezwungen, Flachsbau und Schafzucht einzuschränken, welche ihm früher den Rohstoff zu der selbst gefertigten Kleidung lieferten. Notgedrungen mufste er Industriewaren , in erster Linie Textilstoffe , kaufen und zwar zu Preisen, welche durch das Zollsystem weit über die Preise des Weltmarktes erhöht waren. Auch damit stieg der Bedarf an Barmitteln, welcher, da die Erträge nicht wuchsen, vielfach durch Unterernährung oder Ausraubung des Bodens und des landwirtschaftlichen Inventars gedeckt wurde. In diesem Zusammenhange ist die Kapitallosigkeit der bäuerlichen Wirtschaft erklärlich : der Mangel an Düngung und an verbesserten Werkzeugen. Noch ist der altertümliche Hackenpflug (Socha) in Grofsrufsland weit verbreitet, welcher den Boden nur oberflächlich ritzt und nicht wendet. Noch vor zwanzig Jahren wurde die Notwendigkeit der Düngung auf der Schwarzerde geleugnet; heute zweifelt kein Mensch mehr an ihrem Nutzen. Der Bauer hat diese Einsicht bereits in ein Sprichwort gekleidet : „Der Mist ist kein Heiliger, aber dennoch er verrichtet Wunder". Trotzdem könnte ich aus eigener Beobachtung berichten von den Bergen Düngers, die sich vor Guts- und Bauernhäusern so häufig auftürmen und 1 Nicolai — 011 a. a. 0. S. 312. — 342 — die, um den Zugang frei zu machen, nur zu oft in den Flufs geworfen werden. Im Süden fand ich getrockneten Dünger noch allgemein als Brennmaterial in Anwendung. Insbesondere scheitert die Einführung von bearbeiteter und mit Blatt- oder Wurzelgewächsen bestellter Brache, d. h. gröfsere Produktion auf gleicher Fläche an der Armut und Kulturlosigkeit des Bauern. Man hat vielfach den Gemeindebesitz als Grund des technischen Stillstandes angesehen; dem gegenüber mischte ich einwenden, dafs der Gemeindebesitz, wie überhaupt Rechts- institutionen, weniger als Grund, denn als Symptom von Wirtschaftsverhältnissen anzusehen ist. Andererseits aber ist nicht zu verkennen , dafs diese Institution nun ihrerseits auf die Wirtschaftsverhältnisse mächtig zurückwirkt. Jeder An- trieb nämlich , Arbeit oder Kapital auf das Land zu verwen- den, fehlt dort, wo der Fleifsige die Steuerrückstände des untüchtigen Nachbars zu tilgen hat ; mufs er doch fürchten, bei der nächsten Landumteilung an Stelle des mühsam ver- besserten ein verwahrlostes Grundstück einzutauschen. Es ist bekannt, dafs in der That die ärmeren Wirte Umteilungen zu dem Zwecke anstreben, um ihre ausgeraubten Felder los zu werden und besser bestellte Felder dafür einzutauschen^. Anerkanntermafsen schliefsen sich Landumteilung und Düngung- gegenseitig aus ; wo gedüngt wird, wird selten oder überhaupt nicht umgeteilt — - und umgekehrt. 1 So Brscheski, Ökonomische Eundschau. Juli 1898. S. 40. '- Wenn Posnikoff, „Gemeindebesitz", 2. Aufl., Odessa 1878, zur Verteidigung dos Gemeindebesitzes auf das engliscbe Pachtsystem ver- weist, welches trotz zeitlich begrenzter Nutzung des Landes durch den Pächter zu grofsartigen Meliorationen geführt habe, so vergifst er: a) der englische Verpächter ist ein aristokratischer Kajjitalist, der zu Meliorationen Geld in sein Land steckt, nicht so der Mir; dieser ist unwissend und arm; b) der englische Pächter ist ein bürgerlicher Unternehmer, welcher Buch führt und daher Ersatz für seine Ver- besserungen fordern kann. Der russische Bauer führt nicht Buch, und Ersatz müfste er fordern vom Mir, d h. der fortschrittliche Einzelne von der rückständigen Menge. — Über die Verwerflichkeit kurzfristiger Parzellenpacht ist in Europa alles einig. Vergl. über den Gemeindebesitz — 343 — Gegen diese mangelhafte Technik reagiert der Boden durch Mil's ernten. Dafs diese Mifsernten in erster Linie auf wirt- schaftlichen Gründen beruhen, beweist der Umstand, dafs anerkanntermafsen mitten in den Gebieten der Mifsernte nicht selten auf besser bestellten Landgütern und regelmäfsig gedüngten Feldern gute Erträge geerntet werden. Mifsernten aber bedeuten bei dem Mangel an irgend welchen Ersparnissen periodische Hungersnot der bäuerlichen Bevölkerung. Für den physischen Zustand der Bauern in solchen Zeiten ist bezeichnend folgende Mitteilung, welche mir bei meinen Fahrten im Saratoffschen zu Ohren kam. Während der Hungersnot 1892 seien die Löhne für landwirt- schaftliche Arbeit besonders hoch gewesen. Denn die Bauern seien zu entkräftet und gelähmt gewesen, um Lohn- arbeit zu suchen. In dem Mafse , als es den Bauern besser ging, stellten sie sich bereitwilliger zur Arbeit; die Löhne sanken, weil das Angebot an Arbeit stieg. Man könnte hieran Betrachtungen über die aufserordentlich hohen Sterblich- keitsziffern Rufslands, insbesondere die erschreckliche Kinder- sterblichkeit anknüpfen^. Rufsland übertrifft in der Sterblich- keitsziffer, freilich auch in der Geburtenziffer, sämmtliche gröfseren europäischen Staaten, Blicken wir zurück : Der unzweifelhafte Rückgang breiter Schichten des russischen Bauernstandes läfst sich unter einem weiteren Gesichtspunkt betrachten. Gegenüber dem Ansturm der Geldwirtschaft und der Konkurrenz brechen naturalwirt- schaftliche Klassen zusammen, die dem volkswirtschaftlichen als Hindernis der Meliorationen: Mifsernte und Volksarraut a. a. O. S. 103 ff. In Übereinstimmung hiermit die „Volkswirtschaftliche Rund- schau", April 1898, S. 121. 1 Vergl. die in der Presse viel besprochenen Veröffentlicliungen des medizinischen Departements über den Gesundheitszustand in Rufs- land 1898. Im Durchschnitt der Jahre 1893/95 wurden danach in Rufs- land geboren pro 1000 Einwohner 48, starben 33,3; in Deutschland 36 bezAv. 23, in Frankreich 22 bezw. 22; in Grofsbritanien 30 bezw. 18. So verweisen die „St. Petersburger Nachrichten" des Fürsten Uchtomski vom 4. Aug. 1898 auf die ökonomischen Ursachen der Sterblichkeit und ihr Anschwellen in den Jahren der Hungersnot. — 344 — Umschwung unvorbereitet gegenüber treten. Man denke z. B. daran, wie die Lebenshaltung des gewerblichen Arbeiters in England nach Einführung des modernen Fabriksystems jäh zurückging. Menschenfreundliche Beobachter fürchteten damals eine dauernde Entartung der betreffenden Klassen, und die Nationalökonomen betrachteten die Erscheinung be- reits als Ausflufs eines unabänderlichen Gesetzes. Aber die fortgeschrittneren Teile der niedergeworfenen Volksmassen traten energisch auf den Boden der neuen Zeit und erkämpften allmählich mit den Mitteln der Gegner solche Erfolge, die über alles das hinausgehen , was ihre Vorfahren je besafsen ^ E. Die Triebkräfte der Fortschritts. Häufig wird das Bild der russischen Agrarverhältnisse der Gegenwart lediglich in düsteren Farben gemalt. Aber dieser Pessimismus ist tendenziös: er beruht hin und wieder auf vorübergehenden Baissetendenzen der Finanzwelt; aber wenn in Westeuropa die russischen Agrarverhältnisse vielfach als verzweifelt angesehen werden, so ist mehr hieran Schuld ein grofser Teil der volkswirtschaftlichen Litteratur Rufslands selbst, in welcher eine schwächliche politische oder socialpolitische Opposition so zum Ausdruck kommt. Dabei vergessen die Oppo- nenten, dafs es kein sichereres Mittel giebt, die von ihnen be- klagten Mifsstände zu verewigen, als wirtschaftlichen Stillstand. Möchten sie sich von dem Gedanken durchdringen, den ich ander- wärts ausführte: der wirtschaftliche Fortschritt, die Voraussetzung der socialen und, setzen wir hinzu, der politischen Reform^. Zweifellos linden sich innerhalb der russischen Agrar- verhältnisse der Gegenwart unverkennbare Ansätze des w i r t - schaftlichen Fortschritts. Wir fragen zuerst, welches sind die bewegenden' Faktoren des wirtschaftlichen Fortschritts, um sodann seine Erscheinungsformen zu prüfen. Der Fortschritt knüpft zuerst an gewisse historische Ver- hältnisse. 1 Vergl. meinen „Grofsbetrieb". Leipzig 1892. S. 41 ff. u. 213 ff. ; in russischer Sprache herausgegeben und geistvoll eingeleitet von Paul S t r u w e. 2 A^ergl. meinen Aufsatz in Brauns Archiv. Band V, Heft 1. — 345 — Über dem Durchschnitt befindet sich die Lage der Bauern vielfach im Norden, wo der Kampf mit der Natur schon frühe die Thatkraft des Menschen stählte und intensivere Arbeitsanwendung erforderte. Dort zeigten die Verhältnisse, weil gewerblicher, schon seit länger eine geldwirtschaftliche Färbung; dort wurden die Landanteile der Bauern durch die Befreiungsgesetzgebung gröfser bemessen, weil die Gutsherren weniger Land, denn Geldrenten erstrebten. Li einer verhältnismäfsig günstigeren Lage befinden sich ferner die früheren Staatsbauern im Vergleiche zu den Gutsbauern, nicht nur deswegen, weil die Bedingungen ihrer Befreiung günstiger waren, sondern gewifs nicht weniger des- wegen, weil ihre Unfreiheit milder gewesen: Thatkraft und Unternehmungsgeist konnten sich bei ihnen daher früher als bei den Gutsbauern entwickeln ^. Die Staatsbauern sind nie einer Privatperson hörig ge- wesen. Sie zahlten aufser der Kopfsteuer dem Staate eine Pachtsteuer (Obrok), aber verrichteten keine Frohnden. Ihr Land, ursprünglich freies Privateigentum, wurde zwar schon im Moskauer Staate als Staatsdomäne angesehen. Thatsächlich erhielt sich jedoch lange das individuelle Besitzrecht der ein- zelnen Höfe, mancherorts bis .in unser Jahrhundert. Zwar hat die allgemeine Kojofsteuer bei den ärmeren Bauern die Vor- stellung eines Rechtes auf Landumteilung erweckt. Die Solidarhaft der Gemeinden und die persönliche Haftung der Gemeindeältesten für die Steuern hat die Widerstände gegen die Landumteilungen auch vermindert. Trotzdem haben die besitzenden Bauern ihre ererbten Rechte lange auf das zäheste verteidigt und nur einem scharfen obrigkeitlichen Druck ist zwecks „Ausgleichung der Lasten" die Einführung des Ge- meindebesitzes allmählich gelungen-. 1 So bereits Thun a. a. 0. S. 43. 2 Simkhowitscli a. a. 0. S. 64 fF. Daselbst folgende Äiifserung einer obrigkeitlichen Kommission: „Die Felder und Nutzungen sollen in Tjaglos nach Seelenzahl anständig verteilt Averden . . ., ihre Genealogien und ilir Erbrecht mufs vernichtet, ihre Käufe und Ver- käufe, ihre Verpfändungen, ihre Austausche müssen annulliert werden." — 346 — Am spätesten setzte diese Entwicklung ein bei den sog. „Viertelrechtlern" ^, ursprünglich adligen Militäran- siedlern an der südlichen Grenze des Moskauer Staates, besonders zahlreich im heutigen Gouvernement Kursk. Später haben sie den Adel verloren und sind mit den Staatsbauern zu einer Klasse verschmolzen. Erst der Graf Kisseleff hat bei ihnen um die Mitte unseres Jahrhunderts gewaltsam den Gemeindebesitz eingeführt, wobei die besitzenden Bauern, die ihr ererbtes Recht verteidigten, als „Aufwiegler und Revo- lutionäre" bestraft wurden. Trotzdem ist bis heute fast eine halbe Million Staatsbauern beim alten Viertelrechtsbesitz ge- blieben. Heute finden Übergänge zum Gemeindebesitz nicht mehr statt. Zu den Staatsbauern im weiteren Sinne gehören auch die Kosaken und Kolonisten, von denen wir unten noch hören werden. Dieser historische Hintergrund erscheint um so wichtiger, wenn man die grofse Zahl der Staatsbauern bedenkt. Die- selben machten zur Zeit der Befreiung etwa die Hälfte aller Bauern aus (1861 circa 11 Millionen männlicher Seelen). Bei ihnen kam der Gedanke der „Befreiung der Bauern mit dem Lande" voll zur Verwirklichung: das vorhandene Land war eben mit keinem Gutsherrn zu teilen. Ihre Pachtsteuer und späteren Ablösungszahlungen an den Staat waren geringer als die Geldleistungen der Gutsbauern ; sie arbeiteten also von vorn- herein mehr mit der Hoffnung, durch eigene Anstrengung aufzusteigen ; so wurden sie vielfach das fortschrittliche Element unter der Bauernbevölkerüng überhaupt ". Aber wie tief sich auch die Spuren der Leibeigenschaft in das Geistesleben des russischen Bauern, besonders des ^ „Viertelrechtler", d. h. Besitzer ideeller Quoten am Lande zer- fallener Hauskommixnionen. Über dieselben vergl. Simkliowitsch a. a. 0. S. 28 ff., 74 ff. - Vergl. die Bemerkung von Tschuikoff: Das Gouvernement Kursk in landwirtschaftlicher Beziehung. Moskau 1894. S. 31. Danach führen die Viertelrechtsbauern Dünger auf ihi-e eigenen Felder, während die sonstigen Bauern ihn vielfach verkaufen. - 347 - Gutsbauern, eingegraben haben, so machen sich doch heute die heilenden Wirkungen der Zeit geltend. Dieser Fortschritt bedeutet für den Bauern nichts anderes als Überwindung jenes slavophilen Ideals desMujik; er bedeutet Ersatz der negativen Tugend der Entsagung durch die positiven der Thatkraft, des Fleifses, der Selbstverantwortlichkeit, d. i. die Entwicklung des modernen Wirtschaftsindividuums 'aus Zuständen ge- wohnheitsmäfsiger Gebundenheit. Es handelt sich um die Überwindung der psychologischen Nachwirkungen der Leib- eigenschaft, in der ein anderer für das Dasein des Bauern sorgte und seine Wirtschaftsweise bestimmte. Voraussetzung hierfür aber ist eins: eine Lage, in welcher der Einzelne hoffen kann, durch vermehrtes wirtschaftliches Streben seine Verhältnisse zu bessern. Insofern erscheint der geistige Fortschritt an den wirtschaftlichen geknüpft; aber wo immer die geistige Selbständigkeit sich einigermafsen entfalten kann, da wirkt sie nun mächtig zurück in der Richtung wirtschaft- lichen Aufsteigens. Wo der Landbesitz nicht mehr eine Pflicht, sondern ein Recht ist, und der Bauer hoffen kann, den wirtschaftlichen Wert dieses Rechtes durch Anwendung von Arbeit zu erhöhen, dort wird er nicht mehr, wie der Leibeigene, ängstlich seine Ersparnisse verbergen: er legt sie in verbessertem Wirtschaftsinventar, in vermehrtem Viehstande an ^ Er beginnt zu düngen, tiefer zu pflügen. So wichtig die Nachwirkungen der Vergangenheit auch für die Gegenwart sind, so überwiegen doch heute zweifellos die Einflüsse, welche von den Verkehrs- und Absatz- verhältnissen ausgehen. Diejenigen landwirtschaftlichen Gebiete beflnden sich in einer verhältnismäfsig günstigeren Lage, denen Verkehrs- und Absatzverhältnisse die Erzielung von Gelderträgen erleichtern ; dort werden Geldlasten, welche in naturalwirtschaftlichen Ver- hältnissen erdrückend sind, oft spielend aufgebracht und dazu noch Überschüsse erwirtschaftet. Jeder derartige Überschufs bereichert ^ Über diese Fortschritte vergl. u. a. Raspopin, Juristischer Bote 1887, S. 469. - 348 — nicht nur direkt die bäuerliche Wirtschaft und kann zur An- schaffung verbesserter Werkzeuge, zur Vermehrung der Viehhaltung und der Düngung, zur Erweiterung des landwirt- schaftlichen Betriebes durch Kauf oder Pacht verwendet werden. Wichtiger noch sind die mittelbaren Wirkungen der- artiger Überschüsse, auf welche wir oben hinwiesen: zu ver- mehrter Arbeit entsehliefst sich nur der, welcher das Gefühl hat, durch vermehrte Arbeit vorwärts zu kommen. Vermehrte Arbeit aber ist der Grundstein jeder Verbesserung der Lage des Volkes, -wofür es magische Formeln nicht giebt — und ertönten sie selbst aus dem Munde des Gesetzgebers. Das Gesagte erklärt eine gewisse geographische Ver- teilung des wirtschaftlichen Fortschritts: Von den am Meere gelegenen Gouvernements aus, von Cherson und Taurien im Süden, von St. Petersburg und den baltischen Provinzen im Korden schiebt sich die Entwicklung aufsteigender Agrar- verhältnisse nach der Mitte und dem Osten. Es handelt sich um geldwirtschaftliche Zonen, die sich stetig verbreitern — gewissermafsen die Finger, welche Europa in den Block des östlichen Festlandes hineinlegt. In ähnlich begünstigter Lage befindet sich der Europa benachbarte Westen in dem Mafse, als die Angliederung des russischen Eisenbahnnetzes an die westeuropäischen Absatzgebiete fortschreitet. Aber durch ihre Zollpolitik sind die Staaten in der Lage, die zwischen ihnen liegenden geographischen Ent- fernungen künstlich zu erweitern. In dieser Richtung wirkten sicherlich hemmend auf die geldwirtschaftliche Entwicklung des russischen Landbaus die agraren Schutzzölle Westeui'opas. Um so bedeutsamer war es, dafs es der neueren russischen Handelspolitik gelang, den wichtigsten Abnehmer aller russi- schen Ausfuhr, Deutschland, zu einer beträchtlichen Herab- setzung seiner Getreidezölle zu vermögen. Wichtiger für Rufsland aber war noch die zwölfjährige Bindung der deutschen Zollsätze ^. Hierdurch wurden weitere deutsche Zollerhöhungen 1 Anders Frankreich. Eaffalowich, Marche finaucier, Paris 1897, S. 407 konstatiert, dafs Frankreich seine Getreidezölle von 5 auf 7 Fr. — 349 — für einen längeren Zeitraum unmöglich, und die einflufsreiche agrarische Bewegung Deutschlands auf diesem Gebiete in feste Grenzen gebannt ^. Noch wichtiger tur Rufsland sind die indirekten Wirkungen seiner neueren Handelsvertragspolitik. Mit dem Aufblühen von Industrie und Handel in Westeuropa wächst die Zahl kaufkräftiger Abnehmer landwirtschaftlicher Produkte, worin das natürlichste und sicherste Mittel einer Festigung, ja viel- leicht einer allmählichen Hebung der internationalen Ge- treidepreise liegt. Dies umsomehr, als die zur Erweiterung des Getreideanbaues verfügbaren Flächen doch immerhin be- grenzt sind^. Diesen einleuchtenden Gedanken entwickelt der Finanzminister Witte in seinem Bericht zum Budget 1895^. Die internationalen Getreidepreise aber, welche bis in das innerste Rufsland hinein die lokalen Getreidepreise beherrschen*, heraufsetzte, während Deutschland die seinen von 5 ]\Ik., bezw. 7,50 Mk. Kampfzoll auf 3,50 Mk. herabsetzte und band. 1 Übrigens wird die agrarische Bewegung Deutschlands keines- wegs in jeder Beziehung in Rufsland beklagt. Die vom russischen Finanzministerium herausgegebene „Ökonomische Eundschau" enthält z. B. unterm Juli 1897, S. 96, folgende Ausführung: „Mit dem Verbot des Terminhandels an der Berliner GJ-etreidebörse verlor der Berliner Markt seine leitende EoUe nicht allein für Deutschland. — Der gegen- wärtige Moment scheint daher günstig , in unser Land den Schwer- punkt des Getreidehandels zu übertragen, indem es sich der mächtigen Waffe des Termingeschäfts bedient." Ähnliches daselbst September 1898, S. 173 174. - Für das asiatische Rufsland weist dies nach C. Ball od. Die wirtschaftliche Bedeutung Sibiriens. Conrads Jahrbücher für National- ökonomie. Dritte Folge. Band XVH. S. 321 ff. 3 Citiert bei Raffalowich, Marche financier 1894/95, S. 209. Die neuere Entwicklung der Getreidepreise scheint dieser Ausführung recht zu geben. Yergl. z. B. den Bericht des englischen Konsuls zu Warschau, Nr. 2135 für 1897, S. 21: danach erreichten Neujahr 1898 die Getreidepreise in Warschau einen Stand, welchen sie seit 18 Jahren nicht inne gehabt hatten. ■* So der Finanzminister Witte, citiert bei Raffalowich, Marche financier, 1893'94, S. 205. Scheinbare Abweichungen der lokalen Preise beruhen meist auf den von den Getreidehändlern vorgenommenen Mischungen. — 350 — sind von gröfster Bedeutung für die Frage, in welchem Mafse die landwirtschaftlichen Betriebe Rufslands Gelderträgnisse über Steuern und Abgaben hinaus abwerfen ^ Von diesen Überschüssen aber hängt die Bildung und Vermehrung des nationalen Kapitals ab — dies umsomehr, als auch die In- dustrie aus mittelbar oder unmittelbar aus diesen Überschüssen von den Verbrauchern bezahlt wird ^. Aber die Getreidepreise sind sogar von Bedeutung für diejenigen Bauern , welche durch Lohnarbeit das zur Steuer- zahlung nötige Bargeld aufbringen und den Landbau da- neben naturalwirtschaftlich betreiben. Denn Lohnarbeit ist in Rufsland in erster Linie landwirtschaftliche Lohnarbeit: mit steigenden Getreidepreisen aber wird das Getreideareal ausgedehnt; es wächst also die Nachfrage nach Arbeit; um- gekehrt bei sinkenden Getreidepreisen. In zweiter Linie ist die Lohnarbeit gewerblicher Natur; aber wir sahen oben, wie der gewerbliche Absatz von der Zahlungsfähigkeit und der Geldwirtschaftlichkeit der Landbevölkerung abhängt, welche mit den Getreidepreisen zweifelsohne in engem Zusammen- hange stehen. Bei gleichbleibenden oder gar sinkenden Getreidepreisen ist der einzige Ausweg, um die Erträge auf gleicher Höhe zu halten oder gar zu steigern: Verbilligung der Produk- tionskosten. Auch in dieser Beziehung sind Handelspolitik und Verkehrsverhältnisse von gröfster Bedeutung. Jede Ver- billigung der Gegenstände des nötigsten Lebensbedarfs (z. B. 1 So V. Witte a. a. 0. S. 204. 2 Ich behandle hier nicht die Frage, ob hohe oder niedere G-etreide- preise für die Mehrzahl der russischen Bevölkerung von Vorteil sind oder nicht. Vergl. „Wirkung der Ernten und der Gretreideprt'ise auf einige Seiten der russischen Volkswirtschaft." Sammelwerk unter der Redaktion von Tschuproff und Posnikoff. Petersburg 1896. Für den Staats zweck kann der Vorteil einer Minderheit wertvoller sein als der Vorteil der Mehrheit. Es beruht die Stellungnahme hier in letzter Linie auf Wertgesichtspunkten, welche der Nationalökonomie nicht zu entnehmen sind, sondern auf Weltanschauungsfragen zurück- gehen. — 351 — Textilstoffe) und der notwendigen Produktionsmittel (z. B. Eisen) vermehrt die Reinerträge des Landmanns, welche er als neugebildetes Kapital der Produktion dienstbar machen kann. Von gröfster Bedeutung war in dieser Hinsicht der deutsch-russische Handelsvertrag, welcher beträchtliche Zoll- herabsetzungen für landwirtschaftliche Werkzeuge und Ma- schinen brachte. Die wichtigsten Positionen in dieser Hinsicht sind folgende: Zollsätze des allgemeinen Zolltarifs des Vertragstarifs' Art. 160. Sensen, Sicheln ii.s.w. 1,40 Rubel 1,10 Rubel pro Pud „ 167. Nr. 4. Landwirtschaft!. Maschinen u. Werk- zeuge nicht besonders genannt 0,70 „ 0,50 „ „ „ „ 167. Nr. 5. Lokomobilen mit Dreschmaschinen 1,40 „ 1,20 „ „ „' Durch diese Zollherabsetzungen wurden auch die landwirt- schaftlichen Werkzeuge russischen Ursprungs verbilligt; dafs trotzdem die russische Industrie keineswegs geschädigt wurde, sondern im Gegenteil einen mächtigen Ansporn zur Mehr- erzeugung erhielt, hiervon legen folgende Ziffern ein interessantes Zeugnis ab ^ : Russische Produktion Einfuhr landwirtschaftlicher Werkzeuge in 1000 Rubel 1889 4,210 ' 2,957 1894 9,607 5,194 Die vermehrte Kaufkraft der Landwirtschaft, welche die Folge der neueren Handelspolitik ist, tritt hier in ihrer gün- stigen Wirkung für die Industrie offen zu Tage. Neuerdings ist Rufsland über die im deutsch-russischen Handelsvertrag enthalteneu Zollherabsetzungen in autonomer Weise hinausgegangen. Zollfrei werden seit dem 1. Sep- tember 1898 eingelassen: selbstbindende Mähmaschinen, ^ Vergl. Klo ef sei, Der deutsch-russische Handelsvertrag. Biele- feld 1895. S. 24, 62/63. 2 Raffalowich, Marche financier, 1897/98, S. 405. — 352 — Pferderechen, Dampfpflüge, verschiedene Arten von Dresch- maschinen und Sortiermaschinen, Streumaschinen für pulver- förmige Düngemittel, allerlei Apparate zur Weinbereitung, Maschinen und Werkzeuge für Versuchsanstalten und land- wirtschaftliche Museen u. s. w. Zollfreiheit wurde ferner an Kai'nit, Chilisalpeter, Kali und andere künstliche Düngemittel zugestanden. An diese Zollbefreiungen schlössen sich gewisse Zollherabsetzungen, z. B. für Lokomobilen. Die genannten Tarifveränderungen gelten gesetzlich bis zum 1. Januar 1904, dem Tage des Ablaufes des deutsch-russischen Handelsvertrages ; augenscheinlich wollte man die betreffenden Positionen für die neubevorstehenden Verhandlungen mit Deutschland nicht aus der Hand geben ^ Mehr als alles andere aber lastet noch auf der russischen Landwirtschaft die Höhe der Eisenpreise. Besonders erschwert wird hierdurch dem Bauern der Übergang von der Socha zum Eiseupfluge, von der hölzernen zur eisernen Egge, welcher Fortschritt einen Mehrertrag von 5 Pud pro Defsjätine be- deuten soU^. Die Verluste, welche durch diese Hemmung des technischen Fortschritts der russische Volkswohlstand erleidet, sind zahlenmäfsig schwer zu schätzen, aber recht grofse. Die Maschinen der Müllerei kosten nach Radzig in Rufsland doppelt so viel, als in Deutschland, so dais ein Mehlzoll erforderlich ist, damit in Petersburg, diesem Haupt- ausfuhrhafen russischen Getreides , nicht ausländisches Mehl verzehrt werde. Leere Blechbüchsen kosten nach demselben Ge- währsmann in Rufsland ebensoviel, wie amerikanische Blech- büchsen mit Fleischfüllung in London^. Welche Erschwerung der Verwertung des Viehreichtums der östlichen Steppengebiete! Wichtiger aber als alles andere : Die Verteuerung der Eisenbahnfrachten durch hohe Kosten des Bahnbaues. Nach ^ Näheres hierüber findet sich in der Ökonomischen Rnndschan. Mai 1898. S. 94/95. - So die Nowoje Wremja vom 29. Januar 1897, woselbst eine Arbeit der Landschaft von Wjatka über die Belastung der bäuerlichen Wirtschaft durch die Eisenzölle citiert ist. 3 Radzig a. a. 0. S. 58. — 353 — Nie — on ist der Unterschied zwischen den Getreidepreisen im Innern Rufslands und den Hafenpreisen doppelt so hoch als in Amerika. In der That verschlingen die Frachtkosten schon westlich der Wolga häufig mehr als die Hälfte des Hafenpreises ^ ; jede Verminderung der Frachtkosten höbe ent- sprechend die lokalen Preise — gemäfs dem oben erörterten internationalen Charakter der Getreidepreise. In engem Zusammenhang mit der Handelspolitik stehen endlich eine Reihe von Malsregeln, welche den Absatz er- leichtern und die Produktionskosten verbilligen : Verbilligung des Kredits, wofür die Währungsreform ein wichtiges Fordernis ist, Verbesserung der Handelsorganisation, z. B. durch Errichtung von Elevatoren, verbesserte Reinigung des Getreides, worin in dem letzten Jahrzehnt grofse Fortschritte gemacht wurden. Der Preis des russischen Weizens stand noch vor etlichen Jahren in Deutschland beträchtlich unter dem amerikanischen , hauptsächlich wegen schädigender Bei- mischungen; heute hat er jenen Vorsprung nahezu eingeholt. Mitwirkend fördern den wirtschaftlichen Fortschritt gewisse Mafsnahmen der inneren Volks Wirtschaftspolitik. Unter denselben ist zuerst der von Bunge ^ in schwerer Zeit unternommenen Steuerreform zu gedenken, welche die auf dem Bauern lastenden direkten Steuern beträchtlich erleichterte. Zu nennen ist insbesondere die Abschaffung der Kopfsteuer, die Herab- setzung der Ablösungszahlungen, die Aufhebung der Salzsteuer, neuerdings die Reform der Pafsverhältnisse. Aber alle diese Mafs- regeln setzten voraus, dafs man die wachsenden Staatsbedürfnisse auf die Entwicklung der indirekten Steuern anweisen konnte. Sie setzte also weiter voraus die Zunahme der Geldwirtschaft- lichkeit innerhalb der ländlichen Massen ; es waren also Mafs- regeln, bei aller Wichtigkeit, doch nur sekundärer Bedeutung. 1 Im Oktober 1895 zahlte z. B. in Balaschowa im Saratoffschen Gouvernement ein Exporthaus durch seinen Agenten 23 Kopeken pro Pud Roggen; die Fracht nach Libau kostete 87 Kopeken. 2 Vergl. Skalkofski, Ministres des finances de la Russie. Paris 1891. 8. 230 if. V S chulze-Gaevernitz , Studien a. Rufsl. 23 — 354 — Ähnliches ist zu sagen von den Staatsmafsnahmen, welche das öfters angeführte Buch eines hohen Staatsbeamten „Mils- ernte und Volksarmut" empfiehlt. Musterwirtschaften, landwirt- schaftliche Unterrichtsanstalten, Beforstungen , Bewässerungs- anlagen u. s. w. erfordern Geld, in wirksamem Umfange durchgeführt viel Geld; einige dieser Vorschläge, z. B. die Erhöhung des Wasserspiegels des Kaspischen Meeres und die Anlage grofser Schutzwaldungen im Südosten erfordern sehr viel Geld. Sie sind daher abhängig in ihrer Durchführung von einer wachsenden Steuerfähigkeit der Bevölkerung. In diesem Zusammenhange sind auch die Verdienste der gegenwärtigen Regierung um Erweiterung des Volksschul- unterrichts anzuerkennen. Kein Mittel trägt so wie dieses bei zur Hebung der geistigen und damit der wirtschaftlichen Lage des Bauern. Aber so lobenswert die freiwillige Mitarbeit aller Kreise der russischen Gesellschaft im gegenwärtigen Stadium der Sache ist, so erfordert doch die thatsächliche Durchführung des hohen Zieles eines allgemeinen und obli- gatorischen Volksschulunterrichtes die Bereitstellung sehr be- trächtlicher Mittel und hängt in letzter Linie ab von der Ent- wicklung des Staats- wie der Landschaftsbudgets ^. Die volkswirtschaftliche Reformthätigkeit des Staates könnte mit ganz anderer Energie einsetzen, wenn es gelänge, die unproduktiven Posten des Ausgabebudgets zu beschneiden. In Betracht kämen hier vor allem die Ausgaben des Land- heeres; dieselben sind für einen Staat, der nach Europa hin gesättigt und von Europa her jedes Angriffes sicher ist, un- verhältnismäfsig hoch. Waren doch in letzten Jahren diese Ausgaben vielfach gröfser als die Ausgaben Frankreiclis und Deutschlands, während die steuerliche Basis doch viel weniger tragfähig ist^. 1 Nach Eaffalowich, Marche fiiiaucier, 1896/97, S. 361 betrugen 1895 die Ausgaben des Ministeriums der Volksauf klärung nur 28,6 Mill. bei einem ordentlichen Ausgabebudget von 1129 Älillionen. ^ So betrugen z. B. 1896 die Ausgaben für Landheer inkl. Pensionen in Deutschland 634 Mill. Mark, in Frankreich 557 Mill. Mark, in Rufs- land 636 Mill. Mark. Vergl. Die Ausgaben für Landheer und Flotte, — 355 — F. Die Erscheinungsformen des wirtschaftlichen Fortschritts. Nachdem wir die Triebkräfte des Fortschritts kennen ge- lernt haben, fragen wir nach den Formen, in denen sich der Fortschritt vollzieht. Auf zwei Erscheinungen ist hier vor allem hinzuweisen : die sociale D iffer enzi erungder ländlichen Gesell- schaft und den Zerfall des Gemeindebesitzes. 1. Jeder Fortschritt auf agrarpolitischem Gebiete setzt in Rufsland die Überwindung der bäuerlichen Zwerg- wirtschaft voraus, Avelche im besten Falle ihrem Inhaber das bare Dasein ermöglicht, aber mit zunehmender Bevölkerungs- dichte und Landenge auch diese Aufgabe immer schlechter erfüllt^. Für den Staatszweck ist diese Wirtschaftsform, wie sie die breite, gewohnheitsmäfsige Schicht des Bauernstandes repräsentirt, weil steuerlich steril, nutzlos ; bei dem ungeheueren Menschenreichtum Rufslands ist sie nicht einmal zu verteidigen unter dem Gesichtspunkt der Rekrutierung des Landheeres. Kulturell aber ist sie wertlos, weil ihre Träger am Geistes- leben der Nation nicht teilnehmen. Überwindung der Zwergwirtschaft aber ist nichts anderes als die Erweiterung einzelner bäuerlicher Betriebe über die Grenzen ihres Nadjels hinaus, also Loslösung der landwirt- schaftlichen Betriebsgröfsen von den rechtlichen Besitzverhält- nissen. Nur auf diesem Wege sind Überschufs wi rt- schaften möglich, welche über den baren Lebensunterhalt hinaus direkte Steuern zahlen, mit indirekten Steuern belegte Verbrauchsgegenstände kaufen, Abnehmer der Industrie sind und nationale Kapitalien ersparen. Nur auf dem Boden solcher Wirtschaften ist die Überwindung der Landenge durch den technischen Fortschritt der Landwirtschaft denkbar : durch zusammengestellt auf A^'eranlassung des deutschen Eeichsmarineamts, S. 38, 42, 45. ^ So Simkhowi tscli passim in Abschnitt IV. Lediglich um von diesem Verfasser nicht abhängig zu erscheinen, verweise ich darauf, dafs ich ähnliche Gesicht-spunkte bereits ausführte in den Preuf.-iischen Jahrbüchern, Märzheft 1894, z H. S. 515. 28* — 356 — Düngung, bessere Werkzeuge, Maschinen, fortgeschrittenere Feldsysteme u. s. w. Technischer Fortschritt nämlich ist die Anwendung von mehr Arbeit und mehr Kapital auf die gleiche Fläche. Mehr Arbeit aber wird nur der anwenden, welcher hoffen kann, durch vermehrte Arbeit wirt- schaftlich vorwärts zu kommen, also Überschüsse aus seinem Betriebe über das Existenzminiraum und die Steuern heraus- zuwirtschaften. Mehr Kapital aber kann nur derjenige an- wenden, welcher thatsächlich Überschüsse erzielt und diese Überschüsse nicht ängstlich vor dem Steuererheber (dem die Steuer umlegenden Mir) verbirgt, sondern offen in neuen Produktionsmitteln anzulegen wagt. Sicher ist, dafs die grofse Mehrzahl der bäuerlichen Be- triebe Rufslands zu klein ist, um diesen Anforderungen zu genügen. Welche Betriebsgröfse aber diesen Anforderungen entspricht, ist sehr verschieden zu beurteilen, je nach Lage, Klima, Bodenbeschaffenheit, Arbeiterverhältnissen u. s. w. 15 bis 30, ja 60 Defsjätinen pro Hof mag als angemessene Gröfse erachtet werden. In seinem trefflichen Werke über die Bauernwirtschaft Südrufslands weist Postnikoff' an Beispielen nach, dafs die Wirtschaft von 2^/2 — 5 Defsjätinen nahezu das doppelte an Arbeitskräften pro Produkt mehr aufwendet, als die Wirt- schaft von 20 bis 30 Defsjätinen. Der Reinertrag aus der Landwirtschaft der Bauern pro Defsjätine sinkt in dem Mafse, als der Umfang des Betriebes sich vermindert^. Ganz kleine Wirtschaften ergeben überhaupt keinen Rein- ertrag, ja oft genug einen Minderertrag, der durch Unter- ernährung oder Tagelöhnerei ausgeglichen wird. Am vor- teilhaftesten sind nach Postnikoff für Südrufsland Bauern- wirtschaften , welche unter Anwendung von Maschinen und genügendem Arbeitsvieh eine bäuerliche Familie von 3 männ- lichen Arbeitern voll beschäftigen und nur vorübergehend, etwa für die Ernte, Tagelöhner erfordern. Sie entgehen damit ^ Postnikoff, Südrussische Bauernwirtschaft. Moskau 1891. 2 Postnikoff a. a. O. S. 316, 320. — 357 — den Hauptschwierigkeiten der Arbeiterfrage und vereinigen damit einen Teil der Vorzüge des Grofsbetriebes. Postnikoflf verweist auf das Beispiel der deutschen Kolonisten, die wir noch unten kennen lernen werden. Diese Wirtschaften beruhen in erster Linie auf der Arbeit der bäuerlichen Eigentümer selbst, von denen sich die gröfseren (Vollwirte) zeitweise um einige gemietete Hilfskräfte verstärken. Ahnliche Verhältnisse zeigt nach Postnikofif die Wirtschaft der wohl- habenden taurischen Bauern. Derartige gröfsere Wirtschaften ermöglichen allein „die Anwendung gröfserer Maschinen, ver- besserten Inventars, ein weniger ausraubendes System des Landbaues, höhere Ernteerträge pro Fläche und eine gröfsere Roheinnahme ^." Die Anwendung arbeitsparender Maschinen hat die Tendenz , den Umfang dieser vorteilhaftesten Rein- ertrags-Wirtschaften auszudehnen ; die Einführung von Frucht- wechsel, bearbeiteter Brache u. s. w., d. h. das vermehrte Be- dürfnis nach Handarbeit wirkt in entgegengesetzter Richtung. Dafs der russische Landbau zu viel „Esser" beschäftigt, daher zu wenig Kapital ansammelt und daher zu wenig Kapital produktiv verwendet, ergiebt ein Vergleich mit den Vereinigten Staaten. Dieser Vergleich liegt um so näher, als Rufsland sich nicht mit Getreideschutzzöllen umgeben konnte, und die auch für Ruislandmafsgeblichen internationalen Getreide- preise durch die billigeren Produktionskosten des Amerikaners bestimmt werden-. Soweit nämlich Getreide zur Zeit als beliebig vermehrbare Ware anzusehen ist, stehen seine Preise unter der Herrschaft der niedersten Produktionskosten, ähnlich wie dies bei Erzeugnissen der Grofsindustrie der Fall ist^. Nicolai — on hat das Verdienst, auf diesen Vergleich hin gewiesen zu haben , ohne freilich zu den hier gezogenen Schlufsfolgerungen zu kommen. 1 Postnikotf a. a. 0. S. 317. 2 Mit Recht sagt Tolpigin in der Ökonomischen Rundschau, Juni 1897, S. 66, nur diejenige Billigkeit des Getreides sei für ein Land nützlich, welche auf Verbilligung der Produktionskosten beruht; dies ist der Fall für Amerika. ^ Vergl. Philippovich, Grundrifs der politischen Ökonomie. Band 1, !S. 207. — 358 — Es wiederholt sich jene Erscheinung, welche wir oben für die industrielle Konkurrenz beobachteten, auch für die Landwirtschaft: nicht diejenige Produktion ist die billigste, welche bei niederer Lebenshaltung massenhafte Arbeit beschäftigt, sondern die, welche die meisten und besten Werkzeuge und eine leistungsfähige, gutgenährte Arbeit besitzt. In Amerika ist die Verwendung von Kapital auf den Grund und Boden verhältnismäfsig grofs. In Rufsland da- gegen ist der Wert des Betriebsinventars verschwindend gering. Trotz einer um ein Drittel gröfseren Anbaufläche soll nach Nie — on Rufsland im Jahre nur 7,6, die Vereinigten Staaten dagegen an 140 Millionen Rubel für landwirtschaftliche Maschinen und Geräte ausgebend In gleicher Richtung liegen aber auch indirekte Kapitalanwendungen, z. B. das System von landwirtschaftlichen Schulen und Versuchsstationen, welches Amerika bedeckt, in Rufsland nahezu fehlt. Das Ergebnis der verstärkten Kapitalanwendung auf den Grund und Boden ist ein doppeltes : Zunächst wird die gleiche Fläche Landes in Amerika weit energischer ausgenutzt als in Rufsland, Die in Betracht kommenden Statistiken lassen hierüber keinen Zweifel, selbst eine grofse Irrtumsgrenze zugegeben. Die besäte Gesamt- fläche wird in Rufsland auf 60, in den Vereinigten Staaten auf 40 Mill. Defsj. (1 Defsj. gleich 1,09 Hektar) geschätzt. Dagegen schwankte der Erntewert der für Rufsland fast aus- schliefslich in Betracht kommenden Getreidearten, "^^'eizen, Roggen, Gerste und Hafer, in den 6 Jahren von 1885 bis 1890 incl. um 1 Milliarde Rubel ; der Wert der amerikanischen Ernte allein an Weizen, Hafer und Mais war in jenen Jahren nie niederer als 2 Milliarden Rubel und überstieg einmal sogar die 3. Milliai'de. Hiernach käme in Amerika ein nahezu vierfaches Ernteergebnis auf dieselbe Grundfläche. Dieser gröfsere Ertrag darf nicht auf gröfsere Fruchtbarkeit des Bodens zurückgeführt werden; denn die „Schwarzerde", welche für Rufslands Getreideproduktion vor allem in Betracht ^ Nicolai — on a. a. 0. 332, 333. — 359 - kommt, steht an natürlicher Ergiebigkeit keinem Boden der Welt nach. Vielmehr ist der gröfsere Ertrag Avohl in erster Linie der höheren Kapitalanwendimg zuzurechnen und unter anderem spielt gewifs die energischere Pflügung hier eine wichtige Rolle. Aber diese Mehrproduktion von der gleichen Fläche wird in Amerika unter Anwendung von weit weniger Arbeit erzielt als in Rufsland. Dabei sind die Fortschritte der Technik, welche Ersatz der Arbeit durch Kapital bedeuten, in Amerika ununterbrochen. Ein Arbeiter pflügte heute soviel wie vor kurzem zwei 5 mit Hilfe der Mähmaschine, welche die Garben automatisch bindet, mäht er heute soviel wie vor kurzem 12 Arbeiter; der Farmer lebte vor wenigen Jahrzehnten auf seiner Farm in Naturalwirtschaft ; heute genügen nach Atkinson 300 Arbeitstage im Jahre auf den fortgeschrittensten Farms im Nordwesten, um Getreide zur Nahrung von 1000 Personen zu produzieren. Einer landwirtschaftlichen Bevölkerung der Vereinigten Staaten von gegen 25 Mill. entspricht in Rufsland eine solche von 70 Mill. , wonach auf eine Defsjätine besäter Fläche dort 6, hier 10 Köpfe landwirtschaftlicher Bevölkerung kämen. Da nun dieses Mehr von Personen in Rufsland auf der gleichen Fläche weniger Getreide produziert als in Amerika, so ist das Erzeugnis pro Kopf landwirtschaftlicher Bevölke- rung in Amerika an 10 bis 11 Mal gi'öfser als in Rufsland. Der russische Bauer steht dem Amerikaner also nicht anders gegenüber, als etwa der Handweber dem Weber am mechani- schen Webstuhl. Das Gesagte ergiebt, dafs wir es als eine hoffnungsvolle Thatsache ansprechen müssen, wenn die bäuerliche Betriebs- gröfse in Rufsland wächst und das Land in den Händen der kräftigeren Bauern sich sammelt. Diese Entwicklung aber ist nach Urteil aller Sachkenner zweifellos im Gange. Die reicheren Bauern vergröfsern ihre Betriebe, soAvohl durch Pacht und Kauf von Gutsland, als auch auf Kosten des Anteillandes der schwächeren Gemeindegenossen. Von ersterem Vorgang sprachen wir oben, von letzterem hier noch ein Wort. Da Gemeindefremde als Pächter nicht — 360 — auftreten dürfen — eine Folge der gesetzlichen Unveräufserlich- keit des Gemeindelandes — so sinken die .Pachtpreise inner- halb der Gemeinde zu Ungunsten der ärmeren Gemeindeglieder oft unter den Pachtdurchschnitt der Gegend ^ Da zudem die Gemeindeversammlung den Steuerrückständlern Ihr Land ohne jede Entschädigung nehmen kann, so belinden sich die ärmeren Gemeindegenossen, welche behufs Steuerzahlung Dar- lehen aufnehmen, den reichern gegenüber in einer Notlage, welche häufig die Pachtpreise des Nadjellandes noch weiter herabdrückt ^. Der Aufbau gröfserer bäuerlicher Betriebe ist notwendiger- weise verbunden mit den Anfängen socialer Klassenbildung innerhalb der ländlichen Gesellschaft; es beginnt „die Ab- sonderung des Rahms von der ländlichen Masse." Alle Be- obachter stimmen dahin überein, dafs die breite, mittlere Klasse des Bauernstandes, welche der Sitz des Gewohnheits- mäfsigen ist, auseinanderfällt in eine obere Schicht verhältnis- mäfsig Wohlhabender und einen zwar rechtlich, aber nicht mehr thatsächlich Land besitzenden Lohnarbeiterstand. Bei dem Einflui's der Volkstümler auf die öffentliche Meinung ist diese Erscheinung den meisten Vertretern der russischen „Intelligenz" ein Greuel. Da ich meine entgegen- gesetzte Meinung leider hier nicht ausführlich begründen kann, so stütze ich sie mit zwei Autoritäten die jedenfalls nicht leicht ge- nommen werden dürfen. Ich eitlere zunächst die trefflichen Aus- führungen des Finanzministers Witte in seiner Budgetvorlage für das Jahr 1896^ : „In früherer Zeit waren wohlhabende Dörfer und 1 Vergl. Volkswirtschaftliche Kundschau, Januar 1898, S. 57, 63. Die Landhauptlevite machen den Vorschlag, kein Bauer sollte mehr als drei Nadjele pachten dürfen — in pi-axi undurchführbar, wenn durch- führbar, ein Hemmnis jedes wirtschaftlichen Fortschritts. Der folgende Artikel zeigt, dafs die Redaktion der Zeitschrift offenbar weitblickender ist, als die Petenten. 2 So Brscheski, Ökonomische Rundschau, Juli 1898, S. 49, 67 flf. 3 Vergl. Raffalowich, Marche financier, 1896, S. 340. Citiert auch bei Issajeff, Zur Politik des russischen Finanzministeriums. S. 5 u. 6. — 361 — sogar einzelne wohlhabende Bauernhöfe eine Ausnahme, Jetzt bildet sich überall eine wohlhabende Schicht der Land- bevölkerung; sie sondert sich von der Masse der Bauernschaft als eine höhere Gruppe ab. Diese Gruppe wächst numerisch und macht in ihrem Wohlstande äufserst bemerkbare Fort- schritte, sie verfügt über einen bedeutenden Teil in den Sparkasseneinlagen und steigert fortdauernd ihren Verbrauch au Manufaktur- und anderen Waren; sie ist eine Schicht, die es verstehen wird, die ungünstigen Bedingungen des ländlichen Lebens zu besiegen, und die über alle Vorbedingungen zu einer weiteren Entwicklung verfügt." Mit Recht behauptet der Finanzminister, dafs der Volks- wohlstand auf keinem anderen Wege zu fördern ist, als dem „der kapitalistischen Entwicklung." Um diesen Ausspruch zu verstehen, mufs man bedenken, dafs in der volkswirtschaftlichen Litteratur Rufslands der Ausdruck „Kapitalismus" als gleichbedeutend mit Geldwirtschaft gebraucht wird — nicht ohne die Gefahr eines Mifsverständ- nisses. Schon die Naturalwirtschaft besitzt Kapital; solches ist z. B. der Bogen des Jägers, die Herde des Nomaden, das Arbeitsvieh des Bauern u. s. av. Freilich bietet die Geld- Avirtschaft einen ungeheuren Ansporn zur Kapitalvermehrung, indem Überschüsse der Wirtschaft bis zur definitiven Ver- wendung als Produktionsmittel in Geldform thesauriert oder anderen Personen als Leihkapital zur Produktion dargeboten werden können. Mit Recht erklärt der Finanzminister des weiteren : „Die Erfolge der Produktion und der Anhäufung der Reich- tümer gehen immer und überall den Erfolgen einer gleich- mäfsigeren Verteilung derselben unter alle Bevölkerungs- schichten vorher. Die neuen Bahnen, welche der volks- wirtschaftliche Fortschritt des Ganzen eröfi'net, werden zuerst immer nur von den unternehmendsten Wirtschaftseinheiten, nur von Leuten der kühnen Initiative und von Glückspilzen voll ausgenutzt \ Erst in der Folge, wenn diese Wege zu ' Hierfür ist bezeichnend: die Einzelkäufer haben Zinsen und — 362 — eingefahrenen Geleisen geworden sind, folgen die schüchternen, trägen Massen des Volkes nach, indem sie eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse durch den langsamen, ermüdenden Prozefs der Befreiung von althergebrachter Routine, diesem Vermächtnis vieler ungezählter Jahrhunderte, erreichen. Wenn unser ländliches Leben sich auf dem Wege der kapitalistischen Entwicklung zu bewegen beginnt, so beweist dies nur, dafs die allgemeine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage auch im ländlichen Lebensgefüge ihren Ausdruck erhalten hat." Mit Recht weist Witte darauf hin, dafs bei Verfall des volkswirtschaftlichen Organismus finanzielle Erfolge, wie sie Rufsland in dem letzten Jahrzehnt zu verzeichnen gehabt hat, unmöglich gewesen wären. Insbesondere deuten meiner Meinung nach die wachsenden Erträgnisse der Verbrauchs- steuern auf eine Zunahme des Volkswohlstandes ^. Es sind dies dieselben Wahrheiten , welche schon ein Mann von der Sachkunde des Staatssekretärs Walujeff unter Bezugnahme auf die russischen Bauernverhältnisse in folgenden Worten zusammengefafst hat : „Jeder Fortschritt geht aus von einzelnen Persönlichkeiten, welche sich aus der Masse hervor- thun durch besondere Fähigkeiten, besondere Thätigkeit, be- sondere Glücksumstände. Jede Wirtschaftsgesetzgebung soll sich bemühen, derartige individuelle Anstrengungen zu unter- stützen und derartige individuelle Erfolge zu sichern." Um auch einen Gegner zu Worte kommen zu lassen, welcher aber die Thatsachen genau so beurteilt, wie hier ge- schehen, eitlere ich noch W. E. Postnikoff: „Ein Teil der ländlichen Bevölkerung, der über gröfsere Familien- und Amortisationsquoten an die Bauernbank fast stets bezahlt; von den Gemeinden, welche als solche von der Bauernbank Land kauften, ist der gröfsere Teil rückständig. „Mil'sernte und Volksarmut". S. 118. 1 Ähnlich J. J. Janschull, Die Woche vom 25. Dezember 1898. Von 1887 bis 1897 haben sich die Staatseinnahmen, ohne Schaffung bedeutender neuer Steuern, von 800 auf 1400 Millionen Rubel ge- hoben. — 363 — ^^'irtschaftskomplexe verfügt, hat alle Aussichten darauf, un- gestört immer reicher zu werden, während der übrige Teil der ländlichen Bevölkerung unvermeidlich immer ärmer werden mufs; unvermeidlich müssen dessen Rückstände anwachsen, und unvermeidlich mufs dieser Bevölkerungsteil nach und nach aus der Gemeinde scheiden , um anderen Erwerb zu suchen. Durch die Anwendung von Maschinen in dem land- wirtschaftlichen Betriebe werden den Wirtschaften gröfseren Umfanges noch höhere wirtschaftliche Vorteile zu gute kommen. Dies tritt schon besonders drastisch in unserem Steppengebiet, z.B. in dem Gouvernement Samara und Taurien, hervor. Schliefs- lich müssen Avir unvermeidlich zu jener Wirtschaftsordnung gelangen, die gegenwärtig die Wirtschaftsordnung Westeuropas ist mit ihrem wohlhabenden Bauernstand, mit ihren ländlichen Lohnarbeitern, mit ihrem städtischen Proletariat und ihrer ekelerregenden Prostitution ^" Gleiche Anschauungen fand ich bei vielen praktischen Landwirten verbreitet, welche ihre Meinungen gewifs nicht aus der Litteratur schöpften. Um statt vieler Beispiele nur eines zu erwähnen , so erzählte mir z. B. der Oberverwalter ^ W. E. Postnikoff, Südrussische Bauernwirtschaft. Moskau 1891. S. 308. Es ist Ulierfindlich, weswegen der Verfasser die Prostitution als Begleiterscheinung gerade der westeuropäischen Kultur ansieht. Auf den grofsen Pferdemärkten, so wurde mir von durchaus zuver- lässigen Beobachtern auf meiner Reise im Samaraschen erzählt, auf denen Kirgisen und Kosaken ihren Pferdereichtum zusammentreiben und wo vorübergehend eine volksreiche Lagerstadt in der menschenleeren Steppe entsteht, fehlt die Prostitution nicht; sie findet Unterschlupf unter dem Zeltdach des Nomaden. Freilich folgt ihr hierhin kein Arzt. — Für die Meinung Postnikoffs spricht auch nicht die Thatsache, dafs die Syphilis die Geifsel Rufslands ist. Auf Grund der offiziellen Statistik betrug die Zahl der Syphilitiker, welche in öffentlichen Krankenhäusern Rufslands behandelt wurden, 1866 = 8,7%, 1890 =14,8^/0 aller Kranken. Thatsächlich ist der Prozentsatz der Syphiliskranken viel höher, da dieselben anerkanntennafsen ungern in Kranken- häuser gehen. Podolinski, ein vielerfahrener Landarzt, schätzt in seiner Broschüre „Die Gesundheit der Bauern in der Ukräne" die Zahl der Syphilitiker in dem ihm bekannten Gebiet auf 10—15 °/o der ganzen Bevölkerunsc. — 364 — des fürstlich Livenschen Latifundiums, der öfters angeführte Baron Behr, dafs früher die umliegenden Gemeinden als solche von den Gütern der Herrschaft gepachtet hätten. Je- doch seien im Laufe der Zeit eine Anzahl von Wirten zu sehr verarmt, um diese Verpachtungsart fortzusetzen. Er verpachte nunmehr an einzelne kleinere Gesellschaften von leistungsfähigen Bauern , während die Armen nichts mehr er- hielten; letztere seien damit gezwungen, ihre eigene Wirtschaft aufzugeben, um so mehr, da Weide lediglich durch Pacht vom Gute zu erhalten sei; auch den eigenen Nadjel pflegten sie nunmehr an Gemeindegenossen zu verpachten oder gegen Zahlung der Steuern umsonst zu überlassen. Baron Behr setzte hinzu, dafs er jetzt systematisch die reicheren Bauern begünstige und jene Differenzierung zwischen Arm und Reich acceptiere, die er früher bekämpft habe. Li der That finden sich in der Gegend von Tersa neben vielen viehlosen Bauern auch solche mit einem Besitz von 8 bis 9 Pferden, an 40 Schafen und mehreren Stück Rindvieh ^ 2. Hand in Hand mit socialer Klassenbildung verblafst die Gemeindebesitzordnung. „Die Pflicht zum Lande" war es, welche den Gemeindebesitz zusammenhielt. Li dem Mafse als der Landbesitz ein Recht Avird, beginnt die langsame und allmälige Entwicklung individueller Besitzverhältnisse, welche durch die Unfreiheit gegenüber Gutsherrn und Fiskus er- stickt war^. Wo sich der Bauer dieser günstigeren Lage erfreut, sind nach den Landschaftsstatistiken die Fälle zahlreich, in denen er so über das Land verfügt, als ob es sein eigen wäre ; er verpachtet , vererbt , veräufsert. In diesen Fällen sind die Pachten und Kaufpreise alsdann vielfach so hoch. 1 Skworzoff, Juristischer Bote 1891, S. 170: Je mehr der Bauer Land hat, desto mehr pachtet er hinzu. — Die Pacht wirkt weiter differenzierend. So auch Karischeff a. a. O. passim. 2 Nach Brscheski, Ökonomische Rundschau, Juli 1898, S. 18 sind — im Gegensatz zu den siebziger Jahren — heute die Fälle Aus- nahme, in denen die Lasten den Ertrag des Landes übersteigen. Aber die Steuerrückstände haben nicht aufgehört! — 365 — wie bei freiem Eigentum ; die Erwerber also vertrauen, dafs der Mir nicht mehr sein Recht der Umteilung geltend machen werde. In der That bestehen in den günstiger ge- stellten Landstrichen zahlreiche Gemeinden, welche seit der Bauernbefreiung überhaupt nicht mehr geteilt haben ; ins- besondere sind das Gemeinden von Staatsbauern, welche ein- fach bei der Revision von 1858 verharrten; bei ihnen ist das Recht des Mir auf das Gemeindeland thatsächlich vergessend Diese Entwicklung erscheint dort beschleunigt, wo der Substanzwert der Erde durch Arbeit erhöht werden mufs. Schlechter Boden ist der Entwicklung des Privateigentums günstiger , als guter ; gerodeter Wald wird leichter Privat- eigentum als andres Gemeindeland. Hanf- und Hopfenfelder werden fast nirgends umgeteilt ^. Leichter Boden wird häufiger umgeteilt als schwerer, weil der schwerere Boden intensivere Arbeit fordert^. Besonders selten sind ferner die Umteilungen in jenen Gemeinden , welche die Ablösungsverpflichtung bereits getilgt haben und volle Eigentümer ihres Landes geworden sind. Auch hier erweist sich die Arbeit als Schöpferin von Lidividual- recht. Das bäuerliche Gerechtigkeitsgefühl verlangt, dafs diejenigen Wirte, welche in schwerer Zeit das Land bestellt und die Ablösungszahlungen durch ihren Fleifs aufgebracht haben, nunmehr die Früchte der besseren Zeit ernten und ihren schwererkauften Landanteil ihren Kindern vererben. Auch einzelne Wirte, welche für sich ihren Landanteil von der Ablösungsschuld befreit, aber nicht aus der Gemeinde ausgeschieden haben, berufen sich auf diese Gerechtigkeit gegenüber den Umteilung verlangenden Genossen in der Gemeindeversammlung. 1 Quellen I, 218, 219, 63, 64. Keufsler III, 29, 80,31. Quellen I, 310. Erbrecht sogar von Witwe und Tochter. Quellen I, 316. 2 Quellen I, 128, 157, 178, 188. Keufsler 11, 49. Von Beispielen der Arbeit als Grundlage des Individualrechtes sind voll die Studien Kaufmanns aus Sibirien, z. B. in den Arbeiten der Moskauer Juristi- schen Gesellschaft, Band VI, S. 160. 3 So Simkhowitsch a. a. O. 135, 151, 337. — 366 - Äufserst interessant ist auch der Einwand, dafs Land- umteilung eine Rückkehr zum Hörigkeitsrecht bedeute. So erwidei'n Bauern auf die Frage, weswegen sie nicht mehr umteilen : „wie wir als Hörige lebten, wünschen wir jetzt nicht mehr zu leben" ^ Es liegt dem ein richtiger Gedanke zu Grunde : die Landumteilung ist ein Zeichen dafür, dafs der Zweck der bäuerlichen Wirtschaft nicht in ihr selbst, sondern in der Wirtschaft eines dritten (Gutsherrn, Fiskus) liegt. Freilich vollzieht sich diese Entwicklung zum Individual- besitz nicht ohne schwere innere Kämpfe und Katastrophen. In dem Mafse, als das Land Avertvoller und die Bevölkerung- dichter wird, wächst die Zahl derer, welche mit der bestehen- den Besitzverteilung unzufrieden sind. Immer begehrlicher fordern die seit der letzten Umteilung nachgeborenen Seelen eine Neuverteilung des Besitzes, welchen noch kein Gerichts- hof schützt. Um die Frage der Umteilung erheben sich in solchen Fällen hitzige Kämpfe, wie sie in der Vorzeit der Entstehung von Privateigentum überall vorangegangen sein mögen. Den Reichen, an sich der Minderzahl, erwachsen Bundesgenossen hinter ihren Gegnern: die Armen, die vieh- losen Bauern, die mit dem Lande nichts mehr anfangen können und die damit verbundene Steuerpflicht fürchten, oder den Reichen durch Schulden zu Willen sind. Der Ausgang dieser Kämpfe ist zweifelhaft und hängt von der zufälligen Bildung der für die Umteilung geforderten ^/s Mehrheit ab, für welche oft mit Branntwein und ähnlichen Mitteln gearbeitet wird. Zahlreiche Neuverteilungen des Landes nach lebenden Seelen im letzten Jahrzehnt belegen die Unsicherheit der bestehenden Besitzverhältnisse ^. Immer- ^ Citiert in der Ökonomischen Rundschau, Juli 1898, S. 37. 