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VOßLESUNGEN

ÜBEB

EUTESTAMEmiCHE THEOLOGIE

Dr. FERDINAND CHRISTIAN BAUR,

Weil, ordextl. professob dee Theologie an deb universität tübinoen.

SEBAUSaEQEBEM

\r^

FERD. FRIED. BAUR,

DR. PHIL., PROFESSOR AM QTMNASIUM ZU TÜBINGEN.

LEIPZIG,

F ü E S 's VERLAG {jL. W. R E 1 S L A N d). 1864.

^.

Gedruckt bei L. Fr. Fues In TUblngeu.

Vorwort des Herausgebers.

Indem ich die von meinem verewigten Vater in den Jahren 1852—1860 an der hiesigen Universität gehaltenen Vorlesungen über neutestamentliche Theologie hiemit der Öffentlichkeit übergebe, darf ich vielleicht hoffen, einem in weiteren Kreisen gehegten Wunsche entgegenzu- kommen.

Auch bin ich mir bewusst, bei der Herausgabe dieser Vorlesungen insofern im Sinne des Verfassers selbst zu handeln, als dieser noch in der letzten Zeit seines Lebens damit umgieng, sein im Jahre 1845 er- schienenes Buch „Paulus, der Apostel Jesu Christi" in zweiter, theilweise wesentlich umgearbeiteter, Auflage er- scheinen zu lassen. Diese hat auch derselbe nahezu fertig im Manuscript hinterlassen.

Zu den für sie bestimmten und vollständig neu aus- gearbeiteten grösseren Abschnitten gehört namentlich die Darstellung des paulinischen Lehrbegriffs, welche der Verewigte zuvor schon seiner, letztmals im Sommer 1860 gehaltenen, Vorlesung über neutestamentliche Theologie einverleibt hatte, und um welcher willen hauptsächlich er seinen „Paulus" nochmals erscheinen lassen zu können wünschte.

A2

IV Vorwort des Herausgebers.

Da nun, obwohl das Buch längst vergriffen und aus dem Buchhandel verschwunden ist, die, nach des Verfassers Tod auch von mir eine Zeit lang beabsichtigte, Veranstaltung dieser neuen Auflage an äusseren Hinder- nissen scheiterte, so wollte ich um so weniger säumen, die vorliegenden, von meinem Vater aufs genaueste mehrmals durchgearbeiteten und von ihm noch in der letzten Zeit seines akademischen Wirkens gehaltenen Vorlesungen über die gesummte neutestamentliche Theo- logie zu veröffentlichen.

Ihre Herausgabe erfüllt einen doppelten Zweck : sie bringt die Resultate der Forschungen und Arbeiten des Verfassers im Gebiete des neuen Testaments in zusam- menfassender, übersichtlicher Darstellung zur Kenntniss des Publicums, und lässt auch das Wesentlichste von dem, was der umgearbeitete „Paulus" Neues enthalten haben würde, nunmehr in derjenigen Umgebung und als Theil des Ganzen, wofür es der Verewigte zunächst bestimmt und ausgearbeitet hatte, vor die Öffentlichkeil treten.

Tübingen, im Juni 1864.

Der Herausgeber.

Inhalt.

Seite Einleitung. Begriff, Gesuhichte und Eintheilung der neu- testamentlichen Theologie , , . . . . 1 44 Wesen der biblischen Theologie ...... 1

Geschichte. Melanchthon und Calvin 12

Seb. Schmidt. Hülsemann. Baier. Weissmann. Büsching 2 4

Zachai'iä . . . . , , , . , . 4 6

Hufnagel. Ammon. Storr. Gabler . ... . . 6 8

Lorenz Bauer . . . . . . . . .8 10

Kaiser. De Wette . . . ,. . . .10 14

Baumgarten- Crusius 14—16

von Colin 16—19

Strauss und die neuere Kritik 20 26

Neander 26 27

Die Gestaltung der neutestamentlichen Theologie auf dem

jetzigen Standpunkt der Wissenschaft . . . . 27. 33

Schmid. Hahn. Einheit und Verschiedenheit der neutesta- mentlichen Lehrbegriffe . . . . , .33 35

Messner. Lechler . . . ... . .35 38

Eintheilung der neutestamentlichen Theologie. Ihre drei Perio- den. Jul. Köstlin 38 44

Erster Abschnitt.

Die Eiehre Jean 45—121

Einleitung 45 46

Verhältniss Jesu zum alten Testament und Gesetz . . 46 60

Die sittliche Grundanschauung Jesu 60 65

Die 8txato<Tu'v»j 65 69

Die Lehre Jesu vom Reiche Gottes 69 75

Die Lehre Jesu von seiner Person und Messianität. Der

Menschen- und Gottessohn 75 84

Aussprüche Jesu über seine Person in den synoptischen

Evangelien . . . . . . . . .85 93

VI

Inhalt.

Matth. 7, 21

Matth. 9, 1—8 .

Matth. 10, 5 f. .

Matth. 11, 2 f, .

Matth. 12, 1—8

Matth. 16, 13 Messiasbewusstsein Jesu

Voraussagungen Jesu über Tod und Auferstehung Äusserungen über Zweck und Wii-kung seines Todes Worte Jesu bei der Einsetzung des Abendmahls . Aussprüche Jesu über sein Kommen zum Weltgericht und sein

Richteramt .... Sohnesbewusstsein Jesu " . Die Idee Gottes als des Vaters Jesus über seinen messianischen Beruf

Zweiter Abschnitt. Die lielire der Apostel

Seite 85 87

87 88 89 90 92

88 89 90 •92 93

93 95

95 99

99—101

101 105

105—112 113—115 115—118 118—121

122—407

Erste Periode.

Die Lehrbegriffe des Apostels Paulus und des Apokalyptikers 122-230

Übergang von der Lehre Jesu zu der der Apostel . . 122 126

Die Auferstehung Jesu .....

1) Der Lehrbegriff des Apostels Paulus

Judenthum und Christenthum ....

Die Bedeutung des Todes Jesu . . . . Der Begriff der Stxatoauvn] ..... Unmöglichkeit der Rechtfertigung durch Gesetzeswerke

1) Empirischer Beweis .....

2) Religionsgeschichtliche Betrachtung .

3) Anthropologischer Beweis ....

Begriff der aap?, der <!^^y}i, des voiJc, ;:v£U(Aa

Die paulinische und die augustinisch- kirchliche Lehre

SotpS und vö[xo; . . . .

Gesetz und Sünde .......

Die SixaiOCTiIvrj ix 7i((jt£w? .....

Der Begriff des Glaubens .....

1) Thatsächlicher Gesichtspunkt, der Tod Christi. Genug thuung und Stellvertretung

2) Anthropologischer Gesichtspunkt, der Tod Christi und die <7ap^ Tod und Auferstehung

126 127

128 207

128 129 129—132 132—134

135—137 137—141 141—153 142—147 147—149 149 150 150—153 153—186 154 155

156 160

160 163

Inhalt.

VII

3) Religionsgeschichtlicher Standpunkt, Gesetz und Ver- heissung, der vöjxo; TcatSaywYo; , die axotyst« toü xöa(xou, Gesetz und Freiheit Der Process des StxatoSaOai ^x jctaTew? . Glaube und Liebe ....

Der Glaube und die Werke . Der Glaube und die Prädestination Die paulinische Christologie . Christus als 7:v£3[Jia und avOpwno? I? oöpavou Sein ojjLOiwjjia aapxb; a[iapTia; Der irdische und der himmlische Mensch Präexistenz Christi ....

Die Geschichte der Person Christi als Entwicklungsgeschichte

der Menschheit, Tod und Auferstehung, Adam und Christus Der auferstandene Christus und die Christen als Glieder des

Leibs Christi .........

Taufe und Abendmahl . . . . . . . .

Die Parusie Christi und die Eschatologie . . . .

Die Lehre von Gott ........

Seita

163—173 174—176 176 177 177—182 182—186 186—194 187—189 189 191 191 192 192—194

195—198

198—200 200—202 202—205 205—207

2) Der Lehrbegriff der Apokalypse . . . 207 230

Das Kommen des Herrn und das himmlische Jerusalem . 207 209

Das Reich Christi 209—211

Die Gemeinde des neuen Jerusalems. Judenthum und Heiden-

thum 211 214

Die Lehre von der Person Christi. Der Jehovahname des

Messias. Jesus als Xö^o; tou öeou und ap)(^r) tt)? xTtueto; 214 219

Der Tod Christi . .219 220

Der auferstandene Christus als Herr der Gemeinde . . 220—222

Alttestamentliche Messias - Prädicate. Das Lamm . . 222 223 Das Verhältniss des Menschen zu Gott und Christus. Die

Furcht Gottes, Ipya und TCt'irris 223—226

Die Lehre von Gott. Die vier ^wa und die vierundzwanzig

Ältesten. Der Satan 226—230

Zweite Periode.

Die Lehrbegriffe des Hebräerbriefs, der kleineren paalinischen

Briefe u. s. w 230—338

1) Der Lehrbegriff des Hebräerbriefs . . 230—256

Die Stellung des Christenthums zum Judenthum . . . 230—232

1) Der Unterschied des Christenthums vom Judenthum 232—238

Die Idee des Priesterthums 232 233

VIII

Inhalt.

Das Gesetz und die Opfer

Das Christenthum als TeXsiwdt? ......

Die Christologie. Die Begriffe Sohn und Logos .

2) Die Ausgleichung des Unterschieds zwischen Christen- thum und Judenthum. Das alte Testament als Vorbild des neuen. Melchisedek und Christus Der den Gegensatz aufliebende Process in der Person Christi.

Grund und Zweck der Menschwerdung Die versöhnende Thätigkeit Christi Der afwv jAe'XXtov und der a?cjv oSto? Die Parusie und das Weltende Die Lehre vom Glauben ....

Die Transcendenz dieses Lehrbegriffs

2) Der Lehrbegriff der kleineren paulinischen Briefe, mit Ausnahme der Pastoralbri efe .

Die Christologie des Epheser- und Colosser-Briefs. Das Pleroma .........

Das Verhältniss Christi zur Kirche als seinem Leibe

Die allgemeine Idee der Christologie dieser Briefe

Die Versöhnung durch den Tod Christi ....

Die Thatsachen der Geschichte Christi als Momente der sich realisirenden Idee ........

Die Christologie des Philipperbriefs

Die Lehre dieser Briefe vom Glauben , der Rechtfertigung und der Beseligung .

Das Christenthum Sache des Wissens

Das Verhältniss des Christenthums zu Judenthum und Heiden- thura. Polemik gegen Engelcultus und die axot/^eia toü XÖOjAOU ..........

Die Idee des uw[i.a XptoToü und der Einheit der Kirche

3) Der Lehrbegriff des Briefs Jacobi undder petri- nischen Briefe

Die Opposition des Jäcobusbriefs gegen die paulinische

Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben . Der Glaube und die Werke bei Jacobus . . . Der Gesetzesstandpunkt, der vü(aoj T^etoj t^? IXsuöepia? Die Lehre von der Freiheit und der Sünde . Der Lehrbegriff der petrinischen Briefe Die paulinische Grundlage, Der Glaube Die Lehre von dem Tode Christi . Die Idee der Höllenfahrt Christi .

Seite

233 234

234 235 235—238

238 243

243—245 245—247 248 249

250 251

251 254 254—256

256—277

256—258 258—260 260 261 261—263

263 264 265—269

269—272 272 273

273—276

276 277

277—297

277 280 280—284 284—286

286 287

287 297 287 288 288—291 291—293

Inhalt.

IX

Seft«

Der Unterschied vom Paulinismns und der zwischen diesem und dem Judaismus vermittelnde Charakter des ersten

Briefs 293—295

Die Lehre vom Glauben, den Werken, der Wiedergeburt . 295 297

Der zweite petrinische Brief . 297

4) Die Lehrbegriffe der syn optischen Evangelien

und der Apostelgeschichte ..... 297 338

Verhältniss zur Lehre Jesu 297 298

Die Lehre von der Person Jesu als des Messias. Übernatür- liche Geburt und die Genealogien .... 298 300 Die Taufe und Versuchung Jesu ...... 300 302

Die Wundererzählungen 302 304

Die Verklärungsgeschichte ....... 304 305

Tod und Auferstehung Jesu ....... 305 308

Himmelfahrt und Sitzen zur Rechten Gottes .... 308 311

Parusie und Weissagungen Jesu über die Zerstörung Jeru- salems 311 321

Die Lehre vom heiligen Geist bei den Synoptikern und in der

Apostelgeschichte. Das XaXstv yXcoadOi; . . . 321 327

Der paulinisirende LehrbegriflF des Lucas -Evangeliums . . 327 331

Der Paulinismas der Apostelgeschichte .... 331 338

Dritte Periode.

Die Lehrbegriffe der Pastoralbriefe and der Jobanneischen

Schriften 338-407

1) Der Lehr begriff der Pas toral br i efe , . . 338 351

Die paulinische Grundlage desselben ..... 339 341

Seine polemische Seite, die Bestreitung der Häretiker . .341 342

Die Lehre von der Kirche ....... 342 344

Das praktische C'hristenthum. Die Lehre von der Inspiration 344 345

Die Einwirkungen der Gnosis in der Lehre von Gott . . 345— 349

Dieselben in der Lehre von der Person Christi . . . 349 351

2) Der johanneische Lehrbegriff .... 351 407

Die Idee des Logos im Prolog des Evangeliums . . . 351 354 Das Wesen Gottes, als reine Geistigkeit und als absolute

Thätigkeit 354—356

Der Logos als das göttliche Offenbarungsorgan . . . 356—359 Der Gegensatz des Lichts und der Finstemiss . . . 359 361 Verhältniss der johanneischen Lehre zum gnostischen Dualis- mus 361 362

Baur, neutest. Theol. " "

Inhalt.

Seite

Die Fleischwerduug des Logos 362 364

Die aap? des Logos und die menschliche Natur Christi . . 364—367

Der synoptische und johanneische Christus .... 367 368

Die Lehre von der Erlösung 368—389

Der Glaube und die Selbstdarstellung Jesu .... 368 369

1) Die Werke Jesu, epya und ar)[jL^a .... 369 372

2) Die Lehre und die Reden Jesu . . . . . 372—378 Die Rede Jesu Cap. 5 über das ^woTtoietv des Sohns . . 373—375 Die Rede Cap. 6 über Jesus als das Lebensbrod . . . 375 376 Jesus als das Licht der Welt, der Weg u. s. w. . . . 376 377 Das Gebot der Liebe 377 378

3) Der Tod Jesu ........ 378—381

Die Auferstehung Jesu und sein Kommen in den Abschieds- reden .. 381 382

Die Erscheinungen des Auferstandenen 382 383

Die Mittheilung des Geistes, der Paraklet .... 384—386

Seine Wirksamkeit bei den Jüngern und den Glaubenden . 386 389 Verhältniss des Evangeliums zum alten Testament und Juden-

thum, Jesus als Passahlamm 389—393

Verhältniss zum Paulinismus 393 395

Glaube und Liebe 395—397

Die Liebe des Vaters zum Sohn und Gottes zur Welt . . 397—400

Die Bedeutung des Todes Jesu 400 401

Die Idealität des Lehrbegriffs. Die Mittheilung des ewigen

Lebens und des wahren Gottesbewusstseins . . . *01 403

Das ewige Leben als Gegenwart und Zukunft . . . 403 404

Die Eschatologie. Auferstehung und Gericht . 404—406

Die Parusie . . . 406

Die Vermittlung der Gegensätze 406 407

Einleitung.

Begriff, Geschichte und Eintheilung der neutestamentlichen

Theologie.

Die neutestamentliche Theologie macht mit der alttesta- mentlichen die biblische Theologie aus, welche durch den Un- terschied des alten und neuen Testaments von selbst in diese beiden Haupttheile zerfällt. Theologie nannte man diese theo- logische Wissenschaft, um sie mit diesem allgemeinen und un- bestimmten Namen von der Dogmatik als der systematischen Theologie zu unterscheiden. Im Unterschied von der Dogmatik und allem demjenigen, was zum Begriff derselben gehört, sollte die biblische Theologie eine rein geschichtliche Wissenschaft sein. In ihr hat sich die reine Lehre der Schrift aus den Fes- seln des Abhängigkeits-Verhältnisses, in das sie zum dogma- tischen System der Kirche gekommen war, losgemacht und von demselben mehr und mehr emancipirt. Um sie in diesem eigen- thümlichen Charakter aufzufassen, muss man auf die Geschichte ihrer Entstehung und Ausbildung zurückgehen. Sie zeigt, dass sie von Anfang an darauf angelegt war, das Geschichtliche, das ihr wesentliches Element ist, so rein als möglich in sich dar- zustellen.

Nach dem Grundprincip des Protestantismus soll die Dog- matik der protestantischen Kirche nichts anderes sein als die

Darstellung der in der Schrift enthaltenen Lehre. Dieser For-

•I

Baur, Beutest. Theol. '

^ Einleitung.

derung entsprachen die ursprünglichen Darstellungen der evan- gelischen Glaubenslehre weit mehr als die spätem. Sie sollten nur die wissenschaftliche Reproduction des in der Schrift aus- gesprochenen evangelischen Bewusstseins sein. So schlössen sich Melanchthon's fjoci Ihenloyicl, wie sie aus dessen Vor- lesungen über den Römerbrief hervorgiengen, nach Form und Inhalt an diesen Brief an, als an diejenige Schrift des neuen Te- staments, in welcher die evangelische Lehre am meisten in dem organischen Zusammenhang ihrer Hauptmomente entwickelt ist. Auch in Calvin's InstUntio chrisfiaiiae religionis ist das Ver- hältniss von Schrift und Dogmatik noch ein reineres und un- mittelbareres. Die Schrift ist das Grundlegende, Maassgebende, Bestimmende, die Dogmatik das aus ihr als der Erkenntniss- quelle Abgeleitete und durch sie Begründete. In der Folge wurde das Verhältniss das gerade umgekehrte. Je mehr das System sich ausbildete, nach dem hergebrachten dogmatischen Formalismus construirt wurde und auf der Grundlage des dog- matischen Gegensatzes, aus welchem es hervorgegangen war, seinen specifischen Charakter erhielt, um so mehr wurde der vorherrschende Gesichtspunkt das rein Dogmatische. Die Schrift war jetzt, wenn auch dem Namen* nach, doch nicht der Sache nach das Primäre, sondern das Secundäre, sofern alles, was man aus ihr nahm, vor allem darauf angesehen wurde, wie man es zur Construction des Systems gebrauchen könne, um den genügenden Beweis für die Hauptsätze des Systems zu führen und die Antithesen der Gegner zu widerlegen. Die Exegese kam auf diese Weise ganz in den Dienst der Dogmatik, man kannte keine andere Auffassung der Schriftlehre, als die von der Dogmatik ausgehende und von ihr beherrschte.

Das Erste, worin sich das der biblischen Theologie zu Grunde liegende Interesse geltend machte, war daher, dass man den Schriftinhalt von dem eigentlich Dogmatischen zu unter- scheiden anfieng und beides wenigstens soweit auseinanderhielt.

Geschichte der neutestamentl. Theologie. 3

um die zur dogmatischen Beweisführung dienenden Stellen für sich in's Auge zu fassen. Es geschah diess in den Schriften, die den Zweck hatten, die sog. dicta probantia der heiligen Schrift zu erörtern. Man nannte sie Colleyia biblica, wie z. B. Seb. Schmidt, seine Schrift, eine der ältesten dieser Art, so nannte: Collegium biblicum, in quo dicta V. et N. Testamenti jxixta serietn loconnn communinm theotogicorum explicantur. Strassburg 1671. Ebendahin gehören Job. Hülsemann's Vin- diciae s. s. per loca dassica systematis theol. Leipzig 1679. Bai er, Analysis et vindicatio illustrium scripfurae dictorum sinceram fidei docfrinam asserentium. 1716. Weissmann, In- stitutiones theologiae exegetico -dogmaticae. Tübingen 1739. Der Unterschied dieser Werke und der eigentlich dogmatischen war nur, dass man das Exegetische oder Biblische voranstellte; im Übrigen war die Behandlung, wie auch schon die Ord- nung, in welcher man die classischen Schriflstellen an einander reihte, rein dogmatisch. Um die Mitte des achtzehnten Jahr- hunderts tritt die biblische Theologie unter diesem Namen schon mehr als eigene selbstsländige Wissenschaft auf. In den Schrif- ten von A. F. Büschin g: Diss. inaug. exhibens epitomen theo- logiae e solis literis sacris concinnatae Göttingen 1756. Epi- tome theologiae e solis literis s. concinnatae^ tina ctim speci- mine theologiae problematicae Qd. h. der in Frage stehenden biblischen Theologie). 1757. Gedanken von der Beschaffenheit und dem Vorzug der biblisch-dogmatischen Theologie vor der scholastischen, 1758, ist, wie schon aus dem Titel dieser Schrif- ten zu schliessen ist, die biblische Theologie unter diesen Ge- sichtspunkt gestellt. Die biblische Theologie sollte somit nicht blos zur Erläuterung und Beweisführung dienen, sie wollte auch etwas für sich sein, nach der Idee, die ihr zu Grunde liegt, ein Ganzes für sich, sofern die sämmtlichen Lehren nur aus der Schrift zusammengestellt werden. Schon ist auch wenigstens von einem Vorzug der biblischen Theologie vor der scholasti-

1*

4 Einleitung.

sehen die Rede. Als sodann in der zweiten Hälfte des acht- zehnten Jahrhunderts der Geist der Zeit sich mehr und mehr von dem kirchlichen System hinwegwandte und sich in Oppo- sition zu demselben setzte, war es hauptsächlich die biblische Theologie, auf die man sich stützte, um die veraltete Dogmatik ihrem eigenen Princip zufolge durch ihren Widerspruch mit der Schrift zu bekämpfen, wie diess von den damaligen Auf- klärungstheologen, in den Schriften eines Bahrdt, Teller und Anderer auf eine grösstentheils sehr einseitige und oberfläch- liche Weise geschehen ist. Die Semler 'sehe Kritik arbeitete gleichfalls darauf hin, die biblische Theologie von dem Zusam- menhang mit der kirchlichen Dogmatik loszureissen.

Das bedeutendste Werk aus dieser ersten Periode der bib- lischen Theologie und dasjenige, an welchem sich die damals erreichte Stufe ihrer Ausbildung am besten fixiren lässt, ist unstreitig des Göttinger Theologen Zachariä biblische Theo- logie, oder Untersuchung des biblischen Grundes der vornehm- sten theologischen Lehren. Sie erschien zuerst im Jahre 1772, und nachher noch in einer zweiten und dritten Ausgabe in vier Bänden, zu welchem noch ein fünfter, herausgegeben von Voll- bor th, kam. Der zweite Titel bezeichnet den Gesichtspunkt, aus welchem Zachariä die biblische Theologie in dieser aus- führlichen Bearbeitung auflasste. Sie sollte eine Kritik des kirch- lichen Systems sein, oder, wie Zachariä selbst seine Aufgabe bestimmte, dazu dienen, die systematischen und biblischen Ideen unter einander zu vergleichen und genau zu untersuchen, was bei den angenommenen systematischen Ideen, welche jederzeit ihre Quelle in gewissen biblischen Ausdrücken haben, richtig oder unrichtig sei, um endlich, wie es die Natur aller mensch- lichen Wissenschaften erfordere, den Weg zu einer deutlichen und genauer bestimmten Theologie zu bahnen, welche von Allen durch die Vergleichung ihrer bisherigen Begriffe mit den auf- geklärten biblischen Begriffen als völlig richtig erkannt werden

Gesohichte der nentestamentl. Theologie. .^

könne. Damit diese Vergleichung, die bei der Abweichung unserer Art zu denken und zu reden von der der Bibel keine sehr leichte sei, um so gründlicher geschehe, sollte sich das Werk auf den gesammten biblischen Grund der theologischen Lehrsätze erstrecken und dieser Einrichtung gemäss biblische Theologie heissen. Bei der Richtigkeit theologischer Lehren be- ruhe ja alles auf der Richtigkeit ihrer Beweise aus der heiligen Schrift. Vergesse man folglich auf eine Zeitlang das System unserer Kirche und suche durch eigenes sorgfältiges Erforschen der ganzen Schrift die in ihr befindlichen theologischen Lehren selbst zu bestimmen , so werde man eine von Neuem aus der- selben herausgesuchte Theologie erhalten, welche man mit Recht die eigentlich biblische Theologie nennen und mit den bekann- ten theologischen Lehren, welche als in der Schrift gegründet in unserer Kirche behauptet werden, vergleichen könne, um sich von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, oder, wenn man sie nicht in der Schrift gegründet finde, die eigentliche Lehre der heiligen Schrift genau einzusehen. Denn bei solchen ünter-^ suchungen würde man parteiisch handeln, wenn man selbst die wichtigsten Lehren unserer Kirche als ausgemacht voraussetzen und blos Beweise dazu suchen wollte. Hier müsse man alle erlernte Wahrheit gleichsam vergessen, um unparteiisch genug zu sein, blos was die heilige Schrift lehrt ohne Rücksicht auf das, was diese oder jene^Partei, dieser oder jener Gottesge- lehrte für wahr und richtig halte, dafür zu erkennen und aus- zugeben.

Die kritische Tendenz, die die biblische Theologie dem kirchlichen System gegenüber sehr natürlich haben musste, tritt hier sehr bestimmt hervor; aber bei aller Anerkennung, die sie verdient, ist sie doch nur als eine noch mangelhafte Stufe ihrer wissenschaftlichen Ausbildung anzusehen. Solange sich die biblische Theologie nur die Aufgabe setzt, das kirchliche System zu kritisiren, hat sie noch keine selbstständige Bedeu-

0 Einleitung.

tung, sie hat ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern ausser sich, in einem Gebiet der Theologie , durch welches ihre Exi- stenz wesentlich bedingt ist. Es ist auch so noch ein durchaus dogmatischer Gesichtspunkt, aus welchem die biblische Theo- logie behandelt wird. Und so sehr es auf eine Kritik des kirch- lichen Systems abgesehen war, so war es doch auch damit nicht so ernstlich gemeint. Man setzte doch immer wieder voraus, dass die biblische Theologie in ihren Resultaten mit der kirch- lichen Lehre vollkommen übereinstimme. Die letztere werde, versichert auch Zachariä, durch seine neue Untersuchung so wenig leiden, dass sie vielmehr nur in einem neuen Lichte sich darstellen werde. Sie sollte ja nur die Beweisgründe aus der heiligen Schrift für die Lehrsätze des kirchlichen Systems lie- fern. Nur darin gab sich auch bei solchen Theologen, wie Za- chariä, eine rationalisirende Tendenz zu erkennen, dass man sehr geneigt war, biblische Vorstellungen, wie von der Ewig- keit der Strafen und dem Opfertod Christi, für blosse Bilder und Redensarten zu halten. Im Allgemeinen aber wurde alles, was man unter biblischer Theologie verstand, als eine blosse Vor- arbeit für die Dogmatik betrachtet, oder sie wurde selbst zur biblischen Dogmatik.

Auf dieser Stufe stehen neben Zachariä's Werk die Schrif- ten von Hufnagel, Ammon, Storr. Hufnagel 's nicht einmal zur Hälfte vollendetes und im Grunde nur aus fragmentarischen Materialien über die biblischen Beweisstellen der Dogmatik be- stehendes Handbuch der biblischen Theologie vom Jahre 1785 verdient kaum erwähnt zu werden. Wichtiger ist A m m o n 's Entwurf einer reinen biblischen Theologie vom Jahre 1792 und noch mehr seine biblische Theologie vom Jahre 1801 in drei Bänden. Ammon ist es hauptsächlich, welcher die biblische Theologie als blosse Vorarbeit und Hülfswissenschaft der Dog- matik auffasste. Sie soll, sagte er, eine genaue Kenntniss der reinen, d. h. von aller Eigenheit des Vortrags abgesonderten

Geschichte der neutestamen tl. Theologie. T

Resultate derjenigen Schriftstellen enthalten, aus welchen die Lehrsätze der biblischen Dogmatik abgeleitet werden. Die bib- lische Theologie liefere nur Materialien, Grundbegriffe und Re- sultate der Bibel, ohne sich um den Zusammenhang derselben zu bekümmern, oder sie in ein künstliches System zu winden. Dieses Geschäft bleibe allein dem Dogmatiker vorbehalten, der diese Resultate an einander kette. Wenn aber die biblische Theologie die wesentlichen Materialien der Dogmatik, die schrift- gemässe Grundlage derselben zu liefern hat, so ist es ein blos formeller Unterschied zwischen einer solchen Materialiensamm- lung und einer Anordnung dieser Materialien zu einem dog- matischen System. Das letztere hat Storr gethan in seiner bib- lischen Dogmatik unter dem Titel: Doctrinae christianae pars theorefica e sacris titeris repefita. 1793. Von dem kirchlichen System ist hier blos die systematische Form entlehnt, um die aus der Bibel abgeleiteten Lehren in einem wissenschaftlichen Zusammenhang darzustellen. Die Absicht ist nicht, die bib- lischen Lehren rein geschichtlich zu entwickeln, sondern es verbindet sich mit dem Geschichtlichen das dogmatische Inter- esse, diese Lehren als Glaubenssätze aufzustellen, deren dog- matische Auctorität schlechthin anzuerkennen ist.

Das Charakteristische dieser ersten Periode ist so über- haupt das durchaus vorherrschende dogmatische Interesse, mit welchem die biblische Theologie behandelt wurde. Es fehlte noch der geschichtliche Begriff ihrer Aufgabe. Wenn auch z. B. bei Ammon davon die Rede ist, dass die Schriftstellen nicht wie vormals unter einander geworfen, sondern chronologisch ge- ordnet werden sollen, um das Stufenweise in den Offenbarun- gen Gottes bemerken zu können, und dass man die Eigenheiten der h. Schriftsteller und des Volks und Zeitalters, für welches sie schrieben, nicht aus den Augen verlieren dürfe, um in den Sinn dieser Schriften einzudringen, so ist diess doch nur eine flüchtige Bemerkung, und die in ihr angedeutete historische Be-

^ Einleitung.

trachtungsweise hat keinen weiteren Einfluss auf die Behand- lung des Ganzen gehabt. Ein weiterer Fortschritt in der Fort- bildung der biblischen Theologie konnte daher nur dadurch geschehen, dass die eigentlich geschichtliche Aufgabe derselben zum bestimmteren Bewusstsein kam. Das Verdienst, dieses Be- wusstsein zuerst ausgesprochen zu haben, gebührt dem Altdorfer Theologen, J. Ph. Gabler. Seine akademische Rede vom Jahre 1787 de jnsto discrimine theologine biblicae et dogmaficae re- gundisqne utrmsqve finibus (kleine theologische Schriften 1831, 2. S. 179 f.; vgl. Journal für auserl. theol. Literatur 1. S. 554. 5. S. 361 f. 594 f.D hatte den Zweck, den Unterschied der bib- lischen und der dogmatischen oder systematischen Theologie dadurch zu bestimmen, dass der erstem ein rein historischer, der letztern ein wissenschaftlicher Charakter zuerkannt wurde. Dieser Unterscheidung zufolge hat die Dogmatik, sofern sie auf der Bibel beruht, das Allgemeingültige aus den biblischen Leh- ren zu erheben, sie muss es mit Hülfe der Philosophie aus dem blos Lokalen, Temporellen und Individuellen herausfinden, wis- senschaftlich begründen und verknüpfen. Die biblische Theo- logie dagegen hat es lediglich mit der factischen Ermittlung der in den biblischen Schriften enthaltenen Religionsbegriffe zu thun, sie muss daher auch das blos Lokale, Temporelle und In- dividuelle aufnehmen, weil es gerade am meisten charakteri- stisch ist für die religiöse Denkart einer Zeit und der einzelnen Personen. Um diesen historischen Charakter streng zu behaup- ten, vor allem aber das Successive in dem Entwicklungsgang der biblischen Religionsbegriffe anschaulich machen zu können, ist sowohl die chronologische Folge, als auch der Unterschied der verschiedenen Schriftsteller genau zu beachten.

Nach diesen richtigem Grundsätzen bearbeitete G. Lorenz Bauer, Professor der Theologie in Altdorf, die biblische Theo- logie in einer Reihe dieselbe betreffender Schriften, namentlich in der biblischen Theologie des netien Testaments in vier Bän-

Geschichte der neutestamentl. Theologie. 9

den, 1800—4802, zu welchen noch ein fünfler milden Reli- gionsbegriffen des Briefs Jacobi und des Hebräerbriefs kommen solUe. Den Begriff der biblischen Theologie bestimmte er so: sie sei eine reine und von allen fremdartigen Vorstellungen gesäuberte Entwicklung der Religionstheorie der Juden vor Christus und Jesu und der Apostel, nach den verschiedenen Zeitaltern und nach den verschiedenen Kenntnissen und An- sichten der h. Schriftsteller aus ihren Schriften hergeleitet. Der historische Charakter, welchen die Darstellung an sich tragen soll, ist dadurch deutlich bezeichnet, er ist aber nicht streng festgehalten, da Bauer in seine Aufgabe auch das mit aufnahm, zu untersuchen und zu bestimmen, was allgemein gültige Wahr- heil für alle Zeiten und Orte, allgemein gültiges Christenthum sei, und sich dabei zu dem Accommodatiorisgrundsatz bekannte, welchem zufolge alles, was in der Lehre Jesu und der Apostel den Principien der Erfahrung und gesunden Vernunft wider- streitet, nur Anbequemung an irrige Volksbegriffe sein sollte. Doch sollten solche Accommodationen nur in unwesentlichen Punkten der Religion und Moral stattgefunden haben. Hiemit wurde demnach doch wieder ein dogmatisches Interesse in die geschichtliche Methode eingemischt. Dogmatisch war aber auch schon der allgemeine Standpunkt, auf welchen Bauer sich stellte, wenn er durch seine biblische Theologie zur Entscheidung der grossen Frage, die viele tausend gutgesinnte Menschen inter- essire, beitragen wollte, ob das Christenthum eine vernünftige und göttliche Religion sei. Wenn man auch zunächst nur ganz unparteiisch untersuchen will, was denn eigentlich die christ- liche Religionstheorie sei, wofür Jesus wolle gehalten werden, aus welchen Gründen er verlange, dass man ihm glaube, so wird doch der rein historische Gesichtspunkt sogleich verrückt, sobald man die Hauptfrage so stellt, ob das Christenthum eine vernünftige und göttliche Religion sei. Da diese Frage, wie sich von selbst versteht, nur bejahend beantwortet werden kann,

' 10 Einleitung.

SO steht voraus fest, was das Christenthum zu seinem Inhalt haben muss. Um nun aber das, was man voraussagt, auch wirk- lich in ihm zu finden, trägt man seine eigene Ansicht vom Ver- nünftigen und Göttlichen in die Geschichte hinein und macht an die biblischen Schriftsteller die Forderung, dass sie das, was man nach seinen Begriffen nicht für vernünftig und göttlich halten kann, auch nicht dafür gehalten oder in einem solchen Falle sich blos zu Zeitbegriffen accommodirt haben. In dem Accommodationsgrundsatz spricht sich immer das subjective In- teresse aus, nur das als die eigentliche Meinung der biblischen Schriftsteller anzusehen , worin man selbst mit ihnen einver- standen sein kann. Man macht also nur seine eigene subjec- tive Ansicht zum Kriterium der objectiven geschichtlichen Wahr- heit. Es ist diess mit Einem Worte die rein rationalistische Ansicht. Dem Rationalismus fehlt es an aller lebendigen Ge- schichtsanschauung, an der Fähigkeit, sich aus seiner subjec- tiven Vernunft heraus in die Objectivität der Geschichte zu ver- setzen. Während diese Ansicht auf der einen Seite* sich zu abstract nur an das Allgemeine hielt, Hess sie auf der andern alles, was sie nicht zu dem allgemein gültigen Inhalt rechnete, zu sehr in das Einzelne, Zufällige, Zusammenhangslose ausein- ? . andergehen. Es war ganz richtig, dass man nicht nur die Theo- \^h'^''' / -^ logie des neuen Testaments von der des alten Testaments streng lk.\<?t'^^ sonderte, sondern auch die verschiedenen Schriftsteller des

neuen Testaments unterschied und nach ihnen die Theologie des neuen Testaments eintheilte; die verschiedenen Schriftsteller selbst aber standen noch gar zu äusserlich und isolirt neben einander. Zwischen dem Allgemeinen und Speciellen fehlte noch zu sehr der vermittelnde Zusammenhang der concreten geschichtlichen Wirklichkeit.

^ Es kam demnach erst fioch darauf an, die grundsätzlich anerkannte geschichtliche Methode auch praclisch zur Ausführ- ung zu bringen, die Subjectivität des Rationalismus dadurch zu

Geaohichte der n e Utes ta ine n 1 1. Theologie. ||

Überwinden, dass man von ihr zur objectiven Geschichtsbetrach- tung fortschritt. Diess erforderte noch längere Zeit. Nach einer Zwischenperiode, in welcher für die biblische Theologie nur sehr wenig geschehen war, machten zuerst Kaiser und de Wette einen neuen Versuch ihrer Bearbeitung. Kaiser nannte sein Werk: Die biblische Theologie, oder Judaismus und Christia- nismus nach der grammatisch- historischen Interpret afions- methode und nach einer freimiithigen Stellung in die kritisch vergleichende Universalgeschichte der Religionen und in die universale Religion; de Wette: Biblische Dogmatik des Alten utid \euen Testaments, oder kritische Darstellung der Religions- lehre des Hebraismus, desJndenthuws und des Ur Christ enthums. Beide Werke erschienen zu gleicher Zeit im Jahre 1813. Das Kaiser 'sehe Werk verfolgt die geschichtliche Tendenz im wei- testen Umfang. Es stellt die biblische Religion in den Zusammen- hang der allgemeinen Religionsgeschichte hinein, fasst sie als einen Theil derselben auf und vergleicht die biblischen Lehren mit den Vorstellungen anderer Religionen. Je weiter aber von diesem Standpunkt aus der Kreis der Darstellung gezogen wurde, um so mehr trat die biblische Religion als eigentlicher Gegen- stand der geschichtlichen Betrachtung gegen das Allgemeine zurück. Das Kaiser'sche Werk ist nicht sowohl eine biblische Theologie als vielmehr eine Darstellung der Religion überhaupt nach ihren verschiedenen geschichtlichen Formen mit besonderer Rücksicht auf Judaismus und Christianismus. Auch war damals der Charakter und Inhalt der ausserbiblischen Religionen noch nicht so erforscht, dass eine solche Vergleichung grössere Be- deutung hätte haben können. Es sind daher mehr nur Einzeln- heiten, die hier aus den verschiedenartigsten Gebieten zusammen- gestellt sind. Das Werk hält aber ungeachtet seiner geschicht- lichen Anlage nicht einmal den reingeschichtlichen Gesichtspunkt fest. Es vergleicht nicht nur die biblischen Ideen mit den Vor- stellungen anderer Religionen, sondern es will auf diesem Wege

)f9 Einleitung.

auch das, was Bestandtheil der allgemeingültigen Religion sein kann, kritisch bestimmen. Die parallelisirende Universalbe- schreibung der Hauptmomente der Religion soll das theologische Räthsel des Judaismus und Christianismus durch die Stellung beider in die Universalgeschichte beantvi^orten und reine Resul- tate für die ewige ideale Religion gewinnen. Das Princip dieses Universalismus ist, dass von der wahren Religion alles Locale und Temporelle, alles Individuelle und Particuläre ausgeschlossen sein müsse, dass ebendarum die Idee einer positiven Religion und Offenbarung verwerflich sei, weil das historisch Gegebene immer nur national, individuell und zufällig bleiben müsse, und nur dann in die universelle Religion aufgenommen werden könne, wenn es mit der allgemeinen Ofl^enbarung Gottes durch Natur und Vernunft zusammenstimme. Mit der geschichtlichen Darstellung verbindet sich daher der dogmatische Zweck, aus dem concreten Inhalt der einzelnen Religionen das Allgemeine als das an sich Wahre und Wesentliche zu abstrahiren. Solange man aber den Gegenstand der geschichtlichen Darstellung vor allem nur darauf ansieht, was an ihm das an sich Wahre und mit unserer Überzeugung Übereinstimmende ist, fehlt es noch immer an einer reinen und unbefangenen Auffassung des ge- schichtlich Gegebenen.

•«r' Auf diesen Standpunkt hat sich aber auch de Wette nicht erhoben und nicht ohne Grund hat er seine Bearbeitung der biblischen Theologie eine biblische Dogmatik genannt: das Dog- matische greift in der Form der Religionsphilosophie sehr be- stimmend in die geschichtliche Darstellung ein. Als Hauptaufgabe der biblischen Dogmatik betrachtet de Wette, das Wesentliche und Unwesentliche oder Form und Inhalt durch die religions- philosophische Reflexion zu scheiden, um den reinen Gehalt der religiösen Vorstellungen hervorzuheben. Er wollte auf dem Gebiet des von der Geschichte überlieferten Stoffs die rein reli- giösen Elemente von den fremdartigen Bestandtheilen durch

Geschichte der neu tes tamentl. Theologie. 13

Vergleichung jenes Stoffs mit den Aussprüchen und Gesetzen des idealen Vernunftglaubens und des religiösen Gefühls aus- scheiden und alles in seiner Beziehung zu der religiösen Ge- fühlsstiminung betrachten, um so das Wesen der Religion als solcher aufzufassen, welches in dem durch Symbole und Dogmen und zuletzt durch die innere Überzeugung vermittelten Glauben und Gefühl gefunden werde. Durch eine solche Scheidung des wahren Wesens von dem Fremdartigen, namentlich auch dem- jenigen, was über die Grenzen des Vernunftglaubens in ein falsches Wissen überschreitet, oder eine Gefühlsanschauung in sinnlicher Anschauung oder in wissenschaftlichem Begriff dar- stellt, meint de Wette, könne die christliche Religion vor den Zweifeln des denkenden Zeitalters und der Verachtung der Ge- bildeten gesichert werden. Für dieses Scheidungsverfahren beruft er sich darauf, dass die geschichtliche Offenbarung nichts sei als die hervorgetretene innere Offenbarung; diese beiden aber müssen zusammenfallen und das Bewusstsein dessen, was zur Religion gehört, müsse zwar durch die geschichtliche Offen- barung geweckt und gebildet werden, aber nicht mit bindender Hingabe des Urtheils an die geschichtliche Überlieferung. Hier- aus erhellt deutlich , welchen überwiegenden Einfluss auch bei de Wette das religiöse und dogmatische Interesse auf die ge- schichtliche Darstellung hat. Der leitende Gesichtspunkt, von welchem aus der geschichtliche Stoff behandelt wird, ist der Gedanke, dass die biblischen Schriften die Quelle unseres eigenen religiösen Glaubens sind, und an die Stelle der rein geschicht- lichen Betrachtung, welche das geschichtlich Gegebene ganz als das nimmt, was es in seiner concreten Wirklichkeit ist, tritt das Interesse, in ihm das bestätigt zu finden, was wir selbst für das an sich Wahre und Vernünftige des religiösen Glaubens halten. Das historische wird so dem religiösen und dogmatischen Interesse untergeordnet, und an das geschichtlich Gegebene ein Maasstab der Beurtheilung angelegt, welchen wir nicht aus der

14 Einleitung. iilairfoBT

Gescliichte, sondern nur aus uns selbst nehmen. Statt also rein und unbefangen an die geschichtliche Objectivität sich hinzu- geben, macht man nur seine eigene Subjectivilät gegen sie geltend. Abgesehen davon aber ist anzuerkennen, dass die ge- schichtliche Behandlung der biblischen Theologie durch de Wette einen Fortschritt gemacht hat. Er erklärte es für eine Forderung der historischen Genauigkeit, dass man sich nicht mit Allgemeinem begnüge, sondern in das Besondere der Eigenthümiichkeit ein- gehe, das alte und neue Testament genau scheide, jedoch auch wieder mit einander vergleiche, dass man verschiedene Perioden und Individuen trenne, aber nur nach festen grossen Unter- schieden, ohne Kleinlichkeit und ohne neben dem Besondern das Gemeinsame aus dem Auge zu verlieren, dass man die Ideen in ihrer historischen Gestalt und in der Ordnung, wie sie in den Gemüthern ihrer Urheber und Inhaber liegen, aufführe. Er stellt daher nicht nur die Religion des alten und die des neuen Testaments abgesondert dar, sondern unterscheidet auch in der erstem den Hebraismus und das Judenthum, in der letztern die Lehre Jesu und der Apostel und sucht den Grundcharakter der einen wie der andern auszumitteln. Der wesentliche Fortschritt, welchen die historische Methode durch de Wette machte, ist somit überhaupt der von ihm zuerst gemachte Versuch, das Ganze der biblischen Theologie nicht blos nach den verschiede- nen Schriftstellern, wie von Bauer und Andern geschah, sondern nach charakteristisch verschiedenen Perioden anzuordnen.

^s Und doch wurde gerade dieser Fortschritt von dem nächsten bedeutenderen Bearbeiter der biblischen Theologie wieder ver- lassen, von Baumgar ten-Crusius, in dessen Grnndzflgen der biblischen Theologie vom Jahr 1828 die biblische Religion ohne die Unterscheidung der beiden Testamente als ein zusam- menhängendes Ganze dargestellt ist. Baumgarten-Crusius unter- scheidet nur einen allgemeinen und einen speciellen Theil der biblischen Theologie und den letztern theilt er in die drei Ab-

Geschichte der neutestamentl. Theologie. 15

schnitte, die biblische Lehre von Gott, vom Menschen und vom Heil des Menschen. Zwar ist auch diese zusammenfassende Behandlung des ganzen Inhalts der biblischen Theologie bei dem engen Zusammenhang des alten und neuen Testaments nicht ohne Berechtigung, und je länger der Weg ist, welchen die einzelnen Religionslehren durchlaufen haben, um so mehr hat es auch ein Interesse, die ganze Reihe ihrer Entwicklungs- momente zu überblicken, ünhistorisch aber ist es , das Allge- meine gegen das Besondere so sehr zurückzustellen, und eine so durchgreifende Epoche, wie die des neuen Testaments und des Christenthums im Unterschied vom alten Testament und dem Judenthum nicht so zu fixiren, dass das Princip in seiner ganzen Eigenthümlichkeit hervortritt. Ein blosser Nachhall von jüdi- schen Begriffen soll zwar das Urchristenthum kefneswegs gewesen sein, aber die allgemeine Idee, von welcher Jesus und die Apostel geleitet wurden, soll nur der Universalismus ihrer Lehre und Anstalt gewesen sein, und auch innerhalb des neuen Testa- ments selbst will Baumgarten -Crusius keinen wesentlichen Unterschied anerkennen. Eine Verschiedenheit bestehe nur hinsichtlich der Lehrformen, Stimmungen und Ansichten der einzelnen Schriftsteller, sowie hinsichtlich des Sprachgebrauches und der Art zu beweisen. Aber auch in dieser Hinsicht könne man nur von einem Charakter Einzelner nicht verschiedener Classen reden. Die Unterscheidung zwischen einer jüdisch ge- sinnten und einer freieren Partei der Apostel sei ohne Grund. Ebenso wenig lasse sich eine periodische Entwicklung, ein Fortschreiten in Hinsicht der Lehre im neuen Testament nach- weisen, weder im Allgemeinen, noch bei den einzelnen Schrift- stellern. Auch ein Unterschied zwischen der Lehre Jesu und der der Apostel sei nur in sehr beschränktem Maasse anzuer- kennen, sofern von den allgemeinen Grundsätzen der Religion und Sittenlehre Jesu sich kein Apostel entferne, auch sich nirgends ein eigentliches Missverständniss der Lehre Jesu von

^{9 Einleitung.

Seiten der Apostel nachweisen lasse, alle Schriften vielmehr ohne Unterschied als Hauptgedanken den von der Stiftung des göttlichen Reichs anerkennen, den sie nur verschieden auffassen und darstellen. In dieser Darstellung der neutestanientlichen Theologie herrscht zu sehr das Streben vor, das Einzelne und Besondere dem Allgemeinen und Gemeinsamen unterzuordnen, während die Geschichte vor allem die Aufgabe hat, die Unter- schiede, die auf keinem grösseren geschichtlichen Gebiet fehlen können, in ihrer ganzen Schärfe hervorzuheben. Wenn der einzige wirkliche Unterschied zwischen der Lehre Jesu und der der Apostel hauptsächlich darin bestehen soll, dass in den Lehren Jesu nicht sowohl seine Person als seine Sache, sein Werk dargestellt werde, so ist diess unstreitig mehr als ein blosser Unterschied der Lehrform und der Lehrart, wofür es Baumgarten-Crusius gehalten wissen will.

Zu einem bestimmteren Eingehen in das concrete Leben der Geschichte hat es die Periode der rationalistischen Geschichts- anschauung nicht gebracht, so nachdrücklich auch immer wieder darauf gedrungen wurde, dass keine andere Behandlung der neutestamentlichen Theologie gelten könne, als die rein ge- schichtliche. Derselben Periode gehört auch noch das ausführ- lichste Werk dieser Art an, die biblische Theologie des D. Dan. V. Colin, herausgegeben von D. Schulz in 2 Bdn. 1836. Die Bearbeitung dieser Wissenschaft aus dem rein historischen Ge- sichtspunkt und die Durchführung desselben in seiner ganzen Strenge und Lauterkeit soll der eigenthümliche Vorzug dieser neuen Darstellung sein, im Unterschied von dem falschen Streben nach einer practischen oder populären Behandlungsweise und der unrichtigen Vorstellung von dem Verhältniss der biblischen Theologie zum theologischen System, zur allgemeinen Religions- geschichte oder auch zur Religionsphilosophie, wodurch die Vorgänger den wahren Gesichtspunkt verrückt haben. Als geschichtliche Darstellung müsse sich die biblische Theologie in

Geschichte der neu testamentl. Theologie. 17

ihrem Vortrag von historischen Principien leiten lassen. Aus dieser Forderung gehen folgende wesentliche Bestimmungen für den Vortrag hervor: 1) Sorgfältige Unterscheidung der Zeiten und Lehrer, sowie der mittelbaren und unmittelbaren Darstellung und Lehre. 2) Strenges Festhalten der Ansicht und Denkart der biblischen Lehrer und Schriftsteller bei der Auffassung und Stellung ihrer Religionsbegriffe , d. h. Unabhängigkeit vom kirchlichen System und jedem philosophischen Partei-Interesse. 3) Darlegung und Erläuterung der symbolisch-mythischen Ein- kleidungsformen und des Verhältnisses derselben zu den reineren Begriffen sowohl als auch zu der Überzeugung des Lehrers. Die Anordnung des Ganzen theilt sich in die beiden von ein- ander abgesonderten Haupttheile der Theologie des alten und neuen Testaments, und die letztere zerfällt wieder in die Lehre Jesu und die der Apostel, deren Darstellung sowohl aus einem allgemeinen als einem besondern Theil besteht. Der besondere stellt die einzelnen Religionsbegriffe dar, wobei hier besonders in Betracht kommt die Unterscheidung einer symbolischen und unsymbolischen Religionslehre. Zu der letztern wird gerechnet die Lehre vom göttlichen Wesen und seinem Verhällniss zur Welt, und die Lehre von den erschaffenen Geistern und ihrem Verhältniss zum göttlichen Wesen, wobei das Hauptstück die Lehre vom Menschen ist. Zur symbolischen Lehre gehört die ganze Lehre vom Reich Christi. Dabei fällt aber sogleich in die Augen, wie unmotivirt diese ganze Unterscheidung ist, wenn alle das Reich Gottes betreffenden Lehren blos aus dem Grunde, weil die allgemeine Idee, auf die sie sich beziehen, das Reich Gottes, oder die Theokratie ist, unter den symbolischen Ge- sichtspunkt gestellt werden sollen. Was hat denn die ganze Lehre von der Person und dem Werke Christi an sich Symboli- sches, und wie weit müsste, wenn solche Lehren symbolisch sein sollen, der Begriff des Symbolischen ausgedehnt werden? Was Colin dabei im Auge hat, ist der Unterschied des Begrifflichen

Baur, ueutest. Theol. ^

18 Einleitnng.

vom Bildlichen im Symbol und Mylhus. Zur vollständigen Kenntniss der Denkart der biblischen Schriftsteller scheint ihm auch diess zu gehören, dass gezeigt werde, in welchem Ver- hältniss die eigene Überzeugung der Verfasser zu den Sym- bolen und Mythen gestanden habe, oder ob diese Formen ihnen als solche bewusst gewesen seien oder nicht. Hiemit wird aber eine Unterscheidung in die Schriften des neuen Testaments hineingetragen, welche die Schriftsteller selbst nicht gemacht haben, und es zeigt sich auch hier wieder die Unfähigkeit des Rationalisten, sich aus sich heraus in andere Formen des Be- wusstseins hineinzudenken. Ehe man fragen kann, ob sich" die Schriftsteller des mythischen Charakters ihrer Erzählungen be- wusst gewesen sind, muss man vor allem darüber im Reinen sein, ob die Erzählungen wirklich als Mythen anzusehen sind. Ist nun diess jetzt noch immer eine so grosse Streitfrage, wie kann man erwarten , dass die Schriftsteller selbst ein bestimm- teres Bewusstsein des hier in Frage stehenden Unterschieds ge- habt haben? Wie man sie auch darauf ansehen mag, sie werden uns nie gestehen, dass sie blosse Mythen erzählen. Die ganze Unterscheidung, die hier gemacht wird, ist daher unbrauchbar und unhistorisch. Auch sonst leidet die Cölln'sche Darstellung noch sehr an den Mängeln eines allgemeinen Schematismus. Die biblische Theologie hat sich immer noch nicht ihrer Abhängig- keit von der Dogmatik entschlagen, wenn der dogmalische Formalismus das Eintheilungsprincip für die Darstellung des Einzelnen ist. Trennt man mit Recht die Lehre der Apostel von der Lehre Jesu, so thue man auch den weitern Schritt und unterscheide in der Lehre der Apostel selbst die verschiedenen LehrbegrifFe , die nach der Verschiedenheit der neutestament- lichen Schriftsteller ein mehr oder minder individuelles Gepräge an sich tragen. Je schärfer man aber diese Individualitäten in's Auge fasst, um so weniger wird man den hergebrachten dog- matischen Formalismus beibehalten können. Schon de Wette

Geschichte der nentestamentl. Theologie. 19

hat zwar in seiner Darstellung der Lehre der Apostel das Juden- chrislenthum , die Lehre des Hebräerbriefs, das paulinische Christenthum und die Lehre des Johannes, jedoch ohne alle Charakteristik, schlechthin neben einander gestellt, und sodann Colin als die drei verschiedenen Grundformen des apostolischen Vortrags bestimmter den palästinensischen, alexandrinischen und paulinischen Lehrtypus unterschieden und eine allgemeine Charakteristik derselben nach ihren unterscheidenden Zügen der Entwicklung der einzelnen Lehrsätze vorangeschickt. Allein auf die Darstellung selbst hat diess keinen bestimmteren Einfluss gehabt und es ist schon aus der gegebenen Charakteristik deut- lich genug zu sehen, welche geringe Bedeutung diese Unter- scheidung von LehrbegrifTen hätte, wenn sie nichts weiter wäre, als sie nach dieser Auffassung sein soll. Ausdrücklich behauptet daher auch Colin, die sämmtlichen Apostel stimmen in ihren religiösen Grundsätzen sosehr überein, dass ihre Lehre als eine zusammenhängende dargestellt werden könne. Sie haben zwar die überlieferte Lehre weiter ausgebildet, unbestimmt gelassene. Lehrpunkte genauer festgestellt, und besonders sich eine eigen- thümliche Ansicht von der Person Jesu Christi gebildet; so haben allerdings, da jeder seinen eigenen Weg verfolgte, Verschieden- heiten entstehen müssen; indess betreffen sie mehr die Lehrart als die Lehre, mehr die Stellung, welche man einzelnen Lehr- sätzen gab, und die Wichtigkeil, welche man ihnen beilegte, als ihren Inhalt, und sie haben ihren Grund vornehmlich darin, dass man sich das Verhältniss nicht sogleich klar machen konnte, in welches die neue Religionsanstalt zu der altern treten sollte. Diess heisst kurz: wenn auch in der Lehre der Apostel grosse Lehrdifferenzen stattfinden , so sind sie doch nur formeller Art, in Ansehung der Sache selbst ist det Lehrbegriff der sämmtlichen Apostel völlig übereinstimmend, und daher nirgends eine reelle Verschiedenheit vorauszusetzen.

Auf diesem Punkte stand die Behandlung der neutestament-

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550 .igoioorf'i* Einleitung.

liehen Theologie, als die neuem kritischen Untersuchungen, wie sie besonders seit dem Strauss'schen Leben Jesu ihren Auf- schwung nahmen, auch in sie eingriffen und auf ihre weitere Entwicklung den wichtigsten Eintluss hatten. Strauss hatte die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte im Ganzen haupt- sächlich dadurch in Frage gestellt, dass er auf den Mangel an Übereinstimmung und die vielfachen Widersprüche aufmerk- sam machte, die sich in den verschiedenen Darstellungen der evangelischen Geschichte nachweisen lassen, woraus nur die Folgerung gezogen werden konnte, dass unsere Evangelien- schriften nicht von den apostolischen Augenzeugen herrühren, welche die Verfasser derselben sein sollen. Die Resultate der Strauss'schen Kritik schienen nur dadurch widerlegt werden zu können, dass man den die evangelische Geschichte enthaltenden Schriften die apostolische Glaubwürdigkeit sii^her stellte, in deren factischem Besitz sie bisher waren. Je mehr man sich aber diess zur Aufgabe machte, und je schärfer man die in Frage stehen- den Punkte in's Auge fasste , um so grösser waren die Schwie- rigkeiten, auf welche man stiess. Man konnte aus allem zusam- men nur die Überzeugung gewinnen, dass man die Quellen der evangelischen Geschichte bisher überhaupt noch nicht mit dem historisch kritischen, oder dem rein geschichtlichen Sinn auf- gefasst habe , welcher allein den Schlüssel ihres richtigen Ver- ständnisses geben kann. Je schärfer man die Schriften darauf ansah, was sie selbst über ihre Herkunft uns sagen, um so deutlichere Merkmale einer späteren Zeit ihrer Entstehung ent- deckte man, und je genauer man sie unter einander verglich, eine um so grössere Verschiedenheit stellte sich unter den Ver- fassern der einzelnen Schriften heraus. Da die grösste Verschie- denheit sich in allem demjenigen zeigt, was die Person Jesu und das Verhältniss des Christenthums zum Judenthum, über- haupt die Auffassung des christlichen Princips betrifft, so er- hellt schon hieraus , in welchem engen Zusammenhang die For-

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Geschichte der nc utes tamentl. Theologie. !2J

schungen der neutestamentlichen Kritik mit der Fortbildung der neutestamentlichen Theologie stehen, und wie die Resultate der einen immer wieder durch die der andern bestätigt werden.

Fassen wir diess näher in's Auge, so kommen dabei haupt- sächlich zwei Momente in Betracht. Das erste betrifft die Dar- stellung der Lehre Jesu, Da wir die Lehre Jesu nicht aus einer unmittelbaren Ouelle, sondern nur mittelbar aus der Darstel- lung der neutestamentlichen Schriftsteller kennen, so fällt von selbst in die Augen, welcher grosse tief eingreifende Unter- schied es ist, ob man annimmt, die Verfasser der Quellenschrif- ten der Lehre Jesu seien als Augen- und Ohrenzeugen dem Gegenstand ihrer Darstellung so nahe gewesen, dass wir den Inhalt ihrer Schriften als eine einfache, rein historische Rela- tion anzusehen haben, bei welcher alles, was sie als Ausspruch und Lehre Jesu geben, ganz so wieder gegeben ist, wie sie es selbst unmittelbar oder mittelbar aus dem Munde Jesu empfan- gen haben, oder ob man sie von der Zeit, die sie beschreiben, durch einen Zwischenraum trennen muss, in welchem so Vieles dazwischen liegen kann, wodurch der ursprüngliche Thatbe- stand mehr oder minder verändert worden ist. Jeder, der dem Gang der neuern kritischen Untersuchungen ohne dogmatische Vorurtheile und Voraussetzungen gefolgt ist, kann sich nur auf die letztere Seite stellen. Es ist schlechthin unmöglich , wenn man nicht jedes wissenschaftlich kritische Bewusstsein verläug- nen und alle Resultate der Kritik schlechthin negiren will, die Verfasser der Evangelien für blosse Referenten der Lehre uhd Geschichte Jesu zu halten. Man denke nur an die in dieser Be- ziehung wichtigste Frage über das Verhältniss des johanneischen Evangeliums zu den synoptischen. Wie ist es möglich, zwei so verschiedene und ihrer ganzen Richtung nach so weit ausein- ander gehende Darstellungen der evangelischen Geschichte so einander gleichzustellen, dass die eine wie die andere als eine gleich lautere Quelle d^r Lehre und Geschichte Jesu anzusehen

99 Einleitung.

wäre? Man muss sich daher entscheiden; hat man sich aber bisher gewöhnlich nur zum Nachtheil der synoptischen Evan- gelien entschieden und das johanneische vorzugsweise als den unmittelbarsten und urkundlichsten Ausdruck der reinen Lehre Jesu betrachtet, so kann man jetzt nach allem, was bisher noch immer das unwiderlegte und wohl auch unwiderlegliche Ergeb- niss der neuesten Untersuchungen ist, nur der entgegengesetz- ten Ansicht sein. Man kann aus dem Dilemma, dass die Wahr- heit der evangelischen Geschichte nur entweder auf der Seile der Synoptiker oder nur auf der Seite des Johannes zu suchen sei, nur dadurch herauskommen, dass man sich überzeugt, das johanneische Evangelium sei überhaupt ein Evangelium ganz anderer Art, als die synoptischen , es sei von Anfang an auf eine Darstellung angelegt, die mit einem streng geschichtlichen Charakter nicht vereinbar ist. Wo man daher nach der bisher gewöhnlichen Ansicht in den ebenso zahlreichen als ausführ- lichen und inhaltsreichen Reden Jesu bei Johannes die reichste Quelle für unsere Kenntniss der eigentlichen Lehre Jesu zu haben glaubte, schliesst sich uns zwar auch ein sehr eigen- thümlicher Lehrbegriff auf, wir sind aber nicht berechtigt , ihn für die Lehre Jesu selbst zu halten, wir können in ihm nur die Auffassungsweise des Evangelisten erblicken, und je höher die Entwicklungsstufe des christlichen Bewusstseins ist, welcher ein so ausgebildeter Lehrbegriff angehört , um so grösser muss auch der Zeitunterschied gewesen sein, welcher ihn von der Person Jesu trennte. Aber auch die Verfasser der synoptischen Evangelien kann man sich in keinem so nahen Zeitverhältniss zu dem Gegenstand ihrer Darstellung denken, wie man gewöhn- lich annimmt. Den ersten Anspruch auf den Charakter einer historisch-treuen und authentischen Darstellung der evangeli- schen Geschichte macht noch immer mit Recht das Matthäus- evangelium, obgleich das griechische Matthäusevangelium in der Form, in welcher es im Kanon steht, nicht für das Ursprung-

Geschichte der ne utestamentl. Theologie. S3

liehe gehalten werden kann. Welche Ansicht man auch von dem alten Hebräerevangelium und von der in sehr natürlichem Zusammenhang damit stehenden Nachricht haben mag, dass Matthäus sein Evangelium in hebräischer Sprache geschrieben habe, so viel scheint aus den neuesten Untersuchungen mit gutem Grunde als gemeinsames Resultat hervorzugehen, dass in unserem kanonischen Matthäusevangelium zwischen einer Grundschrift und einer spätem Bearbeitung zu unterscheiden ist. Der Grundschrift gehören* die judaisirenden Bestandtheile des Evangeliums an, der Überarbeitung die freieren und univer- selleren. Hat nun das Evangelium seinen Namen nicht ohne Grund von Matthäus, so muss er der Verfasser der Grundschrift sein, oder wenigstens einen sehr nahen Antheil an ihr gehabt haben. Wie aber in dem Evangehum zwischen der Grundschrift und der Überarbeitung zu scheiden ist, was der einen oder der andern angehört, diess bleibt für die specielle Forschung, die hier allein entscheiden kann, eine so offene Frage, dass dadurch in jedem Fall der apostolische Charakter des Evangeliums eine sehr bedeutende Einschränkung erleidet. Auch bei den judai- sirenden Bestandtheilen des Evangeliums ist sehr darauf zu sehen, dass man nicht zur ursprünglichen Lehre Jesu rechne, was nur das Gepräge des erst nach dem Tode Jesu sich bestimm- ter gestaltenden Judaismus an sich trägt. Da das Lucasevange- lium das Matthäusevangelium und zwar nicht blos in der Grund- schrift, sondern auch in einer seiner Bearbeitungen zur Vor- aussetzung hat, so kann es gleichfalls in keine sehr frühe Zeit gesetzt werden ; dazu kommt aber noch ganz besonders , dass es als ein so entschieden paulinisirendes Evangelium schon unter den Gesichtspunkt eines über das Urchristenthum hinaus- liegenden Gegensatzes zu stellen ist. Das Marcusevangelium kann ohnediess wegen des Abhängigkeitsverhältnisses, in wel- chem es nach der Ansicht, die immer noch die weit überwie- gende Wahrscheinlichkeit für sich hat, zu den beiden andern

PI .jiauiuyrfT Einleitung.

Evangelien steht, nicht als selbstständige Ouelle in Betracht kommen. Indem auf diese Weise das Verhällniss der drei syn- optischen Evangelien zu den Thatsachen der evangelischen Ge- schichte ein mehr oder minder durch Zwischenglieder vermit- teltes wird, können sie auch nicht die volle Bedeutung einer authentischen Quelle der Lehre Jesu haben. Wo man dieselbe in ihrer Unmittelbarkeit zu haben glaubt, sieht man sie viel- mehr in eine Ferne entrückt, welcher gegenüber man nur an- näherungsweise bestimmen kanh, was ihr wahrer Inhalt gewe- sen sein mag, da es ja immer nur der Reflex der Subjectivität der Schriftsteller ist, durch deren Darstellung sie für uns ver- mittelt wird. Je weniger wir die Verfasser der vier Evangelien, so betrachtet, für blosse Referenten halten können, um so mehr erhalten sie dagegen die Bedeutung von Schriftstellern, deren Schriften selbst wieder eine Quelle der neutestamentlichen Theo- logie sind. In jedem der vier Evangelien stellt sich das Be- wusstsein d.er Zeit, welcher sie angehören, in einer neuen eigenthümlichen Gestalt dar, und je weiter wir sie nach der Verschiedenheit der Zeit ihrer Entstehung und der Individua- lität ihrer Verfasser auseinanderhalten müssen, um so wichtigere Urkunden werden sie für die Entwicklungsgeschichte der neu- testamentlichen Theologie. Was aber die Lehre Jesu selbst be- trifft, so kann auf dem jetzigen Standpunkt der neutestament- lichen Kritik nur eine solche Darstellung für die principiell richtige gehalten werden, welche nicht das johanneische Evan- gelium, sondern die synoptischen zu ihrer Grundlage macht. So sehr wir auch bei den letztern alle Ursache zur Vorsicht haben, so enthalten doch sie allein die relativ zuverlässigsten Data, aus welchen die Lehren und Grundsätze Jesu zu eiitnehmen sind. Eine Darstellung der. Lehre Jesu, welche, wie die Neander'sche, in dem Leben Jesu nur den apologetischen Zweck hat, im Ge- gensatz gegen die Strauss'sche Kritik die johanneische Ghrislo- logie in ihrer unbedingten Auctorität aufrecht zu erhalten, ist

Gesohiohte der nentestamentl. Theologie.

von vorn herein eine so sehr verfehlte^ dass es gar nicht mög- lich ist, von einer solchen Grundlage aus dem geschichtlichen Entwicklungsgang der neutestamentlichen Theologie zu folgen. Hier, wenn irgendwo, gilt es, die Grundsätze der historischen Kritik in ihrer ganzen Strenge zur Anwendung zu bringen.

Das Zweite, woran hier noch zu erinnern ist, betrifft die Lehre der Apostel. Von selbst versteht sich, dass von der An- sicht, die man von der Lehre Jesu hat, auch das Verhältniss abhängt, in das man die Lehre der Apostel zu der Lehre Jesu setzt. Je strenger zwischen der Subjectivität der darstellenden Schriftsteller und der Objectivität des Gegenstandes ihrer Dar- stellung unterschieden wird, um so grösser wird die Beschrän- kung sein, welche das Gebiet der Lehre Jesu an Umfang und Inhalt erleidet, und je mehr diess der Fall ist, um so mehr wird in demselben Verhältniss das Gebiet der Lehre der Apostel sich erweitern. Aber welche ganz andere Vorstellung muss man sich überhaupt von der Lehre der Apostel machen, wenn man nicht mehr, wie diess bisher die gewöhnliche Meinung war, jeden den Namen eines Apostels führenden Brief des Kanon als solchen auch für eine acht apostolische Schrift halten kann, wenn man selbst in der Reihe der paulinischen Briefe zwischen ächten und unächten unterscheiden muss, sich überhaupt in einem bedeutenden Theil der kanonischen Briefe aus dem apo- stolischen Zeitalter in das nachapostolische versetzt sieht, und selbst von der apostolischen Zeit nicht die Meinung haben kann, dass in ihr nur Einheit und Harmonie geherrscht habe und an keine Verschiedenheit der Lehre und Ansicht zu denken sei? Je mehr auf diese Weise schon der Zeitraum, welchen die neu- testamentliche Theologie in sich begreift, an Ausdehnung ge- winnt, um so mehr kann sie auch innerhalb desselben sich in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Formen entwickeln. Es be- ginnt so schon auf dem Boden der kanonischen Schriften der- selbe Process einer geschichtlichen Entwicklung des christlichen

4MI Einleitung.

Dogma, dessen unmittelbare Fortsetzung sodann die christliche Dogmengeschichte ist. Die neutestamentliche Theologie ist so erst in der Lage, den rein geschichtlichen Begriff, der wesent- lich zu ihr gehört, zu seiner vollen Geltung kommen zu lassen. Hat das dogmatische Vorurtheil, dass nicht nur die Lehre Jesu und die der Apostel ein schlechthin mit sich identisches Ganzes bilden, sondern auch die apostolischen Lehrbegriffe vollkom- men unter sich zusammenstimmen, bisher noch immer zu sehr eingewirkt, glaubte man immer wieder, wenn man auch die sich von selbst herausstellenden Unterschiede nicht ganz über- sehen und verkennen konnte, sie nur als verschwindende, sich von selbst in die Einheit des Ganzen auflösende Momente be- trachten zu können, so findet jetzt vielmehr das entgegenge- setzte Interesse statt.

Man erwäge in dieser Beziehung nur, wie illusorisch auch noch in der Ne an der 'sehen Darstellung der apostolischen Lehre, in dem zweiten Theil der Geschichte der Pflanzung und Leitung der christlichen Kirche durch die Apostel die Unter- scheidung mehrerer apostolischer Lehrbegriffe ist. Neander thut sich zwar viel darauf zu gut, in dem Entwicklungsgang der ursprünglichen christlichen Lehre besonders drei eigenthümliche Grundrichtungen zu unterscheiden, die paulinische, die jako- bische, zwischen welchen die petrinische als vermittelndes Glied erscheine, und die johanneische. Diese Verschiedenheit habe eben dazu dienen sollen, dass sich offenbarte wie die lebendige Ein- heit, der Reichthum und die Tiefe des christlichen Geistes in der Mannigfaltigkeit der ohne Absicht einander gegenseitig er- gänzenden und^ erläuternden menschlichen Auffassungsformen, so die Bestimmung und Fähigkeit des Christenthums, die ver- schiedensten Richtungen menschlicher Eigenthümlichkeit sich anzubilden, sie zu verklären und durch eine höhere Einheit mit einander zu verbinden u. s. w. Was ist aber diese Neander'sche Einheit und Mannigfaltigkeit des christlichen Geistes anders als

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GeBchichte der neutestamentl. Theologie. ^7

eine höchst unklare und vage Vorstellung? Der ganze Unter- schied zwischen Paulus und Johannes soll nur darin bestehen, dass der eine dialectischer ist als der andere; die Lehrform des Jakobus ist zwar der des Paulus am meisten entgegengesetzt, aber sie lässt sich doch auf die Einheit desselben Geistes zu- rückführen, und die Gegensätze lösen sich auf, wenn man nur die verschiedenen Beziehungen, in welchen das Eine und das Andere gesagt ist, wohl unterscheidet. Wie wenn diess nicht am Ende von allen Gegensätzen der christlichen Lehre mehr oder minder gesagt werden könnte! Ehe man aber nach der Einheit des christlichen Geistes fragt, will man vor allem wis- sen, wie es sich mit dem Unterschied verhält. Hier bleibt bei aller Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit alles immer wieder dasselbe. Man will es zu keinem realen Unterschied kommen lassen, weil man fürchtet, es möchten sich auch Gegensätze her- ausstellen, bei welchen man sich gestehen muss, dass auch in der apostolischen Kirche nicht alles so rein und lauter gewesen sei, wie man sich einbildet, dass es gewesen sein müsse. Die wahrhaft geschichtliche Betrachtung hat kein solches Interesse, es ist ihr nur darum zu thun, das Leben der Geschichte in seiner concreten Wirklichkeit so erscheinen zu lassen, wie es objectiv ist mit allen seinen Unterschieden und Gegensätzen.

Je reiner die neutestamentliche Theologie in allen diesen Beziehungen ihren geschichtlichen Charakter in sich darstellt, um so mehr ist es denn auch an der Zeit, den abstracten For- malismus, welcher ihr von ihrem Zusammenhang mit der Dog- matik noch anhängt, vollends von ihr abzustreifen. Wozu die Eintheilung in eine Offenbarungslehre, allgemeine Glaubens- lehre, Heilslehre und sodann weiter in die Lehre von Gott, seinem Wesen an sich, seinem Verhältniss zur Welt, seiner Dreieinigkeit, von den Engeln und Dämonen, dem Menschen u. s. w., wozu überhaupt der ganze Schematismus, wie er noch der De Wette'schen und Cölln'schen Darstellung zu Grunde

IK Einleitung.

liegt? Alles diess dient nur dazu, der neutestainentlichen Theo- logie» in der ganzen Reihe ihrer Erscheinungen eine Gleich- förmigkeit aufzudringen, die ihr fremd ist. Vom geschichtlichen Standpunkt aus stellen sich uns die verschiedenen Lehrbegriffe als ebenso viele individuelle Gestaltungen dar, deren jede auf einer eigenthümlichen Grundanschauung beruht, von welcher aus der ganze Inbegriff der zusammengehörenden Vorstellun- gen in seinem natürlichen Zusammenhang sich entw^ickeln lässt. Je bestimmter der Grundcharakter jedes Lehrbegriffs sich zu erkennen gibt, um so klarer wird dadurch auch, wie der eine durch den andern bedingt ist, man sieht um so tiefer in den Zusammenhang des Ganzen hinein, die neutestamentliche Theo- logie erscheint als ein lebendiger Organismus, in welchem jeder Unterschied zu seinem Recht kommt, jede Individualität an ihrer Stelle ist, und je schärfer die Gegensätze sind, die ganze Ent- wicklung nur um so inhaltsreicher ist. Die neutestamentliche Theologie ist daher überhaupt derjenige Theil der geschicht- lichen Theologie, welcher sowohl die Lehre Jesu als die auf ihr beruhenden Lehrbegriffe in dem Zusammenhang ihrer ge- schichtlichen Entwicklung und nach dem eigenthümlichen Cha- rakter, mit welchem sie sich von einander unterscheiden, so- weit darzustellen hat, als diess auf der Grundlage der neutesta- mentlichen Schriften geschehen kann.

Es sind hiemit die Grundsätze entwickelt, nach welchen die neutestamentliche Theologie zu behandeln ist, wenn ihre Darstellung den wissenschaftlichen Anforderungen genügen soll, die auf dem jetzigen Standpunkt der Theologie gemacht werden müssen. Da aber die Grundsätze der neuesten Kritik überhaupt noch den Gegenstand einer sehr controversen Principienfrage bil- den, so kann man sich nicht wundern, dass die neuesten Bearbei- tungen der neutestamentlichen Theologie der hier aufgestellten Idee noch sehr fremd geblieben sind, und beinahe durchaus noch den unkritischen Charakter der früheren Zeil an sich

Geschichte der neutest amentl. Theologie. jJ9

tragen. Es versteht sich von selbst, wie wesentlich anders das Ganze sich gestalten muss, wenn, wie noch immer geschieht, nicht nur der Lehre Jesu das johanneische Gepräge aufgedrückt wird, sondern auch unter Voraussetzung der Ächtheit des Briefs Jacobi und der petrinischen Briefe die apostolischen Lehrbe- griffe eines Jacobus und Petrus an die Spitze der apostolischen Lehrentwicklung gestellt und selbst mit dem auf sie folgenden paulinischen im besten Einverständniss gedacht werden. Je unkritischer man verfährt, um so leichter weiss man immer wieder alles auszugleichen und über jeden Unterschied hinweg- zusehen. Ja es soll diess gerade die tiefere Auffassung sein, deren man sich der modernen Kritik gegenüber rühmt. Denn selbst bei dem Verhältniss zwischen Johannes und den Synop- tikern soll es sich zeigen, „wie ungeachtet alles Unterschieds im Wesentlichen die Einheit in der Tiefe ruhe, wenn man sich nicht durch die Form täuschen lasse, und auch die Form erkläre sich in ihrer Mannigfaltigkeit wieder von selbst." Es ist somit nur eine Täuschung, wenn man in dem Verhältniss der neute- stamentlichen Lehrbegriffe zu einander einen realen Unterschied zu finden glaubt, wornach schon zu ermessen ist, wie wenig es zu bedeuten hat, wenn auch bei dieser Behandlung der neu- testamentlichen Theologie von charakteristisch unterschiedenen Lehrtropen die Rede ist. Der maassgebende Typus dieser vagen Anschauungsweise bleibt immer die Neander'sche Einheit und Mannigfaltigkeit.

Wie sehr es an wissenschaftlicher Schärfe und Präcision fehlt, sieht man auch schon aus der Bestimmung des Begriffs. Schmid, biblische Theologie des neuen Tesfamenfs, 1853, l.Th. S. 3, definirt die biblische Theologie des neuen Testaments als die wissenschaftliche historisch -genetische Darstellung des in den Schriften des neuen Testaments enthaltenen Christenthums. Diese Erweiterung des Begriffs auf das Christenthum überhaupt ist ebenso gegen den hergebrachten Sprachgebrauch als gegen

90 Einleitung.

die Natur der Sache. Man will in der neutestamentlichen Theo- logie nicht wissen, wie es sich mit der Geburt Jesu, seiner Wirksamkeit, seinen Wundern u. s. w. verhält, ebenso wenig, was die Apostel gethan haben, sondern nur, worin ihre Lehre bestand. Soll das Christenthum, d. h. seine Entstehung und Begründung in der Welt historisch-genetisch dargestellt wer- den, so kann man sich der Natur der Sache nach nicht blos auf die Schriften des neuen Testaments beschränken, es gehört, um eine solche Erscheinung geschichtlich zu begreifen, noch so Vieles dazu, was über die Schriften des neuen Testaments hinausliegt; nur die Lehre, die diese Schriften enthalten, ist so für sich abgegrenzt, dass ihre Kenntniss aus keiner andern Quelle als eben nur aus diesen Schriften geschöpft werden kann. Der historische Charakter der neutestamentlichen Theologie, sagt Schmid S. 5, setze sie in ein Verwandtschaftsverhältniss zur geschichtlichen Theologie überhaupt, sie unterscheide sich aber von der Kirchengeschichte, weil ihr Gegenstand die Grün- dung der Kirche sei und das Normirende für die ganze Folge- zeit. Allein aus dem geschichtlichen Charakter der neutesta- mentlichen Theologie folgt keineswegs eine solche Beziehung zur Kirchengeschichte, sondern es erhellt vielmehr gerade dar- aus das Unrichtige der aufgestellten Definition. Hat man das geschichtliche Gebiet der Theologie mit Recht in die beiden Zweige der Kirchengeschichte und der Dogmengeschichte ge- theilt, so ist es nicht die erstere, sondern nur die letztere, zu welcher die neutestamentliche Theologie in einem ihrem Begriff entsprechenden natürlichen Verwandtschafts-Verhältniss steht. In demselben Sinne wird ferner ein grosser Nachdruck dar- auf gelegt, das Christenthum sei nicht blos Lehre, sondern auch Leben, ja durchaus Leben, nemlich das neue göttliche Leben in Christo, also theils das göttliche Leben in der Person Jesu von Nazaret, des Christs, als die Offenbarung des Vaters in dem Sohn auf Erden, theils das von demselben ausgegangene göttliche Le-

Begriff der neatestamentl. Theologie. 31

ben in den an ihn Glaubenden, als die Offenbarung des Vaters durch den Sohn in dem heiligen Geist und zwar in der ursprüng- lichen apostolischen Kirche. Wenn sein Leben ebensowohl wie seine Lehre zur Offenbarung des Vaters durch ihn zu seinem Erlö- sungswerk gehöre, warum die Theologie des neuen Testaments sein Leben nicht ebenso wie seine Lehre als einen integrirenden Bestandtheil in sich aufnehmen wolle? Es liegt auch hier eine sehr unklare Vorstellung zu Grunde. Wie ist es überhaupt zu verstehen, wenn vom Christenthum gesagt wird, es sei durch- aus und wesentlich Leben? Soll damit gesagt werden, das Chri- stenthum sei nichts durch Begriffe Vennitteltes, sondern Gegen- stand der unmittelbaren Lebenserfahrung, thatsächliche Wirk- lichkeit, so kann diess wenigstens nicht vom Urchristenthura gelten, dessen Kenntniss für uns durch so Vieles, das dazwi- schen liegt, vermittelt wird. Leben, nicht blos Lehre ist freilich das Christenthum, sofern es aufThatsachen beruht, durch welche eine neue religiöse Lebensgemeinschaft begründet worden ist; soll aber dadurch die gegebene Definition motivirt werden , so kommt diess nur wieder auf die unrichtige Behauptung zurück, dass es die neutestamentliche Theologie nicht blos mit der Lehre Jesu und der Apostel, sondern mit dem Ursprung des Christen- thums überhaupt zu thun habe. Mit dem Ausdruck Leben glaubt man so zwar etwas sehr Tiefes und Bedeutungsvolles zu sagen, sobald man aber die Sache näher betrachtet, ist es nur ent- weder etwas sehr Gewöhnliches oder etwas sehr Schiefes.

Auf ähnliche Weise verhält es sich mit dem Ausdruck Be- wusslsein, wie er gleichfalls zur Bestimmung des Begriffs der neutestamentlichen Theologie gebraucht worden ist. Hahn, Theo- logie des neuen Testaments, 1854. 1. Band S. 1, deflnirt die Theologie des neuen Testaments als die treue und wissenschaft- liche Beschreibung des religiös-sittlichen Bewusstseins der christ- lichen Kirche im apostolischen Zeitalter, wie dasselbe aus den Schriften des neuen Testaments erkennbar sei, oder die Be-

du» Einleitung.

Schreibung des christlichen Bewusstseins, wie dieses sich im Kreise der Apostel und Apostelschüler gestaltete im Gegensatz zu allen spätem Gestaltungen desselben. Gegenstand der neu- lestamentlichen Theologie ist so zwar nicht das Urchristenthum überhaupt, sondern nur das in den Schriften des neuen Testa- ments ausgesprochene christliche Bewusstsein; ist aber nicht auch diess ein zu weiter und vager Begriff, gehört zum christ- lichen Bewusstsein der apostolischen Kirche nicht auch Man- ches, wornach in der Theologie des neuen Testaments nicht ge- fragt werden darf, wie z. B. was sich auf die Ascese, das sociale Leben der ersten Christen, die Verfassung der Kirche bezieht? Offenbar wird der Ausdruck Bewusstsein aus dem Grunde ge- braucht, um in ihm das in den Hintergrund zurücktreten zu lassen, was für die neutestamentliche Theologie ihrem Begriff nach gerade die Hauptsache sein muss, die reale Verschiedenheit der Lehrbegriffe. Man spricht von dem Bewusstsein der apo- stolischen Kirche, um das Hauptgewicht sogleich nicht auf den Unterschied, sondern auf die Einheit zu legen, und von der Voraussetzung der Einheit geht man aus, weil man sonst den Inhalt der Schriften des neuen Testaments nicht als eine über- natürlich geoffenbarte Lehre behandeln könnte, zu welcher man sich nur glaubig zu verhalten hat. Dass diess der Standpunkt der Hahn'schen Theologie des neuen Testaments ist, erhellt aus ihrer Bestimmung des Verhältnisses, in das sie die neutesta- mentliche Theologie zur Dogmengeschichte setzt. Die Theologie des neuen Testaments, wird gesagt S. 7, entwickle eine religiös- sittliche Anschauung, die ihrem ganzen Umfang nach Product göttlicher Offenbarung sei, die Dogmengeschichte habe es mit einer Entwicklung zu thun, die zwar im Christenthum ihren Anstoss erhalte und in ihm ihren steten Impuls habe, nicht aber, wie jene, auf einem schon geebneten und durch Gott in ausser- ordentlicher Weise zubereiteten, sondern auf völlig wildem Bo- den erwachse, der vorher in keiner Weise für das Christenthum

Begriff der neatestamentl. Theologie. 33

unmittelbar bearbeitet gewesen sei. Daher habe denn auch jene eine Anschauung zu entwickeln, die ihrem ganzen Umfang nach die wahre sei, diese habe es mit einer Entwicklung zu thun, die durch mannigfache Irrungen hindurch die im neuen Testament ungetrübt enthaltene Wahrheit erst allmählig zu erringen suche. Das Falsche dieses Standpunkts liegt hier klar vor Augen. Statt dass nach dieser Auffassung neutestamentliche Theologie und Dogmengeschichte in Hinsicht ihres Gegenstandes sich zu einander verhalten wie die reine absolute Wahrheit und die durch Irrthum getrübte, muss man vielmehr sagen, die neute- stamentliche Theologie sei auch schon Dogmengeschichte, die christliche Dogmengeschichte in ihrem Verlauf innerhalb des neuen Testaments. Wie man bei der Dogmengeschichte nicht fragt, ob das, was sie darzustellen hat, auch an sich wahr ist und von uns selbst zum Gegenstand des Glaubens gemacht wer- den muss, sondern nur, was überhaupt gelehrt worden ist, nicht was wir selbst glauben sollen, sondern nur, was Andere für wahr gehalten und geglaubt haben, so verhält es sich auch mit der neutestamentlichen Theologie. Man will nur wissen, was die Schriften des neuen Testaments als Lehre enthalten, und welche Formen in ihrem Lehrinhalt durch ihre charakteristische Eigenthümlichkeit sich unterscheiden. Geht man nicht von die- sem Gesichtspunkt aus, so ist die erste Forderung, die man an die neutestamentliche Theologie machen muss, rein illusorisch. Wie ist eine geschichtliche Behandlung möglich, wenn man in der Geschichte nur das finden will, was man zu glauben hat, und der Geschichte voraus vorschreibt, was sie enthalten soll. Diess geschieht, wenn man von der Voraussetzung ausgehl, die sämmllichen Schriften des neuen Testaments enthalten von Anfang bis zu Ende nichts als reine OfFenbarungslehre, sie unterscheiden sich dadurch von allen andern Schriften, dass ihr Inhalt vermöge ihres Offenbarungscharakters reine ungetrübte Wahrheit ist. Wo Wahrheit ist, muss auch Einheit und Ober-

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Banr, neut«8t. Theol. **

34 Einleitung.

cinstimmung sein; stiiiimt also in dem gesainmlen Inhalt der neutestamentlichen Schriften alles so mit sich zusammen, dass der Lehrinhalt aller dieser Schriften nur Ein Ganzes bildet, so kann es auch keine Verschiedenheit von Lehrbegriffen geben, weil eine solche nicht möglich ist, ohne dass möglicher Weise auch Gegensätze und Widersprüche stattfinden, welche die Ein- heit des Ganzen aufheben. Dazu darf es demnach eine vom Offenbarungscharakter der Schrift ausgehende Behandlungsweise der neutestamentlichen Theologie nicht kommen lassen, sie muss vielmehr immer darauf bedacht sein, jeden Unterschied, der sich ihr in der Auffassung des Lehrinhalts der Schrift heraus- stellt, nicht als einen reellen, sondern als einen blos schein- baren zu betrachten, als einen solchen, der in der Einheit des Ganzen zuletzt immer wieder verschwinden muss. Diess ist der unhistorische Charakter der Hahn'schen Theologie des neuen Testaments. Zwar hebt auch Hahn als Haupteigenschafl der neutestamentlichen Theologie hervor, dass sie eine rein histori- sche Wissenschaft sei: sie wolle blos darstellen, gehe nicht von vorn herein von einer bestimmten Anschauung aus, es sei ihr alles erst Gegenstand der Untersuchung. Welche grössere Voraussetzung kann es aber geben, als diese, dass der Inhalt der Schrift schlechthinige Offenbarungslehre ist? Geht man davon aus, so hört ebendamit jede geschichtliche Betrachtung auf. Man hat nur einen Inbegriff von Lehren vor sich, in wel- chem alles und jedes dieselbe Geltung und Bedeutung hat, es ist völlig gleichgültig, aus welchen Schriften und Schriftstellen das Ganze zusammengesetzt wird. Auch nach dieser Ansicht soll zwar nicht blos Einheit, sondern auch Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit sein. Die Theologie des neuen Testaments habe es, wird gesagt, mit einem Dreifachen zu thun: i. mit der Darstellung des dem ganzen neuen Testamente zu Grunde lie- genden Begriffsystems; 2. mit der Darstellung der Art und Weise, in der sich bei der wesentlich Einen Grundanschauung doch

Begriff der n eu testamentl. Theologie. 35

verschiedene Lehrbegriffe haben ausbilden können, oder mit der Darstellung der Entwicklung der religiös-sittlichen Anschauung im apostolischen Zeitalter, so weit das neue Testament darüber Aufschluss ertheilt; 3. mit der Darstellung der einzelnen Lehr- begriffe, als der Bewusstseinsgestalten, welche aus dieser Ent- wicklung hervorgegangen sind. Welches Interesse kann es aber haben, noch von verschiedenen Lehrbegriffen zu reden, wenn ein Begriffsystem vorangestellt wird, in welchem nach der Reihe der dogmatischen Lehrartikel die Lehre von Gott, der Welt, den Engeln, dem Menschen u. s. w. abgehandelt und bei jedem derselben alles eingereiht wird, was die betreffenden Schrift- steller vom ersten der neutestamentlichen Bücher bis zum letz- ten darbieten ? Mag man auch die neutestamentlichen Schriften nach dem Grade ihrer Verwandtschaft classificiren und nach Maassgabe dieser Classification mehrere Lehrbegriffe unterschei- den, einen paulinischen, johanneischen, populären, hellenisti- schen: es lehrt jeder immer wieder dasselbe, weil alle zusam- men dasselbe System bilden; die Christologie des Paulus ist keine andere als die des Johannes, die des Paulus und Johannes keine andere, als die des Jacobus und Petrus; wozu also noch diese Unterscheidung? Die Einheit ist in jedem Fall so über- wiegend, dass die Verschiedenheit in ihr verschwindet, es sind nur verschiedene Namen für dieselbe Sache. Macht doch Hahn selbst der Schmid'schen Theologie des neuen Testaments den Vorwurf, dass in ihr die Einheit der durch das neue Testament hindurchgehenden, bei allen einzelnen Schriftstellern sich wie- derfindenden Grundanschauung gar nicht zu ihrem Rechte komme ! Wie deutlich ist hieraus zu sehen, dass diese unkritische Be- handlungsweise statt fortzuschreiten, nur Rückschritte machen kann!

Auch die beiden neuesten Werke über neutestamentliche Theologie, Messner, die Lehre der Apostel, 1856, und Lech- ler, das apostolischf und das nachaposfolische Zeitalter mit

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3^ Einleitung.

Rücksicht auf Unterschied uud Einheit in Lehre und Leben, 1857, gehören ganz einem Standpunkt an, auf welchem es bei allem Gerede über die Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der apostolischen Lehrbegriffe doch nie zur Anerkennung eines wahren und wirklichen Unterschieds kommt. Es steht ja voraus fest, dass es nur Unterschiede aber keine Gegensätze geben darf. Die Unterschiede innerhalb der apostolischen Lehre, sagt Messner S. 31 , bestehen keineswegs blos in der Verschieden- heit der einzelnen Begriffe und Ideen, sondern sie haben vor allem ihren Grund darin, dass die einzelnen Apostel die ganze Erscheinung und das Werk Christi unter einem verschiedenen Gesichtspunkt auffassen. Die Erkenntniss von einer Ver- schiedenheit apostolischer Lehrarten im neuen Testament zeigt uns, dass auf demselben Glaubensgrunde verschiedene Lehr- bildungcn möglich sind, welche sich gegenseitig zu ergänzen bestimmt sind. Es ist dadurch einer durch die menschliche Eigenthümlichkeit und den Bildungsgang bedingten Verschie- denheit in der Auffassung und Darstellung der göttlichen Wahr- heit ihr Recht gesichert, so lange nur die auf diese Weise ent- stehenden Verschiedenheiten nicht zu einander ausschliessenden Gegensätzen werden, S. 38. Woher weiss man aber voraus schon, dass es innerhalb einer solchen Entwicklung zu keinen Gegensätzen kommen kann? Um das Verhältniss, in welchem die verschiedenen Lehrbegriffe zu einander stehen, näher zu bestimmen, sagt Messner S. 55, eine Verschiedenheit zwischen den apostolischen Lehrtropen, mit welcher an Tiefe und Um- fang keine andere verglichen werden könne, sei dadurch be- dingt, dass die einen das Verhältniss zwischen den beiden Bünd- nissen vorzugsweise von Seiten der Einheit beider auffassen, den Unterschied zwischen denselben zwar keineswegs verken- nen, aber doch nicht mit derselben Vorliebe hervorheben, wäh- rend die Andern allerdings die Einheit beider Offenbarungen voraussetzen, aber mit Vorliebe sich doch der Seite des Unter-

Begriff der neutestament 1. Theologie. ST""

schieds zwischen denselben zuwenden und diese zum Gegen- stand ihrer Darstellung dor christlichen Wahrheit machen, d. h. es handelt sich auf beiden immer nur um ein Plus und Minus. Ist es aber auch nur der Unterschied eines Plus und Minus, wenn die Einen die jüdische Beschneidung für nothwendig zur Seligkeit erklären, die Andern darin eine Vefläugnung des Christenlhums sehen? Entweder niuss man also diese Thatsache läugnen oder jene Bestimmung des Unterschieds für unrichtig halten. Da man sich zu dem Letztern nicht entschliessen kann und keinen andern als einen blos relativen Unterschied zugeben zu können glaubt, so erhellt hieraus, wie wenig auf diesem Standpunkt die geschichtliche Wirklichkeit zu ihrem Rechte kommt. Ob man sodann die Lehrbegriffe des Jacobus und Pe- trus mit Messner dem paulinischen voranstellt, oder mit Lechler dem letztern folgen lässt, ist völlig gleichgültig, da es in dem einen Fall so wenig als in dem andern zu einer wahren Ent- wicklung kommt. Das Schwanken dieser Theologen über die Aufeinanderfolge der LehrbegriflFe hat ebendann seinen Grund^ dass sich bei ihrem Verfahren nirgends klare und feste Unter- schiede herausstellen können. Überall ist es hier nur darauf abgesehen, jeden Unterschied abzuschwächen und alles glatt und eben zu machen. Messner lässt doch wenigstens dahin- gestellt, ob neben dem für johanneisch gehaltenen Evangelium auch die Apokalypse johanneisch ist, für Lechler ist auch die Identität des LehrbegrifFs der Apokalypse mit dem des Evan- geliums ausser Zweifel. Lechler sieht überhaupt in den neueren Forschungen und Ansichten nicht blos die geschichtliche Wahr- heit verkehrt, sondern auch die Ehre Gottes, die Würde des Erlösers, die Einheit des heiligen Geistes angetastet und das Interesse des Glaubens beeinträchtigt CS. 4). Wer so urtheilt, sollte wenigstens nicht von einer freien Forschung reden, die zuletzt die Wahrheit an's Licht bringen werde. Was ist denn noch frei für die Forschung, wenn alles voraus schon so ent-

3S Einleitung.

schieden und an 's Licht gebracht ist, dass man sich über die abweichenden Ansichten Anderer, wie wenn nicht auch sie auf wissenschaftlichem Wege die Wahrheit erforschen wollten, die absprechendsten Urtheile erlauben darf. Unkritischer, be- schränkter, oberflächlicher ist die neutestamentliche Theologie nicht leicht behandelt worden, als von Lechler in der genannten Schrift, bei aller Prätension, die das Werk macht.

Wenn man die neutestamentliche Theologie streng nach ihrem geschichtlichen Begriff behandelt, so ist es nicht genug, mehrere Lehrbegriffe zn unterscheiden und sie, wenn auch in einer gewissen Zeitfolge, neben einander zu stellen, sondern es muss auch ein Fortschritt der Entwicklung nachgewiesen wer- den, welcher um so bedeutender sein wird, je grösser der Zeit- raum ist, auf welchen sich die neutestamentliche Theologie er- streckt. Da nun die neutestamentliche Theologie ganz auf den in den Schriften des neuen Testaments gegebenen Quellen be- ruht, so kann der Zeitraum, welchen sie umfasst, nur nach der Zeit bestimmt werden, in welche die Abfassung der sie betreffenden Schriften fällt. Würde es sich daher mit dem Ur- sprung dieser Schriften ganz so verhalten wie die gewöhnliche Meinung annimmt, so wäre der Zeitraum, welchen sie in der Entwicklungsgeschichte des Christenthums einnimmt, dem Um- fang nach sehr beschränkt; es wäre kaum möglich, die Ent- wicklung der neu testamentlichen Theologie in verschiedene Perioden zu theilen, da die Verfasser der Schriften so ziemlich zu einer und derselben Zeit lebten, wodurch voraus schon nicht wahrscheinlich wird, dass sich in dem Verhältniss ihrer Lehr- begriffe zu einander sehr bedeutende Differenzen hervorgethan haben. Beides steht ja in einem sehr natürlichen Zusammen- hang: je grösser der Zeitraum ist, welchen die Geschichte der neutestamentlichen Theologie in sich begreift, um so grösser werden auch die Unterschiede und Gegensätze sein, durch die 9W bindurchgeht, und je weniger die^s der Fall ist, um so

Eintheilung der neu testamentl. Theologie. 39

kürzer wird der Zeitraum sein, welchen sie mit ihrem Inhalt ausfüllt; wenigstens wird man, je weniger man geneigt ist, wirkliche Differenzen und Gegensätze anzuerkennen, auch um so weniger ein Interesse haben, über die Grenzen hinauszu- gehen, die sich die Schriften selbst durch ihre angeblichen Verfasser setzen, und dasselbe Verhältniss wird im umgekehr- ten Falle stattfinden. Es hängt somit überhaupt die Periodi- sirung der Geschichte der neuteslamentlichen Theologie, abge- sehen von der Lehre Jesu, welche, wie sich von selbst versteht, auf der Grundlage der synoptischen Evangelien die erste Periode bildet, ganz von der Frage nach dem Ursprung der Quellen- schriften ab.

Lechler setzt als die erste Periode schon die Zeit vor der Bekehrung des Apostels Paulus. Wie viel Sicheres lässt sich aber über eine Periode sagen, deren einzige Quelle eine Schrift von so zweifelhafter Glaubwürdigkeit ist, wie die Apostelge- schichte. Der Unterschied der kritischen und unkritischen Auf- fassung zeigt sich sclM)n hier in seinem Einfluss auf das Ganze.. Wer den Charakter der Apostelgeschichte kennt, kann auch schon die ersten Kapitel nicht für eine einfache Relation dessen halten, was die Apostel damals gedacht und gelehrt haben, es reflectirt sich auch darin die Anschauung des Schriftstellers. Was jene Kapitel enthalten, erhält seine Bedeutung erst im Zu- sammenhang mit demjenigen, was sich aus den Briefen des Apostels Paulus als Gegensalz zu seiner Lehre ergibt.

In die erste Periode der nach dem Tode Jesu beginnenden Zeit kann man nur die paulinischen Briefe und die Apokalypse setzen, aber auch die paulinischen Briefe erleiden hier sogleich eine kritische Beschränkung. Als acht paulinische Briefe kön- nen nur die vier gelten, die in jedem Fall die Hauptbriefe des Apostels sind, der Brief an die Galater, die beiden Korinthier- briefe und der Brief an die Römer, ohne allen Zweifel die älte- sten Schriften des neutestamentlichen Kanons. Die kleinem

40 Einleitung.

paulinischen Briefe stehen nicht nur in allem, was zum Cha- rakter eines paulinischen Briefs gehört, tief unter jenen, die der urkundlichste Ausdruck des paulinischen Geistes sind, und daher auch den sichersten Maasstab zur Beurtheilung von allem, was sich für paulinisch ausgibt, an die Hand geben, sondern sie unterscheiden sich auch in so manchen Vorstellungen auffallend von ihnen, sie können daher nicht so schlechthin mit ihnen zusammengenommen werden. Wollte man sie auch einer spä- tem Lebensperiode des Apostels zuweisen, man würde doch immer in ihnen das ächte Gepräge seines Geistes vermissen müssen. Da sich nun überdiess manche Merkmale späterer Zeit- verhältnisse zu erkennen geben, so ist man berechtigt, sie in die nachapostolische Zeit herabzusetzen. In jedem Fall kann die neuteslamentliche Theologie, wenn sie den paulinischen Lehrbegriff in seiner ganzen Schärfe und Eigenthümlichkeit darstellen will, sich an keine andere Quelle halten, als die zu- erst genannten Briefe. Aus derselben Periode kann dem pau- linischen Lehrbegriff kein anderer zur Seite gestellt werden, als der der Apokalypse, welche, da sie unmittelbar vor der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 geschrieben ist, den schick- lichsten Endpunkt für die erste Periode gibt.

In die zweite Periode gehören neben dem Hebräerbrief die kleineren paulinischen Briefe, von welchen die Pastoralbriefe getrennt werden müssen. Die Gründe, welche den paulinischen Ursprung aller dieser Briefe mehr oder minder unwahrschein- lich machen, können hier nicht näher entwickelt werden. Die Frage über die Ächtheit dieser Briefe ist noch immer ein sehr controverser Punkt der Kritik; für mich steht nach wiederholter Prüfung das kritische Resultat fest, dass diese Briefe der nach- paulinischen Periode angehören. . Auch sehe ich nicht, welches Moment es haben kann, ob man etwa einen Brief, wie 1 Thes- salonicher, den Brief an den Philemon; oder auch den Philipper- brief noch als paulinisch anerkennt, die übrigen aber nicht. Alle

Eintheilung der nentestamentl. Theologie. 41

diese kleineren Briefe tragen im Grunde denselben Charakter an sich, und wenn man einmal auch nur mehrere von ihnen für nicht apostolisch hält, wie schwach ist die Wahrscheinlichkeit für den apostolischen Ursprung der andern. Die neutestament- liche Theologie kann, je schärfer sie die charakteristischen Züge des LehrbegrifFs dieser Briefe hervorhebt, nur um so mehr das kritische Resultat bestätigen. Nach Jahren lässt sich zwar die Entstehung dieser Briefe nicht bestimmen, so viel aber ist wohl mit Recht zu behaupten, dass sie in eine Periode fällt, welche von der Zerstörung Jerusalems bis in die ersten Zeiten des zweiten Jahrhunderts sich erstreckt. Auch bei den noch übri- gen neutestamentlichen Schriften ist es sehr schwierig, genauere chronologische Bestimmungen aufzustellen; es möchte daher rathsamer sein, statt einer weitern Perioden-Abtheilung sie nur so zu classificiren , dass sie mit Ausnahme der johanneischen Schriften, welche in jedem Fall die letzte Entwicklungsstufe bilden , alle zusammen in dieselbe Klasse gesetzt werden. Zu den spätesten Schriften des Kanons gehören neben dem Evan- gelium des Johannes und den johanneischen Briefen unstreitig die sog. Pastoralbriefe, welche deutliche Merkmale des gno- stischen Zeitalters an sich tragen, und der zweite petrinische Brief, dessen Unächtheit so entschieden ist, dass kaum die streng- sten Vertheidiger des Kanon das Gegentheil zu behaupten wa- gen. Dass man aber auch bei den übrigen Schriften den Maas- stab für ihr Alter nicht zu hoch nehmen darf, kann eine neue- stens auf dem Gebiet des apostolischen und nachapostolischen Zeit- alters gemachte Entdeckung zeigen. Der erste Brief des römischen Clemens galt bisher nach der gewöhnlichen Meinung für eine Schrift des ersten Jahrhunderts; man hielt gerade bei ihm jeden Zweifel gegen sein höheres Alter für sehr unberechtigt. Nun ent- hält aber der Brief eine Stelle, durch die er selbst die Zeit seines Ursprungs verräth. Es ist in ihm zuerst das zu den Apokryphen des alten Testaments gehörende Buch .ludith citirt. Nach den

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neuesten Untersuchungen kann das Buch Judith nur als eine verhüllte Darstellung von Begebenheiten angesehen werden, die in die letzten Jahre der Regierung Trajan's fallen und sich auf den damaligen grossen Aufstand der Juden beziehen. Der Clemensbrief kann daher nicht vor dem Jahre 118 geschrieben sein. Sieht man hieraus, dass man überhaupt solche Schriften nicht zu hoch hinaufsetzen und keine" zu günstige Meinung von ihrer Ächtheit haben darf, so kann man unbedenklich auch den ersten petrinischen Brief für ein Product derselben Zeit halten, indem man ja schon bisher ein Hauptkriterium darin erkannte, dass er uns in dieselbe Situation versetzt, die wir in dem be- kannten Briefe des Plinius an den Kaiser Trajan 0 vor uns haben. Der Brief Jacobi ist schwerlich viel älter als der erste petrinische. In dieselbe Periode, die überhaupt nur als die def ersten Decennien des zweiten Jahrhunderts zu bezeichnen ist, gehören die synoptischen Evangelien mit der Apostelgeschichte.

Es lassen sich demnach drei Perioden mit verschiedenen Lehrbegriffen unterscheiden. In der ersten stehen sich die Lehr- begriffe des Apostels Paulus und des Apokalyptikers Johannes gegenüber, in die zweite gehören die Lehrbegriffe des Hebräer- briefs, der kleinern paulinischen Briefe, des Petrus- und Ja- cobusbriefs, der synoptischen Evangelien und der Apostelge- schichte, in die dritte die der Pastoralbriefe und der johan- neischen Schriften.

Es erhellt von selbst, welche wichtige Bedeutung für die neutestamentliche Theologie die kritischen Untersuchungen über die Entstehungszeit und die Verfasser der neutestamentlichen Schriften haben, wie jede dieser Disciplinen auf die Resultate der andern sich stützt. Je weniger sich eine charakteristische Verschiedenheit der Lehrbegriffe verkennen lässt, um so ge-

1) Man sehe dos VertaHsurh Gescbiclitc der oliiiüliiuhen Kirche I. (Christenthum dor drei ersten Jahrhunderte, 1860) f>. 436 ff.

Eintheilnng der neatestamentl. Theologie. 43

neigter wird man sein, auch eine grössere Zeilferne zwischen den sie betreffenden Schriften anzunehmen, und je wahrscheinlicher der spätere Ursprung so mancher Schriften ist, um so weniger kann die Verschiedenheit der Lehrbegrilfe befremden. Hierin liegt der Grund, warum die Gegner der neuesten Kritik gegen die Resultate derselben sich schon auf dem Gebiete der neu- testamentlichen Theologie vorsehen zu müssen glauben. Es ist daher auffallend, wie die neutestamentliche Theologie neuestens darin eher Rückschritte als Fortschritte zu machen scheint, dass man statt die anerkannte Verschiedenheit der Lehrbegriffe wei- ter zu verfolgen und genauer zu bestimmen, vielmehr alles auf eine so viel möglich gleichförmige Einheit zurückzuführen sucht. Das Äusserste, was man auf diesem Standpunkt zugeben kann, bleibt immer die Neander'sche Einheit und Mannigfaltigkeit der neutestamentlichen Lehre. Unter diesem Titel hat kürzlich wie- der J. Köstlin in den Jahrbüchern für deutsche Theologie 2, 1857, S. 327, dem auf dem Gebiet der neutestamentlichen Kritik und Theologie drohenden Riss zu begegnen gesucht. Es gibt, keine reelle Verschiedenheit, sondern nur eine Mannigfaltig- keit, und der Mannigfaltigkeit wird die Einheit der Grundan- schauung so überwiegend vorangestellt, dass jede Differenz nur als eine Modification des Allgemeinen und Gemeinsamen zu betrachten ist. Auf der einen Seite wird zwar der Unterschied neutestamentlicher Lehrtypen so betont, dass, wo von der An- erkennung desselben Umgang genommen wird, eine neutesta- mentliche Theologie gar nicht anerkannt werden soll, auf der andern Seite soll aber aus der Einheit folgen, dass auch die einzelnen Lehren, in welchen sie sich verschieden ausprägte, nicht in wirkliche Gegensätze werden auseinandergehen kön- nen. Schon das Leben und Bewusstsein der judenchristlichen apostolischen Gemeinde habe den Grundcharakter der neuen Lebensgestaltung gehabt, aber innerhalb des Zustandes und Be- wusstseins derer, die in ihrem Glauben an Christus als Ver-

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söhnte und Geistbegabte sich wissen und so der Zukunft des Herrn freudig entgegensehen , haben sich von selbst verschie- dene mögliche einzelne Richtungen und Gestaltungen ergeben, indem einerseits die Gewissheit von dem Heil als einem schon mitgetheilten, andererseits die Aussicht auf eine noch künftige Offenbarung und Vollendung des Heils von Anbeginn an in der Christenheit vorhanden gewesen sei. Die letztere Richtung sei bei Petrus und Jacobus, die erstere bei Paulus und Johannes die vorherrschende gewesen. Was hierüber weiter gesagt wird, ist höchst vag und oberflächlich. Wenn man so sehr das Inter- esse der Einheit hat, so geht man sehr natürlich über die Haupt- punkte hinweg, auf deren Bestimmung es vor allem ankommt. Man kann nicht so schlechthin von der Einheit ausgehen; etwas Gemeinsames bleibt freilich immer als Einheit zurück , ob aber eine solche, durch welche alle Gegensätze ausgeschlossen wer- den, diess ist die Frage, die nur durch die genaueste Unter- suchung der einzelnen Lehrbegriflfe beantwortet werden kann. Es ist höchst willkürlich, wenn man meint, es sei überall nur Einheit und Übereinstimmung, und man habe daher nur von einer Einheit und Grundanschauung auszugehen, nach welcher sich alles Andere richten muss. Überflüssig ist es jedoch, dar- über im Allgemeinen weiter zu reden; wie es sich wirklich mit der Einheit und Verschiedenheit verhält, kann nur durch die Darstellung der Lehrbegrifffe selbst gezeigt werden.

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Erster Absclinltt.

Die Lehre Jesu.

Wenn man die Lehre Jesu als einen eigenen Bestandtheil der neutestamentlichen Theologie betrachtet, so ist dabei wohl zu beachten, dass sie mit den verschiedenen Lehrbegriffen, in welche die neutestamentliche Theologie sich theilt, nicht in Eine Reihe zusammengestellt werden kann. Nicht nur findet in An- sehung der Quellen, auf welchen unsere Kenntniss der Lehre Jesu beruht, das schon erwähnte Verhältniss statt, dass wir bei den Schriften, an die wir gewiesen sind, immer wieder fragen müssen , wie weit wir uns auf ihre Treue und Glaubwürdigkeit verlassen können, was wir in so verschiedenen und in so manchen wichtigen Punkten von einander abweichenden Darstellungen als das Wahre und Ursprüngliche anzusehen haben, sondern es liegt auch in der Natur der Sache selbst ein sehr wesentlicher Unter- schied. Die Lehre Jesu ist das Principielle, zu welchem sich alles, was den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Theo- logie ausmacht, nur als das Abgeleitete und Secundäre verhält, sie ist die Grundlage und Voraussetzung von allem, was in die Entwicklungsgeschichte des christlichen Bewusstseins gehört, sie ist ebendarum auch das über alle zeitliche Entwicklung Hin- ausliegende, ihr Vorangehende, Unmittelbare und Ursprüng- liche, sie ist überhaupt nicht Theologie, sondern Religion. Jesus ist Stifter einer neuen Religion; was aber das Wesen einer Religion an sich ausmacht, ist nicht ein dogmatisch ausgebildetes Religionssystem, ein bestimmter Lehrbegriff, es sind nur Grund-

40 Erster Abschnitt.

anschauungen und Principien, Grundsätze und Vorschriften, als unmittelbare Aussagen des religiösen Bewusstseins. Auf dieses Ursprüngliche und Unmittelbare müssen wir daher auch hier zurückgehen; alles, was diesen Charakter an sich Irägt, dürfen wir, je weniger er sich verkennen lässt, um so gewisser zur Lehre Jesu rechnen, bei allem Andern dagegen, was schon die Gestalt eines bestimmten Dogma hat, somit überhaupt nicht so- wohl der Sphäre der Religion als der der Theologie angehört, müssen wir immer wieder fragen, ob nicht sich uns darin nicht so- wohl die Lehre Jesu als vielmehr die Lehrweise der Apostel, ein bestimmter, schon über die allgemeine Grundform hinausgehen- der, in seiner dogmatischen Entwicklung begriffener Lehrbegriff zu erkennen gibt. Bei jeder neuen Religion kommt vor allem das Verhältniss in Betracht, in welches sie sich zu den bisher bestehenden Religionsformen setzt; sie wäre keine neue Reli- gion, wenn sie sich nicht auch principiell von ihnen unter- schiede. Diess schliesst jedoch keineswegs aus, dass sie nicht in ihrem Ursprung noch im engsten Zusammenhang mit einer der ihr zunächst vorangehenden sieht und an ihr erst ihr eigent- liches Princip zum bestimmteren Bewusstsein sich entwickelt. Es ist diess der Punkt, von welchem man auch bei der Auf- fassung der Lehre Jesu ausgehen muss.

Nach der evangelischen Geschichte des Matthäus hätte Jesus selbst in der Bergrede, nachdem er die Grundstiinmung des durch ihn geweckten messianischen Bewusstseins in allgemeinen emphatischen Sätzen Matth. 5, 3 16 ausgesprochen hat, sich vor allem über sein Verhältniss zur alttestamentlichen Religion sehr bestimmt erklärt. Man solle nicht glauben, dass er ge- kommen sei, sie aufzuheben; so wenig sei diess seine Absicht, dass er im Gegentheil nur gekommen sei, das Gesetz und die Propheten, d. h. das alte Testament, seinem ganzen Inhalt nach zu erfüllen V. 17. Er hätte sich demnach ganz auf den Boden des alten Testaments gestellt, sein Verhältniss zu demselben

Die Lehre Jesu. Verbal tniss zum A. T. 47

sollte kein destructives, Sündern ein durchaus conservatives sein, so dass er sogar V. 18 die bestimmte Versicherung gibt, bis dass der Himmel und die Erde vergangen sein werden, werde auch nicht ein Jota oder ein Eckchen vom Gesetze vergehen, sw? av TuavTa ysvioTai, d. h. wie man diese Worte gewöhnlich nimmt, bis alle Bestimmungen des Gesetzes wirklich vollzogen und ausgeführt sein werden, wobei demnach als Idee voraus- gesetzt werden müsste, dass das Gesetz solange nicht aufgehoben werden kann, bis es seinem ganzen Inhalt nach zur thatsäch- lichen Wahrheit und Wirklichkeit geworden ist, oder, wie die Worte auch genommen werden können, bis alles geschehen ist, was noch zum gegenwärtigen Weltlauf gehört. Zur Erläuterung des Hauptsatzes wird V. 19 gesagt: wenn nun einer eines dieser kleinsten Gebote aufhebt und lehrt so die Menschen, der wird ein Kleinster heissen im Himmelreich, wer es aber thut und lehrt, wird gross heissen. Der Rangunterschied im Gottesreich ist somit ganz dadurch bedingt, in welchem Umfang das Gesetz mit allen seinen einzelnen Bestimmungen mehr oder weniger beobachtet wird. Der Gegensatz zu Xuctv ist roisiv; erfüllt und verwirklicht wird also das Gesetz dadurch, dass man es hält und befolgt, diess setzt aber voraus, dass man es in seiner fort- dauernden Gültigkeit anerkennt. An den Hauptsatz V. 17, dass das Gesetz nicht aufgehoben, sondern erfüllt und vollkommen realisirt werden soll durch genaue Beobachtung in allen seinen Theilen , schliesst sich V. 20 die Aufforderung an , dass diess demnach erst noch geschehen muss durch die, die Mitglieder des neuen Gottesreiches werden wollen. „Denn wenn nicht eure Gerechtigkeit vorzüglicher ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen." Im Folgenden wird sodann an einzelnen Geboten gezeigt, wiefern die Gerechtigkeit der Jflitger besser sein müsse, als die der Pharisäer, oder worin die Erfüllung des Gesetzes bestehe. Es ist nicht genug, dass man nicht tödtet, man darf auch dem

48 Erster Abschnitt.

Bruder nicht zürnen V. 21—26; nicht blos der Ehebruch ist verboten, auch schon die böse Lust ist dem Ehebruch gleich zu achten V. 27 30. Auch die Ehescheidung gehört in dieselbe Kategorie einer geschärften Forderung, da die einzig zulässige Bedingung derselben der Fall des Ehebruchs ist V. 31. 32. Es ist ferner nicht genug, nicht falsch zu schwören, man soll überhaupt nicht schwören V. 33 37. An die Stelle des Wie- dervergeltungsrechts und der Rachesucht trete aufopfernde Nach- giebigkeit und Feindesliebe V. 38—42, und an die Stelle der nur auf den Nächsten beschränkten, mit Feindeshass verbun- denen Liebe allgemeine auch die Feinde in sich begreifende Menschenliebe V. 43—48.

Durchaus ist es sowohl in diesem Theil der Bergrede als auch in dem weitem Inhalt derselben die Reinheit und Lauter- keit der Gesinnung, oder die nicht blos in der äussern That, sondern im Innern der Gesinnung bestehende Sittlichkeit und der jede willkürliche Ausnahme und Beschränkung, jeden fal- schen heuchlerischen Schein, jede Halbheit und Getheiltheit ausschliessende sittliche Ernst der Gesetzesbefolgung, worauf Jesus mit allem Nachdruck dringt, was er zum Princip der Ge- rechtigkeit oder des dem Reich Gottes adäquaten Verhaltens macht. Da wir nun alles dicss als Antithese gegen die mosaisch- pharisäische Religiosität und Sittlichkeit zu nehmen haben, so scheint der oberste Grundsatz der Lehre Jesu in ihrem Unter- schied vom Mosaismus nur so bestimmt werden zu können, dass allein die Sittlichkeit der Gesinnung es ist, was dem Menschen seinen absoluten sittlichen Werth vor Gott gibt. Der Mosaismus und die Lehre Jesu verhalten sich daher zu einander, wie Äus- seres und Inneres, wie Werkthäligkeit und Gesinnung, oder wie particuläre, sich selbst eine Schranke setzende Sittlichkeit, und allgemeine, auf der ünbedingtheit des sittlichen Bewusst- seins beruhende.

Wie verhält sich nun aber, muss man fragen, zu dieser

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Antithese zum Gesetz die von Jesu behauptete Identität seiner Lehre mit dem Gesetz? Stellt sich Jesus sosehr auf den Boden des alten Testaments, dass seine Lehre nicht die Aufhebung, sondern die Erfüllung des Gesetzes ist, wie kann er der gesetz- lichen Gerechtigkeit des alten Testaments ein ganz anderes, nur auf der Sittlichkeit der Gesinnung beruhendes Princip gegen- überstellen? Und wenn das ganze sittliche Verhalten nur nach der Gesinnung zu beurtheilen ist, wie stimmt damit zusammen, dass er nicht blos das Sittengesetz, sondern auch das Ritual- gesetz des Mosaismus, selbst mit allen seinen einzelnen Bestim- mungen, aufrecht erhalten wissen will? Wie haben wir bei den einzelnen Geboten, welche Jesus hervorhebt, seine Anti- i these zu verstehen, gilt sie nur den Satzungen und Deutungen

der Pharisäer, oder auch dem Mosaismus selbst?