2 Prof. N. Miklaschefski, einer der besten Sachkenner russischer Agraria, Encyklopädisches Wörterbuch, Band XXIV, S. 216: für die gegenwärtigen Verhältnisse des Gemeindebesitzes im schwarzerdigen Grofsrufsland sei der Kampf zwischen „Revisionsseelen" und „lebenden Seelen", d. h. bestehender Besitzverteilung und Besitzlosen besonders bezeichnend. — 367 — hin ist die Zahl der Gemeinden , welche seit der Befreiung jede Umteilung" abwiesen, eine recht grofse. Die geschilderten Kämpfe drehen sich um die Frage, ob die geforderte Landumteilung eintreten oder unterbleiben soll. Ihr Ausgang ist entweder eine völlige Revolution aller Besitz- verhältnisse oder der faktische Fortbestand des Überkommenen. Viel seltener und später taucht die Frage auf, ob auch der rechtliche Übergang zum Individualbesitz zu vollziehen sei, womit die Möglichkeit der Umteilung ein für allemal beseitigt wäre. Wenn auch kein Zweifel ist, dafs die wohlhabenderen Bauern eine solche Veränderung ihrer Rechtslage erstreben \ so sind doch die entgegenstehenden gesetzlichen und that- sächlichen Schwierigkeiten aufserordentlich grofs. Nur in wenigen Fällen hat sich bisher juristisch anerkanntes Privat- eigentum aus dem Gremeindeeigentum entwickelt. Wer mit uns den Gemeindebesitz als Hemmnis des technischen Fortschrittes betrachtet, wird nicht daran zweifeln, dafs eine rechtliche Festlegung des thatsächlich vielfach be- stehenden Individualbesitzes von Nutzen wäre. Es kommen hier in Betracht alle diejenigen Gesichtspunkte, welche schon in den 70er Jahren von der unter Walujeff tagenden Kommission einstimmig geltend gemacht wurden. Der ausge- raubte Boden biete dem verarmten Gemeindegenossen immer kärglichere Furcht ; er würde seine Kräfte wieder sammeln unter der liebevollen Pflege des Privateigentümers. Sparsamkeit und Erwerbssinn würden sich eher entwickeln, wenn der sparsame Wirt nicht mehr fürchten müfste, für den Trinker und Verschwender zu arbeiten. Der kräftigere Wirt brauchte nicht mehr den schwächeren durch Wucher zu unterjochen, wenn er offen und ehrlich auf dem Boden des Privateigentums seine Wirtschaft ausdehnen könnte. Der Verpächter könnte dem durch eigenen Besitz gesicherten Wirte längere Kontrakte zu niederem Pachtpreisen gewähren, als dem völlig unsichern Gemeindebesitzbauer. Der Verpächter würde sich hierzu um Vergl. Ökonomische Rundschau, Februar 1899, S. 53, 59, 63. — 368 — so eher entschli'efsen, als die übliche einjcährige Pacht für ihn selbst keineswegs vorteilhaft ist ^ Sucht man thatsächliche Belege für die Vorteile des Privateigentums, so fische man nicht die vereinzelten Fälle Individualbesitzes aus dem Meere grofsrussischen Gemeinde- besitzes ; hier sind durch Gemengelage und Flurzwang die Individualbesitzer gewöhnlich an die Wirtschaftsweise des Mir gefesselt. Man denke vielmehr an die Westgouvernements, die Gegenden vorherrschenden Privateigentums, welche trotz schlechten Bodens anerkanntermafsen weit bessere Wirtschafts- verhältnisse aufweisen als die breite Masse des bäuerlichen Grofsrufslands. Meine russischen Freunde werden mir die wirtschaftlichen Vorteile der geschilderten Entwicklung vielleicht zugeben, dagegen ihr aus socialen Rücksichten den Krieg erklären. Hiergegen gebe ich Folgendes zu bedenken : Zwar gewähr- leistet der Gemeindebesitz Gleichheit der Lebenslose , aber dieses gleiche Recht ist, wie Jermoloff treffend sagt, nur das Recht aller zu hungern. Dem gegenüber bringt jene Klassen- bildung zunächst wenigstens eine Anzahl von Menschen hervor, welche nicht der periodischen Gefahr des Hungers ausgesetzt sind. Aber selbst die landlos gewordenen Bauern, welche sich zum Tagelohn entschliefsen, sind meist besser gestellt als bisher. Die Emporentwicklung einer Klasse besitzender Land- wirte, einer „ländlichen Kleinbourgeoisie ^" aus der Unter- schiedslosigkeit des bäuerlichen Elends scheint mir also auch vom socialen Standpunkt die wichtigste Aufgabe des heutigen Rufsland. Freilich verschliefst sich ein grofser Teil der Be- urteiler dieser Notwendigkeit : slavophil gefärbte Nationalisten und socialistisch angehauchte Liberale. Man sträubt sich gegen diese Entwicklung als „eine Proletarisierung des Volkes". In der öffentlichen Meinung sucht man die wohlhabenden und emporstrebenden Bauern als Wucherer (Kulaki) anzu- schwärzen, und insbesondere jenen socialistischen Pseudo- 1 Karischeff a. a. O. S. 248, 307, 309, 343, 383. 2 Vergl. Brauns Archiv 1894, S. 355 ff. — 369 — Liberalen „gilt Wohlhabenheit als Unsittlichkeit" ^ Nur wenige meist dem Landleben angehörige Schriftsteller haben dagegen pi-otestiert, dafs man sich den Bauern nur in bettel- hafter Erscheinung denken könne, und darauf hingewiesen, dafs eine Überwindung der ländlichen Krise nur von dem Kulakentume, d. h. der Kapitalansammlung zu erwarten sei^. Damit soll nicht geleugnet oder gar gerechtfertigt werden, dafs diese wohlhabenderen Wirte die Notlage ihrer ärmeren Nachbarn oft in rücksichtsloser Weise ausnutzen. Aber ähn- liche moralische Flecken haften auf der Urgeschichte fast aller wirtschaftlich emporsteigenden Klassen ; denn Sittlichkeit erfordert Tradition und eine gewisse Sicherung der Lebens- verhältnisse. Man denke daran, wie der Kaufmann, dieser Stammvater des modernen Bürgertums, in frühen Gesellschafts- zuständen als Betrüger gilt. Sicherlich unterliegen aber nicht alle Mitglieder der auf- strebenden Klasse dem sittlichen Makel — besonders wenn man die dunkle und rohe Masse bedenkt, aus deren Kultur- losigkei.t sie zwar nicht sich selbst, vielleicht aber ihre Kinder und Enkel emporarbeiten. Übrigens ist nicht alles Wucher, was Wucher scheint. Bei der gänzlichen Unsicherheit der ländlichen Verhältnisse und dem gänzlichen Fehlen eines Rechtes der Privathypothek sind sehr hohe Zinsfüfse unver- meidlich. Gelddarleiher, welche den Bauern zu 18 "o vor- schiefsen , werden von ihnen als Wohlthäter verehrt ; der gewöhnliche Zinsfufs beträgt nach Orloff im Gouvernement Moskau 30%. Bemerkenswerter Weise ist den Juden der Aufenthalt in diesen Teilen Rufslands verboten ^. 1 Besonders charakteristiscli hierfür ist das Buch von Sasouoff, Wucher. Petersburg 1894, Vergl. besonders die Thesen auf S. 86. Dem Verfasser erscheint die ganze Entwicklung der russischen Volks- wirtschaft seit der Reform als die Entwicklung einer „Wucher- wirtschaft". Hilfsmittel hiergegen — Polizei. 2 So Grolowin und Fürst Wasilt schikoff. Vergl. einen inter- essanten Aufsatz von Samson Himraelstierna, Baltische Monats- schrift, Bd. 30, Heft 1, S. 68. ^ Citate finden sich bei Simkho witsch a. a. ü. S. 390ff. Dagegen V. Schulze-Gaevernitz, Studien a. Rufsl. 24 — 370 - Ferner ist zu bedenken, dafs der Mangel an festen Individualrechten den energischen Mann geradezu zum Wucher hinführt. Da der Gemeindebesitz den wohlhabenden Bauern verhindert, durch Kauf seinen Betrieb auf dem Bauernlande zu vergröfsern, so ist er gezwungen, auf dem Wege des Not- darlehns seine Wirtschaft auszudehnen und die ärmeren Genossen zu unterjochen. Jedoch hören die letzteren in dem Mafse auf, Objekte des Wuchers zu sein, als sie die eigne Wirtschaft aulgeben und reine Tagelöhner werden. Ihnen mufs auch der Wucherer den üblichen Geldlohn zahlen. G. Agrare Gesetzgebung. Welche Stellung nimmt der Staat zu der geschilderten Entwicklung ein ? Bis Anfang der neunziger Jahre gar keine ; bis dahin besais die Gemeinde vollste Autonomie. Nicht zu Unrecht sagte man : der Bauer habe durch die Bauernbefrei- ung einen neuen Herrn erhalten, der über Person und Besitz mit ebensolcher Freiheit verfüge, wie der alte, die Gemeindet Die Gemeinde bestimmt das Feldsystem, den Zeitpunkt der einzelnen Feldarbeiten; sie vermietet Steuerrückständler nach auswärts, giebt oder verweigert den Pafs, ohne welchen der Einzelne die Gemeinde nicht verlassen darf: sie hat das Recht, ihre Mitglieder der Prügelstrafe zu unterwerfen. Die Gemeinde hat volle Verfügungsfreiheit über das Land im Verhältniss zum Gemeindemitglied : sie kann mit ^/s Mehrheit eine allgemeine Umteilung beschliefsen und dabei den Mafs- stab beliebig festsetzen , nach dem verteilt werden soll ; sie kann aber auch ohne allgemeine Umteilung die Landanteile einzelner Mitglieder kürzen und damit die anderer vergröfsern. Steuerrückständlern pflegt sie allen Landbesitz ohne weiteres sagt das englische Blaubuch Nr. 254 über russische Landwirtschaft, dafs in den „jüdischen Provinzen" Rufslands der Zinsfufs niederer sei "wegen gröfserer Konkurrenz des Anleihekapitals. ^ Bei den Staatsbauern übte zur Zeit der Leibeigenschaft eine weitgehende Aufsicht ein lokaler Staatsbeamter, der Kreishauptmann. - 371 — zu nehmen ^ Rechtfertigung dieser weitgehenden Befugnisse : Sie haftet für Steuern und Ablösungszahlungen mit Solidarhaft, ist aber völlig frei in der Art und Weise, wie sie die Steuern aufbringt. An der Grenze der Gemeinde macht selbst das ( 'ivilrecht halt, indem für die Beziehungen der Genossen untereinander das Gewohnheitsrecht gilt, dessen Träger die Gemeinde ist. Dies die Gemeinde, wie sie die Befreiungs- i^esetzgebung hinterliefs : ein kulturloser, vielköpfiger, Einflüfsen aller Art, besonders dem des Branntweins unterliegender Herr, Da die Urheber der Bauernreform keineswegs unbedingte Anhänger des Gemeindebesitzes waren , vielmehr ihm aus tiskalen Gesichtspunkten so weitgehende Konzessionen machten, -0 sah die Befreiungsgesetzgebung folgende Wege für den Ibergang zum Privateigentum vor: 1. Ganze Gemeinden können mit ^ s Mehrheit den Über- gang zum Privateigentum beschliefsen. 2. Einzelne Gemeindemitglieder können Aussonderung ihres Landanteils zu Privateigentum jederzeit ver- langen, sobald die Gemeinde die Ablösungsschuld be- zahlt hat. Art. 36 des allgemeinen Gesetzes. 3. Einzelne Gutsbauern können, schon ehe die Ablösungs- schuld der Gemeinde bezahlt ist, zu Privateigentum ausscheiden : a) mit Zustimmung der Gemeinde. Art. 165 a der Ablösungsordnung ; b) auch ohne Zustimmung der Gemeinde, wenn sie den vollen Betrag der auf ihrem Landanteil ruhenden Ablösungsschuld der lokalen Regierungskasse ein- zahlen. Art. 165 b der Ablösungsordnung. 4. Einzelne Staatsbauern können zu Privateigentum aus- scheiden mit Zustimmung einer -/s Mehrheit der Ge- meinde. Art. 15 des Gesetzes über die Staatsbauern. 1 Brscheski, Ökonomische Rundscliau, Juli 1898, S.U. Jan. 1898, S. 72. 24* — 372 — Obgleich die unter dem Vorsitz von Walujeff tagende Kommission in den siebziger Jahren weitere Erleichterungen für den Übergang zum Privateigentum empfahl, so blieb bis 1893 die Gesetzgebung in dieser Frage unverändert. That- sächlich waren auf dem Boden dieser Bestimmungen die Fort- schritte des Privateigentums geringfügig. Der Übergang ganzer Gemeinden zum Privateigentum scheiterte an der verlangten ^3 Mehrheit, sowie den Schwierigkeiten der Vermessung, deren Kosten und Technik den Bauern unzugänglich waren. Da Gemeinden, welche ihre Ablösungsschuld bezahlt hatten, lange Zeit nicht vorhanden waren , so war die zweitangeführte Be- stimmung unpraktisch. Das Ausscheiden einzelner Gemeinde- mitglieder vor völliger Tilgung der Ablösungsschuld scheiterte an der geforderten Zustimmung der Gemeinden, welche natür- lich ihre zahlungsfähigsten Glieder nicht loslassen wollten. So blieb nur der Ausweg des Art. 165 b. In dem Mafse, als die Ablösungsschuld sich verminderte und der Wert des Landes stieg, vermehrten sich die Fälle, in denen auf Grund der angeführten gesetzlichen Bestimmung einzelne Bauern aus dem Gemeindebesitz ausschieden. Es waren dies in erster Linie Avohlhabende Wirte, welche sich in Besitz des steigenden Grundwertes setzen und der Solidarhaft für Steuern sich entziehen wollten, daneben aber auch arme Bauern, welche von dritter Seite das Geld zum Loskauf ihres Landanteils erhielten und den ausgeschiedenen Landanteil sofort an die Darlehngeber veräufserten. Unter den letzteren traten Land- wirte und Industrielle auf, welche das gekaufte Land pro- duktiv verwandten, häufig aber auch Schnapswirte und ähn- liche Elemente, die sich auf diesem Wege als Ausbeuter in die Gemeinde einnisteten. Übrigens hat der Bauernstand als solcher durch diese Verschiebungen an Landbesitz keineswegs vei'loren ; denn auch die Käufer waren meistenteils bäuerlichen Standes und aufserdem dehnte sich der Bauer, wie wir sahen, auf dem Boden des Gutslandes durch Kauf mächtig aus. Während seit der Bauernreform die agrare Gesetzgebung völlig geruht hatte, begann mit dem Gesetz vom 12. Juni 188U eine Reihe wichtiger gesetzgeberischer Akte. Das genannte - 373 — (resetz brach mit dem Prinzip der Autonomie der Gemeinde. „Es ist bekannt," sagt die Begründung des Gesetzes, „dafs häufig von der Gemeinde solche Beschlüsse gefafst werden, welche offenbar die wichtigsten Bedürfnisse der ganzen Ge- meinde verletzen oder die Rechte einzelner Gemeindegenossen mit Füfsen treten. Es beruht dies auf dem Mangel an i^eistiger EntAvicklung bei der Mehrheit der bäuerlichen Be- völkerung." Dementsprechend gab das Gesetz vom 12. Juni 1889 den „Landhauptmännern" das Recht, solche Gemeinde- Beschlüsse anzuhalten und der Entscheidung der Bezirks- sitzung zu unterbreiten j welche zum ofi"enbaren Nachteil der (Gemeinde dienen oder die gesetzlichen Rechte einzelner ihrer Mitglieder verletzen. Später hat das Gesetz vom 8. Juli 1893 insbesondere die Landumteilungen der Aufsicht der Laud- hauptmänner unterworfen. Endlich haben die Einführungs- verordnungen zu den Gesetzen vom 7. Februar 1894 und 2G. Juli 1896 , welche sich mit Stundung der Ablösungs- zahlungen befassen, den Landhauptmännern die entscheidende Stimme bei Verteilung und Eintreibung der Steuern überwiesen. Damit ist die alte Gemeindeautonomie gebrochen — grund- sätzlich gewifs ein Fortschritt. Denn was im Westen zur Zeit ies Merkantilstaates galt, gilt hier im Osten noch heute: der Staat ist volkswirtschaftlich aufgeklärter als die grofse Masse ■-einer Unterthanen , welche er, oft wider ihren Willen, zum Fortschritt hinanführt. Der Gedanke des Adam Smith, dafs jeder seine eigenen Interessen am besten verstünde, versagt L^egenüber der breiten Durchschnittsmasse der russischen Bauern: Gutsherr, Staat und nicht zum mindesten der Mir haben durch eine schrankenlose Herrschaft über Besitz und Person des Einzelnen die individualistische Entwicklung des Bauern aufserordentlich verzögert. Aber dieser Staatseingriff ist nur dann berechtigt, wenn er die Erziehung zur Selbsthilfe und zur wirtschaftlichen Freiheit zum Ziele hat ' : Help them to help them selves. ' Diesen Standpunkt vertreten die St. Petersburger Nachrichten 'S Fürsten Uchtoraski z. B. Art. vom 2. Aug. 1898. — 374 — Gerade in dieser Hinsiciit aber scheiterte die gute Absicht des Gesetzgebers vielfach an der Persönlichkeit der Beamten. Zwar herrscht an den leitenden Stellen in Petersburg eine durchaus sachliche Auffassung der russischen Agrarfrage. Das öfters citierte Buch „Mifsernte und Volksarmut", dessen Ver- fasser der gegenwärtige Landwirtschaftsminister ist, erklärt die allmähliche Überführung des Gemeindebesitzes in Privat- eigentum für unerläfslich. Die Budgetberichte Wittes betonen, dafs das Aufsteigen der „reichen Bauern" dem Finanz-, also dem staatlichen Machtinteresse entspricht. Anders die aus- führenden Organe. Die grofse Masse der örtlichen Beamten, so besonders auch die dem Landadel entnommenen Landhauptmänner, stehen völlig unter dem Banne der „volkstümlichen" Ideenwelt. Nichts liegt ihnen ferner als der Gedanke, dafs das Empor- kommen der reichen Bauern im staatlichen Interesse zu fördern ist, dafs die Loslösung der verarmten Bauern vom Lande für diese selbst wie für die Gesammtheit eine Wohlthat ist. Ihre Aufgabe scheint ihnen vielmehr in der Erhaltung der kulturell wie steuerlich unerfreulichen Mittelmäfsigkeit zu bestehen , in der Verteidigung, ja der Ausdehnung des Gemeindebesitzes, in der Beförderung der so schädlichen Landumteilungen u. s. w ^ Auch wir kennen in Westeuropa diese Stimmungen, welche oft von den lautersten Absichten getragen sind. Das Mitgefühl mit den Leiden des Volkes und der Wunsch, ihm zu helfen, führt häufig auf Seiten der Gebildeten zu Versuchen, niedergehende Schichten künstlich am Leben zu erhalten. Aber dieses Bestreben ist widersinnig und reaktionär ; es bewirkt nichts, als die beklagten Mifsstände zeitlich zu verlängern. Es hemmt den wirtschaftlichen Fortschritt, weil ihm die Einsicht fehlt, dafs der Fortschritt des Ganzen den Fortschritt einzelner Individuen und Schichten voraussetzt. Wer das Wohl des 1 Vergl. z. B. Ökonomische Rundschau, Februar 1898, S. 59, ferner Juli 1898, S. 34, 35. — 375 - Volks vernünftig will, kann nichts besseres thun, als die aas Rohheit und Elend emporringende Klasse zu unterstützen, welche die Keime der Zukunft in sich trägt. Diese Einsicht ist zur Zeit von der Nebelwelt der „Volkstümlichkeit" völlig verdunkelt. Ein Beleg hierfür sind die von der Centralregierung veranlafsten Aufserungen der Landhauptmänner zur Agrarfrage^. Die breite Masse dieser Beamten ist dem Gemeindebesitz gewogen, ja leidenschaftlich zugethan. Mit allen Mitteln sucht sie seine „künstliche" Auf- lösung hintanzuhalten — als ob ein Vorgang künstlich zu •nennen wäre, der sich ohne jeden Eingriff der Staatsgewalt von selbst vollzieht. Die reicheren Bauern, von welchen der Zersetzungsprozefs ausgeht, beschuldigt man, „nichts als ihre eigenen Ziele zu verfolgen" ^ — als ob man von einem wirt- schaftlichen Individuum, das in den harten Kampf um das Dasein gestellt ist, etwas besseres verlangen könnte. Nur eine Minderheit der Landhauptmänner vertritt demgegenüber eine mehr europäische Auffassung der Agrarfrage. Literessant ist die geographische Anordnung der beiden Parteien. Für den Gemeindebesitz stimmt die breite Masse der grofsrussischen Gouvernements. Vom Westen her erhebt sich zu Gunsten des Privateigentums die Stimme Europas, welche bis zu den Gouvernements Mogileff, TschernigofF, Pultawa dringt. Dem Privateigentum günstig äufsern sich ferner die Landhauptmänner von St. Petersburg, Cherson und Taurien. Wenn alle Wirtschaftsgeschichte lehrt, Privateigen- tum und individuelles Erbrecht als die Grundlage der persönlichen Freiheit anzusehen , so könnte man sagen , dafs in jenen Stimmen die befreiende Wirkung der Seeluft sich fühlbar macht ^. ^ St. Petersburg 1897. 3 Bände. Einen Auszug enthalten die öfters citierten Aufsätze der Ökonomischen Rundschau. 2 Vergl. Ökonomische Rundschau, Januar 1898, S. 57. ' Als Wilhelm der Eroberer 1066 England unterjocht hatte, galten alle Einwohner als seine Hörigen, alles Land als sein eigen. Eine Ausnahme machten „die freien Herrn von London", mit denen er einen — 376 — Dieser zwiespältigen Stimmung in Beamtenkreisen ent- spricht die neuere Agrargesetzgebung. Einen gewaltigen Fortschritt in der Richtung auf individuelle Rechtsverhältnisse bedeutet das Gesetz vom 8. Juni 1893. Was schon Walujeff erstrebt hatte \ wird hier endlich verwirklicht: Ver- minderung der als schädlich erkannten Landumteilungen, welche das Gesetz an eine 12jährige Frist bindet. Die wichtigsten Bestimmungen dieses Gesetzes lauten : (§ 5.) „Die Umteilungsfrist wird auf zwölf oder mehr Jahre festgesetzt". — Eine Anmerkung erläutert, dafs diese Beschränkung der Umteilungsfrist sich nicht auf Fälle erstreckt, wo die Umteilung des Gemeindelandes zum Zwecke der definitiven Teilung desselben in konstante erbliche Anteile vorgenommen wird. — (§ 9.) „Bei jeder Umteilung Avird denjenigen Bauern, welche die Bonität ihres Landanteiles durch Düngung, Ent- wässerung, Irrigation oder auf irgend welche andere Weise melioriert haben, gleichweise den Rechtsnachfolgern dieser Bauern, der Landanteil nach Möglichkeit auf der früher von ihnen benutzten Stelle zugewiesen. Im Falle dieses unmöglich ist, erhalten genannte Personen entweder einen Landanteil, welcher von der gleichen Bonität ist wie der früher genutzte, oder eine Entschädigung, die in einer entsprechenden Kürzung der Abgaben besteht oder auf andere Weise effektuiert wird." (§ 10.) „Im Zeitraum, bis ein neuer Gemeindebeschlufs über denselben Gegenstand gefafst werden darf, darf die Gemeinde die Landanteile der einzelnen Hofwirte weder in ihrem ganzen Umfang noch teilweise einziehen, mit Ausschlufs folgender Fälle : 1) Tod des Hofwirtes, Austritt aus der Gemeinde, Ausweisung desselben gemäfs einem gerichtlichen Verdikt oder einem Gemeindebeschlufs, nachrichtslose Ab- Avesenheit und Aufgabe der Wirtschaft seitens des Hofwirtes, Vertrag schlofs. Als erstes Zeicheu ihrer Freiheit erkannte der Frei- brief das individuelle Erbrecht an. 1 Ökonomische Rundschau, Juli 1898, 8. 23. — 377 — wenn in allen diesen Fällen der gestorbene resp. ausgetretene üofwirt in der Gemeinde keine Familienmitglieder hinter- lassen hat, welchen der Landanteil überlassen werden könnte. '2 ) Verzicht des Hofwirtes selbst auf die Benutzung des Landes. 3) Steuerrückständigkeit (§ 188 der Allgemeinen Bauern- ordnung)". Entgegengesetzte Tendenz weist derjenige Teil des Gesetzes vom 14. Dezember 1893 auf, welcher Artikel 165 b des Ablösungsgesetzes aufhebt. Derselbe lautet : „Bis zur Einzahlung des Ablösuugsdarlehns ist die Ausscheidung d er Landanteile der einzelnen Hof- wirte aus dem von der Gemeinde erworbenen Grundbesitze und gesonderte Ablösung der Landanteile vor dem allgemeinen Termin nicht anders zulässig , als mit Einwilligung der Gemeinde und unter Bedingungen, welche in einem Be- schlüsse der betreffenden Gemeindeversammlung anzugeben sind". — Seitdem also ist das Ausscheiden einzelner Bauern aus dem Gemeindebesitz an folgende Bedingungen geknüpft ^ : a) Staatsbauern können auf Grund der unverändert ge- bliebenen Gesetzgebung ausscheiden, wenn die Gemeinde mit ^/3 Majorität zustimmt. b) Gutsbauern können nach der neuen Fassung von Artikel 165 des Ablösungsgesetzes nur ausscheiden unter einfacher Zustimmung der Gemeinde und mit voller Tilgung des Ablösungsdarlehns, dessen Betrag für das einzelne Grund- stück die Gemeinde festsetzt. Dieses Gesetz äufserte einen einschneidenden Einliufs. Im Jahre 1893 waren noch 965 000 Rubel Ablösungsschuld auf Grund des Artikels 165 der Ablösungsordnung von einzelnen Bauern zur Zahlung gebracht; im Jahre 1896 war diese Summe auf 44000 Rubel gesunken. — Bei der Gesamtpolitik der 80er Jahre, die wir kennen lernten , kann es nicht wunder nehmen, dafs die Stimmungen einer „volkstümlichen" Agrarpolitik auch im Ministerium zu Ökonomische Rundschau, Februar 1898, S. 69. — 378 — Worte kamen ^. Schon seit Anfang der achtziger Jahre haben sie sich zu Gesetzentwürfen verdichtet. Aber Rufsland unter- scheidet sich von manchen parlamentarischen Staaten West- europas zu seinem Vorteil durch die umständliche Art, in der die Gesetzgebungsmaschine arbeitet und die Entwürfe Jahre lang gesiebt werden. So geschah es, dafs die dem Gemeindebesitz günstige Zeitströmung ihren gesetzgeberischen Ausdruck erst in den Tagen fand, da die Flutwelle „volks- tümlicher" WirtschaftsaufFassung bereits ihren Höhepunkt überschritten hatte. Trotz der Kompliziertheit dieser Fragen im einzelnen stehe ich nicht an, die Tendenz des Gesetzes vom 14. De- zember 1893 zu verurteilen. Es entspringt den Anschau- ungen der Leibeigenschaft, welche heute alle Bauern auf das Niveau der früheren Staatsbauern herabdrücken möchten. Stimmen, welche alles Bauernland als Staatseigentum reklamieren und staatliche Regulierung der ganzen Bauernwirtschaft ver- langen, sind auch heute noch in der russischen Presse und Gesellschaft häufig zu hören. Auch in seiner praktischen Wirkung scheint mir das genannte Gesetz verurteilungswert: es erschwerte die Loslösung Einzelner aus der Gemeinde, den zur Zeit allein gangbaren Weg zum Individualb esitz ; es schädigte damit die Interessen der besseren Bauern, jener staatlich wichtigsten Klasse im heutigen Rufsland. Leser, welche sich über beide Gesetze näher orientieren wollen, finden auch einiges Material in deutscher Sprache^. Noch heute hängen die phantastischen Wolkengebilde der „volkstümlichen" Nationalökonomie in den Niederungen der Provinz. Ein Glück für Rufsland dagegen: die der Central- regierung erhebt sich über das Nebelmeer und ragt in das Licht einer realistischen, darum nicht ausschliefslich west- europäischen Wissenschaft. Es scheint zweifellos, dafs man ^ Vergl. die dem Gemeindebesitz sehr geneigte Äufserung des Staatssekretärs Durnowo, Ökonomische Rundschau, Nov. 1897, S. 77. 2 Brauns Archiv, Band VII, S. 642, Artikel von Paul Struwe; ferner Simkhowitsch a. a, 0. S. 379 ff. — 379 — au diesen Stellen heute Fortschritte in der Richtung individual- rechtlicher Entwicklung sucht, welche freilich durch die ent- gegenstehende öffentliche Meinung der gebildeten Kreise sehr erschwert werden. Ich möchte dalier kurz diejenigen Punkte namhaft machen, wo mir die gesetzgeberischen Probleme der nächsten Zukunft zu liegen scheinen. 1. Obligatorische Aufhebung des Gesammtbesitzes mehrerer (xemeinden, welcher in Rufsland noch häufig ist ; Vermessung des Landes unter die einzelnen Gemeinden. 2. Obligatorische Überführung des Gemeindebesitzes kleinster Gemeinden (etwa bis zu 20 Höfen) in erblichen Einzelbesitz. 3. Herabsetzung der ^/a Majorität, mit welcher Gemeinden den Übergang vom Gemeindebesitz zum Einzelbesitz be- schliefsen können, auf einfache Majorität. Freilich würden alle diese Mafsregeln den erwarteten Nutzen schwerlich schafi'eu, wenn Gemengelage und Flur- zwang bestehen blieben. Wie sehr die Gemengelage im mittleren Rufsland zur Zeit entwickelt ist, beweisen folgende Ziffern. Im Durchschnitt kommen im Moskauer Gouvernement nach Orloff 11 Gewanne je auf das Sommer- und das Winterfeld. Jeder Bauer hat in jedem Gewann Anspruch auf mindestens ein Ackerstück; er bebaut also mindestens 22 Parzellen ^ Wie in Westeuropa wird die Gemeinheitsteilung begleitet sein müssen von staatlicher Vermessung und Zusammenlegung-. Sobald man aber zum arrondierten Hofbesitz (chutornoje chosjaistwo) übergeht, erhebt sich die Frage des bäuerlichen 1 Vergl. Miklaschefski a. a. 0. S. 216. 2 Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik. Leipzig 1892. Band I, S. 287: Die Preufsische Gemeinheitsteilungsordnimg bestimmt in dieser Hinsicht: Soweit die Aufhebung einer Gemeinheit erfolgt, „müssen die aus der Gemeinheit scheidenden und darin verbleibenden Teilnehmer die Landentschädigungen möglichst in einer zusammen- hängenden wirtschaftlichen Lage erhalten" (§ 3, 61). Solche mit Zusammenlegungen verbundene Gemeinheitsteilungen heifsen Special- separationen und die ersteren traten allmählich geradezu als der Haupt- zweck des ganzen Unternehmens hervor. — 380 — Erbrechts, welche bereits Keufsler am Horizonte der russischen Agrarpolitik aufsteigen sah. Bei dem Fehlen eines Hypotheken- rechtes bedeutet Erbteilung bezw, Familienteilung in Rufsland Kealteilung des Grund und Bodens und damit die Gefahr einer bei relativ extensiver Landwirtschaft gewifs wenig wünschenswerten Zersplitterung. Vielleicht dürfte auch hier die blühende Kolonistenwirt- schaft Südrufslands den Weg weisen. Nach Postnikoffs öfters citirtem Buche ist bei den Kolonisten die ganze Gemeindeflur Eigentum der Gemeinde ; kein Land darf ohne Zustimmung der Gemeinde veräufsert werden. Weide und Wald werden gemeinsam benutzt. Das Ackerland zerfällt dagegen in unteilbare Hufen, welche der Normalgröfse eines bäuerlichen Betriebes entsprechen und im Individualbesitz einzelner „Wirte'' stehen. Im Erbfall Averden die Hufen gewöhnlich von einem der Erben übernommen zu einem von der Gemeinde ange- setzten niedern Kaufpreis; wenn kein Erbe da ist, werden sie unter den Kolonisten versteigert, jedenfalls aber als Ganzes erhalten ^, 4. Wichtiger aber und vorbereitend für alles andere er- scheint die Frage, wieweit es finanztechnisch möglich ist, die Solidarhaft der Gemeinde für Steuern und Ablösungs- zahlung aufzugeben. Erst hiermit schnitte man in die Wurzel des Gemeindebesitzes. Die wachsende Bedeutung der indirekten Besteuerung und die steigenden Einnahmen des Staates aus Eigenbetrieben sollten eine solche Reform der direkten Be- steuerung in das Gebiet der Möglichkeit rücken. Selbstver- ständlich ist es, dafs die provinziellen Finanzbehörden sich gegen eine solche Reform aussprechen werden, da durch eine Verteilung der Steuern auf den einzelnen Bauer sich ihre Arbeit und Verantwortlichkeit aufserordentlich vermehren würde. Aber dieser Gesichtspunkt darf nicht entscheidend sein. Wenn man Steuerausfälle fürchtet, so käme vielleicht selbst eine geringe Anspannung des gegenwärtigen Steuer- fufses in Betracht. Denn Bestimmtheit der Steuer ist nach Vergl. Postnikoff a. a. O. S. 291 ff. und passim. — 381 — A. Smith der erste Grundsatz aller Besteuerung, und eine bestimmte, höhere Steuer kann für den Besteuerten erträglicher sein als eine niedere, aber unbestimmte Steuer. Ich fühle mich keineswegs berufen, über die Einzelheiten dieser gesetzgeberischen Aufgaben Urteile zu fällen. Um so sicherer erscheint mir das letzte Ziel aller Agrarreform im heutigen Rufsland : es handelt sich um Vollendung des urofsen Befreiungswerkes der 60er Jahre. Die Befreiungs- gesetzgebung begründete aus iiskalen Gesichtspunkten die Allgewalt des Mir und versagte dem einzelnen Bauern individuelles Eigentum und persönliche Freiheit, Die Reform hat daher eine doppelte Seite: eine Aufgabe hinsichtlich des Landes und eine solche hinsichtlich der Person. Hinsichtlich des Landes lautet die Aufgabe : allmähliche und den Verhältnissen Rechnung tragende Überführung des (lemeindeeigentums zum Privateigentum oder wenigstens Beseitigung der dieser Entwicklung gegenüberstehenden Hindernisse. Ob ein jäher Übergang von der völligen Rechtlosigkeit lies Individuums zum vollfreien Privateigentum thunlich ist*, kann zunächst dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls ist die weitgehende juristische Bindung des Grund und Bodens, wie wir sie auf Grund der heutigen Gesetzgebung oben kennen lernten, (oben S. 317) sinnlos, solange thatsächlich jene uner- hörte Flüssigkeit und Unsicherheit aller bäuerlichen Besitzver- hältnisse herrscht, welche wir wiederholt berührten. Erst gegenüber dem Individualbesitz ist die Frage einer mehr oder iiiinder weitgehenden Bindung des Grund und Bodens [»Taktisch ^. Hinsichtlich der Person des Bauern lautet die Aufgabe : Beseitigung des bäuerlichen Standesrechtes und Gleichstellung aller Unterthanen auf dem Boden eines allgemeinen 1 Hiergegen z. B. Nikolski, Ökonomische Rundschau, Januar 1898, s. 86 '87. ^ So verlangt Kaweliu, Bauernfrage, S. 80 erblichen Privat- lii'sitz mit unveräufserlichem und unverptandbarem Obereigentum der < icmeinde. — 382 — Staats bürgertums. Das Wort „Bauer" höre auf, ein öffentlich-rechtlicher Begriff zu sein, und werde zur Be- zeichnung eines wirtschaftlichen Berufes. Schon die Ur- heber der Befreiungsgesetzgebung haben dieses Ziel aus- gesprochenermafsen ins Auge gefafst^ Freilich setzt diese, wie jede gesetzgeberische Reform eine ungeheure und langdauernde Erziehungsarbeit an der öffent- lichen Meinung voraus. Die russische Intelligenz darf den Bauern nicht länger als jenes mystische Wesen, halb Wilden, halb Heiligen, betrachten, dessen Glück darin bestehe, seine Persönlichkeit im Nirwana des Mir zu versenken. Der russische Bauer ist ein sich selbst bejahender Mensch, mit denselben Strebungen Avie jeder von uns, zwar roh und ungebildet, aber doch der Anlage nach ein geistig, wie sittlich hochbegabter Europäer. Mehr als im Adel liegt in ihm die Fähigkeit, das moderne Wirtschaftsindividuum mit allen seinen Mängeln und Vorzügen aus sich heraus zu entfalten. Denken wir an den Sieg des bäuerlichen Gewerbes über die gutsherrüche Fabrik, den wir oben kennen lernten. Wenn die russische „Intelligenz" ihre Stellung zum Bauern im angegebenen Sinne ändert, so wird dies für sie selbst ein Vorteil sein. Die Unselbständigkeit der „Intelligenz", welche die Slavophilen beklagten, beruhte in letzter Linie auf der Schwäche ihrer wirtschaftlichen Grundlage: des Adels. Heute erhebt sich eine neue Felsenschicht aus den Gewässern der Naturalwirtschaft und der geistigen Gebundenheit: jene „ländliche Kleinbourgeoisie", welche als Siegerin über den Ge- meindebesitz den Litteraten verhafst ist. Und doch, die Ecken und Spitzen des „Kulakentums" können mit der Zeit verwittern, den öden Felsen kann eine Rasendecke überziehen, auf welchem die Blume einer wirklich „volkstümlichen" Bildung erblühen kann. Dann, und nicht eher, wäre das Ideal der Slavophilen erreicht: die Einheit der nationalen Kultur. Dann, und nicht eher, wäre die Kluft zwischen Volk und Gebildeten ähnlich überwunden, wie dies in gewissen Teilen Westeuropas 1 So Nikolski a. a. 0. S. 74. — 383 — der Fall ist, wo die höchsten Schichten des Geisteslebens durch unzählige Zwischenglieder mit der breiten Volksbasis unlöslich verbunden sind. Nur durch eine Emporhebung der unteren Schicht ist dies möglich, nicht durch ein künstliches Verbauern der Gebildeten. Das Gesagte genügt, um meinen Standpunkt in den Grundfragen der russischen Agrarpolitik festzustellen. Es genügt aber auch, um den Leser zu überzeugen, dafs eine ausführliche Begründung dieses Standpunktes einen weiteren Band erforderte, der den vorliegenden an Umfang überträfe. Der Versuch, diese Begründung in den Grenzen gegenwärtigen Werkes vorzunehmen, würde mit Recht der Oberflächlichkeit geziehen werden. Innerhalb der vorliegend gesteckten Grenzen erscheint es mir richtiger , die obigen Ausführungen durch einige Momentaufnahmen des ländlichen Kleinlebens zu illustrieren, welche zwar nicht den Anspruch machen, sogenannte „typische'" Fälle festzuhalten, aber doch unmittelbar aus dem Meere der Thatsachen geschöpft sind. Nur so wird der Leser von dem Hauche der russischen Landluft angeweht werden, die man geatmet haben mufs, um nicht in russischen Wirtschaftsfragen, selbst Fragen der Gewerbe- und Finanzpolitik', nach west- europäischer Schablone zu urteilen. Das erste dieser Tagebuchblätter ist geschrieben auf der Seereise von Sebastopol nach Brindisi, also ohne die Be- nutzung irgend welcher Litteratur; der farbige Frühlingsglanz, der mich an den griechischen Küsten umgab, verschärfte die Eindrücke, die ich wenige Tage vorher in den schneebedeckten Hungergebieten Rufslands empfangen hatte. Der zweite Reise- bericht entstand in dem Landhause eines russischen Gast- freundes, ebenfalls ohne Litteraturbenutzung, aber unter täg- licher Besprechung mit einem sachkundigen Beobachter des russischen Dorflebens. Für die folgenden beiden Berichte benutzte ich dagegen die Schätze des statistischen Bureaus zu Pultawa. Leider verhindert mich der Mangel an Zeit, mein reiches Material zum russischen Gemeindebesitz zu heben ; für die vorliegenden Zwecke schienen mir gewisse individualistische Erscheinungen charakteristischer. — 384 II. Ein Tagebuchblatt aus den russischen Notstandsgegenden. März 1893. Im Sommer 1892 wurde ein Teil des östlichen Rufsland von einer schweren Mifsernte heimgesucht, welche im darauf- folgenden Winter zu einer eigentlichen und offiziell anerkannten Hungersnot führte; der Notstand war um so schärfer, als bereits ein Jahr vorher dieselben Gegenden unter völliger Mifsernte zu leiden hatten. Der Bereich der ersteren Mifsernte erstreckte sich über die Gouvernements Tula, Woronesch, Poltawa, Cherson und das Gebiet der Donschen Kosaken, ferner über Teile der Gouvernements Orel, Rjäsan, Kursk und Kijew. Zum zweiten- mal von der Mifsernte und daher von verschärftem Notstande betroffen waren die Gouvernements Tula, Woronesch, sowie Teile von Rjäsan und Orel. Ein Blick auf die Landkarte belehrt, dafs es sich in jenen Notjahren also keineswegs um die Teile Rufslands handelte, die, mit kargem Boden und rauhem Klima, von der Natur nur stiefmütterlich ausgestattet sind. Diese Umstände haben vielmehr in dem nördlichen Rufsland den Menschen frühe vom Boden gelöst, ihn in die Städte und in die Ferne zu zeitweisem Erwerb getrieben. Die Bevölkerung ist hier beweglicher und unternehmender, sie findet seit langem Neben- beschäftigung in einer ausgedehnten Hausindustrie. Letztere aber bereitete den Boden für die Entstehung jener gewaltigen Grofsbetriebe, welche heute im Moskauer und Wladimirschen Gouvernement ihren Sitz haben. Diese vielfach Getreide ein- führenden Bezirke erfreuen sich verhältnismäfsigen Wohl- standes. Sie sind wohlhabend genug, auch in Zeiten des Mifswachses Getreide zu kaufen. Auch die westlichen , ver- kehrsreicheren Gouvernements Rufslands kennen zwar Mifs- ernten, nicht aber Hungersnöte. Demgegenüber wurden vom „Hunger" als Massenerscheinung wiederholt die südlichen und östlichen Gouvernements heimgesucht; mit ihrer berühmten „schwarzen Erde" könnten sie geeignet erscheinen, nicht nur ihre eigenen Bebauer, sondern noch Millionen von Käufern — 385 — zu nähren — es sind Gegenden, deren Klima den Anbau des Weizens und zum Teil auch der Zuckerrübe gestattet. Diese Thatsache ist merkwürdig genug; aber sie wird merkwürdiger, wenn man ihr Auge in Auge gegenübertritt. Ich fordere daher den Leser auf, mich in die Notstands- gegenden Rufslands zu begleiten. Der Ausflug ist von Moskau aus unschwer zu unternehmen, da das Gebiet von Eisenbahnen durchschnitten ist. Ich verliefs die Eisenbahn in der Kreisstadt B. im Tula- schen Gouvernement. Der das Städtchen überragende Schlot zeigte mir von fern, dafs das moderne Wirtschaftssystem bereits seinen Fufs in das Land gesetzt hat. Auf meine Frage erfuhr ich , dafs der Schlot einer grofsen Zuckerfabrik an- gehöre — ein Beweis für den Reichtum des Bodens, Welcher Gegensatz: auf der Eisenbahnstation sah ich zugleich das Holz- depot des Roten Kreuzes, zu welchem die Bauern mit kleinen Schlitten und kleinen abgezehrten Pferdchen herangefahren kamen, um zu ermäfsigten Preisen das unentbehrlichste Brenn- material zu kaufen. Schweigend drängten sie sich um den Eingang des Hofes, wo das Holz abgemessen wurde, während die Pferde mit hängendem Kopf, kaum fähig, sich auf den Beinen zu halten, nach den herumliegenden Stroh- und Heu- halmen schnappten; schweigend belasteten die Bauern die Schlitten mit wenigen Scheiten; die Schlitten sind klein und schon ihre gewöhnliche Befrachtung ist äufserst gering; um so geringer aber war sie hier, wo die Pferde wenig mehr als Haut und Knochen darstellten. Schweigend zogen die Bauern von dannen, während andere kamen; der russische Bauer ist ein Held jenes buddhistischen Lebensgrundsatzes : Widerstehe nicht dem Übel. Ein günstiger Zufall führte mich bei Beginn meiner Wanderung mit einer jener für das russische Landleben typischen Gestalten zusammen, welche Wallace unter dem Namen Karl Karlitsch beschrieben hat: dem deutschen Guts- verwalter. Diese Klasse, vom Volke durch eine Kluft ge- schieden , zeigt oft nur geringes Verständnis für die inneren und geistigen Seiten des Volkslebens; dagegen beurteilt sie V. Schulze-Gaevernitz, Studien a. Rufsl. 25 — 386 — die wirtscliaftlichen Zustände ihrer Umgebung mit nüchterner Sachkenntnis, die mir zur Belehrung diente. [,- In der That, meinte Karl Karlitsch, sei in den letzten beiden Jahren der Ernteertrag ein aufsergewöhnlich geringer gewesen; jedoch habe die Mifsernte das von ihm verwaltete Gut viel weniger schwer betroffen, als die benachbarten Bauern. Das Gut habe pro Defsjätine geerntet vom Weizen statt der gewöhnlichen 150 Pud nur 63, vom Roggen statt 75 Pud nur 28, also etwas weniger als die Hälfte; die Bauern dagegen hätten nicht mehr als ein Viertel der gewöhnlichen Ernte ge- macht und vielfach seien bei ihnen die Felder „nackte Erde" gewesen^. ;. [ Auf meine Frage nach den Gründen dieser Erscheinung wurde ich auf die Verschiedenheit der Wirtschaftsweise von Gut und Bauern verwiesen. Das Gut baue Weizen, Zuckerrübe und Futtergewächse, die Bauern dagegen nach der Weise der Dreifelderwirtschaft Roggen und Hafer, bezw. Kartoffel, während das dritte Jahr das Feld unbearbeitet brach liege. Ihre Armut verhindere sie, diejenigen W^erkzeuge an- zuschaffen, welche zur besseren Bestellung des Landes not- wendig seien. Daher verharren sie bei dem alten Hacken- pflug (Socha) , welcher grofsentheils auf dem Dorfe selbst gemacht werde und äufserst Avenig Eisenbestandteile erfordere. Sein Vorteil bestehe für die gänzlich mittellosen Bauern darin, dafs er für die verschiedensten Arbeiten zu brauchen sei, für welche fortgeschrittenere Wirtschaften mehrerlei Werkzeuge besäfsen (Furchenziehen, Herausnehmen der Kartoffeln u. s. w.). Die Socha aber ritze den Boden nur oberflächlich, so dafs die unteren Schichten der fast 1 m tiefen Schwarzerde zur Pro- duktion nicht herangezogen würden. Ein weiterer Grund der geringeren Ernteerträge der Bauern sei der Mangel an Düngung: das Land werde alle drei Jahre entsprechend der herrschenden 1 So hörte ich erzählen, dafs man im Sommer 1891 neben dem Lande der Bauern, das lediglich Unkraut bedeckt habe, im Moskauer Gouvernement wogende Getreidefelder der landwirtschaftlichen Aka- demie erblickt habe. — 387 — Dreifelderwirtschaft neu umgeteilt, und damit fehle jedes Interesse des Bauern an der nachfolgenden Ernte. Die Felder, welche sich im Gemeindebesitz befänden, würden schlechthin nie gedüngt; vielmehr diene das Stroh dem Bauern als aus- schliefsliches Brennmaterial. Eng mit dem Dreifeldersystem hänge auch der Viehmangel zusammen, welcher nur durch den Anbau von Futtergewächseu zu heben sei. Den wenigen Dünger, den der Bauer habe, verwende er zur Düngung des im Privateigentum befindlichen Gartens, ja eher der Pacht- felder, als seines Anteils am Gemeindeland. In seinem Garten baue er die Zuckerrübe zum Verkauf an die Fabrik; aber diese Bauernrübe habe um 25 '^'o weniger Zuckergehalt als die Gutsrübe. Während so der Bauer das Land nach der Weise der Väter bewirtschafte , habe sich die Bevölkerung vermehrt ; vielfach käme auf die männliche Seele nicht mehr als ^/a Defsjätine, und hieraus ergäbe sich, wenn man die durch- schnittliche Produktion bei so extensiver Wirtschaft in Be- tracht zöge, die Notwendigkeit periodischen Hungers. Diese Notwendigkeit würde noch gröfser sein, wenn die Aus- wanderung nach den östlichen Gouvernements und Asien nicht einen steten Abflufs der Bevölkerung ermögliche; aus einem Dorfe in der Nähe seien von 350 Höfen 40, aus einem andern von 100 Höfen 30 während des gegenwärtigen Not- standes fortgezogen. Im Vergleich mit der alten, von Karl Karlitsch ge- priesenen Zeit der Leibeigenschaft habe sich die Lage der Bauern zweifellos verschlechtert — nicht erst als Folge der letzten schlechten Ernten. Früher, vor den grofsen Reformen, produzierte der Bauer für eigenen Verbrauch ; was er in guten Jahren nicht aufzehrte, Avurde bei den schlechten Wegen und dem mangelnden Verkehr aufgespeichert und diente als Rück- halt für die Zeit des Mifswachses. Bares Geld brauchte der Bauer nicht; höchstens das Salz und die eiserne Spitze des Pfluges waren zu kaufen. Dem Gutsherrn leistete er lediglich Arbeit und Naturalabgaben. In schlechten Zeiten hatte der 25* — 388 — Gutsherr dafür Pflicht und Interesse, den Bauern leistungs- fähig zu erhalten. Wenn die Regierung ausnahmsweise für die Ernährung des Volkes Aufwendungen machte, so forderte sie dieselben vom Gutsherrn zurück. Zweierlei griff in diese Zustände verändernd ein ; einmal der Bau der Eisenbahnen und sodann die Befreiung der Bauern. Zur Bezahlung der Steuern und der Ablösungsgelder mufste der Bauer bares Geld haben; die Eisenbahnen aber setzten ihn in die Lage, seine Erzeugnisse zu verkaufen. Volkswirtschaftlich gesprochen: der Bauer wurde in die Weltwirtschaft eingezogen, aber seine Wirtschaftsweise und sein psychologischer Zustand wider- sprechen noch heute diesem Umschwung. Nachdem ich mich über die Wirtschaftsverhältnisse des Bezirks hatte unterrichten lassen, suchte ich Umfang und Grad des Notstandes, sowie die Mittel der Abhilfe kennen zu lernen. Hier wäre Karl Karlitsch nicht der richtige Weg- weiser gewesen mit seiner nüchternen, fast kalten Beurteilung der ihn umgebenden menschlichen Not. Hierzu war eine andere Persönlichkeit geeigneter, deren Bekanntschaft ein Empfehlungsbrief vermittelte. In dem Grafen B. , einem früheren Gardeoffizier, der aber nunmehr das zweite Jahr unermüdlich in den Hungergegenden arbeitete, lernte ich einen Vertreter jener idealistischen Lebensauffassung kennen, welche innerhalb des jüngeren Geschlechts der gebildeten russischen Gesellschaft so verbreitet ist, der aber meist ein Feld der geeigneten Thätigkeit fehlt; sie verkümmert daher in späteren Jahren häufig und schlägt nur zu oft in ihr Gegenteil um. Hier hatte eine solche Persönlicheit ihre Auf- gabe gefunden, und der von mir besuchte Bezirk konnte vor anderen von gleicher Not heimgesuchten als bevorzugt gelten in dem Besitze dieses thatk räf tigen Vorsitzenden des örtlichen Ausschusses des Roten Kreuzes. Ich gebe hier einige Mitteilungen wieder, welche mir von dieser sachkundigen Seite gemacht wurden. Nach der Mifsernte des Jahres 1891 befand sich der Bezirk, sowie überhaupt das Gouvernement und mit ihm der — 389 — gröfsere Teil des mittleren und östlichen, lediglich auf Land- wirtschaft angewiesenen Rufsland in äufserst schwieriger Lage; nur aufserordentlichen Opfern seitens der Regierung gelang es, einer Verminderung der Bevölkerung, sowie der Anbau- fläche erfolgreich entgegen zu wirken. Insbesondere ist die fast vollständige Erhaltung der Anbaufläche als tüchtige Leistung der staatlichen Verwaltung anzuerkennen. Neben den Regierungsorganen entfaltete die Privatwohlthätigkeit eine rege Thätigkeit. In dem von mir besuchten Bezirk mit 170 000 Einwohnern wurden über 1 Mill. Rubel von Regierung und Privatpersonen zusammen aufgewandt, nachdem vom Dezember 1891 an die eigenen Vorräte der Bauern erschöpft waren, bis zur neuen Ernte. Die Trockenheit des Sommers 1892 vernichtete in dem Bezirk abermals die Ernteaussichten; das Winterkorn (Roggen) ergab etwa die Saat; das Sommerkorn (Hafer) wurde vielfach gar nicht geschnitten. Die Folge war ein verschärfter Not- stand. Bereits im September waren die schmalen Ernteerträge aufgezehrt. Zum mindesten drei Viertel der Bewohner des Bezirks lebten zur Zeit meines Besuches von der Unter- stützung der Regierung oder privater Wohlthätigkeit. Wenn der russische Bauer der Zarengewalt voll ergeben ist, so beruht dies darauf, dafs er in ihr eine Vorsehung ver- ehrt, die in den verheerenden Gang der Natur verbessernd eingreift. Die Notwendigkeit dieses Eingrifi's wird in dem Mafse für die Regierung zwingender, als gröfsere Massen und breitere Gebiete die rettende Hand des Zaren erhoß'en. Je ver- einzelter der Notstand, desto weniger sind die für das Volks- empiinden sich ergebenden Folgen zu fürchten. Hieraus er- klärt sich, dafs der 1891 von Regierungsseite in Bewegung gesetzte Hilfsapparat viel bedeutender war als 1892, in welchem Jahre eine weit kleinere Fläche allerdings von einem örtlich um so fühlbareren Notstand heimgesucht war. Trotzdem hat auch in letzte-rem Jahr die Regierung sich jener Verpflichtung nicht entzogen. Die Organe, deren sie sich in ähnlichen Fällen bedient, sind die Landschaften (Semstwi). Sie empfingen aus der Staatskasse unverzinsliche Darlehen, — 390 — teils in Geld, teils in Getreide, welch letzteres von den Be- zirken, die voriges Jahr eine schlechte, dies Jahr aber eine gute Ernte hatten, an die Kegierung zurückflicfst. Die Semstwi gaben die empfangenen Beträge, aber nur in natura, nicht in Geld, als Darlehen an die notleidenden Gemeinden weiter. Der von mir besuchte Bezirk erhielt für den Zeitraum vom September bis zur neuen Ernte 400000 Pud Roggen (1 Pud = 40 Pfund). Nimmt man 130000 Einwohner des Bezirks als hilfsbedürftig an — eine gewifs nicht zu hohe Ziffer — so käme im Durchschnitt auf die Seele etwa 3 Pud oder 120 Pfund Getreide, d. h. täglich nicht ganz ^/2 Pfund. Dieser Betrag wäre nicht genug zum Leben, nicht einmal genug, um das Sterben zu verhindern. Die Verteilung geschieht daher nicht nach Köpfen. Überhaupt tritt ja in Rufsland die Gemeinde der Ver- waltung als unterste Einheit gegenüber, welche ihre Ver- hältnisse selbständig regelt; so erhalten auch im vorliegenden Fall nicht die Einzelnen, sondern die Gemeinden die Getreide- darlehen. Sie haften solidarisch für die Rückerstattung. Hieraus ergiebt sich als notwendige Folge: Die Gemeinde teilt nur an solche Glieder das Darlehen aus, von denen sie die Aussicht auf Wiedererstattung hat, d. h. an die Bauern- wirte, welche Landanteile besitzen und bearbeiten. Das Dar- lehen erscheint als eine Art Hypothek auf das Land. Die Landlosen — und ihre Zahl ist trotz des Gemeindebesitzes in stetem Wachsen — gehen leer aus. Dazu gehören einmal gewisse Klassen, welche gesetzlich von den Landanteilen aus- geschlossen sind : die Nachkommen der früher zu persönlichen Diensten herangezogenen Leibeigenen, die Nicolaischen Sol- daten, die vor der Bauernemanzipation befreit wurden, und ihre Nachkommen; hierzu kommt, zwar nicht rechtlich, aber thatsächlich die grofse Masse derer, die zwar einen Land- anteil erhielten, aber zu arm sind, um ihn zu bebauen, und ihn reicheren Gemeindemitgliedern als ihren Gläubigern über- lassen mufsten. Während so die Ärmsten der Armen unberücksichtigt bleiben, werden an die besitzenden Bauern 30 Pfund Getreide — 391 — pro Monat und Seele verteilt; ausgeschlossen sind jedoch Kinder unter 3 Jahren und erwachsene männliche Personen von 18 bis 55 Jahren, sogen. „Arbeiter". Berücksichtigt man diese Ausnahmen, so kommen durchschnittlich im Monat 15 bis 20 Pfund auf die Person ; jedoch giebt es Dörfer, welche in dieser Hinsicht weit ungünstiger gestellt sind. Offenbar ist also die private Wohlthätigkeit unentbehr- lich, um der Bevölkerung das Leben zu fristen — selbst wenn man in Betracht zieht, dafs der russische Bauer wie kein zweiter an Entbehrung gewöhnt ist. Gewöhnlich setzt in den Bauernhöfen erst nach Ostern der Mangel an Nahrungsmitteln ein; diesmal treten die Menschen bereits entkräftet in die Zeit des Jahres ein, in der die Bestellung der Felder die An- spannung körperlicher Kräfte erfordert. Das Hauptorgan der Privatwohl thätigkeit ist die Gesell- schaft des „Roten Kreuzes", welche einen halboffiziellen Charakter trägt. Die Mittel, welche diese Gesellschaft auf- brachte, flössen jedoch fast ausschliefslich aus privaten Quellen — und zwar den Winter 1891/92 in einem Mafsstab, welcher der russischen Gesellschaft alle Ehre macht. In welchem Mafs die Organisation des Roten Kreuzes wirksam arbeitet, hängt im einzelnen Fall von dem Umstand ab, ob sie an Ort und Stelle geeignete, thatkräftige und aufopfernde Persönlichkeiten als Vertreter findet. Priester, Grundbesitzer, Verwalter, Studenten und Damen treten als „Pfleger" des Roten Kreuzes auf. Wichtig ist es, dafs unter ihnen solche Persönlichkeiten sich finden, welche ihrer Stellung wegen bei der Regierung Berücksichtigung oder bei der öffentlichen Meinung Gehör finden. Wo solche Elemente fehlen, ist das Elend zwar nicht geringer, aber eine Schneedecke ver- hüllt es und mit ihr das Schweigen des langen russischen Winters. Die Thätigkeit des Roten Kreuzes bezieht sich in erster Linie auf die Ernährung derjenigen, welche von der Land- schaft überhaupt keine oder nur ungenügende Unterstützung erhalten. In dem von mir besuchten Bezirk bestanden 25 Bäckereien des Roten Kreuzes, welche im Monat gegen — 392 ~ 9000 Pud Brot aus einer Mischung von Roggen- und Mais- mehl herstellten. Das Brot wurde an die Bedürftigsten um- sonst, im übrigen zu ermäfsigtem Preise abgegeben.. Eine weitgehendere Hilfe sah ich an einem der folgenden Tage in den Suppenanstalten des Fräuleins L. Auch hier war es interessant, zu beobachten, in welcher Weise der Bauer an gemeinsames Handeln gewöhnt ist. An die Gesamt- heit der Empfangsberechtigten in einem Dorfe wurden all- wöchentlich die Nahrungsmittel verabfolgt; die Zubereitung und Verteilung der Speisen besorgten die Bauern unter sich, ohne dafs eine weitere Kontrolle erforderlich war; es erinnert dies daran, dafs sich unter Arbeitsgenossen in Rufsland so- fort Artelle, d. h. Verbrauchsgenossenschaften, bilden. Wie wenig das Einzelindividuum entwickelt ist, beweist der Um- stand, dafs die Beschlüsse solcher Gemeinschaften meist ein- stimmig zu Stande kommen. Nicht minder dringlich als der Mangel an Nahrung ist der Mangel an Futter für das Vieh. Nur die wenigsten Bauern sind imstande, ihren Viehbestand zu erhalten. Nach dem Bericht des Vorsitzenden des Lokalausschusses des Roten Kreuzes hatte sich in der Zeit vom Januar 1892 bis Januar 1893 die Zahl der Pferde in den zum Bezirk ge- hörigen Dörfern um 30 bis 55 Prozent, die des Rindviehs um 50 bis 77 Prozent vermindert. Das Rote Kreuz hat seitdem im Bezirk mehrere Niederlagen errichtet, in denen Heu zu stark ermäfsigten Preisen verkauft wird. Der Zudrang war bei Errichtung dieser Verkaufsstellen ein ungeheurer; der Bauer verkauft alles irgend Entbehrliche , ja in letzter Linie seinen Rock, um das Pferd am Leben zu erhalten, ohne welches er sein Feld im Frühjahr nicht bestellen kann. Wenn die Zahl der Käufer seitdem vielfach abnahm, so bedeutet dies, dafs die Kaufkraft der Bevölkerung herabsank. Auch sind die Pferde der Bauern vielfach zu entkräftet, um die langen Wege zur Station, wo das Heu lagert, zu unternehmen. Besteht doch ihr Futter seit Wochen hauptsächlich in dem Material der allmählich abgedeckten Strohdächer der Häuser und Ställe. — 393 — Ähnliches gilt auch vom Brennholz, welches von der Ge- sellschaft des Roten Kreuzes ebenfalls in Massen eingeführt und zu ermäfsigtem Preis verkauft wird. Der Mangel an Brennmaterial wurde von meinem Berichterstatter als ebenso schwerwiegend, wie der Mangel an Nahrung angesehen — eine eigentümliche Erscheinung, wenn man bedenkt, dafs unter den Häusern der frierenden Bauern in einer Tiefe von 30 bis 40 Ellen ein starkes Flötz von Lignitkohle sich hin- zieht, welche für Haushaltszwecke wohl geeignet ist. Während das Pud der geringeren Sorte Kohle an Ort und Stelle nur 2 bis 2^2 Kop. (4 bis 5 Pfg.) kostet, während eine englische Gesellschaft jährlich 12 Millionen Pud dieser Kohle aus dem Bezirk ausführt, ist die Feuerung der Bauern in alter Weise das Stroh ihrer Felder. Kohle können sie nicht brennen, weil sie nicht das Geld haben, einen für Kohle geeigneten Ofen zu kaufen, obwohl letzterer für wenige Rubel zu haben wäre ; den alten, nur für Stroh oder Holz geeigneten russischen Bauernofen, der zugleich den Haupteinrichtungsgegenstand ihrer Wohnung bildet und das Bett ersetzt, errichten sie da- gegen beim Bau ihrer Häuser selbst. Wenn die Ernte schlecht ist und Stroh oder Dünger ausbleibt, so sind die Dächer der Ställe und Häuser das einzige Brennmaterial, bis auch dieses ausgeht und mit dem Hunger zugleich die Kälte in die Bauernstube einzieht. Fahrten durch den Bezirk erwiesen mir, dafs mein Berichterstatter keineswegs übertrieben hatte. In dem be- deutenden Kirchdorf L. zeugte die grofse, mit massiver Kuppel überdeckte Kirche von früherem Reichtum. Der Priester er- zählte, dafs sie vor 30 Jahren, d. h. unmittelbar nach Auf- hebung der Leibeigenschaft, von den Bauern ohne einen Kopeken fremder Hilfe und ohne Schulden erbaut sei. In unübersehbaren Reihen ziehen sich auf beiden Seiten der Kirche die Bauernhäuser hin, welche gegen 7000 Einwohner beherbergen. Was dem Westeuropäer an ihnen zunächst auf- fällt, ist die Gleichheit des äufseren Aussehens und Umfangs, M^elche einen Unterschied zwischen Reich und Arm noch kaum erkennen läfst. Ein Besuch zahlreicher Bauernhäuser zeigte — 394 — auch in ihrem Innern ein ziemlich gleiches Mafs des Not- stands. Ich bat z. B., mir einen „reichen" Bauern zu zeigen. Dieser Mann, welcher seinen Anteil am Gemeindeland selbst bearbeitet, vielleicht einen andern dazu gepachtet hat, daher der Gemeinde als zahlungsfähig gilt, lebt von den ihm ge- Avährten Darlehen an Roggenkorn, durchschnittlich 20 Pfund pro Person monatlich. Andere Nahrung ist nicht vorhanden. Das Vieh ist in die Stube genommen, wohl um die Wärme zu erhöhen. Denn mit jedem Holzscheit, jedem Strohhalm mufs gespart werden. In einem benachbarten Dorfe, das ich besuchte, erklärte der Priester, dafs er seine Stelle als Pfleger des Roten Kreuzes am liebsten niederlegen würde; so unauskömmlich seien die Mittel der Hilfe. Täglich kämen Frauen zu ihm, welche Brot für die hungernden Kinder erbäten, ohne dafs er helfen könne. Nicht nur Frauen, auch Männer habe er weinen gesehen. Während dieses Gesi^rächs versammelten sich vor dem Priester- haus, welches sich kaum von den Bauerngehöften untei'schied, die Bauern und Bäuerinnen. Jedoch wurden wir weder hier noch an anderen Orten während unserer Fahrt durch Bettel belästigt. Auch bei dieser Gelegenheit machte sich die Eigen- tümlichkeit des russischen Bauern geltend, als Gesamtheit auf- zutreten. Es erschien eine Abordnung der Gemeinde, an der Spitze ihr Altester, welcher meinem Begleiter die Unmöglich- keit darlegte, das Heu selbst zu dem ermäfsigten Preise des Roten Kreuzes zu kaufen. Angesichts des sich stetig mindern- den Viehbestandes der Gemeinde werde um darlehnsweise Überlassung des Heues gebeten, weil widrigenfalls die Be- stellung der Felder im Frühjahr unmöglich sei. Es erschien eine Abordnung der Mütter des Dorfes, welche um Ge- währung von Graupe zur Ernährung ihrer Kinder unter drei Jahren baten — angesichts der Unmöglichkeit, Kinder so zarten Alters mit Roggenbrot zu nähren, dem einzigen Nahrungsmittel, das selbst den Wohlhabenden zur Verfügung stehe. Wir besuchten ein benachbartes Dorf. Hier trat uns — 395 — eine neue Seite des Notstands entgegen, Wie schon gesagt, sind die Bauern zur Einschränkung des Viehbestandes ge- zwungen. Aber Käufer sind nicht vorhanden, denn der Bezirk ist ein rein ländlicher, und der Jude, welcher in den westlichen Teilen des Reichs immer noch etwas gäbe, ist aus den mittleren Gouvernements ausgeschlossen. Es ist erstaun- lich, wie tief die Viehpreise herabgesunken sind; man ver- sicherte mir, dafs man Pferde zu 3 Rubel, Schafe für wenige Kopeken verkauft habe. In einem andern Teil des Bezirks war der Notstand noch schärfer. Man hätte sich in die Zeit versetzt glauben können, da die tatarischen Horden die Dörfer des russischen Bauern zerstörten. Weithin war die Mehrzahl der Dächer des Strohes beraubt und nur die leeren Dachbalken übrig geblieben; viel- fach waren auch diese verschwunden und der Schnee lastete unmittelbar auf der Decke der Stube. Häufig war aber auch diese Bretterdecke den Weg in den Ofen gewandert, und von dem Hause, das die Einwohner verlassen hatten, nichts als die Ringmauern übrig geblieben. Wir betraten mehrere der noch bewohnten Häuser. Der schmelzende Schnee tropfte durch die Ritzen der Decke und verwandelte das Erdreich des Bodens in einen Sumpf. Um und auf dem Ofen drängten sich zahlreiche Bewohner, Menschen wie die spärlichen Reste der Haustiere. Die Familien waren vielfach zusammen- gezogen und die, welche vom Roten Kreuz Holz erhielten, waren viel begehrte Gäste. Da häutig die Schornsteine fehlten , war das ganze Innere der Hütten vom Rauch ge- schwärzt und die Atmosphäre von Ausdünstung und Rufs geschwängert. Glücklich jedoch die, die sich noch irgend- welcher Heizung erfreuten ; in andern Häusern wehte uns feuchtkalte Luft entgegen. Hier hatte sich der Bauer viel- fach in den Ofen verkrochen; denn wenn bereits die Hütte erkaltet war, mochte das letzte verglühte Fünkchen noch in dem Ofen nachwirken. Vielfach schien besonders bei den Alten gänzliche Stumpfheit eingetreten; wenigstens wurden auf Fragen, selbst auf kräftiges Anstofsen, Antworten öfters versagt. — 396 — Wir verliefsen diese besonders heimgesuchte Gegend. Pfeilschnell flog der Schlitten über die unerinefslichen Ebenen des Schnees. Keine Erdwelle, kein Baum hemmte den Blick, den nur der Horizont begrenzte. Unter dem Schnee ruhte die Schwarzerde, welche an den Flufsufern zum Vorschein kam; tiefer unter uns aber schlummerte, noch unerweckt, die Kohle, und dabei darbten und froren die Bewohner, gleich dem Könige Midas der Fabel, der bei allem Golde ver- hungert. Sollte das Zauberwort, das diesen Bann zu lösen im- stande ist, nicht auch hier „moderne Technik" lauten, ins- besondere Anwendung von Maschinen auf den Grund und Boden, welcher ihnen hier weniger Hindernisse als sonst irgendwo entgegensetzt? Freilich aber dürften hier wie überall als Voi'bedingung zur modernen Wirtschaftsweise gewisse psychologische Bedingungen unentbehrlich sein, welche gegen- wärtig der russische Bauer nur in einzelnen Exemplaren be- sitzt. Auch im Westen Europas hat das genossenschaftlich gebundene Individuum sich den Ansprüchen vermehrter und verbesserter Güterproduktion gegenüber als unfähig erwiesen. Man denke an den älteren deutschen Flurzwang, welcher mit einem verbesserten Wirtschaftssystem unvereinbar war; man denke an die produktivgenossenschaftlichen Vereinigungen, welche früher allenthalben das Gewerbe, sowie den Bergbau beherrschten. Ihnen gegenüber erwies sich der „König Dampf" als ungefügiger Diener, Erst der energische Wille eines Einzelnen konnte ihn zum Gehorsam zwingen. Sollte im vor- liegenden Fall die moderne Technik durch Gemeindeorgani- sation zu erreichen sein? Ich konnte nicht umhin, meinem Begleiter diesen Zweifel auszusprechen. Er teilte meine Ansicht vollkommen; er hatte lange auf dem Lande und unter den Bauern gelebt. Anders meine Freunde in Moskau; gerade die, welche sich liberal nannten , pflegten meine Ideen als rückschrittlich zu beurteilen; als Schüler des westeuropäischen Socialismus glaubten sie in der „socialistischen" Ländgemeinde den wert- vollen Keim zu besitzen , aus welchem sich der socialistische Gesellschaftszustand geradewegs herausentwickeln könne. Ihnen — 397 — gegenüber konnte ich nur darauf verweisen , dafs zur Zeit wenigstens in dem ganzen von mir besuchten Bezirk die Tagelöhner des individualistisch gesinnten Karl Karlitsch die einzigen waren, welche nicht hungerten ; neben freier Wohnung und Beheizung — und zwar in Gestalt von Kohlen — zahlte er ihnen 80 bis 100 Rubel das Jahr Gleldlohn. Weiter flog der Schlitten vorüber an halb zerstörten Dörfern, an verlassenen Edelsitzen, deren Eigentümer wahr- scheinlich als Beamte irgendwo ihren Unterhalt verdienten. Wir näherten uns einer Gegend, welche, wie mein Begleiter berichtete, aufser von Hunger und Kälte auch vom Typhus heimgesucht sei. Ein Zeichen des verschärften Notstandes sei darin zu sehen, dafs voriges Jahr der Typhus erst im Februar, dies Jahr schon vor Weihnachten aufgetreten sei. Angesichts des gänzlichen Mangels an einer für Typhuskranke geeigneten Nahrung, ferner des Umstandes, dafs die Bevölkerung sich immer mehr in den Wohnungen zusammendränge, dehne sich das Gebiet der Krankheit fortwährend aus. Bereits Januar 1893 wurde die Zahl der Typhuskranken im Bezirk auf 1500—2000 angegeben. Wir besuchten in dem folgenden Dorfe eine grofse Anzahl Häuser der Reihe nach ohne Aus- wahl. In vielen fanden wir Kranke, und die abgezehrten Züge, die uns von den Ofen herab entgegen gähnten, liefsen über die Natur der Krankheit keinen Zweifel. Nach dem, was ich sah , schien mir der von meinem Begleiter erzählte Fall glaublich, dafs von Kranken, die sich in einen Ofen ver- krochen hätten, der eine gestorben sei, die andern aber nicht die Kraft gehabt hätten , die Leiche herauszuziehen ; sie sei längere Zeit neben den Kranken gelegen, bis Nachbarn zu- fällig den Sachbestand feststellten. Auch hier hat das Rote Kreuz helfend eingegriffen und Typhuskrankenhäuser errichtet — im März waren es fünf mit ungefähr zusammen 200 Betten. Zugleich hat der Central- Ausschufs zehn Pflegeschwestern geschickt. Wir besuchten eines dieser Krankenhäuser; von zwei benachbarten Bauernhäusern war das eine zur Lagerstätte von Frauen, das andere von Männern eingerichtet. Die herumführende Schwester erzählte — 398 — uns, dafs man nur einige 20 Kranke aufnehmen könne, während im Dorfe an 200 krank seien. Sie wähle daher die ärmsten und schlechtest verpflegten zur Aufnahme aus. Diese Auswahl sei freilich erschwert, da die zweite Pflegeschwester ein Opfer der Ansteckung geworden sei ; sie selbst aber könne die Kranken nicht verlassen. Welche Aufgabe dieser einen aufopfernden Frau inmitten einer unwissenden Bevölkerung gestellt war, mag man daraus ermessen, dafs nach ihrer An- gabe der Arzt etwa einmal monatlich erschien. Einige Tage darauf hatte ich Gelegenheit, diesen viel in Anspruch genommenen , trefflichen Mann in der Bezirksstadt kennen zu lernen. Er gab mir eine Reihe interessanter Daten. Im Jahre 1891 übertraf in dem Bezirk mit 170 000 Ein- wohnern die Zahl der Geburten die der Todesfälle um 860, im Jahre 1892 die Zahl der Todesfälle die der Geburten um 1027. Geburten Todesfälle 1887 » 9125 6177 1888 \ Gute Ernte 9455 5752 1889 1 8975 7644 1 Mittelernte 8769 9763 8118 8903 1892 Mifsernte 8708 9785 Ein besonderes Anzeichen für die Gründe, welche auf die Sterbeziffer einwirken, ist der Umstand, dafs dieselbe in den Monaten aufserordentlich herabsank, in denen der Bauer von den Erträgen der letzten Ernte lebte. In dem Dorfe K., mit 4000 Einwohnern , welches als verhältnismäfsig günstiges Beispiel gelten kann, da es von der Typhusepidemie 1892 verschont blieb, war die Sterblichkeit folgende vor und nach der Ernte: Jan. F. M. A. M. J. Jul. A. S. 0. N. D. 1891 13 9 3 8 11 19 33 27 11 22 9 17 1892 29 30 41 35 45 59 48 ■26 9 19 18 36 Das Bild , welches diese Zahlen gewähren , wird um so düsterer, wenn man bedenkt, dafs in ihnen die Wirkungen der zweiten Mifsernte sich nur unvollkommen spiegeln. Vielmehr — 399 — ist der Sommer des folgenden Jahres, bis das neue Ernte- korn da iist, die besonders kritische Zeit. Ich habe die arbeitsuchenden Massen an den Thoren der Londoner Docks sich drängen sehen und riesige Strikes un- gelernter Arbeiter in England in der Nähe erlebt. Das Elend der schlesischen Hausweber, in deren Thälern ich aufwuchs, hat mir als Kind bereits die socialen Disharmonien West- europas zu Bewufstsein gebracht. Überall thut der Hunger gleich weh, ob er im Londoner Ostend, am Fufse des Riesen- gebirges oder in den Ebenen Rufslands ertragen wird. Aber was ich in letzteren gesehen, trug einen eigentümlichen Zug. In den Londoner Docks schwimmen die Schätze einer Welt, und wenn man aus den Hütten jener Hausweber emporsteigt, so blicken aus dem Nachbarthale Schornsteine herüber, und der Abstieg führt an den Villen und eisengitterumgebenen Parks der Fabrikanten vorbei. In Rufsland sah ich die „Be- sitzer" selbst hungern, sie, denen niemand einen „Mehrwert" entzieht, und welche noch dazu durch Verkaufs- und Hypo- thezierungs-Beschränkungen geschützt sind. Das Trostlose ihrer Lage aber war die Gleichmäfsigkeit des Elends, die Abwesen- heit von Nichtnotleidenden. Handgreiflich kam mir hier zu Bewufstsein die Unterordnung der socialen unter die wirt- schaftlichen Gesichtspunkte und der Irrtum vieler Social- reformer, ausschliefslich in der mangelhaften Verteilung des Volkseinkommens die Gründe des Massenelends zu suchen. Würde doch hier eine verbesserte Verteilung der Güter nichts, sondern könnte allein eine vermehrte und verbesserte Er- zeugung helfen! Jener Ausflug in die russischen Notstandsgegenden bot mir vielmehr zahlreiche Belege für den Satz , dafs in ur- sprünglichen Verhältnissen zurückgebliebene Produktions- weisen und damit die Abhängigkeit von der Naturgewalt periodisches Massenelend bedingen; erst die Differenzierung der Gesellschaft — also, wenn man will, die Ausbildung des Gegensatzes zwischen arm und reich — bedeutet vermehrte Produktion und damit den ersten Schritt zur möglichen Ab- stellung jener Übelstände. — 400 — Obige Schilderung habe ich im wesentlichen unverändert nach meinem Bericht in der Münchener Allgemeinen Zeitung abgedruckt, um den Eindruck des Augenscheins nicht zu ver- wischen. Ich schildere damit eine periodische Erscheinung, welche sich erst Winter 1898/99 wiederholt hat. Nach den Petersburger Nachrichten des Fürsten Uchtomski „schliefst das Gebiet, das in Mitleidenschaft gezogen ist, mehrere grofse Provinzen in sich und erstreckt sich von den Höhen des Ural im Osten bis nahe an Moskau im Westen, während es von Nord nach Süd auf beinahe 10 Grade sich ausdehnt. Es sind fast durchwegs dieselben Provinzen, die schon durch die Hungersnot der Jahre 1891 und 1892 betroffen waren." Es sind, so können wir hinzusetzen, die naturalwirtschaft- lichsten, dem Gemeindebesitz tiefst ergebenen, kontinentalsten Landstriche des östlichen und südöstlichen Rufsland. Menschlich tief beklagenswert, sind diese periodischen Notstände immerhin volkswirtschaftlich nicht zu überschätzen, da es sich um eine allgemein asiatische Erscheinung handelt, deren auch die er- leuchtete britische Regierung in Indien nicht immer Herr wird. III. Reisebrief aus dem Gouvernement Charkoff. Sommer 1895. A. Gemeindebesitz, Landumteilungen. Das Gouvernement Charkoff, von Norden nach Süden durchschnitten durch die wichtige Eisenbahnlinie Moskau- Krim, zerfällt in zwei Teile. Der nördliche Teil gehört der mittelrussischen Schwarzerde an , ähnlich dem angrenzenden Gouvernement Kursk; der südliche Teil ist schwarzerdige Steppe. Der nördliche Teil weist alte Siedelung auf, der südliche Teil war bis zu Katharina II. das Wandergebiet asiatischer Nomaden; der nördliche Teil besitzt kleinrussische Bevölkerung, wärend im Süden den Kleinrussen zahlreiche grofsrussische Staatsbauern, zum Teil alte Militäransiedler, sowie deutsche Kolonisten untermischt sind. Beide Gebiete sind fast ausschliefslich mit Getreide bestellt; die letzten Reste jungfräulicher Steppe sind heute nahezu verschwunden; aber noch erinnert die Baumlosigkeit des Südens an die einstige Steppe, — 401 — während im Norden vereinzelte Eichenwaldungen den eintönigen Charakter der unabsehbaren Getreidefelder durchbrechen. Die erste und wichtigste Frage gegenüber jeder russischen Bauerngemeinde betrifft die Form des Landbesitzes. Bei der Bauernbefreiung haben die Gemeinden das Land in Gesamt- eigentum, sowie die Entscheidung darüber erhalten, nach welchem Mafsstabe und in welchen Zwischenräumen Land- verteilungen vorgenommen werden sollen. Dieser weitgehen- den Befugnis der Gemeinde entspricht ein aufserordentlicher Formenreichtum der wirtschaftlichen Erscheinungen im ein- zelnen. Wie verschieden sich die Verhältnisse des Landbesitzes in der bereisten Gegend gestalten, dafür folgende Beispiele. Die Gemeinde K., Gutsbauern im nördlichen Teile des Gouvernements, hat seit der Befreiung der Bauern (1861) den Mafsstab der Landverteilung nicht verändert. Jede lebende männliche Seele, wie sie durch die Volkszählung 1858 festgestellt worden war, sog. „Revisionsseele", hatte damals ein gleiches Ackerlos (nadjel) von etwa drei Defsjätinen er- halten ; diese Ackerlose sind seitdem an Zahl und Gröfse die gleichen geblieben und erbrechtlich als Privateigentum der mit ihnen ausgestatteten Seelen behandelt worden. Die Be- sitzer haben auch mehrfach unter Lebenden ihre Ackerlose an Gemeindegenossen veräufsert, wobei die Erwerber für die auf dem Nadjel ruhenden Lasten haftbar wurden. In der Gemeindeversammlung sind nur die Revisionsseelen oder die, welche sie durch Kauf oder Erbgang vertreten , d. h. nur die Besitzer von Landanteilen, stimmberechtigt, wie auch nur auf sie die Steuern umgelegt werden. Diejenigen, welche ohne Land befreit wurden, die sog. „Hofleute", welche zur Zeit der Befreiung persönliche Dienste auf dem Herrenhofe verrichteten, ferner Nachgeborene, welche bei der letzten Um- teilung noch nicht vorhanden waren, endlich von aufsen zu- gezogene Leute — alle diese Landlosen sind der Gemeinde gegenüber rechtlos. Jedoch hören wir von den Bauern, dafs eine starke Minderheit in der Gemeindeversammlung — Wirte mit zahlreichen Söhnen oder Brüdern — eine neue Land- umteilung auf sämtliche lebende Seelen nach gleichem Mafsstabe V. Schulze-Gaevernitz, StuUion a. Rufsl. 26 — 402 — verlangt; voraussichtlich werden bei Gelegenheit der nächsten Volkszählung diese Wünsche zur Sprache gelangen. Stets also schwebt über dem Bauern das Damoklesschwert einer gänzlichen Revolution aller Besitzverhältnisse, aber auch abgesehen davon ist das Recht der Nadjelbesitzer noch weit entfernt von freiem Privateigentum : alljährlich finden in der Gemeinde Landverlosungen statt , welche die dem einzelnen Nadjel zukommenden Felder bestimmen: mit andern Worten, der Nadjel ist nur ein ideelles Anteilrecht am Gemeindelande, keineswegs örtlich festgelegt. Alljährlich wird zwischen den Nadjelberechtigten ^ia der Flur neu verlost; der Bauer bestellt alsdann das ihm zugeloste Feld zunächst mit Winterkorn, das zweite Jahr mit Sommerkorn ; das dritte Jahr fällt das Land in die allgemeine Brache, welche vom Gemeindevieh beweidet wird. So bebaut der Bauer das Feld voraussichtlicli nicht länger als zwei Jahre. Die Bauern wissen sehr wohl, dafs infolge hiervon Niemand besondere Sorgfalt aufwenden wird, welche erst bei späteren Ernten sich lohnte: er arbeitete ja nicht für sich, sondern für einen Fremden. Insbesondere ist bei dieser Ordnung des Landbesitzes Düngung so gut wie ausgeschlossen. Auf unsere Frage, weshalb angesichts dieses Mifsstandes die Nadjele nicht dauernd festgelegt würden, antworten die Bauern : jeder Nadjel zahle gleiche Steuern, und bei der Verschiedenheit des Bodens sei es nur durch jährliche Neuverlosung möglich, die einzelnen Nadjele gleich zu belasten. Es ist dies ein Beweis dafür, wie sehr gegenüber dem Besitzrecht die damit verbundene Steuer- pflicht in das Gewicht fällt. Übrigens haben einige wohlhabende Wirte letzthin eine Anzahl von Nadjelen der Herrschaft der Gemeinde entzogen, indem sie das volle Ablösungskapital bar bezahlten ; das freigekaufte Ackerland wurde ihnen in zusammenhängenden Stücken aus der Gemeindeflur und Gemenglage ausgeschnitten; sie sind Privateigentümer geworden und der Solidarhaft für Steuern wie dem Flurzwang entzogen. Bezeichnenderweise aber haben diese Bauern, welche Nadjele auskauften, alle mindestens einen Nadjel in dem Gemeindelande beibehalten. — 403 — um das Recht auf die gemeinsame Brachweide nicht zu ver- lieren. Es zeigt dies, dafs sie die Solidarhaft nicht allzusehr fürchten; in der That weist die Gemeinde K. nur wenige gänzlich verfallene Wirtschaften auf, welche sich in dauernder Unfähigkeit der Steuerzahlung befänden. Die Differenzierung zwischen Reich und Arm ist keine allzustarke; Dereliktion von Nadjelen durch „Wirtschaftslose" ist bisher nicht vor- gekommen. Ahnliche Verhältnisse des Besitzrechts trafen wir bei mehreren Gutsbauerngemeinden des südlichen Bezirkes des Charkoifer Gouvernements; die Nadjele blieben unverändert an Zahl und Gröfse seit der Befreiung; aber dabei findet jährliche Umlosung der Felder statt, hier nicht nur der zum Winterkorn, sondern auch der zum Sommerkorn bestimmten. Zwei Drittel der genannten Gemeindeflur wird also alljährlich neu verlost. Der Grund ist der nämliche: Ausgleichung der verschiedenen Boden qualitäten gegenüber den Steuern. Der Landbesitz wird ebenso sehr als Pflicht wie als Recht an- gesehen. Aber im Süden ist die Difi'erenzierung zwischen arm und reich weiter fortgeschritten als im Norden; für die ärmeren Bauern überwiegt die Pflicht das Recht so sehr, dafs sie nicht selten ihren Nadjel aufgeben und Haus und Hof fluchtweise verlassen. Von grofser Bedeutung ist in dieser Richtung die Mög- lichkeit steter Massenauswanderung ; gegenwärtig ziehen viele Tausende von Bauern, ja ganze Gemeinden in das Jenisseische Gouvernement und das Amurgebiet. In dem Dorfe B. haben z. B. von 33 Höfen sich alle bis auf die drei wohlhabendsten Bauern zur Auswanderung eingeschrieben, in dem benach- barten Cliutor G. mehr als die Hälfte. Die wohlhabenden Bauern weigern sich, die mit Steuern belasteten und aus- gesogenen Nadjele der Auswanderer zu übernehmen. Sie dehnen sich lieber teils durch Kauf, teils durch Pachtung auf dem Gutslande aus, woselbst sie von den mit dem Gemeinde- besitze verbundenen Eigentumsbeschränkungen und Ablösungs- lasten frei sind. Besonders merkwürdig war in dieser Hinsicht der Besuch 26* — 404 — eines dritten benachbarten Dorfes W., ebenfalls Gutsbauern im Steppenbezirk des Charkoffer Gouvernements. Diese Gemeinde entstand im Anfang der achtziger Jahre da- durch, dafs aus R ein Teil der Höfe aussiedelte und mit Hilfe der Bauernbank benachbartes Gutsland kaufte (die Defsjätine zu 65 Rubel), auf welchem sie sich in der Form des Gemeindebesitzes mit Solidarhaft gegenüber der Bank niederliefsen. Der Nadjel beträgt bei ihnen pro Hof 8 Defs- jätinen, bedeutend mehr wie in der in dem Heimatsdorf (dort 3V2 Defsjätinen) ; jeder Nadjel zahlt jährlich an die Bank 35 Rubel zur Verzinsung und Amortisation des Darlehns, da- neben die Staats-, Provinzial- und Gemeindesteuern. Auch von diesen Bauern hat sich ein beträchtlicher Teil zur Aus- wanderung gemeldet, indem sie das Land, für welches sie Jahre hindurch bereits Amortisationsraten bezahlt haben, so- wie Hof und Haus aufgeben. Das Land fällt der Bank zurück. Die Regierung, welche anfänglich die Auswanderung förderte, zwecks Siedlung längs der Sibirischen Bahn, scheint gegenwärtig zurückzuhalten, in der Besorgnis, dafs die Be- wegung ihr über den Kopf wachse. Bezeichnend war folgendes Gespräch. Mein Begleiter, ein örtlicher Gutsbesitzer, machte einen der Bauern darauf auf- merksam, dafs die Regierung in Sibirien zwar Land, aber kein Vieh, kein Ackergerät und keine Häuser verteile, und dafs viele der Ansiedler wohl durch Hunger und Kälte in den ersten Jahren umkommen würden. Die Antwort hierauf war ein fatalistisches: „Gott ist alles, einige werden übrig bleiben". In der That eine Massenbewegung, in welcher der einzelne ein Nichts bedeutet. Jedenfalls ist dieses bei den Gutsbauern in dem bereisten südlichen Bezirke angetroffene Auswanderungs- fieber ein Zeichen weitgehender Proletarisierung; es ist ein Beweis dafür, dafs das „Recht am Lande", welches der Ge- meindebesitz jedem gewähren soll, durch „die Pflicht zum Lande" überwogen wird. Wesentlich anders liegen die Verhältnisse bei den Staats- bauern, von denen ich ebenfalls Dörfer sowohl in dem nörd- lichen wie in dem Steppenbezirke des Gouvernements besuchte. — 405 — Die Staatsbauern haben bei der Befreiung im allgemeinen be- deutend mehr Land erhalten als die Gutsbauern; letztere mufsten das von ihnen bebaute Land mit den ehemaligen Herren teilen , erstere safsen auf den ausgedehnten Staats- ländereien von vornherein breiter. Da bei den Staatsbauern das Recht am Lande die darauf liegenden Pflichten meist überwiegt, so finden wir bei ihnen vielfach mehr Neigung zur Entwicklung von Privateigentum als bei den Gutsbauern, jedoch in sehr verschiedener Weise. In dem nördlichen Bezirke besuchte ich die Gemeinde Derkatsch, welche in mehrere zerstreute Ansiedlungen zerfällt, von denen jede ihre besondere Flur besitzt. Wir besuchten eine dieser Ansiedlungen; sie besteht aus 14 Höfen; alle Bauern tragen denselben Familiennamen und betrachten sich als Verwandte — ein Beispiel dafür, wie sich aus der Familie oft unmittelbar die Gemeinde entwickelt. Sie besitzen ihr Land zwar rechtlich im Gesamtbesitz, jedoch ist thatsächlich nahezu Privateigentum vorhanden. Seit der Befreiung sind die Nadjele nicht nur an Zahl und Gröfse die gleichen ge- blieben; sie sind sogar, anders als bei den Gutsbauern, aus ideellen Anteilen zu festen Besitzrechten an bestimmten Stücken der Flur geworden. Jahraus, jahrein bebaut der Bauer das- selbe Feld; bezeichnend genug, wenn auch noch vereinzelt, finden sich die Anfänge der Düngung. Die Steuern sind hier verhältnismäfsig weniger drückend, so dafs der Gesichtspunkt der Ausgleichung zurücktritt und der Wunsch überwiegt, das einmal bebaute und verbesserte Feld festzuhalten. Aber noch ist das Besitzrecht unsicher; ein Gemeindebeschlufs , und es erfolgt Umteilung, die dem tüchtigen Wirte die Früchte des dem Felde geschenkten Fleifses entzieht. Angesichts der Volks- zählung regen sich bereits Stimmen, welche Neuverteilung nach lebenden Seelen wünschen. Wir fragen, weswegen die zeitigen Besitzer nicht, um dieser Gefahr zu entgehen, durch Gemeindebeschlufs das Gesamteigentum beseitigen und den Nadjel zu freiem Privateigentum machen. Dieser Frage wird die Rücksicht auf die Brachweide entgegengehalten ; der wohlhabende Bauer wünsche mehr Vieh aufzutreiben als der — 406 — ärmere; ja er kaufe, um die Gemeindoweide auszunutzen, wohl noch Vieh vorübergehend an ; wenn das Land endgültig auf- geteilt sei, so fürchte er, der ärmere Wirt werde diese un- gleiche Ausnutzung der Brachweide bestreiten oder gar das ihm zugeteilte Land mit einem Zaune umgeben. Dieses Be- denken sei jedoch, so liören wir weiter, in der Nachbar- gemeinde überwunden worden. Hier, ebenfalls bei klein- russischen Staatsbauern, habe man durch Gemeindebeschlufs den Nadjel dem zeitigen Besitzer zu ewigem Eigentum zu- gesprochen , während die Brachweide als gemeinsames Recht aller Dorfgenossen beibehalten worden sei; die Gefahr der Neuverteilung bei Gelegenheit der Volkszählung sei damit ausgeschlossen worden. In der That liegt hierin der einzig mögliche Weg, so lange überhaupt Brachweide besteht, Privat- eigentum am Ackerfelde zu ermöglichen. Dieser Weg wird jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen beschritten, so lange seine Beschreitung der Autonomie der Gemeinde über- lassen ist. Eine völlig andere Entwicklung weist eine von mir be- suchte Gemeinde von Staatsbauern im Steppenbezirke auf, Losowenka, eine grofsrussische Militäransiedlung. Das Dorf ist eine jener umfangreichen Niederlassungen, wie sie viel- fach den Staatsbauern Südrufslands eigen sind ; im Taurischen finden sich Dörfer mit 15 000 und mehr Einwohnern bei Gesamteigentum an der Flur. Losowenka hat etwa 450 Höfe und 1500 Einwohner. In langen Reihen liegen die Höfe an breiten Strafsen, die Wohnhäuser mit der Schmalseite nach der Strafse, getrennt durch den Hof vom Nachbarhause — die slavische Reihenansiedlung. In der Nähe der Kirche bemerken wir eine Anzahl von Kaufläden, welche darauf schliefsen lassen, dafs eine Bresche in die Naturalwirtschaft gebrochen ist. Die Kirche selbst, welche erst neuerdings von den Bauern erbaut und mit reich vergoldeten Ikonostas, sowie zahlreichen Heiligenbildern, Erzeugnissen benachbarter Hausindustrie, ge- schmückt wurde, deutet auf eine gewisse Wohlhabenheit. Auf unsere Fragen ergab sich in Losowenka eine Ordnung der Besitz Verhältnisse, scheinbar völlig entgegengesetzt der — 407 — soeben geschilderten bei den Staatsbauern im nördlichen Be- zirk. Bei der Befreiung war der Nadjel grofs, 12 Defsjätinen pro Revisionsseele, aber die Nadjele sind nicht dieselben ge- blieben, weder an Zahl noch an Gröfse. Vielmehr haben die Bauern wiederholt das Land zusammengeworfen und auf alle lebenden männlichen Seelen neu verteilt, womit die Zahl der vorhandenen Nadjele beträchtlich stieg und ihr Umfang sich verminderte. Von 12 Defsjätinen ist so der Nadjel auf 2^4 Defsjätinen herabgesunken, und für das kommende Jahr spricht man von einer neuen Umteilung. Aufserdem ist auch hier der Nadjel nur eine ideelle Quote des Gemeindelandes. Alljährlich werden die zur Winterbestellung kommenden Felder unter die Nadjelinhaber neu verlost, so dafs jedem dasselbe Feld nur zwei Jahre lang zufällt — also gröfste Flüssigkeit des Besitzrechtes an Grund und Boden. Diese Sachlage mag zum Teil mit der grofsrussischen Nationalität von Losowenka zusammenhängen. Aber gewifs nur zum Teil. Die Slavophilen und ihre Nachfolger meinen, dafs ein besonderer Gerechtigkeitssinn das grofsrussische Volk Landumteilungen geneigt mache. Für den vorliegenden Fall wenigstens pafst diese Theorie nicht: weit mehr fand ich die Gleichheit erhalten bei jenen oben beschriebenen Staats- bauern, welche überhaupt nicht mehr umteilen; viel weiter war die Differenzierung zwischen Arm und Reich fort- geschritten bei den häutig neu umteilenden Bauern von Loso- wenka. Schon der äufsere Anblick einzelner, von riesigen Strohschobern umgebenen Höfe zeigte , dafs diese Höfe durch das Herabsinken des Nadjels auf 2^/4 Defsjätinen nicht geschädigt worden sind; dagegen tragen nicht wenige Hütten in den entfernteren Strafsen augenscheinlich den Stempel der „Viehlosigkeit" ; ihre Besitzer verdienen den Namen „Bauer" nur mehr in rechtlicher, nicht mehr in thatsächlicher Be- ziehung. Weshalb also diese häufigen Umteilungen? Die Bauern sagen es uns. Den Reichen schaden sie nicht; ihnen ist ein grofser Teil der Gemeinde so sehr verschuldet, dafs sie sich frei unter den Ackerlosen der Armen das ihnen passende — 408 — Land auswählen; ja die Umteilungen sind ihnen günstig, da sie die mittleren Wirte herabdrücken und das Entstehen fester Besitzrechte am Lande verhindern. Thatsächlich häufen sich die Nadjele in den Händen einiger weniger Wirtschaften. Die Wege hierzu sind verschieden. Viehlose Wirte sind nicht in der Lage, das Feld zu bestellen; sie sind damit schlechte Steuerzahler. Die Gemeinde aber hat das Recht, Steuer- rückständlern den Nadjel zu nehmen und solchen Wirten zu geben, welche Sicherheit für Zahlung der Steuern und Rück- stände bieten. Sie giebt also das Land den Reichen, welche zudem die Gemeindeversammlung beherrschen. Ein anderer Weg der Sammlung der Nadjele in wenigen Händen ist folgender: die ärmeren und mittleren Wirte müssen meist sofort nach der Ernte zwecks Steuerzahlung das Getreide verkaufen; im Winter oder Frühjahr zwingt sie die Not, Getreide zu kaufen oder vielmehr, da sie kein bar Geld be- sitzen, Naturaldarlehen in Getreide aufzunehmen. Die Be- zahlung dieser Naturaldarlehen erfolgt häufig in Land und Arbeit, dem einzigen, was diese Proletarier besitzen. Sie treten ihr Land dem Darlehngeber für das nächste Jahr oder für eine Reihe von Jahren zur Bebauung ab oder verpflichten sich zu Arbeitsleistungen, entweder während der Ernte oder von Frühjahr bis Herbst. So erlangt der Reiche Land und Arbeitskräfte auf gleichem Wege. Einige wenige halten also das Dorf in vollster Abhängig- keit; wenn sie über die Strafse gehen, verneigt sich der Mujik ebenso tief, wie einst vor dem Gutsherrn. In der Gemeinde- versammlung herrschen sie durch die Stimmen ihrer Schuldner. Der Gemeindebesitz, den gerade sie festhalten, dient der verschleierten Ausbildung einer neuen Arbeitsverfassung; die Verschwommenheit des Besitzrechts wird zum Mittel der Aus- wucherung der Schwächeren. Auch äufserlich unterscheiden sich diese Leute von dem bekannten Typus der russischen Bauern ; nicht mehr zeigen sie das sorgengefurchte Antlitz des vielduldenden Mujik, welches mit seinen tiefgegrabenen Zügen zum Malermodell wie geschaffen scheint; diese Mirojedi, „Gemeindeesser", wie sie — 409 — das Volk nennt, tragen selbstbewufste, vollere Züge, fast als fühlten sie sich als Träger der Zukunft und neben all dem Verfall als eine aufsteigende Klasse. Als wir Losowenka verliefsen, genossen wir bei Abend- himmel den Blick in die unendliche, melancholische Steppe. Am Horizont hob sich vor der untergehenden Sonne ein bezeichnendes, neuzeitiges Bild ab: der reichste Bauer und thatsächliche Herr von Losowenka bestellte mit Söhnen und Arbeitern das Feld seiner Schuldner. Drei gewaltige, drei- scharige Pflüge (Bukker), jeder bespannt mit drei Paar kräftiger Ochsen, hinter jedem Pflug eine Egge von einem Ochsengespann gezogen, im ganzen also 12 Gespanne, waren an der Arbeit; hinter ihnen schritt hochaufgerichtet, die Arbeiter beaufsichtigend, der Bauer, welcher 20 Paar Ochsen und mehrere Pferde sein eigen nennt; daneben säete einer der Söhne mit der Säemaschine. — Dieses Bild sprach gegen die so viel verbreitete Behauptung von dem allgemeinen Niedergang des russischen Bauern, freilich auch gegen die Lehre des Gemeindebesitzes als einer Gewähr der Gleichheit und Gerechtigkeit; es sprach gegen die Tolstoische Lehre von der dem russischen Bauern angeborenen Neigung zur Askese. Indem wir den technischen Fortschritt würdigten, den dieses Bild verkörperte, drängte sich uns die Frage auf; würde der- selbe Mann nicht sorgfältiger und mit mehr Liebe die Erde bearbeiten, wenn sie sein väterliches Eigen wäre und er hoffen könnte, sie einst den Seinigen unbestritten zu hinterlassen, mit anderen Worten, wenn die Besitzrechte fester wären? Die Zügel seiner Herrschaft über das Land können ihm heute leicht entgleiten ; deshalb ist er durch das herrschende Besitz- recht geradezu gezwungen , die Mehrzahl seiner Gemeinde- genossen wucherisch zu umstricken. B. Die landwirtschaftliche Betriebsgröfse. Wir sahen, dafs Nadjel und Bauernbetrieb keineswegs zusammenfallen, dafs jeder Gemeindegenosse nicht etwa das ihm von der Gemeinde zugeteilte Los und nur dieses bebaut. Vielmehr werden die Nadjele unter den Gemeindegenossen hin — 410 — und her veräufsert — allerdings unbeschadet des stärkeren Rechtes der Gemeinde: diese kann alle privatrechtlichen Ver- fügungen nach Belieben auswischen und jederzeit das Land wieder in eine gemeinsame Masse zusammenwerfen. Aber so- fort nach der Neuverteilung setzt abermals jene private Ver- fügungsthätigkeit ein, welche die Grenzen zwischen offiziellem und thatsächlich ausgeübtem Besitz verschiebt. Von freihändigen Verfügungen über den Nadjel ist zu- erst zu nennen die Dereliktion. Ihr gegenüber scheitert die Allmacht des Staates wie der Gemeinde. Soweit die zurückbleibenden Wirte die verlassenen Nadjele aufnehmen^ vergröfsern sich ihre ßesitzflächen, — jedoch fanden wir sie meist wenig geneigt, mit dem ausgesogenen Lande die Steuer- rückstände der Läuflinge zu übernehmen. Das frei gewordene Land fällt an die Gemeinde zurück und wird verpachtet, ge- legentlich an Landarme ausgethan oder einzelnen Gemeinde- gliedern aufgezwungen. Die entgeltliche Veräufserung des Nadjels ist alltäglich. Sie nähert sich äufserlich bald dem Verkauf, bald der Ver- pfändung mit Besitzübertragung, bald der Verpachtung. Sie ist ein wichtiges Mittel, um, dem Gemeindebesitz zum Trotz, gröfsere bäuerliche Betriebe aufzubauen. In den von mir besuchten Gemeinden fand ich derartige Besitzübertragungen in allgemeinster Übung. So lange die Steuern eingehen, sind der Gemeinde derartige Verfügungen gleichgültig. Bei, Steuer- rückständen nimmt die Gemeinde den Nadjel, gleichviel wer ihn bewirtschaftet, und teilt ihn einem fähigen Zahler zu. Dagegen fand ich Veräufserungen an Gemeindefremde selten und erschwert. Der Fremde mufs zuvor Mitglied der Gemeinde und damit in ihr steuerpflichtig werden. Die dritte Form der Veräufserung ist die durch Erbgang bezw. Familienteilung. In den besuchten Gemeinden zeigen die herrschenden Erbgewohnheiten wenig Verschiedenheit und beweisen auf das deutlichste, wie das Erbrecht aus der ge- schlossenen Familie hervorAvächst. Eigentlich führt die Fa- milie (Hauskoramunion) ein ewiges Dasein ; die Veränderungen ihres Personenbestandes berühren ihren äufseren Bestand nicht; — 411 — die sich loslösenden Glieder ziehen in die Ferne, wohin sie kein Land — und dies ist fast der einzige Besitz der Fa- milie — mitnehmen können. Sie gehen also leer aus. Das- selbe gilt von den hinausheiratenden Töchtern, welche viel- leicht mit beweglichem Gut, keinesfalls mit Land ausgestattet werden. Dagegen kann die Familie zu vollem Genossenschafts- recht Aufsenstehende aufnehmen — z. B. Schwiegersöhne, welche alsdann in die Familie hineinheiraten , ohne dafs die Frau das elterliche Haus verläfst. Das Erwachen individualistischer Stimmungen drängt zur Sprengung der Familien; die jüngeren Genossen wollen sich nicht mehr der Autorität des Ältesten beugen, um so weniger, als dieser oft genug seine Macht an den Frauen der Jüngeren mifsbraucht. Mehrfach fanden wir in den von uns besuchten Gemeinden noch derartige grofse Familien, z. B. bei den Gutsbauern im Norden einen Fall, in dem sieben Brüder mit Familien eine gemeinsame Wirtschaft führten. Einstimmig jedoch wurde uns versichert, dafs das Streben nach Teilung von Jahr zu Jahr zunehme. Bei solchen Teilungen gilt es als selbst- verständlich, dafs alle männlichen Genossen zu gleichen Teilen berücksichtigt werden , während die Frauen — nur vorüber- gehende Mitglieder der Genossenschaft — unberücksichtigt bleiben. Alles Erbrecht ist thatsächlich nichts als Familien teilung, und in den von uns besuchten Gemeinden wird zwischen beiden Fällen thatsächlich kein Unterschied empfunden. Auch im Erbfall teilen die Brüder zu gleichen Teilen; die Töchter erhalten kein Land; dagegen werden Dritte, welche in die Familie aufgenommen wurden, z. B. Schwiegersöhne, wie Familiengenossen behandelt. Umgekehrt werden Blutsver- wandte, welche der Familiengemeinschaft nicht mehr an- gehören, beim Erbgange nicht berücksichtigt. Zieht die Familie fort oder bleiben in ihr keine Genossen mehr übrig, so fällt das Land an die Gemeinde. Diese Ordnung ist dort in voller Anwendung, wo der Bauer auf freiem Privateigen- tum sitzt. Beispielsweise beherrscht sie den Erbgang solchen — 412 — Landes, das der Bauer aus dem Gutslande zu Eigentum ge- kauft hat. Anders auf dem Gemeindelande , wo das stärkere Recht der Gemeinde überwiegt. Wie das Interesse des Grundherrn früher die Zersplitterung des Grund und Bodens verhinderte, so wirkt die russische Gemeinde wegen der ihr auferlegten Solidarhaft für Steuern den Familienteilungen entgegen. Jede Teilung unterliegt der Genehmigung der Gemeindeversammlung; die Genehmigung wird überall da versagt, wo eine Gefährdung der Steuerfähigkeit des betreffenden Nadjels vorläge. So wurde in den von uns besuchten Gemeinden des nördlichen Bezirkes, wo, wie wir sahen, die Differenzierung zwischen Arm und Reich weniger Aveit fortgeschritten ist, als im Süden, jeder Fall der Teilung bisher von den Gemeinden gutgeheifsen •, in dem südlichen Bezirk dagegen hörten wir öfters von ablehnen- den Beschlüssen der Gemeinde, und zwar stets in Fällen von zweifelhafter Zahlungsfähigkeit der Antragsteller. Aber noch eine weitere Schranke steht der Zersplitterung des Familienbesitzes entgegen. Der Vater oder der ältere Bruder oder wer immer Leiter der Hauskommunion ist, ver- tritt die Familie der Gemeinde gegenüber; er allein wird in der Gemeindeversammlung gehört; er allein also kann den Antrag auf Teilung stellen, so dafs thatsächlich auch von seiner Zustimmung die Teilung abhängt. Ihm gegenüber sind die Jüngeren rechtlos, denn die Gemeindeversammlung kennt nur den, in dessen Namen die Steuer entrichtet wird. So kann sich der Alteste thatsächlich zum Alleinbesitzer des Hofes machen , wozu er neigen wird , wenn das Land nicht grofs genug ist, um alle zu ernähren. So lernte ich einen Fall kennen, in dem der Älteste die Teilung den Jüngeren ver- weigerte und letztere gezwungen waren, auswärts durch Tage- löhnerdienste ihr Dasein zu fristen, ohne irgendwie ihre Rechte wahrnehmen zu können. Selbstverständlich besteht eine Art Unterschlupfsrecht der weichenden Geschwister gegenüber dem Nadjelinhaber, dem sie z. B. als kranke Fabrikarbeiter zugeschoben werden können. — 413 — Jedoch war auch in dem besuchten Bezirke darüber eine Stimme, dafs trotz dieser Hemmnisse die Familienteilungen unaufhaltsam zunehmen. Die Verschiedenheit zwischen Nadjel und Bauernbetrieb beruht nicht nur auf Verfügungen innerhalb der Gemeinde; sie ist um so gröfser, als allenthalben in Rufsland die bäuer- lichen Wirtschaften sich über den Nadjel hinaus beträchtlich ausdehnen. Die Wege hierzu sind Kauf oder weit häutiger Pachtung von Gutsland. Auf diesem privatrechtlich erworbenen Boden unterfällt der Bauer dem allgemeinen bürgerlichen Rechte, während auf dem Gebiete des Gemeindelandes die Autonomie und die Gewohnheiten der letzteren jedes Privat- recht überwiegen. Der Adel, ein erst spät geschaffener Dienstadel, war früher kein landwirtschaftlicher Beruf; er bezog vielmehr grofsenteils lediglich Renten, und zwar vielfach Naturairenten von den hörigen Bauern, denen er den landwirtschaftlichen Betrieb überliefs. Dieses Verhältnis ist auch heute weit ver- breitet. Die nichtbäuerlichen Eigenbetriebe beschränken sich in den von mir bereisten Bezirken des CharkofFer Gouverne- ments auf einige kleinere Adelsgüter, deren Besitzer von Pachtrenten allein nicht leben könnten: im Eigenbetriebe führen sie ein kümmerliches, halbbäuerliches Dasein. Auf der anderen Seite stehen wenige rationell, meist von deutschen Verwaltern geleitete Grofs- und Riesenbetriebe, die häufig Specialitäten , z. B. im westlichen Teil des Gouvernements Rübenbau, anderwärts Viehzucht u. s. w. treiben. Ich beschränke mich vorliegend auf eine Schilderung des weitverbreiteten Pachtsystems, wie ich es in ähnlicher Weise sowohl im nördlichen, als im südlichen der bereisten Bezirke angetroffen habe; hervorheben möchte ich, dafs die durch das- selbe erkaufte Mufse von beiden meiner Gastfreunde dem Dienste der Wissenschaft geweiht wurde. In dem bereisten Bezirke sind die Bauernpachten äufserst kurzfristig; und zwar scheint sich die Pachtperiode anzupassen den in der Gegend üblichen Umlosungen des Bauernlandes. Im Norden sahen wir, dafs die Gutsbauern alljäiirlich das — 414 — Drittel der Flur, das zum Wintergetreide bestimmt ist, unter sich verlosen ; ähnlich verpachtet auch der benachbarte Guts- herr alljährlich ein Drittel seines Ackers neu für eine drei- jährige Wirtschaftsperiode. Die Gewanne des Gutslandes werden, ähnlich wie die Dorfflur, nach Defsjätinen zerschnitten und unter die Anwärter verlost. Im südlichen Bezirke, wo die Bauern gar Winter- und Sommerfeld unter sich alljährlich verlosen , verpachtet auch der Gutsherr je ^/a seiner Flur auf Jahresfrist an die Bauern, während die Teilnahme an der Brachweide auf dem Gutslande hier besonders vergeben wird. Die Bauern zahlen grofsenteils in Geld; doch besteht daneben, möglichst vom Gutsherrn vermieden, der Teilbau. Letzterer nämlich saugt das Land noch mehr aus, als selbst die kurz- fristigste Geldpacht, welche die Abgabe wenigstens fest be- mifst und dem Bauern den gesamten Überschufs frei läfst. Das geschilderte Pachtsystem bedeutet augenscheinlich unter veränderter Rechtsform den Fortbestand der früheren Hörigkeitsverhältnisse; es erinnert an die Zeit, da der Bauer mit seinem Inventar die Felder des Gutsherrn bestellte. Dem entspricht auch gegenwärtig die Sicherheit des Verpächters : Nadjel und Arbeitsvieh des Bauern sind der Exekution ent- zogen, ähnlich wie der Staat auch früher die Erhaltung der hörigen Bauernstellen verlangte. Dagegen ist das Getreide auf dem Felde heute thatsächlich , so wie früher, Eigentum des Verpächters; der Pächter darf es erst fortführen, wenn er die Pachtsumme bezahlt oder der Verpächter die ausdrückliche Erlaubnis erteilt. Diese kurzfristige Pacht entspricht der Unsicherheit der bäuerlichen Besitzverhältnisse überhaupt : die Lage der meisten bäuerlichen Wirte ist so unsicher, dafs auch bei langdauernden Verträgen keineswegs die thatsächliche Durchführung gewähr- leistet wäre. Auf der anderen Seite entspricht dieses Pacht- system der niederen Stufe der bäuerlichen Technik; auch bei langdauernden Verträgen wäre zunächst eine sorglichere Be- handlung des Bodens keineswegs gewährleistet. EineVeränderung dieses Pachtsystems, das augenscheinlich allen Regeln rationeller Landwirtschaft widerspricht, ist demgemäfs so leicht nicht zu — 415 — erwarten. Voraussetzung wäre, dafs der Bauer erst am eigenen Lande langdauernde Rechtsverhältnisse ausbilde, womit die Verbesserung der Technik voraussichtlich Hand in Hand ginge. Diese Voraussetzung dürfte in den von mir bereisten Bezirken eher bei den Staats- als bei den Gutsbauern zutreffen , eher im Süden als im Norden. Denn im Süden sahen wir einige kräftige Wirte sich über der proletarischen Masse empor- entwickeln, Leute, welche dem Verpächter für langdauernde Verträge genügende Sicherheit gewähren könnten. Auf Grund der geschilderten Besitzverhältnisse stellen sich die thatsächlichen Betriebsgröfsen der bäuerlichen Wirt- schaften als äufserst flüssig dar. Jedoch hatte ich folgenden allgemeinen Eindruck. Im Norden fand ich eine breite Masse bäuerlicher Kleinbetriebe; die mittleren, Nadjel und Pachtland zusammengenommen, umfafsten 6 bis 7 Defsjätinen. Die Differenzierung zwischen Arm und Reich schien gering; ich traf wenig viehlose Wirte; die meisten hatten 1 — 2 Paar Ochsen, keiner über drei. Das Pachtland des Gutes war unter mehr als 500 Pächter verteilt, und durchschnittlich kamen auf den Pächter nicht mehr als drei Defsjätinen. Ein breiter Teil der Bevölkerung war, um Steuern und Pachten auf- zubringen, auf auswärtigen Tagelohn und Nebenerwerb an- gewiesen. Ln Süden fand ich dagegen eine breite untere Schicht in völlig proletarischer Lage, zahlreiche viehlose Wirte, viel- fach Neigung zur Dereliktion der Nadjele. Daneben aber traf ich einzelne aufstrebende Bauernwirt- schaften, welche Betriebsgröfsen aufwiesen, die im Norden unbekannt sind ; neben Zwergpächtern von 1 Defsjätine wies das von mir besuchte Gut im südlichen Bezirke Pächter bis zu 40 Defsjätinen auf. Eine zahlenmäfsige Erfassung dieser gröfseren Betriebe dürfte unmöglich sein ; vielmehr ver- schwimmen die Grenzen in Fällen, wenn z. B. der Gläubiger das Feld des Schuldners in Zahlung nimmt und von diesem im Teilbau bestellen läl'st. Zweifellos sind die Verhältnisse, die wir im Norden trafen, — 416 — die idyllischeren. Sind sie auch die zukunfts volleren? Hierüber soll uns ein Blick auf die bäuerliche Technik AufschluTs ge- währen. C. Bäuerliche Technik. Deutsche Kolonien. Die bäuerliche Technik steht in den bereisten Bezirken auf niederer Stufe. Die Gründe scheinen mir mehrfacher Art. In erster Linie steht das geringe Interesse des Bauern an dem Land, welches er wegen der darauf ruhenden Lasten und der steten Gefahr einer Neuumteilung wie ein unfreier Fröhndner bestellt. Der Reichtum des Bodens und eine ge- wisse Gunst des Klimas aber machen selbst eine äufserst niedere Technik immerhin noch lohnend; ähnlich wirkt endlich die stete Möglichkeit der Auswanderung, die den vorwärts- treibenden Einfluls des Bevölkerungsgesetzes auf die Technik abschwächt.- Das Anlagekapital der bäuerlichen Wirtschaft ist in den bereisten Bezirken äufserst gering. Es besteht aus dem Wohn- hause ; dasselbe ist im Norden aus Holz , im Süden vielfach aus Flechtwerk hergestellt, dessen Fugen mit getrocknetem Dung verstrichen sind. Die Häuser sind mit Kalk geweifst und tragen Strohdächer. Hinter dem Hause befindet sich der Hof, auf dem allgemein im Freien gedroschen wird; dahinter gewöhnlich ein Schuppen zur Schüttung und Aufbewahrung des gedroschenen Getreides (Ambar); daneben eine oder mehrere halbgedeckte, aber seitlich offene Umzäunungen (Sarai), in welchen das Vieh Sommer und Winter im Freien nächtigt. Eine Scheune fehlt. In grofsen Schobern steht auf dem Hofe das Stroh und daneben in Ziegeln der getrocknete Dünger, welcher als Brenn- und Baumaterial dem Bauern wert- voll ist. Wer einen solchen Hof gesehen hat, begreift die Leichtigkeit, mit der der Bauer seine Heimstätte aufgiebt und in die unbekannte Ferne zieht: ein Nomade, der erst vor kurzem sefshaft geworden ist. Im Norden wie im Süden fand ich die unverbesserte Dreifelder- Wirtschaft allgemein herrschend, womit eine geringe — 417 - Viehhaltung von selbst verbunden ist. Unter den Getreide- arten überwiegt der Roggen. Die Pflügung ist eine sehr oberflächliche ; sie geschieht mittels des grofsrussischen Hacken- pfluges (Socha), welcher das Land nicht tiefer als 1^/2 Zoll ritzt, oder mittels des kleinrussischen Pfluges, welcher zwei bis drei Zoll tief in den Boden eindringt. Jedoch kommen auch Fälle vor, dafs lediglich geeggt und der Samen sofort hinter der Egge eingestreut wird. Gedroschen wird mit Dreschflegeln, zwei aneinander gebundenen Knütteln ver- schiedener Länge. Alle diese Ackergeräte sind fast aus- schliefslich aus Holz und eigenhändig von den Bauern hergestellt; besonders merkwürdig ist der russische Bauern- wagen, welchen man ohne jeden Metallbestandteil an- treffen kann; sein antiquarisches Interesse mufs er mit äufserst geringer Tragfähigkeit bezahlen. Gedüngt wird nicht oder in äufserst seltenen Ausnahmefällen, Folge ist bei der oberflächlichen Pflügung die Erschöpfung der Bauernäcker und geringe Ernten. Das eine der von mir besuchten Güter war bis vor kurzem unter Eigenbewirtschaftung des Guts- besitzers, wobei es Tiefpflügung und Düngung genossen hatte. Die Folge war, dafs dieselben Bauern als Pächter hier zwei- bis dreimal soviel von der Defsjätine ernteten, wie von den eigenen Feldern: im gegenwärtigen Jahre z. B, Gutsland Bauemland Roggen 110 Pud 30 — 40 Pud von der Defsjätine Weizen 65 „ 30 „ „ „ „ Einstimmig bestätigten alle Beobachter in jener Gegend den Niedergang der durchschnittlichen bäuerlichen Wirtschaft. Dieser Niedergang zeigt sich jedoch in den beiden bereisten Bezirken in verschiedener Weise. Im Norden sah ich Sinken des Mittelniveaus. Zwar fand ich hier gröfsere Gleichheit unter den Bauern, aber diese Gleichheit bewegt sich nach unten; beispielsweise ist in den letzten 15 Jahren der Durch- schnitt des auf den einzelnen Pächter kommenden Ackers ge- sunken; der bäuerliche Viehstand hat abgenommen. V. Schulze-Gaeveruitz, Studien a. Rufsl. 27 — 418 — Im Süden dagegen fand ich Hand in Hand mit der stär- keren Differenzierung der Bevölkerung die Anfänge des tecli- nischen Fortschrittes. Das alte System des Ackerbaues, wie wir es soeben beschrieben, war bei den ki'äftigeren Wirten durchbrochen. Den Umschwung bringt die Maschine. Zuerst taucht die Worfelmaschine auf; ihr folgt alsbald die von Zugvieh getriebene Dreschmaschine. Bei zahlreichen bäuerlichen Wirten des südlichen Bezirkes habe ich Dreschmaschinen mit 3 — 4 kräftigen Gespannen in Thätigkeit gesehen; der nächste, ebenftdls schon vielfach anzutreffende Fortschritt führt zur Mähmaschine und Säemaschine. Der alte Pflug wird bei Seite gelegt. Es taucht der Bukker auf, ein dreischariger Eisen pflüg, welcher mit zwei bis drei Paar Ochsen bespannt, zwei bis drei Defsjätinen den Tag pflügt, während die alten Bauernpflüge nur V2 bis ^U Defsjätine bewältigen. Die hier- durch ermöglichte Beschleunigung der Bestellung ist aber bei dem trockenen und heifsen Klima Südrufslands von grofsem Nutzen. Sie bringt die Saat früher in den Boden und giebt ihr Zeit, sich zu befestigen, ehe die Hitze beginnt. Am spätesten erscheinen die Fortschritte, welche eine intensivere Bearbeitung der Erde bezwecken: westeuropäische Tiefpflüge und Bearbeitung der Brache — von beiden traf ich bei den russischen Bauern der besuchten Bezirke kaum erst Spuren, Zunächst dehnt sich der aufstrebende Wirt eben extensiv aus und baut Betriebsgröfsen auf, welche eine ren- table Getreideproduktion ermöglichen, wozu die ihn um- gebenden niedergehenden Guts- und Bauernbetriebe reiche Gelegenheit bieten. So fand ich einen scharfen Gegensatz zwischen dem nördlichen und südlichen der bereisten Bezirke. Was sind die Gründe? Ich verstehe die Verhältnisse des Südens als Ausstrahlung Neurufslands , unter welchem Namen ich ins- besondere an Taurien und Cherson denke, daneben aber auch an Bessarabien, das Gouvernement Jekaterinoslaff, das Gebiet der Donschen Kosaken und den Kubanschen Bezirk. Es kann auf diesen Gebieten jedenfalls nicht von einem allgemeinen — 419 — Niedergange der Bauernwirtschaft die Rede sein. Vielmehr nach PostnikofF linden sich daselbst zahlreiche, stark auf- strebende Elemente, wie denn nirgends die Maschinen- anwendung so Aveit verbreitet ist, wie dort. Als Gründe für diese Erscheinung mag zweierlei in Betracht kommen : einmal der lösende Einflufs des benach- barten Meeres, die Nähe grofser Ausfuhrhäfen, Odessa, Cher- son und Rostoff, damit eine stärkere Einwirkung der Getreide- ausfuhr und der Geldwirtschaft; auf der anderen Seite ist nicht zu vergessen, dafs die genannten Länder Kolonialboden ^ sind und eine neue, stark durcheinander gemischte Bevölkerung aufweisen — Umstände, welche allerwärts dem wirtschaftlichen Fortschritte günstig sich erweisen. Ausgegangen sind die meisten Fortschritte von den deutschen Kolonisten, unter ihnen viele Mennoniten, welche, von Katharina U. und Alexander I. angesiedelt, die Lehrmeister der neurussischen Bauern geworden sind. Sekten- bildung, welche ein hohes Mafs von Individualismus mit strenger moralischer Bindung vereinigt, erwies sich in West- europa vielfach als günstiger psychologischer Boden für den wirtschaftlichen Fortschritt; man denke an die Puritaner, jene Gründer Amerikas, an die Quäker, jene Pioniere der eng- lischen Grofsindustrie, an die blühenden Herrnhuter Ge- meinden Deutschlands^. Aber das psychologisch günstige Material, welches die deutschen Kolonien Neurufslands für den wirtschaftlichen Auf- schwung bereit hielten, bedurfte zur Entfaltung eines Anstofses ^ Odessa, mit mehr als 300 000 Einwohnern, der wichtigste Hafen Rufslands, ist z. B. eine ganz neue Gründung. Auf einem Hofball schlug man der Kaiserin Katharina II. vor, dem neuzugründenden Kriegshafen am Schwarzen Meer den Namen der benachbarten einstigen Griechenstadt, Odessos, zu geben, worauf die Kaiseiün erwiderte, dafs das alte Odessos eine weibliche Endung erhalten sollte. 2 Hinsichtlich der Stundisten sagt ein russischer Priester: „Alles bei ihnen strebt zum Gelde." Roschdestwenski, Südrussischcr Stundismus. Petersburg 1889. Gedruckt mit Erlaubnis des Direktors der geistlichen Akademie zu St. Petersburg. 