Auf diese Frage hat man die Antwort gegeben: Die Ver- vollkommnung des Gesetzes durch Jesus stelle sich dar in der Erweiterung des Gesetzes auf die Norrairung der Gesinnung, nicht aber in der Forderung eines innerlichen geistigen Ver- haltens gegen das Gesetz. Jene neuen Forderungen seien aus- drücklich nur gegen die beschränkte pharisäische Deutung des Gesetzes gerichtet und entfernen sich weder in der Form noch in dem Inhalt, soweit Jesu Ansicht und Absicht reiche, von dem Boden des Gesetzes. Jesus habe seine Deutungen implicite im Buchstaben des Gesetzes enthalten gesehen. Bei dieser sich ganz von selbst verstehenden Idealisirung des Gesetzes sei durch die neuen Bestimmungen Jesu nicht nur die Form, sondern auch der materielle Inhalt des Gesetzes erhalten worden. Es sei so- mit eine falsche Ansicht, dass Jesus eine Vervollkommnung des Sittengesetzes beabsichtigt, dagegen sich von der Anerkennung des Ritualgesetzes abgewendet habe. Offenbar sei die letztere in der Behauptung ausgedrückt, dass auch die geringfügigsten Gesetzesbestimmungen nicht vor dem Weltende aufgehoben wer- den sollen. V. 20 sei unter der ^ixaio(;uvYi nicht das Resultat

Baur, neatest. Theol. . *

50 Erster Abschnitt.

des subjectiven Verhaltens zum Gesetz zu verstehen. Der Unter- schied zwischen den beiden Formen der Gerechtigkeit, der pharisäischen und der wahren, liege nicht in der verschiedenen Form des subjectiven Verhaltens, sondern in objectiven materiel- len Bestimmungen. Diess wird an den einzelnen Geboten so nachgewiesen: V. 21 dehne Jesus das mosaische Verbot des Tödtens auf jede Art und jede Äusserung des ÜbelwoUens und Zornes aus, und erkläre die Strafbarkeit des Zorns für ebenso gross, als nach pharisäischer Satzung die des Todschlags selbst sein sollte. Die hierin liegende Anleitung zu einer Gerechtig- keit, welche grösser sei, als die pharisäische, werde also nicht dadurch gegeben, dass ein anderes Verhalten gegenüber dem Gebot vorgeschrieben werde, sondern dadurch, dass das Gesetz auf die Normirung der Gesinnung ausgedehnt werde. Nicht der Gegensatz von Geist und Buchstaben stelle sich hier dar, sondern ihre Einheit. Mit dem Grundsatz, welcher eirte geistige Ver- vollkommnung des Gesetzes mit der Erhaltung der unbedeutend- sten Gebote verbinde, sei nur die Thatsache vereinbar, dass Jesus die Gesinnung nicht als subjective Fähigkeit der Gesetzes- erfüllung in's Auge fasse, sondern als ein Gebiet, auf dessen Normirung das von den Pharisäern nur in beschränktem Sinne verstandene Gesetz ausgedehnt werden müsse. Ebenso werde V. 43 in deutlicher Antithese gegen die Pharisäer, welche aus dem Gebot der Nächstenliebe die Pflicht des Feindeshasses fol- gerten, das mosaische Gebot zu dem Gebot der allgemeinen Liebe auch gegen die Feinde erweitert.

So aufgefasst wäre demnach der ganze Unterschied zwi- schen der Lehre Jesu und dem Gesetz oder dem alten Testament nur quantitativ nicht qualitativ zu nehmen. Es wird kein neues Princip aufgestellt, sondern es werden nur die schon im Gesetz enthaltenen sittlichen Bestimmungen auf die ganze Sphäre des

1) Bitschi, die Entstehung der altkathol. Kirche, 1850. S. 34 f. i

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sittlichen Gebietes bezogen, das unter ihren Gesichtspunkt zu stellen ist. Aus diesem Grunde werden die willkürlichen Aus- nahmen und Beschränkungen, welche die Pharisäer machten, mit allem Nachdruck zurückgewiesen. Es wird dem Gesetz nur zurückgegeben, was ihm nie hätte entzogen werden sollen, die Erweiterung und Verallgemeinerung, deren es an sich fähig ist, wird ausdrücklich auch ausgesprochen. Bei dem Ausdruck äp^^aioi ist nicht an die Zeitgenossen des Moses zu denken, son- dern er ist auf vergangene Generationen überhaupt zu beziehen, welche schon unter der Obhut pharisäischer Satzungen standen. Diese Auffassung der Bergrede wird dadurch unterstützt, dass immer nur von einzelnen Geboten die Rede ist, um ihnen die dem ursprünglichen Sinn des Gesetzes oder dem sittlichen Be- wusstsein entsprechende Bedeutung zu geben. Das Allgemeine wird so zwar nie ausdrücklich ausgesprochen, wenn aber die einzelnen Bestimmungen, in welchen die Erfüllung des Gesetzes besteht, immer wieder darauf zurückkommen, dass dem Äussern das Innere, der blossen That als solcher die Gesinnung als das gegenübergestellt wird, was allein dem Thun des Menschen seinen wahren sittlichen Werth gibt, so ist diess nichts anderes als eiq vom Mosaismus wesentlich verschiedenes Princip. Es ist ein neues Princip schon sofern das , was das Gesetz zwar auch ent- hält, aber nur an sich, nun ausdrücklich zur Hauptsache ge- macht wird. Man kann daher nicht sagen, der Fortschritt bestehe blos in der Erweiterung des Gesetzes auf die Normirung der Gesinnung, die Natur der Sache bringt es von selbst mit sich, dass die quantitative Erweiterung ein qualitativer Gegensatz wird, es wird dem Äussern das Innere, der Thal die Gesinnung, dem Buchstaben der G^ist entgegengesetzt. Diess ist das wesentliche Princip des Christenthums, und in diesem Dringen auf die Ge- sinnung als das Eine, worin der absolute sittliche Werth des Menschen besteht, ist es ein wesentlich neues. Dass der Gegen- satz nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, dass die Forderung,

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gif$, Erster Abtclinitt.

in welche die Vollendung des Gesetzes gesetzt wird , immer nur an einzelnen Geboten gemacht wird, kann uns nicht hindern, auf die allgemeine sittliche Anschauungsweise, die dabei zu Grunde liegt, zurückzugehen, und die in verschiedenen Formen sich wiederholende Forderung in ihrem Princip aufzufassen. Ist aber die Gesinnung das höchste sittliche Princip, so liegt darin von selbst, dass nicht nur das Sittliche der That von dem Sitt- lichen der Gesinnung, sondern auch das Ritualgesetz von dem Sittengesetz unterschieden wird. Wo wird aber, muss man fragen, diese Unterscheidung in der Bergrede gemacht, wenn Jesus, so hoch er die sittliche Gesinnung stellt, doch zugleich die bis an das Ende der Welt fortdauernde Gültigkeit aller und jeder Gesetzesbestimmungen, somit auch aller Ritualgeselze aufs Bestimmteste behauptet? Bedenkt man, wie kurze Zeit nachher .das ganze Ritualgesesetz seine Bedeutung verlor, und wie wesentlich dadurch die ganze Entwicklung des Christenthums bedingt war, so isl klar, dass der Ausspruch seinem wörtlichen Sinne nach auf keine Weise in Erfüllung gieng, vielmehr das gerade Gegentheil stattfand. Sollen wir daher annehmen, Jesus habe damals, als erjenen Ausspruch that, selbst noch kein klares und bestimmtes Bewusstsein des eigentlichen Princips und Geistes seiner Lehre gehabt, oder ist es möglich, demselben eine Deutung zu geben, mit welcher sich auch der principielle Unterschied seiner Lehre vom alten Testament vereinigen lässt? Das erstere liegt in der Behauptung Ritschi 's Qi. A. S. 30), Jesus habe keineswegs die directe Absicht gehabt, das Ritual- gesetz abzuschaffen, man dürfe sich ihn nicht in dem Sinn als neuen Gesetzgeber denken, wie er einer spätem vom Juden- thum losgerissenen christlichen Anschauung erscheine, er habe sich lediglich in der dem Begriff des Gesetzes wesentlich eigen- thümlichen Vereinzelung der Gebote gehalten, und die beab- sichtigte Vollendung des Gesetzes nicht durch allgemeine Re- flexionen, sondern durch schlagende Folgerungen eingeprägt,

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er habe überhaupt die einzelnen Postulale der vollkommenen Gerechtigkeit nicht unter ein Princip gestellt. Diess kann jedoch, wie schon gezeigt worden ist,, nicht behauptet werden; das Verhältniss, in das Jesus seine Lehre zum alten Testament setzt, lässt sich nicht als ein Mos quantitatives auffassen, es wider- streitet diess der Natur der Sache und lässt sich auch mit mehre- ren der Erklärungen, welche Jesus über die Gebote des Mosais- mus gibt, nicht vereinigen. Wenn Jesus dem mosaischen Rechtsgrundsatz der Wiedervergeltung V. 38 die Aufforderung zur Nachgiebigkeit entgegenstellt, V. 33 nicht blos den Meineid, sondern den Eid schlechthin verbietet, so ist diess keine quan- titative Erweiterung, sondern das gerade Gegentheil. Soll also Jesus mit dem Ausspruch 5, 17—19 nicht etwas offenbar Un- richtiges und thatsäöhlich sich selbst Aufhebendes behauptet haben, so kann er nicht von dem Buchstaben, sondern nur vom Geiste des Gesetzes verstanden werden. In diesem Sinne sagt z. B. de Wette, beziehe man Xusiv V. 19 wie xaTaXusiv und irXYipöoai auf den Geist des Gesetzes , und denke man dieses als ein organisches Ganzes, in welchem alles Bedeutung habe, so verschwinde die Schwierigkeit, auch dem geringsten der Gebote müsse sein Recht geschehen und die Idee, zu deren Darstellung es gehöre, bewahrt und vollkommener verwirklicht werden. Es fragt sich nur, wie sich diess mit den Worten Jesu in Einklang bringen lässt. In dieser Beziehung sagt Ritschi 2. A. S. 36 f.: es handle sich V. 17 nicht um das Gesetz allein, sondern um die Einheit von Gesetz und Propheten, also um die Fortentwick- lung des Gesetzes durch die Propheten, die darin bestehe, dass die Propheten durch Aufstellung des Zweckes der Gerechtigkeit die sittlichen Gebote aus derjenigen Verbindung lösen, in welcher sie mit den Ritualgesetzen durch den Zweck der Heiligkeit zu- sammengehalten waren. Jesus meine also das Gesetz in seiner Fortbildung und Auslegung durch die Propheten unter dem Zwecke der Gerechtigkeit, worin eben die Auseinandersetzung

54 Erster Abschnitt.

des sittlichen und des rituellen Inhalts eingeschlossen sei, an den letztern werde gar nicht gedacht. Die Vorhersagung Jesu V. 18 könne sich nur auf den v6[/,oi; TuV/iptoOel? beziehen, auf das für das Gottesreich geltende Gesetz, wie es aus den Händen Jesu hervorgegangen sein werde, in Gemässheit seiner Aufgabe, die fortbildende Auslegung des Gesetzes durch die Propheten im Sinne der Gerechtigkeit zu vollenden. Unter den kleinsten Geboten seien gerade die für das Gottesreich charak- teristischen zu verstehen, solche scheinbar unbedeutende und kleinliche Vorschriften, von welchen er nachher in Anknüpfung an die mosaisclien Gebote Proben gebe. Indem Jesus Gesetz und Propheten, sofern sie im Ganzen die Bestimmung der mensch- lichen Gerechtigkeit ausprägen, als Grundlage des von ihm zu entwickelnden vollendeten Gesetzes anerkenne und bestätige, löse er doch einzelne ihrer Bestimmungen auf, in denen sich gerade ihre UnvoUkommenheit und ihr Bedürfniss nach Voll- endung kund gebe. Wenn Jesus Matth.7, 12 das formale Princip der Gerechtigkeit ausspreche, wenn er ferner Matth. 22, 40 das materiale Princip der Gerechtigkeit in den mosaischen Geboten der Liebe zu Gott und zu dem Nächsten nachweise, so könne er auch Matth. 5, 17 nur in dem Sinn, dass die Bedeutung und der Werth von Gesetz und Propheten als Einheit an diesen Geboten hafte, Gesetz und Propheten als die Grundlage seiner vollendeten Gesetzgebung gemeint und in dieselbe eingeschlossen haben, nicht aber sofern das Gesetz eine Summe einzelner Gebote sei, von welchen manche doch dem Princip der Gerechtigkeit nicht entsprechen. Das organische Verhältniss der Gesetzgebung Jesu zu der des Moses stelle sich gerade darin am deutlichsten dar, dass er die Gebote der Gottes- und Menschenliebe aus ihrer Ver- einzelung befreie und zur Geltung als Princip des Gesetzes er- hoben habe; und wenn er solche Verordnungen erlasse, welche die entsprechenden mosaischen ausschliessen , so sei der Grund der ) dass diese dem Princip der Liebe nicht folgen , Jesus aber

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die Folgerungen aus dem Gebot der Liebe zu Gott und den Menschen entwickele, ohne dieses selbst direct zu bezeichnen. S. 36—46. Es wäre also mit Einem Worte der Ausspruch Jesu V. 17 f. nicht vom Buchslaben, sondern nur vom GTeist des Ge- setzes zu verstehen. Allein eine Deutung, welche diess in den Worten Jesu selbst finden will, bleibt immer eine sehr künst- liche und gezwungene, es lässt sich die Schwierigkeit nicht beseitigen, dass gerade das nicht wörtlich genommen werden soll, was Jesus selbst nach seiner ausdrücklichen Erklärung im wörtlichsten Sinn genommen wissen will. Wäre eine solche Deutung zulässig, so könnte man ebenso gut sagen, der Aus- spruch Jesu sei nicht von der Beibehaltung, sondern von der Aufhebung des dem Geiste seiner Lehre widerstreitenden Ritual- gesetzes zu verstehen, und könne daher nur in dem seinem Wortlaut gerade entgegengesetzten Sinn genommen werden. Da nun Jesus ebenso wenig das Ritualgesetz bestätigt, als auf der andern Seite, wenn er es nicht bestätigen wollte, sich über die forldauernde Geltung des Gesetzes auf solche Weise ausge- sprochen haben kann, so bleibt nur die Annahme übrig, dass der ihm beigelegte Ausspruch erst in der Relation des Evange- listen eine judaistische Fassung erhalten hat, in welcher er nicht aus dem Munde Jesu gekommen ist. Es hängt diess mit dem judaistischen Charakter des Matthäusevangelium zusammen. Wie dieses Evangelium Jesum gleich anfangs mit einem förmlichen Programm seiner öffentlichen Thätigkeit auftreten lässt-, so konnte man es sich nach judaistischer Anschauung auch nicht anders denken, als dass er von vorn herein auch die fortdauernde absolute Geltung des mosaischen Gesetzes ausdrücklich zuge- sichert habe. Hätte Jesus wirklich die Absicht gehabt, sich über sein Verhältniss zum alten Testament so principiell auszu- sprechen, wie er bei Matthäus thut, so hätte er unmöglich ein für die Zukunft so wichtiges Gebot, wie das der Beschneidung, so völlig unberücksichtigt lassen können. Da darüber nichts

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sich findet, so kann man daraus nur den Schluss ziehen, dass er überhaupt keine allgemeine Erklärung dieser Art gegeben hat. Um daher zu bestimmen, in welches Verhältniss Jesus sich und seine i.ehre zum alten Testament gesetzt habe, kann man sich nur an die in der evangelischen Geschichte darauf sich be- ziehenden Ausspräche Jesu halten.

Die erste Stelle dieser Art ist Matth. 8, 1 fF., wo Jesus dem geheilten Aussätzigen befiehlt, sich dem Priester zu zeigen und das von Moses verordnete Geschenk darzubringen. Diese Stelle betrifft aber im Grunde nur die Beobachtung einer polizeilichen Vorschrift. Wichtiger ist, wie er sich über das Sabbathsgebot äusserte, als es seine Jünger durch Ausraufen von Ähren ver- letzt zu haben schienen und er selbst durch Heilung eines Ge- brechlichen denselben Vorwurf sich zuzog. Matth. 12, 1 ff. und 9 ff. Wenn er in der ersten Stelle seine rechtfertigende Erklä- rung mit den Worten schloss, dass des Menschen Sohn Herr des Sabbaths sei, und in der zweiten es als eine allgemein zuge- standene Wahrheit betrachtete, dass man auch am Sabbath Gutes thun dürfe, so erhellt hieraus, dass er nicht nur das Sabbaths- gebot für kein schlechthin verbindliches hielt, sondern über- haupt die Beobachtung solcher Gebote von der höhern Frage abhängig machjte, ob sie der Idee des sittlich Guten und Zweck- mässigen entsprechen. Noch bestimmter ist diess bei Marcus 2, 27 in. den Worten enthalten, der Sabbath sei um des Menschen willen da, nicht der Mensch wegen des Sabbaths. Als die Phari- säer Matth. 15, 1 f. daran Anstoss nahmen, dass die Jünger die traditionelle Händewaschung vor dem Essen unterliessen , hielt ihnen Jesus nicht blos entgegen, dass durch die pharisäischen Satzungen die Beobachtung des eigentlichen Gesetzes heuch- lerisch verkürzt werde, sondern er rief auch das Volk herbei und erklärte vor demselben, dass nichts was von aussen in den Menschen eingehe, sondern nur was von ihm ausgehe, ihn ver- unreinige. Hiemit erklärte er überhaupt die Beobachtung der

Die Lebre Jesn. Verhftitniss znm A. T. 57

mosaischen Reinigkeitsgesetze für etwas sittlich Indifferentes; unrein wird der Mensch nicht durch das, was ihn äusserlich berührt, sondern nur innerlich, wenn er in die Motive seines Willens etwas aufnimmt, was für ihn die Ursache einer Sünde wird. Wenn er Matth. 19, 8. die mosaische Erlaubniss der Ehe- scheidung nur aus einer Nachsicht gegen die Herzenshärtigkeit der Juden ableitete, so erklärte er auch damit, dass das Gesetz in seinen Augen nur eine sehr relative Geltung habe. Solche Stellen, wie die hier angeführten, bezeugen es klar, dass er dem mosaischen Gesetz keine absolut bindende Auctorität zuer- kannte. Auf der andern Seite aber hat er sich au&h nie über die Aufhebung desselben im Ganzen und seine für den Glauben an ihn nicht mehr fortbestehende Gültigkeit ausgesprochen. Wenn er es auch mit einzelnen Bestimmungen nicht sehr genau nahm und sich freier über sie äusserte, so ist man doch nicht berechtigt, daraus eine auf das Gesetz im Ganzen sich beziehende Folgerung zu ziehen, da bei solchen Bestimmungen immer auch wieder die so Vieles zum Gesetz hinzusetzende pharisäische Praxis in Betracht kam, mit welcher er in keinem Fall sich ein- verstanden erklären konnte. Aber auch selbst gegen diese hat er sich nicht so schlechthin verneinend ausgesprochen, wie man erwarten sollte. Er hat nicht nur nie das Volk geradezu aufge- fordert, die pharisäischen Satzungen zu verlassen und sich nur auf die Beobachtung des Gesetzes zu beschränken, sondern sich bisweilen auch so geäussert, wie wenn es auch für die Zukunft bei der einmal bestehenden Praxis verbleiben sollte. Matth. 6, 17 setzt er das Fasten ganz in der Weise voraus, wie es von den Pharisäern geübt wurde , und verwarf nur die dabei , wie beim Gebet und Almosengeben, sich bemerklich machende heuchleri- sche Ostentation der Pharisäer. Matth. 23, 1 ff. erklärt er das Volk sogar für verpflichtet, allen Geboten der Pharisäer Folge zu leisten, wenn auch nicht ihrem Beispiel. In dieser Haupt- stelle seiner Polemik gegen die Pharisäer sagt er gleichwohl

fi8 Erster Abschnitt.

von ihnen und den Schriflgelehrten , dass sie auf der Kathedra des Moses sitzen, seinem Lehrer- und Gesetzgeber-Stuhl, und das Volk und seine Jünger sollen alles, was sie sagen, dass sie beobachten sollen, beobachten und thun. V. 23 heisst er sie das Wichtigere des Gesetzes, alles, was sich auf die Gerechtig- keit im Entscheiden über Recht und Unrecht, die Barmherzig- keit und die Treue und Redlichkeit betrifft, thun, aber auch die kleinlichen Vorschriften der pharisäischen Genauigkeit und Ge- setzesbeobachtung nicht unterlassen. Demungeachtet bezeichnet er in derselben Stelle die Satzungen der Pharisäer als schwere und unerträgliche Lasten , und im Gegensatz gegen die Phari- säer sagt er Matth. 15, 13, jede Pflanze, die sein himmlischer Vater nicht gepflanzt habe, werde mit der Wurzel ausgerissen werden, die Pharisäer selbst erklärt er für Blinde, welche das blinde Volk in's Verderben führen. Nimmt man alle diese zum Theil sehr verschieden lautenden Erklärungen zusammen, so kann man aus ihnen nur den Schluss ziehen, dass er zwar in einzelne seiner Aussprüche genug hineinlegen wollte, was einen principiellen Gegensatz nicht blos gegen die Satzungen der Pha- risäer, sondern auch gegen die fortdauernde absolute Geltung des Gesetzes begründen konnte, dass er aber, statt es zu einem offenen Bruche kommen zu lassen, die weitere Entwicklung des an sich und thatsächlich schon vorhandenen Gegensatzes dem Geiste seiner Lehre überliess, der von selbst dazu führen musste.

Es findet hier der Ausspruch seine Anwendung, welchen Jesus zur Beantwortung der Frage that, die nach Matth. 9, 14 die Johannisjünger, nach Luc. 5, 33 die Pharisäer an ihn mach- ten, warum seine Jünger nicht ebenso oft fasten, wie die Pha- risäer. Niemand, sagt er Matth. 9, 16 f., setzt einen Flicklappen ungewalkten Zeugs auf ein altes Kleid, denn die Ergänzung, die man mit dem Flicklappen macht, nimmt vom Kleide hinweg und der Riss wird nur um so schlimmer, noch auch giesst man

Die Lehre Jesu. Verhftltniss zum A. T. 59

neuen Wein in alte Schläuche, sonst reissen die Schläuche, und der Wein fliesst aus, und die Schläuche gehen zu Grunde, son- dern man giesst neuen Wein in neue Schläuche und so werden beide erhalten. Der Ausspruch kann nur von der Unverträg- lichkeit des Geistes der neuen Lehre mit dem der alten ver- standen werden. Wer die pharisäischen Fastenübungen noch so genau beobachten zu müssen glaubt, und doch in der neuen Lehre schon ein neues Princip in sich aufgenommen hat, wird, je enger er beides in sich zusammenhalten will, nur in einen um so grössern Zwiespalt mit sich selbst kommen, es wird in seinem religiösen Bewusstsein ein immer grösserer Riss ent- stehen, er kann das Alte nicht festhalten, weil das Neue, das er schon in sich hat, es von selbst von sich abstösst. Wozu also die pharisäischen Fastenübungen, wenn man im Geiste schon darüber hinaus ist, auf einem andern Standpunkt des religiösen Bewusstseins steht? Der neue Wein gehört auch in neue Schläuche, man kann den Geist der neuen Lehre nicht in ein Gefäss der alten niederlegen, er wird von selbst das alte Gefäss zersprengen und sich eine neue Form schaffen. Hiemit hätte also Jesus selbst den principiellen Gegensatz seiner neuen Lehre gegen die alte ausgesprochen, und es wäre aus diesem Ausspruch zu sehen, dass er, wenn er gleich selbst dasselbe that, auch den neuen Wein noch in die alten Schläuche legte, sofern er mit dem gesetzlichen und traditionellen Judenthum nicht principiell brach, doch das Bewusstsein dieses principiellen Gegensatzes hatte, und wenn gleich er nicht blos den substan- ziellen Inhalt des Gesetzes unversehrt erhalten wissen wollte, sondern auch so viel möglich an die alten traditionellen Formen sich hielt, diess doch nur mit dem bestimmten Bewusstsein that, dass der neue Inhalt bald genug die alte Form zerbrechen werde. Es kommt daher bei dem öfters missverstandenen , zur richtigen Beurtheilung des ursprünglichen Standpunkts Jesu sehr wichtigen Ausspruch nur noch darauf an, dass man oOSel?

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60 ;T.<' Erster Abschnitt.

im^oiXkti u. s. w. und oüSe ßa>.Xotj(ytv u. s. w. nicht so versteht, wie wenn damit gesagt werden sollte, niemand thue diess, so dass Jesus damit gesagt hätte, man thue etwas nicht, was er doch selbst that, sondern nur, wenn es jemand thue, wie diess ja öfters geschieht, und in so vielen Fällen nicht anders ge- schehen kann, so werde es der Natur der Sache nach und mit innerer Nothwendigkeit nicht anders gehen können, als Jesus in diesen Worten sagt.

'. Wie Jesus in seiner Stellung zum alten Testament sowohl in seinem affirmativen Verhältniss zum Gesetz als auch in dem polemischen zum Pharisäismus alles, was dem Menschen seinen sittlich-religiösen Werth gibt, einzig in die Gesinnung legt, so ist es überhaupt die Gesinnung, das unmittelbare in seiner im- manenten Wahrheit sich aussprechende Bewusstsein des Men- schen, worauf im ganzen Inhalt der Bergrede alles zurückge- führt wird. Die Gesinnung soll rein und lauter, von aller Selbstsucht frei, das ganze Bewusstsein des Menschen auf das Eine, worin er seinen absoluten Inhalt erkennt, gerichtet und über alles erhaben sein, was ihn nur an die niedrige Sphäre seiner sinnlichen Existenz mit ihren Sorgen und Bedürfnissen knüpft. Das Innere ist es allein, wornach aller Werth des Äussern zu beurtheilen ist, nur wenn die Gesinnung in ihrer Wurzel gut ist, kann auch etwas an sich Gutes als Frucht aus ihr hervorgehen. Besonders bemerkenswerth sind die Aus- sprüche Matth. 6, 19—24. 7, 12. Wenn er in der ersten Stelle Schätze sammeln heisst nicht auf der Erde, sondern im Himmel, weil, wo der Schatz ist, auch das Herz ist, und das Herz nicht sowohl da als dort sein kann, indem ja niemand zwei Herrn dienen kann, Gott und dem Mammon, so ist in dieser Ungetheilt- heit des Herzens die Absolutheit des christlichen Standpunkts ausgesprochen, der jede Halbheit, jede Trennung und Schranke von sich ausschliesst. Die zweite Stelle enthält den bekannten Ausspruch: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute thun, das

Die Lehre Jesu. Sittl. Gruadansohaanng. 61

thut ihr ihnen auch, das ist der Hauptinhalt des Gesetzes und der Propheten. Man hat diesem Ausspruch schon öfters die Bedeutung eines Princips der christlichen Sittenlehre gegeben. Dagegen sagt Neander 0*. Gewiss habe Christus hier kein Princip der Sittlichkeit geben wollen, das würde mit dem gan- zen Geiste und den leitenden Ideen der Bergrede in Wider- spruch stehen, denn diese weise ja überall auf den Sitz der wahren Sittlichkeit in der Gesinnung hin. In dieser Norm aber sei nur von dem äusserlichen materiellen Handeln die Rede, welches von verschiedener Gesinnung ausgehen könne; es könnte diess ja eine Klugheitsregel der Selbstsucht werden, Andern erwei- sen, was man von ihnen wieder erwiesen zu haben wünscht. Es ist diess eine sehr einseitige und beschränkte Auffassung dieses Ausspruchs. Er hat insofern eine principielle Bedeutung, als das Absolute des christlichen Bewusstseins vor allem darauf beruht, dass man im Stande ist, von sich, seinem eigenen Selbst, seiner Ichheit zu abstrahiren, und sich mit Andern so zu iden- tificiren, dass man jeden als ein mit sich gleichberechtigtes Sub- ject betrachten lernt. Eben diess will auch das im Ganzen gleich- bedeutende alttestamentliche Gebot sagen, dass man den Näch- sten lieben soll, wie sich selbst. Liebt man den Nächsten, wie sich selbst, so muss man auch alles Egoistische, Subjective, Particuläre fallen lassen; über die Vielheit der gleichberech- tigten Subjecte, von welchen jedes einzelne der Reflex aller andern ist, stellt sich von selbst die Objectivität des Allgemei- nen, in welchem alles Particuläre und Subjective aufgehoben ist, und dieses Allgemeine ist die Form des Handelns, vermöge welcher man gegen Andere dasselbe thut, was man wünscht, dass Andere gegen uns thun, dass sittlich Gute ist somit das, was für alle gleich recht und gut ist, oder für alle das gleiche Object ihres Handelns sein kann. Es ist diess ein formeller

1) üaa Leben Jesu Christi. 1837. S. 169 f.

G2 gntitiiid Erster Abschnitt.

Grundsatz des Handels, welcher in der Hauptsache zusammen- fällt mit dem Kant'schen Imperativ: Handle so, dass die Maxime deines Handelns das allgemeine Gesetz des Handelns sein kann. Es spricht sich also auch darin die Eigenthümlichkeit des christ- lichen Princips aus, sich über das Äussere, Zufällige, Particu- läre zum Allgemeinen, Unbedingten, an sich Seienden zu er- heben und den sittlichen Werth des Menschen nur in das zu setzen, was seinen absoluten Werth und Inhalt in sich selbst hat. Dieselbe Energie des Bewusstseins, dje das substanzielle Wesen der Sittlichkeit nur in dem innersten Kern der Gesin- nung erfassen kann, gibt sich in der in dem genannten Gebot auf ihren einfachsten practischen Ausdruck gebrachten Forder- ung kund, das individuelle Ich zum allgemeinen, zum Ich der ganzen in allen einzelnen Individuen mit sich identischen Mensch- heit aufzuheben.

Um das Princip der Lehre Jesu, oder des christlichen Be- wusstseins, wie es von Jesus selbst ausgesprochen worden ist, in seiner reinsten und ursprünglichsten Gestalt aufzufassen, darf man auch die in den Makarismen der Bergrede ausgedrückte Grundanschauung nicht unbeachtet lassen. Es werden hier die Armen im Geiste, d. h. die Armen, welchen an ihrer äussern leiblichen Armuth und im Contrast mit derselben ihr geistiger Reich thum zum Bewusstsein kommt, gepriesen, weil ihrer das Himmelreich ist, die Traurigen, weil sie getröstet werden, die Sanftmüthigen , weil sie die Erde zum Erbtheil erhalten, die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden, weil sie gesättigt werden, die am Herzen Reinen , weil sie Gott sehen, die Friedfertigen, weil sie Söhne Gottes heissen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, weil ihrer das Himmelreich ist. In allen diesen Seligsprechungen spricht sich ein vom tiefsten Gefühle des Drucks der Endlichkeit und aller Widersprüche der Gegenwart durchdrungenes, aber in diesem Gefühl über alles Endliche und Beschränkte weit übergreifendes religiöses

Die Lehre Jeau. Bittl. Grondanschatiang. 63

Bewusstsein aus. Der prägnanteste Ausdruck dieses ursprüng- lichsten Elements des christlichen Bewusstseins sind die mit Recht an der Spitze aller Seliggepriesenen stehenden xtw^^^oI T(^ TTveuixaTi, die Armen, die nichts haben, und als die nichts Habenden doch alles haben. Um diesen Ausdruck richtig zu verstehen , muss man die tctwj^oI tw ^veu^xaTi nicht unmittelbar als die geistig Armen nehmen, so dass die tttwj^^oI die De- müthigen, die nach der Erlösung sich Sehnenden wären, die TTTüijf^ol sind wirkliche Arme, leiblich Arme Cvergl. Luc. 6, 20), aber ihre Armuth hat eine geistige Bedeutung, sofern sie an ihrer Armuth sich des Reichthums bewusst werden, der der Gegensatz zu der Armuth ist. Sie haben nichts, weil sie als leiblich Arme nichts von allem demjenigen haben, was zum Besitz in dieser Welt gehört, und alles, was sie in der künftigen Welt als ihr Eigenthum betrachten dürfen , für sie etwas blos Künftiges ist. In diesem Nichtshaben ist das Element ihres Seins und Lebens nur die Sehnsucht und das Verlangen nach dem, was sie nicht haben, aber in diesem Sehnen und Verlangen haben sie schon Alles, was der Gegenstand ihrer Sehnsucht und ihres Verlangens ist. So sind sie als die nichts Habenden die alles Habenden, ihre Armuth ist ihr Reichthum, das Himmel- reich ist schon jetzt ihr eigenstes Eigenthum, weil sie, so ge- wiss sie hier nichts haben, so gewiss dort alles haben. In diesem Contrast des Habens und Nichthabens, der Armuth und des Reichthums, der Erde und des Himmels, der Gegenwart und der Zukunft hat das christliche Bewusstsein seine reinste Idealität, als die ideale Einheit aller dem empirischen Bewusst- sein sich aufdringenden Gegensätze. Alles, was das entwickelt- ste dogmatische Bewusstsein umfassen kann, ist darin schon begriffen, und doch hat es seine ganze Bedeutung nur darin, dass es noch die unmittelbare Einheit aller Gegensätze ist, die sich aus ihm entwickelten. Alle jene Makarismen, so ver- schieden sie lauten, sind immer nur ein anderer Ausdruck für

64 Erster Abschnitt.

dieselbe ursprüngliche Grundanschauung des christlichen Be- wusstseins. Es ist das den Gegensatz von Sünde und Gnade an sich schon in sich enthaltende, aber von dem Bevrusstsein desselben noch völlig unberührt gebliebene reine Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit, das als solches auch schon alle Realität der Erlösung in sich hat. Je unmittelbarer alle Gegensätze noch in ihrer Einheit zusammengehalten sind, um so inhalts- reicher und kräftiger ist dieses ursprüngliche Bewusstsein, es ist nicht blos das intensivste Selbstbewusstsein , sondern auch das übergreifendste Weltbewusstsein , wie es Jesus selbst in den unmittelbar auf die Makarismen folgenden Worten aus- spricht, wenn er Matth. 5, 13 f. seine Jünger das Salz der Erde nennt, das nie kraftlos werden darf, wenn es nicht der Welt an der sie zusammenhaltenden und sie vor aller Verderbniss bewahrenden substanziellen Kraft fehlen soll, das Licht der Welt, das nicht unter den Scheffel gestellt werden darf, son- dern vor aller Welt leuchten muss, damit man die guten Werke derer, die ihr Licht leuchten lassen, sehe und den Vater im Himmel preise.

Es ist sehr charakteristisch, dass alles, was als der ur- sprünglichste Inhalt des christlichen Bewusstseins aus der Berg- rede Jesu hervorgehoben werden kann, ein rein sittliches Ele- ment ist. Das Christenthum, wie es sich in seiner ursprüng- lichsten Gestalt als Lehre Jesu darstellt, ist eine, den reinsten sittlichen Geist athmende Religion. Als Affirmation des alttesta- mentlichen Gesetzes und als Gegensatz gegen die pharisäische Gesetzlichkeit trat es vor allem als Kräftigung des sittlichen Bewusstseins auf, als eine sittliche Macht, die in dem Menschen das Bewusstsein seiner sittlichen Selbstbestimmung, die Energie seiner sittlichen Freiheit und Autonomie wecken wollte. Dieses sittliche Element, wie es in den einfachen Sätzen der Bergrede als der reinste und lauterste Inhalt der Lehre Jesu sich kund gibt, ist der eigentlich substanzielle Kern des Christenthums,

Die Lehre Jesn. Sittl. Grundansohauang. 65

ZU welchem alles Andere, so grosse Bedeutung es haben mag, in einem mehr oder minder secundären und zufälligen Ver- hältniss steht, die Grundlage, auf welche erst alles Andere gebaut werden kann, die, so wenig sie auch noch die Form und Farbe des geschichtlich gewordenen Christenthums hat, doch an sich schon das ganze Ghristenthum ist. Mag es auch bald genug von dem aus dem christlichen Bewusstsein sich entwickelnden Dogmatismus zurückgedrängt und in Schatten gestellt, überbaut und überwuchert worden, ja sogar in so vielen Beziehungen in einen unversöhnlichen Widerstreit zu demselben gekommen sein, es blieb doch immer der feste un- wandelbare Punkt, auf welchen man aus allen Verirrungen im Dogma und Leben immer wieder zurückkommen musste, als auf dasjenige, worin sich das wahrhaft christliche Bewusstsein in seiner unmittelbarsten ürsprünglichkeit und in seiner ein- fachsten über alle Selbsttäuschungen des Dogmatismus unend- lich erhabenen Wahrheit ausspricht.

In diesem ursprünglichsten Element ist die Lehre Jesu nicht sowohl Religion als Sittenlehre. Gehen wir nun aber von dem ethischen Element zu dem religiösen fort, so ist das Erste und Ursprünglichste, wodurch das ethische Element die Form eines religiösen erhält, jene Gerechtigkeit, deren Begriff schon in der Bergrede zum wesentlichen Inhalt des christlichen Be- wusstseins gehört. Die Stjcaioouvr, steht in der unmittelbarsten Beziehung zu der i^aCkzix tou deoO, sie betrifift nicht blos das Yerhältniss des Menschen zu sich selbst, wie es im sittlichen Selbstbewusstsein bestimmt wird, sondern das Yerhältniss des Menschen zu Gott, ohne welches es kein religiöses Bewusst- sein gibt, sie ist wesentlich identisch mit jener Vollkommenheit, in welcher die höchste Aufgabe für den Menschen in der For- derung gestellt wird, vollkommen zu sein, wie der Vater im Himmel vollkommen ist. Der Begriff der Si)caio<yuvTri führt uns wieder auf die Stellung Jesu zum Gesetz zurück. Sie ist eben

B«nr, nentest. Theol. ^

66 .%uttuar{ Erster Abschnitt, t «•«.{•-

jene Vollendung und Erfüllung des Gesetzes, zu welcher Jesus gekommen zu sein versichert. Wenn er sagt, dazu sei er ge- kommen, es dürfe vom Gesetz nicht das Geringste hinwegkom- men, denn wenn ihre Gerechtigkeit nicht besser sei, als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, so werden sie nicht in das Himmelreich kommen, so ist klar, dass die Gerechtigkeit in der Erfüllung des Gesetzes besteht. Ohne Gerechtigkeit kann man nicht in das Reich Gottes kommen. Die Gerechtigkeit ist also das adäquate Verhältniss, vermöge dessen man subjectiv das- selbe ist, was das Reich Gottes objectiv ist. Das Vermittelnde aber für diese Identität des Subjectiven und Objectiven ist die Erfüllung des Gesetzes. Der Gesichtspunkt, unter welchen wir nun diese in der Erfüllung des Gesetzes bestehende Gerechtig- keit zu stellen haben, ist das Verhältniss, in welchem in ihr die Lehre Jesu oder das Urchristenthum einerseits zum alten Testament, andererseits zum Paulinismus steht. Sofern die wahre Gerechtigkeit in dem von Jesus in der Bergrede ausgespro- chenen Sinn in die Erfüllung des Gesetzes gesetzt wird, ist das in dieser Gerechtigkeit bestehende ursprüngliche Christen- thum selbst nichts anderes. als die immanente Vollendung, die vollkommene Verwirklichung des alten Bundes. Es ist in ihm nur der Gegensatz aufgehoben, über welchen das alttestament- liche Bewusstsein nie hinwegkommen konnte, der Gegensatz, in weichein der Wille des Einzelnen, der als solcher auch ein selbstischer ist, zu dem im Gesetz enthaltenen göttlichen steht. Diese Getheiltheit des alttestamentlichen Bewusstseins macht die wahre Gerechtigkeit unmöglich, sein Widerspruch ist der eigentliche Ursprung des christlichen Bewusstseins. Die Auf- hebung "dieser Getheiltheit, durch welche erst die subjective Möglichkeit der ^ixato<Tuv7) gesetzt ist, ist die vollkommene Durch- führung des Gesetzes, und umgekehrt die Vollendung des Ge- setzes, in welcher seine beschränkte alttestamentliche Form, wie jene ganze Getheiltheit aufgehoben ist, ist als solche die

Die Lehre Jesu. Die Stxaiocrüvi). ^7'

subjective Möglichkeit der wahren St/cai(wuvYi, der vollkommen durchgeführte vö[xo; ist als solcher auch der verinnerlichte vÖ{ao?. Dem Gegensatz gegenüber ist das, was als das Neue, als die vollkommene Gerechtigkeit verkündigt wird, nur die Aufhebung des Gegensatzes. Das Christenthum in seiner ursprünglichen Form enthält also nichts als die zunächst liegende objective Consequenz des alten Bundes in Hinsicht des Verhältnisses des Willens zum Gesetz, die alttestamentliche Scheidung des Gött- lichen und Menschlichen ist darin aufgehoben, dass das Ich mit seinem Willen sich an Gott hingibt. Entäusserung des Men- schen an Gott ist das Christenthum in seiner ersten Form, reine einfache Negation des menschlichen Willens, einfache Hingabe an den jenseitigen göttlichen Willen, diess ist sowohl das Alt- testamentliche, das ihm noch anhängt, als das Neue, Grosse, das es zuerst ausgesprochen hat. Die beiden Seiten, die hier unterschieden werden müssen, die objective der vollendeten Gesetzeserfüllung, und die subjective der Aneignung des Heils, sofern mit dieser Vollendung auch die subjective Möglichkeit der vollkommenen Gesetzeserfüllung gegeben ist, fallen hier noch zusammen, beide sind noch ungetrennt enthalten in der Einheit des Gesetzes und des Evangeliums. Die subjective Mög- lichkeit der ^utatocuvyj, die. Kraft der Versöhnung mit Gott, das, was für das entwickeltere Bewusstsein die Gnade ist, ist einfach in das Andere, die objective Durchführung des vollendeten Gesetzes eingeschlossen. In Stelleii, wie Matth. 5, 6, wo den nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden Sättigung verheissen wird, 11, 29. 30., wo von einer Ruhe für die See- len, van einem sanften Joch und einer leichten Last die Rede ist, ist nichts Anderes ausgesprochen, als eben das Bewusstsein einer durch Jesus gekommenen Kraft der Erlösung und Ver- söhnung. Nirgends aber ist es ausdrücklich zum Bewusstsein gebracht, dass mit dem, was Jesus verkündige, eine neue all- geni^4j[ie j^raft der Versöhnung mit Gott gegeben sei, so dass

5*

•0g ^xvlr«jj=Er8ter Abschnitt.

der Mensch ohne sie, für sich allein, durch des blossen Ge- setzes Werke nicht gerecht werden könne. Der Sache nach ist zwar ausgesprochen, dass durch das blosse, beschränkte alttestamentliche Gesetz keine wahre Gerechtigkeit möglich sei, und darin liegt auch, dass es eine neue und allgemeine Kraft der Versöhnung mit Gott ist, die durch Jesus gebracht ist, allein die ganze Richtung des Bewusstseins ist noch eine andere als im Paulinismus. Das Bewusstsein Jesu in der Bergrede geht ganz auf die vollkommene Entäusserung des Menschen an Gott, darauf, dass nur in der Gesetzeserfüllung, wie er sie verkün- dige, die wahre Gerechtigkeit möglich sei; ebendesshalb ist die Grundidee der ersten ursprünglichsten Form des Christenthums der vollkommen durchgeführte vojxo;. Dieses Bewusstsein steht also insofern noch innerhalb der alttestamenllichen Anschauung, als es bei der jenseitigen Objectivität Gottes stehen bleibt, und nur von einem neuen subjectiven practischen Verhalten des Menschen zu demselben weiss. Es ist dieser Punkt in der Entwicklung des Urchristenthums genau zu fixiren, um schon hier das Ver- hältniss des Paulinismus zur ursprünglichen Lehre Jesu richtig zu bestimmen. Es ist also für die erste Form des Christenthums die neue allgemeine Kraft der Versöhnung mit Gott, die sub- jective Möglichkeit der wahren SixaioauvTi , die durch Christus gegeben ist, nur erst auf thatsächliche Weise im Bewusstsein; der Paulinismus erst ist es, der sie ausdrücklich als ein neues - allgemeines Princip von vornherein zum Gegenstand des christ- lichen Bewusstseins macht; jene Form bleibt bei dem alttesta- menllichen objectiv gegebenen Verhältniss von Gott und Mensch für das Bewusstsein oder formell noch ebenso sehr stehen, als sie an sich der Sache nach durchbrochen ist. Der Paulinismus hat nichts Anderes gethan, als für das Bewusstsein auszu- sprechen, was an sich, thatsächlich im ürchristenthum ge- setzt war.

Die Gerechtigkeit in dem bisher entwickelten Sinne ist die

Die Lehre Jesn vom Belobe Gotte«. C9

wesentliche Bedingung, ohne welche man nicht in das Reich Gottes kommen kann. Es schliesst sich daher hier die Lehre Jesu vom Reiche Gottes an. Sie ist der Hauptgegenstand der Parabeln Jesu in den synoptischen Evangelien. Wir halten uns auch hier vorzugsweise an Matthäus, da schon die Parabeln bei Matthäus das Wesentliche enthalten und im Falle einer Diffe- renz doch nur nach Matthäus entschieden werden kann.

Die ^xaCktix toj OsoO, oder nach dem eigenthümlichen Aus- druck des Matthäus, töv oupavöv, ist ein ganz aus der alt-^ testamentlichen Religions- und Staatsverfassung herübergekom- mener Begriff. Es liegt in dem Ausdruck unmittelbar der Be- griff der alttestamentlichen Theokratie. Die ßacrtXsta toO öeou ist die Gemeinschaft derer, welche das Volk Gottes, die theo- kratische Gemeinde bilden, als deren König und höchster Re- gent nur Gott gedacht werden kann. Dieser Begriff liegt den Parabeln zu Grunde, in welchen die ßa<jiXeia toO öeoO in ihrem geschichtlichen Verlauf, nach der Folge und Verschiedenheit ihrer Perioden dargestellt wird, wie z. R. Matth. 21, 33 f., wo ein Hausherr zuerst seine Diener aussendet, und dann andere Diener, noch mehr als das erstemal, und zuletzt seinen Sohn. Hier bezieht sich die ßx<TiXeia toO 9eoO nicht blos auf das neue, sondern auch auf das alte Testament. Der Ausdruck bezeichnet die ganze von Gott gestiftete Religionsanstalt von Anfang an, die theokratische Einheit des alten und neuen Testaments. Von diesem weitem Begriff ist der engere zu unterscheiden, nach welchem die ßaffiXeia toO 6sou die erst mit dem neuen Testa- ment beginnende Religionsökonomie ist, oder das raessianische Reich als die Periode der theokratischen Weltentwicklung, in welcher der göttliche Weltplan zu seiner vollkommenen Rea- lisirung gelangt und das Ziel erreicht, auf das er von Anfang an angelegt ist. In diesem Sinne gründet sich der Begriff der ßaffiXeia toO 6eoij auf die Stellen bei dem Propheten Daniel 7, 13. 14. 27. 2, 44., wo nach den vier den Juden bis zur Macca-

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70 '*''' Erster Abschnitt.

bäerzeit bekannt gewordenen Weltreichen, dem assyrischen, babylonischen, persischen, griechischen das Reich dessen folgen sollte, der mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn kommt. Ihm ward Herrschaft und Herrlichkeit und König- thum gegeben, dass alle Völker ihm dienen, seine Herrschaft ist eine ewige, die nie vergeht, und sein Königthum wird nicht zerstört. Da nun der Begriff der ßaertXeia toO 6eou mit den be- kannten sinnlichen Vorstellungen der Juden vom messianischen Reich zusammenhängt, so fragt sich, ob und wieweit sie auch auf die Lehre Jesu von der ßa(nXeia toO 0eoO Einfluss gehabt haben. In dieser Hinsicht ist sehr entschieden zu behaupten, dass sich in der Lehre Jesu nichts von allem demjenigen nach- weisen lässt, was zum Charakteristischen der jüdischen Vor- stellung gehört. Der Begriff des messianischen Reichs ist von Jesu so vergeistigt worden, dass die ßactXeia toO OeoO oder ToSv oOpavöv in seinem Sinne nur eine auf sittlich - religiösen Bedingungen beruhende Gemeinschaft ist, deren letzter End- zweck nicht in der sinnlichen, sondern der übersinnlichen Welt liegt. Diess erhellt vor allem aus dem ganzen Inhalt der Berg- rede, die in dem ersten ihrer Makarismen die Trrwpu; Trveu- (xaTt in die unmittelbarste Beziehung zu der ßaciXeia töv oO- pavöv setzt. Auch die folgenden Makarismen drücken den Ge- danken aus, dass alles, was die ßadiXsia töv oOpavöv gewähren sollte, nur denen zu Theil werden kann, welche in ihrer sitt- lich-religiösen Gesinnung die ihr entsprechende Empfänglich- keit haben. Ist, wie in der Bergrede weiter gesagt wird, die in der vollkommenen Gesetzeserfüllung bestehende Gerechtig- keit die wesentliche Bedingung des Eintritts in die ßa<TtXs(a töv oOpavöv, so ist diese selbst die Sphäre der vollendeten Gesetzes- erfüllung, in welcher der Wille Gottes so verwirklicht ist, wie es der Idee des göttlichen Gesetzes gemäss ist. Am unmittel- barsten ist diess in dem Gebete Matth. 6, 9 f. ausgesprochen, in den Bitten: Es komme zu uns dein Reich, dein Wille geschehe

Die Lehre Jesu vom Reiche Gottes. 71

auf Erden, wie im Himmel. Im Himmel also ist der Wille Gottes vollkommen erfüllt, und in dem vollkommen erfüllten Willen Gottes ist das Reich Gottes selbst verwirklicht. Was im Himmel geschieht, ist das Vorbild für das, was auf der Erde geschehen soll. In demselben Verhältniss also, in welchem der Wille Got- tes auch auf der Erde erfüllt wird, verwirklicht sich das Reich Gottes auf der Erde, es kommt zu uns, entwickelt und ver- breitet sich immer mehr in der Menschheit. Auch als ßxaiXsia Töv oOpavöv darf daher das Reich Gottes nicht blos als ein jenseitiges gedacht werden. Das Diesseitige hängt von selbst mit dem Jenseitigen, das Irdische mit dem Himmlischen, die Gegenwart mit der Zukunft zusammen, es ist eine von einem bestimmten Punkte ausgehende, durch die Realisirung derselben Idee innerlich zusammenhängende, Erde und Himmel umfas- sende Entwicklung. In welchem Contrast dieser rein sittliche Begriff vom Reich Gottes mit den gewöhnlichen Vorstellungen der Juden und ihren Ansprüchen auf dasselbe stand, zeigt der gegen die Jünger gerichtete Ausspruch Jesu Matth. 18,3: Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Nur der anspruchslose, unbe- fangene Sinn der Kinder eignet sich für das Reich Gottes, das erste Erforderniss ist also, dass man sich aller Ansprüche ent- schlägt, die nicht auf sittlicher Würdigkeit beruhen, und in seinem sittlichen Bewusstsein sich des Mangels an allen An- sprüchen und der Nothwendigkeit, sich von allem loszureissen, was sich mit dem Reich Gottes nicht verträgt, bewusst wird, vgl. V. 5 f. Dass es bei dem Reich Gottes vor allem auf die sittliche Würdigkeit ankommt, stellt die Parabel vom Hochzeit- mahl Matth. 22, 2 f. durch das Bild vom hochzeitlichen Kleid, ohne das man nicht als Gast zugelassen werden kann, und durch den Spruch am Schlüsse dar, dass zwar Viele berufen, aber Wenige erwählt sind. Und dass diese Würdigkeit hauptsächlich in der Anspruchlosigkeit besteht, in einer solchen Gesinnung,

79 Erster Abschnitt

welche frei von Lohnsucht nicht darauf ausgeht, ein eigenes Verdienst geltend zu machen, überhaupt nicht quantitativ nach dem äussern Umfang der Werkthätigkeit, sondern nur qualitativ zu beurtheilen ist, soll die Parabel von den Arbeitern im Wein- berg Matth. 20, 1 f. anschaulich machen. Die Letzten sind so viel als die Ersten und die Ersten so viel als die Letzten, weil überhaupt alles im Reiche Gottes so sehr ein freies Geschenk ist, dass man sich nur empfangend verhalten kann. Es fragt sich jedoch bei diesen beiden Parabeln, ob sie sich nicht auf das Verhältniss der Juden und Heiden beziehen,, in welchem Falle wir sie wohl nicht für ächte Parabeln Jesu halten könn- ten. Eine für die Lehre Jesu vom Reiche Gottes besonders wichtige Wahrheit drückt die Parabel Matth. 18, 23 f. vom Knechte, welchem der Herr seine Schuld erlässt, aus. Eifte Haupteigenschaft für das Reich Gottes ist die aus dem Bewusst- sein des eigenen Bedürfnisses der Sündenvergebung fliessende Bereitwilligkeit, Andern ihr Unrecht zu verzeihen. Sie ist die Veranschaulichung des Spruchs Matth. 6, 15: Wenn ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, wird euer Vater auch euch eure Fehler nicht vergeben, und der Bitte im Gebet des Herrn Matth. 6, 12. Zum Verlangen nach Sündenvergebung gehört von selbst Reue und Busse. Wie schon der Täufer mit der Ankündigung, dass die ßa<Tt>.eta töv oOpavöv da sei, den Aufruf zur {ASTocvota verbunden hat, so macht auch Jesus den Eintritt in das Reich Gottes von der Bedingung der Busse abhängig. Diess ist der Sinn der Parabel von den beiden Söhnen Matth. 21, 28 f. und des an sie geknüpften Ausspruchs Jesu V. 31, dass die Zöllner und Huren, weil sie auf die Predigt des Täufers Busse thaten, eher in das Reich Gottes kommen, als die Pharisäer, die keine Busse thun. Welchen Werth überhaupt Busse, Rückkehr von der Sünde, Wiedergewinnung der Verlorenen für das Reich Gottes hat, wie wesentlich es seiner Idee nach darauf beruht, ist in der

Die Lehre Jesu vom Reiche Gottes. 73

kurzen Parabel vom verlorenen Schaf Matth. 18, 12 ausgespro- chen. Da das Reich Gottes durchaus sittlicher Natur ist, die Theilnahme an ihm durch die sittliche Beschaffenheit der Men- schen, ihre subjective Empfänglichkeit für dasselbe bedingt wird, so kann es nicht anders sein, als dass das Verhalten der Men- schen zum Reich Gottes ein sehr verschiedenes ist. Auch dar- auf bezieht sich der Inhalt so mancher Parabel Jesu. Es gehört hieher die Parabel vom Sämann, dessen ausgestreuter Samen auf sehr verschiedenartiges Land fällt, so dass er nur bei We- nigen Früchte trägt. Der Samen ist das Wort Gottes , und das Wort Gottes und die Predigt desselben ist die Grundlage des Reichs Gottes, Matth. 13, 3 f. Bei dieser Parabel wird voraus- gesetzt, dass die, die das Wort Gottes nicht annehmen, auch nicht zum Reich Gottes gehören. Wenn aber auch das Reich Gottes seiner Idee nach nur aus würdigen Mitgliedern bestehen kann, und die Aufnahme eines jeden nur durch seine sittlichen Eigenschaften bedingt ist, so kann es doch der Natur der Sache nach nicht anders sein, als dass in ihm, wie es in seiner zeit- lichen Erscheinung und Entwicklung ist, eine Mischung ver- schiedenartiger Subjecte stattfindet. Davon handelt die Parabel von dem Unkraut auf dem Acker, Matth. 13, 24 f. Mitten unter den guten Samen wird auch Unkraut gesät, vom Teufel. Beides geht neben einander auf, und es bleibt nichts übrig, als beides neben einander stehen zu lassen, zuletzt aber muss das Eine von dem Andern geschieden werden. Es ist daher auch sonst von einer am Ende erfolgenden Sichtung und Scheidung die Rede, wie in der Parabel von dem Netz, in welchem gute und faule Fische unter einander sind, Matth. 13, 48. Das Reich Gottes wird vollendet durch die Scheidung der Guten und Bö- sen, seine Idee ist realisirt, wenn alle fremdartigen Elemente, die noch mit ihm vermischt waren, ausgeschieden sind. Je gei- stiger, wie besonders aus diesen rein sittlichen Begriffen er- hellt, das Reich Gottes aufgefasst wird, um so grösser ist auch

74 ««1{oÜ «^ Erster Abschnitt.

der Werth, welcher ihm zugeschrieben werden muss. Das Reich Gottes ist es allein, das einen absoluten Werth hat. Darum wird das Himmelreich mit einem in einem Acker verborgenen Schatz verglichen, für welchen der, der ihn findet, alles, was er hat, gibt, um den Acker zu kaufen, es ist die Eine kostbare Perle, für welche alles gegeben wird, Matth. 13, 45 f. Als das, was allein einen wahrhaft geistigen, absoluten Werth hat, ist es eine Kraft, welche von ihrem Innern Triebe heraus sich ent- wickelt, und in's Unendliche sich erstreckende Wirkungen her- vorbringt. Es gleicht einem Sauerteig, welcher die ganze Masse durchdringt, einem Senfkorn, das vom kleinsten Anfang aus zum mächtigsten Baum emporwächst, Matth. 43, 31 f. Es ist das der Menschheit eingepflanzte göttliche Princip, das als das Substanzielle in ihr mit einer über alles übergreifenden Macht in ihr wirkt. In allen diesen Beziehungen erscheint das Reich Gottes von einer rein sittlichen Seite. In ihm ist der Mensch in den Kreis einer Thätigkeit hineingestellt, in welchem er die Aussagen seines sittlichen Bewusstseins als den an ihn erge- henden göttlichen Ruf zu betrachten hat, dessen Befolgung oder Nichtbefolgung von seiner Empfänglichkeit für das Göttliche abhängt. Das Verhältniss des Menschen zum Reich Gottes ist hier noch ein ganz einfaches und unbestimmtes, aber durchaus freies, auf sittlicher Selbstbestimmung beruhendes; alles, wo- durch es in der weitern Entwicklung der Lehre des Christen- thums vermittelt wird, liegt noch ausserhalb dieses ursprüng- lichen Gesichtskreises. Was sonst dabei noch zur Sprache kom- men könnte, wie namentlich die Frage, ob das Reich Gottes im Sinne Jesu sich auch auf die Heiden erstrecken sollte, oder blos auf die Juden, hängt mit der Lehre Jesu von seiner Person und seiner messianischen Bestimmung zusammen. Indem wir nun darauf übergehen, ist als Resultat aus dem Bisherigen festzu- halten, dass Jesus ebenso, wie er in der Bergrede als seine .Aufgabe die Yergeistigung des Gesetzes, die Erhöhung der sitt-

Die Lehre Jesu von Beiner Person. 75

liehen Anforderungen an den Menschen und die Veredlung seines innern und äussern Lebens aussprach, so auch in seinen Gleichnissreden das Messiasreich niemals im jüdischen Sinne, sondern immer nur als ein sittlich -religiöses Gemeinwesen schildert.

Was nun die Lehre Jesu von seiner Person und Messianilät betrifft, so ist diess der schwierigste Punkt der neutestament- lichen Theologie. Welcher grosse Unterschied findet gerade in dieser Beziehung zwischen dem johanneischen Evangelium und den synoptischen Evangelien statt, welche ganz andere Christo- logie erhalten wir, wenn wir alles dasjenige, was Jesus bei Johannes von sich und seiner höhern Würde behauptet, als die ächte Lehre Jesu betrachten, und wenn wir uns blos an die synoptischen Evangelien halten? Aber auch bei den synopti- schen Evangelien selbst kommt alles darauf an, dass nichts zu der ursprünglichen Lehre Jesu gerechnet wird, was nur der Ansicht der Evangelisten angehört, wie sie sich erst nach dem Tode Jesu gebildet hat. Wie leicht konnte geschehen, dass nachdem einmal den Jüngern Jesu nach seinem Tode sein ganzes Leben und Schicksal in einem höhern Licht erschien, und ihr messianischer Glaube seine bestimmtere Ausbildung erhalten hatte, auch die Evangelisten selbst in die Aussprüche Jesu Manches übertrugen, was nur aus ihrer spätem Anschauungs- weise genommen war. Es kommt daher hier alles zur Anwen- dung , was sich aus der Evangelienkritik theils über das Ver- hältniss des johanneischen Evangeliums zu den synoptischen Evangelien, theils über die Entstehung der synoptischen Evan- gelien als Resultat ergibt.

Es kommen hier zuerst die beiden Ausdrücke zur Bezeich- nung des Messias 6 uiö? toO avOptoTrou und 6 utö? toO OsoO in Betracht, und es fragt sich , in welchem Sinne Jesus dieselben sich beilegte. Die gewöhnlichste Bezeichnung, die sich Jesus in den Evangelien gibt, ist 6 uiö? toö ivGpwTtou. Bei Matthäus

76 ,tiO»'i9H tErster AbBohnitt.

nennt sich Jesus zuerst 8, 20 so: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel des Himmels Wohnungen , des Menschen Sohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt legen soll. Es ist immer nur Jesus selbst, welcher in seinen Reden sich so bezeichnet, im neuen Testament kommt sonst dieser Ausdruck nur in der Rede des Stephanus Apostelgesch. 7, 56 vor, wo Stephanus sagt: Ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehend. Hier ist der zum Himmel erhobene Jesus als Messias so bezeichnet. Über die Quelle, aus welcher dieser Ausdruck abzuleiten ist, gibt den besten Aufschluss die Stelle Matth. 24, 30., wo Jesus in seiner Weissagung über Jerusalem und in seiner Verkündigung der Parusie sagt: Und dann wird das Zeichen des Menschensohns am Himmel erscheinen, und alle Geschlechter der Erde werden klagen, und sie werden den Menschensohn kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit grosser Macht und Herrlichkeit, Ganz ebenso heisst es Matth. 26,64., wo Jesus vor seinen Richtern sagt: Von jetzt an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Macht und kommen auf den Wolken des Himmels. Sehr deutlich weisen diese Stellen auf Dan. 7, 13 f. zurück, wo der Prophet nach der Beschreibung der vier Thiere sagt: ich sah und siehe mit den Wolken des Himmels kam wie eines Menschen Sohn C^^gt ^issi, (i? uiö? avöptoTiou LXX), und man brachte ihn vor den Alten der Tage und ihm ward Herrlichkeit und Königreich gegeben. Die vier Thiere bedeuten die vier grossen Weltreiche. Nach dem Untergang des letzten, des macedonischen, zu welchem das syrische gehört, soll das Reich auf ewige Zeiten dem Volke Gottes gegeben werden. Der mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn Kommende kann daher nur der Messias sein, der im Volke Gottes der Stifter eines neuen Reiches wer- den sollte. Der Hauptzug aber, mit welchem das von Daniel beschriebene Wesen als ein messianisches bezeichnet wird, ist nicht die Vergleichung itiit einem Menschen oder eines Menschen

Die Lehre Jesu. Der Menschensohn. TT

Sohn, sondern das Kommen in den Wolken des Himmels. Da die dem messianischen Reich vorangehenden Weltreiche durch Thiergestalten symbolisirt sind, so kann die Bezeichnung des Messias als Menschensohns nur im Gegensatz gegen jene Thiere genommen werden, sei es nun, dass dadurch der Gegensatz der Humanität des zu erwartenden Reichs der Heiligen gegen die durch Thiergestalten versinnlichte Inhumanität der früheren Reiche, oder überhaupt nur der Vorzug, der in der edleren Form bestehende specifische Unterschied des erstem vor den letztern ausgedrückt werden soll 0- Es lässt sich wohl an- nehmen , dass nach sonstiger Analogie 6 uiö; toO dvOpwTcou eine bei den Juden nicht ganz ungewöhnliche Bezeichnung des Mes- sias war. Auch im Buch Henoch, dessen Ursprung nach den neuesten Untersuchungen in die vorchristliche Zeit, in das zweite Jahrhundert vor Christus zu setzen ist, ist diess eine sehr ge- wöhnliche Bezeichnung des Messias. Er heisst Menschensohn, Sohn des Menschgeborenen, Sohn des Mannes, Sohn des Weibes, durch welche Namen alle er als wahrhaftiger Mensch bezeichnet werden soll 0- Die Frage ist nur, ob gerade die diesen Mes- siasbegrifF enthaltenden Stellen so entschieden als vorchristlich anzunehmen sind, wie Ewald ^), Dillmann und auch Köst- lin*) annehmen. Dass der Ausdruck auf Daniel zurückzuführen

1) Hitzig, Proph. Daniel S. 116 f. versteht unter dem Menschen- sohn nicht den persönlichen Messias. Die Hoffnung des persönlichen Messias tauche weder in den ührigen Apokryphen, noch in 1 Maccah. auf, noch in den maccabäischen Psalmen. Schon dem Ohadja und Ma- leachi sei sie fremd, dagegen sei Ps. 89, 39. 84, 10 vielmehr das Volk der Messias, der Gesalbte Gottes. Der Menschensohn sei das concreto Bild des Reichs, das die Heiligen sind, das Reich, sofern es herrscht über die Heiden. Dieses Reich kommt vom Himmel herab, die Heiden dagegen stammen aus der Hölle.

2) Vgl. Dill mann. Buch Henoch, 1853. S. 157. \ ., ,,,^

3) Geschichte Christus' (G. d. Volks Isr. V. 2. A.) S.'so t

4) J. Köstlin, Einheit und Maimigfaltigkeit der neutestamentl. Lehre. Jahrb. für deutsch. Theol. Jahrg. HL 1858, S. 90 £,

78 .nito«! Erster Abschnitt.

ist, leidet keinen Zweifel; ob er aber zur Zeit Jesu eine so gangbare Bezeichnung des Messias war, dass Jesus, wenn er sich so nannte, sich damit unmittelbar als Messias bezeichnete und annehmen musste, dass er auch von Andern dafür gehalten werde, ist eine andere Frage. In jedem Fall kommt es vor allem darauf an, zu wissen, in welchem Sinn der Ausdruck in den betreffenden Stellen des neuen Testaments zu nehmen ist. Je weniger sonst diese Bezeichnung bei den Juden geläufig ge- wesen zu sein scheint, um so mehr muss man fragen, warum sie Jesus gerade vorzugsweise wählte und welchen Begriff er mit ihr verband.

Der Ausdruck kann in jedem Fall nur so verstanden wer- den, dass in ihm auf das Menschliche seiner Person besonderes Gewicht gelegt werden soll; aber in welchem Sinn, etwa so, dass damit gesagt werden soll, ungeachtet seiner hohen, über- menschlichen, göttlichen Würde sei er dennoch Mensch? Diess könnte nach den johanneischen Stellen, in welchen der Ausdruck gebraucht wird, der Sinn zu sein scheinen. Wenn Jesus Joh; i, 52 sagt: Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herabsteigen auf des Menschen . Sohn, so ist hier des Menschen Sohn der Vermittler des Gött- lichen und Menschlichen, derjenige, der in seiner Person beides vereinigt. Dieselbe Einheit des Göttlichen und Menschlichen, des Himmels und der Erde soll Joh. 3, 13 in dem uto? toO dcv- SpwTTou angeschaut werden. Wenn Joh. 5, 27 gesagt wird, der Vater habe dem Sohn die Macht gegeben, auch Gericht zu halten, oTt uiö; dcvöpwTTOu eaxl, so kann diess nur so verstanden werden,, dass derselbe, welcher mit dem Vater so identisch ist, dass er alles, was der Vater hat, mit ihm theilt, alles thut, was der Vater thut, aber auch als Sohn die göttliche Thätigkeit vermittelt und als Sohn das thut, was der Vater nicht unmittelbar thun kann, auch eine den Menschen besonders nahe stehende Seite hat, und so die Menschen richtet, weil er selbst Mensch, des Menschen

Die Lehre Jesu. Der MenschenBobn. 79

Sohn ist ^). Auch Joh. 6, 53 kann der uio? tou ävöptüTuou nur in Beziehung auf das Göttliche, das er in seiner Person mit dem Menschlichen vereinigt, genommen werden. Das (payeTv ttiv (japxa ist der prägnanteste concretesle Ausdruck für die Auf- nahme des Göttlichen von Seiten des Menschen; wie ist aber dieses «paysTv ttjv capxa möglich, wenn nicht der, dessen Fleisch gegessen werden soll, als der mit dem Vater identische Sohn, auch eine menschliche Seite an sich hat? Der uiö; toO avÖpwTrou soll also hier die Möglichkeit des (payeiv txv capxa erklären. Im Gegensatz gegen das Göttliche soll also in allen diesen Stellen auch die andere menschliche Seite und die Einheit des Göttlichen und Menschlichen festgehalten werden. Was berechtigt uns aber, diese johanneische Christologie auch in den synoptischen Aus- sprüchen Jesu von seiner Person vorauszusetzen? Es wäre gewiss eine sehr falsche Auffassung, wenn man den Ausdruck ui6; TOU ävöpwTTou bei den Synoptikern so verstehen wollte, Jesus wolle mit ihm sagen, er sei, ungeachtet er an sich nicht Mensch, sondern Gott sei, doch zugleich Mensch. Aber in welchem Sinn will er denn ganz besonders Mensch sein? Ist er als uioi; toO dcvöpcoxou Mensch im höchsten Sinn, Urbild der Menschheit, wie Neander meint ^), er nenne sich. so als den der Menschheit Angehörenden, der in der menschliehen Natur für dieselbe so Grosses gewirkt hat, durch den dieselbe ver- herrlicht wird, welcher in dem vorzüglichsten, dem der Idee entsprechenden Sinne Mensch ist, der das Urbild der Menschheit verwirklicht? Diese Idee könnte man höchstens in dem Aus- spruch Matth. 12, 8 finden: des Menschen Sohn ist auch Herr

1) Sagt man, das Richteratnt des Sohns solle motivirt werden darch Hinweisnng auf die Erscheinung des TÖ3N "13 beim Weltgericht im Buch Daniel, so sollte man eher 6 utbi; tou av8pb>nou erwarten. Dass es schlecht- hin uFo; avOptüTCou heisst, scheint auch blos an das Menschliche seiner Erscheinung denken zu lassen.

2) Das Leben Jesu Christi, 1837. S. 130 £

80 i(<o««».<t Erster Abschnittäiitawl uiÜ

des Sabbaths; und zwar nach der Fassung bei Marc. 2, 27., wo noch dabei steht: der Sabbath ist um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Sabbaths willen. Was vom Menschen über- haupt gilt, gilt um so mehr von dem idealen Menschen, dem Messias. Sonst aber deutet nichts darauf hin, dass der uid; avSpwTTOu gerade in diesem Sinne zu nehmen ist, und man kann fragen, ob sich Jesus nicht eher im entgegengesetzten Sinne so nennen wollte, um sich als den zu bezeichnen, der Mensch ist und nur Mensch sein will, mit allem, was das menschliche Da- sein Menschliches in sich begreift. In diesem Sinne bemerkt de Wette zu Matth. 8, 19: Wir müssen annehmen, dass sich Jesus den Menschensohn nannte, weil er in seiner menschlichen unscheinbaren Individualität den Messias darstelle, gerade so wie auch Daniel die menschliche Gestalt desselben bezeichnen will und so wie Ezechiel sich Gott gegenüber als Menschensohn, d. h. als schwachen Sterblichen darstellt, so dass der Ausdruck für diejenigen, welche nicht an Dan. 7, 13 dachten, nichts weiter hiess, als dieser Mensch = ich, in Beziehung auf jene Stelle aber: ich dieser unscheinbare Mensch, der trotz seiner Niedrigkeit dazu bestimmt ist, das zu sein, was der Prophet geweissagt hat. Wenn man es aber so wendet, so hätte er sich damit doch als Messias bezeichnet im Sinne Daniels. Um darüber zu entscheiden, muss man die Stelle Matth. 16, 13 etwas ge- nauer in's Auge fassen. Jesus fragt hier die Jünger: Wer sagen die Leute, dass ich sei, ich der uto? tou ävöpwTtou? Sie ant- worteten : die Einen, Johannes der Täufer, Andere Elias, Andere Jeremias, oder einer der Propheten. Darauf sagte er zu ihnen: Wer aber sagt ihr, dass ich sei? Wie hätte Jesus so fragen können, wenn er mit dem Ausdruck uid? toO avOpwTrou unmittel- bar den Begriff des Messias verbunden hätte? Er lässt bei seiner Frage eine zu grosse Weite für die Antwort offen, während er doch, wenn er sich mit dem Ausdruck uid; toO av6pa>7rou als Messias bezeichnen wollte, nur fragen konnte, nicht, für wen

Die Lehre Jesu. Der Menschensofan. 81

sie ihn halten, sondern ob sie ihn für des Menschen Sohn halten. Man kann daher seine Frage nur so nehmen: für wen sehet ihr mich an, der ich mich durch den eigenthümlichen Ausdruck 6 uio? TO'j ävöpwTTou zu bezeichnen pflege. Man muss daher auf die Yermuthung kommen, dass Jesus den zwar aus Daniel ge- nommenen, aber doch zur Bezeichnung des Messias nicht so gewöhnlichen und gangbaren Ausdruck in der Absicht für sich wählte, nicht um damit so direct zu sagen, er sei der Messias, sondern vielmehr um im Gegensatz gegen die nur Glänzendes vom Messias erwartenden jüdischen Vorstellungen sich schlecht- hin als Menschen zu bezeichnen, nicht als Menschen im idealen Sinne, sondern als den, der alles Menschliche theilt, qui nihil humani a se alienum putat. Dass dieses in uiö? ÄvöptüTrou liegen kann, sieht man aus Joh. 5, 27. Denn wenn es hier nicht wie sonst immer 6 oSo? avOptorou, sondern ohne Artikel blos uiö? avOptoTTOu heisst, so kann der Grund hievon nur sein, dass Jesus hier nicht das Messianische seiner Person, sondern das acht Menschliche hervorheben will. Weil er als uiö? avöpcorou Mensch ist, hat ihm Gott das Gericht übergeben. In diesem Sinne also hätte sich Jesus zunächst nur uiö; ävOpcoTuou genannt, ohne sich so bestimmt als Messias zu bezeichnen, oder so verstanden zu werden, da man nicht anzunehmen braucht, dass diess damals schon eine so gewöhnliche und vulgäre Bezeichnung des Messias war. Damit stimmt gut zusammen, dass Jesus in der ersten Stelle, in welcher bei Matthäus dieser Ausdruck gebraucht ist, 8, 19., auf die Rede des Schriftgelehrten: Ich werde dir folgen, wohin du auch gehst, die Antwort gibt: Die Füchse haben Gruben u. s. w., des Menschen Sohn aber hat nicht, wohin er sein Haupt legen kann. Zur Bestimmung des Menschensohns gehört es also, alles niedrig Menschliche zu ertragen. Wenn aber Jesus ursprünglich nur sagte utö? ävBpwTirou, so hatte er auch nur gesagt: ein Menschenkind, wie ich, muss auch das Niedrigste ertragen, was zum Loos eines Menschen gehört.

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Baur, neutest. Theol. ^

gg .nifp*0 ErBter Abschnitt.

Weil einmal auch das menschlich Leidensvolle dazu gehört, so wird besonders auch, wenn vom Leiden Jesu die Rede ist, dieser Ausdruck gebraucht Matth. 17, 12. Nachdem aber einmal Jesus diesen Ausdruck ursprünglich nur in diesem Sinne gebraucht und zu einer gewöhnlichen Bezeichnung seiner Person gemacht hatte, nahm man erst jenes andere Moment aus der Daniel'schen Stelle noch auf, nach welchem jener Menschensohn der Messias, 6 uiö; ToO ävOpojTTou, der in den Wolken des Himmels Kommende ist. Es wurde diess daher das stehende Prädicat Jesu in der Schilderung seiner Parusie, wie auch die Apokal. 1, 13; 14, 14 diesen Ausdruck mit deutlicher Hinweisung auf Daniel ge- braucht 0- ffl-«»i»i4th «aflll '^ -\»A»^ mim\\r

1) Weisse, die Evangelienfrage in ihrem gegenwärtigen Stadinm, 1856, S. 101 f. und 210 f. bestreitet als einen grossen Irrthum die ge- wöhnliche, auch von Ewald vertheidigte, Meinung, dass das Wort uVo; Tou ivOpwJcou, angeblich aus Dan. 7, 13 abgeleitet, schon vor Christus ein gestempelter Aixsdrnck für den jüdischen MessiasbegrifF gewesen und von ihm eben nur als ein solcher aufgenommen worden sei. Dieser Irrthum werde schon durch den einfachen Hinblick auf Stellen wie Marc. 8, 29 und Job. 12, 34 widerlegt. Bei Daniel bezeichnen die Worte: „wie eines Menschen Sohn" nichts anderes als einfach nur die Menschen- älmlichkeit der Erscheinung, welche dort geschildert werden soll. Unter dieser Erscheinung sei nicht der kommende Messias gemeint, sondern Daniel theile mit den altern Propheten nur das ganz xVllgemeine der Erwartung einer idealen Zukunft des israelitischen Volkes. Der Menschen- sohn Daniels müsste. also erst nachträglich von den Juden auf den Mes- sias gedeutet worden sein. Diess könne mau aber nicht annehmen bei -der in den Evangelien so klar vor Augen liegenden Thatsache, dass weder das Volk noch selbst die Jünger bis zu der Unterredung Marc. 8, 27 in dem Worte Menschensohn den Begriff des Messias geahnt haben. Im Zusammenhang damit erklärt Weisse das Buch Henoch für ein un- zweifelhaftes Erzeugniss der christlichen Zeit. Wenn auch diese letzteren Behauptungen nicht ganz unberechtigt sind , so ist doch die Erklärung, welche Weisse von dem Ausdruck u!o{ tou av6ptoJtou gibt, so unnatürlich und geschraubt, dass man ihr auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit beilegen kann. Der Begriff des Menschensohns soll in Christus' Munde das Nämliche sagen, wie der Begriff des "köyoi aapxcuOE^f im Munde des Jüngers, der eben mit diesem Ausdruck sein richtiges Verständniss der et

Die Lehre Jesu. Der Menschen- und Gottessohn. 83

Einfacher ist die Bedeutung des parallelen Ausdrucks uiö? Toii 6soO. Im weitesten Sinne sind uCol toO öeou alle, die sich durch ihr sittliches Verhalten des göttlichen Wohlgefallens wür-

erbabenen Lehre des Meisters bewährt habe. Das lou avöptuTrou könne auch eine blos adjectivische Bedeutung haben, und als Prädicat von utb; genommen werden. Wenn Weisse zu Marc. 8, 27 bemerkt, schon die Frage, wofür ihn das Volk und wofür ihn die Jünger halten, wäre nicht zn begreifen , wenn Jesus sich schon zuvor einen dem Messiasnamen äquivalenten Namen beigelegt hätte, so ist ihm entgegenzuhalten, woher wissen wir denn, dass sich Jesus von Anfang an so genannt hat, es kann diess ja auch blos der Darstellung der Evangelien angehören, es lässt sich ja nnnehmen, dass Jesus erst von einem bestimmten Zeitpunkt an dem von ihm zuerst nur unbestimmt gebraucliten Ausdruck uio? av- 6pa>::üu diese bestimmte messianische Bedeutung gegeben hat. Daher hat auch das Verbot V. 30 nichts so unbegreifliches. In der Stelle Job. 12, 34 meint Weisse die Worte Tt's saxtv u. s.w. sollen nach der Absicht des Erzählers offenbar die Unbekanntschaft der Juden mit dem Sinne des Namens ausdrücken , es verrathe sich in ihnen das Bewusstsein , dass ja doch „Menschensohn" nicht von dem Volk ohne Weiteres als Ausdruck für den Begriff des Messias verstanden worden sei. Allein diese Erklärung ist nicht die richtige. Das Volk nimmt vielmehr XptuTo? und utb; av- Opw;rou als gleichbedeutend, es weiss, dass der uld; tou avöptojiou der Messias ist, es wundert sich aber darüber, dass Jesus von dem als uro; TOU av6pc[»::ou bezeichneten Messias etwas aussagt,' was er bisher mit seinem Messiasbegriff nicht zu verbinden gewohnt war, dass er nämlich nicht {xe'vsi £?s tbv a?t5va, sondern sterben soll. Diese Stelle beweist also eher das Gegcntheil von Weisse's Behauptung. Alle diese Bedenklich- keiten heben sich, wenn man annimmt, Jesus habe den zu seiner Zeit zur Bezeichnung des Messias noch nicht so gewöhnlichen und vulgären Ausdruck zuerst nin* in einem noch unbestimmteren und allgemeineren Sinn gebraucht und erst später sei damit von ihm selbst und von den Jüngern der bestimmtere Begriff des Messias verbunden worden. Es ist also zur Erklärung des Ausdrucks zweierlei festzuhalten: 1) dass Jesus ihn zuerst nur in dem angegebenen unbestimmteren und allgemeineren ' Sinn gebrauchte, und 2) dass der Ausdruck auch bei den Juden selbst noch keine so gewöhnliche und vulgäre Bezeichnung des Messias war, dass man den Ausdruck nicht anders als vom Messias verstehen konnte. So kann man sich also nicht wundem, dass Jesus Matth. 16, 13 so fragt und die Jünger so antworten. [Man vgl. über diesen ganzen Abschnitt des Verfassers Abhandlung in Hilgenfeld's Zeitschr. für wissensch. Theol. Dritter Jahrg. 1860. S. 274—292.]

84 ,idoa»e»ta|[) Erster Abschnitt, ,rf>J 9H1

dig machen. So werden Matth. 5, 9 Cvgl. 45) die Friedfertigen, Luc. 6, 35 die, welche Gott in der Feindesliebe und Wohlthätig- keit nachahmen, utol öeoO, uiol u^|/i<jtou genannt. In speciellem Sinne aber ist der uiö; toO OsoO der Messias. Ausdruck und Begriff stammt aus dem jüdisch-theokrätischen Ideenkreise. Im Alten Testament wird sowohl das Volk Israel als der König desselben der Sohn und Erstgeborne Gottes genannt. Die classi- sche Stelle für dieses Verhältniss de& theokratischen Königs zu Gott ist der Spruch des Propheten Nathan 2 Sam. 7, 14 f., wo Gott zu David in Beziehung auf seinen Sohn und Nachfolger spricht: Ich will ihm Vater sein und er soll mein Sohn sein, so dass, wenn er sich vergehet, ich ihn züchtige mit Menschenruthen und mit Schlägen der Menschenkinder, und meine Gnade soll nicht weichen von ihm, und dein Thron soll fest sein auf ewig. Der Name Sohn soll daher das besondere und unmittelbare Lie- besverhältniss bezeichnen, in welchem Gott als väterlich leiten- der und züchtigender Erzieher zu dem theokratischen König steht. Zu vergleichen sind hiemit die .Psalmstellen Ps. 2, wo der König der Gesalbte Gottes genannt wird: Ich habe meinen König gesalbt auf Zion, meinem heiligen Berg, und Gott zu dem Könige sagt: Du bist mein Sohn, ich habe dich heute gezeuget, und Ps. HO, wo der König als Mit- und Unterregent, als Statt- halter Gottes geschildert wird. Wie sich die Messias-Idee über- haupt erst aus dieser theokratischen Anschauungsweise ent- wickelte, so lag es ganz in der Natur der Sache, dass mit der weiteren Ausbildung derselben auch jener theokratische Begriff und Name vorzugsweise auf den Messias übergieng. Er ist der Sohn Gottes, welcher den Davidischen Königsthron herstellen und zu seinem höchsten Glanz erheben sollte. Der uiö? SsoO ist gleichbedeutend mit uJo? Aaßi^, XpiuTo; oder Meaata; und Ba- (TtXeuc Tou 'IffpaviX (Joh. 1, 50), und alle diese Namen waren zur Zeit Jesu die gangbarsten Bezeichnungen des Messias.

Indem wir nun nach diesen einleitenden Bemerkungen zur

Die Lehre Jesu von seiner Person. 85

weiteren Untersuchung der Lehre Jesu von seiner Person fort- gehen, so ist hier der eigentliche Fragepunkt, um welchen es sich handelt, sehr genau festzustellen. Nach der evangelischen Geschichte ist Jesus, sobald er durch seine Taufe feierlich als Sohn Gottes oder Messias dargestellt war, mit der ihm eigen- thümlichen Würde und Bestimmung aufgetreten , und alle seine Reden und Handlungen und besonders die von ihm verrichteten Wunder waren ebenso viele Beweise seiner höheren Sendung. Es bedurfte von seiner Seite nicht erst einer bestimmten Er- klärung über die Bedeutung seiner Person. Die Sache selbst, seine ganze Erscheinung bezeugte aufs Unzweideutigste von selbst, wer er war. Dieses Factische kommt jedoch hier für uns nicht in Betracht, da es die Aufgabe der neutestamentlichen Theologie nicht sein kann, eine kritische Geschichte des Lebens Jesu zu geben. Es fragt sich daher nur, was Jesus selbst über seine Person gelehrt hat, und da wir nach den Grundsätzen der neuesten Kritik das johanneische Evangelium nicht mit den synoptischen Evangelien zusammennehmen können, so be- schränkt sich auch diese Frage auf die Aussprüche Jesu in den synoptischen Evangelien. Aus ihnen ist daher zu erhebeir, was Jesus von seiner Person lehrte, ob und in welchem Sinn er sich als Messias betrachtete. Dabei dringt sich nun aber sogleich die Frage als eine sehr schwierige auf, ob es möglich ist, die darauf sich beziehenden Aussprüche Jesu von dem Factischen, mit welchem sie verflochten sind, so zu trennen, dass die- selben Zweifel, welche das Factische betreffen, nicht auch auf sie sich erstrecken. Es wird diess kaum möglich sein, indess ist doch der Versuch zu machen, um zu sehen, welches Resultat sich auf diesem Wege ergibt, und es sind daher hier nach dem Evangelium des Matthäus die Aussprüche Jesu über seine Person zusammenzustellen.

Die erste hieher gehörende Stelle ist schon in der Bergrede Mattb. 7, 21, wo Jesus sagt: Es wird nicht jeder, der zu mir

S6 .110«'! Erster Abschnitt.

sagt, Herr, Herr, in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel thut. Es werden Viele an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt? u. s. w. So konnte Jesus nur sprechen, wenn er im Hinblick auf seine Parusie sich als den Richter der Welt betrachtete. Aber welche Bürgschaft haben wir dafür, dass Jesus diesen Ausspruch wirklich schon damals gethan hat, da es bekanntlich sehr zweifelhaft ist, ob Jesus die Bergrede als diese zusammenhängende Rede, wie sie Matthäus gibt, gehalten hat, ob alle Aussprüche Jesu, die sie enthält, schon in eine so frühe Zeit gesetzt werden können, und ob nicht Manches erst von dem spätem Standpunkt des Evangelisten aus diese bestimmte Form erhalten hat. Gerade bei diesem Aus- Spruch ist diese Annahme sehr leicht möglich. Der Zusammen- hang wird nicht im Geringsten unterbrochen, wenn man sich die Verse 21—23 aus demselben hinwegdenkt. Das so bestimmt ausgesprochene Bewusstsein Jesu von seiner weltrichterlichen Macht hat in der ganzen Rede nichts Analoges, nicht einmal 5, 17 schliesst ein solches Bewusstsein in sich. Auch das ver- dient beachtet zu werden, dass während Jesus in der ganzen Rede seinen Zuhörern gegenüber von Gott als dem 7raTr,p u(aöv spricht, er ihn nur hier speciell seinen Vater nennt. Es findet demnach zwischen diesem Ausspruch und dem übrigen Inhalt der Bergrede der bedeutende Unterschied statt, dass Jesus sonst nur als Gesetzesreformator und als ein mit dem Ernste der sitt- lichen Auctorität wirkender Volkslehrer auftritt, hier dagegen er schon das specifische Prädicat des Messias in seinem ganzen Umfang für sich in Anspruch nimmt. Lässt sich auch nicht be- zweifeln, dass er diess gethan hat, und jener Ausspruch ein achtes Zeugniss seines messianischen Bewusstseins enthält, so ist man doch zu der Annahme nicht berechtigt, dass er einer so frühen Periode seiner öffentlichen Thätigkeit angehört. In der Stelle Matth. 8, 20 konnte sich Jesus den Menschensohn nennen,

Die Lehre Jesu von seiner Person. Q^

ohne, wie schon bemerkt worden ist, in diesen Ausdruck eine bestimmte messianische Bedeutung hineinzulegen.

Anders aber ist es Matth. 9, 1 8, wo Jesus als der jiö; ToO dcvöpwTcou die Macht zu haben behauptet, die Sünden zu vergeben. Dass er sich hiemit als Messias göttliche Macht und Würde beilegen wollte, beweist der ganze Hergang der Sache. Die Gegner nahmen sein Wort zu dem Kranken: Deine Sünden sind dir vergeben, als eine Gotteslästerung, da nur Gott die. Macht hat, die Sünden zu vergeben. Da ihm aber der Vorwurf der Gotteslästerung oder der Gleichstellung seiner Person mit Gott nur gemacht werden konnte, wenn er eine göttliche Macht zu haben sich anmaasste, die er nicht wirklich hatte, oder etwas zu sein behauptete, was er nicht wirklich war, so erwiederte er seinen Gegnern : Ihr dürft nicht meinen , dass ich mir etwas angemaasst habe, was mir nicht wirklich zukommt. An sich ist freilich das Eine so leicht als das Andere. Ob ich sage: deine. Sünden sind dir vergeben, oder: stehe auf und gehe umher, ist den Worten nach gleich viel, darauf aber kommt es an, dass man das, was man sagt, auch durch die That zu verwirklichen im Stande ist. Um euch nun aber zu zeigen , mit welchem reel- len Grunde ich gesagt habe zu dem Kranken, deine Sünden sind dir vergeben, füge ich den factischen Beweis hinzu, indem ich ihn aufstehen und nach Hause gehen heisse. So gewiss ich also die göttliche Macht habe, den Kranken augenblicklich durch ein Wunder zu heilen , so gewiss habe ich auch das göttliche Recht und die göttliche Macht, die Sünden zn vergeben. So nahm daher auch das Volk das geschehene Wunder auf, indem es Gott darüber pries, dass er eine solche Macht dem Menschen gegeben habe, d. h. einen Menschen habe auftreten lassen, der als ein Mensch wie Andere, gleichwohl mit einer solchen wahrhaft göttlichen Macht ausgerüstet sei. So enthält demnach die Stelle die unzweideutigste und unmittelbarste Erklärung Jesu über seine messianische Würde und Bestimmung. Als uid; tou «v-

8S .uo«i Erster Abschnitt.

öpwTTOu ist er auch der Messias, und es hilft nichts, mit de Wette zu sagen, der positive Begriff des Messias wäre hier unpassend, der uio? ToO äyOpconroi» heisse im Gegensatz gegen Gott so viel als: ich, dieser unscheinbare, aber zum Messias bestimmte Mensch. Wie kann er zum Messias bestimmt sein, wenn er nicht der Messias ist? Wenn aber hier Jesus mit derselben Ge- wissheit, mit welcher er den Kranken geheilt hat, die Macht der Sündenvergebung zu haben behauptet, so ist klar, wie eng die Realität seines Ausspruches mit der Realität des Factischen zusammenhängt, und" wir können daher nur in dem Falle vor- aussetzen, dass er sich über seine messianische Würde wirklich so erklärt hat, wenn wir auch Ursache haben, anzunehmen, dass es sich mit jener Wunderheilung wirklich so verhielt, wie die Erzählung lautet. Welche Zweifel aber in dieser Beziehung stattfinden, darf hier nicht weiter erörtert werden.

In der Instructionsrede Matth. 10, 5 f. spricht Jesus im vollen Bewusstsein der geschichtlichen Bedeutung seiner Lehre und der tief eingreifenden Wirkungen, die sie in der Welt her- vorbringen werde; dieses Bewusstsein konnte er jedoch haben, ohne es einzig nur auf die messianische Idee stützen zu müssen. Es sind nur zwei Stellen in dieser Rede, die messianisch lauten. V. 23 sagt er zu seinen^ Jüngern , sie werden allgemein gehassl werden, wenn sie aber ihre Gegner in der einen Stadt verfolgen, sollen sie in eine andere fliehen , denn er sage ihnen , sie wer- den den Weg durch die Städte Israels nicht vollenden, bevor des Menschen Sohn komme. Es kann diess nur zum Trost der Jünger gesagt sein. Sie werden dadurch getröstet, dass, ehe sie noch auf der Flucht Judäa durchwandert haben werden, des Menschen Sohn zu ihrem Heil und zu ihrer Hülfe erscheinen werde. Welches i^iytcHon des Menschensohns in so naher Zeit könnte gemeint sein, als das zur Zerstörung Jerusalems? Wenn aber Jesus Matth. 24 seine mit der Zerstörung Jerusalems er- folgende Parusie nicht so geweissagt haben kann, wie er sie

Die Lehre Jesn von seiner Person. 89

nach Matth. 24 geweissagt haben soll, so kann er auch hier keinen solchen Ausspruch gethan haben. Die zweite Stelle, welche ein messiänisches Bewusstsein auszudrücken scheint, ist V. 32, wo Jesus sagt, jeden, der ihn vor den Menschen bekenne , wolle er vor seinem Vater im Himmel bekennen. Die Stelle ist analog der 7, 21, aber doch nicht so messianisch wie diese. Jesus spricht in ihr eigentlich nicht als Weltrichter, son- dern, wenn er die ihn Bekennenden vor Gott bekennen und die ihn Verläugnenden vor Gott verläugnen wird , so ist es der Richterstuhl Gottes, vor welchem man sich ihn mit seinen wah- ren und falschen Anhängern stehend denken muss. In jedem Fall hat auch dieser Ausspruch, wie der 7, 21, keine für den Zusammenhang nothwendige Stelle.

Eine unmittelbare Aufforderung, sich über seine messia- nische Bestimmung zu erklären , erhielt Jesus durch die Frage des Täufers Matth. 11, 2 f. Die Antwort, welche Jesus gibt, schildert die damalige Zeit seiner erst begonnenen Wirksamkeit mit messianischen Prädicaten , diese Schilderung selbst aber kann nur von dem geistigen Charakter seiner auf dem Wege einer sittlichen Reform dasHeilsbedürfniss befriedigenden Wirk- samkeit verstanden werden , und in Beziehung auf seine Person liegt das Hauptmoment nur darin, dass man an ihm keinen An- stoss nehmen soll. In der weitern Rede Jesu wird sowohl die Wirksamkeit des Täufers in ihrem tief sittlichen Ernste und in ihrer Bedeutung für die bevorstehende grosse Epoche der ßx<»- Xsia Töv oüpavöv, an deren Schwelle jedoch nur der Täufer stehe, für die er aber denen, die ihn so nehmen wollen, als der ver- heissene messianische Vorläufer Elias gelten könne, anerkannt, als auch die Unempfänglichkeit und der leichtfertige Sinn der Zeitgenossen getadelt, welchen es weder der Täufer mit der Strenge seiner Lebensweise noch der Menschensohn mit seiner Humanität und seiner Liebe zu den Zöllnern und Sündern recht machen könne. Man kann schon fragen, ob nicht auch hier.

90 .nocii*! -Erster Absohaitt.

wenn sich Jesus dem Täufer gegenüber, als dem [j^YiTI s<y6i<i)v jAiore Tctvwv, u'Io? ävOpwTwOu nennt, in dieser Bezeichnung der Begriff des Humanen und acht Menschlichen liegt. Zuerst kam der Täu- fer, und dann kam der, welcher sich einen utö? ävöpwirou nennt und als solcher isst und trinkt, wie andere Menschen. In je- dem Falle gibt uns die ganze Rede von allem demjenigen, was Jesus als der moq tou avOpwzou, wie er sich hier dem Täufer gegenüber sehr bezeichnend nennt, für die ^aaiküx töv oupa- vöv wirken sollte, dieselbe geistige Vorstellung einer die sitt- liche Reform des Volks bezweckenden Wirksamkeit, die wir auch aus der Bergrede erhalten. Betrachtete er diess als die ei- gentliche Aufgabe seiner messianischen Bestimmung, so tritt wenigstens gegen diese rein sittliche Tendenz. das persönlich Messianische , jeder Anspruch auf eine ihn als Messias auszeich- nende höhere göttliche Würde sehr zurück.

Anders ist es dagegen nicht blos in dem Abschnitt 11, 25 30 , auf welchen wir später zurückkommen , sondern auch in der Erzählung 12, 1—8, wo er sich als des Menschen Sohn auch den Herrn des Sabbaths nennt. Jesus widerlegt hier die Pharisäer , die das Ähren - Ausraufen der Jünger am Sabbath als eine Entheiligung des Sabbaths gerügt hatten, aus dem Gesetz. Können die Priester nach dem Gesetz am Sabbath ihre Opfergeschäfte im Tempel versehen, ohne sich einer Entheiligung des Sabbaths schuldig zu machen, so folgt daraus , dass die Sabbathsruhe überhaupt kein absolutes Ge- setz ist, dass es auch sonst manche F^lle geben kann, in wel- chen man nicht daran gebunden ist. Hiemit waren die Pharisäer zurückgewiesen und der Zweck Jesu erreicht. Nun soll er aber das eigentliche Moment seiner Entgegnung in die Emphase ge- setzt haben , mit welcher er sich ihnen als Herr des Sabbaths entgegenstellte. Es muss jedoch sehr bezweifelt werden, ob diess zum ursprünglich Thatsächlichen der Erzählung gehört; espasst nicht dazu. Wenn es V. 6 heisst: Ich sage euch aber ort toO

Die Lehre Jesn von seiner Person. 91

tepoO {jtei^tdv i<jTiv wSe, wie kann Jesus V. 7 unmittelbar so fort- fahren: £i Ss syvto/tsiTS dcvaiTiooc ? Es müsste in jedem Fair V. 8 sich unmittelbar an V. 6 anschliessen , ohne den nicht in diesen Zusammenhang passenden V. 7. Erklärt man V. 8 mit de Wette so: denn auch darum sind meine Jünger unschuldig, weil ich der Messias, der ich mit ihnen mein Werk vollbringe, Herr über den Sabbath bin und sie von dessen Haltung losge- sprochen habe, so steht auch so V. 7 höchst ungeschickt da- zwischen und es muss sehr nachgeholfen werden, um eine er- trägliche Gedankenverbindung herauszubringen. Bedenkt man nun aber weiter, dass die richtige von den neuern Kritikern nach überwiegenden Zeugnissen vorgezogene Lesart nicht {^.st- ^«v, sondern {xsi^ov ist, so verliert die Stelle schon dadurch ihre unmittelbare persönliche Beziehung, und es wird der Ge- danke sehr nahe gelegt, dass das [xeii^ov, das Grössere, das Jesus zum Vorhergehenden noch hinzusetzt, als ein weiteres Moment seiner Argumentation, das V. 7 Gesagte ist. Die Argu- mentation Jesu hat ihren vollständigen Sinn , wenn er nach dem aus dem Gesetz in Betreff des Tempeldienstes angeführten Mo- ment hinzusetzt: Ich sage euch aber, es gibt noch etwas Grösse- res als der Tempel ist: Hättet ihr erkannt, was es heisst, Barm- herzigkeit verlange ich und nicht Opfer, so hättet ihr die Un- schuldigen nicht verurtheilt. Das [xsi^ov ist eben diess, dass Gott nicht Opfer, sondern Barmherzigkeit verlangt und Jesus argu- mentirt demnach a minori ad majus so: Wenn es schon um des Tempel- und Opfercultus willen nicht absolut nothwendig ist, den Sabbath zu beobachten, es aber noch etwas Grösseres gibt, als das ispov oder die öuTia, so könnet ihr hieraus sehen, welche höhere Rücksichten es gibt, um deren willen man an eine Beob- achtung der Sabbathsruhe, wie ihr sie verlangt, nicht gebunden ist. Indem man nun zuerst dem ixst^ov eine Beziehung auf die Person des Messias gab, und dann auch {/.ei^ov in pt-si^tov umän- derte, erklärt sich hieraus von selbst, wie man der Rede Jesu

9g *:«a'>»i9*f 'Erster Abschnitt.

ihr Hauptmoment durch den zu seiner dialectischen Widerlegung der Gegner gar nicht passenden Satz: xupioc yap iax: toO Taß- ßdcTOu 6 uio? ToO ävGpwTTou geben zu müssen glaubte. Hätte Jesus mit dieser Instanz die Gegner schlagen wollen , so hätte er jene diabetische Argumentation gar nicht nöthig gehabt, in jedem Fall aber hätte er , wenn er die Hauptinstanz dialectisch einlei- ten wollte, mit dieser selbst und somit durch seine ganze Argu- mentation nichts ausgerichtet , da er als xupio; toO (laßßaTou nur denen gelten konnte, die ihn a\s Messias anerkannten; wie un- mittelbar wäre er ihnen aber hier mit der Behauptung, dass er der Messias sei , entgegengetreten ?

Man muss diess um so mehr bezweifeln, da die Hauptstelle über das Bekenntniss Jesu von seiner messianischen Würde, Matth. 16, 13 gar zu deutlich für die entgegengesetzte Annahme spricht. Wie hätte Jesus seine Jünger erst so fragen können, ob sie ihn für den Messias halten , wenn er sich schon so offen und unzweideutig dafür erklärt hätte, wie er nach der evan- gelischen Geschichte gethan haben soll; wie hatten die Leute auch nur den geringsten Zweifel darüber haben können , wenn er schon in einer Reihe von Wundern sich in der ganzen Grösse seiner messianischen Macht und Würde gezeigt hätte; wie hätte das Bekenntniss des Petrus , dass er der Sohn des lebendigen Gottes sei, muss man mit Strauss, Leben Jesu H, S. 544, wei- ter fragen, auf Jesus einen so starken Eindruck machen kön- nen, dass er nach Matth. V. 17. den Petrus um desselben willen selig pries, und seine Einsicht als eine ihm zu Theil gewordene göttliche Offenbarung darstellte, nach den drei Synoptikern aber den Jüngern, wie erschrocken, die weitere Ausbreitung der von Petrus ausgesprochenen Überzeugung verbot, wenn diese eine im Kreise seiner Jünger längst gehegte Ansicht und nicht vielmehr ein neues , dem Petrus jetzt eben aufgegangenes und dadurch erst den Übrigen zum Bewusstsein gebrachtes Licht «war? Es bestätigt diess das Resultat, das aus den bisher erör-

Die Lehre Jesu von seiner Person. 93

terten Stellen erhoben worden ist, dass Jesus bis auf jene Zeit sich noch nicht entschieden als Messias ausgesprochen hat. Ebenso wenig aber kann diese Stelle irgend einen Zweifel dar- über lassen , dass er damals das volle Bewusstsein seines mes- sianischen Berufs in sich hatte. Wie er hier das Bekenntniss des Petrus annahm und bekräftigte, so legte er dasselbe Be- kenntniss arf durch die bejahende Antwort, die er nach seiner Gefangennehmung auf die Frage des Hohepriesters gab , ob er Christus, der Sohn Gottes sei, Matth. 26, 64. ^

_fHi Behauptete Jesus demnach selbst von sich, der Messias oder der Sohn Gottes zu sein , so kann die weitere Frage , die hier in Betracht kommt, um zu bestimmen, was er selbst von seiner Person gelehrt habe , nur die sein, in welchem Sinne er sich als Messias betrachtet habe. Die Antwort darauf ist schon in dem Bisherigen enthalten. Bestand seine Lehre aus allem demjeni- gen, was wir nach der Bergrede und nach den Parabeln als wesentlichen Inhalt derselben anzusehen haben, so kann er sei- nen messianischen Beruf nur darin erkannt haben, die Idee der ßaaiXeia töv oOpavöv in dem Sinne aller jener sittlichen Forde- rungen zu verwirklichen, die er an seine Bekenner machte. So gewiss er also in dem mit seiner Person identificirten Begriff des Messias sich in das religiöse Bewusstsein seiner Nation hin- einstellte und ihren messianischen Glauben mit ihr theilte, so gewiss trat er auf der andern Seite ihr dadurch entgegen , dass er nur in dem geistigen Sinne, in welchem er die Messias-Idee auffasste, der von der Nation erwartete Messias sein wollte. Der nationale Messiasglaube war zwar der nothwendige Weg, auf welchem er allein die Realisirung seiner geistigen Idee der ßadiXeia töv oüpavöv hoffen konnte, wenn aber die Reinheit der Idee nicht in den sinnlichen Elementen der populären Messias- Erwartungen untergehen sollte, so musste er sich in eine fort- gehende Opposition zu denselben setzen.

Aus diesem Gegensatz ist es zu erklären, dass er nur all-

94 •«««■»»"^ irrster Ab8chnit«r'rfO'^'o'<3

mälig und mit einer gewissen Zurückhaltung sein messianisches Bewusstsein aussprach. Wie er nach dem Bekenntniss des Petrus den Jüngern befahl, niemand zu sagen, dass er der Messias sei , so wird noch sonst öfter dasselbe bemerkt. Nach der Verklärungsscene untersagte er gleichfalls den Jüngern, jemand zu sagen, was sie gesehen haben, Matth. 17, 9. Auch bei Wunderheilungen verbot er wiederholt, die Sache weiter auszubreiten. Nach der evangelischen Geschichte, welcher zu- folge Jesus von Anfang an der erklärte Messias war, und seine messianische Thätigkeit den Charakter der grössten ÖflFentlich- keit hatte , begreift man nun freilich nicht , wie Jesus ein als so zwecklos erscheinendes Verbot geben konnte, und da Mat- thäus 12, 16 f. dasselbe durch das jesajanisdie Orakel vom ge- räuschlos wirkenden Knecht Gottes Jesaj. 42, 1—4 motivirt, so kann man denken, es gehöre auch diess nur der Darstellung des Matthäus an, welcher das Interesse hatte, auch dieses mes- sianische Kriterium an Jesu nachzuweisen. Sofern aber doch auf der andern Seite anzunehmen ist, dass einem so charakte- ristischen Zug etwas geschichtlich Wahres zu Grunde liegt, kann man daraus nur auf die Vorsicht und Zurückhaltung schliessen, mit welcher er als Messias auftrat. Da er kein Messias im Sinne des Volks sein wollte, so konnte er das in ihm selbst erst all- mälig entwickelte messianische Bewusstsein erst dann entschie- dener aussprechen , nachdem er «lurch seine ganze Thätigkeit der reinem Messias-Idee, wie er sie auffasste, ihre nöthige Begründung gegeben hatte. In demselben Verhältniss aber , in welchem er die Messias-Idee nach Massgabe des sittlichen Be- griffs, welchen er mit der ß««TtXeix tüv oüpavöv verband, ver- geistigte, musste er sich auch die Person des Messias mit ganz andern Bestimmungen denken, als die des gewöhnlichen Mes- siasbegriffs waren. Je grösser der Widersland war, welchen er in der Ausführung seines messianischen Planes fand, um so weniger konnte er sich verbergen, däss er selbst das Opfer sei-

Die Lehre Jesu von seiner Person. 9d

ner messianischen Bestimmung sein werde. So wenig sich der Jude seinen Messias als einen leidenden und sterbenden dachte, so nothwendig musste sich diese Bestimmung des Messias dem messianischen Bewusstsein Jesu aufdringen, und wir haben weder die Voraussetzung von Zeitideen, die erweislich nicht vorhanden waren, noch die Auctorität altlestamentlicher Stellen, welchen diese Deutung erst hätte gegeben werden müssen , zu der Erklärung der Thatsache nöthig, dass Jesus in dem weite- ren Verlauf seiner messianischen Thätigkeit seinem Leiden und Tod entgegensah. Es verdient in dieser Hinsicht bemerkt zu werden, dass die evangelische Geschichte des Matthäus in dem- selben Zeitpunkt, in welchem Jesus durch seine Frage an Petrus und die Erwiederung auf das Bekenntniss desselben keinen Zwei- fel über seine messianische Bestimmung lassen konnte, ihn zu- erst über das ihm bevorstehende Schicksal sich bestimmter er- klären lässt, Matth. 16, 21. Je bestimmter er also seines mes- sianischen Berufs sich bewusst war, um so bestimmter musste ei* voraus schon auf einen solchen Ausgang seines Wirkens sich gefasst machen. So stellt demnach auch die evangelische Ge- schichte selbst den Gang der Sache dar.

So weit enthält die Lehre Jesu von seiner Person nichts, was nicht der natürliche Entwicklungsgang seines religiösen Bewusstseins von selbst mit sich brachte. Er trat als Religions- stifter und sittlicher Gesetzesreformator auf, fasste aber die Auf- gabe seines Wirkens auch aus dem Gesichtspunkt der nationa- len Messias-Idee auf, weil er anders als auf diesem Wege kei- nen Eingang seiner Wirksamkeit finden konnte. Es war diess die nothwendige Form für das, was er überhaupt wirken wollte. Er konnte aber auch so nichts sein , was nicht von selbst in dem Begriff der sittlichen Aufgabe seiner Wirksamkeit lag. Wie verhält es sich aber mit allen jenen seine Person betreffenden Aussprüchen, welchen zufolge er nicht blos sterben, sondern wieder auferstehen sollte und alles, was sich darauf bezog, mit

96 .ao8i»M firster Abschnitt.

den speciellsten Bestimmungen von ihm vorhergesehen und vorher verkündigt worden war? Sehen wir hier nicht eine übermenschliche Erscheinung vor uns , die über das bisher Ent- wickelte hinausgeht und uns nöthigl, auch in dem Bisherigen mehr vorauszusetzen als wir angenommen haben?

Nach der schon Matth. 9, 15 gegebenen mystischen An- deutung der Hinwegnahme des Bräutigams ist bei Matthäus die erste Stelle , in welcher Jesus seinen Tod und seine Auferste- hung voraussagt, 12, 38 f., wo er das Verlangen der Schrift- gelehrlen und Pharisäer, ein (r/if^eiov von ihm zu sehen, durch die Erwiederung zurückgewiesen haben soll, dass einer so schlimmen yevea kein Zeichen gegeben werde , als das Zeichen des Propheten Jonas; wie nämlich Jonas drei Tage und drei Nächte dv T?i xoiXia toQ xy^tou? gewesen sei, so werde auch des Menschen Sohn drei Tage und drei Nächte dv ttj )capSia ty5? yfi; zubringen. Von demselben Zeichen des Propheten Jonas ist Matth. 16, 4 die Rede. Noch bestimmter lautet die Stelle 16, 21, wo Jesus nach dem Bekenntniss des Petrus anfieng, seinen Jüngern zu eröffnen, dass er müsse nach Jerusalem hinwegge- hen und vieles leiden von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten, und dass er werde getödtet und am dritten Tage auferweckt werden. Dieselben bestimmten Ankündigun- gen wiederholt er 17, 12. 22 f. 20, 17 f. In der letztern Stelle sagt Jesus auf dem Wege nach Jerusalem zu seinen Jüngern, indem er sie besonders nahm , des Menschen Sohn werde den Hohepriestern und Schriftgelehrten übergeben werden, und sie werden ihn zum Tode verurtheilen , und ihn den Heiden über- geben zur Verspottung, Geisselung und Kreuzigung, und am dritten Tage werde er auferstehen. Alle Umstände seiner Ver- urtheilung, wie sie nachher wirklich erfolgten , wären demnach schon damals von ihm aufs Bestimmteste vorausgesagt worden. W^äre nun diess wirklich so geschehen, wie erzählt wird , so würden wir schon aus diesem Grunde die Erklärungen, die er

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Über seine Person gab , wenn er nicht nur sich selbst den uto? ToO ävOpwTTOu nannte, sondern sich auch den oio? toO 6eou nennen Hess, in einem höhern Sinne zu nehmen haben, als diess nach dem Bisherigen nothwendig ist. Allein hier stel- len sich sehr bedeutende Zweifel entgegen. An sich schon ist die Annahme sehr natürlich, dass, wenn Jesus auch nur dunkle und unbestimmte Andeutungen über sein endliches Schicksal und die Zukunft seiner Sache gab , seinen Äusserungen in der Folge eine bestimmlere Bedeutung gegeben, und so Manches in sie hineingelegt wurde , was er in dieser bestimmten Form kei- neswegs gesagt hatte , was man ihn aber ohne Bedenken schon damals sagen lassen zu dürfen glaubte, weil das Allgemeine, das er voraussagte, die einzelnen Umstände, unter welchen es erfolgte, von selbst in sich zu schliessen schien. Auch war es der höheren Vorstellung von der Person Jesu , wie sie sich erst in der Folge bei den Jüngern ausbildete, ganz gemäss, dass er ihnen nichts erduldet zu haben schien , was er nicht aufs Be- stimmteste vorauswusste. War alles, was an ihm geschah, sein Leiden, sein Tod, seine Auferstehung, nichts Zufälliges , son- dern eine göttliche Bestimmung, war es als ein Vorherbestimm- tes auch ein Vorhergesehenes , so musste auch er selbst alles, was geschah , voraus schon wissen ; und wenn er es wusste, warum hätte er es nicht aufs Genaueste, wie es nachher wirk- lich geschah, voraussagen sollen? Dass diess an sieh sehr wohl möglich ist, wird auch von denen zugegeben, die die Vorher- sagungen Jesu, um ihre rein geschichtliche Wahrheit festzu- halten, aus eiaem übernatürlichen Wissen erklären. Selbst Ne ander gesteht, es sei möglich, dass durch die Überliefe- rung die genaue Form, in welcher Jesus die Andeutungen des Zukünftigengegeben, nicht auf uns gekommen, dass man die von Jesus absichtlich auf eine unbestimmtere und leisere Weise gegebenen Andeutungen nach dem Eintreffen in bestimmtere Züge ausgeprägt habe. Gewiss ist, wenn irgendwo, hier die

Baur, nentest. Theol. *

98 .no'er Erster Abschnitt.

traditionelle Gestaltung des ursprünglich Unbestimmten zu einer bestimmten Form sehr begreiflich. Es ist jedoch nicht blos mög- lich und wahrscheinlich, dass es sich mit den Vorhersagungen Jesu von seinem Leiden , seinem Tod , seiner Auferstehung auf diese Weise verhält, es lässt sich sogar behaupten, dass sie von ihm in der bestimmten Form, in welcher sie die Evangelien aus- geben, gar nicht gemacht worden sein können. Hatte Jesus alles, was an ihm geschehen sollte, in so klaren und bestimmten Wor- ten, wie die Synoptiker erzählen, seinen Jüngern vorherge- sagt, so ist ihr Benehmen nach dem Eintritt des Erfolgs, dass sie nach seinem wirklich erfolgten Tod sogar den Glauben an seine Messianität völlig verlieren konnten , nicht zu begreifen. Man kann daher mit Recht das Dilemma stellen: entweder sind die Angaben der Evangelisten von der Überraschung der Jün- ger bei dem Tode Jesu unhistorisch übertrieben , oder es sind die bestimmten Aussprüche Jesu über den ihm bevorstehenden Tod und seine darauf folgende Auferstehung «rst ex etentn gemacht. Da man nun keine Ursache hat, anzunehmen, dass die Evangelisten den Gemüthszustand, in welchem sich die Jün- ger bei dem Tode Jesu befanden, nicht wirklich so sollen ge- schildert haben, wie er war, so bleibt nur die letztere Annahme übrig. Hatte er ihnen blos allgemeinere Andeutungen über sein Schicksal und den endlichen Sieg seiner Sache gegeben, so kann man es sich gar wohl denken, wie sie bei seinem wirklich erfolgten Tod alles für verloren hielten. Schwer aber ist zu be- greifen, wie sie, wenn sie in seinem Tode alles so geschehen sahen , wie er ihnen wiederholt vorausgesagt hatte , nicht auch denselben Aussprüchen zufolge voraus schon die bestimmte Ge- wissheit seiner Auferstehung haben mussten. Wie hätten sie sie nicht mit aller Bestimmtheit erwarten sollen, wenn sie doch unter der grossen Zahl seiner Wunder auch schon drei durch ihn voll- brachte Todtenerweckungen mit eigenen Augen gesehen hat- ten ! Dass nach den Evangelien Jesus selbst bei seinen Leidens-

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Verkündigungen sich ausdrücklich auf das alte Testament berief, dessen Weissagungen auf ihn in allen Stücken erfüllt werden müssten, Matth. 26, 54. Luc. 18, 31.22, 37. 24, 25 f., kann die Wahrscheinlichkeit, dass er alles Einzelne so bestimmt vorher gesagt habe, nicht erhöhen, da die meisten darauf bezogenen Stellen des alten Testaments einen solchen Sinn gar nicht ent- halten, dass Jesus eine Vorandeutung der einzelnen Züge seines Leidens in ihnen hätte finden können. Je gewaltsamer die Deu- tung dieser Stellen ist, um so deutlicher ist daraus zu sehen, dass sie erst in der Folge zu Hülfe genommen wurden, um das den sonstigen Vorstellungen vom Messias so sehr widerstrei- tende Schicksal Jesu durch die Vermittlung des alten Testa- ments, für das religiöse Bewusstsein zurechtzulegen.

Wenn wir uns demnach die Frage zu beantworten suchen, was Jesus selbst über seine Person gelehrt habe , so bieten uns die in den Evangelien berichteten Vorherverkündigungen sei- nes Leidens und Todes und seiner Auferstehung kein besonderes Moment dar, so dass wir aus ihnen auf ein höheres übernatür- liches Wissen und vermöge desselben auf eine höhere über die Grenzen der menschlichen Natur hinausgehende Bedeutung sei- ner Person, die er hiemit sich selbst beigelegt hätte, schliessen müssten. Führen wir sie nach den Grundsätzen der Kritik, nach welchen überhaupt die evangelische Geschichte zu beurtheilen ist, auf ihren wahren und ursprünglichen Gehalt zurück, so enthalten sie nichts , was nicht die Beschaffenheit der Verhält- nisse, in welchen Jesus sich befand, von selbst hätte wahrschein- lich machen müssen, wie ja überhaupt das Schicksal, mit wel- chem seine einem solchen Zwecke gewidmete öffentliche Wirk- samkeit endigte, für die geschichtliche Betrachtung nichts Unbe- greifliches haben kann. Unter den gleichen Gesichtspunkt haben wir auch die Äusserungen zu stellen, welche Jesus selbst nach den Synoptikern über den Zweck und die Wirkungen seines Leidens und Todes gethan haben soll. Es fragt sich auch hier,

7*

100 Erster Abschnitt.

ob nicht erst in der Folge mehr in sie hineingelegt worden ist, als sie ursprünglich enthielten. Diess möchte bei der zunächst hieher gehörenden Stelle Matth. 20, 28 sich kaum verkennen lassen. Aus Veranlassung der Bitte der Mutter der Söhne des Zebedäus und dieser selbst um die ersten Stellen in seinem Reich gibt Jesus seinen Jüngern die Ermahnung : Ihr wisset, dass die Regenten der Völker über sie herrschen , und die Grossen Gewalt über sie haben. Nicht so wird es bei euch sein, sondern wer unter euch gross werden will , werde ieuer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, werde euer Knecht, wie des Menschen Sohn nicht gekommen ist, sich bedienen zu lassen , sondern zu dienen und zu geben sein Leben als Löse- geld für Viele. Der Ausdruck SoOvai ttiv '\i^yr,^ Xuxpov öcvtI TcoXXcov kann nur von einem Austausch verslanden werden, wie diess die Bedeutung der Präposition ävti ist, vgl. Hebr. 12, 16. Matth. 17, 27. Man gibt etwas, um für das, was man gibt, etwas Anderes zu erhalten. Es liegt also dabei die Vorstellung zu Grunde, Jesus gebe sein Leben für Viele, d. h. für Alle, welche diese Wohlthat sich aneignen wollen , somit überhaupt für die Menschen gleichsam als den Preis, um welchen sie los- gekauft werden , um sie , wie Gefangene aus einer Gefangen- schaft, die nur die der Sünde und des Todes sein kann, zu be- freien. Wie passt nun aber, muss man fragen, zu der voran- gehenden einfachen Ermahnung zur Demuth und einem durch Übernahme von Leiden und Aufopferungen sich erprobenden Sinn eine solche dogmatische, schon einer bestimmten Erlösungs- und Versöhnungstheorie angehörende Vorstellung? Wo hat denn Jesus sonst, abgesehen von der Stelle Matth. 26, 28, von welcher nachher die Rede sein wird , seinem Tode eine solche Bedeutung eines Lösegelds gegeben, wo findet sich in seinen Reden auch nur eine Andeutung darüber , dass die Strafen der Sünden nicht ohne ein für sie gegebenes Äquivalent aufgehoben werden können ? Welche andere der sonstigen Lehre Jesu ganz

Die Lehre Jesn von seiner Person. 101

fremdartige Begriffe müssten dabei vorausgesetzt werden? Ent- weder hat also Jesus den Ausspruch 20, 28 nicht gethan , oder in einer andern Form. Die vorangehende Ermahnung Jesu hat ihren vollständigen Sinn auch ohne einen weitern Zusatz. Hat er aber seine Ermahnung noch durch die Hinweisung auf das Beispiel des uid; toO äv6pto7roi» motivirt, so kann er nur gesagt haben, des Menschen Sohn sei nicht gekommen, um zu herr- schen, sondern um zu dienen, und aus Liebe zu den Menschen alle Leiden zu übernehmen, die mit seinem Berufe verbunden sind. Diess ist aber etwas ganz Anderes als ein Tod, der ein XuTpov ävTi TuoXXöv sein soll. Wenn er auch, wie mit Recht anzunehmen ist, in den Worten V. 22 Suvaaös ttieiv t6 -orrpiov, 8 sYcH) u.e>.>.o) 77iv£tv, die Ahnung des ihm bevorstehenden Todes ausdrücken wollte, so sieht man doch nicht, wie er in diesem Gedankenzusammenhang von einer Bedeutung seines Todes sprechen konnte, welche in dem Inhalt seiner Lehre keinen weitern Anknüpfungspunkt hat.

Eine andere Stelle dieser Art ist Matth. 26, 28, wo^ Jesus bei der Einsetzung des Abendmahls von dem Kelche sagt, er sei sein al[ji,a, t6 t-^? xaivfi? StaÖT^xr,?, t6 xspl ttoXXcov sxjtjvojxsvov ei; a^£<7iv afxapTtwv. Hier ist demnach der Tod Jesu sehr be- stimmt als Bundes- und Sühnopfer bezeichnet. Da nur Matthäus die Worte ei? a(pe<Jiv aixapTtöv hat, so kann man sie für einen spätem Zusatz halten, die Vorstellung bleibt aber dieselbe, da auch schon in dem xitxx repl tcoXXöv dx'^uvot/.evov und in dem G&[ux orcep {»[jLöv xXwjAevov bei dem Apostel Paulus 1 Cor. H, 24 die Idee der Versöhnung liegt. Man streitet ge- wöhnlich nur darüber, ob Jesus jene eigenthümlich bedeut- same Brod- und Weinaustheilung nur als einen Act des Abschieds von seinen Jüngern, oder ob er sie iir der Ab- sicht vorgenommen habe, dass sie auch nach seinem Hin- gang von seinen Anhängern zum Andenken an ihn gefeiert werden solle. Für die letztere Annahme scheint zwar der Zu-

108 '.fro»T Erster Abschnitt. l

satz bei Paulus und Lucas entscheidend: toOto izoi&Xxz ei? nriv £fA7iv avapnntv, welchem zufolge Jesus offenbar die Absicht hatte, ein Gedächtnissmahl zu stiften, das nach Paulus die Christen feiern sollten, a/pi; ou av eXGti. Da nun aber die beiden ersten Evangelisten diese Zusätze nicht haben, so stützt man darauf die Vermuthung, sie möchten nicht ursprünglich Worte Jesu gewesen sein, sondern bei der Abendmahlsfeier in der ersten Gemeinde möge der austheilende Vorsteher die Gemeinde- glieder aufgefordert haben, dieses Mahl auch ferner zum An- denken Christi zu wiederholen und aus diesem ursprünglichen Ritual seien dann die Worte zu der Rede Jesu geschlagen wor- den. Lässt sich gegen diese Vermuthung nichts einwenden, da ja Paulus seinen Rericht über die Einsetzung des Abendmahls nur aus der Tradition genommen hat, in welcher schon damals die ursprünglichen Worte eineModification erlitten haben können, so muss auch die weitere Vermuthung erlaubt sein, ob wohl Jesus von der versöhnenden Kraft seines Todes selbst schon so gesprochen hat, wie die Evangelisten ihn davon sprechen lassen, ob nicht die dem Leib und Blut Jesu in dem Trepl ttoXXöv und ÜTOp 6[;.öv gegebene Beziehung eine von einem spätem Gesichts- punkt aus den Worten Jesu gegebene Modification ist. Je leichter jene Worte als blosse Zusätze genommen werden können, um so mehr kann man auf den Gedanken kommen, dass sie ur- sprünglich nicht zu der Sache selbst gehören. Die Handlung Jesu hat auch ohne die Beziehung auf die Versöhnungsidee ihren einfachen natürlichen Sinn, wenn wir annehmen, in der ihm sich aufdringenden Ahnung seines nahen Todes habe er seinen Leib, welcher gewaltsam getödtet werden sollte, und sein zu vergiessendes Blut mit dem Brod, das er bei dem Mahle brach, und mit dem Wein, welchen er in den Kelch goss, verglichen. Nun steht freilich noch dabei: das Blut sei das Blut der xaivr SiaÖTixiri. Wie der alte mosaische Bund durch Opferblut bestätigt iy,(irde C2.Mos, 34, 6 f.>, so jsoll ni»n ein neuer Bund gleich-

Die Lehre Jesu von seiner Person. 103

falls durch Blut geschlossen werden. Wenn man nun aber fragt, worin das Neue dieser x>atvr, ^'-aO>i)t7i bestehe, so kann es nur darin erkannt werden, dass der Tod Jesu nicht blos Bundes- opfer, sondern auch Sühnopfer ist, dass durch seinen Tod eine Versöhnung gestiftet worden ist, wie unter dem alten Bund nicht stattfand, dass man also nur durch diesen Versöhnungstod selig werden kann, nicht aber durch das, was der alte Bund enthielt, auch nicht durch die Erfüllung des Gesetzes. Allein, wie stimmt diess zu der Bergrede? Wie kann Jesus in der Bergrede mit der ausdrücklichen Erklärung auftreten, er sei nicht gekommen, um die alle Religionsverfassung, das Gesetz, auch nur im Ge- ringsten aufzuheben, wenn er doch schon damals das Bewusst- sein in sich haben musste, dass er eigentlich dazu gekommen sei, durch seinen Tod der Stifter einer neuen ^laörj^r^ zu werden, eines neuen Bundes, durch welchen als einem vom alten wesent- lich verschiedenen der alte nothwendig aufgehoben werden musste? Sollte man ferner nicht erwarten, dass Jesus, wenn er seiner eigentlichen Bestimmung nach nioht Gesetzesreforma- tor, sondern Versöhner der Menschen mit Gott durch seinen Tod und insofern Stifter einer neuen SiaO/iX.?) war, eben diese wesentliche Idee, dass der Mensch nicht auf dem Wege des Gesetzes, sondern nur durch die glaubige Annahme des ihm von Gott im Tode Jesu dargebotenen Versöhnungsmittels selig werden könne, zum Gegenstand seiner Lehrvorträge machte? Im Johanneischen Evangelium thut er diess zwar, aber wir haben uns hier nur an das Matthäusevangelium, zu halten. In dem letztern findet sich nicht nur hierüber nichts, sondern vielmehr das gerade Gegentheil. Denn wenn hier die in der Gesetzes- ErfüUung bestehende Gerechtigkeit als der Weg aufgestellt wird, auf welchem man zur ßa^iXeia xöv oOpavöv gelangen kann, wenn alles nur darauf ankommt, dass man der Einladung zur ßafftXsCa Töv oüpavöv folgt, die rechte Empfänglichkeit für das, was sie anbietet, hat, das Wort Gottes in sich aufnimmt und befolgt,

4|IH M0Ht9*^ Erster Absobnitt.

SO muss vorausgesetzt werden, dass man auch wirklich schon auf diesem Wöge zur ßacrtXsia twv oOpavöv gelangt. Das Be- dürfniss der Vergebung der Sünden wird dadurch keineswegs ausgeschlossen; je einfacher aber in den Reden Jesu darauf hingewiesen wird, um so weniger ist anzunehmen, dass sie nach dem wahren Sinn der Lehre Jesu durch einen Versöhnungs- act bedingt ist, wie der Tod Jesu als Lösegeld gewesen wäre. Es wird einfach vorausgesetzt, dass alle, welche ihre Sünden erkennen und mit wahrer Demuth des Herzens sie bereuen, un- mittelbar der Vergebung derselben versichert sein dürfen , und wie könnte Jesus den wiederholt geltend gemachten Ausspruch des Propheten: sXeov biloi xal Oixriav, Matth. 9, 13. 12, 8, als einen allgemeinen Grundsatz aufstellen , nach welchem das religiöse Verhältniss des Menschen zu Gott zu beurtheilen ist, wenn das Hauptmoment, an welchem alles hängt, in letzter Beziehung doch wieder in einer von der Gesinnung unabhängigen Versöhnungsanstalt läge? Wie man auch die Sache nehmen mag, als ein XuTpov avxl 7ro>.Xc3v, als al[xa ix;^v6(X6vov Oxsp -Kok- Xöv würde sein Tod doch auch wieder unter den Gesichtspunkt einer Ouoria gehören. Es lässt sich demnach nicht wohl läugnen, dass die bisher erörterten Stellen des Matthäusevangeliums An- deutungen einer Versöhnungstheorie enthalten, welche zur eigentlichen Lehre Jesu, zu den rein sittlichen Forderungen, die ihren wesentlichen Inhalt ausmachen, nicht recht passen. Es ist schon ein anderer Standpunkt, von welchem aus die auf der versöhnenden Kraft des Todes Jesu beruhende Religions- anstalt als xaiv^ ^laöi^JtTi der alten gegenübergestellt wird. Diese Auffassung des Todes Jesu ist bei dem Apostel Paulus und in dem paulinisirenden Lucasevangelium ganz an ihrer Stelle, in den beiden ersten Evangelien aber scheint auch die Unsicherheit der Lesart, die sich hier zeigt, anzudeuten, dass man hier etwas Fremdartiges vermuthet hat. Es ist auffallend, dass nach den neuesten Kritikern Matth. 26, 28 blos xl^ (j.ou Tf[; SiaOy.jtYi;

Die Lehre Jesu von seiner Person. 105

ZU lesen ist. Noch mehr ist die Auslassung von xaivvi? Marc. 14, 24 bezeugt. Auch de Wette bemerkt, /.aivx; scheine pau- linisch zu sein. Der Sinn bleibt zwar auch ohne xaivr? derselbe, denn wenn sein Blut ein ad^.x tti; Siaör^/cvi; sein soll, so kann die durch sein Blut gestiftete ^ia9r,/cvi nur eine neue sein ; scheint aber nicht der Anstoss, welchen man an der ^ia6r,x-/; als einer neuen nahm, daraufhinzuweisen, dass die ganze Stelle, soweit sie die Siaör./cri betrifft, für das Matthäusevangeliu'm nicht recht passt? Hat Paulus zuerst die Überlieferung vom letzten Mahle Jesu im Sinne seiner Versöhnungs-Idee aufgefasst, so ist sie in dieser Form auch in die Evangelien übergegangen. Ist somit das, was Jesus bei seinem letzten Mahle that, wenn auch als eine Stiftung zum Andenken an seinen Tod, doch ursprünglich nicht im Sinne der Versöhnungsidee aufzufassen, so kann es nur als eine symbolische Handlung genommen werden, durch welche er seinen Jüngern das ihm bevorstehende Schicksal vor Augen stellen und unter dieser Anschauung ihr Andenken an ihn um so lebendiger erhalten .wollte. Es liegt daher auch in dieser Handlung nichts, was eine nähere Beziehung auf die Lehre von seiner Person hätte. Man kann nur fragen, wie man sich ihre symbolische Bedeutung zu denken hat 0-

Eine eigene Classe der die Lehre von der Person Jesu be- treffenden Aussprüche bilden diejenigen, in welchen er sich als den vom Himmel kommenden Weltrichter angekündigt haben soll. Und zwar sollte er nicht in der fernen Zukunft, sondern schon in der nächsten Zeit zum Weltgericht und zur Vollendung aller Dinge kommen. Schon Matth. 16, 27 f. versichert Jesus, der Menschensohn werde kommen in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und dann werde er jedem nach seiner Handlungsweise vergelten. Unter denen, die hier stehen, seien einige, welche den Tod nicht schmecken werden, bis sie des

1) Hierüber vgl. man die theol. Jabrb. 1857. S. 538 f.

f^QÜ 0O'ST»*f ' ^''B^c Abschnitt.

Menschen Sohn in seinem Reich, d.h. zur Verwirklichung seines Reichs kommen sehen. Dieselbe Generation also, wenn auch gleich nur in den wenigen zuletzt noch lebenden Genossen derselben, sollte seine Parusie noch erleben. Noch bestimm- ter und ausführlicher lässt Matthäus Jesum in den Reden K. 24 und 25 hierüber sich aussprechen, welchen zufolge seine Wiederkunft und das Ende der gegenwärtigen Weltperiode unmittelbar «nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem er- folgen sollte. Er spricht von den Vorzeichen dieser grossen Katastrophe: Kriege und Kriegsgerüchte, Kämpfe von Völkern und Reichen gegen einander, Hungersnoth, Pest und Erdbeben da und dort seien nur die ersten Anfänge des Elends, welches der Ankunft des Messias vorangehen werde. Auch sie selbst, seine Anhänger werden zuvor noch Hass und Verfolgung und Mord über sich ergehen lassen müssen; Treulosigkeit, Verrath, Täuschung durch falsche Propheten, Lieblosigkeit und allge- meines Sittenverderben werde unter den Menschen einreissen; zugleicH aber müsse die Botschaft vom Messiasreich noch vorher in der ganzen Welt verkündigt werden. Nach allem diesem erst könne das Ende der jetzigen Weltperiode eintreten, auf welches mit Standhaftigkeit harren müsse, wer an dem Glücke der künf- tigen Antheil bekommen wolle. Ein näheres Vorzeichen schon von dieser Katastrophe sei die Erfüllung des Daniel'schen Orakels von dem an heiliger Stätte aufzustellenden Verwüstungsgräuel. Um diese Zeit werden falsche Propheten und Messias durch Wunder und Zeichen zu täuschen suchen und da öder dort den Messias zu zeigen versprechen, da doch ein Messias, der irgend- wo verborgen wäre und aufgesucht werden müsste, kein wahrer sein könne, indem dessen Ankunft, wie das Leuchten des Blitzes, eine plötzliche überall hin dringende Offenbarung sei, deren Mittelpunkt Jerusalem bilde, das durch seine Schuld die Strafe über sich herbeiziehe. Unmittelbar nach dieser Drang- salszeit werde sich nun durch Verfinsterung von Sonne und

Die Lehre Jesti von seiner Person. 107

Mond, durch Herabfallen der Sterne und Erschütterung aller Kräfte des Himmels die Erscheinung des Messias einleiten, welcher sofort zum Schrecken der Erdenbewohner mit grosser Herrlich- *keit in den Wolken des Himmels daherkommen und alsbald durch Engel mit Trompetenschall seine ErAvählten von allen Enden der Erde zusammenrufen lassen werde. An den vorge- nannten Zeichen sei die Nähe der angegebenen Katastrophe so sicher, wie an dem Ausschlagen des Feigenbaums die Nähe des Sommers zu erkennen ; noch das gegenwärtige Zeitalter werde bei allem, was sicher sei, alles das erleben, obgleich der ge- nauere Termin nur Gott allein bekannt sei. Wie aber die Menschen seien, so werden sie auch die Ankunft des Messias, wie einst die der Sündfluth, mit leichtsinniger Sicherheit heran- rucken lassen , und doch werde es ein äusserst kritischer Zeit- punkt sein, der diejenigen, welche in den nächsten Verhält- nissen gestanden, ganz entgegengesetztem Loose überantworten werde. Darum sei Wachsamkeit noth, wie immer, wenn vor einem entscheidenden Erfolg der Zeitpunkt seines Eintreffens unbekannt sei, was sofort durch das Bild vom Hausherrn und Dieby vom Knecht, dem der verreisende Herr die Aufsicht über das Hauswesen anvertraut, ferner von den klugen und thörichten Jungfrauen, endlich von den Talenten veranschaulicht wird. Hierauf folgt eine Beschreibung des feierlichen Gerichts, welches der Messias über alle Völker halten und in welchem er nach der Rücksicht, ob einer die Pflichten der Menschenliebe beobachtet oder hintangesetzt habe, Seligkeit oder Verdammniss zuerkennen werde.

Die orthodoxen Erklärer kommen hier in grosse Noth, um der Voraussetzung zu begegnen, Jesus habe als unmittelbare Folge der Zerstörung Jerusalems ein Ereigniss angekündigt, das auch seitdem noch nicht eingetreten; die nichtorthodoxen da- gegen nehmen ohne Bedenken an, dass sich Jesus entweder zu jüdischen Vorstellungen accommodirt oder in seinen Erwartun-

108 .a()»^J)^ Erster Abschnitt.

gen und Ankündigungen getäuscht habe. In diesem Sinne sagt Strauss, das Allgemeine der Erwartung, irgend einmal in den Wolken des Himmels zu erscheinen, um die Todten zu erwecken, Gericht zu halten und ein ewiges Reich zu begründen, sei Jesu ebenso bald gegeben gewesen als er sich für den Messias hielt, mit Bezug auf Daniel , wo jenes Kommen dem uJöc toO ävGpcoTcou zugeschrieben sei; in Betreff der Zeit aber ergebe es sich als

natürlich, dass er zwischen seiner ersten messianischen Ankunft

in der Niedrigkeit und der zweiten in der Herrlichkeit keine allzu lange Zwischenzeit hineingedacht haben werde. Während die erstere Ansicht den Worten Jesu einen ganz andern ihnen offenbar widerstreitenden Sinn aufdringen muss, lässt ihn die letztere in einer jüdischen Anschauungsweise befangen sein, bei welcher mit Recht die Frage entstehen muss, ob es nothwendig ist, diess anzunehmen. Hätte Jesus über seine Parusie zum Gericht und Weltende ganz in der Form sich ausgesprochen, in welcher er es bei Matthäus gethan haben soll, so hätte er sich als Messias mit dem Messias der jüdischen Vorstellung auf eine Weise identificirt, die mit dem Charakter seiner Lehre und Wirksamkeit nicht ganz zusammenstimmt. Auf dem jetzigen Standpunkt der Evangelienkritik muss man vor allem fragen, ob es wahrscheinlich ist, dass Jesus alle diese Reden ganz so ge- halten hat, wie sie ihm zugeschrieben werden. Diese Frage muss aus mehreren Gründen verneint werden. Der Hauptpunkt dieser Reden ist die Zerstörung Jerusalems. Dass Jesus die- selbe nicht vorausgesagt hat, sehen wir ganz klar aus der Apo- kalypse, deren Verfasser von einer Zerstörung Jerusalems nichts weiss, vielmehr ausdrücklich sagt, Jerusalem werde mit ge- ringer Ausnahme unversehrt erhalten werden. Ist der Verfasser ^er Apokalypse, wie wir annehmen müssen, der Apostel Jo- hannes, so konnte ihm doch, wenn Jesus wirklich die Zer- störung Jerusalems geweissagt hat, diess unmöglich unbekannt sein. Sind nun die Reden Jesu in diesem Hauptpunkt unhisto-

Die Lebre Jesu von seiner Person. 109

risch, so verliert auch das Übrige, was damit zusammenhängt, seinen historischen Haltpunkt. Dürften wir annehmen, dass wir hier eine von Jesus selbst gegebene Weissagung haben, so wäre freilich der Erfolg mit der Voraussagung ganz zusammenge- troffen, allein so specielle Züge, wie diese Reden enthalten, geben ihnen auch gar zu sehr das Aussehen eines vatic'uiinm post eveutum. Bei näherer Betrachtung zeigt sich übrigens auch noch, dass Matth. K. 24 nicht einmal auf die Zerstörung Jerusalems geht, sondern nur auf die Ereignisse des zweiten jüdischen Kriegs unter dem Kaiser Hadrian passt, woraus deut- lich zu sehen ist, wie solche Weissagungen, da die erwartete Parusie immer wieder nicht erfolgte, nach der Verschiedenheit der Zeiten eine verschiedene Gestalt erhielten. Endlich ist hier der Einfluss der jüdischen Zeitvorstellungen so deutlich wahr- zunehmen , dass man auch aus diesem Grunde Bedenken tragen muss, die Lehre von einer Parusie, wie sie hier geschildert wird, Jesu zuzuschreiben. Das so lebhafte Interesse, mit welchem die Apostel und ältesten Christen einer schon in der nächsten Zeit erfolgenden Parusie entgegensahen, lässt sich nur daraus erklären, dass nachdem Jesus alle jene Erwartungen unerfüllt gelassen hatte, die man vom Messias hegte ^ nun um so gewisser seine baldige Wiederkunft alles verwirklichen sollte, was man bisher vergeblich von ihm gehofft hatte, und doch vom Begriffe des Messias nicht trennen konnte.

Es kommt auch hier darauf an, den ursprünglichen sub- stanziellen Gehalt der Lehre Jesu von seiner Person von den Modificationen zu unterscheiden, die ihr erst in der jüdischen Anschauungsweise seiner Jünger gegeben worden sind. Dass Jesus sich selbst als den künftigen Richter betrachtete und an- kündigte, lässt sich auch nach dem Evangelium Matthäus nicht in Zweifel ziehen. Fasst man die Lehre und Wirksamkeit Jesu auch nur nach dem sittlichen Gesichtspunkt auf, unter welchen sie der Bergrede und den Parabeln zufolge zu stellen ist, so

ftO jioii'ti>M Erster Abschnitt. <:

gehört dazu wesentlich auch die Bestimmung, dass sie der ab- solute Maasstab zur Beurtheilung des sittlichen Werthes des Thuns und Verhaltens der Menschen ist. Nach dem so ver- schiedenen Verhalten der Menschen zu der Lehre Jesu, als dem Grundgesetz der ßadiXeia twv oöpavcov theilen sie sich in zwei wesentlich verschiedene Classen, deren sittlicher Werth, auf seinen absoluten Ausdruck gebracht, durch den Gegensatz der ewigen Se%keit und der ewigen Verdammniss ausgesprochen ist. Was aber zunächst von seiner Lehre gilt, gilt auch wieder von seiner Person, sofern er der Urheber und Verkündiger der- selben ist. Mit seiner Lehre gehört seine Person wesentlich und unzertrennlich zusammen, er ist selbst die concrete Anschauung der in alle Ewigkeit sich erstreckenden Bedeutung der absoluten Wahrheit seiner Lehre. Ist es seine Lehre, nach welcher der sittliche Werth der Menschen für alle Ewigkeit zu beurtheilen ist, so ist er selbst derjenige, welcher dieses ürlheil spricht, als der künftige Richter der Menschen. In diesem rein sittlichen Sinne ist die Idee eines künftigen Gerichts in den Reden und Parabeln Jesu wiederholt ausgesprochen, Matth. 13, 37—43. 49 f. 16, 27, besonders in der Rede Matth. 25, 31-46, in welcher die ganze Darstellung so gehalten ist, dass man nicht weiss, ob sie als Lehrvortrag oder als Parabel zu nehmen ist, ob sich Jesus nicht blos in dem bildlichen Sinne einer Parabel als den künftigen Richter der Menschen, als den ßaaiXeu? der ßacTiXsia Tc5v oOpavcov darstellt. Es kann diess nur in bildlichem Sinne genommen werden, wenn er sich hier als den bezeichnet, an dessen Person das sittliche Thun der Menschen in seinem Werth sich erprobt, und mit allen denen, an welchen das sittliche Verhalten in der Form der Menschenliebe das Object seiner Thatigkeit hat, sich so identiiicirt, dass man das, was man an jenen thut, eigentlich an ihm selbst thut, womit nur die Wahr- heit ausgedrückt sein kann, dass das sittliche Verhalten der Menschen seinen höchsten Werth erst dadurch erhält, wenn es

Die Lehre Jesu von seiner Person. Hl

durch die reine Idee des Guten bestimmt wird. Was man an ihm selbst thut, ist die höchste sittliche That; die höchste sitt- liche That kann aber nur die sein, die um der reinen Idee des Guten willen geschieht. Darum ist ein wesentlicher Zug der Darstellung Matth. 25, 31 f., dass die, die als die Gesegneten des Vaters wegen der Handlungen gepriesen werden, die sie ihm erwiesen haben, nicht wissen, dass er es war, welchem sie alles diess thaten. Hätten sie es mit dem Bewusstsein gethan, dass er es ist, welchem sie alles diess thun, so hätte das Motiv ihres Thun's auch nur ein persönliches und subjectives sein können, thaten sie es aber, ohne zu wissen, wem sie es thun, ohne alle Rücksicht auf die Person, so konnten sie es nur als das an sich Gute thun, um der reinen Idee des Guten willen. Wie nun hier Jesus das an sich Gute an seiner Person darstellt, sich selbst zur concreten Anschauung des absoluten sittlichen Werths der menschlichen Handlungen macht, so konnte er auch seine Person zur Trägerin der absoluten sittlichen Norm machen, die in seiner Lehre enthalten ist. In demselben Bewusstsein, in welchem er sich der absoluten Wahrheit seiner Lehre bewusst war, als der Norm, nach welcher das Verhalten der Menschen zu richten ist, wusste er sich als den Richter der Welt, alsr den, der über das sittliche Thun und Verhalten das für alle Ewigkeit gültige Urtheil sprechen wird. Er ist der Richter der Menschen, weil die Lehre, nach deren Norm die Menschen gerichtet wer- den, seine Lehre ist. -,fiBjuÄ^ö«^i»- Ob nun aber Jesus diesem weltrichterlichen Bewusstsein, das er in sich hatte, durch Aneignung der damals gangbaren populären Messiasvorstellungen auch den concreten sinnlichen Ausdruck gegeben hat, mit welchem es in der Darstellung des Matthäus erscheint, ist eine ganz andere Frage, die wir nach allem Bisherigen nicht bejahen können. Unmöglich können solche Reden, wie die Matth. 19, 28, wo er seinen Jüngern verheisst, dass sie in der TraXiYYSvsota , wenn des Menschen

f|A. unr.i'jH ^i^s^c Abschnitt.

Sohn seinen herrlichen Thron bestiegen haben werde, selbst auch auf zwölf Stühlen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten werden, oder wenn er von einem Essen und Trinken im Reiche Gottes spricht, was Luc. 22, 30 mit dem Sitzen auf den Stühlen verbindet, wovon aber auch bei der Einsetzung des Abendmahls die Rede ist, Matth. 26, 29, im Munde Jesu anders als bildlich genomnien, oder auch nur für ächte Äusserungen desselben gehalten werden. Wir sehen vielmehr gerade aus solchen Stellen, wie Vieles überhaupt in diesem eschatologischen Vorstellungskreise nur bildlich genommen werden kann. Weit treuer drückt unstreitig den wahren Sinn Jesu die Erzählung Matth. 20, 20 f. aus, wo er den Söhnen Zebedäi auf ihre Bitte, sie in seinem Reiche die ersten Sitze einnehmen zu lassen, er- wiedert, sie wissen nicht, um was sie bitten, und ihnen die Frage entgegenhält, ob sie im Stande seien, den Kelch zu trinken, welchen er trinken werde; seinen Kelch sollen sie trinken, was aber das Sitzen zu seiner Rechten und Linken betreffe, so sei es nicht seine Sache es zu geben, sondern es werde nur denen verliehen, welchen es bereitet sei von seinem Vater. Man hat es auffallend gefunden, dass er sich diese Macht hier abspricht, da er sich ja sonst als Weltrichter dar- stelle. Hätte er aber damit, wie de Wette meint, nur sagen wollen, dass er zwar über allgemeine Verhältnisse im voraus entscheiden könne, dass aber das, um was die Söhne des Ze- bedäus bitten, in das Besondere und Individuelle gehöre, dessen Bestimmung das Ergebniss der unter Gottes Leitung stehenden Entwicklung der Dinge sei, so wäre damit weit mehr zugegeben, als mit der Entschiedenheit zusammenstimmt, mit welcher die Bitte abgewiesen wird. Der Sinn seiner Worte kann nur sein, es sei nicht seine Sache, weil überhaupt so sinnliche Bitten nicht im Reich Gottes erfüllt werden können, und das, was als Höchstes gegeben wird, nicht solchen gegeben wird, wie sie sind, sondern nur denen, welchen es von Gott bestimmt ist.

Die Lehre Jesn von seiner Person. 113

Wenn Jesus auch nur in dem Sinne die jüdischen Messias- prädicate sich beilegte, in welchem wir diess nach dem Resultat der bisherigen Untersuchung anzunehmen haben, so ist doch die Frage immer noch nicht beantwortet, in welchem bestimm- teren Sinne er sich als Messias und Sohn Gottes betrachtet wissen wollte. Wenn er auch gewöhnlich und vorzugsweise sich des Menschen Sohn nannte, so lehnte er doch auch den Namen Sohn Gottes nicht ab, und es leidet keinen Zweifel, dass er der Sohn Gottes zu sein behauptete. Die bestimmteste und wichtigste Stelle, in welcher Jesus sein Sohnesbewusstsein ausspricht, ist Matth. 11, 25 30, wo er den Vater, den Herrn des Himmels und der Erde darüber preist, dass was freilich den Weisen und Verständigen verborgen bleibe, den Unmündigen geoffenbart sei, d. h. Gott dafür dankt, dass unter so Vielen, welchen in ihrer weltlichen Richtung der Sinn für das Geistige völlig verschlossen ist, es doch nicht an Solchen fehlt, welche in ihrem einfachen kindlichen Sinn die rechte Empfänglichkeit für seine Belehrun- gen über die ^xaikzi.'x. töv oöpavwv haben. Die Rede Jesu schil- dert einen Moment, in welchem sich .ihm nach der gemachten freudigen Erfahrung, dass er nicht umsonst wirke, der erhebende Gedanke an seine universelle, weltgeschichtliche Bestimmung in seiner ganzen Grösse aufdrang. Von diesem Gesichtspunkt aus ist auch das Folgende zu verstehen. Wenn er sagt, alles sei ihm von seinem Vater übergeben, so kann er nur alles das meinen , was sich auf die Realisirung der Idee der ßactXsta töv •oiipavöv bezieht, und er spricht hiemit nur das Bewusstsein aus, dass er der Stifter derselben in dem Sinne sei, in welchem er diess hauptsächlich in der Bergrede erklärt hat. In diesem Be- wusstsein weiss er sich mit dem Vater Eins, niemand erkennt den Sohn als der Vater, und niemand erkennt den Vater, als der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Vom Sohn geht alles aus, was eine neue Offenbarung Gottes in der Menschheit begründet, er ist der höchste unmittelbare Gesandte Gottes,

Baar, nentwt. TheoL ^

JI4 •' Erster Abschnitt.

durch welchen alles vermittelt wird. Der Vater erkennt den Sohn und der Sohn den Vater, weil zwischen Beiden, dem Sendenden und dem Gesendeten eine solche Einheit des Be- wusstseins ist, dass der Sendende nur den Gesendeten als den OfTenbarer seines Willens erkennt und nur der Gesendete weiss, von wem er gesendet ist. Die Einheit des Vaters und Sohns ist hier vollständig erklärt, wenn wir sie von dem in Jesu sich aussprechenden Bewusstsein eines unmittelbaren göttlichen Ge- sandten verstehen, welcher hier mit derselben Auctorität auf- tritt, wie in der Bergrede, in welcher, wenn auch die Person gegen die Sache zurücksteht, doch der ganze Inhalt der Rede von dem Bewusstsein getragen wird, dass in dem Redenden eine neue Quelle unmittelbarer göttlicher Offenbarung eröffnet ist. Wer so spricht, wie Jesus in der Bergrede, wenn er zwar nur auf den Boden der alttestamentlichen Gesetzgebung sich stellt und über denselben nicht hinausgehen will, aber doch durch alle Belehrungen, die er hier gibt, erst den wahren Sinn der alttestamentlichen Gesetzgebung aufschliesst, muss auch das Bewusstsein in sich haben , dass er nur als Gesandter Gottes so sprechen kann. Dasselbe Bewusstsein spricht sich hier, Matth. 11, 25 f. aus, nur unmittelbarer und persönlicher. Darum stimmt dieser Abschnitt mit der Bergrede auch darin ganz über- ein, dass der Inhalt der Lehre, zu deren Verkündigung er als der vom Vater Gesendete gekommen ist, derselbe ist, wie in der Bergrede. In dem erhebenden Bewusstsein seiner göttlichen Sendung oder seiner Einheit mit Gott ruft er alle zu sich, um sie das bei sich finden zu lassen, was sie in der pharisäischen Gesetzesgerechtigkeit nicht finden können, dieselbe Ruhe und Befriedigung, die er in den Makarismen der Bergrede denen verheisst, welche die rechte Empfänglichkeit für seine Ein- ladung zum Reich Gottes haben. Kommet her zu mir, ruft er, alle, die ihr mühselig und beladen seid, d. h. als die Trrwjj^ol TTveujxaTi das Bewusstsein dessen habt, was euch fehlt, ich will

Die Lehre Jesu von seiner Person und Gott. 115

euch erquicken, nehmet auf euch mein Joch u. s. w.; denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht. Sanft ist sein Joch, weil er von dem Druck der pharisäischen Satzungen befreit, und an die Stelle des äussern Gesetzesdienstes den Innern Werth der sittlichen Gesinnung setzt. In der Erweckung dieses rein sitt- lichen Bewusstseins besteht die göttliche Sendung, in welcher er als Sohn mit dem Vater sieh eins weiss. Wie er in keiner andern Stelle sich so unmittelbar als Sohn dem Vater gegen- überstellt, so gibt auch keine andere einen so klaren Aufschluss über den Begriff, welchen er mit dem Ausdruck uiö? verband. War es zuvor schon gewöhnlich, den Messias Sohn Gottes zu nennen, so wollte auch er mit dieser Bezeichnung seiner Per- son das Prädicat des Messias, aber nur in dem Sinn, in welchem er die messianische Bestimmung auffasste, sich zueignen. " ''^ Wie er aber das Sohnesverhältniss sich dachte, lässt sich erst aus der Bedeutung erkennen, welche für ihn die Idee Got- tes als des Vaters hatte. Diese Idee darf mit Recht als der ei- gentliche Mittelpunkt der Lehre Jesu betrachtet werden, als das von ihm aufgestellte neue Princip des religiösen Bewusstseins. Dass Gott in dem Verhältniss eines Vaters zu den Menschen steht, ist erst durch Jesus zum vollen Bewusstsein der Mensch- heit geworden. Vater wird Gott zwar auch schon im alten Te- stament genannt, aber nur selten, wie Jesaj. 63, 16. Ps. 103, 13; die Vateridee ist noch nicht die wesentliche Bestimmtheit des religiösen Bewusstseins. Bei Jesus ist es die stehende Be- zeichnung Gottes, dass er der Vater der Menschen ist; „euer Vater, euer Vater im Himmel" ist das immer wiederkehrende Prädicat Gottes in der Bergrede, mit diesem Namen wird er ganz besonders in dem Mustergebet Jesu angerufen. Va- ter nennt Jesus Gott, um mit diesem Namen die Unmittelbar- keit des Verhältnisses auszudrücken, in welchem der Mensch zu Gott steht. So innig und vertrauensvoll das Verhältniss ist, in welchem das Kind zu dem Vater steht, so findet dasselbe

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116 Erster Abschnitt.

zwischen Gott und den Menschen statt; es ist von Seiten Gottes ein Verhältniss der Liebe und Güte, aus welchem den Menschen nur Gutes kommen kann, Matlh. 7, 9 f., von Seiten der Menschen ein solches des Vertrauens und einer freien auf dem Bewusst- sein des Bedürfnisses beruhenden Abhängigkeit. So unmittelbar aber dieses Verhältniss ist, so allgemein ist es auch. Die Vater- idee hat den weitesten Umfang, keiner, wer er auch sei, ist von dem Verhältniss ausgeschlossen, das durch diesen Namen bezeich- net wird; er setzt keine Schranke im Bewusstsein, wie wenn Gott nur als der Gott Abraham's, Isaak's und Jakob's angerufen wird, sein eigenthümlichster Begriff ist, dass er jede Schranke aufhebt, wie er intensiv dem religiösen Bewusstsein die grösste Innigkeit und Stärke gibt, so auch dasselbe in's Unendliche erweitert. Als Vater ist Gott der allgemeine Vater aller, der seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte. Matth. 5, 45. Wie Jesus hier aus der Vateridee Gottes, aus der Allgemeinheit des Verhält- nisses, in welchem Gott als Vater zu den Menschen steht, die sittliche Folgerung zieht, dass man auch die Feinde lieben, denen wohlthun soll, die uns hassen, sofern ja auch Gott alle Men- schen, Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte auf gleiche Weise behandle , so ist überhaupt dieses sittliche den Menschen mit Gott verknüpfende Band ein weiteres Moment der Vateridee Gottes im Sinne Jesu. Ist Gott Vater der Menschen, so sind die Menschen Kinder, Söhne Gottes. Zur Natur dieses Verhältnisses gehört es aber, dass der Sohn sich nach dem Vater richtet, das- selbe, was der Vater ist, zu werden sucht. In der Vateridee Gottes liegt daher von selbst die sittliche Verpflichtung, dass der Mensch Gott in allen sittlichen Vollkommenheiten, die über- haupt Gegenstand eines sittlichen Strebens sind, ähnlich zu werden sucht. In dem Gebot Jesu Matth. 5, 48, vollkommen zu sein, wie der Vater im Himmel vollkommen ist, ist die höchste Aufgabe des sittlich-religiösen Bewusstseins ausgesprochen.

Die Lehre Jesn von Gott. itT

Kann sich der Mensch Gott nur als die höchste sittliche Voll- konmienheit denken , so miiss er nach der Vateridee Gottes in jeder sittlichen Vollkommenheit auch ein Ideal seines sittlichen Strebens erblicken. Es kommt daher nur darauf an, sich der absoluten Vollkommenheit Gottes in ihrem ganzen Umfang be- wusst zu werden. Welche Bedeutung aber in dieser Beziehung die Vateridee Gottes hat, um das Absolute der Gottesidee sich zum vollen Bewusstsein zu bringen , zeigt Jesus am Gebot der Nächstenliebe, Es widerstreitet der Idee Gottes , als des Vaters aller Menschen, es so zu beschränken, wie die Pharisäer Vhaten, welche aus dem Gebot der Nächstenliebe das Gebot des Feindes- hasses folgerten. So schliesst überhaupt die Vateridee Gottes, je reiner sie entwickelt wird, für das religiöse und sittliche Be- wusstsein der Menschen, alles Particularistische und willkürlich Beschränkende aus, und das ganze Verhältniss des Menschen zu Gott wird unter den Gesichtspunkt einer sittlichen Aufgabe gestellt, die nur dadurch gelöst werden kann, dass der Mensch in der Ähnlichkeit mit Gott die göttliche Vollkommenheit in sich selbst darstellt. Durch die Idee des Sittlichen wird erst die absolute Idee Gottes auf ihren bestimmten Begriff und ihren adäquaten Ausdruck gebracht. In den guten Werken , in wel- chen sich die Idee des sittlich Guten verwirklicht, reflectirt sich in jedem Einzelnen als einem sittlichen Subject die absolute Vollkommenheit Gottes. Vgl. Matth. 5, 16. Da in der Idee des Sittlichen zweierlei enthalten ist, sowohl die Idee an sich als die Realisirung derselben auf dem Wege des sittlichen Strebens, so erhält durch die Idee des Sittlichen, wenn die Idee Gottes unter ihren Gesichtspunkt gestellt wird, auch das Verhältniss des Vaters und Sohnes seine nähere Bestimmung. Ist der Vater die sittliche Idee an sich, oder das sittliche Ideal, so kann der Solin nur als die sich realisirende Idee aufgcfasst werden und je vollkommener die Idee sich realisirt, um so vollkommener stellt sich die Einheit des Sohnes mit dem Vater dar. In diesem rein

iiQ - Erster Abschnitt.

sittlichen Sinne nimmt Jesus selbst in der Bergrede den Begriff des Sohns oder der u£oi ösoG. Die Friedfertigen werden V. 9 selig gepriesen, weil sie uiol 6eou genannt werden. Sie wer- den so genannt, weil sie dieselbe sittliche Eigenschaft in sich darstellen, die als eine wesentliche Bestimmung der Idee Gottes betrachtet werden muss; die, welche auch die Feinde lieben, werden uiol des Vaters im Himmel werden V. 45. Ebenso werden Luc. 6, 35 die , welche in der Feindesliebe und Wohl- thätigkeit Gott nachahmen, als Söhne des Höchsten bezeichnet. Wenn nun Jesus selbst sich vorzugsweise als den Sohn Gottes betrachtete und bezeichnete, so kann er selbst dieses Ver- hältniss aus keinem andern als dem sittlichen Gesichtspunkt aufgefasst haben . In der Tiefe seines sittlichen Bewusstseins er- kannte er sich als den Sohn Gottes, sofern sich ihm in seinem Bewusstsein die Idee des sittlich Guten in der Reinheit darstellte, in welcher er sie besonders in der Bergrede entwickelte, und sofern er sich selbst der vollkommensten Realisirung dieser Idee durch sein sittliches Streben bewusst war. Dieser rein sittliche Begriff des Gottessohns ist sowohl von dem metaphysischen des Johanneischen Evangeliums als dem nationalen des jüdischen uto? Tou ösou wohl zu unterscheiden , und es ist demnach auch schon in dem Namen des Sohns , mit welchem Jesus den höch- sten Begriff seiner göttlichen Sendung ausdrückte, dieselbe Ver- geistigung des Messiasbegriffs durch die sittliche Idee der ßa- <jiXe(a Töv oupavöv ausgesprochen, welche wir überhaupt als den wesentlichen und ursprünglichen Charakter der messiani- schen Bestimmung Jesu anzusehen haben.

Je weniger sich bezweifeln lässt, dass die Aussprüche Jesu sowohl über seine Person als über seine messianische Bestim- mung überhaupt aus dem bisher entwickelten sittlich religiösen Gesichtspunkt aufzufassen sind, um so weniger wird anzuneh- men sein, dass er selbst seinem messianischen Plan eine national fparticularistische Beschränkung gegeben habe. Auch diese Frage

Die Lehre Jesu. Sein messian. Beruf. 119

ist hier noch zu berühren , da sich hierüber besonders bei Mat- thäus Aussprüche finden , die sich zu widersprechen scheinen. Auf der einen Seite versagt Jesus die Hülfe, um welche er im Glauben an ihn gebeten wird , auch Heiden nicht , wie er dem Hauptmann von Capernaum die Bitte um die Heilung seines Sohns aus dem Grunde gewährt, weil er selbst in Israel solchen Glauben nicht gefunden habe, ja er erklärt sogar aus dieser Veranlassung, dass Viele, die in diesem Zusammenhang nur Heiden sein können, vom Aufgang und Niedergang mit Abra- ham, Isaak und Jakob zu Tische liegen oder Freude und Selig- keit geniessen werden im Himmelreich , während die Söhne des Reichs d. h. die Juden , die die nächsten Ansprüche darauf ha- ben oder zu haben meinen, in die äusserste Finsterniss werden hinausgestossen werden Matth. 8, 5 f. Dieselbe Erklärung gibt er am Schlüsse der Parabel von den Weingärtnern. Ich sage euch , hält er seinen Volksgenossen entgegen , darum , weil ihr den Eckstein verworfen habt, wird von euch das Reich Gottes genommen und einem Volke gegeben werden, das die desselben würdige Früchte bringt, d. h. dem hauptsächlich aus Heiden bestehenden christlichen Volk Matth. 21, 43. Dass das messia- nische Heil schon nach dem Sinne Jesu auch den Heiden, den eövT) bestimmt ist, scheint ferner nicht blos aus der Allgemein- heit des Taufbefehls Matth. 28, 19, sondern auch aus der Erklä- rung* Matth. 24, 14 zu erhellen, dass das Ende nicht kommen werde, ehe das Evangelium des Reichs in der ganzen Welt zum Zeugniss für alle Völker verkündigt sein werde.

Wie reimt es sich nun aber mit dem in diesen Stellen aus- gesprochenen üniversalismus, dass Jesus Matth. 10, 5 seinen Jüngern bei ihrer Aussendung verbietet, auf den Weg der Hei- den zu gehen und sie vielmehr zu den verlornen Schaafen des Hauses Israels sich wenden heisst, und dass er selbst ganz in Gemässheit der den Jüngern gegebenen Instruction der kananäi- schen Frau ihre Bitte um Heilung ihrer kranken Tochter aus

180 Erster Abschnitt.

dem Grunde nicht gewähren wollte, weil er nur zu den verlor- nen Schaafen des Hauses Israel gesandt sei Matth. 15, 24? Man hat sich hauptsächlich auch auf diese so widersprechend lautenden Stellen für die Behauptung berufen, dass wir im Mat- thäusevangelium offenbar nicht ein einheitliches schriflstelleri- - sches Erzeugniss, sondern eine Sammlung heterogener ge- schichtlicher Bruchstücke, successiver Entwicklungsformationen der evangelischen Geschichte vor uns haben. In jedem Fall hat man Ursache zu fragen, ob Jesus den Taufbefehl in dieser Form gegeben und von der allgemeinen Verkündigung seines Evan- geliums so bestimmt gesprochen hat, da wenigstens die Weissa- gung Matth. K. 24 nicht von ihm gegeben worden sein kann. Auch in der so bestimmt lautenden Androhung der Strafe für die Verwerfung des Ecksteins, Matth. 21, 43, scheint das spätere Verhalten der Juden durchzublicken. Wenn wir aber auch an- nehmen, dass Jesus selbst sich so universalistisch ausgesprochen habe, wie jene Stellen lauten, so kann doch aus jenen andern keine gegründete Einwendung dagegen erhoben werden. Auch wenn er nicht die Absicht hatte, die Heiden von seinem Plane auszuschliessen , konnte er es doch als seine eigentliche Auf- gabe betrachten , die verlorenen Schaafe des Hauses Israel zum Gegenstand seiner persönlichen Thätigkeit zu machen. Sie be- durften zuerst seiner Sorge, und wenn er ihr Vertrauen gewin- nen wollte, musste er sich auch zuerst allein an sie wenden. Die Härte Jesu gegen die kananäische Frau , besonders in den Worten: man muss das Brod nicht den Kindern nehmen, und es den Hunden hinwerfen, kann auch blos den Zweck gehabt haben , den Glauben der Frau zu erproben. Wenn er endlich doch mit den Worten : Weib, dein Glaube ist gross , es geschehe dir, wie du wünschest, ihre Bitte gewährte , so lag darin die Erklärung, dass auch die Heiden, wofern nur ihr Glaube gross genug ist, von der Theilnahme am messianischen Reich nicht ausgeschlossen sein sollen. Das dem Glauben der Frau ertheilte

Die Lehre Jesu. Sein messian. Beruf. \9\

Lob hat dieselbe Bedeutung wie bei dem Hauptmann von Ca- pernaum , welchem Jesus in einer ähnlichen Noth seine Hülfe ohne Weigerung ertheilte. Wenn er nun auch bei jener Frau zurückhaltender verfuhr, so sollte doch auf den Glauben das- selbe Gewicht gelegt werden , und je beschämender die heidni- sche Glaubensprobe für die Juden ausfiel, eine um so günstigere Meinung musste dadurch von der Empfänglichkeit der Heiden für die Theilnahme am messianischen Reich begründet werden. Wenn es sich auch zunächst nur um einen speciellen Fall leib- licher Hülfe handelte, so gab ihm ^ch Jesus selbst schon durch seine Worte 15, 24 eine allgemeinere messianische Beziehung. Es kann demnach, wenn wir alles zusammennehmen, nichts zu der Voraussetzung berechtigen, dass es in der' Absicht Jesu lag, seinen messianischen Plan auf die Juden zu beschränken. Hat- ten schon die alten Propheten sich zu der Hoffnung erhoben, dass in der messianischen Zeit auch die Heiden zur wahren Re- ligion sich bekehren werden CJes. 2, 2. Jerem. 3, 17. Amos 9, 12. Mal. 2, 11.), .hatte schon der Täufer sich über die jüdische Abstammung so hinweggesetzt, dass er das anspruchsvolle Vor- urtheil seiner Volksgenossen mit den Worten niederschlug, Gott könne selbst aus den Steinen am Jordan dem Abraham Kinder erwecken, wie wenigstens Matth. 3, 9 ihn sprechen lässt, so lässt sich von Jesus unmöglich annehmen, dass er sich auf den Standpunkt des Particularismus gestellt habe. In welcher Weise er nun aber den jüdischen Particularismus zum christlichen Uni- versalismus erweitert wissen wollte, lässt sich nicht näher be- stimmen, da die Stelle über die Taufe Matth. 28, 19. es zwei- felhaft lässt, ob in ihr nicht der an die Stelle der jüdischen Beschneidung tretende christliche Ritus als Befehl Jesu antici- pirt worden ist.

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Zureiter Abschnitt.

Die Lehre der Apostel.

Erste Periode.

Die Lebrbegriffe des Apostels Paulus und des Apokalyplikers.

Übergang.

Die erste Periode, die der Lehre Jesu, ist eigentlich die Urperiode, die noch über die Sphäre der geschichtlichen Ent- wicklung hinausliegt. Man hat hier noch nichts Unmittelbares vor sich, alles ist durch eine Darstellung vermittelt, von wel- cher man nicht weiss, welchen Einfluss sie auf die Sache selbst gehabt hat, wie Vieles durch sie hinzu oder hinweggekommen ist. Auf so manchen Punkten kann man sich nur an das Allge- meine hallen, weil das Speciellere und Individuellere schon die Farbe einer spätem Zeit an sich zu tragen scheint. Die Lehre Jesu steht daher in einer geschichtlichen Ferne vor uns, in welcher sie sich der Schärfe der geschichtlichen Betrachtung entzieht, und mehr nur das Ganze als das Einzelne in's Auge gefasst werden kann. Schon die Beschaffenheit der Quellen macht es nicht möglich, eine specieller durchgeführte Darstel- lung der Lehre Jesu zu geben. Aber auch die Natur der Sache brachte es von selbst mit sich, dass die ursprüngliche Form, in welcher das Christenthum als eine neue Religion hervortrat, wenn sie auch in ihrer principiellen Bedeutung sich deutlich genug zu erkennen gab, doch von einem dogmatisch entwickel- ten Lehrbegriff noch sehr verschieden war. Dazu gehörte der

Zweiter Abschnitt. Einleitung. 1S3

ganze geschichtliche Entwicklungsgang, welchen das Christen- tbum erst mit dem Tode Jesu nahm.

Wenn wir mit der Lehre Jesu die Lehre des Apostels Paulus zusammenhalten, so fällt sogleich der. grosse Unterschied in die Augen, welcher hier stattfindet zwischen einer noch- in der Form eines allgemeinen Princips sich aussprechenden Lehre und einem schon zur Bestimmtheit des Dogma's gestalteten Lehrbe- griff; aber wie vieles liegt auch dazwischen , was die nothwen- dige Voraussetzung ist, ohne welche dieser Fortschritt nicht möglich gewesen wäre. Es ist vor allem der Tod Jesu mit allem, was mit ihm zusammengehört, das wichtigste Moment des Ent- wicklungsprocesses , durch welchen das Christenthum eine von seiner ursprünglichen Form wesentlich verschiedene Gestalt er- hielt. Durch ihn erst gewann die Person Jesu die hohe Bedeu- tung, die sie für das christliche Bewusstsein hat. Wenn auch auf dem Standpunkt der LeTire Jesu alles, was er lehrte, seine bestimmte Bedeutung erst dadurch erhielt, dass er es war, der es lehrte, so machte er doch, wenigstens nach der Auffassung der evangelischen Geschichte, von welcher wir hier ausgehen müssen, nie seine Person zum unmittelbaren Gegenstand seiner Lehre, es ist nicht sowohl die Bedeutung seiner Person als viel- mehr die Wahrheit seiner Lehre, woran alles hängt. Er ist nur dazu gekommen, um durch die sittlichen Forderungen, die er an die Menschen machte, die ßaciXsia töv oüpavöv einzuleiten, sie zum Eintritt in dieselbe einzuladen, und dadurch sie selbst zu eröffnen. Das suotyYeXcov als solches, die Ankündigung der ßafftXsia TtSv oupavöv als einer auf der Lehre Jesu beruhenden sittlich religiösen Gemeinschaft macht hier noch alles aus. Auf- dem Standpunkt der Apostel dagegen fällt der eigentliche Schwerpunkt des christlichen Bewusstseins, der substanzielle Mittelpunkt, auf welchem alles beruht, nicht in die Lehre Jesu, sondern in seine Person, alles wird in die absolute Bedeutung seiner Person gelegt; die Hauptfrage ist nicht, was Jesus gelehrt

1^4 Zweiter Abschnitt. Einleitung.

hat, um durch seine Lehre die Menschen zur Seligkeit zu führen, sondern was er gethan und gelitten hat, um ihr Erlöser zu werden. Dadurch ist nun erst der einfache sittlich religiöse Inhalt der Lehre Jesu zu -einem theologisch gestalteten und aus- gebildeten Lehrbegriff geworden. Die Hauptthatsachen der Ge- schichte Jesu, sein Tod, seine Auferstehung, seine Erhöhung und überirdische Wirksamkeit sind der Inhalt ebenso vieler Dogmen, an welche als die substanziellen Elemente alles Übrige sich angeschlossen hat. In allen diesen Dogmen ist die absolute Bedeutung seiner Person in ihrem bestimmten Begriff fixirt und ausgesprochen, und wie sie der objective Inhalt des christlichen Bewusstseins ist, so steht ihr auf der andern subjectiven Seite der Glaube an seine Person gegenüber, welcher nicht mehr, wie in den synoptischen Evangelien, der Glaube an die Wahrheit seiner Lehre mit der Willigkeit ihrer Befolgung ist, sondern unmittelbar seine Person selbst, als das absolute Princip alles Heils, zu seinem Gegenstand hat. <^"'* i><*iMa'tt»-^4t 9l«»(9ö«j»il Die Frage ist nun aber, ob wir auch alle diese Dogmen, welche erst durch die Apostel zu der ursprünglichen Lehre Jesu hinzugekommen sind, demungeachtet als einen gleich wesent- lichen Bestandtheil derselben anzusehen haben, ob der Stand- punkt, auf welchen uns die Apostel stellen, mit dem Standpunkt Jesu selbst so sehr identisch ist, dass die Lehre Beider nur die Einheit eines und desselben Ganzen ist. Es ist hier der Punkt, auf welchem zwei völlig divergirende Ansichten sich von ein- ander trennen, und die neutestamentliche Theologie hat in die Untersuchung dieser Frage wenigstens so weit einzugehen, dass sie sie in ihrer vollen Wichtigkeit in's Auge fasst. Nach der einen dieser beiden Ansichten sind alle jene Dogmen schon in der Lehre Jesu an sich so enthalten, dass wir sie nur als die natürliche Entwicklung derselben betrachten können. Sie treten nur darum in der Lehre Jesu selbst noch nicht in ihrer bestimm- ten Gestalt hervor, weil die Thatsachen, auf welche sie sich

Übergang von der Lehre Jesn zn der der Apostel. 1185

beziehen, noch nicht zur geschichtlichen Wirklichkeit geworden waren. Sobald daher der Tod Jesu, seine Auferstehung und Erhöhung als vollendete Thatsachen vor dem christlichen Be- wusstsein standen, konnte es nicht anders sein, als dass sie so, wie von den Aposteln geschah , aufgefasst und in das in jenen Dogmen ausgesprochene Verhältniss zu der Lehre Jesu gesetzt wurden. Sie. enthalten demnach nichts, was nicht ideell, an sich, schon in der Lehre Jesu selbst enthalten war. So gewiss alle jene Tbatsachen nur die wesentlichen Momente des ganzen geschichtlichen Verlaufs sind, welcher sich uns in der Person Jesu darstellt, so gewiss sind auch die auf sie sich beziehenden Dogmen nur der explicirte Inhalt der ursprünglichen. Lehre Jesu , die von Anfang an in seinem Geiste nicht oline diese Be- stimmungen gedacht werden konnte. Aber eben diess ist nun die Frage, um welche es sich hier handelt, ob die Lehre Jesu nicht auch ohne jene erst durch die Lehre der Apostel hinzuge- kommenen Bestimmungen für sich schon eine solche Einheit ist, dass sie einer solchen Ergänzung nicht erst bedarf, ob das That- sächliche, worauf die Lehre der Apostel beruht, für sich so feststeht, dass es nicht anders als von den Aposteln geschehen ist, aufgefasst werden kann, oder ob wir nicht Ursache haben, das objectiv Thatsächliche, wie es an sich ist, von der sub- jectiven Bedeutung, welche es erst im Bewusstsein der Apostel und in der ihnen eigenthümlichen Anschauungsweise erhalten hat, genau zu unterscheiden. Der Tod Jesu steht als geschicht- liche Thatsache fest; wenn aber Jesus selbst über die Bedeutung seines Todes sich nicht näher und bestimmter, oder im Grunde gar nicht erklärt hat, wenn der seligmachende Eintritt in die ßa(;iXeia t(3v oupav&v, und die Möglichkeit der Erfüllung der sittlichen Forderungen, die er an den Menschen macht, nach seiner Lehre nicht bedingt ist durch den Glauben an die ver- söhnende Kraft seines Todes, woher wissen wir, welche reli- giöse und dogmatische Bedeutung sein Tod hat, als eben nur

126 Zweiter Abschnitt. Einleitung. gtadU

durch die Apostel, und zwar vorzugsweise denjenigen Apostel, der nicht einmal sein unmittelbarer Jünger war, und dessen Lehrbegriff selbst nur eine bestimmte individuelle Form der Lehre der Apostel ist?

'^'"■"Noch schwieriger ist bei der Auferstehung Jesu die Frage zu beantworten, was das objectiv Thatsächliche und das blos subjectiv Vorgestellte ist. Alle, welche an kein wirkliches ma- terielles Wunder glauben, können nur annehmen, dass der Glaube an die Auferstehung aus dem ganzen geistigen Process hervorgegangen ist, welcher nach dem Tode Jesu im Geiste der Jünger erfolgte. Nach dem ganzen Eindruck, welchen das Leben Jesu und seine letzten Schicksale auf sie gemacht hatten, war es für sie eine schlechthinige Unmöglichkeit zu denken, dass alles, was im Glauben an Jesus nun schon als absolute Wahrheit für ihr Bewusstsein feststand, in seinem Tode mit Einem Male zu Grabe gegangen sei. Auch in seinem Tode konnten sie sich ihn nur als den Lebenden denken : er musste als der Gestorbene leben, weil an ihm, an seiner Person alles für sie hieng, was sie glaubten und hofften. Wie die Jünger nach dem Tode Jesu in die Nothwendigkeit seiner Auferstehung sich hineindachten, sehen wir aus der Art und Weise, wie sie durch Anwendung alttestamentlicher Stellen sein ganzes Schick- sal für ihr religiöses Bewusstsein sich zurechtzulegen suchten. Er musste sterben, aber er musste auch auferstehen, weil der Tod keine Gewalt über ihn haben konnte. Vgl. Apg. 2, 24. Gott hat ihn auferweckt, indem er die Schmerzen des Todes löste, weil es nicht möglich war, dass er von ihm überwältigt werde. Vgl. Luc. 24, 26. Überzeugte man sich aus dem alten Testament, dass es Christus vorausbestimmt war, zu leiden und zu sterben, so war in der Nothwendigkeit seines Todes auch die innere Nothwendigkeit seiner Auferstehung enthalten. Stellt man sich nun vor, wie diese innere Nothwendigkeit in ihrer ganzen Bedeutung vor dem Geiste der Jünger stand, und be-

Die Lehre der Apostel. Auferstehung Jesu. i^7

denkt man noch dazu, wie überhaupt das religiöse Bewusstsein jener Urperiode des Christenthums sehr ekstatischer Art war, wer könnte es für psychologisch unmöglich halten, dass die Gedanken , mit welchen sich die Jünger in ihrem Geiste so leb- haft beschäftigten, sich ihnen zu Visionen gestalteten, die ihnen als Erscheinungen des Auferstandenen galten ? Was auf diese Weise in dem Glauben an den Auferstandenen dem Bewusstsein der Jünger sich aufdrang, ist die an der Person Jesu in der Form einer gegebenen Anschauung ihnen sich darstellende Ge- wissheit, dass die Sache der Wahrheit, als die Sache Gottes, nicht unterliegen könne. Man kann daher sagen, wenn Christus nicht leiblich auferstand, so musste er geistig auferstehen in dem Glauben der Jünger, in welchem der Gedanke an seine Er- habenheit über den Tod und die über alles siegende Macht der Wahrheit, für die er gestorben war, durch die innere Noth- wendigkeit der Sache selbst zur Gewissheit der thatsächlichen Wirklichkeit seiner Auferstehung werden musste. Welche An- sicht man nun aber auch von der Auferstehung Jesu haben mag, der feste Punkt, welchen die neutestamentliche Theologie in ihrem Übergang von der Lehre Jesu zu der Lehre der Apostel vor allem zu fixiren hat, ist die absolute Bedeutung, zu welcher die Person Jesu in dem Glauben der Jünger an seine Auferstehung erhoben worden ist. Wie ohne diesen Glauben und die Vorstel- lung von der Person Jesu, auf welcher er beruht, das Christen- thum zu seiner geschichtlichen Bedeutung nicht hätte gelangen können, so ist er auch die absolute Voraussetzung, von welcher aus das System der neutestamentlichen Theologie in den ver- schiedenen LehrbegrifFen , die zu unterscheiden sind, sich ent- wickelte. Die Lehre von der Person Jesu ist das Grunddogma, auf welchem alles beruht, und von welchem aus nun auch der principielle Unterschied des Christenthums vom allen Testament, welcher in der Lehre Jesu noch zurücktritt, in seinem ganzen Umfang sich herausstellt.-

188 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

1. Der Lehrbegriff des Apostels Paulus.

Der paulinische Lehrbegriff ist das bedeutendste Moment in der Entwicklungsgeschichte des Urchristenthums. Stellt sich uns in der ursprünglichen Lehre Jesu, wie sie in dem ihren wesentlichen Geist und Inhalt bezeichnenden Ausspruch Jesu enthalten ist, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen, der innere Zusam- menhang und die wesentliche Identität des Christenthums mit der altleslamentlichen Religion dar, so ist dagegen der Paulinis- mus der entschiedenste Bruch des christlichen Bewusstseins mit dem Gesetz und dem ganzen auf dem alten Testament beruhen- den Judenthum. In dem Apostel Paulus war zuerst der wesent- liche Unterschied des Christenthums vom Judenthum, die Un- möglichkeit, auf der Grundlage des Judenthums das von Christus erworbene Heil sich zuzueignen, zum bestimmten Bewusstsein gekommen. Dass daher für den im Glauben an Christus seines chrisllichen Heils sich bewusst gewordenen Christen das Juden- thum mit allem, was zu ihm gehört, seine Bedeutung völlig ver- loren habe, ist die in allen Briefen des Apostels ausgesprochene Überzeugung. -Ist nun das Christenthum das, was es seinem wahren Wesen nach ist, erst im Unterschied vom Judenthum, in dem bestimmten Bewusstsein seines vom Judenthum verschie- denen Princips, so ist es erst durch den Apostel Paulus zu dieser selbstständigen absoluten Bedeutung erhoben worden; nur hat er blos für das Bewusstsein ausgesprochen, was an sich, prin- cipiell und thatsächlich, oder implicile schon in der Lehre Jesu enthalten war. Wie man sich nun auch das Verhältniss des Paulinismus zur ursprünglichen Lehre Jesu näher erklären mag, gewiss ist in jedem Fall, wenn man den Apostel Paulus in seinem Verhältniss zu den altern Aposteln betrachtet, dass nur er es war, der sich auf diesen Standpunkt erhob, während die altern Apostel ihm noch sehr fern blieben. Aus den Berichten der

Paulin, Lehrbegriff. Jndenth/ und Christenth. tSf9

Apostelgeschichte sehen wir wenigstens so viel, dass sie sich fortgehend als Glieder der jüdischen Religionsgemeinschaft be- trachteten, sich an den jüdischen Religionscultus hielten, und überhaupt noch keine Ahnung davon hatten, welcher Keim eines tiefgehenden Zwiespalls mit dem Judenthum in ihrem Glauben an Christus verborgen lag. Den deutlichsten Beweis ihrer zähen Anhänglichkeit an das Judenthum gibt uns jedoch der Galater- brief. Der Hauptpunkt, an welchem die Frage über das Ver- hältniss des Christenthums zum Judenthum in ihrer ganzen Schärfe zur Sprache kommen musste, war die Beschneidung. .Sobald man sein volles Heilvertrauen auf Christus setzte, konnte man nicht zugleich die Beschneidung als die nothwendige Be- dingung der Seligkeit geltend machen. Diess war dem Apostel Paulus zur entschiedensten Gewissheit geworden; den altern Aposteln aber war diess noch so wenig klar, dass sie selbst vierzehn Jahre nach der Bekehrung des Apostels Paulus den Grundsatz der Nothwendigkeit der Beschneidung nur so weit fallen Hessen, als es nach Maassgabe der damaligen Verhältnisse nicht anders sein konnte. Das Judenthum behauptete für sie noch sein absolutes Recht, sie konnten sich von dem Grundsatz noch nicht trennen, dass man nur durch das Judenthum selig werde. Wie in dem Apostel Paulus die entgegengesetzte An- sicht, der principielle Gegensatz des Christenthums zum Juden- thum zu einer Thatsache seines Bewusstseins wurde, können wir nicht weiter geschichtlich verfolgen. Das aber verdient beachtet zu werden, dass so rasch seine Bekehrung erfolgte, so radical auch sein Bruch mit dem Judenthum war. Die absolute Bedeutung des Judenthums, für die er kaum noch als Christen- verfolger aufgetreten war, war für ihn mit Einem Male erloschen. Das bedeutendste Moment, in welchem der ebenso plötz- liche als liefgeliende Umschwung seines religiösen Bewusstseins erfolgte, war ohne Zweifel der Tod Jesu. War für ihn bisher nach seiner jüdischen Messiasvorslellung der Tod Jesu der

Banr, neutest. Theol, •»

f so Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Gegenstand des grössten Anstosses, der augenscheinlichste Be- weis dafür, dass Jesus nicht der Messias sein könne, so kam ihm nun mit Einem Male der Gedanke: wie, wenn doch beides zusammen bestehen könnte, wie, wenn es doch die Bestimmung des Messias wäre, zu sterben, und sein Tod als eine von Gott getroffene Veranstaltung auch eine ganz besondere religiöse Bedeutung hätte! Welche andere Bedeutung konnte er aber haben, als diese, ein Opfertod für die Sünden der Menschen zu sein? Sobald aber der Tod Jesu aus dem Gesichtspunkt eines Opfertodes betrachtet wurde, so schloss diess die Voraussetzung in sich, dass durch ihn erst bewirkt werden sollte, was die ganze alttestamentliche Religionsanstalt nicht bewirkt hatte, und nicht bewirken konnte. Je mehr so die ganze Bedeutung der Messianität Jesu nur in seinen Tod gelegt werden konnte, um so mehr musste dieser neuen Veranstaltung Gottes gegenüber die ganze alttestamentliche Religionsanstalt in ihrer Unvoll- kommenheit und Unzulänglichkeit zur Sündenvergebung, zur Rechtfertigung und Beseligung des Menschen erscheinen, und es kam nun darauf an, dieses Verhältniss des Todes Jesu zum alten Testament oder zum Gesetz, als dem wesentlichen Charakter des alten Testaments, in dem Zusammenhang seiner Momente dialektisch so zu entwickeln, dass es sich als ein auf der innern Nolhwendigkeit der Sache selbst beruhendes darstellte.

Dass diess im Allgemeinen der innere geistige Process war, in welchem dem Apostel seine eigenthümliche Ansicht sich bil- dete und der principiclle Gegensatz zum Gesetz der Mittelpunkt seines religiösen Bewnsstseins wurde, lässt sich wenigstens durch zwei unter diesen Gesichtspunkt gehörende Momente be- gründen. Wenn der ApoStel 2 Cor. 5, 16 im Zusammenhang einer Stelle, in welcher er von der Bedeutung des Todes Christi spricht, sagt, dass er, seitdem er dem für ihn, wie für alle, gestorbenen und auferstandenen Christus zu leben angefangen habe, von keinem Christus xxTa ddcpxa mehr wisse, wenn er

Panlin, Lehrbegriff. Jndenth. und Christenth. 131

auch zuvor von einem solchen gewusst habe, so lässt er uns hiemit in diesen Umschwung seines religiösen Bewusstseins hin- einsehen. Der Wendepunkt war das ouxsTt xaToc (japjca XpicTÖv Yivw(jxsiv. Kaxa capxa erkannte er Christus, solange er nur die nationaljüdische Vorstellung vom Messias hatte, und das Wesentliche dieser Vorstellung war, dass der Messias keines solchen Todes sterben sollte, wie der Tod Jesu war. Die Mei- nung, dass der Messias keines solchen Todes sterben dürfe, war ihm ein xara «jdtpxa XpwTov ytvcotjxeiv, der jüdische Messias war ihm selbst nur ein fleischlicher Messias, weil er als ein nicht durch den Tod hindurchgegangener Messias noch alles Fleisch- liche an sich hatte, was erst der Tod als die Vernichtung des Fleisches aufheben kann. In dem Tode Jesu erkannte er daher die Läuterung der Messiasidee von allen ihr im Judenthum an- hängenden sinnlichen Elementen, ihre Erhebung in das wahr- haft geistige Bewusstsein. Mit dem Tode Jesu war dem Apostel alles aufgehoben, was der Messias als jüdischer Messias war, durch seinen Tod war Jesus selbst als Messias dem Judenthum abgestorben, aus seinem nationalen Zusammenhang in eine freiere, universelle, rein geistige Sphäre hinausgerückt, in wel- cher die bis dahin geltende absolute Bedeutung des Judenthums mit Einem Male erloschen war. Damit hängt auf's engste zu- sammen, was hier noch als ein zweites Moment zu bemerken ist, dass der Apostel unmittelbar mit seiner Bekehrung sich zum Heidenapostel berufen glaubte. Dass es Gott gefiel, wie er Gal. 1, 16 sagt, ä7roKa>>u4'at töv uJöv auToO in ihm, geschah dazu, i'va sOay-^j'sXi^oifAai auTOv £v toi? sSvsci. Es ist diess eine vom Apostel selbst bezeugte Thatsache, die wir uns nur aus dem in seinem religiösen Bewusstsein geschehenen Umschwung erklären können. Nur im Gegensatz gegen das Judenthum konnte der Apostel der absoluten Bedeutung des Christenthums sich bewusst sein. Alles Particuläre des Judentluims verschwand ihm im Universalismus desChrislenlliums. Daher konnte er sich

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f9H Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Juden und Heiden nur in dem gleichen Verhältniss zu der grossen Thatsache des Todes Jesu denken, durch welche überhaupt der Menschheit ein ganz neues Bewusstsein über ihr Verhältniss zu Gott aufgieng. H .Mi^*^^'}

r War diess der Gang der Sache, durch welchen der Apostel auf seinen eigenthümlichen christlichen Standpunkt gestellt wurde, so kann es nicht anders sein, als dass das wesentliche Element seines Lehrbegriffs die Antithese gegen das Judenthum ist, die Ausführung und Begründung des Satzes, dass was das Judenthum nicht zu leisten im Stande sei, erst vom Christenthum geleistet werde, das Judenthum demnach in einem durchaus negativen Verhältniss zum Christenthum stehe. f Vf Wenn Judenthum und Christenthum in dieser abstracten Weise einander gegenübergestellt werden, so ist der höhere Begriff, unter welchen beide zu stellen sind, die Idee der Reli- gion. Es würde sich daher vor allem fragen , wie der Apostel das Wesen der Religion bestimmt. Nur wenn man weiss, was er überhaupt unter Religion versteht, lässt sich begreifen, wie er beide in ein solches Verhältniss zu einander setzt, dass, was auf der einen Seite nicht stattfindet, um so gewisser auf der andern sieh zu erkennen gibt. Der allgemeinste Begriffj mit welchem der Apostel die Aufgabe und Bestimmung der Religion bezeichnet, ist die Six.aio<7uv/i. Alle auf diesen Begriff sich be- ziehenden Ausdrücke, wenn von einer SixaioTÜvv) 6eoO die Rede ist, von einer Si5taio<juv')ri i^ spytov, £•/, 7c£(jTetd?, oder in demselben Sinne von einem SixatouGOai, setzen die Sixato(TuvTri als den Grund- begriff des Verhältnisses voraus, in welchem der Mensch zu Gott stehen soll. Ist nun Gerechtigkeit, wenn von der Beziehung der Menschen zu einander die Rede ist, ein Verhältniss, in welchem jeder dem Andern das wirklich zu Theil werden lässt, was er als das ihm an siclj Zukommende anzusehen hat, so dass denniach, wenn der Eine dem Andern gegenübersteht, beide in dem der Nutur der Sache entsprechenden Verhältniss zu einander

Paulin. Lehrbegriff. Aixatoauvrj. 133

Stehen, so kann, was das Verhältniss des Menschen zu Gott betrifft, der Grundbegriff der (iiKcciorrWr, nichts anderes sein, als das sittlich Adäquate dieses Verhältnisses. Der Mensch ist ^ixaio? Gott gegenüber, wenn er so isl, wie er sein soll, oder wie Gott will, dass er ist, also in dem dem Willen Gottes adäquaten, somit harmonischen Verhältniss zu ihm sieht. Die Sijcaioduvvi ist daher für jede Religion der höchste Begriff, da sie die noth- wendige Voraussetzung ist, unter welcher allein der Mensch wahrhaft mit Gott Eins sein kann. Nur wenn der Mensch so ist, wie Gott will, dass er ist, kann zwischen Gott und dem Menschen ein Verhältniss der Einheit bestehen. Da aber die St/taiocuvr nicht das an sich schon Seiende ist, sondern erst durch die Religion realisirt werden soll, so ist die eigentliche Aufgabe der Religion das SixatoOcöai , der Mensch muss erst Sijtaio; wer- den, zu dem adäquaten Verhältniss zu Gott, das der Begriff der Si)tato(juvy) ist, gelangen; das, wodurch er dazu gelangt, ist das Äutaiou<yOai. Da jede Religion die Aufgabe hat, den Menschen zur Einheit mit Gott zu bringen, was nur durch das SixaiouaGai geschehen kann, so ist diess der Begriff, in welchem auch Judenthum und Christenthum noch ganz auf demselben Boden mit einander stehen. Sofern das Sixaioucöai etwas erst Werden- des ist, ist es noch ganz das Gemeinsame des Judenthums und Christenlhums. Um so mehr aber fragt sich, auf welchem Wege beide zu dem Ziele des SixaioOcOat, zu der Sixaiocruwi führen, wie die heiden hier sogleich auseinandergehenden und in das ^i^catoOcöat ic spytov vofxoi» und das SutatoucÖai iv, Tuiixstö; sich trennenden Wege sich zu einander verhalten , welcher Art die Vermittlung ist, die auf der einen Seite durch die spya, auf der andern durch die togti? stattfinden soll. Die bestimmte Behaup- tung des Apostels ist es nun , dass der Mensch oO ^ixaiouTai ii:, spywv voaou, dass es auf diesem Wege nicht möglich ist, zu dem zu gelangen, was das Ziel und Object des ^aaioOsOat ist, zu der ^i)taio<iuvyi. Gibt es also eine den Menschen in das adäquate

194 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Verhältniss zu Gott setzende St>caio(Tuvr, , so ist sie nicht im Ju- denthum sondern nur im Chrislenthum zu finden, sie ist nicht eine Sixaio^TuvYi i!c, epyojv, sondern nur die Si;taioT'jv7i ex ttictswc, oder, wie der Apostel sie nennt, die Sixaio<pjvin öeoO. Vgl. Rom. 1, 17; 3, 21. 22; 10, 3. 2 Cor. 5, 21. Den Genitiv eeoO könnte man als Genitiv des Objects nehmen, die Si)caio<p>vin ÖsoO wäre so die im Wesen Gottes objectiv begründete Sixaio(Tuv'/; , oder die vor Gott geltende, wie ja auch der Apostel von einem ^txaioOfföai evcoTciov ÖeoO, wapa Se^ spricht, Rom. 3, 20. 2, 13. Gal. 3, 11, sofern vor Gott nichts gelten kann, was nicht seinen objectiven Grund im Wesen Gottes selbst hat. Das Richtige ist jedoch, ÖeoO als den Genitiv des Subjects zu nehmen. Da die ^ixaio<Juvr, e^ spywv als wirkliche Sixaiocuvr, gar nicht existirt, bei der Sixato<TuvYi ix TTtcfTew? aber das thätige Subject nicht der Mensch, sondern Gott ist, so fällt auf dem nach Rom. 1, 17 von Gott geofFenbarten Wege alles Positive sosehr nur der absoluten Causalität Gottes zu, dass dieser Hauptbegriff am natürlichsten auch durch ^ixato(rjvvi 6eou ausgedrückt ist. Man kann daher die ^ixouoauvy) 6eoO nicht als den Judenthum und Christenthum umfassenden Gattungsbegriff nehmen, so dass sich derselbe in die Sixaiocuvm e^ epYwv und die ex TricrTew; theilt, sondern der Mensch verhält sich nur negativ zu Gott, und der Sixaioouvyi ÖeoO, der Gerechtigkeit Gottes steht nur die Ungerechtigkeit der Menschen gegenüber. Gerechtigkeit Gottes aber ist in diesem Zusammenhang die von Gott als der Ursache ausgehende oder durch Gott bewirkte Gerechtigkeit, d. h. die Art und Weise, wie Gott den Menschen in das ad- äquate Verhältniss zu sich setzt, der hiezu von Gott eröffnete Weg, oder eigentlich die neue von Gott aufgestellte Rechtferti- gungstheorie.

Es kommt somit auf den Beweis des Satzes an, dass der Mensch oO SixatoOrai i^ Ipytov v6(ji,ou. Wie beweist der Apostel seine Behauptung als Antithese gegen die These des Judenthums?

Panlin. Lohrbegriff. Sünde und Gesetz. |35

Er beweist sie auf dreifache Weise: 1) rein empirisch, 2) reli- gionsgeschichllich , 3) anthropologisch.

Der empirische Beweis besteht darin, dass der Apostel die Ungerechtigkeit der Menschen als notorische geschichtliche Thatsache nachweist. Es gehören hieher die beiden ersten Ka- pitel des Römerbriefs, in welchen der Apostel das unter Heiden und Juden herrschende sittliche Verderben schildert. Man darf diess aber nicht so nehmen, wie wenn der Apostel hier nur überhaupt die allgemeine menschliche Sündhaftigkeit ausein- andersetzen und als dogmatische Behauptung aufstellen wollte. Da es sich um den Beweis seines negativen Hauptsatzes handelt, dass der Mensch oO Sixaiourai it, spytov v6{aou, so hat er hier durchaus vorzugsweise das Judenthum im Auge und es zielt alles auf die Widerlegung der ihm gegenüberstehenden These des Judenthums hin, dass der Mensch SucatoOTat e^ eoywv vojaou. Er geht daher zwar von der Gottlosigkeit und ünsittlichkeit der Heiden aus, stellt die Abgötterei und den ganzen Sündengräuel der heidnischen Welt in den stärksten Zügen vor Augen , aber nur um an der von selbst sich verstehenden allgemein, auch von Juden anerkannten Thatsache den Juden ihre eigene Strafwür- digkeit um so evidenter vor Augen zu stellen, an der Unge- rechtigkeit der Heiden ihre eigene ihnen um so unabweislicher zum Bewusstsein zu bringen. Daher setzt er das Strafwürdige der von ihm geschilderten heidnischen Sünden und Laster nicht sowohl in das Materielle solcher Handlungen, als vielmehr das Formelle, dass die Heiden trotz des bessern Wissens eben das thun, wovon sie wissen, dass sie es nicht thun können, ohne sich des Todes würdig zu machen. Er fasst 1, 32 die zuvor gegebene sittliche Charakteristik der Heiden in dem allgemeinen Moment zusammen, dass sie alle diese Sünden und Laster als solche begangen haben, die wohl wissen, welche Strafe nach dem gerechten Urtheil Gottes die zu erwarten haben, die solches thun. In derselben Beziehung hat er auch zuvor schon das

186 Zwei ter Abschnitt. Erste Pe riode.

Hauptgewicht darauf gelegt, dass es auch den Heiden nicht an der Offenbarung Gottes und der Erkenntniss gefehlt habe, die die nothwendige Voraussetzung der sittlichen Zurechnungsfähig- keit ist. Auch bei ihnen war das Unentschuldbare, das eigent- lich Strafbare ihrer unsittlichen Handlungen, dass sie sie wider ihr eigenes besseres Wissen und Gewissen begiengen. So straf- bar sie aber so betrachtet sind, so ist doch das, was die Heiden so strafbar macht, ganz dasselbe, was auch bei den Juden statt- findet, sie selbst sind um nichts besser, indem ja auch sie so Vieles thun, wovon sie selbst wissen, dass sie es nicht thun können, ohne dem göttlichen Gericht anheimzufallen. Findet ein Unterschied statt, so kann er nur in dem Grade des Be- wusstseins liegen, mit welchem man das thut, was man nicht thun sollte, oder darin, ob man ävopo; oder iv v6[jm sündigt, aber auch dieser Unterschied fällt nur zum Nachtheil der Juden aus. Schlechthin ohne Gesetz sind zwar auch die Heiden nicht, auch sie haben ein Gesetz, das Gesetz ihres Gewissens, das ihnen sagt, was sie thun und nicht thun sollen, und da^ auch der Maasstab sein wird, nach welchem auch bei ihnen Gott am Tage des Gerichts das Verborgene an's Licht bringen wird. Be- steht aber der höchste Vorzug des Gesetzes darin, dass man den göttlichen Willen kennt, und durch die Belehrung, die man aus dem Gesetz erhält, das prüft, was recht oder unrecht ist, so ist der Jude nur um so strafwürdiger, je klarer und voll- ständiger er aus dem Gesetze weiss, was er zu thun hat, und dem ungeachtet das gerade Gegentheil thut. Indem also der wahre sittliche Werth des Menschen nur im Thun besteht, darin, dass man das thut, wovon man das Bewusstsein hat, dass man es thun soll, hebt sich in diesem Einen der Unterschied des Heidenthums und Judenthums auf, Vorhaut ist wie Beschneidung und Beschneidung wie Vorhaut, es kommt nicht auf das an, was der Jude äusserlich ist, sondern nur auf das, was er inner- lich, im Herzen vor Gott ist. Der Jude hat vor dem Heiden

Paulin. Lehrbegriff. Sünde und Gesetz. 1H7

nichts voraus, es bleibt bei der erhobenen Anklage, dass Juden und Heiden unter der Sünde sind, wie diess ja auch die Schrift selbst bezeugt, und da die Schrift oder das Gesetz das, was er sagt, zu denen sagt, die unter dem Gesetze stehen, so gellen alle das Verderben der Menschen beklagende Stellen der Schrift vorzugsweise den Juden, und es geht somit aus allem hervor, dass durch Werke des Gesetzes niemand vor Gott gerecht wer- den kann; das Gesetz macht so wenig gerecht, dass man viel- mehr durch dasselbe nur zur Erkenntniss der Sünde konnnl. Rom. i, 18-3, 20.

Es ist hiemit nur das nach der allgemeinen Erfahrung und dem Zeugniss der Schrift thatsächlich Bestehende ausgespro- chen. Der Apostel geht aber weiter und behauptet »i V»*»iei?

2. dass es auch vom religionsgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet nicht anders sein könne. Die Entwicklungsge- schichte der Menschheit ist von Adam an darauf angelegt, in Sünde und Tod auszulaufen, so dass sich als Resultat der gan- zen Periode der Gesetzesherrschaft nichts anderes herausstellt, als eben der Satz, dass der Mensch Si/taiouTai ic £pYo)v vofxou. Diess ist der Inhalt der classischen Stelle über die Lehre von der Sünde Rom. 5, 12 f. Der Hauptgedanke ist die Gegenüber- stellung von Adam und Christus. Daher sollte dem wTTTsp Si' evo? äv6po)7wou r, ajxapTta u. s. w. in dem Nachsatz am Schlüsse V. 14 entsprechen : ouTto xal Si' svo? ivOpwTrou o Sixaio<Tuv/i >cal SiÄT^? SixaiooTuvTii; -n ^wto; dafür ist die V. 12 mit tooTcep angefan- gene Construction zu einem Anakoluthon geworden, indem das, was im Nachsatz hätte gesagt werden sollen , nur in dem an 'A^i^i/. V. 14 angeknüpften Satz: o? e<TTi tuto; toO asXXovTo; enthalten ist. Für die richtige Auffassung der Stelle kommt es vor allem auf die Bestimmung des Satzes: i<f ^)JcavTs; -/iWaTov an. Es scheint sehr nahe zu liegen, an die Sünde im subjecti- ven Sinn zu denken, allein es ist nicht zu übersehen, dass der Apostel zwischen ä[xapTwt und Tcapaßam; unterscheidet ; wenn

138 Zweiter Abschnitt. Erste Periode."

er V. 14. von einem \t.r, ä(;-apTaveiv im to5 ö[/,otto[j!,aTt rfl? Trapa- ßa<7£o>; 'ASöc(a spricht, so gibt es eine aj^apTta, die keine Tcapa- ßa«7t? ist. Da xapaß3c<Ti<; als Übertretung eines positiven Gebots nur die bewusste Thatsünde sein kann, so ist zwischen a(;.apTia und Tirapaßact; wie zwischen Sünde im objectiven und subjecti- ven Sinn zu unterscheiden. Der Zusammenhang erfordert da- her, vi[y.apTov V. 12 von der objectiven Sünde, dem in Allen herrschenden Princip der ajjüxpTta zu verstehen. Der Sinn der ganzen Stelle ist: Durch Einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod und so, d. h. in diesem Zusammenhang beider ist der Tod zu allen Menschen hindurch gedrungen, auf Grund dessen, dass alle Sünder sind, darauf hin, dass, wenn sie nicht Sünder wären, der Tod auch nicht zu ihnen hätte hindurchdringen können, der Tod also die ä[;.apTia zu seiner Voraussetzung hat. Sünde und Tod sind so correlate Begriffe , dass aus dem Dasein des Einen auf das Da- sein des Andern geschlossen werden kann. So allgemein also der Tod ist, so allgemein ist die Sünde.

Man könnte gegen die Behauptung der Allgemeinheit der Sünde einwenden , dass es in der Periode von Adam bis Moses noch keine zuzurechnende Sünde , oder noch keine Trapaßaaei? gab, weil es noch kein Gesetz gab, dass also Sünde nur da sein kann, wo auch ein Gesetz als Gegenstand der Übertretung ist; allein auch in dieser Periode herrschte ja der Tod, somit war, da, wo der Tod ist, auch die Sünde, die Voraussetzung des Todes, nicht fehlen kann, auch schon vor dem Gesetz Sünde in der Welt. Was in der Periode von Adam bis Christus die äfxapxia und der QavaTo; sind, sind in der mit Christus be- ginnenden die ^ixaio'TuvTi und die (^to>^. Der Apostel setzt aber auch der xapxKoy; des Einen die (i-Kx>t.or, des Andern und dem •/taTa>cptp.a auf der einen, das ^Dcatwfxa auf der andern Seite entgegen. Wenn auch Adam an sich schon in seiner Natur das »Princip der Sünde hatte, so trat sie doch erst durch seine Über-

Panlin. Lehrbegriff. Sünde und Gesetz. 139

Iretung in die Wirklichkeit ein. Da er sich gegen ein bestimni- les positives Gebot verfehlte, es fibertrat, so war seine Sünde eine Tcapatiaai; oder ein xapaTCxtoaa. Ein solches Gebot hatten die Menschen nach ihm bis zum Gesetz nicht, da aber auch in dieser Periode der Tod herrschte , so erhellt hieraus , dass in der Übertretung Adam's ein über der einzelnen Thatsünde ste- hendes, nicht erst durch sie bestimmtes, sondern vielmehr sie selbst bestimmendes allgemeines Princip nur zu seiner Äusse- rung kam, und seitdem als geschichtliche Erscheinung zu einer in der Menschheit herrschenden Macht wurde. Das Allgemeine steht so zwar über dem Besondern und Einzelnen, da es aber in diesem erst zur concreten Wirklichkeit wird, so ist der Punkt, in welchem diess geschieht, der principielle Anfang, und es hängt somit wie in Christus so auch in Adam alles an einem eine ganze Reihe von Erscheinungen bestimmenden Ein- heitspunkt, so dass , was von dem ersten Gliede dieser Reihe gilt, auch von allen mit ihm zusammengehörenden gilt. Es liegt hierin nicht blos die Allgemeinheit, sondern auch die Ob- jectivität des Princips der Sünde. Sünde und Tod sind so sehr die allgemein herrschenden Mächte, dass die Vermittlung mit dem Allgemeinen durch die eigene Subjectivität des Einzelnen im Grunde gar nicht mehr in Betracht kommt. Auch abgesehen von allem, was der Einzelne ist oder thut, sind alle demselben Princip der Sünde und des Todes unterworfen. Das sittliche Urtheil über die ganze Periode von Adam bis Christus ist daher in dem Satze ausgesprochen : Sia Tfi<; Trapa/tofi? toO evö? dcvöpcd- Tro'j aixapTü)>wOl xaT£<JTa6r,(Tav oi ro>.>.ol V. 19, und dieser Satz selbst gibt nur den Beweis für den Hauptsatz des Apostels, dass es unmöglich ist, durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt zu werden. it,li*«*t'»^

Die Wahrheit dieses Satzes wird durch die ganze Periode von Adam bis Christus bestätigt, auch das Gesetz macht in die- ser Periode keinen Unterschied, die Sünde herrscht nach dem

1^:0 ZTveiter Abschnitt. Erste Periode.

Gesetz wie vor demselben , ja das Gesetz hat so wenig das zur Folge gehabt, was wesentlich zum StxaioOoOai gehört, die Auf- hebung der Sünde und die Befreiung des Menschen von der Macht derselben, dass vielmehr durch das Gesetz der Sünde nur noch mehr wurde. Diess ist die ausdrückliche Behauptung des Apostels 5, 20: vojjlo; wapswiiXOsv , Iva TrXeovaay; -apaTTTtofxa, das Gesetz trat ein, kam neben der Sünde hinzu, damit viel werde die Übertretung. Übertretungen kann es erst da geben, wo ein Gesetz ist, das nicht übertreten, sondern befolgt werden soll. Mit dem Gesetz kam also erst die Übertretung, und je grösser die Zahl der Vorschriften und Gebote ist, die das Ge- setz enthält und je genauer seine Bestimmungen sind, um so grösser musste auch die Zahl der Gesetzes-Übertretungen sein. Auch Gal. 3, 19 sagt der Apostel, dass das Gesetz töv Trapsxßa- <ie(j)v x^P''' T^pofysTsOv). Der nächste, natürlichste Sinn dieser Worte scheint zwar zu sein , das Gesetz soll den überhand nehmenden Übertretungen wehren, eine Schranke, ein Zaum für die Sünde sein, oder man könnte die Worte auch so nehmen, durch das Gesetz, als die Norm des Handelns, sollen die Übertretungen als das, was sie sind, erkannt und ebendadurch verhütet wer- den; allein die parallele Stelle Rom. 5, 20 ist dagegen, auch nach dem Zusammenhang der Stelle Gal. 3, 19 selbst kann sie nur das Gegentheil sagen, dass die Trapaßaaet? durch das Gesetz nicht vermindert, sondern vermehrt werden sollen. Das Gesetz ist um der Tcapaßacei; willen da , gleichsam zu Gunsten dersel- ben, damit sie zu ihrem Recht kommen, damit, da es ohne Gesetz auch keine Übertretung gibt, am Gesetz die Übertre- tungen in ihrem ganzen Umfang hervortreten, und in ihnen die Sünde zu ihrer vollen Erscheinung komme. Ehe es eine Ver- gebung der Sünde gibt, muss zuvor die Sünde zu ihrer that- sächlichen Existenz und Realität kommen in der ganzen Menge ihrer einzelnen Fälle. Dazu ist das Gesetz nothwendig. Hiemit «oll nicht die Nothwendigkeit der Sünde behauptet, sondern

Panlln. Lehrbegriff. Sflnde und Gesetz. 141

nur gesagt werden, dass, weil einmal die Sünde da ist, sie sich auch in ihrem ganzen Umfang verwirklichen muss. Daher darf man sich auch an dem teleologischen Iva Rom. 5, 20 so wenig als an dem j^apiv Gal. 3, 19 stossen. Gott ist nicht un- mittelbarer Urheber der Sünde, sondern seine Absicht ist nur, die einmal vorhandene Sünde so ihren Verlauf nehmen zu las- sen, dass sie als überwundenes Moment der Gnade gegenüber- gestellt werden kann. Das Gesetz ist nicht die Ursache der Sünde, sondern nur ein soUicitirendes Moment, es reizt die Sünde gleichsam aus sich herauszugehen , um sich am Gesetz in ihrem wahren Wesen zu zeigen. Schon in dieser quantita- tiven Hinsicht hat das Gesetz das Gegentheil des StxaioOcrÖai zur Folge , es mehrt nur die Sünde ; dieselbe Wirkung hat es aber auch qualitativ, die Sünde erhält erst durch das Gesetz ihre intensive Bedeutung. Der prägnanteste Ausdruck für diese Behauptung .des Apostels ist der Satz: -h Suvaat? t-^? ay-apTia? ö v6ao; 1 Cor. 15, 56. Was der Sünde ihre Bedeutung und Rea- lität gibt , was sie selbst wesentlich zu dem macht , was sie ist, was sie also selbst erst zur Sünde macht, ist das Gesetz. Die- ser Satz kann hier nicht weiter entwickelt werden , ohne dass sich hier sogleich

3. der anthropologische Beweis anschliesst, welchen der Apostel für seinen Hauptsatz führt.

Die auch unter den Juden , wie unter den Heiden , herr- schende Sündhaftigkeit, die nicht abzuläugnende Thatsache, dass man das thut, wovon man selbst das Bewusstsein hat, dass man es nicht thun solle, die durch die Schrift bezeugte und aus ihr zu erkennende Allgemeinheit der Sünde beweist vor allem, dass das Judenthum durch seine Werke des Gesetzes den Menschen nicht in das Yerhältniss zu Gott setzt, in das er durch das ^i/.aio0<76ai kommen soll. Denselben Beweis gibt so- dann die religionsgeschichtliche Betrachtung, welche in der ganzen Periode von Adam bis Moses und von Moses bis Christus

148 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

die Herrschaft der Sünde und des Todes vor Augen stellt und zeigt, dass eben das Gesetz, durch dessen Werke der Mensch, gerechtfertigt werden soll, nicht die Aufhebung, sondern nur die Vennehrung der Sünde zur Folge gehabt, und dem Princip derselben seine volle sowohl extensive als intensive Bedeutung gegeben hat. So gewiss ist es also, dass der Mensch Si- jtaiouTai e^ spy^v votxou. Um aber die schon durch das bishe- rige nachgewiesene und bestätigte Wahrheit dieses Satzes in ihrem tiefern Grunde zu erkennen, muss man auf die Natur des Menschen selbst zurückgehen und sie darauf ansehen, wie sie sich nach der Beschaffenheit ihrer verschiedenen Bestandtheile zu der Möglichkeit verhält, s^ spytov v6[aou StxaioOcOai.

Der Mensch ist schon nach dem Bisherigen als Sünder zu betrachten, die Frage kann daher nur sein, wie realisirt sich in ihm das Princip der Sünde, wie entwickelt sie sich, welchen Ursprung und Sitz hat sie in ihm selbst? Die Antwort darauf liegt in dem paulinischen Begriff der (rapE. Wie ist aber dieser selbst zu bestimmen? Darüber ist man noch immer sehr im Unklaren. Man kann nicht läugnen, dass der Apostel in meh- reren Stellen unter der <jap^ den Leib versteht, und doch glaubt man sich in andern und in den meisten unter der aap^ nur die menschliche Natur überhaupt nach ihrer sinnlichen Seite denken zu können. Wiesehr man hierüber noch immer schwankt, kann man aus der neuesten Auflage des Tholuck 'sehen Commen- tars über den Römerbrief sehen. Tholuck selbst gesteht zu Rom. 6, 6, dass er in den verschiedenen Auflagen seines €om- mentars seine Ansicht mehr als einmal geändert habe, und nun in der fünften, vom Jahr 1856, beziehungsweise zu seiner ursprünglichen zurückkehre. Es sollte, meint Tholuck, bei der cap^ anerkannt werden, dass der Apostel, indem er von der menschlichen Schwachheit spricht, bald mehr das Moment der Weltliebe, bald das der Selbstsucht, bald das der sinn- lichen Trägheit oder der Affekte, bald alles dieses zusammen

Panlin. Lehrbegriff. lap^. 14^

im Auge haben könne, dass bald die Begriffe uiX», aöiAa und aap^ sich decken können , dass häufig aber noch der letztere über den erstem hinausgehe. Was nicht zugegeben werden könne, sei der ausschliessliche Gebrauch von aap^ in dem mit <jw|xa identischen Sinn. In der Stelle Rom. 6, 6 aber könne man sich dem Zugeständniss nicht entziehen, dass awjAx von dem Apostel als Sitz oder auch als Quelle, vorzugsweise jedoch als Organ der Sünde angesehen werde.

Alles diess mag von der axoi, gesagt werden können, aber es fragt sich, was die Grundanschauung ist. Sagt man, cap^ ist wesentlich die menschliche Schwachheit, so muss man auch wissen, was im Menschen das eigentliche Subject desselben ist, ob der Geist oder der Leib. Ist es der Geist, so muss auch er- klärt werden, warum der Apostel das geistige Princip mit einem auf den Leib sich beziehenden Ausdruck bezeichnet, ist es der Leib, so weiss man nicht, wie von dem Leib so Vieles ausge- sagt wird, was nur einem geistigen Subject beigelegt werden kann. Und da der Apostel nicht blos von der (rap^ spricht, son- dern auch die gleichbedeutenden Ausdrücke yiXyj und «rw^Aa gebraucht, so muss man doch den Lejb in genauere Erwägung ziehen, und es kann auch das nicht so unbestimmt bleiben, ob der Leib Sitz und Quelle oder blosses Organ der Sünde ist. Ist er blosses Organ , so ist er auch nicht das eigentliche Subject, ist er Sitz und Quelle, so ist er es; aber die Frage ist dann eben, wie er es ist? Es muss also erst der Begriff festgestellt werden. Diesen hat man aber nur, wenn man als die Grund- anschauung der Anthropologie des Apostels festhält, dass cap^ der materielle Leib ist. Nur in diesem Begriff schliessen sich die verschiedenen die orap^ betreffenden Bestimmungen zur Einheit zusammen. Der Leib macht also, sofern der Mensch Gap^ ist, das eigentliche substanzielle Wesen des Menschen aus. Wenn man sich nun hauptsächlich daran stosst, dass die i;apE der Leib sein soll, obgleich der Apostel von der cap^ als einem

144 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

geistigen Subject spricht, so ist diess sehr natürlich daraus zu erklären , dass ihm , was eben das Charakteristische seines Be- griffs von der rrap^ ist, der Leib keine todte Masse, sondern ein belebtes und beseeltes Wesen ist. Es kann diess auch nicht befremden, da der Apostel auch hierin nur auf dem Boden der alterthümlichen Anschauungsweise steht. Auch die Alten haben sich ja die Materie nicht als etwas Todtes und Lebloses, son- dern als einen Inbegriff lebendig wirkender, in einer bestimm- ten Richtung sich bewegender Kräfte gedacht. Man denke in dieser Beziehung nur an den platonischen und aristotelischen Begriff von der Materie. An den Grundbegriff der TapE, als des materiellen Leibs, schliessen sich unmittelbar die Bestimmun- gen an, in welchen alles, was das Menschliche in seinem Unter- schied und Gegensatz zum Göttlichen ist, als «rapE bezeichnet wird. Was der Mensch als schwaches, sterbliches, endliches Wesen ist, mit seinem eigenen rein natürlichen Wollen und Streben, das als solches nur ein dem Göttlichen entgegengesetz- tes sein kann, hat darin seinen Grund, dass er «rap^ ist, d. h. ein sinnliches, materielles, leibliches Wesen mit den dem ma- teriellen Leib inwohnenden Trieben und Kräften. Sap^ und av6po)7ro; sind in so manchen ganz gewöhnlichen Ausdrücken, wie z. B. wenn jtaTa <7apy.a so viel ist als xara av6ptü7rov, ge- radezu identische Begriffe.

Wie schon dabei vorausgesetzt werden muss, dass der Mensch, sofern er schlechthin als cap^ bezeichnet oder der Leib als die eigentliche Substanz seines Wesens betrachtet wird, nicht blos ein materielles, sondern auch ein geistig belebtes und beseeltes Wesen ist, so wird nun auch ausdrücklich dem Menschen nicht nur eine ^{/u;(tq zugeschrieben, sondern auch diese '\ioyri mit der aap^ in derselben Einheit der Substanz so zusammenbegriffen , dass ^l/u/ix6? und Tapscixo; gleichbedeutende Begriffe sind. Vgl. 1 Cor. 2, 14 und 3, 1. Wie die <{"jx^/;, je näher sie mit der cap^ zusammengehört, um so mehr auch die

Paalin. Lehrbegriff. Sap^, «I'U/^^, vou;. 14d

Triebe und Willensregungen mit ihr theilt, so geht aus der 4'u^ selbst, aus ihrem geistigen Element der vou; hervor, der sich von der ^j/u/yi als ein rein theoretisches Vermögen unter- scheidet und in höherem Grade, als diess bei der ^^"/yi möglich ist, von dem materiellen Naturgrunde der (yap^ sich ablöst. Der voG? ist das Princip des Denkens und Wissens, des klaren ver- ständigen Denkens, des immanenten Selbstbewusstseins, in wel- chem der Mensch den geistigen Schwerpunkt seines Wesens hat. Dass mit dem Worte voO; von Paulus ganz besonders das Ver- ständige, Selbstbewusste bezeichnet wird, ist am deutlichsten aus dem Gegensatz des XaXstv ^la tou voö? und des >>aXeiv ev yXcidcnri oder Trvsufxaxi 1 Cor. 14, 14 zu sehen. Im voO? ist also der Mensch der denkende selbstbewusste Geist, der voO; ist selbst der scw avöptoTro?, Rom. 7, 22, der innere, in seinem denkenden Selbstbewusstsein existirende Mensch. Da das Be- wusstsein alles Mögliche zu seinem Inhalt haben kann, sofern es sich zu seinem Object rein theoretisch verhält, als eine blosse Form erst durch den Inhalt, welchen es in sich aufnimmt, zum bestimmten concreten Bewusstsein wird, so ist in dem voO; noch kein bestimmter Gegensatz zu der aapE enthalten; allein das geistige Element hat sich von seinem materiellen Naturgrund schon so weit abgelöst, dass das in dem voO; seiner geistigen Kraft sich bewusst gewordene Ich sich mit den Trieben und Neigungen des materiellen leiblichen Lebens nicht mehr eins wissen kann. Der Apostel selbst hat Rom. 7, 15 24 die Natur seines vou(; so genau analysirt, dass wir ganz in den Zwiespalt des Bewusslseins hineinsehen, in welchem der vou; sich ebenso von der crap^ abhängig als im Widerspruch mit ihr begriffen weiss. Wie kann beides enger in einander eingreifen, als in den Worten des Apostels geschieht, wenn er als der, der ein anderes Gesetz in seinen Gliedern und ein anderes in seinem Geiste hat, im Bewusstsein seiner Einheit mit der cx^i, von sich sagt, er wisse, dass in ihm nichts Gutes wohne, in demselben

Baur, ueutest. Tlieol. l"

146 Zweiter Absehnitf. Erste Periode,

Moment aber das liiemit von sich Gesagte nur von seiner <iap^ gesagt wissen will, womit er demnach sich selbst von seiner cap^ so unterscheidet, dass er ihr sein eigenes besseres Ich entgegensetzt? Der voO; weiss sich also nicht mehr mit der capE eins, sie ist seiner geistigen Natur zu materiell. Wie er sich aber mit ihr nicht eins wissen kann, sich im Unterschied von ihr einer Dualität von Principien bewusst wird, so ist auch sein Wollen ein von ihr verschiedenes, ihr reagirendes, V. 18. Er ist daher nicht blos der denkende und wissende, sondern auch der wollende, in Gemässheit seiner Natur sich practisch bestimmende Geist; aber diese practische Seite des voO; steht in einem sehr ungleichen Verhältniss zu der theoretischen. Der voO; will zwar das Gute; aber es fehlt seinem Wollen an aller Energie und Realität, es ist nur ein unkräftiges inhaltsleeres Wollen, welches das, was es will, nie durch die That realisiren kann, was nur darin seinen Grund hat, dass die capE auch dem voO? gegenüber das über alles übergreifende, die ganze Richtung des Menschen bestimmende Princip ist. Trotz aller Versuche, die der vou? macht, mit seinen Willensregungen die Macht der ffap^ zu brechen, sich aus ihrer Knechtschaft zu emancipiren, kann er doch das Band dieser Abhängigkeit nie völlig lösen, und bleibt somit in letzter Beziehung doch nur ein Accidens an der Substanz der oapE.

Da der voO;, so geistig er im Übrigen seiner Natur nach ist, es doch nicht weiter zu bringen vermag, als zu solchen immer wieder in sich selbst zurückgehenden Velleitäten, wie sie der Apostel V. 18 21 beschreibt, so ist in ihm schon der höchste Punkt der paulinischen Anthropologie erreicht, und der principielle Gegensatz zu der materiellen «rap^ liegt überhaupt nicht mehr in der Sphäre des Menschlichen, sondern nur in dem göttlichen 7:vsai7-a, das sich auch zu dem vou; schlechthin trans- cendent verhält. Dadurch erst erhält der Mensch die Fähigkeit, der Macht der <jxpc, zu widerstehen, und alles, was von ihr

Paulin. Lehrbegriff. Nou? und nveufji«. 147*

ausgeht, zu überwinden. Psychisches und Pneumatisches setzt daher der Apostel 1 Cor. 15, 45 f. so entschieden einander ent- gegen, dass schon daraus erhellt, wie wenig er der mensch- lichen Natur ein ihr an sich immanentes pneumatisches Princip zuschreiben kann. Wenn er auch von einem menschlichen 7n>sO|jLa spricht, so hat diess keine weitere Bedeutung für seinen eigentlichen Begriff vom TrvsOp-a. Dass er dem Menschen auch ein zu seiner Natur gehörendes 7:vsG[jt.a zuschrieb, ist klar, wenn er 1 Cor. 2, 4 ausdrücklich von dem 7rv£Q[jt,(x avOpwTrou spricht. Aber er nennt es ja auch nur das Princip des Wissens und Selbstbewusstseins, es ist somit dasselbe, was er sonst voO? nennt, hier aber TrveOaa, um das TuvsöiAa OeoO mit dem 7uv£0[Aa Tou avOpwTTou zu parallelisiren. Wenn auch der Apostel das zur Natur des Menschen gehörende geistige Princip nicht blos ^^yyi und voO;, sondern auch TCveufxa nennt, so schreibt er doch dem letztern keine der Wirkungen zu , als deren Quelle er nur das göttliche 7rveO(Aa betrachtet. Diess ist auch Gal. 5, 17 nicht der Fall, wo- es so nahe zu liegen scheint, den Widerstreit von Geist und Fleisch als einen der Natur des Menschen an sich im- manenten Antagonismus aufzufassen. Statt den dem Fleisch widerstrebenden Geist in den Menschen selbst zu versetzen, betrachtet der Apostel vielmehr Fleisch und Geist als zwei über dem Menschen stehende Mächte, die an ihm in Conflict mit ein- ander gerathen und in ihrem Widerstreit nur darin eins sind, den zwischen sie getheilten Menschen das, was er will, nicht thun zu lassen, indem immer die eine der andern so entgegen- wirkt, dass der Mensch in der Mitte zwischen beiden bei jedem Willensact auf einen Widerstand stösst, durch welchen sein -Wollen und Thun völlig neutralisirt wird.

Die richtige Bestimmung des Begriffs, welchen der Apostel mit dem voO? verbindet, ist nicht blos für seine Anthropologie überhaupt, sondern auch für die Beantwortung der Frage sehr wichtig, ob ihm die augustinisch -kirchliche Lehre von dem

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'148 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

völligen Unvermögen des Menschen zum Guten zugeschrieben werden darf. Es erhellt, wie aus Anderem, so auch aus seiner Lehre von der <yap^ und dem voOc, dass er den Menschen nicht für sündhaft im augustinischen Sinne halten konnte. Wenn nicht blos die cap^, sondern auch der voi3? zur Natur des Men- schen selbst gehört, und die Thätigkeit des voO? auch nur soweit auf das Gute geht, als der Apostel es ihm zuschreibt, so ist diess eine wesentlich andere Anschauung als die augustinische. Wollte man die augustinische Lehre von der Sünde auf die Auc- torität des Apostels zurückführen, so müsste man vor allem was er Rom. 7, 14 f. vom vou? sagt, so verstehen, wie wenn es vom TTveujjia gesagt wäre. So nehmen daher theologische Interpreten, wie die alten lutherischen Dogmatiker und neuerdings Philippi CCommentar zum Römerbrief 1848 52) die Stelle Rom. 7, 14 f. Sie können sich bei der alten Streitfrage, ob die Stelle vom Status irregenitonim oder regeuitorum zu verstehen sei, nur auf die Seite der letztern stellen, weil sie nicht zugeben können, dass ein Unwiedergeborener so viel Gutes habe, als der Apostel ihm zuschreibt, während doch noch weit unbegreiflicher ist, wie in dem Wiedergeborenen die Sünde noch mit solcher Macht herrschen soll, dass alles, was der Apostel V. 17—20 von sich sagt, von ihm gesagt werden kann. Der Wiedergeborene wäre ja so auch der Unwiedergeborene. Wie viele unnöthige Er- örterungen hätte man sich über Rom. 7, 14 f. ersparen können, wenn man den Unterschied genauer beachtet hätte, welchen der Apostel zwischen voO; und xve0{7.a macht. Es ist gewiss mit gutem Bedacht geschehen, dass er in dem ganzen Abschnitt nicht von dem 7rvsö{xa, sondern nur von dem voü? oder dem scw dfvOpwxo; spricht. Auch V. 25, wo allein die Identificirung des voO? mit dem 7rvsa;xa einen Anhaltspunkt haben könnte, darf man sich dadurch nicht irre machen lassen. Der Apostel kann den Wunsch nach Erlösung V. 24 nicht aussprechen, ohne auch der schon erlheilten Wohllhat der Erlösung mit lebhaftem Dank zu

Panlin. Lehrbegriff. Sap5 nnd vSfxos. 149

gedenken, er spricht aber diesen Dank nur aus, um im Bewusst- sein desselben mit apa ojv auf den zuvor geschilderten Zustand noch einmal zurückzublicken.

Wenn nun aber auch der Apostel dem Menschen kein völ- liges Unvermögen zum Guten zuschreibt, so geht doch schon aus dem Bisherigen klar hervor, dass für den Menschen, wie er seiner Natur nach zu betrachten ist, das SucaioCJaöai i^ spytüv voixou eine reine Unmöglichkeit ist. "Epya v6[aou können nur solche Werke sein, durch welche das an sich Gute geschieht, in der crap^ aber wohnt, wie der Apostel Rom. 7, 18 sagt, nichts Gutes, und wenn die höchste geistige Kraft, die der Mensch in dem voO? hat, so wenig im Stande ist, der cap^ zu widerstehen und das Übergewicht über sie zu gewinnen, so kann es auch nie zu etwas an sich Gutem, somit auch zu keinen epya vojxou kommen. Es gibt kein SixaioOoOai ic. spy^v vojaou, weil es über- haupt keine epya voiaou gibt, sondern wo spy^ v6[jlou sein sollten, gibt es nur Ipya (japxo?. Welcher Art aber die spya der cap^ sind, sagt der Apostel Gal. 5, 19 f. Allein es handelt sich ja um spya vo^aoj, um Werke, deren bestimmendes Princip das Gesetz ist. Wie verhält sich also der vofAo? zu der cap^? Ist es nicht der v6[y.0(;, welcher auf die crap^ so bestimmend einwirkt, dass durch ihn die spya «rapxö? zu epya vojxou werden? Diess ist aber nach der Lehre des Apostels so wenig der Fall, dass durch die ganze Dialektik, die sich zwischen der aoi.oc, und dem vop? entspinnt, die Unmöglichkeit des St5tatoO(JÖat e^ spytöv v6(/.ou nur um so klarer herausstellt; statt der Sixato(yuvyi, die das Sixaiou<j6at e^ spytdv v6(j.ou zu seinem Resultat haben sollte, kommt nur das Gegentheil derselben, die a[y.apTia zum Vorschein, ja das Gesetz selbst wirkt am meisten dazu mit, der vojao? ist ja, wie der Apostel 1 Cor. 15, 56 sagt, die SuvatjAt; tyJ? dfWtpTtac. Wie ist diess möglich? An sich sollte man erwarten, dass das Gesetz als die wirkende Ursache der SaatoTJvr, sie auch wirklich her- vorbringt. Ei yap, sagt ja der Apostel Gal. 3, 21, iSoöyj v6p.o?

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150 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

6 ^uva(;-£vo? ^woTJOiTiaai, ö'vTOi; av sx. vojxou v^v -ti 3i)tato<Juv7i. Wenn im mosaischen Gesetz ein solches Gesetz gegeben wäre, das im Stande ist, lebendig oder selig zu machen, so käme wirklich aus dem Gesetz die Gerechtigkeit. Hierin liegt das Doppelte, dass es an sich möglich ist, auf dem Wege des Gesetzes, durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt zu werden , dass aber in der Wirklichkeit diess keineswegs der Fall ist. Das Gesetz ist nicht ^uva[xsvo(; ^tüOTCOi-naat ; liegt aber die Ursache dieses Unvermögens in ihm selbst oder ausser ihm? In ihm selbst kann sie nicht liegen, wenn, wie der Apostel selbst sagt, das Gesetz an sich geistig und gut ist. Oi§a{/.6v yap, Öti 6 vojao; 7rv£u[j!,aTtx6? ioTi, Rom. 7, 14. vgl. V. 12: wots 6 {xsv v6[xo? ayio? u. s. w. Ist also die Ursache jenes Unvermögens nur ausserhalb des Gesetzes zu suchen, so kann sie nur in dem inadäquaten Yerhältniss liegen, in welchem die Geistigkeit des Gesetzes zu der Natur des Men- schen steht. Dem vojxoi; irvsufAaTixö? steht die oap^ des Menschen gegenüber. Daher nun, wie der Apostel 8, 3 sagt, t6 ä^uvaxov Tou v6(xotj, ev w Tifföevsi ^la t^; (7ap)c6?. Die für das Gesetz statt- findende Unmöglichkeit, das zu bewirken, was es an sich be- wirken könnte, hatte darin ihren Grund, dass das Fleisch es unkräftig machte, an dem Widerstand des Fleisches brach sich die Kraft des Gesetzes, es konnte an ihm nur in seiner Schwäche und Unmacht sich zeigen.

So unwirksam ist aber das Gesetz doch nicht in seiner Be- ziehung zu der «rap^, es hat auch seine reelle Wirkung, nur wirkt es das nicht, was für das ^i/taioOaÖai gewirkt werden sollte, die Si)tatoouvyi , sondern vielmehr die äfy.apxta, es macht erst die Sünde zu dem, was sie ist, indem man erst durch das Gesetz weiss, was Sünde ist, das Bewusstsein der Sünde kommt erst aus dem Gesetz, wo aber kein Bewusstsein der Sünde ist, ist eigentlich auch keine Sünde, da ja, wie der Apostel 5, 13 sagt, ä|xapTia oO>t iXXoyeixai \j.r, ovto; v6(J(.o'j, vgl. 3, 20 Sti v6(7.ou STCiYvuoi; ä;xapTia{. Wie diess geschieht, entwickelt der Apostel

Paalin. Lehrbegriff. Gesetz und Sünde. 15t

Rom. 7, 5 f., wo er zuerst sagt: „Solange wir noch das vom Fleisch beherrschte Leben führten, waren die zu Sünden führen- den Leidenschaften, als durch das Gesetz aufgeregt, in unsern Gliedern wirksam, um für den Tod Frucht zu tragen", und dann V. 7 die Frage aufwirft: „Was sage ich, ist das Gesetz Sünde? Gewiss nicht, aber die Sünde kannte ich nicht, ausser durch das Gesetz, und von der Begierde wusste ich nichts, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte, du sollst nicht begehren. Indem aber die Sünde davon Ajilass nahm, bewirkte sie durch das Gebot in mir die ganze Begierde, denn ohne das Gesetz ist die Sünde todt. Ich lebte einst ohne das Gesetz, als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf, ich fiel dem Tod anheim und das zum Leben gegebene Gebot wurde als zum Tode führend erfunden. Denn die Sünde hat nach dem genommenen Anlass durch das Gebot mich verführt, und durch dasselbe getödtet. Das Gesetz zwar ist heilig und das Gebot ist heilig, gerecht und gut. Ist nun das Gute mir zum Tode geworden? Nein, sondern die Sünde, damit es sich zeige, dass die Sünde mir durch das Gute den Tod bewirkt, damit die Sünde durch das Gebot so sündhaft als mög- lich werde" C7 13). Todt also oder schlummernd imBewusst- sein ist die Sünde, solange noch nichts geboten und verboten ist, weil ohne das Bewusstsein, dass man etwas Verbotenes thut, keine Übertretung möglich ist. Sobald man aber weiss, was man thun oder nicht thun darf, regt sich alsbald auch die Sünde, sie wacht gleichsam aus ihrem Schlummer auf, man wird sich der Möglichkeit bewusst, etwas zu thun, was man nicht thun soll, und mit dem Bewusstsein kommt auch der Reiz, das Verbotene zu thun; ist aber einmal die Sünde geschehen, so kann auch das Bewusstsein nicht ausbleiben, dass man durch sie dem Tode verfallen ist, welchen das Gesetz auf die Sünde folgen lässt.

Zu diesen beiden Momenten, dass man 1) durch das Gesetz überhaupt erst weiss, was Sünde ist, und 2) am Gesetz die Sünde

158 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

durch das nifimur in vetltxim zur wirklichen That wird, kommt aber 3) noch hinzu, dass sich am Gesetz der Widerstreit zwischen dem, was man sein soll und dem was man wirklich ist, heraus- stellt. Das Gesetz ist die Norm für das sittliche Verhalten, der absolute Maasstab, an welchem jeder bemessen kann, wie weit er der Idee entspricht, deren Verwirklichung das Ziel seines sittlichen Strebens sein soll. Bleibt es nun in so vielen Fällen auch bei dem besten Willen bei dem blossen Wollen, bei einem Wollen, das nie zur wirklichen That wird, so kann man sich nur der Schwäche und Unkräftigkeit seines Willens, oder, da die Ursache dieses Unvermögens im Fleische liegt, seiner Ab- hängigkeit vom Fleisch bewusst werden. Aber auch wenn das sittliche Wollen und Thun der Norm des Gesetzes entspricht, ist diese Übereinstimmung immer nur eine sehr relative, und es wird immer der Fälle weit mehrere geben , in welchen sie nicht stattfindet. Da nun, wie der Apostel Gal. 3, 10 mit der Stelle 5 Mos. 27, 26 sagt: „Verflucht ist, wer nicht bleibt in allem, was geschrieben ist im Buche des Gesetzes, so dass er es thut", bei dem Gesetze alles darauf ankommt, dass es in allen seinen Be- stimmungen befolgt wird, alles und jedes durch die That ge- schieht, was es befiehlt und vorschreibt, so erhellt schon daraus, dass, wie der Apostel in derselben Stelle sagt, alle welche il, spytöv v6[jt.ou sind, von den ^pya v6(jt.ou ausgehen, sie zum Maas- stab ihres sittlichen Verhaltens machen, unter dem Fluche sind. Es gibt bei jedem , der sein sittliches Verhalten mit der Norm des Gesetzes zusammenhält und vergleicht, so Vieles, worin es so weit unter derselben zurückbleibt; noch weit drückender aber als dieses quantitative Missverhältniss muss, weil ja doch nach der allgemeinen Erfahrung niemand auf absolute Weise so sein kann, wie das Gesetz es verlangt, für jeden der Gedanke sein, dass selbst im besten Fall immer noch ein nie getilgter Rest bleibt, eine unausfüllbare Kluft zwischen dem, was jeder nach der Norm des Gesetzes sein soll, und dem, was er wirk-

Paulin. Lehrbegriff. Gesetz und Sünde. 1^3

lieh ist. Je lebhafter der Mensch dieses unauflöslichen Wider- streits nicht blos zwischen Sollen und Sein, sondern auch zwischen Sollen und Können sich bewusst wird, um so mehr kann er auch nur, in dem Zustand eines entzweiten unglück- seligen Bewusstseins mit dem Apostel Rom. 7, 24 ausrufen: „Ich unglückseliger Mensch, wer wird mich erlösen aus dem Leibe dieses Todes", d. h. aus einem Leibe, der als crapE die Ursache des Todes ist, als <7api a[;-apTia? auch den Tod in sich schliesst. Es ist diess der Punkt, in welchem Judenthum und Christenthum sich am nächsten und unmittelbarsten berühren, aber auch der äusserste Punkt, über welchen das religiöse Ich des Judenthums nicht hinauskommen kann. Daher ergibt sich aus allem zusam- men nur das Resultat, das der Apostel Rom. 3, 20 und Gal. 2, 16 mit denselben Worten ausspricht: Sioti il, s'pywv vojxou oO ^ixaio)- OiQrfSTXi TTöcora Tap^. Die oapE ist die Ursache, dass zwischen den epya vo^.ou und der SixatoTuvT) , die durch das SixatoufjOat erreicht werden soll, ein ewiges Missverhältniss bleibt, und das zwischen dem Menschen und der Stjtatocruviri stehende Gesetz ist nur die Form, in welcher der Mensch dieses Missverhältnisses sich be- wusst wird.

Gibt es also ein nicht zum Tode, sondern zum Leben füh- rendes ^ixaioOcOat, so kann es nur das ^ty.atouTOai iy. TCiTTew? sein; dass es bei dem ^ixatoOcOai einzig auf den Glauben an- kommt, kann der Apostel nicht stark genug aussprechen. Im Evangelium Christi, sagt er Rom. 1, 16, wird die ^'aaio(Tuvyi 6eoO offenbar iy. ttittew; et? ttittiv, d. h. als eine solche, die vom Glauben zum Glauben geht, am Anfang wie am Ende auf dem Glauben beruht, durch und durch Glaube ist. Vgl. Rom. 3, 22. Die TüiTTt?, die das Element und Princip des Siy.aiouTOat ist, ist die TzirsTiq 'ItjtoO XptTToO, Gal. 2, 16, xtUTtc dv Xpiarto 'IvitoO, Gal. 3, 26, oder bestimmter Trbxi; dv xoi aiaari aÜToO, Rom. 3, 25, was der Apostel 4, 24. 25 noch genauer explicirt als ein TTWTSusiv u. s. w. Was die spya v6|j!.ou nicht bewirken können,

1 $4 Zweiter Abschnitt. Erste Periode. ^

soll der Glaube bewirken, der Glaube muss also etwas in sich haben, was die Werke nicht haben, er hat es aber nicht von sich , sondern nur von dem , was er zu seinem Object hat. Was ist aber der Glaube selbst?