27* — 420 — von aufsen. Dieser kam auch hier, wie so oft in der Wirt- schaftsgeschichte, von der See und durch den Handel. Bis in die sechziger Jahre führten die Kolonien ein ärmliches und naturalwirtschaftliches Stillleben. Da setzten die technischen Fortschritte der Schiffahrt und die städtische Entwicklung Westeuropas sie in die Lage, eine geschätzte Ware für den Weltmarkt zu produzieren: den Weizen. Auf ihn gründeten sie ihren Wohlstand; ihnen folgten die taurischen Bauern. Diesen Vorgang zu beobachten, bot sich mir in dem bereisten südlichen Teile des Charkoffer Gouvernements Ge- legenheit. In dieser Gegend erscheinen in neuester Zeit deutsche Kolonisten, worauf nach allgemeinem Urteil die soeben ge- schilderten technischen Fortschritte der russischen Bauern- wirtschaft zurückzuführen sind. So wenig nämlich die Wirt- schaft der benachbarten Gutsbetriebe auf den russischen Bauern von Einflufs ist, ebenso eifrig beobachtet er das Thun der deutschen Einwanderer, und ebenso willig ist er, es nach- zuahmen. Ich fand keinerlei Spur von nationalen Gegensätzen. Im Gegenteil wurde mir in der besuchten Kolonie versichert, dafs in mehreren Fällen, wo russische Bauern mit deutschen Minoritäten in demselben Wolost (unterer Verwaltungsbezirk) zusammenleben, sie den Vorsteher (Starschina) aus den der Schrift kundigeren Deutschen gewählt hätten. Dieses Ver- hältnis ist verständlich, wenn man bedenkt, dafs die Kolonisten allezeit getreue Unterthanen der Zaren gewesen sind, deren grofse Vorfahrin ihre Voreltern einst in das Land gerufen hat. Werfen wir einen Blick auf die deutsche Kolonie von 22 Höfen, welche einen so wichtigen Einflufs auf die Wirt- schaftsweise des bereisten Bezirkes ausübt. Gorochaja war bis vor wenigen Jahren ein auf der Höhe der Steppe gelegenes Gutsland, welches von den umwohnenden Bauern in der oben beschriebenen Weise durch einjährige Pachten ausgeraubt wurde. Dann kamen die Kolonisten und kauften das Land vom Gutsherren gegen den Preis von 120 Rubel die Defsjätine; 60 Rubel blieben als amortisables Bankdarlehen stehen, 30 Rubel kreditierte ihnen der Guts- herr, 30 Rubel zahlten sie aus eigener Tasche. Es waren — 421 — 22 Anzügler, 20 von ihnen jüngere Söhne, welche wegen des in der Mutterkolonie an der Molotschnaja herrschenden Anerbenrechts ein Unterkommen auswärts suchen mufsten und ihre Abfindungsgelder in dem billigeren Boden des Char- koffer Gouvernements anlegten. Hier wurden sie „Vollwirte", d. h. Bauern zu 60 Defsjätinen ; bei Fleifs und Gunst der Zeit werden sie dieses Land allmählich von den Schulden reinigen. Aufser ihnen kamen zwei Vollbauern aus der Mutterkolonie, welche dort ihre Stellen verkauft hatten und dafür hier dreifach gröfsere (180 Dessj.) kauften. Sie thaten dies in der Hoffnung, auch ihre jüngeren Söhne einmal mit Land auszustatten, indem bei ihrem Tode ihr Besitz in je drei Vollbauernhöfe zu 60 Defsjätinen zerfallen wird. An einer breiten Dorfstrafse errichteten die Ansiedler saubere Ziegelgebäude mit Schindeldächern, welche sich von den russischen Bauernhütten augenfällig unterscheiden. Das Haus steht mit der Schmalseite nach der Strafse ; der vordere Teil enthält drei bis vier Stuben, sowie eine Küche; der hintere Teil des Hauses unter demselben Dach den Stall für das Grofsvieh. In gleicher Linie hinter dem Hause liegt der Getreidespeicher, welcher zum Schütten und Aufbewahren des Getreides benutzt wird ; seitlich und von untergeordneter Bedeutung, zum Teil nach kleinrussischer Art aus getrocknetem Dung gebaut, ein Schuppen für das Ackerzeug und ein Schweinestall. Hinter den Höfen sah ich allenthalben Garten- anlagen mit reichlicher Baumpflanzung. Jeder der Vollwirte hat von seinen 60 Defsjätinen gegen 15 Defsjätinen, die gröfseren Wirte entsprechend mehr, als dauernde Weide ausgesondert ; dieselbe wird gemeinsam von dem Vieh der Ansiedler beweidet, jedoch unter fest beschränktem Anteilrechte jedes Wirtes. Jährlich setzt die Gemeindever- sammlung fest, wieviel Vieh im ganzen zur Weide zugelassen wird, wonach sich dann die auf den einzelnen Wirt kommende Stückzahl bemifst. Alles übrige Land ist Acker •, Wiesen besitzt die Kolonie nicht. Das Ackerfeld ist einer Vierfelderwirtschaft unterworfen ; — 422 — auf dreimal Getreide folgt bearbeitete Brache : z. B. Winter- weizen, Gerste, Sommerweizen, Brache. Letztere wird zum Teil schwai'z gehalten, zum Teil mit Mais als Viehfutter be- stellt. Flurzwang herrscht nur in soweit, als die Brache zusammengelegt werden mufs, und zwar die schwarze, wie die bebaute an besonderen Stellen der Dorfflur. Jedoch sprachen die Bauern davon, zu einem neuen System überzugehen, welches sie „grüne Brache" nennen. Es besteht darin, dafs unter Aufgabe der gesonderten Weide das gesamte Feld dem Ackerbau unterworfen wird ; dafür bleibt an der betreffenden Stelle der Fruchtfolge jeder Acker einmal ganze drei bis vier Jahre als Weide liegen, so- dafs Acker und Weide mit einander wechselt. Dieses System, welches in den Mutterkolonien, besonders bei den Mennoniten der Molotschnaja, immer mehr um sich greife, so sagte man uns, habe zwei Vorteile : einmal reinige es den Acker besser von Unkraut, besonders der schädlichen Steppendiestel, sodann aber ermögliche es stärkere Getreideproduktion, indem es die bisher unberührte Schwarzerde des Weidelandes ausnutze und dem bisherigen Ackerlande längere Erholung gewähre. Die Bearbeitung des Feldes erfolgt, wie allgemein bei den Kolonisten, mit dem Bukker, jenem dreischarigen Pfluge, welcher nicht tiefer als zwei Zoll eindringt. Dagegen wird die Brache sorgfältig mit eisernen Tiefpflügen bearbeitet und aus einer Tiefe von 4 — ^5 Zoll der Reichtum der Schwarz- erde an die Oberfläche gefördert. Von Maschinen traf ich in allgemeiner Anwendung Dreschmaschinen, Mähmaschinen (keine Selbstbinder, wie sie die taurischen Kolonisten vielfach besitzen). Säe (Drill) maschinen u. s. w. Die vorgefundenen Dreschmaschinen waren denen der benachbarten russischen Bauern darin überlegen, dafs sie die Garben besser durch- schüttelten und so den Verlust an Körnern beträchtlich ver- minderten. Viele dieser Maschinen waren in den Werkstätten der taurischen Kolonien selbst angefertigt, andere deutsches und englisches Fabrikat. Düngung fanden wir in der von uns besuchten Kolonie so wenig in Anwendung, wie bei den russischen Bauern ; — 423 — zunächst wird dieser Mangel in Folge der eingeführten Tief- pflügung der Brache wenig gespürt. Anders in den Mutter- kolonien im Taurischen, wo die Düngung des stärker ausgenutzten Bodens immer mehr um sich greift. Das Haupthindernis besteht darin, dafs in dem baumlosen Lande der Dünger unentbehrliches Brennmaterial ist. Bedenkt man aber, wie nahe die Kohlenschätze des Donezbeckens sich befinden, so sollte man den Ersatz des Düngers durch einen rationelleren Brennstofi" für möglich halten. In der That wurde uns berichtet, dafs in den Mutterkolonien mit der Düngung der Felder auch der Gebrauch der Stein- kohle um sich greife. Angesichts dieses Zusammenhanges ist die Höhe der russischen Kohlenzölle unverständlich. Die hohen Kohlenpreise sind ein schweres Hindernis für den technischen Fortschritt der südrussischen Landwirtschaft. Gerade in der besuchten Kolonistenwirtschaft dürfte die Notwendigkeit der Düngung frühe empfunden werden, da sie völlig auf Weizenbau beruht, welcher bekanntlich am meisten vom Boden fordert. Weizen ist nahezu das einzige Erzeugnis, das diese Kolonisten für den Markt hervorbringen; er be- deckt 60 — 70 °/o der gesamten besäeten Fläche. Alle anderen Feldfrüchte werden hauptsächlich zum eigenen Verbrauch angebaut. Fragen wir zum Schlufs : worin bestehen die Vorteile der Kolonistenwirtschaft über die benachbarte russische Bauern Wirtschaft ? Ein technischer, ein rechtlicher und ein geistiger Gesichtspunkt scheint in Betracht zu kommen. Technisch bedeutet die Kolonistenwirtschaft, unter rücksichtsloser Ausbeutung des Bodens eine möglichste Er- sparnis an Arbeit (Ersatz der Arbeit durch Kapital). Noch heute gilt der von Haxthausen aufgestellte Satz, welcher angesichts der niederen Tagelöhne Rufslands paradox erscheint: „la main d'oeuvre est chere en Russie". Klar wird diese Behauptung dem Reisenden , wenn er beispielsweise in den Herrenhäusern die doppelte und dreifache Anzahl von dienen- dem Personal antrifft, als in Westeuropa, und dabei die Trägheit derselben beobachtet. Ja noch mehr: gelernte und — 424 — hochleistungsfähige Arbeit ist in Rufsland zur Zeit häufig überhaupt kaum zu haben. Ich hörte bei den umwohnenden Bauern die Bemerkung^ dafs die Deutschen zwar sehr hohe Löhne zahlten, jedoch die Arbeit bei ihnen so schwer und anstrengend sei, dafs nur kräftige, jüngere Männer sich all- mählich dazu entschlössen. Die geringe Leistungsfähigkeit der Handarbeit machen die Maschine vorteilhaft, um so mehr, als von allen Zweigen der Landwirtschaft der Getreidebau am meisten zur Maschine hinneigt. Aber die Maschine erfordert, um sich zu rentieren, ein gröfseres Areal, als die russische Bauernwirtschaft gemeinhin aufweist. Schon wegen des geringen Landbesitzes ist der mittlere russische Bauer in dem von mir bereisten Bezirk von der Maschinenanwendung ausgeschlossen. Anders die gröfseren Wirte, welche, wie wir sahen, die Maschine begierig auf- nahmen. Hierdurch allein ist es ihnen möglich , weichen- den Getreidepreisen durch Herabdrückung der Produktions- kosten zu folgen. Mit den gleichen Arbeitskräften bestellt der gröfsere Bauer nunmehr ein vier- bis fünfmal so grofses Areal als der mittlere Mujik. Er produziert billiger aus ähnlichen Gründen, wie der englische Spinner billiger als der deutsche, der polnische billiger als der Moskauer produziert. Rechtlich ist der Kolonist dem russischen Bauern durch die Sicherheit seines Besitzrechtes an Grund und Boden über- legen, was sorgfältigere Bebauung und längeren Fruchtwechsel ermöglicht ; ferner kommt in Betracht die Zusammenhaltung des Bodens in Betriebsgröfsen, welche Maschinenanwendung und Arbeitsersparnis ermöglichen. Im Erbfalle wird der Hot allgemein einem Anerben übergeben oder zwischen dem ältesten und jüngsten geteilt, sodafs zwei Halbwirte zu je 30 Defsj. entstehen. Eine Halbwirtschaft wird nicht weiter geteilt. Dieser Anerbengewohnheit entspricht eine eigentüm- liche Einrichtung zur Versorgung der nichterbenden Söhne, welche sich mit der Zeit der anziehenden Getreidepreise in den 70er Jahren gebildet hat. Die Mutterkolonieen besitzen — 425 — mehr oder minder grofse Gemeindeländereien, welche einst Weide waren, jetzt aber als wertvolles Ackerland verpachtet werden. Aus den Erträgnissen dieser Pachtungen wird eine Sparsumme gebildet, die zum Ankauf von Land für die Land- losen der Kolonie dient. Insbesondere werden adelige Güter im ganzen gekauft. Jeder Hof, welcher zur Kolonie gehört, hat das Recht, Reihe um einen Teilnehmer an einem solchen „Auszuge" der jüngeren Söhne zu stellen. Entsprechend der niederen Erbtaxe, welche zu Gunsten der Anerben herrscht, erhalten auch die Auszügler nunmehr die neuen Hufen eben- falls zu ermäfsigten Kaufpreisen, die sie ratenweise in den Ansiedelungsfonds zurückzahlen. Dieser Einrichtung verdankte auch die von mir besuchte Kolonie ihre Entstehung. Demgegenüber zwingt der Gemeindebesitz den kräftigeren russischen Wirt, die technisch erforderlichen Betriebsgröfsen auf Bewucherung der Gemeindegenossen aufzubauen ; was er aufserhalb des Gemeindelandes an Grundeigentum ei'worben hat, wird durch die Erbteilung wieder zersplittert. Geistig ist der deutsche Kolonist individualistischer als der russische Bauer. Aber der Individualismus — ob man ihn tadelt oder lobt — ist aus dem früheren Gruppendasein des Menschen als Machtmittel im Kampfe um das Dasein entwickelt. Dem Individualismus der Kolonisten dient als Gegengewicht eine starke moralische Bindung. Es ist in beider Hinsicht bezeichnend, dafs die 22 Höfe der besuchten Kolonie sofort ein Stück Land als Schulland aussonderten, eine Schule erbauten und einen Lehrer anstellten, welcher zur Zeit 25 Kinder unterrichtet. Ich selbst hörte ihn am Sonntag den Bauern eine Gerocksche Predigt vorlesen. Dieser schlichte Mann, den die Bauern als einen der ihrigen betrachten, ist das Band, das diese versprengten Bewohner der Steppe mit der Welt der „Intelligenz" verbindet, ein Zusammenhang, der dem russischen Bauern bislang fehlt. — 426 — IV. Reisebericht ans der Ukraine. A. Eine A r b e i t s v e r f a s s u n g. Das Gouvernement Poltawa, der Mittelpunkt der alten Ukraine , der Stammsitz der kleinrussischen Kosaken , grenzt westlich an das CharkofFsche Gebiet; es gehört gleich diesem zur Zone der Schwarzerde. Sein Wohlstand beruht aus- schliefslich auf der Landwirtschaft. Getreidebau überwiegt hier alles andere. Fast jede einzelne Station der das Gou- vernement durchschneidenden Bahnen weist höchst ansehnliche Beträge der Getreideausfuhr auf, welche nicht selten eine Million Pud das Jahr überschreiten. Das Getreide bewegt sich zu den Schwarzen - Meer - Häfen , neuerdings in Folge der neu eröffneten Bahn über Romni auch nach Libau und Königsberg. Der Namen Poltawas ist verknüpft mit der Erinnerung an einen weltgeschichtlichen Wendepunkt : durch die Schlacht vom 9. Juli 1709 ging die Vorherrschaft des Nordens und Ostens von Schweden an Rufsland über. Die Niederlage der Schweden wurde dadurch verursacht, dafs sie in der Meinung, bereits gesiegt zu haben, die Verfolgung zu frühe abbrachen und den Russen damit Zeit zur Sammlung gaben. „Man mufs die Russen nicht nur todtschiefsen , sondern noch um- werfen," sagte später Napoleon nach ähnlichen Erfahrungen. Er wies damit auf jene Eigenschaft passiven Mutes hin, die der russische Bauer aus dem Glauben an eine allbestimmende Vorsehung schöpft. Die Stadt Poltawa ist nichts anders als eine gewöhnliche russische Provinzialstadt : einstöckige Häuser, breite Strafsen, einige offizielle Gebäude mit den unvermeidlichen korinthischen Säulen, deren Stuck von den Kapitalen abbröckelt, dorf- ähnliche Vorstädte. Dem volkswirtschaftlichen Forscher ist Poltawa interessant als der Sitz eines der vorzüglichsten statistischen Landschaftsbureaus, dessen bändereiche Arbeiten mir sein Leiter, Herr Bunin, auf das liebenswürdigste zur Verfügung stellte ; ich war daher in der Lage, meine — 427 - örtlichen Beobachtungen an den Ergebnissen der Landschafts- statistik zu prüfen. Auch im Poltawischen habe ich zwei Bezirke bereist, welche in der socialen Schichtung ähnliche Unterschiede auf- weisen, wie ich sie für das CharkoflFsche schilderte. Aber die Gründe sind sehr verschieden. Im CharkofFschen wies der südliche Bezirk gegenüber dem nördlichen deswegen wirtschaftlich differenziertere Verhältnisse auf, weil er dem neurussischen Kolonialboden benachbart und den von dort ausstrahlenden geldwirtschaftlich-individualistischen Einflüssen ausgesetzt ist. Die Verschiedenheit zwischen dem östlichen und westlichen Bezirk des Poltawischen, dem Bezirke von Konstantinograd und dem Bezirke von Kobeljaki, hat da- gegen neben natürlichen auch geschichtliche Gründe, die Jahrhunderte zurückliegen. Auf einer Karte aus dem Anfang des vorigen Jahrhun- derts fand ich den heutigen Bezirk von Konstantinograd als „campi deserti" bezeichnet — er gehörte zu jenen Steppen, welche so lange Tummelplatz der Raufereien zwischen Tataren und Kosaken waren. Erst nach Vertreibung der Tataren wurde er besiedelt, und zwar gutsherrlich, vielfach durch glückliche Generale und Adlige, welche das Land verliehen erhielten. Noch heute bildet das bezeichnendste und breiteste Element seiner Bevölkerung der frühere Gutsbauer. Anders der Bezirk von Kobeljaki ; er ist älteres Siedel- land, seit lange Eigentum der Kosaken, welche den polnischen Königen als Militärgrenze gegen Türken und Tataren dienten. Das Kosakenland jener Gegend bildet eine Insel nie ver- lorener Gemeinfreiheit in dem Meere der Hörigkeit Osteuropas. Kosaken sind noch heute der überwiegende und wirtschaftlich wichtigste Teil seiner Bevölkerung. Als adlige Familien- genossenschaften (Bojaren) hatten sie das Land einst zu erblichem Besitz von den polnischen Königen verliehen er- halten. Später empörten sie sich gegen Polen und verfochten den orthodoxen Glauben gegen den eindringenden Jesuitismus; bei der Trennung Kleinrufslands von Polen erhielten sie von — 428 — Bogdan Chmelnitzki, dem Führer den Aufstandes, den Besitz ihrer ererbten Ländereien bestätigt. Die Bereisung der genannten beiden Bezirke bot inter- essante Gelegenheit, die Nachwirkungen von Freiheit und Unfreiheit und die hieraus folgenden wirtschaftlichen und socialen Verschiedenheiten zu beobachten. Selbstverständ- lich liegt es mir fern, die im folgenden aufgewiesenen Verschiedenheiten ausschliefslich auf diese historischen Unter- schiede zurückzuführen. Klimatische und sonstige natürliche Bedingungen spielen sicher auch ihre Rolle ; der Bezirk von Konstantinograd ist trockener und besitzt nur einen- einzigen, den Sommer durchdauernden Flufs, die Berestowaja ; der Bezirk von Kobeljaki ist dagegen bespült von dem gewaltigen Dnjeprstrom, von meiireren Zuflüfsen durchschnitten und besitzt natürliche Wiesen und Waldparzellen. Im Bezirk von Konstantinograd fehlen von Natur Wiesen und Wald ; dasselbe Land dient bald als Getreideland, bald als Weide. Dagegen beweist der prächtige Wald der Grofsfürstin, den ich zu Pferde durchquerte, dafs auch in dieser Steppengegend durch menschlichen Fleifs und Ausdauer reichlicher Baum- wuchs zu erzielen ist. Trotz dieser Verschiedenheit der natürlichen Bedingungen aber sind die Nachwirkungen der Vergangenheit nicht zu unter- schätzen. Denn kein Kenner dieser Gegend wird bestreiten, dafs, wie immer der natürliche Untergrund, die kleinrussische Kosakenschaft im allgemeinen kräftiger, energischer und kulturvoller ist, als die früheren Gutshörigen, ihre Nachbarn gleicher Abstammung. Diese Thatsache ist um so bedeutungs- voller, als die Hörigkeit in Kleinrufsland — der Freiheit der Kosaken benachbart — überhaupt nie die Strenge erreichte, wie sie in Grofsrufsland allgemein war und dort ihre Spuren tiefer in das Volksleben eingegraben hat. In Konstantinograd besuchte ich den in seiner Art höchst bemerkenswerten Latifundienbetrieb der Grofsfürstin Katharina Michailowna, nunmehr ihrem Sohne, dem Herzog von Mecklen- burg gehörig; sodann durchfuhr ich zu Wagen einen Teil des — 429 — Bezirks, auf die Gastfreundschaft örtlicher Gutsbesitzer an- gewiesen. In Kobeljaki erhielt ich reiche Belehrung durch Herrn Wasilenko, den Verfasser zahlreicher volkswirtschaft- licher Monographien und Specialforscher auf diesem seinem heimischen Boden. Schon die Namen der Dörfer im Bezirke von Konstan- tinograd sind bezeichnend für die sociale Schichtung der Bevölkerung; sie sind vorwiegend aus Eigennamen gebildet, sei es der adligen Besiedeier selbst, sei es der Mitglieder der kaiserlichen Familie, welche durch solche Patenschaft geehrt werden sollten. Da finden sich Karlofka und Barbarofka, die Namen des Latifundienbesitzes des Herzogs von Mecklenburg, daneben Pawlofka, Elisabetofka, Michailofka u. s. w. Der Gutsbauer bildet das vorherrschende Element der Bevölkerung sogar in noch höherem Mafse als die Statistik es erscheinen läfst (52,3 *^o); bei Gelegenheit der Bauernbefreiung wurde nämlich eine Anzahl von Bauern kleinerer Güter vom Staate übernommen und als Staatsbauern befreit. Der Bauer sirzt eingezwängt zwischen Mittel- und Grofsgütern von 500 Defsj. an aufwärts; der Latifundienbesitz des Herzogs von Mecklen- burg beträgt über 50 000 Defsj. (über 200000 preufs. Morgen). Es trat mir bei Bereisung des Bezirkes auf das deut- lichste vor Augen, dafs die Ausstattung des Gutsbauern mit einem rechtlich gebundenen Stück Ackerfeld, welches zum Leben und zur Erhaltung einer Familie nicht ausreicht, die so- genannte und viel verherrlichte „Befreiung des Bauern mit Land", nichts anderes ist, als ein Stück verschleierter Arbeits- verfassung. Ohne den Nadjel wäre zu fürchten, so sagten mir mehrere Gutsbesitzer, dafs die Bauern abflössen von einem Boden, auf dem sie noch so viel an die verhafste Leibeigen- schaft erinnert. Die Nadjele des Gutsbauern des von mir bereisten Be- zirkes betragen 1 — 3 Defsj.; 4 Dessj. finden sich nur in Aus- nahmefällen; so wurden z. B. die Gutsbauern von Karlofka durch den Grofsmut der damaligen Besitzerin mit 4 Defsj. pro erwachsene männliche Seele ausgestattet. Nach den Berech- nungen des Poltawischen Statistischen Bureaus sind jedoch — 430 — 6 Defsj. erforderlich, damit eine Bauernfamilie herkömmlicher Wirtschaft leben, sowie Steuern und Ablösungsgelder von ihrem Lande allein, ohne Nebenerwerb, bezahlen kann. Be- rücksichtigt man aufserdem die seit der Befreiung eingetretene Bevölkerungsvermehrung, so ersieht man, dafs der Bauer zu seiner Lebensfristung notwendig auf das Gutsland ange- wiesen ist. Die Abhängigkeit des Bauern vom Gutsbetriebe ist dort um so gröfser, wo, wie ich dies wiederholt fand, das Bauernland kreisförmig vom Gutslande eingeschlossen ist; der Bauer steht alsdann nur eine m Arbeitgeber gegenüber. Nur von ihm ins- besondere ist das für die bäuerliche Wirtschaft unentbehrliche Weideland zu erhalten. Aber nicht minder grofs ist die Abhängigkeit des adligen Guts von der Arbeit der umwohnenden Bauern. Grundsätzlich vergiebt die Gutsverwaltung Ackerland und Weide nur gegen Arbeitsverpflichtung, nicht in GeldjDacht. Insbesondere werden in dem bereisten Bezirk die Erntearbeiten nahezu aus- schliefslich gegen Arbeitspacht verrichtet; entweder erhält der Bauer ein Stück Ackerland, oder sein Vieh wird in die Guts- herde eingestellt, wofür er eine bestimmte Fläche abzuernten übernimmt. In vielen Fällen pachtet auch die Gemeinde als Ganzes Weideland, gegen eine von ihr im gesamt zu leistende Arbeit. In Karlofka sind zwanzig benachbarte Dörfer an der Arbeit in der Gutswirtschaft beteiligt; wenn trotzdem von den 50000 Defsjätinen beinahe durchweg fruchtbaren Gesamt- areals bisher nur 10000 Defsjätinen bestellt werden, so wurde mir als Hauptgrund der Mangel an Arbeitern bezeichnet. Wanderarbeiter aus der Ferne werden nicht beschäftigt, viel- mehr ist diese Gegend offenbaren Menschenmangels eher noch Ausgangspunkt von Wanderarbeit. Die gesamten Erntearbeiten werden in Karlofka von den Bauern niit bäuerlichem Inventar verrichtet — als Entgelt hierfür wurden in den letzten Jahren an Ackerland zwischen 3000 bis 4000 Defsjätinen, an Weide gegen 6000 Defsjätinen an die Bauern ausgegeben. Für eine Defsjätine Ackerland 431 - hat der Pächter 1 — P * Defsjätine Gutsfeld zu ernten, für eine Delsjätine Weide ^,4 Defsjätine Gutsfeld zu ernten und die Garben zur Dreschmaschine anzufahren. Das den Bauern gegebene Ackerland ist nicht ausgesondert, sondern findet sich im Gemenge und Umtriebe mit den Gutsfeldern. Die übrige landwirtschaftliche Arbeit wird ebenfalls von den umwohnenden Bauern, aber meist gegen Geldlohn, ver- richtet. Dauernd, d. h. Sommer und Winter angestellte Knechte und Mägde dienen lediglich zur Wartung des Viehs; Pflügung, Saat, Drusch, Austrieb der Schafe besorgen dagegen Arbeiter, welche nur für den Sommer oder von Tag zu Tag angestellt werden und der benachbarten landarmen Bauern- schaft entnommen sind. Die Lohn Verhältnisse der in Karlofka gegen Geld 1894 beschäftigten Arbeiter ergeben folgende Zahlen: das Jahr für Rubel also pro Tag Kop. Dauernd angestellte Arbeiter .... Für den Sommer angestellte Arbeiter Von Tag zu Tag angestellte Arbeiter 26 032 318 544 272 921 5 453,70 73 547,23 69 395,25V2 21 23 25V2 Aber die Arbeitsverfassung von Karlofka, als eines kapital- kräftigen Grofsbetriebes mit industriellen Nebenbetrieben, ist weit geldwirtschaftlicher als die der mittleren Gutswirtschaften des Bezirks. Bei letzteren wird häufig die gesamte Arbeit des Gutsbetriebes von den Bauern mit bäuerlichem Inventar gegen Landhingabe verrichtet. Seinen Höhepunkt erreicht dieses System dort, wo das ganze Gutsland von den Bauern im Teil- bau bestellt wird, was, wie ich hörte, in jener Gegend nicht selten ist; alsdann hat die Gutswirtschaft überhaupt kein Inventar. Die geschilderte Arbeitsverfassung ersetzt den mit der Bauernbefreiung hinweggefallenen äufseren Zwang durch den — 432 — indirekten Zwang der Landenge. Ihr haften alle die volks- wirtschaftlichen Nachteile an, welche die unfreie Arbeit für den Herrn in sich schliefst. Einstimmig klagten alle von mir befragten Gutsbesitzer über die schlechte Qualität der Bauern- arbeit. Gleich dem Hörigen habe der Arbeiter nur ein Interesse : so wenig wie möglich zu verrichten. Es wurde mir erzählt, dafs die Bauern immer neue Feiertage erfänden, immer neue Heilige feierten ; der Gutsbesitzer sei hiergegen machtlos, denn wenn einer der Bauern, fleifsiger als die anderen, an solchem Feiertage etwa arbeiten wolle, so habe er zu gewärtigen, dafs ihm nächtlicherweile sein Eigenthum zerstört oder gar sein Haus angezündet werde. Obstgärten, wurde mir ver- sichert, sei es unmöglich anzulegen, weil die Früchte vor der Reife mit Sicherheit gestohlen würden, wenn nicht gar schon die jungen Bäumchen böswillig vernichtet seien. Selbst die Gärten der Volksschulen, welche Unterrichtszwecken dienten, würden nicht verschont. Nur allzuhäuiig würden Heu- oder Getreideschober der Gutsherrn auf dem Felde frevlerisch in Brand gesteckt. Ich möchte ausdrücklich vor Verallgemeinerung dieser Angaben warnen; immerhin sind sie interessant als die Meinung des kleineren Adels jener Gegend. Zugleich dienen sie als Beleg für den Klassenhafs, welcher als langlebiges Erb- stück der Leibeigenschaft noch vielerorts die Bevölkerung des russischen Landes in zwei scharf getrennte Lager spaltet. Aber der Zwang zur Arbeit, welchen das herrschende System ausübt, ist doch nicht kräftig genug, um dem Guts- herrn die unfreiwillige Arbeit der Bauern wirklich zu sichern. Der Bauer, nicht mehr unter der Furcht der Knute, hat einen Ausweg gefunden, sich der verhafsten Herrenarbeit zu ent- ziehen: die Einschränkung seiner Lebenshaltung unter äufserster Aussaugung des ihm zugefallenen Landfetzens, in letzter Linie den Hunger. Sehnsüchtig blicken daher nicht wenige Guts- besitzer nach den goldenen Tagen der Leibeigenschaft zurück, welche in jenen anderen Teilen Rufslands, wo die Wander- arbeit vorherrscht, so gut wie vergessen ist. Die unheilvollen Folgen der geschilderten Verhältnisse — 433 — liegen auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen Technik. Früher herrschte in der bereisten Gegend und herrscht noch heute auf dem Boden der Güter die Feldgras- wirtschaft; ein Stück Feld wird eine Reihe von Jahren be- baut, dann rückt der Ackerbau auf ein benachbartes Stück Land, während das bisher bebaute Feld längere oder kürzere Zeit, jedenfalls eine Reihe von Jahren, als Weide ruht. Die Bauernbefreiung gab den Bauern zu wenig Land, dieses System fortzusetzen; andererseits hemmten zu hohe Lasten den Geist individualistischen Fortschritts und intensiver Arbeit. Daher kamen die Bauern dazu, die Weide immer mehr einzuschränken, ohne darum zu einem geregelteren System des Ackerbaues, etwa der Dreifelderwirtschaft, überzugehen. So fand ich Fälle, in denen dasselbe Feld sechs Jahre lang mit Getreide bestellt und dann nur drei liegen gelassen wurde; in anderen Fällen wurde nur noch ein Teil der Dorf- flur periodisch unter Weide gelegt, alles übrige ununterbrochen bebaut. In den meisten Fällen aber ist der Bauer noch einen Schritt weiter gegangen : er bebaut alljährlich unausgesetzt und ohne Düngung das gesamte Areal des Dorfes mit Getreide. Es bedeutet dies also Einsaat des Wintergetreides sofort auf die Stoppel des Sommergetreides — ein für den sorglichen Landwirt unerhörtes Vorgehen. Beispiel derartigen Frucht- wechsels ist folgendes : Roggen , Sommerweizen , Roggen, Gerste u. s. w. Im Falle der Erschöpfung des Bodens säet man Buchweizen. Nach der Statistik der Landschaft bebauen von 270 Gutsbauerngemeinden 145 ununterbrochen das Acker- feld in der angegebenen Weise; von diesen haben 109 über- haupt keine Weide, sondern bestellen die gesamte Dorfflur. Aber auch in den übrigen Gemeinden wird meist nur einem Brvichteil des Feldes zeitweise Ruhe gegönnt. Dabei ist die Bearbeitung des Ackers, wie ich auf meiner Reise vielfach beobachtete, eine äufserst primitive. Man pflügt mit der Socha (Hacken pflüg) oder dem kleinrussischen Pfluge, dessen Pflugschar noch häufig genug aus Holz lediglich mit eisernem Rande besteht. Gar nicht selten aber kommt es vor, dafs man das Pflügen überhaupt unterläfst und sich auf V. Schulze-Gae vernitz, Studien a. Kufsl. 28 — 434 — die Lockerung des Bodens mittels eines dem Exstirpator ähnlichen Gerätes beschränkt. Dasselbe besteht aus einem hölzernen Querbalken , an welchem sich in Zwischenräumen von etwa fünf Zoll drei bis sechs eiserne Zähne befinden, mit denen der Boden geritzt wird. Ja, ich hörte, dafs der Bauer nicht selten einfach auf die Stoppel sät und dann mittels des soeben beschriebenen Gerätes die Saat mit der Erde ober- flächlich vermischt. „Vielleicht" (awos!), der im russischen Volksmunde so beliebte Ausdruck fatalistischer Unthätigkeit, wäre die be- zeichnende Unterschrift unter das Bild eines sein Feld in an- gegebener Weise bestellenden Bauern. Alles ist den Zufällen der blind waltenden Natur überlassen; das Zuthun des Menschen ist auf das geringst mögliche Mafs beschränkt. Der Drusch geschieht unter freiem Himmel auf dem Hofe, denn der Bauer besitzt aufser Hütte und Vorratskammer (ambarj keinen gedeckten Raum. Bei den Gutsbauern — im Gegensatz zu den Staatsbauern und Kosaken — habe ich den Dreschflegel noch im allgemeinen Gebrauch gefunden; ja, ich habe sogar gesehen, dafs vereinzelt in alttestamentlicher Weise das Getreide aus den Garben durch die Füfse des Arbeits- viehes ausgetreten wurde. Die Beschränkung der Weide und der Brache bei ein- seitigstem Getreidebau führt zur Verminderung der Viehhaltung, Dort, wo man die Weide aufgegeben hat und alles Land jahraus, jahrein pflügt, ist das Vieh häufig wegen Mangels an Nahrung* so entkräftet, dafs es zur schweren Feldarbeit überhaupt nicht fähig ist. Hiermit hängt zusammen die verminderte Tiefe der Pflugfurche. An Stelle des bisher üblichen Pfluges, welcher an 3 Zoll tief pflügt und mindestens ein Paar Arbeitsochsen erfordert, greift der Bauer zur Socha, die er mit einem Stück Arbeitsvieh handhaben kann; freilich pflügt die Socha nur 1^/2 Zoll tief. Bei fortschreitender „Entkräftung" giebt der Bauer die Pflügung überhaupt auf. Folge der bezeichneten Wirtschaftsweise ist eine zu- nehmende Erschöpfung und Verunkrautung der Bauernäcker. Nirgends baut der Bauer den ertragsreicheren , aber auch — 435 — mehr vom Boden verlangenden Winterweizen, die Hauptfrucht gut geleiteter Gutsbetriebe in der bereisten Gegend ; selbst den Anbau des Sommerweizens hat er vielfach eingeschränkt, infolge der Erschöpfung des Landes. Geradezu erstaunlich sind die Unterschiede des Ernteerträgnisses von gedüngten und gut bearbeiteten Ackern und den erschöpften Bauern- ländereien. Hierfür folgendes durch Befragung beider Teile ermitteltes Beispiel : die betreffenden Gutsfelder stehen unter Düngung und bearbeiteter Schwarzbrache, aber auch die Bauernäcker dürften eher über als unter dem Durchschnitt des Bezirks sich befinden. Ernte 1895 pro Defsjätine: Gutsfeld Bauerufeld Winterweizen 156 Pud nicht gebaut Eoggen 169 „ 45 Pud Sommerweizen 88 ,, 35 „ Aber die Verschiedenheit der Erträgnisse wird noch da- durch zu Ungunsten der Bauern verschoben, dafs das Bauern- getreide durch Zumischung von Unkrautsamen und anderen Unreinigkeiten verschlechtert wird. Die Bauern selbst machen sich um diese Zuthaten wenig Sorge; sie vermählen und ver- backen sie mit. Wenn sie dagegen zum Verkaufe gezwungen sind, so wird der Preis ihrer Waare durch die vorhandenen Beimischungen gedrückt. Nur so ist zu erklären, dafs die Bauern zu Preisen verkaufen, welche tief unter den Markt- preisen und den von den Gütern erhaltenen Preisen stehen. Anfang September 1895 stand in Rostoff der Marktpreis für Weizen auf 45 — 64 Kopeken pro Pud; die Gutsbesitzer ver- kauften in dem von mir bereisten Bezirk zu 45 Kopeken, die Bauern zu 30 — 35 Kopeken. In derselben Zeit verkauften die Bauern Roggen zu 20—25 Kopeken, die Gutsbesitzer zu 35 Kopeken. Dieser Unterschied mag allerdings teilweise auch auf die Ungunst der Lage des Klein Verkäufers gegenüber dem Grofsverkäufer zurückgehen — jedoch spielt gewifs die schlechtere Qualität eine bedeutende Rolle. Das Erstaunen der Reisenden erwecken die winzigen Bauern wägeichen mit den armseligen Pferdchen davor, deren 28* — 436 — geringe Leistungsfähigkeit den Transport der Verkautsware nach den Eisenbahnstationen so verteuert; einer jener Wagen- ztige führt wohl kaum mehr Getreide, als ein Paar kräftige Pferde an einem europäischen Wagen fortbewegen würden. Verhältnisse wie die geschilderten sind, wenn auch viel- leicht in dieser Schärfe selten, in ihrer Art typisch für den Verfall der Gutsbauernwirtschaft breiter Teile des Reichs, ihnen gegenüber ist es unverständlich, wenn man immer noch in Kreisen der russischen „Intelligenz" die Meinung vertreten findet, dafs es in Rufsland keine Proletarier gäbe. Vielmehr liegt in der Entwicklung des Bauern zum Proletarier in ge- wissem Sinne ein hoffnungsvolles Element. Freiwillig hat nämlich der ursprüngliche Mensch sich nie- mals zu jener verstärkten Arbeitsleistung entschlossen, wie sie der Kulturfortschritt erfordert. Ängstlich sucht er nach Schlupfwinkeln, das thatenlose Dasein der Vorzeit fortzuführen. Erst später, da höhere Bedürfnisse aufser denen des nackten Daseins erwachen, wird der äufsere Zwang durch innere Beweggründe ersetzt, die den Menschen veranlassen, zu den Stufen intensiverer Arbeit aufzusteigen. Damit erwachen, ais- köstlichste Gaben der Kultur, die Fähigkeiten wirtschaftlicher Selbsthilfe und geistiger Selbstbestimmung; nur so reift der Mensch allmählich der politischen Freiheit entgegen, welche ohne diese wirtschaftlichen und geistigen Voraussetzungen ver- hängnisvoll ist. Zu diesen Gedanken gab mir die Fahrt durch den Kon- stantinogradschen Bezirk Anlafs. Augenscheinlich verbirgt dem Gutsbauern die Scholle, die er erhielt, das wahre Sach- verhältnis, dafs er thatsächlich auf Lohnarbeit angewiesen ist; sie ermöglicht ihm bis zu ihrer gänzlichen Erschöpfung das Dasein auf dem Boden des wirtschaftlichen Rückschritts. Es ist daher gewifs kein Zufall, wenn ich gerade bei meinen Fahrten durch jene Gegenden von Fällen hörte, dafs frühere Hofbedienstete, welche bei der Befreiung überhaupt kein Land erhielten , öfters zur Wohlhabenheit emporstiegen. Auch fand ich wiederholt, dafs solche Gemeinden, welche ganz ohne Land befreit wurden, vielfach in blühenderem Zustande - 437 - sich befanden, als Gutsbauerngemeinden , deren Nadjel zu wenig war, um zu leben, und zu viel, um zu sterben. Jene eben waren von vornherein auf die eigene Kraft angewiesen, welche zu allen Zeiten das Mittel des socialen Emporsteigens gewesen ist. Die Wahrheit dieses Satzes fand ich häufig auch dort bestätigt, wo die Bauernbank durch weitgehende und äufserst langmütige Kreditgewährung den Bauern in den nahezu schenk- weisen Besitz von Herrenland gesetzt hat. In dem bereisten Bezirk und anderwärts hörte ich von zahlreichen Fällen, dafs die Käufer, ohne Zinsen zu zahlen, das gekaufte Land einige Jahre aussaugten und dann abgaben. Wo dagegen das Ge- schäft seitens der Bauern als ordnungsmäfsiges Kaufgeschäft aufgefafst wird, und sie durch Zins und Amortisation dem Eigentum zustreben, da wird das neuerworbene Land viel sorgfältiger bebaut , als der Gemeindebesitz, Bezeichnend genug: trotz der Solidarhaft gegenüber der Bank pflegen die Käufer das Land unter sich in solchem Falle zu endgültigem Besitz aufzuteilen. — Man kann vielleicht Einzelne, nicht aber eine Volksklasse durch Geschenke emporheben. Je mehr die eigene Wirtschaft verfällt und der Gutsbauer auf Herrenarbeit angewiesen ist, um so mehr wird das Ge- meindeland eine Fessel, die ihm erschwert, die Gunst der Lage des „freien" Arbeiters geltend zu machen; in letzter Linie kann der Nadjel ein Mittel werden zur Erhaltung niedersten Lohnniveaus der landwirtschaftlichen Arbeit. Es erinnert dieses Sachverhältnis daran, dafs deutsche National- ökonomen, z. B. Max Weber, gegen eine Ausstattung der Landarbeiter des östlichen Deutschlands mit Landparzellen überall dort sich aussprechen , wo dem Arbeiter lediglich der Gutsbetrieb gegenübersteht und ihm damit das allmähliche Emporsteigen zum selbständigen Landwirt unmöglich gemacht ist; ein Protest im Interesse der Arbeiter. Die geschilderten wirtschaftlichen Verhältnisse der Guts- bauern geben nun die Erklärung für die im bereisten Bezirk herrschenden Besitzgewohnheiten, wobei das formale Recht ziemlich gleichgültig ist. Das Besitzrecht der Gutsbauern -- 438 — im Bezirke von Konstantinogracl ist sehr verschieden. Die Bauern von Karlofka erhielten bei der Befreiung den grofs- russischen Gemeindebesitz, die übrigen Gutsbauern dagegen den Nadjel zu erblichem Besitz des einzelnen Hofes. Trotz- dem fand ich in der thatsächlichen Behandlung des Landes bei allen Gutsbauern des Bezirkes wenig Unterschiede. Der Nadjel gilt überall als „ewiges" Privateigentum der Revisions- seele, welche seiner Zeit mit ihm ausgestattet wurde. Es ist unmöglich, den Nadjel den Revisionsseelen oder ihren Rechts- nachfolgern zu verkleinern, etwa durch Zusammenwerfung und Neuverteilung des Landes auf sämtliche lebende Seelen. Diese Unmöglichkeit ist, wie gesagt bei den meisten Gutsbauern im Poltawaschen eine rechtliche; aber sie besteht auch in Karlofka und beruht hier, wie ich mich durch Befragung der Bauern überzeugte, auf tiefgewurzelter Rechtsüberzeugung. Obgleich die Gemeinden des Karlofkischen Latifundiums rechtlich die Möglichkeit hätten, das Land nach lebenden Seelen umzuteilen, so weisen sie thatsächlich jeden Gedanken an diese Möglich- keit ab. Aber der Nadjel ist nicht etwa ein Bauerngut fest um- schriebener Grenzen , sondern ein ideeller Anteil an der Gemeindeflur; häutig, oft alljährlich, finden Umlosungen der Felder statt, welche die Lage des Nadjels örtlich bestimmen. Als Grund für diese Sitte wurde mir in der bereisten Gegend folgendes angeführt. Einmal führt die Gemeinde im allgemeinen Intei-esse einen Kampf gegen die Ausdehnung des Ackerlandes auf Kosten der Brache; bei Gelegenheit jener Neuverlosungen sucht sie die Freilassung eines Teiles des Ackers zwecks gemeinsamer Weide zu erzwingen. Wir sahen oben, wie dieser Kampf mit dem Niedergang der bäuerlichen Wirtschaft vielfach erfolglos wird. Um so mehr spricht alsdann für die Umlosung ein anderer Grund. Es besteht nämlich auf Seiten des Einzel- wirtes kein Interesse daran, das Land festzuhalten, dem er ja keinerlei Verbesserung hat zu teil werden lassen. Ja, je schlechter die Bearbeitung ist, um so mehr wächst sein Interesse, das ausgeraubte Land los zu werden, in der Hoffnung, bei — 439 — der Neuverlosung das Feld eines sorglicheren Wirtes zu er- halten. Diese letztere Absicht wurde mir wiederholt als Grund angeführt, weswegen gerade die Mehrheit der armen Wirte die häufige Neuverlosung vielfach verlange. Aber die Gewohnheit der Umlosungen wirkt nun ihrer- seits wieder ungünstig auf die Behandlung des Landes zurück; sie erschvv^ert insbesondere die Düngung, worüber in dem be- reisten Bezirke die Bauern einig waren. Gegenüber den geschilderten Verhältnissen scheint der auf die Initiative des gegenwärtigen Landwirtschaftsministers seitens der Behörden geführte Kampf gegen die Häufigkeit der Umlosungen höchst verdienstlich. Auch in anderer Hinsicht könnte eine weitsichtige, staatliche Verwaltung mancherlei thun; es handelt sich darum, Fälle zu verhindern, wie folgenden, den mir einer der wohlhabendsten Bauern von Karlofka erzählte. Er habe zwei Nadjele von verarmten Gemeindegenossen gekauft, dafür das volle Ab- lösungskapital gezahlt und damit das Land aus dem Gemeinde- besitz ausgekauft. Die Gemeinde habe ihm nunmehr das frei- gekaufte Land , wie das Gesetz ^ in solchem Fall vorschreibt, aus der Gemeindeflur ausgeschieden, aber nicht in einem Stücke, sondern in zahlreichen schmalen Streifen an den äufsersten Grenzen der Dorfflur. So umziehe sein Land fast die gesamte Peripherie der Dorfflur; er habe zu dem nächsten Felde 7 Werst, zum weitesten 15 Werst (ein Werst über ein Kilometer). Dieser Fall ist um so mehr zu bedauern, als kräftige Existenzen, welche sich zu selbständigen und leistungs- fähigen Landwirten, „Bauern" im Sinne der deutschen Sprache, emporentwickeln, unter den Gutsbauern jener Gegend recht selten sind. Ahnlich wie im Charkoffschen traf ich auch im Bezirke von Konstantinograd derartige Elemente in gröfserer Anzahl unter den früheren Staatsbauern als unter den Gutsbauern. Wie im Charkoffschen fand ich aucli in dem bereisten Bezirk * Es beruhte dies auf dem iiuinnehr durch Gesetz vom 14. Dec. 1893 abgeänderten Art. 165 der allgemeinen Ablüsungsordnung. — 440 — des PoltaAvabchen die Differenzierung zwischen arm und reich bei den Staatsbauern weiter fortgeschritten als bei den Guts- bauern ; ich fand bei den Staatsl>auern neben zaMreichen niedergehenden einzelne stark aufstrebende Elemente. Bei den Gutsbauern herrschte oft noch geistige Nacht, bei den Staatsbauern mehr religiöses Leben, freilich auch Ketzerei. Der Unterschied zwischen Gutsbauern und Staatsbauern erhellte mir u. a. auch aus der Mitteilung einer Volksschul- lehrerin, welche in einem Dorfe von Gutsbauern Schule hielt. Sie sagte mir, dafs die Schule von den Kindern eines mehrere Werst entfernten Staatsbauerndorfes mehr und regelmäfsiger besucht würde, als von denen des eigenen Dorfes; letztere zeichneten sich zudem durch schwer auszurottende Diebes- gewohnheiten unvorteilhaft vor den Nachbarn aus. In der That bewundernswert schien mir der Kampf, den diese Dame, ähnlich wie viele ihrer Kolleginnen, in geistiger Einöde mit der Unkultur führt; bewundernswert die hierzu gehörige Selbst- verleugnung und Thatkraft. Klassen von 40, 60 Knaben und mehr im Zaum zu halten und zu disciplinieren, ist eine Auf- gabe, deren Lösung bei uns zu Lande für die Kräfte einer Frau unlösbar erscheinen würde — sie wird gelöst, wie mich sachkundige Beobachter versicherten. Ähnlich wie im südlichen Bezirke des Charkoffschen ent- wickelt sich auch im Bezirke von Konstantin ograd über den Staatsbauern — und ihrem wirtschaftlichen Fortschritt die Wege weisend — ein stärkeres Element, das von aufsen hereindrängt, hier nicht die deutschen Kolonisten des Südens, sondern die Kosaken des Westens. Sie sind es, welche, vielfach ohne Hilfe der Bauernbank, das Gutsland aufkaufen^ auf ihm blühende Grofsbauernbetriebe gründen; als Pächter von Gutsland verschmähen sie die Pacht gegen Arbeitsleistung und nehmen statt winziger Parzellen gröfsere Ackerstücke in Geldpacht. Erst seit etwa sieben Jahren vollzieht sich der friedliche Einbruch der Kosaken in den Bezirk von Konstantinograd, und schon sprachen mir verschiedene adlige Gutsbesitzer von ihnen als der Klasse „neuer Gutsherrn", welche die alten — 441 — verdränge. In der That hörte ich wiederholt von Kosaken, welche mehrere hundert Defsjcätinen Land besitzen; von einem hörte ich, welcher über 1000 Defsjätinen bebaut. Als Bauer ein altvaterisches Dasein führend, erspart der Kosak die Ausgaben der standesgemäfsen Lebenshaltung des Adels. Es wurde mir beispielsweise erzählt, wie ein Kosak, der ein Herrenhaus gekauft habe, auf dem Parket der Salons Getreideschüttboden eingerichtet habe. Bezeichnender war noch die Antwort, die mir ein adliger Gutsbesitzer auf die Frage gab, wo er die Lokomobilen, die ich bei seinem Drusche in Thätigkeit sah, gekauft habe. Sie seien nicht sein eigen, sagte er mit süfssaurem Lächeln , er habe sie vom Kosaken gemietet. Wer sind diese Kosaken? Zur Ermittelung dieser Frage begab ich mich in den Bezirk, von dem die Kosakenein- wanderung in das Konstantinogradsche hauptsächlich ausgeht, nach Kobeljaki. B. Die Kosaken von Kobeljaki, Andere Menschen und ein anderer Hintergrund — dies ist der erste Eindruck, welchen der Reisende empfängt, wenn er aus den breiten Gebieten der Gutsbauern und Latifundien dem alten Kosakenlande sich nähert. Es war dies für mich der Fall, als ich, von den Gütern der Grofsfürstin Katharina im Bezirke von Konstantinograd ausfahrend, die Gegend von Kobeljaki besuchte ; diese Reise führte mich recht eigentlich in das Herz der alten Ukraine. An Stelle jenes passiven Mutes , der in den gefurchten Zügen der Mujik sich widerspiegelt, blitzt aus den dunklen Augen der Kosaken- abkömmlinge kecke Thatenlust und etwas von südlichem Feuer. An Stelle des wirr herabwallenden blonden Vollbartes des russischen Bauers tritt hier der an den Mundwinkel ab- wärts gedrehte Schnurrbart, wie ihn auch die Familienbilder in den Häusern des von Kosaken abstammenden Kleinadels jener Gegend zeigen. Eines dieser Bilder, welches ich sah, war mir besonders bezeichnend für das frische und sanges- frohe Volk, bei grofser Nai'vetät : der Kosak sitzt auf der — 442 — grofsblumigen Steppe, eine Leier im Schofs, wohl ein keckes Liebeslied singend oder eine alte Sage ; neben ihm sein treues Rofs, das aufmerksam dem Sänge des Meisters lauscht. Auch die Siedlungweise des Kosaken unterscheidet sich schon äufserlich von der des Bauern. Während die Reihendörfer der rassischen Bauern durch ihre oft aufser- ordentliche Ausdehnung sich als künstliche Gebilde verraten, entstanden und zusammengehalten durch Befehl von oljen, be- vorzugt der Kosak den Einzelhof oder häufiger den aus wenigen Höfen bestehenden Weiler. Die Weiler der wohlhabenden Kosaken sind meist von Hütten umgeben, deren Bewohner augenscheinlich keine selbständige Landwirtschaft treiben. Sie sind ein äufseres Anzeichen dafür, dafs hier der Grofsbauer eine ihm eigen- tümliche Arbeitsverfassung sich geschaffen hat. Diese so- genannten „Nachbarn" sind eigentumslose Arbeiter, welche durch Feld und Naturalien vom Kosaken entlohnt werden. Die Kosaken, welche den gröfsten und bei weitem wichtigsten Teil der Einwohner des Bezirkes von Kobel- iaki ausmachen, sind die Abkömmlinge freier Krieger, denen — ein Beweis ihrer Freiheit — das Litauische Statut freies Eigentum und Erbrecht am Grund und Boden gleich der Schlachta (dem kleinen Adel) gewährleistet. Erst nach der Schlacht von Poltawa wurden sie endgiltig von Moskau unterworfen ; später wurde die kriegerische Organisation dieser kleinrussischen Kosaken von der Centralregierung be- seitigt; die Kosaken sind damit reine Ackerbauer geworden. Man hat diese kleinrussischen Kosaken wohl zu unter- scheiden von den mit Moskau verbündeten Kosaken, welche ihre kriegerische Organisation bis heute beibehielten, so z. B. die donschen, die uralschen, die terekschen, die sibiri- schen Kosaken. Bei letzteren werden noch heute die gesamten jungen Mannschaften mit erreichtem 16. Jahre zum Militär- dienst eingereiht, zu welchem sie Waffen und Pferde selber zu stellen haben. Lange Jahre der Heimat entzogen, bleiben sie der alten Meinung aller waffen trag enden Klassen treu, wonach die landwirtschaftliche Arbeit Schimpf und Sache der — 443 - Unfreien ist. Im Gegensatz zu den kleinrussischen Kosaken pflegen die donschen Kosaken einen grofsen Teil ihres Landes zu verpachten, und trotz ihrer sehr reichlichen Landaus- stattung auf fruchtbarstem Boden hört man heute von ihnen wachsende Klagen über Landmangel. Das einseitig kriegerische Leben dieser Kosaken, welches sie von wirtschaftlicher Thätigkeit abzieht, bewirkte einen starken Zuflufs von aufsen in das donsche Kosakengebiet. Diese „Auswärtigen" dienen den Kosaken als Tagelöhner, Pächter und Handwerker. Einige von ihnen aber haben sich als Händler und Kredit- geber an der Unwirtschaftlichkeit der Kosaken bereichert. Sie sind „die Gutsherrn der Kosaken, welche sich ihrer Frei- heit rühmen" ^. Anders die kleinrussischen Kosaken, welche wir in Kobeljaki besuchen. Gewaltsam, aber zu ihrem Vorteil einst in das Erwerbsleben hinabgestofsen, wissen sie den Landmangel durch Zukauf und Zupackt, also durch wirtschaftliche Selbst- hilfe zu vermeiden. Energisch dringen sie in die Nachbar- gebiete vor, statt selber Ausbeutungsobjekte „Auswärtiger" zu sein. Noch heute bilden die Kosaken Poltawas einen besonderen Stand, rechtlich ebenso getrennt von den benachbarten Bauern wie von dem Adel ; aber mit beiden sind sie blutsverwandt, beiden drücken sie ihren Stempel auf. Die Bauern jener Gegend sind gröfstenteils Abkömmlinge von Kosaken, welche zur Unfreiheit herabsanken — nur zum kleinen Teil stammen sie von Grofsrussen ab, welche Moskau zur Pacifizierung des Kobeljakischen Bezirkes an dem Flüfschen Orel ansiedelte. Dafs der Adel grofsenteils von den Kosaken herstammt, zeigt sich schon darin, dafs er wirtschaftlich nur wenig über sie hervorragt. An Stelle des auf Schenkung beruhenden Latifundiums , das ich im Konstantinogradschen Bezirke 1 So „Petersburger Nachrichten", 26. Juli 1898. Die Frage der Donschen Kosaken wird in der russischen Presse viel besprochen; gegenwärtig tagt zur Abhilfe der Notlage in jenen Gegenden eine Eegierungskommission. — 444 — kennen lernte, fand ich in Kobeljaki einen Kleinadel, der zum gröfseren Teil ein bäuerliches Dasein führt. Die Mehr- zahl des Adels im Bezirke besteht aus sogenannten „Halb- herren" (polupanki), d. h. Adeligen, welche weniger als 50 Defsjätinen besitzen und daher gezwungen sind, mit eigener Hand den Pflug zu führen. Im Bezirke befanden sich 1883 1469 landwirtschaftliche Betriebe, welche weder Bauern noch Kosaken, also vorwiegend dem Adel gehörten, offiziell soge- nannter „Privatbesitz"; von diesen Betrieben waren 1163 unter 50 Defsjätinen grofs, gehörten also zwar nicht recht- lich, wohl aber wirtschaftlich zu dem, was wir in deutscher Sprache „bäuerliche" Betriebe nennen. Diese Thatsache erscheint nun um so wichtiger, wenn man die socialeSchichtung der Kosaken selbst betrachtet : unter ihnen überwiegt der dem Kleinadel nahestehende Grofs- bauer, selbstverständlich nicht der Zahl, wohl aber dem wirtschaftlichen Schwergewicht nach. In Rufsland findet man oft, dafs „Bauern" im Sinne der ständischen Gliederung keineswegs Leute sind, die aus- schliefslich von einem landwirtschaftlichen Betriebe leben ; insbesondere die gewesenen Gutsbauern sind grofsenteils auf Erwerb durch Lohnarbeit angewiesen. Bei den Kosaken von Kobeljaki dagegen findet sich eine breite Masse von unabhängigen landwirtschaftlichen Betrieben. Alle Besitzer von mehr als sechs Defsjätinen können nach Annahme der Landschaft zu dieser Klasse thatsächlicher Bauern gerechnet werden. Aber ein Besitz von sechs Defsjätinen, gerade genügend zum Leben und zur Steuerzahlung, beschäftigt noch nicht voll die Arbeitskräfte einer Familie ; dies ist bei 15 Defsjätinen der Fall, und je mehr die Maschinenanwendung, insbesondere die Mähmaschine und Dreschmaschine, um sich greift, desto mehr wächst diese Gröfse auf 30 und mehr Defsjätinen. Ich zeigte oben, dafs diese Betriebsgröfse das durch Anerbenrecht gesicherte Mindestmafs der deutschen Kolonistenwirtschaft bildet, dafs die kräftigeren russischen Bauern, insbesondere Staats- bauern, sie im einzelnen Fall auf dem Wege des Zukaufs, — 445 — der Pachtung oder des Wuchers aufbauen ; im Bezirke von Kobeljaki bildet das Vorhandensein dieser Klasse gröfserer Bauern die bezeichnende Eigentümlichkeit der Kosaken- bevölkerung. Der wirtschaftliche Schwerpunkt der ganzen Gegend liegt in diesen gröfseren Betrieben, die sonst in Rufsland ziemlich selten sind. Es ist dies weit mehr der Fall, als nach der Eigentumsstatistik erscheinen könnte, weil gerade die Avohlhabenden Kosaken ihren Betrieb durch Zu- pachtung beträchtlich verstärken. Zwei Drittel alles „Privat- besitzes" im Bezirke, insbesondere die mittleren und gröfseren adeligen Güter, werden verpachtet ; es sind natürlich nicht die Armen und Landlosen, welche als Pächter auftreten, sondern die kräftigeren Wirte. Wir begegnen also hier lebendigen Beispielen jener Betriebe, von denen wir oben Witte sprechen hörten : diese reichen Kosaken zahlen Steuern , kaufen Industrieprodukte, verkaufen Erzeugnisse der Landwirtschaft, beleben also den Warenumsatz und verbessern die Handels- bilanz ; sie verteidigen damit, ohne etwas davon zu wissen, den Bestand der Goldwährung. Während wir die Pacht im Bezirke von Konstantinograd als verschleierte Arbeitsverfassung kennen lernten, dient sie hier zur Verstärkung der bäuerlichen Eigenbetriebe. Beweis hiefür : die Kosaken verabscheuen die bei den Gutsbauern so häufige Pacht gegen Arbeitsleistung und pachten vorwiegend Land gegen Geld, während sie zu gleicher Zeit durch Zukauf den gröfseren Grundbesitz anbröckeln. Auch spielt neben der einjährigen Pacht, welche sonst in Rufsland überwiegt, im Bezirk von Kobeljaki die mehrjährige Pacht eine be- deutende Rolle; sie umfafst etwa ^5 alles Pachtlandes — eben- falls ein Beweis der wirtschaftlichen Stärke der Pächter. Sicherlich bedeutet das Vorhandensein einer Klasse von bäuerlichen Betrieben, welche nicht nur kümmerlichen Unter- halt gewähren, sondern in der Lage sind, Überschüsse abzu- werfen, ein wichtiges Element des Fortschritts. Aber wenn man dies zugiebt, so mufs man auch mit der Begleiterscheinung sich abfinden, gegen welche sich die meisten Vertreter der russischen Agrarlitteratur sträuben : wo es Wohlhabende — 446 — giebt, giebt es auch Arme. Übrigens wird die Entwicklung ja nicht durch Litteraturraeinungen entschieden : aus fiskalen Gründen bleibt dem Staate keine Wahl; er mufs auf die Seite einer Entwicklung treten, welche die Emporentwicklung kräftiger Steuerobjekte bedeutet. In Poltawa beträgt die Zahl der „viehlosen" Bauern 34 Prozent der bäuerlichen Bevölkerung — ein Beleg weitgehender Proletarisierung. Dagegen ist die Summe der Steuerrückstände verhältnismäfsig gering. Auch im Bezirke von Kobeljaki steht den wohlhaben- den Kosakenwirtschaften eine grofse Menge landloser und viehloser Bauern und Kosaken gegenüber, tjber 40 Prozent aller Bauern- und Kosakenfamilien des Bezirkes sind „viehlos", d. h. statt auf eigenen Landwirtschaftsbetrieb auf Lohnarbeit angewiesen. Kosaken dienen vielfach bei Kosaken in einem Verhältnis der „Nachbarschaft", das an die westdeutschen „Heuerlinge" erinnert. Auch bildet der Bezirk von Kobel- jaki den Ausgangspunkt von Wanderarbeitern nach dem Süden (Cherson und Taurien), da die grölseren Kosaken- wirtschaften und der Kleinadel des Bezirkes die vorhandenen Arbeitskräfte keineswegs aufbrauchen. Welches sind die Gründe der Überlegenheit des Ko- saken gegenüber der sonstigen bäuerlichen Bevölkerung? Ich führe sie in erster Linie auf die Avir tschaft liehen und geistigen Wirkungen der angestammten Freiheit zurück. Als Freier arbeitete der Kosak seit jeher in der Aussicht, die Früchte seines Fleifses selber zu ernten ; der Zweck seiner Arbeit war sein eigener Wohlstand, während die erzielten Überschüsse des Hörigen dem Herrn gehörten und verstärkte Arbeit wie vermehrter Wohlstand häutig nur Mehrbelastung bedeuteten. Noch heute wirkt dieses alte Ver- hältnis nach. Der Kosak bezahlt gleich dem Adel nur öffent- lich-rechtliche Steuern : die staatliche Grundsteuer, die Steuern der Landschaft und die seiner eigenen ständischen Organisation ; die Bauern, sowohl die früheren Staats- wie Gutsbauern, haben daneben noch schwer lastende Ablösungsgelder zu erlegen. Weniger besteuert, ist die Arbeit des Kosaken hoffnungsvoller. Auch ist der Kosak durch kein Gutsland eingeengt, Avährend — 447 — sich der Gutsbauer auf Kosten des Herrenlandes zwar sicher, aber doch nur sehr Lingsam und in schwerem Ringen vor- wärts schiebt. Sind schon die unmittelbaren Vorteile der geringeren Be- lastung und der gröfseren Laudausstattung hoch anzuschlagen, so möchte ich noch höher werten , dafs auf diese Weise seit langer Zeit bei den Kosaken das Selbstinteresse und die damit verknüpften wirtschaftlichen Tugenden in Thätigkeit gesetzt wurden. Bei den Kosaken finden wir den Geist der Selbst- hilfe, der dem russischen Bauern so häufig abgeht, den man aber darum nicht dem russischen Volke überhaupt absprechen sollte. Der Bauer, welcher sein Feld auf das oberflächlichste bestellt, sagt: „Gott ist alles"; und wenn die Ernte dem- entsprechend schlecht ist, so meint er; „Gott hat gestraft"; dem gegenüber hat der Kosak ein Sprichwort: „Hilf dir selbst, so hilft dir Gott". Auch die kommerziellen Fähigkeiten, die man dem Ko- saken nachrühmt, sind nichts als eine andere Seite desselben Charakterzuges. Der Handel ist individualistisch; er ent- wickelt sich mit dem Verfall des Gruppendaseins der Vorzeit. Früher, ehe die Eisenbahnen gebaut wurden, verrichtete der russische Bauer im Winter allgemein Fuhrdienste. Der Kosak begnügte sich damit nicht; er betrieb den Waren transport aut eigene Rechnung. Von der Meeresküste, der Krim und dem Don holte er Salz und Fische im Austausch gegen landwirt- schaftliche Produkte, quer durch die damals noch unbebauten Steppen Neurufslands. Mancher Kosak besafs ein Dutzend und mehr Fuhrwerke und Ochsengespanne. Später, da dieser Erwerb verfiel, verwandte der Kosak das darin angelegte Kapital zum Ankauf von Land. In schleuniger Anpassung warf er sich auf die Produktion der neuen marktgängigen Ware, des Weizens. Er produzierte für die Ausfuhr und nahm vollen Teil an dem Gewinn, welchen die hohen Getreide- preise der siebziger und achtziger Jahre abwarfen ^. ^ Auf besondere Anfrage bestätigt mir brieflicii ein genauer Kenner Kleinrufslands, Prof. J. Mi kl asehefs ki in Cliarkoff, die — 448 — Auch in seinen Rechtsgewohnheiten ist der Kosak ein Europäer. Im Gegensatz zum Gemeindebesitze des grofs- russischen Bauern ist das Privateigentum am Grund und Boden dem Kosaken in Fleisch und Blut übergegangen. Dem Einflüsse seines Beispiels ist die benachbarte Bauern- bevölkerung unterlegen. Freilich ist auch hier, wie wir sahen, die Entstehung des Privateigentums verhältnismäfsig jungen Datums, Nach den eingehenden Forschungen Lutschitzkis war die ursprüngliche Siedelungsform der Kleinrussen der Einzelhof (Hauskommunion) oder die aus wenigen Höfen bestehende Dorfgemeinde , letztere augenscheinlich nichts anderes als eine zerfallene Hauskommunion, zusammengehalten durch das Gefühl der Blutsverwandtschaft. Jeder Hof besafs einen ideellen Anteil, eine Quote an dem Familien-, bezw. Ge- meindelande. Periodische Umlosungen kamen vor , um die Ungleichheiten der Losbildung auszugleichen, welche auf mangelhafter Vermessungstechnik beruhten. Aber die Quoten der einzelnen Höfe blieben stets dieselben ; sie wurden ver- äufsert, vererbt, geteilt, während das Entscheidende am grofs- russischen Gemeindebesitz gerade darin besteht, dafs die Um- teilung des Landes diese Quoten selbst verändert, die be- stehenden Besitzrechte also völlig auswischt; so wird z. B. das Gemeindeland infolge des Bevölkerungszuwachses in eine gröfsere Anzahl von Anteilen zerlegt, als bisher. Letztere Ge- wohnheit ist als Ergebnis der Pflicht zum Lande anzusehen: wo die Unfreiheit einsetzt, wird die individualistische Ent- wicklung oft um Jahrhunderte verzögert. Auf dem Boden Verknüpfung der kleinrussischen Kosaken- und Bauernwirtschaft mit dem Getreideweltmarkt. In der That ist jede Bauernwirtschaft, welche überhaupt einen Getreideüberschufs zum Verkauf bringt, mit diesem Weltmarkt verflochten, auch wenn ihr Getreide nicht in natura ex- portiert wird. Sie vermehrt eben die nationalen Bestände, welche nach Abzug der eigenen Volksernährung der Ausfuhr zu Gebote stehen. Die Getreidepreise sind , gleichviel , ob das Getreide in Rufsland oder im Ausland verzehrt wird, internationale Preise. - 449 — der freien Familiengenossenschaft wird dagegen aus den ideellen Anteilen der einzelnen berechtigten Höfe durch Real- teilung rerhältnismäfsig leicht europäisches Privateigentum. Die Gründe hierfür können z. B. darin liegen, dafs infolge der Spaltung der ideellen Quoten der Streubesitz unerträglich wird , oder dafs vermehrte Arbeitsintensität die Festhaltung des längere Zeit bestellten Feldes dem Bebauer wünschens- wert macht ^. Diese Entwicklung wurde durch einen weiteren Umstand gefördert. In Kleinrufsland stand nicht die Gemeinde, sondern der einzelne Steuerzahler seit Mitte des 16, Jahr- hunderts persönlich dem Fiskus gegenüber. Damit fehlte das Hemmnis, Avelches der Ausbildung des Privateigentums am Grund und Boden in Grofsrufsland entgegenstand. In der That ist schon das vorige Jahrhundert in Klein- rufsland die Zeit der Gemeinheitsteilungen, während die Reste des alten Rechtes lediglich im Verkaufsrecht der Gemeinde fortbestehen. In unserem Jahrhundert ist Kleinrufsland im Gegensatz zu Grofsrufsland recht eigentlich das Land des Privateigentums. Durch die Zusammenlegung aller Eigen- tumsgröfsen von über 50 Defsjätinen wurde ein ansehn- licher Teil des Landes dem Flui^zwang entzogen, (Gesetz über die Landvermessung im Gouvernement Pultawa und Tschernigoff^,) Heute liegen von jenen alten Familiengenossenschaften bei den Kosaken der von mir besuchten Gegend nur noch wenige Spuren vor. Gogol erzählt von jenen alten Kosaken- 1 Diese Ausfülirmig beruht auf den Studien von Professor Lutschitzki in KiefF. Materialien zur Geschichte des Grundbesitzes im Gouvernement Poltava im XVIII. Jahrhundert, Lieferung I, Kieff 1883. — Derselbe, Sammlung- der Materialien zur Geschichte der Gemeinde und der Gemeindeländereien in der Ukrajna im XVII 1. Jahr- hundert, Kieflf 1884.