Das Wort xitti; hat bei Paulus verschiedene Bedeutungen. Nach der allgemeinsten etymologischen Bedeutung ist twittic, von TTSiöeiv abgeleitet, 1) Fürwahrhalten, Überzeugung überhaupt. In dieser allgemeinen Bedeutung kommt das Wort bei Paulus nie vor. Wenn aber Gal. 3, 2 von der iricTi? gesagt wird, sie komme dE axo^;, so liegt darin, dass die min? etwas äusserlich Gegebenes zu ihrer Voraussetzung hat. Indem das Subject sich dazu receptiv verhält, ist das Erste, das bei der -Kiaxic statt- , finden muss, dass dieses Gegebene und Vernommene für wahr gehalten wird. Auf diesem Wege der Entstehung der maxi; kann ihr Erstes nur das Fürwahrhalten sein, und das Wort muss daher auch diese der Etymologie zunächst entsprechende Bedeutung haben. 2) Specieller ist rndTi? eine nicht durch An- schauung erhaltene Überzeugung, die Überzeugung von etwas Übersinnlichem, das kein Gegenstand der unmittelbaren An- schauung ist. In diesem Sinne ist 2 Cor. 5, 7 Sia st^ou; Tcepi- waTeTv der Gegensatz zu ^la Tcicmtfn; TcepiTraTsiv. Daran knüpft sich 3) die to<jti? als religiöse Überzeugung 1 Cor. 2, 5. 2 Cor. 1, 24 und sonst sehr oft. Die religiöse Überzeugung hat nach dem Apostel ihren Grund in dem Vertrauen auf die Wahrheit der göttlichen Offenbarungen und Verheissungen. Daher 4) die wt(m? als Gottvertrauen, wie Rom. 4, 17 21. Da dem neuen Testament als wirklicher Glaube nur der christliche Glaube gilt, so ist eine der häufigsten Bedeutungen von rnoxi? 5) der christ- liche Glaube, Religion in subjectivem und objectivem Sinne, wie Rom. 3, 22. 1 Cor. 15, 14. Gal. 1, 23. Das Unterscheidende der christlichen Religion ist aber nach paulinischer Lehre das Vertrauen auf die Gnade Gottes in Christus. Diess ist daher j63 die eigenthümlich paulinische Bedeutung der msTi^, wie das

Paulin. Lehrbegriff. Der Glaube. 155

Wort immer genommen werden muss, wenn von der Rechtferti- gung die Rede ist. Als Gegenstand des Glaubens in diesem Sinne wird die Gnade Gottes im Allgemeinen bezeichnet, Gal. 2, 16. 3, 22, der Tod Jesu Rom. 3, 26. Gal. 2, 20, oder auch seine Auferstehung Rom. 4, 24. 10, 9. Eine specielle Anwen- dung ist es, wenn Rom. 14, 1. 22 f. maxie gebraucht wird, um die aus dem christlichen Gottvertrauen, dem Besitz des recht- fertigenden Glaubens hervorgehende Freiheit und Sicherheit des religiösen Bewusstseins zu bezeichnen.

Schon aus diesen zum Begriff der rtcrTt; und ihrer Wort- bedeutung gehörenden Bestimmungen geht hervor, in welchen entschiedenen Gegensatz sich der Apostel zum Judenthurn setzt. Dem Judenthum ist sein religiöser Werth genommen, wenn seine spya vojxod nichts mehr gelten, und sein v6[/.o? alle, die i^ epywv vofAoi» sind, in's Verderben bringt. Es kommt daher nicht auf das an, was der Mensch Ihut, sondern nur auf das, was er glaubt und worauf er vertraut, nicht auf das, was als sein Werk ihm zugerechnttt wird, sondern nur auf das, was er als ein reines Geschenk der Gnade erhält. Im Glauben verhält er sich nur soweit selbstthätig, als er das ihm Dargebotene in sich auf- nimmt und festhält. So entschieden _aber der Apostel in seinem Glaubensprincip mit dem Judenthum als der Gesetzesreligion gebrochen und sich auf einen ganz entgegengesetzten Stand- punkt gestellt hat, so ist doch dieser Bruch kein so radicaler, dass nicht die Grundanschauung, auf welcher die neue Recht- fertigungstheorie des Apostels beruht, eine wesentlicl» jiidische wäre. Nicht nur ist Jesus, als der im alten Testament ver- heissene und in der jüdischen Nation erschienene Messias das Object des Glaubens, der Y£v6{Aevo? i/, (mi^^xroq z^aui^ /taxa 'jxpx.a Rom. 1, 2, das aizi^^y. Abrahams Gal. 3, 16, der zweite Adam, sondern es hat auch die Bedeutung, welche die Theorie des Apostels dem Tode Jesu gibt, ihren Grund in einem von dem Judenthum als der Gesetzesreligion genommenen Begriff.

Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Es sind aber auch bei der Hauptthese des Apostels, dass der Mensch Sijcatoöxai iy. xittsci);, mehrere Gesichtspunkte zu unter- scheiden: 1) der thatsächliche, 2) der anthropologische und 3) der religionsgeschichtliche.

1) Der thatsächliche Gesichtspunkt betrifft den Tod Jesu als die Thatsache, von welcher der Apostül ausgeht. An dem Tode Jesu hängt dem Apostel alles, er ist die Grundanschauung, ^ie den Inhalt seines christlichen Bewusstseins bildet, die That- sache, die bei allem Andern vorausgesetzt werden muss. Einen grössern Beweis der Liebe Gottes gibt es ja nicht, als dass Christus für uns gestorben ist, Rom. 5, 8. Um diesen thatsäch- lichen Charakter des Christenthums recht anschaulich und con- cret zu bezeichnen, nennt der Apostel das Christenthum geradezu den (TTaupö? toO XpiiTToO, oder den Xoyo? toO (jTaupoO, 1 Cor.

'1, 17 f. Er kann sich, wie er selbst sagt 1 Cor. 2, 2, Christus nicht anders denken, als unter der Anschauung seines Kreuzes, will von ihm nur wissen , als dem i<TTaupw[j!.svO(;. Das Unmittel- barste, was dem Tode Jesu diese hohe Bedeutung gibt, ist, dass durch ihn gerade das bewirkt wurde, was das Gesetz nicht be- wirken konnte. Sind alle, welche il, spywv v6[xou sind, unter

'dem Fluch, so ist es Christus, welcher uns von dem Fluch des Gesetzes losgekauft hat, indem er für uns zum Fluch wurde. Gal. 3, 10 f. Es ist hier der Punkt, wo die beiden einander gegenüberstehenden Standpunkte und Theorien am unmittelbar- sten in einander eingreifen. Die eine ist der Gegensatz der andern und doch treffen beide in demselben Begriff zusammen. Warum hat Christus uns vom Gesetz losgekauft, warum den Fluch auf sich genommen, mit welchem das Gesetz alle belegt, die nicht alles und jedes thun, was es verlangt? Warum ist das, was Gott den Menschen zu theil werden lassen wollte, Sünden-

* Vergebung und Leben, ihnen nicht frei und unmittelbar ertheilt worden? Offenbar, weil das Gesetz in, seinem Rechte war, seine

•l'orderung nicht unbeachtet bleiben durfte, dem Begriff der Ge-

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Paiilin. Lehrbegriff. Der Tod Christi. 157

rechtigkeit, auf welchem das Gesetz beruht, Genüge geschehen musste. Es musste also doch geschehen, was auch bei den spy^ v6[y.ou hätte geschehen müssen, nur geschah es auf andere Weise. Der Fluch dos Gesetzes wurde nicht an denen selbst vollzogen, die ihn verdient, sondern an ihrer Stelle an Jesus. Sein Tod war gleichsam der Kaufpreis, um welchen sie freigegeben wur- den, ein Äquivalent, bei welchem, wie bei einem Opfer, das Eine für das Andere gegeben wird; es findet beides zugleich statt, Gnade und Gerechligkeit, Gnade, weil nicht die Schuldi- gen selbst gestraft werden, und Gerechtigkeit, weil die Sünde auch so nicht ungestraft bleibt. In diesem Sinne nennt der Apostel den Tod Jesu ein HxaTripiov Rom. 3, 21 f., ein Sühnopfer, und zwar zum Erweis seiner Gerechtigkeit, welche auf die Schuld der Sünde auch die Strafe der Sünde folgen lässt. Dieser Gerechtigkeit Gottes musste dadurch Genüge geschehen, dass die Strafe der Sünde auch w^irklich gebüsst wurde. Der Tod ist daher eine zur Versöhnung Gottes geschehene Genugthuung. Doch ist diess nicht so zu verstehen, wie wenn Gott an sich hätte versöhnt werden müssen. Wenn auch das, was in Be- ziehung auf die Gerechtigkeit Gottes durch den Tod Christi ge- schehen musste, eine Aufhebung des Zornes Gottes ist, Rom. 5, 9, und insofern eine Versöhnung Gottes mit den Menschen genannt werden kann, so ist dabei doch immer diess festzuhalten, dass nur Gott der Versöhnende, die Versöhnung mit sich durch Christus bewirkende ist, ösö; sv XpioTö xogixov x.xTxklxacoi'^ sauTtS 2 Cor. 5, 19. Wir haben die Versöhnung empfangen, sagt der Apostel Rom. 5, 10. 11, sind versöhnt worden mit Gott durch den Tod seines Sohns als iyP^oi ovts?, was nicht von der Feindschaft Gottes gegen die Menschen, sondern der Feindschaft der Menschen gegen Gott zu verstehen ist. Die gnädige Gesinnung Gottes gegen die Menschen ist die Voraussetzung, unter welcher sie allein in ein anderes Verhältniss zu Gott gesetzt werden können, so dass es demnach nur noch Sache der Menschen ist,

IHp Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

von ihrer Feindschaft gegen Gott abzustehen, und die Gesinnung, welche Gott auch in seinem Zorn über die Sünden der Menschen immer gegen sie hatte, und durch den Tod Christi thatsächlich beurkundet hatte, in die ihrige übergehen zu lassen, oder nach- dem Gott vermöge seiner gnädigen Gesinnung die Welt mit sich in Christus versöhnt hat, sich auch wirklich mit ihm versöhnen zu lassen. 2 Cor. 5, 20.

Wie der Tod Christi in Beziehung auf Gott genugthuend ist, so ist er in Beziehung auf die Menschen stellvertretend. Dass Christus ÜTrep //[xcov gestorben ist, ist der gewöhnlichste Aus- druck, mit welchem die Bedeutung seines Todes für die Menschen bezeichnet wird. Aus der Präposition uTrep kann zwar für sich der Begriff der Stellvertretung nicht abgeleitet werden, aber ebensowenig ist er davon auszuschliesscn. Beide Begriffe, das für die Menschen und das an ihrer Stelle Geschehene gehen in einander über. Unter so vielen Stellen, in welchen von Christus gesagt wird , er sei ^la xa xapaTrrwjiaTa löfJ^wv gestorben , oder •jrepl Töv ajxapTitov •^•/.öv, oder ursp tüv ai/,apTto>v "^[xdiv, Rom. 4, 25. 5, 6. 8, 3. Gal. 1, 4. 1 Cor. 15, 3, enthält 2 Cor. 5, 15 am deutlichsten den Begriff der Stellvertretung. Der Apostel zieht aus dem Satz: el; Oxsp xdtvTwv otTriöavev, die unmittelbare Folgerung: apa ot xavTS? äxeöavov. Er ist nicht blos für sie gestorben, sondern auch an ihrer Stelle, als der Eine an der Stelle Vieler, welche ebendarum, weil er für sie starb, ihre Stelle vertrat, nicht selbst wirklich gestorben sind, sondern in ihm, ihrem Stellvertreter, nur als gestorben betrachtet werden. Was an Christus geschehen ist, ist objectiv an allen geschehen. Die Idee der Stelle ist eine durch das Princip der Liebe V. 14 vermittelte Einheit Christi mit uns, vermöge welcher das, was er für uns gethan hat, ebensoviel ist, wie wenn wir es selbst gethan hätten; wie er in seinem Tode sich mit uns identificirt und als für uns sterbend sich an unsere Stelle gesetzt hat, so müssen auch wir uns an seine Stelle denken und als mit ihm

Panlin. Lehrbegriff. Der Tod Christi. IM

gestorben betrachten. Diese Einheit des Ineinanderseins, in welchem der Eine in dem Andern lebt, wir mit Christus ge- kreuzigt sind, weil er. für uns gekreuzigt ist, wir in ihm leben, weil er in uns lebt, Gal. 2, 20, ist der acht paulinische Begriff der Stellvertretung. Diess ist daher auch die richtige Bedeutung der Präposition uTcip. Es ist nicht das vage allgemeine Für, das bei allem Möglichen stehen kann, sondern der Ausdruck des innigsten unmittelbaren Eingehens in den Andern und des sich Versetzens in seine Stelle

Im Begriff der Stellvertretung liegt zweierlei, dass der Eine, welcher die Stelle Anderer vertreten soll, dasselbe ist, was sie sind, aber auch mehr als sie, etwas hat, was sie nicht haben, was aber ihn fähig macht, ihre Stelle zu vertreten. Ist Christus für die Sünden der Menschen gestorben, so rauss er selbst ohne Sünde gewesen sein, damit sein Tod, der für ihn selbst kein Opfer sein konnte, für die Strafe der Sünden Anderer gelten konnte. Es ist daher nur die Entwicklung des Begriffs der Stellvertretung, wenn der Apostel V. 24 sagt, Gott habe den, der von keiner Sünde wusste als seiner eigenen That, für uns zur Sünde gemacht, d. h. zu einem mit der Sünde behafteten Subject, und somit auch zu einem solchen, an welchem die Sünde zu bestrafen ist. Um aber auf diese Weise die Sünden der Menschen in sich zu repräsentiren, musste er selbst ein Mensch sein, wie die, deren Stelle er vertreten sollte, nur konnte er in dem Eineu ihnen nicht gleich sein, das für sie alle das Gemeinsame war, in der Sünde. Wenn er also auch eine (lap^ hatte, so konnte sie doch keine «rap^ a[jLapTtx<; sein, sondern nur ein oaottojAa «ixpxo; ä|xxpTia;. Indem Christus wurde, wie die Menschen waren, eine ajxapTia, ein Subject der Sünde, wurden sie durch ihn von der i^jx^rix frei, der Strafe der Sünde, was die negative Bedingung der ^uaioi'jvT) 9eoO war. So machte

1) Vgl. Zeitschr. für wies. Theol. 2. Bd. 1859. 8. 225. '^

160 Zwc iter Abscbn i tt. Erste Periode.

ihn Gott zur äfxapxia, damit wir würden ^tx.atoauviri OeoO ev aOrtS, Subjecle dieser Si)cato(juvyi. Diess ist also das Thatsäcbliche, worauf das Suaioucöai ex TrtdTsw; beruht. Um des Todes Christi willen werden die Sünden nicht zugerechnet. Das [xti XoYi^eiOat ist die aipsct; ä|xapTiöv, als acsßy,? wird der Mensch ein SiJtaio;, so angesehen und behandelt, wie wenn er ohne Sünde wäre. Die Bedingung dieses St/.aiouv tov dcaeß-^ ist auf der Seite des Menschen der Glaube, dem Glaubenden >.0Yt(^STai in tciotk; auToG et? Si/catoouvYiv. Im Glauben nimmt der Mensch das Object des Glaubens in sich auf, wird mit ihm eins, was also Christus ist, wird in seinem Theil auch er. Vgl. 2 Cor. 5, 19. Rom. 4, 5.

2) Bei dem anthropologischen Gesichtspunkt ist der Haupt- begrifF wieder die cap^. In Stellen, in welchen der Apostel, wie namentlich Rom. 6, 6 f. 8, 3, die practischen Folgerungen aus der Thatsache des Todes Jesu zieht, liegt der Nerv seiner Ar- gumentation darin, dass Christus um der Sünde willen ev aapKt gestorben sei. Die aap^ und die ä.^x^xLx werden in einem solchen Verhältniss zu einander gedacht, dass was von der einen gilt, auch von der andern gelten muss. Ist also in dem Tode Jesu die oap^ vernichtet, so ist in der aap^ auch der Sünde die Wurzel ihrer Existenz abgeschnitten, ihr die Basis ihres Daseins genommen. Dabei kommt es aber ganz darauf an, in cap^ die Grundbedeutung des Leibs festzuhalten, ohne sie ist es nicht möglich, sich die Anschauung des Apostels klar zu machen. Tholuck erklärt Rom. 8, 3 so: er vollzog in derjenigen Sphäre, aus welcher die Schwächung des Gesetzes hervorgieng, in der sündlichen Menschennatur auch das Verdammungsurtheil. Unter aap^ sei die sündliche Menschennatur zu verstehen, welche Christus auch, obwohl nur xa6' 6{xoi(i>p.a besass; in derselben Menschennatur, welche der Sünde diente, habe auch die Sünden- herrschaft gebrochen werden sollen. Wie soll man sich aber diess denken, wenn nicht für den vagen Ausdruck r>die sündliche Menschennatur " sogleich xler klare und bestimmte Begriff des

Paulin. Lehrbegriff. Der Tod Christi. 161

Leibes gesetzt wird ? Daraus ergibt sich unmittelbar, dass unter xaTSxptvs nichts anderes verstanden werden kann, als die Tödtung des Leibs. In dem Tode Christi widerfuhr dem Leib, was er als Sitz und Princip der Sünde verdiente, die Vernichtung durch den Tod, ebendamit ist aber auch, da der Leib das Princip der Sünde ist, die Sünde selbst in dem Tode Christi principiell ver- nichtet worden. Daher heisst es auch Rom. 8, 3 xaTexptve TYiV aaapxiÄV, nicht dv t^ dapkl aÜToG, sondern schlechthin und all- gemein £v Tij capxt.

Das auf diese Weise an dem Leib, als dem Princip der Sünde, in dem Tode Christi schlechthin und allgemein oder prin- cipiell Geschehene ist für den Apostel die Voraussetzung aller Argumentationen, in welchen er das ethische Sollen in Hinsicht der Sünde, der Pflicht, ihr abzusterben, als ein factisches Ge- storbensein und ebendamit als Sache der unabweisbaren Noth- wendigkeit darstellt. .Das faclisch Geschehene wird sodann von dem Apostel unter den Gesichtspunkt eines rechtlichen Verhält- nisses gestellt. So lange die aapE lebt, hat sie das Recht, von allen, auf die sich ihre Herrschaft erstreckt, zu verlangen, dass sie das thun, was der natürliche Gegenstand ihres Strebens ist, dass sie der Sünde dienen. Da nun aber die cap^ in dem Tode Christi vernichtet worden ist, so ist mit ihremi Tode auch das Recht der mit ihr wesentlich identischen Sünde erloschen. 'O yap dtTJoOavwv SeSixaiwrai axo Tri? ä[y.apTia?, 6, 7. Denn wenn einer einmal gestorben ist, so kann die Sünde keinen Rechtsanspruch mehr an ihn machen. Einen solchen kann sie nur machen , so lange die orap^, mit welcher sie selbst wesentlich eins ist, exi- stirt. Ist aber in dem Tode Christi die capE so ertödtet, dass sie zu sein aufgehört hat, und sind in diesem Tode alle, die an Christus glauben, als mit ihm gestorben anzusehen, so haben alle diese als aTroÖavovTS? mit der Sünde schlechlhin nichts zu thun. Mit der dap^ ist für sie jede Beziehung zur Sünde prin- cipiell aufgehoben, sie geht sie schlechthin nichts mehr an. Was

B B u r , neutest. Theol. * *

IjBÜ Zweiter Absch n itt. Erste Periode.

ist also klarer, als die Forderung ultoxIti Sou>,eusiv rp,a<; tyS a|ju!tp- Tia? Rom. 6, 6. Und auf was anderem beruht diess unmittelbarer, als auf dem xaT-apyviBfivai t6 Gtoy.a r/); a[j.apTia;, und dieses selbst, was kann es anders zu seiner Voraussetzung haben, als das 6, 6 in derselben streng logischen Gedanken folge stehende GuvecTau- pcoGy)? Wie die, die an Christus glauben, mit ihm eins sind, so sind sie auch mit ihm gestorben, und wie er selbst das xaxa- xpivstv n^v dj;-apTtav sv t-^ <jap/.l nur dadurch vollziehen konnte, dass er leiblich starb, so sind somit auch die an ihn Glaubenden leiblich gestorben und haben in dem Tode des Leibs die Sünde principiell in sich aufgehoben oder den alten Menschen, den psychischen, sarkischen, mit ihm gekreuzigt. Mit Tholuck sich hier die Sünde als einen Gläubiger vorzustellen, der an den alten Menschen gewisse Forderungen macht, von welchen der neue befreit ist, ist nicht der richtige Gesichtspunkt. Die einfache Anschauung ist das Recht der capE, so lange der mit ihr identische Leib lebt, der Sitz und das Princip der Sunde zu sein. Dabei fragt sich freilich noch, wie dieses Recht der ä^-apria auf die <Tap^ in der capE Christi aufgehoben sein kann, wenn doch die capE, Christi selbst keine cap^ äfAapxia? war? In jedem Fall hat diese anthropologische Anschauung dieselbe Bedeutung, wie die auf den juridischen Begriff der Stellvertretung gegründete, und wenn diess bisher nicht ebenso beachtet worden ist, so hat es nur in der Unbestimmtheit der Vorstellung seinen Grund, die man sich gewöhnlich von der cap^ im paulinischen Sinne macht. Nach der einen Anschauung wie nach der andern ist der Mensch durch die Vermittlung des Glaubens mit dem gestorbenen Christus so sehr eins, dass das ihn mit der Sünde verknüpfende Band als gelöst, somit er selbst als ^(xaio; anzusehen ist.

Dem Tode Christi als der objectiven Thatsache, auf welcher die Rechtfertigung beruht, setzt der Apostel auch die Auferstehung Christi zur Seite Rom. 4, 25. Was sonst dem Tode Christi für sich zugeschrieben wird, ist zwischen Tod und Auferstehung so

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Paalin. Lehrbegriff. Tod und Auferstehung Christi. 163

getheilt, dass dem Tod nur das Negative zukommt, die Hinweg- räumung der Sündenschuld, der Auferstehung die auf dem Grunde derselben geschehene Gerechterklärung, oder der Tod Christi bezieht sich auf das Thatsächliche, die Aufhebung der Schuld, und die Auferstehung auf das darüber ausgesprochene Urtheil Gottes. Tod und Auferstehung gehören so zusammen, dass die durch den Tod bewirkte Sixaicoct; durch die Auferstehung vollendet ist, sofern Gott Christus nicht auferweckt haben könnte, wenn er nicht durch die Auferstehung hätte erklären wollen, dass die ^i/taiwTi? durch den Tod geschehen sei. Unbestimmt werden 2 Cor. 5, 15 Tod und Auferstehung zusammengenannt. Wenn dagegen Rom, 6, 4 gesagt wird, wie Christus von den Todten erweckt ist, sollen auch wir in einem neuen Leben wan- deln, so erhellt aus dem Folgenden, dass sich der Apostel dieses neue Leben durch das Hineinleben in die Auferstehung Christi, das Gu;x<pi>Tov Yiyovsvat t/^; ävacTaTso); , vermittelt dachte. Ähn- lich verhält es sich Rom. 6, 8 mit dem Zusammenhang der Auf- erstehung Christi mit der einstigen unsern. Aus Rom. 8, 1 f. ist zu sehen, dass der uns inwohnende Lebensgeist des Auf- erstandenen unsere Auferstehung vermitteln soll. Nehmen wir hiezu die Stellen Rom. 5, 10. 8, 34. 1 Cor. 15, 12-22. 2 Cor. 4, 14, so ergibt sich als die paulinische Lehre: Durch die Auf- erstehung Christi ist nicht blos seine göttliche Sendung beglau- bigt, sondern auch Christus selbst befähigt worden, mittelst seiner Vertretung bei Gott unsere Rechtfertigung und mittelst der Aussendung seines Geistes unser neues Leben zu be- wirken. Diess hängt jedoch schon mit einer andern Ideenreihe zusammen.

3) Der Apostel stellt sich auch hier wieder auf den religions- geschichtlichen Standpunkt. In dem ganzen Gang der Entwicklung der Menschheit ist es objectiv begründet, dass der Weg des Heils nicht das SixaiouTÖai ic spytov vofxoi», sondern das SixaiouGÖai £5c :ri<iT£c.)? ist. Er will nicht blos der These des, Itidenlhums seine

11 *

164 Zweiter A bschn itt. Ers t e Pe riode.

Antithese gegenüberstellen, sondern auch die Wahrheit seiner Behauptung auf eine dem religiösen Bewusstsein des Juden selbst einleuchtende Weise darthun. Diess kann nur dadurch geschehen, dass er auf das alte Testament zurückgeht, um an der dem Juden im alten Testament objectiv gegebenen Geschichtsanschauung nachzuweisen, dass das Gesetz und alles, was mit ihm zusammen- hängt, nicht die absolute Bedeutung hat, die ihm der Jude gibt, sofern es zwar eines der Momente ist, durch die sich der allge- meine Gang der Entwicklung hindurchbewegt, diese aber ihre untergeordnete, secundäre Bedeutung nur so lange haben, bis sie selbst wieder durch die höhere, nach ihnen kommende Ordnung negirt und aufgehoben werden. So schroff daher der Gegensatz des Apostels zum Gesetz und Judenthum ist, so will er es doch keineswegs blos schlechthin negiren, sondern vielmehr nur als das, was es wesentlich ist, begreifen. Begreift man, was das Gesetz im Zusammenhang der alttestamentlichen Offenbarung ist, so ist ebendamit der von dem Apostel verkündigte Heilsweg für das religiöse Bewusstsein der Juden zurechtgelegt, und als ein Resultat der geschichtlichen Entwicklung aufgefasst, dasinder religiösen Weltanschauung des Juden durch die innere Nothwen- digkeil der Sache selbst begründet ist. Für diesen Zweck weist der Apostel Rom. 4, 1 f. auf Abraham zurück. Was sollen wir sagen, dass Abraham unser Vater erlangt habe nach dem Fleisch, d. h. durch das äussere an seinem Leibe geschehene Werk der Beschneidung? Denn wenn Abraham durch Werke gerecht geworden wäre, so hätte er etwas, dessen er sich rühmen kann, allein so verhält er sich nicht zu Gott, die Schrift sagt ja: Abra- ham glaubte Gott und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Indem dem Abraham sein Glaube zugerechnet wurde, und zwar solange er noch unbeschnitten war, wurde er ein Vater aller, die in der Vorhaut glauben, so dass auch ihnen die Gerechtigkeit zugerechnet wird. Wir sehen also schon in Abraham den Glau- ben über dem Gesetz stehen.

Paulin. Lehibegriff. Gesetz und Verheissung. 165

Noch mehr aber zeigt sich die untergeordnete Bedeutung des Gesetzes an demjenigen, was der Glaube zu seinem Object hat. Das Object des Glaubens ist die göttliche Verheissung. Abraham glaubte an die ihm gegebene Verheissung. Ihm oder seinen Nachkommen wurde der Besitz der Welt verheissen. Diesen Besitz sollten sie aber nicht durch das Gesetz, sondern die Glaubensgerechtigkeit erhallen, wie es der Natur der Sache nach nicht anders sein konnte; denn wenn sie ihn auf dem Wege des Gesetzes durch Beobachtung desselben hätten er- langen sollen, so hätten ja Glaube und Verheissung gar keine Bedeutung gehabt, der Glaube wäre leer gewesen, er hätte nichts zu seinem Inhalt und Object gehabt, und die Verheissung wäre aufgehoben worden. Denn das Gesetz bewirkt Zorn , d.h. das Gegentheil der Gesinnung, aus welcher die Verheissung her- vorgeht, weil Gesetz und Sünde correlate Begriffe sind, so dass, wo kein Gesetz auch keine Übertretung ist, und wo Gesetz auch Sünde und Strafe, das strafende Missfallen Gottes. Weil also das Gesetz hier nichts zu thun hat, sollen sie den Besitz nicht auf dem Wege des Gesetzes, sondern des Glaubens erlangen, damit sie ihn in Gemässheit der Gnade erlangen, auf dass die Verheissung ihre Gültigkeit hätte für alle Nachkommen, nicht blos für die aus dem Gesetz, sondern auch für die aus dem Glau- ben Abrahams, welcher der Vater ist von uns allen, wie geschrie- ben steht: ich habe dich zum Vater vieler Völker gemacht, vor Gott, welchem er glaubte als dem, der die Todten lebendig macht, und was nicht ist, in's Dasein ruft. Das Gesetz kommt also bei allem diesem gar nicht in Betracht.

Dass es mit dem Gesetz sich so verhält, dass es im Zusam- menhäng der alttestamentlichen Religionsverfassung nur eine untergeordnete secundäre Stellung hat, in welcher es ebenso tief unter dem Christenthum steht, als unter der dem Abraham gegebenen Verheissung, in welcher ja nur voraus schon ausge- sprochen ist, was im Christenthum zu seiner vollen Realität

166 Zweiter Abschnitt. Erste Periode. .

kommen sollte, diess zeigt der Apostel Gal. 3, 6 f. in einer Ar- gumentation, in welcher der Apostel auch wieder ausgehend von der Glaubensgerechtigkeit Abrahams und seiner Verheissung als allgemein anerkannte Wahrheit den Grundsatz voranstellt, dass niemand das Recht habe, eine rechtskräftige Willensbestimnuing aufzuheben, oder etwas zu ihr hinzuzuthun. Gilt diess von einer menschlichen, so muss es noch mehr von einer göttlichen gelten. Dem Abraham nun aber sind als ein Gotteswort die Verheissungen gesagt und seinem Samen, und zwar so bestimmt i^ (J7:ep[y.a'n aÜToO, dass sie nur auf Christus gehen können. Diese in Be- ziehung auf Christus gegebene Willensbestimmung kann daher nicht durch das erst nachher gegebene Gesetz ungültig gemacht werden, so dass die Verheissung aufgehoben würde. Aufgehoben wäre nämlich die Verheissung; denn obgleich auch das Gesetz Segen verheisst, so dass die, welche das Gesetz halten, ein Erbtheil zu erwarten haben, so ist doch diese xXyipovojy-ta oder Seligkeit for- mell eine ganz andere. Kommt die x>.yipovo[y-ia aus dem Gesetz, so ist sie durch die Beobachtung des Gesetzes bedingt, kann also immer nur soweit zu Theil werden, als das Gesetz wirklich ge- halten wird, und da das Gesetz immer nur so mangelhaft gehalten wird, so ist die x>,vipovo[xta iy. v6[i.ou so gut wie keine, während dagegen die Seligkeit in Folge der Verheissung auch eine völlig freie, an keine Bedingung gebundene ist, sie ist nur Sache der Gnade. Als eine Seligkeit in diesem Sinne wollte aber Gott dem Abraham die ihm verheissene ertheilen, ebendesswegen weil sie Si' i'KX'ffz'kixc, >iej(^ipi<7Tat V. 18.

Aber was soll denn, diese Frage dringt sich hier auf, das Gesetz, so betrachtet, noch sein? Neben der Verheissung kommt es ja gar nicht in Betracht, steht sogar in Widerstreit mit ihr. Die Hauptanlwort, die der Apostel daraufgibt, ist in dem Satze V. 19 enthalten: töv xapaßdcdswv yapiv etsOt), die in Übertretun- gen sich äussernde Sünde habe erst am Gesetz ihren Verlauf inebmen müssen. Da diess kein absoluter Zweck sein kann, so

Paulin. Lehrbegriff. Gesetz und Verheissung. 167

ist schon hiemil gesagt, dass das Gesetz nur eine relative, für eine bestimmte Periode gellende, blos vermittelnde Bedeutung hat. Mit dieser steht es zwischen der Verheissung und der Er- füllung mitten inne, und was es in dieser Stellung wesentlich ist, wird nun durch die Begriffe des ij-sctitti? und des TraiSaytoYÖ? näher bestimmt. Dass das Gesetz von Hause aus einen rein ver- mittelnden Charakter hat, weist der Apostel an der Art und Weise nach, wie es gegeben wurde, nicht unmittelbar von Gott, sondern durch Engel als untergeordnete Mittelwesen und durch Moses, von welchem Lev. 26, 46. Deut. 5, 5 gesagt wird,, dass er bei der Gesetzgebung mitten inne stand zwischen Gott und den Kindern Israel. In diesem Sinne war also Moses ein [/.efftTYi?; zum Begriff eines solchen jj-e(iiTin<; aber gehört es, dass er zwischen zwei gleichsam getheilt keine über den Gegensätzen stehende Einheit ist. Denselben Charakter eines [>.t(sknq trägt nun auch das Gesetz an sich, sofern es nach der einen Seite der Verheis- sung, nach der andern der Erfüllung gegenübersteht und so in seiner nach zwei Seiten hin getheilten und auseinandergehenden Stellung nur dazu da ist, Verheissung und Erfüllung auseinander- zuhalten. Aber nur auf dem untergeordneten Standpunkt des Gesetzes treten so Verheissung und Erfüllung in der ganzen Weite ihres Unterschieds auseinander, in Gott ist dieser Unterschied nicht, er ist selbst die Einheit der Verheissung und Erfüllung, sofern es für ihn, den stets sich selbst gleichen und mit sich identischen keines solchen Verheissung und Erfüllung erst durch den Unterschied vermittelnden Moments bedarf, wie das Gesetz für die Menschen ist. Wenn nun das Gesetz zwischen Verheis- sung und Erfüllung so dazwischen tritt, wie wenn es nur dazu da wäre, beide auseinanderzuhalten, so muss man fragen, verhält es sich so negativ zu den Verheissungen, dass es sogar im Wider- spruch zu ihnen steht, und die Heilszwecke Gottes, statt sie zu befördern, vielmehr hintertreibt? In Widerspruch käme das Gesetz mit den Verheissungen, wenn die Seligkeit, die als

168 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Gegenstand der Vtifrheissungen auch nur eine Folge derselben sein soll, durch das Gesetz gegeben würde. Dann könnte man sagen: wozu die Verheissungen,'^wenn man das, was sie ver- heissen, auch ohne sie erhallen kann? Wozu eine Swcaioauvr, U TTiffTStt»?, wenn es eine ^wcaio(yuv7i s^ epytüv v6p-ou gibt. Allein ein solcher Widerspruch findet nicht statt, weil es keine Stxato- (TuvY) ix vofAou gibt, und eine solche gibt es nicht, weil kein Gesetz gegeben ist, das <iie Kraft hat, selig zu machen.

' Eine Sixaioeruv?) ix vofxou gibt es so wenig, dass vielmehr die Schrift schlechthin alles als Sünde zusammenfasst, unter diesen Begriff stellt und darüber nicht hinausgehen lässt, d. h. aus der Schrift ist zu sehen, dass in der ganzen Periode der Herrschaft des Gesetzes unter Juden und Heiden ohne Ausnahme und Unterschied nur die Sünde herrschte, und zwar ist diess geschehen, damit die Verheissung aus dem Glauben Jesu Christi gegeben würde den Glaubenden. Kann durch den Gegensalz, in welchem das Gesetz zu der Verheissung steht, diese selbst nicht aufgehoben werden, erscheint nicht die Verheissung neben dem Gesetz, sondern nur das Gesetz neben der Verheissung als das Überflüssige, so muss man um so mehr fragen, was das Gesetz ist und wozu es überhaupt da ist. Da unter dem Gesetz nur die Herrschaft der Sünde ist, so kann das Wesen des Gesetzes nur aus seiner Beziehung zur Sünde erklärt werden, und da der höchste Endzweck Gottes. nur dahin gehl, die Verheissung in dem Glauben an Christus in Erfüllung zu bringen , so kann auch das Gesetz, wenn es geschichtlich begriffen werden soll, in seiner Beziehung zur Sünde nur dazu dienen, diesen Übergang von der Verheissung zur Erfüllung zu vermitteln. Nach der Ab- sicht Gottes sollte die Verheissung durch den Glauben in Erfüllung gehen, aber es geschieht diess nicht unmittelbar, dem Glauben gehen das Gesetz und die Sünde voran, ehe der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz wie in einem Gefangniss zusammen eingeschlossen gebalten auf den Glauben hin, welcher erst in

Paulin. Leh rbegr iff. Der v(5|xo(; <:at8aY<»>Y0s. 169

der Zukunft offenbar werden sollte. So ist nun das Gesetz unser Zuchtmeister gewesen bis auf Christus, damit wir durch den Glauben gerechtfertigt werden. Alles also, was das Gesetz in seiner Stellung zwischen Verheissung und Erfüllung ist, ist es als v6[j!.o? T^aiSaywYÖ?, und da es in dieser Stellung als ein in diese Entwicklungsreihe gehörendes Glied selbst nur die Bedeu- tung eines vermittelnden Moments haben kann , so muss es eben in dieser Beziehung der v6(ji.o? wai^aytoyo? sein. ii)«ii} t:»b \i».i Gewöhnlich denkt. man sich die Aufgabe des Gesetzes als eines Erziehers in dem Sinne, wie wenn das Gesetz durch die Erweckung des innern Bedürfnisses der Erlösung auf Christus hätte hinführen sollen. Wenn aber der vofxo; ein TraiSaywyo; et? XpwTov genannt wird, so soll durch ei? nur die bis auf Christus dauernde pädagogische Bestimmung des Gesetzes ausgedruckt werden; worin aber diese besteht, ist damit noch nicht gesagt. Auch davon kann man sie nicht verstehen, dass das Gesetz in dieser Zwischenzeit von Übertretungen zurückhalten und ihnen eine Schranke setzen sollte. Diess wäre nur unter der Voraus- setzung möglich, dass auch die Worte V. f9 töv 7rapaßa<jetüv j^apiv xpo<ieTe97i in diesem Sinne zu nehmen sind. Da aber diess nicht der Fall ist, so kann auch dem v6{ao? TcaiSaytoyö? nur eine jenen Worten entsprechende Bedeutung gegeben werden. Das Zuchtmeisteramt des Gesetzes kann nur darin bestehen, dass es dem Menschen die Sünde vorhält und zum Bewusstsein bringt, jedoch nicht um durch das Sündenbewusstsein das Bedürfniss der Erlösung zu wecken, sondern nur um den Menschen in die volle Wirklichkeit der Sünde hineinzustellen, und ihn von ihrer Macht so umschlossen und gefangen gehalten werden zu lassen, dass er wie gebannt aus dem vom Gesetz um ihn gezogenen Kreis nicht herauskommen kann. Wenn man nun auch es sich nicht anders denken kann, als dass dem Menschen in diesem Zustand das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit erwacht, so schreibt doch der Apostel diess nicht der Wirksamkeit des Gesetzes zu. Unlei*

"170 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

dem Gesetze befindet sich der Mensch nur im Zustand der Ge- fangenschaft und der Unfreiheit, er fühlt sich durch das Gesetz beengt und gedrückt, wie der Knabe durch die Disciplin und den Ernst des Pädagogen. Dieser pädagogische Zustand unter dem Gesetz hört erst auf, wenn der Glaube als neues Moment in diese Entwicklungsreihe eintritt. Da nun in dem Glauben sich nur verwirklicht, was an sich schon in derVerheissung enthalten ist, der Glaube nur die erfüllte, die realisirte Verheissung ist, so ist das zwischen beiden stehende, sie auseinander haltende und vermittelnde Gesetz eines dieser drei Momente, so stellen sich die drei: Verheissung, Gesetz und Glaube von selbst in ihrem Verhältniss zu einander unter den Gesichtspunkt eines in seinen bestimmten Momenten verlaufenden Entwicklungsprocesses. Das Gesetz muss zuvor dazwischen treten, weil die Zeit noch nicht da ist, in welcher die sTrayYsXta in der ttwjti; in Erfüllung geht, und die^Zeit hiezu ist desswegen nicht da, weil auch in der reli- giösen Entwicklung der Menschheit im Grossen, wie im Leben des einzelnen Menschen alles seine bestimmte Zeit hat. Diese Ansicht liegt schon der Vergleichung des Gesetzes mit einem Pädagogen zu Grunde. Wie der Pädagog dem Knaben dazu bei- gegeben ist, um ihm in der Periode seiner Unmündigkeit und UnSelbstständigkeit das vorzuhalten, was er thun oder lassen soll, so ist auch die Gesetzesperiode diejenige, in welcher die Menschheit in ihrer Abhängigkeil vom Gesetz sich gleichsam noch im Zustand des Knabenalters befindet. Abhängigkeit ist so viel als Unfreiheil und Knechtschaft. Gesetz und Glaube ver- halten sich zu einander, wie Knechtschaft und Freiheit, oder wie sich der Sklave zum Sohn und Erben des Hauses verhält.

Auch dieses Verhältniss sieht der Apostel iii Abraham vor- gebildißt, in seinen beiden Söhnen Ismael und Isaak. Jener, der Sohn der Sklavin, der geborene Sklave, stellt das Gesetz in sich dar, weil das Gesetz den Menschen nur in ein unfreies Verhält- niss zu Gott setzen kann. Isaak, der von der freien Sara und

Paulin. Lehrbegriff. Sxotye^a tou >coa[iou. ITl

noch überdiess in Folge einer besondern göttlichen Verheissung Geborene ist der Typus der Christen als der ts/,v7. t-^c i-Kx^yzlixc. Der Eine ist Sohn im eigentlichen äussern Sinn, der andere im uneigentlichen höhern geistigen, und die Mütter dieser beiden Söhne repräsentiren die beiden Religionsverfassungen, die Hagar das jetzige Jerusalem, die Sara das obere himmlische. Dieses obere Jerusalem ist als das freie unsere Mutler, sofern wir als Christen uns in unserm christlichen Bewusstsein frei vom Gesetz wissen. In Beziehung auf die Galater, die zuvor Heiden waren, hebt der Apostel noch besonders hervor, dass auch ein Erbe nicht sogleich im vollen Sinne Erbe sei, sondern solange er noch unmündig, auch nur wie ein Sklave, und noch unter Aufsehern und Verwaltern steht. Analog ist das Gesetz die der Unmündig- keitsperiode der Menschheit angehörende Religionsform.

In demselben Sinne rechnet der Apostel das Judenthum als Gesetzesreligion zu den azoiysXy. toO >c6<y[A0'j. Er bezeichnet mit diesem Ausdruck Gal. 4, 3, wo er von den Galatern sagt, sie seien, solange sie in ihrem vorchristlichen Zustand noch un- mündig waren, unter die rjxoiyzix toQ jtorraou geknechtet gewesen, zunächst die heidnische Religion, aber auch das Judenthum rechnet er dazu, wenn er V. 9 sich darüber wundert, wie die Galater im Begriff, vom Christenthum zum Judenthum abzufallen, sich zu den aTÖev?) y,al T:T(i>-/7. CTOi^eia zurückwenden können. Die aToi-/zix to 0 xoajAOu sind die physischen Elemente und Sub- stanzen, als Grundlage der heidnischen Naturreligion; so sind die (jToi5(^si:a namentlich die Gestirne. Auch die jüdische Religion hat in so Vielem, in ihren Symbolen und Ceremonien, in ihren Festgebräuchen und Speisegesetzen, in so manchen Satzungen, wie auch in ihrer Beschneidung, denselben Naturcharakter. Der Apostel konnte sie nicht tiefer degradiren als durch diese Gleich- stellung mit der heidnischen. Das Natürliche, Materielle, Sinn- liche ist in beiden so sehr die Grundanschauung und das Princip des religiösen Bewusstseins, dass der Mensch darin noch ganz

1^1 Zweiter Abschnitt. Erste Periode,

in seinem unfreien Verhältniss zu Gott sich darstellt. Er hat noch kein geistiges Goltesbewusstsein, kennt Gott noch nicht als das, was er wahrhaft ist, als Geist. Da der Apostel diesen Zu- stand der Unfreiheit auch die Periode der Unmündigkeit nennt, Gal. 4, 3, so spricht er hiemit selbst die Ansicht aus, der Gang der religiösen Entwicklung der Menschheit bringe es so mit sich, dass der Mensch sich zuerst in dem Zustand der Abhängigkeit theils von der äussern materiellen Natur, theils von einer solchen Macht, wie das Gesetz ist, befindet, und erst von der Natur zum Geist, von der Knechtschaft zur Freiheit sich, erhebt. Das Gesetz ist selbst ein Moment dieses Entwicklungsgangs, als solches steht es nicht sowohl hemmend als vermittelnd zwischen der Verheissung und dem Glauben. Dieselbe Periode des Gesetzes ist es, in welcher Sünde und Tod die in der Menschheit herr- schenden Mächte sind, es ist die von Adam repräsentirte Seite der Menschheit. Von dieser aber sagt der Apostel 1 Cor. 15, 46, dass nicht zuerst das Geistige, sondern das Psychische das in der Menschheit wirkende Princip sei.

Der Apostel unterscheidet somit überhaupt zwei grosse Entwicklungsperioden der Menschheit, deren Verhältniss zu ein- ander auf dem allgemeinen Gegensatz der Principien beruht, die in der menschlichen Natur zu unterscheiden sind. Das Gesetz gehört seinem ganzen Charakter nach der ersten Periode an, in welcher der Mensch noch in der Sphäre des materiellen sinnlichen Lebens, auf der Stufe der Abhängigkeit und Knechtschaft sich befindet. Erst nachdem diese Periode ihren Verlauf genommen hatte, konnte das Christenthum zu der ihm bestimmten Zeit in die Weltgeschichte eintreten. Als das TrX-yipwixa der Zeit gekom- men war, sagt der Apostel Gal. 4,4, sandte Gott seinen Sohn. Durch den Sohn Gottes werden auch wir Söhne Gottes, und in Beziehung darauf, dass wir Söhne sind, hat Gott den Geist seines Sohns in unsere Herzen gesandt. In dem Bewusstsein also, dass wir Söhne Gottes sind, nicht Knechte und Unmündige, wie unter

Paalin. Lehrbegriff. Gesetz und Freiheit. 173

dem Gesetz, ist erst ein wahrhaft geistiges Verhältniss zwischen Gott und dem Menschen entstanden. Obgleich der Apostel im Christenthum nur etwas Übernatürliches, eine unmittelbare Ver- anstaltung Gottes sieht, so bestrebt er sich doch recht sichtbar, es geschichtlich zu begreifen. Alle jene Gegensätze, aus deren Gesichtspunkt der Apostel das Christenthum betrachtet, wie zwischen Knechtschaft und Freiheit, Unmündigkeit und Mündig- keit, Sünde und Gnade, Tod und Leben, Fleisch und Geist, dem ersten und zweiten Adam, schliessen auch die Idee eines ge- schichtlichen Entwicklungsgangs in sich.

Ebendarauf bezieht sich, was der Apostel Gal. 4, 4 sagt, Gott habe, als die Erfüllung der Zeit gekommen, seinen Sohn gesandt, geboren von einem Weibe, geboren unter dem Gesetz, d. h. er stellte ihn ganz in die geschichtliche Entwicklung hinein, in welcher die eine Periode in die andere übergieng. Daher trug er auch noch den Charakter der ersten Periode an sich. Geboren wie ein Mensch, stand er unter dem Gesetz; auch an ihn machte das Gesetz dieselbe Forderung, wie an alle Menschen, er wurde sogar zum Fluch des Gesetzes, aber nur um die Menschen als frei vom Gesetz zu Söhnen Gottes zu machen. Wie es also im Wesen der menschlichen Natur liegt, dass der Mensch vom un- mündigen Knaben und Jüngling zum selbstständigen reifen Mann, vom Unfreien zum Freien, vom Knecht zum Sohn wird, so ist Christus in der dazu bestimmten Zeit, d.h. in der Zeit, in welcher die Menschheit dazu reif geworden war, als Sohn in sie einge- treten. So betrachtet ist das Christenthum nicht blos etwas äus- serlich in die Menschheit Hereingekommenes, sondern eine Stufe der religiösen Entwicklung, welche aus einem innern, der Menschheit immanenten Princip hervorgegangen ist, der Fort- schritt des Geistes zur Freiheit des Selbstbewusstseins, in deren Periode er erst, wenn er die Unfreiheit und Knechtschaft über- wunden hat, eintreten kann.

Aus dem Gesichtspunkt desselben Gegensalzes, in welchem

1T4 Zweiter Abaclinitt. Erste Periode.

die beiden hier charaklerisirten Perioden der Entwicklungsge- schichte der Menschheit einander gegenüberstehen, sind nun auch die beiden das SixaioOTOat betreffenden Sätze zu betrachten. So tief die erste Periode unter der zweiten steht, so negativ sie sich zu ihr verhält, in demselben Verhältniss steht das ^ixaioO- (j0ai i^ epYwv \6^.oi> zu dem ^ixaiou(yGat ix tc^tsw?. Wer auf der Stufe des christlichen Bewusslseins steht, ist über die Ipya vojaou, als einen überwundenen Standpunkt, weit hinweg, die Thatsache des Todes Christi hat ihn von den Anforderungen des Gesetzes frei gemacht , und im Glauben an diesen Tod ist das Princip der Sünde, die am Gesetz erst zu ihrer vollen Realität gekommen ist, so erlöiltet, dass er sich zu Gesetz, Fleisch und Sünde völ- lig frei verhält.

Dass der Mensch durch Glauben nicht durch Werke ge- rechtfertigt wird , ist demnach der aus der bisherigen Entwick- lung sich ergebende Hauptsatz des Apostels. Dieser Satz ist nun zwar in seiner thalsächlichen, anthropologischen und reli- gionsgeschichtlichen Begründung dargelegt und als die auf die- sem dreifachen Grunde beruhende Antithese der These des Ju- denthums gegenüber gestellt. Es bedarf aber gleichwohl noch einer genauem Bestimmung, um das Verhältniss der xigti? zu dem ^i/taiou-rOai und zu den epya im Sinne des Apostels richtig aufzufassen.

Geht man davon aus, dass das ^txaioOfjöai ix. xioreco; auf dem Punkt, welcher zunächst zu fixiren ist, wenn man den Process desselben nach seinen einzelnen Momenten betrachtet, ein 'koyOl.taBxi ist, sofern dem Glaubenden lofl^txcti lo Tziarii aü- ToO ei; Stxaioduvvjv , eine Zurechnung, bei welcher der Mensch nur so angesehen wird, wie wenn er etwas hätte, was er nicht wirklich hat, so bleibt zwischen dem Subject, von welchem die SiJcaiocnSvY) prädicirt wird, und dem Prädicat, das ihm gegeben wird, noch ein Missverhällniss zurück, über das sich das sitt- lich religiöse Bewusstsein noch verständigen muss. Wenn von

Paulin. Lehrbegriff. AtxatoiJdOat Ix TtiiTew«. 175

dein ^ixaioOaöai s^ ^pytov v6[j!.ou die Rede ist , so wird vorausge- setzt, dass die 'ipyx v6;i.ou in einem adäquaten Verhältniss zu der ^ty.ato(7uv7i stehen, beide wie Ursache und Wirkung sich zu einander vei halten, was der Apostel Rom. 4, 4. als den [;-ia66; des epya^sGOat und als das oO Xoyt^S'rOat xara /aptv, sondern xaTÄ ocpsiXyii^-a bezeichnet. Bei dem Si/.atoCicrOai t/. 7r{<JTeto; ist diess nicht ebenso, und doch kann auch dabei die sittliche Idee, die dem Si/aioufjöat sE epy. v6[j(.ou zu Grunde liegt, nicht aufge- geben werden. Es ist dem Apostel sehr darum zu thun, die Idee des Sittlichen auch für seine Rechtfertigungstheorie festzu- halten und ihr selbst den Begriff des vo^y-o? zu vindiciren. Der höchste Ausdruck für den paulinischen Begriff der Rechtferti- gung ist daher der vojy.oi; toO xveujjiaTo? to? ^wyJi;, Rom. 8, 2. Das Gesetz des Geistes, d. h. der Geist als das die ganze Rich- tung des Menschen bestimmende Princip, das Princip des christ- lichen Bewusstseins als das Lebensprincip für die, die im Glau- ben an Christus nur in ihm das Princip ihres geistigen Lebens haben können, hat mich, sagt der Apostel, von dem Gesetz der Sünde und des Todes befreit. In dem •jrveOjj'.a wird erst die wicxt?, die zwar die nothwendige Voraussetzung des 7rv£u[;.a ist, sofern man das rveuixa e^ äxovj; Tziarsoi^ erhält, Gal. 3, 2, die aber zu ihm im Grunde sich nur verhält, wie die Form zum Inhalt, zur lebendigen Wirklichkeit des mit seinem positiven Inhalt erfüllten christlichen Bewusstseins. In ihm vollendet sich daher erst der ganze Rechtfertigungsprocess. Das wahrhaft christliche Sixatou- cöatist nun nicht mehr ein ^i/catoOcöai ix. iriTTeo)? in dem Sinn, in welchem dem TrtTTSuwv 27:1 tov ^txaio'jvra tov affsß-ii seine TCiaTt? nur Xoyt^sTai ei; Si/taioirjv/iv, wobei das Verhältniss des Gerecht- fertigten zu Gott immer noch auf einer blos vorgestellten Saaio- cuvY) beruht, sofern er als ein äasßiQ«;, wie er an sich ist, von dem ^uaiöv nur als ein Si^cato; angesehen und dafür erklärt wird, sondern es ist ein wahrhaft reelles St/taiouGÖai , weil er in dem vSixo*; Tou 7tv£u[xaTo; , in dem 7:v£ü(ji.a als dem in ihm wirkenden

178 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Princip in der Thal und Wahrheit in das der sittlichen Idee ent- sprechende Verhältniss zu Gott gesezl ist. Was in dem als Ge- rechtigkeit angerechneten Glauben blos noch ein äusseres Ver- hältniss ist , ist durch die Vermittlung des TTveOjxa , in welchem Gott seinen Geist den Menschen mittheilt, in welchem als dem Geiste Christi er in dem Menschen wohnt, Rom. 8, 9, ein wahr- haft inneres geworden, ein Verhältniss des Geistes zum Geist, in welchem der Geist, als das Princip des subjectiven Bewusst- seins, mit seinem objectiven Grunde, dem Geiste Gottes, als dem Geiste Christi sich zur Einheit zusammenschliesst. Das ^i)caicop.a ToO v6[A0'j, der sittliche Gehalt des Gesetzes als die sittliche That des Menschen, ist dadurch erfüllt und realisirt, dass die Gerechtfertigten nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln, welches Wandeln nach dem Geist kein e[X[/.eveiv dv Tuadt Toi; 'fs-(^o!.[j.^.i'^oi<; u. s. w. Gal. 3, 10 ist, was auch so eine stets unmögliche sittliche Forderung bleibt; aber an die Stelle dieser blos quantitativen Gesetzeserfüllung ist die quali- tative getreten, welche in dem Geist als dem Princip der Ge- setzeserfüllung oder des sittlichen Verhaltens, in der Totalität der Gesinnung auch die Totalität des Gesetzes, das $i>ca(<i}{j(.a tou vojxou in diesem Sinne hat. Das auf diese Weise erfüllte ^ixatwjjLx ToO v6[7.ou ist die in dem Menschen realisirte SixaioouvY) öeoO, welche als die Si)taio(Tuv7i auch die ^wr) ist, und das SUaio; ix TclcTTSw? !^'/i<7STat, woriu der Apostel den ganzen Inhalt seiner Rechtfertigungslehre zusammenfasst, ist schon jetzt zur Wahr- heit und Wirklichkeit geworden. Rom. 8, 9—17.

^ Der Geist ist also das Band , in welchem in der Rechtferti- gung Gott und Mensch eins werden; die Voraussetzung aber, unter welcher allein dieses Band geknüpft werden kann , ist der Glaube. Der Glaube ist daher selbst dieses Band und was vom Geist gilt, gilt auch vom Glauben. Der Glaube ist das Band einer Lebensgemeinschaft mit Christus, in welcher Christus so in uns lebt, dass alles, was an uns nur endlich ist, nur unserem

Paulin. Lehrbegriff. Glaube und Liebe. , 177

selbstischen Ich angehört, von uns abgethan ist, wir nicht mehr uns, sondern nur ihm leben, Gal. 2, 20. Das Lehen im Glauben ist sowohl ein Leben im Fleisch als das Leben Christi in uns, der Glaube als das Band der Einheit mit Christus ist das Vermittelnde zwischen dem Einen und dem Andern. Was dem Glauben diese Kraft der Einigung mit Christus gibt, ist die Liebe, mit welcher er für uns gestorben ist, 2 Cor. 5, 14. Alles Particuläre, In- dividuelle, Selbstische, ist in Christus aufgehoben zur Allge- ineinheit eines geistigen Princips in dem Gedanken an seine auf- opfernde hingebende Liebe. Wie diese Liebe Christi selbst aus- geht von der Liebe Gottes, der ihn für uns sterben Hess, Rom. 5, 5, so kann sie auch in uns nur Liebe wecken , so bald sie durch den Glauben in uns aufgenommen ist; der Glaube selbst aber geht in Liebe über als die tcicti; St' ayaTTv;? dvgpyoujxsvr,, Gal. 5, 6. In der Liebe, deren Element der Glaube von Anfang an in sich hat, hat er auch ein acht praktisches Princip in sich. Was er als Glaube an sich ist, muss er auch praktisch werden in der Liebe, sie ist der praktische Glaube selbst. Die Liebe ist in ihrem Zusammenhang mit dem Glauben auch darum ein wich- tiges Moment des paulinischen LehrbegrifTs , weil in ihr das durch den Tod Christi aufgehobene Gesetz nur in höherer Be- deutung wieder aufgenommen wird. Die Liebe ist ja der ganze Inbegriff des Gesetzes, in ihr wird das Gesetz zum Gesetz Christi selbst. Gal. 5, 14. 6, 2. vgl. 1 Cor. 9, 21.

Es erhellt schon hieraus , dass der paulinische Begriff des Glaubens nicht zu abstract gefasst werden darf, wenn er mit dem ganzen Zusammenhang, in welchem der Apostel seine Lehre als den Inhalt seines christlichen Bewusslseins entwickelt hat, in Übereinstimmung gebracht werden soll. Es ist diess für eine Frage festzuhalten, die hier weiter in Betracht kommt. Wenit der Apostel den Werken alle rechtfertigende Kraft abspricht, und die Rechtfertigung allein auf den Glauben gegründet wissen will, wie kann er zugleich ganz allgemein den Satz aufstellen,

Baur, neateat. Theol. |2

178 Zweiter AT>sc1ihitt.' Erste Periode,

dass Gott jedem nach seinen Werken vergelten will Rom. 2, 6? Werden hier nicht die Werke zu dem Glauben und zur Recht- fertigung in ein ganz anderes Verhältniss gesetzt, als nach dem Bisherigen stattzufinden scheint? Man nimmt es gewöhnlich mit der Beantwortung dieser Frage sehr leicht und oberflächlich. Philippi in dem Commentar zu d. St. glaubt die Lehre von der Glaubensgerechtigkeit mit der Lehre von dem Lohn der guten Werke einfach so vereinigen zu können : „Der Glaube macht die Person des Sünders gerecht, die gerechte Person kann aber nur gerechte Werke vollbringen. Denn was den Werken der durch die Rechtfertigung Wiedergeborenen noch Mangelhaftes und Sündliches anhaftet, das ist durch die rechtfertigende Gnade be- deckt und vergeben." Sind aber die Werke so mangelhaft, dass das Fehlende erst durch die Gnade oder den Glauben ergänzt werden muss, so ist klar, dass das rechtfertigende Moment nicht in den Werken, sondern nur im Glauben liegt. Und wie die, die gute Werke haben, um des hinzukommenden Glaubens willen beseligt werden , so werden die , die böse Werke haben, nicht um dieser Werke willen , sondern wegen des ihnen feh- lenden Glaubens willen verdammt. Auf dasselbe kommt auch die Antwort Tholuck's hinaus.

Die richtige Antwort kann nur dadurch gegeben werden, dass man sich auf den Standpunkt des Gegensatzes stellt , von welchem der Apostel bei seiner Rechtfertigungstheorie ausgeht. Die Rechtfertigung durch den Glauben und die durch die Werke stehen ihm nicht wie zwei verschiedene Auffassungen des Chri- stenthums einander gegenüber, sondern wie Christenthum und Judenthum. Das ^uatoO^Oai ic, epytov v6[ji.oi» ist für das Juden- thum ebenso charakteristisch wie das SaaioOcOat iy. Trierrsw; für 'das Christenthum. Es stehen so zwei Rechtferligungstheorien einander gegenüber, von welchen die eine die andere geradezu ausschliessl. Da nun an diesem Gegensatz das Verhältniss des Cbristentbums zum Judenthum bestimmt werden soll, so fasst

PauHn. Lelirbegriff. Glaube und Werke. 179

er das Judenthum in seiner abstracteslen Spitze als Gesetz auf. Ist das Judenthum schlechthin Gesetz , so ist ihm nach der Be- griffsbestimmung des Apostels Gal. 3, 10. die Befähigung abge- sprochen, die Menschen in ein beseligendes Verhällniss zu Gott zu setzen. Ist aber diess nicht ein zu abstracter Begriff und eine zu einseitige Auffassung des Wesens der alttestamentlicben Re- ligion? Das alte Testament besteht ja nicht blos aus gesetzlichen Geboten und Vorschriften , es nimmt selbst darauf Rücksicht, dass die Gesetzesgerechtigkeit des Menschen nur eine unvoll- kommene ist, dass der Mensch ebendesswegen auch einer Ergän- zung des ihm Fehlenden, einer Ausgleichung dieses Missver- hältnisses durch die göttliche Gnade und Vergebung bedarf. Sieht der Apostel auch in diesem Theil der alttestamentlicben Reli- gions-Verfassung, den Opfern und Versöhnungsanstalten, nur Forderungen des Gesetzes, Leistungen, die der Mensch selbst durch sein eigenes Thun nach der Vorschrift des Gesetzes zu vollbringen hat, so kann man freilich das sittliche Thun nur in die Befolgung des äusserlich Gebotenen setzen. Auf dieser nie- drigen Stufe steht ja aber das alte Testament nicht, es weiss selbst recht gut von der Aeusserlichkeit des gesetzlichen Thuns die Gesinnung als das Innere zu unterscheiden, das allein dem Menschen seinen wahren sittlichen Werth vor Gott gibt und über das Mangelhafte der Geselzeswerke hinwegsehen lässt. Schon dadurch wird das schroffe Verhältniss, in das der Apostel das Judenthum als Gesetz zum Christenthum setzt, gemildert, der Gegensatz ist nur noch ein relativer, es gibt nicht blos ^pYa v6[Aou, bei welchen das beigesetzte v6[xou nur an das inadäquate Verhältniss zum Si-zcatoOcöai erinnern soll, sondern auch ^-{<x., welchen nach der Gesinnung, aus welcher sie hervorgehen, der innere sittliche Werth nicht schlechthin abgesprochen werden kann. Geht doch der Apostel selbst über das Judenthum als blosse Gesetzesreligion hinaus, wenn er schon in Abraham das Vorbild der Glaubensgerechligkeit sieht. Wie einseitig ist es

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180 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

daher, die alttestamentiiche Religion auf den Begriff des Gesetzes so einzuschränken, dass die Sittlichkeit der toyx v6u.ou nichts anderes sein kann, als der Widerstreit des sittlichen Bewusst- seins mit den Forderungen des Gesetzes ! Dem Gesetz bleibt so freilich nur das Amt, die Sünde zu strafen und zu verdammen; wer wollte aber läugnen, dass es auch im allen Testament mög- lich war, trotz der Mangelhaftigkeit der Gesetzes- Erfüllung, im Vertrauen auf die auch im alteft Testament nicht fehlende Ver- sicherung der göttlichen Gnade, nicht blos das Verdammungs- urlheil des Gesetzes , sondern auch den Frieden eines mit Gott versöhnten Gemüths in sich zu haben. Die spya vötxou sind da- her ein rein theoretisch aus dem alten Testament abstrahirter Begriff, welchem in der Wirklichkeit insofern nichts entspricht, als das alte Testament selbst keine Berechtigung dazu gibt, das Gesetz als solches von allem Andern, das mit ihm zusammen- gehört, in dieser schroffen abstracten Weise zu trennen. Auf ähnliche Weise verhält es sich mit der ttitti?. Im strengen Ge- gensatz zu den epya vojxoi» muss in dem Begriff der tti^jtk; alles . negirt werden, was als ein eigener selbstthätiger Act des Men- schen anzustehen wäre. Die ttittic ist schlechthin nur Glaube, eine blosse Form, die für sich selbst nichts ist, sondern alles, was sie ist, nur von dem Object hat, auf das sie sich bezieht. Und doch ist auch der Glaube ein subjeclives Verhallen, ein Thun auf der Seite des Menschen , und gehört insofern , sei es auch nur als spyov xiaTEw?, unter den Begriff der spya. ^Vi So gleicht sich der Gegensatz der epya vojxou und der 7c(<m; von beiden Seilen her aus, beide, die ^py« v6u.ou wie die 7r{<m;, sind die subjective sittliche Bedingung, ohne welche das ^i- xaioufföai nicht möglich ist. Wie es nur die Abslraction des Be- griffs ist , welche bei den Ipya v6aou die thatsächliche Erfüllung der Gebote des Gesetzes so fixirt, dass dabei die Gesinnung so gut wie nicht in Betracht kommt, so ist auch der Glaube nicht so abstract und inhaltsleer zu denken, dass er nicht als die den

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Paulio. Lehrbegriff. Glaube und Werke. 181

Menschen beseelende innere Gesinnung das vor allem wäre, wo- durch der sittliche Werth des Menschen bestimmt wird. Und da die Gesinnung, wenn sie eine lebendige sein soll, sich durch Werke bethätigen muss , so können auch die Werke als der Maasstab betrachtet werden , nach welchem Gott das entschei- dende Urtheil über die Menschen fällt, wie diess der Apostel Rom. 2, 6. thut, und auch sonst, wie 1 Cor. 3, 13. 14. 9, 17. 2 Cor. 5, 10. 9, 6. Gal. 6, 7. f., wo er von den Werken als der Norm des göttlichen Gerichts so unbefangen spricht, wie wenn an eine Collision mit seiner Lehre vom Glauben auch nicht ent- fernt zu denken wäre. Er denkt nicht daran, weil sich seine Rechtfertigungslehre durchaus nur auf das Verhällniss des Chri- stenthums zum Judenthum bezieht, auf einen abstract gedachten allgemeinen principiellen Gegensatz , welcher, sobald er auf die concreten Verhältnisse des wirklichen Lebens angewandt wer- den soll, von selbst zu einem blos relativen wird. Werke und Glaube, oder Aeusseres und Inneres sind im Leben des Einzel- nen nicht so getrennt, dass, wo das Eine ist, nicht immer auch etwas von dem andern wäre; nur beide zusammen, in ihrem Verhältniss zu einander, machen das Wesen der Frömmigkeit, die Gesinnung, die sittliche Qualität aus, ohne welche der Mensch vor Gott nicht gerechtfertigt werden kann. Christ wer- den und gerechtfertigt werden, ist zwar für den Apostel eines und dasselbe , wer in das Reich des Messias aufgenommen ist, ist ebendamit für einen Gerechten, Gottgefälligen, zur Seligkeit Bestimmten erklärt, aber es ist diess nur eine abstracte Wahr- heit, eine ideale Anschauung, aus welcher keineswegs folgt, dass auch in der concreten Wirklichkeit des praktischen Lebens jeder, der Christ ist, auch ein wahrhaft Gerechtfertigter ist. Und so wenig von den Christen ein ^ixaioOaöai int. xiarecdc in die- sem Sinne gilt, so wenig sind die in die Kategorie des SixaioO- <j6a'. i\ i^'^tji'i vofxo'j gehörenden Juden auch in der Wirklichkeit dem darauf ruhenden Yerdammungsurtheil verfallen. Können nun

I8S5 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

zwei sich ausschliessende Sätze , sobald es sich um die concrete Wirklichkeit handelt, nicht in ihrer abstracten Aligemeinheil festgehalten werden, müssen sie, um praktisch zu werden, sich ausgleichen, so kann diess hier nur durch die einfache, dem sittlichen Bewusstsein einleuchtende Wahrheit geschehen, wie sie der Apostel in den genannten Stellen ausspricht. Die Werke sind dann nicht die epya v6[^-ou, sondern das sittliche Verhalten überhaupt, und an die Stelle der absoluten Bedeutung der xicti; tritt die relative , welcher zufolge der Glaube die die Empfäng- lichkeit für das Heil bedingende sittliche Gesinnung ist, wie sie in dem Grundsatz ausgeisprochen ist, welchen der paulinisch giesinnte Verfasser der Apostelgeschichte 10, 35 dem Apostel Petrus in den Mund legt, dass in jedem Volk 6 ipYa^6f/.svo? ^i- )taio<yuv7iv Gott angenehm ist.

Zur paulinischen Lehre vom Glauben gehört auch noch die Frage, wie sich der Glaube zur Freiheit des Menschen und der Vorherbestimmung Gottes verhält. Da der Apostel die Erthei- lung des 7cv60{xa erst auf die xioti; folgen, die izicriq somit nicht selbst durch das 77ve0(/.a bewirkt- werden lässt, so scheint sich von selbst zu verstehen, dass er den Glauben ganz als freie Sache des Menschen betrachtet. Anders ist es auch nicht, und man wäre darüber nicht .im Zweifel, würde nur der Apostel nicht im neunten Kapitel des Römerbriefs der Lehre von einem unbedingten Vorsatz Gottes so das Wort zu reden scheinen, dass die theologischen Erklärer, die an einem solchen Absolutismus Anstoss nehmen, wie namentlich die lutherischen, auch die neuesten, Tholuck und Philipp!, sich alle Mühe geben müssen, den Apostel etwas Anderes sagen zu lassen, als er wirklich sagt. Es ist diess völlig vergeblich. Der Sinn des Apostels kann nur sein, dass Gott ohne alle Rücksicht auf menschliches Thun, nur nach dem reinen Vorsatz der Erwählung den Jakob vorgezogen und den Esau nachgesetzt und den Pharao dazu bestimmt hat, an ihm einen Beweis seiner Macht zu geben. Wie man auch das

Paulin. Lehrbegriff. Glaube und Prädestination. 18(3

jcaXeTv V. H, äyaTcav und (y-tceiv V. 13 nehmen mag, das Argu- ment ist, dass wie Golt überhaupt zu allem, was ihn von aussen her bestimmen könnte, sich völlig frei und unabhängig verhält, er auch bei der Ertheilung der ^ixaioauviri und cwTYipta an keine in die Subjectivitäl des Menschen gestellte Bedingung gebunden ist. Der Hauptgedanke des Apostels ist nicht, was Gott über- haupt vermöge seiner Macht Ihun kann, sondern, was er abge- sehen von allem, was der Mensch wollen und thun mag, aus dem Menschen selbst macht, dass er, wie er des Einen sich er- barmt, so den Andern verhärtet, den Einen erwählt, den An- dern verwirft. Wie malt und unpassend wäre die Anführung Pharao's, wenn damit nur gesagt würde, auch an einem solchen, wie Pharao, könne Gott seine Macht beweisen? Der Zusammen- hang fordert vielmehr den Sinn: was einer in der einen oder andern Weise ist, als Erwählter oder Verhärteter, ist er nicht durch sich selbst, durch die Rücksicht auf irgend etwas, was er im Guten oder Bösen ist , sondern schlechthin durch Gott. Nur so schliessen sich die ¥.19 folgenden, so absolutistisch lauten- den Sätze passend an das Vorhergehende an, wenn der Wider- spruch hervorgehoben wird, dass Golt von dem Menschen ver- langt, anders zu sein, als er ist, während doch die Möglichkeit gar nicht vorhanden ist, dass er anders ist, als ihn Gott selbst gemacht hat. Der Widerspruch lässt sich nicht läugnen, aber selbst der Gedanke eines solchen Widerspruchs , sagt der Apo- stel V. 20, darf in dem Menschen nicht aufkommen, im Bewusst- sein seiner schlechthinigen Abhängigkeit von Gott. Die Anwen- dung, die der Apostel V. 22 f. von den aufgestellten Sätzen macht, kann nur diese sein: Wenn Gott, wie er ja das unbe- dingte Recht hat, aus dem Menschen das Eine oder Andere zu machen, aus den ungläubigen Juden Gefässe des Zorns, aus den Glaubigen aber, die nicht blos aus Juden, sondern auch aus Heiden bestehen, Gefässe der Erbarmung gemacht hat, mit wel- chem Anspruch kann der geborene Jude dagegen auftreten? er

1S4 Zweiter Abschnitt, Erste Periode.

hat es vielmehr nur als einen Beweis der göttlichen Langmuth anzusehen, dass Gott ihn, den zum Verderben Bereiteten, so lange getragen hat, wobei Gott auch die Absicht hatte, während seiner grossen Langmuth den Reichthum seiner Herrlichkeit an den Berufenen kund zu thun. Diess ist der einfache und natür- liche Sinn der Worte des Apostels.

Demungeachtet würde man ihn falsch verstehen, wenn man ihm die Behauptung eines absoluten Decrets zuschreiben würde. So entschieden er eine schlechthinige, jede Rücksicht auf menschliches Thun und die Subjectivität des Menschen ausschlies- sende Abhängigkeit von Gott behauptet, so entschieden macht er C. 10 alles, was dem Menschen von den Segnungen des mes- sianischen Reichs zu Theil wird, einzig und allein vom Glauben abhängig, und zwar nicht so, wie wenn der Glaube selbst nur denen zu Theil würde, die in Gemässheit des göttlichen Rath- schlusses dazu erwählt sind, sondern der Glaube ist ihm schlecht- hin das Erste, wobei nichts Anderes vorausgesetzt wird, als dass man die Predigt des Worts hört, Rom. 10, 8 f. (Gal. 3, 2. Die Frage ist daher nicht, ob er das Eine oder das Andere behaup- tet, sondern nur, wie er beides zugleich behaupten kann, so- wohl die schlechthinige Abhängigkeit des Menschen von Gott, als auch die durch den Glauben bedingte. Darauf kann man nur vom Standpunkt des Apostels aus antworten mit Rücksicht auf das practische Interesse, um das es ihm zu thun ist. Nicht um den Locus de praedestinatione dogmatisch zu behandeln, und in der Streitfrage über Determinismus und Indeterminismus eine bestimmte Theorie aufzustellen , kommt der Apostel auf die C. 9 aufgestellte Behauptung, sondern um dem jüdischen Parlicularis- mus die letzte Wurzel seiner Berechtigung abzuschneiden. Es ist also nicht sowohl das Verhältiiiss des einzelnen Menschen zu Gott, wovon der Apostel spricht, als vielmehr das Verhältniss, in welchem die Juden als Nation in ihrem Unterschied von den Heiden zu Gott stehen. Die objectiv vor Augen liegende ge-

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Paulin. Lehrbegriff. Glaube und Prädestination. 185

schichtliche Thalsache, dass die Juden das Heil nicht erlangten, ungeachtet sie das Gesetz hatten und nach der im Gesetz aufge- stellten Norm durch spya vop'j die Rechtfertigung zu erlangen suchten, die sie aber freilich auf diesem Wege nicht erlangen konnten, während dagegen die Heiden ohne Gesetz und Streben nach Gesetzesgerechtigkeit die Rechtfertigung erJangten, steht im Widerstreit mit der Meinung, welche bisher die Juden von sich als dem von Gott erwählten Volk hatten; sie findet aber ihre einfache Erklärung darin, dass die Bedingung des messianischen Heils einzig und allein der Glaube ist. Auf den Glauben kommt aber der Apostel erst C. 10 und gerade diess ist der Hauptpunkt. Er theilt die Hauptfrage, wie die für das nationale Bewusstsein der Juden so anstössige Thatsache zu erklären und mit der Idee Gottes zu vereinigen ist, in zwei Seiten der Betrachtung, indem er auf der einen Seite alles Gewicht auf den Glauben legt, auf der andern noch vom Glauben abstrahirt und vor allem die Frage untersucht, ob abgesehen vom Glauben, an welchem freilich. in letzter Beziehung alles hängt, jene Thatsache etwas so Auffal- lendes hat, dass sich die Juden wie über ein ihnen widerfahre- nes Unrecht zu beschweren Ursache haben. Was haben sie auf- zuweisen und gegen Gott geltend zu machen, haben sie einen Rechtsanspruch darauf, das erwählte Volk Gottes zu sein, ist nicht nach dem alten Testament selbst die Handlungsweise Got- tes eine so freie, unabhängige, durch keine äussere Rücksich- ten gebundene, dass er aus dem Menschen mächen kann, was er will? Die national- jüdische Frage verallgemeinert sich so erst dem Apostel, um ihr eine schärfere Spitze zu geben, zu der abstracten Form, in welcher er sie C. 9 behandelt, wie wenn das in Frage stehende Subject der Mensch überhaupt wäre in seinem Verhältniss zu Gott, nicht das Volk Israel, sofern man es nach dem Rechtsanspruche fragt, welchen es, abgesehen vom Glauben, gegen Gott geltend zu machen hat. Der Gesichtspunkt, aus welchem der Apostel die Frage aufstellt, bleibt auch so der-

186 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

selbe, und man würde ihn völlig missverstehen, wenn man meinte, er wolle durch alles, was er C. 9 über die Unbedingt- heit des göttlichen Willens sagt, auch nur im Geringsten dem- jenigen vorgreifen, was er über den Glauben als die nolhwendige Bedingung des Heils nachfolgen lassen und zum Hauptmoment seiner Argumentation machen wollte. Der Glaube war also für Israel der Stein des Anstosses, 9, 32. Als die neue Periode des Glaubens kam Cvgl. das dXÖsiv -n^v tti^tiv Gal. 3, 23), hat Israel es versäumt, sie zu seinem Heil zu benützen. Welche Ansprüche kann es daher auf die frühere Zeit gründen? wie wenn der Mensch in seiner Abhängigkeit von Gott Gott darüber zur Frage zu stellen hätte und es nicht schlechthin in die Hand Gottes ge- stellt lassen hiüsste, ob er von ihm zu einem Gefäss des Zorns oder zu einem Gefäss der Erbarmung gemacht ist. Hat also Israel das messianische Heil verloren , die Zeit vor dem Glauben gibt ihm keinen Grund, sich darüber zu beschweren. Mit Christus hat alles Gesetzesleben ein Ende (rtko^ vopu Xpi^rrö? Rom. 10, 4), es gilt seitdem nur der Glaube als der Weg, auf welchem Ge- rechtigkeit zu erlangen ist.

Auf dem Glauben beruht alles, was die bisher entwickelte Lehre des Apostels enthält. Da aber der Glaube das, was er ist, nicht für sich ist, sondern nur durch das Object, auf das er sich bezieht, so schliesst hier die weitere Frage an, was der Apostel von Christus selbst lehrt. Die Ansicht von der Person Christi ist immer bedingt durch die Ansicht von seinem Werke. Christus kann für die Menschen nichts gethan und ihnen mitgetheilt haben, was nicht in ihm selbst auf principielle Weise war. Auf die Person Christi werden daher immer alle Bestimmungen überge- tragen, die die nothwendige Voraussetzung zu sein scheinen, um ihn zum Erlöser zu befähigen. Man kann daher schon aus dem Bisherigen , aus der Lehre des Apostels von der Rechtferti- gung durch den Glauben auf seine Lehre von der Person Christi schliessen. Hat er durch seinen Tod die Menschen von der Sünde

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Paulin. Lehr begriff. Christologie. 187

befreit, so muss er selbst ohne Sünde gewesen sein. Dass er von keiner Sünde wussle, wird daher auch ausdrücklich von ihm in diesem Zusammenhang gesagt, 2 Cor. 5, 2i. Hat er den Menschen das TrvsOfxa als geistiges Princip mitgetheilt, so muss er selbst geistiger Natur sein. Ist überhaupt durch ihn das Gegentheil von allem demjenigen, was durch Adam in die Welt kam, den Menschen zu Theil geworden, so muss er, wenn er auch Mensch war, wie Adam, doch ein Mensch ganz anderer Art gewesen sein. Gegenüber dem Einen Menschen, durch welchen die Sünde und der Tod in die Welt kam, ist er der Eine Mensch Jesus Christus, in welchem die Gnade Gottes den Vielen geschenkt worden ist, Rom. 5, 15. Wie durch einen Menschen der Tod, so ist durch einen Menschen die Auferstehung der Todlen, 1 Cor. i5, 21. Wie Adam der erste irdische Mensch war, so ist er der zweite Mensch vom Himmel, 1 Cor. 15, 47, wo nach den neuesten kritischen Auctoritaten zu lesen ist: 6 SeuTspo? avOpwTTO? Co^ne ö x'jpioO ^^ oOpavoO. Wesentlich Mensch also ist er, wie Adam, aber Mensch in höherem Sinn. Da ihm als dem himmlischen Menschen das Pneumatische ebenso zukom- men muss, wie Adam als dem avOpwTro; ex *fr,i; ypixo^ das Psychi- sche, so ist er demnach der pneumatische Mensch. Wenn auch er Mensch ist, wie Adam, der zweite Adam nach dem ersten, so sind das Psychische und das Pneumatische gleich wesentliche Bestandtheile der menschlichen Natur, das Pneumatische ist aber in ihm ebenso das Principielle , wie in Adam, dem irdischen Menschen, das Psychische. nvcGp^, Geist, wird daher auch Christus geradezu genannt, 6 xüp'-o; t6 TrveOaa sttiv, sagt der Apostel 2 Cor. 3, 17 schlechthin. Wo Geist ist, da ist alles licht und bell, es liegt keine Decke auf dem Angesicht, wie bei Moses, es ist alles vor dem Bewusslsein des Geistes enthüllt und aufge- schlossen. Das Wesen des Geistes scheint sich der Apostel, wie aus demselben Abschnitt 2 Cor. 3, 7 f. zu sehen ist, unter der Anschauung einer Lichtsubstanz gedacht zu haben. Um zu er-

188 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

klären, was der Herr als Geist ist, sagt er, dass wir alle, die wir mit enthülltem Angesicht die Klarheit des Herrn, wie in einem Spiegel, anschauen, in dasselbe Bild von einer Klarheit zur andern verwandelt werden, wie es ja auch nicht anders sein könne, da der Herr der Geist sei. Klarheit, Glanz, ^o^a, in demselben Sinne, in welchem er von dem vom Angesicht des Moses strahlenden Lichtglanz spricht, macht das Wesen des Geistes, somit auch das Wesen Christi aus. In diesem geistigen Lichtglanze Christi spiegelt sich das ewige Lichtwesen Gottes selbst ab. Daher lässt der Apostel 2 Cor. 4, 6 Gott als Schöpfer des Lichts in unsere Herzen leuchten, Trpo? (p(j)Ti(Tp,6v rfi; yw(3ias(ii(; T/i? So^T)? Tou ösou iv 7rpo<7w7i:o> 'l7i<Jou XpwToO, d. h. um hell zu machen die Erkenntniss des vom Angesicht Jesu Christi, wie einst vom Angesicht des Moses, widerstrahlenden Lichtglanzes. Chri- stus ist selbst das Bild Gottes, und wie in ihm der Lichtglanz Gottes sich abspiegelt, so spiegelt sich dieser Lichtglanz wieder ab in seinem Evangelium, dem euayYsXiov tt}? ^oEtt)? toO XpidToO, dessen Erkenntniss sodann auch in dem, der es in sich aufnimmt, einen hellen Glanz bewirkt, 2 Cor. 4, 4.

Hieraus ist wohl deutlich zu sehen, dass das ganze Ver- hältniss Christi zu Gott darauf beruht, dass Christus wesentlich Geist ist , weil es an sich zur geistigen Lichtnatur Gottes gehört, sich in einem Lichtabglanz zu reflectiren, und Christus ist daher, wie er 7rvsO[jLa ist, so auch der xupio? Tfi; So^vi?, wesentlich Geist und Licht, nicht erst in Folge seiner Erhöhung, sondern an sich schon, da durch seine Erhöhung nur zu seiner vollen Realität gekommen ist, was er an sich schon war, und was da- mals, als er von den apj^ovxe? toO aiövo? (i Cor. 2, 8) gekreuzigt wurde, in ihm nur noch nicht sichtbar geworden war. Und wie er selbst der Lichtrefle.x Gottes ist, so soll dasselbe Licht von ihm aus sich über die ganze Menschheit verbreiten. Was er als Geist, als Herr der Herrlichkeit, als Bild Gottes, als der himra- liscbe Mensch ist, ist dann vollkommen reaiisirt, wenn die ganze

Paalin. Lehrbegriff. Chris tologie. 189

Menschheit nach seinem Bilde gestaltet ist, weil Gott alle, die durch den Geist Gottes oder den Geist Christi Kinder Gottes werden, TTpowows <7tju.u,6p<po<j; ttIc stxovo? tou uioO auTOu, et? to eivai TcpwTOTO/tov dv TroXXoi; a^e>.(pot(;, Rom: 8, 29. Ist er nach der Grundanschauung seines Wesens Geist und nicht blos 7rvsO|yjx, sondern t6 TrvsGu-a 2 Cor. 3, 17, so können es nur bestimmte Beziehungen desselben ttvsOjax sein, wenn ihm söVvohl ein 7:v20|j.a ayiw^juvYi?, als ein 7cvgO|Aa ^«ottoioGv beigelegt wird. In Gemäss- heit des 7rv£0[7.a aYio)(jijv7ic ist er Rom. 1, 4 als Sohn Gottes kräFtig erwiesen durch die Auferstehung der Todten. Das 7rveuu.a xyioi- <rjvyi; kann nur das die Messianität Christi constiluirende Princip sein, es wird das TrvsOjxa aYtwc^vTi? genannt, in demselben Sinn, in welchem Christus der ayo? ist und auch die Christen die äyioi sind. Was er als Davids Sohn leiblich ist, ist er durch die Auf- erstehung geistig, sofern sie erst den thatsächlichen Beweis da- von gab, dass der Geist, der ihn allein zuta Messias macht, auch wirklich in ihm war. Was das TcvsOp-a aYiwTjvTi; für die Person Christi ist, ist das TrvsOaa (tdOTroioOv für die Menschheit über- haupt, als das in ihr wirkende, Sünde und Tod in ihr aufhebende, die sterbliche axo^ zum Bild des himmlischen Menschen ver- klärende Lebensprincip.

Ist Christus beides gleich wesentlich, sowohl Geist als Mensch , so kann er nur als die geistige Lichtgestalt des himm- lischen Menschen, als der urbildliche Mensch gedacht werden; ist er aber Mensch und als Mensch erschienen , so muss er auch die menschliche <7xp^ an sich haben, wie kann er sie aber haben, wenn die orap^ als solche der Sitz der aaapria ist? Es fällt von selbst in die Augen, dass der Apostel aus diesem Grunde von einem blossen 6[J!.olü){J^a uapxo? aiAapria; spricht. Was soll man sich unter diesem eigenen Ausdruck denken? Soll er nur heis- sen, wie z. B. Philippi meint, er habe unsere Sünde auf sich genommen und sei gleichsam selbst sündig geworden, so hatte er keine dap^ a{xapTia; und konnte demnach auch die <7ap^ a{^.ap-

190 Zweiter Abs chn i tt. Erste Periode.

TCa; nicht an sich verdammen. Auch nahm er ja unsere Sunde erst in seinem Tode auf sich, der Apostel aber sagt klar, Gott habe seinen Sohn ev ö{xoiwjxaTc capxo; gesandt. War er, ungeachtet er eine capE hatte, doch ohne aaapxia, so wird vorausgesetzt, dass die dap^ auch ohne ajxapTia sein könne. Auf der andern Seite gibt man zwar zu, dass die Anthropologie des Apostels keine capE kenne, die nicht eine <;apE ajxapTia; sei, behauptet aber, dass die Sündlosigkeit des Messias dadurch nicht aufge- hoben werde, man müsse nur acht paulinisch zwischen aizapTwc und Trapaßam? unterscheiden. Christus habe zwar die aapE und mit derselben das objective Princip der ajxapTioc angenommen, aber das Objective sei in ihm weder zum subjectiven Bewusstsein, noch zur subjectiven That geworden. Warum sagt aber der Apostel, wenn diess seine Ansicht von der aapE Christi war, nicht geradezu, wie er hätte sagen sollen, Gott habe seinen Sohn gesandt sv oapxl äj^apTia;, warum sagt er iv 6|/.oib)aaTi «japxö; ajjiapTtas? Man sagt, ou-oiw^ia sei Abbild eines Dings durch sichtbare Darstellung desselben: wie passt aber diess? Wie kann die cap^ aaapTiac, wenn das Bild nur wieder die Sache selbst sein soll, anders abgebildet sein, als durch eine wirkliche <Tap^ ä|AapTia;? wozu dann aber der Ausdruck 6ty.oi(«)[ji,a (japxö? aaapxia?? Das Wort ofjiotcotjLa. bedeutet doch immer nur Bild und Ähnlichkeit, nicht die Sache selbst. Hat Christus nur ein o^oioi^a. Gx^y,6i ä;7.apTta? gehabt, so hatte er nicht die (jap^ ajxapxtag selbst. Und wie soll man sich die Sache selbst denken? Hat Christus in seiner (lap^ a^aapTia; das objective Princip der Sünde in sich ge- habt, die coLo^ mit ihrem cppovyijia tvi; «rapxo;, ihrem iTriOup-eiv XÄToc ToO 7rveu|ji,aTo;, wie schwer ist es, die Grenzlinie zwischen Sündlosigkeit und Sünde so zu ziehen, dass er als ein [xin y^ou; a|i,apTiav, um für die sündigen Menschen zu sterben, erst zur äaapTia gemacht werden inusste. Hat seine pneumatische Per- sönlichkeit es verhindert, dass die zum Wesen der cap^ gehörende a^aapTia in ihm auch nur zum subjectiven Bewusstsein wurde,

Paulin. Lehrbegriff. Christologie. 191

wie hart müssen die beiden einander entgegengesetzten Principien 7rvE'ju.a und axp^ in ihm aufeinander gestossen sein. Eben hier liegt ja der Punkt, von welchem aus die Gnostiker auf ihre do- ketische Ansicht von dem Leibe Christi kamen. Der Ausdruck oaoitoaa verdeckt nur die nicht gelöste Antinomie, dass Christus in seinem Leibe die axo^ aaapTia; getödtet haben soll und doch keine wahre und wirkliche capE aaapTia? gehabt haben kann.

War die capc von Anfang an eine <japE ajxapTia?, so kann sie demnach auch nicht erst durch den Ungehorsam Adams dazu geworden sein, und es gibt uns daher die Christologie des Apo- stels in dem von der r>ap^ Christi gebrauchten Ausdruck auch eine Bestätigung unserer Auffassung seiner Anthropologie. Von einer Erbsünde im augustinischen Sinne und einem Sündenfall als der Ursache derselben weiss der Apostel nichts, sondern die Trapaxor, und Twapaßxdt; Adams kann nur davon verstanden wer- den, dass das von Anfang an der ffdtp^ immanente Princip der Sünde durch Adam actuell hervortrat. Hiemit stimmt ganz zu- sammen, wie der Apostel in der Hauptstelle seiner Anthropologie 1 Cor. 15, 45 das Psychische dem Pneumatischen so voranstellt, dass Adam von Anfang an keine andere als eine rein psychische, nicht aber eine rein pneumatische Natur gehabt haben kann, wesswegen er auch als der erste Mensch dem zweiten, als der '/oiy.6i dem pneumatischen, dem avOpwxo; ic, oüpavoO gegenüber- gestellt wird. Dem Bedenken, wie Gott eine ursprüngliche <jap^ atxapTia? geschaffen haben kann, ist die Frage entgegenzuhalten, was hier als das Erste und Ursprüngliche anzusehen ist, der irdische oder der himmlische Mensch? Wenn auch Adam von Anfang an* nur Ia ^n^ /oixd; war, und sich nie in einem andern Zustand befand, so kann doch schon sein irdisches Dasein selbst als ein secundäres betrachtet werden, sofern er nur das ge- schaffene irdische Abbild des himmlischen urbildlichen Menschen war. Wenn auch beide als Elemente einer und derselben Natur zusammengehören, so ist es doch nur das Irdische, das an der

1 98 Zweiter Alisclinitt; Erste Periode,

Spitze der zeitlichen Entwicklung steht. Es kommt hier auch die analoge Anschauung in Betracht, welche der Apostel von der Natur überhaupt hatte, wenn er Rom. 8, 19 f. von einer j;,aTai6Tifi<; spricht, welcher die xti^k; oüj^ ixoO<ra uT^ZTxyri, von einer SouXeia Tfi? <p9opa?, und der Natur ein w^ivstv zuschreibt, sofern sie den schmerzlichen Drang in sich hat, ihr inneres Wesen an's Licht zu bringen. Gleichzeitig mit den Kindern Gottes, wenn die sXsuOspia ihrer So^a offenbar wird, wird auch die Natur von der Vergänglichkeit, die als schwerer Druck auf ihr liegt, befreit werden. Es ist derselbe Druck, welchen der Mensch in der dap^ äjjLapTia? empfindet, wenn er ruft : Tic pis pucrexai u. s. w. Rom. 7, 24. Das Gemeinsame dieser Anschauung ist die Materialität der zeit- lichen Existenz, dass die Natur als eine geschaffene ebenso nur eine materielle, dem Zug und der Schwerkraft der Materie fol- gende sein kann, wie die fixfc, als solche nur eine <jap^ aj^apria; ist. Wie die materielle Natur auf einem ideellen, immateriellen Grunde ruht, so hat auch der irdische, psychische Mensch den himmlischen pneumatischen zu seiner Voraussetzung, und hier wie dort ist das geistige Princip als das ursprüngliche das über- greifende, alles materielle und fleischliche Sein durchdringende und in sich verklärende. h^'.ititiiik^rt^^

. Je enger und unmittelbarer das Verhältniss ist, in welchem Christus schon als das, was er wesentlich ist, als Mensch und zwar als himmlischer Mensch zu der menschlichen Natur und der Menschheit steht, um so mehr muss man fragen, welche Vor- stellung der Apostel von Christus in seinem präexistirenden Sein hatte. Als der av6p«7ro; zc, oüpavoO ist er ein überweltliches, präexistirendes Wesen, aber es ist hier der Punkt, auf welchem die Christologie des Apostels noch am wenigsten zu einer festen und bestimmten Vorstellung ausgebildet war, wie überhaupt der christologische Blick des Apostels weit mehr auf das von der Auferstehung aus sich entwickelnde Sein Christi sich richtete als auf das rückwärts liegende. Wenn es daher auch einige Stellen

Psulin. Lehrbegriff. Christologie. 193

gibt, welche die Idee der Präexistenz und der Weitschöpfung zu enthalten scheinen, so iässt sich doch aus ihnen nichts Sicheres erheben. Es sind diess hauptsächlich die Stellen 1 Cor. 10, 4. 2 Cor. 8, 9. 1 Cor. 8, 6. In der ersten Stelle nennt der Apostel Christus eine xerpa TrvsujxaTtvfi^ nur sofern er in dem den Israeliten nachfolgenden Felsen nach der allegorischen Deutung, die er ihm gab, einen auf Christus sich beziehenden Typus sah. Diess setzt nicht voraus, dass Christus schon damals existirte. Er be- zieht den Felsen symbolisch auf Christus, wie er auch dem Manna und der Wasserspende in der Wüste eine symbolische Beziehung auf das Abendmahl gab. Die zweite Stelle würde die Idee der Präexistenz nur dann enthalten, wenn dTCTwjj^euds nothwendig heissen müsste: er wurde arm, es kann aber ebenso gut heissen, er war arm: obgleich an sich, seinem Rechte nach reich, lebte er arm. In der Stelle 1 Cor. 8, 6 glaubt man Si' ou xa xavTa ebenso wie i^ ou xa ravTa auf die Weltschöpfung beziehen zu müssen. Es ist möglich, dass sich der Apostel das 7n/sC>|xa in Christus auch als das weltschöpferische Princip dachte, wie soll man sich aber den avöpcoTco; d^ oüpavoO als den Weltschöpfer denken? Aber kann man denn xavTa nicht auch in einem engern Sinne nehmen? Alles, was Christus zur Erlösung und Versöhnung der Menschen gethan hat, betrachtet der Apostel als das von Gott durch Christus Geschehene. Vgl. 2 Cor. 5, 17. 18. Diese Travra Sia 'IrjioO XpidToO sind töc TuavTa Ik toO ÖsoO. Ist nun aber auch 1 Cor. 8, 6 bei den Worten i^ ou toc xavra et; a'iTÖv nicht blos an die Weltschöpfung, sondern auch an alles, was sich auf die Erlösung bezieht, zu denken, welches Bedenken könnte man haben, die unmittelbar daran sich anschliessenden Worte hl* ou u. s. w. nur in demselben Umfang zu nehmen, in welchem 2 Cor. 5, 18 xdcvTa, d. h. alles, was sich auf die Erlösung und Versöhnung bezieht, von Gott hix 'Ir.Too XpicTOu gewirkt wird? Die Stelle wäre die einzige, in welcher der Apostel Christus die Wellschöpfung zuschreiben würde. So

Baur, nentest. Theol. \o

1Ö4 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

wenig sich diess genauer bestimmen lässt, so entschieden ist dagegen zu behaupten, dass er Christus nie Gott im absoluten Sinne nennt. Noch immer wollen zwar Viele die Doxologie Rom. 9,5 nicht auf Gott, sondern auf Christus beziehen. Wie sollte aber der Apostel, der sonst immer die absolute Erhabenheit Gottes über alles so stark hervorhebt, der Christus so bestimmt Gott unterordnet und ihn ausdrücklich Mensch nennt, ihn hier auf diese doxologische Weise prädicirt haben? Man kann nicht sagen, im Gegensatz zu xaxa orapxa müsse hier auch eine höhere Aussage von Christus stehen; der Apostel will hier nur von der nationalen Abstammung des Messias reden. Erwägt man, wie der Apostel hier alle den Israeliten gewordenen göttlichen Wohl- thaten und Vorzüge zusammenfassl, so muss man es sehr natür- lich finden, dass er bei dem Höchsten, das noch hinzukam, dem Messias, als dem Nachkommen der Väter, sein lobpreisendes Dankgefühl ausdrückt, er sieht darin einen Beweis der göttlichen Gnade, der für die Israeliten nie aufhören könne, Gegenstand dankbarer Lobpreisung zu sein. Überhaupt erscheint das Ver- hältniss, in das der Apostel Christus zu Gott setzt, durchaus als ein Verhältniss der Unterordnung, wie diess ja auch 1 Cor. 10,3 ausgesprochen ist, wo man nicht zwischen einer göttlichen und menschlichen Natur unterscheiden kann, da der Apostel von dem ganzen Christus mit dem vollen Begriff seiner Persönlichkeit spricht. Die Christologie hat so zwar in der Darstellung des Apostels noch nicht den Punkt erreicht, auf welchen sie erst in der Folge noch erhoben worden ist, Christus ist noch wesentlich Mensch, nicht Gott; aus der bisherigen Entwicklung ergibt sich aber nicht nur, welche hohe Vorstellung er von der Person Christi hat, sondern auch, in welchem entsprechenden Verhältniss beides zu einander steht, das, was er ist und das was er gethan hat, wie er nur als der, der er ist, das vollbringen konnte, was durch Ihn zur Rechtfertigung des Menschen und seiner Versöhnung mit Gott geschehen ist. Der Apostel war es zuerst, welcher das

Paulin. Lehrbegriff. Christologie. i95

Chrislenthum als ein neues, weit über die Grenzen der alttesla- mentlichen Offenbarung hinausgehendes Princip auffassle und seine Bedeutung darin erkannte, nicht nur der Menschheit den allein möglichen Weg des Heils in der Rechtfertigung durch den Glauben zu eröffnen, sondern sie auch auf die Stufe des geistigen Seins zu erheben, zu welcher sie durch die göttliche Weltord-? nung bestimmt ist. In derselben Stelle, in welcher er von Christus sagt, dass er der Geist sei, nennt er das Christenthum die >caivn ^taOyi/.in und alle Gegensätze, durch die er den Unter- schied der neuen Sia8r,xr, von der alten bestimmt, zwischen dem tödtenden Buchstaben und dem lebendig machenden Geist, dem öxvxTo; und der ycaraxpwi? auf der einen und der ^ixawTuvr, iv ^oEy) auf der andern Seite, dem verhüllenden Schleier, der auf der alten liegt und der lichten Klarheit der neuen, vereinigen sich in dem Salze, dass der Herr der Geist ist und wo der Geist des Herrn ist, auch Freiheit ist. Es ist die Freiheit des Geistes, vor dessen Bewusstsein nichts dunkel und verhüllt bleiben kann, sondern alles aufgehellt und aufgeschlossen werden muss.

Je höher die Vorstellung des Apostels von der Person Christi ist, um so mehr hängt an ihr seine ganze Auffassung des Christen- thums. Wie er überhaupt das Christenthum unter den Gesichts- punkt der religionsgeschichtlichen Betrachtung stellt, so fasst er auch die Entwicklung des christlichen Princips nicht blos im Leben des Einzelnen in's Auge, sondern ganz besonders auch im grossen Gange der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die in seiner Anschauung nichts anderes ist als die Geschichte der Person Christi selbst nach der Reihe der einzelnen Momente, die sich in ihr von seiner irdischen Geburt an bis zur höchsten Spitze seines übersinnlichen Seins unterscheiden lassen. Daher hängt alles, was noch zur Lehre des Apostels gehört, mit bestimmten Thatsachen der Geschichte Christi zusammen.

Nachdem der von den Propheten vorher verkündigte Sohn Gottes als Yev6(it.evo? ex CTcepfjuxTOi AaßlS, und als Y£v6{xevog ix.

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196 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Yuvai)tö;, und ysv6;j.svo? Otto voaov zu der dazu bestimmten Zeit C^TS '^>.6s To 7rX7ipü)u,a toO j^o'^o^j, Gal. 4, 4) in die Weltgeschichte eingetreten war, und nachdem er durch seinen Tod das voll- bracht hatte, was vor allem zur Erlösung der Menschen von dem Fluch des Gesetzes geschehen musste, war es die grosse That- sache seiner Auferstehung vom Tode, durch welche die neue mit ihm beginnende Weltperiode eröffnet wurde. Sie ist der Wendepunkt, in welchem die beiden Perioden, in welche der ganze Weltverlauf sich theilt, sich von einander scheiden. Auf die Feststellung und Beglaubigung dieser Thatsache durch die urkundlichsten Zeugnisse legt der Apostel das grösste Gewicht, da auf ihr die ganze Predigt des Evangeliums, der Glaube der Christen und die Realität alles dessen beruht, was zum Inhalt des christlichen Bewusstseins gehört, 1 Cor. 15, 1 f. Wie Christus nicht hätte auferstehen können, wenn eine Auferstehung der Todten nicht an sich möglich wäre, so ist auch durch die Auf- erstehung Christi erst für die Menschheit die Auferstehung zur thatsächlichen Wahrheit geworden, in ihr hat zuerst das durch Christus in die Menschheit eingetretene Lebensprincip in seinen auf die ganze Menschheit sich erstreckenden Wir- kungen sich zu äussern angefangen. Nachdem durch einen Menschen der Tod gekommen, so kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung, wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle auferstehen. Obgleich, so betrachtet, die Auf- erstehung dem Apostel nur eine Thatsache der christlichen Offen- barung ist, so lässt er es sich doch sehr angelegen sein, sie als eine dem natürlichen Bewusstsein einleuchtende Wahrheit dar- zustellen, und sie mit der allgemeinen Anschauungsweise in Einklang zu bringen. Indem er ihre Möglichkeit zu zeigen sucht, 1 Cor. 15, 35 f., stützt er sich auf folgende Gründe: 1) Die Natur zeigt uns ganz analoge Erscheinungen, Veränderungen, bei welchen Tod und Verwesung nur ein Accidens des sich gleich bleibenden, nur mit einem neuen Leibe sich bekleidenden sub-

Paalin. Lehrbegriff, Christologie, 197

slanziellen Lebens sind. Das Samenkorn, wie es sowohl stirbt als wieder auflebt, ist das natürliche Bild der Auferstehung, V. 36— 38. 2) Die Natur zeigt uns eine so grosse Mannigfaltig- keit und Verschiedenheit von Körpern oder Wesen, sowohl min- der vollkommenen als solchen, die einen weit höhern Grad von Vollkommenheit haben, dass daraus zu schliessen ist, auch der Mensch könne nicht blos eine sterbliche, sondern auch eine un- sterbliche Natur haben, V. 39 43. 3) Wie die beiden Elemente des menschlichen Wesens 4"JX?^ und TTveOfü-a sind, die ^}^u)(Tn in dem Sinne, in welchem sie auch die TapE in sich begreift, so dass Adam und Christus der erste und zweite, der irdische und himmlische Mensch die beiden Principien, deren Gegensatz im Menschen als Einheit ist, in sich darstellen, so kann das Ver- hältniss des gegenwärtigen Lebeng zum künftigen nur als der Fortgang vom psychischen Leben zum pneumatischen gedacht werden, V. 45 f. Bei diesem letztern Argument besonders fällt von selbst in die Augen, dass es mehr beweist, als bewiesen werden soll. Verhalten sich Adam und Christus wie <j^uj(r, und 7r»»sG[jLa, warum soll das pneumatische Princip, das durch Christus in die Menschheit gekommen ist, erst mit der künftigen Aufer- stehung des Leibes in seine Herrschaft eintreten, dann erst seine Wirksamkeit äussern? man sieht nicht, warum das durch Christus der Menschheit mitgetheilte höhere geistige Leben nur auf den Leib bezogen wird. Der Gegensatz ist ja : wie die Menschheit in ihrer ersten Periode die psychische, sinnliche, fleischliche, der Sünde unterliegende Seite ihres Wesens an sich darstellt, so ist dagegen in der zweiten das geistige Princip das vorherr- schende, das das ganze Denken, Wollen und Thun des Menschen bestimmende. Wenn der pneumatische Charakter des Christen- tbums schlechthin in die Auferstehung Christi gesetzt wird, so ist es freilich consequent, auch bei den Christen die Auferstehung des Leibs aus demselben Gesichtspunkt zu betrachten. Aber die Auferstehung kann nur die Vollendung und die am Leibe sich

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manifestirende Wirkung dessen sein, was zuvor schon durch das christliche Princip in's Leben getreten ist. In der Auferstehung ist nur der Punkt fixirt, in welchem das durch Christus geweckte geistige Leben zu seinem realsten Ausdruck kommt und in der concretesten Anschauung sich darstellt. Der Leib ist der Träger, die Anschauungsform für die ganze Persönlichkeit des Menschen, und Tod und Auferstehung sind die beiden Seiten des mensch- lichen Wesens, die, so verschieden auch ihr Verhältniss ist, nie von einander getrennt werden können und daher auch zeitlich nicht so. geschieden sind, wie der Apostel es darstellt. Wie die Menschen nicht blos von Adam bis Christus starben, sondern auch jetzt noch sterben, wie es ja auch V. 22 nicht aTreOavov heisst, sondern ä7ro9vin<7xouTi , so ist auch das ^o>o7rotsi<T6at h XpwTtji nicht blos etwas Zukünftiges, sondern Gegenwärtiges, sie stehen auf in dem geistigen Leben, dessen Princip Christus ist. Wie soll man sich auch die Wahrheit des Satzes denken, dass dv Xpi(jTß TravTEi; ^tooTCOirjörjaovTai , wenn diess nur von der leiblichen Auferstehung zu verstehen wäre? Gibt es auch eine Auferstehung der Ungläubigen und Gottlosen, wie kann von ihnen gesagt werden, dass sie iv XpiTTw ^wo7i:oiyiöri<TovTai? Man kann dabei nur an das durch Christus der Menschheit mitgetheilte neue geistige Leben denken, sofern in ihm ein allgemeines Princip, das für alle die gleiche Bedeutung hat, in das Bewusstsein der Menschheit eingetreten ist.

Als der vom Tode Auferweckte ist Christus zur Rechten Gottes, Rom. 8, 34, in der unmittelbarsten Gemeinschaft mit Gott haben wir uns ihn in seinem überirdischen Sein zu denken, aber er bleibt daselbst nicht auf immer, sondern nur bis zu einer bestimmten Epoche, ä.y^i<; ob eXövi 1 Cor. 11, 26. Es ist also von einem Kommen die Rede, das erst noch bevorsteht und als teine wapoucia bezeichnet wird, 1 Cor. 15, 23. Mag diese Pa- tusie früher oder später erfolgen, es kaim auch in der Zwischen- 4Beil das Verhältniss Christi zu den Seinen kein unlebendiges sein.

Paulin. Lehrbegriff. Cb ristologie. 199

'EvT'jyxavet uTtep vifxöv, sagt der Apostel Rom. 8, 34 von Christus in seinem überirdischen Zustand. Er setzt das auf der Erde voll- brachte Werk im Himmel dadurch fort, dass er als unser Für- sprecher und Vermittler bei Gott sich dafür verwendet, den Segen seiner Erlösung uns auch wirklich zu Theil werden zu lassen. Denselben Ausdruck gebraucht der Apostel Rom. 8, 26 vom Geist. Er vertritt uns, indem er das, was still und unbewusst in uns ist, ohne dass wir selbst im Stande sind, es auszusprechen, dem die Herzen prüfenden Gott als Ausdruck eines gottgefälligen Sinnes zu vernehmen gibt. Christus und der Geist sind somit fort und fort dazu thätig, die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen so zu vermitteln, dass alles Hemmende beseitigt wird. Diess ist jedoch nur die rein überirdische Seite seiner Thätigkeit. Wie erweist er sich aber an den Seinen auch in ihrem irdi- schen Sein, da sie durch den Glauben in einer solchen Beziehung zu ihm stehen, dass er auch in seinem überirdischen Zustand einer lebendigen Gemeinschaft mit ihnen nicht entrückt sein kann? Es gehört hieher die dem Apostel besonders eigenthümliche Idee, dass die Christen Glieder des Leibes Christi sind. Dass sie, was sie als Christen sind und sein sollen, nur in der Einheit mit Christus sein können, in ihm allein das substanzielle Princip ihres Seins und Lebens haben, soll dadurch ausgedrückt werden. Sie alle zusammen bilden einen geistigen Leib, der den objectiven Grund seines Seins und Bestehens in Christus hat, sie sind in diesem Sinn ein crwfxa Xowtou, 1 Cor. 12, 27, oder wie der Genitiv XpKjro'j auch genommen werden kann, ein Leib, der •Christus ist, der eben das ist, was Christus ist. Denn, sagt der Apostel 1 Cor. 12, 12, wie der Leib Eins ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, so viele es sind. Ein Leib sind, so verhält es sich auch mit Christus, d. h. mit der christ- lichen Gemeinde, die gleichsam der persönliche Christus selbst ist. Es ist eine Einheit in der Vielheit und das die Vielheit zur Einheit verknüpfende Band ist der Geist. Denn in Einem Geist

Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

sind wir alle zu Einem Leibe getauft worden , seien wir Juden oder Hellenen, Knechte oder Freie, und alle sind wir mit Einem Geiste getränkt worden. Alle also, welche die christliche Taufe empfangen haben, so verschieden sie auch nach ihrer nationalen Abkunft und ihren sonstigen Lebensverhältnissen sein mögen, bilden eine und dieselbe Gemeinschaft, und derselbe in der Taufe mitgetheilte Geist dient allen zur Nahrung und Förderung ihres geistigen Lebens. Wie man nach 1 Cor. 12, 12 durch die Taufe einem Leibe einverleibt wird, der Christus ist, so sagt der Apostel Gal. 3, 27, dass die, die auf Christus getauft werden, Christus anziehen und in ihm alle Eins seien, wer sie auch seien, Juden oder Hellenen, Knechte oder Freie, Männer oder Weiber. Christum anziehen heisst wesentlich eins mit ihm werden, wie man aber mit ihm eins wird, sagt der Apostel Rom. 6, 3 f., die auf Christus getauft werden, werden auf seinen Tod getauft. Sie werden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit wie Christus auferweckt worden ist von den Todten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch sie in einer neuen Beschaffen- heit des Lebens wandeln; denn wie sie der Ähnlichkeit nach mit seinem Tode zusammengewachsen sind, so werden sie es auch mit seiner Auferstehung sein. Die Taufe stellt als Untertauchung Beides in sich dar, Tod und Auferstehung. Es muss also in jedem, der in lebendiger Gemeinschaft mit Christus stehen will, derselbe Process des Todes und Lebens, der sich uns in der Person Christi darstellt, sich wiederholen, er muss sterben und auferstehen, der Sünde absterben und der Gerechtigkeit leben.

Mit der Taufe nennt der Apostel 1 Cor. 10, 1 f. das Abend- mahl zusammen. Beide sind gleich wesentliche Elemente der christlichen Gemeinschaft, beide begreifen auf gleiche Weise das in sich, was zum eigenthümlichen Charakter und Vorzug der- selben gehört, beide haben daher auch ihr Vorbild schon in der alttestamentlichen OfTenbarungsgeschichte. Eine geistige Speise assen die Israeliten und einen geistigen Trank tranken sie, so-

Paalin. Lehrbegriff. Tanfe nnd Abendmahl. 801

fern die darauf sich beziehenden alttestamentlichen Begebenheiten durch die allegorische Schrifterklärung diese geistige oder typi- sche, symbolische Bedeutung erhalten. Man kann daher aus dem Ausdruck 7cv£U{7.aTt>t6; , der hier ebenso zu nehmen ist, wie Apok. 11, 8, nicht mit Rückert schliessen, der Apostel habe sich im Abendmahl einen verklärten Leib Christi gedacht. Wie die Taufe jeden in eine gleichsam persönliche Beziehung und Lebens- gemeinschaft zu Christus setzt, so betrachtet der Apostel auch das Abendmahl aus demselben Gesichtspunkte. Er nennt 1 Cor. 10, 16 den Kelch eine Gemeinschaft des Blutes Christi und das Brod eine Gemeinschaft seines Leibes. Durch den Genuss von Brod und Wein nimmt man Theii am Leib und Blut Christi; heisst diess aber, man esse in dem Brode den wirklichen Leib Christi und trinke im Wein sein wirkliches Blut? Diess ist so wenig der Fall, dass der Apostel unter TöjAa XokjtoO nicht einmal den wirk- lichen Leib Christi selbst zu verstehen scheint. Denn, wenn der Apostel zur Erklärung der xotviovia toO orw^AaTo; XpwToO sagt: weil es Ein Brod ist, sind wir, obgleich wir viele sind, Ein Leib, denn wir alle nehmen ja an dem Einen Brode Theil, so ist der Leib, dessen Einheit in der Einheit des Brodes sich darstellt, die Gemeinde, und wenn man, sofern man an dem Einen Brode Theil nimmt, auch an der Einheit des Leibs Theil hat, so ist die durch das Brod vermittelte xoivwvia toO (Twj^-aTo? XpiGToO die Gemeinschaft, die jeder, der das Brod bricht, mit der Gemeinde, als dem (röjxa Xpicrou hat. Die Bedeutung des Abendmahls be- stände demnach, so betrachtet, darin, dass man sich in ihm bewusst wird, dem in der Gemeinde der Glaubigen bestehenden Leibe Christi als Glied desselben anzugehören. Schon insofern ist das Abendmahl eine Vergegenwärtigung Christi, man sieht in seiner Gemeinde, als dem Leibe Christi, ihn selbst vor sich. Es ist, wie wenn der Apostel, indem er das cröaa XpwToO in diesem Sinne nimmt, sich dadurch erklären wollte, wie Jesus in den Einsetzungsworten von dem Brod als seinem Leibe habe reden

903 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

können. Sprach er aber einmal, auch nur in diesem Sinne, von seinem Leibe, so musste sich mit seinem Leib auch die Vorstel- lung des Todes verknüpfen. Wie Jesus in den Einsetzungsworten nicht blos von seinem Leibe, sondern auch seinem Blute sprach, so ist die /.otvwvia toO atojxaTO? auch eine xoivwvia toO atfAaTO?. Man kann in seiner Gemeinde seinen Leib nicht anschauen, ohne auch daran zu denken, dass er für sie gestorben ist. Daher ist die Feier des Abendniahls, wie es ja auch im Momente seines Todes gestiftet ist, eine Verkündigung seines Todes. Wie schon dadurch bei jeder Feier das Andenken an ihn erneuert wird, so sollte das Abendmahl selbst für den Zweck der äva[ji,v]ri<nc gestiftet worden sein, und die Bedeutung dieser ävajxvr,<7i; wird näher da- durch bestimmt, dass man durch das Essen des Brodes und das Trinken des' Kelchs den Tod des Herrn solange verkündigen sollte, bis er komme. Man feierte also das Abendmahl mit dem Gedanken an die Parusie, die Wiederkunft des Herrn, verkün- digte nicht blos den Tod, durch welchen er aus einem Gegen- wärtigen ein Abwesender geworden war, sondern dachte sich ihn auch als den einst wieder Kommenden und Gegenwärtigen, und das Abendmahl hatte so seine unmittelbarste und reellste Bedeutung für diese Zwischenzeit zwischen dem Tod und der Parusie, man hatte in dem Brod als seinem Leib und dem Wein als seinem Blut einen Ersatz für seine Abwesenheit, sah ihn selbst leiblich und sichtbar vor sich, es war als äva[jLv/)<ii? nicht blos eine Erinnerung an den Abwesenden, sondern auch eine Vergegenwärtigung desselben, ein sichtbares Unterpfand seines Wiederkommens. yw» ;••.' 'Wn .1»

Christus kommt also wieder, aber wann? Der Apostel scheint ganz den Glauben der ältesten Christen an die Nähe der Parusie Christi zu theilen. Wie er das Hauptmoment der Er- scheinung Christi in seine Auferstehung setzt und in den zur Thatsache gewordenen Sieg des Lebens über den Tod, so muss sich dasselbe Princip, das in ihm zuerst in seiner vollen Energie

Paulin. Lchibegriff. Parusie Ch rist i. 203

hervorgetreten ist, auch an denen bethätigen, die mit ihm zu derselben Gemeinschaft gehören. Die Parusie ist daher der Zeil- punkt der Auferstehung 1 Cor. 15, 23. Damit verbindet der Apostel die eigene Vorstellung, dass die, die diese Katastrophe erleben, werden verwandelt werden, 1 Cor. 15, 51. Sie müssen verwandelt werden, weil auch in ihnen der Tod überwunden und das Sterbliche zum Unsterblichen aufgehoben werden muss, wenn sie dasselbe Leben, zu welchem die Auferweckten durch die Auferstehung eingehen, mit ihnen Iheilen sollen. Ernennt diess ein [Aucrr'piov, etwas sehr Bedeutungsvolles, woran man bisher noch nicht gedacht habe, es ist jedoch nur die natürliche Folgerung aus dem zuvor Gesagten. Dass er die Parusie als ein Ereigniss betrachtet, welche er mit seinen damals lebenden Zeit- genossen noch selbst erleben werde, sagt er deutlich genug, wenn er im Unterschied von denen, welche gestorben sind, sagt:

Mit der Parusie Christi ist der Punkt gegeben, von welchem aus die Eschatologie in der Reihe ihrer Momente sich entwickelt. Wie sie auf die Auferstehung Christi folgt, und ihre wesent- lichste Bedeutung in der Auferstehung der glaubigen Christen hat, so folgt auf sie noch das Ende, an welchem die mit der Auferstehung Christi beginnende Negation des Todes vollendet ist. Am Ende des ganzen gegenwärtigen Weltlaufs übergibt sodann Christus die Herrschaft Gott dem Vater, und unterwirft sich dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem, 1 Cor. 15, 24 28. Die ganze Welt- und Menschen- geschichte wird als der Antagonismus zweier Principien aufge- fasst, von welchen das eine zuerst zu seiner Herrschaft gelangt, bis es von dem andern bekämpft, überwunden und völlig aufge- hoben ist. Das erste dieser Principien ist der Tod, mit ihm be- ginnt die Wellgeschichte, und ihr Ende hat sie, wenn der Tod und mit ihm der ganze Gegensatz, dessen Entwicklung der Ver- lauf der Weltgeschichte ist, aus ihr wieder verschwunden ist.

804 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

Um die Macht des Princips des Todes zu brechen , erschien Christus zu der ihm bestimmten Zeit, als der Sohn Gottes. Gott hat ihn aus sich herausgestellt, er geht in ihm gleichsam selbst in den Process der Weltgeschichte ein, und unterwirft sich in ihm der Endlichkeit der von dem Princip des Todes beherrschten Welt, damit in dem Endlichen das Princip der Unendlichkeit auf- gehe, aus der Welt des Todes die Welt des Lebens hervorbreche. Gebrochen ist zwar die Macht des Princips des Todes schon durch die Auferstehung Christi, solange aber die Weltgeschichte noch ihren Verlauf hat, ist das Princip des Lebens noch nicht zu seiner Herrschaft hindurchgedrungen. Es geschieht diess erst in der künftigen Welt, in welcher in dem vollendeten Sieg des Lebens über den Tod aller Kampf ausgekämpft, aller Gegensatz verschwunden ist, und der über allen stehende absolute Gott aus dem geschichtlichen Process, in welchem er die von ihm ge- schaffene Welt sich gegenübergestellt hat, alles, was ihm an- gehört, in sich selbst zurücknimmt, um es in der ewigen Einheit seines Wesens mit sich zusammenzuschliessen. Ist der Gegen- satz der beiden Principien, des Todes und des Lebens zur Einheit aufgehoben > so kann auch der mit dem Princip des Lebens identische Christus nicht mehr ausser Gott, sondern nur in Gott sein. Hat der Gegensalz zwischen Gott und der Welt sein Ende erreicht, so ist kein Vermittler mehr nöthig. Das Vergängliche hat angezogen die Unvergänglichkeit, das Sterbliche die Un- sterblichkeit. Zuletzt ist Gott alles in allem. Wie ist aber diess zu verstehen, begreift es auch das endliche Aufhören des Bösen durch die Bekehrung der Gottlosen und des Teufels in sich? Der Inhalt und Ausdruck der Stelle, wie namentlich auch das Bild Tiöivai im Tou; Tuo^a; scheint mehr auf eine äussere Entwaffnung als auf innere Überwindung des Bösen hinzudeuten. Aber welcher Unterschied ist es, ob die bösen Mächte noch fortexistiren , aber bis zur völligen Unmacht entkräftet, oder ob sie zuletzt selbst von der alles durchdringenden Macht des Guten angezogen wer-

Paulin. Lehrbegr jff. Lehre von Gott. 205

den? Ist dem Tode der letsste Stachel genommen, so sollte man meinen , dass es keine ewige Verdammniss geben kann.

Von selbst schliesst sich hier noch die Lehre des Apostels von Gott an. Wie das Resultat der ganzen Weltentwicklung darin besteht, dass Gott alles in allem ist, so ist dem Apostel eben diess auch der leitende Gesichtspunkt, unter welchen er alles stellt. Alles, was er zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, hat für ihn immer wieder eine wesentliche Beziehung auf Gott, und je mehr er sich bemüht, eine Sache nach ihren verschiedenen Seiten aufzufassen und in dem ganzen Zusammen- hang ihrer Momente darzulegen, desto mehr drängt es ihn, in letzter Beziehung zur absoluten Idee Gottes aufzusteigen , und seine Betrachtung in ihr als ihrer Spitze abzuschliessen. Wie von Gott alles ausgehl, so ist auf ihn alles zurückzuführen. Der Eine Gott ist der Vater, ic, oL xx ravxa xai vijj-sT; et; aÜTOv 1 Cor. 8, 6, oder, wie er Rom. H, 36 noch umfassender sagt, i^ a'JToO, xal Si' aÜToO, xal ei? aÜTov ra -rravTa, alles geht von ihm aus, alles wird durch ihn realisirt, alles hat in ihm seinen höch- sten Endzweck. In dieser Richtung auf die Eine alles bedingende Causalität Gottes ist es das Bestreben des Apostels, die Idee Got- tes in ihrer reinen Absolutheit aufzufassen und alles Particulari- stische. Beschränkte und Endliche von ihr auszuschliessen. Auf dieser Auffassung der Idee Gottes beruht der Universalismus des Apostels, wie er diess in dem Satz ausspricht, dass Gott sowohl der Heiden als der Juden Gott sei. Rom. 2, 11. 3, 29. 10, 12. Das Christenthum ist selbst nichts anderes, als die Aufhebung alles Particularistischen , damit die reine absolute Gottes-Idee in der Menschheit sich verwirkliche, oder in ihr zum Bewusst- sein komme. In die allgemeine Verbreitung der wahren Er- kenntniss Gottes setzt daher der Apostel die Aufgabe des Chri- stenthums selbst. 2 Cor. 2, 14. Wie die Rechtfertigung durch den Glauben darauf beruht, dass Gott nicht blos der Juden, son- dern auch der Heiden Gott, also Gott im absoluten Sinn ist, so

^06 Zweiter Abschnitt." Erste Periode,

hat sich Gott auch schon von Anfang an den Heiden geoffenbart, es gehört also überhaupt zum Wesen Gottes, sich zu ofFenbaren; aber das an sich unsichtbare Wesen Gottes wird nicht unmittel- bar offenbar, sondern nur mittelbar, nur auf dem Wege der denkenden Betrachtung erkennt man Gott aus den Werken der Natur, Rom. 1, 19. Die Haupteigenschaft Gottes ist die All- macht , als die Eigenschaft , durch welche Gott das Nichtseiende in's Dasein ruft, Rom. 4, 17. Ein Werk seiner Allmacht ist auch das Christenthum , als geistige Schöpfung, es ist auch eine Lichtschöpfung wie die Schöpfung der Welt, 2 Cor. 4, 6. Die wichtigste Thatsache, auf welcher das ganze Christenthum be- ruht, die Auferweckung Jesu, ist ein gleicher Akt seiner All- macht, Rom. 4, 17. Der Allmacht Gottes steht zunächst seine Liebe, denn nur die Liebe kann die letzte und höchste Ursache sein , auf welche das ganze von Gott beschlossene und veran- staltete Werk der Erlösung zurückzuführen ist, Rom. 5, 8. 8, 39. 2 Cor. 13, 13. Die Liebe aber kann sich nicht äussern, ohne dass auch der Gerechtigkeit Gottes Genüge geschieht, als der Eigenschaft, durch welche zwischen Gott und den Menschen das der Idee Gottes adäquate Verhältniss bewirkt werden muss. Das Christenthum ist selbst eine Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, Rom. 1, 17. Ist der Gerechtigkeit Gottes Genüge ge- sehen , so wird seine Liebe in der Vergebung der Sünden zur Gnade. Den höchsten Inhalt des christlichen Gottesbewusstseins legt der Apostel in die Bezeichnung Gottes als des Vaters Jesu Christi. Die beiden Begriffe Vater und Sohn beziehen sich bei dem ApQstel nicht auf ein inneres Verhältniss im Wesen Gottes selbst. Sohn Gottes heisst Jesus nur in Beziehung auf das Werk der Erlösung. Gott, Christus und der heilige Geist bilden zwar eine Trias, 2 Cor. 13, 13, aber keine abstract metaphysische, sondern nur für das concrete christliche Bewusslsein. Die Gnade steht voran, weil das Hauptmoment des christlichen Bewusst- seins die durch Christus erworbene Sündenvergebung ist, das

Panlin. Lehrhegriff. Lehre von Gott. Apokalypse. 207

Princip der Gnade ist die Liebe, und das Princip, das die, wel- chen die Gnade Christi und die Liebe Gottes zu Theil geworden ist, zur Gemeinschaft verbindet, ist der heil. Geist. In Bezie- hung auf das Wesen Gottes selbst spricht der Apostel nicht vom heiligen Geist, sondern vom Geist Gottes 1 Cor. 2, 10. Er unter- scheidet von Gott und dem Wesen Gottes an sich den Geist Got- tes als das Princip des Selbstbewusstscins und der Persönlichkeit Gottes. Wie der Geist des Menschen ist der Geist Gottes das Princip des Wissens.

2. Der Lehrbegriff der Apokalypse.

Wie der paulinische Lehrbegriff sich am weitesten vom Ju- denthum entfernt und sogar in bestimmtem Gegensatz zu dem- selben steht, so schliesst sich dagegen der der Apokalypse um so näher und unmittelbarer an das Judenthum an. Nur ist es nicht das gesetzliche mosaische Judenthum , sondern das selbst schon geistigere Elemente enthaltende prophetische, das hier in einer eigenthümlichen Verbindung mit dem Christenthum er- scheint.

Wie die Propheten des alten Testaments ganz in der An-r schauung des kommenden Messias lebten und mit begeistertem Blick dieses Ziel der Theokralie vor sich sahen , so bewegt sich auch bei dem Apokalyptiker alles um die Zukunft des Messias, in den Gedanken der schon in der nächsten Zeit erfolgenden Parusie Christi geht sein ganzes christliches Bewusstsein auf. Dass der Herr kommt, dass er in kürzester Frist kommt, dass schon jetzt in der Gegenwart alles zur Vollendung der letzten Dinge sich anschickt, ist das prophetische Wort, das durch die ganze Apokalypse hindurch erschallt. Alle wahre Christen sind dem Apokalyptiker als solche auch Propheten. Wahre Christen sind die, welche die {Aap-rjpia toO 'Ir^oO haben. Diese selbst aber besteht darin, dass man mit seinem ganzen Denken und Wollen auf die Parusie Christi gerichtet ist. In demselben Ver-

208 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

hältniss, in welchem das Bewusstsein des Christen im Gedanken an die Parusie von der Zukunft erfüllt ist, hat er auch den Geist der Prophetie in sich, Apok. 19, 10. Die dogmatische Grund- anschauung der Apokalypse ist das Reich Christi, wie es durch die ganze mit der Parusie verbundene Katastrophe in dem himm- lischen Jerusalem sich verwirklicht. Die Zeit der Erndte ist da, Apok. 14, 15, sobald die Zahl der vollendeten Heiligen voll ge- worden ist, 6, 11. 14, 3. 15, 2. Nach einer Reihe von Plagen, welche das Judenthum zu seinem Heil H, 13, das Heidenthum aber zu seinem Verderben getroffen und insbesondere die grosse Hure Babylon , d. h. Rom, als den Mittelpunkt des abgöttischen Heidenthums von der Erde vertilgt haben, öffnet sich der Him- mel, der Xoyo; toj ösoO kommt mit einem Schwert im Munde herab, 19, 11 f. Er führt Krieg mit dem Antichrist und seinem Propheten , lässt beide lebendig in den Schwefelpfuhl werfen undvernichtet ihre Anbeter, die Vögel des Himmels werden zu dem grossen Mahle Gottes berufen, 19, 17 und verzehren das Fleisch der getödteten Verfolger, der Satan aber wird auf tau- send .Jahre in der Hölle gefangen gesetzt, während die Märtyrer auferstehen , 20, 4 f., das Hochzeitmahl des Lammes und der Braut beginnt, 19, 7. und jene mit Christus tausend Jahre in Jerusalem herrschen, 20, 5 f. vgl. 11, 1. Nach Ablauf dieser Zeit erfolgt ein zweiter Angriff des wieder frei gewordenen Satans, der aber mit dessen Sturz in den Schwefelpfuhl endigt, und nun beginnt Gott das allgemeine Weltgericht, in das wahr- scheinlich die der ersten Auferstehung Gewürdigten nicht kom- men. Nachdem jeder streng nach seinen Werken gerichtet und mit den Bösen auch die letzten Feinde Tod und Hades in's ewige Verderben hinabgestossen sind, nehmen Himmel und Erde eine neue Gestalt an, 21, 1 f. Die heilige Stadt, das neue Jerusa- lem steigt vom Himmel herab, zubereitet wie eine für ihren Bräutigam geschmückte Braut. Die Grösse und Herrlichkeit die- ser Gottesstadt wird mit der sinnlichsten Anschaulichkeit geschil-

Lehrbegriff der Apokalypse. 209

dert. Gold, Perlen und Edelsteine sind das Material, aus wel- chem sie erbaut ist. Ein Tempel jedoch ist nicht in ihr, denn Gott der Herr, der Allmächtige, ist ihr Tempel und das Lamm. Und die Stadt bedarf nicht der Sonne, noch des Mondes; dass sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Leuchte ist das Lamm. Ihre Bewohner sind nur die, die aufgeschrieben sind im Lebensbuche des Lammes. Ein Strom von Lebenswasser geht vom Throne Gottes und des Lammes aus und auf beiden Seiten des Stroms steht der Baum des Lebens. Es fragt sich, wie wir diese Schilderung der künftigen Seligkeit und der Vollendung des Reichs Christi zu nehmen ha- ben? Es lässt sich nicht läugnen, dass das apokalyptische Reich Christi tief unter der von Jesu aufgestellten sittlichen Idee der ßaTiXsia Töv oüpavtov steht. Der Apokalyptiker lehrt nicht nur chiliastisch ein irdisches Reich Christi, auch der auf dieses Reich folgende Zustand der Vollendung und Seligkeit ist nur ein irdisch- himmlischer. Eine Vollendung im Himmel kennt der Apoka- lyptiker nicht, das Himmlische ist ihm immer zugleich ein Irdi- sches, das Jenseitige ein Disseitiges. Auf das tausendjährige Reich, das nur eine vermittelnde Bedeutung haben kann und nur den Übergang macht, kann nichts Anderes folgen als das Letzte. Wozu würde ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen werden , wenn auch sie wieder verschwinden und nur für eine Zwischenperiode bestimmt sein sollten? Auch die letzte Vollen- dung und der in alle Ewigkeit dauernde Zustand der Seligkeit kann in der Anschauung der Apokalypse nur auf dem materiellen Boden der endlichen, wenn auch himmlisch verklärten Erde stattfinden. Es kann daher nicht anders sein, als dass das Ab- solute der Idee sich in inadäquate sich selbst widersprechende Vorstellungen auflöst. Wie der Apokalyptiker die Seligkeit sei- nes neuen Jerusalems nur mit altteslamentlichen aus den Schrif- ten der Propheten entlehnten Bildern schildern kann, in welchen an die Stelle des neuen Jerusalems immer wieder das alte tritt,

Baur. nentest. Theol. *4

!S10 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

SO kann sich er auch da, wo er sich auf den höchsten Standpunkt erhebt, nie seines alttestamenllichen Particularismus entschla- gen. Vgl. 21, 24. 22, 2.

Man hat die Apokalypse schon oft wegen ihrer sinnlichen Vorstellungsweise zu vertheidigen gesucht. Was hilft es aber, wenn z.B. Storr, Neue Apologie der Off. Joh. S.408, sagt: So wenig Christus einen irdischen , erst zur Unverweslichkeit rei- fenden Leib hat, so wenig ist man berechtigt , den Märtyrern, die mit ihm leben , einen solchen Leib zuzuschreiben. So wenig die Glaubigen, die in dem neuen Jerusalem Gott und Christo als Priester dienen, und mit ihm in Ewigkeit herrschen, ein irdi- sches Leben führen, so wenig darf man den auferstandenen Märtyrern, die tausend Jahre früher mit Christo regieren, ein irdisches Leben aufdringen, oder sie auf diese Erde herabsetzen, die während der tausend Jahre noch irdische, verführbare, sterb- liche Bewohner hat. Wer wollte die Märtyrer mit ihren verklär- ten Leibern, und Christus selbst, mit dem sie regieren sollen, während der tausend Jahre auf die Erde versetzen? Freilich bringe es der ganze Plan des Buchs mit sich, dass während der tausend Jahre Gott und Christus die Erde beherrscht, wie er sie zuvor nicht beherrscht hat, dass sein Einfluss ä\if die Welt sicht- barer sei , als zuvor. Aber herrscht Christus gegenwärtig nicht über die Erde, weil er sich nicht sichtbar bei uns aufhält? Kann sein Einfluss nicht allgemeiner und offenbarer werden, ohne dass er selbst auf dieser Erde mit Augen gesehen wird? Soll sich denn auch Gott in den tausend Jahren sichtbar auf der Erde auf- halten? Die Apokalypse sagt kein Wort davon, dass Chri- stus und die Märtyrer sichtbar auf der Erde wohnen und nach Art der Könige dieser Welt irdischen Glanz und irdische Hoheit zeigen werden u. s. w.

Alles diess ist eine ganz vergebliche Apologie. Wie lässt sich denn gegen den klaren Sinn dieser Darstellung läugnen, dass die Erde der Schauplatz der künftigen Seligkeit und Herr-

Lehrbegriff der Apokalypse. 2tt

lichkeit ist? Man könnte nur sagen, da so viele Züge offenbar einen bildlichen Sinn haben, so könne die ganze Darstellung nur als eine bildliche genommen werden. Welche abstracto Vorstellung bliebe aber am Ende zurück, wenn alles Concreto nur zur bildlichen Darstellung zu rechnen wäre! Weit richtiger fragt man, ob denn die Apokalypse, wenn wir sie mit den übri- gen neutestamentlichen Schriften vergleichen, mit ihrer sinn- lichen Vorstellungsweise so allein steht. Welcher grosse Un- terschied ist es, ob ein solcher transcendenter Zustand, wie der Zustand der Seligen überhaupt nach der Lehre des neuen Testa- ments ist, in den Himmel oder auf die himmlisch verklärte Erde versetzt wird? Hält man auch den Begriff der leiblichen Auf- erstehung fest, wie kann man sich die Leiber der Auferstandenen denken , ohne eine denselben entsprechende materielle Umge- bung? Es ist demnach kein specifischer, sondern nur ein gra- dueller Unterschied zwischen der Apokalypse und den übrigen Schriften des neuen Testaments und sie hat nur das Eigene, dass sie die Vorstellung der künftigen Dinge mit der concretesten Anschaulichkeit ausgemalt hat. Auch der Apostel Paulus spricht ja von einem obern oder himmlischen Jerusalem als der Mutter der Glaubigen, auch er erwartet die Parusie schon in der näch- sten Zeit, auch er lässt der letzten Katastrophe einen Kampf mit den feindlichen Mächten vorangehen , die von Christus erst bezwungen werden müssen, damit sein Reich zu seiner Vollen- dung kommen kann. Wie hätte sich auch auf dem Standpunkt des christlichen Bewusstseins in einer so transcendenten Region die jüdische Anschauungsweise verläugnen können? Die Phan- tasie, die hier allein dazwischen treten kann, konnte ihre An- schauungen nur aus dem gewohnten Bilder- und Ideenkreise nehmen.

Der Gegensatz, in welchem derApokalyptiker zu dem pau- linischen LehrbegrifT steht, tritt erst da hervor, wo man nach den Subjecten fragen mnss, ans welchen die erwählte Gemeinde

14*

2\^ Zwei ter Abschnitt. Zweite Periode.

des neuen Jerusalems besteht. Dem paulinischen Universalismus stellt sich der Particularismus des Apokalyptikers gegenüber. Die Universalität des Christenthums wird zwar so weit aner- kannt , dass er die Christen als Gott geweihte Könige und Prie- ster erkauft werden lässt aus allen Völkern und Nationen , 5, 9. 7, 9, dass er aber die Heiden als ebenbürtige und gleichberech- tigte Bürger des neuen Jerusalems betrachtet habe, kann nicht behauptet werden. K. 7, 4 gibt er die Zahl der versiegelten Diener Gottes zu hundert vier und vierzigtausend an, es sind je zwölftausend aus jedem der zwölf Stämme Israels. Wenn nun auch hier Juden und Heidenchristen zusammenbegriffen sind, und der grosse unzählbare Haufe aus allen Völkern und I^ationen, von welchen V. 9 die Rede ist, von den zuvor ge- nannten Subjecten nicht verschieden ist , sondern mit ihnen zu- sammengehört, so ist doch hier deutlich zu sehen, wie die Heiden nur sofern sie in die israelitische Stammgemeinschaft aufgenom- men werden, zur christlichen Gemeinschaft gehören. Hat die Zwölfzahl der Stämme ihre alte Bedeutung auch für das messia- nische Reich, können die Heiden nur unter diesem Namen Ge- nossen und Bürger desselben werden , so hat das jüdische Volk noch immer das absolute Vorrecht, das Volk Gottes zu sein, und die Heiden stehen nur in einem secundären Verhältniss zu demselben. Das messianische Heil muss für sie erst durch das Judenthum vermittelt werden. Daher sind 21, 12 an den zwölf Thoren des neuen Jerusalems die Namen der zwölf Stämme der Söhne Israels geschrieben. Von der Zwölfzahl der Stämme Israels geht die ganze Grundanschauung aus, das Volk Israel ist der Kern und Stamm der ganzen theokratischen Gemeinde. Zwar gibt es auch Juden, welche das, was sie dem Namen nach sind, nicht wirklich sind, so wenig, dass sie vielmehr eine Synagoge Satans sind , 2, 9. 3, 9, und Jerusalem kann der Strafe für die Kreuzigung des Herrn nicht entgehen. Als die Stadt, in welcher der Herr gekreuzigt worden ist, wird sie gei-

Lehrbegriff der Apokalypse. 213

stig Sodom und Aegypten genannt, welche beide durch ihre Sünden und Gräuel, ihre Gottlosigkeit und Feindschaft gegen Gott gleich berüchtigt sind. Aber auch diese so grosse Sünden- schuld betrachtet der Apokalyptiker aus einem so müden Ge- sichtspunkt , dass selbst dadurch der Anspruch der Juden, das Volk Gottes zu sein, auf keine Weise beeinträchtigt wird. So schonend ist in Vergleichung mit den sonstigen Strafen der Apo- kalypse das Strafgericht über Jerusalem , dass nicht der dritte oder vierte, sondern nur der zehnte Theil der Stadt durch ein Erdbeben 2erstört wird, und nur siebentausend umkommen, die Übrigen aber bekehren sich , wenn auch aus Furcht , doch unter Anerkennung der Gerechtigkeit des göttlichen Gerichts und der Wahrheit des Evangeliums, H, 13, während dagegen in der heidnischen Welt die weit vernichtender wirkenden Strafen im- mer nur die Folge haben, dass die Menschen sich nicht bekeh- ren , und nur noch mehr in ihrem gotteslästerlichen Sinne be- harren. Hiemit gibt der Apokalyptiker deutlich zu verstehen, dass es nach seiner Ansicht dem Heidenthum an sich an einem für das Göttliche empfänglichen Sinne fehlt, das Heidenthum bildet einen in dem allgemeinen Gegensatz del* Prinzicien be- gründeten Gegensalz zum Volk Gottes, darum kommt auch der Antichrist aus der heidnischen Welt und in ihr hat der Satan den eigentlichen Schauplatz seiner gottfeihdlichen Wirksamkeit. Wenn auch alles diess den Apokalyptiker nicht hindert, auch die Heiden in das messianische Reich und in das neue Jerusalem zuzulassen , so liegt doch eine völlige Gleichstellung der Heiden und Juden ausserhalb seines Gesichtskreises. Die Heiden stehen immer nur in der zweiten Ordnung und man weiss nicht , ob, da doch in das neue Jerusalem nur die kommen können , deren Namen im Buche des Lebens geschrieben sind , diese Kategorie . auch auf Heiden ihre volle Anwendung findet. Vgl. 21, 24 27. Die altjüdische Vorstellung , nach welcher das Heidenthum , als der Sitz der Abgötterei, das Unreine und Profane ist, das auf

S14 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

alles, das mit ihm in Berührung kommt, nur einen verunreini- genden Einfluss haben kann, blickt durch seine Anschauungs- weise immer durch. Daher gibt es für den Christen, welcher sich jeder heidnischen Befleckung enthalten soll, keinen verab- scheuungswürdigern Gräuel, als den Genuss von Götzenopfer- fleisch. Vgl. 2, 14. 20. Vergleicht man damit, wie ganz anders der Apostel Paulus hierüber urtheilte, so zeigt sich hier die Dif- ferenz der beiden Standpunkte in ihrer ganzen Weite. In der Ansicht des Apokalyptikers bilden Judenthum und Heidenthum einen zu schroffen Gegensatz, als dass er das etStdXoO'jxa «paYctv auch nur in dem beschränkten Sinn, in welchem der Apostel Paulus es zuliess, für christlich erlaubt hätte halten können. Mit Recht muss man daher fragen, ob auch der Apostel Paulus unter die Apostel gerechnet ist , wenn an die Grundsteine des neuen Jerusalems nur die Namen von zwölf Aposteln geschrieben sind, 21, 14, und ob er einen Apostel, welcher von dem etSwXoOuxa (pocys^v eine so milde Ansicht hatte und es nicht schlechthin ver- dammte, für einen wahren und ächten Apostel halten konnte.

Je grossartiger die Erwartung der mit der Parusie Christi eintretenden Katastrophe ist, um so höher muss auch die Vor- stellung von der Person dessen sein, der durch seine Parusie alles diess herbeiführt. An dem Kommen des Herrn hängt ja alles diess, wer ist also der Kommende? Er ist die Wurzel und das Geschlecht Davids, 22, 16. 5, 5, der hellleuchtende Morgen- stern 22, 16, der Löwe aus dem Stamme Juda 5^ 5, der, der alle Völker mit eisernem Stabe weidet, 2, 27. 12, 5. 19, 15, lauter alttestamentliche Prädikate zur Bezeichnung des Messias; er ist aber auch der treue Zeuge , der Erstgeborne der Todten, der Beherrscher der Könige der Erde, der uns geliebt, und uns in seinem Blute von unsern Sünden gewaschen hat, der, der lebt, ob er gleich todt war, und als der in alle Ewigkeit Lebende die Schlüssel des Todes und der Unterwelt hat, 1, 5. 18, der Richter des Verborgenen, 2, 23, der Herr der Herren und der

Lehrbegriff der Apokalypse. 215

König der Könige, 17, 14. 19, 16. 1, 5, der Treue und Wahr- haftige, der in Gerechtigkeit richtet und Kriege führt, 19, 11, der Mächtige, der mit eiserner Kraft die Widerspensligen nie- derschlägt und den Zorn Gottes ausrichtet, 19, 15. Er wird fer- ner nicht nur in der unmittelbaren Nähe Gottes, als Tuvöpovo; desselben, wie die ao<^ix im Buche der Weisheit, aufgeführt, 21, 22 f. 7, 17. 22, 1, und in ähnlicher Weise, wie Gott selbst verehrt, 5, 11 f. 7, 10 f., sondern er erhält auch Prädikate, welche sich von dem Jehovahnamen nur wie das Abgeleitete von dem Ursprünglichen unterscheiden, wenn er wiederholt 1, 17 f. 2, 8. 22, 13, vgl. 21, 6, das A und das 0, der Erste und der Letzte genannt wird, ja er ist nicht nur der e^^wv eTrra ttvsu- \).xra. ToO öeoO, 3, 1 , sondern auch die xp-^ tR? xtifTsw? toO OsoO, und der Xoyo? toO GsoO, 3, 14. 19, 13.

Dass die Apokalypse dem Messias den Jehovahnamen bei- legt, lässt die Stelle 22, 13 nicht bezweifeln. Er ist hier, wie aus V. 12 und 19 zu sehen, der Sprechende. Von sich sagt er also: Ich bin das A und das 0, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. Alle diese Prädikate sind nur ein anderer Ausdruck für die sonstige Umschreibung des Jehovahnamens durch 6 wv y.cd 6 ■f,v y.xl 6 ip)(0(;-evo?. In demselben Sinne, in welchem Gott der Allherrscher so genannt wird, heisst er auch das A und das 0, der Anfang und das Ende, 1, 8. 21, 6. Der' neue Name, welcher dem Messias 3, 12 gegeben wird, der- selbe Name, von welchem 19, 12 gesagt wird, es kenne ihn niemand, als er selbst, ist der unaussprechliche Jehovahname, von dessen Wirkung nicht nur die spätere rabbinische Theologie, sondern auch schon das Buch Henoch c. 68, 20 f. so viel Wun- derbares zu erzählen weiss. Dafür spricht auch die eigenthüm- liche Verbindung, in welche 3, 12 der Name des Messias mit dem Namen der Auserwählten und des neuen Jerusalems ge- bracht ist. Eine alte talmudische Tradition lehrt, dass drei Dinge mit dem Gottesnamen benannt werden, die Gerechten, der Mes-

816 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode,

Sias , und Jerusalem. Von den Gerechten wird diess bewiesen aus Jesaj. 43, 7: bringe her zu mir jeglichen, der sich nennt mit meinem Namen, den ich schuf zu meiner Ehre; vom Messias aus Jerem. 23, 6: diess ist der Name, mit dem man ihn nennen wird : Jehova unser Heil; vom neuen Jerusalem aus Ezech. 48, 35: der Name der Stadt soll von nun an sein: Jehova daselbst. Auf diese Tradition bezieht sich auch der Apokalyptiker, wenn er 3, 12 sagt, die Erwählten haben den Namen Gottes und den des neuen Jerusalems und den neuen Namen des Messias an der Stirne. Es ist ein und derselbe Name, wie diess auch die Ver- gleichung der Stelle 14, 1 zeigt, wo nur der Name Gottes und des Messias genannt ist, und 2, 17, wo dem Überwinder ein Name verheissen wird, den keiner kennt, als der Empfänger, offenbar derselbe Geheimname, den nach 19, 12 auch der Mes- sias trägt. Jehovah, oder Gott im höchsten Sinn wird also der Messias genannt, aber er wird auch nur so genannt, ohne dass aus dem Namen geschlossen werden darf, es werde ihm auch eine wahrhaft göttliche Natur zugeschrieben. Denn wenn dem Messias der Jehovahname nur auf dieselbe Weise zukommt , wie derselbe Name auch den Gerechten und der Stadt Jerusalem ge- geben wird , so erhellt hieraus deutlich , welche äusserliche Be- ziehung der Name ausdrückt.

Hiemit ist ohne Zweifel auch schon erklärt, in welchem Sinne der Messias in der Apokalypse 6 loyoi; toO ösoO genannt wird. Man kann dieses Prädikat als die bekannte in den Tar- gumim so oft vorkommende Umschreibung des Jehovahnamens nehmen, und der Messias wird demnach nur in demselben Sinne 6 Xoyo«; tou GeoO genahnt, in welchem ihm auch der Jehovah- name beigelegt wird. In keinem Fall darf man aus der Bezeich- nung des Messias als desXoyo; xoO öeoO auf eine ihm an sich zu- kommende höhere göttliche Natur schliessen. Der Apokalypti- ker betrachtet die ganze Erscheinung Jesu aus dem Gesichtspunkt desXoyo? tou 6eou, sofern das Wort Gottes durch ihn sowohl enl-

Lehrbegriff der Apokalypse. !2I7

hüllt als erfüllt wird; Das Christenthum ist selbst der ^oyoi; tou 6sou 1, 9, alles, was den Inhalt dieser Visionen ausmacht, sind die Xoyoi äXioOtvol toO 6eoO 19, 9. Jesus ist es, der den Ralh- schluss Gottes offenbart, und der ihn auch erfüllt. Was einmal als Rathschluss Gottes ausgesprochen ist, muss auch realisirt werden. Auch in dieser Beziehung ist Jesus der Xoyo? toö OsoO. Es bezieht sich darauf die Vergleichung der Wirksamkeit Jesu mit einem aus seinem Munde ausgebenden scharfen Schwert, 19, 15. Dass dieses Schwert aus seinem Munde ausgeht, weist deutlich daraufhin, dass das, was mit dem Schwert verglichen wird, eigentlich das aus dem Munde ausgehende Wort ist, der ^oyo; TOU öeoO, welchen er offenbart. Ein scharfes Schwert aber ist er, sofern durch ihn der ganze Rathschluss Gottes als stren- ges Strafgericht mit unwiderstehlicher Macht vollzogen wird. Schon hieraus ist zu sehen, dass wir hier nicht an den Logos des Johanneischen Evangeliums denken dürfen. Schon diess, dass er nicht schlechthin Xoyo?, sondern 6 Xoyo? toO SeoO genannt wird , beweist , dass er keine selbstständig Gott gegenüberste- hende Hypostase ist. Besonders aber verdient auch diess beachtet zu werden , dass er erst an dieser Stelle der Apokalypse und zwar sofern er als strafender Richter vom Himmel auf die Erde herabkommt, diesen Namen erhält. Der Grundbegriff ist offenbar das Wort Gottes , oder der in der Strenge des göttlichen Straf- gerichts sich vollziehende Wille und Rathschluss Gottes. Da demnach der Ausdruck keinen metaphysischen Begriff enthält und nichts über ein Verhältniss aussagt , das an sich zur Natur des in Frage stehenden Subjects gehörte , so ergibt sich hieraus von selbst auch der Sinn , in welchem das weitere noch beson- ders bemerkenswerthe Prädikat zu nehmen ist, das die Apoka- lypse Jesu gibt, wenn sie ihn 3, 14. als die x^yy\ ttJ? xTbeto« ToO OcoO bezeichnet. Wenn er auch als der Anfang der Schö- pfung nur der zuerst Geschaffene ist, so scheint doch dieser Ausdruck klar genug den Begriff der Präexistenz zu enthalten.

Äi8 Zweiter Abschnitt, Zweite Periode.

Erwägt man aber auf der andern Seile, dass unmittelbar vorher, v 3, 12, der himmlische Name des Messias ein neuer Name heisst, dass auch sonst nirgends in der ganzen Schrift die Präexistenz des Messias mit klaren Worten ausgesprochen ist, so wird sehr wahrscheinlich, dass jene Bezeichnung keine dogmatische Be- stimmung, sondern ein blosser Ehrentitel seyn soll. Gleichfalls uneigentlich steht der Ausdruck Prov. 8, 22, welche Stelle der Apokalyptiker ohne Zweifel im Auge hatte. Es kommt dabei weiter in Betracht, dass auch die rabbinische Theologie mit dem Prädikat »vor der Welt geschaffen« sehr freigebig ist. Unter den sieben Dingen , welche vor der Welt erschaffen sein sollen, wird ausdrücklich auch der Name des Messias genannt. Sie zählt ferner zehn Dinge auf, die mit der Welt erschaffen sein sollen, woraus wenigstens so viel zu sehen ist, dass ihr die Präexistenz eine Eigenschaft ist, die sie allen möglichen Dingen ohne irgend welche tiefere Bedeutung beilegt, die aber dann auch um so leichter in ein blosses ehrendes Prädikat übergehen konnte. Es ist demnach nicht bloss das sehr ungewiss, ob die Apokalypse den Messias selbst oder nur den Namen des Messias als vorweltlich geschaffen bezeichnen will, sondern ebenso auch das Weitere, ob sie dieses Prädikat im dogmatischen Sinne nimmt, oder nur als gesteigerten Ausdruck für den Gedanken gebraucht, dass der Messias das höchste Geschöpf sei, dasjenige, auf welches bei der Schöpfung von Anfang an Rücksicht genom- men wurde, n^^yt^i xjih ti'>nmmk Nehmen wir alles diess zusammen, so hat die Chrislologie der Apokalypse das Eigene, dass sie zwar Jesu als dem Messias die höchsten Prädikate beilegt, aber alle diese Prädikate nur äusserlich auf ihn übertragene Namen sind, welche mit seiner Person noch zu keiner innern Einheit des Wesens verknüpft sind, es fehlt noch an der innern Vermittlung zwischen den gött- lichen Prädikaten und dem geschichtlichen Indivi'luum, das der Träger derselben sein soll. So bemerkenswerth es daher ist,

Lehrbegriff der Apokalypse. 81D

wie das christliche Bewusstsein auch auf diesem Punkte den Drang in sich hat, die Person Jesu so hoch zu stellen, so we- nig darf dabei übersehen werden, wie der ganze Inbegriff dieser Prädikate noch eine transcendente Form ist, welcher es an dem concreten in der Persönlichkeit Jesu selbst begründeten Inhalt fehlt, sie sind noch keine immanenten aus dem substanziellen Wesen seiner Person sich von selbst ergebenden Bestimmungen. Es sind nur die grossen eschatologischen Erwartungen, um deren willen der Messias als das Hauptsubject derselben auch eine ihnen adäquate Stellung haben muss. Alles Metaphysische liegt noch ausserhalb des Gesichtskreises des Apokalyptikers, er nimmt seinen Standpunkt noch ganz von unten, um auf den Messias erst nach seinem Tode alles übergetragen werden zu lassen, was ihm seine göttliche Würde gibt. Vgl. 5, 12. Sehr bezeichnend lässt er ihn daher auch von Gott als seinem Gott reden, 3, 2. 12. Was noch weiter zur Christologie der Apokalypse gehört, hängt mit ihrer Lehre vom Werke Christi zusammen. JjB*''^

Als den wesentlichsten Bestandtheil des Werkes Christi betrachtet die Apokalypse, hierin übereinstimmend mit der pau- linischen Lehre, den Tod Christi, und zwar ist auch ihr das Motiv desselben seine Liebe zu den Menschen. Sie preist ihn 1, 5 als den, der uns geliebt und uns von unsern Sünden in seinem Blute gewaschen, oder nach einer andern Lesart, befreit hat. Sein Blut hat reinigende Kraft: Die Geretteten und Seligen sind die, die ihre Kleider gewaschen und weiss gemacht haben in dem Blute des Lammes 7, 14. Vergebung der Sünden bewirkt also sein Tod, wobei die Vorstellung eines Lösegeldes zu Grunde zu liegen scheint. Die Menschen sind erlöst, weil er sie losge- kauft hat. Damit verbindet sich die weitere Vorstellung, dass er auf die, für die er gestorben ist, als die von ihm Losgekauften, ein bestimmtes Eigenlhumsrecht hat. Vgl. 5, 9, wo es in dem himmlischen Gesang zum Preise des Lammes heisst: Du bist ge- schlachtet worden, und hast uns Gott erkauft mit deinem Blut

1920 Zweiter Absehnitt. Erste Periode.

aus allen Stämmen und Zungen und Völkern und Nationen, und du hast sie unserem Gott zu Königen und Priestern gemacht, und sie werden auf der Erde herrschen. Vgl. 14, 4: Die hundert vier und vierzig tausend,. die dem Lamme folgen, wohin es geht, sind erkauft worden von den Menschen als Erstlinge für Gott und das Lamm. Der Tod Christi ist der Grund, auf welchem die von ihm gestiftete Gemeinde beruht, durch ihn ist sie geworden, was sie ihrem Begriff nach sein soll, eine Gemeinschaft reiner, heiliger, gotlgeweihter, in der unmittelbarsten Beziehung zu Gott und Christus stehender Menschen. Mit dem aus der mosai- schen Theokratie (2 Mos. 19, 6) genommenen Begriff eines Königreichs von Priestern werden daher die Christen, sofern sie durch seinen Tod ihm und Gott, seinem Vater zum besondern Eigenthum geweiht sind, Könige und Priester genannt, 1, 6. 5, 9. 14, 4. Als Priester und Könige sind sie die die Welt be- herrschende Macht, der Mittelpunkt, um welchen sich alles be- wegt. In dem Tode Christi liegt daher die Kraft zur Stiftung einer Gemeinschaft, die dazu bestimmt ist, sich als die sub- stanzielle, über alles übergreifende, die Welt überwindende Macht in dem ganzen Verlauf der Weltgeschichte zu offenbaren. Wie Christus selbst um seines Todes willen als Sieger bezeichnet wird, 3, 21. 5, 5, so wird auch seine Gemeinde in ihrem Ver- hältniss zur Welt aus dem Gesichtspunkt eines zum Siege führen- den Kampfes betrachtet. Für Christus selbst war sein Tod der Weg, auf welchem er sich die höchste göttliche Macht und Herrlichkeit erwarb. Das Lamm ist würdig, die Siegel des Buchs zu eröffnen, weil es geschlachtet worden ist u. s. w. 5, 9; als das geschlachtete Lamm ist es würdig, zu empfangen Macht, Reichthum, Weisheit, Kraft, Ehre, Herrlichkeit, Segen. V. 12. Besonderes Gewicht legt daher die Apokalypse auf die Auf- erstehung Jesu, 1, 5. 18. 2, 8, als den Weg zu der Erhöhung, durch welche Christus der unmittelbare Theilnehmer an der gött- lichen Macht geworden ist, 3,21. 17, 14. 19, 16. Diese göttliche

Lehrbegriff der Apokalypse. üSJ^l

Macht, in deren Besitz er ist, äussert er sowohl durch die Re- gierung der Welt überhaupt, als auch insbesondere durch die Lei- tung seiner Gemeinde. Er ist der Herr der Herrn, der Könige der Könige, der Beherrscher der Könige der Erde, 1, 5. Individua- lisirt ist die alles überschauende, alles beherrschende Macht seiner Weltregierung in den sieben Geistern. Die sieben Geister, die vor dem Throne Gottes stehen, als sieben vor ihm brennende Leuchter, 1, 4. 4, 5, nach der Stelle bei Zach. 4, 10, wo von Sieben die Rede ist, die Augen Jehova's sind, welche die ganze Welt durchlaufen, sind auch das Attribut des Messias: Er hat die sieben Geister Gottes und die sieben Sterne, 3, 1, und steht vor dem Throne Gottes mit sieben Hörnern , dem Symbol seiner Macht, und mit sieben Augen, welche die sieben Geister Gottes sind, die ausgesandt sind über die ganze Erde. Von diesen sieben Geistern, in welchen sich seine alles durchdringende Macht und Wirksamkeit darstellt, geht auch alle Offenbarung an seine Gemeinde aus, der Geist der Prophetie, welcher ein Zeug- niss von Jesus Christus ist, 19, 10. Daher werden sie auch gleich im Eingang der Apokalypse sehr bedeutungsvoll mit Gott zusammengenannt. In den sieben Gemeinden, an deren Engel die sieben Sendschreiben der Apokalypse gerichtet sind, stellt sich überhaupt das Verhältniss des Herrn zu seiner Gemeinde dar. Darum wird er dargestellt, wie er in der Mitte der sieben Leuchter, die die Gemeinden sind, eines Menschen Sohn ähnlich steht, er hält in seiner Hand sieben Sterne und aus seinem Munde geht ein scharfes zweischneidiges Schwerdt aus, und sein Antlitz leuchtet wie die Sonne in ihrer Macht. Die sieben Sendschreiben sind seine Weckstimme an die Gemeinde , der Ruf, dass er kommt, in kürzester Frist kommt, und in seinem Kommen, wie es die Apokalypse schildert, vollbringt er alles, um als der Herr der Gemeinde alle feindlichen Mächte zu vernichten, die der Voll- endung seines Reichs entgegenstehen. Ist alles diess geschehen, so vereinigt er sich in dem vom Himmel herabkommendeu Jeru-

2^9 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

salem, in welchem sich seine Gemeinde in ihrer urbildlichen Schönheit, der ihrer Idee adäquaten Gestalt darstellt, mit ihr, als der Bräutigam mit der Braut, 19, 7. 21, 2. 22, 17.

Wie aus allem diesem das alttestamentliche Messiasideal, nur zugleich mit den bestimmten concreten Zügen, die es durch die Geschichte Jesu erhalten hat, hindurchblickt, so sind hier noch einige alttestamentliche Messias-Prädicate zu bemerken. Dahin ge- hört der Schlüssel Davids, mit welchem er öffnet, ohne dass jemand schliesst, und schliesst, ohne dass jemand öffnet, 3, 7. Dieser Schlüssel David's ist aus Jesaj. 22, 22 genommen. Wie man sich überhaupt den Messias nach dem Vorbild David's dachte, so hat hier Christus den Schlüssel David's, d.h. die höchste Gewalt über das alle wahre Juden in sich begreifende theokratische Reich, dessen ideeller König noch immer David war. Mit der Macht, mit welcher Christus in seinem Reiche waltet, kann er in die Gemeinschaft seiner Bekenner aufnehmen und von ihr ausschlies- sen, wen er will. Das bedeutungsvollste Prädicat aber, das dem Messias gegeben wird, ist das des Lammes. T6 äpviov wird der Messias in der Apokalypse am gewöhnlichsten genannt, und zwar ist er äpviov d(j<paYaevov, 5, 6. 7, 14. i3, 8 u. s. w. Es fragt sich, ob dabei an das Passahlamm gedacht, oder ob diese Bezeichnung aus Jesaj. 53, 7 genommen ist. Das Erstere be- hauptet Ritschi, Entstehung der altkath. Kirche S. 145 f. Zu dem jesajanischen Bilde des sanftmüthigen Lammes würde die öpY^^ ToO apviou 6, 16 nicht passen. Auch dürfe nicht die Rück- sicht unser Urtheil bestimmen, dass doch das Passahopfer kein Versöhnungsopfer gewesen sei, denn es komme nicht darauf an, welcher Sinn ursprünglich der mosaischen Institution eigen ge- wesen sei, sondern welchen Sinn die Christen damit verbunden haben. In dieser Beziehung bürge aber die paulinische Auffas- sung Christi als Versöhnungsopfer und Passahlamm Cl Cor. 5, 7) dafür, dass auch ein geborener Jude von höherer Bildung die Symbolik des Ceremonialgeselzes nicht immer richtig verslanden

Lehrbegriff der Apokalypse. 12^3

habe. Für die Darstellung Christi als Passahlamm habe der Um- stand den Ausschlag gegeben, dass Christus während des Pas- sahfestes gekreuzigt worden sei, und demnach sei es von unter- geordneter Bedeutung, dass sein Tod vielmehr als Sühnopfer und nicht als Bundesopfer aufgefasst wurde. Diese Erklärung ist nicht die richtige. Es findet sich in der Apokalypse nirgends auch nur eine Anspielung auf das Passahlamm. Es ist nur der Ausdruck dcpviov d(j<paY[ievov , der darauf bezogen werden kann, aber ebenso gut auch auf die jesajanische Stelle sich beziehen lässt. Da nun die Stelle bei Jesajas auch sonst so oft auf Jesus bezogen wird, Apostelgesch. 8, 32. 33, und bei Kirchenvätern, und Christus auch da, wo er das Passah genannt ist, nicht als das geschlachtete Passahlamm, sondern als das zur Schlachtbank geführte Lamm des Propheten, tb; TrpoßxTov im (j<pa"pfiv vi/ÖY], bezeichnet wird, so liegt es auch in der Apokalypse weit näher, an das Letztere zu denken. Die öpYin toO äpvtou steitet damit nicht, ila, wenn überhaupt diese öpyr, nichts unmessianisches ist, sie auch einem so sanftmüthigen Lamm , wie das bei Jesajas ist, zukommen konnte. In jedem Fall soll das in die unmittelbarste Nähe Gottes versetzte äpviov £(y(paY(j!,£vov auch schon durch die Diminutivform eine Anschauung sein, in welcher das Niedrigste und Höchste im stärksten Contrast zusammengefasst ist. In der symbolischen Sprache des alten Testaments ist das Lamm der prägnanteste Ausdruck für die Opfer- und Versöhnungs-Idee, wie sie auf der geschichtlichen Thatsache des Todes Jesu beruht. Übrig ist nun noch zu fragen , wie die Apokalypse auf der subjectiven Seite das Yerhältniss des Menschen zu Gott und Christus vermittelt werden lässt. Der Standpunkt der Apokalypse ist auch hier der der alttestamentlichen Religion. Das Wesen der Religion isl, nach der subjectiven Seite betrachtet, das Halten der Gebote Gottes, das der Idee Gottes entsprechende practische Verhalten. Die wahren Verehrer Gottes sind die Tn^ouwzzq xa; ivToXa; ToO öeou, wozu, wenn sie zugleich als Christen bezeich-

284 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

net werden sollen, noch die jy.aprjpia 'IncoO oder die iziariq 'Iyi<iou hinzugesetzt wird, 12, 17. 14, 12. Acht altlestamentlich wird daher die wesentliche Bestimmung des religiösen Bewusstseins als Furcht Gottes bezeichnet, wie 14, 7, wo der Inhalt des ewigen Evangeliums, das der Engel den Bewohnern der Erde verkündigt, ist: Gott zu fürchten und ihm die Ehre zu geben, weil die Stunde des Gerichts gekommen ist, ihn anzubeten als den Schöpfer des Himmels und der Erde, des Meeres und der Wasserquellen. Da die Furcht Gottes sich practisch bethätigen. muss, so sind das Hauptmoment die Werke. Auf die Werke kommt in der Apokalypse alles an. Vgl. 14, 13: Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben, sie ruhen aus von ihrer Ar- beit, und ihre Werke folgen ihnen nach, d. h. sie sind das ihren künftigen Zustand Bedingende. Nach ihren Werken werden die Todten gerichtet. Daher hat jeder Mensch ein Buch, in welchem alle seine Werke aufgeschrieben sind, damit ihm nach Maassgabe derselben sein Urtheil gesprochen werde, 20, 12. Die Werke müssen ein bestimmtes Maass voll machen, daher wird 3, 2 dem Engel der Gemeinde in Sardes geschrieben, ich habe deine Werke nicht voll gefunden vor Gott. Es muss etwas bestimmtes that- sächlich Geleistetes vorhanden sein, worauf man sich vor Gott berufen kann. Neben den epya ist von der tc^otk; die Rede, 14, 12, -fi x((m; 'IyiooO; unter der ridTi; ist hier aber nicht der Glaube im paulinischen Sinne zu verstehen , sondern in Gemass- heit der in der Apokalypse geschilderten Zeit, in welcher das Christenthum einen so grossen Kampf mit dem Heidenthum zu bestehen hatte, Treue im Bekenntniss Jesu, daher die ^{(tti; mit der äY<x7ryi, Staxovia, Ottojjlov/i selbst unter den epya begriffen wird, 2, 19. Die erste Forderung, die an den Christen gemacht wird, ist, die Treue gegen Jesus nicht zu verläugnen, 2, 13, oder seinen Namen nicht zu verläugnen, 3, 8, seine [xapxvipta zu halten, 6, 9. 12, 17, sein Wort festzuhalten, Xoyov innpeiv, 3, 8, zu halten an dem, was man hat, 2, 25, seine Werke zu

Lehrbegriff der Apokalypse. ^!lSd

beobachten bis an's Ende, 2, 25, sein Leben nicht zu lieben bis zum Tode, 12, 11, sich seinen Kranz nicht nehmen zu lassen. Auf die Ü7ro(ji.ov;fi und moxiq rtov ayitov kommt es daher ganz be- sonders an, 13, 10. 14, 12. 2, 3. 3, 10. Das ganze Leben des Christen ist ein Sichhindurchkämpfen zum Sieg, man muss kämpfen und siegen wie Christus, und siegt um des Blutes des Lammes willen, 12, 11. Besonders ausgezeichnet werden daher die Märtyrer, ^, 9. 12, 11. 20, 4. Sie erhalten weisse Kleider, zum Beweis der Gerechtigkeit ihrer Sache und des göttlichen Wohlgefallens. Der höchste Preis aber wird denen zu Theil, welche sich nicht mit Weibern befleckt haben und jungfräulich geblieben sind, 14, 4, wobei freilich die Frage entsteht, ob die Ehelosigkeit eigentlich oder uneigentlich zu nehmen ist, ob sie nicht vielleicht nur ein bildlicher Ausdruck für das ap.to[xov elvai ist, der sittlichen Reinheit, die der wesentliche Begriff des Christen, ist. Die Christen sind die an sich Reinen, die reine unbeschmutzle Gewände tragen, 3, 5. Das Gewand des Christen ist, da die Christen auch Priester genannt werden, eigentlich ein Priester- gewand, es wird ihm genommen, wenn er es nicht rein erhält, und dann beflndet er sich im Zustand der Unehre, der Nacktheit, 3, 18. 16, 15. Der Priester namentlich hat sein Gewand rein zu erhalten, und wenn es befleckt ist, wieder zu reinigen, 22,14. In- dem die Apokalypse den Christen als den an sich Reinen, einen priesterlichen Charakter an sich Tragenden betrachtet, fasst sie die Sünde hauptsächlich als Unreinheit und Befleckung auf.

Bemerkenswerth ist noch, wie die guten Werke der ein- zelnen Christen als Einheit zusammengefasst, und wenn auch nicht als ein Schatz doch als ein Schmuck der Kirche betrachtet werden. Wenn das Lamm sich mit der Braut vermählt, sind die gerechten Werke der Heiligen ihr Schmuck, oder das aus dem feinsten Byssusstoff bestehende Hochzeitkleid, 19, 8. Hiemit ist nun schon der Anfang gemacht, die Werke von deii sittlichen Subjecten, von welchen sie als ihre sittliche That nicht getrennt

Baur, neutest. Theol. 1^

^26 Zweiter Abschnitt. Erste Periode.

werden, abzulösen, und ihnen für sich einen sittlichen Werth zuzuschreiben, Sie werden als Ganzes zusammengenommen und wie etwas für sich bestehendes betrachtet, wie wenn es nur auf die Werke als solche ankäme, nicht die Subjecte, welchen sie angehören als ihre sittliche That.

Im Allgemeinen tritt, da es immer nur der einfache Begriff der Werke, der Treue, der sittlichen Reinheit ist, wodurch das Verhältniss des Einzelnen zu Christus bestimmt wird, die innere Seite des christlichen Lebens sehr zurück gegen die äussere, wo im grossen Gange der Weltereignisse die Idee des Chrislenlhums sich realisirt. Mit dem allgemeinen Entwicklungsprocess, welcher hier vor sich geht, dem grossen Kampf des Christenthums und Heidenlhums, ist das Leben des Einzelnen so verflochten, dass alles dadurch seine Form und Farbe erhält. Der Einzelne kommt eigentlich nicht für sich selbst in Betracht, sondern nur sofern er in dem grossen Kampf, in welchem alles in zwei Parteien ge- theilt ist, auf der einen oder der andern Seite steht. Es sind durchaus schroffe Gegensätze, welche statt innerlich mit einander vermittelt zu werden, nur äusserlich zusammenstossen; alles nimmt einen raschen gewaltsamen Verlauf, es ist nur darum zu thun, so schnell als möglich zum Ziel zu kommen und alles zum Abschluss zu bringen. Die innere immanente Entwicklung des Christenthums sowohl im Leben des einzelnen Christen , als im grossen Gange der Weltgeschichte liegt noch ausserhalb des Ge- sichtskreises des Apokalyptikers, welcher über die vermittelnden Momente hinwegsieht, und nur die Hauptkatastrophe und <die letzte Entscheidung in's Auge fasst.

Zur vollständigen Darstellung der neutestamentlichen Theo- logie in der Form der Apokalypse gehört noch der Gottesbegriff der Apokalypse, da sich an diesem höchsten theologischen Begriff noch besonders zeigt, wie sehr die Apokalypse auf dem Standpunkt des alttestamentlichen Monotheismus und der alt- testamentlichen Theokratie steht. Es sind beinahe durchaus alt-

Lebrbegriff der Apokal ypse. 227

testamentliche Prädicate, welche Gott gegeben werden. Er ist der [iovo; ödtoc, welchen jeder fürchten und preisen muss, 15, 4, der die ganze Welt geschaffen hat durch seinen Willen, 4, li. 10, 6. 14, 7, der Gott des Himmels, wie er den heidnischen Göttern gegenüber heisst, 16, H, t6 aX(pa xal t6 (L (\g\. Jesaj. 44, 6), ö wv xal 6 t^v axI 6 sp^oaevo«;, 1, 8. 4, 8. 11, 17, 6 ^<J5v ei; Tou? aiöva; twv aiwvtov 4, 9, 6 ßaffiXeu? tcüv sÖvöv, ö TuavTO- xparcdp 15, 3 u. s. w. Nach dem Charakter der Apokalypse ist die am meisten hervorragende Eigenschaft Gottes seine strafende- Gerechtigkeit, der Zorn Gottes 11, 18, mit welchem er seine gerechten und wahrhaftigen Gerichte, 16, 7. 19, 2, vgl. 15, 3, von welchen er selbst 6 SecTronr)? 6 ayio? xai aXiriOtvoi; genannt wird, 6, 10, vollzieht. Rache und Vergeltung darf man von ihm erwarten, 6, 10, durch die sirengste Bestrafung und die Ver- nichtung aller ihm widerstrebenden Mächte offenbart er sich in seiner höchsten Macht über alles. Zur Verherrlichung der Macht und Majestät Gottes nimmt der Apokalyptiker die ganze Symbolik des alten Testaments zu Hülfe. Man vergleiche besonders, wie er K. 4 den Thron und himmlischen Hofstaat Gottes schildert. Er sieht einen Thron im Himmel, der auf dem Thron Sitzende war ähnlich einem Jaspis und Sardisstein, und ein Regenbogen rings- umher um den Thron ähnlich dem Aussehen nach einem Smaragd. Und rings um den Thron waren vier und zwanzig Throne und auf den Thronen sassen vier und zwanzig Älteste angelhan mit weissen Kleidern und auf ihren Häuptern hatten sie goldene Kronen. Und von dem Throne giengen aus Blitze, Laute und Donner und sieben Feuerfakeln brannten vor dem Thron, welche die sieben Geister Gottes sind. Hier ist demnach ganz die alt- teslamentliche Anschauung des in Donner und Blitz sich offen- barenden Naturgotts. Um den Thron stehen sodann vier '(wa. Es sind die vier Cherubim Ezecliiels 1, 5 f. 10, 14. Sie ver- einigen in sich die Haupleigenschaften der vier edelsten Tliiere, die Tapferkeit des Löwen, die Stärke des Stiers, die geflügelte

15*

JiJiS Zweiter Absclinitt Erste Periode.

Geschwindigkeit des Adlers, und die Intelligenz des Menschen. Bei Ezechiel ist jeder Cherub aus diesen vier Gestalten zusammen- gesetzt, bei dem Apokalyptiker hat jeder nur eine dieser vier Gestalten. Diese vier '(öx repräsentiren die Gesammtheit der Geschöpfe und drücken gleichfalls die Idee der Schöpfermacht Gottes aus. Eine eigene Vorstellung des Apokalyptikers sind die vier und zwanzig Ältesten, die als Beisitzer Gottes einen himm- lischen Rath bilden, 4, 4. Es sind keine Engel, sondern ohne Zweifel christliche Märtyrer, sie sitzen auf Thronen, wie Christus seinen Jüngern verheissen hat, Matth. 19, 28. vgl. Apok. 3, 21, haben weisse Kleider, wegen der Reinheit ihres Lebens, tragen Kronen zur Belohnung ihres siegreichen Glaubenskampfes. So stellen sie die gesammte an Christus glaubende Menschheit oder die christliche Kirche dar und nehmen als der himmlische Senat den nächsten und unmittelbarsten Antheil an der göttlichen Welt- regierung , sofern sich alles in ihr auf die christliche Kirche als ihren Mittelpunkt bezieht. Wenn die vier ^äoc Preis und Ehre und Dank bringen dem, der auf dem Thron sitzt, dem der in alle Ewigkeit lebt, fallen die vier und zwanzig Ältesten vor dem auf dem Thron Sitzenden nieder, beten den in alle Ewigkeit Lebenden an, werfen ihre Kronen vor dem Thron hin und sagen: Würdig bist du Herr zu empfangen Preis und Ehre und Macht, weil du alles geschaffen hast, durch deinen Willen war es da und wurde geschaffen 4, 10. 11. Die Schöpfer-Allmacht Gottes ist auch in ihnen als die über Allem stehende Idee ausgesprochen. Zur weitern Umgebung des himmlischen Throns gehören Myria- den von Engeln, 5, 11. Engel spielen eine Hauptrolle in der Apokalypse nicht blos als Überbringer der göttlichen Befehle, sondern auch als Vollstrecker der göttlichen Strafgerichte und Beherrscher der Naturelemente. Ausdrücklich wird die Anbetung der Engel verboten , weil sie nur Milknechte der Propheten und Glaubigen seien, 19, 10. 22, 9. '^* Auffallend ist, dass in der Apokalypse selbst der Satan noch

f' Lehrbegriff der Apokalypse. ' 339

eine Stelle im Kreise der Himmlischen hat. Er ist, wie im allen Testament namentlich im Buch Hiob, der Ankläger der Frommen, 12, 10, und der Kampf mit ihm beginnt damit, dass er vom Himmel auf die Erde herabgestürzt wird. Es entsteht Streit im Himmel, Michael und seine Engel streiten mit dem Drachen und seinen Engeln, und der grosse Drache, die alte Schlange (ohne Zweifel Anspielung auf den Sündenfall), der genannt wird Teufel C^iaßoXo;, eigentlich Angeber, Verläumder) und Satan, und Verführer der ganzen Welt wird mit seinen Engeln auf die. Erde herabgeworfen. Indem er wohl weiss, dass er nur noch kurze Zeit hat, greift er um so heftiger die theokratische Gemeinde an, 12, 12, durch Verfolgungen, zu welchen er Juden und Hei- den anstiftet, 2, 9. 10. 13, durch Verführung der ganzen Welt zum Hass gegen die Wahrheit, 12, 9. vgl. 20, 8, durch Irrlehren in der Gemeinde selbst 2, 24, und endlich durch die Sendung des Antichrists und des ihn begleitenden falschen Propheten. In beiden erscheint das Heidenthum als politische und religiöse Macht in seiner gottfeindlichen Spitze und als das Reich, in welchem der sich selbst vergötternde Teufel sich selbst anbeten lässt, 13, 4.

Die ganze Well theilt sich so in einer dem manichäischen Dualismus analogen Weltanschauung in zwei schroff einander gegenüberstehende Reiche, von welchen das eine fallen muss. Der Sieg des einen über das andere ist nicht blos durch die Idee Gottes als des TravToxpaTojp verbärgt, sondern ganz besonders durch den Messias. Das Blut des Lammes ist das weltüberwin- dende Princip. Darum ist das in der Nähe des göttlichen Throns stehende Lamm in die unmittelbarste Beziehung zu Gott gesetzt. So sehr der christliche Vaterbegriff Gottes in der Apokalypse gegen die alttestamentliche Idee der Herrschermacht Gottes zu- rücktritt, so ist doch jener Begriff dadurch in das Gottesbewusst- sein aufgenommen, dass Gott der Vater des Messias genannt wird, 3, 5. 21. Wie aber dieses Vaterverhältniss vermittelt wird,

1^30 Zweitei* Abschnitt. Zweite Periode.

(lässt sich nach der Apokalypse nicht genauer bestimmen. Auch ,i2, 1 f., wo die Geburt des Messias von dem Weib, der Iheo- kratischen Gemeinde, beschrieben wird, wird nur gesagt, das Kind des Weibs sei zum Schutz gegen den Drachen, welcher es verschlingen wollte, zu Gott und zu seinem Thron entrückt wor- den, V. 5. Der bildliche Charakter der Apokalypse macht es so oft nicht möglich, ihre Vorstellungen auf einen bestimmteren dogmatischen Begriff zu bringen.

♦t>yw ß^smit 1-^- Zweite Periode.

Die Lehrbegriffe des Hebräerbriefs, der kleineren il .«nf^if r -f paulinischen Briefe u. s. w.

1. Der Lehrbeariff des Hebräerbriefs.

An die beiden Lehrbegriffe der ersten Periode, den pauli- nischen und den der Apokalypse, schliesst sich der des Hebräer- briefs dadurch zunächst an, dass auch in ihm das Hauptmoment die Stellung des Christenthums zum Judenthum ist. Welchen Gegen- satz die beiden erstem Lehrbegriffe in dieser Beziehung bilden, liegt vor Augen. So tief der paulinische Lehrhegriff das Juden- ihum herabsetzt, so hoch stellt es dagegen der der Apokalypse. Nach dem erstem hat das Christenthum seine absolute Bedeutung nur in seinem Unterschied vom Judenthum, nach dem letztern nur in seiner Identität mit demselben. Um das Judenthum so viel möglich zu degradiren und dem Christenthum gegenüber in seiner ganzen UnvoUkonimenheit und Nichtigkeit darzustellen, geht der Apostel Paulus vom Gesetz aus; das Judenthum ist wesentlich Gesetz, alles, was es als Religion ist, ist es als Gesetz, sofern man im Judenthum nicht anders als auf dem Wege des Gesetzes,

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durch die Erfüllung desselben, selig werden kann. Am Gesetz aber stellt sich auch der wesentliche Mangel des Judenthums heraus, dass es statt selig zu machen, nur verdammen kann. Daher kann das Christenthum seine absolute Bedeutung nur darin haben, dass es die Aufhebung des Gesetzes ist. Die Apokalypse fasst die absolute Bedeutung des mit dem Christenthum identischen Judenthums in dem MessiasbegrilT auf. Alles, was das Christen- thum in seinem Unterschied vom Judenthum und in seiner Einheit mit demselben ist, ist nur die Verwirklichung der alltestament- lichen Messias-Idee. In ihr zeigt sich das Judenthum als die ab- solute Macht, durch welche alles, was sich auf Seligkeit und Yerdammniss bezieht, bedingt ist. Das neue Jerusalem ist die Vollendung der alttestamentlichen Theokratie durch den Messias. Zwischen diese beiden LehrbegrifTe, von welchen der eine die absolute Bedeutung des Judenthums behauptet, der andere auf- hebt, stellt sich der des Hebräerbriefs vermittelnd hinein. Auf der einen Seite verhält sich das Judenthum zum Christenthum rein negativ, auf der andern ist alles, was das Christenthum als absolute Religion ist, an sich, ideell auch schon im Judenthum enthalten. Diese doppelte Bedeutung des Judenthums vereinigt der Verfasser des Hebräerbriefs in der alttestamentlichen Idee des Hohepriesters. Das Judenthum ist wesentlich ein Priester- thum, hierin liegt sowohl das Vergängliche als das Unvergäng- liche des Judenthums, die absolute Bedeutung, in welcher Judenthum und Christenthum wesentlich eins sind. Für diesen Standpunkt des Lehrbegriffs des Hebräerbriefs ist sehr bezeich- nend die Stelle 7, 12, wo gesagt wird: (xeTaTiÖsjyivTi? ty5? sepw- (TuvT,? dl ävayxYi; )cal v6{jt.ou p-eTaösai; "^i^fzxi, wenn das Priester- thum verändert wird, so geschieht mit Nothwendigkeit auch eine Veränderung des Gesetzes. Wenn also das unvollkommene Priesterthum zum vollkommenen wird, so kann auch das Gesetz nicht bleiben, wie es bisher war, etwas so Schwaches und Nutz- loses, es muss also aus dem Gesetz etwas Anderes werden. Auf

S3S Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

diesem Wege kommt der Apostel Paulus von der ^i)taio<iuvr i^ spytöv v6(j(,ou, welche immer nur eine vermeintliche ist, zu der Si)caio<iuvv) ZK 7r^(7Teti>?. Wie sich nun auch der Verfasser des Hebräerbriefs die fxsTaOeci? votAou gedacht haben mag, die Haupt- sache ist, dass ihm das Priesterthum das Primäre, das Gesetz das Secundäre ist, das Letztere nach dem Erstem sich richten muss. Von einer solchen Unterordnung des Gesetzes unter das Priesterthum weiss der Apostel Paulus nichts, das Gesetz ist sosehr der seine Ansicht vom alten Testament bestimmende Be- griff, dass er in jedem Fall nicht das Gesetz nach dem Priester- thum , sondern umgekehrt das Priesterthum nach dem Gesetz bestimmt haben würde. Gesetz, Messias oder König, und Priester sind die Grundbegriffe, von welchen drei wesentlich verschiedene Lehrbegriffe der neutestamentlichen Theologie ausgehen.

In der Idee des Priesterthums oder des Hoheprieslerthums gereift der Lehrbegriff des Hebräerbriefs tief in das Wesen der alttestaraentlichen Religionsverfassung hinein, in ihr erhebt er sich aber auch über sie und reisst sich von ihr los. An dieser Idee sind demnach zunächst zwei verschiedene, in einem Gegen- satz zu einander stehende Seiten dieses Lehrbegriffs zu unter- scheiden.

Das Christenthum hat einen absoluten Vorzug vor dem Judenthum, und zwar vor allem aus dem Grunde, weil Christus ein ganz anderer Hohepriester ist, als der des alten Testaments. Das levitische Priesterthum steht tief unter dem wahrhaft prie- sterlichen Christenthum. Es gehört hieher alles, was von Christus als einem Hohepriester nach der Weise Melchisedeks gesagt wird, 7, 1 f. Als Priester nach der Ordnung Melchisedeks ist er grösser als Abraham und Levi, 7, 4 10. Ferner zeigt die Geburt Jesu aus dem Stamme Juda, dass mit ihm das levitische Priesterthum ein Ende genommen hat, 11 14, und dass er nicht ein wieder- vergehender Hohepriester sein wird, wie der levitische, beweist der Schwur, mit welchem Gott seine Einsetzung bekräftigte,

Lehrbegriff des Hebräerbriefs. 933

20—22. Im allen Testament sind immer neue Hohepriester nöthig, weil jeder durch den Tod hinweggenommen wird, ihr Amt ist vergänglich und sie sind nicht im Stande, eine dauernde und ewige Erlösung hervorzubringen und zu verbürgen. Der Hohepriester des neuen Testaments aber hat, weil er in Ewig- keit bleibt, ein unwandelbares Priesterthum. Daher kann er auch aufs Vollkommenste erretten die, die durch ihn Gott nahen, indem er allezeit lebt, um sie zu vertreten. Ein solcher Hohe- priester ziemte uns, der heilig, unschuldig, unbefleckt, abge- sondert von den Sündern, und über den Himmel erhöht ist, der nicht nöthig hat, täglich wie die Hohenpriester zuerst für die eigenen Sünden, und dann für die des Volks zu opfern, er hat diess auf einmal gethan, indem er sich selbst darbrachte. Denn das Gesetz bestellt Menschen zu Hohenpriestern, die mit Schwach- heit behaftet sind, das Wort des Eidschwurs aber, das nach dem Gesetz ist, einen für die Ewigkeit vollendeten Sohn. V. 24 28. Vgl. V. 15: Er ist ein anderer Priester nach der Ähnlichkeit mit Melchisedek und zwar ein solcher, welcher es nicht nach dem Gesetz eines fleischlichen Gebots geworden ist, sondern in Ge- mässheit der Kraft unzerstörbaren Lebens, d. h. als der unsterb- liche in alle Ewigkeit bleibende Hohepriester. Wie auf dem Standpunkt des Hebräerbriefs das Priesterthum das wesentliche Element einer Religionsverfassung ist, der HauplbegrifT der Religion, so stellt sich an der Unvollkommenheit und Vergäng- lichkeit des alttestamentlichen Priesterthums das ganze Wesen der alttestamentlichen Religion dar. ^

Was vom Priesterthum gilt, gilt auch vom Gesetz. Das Gesetz ist schwach und nutzlos, weil es nichts zu Stande bringt, 7, 18. 19. Es bringt nichts zu Stande, nicht blos, weil die Hohe- priester selbst schwache, sterbliche, der Sünde und dem Tode unterliegende Menschen sind, sondern auch ihr Amt nicht fähig ist, eine wahre Versöhnung zu bewirken. Schon der Ort, wo dasselbe ausgeübt wird, das von Moses gestiftete Zelt, ist trotz

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aller heiligen Dinge, die es enthält, 9, 1 f. 21, nur ein mit Menschenhänden gemachtes irdisches unvollkommenes Heilig- thum, 9, 24. 11. 8, 2. Sodann sind die in ihm wegen der Sünde dargebrachten Opfer solche, welche sich alljährlich wiederholen und darum die Versöhnung Suchenden nicht auf immer reinigen können, sondern im Gegentheil eben durch jene öftere Wieder- holung stets von Neuem daran erinnern, dass die Sünde noch nicht getilgt ist, ihr Unvermögen, diess zu bewirken selbst ein- gestehen, 9, 25. 10, 1—3. 11. Ja, sie können überhaupt keine eigentliche Sünde wegnehmen, denn es werden eben Böcke, Kälber, Kühe dargebracht, deren Blut zwar körperliche Be- fleckung hinwegzunehmen, zwar von Menschen gemachte irdische Heiligthümer zu reinigen, nicht aber das mit Sünden belastete Gewissen des Menschen von jenen zu befreien, ihn mit dem Himmel zu versöhnen vermag, 9, 9—13. 21—23. 10,4—10. 13, 9. Ausserdem deutet schon die Trennung des verhüllten Allerheiligsten von dem Heiligen darauf hin, dass der Weg zu dem eigentlichen Heiligthum zu der wahren Yersöhnungsstätte den Menschen noch nicht geöffnet sei, 9, 8. Aus dieser Schwäche und Nutzlosigkeit des Gesetzes folgt, dass es nicht das Ebenbild der Dinge selbst, sondern nur einen Schatten derselben hat, 10, 1, die Versöhnung noch nicht verwirklicht, sondern nur un- vollkommen nachbildet und andeutet, dass der Bund, welchen Gott durch Moses mit den Israeliten geschlossen, wieder ver- schwinden und einem andern Platz machen muss. Ausdrücklich behauptet daher der Verfasser des Hebräerbriefs die Aufhebung des Gesetzes. Die Aufhebung nämlich eines vorangehenden Ge- bots geschieht wegen d^ Sdtiwäche und Nutzlosigkeit desselben.

Was also durch das Gesetz und die alttestntnentliche Reli- gionsverfassung nicht zu Stande kommen konnte, erhält im Christenthum seine Vollendung. Die TeXciüxri; , 7, 11. 19, die nicht im Judenthum sondern im Christenthum liegt, besteht darin.

Lebrbegriff des Hebräerbriefs. 835

dass während das Gesetz nur eine o/ci« töv (xsXXovtwv iYa6öv bat, 10, 1, Christus ein äpj^ispcj; twv (jlsXXovtwv äyÄÖbiv ist, 9, 11» Wenn von den [xeXXovTa die oxia twv ly-sXXovTcov unter- schieden wird, so sind die (x^XXovtk das wahrhaft Reale und Substanzielle. Diess ist aber nach der Anschauung des Hebräer- briefs die unsichtbare urbildliche Welt, ^Troupavix, oder Ta cv TOI? o'jpavoi?, 8, 5. 9, 23, xa äXr,Otva, 9, 24, oO /£ipo7wOtr,Ta, das keiner Veränderung Unterworfene, sondern ewig Bleibende. Zu dieser urbildlichen oder jenseitigen Welt verhält sich die diesseitige, wie ihr Abbild und Schattenbild. Daher stellt sich nun der Gegensatz des Judenthunis und Christenthums unter den Gegensatz der beiden Welten, des Urbildlichen und Abbildlichen, des Jenseitigen und Diesseitigen. Das Christenthum ist selbst die zukünftige Welt, der aiwv [/.sXXoov, 5, 6, die oixoujxevr, ixeXXoutja, 2, 5. Alles diess erhält seine Begründung erst durch die Lehre des Hebräerbriefs von der göttlichen Würde Christi als des

Sohns. -1 hj^imtA m** DL^iifnW .h^ »h

Der GrundbegrifT der Christologie des Hebräerbriefs ist der Begriff des Sohns, als Sohn ist Christus das Subject aller Prädi- cate, welche ihm hier gegeben werden. Als Sohn ist er äicau- Yao(xa tJJ? SoEy)? (öeoO) xal. )^apa)tTr,p ttJ? uxo<JTa<j8(«>; auToG ,1,3. Als Abglanz der Herrlichkeit Gottes ist er mit Gott substanziell eins, der unmittelbare Reflex der göttlichen Substanz. Der per- sönliche Unterschied ist bezeichnet, wenn er /xpx/.Tr,^ rfi? utco- ffrdffe«? auTOu genannt wird , er ist also zwar eine für sich be- stehende Existenz, aber nur eine solche, welcher das Wesen einer andern, das Wesen Gottes vollkommen aufgedrückt ist. Dadurch ist der Sohn schlechthin über die Welt gestellt, er ist ein wesentlich göttliches, von der Welt verschiedenes Wesen. Wenn er auch das mit der Welt gemein hat, dass er wie alles aus Gott hervorgegangen ist, wesswegen er 7rpö)T6Tox.o; heisst, 1, 6, so ist doch er es, welcher alles mit dem Worte seiner Macht trägt, 1, 3, der durch welchen Gott dieAeonen geschaffen

!^B6 Zweiter Abscfanitt. Zweite Periode.

hat, 1, 2, d. h. die jetzige und die künftige, oder die sichtbare und die unsichtbare Welt. Besonders ist es dem Verfasser des Hebräerbriefs darum zu Ihun, die Erhabenheit des Sohns über die Engel hervorzuheben. In dieser Beziehung macht er vor allem geltend, dass nur ihm der ausgezeichnete Name Sohn zu- kommt, 1, 4. 5. Ferner unterscheidet er sich von ihnen durch die Benennung 6e6; V. 9, wesswegen er auch von ihnen ange- betet werden muss, V. 9. 6, durch seine Ewigkeit und Unver- änderlichkeit, V. 7-42, durch seine Macht über die ganze Welt und durch sein Verbleiben zur Rechten Gottes, V. iS. 14. Es hat diess ohne Zweifel eine antithetische Beziehung gegen solche, welche, wie diess namentlich von den Ebioniten gesagt wird, Christus nur für einen Engel, wenn auch für einen äpj^^acYT^Xo; und den Beherrscher der Engel, hielten. lÄlJ^viteW; fs

Die Christologie des Hebräerbriefs steht auf eine sehr be- merkenswerthe Weise vermittelnd zwischen der paulinischen und der Johanneischen. Während dem Apostel Paulus Christus, so hoch er gestellt wird, doch immer noch wesentlich Mensch ist, wenigstens der avOpwTro? swoupavio;, lässt dagegen der Verfasser des Hebräerbriefs das ursprünglich Menschliche fallen, Christus ist als rein göttliches Wesen in die übersinnliche Region entrückt. Auf der andern Seile ist aber der Sohn dem Verfasser des Hebräerbriefs noch nicht der Logos im johanneischen Sinne. Er ist nicht selbst der Logos, sondern trägt nur toc xavxa pTi[xaTi tyJ? S'jvap.sto; aOxou, 1,3. Es ist um so eigenthümlicher, dass der Verfasser des Hebräerbriefs dabei stehen bleibt, und nicht zur Identificirung des Sohns mit dem Logos fortgeht, da er den Xoyo? ToO 9eoO, 4, 12. 13, auf eine Weise personificirt, welche von selbst zur Identificirung der beiden Begriffe führt. Er sagt V. 13 sogar: es sei keine Creatur unsichtbar vor ihm, alles sei nackt und aufgedeckt vor seinen Augen, vor ihm, zu welchem wir in dem Verhältniss stehen, das durch alle diese Prädicate bezeichnet ist. Es kann zwar zweifelhaft scheinen, ob das Sub-

Lehr^egriff des HebrKerbriefs. 837

jecl V. 13 der ^oyo? toO 6sou oder Gott ist, allein das Hauptsub- ject ist V. 12 der Xoyo? toO OsoG und es lässt sich nichts Wesent- liches gegen die Beziehung auch des V. 13 auf den >.6yoi; toO OeoQ einwenden. Auch in dem Salze xpo? Sv -^[jliv 6 Xoyo; scheint der Verfasser nur die Vieldeutigkeit des Worts "koyo^ noch benutzen zu wollen, um auch dadurch noch nahe zu legen, welche un- mittelbare Beziehung der Xoyo; tou Ösou in seiner richtenden Eigenschaft zu uns hat. Ungeachtet dieser Hypostasirung des X^yo? ToO 6soO sind doch die beiden Begriffe Logos und Sohn noch nicht weiter mit einander vermittelt. Um die göttliche Natur des Sohns zu bestimmen, hält sich der Verfasser des Hebräerbriefs nicht an den Begriff des Xoyo?, sondern den des 7cvsu|xa. Nach 9, 14 liegt die versöhnende Kraft des Todes Christi darin, dass Christus aiwviov rrvsOu-a hat. Er versöhnt die Welt mit Gott, weil er im Elemente des Geistes sich Gott darbringt, weil nicht Blut von Böcken und Stieren, sondern das TTveCi^xa aiuviov das Sühnmittel, das die eigenthümliche Beschaffenheit und Wirksamkeit dieses Todes vermittelnde und bestimmende Moment ist. Was Christus zu einem ewigen Hohepriester macht, was ihm die ^uva^Ai? ^w:^? ä>caTa>.uTOu gibt, so dass das absolute Lebensprincip eine immanente Bestimmung seines Wesens ist, ist das 7cvs0{xa, dass er ein rein geistiges Wesen ist, wie Gott selbst Geist, und der Vater der Geister ist, 12, 9. Dabei denkt sich der Verfasser das Verhältniss des Sohns zum Vater unter dem Gesichtspunkt strenger Unterordnung. Der Sohn ist vom Vater so abhängig, dass der Vater auch in dem den Sohn unmittelbar Betreffenden das thätige Subject ist. Der Vater hat den Sohn auf kurze Zeit unter die Engel erniedrigt 2, 7. Nicht sich selbst hat Christus verherrlicht, so dass er Hohepriester wurde, sondern der, der zu ihm sprach: mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt, 5, 5. Auf diese Stelle hauptsächlich stützt er den Begriff der Sohnschaft. Man kann diess so verstehen, er habe dieses Verhältniss als ein durch den Willen Gottes gesetztes be-

Ä38 Zweiter Abschnitt. Zweit« Periode.

trachtet. Dagegen bezeichnet es der Ausdruck aTrauyacfxa als ein natürliches. Es liegen so schon im Hebräerbrief die Ele- mente der beiden Vorstellungen von dem Verhältniss des Vaters und Sohns, welche immer den Hauptgegensatz bildeten. Auch darin erscheint die Macht des Vaters als die weit über- greifende, dass die Unterwerfung des Endlichen nicht dem Sohn, sondern dem Vater zugeschrieben wird, 1, 3. 13. 2, 8. 10, 12. 13. J

In allem, wovon bisher die Rede war, stellt sich uns die antijüdische Seite dieses Lehrbegriffs dar. Der Unterschied des Christenlhums vom Judenthum tritt hier in seiner ganzen Weite hervor. Alles, was zum Wesen der absoluten Religion gehört, fällt nur auf die Seite des Chrislenthums. Die erste SiaOvixTi ver- hält sich blos negativ zur zweiten. Es ist diess aber nur die eine Seite dieses Lehrbegriffs, und es steht ihr eine andere gegen- über, auf welcher der Unterschied zwischen dem Judenthum und Christenthum sich so viel möglich wieder ausgleicht. Es gehören hieher folgende Momente:

1. Das Judenthum enthält auch schon alles, was zum Wesen der wahren Religion gehört, es ist auch eine ^laOyixy), wie das Christenthum, es hat seine Gebote und Verheissungen, seinen Hohepriester, seine Opfer und Versöhnungsanstalten, das Chri- stenthum kann in dieser Hinsicht zum Judenthum nichts hinzu- thun, was nicht an sich auch schon das Judenthum hätte, es ist die Vollendung des Judenthums, seine TeXeiwffi;, vollendet wer- den aber kann nur das, was an sich schon irgendwie vorbereitet und eingeleitet ist. Das Christenthum hat also alles, was auch schon das Judenthum hat, es hat es nur weit besser und voll- kommener. Es ist, wie es 7, 19 heisst, iiztKJxytiyri xpe^Trovoi; iXirfSo?, ^i' iit; iyyO^oKLe^ 8eö, eine xpe^TTWv ^laÖT^xyi V. 22. Christus hat eine ^lafpoptoxspa Xetroupyia, 6'<ytp y.x\ xpeiTTOvo? iari WÖT/X'/i; [j-ediTYi? , rixt; cttI xpsCTxociv iTi(r{ytkia.i<; v£voaoO£nriTai 8, 6. Er gieng als Hohepriester ein ^la rüi [xsi^ovo; xai tcXcio-

Lehrbegriff des HebTfterbriefs. 239

T^pa? <r/cr,vYf?, 9, H, seine 6'j(Tiai sind xpe^TTOve?, ein weit vor- zuglicheres Reinigungsopfer.

2. Dieser blos graduelle Unterschied zwischen Judenthum und Christenlhum wird näher bestimmt als das Verhällniss des Bildes und der Sache, oder des Abbilds und Urbilds. Das Ge- setz ist in seiner Schwäche und Nutzlosigkeit nicht das Eben- bild der Dinge selbst, sondern nur ein Schatten derselben 10, i. Aber es hat auch eine positive Seite, welche nie aufgehoben werden kann , es ist der Typus , uTCo^stYjxa , ävtituttov , 9, 23. 24. 8, 5, der wahren Versöhnung mit Gott und damit auch des Christenthums. Auch die wahre Versöhnung soll durch einen menschlichen, zwar nicht sündhaften aber doch leidensfähigen Hohepriester geschehen , wie durch Aaron 5, 1 f., durch einen Hohepriester, welchen der Wille Gottes dazu ernennt 5, 4 f., der nur mit Blut vor das Angesicht Gottes tritt , und durch Blut das Gewissen von der Sündenschuld, das Heilige von der Be- fleckung reinigt, nur durch Blut die Scheidung zwischen den Menschen und Gott aufhebt, 8, 2 f. 9, 7 f., und bis auFs Ein- zelnste erstreckt sich diese Analogie. Das ganze Judenthum hat also eine typische Bedeutung. Die irdischen jüdischen Priester dienen einem Abbild und Schattenrisse des Himmlischen 8, 5; Die Abbilder des Himmlischen müssen durch Blut gereinigt wer- den, das Himmlische selbst aber durch ein vorzüglicheres Opfer, 9, 23. Christus gieng nicht in yzi^oT:oir,xx i-^ix ein, die die avT^Tuwa Töv dXiriOivöv sind, sondern in den Himmel selbst. So ist nun auch der Himmel, als der Ort der Seligkeit, in der An- schauung des Verfassers unsers Briefs der Berg Zion , die Stadt des lebendigen Gottes, das himmlische Jerusalem 12, 22. Juden- thum und Christenthum verhallen sich zu einander, wie Abbild und Urbild, beide werden in einer durchgeführten Symbolik ein- ander so nah als möglich gerückt. Es ist bei allem Unterschied auch wieder ein Verhältniss der Identität, welchem gemäss der Verfasser des Briefs , statt beide nur auseinander zu halten , das

1^40 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

Christenthum in das Judenthum hineinschaut, oder, wie man ebenso gut sagen kann , das Christenthum durch das Judenthum hindurchscheinen lässt. «

3. Nicht blos Andeutungen und Typen, eine «ncia und utto- Ssiy^^-axa des Christenthums enthält das Judenthum, sondern auch schon ganz gleiche und ebenbürtige Vorbilder desselben. Die Anschauung des alten Testaments bestimmt ihm die des neuen Testaments und umgekehrt, es fehlt dem neuen nichts, was das alte hatte, und dem alten nichts, was das neue hat. Es erhellt diess aus der eigenthümlichen Bedeutung, welche der Verfasser des Briefs dem Mclchisedek gibt. Schon das alte Testament verhiess einen neuen über den israelitischen weit erhabenen Hohepriester, einen Priester ei; töv aiwva nach der Ordnung Melchisedeks 5, 6. 10. Schon durch diese Verheissung eines nicht aaroniti- schen oder nicht levitischen Hoheprieslers wurde die Unvoll- kommenheit des Gesetzes ausgesprochen, und ihm sein Ende angekündigt; denn mit dem Priesterthum, an welches dieses ge- knüpft war, muss es selbst aufhören 7, 11. 12. Mit Aaron und Levi hat ja Melchisedek nichts zu thun , da er ohne Vater und Mutter aus keinem Geschlecht ist V. 3. 6, und ebenso wird es einst mit dem verheissenen ihm gleichen wahren Hohepriester sein. V. 13. 14. Ferner finden sich bei Melchisedek alle jene Mängel nicht , welche den israelitischen Hohepriester zum Ver- söhner unfähig machen, sondern er hat weder einen Anfang seiner Tage noch ein Ende seines Lebens, er ist vielmehr dem Sohne Gottes vollkommen gleich und bleibt beständig Priester V. 3, ein ihm entsprechender Hohepriester wird daher den levi- tischen verdrängen V. 16. Wie wenig dieser mit Melchisedek sich messen kann, ist ausserdem daraus zu sehen, dass Melchi- sedek den Abraham segnete, also noch über Abraham stand. Das Hauplmoment dieser Auffassung des alten Testaments ist, dass der Verfasser, während er auf der einen Seite das alte Te- >;8toment tief herabsetzt, und als einen blossen Schalten des wahr-

Ijehrbegriff des Hebrtterbriefs. 241

haft Seienden betrachtet, auf der andern doch wieder das wahrhaft Reale schon im alten Testament findet, und aus ihm den absoluten Inhalt des Christenthums selbst zu begreifen sucht. Ist also auch der levitische Hohepriester mit Christus auf keine Weise zu ver- gleichen , so hat dagegen das alte Testament in seinem Melchise- dek einen Christus vollkommen gleichen Hohepriester, der das- selbe ist, was Christus ist. Judenlhum und Christenthuni verhal- ten sich daher nicht blos wie die unvollkommene und vollkom- mene Religion zu einander, so dass das Christenthum die durch das Judenthum blos hindurchscheinende im alten Testament nur wie in einem Schattenriss vorgebildete Religion wäre, sondern das alte Testament enthält selbst schon die mit dem Christen- thum identische absolute Religion, aber es enthält sie nur ideell, und erst im Christenthum ist die im alten Testament, wie nament- lich in der Person Melchisedeks, vorbildlich aufgestellte Idee zu ihrer wahren Realität gekommen. Indem so das eigentliche Ju- denthum, das gesetzliche, levitische, zwischen der altlestament- lichen Religion als dem ideellen Christenthum und dem geschicht- lichen Christenthum in der Mitte liegt, erscheint jenes Judenthum selbst nur als der Abfall von der Idee, als der Schatten dersel- ben, als die unwahre Gestalt der wahren Religion, durch welche -hindurch die Idee sich erst geschichtlich verwirklichen muss. Wenn man also vom Judenthum zu dem Christenthum als der TeXsio)7i(; desselben fortgeht, so erfasst man in ihm nur die schon dem Judenthum zu Grunde liegende, aber in ihm noch verhüllte, noch nicht zu ihrer wahren Realität hindurchgedrungene Idee der alttestamentlichen Religion. Wie auf diese Weise beide Religionen, die alte und die neue, objectiv eins sind, sofern das substanzielle Wesen der Religion, das Priesterthum in der Person Melchisedeks ganz dasselbe ist, was es in der Person Jesu ist, so fmdet dieselbe Identität auch auf der subjectiven Seite statt, sofern es schon im alten Bunde denselben selig- machenden Glauben gab, wie im neuen. Der Verfasser führt

Bftiir, nentest. Theol. \Q

!94)S Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

C. H eine ganze Reihe alttestamentlicher Personen auf, welche den Glauben hatten , und durch ihn von Gott das Zeugniss er- hielten, dass sie gerecht, des göttlichen Wohlgefallens und der ewigen Seligkeit gewürdigt seien. Wenn sie auch Mitglieder des alten Bundes waren , so gehörten sie doch nicht zu der sie um- gebenden Welt, 11, 13. 38, waren schon damals Angehörige des Himmels, des himmlischen Jerusalem, der Stadt Gottes, 11,

10. 14. 16. 12, 22. 23. 28. Sie sind in dem Glauben mit den Christen eins, und es ist nur der Unterschied, dass das, was den Christen unmittelbar zu Theil wird, für sie Gegenstand einer erst in der Zukunft in Erfüllung gehenden Erwartung ist. Vgl.

11, 39. 40. Wie. sie im Glauben mit uns eins sind, so sollen sie auch nicht ohne uns zu ihrer Vollendung gelangen.

Es sind demnach zwei einander gegenüberstehende Seiten des Lehrbegriffs zu unterscheiden, auf der einen Seite bilden Judenthum und Christenthum einen Gegensatz, auf der andern ist der Gegensatz aufgehoben; aber wie ist er aufgehoben? Auf- gehoben ist der Gegensatz dadurch, dass alles, was dem Chri- stenthum als der absoluten Religion seinen absoluten Werth und Inhalt gibt, an sich oder ideell auch schon im Judenthum ent- halten ist; aber ebendesswegen weil es nur an sich enthalten ist, nur als Idee, muss die Idee sich erst realisiren. Diess kann nur durch einen Entwicklungsprocess geschehen , in welchem die Idee durch ihre noch unwahre Gestalt sich hindurchbewegt, um zu ihrer wahren Realität zu gelangen, oder sich mit ihrem wahren concreten Inhalt zu erfüllen. Es sind demnach, wenn wir die Idee als das Absolute oder Vollkommene betrachten, drei Momente zu unterscheiden, 1. das Vollkommene an sieh, 2. das Unvollkommene in seinem Gegensatz zu dem Vollkomme- nen, und 3. das Vollkommene in seiner Vollendung. Das Unvoll- kommene ist das Judenthum in seinem schon nachgewiesenen negativen Verhältniss zum Christenthum. Die beiden andern Momente sind in der doppelten Bedeutung enthalten, welche der

Lehrbegriff des Hebrfterbriefs. )S43

Verfasser des Hebräerbriefs mit dem Vollkommenen, dem reXetov, verbindet. Das Vollkommene ist das Himmlische im Gegensatjs zum Irdischen 9, 11. Das Himmlische ist das wirklich, was es sein soll, es ist das dcAr.Oivov 9, 24, auno ii sixwv twv TcpayiAa- Tcdv 10, 1, während das Irdische nur das Unvollkommene ist, eine T/tia, 10, 1, ein ivTiTUTrov, 9, 24, ein <i'K6^ziy[xix, 9, 23. 8, 5, ein <jaXeu6jj,£vov 12, 27. Himmlisches und Vollkommenes sind daher geradezu identische ßegriife, aber es ist nur das Vollkommene an sich, wie es der Idee nach ist, wovon die TsXsioTVi; oder das TsXetoOaöai im Sinne des Hebräerbriefs als etwas erst Werdendes, als die sich erst realisirende Idee unter- schieden werden muss. Die Frage ist also, wie das Vollkom- mene an sich auch das Vollkommene in seiner realen Vollendung wird, und in diesem Process der Realisirung seiner Idee alles Unvollkommene, das, was im Judentbum der Gegensatz des Christenlhums ist, aufhebt. Da nach der Lehre von der Präexi- sLenz Christi die Person Christi selbst, sofern Christus der Ab- glanz der Herrlichkeil Gottes ist, die concrete Anschauung des an sich Vollkommenen und Himmlischen, des Urbildlichen in seinem absoluten Charakter ist, so muss sich jener Process in dej' Person Christi selbst darstellen , und wir können daher die zuerst aufgestellte Frage bestimmter so fassen: wie wird Chri- stus als der präexistirende Sohn zu dem Hohepriester in dem Sinn , in welchem ihn der Hebräerbrief von dem levitischen un- terscheidet? An sich, in seiner Präexistenz, ist er nur ein gött- liches Wesen; das Nächste, was hieher gehört, als das erste Moment des den Gegensatz aufhebenden Processes ist seine Menschwerdung, er muss vor allem Mensch werden, und es fragt sich daher, wie und warum wird er Mensch?

Der Grund und Zweck der Menschwerdung ist, die Men- schen von den Sünden zu reinigen 1,3. Dazu ist er der ewig von .Gott aufgestellte Hohepriester. Weil es Menschen sind, denen ev zu Hülfe kommt, nimmt er, wie sie. Fleisch und Blut an;

16*

SS44 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

weil es schwache und leidende Menschen sind, wird er ihnen in allem gleich, um ihre Schwachheit mitfühlen zu können, und weil Gott beschlossen hat, durch blutige Versöhnung die Ver- schuldeten zu reinigen, erscheint er in einem sterblichen Körper. Vgl. 2, 14. 16 f. 4, 15. 5, 1 f. 10, 5 f. Er ist den Menschen in Allem gleich geworden, in ihrer sittlichen Schwäche durch seine Versuchbarkeit 2, 18, in ihrer Unmacht und Endlichkeit durch seine Erniedrigung unter die Engel, 2, 6—9, vor allem aber durch seine Leidensfähigkeit. So lernte er, obgleich er Sohn war, aus dem, was er litt, den Gott schuldigen Gehorsam, ward vollendet und allen, die ihm gehorchen, Urheber ewiger Ret- tung, 5, 7 f. Wie jedes Wesen, das nicht Gott selbst ist, muss auch der Sohn im Kampfe mit Versuchungen und Leiden die Würdigkeit bewähren , von Gott zu sich aufgenommen zu wer- den , 1 2, 6 f. Je höher der Hebräerbrief den Sohn stellt , um so mehr konnte er den seiner ursprünglichen Natur so entgegen- gesetzten Zustand nur aus dem sittlich religiösen Gesichtspunkt betrachten. Da es nothwendig war, dass er, um den Menschen gleich zu werden, alles mit ihnen theilte, so konnte er nur auf dem Wege des standhaften ergebungsvollen Duldens, seines Leidens und Sterbens der seiner ursprünglichen Natur inadäqua- ten Form des Daseins sich wieder entschlagen. Um den Willen Gottes zu thun, übergibt er sich dem Tode, 10, 5 10. Durch seine Gottesfurcht, seinen Gehorsam, seine Ergebung in Leiden und Sterben muss er sich erst den Preis der Errettung aus dem Untergang im Tode und der Wiederaufnahme zu Gott erringen und verdienen, 5, 7 9. 12, 2. Das Gebet Jesu um Rettung vom Untergang im Tode wurde wegen seiner Ergebung von Gott erhört, er wurde aus dem Reiche der Todten wieder heraufge- führt, 13, 20, in den Himmel wieder aufgenommen, über die Engel, unter welche er erniedrigt war, wieder erhoben, 4, 14. 7, 26. 1, 4, mit Freude, Ehre und Herrlichkeit gekrönt, 2, 9. vgl. 1,9. 12, 2, und erhielt auf ewig den Sitz zur Rechten Got-

Lehr begriff des Hebräerbriefs. S?45

tes, 1, 3. 8. 13. 8, 1. 10, 12. Wie er in allem diesem ein Vor- bild für die Menschen ist, das zeigt, wie man durch standhaftes und ergebenes Leiden zur ewigen Vollendung gelangen kann, 12, 2, so macht alles diess zusammen auch den Begriff der TeXeCüxnc oder der TeXeicofrt; si? tou? atöva? in dem realen Sinne aus, in welchem schon davon die Rede war. Christus ist nun der wirkliche >t>.vipov6[Aoc xavTtov, als welcher er gleich anfangs aufgestellt worden ist, 1, 2. vgl. 2, 6 f. 10, 12 f., d.h. die Idee, unter deren Gesichtspunkt der Sohn zu stellen ist , ist realisirt, und der ganze Process, der in ihm seinen Verlauf nehmen soll, vollendet. Es bezieht sich diess auf die Person Christi selbst. Da er aber nicht um seiner selbst willen Mensch geworden ist, sondern um der Menschen willen, so kommt nun auch nicht blos das in Betracht, was er für sich selbst geworden ist, sondern vielmehr, was er für die Menschen gethan hat. Die Hauptsache ist die durch seinen Tod gestiftete Versöhnung, und der Haupt- gesichtspunkt, unter welchem der Hebräerbrief die versöhnende Thätigkeit Christi und sein Werk auffassl, ist der Begriff der Reinigung, wie er sich aus dem Begriff des Hohepriesters ergibt. Der Verfasser des Hebräerbriefs fasst nicht, wie der Apostel Paulus, im Tode Christi das der Gerechtigkeit Gottes genugthuende, die Sünden und ihre Strafen auf sich nehmende, büssende, stell- vertretende Opfer auf, sondern der Hauptbegriff ist ihm statt des Opfers der das Opfer an sich selbst vollziehende Hohepriester, welcher zwischen Gott und dem Volk als der Reiniger des Volks und der selbst reine Vertreter der Übrigen mitten inne steht, 9, 7. 10, 11. 7, 27. 5, 3. Bei den wichtigsten Versöhnungs- handlungen des israelitischen Priesterthums, auf welche der Verfasser des Hebräerbriefs zurückgeht, bei dem Ritus des gros- sen Versöhnungstags, 10, 1 f., bei den gewöhnlichen Opfern im heiligen Zelt, 9, 9. 10. 13. 10, 11, und bei der Bundesstif- tung, 9, 19 22, ist das Vermittelnde immer die Reinigung (pavTi^eiv, )ca9apt!|siv , äyia^siv, TeXstoOv). Nach dieser Analogie

946 Zweiter Abschnitt, Zweite Periode.

ist Christus der zwischen Gott und den Menschen stehende Hohe- priester CiLtcixTiq 9, 15), der durch seine eigene That sich selbst opfert, 9, H f. 14. 24 f. 10, 5 f., der selbst in das Heiligthum eingeht, selbst eine Gabe für die Sünden darbringt, selbst durch Blut und seinen ewigen Geist vor das Angesicht Gottes kommt. Der Darbringende und das Dargebrachte sind in ihm vollkommen eins und dasselbe, als der Geopferte ist er der sich selbst Opfernde, es ist nicht fremdes Blut, sondern sein eigenes, mit welchem er die Sünder und den entweihten Himmel besprengt, um sie zu reinigen und von Neuem zu weihen. Er nimmt nicht Strafe und Fluch auf sich, um durch den Tod dafür zu büssen und dadurch erst sie zu vernichten, sondern er vernichtet un- mittelbar durch sein reines und reinigendes Leiden und Sterben die Sünde und ihre Folgen. Zwar geschieht die Reinigung der Menschen von der Sünde ebendadurch, dass er die Sünden auf sich nimmt, mit ihnen belastet davon geht und so dieselben ver- nichtet, 9, 28, aber er ist immer der Hohepriester, welcher den Reinigungsact durch die Aufsichnahme des Unreinen vollzieht. Das Reinigungsmittel, mit welchem er diesen Act vollzieht, .ist sowohl sein Blut als sein ewiger Geist. Vermittelst seines eige- nen Blutes ist er in das wahre Allerheiligste eingegangen, d. h. dadurch, dass er seinen eigenen Leib dargebracht, den Willen Gottes, dass er sterben sollte, vollkommen erfüllt hat, hat sein Tod für uns die Kraft eines Reinigungsopfers, um die Sünden, tlie wir begangen haben, hinwegzunehmen und zu vertilgen und dadurch unser Gewissen zu reinigen. Die Last des bösen Ge- wissens wird von uns genommen, so dass, was wir bisher gefehlt haben, uns nicht mehr hindert, uns als äy"^' ""<1 TSTeXeitüpivoi, als Gottgeweihte und unserer Bestimmung Genügende, zu be- trachten. Diese Bedeutung erhält aber sein Blut ersf dadurch, dass er durch den ewigen Geist Gott sich selbst unbefleckt dar- g^ebracht hat, so erst reinigt er unser Gewissen von todten Werken, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen, 9, 14.

Lehrbegriff de» Hebräerbriefs. 24k7

Wie er selbst unbefleckt ist, so macht er auch uns unbefleckt und rein im Gewissen, und weil er Sta Trvsufxaxoc aiwvtou sich dargebracht hat, so versetzt er uns in die Sphäre eines wahrhaft geistigen Bewusstseins, um mit reinem aufrichtigem Gewissen Gott auf wahrhaft geistige Weise zu dienen. Was mit dem un- bestimmten aber bedeutungsvollen Ausdruck hix Tcveu^aaTO? aiw- vioi» gesagt werden soll, kann eigentlich nur diess sein: was bei dem levitischen Hohepriester eine blos endliche, vorübergehende Beziehung hat, sei in Christus, dem ewigen Hohepriester, sub specie aeternitatis anzuschauen, als erhoben in das Element des Geistes auf absolute Weise in seiner unendlichen Beziehung auf die künftige Welt aufzufassen. Darum ist nun auch die Versöh- nung mit Einem Male und auf ewig vollbracht, es ist eine XuTpöxjt; aiwvia, 9, 25 28. 7. 12. 10, 1 f. Aus dem Begriffe des Hohe- priesters ergibt sich endlich auch noch das den Lehrbegriff' des Hebräerbriefs von dem paulinischen unterscheidende Moment, dass das Opfer Christi nicht mit dem Acte des Sterbens am Kreuze, sondern erst mit dem Eintritt Jesu in den Himmel, mit seiner Er- scheinung vor dem Angesicht Gottes beendigt ist. Wie der Hohepriester mit dem Blut durch den Vorhang in das innere Zell geht, wo die Herrlichkeit der Cherubim die heilige Lade be- schattet C9, 5. 7. 25J , und damit erst die Sühnung vollkommen vollzieht, so vollendet Christus sein hohepriesterliches Geschäft erst dadurch, dass er mit seinem Blut die Himmel durchschrei- tend vor dem Angesicht Gottes erscheint und sich zur Rechten der Herrlichkeit auf den Thron der Gnade setzt, 9, 11 f. 10, 12. Als Hohepriester kann er nur im Himmel sich selbst Gott dar- stellen. Tod, Aufer weckung, Erhöhung in den Himmel fallen daher hier wesentlich zusammen.

Christus ist also Mensch geworden, um als der Mensch ge- wordene Sohn auch Hohepriester zu werden und in der durch seinen Tod gestifteten Versöhnung im Himmel das Unvollkommene des Judenthums in dem Vollkommenen des Christenthums auf-

1848 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

zuheben. Schon darin liegt, dass das Absolute des Christen- thums nicht blos ein jenseitiges ist, in der Person und dem Werke Christi greift es in die diesseitige Ordnung der Dinge ein. Wenn nun aber doch das Christenthum der aiwv [ji>,>.ü)v ist, wie ist der ai<j>v jj(.i>.>.o)v auch schon in dem atwv outo?, oder wie gestaltet sich in der Anschauung des Verfassers des Hebräerbriefs die Periode, in welcher die künftige Welt in die gegenwärtige schon herüberreicht, und die gegenwärtige in ihrem zeitlichen Verlauf noch nicht aufgehört hat, was ist in ihr das Überwiegende und Bestimmende, das Judenthum oder das Christenthum? Hier ist nun der Punkt, auf welchem die Ansicht des Verfassers von dem Verhältniss beider an einer gewissen Ambiguität leidet, noch zu keinem klaren Begriff durchgebildet ist. Auf der einen Seite ist das Christenthum schon da, auf der andern kann ihm doch das Judenthum noch nicht weichen. Daraus ist es daher zu erklären, dass unser Brief , wie Seh wegler sagt, Nachnposfolisvhes Zfit- alter II. S. 319, obgleich er den levitischen Cultus im Princip für überwunden ansieht, doch nicht auf factische Abstellung desselben dringt; er erklärt ihn zwar für ein Schattenbild von etwas Höhe- rem, denkt sich ihn aber doch fortbestehend, bis einst alles Irdische und somit auch diese Form des irdischen Cultus ein Ende nehmen würde, wenn die höhere Weltordnung des voll- endeten messianischen Reichs eingetreten ist: er spricht von ihm durchgehends als von einem integrirenden Element zwar nicht des vollendeten, aber des gegenwärtig bestehenden Christen- thums. Selbst in denjenigen Stellen, die am meisten antijüdisch lauten, und in denen die Institutionen des alten Bundes bestimmt für veraltet erklärt werden, wird das Christenthum doch nicht als Aufhebung des Judenthums gefasst: das Judenthum dauert innerhalb des Chrislenthums noch fort, zwar als ^fn^iLtr/uas und als ein dem Verschwinden nahes, i'^'yu? a(pavi<T[iLoO , 8, 13, aber doch noch als factisch bestehendes, es ist folglich noch nicht durch den Eintritt des Chrislenthums , durch das Erscheinen

Lehrbegriff des HebrKerbr iefs. S49

Christi aufgehoben worden, sondern es findet seinen vollständi- gen a(pavi<j[jLÖ5 erst im nahe bevorstehenden atwv ij!,eXX(i>v , im kommenden Zustand des «raßPaTirru-o; und der ivx7rau(7i;, in welchem erst die volle Verwirklichung des Christenthums zu hoffen ist. Das gegenwärtige Christenthum, das Christenthum des aiwv outo? ist somit nothwendig noch ein Ineinander von Judenthum und Christenthum. Aber in diesem Ineinander von Judenthuni und Christenthum ist nun doch das Christenthum schon wesentlich da. Weil es selbst die künftige Welt ist, 2, 5. 6, 5, so wird auch seine geschichtliche Erscheinung mit dem Ende der Welt so nahe als möglich zusammengerückt. Christus hat die neue Religion verkündigt, Itz' iT/xTou töv -/({xspöv-TouTtov , 1, i, d. h. unmittelbar vor dem Ende der xj^spat aOrat, des atcliv outoi;, er hat das Werk der Versöhnung vollbracht sxl (luvTsXeia röy aiwvwv, 9, 26, d. h. mit dieser Vollbringung hat die diesseitige sichtbare Welt eigentlich aufgehört, und die jenseitige begonnen. Der Christ lebt daher schon in einer andern Welt, die nicht, wie das mosaische Judenthum Engeln, sondern nur Christus über- geben ist, 2, 5, wo Tod und Teufel ihm nichts mehr anhaben, 2, 15, wo die Stadt Gottes, das himmlische Jerusalem unmittel- bar vor ihm steht,. 12, 22. 28, wo er durch keine schroffe und unabsehbare Kluft mehr von dem Jenseits getrennt, sondern schon fest an dasselbe gekettet ist, mit seiner Hoffnung schon wirklich in dasselbe hinüberreicht, 6, 18.

Wenn also auch objectiv das Judenthum durch das Christen- thum noch nicht aufgehoben ist, so ist doch subjectiv für den Christen der aiwv aiXXwv schon da , und in den Suvajxei? {/.sXXov- TOi; aioSvo;, 6, 5, als christlichen Lebenserfahrungen sind die Mächte des Jenseits schon jetzt in ihm gegenwärtig. Wo die diesseitige Welt in der jenseitigen schon so aufgehoben ist, da bedarf es nicht erst einer so gewaltigen Weltkatastrophe, wie die in der Apokalypse geschilderte ist, um die Schranken der beiden Welten zu durchbrechen. Auch der Verfasser des Hebräer-

j{50 Zweiter Abtichuitt. Zweite Periode.

briefs sieht in kurzer Frist der Parusie und dem Weltende ent- gegen. Es ist noch eine kleine Weile, so wird der, der da kommen soll, kommen, und nicht zaudern, 10, 37. vgl. 25. Auch er richtet seinen Blick auf ein himmlisches Jerusalem, das als die Stadt des lebendigen Gottes Myriaden von Engeln in sich hat, und die Versammlung und Gemeinde der im Himmel aufge- schriebenen Erstgeborenen ist, nur lässt er es nicht vom Himmel herabkommen, um auf die Erde sich niederzulassen, nachdem ihm hier durch die Vernichtung aller gottfeindlichen Mächte die Stätte bereitet ist, sondern die Glaubigen sind schon hier zu ihm hinangerückt, 12, 22. Auch er lässt Christus zum zweitenmal sichtbar erscheinen, aber nur zum Heil für die, die auf ihn harren, 9, 28. Er hat seinen Kampf schon durch Leiden und Tod aus- gekämpft, einen weiteren Kampf gibt es für ihn nicht, nachdem er sich zur Rechten der Majestät gesetzt hat in der Höhe, 1, 3. vgl. 7, 26. 8, 1, wo er nun von seiner Arbeit ruht, und wartet, bis durch die Macht Gottes vollends alle seine Feinde ihm unter- worfen werden, 10, 13. 2, 8, so dass er endlich ohne mit der Sünde zu kämpfen, d. h. ohne sie noch einmal auf sich nehmen zu müssen, noch einmal erscheint, 9, 28, und so das Weltall, zu dessen Erben er von Gott bestimmt isl^ wirklich in Besiti nimmt, 1, 2. Die Idee des Priesters ist auch hier in ihm festge- halten. Als Priester hat er nicht die äussern Feinde zu bekämpfen, sondern das Unreine der Sünde zu entfernen und abzuwehrcR, und alles von der Sünde Gereinigte an sich zu ziehen. Als «pj^tspeu; jcara tvIv ri^tv MeX^iaeSs/ si; töv xitovx, ÄaivfJ; ^la- ÖTfiÄTi; [xeff^TX? (Iyyuo^), TrpoöpopLo; uTcep T^jAtiiv ei^ tÖv oupavdv, teptiK {/.ey«? im tÖv oIjcov toO Ösoo, töv ayttov XsiTOupyo; xal xfi? «ncyivff? T^; äXtiÖivt?; , aiTio? «JcoTripia? xitoviou , ö TuoifAr.v xwv Trpoß^TWv 6 ^iya;, 6 ttJ? TciaTew; ipjr/iyö; xal TeXeiw-nr,; , ö iwocroXo? JC«i ap^iepeu; tt?; 6|AoXoyta? TO{i.öv, 13, 20. 12, 2. 3, 1, sammelt er in dem Zustand seiner Vollendung den Kreis der >'ersöhnten und Brlöslen um sich. Sie heissen seine icpo^axa, 13, 20, oder seine

■' ■^' Lehrbegriff des HebrJterbri efs. 8d1

TtatSta, 2, 13, uiol V. 10, auch Ä<ieX<pol V. 11. 12, weil die Menschen wie Christus von Gott stammen, von dem Einen, der alle Dinge, und insbesondere den Geist des Menschen geschaffen hat. Auch seine zweite Erscheinung kann nur den Zweck haben, am Ende der Dinge alles mit ihm Verwandle zu sich aufzunehmen, in die die rechten Grundfesten habende Stadt, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist, 11, 10. Das Ende erfolgt, wenn das Endliche als das in sich Wankende, Unhaltbare, Vergängliche mit Einem Male zusammenfällt. Das Geschaffene wird noch ein- mal erschüttert, damit das Nichterschütterte bleibe, 12, 27. Die stete Bewegung und Unruhe der diesseitigen Well kommt in der jenseitigen zur Ruhe. Es gibt eine )cxTaxau<ji? , einen «yaß- ß«Tt«TjjLÖ<; ^ür das Volk Gottes. Die Gerechten haben ihre bleibende Stätte in der Stadt Gottes, die Ungehorsamen wer- den von Gott dem allgemeinen Richter 12, 23 zur Rechenschaft gefordert, und mit ewiger Strafe, mit der forldauernden Qual der Vernichtung belegt werden. Es steht ein furchtbares Ge- richt bevor, und ein Feuereifer, welcher die Widersetzlichen verzehren wird, denn Gott ist ein verzehrendes Feuer, 10, 27. 12, 29.

"?" Noch ist die Lehre vom Glauben übrig. Den Glauben de- finirl der Hebräerbrief 11,1 als »j7r6<TTa<yt? Atti^ojxsvwv , und tkzf/o(; -z^xy^iAxoiw ßXsTToaevwv. Gegenstand des Glaubens ist nicht das an sich Unsichtbare, sondern das für den Glaubenden nicht Sichtbare, das er erst in der Zukunft schauen kann, wenn es auch an sich schon vorhanden ist. Das Hauptgewicht legi die Definition auf das subjeclive Verhalten, wie es durch uTro'jTafft; und tkz^f/p; ausgedrückt ist. Der Glaube ist eine Zuversicht, bei welcher man das, was man hofft, sich als etwas Gegenwärtiges vorstellt, die Überzeugung von dem Dasein des Unsichtbaren, die Anerkennung, dass man genöthigt ist, es anzunehmen. Der Glaubende muss mit dem Object seines Glaubens eins werden, so zur Einheit mit ihm zusammenwachsen, dass es ihm gar nicht

1tH9 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

möglich ist, von dem, was er glaubt, sich loszureissen, vgl. cuYxcjcpadOai, 4, 2. Je ferner das Object ist, um so intensiver inuss das Ergreifen desselben sein, damit es wirklich in uns hereinkomme, uns in Besitz nehme, und uns nicht wieder ver- loren gehe. Das Unsichtbare ist Gegenstand der xiori^, wenn der Mensch an ihm festhält, als ob er es sähe, unmittelbar vor sich hätte, vgl. li, 27; dieses dpav geschieht durch das xapxe- peiv, durch unverrückte Richtung auf den Gegenstand. Diese Richtung des Willens ist eine sehnsuchtsvolle, nach dem wirk- lichen Besitz verlangende, eine voraus sich freuende und hoffende, weil das Object ein dXTCt^6|xevov ist. Für die xidTt; kann daher auch die eXm; gesetzt werden, man hofft, um zu glauben; auch 'von der Hoffnung gilt, was vom Glauben gesagt wird, St' i\- ■f:iho<; sYYi^oH'-ev r& ösoi, 7, 19. 3, 6. In der Hoffnung erhebt tbich der Mensch über das Materielle und Irdische, um ein Höheres 'au ergreifen , oder zu glauben. Fragt man nun aber nach dem eigentlich seligmachenden Inhalt dieses Glaubens, so ist das Eigenthümliche dieses Begriffs des Glaubens, dass die specielle Beziehung des Glaubens auf Christus gegen die allgemeine auf Gott sehr zurücktritt. Als Inhalt des Glaubens wird angegeben, glauben, dass Gott ist, und denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird, U, 6. 26, dass er treu ist in Erfüllung seiner Verheis- sungen V. 11, dass er die Macht hat alles zu thun, sogar Todte wieder zu erwecken, V. 19, dass er seinen Erwählten eine Stätte 'der ewigen Seligkeit bereitet hat, V. 10. 16, dass der Mensch 'nicht der Erde, sondern dem Himmel als seinem wahren Vater- land angehört. Dieser Glaube hat alles hervorgebracht, was den K. H aufgeführten Personen des allen Testaments Grosses wider- fahren ist, und was sie Grosses gethan haben, die Begnadigung der Rahab, V. 31, das Wohlgefallen Gottes an dem Opfer Abels, V. 4, die Versetzung des Henoch in den Himmel, V. 5, die Ge- burt Isaaks und die zahlreiche Nachkommenschaft Abrahams, V. II. 12 u. 8. w. Der Glaube im Sinne des Hebräerbriefs hat

Lehrbegriff des Hebräerbriefs.

eine ebenso intensive als umfassende Bedeutung. Wenn ti, 6 gesagt wird, ohne Glauben ist es nicht möglich zu gefallen, denn der, der zu Gott gelangen will, inuss glauben, dass er ist, und denen, die ihn suchen, ein Vergelter wird, so scheint zwar hier der Glaube nur theoretisch genommen zu sein, und somit Theor retisches und Practisches auseinanderzufallen. Allein das Theo-r retische ist nur ein Element des Glaubens und der Glaube begreift an sich schon auch das Practische in sich. Der Glaube knüpft überhaupt erst das Band zwischen Gott und dem Menschen, durch den Glauben erhält der Mensch erst den bestimmten Halt seiner Existenz, weil er durch den Glauben mit dem in Verbindung kommt, S'.' 8v tzxvxv. 'a.xi Si' (yj xx :rxvT!x, 2, 10, in welchem allein alles den substanziellen Grund seines Daseins hat. Ist ein- mal im Menschen durch den Glauben dieses Band mit Gott ge- knüpft, so ist der Glaube überhaupt das Princip, von welchem alle Äusserungen des geistigen Lebens ausgehen , die Einheit des Denkens und Wollens, die sittliche Macht, die ihn über alles erhebt, und alles wahrhaft Grosse wirkt, was Menschen thun können. So i.«t er daher auch das gerecht und selig machende Princip. Wie der Mensch ohne Glauben verloren geht, und der ewigen Verdammniss verfällt, so erhält und reitet er sich durch den Glauben und gelangt zum Besitz des verheissenen ewigen Lebens. Vgl. 40, 39. Durch den Glauben erhält man das Zeug- niss, dass man gerecht ist, H, 4. Der Verfasser des Hebräer- briefs spricht daher von einer ^utaioduvr xxtä ttictiv H, 7, von einer nach dem Glauben sich richtenden, nur nach Maassgabe des Glaubens stattfindenden und durch ihn bedingten Gerechtig- keit. Dieser Glaube begreift von selbst das Thun, die guten Werke in sich. Was man ^ix riuTetoc thul, ist ein spYa^Sfjöai ^ucaio«7uvY|v, 11, 33. Wenn 9, 14 gesagt wird, dass das Blut Christi unser Gewissen von todlen Werken reinige, um dem lebendigen Gott zu dienen, so sind die vsxpa spya zwar keine Gesetzes werke, sondern Werke, die sich auf nichtige endliche

Zweiter Abschnitt. ' Zweite Periode.

Dinge beziehen, in Ansehung welcher das menschliche Thun todl und unfruchtbar für das ewige Leben ist; es ist aber daraus sowohl zu sehen, wie der Glaube in demselben Verhaltniss, in welchem er mit dem lebendigen Gott in Verbindung bringt , um so thatkräftiger sein muss, als auch welches christliche Element er dazu in sich aufnimmt. Je freier und reiner von der Schuld der Sünde das Gewissen ist, um so mehr wird sich der Glaube durch lebendige Werke äussern, üa bei dem Glauben alles auf die intensive Stärke ankommt, mit welcher er sich in der Rich- tung auf sein in so weiter Ferne liegendes Object erhält, so ist eine Haupteigenschaft des Glaubens die »AaKpoOuata und die utto- U.0V7; 6, 11. 12. 10, 36. Die stete Beharrung in der einmal ge- nommenen Richtung ist so wichtig, dass mit jedem Abfall von der einmal erkannten Wahrheit alles unwiderruflich und unrettbar verloren geht, wie der Verfasser des Hebräerbriefs behauptet, 6, 4 f.

5w»i< In der weiten umfassenden Bedeutung, in welcher der Ver- lasser des Hebräerbriefs den Begriff des Glaubens nimmt, wenn er ihm von Anfang an in dem alten Bunde wie im neuen den- selben seligmachenden Inhalt gibt, spricht sich die Ansicht aus, die er überhaupt von der ganzen Religionsgeschichte hat. So gross der Unterschied ist, welchen er zwischen dem Judenthum und Christenthum annimmt, so fasst er doch beide in derselben Anschauung zusammen. Der Sohn ist zwar über Menschen und Engel unendlich erhaben, es ist aber doch zwischen der christ- lichen und vorchristlichen Offenbarung nur der Unterschied, dass nachdem Gott in vielfältiger und vielartiger Weise gesprochen hat zu den Vätern in den Propheten, er am Ende dieser Tage zu uns in dem Sohne gesprochen hat, 1, 1. Christus ist zwar ein ganz anderer Hohepriester als der des alten Testaments, und doch ist auch sein Priesterlhum nur eine andere Form des von Anfang bestehenden Priesterlhums. Alle diese Gegensätze haben nur eine relative Bedeutung, indem sie in dein allgemeinen

Lehrbegriff des Hebräerbriefs. 9d9

Gegensatz zwischen Gott und der Welt, dem Absoluten und dem Endlichen verschwinden. In keinem andern Lehrbegriff ist die Transcendenz Gottes so stark ausgesprochen, wie in dem des Hebräerbriefs. Gott oder das Jenseits ist das Einzige, dem wahre Realität zukommt, auf dieser Seite allein liegt alles Sein und aller Gehalt, das Diesseits ist dem absoluten Jenseils gegen- über eine blosse Erscheinung, es ist zwar von Gott hervorge- bracht, aber nicht um stufenweise verklärt und so endlich mit ihm zu gegenseitigem Ineinandersein vereinigt zu werden, son- dern es ist zum Untergang bestimmt. Alles, was diesseits ist, ist nur eine Tx-ta, ein uTCoSstyjxa , ein oaX£'j6[ji.£vov , und der Sohn, der an sich ganz der jenseitigen Welt angehört, tritt nur dazu in die diesseitige herein, um diese vergängliche, in sich zer- fallende Ordnung der Dinge vollends abzubrechen, und alles, was in ihr Realität hat, in das transcendenle Jenseits hinüberzu- nehmen. Daher kommt selbst alles das, was zur christlichen Offenbarung gehört, zu keiner festen geschichtlichen Realität, es ist nur dazu da, um als eine fremdartige, in diese Ordnung der Dinge nicht hereingehörende Erscheinung, nachdem es kaum gesetzt ist, sogleich wieder aufgehoben zu werden, es ist hier kein immanenter geschichtlicher Zusammenhang, wie zwischen dem ersten und zweiten Adam, keine selbstsländige Realität des Kreuzestodes, sondern Christus stirbt hier nur, um das Blut zu haben, mit welchem er in den Himmel eingehen muss, um dort die Versöhnung zu stiften, für die hier der Ort nicht ist; auch der heilige Geist hat keine festere Consistenz, es sind nur lupiC' [j(,ol 7rverj[xaTo; xylou x.aTa t/iv toO Oeou öeV/iaiv, 2, 4, er ist kein dem christlichen Bewusstseiu und der christlichen Gemeinschaft inwohnendes Princlp. Der Schwerpunkt des christlichen Be- wusstseins lie^^t hier noch so sehr in der transcendenten Welt, dass hier nicht blos nichts eine bleibende Stätte hat, sondern auch die Thatsachen des Christenthums, wie wenn sie nur als flüchtige Erscheinungen den schwankenden Boden dieser ver-

956 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

gänglichen Welt berührten, erst in der künftigen ihre wahre Realität haben.