— Derselbe, Schmollers Jahrbuch, Bd. XX, 1896, Zur Geschichte des Grundeigentums in Kleinrufsland. 2 Vergl. Encyklopädisches Wörterbuch XXIV, S. 218. V. Schulze-Gae vernitz , Studien a. Rufsl. 29 — 450 — familien, in denen — gewifs ein äufserst altertümlicher Zug — die Herrschaft vom Vater auf den Sohn dann überging, wenn letzterer an körperlicher Stärke dem Vater sich überlegen er- wies, d. h, den Vater durchprügeln konnte. Noch heute hörte ich von Fällen, in denen nicht nur Väter und verheiratete Söhne, sondern auch Brüder mit ihren Familien zusammen hausen. Zweifellos weisen ferner auf die einstige Hauskommunion gewisse Sätze des Gewohnheitsrechtes der Kosaken: der Sohn, welcher sich wider Willen des Vaters von dessen Haushalt getrennt hat, etwa ausgewandert ist, vei'liert den Anspruch auf die Erbschaft des Vaters; Töchter erben nicht in das Land-, der Sohn, welcher bis zum Tode des Vaters im väter- lichen Hause gearbeitet hat, wird bei der Erbteilung bevor- zugt; der Nichtblutsverwandte, welcher, zu gleichen Rechten in den Haushalt aufgenommen, in ihm gearbeitet und Steuern gezahlt hat, wird bei der Erbteilung als gleichberechtigter Genosse behandelt. Alles dies sind jedoch nur schwache Reste der Vorzeit, Thatsächlich ist heute die kleine Familie bei den Kosaken durchaus vorherrschend ; sie ist, ähnlich der Familie in West- europa und in den oberen Schichten der russischen Gesell- schaft, weniger eine wirtschaftliche als eine physiologische und sittliche Einheit. Scharf nennt sie das Sprichwort der Ko- saken „ein Band des Blutes, nicht der Arbeit." Diese An- schauung ist so sehr die herrschende, dafs die Väter, soweit als möglich, versuchen, den Söhnen bei deren Heirat ein Haus zu bauen und ein Stück Land abzutreten. Wenn die Familie zu arm ist, um zu teilen, so sollen Fälle vorkommen, dafs Brüder in demselben Hause, ja in derselben Stube wohnen und doch getrennten Haushalt führen. Daher die Ansiedlung der Kosaken in kleinen, unregelmäfsig gebauten Weilern, welche nichts als abgeteilte Hauskommunionen sind. Die Sprengung der Hauskommunion und die Entstehung der kleinen Familie ist hier, wie wohl überall, vor allem ein Werk der Frau. Ist doch dieser Vorgang der erste Schritt zur Befreiung der Frau überhaupt. Mit allen Kräften strebt — 451 — die Jungverheiratete aus der Familie des Schwiegervaters hinaus und ersehnt einen eigenen Herd. In der grofsen Familie ist sie nichts als Arbeitskraft; in der kleinen ist sie die Herrin ihrer Kräfte, die sie, besonders wenn sie kleine Kinder hat, vielleicht mehr anstrengen mufs, aber über deren Anwendung sie doch freier verfügt. Hier erst erwacht in ihr die Lust an jenem kleinen Schmuck des Daseins, jenen echt weiblichen Sorgen, welche ein wichtiges Element der Kultur- und Wirtschaftsentwicklung bilden. Von dieser Seite lernt der Mann die Frau zuerst schätzen , um sie allmählich zu seiner Genossin emporzuheben. Bei den Grofsrussen, bei welchen die älteren Gemein- schaftsformen durch die Unfreiheit länger erhalten wurden, ist die Stellung der Frau eine schlechtere als in Kleinrufsland. Das zärtlichste Sprichwort des Grofsrussen, das mir hinsicht- lich der Frau bekannt ist, rät dem Manne: „Liebe deine Frau wie deine Seele und klopfe sie wie deinen Pelz." „Lang sind ihre Haare, kurz ihr Verstand," sagt ein anderes grofsrussisches Sprichwort, während der Kleinrusse in Haushaltsachen die Frau nach eigenem Ermessen wirtschaften läfst. Dafs die Frau die bessere Behandlung dem Manne durch gröfsere Sauberkeit vergilt, weifs jeder, der kleinrussische mit grofs- russischen Bauernstuben zu vergleichen Gelegenheit gehabt hat. Das Leben der Kleinrussen ist heiterer als das der Grofsrussen ; an Feiertagen tragen die Kosaken- und Bauern- mädchen Blumenkränze im Haar. An den langen Winter- abenden verfertigen sie altertümliche Stickereien, sogenannte „Handtücher", welche sie einmal ihrem Bewerber als Zeichen des Jaworts zuschicken wollen ; der Bräutigam schmückt sich mit ihnen bei der Hochzeit, um sie als Greis noch aufzu- bewahren. Auf dem Markt von Kobeljaki und anderwärts in Kleinrufsland sah ich nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen; jene verkaufen Getreide, diese die Produkte des Gartens und Haushaltes, ebenfalls ein Zeichen gröfserer Selb- ständigkeit der Frau, das in Grofsrufsland selten ist. Es ist nicht zu verkennen, dafs der Individualismus, wie 29* — 452 — er bei den kleinrussischen Kosaken zum Ausdruck kommt^ wirtschaftliche Gefahren in sich schliefst. Er führt zum Zer- fall der grofsen Höfe, zur Erbteilung zu gleichen Teilen, üa die Hypothek, welche zur Abfindung der Geschwister in Deutschland dient, fehlt, so bedeutet Erbteilung Real- teilung des Grund und Bodens, damit die Gefahr un- wirtschaftlicher Zersplitterung. Man beklagt die Entstehung- fragwürdiger Existenzen an Stelle wohlhabender Höfe, die ihre Glieder reichlich ernährten. In der That sehen wir aus diesem Grunde Gemeinden, Behörden und Gesetze den Familienteilungen entgegenarbeiten, freilich mit geringem Erfolge. Denn wo in der grofsen Fa- milie einmal Unfrieden eingezogen ist, wo der Alte seine Autorität thatsächlich verloren hat, was kein Gesetz ver- hindern kann, da ist der wirtschaftliche Niedergang sicher besiegelt; dann ist es immerhin noch besser, wenn die un- einigen Genossen teilen. Den arbeitsameren unter ihnen ist dann wenigstens auf dem Boden der kleinen Familie die Möglichkeit des Eraporstrebens gegeben. Bei den Kosaken Kobeljakis ist von einem Widerstand der Gemeinden gegen die Familienteilung keine 'Spur mehr zu finden; denn die kleine Familie ist völlig in das Rechts- bewufstsein der Bevölkerung übergegangen. Merkwürdiger- weise aber sind die Wirkungen der in Kobeljaki herrschenden Erbteilung an Grund und Boden keineswegs so ungünstig, wie die Agrarschriftsteller fürchten. Zwar ist zuzugeben, dafs die häufigen Familien- und Erbteilungen sicherlich mitgewirkt haben, hier jene breite untere Schicht, die wir kennen lernten, jene sogenannten „kraftlosen Höfe", zu schaffen; die Teilung hat gewifs manchen schwächeren Hof wirtschaftlich gänzlich vernichtet. Dafür ermöglicht die bestehende Ordnung des Privateigentums dem Verarmten aber auch eine gänzliche Loslösung vom Lande, welches ihm unter der Herrschaft des Gemeinde- besitzes häufig wie eine Fessel am Bein hängt. Auf der anderen Seite dagegen steht die Thatsache fest, dafs im bereisten Bezirke das System der Familien- und — 453 — Erbteilung zur Zeit wenigstens keineswegs die Entstehung kräftigerer Wirtschaften verhindert. Im Gegenteil ist nach den statistischen Untersuchungen der Landschaft anzunehmen, dafs in den letzten Jahrzehnten bei den Kosaken des Be- zirkes die Zahl und die Bedeutung der gröfseren Betriebe eher zugenommen hat. Lediglich die mittleren Wirtschaften haben nach oben und unten abgegeben; die reicheren Kosaken haben sich auf Kosten der mittleren entwickelt. Über die Gründe dieser merkwürdigen Erscheinung im Kobeljakischen kann ich auf Grund von Reisebeobachtungen lediglich Vermutungen aufstellen, ohne die Frage zu erschöpfen. Als Produzent einer marktgängigen Ware, des Weizens, im Besitz von Bargeld, baut der Kosak die durch Familienteilung zerfallenden gröfseren Betriebe durch Pachtung oder Zukauf von Gutsland wieder neu auf. Dabei ist Land für seine Ausbreitung im Uberflufs vor- handen , weil der Kosak seine weniger geldwirtschaftlichen Nachbarn auffrifst. Dem adeligen Gutsbesitzer ist er dadurch überlegen, dafs er die Kosten „standesgemäfsen" Unterhaltes nicht kennt; „er lebt wie ein Spartaner," sagte mir ein Kenner der Verhältnisse im Bezirk. Obgleich er keine französischen Romane liest und nicht von deutschen Gouvernanten erzogen ist, zeigt er innerlich weit mehr als der weiche, in seiner Existenz vom Staate abhängige Kleinadel jene Fähigkeit wirt- schaftlicher Selbstbehauptung, welche Tolstoi als „Grausam- keit" am Westeuropäer tadelt. Aber auch auf dem Boden des Bauernlandes können die kräftigeren Kosakenwirtschaften Eroberungen machen; was in Westeuropa der Abzug in die Stadt, das bedeutet hier die Auswanderungsmöglichkeit, welche das Land immer wieder von schwächeren und ärmeren Elementen reinigt. Der massen- hafte Abflufs der untersten Schichten nach dem Neulande des Ostens erleichtert gewifs die Zusammenfassung ihrer zurückbleibenden Parzellen zu kräftigeren Betrieben ^ Eine ^ Ich erinnere au folgendes, von S im kho witsch a. a. 0. S. 378 citierte Wort eines wohlhabenden Bauern aus Zla towratzki, — 454 — grofse Beweglichkeit des Bodens ist die Voraussetzung dieses Systems; in der That hörte ich vielfach Klagen über die Streulage der Grundstücke, welche trotz geschehener Ver- messung und Zusammenlegung in 10 — 15 Jahren wieder ein- getreten sei. Neben dem Verfall der alten Familienorganisation steht die Beseitigung der weitgehenden Rechte der Gemeinde über das einzelne Mitglied — Rechte, die in Grofsrufsland bis zur Selbstherrlichkeit der Gemeinde und Rechtlosigkeit des Individuums gesteigert sind. Zwar erinnert noch mancherlei an die frühere Bedeutung der Gemeinde auch auf dem individualistischen Boden des Kosakenlandes. Noch findet sich hin und wieder gemeinsame Bearbeitung der Gemeindeländereien , so wenigstens gemein- samer Grasschnitt der Wiesen durch alle Gemeindegenossen und Verteilung des Heues entsprechend den Anteilen der einzelnen Höfe am Gemeindegut. Gemeinsame Bebauung von Ackerland scheint nur zwecks der Füllung der Getreide- magazine vorzukommen, welche das Gesetz für jede Gemeinde vorschreibt. Gewöhnlich werden die Gemeindeländereien ver- pachtet und allenthalben besteht die Neigung zur gänzlichen Aufteilung der Reste des Gemeinbesitzes. Hin und. wieder wird noch — ein Rest des alten Occupationsbesitzes am Boden — das Recht jedes Genossen anerkannt, auf dem Gemeindelande eine Wohnstätte, Haus und Garten anzulegen und zwar ohne Entschädigung an die Ge- meindekasse. Heute wird in den meisten Gemeinden nur mehr gegen Zahlung, in anderen überhaupt nicht mehr, Gemeinde- land zur Neuansiedlung hergegeben. Am längsten erhielten sich hier wie anderwärts die Rechte der Gemeinde hinsichtlich der Wei d e. Nach den Mitteilungen Das bäuerliche Wei'ktagsleben, .St. Petersburg 1880, S. 203: „Ja, bei uns halten sich nicht die Schwarzen (die Verarmten), sie haben keine Luft. Und wenn's nicht so wäre, wie könnten wir dann leben?! Wenn dieses Volk nicht luftig wäre, dann wären wir sehr beengt . . . Aber jetzt, wo man einen genügenden Teil des luftigen Volkes aus dem Mir hinaus- fliegen läfst, ist es uns selber bequem." — 455 — des örtlichen Sachkenners, Herrn Wasilenko, welche mit den Studien des Professors Lutschitzki genügend übereinstimmen, herrschte früher weitgehende Gemengelage — eine Folge der sich zersplitternden ideellen Anteile der einzelnen Höfe an der Gemeindeflur. Demgegenüber stand ein strenger Flur- zwang, welchen die Gemeinde dazu benutzte, einen Teil der Felder periodisch dem Ackerbau zu entziehen und als Weide liegen zu lassen. Auf dieser Weide hatte jeder das Recht, soviel Vieh, als er hatte, zu weiden. Darüber hinaus lagen die gemeinsamen „Steppen", auf denen in alter Zeit jeder nach Belieben pflügen konnte. Die hier angelegten Felder waren dem Flurzwang entzogen. So entstanden vermutlich zahlreiche Einzelhöfe, aus ihnen durch Teilung vielleicht wieder Weiler, vielleicht Dörfer, wie denn z. B. Tochtergemeinden, welche mit den Muttergemeinden noch durch gemeinsamen Landbesitz verbunden sind, in Rufsland nicht zu den Seltenheiten gehören. Indem die Steppen all- mählich in Besitz genommen und bepflügt wurden, ergab sich eine fortschreitende Verminderung der ewigen Weiden. Dieses System wurde durch die Landvermessung und die Zusammenlegung gesprengt. Beide Mafsregeln wirkten zu- gleich bei dem geringen Wert der vorhandenen Baulichkeiten in der Richtung der Auseinandersiedlung. Die Folge war Auf- hebung des Flurzwanges für die gröfseren Wirtschaften und Beschränkung der gemeinsamen Brachweide. Es ist klar, dafs die kleineren Wirte unter dieser Einengung der Weide litten und zur Beschränkung des Viehstandes gezwungen wurden — ein Mittel zu ihrer Proletarisierung. Dagegen konnte mit Sprengung der alten Landverfassung die Wirtschaft der gröfseren Kosaken einen Charakter an- nehmen , ähnlich der früher kennen gelernten Wirtschaft der deutschen Kolonisten: äufserste Ausnutzung der Bodenkräfte zwecks möglichst grofser Getreideproduktion für den Markt. Hiervon hatte ich auf meinen Reisen im Poltavischen wieder- holten Anlafs, mich selbst zu überzeugen. Der Kosak baut vorwiegend Weizen und Gerste als Verkaufsware, während er selbst Roggenbrot ifst. Über die Hälfte der gesamten — 456 — besäeten Fläche des Bezirkes ist allein mit 'V^'eizen bestellt, welcher auf der Nikolajeffschen Bahn den Schwarzen Meer- häfen zufliefst. Diese Marktproduktion führt zu rücksichtsloser Aus- dehnung des Getreidelandes unter Ausraubung der Bodeu- kräfte. Mit der Dreifelderwirtschaft hat der Kosak die regelmäfsige Brache aufgegeben ; er bebaut das Land ununter- brochen. Das einzige Mittel, um das Land zu erholen und zu reinigen, ist der Buchweizen, der vor der Winterfrucht eingeschoben wird. Ein bestimmter Fruchtwechsel existiert nicht. In der That wird der Schwarzerde oft unglaubliches zugemutet. Nicht selten säet man sofort auf den Sommer- weizen den Winterroggen, wobei die Saat vielfach noch im Oktober vorgenommen wird. Reicht die Zeit nicht zur Be- stellung, so wird der Roggen ohne vorgängiges Pflügen auf die Stoppel gesäet und die Saat mittels der eisernen Egge nur oberflächlich mit Boden bedeckt. Die meisten der zahl- reichen Maschinen, welche eingeführt werden, haben ähnlich wie bei den deutschen Kolonisten nur die Ersparnis von Arbeitskräften zum Zweck, nicht die intensivere Bearbeitung des Bodens. Allenthalben findet man bei den wohlhabenden Kosaken Dreschmaschinen, Sortiermaschinen und Mähmaschinen. Der Bukker, jener mehrscharige Pflug, taucht auf, welcher eine weit gröfsere Fläche in gleicher Zeit zu bepflügeu er- möglicht, als der sonst übliche kleinrussische Pflug, aber auch mehrere Paar kräftiger Zugochsen erfordert. So technisch unvollkommen die geschilderte Bodenbearbeitung ist, so hat sie zeitweise schöne Überschüsse abgeworfen — ein Beweis dafür, dafs das technisch Vollkommenere keineswegs immer das wirtschaftlich Vorzuziehende ist. Jedoch zeigt sich hier, was sich anderwärts gezeigt hat: auch die köstlichste Schwarzerde ist nicht unerschöpflich; insbesondere ist hierfür ein Beweis die Unmöglichkeit, Winter- weizen auf Feldern anzubauen , welche längere Zeit hindurch dem Getreidebau gedient haben, ohne gedüngt zu werden. Auch hier wieder geht die energische Kosakenbevölkerung — 457 — voran, der südrussischen Landwirtschaft einen civilisierteren Charakter zu verleihen. Mehr als in anderen Bezirken der südrussischen Schwarz- erde tinden wir bei den klein russischen Kosaken heute bereits die Düngung in Anwendung, freilich nur bei den reicheren Kosaken , während die ärmere Bauernbevölkerung den Raub- bau bis an die Grenzen der Möglichkeit fortsetzt. Ganz be- sonders wichtig ist auch folgender Unterschied : die reichen Kosaken kaufen heute vielfach tiefarbeitende, deutsche Eisen- pflüge, ein wichtiger Fortschritt in der Richtung auf Intensität der Bestellung; die proletarisierten Bauern dagegen geben so- gar den kleinrussischen Holzpflug, welcher ein Ochsenpaar erfordert, auf, um zum grofsrussischen Hackenpfluge über- zugehen. Besonders sorgfältige Bearbeitung verwendet der Kosak auf das dem Hause benachbarte Stück Gartenland. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen der Wohnstätte des Bauern und des Kosaken augenfällig. Die Hütten der Bauern liegen meist gleichförmig an den langgedehnten Dorfstrafsen, ohne dafs die Farbe der Blumen oder das Grün der Bäume die Einförmigkeit unterbräche. In verschiedenen Teilen Rufs- lands habe ich die fruchtlosen Bemühungen der Polizei beob- achtet, die Anpflanzung von Bäumen in den Dörfern zu er- zwingen. Um der Polizeivorschrift äufserlich zu genügen, steckt der Bauer ein paar abgeschnittene Äste vor dem Hause in den Boden, welche verdorren, sobald das Auge der Beamten nicht mehr auf ihnen ruht. Es ist dies vielleicht eine Nach- wirkung der Unfreiheit, da der Hörige die eigene Wohnstätte als fremdes Eigentum mifsachtete. Was die Polizei nicht vermag, das bewirkt bei dem Kosaken die langeingewurzelte Gewohnheit des Privateigen- tums und die in ihr ruhende Liebe zur Heimat. Allenthalben sieht man die Weiler der Kosaken beschattet von Bäumen und von Fruchtgärten umgeben. Auf diese Gärten findet man in dem Kobel jakischen Bezirke eine Sorgfalt verwandt, welche ihnen schon heute eine wirtschaftliche Bedeutung verleiht, die in Zukunft nur wachsen kann. So besteht in der — 458 — Gegend eine starke Ausfuhr von Obst nach den benachbarten Städten Kieff, Jekatrinoslaw und Poltawa; daneben werden andere Gartenprodukte, insbesondere Wassermelonen, weithin und in grofsen Massen auf dem Dnjepr verfrachtet. — Im Gegensatz zu der Zähflüssigkeit grofsrussischer Agrar- verhältnisse sehen wir die Kosakenwirtschaft in schnellstem Flusse behndlich. Es gilt dies von ihr wie von jeder Wirt- schaft, welche unter dem Einflüsse der technischen Umwälzung der Gegenwart steht. In der That war Voraussetzung der ge- schilderten Zustände die Anwendung der Technik auf den Verkehr und die damit eintretende, wahrhaft erstaunliche Ver- billigung der Seefracht. Vorüber der lichtumflossenen Kuppel der Sophienkirche, dem ragenden Felsen Gibraltars, vielleicht auch den sagenumsponnenen Burgen des Rheines mag die Dampfkraft den Weizen der Kosaken der westdeutschen Handelsstadt zuführen. Es kostet nicht mehr, dieselbe Menge Weizen von Odessa per Schifl:', als aus dem benachbarten Bayern per Bahn nach Mannheim zu schaffen. Dort aber harren des russisclien Getreides der Industriearbeiter und der Kleinbauer der Rheinebene, ebenfalls Kinder der neueren geldwirtschaftlichen Entwicklung. Mit dem Ergehen dieser Bevölkerung ist das Aufblühen der entfernten Kosaken auf das engste verknüft. Wie die Gegenwart, so hängt aber auch die Zukunft des kleinrussischen Kosaken von den weitesten Verhält- nissen ab. Im Gegensatz zu den naturalwirtschaftlichen Bauern mittleren Schlages , im Gegensatz auch zu jenen Bauern, deren Existenz der morsche Boden der Hausindustrie noch trägt, sind für die Kosaken als geldwirtschaftliche Marktproduzenten die Getreidepreise von entscheidender Wichtigkeit. Daher ihr Interesse an der Handelspolitik der russischen Regierung und ihrer Nachbarn, nicht minder auch an der innerrussischen Eisenbahntarifpolitik, welche entscheidet, in welchem Mal'se das Neuland des fernen Ostens zur Kon- kurrenz mit dem älteren Westen zugelassen wird , ferner an der sibirischen Besiedlungspolitik u. s. w. Alle diese Um- stände und viele andere w^erden bestimmen, ob die Getreide- — 459 — preise eine durchschnittliche Höhe behaupten, welche den Kosaken den Übergang- zur intensiveren Wirtschaft er- möglichen wird, oder ob die Blüte der Kosakenhöfe verfallen wird, wie zahlreiche Farmen Neuenglands verfielen gegenüber der Entwicklung des fernen Westens. In letzter Linie aber dürfte die Zukunft der Kosaken- wirtschaft mitbestimmt werden von der Zukunft des benach- barten Montanbezirks des Donez Dnjeprbeckens. Neue Hoch- öfen und neue Bessemerkonverter bedeuten für den Kosaken die Möglichkeit, auch andere und qualifiziertere Erzeugnisse des Landbaues als das Getreide benachbarten Märkten zu- zuführen. Sechstes Kapitel. Zur Währungsreform. I. Die Aufgabe. A. Die währungspolitische Aufgabe. Wir lernten die Widersprüche kennen , an denen das Programm der Panslavisten Schiffbruch litt. Wir sahen ferner, dafs auch die wirtschaftbche Abwendung von Europa, welche in den Prohibitivzöllen der 80er Jahre ihren Ausdruck fand, den weitsichtig erfafsten Interessen der russischen Industrie- entwicklung selbst widersprach. Thatsächlich erfolgte ein Umschwung : politischer Frontwechsel vom Westen gegen den Osten, wirtschaftliche Annäherung an Europa, wie sie in dem russisch-französischen Handelsvertrag vom Juni 1893 und dem deutsch-russischen, sowie dem russisch-österreichischen Handels- vertrage vom März und Juli 1894 zum Ausdruck kam. Der Einsicht der Staatsmänner kam im Kampfe mit Ver- bohrtheit und Leidenschaft ein harter und unerbittlicher Lehr- meister zu Hilfe: der von den Finanzen ausgehende Zwang. Gegen Ende der 80er Jahre nämlich trat eine währungs- politische Aufgabe in den Vordergrund, deren finanzielle Durchführung jenen doppelten Umschwung gebieterisch er- heischte. Beim Staate aber wie beim Einzelnen sind die Finanzen die Grenze des Könnens gegenüber dem unbeschränk- ten Wollen; sie sind die Fesseln, mit denen das Handeln des — 461 — Staatsmannes an den Wagen der wirtschaftlichen Notwendigkeit gespannt ist. Von keiner Frage des Zarenreiches galt lange Zeit in gleichem Mafse, wie von der seiner Finanzen, das Dichterwort: „Von der Parteien Gunst und Hafs entstellt." Heute, nach- dem ein grofses, lange) Zeit in seinen Einzelheiten geheim gehaltenes Ziel erreicht ist, sehen wir klarer. Seit dem Krimkriege befand sich Rufsland in dem Zu- stande uneinlöslichen Papiergeldes, welches seit dem letzten Orientkriege einer schweren Entwertung unterlag. Obgleich einer bekannten Schulmeinung zufolge dieser Zustand für Rufsland grofse Vorteile hätte besitzen müssen, so hat das Zarenreich, wie jeder Staat, der die „Segnungen der Papier- währung" am eignen Leibe erfuhr, kein erstrebenswerteres Ziel gekannt, als die Rückführung seiner Währung auf metallische Basis. Aufklärend hat in dieser Hinsicht zweifellos das Buch A. Wagners gewirkt, welcher in den 60 er Jahren die russische Papierwährung, ihre Einwirkung auf die Volkswirtschaft, so- wie die Möglichkeit ihrer Beseitigung einer eingehenden Be- sprechung unterwarft. Trotzdem blieb die öffentliche Meinung bis in unsere Tage hinein überwiegend inflationistisch ver- derbt. Die Währungsreform vollzog der Staat gegen die öffentliche Meinung ^ , mit wenigen Ausnahmen gegen die Pi-esse , gegen den zähen W^iderstand des Publikums. Für den Staat aber kamen nicht nur, ja vielleicht nicht in erster Linie die allgemeinen, oft genug dargelegten volkswirtschaft- lichen Schäden der Papierwährung in Betracht, sondern vor allem die Gesichtspunkte des staatlichen Machtinteresses. Jede Abbröckelung des Papierkurses um Kopeken be- deutete für Rufsland, einen der gröfsten Goldschuldner der Welt, eine Mehrbelastung mit Zinsen um Millionen und ge- fährdete das Gleichgewicht des Budgets. Die blofse Möglich- ^ Die russische Papierwährung. Riga 1868. 2 Vergl. z. B. Berichte über die Währungsreform in der Freien ökonomischen Gesellschaft. — 462 ~ keit solcher Schwankungen verhinderte jede ordnungsmäfsige Voraussicht im Staatshaushalt. In Zeiten politischer Verwickelung, mit denen ein Staat wie Rulsland täglich rechnen mufs, bedeutete die Papierwäh- rung ein schwerwiegendes Moment der Schwäche. Ein Staat, welcher mit entwerteter Papierwährung in den Krieg eintritt, hat zu fürchten, dafs ihm das letzte finanzielle Hilfsmittel, die Notenpresse, versagt, indem nämlich der Kurssturz die Erträgnisse der Neuemissionen überholt. Dem gegenüber bietet die metallische Währung für die Staatsgläubiger auch bei Verdüsterung des politischen Himmels ein Pfandobjekt des gewährten und zu gewährenden Kredits; sie erleichtert die Aufnahme fundierter Anleihen. Endlich kann die Metall- cirkulation in den Tagen der höchsten Not unter Neuausgabe von Papiergeld zur Ausfuhr gebracht werden ; sie bedeutet daher einen kräftigen , finanziellen Rückhalt gegenüber kriegerischen Verwicklungen ^ Es mag paradox erscheinen, aber es war für Rufsland vielleicht nicht der letzt mafsgebliche Beweggrund: man be- seitige die Papierwährung, um gegebenen Falls neues Papier- geld in die Welt setzen zu können. Die Währungsreform ist unter diesem Gesichtspunkt eine „Wiederherstellung des Kriegsmaterials", wie die Ausgabe von Papiergeld eine Vor- wegnahme künftiger fundierter Anleihen ist, welche während des Krieges im Auslande schwer unterzubringen sind^. Wie friedlich immer die gegenwärtige Politik des Zarenreiches sein mag, so bedeutet die blofse Möglichkeit dieses Rückgriffes auf ca. 1500 Millionen Rubel Währungsmetall ein ansehnliches Machtmittel nach aussen. Die Währungsreform war die finanzpolitische Seite von Rufslands Weltpolitik. 1 Irreführend war es , weil die mühsam erkämpfte theoretische Unterscheidung von Banknote und Papiergekl verwischend, wenn L. V. Stein die Möglichkeit, bei Kriegsausbruch Staatspapiergeld aus- zugeben , als „Kriegsschatz'' bezeichnete. Letztere Bezeichnung trifft eigentlich nur den Barvorrat der centralen Notenbank , welchen der Staat zu Kriegszwecken entleiht, 2 Vergl. Kaufmann, Kreditbillette. Petersburg 1888, S. 358 ff. - 463 — Die beherrschende Stellung der Währungsreform in der äussern wie der Innern Politik des Zarenreiches wurde dadurch erhöht, dafs unter den russischen Staatsmännern der letzten beiden Jahrzehnte die Persönlichkeiten mehrerer Finanz- minister besonders hervorragten. Nicht gilt dies für den zweifelhaften Greig; dagegen verhinderte wohl nur die Un- gunst der Verhältnisse Abaza an der Bethätigung guter Fähigkeiten. Niemand übertraf Abazas Nachfolger, den früheren Pro- fessor der Finanzwissenschaft an der Universität Kieff, Nico- laus Christianowitsch Bunge, an gediegener, von bester Wissenschaft durchtränkter Sachkunde (Finanzminister vom Mai 1881 bis 1. Januar 1887) ^ Unter Verzicht auf Augen- blickserfolge entwarf Bunge das Programm der Valutareform auf dem Boden allmählicher finanzpolitischer Gesundung. Dieses Programm mufste bei der Schwierigkeit des Problems weit über die Dauer eines Ministeriums hinaus angelegt sein. Dem Nachfolger Bunges, Iwan Alexejewitsch Wischne- gradski, schien die Sonne des Glücks durch Frankreichs Wohlwollen und überreiche Ernten. Dagegen hat der Nach- folger Wischnesgradskis , S e r g i u s v. Witte, in schweren Tagen der Hungersnot sein Amt übernommen und mit be- wundernswertem Geschick, trotz zeitweiser Wolken am Finanz- politischen Himmel, die Früchte der lang angelegten Reform- arbeit zur Reife gebracht^. Sobald man die Wiederherstellung einer metallischen Währung sich zum Ziele setzte , stand man vor einem drei- fachen Wege. ' Die Finanzpolitischen Schriften Bunges, übei- den wir einen Artikel im Handwörterbuch der Staatswissenschaften vermissen, finden sich citiert bei Skalkowski: Les Ministres des linances de la Russie, S. 231. Nach S. war Bunge auch Übersetzer von A. Wagners Russischer Papierwährung. 2 Die Finanzminister Rufslands von 1802 — 1890 schildert etwas anekdotenhaft das citierte Buch von Skalkowski. Über Bunge ent- hält bemerkenswerte Angaben Raffalovich: Marchö financier 1895/96, S. 292 ff. — 464 — 1. Dem bestehenden Rechtszustand allein entsprach die Rückkehr zur Silbercirkulation ^, — ein Satz von Wichtigkeit gegenüber den Vorwürfen der Devalvation, welche der Wäh- rungsreform Rulslands mehr vom Inlande als vom Auslande gemacht worden sind. Grundlage des russischen Währungsrechtes bis in die Gegenwart war der Ukas vom 20. Juni 1810, welcher den Silber rubel schuf, die während des Jahrhunderts in ihrem Feingehalt unverändert gebliebene, eigentliche Währungsmünze^. Der genannte Ukas befahl zugleich, dafs alle auf Geldsummen lautenden Abmachungen n u r in Silberrubeln abgeschlossen werden sollten. Thatsächlich cirkulierten damals stark entwertete Assig- naten, welche zunächst keinen Zwangskurs hatten und solchen erst mit Einführung des Kurswertzwangskurses durch Ukas vom 9. April 1812 erhielten. Mit Recht bemerkt A. Mikla- schefski ^ , dafs damals , nicht erst 1839 die Devalvation ein- trat. Die Regierung nahm ihre Assignaten nur mehr zu stark herabgesetztem Kurse in Zahlung, d. h. sie repudiierte ihre eigenen Schuldversprechen. Kankrin, der bekannte Finanzminister Nikolaus' I. 1823 — 44, acceptierte diesen Zustand. Hatte bisher die Re- gierung von Zeit zu Zeit den Kurs festgesetzt, zu dem sie ihre Assignaten in Zahlung nahm , so legte Kankrin diesen Kurs dauernd fest, und zwar auf 1 Rubel Silber gleich 3,50 Rubel Assignaten (Manifest vom 1. Juli 1839). Zugleich aber that Kankrin einen wichtigen Schritt vor- wärts. Sein Vorgänger im Finanzministerium, Graf Gurjeif, den Kankrin als wertvollen Vorarbeiter, statt als Gegner hätte 1 Diese Ansicht vertreten u. a. E. Lorini: La Reforme mon^taire de la Russie. Paris 1898, S. 32, ebenso Lexis im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, zweiter Suplementband, Art. Papiergeld. 2 H. Mayer, Münzwesen nnd Edehnetallprodnktion Rufslands. Leipzig 1893, S. lo. ^ Alexander Miklaschefski: Geld, 2. Auflage. Moskau 1895, S. 580—588. — 465 - ansehen sollen ^ , hatte unter Aufnahme von fundierten An- leihen die Menge der umlaufenden Assignaten stark vermin- dert; hierdurch und infolge des anwachsenden Bedürfnisses nach Zahlungsmitteln war auf Grund des Kurswertzwangskurses eine Menge von Metallgeld wieder in Umlauf gekommen. Diese Umstände ermöglichten Kankrin trotz völlig unzu- reichender Barmittel an die metallische Fundierimg des Papier- geldes heranzutreten. Seine diesbezüglichen Mafsnahmen zerfielen in zwei Teile, in die Einziehung der Assignaten gegen neu ausgegebene „Kreditbillets" und die Einlösbarkeit dieser Kreditbillets in Silber. In der Periode von 1843—56 war der Silberrubel nicht nur rechtlich, sondern auch thatsächlich die Währungs- münze im vollsten Sinne des Wortes^: alle Kontrakte müssen auf Silbermünze lauten; der Gläubiger kann stets Silber fordern, der Scluddner sich stets mit Silber befreien. Dieser Zustand hat gesetzlich bis in unsere Tage bestanden. Auch das Münzgesetz von 1886 hat an ihm nichts geändert. Die Kreditbillets, welche Kankrin ausgab, waren trotz der Eigenschaft des Zwangskurses , den sie von vornherein besassen, zunächst rechtlich wie thatsächlich Repräsentanten des Silberrubels. Sie lauteten auf Silber. Wenn der Staat sich ihre Einlösung auch in Gold vorbehielt, so wollte er, wie Lexis bemerkt, hiermit ..die Erfüllung ihrer Einlösungsverbindlich- keit sich erleichtern , ohne Zweifel im Hinblick auf die seit dem Ende der 30er Jahre steigende Bedeutung der sibirischen Goldproduktion ^." Dagegen hatte der Inhaber eines Kredit- billets, wie jeder andere Gläubiger ein Recht nur auf Be- zahlung in Silber. 1 So urteilt Bunge, vergl. Zielinski, Der Rubel jetzt und vor 100 Jahren. Conrads Jahrbücher III. Folge, 16. Band, Heft 4, S. 447. 2 Die wichtigsten Bestimmungen des Manifestes vom 1. Juli 1839 sind abgedruckt von Lexis a. a. 0. S. 643 sowie bei A. Mikla- schefski a. a. 0. ^ Lexis a. a. 0. S. 644. Ich möchte daher den Ausdruck „Doppel- währung" , welchen Zielinski, Heft 5 a. a. 0. S. 624 von den älteren russischen Währungszuständen braucht, verwerfen. V. Sehulze-Gae vern itz, Studien a. Eufsl. 30 — 466 — Thatsächlich wurde die Einlösbarkeit der Kreditbillets trotz unzureichender Barvorräte — nach dem Gesetze nur ein Sechstel des Betrages der Emission — bis 1856 aufrecht erhalten. Im Krimkriege wurde die Einlösung ausgesetzt und seitdem nicht wieder aufgenommen, ohne dafs hierüber eine besondere Verordnung veröffentlicht worden wäre. Die Kreditbillets wurden damit Geldsurrogat, nicht nur als Umlaufsmittel, was sie bisher gewesen waren, sondern auch als Wertmafsstab, freilich nicht unveränderlicher Wert- mafsstab, wie es die metallische Währungsmünze ist, sondern ein Wertmafsstab selbst veränderlich nach all den Gründen, welche das Agio des Papiergeldes bestimmen. Solange die Erinnerung an ihre Silbergrundlage noch bestand, blieb ihr Wert in einem gewissen Zusammenhang mit dem Werte des Silberrubels; später ging dieser thatsächliche Zusammenhang völlig verloren. Dem gegenüber fehlte dem G o 1 d r u b e 1 das erste Erfordernis einer Währungsmünze: unbeschränkte gesetzliche Zahlungskraft. Der Staat gewährleistete ihm durch die Prägung lediglich einen bestimmten Feingehalt. Ursprünglich Avar er reine Handelsmünze; der Nennwert bedeutete in diesem Falle überhaupt nichts als eine theoretische Aussage über die vom russischen Gesetzgeber für richtig gehaltene Wertrelation vom Gold zum Silber. Durch das Manifest vom 1. Juli 1839 erhielt diese Gold- münze Kassenkurs in dem Sinne, dafs die Regierungskassen sie in einem bestimmten Wertverhältnis statt des Silbers ent- gegennahmen : und zwar zum Nennwert plus 3 °/o. Letzterer Zuschlag bezweckte die Gleichstellung mit der Relation des Auslandes ; trotzdem erreichte man nur eine Relation von 1 : 15, 45; das Gold bliebe also nach wie vor unterschätzt^. Seit der Ordonnanz von 1885 wurde der Goldrubel wieder reine Handelsmünze. Die damals vorgenommene Veränderung des Feingehaltes des Goldrubels hatte lediglich die Bedeutung der theoretischen Proklamierung der damals durch die That- 1 Vergl. Mayer a. a. 0. S. 15. - 467 — Sachen längst überholten „klassischen" Wertrelation von 1 : 15^2. Eine mittelbare Bedeutung mochte diese Mafsregel haben, weil sie den Halbimperialen an Gewicht und Fein- gehalt dem 20 Frankenstück so nahe brachte, dafs beide Münzen auf den internationalen Märkten mit nahezu dem gleichen Werte cirkulierten ; die Einbürgerung der russischen Goldanleihen auf der Pariser Börse mag hierdurch erleichtert worden sein ^. Währungsrechtlich dagegen wurde die Natur des Gold- rubels durch diese münztechnischen Bestimmungen ebenso wenig berührt, wie durch Specialgesetze, welche in bestimmten Ausnahmefällen (bei Zollzahlung, für Zinsen und Amortisation der Goldanleihen) Zahlung in Goldrubeln dem Schuldner vor- schrieben. Bei allen anderen Forderungen, z. B. selbst Wechseln, welche auf Goldrubel lauteten, konnte der Schuldner sich stets durch Zahlung einer gleichen Anzahl von Silber-, bezw. Papierrubeln befreien, während die Zahlung in Gold die Übereinstimmung beider Teile voraussetzte^. Erst durch Dekret vom 3. März 1895, also während die Währungsreform in vollem Gange war, wurden Abschlüsse in Goldrubeln autorisiert und der Schuldner, welcher Gold ver- sprochen hatte, gezwungen, Goldrubel oder ihren Kurswert in Papier zu zahlen. Erst damit erhielt das Gold gesetzliche Zahlungskraft. Das Gesagte ergiebt : dem bestehenden Währungs rechte entsprach eine Währungsreform, welche den Papierrubel gegen Silberrubel eingelöst hätte. Abgesehen vom Wortlaut der Gesetze hätte man für diesen Weg der Währungsreform auch anführen können, dafs bei der gesetzlichen Unterschätzung des Goldes^ in Rufsland thatsächlich während des ganzen 1 Dieser Meinung ist Lorini a. a. 0. S. 63. 2 Näheres hierüber A. Ruetz, Zur Geschichte der russischen Vahitareform. Die Währungspolitik Rufslauds 1881—95. Eine Disser- tation der Freiburger Universität. 3 Vergl. J. J. Kaufmann, Die Wechselkurse Rufslands 1841 bis 1890. Ausgabe des centralen ytatistischen Comites. Petersburg 1892, S. XV. 30* — 468 — Jahrhunderts Silber cirkuliert hätte, wenn kein Papiergeld vorhanden gewesen wäre. Gold wäre unrettbar abgeflossen, wie dies thatsächlich 1862/63 der Fall war, als man vorüber- gehend die Kreditbillets gegen Gold oder Silber einlöste. Man hat alsdann noch kurze Zeit die Einlösung nur gegen Silber aufrecht erhalten — wozu man sich auf Grund der Münzgesetze für zweifellos berechtigt hielt ^. Der Silberumlauf wäre in unseren Tagen sinkenden Silberpreises leicht zu erreichen gewesen. Ende 1892 erreichte der Papierrubel pari mit dem Silberrubel. Der Staat hätte entweder selbst Silber kaufen und prägen oder die seit 1893 rentabel gewordene Silberprägung der Privatinitiative über- lassen können ^. Der russische Staat, einer der gröfsten Goldschuldner der Welt, hat aus handgreiflichen Gründen diesen Weg nicht gewählt. Nur radikalste Inflationisten, welche merkwürdiger- weise auch in dem angesehenen „Europäischen Boten" zu Worte kamen, konnten ihn befürworten^. Für Staatsmänner, die sich ihrer Verantwortlichkeit bewufst waren, genügten die Erfahrungen des indischen Budgets. Rufsland schlofs seine Münzstätten dem weifsen Metall. Der russische Staat also konnte jeden andern Weg der Münzreform wählen , vorausgesetzt , dafs er seine Gläubiger nicht schlechter stellte, als sie eine Einlösung des Kreditrubels zum Silbernennwerte gestellt hätte. Betrachten wir die weiteren Möglichkeiten. Mit der Silberwährung war zugleich die nationale oder nur mit einigen Staaten vereinbarte Doppelwährung verdammt. Dieselbe hätte angesichts der Überschätzung des Silbers, 1 Raffalovich, Der Kreditrubel. Paris 1896, S. 6/7. 2 Nach Jan sc hüll, Finanz Wissenschaft. Petersburg 1890, S. 216 erhob Eufsland nach dem Münzgesetz von 1885 die hohe Prägegebühr von 60 Silberrubel pro Pud Feinsilber, d. h. vom Silberrubel 6,5 Kop. ^ Ein Befürworter der reinen Silberwährung war z. B. Slominski, Europäischer Bote. Juniheft 1895. Slominski bezeichnet die Ansamm- lung eines Einwechselungsfonds in Gold als ein „übertiüssiges Opfer". S. 805. — 469 — welche der Bimetallismus beliebt, zum Silberumlauf geführt. Auch bei Zugrundelegung der gegenwärtigen Marktrelation wjire dieselbe Erscheinung lediglich etwas später zu befürchten gewesen , da das Silber heute infolge der Fortschritte der Technik als nahezu beliebig vermehrbare Ware anzusehen ist ^ Die Hoffnung auf internationale Doppelwährung, welche in der Presse zahlreiche Fürsprecher fand, hätte die Reform aufs ungewisse vertagt^. Meiner Meinung nach konnte vom praktischen Standpunkt aus überhaupt nur zweierlei in Betracht kommen. Entweder: man behielt unter möglichster Festigung des Rubelkurses den bisherigen Zustand bei — der Papierrubel blieb dann Kreditgeld, selbstständiger Wertmafsstab, Repräsentant einer mehr oder weniger veränderlichen Menge Goldes. Diesen Weg empfahl z. B. unter beachtenswertem Hinweis auf die russische Zahlungsbilanz Prof. Chodski^. Hielt man Rufsland für reif zur metallischen Währung, so blieb nichts als die Goldwährung übrig. Da Gold heute der internationale Wertmafsstab ist, so befreit allein der Besitz von Goldwährung die Volkswirtschaft von den schädlichen Schwankungen der inneren Valuta im Verhältnis zum Weltgelde. Der gewichtigste Einwand, welcher im Auslande gegen Handelsverträge mit Rufsland geltend gemacht wurde, war der, dafs die schwankende Valuta Zollkonzessionen Rufslands hinfällig mache. Wollte man Sicherung der russischen Ausfuhr durch Handelsverträge, so 1 So Lexis, Handbuch der politischen Ökonomie. Bd. I, 4. Aufl., S. 400. Für die Silberproduktion bestehe keine andere Grenze als die durch das immer weiter gehende Sinken des Preises gezogene. Über- einstimmend viele andere. Vergl. auch den von Lotz gegebenen Be- richt über die Ergebnisse der deutschen Silberkommission in Schmollers Jahrbuch 1894/95. 2 Anhänger der internationalen Doppelwährung war z. B. Bu tmy, Betrachtungen eines südrussischen Landwirts. Berlin 1897. 3 So Chodski in der Freien Ökonomischen Gesellschaft. Ähnlich Schaparoff, ZitFernmäfsige Analyse der Zahlungsbilanz Rufslands 1881 bis 1895. Petersburg 1897. — 470 — mufste man diesen Einwand beseitigen. Hierzu aber war allein die Goldwährung geeignet. Endlich Gold in Gestalt einer gesättigten Cirkulation ist der in allen Wechselfällen der Politik verläfsliche , jederzeit verkäufliche Kriegsschatz; denn Gold ist die internationalste aller Waren. Gold besitz ist Weltmacht, weshalb die englischen Bimetallisten, unter ihnen einflufsreiche Staatsmänner, der übrigen Welt zwar den Bimetallismus anraten, England selbst aber kein Haar breit von dem „Willen der City" abweicht^. Dieser „Bimetallismus für die andern" erinnert an „das Schiedsgericht für die an- dern", für welches sich England Sommer 1899 im -Haag be- geisterte, während es in denselben Tagen den südafrikanischen Krieg vorbereitete. England kann sich ebensowenig durch internationale Verti-äge seine Goldwährung beschneiden lassen, wie es allen internationalen Abrüstungsvorschlägen gegenüber von vornherein seine Flotte ausnimmt. Rufsland hat sich schon früh das Ziel der Goldwährung gesetzt, was daraus hervorgeht, dafs es bereits in den 70er Jahren Zwecks Fundierung des Papiergeldes einen Barvorrat in Gold ansammelte ^. Auf dem Boden der Goldwährung boten sich nun wieder zwei Möglichkeiten. Die erste bestand in der Hebung des Papierrubels auf die Höhe des alten Goldrubels, obgleich ein gesetzliches Verhältnis zwischen beiden bisher nicht bestanden hatte. Dieser Weg hätte den Vorteil für sich gehabt, die teils unwissende, teils böswillige Kritik abzuschneiden, Avelche die russische Währungsreform im eigenen Lande gefunden hat^. Man hätte vermieden, einen neuen, geringwichtigeren Goldrubel in Umlauf zu setzen, was nicht nur beim ungebildeten Land- volk, sondern auch bei dem in Währungsfragen nicht minder 1 So H elf fe rieh, Geschiebte der deutschen Geldreform. Leipzig 1898, S. 465. 2 Lorini a. a. 0. S. 51 ff. ^ Vergl. die berüchtigten Schriften von Cyon, Paris. Verlag von A. Charles, Rue Monsieur Le-Prince 8. Z. B. „Les finances Russes et L'Epargne Frangaise". — 471 — ungebildeten städtischen Publikum Anstofs erregte. Hat doch die Tagespresse mit wenigen Ausnahmen die Währungsreform als „verdeckten Staatsbankerott" verurteilt und das Publikum der Annahme der neuen Goldmünzen zähen Widerstand ent- gegengesetzt. Aber diesen Vorteilen standen weit überwiegende Kach- teile gegenüber. Der Weg einer beträchtlichen Hebung des Papierkurses war nur möglich unter Kontraktion der um- laufenden Notenmenge — eine Mafsregel, welche bei wachsen- der Bevölkerung und in einer Zeit aufstrebender Volkswirt- schaft aufserordentlich schwer durchzuführen ist. Gegenüber den periodisch wiederkehrenden Bedürfnissen des Verkehrs nach Vermehrung der Umlaufsmittel hat das russische Finanzministerium alle Mühe gehabt, den vor- handenen Papierumlauf auch nur auf der gleichen Höhe zu erhalten. Jenen durchaus legitimen Bedürfnissen ^ welche bei metallischer Währung die Banknoten befriedigen, hat Rufs- land wiederholt durch Neuemissionen von Papiergeld ent- sprechen müssen, so bei der aul'sergewöhnlicli guten Ernte 1888, wie bei den Mifsernten 1891 und 1892; es war nicht leicht, diese voll gegen Gold gedeckten Noten wieder aus dem Verkehr herauszubringen ^ Kontraktion war um "so schwieriger in einem Lande, wo der Umlauf des Geldes sehr langsam und bei dem Mangel bankmäfsiger Zahlungsmethoden der Bedarf nach Kassen- beständen aufsergewöhnlich grofs ist. Endlich, die Hebung des Rubelkurses auf die Höhe des alten Goldrubels wäre nur möglich gewesen unter beträcht- lichen , die ganze Volkswirtschaft schwer schädigenden Kurs- schwankungen. Kursschwankungen vorwiegend nach Oben, wie sie in Rufsland stattgehabt hätten, wären vom Rückgang der Preise ' Raffalovich, Marche financier. 1892/93, Ö. 72. Die resi-ol- mäfsigen Schwankungen des Grcldbcdarfs nach Jahreszeiten hat man aus den Kassenvorräten der Reichsbank bestritten. A. a, O. 1894/95, S. 216. — 472 — begleitet gewesen. Die Ausfuhrwaren des Welthandels, vor allem Getreide, besitzen Goldpreise; jede Kursschwankung teilt sich sofort ihren Papierpreisen mit. Wie ich mich auf meinen Reisen überzeugte, trägt der Telegraph jede Ver- änderung der Weltmarktspreise sofort bis an die entlegensten Ufer des Wolga und darüber hinaus. Dagegen besitzen nur wenige Teile der landwirtschaftlichen Produktionskosten Gold- preise, so z. B. die vom Ausland eingeführten Maschinen. Nicht gilt dies dagegen von Löhnen, Schuldzinsen, Steuern. Im mittleren Rufsland sind die Löhne, wie wir sahen, naturalwirtschaftlich und, da der Bauer Geti'eide ifst, in ge- wisser Weise Goldlöhne. Eine Verbilligung der Papierpreise des Getreides, die Folge der Kurssteigerung des Rubels, be- deutete hier eine Verbilligung der Löhne \ Anders im neu besiedelten Süden und Osten, den Hauptausfuhrgebieten. Hier sind die Löhne geldwirtschaftlich, und zwar Papierlöhne, die nicht ohne weiteres mit Kurssteigerung fallen. Die dort vor- wiegende Wanderarbeit befindet sich zudem wegen ihrer Flüssigkeit, wie wir sahen, in jenen dünn besiedelten Gegen- den in kolonialer Machtlage ; nur sehr unvollständig und all- mählich hätten voraussichtlich die Getreideproduzenten jener Gegenden der Kurssteigerung des Rubels mit Herabsetzung der Löhne folgen können^. Auch die riesige Verschuldung der russischen Landwirt- schaft ist vorwiegend in Papier kontrahiert^. Bei steigendem 1 Anders nach Max Weber der argentinische Arbeiter, welcher Fleisch ifst, keine Ausfuhrwaren. Vergl. Deutsches Wochenblatt vom 11. Januar und 11. Februar 1894. Näheres siehe bei Goodwin, Wheat farming in Argentine. 2 Leider ist diese J'i-age in der volkswirtschaftlichen Litteratur Eufslands völlig unbearbeitet, sodafs der bekannte Währungsschrift- steller Prof. A. Miklaschefski eine eingehendere Beantwortung mir brieflich für unmöglich erklärte. 3 Von allen Hypothekeuinstituten lauteten nur die Pfandbriefe der „Gesellschaft gegenseitigen Bodenkredits" auf Gold, wofür auch die Zinsen in Gold erhoben wurden. Diese Gesellschaft lebt heute als besondere Abteilung der staatlichen Adelsbank fort und erhebt von ihren Schuldnern nunmehr die Zinsen in Kreditvaluta. Anders nach — 473 — Papierkurse wäre die Zinslast unerträglich geworden — um so mehr als das Kapital in entwertetem Papier empfangen war ^ Steuerherabsetzungen als Folge der steigenden Papier- valuta zu erhoffen, verbot die ganze bisherige Finanz- geschichte ; der Druck der wachsenden Staatsbeditrfnisse hätte in dieser Hinsicht um so weniger eine Erleichterung der Landwirtschaft gestattet, als der Staat seine Papieranleihen ja auch in steigender Valuta zu verzinsen gehabt hätte. In der That hatte man wiederholt in den letzten Jahren die Probe auf diese Befürchtungen gemacht. Vorübergehende Kurssteigerungen hatten dem russischen Landwirt öfters die günstigste Konjunktur verdorben. Keine günstigere Lage z. B. für Ptufsland als die der Jahre 1888 und 1890: Mifs- ernte der überseeischen Getreideproduzenten, reiche Ernte in Rufsland, steigende Weltraarktspreise des Getreides. Das gleich- zeitige Steigen des Papierrubels hob jedoch infolge sinkender innerer Getreidepreise für den russischen Landwirt die Gunst der Lage völlig auf^. Der russische Landwirt verkaufte mit Verlust, weshalb Rufsland grofse Bestände zurückhielt. Das, was in diesen Fällen die Verbesserung der Handels- bilanz und politische Umstände bewirkten, hätte eine ziel- bewufste Kontraktion zAvecks Hebung des Kreditrubels auf die Kurshöhe des Goldrubels zur dauernden Erscheinung gemacht: der russische Landwirt wäre in der Herabschraubung seiner Max Weber, Deutsches Wochenblatt vom 11. Januar und 11. Februar 1894, die argentinische Landwirtschaft, welche Goldziusen zahlt. ' Laut Saling, Börsenhandbuch, 2. Teil 1896/97, Avaren ausge- geben an staatlich garantierten Pfandbriefen: a) in Gold: ßussische ö^/oige steuerpflichtige Bodenkredit -Pfandbriefe. Ultimo Juni 1895 noch ca. 5 Mill. Rubel, 4'/2°/oige steuerfreie Bodenkredit -Pfandbriefe. Ultimo 'Dezember 1895 in Umlauf ca. 80 Mill. Eubel; b) in Papier: 5% ige Prämien - Pfandbriefe der Reichsadclsagrarbank ca. 80 Mill. Rubel. 4V2 und 4% ige Pfandbriefe derselben Bank, Ende 1895 ca. 220 Mill. Rubel. Russische Reichs Bauern- Agrarbank 4V2 und 4<*/oige, 1895 ca. 66 Mill. Rubel. 4%ige Polnische Liquidations -Pfandbriefe, Umlauf ultimo 1895 ca. 24 Mill. Rubel. 2 Vergl. Helfferich in Schmollers Jahrbuch. Jahrg. 21, S. 401. — 474 — Produktionskosten den sinkenden inneren Getreidepreisen allemal nachgehinkt. Dieser von vielen empfohlene Weg der Währungsreform wäre Ruin der Landwirtschaft gewesen; er war aus diesem Grunde ungangbar. Alle diese Schwierigkeiten konnte man vermeiden , wenn es gelang, den Rubel kurs auf der durchschnittlichen Höhe der letzten Jahre festzulegen. Man konnte alsdann eine allmäh- liche Ausgleichung aller Preise erhoffen , bis sie sich auf das Niveau stellten , welches sie ohne Einflufs von selten der Valuta her besessen haben würden — freilich findet, wie A. Wagner mit Recht hervorhebt, diese Preisausgleiehung in Rufsland langsamer statt, als in Ländern mit schnellerem Geld- umlauf. Nur auf diesem Wege verteilte man Licht und Schatten gleichmäfsig zwischen allen Klassen der Bevölkerung; nur so war annähernd zu erreichen, Avas der Finanzminister als leitenden Grundsatz der Währungsreform erklärte, dafs da- durch „niemand reicher und niemand ärmer" Averden dürfe ^. Für diesen Weg der Währungsreform sprach ein weiterer Grund. Gesetzlich war der Papierrubel zwar Silber- repräsentant bis durch Sperrung der Münzstätte für das Silber. Empfunden wurde er als Silberrepräsentant da- gegen nur bis in die erste Hälfte der siebziger Jahre, während welcher Zeit er mit der Silberbarrenwährung Ham- burgs eine feste, mit der englischen Goldwährung dagegen, je nach den Schwankungen des Silberpreises, eine veränder- liche Parität besafs. Das Statistische Central-Komitee berechnet ^ Selbst A. Wagner, der erklärte Gegner jeder Devalvation, hat sich, vorbehaltlich der Frage, ob Goldwährung überhaupt zu erstreben sei , für diesen Weg der Währungsreform Rufslands ausgesprochen. „Man wird wohl nicht das frühere Goldpari der Silbermünze zum Aus- gangspunkt nehmen können". Handbuch der politischen Ökonomie. 3. Band, 1. Halbband, 4. Aufl. Tübingen 1897, S. 848, 849. In der deutschen Silberkommission hat, nach dem oben angeführten Bericht von Lotz in Schmollers Jahrbuch 1894/95, Lexis die verminderte Kaufkraft des Eubels im Innern. Eufslands auf ca. 2,20 M. Goldkurs geschätzt. — 475 — diese veränderlichen Goldparitäten des Rubels ausgehend von einer festen Silberparität bis 1873 ^. Seitdem war jener Punkt längst erreicht worden , da die gesetzliche Metallunterlage für das Wertbewufstsein jede Bedeutung verliert. Thatsächlich bestimmte sich der Rubel- kurs nach Angebot und Nachfrage von dreimonatlichem London auf dem Petersburger Wechselmarkt, nach Angebot und Nachfrage von Papierrubeln gegen deutsches Reichsgold auf der Berliner Rubelbörse. Der Rubel wurde in Gold ge- messen, denn die Zahlungsbeziehungen zum Auslande, welche in normalen Zeiten den Papierkurs beherrschen ^, waren längst G oldbeziehungen. Der Rubel war zwar nicht gesetzlich, wohl aber thatsächlich Goldrepräsentant. Aber der Papierrubel war nicht Repräsentant derjenigen Menge Goldes, welche der gesetzliche Goldrubel enthielt: 324 deutsche Reichspfennige oder 38,35 d. Dreimonatliches London bei 4 '* o Diskont. Mit dem Goldrubel hatte der Papierrubel überhaupt nichts zu thun, da beide nur via Silber- rubel und zwar lediglich durch den Kassenkurs des Goldrubels auf Grund einer völlig veralteten Wertrelation verbunden waren. Es Avar daher unrichtig, von irgend welcher Gold- parität des Papierrabeis zu sprechen, wie Kaufmann und andere thaten^. Vielmehr war der Papierrubel Repräsentant einer mehr oder weniger schwankenden Menge Goldes , welche der Preis von London lang in Petersburg oder der Rubelpreis in Berlin namhaft machte. Diese Goldmenge hatte im Durchschnitt der Jahre 1884 — 1895 ungefähr 216 deutsche Reichspfennige be- tragen, welche Goldmenge daher mit Recht der neu zu schlagen- den Währungsmünze zu Grunde gelegt wurde. 1 Kaufmann, Eufslands Wechselkurse 1841 bis 1890. Petersburg 1892, S. VII und XVI. - Vergl. A. Wagner, Russische Papierwährung. S, 87ff. : „in normalen Zeiten erlangt der Wechselkurs Herrschaft über das Agio". 