2. Der Lehrbegriff der kleineren paulinischen ;,,;.. Briefe, mit Ausnahme der Pastoralbriefe.^^^j^^

Der LebrbegrifT dieser Briefe steht dem des Hebräerbriefs am nächsten. Der Hauptpunkt ist auch hier die Christologie, in welcher diese Briefe auf der einen Seite ebenso entschieden über den eigentlich paulinischen Lehrbegriff hinausgehen, als sie auf der andern unter dem juhanneischen zurückbleiben. Innerhalb dieser Sphäre wird die Christologie mit allen Prädicalen, die sich auf Christus übertragen lassen, so ausgebildet, dass nur die Steigerung noch übrig bleibt, die der Logosbegriff im johan- neischen Sinne enthält.

Wie im Hebräerbrief ist auch hier Christus an sich, seinem substanziellen Wesen nach, gölllich, und auch hier wird der Begriff seiner göttlichen Natur dadurch bestimmt, dass er das Bild Gottes genannt wird, Col. 1, 15. Er ist der Reflex Gottes, in welchem das an sich unsichtbare Wesen Gottes in sichtbarer Gestalt angeschaut wird. Soll also das an sich seiende Wesen Gottes, wie es das Verhältniss Gottes und der Welt nothwendig macht, in die Erscheinung heraustreten, so kann es nur durch ihn geschehen. In ihm sind also Gott und W^elt an sich eins. Sofern er an sich göttlicher Natur ist, wird von ihm gesagt, er sei, wie es Phil. 2, 6 heisst, ev (xoptp-^ ösoO 67rap;(wv, im Unter- schied von seiner menschlichen Daseinsforn». Was vom Apostel Paulus in dem Begriff des (JeÜTspo: avöpwTco; ic, oüpxvoO noch in seiner Einheit zusammengefasst ist, wird nun in zwei verschie- dene Seiten auseinandergelegt, es ist hiemit schon der Anfang gemacht, zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche in der Einen Person zu unterscheiden. Christus ist an sich Gott, und als Gott wird er unter denselben Gesichtspunkt der absoluten Idee gestellt, aus welchem das Wesen Gottes aufgefasst werden

Lehrbegriff des Epheser- und Colosser-Briefs. ^Ö7

muss. Prädicate, welche der Apostel Paulus Gott beilegt, werden auf Christus übergetragen. Was der Apostel Paulus Rom. 11, 36 von Gott sagt, es sei alles ^t' aOroC» und si? aüröv, wird auch von Christus gesagt: tx T^av-ra St' aOTOu, /.xi si; aÜTOv r/CxiTTai, Col. 1, 16. Er ist von Gott dazu bestimmt, §i' aÜToO a.'KOAa.Txk^ Ix^xi Ta xavTa sv aÜTco V. 20, durch ihn und in ihm wird alles zur Einheit des absoluten Endzwecks zusammengefasst. Die Hauptbestimmung ist aber, dass in ihm alles geschaffen ist, alles im Himmel und auf der Erde, das Sichtbare und das Unsichtbare, siTS öpovot, eiTS xupioT/iTe?, siTs apj(at, sire e^oiKJiai, alles von den höchsten Regionen der Geisterwelt bis in die untern, alles hat in ihm sein Sein und Bestehen, wie er selbst vor allem ist^ so hat in ihm alles den substanziellen Grund seines Daseins. Als. der TTpoiTOTO/co? 7:<x.<rr,t; xTiaecoi; ist er zwar in Eine Reihe mit der Creatur gestellt, er ist, wenn auch das Erste von allem Geschaf- fenen der Zeit und dem Rang nach, doch auch nur wie alles Andere von Gott geschaffen, sofern aber alles Geschaffene von ihm getragen und gehalten wird, und in ihm den substanziellen Grund seiner Einheit hat, steht er auf absolute Weise über allem Geschaffenen, er ist. somit absolut von der Welt verschieden. Gleichwohl kann sein Yerhältniss zur Welt nur als ein immanentes bezeichnet werden. Diess liegt schon darin , dass alles in ihm geschaffen worden ist; ganz besonders aber gehört hieher der eigenthümliche auf Christus übergetragene Begriff des TCAripojjxa, in welchem das immanente Verhältniss, in welchem Christus zur Kirche steht, nur als die concretere Form des allgemeinen Ver- hältnisses aufgefasst wird, in welchem er zur Welt überhaupt steht.

,j{ Christus ist, was ein specifischer Begriff der beiden Briefe ist, das Pleroma, weil in ihm erst der an sich seiende Gott aus seinem, abstracten Sein heraustritt und zur Fülle des concreten Lebens sich aufschliesst. 'Ev aÜTtji, wird Col. 1, 19 gesagt, sOS6/.r<js (6 Osö;) t;äv 7;Xrlpü)|/.a xaTOUcv^^ai. Col. 2, 9: iv aOrai

Baiir, neutest. Tlieol. 17

^ZöS «Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

xaTOixel TPav x6 7r>v^pw[ji.a tyJ? ÖeörviTO? (Jto|j!.aTucß? u. s. w. Eph. 1, 22. 23: aÜTOv s^owts xsfpaAiQv uTuep Travra tyj exx>.7)(Jia , y)ti? i<rrt <7cü{Aa auTou, TrXyipwjxa tou xavTa sv 7ra<Ji TrXvipou- [A^vou. Vgl. Eph. 3, 19. 4, 13. Christus ist das TrXy^ptojxa im höchsten absoluten Sinn, er ist 6 xa Trdtvra iv xa<Tt 7rXY)pou[y.evo;. Er ist das xXiQpcoixa Gottes, als derjenige, in welchem das, was Gott an sich ist, nach dem abstracten Begriff seines Wesens, mit seinem bestimmten concreten Inhalt sich erfüllt. Das TrXxpwaa Christi ist die Kirche, als das concreto reale Sein, mit welchem als seinem Inhalt Christus sich erfüllt. Mit dem Ausdruck TuXv^pwjAa wird ein concretes reales Sein bezeichnet, als der Inhalt eines andern Seins, mit welchem es sich zur Einheit der Form und des Inhalts zusammenschliesst. Als TrXvipou^xevo? toc xavTa dv Traai ist Christus das x>.ifip<j)jxa, das TravTa dv radt mit seinem bestimm- ten Inhalt erfüllt, und dieses 7r>.xp(0[Aa selbst ist die mit ihrem absoluten Inhalt erfüllte absolute Allheit.

Wie mit dem Begriff des TrXvipto^xa verhält es sich auch mit dem Begriff des crö[^.a. Die Kirche ist das g&[lx Christi Eph. 1, 23. 4, 12; aber auch Christus wird döjxa genannt, er ist das oö^ixa der Gottheit, sofern in ihm ttäv 7r>.T^pw[/.a rr? Gsottito;, alles, was die Idee der Gottheit mit ihrem bestimmten concreten Inhalt erfüllt, (rwjxaTtxö? wohnt, Col. 2, 9, was sich nur aus diesem Zusammenhang der Begriffe erklären lässt. Ist aber er selbst das (jöjjLa der Gottheit, so kann die Kirche nur in einem concreteren Sinn sein a&[Lx sein , da er als a&[Lx der Gottheit das Haupt der Kirche und das Princip ist, e^ ou wav r6 o&jxcn auvapixoXoyoujxevov xal (Tuf/,ßtßa^6jxevov ^la 7ra<Ty,; atpfj; rfi; <7n- j^opioyiai;, xax' evspystav iv (x^Tpto cvö? exacTOu [xipou?, nnv au^Ti^tv TOU (T<«>(ji,aTo; TCOieirai ei? oi)toSo[ji.iriv eauToO iw ayaTTYi, Eph. 4, 16, womit die Kirche in ihrem realen Sein als ein innerlich geglieder- ter, in der Idee seiner Einheit bestehender Organismus bezeichnet wird. Zu derselben Anschauungsweise, vermöge welcher die ganze Betrachtung von oben nach unten geht, jedoch so, dass

Lehrbegriff des Epheser- und Colosser-Briefs. 959

jedes folgende Moment nur die concretere Form der sich reali- sirenden Idee ist, gehört auch diess, dass das Verhältniss Christi z\i der Kirche unter dem doppelten Gesichtspunkt dargestellt wird, als das Verhältniss des Haupts zum Leib, und als ein ehe- liches Verhältniss. Wie die Kirche der Leib Christi ist, so ist Christus selbst das Haupt der Kirche. Auto? s<yTtv ri xe(pa>.Tn toG owjxaTo;, tt?? tAxkndx^. Col. 2, 19. Eph. 4, 15. Vgl. 2, 20. Christus «nd die Gemeinde erfüllen einander gegenseitig, er durchdringt sie als das alle Glieder belebende und zusammenhaltende Haupt, Eph. 4, 15. 16. Col. 2, 19, sie erfüllt ihn, sofern er in ihr sich nichts Anderes, als seinen eigenen, zu ihm selbst gehörigen Leib auferbaut. Eph. 4, 12. 15. Je mehr die Gemeinde das ist, was sie sein soll, desto mehr erwächst sie zu Christus selbst, 4, 15, zu einem vollkommenen Mann, zu der Leibesgrösse , in welcher sie Christum wirklich erfüllt 4, 13, desto mehr wird sie der das Haupt zu einem Ganzen erfüllende, vervollständigende Leib, gleichsam eine Verdoppelung Christi, ein von dem idealen Christus durchdrungener und ihn hinwiederum umkleidender realer Christus. Apostel, Propheten, Verkündiger des Evan- geliums, Vorsteher und Lehrer sind nur einzelne Glieder dieses aus Christus heraus und in ihn hineinwachsenden Leibs, 4, 11.16. So steht die Gemeinde durch diese concreto Einheit mit Christus und insbesondere durch die Gliederung, die er durch Anordnung jener Kirchenämter ihr gegeben hat, allen Versuchen, sie zu zersplittern und irre zu führen, als ein gedrungener, in sich abgeschlossener Organismus gegenüber, 4, 14. 15. Dasselbe Verhältniss zwischen Christus und der Gemeinde als dem Haupt und dem Leib wird unter der Form eines ehelichen Verhältnisses aufgefasst. Es ist ganz dasselbe Verhältniss, da Eph. 5, 28 die Y'jvatxs; die (Twaarx der av^pe? genannt werden. Die Gemeinde ist die Ehefrau Christi, weil sie der Leib ist, in welcher er erst die concreto Realität seiner Existenz erhält. Mann und M^eib bilden eine organische Einheit. Das Weib kann zwar nur in der

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S60 Zwei ter Abschni tt. Zweite Periode. f,.f

Abhängigkeit vom Mann existiren, aber der Mann kann auch nicht ohne das Weib sein, weil er in ihm erst zur vollen Realität seiner Existenz gelangt. Beide gehören wesentlich zusammen und das Band ihrer Einheit ist die Liebe. Wie der Mann in dem Weibe sein eigenes Fleisch liebt, in ihr sein eigenes Ich erkennt, so ist das Verhältniss Christi zu der Gemeinde.

Diese Bestimmungen über das Verhältniss Christi zur Kirche erhalten ihren vollen Sinn erst, wenn wir die allgemeine Idee, die der Christologie dieser Briefe zu Grunde liegt, näher in's Auge fassen. Christus ist das Haupt, das Princip, der Central- punkt von Allem. Dadurch ist er unter den Gesichtspunkt einer allgemeinen Idee gestellt. Zum Wesen der Idee aber gehört es, dass sie das, was sie an sich ist, auch in der Wirklichkeit ist. Auch die in der Person Christi enthaltene Idee muss daher in dem Princip ihrer Entwicklung sich selbst realisiren. Ausgedrückt wird diess in den beiden Briefen dadurch, es sei die Absicht Gottes (Xva)C8<pa>.anoffa(j6ai toc Travra £v Xpt<JTö, Eph. 1, 10, ^i' auToO aTuojcaTaXXa^ai xavra et; aOrov, Col. 1, 20. Wie von ihm alles ausgeht, so soll in ihn alles wieder zurückgehen, aus dem Unterschied , in welchen es aus sich herausgegangen, zu der Einheit mit sich selbst zurückgenommen werden. Diess geschieht durch die Menschwerdung, die der Epheserbrief 4, 8 f. als die Herabkunft vom Himmel zur Erde und Unterwelt darstellt. Er wendet die Stelle Ps. 68, 19 auf Christus an, und schliesst aus dem Hinaufsteigen, von welchem in dieser Stelle die Rede ist, auf das Herabkommen. Das Hinaufsteigen setzt das Herabkommen voraus, er kam herab ei; xaTtorspa {AspYj TfJ; yy??. Der, der herabkam, ist derselbe, der hinaufstieg über alle Himmel, um Alles zu erfüllen. Was hier ausgedrückt wird, ist die abwärts und aufwärts gleich weit sich erstreckende, von der höchsten Höhe bis zur untersten Tiefe hinabgehende und von dieser hin- wiederum zu jener hinaufgehende, das ganze Universum, so weit es von vernünftigen Wesen bewohnt ist, mit ihrem erlösenden

Lehrbegriff des Ephcser- und Colosser-Briefs. 261

und segnenden Einfluss umfassende und erfüllende Wirksamkeit Christi. Es ist die Idee des Christus im höchsten Sinne zukom- menden TrXr^pwjxa, die nun auch ihrem extensiven Umfang nach betrachtet wird. Ist Christus das TrXr'ptofxa im absoluten Sinne, so kann auch die diesem Begriff gemäss sich äussernde Thätig- keit Christi nur eine alles umfassende, den weitesten Kreis be- schreibende, das Oberste und Unterste mit einander verbindende sein. Die Herabkunft Christi schliesst so von selbst auch die Höllenfahrt in sich. Christus als das 7:lrt^(ä[i.x ist auch der TcÄvra TT^Tipweya?, ist er aber der toc Travxa Tr^npciXTa?, so ist er auch der si; toc xaTtoTspa pipYi t^? y^? xaraßac. Der Zweck des Hinabsteigens und Hinaufsteigens ist das avaxs(pa>.atto«Ta(j6at xa Tzocrzx dv T(o XpwTto, alles in Christus zu recapituliren und an die ursprüngliche Einheit anzuknüpfen, in welcher es in ihm den substanziellen Grund seines Bestehens hat. Aus diesem allge- meinen Gesichtspunkt muss daher das Werk Christi betrachtet werden. Seine Bestimmung ist die allgemeine Versöhnung und Vereinigung des Universums. Alles im Himmel und auf Erden soll in ihm eins werden. Das ist der von Gott von Ewigkeil gefasste Rathschluss, welcher in Christus zu der hiezu bestimmten Zeit erfüllt und verwirklicht wird. Eph. 1, 10 f.

Diess ist ganz besonders auch der Zweck seines Kreuzes- todes. Wie Gott durch ihn und in Beziehung auf ihn, so dass in ihm alles seinen letzten Endzweck hat, alles versöhnen wollte, so hat er in dem Blute seines Kreuzes durch ihn Frieden gestiftet für die Gesammtheit aller Wesen auf der Erde und im Himmel. Col. 1, 20. Es geschieht diess auf verschiedene Weise. Die beiden Briefe betrachten den Tod Christi als einen Kampf mit einer Gott feindlichen Macht. Je höher und allgemeiner der Ge- sichtspunkt ist, unter welchen die Person und das Werk Christi gestellt wird, um so mehr steigert sich dadurch die Idee des Gegensatzes. Die Christus entgegenstehende Macht ist die des apj^tov T^? iEoudia; tou ispo?, Eph. 2, 2, es sind die äp^ai xai

SB? Zweiter Abschnitt. Zweite Periode,

.i^orjfjia.1 SV ToT? eiroupav^ot? , Eph. 3, 10. vgl. Col. 2, 15, die )co<i- (xoxpdtTops? ToO »JxoTOu«; TOUTOu, die 77V£u{xaTiy.a ttS? Trovvipia; sv toi? ETcoupa/ioi?, Eph. 6, 12. Der Tod Christi ist daher die Überwin- dung dieser feindlichen Mächte und Gewalten, Gott hat sie, wie es Col. 2, 15 heisst, im Tode Christi entwaffnet, sie öffentlich zur Schau dargestellt, und in Christus im Triumph aufgeführt. So sind die appvxe; toO aiwvo; tootou, von welchen der Apostel 1 Cor. 2, 8 noch in unbestimmtem Sinne sprach, zu einer über- sinnlichen Macht geworden , und die Bekämpfung und Besiegung dieser Mächte und Gewalten ist eine auf die sichtbare und un- sichtbare Welt sich beziehende That. In näherer Beziehung zum paulinischen Lehrbegriff wird zum Versöhnungswerke Christi besonders die Aufhebung des Gesetzes gerechnet. Gott heftete das Gesetz, das Schuldbuch der Menschen, an's Kreuz, um es aus der Welt hinwegzunehmen, Col. 2, 14, dadurch sind die Menschen mit Gott versöhnt. Die, die ehedem Gott entfremdet und feindlich von Gesinnung in den bösen Werken waren, hat er mit sich versöhnt. Das Mittel der Versöhnung war der ge- lödtete fleischliche Leib Christi. In dem Tode Christi ist der fleischliche Leib, die <TapE als der Sitz der Sünde, von uns aus- gezogen und hinweggenommen worden. Die Taufe stellt diese Ertödtung und Begrabung des fleischlichen Leibs dar, sie ist gleichsam eine neue Beschneidung, die christliche, die 7repiT0(ji.T, Tou Xpt<jToO , in welcher die Vorhaut des Fleisches von uns ge- nommen ist. Wie wir mit ihm begraben sind, so sind wir auch mit ihm auferweckt durch den Glauben an die Macht Gottes, der ihn von den Todten auferweckte. Und die Folge dieser Versöhnung durch den Tod Christi ist, dass wir im Bewusstsein der Freiheit vom Gesetz und der Vergebung der Schuld der Sünden, heilig, untadelig und unsträflich vor Gott stehen. Col. 1, 20 f. 2, 11 f. Ein besonderes Moment des im Tode Christi sich vollziehen- den allgemeinen Versöhnungsprocesses ist die Vereinigung der •Juden und Heiden zu einer und derselben religiösen Gemein-

Lehrbegriff des Epheser- und Coloss cr-Br iefs. IS63

Schaft. Der Tod Christi ist eine von Gott für den Zweck getroffene Veranstaltung, die Scheidewand zwischen Heiden und Juden auf- zuheben, und durch den zwischen beiden gestifteten Frieden beide zusammen mit Gott zu versöhnen. Dem Judenthum ist sein absoluter Vorzug durch die Beseitigung des mosaischen Gesetzes genommen. Indem so alle nationalen Unterschiede und Gegen- sätze, mit allem, was sonst in den verschiedenen Lebensver- hältnissen die Menschen von einander trennt, im Christenthum vermittelst des Todes Christi aufgehoben sind, stellt sich im Christenthum selbst ein neuer Mensch dar, welcher nun den ihm noch anhängenden alten Menschen auch practisch immer mehr abzulegen hat. Col. 3, 9. Eph. 2, 10. 15. 4, 22. Beide, Heiden und Juden, sind so zu Einem Leibe vereinigt, mit Gott versöhnt worden , beide haben in demselben Geiste den Zutritt zum Vater. Er selbst aber, der Stifter dieser allgemeinen Versöhnung, ist dadurch, dass ihn Gott von den Todten erweckt und zu seiner Rechten im Himmel gesetzt, weit über jede Macht und Gewalt erhöht und ihm alles unterworfen und ihn zum Haupt über alles für die Kirche gemacht hat, der nun erst alles in allem Erfüllende geworden, Eph. 1, 20 f. 4, 10, Sein Herabsteigen und sein Hinaufsteigen hat den Zweck, Iva T^X'/iptoa-/) töc TuavTa, Eph. 4, 10. Er erfüllt alles im concretesten Sinne in der Kirche, seinem Leibe, durch die Verleihung der verschiedenen Geistesgaben zum Bestehen der Gemeinde, 4, 6. Wie er sind auch wir vom Tode erweckt und zur Rechten Gottes im Himmel erhoben , Eph. 2, 6. Was von ihm, dem Haupte des Leibs, gesagt wird, gilt auch von allen, die als Glieder seines Leibs mit ihm identisch sind. Indem Gott auch uns ouve^aöicev sv toic sTiroupavioi; sv Xpiarcp 'Iy)(70ö, ist dadurch erst das äva/ce^aXatwaaaöai ra xavTa dv xcp Xpi(JTß, das der Hauptzweck der oUovojxCa toO 7rXYipci)(jiÄT0? töv XÄipöv ist, Eph. 1, 10, zu seiner vollen Wahrheil geworden.

Alle jene Momente, in welchen die Geschichte Christi, in seinem xaTaßaiveiv und ävaßaiveiv, ihren Verlauf nimmt, sind

964 Zwei ter Abs chnitt. Zwei tVrer iode. '"

ebenso viele Momenle der sich selbst realisireiiden Idee. Christus ist zwar an sich das Haupt von Allem und ganz besonders voji der Kirche, was er aber an sich ist, erhält erst dadurch, dass die Idee in ihrer geschichtlichen Entwicklung in die Wirklichkeit heraustritt, seine volle reale Bedeutung. Wenn also auch Christus 7rp6 TcavTwv ist, so ist er doch die apj(vi, der TrpwToxoxo; ix twv vsxpöv, Iva YsviriTat £v xacrtv aOxoc .TrptoTSotov, Col. 1, 18. Was er also an sich ist, muss er doch erst werden. Die Idee muss sich erst in dem Process der geschichtlichen Entwicklung, in welchen sie eingeht, realisiren. Daher erhallen die Hauplthal- sachen der Geschichte Christi als Momente der sich selbst reali- sirenden Idee eine selbstständige reale Bedeutung, sie sind die nothwendige Bedingung, unter welcher allein die Person Christi zu der absoluten Bedeutung, die sie an sich hat, erhoben wer- den kann. Wenn auch Christus an sich der Centralpunkl von Allem und die Einheit ist, in welcher alle Gegensätze versöhnt sind, so ist er doch erst durch seinen versöhnenden Tod der, in welchem alles versöhnt ist, alle Gegensätze und trennenden Unterschiede aufgehoben sind, und nur so ist «er selbst über alles erhöht worden. Es ist acht paulinisch, dass der Tod Christi als der reale Mittelpunkt der ganzen Christologie betrachtet wird ; darin geht aber der Lehrbegriff dieser Briefe über den paulini- schen hinaus, dass über alles, was Christus seiner geschichtlichen Bedeutung nach ist, die an sich seiende Idee der Person Christi gestellt wird. Von der Idee geht hier alles aus, und die ganze Person Christi wird unter den Gesichtspunkt der metaphysischen Nothwendigkeit des Processes der sich realisirenden Idee gestellt. Auf der andern Seite wird aber doch wieder alles, was sich auf die Person Christi bezieht, als ein freier Act der Liebe Gottes betrachtet. Christus ist der Sohn der Liebe Gottes, Col. 1,13, und in ihm vollzieht sich der geheimnissvoll von Ewigkeil aus freiem Wohlgefallen gefasste Ralhschluss Gottes. Eph. i, 9 f. Die Grundidee dieser Christologie, dass, was Christus an

Lebrbegriff des Philipperbriefs. VÖö

sich auf absolute Weise ist, er erst auf dem geschichtlichen Wege des von ihm vollbrachten Werks und des ganzen Processes, welchen er an sich selbst durchgemacht hat, werden kann, sleHt sich uns in einer eigenthümlichen Form im Philipperbrief dar. Die verschiedenen Momente, die in dieser Christologie zu unterscheiden sind , legt der Philipperbrief genauer auseinander. Christus ist, was er ist, schon an sich auf absolute Weise, und doch muss er auch wieder das erst werden, was er nach der Idee seiner Person sein soll. Wozu wäre er Mensch geworden, gestorben, auferstanden, wenn alles diess für ihn selbst nichts zur Folge gehabt hätte? Auf der einen Seite ist er also an sich schon alles, auf der andern muss er das, was er noch nicht ist, erst werden. Beides lässt sich nur so vereinigen, dass er dessen, was er schon ist, sich entäussert, um das, dessen er sich ent- äussert hat, mit der vollen Realität der mit ihrem absoluten Inhalt erfüllten Idee zurückzuerhalten. Diess ist die Idee des Philipper- briefs. Christus ist an sich göttlicher Natur, er ist ev [Aopfpf, SsoO, aber er entäussert sich derselben, und legt die [xop<pin 6soO ab, um die [j(.op<pYi SouXou anzunehmen, die Folge davon aber ist, dass er wegen seines Gehorsams bis zum Tod über alles erhöht der Gegenstand der allgemeinen Anbetung wird 2, 6 f. Was die beiden Briefe von Christus in Beziehung auf die Welt und die Kirche allgemein und objectiv aussagen , dass Christus als das 7:>.rpwL;.a, das er an sich ist, alles in allem erfüllen müsse, fasst der Philip- perbrief in Beziehung^ auf Christus selbst aus dem sittlichen Ge- sichtspunkt auf. Die göttliche Würde, die Christus an sich hat, muss für ihn auch das Resultat seiner eigenen sittlichen That sein. Darum legt er sie selbst ab, um sie als den Lohn seines Gehor- sams um so herrlicher wieder zu empfangen. Um aber den vollen Sinn dieser Stelle zu verstehen, muss man auch wissen, in welchem Sinne von einem Raub die Rede ist. War Christus iv p-op<p-^ Oso'j ÜTcapj^wv, so hatte er als solcher die Qualität eines göttlichen Wesens. War nun aber dieses iv {/.op(p-9 0gou u7rap;^eiv

.jW6 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

noch kein eivai loa. Oetji, so muss vorausgesetzt werden, dass das, was er an sich war, als ev [xop^?i SeoO uTrapjrtov, erst dann zu einem elvai loa 6e^ werden konnte, so dass es ihm in der Wahrheit und Wirklichkeit zukam, nachdem er seine göttliche Natur auf dem Wege des sittlichen Strebens durch die Erprobung seines Gehorsams bethätigt hatte. Hieng aber das eivai loa öst^i ganz am Begriff des Sittlichen , wie kann Christus auch nur ent- fernt der Gedanke an die Möglichkeit zugeschrieben werden, ohne sittliche Bethatigüng zu erhalten, was nur Folge einer sitt- lichen That sein kann? Wie ist es zu erklären, dass der Ver- fasser des Briefs auch nur verneinend von einem Raube spricht? ^ff^ ;. Es lässt sich diess nur aus dem gnostischen Ideenkreise erklären. Die Gnostiker sprachen von einem Aeon, welcher das absolute Wesen Gottes auf unmittelbare Weise erfassen wollte, und weil er so das an sich Unmögliche erstrebte, aus dem TcXif^ptdixa in das xevujxa herabfiel. Dieser Aeon begieng so gleichsam einen Raub, weil er, der in der Qualität eines gött- lichen Wesens an sich die Fähigkeit hatte, sich mit dem Absoluten zu vereinigen, diese Identität, welche erst durch den ganaen Weltprocess realisirt werden konnte, gleichsam sprungweise, mit Einem Male, durch einen gewaltsamen Act, oder wie durch einen Raub an sich reissen wollte. So erhält erst die bildliche Vorstellung eines äpTcayi^-o; ihre eigentliche Bedeutung. Es war ein Raub, weil der Aeon willkürlich und gewaltsam vorgreifend an sich reissen wollte, was erst in einer bestimmten Ordnung, durch eine Reihe vermittelnder Momente ihm zu Theil werden konnte. Nicht blos das Selbstsüchtige und Anmaassende, Eigen- mächtige, sondern auch das Vorgreifende, Anticipirende gibt den vollen Begriff des äpTrayf^-o;. Wie der ä.ft'KK^^oi; bei jenem Aeon darin bestand, dass er auf voreilige, hasüg zugreifende Weise auf einmal haben wollte, was er nachher doch erhielt, so ist auch bei Christus das cauxdv xevoOv und das szjtov TaxeivoOv mit allem, was dazu gehört, nur der Weg, auf welchem 6 bio^

Lehrbegriff des Philipperbriefs. ^G7

aÜTÖv Owepui];t«xye u. s. w. oder jenes hx civai Oe<^ sich verwirk- lichte. Die über alles erhabene Ehre und Würde, zu welcher Jesus erhöht wurde, ist nur der reelle Besitz dessen, was das elvai i<ia 9sö in sich begreift, worauf er als dv {/.opcp^ 6eou uTrapywv an sich das Recht hatte. Nur vorher also, ehe es in der von Gott bestimmten Ordnung geschah, auf abrupte Weise sollte er es nicht haben. Der gnoslische Mythus soll den Gedanken aus- drücken, dass alles in der Welt durch einen bestimmten Ent- wicklungsprocess hindurchgehen muss, die geistigen Subjecte erst dadurch die Idee dessen, was sie an sich sind, in sich rea- lisiren, dass sie in der endlichen Welt in alle Momente des end- lichen Daseins eingehen, und aus dem Endlichen sich zum Unendlichen erheben. Diese speculalive Idee hat der Verfasser des Philipperbriefs auf das sittliche Gebiet übergetragen und Christus als sittliches Vorbild der Selbstentsagung und demuths- vollen Erniedrigung aufgestellt, sofern man an ihm sehe, dass man nicht auf voreilige , hastig zugreifende Weise etwas an sich ziehen soll, worauf man zwar an sich ein Recht hat, was man aber nur auf einem bestimmten Wege, und erst wenn man die ganze Reihe der daran geknüpften Bedingungen erfüllt hat, er- langen kann. Auf dem sittlichen Gebiet versteht sich diess von selbst. Alles Sittliche hat erst dadurch seine Realität, dass es durch die sittliche Thätigkeit des sich selbst bestimmenden Sub- jects zur bestimmten sittlichen That wird. Nur daraus also, dass der Verfasser des Philipperbriefs jene speculative Idee der Gnosis vor Augen hatte, lässt es sich erklären, dass er diese sittliche Anwendung von ihr machte. Die Veranlassung dazu aber lag darin, dass die Christologie dieses Briefs an sich schon ein spe- culatives Element in sich hat. Wenn Christus an sich göttlicher Natur ist, und als allgemeines kosmisches Princip an der Spitze des ganzen Weltlaufs steht, so ist schon darin auch die Idee eines bestimmten Processes enthalten, welcher seinen Verlauf nehmen und auch für Christus selbst ein bestimmtes Resultat

IP^ Zweiter AbBchnitt. Zw eite Periode.

haben muss. Das Resultat kann nur sein, dass Christus am Ende des ganzen Processes der Weltentwicklung das ist, was er an sich schon ist, aber ernst es nun auf andere Weise, entweder speculativ so, dass die an sich seiende Idee in ihm mit der Rea- lität ihres concreten Inhalts sich erfüllt hat, oder ethisch so, dass er was er an sich ist, auch auf dem Wege der sittlichen Bethätigung geworden. Diess letztere ist der Gesichtspunkt des Philipper- briefs, hier ist die Christologie in ihren drei Momenten, des uTcapyeiv iv (Jt-opcij ÖsoQ, des sauTÖv xevoOv und [xop(pTriv oouXou XaßeTv, und des uTrepu^'OuaOai ethisch aufgefasst, jedoch so, dass die zu Gfunde liegende speculative Idee deutlich hervorblickt. Ein darauf sich beziehender Zug ist 2, 10 die Unterscheidung der drei Classen von Wesen, der ^Troupavtot, iniyzioi und xaTa)(^96vioi, welche alle auf gleiche Weise die Kniee vor Christus beugen. Er ist also nicht blos der Erlöser der Menschen, sondern seine Thätigkeit erstreckt sich auf das ganze Universum von den höch- sten Regionen der Geisterwelt bis hinab in die Unterwelt, worin, wie Ephes. 4, 9, die Idee der Höllenfahrt ausgedrückt ist. Er ist also auch hier der toc Travxa dv Trxffi 7w>.Yipou[xevo;, der alles in sich Einigende und Zusammenfassende.

"■■' Je allgemeiner und umfassender so der Gesichtspunkt ist, unter welchen die Person Christi gestellt wird, und je mehr die ganze Idee dieser Christologie darauf beruht, in Christus ein an sich göttliches über alles Endliche absolut erhabenes Wesen an- zuschauen, um so mehr muss das Menschliche gegen das Gött- liche zurücktreten. Ist das Göttliche das Substanzielle, so kann das Menschliche nur ein Accidens sein. Von der [Aop9iri 9eoO wird zwar die [jt,op(pr, ^ouXou unterschieden, an sich aber ist Christus göttlicher Natur, und die y-opfp-io SouXou ist nur eine für eine be- stimmte Zeit angenommene Gestall, in welcher Christus nicht nur Mensch wurde, sondern auch als Mensch für den Zweck der sittlichen Erprobung alles Niedrige des menschlichen Daseins 'ertrug. Die Menschheit, in welcher er erschien , ist der ppfpr,

Lebrbegriff des Philipperbriefs. ^69

OeoO gegenüber an sich schon eine [Aop(pYi ^ouXou, da er als Mensch nur ein niedriger leidensvoUer Mensch sein konnte. Wie es aber auf dem Standpunkt dieser Christologie mit der Menschheit Christi sich verhält, zeigen die Ausdrücke, deren sich der Philipperbrief bedient, deutlich. War Christus, als ev 6[ji,otco[j!,aTi avöptoxtov ysvo- |ji,evo;, nur ojxoio? den Menschen, 2, 7, so war er kein wahrer und wirklicher Mensch, sondern schien nur ein solcher zu sein. Nur Ähnlichkeit, Analogie, nicht aber Identität und Wesensgleichheit kann der Ausdruck 6{jL0tt«)(7.« bezeichnen C«nan vgl. Rom. 6, 5), und die Stelle Rom. 8, 3, wo vom Sohn gesagt ist, Gott habe ihn gesandt iv ojxoitojj'-aTi cap^o; ajxapTta?, ist hier allerdings parallel, da Christus, wenn er keine <jap^ a[y-apTia? hatte, auch keine wahre <7ap^ haben konnte. An dieser Bedeutung von 6{xoiü)(xa. ist in unserei- Stelle um so weniger zu zweifeln, da auch das unmittelbar dabei stehende «i^^yifxaTt Eupsösl; tlx; avöpwxo? V. 8 nicht anders genommen werden kann. Will man auch w? und sOpsÖ-^vai nicht premiren, so liegt doch in cxfi^ gar zu deutlich nur der Begriff eines externus habilus, und zugleich der Begriff des Wandelbaren, Vorübergehenden, in kurzer Zeit Verschwinden- den. Die Ausdrücke des Briefs lassen daher selbst kaum die Annahme zu, dass Christus ein wahrhaft menschliches Subject gewesen sei.

Wie die Christologie dieser Briefe abgesehen von diesem letzten Punkt über die des Apostels Paulus hinausgeht, so ist ihr Lehrbegriff auch in der Lehre vom Glauben und von der Recht- fertigung nicht streng paulinisch. Der Philipperbrief hebt zwar 3, 9 die paulinische ^tjcaioduvyi Sia ttiotswi; XpicToO als die ex 6eou ^ixaioouvvi iizi t^ mcTet sehr nachdrücklich im Gegensatz gegen die ^ixato<juvy) h. vojxoi» hervor, es geschieht diess aber auf eine sehr üusserliche Weise. Es ist nicht mehr das Interesse, den Glauben im Gegensatz gegen die Werke überhaupt als das Princip der Rechtfertigung festzustellen. Im Colosser- und Epheserbrief ist von der Rechtfertigung, der ^ixaioauvri im spe-

Www Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

cifischen paulinischen Sinne gar nicht die Rede, sondern nur von Sündenvergebung, Erlösung, Versöhnung. Eph. 2, 8 wird es zwar dem Glauben zugeschrieben, dass wir durch die Gnade erlöst sind, aber nur um alles vorangehende Verdienst der Werke auszuschliessen, und es wird dagegen neben dem Glauben den Werken weit grösseres Gewicht beigelegt, als in den Briefen des Apostels. Die Hauptforderung ist, des Herrn würdig zu wan- deln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werke Frucht zu bringen und in vollkommener Erfüllung des Willens Gottes den der Idee Christi entsprechenden vollkommenen Menschen ganz in sich darzustellen, Col. 1, 10. 28. 4, 12. Die guten Werke werden als ein nothwendiges Moment hervorgehoben: der Epheserbrief schliesst sie sogar in die Vorherbestimmung ein : wir sind ein Geschöpf Gottes, geschaffen in Jesus Christus zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitete, damit wir in den- selben wandeln sollen, 2, 10.

'**^ Der Iranscendenten Christologie dieser Briefe und ihrer darauf beruhenden Anschauung von dem alles umfassenden und über alles übergreifenden Charakter des Christenthums ist es ganz gemäss, dass sie in der Lehre von der Beseligung der Menschen auf eine überzeitliche Vorherbestimmung zurückgehen, Eph. 1,4 f. Alles hängt an dem ewigen in der Zeit sich ver- wirklichenden Rathschlüss Gottes. Je mehr alles, was sich auf die Seligkeit des Menschen bezieht, über das zeitliche Dasein hinausliegt, um so mehr kann es nur als ein freies Geschenk der göttlichen Gnade angesehen werden. Die Gnade ist das den Menschen durch den Glauben an Christus neu schaffende Princip. Etwas Neues muss nämlich der Mensch durch das Christenthum werden. Es muss der alte Mensch ausgezogen und der neue angezogen werden, der gegen den vorigen ein ganz anderer ist, Col. 3, 9. Eph. 4, 21 f. Was der Colosserbrief einfacher so aus- drückt: äTre)tSu<jau-evot xTiTavTo; aOröv, hat der Epheserbrief weiter so ausgeführt : ä7:o0s<y6at /caxa -nnv T^poripav «va<7Tpo^Vlv

Lehrbegriff des Epheser- und Colosser-Briefs. ^71

TÖv TWtXaiöv avöpcDTTov Tov <p6eip6[ievov u. s. w. Die Wahrheit, die in Christus ist, wird hier darein gesetzt, abzulegen was den frühern Wandel betrifft, den alten Menschen, der zu Grunde gebt vermöge der Lüste des Trugs, d. h. der nur Eitles und Nichtiges vorspiegelnden Lüste, dagegen erneuert zu werden dem Geiste der Gesinnung nach und anzuziehen den neuen Men- schen, der nach Gott geschaffen ist in Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit. Der neue Mensch ist demnach kein schlechthin neuer, sondern nur ein erneuerter, sofern in ihm das Bild, nach welchem der Mensch ursprünglich von Gott geschaffen worden ist, wiederhergestellt wird. Das ursprünglich anerschaffene Ebenbild Gottes ist das Vorbild des zu erneuernden Menschen, das Christenthum ist somit selbst nichts schlechthin Neues, son- dern nur die Zurückführung des Menschen zu seiner ursprüng- lichen Würde und Vollkommenheit. Erneuert wird der Mensch 7rveu(xaTi toG voö?, wobei unter 7rvs0[xa nicht der göttliche Geist zu verstehen ist, sondern der Geist des Menschen, welcher als das TTveuixa toO voö; das substanzielle geistige Princip ist, von welchem auch die sittliche Umbildung der Gesinnung ausgehen muss. Dass diese Erneuerung nur durch Gott geschehen kann, wird in beiden Stellen nicht ausdrücklich gesagt, es liegt aber darin, dass die Seligkeit überhaupt ein Geschenk Gottes ist, und die T^ X^P'*^^ <ye(7W(j[7-evot Sia tt)? TrtdTsw; ein Tuoiyijxa Gottes sind, jtTKTÖevTe? dv XpwTö 'Ititou Eph. 2, 8—10. Durch das Christen- thum wird also der Mensch eine /catvvi y.Tirri;, das Christenthum greift als ein neues schöpferisches Princip in das Leben des Menschen ein, es wird ein neues Bewusstsein in ihm geweckt, in welchem das Neue vom Alten sich scheidet, wie das Licht von der Finsterniss. Der Mensch ist aus der d^ou^iia toO (ixotou; in die ßaadeia toO utoQ Tfl? dYainri? versetzt, Col. 1, 13, und wo zuvor nur ein Zustand des Todes war in den TrapaTTTwjxaTa und in den ajJiapTiai, iv al; u. s, w. Eph. 2, 1 f., da ist nun ein neues durch die Gemeinschaft mit Christus gewecktes Leben. Als der

Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

neue mit Christus auferweckte Mensch kann er auch nur dahin streben, wo Christus ist, Col. 3, 1 f. Derselbe Gegensatz des Todes und des Lebens, welcher sich in Christus darstellt, ist der Process, welcher in jedem Menschen in seiner Einheit mit Christus seinen Verlauf nehmen muss. In der Anschauung der Person Chrisli hat der G«ist alles vor sich, was er werden soll, und was aus ihm werden soll. In dem ra avw ^viTStv, Col. 3, 1 f. hat er sein 7ro>.iTSo[xa iv oüpavoi?, z^ ou u. s. w. Phil. 3, 20 f. ^^,; Wie es dem Apostel Paulus vor allem darum zu thun ist, den Glauben als das die Einheit mit Christus vermittelnde Princip festzustellen, so fassen diese Briefe vorzüglich die aus dem Glauben hervorgehende sittliche Vollendung des Menschen in's Auge. Schon diesem Praclischen gegenüber tritt der Glaube im paulinischen Sinne zurück, ebenso aber auch dadurch, dass diese Briefe, was gleichfalls eine Eigenlhümlichkeit derselben ist, das Christenthum ganz besonders als Sache des Wissens auffassen. Was der Apostel Paulus mehr nur in polemischer und persönlicher Beziehung als das Characteristische des Christen- thums hervorhebt, dass es eine ^(pia öeoO i\ |j.'j(TTxpi(«> ist, ist der vorherrschende Gesichtspunkt, unter welchen diese Briefe das Christenthum stellen. Schon das immer wiederkehrende Wort (;.u(TT7iptov zeigt, welches Gewicht hier daraufgelegt wird, dass das Christenthum für den Menschen Gegenstand und Inhalt des Wissens ist. Von dem im Geheimniss Christi enthaltenen Reichlhumder Yvöat;, iTti^^mcn;, der co^ix, der (juvect? Ist immer wieder die Rede. In Christus selbst sind alle Schätze der Weis- heit und Erkennlniss verborgen, Col. 2, 3. Erleuchtet müssen die Augen sein, um zu wissen, was die Hoffnung der Berufung ist u. s. w. Eph. 1, 18 f., und das ^i^aa/ceiv iv i:(x.cn^ <;o(pia ist für jeden nothwendig, um ihn zu einem vollkommenen Menschen in Christus zu bilden, Col. I, 28. Selbst der Philipperbrief fasst die Auferstehung, das Leiden und den Tod Chrisli von dieser theoretischen Seile auf, dass er wissen will die Suvauti? ruf? ava-

Lehrbegriff des Epheser- und Colosser-Briefs. 273

(rradsto; u. s. w. 3, 10. Wie die Werke, als die Bethätigung des Siltlichen, dem Glauben in selbstständiger Bedeutung gegen- übertreten, so löst sich auch das andere Element des religiösen Bewusstseins von seiner Einheit mit dem Glauben ab, und es ist dem Glaubenden vor allem darum zu thun, theoretisch zu wissen, was der Inhalt des Glaubens ist. Dieses Hervorheben des Wissens und Erkennens, als des eigentlichen Wesens der Religion und des Christenthums weist diesen Briefen von selbst die Zeit ihrer Entstehung in der Nähe der gnostischen Periode an.

Ist das Christenthum ein vor Anfang der Welt vorherbe- stimmtes, über alles Andere unendlich hinausliegendes und von Ewigkeit her in Gott verborgenes, den Menschen nie zuvor be- kannt gewordenes, erst durch Christus verkündigtes und durch den Geist seinen Aposteln und Propheten geoffenbartes [AucTvipiov, Eph. 3, 5 f., so ist ebendamit auch die absolute Erhabenheit des Christenthums über Judenthum und Heidenthum ausgesprochen. Beide verhalten sich gleich negativ zum Christenthum, das ihnen gegenüber 6 Xoyo? t^; iXr.Ö&ta? ist, Eph. 1, 13, oder «pw? im Gegensatz von (txoto;, 5, 8. Die Juden und die Heiden waren wegen der allgemeinen Sündhaftigkeit dem göttlichen Zorn ver- fallen, Eph. 2, 3. Der religiöse Charakter des Heidenthums wird noch besonders dadurch bezeichnet, dass die Heiden aOsoi iy zu xoGjjLü) sind, 2, 12, ifr/corwpisvoi t^ Stavoia ovts;, 4, 18, ÄTT/iX- XorpiwjjLSvot T^? ^w/J; Tou ösou oia Tr,v ayvoiav n^v oucav sv auToi?, 4, 18, TcsptffaToOvTe? xapa tov aicSva toO mg^lou toutou, 2, 2, XÄTÖt TOV apj(^ovTa rn; i^oucta? tou aspo;. Beiden Religionen gegenüber ist das Christenthum die absolute Religion. Der ab- solute Charakter des Christenthums selbst aber ist bedingt durch die Person Christi. Daher kann nun alles, was neben der Person Christi zwischen Gott und den Menschen vermittelnd sich hinein- stellt und als ein nothwendiges Mittel der Einigung und Ver- söhnung der Menschen mit Gott gelten soll, nur als eine Beein- trächtigung des absoluten Charakters des Christenthums angesehen

B«ur, Mutest. Theol. 18

IS74 Zweiter Abschni tt. Zweite Periode.

werden. In dieser Beziehung polemisirt der Colosserbrief sowohl gegen einen mit der Würde Christi unverträglichen Engelcultus, als auch gegen eine den Menschen knechtisch an die <TTOij(sta toO -ytöcjAou bindende Ascese. Die im Colosserbrief gemeinten Engels- verehrer setzten ohne Zweifel Christus selbst in die Classe der Engel, als sva töv dcpj^ayysXtov, wie diess Epiphanius als einen Lehrsatz der Ebioniten angibt, wogegen der Colosserbrief mit allem Nachdruck auf ein solches jtpaTSiv ttiv xe^paV/iv dringt, dass alles, was nicht das Haupt selbst ist, nur in einem absoluten Abhängig- keilsverhältniss zu ihm stehend gedacht wird 2, 19. Aus dem- selben Gesichtspunkt einer Antithese gegen alles, was der abso- luten Würde Christi Eintrag Ihut, ist auch das zu betrachten, was sowohl gegen die Beschneidung als auch gegen die czov/zXci. toQ x6(j;xou gesagt wird 2, 8 f. Eine Lehre, welche den Menschen in religiöser Hinsicht von seinem natürlichen bürgerlichen Sein, von der materiellen Natur abhängig machte, und sein religiöses Heil durch die reinigende und heiligende Kraft, die man den Elementen und Substanzen der Welt zuschrieb, den Eintluss der Himmels- körper, das natürlich Reine im Unterschied von dem für unrein Gehaltenen vermittelt werden Hess, setzte die (yxoiytXx tou )c6(J(aou an dieselbe Stelle, welche nur Christus als Erlöser haben sollte. In diesem Sinne werden V. 8 die aToiysXix. toO x6(J(7-ou und Christus einander gegenübergestellt. Das ist die Philosophie in dem Sinne, in welchem das Wesen der Philosophie als Weltweisheit be- zeichnet wird, als die Wissenschaft, die es mit den <jToi)^eta toO )f.6<s^o\> zu thun hat. Als solche ist sie auch nur eine xevin dcTraTin, eine blosse zapaWt? töv äv9pto7rcov , im Unterschied von dem Christenthum, das als die absolute Religion statt jener natürlichen Elemente der andern Religionen das TrXTfiptofxa rfj; Osötyito; in sich hat.

Obgleich so betrachtet Judenthum und Heidenihum in einem gleich negativen Verhältniss zum Christenthum stehen, so wird doch auch wieder zwischen Judenthum und Christenthum eine

Lehrbegriff des Epheser- und Colosser-Briefs. Ä75

gewisse Identität angenommen. In diesem Sinne spricht der Colosserbrief 2, 17 von dem alten Testament als einer ay.Kx. Wenn die Satzungen der alttestamentlichen Religion ein Schatten- bild des Künftigen genannt werden, während dagegen t6 cÄ[;-a ToO XpKTToO ist, die wahre Wirklichkeit nur im Christenthum ist, so wird zwar der alttestamentlichen Religion hiemit nur ein ge- ringer Grad von Wahrheit und Realität zugestanden, da aber in cKix auch das Verhältniss von Bild und Sache liegt, so enthält auch schon dieses Schwache und Unvollkommene, wenn auch nur auf bildliche Weise, eine nähere Beziehung zum Christen- thum. Als das dem Christenthum vorangehende Schattenbild enthält das Judenthum Züge, die sich auch im Christenthum finden, Analogien, in welchen das Christenthum als die Wahr- heit und Wirklichkeit des Judenthums sich nachweisen lässt. In diesem Sinne stellt der Colosserbrief die Taufe als Beschneidung dar 2, H. Dem Judenthum ist zwar der absolute Anspruch, welchen es mit seinem Gebot der Beschneidung machte, genom- men, aber dafür soll nun auch das Christenthum eine Beschnei- dung haben, wenn auch keine iv r;apx.l ^^sipoTCoCnTO?, doch eine xjsi^OTZoinxoc, , SV xi) ä77£x.SuGSt Tou aoi^.oiTOc T?\q (japxö;, die Trspi- ro^.ri ToCi XpwToO, die durch die Taufe stattfindet, in welcher Christus die vsxpou? ovTa? sv r^ axpoßuaxia r/)? dapxö? lebendig macht, dadurch nämlich, dass sie aller sinnlichen Lüste und Begierden sich begebend zu einem sittlich heiligen Leben geweiht werden. Schon dadurch werden Judenthum und Christenthum näher zusammengerückt und als an sich eins betrachtet. Noch deutlicher geschieht diess Eph. 2, 11 f. Wenn hier von den Heiden gesagt wird, dass sie Vorhaut genannt von der soge- nannten fleischlichen Beschneidung, in der ganzen Zeit des Heidenthums ohne Christus, fern von der Bürgerschaft Israels und unbekannt mit den Bundesverheissungen ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt gewesen, jetzt aber als die ehmals fern Stehenden nahe gekommen seien in dem Blute Christi, so wird

18*

SJ76 Zweiter Absclinitt. Zweite Periode.

hiemit gesagt, die Heiden haben nur Antheil erhalten an dem, was die Juden zuvor schon hatten, und das Christenthum ist nicht die absolute Religion, in welcher die Negativität des Hei- denthums und Judenthums auf gleiche Weise ein Ende hat, son- dern der substanzielie Inhalt des Christenthums ist das Judenthum selbst, und es erweitert sich so nur das Judenthum im Univer- salismus des Christenthums durch den Tod Christi auch zu den Heiden. Im Tode Christi hat die Feindschaft, die Scheidewand, alles Positive, das beide trennte, ein Ende. Die Heiden haben so zwar als Christen alles, was die Juden haben, aber sie sind doch immer nur die erst Zugelassenen und nachher Hinzuge- kommenen, die blos Theilnehmenden, wenn sie als die eövr, blos als cuyx^.'/ipovoj/.a /.vX <7U(T<jtü[/.a )cal <Tu{jt,[J!,eTO)^a rii? eTcaYyeXia? ev XptfjTö bezeichnet werden Eph. 3, 6. Sie nehmen also blos Theil an etwas, worauf den nächsten und eigentlichen Anspruch doch nur die Juden zu machen haben. Das Judenthum macht demnach, wenn es auch tief unter dem absoluten Charakter des Christenthums steht, doch auch wieder sein absolutes Recht und seine Identität mit dem Christenthum geltend.

Die Grundanschauung der beiden Briefe ist eigentlich die Idee des C7ö[ji,a XpidToO , d. h. der christlichen Kirche als der Ver- einigung der Heiden und Juden durch die Aufhebung der sie trennenden Unterschiede. Im Bewusstsein der Macht der Juden und Heiden trennenden Gegensätze und der Nothwendigkeit ihrer Aufhebung, wenn es überhaupt eine christliche Kirche geben soll, wird alles Gewicht auf die Einheit der Kirche gelegt. Die Einheit ist das eigentliche Wesen der Kirche, diese Einheit ist in allen zu ihr gehörenden Momenten durch das Christenthum ge- geben. Es ist Ein Leib und Ein Geist u. s. w. Eph. 4, 3 f. Be- gründet aber wurde diese Einheit durch den Tod Christi, sofern durch ihn alle trennenden Unterschiede aufgehoben worden sind. Von diesem Punkte aus steigt die Anschauung höher hinauf bis dahin, wo der Grund aller Einheit liegt. Die einigende, eine

Lehrbegriff des Briefs Jacobi. !877

allgemeine Gemeinschaft stiftende Kraft des Todes Christi lasst sich nur daraus begreifen, dass Christus überhaupt der alles tragende und zusammenhaltende Centralpunkt des ganzen Uni- versums ist. Je mehr das christliche Bewusstsein in der An- schauung der sich constituirenden Kirche von dem absoluten Inhalt des Christenthums erfüllt ist, um so mehr hat es den Drang in sich, dieses Absolute als ein überweltliches und überzeitliches auzuschauen. Das ganze Streben der Christologie geht in diese transcendente Region, um in ihr den Punkt zu fixiren, an welchen sich der höhere Begriff der Persönlichkeit Christi anknüpfen lässt. Es handelt sich nur noch darum, diesen Begriff auf seinen ad- äquaten Ausdruck zu bringen.

3. Der Lehrbegriff des Briefs Jacobi und der.< petrinischen Briefe.

In dem Lehrbegriff des Hebräerbriefs und dem der kleineren paulinischen Briefe hat sich der Paulinismus weiter fortgebildet. Wenn auch in diesen Briefen nicht gerade die Schärfe des pauli- nischen RechtfertigungsbegrifTs hervortritt, so enthalten sie doch auch nichts Antipaulinisches. In dem Brief Jacobi dagegen be- gegnet uns nun eine auf den Mittelpunkt der paulinischen Lehre losgehende Opposition. Dem paulinischen Hauptsatz Rom. 3, 28 SixaiouGÖai 7wi(7T£i ävOptoTwOv , yid^U spywv v6i7-ou, wird nun hier der Satz entgegengestellt, Jac. 2, 24, oti il epywv Siy.atouTa'. av6p(i)7ro? , '/.cd oüx ix TCidTEw; |ji,6vov. Alle Versuche, die man gemacht hat, um der Anerkennung der Thatsache zu entgehen, dass ein directer Widerspruch zwischen diesen beiden Lehrbe- grifFen staltfinde und der Verfasser des Jacobusbriefs die pauli- nische Lehre zum unmittelbaren Gegenstand seiner Polemik mache, sind völlig vergeblich. Sollte die Wahrheit des einen der beiden Sätze neben der des andern bestehen können, so müsste gezeigt werden können, dass beide einander gar nicht berühren, dass beide, Paulus und der Verfasser des Jacobus-

278 Zweiter Abschnitt. Zw ei te P eriode.

briefs, mit den drei HaiiplbegriflPen , um welche es sich hier handelt, dem SiaaioOiöai, den epya v6[^.ou. und der ttittic, einen ganz andern Sinn verbinden. Allein es ist weder unter dem ^txawOdöai bei dem Verfasser des Jacobusbriefs etwas anderes zu verstehen als bei Paulus, noch ist diess bei den epya der Fall. Wollte man mit Calvin behaupten, Jacobus wolle nicht docere, ubi quiescere debeat sahitis fiducia , in quo uno insisfif Paulus, Jacobus dringe nur darauf, dass der Glaubige fidei mae teri- tatem operibus demonatret , daher sei die Amphilogie, dass das verbum justificandi bei Paulus bedeute die grotuita üvstitine imputatio apud Dei tribunal, bei Jacobus aber die demonstratio justitiae ab effectis, idque apud homines, so müsste demnach der Satz des Jacobus den Sinn haben: der Gerechtfertigte kann den thatsächlichen Beweis seiner Rechtfertigung nur durch Werke geben. Mit welchem Rechte lässt sich aber behaupten, dass Jacobus dabei den paulinischen Satz vom rechtfertigenden Glau- ben voraussetze, wenn er vom Glauben so spricht, wie diess offenbar der Fall ist. Ebenso wenig kann man sagen, der BegriflF der spy» sei bei beiden ein anderer, Paulus verstehe unter den epya nur Werke des mosaischen Gesetzes, Jacobus Werke, die aus dem Glauben hervorgehen, Früchte des Glau- bens sind. Man ist durchaus nicht berechtigt, den paulinischen Begriff der spya so zu beschränken, Paulus macht nirgends einen solchen Unterschied unter den epya, sondern er sagt ganz allgemein von den spya, dass es nicht möglich sei, durch sie ^wtatouaöat, so dass diess auch von den aus dem Glauben hervorgehenden Werken gilt; denn, sofern sie aus dem Glauben hervorgehen, haben sie auch schon den Glau- ben und mit dem Glauben die Rechtfertigung zu ihrer Voraus- setzung, wesswegen eben die Rechtfertigung nicht erst durch sie bewirkt werden kann. Es liegt somit auch in den epya nichts, wodurch der Widerspruch beider beseitigt werden könnte. Ist diess aber, etwa bei der nitixi^ möglich? Uniäugbar verbinden

Lehrbegriff des Briefs Jacobi. 879

beide mit der xwti? einen ganz verschiedenen Begriff, aber man meine nur nicht, dass der Verfasser des Jacobusbriefs, wenn er vom Glauben so geringschätzend spricht, neben diesem falschen Glauben noch einen andern habe, den wahren, denselben, auf welchen Paulus das Gewicht legt. Der Glaube ist dem Jacobus immer nur der Glaube, von welchem Paulus 1 Cor. 13, 1 f. sagt, dass der Mensch mit ihm für sich allein ein tönendes Erz und eine klingende Schelle bleibe. Diesem Glauben schrieb nun frei- lich auch Paulus keine rechtfertigende Kraft zu, er sagt vielmehr oüSev w<peXouu.ai. Aber der Unterschied ist, dass Paulus diesem leeren.nichtigen Glauben seinen rechtfertigenden gegenüberstelltj und von ihm als den wahren unterscheidet, Jacobus aber vom Glauben überhaupt keinen andern Begriff hat, als eben nur jenen. Alle Argumente, durch welche der Verfasser des Jacobus- briefs 2, 14 f. seinen Hauptsatz darzuthun sucht, beweisen nur, welchen geringen Begriff er vom Glauben hat. Er sagt O wenn einer sagt, er habe Glauben, aber keine Werke hat, so kann ihn sein Glaube nicht selig machen, denn diess, dass er sagt, er habe Glauben, ist nur soviel, wie wenn einer bei der Pflicht der Wohlthätigkeit es bei blossen Worten bewenden lassen wollte. Daher wird nun unmittelbar der Hauptsatz ausgesprochen, V.17: der Glaube ohne Werke ist für sich todt, nicht der falsche Glaube oder der Glaube als Scheinglaube, sondern der Glaube als solcher, er ist an sich, seinem Wesen nach, todt. 2) Wenn der Eine den Glauben hat, der Andere die Werke, so kann nur der, der die Werke hat, thatsächlich beweisen, dass er das, was er zu haben behauptet, auch wirklich hat. Aus den Werken kann man den Glauben beweisen, der Glaube für sich selbst aber, ohne die Werke, hat nichts seine Realität beweisendes. Er ist also so gut wie nichts, denn was keinen Beweis seiner Existenz geben kann, existirt eigentlich gar nicht. 3) Auch die Dämonen glau- ben, aber sie zittern dabei, weil sie Gott als das Object ihres Glaubens nur fürchten können. Wenn auch der Glaube practisch

1^80 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

ist, SO bringt er wenigstens keine wahrhaft religiöse Wirkung hervor, er ist also nicht in der Weise practisch, wie die Religion practisch sein soll, dass sie den Menschen in das rechte Ver- hältniss zu Gott setzt. Gibt es einen Glauben, welcher sich nur dadurch äussert, dass man aus Furcht vor Gott zittert, so ist doch hieraus deutlich zu sehen, dass der Glaube an sich noch nichts wesentlich Religiöses ist. Wenn also auch der Glaube ein religiöses Element ist, so hat er doch das nicht in sich, was auch zur Religion gehört, dass sie den Menschen in ein seligmachendes Verhältniss zu Gott setzt. 4) Derselbe Beweis wird aus der Schrift geführt, V. 20 f. Dieselben Schriftbeispiele, durch, welche der rechtfertigende Glaube der paulinischen Lehre bewiesen wer- den sS[\, beweisen das gerade Gegentheil. Abraham hatte die Gerechtigkeit, die ihm zuvor nur mit Rücksicht auf seinen Glau- ben zugeschrieben werden konnte, dann erst in der Wirklichkeit, als er durch die Opferung Isaaks eine thatsächliche Probe seines Gehorsams gegen Gott gegeben hatte. Ebenso verhält es sich mit der Rahab, auch sie hatte etwas Werkthätiges gethan, worauf ihr StxatoQdöai beruhte. Diese beiden Beispiele enthalten eine sehr bestimmte antithetische Beziehung, man vgl. besonders Hebr. 11, 31. Das Resultat aus allem diesem ist, dass die Trtort; ohne die spy« ebenso todt ist, wie der Leib ohne den Geist todt ist. Die xiffTi? ist demnach so gut, wie nichts, sie hat nichts an sich, was ihr den Charakter eines Princips des religiösen Lebens gibt.

Zwar wird von der rbTt? auch wieder gesagt, dass sie ÄüvepysT toi? spyot?, 2, 22, so dass es scheint, sie sei auch ein zur Rechtfertigung thätig mitwirkendes Princip, ebenso soll der Mensch nur nicht durch den Glauben allein, oOx ix. irCdTe«? ftövov, 2? 24, gerechtfertigt werden, und die Rechtfertigung durch die Werke wird die Vollendung der tt^oti? genannt, ix töv epywv reXeioOTai ri ttwti;, 2, 22. In einem innern Zusammenhang steht aber desswegen doch die Tr^oTi? nicht zu den epya. Stände sie in

Lehrbegriff des Briefs Jacobi. 281

einem solchen zu ihnen, so müsste sie ja auch das wirkende Prin- cip derselben sein, die spya wären nur das, worin das Innere der TTidTi? äusserlich wird. Wie kann aber der Verfasser des Briefs sich die iri<TTi? in diesem Verhällniss zu den e'pya gedacht haben, wenn er von ihr Ausdrücke gebraucht, die ihr gerade das absprechen, was sie als Princip vor allem haben muss, dass sie an sich etwas Wirksames und Lebendiges ist. Was aber für sich todt ist, ohne Kraft und Leben, nur einem Leibe gleicht, welcher ohne Geist, ohne ein beseelendes und belebendes Princip ist, kann doch nicht die Bedeutung eines Princips haben. Wie könnte sonst auch das ^txaiouiQai schlechthin nur den spya zu- geschrieben werden, wenn diese selbst ihr Princip in der iziaxi^ hätten, somit auch ihre rechtfertigende Kraft die tt^ti? wäre? Das wahrhaft Reale und Substanzielle sind nur die Werke, sie sind, was sie sind, unmittelbar durch sich selbst und aus sich selbst, sie sind daher auch nicht blos das Äussere von einem Innern, wie die tHoti? wäre. Wenn nun gleichwohl auch wieder von einem <iuvspY£iv der Tziariq die Rede ist, so kann, wofern wir nicht eine gar zu grosse Inconsequenz bei dem Verfasser voraus- setzen wollen, damit nur diess gesagt sein, dass die ttitti? zwar auch dabei ist, aber als ein blos begleitendes Moment des reli- giösen Bewusstseins, dessen substanzielle Form die Werke sind. Theoretisches und Practisches, Glauben und Wissen auf der einen, und Wollen und Handeln auf der andern Seite, fallen hier eigent- lich völlig auseinander, es fehlt das Bewusstsein der diese beideti Seiten in sich zusammenfassenden Einheit, einer Einheit, in welcher, wie diess das Eigenthümliche des paulinischen Begriffs des Glaubens ist, das Theoretische auch das Princip des Pracli- schen ist, und das Practische zum Theoretischen sich verhalt, wie das Äussere zum Innern. ' *f««»v+./

Schon darin zeigt sich die Mangelhaftigkeit dieses Lehrbe- griffs, dass er den Glauben und die Werke nicht in ihrer Einheit aufzufassen weiss. Beide stehen unvermittelt neben einander,

^02 Zweiter Abschnitt, Zwei te Periode.

und da nun die Werke vor dem Glauben das voraus haben, dass sie etwas ausserlich in die Augen Fallendes sind, so wird alle Realität und Substanzialität des Seins in sie gelegt, wie wenn es keine andere Realität gäbe, als die der äussern sinn- lichen Existenz. Sie allein haben also wahrhaft religiösen Werth, weil sie das thatsächlich Gegebene sind, und die Wirklichkeit ihrer Existenz keinem Zweifel unterliegen kann. Wenn nun aber die Werke das schlechthin Geltende sein sollen, so fragt sich, wie der Verfasser des Briefs ihnen eine Bedeutung beilegen kann, die sie nach dem paulinischen Lehrbegriff nicht haben können. Diess ist der Hauptgesichtspunkt, unter welchen dieser Lehrbe- griff gestellt werden muss. Paulus hat gezeigt, dass die Werke immer nur etwas Unvollkommenes sind, nie den zureichenden Grund der Rechtfertigung in sich enthalten können, weil kein Mensch von sich sagen kann, dass er alles erfüllt habe, was das Gesetz zu thun gebietet; daher verfällt der, dessen religiöser Werth nur nach seinen Werken beurtheilt werden soll, immer wieder der Strafe, welche auf die Übertretung des Gesetzes ge- setzt ist. Was hat nun der Verfasser des Briefs, indem er sich wieder auf den Standpunkt der spya stellt, gethan, um alles das zu widerlegen , was vom paulinischen Standpunkt aus gegen die epya geltend gemacht worden ist? Hier ist offenbar die schwäch- ste Seite dieses Lehrbegriffs. Die absolute Forderung des Gesetzes wird von dem Verfasser des Briefs vollkommen anerkannt. Ja er sagt sogar 2, 10, wenn einer auch das ganze Gesetz halte, es aber nur in Einem Stücke fehlen lasse, so sei es so viel als ob er das ganze Gesetz nicht gehalten hätte. Wie kann aber die Forderung gestellt werden, auch nicht £v ivl wraieiv, wenn er doch selbst gestehen muss, 3, 2, xoXXa TTTaiofxev axavTSi;? Er verlangt von den Christen ein spyov tsXciov, dass sie sein sollen T^Xeioi /.cd oXojcXvipot, ev {A'/i^evi Xei7r6[xsvoi , i, 4, und der TeXsio; avnp ist der, welcher ev Xoyto Tvraisi, 3, 2. Wie ist diess möglich? Wird vom Verfasser des Briefs selbst anerkannt, dass

I/ehrbegriff des Briefs Jacobhx 983

es keinen Menschen gibt, von welchem diess schlechthin gesagt werden kann, wie kann er gleichwohl den Satz aufstellen, dass der Mensch SixaioOTai £; spy^^^ ^^^ Werke, auf deren Grund der Mensch gerechtfertigt werden soll, können doch nur dem Gesetz vollkommen adäquate sein. Haben aber die Werke diese Vollkommenheit auch schon in dem Falle nicht, wenn es auch nur in Einem Stücke fehlt, so ist es schlechthin unmöglich, durch die Werke gerechtfertigt zu werden. Wie kann also der Ver- fasser des Briefs die Rechtfertigung auf die Werke gründen? er muss sich doch etwas die UnvoUkommenheit der Werke Ergän- zendes, somit auch erst die Rechtfertigung Bewirkendes gedacht haben; wenn nun aber diess nicht der Glaube sein soll, was soll es sein? Der Verfasser setzt selbst voraus, dass es keine eigent- liche Rechtfertigung durch die Werke gibt. Er rechnet auf eine Vergebung der Sünden durch das Gebet, 5, 15, auf die Barm- herzigkeit des göttlichen Gerichts, die dem zu Theil werde, welcher selbst Barmherzigkeit übe, 2, 13, und spricht von einem vollkommenen Gesetz der Freiheit, unter welchem nichts anderes verstanden werden kann , als die Befreiung von dem Joch des Gesetzes, welche der Apostel Paulus als die wichtigste Folge seiner Lehre vom Glauben betrachtet. Wenn es nun aber bei dem Gesetz der Freiheit nicht sowohl auf die Beobachtung aller einzelnen Gebote, als vielmehr auf die Gesinnung im Ganzen ankommt, wenn die Vergebung der Sünden, die auch bei den epY* "icht entbehrt werden kann, auf der subjectiven Empfäng- lichkeit dafür beruht, so wird man von dem Sixaioüaöai immer wieder auf etwas zurückgeführt, das die spy* selbst schon zu ihrer Voraussetzung haben. Was könnte diess aber anderes sein, als der Glaube? Den Glauben hebt ja der Verfasser selbst wieder so hervor, dass man nicht begreift, wie er ihn nur in Beziehung auf das SixatoOfrOai so herabsetzen kann. Er nennt ja die Christen als die tutwj^ou; tou xocfxou auch die ttXouciou*; sv tuigtsi kscI xXr- pov6|xo'j« Tfl? ßfltdiXsia?, 2, 5, und schreibt dem Gebet des Glaubens

-1194 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

eine reitende Kraft zu, 5, 15. So schwächt sich die Polemik gegen Paulus wieder ab, die Antithese verliert ihre Schärfe, da die Werke von der Gesinnung, von welcher sie getragen werden, nicht getrennt werden können. Der Unterschied von dem pauli- nischen LehrbegrifT besteht daher 1) in dem Nachdruck, mit welchem auf das Practische gedrungen wird, alsdienothwendige Erprobung der christlichen Gesinnung, und 2) darin, dass an die Stelle des Glaubens im paulinischen Sinne die christliche Gesinnung tritt, die überhaupt in dem durch Christus begründeten Vertrauen besteht, dass denen, die durch ihre ganze Handlungs- weise nach christlicher Vollkommenheit streben, die Gnade und Barmherzigkeit Gottes zu Theil werden werde.

Der Standpunkt, auf welchem der Verfasser des Briefs steht, ist der des Gesetzes, in dem Gesetz aber sieht er nur einen ver- geistigten Inhalt. Die Religion ist ihm wesentlich ein Thun, die Befolgung eines Gesetzes. Dieses Gesetz aber ist ihm nicht das mosaische, sondern das Sittengesetz, das in seinem reinen sitt- lichen Gehalt aufgefasste mosaische Gesetz. Diess ist es un- streitig, was er unter dem v6[xo? teXsio; tyi; iXeuöepiac versteht, eben diess ist daher für ihn der bezeichnende Ausdruck für das Christenthum. Ein vollkommenes Gesetz nennt er es, weil es die Idee der sittlichen Vollkommenheit enthält, deren Realisirung die höchste Aufgabe des Menschen ist. Die Idee dieser Voll- kommenkeit soll der Christ im Leiden und Thun, in allen Ver- hältnissen des Lebens realisiren, weil er nur so seinen Glauben bethätigen und erproben kann, 1,3. Im Bewusstsein dieser sittlichen Aufgabe hat der Christ ein freudiges, ihn über Armuth und Reichthum erhebendes Selbstbewusstsein. Das christliche Bewusstsein, das nur ein freudiges sein kann, spricht sich in dem Armen als erhebendes Selbstgefühl, in dem Reichen als er- niedrigender Demuthssinn aus, weil der Christ, wenn er die christliche Ansicht vom Reichthum hat, ihn nur für etwas Ver- «gängliches halten kann, aber in dieser Anerkennung seiner

Lehrbegriff des Briefs Jacobi. \ HSö

Nichtigkeit, in dem Gefühl seiner Demuth, erhebt er sich zugleich über die Nichtigkeit des Reichthums und reisst sich von ihm los, es ist also eine Demuth, die in ihrer Erniedrigung zugleich ein erhebendes Gefühl in ihm weckt. Dieses kräftige sittliche Be- wusstsein hat bei dem Verfasser des Briefs dieselbe Bedeutung, wie bei dem Apostel Paulus der Glaube. Auch dem Verfasser des Briefs ist der Glaube das Princip des christlichen Bewussl- seins, weil man ohne zu glauben, nicht Christ sein kann, aber der Glaube spricht sich bei ihm nicht, wie bei Paulus, als Ver- trauen auf den Versöhnungstod Jesu, sondern in der Form des sittlichen Sollens aus. Der Glaube muss sich, wenn er ist, was er sein soll , practisch bewähren. Über die Möglichkeit dieses Sollens reflectirt er nicht, als Christ weiss er sich frei, und das Sollen, dessen er sich bewusst ist, schliesst ihm von selbst das Können in sich.

Von diesem einfachen practischen Standpunkt aus liegt eine Theorie, wie die des Apostels Paulus, vermöge welcher der Tod Christi nur dazu bestimmt ist, den Process, in welchen der Mensch mit dem Gesetz verwickelt ist, zu schlichten und im Glauben eine Norm aufzustellen, durch welche der Mensch in seiner unendlichen Erhabenheit über alle Anforderungen des Gesetzes sich unmittelbar mit Gott eins weiss, ganz ausserhalb des Gesichtskreises dieses Lehrbegriffs. Es ist sehr bezeichnend für denselben, dass in dem ganzen Brief auch nicht in Einer Stelle vom Tode Christi die Rede ist. Kaum spricht sich in dem XpwjTÖ? tüq ^6^7)?, 2, 1, die Anerkeimung einer höheren Würde Christi aus, es ist diess überhaupt die einzige Stelle, in welcher Christus ausdrücklich genannt ist, sonst spricht der Verfasser nur von dem y.'jpio; so unbestimmt, dass man nicht weiss, ob Gott oder Christus zu verstehen ist. Die ganze paulinische Dog- matik, wie sie zuerst eine eigene Theorie über das Werk Christi construirt, und sodann nach der Analogie des Werks auch die Person Christi idealisirt, wird hier im Grunde ganz einfach auf

Zweiter Abscbnitt. Zweite Periode.

die Seite geschoben, und der Verfasser geht auf jenen Standpunkt in der Bergrede zurück, auf welchem Jesus selbst ohne irgend eine Hinweisung auf seinen Tod und ohne allen Anspruch auf eine übermenschliche Würde die ganze Bedeutung seiner Mission in die Erfüllung und Vervollkommnung des Gesetzes setzte. Scheint doch der Verfasser selbst 5, 12 f. recht absichtlich auf die Sittenlehre der Bergrede zurückzuweisen. In demselben Sinne, in welchem der Verfasser das Chrislenthum als v6(jt,o; TeXeto; bezeichnet, nennt er es das Wort der Wahrheit, und spricht die höchste Ansicht, die er vom Christenthum hat, darin aus, dass er diesem Wort eine zeugende, eine neue Schöpfung bewirkende Kraft zuschreibt. Gott hat uns durch das Wort der Wahrheil gezeugt, 1, 18, d. h. er hat uns die christliche Lehre gegeben, damit wir durch ihre Befolgung gleichsam seine Kinder werden. Als solche sind die Christen die Erstlinge der Geschöpfe Gottes. Das Christenthum ist ein heiligendes Princip für die ganze Welt. Wie die Christen durch das Wort der Wahrheit von Gott gezeugt sind, so kommen durch es, oder das Christenthum, alle Crealuren in ein neues Verhältniss zu Gott. Das Christenthum ist, so betrachtet, in seinem Princip der sittlichen Heiligung auch eine neue Schöpfung, nur in einem andern Sinne als bei dem Apostel Paulus, bei welchem alles an der Person Christi hängt.

Dem sittlichen Standpunkt, auf welchem der Verfasser des Briefs steht, ist es gemäss, dass die sittliche Freiheit des Men- schen in seinem Lehrbegriff eine ganz besondere Bedeutung hat. Die Genesis der Sünde, wie er sie 1, 14 f. beschreibt, ist ganz darauf angelegt, die Sünde als die eigene freie That des Menschen darzustellen. Es werden daher folgende Momente unterschieden: 1) die als sinnliche AflFeclion auf den Menschen einwirkende imöuaia, 2) das Eingehen des Willens in die den Menschen af- ficirende £7riOu;j,ia, 3) die aus dem Willen hervorgehende äussere That, und 4) der Tod, mit allem, was er zur Folge hat. Die

Lehrbegriff de" Briefs Jacobi. 887

Sünde hat den Tod zur Folge, aber nicht die Sünde als eine ein- zelne That, sondern die Sünde in ihrer ganzen Entwicklung, als der ganze sündiiche Verlauf eines Lebens. Sünde und Tod wer- den hier nur in Beziehung auf den einzelnen Menschen betrachtet, nicht wie bei dem Apostel Paulus als die in der Menschheit im Grossen wirkenden Principien, durch welche der ganze Charakter einer Periode der Menschheit so bestimmt wird, dass der Ein- zelne nur in seiner Abhängigkeit von der Gattung erscheint. Die SündÖ hat ihren Grund nur in der sittlichen Willensfreiheit und nicht einmal auf die «rip^ geht der Verfasser zurück, um in ihr den natürlichen Ursprung der Sünde nachzuweisen. Von diesem Gesichtspunkt der sittlichen Freiheit aus wird daher auch der Begriff Gottes so bestimmt, dass Gott als die absolute Quelle alles Guten, als das Princip, von welchem nur Gutes kommen kann, gedacht wird. W^ie in Gott kein Plus und Minus des Lichts ist, weil er die reine ungetrübte Idealität mit sich selbst ist, so kann auch von ihm nichts Böses kommen. Alles Böse fällt nur auf die Seite des Menschen, Gott und Mensch stehen daher, wie diess ganz der Standpunkt der alttestamentlichen Religion ist, in einem völlig freien Verhältniss einander gegenüber. Alles ist in die sittliche Freiheit des Menschen gestellt, in sein sittliches Bewusst- sein, in das sittliche Sollen, das sich durch die That verwirk- lichen muss.

Der Lehrbegriff des Jacobusbriefs ist der ausgesprochenste Gegensatz zum paulinischen , dagegen steht unter den verschie- denen neuteslamentlichen Lehrbegriffen keiner dem paulinischen naher, als der der beiden petrinischen Briefe. Der LehrbegriS dieser Briefe ist überhaupt ein vermittelnder, eklektischer, ka- tholisirender, in welchem daher verschiedene, zu einer neutrali- sirenden Einheit verbundene Elemente zu unterscheiden sind.^

Die allgemeine Grundlage ist paulinisch, die paulinischen Grundbegriffe blicken überall durch, nur ist ihnen das specifische paulinische Gepräge , die polemische Spitze , die sie in ihrer ur-

988 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

sprünglichen Fassung haben, grösstentheils genommen. Der Glaube ist das das Heil des Menschen Bewirkende, das Ziel, das TsXo;, das man durch den Glauben erreicht, ist die uwriripia ^^yj^"^, vgl. 1 Petr. 1, 5. 9. 21. Der Glaube hat aber hier nicht die in- tensive Bedeutung und principielle Stellung wie bei dem Apostel Paulus. Vgl. 2 Petri 1, 5. Der absoluten Erhabenheit des Christen- thums ist sich der Verfasser des ersten Briefs sehr lebhaft bewusst, er erkennt in ihm einen unaussprechlichen, überschwänglichen, den Menschen zum Unvergänglichen, Bleibenden erhebenden geistigen Inhalt, vgl. 1,8: äyaXXiaGÖe x^?^ ivexXaXyiTO) xal Ss- So^a(y[j.£V7i , V. 12: si? a e7vtGu[7.oO<7iv ayysXoi Trapacxu^J^at, 2, 9: ToO £)c cncoTOu? \j[i.S.(; xaXeuavto? si? t6 öaojxadTov aÜTOu ^ö?, vgl. 1, 23. 4, 14. Dabei ist aber doch der Blick des Verfassers, weit mehr als diess bei dem Apostel Paulus der Fall ist, der alttesta- mentlichen Theokratie und ihrer Herrlichkeit zugewandt, und das Chrislenthum ist in seiner absoluten Erhabenheit nur der ausge- sprochene Inhalt des alten Testaments. Man vgl., was das Letztere betrifft, das in den Propheten zeugende xv£ij[xa XpiaroO, 1, 11. Paulinisch ist ferner die hohe, dem Tode Christi beigelegte Bedeutung, von welcher wiederholt die Rede ist, vgl. 1, 2. 2,24. 3, 18. 4, 1 f.; nur schliessl sich der Verfasser darin näher an die Vorstellungsweise des Hebräerbriefs an, dass er den Tod Christi nicht wie Paulus auf die Schuld der Sünde, von welcher die Menschen auf dem Wege der Genugthuung durch ein stell- vertretendes Opfer losgekauft und erlöst werden müssen, bezieht, sondern auf die Sünde selbst als solche, das sittlich Unreine und Befleckende in ihr. Ganz in der Weise des Hebräerbriefs sagt er 3, 18, Christus habe einmal für unsere Sünden gelitten, als der Gerechte für Ungerechte, damit er uns zu Gott hinführe, indem er dem Fleische nach getödtet, dem Geiste nach lebendig gemacht worden ist, 2, 24: Christus hat unsere Sünden selbst an seinem Leib an das Holz getragen, damit wir von den Sünden hinweggekommen, der Gerechtigkeit leben. Der Hauptgesichts-

Lehrbegriff der Briefe Pctri. ^89

punkt, aus welchem er den Tod Christi betrachtet, ist wie im Hebräerbrief (vgl. 1 2, 24) der pavTi(j{/,ö? aVaaTO? 'IincoC» XptaToO, 1, 2, der Begriff der Reinigung. Das Blut Christi hat eine reini- gende Kraft, sofern wir vermöge des Todes Christi nicht mehr der Sünde leben. Das, wovon wir durch den Tod Christi erlöst worden sind, ist nicht sowohl die Schuld und Strafe der Sünde, als vielmehr die Sünde selbst, d. h. die ganze in dem bisherigen Leben uns anhängende Sündhaftigkeit. Wir sind erlöst, heisst es 1, 18, t^c [/.aTaia? i^jxöv avaoTpofpfis TcaTpoTcapa^orou nicht durch Vergängliches, Silber oder Gold, sondern das kostbare Blut Christi, als des reinen, unbefleckten Lamms. Das Ver- mittelnde dabei ist die acht paulinische Vorstellung, dass die cap^ der Sitz und die Wurzel der Sünde ist. Wenn also die cap^ ertödtet ist, wie diess im Tode Christi geschah, so ist im Men- schen gleichsam das Princip der Sünde vernichtet, und es kann somit dem Menschen nicht schwer fallen, nachdem er von der Sünde gereinigt und geheilt ist, sich von der Befleckung durch die Sünde frei zu erhalten. So ist es zu verstehen, wenn es 4, 1 f. heisst: Da Christus für uns im Fleische gelitten hat, so waffnet auch ihr euch mit demselben Gedanken, dass wer im Fleische gelitten hat, d. h. wir Christen, sofern Christus für uns gelitten hat, sein Leiden also eigentlich unser Leiden ist, aufge- hört hat, mit der Sünde etwas zu thun zu haben, so dass ein solcher nicht mehr den Lüsten der Menschen, sondern dem Willen Gottes die übrige Zeit im Fleische lebt. Seine reinigende Kraft äussert also der Tod Christi dadurch auf uns, dass wir im Be- wusstsein desselben der Macht der Sünde keinen Raum in uns geben und die sündigen Begierden in uns unterdrücken Ganz

..■^■^, 1) Die Stelle 1 Petr. 4, 1 ist für die Vergleichung des pctrinisclien Lehrbegriffs mit dem paulinischen so wichtig, dass sie noch etwas näher betrachtet zu werden verdient. Um die Abhängigkeit des petrinischen Lehrbegriffs vom paulinischen, und ebendamit den nichtapostolischen Ursprung des Briefe zu bestreiten, erklärt Bernh. Weiss, Der petrini- Banr, nentest. Tbeol. 19

J890 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

im Sinne des Hobräerbriefs (vgl. 9, 9—14. 10, 19 f.) wird der Auferstehung Jesu die Wirkung zugeschrieben, dass wir den

sehe Lehrbegriff, 1855, S. 289 den Satz ort 6 ::aOwv h aapx'i Tcsreautat afiapn'a;, bei welchem das Subject nicht Christus, sondern der Christ ist, so : Das -c'::auxat aijiapTia; beziehe sieh nicht auf eine erlösende Befreiung von der Macht der Sünde , sondern spreche das einfache Factum aus, dass der, welcher leidet, dadurch mit der Sünde gebrochen hat, weil er ja damit bezeuge, dass er nicht mehr dem Willen der Welt gehorchen wolle, sondern dem Willen Gottes leben. Wie kann aber diess von den Leiden so schlechthin gesagt werden? Es gibt ja Leiden, die man un- gern genug erduldet, und wie kann auch von denjenigen, die man willig erduldet, gesagt werden, dass der Leidende unmittelbar in ihnen mit der Sünde gebrochen habe? es müsste diess doch an einem bestimmten Merk- mal zu erkennen sein. Wenn nicht blos von einem jraOstv schlechthin gesprochen wird, sondern einem TcaOetv h oapx\ und dieses jiaOstv Iv uapx'i durch den raOwv Iv lapx^t Xptatb; motivirt wird, so muss eben darin der Grund davon liegen, dass in dem -aÜEtv h aapxt die Sünde mit Einem Male ein Ende hat. Welcher Zusammenhang der Begriffe ist es denn, wenn gesagt wird: weil Christus dem Fleische nach gelitten hat, sollen auch wir so gesinnt sein, dass wer im Fleische gelitten hat, von der Sünde hinweggekommen ist? Wenn der im Fleische leidende Christ dadurch mit der Sünde gebrochen hat, so muss demnach auch der dem Fleische nach leidende Christus eben dadurch mit der Sünde gebrochen haben. Wie hat aber der JcaOwv (jap-zA Xptoxö; mit der Sünde gebrochen? Man kann sich diess nicht denken, ohne dass dabei die crap^ als der Sitz der ä(jiapT(a aufgefasst wird und ohne dass somit der ;:a6a)v h oapxi seine aap? aus demselben Gesichtspunkt betrachtet. Wer leidet und da- durch mit der Sünde bricht, ertödtet also seine «jap? als den Sitz der a[jLapTi'a auf dieselbe Weise wie bei Christus sein Leiden die Ertödtung seiner aap? war. Diess kann man sich nur durch den paulinischen Ge- dankenzusammenhang ergänzen. Die Sache verhält sich daher so: Dem Verfasser des Briefs schwebt die paulinische Anschauung des Todes Christi vor, aber er will nicht in die specifischen Begriffe derselben eingehen, daher schwächt er sie ab und setzt an die Stelle der dogmatisclieu Idee der Lebensgemeinschaft mit Christus seinen sittlichen Begriff der Nach- folge Christi. Während Paulus 2 Cor. 5, 14 aus seinem et? önkp navxwv arc^Oavcv in rascher Folge schliesst: apa o\ reavte; dl;t^Oavov, macht der Verfasser des Briofs von seinem XpiaTo; TiaOwv oapxl recht emphatisch die moralische Nutzanwendung: xa\ u[A$t; trjv auTrjv ewotav OTrXiaaaOe. Und doch ist es unmöglich, bei seinem TtaOwv h aapx\ n^^auTat «jiapTi'a? nicht an Rom. 6, 7 denken, wo von dem aTcoöowoiv gesagt Wird, dass er oeSi-

Lehrbegriff der Briefe Petri. »• 291

Zugang zu Gott haben und vermittelst der Taufe mit einem guten Gewissen vor ihn treten können, 3, 18. 21. Auch das ist der typischen Anschauungsweise des Hebräerbriefs gemäss, dass er die Taufe als ein Gegenbild der Rettung Noah's und seiner Ge- fährten durch die Fluthen betrachtet, 3, 20.

Eine andere eigenthümliche Vorstellung mahnt uns an den paulinischen Universalismus, wie er besonders in dem Briefe an die Epheser sich findet. Mit diesem Briefe theilt der erste petri- nische die Idee der Höllenfahrt Christi. Christus gieng in dem Geiste, in welchem er lebendig gemacht wurde, hin zu den im Gefängniss befindlichen Geistern und predigte denen, die einst ungehorsam waren, als die Langmuth Gottes abwartete, in den Tagen Noah's, als die Arche zubereitet wurde, 3, 19 f. 0- End-

/.atwtat «710 T^? ajxapxia? und bei dem TraOetv Iv aapx.\ nicht an das az:oöavstv auv XptaTw. Es ist also klar, dass der petrinisclie Lehrbegriff Elemente des paulinischen in sich enthält.

1) Auch dieser Punkt des petrinischen Lehrbegriffs wird gewöhnlich ganz falsch aufgefasst. Man verbindet die Stellen 3, 19 und 4, 5. 6 so , dass die eine durch die andere erklärt werden soll. Ans 4, 5. 6 sei gewiss , dass Clmstus allen Todten das Evangelium verkündigt habe, 3, 19 sei zwar nur von den Zeitgenossen Noah's die Rede, aber daraus folge nicht, dass Petrus die Heilspredigt nur auf sie beschränken wolle. Gepredigt habe den abgeschiedenen Seelen der gestorbene, nicht der auferstandene Christus, während seines Aufenthalts im Hades. Es sei einmal die Bestimmung Christi gewesen, nach Menschenweise auch in den Hades hinabzusteigen, und so sei es auch natürlich gewesen, dass er auch dort seine erlösende Tbätigkeit fortsetzte und wie auf der Erde das EuaYYeXti^suOat seine eigentliche Aufgabe gewesen sei , so habe er sie auch an den Todten vollführt. Bei dieser Auffassung begreift man vor allem nicht, warum der Verfasser des Briefs die Predigt im Hades sich so speciell auf die Zeitgenossen Noah's beziehen lässt. Der Hauptfehler aber ist, dass man bisher allgemein angenommen hat, die TiVEÜjxaTa 3, 19 seien die Seelen abgeschiedener Menschen. Allein rtveüfiaTa sind Geister, und bei den ::veü[iaTa ev (puXaxyj kann man nur an die otYYeXot ajjLapTTJaavTs; denken , von welchen 2 Petr. 2, 4 gesagt wird , dass Gott sie asipoui 'C6oo\j Taptapwaa? u. s. w. Es sind die Engel , welche nach 1 Mos. 6, 1 f. in der der der Sündfluth unmittelbar vorangehenden Periode nicht nur selbst durch ihren Ungehorsam von Gott abfielen, sondern

19*

292 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode. '

lieh können wir zu der paulinischen Seite dieses petrinischen Lehrbegriffs auch die Lehre von der Person Christi rechnen. Die

auch die Menschen verführten und die Ursache einer in so hohem Grade überhand nehmenden Verschlimmerung wurden , dass die ganze Zeit von dem Fall der Engel bis zum Hereinbrechen der Fluth als die Periode der so lange noch zuwartenden Langmuth Gottes bezeichnet wird. Hier- aus erhellt, dass das xrjpüTTeiv 3, 19 keine evangelische Verkündigung zum Glauben gewesen sein kann, sondern, da jene gefallenen Geister keiner Erlösung fähig sind und nur zum Gericht aufbewahrt werden, 2 Petr. 2,4, so kann er ihnen nur dieses Gericht verkündigt und sich ihnen als den Vollzieher desselben gezeigt haben. Zugleich ergibt sich auch erst klar die der Stelle zu Grunde liegende Anschauung, indem so- gleich in die Augen fallen muss , dass dem jropeuOs'ts toi? Iv 9uXaxr) ttveü- {jLaacv V. 22 entspricht TiopsuOen; aiyikoi'j. Es sollen die mit dem Tode Christi zusammenhängenden christologischen Momente hervorgehoben werden. Der Hauptbegriff ist das Ttopeuö^vat auf der einen und der an- dern Seite, die Zwischensätze enthalten nur Nebenbestimmnngen. Da Christus nach seinem Tode nicht mehr der sichtbaren Welt angehörte, so wird hier sein Verhältniss zur unsichtbaren Welt geschildert , wie er auf der einen Seite in dem Hades, in welchen er hinabstieg, mit den da- selbst befindlichen Geistern , den abgefallenen Engeln , zusammentraf, auf der andern aber bei seiner Erhebung aus der untern Welt in die obere durch alle Regionen der höhern Geisterwelt hindurchgieng, bis er sich zur Rechten Gottes setzte. Es ist somit derselbe Kreis der Vor- stellung, in welchem sich der Epheserbrief bewegt, wenn er 4, 9. 10 dem xataß^vat £?? -ca xatcoispa [i^pr; t% y5j§ das avaßrjvai Ortepavco Tiivtwv TtüV oupavöiv gegenüberstellt. In dem petrinischen Brief ist die Idee der Hadesfahrt Christi schon weiter ausgebildet , da der Epheserbrief noch nichts darüber andeutet, was Christus in dieser Zeit seines Aufenthalts im Hades gethan habe. Nun kann aber auch 4, 5. 6 nicht mehr mit 3, 19 zusammengenommen werden. Man nimmt £UT)YY£^''''örj gewöhnlich im activen Sinne, wie wenn es sich auch aus diesem Grunde von selbst verstände , dass Christus im Hades allen Todten das Evangelium gepre- digt habe. Eur)YYS^-<JÖ^ vexpoi? kann nach dem gewöhnlichen Sprach- gebrauch nur heissen: es wurde den Todten das Evangelium gepredigt; von wem? ist nicht gesagt; man kann zwar hinzudenken, was am nächsten zu liegen scheint, von Christus, allein es ist diess nicht aus- drücklich gesagt, und liegt auch nicht einmal so nahe, als es scheint, da sich die Thätigkeit Christi im Hades auch blos auf die dämonischen TtveüfiaTa bezogen haben kann. Ist der Brief so spät geschrieben , dass in ihm auch schon Nachapostolisches durchblicken kann, so ist an die

Lchrbegriff der Briefe Petri. * ^93

wenigen Andeutungen hierüber, 3, 22, wo von dem in den Himmel hingegangenen Christus zur Rechten Gottes gesagt wird, es seien ihm Engel, Gewalten und Mächte unterthan, und die Doxologie 4, 11, wo Gott verherrlicht werden soll durch Jesus Christus, welchem zukommt die Ehre und die Macht in alle Ewigkeit, ge- hören demselben Kreise der Christologie an, in welchem sich die kleineren paulinischen Briefe und der Hebräerbrief bewegen. Und wie der Universalismus auch der Zeit nach so weit als möglich zurückgeht, so wird auch hier, wie im Epheserbrief, auf die Erwählung 77pö xaTaßo>.-^; >t6(Tf;.0'j, auf die TrpoYvoxri? Gottes des Vaters, 1, 2, so wie darauf besonderes Gewicht gelegt, dass Christus TrposYvoxrjxevo; xpö x.aTaßoX-^? x6<t[;-ou war, 1, 20.

In allen diesen Zügen hat dieser LehrbegrifF unverkennbar einen paulinisirenden Charakter; es ist diess aber nur die eine Seite desselben, welcher eine andere gegenübersteht, durch welche er einen zwischen Paulinismus und Judaismus vermitteln- den Charakter erhält.

Dahin gehört schon das enge Verhältniss, in welches die neutestamentliche Religionsanstalt zur alltestamenllichen gesetzt wird. In den Propheten des allen Testaments wohnte schon der

schon im Hirten des Hermas vorkommende Vorstellung zu denken, dass die Apostel auch den Gestorbenen gepredigt haben. Nachdem also zuvor gesagt ist, die Heiden haben dem Rechenschaft zu geben, der in Be- reitschaft steht, zu richten Lebendige und Todte, wird zur Begründung des Richteramts über die Todten noch hinzugesetzt, dass Christus nicht blos die Lebendigen , sondern auch die Todten richte , sei daraus zu sehen, dass auch den Todten das Evangelium verkündigt worden sei; es sei diess dazu geschehen, damit sie gerichtet werden als solche, die nach menschlicher Weise dem Fleische nach nur zum Tode verurtheilt werden können , nach göttlicher Weise aber dem Geiste nach leben werden , d. h. damit auch die Todten des Gegensatzes zwischen Mensch- lichem und Göttlichem, zwischen Fleisch und Geist, zwischen Tod und Leben als der absoluten Norm sich bewusst werden, nach welcher der Richter über Lebende und Todte richten wird. Sie sollen also nicht gerichtet werden , ohne daSs sie zuvor wössten , wie sie gerichtet werden.

mf^ Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

Geist Christi, 1, H, derselbe Geist, der im neuen Testament der von Christus ausgehende und mit ihm identische Geist ist. In diesem Geiste haben die Propheten dem christlichen Heil nach- geforscht und von der im Christenthum erschienenen Gnade ge- weissagt. Sie forschten, auf welche und welcherlei Zeit hin offenbarte der in ihnen wohnende Geist Christi, welcher voraus- bezeugte die Christo bevorstehenden Leiden und die darauf fol- gende Herrlichkeit. Geoffenbart wurde ihnen, dass sie nicht für sich selbst, vielmehr für uns das mittheilten, was nun verkündigt worden durch die, welche mittelst des vom Himmel herabge- sandten Geistes das Evangelium gepredigt haben. In der alt- testamentlichen Prophetie war somit schon die speciellste Kennt- niss dessen, was im Christenthum in Erfüllung gehen sollte, enthalten. Derselbe hohe Werth wird den alttestamentlichen Weissagungen als einem die Zukunft Christi aufheilenden Licht, das aber erst aus der factischen Erfüllung jener Weissagungen recht erkannt werden kann, im zweiten Brief 1, 19 f. bei- gelegt.

Auch darin spricht sich der judenchristliche Charakter des ersten Briefs auf eine besonders der Apokalypse sehr verwandte Weise aus, dass die Christen nach der Anschauungsweise des alten Testaments als das acht theokratische Volk dargestellt werden. Was das alte Volk Gottes auf äusserliche materielle Weise war, sind sie auf geistige, 2, 5 f., Xiöoi ^övre?, otxo? 7rveu|iaTa6?, lepa- T6U(j!.a ayiov, avsveYx.at 7rveu[ji.aTtxai; Guata? u. s. w.; V. 9 ein aus- erwähltes Geschlecht, ein königliches Prieslerlhum, ein heiliges Volk, das Volk des Eigenthums, sie die vorher Cals Heiden) kein Volk waren, nun aber ein Volk Gottes sind. Dem eschatologi- schen Standpunkt der Apokalypse nähert sich der Verfasser da- durch, dass ihm neben dem Glauben die Hoffnung das wesentlichste Moment des christlichen Bewusslseins ist. Der Christ ist wieder- geboren zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi, zu einem unvergänglichen. Erbe, das ihm aufbe-

Lehrbegriff der Briefe Petri. 295

wahrt wird im Himmel. In dieser Hoffnung^ ist schon jetzt die Grundstimmung des Christen die lebhafteste Freude. Vgl. i, 6. 8. 21. 4, 13. Obgleich auch der Verfasser dieses Briefs das Ende der Dinge ganz nahe sieht, 4, 7, so ist ihm doch die apokalypti- sche Erwartung der Parusie und eines irdischen Reiches Christi völlig fremd. Dagegen mag als ein gleichfalls in die Anschauungs- weise der Apokalypse gehörender Zug auch noch diess angeführt werden, dass er mit besonderer Vorliebe Christus als den äpo? ÖeoO betrachtet, 1, 19, vgl. 2, 22, und ihn den 7roity.Yiv und irci- (T/toTTo; Töv «{'u/wv 0[;.C)v nennt, 2, 25.

Noch bestimmter tritt der Unterschied vom Paulinismus in allem demjenigen hervor, was sich auf den Unterschied des Glaubens und der Werke bezieht. Der Lehrbegriff ist im Allge- meinen paulinisch, aber er vermeidet sichtbar alles specifisch Faulinische. Die charakteristischen Bezeichnungen der paulini- schen Rechtfertigungslehre, die Ausdrücke SwatoucOai, c^ixaio- ouv/) fehlen hier ganz. Um so mehr aber wird im Sinne des Jacobusbriefs auf das practische Christenthum gedrungen. Die Liebe wird besonders empfohlen 1, 22. 2, 17. 4, 8, in welcher letztern Stelle mit einem auch Jac. 5, 20 gebrauchten Ausdruck von ihr gesagt wird , dass sie eine Menge von Sünden bedecke, und die Bewährung des Glaubens in Geduld und Rechtschaffenheit im Leiden gesetzt, 1, 7, in die Heiligung des ganzen Lebens durch Gehorsam gegen die Wahrheit 1, 15. 22. Die Hauptsache ist hier immer die xaXr, (xva<JTpo<pTo , wie sie sich durch xaXa zpycc erweist, 2, 12, und die Summe aller Ermahnungen wird in dem Satze zusamujengefassl 2, 20: ei ÄYaOoTtotouvTs; xal T^aT/ovrs? OrotAcvstTö, TO'JTO '/oL^n; Tzx^x Oeto. In dieser Beziehung wird mit besonderem Nachdruck auf das unschuldige und geduldige Leiden Christi hingewiesen, durch das er uns ein Vorbild gegeben hat, dass wir nachfolgen sollen seinen Fussslapfen. Der Brief alhmet, indem er mit Rücksicht auf die verschieden Lebensverhaltnisse immer wieder einschärft dcTcoOEcOai 7;9c<yav Ka>ciav, 2, 1, a.Tzi)(eaQxi

Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

Töv (Tapxtxöv d7ut9u{xic5v , u7roTa<T(Te<j6ai , 2, 11. 13, xau<jai ti?1v yXö^T^rav auroO ätio xajtoO, 3, 10, ayia^eiv tÖv Oeöv sv xai? xapSiat?, 3, 15, <Tuvsi§?i«Jiv syetv äyaSiriv, lieber äyaÖOTroioOvT«; Tracryeiv v; 5ca- xoTTOioOvTa?, 3, 16 f., nicht avOpwTrwv iTriOufjLiat? zu leben, sondern 0eXVi}AaTi öeou , welchem man Rechenschaft zu geben hat als dem Richter der Lebendigen und der Todten, 4, 2. 5 u. s. w., ganz den Geist der practischen Religiosität, aus welchem der Jacobus- brief hervorgegangen ist.

Mit diesem Brief stimmt der erste petrinische auch darin überein, dass er das Princip der Wiedergeburt in das Wort Gottes setzt. Christ kann man nur werden durch Wiedergeburl, man wird wiedergeboren, weil man vom Vergänglichen zum Unvergänglichen erhoben wird, 1, 3 f. Das Wort Gottes ist gleichsam der Samen , welchen Gott in den Neubekehrten legt, damit das Unvergängliche aus ihm hervorgehe. Der X6yo; öeoG ^övTO? x,al (xivovTOf; ist keine oTropa ^Sapno, sondern a(p9apTo?, das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit und dieses Wort ist das Evangelium, 1, 23 f. Es ist auch diess ein charakteristischer Unterschied dieses Lehrbegriffs von dem paulinischen, dass das eigenthümliche christliche Princip nicht so unmittelbar mit der Person Christi identificirt und als ein übernatürlich wirkendes dargestellt wird. Es ist nicht Christus, nicht der Geist, sondern das Wort Gottes , das vom Menschen in sich aufgenommen , das Princip seiner Wiedergeburt und seines sittlich religiösen Lebens wird. Was bei dem Apostel Paulus die mystische Gemeinschaft mit dem in uns lebenden und durch seinen Geist nach seinem Bilde uns umgestaltenden Christus ist, ist hier die sittliche, den Willen des Menschen bestimmende Wirksamkeit des göttlichen Worts, das als Princip der Wiedergeburt aus dem Menschen auch eine /.atviri xti<7i? macht. Da auch schon das alte Testament seinen X6yo; öeou hatte, so schliesst sich in dieser Idee das neue an das alte Testament an, und man hat so eine um so breitere Grundlage für die Einheit dör katholischen Kirche, welcher der abstracto

Lehrbegriff der Briefe Petri. 297

Rechtfertigungsbegriff des Paulinismus weit weniger zusagte, als die practische Tendenz dieses Lehrbegriffs.

Denselben Paulinismus und Judenchristenthum combiniren- den Charakter hat besonders auch der zweite petrinische Brief. Das Höchste ist ihm die STrtYvwct; tou OsoO XpiorroO, 1, 2. 3. 8. 2, 20. 3, 18, zu welchem als dem Theoretischen das Practische hinzukommen muss. Daher fordert er auf, 1,5, zu erweisen in xlem Glauben die Tugend, in der Tugend die Erkenntnis«, in der Erkenntniss die Mässigung, in derMässigung die Geduld, in der Geduld die Frömmigkeit, in der Frömmigkeit die Bruder- liebe, in der Bruderliebe die Menschenliebe. Denn wenn diese Tugenden vorhanden sind und sich mehren , so machen sie nicht müssig und unfruchtbar für die Erkenntniss unseres Herrn Jesu Christi. In der Erkenntniss Christi haben also alle diese Tugen- den ihr Ziel und ihre Vollendung, und sie selbst bethätigl sich in der ganzen Reihe dieser Tugenden. Das Christenthum ist theoretisch i-izifviacaq , practisch apsTvi oder ayaTTiri , Wissen und Than, und beides ist nur ein anderer Ausdruck für die Paulinis- mus und Judenchristenthum combinirende Formel 7ri<jTt? xal spya. Es zeigt sich schon hierin die katholisirende Richtung des sich bildenden LehrbegrifFs. Der LehrbegrifF der katholischen Kirche kann sich weder an die ttCcti? noch an die Ipya einseitig halten. Er nimmt daher beides zusammen; weil es ihm aber nur darum zu thun ist, alles Einseitige und Extreme abzuschneiden, so ist es auch keine organische Einheit, sondern nur eine äussere Combination. Wie im zweiten petrinischen Brief Petrus und Paulus sich brüderlich die Hand reichen, so stehen nun auch im LehrbegrifF dieser Briefe der Glaube und die Werke beide in

derselben selbstständigen Bedeutung neben einander. tuui

4. Die Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. Wir lassen sie hier folgen, ohne dass damit behauptet wer- den soll, dass ihnen hier gerade ihre chronologische Stelle an-

898 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

zuweisen ist. Sie stehen nach den eng an einander sich an- schliessenden Lchrbegriffen der Briefe am schicklichsten hier, sofern die Abfassung der synoptischen Evangelien in ihrer jetzigen Gestalt in die zweite Periode gesetzt werden muss. Da die synoptischen Evangelien das Leben und die Lehre Jesu darstellen wollen, so sollte man in ihnen keinen eigenthümlichen Lehrbegriff voraussetzen , was sie als Lehre enthalten , sollte nur die Lehre Jesu sein. Dass sie aber nicht als schlechthin referirende Berichte zu nehmen sind, zeigt schon ihre Verschiedenheit. Wie könnten sie denselben Gegenstand so verschieden darstellen, wenn sie einfach nur das Geschehene erzählten? Alles also, worin sie von einander abweichen, kann nur der individuellen Auffassung anheimfallen und aus Vorstellungen hervorgegangen sein, welche einem eigenen Ideenkreise angehören. Aber auch in dem ge- meinsamen Inhalt dieser Evangelien gibt es so Manches, was wir nicht für eine rein historische Darstellung hallen können, wie namentlich alles, worin das Wunder eine so grosse Rolle spielt. Es muss also erst das Geschichtliche vom Nichtgeschichtlichen kritisch geschieden und die Frage untersucht werden , wie wir uns die Entstehung des Letztern zu erklären haben. Mag man auch gewisse geschichtliche Elemente dabei voraussetzen, die Hauptsache bleiben immer gewisse Anschauungen und Traditio- nen, aus welchen diese Bestandtheile der evangelischen Geschichte entstanden sind. Da der Hauplgegenstand der Evangelien die Person Jesu ist, so ist voraus zu erwarten, dass sich so Manches mit ihr verknüpft haben werde, was wir nicht zur Lehre Jesu selbst, sondern nur zu einem Kreise von Vorstellungen rechnen können, worin sich das religiöse Bewusstsein jener Zeil ausge- prägt hat. Gibt es daher einen besonderen Lehrbegriff der synoptischen Evangelien, so wird er hauptsächlich in einer eigenthümlichen Form der Christologie bestehen, welche sowohl von der paulinischen als der johanneischen zu unterscheiden ist. Die Grundanschauung der synoptischen Evangelien von der

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. Si99

Person Jesu ist, dass er der Messias ist, der uioq OsoO, uioq dxßi^. Da nun aber die Idee des Messias bei den Juden längst vorhanden war, und sich zu einer bestimmten Form ausgebildet hatte, so war nichts natürlicher, als dass auf die Person Jesu Vieles blos aus dem Grunde übergetragen wurde, um in ihm, wenn er der Messias sein sollte, das Messiasideal, wie es in der jüdischen Anschauungsweise exislirte, verwirklicht zu sehen. Es zeigt sich diess schon bei der Geschichte der Geburt Jesu. Die beiden Hauptevangelien, das des Matthäus und das des Lucas lassen Jesum auf übernatürliche Weise durch den heiligen Geist von einer Jungfrau geboren werden. Dass diess nicht historisch ver- standen, ja, nicht einmal für die ursprüngliche und älteste Vor- stellung von der Geburt Jesu gehalten werden kann, beweisen die Genealogien, welche keinen Sinn hätten, wenn sie nicht die natürliche Erzeugung Jesu voraussetzten. Die ihm zugeschrie- bene übernatürliche Erzeugung kann daher nur aus der Messias- idee abgeleitet werden. Als Messias, als XpicrTÖ? ist er der Gesalbte, nämlich der mit dem heiligen Geist Gesalbte. Der heilige Geist ist das die Persönlichkeit des Messias constituirende Princip, alles, was den Messias auf eigenthümliche Weise aus- zeichnet und ihn zu dem befähigt, was er ist, hat er vom heiligen Geist, derselbe Geist, welcher die Propheten des alten Testaments inspirirte, wirkt auch in ihm, nur in höherem Grade, auf absolute Weise, er ist ihm, wie ei JoK 3, 34 heisst, oü/c ix. pixpou ge- geben. Wenn nun die übernatürliche Geburt Jesu als Wirkung des heiligen Geistes beschrieben wird, so ist klar, dass dadurch der heilige Geist als das immanente, den innersten Mittelpunkt seiner Persönlichkeit bildende Princip bezeichnet werden soll. Diess ist in jedem Fall die dabei zu Grunde liegende Hauptidee, und wir können es daher dahingestellt lassen, ob noch andere Momente zur Ausbildung der Geburtsgeschichte mitwirkten, wie namentlich das für den Messias übliche Prädicat u(6? GeoO, das mit dem entsprechenden Zusatz Ps. 2, 7: heute habe ich dich

Zweiter Abschnitt. Zweite Periode. '

gezeugt, leicht als ein physisches Verhältniss genommen werden konnte, und das jesaianische Orakel von der gebärenden Jung- frau, bei welchem sehr zweifelhaft ist, ob es schon von den Juden auf den Messias bezogen wurde. Dass aber selbst auf dem Standpunkt der synoptischen Evangelien die übernatürliche Er- zeugung nicht als eine wesentliche Eigenschaft des Messias be- trachtet wurde, beweist neben den damit nicht wohl vereinbaren Genealogien das Marcusevangelium, das die Geburtsgeschichte ganz mit Stillschweigen übergeht, somit auch die übernatürliche Erzeugung auf sich beruhen lässt, was nur daraus zu erklären ist, dass man das wesentliche Moment derselben, die Begabung mit dem messianischen Geist, sich auch ohne diese Voraussetzung denken konnte. Wie schon hier der Einfluss sich zeigt, welchen die herrschenden Zeitvorstellungen auf die Gestaltung der synop- tischen Christologie hatten , so ist überhaupt in ihr durchaus das Bestreben sichtbar, Züge, die als messianisch galten, auf die Person Jesu überzutragen. Die Davidische Abstammung, die Geburt in der Davidsstadt Bethlehem, die Magier und ihr Stern, die Flucht nach Ägypten, der bethlehemitische Kindermord, alles diess und was sonst damit zusammenhängt, kann nur aus diesem Gesichtspunkt betrachtet werden; die darauf sich beziehenden Erzählungen giengen nur aus der apologetischen Tendenz her- vor, an der Person Jesu alle jene Merkmale nachzuweisen, die in der Anschauungsweise der Juden als wesentliche Kriterien der Messianität galten. So bildete sich eine Christologie, welche besonders in der Darstellungsweise des Matthäus ein acht jüdi- sches Gepräge an sich trägt.

Weitere Momente der synoptischen Christologie sind die Taufe und die Versuchung. Was die übernatürliche Erzeugung durch den heiligen Geist für den Eintritt Jesu in die Welt ist, ist die Erscheinung bei der Taufe für den Antritt seines öfTenllichen Lehramts. Hier wie dort sollte der heilige Geist als das göttliche Princip der Messianität Jesu dargestellt und seine Begabung mit

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 301

demselben anschaulich gemacht werden. Daraus entstand die Erzählung, dass der heilige Geist in der Gestalt einer Taube, die auch sonst bei den Juden ein Symbol des heiligen Geistes war, bei der Taufe, um bleibend auf ihm zu ruhen, herabgekommen, und eine himmlische, das Wohlgefallen Gottes über ihn aus- sprechende Stimme ihn feierlich dem Volk als Messias verkündigt habe. Von selbst dringt sich der Gedanke auf, dass, wenn Jesus schon durch seine Geburt den heiligen Geist als das Princip seiner messianischen Wirksamkeit in sich hatte, die Ausrüstung mit dem Geiste bei der Taufe als überflüssig erscheint, wie ja auch Marcus nur von dieser letztern Mittheilung des Geistes spricht. Sehr leicht erklärt sich diess aber, wenn man annimmt, zuerst sei nur die Taufe als Moment der Mittheilung des messianischen Geistes fixirt worden, hierauf aber sei man, um das Verhäitniss des Geistes zu ihm noch tiefer und innerlicher aufzufassen , auf den Moment der Empfängniss zurückgegangen, und so seien zuletzt beide Erzählungen , obgleich die eine die andere auszu- schliessen scheint, in der hierüber nicht reflectirenden Tradition neben einander stehen geblieben.

Aus demselben Interesse, Jesum als Messias durch alle Beweise der Messianität sich legitimiren zu lassen, gieng die Geschichte seiner Versuchung hervor. Als Messias und Stifter des messianischen Reichs hatte er den Teufel als Gegner sich gegenüber. Dieser musste also von ihm überwunden werden. Daher ist die Versuchung, die er gleich anfangs mit dem Teufel besteht, das schon den ganzen Verlauf des messianischen Werks wie in einer bildlichen Anschauung in sich darstellende Vor- spiel des grossen Kampfes und die thatsächliche Probe dafür, dass er mit dem göttlichen Geist, ohne welchen er der Messias nicht sein konnte, wirklich ausgerüstet worden ist. Beides zu- sammen gibt ihr die passendste Stelle unmittelbar nach der Taufe. Die Kraft, die er in der Taufe erhalten hat, bewährt sich in der Versuchung, und der über den Teufel gewonnene Sieg ist nun

30Ä Zweiter Abschnitt, Zweite Perio de,

entscheidend für die ganze folgende Entwicklung seines messia- nischen Werks, die Versuchungsgeschichte stellt so den Gesichts- punkt auf, aus welchem der weitere Inhalt der evangelischen Geschichte zu betrachten. Die messianische Thäligkeit Jesu ist ein fortgehender Kampf mit dem Teufel, der wenn auch jetzt durch die sittliche Erhabenheit Jesu zurückgeschlagen, doch sich auf's Neue an ihm versucht und mit der Macht derFinsterniss ihn angreift. Diess deutet Lucas an, wenn er seine Versuchungs- geschichte 4, 13 mit den Worten schliesst: (TjwTzkidctq Tcavra TTitoacaöv 6 ^laßoXo; a.7T£<TT7i dcTu' auToO a^t xaipou, nur solange also stand er von ihm ab, bis der rechte Zeitpunkt zu einem neuen Angriff auf ihn kam. Marcus hat in seiner Darstellung der Versuchungsgeschichte den eigenen Zug, dass er von Jesus sagt, er sei während der vierzig Tage in der Wüste, als er versucht wurde vom Satan, [^.sxa tc5v ör^pttov gewesen. Wollte er ihn dadurch vielleicht mit Adam parallelisiren, der ja einst auch mit den Thieren zusammen war, und als zweiten Adam darstellen, welcher im Unterschied von dem ersten der Versuchung nicht unterlag, sondern sie siegreich bestand?

Die erste, der öffentlichen Wirksamkeit Jesu vorangehende Periode seines Lebens eignete sich vorzugsweise dazu, zur Auf- hellung des Dunkels, das auf ihr lag, alles Auszeichnende, das zum Messiasideal jener Zeit gehörte, auf seine Person überzu- tragen. Aber auch der Theil der evangelischen Geschichte, welcher die öffentliche Wirksamkeit Jesu selbst betrifft, ist nicht so rein historisch gehalten, dass nicht dieselbe Tendenz einer traditionellen Idealisirung seiner Person hindurchblickte. Am auffallendsten ist diess bei den vielen Wundern verschiedener Art, welche die evangelische Geschichte von Jesu erzählt. Wie man auch die Wunder Jesu betrachten mag, dass der allgemeine Glaube der Zeit, der Messias müsse Wunder thun, wie man sich ja auch Moses und die Propheten als Wunderthäter dachte, auf die Darstellung der evangelischen Geschichte eingewirkt hat,

Lehrbegriffe der synoptischen ETangelien. 303

lässt sich nicht läugnen. Es fehlt in der evangelischen Geschichte nicht an Andeutungen darüber, wie die Wundererzählungen hauptsächlich auch aus dem Bedürfniss entstanden, die messia- nische Thätigkeit Jesu in Handlungen anzuschauen, in welchen die geistige Aufgabe derselben, wie in einem bildlichen Reflex sich abspiegelte. Sollte der Messias seiner eigentlichen Be- stimmung nach der Heiland der Menschen sein, so konnte man sich keine anschauliche Vorstellung von seiner heilskräftigen Wirksamkeit machen, wenn man sie nicht auch in leiblichen Heilungen anschaute, die als Wirkungen derselben in der Thal nur eine bildliche Anschauung seiner Heilsthätigkeit im geistigen Sinne waren. Nachdem Matthäus die ersten Krankenheilungen Jesu erzählt und seine Erzählung mit den Worten geschlossen hat: zavTa; tou? xaxo); e^ovra? löepaireuffsv, 8, 16, setzt er hin- zu, diess sei geschehen, damit der Ausspruch des Propheten Jesajas erfüllt würde: aÖTo? tä? äcOeveta; v^picov £>.aߣ, xal ra? v6(7ou? ißadTacev. Bei Jesajas sind die atrOsveiai und vocot nur in moralischem Sinne zu nehmen, der Evangelist aber sieht den Ausspruch dadurch erfüllt, dass Jesus leibliche Heilungen ver- richtete, und doch wollte auch er dadurch nur denselben Begriff des Messias als des Heilands der Menschen bezeichnen, der in der Stelle des Propheten liegt. Diese unbewusste Umsetzung des Geisti- gen in Leibliches ist der natürliche Process der traditionellen Sage, die in ihrer concrelen Darslellungsweise das Leibliche als ein Bild des Geistigen betrachtet, aber ebendadurch das Eine an die Stelle des Andern setzt und so den Heiland im geistigen Sinne in einen leibliche Heilungen verrichtenden Wunderthäter ver- wandelt.

Einen weiteren Beweis dafür, wie die evangelischen Wun- dererzählungcn aus einer Anschauungsweise hervorgiengen, in welcher das Leibliche ein Reflex des Geistigen war, und das Eine in das Andere übergieng, gibt die Stelle Matlh. 11, 2 f., in welcher Jesus auf die Frage des Täufers, ob er der Messius sei,

Zweiter Abschnitt. Zweite Periode, ^j

die Antwort gibt: Die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Todten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündigt. Hier soll offenbar die messianische Wirksamkeit Jesu überhaupt geschildert werden, und es wäre ganz gegen den Sinn der Stelle, wenn man die einzelnen Züge derselben von den verschiedenen Arten der damals noch nicht einmal in diesem Umfang verrichteten Wunder Jesu verstehen wollte. Diess muss um so mehr ange- nommen werden, da den Worten Jesu die Stellen bei Jesajas 35, 5 f. 61, 1 f. zu Grunde liegen, in welchen das Sehen der Blinden, das Hören der Tauben, das Hüpfen der Lahmen, das Jubeln der Stummen Bild der Freude über die Erlösung aus- dem Exil ist. Auf analoge Weise sollte auch die Zeit der Erscheinung Jesu als eine Zeit der Erlösung geschildert werden, in welcher alle Gebrechen der Menschheit geheilt werden und alles zu einer neuen Lebenslhätigkeit erwachen sollte. Man denke sich aber auch, wie solche bildliche Anschauungen in der traditionellen Sage weiter forlgebildet und in wirkliche Wunderhandlungen umgesetzt wurden, und wie, nachdem einmal ein solcher Anfang gemacht war, die evangelische Tradition die Tendenz erhielt, die messianische Wirksamkeit Jesu durch Wunder der verschie- densten Art darzustellen und zu verherrlichen. ^*r< Ein weiteres, derselben idealisirenden Tendenz der synopti- schen Chrislologie angehörendes Moment ist die Verklärungs- geschichte, wie sie die drei Synoptiker einstimmig erzählen, Matth. 17, i f. Marc. 9, 2 f. Luc. 9, 28 f. Jesus bestieg 6-8 Tage nach seiner ersten Leidensverkündigung mit seinen drei vertrautesten Jüngern einen hohen Berg. Sie sahen, wie mit Einem Male sein Angesicht und selbst seine Kleider in überirdi- schem Glänze sich verklärten und zwei Gestalten, Moses und Elias erschienen, sich mit ihm zu unterreden, und eine himm- lische Stimme aus einer lichten Wolke erklärte Jesum für Gottes Sohn, dem sie Gehör zu schenken hätten. Es ist unmöglich,

Lehr-begriffe der synoptischen Evangelien. 305

diese Erzählung thatsächlich zu verstehen , man kann sie nur als einen Mythus nehmen, dessen Tendenz nach Strauss die ge- doppelte ist: erstens die Verklärung des Moses an Jesu in er- höhter Weise zu wiederholen , und zweitens Jesum als den Mes- sias mit seinen beiden Vorgängern zusammenzubringen, durch diese Erscheinung des Gesetzgebers und des Propheten, des Gründers und des Reformators der Theokralie Jesum als den Vollender des Gotlesreichs , als die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten darzustellen und seine messianische Würde noch überdiess durch eine Himmelsstimme bekräftigen zu lassen. r

Nehmen wir alle diese Züge zusammen, so haben wir in ihnen die Elemente einer Christologie, welche auf der Grundlage des jüdischen Messiasbegriffs die Person Jesu so hoch als möglich zu stellen suchte, ohne die Grenzlinien des Menschlichen zu überschreiten und aus ihm ein an sich göttliches Wesen zu machen. Er steht auf demselben Boden wie Moses und die Pro- pheten des alten Testaments und unterscheidet sich nur dadurch von ihnen, dass ihn als den Vollender der alttestamentlichen Theokratie eine noch höhere Würde umstrahlt. Das Höchste, was von ihm zu prädiciren ist, ist, dass er der uioc OsoO ist, aber als solcher ist er nur Messias im jüdischen Sinne, und wie weit diese Christologie noch von der Idee der Präexistenz ent- fernt ist, zeigt nichts deutlicher als die Sage von seiner über- natürlichen Erzeugung. Alles, was ihn über das Menschliche erhebt, ist nur auf die Causalität des seine Erzeugung bewirken- den, oder nach einer andern Vorstellung erst bei der Taufe ihm mitgetheilten Tcveuj/^t ayiov zurückzuführen.

Vom Standpunkt der jüdischen Messias-Idee aus musste der Tod Jesu mit den besondern Umständen, unter welchen er er- folgte, ein Hauptanstoss für den Glauben an seine messianische Würde sein. Es fragt sich daher, wie die diesem Standpunkt am nächsten stehenden Synoptiker den Tod Jesu auffassten. Nach ihrer Darstellung der evangelischen Geschichte hatte schon Jesus

B»nr, neiitest. Theol. *"

306 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

für die Beseitigung- jenes Anslosses Sorge gelragen, indem er seine Jünger theils durch die Vorherverkündigung seines Todes, theils durch die Nachweisung seiner Nothwendigkeit aus Stellen des alten Testaments auf ihn vorzubereiten suchte. Es ist diess jedoch, wie schon früher bemerkt worden ist, einer der Punkte, bei welchen wir nicht gewiss sein können, ob nicht Späteres zurückdatirt, und die von den Jüngern erst nach dem Tode ge- wonnene Ansicht von demselben dem Meister selbst in der Form einer Weissagung in den Mund gelegt worden ist. Wenn auch Jesus selbst schon Andeutungen dieser Art gab, so legte doch erst der als geschehene Thatsache vor Augen stehende Tod die Frage recht nahe, wie er mit der messianischen Würde Jesu zu vereinigen sei. Man sieht es den auf den Tod Jesu angewandten Stellen des alten Testaments an, welche Mühe man sich gab, diese Frage zu beantworten, und ein so räthselhaftes Schicksal des Messias für sein religiöses Bewusslsein zurechtzulegen. In Stellen, die so künstlich für diesen Zweck benützt sind, konnte man erst dann einen solchen Zweck finden, nachdem man sich in die Nothwendigkeit versetzt sah, über die vorliegende That- sache sich irgendwie zu verständigen. In diesem Interesse durchforschte man das ganze alte Testament, um auf alles zu achten, was darüber Aufschluss geben zu können schien, gerade so, wie Lucas 24, 25 f. von Jesus erzählt, er habe nach seiner Auferstehung anfangend von Moses und allen Propheten seinen .Jüngern in der ganzen Schrift alles ausgelegt, was sich auf ihn bezog, um zu beweisen, dass der Messias alles diess leiden und auf diesem Wege in seine Herrlichkeit eingehen musste. Auch aus der Apostelgeschichte besonders ist zu sehen, wie man mit Hülfe des alten Testaments die Nothwendigkeit des Todes in seinem Zusammenhang mit der Auferstehung zu rechtfertigen und sich begreiflich zu machen suchte. Er musste sterben, aber er musste auch auferstehen, und weil das Eine nicht ohne das An- dere sein kann, gibt sich in beidem nur eine höhere göttliche

Lebrbegriffe der synoptischen Evangelien, 307

Nothwendigkeit zu erkennen. Darum ist es auch schon im alten Testament vorausgesagt und es ist alles nur in Folge eines vor- ausbestimmten Ralhschlusses geschehen. Es war, sagt Petrus Apg. 2, 23, Gottes festgesetzte EntSchliessung und Vorhersehung, dass Jesus ausgeliefert und durch gottlose Hände an's Kreuz ge- heftet wurde. Aber Gott hat ihn auferweckl und die Stricke des Todes gelöst, weil es nicht möglich ist, dass er vom Tode be- wältigt wurde. Auf ihn hinweisend sagt David Ps. 16, 8—11: »Ich sah den Herrn vor mir, denn zu meiner Rechten steht er, ich werde nicht wanken. Darum freute sich mein Herz und froh- lockte meine Zunge, auch mein Fleisch wird wohnen in Hoffnung, denn nicht wirst du überlassen meine Seele der Unterwelt, noch auch wirst du lassen deinen Heiligen Verwesung sehen. Du hast mir Wege des Lebens kund gethan , wirst mich mit Freude er- füllen bei deinem Angesicht.« Da nun David Prophet war und wusste, dass mit einem Eide ihm Gott geschworen, dass er aus der Frucht seiner Lende nach dem Fleische Christum erwecken werde C2 Sam. 7, 12. Ps. 132, H), um ihn zu setzen auf seinen Thron, so hat er voraussehend von der Auferstehung gesagt, er werde seine Seele nicht der Unterwelt überlassen, noch sein Fleisch die Verwesung sehen lassen. So wurde nun Christus auferweckt und zur Rechten Gottes erhöht; auf David selbst aber kann diess nicht gehen, er stieg ja nicht in den Himmel, von sich selbst kann er also diess nicht gesagt haben, sondern nur von Christus. Diese Stelle ist auch desswegen bemerkenswerth, weil in ihr schon der Versuch gemacht ist, die Nothwendigkeit der Auferstehung aus der Idee der Person des Messias abzuleiten. Oüx '/ov ^'jvxTov xpxTswOai aÜTÖv Ott aüxoO. Es ist an sich nicht möglich, dass der Messias dem Tode anheimfällt, weil er dem Tode anheimgefallen nicht mehr der Messias wäre. Wenn also auch der Messias stirbt, so ist an sich in ihm der Tod im Leben aufgehoben, wenn auch nicht in dem Übermenschlichen seiner Natur, doch in seiner messianischen Würde. In demselben Sinne

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308 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

wird es 3, 15 als ein Widerspruch hervorgehoben, den apj^iaYoc ty}? ^o)7i; zu tödten, wesswegen ihn Gott von den Todlen auf- erweckt habe. Zum Begriff des Messias gehört es, dass er der Fürst des Lebens ist. Wenn nun die ^wri, deren apxTiyö; er ist, ein sehr allgemeiner Begriff ist, so liegt doch darin schon das Argument, dass der Begriff des Lebens sehr unvollkommen in ihm aufgefasst wäre, wenn er sich nicht auch im physischen Sinne an ihm realisirt hätte. Es ist demnach hier schon der Anfang gemacht, der Person des Messias eine absolute Bedeutung zu geben, und was die Idee seiner messianischen Würde in sich zu begreifen schien, als eine immanente Eigenschaft seiner Persön- lichkeit aufzufassen, oder seine Person so zu steigern, dass sie in der weitern Consequenz ihrer Idee zuletzt vom Menschlichen zum Übermenschlichen erhoben werden musste.

Wie auf den Tod die Auferstehung folgte, so auf diese die Himmelfahrt. Sie gehört ganz der idealisirenden Tendenz an, in welcher die synoptische Christologie sich ausbildete und zuletzt nur in einem solchen Schlüsse des irdischen Lebens Jesu ihren natürlichen Ruhepunkt finden konnte. Die doppelte, und wenn wir die Apostelgeschichte hinzunehmen, dreifache Form, in welcher die Erzählung von der Himmelfahrt bei den synoptischen Schriftstellern selbst erscheint, zeigt deutlich, wie erst in der Anschauungsweise der Jünger diese Vorstellung sich bildete. Gerade derjenige Evangelist, welcher, wenn er der Apostel Matthäus ist, selbst Zeuge dieser Begebenheit gewesen wäre, sagt nichts von einer sichtbaren Himmelfahrt. Er schliesst sein Evangelium mit der Versicherung Jesu, es sei ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben , und er werde bei ihnen sein alle Tage bis an's Ende der Well. Die Vorstellung war also wohl, wie sie Strauss richtig angibt, Jesus sei ohne Zweifel schon bei der Auferstehung unsichtbar zum Vater aufgestiegen, er sei aber zugleich unsichtbar immer um die Seinigen, und aus dieser Verborgenheit heraus offenbare er sich, so oft er es nöthig

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 309

finde, in Christophanien, wie ungefähr nach derselben An- schauungsweise der Apostel Paulus 1 Cor. 15 die ihm zu Theil gewordene Erscheinung des schon in Himmel Erhobenen mit den früheren ganz in Eine Reihe stellt, so dass man sich demnach nur einen fliessenden Unterschied zwischen seinem doppelten Sein auf der Erde und im Himmel dachte und aus diesem Grunde seine Erhebung in den Himmel nicht durch einen besondern Act fixirte. Die Hauptsache ist die auch schon in den Worten Jesu vor Gericht Mallh. 26, 64 enthaltene Vorstellung, dass er nicht mehr auf der Erde, sondern im Himmel befindlich mit der all- mächtigen Kraft Gottes über alles walte. Bei Marcus und Lucas dagegen wird der Übergang von der Erde zum Himmel als eine vor den Augen der Jünger geschehene Thatsache fixirt. Nach Marcus hat sich Jesus, wie es scheint, unmittelbar von dem Mahle, bei welchem er den Eilfen erschien, zum Himmel er- hoben, und sich zur Rechten Gottes gesetzt, nach Lucas im Evangelium hat er die Jünger nach Bethanien hinausgeführt und die Hände aufhebend sie gesegnet, und während er sie segnete, entfernte er sich von ihnen, und wurde in den Himmel entrückt. Wie schon hier das Successive des Hinschwebens zum Himmel besonders hervorgehoben wird, so gibt Lucas in der Apostelge- schichte 1 , 9 noch eine anschaulichere Beschreibung, wie er, während er den Jüngern seine letzten Aufträge ertheilte, vor ihren Augen in die Höhe gehoben wurde, und eine Wolke ihn aufnahm und ihn von ihren Augen hinweg entrückte. Der Haupt- unterschied aber zwischen den beiden Darstellungen des Lucas im Evangelium und in der Apostelgeschichte ist, dass, während im Evangelium, wie auch bei Marcus, Jesus noch am Tage seiner Auferstehung sich in Himmel erhoben zu haben scheint, in der Apostelgeschichte seine Himmelfahrt erst am Schlüsse der vierzig- tägigen Frist erfolgte, die er noch auf der Erde weilte. Die Zahl vierzig kommt auch sonst im alten und neuen Testament öfters bei Zwischenperioden und mysteriösen Mittelzuständen

310 Zweiter Abschu itt. Zweite Periode.

vor. Hier scheint jedoch auf diese Zeitbestimmung hauptsächlich die in der Apostelgeschichte Epoche machende Scene des ersten christlichen Pfmgstfestes eingewirkt zu haben. Nachdem einmal die Ausgiessung des heiligen Geistes auf das Pfingstfest verlegt v\rar, konnte man die Himmelfahrt nicht durch eine zu lange Zwischenzeit von ihr trennen, da Jesus seine überirdische Macht und Wirksamkeit vor allem durch die verheissene Sendung seines Geistes beurkundet haben sollte. Was demnach Lucas in dem Evangelium nur summarisch erzählt, wurde erst im Zusammen- hang der Apostelgeschichte an seiner bestimmten Stelle in die christliche Chronologie eingereiht, und wir sehen sowohl hier- aus, als auch aus den beiden Engeln, durch deren Zeugniss Lucas die Erhebung Jesu in den Himmel bestätigen lässt, wie allmählig diese Vorstellung zu ihrer concreten Gestalt sich aus- bildete.

Das Höchste, was die synoptische Christologie von Jesus prädicirt, ist, dass ihm, wie es Matth. 28, 18 heisst, iS66Yi izdirsx e^oucia ev oOpavö xal stti y^?, oder dass er zur Rechten Gottes sitzt, welcher Ausdruck die unmittelbare Theilnahme an der göttlichen Macht und Weltregierung bezeichnet, dasselbe, was auch in dem schon in den synoptischen Evangelien Jesu empha- tisch gegebenen Namen xupto? liegt. Als sitzend zur Rechten Gottes wird er gewöhnlich vorgestellt, nur Stephanus sieht ihn, Tov uiov ToO avöptoTTOu, t/. ^sEiöv EffTWTX ToO 0eou. Apg. 7, 55. 56. Dieses Stehen ist hier aber wahrscheinlich daraus zu erklären, dass er den ihm nachfolgenden Märtyrer empfangend und in den Himmel aufnehmend gedacht wird. Wenn Stephanus in derselben Anschauung die Herrlichkeit Gottes und den geöffneten Himmel sieht, so kann diess nur von seiner Aufnahme in den Himmel verstanden werden. Dahin also, wo er selbst ist, sollen auch die kommen, welche in ihrem Leben ihm nachfolgen, er empfängt sie hier, wie er überhaupt hier zur Rechten Gottes dazu seinen Sitz hat, um von da mit seiner Macht auf alles, was sich auf

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Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 311

seine Zwecke auf der Erde bezieht, einzuwirken. Daher heissl er Apg. 7, 55 f. £<jtü>; sx Ssawv toO Osoj, wie MalUi. 26, 64 xaOviaevoc iy. Se^töv tyi; Suvaasw;. Aber auch dieses sich Setzen zur Rechten Gottes nach seiner Erhebung in den Himmel ist noch nicht der letzte, seine messianische Thätigkeit auf der Erde ab- schliessende Act. Er sollte nur dazu in den Himmel gegangen sein, um von ihm wiederzukommen. Die beiden Engel, welche den Jüngern nach der Himmelfahrt erschienen, sagten zu ihnen: Dieser Jesus, welcher von euch hinweg in den Himmel aufge- nommen worden ist, wird so kommen auf dieselbe Weise, wie ihr ihn zum Himmel gehen sähet. Apg. 1, 11.

Mit dem Gedanken an die Hinmielfahrt verband sich un- mittelbar die Erwartung seiner Parusie, und zwar sollte sein Kommen vom Himmel nicht blos ein ebenso sichtbares sein , wie sein Gehen in den Himmel, sondern auch schon in der nächsten Zukunft erfolgen. Die Erwartung der Parusie, die uns auch bei den synoptischen Schriftstellern als der allgemeine, das ganze Bewusstsein der ältesten Christen beherrschende Glaube erscheint, war der vermittelnde Gedanke, in welchem der Gegensatz sich aufhob, in welchem die jüdische Messiasidee zu der ihr sosehr widerstreitenden Katastrophe des Lebens Jesu stand. Schien sein Tod alle Hoffnungen auf immer zerstört zu haben, die man auf ihn als den erschienenen Messias baute, so konnte man den Glauben an seine Messianität nur in dem Gedanken festhalten, dass er nur dazu vom Tode auferstanden und in Himmel erhoben worden sei, um alsbald von da wiederzukommen, und nun erst bei seiner zweiten Erscheinung alles das zu realisiren, was er bei seiner ersten noch un-vollendet gelassen hatte. Daher ver- knüpften sich nun mit der Idee der Parusie alle Hoffnungen, die nach der jüdischen Messiasidee in einem irdischen Reiche des Messias in Erfüllung gehen sollten. Die Apokalypse hat diesen Hoffnungen den concreAesten Ausdruck gegeben, aber auch bei den synoptischen Schriftstellern finden sich Andeutungen der-

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selben Art. Wenn Petrus Apg. 3, 19 f. ermahnt, Busse zu thun und sich zu bekehren, auf dass die Sünden ausgelöscht werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn her, und er vom Himmel sende den vorher bestimmten Jesus Christus, welchen der Himmel aufnehmen muss bis zu den Zeiten der Wiederhei:stellung alles dessen, was Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von Alters her geredel hat, so blickt auch hier in den /.aipol ava^l/u^sto? und den /fovoi dcTroxaTaTTaaeo); deutlich die Idee eines auf der Erde zu errichtenden messiani- schen Reiches durch. Die äxoy.aTa(jTa(Ti5 Travrtdv ist die Wieder- herstellung und Erneuerung aller Dinge zu ihrem früheren vollkommeneren Zustand, die man bei der Zukunft Christi und schon bei seinem Vorläufer Elias Matth. 17, H erwartete, das- selbe, was Matth. 19, 28 mit dem Ausdruck Tzv.'kiyyz'^edoc. be- zeichnet wird.

Was nun die weitere Lehre von der Parusie Christi bei den Synoptikern betrifft, so entsteht hier die kritische Frage, was wir in den auf die Parusie sich beziehenden Abschnitten der synoptischen Evangelien den Verfassern derselben als ihre eigene Vorstellung zuschreiben dürfen. Was wir bei ihnen über die Parusie finden, ist in Reden und Weissagungen Jesu enthalten; welches Recht haben wir also alles diess nicht zur Lehre Jesu selbst, sondern nur zum Ideenkreise der Verfasser der synopti- schen Evangelien zu rechnen? Es ist schon bei der Darstellung der Lehre Jesu gezeigt worden, wie die neueste Kritik die schwierige Frage, um welche es sich hier handelt, auf eine ganz andere Weise löst, als man bisher versucht hat, Sie bestreitet die bisher als unzweifelhaft geltende' Voraussetzung, dass Jesus selbst die Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels vorherverkündigl habe, mit dem gewichtigen Grunde, dass der Apokalyptiker hievon nichts weiss, vielmehr ausdrücklich das gerade Gegentheil behauptet. Wie kann also Jesus die Zer- störung Jerusalems geweissagt haben, wenn der Apostel Johannes

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 313

als Verfasser der Apokalypse zu einer Zeit, in welcher die Zer- störung Jerusalems so nahe bevorstand, versichern konnte, Jeru- salem werde nicht zerstört werden? Wir können daher in den angeblichen Weissagungen Jesu von der Zerstörung Jerusalems und seiner damit in Verbindung stehenden Parusie nur die Vor- stellungen der Jünger sehen, welche in der Gewissheit ihrer Erwartung und vielleicht auch aus Anlass von Reden, in welchen Jesus von dem einstigen Aufhören des mosaischen Tempelcullus gesprochen haben mag, denselben diese Form der Darstellung gegeben haben. Es kommt nun nur noch darauf an , das Ver- hältniss der beiden auf die Parusie sich beziehenden Hauptstellen Matth. 24 und Luc. 21 durch genauere Erwägung ihres Inhalts richtiger zu bestimmen.

Je grösser die Spannung war, mit welcher die ersten Christen der Parusie Christi entgegensahen, je zuversichtlicher sie sie schon in der nächsten Zeit erwarteten , um so mehr niuss alles, was in der damaligen Zeitgeschichte ein Zeichen der Nähe des Herrn zu sein schien, ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Man kann sich daher leicht vorstellen, welchen Eindruck auf sie, nachdem sie schon längere Zeit vergeblich auf die Parusie geharrt hatten, die Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels machen mussle, eine Begebenheit, die an sich eine grosse geschichtliche Bedeutung hatte, und nach verschiedenen Bezie- hungen in einen so nahen Zusammenhang mit dem Christenthum gesetzt werden musste. Wie konnten sie sie anders als mit dem Gedanken an die Parusie Christi betrachten? Hier wenn irgend- wo mussten die Weissagungen Jesu in Erfüllung zu gehen schei- nen, die ohne Zweifel schon damals in einer ähnlichen Form, wie bei Matthäus und Lucas, im Umlauf waren. Die beiden, die Parusie betreffenden Abschnitte bei Matthäus und Lucas enthalten daher auch die deutlichsten Hinweisungen auf die Zerstörung Jerusalems. Wahrlich ich sage euch, sagt Jesus Matth. 24, 2, es wird kein Stein auf dem andern gelassen werden, der nicht

St4 Zweiter Abschnitt. Zweite Per i ode.

zerstört werden wird. Noch bestimmlere Züge enthält die Schil- derung des Lucas, wenn hier V. 20 von den Heeren die Rede ist, die Jerusalem umgeben werden, darauf werde seine Verödung folgen, sie werden durch die Schärfe des Schwerdls fallen, und gefangen in alle Völker hinweggeführt werden, und Jerusalem werde von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Heiden erfüllt sein werden. Diess bezieht sich so genau auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer, dass, besonders wenn wir auch noch die gleichlautende Stelle 19, 43 f. hinzu- nehmen, nicht wohl bezweifelt werden kann, der Verfasser des Evangeliums habe bei diesen Stellen die Zerstörung Jerusalems als schon geschehene Thalsache vor sich gehabt. Dabei dringt sich nun aber sogleich die Frage auf, wie gleichwohl mit dieser Begebenheit die Idee der Parusie in Verbindung gesetzt werden konnte. W^ar Jerusalem schon damals zerstört, so wusste man ja auch, dass die Parusie auch jetzt nicht erfolgt war. Es liegt ein Hauptmoment in den Worten aj^t TrT.rptoGcücri )caipoi cOvöv 21,24. Jerusalem ist zwar zerstört, ohne dass die Parusie schon erfolgt ist, aber es muss auch die Periode ihren Verlauf nehmen, die mit diesen Worten bezeichnet ist. Es muss also Jerusalem eine bestimmte Zeit unter der Herrschaft und dem Drucke der Heiden sein, und es werden Zeichen an Sonne, Mond und Sternen geschehen und die V. 25 geschilderte Zeit der Noth wird ein- treten, und erst dann, wenn alles diess geschehen ist, wird man V. 27 des Menschen Sohn kommen sehen in einer Wolke mit grosser Kraft und Herrlichkeit. Aber Lucas datirl die Parusie doch wieder zurück auf den Zeitpunkt der Zerstörung Jerusalems. Denn er sieht schon den Anfang von allem diesem, die ganze mit der Zerstörung Jerusalems beginnende Reihe als die Periode an, in welcher die ßacriXsta toQ 6soO in der Nähe ist. Schon dieses iffx); ä-TTiv vi ßadiXsia toO öeou V. 31 ist ein ideelles Kommen, und wie Lucas von der ßaTiXeix xoO ÖsoO nicht als von einer schon gekommenen , sondern als von einer erst kommenden zu

Lehrbegrfffe der synoptischen Evangelien. 315

sprechen pflegt, so kann er auch V. 27 bei dem Kommen des Menschensohns nur an eine mächtige Einwirkung zur Herbei- führung der ßacriXeia toO öeou gedacht haben. Die Zerstörung Jerusalems war ihm der Zeilpunkt des Anbruchs der ßarriXsia toO 6eou, weil er in dem Judenthum nur eine feindliche Macht er- blickte, deren Zerstörung der ^xaikzix toO ösoO in seinem uni- versellen Sinne eine neue freiere Sphäre eröffnete. Diess wäre also auch die (i7roX'jTpco(Jt;, zu welcher die Jünger ihre Häupter erheben sollen, nicht die Erlösung aus der jetzigen Welt über- haupt, sondern aus dem Druck der Verhältnisse, welche die Folge der noch bestehenden Macht des Judenthums waren. Wie man nun aber auch die Stelle exegetisch nehmen mag, ausser Zweifel ist in jedem Fall die Bestimmtheit, mit welcher sowohl von der Parusie als von der Zerstörung Jerusalems die Rede ist. Setzt nun diese Bestimmtheit in Beziehung auf Jerusalem voraus, dass es damals, als das Evangelium geschrieben wurde, schon zerstört war, so bleibt nur die Annahme übrig, dass der Verfasser die Parusie in einem blos ideellen Sinne nahm, oder sie erst nach .der Zwischenperiode erwartete, in welcher Jerusalem in der Macht der heidnischen Völker sein sollte. Schon hier sehen wir demnach die beiden anfangs unmittelbar zusammengedachten Er- eignisse von einander getrennt, die Zerstörung Jerusalems und die Parusie.

Noch weiter wird diese Trennung Matth. 24. Es ist auch hier von der Zerstörung Jerusalems die Rede, aber nur V. 2; sie ist daher nur der Ausgangspunkt für die Reihe der Zeichen, an welchen die Parusie und die mit ihr erfolgende 'TuvT£>.sia tou aiövo; erkannt werden soll. Die gewöhnliche Erklärung, nach welcher die hier geschilderte Hauptbegebenheit die Zerstörung Jerusalems sein soll, lässt sich nicht rechtfertigen, und sie stösst besonders bei V. 29 auf unumstössliche Schwierigkeiten. Ver- gleicht man die beiden Darstellungen bei Matthäus und Lucas, so muss sogleich in die Augen fallen, in wie vielen Zügen sie un-

3tH6 Zweiter A.bsclinitt. Zweite Periode.

geachtet ihrer Differenz übereinstimmen. Es lässt sich diess wohl nur daraus erklären , dass auf einer gemeinsamen Grund- lage beide, Matthäus und Lucas auf verschiedene Weise fort- bauten. Ohne Zweifel gab es schon früh eine Jesu in den Mund gelegte Weissagung seiner Parusie. Sie enthielt die bei Matthäus und Lucas gleichlautenden Züge Matth. 24, 4 14. Luc. 21, 8—19. Es sind solche Züge, wie sie schon bei den Juden zum Bild der messianischen Periode gehörten, auch sieht man in ihnen deutlich theils Beziehungen auf die damalige Zeitgeschichte, wohin namentlich auch gehört V. 5 TzoXkol ilzuGO-^rxi u. s. w. vgl. Apg. 5, 35, theils Vertröstungen wegen des Verzugs der Parusie, wie V. 6 oÜTttd iijxi ts>;oc und V. 14. Erst dann sollte das Ende kommen, wenn das Evangelium allen Völkern verkündigt wäre. Diess sagte man sich, als die Parusie schon länger, als man anfangs glaubte, auf sich warten liess. Zu diesen ursprüng- lichen Elementen der Weissagung der Parusie gehörten ohne Zweifel auch die in beiden Stellen gleichlautenden Ermahnungen Matth. V. 16 f. Luc. V. 21 f. So weit gehen beide Evangelisten zusammen, nun aber muss man sich die Differenz daraus er- klären, dass die ursprüngliche Form der Weissagung nach dem Eintritt Epoche machender Zeitereignisse sich modificirte. Klar ist in dieser Beziehung bei Lucas , wie er die Zerstörung Jeru- salems unter Titus als den Punkt fixirt, von welchem der eigent- liche Anfang der Parusie und der sie begleitenden Ereignisse zu datiren ist. Warum geschieht nun aber diess nicht auf dieselbe Weise auch bei Matthäus? Gerade an derselben Stelle, wo Lucas auf die Zerstörung Jerusalems übergeht, spricht Matthäus V. 1 5 von dem ßSiXuyjjLa tvi; epyijy-wdEw; nach Daniel. Unter diesem ßSsXuyfxa epyi[j,(o(Tsto; dasselbe zu verstehen, wovon Lucas spricht, das Jerusalem belagernde römische Kriegsheer, oder den Ver- wüstungsgräuel überhaupt, ist rein willkürlich und dein Ausdruck nicht gemäss, da ecrro; dazu nicht passt und unter dem totto; ayio; speciell der Tempel zu verstehen ist. Daniel meint unter

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 317

dem ß^eXuyu-a £pYiu.w<T2o>; die von Antiochus Epiphanes befohlene Aufstellung seines Bildnisses im Tempel zu Jerusalem. Diese grösste Entweihung des Heiligthums könnte nicht besser be- zeichnet sein als durch diese Worte. Da nun, wie Die Cassius und Hieronymus melden, dasselbe unter Hadrian geschah, welcher das Standbild des capitolinischen Jupiters an derselben Stätte aufstellen liess, wo sonst der wahre Gott verehrt wurde, was ist natürlicher, als die Annahme, dass die Stelle des Matthäus eben- darauf zu beziehen ist? Man vgl. die weitere Ausführung in den Kritischen Untersuchungen über die kanonischen Evangelien S. 607 f. Nehmen wir an, der Verfasser des Evangeliums, durch welchen diese Weissagung von der Parusie ihre jetzige Form erhielt, habe während des grossen Aufstandes der Juden unter Hadrian diese Stelle geschrieben, so sah er in dem ^^ilrj-^ixa. ttJ; sorpt-cüfTSto;, wie es damals erfolgte, das eigentliche Signal der bevorstehenden Katastrophe, des Anbruchs der 6Xt'];i; ^&yxkn V. 21, auf welche sodann unmittelbar die Parusie folgen sollte. Bei dieser Erklärung treffen nicht nur die einzelnen Züge, wie namentlich die leuSo/jjKJTO'. und •j/sj^oxpo'prlTxt V.24, weit besser zu als bei der gewöhnlichen, sondern es erhält besonders auch jenes eüOeo); Y. 29, das den Interpreten immer am meisten Schwierigkeiten gemacht hat, seinen befriedigenden Sinn. Die einzige Einwendung, die man dagegen machen kann, es passe dazu die Bestimmung Y. 34 nicht, es solle alles diess innerhalb der ysvea aj-rr, geschehen , ist durch die gegebene Nachweisung hinlänglich widerlegt, dass der Ausdruck Ysvea keineswegs blos ein Menschenalter von etwa dreissig Jahren bezeichnet, sondern einen weit grössern Zeitraum, sogar mehr als ein Jahrhundert umfasst. Steht nun durchaus nichts der Annahme entgegen, die letzte Redaction des Evangeliums Matthäus, wie sie sich wenig- stens in dieser Stelle zu erkennen gibt, falle erst in die Jahre 130 134, so dient uns die Weissagung in der Form bei Mat- thäus nur um so mehr dazu, an ihr die verschiedenen Modifi-

•$18 Zw eiter Abschnitt. Zweite Period«.

cationen, die der Glaube an die Parusie erhielt, zu verfolgen. Dass sie noch innerhalb der damals lebenden Generation erfolgen werde, war die ursprüngliche Erwartung. In steten GedankeQ an sie sah man jedem bedeutungsvollen und erschütternden Zeit- ereigniss mit der gespanntesten Zuversicht entgegen ,- sie werde jetzt endlich um so gewisser erfolgen, je länger man schon ver- geblich auf sie gewartet hatte. Nachdem die Zerstörung Jerusa- lems diese Folge nicht gehabt hatte, war der zweite jüdische Krieg, der grosse Aufstand der Juden unter Hadrian eine Epoche von gleich wichtiger Bedeutung. Auch jetzt noch war die Gene- ration, welche die Parusie erleben sollte, nicht ganz ausgestorben, auch jetzt noch konnte die Verheissung in ihrem ursprünglichen Sinne in Erfüllung gehen, und je grösser damals die Verwirrung in Judäa war, um so deutlicher sah man die Symptome der kom- menden Katastrophe vor sich. Dieser Eindruck der damaligen Zeitereignisse spricht sich in der Form, welche die Weissagung bei Matthäus hat, aus. Dem Matthäus folgt hier sehr genau Marcus. Auch er hat die Zeitbestimmung der ysvea aOnr), be- gnügt sich aber nicht, blos von den Engeln zu sagen, dass sie Tag und Stunde der Parusie nicht wissen, sondern spricht dieses Wissen sogar dem Sohn ab. 13, 32. Es liegt darin eine ge- ringere Vorstellung von der Würde des Sohns, wie ja auch die Arianer diese Stelle besonders benützt haben, bei Marcus aber ist diess nicht so streng zu nehmen, er hat auch hier nur die Worte des Matthäus nach seiner Weise explicirt. Wenn Matthäus 24, 36 sagt, niemand wisse Tag und Stunde, ei (xti 6 izxirri^ {xovo;, so kann sie ja auch der Sohn nicht wissen. Auch das ist eine bemerkenswerthe Abweichung von Matthäus, dass er zwar bitten heisst V. 18, die Flucht möchte nicht im Winter geschehen, da- gegen das jjLviSe cv crxß^aTo) des Matthäus weglässt. Bei Lucas fehlt diess mit der ganzen Ermahnung, bei Matthäus aber ist sie ein augenscheinliches Merkmal des judaistischen Ursprungs dieser Form der Weissagung und zwar ohne Zweifel in Judaa selbst.

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 319

Bei Matthäus und Marcus hat der ursprüngliche Glaube, dass die Parusie noch in der ys'^sa ^^'^ erfolgen werde, schon seine höchste Probe bestanden. Die Äusserungen der übrigen neutesta- mentlichen Schriftsteller derselben Periode lauten, wenn sie auch die Nähe der Parusie verkündigen, allgemein und unbestimmt. Der Glaube an die Parusie musste um so schwächer werden, je weiter man allmählig über den Zeitpunkt hinwegkam, innerhalb dessen sie erfolgen sollte. Wie man aber zuletzt, nachdem auch der äusserste Zeitpunkt vorüber war, und die völlige Erfolglosigkeit aller Er- wartungen der Parusie so offen am Tage lag, dass sie kaum mehr bezweifelt werden konnte, diese falsche Hoffnung mit sei-» nem christlichen Bewusstsein zu vereinigen suchte, darüber gibt uns die Stelle 2 Pelri 3, 1 f. den deutlichsten Aufschluss. Er ermahnt zu gedenken der von den heiligen Propheten vorherge- sagten Worte und des von den Aposteln verkündigten Gebots des Herrn und Heilands (in Betreff der Zukunft Christi), indem sie vor allem erkennen, dass kommen werden in den letzten Tagen Spötter, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln und sagen, wo ist die Verheissung seiner Parusie? seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so, wie es vom Anfang der Schöpfung an war. Der Brief versetzt uns in eine Zeit, in welcher es mit dem Glau- ben an die Parusie so weit gekommen war, dass man über ihn spotten konnte. Wenn auch der Verfasser des Briefs diese Spötter zu widerlegen sucht, so kann er doch den Gegenstand ihres Spottes nicht in Abrede ziehen, er wagt es nicht, den Glauben an die Parusie in seinem alten Sinne festzuhalten und seine Widerlegung hat nur den Zweck, ihn in die Anerkennung der allgemeineren Wahrheit, die ihm zu Grunde liegt, hinüber- zuleiten. Sie wissen nicht, sagt er, dass ehedem ein Himmel und eine Erde war, welche aus Wasser und durch Wasser ent- standen waren durch Gottes Wort, von ihnen aus gieng die damalige Welt von Wasser überfluthet unter. Der jetzige Himmel aber und die jetzige Erde sind durch dasselbe Wort aufgespart,

3)i0 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

indem sie für das FeuCT aufbewahrt werden für den Tag des Gerichts und des Untergangs der gottlosen Menschen. Der Sinn dieser Stelle kann nur sein : So gewiss das subslanzielle Element der allen Welt das Wasser war, durch das sie in der Sündfluth untergieng, so gewiss ist das Element der jetzigen Welt das Feuer, das am Tage des Gerichts zerstörend und strafend aus- brechen wird. Wenn also auch der Glaube an eine Parusie nicht aufrecht erhalten werden kann, so bleibt doch Gericht und Welt- untergang als feste Wahrheit stehen. In Beziehung auf die Parusie selbst aber setzt er hinzu: Das Eine soll ihnen nicht verborgen sein, dass Ein Tag vor dem Herrn ist, wie tausend Jahre, und tausend Jahre, wie Ein Tag. Nicht verspätet sich der Herr mit der Verheissung, wie Einige es für Verspätung halten, sondern ist langmüthig gegen uns, weil er nicht will, dass Einige unter- gehen, sondern dass alle zur Busse schreiten. Kommen aber wird der Tag des Herrn wie ein Dieb, an welchem der Himmel mit Krachen vergehen wird, die Elemente aber werden in Flam- men gesetzt und aufgelöst werden. Wenn also auch das einstige Kommen des Herrn keinem Zweifel unterliegt, ja sogar, wegen der Ungewissheit seines Zeitpunkts, jeden Augenblick zu erwarten ist, so ist doch der Glaube an die Parusie allen Zeitkategorien entrückt. Sind tausend Jahre wie ein Tag und ein Tag wie tausend Jahre, so können noch Jahrtausende vergehen, bis der Herr erscheint, und man kann es dem allgemeinen geschichtlichen Weltlauf ruhig überlassen, ob es früher oder später geschieht. Das Bewusstsein des Christen hat nun erst den ekstatischen Charakter verloren, welchen es durch den Glauben an die Pa- rusie hatte. Man denke sich, wie gespannt und aufgeregt die Stimmung der Christen sein musste, solange sie schon in der nächsten Zeit die Parusie Christi erwarteten, und mit ihr das Ende aller Dinge. Sie hatten, während alles um sie her seinen gewohnten Gang fortgieng, mit der Gegenwart völlig gebrochen und standen in dem Gedanken, dass Jeden Augenblick alles zu

Lehrbegriffe der synoptischen Evangelien. 381

Ende gehe, zwischen Sein und Nichtsein auf der Grenzscheide zwischen der jetzigen und der künftigen Welt. Welche ganz andere Weltansicht war es dagegen, sobald man auf den Glauben an die Parusie verzichtete und sich damit zufrieden gab, dass Christus wenn auch nicht jetzt, doch künftig einmal am Ende der Welt wiederkommen werde. Verfolgen wir so den Glauben an die Parusie von seiner höchsten Anspannung, die er in der Apo- kalypse und auf der äussersten Spitze der ysvea aur/; bei Matthäus hat, bis zu seiner völligen Erschlaffung in dem zweiten petrini- schen Brief, so haben wir hier einen phänomenologischen Process vor uns, in welchem durch fortgehende Negation aller einzelnen Momente zuletzt nur die allgemeine abstracte Wahrheit bleibt.

Die Christologie ist der Hauplbestandtheil des synoptischen Lehrbegriffs. Nächst der Lehre von Christus hat die Lehre vom heiligen Geist noch besondere Bedeutung. Die Hauptquelle ist jedoch dafür die Apostelgeschichte.

Wie das Princip, durch welches Jesus seine Befähigung zum Messias erhielt, das TrveOaa ayiov ist, so ist es derselbe Geist, dessen Wirksamkeit die Fortsetzung des von Jesu begon- nenen Werks, die Realisirung alles dessen, was zum messiani- schen Reich gehört, bedingt. Im Evangelium Matthäi verheisst Jesus schon bei der K. 10 erzählten Aussendung seinen Jüngern, sie dürfen, wenn sie sich zu verantworten haben, nicht dafür sorgen, was sie reden sollen, es werde ihnen zur Stunde ge- geben werden, denn nicht sie seien die Redenden, sondern der Geist ihres Vaters sei es, der in ihnen rede. Lucas schliesst sein Evangelium mit dem Befehl Jesu an die Jünger, das Evangelium zu verkündigen, und mit der Verheissung, dass er ihnen die Verheissung seines Vaters senden werde, sie sollen in Jerusalem sitzen bleiben, bis sie angethan werden mit der Kraft von oben. Die Apostelgeschichte lässt Jesum gleichfalls diese Verheissung geben unmittelbar vor der Himmelfahrt. Johannes habe mit Wasser getauft, sie werden mit dem heiligen Geist getauft wer-

B a u r , ueutest Tlieol. ä 1

3^2 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

den und empfangen die Kraft des auf sie kommenden heiligen Geistes, und werden seine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria und bis an die Enden der Erde.

In Erfüllung gieng diese Verheissung am ersten christlichen Pfingstfest, an welchem, wie Apg. K. 2 erzählt wird, der heilige Geist in der Gestalt von feurigen Zungen auf die Jünger herab- kam. Alle wurden mit dem heiligen Geist erfüllt und fiengen an zu reden mit andern Zungen, wie der Geist ihnen gab, sich aus- zusprechen. Es darf hier als erwiesen vorausgesetzt werden, dass diese Erzählung eine rein mythische Darstellung ist. Es fand nicht nur ein solches Reden in den verschiedensten Sprachen der Welt nicht in der Wirklichkeit statt, sondern es kann sogar nicht einmal angenommen werden, dass die Miltheilung des Geistes, von welcher hier die Rede ist, an einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte. Dass sie am ersten Pfingstfest geschehen sein soll, hängt ja mit der Himmelfahrt und der Fixirung der- selben auf den vierzigsten Tag nach der Auferstehung zusammen, womit kein historischer Anhaltspunkt gegeben ist. Abstrahiren wir daher von allem, was zur blossen Form der Darstellung ge- rechnet werden muss, so bleibt uns als der eigentliche Kern der Sache nur die den Jüngern und ersten Christen zu einer That- sache ihres Bewusslseins gewordene Überzeugung, dass derselbe Geist, durch welchen Jesus zum Messias befähigt worden ist, auch ihnen mitgelheilt sei, und das specifische, das christliche Bewusstsein bestimmende Princip ihrer Gemeinschaft sei. Eine christliche Gemeinde gibt es erst seit der Ausgiessung des Geistes. Da der Christ das, was er ist, nicht für sich ist, sondern in Ge- meinschaft mit Andern, so kann das eigenthümliche Princip des Christenlhums nur in der Gemeinschaft im Ganzen und in dem Einzelnen nur, sofern er ein Glied derselben ist, sich kund geben. Die christliche Gemeinde ist die Sphäre, in welcher der heilige Geist in der ganzen Fülle seiner Wirkungen sich ofTenbarl, daher ist jetzt der Zeilpunkt gekommen, in welchem die alle Weis-

Lehrbeg^riffe der synopt. Evang. n. Apostelgesch. 393^

sagung des Propheten Joel von der Ausgiessung des Geistes über alles Fleisch in Erfüllung geht. Es gilt daher auch die Bedeutung der Pfingstbegebenheit keineswegs blos den Aposteln, sondern die Mittheilung des Geistes ist eine allgemeine. Jeder Einzelne kann nur dadurch ein Glied der messianischen Gemeinschaft werden, dass ihm der Geist mitgetheilt wird. Wie Christus selbst als der mit dem heiligen Geist Gesalbte der äyio; ist, so sind auch die Christen in diesem bestimmten Sinne die ayioi. Mit dem ersten Eintritt in die christliche Gemeinschaft empfängt man auch den heiligen Geist. Daher wird die Mittheilung desselben schon Apg. 2, 38 mit der Taufe in Verbindung gesetzt. Die mit dem Bekenntniss der [^.sTavoia zur Vergebung der Sünden vollzogene Taufe ist der feierliche Moment der Mittheilung des heiligen Geistes. Ertheilt wird die Taufe zunächst auf den Namen Jesu Christi, Apg. 2, 38, wie diess in der Apostelgeschichte die ge- wöhnliche Formel ist, da das christliche Bekenntniss vor allem wesentlich in der Anerkennung Jesu als des erschienenen Mes- sias besteht, aber schon Matth. 28, 19 flnden wir die vollständi- gere, Jesu selbst beigelegte Formel, nach welcher auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes getauft werden soll. Diese Trias ergab sich von selbst, sobald man den heiligen Geist als das eigentliche Princip der christlichen Gemein- schaft betrachtete. Der auf Christus Getaufte empfieng ja den heiligen Geist und der heilige Geist war in Folge der Verheissung des Vaters gekommen. Auch der Name des Vaters wurde daher in die Formel aufgenommen, und an den Namen des Vaters schloss sich, da die Taufe auf Christus geschah, von selbst der Name des Sohnes an. Ist der Geist mitgetheilt, so muss er als lebendig wirkendes Princip sich auch äussern oder aussprechen. Aus dieser einfachen Reflexion , dass es zum Wesen des Geistes ge- hört, sich in Worten und in verständlicher Rede zu äussern, gieng die Erzählung Apg. K. 2 hervor, und zwar musste der Geist in dem ersten Moment seiner Mittheilung, wo er gleichsam

21 *

324 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

in Masse an so Viele ertheilt wurde, auch in seiner vollen Energie als kräftigstes Organ der Rede sich vernehmen lassen. Daher erschienen nicht nur feurige Zungen , als Symbole des sich aus- sprechenden Geistes, die sich an die Einzelnen vertheilten, son- dern es wurden auch die mit dem Geiste Begabten befähigt, exspat; Y>.fa)T<jat5 XxXetv , wie ja damals alle mögliche Sprachen der Welt vernommen worden sein sollen. Man dachte sich also den den Glaubigen als Princip einer neuen Form des Bewusstseins mit- getheillen und in ihnen sich aussprechenden Geist gleichsam mit einem besonderen Organ der Rede. Soll der Geist auf die ihm adäquate Weise sich aussprechen , so muss er auch ein eigenes Organ der Rede sich schaffen. Die erspai Y>.c5<7(Tai sind daher als Geisteszungen andere als die gewöhnlichen menschlichen Zungen, oder neue Zungen, >tatvai "^X&caxi, wie sie auch genannt werden. Man vgl. Marc. 16, 17, wo Jesus selbst in seinen Abschiedsworten an die Jünger, unter den cf^tjxix^ welche den Glaubigen folgen werden, als einen sie auszeichnenden Vorzug besonders auch diess hervorhebt, dass sie yXcoadat? "koikiiaouai xaivaic. Wenn auch blos der Ausdruck Y>.(o(7<7ai; laXsTv gebraucht wird, so kann diess innerhalb der Apostelgeschichte nur als die abgekürzte Formel genommen werden. Die yXöT^at in diesem Zusammen- hang sind schlechthin die Geisteszungen. Mit allen diesen Aus- drücken soll nur der in seiner lebendigen Wirksamkeit sich äussernde Geist als das immanente Princip des christlichen Be- wusstseins bezeichnet werden; es kommt jedoch die Bestimmung hinzu, dass der Geist nicht wäre, was er nach dem wahren Begriff seines Wesens sein sollte, und seine Mittheilung nicht ihre volle Realität hätte, wenn nicht das >.x>.£iv YAco'y(jat; von ihm prädicirt werden könnte. Das )^a>.siv Y^t^dcat? soll daher der prägnanteste concrelesle Ausdruck für den Begriff des Geistes als des christlichen Princips in der ganzen Fülle seiner Wir- kungen sein.

Dieser bestimmtere Begriff des Xa/siv yXö^acxic erhellt aus

Lehrbegciffe der synopt. Evang. n. Apostelgesch. 31^5

der Vergleichtmg der übrigen Stellen, in welchen in der Apostel- geschichte von demselben die Rede ist. Ausser K. 2 findet es sich 10, 46 und 19, 6. Nach der ersten Stelle K. 2 wurde der heilige Geist den ersten Christen überhaupt ertheiit. Da er da- mals zuerst in den Glaubigen auT eigenthümliche Weise sich äusserte, so musste hier auch der volle Begriff seiner Wirksam- keit gegeben werden, und das IxlzX^ ^^loiaaxi^ wird daher hier am ausführlichsten beschrieben. So lange nun blos Juden zum Christenthum bekehrt wurden, ist von dem XaXsiv yXtixjffai? nicht weiter die Rede, es verstand sich von selbst, dass, was den ersten Bekennern des Christenthums ertheiit worden war, auch den Übrigen, die nachfolgten, nicht fehlen konnte. Nicht einmal K. 8, wo der erste bedeutende Zuwachs, welchen die Christen- gemeinde ausserhalb Jerusalem und Judäa erhielt, die Bekehrung der Samaritaner und die Mittheilung des heiligen Geistes durch die Handauflegung der beiden Apostel Petrus und Johannes so genau beschrieben wird , wird das ^.aXsiv y^wcdat? erwähnt, was sich nur daraus erklären lässt, dass dem Verfasser der Apostel- geschichte nach seiner liberalen Ansicht die Samaritaner nicht als Fremde, sondern als Stammesgenossen der Juden galten. Als nun aber auch Heiden in die christliche Gemeinde aufgenommen wur- den, verstand es sich nicht ebenso von selbst, dass sie mit den bisherigen Christen, die blos Judenchristen waren, alles, was zu den Vorzügen der Mitglieder des messianischen Reichs gehört, völlig gemein hatten. Daher ist K. 10 bei Cornelius und denen, die mit ihm als die ersten Heiden bekehrt wurden , ausdrücklich bemerkt, dass sich auch bei ihnen das auf sie herabgekommene 7uvtu[xa ayiov durch das XaXsiv Y>.co<j(yai; geäussert habe, und darauf hingewiesen, dass es dieselbe Erscheinung sei, wie die am Pfingstfest erfolgte: t6 7:veO[Jt,a ayiov eXaßov, xaÖw; xal ri^LsXc, V. 47. vgl. 11, 15. 17. Sie konnte daher auch nur die Bedeutung haben, dass auch sie, wie jene, Christen im vollen Sinn geworden seien. Nachher erst wurden Heiden in grösserer Zahl zum

3126 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

Christenthum bekehrt, aber so Viele es waren und so viele neue Heidenchristen-Gerneinden entstanden , nirgends ist etwas über das yloicaixK; XaXeiv angedeutet, zum deutlichen Beweis, dass es bei Cornelius und dessen Haus nur desswegen besonders hervor- gehoben ist, weil er als der erste Heide, der das Christenthum annahm, auch der Repräsentant der sämmtlichen Heidenchrislen ist. Es versieht sich also auch hier wieder von selbst , dass das, was bei ihm stattfand , auch allen andern Heidenchristen zu Theil wurde. ■^üm^mip

Von diesem Gesichtspunkt aus ist nun auch leicht zu sehen, warum in der dritten Stelle Apg. 19, 6 bei der Bekehrung und Taufe der Johannisjünger auf einmal wieder das >.a>.siv •^"kfaaGxi^ erscheint. Diese Johannisjünger bildeten nämlich gewissermassen eine eigene Menschenklasse: sie waren keine Heiden, sondern Juden, aber doch auch keine gewöhnlichen Juden, wie die bis- her bekehrten, nicht solche, die bisher ohne allen Glauben an Jesus als Messias erst durch die Taufe zum Glauben an ihn be- kehrt wurden, sie waren durch die Johannistaufe schon so vor- bereitet auf den Glauben an Jesus, dass sie im Grunde jetzt schon halbe Christen waren; insofern waren sie eine neue Gattung von Menschen, die jetzt zum Christenthum übergieng, es musste also auch von ihnen gesagt werden, dass sie den Übrigen nicht nach- standen, und zwar um so mehr, da das, was ihnen eigentlich allein noch fehlte, eben das TrvsOaa oiyiov war. Daher nun auch hier die ausdrückliche Erwähnung des >.aXeTv yXüioaxi^. Würden in der Folge noch mehrere Johannisjünger auf diese Weise be- kehrt und getauft worden sein, es wäre über das IxkeXw yliinstjxic nichts weiter gesagt worden, da man nun schon wusste, dass diese dritte Classe mit den beiden andern alles theilt, was zum vollen Begriff des Chrislenthums gehört. Ist also das tcvsOjax ayiov das, was den an Jesus als den Messias Glaubenden den messianischen Charakter ertheilt, das, was die Christen zu Christen macht, oder mit Einem Worte ist es das Princip des

.Lehrbegriffe der synopt. Evang. u. Apo steig es eh. 3587

christiiclien Bewusstseins, so ist das yluafsxic >.a>.eTv der Aus- druck dafür, dass dieses Bevvussisein alles in sich begreifl, was zum specifischen Inhalt desselben gehört, und lebendig und kräftig genug ist, sich in der seinem Inhalt adäquaten Weise auszusprechen. So aufgefasst ist das IxlzX^ y^wcrcai; nichts be- sonderes, was nur jener Zeil eigen wäre, sondern nur ein all- gemein christliches Prädicat, ein bildlicher Ausdruck, der sich von selbst erklärt, sobald die Erzählung von der Püngslbegeben- heit, aus welcher er herstammt, als das erkannt ist, was sie ohnediess ihrer ganzen Beschairenheit nach ist, als die mythische Darstellung des Ursprungs der christlichen Gemeinde. Seitdem das ■:rvöO[X7. aytov auf diese Weise das constilutive Princip der christlichen Gemeinschaft geworden ist, greift es in der Dar- stellung der Apostelgeschichte überall ein, wo es um etwas für die Sache des Christenthums Wichtiges und Entscheidungsvolles sich handelt. Vgl. 8, 29. 20, 23.

In der bisherigen Darstellung des synoptischen Lehrbegriffs halten wir noch keine Ursache, in ihm selbst divergirende Rich- tungen zu unterscheiden. Die hervorgehobenen Momente bilden ein zusammenhängendes Ganzes, in Welchem, wenn sie auch bald aus diesem, bald aus jenem Evangelium genommen sind, das Eine an das Andere sich anschliesst. Da nun aber das Lucas- evangelium für die Schrift eines Schülers des Apostels Paulus gilt, und in jedem Fall einen hellenisirenden Charakter an sich trägt, durch welchen es sich von dem mehr judaisirenden Mat- thäusevangelium unterscheidet, so ist voraus anzunehmen, dass sich auch in dem Lehrtypus der beiden Evangelien die Verschie- denheit ihres Ursprungs zu erkennen geben wird. Dem Matthäus- evangelium kann zwar, abgesehen von seinen vielen Citaten aus dem alten Testament, durch welche es seine nähere Verwandt- schaft mit dem alten Testament und dem Judenthum beurkundet, nicht wohl das Prädicat des jüdischen Particularismus gegeben werden, um so weniger aber verläugnct das Lucasevangelium

388 Zweiter Abs ehnitt. Zweite Periode.

seinen paulinischen Universalismus. Ich hebe die hieher gehören- den Züge kurz hervor (vgl, Krit. Unters. S. 428 f.).

Die paulinisirende Tendenz des Lucasevangeliums spricht sich sehr bestimmt darin aus, dass es gerade das, was für das Matthäusevangelium charakteristisch ist, die Affirmation des Ge- setzes und die wiederholt erklärte ausschliessliche Bestimmung des Evangeliums für die Juden, nicht hat, und statt der darauf sich beziehenden Aussprüche Jesu vielmehr entgegengesetzt lau- tende gibt; man vgl. Matth. 5, 17 mit Luc. 16, 17, wo die Lesart des marcionitischen Textes twv >.6yü>v [xou statt toO v6(J!.ou die ursprüngliche zu sein scheint, und Matth. 11, 13 mit Luc. 16, 16. Ebendahin gehört die Aufnahme mehrerer, bei Matthäus fehlender Lehrstücke, in welchen der Lehre von der Vergebung der Sünden und der freien Gnade und Barmherzigkeit Gottes eine dem pauli- nischen LehrbegrifF ganz entsprechende Bedeutung gegeben ist. VgL 18, 9 f. Eine eigenlhümliche Grundanschauung von der Person und Wirksamkeit Jesu drückt sich darin aus, dass die erste Handlung, durch welche er sich in seiner höheren Würde und Bestimmung kund gibt und legitimirt, die Austreibung eines Dämon ist. Da Jesus nicht nur factisch durch sein Wort einen Beweis seiner die Dämonen bezwingenden Macht gibt, sondern auch der Dämonische noch ausdrücklich ein Zeugniss von der Macht und Würde Jesu ablegt, so soll durch diese erste öffent- liche Handlung unstreitig die allgemeine Bedeutung der Person Jesu charakteristisch hervorgehoben werden. Nach jüdischer An- schauung ist das Heidenthum auch das Reich der Dämonen. Es stellt sich daher in der die Dämonen vernichtenden Macht Jesu seine rettende und erlösende Wirksamkeit für die Heidenwelt dar. Die dämonische Macht des Heidenthums musste vor allem ge- brochen werden, wenn der heidnischen Menschheit das messia- nische Heil zu Theil werden sollte. Vgl. 10, 17. 18. Unter denselben Gesichtspunkt gehört die grosse Bedeutung, welche Samarien im Lucasevangelium hat. in der Ausdehnung des

Lehrbegriff des Lucas-Evangeliums. 329

Wirkungskreises Jesu auf Samarien, in der Länge der Zeit, die er hier verweilt haben soll, 9, 51 f., in der Vorliebe, mit welcher in den dahin gehörenden Erzählungen die Züge eines gottgefälli- gen, der Aufnahme in das Reich Gottes von selbst entgegen- kommenden Sinnes an Samaritern dargestellt werden, sehen wir die Seite des Lebens Jesu vor uns, welche der paulinische Uni- versalismus, um sich auf die Auctorität Jesu stützen zu können, zu seiner Voraussetzung haben musste. In allen diesen Bezie- hungen weicht das Lucasevangelium von dem Matthäusevangelium auf eine Weise ab, die nicht für zufällig, sondern nur für absicht- lich gehalten werden kann, und daher auf einen ganz andern dogmatischen Standpunkt hinweist.

Noch auffallender ist in dieser Hinsicht die Absichtlichkeit, mit welcher das Lucasevangelium den zwölf Aposteln die siebenzig Jünger gegenüberstellt. Es lässt sich an einer Reihe von Zügen nachweisen (vgl. Krit. Unters. S. 435 f.), wie das Lucasevangelium geschichtliche Situationen und Aussprüche Jesu, welche in dem ursprünglichen Zusammenhang der evangelischen Geschichte sich nur auf die Zwölf beziehen konnten, auf die siebenzig Jünger überträgt mit der unverkennbaren Absicht, die Letztern den Erstem nicht blos gleichzustellen, sondern statt derselben allein als die wahren und ächten Jünger Jesu darzustellen. Die sieben- zig Jünger, von welchen überhaupt nur Lucas weiss, sind un- streitig nach der bei den Juden angenommenen Zahl der heidnischen Völker gerade in dieser Zahl für ihren Beruf ebenso bestimmt, wie die zwölf Apostel mit Rücksicht auf die Zwölfzahl der Stämme Israel; ebenso weist auch schon die Berufung und Aussendung der siebenzig Jünger in Samarien, dem heidnischen Lande, auf ihre Bestimmung für die heidnische Welt hin; es kann daher auch darüber kein Zweifel sein, dass nur das Heidenthum die Sphäre ist, in welcher Jesus alle jene grossen Erfolge seiner Sache in der Zukunft vor sich liegen sieht, von welchen er in der wichtigen Stelle 10, 17 f. mit so grosser Begeisterung spricht. Die Zwölf

330 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

dagegen sind dem Verfasser des Lucasevangeliums die engherzi- gen Träger des jüdischen Particnlarismus, welche noch unge- schickt für das Reich Gottes, auch nicht fähig sind, die engen Grenzen Judaa's zu üherschreilen. Auch sonst noch gibt sich die paulinisirende Richtung des Evangeliums durch einzelne Züge zu erkennen. In den beiden Parabeln vom Gastmahl, 14, 16 f., und vom armen und reichen Mann, 16, 19 f., treten Judenthum und Heidenthum, oder judaistisches und paulinisches Chrislenthum mit den zu ihnen gehörenden Gegensätzen einander gegenüber. Der Schluss der letztern Parabel stellt das nach dem Tode Jesu thatsächlich stattfindende Verhältniss der Juden zum Christenthuni sehr anschaulich vor Augen. Es war ja jetzt wirklich der Fall eingetreten, welchen die Parabel nur hypothetisch setzt: ei Mwucrso? xal 7rpo(pYiTt3v oü-/C axououctv , oOSe iav Tt? ix. vexpwv ava<yT9, 7:£i<j6*/,TovTat , V. 31. Jesus war ja vom Tode auf- erstanden, und doch glaubten sie an ihn als Messias nicht, wo- von der Grund darin liegt, dass sie auf Moses und die Propheten nicht hören, sie nicht verstehen, sich durch sie nicht zum Glau- ben an den Messias hinleiten lassen, überhaupt in ihrem welt- lichen Sinne keine Empfänglichkeit für das nur den Armen be- stimmte messianische Heil haben. Eine ähnliche Bedeutung hat die kleine, nur bei Lucas sich findende Erzählung von den beiden Schwestern Maria und Martha und ihrem so verschiedenen Ver- halten zu Jesu, 10, 38 f. Man kann in der Einen der beiden Schwestern nur ein Bild der vertrauensvollen Hingabe, die zum Begriff der paulinischen ttictic gehört-, in der Andern nur ein Bild des in äussern Werken, in dem werkthätigen Thun der epya voaou sich abmühenden und in ihm von dem wahren Heil sich abwendenden Geselzeseifers sehen. Auch in ihnen stellt sich uns so dieselbe, die Tendenz und den Charakter des Evangeliums bestimmende Grundanschauung in einem sehr prägnanten Bilde dar, und die auf die Zeitverhältnisse sich beziehonde Antithese liegt klar in den tadelnden Worten Jesu an die Martha und in

Lehrbegriff des Lucas-Evang. u. der Apostelgesch. 331

dem rühmenden Zeugnisse, das er der Maria ertheill. Die pauli- nische Form des Christenthums hat demnach auch auf die Dar- stellung der evangelischen Geschichte einen sichtbaren Einfluss gehabt, um den Universalismus, welcher das eigentliche Element des Paulinismus ist, nicht blos als paulinisches Dogma er- scheinen zu lassen, sondern ihm seine principielle Berechti- gung schon auf dem Boden der evangelischen Geschichte nachzuweisen.

Gehen wir von dem Evangelium zu der Apostelgeschichte fort, so begegnet uns auch hier überall dieselbe Grundanschauung. Die eigentliche Aufgabe der Apostelgeschichte ist ja, den Uni- versalismus, als die Grundlehre des Christenthums, in seiner geschichtlichen Entwicklung zu verfolgen. Zugleich sehen wir nun aber den Paulinismus auf eine Weise modificirt, welche über- haupt für den Entwicklungsgang, welchen das christliche Dogma innerhalb der kanonischen Schriften genommen hat, bemerkens- werth ist. Während im Evangelium der Paulinismus nicht blos gegen das Judenthum, sondern auch gegen das Judenchristenthum und die dasselbe repräsentirenden Apostel antithetisch auftritt, ist es dagegen in der Apostelgeschichte das sichtbare Bestreben, tliesen Gegensatz soviel möglich zu mildern und auszugleichen, und zwischen den beiden Hauptaposteln Petrus und Paulus das- selbe harmonische Verhältniss nachzuweisen, das in dem zweiten petrinischen Briefe als ein thatsächlich anerkanntes in klaren Worten ausgesprochen ist. Für diesen Zweck wird Petrus ebenso paulinisch, wie Paulus petrinisch dargestellt. Nicht Paulus ist es, welcher als Heidenapostel dem christlichen Universalismus zuerst seine Bahn bricht, sondern schon vor ihm hat Petrus bei der Bekehrung des Heiden Cornelius die Schranken des Judenthums durchbrochen. Schon damals soll dem Petrus ein neues Licht in der Erkenntniss aufgegangen sein, oti oux eczi TcpoffwTToXTTmr;? 6 ösoc, äXX' iv 7:avTi sövsi 6 <poßou^u.svo; aOrdv xai epYaCop-svo; Stxatoouvyiv ^sxt6{ a'irtji icri, Apg. 10, 34. Auf

388 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

der Versammlung in Jerusalem soll Petrus es sogar für eine Ver- suchung Gottes erklärt haben, auf den Nacken der Jünger ein Joch zu legen, das weder die Väter noch sie selbst zu tragen vermocht haben, und von den sämmtlichen Aposteln sei der ge- meinsame Beschlussgefasst worden, als ein Beschluss des heiligen Geistes, kein weiteres Joch aufzuerlegen, d. h. die Beobachtung des mosaischen Gesetzes nicht weiter zu verlangen, mit Aus- nahme einiger Punkte, bei welchen auf die Juden, mit welchen man zusammenlebte, Rücksicht zu nehmen war.

Wie Petrus auf diese Weise paulinisirl, so ist dem Paulus der Apostelgeschichte seine antithetische Schärfe ganz genommen, er hat im Grunde nichts eigenthümlich Paulinisches. In den bei- den grösseren Lehrvorträgen, welche er nach der Apostelge- schichte zu Antiochien und Athen hält, 13, 16 f., 17, 22 f., ist es nur der Monotheismus, welcher sich dem Polytheismus, nicht das Erlösungsbedürfniss und Eriösungsbewusstsein, das sich dem heidnischen Sünden- und Weltleben entgegenstellt. Von der paulinischen Auffassung des Christenthums, wie sie sich im Römer- brief auch dem Heidenthum gegenüber ausspricht, von dem Zu- rückgehen auf die sittliche Wurzel der Religion findet sich hier keine Spur, selbst der Messiasglaube wird 17, 31 nur vorüber- gehend berührt. In der Rede 13, 16 f. tritt zwar die paulinische Lehre deutlicher hervor, aber ihr eigentlicher Gehalt wird doch nur angedeutet. Nachdem Paulus ausführlich von der früheren Leitung des israelitischen Volkes, von dem Täufer Johannes, von der Hinrichtung und Auferstehung Jesu gesprochen und seine Messianität aus dem alten Testament erwiesen hat, fügt er V. 38 hinzu: ^'voxttov oOv zaxo) u{/.iv, öti oia toutou Oti.tv a^ect; ä{^.apTiü>v ■Aix.zxyyiXktxxiy y,cd ätüo Tcavtcov, t'ov oxj'a 7iSi>v/i6r,T2 sv Tt3 v6(xti) Mwucew; ^DtaiwO-^vai, sv toutw wa; 6 maTeuwv Si>taioOTai. Aus dieser flüchtigen Andeutung ist gewiss die paulinische Lehre von der Rechtfertigung und dem Aufhören des Gesetzes nicht abzu- nehmen. Diese Stelle ist überdiess die einzige in der Apostel-

' Lehrbegriff der Apostelgeschichte. 333

geschichle, in welcher sich ein solche Hinweisung findet. In allen übrigen Äusserungen des Paulus treffen wir ausnahmelos nur dieselbe Ankündigung des Auferstandenen, dieselbe alt- teslanientliche Beweisführung für die Messianität Jesu, wie in den Reden eines Petrus. Nur über diese Frage disputirl Paulus i 7, 2 f. mit den Juden in Thessalonich , indem er aus der Schrift darthut, öti töv XpKJxov s^si 7ra9siv )cai ava^rvTivai sy, vexptov, xal 6'ti outo? d<TTiv 6 XpKJTo;, 'IriToO;, nur hierüber verhandelt er einen Tag lang in Rom , tjsiGwv auTou; Tuspl toO 'l7i<JoO , a7:6 TS ToO v6(ji.ou MwuTso)? xal TÖV Tcpo^YiTöv 28, 23, nur daran er- innert er die ephesinischen Gemeindevorsteher, wenn er 20, 21 die Lehre, welche er verkündigte, ohne etwas vorzuenthalten, in der uLSTavota si? tov öeöv und der ttwti; ei; töv xupiov infAßv 'IrifJoCiv XpwTÖv zusammenfasst, und kaum eine leise Färbung des Aus- drucks ruft in dem z^jxyyilio^ tTIq /apiTo; V. 24 dem Kundigen die paulinische Auffassung der Heilslehre in's Gedächtniss. Auch in seinen Erklärungen vor dem Synedrium 23, 6, vor Felix 24, 14, vor Feslus 25, 8, vor Agrippa 26, 19 f. hält er keinen andern Gesichtspunkt fest. In allen diesen Äusserungen weist Paulus jede feindselige Beziehung seiner Lehre zum Mosaismus ab, und versichert, dass es sich zwischen ihm und den Juden durchaus nur um die Messianität Jesu, um die Erfüllung der alt- testamentlichen Weissagungen in seinem Tod und seiner Auf- erstehung handle (vgl. 26, 22), wogegen ausser seiner Polemik gegen die Gültigkeit des Gesetzes auch seine Lehre vom allein- seligmachenden Glauben nicht undeutlich verläugnel wird, wenn er 26, 20 den Inhalt seiner Lehre dahin angibt: ixTr/iffzXkoy [xe- tävosTv xal eziTToeosiv iid tov Osov, a^ia t^; [y.STavoia; Ipya 7rpa«T<7ovTa?. Diese asTavota., dieses £7:i<JTpe(peiv iizl töv 6söv, Welches in einer veränderten Handlungsweise besteht, erinnert weit mehr an die Busspredigt des Täufers und die von ihm ver- langten x.apTTO'j; ä^iou; tt^; [7.STavoiac, Luc. 3, 8, oder an das asTa- vovidxTs Axl Ixt'jTpsd'aTe des Petrus Apg. 3, 19. vgl. V. 26. 2, 38.

334 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

5, 31, als an die Lehre des Paulus vom Glauben und von der Umschaffung des innern Menschen.

Vergleicht man den Hauptinhalt der paulinischen Lehrvor- träge der Apostelgeschichte mit dem der petrinischen, so ist deutlich zu sehen, wie beide in einem die Gegensätze neutrali- sirenden Lehrbegriff zusammentreffen. Alles, was eine polemi- sche Spitze hat, wird so viel möglich zurückgestellt und es wer- den vorzugsweise nur diejenigen Lehren hervorgehoben, welche als der allgemein anerkannte Inhalt des christlichen Bewusstseins angesehen werden können. Dass Heiden und Juden die gleiche Berechtigung zum messianischen Heil haben, das Gesetz eine Last sei, welche den an Jesum Glaubenden nicht auferlegt werden dürfe, beide, Heiden und Juden, nur durch die Gnade gerettet werden Cwie diess auch Petrus Apg. 15, 11 erklärt): diess war durch den Paulinismus zur Zeit der Abfassung der Apostelge- schichte schon so sehr zur stehenden Wahrheit geworden, dass darüber kein weiterer Zweifel entstehen konnte. Vergebung der Sünden wurde ohnediess als die unmittelbare Folge des Glaubens an Jesus betrachtet. Vgl. Apg. 2,38. 3, 19. 4, 12. 5,31. 10,43. Auf der andern Seite wollte man aber von der paulinischen Lehre vom Glauben und der Rechtfertigung in dem Sinn , in welchem sie in den Hauplbriefen des Apostels enthalten ist, nichts wissen, und drang dagegen um so mehr auf Busse und Bekehrung und die aus ihr hervorgehenden Früchte des practischen Christen- thums. So bildete sich ein Lehrbegriff, in welchem das, was im Paulinismus der specifische, auf der höhern Bedeutung der Person Christi beruhende Inhalt des Christenthums ist, zurücktritt und das allgemein Religiöse, wie es als der geläuterte Inhalt der alt- testamentlichen Religionslehre anzusehen ist, auf dieselbe Weise, wie wir diess auch im Briefe Jacobi finden, die wesentliche Grundlage bildet. In diesem Sinne wird in dem Lehrvortrag des Petrus Apg. 10, 34 f., als das Wichtigste, worauf es überhaupt in dem Verhältniss des Menschen zu Gott ankommt, hervorgehoben

Lehrbegriff der Apostelgeschichte. 335

das (poßsifjöxi Oeov äxI i^yx^ta^xi SiJtatoiuvyiv. \on Jesus wird gesagt, dass er vermöge seiner Frieden verkündigenden Lehre der Herr Aller sei Cd. h. der Juden und Heiden, deren aufge- hobener Gegensatz zunächst diese eipr,v7; ist}. Zum Messias von Gott gesalbt, sei er wohlthuend und alle vom Teufel Überwältig- ten heilend umhergewandert, und nach seinem Kreuzestod von Gott auferweckt worden. Der wesentliche Inhalt der evangeli- schen Verkündigung ist neben der Vergebung der Sünden, welche der an Jesum Glaubende durch seinen Namen erhält, dass er von Gott bestimmt ist zum Richter der Lebendigen und Todten. Mit der Lehre von der Sündenvergebung als der Hauptsache dessen, was durch Christus bewirkt worden ist, schliesst auch der Apostel Paulus die geschichtliche Übersicht, welche er in seinem Lehr- vortrag K. 13 gibt, und in der Rede K. 17 zielt alles darauf hin, Jesum als denjenigen darzustellen, durch welchen Gott am Tage des Gerichts die Welt mit Gerechtigkeit richten werde. Im Zu- sammenhang damit wird in derselben Rede 17, 30 der Haupt- zweck des Christenthums in die von Gott an alle Menschen allenthalben ergangene Aufforderung zur Busse gesetzt. Je practischer die Bestimmung des Christenthums aufgefasst und auf das selbstthätige sittliche Thuu des Menschen bezogen wird, um so grösseres Gewicht erhält der Gedanke an das künftige, über den sittlichen Werlh des Menschen entscheidende Gericht, und die Hauptlehrc des Christenthums ist daher, dass Christus der Weltrichler isl. Auch hierin stimmt der Brief Jacobi, in welchem gleichfalls mit besonderem Nachdruck auf das künftige Gericht hingewiesen wird, mit dem Lehrtypus der Apostelgeschichte überein. Je mehr auf 'diese Weise das specifisch Paulinische gegen das praclisch Religiöse zurücktritt, bildete sich ein ver- mittelnder katholischer Lehrbegriff, in welchem die Gegensätze zwar im Allgemeinen stehen blieben, aber ohne sich auszu- schliessen, mit dem gegenseitigen Bestreben, den Gegensätzen ihre polemische Spitze zu nehmen und in eine Mitte einzulenken,

S36 Zweiter Abschnitt. Zweite Periode.

in welcher sie sich wenigstens zu einer äusserlich vermittelnden Einheit ausgleichen.

Diese Milderung und Ausgleichung des ursprünglichen Gegensatzes zeigt sich auch noch auf folgende Weise. Seine innerste Bedeutung hat der Paulinismus darin, dass ihm Heiden- thum und Judcnthum auf der einen und Christenthum auf der andern Seite zwei principiell verschiedene Sphären sind, welche wie der Gegensatz von Sünde und Gnade, von Tod und Leben, von Diesseits und Jenseits sich zu einander verhalten. Dieser scharfe Gegensatz konnte nicht mehr festgehalten werden, sobald die Unmöglichkeit der Geselzes-Erfüllung nicht mehr in dem ab- soluten Sinne galt, in welchem sie der Apostel Paulus behauptet halte. Ist das i^yäJ^zcBoLi StxatocuvYiv in jedem Volke möglich, so kann auch nicht von Heiden und Juden schlechthin gesagt wer- den, dass sie nur Sünder sind. Nicht in der Beschaffenheit des Gesetzes, sofern es nur ein TraiSaYtoyo; ist und nicht Suvatxevo; *(wo-oi-^«Tai, wird der Grund des Gegensatzes gesucht, in welchem das Judenthum zum Christenthum steht, sondern in der ange- borenen Verkehrtheit und Widerspenstigkeit des jüdischen Volks. Der Antinomismus des Apostels Paulus hat sich in der Apostel- geschichte in eine Anklage gegen das Volk verwandelt. Nicht nur erscheinen die Juden in der Apostelgeschichte überall als die erklärten Feinde des Christenthums, sondern es wird auch ihre Feindschaft gegen das Christenthum als eine so habituelle und in der ganzen Sinnesart des Volks so tief wurzelnde betrachtet, dass zwischen der jüdischen Nation und dem Christenthum eine ebenso grosse Kluft besteht, wie zwischen dem Gesetz und dem Evangelium.

Aus diesem Gesichtspunkt wird das Verhältniss der jüdischen Nation zum Christenthum in der Rede des Stephanus Apg. K. 7 aufgefassl. Während sonst die Apostelgeschichte von der wesent- lichen Identität des Christenthums mit dem Mosaismus ausgeht und sich darauf beschränkt, in Christus die Erfüllung der all-

Lebrbegriff der Apostelgeschichte. 33T

teslamenllichen Weissagungen aufzuzeigen , wird hier mit allem Nachdruck das Missverhältniss hervorgehoben, in welches die Institutionen des alten Testaments in der Hand eines Volks, wie das jüdische ist, zu einer den Menschen über das Sinnliche zum Geistigen erhebenden Religion kommen mussten. Der Inhalt der 1^ Rede theilt sich in zwei einander parallel laufende Seiten: auf

der einen Seite werden die Wohlthaten aufgezählt, welche Gott von der ältesten Zeit an dem Volk erwiesen hat, auf der andern wird mit ihnen das Benehmen des Volks gegen Gott zusammen- gestellt. Daher der Hauptgedanke der Rede: so gross und ausser- ordentlich die Wohlthaten waren, welche Gott von Anfang an dem Volk zu Theil werden liess, so undankbar und den göttlichen Absichten widerstrebend war dagegen auch von Anfang an der Sinn des Volks, so dass da, wo ein ganz harmonisches Verhält- niss stattfinden sollte, vielmehr das grösste Missverhältniss her- vortritt; in demselben Verhältniss, in welchem Gott von seiner Seite alles gethan hat, um das Volk an sich zu ziehen und zu sich zu erheben, wandle sich das Volk von Gott hinweg. Zu diesem Behuf geht der Redner in die frühere Geschichte des is- raelitischen Volks zurück, er weist nach, wie die theokratischen Institutionen schon durch die Schicksale der Patriarchen vorbe- reitet worden seien Cvgl. V. 5. 7. 15 f., und /povo; tyi«; dTvayyeX^a? V. 17)., wie aber auch schon mit ihrer ersten wirklichen Ein- führung, trotz ihres augenscheinlichen göttlichen Ursprungs, die Undankbarkeit des Volks und seine Unfähigkeit zum Verständniss der göttlichen Führungen und Absichten in der anfänglichen Ver- werfung des Moses und dem nachmaligen Abfall zum Götzendienst aufs Stärkste hervorgetreten sei, die gleiche Denkweise jedoch auch an den salomonischen Tempelbau sich geheftet habe; er schliesst endlich aus dem allem, dass es nur die Forlsetzung der früheren Widerspenstigkeit und Herzenshärtigkeit sei, wenn die Juden Jesum ebenso verschmähen, wie sie Moses verschmäht haben CV. 37. 52), und das von Menschen erbaute Gotteshaus

Banr> neutest. Theol.

33S Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

nebst dem Dienst in demselben der wahren Gollesverehrung ebenso vorziehen, wie die Väter in der Wüste das goldene Kalb dem lebendigen Gott vorgezogen haben CV. 41. 51> Dabei muss nun freilich vorausgesetzt werden, dass die Rede des Stephanus wenigstens in der Form ihrer Ausführung eine Composilion des Verfassers der Apostelgeschichte ist, welcher in ihr seine eigene Ansicht von dem Verhältniss der Juden zum Christenthum ent- wickelt. Diess kann jedoch ohne Bedenken angenommen werden, da die Authentie der Rede des Stephanus auch aus andern Grün- den höchst zweifelhaft ist, und ihr Inhalt mit der Art und Weise, wie der Verfasser der Apostelgeschichte sonst das Verhältniss der Juden zum Christenthum schildert, ganz übereinstimmt. Was also bei dem Apostel Paulus der allgemein menschliche Gegensatz ist, in welchem die Juden und Heiden als Sünder zum Christenthum stehen, ist hier ein nationaler in der Individualität des jüdischen Volks gegründeter, und es fällt somit das, wovon der Apostel den eigentlichen Grund in dem Wesen des Gesetzes nachzuweisen sucht, als sittliche Schuld nur auf die Seite des Volks.

Dritte Periode.

Die Lehrbegriffe der Pastoralbriefe und der johanneischen

Schriften.

, i. Der Lehrbegriff der Pastoralbriefe.

Es sind uns noch zwei LehrbegrifTe übrig, welche eine eigene Periode der neutestamentlichen Theologie bilden. Wie die Schriften, welche die Quelle derselben sind, zu den spätesten des Kanons gehören, so zeigt auch der Charakter dieser Lehr- begrifTe selbst, dass sie einer weiter fortgeschrittenen Enlwick- lungspcriode angehören. In dem einen derselben hat sich der

Lebrbegriff der Pastoralbriefe. 339

Paulinismus nach Maassgabe der Erscheinungen, in deren Zeit die Pastoralbriefe entstanden sind, modificirt, in dem andern stellt sich uns ein neuer selbstsländigerLehrlypus dar, in welchem Elemente der neuteslamentlichen Theologie, welche bisher noch keine bestimmtere Gestalt gewonnen hatten, sich zu einer höhern Einheit zusammenschlössen.

Zu den Grundsätzen des paulinischen Christenthums bekennt sich der Verfasser der Pasloralbriefe ausdrücklich dadurch , dass er das dem Christen im Glauben an Christus zu Theil gewordene Heil keinem vorangehenden Verdienst der Werke, sondern allein der Barmherzigkeit Gottes, seiner rettenden und berufenden Gnade zuerkannt wissen will. Vgl. 2 Tim. 1,9, wo er von der öuvafxt? öeoO spricht, tou atoaavxo; 'fl(jwci; xal xa>.£(7avT05 xXr.csi ayix, oO jcaxa xa spya 'fliy.wv, aXkx jcax' i^iav Trpoösdtv xal "/«.^i^ TTiV ^oOetdav vifxiv £v XpwTTo) 'lyidou Trpo j(p6vo>v atcovtwv. Tit. 3, 4 : 'f^ j^pridTOTYi; '/.cd -fi <piXav6po)7Cta 27U£<pavyi tou ccoTVipo? tojacüv GeoO, oux e^ epywv twv ev St/catocuvri wv ^TTotTjaajxev */ip,£i;, dXXa xaxa T(Jv auToO eXsov eatodsv iQ(xa?, Iva Si>cai(«)ösvTs; t?) exsivou /^xp''^^ xXyipov6[7.oi YsvwfJi-sOa /.ax' iXmSa ^win? aiwviou. Schon hier lässt sich jedoch bemerken , wie es dem Lehrbegriff dieser Briefe an einem tieferen Eingehen in den innern Zusammenhang der pauli- nischen Grundbegriffe fehlt. Er will zwar die Gnade der Berufung nicht durch die Gerechtigkeit der Werke beeinträchtigt wissen, stellt aber den Werken den Glauben nicht so gegenüber, dass die Lehre vom rechtfertigenden Glauben sich als den Mittelpunkt der ganzen Heilslehre herausstellt. Auch sonst gibt sich der pauli- nische Geist des Verfassers in einzelnen Zügen zu erkennen, wie namentlich in der Bedeutung, welche er dem Tode Jesu gibt, 1 Tim. 2, 6. Tit. 2, 14 u. s. w. Wenn aber der Apostel Paulus in dem Tode Jesu einen Rechtsprocess sieht, welcher die Los- kaufung von der y-xTapa v6[ji,ou bewirken soll, so hat sich dagegen Jesus nach Tit. 2, 14 desswegen für uns gegeben, iva XuTpcocnriTai TQjjLa? dcTCo Trä-r/); dcvo^Aia; xai xa6api(r/i saoTtS Xaov 7:spiou<nov,

22»

340 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

^TiXwTiTiv xaXßv spYcov. Der Tod Jesu befreit nicht vom v6[xo?, son- dern von der avop-ia, d.h. er gehl nicht sowohl auf das Vergangene als auf das Künftige. Wie Paulus sagt der Verfasser dieser Briefe von Christus 2 Tim. 1, 10, er sei xaTapyrca; piv töv öavarov, (pwTiffai; ^s ?^to7lv x«l afpOapoiav, aber der Zusatz ^i« toO eOaYyeXtou passt nicht recht in die Anschauungsweise des Apostels. Pauli- nisch ist ferner, wenn er Tit. 3, 5 den heiligen Geist in reichem Maasse von Gott durch Christus ausgegossen werden lässt; wenn aber dabei die Wiedergeburt und Erneuerung des heiligen Geistes an die Taufe geknüpft wird, so ist diess eine dem Apostel Paulus fremde Bestimmung. Noch mehr zeigt sich der vermittelnde Charakter des LehrbegrifFs dieser Briefe, oder die Verflachung des Paulinismus, wie wir sie auch in den kleineren paulinischen Briefen finden, in den positiven sittlichen Bestimmungen, welche theils mit dem Glauben zusammengestellt werden, theils an die Stelle desselben gesetzt werden. Der Glaube ist der principiellen Stellung entrückt, welche er bei dem Apostel Paulus hat, wenn er mit der Liebe und andern Tugenden in Eine Reihe gesetzt wird, wie diess in diesen Briefen so oft geschieht. Vgl. 1 Tim. 1, 5: TsXo; TÄ; ^TapayysMy.; ecTiv ayaTni, £x JcaOapa?' xxpSt'ai; xai (yuveiSrjfTew; äyaO-^? xal rfcrreo); avuTTOxpiTOu ; 1,14: [xstoc 7r{<7T£ü); xal äyaTTr,; ; 2, 1 5 : sxv [xeivwatv ev izlcrei xal «."^auKt) xai ayiaTfAco; 4, 12: tjxo? yivou Ttov ttkttöv cv "k^fcct, ev ava<iTpo<pff, £v äyot^nr), £v tottei, dv ayvstx; 6, 11: ^uoy.z ^txaiOTjvYiv , ex><:£- ßsiav, TC(<JTtv, äyaTT/iv, 67rojj!,ovrW ; 2 Tim. 1, 13: h x(<7Tei xal aydcTT/) T?i h Xpi^rcw 'Iy]ToO; 2, 22: ^iwxs SixaiocuvYiv, 7ri<mv, ayaTOiv, elp^vriv; vgl. 3, 10. Tit. 2, 2. Hat der Glaube nicht mehr seine centrale Bedeutung, so muss um so mehr Gewicht auf die practische Religiosität oder die Werke gelegt werden. Es ist daher auch in diesen Briefen von den spya atIx oder ayaOÄ auf eine Weise die Rede, welche nicht für paulinisch und den paulinischen Grundsätzen entsprechend gehallen werden kann. Vgl. 1 Tim. 2, 10: dzoai^zix Si' epywv äyaOdiv; 5, 10: yuvv!,

Lehrbegriff der Pastoralbriefe. 341

iv epYO'? xaXot? [xap'njpou(/.£viri si TtavTl spyt«) «Yaö'^ iTT/ixoXoy- ör,<yE; 5, 25. 6, 18: ay'^^^^PT^'^ ' '^^O'J'fS^^ ^^ Ipyot? xaXot?. Vgl. 2 Tim. 2, 21. 3, 17. Tit. 1, 16. 2, 7: Trspl -avTa ceauTÖv Tuaps- j^oi^svo; TUTTOv xaXßv spytov; 2, 14. 3, 1.8. 14: [;.av6av£To)<jav xaXöv spytov 7cpofoTa(y6ai. In allen diesen Stellen sind es durch- aus die Werke, in welche das wahre Wesen des Christenlhums gesetzt wird. Ja, so sehr hat hier der paulinische Begriff der TciTTi? seine specifische Bedeutung verloren, dass an die Stelle desselben der ganz allgemeine Begriff der Religiosität überhaupt gesetzt wird. Die eOaeßeia oder ösoaeßeia ist in diesen Briefen ein sehr geläufiger Ausdruck, vgl. 1 Tim. 2, 2. 3, 16. 4, 7. 8. 6, 3. 5. 6. 11. 2 Tim. 3, 5. 12. 16. Tit. 1, 1. 2, 12.

In allem diesem ist noch nichts Charakteristisches für den Lehrbegriff dieser Briefe, es ist nur dieselbe schlaffere Auffassung des Paulinismus im Interesse einer katholisirenden, die Gegen- sätze vermittelnden Richtung, wie wir diess überhaupt in den Pseudonymen Schriften der Kanons finden. Um ihrem Lehrbegriff näher zu kommen, müssen wir ihre polemische Seite in's Auge fassen. Sie bestreiten Häretiker, die schon damals eine sehr bedeutende Zeiterscheinung geworden waren, und keine andern gewesen sein können, als die uns bekannten Gnostiker. Was diesen Gegnern zum Hauplvorwurf gemacht wird, ist ihre Ab- weichung vom Glauben, dass sie, wie es 1 Tim. 1, 19 heisst, TTspi TT,v TCiiTTiv svausty/iiav, oder aTrsTrXav/iOviiJxv dcTrö Tnq xifTretü?, 1 Tim. 6, 10, Twepi ttiv äX>iOetav Victoj^yi^täv , 2 Tim. 2, 18. Vgl. 1 Tim. 4, 1. 2 Tim. 3, 8. 4, 4. Es gibt also schon einen Inhalt des Glaubens, welcher seine bestimmte feststehende Form hat, von welcher man nicht abweichen darf, einen Gegensatz von Orthodoxie und Heterodoxie. Die letztere wird mit dem Aus- druck sTepoSiSa<Tx.aXsiv bezeichnet 1 Tim. 1, 3. 6, 3. Die Lehre, an welche man sich halten soll, ist die gesunde, die Oyiaivouffa SiW/caXix 1 Tim. 1, 10. Tit. 1, 9. 2, 1, der Xo-o; Oytr,? Tit. 2, 8, XoYoi OyiatvovTe; 2 Tim. 1, 13. Als die wahre Heilslehre kann

34S Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

sie keine das geistige Wohl des Menschen gefährdende Elemente enthalten. Die Irrlehre wird mit einer um sich greifenden Krank- heit verglichen 2 Tim. 2, 17. Auch ri xaXri SiSa<TxaXia heisst die wahre Lehre 1 Tim. 4, 6, oder auch schlechthin tj SiSa(T>ca>.ia 1 Tim. 6, 1. Wer sich zur falschen Lehre bekennt, ist ein a2psTUÖ5 avOptüTco?, ein Häretiker, weil er im Unterschied von der allgemein angenommenen Lehre seinen eigenen selbstge- wähllen Weg geht, z^iarpxTvrxi 6 toiouto; xal aaapTavsi, wv auTOJCÄTaxpiTo; Tit. 3, 10 f. Was einen solchen zum Häretiker macht, ist sein Abfall vom Glauben, von der tticti?. Das Wort m(TTi; bezeichnet demnach hier, was für diese Briefe besonders charakteristisch ist, nicht mehr den Glauben als subjectives Ver- halten, sondern die mn-zii; ist im objectiven Sinn ein Inbegriff von Wahrheiten, welche als stehende Lehre gelten. Man vgl. über diese Bedeutung von xt<7Tt? 1 Tim. 4, 1. 6, 10. 21. Tit. 1, 4, wo auch von einer xoiv;^ TCi<JTt; die Rede ist.

Hat einmal der Glaube auf diese Weise zu einem fixirten Dogma, einem bestimmten System theoretischer Überzeugungen sich gestaltet, so kann diess nicht geschehen sein, ohne dass sich eine fester geschlossene Gemeinschaft gebildet hat. Es spricht sich in diesen Briefen schon ein bestimmtes kirchliches Bewusstsein aus, und die Idee der Kirche erhält ihre dogmatische Bedeutung. OIxo; öeoO, sxxXyiaia ösoO ^övto?, <jtuXo? xal iSpai«- (Aa Tyfi; xkn^zioi.c, sind 1 Tim. 3, 15 die den Begriff der Kirche bezeichnenden Ausdrücke. Die Grundanschauung, auf welcher der Begriff der Kirche beruht, ist der olxo; ösoO, Wie man sich Gott in dem seiner Verehrung gewidmeten Tempel wohnend und in ihm gegenwärtig denkt, so ist auch die Kirche als die Ge- meinschaft derer, welche in demselben Glauben vereinigt sind, gleichsam ein von der Gegenwart Gottes erfüllter Raum. Wenn aber die Kirche ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit genannt wird, so ist damit gesagt, dass das, was die Kirche zur Kirche macht, die Substanz ihres Wesens ausmacht, die Lehre

Lclirbegriff der Pastoralb riefe. 343

isl, welche als der Inbegriff der Wahrheil in ihr niedergelegt ist, und welche sie daher auch in ihrer unversehrten Reinheit zu bewahren hat. In demselben Sinne wird 2 Tim. 2, 19 von der Kirche gesagt, zur Beruhigung gegen die, welche durch falsche Lehren, wie durch die Läugnung einer künftigen Auferstehung, vom rechten Wege abirren und Manche in ihrem Glauben ver- wirren, dass der feste Grund Gottes unerschüttert fest stehe; er hat, wie Säulen und Grundsteine mit Inschriften versehen sind, die doppelte Inschrift: 1) es kennt der Herr die ihm Angehören- den, d. h. es kann niemand zu dieser Gemeinschaft gehören, der nicht von Christus geprüft und gewählt ist, und 2) es stehe ab von Ungerechtigkeit, d. h. von Unsittlichkeit überhaupt, wozu auch die Irrlehre gehört, jeglicher, der den Namen des Herrn ausspricht. Die Kirche hat also schon ihre bestimmte Umgren- zung, und es bilden alle, die zu ihrer Gemeinschaft gehören, eine in sich geschlossene Einheit; doch ist diese noch nicht so abgeschlossen, dass nicht ein bedeutender Unterschied der Mit- glieder in ihr stattfinden und selbst Irrlehrer noch in ihr sein könnten. Es gibt, wie es in demselben Zusammenhang 2 Tim. 2, 20 heisst, in einem grossen Hause nicht blos goldene und silberne Gefässe, sondern auch hölzerne und irdene, die einen zur Ehre, die andern zur Unehre. Wenn nun einer sich gereinigt hat von diesen, den Gefässen der Unehre, den Irrlehrern und ihren Irrthümern, wird er ein Gefäss zur Ehre sein, geheiligt und nützlich dem Herrn, zu jedem guten Werke bereit. Es spricht sich hier gegen die Irrlehrer noch nicht der Ketzerhass der spätem Kirche, sondern eine mildere Ansicht aus, es wird besonders empfohlen, sie zurechtzuweisen, ob nicht vielleicht Gott ihnen geben möchte Sinnesänderung zur Erkennlniss der Wahrheit und sie zur Besonnenheit kommen aus der Schlinge des Teufels, der sie gefangen hält. Erst wenn mehrmalige Ermah- nungen vergeblich gewesen sind, soll man mit einem ketzerischen Menschen keine weitere Gemeinschaft haben. Alle diese gegen

344 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

die Häretiker gerichteten Vorschriften zielen im Zusammenhang mit den die hierarchische Gestaltung der Kirche betreffenden An- ordnungen, die der Hauptzweck dieser Briefe sind, darauf hin, die Einheit der Kirche zu realisiren und den Grundsatz festzu- stellen, dass Einheit im Glauben und in der Lehre die wesent- liche Grundlage der Kirche ist. Daher ist nichts wichtiger, als das den Vorstehern besonders empfohlene Festhalten an der kirchlichen Lehre, dem xaxa tviv SiSa)(riv ttkjtö? Xo^o? Tit. 1, 9, der Oyiaivouca ^i.^xay.xkix, welche demnach, da es nur darauf ankommt, alles ihr Widerstreitende von ihr fernzuhalten, als eine im Wesentlichen schon fixirte gedacht werden muss.

Der Gegensatz gegen die Häretiker hat zuerst dem Dogma von der Einheit der Kirche seinen Ursprung und seine bestimmte Bedeutung gegeben. Derselbe Gegensatz hat überhaupt auf den Lehrbegriff dieser Briefe vielfach eingewirkt. Hatte der Paulinis- mus zuerst die einfachen Thatsachen des christlichen Glaubens zum Gegenstand der Reflexion und Speculation gemacht, und seine Antithese gegen das Judenchrislenthum auf dem Wege einer dialektischen Polemik durchgeführt, so halten dagegen die Pa- storalbriefe für nöthig, vom Streit abzumahnen, und wiederholt einzuschärfen, dass das Wesen der christlichen Religiosität nicht in spitzfindigen Speculationen, sondern in der practischen An- erkennung der Grundwahrheiten der Religion, im Glauben und in der Liebe bestehe. So beginnt gleich der erste Brief an Timo- theus mit der Aufforderung, p,/) sTspoStSacnca^siv, [xviSe ■K^oniftn [xuöoti; xal ysvsaXoyiai? aTrepavTOi;, airive; ^yiTifidet; wapej^ouai [xaX- >.ov Yi oi5tovo{Aiav ÖsoO nriv sv Triaret, man soll sich nicht halten an Mythen und überschwängliche Genealogien, welche mehr Streit- fragen zum Vorschein bringen, als dass sie die im Glauben an- zuerkennende Religionsökonomie Gottes erkennen lassen, das Ziel der Verkündigung aber sei Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheuchelteni Glauben. Vgl. 2 Tim. 2, 14. 22. Tit. 3, 9. Die Vergleichung dieser Stellen zeigt, wie

Lehrbegriff der PaBtoralbriefc. 345

das Transcendente der gnostischen Speculation auch den Pauliner von der Nolhwendigkeit überzeugte, auf das Praclische zu drin- gen. Der Paulinismus hatte selbst in seinem Gegensatz gegen das Gesetz und dasJudenthum ein der Gnosis verwandtes Element. Um so mehr lag es, als die Gnosis in das Häretische übergieng, in dem Interesse des Paulinismus, eher einzulenken, als mit der Gnosis Hand in Hand zu gehen. Die Missbilligung der [/.a^rai vojjLixai Tit. 3, 9, der Disputationen über den religiösen Werlh des Gesetzes und des alten Testaments, so wie die ausdrückliche Erklärung, oti xaXo; 6 v6fj.o; 1 Tim. 1, 5, sollen dem paulinischen Antinomismus sein Bedenkliches nehmen. Dieselbe Tendenz scheint auch die Stelle zu haben, die von jeher als classischer Ausspruch für das Inspirationsdogma galt, 2 Tim. 3, 16. Wenn hier mit besonderem Nachdruck gesagt wird, jegliche Schrift der zuvor genannten ispa ypa(A{xaTa, unter welchen in jedem Fall vorzugsweise das alte Testament zu verstehen ist, sei von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zu- rechtweisung, zur Zucht in der Gerechtigkeit, so scheint hier absichtlich ein anerkennendes Zeugniss für das von den Gnostikern hauptsächlich auch auf paulinischer Grundlage so sehr herabge- setzte alte Testament ausgestellt zu werden. Und wie auf das Practische besonderes Gewicht gelegt wird, so soll die Ermah- nung, sich an die ispa y^<x.}x\Kxxx zu halten, -als die ^uva^iieva (TO(pwat ei; ctoT/iptav hix xtcTew? r^? £v Xptorö 'Ir,(joO auf die bib- lische Grundlage der christlichen Religiosität hinweisen.

Die Antithese gegen die Gnosis lässt sich hier nicht wohl verkennen, es gibt aber überhaupt nichts Charakteristisches im Lehrbegriff dieser Briefe, wobei nicht die Einwirkung der Gnosis sich nachweisen Hesse. In dieser Hinsicht ist hier besonders die Lehre von Gott zu erwähnen. In mehreren Stellen dieser Briefe zeigt sich das Bestreben, das absolute Wesen Gottes hervorzu- heben und in prägnanten Prädicaten auszusprechen, wie nament- lich in den beiden Doxologien des ersten Briefes 1, 17: ßaatXsl

346 Zweiter Absclinitt. Dritte Periode.

Töv aiwvtov, a<p8apT<j), aopdcTw, {jlovm öeß TijAifl xal Xo^a ei; tou? aiöva; töv aiwvwv, ajAiov; 6, 15: 6 [i.axapto? xal [xovo? S'jvairr,?, 6 ßot<Tt>.S'j? Töv ßa<ii>.eu6vT0)v , xal xupto? töv xupt£u6vTti>v , 6 [xovo? ej^tov aOavadtav, (pö; oixöv a7rp6<7iTOv, 8v el^sv oOSsl; av9po)7:o}v, oOSe iSstv Suvarai, Ti|AYi xal xpaxo; aitoviov, a{^-r,v. Emphatische und gehäufte Prädicate dieser Art, welche alle nur den Begriff des absoluten Wesens der Gottheil ausdrücken sollen, sind ganz der Weise der Gnosliker gemäss, einige derselben haben auch eine nähere Verwandtschaft mit gnostischen Vorstellungen, wie ßaTtXeu; töv alwvwv, «pö; otxwv aTTpodiTOv. Solche Prädicate, deren sich hauptsächlich die Gnostiker bedienten, eigneten sich auch die kirchlichen Schriftsteller an, da sie im Gegensatz gegen die Gnostiker und die Angriffe derselben auf den altleslament- lichen Anthropomorphismus und Anthropopathismus nichts mehr zu vermeiden hatten , als eine zu sinnliche Vorstellung von dem Wesen der Gottheit. Antithetisch gegen die Gnosis ist dagegen wieder die Bestreitung der Ansicht, dass es eine unreine Schöpfung gebe. Wenn von den Häretikern dieser Briefe gesagt wird, dass sie zu heirathen verbieten und sich der Speisen zu enthalten gebieten, welche Gott geschaffen zum Genüsse mit Danksagung für die Glaubigen, und die, so die Wahrheit erkannt haben, 1 Tim. 4, 3, so bezieht sich diess deutlich auf den gno- stischen Dualismus und den gnostischen Widerwillen gegen die materielle Schöpfung als eine unreine. Im Gegensatz gegen diesen Dualismus wird gesagt, jegliches Geschöpf sei gut (ttäv XTt<ij7.a xaXöv) und nichts verwerflich, wenn es mit Danksagung genossen werde, denn es werde geheiligt durch Gottes Wort und Gebet, 1 Tim. 4, 4, alles sei rein den Reinen, den Befleckten aber und Ungläubigen sei nichts rein, sondern befleckt sei ihr Sinn und Gewissen. Kann die materielle Welt als eine unreine, nicht als das Werk Gottes betrachtet werden, so muss sie einem von Gott verschiedenen Princip zugeschrieben m erden, es liegt daher in dieser gnostischen Weltansicht unmittelbar die gnosti-

Lehrbegriff der Pas toralbriefe. 347

sehe Trennung- des Weltschöpfers von dem höchsten Gott. Die Widerlegung dieses der absoluten Idee Gottes widerstreitenden Dualismus ist es nun, wenn behauptet wird, es sei in der ma- teriellen Well nichts so unrein, dass es nicht für ein Werk Gottes gehalten werden könne, alles Geschaffene sei als solches auch gut. Wie in dieser Beziehung die christliche Idee Gottes gegen den gnostischen Dualismus gerechtfertigt werden mussle, so gab auch der gnostische Particularismus eine Veranlassung, das Ab- solute der Gottesidee festzuhalten. Es ist auffallend, wie ange- legentlich in mehreren Stellen dieser Briefe die Universalität der Gnade Gottes in Christus hervorgehoben wird. Die Hauptstelle ist 1 Tim. 2, 3: touto yap >iaX6v xal ätuoSs/Ctov evtoTCiov toO cco- T^po; T^fAßv öeoO, o; TCocvTa? avöpwTTOu; öeXei (TwO-^vai xai st; eTriyvcöcrtv dcXr^sia? iXBeiv. El; yap 6so;, e!; xal [xsctTYi; OsoO xal avöptoTrwv, avOpwTTo; XpiTTÖ; 'Ir,(ToO;, 6 ^ou; eauröv avTi>.i>Tpov uTrsp xavTcov. Vgl. 4, 10: Gott ist dwnnp TvavTwv avöpwTTow. Tit. 2, H ^7:e(pavr, •fi x^P'^S '^^^ ^^'^^ "^ (TcüTT^pto; TwKcriv avOpwTTOt;. Diese nachdrück- lichen Erklärungen setzen die entgegengesetzte Behauptung vor- aus, dass die erlösende und seligmachende Gnade Gottes nicht allen Menschen bestimmt sei. Sie liegt in der bekannten Unter- scheidung, welche die Gnostiker zwischen Pneumatikern, Psy- chikern und Hylikern machten. Da nur die selig werden, oder in das Lichtreich aufgenommen werden können, welche das pneumatische Lichtprincip in sich haben, so kommt diess auch nur den Pneumatikern zu, und es gibt demnach ein von Natur selig werdendes Geschlecht, einen Particularismus, welcher alle, die nicht in diese Classe gehören, von der Seligkeit ausschlicsst. Die Antithese gegen diesen gnostischen Particularismus gibt sich noch besonders dadurch zu erkennen, dass dem GwO-^vai aus- drücklich das eXOsTv si; ^wyvtixriv dXiriOeia; gleichgesetzt wird. Denn eben darauf stützten ja die Gnostiker ihren Particularismus, dass sie die einzige Bedingung der Seligkeit, die yvö^ri;, oder, wie in diesen Briefen wiederholt gesagt wird, die iTr^yvcofft; t-?!;

34S Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

dcXyiösia? (vgl. 2 Tim. 2, 25), als den speciellen Vorzug Ein- zelner, einer bestimmten Classe betrachteten. Das Charakteri- stische des Lehrbegriffs dieser Briefe liegt demnach hauptsächlich in der Lehre von Gott. Es zeigt sich hier das theils durch die Gnosis angeregte, theils im Interesse des christlichen Bewusst- seins sich in Antithese zu ihr setzende Streben, die absolute Idee Gottes so festzuhalten, dass weder im Reiche der Natur noch im Reiche der Gnade eine mit ihr unvereinbare Schranke stehen bleibt. Aus diesem Gesichtspunkt ist auch die mit dieser Auf- fassung der Idee Gottes eng zusammenhängende Christologie dieser Briefe zu betrachten.

Charakteristisch ist in dieser Beziehung, dass in diesen Briefen so oft Gott selbst zum Hauptsubject der erlösenden Thätigkeit gemacht wird. Schon Schleiermacher hat den Ausdruck 0eö? cco-nrip 1 Tim. 2, 3. Tit. 3, 4 als eine nur diesen Briefen eigene Bezeichnungsweise bemerklich gemacht. Ebenso eigenthümlich ist, dass die in dieser Beziehung sich äussernde Thätigkeit Gottes mit Ausdrücken bezeichnet wird, welche die Epoche des Christenthums mit einem plötzlich erschienenen Liebt vergleichen , sie als eine Epiphanie Gottes darstellen. 'ETretpavyi -fi X^^P^? "^^^ ^^^^ '^ «JWTTipto? 7rä<iiv dcvöpwTTOi?, Tit. 2, H, "fi xpvi- (iTonri; xal ii (ptXavOpwTTia (auch diese den Begriff der Güte und Liebe so stark hervorhebenden Ausdrücke sind bezeichnend) d7r£(pavri ToO ctor/ipo; loy.öv 6soC», Tit. 3. 4. Wenn nun gleich neben Gott auch Christus selbst co^T^p und seine Erscheinung eine ^Triipaveta genannt wird, 2 Tim. 1, 10. 4, 1.8, so haben doch diese beiden Begriffe des «rcoT^p und der exifpaveta, wie sie im Zusammenhang dieser Briefe sich fmden, immer etwas Eigen- thümliches, das man sich gleichfalls nur aus dem Einfluss der Gnosis erklären kann. Der Begriff des cwTTip hatte überhaupt bei den Gnostikern eine besondere Bedeutung, und wenn mit dem Ausdruck e7ri(pavetx nur der Begriff eines plötzlich erschei- nenden Lichts verbunden werden kann, so ist auch diess ganz

Lehrbegriff der Pas toralbriefe. 349

der Anschauungsweise der Gnosliker gemäss, welche in An- sehung des Christenthuins besonders das Unvermitlelte seines Eintritts in die Welt hervorhoben, und abstrahirend von allem, was die Person Jesu vor der Taufe betraf, das Christenthum als ein neues Moment des allgemeinen Wellentwicklungsprocesses, als eine neue Erscheinung des in ihm sich offenbarenden ab- soluten Geistes auffassten. Aus dieser Sphäre scheinen wenig- stens diese Ausdrücke genommen zu sein. Auch die Zukunft Christi zum Gericht wird eTunpavsta genannt, 1 Tim. 6, 14. Wie man sich diese als eine plötzlich eintretende dachte, so verband man diese Vorstellung auch mit der ersten dxiipaveta, als einer unmittelbaren Offenbarung Gottes.

Was nun aber die Person Jesu selbst betrifft, so kommen hier zwei Stelion in Betracht 1 Tim. 2, 5. und 3, 16. Nach der erstem Stelle ist wie Ein Gott, so auch Ein Mittler Gottes und der Menschen, avöpwro; Xpicrrö; 'l7i«7oC)?, der sich selbst zum Löse- geld für alle gegeben hat. Hier wird demnach Christus, unge- achtet seines Mittleramts, sehr bestimmt Mensch genannt, und es kann demnach in jedem Fall nur das Menschliche als das Sub- stanzielle seiner Persönlichkeit gedacht werden, wodurch diese Christologie ihren paulinischen Standpunkt in seinem Unterschied von dem johanneischen behauptet. Gleichwohl würde das Sub- jecl der Persönlichkeit Christi nicht blos avöptoTToc, sondern auch Oso; sein, wenn in der zweiten Stelle Gsö? ^ipxvepcüBv; ev capxi die richtige Lesart wäre. Da nun aber nach kritischen Gründen o; oder 0 zu lesen ist, so kann als Gegenstand des allgemein als gross anerkannten Geheimnisses der christlichen Religion nur überhaupt der bezeichnet sein, welcher im Fleisch erschien, im Geist ge- rechtfertigt wurde, d. h. vermöge des höhern geistigen Princips, das in ihm war, als der legitimirt wurde, der er war, wie ja TTveutta überhaupt das Princip der Messianität ist. 'EfpavsptoSvi dv <7ap5cl kafin in Vergleichung mit 2, 5 nur heissen, er war an sich Mensch, trat als Mensch auf, nur liegt darin schon der Begriff

8^0 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

der i7;i(pavsi3t, von welcher zuvor die Rede war, weil aber das (pxvcpouiOai ein «pxvepoOaöai sv capxl war, musste er als der Träger der göttlichen Offenbarung £v xv5u[axti StxaioOoöai, wobei wohl hauptsächlich an die Auferstehung zu denken ist, oder auch an die Erscheinung bei der Taufe. In diesen drei Paaren von Sätzen scheint absichtlich das eine Glied mehr gnostisch, das andere mehr anlignostisch zu lauten. Das (pav£po>07ivai ev ocl^yX musste vor allem gegen die Gnostiker geltend gemacht werden, das St/taicoOfivai £v TTveuu-xri ist dagegen mehr gnostisch, besonders wenn man es auf die Taufe bezieht. Dem auf die Geisterwelt sich beziehenden ö(pGyivxt äyye^^oi;, wobei die gnostische Vor- stellung verglichen werden kann, nach welcher Christus durch die Reiche der Engel hindurchgieng, um zum Pleroma, zu dem dva>.-/i(pOrivai ev So^v; zu gelangen, entspricht das in der sinnlichen Welt geschehene /cy)pu;^ö-^vat äv sOvedi, und völlig analog ist das Yerhältniss der beiden folgenden Sätze iTrwTeuQyj ev x.ocjxw und aveXiQ<pG7i ev So^ti , so dass durch jeden dieser Sätze so viel mög- lich auf gleiche Weise dem orthodoxen und dem gnostischen Interesse genügt werden soll, indem Christus ebenso sehr nach seinem Yerhältniss zur idealen geistigen Welt, die die Gnostiker vorzugsweise in's Auge fassten, als nach seinem Yerhältniss zur realen Wirklichkeit, deren historischen Boden die Orthodoxen im Gegensatz gegen die Gnostiker festhalten musjiten, betrachtet wird. Die Hervorhebung und Zusammenstellung dieser christo- logischen Momente nähert sich schon der Form eines Symbols. In anlignostischem Interesse wurden ja auch die ersten Symbole abgefassl und in sie namentlich auch die 1 Tim. 6, 13 erwähnte Bestimmung, die unter Pontius Pilatus geschehene Kreuzigung aufgenommen. Bei allen diesen für den Lehrbegriff dieser Briefe charakteristischen Zügen lässt sich nicht wohl verkennen, wie sehr er in den Ideenkreis der Gnostiker hinübergreift, aber auch wie schwankend seine Haltung dadurch ist, dass er von der Gnosis ebenso angezogen als abgeslossen wurde. Am meisten

Lehrbegriff der Pastoralbriefe u. des Johannes-Er. 351

fällt diess bei der Frage auf, wer denn eigentlich das Subject aller der christologischen Sätze 1 Tim. 3, 16 ist. Mensch wird zwar Christus ausdrücklich genannt, aber von einem mensch- lichen Subject kann doch eigentlich nicht gesagt werden e^pavs- pcjOv] dv capxi. Es passt diess nur für ein höheres übermensch- liches Wesen, für einen Aeon der Gnostiker. Da die Pastoralbriefe von ihrem paulinischen Standpunkt aus dazu noch nicht fortzu- gehen wagten, so musste hier noch eine Lücke bleiben, man weiss nicht recht, wer denn das Subject der Christologie ist. Ein blosser Mensch scheint es nicht sein zu können, und doch fehlt noch die Kategorie für ein anderes Subject. Hier musste also noch ein weiterer Fortschritt der neutestamentlichen Theologie geschehen zu der höheren Stufe, auf welche wir ihr noch zu folgen haben.

2. Der johanneische Lehrbegriff.

In ihm erreicht die neutestamentliche Theologie ihre höchste Stufe und ihre vollendetste Form. Vergleicht man den johan- neischen Lehrtypus mit den bisher dargestellten Lehrbegriffen, so ist leicht zu sehen , wie er sie alle zu seiner Voraussetzung hat, und in ihm erst sich ausgleicht und abschliessl, was bisher immer noch einen Punkt offen Hess, auf welchem ein weiterer Schritt zur Einheit des Ganzen geschehen konnte.

Die Grundidee, in welcher der johanneische Lehrbegriff seine Einheit und das Princip seiner Entwicklung hat, ist in dem Prolog des Evangeliums so klar ausgesprochen, dass er sich uns sogleich in seiner hohen übergreifenden Bedeutung darstellt. Es ist die Idee des Logos, der im Anfang war, bei Gott war, selbst Gott war, durch welchen alles geworden ist, der das Princip des Lebens und des Lichts der Menschen ist. Als der fleisch- gewordene Logos ist er ein und dasselbe Subject mit dem Men- schen Jesus. Die Christologie des neuen Testaments halte von Anfang an die Tendenz, Jesu als dem Sohn Golles eine höhere

WSft Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

Über das Menschliche hinausgehende Bedeutung zu geben, sie hatte ihm schon Präexistenz und Weltschöpfung als die ihm eigen- thümlichen Prädicate beigelegt; den höchsten Ausdruck aber für alles, was in Hinsicht der Person Christi den Inhalt des christ- lichen Bewusstseins ausmacht, hat sie nun erst in dem Begriff des Logos gefunden, mit welchem dasselbe Subject, das seiner äussern zeitlichen Erscheinung nach der Mensch Jesus ist, als ein in der unmittelbarsten Beziehung zu Gott stehendes selbst- sländiges göttliches Wesen, ja selbst als Gott bezeichnet wird. In dem Satze: 6e6? vy 6 Xoyo; kann öso? nur als Prädicat des Subjects 6 >.6yo; genommen werden, der Logos ist also, wenn auch nicht als der absolute Gott, doch als Gott, als göttliches Wesen prädicirt. Schon im Begriffe des Logos und in der ganzen Beschreibung, die von ihm gegeben wird, liegt es, dass er nur als ein für sich bestehendes göttliches Wesen gedacht werden kann, es weist darauf auch noch besonders diess hin, dass von ihm gesagt wird, er sei Trpö? töv Osöv gewesen, sei 6 u)v sl? tov xoXtüov toO Tuarpo?, Die eigene Verbindung von sivai mit ei; und Trpö; mit dem Accusativ soll das Sein des Logos bei Gott nicht blos als ein ruhendes, sondern als ein thätiges bezeichnen, der Logos ist in steter Thätigkeit und Bewegung, und das Object seiner Thäligkeil und Bewegung ist das Wesen Gottes; sein immanentes Verhältniss zu Gott ist dadurch ausgedrückt, dass er als der tov si; TÖv x6>.7cov toO xaTpo; der gleichsam zum Herzen Gottes sich bewegende ist, und alles, was ihn von Gott trennt und unter- scheidet, in der Einheil mit ihm aufzuheben sucht. Eben diess setzt aber auch voraus, dass er sich zugleich seines persönlichen Unterschieds von Gott bewusst ist. Das Absolute seines Wesens liegt daher in dem Ineinandersein dieser beiden Momente, dass sein Verhältniss zu Gott ebensosehr der Unterschied in der Ein- heit, als die Einheil im Unterschied ist. Dass nun aber derVer- fa5?ser des Evangeliums die höhere göttliche Würde, die er Jesu beigelegt wissen wollte, so einfach und schlechthin mit dem Be-

Johanneisober Lebrbegriff. 363.i

griffe Logos bezeichnete, lässt sich nur daraus erklären, dass diese Idee dem Ideenkreise der Zeit und Localität, in welcher das Evangelium erschien, gar nicht fremd war. Es ist bekannt, welche Bedeutung die Logosidee schon in der alexandrinischen Religionsphilosophie hatte. Es wäre gegen alle geschichtliche Analogie, wenn man annehmen wollte, der Evangelist sei ohne alle Beziehung zu den Zeitvorstellungen, der damals so weit verbreiteten Logosidee, auf seine Lehre vom Logos gekommen. Diese Verwandtschaft seiner Idee mit der alexandrinischen Reli- gionsphilosophie kann man ohne Bedenken zugeben, wenn man nur genauer bestimmt, was er der Natur der Sache nach allein aus ihr genommen haben kann. Nicht den Inhalt; denn wenn er es nicht zuvor schon als eine wesentliche Bestimmung des christ- lichen Bewusstseins angesehen hätte, Christus seiner höhern Würde nach in das Identitätsverhällniss zu Gott zu setzen, das der Logosbegriff ausdrückt, so hätte er nicht auf den Gedanken kommen können, diese gangbare Zeitvorstellung auf Christus überzutragen. Es soll also damit eigentlich nur diess gesagt werden: wenn die höhere Würde, welche das christliche Be- wusstsein Christus beilegt, auf ihren bestimmten Begriff und Ausdruck gebracht werden soll, so kann diess auf keine ad- äquatere Weise geschehen, als durch den Logosbegriff", wobei als vermittelnde Vorstellung auch noch diess mitgewirkt haben kann, dass die christliche Lehre, deren Urheber Jesus ist, Xoyoi;, der >.6yo; Geou genannt wurde, wie ja Jesus auch in der Apo- kalypse der ^oyog Osou heisst. Die Bedeutung Wort, d. h. Off'en- barungsorgan, muss im Begriff'e des Logos immer festgehalten werden, da Xoyo; auch Vernunft nur insofern heisst, als das Denken auch ein Reden ist. Aber auch zu dem gnostischen Ideenkreise und namentlich der gnostischen Aeonenlehre, in welcher dieselben Begriffe, die wir hier haben, in einer ganz analogen Verbindung vorkommen, Xoyo?, ^wyi, <pt3;, xXripwfta, ;^api;, aXioOcia, steht der johanneische Prolog in einer sehr nahen

Banr, neutest. Theol. ««i

354 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

Beziehung und die ganze Anschauungsweise, die ihm zu Grunde liegt, hat einen der gnostischen verwandten Charakter.

Es fragt sich nun hier zunächst, in welchem Verhältniss der Logos zu Gott steht, und wie sich der Evangelist das Wesen Gottes überhaupt dachte? Der Prolog selbst nennt den Logos den {jLovoysvYi?, den [Aovoyevvl; uoo;, und sagt von Gott: 6e6v oOSel; swpaxs TTtoTTOTS 6 [^ovoysvfl; 'jio?, ö wv ei; tov /.oXtiov tou Traxpo;, sxsivo; £^y,Yv^<rxTo 1, 18. Gott hat niemand je gesehen, weil das Wesen Gottes überhaupt über alles Endliche absolut erhaben und seiner Natur nach unsichtbar ist. Ist Gott an sich unsichtbar, so liegt schon darin, dass nichts Körperliches von Gott prädicirt werden kann, sein Wesen im Gegensatz gegen alles Körperliche ein rein geistiges ist. Es wird aber auch ausdrücklich die Geistigkeit Gottes auf eine so unmittelbare und bestimmte Weise ausge- sprochen, wie wir diess vor unserem Evangelisten nirgends finden. lJv£ij,y,a 6 Oco;, sagt er in der in dieser Beziehung Epoche machenden Stelle 4, 24. Geist ist Gott, und die, die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Die Geislig- keit wird hier vom Wesen Gottes in einem so emphatischen Sinn ausgesagt, dass mit ihr auch die räumliche Beschränkung der Gottesverehrung, wie der Cultus zu Jerusalem und auf Garizim, unvereinbar ist. Geist und Gott sind somit schlechthin identische Begriffe, alles, worin das absolute Wesen Gottes besteht, hat nur darin seinen Grund, dass Gott Geist ist. Hat man bisher den Geist nur als eines der vielen Prädicate des Absoluten angesehen und von einem Geiste Gottes gesprochen, um Gott das Höchste zuzuschreiben, was er nach aussen mittheilen kann, so ist es nun zum bestimmten Bcwusstsein gekommen, dass man sich vom Wesen Gottes überhaupt keine Vorstellung machen kann, wenn man nicht schlechthin von ihm sagt, dass er Geist sei. In diesem Begrinr haben alle Beziehungen, in welchen das Wesen Gottes als ein absolutes aufgefasst wird, ihre Einheit. Ist Gott Geist, so ist er seinem Wesen nach unsichtbar, das Eine ist nur der

Johanneisoher Lebrbegriff. 355

negative, das Andere der positive Ausdruck. Wird von Gott gesagt, dass ihn niemand je gesehen habe, so wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass er auf geistige Weise gesehen wer- den kann, und ein Object des vorstellenden und denkenden Pewusstseins ist. Parallel mit i, 18 ist die Stelle 14, 8. Wenn hi^r Philippus Jesum bittet, ihm den Vater zu zeigen, und Jesus sic;h selbst allein für die sichtbare Erscheinung Gottes erklärt, so lie{;t hierin, dass Gott überhaupt nur auf geistige Weise gesehen werden kann.