3 Kaufmann a. a. 0. S. IX. — 476 — Zudem waren die von dieser Mittellinie am weitesten ab- liegenden, aulsergewöhnlich ungünstigen Kurse von 1887 88 ebenso wie die aufsergewöhnlich günstigen Kurse von 1890 durch „aufsergewöhnliclie Gründe" verursacht worden ^ Mit jedem Jahre war die Spannung zwischen dem höchsten und niedersten Kurse des Jahres geringer geworden. Seit 1894 hielten sich die SchAvankungen des Rubels in Grenzen, welche nicht Aveiter waren als die in Goldwährungsländern durch die Goldpunkte gesetzten — es war dies das Ergebnis der unten zu besprechenden Mafsregeln der russischen Regierung auf dem Petersburger Devisenmarkt und der Berliner Rubelbörse. In letzter Linie sprach für den Kurs von 216 Reichs- pfennigen der gewichtige Vorteil, dafs unter seiner Zu- grundelegung IV2 Papierrubel einem alten Goldrubel gleich waren. Das Ziel der russischen Finanzpolitik der beiden letzten Jahrzehnte war damit gesetzt: Stabilisierung des Kurses auf der Höhe von 1,50 R. Papier ^= 1 R. Gold alter Prägung, Beschaff ung von Gold zwecks Einlösbarkeit der umlaufenden Papierrubel zu diesem Kurse, Prägung eines neuen G o 1 d r u b e 1 s im Werte von ^ '3 des bisherigen, Sättigung des Verkehrs mit dieser Münze unter möglichster Einziehung der umlaufenden K r e d i t b i 1 1 e t s. ^ L e X i s a. a. 0. S. 642 scheint geneigt, den mittleren Kurs höher als 216 anzunehmen, weil die niedern Kurse der Jahre 1887/8 durch „politische Sjiannung" beeinflufst gewesen seien. Aber politische Gründe galten auch für die günstigen Kurse von 1890. Raffalovich betont, dafs die Höhe der 1890er Kurse in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Jahres nicht begründet gewesen sei; die Ernte von 1890 reichte an die von 1888 nicht heran. Die günstigen Kurse von 1890 wurden vielmehr durch den Besuch Kaiser Wilhelms II. in Petersburg verur- sacht, — aufserdem wie mir ein Berliner Eubelspekulant versicherte, durch die irrige Meinung der Berliner Börse, dafs Rufsland eine Währungsreform unter Gleichstellung des Papierrubels mit dem alten Goldrubel beabsichtige — dieser Irrtum war gcAvifs auch ein „aufser- gewöhnlicher Umstand". — 477 — Dieses Ziel wurde bereits in einer Sitzung des Finanz- komitees Juni 1887 festgestellt; das Protokoll dieser Sitzung zeichnete Kaiser Alexander III. eigenhändig mit dem Worte: „auszuführen". Freilich war man durch die Mifserfolge der Vergangenheit belehrt, dafs auf diesem Gebiete nichts zu überhasten und nichts mit kleinlichen Kunstgriffen zu er- reichen sei. Das festgestellte Währungsprogramm wurde viel- mehr geheim gehalten, bis man im Besitz eines den ganzen Notenumlauf übersteigenden Einwechselungsfonds in Gold war. Heute ist das damals aufgestellte Ziel im wesentlichen verwirklicht. Die erste Aufgabe der russischen Wirtschafts- politik der nächsten Jahrzehnte ist Erhaltung und Ver- teidigung des schwer Erreichten. Die technischen Mafsnahmen auf dem Gebiete der Münz- gesetzgebung, welche die Einführung der Goldwährung be- gleiteten , fallen aus dem Rahmen dieser Arbeit hinaus ; sie sind aufserdem bereits der Gegenstand mehrerer und zwar nicht nur in russischer Sprache verfafster Schriften. Die wirtschafts- und finanzpolitischen Grundlagen der Reform werden wir in besonderen Abschnitten dieses Kapitels behandeln, weil sie in gleicher Weise für die Einführung wie für den künftigen Bestand der Goldwährung mafsgeblich sind. Hier sei noch die gegenwärtige Lage, welche Abschlufs der Reform bedeutet, dem Leser kurz vergegenwärtigt. 1 . Der G 0 1 d r u b e 1 neuer Prägung besitzt alle Merkmale einer wirklichen Währungsmünze •, dafs nur sein Vielfaches ausgeprägt wird, ist gleichgültig. Der Goldrubel neuer Prägung besitzt zunächst unbeschränkte gesetz- liche Z a h 1 u n g s k r a f t. Seine Prägung beglaubigt lediglich eine bestimmte Gewichtsmenge Goldes, auf welchem Stoffwerte sein internationaler Tauschwert beruht. Diese Bindung des Münzwertes an den Stoffwert wird gewährleistet durch die Frei präg bar ke it, natürlich ab- gesehen von den geringen Schwankungen innerhalb der Gold- punkte. In praxi wii*d die Freiprägbarkeit dadurch erreicht, dafs die Centralbank ausländische Goldmünzen und Barren- gold zu einem festen Preise ankauft und mit einem geringen — 478 — Abzug von demjenigen Werte bezahlt, welchen dieselbe Gold- menge in heimischer Münze ausgebracht darstellen würde ^. Gesetzlich ist die russische Reichsbank zu einem bestimmten Goldankaufspreise nicht verpflichtet; thatsächlich geht sie in der Erleichterung der Goldeinfuhr weiter als § 14 des deutschen Bankgesetzes vorschreibt, indem sie zur Zeit 1 *^'oo Prägekosten belastet. Es ergiebt sich dies aus folgender Rechnung : ? Rubel neuer Prägung = 1 russ. Pfund Gold fein, Avenn ^/lo Pfund Gold fein = 1 Pfund gemünzt, und 1 Pfund = 9216 doli, ,, 290,4 doli = 1 Imperial, „ 1 Imperial = 15 Rubel neuer Prägung dann ist 1 russ. Pfund Gold fein = 528,9254 Rubel dagegen beträgt Ankaufspreis der Bank für 1 russ. Pfund fein = 528,39669 ,, also Schlagschatz für 1 russ. Pfund Gold fein = 0,52871 Rubel, d.h. ca. P/oo'''. Aber die voll durchgeführte Goldwährung verlangt auch die Möglichkeit der Goldausfuhr zwecks Korrektur vorüber- gehend ungünstiger Wechselkurse. Dem entspricht, dafs die russische Reichsbank zur Zeit beliebig Goldtratten auf das Ausland zu Preisen verkauft, welche von der Parität nur innerhalb des Goldpunktes abweichen. Sollten die Guthaben im Auslande, auf welche die russische Reichsbank diese Goldtratten zieht, einmal erschöpft sein und damit das Bedürfnis der thatsächlichen Goldausfuhr eintreten, so wird die Kaltblütigkeit, mit welcher die Re- gierung diese Eventualität erträgt, einen Beweis für die Festigkeit der Goldwährung abgeben. Erschwerungen der Ausfuhr würden nicht nur den Rubelkurs unter den Gold- 1 W. Lotz, Geschichte und Kritik des deutschen Bankgesetzes, S. 247; Helfferich, Geschichte der deutschen Geldreform, S. 297 ff. 2 Die deutsche Reichsbank erhebt 2,16 °/oo Schlagsatz, gewährt dagegen in Gestalt zinsloser Vorschüsse bei Goldeinfuhr gewisse Er- leichterungen. — 479 - punkt hinabwerfen, sondern auch in den Augen der Geschäfts- welt die russische Währung wieder zu einer versicherungs- bedürftigen Papierwährung machen. 2. Die Silbermünze ist Scheidemünze im vollen Sinne des Wortes; sie besitzt nur beschränkte Zahlkraft bis 25 Rubel; sie ist Sperrgeld, d. h. der Freiprägung ent- zogen und die staatliche Prägung auf einen bestimmten Be- trag (3 Rubel pro Kopf der Bevölkerung) festgelegt. So Ukas vom 27. März 1898 ^ Die Silbermünze ist unterwertig, sowohl die als „unterwichtig" bezeichnete kleine Silbermünze , wie auch der alte Silberrubel, welchem sein bisheriger Silbergehalt belassen wurde. Aber diese Unterwertigkeit ist gleichgültig : der Silber- rubel ist Goldrepräsentant; sein Wert ist unabhängig von seinem Stoffwert, 3. Der Papierrubel ist einlöslicher Vertreter des Gold- rubels. So sind z. B. die früheren Kreditanleihen heute Gold- anleihen geworden; ihre Coupons werden zu Zollzahlungen zugelassen - ; die Bilanz der Reichsbank ist einheitlich ge- worden und lautet ausschliefslich auf Goldrubel neuer Prägung '^. Dafs der Kreditrubel aus früherer Zeit her Zwangskurs besitzt, ist demgegenüber gleichgültig, wie ja bekanntlich die Noten der Bank von England und Frank- reich Zwangskurs besitzen. Der ausstellende Staat maclit eben den Zwangskurs, so lange er die Noten jederzeit ein- löst, zu seinen Gunsten nicht geltend. Dafs das Gold nur allmählich die Cirkulation füllt, liegt in den Gewohnheiten des Publikums begründet, Avelches seit 1 Vergl. Bulletin Russe 1898, S. 184. ^ Ökonomische Eundschau März 1898, S. 145. ^ Früher zei'fiel die Bilanz der Reichsbauk in einen Handelsteil und einen Emissionsteil; in letzterem stand den umlaufenden Kredit- billets die vorhandene Metalldeckung (in Goldrubeln alter Prägung be- rechnet) und das Decouvert des Staates gegenüber. Der Handelsteil war in Kreditrubeln geführt. Vergl. Bulletin Kusse 1895 S. 36, 37. Die neue Form der Bilanzierung enthält Raffalovich a. a. 0. 1897 98, S. 831. — 480 — lange des Edelraetallgeldes entwöhnt ist. Jedenfalls arbeitet die Reiclisbank thatkräftig- in dieser Richtung weiter : sie ver- einigt die eingehenden Kreditrubel in der Centrale, um sie zu geeigneter Zeit zu vernichten; die Filialen, welche die Ausgänge besorgen, werden vorwiegend mit Goldmünzen ver- sehen. Kein Zweifel, dafs auf diesem Wege das erwünschte Ziel zu erreichen. B. Die b a n k p 0 1 i t i s c h e Aufgabe. Sind die Kreditrubel Banknoten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Blick auf die Verhältnisse der russischen Reichsbank werfen. Die russische Reichsbank ist eine Staatsbank; ihre Noten- ausgabe beruht auf dem Grundsatz der direkten Kontingen- tierung ; sie arbeitet mit verzinslichen privaten und staatlichen Depositen. Es ist klar, dafs diese Thatsachen der theoretischen Be- urteilung als Mängel erscheinen ; praktisch dagegen sind sie vielfach als faute de mieux zu rechtfertigen, d. h, als das unter gegebenen Verhältnissen best Erreichbare. Es ist naiv, mit Kramarg ^ zu empfehlen, „die Statuten der deutschen Reichs- bank nachzuahmen" — als ob nicht jeder Fortschritt der Bankorganisation einen Fortschritt der allgemeinen Wirtschafts- verhältnisse voraussetzte. Betrachten wir die drei genannten Punkte näher. 1. Die russische Reichsbank ist nach wie vor reine Staatsbank. Hiermit treffen Rufsland die Nachteile, welche kürzlich der Verstaatlichung der deutschen Reichsbank ent- gegengehalten wurden^. Die absolutistische Staatsform bietet ebensowenig wie die 1 Kramar^, Die russische Valutareform. Wien 1896, S. 37. 2 Vergl. z. B. Lotz, Der Streit um die Verstaatlichung der Reiehsbank; ferner den Vortrag des Bankdirektors M. Schinkel in der Plenarversammlung des deutschen Handelstages vom 14. März 1898; endlich Helfferich, Die Erneuerung des Privilegiums der Reichsbank. Nation 1898, Nr. 20—23. — 481 — konstitutionelle eine Gewähr gegen den Mifsbrauch der Staats- bank durch einflufsreiche Inflationisten. Die Kämpfe, die sich hier im Saal des Parlaments abspielen, sind dort auf das höfische Parkett verlegt ^ Alles hängt ab von der Persönlich- keit des Finanzministers, wobei allerdings die in Rufsland durchgeführte Öffentlichkeit einen gewissen Schutz bietet. Ferner liegt die Gefahr der Finanzgeschäfte zwischen Staat und Bank beim Staatsbanksystem besonders nahe; die Reichsbank als Geldquelle für den Staat statt als Hüterin der Währung zu betrachten, ist eine in Rufsland noch heute weit verbreitete Auffassung. Unbeseitigt ist die Gefahr der Über- nahme oder der Lombardierung schwer verkäuflicher Staats- schuldverschreibungen, Schatzanweisungen u. s. w. Man er- innere sich der berüchtigten Vorschüsse in Kreditbilletten auf die Obligationen der ersten inneren Prämienanleihe 1864. Trotz dieser Gefahren blieb kein anderer Weg als der der Staatsbank für Rufsland offen; sahen wir doch, wie alles Geschäftsleben hier noch von der Initiative des Finanz- ministers abhängt. Gerade das vorhandene Grofskapital be- sitzt am wenigsten Selbständigkeit gegenüber dem Staate, weil seine Thätigkeit in der Weise des älteren Merkantilismus vielfach noch auf staatlicher Förderung und Privilegierung aufgebaut ist -. Hierzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Die russische Reichsbank ist nicht in dem Sinne Notenbank, dafs sie ihre Betriebsmittel durch Notenausgabe sicli verschafft; den aus- gegebenen Noten entspricht vielmehr heute im Activum der zinslose Barschatz. Die russische Reichsbank arbeitet viel- mehr mit Depositen, Avelche ihrem überwiegenden Teile nach staatliche Depositen sind. Schon aus diesem Grunde ist die Bank vom Staate völlig abhängig und, da auf dem Boden der vorhandenen Wirtschaftsverhältnisse ein anderer Weg, die nötigen Betriebsmittel zu beschaffen, heute noch fehlt, so ist 1 Auf diese Gefahr weist Lorini, wenn er von der „intrigue des feudataires aristocrates de la Cour" spricht a. a. 0. S. 158. 2 Sudeikin, Die Reichsbank. Petersburg 1891, S. 249. V. Schulze-Gae V ernitz , Stud. a. Rvifsl. 31 — 482 — schon aus diesem Grunde das Staatsbanksystem unvermeid- lich. Die „autokratische Staatsform" dafür verantwortlich zu machen, ist sinnlos ^ Aber gewils ist der Zustand der „gemeinwirtschaftlichen Organisation der Centralbank", wie ihn Rul'sland besitzt, kein Ideal, dem Westeuropa nachzusteuern habe; das Ziel ist viel- mehr auch hier Loslösung der Centralbank vom Finanzwesen des Staates und Garantien, wie sie auf dem l>oden der Privatbank § 31 — 35 des deutschen Bankgesetzes vorsehen. Welchen Vorteil würde gerade für Kufsland eine Centralbank besitzen, deren Kredit etwas unabhängiges wäre neben dem Kredit des Staates , und eine Institution ähnlich dem viel verketzerten , seine Interessen zu eigenem Rechte wahr- nehmenden Ausschufs der Anteileigner der deutschen Reichs- bank ^. Aber wenn dieses Ziel zur Zeit unerreichbar ist, so wäre ein Schritt in der angedeuteten Richtung schon heute möglich und eine Gewähr für die Festigung der Währung. Ich meine die organisatorische Trennung der Reichsbank vom Finanz- ministerium in der Weise der alten preufsischen Bank, deren Chef nur dem Könige für seine Mafsnahmen verantwortlich war^. Die Beamten der preufsischen Bank blieben Staats- beamte, aber zum Teil „mit fast richterlicher Unabhängigkeit". 2. Rufsland hat im Ukas vom 29. Aug. 1897 das System der direkten N o t e n k o n t i n g e n t i e r u n g angenommen : die in Umlauf behndliche Notenmenge mufs bis zum Betrage von 600 Millionen Rubel zur Hälfte, was darüber in Umlauf ist, mufs Rubel für Rubel in Gold gedeckt sein. Die russische Reichsbank also darf 300 Millionen Rubel ungedeckter Noten ausgeben. » Dies thut Zielinski a. a. 0, Heft 5, S. 634. 2 „Zu eigenem Kecht", anders als die Teilnahme der Kaufleute an der alten russischen Kommerzbank, welche, weil ohne eignes Recht und Interesse, sich als wertlos erwies. So Svideikin, Die Reichsbank, S. 108. ^ Vergl. Lotz, Zur Geschichte vmd Kritik des deutschen ßank- gesetzcs. Leipzig 1888, S. 13, 33. Sudeikin, Reichsbank, S. 48. — 483 — Bekanntlich ist das Kontingentierungssystem mit der ihm zu Grunde liegenden Currencjlehre heute von der Theorie wie der Praxis Europas verworfen. Als das Entscheidende betrachtet man allgemein die „bankmäfsige Deckung", mit deren Durchführung die richtige Grenze der Notenausgabe von selbst gesetzt ist. Trotz der Peelsakte ist das Prinzip der „bankmäfsigen Deckung" bekanntlich auch für die Bank von England entscheidend '. Diesen Grundgedanken leugnen auch diejenigen nicht, welche das System der indirekten Kontingentierung durch die Notensteuer, wie es Deutschland besitzt, verteidigen; es sind hierfür gewisse Nebenabsichten entscheidend, z. B. „die Erziehung der Reichsbank zum Giro- geschäft" 2. Als Sicherung des Notenumlaufs betrachtet heute niemand mehr eine in Zeiten der Krisen doch versagende, unelastische Beschränkung des Notenumlaufs auf eine bestimmte Summe. Selbst die Barvorratsquote wird gegenüber der bankmäfsigen Deckung für verhältnismäfsig gleichgültig erklärt^. Es ist dies nicht etwa nur „deutsche Theorie", wie uns Fedorowitsch zur Verteidigung des russischen Zustandes glauben machen möchte^, sondern sowohl deutsche wie eng- lische Theorie; es ist die jüngere Theorie gegenüber der älteren; hat doch der Engländer Tooke zuerst die Currency- lehre grundlegend bekämpft. Auch die russischen Bank- schriftsteller stimmen dieser Auffassung bei^. 1 Bei der Bank von England ist der Notenumlauf begrenzt durch „den gewohnheitsmäfsig abgeschlossenen Aktivgeschäftskreis". That- sächlich ist das Stammkapital, nicht die Notendeckung immobilisiert. Vergl. u. a. A. Wagner, Zettelbankpolitik. Freiburg i. B. 1878, S. 238, 244 und passim. 2 So Lotz, Geschichte und Kritik des deutschen Bankgesetzes, S. 214, 285. ^ Vergl. A. Wagner in Schönbergs Handbuch. 4. AuH. Band I, S. 506. •* Fedorowitsch in der Ökonomischen Rundschau. Nov. 1897. ^ So z. B. ein gelehrter, aber etwas theoretisch gehaltener Artikel des Moskauer Profossorenblattes „Kussische Nachrichten" vom 20. April 31* — 484 — Demgegenüber ist anzuerkennen, dafs die Currencylehre, wie so viele volkswirtschaftliche Theorien, sich deswegen heute als falsch erweist, weil sie vergangenen Wirtschaftsverhält- nissen entstammt. Das Versprechen des Staates, den Noten- umlauf unter keinen Umständen über eine bestimmte Summe vermehren zu wollen, ist dort nicht ganz ohne Wert, wo der Unterschied zwischen Banknote und Papiergeld noch nicht voll durchgedrungen ist, wo das staatliche Finanzbedürfnis bisher die Menge des Notenumlaufs bestimmt hat und Über- emissionen der wunde Punkt des Geldwesens waren. Ent- spricht das Prinzip der bankmäfsigen Deckung allein der wahren Banknote, so das Kontingentierungssystem der aus dem Papiergeld heranreifenden Banknote. In Rufsland ist das letztere System vollauf berechtigt als das gute, dem das bessere, weil noch nicht durchführbar, ein Feind wäre. Um den gethanen Fortschritt voll zu würdigen, bedenke man, dafs bis 1897 der Satz Sudeikins^ galt: „das Finanzministerium emittiert Kreditbillette zur Deckung von Finanzbedürfnissen, indem es zugleich der Reichsbank, welche aus diesen Emis- sionen keinen Vorteil zieht, die Pflicht auferlegt, für die Er- haltung des Kurses dieser Kreditbillete zu sorgen. Hierzu ist die Bank ganz ungeeignet, weil die Frage der Emission von Kreditgeld ausschliefslich vom Fiskus, nicht von den Be- dürfnissen des Verkehrs abhängt." Demgegenüber bestimmt der Ukas vom 29. August 1897, dafs in Zukunft die Reichsbank Kreditbillete ausschliefslich für dringende Zwecke des Geld- marktes ausgeben dürfe -. Die Emissionsabteilung der Reichs- bank, welche gleich der alten Assignatenbank lediglich eine staatliche Papiergeldfabrik war, ist aufgehoben worden. Dafs die strengen Bardeckungsvorschriften erforderlich 1896; ferner Prof. Chodski, welclier in den „Verhandlungen der freien Ökonomischen Gesellschaft" auf das Prinzip der „bankmäfsigen Deckung" allen Wert legte; so auch Kaufmann, Kreditbillets, S. 373/374, welcher die direkte Kontingentierung verwirft u. s. w. 1 8o Sudeikin a. a. O. S. 258. ^ Der Inhalt dieses wichtigen Ukas findet sich u. a. bei Raffa- lovich, Marche financier 1897/98, S. 353. — 485 — waren, wegen der Undurchführbarkeit bankmäfsiger Deckung, ergeben folgende Thatsachen: Das in Rufsland vorhandene Wechselmaterial ist, wie mir hervorragende Kenner des russischen Bankwesens überein- stimmend versichern, weder qualitativ noch quantitativ heute zur Deckung des Notenumlaufs geeignet. Der Grund hierfür liegt in dem geringen Umfang wie in der Langsamkeit der Umsätze des Warenhandels, damit zusammenhängend in den äufserst langen Kreditfristen, Teilweise kommen hierfür natürliche Gründe in Betracht, so die weiten Entfernungen des Reichs, das Zufrieren der Wasserstrafsen im Winter, während zu Lande vielerorts gerade der Schlitten das einzige Transportmittel ist; man denke z. B. an Holz, das im Winter zu Schlitten an den Flufs geschafft, im Sommer verschifft, erst im Herbst in die Hände des Käufers anlangt. Dampf- schilfe und Eisenbahnen wirken hier entgegen, überhaupt die zunehmende Geldwirtschaft, welche den Warenverkehr und damit das Wechselmaterial verbreitert. Dementsprechend kann die russische Reichsbank eine allmähliche Erziehungsthätigkeit in der Richtung auf kürzere Kreditfristen entfalten, freilich ohne im gegebenen Augenblick zu weit zu gehen, weil sie dadurch nur die fiktive Zer- schneidung langer Wechsel in mehrere kurze bewirkte. Sie erhebt in der That verschiedene Diskontsätze für lange und kurze Wechsel — am 1. März 1898 z. B. 4^ 2 "^ 0 für Drei- monatswechsel, 1^1 2 ^!o für ZwölfmonatswechseP. Thatsächlich ist die Laufzeit der Wechsel in Abnahme begriffen, aber immer noch viel länger als in Westeuropa^. Hierzu kommt etwas weiteres. Neben den Warenwechseln 1 Vergl. Bulletin Russe. Heft I, 1898, S. 168. 2 Nach den Mitteilungen von Sudeikin aus dem Ende der öOer Jahre waren z. B. von allen Wechseln, welche die Wolga-Kamabank, eine der gröfsten russischen Privatbanken, diskontierte, nur 30 •'/o 3 — 6 Monatswechsel; die übrigen waren längere Wechsel. Vergl. Sudeikin a. a. 0. S. 415. Die durchschnittliche Laufzeit der Wechsel der Reiclis- bank betrug 1888 nach Sudeikin 124 Tage, bezw. bei den Filialen 133 Tage. — 486 — sind die aus solidem Acceptverkehr zwischen Kunden und Banken hervorgehenden Tratten ein beliebtes Diskontmaterial im Westen, z. B. bei der deutschen Reichsbank ^, ja vielleicht ein Diskontmateriäl von wachsender Bedeutung, je mehr im Warenhandel die Barzahlung um sich greift. In Rufsland fehlen solche bankmäfsigen Acceptkredite nahezu vollständig, und zwar deswegen, weil infolge der früheren unsicheren Währungsverhältnisse ein grofser und regelmäfsiger Markt für Primapapier nicht besteht; daher müfsten angesehene Banken fürchten, sich zu diskreditieren, wenn ihre Accepte sich gelegentlich nur zu ungünstigen Diskontsätzen di^kontabel erwiesen. Die Entwicklung des regulären Acceptverkehrs ist im Interesse der russischen Währung zu wünschen, wenn auch gegenüber diesen Wechseln als Kreditwechseln eine be- sondere Strenge des Noten ausgebenden Diskonteurs erforder- lich ist. Abgesehen von der geringen Menge und langen Laufzeit war bislang auch die Güte der von der russischen Reichsbank diskontierten Wechsel keineswegs so einwandsfrei , wie die Grundsätze der Notendeckung verlangen. In dieser Richtung liegen die recht zahlreichen Wechselproteste ^. Immerhin scheint neuerdings die Reichsbank ihr „Censorenamt" strenger als früher auszuüben. Dies ergiebt mir die briefliche Mit- teilung eines Sachkenners aus einem Hauptplatze der Provinz. Danach läfst die Reichsbank nur Wechsel mit zwei Unter- schriften zum Diskonte zu, „welche von einem aus an- gesehenen und achtbaren Kaufleuten gebildeten Diskont- ^ Nach eingezogener Erkundigung hat „in Bezug auf diese Diskonte noch niemals eine Beschränkung seitens der Reichsbank statt- gefunden". Sollten neuerdings ßankaccepte nur mit kürzerer Verfalls- zeit an die Reichsbank gelangt sein, so würde dies darauf beruhen, dafs die deutsche Reichsbank in den letzten drei Jahren nicht zum Privatsatz mehr diskontiert hat und somit die Bankaccepte längerer Laufzeit vorwiegend an die Privatdiskonteure gelangt wären. Dieser Gesichtspunkt fällt für Rufsland weg, da die Reichsbank dort die niedersten Diskontsätze gewährt. 2 Vergl. Sudeikin a. a. (). 427. - 487 — komitee gutgeheifsen werden." Ein Vorteil der Goldwährung: die Währung des leicht beweglichen, internationalen Metalls führt die Centralbank im eigensten Interesse zur Verschärfung ihrer Diskontbedingungen. Aus dem Gesagten erklärt sich die verhältnismäfsig geringe Bedeutung des Diskontgeschäfts für die russische Reichsbank ^ In der unten mitgeteilten Bilanz findet sich der Betrag von 160 Millionen Rubel diskontierter Wechsel gegenüber einem Gesamtactivum von 1700 Millionen. Die weitere Entwicklung des Diskontgeschäftes ist jedoch aufserordentlich wichtig, dies um so mehr, als das Lombard- geschäft gerade in Rufsland zur Notendeckung besonders un- geeignet erscheint. Zwar ergeben die gegenwärtigen Beleihungsgrundsätze den ernsten Willen einer soliden Geschäftsführung, wenn sie auch an die Strenge der deutschen Reichsbank nicht entfernt heranreichen. Über die zur Zeit geltenden Gepflogenheiten der russischen Reichsbank erhalte ich aus russischen Geschäfts- kreisen folgende Mitteilung : „Vorschüsse werden gewährt vorzugsweise : auf Staatspapiere bis 85 ä 90 "u des Börsen wertes, „ hypothekarische Pfandbriefe (städtische oder agrare) bis 75 a 80 ^/o des- Börsenw^ertes, ,, sonstige Werte (Aktien etc.) zu niedrig bemessenen Taxationen, kaum in Betracht zu ziehen, „ Waren, meistens Getreide, nicht über 60 ^o des Markt- wertes." Trotzdem erheben sich gegen die Lombardsicherheiten als Notendeckung in Rufsland die schwersten Bedenken. Zu- nächst ist auf die Langfristigkeit dieser Darlehen hinzuweisen ; z. B. führt Sudeikin an, dafs im Jahre 1888 die durchschnitt- liche Dauer der Darlehn gegen lombardierte Staatspapiere bei der Centrale 360, bei den Filialen 150 Tage betrug. Hierzu kommt wenigstens für die Zeit, die Sudeikin schildert, die 1 Kankrin hat noch den staatlichen Banken das Diskontgeschäft ganz verboten. Vergl, Sudeikin a. a. Ü. S. 127, 241. — 488 — Gewohnheit von Stundungen, welche nicht selten mit Verlust- verkäufen durch die Bank endeten ^ Derselbe Verfasser er- zählt von Fällen , in denen nach alt merkantilistischer Weise derartige Darlehen in weitherzigster Weise zur Rettung- schwankender Privatindustrien und Privatbanken gewährt wurden ^. Neuerdings haben sich in dieser Hinsicht die Verhältnisse zweifelsohne gebessert. Aber wie dem auch sei, so ist nicht zu vergessen , dafs dieselben Beleihungsgegenstände in Rui's- land ihrer Natur nach eine viel geringere Sicherheit bieten als im Westen. Nicht nur dafs das beliehene Geti*eide mangels geeigneter Lagerräume vielfach bei Privaten, z. B. bei den Landwirten selbst, lagert — jedenfalls ist dieses Getreide eine unverkaufte, in ihrem Preise von der Ausfuhrmöglichkeit abhängige Ware, welche unter Umständen, z. B. im Fall einer Blockade, auf das schwerste entwertet werden kann. Die Wertpapiere aber, welche als Lombardpfänder dienen, sind fast ausschliefslich russische Staatspapiere, die im Auslande gewertet werden. Politische Erschütterungen können ihre Kurse über Nacht werfen, und dies gerade in Tagen, in denen die Einlösbarkeit der Noten besonders in Frage steht. Ja es ist fraglich , ob in solchen Tagen diese Staats- anleihen sich überhaupt als verkäuflich erweisen. Ist doch selbst in ruhigen Verhältnissen und in Friedenszeiten diese Verkäuflichkeit nicht über allem Zweifel erhaben. Wenigstens steht fest, dafs die Lombarddarlehen in den letzten Jahrzehnten vielfach zur Unterbringung von Staatsanleihen dienten, welche ohne das Abnehmer nicht gefunden hätten. Diese Lombard- 1 Sudeikin a. a. 0. S. 451, 454, 439. 2 Sudeikin a. a. O. S. 455. Vor kurzem berichteten die Zeitungen vom Eingriff der Keichsbank zwecks Fortführung der industriellen Untersuchungen der fallierten D erwies — aus merkantilistischem Interesse verständlich, dem Wesen einer centralen Notenbank wider- sprechend. — 489 — geschäfte entsprangen nicht nur dem privaten Kredit-, sondern auch dem staatlichen Finanzbedürfnis ^. Blicken wir auf das Gesagte zurück. Die K r e d i t b i 1 1 e t e durch Einführung wirklich b a n k m ä f s i g e r Deckung auf die Höhe wahrer Banknoten zu erheben, m u f s das Ziel aller russi- schen Währungspolitik sein; erst damit wäre die Goldwährung innerlich vollendet. Dieses Ziel ist nur allmählich zu erreichen unter Veränderung der volkswirtschaftlichen Struktur des Ganzen von der Naturalwirtschaft zur Geld- Avirtschaft. Hierzu aber ist nötig , wie wir oben sahen , eine verkehrsfreundliche, die Handelsumsätze vermehrende Handels- politik, welche die Geldwirtschaft in die breiteren Schichten des Volkes fortpflanzt, und die schon unter diesem Gesichts- punkt die Grundlage aller Währungsreform ist. Man gedenke der Vorgängerin der deutschen Reichsbank, der preufsischen Bank. Nur in Jahrzehnte langer Arbeit gelang es ihr, hypothekarische Festlegungen und Forderungen an den Staat aus ihrem Activum zu beseitigen. Später wurde der eigene Eflfektenbestand , noch Mitte des Jahrhunderts be- trächtlich, erst beschränkt, dann ganz veräufsert. Der Schwer- punkt der Activa wurde mehr und mehr auf kurzfällige Gut- haben verschoben , bis für die deutsche Reichsbank nur noch gute und kurzfällige Wechsel als Notendeckung in Betracht kommen. Aber diese Entwicklung war nicht möglich ohne eine Umwälzung der deutschen Volkswirtschaft. 3. Nachdem wir gesehen haben, dafs die russische Reichsbank zur Zeit keine Notenbank nach dem Muster der westeuropäischen Centralbanken ist und nicht ohne weiteres dazu gemacht werden kann, fragen wir nach dem gegen- wärtigen Wesen dieser Bank an der Hand der mir letzt- vorliegenden Bilanz. Um mifsverständliche Übersetzung zu 1 Sudeikin a. a. ü. S. 444 flf. Mit Recht sagt A. Wagner, Zettelbankpolitik S. 325 : das EfFektenlombard als Noteiideckuug wider- spreche dem Grundsatz, dafs keine Banknote nur auf den Kredit des Staates zu stellen sei. Derselbe über die Gefahr der Lombardierung noch nicht begebener Staatsanleihen a. a. 0. S. 613. — 490 ACTIF. Bilan de la Baiique A St.-Peters- Aux autres comptoirs et succurs (1). Aux Treso- bourg. reries (1). TOTAL. 1" Caisse : a. Billets de credit .... 33 055 440 - 12 917 000 18177 000 64149 440 — 6. Ol- 15 921 765 — 104 848 000 41 127 000 161 896 765 — 33 983 669 — c. Argent au titre de 0,900 . 2 543 669 - 15 019 000 16 441000 d. Billon d'argent et de cuivre 668 332 803'4 5 602 000 9 627 000 15 897 332 805/4 Total 52 189 206 80-''/-i 138 386 000 85 352 000 275 927 206 803/4 2" Dette sans interet du Tresor du chef des emissions de billets de credit lOOOOOOCO — — — 100 000 000 — 3" Or en monnaies russes d'an- cienne.s frappes , monnaies etrangeres, lingots et bons de Tadministration des mines . 787 899 176 \&h 8 238000 — 796137176 16 V2 4" Or ii l'etranger (2) 22 352118 42V2 — — 22 352118 42 V2 50 Papier sur letranger . . . 106 601 20 — — 106 601 20 6» Eifets escompte.s et autres valeurs a breve echeance 12 924 548 79 137 870 000 7 375 000 158 169 548 79 7 0 Avances en comptes-courants speeiaux sur effets de com- nierce 996 617 Ol 1236 000 — 2 232 617 Ol 8 0 Avances en comptes-courants speeiaux sur titres .... 3 637 571 08 12 397 000 — 16 034 571 08 9 0 Prets sur titres 4 976 380 813/4 19 706 000 ^ 24 682 380 813/4 10 0 Prets sur marcbandises . . 16 800 - 19 028 000 — 19 044 800 — 11" Prets sur Warrants, con- naissements, etc — _ 1 443 000 — 1443000 — VI" Prets ä des proprietaires fonciers 241 280 21 9 087 000 — 9 328 280 21 13" Prets industriels 5 039 606 54 3 723 000 8 762 606 54 14° Prets ä des artisans (in- dustrie domestique) . . . 125 - 472 000 — 472 125 — 15" Prets pour achat de macbiues et Instruments agricoles . . — — 1 055 000 — 1055 000 — 16" Avances a des intermediaires — — 78 OUO — 78000 — 17 0 Prets a des niunicipalites et ä des assemblees provinciales (zemstvos) — — 10000 — 10 000 — 180 Dette des Monts-de-Piete de St.-Petersbourg et de Moscou 2 764 000 — 790 000 — 3.554 000 - 19" EftVt< i.r.>t,-tHs 6 162 70 196 000 — 202 162 70 20" Crt'anrr- i'.'iiilioursables par versi'inriit- >uci:-essifs (acomp- tes) et garanties par des im- meubles 359 102 34 3 071000 — 3 430102 .34 210 Titres appartenant ä la Banque 8 541 061 46 16 141 000 6 093 000 30 775 061 46 22" Titres en commission . . . 238 903 82 — 237 903 82 230 Comptes de la Banque avec les Banques de la ]Siobles In den Jahren 1887—1898 inkl. wurden 239 Millionen Rubel auf dem oi'den tlichen Budget für Unterhaltung und Verbesserung des rollenden Materials ausgegeben. Bulletin Russe, 1898, S. 407. — 538 — arbeiten, Neubewaffnung u. s. w., während lediglieh die Eisen- bahnneubauten und die Neuanschaffung von rollendem Mate- rial auf dem aufserordentlichen Budget belassen wurden ^ Diesem Grundsatze ist auch das aufserordentliche Ausgabe- budget für 1899, welches auf 109 Millionen Rubel veran- schlagt ist, im wesentlichen treu geblieben. Die mitzuteilenden Ziffern beruhen seit 1886 bereits auf dieser strengeren Klassi- fikation , nach welcher sie durch das Reichskontrollamt rück- wärts berechnet wurden ; die vorhergehenden Deficits würden nach dieser Berechnungsweise also noch gröfser erscheinen. ord. Einnahmen ord. Ausgaben Deficit Überschufs in Millionen Eubcl-^ 1883 700,4 723,6 23,2 1884 706.2 727,9 21,7 — 1885 764,4 806,6 42,2 — 1886 774,3 847,6 73,3 — 1887 820,4 842 21,6 — 1888 873,6 837 — 36,6 1889 914,5 868,8 — 45,7 1890 933,4 914,8 — 18,6 1891 890,5 925,4 ;34,9 — ■ 1892 964.7 952,6 — 12,1 1893 1031,5 996,4 — 35,1 1894 1145,4 1045,5 — 99,9 1895 1244,4 1129,4 — 115 1896 1368,7 1129,4 — 239,3 1897 1416,7 1229 — 187,7 1 Kaffalovicla, Marche financier 1895/1896, S. 282. Die durch Ukas vom 24. Februar 1898 angewiesenen 90 Millionen Rubel für Bau von Kriegsschiffen wurden auf das aufserordentliche Budget über- nommen. Vergl. Bulletin Russe, 1898, S. 66. 2 Eaffalovich, Les finances de la Russie 1887 — 1889, S. XX; Ders., Marche financier 1896/97, S. 841. 3 Die neueren Ziffern entnehme ich den Angaben im Bulletin Russe 1898, S. 494 — 497. Vergl. auch die Zusammenstellung des ordentlichen und aufserordentlichen russischen Staatshaushalts 1887/98, mitgeteilt von M. v. Heckel: Conrads Jahrbücher für National- ökonomie, III. Folge, Band 16, S. 92. — 539 — Auch der Budgetabschlufs von 1898 ergiebt ein günstiges Bild. Ich verweise hierfür auf die jüngst veröffentlichten provisorischen Kassenausweise für 1898, welche erfahrungs- gemäfs der endgültigen Gestaltung des Staatshaushalts nahe kommen. Die Fortschritte im einzelnen zeigt folgender Vergleich der wichtigsten Einnahmeposten seit 1878. Es ergiebt sich hieraus eine Verschiebung der Einnahmequellen in folgenden Zügen : Verminderung der auf den ländlichen Klassen ruhenden direkten Steuern, kräftige Entwicklung der Verbrauchsabgaben, insbesondere der Steuern auf den Gegenständen des entbehrlichen Massen- verbrauchs , starkes Anwachsen der Einnahmen des Staates aus Eigen betrieben, mäfsige Steigerung der auf den städtisch-gewerblichen Klassen, auf dem beweglichen Besitz, Handel und Verkehr ruhenden Steuer n. Ich fasse nach diesen Gesichtspunkten die wichtigsten Einnahmeposten in folgender Tabelle zusammen. (Siehe die Tabelle auf Seite 540.) In diesen Ziffern findet die Finanzreform ihren Aus- druck, welche mit dem Namen Bunges verknüpft ist^. Vorbereitet wurde diese Reform durch die Einführung einer allgemeinen Grundsteuer bereits 1875, welcher auch die bis dahin steuerfreien Grundstücke des Adels unter- worfen wurden. Mangels eines Katasters wurde diese Steuer auf die Gouvernements als Repartitionssteuer verteilt; letztere haben, zum Teil nach sehr verschiedenen Grundsätzen, mit den ^ Über neuere riissische Finanzen vergl. das treffliche Lehrbuch von Janschul 1 über Finanzwissenschaft, Petersburg 1890, seitdem in neuer Auflage erschienen; ferner Kaschkarof f, Die Hauptresultate der staatlichen Finanzwirtschaft 1885/94. Petersburg 1895. Umfang- reiches Material findet sich in den zahlreichen, öfters angeführten Schriften von ßaffalovich, ferner im Bulletin Russe, einiges auch im deutschen Finanzarchiv. Ferner vergl. das öfter citierte Buch von Skalkofski. 540 — Einnahmen in Millionen Rubel Kredit' 18972 A. Direkte Steuern und Ab- lösungszahlungen der Land- bevölkerung. a) Personal-, Grund- und Forststeuer b) Ablösungszahlung der Gutsbau ern^ c) Ablösungszahlung der Apanagen- bauern d) Obrok, seit 1887 Ablösungszahlung der Staatsbauern B. Verbrauchssteuern. a) Getränke (einschliefslich des Brand- weinmonopols) b) Tabak c) Zucker d) Salz (aufgehoben) e) Mineralöl fj Zündhölzer g) Zölle C. Domanium des Staates. a) Landwirtschaftliche Betriebe . . . b) Forsten c) Staatseisenbahnen D. Einnahmen von Gewerbe, beweglichem Kapital, Handel, Verkelir. a) Gewerbesteuer b) Kapitalrentensteuer c) Bergwerksabgaben d) Stempelabgaben e) Post. f) Telegraph und Telephon 122,1 4,4 214,8 12,4 5,1 9,1 97,7 7,4 11,6 5,9 15 0,5 17,8 18,7 6,9 86,1 41,7 2,9 5,3 237,0 20,1 15 112,8 11,1 13 12,7 28 10 2 18,6 16,3 9,2 49,2 42,1 3,3 55,8 298,2 34,5 47,6 19,7 7,4 167,7 14 28,6 194,6 42,7 13,8 3,5 29,7 24,8 14 39, 2 37, 5 3 47,95 332, 6 35, 3 55, 5 22, 8 7, 1 195, 6 15, 7 37, 7 277, 8 46, 6 15,56 3,45 31, 7 25, 8 17, 7 1 Vergl. Raffalovich, Finances de la Russie 1887/89, S. 50; Derselbe, Marche financier 1896/97, S. 360. Moos, Die Finanzen Rufs- lands. Berlin 1896, S. 66/67. Ferner Bulletin Russe 1898, S. 494 bis 495. 2 Seit 1897 fällt die Unterscheidung von Papier- und Goldi'ubeln ; der Staatshaushalt beruht seitdem auf Goldrubeln neuer Prägung. 3 Seit 1885 in das ordentliche Aufnahmebudget aufgenommen. — 541 — Katasterarbeiten begonnen. Diesen Arbeiten entsprangen die wiederholt angeführten, wertvollen Landschaftsstatistiken. Trotz dieser Arbeiten wird die Grundsteuer noch heute roh und ungleichmäfsig umgelegt-, öfters wird noch „verheimlichtes Land" entdeckt. Diese Steuer kann daher nicht hoch sein. Bei einem Erträgnis von 44 Millionen Rubel kamen 1891 nur etwa 14 Millionen auf das eigentliche Rufsland, das übrige auf Polen, die asiatischen Dependenzen u. s, w. ^. Mit der Abschaffung der Kopfsteu er (Gesetze von 1882 85) verwarf der Staat grundsätzlich die rohe, bei jedem Unterthanen im wesentlichen gleiche, physische Arbeitskraft als Bemessungsgrund der Steuer; er erkannte die individuell ver- schiedenen Besitz- und Einkommensverhältnisse als die richtige Grundlage der Besteuerung an ^, Damit war mittelbar auch die Steuersolidarhaft der Gemeinde verurteilt, weil unvereinbar mit der Bemessung der Steuer nach der Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Erst die Beseitigung dieser ebenso einflufs- reichen, wie verhängnisvollen Institution wäre der Abschlufs der seit den 80er Jahren im Gang befindlichen Steaerreform^. Der budgetmäfsige Ausfall, welcher durch Aufhebung der Kopfsteuer verursacht wurde, betrug ca. 60 Millionen Rubel. In engem Zusammenhange mit der Aufhebung der Kopf- steuer steht die Abschaffung der Salzsteuer 1881. Letztere Steuer wirkte in einem Lande mit weitverbreiteter Fisch- und Pflanzennahrung gleich einer Kopfsteuer und lastete anerkanntermafsen fast ausschliefslich auf dem Bauern *. Der Staat verzichtete damit auf eine Einnahme von etwa 12 Millionen Rubel. Hand in Hand mit diesen Mafsregeln ging die Er- mäfsigung der Ablösungszahlungen der Gutsbauern durch ^ Über letztere Steuern vergl. Janschull a. a. O. S. 302. 2 Dies braucht keineswegs in der Form der eigentlichen Ein- kommensteuer zu geschehen, welche für Rufsland noch weit verfrüht ist. Vergl. unten. 3 Die Möglichkeit der Abschattung der Solidarhaft der Gemeinde betont Janschull a. a. 0. S. 358. * Vergl. Janschull a. a. O. S. 493. — 542 — Ukas vom 28, Januar 1881, welcher zugleich die Ablösung der Gutsbauern der Willkür der Parteien entzog und schlecht- hin obligatorisch machte. In der Zeit eiiies gewohnhoitsmäfsigen Deficits erforderten diese Steuererleichterungen einen nicht zu unterschätzenden Mut seitens des Leiters der Finanzen, Sie haben sich bezahlt gemacht : der Landbesitz, bis dahin überwiegend eine Pflicht der Bauern, wurde seit jenen Tagen in breiten Teilen Rufslands ein Recht. Es war dies die Grundlage jedes wirtschaftlichen wie volkspsjchologischen Fortschritts. Einigermafsen ausgeglichen wurden die durch die Reform verursachten steuerlichen Ausfälle durch das Gesetz vom 12. Juni 1886, welches die Ablösung der Staatsbauern be- fahl. Die vom Gesetz schon früher ermöglichte freiwillige Ablösung der Pachtsteuer (Obrok) hatte bis dahin nämlich nur in geringem Umfange stattgefunden. Das Staatsbauernland soll bis zum 1. Januar 1931 freigekauft sein. Die Ablösungs- zahlungen der Staatsbauern wurden auf 49,03 Millionen R. jähr- lich festgesetzt; dafür fiel die Pachtsteuer von 33,84 Millionen R, und die Kopfsteuer der Staatsbauern von 19 Millionen R., sodafs für die Staatsbauern trotz eingetretener Ablösung immerhin eine Erleichterung von 3,9 Millionen R, erreicht wurde ^. Im ganzen bedeutete die Reform der direkten Steuern und Ablösungszahlungen (Staatsbauern und Gutsbauern zusammen- genommen und eine Erhöhung der Grundsteuer von 3 Millionen mit berücksichtigt) einen Ausnahmefall von 47 Millionen Rubel ^. In der Richtung der geschilderten Reformen lag auch die neuerliche Beseitigung derPafssteuer durch Gesetz vom 7. April 1897. Bis dahin hatte der Bauer, wenn er seinen Wohnort verliefs, eine Pafssteuer zu zahlen und bei längerer Abwesenheit von der Heimat seinen Pafs mit Kosten zu er- neuern. Bei der weitverbreiteten Wanderarbeit und dem Mangel jedes Arbeitsnachweises in Rufsland lastete diese Steuer 1 Finanzarchiv IV, 1144/1150. Si in k ho witsch a. a. 0. S. 271/272. JanschuU a. a, 0. S. 301. ^ Raffalovich, Finances de la Russie 1887/89, Ö. XIX. — 543 — kopfsteuerähnlich gerade auf den untersten Schichten der bäuerlichen Bevölkerung. Gegenwärtig dient nach Raffalovich das Pafswesen nur noch polizeilichen, nicht mehr fiskalen Zwecken. Der Staat verzichtete damit auf eine Einnahme von ungefähr 4V/2 Mill. Rubel ^. Die durch die Steuerreform verursachten Ausfälle konnten gegenüber einem wachsenden Staatsbedarf nicht gedeckt werden durch die Steigerung der auf den gewerb- lichen und handeltreibenden Klassen ruhenden Steuern. Auch heute noch spielt die Gewerbesteuer (Patent- steuer und Erwerbssteuer für Aktiengesellschaften) - eine unter- geordnete Bedeutung im russischen Staatsbudget. Das gleiche gilt von der sog. Kapitalrentensteuer. Diese letztere Steuer ergreift Zinsen, „welche sich bequem an der Quelle des Ein- kommens fassen lassen," in der Form der Couponsteuer oder der Zinsbesteuerung von Einlagen in Staats- oder Aktien- banken. Die Konstruktion der soeben genannten Steuern weist dar- auf hin, dafs eine Einkommensteuer, welche nicht die Quelle, sondern das Subjekt des Einkommens fafste, auf lange hinaus für Rufsland Utopie bleiben mufs. Es setzt diese Steuerform Fassion, also ein Identitätsgefühl zwischen Staat und Regierten voraus, wie es in Rufsland sich sobald nicht entwickeln wird^. Selbst in England* und Deutschland ist diese Steuerform nur 1 Raffalovich, Marche fiuaueier 1897/98, S. 342/343. 2 Nach dem Bericht des Finanzministers an den Kaiser über das Reichsbudget 1899 wurde der Ertrag der reformierten Gewerbesteuer um 8,8 Millionen Rubel höher angenommen als in dem Budjet für das Jahr 1898. 3 Einer Einkommensteuer, deren Wesen in „Fassion" bestände, würde sich jedermann — trotz der beliebten liberalen Finanztheorien — zu entziehen suchen, der Reiche mit mehr Erfolg als der Arme, so meint Skalkofski a. a. 0. S. 238. * Bekanntlich wurde sofort nach den Napoleonischen Kriegen die verhafste Einkommensteuer wieder aufgehoben-, bei ihrer Neueinführung durch Sir Robert Peel war sie nur als vorübergehende Mafsregel gedacht. Vergl. A. Wagner, Finanzwissenschaft Teil II, 2. Aufl., S. 227 ff. — 544 — unter gröfstem Widerspruch und in langsamer Erziehungsarbeit verwirklicht worden-, Frankreich ist noch heute nicht dazu ge- langt, und Italien mufste die nach englisch-deutschem Muster ausgedachte Einkommensteuer wegen mangelnder Qualifikation der Censiten in ein teilweises Ertragssteuersystem zurückbilden. Aufserordentlich beträchtlich ist die ziffernmäfsige Steige- rung der Einnahmen aus den Eigenbetrieben des Staates. An der Spitze stehen hier die Eisen bahnei nna hm en, eine Folge der fortschreitenden Eisenbahnvei'staatlichung ^ Da diesem Posten jedoch die Zinsen und die Amortisation der Eisenbahnschuld gegenüberstehen, so ist die finanzielle Wirkung der Eisenbahnverstaatlichung zunächst eine mehr mittelbare: das Aktivum eines riesigen Eisenbahnbesitzes hebt schon heute den Kredit des Staates. In Zukunft, voraussichtlich naher Zu- kunft, dürften auch beträchtliche Überschüsse unter diesem Titel zu erwarten sein. Der wachsende Verkehr hebt die Reineinnahmen. Ich entnehme in dieser Hinsicht einige interessante Daten der Zusammenstellung des General Borkofski für die gesamt- russische Ausstellung in Nischni-Nowgorod 1895. In den Jahren 1880 — 1894 hat sich der Personenverkehr um 52 *^/o, der Warenverkehr um 103 "/o vermehrt. Für letztere Steigerung kamen vornehmlich folgende Massengüter in Be- tracht: Getreide, Steinkohle, Naphtha, Holz. Die Kosten des Warentransportes haben pro beförderte Einheit um 29 '^/o ab- genommen, die des Personenti^ansportes um 12^lo. Letzteres Ergebnis ging Hand in Hand mit einer aufserordentlichen Herab- setzung der Personentarife. Man reist wohl in keinem Lande der Welt für weite Entfernungen so billig wie in Rufsland — ein Umstand, der auch politisch für die Zusammenschmelzung des Riesenreiches von Bedeutung ist. 1 Nach dem Bulletin Eusse 1898, S. 401 waren am 1. Okt. 1898 von 42000 km Eisenbahnen in Eufsland 28000 km Staatsbahn. Anfang 1887 gab es in Rufsland erst 4500 km Staatsbahn. Vergl. auch Bul- letin Russe 1897, S. 644. — 545 — Die Roheinnahmen der Eisenbahnen wuchsen in dem an- geführten Zeitraum um 90^ o, die Rohausgaben des Eisen- bahnbetriebs nur um 40*^/0. Hieraus folgte eine beträchtliche Steigerung der Reineinnahmen. Nach Issajeff betrugen 1881 die Reineinnahmen pro Werst 2524 Rubel, 1 898 über 4000 Rubel ^ Es steht letztere Angabe in Übereinstimmung mit folgender Zusammenstellung des Bulletin Russe, welche Zunahme der Reineinnahme in Rufsland und Deutschland neben Stillstand oder Rückschritt in England und Frankreich feststellt^: Reineinnahmen pro Kilometer in Tausend Frcs. 1883 1896 England 28,27 29,41 Frankreich 18,50 16,63 Deutschland 15,31 18,95 Rufsland 9,64 13,31 Im Jahre 1894 ergab der staatliche Eisenbahnbetrieb bereits einen geringen Überschufs. Der Reinertrag belief sich auf 81,1 Millionen Rubel; unter Berücksichtigung der zum Ersatz der Aktien Moskau-Kursk geschaffenen Staatsobliga- tionen erforderte dagegen der Dienst des Staatsnetzes im Jahre 1894 den Betrag von 80 733 Tausend Rubel. Diese Summe steht um 365 Tausend Rubel hinter dem Ertrag der Linien zurück^. 1896 ergaben die staatlichen Eisenbahn- einnahmen bereits einen Überschufs von 34 Millionen über Betriebskosten und Dienst der Eisenbahnschuld'*. Unter dem sonstigen Staatsdomanium stehen die Staats- forsten als stark entwicklungsfähige Einnahmequelle obenan. Die Nutzbarmachung der ungeheueren , bislang vielfach un- zugänglichen Waldgebiete des Nordens und Ostens hat grofse 1 Issajeff, Zur Politik des russischen Finanzministeriums. Stutt- gart 1898, S. 10. 2 Bulletin Eusse 1898, S. 410. Nach Bulletin Russe 1897, S. 404 hat sich von 1881—1895 die Roheinnahme der russischen Eisen- bahnen (Staats- und Privatbahnen zusammen) verdoppelt, die Rein- einnahme verdreifacht. ^ Moos, Die Finanzen Rufslands. Berlin 1896, S. 73. * Bulletin Russe 1897, S. 645, 656. V. Schulze-Gaevernitz, Stud. a. Rufsl. 35 — 546 — Bahn-, Hafen- und Kanalbauten zur Voraussetzung; immerhin ist deren Herstellung nur eine Frage der Zeit. Durch Er- öffnung der Bahn von Petersburg nach Archangcl wurde der Anfang zur Erschliefsung des Nordens gemacht. Hierzu kam der Bau eines eisfreien Hafens an der Murmanküste — aller- dings wohl in erster Linie strategischen Zwecken dienend. Die wachsende Aufnahmefähigkeit Europas für Bauholz ver- bürgt dem gröfsten Waldbesitzer der Welt, dem russischen Staate, stetige, ja steigende Holzpreise ^ Während es sich bei Eisenbahn und Forsten immerhin mehr noch um Zukunftsaussichten handelt, beruht die Kräftigung der russischen Finanzen, welche wir seit Mitte der 80er Jahre erlebten, auf gewaltigem Mehrerträgnis der Verbrauchs- abgaben. Letztere sind auf lange hinaus das einzige Mittel, um das wechselnde Geldeinkommen des bäuerlichen Betriebes, des landwirtschaftlichen Wanderarbeiters, des Fabrikarbeiters, der breiten von Waldarbeit, Fischfang und Flufsschiffahrt lebenden Bevölkerungsschichten steuerlich zu fassen. Unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse wird man die Entwicklung der indirekten Besteuerung für Rufsland um so mehr als einen Fortschritt ansehen, als sie bei der Natur der betroffenen Verbrauchsgegenstände den barsten Lebensunter- halt frei läfst (Beseitigung der Salzsteuer, dagegen freilich der Eisenzoll !). Das eigentliche Rückgrat der russischen Finanzen ist die gegenwärtig ziemlich verwickelte Besteuerung des Branntweins. Dieselbe setzt sich zusammen aus einer Patentsteuer, einer Fabrikatsteuer, einer Licenzgebühr für Kleinverkauf, einer Steuer auf Likörfabrikate ^. Seit 1895 ist man daran, die bestehende Branntweinsteuer durch das Verkaufsmon opol zu ersetzen, dessen Herrschaftsgebiet gegenwärtig vom Osten nach dem Westen ausgedehnt wird. In den letzten Jahren gab der Branntwein auf Grund der 1 Näheres über die Zunahme der Einnahmen aus den Staatsforsten giebt Bulletin Russe 1897, S. 360—366. 2 Vergl. Janschull a. a. Ö. S. 454 ff. - 547 — verschiedenen Steuern und des Monopols über 300, 1897 über 330 Millionen R., wovon die Ausgaben des fiskalischen Brannt- weinverkaufes abzuziehen sind. Immerhin trägt die Brannt- weinsteuer allein nahezu die Ausgaben des Kriegsministeriums. Mit Durchführung des Monopols hofft man die Reineinnahmen auf der regelmäfsigen Höhe von mindestens 300 Millionen R. zu erhalten, dagegen durch Verteuerung des Verkaufs- preises den Verbrauch einzuschränken. Damit das Monopol weniger als 300 Millionen Rubel ergäbe, müfste nach Angabe von Raffalovich der Verbrauch um über 20 °/o abnehmen. Wie aufserordentlich hoch die steuerliche Belastung des Alkohols in Rufsland ist, ergiebt sich daraus, dafs die Monopol- vei'waltung zum sechs- bis achtfachen ihres Einkaufspreises verkauft^. Die Bedeutung des Branntweins für den Staatshaushalt weist auf die Kulturlosigkeit breiter Schichten der Bevölkerung. Aber wir Westeuropäer, besonders wir Deutsche, sollten uns hüten, über diese Thatsache die Nase zu rümpfen. Der Ver- brauch in Deutschland ist fast doppelt so hoch, als in Rufs- land; er ist in England und besonders Frankreich in Zunahme begriffen. Verbrauch an reinem Alkohol pro Kopf der Bevölkerung (ausschliefslich Wein und Bier) in Litern^ 1888 1896 Frankreich 3,87 4,19 Deutschland 4,50 4,30 England 2,42 2,64 Rufsland 2,80 2,52. Noch beschämender stellt sich dieser Vergleich für Deutschland unter Berücksichtigung des Wein- und Bierver- brauchs, wobei dann mehr als 8^2 Liter reiner Alkohol auf den Kopf kommen^. In Rufsland dagegen verbrauchen nur 1 Raffalovich, Marche fiuancier 1895'96, S. 280. 2 Vergl. näheres im B vi 11 et in Russe 1898, S. 664. 3 Vergl. Bulletin Russe 1898, S. 695. 35' — 548 — die westlichen Grenzjjrovinzen Bier, der Kaukasus Wein in nennenswertem Umfange. Der russische Bauer pflegt sich einigemal im Jahre mit verwässertem Branntwein sinnlos zu be- trinken; aber diese Sinnlosigkeit beruht zum Teil darauf, dafs er kein Gewohnheitstrinker ist, „wenig verträgt". Ein verhältnismäfsig armes Land wie Rufsland bringt pro Kopf der Bevölkerung vom Branntwein mehr als doppelt so viel auf, wie Deutschland, während Deutschland pro Kopf fast doppelt so viel verbraucht ! ! Die Zolleinnahmen Rufslands sind ebenso unter dem Hochschutzzoll der 80er Jahre ununterbrochen gestiegen, wie unter den Milderungen des Zollsystems, welche die Handels- vertragspolitik der 90er Jahre brachtet Blicken wir zurück. Die Zunahme der Zoll-, Eisenbahn-, Post- und Telegrapheneinnahmen weist unmittelbar auf steigen- den Verkehr und Güteraustausch. Die Möglichkeit, auf dem Wege der indirekten Besteuerung gewaltige und steigende Geldbeträge flüssig zu machen, beweist, dafs die breite bäuer- liche Bevölkerung im Besitz von Bargeld sich befindet: sie ver- kauft, gleichgültig ob sie landwirtschaftliche Erzeugnisse oder im Lohnvertrage ihre Arbeitskraft verkauft. Höchst bezeichnend in dieser Richtung ist die Bedeutung der Ernte für den Eingang der wichtigsten Steuer, der Branntweinsteuer^. Der ganze finan- zielle Aufschwung Rufslands beruht in letzter Linie also auf dem Siege der Geldwirtschaft über die Natural- wirtschaft; da aber tragkräftige Finanzen die Grund- lage aller Machtpolitik nach aussen sind , so bleibt dem russischen Staate keine Wahl: er mufs die russische Volks- wirtschaft europäisieren. Werfen wir nunmehr noch einen Blick auf das Ausgabe- budget ^. J Vergl. Kaschkaroff a. a. 0. S. 86/87. 2 Auf diesen Zusammenhaug weist Kaschkaroff a. a. O. S. 73. ä Ich entnehme diese Ziffern den oben angegebenen Quellen. Vergl. S. 539 Anm. 1. 