Wie in diesen Stellen das Wesen Gottes als reine Geisligkeit bestimmt wird, so scheint er in der Stelle 5, 17, in welcher ein fortdauerndes epYa^scöai von Gott ausgesagt wird, als absolute Tbätigkeit prädicirt zu werden. O Twanrip [xou iw? apTt epya^sTat, Kiybi epYa^0(7.at, hält Jesus den Juden entgegen, welche ihn wegen seiner Heilung am Sabbath tadelten. Er identificirt sein ipYa!^£<jOat mit dem spYa^saOxi Gottes, um dadurch sein Thun am Sabbath zu rechtfertigen. Nun hat ja aber Gott am Sabbath ge- ruht, wie kann also Jesus für das Gegentheil der Ruhe, für die Thätigkeit am Sabbath sich auf Gott berufen? Man sagt gewöhn- lich, der Ausspruch Jesu solle die falsche, durch die göttliche Sabbathsrahe veranlasste Meinung, wie wenn Gott seit der Schöpfung ruhte, durch die Idee der fortgehenden schöpferischen oder erhaltenden Thätigkeit Gottes berichtigen. Allein die Mei- nung, dass Gott seit der Schöpfung ruhe, konnten die Juden eigentlich nicht haben; dass Gott wenigstens durch die Erhaltung der Welt fortgehend thätig sei, die Sabbathsruhe also nur auf das Aufhören der unmittelbaren Schöpfungsthätigkeit sich be- ziehe, konnten die Juden nicht läugnen. Die Voraussetzung, von welcher aus Jesus argumentirt, kann also nur diese sein: Wie es bei Gott keinen Stillstand seiner Thätigkeit gibt, so kann auch der Sohn auf keine andere Weise thätig sein und niuss da- her auch am Sabbath wirken. Aber für Gott gab es ja einen Stillstand seiner Thätigkeit, wenn er am Sabbath ruhte, und

23*

356 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

wenn er wegen dieser Ruhe den Sabbath einsetzte, so haben die Juden Recht, dass das spya^sdöat am Sabbath kein göttliches dpYa^sTOai ist. Es handelt sich hier ja um eine Handlung am Sabbath. Beruft man sich nun für das, was man am Sabbath thun oder nicht thun darf, auf Gott, so kann doch das bestim- mende Moment nur die Ruhe Gottes am Sabbath sein. Behauptet dagegen Jesus, dass die Thätigkeit Gottes keinen Stillsland habe, so ist klar, dass er auch keine Ruhe Gottes am Sabbath annimmt, und den Sabbath nicht als göttliches Institut anerkennt. Es ist demnach der Standpunkt der absoluten Gottesidee, auf welchen das Evangelium sich stellt, auf welchem jede besondere göttliche Thätigkeit in der Allgemeinheit eines überzeitlichen Wirkens auf- geht. Nur aus diesem Grunde kann es ein solches Ruhen von der Arbeit, wie im alten Testament von Gott als dem Schöpfer der Welt erzählt wird, für den höchsten, durch Christus geoffenbarten Gott gar nicht geben. Nur desshalb kann auch sein Gesandter in seinem Wirken an den jüdischen Sabbath nicht gebunden sein. Es ist schwer zu sagen, wie derselbe Sabbath, welcher von Gott feierlich eingesetzt worden ist, hier als für Gott nicht e.xistirend dargestellt werden kann; so viel ist aber doch wohl ausser Zwei- fel, dass das dpya^soöai Gottes über den Sabbath gestellt wird, weil das Wesen Gottes überhaupt nur als absolute Thätigkeit gedacht werden kann. Es ist also auch diess ein zum johan- neischen Gottesbegriff gehörendes Moment, in welchem gleich- falls die absolute Erhabenheit Gottes über alles Endliche ausge- sprochen werden soll.

Je transcendenter aber das Wesen Gottes ist, um so mehr liegt in dieser Transcendenz die Nothwendigkeit eines das Ver- hältniss Gottes und der Welt vermittelnden Wesens. Diess ist der Begriff des Logos als des göttlichen Offenbarungsorgans. Ein solches kann er aber nur sein in seiner unmittelbaren Einheit mit Gott. Nur als der {xovoyevy;; ut6;, 6 Av ei; töv xöXwov toO TCXTpö; kann er e^yiystfTÖai, offenbaren und aussprechen, was ohne ihn

Johanneiseber Lehrbegriff. 357

in dem an sich seienden absoluten Wesen Gottes für die Menschen verschlossen ist. In dieser Identität mit Gott ist er der (xovoysvt.i; Trapa xaTpö; 1, 14, der {/-ovoYev;^; uto? 1,18. Da er ausdrücklich 6eö; genannt wird, so kann auch durch utö; nur seine Wesens- gemeinschaft mit Gott ausgedrückt sein. Im Begriff des Sohns liegt von selbst der Begriff der Zeugung. Er ist nicht geschaffen, wie die Welt und alles was ist, durch ihn geschaffen ist, sondern gezeugt, und der uJö; OsoO hat daher im johanneischen Evangelium eine ganz andere Bedeutung als bei den Synoptikern. Was die ysYevvYia^vot ix. 6eou 1, 13. 14 auf relative Weise sind, ist er als (xovoYsviri? auf absolute. Daher ist auch Gott auf eine ganz eigen- thümliche Weise sein Vater, ^rarrip i'^io;, 5, 18. Auch 10, 36, wo die Behauptung Jesu, dass Gott sein Vater ist, bei den Juden den Vorwurf der Gotteslästerung hervorruft, weil er sich, ob- gleich Mensch, zu einem Gott mache, kann mit Beidem nur das- selbe gesagt sein. Jesus ist desshalb Gott, weil er aus Gott gezeugt, aus seinem Wesen hervorgegangen ist. Man kann nicht so geradezu sagen (vgl. Köstlin, joh. Lehrb. S. 92), dass das Evangelium die Art und Weise des Ursprungs so ganz und gar nicht andeute, dass sich über die Entstehung des Logos bei Johannes nichts finde; er sei eben von jeher bei dem Vater, und es handle sich somit nur darum, seine gegenwärtige gegebene Beziehung zum Vater kennen zu lernen. Der Evangelist sagt hierüber wenigstens so viel, als er, ohne in eine weitere meta- physische Erörterung einzugehen, auf seinem evangelischen Standpunkt sagen konnte. Alles, was hierüber zu sagen ist, enthält der Begriff des uiö?, sofern in ihm das Verhältniss des Sohns zum Vater als die vollkommenste Wesensidentität gedacht wird. Einheit und Gleichheit mit Gott ist der Grundbegriff dieses Verhältnisses. Der Logos ist als Sohn sosehr mit dem Vater eins, dass er eigentlich nur die concrete Erscheinung des Vaters ist. Wer mich sieht, lässt der Evangelist Jesum sagen, 14,9. vgl. 12, 45, der siehet den Vater. Ich und der Vater sind eins,

35S Zweiter Äjbschnitt. Dritte Periode.

10, 30. Vgl. V. 38, iv s[/,ol 6 7raTr,p, ^ay*»* ^^ "^^ TcaTpl, in dem- selben Sinn, in welchem er 17, 21 zu den Jüngern sagt: i'va TravTS? ^v wfji, /.adw? cii, Trarep, dv dpiol, y.ou'fu sv erol, iva xat auTol dv Yifxiv §v oifjiv. Aus dieser Stelle ist hauptsächlich zu sehen, welcher Art diese Einheit ist. Der Vater und der Logos oder der Öohn sind zwar zwei verschiedene Personen, jeder von beiden hat sein persönliches Selbstbewusstsein, aber der per- sönliche Unterschied ist dadurch aufgehoben, dass jeder von beiden in dem Ich des Andern sein eigenes persönliches Ich er- kennt. Die Einheit, welche beide verbindet, kann daher in letzter Beziehung nur als eine moralische bestimmt werden. Jeder von beiden weiss sich mit dem Andern so eins und fühlt sich mit ihm so unzertrennlich verbunden, dass in Keinem von beiden auch nur der Gedanke einer Verschiedenheit entstehen kann. Jeder gibt sein eigenes Selbst an das des Andern hin, und lässt sein eigenes Selbstbewusstsein in dem des Andern aufgehen. Vermöge dieser Wesensidentität kommen dem Logos oder Sohn, da er, wenn auch nicht der pvo; 6soi;, doch deö; ist, auch in seiner menschlichen Erscheinung wahrhaft göttliche Attribute zu. Wie der Vater auf absolute und ursprüngliche Weise das Leben in sich hat, so auch der Sohn durch Mittheilung des Vaters, 5, 26. Wenn auch das Eine das Andere aufzuheben und nicht beides zugleich sein zu können scheint, Mittheilung und Absolutheit, so muss doch im Sinne des Evangeliums gesagt werden, dass auch der Sohn auf absolute Weise das Leben in sich hat. Er greift mit der absoluten Machtvollkommenheit des Vaters in die natürliche Ordnung der Dinge ein, und seine wunderbaren Werke, seine SpY«, sind der unmittelbare Reflex der Wirksamkeit Gottes. Für den Logos gibt es ferner keine Schranken des Wissens, er ist, wie Gott allwissend. Sein Wissen umfasst zunächst alle himm- lischen Dinge, xa iTcoupavia, 3, 12, die er durch eigene An- schauung erkannt hat, 3, 32. 8, 38, aber auch das Irdische, die gesammten Gedanken, Gesinnungen und Entschlüsse der Men-

Jobanneischer Lehrbegriff. 359

sehen. Dieses Wissen zeigt sich bei der Begegnung Nathanaels 1, 49 f., ferner 2, 25. 4, 19. 6, 64, wo wiederholt hervorge- hoben wird, dass Jesus das, was man sonst nur auf empirischem Wege wissen kann, in sich selbst wusste, dv eauTto. Vgl. auch H, 4. 15, wo er von Anfang voraus weiss, welchen Ausgang die Krankheit des Lazarus nehmen wird. Für sein höheres über- menschliches Wissen gibt es absolut keine Schranken, weder in räumlicher noch in zeitlicher Ferne, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, weder äusserlich noch innerlich. Ganz im Sinne des ursprünglichen Evangeliums sagt Petrus 21, 17: Herr du weisst alle Dinge u. s. w. Indem der Logos so auch in seiner irdischen Erscheinung die Erhabenheit seines göttlichen Wesens offenbart, so zeigt er ebendamit im Gegensatz zu allem Andern die Gleichheit seines Wesens mit Gott.

In seiner Einheit mit Gott ist der Logos das höchste Offen- barungsorgan. Indem er nun aber auf diese Weise seine Wirk- samkeit in der Welt und Menschheit äussert, hat er als das Princip des Lebens und des Lichts der Menschen seinen Gegen- satz an der Finsterniss. Dabei fragt sich nun, wie dieser Gegen- satz zu nehmen ist, ob als ein ethischer, in der Freiheit des Menschen gegründeter, oder als ein metaphysischer, somit ab- soluter. Für das Erstere spricht, dass der Logos nur, sofern er er das Licht der Menschen ist, 1, 4, als das in der Finsterniss leuchtende Licht mit der Finsterniss in Berührung kommt, für das Letztere, dass die Finsterniss schon ihrem Begriffe nach eine die Freiheit bedingende Macht zu sein scheint. Es ist neuestens sehr entschieden die Behauptung aufgestellt worden, das johan- neische Evangelium habe eine dem gnostischen Dualismus ganz analoge Wellansicht. Die Lehre von einer Verschiedenheit der menschlichen Naturen im johanneischen Evangelium könne nur dann geläugnet werden, wenn man den Muth habe, alle diejenigen Stellen, welche den Gegensatz des Guten und Bösen, des Lichts und der Finsterniss in seiner ganzen Schärfe darstellen, das ver~>

360 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

schiedene Verhalten der Menschen in Beziehung auf die christ- liche Offenbarung auf eine objectiv begründete Nothwendigkeit zurückführen, einen principiellen Unterschied von vorn herein in die menschlichen Naturen setzen, willkürlich hinwegzuerklären. Nur der Vorstellung einer von entgegengesetzten Principien her- rührenden ursprünglichen Verschiedenheit der menschlichen Na- turen lassen sich alle Ausdrücke des Evangeliums einreihen, in welchen von dem Gegensatz des Guten und Bösen unter den Menschen die Rede ist. Wenn Jesus 3, 6 die Nothwendigkeit der Gebart durch das Wasser und den Geist dadurch rechtfertige, dass das aus dem Fleisch Gezeugte Fleisch, das aus dem Geist Gezeugte Geist ist, so sei offenbar, dass ysYevvrijxsvov nicht eine Seite der menschlichen Natur, sondern diese vollständig bezeichne, und dass somit nicht die menschliche Natur nach ihren beiden Seiten, der geistigen und der leiblichen, sondern die Menschheit nach zwei entgegengesetzten Classen unterschie- den werde. Die Geburt von oben ist ja nur desshalb für den Eintritt in das Himmelreich nothwendig, weil der Fleischliche durchaus nicht geistig ist. Auf der andern Seite aber dürfe die Stelle nicht so verstanden werden, als sei nun das ganze Men- schengeschlecht von Hause aus fleischlich, und als sondere sich das geistige Geschlecht aus dieser an sich ganz gleichartigen Menschheit nur durch die Wiedergeburt ab. Das ysvvnöyivai avwOsv bezeichne nur die Geburt von oben , welche nur für die- jenigen eine ganz neue höhere Geburt sei, eine Wiedergeburt, welche, wie Nicodemus, von Hause aus nichts weiter haben, als die Empfänglichkeit für das Gute, wie für das Böse. Die andere Möglichkeit werde dadurch nicht ausgeschlossen, dass nämlich bei Einigen die Geburt aus Gott der substanzielle Grund ihres Wesens sei, dessen sie sich in dem Verlauf ihres zeitlichen Lebens nur bewusst zu werden brauchen, wie andererseits die Unempfänglichkeit für das|Höhere, die Unmöglichkeit, die Lehre Jesu innerlich zu vernehmen, in dem Ursprung aus dem Teufel

Johanneischer Lebrbegriff. 361

gegründet sei, 8, 43. 44. Auch 11, 52 sei von Kindern Gottes unter den Heiden und ohne Vermittlung des christlichen Glaubens die Rede. Wie auch 3, 20. 21 die Menschen schon unabhängig von der persönlichen Erscheinung des Logos entweder das Böse oder das Gute, die Wahrheit, thun, und für die Letztern durch den Eintritt des Lichts nur das Neue hinzukomme, dass ihre Werke als in Gott vollbracht erscheinen, dass sie also zu dem bestimmten Bewusstsein, zur Erkenntniss ihrer thatsächlichen Gemeinschaft mit Gott gelangen, so werde auch 11, 52 das Ver- hältniss der Gotteskindschaft als von der historischen Erscheinung des Logos und dem durch ihn gestifteten Glauben unabhängig dargestellt. Das adäquate Yerhältniss des Menschen zu Gott sei so sehr ein substanzielles, wie von der Willkür, so auch von dem Bewusstsein unabhängiges, dass es zunächst allgemein ohne ein bestimmtes und entwickeltes Wissen vorhanden sei. Es sei diess ausdrücklich der Sinn der Worte Jesu 3, 8, das xvsOfxa weht, wo es will, und man vernimmt seine Stimme, ohne zu wissen, von wo es kommt und wohin es geht, und diess sei all- gemein der Zustand eines jeden, der aus dem Geiste geboren ist. Indem man die hiemit gesetzte Verschiedenheit der mensch- lichen Naturen in ihrer Consequenz auffasste, wollte man auch dem Johanneischen Evangelium dieselbe Dreiheit von Principien zuschreiben , auf welche die Gnostiker ihren Dualismus zurück- führten. Wie die von Natur Bösen vom Teufel stammen, die Guten vom Logos, so könne der Urheber der psychischen Naturen und der materiellen Welt überhaupt nur der vom höchsten Gott verschiedene Gott des Judenthums und des alten Testaments sein. Den Hauptbeweis dafür sollte neben der. Stelle 3, 17 die Stelle 8, 44 darbieten. Wenn nun auch ein solcher Gnosticismus sich im Evangelium nicht nachweisen lässt, und höchstens die Prä- missen in ihm liegen könnten, so muss man doch gestehen, dass der Evangelist in den genannten Stellen, zu welchen auch noch die Stelle 12, 36 f. hinzugesetzt werden kann, die Verschieden-

362 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

heit der Guten und Bösen auf eine über die Sphäre der sittlichen Freiheit hinausliegende Nothwendigkeit zurückzuführen scheint, so dass demnach der Gegensatz der beiden Principien, Licht und Finslerniss für ihn nicht blos eine ethische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung hatte. So nahe er aber dieser Ansicht kommt, den weiteren Schritt, welcher ihn zum Dualisten machte, hat er gleichwohl nicht gelhan. Mit derselben besonnenen Hal- tung, mit welcher er in der Lehre vom Logos das gnostische Gebiet zwar nahe genug berührt, aber doch das specifisch Gno- stische von sich fern hält, bleibt er auch hier auf der Grenzscheide stehen, von welcher aus die Entscheidung ebenso gut auf die eine als die andere Seite fallen kann. Es wird somit zwar der Unterschied und Gegensatz der menschlichen Naturen, wie er als Thatsache der Erfahrung in der Wirklichkeit gegeben ist, mit aller Schärfe aufgefasst, aber doch die Möglichkeit nicht ausge- schlossen, ihn aus dem Princip der Freiheit als eine Folge der sittlichen Selbstbestimmung zu begreifen. Es bleibt daher auch der Gegensatz der beiden Principien, Licht und Finsterniss, wenn er gleich nur in die sittliche Welt fällt, für die Weltan- schauung des Evangelisten stehen, und es schliesst sich daran die weitere Frage an , wie er durch den Logos vermittelt und aufgehoben wird? .)*.SHh 4'

-^ Der Logos ist das in der Finsterniss scheinende Licht, der Evangelist lüsst ihn aber auch im Fleisch erscheinen. O Xoyot; cap^ eysveTO ist ein Hauptsatz der johanneischen Theologie. Wie soll man sich aber diese Fleischwerdung denken, und wie ist es möglich, dass mit dem Logos als dem göttlichen Subject in der- selben Persönlichkeit ein anderes menschliches Subject zusammen- existirte? Dringt sich nun hier sogleich die Frage auf, ob der fleischgewordene Logos die volle Realität einer menschlichen hatte, so sind zunächst alle die Momente in's Auge zu fassen, welche für die Verneinung dieser Frage zu sprechen scheinen. Es kommt in dieser Beziehung vor allem in Betracht, dass schon

Johanneisoher Lehrbcgriff: 36H

der Sprachgebrauch nicht gestattet, <Tap^ eysysTo gleichbedeutend mit avOpwTCo? iyevsTo zu nehmen. Es ist mit Recht bemerkt wor- den, dass crxp^ im neuen Testament nie seine ursprüngliche Be- deutung verliert. Es wird zwar synekdochisch zur Bezeichnung des ganzen Menschen gebraucht, wie in dem öfters vorkommen- den Tcaora cap^, oder wenn [liol cap^ so viel als eine Person heisst, es wird ferner besonders häufig das Natürliche am Menschen als solches in seinem Unterschied vom Göttlichen capE genannt, das Wort bezeichnet daher überhaupt das Menschliche in seiner na- türlichen Schwäche und Endlichkeit, das Beschränkte, Äusser- liche, bei Paulus das Princip der Sünde in der menschlichen Natur, immer aber wird in allen diesen Ausdrucksweisen die menschliche Natur überhaupt nur insofern durch dieses Wort bezeichnet, als die Leiblichkeit als dasjenige angesehen wird, was ihre wesentliche Eigenthümlichkeit ausmacht. Es kann daher auch bei Johannes oap^ eysysTo nur von der Annahme eines Leibs verslanden werden. Von einer Seele Christi, welche er zur Erlösung dahingehe, ist zwar 10, 11. 15. 17 die Rede, aber die Vergleichung von 13, 37. 38 zeigt, dass hier die <\>K)y^fi nur das animalische Lebensprincip ist, und derselbe AfFect, welcher 12, 27 der ^uyri beigelegt wird, wird 11,33. 13,21 dem TrveOaa zugeschrieben, worin demnach nichts Weiteres enthalten sein kann, als wenn vom Logos auch sonst Liebe, Betrübniss, Un- wille ausgesagt werden.

Lässt demnach schon der von dem Verfasser des Evangeliums gebrauchte Ausdruck nur an einen vom Logos angenommenen Leib denken, so schliesst auch der Zusammenhang des Prologs die Möglichkeit aus, die Fleischwerdung von einer eigentlichen Menschwerdung zu verstehen. Die Fleischwerdung greift gar nicht als ein so wichtiges Moment in die im Prolog geschilderte Wirksamkeit des Logos ein, dass sie sie in zwei Perioden theiite, die menschliche und vormenschliche; das «rapE iyi^zxo erscheint nur als Nebenbestimmung. Der Logos ist von Anfang an so sehr

364 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

dasselbe mit sich identische Subject, dass in dein ganzen Verlauf seiner Wirksamkeil nichts eintreten kann, was ihn erst zu diesem bestimmten Subject machte, oder zu einem andern Subject, als er bisher war. Sein Dasein in der Welt ist in seiner vollen Realität schon dadurch gesetzt, dass er das in der Finsterniss scheinende Licht ist. Wie er von Anfang an dasselbe Subject ist, so findet auch bei denen, welche im Glauben mit ihm eins werden, vor wie nach dasselbe Verhältniss der Kindschaft Gottes statt. Seine Fleischwerdung ist nur die höchste Manifestation seiner Herrlichkeit für die, die ihn in sich aufnehmen. Wie die Aufnahme des Logos bei denen, die an ihn glauben, eine so segensvolle ist, dass sie durch ihn Kinder Gottes werden, so ist es nur eine besondere Seite dieses Verhältnisses, dass der Logos in seiner sichtbaren Erscheinung im Fleisch unter ihnen Wohnung machte, damit sie seine Herrlichkeit in unmittelbarer Anschauung sehen könnten. Das crapE äysvsTO hat daher gar nicht die Be- deutung, die es als Menschwerdung haben zu müssen scheint, es ist nur ein Accidens der stets sich gleich bleibenden Persön- lichkeit des Logos.

Folgt nun auch daraus nicht, dass die vom Logos ange- nommene (jap^ nicht dieselbe Realität hat, wie die <yap^ eines Menschen, so fehlt es doch nicht an Stellen, nach welchen man sich eine ganz eigene Vorstellung von dieser «rapE machen muss. Wenn Jesus oO (pavepco;, dXV cJ: sv xpuzxö nach Jerusalem reist, 7, 10, und hier denselben Juden, welche schon früher mit ihm in Berührung gekommen waren, unkenntlich ist, 7, 15, wenn die Art, wie er im Tempel den Juden, die ihn steinigen wollen, entschwindet, nur eine wunderbare sein kann, 8, 59 C»nan vgl. auch 10, 39, wo ^^viXöev t/. tyic ysipo; aOröv auch ein solches Entschwinden zu sein scheint), so scheint an keine feste materielle Leiblichkeit gedacht werden zu können, sondern nur an eine wan- delbare, nach Willkür veränderliche, an eine immaterielle solcher Art, wie sie auch zu dem Wandeln auf dem See passt, 6, 16 f.,

Johanneisoher Lebrbegriff. Mrai

welche Erzählung der Verfasser des Evangeliums auch desswegen aus den Synoptikern aufgenommen haben mag, weil sie seine Vorstellung von der Leiblichkeit Jesu begünstigte. Alle diese Data, welche leicht noch vermehrt werden könnten, scheinen demnach dafür zu sprechen, dass die <7ap^ des fleischgewordenen Logos nicht von einer menschlichen Natur in ihrem wahren und vollen Sinne verstanden werden kann.

Wie soll man sich aber diese cap^ denken, wenn sie nicht zu einer doketischen Erscheinung werden soll? Es kommt auf der andern Seite in Betracht, dass der Evangelist den fleischge- wordenen Logos mit der Person Jesu von Nazareth vollkommen identificirt und ihn auf dieselbe Weise, wie wir ihn aus den synoptischen Evangelien kennen, als menschliches Subject auf- treten und handeln lässt. Ja, es werden auch solche Bestimmungen in dem Evangelium festgehalten , welche nur für eine wirklich menschliche Individualität passen und die Vereinigung einer voll- ständigen menschlichen Persönlichkeit mit dem persönlichen Lo- gos voraussetzen. Die wiederholte Erwähnung der Mutter und der Brüder Jesu, 2, 1 f. 2, 12. 6, 42. 7, 3. 5. 19, 25. 26, kann nur als ein Zeugniss einer wirklich mit dem Logos verbundenen vollständigen menschlichen Natur betrachtet werden. Wie könnte die Persönlichkeit des Erlösers nur aus dem Logos bestanden haben, wenn doch ein menschliches Weib als seine Mutter be- zeichnet werden kann? Der Evangelist deutet also hiemit die menschliche Geburt des Erlösers an, und auf dieselbe Weise lässt er 1, 46. 6, 42 den Nathanael und die Juden in Joseph den Vater Jesu anerkennen. Ein weiteres Moment, das in dieselbe Reihe gehört und sogar an die Stelle des johanneischen Logos die rein menschliche Person des synoptischen Jesus zu setzen scheint, ist die auch vom johanneischen Evangelium bezeugte Mittheilung des Geistes an Jesus bei der Taufe 1, 32 f., womit die Stelle 3, 34 zu vergleichen, in welcher gleichfalls gesagt ist, Gott habe ihm den Geist ertheilt und zwar oü>c i/. [/.sTpou, nicht

366 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

in beschränktem Maass, im höchsten Maass, auf absolute Weise. Wozu, muss man mit Recht fragen, bedurfte er noch bei seiner Taufe einer besondern Ausrüstung mit dem 7:ve0|jux aytov, wenn er doch von Anfang an der fleischgewordene göttliche Logos war? Es ist von selbst klar, dass eine solche Mittheilung des ■TrvsCiv.a ayiov nicht für ein mit dem Logos identisches Subject, sondern nur für ein solches Individuum passt, wie der synoptische Jesus ist.

It^; Um diesen Widerspruch zu lösen, hat man neueslens auch in dieser Beziehung den Evangelisten zum vollkommenen Gnosti- ker gemacht und behauptet, der 1, 33 bei der Taufe herabge- kommene und der 3, 34 ohne Maass von Gott gegebene Geist sei eben der Logos selbst als ein rein geistiges Wesen. Dieses 7rve0;j-a habe erst seiner menschlichen Persönlichkeit die höhere Bedeutung, die Würde und Macht des Erlösers gegeben. Wäre der göttliche Logos schon vorher in ihm gewesen, so begreife man schlechterdings nicht, was ihm noch bleibend mitgetheilt werden musste, was ihm zu seiner Befähigung als Erlöser noch fehlen konnte, so wenig als man sich denken kann, wie dem Logos selbst noch der Geist von Gott ohne Maass mitgetheilt werden konnte. Man müsse also auch hier dieselbe Doppel- persönlichkeit voraussetzen, wie sie die Gnostiker lehrten. Die Taufe sei der Moment, in welchem die Vereinigung des himmli- schen Aeon mit dem irdischen Menschen vor sich gieng, durch welche der Mensch Jesus zum Träger und Organ des ewigen Logos, des eingeborenen Sohns wurde. Gegen diese Auffassung lässl sich geltend machen, dass sie in der Stelle 1, 33 keinen sehr festen Haltpunkt hat. Es ist in ihr nicht gesagt, dass Jesus wij'klich von Johannes getauft worden ist, und die hier erwähnte Erscheinung als äusseres Factum stattgefunden hat. Man kann sie auch so verstehen, dass der Täufer in einer innern Anschauung den heiligen Geist in der Gestalt einer Taube auf ihn herabkom- men und auf immanente Weise mit ihm sich vereinigen sah. Die

Johanne ischer Lehrbegriff.

symbolische Erscheinung soll nur die Bezeichnung des Moments sein, in welchem dem Täufer in Betreff der Person Jesu das Be- wusstsein seiner Messianität, deren Princip das tzwzu^x ayiov ist, aufgieng. Das Herabkommen des xveufi.» ayiov hätte demnach keine objective Bedeutung für Jesus, sondern nur eine subjective für den Täufer.

Allein die Schwierigkeit, von welcher hier die Rede ist, ist dadurch nicht gehoben, sie liegt überhaupt in der Frage, wie dasselbe Subject, das als der göttliche Logos in die evangelische Geschichte eingeführt wird, zugleich als menschliches Individuum in ihr auftreten kann. Diess ist schlechthin unbegreiflich, und es lässt sich auf diese Frage keine andere Antwort geben, als die einfache, dass eben diess der Unterschied des synoptischen und johanneisclien Christus ist. Der letztere ist ein absolut gött- liches Subject. Mag es auch als eine zu gewagte Lösung des Räthsels, das hier vorliegt, erscheinen, den johanneischen Logos mit einem gnostischen Aeon zu identificiren ^ so muss man doch gestehen, dass das johanneische Evangelium auch hier ganz auf der Grenze der gnostischen Anschauungsweise steht. Der johan- neische Logos kann auch in seiner Fleischwerdung die transcen- dente Sphäre nicht verläugnen , aus welcher er in diese irdische Ordnung der Dinge herabgekommen ist. Es ist durchaus der Logos, welcher seiner Einheit« mit Gott sich bewusst ist, nur darin scheint sich ein menschliches Bewusstsein in ihm auszu- sprechen, dass er in seiner Einheit mit Gott sich auch schlecht- hin abhängig von Gott weiss. Er ist nicht blos vom Vater in die Welt gesandt und nicht von sich selbst gekommen , 5, 43. 7, 28. 8, 28. 42, sondern er kann auch nur das ausführen, was ihn der Vater anweist, 5, 19 f., er kann nichts rein von sich selbst Ihun, ohne den Vater zu sehen und zu hören, V. 30. Was er Göttliches hat und millheilt, hat er vom Vater, seine Lehre ist nicht die seinige, sondern die des Vaters, 7, i6. 8, 28. 40. 14,24. Wie er nichts von sich selbst redet, sondern nur so, wie

368 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

der Vater, der ihn gesandt, ihm aufgetragen hat, 12,49, so ver- zichtet er auch völlig auf einen eigenen Willen, und sucht in allem nur den Willen und die Gebote des Vaters zu erfüllen, 4, 34. 5, 30. 8, 29. 15, 10. 17, 4. So sehr er der Erfüllung seines Gebets von vorn herein gewiss sein kann, 11, 41. 42. 14, 16, so muss er doch den Vater bitten und zu ihm beten. Alles diess wird 14, 28 in dem Bekenntniss zusammengefasst: Der Vater ist grösser als ich. Allein gerade diese Stelle zeigt, wie er auch diese schlechthinige Abhängigkeit nicht als Mensch von sich aus- sagt. Wozu sollte er als Mensch sagen, was sich von selbst versteht, dass der Vater grösser ist, als er? Es kann also nur auf sein höheres übermenschliches Wesen gehen, und es ist somit in der Stelle klar ausgesprochen, dass er ungeachtet seiner Einheit mit Gott auch in einem untergeordneten Verhältniss zu ihm steht. Es ist jedoch hiemit nichts Anderes gesagt, als was an sich schon im Begriffe des Logos liegt, dass er das Gott und Welt vermittelnde Offenbarungsorgan ist. Als solches greift er in demselben Sinne, in welchem 5, 22 von dem über den Gegen- sätzen stehenden Vater gesagt wird, dass er nicht richte, sondern alles Gericht dem Sohn übergeben habe, überall, wo der Gegen- satz zwischen Gott und der Welt zu vermitteln ist, mit seiner Thätigkeit ein. Diess führt uns auf die johanneische Lehre von der Erlösung.

Als das in der Finsterniss scheinende Licht, als der fleisch- gewordene Logos ist der Erlöser in den Gegensatz des Lichts und der Finsterniss eingetreten, um ihn durch seine erlösende Thätigkeit zu vermitteln und aufzuheben. Sobald das Licht da ist, wird von ihm gezeugt, damit alle glauben. Der Glaube ist es also, wodurch der Gegensatz des Lichts und der Finsterniss aufgehoben wird; denn wer an ihn als an das in die Welt gekom- mene Licht glaubt, der bleibt nicht in der Finsterniss, 12, 46. Und wie er selbst der eingeborene Sohn Gottes ist, so werden die, die an ihn glauben, Kinder Gottes, und als solche in das

Johanneisoher Lehrbegriff. 3G9

eigenlhümlichsle und beseligendste Verhällniss zu Gott gesetzt, 1, 12 f. Im Glauben ist daher der ganze Zweck der Erlösung begriffen; denn wer an ihn glaubt, geht nicht verloren, sondern hat das ewige Leben, wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, darum, weil er nicht glaubt an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes. Da aber .das Object des Glaubens der Sohn Gottes ist, so kommt alles darauf an, dass er als das erkannt werden kann, was er an sich ist. Darin besteht die erlösende Thätigkeit, sie ist die Selbsl- darstellung und fortgehende Verherrlichung des Sohns. Alles, was zum Werk der Erlösung gehört, hat hier die unmittelbarste Beziehung auf die Person des Erlösers, indem alles nur darauf hinzielt, dass er als das, was er seiner ganzen Persönlichkeit nach ist, in das glaubige Bewusstsein aufgenommen wird. Diess kann nur im fortgehenden Kampf mit der ungläubigen Welt ge- schehen, da, wie dem Licht die Finsterniss, so dem Glauben der Unglaube gegenübersteht. Der Person des Erlösers gegen- über concentrirt sich die ganze Macht der Finsterniss in dem Unglauben der Welt. Das Werk der Erlösung kann daher nur dadurch vollbracht werden, dass dieser Unglaube überwunden wird. In ihm allein wird die Macht der Finsterniss gebrochen und der Teufel, der Fürst der Welt, gestürzt. Die verschiedenen Seiten, die sich an seiner Person unterscheiden lassen, sind ebenso viele Momente seiner Selbsldarstellung. Seine erlösende Thätigkeit stellt sich daher dar 1. in seinen Werken, 2. in seiner Lehre, 3. in seinem Tode, und in allen diesen Beziehungen kommt alles darauf an, dass er von den Menschen als das erkannt wird, was er seiner ganzen Persönlichkeit nach ist.

1. Die Werke. Durch Werke, l'pya, welche von den pvip-axa unterschieden werden, 14, 10. 15, 22 f. 10, 38. 1, 51. stellt sich der Erlöser als den dar, der er ist. Durch Werke muss er sich thatsächlich als den documentiren , der er ist, da- her werden seine epya auch oTij/.sta genannt, sie sind Zeichen,

Banr, neatest. Theol. *4

370 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

Offenbarungen seiner messianischen Würde und göttlichen Herr- lichkeit, und es ist der den Messias als Sohn Gottes auszeich- nende Vorzug, dass er solche (r/ip.eta thut, wesswegen vom Täu- fer gesagt wird, dass er cy.jxsiov iizoirias'^ oüSev, 10, 41. Sie. sind der unmittelbare Reflex der höchsten göttlichen Wirksam- keit, daher ist die Frage im Grunde ganz überflüssig, wie sich die spY« zu den eigentlichen Wundern verhalten. Als Acte der göttlichen Thätigkeit, als Äusserungen der in dem Sohn wirken- den Macht des Vaters haben alle messianischen epya einen über- natürlichen Charakter, der Sohn kann nichts thun, was er nicht den Vater thun sieht, 5, 17 f., sie sind sowohl der unmittelbare Ausfluss seiner göttlichen Natur als des auf Erden gegenwärtigen Lichts 9, 4., wie sie auch als Werke angesehen werden, die der Vater selbst durch den Sohn vollbringt, 14, 10. Eben desshalb, weil sie in jeder Hinsicht unvergleichlich sind, weil Jesus Werke gethan hat, a oüSet; aXXo; TrsTroiTiJtev, 15, 24, sind sie die augen- scheinlichsten Beweise seiner göttlichen Sendung, denen selbst der Glauben schenken muss, welcher den Worten, der Person Jesu den Glauben versagt, 10, 38, durch welche allein schon ein gewisser Glaube, auch wenn er ganz ohne geistigen Gehalt ist, hervorgerufen wird, 3, 2. Der Unglaube der Juden ist gerade desshalb so verwerflich, weil Jesus ihnen so viele gute Werke gezeigt, 10, 32, so grosse Zeichen vor ihnen gethan hat, 12, 37 , jedes Wunder ist als eine Offenbarung seiner Herrlichkeit anzusehen, 2, 11. 11, 4. 40.

Wenn diess der allgemeine Characler dieser epya ist, so sind die im Evangelium erzählten Wunder aus der grossen Menge der (nri[X£ia, welche Jesus gethan haben sollte, 20, 30, recht ab- sichtlich dazu gewählt, an jedem derselben eine der verschiede- nen Grundanschauungen, unter welche die Person Jesu gestellt werden muss, in's Licht zu setzen. Sehen wir von den beiden (TYiaeta 2, 1 f. 4, 43 f. , welche im Grunde nur einleitender Art sind , ab , so ist das erste hieher gehörende epyov die K. 5 er-

Johanneischer Lehrbegriff. 3Tf

zählte Krankenheilung, welche jedoch vorzugsweise aus dem Gesichtspunkt einer am Sabbath verrichteten Handlung betrach- tet wird, und als solche dazu dient, an ihr überhaupt den Cha- rakter der epva Jesu vor Augen zu stellen. In dieser Beziehung soll daher dieses spyov anschaulich machen , dass das epyaCe<j6at des Sohns mit dem des Vaters ganz identisch ist, dass wie der Vater das Leben hat in ihm selbst, so er auch dem Sohn gegeben hat, das Leben zu haben in ihm selbst, und dass er in diesen spya, die der Sohn nicht von sich selbst thun kann, das spre- chendste Zeugniss seiner Sendung geben will. Ta yap spya, Ä (>£Ötox,£ [AOi ö TraTTiO tva tsXsicüco) auTa, auToc töc spy«, a ^yw TwOtö, {jLapTupsi T^epl euLoO, ort 6 TraiTip »xs dcTcsffTaXxe- xal 6 'Kt^^xq [AS "KXTTiO aÜTÖ; a£(7-apTupYi/ce Tuspl eaoO. V. 36. Was also die spya überhaupt sind, sowohl nach ihrer Innern Causalität, als auch nach ihrer äussern Erscheinung, soll sich vor allem an diesem spyov zu erkennen geben. Einen specielleren Charakter hat schon das folgende spy^^v, die K. 6 erzählte wundervolle Speisung. Sie stellt Jesum als das Brod des Lebens dar. Wie es hier der schon im Prolog als höchstes Attribut dem Logos gegebene Begriff der ^wTj ist, welcher zu seiner concreten Erscheinung kommt, so veranschaulicht die K. 9 erzählte Heilung des Blindgebornen, den auch schon im Prolog mit dem Begriff der (^wr, verbundenen Begriff des ow; töv ävöptoTCwv, die Wahrheit, dass Jesus das Licht der Welt ist, wie er sich selbst 8, 12. nennt. In dieselbe Reihe gehört noch das grösste aller dieser spya und cxasia, die Auferweckung des Lazarus, welche auch niy die thatsächliche Darstellung der Wahrheit ist, die Jesus selbst 11, 25. in den Worten ausspricht: ich bin die Auferstehung und das Leben, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Der Haupt- begriff ist nicht blos das Leben überhaupt, dessen Princip der Logos ist, sondern das Leben als die Negation des Todes, in seiner den Tod überwindenden und in sich aufhebenden Macht. So ist jedes dieser Wunder eine neue Offenbarung der göttlichen

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S72 Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

Grösse und Herrlichkeit Jesu, und es stellt sich in ihnen die ab- solute Bedeutung seiner Person immer wieder unter einem neuen Gesichtspunkt dar, von welchem aus sie der Gegenstand des seligmachenden Glaubens werden soll. So betrachtet sind seine Werke jnichts anderes als die Selbsldarstellung seiner Person, und eben darin besteht seine erlösende Thätigkeit, dass seine Werke ihn als den, der er an sich ist, dem Bewusstsein der Menschen gegenüberstellen. Unter denselben Gesichtspunkt gehört

2. die Lehre Jesu. Sie ist in seinen Reden enthalten, und wie das Evangelium die spya Jesu auf den höchsten Grad des Wunders steigert, so gibt es auch die inhaltsreichsten Reden. Sie schliessen sich meistens an die spya an, um das, was ein epyov in einer grossartigen Anschauung vor Augen stellt, zu expliciren und nach seinen einzelnen Momenten in seiner teleo- logischen Bedeutung darzulegen. Schon aus diesem Grunde ha- ben sie dieselbe Beziehung auf die Person Christi, wie die spya, es ist diess aber überhaupt der Character der johanneischen Reden und Lehrvorträge. Ihr stehendes Thema ist die absolute Bedeutung seiner Person. In der ersten grösseren Rede des Evan- geliums im Gespräch mit Nicodemus K. 3 wird zwar vor allem der Satz aufgestellt, dass niemand das Reich Gottes sehen könne, der nicht von oben geboren werde, die Hauptsache ist aber die Begründung der dem sinnlichen Menschen unbegreiflich schei- nenden Wahrheit durch die Autorität dessen, der aus eigener unmittelbarer Anschauung vom Himmlischen zeugen kann, als der vom Himmel He^abgekommene auch in den Himmel hinauf- steigt, 6 uJö? Tou av9pw7uou , 6 wv dv oOpavö, und in seiner Erhöhung für alle als der aufgestellt wird, welchen sie zum Ge- genstand ihres Glaubens zu machen haben, so dass, je nachdem man an ihn glaubt oder nicht glaubt, das in ihm in die Welt ge- kommene Licht die scheidende itpioi; der Guten und Bösen ist. In der zweiten Rede, die auch, wie die K. 3, nur ein Gespräch ist, K. 4 bezeichnet er sich als den, der das lebendige Wasser

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Johanneischer Lehrbegriff. 373

geben kann, das in dem, der davon trinkt, zu einer TCTi-p u^aro? aXXofjtevo'j et? ^üjr.v aitdvtov wird.

Die erste in einem grössern Zusammenhang und mit logi- scher Strenge sich entwickelnde Rede Jesu ist die K. 5, in wel- cher er von der Identität des i^yxCtt^xi des Sohns mit dem des Vaters spricht. Das, worin dieses gemeinsame Thun des Vaters und Sohns besteht, ist das syetpsiv und J^wottoisTv. Beide Aus- drücke bezeichnen denselben Begriff, nur mit dem Unterschied, dass das ^woroistv in dem ^ysipstv sich dadurch bethätigt, dass es durch die Negation des Todes die Affirmation des Lebens ist. Dieser Begriff des ^woxoisiv, oder des Sohns, sofern er als der Logos die ^wyi im absoluten Sinn ist, wird V. 20—29 durch folgende drei Momente hindurchgeführt: Das erste Moment ist die durch den Glauben vermittelte ^m äiwvto;, die Wirkung des ^woTCOistv ist das geistige Leben. Wer den Glauben hat, hat unmittelbar in dem Glauben den Tod durch das Leben in sich aufgehoben, er hat das Princip des Lebens in sich, zunächst zwar nur des geistigen Lebens, aber dieses geistige Leben ist auch die Bedingung und die Wurzel des leiblichen der künftigen Auferste- hung, dieses leibliche Leben ist an sich schon in dem geistigen enthalten, V. 24. In dem zweiten Moment greift das geistige Le- ben schon in das leibliche hinüber, doch ist das Leibliche noch ganz durch das Geistige vermittelt, die ^toy, wird als x^xarxaiq nur denen zu Theil, welche das geistige Leben in sich aufge- nommen haben. Es kommt einst die Zeit, in welcher die leib- lich Todten den Ruf des Sohnes Gottes hören, und die, die ihn hören, zum Leben d. h. zum seligen Leben gelangen werden, und diese Zeit kommt nicht erst, sondern sie ist schon jetzt da, denn nicht blos von der Zukunft, auch schon von der Gegenwart kann gesagt werden, dass die Todten die Stimme des Sohnes Gottes hören und leben, d. h. die geistig Todten hören in dem Gotteswort, das der Sohn verkündigt, auch den Ruf zum Leben, und sind , wenn sie ihm folgen , schon jetzt selig. Die geistige

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und die leibliche Auferstehung wird hier als eine und dieselbe zusammengenommen, aber eben desswegen ist V. 25. noch nicht von der allgemeinen Auferstehung der Guten und der Bö- sen die Rede, sondern nur von der seligen Auferstehung, der avacTafft? ^«yj?, weil nur diese mit der geistigen Auferstehung, in welcher sie ihren Grund und Ursprung hat, zu dieser Einheit des Begriffs verbunden werden kann. In dem dritten Moment ist das leibliche Leben nicht blos mittelbar als Folge des geisti- gen, sondern unmittelbar für sich Gegenstand des ^tooroieiv, daher erstreckt sich das ^woTiotsTv auch auf die Bösen. Die Auf- erstehung ist eine allgemeine, Gute und Böse hören in ihren Gräbern die Stimme des Sohns und stehen auf, aber die Letztern nur zur avacTaat; xpicsw?. V. 29.

So ist der Begriff durch alle seine Momente durchgeführt, nur kommt dabei noch das Verhältniss des xpivetv zum (^wowoisiv in Betracht. Das ^o)07;ocsTv schliesst auch das xpiveiv in sich, denn nicht alle, ohne Unterschied, macht der Sohn lebendig, sondern nur die, die er will, V. 21. Das ^woTroteiv kann nicht geschehen, ohne dass ein Unterschied gemacht wird, die Einen von den Andern unterschieden und geschieden, d. h. gerichtet werden, das ^tdo- Ttoisiv ist von selbst auch ein xpivetv, sofern das ^wottoisiv durch den Glauben bedingt ist, die so Gerichteten und Geschiedenen sind auch die Ausgeschiedenen und als solche die Verurtheillen. Das im ersten und zweiten Moment nur negativ sich äussernde xp(veiv wird im dritten ein positives , das im ^tooTOistv enthaltene xpiveiv wird nun das Überwiegende in ihm, die dtvicTaci? als die Wir- kung des ^tooTTotsTv geschieht nur für den Zweck der xpici;, ist also nur eine ävadTaci? xpicsw?. In dieser Einheit des i^ytiJ^t(s^xi des Sohns mit dem des Vaters macht also nur das xpiveiv einen Unterschied. Denn der Vater richtet niemand , sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben. Das xpivetv ist seinem wesent- lichen Begriff nach ein Scheiden , es setzt also Gegensätze vor- aus, die auseinander gehalten werden müssen. Wird nun vom

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Vater gesagt, dass er nicht richte, so ist damit die über alle Gegensätze der endlichen Welt erhabene Absolutheit Gottes aus- gesprochen; kommt dagegen dem Sohn vorzugsweise das Rich- ten zu, so wird er dadurch, wie es ja auch der BegrilF des Logos an sich schon mit sich bringt, als der in die Welt der Gegensätze Hineingestellte bezeichnet. Nur in diesem Sinn kann es genommen werden, wenn es V. 27 heisst: der Vater habe ihm die Macht gegeben, xal /.ptcriv ttoieiv, oti uSo; avÖpwTüou äfj-ri. Wie er also uiö? 6sou ist, so ist er auch der uio; avOpwTrou. Als der in die Welt und Menschheit Eingetretene ist er nicht blos Gott, sondern muss selbst auch Mensch sein. Wie der Vater als der absolute Gott schlechthin über den Gegensätzen steht, so ist der Sohn das der Welt und Menschheit zugekehrte gottmensch- liche Bewusstsein , und wie sich in ihm die Gegensätze der end- lichen Welt reflectiren, so greift er auch mit seiner Macht in sie ein, um, was im Glauben ihm angehört, oder im Ungjauben von ihm sich abwendet, von einander zu scheiden.

Wie in der Rede K. 5 der Begriff des Logos als des abso- luten Lebensprincips explicirt wird , so hat auch die Rede K. 6 denselben Begriff zu ihrem Inhalt. Wie der Logos oder der Sohn die lebendigmachende Kraft ist, so ist er es auch, welcher alles geistige Leben ernährt und erhält, und ihm seinen ewigen Bestand gibt. Diess ist der Begriff des Lebensbrods, wie er K. 6 nach seinen verschiedenen Momenten dargelegt wird. Es gibt ein göttliches Lebensbrod, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt; dieses Lebensbrod ist Jesus, als der vom Himmel gekommene Logos; weil aber Jesus als der vom Himmel Gekommene nicht blos der Logos ist, sondern der fleischgewor- dene Logos, so wird dasselbe, was im Begriffe des Lebensbrods liegt, auch als Fleisch bezeichnet, oder concreler als Fleisch und Blut. Das himmlische Lebensbrod ist also Jesus nur sofern er der fleischgewordenc Logos ist, oder in Fleisch und Blut existirt; denn nur von Fleisch und Blut kann dasselbe prädicirt

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werden, was die wesentliche Eigenschaft des Brods ist, dass es Object eines Genusses ist, durch welchen es der Geniessende in sich aufnehmen, und zur substanziellen Einheit mit sich ver- einigen kann. Eben diess aber ist der Hauptgesichtspunkt , um welchen es sich hier handelt. Denn nicht sowohl , dass Jesus das absolute göttliche Lebensprincip ist, die Leben schaffende, vom Tode zum Leben erweckende Macht , als welche er schon K. 5 dargestellt ist, soll hier dargethan werden, als vielmehr, dass das Verhalten des glaubenden Subjects zu ihm nur derselbe Process sein kann, durch welchen bei dem leiblichen Genuss der Geniessende die nährende Substanz sich einverleibt. Denn wie das Brod nur dazu da ist, dass man es isst, und nur der nicht stirbt, der das himmlische Lebensbrod durch den Genuss sich aneignet, so hat auch nur, wer sein Fleisch isst und sein Blut trinkt, das Leben in sich, denn nur sein Fleisch ist wahrhaft Speise, und nur sein Blut ist wahrhaft Trank, und nur wer sein Fleisch isst und sein Blut trinkt, bleibt in ihm, wie er in ihm ist. Der ganze Inhalt der Rede ist demnach, dass er sich als die all- gemeine Lebenssubstanz für alle darstellt, welche des ewigen Lebens theilhaftig werden wollen.

Wie es in diesen beiden Reden der Begriff des Lebens ist, welcher in seiner concreten Beziehung auf die Person Jesu in seine verschiedenen Elemente auseinander gelegt wird, so ist es 8, 12. der Begriff des Lichts, welchen Jesus zur Grundan- schauung seines Wesens macht. Er ist das Licht der Welt, wer ihm folgt, wird nicht in der Finslerniss wandeln, sondern das Licht des Lebens haben, darum muss er auch wirken die Werke dessen, der ihn gesandt hat, so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann; so lange er in der Welt ist, ist er das Licht der Welt, 9, 4 f. Als das Licht der Welt ist er zum Gericht in die Welt gekommen , damit die nicht Sehenden sehen, und die Sehenden blind werden. Auch dieses Gericht ist dieselbe Scheidung der Einen von den Andern nach der Ver-

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schiedenheit ihrer Natur , von welcher sonst in diesem Evange- lium die Rede ist. Die Einen sind die Empfänglichen, welche glauben, ehe sie sehen, oder wissen, was sie sehen, die An- dern die Unempfänglichen, welche nicht glauben bei allem, was sie sehen und wissen , 9, 39 f. In demselben Sinn nennt er sich 3, 19 f. das in die Welt gekommene Licht, durch dessen Ein- tritt in die Geschichte die dem Licht und die der Finsterniss ver- wandten Naturen von einander geschieden und jene der Finster- niss entrissen werden, vgl. 12, 46. Auf diese Weise ist der Hauptinhalt dieser Reden durchaus ein die absolute Bedeutung der Person Jesu und die nur durch ihn mögliche Vermittlung des Menschen mit Gott aussprechender Begriff, mit welchem Jesus selbst identificirt wird. Leben und Licht sind die Hauptprädicate, die sich unmittelbar auf den Begriff des Logos beziehen. In ähn- lichem Sinn wird Jesus aber auch der Weg 14, 6, die Thüre, der einzige Eingang zum ewigen Leben genannt, 10,8. 9. Er ist die ö'jpa töv TrpoßaTtov V. 7, aber auch der gute Hirte, welcher sein Leben für die Schafe lässt, der die Seinen kennt und er- kannt wird von den Seinen , auf dieselbe Weise wie der Vater ihn und er den Vater kennt. V. 11 f. Als Weg nennt sich Jesus die Wahrheit und das Leben. Was der Weg theoretisch als Wahrheit ist, ist er praktisch als Leben; es fassen daher diese drei Begriffe die absolute Bedeutung der Person Jesu in ihrer Einheit zusammen. *

Ist nun der Hauptinhalt der Lehre Jesu in die Reden nieder- gelegt, welche in diesem Evangelium Jesu in den Mund gelegt werden, so ergibt sich hieraus von selbst, wie die Lehre Jesu wesentlich nichts anderes ist, als die Lehre von seiner Person. Der ganze Inhalt seiner Reden und Belehrungen , somit seiner Lehre überhaupt ist nur die Selbstdarstellung seiner Person als des Einen , in welchem man allein zum ewigen Leben gelangen kann. Gegen diese IdentiGcirung der Lehre Jesu mit der Lehre von seiner Person könnte nur diess zu sprechen scheinen, dass

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er 13, 34 ausdrücklich das Gebot der Liebe für ein neues erklärt, und eben damit den Hauptinhalt seiner Lehre in das Gebot der Liebe zu setzen scheint. Aber auch dieses Gebot steht in der unmittelbarsten Beziehung zu seiner Person. Lieben sollen sich die Jünger unter einander, wie er sie geliebt hat, und den grössten Beweis seiner bis an's Ende fortdauernden Liebe hat er durch die Handlung gegeben, welche er unmittelbar vor seinem Leiden und Tod an seinen Jüngern vornahm, die Fusswaschung, K. 13. In ihr wollte er ihnen ein Beispiel geben, dass wie er an ihnen gethan hat, auch sie thun, V. 15. Ist das Wesen der Liebe Selbstverläugnung und Selbstaufopferung, unbedingte Hin- gabe an Andere, so ist eine durch solche Handlungen sich er- weisende Liebe in dem Verhältniss um so grösser, je höher die Person ist, welche diese Beweise der Liebe gibt. Dieselbe ab- solute Bedeutung, welche die Person Jesu hat, hat daher auch die von ihm bewiesene Liebe, und das Gebot der Liebe ist somit ein neues, weil in seiner Person erst die Liebe in ihrer hohen unendlichen Macht sich offenbaren konnte, er allein geliebt bat, wie kein Anderer geliebt hat, da seine Liebe gegen die Seinen selbst nur der Ausfluss und Reflex der Liebe ist, welche ihn mit dem Vater und den Vater mit ihm verbindet. Wie jene Handlung der Liebe ausdrücklich ein von ihm gegebenes Beispiel genannt wird, so erhellt hieraus zugleich, welche Bedeutung überhaupt auf dem Standpunkt des johanneischen Evangeliums das Vorbild Jesu hat. Die Bedeutung seiner Person bringt es von selbst mit sich, dass als absolutes Gebot für die an ihn Glaubenden gelten muss, zu thun, wie er gethan hat.

3. Der Tod Jesu. Auch der Tod Jesu gehört unter den- selben Gesichtspunkt der Selbstdarstellung Jesu, unter welchen überhaupt die erlösende Thäligkeit Jesu zu stellen ist. Je mehr er durch seine Selbstdarstellung in seinen Werken und in seinen Reden als der erkannt wird, der er an sich ist, um so mehr gereicht diess nur zur Verherrlichung seiner selbst und des

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Vaters durch ihn. Wie daher das ganze Werk der Erlösung die fortgehende Verherrlichung des Vaters durclf den Sohn und in- sofern des Sohnes selbst ist, so ist der Tod Jesu der entschei- dende Moment für die Verherrlichung des Sohns. Es kommt in ihm nur zur Vollendung, was schon bisher durch das ganze Werk Jesu auf Erden eingeleitet und ausgeführt worden ist. Vgl. 17, 1 f. 12, 28 f. Aus dem Gesichtspunkt der Verherrlichung der Person Jesu betrachtet der Evangelist den Tod Jesu schon in dem wiederholt mit einer gewissen Vorliebe gebrauchten doppelsinnigen Ausdruck utj^oCiv. Er spielt auf den Kreuzestod an, so dass die Erhöhung an dem Kreuz die höhere Bedeutung bezeichnen soll, welche seine Person und sein Werk durch sei- nen Tod erhalten hat. In diesem Sinne wird er mit der von Moses in der Wüste erhöhten Schlange verglichen, die allen, die auf sie hinblicklen, Heilung gewährte. So musste auch des Menschen Sohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern das ewige Leben habe, 3, 14 f. In seinem Tode wurde er also erst vor aller Welt als das Object des Glaubens so aufgestellt, dass alle, die durch ihn das ewige Leben erlangen wollen, das Auge des Glaubens auf ihn richten können. Sein Tod war daher das nothwendige Mittel, um ihn vor das Bewusstsein des Menschen so hinzustellen , dass alle an ihn glauben, und ihn als das, was er ist, anerkennen können. Von demselben utj/oOcöai ist 12, 32 die Rede, wo Jesus im Hin- blick auf seinen Tod sagt: Wenn ich erhöht werden werde von der Erde, werde ich alle zu mir ziehen. Seine Erhöhung am Kreuz ist eine geistige Erhebung. Wenn er am Kreuze über der Erde schwebt, hat sein Tod die Wirkung, dass die, die an ihn glauben, gleichsam von der Gewalt entbunden werden, die sie an die Erde fesselt, er zieht sie von der Erde zu sich in den Himmel nach, erhebt sie vom Sinnlichen zum Geistigen. Je mehr sein Tod dazu dient, den wahren Glauben an ihn zu bewirken, ihn im Bewusstsein der Menschheit zur allgemeinen Anerkennung zu

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bringen, um so mehr erhellt hieraus, wie er nur der Weg zu seiner Verherrlichling ist. Nichts anderes sagt auch die bildliche Vergleichung, durch welche die Verherrlichung, welcher des Menschen Sohn in seinem Tode entgegengeht, so ausgedrückt wird: Wofern nicht das Waizenkorn in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein für sich, wenn es aber stirbt, bringt es viele Frucht. Dieselbe Nothwendigkeit findet also auch bei dem Tode Jesu statt. Wie das Waizenkorn nur wenn es in die Erde gelegt ist, sich zur Frucht vervielfältigt, so kann auch Jesus nur da- durch, dass er stirbt, eine Gemeinde von Glaubenden um sich sammeln. In seinem Tode erhält also erst seine Person eine solche Bedeutung und Anziehungskraft, dass er in immer grös- serem Umfang der Gegenstand des Glaubens wird. Wie das ganze Leben und Wirken Jesu in der Welt ein Kampf des Lichts und der Finsterniss ist, so tritt die Finsterniss ganz besonders in seinem Tode in ihrer Macht hervor. Es ist der Fürst der Welt, der Teufel, welcher als der eigentliche Urheber seines Todes, 13, 27, zum Kampf gegen ihn auftritt, und die Bedeutung seines Todes wird daher hauptsächlich auch in die Überwindung des Teufels gesetzt. Im Angesicht seines Todes sieht Jesus, 12, 31, das Weltgericht vollzogen, und den Fürsten dieser Welt hinaus- gestossen. Kurz vor seiner Gefangennehmung sieht er eben diesen Fürsten sich nahen, und setzt gerade darein die Bedeutung seines Todes, dass derselbe, eben weil der Teufel kein Recht an ihn hatte, nur dazu dienen werde, ihn als den den Vater liebenden und seinen Willen vollziehenden Sohn zur allgemeinen Erkennt- niss der Welt zu bringen, 14, 30. 31. Je allgemeiner die Er- kenntniss Gottes und dessen, den er gesendet hat, in der Well wird, um so mehr verliert dadurch der Teufel seine Macht in der Well; je entscheidender daher der Tod Jesu für sein Werk über- haupt ist, um so mehr ist er auch der Zeitpunkt, in welchem die Macht des Teufels gebrochen wurde. Besteht also seine Ver- herrlichung darin, dass er, wie diess ja der Zweck seiner Selbst-

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darstellung ist, immer allgemeiner als der, der er an sich ist, anerkannt wird, so erklärt sich hieraus von selbst, warum ge- rade sein Tod das Hauptmoment seiner Verherrlichung ist.

Fragen wir nun aber weiter, auf welche Weise der Tod Jesu die allgemeine Anerkennung seiner Person bewirkt, so treten wir mit der Beantwortung dieser Frage in eine neue Sphäre des Johanneischen Lehrbegriffs ein, in welcher an die Stelle der irdischen Thätigkeit Jesu die Wirksamkeit seines Geistes tritt. Wirken kann aber der Geist nur, nachdem er an die Jünger, mit- getheilt ist, und diese Mittheilung selbst ist wesentlich bedingt durch seinen Tod und seine Auferstehung. Die Auferstehung selbst aber hat im johanneischen Evangelium einen rein geistigen Charakter, es eröffnet sich daher überhaupt mit seinem Tode eine ganz neue Sphäre, die seiner rein geistigen Wirksamkeit.

Die Auferstehung Jesu scheint der Evangelist im Allgemeinen auf dieselbe Weise zu beschreiben, wie die Synoptiker; das Eigenlhümliche seiner Vorstellungsweise tritt aber schon darin hervor, dass er die Auferstehung in die unmittelbarste Verbin- dung mit dem Hingang Jesu zum Vater setzt. Nur diess kann der Sinn der Stelle 20, 17 sein, wo er den kaum zuvor Aufer- standenen sagen lässt, er sei gerade jetzt im Begriff, zum Vater aufzusteigen. Ganz übereinstimmend damit zeigen auch die Ab- schiedsreden, wie eng der Evangelist beides zusammengedacht hat, die Auferstehung und den Hingang zum Vater. Der Hin- gang Jesu zum Vater ist die nothwendige Bedingung, unter welcher allein der Geist vom Vater gesendet werden kann. Es ist euch gut, sagt Jesus 16, 7 zu den Jüngern, dass ich hingehe, denn wenn ich nicht hingehe, wird der Paraklet, der heilige Geist, nicht kommen zu euch, wenn ich aber hingegangen sein werde, werde ich ihn zu euch senden. Vgl. 14, 12 f. Nun er- halten ja aber die Jünger an demselben Tage, an welchem Jesus zum Vater zu gehen versichert, den heiligen Geist, 20, 19 f. Wie können sie ihn also erhalten haben, wenn er nicht zuvor

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zum Vater gegangen war? Man kann das, was 20, 17—23 erzählt wird, nur als die Erfüllung dessen betrachten, was Jesus in seinen Abschiedsreden den Jüngern verheissen hat. Nur aus dem Inhalt der Abschiedsreden können wir uns daher die richtige Vorstellung von der Mittheilung des Geistes und der sie begleiten- den Erscheinung Jesu bilden. An ein leibliches Kommen und Wiedersehen, oder die Auferstehung im gewöhnlichen materiellen Sinne kann man nicht denken, wenn die Hauptvorstellung, auf welche alles zurückgeht, immer wieder ist, dass er ihnen den Geist der Wahrheit, den heiligen Geist, einen andern Paraklet vom Vater senden werde. Kommt ein anderer als er, so kommt er nicht selbst. Und doch wird in demselben Zusammenhang auch wieder gesagt, dass er selbst zu den Jüngern komme 14, 18 f.: Ich komme zu euch, noch ist es ein Kleines und die Welt sieht mich nicht, ihr aber werdet mich sehen. Unter diesem Kommen und Sehen kann nichts anderes verstanden werden, als die Sen- dung des Geistes, in welchem zwar er selbst kommt, sofern es sein Geist ist, der von ihm gesendete, aber doch nur auf geistige Weise. So wenig das Kommen des Vaters 14, 23 ein leibliches ist, ebenso wenig auch das des Sohns, sie kommen beide, um Wohnung bei den Jüngern zu machen, wenn der von beiden gesendete Geist kommt, und die lebendigste Gemeinschaft mit ihnen vermittelt. In dieser Mittheilung des Geistes werden gleich- sam alle Schranken aufgehoben, welche das Diesseits und Jen- seits trennen. Der Herr ist auch jetzt, wie zuvor, bei den Jüngern, er kommt und sieht sie, wie auf leibliche Weise, und* doch kommt er nur in einem Andern, der nicht er selbst ist. Als der Lebende oder Auferstandene 14, 19 ist er der zum Vater Hingegangene, und doch sind in dieselbe Gemeinschaft schon jetzt im Grunde auch die Jünger versetzt. Indem die Jünger den Geist in «ich haben, haben sie in ihm alles, was sie mit dem Vater und Sohn zur innigsten persönlichen Gemeinschaft verknüpft.

Hat nun dieses Kommen und Wiedersehen in den Abschieds-

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reden diese geistige Bedeutung, so kann es da, wo nur geschieht, was in ihnen verheissen ist, nicht anders sein. Der Herr kommt ja nur zur Mittheilung seines Geistes. Dass hier, so sinnlich die Berührung ist, in welche der Herr mit den Jüngern kommt, an keine körperliche Erscheinung zu denken ist, zeigt die ganze Schilderung dieser Scenen. Wie kann ein materieller Leib durch geschlossene Thüren hindurchgehen? Man kann daher in diesen Erscheinungen des nicht blos Auferstandenen, sondern auch schon in Himmel Hingegangenen nur die Einwirkungen seines Geistes auf die Jünger sehen, durch welche er in* ihrem Bewusst- sein das Bild seiner persönlichen Gegenwart erweckte. Es lässt sich nicht verkennen, dass diese vergeistigte Form der Aufer- stehung mit der johanneischen Christologie überhaupt sehr eng zusammenhängt. Das Ende der evangelischen Geschichte, an welchem Jesus die Welt und das irdische Sein verlässt, weist von selbst auf den Anfang zurück, an welchem er in dasselbe eintrat. Er geht zum Vater zurück, von welchem er ausgegangen ist, geht dahin wieder zurück, wo er zuvor war, 6, 62. Zuvor aber, ehe er in die Welt kam und Fleisch wurde, war er der noch nicht Fleisch gewordene rein göttliche Logos. Was folgt also hieraus anderes, als dass er die irdische Hülle des Fleisches, die er erst annahm, zuletzt auch wieder ablegte, um rein der zu sein, der er zuvor war, in der unmittelbaren Einheit mit dem Vater, mit welchem, wie er selbst Geist ist, nur Geistiges eins sein kann. Wollte man sagen, das vom Logos angenommene Fleisch habe ebendadurch, dass der Logos in ihm Mensch wurde, und für den Zweck des Erlösungswerks den ganzen Verlauf eines menschlichen Lebens in ihm durchmachte, eine Bedeutung er- halten, die es nicht mehr verlieren konnte, es sei dadurch mit ihm selbst unzertrennlich eins geworden, so kommt dagegen in Betracht, was der Evangelist in demselben Zusammenhang, in welchem er davon spricht, man werde des Menschen Sohn einst dahin zurückgehen sehen, wo er zuvor war, sagen lässt: der

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Geist sei es, der lebendig macht, das Fleisch nütze nichts, 6, 63. Wie man auch diesen Salz drehen mag, um ihn etwas Anderes sagen zu lassen, als er wirklich sagt, es ist in ihm die allgemeine Wahrheit ausgesprochen, dass das Fleisch keine absolute Bedeu- tung für die Person Christi hat, sein Verhältniss zu ihr kein an sich nothwendiges und unzertrennliches ist, woraus nur die Fol- gerung gezogen werden kann, dass er nach der Vorstellung des Evangelisten auch wirklich im Momente seiner Auferstehung und seines Hingangs zum Vater der irdischen Hülle des Fleisches sich entäussert hat, womit nur zusammenstimmt, dass seine Leiblich- keit auch schon in seinem irdischen Leben da und dort auf eine Weise erscheint, welche es kaum möglich macht, ihr die feste Materialität eines menschlichen Leibs zuzuschreiben.

Wie Jesus selbst mit seiner Auferstehung und seinem Hin- gang in Himmel in die Sphäre des rein geistigen Seins zurücktrat, so ist sein Tod auch der Zeitpunkt, mit welchem nun die Wirk- samkeit des Geistes und seine Mittheilung an die Jünger und überhaupt an die an ihn Glaubenden ihren Anfang nahm. Es ver- dient hier besonders das Verhältniss beachtet zu werden, in welches der Evangelist den Geist, das TTvsOjjLa aytov, zu der Person Jesu setzt. Eine darauf sich beziehende wichtige Stelle ist 7, 38 f. Jeswi sagt hier von dem an ihn Glaubenden, es werden Ströme lebendigen Wassers aus seinem Leibe lliessen. Der Evangelist bemerkt dazu, diess habe Jesus von dem Geist gesagt, welchen die an ihn Glaubenden empfangen sollten, denn es gab noch keinen heiligen Geist, weil Jesus noch nicht ver- herrlicht war. Seine Verherrlichung erfolgte durch seinen Tod. Nach seiner Auferstehung bei seiner ersten Erscheinung em- pfiengen daher die Jünger den heiligen Geist, 20, 22, und ohne Zweifel ist auch schon das mit Blut aus seiner durchstochenen Seite ausgeflossene Wasser, wenn man damit die xoi>.ia 7, 38 zusammenhält, ein Symbol des nach seinem Tod von ihm aus- gegangenen Geistes. Die Vorstellung ist also eigentlich : So lange

Johanneisoher Lehrbegriff.

noch Jesus auf der Erde lebte und wirkte, war der messianische Geist, welchen er selbst ohne Maass empfangen hatte, so sehr mit seiner Person identisch, dass es noch keine Wirksamkeit des TTveOax (XYiov gab ausser in ihm^elbst; erst mit seinem Tode wurde der bisher mit ihm identische Geist von seiner Person nun so entbunden, dass er als selbstständiges Princip im Kreise der an ihn Glaubenden wirken konnte. Das Kommen des Paraklet ist zwar durch den Hingang Jesu bedingt, nach demselben will er ihn senden, 16, 7; der Antheil aber, welchen der Sohn an der Sendung hat, scheint nur in der an den Vater gerichteten Bitte zu bestehen, 14, 16, in Folge welcher der Vater den Geist der Wahrheit im Namen des Sohns sendet, 14, 26. Die Abhängig- keit desselben vom Sohn ist daher nur eine mittelbare, wie be- sonders aus der Stelle 16, 13 15 hervorgeht. Wie schon der Logos, so wird auch der Geist nichts von sich selbst reden, sondern aussprechen, was er gehört hat, und das Zukünftige verkündigen. »Er wird, sagt Jesus, mich verherrlichen, weil er von dem Meinigen nehmen und es euch verkündigen wird. Alles, was der Vater hat, ist mein; desshalb sage ich, er wird von dem Meinigen nehmen, was er euch verkündigen wird.« Offenbar wird hier gesagt, dass der Paraklet nur in uneigentlicher Weise den Inhalt seiner Verkündigung von dem Sohn entnehmen wird, nur sofern alles, was der Vater hat, auch ihm angehört. Mit dieser Abhängigkeit des Geistes vom Vater stimmt ganz zu-- sammen, dass ausdrücklich auch gesagt wird, der Paraklet, welchen er vom Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, gehe vom Vater aus, Trapöc toO Traxpo; e/c:7opeu£Tat, 15, 26. Man streitet darüber, ob dieses djcxopeuecGat von einem metaphysi- schen, die persönliche Präexistenz voraussetzenden Ausgehen des heiligen Geistes zu verstehen sei, oder vom blossen Gesendet- sein, was mit der weitem Frage zusammenhängt, ob der Para- klet überhaupt als persönliches Wesen zu denken ist. Unstreitig wird er als solches beschrieben, man vgl. besonders 16, 12 f.;

Baur, neutest. Theol. ^«^

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es kann diess aber auch nur darin seinen Grund haben , dass ihn Jesus als seinen Stellvertreter betrachtet, welcher, wie er selbst, den Jüngern berathend und helfend zur Seite stehen soll, woher eben der Name ^x^xyCkr.roc^ d*,h. ein zur Hülfe Gezogener, ein Beistand, und zwar besonders ein gerichtlicher, ein Sachwaller, advocnlus. Man darf hier nicht übersehen, dass die Wirksamkeit des Geistes nur die Forlsetzung der messianischen Thätigkeit Jesu ist, deren Princip auch schon das TrveOjjLa aytov war; es ist dasselbe wirkende Princip, nur mit dem Unterschied, dass es nicht mehr unmittelbar mit der Persönlichkeit Jesu verknüpft ist, sondern als das die Glaubigen beseelende und ihre Gemeinschaft bedingende Princip in immer weiterem Umfang wirkt, auf eine Weise, bei welcher keineswegs nolh wendig ist, sich den Geist als persönliches Wesen zu denken. Auf den Vater aber wird sein Wesen und Wirken zurückgeführt, weil das Wesen Gottes selbst reine Geistigkeit ist, und wie der Logos so auch der Geist nur in schlechthiniger Abhängigkeit von dem Vater als dem allein absoluten Gott gedacht werden kann. Die Causalität Gottes ist in ihrer absoluten Idee zu überwiegend, als dass die Frage nach der Persönlichkeit des Paraklet eine besondere Bedeutung hätte. Die Hauptsache ist, dass in ihm als Einheit alles zusammengefasst ist, was seit dem Tod und Hingang Jesu den weiter entwickelten Inhalt des christlichen Bewusstseins ausmacht.

Es kommt hier jedoch zweierlei in Betracht. Zunächst ist der Paraklet auf die Jünger zu beziehen. Bedenkt man, welches Resultat bei dem fortgehenden Kampf mit dem Unglauben die ganze Thätigkeit Jesu hatte, vgl. 12, 37, so kam alles darauf an, mit welchem Erfolg durch die Thätigkeit der Jünger der Glaube an ihn bewirkt werden konnte. Diess ist die Bedeutung der Abschiedsreden Jesu. Die Jünger waren zwischen ihm und der ungläubigen Welt die nothwendigen Vermittler des Glaubens. Sollte aber das Werk Jesu durch sie fortgesetzt werden, so mussten sie dazu durch denselben Geist befähigt werden, welcher

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auch das Princip der messianiscben Thätigkeit Jesu war. Man kann jedoch, wenn man nach dem Begriff des johanneischen Paraklels fragt, nicht blos i)ei den ersten Jüngern Jesu stehen bleiben. Ist das Evangelium erst in einer spätem Zeit entstan- den, enthält es, wie nicht zu läugnen ist, eine schon weiter fortgeschrittene Entwicklung des christlichen Bewusstseins, konnte dem Verfasser selbst der Unterschied seines Standpunkts von dem früheren und auch schon von dem d€r Synoptiker un- möglich verborgen bleiben : worin anders konnte er die Berech- tigung desselben finden, als in dem ßewusstsein, dass auch in ihm derselbe Geist sich ausspreche, welcher als das in alle Wahrheit leitende Princip nicht blos den ersten Jüngern, son- dern überhaupt der Gemeinschaft der Glaubigen von Jesu ver- heissen worden war? Daher bezieht sich auch das, was Jesus zum Inhalt seiner letzten Reden macht , nicht blos auf seine er- sten Jüngern im engern Sinn , sondern auch auf die Glaubigen überhaupt. Ausdrücklich sagt Jesus 17, 20: oO iz&pX toutwv, die Jünger, epwTto [/.ovov, xklxA'xi T^spl twv ttkjtsuovtwv öix toG Xoyou aÜTwv ei; sas, damit alle eins sind, wie du, Vater, in mir und ich in dir, damit auch sie in mir eins sind, jene Glaubenden, damit die Welt glaube, dass du mich gesendet hast. Auch schon 7, 39 wird ganz allgemein gesagt, das 7irvs0|/.a, das nach dem Tode Jesu kommen soll, werden oi zkttsuovts; si; xütöv empfan- gen. Wenn er 1 7, 6 seine ersten Jünger die Menschen nennt, die ihm der Vater gegeben habe, seinen Namen zu offenbaren, so weist auch diess darauf hin , dass er in ihnen nur die ersten Glieder der an ihn sich anschliessenden Gemeinschaft sah. Wie er auf dieselbe Weise die Jünger sandte, wie ihn der Vater ge- sandt hatte, 20, 21, so sollte sich dasselbe Werk auch in den Glaubenden fortsetzen. Dieselbe Einheit, die ihn mit dem Vater und die Jünger mit ihm verband, begriff auch die ganze Gemein- schaft der an ihn Glaubenden in sich, 17, 21. Daher ist es auch derselbe von Jesu verheissene und gesendete Geist, welcher,

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wie er schon in den ersten Jungern wirkte, so auch die ganze Gemeinschaft der an ihn Glaubenden beseelt und als das Princip des christlichen Bewusstseins mit der weiteren Entwicklung der christlichen Gemeinschaft immer tiefer in die volle Erkenntniss der christlichen Wahrheit hineinführt. Er ist fort und fort der Geist der Wahrheit, der in alle Wahrheit leitet, und so sehr das der christlichen Gemeinschaft immanente Princip, dass alles^ was sich in ihr als ein neues wesentliches Moment der Entwicklung der christlichen Erkenntniss und des christlichen Lebens heraus- stellt, nur als etwas betrachtet werden kann, was der Geist nicht von sich selbst spricht, sondern von dem Herrn selbst em- pfängt, wie ja Jesus 16, 44 sagt, dass er es von dem Seinigen nehme. Das Geschäft des Geistes wird 16, 8 zunächst gesetzt in das i'kifjizi'^ töv jcoitj^.ov Tcspl a[j!.apTia$, xai Trepl Stxaiomjvyi;, xal Tcepl xpiffsw;, dass er der Welt ihre Sünde des Unglaubens, ihre Schuld gegen die Gerechtigkeit der Sache und Person Jesu, und die Nichtigkeit ihres Widerstands strafend vorhält; der Hauptbegriff bleibt aber für das johanneische Evangelium immer, dass er das Princip der Wahrheit und der Erkenntniss ist. Durch ihn wird ganz besonders die höhere Erkenntniss des Verhältnis- ses aufgeschlossen^ in welchem der Sohn zum Vater steht, 14,20. Wenn er aber auch alles lehrt, 14, 26, und die Christen in alle Wahrheit führt, 16, 13, und seine Offenbarung als eine neue dargestellt wird, welche nicht bei der blossen Erinnerung an das vom Erlöser schon Gesagte stehen bleibt , sondern darüber hinausgeht, und auch das Neue, das die unmittelbaren Jünger noch nicht zu fassen vermochten, mittheilt, die Wahrheit in ihrem vollen Umfang, so soll diess doch auf keine Weise ein principielles Hinausgehen über die ursprüngliche Offenbarung Jesu selbst sein. Der Geist schöpft immer nur aus dem Inhalt seiner Lehre, um den in seiner Offenbarung verschlossenen un- endlichen Inhalt dem gereiften Bewusstsein zu entfalten. Es lässt sich nicht anders denken, als dass eben diess, was hiemit dem

Johanneischcr Leh rbegriff. 389

Paraklel beigelegt wird, das johanneische Evangelium für sich selbst in Anspruch nehmen will. Es steht einerseits auf dem Standpunkt einer weiter fortgeschrittenen Entwicklung, ande- rerseits ist es sich aber doch bewusst, die principielle Einheit mit dem Urchristenthum festgehalten, die Substanz des nrchrist- lichen Glaubens nur tiefer erforscht zu haben und in sein innerstes Wesen eingedrungen zu sein. Hieraus erklärt sich von selbst, wie die dem johanneischen Evangelium eigen- thümliche und von ihm mit besonderer Vorliebe behandelte Lehre vom Paraklet für kein anderes so grosses Interesse haben konnte.

Auf welchem eigenthümlichen Standpunkt der johanneische LehrbegrifF steht, ergibt sich aus der bisherigen Entwicklung desselben; um aber das Charakteristische desselben noch schär- fer in's Auge zu fassen, ist noch genauer darauf Rücksicht zu nehmen, wie er sich zu denjenigen Formen des christlichen Be- wusstseins verhält, über welche er seiner ganzen Stellung nach schon hinausgeschritten ist, d. h. zum Judaismus und Pauli- nismus.

Was das Verhältniss zum Judaismus betrifft, so frugt es sich zunächst, welche Stellung das johanneische Evangelium zum alten Testament und zum Judenthum sich gibt. Es sind hier zwei sehr von einander verschiedene Seiten dieses Verhällnisses zu unterscheiden. Auf der einen Seite muss die Verwandtschaft des Christenthums mit dem alten Testament anerkannt werden, auf der andern steht das Judenthum dem Standpunkt des Evan- geliums schon so fern, dass man auch hieraus auf die spätere Zeit seiner Entstehung schliessen kann. Das Judenthum hat den absoluten Vorzug vor dem Heidenthum, dass seine Gotlesver- ehrung eine wissende, d. h. auf das wahre Object des religiösen Bewusstseins gerichtete ist, während die heidnische, wofür die samaritanische gilt, eine in Beziehung auf ihr Object irrende und nicbtwissende ist, 4, 22. Ist, wie 17, 3 gesagt wird, das das

Zweiter Abschnitt. Dritte Periode.

ewige Leben, dass man den allein wahren Gott erkennt, so hat nur die jüdische Religion diese absolute Wahrheit in sich. Darum kann auch nur aus den Juden das niessianische Heil kommen, 4,22, der Messias, welcher der Erlöser der Welt sein soll, 4,42. Mit der Erkenntniss des wahren Gottes ist daher in den Schrif- ten des alten Testaments eine fortgehende Weissagung und Hin- weisung auf den, welcher von dem allein wahren Gott als der Erlöser der Welt gesendet werden soll, verbunden. Schon Moses hat von ihm geschrieben, und zwar so klar und unzweideutig, dass Moses selbst der Ankläger der Juden wird, weil sie, wenn sie ihm glaubten , auch Jesu glauben müssten, 5, 45; ebenso ist in den Schriften der Propheten von der messianischen Periode die Rede, 6, 45. Abraham hat sogar schon hocherfreut den Tag des Messias gesehen , 8, 56, und Esaias in der Anschauung sei- ner Herrlichkeil von ihm geweissagl, 12, 41. Auch dadurch be- urkundet sich die alttestamentliche Religion als die wahre, dass in den wichtigsten Momenten der evangelischen Geschichte nur in Erfüllung gieng, was schon im alten Testament theils aus- drücklich vorherverkündigt , theils typisch dargestellt ist, 2, 17. 3, 14. 6, 32. 7, 38. 12, 14 f. 38 f. 19, 28. 36. 37.

Auf der andern Seite steht nun aber das Judenthum als Geselzesreligion so tief unter dem Christenthum als der absolu- ten Religion , dass die eine mit der andern so gut wie nichts zu thun hat. Dieser Gegensatz ist schon im Prolog V. 17. in den Worten ausgesprochen: das Gesetz ist durch Moses gegeben, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus zu Theil geworden. Gesetz und Evangelium treten hier in ihrer ganzen Weite auseinander, und wie hier in dem Gegensatz zum Evan- gelium auch schon die Aufhebung des Gesetzes liegt, so wird überhaupt das Gesetz überall, wo von ihm die Rede ist, nur als ein particuläres, nationales und ebendesswegen vergängliches bezeichnet. Es ist höchst bezeichnend, wie der Evangelist vom mosaischen Gesetz als von etwas spricht, was nur die Juden

Johaniieischer Lehrbegriff.

angehe, was nur sie das ihrige nennen können, 7, 19: M(ou(ri^; SeSwxev uaTv tov v6{aov; V. 22. 8, 17. 10, 34: in eurem Gesetz steht geschrieben. Selbst wo eine Stelle des alten Teslamenls in den Schicksalen Jesu ihre Erfüllung finden soll, wie Ps. 69, 5, wird diese Stelle 15, 25 genannt: 6 ^oyo? 6 Yeypafxfxsvo: iv v6[j.w aÜTcov. Die bedeutendsten gesetzlichen Feste werden nur als Feste der Juden bezeichnet, namentlich das Passahfesl wird mit diesem Ausdruck als ausschliesslich jüdisches Fest dargestellt, 2, 13. 6, 4. 11, 55. Ebendahin gehört die Eigenlhümlichkeit, dass der stehende Name, mit welchem im johanneischen Evan- gelium die Gegner Jesu bezeichnet werden, so verschiedenen Classen sie auch angehören , der Name -louSatot ist. Es ist auch daraus zu sehen, wie sehr sich das Bewusstsein des Evangelisten vom Judenthum losgerissen hat. Es steht in seinem schon abge- schlossenen Gegensatz zum Judenthum vor ihm, und er sieht in ihm unter diesem Gesichtspunkt nur das Reich des Unglaubens und der Finsterniss, ja die Juden sind ihm sogar geradezu die Söhne des Teufels, deren Streben nur dahin geht, das zu Ihun, was ihr Vater, der Menschenmörder von Anfang an und der Feind der Wahrheit von ihnen verlangt, 8, 44. Diese Spitze des Gegensatzes sieht der Evangelist in ihnen wegen ihres bewussten Widerspruchs gegen die Wahrheit, weil sie trotz alles dessen, was Jesus ihnen gerade gethan hat, um sie zum Glauben an ihn zu bringen, dennoch in ihrem Unglauben beharren. Das Juden- thum ist der eigentliche Boden, auf welchem Licht und Finsterniss in ihrem Gegensatz einander gegenüberstehen. So viele Strahlen des göttlichen Lichts das alte Testament in sich schliessl, so ausgezeichnet Judäa als das Vaterland des Messias, 4,44, und als der Ort ist, von welchem das Heil ausgeht, 4, 22, so schwer liegt die Macht der Finsterniss auf dem Judenthum, und so gross ist sein Gegensatz zum Christenthum.

Dabei ist nun noch besonders bemerkenswerth, wie der Evangelist in der evangelischen Geschichte selbst den Punkt fixirt,

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auf welchem das Christenthum vom Judenthum sich ablöst, und der Bruch beider vollendet ist. Es geschieht diess durch die eigenthümliche Weise, wie er Jesum als das wahre und eigent- liche Passahlamm darstellt, 19, 36 f. Was das alttestamentliche Passahlamm blos typisch war, kam in ihm zu seiner vollen Realität in dem Moment, in welchem an ihm das nicht geschah, was auch an dem jüdischen Passahlamm nicht geschehen durfte. Sobald das Bild zur Waiirheit, der Typus zur Sache selbst geworden ist, hat das Bild, der Typus, seine Bestimmung erreicht und erfüllt, er hat nun nichts weiter zu bedeuten. Derselbe Moment, in welchem der gekreuzigte Christus als das wahre und eigentliche Passahlamm dargestellt wurde, ist der Wendepunkt, in welchem das Judenthum aufhörte zu sein, was es bisher war, sein Ende war gekommen, und das Christenthum trat als die wahre Religion an seine Stelle. Das Grosse, Bedeutungsvolle jenes Moments war daher, dass in ihm die alttestamentliche Religionsökonomie, wie sie in dem Worte der Schrift prophetisch und typisch ent- halten ist, nunmehr abgelaufen war, und eine neue ihren Anfang nahm, deren Charakteristisches in dem aus der Seite Jesu ge- flossenen Blut und Wasser angeschaut wird. Wie sehr dem Evangelisten dieser Gedanke vorschwebt, ist aus der Sorgfalt zu sehen, mit welcher er die Erfüllung alttestamentlicher Weis- sagungen gerade im Momente des Todes Jesu nachzuweisen sucht. Alles was nur immer in Stellen des alten Testaments sich darauf beziehen lässt, wird herbeigezogen, um diesem Moment seine volle Bedeutung zu geben. Den dabei leitenden Gedanken hat der Evangelist selbst in dem letzten Worte des sterbenden Jesus ausgesprochen in dem Worte: t&rtkzaxxi, 19, 30. Es ist vollendet, nämlich, wie aus V. 28 zu sehen ist, alles, was zur Erfüllung des alten Testaments an Jesus, als dem Messias, ge- schehen musste. In diese grossartige geschichtliche Anschauung muss man sich hineinversetzen, wenn man den Evangelisten in seiner Darstellung des Todes Jesu richtig verstehen will. Es ist

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der Wendepunkt der beiden Religionsökonomien, der Umschwung aus dem alttestamentlichen jüdischen Bewusstsein in das neu- testamentliche christliche, welchen er im Momente des Todes Jesu vor sich gehen sieht, das Alte ist abgelaufen und zu seinem Ende gekommen, und das Neue tritt in's Dasein. Wenn also auch das Judenthum noch fortexistirt, so ist es eine blosse Form ohne alle innere Bedeutung, und es ist nur die Verblendung und Ver- stockung des Unglaubens, welche dem Christenthum gegenüber noch am Judenthum festhält. Wie fern musste der Verfasser des Evangeliums schon der Periode des Urchristenthums stehen, wenn er auf das Judenthum so tief herabsehen konnte, und wie wenig kann man sich ihn in einer nationalen Beziehung zu demselben denken, wenn er so wenig Sympathie für die Juden hat, dass er in ihnen nufr Söhne des Teufels und durch göttliches Verhängniss zum Unglauben Verblendete und Verstockte sieht? Vgl. 12,37 f. Welche grosse Kluft trennt ihn in dieser Beziehung nicht blos von dem Apokalyptiker, sondern auch von dem Apostel Paulus! Wie der Verfasser des Evangeliums vom Judenthum und Judaismus sich völlig losgesagt hat, so hat er auch den Paulinis- mus hinter sich, er hat ihn aber zugleich so in seinen LehrbegrifF aufgenommen, dass er die wesentliche Grundlage desselben ist. Der paulinische Universalismus ist eine schon feststehende That- sache, und er hängt mit der Grundidee des Evangeliums, der Lehre vom Logos so eng zusammen, dass er nun erst auch theo- retisch begründet ist. Als der göttliche, schon vor der Welt existirende Logos ist Christus über den jüdischen Particularismus so erhaben, dass alles, was er Nationales an sich hat, nur in einer sehr zufälligen Beziehung zu ihm zu stehen scheint. Er ist zwar der jüdische Messias 1, 42. 4, 22 (nur im johanneischen Evangelium wird dieser acht jüdische Name gebraucht, und gleichsam eine antiquarische Notiz über ihn gegeben), der im alten Testament prophetisch Verheissenc, welcher, weil ja coTxp^ iy^ TcSv 'io'j^aitov e<rriv, 4, 22, auch nur unter den Juden

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auftreten konnte; sonst jedoch ist von dem johanneischen Christus alles Nationale abgestreift, der Ausdruck uiö: toO O&oO hat nicht denselben Sinn wie bei den Synoptikern, von einem Davidssohn ist gar nicht die Rede, das den synoptischen Evangelien so wichtige Dogma, dass der Messias als ix. toO <j7repijt.aT0? Aa^lS, xal 01.7:6 Br.OXes;;-, rii; >ta>y.7;c, otcou r,v Aaßl^, loysTai, 7, 42, führt er blos als jüdische Meinung an, die Einzugsscene geschiebt xwar auch hier auf dieselbe Weise, nie bei den Synoplikern, sie erscheint aber hier ofTenbar nur als Accommodation von Seilen Jesu, um den Juden auch diesen Vorwand ihres Unglaubens ab- zuschneiden, wie wenn sie wegen eines solchen ihm fehlenden Kriteriums der Messianität an ihn nicht hätten glauben können. Auf dem universellen Standpunkt des johanneischen Evangeliums ist der Logos, seiner ursprünglichen Idee nach, dlas Licht der Well,- 8 «ptdTi^ei TravTa avOpwTcov, 1, 9, und selbst wenn unter den TÖc lÄia und oi räiot V. H nur das jüdische Volk zu verstehen wäre, was jedoch keine nothwendige Annahme ist, wird durch dieses specielle Verhältniss jenes allgemeine keineswegs be- schränkt. Wenn der Evangelist 11,52 mit besonderem Nach- druck hervorhebt, dass Jesus nicht blos für das jüdische Volk sterben sollte, sondern dazu, durch seinen Tod auch die zer- streuten Kinder Gottes zu einem Ganzen zu vereinigen, so setzte er solche zerstreute Kinder Gottes auch in der heidnischen Welt voraus. Je grösser der Unglaube der Juden war, je weniger daher an ihnen der Zweck der Wirksamkeit Jesu erreicht werden konnte, desto mehr musste er in der heidnischen Welt in Er- füllung gehen, in ihr also auch eine weit grössere Empfänglich- keit für das Wort Gottes und den Glauben an Jesus vorhanden sein, als bei den Juden, wie denn auch wirklich der Evangelist in mehreren Stellen die Heiden auf diese Weise vor den Juden auszeichnet. Es gehört hieher besonders die Erzählung K. 4. Der Evangelist sieht hier in den Samaritanern, welche den Über- gang zu den Heiden machten, das reiche Erndtefeld, das in der

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empfänglichen Heidenwelt dem Glauben an Jesus sich öffnete. Die bekehrten Sainaritaner gehören schon zu jenen andern Schafen, welche Jesus in der Gleichnissrede vom guten Hirten zu seiner Heerde führen zu müssen versichert, 10, 16. Bemerkens- werth ist in dieser Beziehung besonders auch die Stelle, 12, 20 f., in welcher Jesus gleichfalls das, was im ungläubigen Judenlhum nicht möglich war, seine Verklärung durch den Glauben an ihn, in der glaubigen Heidenwelt sich verwirklichen sieht. In jenen, das glaubige Heidenthum repräsentirenden Hellenen fällt der ver- klärte Blick Jesu auf die zu seiner Verherrlichung bestimmte Sphäre, in welcher aus seinem Tode die Gemeinde der Glaubigen erstehen sollte. Die gleiche Berechtigung und Befähigung der Heiden zur Theilnahme am messianischen Heil ist dem Evangeli- sten eine längst entschiedene Sache, eine Frage, welche nicht mehr, wie in den Briefen des Apostels Paulus, Gegenstand des Streits und lebhafter, das Zeitinleresse in Anspruch nehmender Verhandlungen ist, sondern sich in der Wirklichkeit schon da- durch gelöst hat, dass es eine aus Heiden und Juden bestehende, zur Einheit eines Ganzen gewordene christliche Gemeinde gab. Hierin also, in diesem die Heidenwelt als sein wesentlichstes Element betrachtenden Universaiismus steht das johanneische Evangelium ganz auf dem Boden der Errungenschaft des Pauli- nismus.

Was nun aber das Verhaltniss des johanneischen Lehrbe- griffs zum paulinischen in den auf das innere Verhaltniss des Menschen zu Gott sich beziehenden Lehren betrifft, so ergibt sich schon aus dem johanneischen Standpunkt überhaupt, dass er über die paulinische Lehre vom Glauben und der Rechtferti- gung hinausliegt. Wer dem Gesetz schon so fern steht, wie der Verfasser des johanneischen Evangeliums, kann es auch nicht als die Hauptaufgabe der erlösenden Thätigkeit Jesu betrachten, den Menschen von der Scluildfurderung des Gesetzes zu befreien. Eine Auffassung des Todes Jesu, bei welcher auf die stellver-

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tretende und genugthuende Bedeutung desselben das Hauptge- wicht gelegt wird, passt nicht in den johanneischen Lehrbegriff, in welchem die Person Jesu in ihrer Einheit und Totalität so sehr die Grundanschauung ist, dass auch der Tod Jesu als specielles Moment nicht so sehr hervorgehoben und fixirt werden kann. Nur in einer Rede des Täufers 1, 19 wird Jesus das Lamm Gottes ge- nannt, 6 ai'pwv Tviv a[;-apTtav toO /t6<j[;-ou, und auch dieses atpetv ist nicht von einem stellvertretenden Tode zu verstehen, sondern nur davon, dass er überhaupt durch seine ganze persönliche Erscheinung und Wirksamkeit die Sünde hinwegnimmt und auf- hebt. Hiemit fällt der specifisch-paulinische Begriff des Glaubens hinweg, und das Object des Glaubens ist nicht der Tod Jesu mit seiner Sünden vergebenden Kraft, sondern die Person Jesu über- haupt als des fleischgewordenen Logos, oder, da Jesus als der Gesendete nur in der unmittelbarsten Einheit mit dem ihn Senden- den gedacht werden kann, Gott selbst. Man glaubt in Jesus an Gott selbst, 5, 24. Für TridTsustv stehen daher auch mehrere, ein persönliches Verhältniss ausdrückende Begriffe, wie XajAßävetv, 7capaXa[Aßaveiv, 1, 11. 12. 3, 11.32. 5, 43. 12, 48. 13, 20, (xxoueiv 8, 43. 47. 10, 3. 16. 18, 37, epxEaOai 6, 35. 37. 7, 37. Die paulinische Unterscheidung zwischen dem Glauben und den Werken hat auf dem johanneischen Standpunkt keine Bedeutung. Das durch den Glauben bezeichnete Verhältniss zu Jesu ist an sich ein practisches Verhalten, das sich auch thatsächlich äussern muss. Auf die Frage des Volks 6, 28: xi ttoiöiasv, Iva ipYa^w- j/,e6a Ipya toO 9eoO; gibt Jesus die Antwort: toOt6 c<m to Ipyov ToO 6eoO, Iva 7rt<jTeu(nfiTe si? 8v a7re<jT2iXev dxeTvo;. Der Glaube ist also selbst ein spyov, dadurch hebt sich der Streit über den Glauben und die Werke von selbst auf. Ein solches epyov, als unmittelbares practisches Verhalten ist aber der Glaube nur wegen der persönlichen Beziehung, die in ihm liegt. Als Ver- trauen zu Jesus, als Anhänglichkeit an seine Person, als Liehe zu ihm, enthält der Glaube von selbst den Trieb, sich practisch

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ZU äussern. Wenn ihr mich liebet, sagt Jesus 14, 15, werdet ihr meine Gebote halten. Die Liebe zu ihm kann sich nur da- durch bethätigen, dass man nach seinen Geboten handelt. Ihr seid meine Freunde, sagt Jesus 15, 14, wenn ihr alles thut, was ich euch befehle. Wer meine Gebote hat, sich ihrer bewusst ist, und sie hält, der ist's, der mich liebt, und wer mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden, und ich werde ihn lieben, 14, 21. Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt, bleibet in meiner Liebe; wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie auch ich die Gebole meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe , 15, 9 f. Auf das TT.peTv xa; dvToH?, oder darauf, dass man das thul, was dem Willen Gottes und Jesu gemäss ist, kommt hier alles an in Hin- sicht des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Das Princip und Motiv dieses Thuns ist die Liebe, und zwar nicht in dem Sinne, in welchem der Apostel Paulus, wenn er von einer 7ri<iTi? dvsp- youjAsvy) §t' ayaTnri? spricht, die Liebe aus dem Glauben hervor- gehen lässt, sondern die Liebe tritt hier unmittelbar an die Stelle, welche bei dem Apostel Paulus der Glaube einnimmt. Wer an Jesus glaubt, tritt dadurch in ein Liebesverhältniss zu ihm, das das bestimmende Princip seines Seins und Lebens wird. Die Liebe zu ihm treibt ihn, alles das zu thun, was Jesus von ihm verlangt, und die Liebe zu Jesus schliesst ganz besonders die Liebe zu Andern in sich. Das ist mein Gebot, sagt Jesus 15, 12, dass ihr einander liebet, wie ich euch geliebt habe. Auch da, wo Jesus von der Lieb'e als einem neuen Gebot spricht, versteht er es von dem äyaTTxv dtXV/iXo'j;: wie er die Seinen geliebt habe, so sollen auch sie sich unter einander lieben.

Wie die Liebe, als das Princip des christlichen Verhaltens in der Liebe wurzelt, welche Jesus zu den Seinen hat, so hat diese Liebe Jesu selbst acht johannelsch ihre höhere Begründung in dem Verhäilniss, in welchem er zu dem Vater steht. Das innerlichste Band dieses Verhältnisses ist die Liebe. Von der

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Liebe, mit welcher der Valer den Sohn geliebt hat, vor Grund- legung der Welt, und vermöge welcher der Vater in ihm und er im Vater ist, 47, 23. 24, geht alles aus. Diese Liebe des Vaters und Sohns in der höchsten metaphysischen Sphäre, von welcher die Betrachtungsweise des Evangeliums ausgeht, ist der maass- gebende Typus für alle auf der Sendung des Sohns beruhende Verhältnisse. Sie ist der Grund der Sendung des Sohns. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben, 3, 16. Mit derselben Liebe, mit welcher der Vater den Sohn liebt, liebt er auch die Welt, und mit derselben Liebe, mit welcher der Sohn den Vater liebt| thut er alles, was der Vater aus Liebe zur Welt von ihm ver- langt. Die Welt soll erkennen, sagt Jesus 14, 31, dass ich den Vater liebe und so thue, wie mir der Vater befohlen hat. Mit derselben Liebe, mit welcher der Vater die Welt liebt, liebt der Sohn die, die ihm der Vater gegeben hat, und der grössle Be- weis seiner Liebe ist, dass er sein Leben für sie gibt, weil ja niemand grössere Liebe hat als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde, 15, 13. Indem so die Liebe immer auf ein höheres Verhältniss zurückweist, in welchem sie selbst wurzelt, erhält dadurch erst alles Thun seineu absoluten sittlichen Werth. In diesem Sinne sagt Jesus, dass er nicht seine eigene Ehre suche, sondern nur die Ehre dessen, der ihn gesendet hat, 8, 50. 7, 18, dass es seine Speise sei, den Willen dessen zu thun, der ihn gesendet hat, und sein Werk zu vollenden, 4, 34, dass er vom Himmel gekommen sei, nicht seinen Willen zu thun, sondern den Willen dessen, der ihn gesendet hat, 6, 38. Wie das ganze Thun des Sohns schlechthin bedingt ist durch sein Einssein mit dem Vater, so dass dadurch von selbst alles, was nur aus ihm ist, ausgeschlossen und unmöglich gemacht ist, so können auch die an ihn Glaubenden nur in der Einheit mit ihm und in der schlechthinigen Abhängigkeit von ihm auf fruchtbringende Weise

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wirken, wie diess durch das Gleichniss vom Weinstock und den Reben veranschaulicht wird, K. 15. Wie in der Einheit des Vaters und Sohns das Thun des Sohns eigentlich das Thun des Vaters ist, so hat auch das Thun der Seinen das bestimmende Princip nur darin, dass sie in ihm sind und bleiben. Das Ver- hällniss des Sohns zum Vater ist auf diese Weise der absolute Typus fiir alles, wodurch das Verhältniss der Menschen zu Gott practisch realisirt werden soll. Daher kann auch das Endziel nur ein diesem Verhältniss analoges sein. Was der Sohn auf abso- lute Weise ist, sollen die an ihn Glaubenden durch seine Ver- mittlung werden. Ist also er der Eingeborne, so erhalten sie von ihm die s^ouita, tskvx ösoO ys^wöat, 1, 12. Als Kinder Gottes sind sie von Gott gezeugt. Dieses Kindschaftsverhältniss hat zwar von der menschlichen Zeugung seinen Namen und ist in- sofern derselben analog, wenn man aber auch aus dem mensch- lichen Verhältniss alles Unreine und Materielle hinwegdenkt, so ist es doch ein von demselben unendlich verschiedenes, ein Ver- hältniss ganz eigener Art, 1,13. Dieses ysvvTiÖ-^vat esc 6soO ist gleichbedeutend mit dem •^t'^>ir,b-f\sx'. avwSev, dem von oben Ge- borenwerden, 3, 3 f., wobei neben dem auf die christliche Taufe sich beziehenden Wasser noch besonders der Geist als wirken- des Princip genannt wird, auf dieselbe Weise, wie Jesus unge- achtet seiner Idenliiät mit dem göttlichen Logos noch besonders das 7rn\j[i.x zugeschrieben wird. Demgemäss geht nun auch dasselbe innige Verhältniss, in welchem Jesus zum Vater steht, auf die mit ihm Verbundenen über. Die Liebe, mit welcher ihn der Vater geliebt hat, soll auch in den Seinen sein, wie er in ihnen ist, 17,26. Wenn einer ihn liebt, und somit auch sein Wort hält, so wird ihn auch der Vater lieben, und beide, der Vater und der Sohn, kommen zu ihm, um ihre Wohnung bei ihm zu nehmen, 14, 23. So ist das Verhältniss der an Jesum Glau- benden zu ihm nur die Fortsetzung des Verhältnisses, in welchem er selbst zum Vater steht, das eine Verhältniss reflectirt sich in

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dem andern, so jedoch, dass das eine dem andern nicht blos untergeordnet, sondern auch wieder mit ihm identisch ist. In demselben Verhältniss, in welchem der Sohn zum Vater steht, stehen die Glaubigen nicht blos zum Sohn, sondern durch die Vermittlung des Sohns auch zum Vater. Das bestimmende Prin- cip des ganzen Verhältnisses aber ist die durch unbedingte Hin- gabe und Befolgung des göttlichen Willens sich bethätigende Liebe, deren höchstes absolutes Princip die Liebe des Vaters zum Sohn und Gottes zu der Welt ist.

Die Liebe ist somit überhaupt der höchste BegrifT, von welchem die johanneische Anschauungsweise ausgeht. In ihr liegt daher auch der Punkt, In welchem der johanneische Lehr- begriflf von dem paulinischen sich scheidet. So hoch auch der Apostel Paulus die Liebe Gottes stellt, so steht doch in seiner Anschauungsweise vermöge seiner Ansicht vom Gesetz der Liebe noch immer die Gerechtigkeit gegenüber. Der Mensch kann von dem Gesetz nicht hinwegkommen, ohne dass dem Rechtsanspruch des Gesetzes an ihn Genüge geschehen, seine Schuldforderung getilgt, das Lösegeld bezahlt ist. Diess geschieht durch den Tod Jesu, er ist das Hauptmoment, in welchem das ganze Werk der Er- lösung sich vollzieht. Mit dieser centralen Bedeutung, welche der Tod Jesu im paulinischen Lehrbegriff hat, ist sogleich alles gegeben, was den eigenthümlichen Inhalt desselben ausmacht, der intensive Begriff des nur auf den Tod als sein eigentliches Object gerichte- ten Glaubens, und das ebendadurch bedingte Verhältniss des Glaubens und der Werke in Hinsicht der Rechtfertigung. Im Johanneischen Lehrbegriff fehlt vor allem eine solche Bedeutung des Todes Jesu, wie bei Paulus, und zwar aus dem doppelten Grunde, weil das Gesetz dem Gesichtskreis des Evangeliums schon so entrückt ist, dass seine Ansprüche gleichsam als anti- quirt anzusehen sind, und sodann weil die ganze Anschauung von der Person Jesu es nicht gestattet, ein einzelnes Moment auf so überwiegende Weise hervorzuheben, dass der Schwer-

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punkt des ganzen Erlösungsvverkes in dasselbe fällt. Erlösend ist Jesus durch seinen Tod nur in demselben Verhältniss, in welchem er es durch seine irdische Erscheinung überhaupt ist. Was bei Paulus die Thatsaohe des Todes ist, ist hier das rein" Persönliche, die Person Jesu in ihrer absoluten Bedeutung. Daher kann man des der Menschheit durch Jesus zu Theil gewordenen Heils nur dadurch theilhaftig werden, dass man den ganzen Ein- druck seiner Persönlichkeit auf sich wirken lässt, sich ihr hingibt und sich durch sie practisch bestimmen lässt. Wie also der jo- hanneische Lehrbegriff von dem Judenthum als einem noch fort- bestehenden Moment des religiösen Bewusstseins sich völlig losgesagt und~alles Judaistische weit hinler sich zurückgelassen hat, so geht er in demselben Verhältniss über den paulinischen Standpunkt hinaus, in welchem auf demselben noch das Bedürf- niss vorhanden ist, sich mit dem Gesetz erst rechtlich auseinander- zusetzen. Einen Zusammenhang mit dem Judenthum, vermöge dessen das Christenlhum von ihm sich erst losmachen und enian- cipiren, gleichsam seine Schuld an dasselbe abtragen müsste, um das Recht seiner freien Existenz zu haben, gibt es für das Johanneische Evangelium nicht.

Wie so der johanneische Lehrbegriff sich nicht blos über den Judaismus, sondern auch den Paulinismus erhebt, und auf beide als überwundene Standpunkte herabsieht, so besteht über- haupt sein eigenthümlicher Charakter darin, dass er in freier Idealität über den Gegensätzen steht, und auf dem Standpunkt der absoluten Idee sich selbst über die Momente der geschicht- lichen Vermittlung hinwegsetzt. Seine ganze Betrachtungsweise geht nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Konnte der Apostel Paulus den Anknüpfungspunkt für das Chri- stenthum nur in der Sünde finden, und das Christenthum nur aus dem Gesichtspunkt des Gegensatzes auffassen, in welchem in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit Sünde und Gnade, Tod und Leben zu einander stehen, so ist dagegen auf dem jo-

Banr, neutest. Theol. 26

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hanneischen Standpunkt der höchste Zweck des Christenthums nicht das praclische Interesse der erlösungsbedürftigen Mensch- heit, sondern das Theoretische der Selbstoffenbarung und Selbst- mittheilung Gottes an die Menschheit, wie sie in der Idee des Logos ausgesprochen ist. Tritt sie in die Welt und Menschheit herein, so kann sie zwar auch nur den Gegensatz von Licht und Finsterniss hervorrufen, sie ist aber nicht selbst durch ihn be- dingt, so dass die überwiegende Macht der Finsterniss in der Welt die Ursache der göttlichen Offenbarung wäre. Der höchste Begriff, in welchem im johanneischen Evangelium das absolute Wesen Gottes in seiner Beziehung zur Welt und Menschheit aus- gesprochen wird, ist die ^wti auovio;. Wie dem Sohn als dem Logos die Macht über alles Fleisch gegeben ist, so soll er allem, was ihm der Vater gegeben hat, der ganzen Menschheit, allen in ihr begriffenen Subjeclen, das ewige Leben geben. Das aber ist das ewige Leben, dass sie den Einen wahren Gott und den, den er gesendet hat, Jesum Christum, erkennen, 17, 2 f. Die Mittheilung des ewigen Lebens besteht also in der Mitlheilung des wahren Gottesbewusstseins an die Menschheit. Mitgelheilt wird dieses Bewusstsein durch Jesus, es ist diess der ganze Zweck seiner Sendung in die Welt, und wie sich die Mittheilung des wahren Gottesbewusstseins an die Menschheit zu der Mit- theilung des ewigen Lebens verhält, so verhält sich die Verherr- lichung des Vaters durch den Sohn. Das Eine ist die Voraus- setzung des Andern. Verherrlicht wird der Sohn durch den Vater, wenn die Erkenntniss des Einen wahren Gottes und des- sen, den er gesendet hat, durch den fortgehenden Erfolg der von Jesu ausgegangenen Thätigkeit das allgemeine Bewusstsein der Menschheit wird, und in demselben Verhältniss, in welchem diess geschieht, erfolgt die Verherrlichung des Vaters durch den Sohn in der Mitlheilung des ewigen Lebens an die Mcnschhcil. Beides also ist Eines und dasselbe, die Mittheilung des wahren Gottesbewusstseins und die Mitlheilung des ewigen Lebens, das

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Eine wie das Andere ist der absolute Zweck und Inhalt des Christenthums. Daher ist die höchste Aufgabe der Sendung Jesu, den Namen Golles zu offenbaren, ihn den Menschen bekannt zu machen, 17, 6. 26. Diess kann nur dadurch geschehen, dass Gott als das, was er an sich ist, erkannt wird. Was aber Gott an sich ist, ist 4, 24 in dem einfachen Satze gesagt: TcvsOfxa 6 öso;. Gott ist Geist, und wie er selbst Geist ist, so müssen auch die, die ihn anbeten, ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Wird nun in demselben Zusammenhang gesagt V. 23, dass die Stunde kommt und schon da ist, wo die wahren Anbeter anbeten werden den Vater im Geist und in der Wahrheit, weil ja der Vater nur solche als seine Anbeter verlangt, so ist auch dadurch die absolute Bedeutung des Christenthums ausgesprochen. Die Mittheilung des wahren Gottesbewusstseins im Christenthum be- steht darin, dass Gott als reiner Geist erkannt ist, und somit auch der Mensch nur in einem rein geistigen Verhältniss zu ihm stehen kann. Das Christenthum ist daher die Erhebung des Be- wusstseins in die Sphäre reiner Geistigkeit, in welcher Gott als Geist gewusst wird , und alles Particuläre und Beschränkende in der Allgemeinheit der Idee Gottes aufgehoben ist. In diesem reinen geistigen Gottesbewusstsein ist, was schon der Prolog als das Eigenthümliche der christlichen Offenbarung hervorhebt, das unsichtbare Wesen Gottes, das niemand je gesehen, durch den Eingeborenen, den im Schoosse des Vaters Seienden, aufge- schlossen und in das menschliche Bewusstsein als sein absoluter Inhalt übergegangen.

Besteht nun aber das Absolute des Christenthums ebensosehr in der Mittheilung des wahrhaft geistigen Gottesbewusstseins an die Menschheit, als in der Mittheilung des ewigen Lebens: wie verhält sich das Eine zu dem Andern? gehört zwar das Erslere der Gegenwart, das Letztere aber der Zukunft an, oder ist beides im christlichen Bewusstsein so ineinander, dass der Christ in demselben Verhältniss, in welchem er das wahre Gotlesbe-

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wusslseiii hat, auch das ewige Leben hat? Unstreitig Ist das Letztere die Lehre des johanneischen Evangeliums, und es schliesst uns darin erst vollends die hohe Eigenlhümlichkoit seiner Anschauungsweise auf. Wie in der absoluten Idee Gottes jede zeilliche und räumliche Schranke und in der dieser Idee entsprechenden Einen Heerde unter dem Einen Hirten jeder nationale Unterschied, alles was die Menschen äusserlich von einander trennt, aufgehoben ist, so fällt in dieser Idee auch die Zukunft mit der Gegenwart zusammen, es gibt keine das Jenseits vom Diesseits trennende Kluft, das ewige Leben ist aus der Äeusserlichkeit eines nur künftigen Zustandes in die Innerlichkeit des Geistes verlegt. Was Jesus 5, 24 so feierlich betheuert: »wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer mein Wort vernimmt und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben, und geht nicht in das Gericht, sondern ist schon vom Tode zum Leben übergegangen«, ist der höchste, in so vielen Äusserungen wiederkehrende Grundgedanke der johanneischen Eschatologie. Vgl. 3, 16. 4, 14. 6, 40. 47. 10, 28. Wer sein Wort hält, wird den Tod nicht sehen ewiglich, 8, 51, wer an ihn glaubt, wird leben, ob er gleich stirbt, und jeder, der lebt und an ihn glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben, 11, 26. Das ewige Leben ist also schon jetzt der dem christlichen Bewusstsein immanente Inhalt.

Wie verhält sich aber dazu der wirkliche Eintritt in das zukünftige Leben? Ist die Zukunft der Gegenwart immanent, sind beide ineinander, so darf die Eschatologie nichts enthalten, was nur dazu dient, beide auseinanderzuhalten und eine Schranke zwischen ihnen zu setzen, wie diess durch die Lehre von einer erst am Ende der Welt erfolgenden Auferstehung geschieht. Es ist jedoch auch im johanneischen Evangelium von einer allge- meinen, nicht immillelbarauf dieses Leben folgenden Auferstehung die Rede. Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, die Stimme Christi hören, und hervorgehen werden

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die Guten zur Auferslehungr des Lebens, die Bösen zur Aufer- stehung des Gerichts, 5, 28. 29. Jesus wird die, die ihm Gott gegeben hat, am jüngsten Tag auferwecken, 6, 40. 44. 54. Welche Bedeutung kann aber eine solche Auferstehung haben, wenn das, was die Hauptsache bei der Auferstehung ist, schon anticipirl ist, oder Vielehen Glauben kann man an eine leibliche Auferstehung haben, wenn schon gesagt ist, dass das, worin die Auferstehung vor sich gehe, nicht der Leib ist, sondern der Geist? Wie nahe streift also das johanneische Evangelium, wenn es auch die künftige allgemeine Auferstehung stehen lässt, an die Lehre jener Gnostiker, welche 2 Tim. 2, 18 sagten: xry ävifTTactv viär, yeyovevai? Überhaupt welchen Werth kann eine leibliche Auferstehung, d. h. eine Auferstehung der capE in einem Evangelium haben, das als allgemeine Wahrheit ausspricht 6,63: r, (jap^ oux töcpeXsi ouSsv? Hat es ja auch von der Auferstehung Jesu nicht die gewöhnliche materielle Vorstellung, und wenn, wie Jesus 14, 3 sagt, wo er ist, auch die sein sollen, die ihm angehören, so kann man sich auch die Letztern nicht in materieller Leiblichkeit mit dem Auferstandenen zusammendenken. Der Zeitpunkt der Auferstehung ist auch der des Gerichts, aber auch das Gericht setzt das johanneische Evangelium ebenso aus der Zukunft in die Gegenwart. Der Vater hat zwar dem Sohn alles Gericht übergeben , 5, 22, aber auch der Sohn richtet eigentlich nicht, denn wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet, und wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, darum weil er nicht glaubt an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes. Die von ihm aus- gehende xpbi; besteht nur darin, dass durch das Kommen des Lichts in die Welt die Menschen nach der Beschaffenheit ihrer Werke in zwei Classen sich scheiden, in Freunde des Lichts und Freunde der Finsterniss, 3, 19 f. Selbst den, welcher seine Worte nicht achtet und nicht glaubt, sagt er 12, 47 f., richte er nicht, denn nicht um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten, sei er gekommen; wer ihn nicht achte und seine Worte

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nicht annehme, habe den, der ihn richtet, das Wort, das er gesprochen, dieses werde ihn richten am jüngsten Tage, 12, 48. Auch so gibt es also eine icr/xT-n 7i[/ipa des Gerichts? Wenn aber Jesus nicht selbst richtet, sondern sein Icqo^, und mit diesem Richten nur diess gesagt sein kann, dass seine Lehre den Maass- stab enthält, nach welchem der innere sittliQhe Werlh eines jeden zu bemessen ist, so ist dieses Richten nicht sowohl ein künftiger, als vielmehr ein gegenwärtiger Act.

Und wie mit der Auferstehung und dem Gericht, so verhält es sich auch mit der Parusie. Es gibt auch nach dem johanneischen Evangelium eine Parusie, aber auch sie ist nicht an die Zukunft gebunden, denn wer ihn liebt, den wird er lieben und sich ihm offenbaren, 14, 2i, oder zu ihm kommen, und Wohnung bei ihm machen, 14, 23. Schon jetzt ist er also jedem, der die wahre geistige und sittliche Empfänglichkeit für ihn hat, gegenwärtig. Insbesondere zeigt auch das ganze Verhältniss, in welchem er als der nach seinem Tode und seiner Auferstehung im Geiste zu seinen Jüngern Kommende, sie Wiedersehende und mit ihnen Redende, 16, 25, zu ihnen steht, welche vergeistigte Bedeutung die Parusie in diesem Evangelium hat, und wie sehr es auch in dieser Beziehung über die sonst im neuen Testament gewöhnliche Anschauungsweise sich erhebt.

So gehört es überhaupt zu der dem johanneischen Evange- lium eigenen Idealität, dass alle Gegensätze ihm immer wieder ein fliessender Unterschied werden, und alles äusserlich Objective zu einer geistigen Anschauung aufgehoben wird. Kein Evange- lium legt so grosses Gewicht auf die spya Jesu, wie das johan- neische, wenn es Jesum sogar sagen lässt 10, 38: wenn man auch ihm selbst nicht glaube, soll man doch seinen epya glauben. Und kein Evangelium setzt den Glauben um der «rri^-eia xal Tspara oder um der Epya willen, bei welchen der Glaube auf dem Sehen beruht, so tief herab, indem es absichtlich zeigt, wie dieser Glaube zuletzt doch nur ein twkjtsueiv tcjS lo-^vä sein kann, 4, 50.

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In demselben Sinn thut es 6, 63 den Ausspruch, dass nur der Geist das Lebendigmachende ist, das Fleisch aber schlechthin keinen Nutzen hat, dass die Worte, die Jesus spricht, Geist und Leben sind, in demselben Sinne preist es 20, 29 die selig, die nicht sehen und doch glauben. Diess ist immer wieder derselbe Idealismus, welchem in der Selbstgewissheit seiner innern An- schauung zuletzt sogar die geschichtliche Wirklichkeit nur eine äussere, das an sich Wahre für das Bewusstsein vermittelnde Form ist.

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