549 Aiisffaben in Millionen Rubel 1878 1886 1895 246,5 277,1 2,1 2,4 11 13,8 10,5 12.6 4,5 5,1 212,7 285,2 44,6 57,1 116,4 140 22,5 29,9 71,8 86,1 21,2 23,5 25,7 162,9 20,3 26,1 3,1 5,3 1,1 1,5 832 4 1129,4 1897 Dienst der Staatsschuld Staatskörperschaften Heiliger Synod Ministerium des Kaiserlichen Hauses Ministerium des Auswärtigen . . . . Ministeriimi des Krieges Ministerium der Marine Ministerium der Finanzen^ Ministerium der Domänen Ministerium des Innern Ministerium des öffentlichen Unter- richts Ministerium des Verkehrs Ministerium der Justiz Reichskontrolle Gestütdirektion Für abgelaufene Budgetperioden . . Summa 139,7 2,2 10,1 10,5 3,9 189,2 26,1 91,2 19,4 58,4 17 12,4 17,4 2,2 0,8 1,1 258,6 2,7 19,8 12,9 4,9 293,8 85,2 204,3 33,1 80,4 26,5 226,8 41,8 6,8 1,6 601,6 1299,6 Ein hervorstechender Punkt im Ausgabebudget ist das geringe Wachstum, ja die Abnahme des Erfordernisses der Staatsschukl. Die Aufwendungen hierfür überstiegen 1897 nicht wesentlich die Höhe von 1886. Es weist dies auf die günstige Entwicklung des russischen Staatskredits hin, welche wir im folgenden mit einigen Worten besprechen. Unerfreulich ist der geringe Betrag und das lang- same Wachstum der Ausgaben des Ministeriums der Volks- aufklärung. Charakteristisch für das Ausgabebudget der 80er Jahre war ferner die Herabsetzung der Aufwendungen des Kriegs- ministeriums zur Zeit ungetrübter deutsch-russischer Be- ziehungen (1881 — 229 Millionen R., 1884 — 201 Millionen R.). Anfang der 90er Jahre hat man die frühere Ausgabehöhe wieder erreicht und bald beträchtlich überschritten. In den ^ Unter den Ausgaben des Finanzministeriums bilden die Haupt- posten: Finanz Verwaltung, Beamtenpensionen, Kosten des staatlichen Branntweinverkaufs. — 550 — neuesten Budgets liegt ein weiteres Anwachsen dei' Ausgaben des Kriegs- und Marineministeriums vor. Für 1899 sind die Ausgaben des Kriegsministeriums auf 323 Millionen, die des Marineministeriums auf 83 Millionen veranschlagt. Zwar weist trotzdem auch der Voranschlag für 1899 einen Einnahme- überschufs auf; es wird bei der vorsichtigen Vorausbereclmung der Einnahmen , wie sie in Rufsland heute üblich ist , dieser Überschufs wahrscheinlich gröfser sein , als die Schätzung. Nichtsdestoweniger dürfte Rufsland auf die Dauer finanziell aufser stände sein, die aktive asiatische Politik der Gegen- wart mit ihren Anforderungen für Marine- und Kolonial- zwecke, für Hafen- und Bahnbauten mit der gleichzeitigen Fortentwicklung jener riesenhaften Landrüstung zu verbinden, welche der gegen Westen gerichtete Panslavismus erforderte. Nach Asien hin ist dieser schwere Panzer unnötig, ja un- verwendbar. Rufsland bedarf vielmehr der regelmäfsigen Budgetüberschüsse insbesondere zur Förderung seiner riesen- haften asiatischen Bahnbauten, welche auf dem Wege des Kredits allein nicht herzustellen sind. Sollten die Ausgaben des Kriegsministeriums in dem Greschwindschritt der letzten Jahre weiter zunehmen, so würde dies die ernstesten Bedenken für das Gleichgewicht des russischen Staatshaushaltes und damit auch den Bestand der Währung wachrufen. B. Die Entwicklung des Staatskredits unter W i s c h n e g r a d s k i und Witte. Die 80er und die erste Hälfte der 90er Jahre war eine Zeit des Kapitalangebots und des herabgehenden Zinsfufses. Diejenigen Staaten, welche als volkswirtschaftliche Grofs- mächte anzusehen sind, haben jene Zeit zu Zinsherabsetzungen ihrer Staatsschuld benutzt. Man denke an die Konversion der englischen 3^/üigen Konsols in 22/4 «/o und 2V2 "/oige. 1883 hat Frankreich die 5°/oige Rente aus dem letzten Kriege in eine 4'/2*^/oige, 1887 die ältere 4V2*^/oige und einen kleinen Posten 4''/üiger in — 551 - 3**/oige verwandelt", seitdem ist durch weitere Zinsherabsetzungen das Erfordernis der 4^/2 "^/oigen Rente weiter vermindert, das der 3 ^/oigen vermehrt worden. Die Vereinigten Staaten haben ihre hochverzinsliche Kriegsschuld, soweit sie nicht zurück- gezahlt wurde, durch wiederholte Konversionen bis in die neuere Zeit im Zins stark herabgesetzt. Seit 1885 trat auch Deutschland in die Ära der Konversionen, welche mit der Verwandlung des bis dahin vorwiegenden 4 ''/oigen Typus der Staatsschuld in einen 3^2 ''/oigen ihren Abschlufs er- reichte. Nicht so die schwächeren Staaten: Italien, Spanien, Süd- amerika, Griechenland, Portugal ^ Rufsland hat an den Vorteilen der Konversionen vollen Anteil gehabt. Die Grundlage hiefür war zunächst das günstige Ergebnis der inneren Finanzverwaltung, welches wir kennen lernten. Mitgewirkt haben jedoch ganz wesentlich politische Momente. Noch ist es nicht möglich , die Geschichte jener merk- würdigen Episode der neueren europäischen Finanzgeschichte zu schreiben, da Bismarck 1887 die Milliarden russischer Werte ^ aus deutschem Besitze vertrieb, während noch wenige Jahre vorher (1884) ein preufsisches Staatsinstitut an ihrer Emission beteiligt gewesen war. Noch sind die Beweggründe unaufgeklärt, welche den deutschen Staatsmann zu diesem finanzpolitischen Feldzuge veranlafsten. Man hat die Meinung vertreten , dafs mangelhafte Kenntnis und daraus folgende Unterschätzung der volkswirtschaftlichen Dinge mitspielte. Aber der der deutschen Volkswirtschaft zugefügte Schaden lag doch zu klar, und es ist kaum anzunehmen, dafs Bismarck lediglich um des Augenblickserfolges einer Rubelbaisse willen so grofse Opfer gebracht hat. Da gewichtige politische Vorteile sich aus jenem Schritte für Deutschland nicht er- 1 Vergl. A. Wagner in Schönbergs Handbuch. Finanzwissen- schaft. IV. AuH. Tübingen 1897, S. 827 ff. und S. 858 ff. 2 In jenen Tagen schätzte die „Kreuzzeitung" den deutschen Besitz an russischen Werten auf 2V2 Milliarden Rubel. _ 552 — gaben, so könnten möglicherweise dringende Gefahren ab- gewehrt worden sein : am Vorabend einer Belagerung rasiert man Bauwerke und Bäume vor einer Festung; am Vorabend eines Krieges ist kein eigenes Opfer zu grofs, das die Rüstung und die Schlagfertigkeit des Feindes verzögert und vielleicht dadurch zur Erhaltung des Friedens beiträgt. Es war die Zeit der „Boulange" in Frankreich. So unaufgeklärt die Beweggründe sind, so sicher stehen die äufseren Thatsachen fest. Seit Anfang des Jahres 1887 be- gannen die offiziösen Prefsstimmen Deutschlands den Bankerott Rufslands als nächst bevorstehend vorauszusagen und es als vaterländische Pflicht des deutschen Sparers darzustellen, seine russischen Werte abzustofsen. Es folgte das Verbot der Lombardierung russischer Staatsanleihen für die deutsche Reichsbank. Diese Mafsregel war weniger an sich wirksam (denn die Menge der lombardierten Russen kam gegenüber dem deut- schen Gesamtbesitze nicht in Betracht) ; wirksam war sie durch ihre psychologische Bedeutung. Die Folge war eine Panik, welche vom Publikum aus die widerstrebende Börse ergriff: Deutschland verkaufte seine Russen zu fallenden Kursen mit schwerem Verlust und setzte diese Verkäufe sogar später bei anziehenden Kursen fort, bis es Ende der 80er Jahre ziemlich vollständig von russischen Werten entleert war. Zunächst flössen die Goldanleihen ab, welche zumeist direkt nach Frankreich gingen; die Papieranleihen, welche, wie wir sahen, einen internationalen Markt nicht besafsen, hielten zäher an Deutschland. Trotzdem gingen auch sie in den folgenden Jahren grofsenteils direkt nach Rufsland zurück, wo sie eine endgültige Heimstätte fanden. Bedeutender noch als das daranum ermergens war das lucrum cessans für Deutschland. Zufälligerweise bildete das Jahr 1887 — ein Jahr ausgezeichneter Ernte und starker Ausfuhr — in der russischen Finanzgeschichte den Wendepunkt zum bessern. Rufsland machte mit dem Verkauf der nach Frankreich weiter- gegebenen Werte ein gutes Geschäft, Die folgende Kurs- steigerung der russischen Werte bedeutete für Frankreich schon Mitte der 90er Jahre einen Gewinn von circa 500 bis — 553 — GOO Mill. Fr. ^ Hierzu traten noch sehr beträchtliche , wenn auch ziffermäfsig schwer zu schätzende Enaissionsgewinne, welche nunmehr statt in Berlin in Paris gemacht wurden. Aulserdem verlor Deutschland an der italienischen Rente, welche es an Stelle der Russen kaufte. Dieselbe stand am 1. Januar 1887 noch 102, im Oktober 1893 dagegen nur 80, heute einige 90. Aus politischen Gründen wurde Frankreich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre ein äufserst kauflustiger Ab- nehmer russischer Werte, wobei es Italiener, Argentinier u. s. w. abgab ^. Drei Thatsachen v^ereint: die Gesundung der inneren Finanzverhältnisse, das Herabgehen des internationalen Zins- fufses, nicht zum wenigsten das politische Verhältnis zu Frank- reich bewirkten gegen Ausgang der 80er und in den 90er Jahren jene glänzende Kurssteigerung der russischen Staatspapiere, welche noch in aller Gedächtnis ist. 4 '^ oige russische Gold- anleihen, welche 1880 noch 75 notierten, wurden 1894 zu 97 V4 begeben und erreichten Dezember 1897 pari, welchen Kursstand sie seitdem behaupteten , ja überschritten. Selbst bei der Geldknappheit des Sommers 1899 hielten sich 4'^'oige Goldrussen über pari. Die 5 ^/oige Papieranleihe stand 1881 auf 93; 1894 erreichte der neuere 4*^/oige Typus der inneren Anleihe „Konsols", welcher die früheren Orientanleihen ab- löste, den Kurs von 95, um später über pari zu steigen, dies ungeachtet der Couponsteuer, welche den Zinsfufs auf 3,80 ^/o netto herabdrückt ^. Mit den genannten drei Thatsachen waren zugleich die 1 Vergl. Eaffalovich, Marclie financier 1895/96, S. 284. 2 So erklärt ausdrücklich der bekannte französische Finanzschrift- steller A. Neumarck: „es leiteten uns nicht finanzielle Erwägungen." Vergl. Ökonomische Rundschau. Dezember 1897, S. 23. 3 Ende Juli 1899 stand die H'/aO/o ige deutsche Reichsanleihe 100,10, die 3^/2% ige russische Goldanleihe 99,80, die 3*'/oige deutsche Reichs- anleihe auf 90, die S^ige russische auf 89,70 — diese Verbesserung des russischen Staatskredits ^yäre vor zwei Jahi-zehnten unglaublich erschienen. — 554 — Bedingungen grofsartiger Konversionen gegeben , welche an Stelle der 5 °/oigen die 4 '^/oigen Papiere zum vorwiegenden Typus der russischen Staatsanleihen machten. Der durch- schnittliche Zinsfufs der Staatschulden betrug 1895 noch 5,08 "/o, 1894 nur 4,19*^/0 ^ Der verhältnismäfsig hohe Zinsfufs der älteren Anleihen erwies sich für den Zweck der Konversion als ein Vorteil^. Die Hinausschiebung der Amortisationsfristen, welche mit den Konversionen verbunden war, wird man nicht zu schwer nehmen dürfen , nachdem Theorie wie Praxis heute den Typus der unkündbaren Rente bevorzugt. In einem kapital- armen Lande wie Rufsland, welches fortwährend des Kapital- zuflusses bedarf, ist auf das Tempo der Schuldentilgung weniger Wert zu legen als darauf, zu welchen Zwecken das erborgte Kapital verwendet wird. Die ersten grofsen Konversionen fielen in die Zeit der Flitterwochen der jungen russisch-fi'anzösischen Ehe, 1889 bis 1892. Sie sind verknüpft mit dem Namen Wischnegradskis (Finanzminister vom 1. Januar 1887 bis 30. August 1892). Wie sehr diesem Minister die Gunst des französischen Marktes entgegenkam, geht nicht nur aus der Überzeichnung um das vielfache hervor, wie sie für russische Anleihen seit jener Zeit in Paris üblich ist, sondern noch deutlicher aus der grofsen Menge der Zeichner. Wenn bei der Goldanleihe von 1894 in Frankreich 173 705 Personen zeichneten^, so war dies ein Beleg der Beteiligung des Volkes, nicht nur der Bank- und Börsenkreise. Nach dem Bericht des Reichskontrolleurs , des Senators ^ KramarQ, Russische Valutareform. Wien 1896, S. 24; nach dem Bulletin Russe 1898 nur 8,86 «/o. Bulletin Russe 1898, S. 433. Diese Zinsfüfse sind jedoch mit Vorsicht zu gebrauchen, da sie vom Nominalkapitel, nicht dem effektiv zugeflossenen Kapital berechnet werden. 2 Raffalovich, March6 financier 1893/94, S. 157. So gab man 1883 eine 6% ige Goldanleihe zu ungefähr pari heraus, wobei man sich das Recht der Rückzahlung in lö Jahren vorbehielt. 3 So Skalkofski a. a. O S. 296. — 555 — Filipoff, wurde 1889— 1 892 ein Nominalkapital von 1,667 Millionen R. Kredit konvertiert, wobei die Goldrubel unter Zugrunde- legung des für das Budget 1892 angenommenen Kurses von 1 Rubel Gold = 1 Rubel 60 Kop. Kredit berechnet sind. Diese Konversionen betrafen weit überwiegend Goldanleiben und kosteten dem Staate 1,705V2 Millionen R. ; dagegen er- gaben die neuen Anleihen, einschliefslich des Betrages der von den Besitzern nicht zur Rückzahlung eingereichten, sondern umgetauschten Stücke, 1,680 Millionen R., wonach der Staat 25' .' Millionen Rubel aus Budgetüberschüssen bestritten hat. Aufserdem hat Rufsland in jenem Zeitraum 143 Millionen Kredit zur Tilgung von 79 Millionen Gold- und 24 Millionen Papieranleihen verwandt ^ Jedoch mufste Rufsland im März 1893 eine neue 4V2 '^/oige Papieranleihe von 100 jMillionen aufnehmen, um der Mifsernte und der Hungersnot zu begegnen. Immerhin war es ein zweifel- loser Erfolg der Finanzverwaltung, dafs infolge der kurz vor- hergehenden Konversionen und Tilgungen die Notjahre mit ihren Ausgaben für Volksernährung und ihren Steuerrück- ständen das Budget mit Schuldzinsen nicht wesentlich be- lasteten. Nach einer kurzen Unterbrechung wurde 1893 und in den folgenden Jahren von Witte, dem Nachfolger Wischnegradski's, die Konversionspolitik fortgesetzt, nunmehr vorwiegend Papier- anleihen betreffend. Im Jahre 1894 hat Rufsland über eine Milliarde 5 ''/oige Papieranleihen in 4 '^lo ewige Rente ver- wandelt; an Zins und Amortisation ergab diese Mafsregel eine jährliche Ersparnis von 23,2 Millionen R. ^. Im selben Jahre ^ Vergl. Lorini a. a. O. S. 71. Eaffalo vidi , Marchö financier 1893/94 S. 156. 2 Näheres über die Konversion der Orientanleilien in 4 "/o Rente findet sich im Bulletin Russe 1897, S. 97. Bei der fakultativen Konversion vom 26. April bis 14. Mai 1894 wurden von 967 Millionen Rubel Nominalkapital 882 Millionen bei russischen Banken zur Um- wechslung präsentiert, nur je 88 in Frankreich und Deutschland — ein Beweis dafür, dafs die Orientanleihen damals zum weit überwiegenden Teile nach Rufsland zurückgeflossen waren. — 556 — wurde eine 3^/2^ oige Goldanleihe im Betrage von 100 Millionen R. in Paris emittiert zum Umtausch der 5 "^ oigen und 6^'oigen Obligationen der Centralbodenkreditbank und gewisser 5%iger Obligationen verstaatlichter Eisenbahnen. Das Jahr 1896 brachte eine S^'/oige Goldanleihe von 100 Millionen R., deren Ertrag nicht zu Konversionszwecken, sondern zur teilweisen Rückzahlung der Papiergeldschuld des Staates an die Bank, also zur Goldanschaffung für Währungs- zwecke verwandt wurde. Aufserdem wurde in diesem, wie im folgenden Jahre die Konversion älterer Papieranleihen sowohl des Staates, als verstaatlichter Eisenbahnen in 4%ige Rente fortgesetzt, ferner die 1897 und 1898 verfallenden Schatz- scheine ^ in 4 "/ oige Rente umgetauscht. Diese Schatzscheine, früher ein beliebtes Mittel, langfristige Schulden durch kurz- fristigen Kredit zu decken, werden heute in dem Mafse, als sie verfallen, eingezogen ^. Überblicken wir das Jahrzehnt von 1887—1897, welches die Rekonstruktion des russischen Staatshaushaltes umfafst; das Ergebnis der Konversionen erhellt dann aus folgenden Ziffern: Summe der Staatschuld in Millionen Rubel Kredit bezw. neuer Währung: Anfang 1887 5281,4 Anfang 1897 6735,4. Jährliches Erfordernis: 1887 280,9=^ (1888 259,4) 1897 258,8. Ordentliche Staatseinnahmen: 1887 829,6 1897 1416,3. Es ergiebt sich hieraus eine starke Zunahme des Nominalbetrages der Staatsschuld, dagegen un- gefähres Gleichbleiben des Jahreserfordernisses, 1 Vergl. Bulletin Russe 1897, S. 629. - Eine interessante Übersicht über die Verwendung sämtlicher Emissionen der neuen 4"/oigen Rente enthält Raffalovich, Marche financier 1897/98, S. 364. ^ 1887 war das Zinserfordernis wegen des ungünstigen Kurses aufsergewöhnlich hoch. — oo< — wobei das prozentuale Verhältnis des letzteren zur Gesanit- einnahme des Staates bedeutend herabging. Freilich darf man gegenüber den angeführten Ziffern nicht vergessen, dafs es sich bei der Herabsetzung des Jahres- erfordernisses nicht nur um Zinsersparnis, sondern auch um verminderte Amortisation handelt. Einen Einblick in das Verhältnis zwischen Zins und Amortisation geben folgende Ziffern \ Goldschulden iu Millionen Rubel 1888 i 1898 Betrag des Schuldkapitals Jahreserfordernis .... davon Zins davon Amortisation . . . 1307, 5 73,18 = 5, 6 o/o 61.58 = 4,710/0 11.59 = 0,89% 2133,7 93,88 = 4, 40/0 82,78 = 3,88 0/0 11,09 = 0,520/0 Papierschulden in Millionen ßubel 1888 1898 Betrag des Schuldkajjitals Jahreserfordernis .... davon Zins davon Amortisation . . . 2461,43 156,43 = 6,35 0/0 121 =4,910/0 35,42 = 1,440/0 2900,70 131,15 = 4, 50 0 121,79 = 4,18 0/0 9,35 = 0,820/0 Die entscheidende Frage jedoch zur Beurteilung des russischen Staatsschuldenwesens in dem uns beschäftigenden Zeitraum läfst sich nicht auf Grund dieser bloisen Ziffern be- antworten. Es handelt sich vielmehr darum, welchem Zweck hat die zweifellos vorliegende Mehrverschuldung gedient, ent- spricht ihr ein Zuwachs an produktivem Staatsvermögen? Nun ist es unmöglich, die Bilanz eines Staates aufzu- machen, wie die eines Handlungshauses; am wenigsten ist es 1 Vergl. Bericht des p. Korrespondenten der Frankfurter Zeitung vom 15.'27. Dezember 1898 auf Grund offizieller Quellen. Vergl. über die Amortisation auch Raffalovich, Marche tinancier 1895/96, S. 282. — 558 — möglich bei Rufsland. Im Aktivum befinden sich buchmäfsig nicht zu schätzende Werte, z. B. das gerade in Kufsland be- sonders ausgedehnte , langsam in Erträgnissen wachsende, aber so gut wie unveräufserliche land- und forstwirtschaftliche Domanium. Hierzu kommt , dafs dem russischen Fiskus weit- gehende Verpflichtungen wenigstens subsidiärer Natur obliegen aus dem von ihm rechnerisch völlig getrennten Geschäfts- betriebe der Staatsbanken. Hierzu gehören die Verpflichtungen der Reichsbank in ihrer bisherigen kommerziellen Abteilung, sowie die Pfandbriefschulden der staatlichen Adels- und Bauernbank. Am 1. Januar 1898 waren von der Adelsbank 335,5, von der Bauernbank 81,5 Millionen R. an Pfandbriefen im Umlauf, der vorwiegende Typus zu A^lo und 4^/2^0^; durch Ukas vom 16. Januar 1898 ist die Konversion der 4^/2 ^/oigen Pfandbriefe der Adelsbank in 3^/2 ^'/oige vor- gesehen ^. Es ist klar, dafs der verhältnismäfsig niedere Zinsfufs durch Staatsgarantie erkauft wird, welche immerhin einmal drückend werden kann, wenn auch buchmäfsig der Pfandbrief- schuld höhere Hypothekarforderungen, zusammen von 509,7 Millionen Rubel, entsprechen^. Ähnliches gilt von den sehr beträchtlichen Beträgen staatlich garantierter Eisenbahn- obligationen, denen zunächst das Aktivum der betreffenden Eisenbahngesellschaft gegenübersteht. Wenden wir uns nunmehr zu der Staatsschuld im engeren Sinne, so ist schwebende und fundierte Schuld zu unter- scheiden. Betrachten wir zuerst die schwebende Schuld. Am 1. Januar 1887 befanden sich im Umlauf 941 Millionen R. Kreditbillets; dem stand ein staatlicher Goldbesitz von 281,5 Millionen Goldrubel gegenüber, gleich 422,2 Millionen R. Gold neuer Prägung. Fafst man Noten und Schatzscheine 1 Bulletin Russe 1898, S. 352. 2 Bulletin Russe 1898, S. 67. 3 Bulletin Eusse 1898 a. a. 0. S. 358. — 559 — als schwebende Schuld zusammen, so war dieselbe nach Raffalovich am 1. Januar 1887 mit 24,5^^/0 metallisch gedeckt ^ Am 1. Januar 1898 betrug dagegen der Papierumlauf 901,2 Millionen Rubel, der Goldbesitz der Reichsbank und des Staatsschatzes 1319,2 Millionen R. neuer Prägung. Noten und Schatzscheine zusammen waren zu 122,2*'/o überdeckt. Der Nominalbetrag der fundierten Schuld belief sich am 1. Januar 1887 auf 5281,4 Hill. Rubel Kredit. Hiervon waren zum Bau oder Rückkauf von Eisenbahnen 1238,7 Mill. Rubel verwandt^. Eine durchaus produktive Anlage bedeuteten ferner die 417 Millionen R. Ablösungsschuld, welche der Staat bei Gelegenheit der Bauernbefreiung zwecks Befriedigung des Gutsherrn aufgenommen hatte. Diese Schuld wurde mit der Staatsschuld vereinigt, wofür die Ablösungszahlungen der Bauern seit 1885 unmittelbar in das Einnahmebudget des Staates fliefsen. Vom 1. Januar 1887 bis 1. Januar 1899 hat sich die fundierte Staatsschuld in folgender Weise entwickelt. Ich ent- nehme die Ziffern dem Bulletin Russe ^, welches im einzelnen mitteilt, wie die Summen zu stände kommen und daher am zuverlässigsten erscheint. Nominalbetrag in Millionen Rubeln neuer Prägung*. A. Schulden in alten Goldrubeln oder ausländischer Währung I. Januar 1887 1975,4. 1. Januar 1899 3062,2. B. Schulden in Kreditrubeln oder Rubeln neuer Währung 1. Januar 1887 2381,8. 1. Januar 1899 3046,6. Gesamtbetrag 1887 4357,2. 1899 6108,8. ^ Ich entuehme diese sowie die entsprechenden ZitFern für 1898 Raffalovich, Le rouble Credit 1896, S. 13 ff., und Dems. Marche financier 1897/98, S. 366. - Ich entnehme diese Ziffern Raffalovich, Mai-che financier 1897/1898, S. 365. Die Goldschulden sind hier auf Kreditrubel reduziert, was mir für Nominalbeträge wenig praktisch erscheint. 3 Bulletin Russe 1898, S. 455 und 459. * Vergl. Bulletin Russe a. a. O. S. 426. 1 Rubel = 2/3 alter Goldrubel = 2Vs fr. = 2,16 Reichsmark. — 560 - Freilich ist keineswegs der ganze Mehrbetrag des Nominals von 1899 gegenüber 1887 thatsächlich dem Fiskus zugeflossen, da die bedeutendsten Konversionen zum ungefähren Kurse von 90 gemacht wurden. Diesem stark angewachsenen Passivum steht zunächst der Goldvorrat gegenüber, welcher heute die Notenschuld mehr als vollständig trägt. Derselbe hat sich vom 1. Jan. 1887 bis 1. Jan. 1898 um ca. 900 Millionen Rubel neuer Prägung ver- mehrt. Keine Anlage produktiver als die jenes zinslosen Metall- schatzes, wenn er zur Herstellung der Währung benutzt wird! Auch die Überdeckung ist notwendig und produktiv, weil bei der Unmöglichkeit eines wahren Banknotenumlaufs nur so eine gewisse Elasticität des Geldumlaufs erzielt wird. Ein ferneres, sehr beträchtliches Aktivum bilden heute die Staatseisenbahnen , für deren Bau und Ankauf vom 1. Januar 1887 bis 1. Januar 1899 1564 Mill. Rubel ausgegeben wurden ^ Hiervon wurden 425 Millionen Budgetüberschüssen entnommen. An Eisenbahnschulden wurden dagegen in dem- selben Zeilraum 1139 Mill. Rubel aufgenommen^. Besonders stark vermehrt wurde durch die Eisenbahnverstaatlichung der Typus der russischen 4*^/oigen Staatsrente; doch dienten auch Goldanleihen, z. B. die 3^/2 ^/o von 1894 mit einem Nominal- betrage von 100 Millionen Rubel, der Einlösung von Eisen- bahnobligationen ^. Dafs der Wert des Eisenbahnnetzes, wenn überhaupt zu veranschlagen, zur Zeit höher ist, als der Betrag der dafür gemachten Aufwendungen, dafs die Erträgnisse wachsende und zukunftsvolle sind, wurde oben dargelegt. 1 Diese Ziffer entstammt dem Budgetbericht des Ministers Witte für das Jahr 1899. 2 Diese Ziffer, demselben Bericht entnommen, steht in genügender Übereinstimmung mit der Angabe von Raffalovich, Marche financier 1897/1898, S. 365, wonach sich vom 1. Januar 1887 bis Ende 1896 die Eisenbahnschuld des Staates um 1112 Millionen Rubel Kredit ver- mehrt hat. ^ Näheres findet sich im Börsenjahrbuch von Saling. — 561 — Ferner kommt für die Vermehrung der russischen Staats- schuld die Übernahme verschiedener Bodenkreditinstitute durch den Staat in Betracht. Die ehedem vom „Russischen Boden- kredit-Verein" emittierten Pfandbriefe wurden laut Erlafs vom 6. Februar 1895 als Staatsschuld übernommen, und zwar ca. 5 Millionen R. Gold 5"^/ü Pfandbriefe und ca. 80 MilHonen R. Gold 4V2 ^/o Pfandbriefe. Letztere 80 Millionen wurden im Jahre 1898 durch 3^/io^/o Konvertierungsobligationen neuer Währung eingelöst^. Die 5"o Pfandbriefe können dagegen nicht konvertiert werden, sondern werden laut Plan ä l2b^lo durch halbjährige Verlosungen amortisiert. In ähnlicher Weise übernahm der Staat die 5 "/o Obligationen der Centralbodenkreditbank, deren Umlauf sich Am 1. Januar 1894 auf 37,6 Millionen Gold Nominal belief. Diese Bank hatte ihre auf Gold lautenden Obligationen dem europäischen Markte zugeführt und dafür auf Papier lautende russische Pfandbriefe gekauft, mit dem Zweck der Ausnutzung des niederen west- lichen Zinsfufses. Die Kurssenkung des Rubels hatte bereits seit 1877 Zahlungsschwierigkeiten zur Folge, welchen der Staat durch Übernahme der Bank ein Ende machte, um nicht den russischen Kredit in Europa zu schädigen ". Die be- treffenden Obligationen wurden durch die Goldanleihe zweiter Emission von 1894 eingelöst. Diese Anleihe betrug ca. 41 Mil- lionen Rubel Gold Nominal. Den durch diese Operationen entstandenen Staatsschulden stehen die in ihrem Werte schwer zu schätzenden Aktiva der betreffenden Institute gegenüber. Nach dem Bulletin Russe standen dem russischen Bodenkreditverein am 1. Januar 1897 157 Millionen R. Hypothekarforderungen ^ zu. Zur Zeit der Übernahme der Centralbodenkreditbank beliefen sich deren Aktiva auf 52,2 Millionen Rubel Kredit, vorwiegend Pfand- briefe. ^ Vergl. über diese Konversion Bulletin Russe 1898, S. 70/71. 2 Ad Centralbodenkreditbank vergl. ßaffalovich, Marche financier 1894/95, S. 229. 3 Vergl. Bulletin Kusse 1898, S. 358. V. Schulze-Gaevernitz, Stud. a. Rufsl. 86 — 562 — Blicken wir zurück, so können wir dahin zusammenfassen, dafs seit 1887 die Aktiva des russischen Staates sich in beträchtlich stärkerem Mafse vermehrt haben, als die Schulden. Die Erklärung hierfür liegt in den Budgetüberschüssen, mittelst deren sowohl ein Teil des staatlichen Eisenbahnbesitzes wie des Goldvorrats er- worben wurde. Es beruht dieser Satz nicht nur auf den angeführten Ziffern, deren Zustandekommen an dem vorhandenen Material bis in das einzelne nachgeprüft werden kann. Es entspricht das erreichte Ergebnis auch der Auffassung der den russischen Verhältnissen nächststehenden Grofsbanken Westeuropas, wie ich mich gesprächsweise zu überzeugen mehrfach Gelegenheit hatte. IV. Rufslands Zahlungsbilanz. A. Die Zahlungsbilanz von 1887 — 98. Um die Aussichten der russischen Zahlungsbilanz, also der russischen Goldwährung, für die Zukunft zu beurteilen, werfen wir zunächst einen Blick in die letzte Vergangenheit, auf das Jahrzehnt der finanzpolitischen Gesundung seit 1887. Dafs in diesem Jahrzehnt Rufsland eine vorwiegend günstige Zahlungsbilanz besafs, dafür sind Wechselkurse und Gold- einfuhr ein zweifelloser Beleg. Fraglich sind lediglich die Grundlagen dieser günstigen Zahlungsbilanz. In dieser Hin- sicht sind neuerdings, aus Anlafs der Währungsreform, zahl- reiche Vermutungen aufgestellt worden, welche jedoch für den exakten Arbeiter ein höchst unerfreuliches Bild aufweisen. Sie münden meist in Schätzungen, welche ohne genügende thatsächliche Grundlage in Zehnern von Millionen unterein- ander abweichen und in ihrem Ergebnis durchaus von der vorgefafsten Meinung des Schätzenden abhängen. Jede ziffern- mäfsige, gar detaillierte Erfassung der russischen Zahlungs- bilanz ist m. M. eine statistische Ungeheuerlichkeit ^. 1 Am ausführlichsten versucht dies Ol bei Schaparoff, Ziffern- raäfsige Analyse der russischen Zahlungsbilanz. Petersburg 1897. — 563 — Es ergiebt sich dies zunächst, wenn wir einige, immerhin nicht unwesentliche, dabei statistisch schlechthin ungreifbare Nebenpunkte in das Auge fassen. Wer will die Ausgaben der russischen Reisenden im Aus- lande schätzen, ohne in das Blaue zu raten? Gegenüber denen, die in diesen Ausgaben nichts als einen volkswirtschaftlichen Verlust erblicken , ist darauf hinzuweisen , dafs diese Auf- wendungen zum Teil Studienzwecken dienen und insofern als produktive Anlage gelten müssen. Dieser Belastung stehen gegenüber die ebenfalls statistisch in keiner Weise zu fassen- den Löhne, welche russisch-polnische Wanderarbeiter aus Preufsen und Österreich nach Hause bringen ^ Zum Vergleich von Debet und Kredit fehlt hier jeder Anhalt. Richtig ist, dafs der Fremdenverkehr in Rufsland Rufs- lands Zahlungsbilanz vorwiegend belastet, da die Fremden sich meist zum Erwerb, selten zu touristischen Zwecken in Rufsland aufhalten. In letzterer Hinsicht bieten nur der Kaukasus und die Krim günstige Ausblicke für die Zukunft; wichtiger wird der Durchgangsverkehr nach Ostasien sein, sobald die sibirische Bahn fertiggestellt sein wird, wegen der grofsen Zeitersparnis gegenüber dem Seewege. Welche Beträge die in Rufsland sich aufhaltenden Fremden an Handelsgewinnen und Ersparnissen von Dienst- leistungen in das Ausland remittieren, spottet jeder statistischen Erfassung. Auch diese Belastung dient vielfach produktiven Zwecken und mufs im letzten Ergebnis Rufsland bereichert hinterlassen, soweit ausländische Bildung, Intelligenz und Arbeitskraft volkswirtschaftlich nützlichen Zwecken gewidmet wird. Der recht beträchtliche Goldschmuggel nach China, ein Kreditposten Rufslands, ist ebenso schwer statistisch zu erfassen, wie die Belastung an Fracht zu Gunsten ausländischer Reeder. Letztere Ausgaben sucht Rufsland dadurch zu beschneiden, dafs es mit allen Mitteln die Bildung einer eigenen Handels flotte erstrebt. Da der bisherige Zollsatz für Seeschifte von * Diesen Posten vernachlässigt Ol in seiner citierten Tabelle. 36* — 564 — 20 — 25 *^/o des Wertes einen einheimischen Schiffsbau nicht hervorgerufen hat, so entschlofs sich die schutzzöUnerische russische Regierung durch Gesetz vom 27. April 1898 zur Zollfreiheit von Seeschift'en und metallischen Schiffsbestand- teilen. Zugleich behielt sie die grofse Cabotage zwischen den russischen Häfen des Baltischen und Schwarzen Meeres, sowie des Stillen Oceans der russischen Flagge vor ^ Übrigens verschieben die an ausländische Reeder zu zahlenden Frachten nur wenig das im folgenden gegebene statistische Bild der russischen Zahlungsbilanz : für die Aus- fuhrwaren Rufslands liegen die Preise der Exporthäfen zu Grunde, also Weltmarktpreise minus Fracht; in den Werten der Einfuhrwaren aber dürfte die Fracht bereits den Preisen grofsenteils zugeschlagen sein. Der asiatische Bahnbau eröffnet Rufsland Aussicht auf ansehnliche Durchfuhrfrachten. Schon heute besitzt Rufsland internationale Durchfuhr in der kaukasischen Bahn^. Von gröfserer Bedeutung wird auch in dieser Hinsicht wahrschein- lich die sibirische Bahn werden, deren Rentabilität auf wert- volle Rückfracht gegen Thee, Seide u. s. w. angewiesen ist. Dafs solche Rückfracht nicht ausschliefslich, ja nicht in erster Linie von der russischen Industrie geliefert werden kann, darüber stimmen alle ruhig denkenden Sachkenner überein ^. Rufsland hat daher ein Interesse am deutschen Überland- verkehr nach dem Innern des asiatischen Festlandes. Gegenüber den genannten minder wichtigen Punkten sind von entscheidender Bedeutung für Rufslands Zahlungsbilanz seine Handelsbilanz und seine internationale Verschuldung. ' Näheres findet sich hierüber in der Ökonomischen Rund- schau Mai 1898 S. 90. " Vergl. Handel und Gewerbe vom 1. April 1899. Bemühung der Altesten der Berliner Kaufmannschaft um freien Zoiltransit nach Persien. ^ So z. B. der Fürst Uchtomski, der Leiter der russisch-chine- sischen Bank, in dem öfters angeführten Aufsatz der Preufsischen Jahr- bücher, Band 92, Heft 2, S. 341. - 565 - Zunächst die Handelsbilanz. Trotz aller Unsicherheit der Handelsstatistik welche Sir Charles Dilke in drastische Worte kleidet^, können wir nachstehende, der russischen Statistik entnommenen Zithern insofern mit Ruhe verwenden , als die untergelaufenen Fehler beträchtlich zu Ungunsten Rufslands wirken dürften. Die Thatsachen liegen hier wahrscheinlich günstiger für Rufsland als ihr statistisches Abbild. Die Ausfuhr Rufslands wird nämlich von den Einfuhr- ländern beträchtlich gröfser angegeben^. Andererseits fehlt ein Anreiz für die Importeure, die Einfuhr unter ihrem wahren Werte anzugeben, da Rufsland Gewicht- und nicht Wertzölle erhebt. Thatsächlich schätzt Rufsland seine Einfuhr viel höher als die Ausfuhrländer, z. B. im Durchschnitt der Jahre 1889—94 um ü8,5^u^ Der Schmuggel, welcher die russische Handelsbilanz der Statistik gegenüber verschlechtert, hat mit Zusammenfassung des Verkehrs auf Aveuigen grofsen Grenzstationen und bei der Massenhaftigkeit des modernen Warenhandels nach allgemeinem Urteil der Sachverständigen gegen früher sehr abgenommen. Folgendes sind die Zittern der russischen Statistik: ^ Vergl. Karl J. Fuchs, Die Handelspolitik Englands und seiner Kolonieen. Leipzig 1898, S. 90. Alle Handelsstatistik stelle mindestens 20 *^/o Abweichung von der Wahrheit dar. 2 Nach Eaffalovich, Marche financier 1897/98, S. 410 hat Rufs- land auf Grund seiner eigenen Statistik in den Jahren 1889—94 aus- gefülirt für 3509 Millionen Rubel, nach der fremden Statistik 4701 Mil- lionen Rubel. Sehr eingehend weist die gleiche Thatsache nach: Pokrowski, Über die Festigkeit der russischen Handelsbilanz. St. Petersburg, ohne Jahreszahl. Danach erreichte z. B. 1894 der Wert der nach England ausgeführten Butter nach englischer Statistik einen um 45,6 '^lo höheren Wert als nach russischer; der nach Deutschland ausgeführte Flachs wurde nach deutscher Statistik um 22,4 ** o, die nach Frankreich ausgeführte Gerste um 89,9 °/o nach französischer Statistik höher bewertet als nach russischer. 3 Vergl. Pokrowski a. a. 0. S. V. 566 Einfuhr Ausfuiir Handelsbilanz' in Millionen Rubel f 1885 435,3 538,6 + 103,2 1886 426,5 488,4 + 61,9 1887 399,6 622,9 + 223 3 1888 386,1 793,8 + 407,7 1889 431,9 766,0 + 334,0 1890 406,6 703,9 -f 297,2 1891 371,5 721,6 + 350,0 1892 399,5 475,2 + 76,0 1893 449,6 599,5 + 149,6 1894 575,2 664,2 + 149,0 1895 489,4 691,0 + 201,6 Für die jüngste Zeit entnehme ich den Veröffentlichungen des Zollamtes folgende, wohl nur erst provisorische Ziffern^: 1896 1897 1898 Einfuhr Ausfuhr in Tausend Rubeln 540,267 667,412 507,531 704,347 562,013 708,857 Handelsbilanz 4- 127,145 H- 195,816 + 206,844 Nicht minder wichtig als die Handelsbilanz ist für Rufs- lands Zahlungsbilanz seine internationale Ve rschuldung. Der Überschufs des Ausfuhr über die Einfuhr dient der Zinszahlung an die auswärtigen Gläubiger. Hat dieser Über- schufs zu dem genannten Zwecke genügt oder hat Eftekten- ausfuhr, d. h. weitere Verschuldung einsetzen müssen, um eine günstige Zahlungsbilanz zu stände zu bringen? Wir unterscheiden in dem uns interessierenden Zeitraum den Abschnitt bis zur Festlegung des Rubelkurses und die neueste Zeit der Durchführung der Reform. De Clercq veranschlagte 1886 die jährliche Zinszahlung Rufslands an das Ausland auf 131 Millionen R. Kredit. 1895 ^ Ich entnehme diese Ziffern Raffalovich, Le rouble- credit. Paris 1896. 2 Vergl. die Industriezeitung 1898 Nr. 74. — 567 — schätzte das Finanzministerium auf Grund der Effektendepots bei russischen Staats- und Privatbanken das Maximum der an das Ausland vom Staate zu leistenden jährlichen Zins- und Araortisationszahlungen auf 181 Mill. Rubel Kredit. In diesen Ziffern Avaren nur die Zinsen der Staatspapiere und der staat- lich garantierten Eisenbahnobligationen, nicht die der privaten Wertpapiere mit berücksichtigt, auch nicht die staatlicherseits zu leistenden Vergütungen für Couponeinlösung und Emissions- gewinne ausländischer Banken. Mit ziemlicher Übereinstimmung ist auf allerdings recht schwankenden Grundlagen von Schriftstellern entgegengesetzter Tendenz die als Zins, Amortisation, Dividende u. s. w. von Staat und Privaten Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre an das Ausland zu zahlende Summe auf jäiirlich' etwa 150 Millionen Rubel Kredit veranschlagt worden ^. Vergleichen wir mit dieser Summe von 150 Millionen die obigen Angaben hinsichtlich der Handelsbilanz , so ergiebt sich immerhin ein nicht unbeträchtlicher Überschufs zu Gunsten Rufslands. Dieser Saldo konnte neben andern Zwecken, z. B. für die Ausgaben der Russen im Auslande, zur Gold einfuhr verwendet werden. Der Überschufs der Goldeinfuhr über die Goldausfuhr belief sich in den acht Jahren 1887 — 1894 einschliefslich auf rund 260 Mill. Rubel GokP. Wie viel hiervon auf den Über- ^ So Th. V. Bück in der „Nation" vom 15. Februar 1896, ferner Kramarc, Eussische Valutareform. Wien 1896, S. 32. Ähnlich auch Eaffalovich, Marche financier 1896/97, S. 408 flF. In genügender Übereinstimmung steht hiermit auch die Angabe Ol's, etwa für 1894, wenn man von den Kreditanleihen absieht. Letztere waren, wie mir von sachkundigster Stelle der Berliner Börse versichert wird, Anfang der 90 er Jahre fast vollständig von Deutschland, ihrem einzigen aufser- russischen Markte, abgeflossen. Siehe auch oben S. 555 Anm. 2. Vergl. Schaparoff, Ziffernmäfsige Analyse von Rufslands Zahlungsbilanz 1881'95. Petersburg 1897, S. 40'43. 2 Die Ziffern Pokrowskis a. a. O. S. 7 ergeben für 1887/1894 inkl. eine Mehrcinfulir an Gold von 266 Millionen Rubel Gold; dem entspricht ungefähr die Angabe von Raffalovich, Marche financier 1896/97, S. 410. — 568 — schufs fler Handelsbilanz über die Zinsverpflichtung , wie viel auf Kreditoperationen zu rechnen ist, ist nicht mit Sicherheit zu ermitteln; ich vermeide es, unbefriedigende Schätzungen wiederzugebend Jedenfalls stehen die vorhandenen Daten nicht in \^'ider- spruch mit dem, was wir oben auf anderem Wege er- reichten. Die Kreditoperationen jener Jahre können keinen allzu bedeutenden Einflufs auf die Zahlungsbilanz gehabt haben: Konversionen, die Übernahme von bereits im Auslande befind- lichen Eisenbahnobligationen , Aktien und Pfandbriefen durch den Staat haben zwar die russische Staatsschuld in jenem Zeitraum bedeutend vermehrt, aber keine Goldbewegungen grofsen Stiles hervorgerufen. Auch war das Ausland in jener Zeit noch zaghaft, z. B. durch Industriegründung, in die russische Währung zu gehen; im Gegenteil, dem langsamen Aussickern der Goldanleihen, für welches die Abnahme der in Rufsland registrierten Depots an Goldwerten spricht, stand die Heimkehr der Kreditanleihen gegenüber : Goldwerte flössen von Rufsland nach Paris, Kreditwerte von Berlin nach Rufsland. Es war die Zeit langsamer Sammlung, die jeder Ge- sundung der Währung vorangehen mufs, wobei das Inland in erster Linie auf sich selbst angewiesen ist. Ein ganz anderes Bild bietet die neueste Zeit seit 1895. Der Rubelkurs war festgelegt, das Vertrauen des Auslandes in die Herstellung der metallischen Währung erwacht, ins- besondere seit dem Siege des russischen Finanzministers über die Berliner Baissespekulation Oktober 1894. Daher die Thatsache, welche das russische Wirtschaftsleben heute mehr als jede andere charakterisiei't : riesenhafter Kapitalzuflufs von aufsen, rasch zunehmende Verschuldung an Europa^. 1 Gegenüber einer Goldeiufuhr von 260 Millionen vermehrte sicli der Goldbesitz von Staatssehatz und Reichsbank zusammen vom 1. Januar 1887 bis 1. Januar 1895 um rund 350 Millionen Rubel Gold: der Überschufs zwischen dieser Summe und der Goldeinfuhr mufs aus der heimischen Produktion geschöpft sein. 2 Vergl. Bericht des amerikanischen Generalkonsuls in St. Peters- burg. Consular Reports January 1898 Washington. — 569 — Die Goldansammlung geht nunmehr in verstärktem Tempo, Diese Goldschätze sind teils direkt durch Anleihen erworben worden, z. B. durch die 3*^0 Goldanleihe von 100 JMill. Gold- rubel 1896; teils wurden sie mittels Budgetüberschüssen aus dem reichen Material an Goldtratten geschöpft, welches jetzt nicht blofs der Saldo der Handelsbilanz, sondern vor allem auch der an Eisenbahnen, Industriegesellschaften u. s. w. ge- währte europäische Kredit hervorbrachte. Mit Recht weist Helfferich auf diesen Kapitalzuflufs als die erste Folge der Valutareform nachdrücklichst hin; was er von Indien sagt, gilt nicht minder von Rufsland ^. Für Rufsland handelte es sich in erster Linie um die In- vestierung französischen und belgischen Kapitals^, Die Kapitalzufuhr vom Auslande wird heute von der Finanz Verwaltung wie der öffentlichen Meinung, im Gegensatz zu den 80er Jahren, ausgesprochenermafsen begünstigt^. So erklärte der Finanzminister Witte: „Das Schutzzollsystem ist eine Schule der Industrie, deren Kosten auf allen Bevölkerungs- schichten lasten. Wir müssen daher sehen, wie wir diese Last loswerden. Die Befreiung von derselben kann dui-ch Herbeiziehung ausländischer Kapitalien nach Rufsland erreicht werden. Wir haben keine eignen Kapitalien; wo aber solche 1 So z. B. Helfferich, Währung und Landwirtschaft. Stuttgart 1895, S. 23 ff. 2 Bezeichnend ist eine Aufserung derßevue des deuxmondes 1895, Bd. 130, S. 92 hinsichtlich der bevorstehenden Währungsreform : „C'est alors que nos industriels n'hesiteront pas a faire en masse ce que quelques-uns d'entre eux ont dejä commence, c'est-ä-dire a venir installer en Russie une partie de leur outillage et ä mettre leur experience au Service de ce pays jeune, oü tant d'horizons s'ouvrent k l'esprit d'entre- prise." 3 Vergl. die offiziöse „Ökonomische Rundschau" März 1898 S. 145, und vom November und Dezember 1898: Briefe über russische Industine und fremde Kapitalien. Zahlreiche Zeitungen plaidieren auf das wärmste für Zufuhr fremden Kapitals. Von Gelehrten u. a. der be- kannte Akademiker J. J. Janschull. Vergl. z. B. die Zeitung „Russ" vom 13. Dezember 1898. — 570 - vorhanden sind , da sind sie unbeweglich. Durch Herbei- ziehung ausländischer Kapitalien wird die Schule des Schutz- zollsystems billiger. Ein ausgedehnter Zuflufs ausländischer Kapitalien nach Rufsland ist nach Möglichkeit zu fördern." Die Kapitaleinfuhr macht sich auf den verschiedensten Gebieten geltend. In erster Linie gilt dies vom Gebiete der staatlichen Verschuldung. Zunächst sickern nach wie vor die Goldanleihen aus Rufsland ab , ja heute in verstärktem Mafse ; hierauf deutet die Abnahme der innerhalb Rufslands deponierten Goldwerte, wobei zu berücksichtigen ist, dafs die russischen Kapitalisten fast allgemein die Gewohnheit haben, ihre Effekten bestände bei Banken zu deponieren. Dem offiziellen Finanzboten ent- nehme ich folgende Ziffern^: Davon Gesamtbetrag in Rufsland registriert Nicht registriert 1. Januar 1898 . . 2138,5 286,6 1851,9 1. Januar 1894 . . 2119,9 224,4 1895,5 1. Januar 1895 . . 2388,6 217,4 2171,3 1. Januar 1896 . . 2249,0 210,6 2038,4 1. Januar 1897 . . 2365,7 192,3 2173,4 1. Januar 1898 . . 2429,4 192,4 2237,0 Sodann kommt in Betracht, dafs die früheren Kredit- anleihen des Staates, die Kreditobligationen der verstaatlichen Eisenbahnen und die Pfandbriefe der staatlichen Bodenkredit- banken sich heute in nichts mehr von den älteren Goldanleihen des Staates unterscheiden. Sie sind Goldwerte geworden und damit internationales Anlagepapier. Ein guter Sachkenner, Th. V. Bück, bezeichnet den Ausflufs der 4*^/0 Rente als „notorisch". ^ Die gleiche Statistik hinsichtlich der Kreditanleihen ist wertlos, weil sie die EiFektenbestände der Sparkassen nicht berücksichtigt, welche zwar keine Goldwerte, dagegen in grofsen Massen Kreditwerte besitzen. — 571 — Derselbe Finanzschriftsteller schreibt mir, Gold- und Kreditanleihen zusammenfassend: „Derjenige Betrag der russi- schen Staatsschuld im weitesten Sinne, der im Auslande placiert ist, ist in den letzten fünf Jahren (1893 — 1897) um 400 bis 500 Millionen R., also um 80—100 Millionen R. jährlich ge- wachsen," Diese Schätzung entspricht ungefähr der oben angeführten des amerikanischen Generalkonsuls. Mir selbst fehlt das Material, sie auf ihre Richtigkeit nachzuprüfen. Nicht minder bedeutend, auch ebenso schwer in seinem Betrage zu schätzen, ist der Kapitalzuflufs auf dem Gebiete der privaten Unternehmung, vor allem der Industrie ^ Am 1. Januar 1895 bestanden in Rufsland mit Ausschlufs der Eisen bahngesellschaften 784 Aktienunternehmungen mit 890 Mil- lionen R. Kapital. Am 15. April 1898 bestanden 990 Aktien- unternehmungen mit 1686 Millionen R. Kapital. Allein in der Metallindustrie stieg das Aktienkapital in dieser kurzen Zeit- spanne von 86 auf 250 Millionen R. Es ist klar, dafs diese Zunahme des industriellen Kapitals nicht einer plötzlichen Vermehrung der russischen Ersparnis, sondern nur dem Zu- flufs ausländischen Reichtums verdankt sein kann. Aufser den Neugründungen haben ältere Aktiengesellschaften mit Erfolg neuerdings im Auslande Obligationsanleihen aufge- nommen, was zur Zeit schwankender Papierwährung undenk- bar gewesen wäre. Als Beispiele nenne ich die Nobelschen Industrien, die Donez-Kohlenwerke u. a. Eine weitere Folge der Währungsreform war ein ge- waltiger A u f s c h w u n g d e s E i s e n b a h n b a u e s , ebenfalls ver- mittelt durch ausländisches Kapital. Es ist dies eine Erscheinung, die sich überall zeigt, sobald die Eisenbahneinnahmen aus schwankenden Papiereinnahmen zu Goldeinnahmen werden. Neben den Staatsanleihen , welche Eisenbahnzwecken dienen, kommen hier vor allem die staatlich garantierten 4 "/o ^ Über die Schwierigkeit, das iu der russischen Industrie vom Auslande angelegte Kapital zu schätzen vergl. Bulletin Russe 1897, S. 394/395. Der Verfasser übersieht, dafs auch Aktien russischer Aktien- gesellschaften in das Ausland abfliefsen können. — 572 - Eisenbahnobligationen privater Gesellschaften in Betracht, von denen seit 1894 bis Anfang 1899 ein Betrag von ca. ^ii Milliarden Mark allein in Deutschland untergebracht wurde. Aufserdem aber werden — eine bisher in Rufsland ungewohnte Erscheinung — neuerdings auch Eisenbahnen lediglich aus privaten Mitteln ohne Staatsgarantie gebaut, insbesondere in den West- provinzen ^ Im ganzen befanden sich Anfang 1899 an 5000 Werst Privatbahn im Bau. Aufser diesen langfristigen Kapitalanlagen sind seit den Tagen der Festigung der Valuta kurze oder jederzeit kündbare Bankkredite in ansehnlichen Beträgen von Europa nach Rufsland gelegt worden , wozu der Unterschied des Zins- fufses anlockt. Diese Bankkredite haben zur Voraussetzung, dafs der Kreditgebe rsich sicher fühlt, wann er will, aus der Währung herauszukommen , d. h. dafs die russische Reichs- bank jederzeit Golddevisen zu festem Kurse verkauft. Diese Kredite waren undenkbar, solange der Rubel ein schwanken- des Papiergeld war. — Wie ein vom Druck befreiter Schwamm saugt heute Rufsland begierig fremdes Kapital auf. Die Reaktionäre nennen es „den Verkauf Rufslands an die Fremden", ein Vor- wurf, der allerdings vielfach monopolistischem Privatinteresse entspringt, „welches die Maske des Patriotismus annahm" ^. Sind koloniale Böden je anders als durch das Kapital der alten Volkswirtschaften entwickelt worden? Ist es nicht häufig ein Zeichen gerade des Aufblühens eines Handlungs- hauses oder Industrieunternehmens, wenn es fremde Gelder sich dienstbar macht? Freilich legt jede solche „Verschuldung" 1 Vei'gl. Näheres in der Ökonomischen Rundschau September 1898, 8. 108 ff. 2 So der Finanzminister Witte in seiner oben angeführen Rede in der Kommission zur Regulierung des Getreidehandels. Nicht gilt dieser letztere Vorwurf von Schaparoff-01, welche bona fide die Verschuldung als „Verlust" betrachten und die Papierwährung bevor- zugen, weil sie die Verschuldung an das Ausland erschwere, a. a. 0. S. 14 flP. — 573 — dem Leiter sowohl des Privatunternehmens , Avie der Staats- iinanzen schwere Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft auf. Fragen Avir nach den Folgen der Kapitaleinfuhr für die Zahlungsbilanz einer Volkswirtschaft. Kapitaleinfuhr bedeutet die Entstehung von Bankguthaben gegen das investierende Ausland, welche zur Kompensation mit Forderungen des Auslandes gegen das Inland benutzt werden. Diese Forderungen wären sonst mit Ausfuhr zu be- gleichen gewesen. Kapitaleinfuhr bedeutet ge- stundete Ausfuhr. Es ist möglich , dafs die aus der Kapitaleinfuhr sich ergebenden Forderungen des Auslandes an Zins, Dividende und Amortisation demnächst durch aber- malige Kapitalzufuhr getilgt werden; aber diese Thatsache schiebt die Notwendigkeit einer endlichen Regelung der Zahlungsverpflichtungen durch Ausfuhrüberschüsse nur auf, beseitigt sie nicht. Zeitweise allerdings und vorübergehend kann das Ver- hältnis das entgegengesetzte Aussehen haben. Übertrifft die Kapitalzufuhr nämlich im gegebenen Augenblick die vor- handenen Zahlungsverpflichtungen des Inlandes an das Aus- land , so können zwar Stundungen der Bankguthaben ein- treten. Aber solche Stundungen sind Avegen Zinsverlustes unwirtschaftlich. Auch können die mit ausländischem Kredit ausgestatteten Eisenbahngesellschaften, Industriewerke u. s. av. derartige Stundungen sich meist gar nicht leisten, da sie in ihren Ziehungen ja nicht durch die Rücksicht auf die Zahlungs- bilanz ihres Landes, sondern den eigenen Geldbedarf bestimmt werden. Zum Aveit gröfseren Teil Avird also der Aktivsaldo der Zahlungsbilanz, besonders wenn er sich mehrere Jahre Avieder- holt, zur Bezahlung einer Mehreinfuhr verwandt Averden müssen. Diese Einfuhr ist zunächst Edelmetalleinfuhr, Avelche jedoch ihre Grenze an dem Bedarf nach Umlaufsmitteln flndet. Über diese Grenze hinaus erhöht sie die inländischen Preise, er- — 574 — Schwert also die Ausfuhr und befördert die Wareneinfuhr, womit sie sich selbst korrigiert. Die Mehreinfuhr ist also sodann Wareneinfuhr, häufig das einzige Mittel, um eine aufsergewöhnlich günstige Zahlungs- bilanz produktiv für die heimische Volkswirtschaft zu ver- wenden. Die Antwort auf die Milliardenübertragung aus Frankreich nach Deutschland Anfang der 70er Jahre war eine ungünstige deutsche Handelsbilanz ^ Hierzu kommt, dafs die Kapitalzufuhr, wenigstens der Tendenz nach, die Warenausfuhr hemmt, indem Arbeiter, welche sonst Ausfuhrwaren her- gestellt hätten, z. B. Getreide als landwirtschaftliche Tage- löhner, an inländischen Werken, z, B. Eisenbahnbauten, Hoch- öfen u. s. w. beschäftigt werden'^. Eine vorübergehende Verschlechterung der Handelsbilanz ist in solchen Fällen keineswegs erschrecklich, oft unvermeid- lich. Es kommt nur darauf an, ob diese Mehreinfuhr produktiv angelegt wird, d. h. ob sie der Verminderung künftiger Einfuhr und der Vermehrung künftiger Ausfuhr dient. Kommen wir, um diesen Gedanken zu erläutern, auf den oben gebrauchten Vergleich der Staatsfinanzen mit einem Privat- unternehmen zurück. Für den Privatunternehmer, der sich verschuldet, kommt es nur darauf an, ob er mit den ihm. gewordenen Mitteln Gebäude, Maschinen u. s. w. aufstellt, die in ihrem Ergebnis in letzter Linie mehr eintragen, als die zu zahlenden Zinsen und Amortisationen. Wir wenden nunmehr diesen Satz auf Rufsland an. Der Strom europäischen Kapitals, welcher sich neuerdings nach Rufs- land ergiefst, kann wieder abebben. Seine dauernde Folge, die Belastung Rufslands mit Zins, Dividende und Amortisation, ist nur dann gefahrlos, wenn jenes Kapital solchen Anlagen zugeleitet wird , welche auf die Dauer die Zahlungsbilanz VUelfferich, Deutsche Geldreform I, S. 380. ^ Nasse, Münzreform und Wechselkurse, in Hirths Annalen 1875, S. 596. — 575 — Rufslands verbessern, während eine augenblickliche Ver- schlechterung der Handelsbilanz dem gegenüber unbedenk- lich wäre. B. Rufslands Handelsbilanz. Da bei Rufsland als einem Lande, welches keine Zinsen vom Auslande bezieht, die Handelsbilanz, wie wir sahen, in letzter Linie über die Zahlungsbilanz entscheidet, so be- trachten wir die einzelnen Elemente der Handelsbilanz noch etwas näher und suchen uns über ihre Aussichten für die Zu- kunft Rechenschaft zu geben. Rufsland, welches, dem Ausland verschuldet, um den Be- sitz seines Golduralaufes zu kämpfen hat, sucht berechtigter- weise die Einfuhr vom Auslande als Belastung seiner Zahlungsbilanz zu beschneiden; da jede solche Beschneidung aber Zölle, also Verteuerung der Einfuhrwaren bedeutet, so wird sie auf solchen Gebieten am unbedenklichsten Platz greifen, welche der Produktion von Ausfuhrwaren ferne stehen und diese verhältnismäfsig wenig verteuern. Am meisten gilt dies von der Kultur subtropischer, viel- leicht später tropischer Rohstoffe und Halbfabrikate durch die Entwicklung des asiatischen Rufsland. Einer der schönsten Erfolge der russischen Wirtschafts- politik der letzten beiden Jahrzehnte ist der Aufschwung der Baumwollkultur in Russisch- Centralasien. Ihm wird bereits heute verdankt, dafs bei grofser Ausdehnung der russischen Baumwollindustrie (1886 3,9 Millionen, 1898 6,4 Millionen Spindeln), bei kolossalem Baumwollverbrauch pro Spindel (grobes Garn!) die Baumwolleinfuhr nach Rufsland nur un- bedeutende Steigerung aufweist. Die russische Baumwollindustrie stellt nahezu ein Drittel ihrer Produkte aus heimischem Rohmaterial her^ Bereits 1 Vergl. den Artikel in „Handel und G cav erbe" vom 18. März 1899. Ferner den oben citierten, bereits etwas veralteten Bericht Mendel ejeffs für Chicago, S. 13 der englischen Ausgabe. — 576 — 1895 belief sich die russische Baumwollernte auf mehr als 4^2 Millionen Pud \ Von allen Baumwollindustrien der Welt bietet die russische das einzige Beispiel einer protektionistischen Emporzüchtung bereits der Rohproduktion. Mit der Ausdehnung der Baum- wollkultur in Transkaspien wurde nämlich der Finanzzoll auf Rohbaumwolle zunächst unbeabsichtigt zum Schutzzoll und in diesem Sinne seit den 80er Jahren bewufst weiter ent- wickelt. Durch Reichsratsbeschlufs vom 20. Dezember 1894 erfolgte eine beträchtliche Erhöhung dieser Zölle, von 1,40 auf 2,10 Goldrubel pro Pud. Es bedeutet dies eine Belastung von etv»'a 60 "/o des Wertes der Baumwolle franko russischer Hafen. Der Finanzminister begründete im Finanzboten vom 1. Januar 1895 die besprochene Mafsregel unter andei'm in folgender Weise: „Es ist volkswirtschaftlich wünschenswert, dafs Centralasien alles kulturfähige Land für Baumwoll- produktion verwendet, seinen Weizenbau einschränkt, um nicht nur seine bisherige Rolle als Konkurrent der süd- russischen und kaukasischen Weizenproduzenten aufzugeben, sondern auch, um als Weizenkäufer auf dem russischen Markt aufzutreten"; wir können hinzufügen, auch auf sibi- rischem Getreidemarkt nach Bau der Eisenbahn Taschkend- Samarkand. Einige Angaben über das asiatische Produktionsgebiet dürften nicht ohne Interesse sein, zumal da seine Bedeutung in Westeuropa noch vielfach unterschätzt wird; ich bin hier- für in der Lage, die Angaben zweier mit diesem Gegenstande praktisch vertrauter Gewährsmänner zu benutzen. Die Baumwollkultur in Turkestan ist uralt und be- schränkte sich bis zur russischen Annexion des Landes auf den Anbau der Baumwolle aus einheimischer Saat, welche eine kurzstapelige, minderwertige Flocke liefert. Um die mittelasiatische Baumwolle für Zwecke einer europäischen ^ Vergl. Näheres bei Raffalovich, Marche financier 1896/97, S. 382. — 577 — Grofsindustrie brauchbar zu machen, war der Ersatz der einheimischen durch amerikanische Sorten nötig. Die eingewanderten Russen machten zunächst Versuche mit Anpflanzung von wertvollen Sea-Islands, die an der Trocken- heit des Klimas scheiterten, Sie gingen hierauf Anfang der 80er Jahre in der Umgegend von Taschkend auf Upland-Saat über, deren Kultur nach Erschliefsung des Landes durch die transkaspische Bahn im Jahre 1888 sich südwestlich nach Samarkand und Merw ausbreitete. Die vorteilhaftesten Bedingungen für die Baumwollkultur herrschen jedoch in dem östlicher gelegenen Ferghana. Hier vereinigt sich ein günstiges Klima mit der Möglichkeit reich- licher Bewässerung. Als typisch für die transkaspische Baum- wollkultur überhaupt dürfen die Anbauverhältnisse Ferghanas gelten : „Der Landbesitz ist unter den eingeborenen Sarten stark parzelliert ; die Besitzflächen sind nicht gröfser als ^/2 bis 5 Defsjätinen und werden von den Eigentümern selbst bestellt. Die Auswucherung dieser Kleinbauern durch eingeborene Gelddarleiher verhinderte die Produktion eines für Spinn- maschinen geeigneten Rohstoff'es. Seine Verbesserung war nur denkbar, als den asiatischen Dorfwucherern eine europäische Konkurrenz erwuchs. Dies leistet der Agent des russischen Fabrikanten, welcher dem Bauern ein Handgeld und Samen giebt und ihn durch einen Kontrakt verpflichtet, d'e Baum- wolle, die er ernten wird, zu einem bestimmten Preise zu liefern. Gegenüber dem so organisierten Kleinbetriebe erweist sich der im Syr-Darja-Gebiete vorkommende russische Plan- tagengrofsbetrieb konkurrenzunfähig. Dagegen ist die Reinigung der geernteten Baumwolle Maschinenbetrieb und als solcher in den Händen der Vorschüsse gewährenden Kaufleute und Fabrikanten" ^ Die bisherigen Versuche haben erwiesen, dafs in Trans- kaspien beste Qualitäten zu erzielen sind. Es crgiebt sich 1 So einer meiner an diesem Geschäft beteiligten Gewährs- männer. V. Schulze-Gae vüi-ni tz, Stud. a. Kafsl. 37 — 578 ~ dies bereits aus den verhältnismäfsig hohen Preisen der asiatischen Produkte; kostete z. B. Februar 1896 in Moskau: Rubel per Pud Amerikanische Fulh good middling Savanna 9,70— 9,75 Ägyptische good nach type 16 .... 12,35 — 12,50 Daneben beste Kokand(Ferghana),inaschinen- gereinigt, aus amerikanischem Samen . 10,20 — 10,30 Samarkand , I. Sorte , maschinengereinigt aus amerikanischem Samen 9,90 — 9,95 Dagegen Chiwa, hanclgereinigt 7,85 Persische, aus indigener Saat 6,00 — 6,10 Haupthemmnis der Ausdehnung der Baumwollkultur sind die noch wenig entwickelten Verkehrsverhältnisse. Die Kosten. des Karawanentransportes bis zur Bahnstation einschliefslich Versicherung, Kommission u. s. w. verschlingen 20 "/o vom Werte der Baumwolle. Gegenwärtig wird ein nicht unbeträcht- licher Teil der Ernte an Ort und Stelle noch naturalwirtschaft- lich verbraucht. Die Verzweigung des Eisenbahnnetzes wird auch hier die Naturalwirtschaft zurückdrängen und die Aus- fuhr steigern. Seit Anfang der 90er Jahre gewinnt die asiatische Baum- wolle nicht nur in Moskau, sondern selbst in Polen an Boden. Um so mehr bedeutet der Baumwollzoll eine Belastung Polens und Petersburgs zu Gunsten Moskaus und Wladimirs. Übrigens ist auch Moskau nicht in der Lage, die Vorteile der Wolgastrafse für den Baumwollbezug voll auszunutzen. Die im September bis November geerntete Baumwolle kann nur zum kleineren Teile noch im selben Jahre den Wasser- weg nach Moskau einschlagen. Der gröfste Teil geht, um Zinsen, Gewichtsverluste, Lagerung und Versicherung zu er- sparen, den langen und teuren Eisenbahnweg über den kaspischen Hafen Petrowsk. Sollte die Industrie einmal nach diesen kaspischen Häfen einen Ableger einsenken, ähnlich wie Bombay neben Manchester aufkam? Die asiatischen Absatz- märkte liegen hier vor der Thür und, w^ährend Bombay eng- lische Kohlen braucht, finden sich unter den kaspischen Häfen — 579 — unerschöpfliche Erdölbassins. Diese Frage, welche ich vor mehreren Jahren aufwarf ^, ist seitdem, früher als ich er- wartete, in bejahendem Sinne entschieden worden durch das Entstehen grofser Baumwollspinnereien zu Baku und Petrowsk ^. Ich glaubte in obigem Zusammenhang bei dem Baumwoll- anbau in Transkaspien mit einigen Worten verweilen zu sollen, weil er vorbildlich sein dürfte für andere subtropische Kulturen. Für Jute und Seide ist eine solche Entwicklung bereits im Gange ^. Früchte und Wein liefert der Kaukasus und das Südufer der Krim in wachsenden Mengen. Dafs letztere Gegend bereits Qualitätsweine anstrebt, lernte ich bei einem dortigen Gast- freunde kennen. Bei der ungeheuren Verbreitung des Theekonsums in Rufsland bedeutet das Vordringen des Ceylonthees von Odessa her eine schwere Belastung der russischen Zahlungsbilanz. Im Jahre 1896 wurden in Odessa an Ceylonthee teils direkt, teils via London ungefähr 1 Million englische Pfund ein- geführt, 1897 dagegen über 2 Millionen — ein Zeichen der sprunghaften Entwicklung dieses Handels*. Gleiches gilt für Batum , von wo aus der Ceylonthee bis an die chinesischen Grenzen vordringt. Demgegenüber scheinen die Fortschritte der Theekultur in Russisch-Asien (Kaukasus) noch gering; vielleicht dürfte eine teilweise Rückkehr des Theehandels in den alten Uberlandweg mit Fertigstellung der sibirischen Eisenbahn die russische Zahlungsbilanz um die Fracht dieses wertvollen Artikels bereichern. Auch auf dem Gebiete der Industrie giebt es zweifel- los wichtige Zweige, in denen durch Erstarkung der heimischen Produktion die Einfuhr vom Auslande endgültig beschränkt ist, was sich unter anderm an der deutschen Einfuhr nach 1 Schmollers Jahrbuch Bd. XX, S. 1185. 2 Vergl. Ökonomische Rundschau, Dezember 1898, S. 19. 3 Vergl. Raffalovich, March^ financier 1897/98, S. 384 und den Bericht des englischen Konsuls in Odessa für 1897, S. 6. * Bericht des englischen Konsuls in Odessa für 1897, S. 7/8, ferner des englischen Konsuls in Batum für 1897, 8. 12. 37* — 580 — Rufsland verfolgen läfst^, in der heute ganz andere Artikel eine Kolle spielen, als vor zwanzig Jahren. Werfen wir einen Blick auf die russische Einfuhr aus Europa, wobei wir als den wichtigsten und bezeichnendsten Fall die Ausfuhr Deutschlands nach Rufsland in das Auge fassen — natürlich in diesem Zusammenhang vom Standpunkt der russischen Volkswirtschaft aus. Auch hier gilt der Satz von Josiah Tucker, dafs in einem jungen und kapitalarmen Lande zunächst solche Industrien entwicklungsfähig sind, in deren Produktionskosten das Element des Rohstoffes gegenüber Arbeit und Kapital eine verhältnis- mäfsig bedeutende Rolle spielt^. Daher hat — vom russischen Interessenstandpunkt aus mit Recht — das Ausland^ im deutsch-russischen Handelsvertrag auf dem Gebiete dieser Industrien geringe Zugeständnisse erreicht. Rufsland kommt als Markt für ausländischen Zucker nicht mehr in Betracht; die geringen von Deutschland hin- sichtlich Finlands erlangten Zugeständnisse sind, schon weil zeitlich begrenzt, ohne gröfsere Bedeutung. Ahnliches gilt von der Papierindustrie, deren Rohstoffe Rufsland in reich- licher Menge besitzt — wenigstens hinsichtlich der gewöhn- lichen Massenerzeugnisse ; dagegen hat der Handelsvertrag die Ausfuhr qualifizierter Papiere (Bunt-, Photographiepapier, Papierwäsche u. s. w.) gefördert. Auch auf dem Gebiete der in Rufsland hochentwickelten Glasindustrie, welche hier, wie so häufig, den Wäldern folgt, hat Deutschland seit dem Be- ginn der 80 er Jahre eine starke Einbufse an seiner Aus- fuhr erlitten , mit der es auch nach Vertragsabschlufs zu ^ Vergl. Auswärtiger Handel des deutschen Zollgebietes 1880/96, herausgegeben vom Eeichsamt des Innern. V. Eufsland. — Interessante Beispiele über die Abnahme der Einfuhr einzelner industrieller Pro- dukte giebt Pokrowski, Über die Festigkeit der russischen Handels- bilanz, S. XXVII/XXX. Leider fehlt die Zeit nach Abschlufs der Handelsverträge völlig. 2 Vergl. meinen „Grofsbetrieb". Leipzig 1892, S. 8. 3 Der Vertragstarif mit Deutschland gilt bekanntlich auch für die übrigen meist begünstigsten Nationen. — 581 — rechnen hatte. Ebensowenig hat die vertragsmäfsige Herab- setzung des Cement Zolles die früher beträchtliche deutsche Ausfuhr wieder besonders gehoben. Dagegen waren die Zollermäfsigungen auf dem Gebiete der Thon-, Porzellan- und Fayenceindustrie nicht ohne Bedeutung. Ebenso ist es eine natürliche Erscheinung, dafs auf dem Gebiete der Lederindustrie die Ausfuhr gewöhnlicher Leder nach Rufs- land abnimmt. Dagegen waren die Zollherabsetzungen für feinere Leder geeignet, die deutsche Ausfuhr zu fördern. Ahnlichen Erscheinungen begegnet man auf dem Gebiete der Textilindustrie. Baum wo 11 waren, Gegenstände des breiten Massenverbrauchs, fertigt Rufsland selbst; ja auf dem Gebiete dieser seiner mächtigsten Grofsindustrie stellt es bereits hochwertige Qualitäten mit Erfolg her. Die Moskauer Kattundrucke, welche ich vor kurzem in der Chemieschule zu Mülhausen im Elsafs sah, nehmen es mit den besten Erzeugnissen Westeuropas auf — aufser vielleicht im Preise. Die deutsche Ausfuhr an Baumwollgarn und -gewoben nach Rufsland weist seit den 80er Jahren einen beträchtlichen Rückgang auf; dem- gegenüber fallen gewisse Konzessionen des Handelsvertrages, z. B. für baumwollene Wirkwaren, nicht allzu sehr in das Gewicht. In ähnlicher Weise hat die Ausfuhr Deutschlands nach Rufsland in der Leinen- und Seidenindustrie gegen früher stark abgenommen. Etwas günstiger liegen die Aussichten Europas seit Ab- schlufs der Handelsverträge auf dem Gebiete der Wo Uindustrie. Insbesondere ist es als Fortschritt zu begrüfsen, dafs der auch für den Fachmann schwer festzustellende Unterschied zwischen Waren aus Streichgarn und solchen aus Kammgarn Aveg- £el, der früher zu den gröfsten Zollplackereien Anlafs gegeben hatte. Immerhin hat Polen seit den 80er Jahren auch auf diesem Felde grofse Fortschritte gemacht, insbesondere viel- fach mit deutschem Gelde eine eigne Kammgarnspinnerei ent- wickelt. Nur Garnen hoher Qualität und Specialitäten bleibt der Absatz gesichert. Günstiger verhält es sich mit dem Ab- satz von Wollgcweben, Konfektions- und Hutwaren, für welche — 582 — letztere bereits der russisch -französische Handelsvertrag Zoll- ermäfsigungen brachte. Alles in allem ist auf dem Gebiete der Textilindustrie Rufslands Produktion heute sehr erstarkt. Mit Erfolg wird Europa auf immer feinere Produkte zurückgedrängt, für deren Absatz allerdings die wachsende Wohlhabenheit der städtisch- gewerblichen Klassen und der damit zunehmende Luxus auch in Zukunft einige Gewähr bietet. Die schutzzöUnerische Empor- züchtung der Textilindustrien aber ist vom Standpunkt des russischen Interesses aus verständlich : diese Industrien, vor allem die Baumwollindustrie, liefern die Hauptwerte, mit denen Rufsland die Erzeugnisse seiner asiatischen Besitzungen bezahlt und damit in Bezug auf Rohstoffe seine Zahlungs- bilanz entlastet. Widersinnig dagegen ist es, die Einfuhr auf solchen Ge- bieten zu beschränken, wo dieselben mittelbar oder unmittel- bar gröfsere Ausfuhrwerte schaffen, als die Einfuhr selbst gekostet hat. In diesem Falle liegt die Einfuhr im Interesse der Zahlungsbilanz, also der Verteidigung der Währung. Der zwischen Ausfuhr und Einfuhr sich ergebende Saldo ist in diesem Fall Reingewinn, welcher als Reservekapital in der russischen Volkswirtschaft fortarbeitet oder der allmählichen Rückkehr russischer Effekten aus dem Auslande dient. In erster Linie stehen hier solche Zweige der Einfuhr, in denen das wichtigste Ausfuhrinteresse Rufslands, das land- wirtschaftliche, unter dem bisherigen Schutzzollsystem unmittelbar zu leiden hatte. Kein wichtigeres Interesse der russischen Volkswirtschaft, als Verbesserung der landwirt- schaftlichen Technik und Verminderung der landwirtschaft- lichen Produktionskosten! Diesem Zwecke dienen alle Zoll- herabsetzungen auf dem Gebiete der Eisenindustrie, wovon einige nicht unwesentliche der deutsch-russische Handelsvertrag gebracht hat. Zu nennen sind u. a. Bleche^, Nägel, Kessel,. 1 Ersatz des Strohdaches durch das Blechdach, Verminderung der Feuersbrünste, dieser Geifsel des ländlichen ßufsland! — 583 — Bassins, Reservoirs, Brücken, Röhren^ u, s. w. ! Noch un- mittelbarer auf die Landwirtschaft Bezug haben die eben- falls herabgesetzten Zölle auf emaillierte Blechgeschirre, land- wii'tschaftliche Werkzeuge und Maschinen, Lokomobilen, Feuerlöschapparate u. s. w. Durch autonomes Zollgesetz hat Rufsland neuerdings in dieser Richtung weitere Schritte gethan und für eine Anzahl komplizierterer landwirtschaftlicher Maschinen vom 1. Sep- tember 1898 an völlige Zollfreiheit eingeführt^. Hierzu ge- hören bestimmte Sorten von Mähmaschinen, Dreschmaschinen, ferner Dampfpflüge, Apparate für Weinbereitung u. s. w. Hierzu kam eine Zollherabsetzung für Lokomobilen um mehr als die Hälfte, Zollfreiheit für Kainit, Chilisalpeter, Kali und gewisse Chemikalien, welche der Vertilgung landwirt- schaftlicher Schädlinge dienen. Alle diese Zollbefreiungen und Zollermäfsigungen laufen gesetzlich bis zum 18. Dezember 1903 — da Rufsland sie augenscheinlich als Kompensations- gegenstände für einen künftigen deutsch-russischen Handels- vertrag in der Hand behalten wollte. In der Frage der Eisenbahnmaterialien hat dagegen Rufsland noch heute die hochschutzzöUnerische Politik der 80er Jahre beibehalten. Nur Lokomotiven werden, letzthin in nicht unbeträchtlichen Mengen, wieder vom Westen ein- geführt. Selbstverständlich sind die von den pacitischen Häfen aus gebauten Bahnen zur Zeit auf ausländisches Material an- gewiesen • vor kurzem meldeten z. B. die Zeitungen von einer Bestellung von 180000 Tonnen Stahlschienen seitens Rufslands bei der amerikanischen „Carnegie Steel Comp." Wie weit sich die Abschliefsungspolitik auf diesem Gebiete aufrecht erhalten lassen wird, entzieht sich meiner Beurteilung. Jedenfalls steht Rufsland mit Abschlufs der Währungsreform, um eine günstige Zahlungsbilanz durch gesteigerte Ausfuhr aufrecht zu erhalten, vor der Forderung gewaltigster Eisen- bahnbauten. Es handelt sich, kurz gesagt, um dreierlei: um 1 Bewässerungen und Entwässerungen ! 2 Vergl. Ökonomische Kundschau Mai 1898, S. 94. — 584 — asiatische Bahnbauten, welche das riesige Festland vom Per- sischen Meerbusen bis zum Stillen Ocean zunächst mit den wichtigsten Hauptlinien überspannen, sodann um neue Haupt- liuien im europäischen Rufsland in der Richtung vom Osten nach dem Westen und den Seehäfen, da der asiatische Verkehr die bisherigen Linien überlastet; endlich handelt es sich um neue europäische Anschlufslinien und dichtere Bemaschung der Westprovinzen, entsprechedd ihrem zunehmend industriellen Charakter ^ Im engen Zusammenhang mit dem Besprochenen liegen Gebiete, auf denen allgemein kulturelle Interessen in Be- tracht kommen, deren Bedeutung für den wirtschaftlichen Fortschritt nicht hoch genug angeschlagen werden kann. In einem Lande, in welchem das „Zeit ist Geld" erst wenigen aufgegangen ist, ist es kulturfeindlich, Uhren durch Uhrenzölle zu verteuern ^. In einem Lande, dem keine höhere Aufgabe als die der Volksbildung gesetzt ist, gilt das gleiche von Zöllen auf Schiefertafeln, Griffel, Bücher, Karten, Musi- kalien, Bilder, Kupferstiche, mathematische Apparate, Buch- druckerschriften, Cliches, Druckerplatten u. s. w. , ebenso wie von Zöllen auf unverarbeitetes Blei, welches in Rufsland wenig gewonnen wird und grofsen teils den soeben genannten bildungsfreundlichen Zwecken dient. In einem Lande mit einer Sterblichkeit A^on mehr als 40 vom 1000 in den inneren Gouvernements (so Janson für die Jahre 1884 — 88), kommen bezüglich vieler Erzeugnisse der chemischen Industrie wichtige hygieinische Gesichtspunkte in Betracht. Die riesigen Ent- fernungen des Reichs, deren Kulturwidrigkeit von so vielen Russen beklagt wird, überwinden Telegraphenkabel und Telephondrähte, telegraphische wie telephonische Apparate. Einfuhrerleichterungen auf diesen Gebieten heben die Pro- duktivität der russischen Volkswirtschaft um das Vielfache ihres Wertes. 1 Näheres über den russischen Bahnbau findet sich fast in jedem Heft der „Ökonomischen Eundschau." 2 Vergl. den Bericht des englischen Konsuls in Warschau für 1897, S. 40: Uhren fangen eben erst an, dem Arbeiter Bedarfsartikel zu sein. — 585 — Gleiches gilt von jenen Hilfsstoffen der Industrie, deren Mehreinfuhr ein Beleg gerade des industriellen Aufschwungs ist. Hierzu gehören z. B. Kratzen, Maschinentreibrieraen, feuer- feste Steine, welche neuerdings beträchtlich eingeführt werden, Kohlen und Coaks, vor allem aber Maschinen, welche 1896 mit einer Einfuhr von ca. 30 Millionen Mark, abgesehen vom Edelmetall, den wichtigsten Posten der deutschen Ein- fuhr nach Rufsland ausmachten. Für letztere Einfuhrwaren brachte der deutsch-russische Handelsvertrag zum Teil nicht unerhebliche Zollherabsetzungen. Ist es doch unbestritten, dafs der russische Maschinenbau den Bedürfnissen Rufslands bei weitem nicht entspricht. Auch befördert die verstärkte Einfuhr- von Maschinen die Er- richtung von zahlreichen, über das ganze Land zerstreuten, der Remonte dienenden Werkstätten, woran Rufsland grofses Interesse hat. Zeitgemäfs war es, dafs dynamoelektrische Maschinen durch Versetzung in Art. 167, 2 des russischen Tarifs den übrigen Maschinen gleich gestellt wurden. Elektrische Kraftübertragung und Reingewinnung von Metallen auf elektrolytischem Wege sind für Rufsland wichtige Aufgaben der nächsten Zukunft, während eine russische Industrie auf diesem Gebiete fehlte Auch hinsichtlich zahlreicher Erzeugnisse der chemischen Industrie liegen Einfuhrerleichterungen im Interesse der russischen Industrie. Wäre der Aufschwung der Baum Woll- industrie, vor allem die Ausfuhr in die farbenfreudigen Länder des Ostens möglich ohne den Regenbogen, welchen die europäische Wissenschaft aus dem unansehnlichen Teerstoff hervorgezaubert hat? Der industrielle Fortschritt geht eben nicht sprungweise, sondern schrittweise. Er ergreift, wie wir sahen, zunächst 1 Vergl. „Materialien zur Beurteilung des Entwurfs eines deutsch- russischen Handelsvertrags", herausgegeben im Auftrage von Mitgliedern des Zollbeirats, S. 40. — 586 — die Gebiete, auf denen dei' Rohstoff die mit ihm zu verbin- denden Werte von ArJjeit und Kapital überwiegt. Sodann erobert er solche Produktionszweige, in denen ein mittleres Verhältnis dieser drei Komponenten aller Produktion besteht, z, B. die breiten Zweige der Textil- und Eisenindustrie. Nur langsam schreitet er fort zu den Gebieten, in denen Arbeit und Kapital über den Rohstoff völlig die Herrschaft gewonnen haben. Am schwersten zugänglich sind ihm diejenigen Pro- duktionszweige , wo die Arbeit selbst zur qualifizierten , d. h. geistigen geworden ist, sei es zur hochgelernten Arbeit an der Maschine — Beispiel der mit Maschinen betriebene Ma- schinenbau und Schiffsbau — sei es zur wissenschaftlichen Denkarbeit, so in der elektrischen oder chemischen Industrie. Die europäische Einfuhr nach Rufsland mufs ihren Schwerpunkt mehr und mehr auf letztere Gebiete verschieben, weil Rufsland andere und zunächst wichtigere gewerbliche Aufgaben zu lösen und so zu sagen die Hände voll hat. Eine derartige Einfuhr ist als die Einfuhr von Produktionsmitteln für Rufsland geradezu wünschenswert; dies gilt insbesondere dann, wenn eine aufsergewöhnlich günstige Zahlungsbilanz zeitweise eben nicht anders, als durch Mehreinfuhr ausgeglichen werden kann. Auch für das einführende Europa ist eine solche Ent- wicklung nicht ungünstig, weil ein wohlhabender, halb- industrieller Nachbar gewöhnlich ein besserer Abnehmer ist, als ein armer und vorwiegend naturalwirtschaftlicher. — Die nachhaltige Verbesserung der russischen Zahlungs- bilanz, welche in Tagen zunehmender Zins- und Dividenden- belastung gegenüber dem Auslande die erste Aufgabe allei* russischen Wirtschaftspolitik sein mufs, ist nur zu erreichen durch kräftige Vermehrung der Ausfuhr. Handelt es sich doch bei der Ausfuhr um viel höhere absolute Ziffern, denn bei der Einfuhr; eine prozentuale Ver- mehrung ergiebt hier also viel mächtigere Resultate. Die Pflege der Ausfuhr ist um so wichtiger, als eine allseitige, die Zahlungsbilanz stark verbessernde Beschneidung der Einfuhr undenkbar ist. Möglich wäre sie höchstens bei Erhaltung- naturalwirtschaftlicher Verhältnisse. Unmöglich ist sie für — 587 — einen jungen, in vollstei* Entwicklung begriffenen Kolonial- boden wie Rufslanrl. Hierzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt: nur die Ver- mehrung der Ausfuhr vermehrt die Zahl der Handelsumsätze. Unmittelbar vermehrt sie die Handelsumsätze mit dem Aus- lande , mittelbar die zwischen Industrie und Landwirtschaft im Inlande. Damit aber wächst das Material an Devisen und Wechseln, welches für die Entwicklung der echten Bank- note unentbehrlich ist — ein Ziel, dessen Erreichung, wie wir sahen, die Währungsreform erst krönen und abschliefsen würde. Die russische Ausfuhr in ihren Hauptzweigen zeigt folgende Tabelle: in Millionen Rubel Kredit 1895 I 18961 Nahrungsmittel Roh- und Hilfsstoffe für die Industrie. Lebende Tiere Fabrikate 371 232, 3 0,01 12 357 235, 9 0,01 10, 3 Ein Blick auf diese Ziffern widerlegt zunächst die Uto- pisten, welche die russische Zahlungsbilanz bereits durch Industrieausfuhr umgewälzt sehen. Zwar kann man gewifs mit Erfolg die Ausfahr einiger Industrieprodukte nach Asien weiter entwickeln. So exportierte die Baumwollindustrie im Durchschnitt der Jahre 1881—84 für 1,9 Millionen Rubel, im Durchschnitt der Jahre 1891—94 für 7,8 Millionen Rubel 2. Aber was sind diese Ziffern gegen die Hunderte von Millionen, 1 Raffalovich, Marchö financier 1896/97, S. 398. Neuere, aber wohl nur provisorische Ziffern gicbt „Handel und Gewerbe" vom 4. März 1899. 2 Vergl. Raffalovich, March6 financier 1897/98, S. 383. Neuer- dings hat die Ausfuhr von Baumwollfabrikaten, trotz Prämien, wieder abgenommen. Vergl. „Handel und Gewerbe" vom 4. Januar 1899. — 588 — •welche das Activum der russischen Zahlungsbilanz erfordert? Diese Summen sind nur auf den reichen Märkten West- europas einzuheimsen. Wir lernten oben an einem Beispiel die Gründe kennen, welche für die meisten Zweige der russischen Industrie eine Konkurrenz auf deutschem und englischem Boden auf lange hinaus unmöglich machen. Der Vergleich mit Amerika ist unzutreffend: Amerika ist das Land der Maschinen, Rufsland das Land niedrig gelohnter, aber thatsächlich teurer Hand- arbeit. Die eigentliche Massenausfuhr Rufslands mufs daher nach wie vor und auf lange hinaus in Rohstoffen, Halb- fabrikaten und Nahrungsmitteln ihren Schwerpunkt finden ; dies ist um so mehr der Fall, als in Sibirien ein junges Rufsland sich aufthut. Ein gesunder Fortschritt liegt in der Richtung des Über- gangs vom Rohstoff zum Halbfabrikat, z. B. vom Getreide zum Mehl, vom Baumstamm zum Balken oder Brett; dieser Fortschritt erfordert jedoch billige Maschinen, also Einfuhr- erleichterung für qualifizierte Industrieprodukte. Auf folgenden Gebieten scheint Rufslands Ausfuhr beson- ders steigerungsfähig. Ich mache sie nur namhaft, da eine nähere Behandlung dieser Fragen eingehende Specialunter- suchungen erforderte. Der ganze Norden Rufslands und der gröfste Teil Sibiriens sind mit Wäldern bedeckt, vielfach von Natur ewiges Wald- gebiet. Mit der Verbesserung der Verkehrswege, z. B. auch der Anwendung der Schmalspurbahn, mit Entwicklung der nördlichen Küstenschiffahrt u. s. w. gewinnen jene bisher wert- losen Waldgebiete hohen Ausfuhrwert. Auch der äufserste Süden weist ein Naturprodukt auf, dessen Ausfuhr für die Zahlungsbilanz Rufslands von steigen- der Bedeutung sein mufs : das Naphtha und seine Neben- produkte. Nach Ansicht der Sachverständigen ist die Naphtha- ausbeute Rufslands auf lange hinaus nicht nur gesichert, sondern gewaltig steigerungsfähig ^ Die russische Erzeugung ^ „Handel und Gewerbe" vom 18. März 1899 spricht von einem „neuen Baku". — 589 — hat in Avenigen Jahren und aus geringen Anfängen heraus die amerikanische heute ungefähr erreicht. Auch die Rückstände der russischen Petroleumraffinerie sind von steigender Bedeutung. Schon heute beherrscht Rufs- hmd in Schmierölen den Markt. Naphtharückstände sind zudem wertvoll, z. B. als konzentriertes Feuermaterial für die Kriegs- marine, deren Beweglichkeit sie fördern, bedeutungsvoll für wichtige Zweige der chemischen Industrie — alles Aussichten auf eine wachsende Ausfuhr. Um so befremdender ist es, dafs neuerdings die Petroleum- ausfuhr Rufslands wieder zurückgegangen ist. Das russische Petroleum, welches vor einigen Jahren ein Viertel des west- deutschen Bedarfes deckte , ist heute aus Rotterdam ver- schwunden ^. Nach einer Mitteilung des russischen Finanz- boten beti'ug von der Ausfuhr beider Länder: die Ausfuhi- Amerikas, die Rufslands. 1888 79,2 «/o 20,8 »/o 1892 69,8 ö/o 30,190/0 1897 75 0/0 25 «/o. Nur allzunahe liegt diesen Ziffern gegenüber der Gedanke eines planmäfsigen Zusammenhanges zwischen den amerika- nischen und russischen Exporteuren, zumal da anerkannter- mafsen viel englisches und amerikanisches Kapital in der russischen Naphthaindustrie angelegt ist. Bei einer „Teilung der Märkte" wäre Rufsland zu kurz gekommen^. Nicht zu übersehen ist ferner die russische Gold- produktion. Dieselbe kann heute, nachdem das Währungs- metall beschafi't ist, wieder der Ausfuhr dienen, abgesehen von den Beträgen , die der steigende Bedarf an Umlaufsmitteln, sowie die Thesaurierung jährlich verschlingt^. Letzterer Be- 1 Frankfurter Zeitung vom 16. Dezember 1898. 2 Man vergl. über diese schwierige Frage die interessanten Artikel der Frankfurter Zeitung vom 24., 25., 26. November 1898, sowie die Antwort des Staatsrates Timirj asjeff. ^ Die aufserordentliche Zunahme der Sparkasseneinlagen (vergl. Bulletin Russe 1897 S. 221) beweist, dafs die Thesaurierung zu Sparzwecken auch in Rufshmd duvcli neuere ]M(>thoden der Gehlauhige — 590 — trag ist nicht zu niedrig anzuschlagen, u. a. auch in Anbetracht der riesigen Aufstapelung von Gold zur Bekleidung von Heiligen- bildern in Kirchen und Klöstern. Gegenüber dieser wahrungs- politisch sehr bedenklichen , unausgesetzten Abzapfung des Währungsmetalls fragt man sich , ob nicht auch vergoldetes Silber den Heiligen recht wäre. Ist der projektierte Hochzoll auf Silber währungspolitisch ratsam? Wie dem auch sei, jedenfalls kann in Zukunft von einer ungünstigen, den Geldumlauf bedrohenden Zahlungsbilanz erst dann die Rede sein, wenn die Edehnetallausfuhr die inländische Produktion, abzüglich der genannten beiden Posten, übersteigt. Innerhalb dieser Grenze ist die Goldausfuhr ein ebenso aktiver Posten der Handelsbilanz Rufslands, wie die Getreideausfuhr. Heute beträgt die jährliche Goldproduktion an 60 Millionen Rubel neuer Währung \ auf welcher Hohe sie sich seit ge- raumer Zeit hält. Die Fortschritte der sibirischen Bahn, die neuerdings eingeführte Zollfreiheit für Maschinen und Chemi- kalien zur Goldgewinnung, die Erschliefsung neuer Gebiete (Ochotsk)^, alles dies giebt der Hoffnung Raum, dafs die russi- sche Erzeugung, wenn nicht zunehmen, so doch ihre Höhe behaupten Avird. Zu diesen hoffnungsvollen Umständen müfste sich aller- dings auch eine Reform der veralteten Steuergesetzgebung gesellen, welche jedes Korn gewonnenen Goldes durch die Hände der Regierung hindurch zwingen will und dadurch einen un- erhörten Schmuggel zu Schleuderpreisen grofs zieht. „Zum Schutz und zur Wahrung der gesetzlichen Ordnung umspannt die Regierung die ganze Produktion mit einem Netz der Schwierigkeiten, das jeden Fortschritt niederhält" ^. ersetzt wird; 1877 betrugen die Sparkasseneinlagen erst 6'/2 Millionen Kübel, 1896 428,8 Millionen Eubel. 1 Sehr schwer zu schätzen wegen des Schmuggels, der von ein- geweihten Beamten auf 20% der offiziellen Produktion veranschlagt wird. ^Vergl. Ratzel, Geographische Zeitschrift 1898, S. 271. 3 Yergl. H. Meyer, Münzwesen und Edelmetallproduktion Rufs- lands. Leipzig 1893, S. 102 ff. — 591 — Hierzu kommen als weiteres Hindernis die unerhört schlechten Verkehrsverhältnisse Sibiriens. Die Zufuhr von Nahrungsmitteln und Werkzeugen nach vielen Gruben des Lenagebietes dauert von Irkutsk aus gegen l'/2 Jahre beschwerlicher Flufsschiff- und Schlittenfahrt mit langen durch das Klima aufgenötigten Pausen — „eine Zeit, die selbst den Wagemut schwergeprüfter Männer auf harte Proben stellt". Welchen Fortschritt bedeutet hier die Eisenbahn ! Immerhin entscheidet heute und für die praktisch in Betracht kommende Zukunft die Ausfuhr landwirtsch af t- Hoher Erzeugnisse über Rufslands Zahlungsbilanz, wie denn auch zur Zeit der schwankenden Papierwährung der Ernteausfall, die Ausfuhrmenge und die Preise des Getreides die Valuta im wesent- lichen beherrschten ^. Die Einführung der Goldwährung wäre ein verfehltes und kostspieliges Experiment, wenn man nicht mit steigender Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse rechnen könnte und solche mit allen Mitteln zu befördern Avillens wäre. Gewisse, bisher mehr oder weniger vernachlässigte Erzeug- nisse der russischen Landwirtschaft bieten in Zukunft gute Aussichten für steigende Ausfuhr: Eier und EistofFe, deren Ausfuhr in letzter Zeit aufserordentlich gewachsen ist, Butter, Käse, Fleisch und Fleischkonserven, Flachs^ und Wein, Zucker für asiatischen Verbrauch u. s. w. Trotzdem wird auf lange hinaus der Getreidebau für Rufslands Aus- fuhr die leitende Bedeutung bewahren. Glücklicherweise ist Rufslands Produktionsfähigkeit gerade ^ So mit Recht Helfferich, Aufsenhandel und Valutaschwan- kungen, in Schmollers Jahrbuch 1897, S. 392, natürlich abgesehen von Effektenverschiebungen. 2 Eine hervorragende Autorität aus russischen Ilandelskreisen be- zeichnet mir brieflich die Qualität des sibirischen Flachses als sehr hoch, die Preise desselben ,als gut; die Aussaat habe jedoch bisher wenig zugenommen ; der gecrntcte Flachs werde in Sibirien noch vorwiegend am Platze für Hausbedarf verarbeitet. — Dagegen wurde schon vor Erbaixung der sibirischen Bahn Leinsaat aus Sibirien ausgeführt. — 592 — auf diesem Gebiete noch aufserordentlich steigerungsfähig. In Betracht kommen folgende Gesichtspunkte : Noch ist das Netz russischer Eisenbahnen und Wasser- strafsen so weitmaschig, dafs grofse Teile des europäischen Rufsland für die Getreideausfuhr gänzlich aufser Betracht bleiben. Noch sind selbst in der Ackerbauzone westlich der Wolga Gegenden keine Seltenheit, welche 200 — 300 Werst von der Eisenbahn entfernt sind ; dagegen beträgt die mittlere Zufuhrentfernung, welche Hertens für 16 Eisenbahnlinien be- rechnet, 14 — 42 Werst, die gröfste Zufuhrentfernung 25—183 Werst von der Eisenbahnlinie ^. Nur innerhalb dieser Grenzen werden Ernteüberschüsse dem Weltmarkt zugeführt. Aber auch in diesem dem Verkehr erschlossenen Ge- biete sind die Kosten der Zufuhr nach der Station per Achse oder Schlitten sehr hoch : sie drücken die örtlichen Preise und halten die Ausnutzung der gegebenen Pro- dukt! onsmöglichkeit durch Fortschritte der Technik, ver- mehrten Anbau u. s. w. hintan. Der Zustand der russischen Landwege wird von Russen selbst als „Wegelosigkeit" be- zeichnet. In der That sind diese sog. „Wege" tiefzerfahrene Streifen Landes unbestimmter Breite; im Schwarzerdegebiet sind sie während Wochen im Jahre schlechthin unpassierbar, zur Zeit der Schneeschmelze ein unergründliches Meer von Morast. Ich selbst habe die Bekanntschaft dieses Meeres ge- macht und gedenke dankbar der Bauern, die im Donschen Kosakenlande den Fremdling nebst Wagen und Pferden aus dem Schlamm herauszogen, der eine Erdspalte völlig überdeckte, in welcher unser Wagen zu versinken drohte. Trotz solcher Wegeverhältnisse spielt diese primitivste Form des Transports, welche ich oben schilderte (Kapitel V passim), noch heute in Rufsland eine aufserordentliche Rolle. So wurden z. B. 1894 den Schwarzmeerhäfen per Achse noch 110 Millionen 1 Vergl. Mertens, Eufslands Bedeutung für den Weltgetreide- markt. In Mayr's statistischem Archiv 1892, S. 587. — 593 — Pud Getreide zugeführt — Schätzung einer landwirtschaftlichen Zeitschrift ^ Jede Verbesserung der Verkehrswege, vor allem jede engere Maschung des Eisenbahnnetzes mufs die Markt- produktion des Getreides auch im europäischen Rufsland noch beträchtlich steigern. Produzent des zur Ausfuhr gelangenden Getreides ist zur Zeit noch vorwiegend der adlige Grofsgrundbesitz. Wir sahen oben, wie der Grofsgrundbesitz vom kaufmännischen, auf Marktproduktion specifisch angewiesenen Unternehmertum an- gebröckelt wird. Wichtiger noch: auch auf dem Boden des bäuerlichen Betriebes ist die Ausbildung von „Überschufs- wirtschaften" die wichtigste Aufgabe aller Agi'arpolitik. Wir sahen zugleich, wie der Staat die natürliche Entwicklung, die in dieser Richtung bereits liegt, fördern mufs: der Fort- bestand eines naturalwirtschaftlichen Bauernproletariats ist mit den staatlichen Machtinteressen auf die Dauer unvereinbar. Da Rufsland aber vorwiegend Bauernland ist, so ist ersichtlich, wie sehr diese Entwicklung der Getreideausfuhr zu Hilfe kommen mufs. Auch jede Verbesserung der Volksbildung fördert die produktiven Fähigkeiten der bäuerlichen Bevölkerung, also die Marktproduktion des Getreides. Die Technik der Landwirtschaft ist zur Zeit noch eine sehr niedere. Die herrliche Schwarzerde, welche mit den besten Teilen Deutschlands, z. B. der Magdeburger Börde, den Ver- gleich aufnimmt, ist noch wenig auf ihre Ertragsfähigkeit aus- genutzt; ihre unteren Schichten sind wegen zu niederer Pflügung noch unberührt. Von der Ackerfläche Rufslands liegen all- jährlich noch ungefähr 40*^/0— 60 '^/o Brache^, während die Ackerfläche selbst nur etwa 40*'/o des gesamten Landareals 1 Chosjain 1896, S. 783. 2 Im Gebiete der Steppenwirtscliaft noch mehr; nach Schischkin, Landwirtschaftslehre II. Teil, S. 12/18 ist daselbst nur V4 — Vs der Acker- fläche bebaut. V. Schulze-Gaevernitz, Studien a. Bufsl. 38 — 594 — ausmacht. Jede leichte Steigerung der Getreidepreise be- wirkt nicht nur, dafs neue Länder in Anbau genommen, sondern auch dafs die altbebauten intensiver bestellt werden, während umgekehrt Preissenkungen die Anbaufläche und die Anbauintensität und damit die Ausfuhrmenge verringern. Gleiche Wirkungen wie die Steigerung der Getreidepreise übt aber jede Herabsetzung der Produktionskosten, so z. B. die Verbilligung der landwirtschaftlichen Maschinen und des h]isens durch handelspolitische Mafsnahmen , die Herabsetzung der Eisenbahntarife, die Verbilligung des Zinsfufses, letzteres eine wahrscheinliche Folge der Währungsreform, endlich die Ver- vollkommnung des Getreidehandels. Auf letzterem Gebiete sind neuerdings bedeutende Fortschritte erzielt worden. Bis vor wenigen Jahren wurde das russische Getreide auf den westeuropäischen Märkten bedeutend niederer gewertet als die transatlantische Konkurrenzware ^ — eine Folge seiner unreinen Beschaffenheit. Heute teilt mir ein hervorragender westdeutscher Getreidehändler mit, dafs infolge verbesserter Qualität der russischen Provenienz dieser Unterschied nahezu geschwunden ist. Hinsichtlich der Neuländer des Ostens und ihrer Be- deutung für die Getreideausfuhr begegnen wir einem Zwie- spalt der Meinungen. Die einen behaupten, dafs die zum Ge- treidebau geeignete Fläche Sibiriens bereits gröfstenteils besiedelt sei; die andern weisen daraufhin, dafs der gröfste Teil Sibiriens noch heute mit Fichtenwald bedeckt ist und dafs, wo der Wald gedeihe, auch Getreidebau, wenigstens Roggenbau, möglich sei. Zum Beleg hierfür verweisen sie auf Einzelansied- lungen, ja ganze Dörfer, welche in diesen Einöden, deren land- wirtschaftliche Brauchbarkeit bestritten wird, noch heute immer wieder von neuem entstehen und von den Behörden oft erst nach Jahren „entdeckt" werden. Um gegenüber den Widersprüchen der Litteratur mir Klarheit zu verschaffen, wandte ich mich an einige der 1 Nähere Angaben enthält hierüber für 1894 Pokrowski, Über die Festigkeit der russischen Handelsbilanz, S. 66 flf". — 595 — gröfsten Getreidefirmen Petersburgs und Revals, welche als Exporteure sibirischen Getreides mit dem sibirischen Getreide- handel in engster Fühlung stehen. Das Ergebnis dieser Nach- frage läfst sich in folgenden Sätzen zusammenfassen. Das Gebiet, welches ausführt, wird wesentlich bestimmt durch die Höhe der internationalen Getreidepreise (bei höheren Preisen kann man weiter im Innern kaufen) und die Höhe der Trans- portkosten: Bahnbauten waren es, welche sibirisches Getreide zur Ausfuhrware machten. Erst nach Fertigstellung der Bahn- linie Perm- Jekaterinenburg-Tjumen und besonders seit Er- öfi"nung der sibirischen Bahnstrecke Tschelabinsk-Ob erscheint sibirischer Weizen in gröfseren und wachsenden Mengen auf dem Petersburger und Revaler Markte, sowie in Rostoflf am Schwarzen Meer; er erreicht erstgenannte Märkte von der Wolgastrafse aus über Rybinsk vielfach zu Wasser, letzteren Hafen über Zarizin per Eisenbahn. Die neuerdings vollendete Bahnlinie Perm -Kotlas eröffnet dem sibirischen Erzeugnis einen neuen, nördlichen Ausfuhrhafen in Archangel. Praktisch in Betracht kommt für die Ausfuhr bislang nur das westliche Sibirien, das Stromgebiet der Irtysch und des Ob mit den Getreidemärkten von Semipalatinsk und Barnaul. Aber schon von Barnaul aus verschlingt die Fracht ungefähr zwei Drittel des Petersburger Preises, wobei die Zinsverluste des sehr langwierigen Transportes nicht in- begriffen sind. Darüber hinaus hört zwar die Besiedelung nicht auf; aber das gebaute Getreide wird gröfstenteils natural- wirtschaftlich oder auch zur Versorgung der ostsibirischen Bergwerksbezirke verwandt. Die Fracht von Irkutsk nach Reval kostet meist schon mehr als den Weltmarktspreis des Getreides; selbst geschenkte Ware würde Europa nicht er- reichen. Sibirische Ausfuhrware ist bisher ausschliefslich ein Weizen hochstehender Qualität, der im Handel durchaus beliebt ist. Die Beschaffenheit desselben pafst mehr für den ausländischen als den russischen Markt. Roggen wird nicht ausgeführt, wahrscheinlich weil er die Transportkosten nicht 88* — 596 — trägt ^. Sibirischer Produzent ist ausschliefslich ein Bauer^ der von Agenten lokaler Getreidehändler besucht und zum Anbau von Marktfrucht erzogen wird. Jede Steigerung der internationalen Getreidepreise auch nur um Kopeken, j^de Verbilligung der Bahnfracht, jede neue Zweiglinie ^, JGcle Verkürzung der Ableitungslinien im europäi- schen Rufsland vergröfsert das Ausfuhrgebiet. So erwartet man z. B. von der kürzlich bestätigten europäischen Linie Wjatka- Tosna eine Steigerung der Zufuhren auch sibirischer Herkunft und vermehrte Ausfuhr über Reval und Hangö (Finland). Die Frage der Besiedelungsfähigkeit Sibiriens ist dem- gegenüber gleichgültig; denn gewaltige Gebiete sind bereits besiedelt, ohne auch nur ein Korn auf den Weltmarkt zu bringen. Sicherlich aber können auch diejenigen Gebiete, die be- reits in den Weltmarkt eingezogen sind, ihre Produktion noch beträchtlich steigern. Die Besiedelung Sibiriens ist sehr dünn. Der Ansiedler erhält zumeist 15 Defsj. Land und aufserdem ist jedem Kreise eine Landreserve zugewiesen, welche an die Bauern verpachtet werden kann. Aber gerade diese Bauern- Pächter sind vielfach gröfsere, für den Verkauf arbeitende Produzenten. Die Zunahme der Bevölkerung und die Er- leichterung des Absatzes lassen auf vermehrte Ausfuhr auch aus diesen bereits erschlossenen Gebieten rechnen. „That- sächlich findet die Vergröfserung der Anbaufläche in ganz Westsibirien statt; besonders kann man solches sagen von den Gebieten längs des Flusses Irtyschj wo sich hauptsächlich die Sekte der Molokanen angesiedelt hat, welche durch Fleifs und Ausdauer berühmt ist. Zur Vergröfserung tragen auch sehr viel die neueren landwirtschaftlichen Geräte bei, welche 1 Der Eoggeuüberscliufs Sibiriens wurde vorwiegend zur Brannt- weinbrennerei verwandt, zu welchena Zwecke gegenwärtig der KartoflFel- bau auf Kosten des Roggens Fortschritte macht. Immerhin hat die Regierung auch neuerdings zur Verpflegung der Notleidenden im Innern Rufslands beträchtliche ßoggenquautitäten aus Sibirien ausgeführt. Allein aus Kurgan sollen an 3 Millionen Pud expediert worden sein. 2 Z. B. die zu erbauende Zweiglinie Bijsk-Kriwoschtsehokowo. — 597 — von den Neuansiedlern mitgebracht und in einigen Jahren die bisherigen höchst primitiven Werkzeuge verdrängt haben werden." So einer meiner mit den sibirischen Verhältnissen genau vertrauten Gewährsmänner. Fassen wir das Gesagte zusammen: angesichts der ge- waltigen Naturschätze Rufslands, welche einer Erschliefsung jetzt schneller und energischer entgegengehen als je zuvor, erscheint das Urteil gerechtfertigt, dafs Rufslands Zahlungs- bilanz zur Erhaltung und Verteidigung der Goldwährung aus- reichen dürfte, freilich nur, wenn gewisse, oben näher be- zeichnete Voraussetzungen erfüllt worden. Hierzu gehört in erster Linie kräftige Entwicklung der Ausfuhr, hierfür Eisenbahnbau mit verbilligtem Eisen und agrar- politische Reformen, w^elche der Überführung des Ge- meindebesitzes in individualrechtliche Bahnen die Wege ebnen und die sog. „reichen Bauern" grundsätzlich fördern, ferner eine Politik der Volksbildung, besonders auch auf dem Lande, und eine verkehrsfreundliche Handelspolitik, welche, ohne den Schutz der vorhandenen Industrien Preis zu geben, die Produktionskosten der Ausfuhrwaren verbilligt, Absatz- märkte sichert, und den extrem schutzzöllnerischen Be- ijtrebungen Westeuropas den Weg vei'legt. Alles dies gilt von Zeitläuften politischer Ruhe, Bei Ver- finsterung des politischen Horizontes mufs heute noch mehr als bisher die internationale Verschuldung Rufslands in den Vordergrund treten. Hierfür kommt aufser der Zu- nahme dieser Verschuldung, welche die Folge der Währungs- reform war, in Betracht, dafs mit der Durchführung der russi- schen Goldwährung alle russischen Anleihen sowohl im Aus- lande wie im Inlande ihren Markt haben. Damit ist die Ge- ffdir eines Rückflusses dieser Werte, auch der früheren Geld- anleihen, nach ihrer Heimat heute gröfser, denn früher. Die Möglichkeit, auf diesem Wege die russische Goldwährung zu sprengen, ist niclit zu leugnen. Zwar könnte im Falle einer plötzlichen Panik die russi- sche Reichsbank durch Krediterschwerung vorübergehend viel- leicht ihre eigenen Landesangehörigen verhindern, russische — 598 — Werte gegen Goldausfuhr vom Auslande zu beziehen, obgleich die Erfahrung lehrt, dafs gerade im Fall einer politischen Krisis eine solche Krediterschwerung kaum durchzuführen ist. Einem dauernden und schleichenden Mifstrauen gegenüber, das die russischen Werte in ihre Heimat zurückbeförderte, hat Rufsland kein Mittel. Hier liegt die eigentliche Gefahr für die russische Goldwährung. Wie verhalten sich die Thatsachen zu dieser theoretischen Möglichkeit? Diese Frage führt auf das Gebiet der aus- wärtigen Politik. Schlufs. Ich bin weit entfernt, den Leser, der mir einen weiten und ermüdenden Weg gefolgt ist, noch auf das Feld der aus- wärtigen Politik einzuladen. Die Beurteilung des Details er- fordert hier eingehende Kenntnis, insbesondere auch von Personalien, welche der Fachmann nur in langer Praxis hinter den Coulissen erwirbt. Kannegiefserei ist es, ohne solche Kenntnis die schwierigen und verantwortungsvollen Probleme dieses Gebietes der Staatskunst zu behandeln. In ihren grofsen Zügen dagegen liegt die internationale Situation Rufslands offen vor aller Augen. Ebenso wie Rufs- land zur Zeit auf Frankreichs Freundschaft rechnen kann, ebenso sicher, ja vielleicht noch sicherer ist ihm die Gegner- schaft Englands. England kann sich im einzelnen Falle mit Rufsland vergleichen, aber stets wird es eine Machtentfaltung gegnerisch betrachten, welche den Besitz Indiens zur Frage des Landheeres macht und England in dieser Hinsicht des Vorteils seiner insularen Lage beraubt. Tories wie Social- demokraten in England stimmen in der Feindschaft gegen Rufsland überein ^. ^ Bezeichnend dafür, yvie weit die englischen Arbeiter in den Staat eingearbeitet sind, war ein Artikel des Socialdemokraten Hyndman, welcher als Führer der äufsersten Linken in der englischen Arbeiter- welt bekanntlich geringen Einflufs hat. Er bedauerte den neuerlichen — 600 — Demgegenüber ist die Stütze, welche Fninkreich bietet, für den russischen Kolofs zwar wertvoll, aber nicht breit genug. Es gilt dies zunächst vom finanzpolitischen Gebiet. Eine Statistik über die örtliche Verteilung der im Aus- lande untergebrachten russischen Werte ist nicht vorhanden, auch nicht zu beschaffen. Die beliebte Schätzung nach den Zinsauszahlungsstellen ist nahezu wertlos, weil der Wechsel- kurs die Zahlungsanweisungen nach dem Orte lockt, wo sie am günstigsten zu verwerten sind. Man ist daher auf die Meinungen intimster Sachkenner angewiesen. Eine ausgezeichnete französische Finanzautorität, welche an den russischen Emissionen in Frankreich hervorragend be- teiligt war, schätzte mir gesprächsweise den Betrag der in Frankreich untergebrachten russischen Staats- und staatlich garantierten Eisenbahnanleihen auf mindestens 6 Milliarden Frs. Dem entsprechen die umlaufenden Schätzungen , welche zwischen 8^/2 und 7 Milliarden Frs. schwanken. Hierzu kommen 300 — 400 Mill. Frs. an russischen Industriewerten in Frankreich. Aber das Kapitalbedürfnis Rufslands konnte sich nicht auf den französischen Markt beschränken. Nachdem gegen Be- ginn der 90er Jahre nahezu alle russischen Werte aus Deutsch- land abgeflossen waren , sind neuerdings namhafte Beträge staatlich garantierter russischer Eisenbahnobligationen auf deutschem Markte untergebracht worden. Diese Beträge wurden mir von sachkundigster Stelle Anfang 1899 auf über ^,'4 Milliarden Mark geschätzt. Hierzu kommen nicht näher zu schätzende, jedenfalls weit geringere Beträge gleichartiger Vertrag Salisburys mit Rufslancl, weil er günstige Kriegschancen ver- scherze; so denkt eine Klasse, deren Vorfahren als Chartisten die bestehende Gesellschaft mit Mord und Brandstiftung bedrohten und gegen das Vaterland ausländische Hilfe suchten! — 601 - Papiere in Holland, sowie ca. 500 Mill. Frs. russischer Industrie- werte in Belgien, England besitzt zur Zeit sehr wenig an russischen Werten. Prüfen wir an der Hand dieses Überblickes die Gefahr der Rückkehr der russischen Werte nach ihrer Heimat, etwa in Tagen der Verfinsterung des politischen Himmels. Die in Frankreich befindlichen russischen Staatsanleihen liegen aufserordentlich fest. Sie sind mehr und mehr in die Hände des kleinen Sparers gesickert. Wenige französische Rentner, welche heute neben französischer nicht russische Rente besäfsen! Diese Kreise reagieren nur auf akute poli- tische Ereignisse, besonders auf solche, welche Rufsland unter den Feinden Frankreichs erscheinen liefsen, was nicht zu be- fürchten ist. Die Sorge, mit ihrem Besitz in Papierwährung zu geraten, dürfte sie kaum zum Abstofs ihres russischen Be- sitzes veranlassen. Anders die in Westeuropa angelegten industriellen Werte, welche im ganzen bald eine Milliarde Frs. betragen dürften. Sie sind vorwiegend in der Hand von Grofskapitalisten, welche W^ährungsbefürchtungen äufserst zugänglich sind; sie sind um so beweglicher, als im Kriegsfall die inneren Industrien blühen und daher den russischen Erwerber die Aussicht auf erhöhte Dividende lockt. Hierzu kommen die im übrigen Europa angelegten russi- schen Staatswerte, Avelche sicherlich beweglicher sind , als die in Frankreich angelegten , endlich die seit Herstellung der Goldwährung an russische Firmen reichlich gewährten europäi- schen Bankkredite. Letztere Kredite würden zweifellos sofort gekündigt, sobald Gefahr bestünde, mit ihnen in Papier- währung zu geraten. Die nach Rufsland zurückkehrenden Wertpapiere und die gekündigten Kredite müfsten die Russen mit dem Golde in der Cirkulation und dem gegen Rubelnoten einzutauschen- den Golde der Staatsbank bezahlen. Die in Bewegung ge- ratenden Summen wären, selbst wenn wir die in Frankreich angelegten Milliarden als ruhend, betrachten, ausreichend , um c^ ^„ o r- c- t- CO 1 t>" , — ^ C5 S -TS 05 W o '^ Oi r-;^ o T-H ■* lO T-H Tf oa 05 Oi a 1 Ol 1— t o lO" T— t o loT Ci CO' ^ od" c 00 r-H x> CD OJ 00 -H oa 0 o > CS o > CJ - « > s c c o > CS a a o > ^ ;h ;h ;h ■5 ^ ^ ^ h ,5 a: ^ 03 1 cS 'S ^ CO 3 t4^ CO ^ j^ ♦-I s s .s c S s -< w < w -5 s > c 03 El^ o — 614 — Deutschlands Übergewicht ist um so bedeutsamer, als England nach Rufsland zum Teil Rohstoffe und Halbfabrikate ausführt, z. B. Kohle, Gufseisen, künstliche Düngstoffe, Zinn- platten für Petroleum u. s. w. Deutschland übertrifft dagegen England in der Ausfuhr hochverarbeiteter Waren, z. B. von Chemikalien, Maschinen, Apparaten u. s. w. Aus den genannten Gründen ist auch die Ausdehnung und Erschli eisung des asiatischen Rufsland dem deutschen Inter- esse keineswegs entgegengesetzt. In Centralasien schiebt sich gegenwärtig das osteuropäische Handelsgebiet auf Kosten des anglo-indischen vor. Dieser Vorgang betrifft Westchina, Afghanistan und das nördliche Persien ^ Die grofsen Kapitalaufwendungen, welche Rufsland in Eisenbahnbauten und Hafenanlagen für seine nördlichen Ge- biete neuerdings gemacht hat und weiter machen wird, können sich nur bezahlt machen durch Einziehung des Murman in den Seeverkehr. Auch hier sind Deutschlands Aussichten neben Norwegen und England keine schlechten. Unablässig arbeitet Hamburg an der maritimen Erschliefsung des polaren und pacifischen Rufsland -. Aber eine wirkliche Einziehung Sibiriens in die Welt- wirtschaft bringt erst die sibirische Bahn. Schon heute, ehe noch der Durchgangsverkehr nach der pacifischen Küste er- öffnet ist, hat sich der Satz bestätigt, dafs in dünnbevölkerten, aber kulturfähigen Landstrichen die Eisenbahn den Verkehr schafft, die Ansiedler herbeizieht, die Schätze des Bodens erschliefst ^. Damit aber mufs das Gewicht der Sibirjaken zu Gunsten einer mafsvoUen und verkehrsfreundlichen Handels- politik innerhalb Gesamtrufslands künftig in die Wage fallen. ^ So Bericht des Hauptmann Che venir-Tr enche. Vergl. „Handel und Grewerbe" vom 1, April 1899. 2 Vergl. Brief von Nossiloff in der „Nowoje Wremja," Januar 1898. 3 Für 1900 rechnet man bereits darauf, dafs Ausgaben und Ein- nahmen des Bahnbetriebs sich balancieren. Von grofser Bedeutung er- wies sich der Lokalverkehr. — 615 — Dies wird um so mehr der Fall sein, als die russische Industrie noch auf lange hinaus nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse des russisch-asiatischen Festlandes zu befriedigen. Der wirt- schaftliche Aufschwung jener riesigen Gebiete erfordert in erster Linie die Produktion von Ausfuhrwaren: Getreide, Metallen u. s. w. Die Massenproduktion von Ausfuhrwaren ist aber unmöglich ohne die Einfuhr von Produktionsmitteln: Werkzeugen, Maschinen, Chemikalien u. s. w. Gegenwärtig wird Sibirien , welches bis vor kurzem als Schneewüste und Verbrecherkolonie vorgestellt wurde, von Handlungsreisenden aller Nationen durchscliwärmt. Dafs die Deutschen nicht zurückstehen, zeigt die Notiz einer russischen Zeitung: „die Kirgisen am Irtysch bedienen sich deutscher Pflüge" \ Die angeführten Thatsachen erscheinen um so wichtiger, wenn wir sie mit der immerhin noch geringen Rolle ver- gleichen, welche der deutsche Handel und die deutsche Ware auf dem Gebiete der britischen Herrschaft spielen. Trotz des Freihandels mehrerer britischer Kolonien , trotz der Meist- begünstigung, welche wir auch auf dem Boden derschutzzöUneri- schen Kolonien mit Ausnahme Kanadas besitzen, behauptet hier die englische, daneben vielfach die amerikanische Ware einen gewaltigen Vorsprung vor der unsern ^. Die Gründe dieser That- sache liegen in Gewohnheiten und persönlichen Beziehungen sowohl der privaten Konsumenten wie der Regierungen^. Selbstverständlich ist hier nicht der Platz, auf diese Ge- sichtspunkte näher einzugehen , weil sie mehr der deutschen 1 Citiert in „Handel und Gewerbe" vom 11. Februar 1899. 2 Diese absolute Vorherrschaft des Mutterlandes ist natürlich wohl vereinbar mit dem relativen Vordringen des fremden Handels auf dem Boden britischer Kolonien. Vergl. K. J. Fuchs, Die Handelspolitik Englands, S. 259 ff. ^ Die Thatsache selbst ergiebt sich um deswillen als unzweifelliaft aus der Handelsstatistik, weil selbst gröfsere Irrtümer derselben gegen- über den absoluten Ziffern nicht in Betracht kämen. Für die Ziffern vergl. man: Statistical abstract for the several culonial and other possessions of the united Kingdom und Statistical abstract for prin- cipal and other foreign countries. — 616 — als der russischen Wirtschaftspolitik angehören. Um so wertvoller ist es mir, das Urteil eines der intelligentesten deutschen Industriellen anzuführen, welcher, an der Ausfuhr nach aller Welt beteiligt, mir folgendes schreibt: „Es ist der deutschen Industrie leichter, innerhalb der russischen Grenzen die Konkurrenz mit Engländern und Amerikanern zu bestehen, als auf dem Boden der britischen Kolonien. Ich begründe dieses damit, dafs die russische Industrie noch weit zurück ist und der Kampf mit den er- wähnten Industrieländern in Rufsland neutralen Boden findet, weil der russische Konsument sowohl, als die russische Re- gierung keine Voreingenommenheit gegenüber deutschem Fabrikate besitzen, im Gegenteil oft dieselben begünstigen, während in Kolonien unter englischem Einflufs Bestellungen seitens der Regierung wohl nie und von selten der Ein- gewanderten kaum zu erhalten sein dürften, wenn nicht ganz besondere Vorteile in Bezug auf Preis etc. gegenüber englischer Industrie geboten werden können^." Fassen wir zusammen: Ru Island ist heute nicht mehr das Land der Eisbären und Zobeltiere ; in seinen Grenzen ge- deiht die Baumwollstaude und die Dattelpalme; durch seine Bahnbauten gliedert es sich einen immer gröfseren Teil des asiatischen Festlandes an. Während gegen Ausgang des Mittelalters die Verlegung der Welthandelsstrafsen nach dem Westen Deutschlands Niedergang besiegelte, so verbesserte bereits der Suezkanal diese peripherische Lage Deutschlands. Mit dem Aufschwung des östlichen Europa und des kontinen- talen Asien wird Deutschlands Lage wieder centraler : nach Voll- endung der sibirischen Bahn wird man in etwa gleicher Zeit, 1 Nähere Nachweisungen in dieser Richtung finden sich bei Martin Bürgel, Unsere Handelsbeziehungen zu England, den Ver- einigten Staaten und Rufsland. Vortrag gehalten am 16. Februar 1899 bei der Begründung des deutsch-russischen Vereins. Geschäfts- stelle Berlin SW. Königgrätzerstrafse 49. Dieser Verein stellt sich die Aufgabe, die Beziehungen der beiden aufeinander angewiesenen Nachbar- länder zu pflegen. Seine Veröffentlichungen erscheinen in deutscher und russischer Sprache. — 617 — von Berlin nach Osten oder Westen ausfahrend, den Pacific erreichen. (Petersburg— Pecking auf 14 Tage veranschlagt.) Schon ist es kein phantastischer Traum mehr, ein gesamtasia- tisches Eisenbahnsystem, und dieses verbunden mit dem europäischen, zu denken. Rufslands Kräfte allein sind dieser riesigen Aufgabe nicht gewachsen ; es liegt aber in russischem Interesse, türkische Bahnen lieber in deutschen und französischen als in englischen Händen zu sehen. Ihren angemessenen Ausdruck fand diese Interessen- gemeinschaft in dem deutsch-russischen Handels- vertrage von 1894. Dieser Vertrag war zunächst ein Vorgang von Aveitreichender wirtschaftlicher Bedeutung, ein legitimes Geschäft, bei dem beide Parteien ihren Vorteil fanden. Dafs letzteres thatsächlich der Fall war, darüber läfst die beiderseitige Handelsstatistik keinen Zweifel. Übrigens haben die Zollherabsetzungen, welche Rufsland im Handelsvertrag gewährte, trotz ihrer unzweifelhaften Vorteile für die deutsche Ausfuhr^ die russische Industrie keineswegs geschädigt; denn die gewaltigste Woge russischen Industrieaufschwungs erhob sich erst nach Abschlufs des Handelsvertrags. Sodann bedeutete der Handelsvertrag einen Schlag gegen gewisse, auf beiden Seiten weit verbreitete volkswirtschaftliche Irrtümer. Beide Nationen sahen sich durch die Macht der That- sachen darauf hingewiesen, dafs die Vorstellung der wirtschaft- lichen „Unabhängigkeit vom Auslande" heute veraltet ist, dafs es sich vielmehr um eine wachsende Verflechtung der Volks- wirtschaften handelt, und dafs das Wohl des Nachbarn mit dem eignen verträglich ist. In letzter Linie hatte der deutsch-russische Handelsvertrag von 1894 eine weitreichende politische Bedeutung, wie über- haupt die grofsen Ereignisse auf dem Gebiete der Handels- politik mehr als einmal solche gehabt haben. Ich erinnere an den berühmten Handelsvertrag mit Napoleon III., durch welchen Bismarck das „Los von Österreich" einleitete. * Vgl. die Äufserungen zahlreicher deutscher Handelskaiiunorn. 39** — 618 — Unser handelspolitisches Verhältnis mit Rufsland streifte in der zweiten Hälfte der 80 er Jahre an den Zollkrieg nahe heran. Die Lebensinteressen und die Leidenschaften beider Völker waren berührt. Ein Verhältnis politischer Freund- schaft erwies sich damit unvereinbar, trotz der ausgesprochenen Absicht eines Bismarck, diese Freundschaft aufrecht zu er- halten. Jeder Deutsche, welcher in jener Zeit Rufsland be- reiste, weifs , welche Blüten damals der fremdenfeindliche Nativismus trieb. Jeder, der seitdem Rufsland öfters besucht hat, kann von dem Umschwung sprechen, welcher sich in der öffent- lichen Meinung des Zarenreichs vollzogen hat. Der Handels- vertrag bedeutete die erste Niederlage des gegen Europa ge- richteten, im Innern hoch reaktionären Panslavismus. Er be- seitigte damit für beide Teile die Gefahr des unnützesten aller Kriege, wie uns von mafsgebender Stelle, die es wissen mufs, bestätigt wurde. In diesem Sinne war der Handelsvertrag ein Bedürfnis der auswärtigen Politik beider Staaten. Pierer'sche Hofbuohdruckerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg. Verlag" von Duncker & Humblot in Leipzig-. Der Export landwirtschaftlicher und landwirtschaftlich-industrieller Artikel aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika und die deutsche Landwirtschaft. Von Karl Simon. 1899. Preis 2 M. 80 Pf. Die Handelspolitik der wichtigeren Kulturstaaten in den letzten Jahrzehnten. Berichte und Gutachten, veröffentlicht vom Verein für Socialpolitik. 3 Bände. Preis 22 M. 20 Pf. Erster Band: Die Handelspolitik Nordamerikas, Italiens, Ostei-reichs, Belgiens, der Niederlande, Dänemarks, Schwedens und Norwegens, Russlands und der Schweiz in den letzten Jahrzehnten, sowie die deutsche Handelsstatistik von 1880 his 1890. 1892. Preis 13 M. Zweiter Band: Die Ideen der deutschen Handelspolitik von 1860 — 1891. Von Walter Lotz. 1892. Preis 4 M. 60 Pf. Dritter Band: Die Handelspolitik der Balkanstaaten (Rumänien, Serbien und Bulgarien), Spaniens und Frankreichs in den letzten Jahrzehnten. 1892. Preis 4 M. 60 Pf. Die Reform des deutschen Geldwesens nach der Gründung' des Reiches. Von Karl Helfferieh. Zwei Bände. 1898. I. Geschichte der deutschen Geldreform. Preis 10 M. II. Beiträge zur Geschichte der deutschen Geldreform. Preis 12 M. Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland. Von 'Werner \Vittich. 1896. Preis 13 M. Verlag" von Duncker & Humblot in Leipzig". Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von K. Th. von Inama-Sternegg. I. Deutsche Wirtschaftsgeschichte bis zum Schluss der Karolingerperiode. 1879. Preis 12 M. II. Deutsche Wirtschaftsgeschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts. 1891. Preis 13 M. III. 1. Deutsche Wirtschaftsgeschichte in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters. 1899. Preis 12 M. Japans Volkswirtschaft und Staatshaushalt Von Karl Rathg-en. 1891. Preis 18 M. Entwicklungsgeschichte des Eigenthums unter culturgeschichtlichem und Mn'rthschaftlichem Gesichtspunkte. Von Ludwig- Felix. Erster bis vierter Theil, zweite Hälfte erste Abtheil. Gr. 8 ^ Preis 48 M. 60 Pf. Inhalt : I. Der Einfluss der Natur auf die Entwicklung des Eigenthums. 1883. Preis 7 M. II. Der Einfluss der Sitten und Gebräuche auf die Entwicklung des Eigen- thums. 1886. Preis 9 M. III. Der Einfluss der Keligion auf die Entwicklung des Eigenthums. 1889. Preis 8 M. IV. 1. Der Einfluss von Staat und Recht auf die Entwicklung des Eigen- thums. Erste Hälfte. 1896. Preis 9 M. 60 Pf. IV. 2. Der Einfluss von Staat und Recht auf die Entwicklung des Eigen- thums. Zweite Hälfte. Erste Abtheiiuug. (Das Mittelalter.) 1899. Preis 15 M. '- Die mittlere Lebensdauer in Stadt und Land. Von Carl Ballod. (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, herausgegeben von G. Schmoller, XVI. 5.) 1899. Preis 3 M. 60 Pf. PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY HC Schulze-Gaevemitz, Gerhard von 333 Volkswirtschaftliche Studien S4 aus Kussland i-M ^y./x ■H. 'r. ' * v-r ;^j li ;^ « ^ M**^^,^ ■?■■ ■■^^ -^ ^. ^